Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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VORWORT

Was geht gegenwärtig in Italien vor? Was ist der Faschismus? Was ist Mussolini?
Man fühlt mehr, als dass man es weiß, dass Mussolini nicht der ist, als den er selbst und andere ihn darstellen. Mussolini trägt eine Maske. Wir alle kennen diese Maske. Was steckt hinter ihr? Um das zu erfahren, gibt es nur einen Weg: Man muss prüfen, nicht was Mussolini denkt und sagt, sondern was er tut. Man muss untersuchen, nicht was seine Verherrlicher über ihn erzählen, sondern was wirklich unter seiner Herrschaft in Italien geschieht. Italien -
Das werktätige Deutschland hat den Kontakt mit dem Volk der italienischen Arbeiter und Bauern verloren. Das Deutschland von morgen, für das das kommende Italien ein wichtiger Bundesgenosse beim sozialistischen Aufbau Europas sein wird, weiß nicht mehr, was im „Land der deutschen Sehnsucht" geschieht, weder im guten, noch im schlechten Sinne. Aber jetzt, wo die werktätigen Massen beider Länder sich rüsten, mit ihren Unterdrückern aufzuräumen, muss die Verbindung wiederhergestellt werden. Das Proletariat und die Bauernschaft Deutschlands und Italiens haben aus den Fehlern, die sie in der jüngsten Vergangenheit in ihrem Kampf um die Macht begangen haben, unendlich viel zu lernen. Die kommenden Schlachten werden vielleicht gemeinsam geschlagen werden.
Ich ergriff gern eine Gelegenheit, an dieser Wiederherstellung der Beziehungen zwischen den revolutionären Massen beider Länder mitzuhelfen, da ich mir bewusst war, zu dieser Arbeit besondere Voraussetzungen mitzubringen. Ich hatte noch teilgehabt an der klassischen Weise, Italien zu studieren und kennenzulernen. Durch mein Elternhaus war ich mit den Kreisen des jungen, vom Sozialismus tief beeinflußten intellektuellen Italiens
der Jahrhundertwende verbunden gewesen. Nach dem Kriege war es mir vergönnt, aktiv an den Kämpfen der Arbeiterbewegung des Landes teilzunehmen. Damals hatte ich die Sprache erlernt und war vor allem mit den Arbeiter- und Bauernmassen in den verschiedensten Landesteilen in innigen Kontakt gekommen.
Andrerseits hatte ich inzwischen Gelegenheit gehabt, durch jahrelangen Aufenthalt und aktive Mitarbeit in der Sowjetunion aus eigener Anschauung die sozialistische Lösung der Probleme der modernen Gesellschaft kennenzulernen. Wer das alte Russland, dessen Probleme in so vieler Hinsicht denen Italiens glichen, kennt und weiß, wie sich dort die Befreiung des werktätigen Volkes vollzogen hat, kann sich erst richtig vorstellen, was aus Italien und seiner wundervollen werktätigen Bevölkerung werden kann, wenn auch dieses Land den Weg der proletarischen, sozialistischen Revolution einschlagen wird. So trat ich die Reise an.
Ich war mir der Grenzen meines Versuches bewusst. Die Zeit, die zur Verfügung stand, zwang mich, mich auf die großen wichtigen Dinge zu konzentrieren. Ich war in erster Linie auf die Anschauung angewiesen und konnte an das Studium der Probleme nicht mit der wissenschaftlichen Gründlichkeit herangehen, die allein eine umfassende Erkenntnis ermöglicht hätte Auf Schritt und Tritt regte sich auf der Reise in mir der Wunsch, ein ganzes Jahr, ja ein ganzes Leben hierzubleiben; denn wie überall, so schien auch hier eine wirkliche Erkenntnis nur möglich durch aktives, änderndes Eingreifen in den historischen Prozess. Aber die Erfahrungen der Reise selbst widerlegten zugleich diese Tendenz der Selbsteinschränkung. Mit beinah unheimliche Eintönigkeit wiederholten sich die Erlebnisse: Die Klagen und Flüche der gequälten Arbeiter und Bauern stimmten in allen Teilen des Landes fast wörtlich miteinander überein. Die ersten Angaben über Löhne, Lebenshaltung, Arbeitsbedingungen und Verfolgungen wurden durch jede neue Erfahrung bestätigt. Das alles sprach für die Objektivität und Allgemeingültigkeit der gemachten Beobachtungen.
Ich bin heute überzeugt, dass der Weg, Italien von unten zu betrachten, den ich gewählt hatte, der richtige war. Ich habe weder
mit Mussolini noch mit einem anderen der faschistischen Führer gesprochen. Ich habe nur bei einzelnen Problemen, so hinsichtlich der Geschichte dieser Bewegung, der Kolonialpolitik, der „Bonifica" und der Gewerkschaftsbewegung eine größere Literatur studiert und meine Beobachtungen wissenschaftlich vertieft. Aber was ich bei den Besuchen in Dörfern und Städten, Bergwerken und Landgütern, auf Feldern und in Arbeiterwohnungen gesehen und gesammelt habe, sagt mehr aus über das wirkliche Italien, sowohl das alte Italien wie das Italien des Faschismus, als es jede Arbeit an Hand der offiziellen und nichtoffiziellen Dokumente tun könnte.
Das faschistische Italien, das Italien Mussolinis, Mussolini selbst -sie stehen ohne Maske da. Aber mit der Maske Mussolinis ist Mussolini selbst gefallen! Denn hinter der Maske, die er trägt, steht nicht irgendein Mann Mussolini. Als sie fiel, war Mussolini verschwunden, und es zeigte sich die Fratze der Junker, Schlotbarone und Bankiers, der eigentlichen Herren des faschistischen Italiens!

 

WORAUF KOMMT ES AN?

Die letzte Zeit hat uns eine neue Italienliteratur gebracht. In der Zahl der Reisebücher über Italien sind einige erschienen, die sich bemühen, das „Wesen" des italienischen Volkes und seiner Kultur zu deuten. Derartige Versuche, „geheimnisvolle tiefe Kräfte" zu finden, die die Geschicke dieses Landes bestimmen und es angeblich mit Deutschland verbinden sollen, sind höchstens interessant zur Charakteristik bestimmter kleinbürgerlicher Schichten in Deutschland, die aus der „rauen Wirklichkeit" in tiefsinnige Phantasien flüchten.
Größere Bedeutung kommt einer Reihe von Veröffentlichungen über das faschistische Italien zu. Fast alle diese Bücher kranken daran, dass ihre Verfasser selten über Rom hinausgekommen sind und sich größtenteils auf die Dokumente des Regimes und auf das stützen, was man ihnen offiziell gezeigt hat. Den meisten dieser Autoren fehlt es an Kenntnissen über die Vorgeschichte der faschistischen Herrschaft. Sie bewundern den Kooperativstaat - aber sie haben keine Ahnung von der alten Gewerkschaftsbewegung, von ihren Problemen und großen Kämpfen. Sie rühmen die faschistische Agrargesetzgebung - aber sie haben keine Ahnung von ihren Vorgängern, von dem bereits lange vor dem Faschismus aufgebauten System der Bodenmelioration und noch weniger von Organisation und Kampf der Landarbeiter und Kleinbauern, der in der großen Massenbewegung für die Besitzergreifung der Landgüter 1920-1921 seinen Höhepunkt hatte. Sie reden von einem Aufblühen des italienischen Geistes -aber sie wissen nichts von dem großen Aufschwung, den das italienische Denken am Ende des vorigen Jahrhunderts unter dem Einfluss des Marxismus und des Positivismus genommen hat, sie kennen nicht die Rolle der Sonnino, Lombroso, Mosca, Ferri, Croce, Labriola, um nur einige zu nennen, und noch viel weniger
die Wiedergeburt des revolutionären Marxismus in der jungen Kommunistischen Partei Italiens.
Die Hauptquelle für die Informationen der deutschen Öffentlichkeit über Italien sind allerdings nicht diese, doch wenig gelesenen Bücher. Die Kenntnis des modernen Italiens stützt sich in Deutschland vielmehr vorwiegend auf die, sei es in der Tagespresse erscheinenden, sei es mündlich überlieferten Darstellungen mehr oder weniger eiliger Reisender. Die Methode dieser Darstellungen ist einfach: Die Berichterstatter kennen das Italien aus der Zeit vor der faschistischen Herrschaft als das Land der Museumsführer, Hotelportiers, Makkaroniesser und schönen Fischerknaben. Der Durchschnittsreisende erfreute sich an diesen Herrlichkeiten, indem er gleichzeitig über die Unpünktlichkeit der Züge, die Flöhe in den Hotels, die schlechte Organisation der I Museen und die Bummligkeit der Beamten schimpfte. Wenn ein solcher Reisender heute Italien wieder besucht, so ist er tief erstaunt und erschüttert über die „großen Wandlungen", die vor sich gegangen sind. Die Züge kommen und gehen pünktlich, in der Mehrzahl der Hotels gibt es fließendes Wasser und kein Ungeziefer mehr, die Museen sind neugeordnet, die Ausgrabungen in erstaunlichem Maße weitergetrieben, und sogar die Beamten zeichnen sich durch Höflichkeit und Mangel an Bürokratismus aus. Bedarf es dann noch eines Beweises, dass der Faschismus 1 dem Lande Wohlstand und Segen gebracht hat? Die gescheiteren unter den Faschisten selbst machen sich über diese Art von Verherrlichung des Faschismus lustig. In einem Artikel über die Grundsätze des Faschismus schreibt der junge Minister für das Korporationenwesen Giuseppe Bottai: „Aus Italien heimgekehrte Reisende, die sich an den Verbesserungen der öffentlichen Einrichtungen und an der Wiederkehrt normaler Lebensbedingungen erfreut hatten, schlossen daraus, in erstaunlich einfacher Denkmethode, der Faschismus sei der Ordner der Eisenbahnfahrpläne und der Erneuerer der Beamtendisziplin.... Nichts für ungut, meine Herrschaften, Italien ist eben ein wenig das Opfer jener Vorliebe geworden, die so viele Kritiker für farbige Schilderungen empfinden. Haben doch noch vor gar nicht langer Zeit die allerabgebrauchtesten und unglücklichsten Klischees in bezug auf Italien auch bei intelligenten
Betrachtern Anklang gefunden. Man bedenke, dass, seitdem die farbigen Schilderer auf die Klischees der Briganten und Mandolinenzirper verzichten mussten, sich viele bei der Anfertigung brillanter Visionen aus Italien ihrer besten Hilfsmittel beraubt sahen. Natürlich musste unter solchen Umständen auch der Faschismus zur Farbengebung herhalten. Aber, noch einmal, nichts für ungut, meine Herrschaften!"
Klischees beherrschen jedoch nicht nur die Schilderungen der wohlwollenden Darsteller des modernen Italiens. Auch die kritische Literatur über den Faschismus in Italien krankt an diesem Übel. Die Klischees entstammen der Fabrik der demokratischliberalen Antifaschisten. Und da die von ihnen verbreiteten Vorstellungen über Italien überall in der antifaschistischen Öffentlichkeit außerhalb Italiens verbreitet sind, ist es notwendig, sich kurz mit ihnen auseinanderzusetzen.
Als Typus dieser Art von Darstellungen kann das Buch gelten, das der junge, durch einen literarischen Preis etwas gar zu schnell berühmt gewordene französische Autor Maurice Bedel unter dem Titel „Philippine" veröffentlicht hat. Wie sehr seine Darstellung den Bedürfnissen des demokratischen Spießers entgegenkommt, beweist der Umstand, dass dieses Buch es innerhalb weniger Monate auf eine Auflage von 75000 Exemplaren gebracht hat.
Philippine ist die Tochter eines eingefleischten französischen Demokraten, der nach Italien als dem Land der Verwirklichung seiner Ideale von Autorität und männlicher Ordnung fährt. Die Erlebnisse dieses Paares in Rom sollen ein Bild von dem faschistischen Regime, wie es wirklich ist, geben.
In der ganzen Darstellung Herrn Bedels erscheint Italien als das Land, in dem die herrliche Demokratie beseitigt und durch ein Regime des Polizeiterrors und Überwachung aller Bürger auf Schritt und Tritt ersetzt ist. Die Einschränkung der persönlichen Freiheit, dargestellt in der Karikatur des Überwachungssystems, dem angeblich jeder Mensch in Italien ausgesetzt ist, wird in dieser Darstellung zum eigentlichen Verbrechen des Faschismus. Und diese Vorstellung ist tatsächlich weit verbreitet. Wenn man das Wort Faschismus hört, steigen einem zuerst diese Vorstellungen auf.
Ich muss gestehen, dass auch ich vor meiner Reise der Suggestion dieser Auffassung unterlegen war. Sogar eine Reihe von Freunden, die ich für gute Kenner der Verhältnisse hielt, hatte mich graulich gemacht und die Meinung geäußert, dass mein Plan, das Land so kennenzulernen, wie ich beabsichtigte, auf unüberwindliche Hindernisse stoßen würde. Es genügten wenige Tage, um mich davon zu überzeugen, wie falsch und irreführend diese Vorstellungen sind. Gewiss besteht ein System der Überwachung, das über das Maß dessen hinausgeht, was man aus anderen europäischen Ländern kennt. Aber diese Überwachung hat einen sehr beschränkten Wirkungskreis: Das ist ja eben der große Unterschied zwischen der faschistischen Diktatur und der Diktatur des Proletariats. Im Faschismus wird die Diktatur im Interesse der gesteigerten Ausbeutungspolitik des Finanzkapitals ausgeübt durch eine Gesellschaft von privilegierten Kleinbürgern, die als Fremdkörper auf dem Volke sitzt und als kleine Minderheit gar nicht imstande ist, wirklich in die Massen des werktätigen Volkes und sein Leben einzudringen. In der Sowjetunion ist es eben diese Masse selbst, die die Diktatur ausübt. Die proletarische Diktatur ist tief verwurzelt in der werktätigen Bevölkerung in Stadt und Land. Sie hat ebenso viel freiwillige Helfer wie sie Werktätige zählt. Spricht man in der Sowjetunion mit einem Arbeiter oder Bauern, so spricht man sofort mit der ganzen proletarischen Diktatur. Die besonderen Organe zum Schutze dieser Diktatur, die Miliz und die Sicherheitsorgane, haben nur ganz begrenzte und durch die Methoden der Konterrevolution bestimmte Sonderaufgaben. Und auch zu ihrer Erfüllung sind diese Organe nicht auf sich selbst und auf ihre Bewachungstechnik angewiesen, sondern stützen sich auf die Mithilfe der breitesten Massen.
Unter der faschistischen Diktatur kann hiervon nicht die Rede sein. Die besonderen Überwachungsorgane, Miliz, Polizei der öffentlichen Sicherheit, Gendarmerie und politische Geheimpolizei, sind für die werktätigen Massen Feinde. Ihre Tätigkeit ist ja zum größten Teil eben gerade gegen diese Massen gerichtet. Von ihnen hat der faschistische Überwachungsapparat keine Hilfe, sondern nur alle Arten von Schwierigkeiten zu erwarten. Wer das weiß hat es leicht, eben gerade mit Hilfe der Massen der Werktätigen sich den Überwachungsorganen zu entziehen.
Noch einmal: Das System der Bespitzelung besteht in Italien und gehört zum Regime. Der Faschismus könnte ohne es nicht auskommen. Aber es macht nicht das Wesen der faschistischen Herrschaft aus, wie es uns die demokratischen Kritiker des Faschismus in der Art des Herrn Bedel weismachen wollen.
Die Unfähigkeit der demokratisch-liberalen Kritiker, die ganze Wirklichkeit der faschistischen Herrschaft zu erfassen, hat ihre guten Gründe. Was würden denn diese Leute tun, wenn sie plötzlich in Italien das Erbe des Faschismus antreten würden? Sie würden an den wirtschaftlichen Grundtatsachen nichts ändern. Sie würden, wie wir es in Spanien sehen, das Privateigentum auch weiterhin für heilig erklären, würden die Grundbesitzer, Fabrikanten und Bankiers im Besitz der Produktionsmittel lassen und damit von vornherein alle die Maßnahmen segnen, die die kapitalistische Wirtschaft gegenüber den werktätigen Massen treffen muss, wenn Ruhe, Ordnung und Wohlstand des Volkes im kapitalistischen Sinne erhalten werden sollen. Sie würden nur die formale Demokratie herstellen, weise eingeschränkt durch Ausnahmegesetze, Notverordnungen und dergleichen. Die Beschränktheit ihrer Betrachtungsweise beruht auf der Beschränktheit ihrer Klasseninteressen. Ich habe auch auf dem Gebiet der Überwachung der öffentlichen Meinung vieles erlebt, was der Durchschnittsreisende nicht sieht. Ich hätte meine Aufmerksamkeit auf diese Dinge konzentrieren und  dann ein ganzes Buch mit Kriminalgeschichten füllen können.
Aber darauf kam es nicht an! Denn das ist nicht die Hauptsache!
Es kam darauf an, die eigentlichen Wurzeln, den eigentlichen Inhalt der faschistischen Herrschaft zu ergründen. Es kam darauf an, diesem System Mussolinis, das sich als System der Überwindung des Klassenkampfes hinzustellen liebt, die Maske abzureißen und zu zeigen, welche Klasse hinter der faschistischen Maske die wirkliche Herrschaft ausübt. Es kam darauf an, festzustellen, was diese Herrschaft tatsächlich für die Lage der werktätigen Massen bedeutet.
Gewiss, das „öffentliche Leben", die Eisenbahngespräche, die Cafés, die Parks, Theater usw. gehören mit zu der ganzen Wirklichkeit Italiens, die es galt kennenzulernen. Aber das alles ist Oberfläche. Das eigentliche öffentliche Leben spielt sich in den Betrieben, auf den Landgütern, in den Dörfern und den Arbeitervierteln der großen Städte ab. Was geschieht hier? Was hat der Faschismus hier Neues gebracht? Aus der Klassenkonstellation in Italien ergaben sich jene großen Kämpfe, die das Land in der Jahren 1920/21 so nahe an die sozialistische Revolution heranbrachten wie kein anderes europäisches nach Russland. Aus diesen Kämpfen hat sich der Faschismus entwickelt. Er hat schließlich gesiegt und die Herrschaft angetreten. Was hat er mit diesen treibenden Kräften der Entwicklung des italienischen Volkes gemacht? Wie hat er sich zu den halb mittelalterlichen und halb hochkapitalistischen Ausbeutungsformen in Stadt und Land gestellt? Welche Faktoren hat er gestärkt und begünstigt, welch< unterdrückt oder zerstört? Das sind die Fragen, auf die meine Reise Antwort geben sollte. Die Veränderungen und Entwicklungstendenzen in dieser tiefsten Schicht des „öffentlichen Lebens" galt es zu ergründen.
So betrachtet war und ist Italien ein unbekanntes Land. Von diesem im eigentlichsten Sinn „unbekannten Italien" wollen wir nun ein Stück kennenlernen.

 

WIDERSPRÜCHE UND KURIOSITÄTEN

Ich besinne mich auf meine erste Berührung mit Italien. Es war vor dem Kriege. Wir waren als Wandervögel über die Alpen gestiegen, hatten Tirol durchquert und zogen nun in die Po-Ebene hinunter, um nach Venedig zu kommen. Unsere Enttäuschung war groß. Was fängt ein Wanderer an ohne Wiesen und Waldränder? Wozu wandern, wenn man sich nicht von Zeit zu Zeit irgendwo friedlich im Schatten ausstrecken oder am
Wasser in der Sonne braten kann? Und das fanden wir nicht. Jede Straße, jeder Weg war eingehegt von Mauern und Zäunen. Man konnte keinen Schritt vom Wege abtun, ohne auf Privateigentum, ja auf so oder so bestellte Felder und Gärten zu kommen.
Bei späteren Reisen in anderen Teilen des Landes wiederholte sich immer dasselbe, ob es nun in der Umgebung Roms, in den Albanerbergen, bei Neapel oder am Ätna war. Erst sehr viel später lernte ich ein anderes Italien kennen. Man muss hinaufsteigen in die Berge, wo das Ackerland aufhört, wo eine dünne Humusschicht kaum den Felsen bedeckt, wo die Abhänge zu steil sind, um Felder und Gärten zu tragen, wo auch für Obst und Weinterrassen der Boden zu karg geworden ist, oder wo die Gärten und Terrassen von früher, von den Einwohnern verlassen, verfallen und verwildern. Oder man muss in die Ödländer vordringen, in die unbestellten versumpften Gebiete - aus denen feinen aber schnell die unerträgliche Hitze, die Moderluft und die Malaria bringenden Mücken vertreiben.
Dieser erste Eindruck von Italien als dem Land, wo es für den deutschen romantischen Wanderer, der nicht nur alte Kirchen, malerische Städte und Museen sucht, nichts zu holen gibt, wird schnell ergänzend vertieft durch eine andere Beobachtung: Hinter den Wällen, Hecken und Zäunen, die einen hindern, vom
Wege abzuweichen, dehnen sich unendliche Felder und Gärten. Jeder Flecken Boden ist ausgenutzt. Und nicht nur das: Er ist in den meisten Fällen ausgenutzt in einer Art und Weise, wie wir sie in anderen europäischen Ländern selten finden. Man denkt sofort an das, was man von der chinesischen Landwirtschaft gehört oder auf Abbildungen gesehen hat. Die ganze Po-Ebene von Venedig hinauf bis nach Piemont liegt da wie ein einziger ununterbrochener Garten. Reben, die an hoch oben zwischen Bäumen gezogenen Fäden ranken, durchschneiden kreuz und quer das Land. Dazwischen liegen mit Korn und Mais bestellte Felder, Aber sie sind anders bestellt als bei uns. Die Reihen stehen in weiteren Abständen. Zwischen ihnen sieht man schon die Anfänge neuer Kulturen: da kommen Puffbohnen, alle Arten Kohl und andere Gemüse. Wann man auch diese Felder durchfährt und durchwandert - immer ist etwas los. Immer wird gepflügt, gehackt, gejätet, gehäufelt und geerntet. Ein dichtes Netz von Kanälen durchzieht das Land. Das von den Alpen kommende Wasser wird durch Pumpwerke, Staubecken, Haupt- und Nebenkanäle aus den von Dämmen eingefassten Flüssen auf das Land geleitet und fließt durch ein feines Netz von Gräben und Furchen den Feldern und Pflanzen zu. So kommt es, dass auf diesem Land drei, vier und fünf Ernten im Jahr gewonnen werden. Weiter im Süden ändert sich das Bild. Aber es bleibt der Haupteindruck: Jeder Flecken fruchtbaren Landes wird von Menschen in der stärksten Weise ausgenutzt. Gewiss kommen weite Strecken von Sumpf- und Ödländern, kommen Hügel und Berge, an deren Abhängen kein Hälmchen sprießt. Aber in den Tälern und Ebenen lacht einen eine üppige Vegetation an, die die Frucht unendlicher Arbeit zahlloser tagaus, tagein auf den Feldern beschäftigter Menschen ist. Es wechseln die Kulturen, es wechseln die Formen und Methoden der Bearbeitung. Aber es bleibt der Eindruck eines schier unerschöpflichen Reichtums. Er verschwindet auch nicht ganz im Süden, in Sizilien, dem viel verschrienen Lande der großen Dürre. Die weiten wogenden Kornfelder im Innern des Landes, die Weinberge mit den kunstvoll behäufelten, tiefgehaltenen Weinstöcken, die schier endlosen dunkelgrünen Haine, aus denen Apfelsinen und Zitronen leuchten - auch sie erwecken den Eindruck ungewöhnlichen Reichtums. Und er verstärkt sich nur noch, wenn man erfährt, dass hier bis zu fünfzehn Doppelzentner Weizen und sechzig bis siebzig Doppelzentner Apfelsinen und Zitronen pro Morgen geerntet werden. Und dann verlässt man das Land und kommt in die Industriestädte. Und wieder ist man erstaunt. Man findet sich vor ganz modernen Fabrikanlagen, deren Bauten aus Beton und Glas einen an Amerika denken lassen. Da sind die riesigen Maschinenfabriken in den großen Industriezentren des Nordens: die Breda, Alfa-Romeo, Fiat und wie sie alle heißen. Und selbst in kleineren Provinzorten, in denen man es gar nicht erwartet, wie in Biella oder Vercelli, stößt man auf ähnliche moderne Anlagen. Bis hinunter nach Sizilien begleiten einen die gewaltigen Mühlen und die großen Makkaronifabriken. In den Hafenstädten ragen die Krananlagen und Gerüste moderner Werften in den Himmel. Betritt man dann eine dieser großen Fabrikanlagen, so findet man in ihnen die allermodernsten Maschinen, neueste Transportmittel und Fließbänder. Und wenn man auch in der Tagespresse Artikel gegen die Rationalisierung und für den Schutz des Kleinbetriebes findet, beweist der Augenschein, dass die industrielle Konzentration und die ständige Modernisierung des Produktionsprozesses auch vor Italien nicht haltgemacht haben. Und noch etwas anderes kommt hinzu: In jedem Gespräch mit Arbeitern und Bauern erfährt man, dass es fast keine Familie gibt, die nicht den einen oder anderen Verwandten im Ausland hat. Alle diese Auswanderer schicken regelmäßig Geldsendungen an ihre daheimgebliebenen Verwandten oder kehren eines Tages mit kleinem in Mark, Franken oder Dollar erspartem Vermögen zurück und erwerben ein Stückchen Land oder ein kleines Geschäft. Sie bringen höhere Kulturansprüche, größeres Wissen und einen gewissen fortschrittlichen Geist mit. Woran kann es einem Lande fehlen, das über solche natürlichen und künstlichen Reichtümer verfügt? Muss dieser Reichtum nicht die Grundlage für einen ständig wachsenden Wohlstand der Massen sein? Und stellt dieser Wohlstand der Massen nicht eine unvergleichliche Basis für ein immer weiteres Wachsen der Produktivkräfte und des Wohllebens des ganzen Volkes dar? Und auf einmal wandelt sich das Bild, und man taucht in einem namenlosen Elend unter.
Wendet man den Blick von den Feldern und Gärten, von den prächtigen Industrieanlagen und den Palästen und Villen der vornehmen Stadtteile zu den Menschen, zu der Masse der Arbeitenden, so glaubt man sich in ein anderes Land versetzt. Gruppen von Elendsgestalten, in deren Zügen die Spuren des Hungers und der Krankheit eingeprägt sind, stehen überall herum. Ihre Anzüge, die manchmal noch ein früher besseres Leben erkennen lassen, sind abgewetzt, geflickt oder gar zerlumpt. Das Schuhwerk ist abgetragen und brüchig. Auf den Marktplätzen der Städte des Südens stehen die arbeitsuchenden Landleute herum* ein ausgebleichtes Cape oder ein zerschlissenes Plaid zum Schutz gegen die morgendliche Kühle um die Schultern. Die kleinen Pächter und Tagelöhner, die sich beim Morgengrauen auf den Feldern der Riesengüter Siziliens, Apuliens und Kalabriens einfinden, kommen in Bastschuhen oder Lederpantoffeln, die Bein mit Lumpen umwickelt, die von ein paar Stricken zusammengehalten werden. Sie tragen kurze Jacken aus Schaf- oder Ziegenfell, die der Träger schon von seinem Großvater geerbt zu haben scheint. Und auch die Masse, die sich an Sonn- und Festtagen in den Kirchen drängt, sieht um kein Haar besser aus. Die in Lumpen gehüllten, mageren Gestalten bilden einen unheimlichen Gegensatz zu der Pracht der in Hunderten von Kerzen schimmernden Altäre und zu den wohlgenährten rosigen Priestern die ihnen von der Kanzel herab die Schrecken der Hölle und die Herrlichkeiten des ewigen Lebens ausmalen. Schier endlos ziehen sich in den großen Städten, mit Ausnahme der wenigen modernen Industrie- und Handelszentren wie Turin, Mailand und Bologna die Elendsquartiere hin, in denen Hunderttausende von Arbeitern, kleinen Handwerkern und Gewerbetreibenden mit ihren kinderreichen Familien hausen. Der Fremde pflegt in diesen großen Städten, in Genua, Neapel oder Palermo, von den feinen Geschäftsstraßen aus, auf die diese Viertel münden, einen Blick in die „malerische Schönheit" dieser Gassen zu werfen. Schnell wird der Kodak gehoben und eine Aufnahme von der Straße gemacht, auf der unten zwischen den im Freien arbeitenden Handwerkern Scharen von Kindern herumtoben, von den Balkons an langen Seilen kleine Körbchen heruntersteigen, aus denen der Straßenhändler sich das Geld nimmt, um ein paar
Pfund Kartoffeln oder Zwiebeln hineinzulegen, während oben an Stricken, die von Haus zu Haus und von Balkon zu Balkon die Gassen mit einem dichten Netz überziehen, die ewige Wäsche gräulich gegen den tiefblauen Himmel flattert. Aber ahnt der Fremde, was für ein Elend diese Gassen bergen? Sehen wir uns einmal eine solche Gasse näher an: Ich habe in Palermo einen ganzen Tag in einem der „Cortile" verbracht, deren dichtes Netz wohl die Hälfte der Stadt zwischen der feinen Via Maqueda mit dem Opernplatz (der die „größte Oper" Europas beherbergt) und der Kathedrale und dem königlichen Schloss bedeckt.
Der Arbeiter, dessen Bekanntschaft ich irgendwo in der Stadt gemacht hatte, wollte mich erst nicht zu sich nach Hause mitnehmen. Er schämte sich offenbar, dem Fremden das Elend seiner Existenz zu offenbaren. Aber ich war hartnäckig gewesen, und so kamen wir endlich in seiner Gasse an. Die Gasse ist hundert Meter lang und etwa drei Meter breit. Wie überall, so empfängt uns auch hier Arbeitslärm der Handwerker und Kindergeschrei. Die Häuser, die wie Ruinen aussehen, sind zwei bis drei Stock hoch. Jedes ist ein Zimmer breit. Fenster gibt es nicht, nur Türen. Diese münden oben auf die Straße und in den oberen Stockwerken auf kleine baufällige Balkons. Die „Wohnungen" sind sich alle gleich: ein Raum mit einer kleinen Küchenecke. In jedem dieser Löcher wohnt eine Familie von durchschnittlich sieben bis neun Köpfen. Über zweitausend Personen wohnen in dieser kleinen Gasse! Selten war in einer Wohnung mehr als ein männliches Wesen zu finden, das Arbeit oder sonst einen Verdienst hatte. Durchschnittlich brachte jeder zehn Lire am Tage nach Hause. Und davon lebt dann die ganze Familie. Man kann sich vorstellen, wie die Menschen aussehen, die hier hausen. Und so wie sie leben Hunderttausende in den genannten Städten!
Das Bild des Elends der Massen wird noch klarer, wenn man erfährt, was diese Menschen essen. „Glücklicherweise isst unser Bauer nur einmal täglich", hat Mussolini neulich in einer Rede gesagt. Und das stimmt. Ja, es ist sogar beinah zu viel gesagt. Wir werden später noch die Lebensbedingungen der Bauern genauer kennenlernen. Wir werden erfahren, warum es Zeiten
gibt, wo sie die ganze lange Woche, weit von Hause entfernt, in Stroh- und Lehmhütten auf den Feldern leben und sich während dieser Zeit fast ausschließlich von trockenen, kalten Speisen ernähren, die sie von zu Hause mitnehmen: von Brot, Käse, Zwiebeln und einem Schluck Wein. In den Gegenden mit ausgeprägtem Großgrundbesitz im Norden und im Süden wird die einzige Mahlzeit zu Hause eingenommen, wenn der Vater nach Sonnenuntergang vom Felde zurückkommt. Nur in manchen Gegenden gibt es mittags auf dem Felde noch eine Suppe. In Mittelitalien, wo vor allem die Halbpacht verbreitet ist, wird die Hauptmahlzeit mittags im Hause genossen. Ein kärgliches Frühstück und Abendbrot wird auf dem Felde verzehrt. Die Zusammensetzung der Speisen ist in ganz Italien bei den Bauern von größter Eintönigkeit. Die Grundlage bilden Brot, Mehlprodukte und Hülsenfrüchte. Frisches Gemüse wird schon seltener gegessen. Fleisch, das es in der Zeit nach dem Kriege fast jeden Sonntag gab, kommt immer seltener auf den Tisch. Die Landbevölkerung kehrt zu den Zuständen zurück, wo es nur dreimal im Jahr, zu Ostern, zu Pfingsten und zu Weihnachten, Fleisch gab. An die Stelle des Fleisches ist immer mehr der Stockfisch getreten, Importware aus Skandinavien, die drauf und dran ist, italienisches Nationalgericht zu werden. Aber nicht nur der Bauer ist auf diese Elendsration gesetzt. Was Mussolini von ihm gesagt hat, gilt heute ebenso vom Arbeiter. Ja, seine Ernährung ist noch schlechter. Denn wenn auch der ärmste Tagelöhner noch irgendein Stückchen Feld oder Garten hat, auf dem er sich etwas frisches Gemüse ziehen kann, muss der Arbeiter alles kaufen. Auch für ihn ist das Fleisch längst zu einer märchenhaften Angelegenheit geworden. Hören wir einen Arbeiter selber an:
Die Zeitung „Il Lavoro", eine der wenigen Zeitungen Italiens, die sich erlaubt, von Zeit zu Zeit eine etwas oppositionelle Haltung einzunehmen, hatte im Februar eine Serie von wissenschaftlichen Artikeln über das Thema: „Was und wie viel muss man essen" veröffentlicht. In ihrer Nummer vom 5. März 1931 druckte sie dann einen anonymen Brief von vier Arbeitern zu dieser Frage ab. In dem Artikel heißt es:
„Sie wissen sehr wohl, dass der Arbeiter, angesichts seines kümmerlichen Einkommens von heute, sich darauf beschränken
muss, sehr wenig Nahrungsmittel zu verzehren, die er unter den billigsten auswählt. Die Arbeiter kümmern sich nicht um Vitamine und Proteine, sondern möchten einfach wissen, wovon er sich praktisch ernähren soll, um wenig auszugeben und doch zu leben ...
Natürlich müssen Sie (das brauchen wir Ihnen wohl nicht zu sagen) zuerst einmal daran denken, dass die Arbeiter in ihrer großen Masse, weil sie es nicht können, keine Süßigkeiten, feine Teigwaren, Obst, Gartenfrüchte, Milchprodukte und Marmeladen verzehren, auch wenig Milch, wenig Zucker, wenig Butter, wenig Gemüse, Reis, Eier oder sogar Fleisch oder andere appetitliche Sachen und Sächelchen.
Die Arbeiter von heute füllen sich den Magen (wenn ihnen das überhaupt gelingt) größtenteils mit magerer Suppe, trockenen Makkaroni, meistens Bruchware, Kartoffeln oder Soße mit viel Kartoffeln, mit Stockfisch, Klopsen aus allen möglichen Resten, Brot zweiter und dritter Sorte, Kabeljau, Maisgrieß, weißen Bohnen, Erbsen, Zwiebeln, Kaidaunen, Pfeffer, wässriger Milch, Gerste, altem Käse ... und mit einem Scheibchen Rinderwurst bei festlichen Gelegenheiten, einem bisschen gebratenen Fisch (meistens Tintenfisch), einem bisschen Weißbrot und Fleisch zu Weihnachten, und grauem Kuchen zu Ostern und zu Weihnachten. Vielleicht trinken die Arbeiter außer reichlich Wasser auch einmal ein Gläschen Wein (übrigens nicht alle), aber das muss man ihnen schon lassen, sei es, weil der Wein die traurigen Gedanken verjagt, sei es, weil sie damit doch heutigen Tages dazu beitragen, die Krise im Weinbau zu lösen, die ein andres der großen Übel unserer Nation darstellt." Dieser Brief spricht eine beredte Sprache. In den letzten Worten zeigt sich die ganze Ironie, mit der die Zeilen geschrieben sind. Man kann sich nach dieser Darstellung, die erstens aus einer großen Hafenstadt stammt, und zweitens die faschistische Zensur passiert hat, vorstellen, wie der Speisezettel des Arbeiters in Wirklichkeit aussieht.
Was bei diesen Wohnungs- und Ernährungsverhältnissen aus der Gesundheit der Bevölkerung wird, kann man sich denken. Die Pellagra, die epidemische Darmkrankheit, die bis zur Jahrhundertwende unter der norditalienischen Landbevölkerung
Verheerungen anrichtete, ist zwar noch nicht wieder als Epidemie aufgetreten. Aber die Vorkämpfer gegen diese furchtbare Krankheit haben seinerzeit die entsetzlichen Ernährungsverhäitnisse bei der Landbevölkerung in der Po-Ebene als Ursache der Pellagra festgestellt. Sie ist nach und nach mit dem bis in die Nachkriegszeit anhaltenden Steigen des Wohlstands der ländlichen Massen verschwunden. Wie lange wird es dauern, bis sie unter diesen Menschen, die der Faschismus auf die Hungerrationen der Zeit vor 1900 zurückgebracht hat, wieder auftritt?
Inzwischen wüten Tuberkulose und Malaria als Volkskrankheiten. Was nützt der offizielle Kampf gegen die Tuberkulose, was helfen die paar Heilanstalten, die Bekämpfung der Mückenplage und das durch ein besonderes Staatsmonopol vertriebene Chinin auf die Dauer, wenn die körperliche Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung durch Hungerlöhne und chronische Unterernährung ständig sinkt?
Das ist das andere Italien: das graue Elend der Millionen der werktätigen Bevölkerung in diesem Lande mit den blühenden Feldern und Gärten und den prachtvollen, modern ausgestatteten Großbetrieben. Statt ständig zu wachsen, geht der Innenmarkt ebenso ständig zurück. Der Konsum von Zucker, Textilwaren, Schuhzeug, Wein, Gemüse, Öl usw. sinkt von Jahr zu Jahr. Der letzte Winter mit seinen riesigen Lohnkürzungen und den steigenden Arbeitslosenziffern hat Absatzrückgänge bis zu dreißig und vierzig Prozent gebracht.
Aus diesem allgemeinen Bild des scheinbaren Reichtums des Landes und des tatsächlichen Elends der Massen heben sich einzelne Fälle besonders krass heraus.
Wir haben schon gesägt, dass die Zustände in Italien einen Vergleich mit dem alten Russland vor der Revolution nahelegen. Auch dort fanden wir ein an natürlichen Schätzen besonders reiches Land, in dem die Massen der werktätigen Bevölkerung ein beispielloses Elendsdasein führten. Auch dort standen Wirtschaftsformen aus der Feudalzeit einer zum Teil aufs höchste entwickelten Industrie gegenüber. Wenn man aber Vergleiche für manche heute - 1931 - noch in Italien bestehenden Zustände sucht, so muss man weiter gehen als nach Russland: Man muss sich noch
China wenden, oder man muss in das frühe Mittelalter von Italien selbst zurückgehen.
Geradezu chinesische Zustände herrschen im Süden. Als ich von meinen Beobachtungen einem Freund erzählte, der ein besonderer Kenner Chinas ist, unterbrach er meine Erzählungen alle Augenblicke mit dem Ausruf: „Das ist ja wie in China." Chinesisch sind viele Formen der intensivsten gartenmäßigen Feldbestellung, mit einer ausgebauten Bewässerungskultur, bei der die tatsächlich auf dem Lande arbeitende Bevölkerung fast Hungers stirbt, weil sie unendliche Pachtzinsen an die Besitzer und ihre Stellvertreter abgeben muss. Aber die Ähnlichkeit mit China geht bis in lächerliche Einzelheiten. Ich will so einen Fall erzählen. Auf dem Landgut Ficuzza, fünfzig Kilometer landeinwärts von Palermo, fand ich in einem Raum des Verwaltungsgebäudes an einem Nagel einen Strick hängen, auf dem an hundert sonderbare, mit Kerben versehene Holzstäbchen aufgefädelt waren. Dieser Strick mit den Stäbchen, der auf den ersten Blick aussah wie ein Kinderspielzeug, wie eine Strickleiter oder die Halskette einer Negerfrau, war - die Buchführung des Gutes. Achthundert Morgen dieses Gutes lässt sein Besitzer, der Hotelbesitzer Spadafora aus Palermo, von Halbpächtern bearbeiten, Bauern, die ihm die Hälfte oder zwei Drittel des Ernteertrages abliefern müssen. Diese Bauern kommen allmorgendlich aus dem zwölf Kilometer vom Gut entfernten Bergstädtchen Marineo zur Arbeit auf die Felder des Spadafora. Die Leute, von denen jeder ein Stück Land von fünfzehn bis zwanzig Morgen Größe bearbeitet, sind des Lesens und Schreibens unkundig. Aber sie müssen dem Gutsherrn eine Abrechnung vorlegen. Das ganze Jahr hindurch bekommen sie von ihm Vorschüsse in Gestalt von Bargeld und Korn. Die Vorschüsse müssen nach der Ernte abgerechnet werden. Die Grundlage dieser Abrechnung bilden die Stäbchen, die ich im Verwaltungsgebäude hängen sah. Jedes Stäbchen ist das Konto eines Bauern. An dem einen Ende ist sein Name und die Nummer seines Feldstücks aufgeschrieben. An den Seiten des Stäbchens wird die Rinde abgeschält, das runde Holz abgeflacht, und dann werden Kerben eingeschnitzt: auf der einen Seite die Geldvorschüsse, auf der anderen Seite die Scheffel Getreide, die er zur Aussaat erhalten hat. Dann wird das Stäbchen der Länge nach gespalten, so dass die Einkerbungen auf beiden Seiten halbiert werden. Die eine Hälfte nimmt der Pächter mit nach Hause. Wenn er einen neuen Vorschuss braucht, bringt er seine Hälfte mit. Sie wird dann an die andere Hälfte angelegt, und für den neuen Vorschuss wird über die beiden Hälften hinweg eine neue entsprechende Kerbe eingeschnitten. Die andere Hälfte bleibt beim Edelmann. Da hängen diese Hölzchen, auf einen Faden aufgefädelt, an einem Nagel, an der Wand. Soviel Bauern, soviel Stäbchen! Sie hängen da, als Symbol uralter Sklaverei, die der Faschismus treu behütet.
Wie alt mag diese Tradition sein? Die Eintragung erfolgt in römischen Zahlen. Man sieht ordentlich den Verwalter eines Latifundiums der alten römischen Zeit vor sich, wie er dieselben Einkerbungen für die freigelassenen Sklaven macht, die er auf den Feldern seines Herrn arbeiten lässt.
„Chinesisch" sind die Arbeits- und Lohnverhältnisse in den Schwefelgruben Siziliens. Unter den furchtbaren Bedingungen, von denen noch später die Rede sein wird, arbeiten in den Schwefelgruben Siziliens gegenwärtig 15000 Arbeiter. Davon sind gut ein Drittel Kinder unter vierzehn Jahren. Die Grubenbesitzer zahlen Lohn nur an die Häuer. Die Bezahlung der Lastschlepper unter Tage, die fast ausnahmslos Kinder sind, geschieht durch die Häuer. Auf diese Weise sind die Kinder den Häuern vollkommen ausgeliefert.
Ausgesprochen mittelalterlichen Zuständen begegnet man auf Schritt und Tritt in Mittelitalien. Schon auf den ersten Blick springt einem beispielsweise in die Augen, wie sich in Toskana die Siedlungs- und Besitzverhältnisse seit dem frühen Mittelalter nicht verändert haben. Betrachtet man die Bilder der toskanischen Maler des 14. Jahrhunderts in den Museen, so findet man auf den Hintergründen der Heiligenbilder toskanische Landschaften, die ebenso gut jetzt wie vor sechshundert Jahren gemalt sein könnten: Oben auf den Bergen am Rande des Waldes liegen die „Villen", die festen Schlösser der Herren und Grundbesitzer. Weiter unten am Abhang schließen sich die riesigen Steinhäuser der Pächter und Halbpächter an. Auch sie sehen aus wie kleine Burgen Ich werde später ausführlich darstellen, was der eigentliche Inhalt dieser mittelalterlichen Besitz- und Wirtschaftsverhältnisse und insbesondere der „Halbpacht" in Toskana ist. War schon im Mittelalter die Halbpacht eine Form von Sklaverei, deren Bestehen allein der herrschenden Klasse ihr Wohlleben und die von uns so bewunderte reiche geistige und künstlerische Kultur der Renaissance möglich machte, so ist diese Wirtschaftsform heute nichts anderes; ja die Sklaverei ist noch schlimmer: denn wenn im Mittelalter der Pächter nur den Grundherrn und Edelmann über sich hatte, so ist er jetzt, ohne von den ungeheuren Abgaben an den Grundbesitzer befreit zu sein, eingekeilt in die kapitalistische Warenwirtschaft, die ihm bei jedem Schritt, bei jeder Handlung, die er tut, noch einmal ein Stück von dem mageren, ihm verbleibenden Verdienst abzwackt.
Es ist ebenso Mittelalter, was wir auf den Latifundien Süditaliens und Siziliens sehen: Wenn der Spekulant und Bankier, der heute in Sizilien in den meisten Fällen die Erbschaft der alten Adelsfamilien angetreten hat, sich nach dem Muster seiner feudalen Vorläufer heute noch „Edelmann" nennen lässt und von seinen zerlumpten Pächtern und Tagelöhnern als von seinen „Bürgern" spricht, so ist das mehr als ein Spiel mit Worten: tatsächlich sind die alten Besitz- und Arbeitsverhältnisse, aus denen jene Bezeichnungen entstanden, bis heute unverändert geblieben. Aber auch hier gilt dasselbe, was wir von der Halbpacht in Toskana gesagt haben: Die Ausbeutung, die den Inhalt des Verhältnisses von Bürger und Edelmann im Mittelalter bildete, ist unter der alten rechtlichen Form eine viel schlimmere geworden. Auch diese „Edelleute" und „Bürger" leben und arbeiten jetzt innerhalb der kapitalistischen Warenwirtschaft. Sie bewirkt es, dass der Verdienst des Edelmanns ebenso zunimmt wie der des Bürgers abnimmt: denn der Edelmann, der ständig die Hälfte oder zwei Drittel der Ernte ohne weiteres einsteckt, legt dieses Geld in Hausbesitz, Handels-, Industrie- und Bankunternehmungen an. Zu der Grundrente, die er von seinem Landbesitz bezieht, steckt er noch Mehrwert ein. Der Bürger aber ist gezwungen, seine Naturalwirtschaft immer mehr einzuschränken und das, was er zu seinem Leben braucht, immer mehr auf dem kapitalistischen Warenmarkt zu kaufen. Dazu aber muss er erst einen Teil des Ernteertrages, der ihm verbleibt, verkaufen. Natürlich genießt er bei diesem Verkauf seiner Produkte und bei dem Einkauf seiner
Bedarfsartikel nicht die Vorzüge des reichen Besitzers. Er muss seine Ernte sofort losschlagen und sie dem Aufkäufer zum niedrigsten Preis abgeben. Seine Bedarfsartikel aber muss er an Ort und Stelle einkaufen und dadurch eine ganze Schicht von Händlern mit ernähren, während der reiche Besitzer seinen Bedarf in den Städten und im Engroshandel decken kann. Man kann diese Veränderung, die der Kapitalismus in die weiter fortbestehenden mittelalterlichen Besitz- und Arbeitsverhältnisse getragen hat, geradezu mit Händen greifen. Man braucht nur einmal so einen „Edelmann" einem „Bürger" gegenüberzustellen. Der „Edelmann" - ein wohlgenährter Herr mit akademischer Bildung, Großgrundbesitzer, Hausbesitzer, Spekulant an der Börse, Aktionär eines Mühlenbetriebes, Besitzer eines Autos usw. Er wohnt natürlich fernab von seinem Gut in der Stadt in einem der alten, aber jetzt modern eingerichteten Adelshäuser oder einem funkelnagelneuen Palazzo. Der „Bürger" - ein unterernährter Landprolet, halb in Lumpen gekleidet, Bastschuhe an den Füßen. Auf ein- und demselben Landbesitz stehen sich der zum Großkapitalisten gewordene „Edelmann" und der proletarisierte „Bürger" auch mit verschiedenen Wirtschaftsformen gegenüber, die ebenso deutlich die Vertiefung des Gegensatzes infolge der kapitalistischen Entwicklung der Gesamtwirtschaft widerspiegeln: auf dem Teil des Gutes, das der Besitzer selbst mit Tagelöhnern bearbeitet, laufen moderne landwirtschaftliche Maschinen und werden die neuesten Methoden des Fruchtwechsels, der Düngung, der Bewässerung usw. angewendet. Und dicht nebenan, jenseits des Feldrains, schiebt der Bürger den Holzpflug, der sich in nichts von dem Holzpflug des alten russischen Mushik unterscheidet, sät mit der Hand das Korn aus und bringt bestenfalls ein bisschen Stallmist aus der 12 Kilometer entfernten Stadt mit.
Alle diese mittelalterlichen Reste und „chinesischen" Zustände inmitten des Landes, das auf den ersten Blick so reich aussieht und dann seine ganze Armut und Elendigkeit preisgibt, sind mehr als ein geschichtliches Kuriosum. Alle diese Widersprüche bilden den Boden, aus dem der besondere italienische Faschismus erwuchs, und geben der faschistischen Gewaltherrschaft, die diese rückständigen Verhältnisse pflegt, sie dort wieder hergegestellt hat, wo sie zu verschwinden begannen, und gleichzeitig die hochkapitalistische Entwicklung fördert, ihren besonderen Ausbeutungscharakter.
Bevor wir diesen eigentlichen Inhalt der faschistischen Ausbeutungspolitik betrachten, müssen wir eine kleine, wichtige Abschweifung machen.
Wie entwickelte sich der Faschismus aus dem Gefüge der widerstreitenden Klassenkräfte Italiens? Was fand er vor, als er zur Macht kam? Wie war die Stellung der werktätigen Massen vor dem Antritt seiner Herrschaft?

 

WIE ES KAM

Welche Entwicklung hat das italienische Volk vor dem Faschismus genommen?
Wie lächerlich unrichtig die Vorstellungen waren, die sich in der öffentlichen Meinung Deutschlands über das italienische Volk gebildet hatten, wurde mir sofort klar, als ich unmittelbar nach dem Krieg in engere Berührung mit den italienischen Bauern und Arbeitern trat.
Ich ging im Jahre 1919 zum zweiten Mal nach Italien, jetzt nicht als Wanderer, sondern als Mitglied der internationalen proletarischen Jugendbewegung, als Genosse.
Und statt der „Katzeimacher", „Lazzaroni", „Gipsfiguri" und „Drehorgelspieler", unter deren Gestalt man sich in Deutschland „den Italiener" vorstellte, fand ich ein modernes, in aktiven und von hohem Klassenbewusstsein getragenen Verbänden organisiertes Proletariat. Die Organisation beschränkte sich nicht auf die Städte, sondern hatte auch in großem Umfang das Land erfasst. Ja, die italienische proletarische Massenbewegung zeigte Züge, die neu waren sogar für jemanden, der aus dem Land der „größten, bestorganisierten Arbeiterpartei" kam. Neben der Sozialistischen Partei, die damals die stärkste Partei im Lande war und außer Arbeitern und Bauern zahlreiche Intellektuelle in ihren Reihen zählte, standen starke Gewerkschaften unter sozialistischer Führung. Sie konnten auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken. Sie hatten schon in der Vorkriegszeit riesige Kämpfe hinter sich. Die Arbeiter hatten in diesen Kämpfen, wie im Hafenarbeiterstreik von Genua, dem Generalstreik von Mailand und dem Eisenbahnerstreik von 1905 eine Disziplin, eine Ausdauer und einen Opfermut an den Tag gelegt, wie er selten in anderen Ländern zu finden war. Das ganze Land war mit einem dichten Netz von Arbeiterorganisationen überzogen. In den „Camere del Lavoro", den Arbeitskammern, besaß die Bewegung in allen Städten ihre Hochburgen. In diesen „Volkshäusern" waren die Leitungen der Verbände konzentriert, hatten die Kulturorganisationen ihren Platz, gab es Bibliotheken, Vortragssäle, Spiel-, Musikzimmer usw. In den großen Industriestädten waren sie umgeben von einer großen Anzahl von „Circoli", Arbeiterheimen, in denen sich das gleiche Kulturleben der Bezirke abspielte. Scharen von Arbeitern gingen ständig in diesen Häusern ein und aus. Hier schulten sich die Baumeister des neuen Italiens.
Die Massen der Landarbeiter und sogar der Kleinbauern und Kleinpächter waren in einem Maße organisatorisch erfasst, wie wohl in keinem anderen Lande. Und sehr früh waren diese Organisationen dazu übergegangen, sich neben der Verteidigung der wirtschaftlichen, kulturellen Interessen ihrer Mitglieder auch produktive Aufgaben zu stellen.
In einzelnen Provinzen, vor allem im Norden, bestand eine mächtige Genossenschaftsbewegung. Ihr Kapital zählte nach Millionen von Lire. Die riesigen Verbände schienen drauf und dran zu sein, das kapitalistische System von innen her auszuhöhlen.
Auf Schrift und Tritt traf man Gemeinden, die vollkommen in der Hand der sozialistischen Arbeiterschaft waren und die ganze Produktionszweige bewirtschafteten.
Seit 1900 hatte sich die Arbeiterschaft eine ständig breiter werdende soziale Gesetzgebung erkämpft. In wenigen Jahren mussten eine Sozialversicherung, Alters- und Invaliditätsversicherung eingeführt werden, wurden entscheidende Siege auf dem Gebiet der Volkshygiene errungen.
Im Umgang mit diesen aufgeweckten, lebendigen, kämpferischen und immer freundlichen Arbeitern und Bauern entstand meine große Liebe zu Italien, dem Italien der werktätigen Massen; die große Liebe, die mich immer wieder nach Italien trieb, die mich am weiteren Ausbau der Bewegung und an ihren Kämpfen hat teilnehmen lassen und die auch jetzt bei meiner letzten Reise meine Schritte und meinen Blick gelenkt hat. Die Entwicklung Italiens legt auch hier die Parallele zu Russland nahe. Auch dieses Land, das man als „ewiges Agrarland" betrachtet hatte, war im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts von einem schnell fortschreitenden Prozess der Industrialisierung erfasst worden. Wie in Russland, so spielte auch in Italien bei dieser Entwicklung ausländisches Kapital eine hervorragende Rolle. Mit seiner Hilfe wurde in kurzer Zeit eine moderne Industrie aufgebaut. Und auch in Italien kam es dabei zu merkwürdigen Erscheinungen. Im alten Russland konnte man inmitten weiter Steppen plötzlich riesige Fabrikanlagen finden, die aufgebaut worden waren, ohne dass an Ort und Stelle irgendwelche besonderen Vorbedingungen in bezug auf Rohstoffe, Energiequellen und dergleichen vorhanden waren. Der niedrige Preis der Arbeitskraft, die die halbleibeigenen Bauern den Grundherren und Fabrikbesitzern liefern mussten, bestimmte die Wahl des Standortes. Auch in Italien mochte es die billige Arbeitskraft der in halber Sklaverei lebenden ländlichen Massen gewesen sein, die zur Ansiedlung ganzer Industriezweige an beinah willkürlichen Stellen führte, ohne dass es Kohle, Petroleum, Eisen und sonstige Rohstoffe gab.
Die schnelle industrielle Entwicklung wurde zu einer gewaltigen Schule für die werktätigen Massen des Landes. In wenigen Jahrzehnten entstand ein nach vielen Hunderttausenden zählendes Proletariat. Durch die vielen Kanäle, die die junge städtische Arbeiterschaft mit dem Lande verband, pflanzten sich Organisations- und Kampfmethoden der Arbeiter schnell auf das flache Land fort.
Wie im alten Russland spielte der marxistische Sozialismus in Italien eine hervorragende Rolle bei der Entwicklung des modernen Denkens. Die entscheidenden Teile der jungen Intelligenz gingen durch die sozialistische Schule. Diese starke Anteilnahme der bürgerlichen Intelligenz an der sozialistischen Bewegung blieb allerdings auch nicht ohne Rückwirkung auf die Bewegung selber. Durch ihren kleinbürgerlich-intellektuellen Flügel war die Sozialistische Partei stark verbunden mit dem bürgerlichen Liberalismus, mit dem Freimaurertum und den antiklerikalen Demokraten. In dem Maße, wie das Bürgertum selbst erstarkte, wurde diese Verbindung zum Kanal für das Eindringen bürgerlicher Einflüsse in die Arbeiterbewegung. Das kam vor allem zum Ausdruck in einer sträflichen Vernachlässigung der
Agrar- und Bauernprobleme, in einem schwachen Widerstand gegen nationalistische Ideen und in dem Vordringen reformistischer Auffassungen, die vor allem in der scheinbar so erfolgreichen Genossenschaftsbewegung einen Nährboden fanden. Der Krieg wirkte beschleunigend sowohl auf die Entfaltung der Arbeiterbewegung im Ganzen und als Massenbewegung als auch auf den bürgerlichen Entartungsprozess. Er schlug die ersten tiefen Breschen in die sozialistische Einheitsfront. Feindliche Ideologien krochen durch die schwachen Stellen in die Arbeiterbewegung hinein.
Die Massen in Stadt und Land waren ausgesprochen antikriegerisch gestimmt. Aber die Bewegung war nicht stark genug organisiert, um den Eintritt Italiens in den Krieg verhindern zu können. Während die pazifistische Stellungnahme der Sozialistischen Partei einerseits den Einfluss des Sozialismus auf die breiten Massen außerordentlich verstärkte, führte sie andrerseits zum Abschwenken der bürgerlich-nationalistischen Elemente und legte damit den Keim für die Entstehung der faschistischen Organisation. Die Regierung hatte vor allem die Bauernmassen nur dadurch für den Krieg gewinnen können, dass sie ihnen nach dem Siege die Aufteilung des Landes versprach. Als der „Sieg" errungen war, meldeten die Massen ihre Forderung an. Den offiziellen Siegesfeiern stellten sie starke Antisiegesdemonstrationen entgegen. „Wir haben den Krieg gemacht, wir wollen jetzt den versprochenen Lohn." Das Selbstbewusstsein der Arbeiter und Bauern war während des Krieges mächtig gewachsen. Die herrschende Klasse hatte ihnen eine Konzession nach der anderen machen müssen. Arbeiter und Bauern waren verhältnismäßig gut bezahlt worden. Sie fühlten sich als Herren des Landes. Das kam auch in Äußerlichkeiten zutage: Ich war äußerst erstaunt, als ich im Jahr 1919/20 das Niveau der Kleidung, Ernährung und Lebenshaltung der italienischen Arbeiter und Bauern kennenlernte. Besonders an Sonn- und Feiertagen war diesen Männern im schwarzen Anzug mit weißem Hemd, Kragen und Schlips, die bei Wein und Kartenspiel in den Kneipen saßen oder sich in den Volkshäusern drängten, nicht anzusehen, dass sie in der Woche an der Werkbank standen oder den Pflug führten. Auf dem Lande war die Absage an die alte Arbeitsbluse und
das Cape und das Tragen von Schlips, Kragen und Paletot geradezu zu einem Symbol des klassenbewussten Fortschritts geworden.
Aber die Revolution erschien diesen selbstbewussten Menschen als eine gar zu leichte Aufgabe. Die Schwäche der politischen Bildungsarbeit und Kampfschulung machte sich bemerkbar. Bei näherem Hinsehen stellte sich die Sozialistische Partei als ein sehr loses Gebilde dar. Die einzelnen Bezirksorganisationen hatten größte Selbständigkeit und handelten auf eigene Faust. Das eigentlich feste Gerippe der Partei beschränkte sich auf die Presse. Aber auch sie tat wenig zu einer wirklichen, ernsten revolutionären Schulung der Massen.
In den Köpfen der Mitglieder, ganz zu schweigen von den Nichtorganisierten, war ein idyllischer Reformismus und primitiver Syndikalismus lebendig. Man glaubte ernsthaft an eine spielend leichte Übernahme der kapitalistischen Produktion durch die organisierten Arbeiter und Bauern. Man wollte Land und Fabriken einfach in Besitz nehmen, war sogar bereit, die Eigentümer, wenn auch in bescheidenen Grenzen, zu entschädigen und machte sich wenig Kopfzerbrechen über die Probleme der Staatsmacht. Unter der Hand aber wurden die Produktivgenossenschaften in Stadt und Land zu Instrumenten kapitalistischer Spekulation. Unter den ländlichen Massen, besonders bei den Kleinbauern und Kleinpächtern, setzte sich die neugegründete katholische Volkspartei (Popolari) fest. Da die Sozialisten aus doktrinärer Starrheit heraus sich wenig um diese Schichten der Bevölkerung kümmerten, ja sie sogar von sich stießen, hatte die katholische Organisation leichtes Spiel. Ihr linker Flügel kam dem primitiven, revolutionären Drang der Massen weit entgegen, wobei er es gleichzeitig verstand, ihren Wünschen die revolutionäre Spitze abzubrechen. Charakteristisch für diese Bewegung ist ein Lied, das die katholischen Führer nach der Melodie des revolutionären, sozialistischen Volkslieds „Bandiera rossa" singen ließen:
„Avanti o popolo! Con fede franca,
Bandiera bianca, bandiera bianca."
„Vorwärts o Volk! Mit frischem Glauben,
Die weiße Fahne, die weiße Fahne."
Eine andere Strophe desselben Liedes lautete:
„Vogliamo le fabricche, vogliamo la terra,
Ma senza guerra, ma senza guerra."
„Wir wollen die Fabriken, wir wollen das Land,
Aber ohne Krieg, aber ohne Krieg."
In dieser Strophe tritt der Klassenwiderspruch innerhalb dieser Bewegung deutlich zutage: Die erste Zeile enthält die revolutionären Wünsche der Massen, in der zweiten Zeile aber, die den Bürgerkrieg verwirft, heben die katholischen Priester und Advokaten, die an der Spitze der Bewegung standen, warnend den Finger. Unter dem Gesang dieses Liedes, weiße und rote Fahnen mit dem Kreuz mit sich tragend, zogen in der Nachkriegszeit gewaltige Demonstrationen von Bauern und Arbeitern durch die Städte und Dörfer Italiens. Und es blieb nicht bei Demonstrationen.
Das Beispiel der russischen Revolution schwebte über dieser ganzen Bewegung. Die Kenntnisse von den Vorgängen in Russland waren selbst in führenden Kreisen der Sozialistischen Partei und ihres linken Flügels mehr als mangelhaft. Die Massen verstanden sie auf ihre einfache Weise, und der „Bolschewismus" war ihr Ideal. Lenin war in jener Zeit geradezu italienischer Nationalheiliger. Man konnte sein Bild noch in den entferntesten Dörfern finden. Überall sah man an den Mauern in Städten und Dörfern, mit kindlichen Schriftzügen das „W. Lenin" - „Es lebe Lenin". Es gab zahllose Volkslieder über ihn. ich besinne mich auf ein solches Lied, dessen Melodie eher an einen Kirchengesang als an ein Kampflied erinnerte und dessen Refrain mit den Worten endete: „Lenin wird kommen."
Die Idee der „Sowjets" wurde instinktiv aufgenommen, aber niemand hatte sie richtig verstanden. An allen Ecken und Enden Schossen Sowjets mit den merkwürdigsten Funktionen aus der Erde. Auch die „Sowjets", die die Turiner Gruppe des linken Flügels der Sozialistischen Partei propagierte und organisierte, jenes Flügels, der später den Kern der jungen Kommunistischen Partei bildete, hatten wenig mit den Sowjets der russischen Revolution, mit diesen politischen Grundeinheiten des neuen proletarischen Staatsapparates zu tun. Die dort geschaffenen Fabriksowjets waren, ebenso wie die in der Po-Ebene von den revolutionären Kleinbauern unter Führung der linken Popolari geschaffenen Gutsräte, vielmehr Organe einer wirtschaftlichen Kontrolle und Übernahme der Produktion durch die Werktätigen als Organe der politischen Macht. Die Staatsfrage wurde nicht gestellt!
So sah es aus, als im Jahre 1920 der Drang der Massen sich nicht mehr halten ließ. Es kam die große Periode der direkten Besetzung und Bewirtschaftung der Fabriken und Landgüter durch die Arbeiter, Kleinpächter und Landarbeiter. Diese Ereignisse sind seinerzeit viel zu wenig bekanntgeworden. Und doch stellen sie vielleicht die dramatischste Stunde der europäischen Arbeiterbewegung nach dem Kriege außerhalb Russlands dar.
Eine kleine Einzelheit ist charakteristisch für die Fabrikbesetzung: Die erste Besetzung eines Großbetriebes fand bereits im Herbst 1919 statt. Die einige Tausende Arbeiter zählende Belegschaft der Fabrik des Industriellen Mazzonis in Pinerolo bei Turin nahm, als eine Lohnforderung von der Werkleitung abgelehnt wurde, von dem Betriebe Besitz. Dieser Mazzonis ist derselbe Mann, der heute mit Hilfe der faschistischen Organisation, deren Funktionäre er gegen den Willen der Mitgliedschaft in seinem Interesse eingesetzt hat, ganz Turin beherrscht.
Als Massenbewegung begann die Fabrikbesetzung im August 1920. Der Metallarbeiterverband Norditaliens hatte neue Lohnforderungen gestellt. Die Unternehmer antworteten mit Aussperrung. Daraufhin beschlossen die Gewerkschaften, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, nicht den Generalstreik zu verkünden, sondern die Fabriken zu besetzen. Das war am 27. August 1920.
In wenigen Tagen wurde der Beschluss in ganz Norditalien und in Teilen Mittelitaliens durchgeführt. Am 31. August waren in Mailand zweihundertachtzig Betriebe besetzt. An den Stichtagen blieben die Arbeiter, anstatt nach Hause zu gehen, in den Fabriken und übernachteten auch dort. Ein Teil der Belegschaft wurde zu Wachen eingeteilt und besetzte, mit Maschinengewehren und Flinten bewaffnet, die Tore. Strengste Disziplin wurde eingeführt. Als nach den ersten Tagen der Besetzung ein gewaltsames Ein-
I greifen der Behörden ausblieb, wurde die ständige Anwesenheit bei Tag und Nacht in den Fabriken aufgehoben, dafür aber besondere Wachmannschaften, die „Roten Garden", gebildet. In den Fabriken, über denen rote Fahnen wehten und zu deren Toren niemand hinein- oder herauskommen konnte, ohne von den Posten kontrolliert zu werden, wurde inzwischen mit Hochdruck weitergearbeitet. Ein großer Teil der Ingenieure machte nicht mit. Ihre Stelle nahmen hochqualifizierte Arbeiter ein. Die Bewegung griff bald auf andere Produktionszweige über. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, brauchten die neuen, improvisierten Fabrikleitungen Rohstoffe und Kohlen. Die fertigen Fabrikate und Halbfabrikate mussten weggeschafft werden. Andre Betriebe, die mit den Metallwerken in Produktionsbeziehungen standen, wurden besetzt. Die Eisenbahner machten mit und führten den Werken Kohlen und Rohstoffe zu, die gerade unterwegs waren.
Von den Fabriken dehnte sich die Aktion auf andere Zweige des Lebens aus. Die früheren Besitzer und höheren Angestellten, die im Bereich der Betriebe wohnten, wurden ausquartiert und in ihren Räumen Versammlungslokale, Speisesäle, Kinderkrippen und dergleichen eingerichtet. Auch die Frauen wurden mobilisiert, teils um die Belegschaften, teils um die Wachmannschaften zu ergänzen. In den größeren Orten wurden Zentralstellen geschaffen und mit dem sozialistischen Postarbeiterverband wurde die Zustellung der Betriebskorrespondenz an die Zentralstellen vereinbart.
Kurz, es entwickelte sich um die sechshundert Metallbetriebe herum, in denen etwa eine halbe Million Arbeiter beschäftigt waren, ein ganzes kleines Sowjetleben, das die Tendenz hatte, immer weitere Kreise zu ziehen.
Aber auch jetzt wurde die Frage des Staates nicht gestellt! Man stellte mit Erstaunen fest, dass die Regierung nichts unternahm, um der Bewegung mit Gewalt ein Ende zu machen, und man wurde dadurch in der Illusion bestärkt, dass die Inbesitznahme der Produktion vor sich gehen könnte, indem die in den Fabriken konzentrierten Arbeiter der bestehenden Regierung ihren Willen aufzwangen.
Inzwischen ließen sich die Arbeiter auf Verhandlungen mit den Industriellen ein. Die Regierung übernahm das Protektorat dieser Verhandlungen und gab sich den Anschein, als stünde sie dem Konflikt neutral gegenüber. In den Verhandlungen beschränkten sich die Vertreter der Arbeiter im wesentlichen auf die Forderung der Anerkennung eigener Arbeiterorgane in den Betrieben, die neben den Unternehmern die Kontrolle der Produktion übernehmen und in Zukunft alle scharfen Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitern verhindern sollten. Als die Unternehmer, angeregt durch entsprechende Winke der Regierung, formell auf diese Vorschläge eingingen, wurde die Besetzung aufgegeben. Am 27. September erfolgte unter riesiger Beteiligung der gesamten arbeitenden Bevölkerung unter roten Fahnen und mit revolutionären Liedern der feierliche Auszug aus den Betrieben. Etwa zur gleichen Zeit überflutete eine Welle von revolutionären Aktionen die Landbezirke.
Die Landarbeiter, Kleinbauern und Kleinpächter wollten sich nicht mehr mit Versprechungen abspeisen lassen. Sie wollten das Land haben. Und als man es ihnen nicht gab, nahmen sie es sich.
Diese Bewegung trug mehr spontanen Charakter als die der Fabrikbesetzungen. Während sie im Süden und auf den Inseln vorwiegend demonstrativen Charakter hatte, nahm sie im Norden Formen an, die denen der Fabrikbesetzung durchaus entsprachen.
Das hervorragendste Beispiel für diese Aktion gaben die Landarbeiter und Tagelöhner der Provinz Cremona. In den Jahren 1918 und 1919 hatten sie in zähen Kämpfen eine ständige Verbesserung der Löhne und der Arbeitszeit durchgesetzt. Aber alle diese Erfolge in Teilfragen führten, besonders angesichts der wachsenden Inflation, zu ungenügenden Resultaten. Die Bauern begriffen, dass sie nur durch einen Angriff aufs Ganze, durch eine Änderung der Besitzverhältnisse, ihre Lage wirklich verbessern konnten. Aber auch sie blieben hierbei stehen.
Auch sie stellten nicht die Frage der Staatsmacht! Und wie die Arbeiter wurden auch sie in dieser Auffassung, dass man die Besitzverhältnisse ändern könnte, ohne die Staatsmacht anzugreifen, bestärkt durch die Haltung der damaligen Regierung. An ihrer Spitze stand der kleinbürgerliche Liberale Giolitti. Die Art und Weise, wie er zu der Bewegung der Besetzung der Fabriken und Landgüter Stellung nahm, trug ebenso sehr dazu bei, dass diese Bewegungen sich überhaupt entfalten konnten, als auch dazu, dass sie an ihrer eigenen Unreife zugrunde gingen. Hinsichtlich der Bewegung von Cremona ging er so weit, dass er den Bauern, die die Leitung der Güter übernommen hatten, gegenüber den beschwerdeführenden Grundbesitzern von einer Gerichtsinstanz nach der anderen recht geben ließ.
Die Streikbewegung, die der Güterbesetzung in Cremona vorausging, hatte ihren Höhepunkt in dem sogenannten Streik der Kühe. Dieser Streik spielte sich in einer Zeit ab, in der ich mich in Italien befand. Die Kunde von dem Streik lief bei den Bauern von Mund zu Munde. Um bestimmte Forderungen durchzudrücken, hatten die Landarbeiter beschlossen, die Besitzer an ihrer empfindlichen Stelle, an der Viehwirtschaft, zu treffen. Eines Tages verweigerten die Schweizer einheitlich, die Kühe zu melken. Die wenigen Streikbrecher wurden mit Gewalt gehindert, die Arbeit aufzunehmen. Der Erfolg war unheimlich. Die Kühe hatten unter dem Druck ihrer bis zum Platzen gefüllten Euter furchtbare Schmerzen auszustehen. Die Gutshöfe und Viehweiden hallten wider von dem Gebrüll der Tiere. Die Gutsherren gaben nicht nach. Sie waren zum Äußersten entschlossen. Das Gebrüll ging über in wildes Schreien und Todesröcheln. Die Städte blieben ohne Milch. Aber niemand gab nach. Zu Tausenden und Zehntausenden krepierten die Milchkühe. Ein zehnjähriger Viehbestand ging damals zugrunde.
Nach dieser Erfahrung gingen die Arbeiter zur entscheidenden Aktion über. Sie besetzten die Güter und erklärten die Besitzer für enteignet. Sie schlossen sich zu Assoziationen zusammen, die kollektiv die Wirtschaft übernahmen. Den ehemaligen Besitzern wurde höflich freigestellt, mit gleichen Rechten und Pflichten in die Kollektivwirtschaften einzutreten. Solange die Bewirtschaftung der Güter durch die Assoziationen nicht vom Staate anerkannt wurde, auf dessen Hilfe die Arbeiter vertrauten, sollte sie im Namen der Besitzer betrieben werden.
Zehn Monate hatte dieser Kampf gedauert. Zehn Monate waren
Landarbeiter, Tagelöhner und Kleinpächter Herren der Güter. Um sich Betriebskapital und Geld für die Lohnzahlungen zu schaffen, mussten sie an den Verkauf der Produkte herangehen. Die Unternehmer ließen die Getreidemärkte sperren. Die Arbeiter versuchten die Holzvorräte der Güter loszuschlagen. Die Unternehmer verabredeten mit den Holzgroßhändlern den Boykott dieser Verkäufe. Dasselbe geschah mit dem Fleisch. Während dieses zähen, stillen Kampfes wurden vor den Gerichten die Klagen der Großgrundbesitzer und die Ansprüche der Arbeiterassoziationen verhandelt. Überall wurde den Arbeitern recht gegeben! Der Konflikt kam schließlich vor eine eigens eingesetzte Regierungskommission, an deren Spitze ein gewisser Bianchi stand. Auch diese Kommission nahm in dem berühmt gewordenen „Bianchi-Spruch" die Formel der Bauern an: „Keine Besitzer und keine Lohnarbeiter mehr; kollektive Bewirtschaftung durch die Assoziationen."
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Giolitti wurde gestürzt und damit der Damm gebrochen, der bis dahin die Entfaltung der faschistischen Bewegung gehemmt hatte.
Die große spontane, revolutionäre Massenbewegung brach zusammen. In den Städten waren es die Sozialisten, die, der politischen Frage der Staatsmacht ängstlich aus dem Wege gehend, die Bewegung nicht nur ohne revolutionäre Führung, sondern im entscheidenden Augenblick überhaupt im Stich gelassen hatten. Als sich aus der Praxis der Fabrikbesetzung heraus politische Forderungen ergaben, die vom linken Flügel der Partei, den späteren Kommunisten, unterstützt wurden, erklärten die Gewerkschaften, dass sie das nicht mitmachen könnten und unter diesen Umständen jede Verantwortung für die Aktion ablehnten. Nachdem die Gewerkschaften die große Sache so im Stich gelassen hatten, kam die sozialistische Parteileitung und erklärte, dass, wenn die Gewerkschaften nicht mehr mitmachten, sie allein die Verantwortung auch nicht tragen könne. So fanden sich die revolutionären Arbeiter plötzlich verraten und verkauft. Noch nicht fähig, aus ihren Reihen eine neue Kampfleitung zu schaffen, verloren sie den Mut, beschränkten sich auf Verhandlungen mit den Unternehmern und verließen schließlich, in der Hoffnung, dass die Regierung ihnen helfen würde, die Fabriken.
Auf dem Lande hatten die Führer der Popolari das Ihrige getan, um die Massen vom Weitertreiben des Kampfes abzuhalten. Sie stellten die Urteilssprüche der Gerichte zugunsten der Bauern als entscheidende Siege hin, stärkten bei den Massen die Illusion der friedlichen Erreichung ihrer Ziele und lieferten sie so den Faschisten ans Messer, als ihre große Hoffnung, das Ministerium Giolitti, unter dem Druck der Großgrundbesitzer, Fabrikanten und Bankiers stürzte. Denn inzwischen hatten sich im Lager der herrschenden Klasse entscheidende Dinge abgespielt. Über die Probleme des Krieges und des Friedens und die Fragen der Liquidierung der Kriegswirtschaft hatten sich Junker, Großindustrielle und Bankiers in verschiedene Lager gespalten. Diese Zersplitterung ihrer Kräfte hatte das kleinbürgerliche Ministerium Giolitti ans Ruder gebracht. Jetzt, wo in den revolutionären Aktionen die Gefahr der proletarischen Revolution, verbunden mit einer Bauernrevolte, riesengroß aufgestanden war, traten die Meinungsverschiedenheiten zurück hinter dem einen Ziel, die rote Gefahr abzuwehren.
Es ist bemerkenswert und wichtig für die ganze weitere Geschichte des Faschismus, dass den eigentlichen Anstoß zur Bildung der reaktionären Einheitsfront der Besitzenden, in deren Dienst sich der Faschismus stellte, nicht so sehr die Besetzung der Fabriken als die der Landgüter gab. Nach seiner Gründung im Jahre 1919 hatte sich der Kampfbund Mussolinis noch wohlwollend gegenüber den ersten Fällen der Fabrikbesetzung durch die Arbeiter ausgesprochen. Erst auf die Besetzung der Landgüter hin begann die gegen die Arbeiter gerichtete terroristische Tätigkeit der „Fasci". Das war die eigentliche Geburtsstunde des Faschismus. Hätten die Großgrundbesitzer nicht im Jahre 1920 die Organisation Mussolinis, deren Mitglieder vielfach mit den besitzenden Kreisen auf dem Lande verbunden waren, zu Hilfe gerufen, sie mit großen Geldmitteln versorgt und ihren Stoßtruppen Lastautos und Waffen zur Verfügung gestellt, so wäre die Gruppe Mussolinis vielleicht ein kleiner, unbedeutender Verein geblieben. In den Strafexpeditionen, die von den großen Gütern aus gegen die Siedlungen der Landarbeiter und kleinen Bauern unternommen wurden, wurde der Faschismus zur Massenbewegung, deren Einfluss zunächst noch auf die Landbezirke beschränkt war.
Aber die Großgrundbesitzer blieben nicht allein. Zu ihnen gesellten sich die Industriellen, die sich nun auch in größerer Zahl für Mussolinis Organisation zu interessieren begannen und sie unterstützten.
Und zu diesem Block stieß noch eine dritte Kraft: die wohlhabenderen Mittelschichten in Stadt und Land. Diese Schichten hatten unmittelbar nach dem Krieg offene Sympathien für den Sozialismus gezeigt. Auch sie waren mit dem Ausgang des Krieges unzufrieden. Sie suchten nach der „starken Hand", die Ordnung schaffen könnte. Von den großen parlamentarischen und organisatorischen Erfolgen der Sozialisten bestochen, glaubten sie in ihnen diese starke Hand zu sehen. Als aber in der Aktion von 1920 unter dem pazifistisch und reformistisch verbrämten Mantel der Sozialistischen Partei der proletarische Pferdefuß hervorkam und mancher kleinbürgerlichen Existenz einen empfindlichen Tritt versetzte, besonders aber als diese Leute, die die Macht schon so gut wie in Händen gehalten hatten, sie hilflos und feige entgleiten ließen, da wandten sich die Mittelschichten verbittert und enttäuscht von den Sozialisten ab. Damals gingen sie in hellen Scharen zu den Faschisten über, die, unterstützt von der herrschenden Klasse, sichtbare Beispiele einer Politik „der starken Hand" gaben.
Der Faschismus breitete sich in den Landbezirken aus wie die Pest. Mit Feuer und Schwert vernichtete er die Organisationen der Bauern und Landarbeiter. Die Organisatoren der Bauernverbände wurden ermordet, zur Niederlegung ihrer Posten mit Gewalt gezwungen und in der Öffentlichkeit diskreditiert. Es wurden neue faschistische Verbände gegründet, die die Unternehmer dadurch unterstützten, dass sie nur Mitglieder dieser Organisationen in Arbeit nahmen.
Von der schnell ausgebauten Basis auf dem Lande aus begannen die Faschisten mit ihrer Strafexpedition mit Lastautos, Maschinengewehren, Handgranaten gegen die Städte vorzustoßen. Die ersten Volkshäuser gingen in Flammen auf. Gleichzeitig beschritten sie den „legalen Weg". Als Partei konstituiert, nahmen sie an den Wahlen teil und sammelten so auf dem Boden der Demokratie die ihnen zuströmenden Sympathien der Mittelschichten.
Und wieder traten die Sozialisten den Rückzug an. Statt die Kräfte des Proletariats zum bewaffneten Widerstand zu sammeln, schloss die sozialistische Parlamentsfraktion mit den faschistischen Parlamentariern einen „Friedensvertrag", der die beiderseitige Entwaffnung zur Folge haben sollte. Es war klar, dass die Faschisten auch im Traume nicht an eine solche Entwaffnung dachten. Der „Pazifismus" der Sozialisten ging so weit, dass sie, als ihnen von Gesinnungsgenossen, die sie damals noch in der Regierung hatten, Waffen gegen die Faschisten angeboten wurden, dieses Angebot ausschlugen, indem sie sagten, es sei Aufgabe des Staates, die einen Bürger gegen bewaffnete Überfälle der anderen zu schützen!
Dieser ununterbrochene Verrat der sozialistischen Führer führte zur Spaltung der Sozialistischen und zur Gründung der Kommunistischen Partei. An der Spitze dieser jungen Partei standen aber zunächst Elemente mit starkem anarchistischem Einschlag, die statt auf die Schaffung einer Massenpartei hinzuarbeiten, den Weg der Sektenbildung einschlugen.
Unter dem Druck der immer frecher werdenden faschistischen Überfälle auf die Städte entstand in einer Reihe von Industriezentren eine spontane Abwehrbewegung, eine Art „Kampfbund gegen den Faschismus", mit dem Namen „Arditi del Popolo". Diese Organisation war sehr bunt zusammengewürfelt. An ihrer Spitze standen unklare und unzuverlässige Elemente: Demokraten, ehemalige Offiziere, einzelne Linkssozialisten usw. Aber die städtischen Massen sympathisierten mit ihr. Unter geeigneter Führung hätte diese Organisation zum Sammelpunkt aller proletarischen Kräfte werden können, die bereit waren, den Faschisten bewaffneten Widerstand zu leisten. Trotz all ihrer Mängel waren es die „Arditi", die damals den gegen die Städte vorgehenden Faschisten erfolgreichen Widerstand leisteten. In den Schlachten von Bologna und San Lorenzo (einem Arbeitervorort von Rom) wurden den Faschisten blutige Niederlagen beigebracht.
Allein die Kommunistische Partei wäre imstande gewesen, die Führung der Bewegung zu übernehmen. Statt alle verfügbaren Mitglieder in diese Organisation hineinzuschicken und sie die leitenden Stellungen besetzen zu lassen, gab die Parteileitung unter dem Einfluss der damals in ihr vorherrschenden sektenhaften Einstellung - allen Kommunisten den Befehl, diese „zweifelhafte und nicht klassenbewusste" Organisation zu verlassen.
So brach auch diese letzte Barriere zusammen, die den faschistischen Vormarsch zum mindesten hätte aufhalten können. Kleine kommunistische Kampfgruppen leisteten den faschistischen Sturmtruppen erbitterten Widerstand. Aber trotz der heroischen Anstrengungen, trotz des größten Opfermutes waren sie nicht imstande, die faschistischen Banden, zu deren Hilfe jetzt schon überall der Staatsapparat eingriff, zurückzuschlagen. Der Faschismus hatte gesiegt. Unterstützt von der ganzen herrschenden Klasse und mit Hilfe der Polizei, der Gendarmerie und der Truppen, überfluteten die faschistischen Banden jetzt auch die Städte und räumten in ihnen mit den Volkshäusern, Zirkeln und Arbeiterorganisationen ebenso auf wie früher auf dem Lande.
Der Faschismus hatte schon gewonnenes Spiel, als er am 31. Oktober 1922 durch den berühmt gewordenen „Marsch auf Rom" sich in den Besitz der politischen Macht setzte. Die damals an der Spitze des Staates stehende Regierung Facta erwies sich als unfähig, mit den politischen Problemen fertig zu werden. Ihre ganze Tätigkeit bestand darin, den faschistischen Banden bei der Eroberung des Landes freie Hand zu lassen. Am 24. Oktober fand, von den Konservativen und Liberalen begrüßt, in Neapel der faschistische Parteitag statt. Er war begleitet von einem großen Aufmarsch der Kampfverbände, die auf Lastwagen und mit der Eisenbahn aus allen Teilen des Landes zusammengeströmt waren. Offiziell widerriefen die Faschisten jedes Gerücht, dass sie mit ihren Kampfverbänden Rom besetzen und so die Macht erobern wollten. Die Regierung Facta wurde von einem faschistischen Abgeordneten im Parlament zum Rücktritt aufgefordert. Facta versuchte noch, den Belagerungszustand zu verhängen, aber der König lehnte die Unterschrift dieses Dekrets ab. Das war das Signal zum Vorgehen der Faschisten. Während es Mussolini vorzog, nach Mailand abzureisen, wo er der Grenze näher war, setzten sich die faschistischen Banden am 28. Oktober in Eisenbahnzügen und auf ihren Lastwagen gegen Rom in Bewegung und zogen am 30. und 31. Oktober in die Stadt ein. Dieser Marsch auf Rom erfolgte erst, als das Nachgeben der Regierung Facta sicher war. Der König hatte ihren Rücktritt angenommen, weil er seine Absetzung durch den Herzog von Aosta fürchtete. Als die faschistischen Banden, an deren Spitze Mussolini nicht marschierte, in Rom eintrafen, berief der König Mussolini an die Spitze des Staates. Damit begann die faschistische Diktatur.

 

VOLK UND FASCHISMUS

Vom Februar bis zum Mai 1924 war ich zum letzten Mal vor meiner jetzigen Reise in Italien. Damals wurde die Reorganisation der schwerverfolgten Kommunistischen Partei und des Kommunistischen Jugendverbandes, die bis dahin nach altem, sozialdemokratischem Prinzip in Ortsgruppen aufgebaut waren, auf der Grundlage der Betriebszellen durchgeführt. Fast genau sieben Jahre waren seit jenem letzten Besuch vergangen, als ich am 3. März 1931 wieder italienischen Boden betrat. Der Eintritt vollzog sich ohne Schwierigkeit. Es scheint, dass man nicht einmal meine Papiere genau geprüft hat. Ich kam ohne festen Plan. Ich hatte noch keine Vorstellung davon, wie ich es anfangen würde, um hinter die Kulissen des Faschismus zu dringen. Ich wollte zunächst einfach im Leben untertauchen, wollte sehen, horchen, fühlen, was los war, und dann die ersten oberflächlichen Eindrücke einer genaueren Prüfung unterziehen. Es dauerte nicht lange, bis ich mir darüber klar war, wie ich die Sache anfangen musste. Unter dem 10. März finde ich in meinem Tagebuch, dessen Blätter ich jeden Abend mit der Post nach Deutschland schickte, um nie etwas bei mir zu haben, folgende Eintragung: „Wo ist der Faschismus? Das Leben der Massen geht in den alten traditionellen Bahnen. Der Volkscharakter scheint unverändert. Wo Massen zusammen sind, besonders bei kleinen Festlichkeiten, in den Kneipen und Cafés, sieht man keine Veränderung gegen frühere Jahre. Das Volk ist ganz unter sich. Der Faschismus sitzt darauf: ein Netz rechtlich privilegierter und ausgehaltener Aufpasser über dem Volk. Keine Spur von Wurzeln im Volk, ja kaum einmal Fühlhörner, die in die Massen hineinragen. Das Verhältnis ist: Überwachung, vorsichtige Beobachtung und manchmal ein Anbiedern mit asketisch-aufopfernder Geste. Was für ein Gegensatz zu Russland!"
Das war der Niederschlag der ersten, planlos gewonnenen Beobachtung bei meinen Wanderungen in die ersten Wohnviertel der kleinen Leute, in die Dörfer.
Meinen ersten Aufenthalt nahm ich an der Riviera. Ich hatte damit gerechnet, dass ich in den Badeorten in dieser Gegend als einer unter Tausenden von Deutschen und Engländern am leichtesten und ohne besondere Nachforschungen die nötige Aufenthaltserlaubnis bekommen würde. Tatsächlich erhielt ich das Papier, das mich für den ganzen weiteren Aufenthalt legalisierte, im Laufe von wenigen Minuten.
Der Weg nach Rapallo hatte mich über Genua geführt. Während des einen Tages, den ich mich in der großen Hafenstadt aufhielt, mied ich die Fremdenviertel und die modernen Stadtteile und strich in den Gassen am Hafen und an den Docks herum, saß in Cafés, besuchte die kleinen Restaurants, wo man für wenig Geld gebratene Fische und anderes Seegetier bekommt, stand auf den Marktplätzen zwischen den streitenden Verkäufern und Hausfrauen herum, mischte mich unter die Menschen, die, ohne die Absicht, etwas zu kaufen, mit großem Interesse den Anpreisungen eines Camelot zuhörten und Neuigkeiten austauschten. Von früher her war mir die starke „Öffentlichkeit" des politischen Lebens in Erinnerung. Straße und Café, Politik und Privatleben, die neuesten Skandalgeschichten und die letzten Kammerdebatten - alles quirlte und strudelte früher ineinander über. Man konnte dieser ewig lebendigen „öffentlichen Meinung" schwer entgehen. In ihr schienen auch die Klassen unterzugehen. Witzworte über das neueste Stadtereignis, den neuesten politischen Skandal, die Mietpreise und die Wetteraussichten flogen von Mund zu Mund zwischen Vertretern aller Schichten. Von all dem war nichts mehr zu merken. Das Leben selbst zeigte wenig Veränderung. Neu war nur die außerordentlich große Zahl von Männern, jüngeren und älteren, die an allen Straßenkreuzungen, auf den Plätzen und Kais herumstand und -saß. Diese Gruppen von Leuten, deren Gesten und Gesichtern man die lange Arbeitslosigkeit ansah, waren schweigsam. Wahrscheinlich hatten sie sich, einander tagaus, tagein an denselben Stellen begegnend, längst alles erzählt, was zu erzählen war. Um sie herum wimmelte das lärmende Leben von früher.
Aber aus allen Gesprächen, die ich auffing und an denen ich teilnahm, war die Politik verschwunden. Politische Fragen schienen nicht mehr zu existieren. Wo sich Vertreter des neuen politischen Regimes, Milizionäre in Uniform oder Leute mit dem Parteiabzeichen, fast ausnahmslos gut angezogene, sehen ließen, verstummten die Gespräche: eine eisige Isolierschicht schien diese Leute zu umgeben. Aber auch da, wo sie unter sich zusammenstanden, wo man nach ein paar beiläufigen Worten an der Theke des Cafés oder im Restaurant mit ihnen ins Gespräch kam, gab es keine Politik.
Diese Leute mit dem Abzeichen traf man nur in ganz bestimmten Gegenden: in den Zentren des großen öffentlichen Lebens, in den feinen Geschäftsstraßen, in denen gut angezogene Leute und Ausländer promenierten, in den besseren Cafés und Restaurants oder an den Stellen, wo Kapital und Arbeit zusammenstoßen: vor den Kontoren der Hafenbüros, an den Stellen, wo sich Gelegenheitsarbeiter zum Dienst anboten, an den Bahnhöfen, wo Arbeitsuchende vom Lande in der Stadt ankommen. Ich ließ es bei diesem ersten, noch nicht zu deutenden Eindruck. Einen Tag später, in Santa Margherita und Rapallo, wiederholte er sich. Ich geriet zunächst in die Fremdenviertel. Auf der Strandpromenade, auf dem Bummel, unter den Galerien, am Platz, in den feinen Cafés - dasselbe Gemisch von einheimischen guten Bürgern, Fremden und Faschisten. Aber hier hatte alles das noch mehr den Charakter einer Kulisse. Hier regte sich noch mehr die Neugier: Was ist hinter der Kulisse?
Ich erhielt einen Fingerzeig durch einen Artikel über den „Kampf gegen die Tuberkulose in den Bergstädten", den ich zufällig beim Lesen der Lokalzeitung fand. Er schilderte den Gesundheitszustand der Landbevölkerung des Chiavarese, jener Täler, die von der Küste und ihren Kurorten in das hügelige Landinnere führen. Der Bericht sprach von einer Sterblichkeit von 11,45 Prozent an Tuberkulose in dieser Gegend.
Richtig, wenn man hier unten in den Kurorten herumspazierte, vergaß man ganz, dass dort hinten, jenseits der Abhänge, die mit Zypressenhainen und prächtigen Villen zum Meere abfallen, noch Tausende und Zehntausende von Bauern leben, für die dieses Land kein Kurort, sondern Grundlage ihrer ständigen Existenz ist.
So machte ich mich auf und wanderte über den Monte Castello in das Hinterland. Die Zone der Gärten und Parks, die noch zum Kurort gehört, war bald durchschritten. Die Abhänge sind sorgfältig in kleinen Terrassen ausgebaut, mit kunstvoll aufgebauten Steinmauern am unteren Rand. Näher zum Meere zu liegen villenartige Häuser verstreut, in Gärten mit Frucht- und Zierbäumen, Mimosen, Pflaumen, Pfirsichen und Mandeln und weit ausgedehnten Blumenbeeten. Weiter oben folgen dann die schier unübersehbaren Olivenhaine, die von Rebenwänden durchzogen sind. Aber dann hören die Terrassen auf; ein Saum von Pinien schließt die bebaute Zone ab. Von der kahlen Höhe öffnet sich der Blick in. das Hinterland, in die Täler der Lavagna und der Sturla. Die Landschaft ähnelt fast unserer deutschen Mittelgebirgslandschaft und nur die großen Kastanienhaine, die sich den Abhang hinunterziehen, und die zahllosen Klöster, Kirchen und Kapellen, die überall zwischen den kleinen Dörfern, Feldern und Waldstücken hervorschimmern, erinnern einen daran, dass man in Italien ist.
Und dann kam die Überraschung. Ich stieg in die Dörfer hinunter. Die ersten Häuser - leer. Die Fenster vernagelt oder gähnend leere Löcher. Die Feldterrassen in der Umgebung der Häuser verwildert und verkommen. Diese verfallenden, verlassenen Felder und Häuser begleiteten mich ein gutes Stück, bis ich auf die ersten Feldarbeiter und die ersten bewohnten Häuser stieß. Die Leute, die ich traf, waren alte Männer. In der Nähe der bewohnten Häuser spielten Kinder, und hin und wieder begegnete man einer alten Frau. Und auch hier zwischen den bewohnten Häusern plötzlich schwarze Fensterhöhlen, verwachsene, ungepflegte Weingehege, vergessene, verfaulte Kohlstrünke. Ich hatte damals noch keine Erfahrung in der Herstellung der Verbindung mit den Leuten und suchte deshalb die winzige Osteria auf, die zugleich einziger Kramladen des Dorfes war. Der Inhalt des Ladens gab eine Vorstellung von dem Verbrauch der Bewohner. Den größten Raum im Laden nahmen Kisten mit verschiedenen Sorten von Nudeln und Makkaroni ein. Auf Etageren lagen uralte, steinharte Käselaibe. Dann gab es noch Seife, Stricke, Petroleum und ein paar Bonbons und schließlich viel, sehr viel Stockfisch.
Bald hatte ich erfahren, wie es in diesen Dörfern steht: Sie sterben aus. Die leeren Häuser, die ich gesehen hatte, sind im Laufe der letzten Jahre verlassen worden. Jahr für Jahr wird die Zahl der verlassenen Häuser größer. Aus den noch bewohnten beginnt die Jugend zu verschwinden, und mit den Händen der alten Männer und Kinder lässt sich das Land nicht mehr recht bearbeiten. Und vor allem: es bringt nichts ein. Das Öl wird vom Großhändler immer schlechter bezahlt. Den hiesigen Wein will niemand kaufen: Die Fremden unten wollen bessere Weine. Auch die Kastanien isst niemand mehr. Selbst die Einwohner hier wissen nichts mehr mit ihnen anzufangen.
Tausende und aber Tausende sind nach Amerika ausgewandert, nach Südamerika vor allem. Andere sind hinuntergezogen an die Küste oder in die Ebene. Selten kommt einer der Auswanderer zurück, und wenn, dann zieht er nicht hier hinauf. Drüben in Amerika oder unten in den Städten hat er sich ans Geldausgeben gewöhnt, und was gibt es hier oben schon auszugeben? Früher war es noch schön hier oben.
„Wir haben gut verdient" (es waren alte Männer, die mir das erzählten), „aber jetzt ist alles hin. Unsere alten Kräfte reichen nicht aus. Wenn das so weitergeht, lebt in zehn Jahren hier niemand mehr."
In den anderen Dörfern an den Abhängen dieser Täler zeigte sich genau dasselbe Bild.
Unter den Zurückbleibenden aber wütete die Tuberkulose. Ist das zu verwundern, wenn man die dunklen, feuchten Höhlen von Wohnungen sieht und erfährt, wovon die Menschen leben: von Nudeln und Stockfisch, weißen Bohnen, Kohl und Brot - und das alles in mehr als kärglichen Portionen?
Wieder fiel mir auf, dass von Politik im eigentlichen Sinn des Wortes in den Gesprächen, die ich führte, nicht die Rede war. Die Worte: Regierung oder auch Faschisten wurden nie erwähnt. Dieser Ausflug in das düstere Hinterland der schönen Riviera war die erste Begegnung mit dieser so krassen Teilung des Landes in zwei Welten, in „zwei Nationen". Aber ich brauchte gar nicht diese weite Wanderung zu machen. Unten in der Stadt selbst war schon diese gleiche Trennung der Welten zu spüren. Man musste nur einmal abbiegen in die Neben-
Straßen, und der „Kurort" war verschwunden: Man befand sich in einer Kleinstadt, in einem Dorf, dessen Bewohner ihr eigenes, in sich abgeschlossenes Leben führten. Wenn man in einer der kleinen Kneipen saß, wo die Handwerker aus den umliegenden Gassen verkehren, die von den Bergen kommenden Bauern absteigen und auch der eine oder andere kleine Handlungsreisende einkehrt, hatte man vergessen, dass man in Rapallo ist. Niemals taucht hier ein Fremder oder auch nur ein besserer Italiener, niemals ein Faschist auf. Es ist eine andere Welt. Das waren meine ersten Versuche, hinter die Kulissen zu blicken. Hier fand ich die Methode meiner weiteren Arbeit. Ich wusste jetzt: Wenn ich die Stellen vermied, wo die beiden Welten, die der Besitzenden und die der Werktätigen, sich berühren, wenn ich es verstand, die eine und die andere der zwei Nationen, in die auch dieses Land zerfällt, für sich aufzusuchen, konnte ich mich in jeder dieser Welten frei bewegen und jede für sich kennenlernen. Und dann blieb mir nur noch übrig, mich mit der „dritten Nation" zu befassen, mit den Faschisten, die, isoliert, aber als Kontrolleure und Sklavenhalter im Dienste der Besitzenden tätig, zwischen diesen beiden Welten stehen. Es war klar, dass ich die Hauptaufmerksamkeit der Welt der Ausgebeuteten und Unterdrückten würde zuwenden müssen. Im weiteren Verlauf meiner Reise hat sich übrigens mein erster Eindruck von der „Isolierung" der Faschisten, davon, dass sie „nur auf dem Volkskörper drauf sitzen", verändert. Ganz so einfach ist es nicht. Sie dringen auch in die werktätigen Massen selbst ein. Sie tun es erstens in ihrer Eigenschaft als Aufpasser und Hüter der „Ordnung". Sie sind ferner überall da, wo sich Lohnarbeiter und Arbeitgeber begegnen, wo um den Preis der Arbeitskraft und die Arbeitszeit gekämpft wird. Sie sind da, wo die Werktätigen versuchen, ein Stückchen „höheren Lebens" abzubekommen, in den größeren Cafés und Weinstuben, die auch von Arbeitern besucht werden. Und schließlich gelingt es ihnen auch hier und da, in die Reihen der Werktätigen selbst einzudringen, beziehungsweise Arbeiter und Bauern in ihre faschistische Organisation zu ziehen. Dies geschieht auf der Grundlage einer planmäßigen Trennung und Gegenüberstellung der Menschen, einer Methode, die die faschistische Politik mit einem ganzen
System von Bevorzugungen und Benachteiligungen anwendet. Aber als Grundtatsache bleibt doch die Trennung der beiden Welten, die im heutigen Italien so schroff ist, wie vielleicht in wenig anderen Ländern.
Nach diesen Erfahrungen konnte ich meine Reise antreten, die mich über Rom nach Sizilien und bis nach Tripolis hinunter führte und dann über Kalabrien und Apulien, durch die Abruzzen und Toskana in die Po-Mündung und die Po-Ebene hinauf bis nach Turin brachte.
Auf diesem langen Wege habe ich mich mit Hunderten von Arbeitern und Bauern in stundenlangen Gesprächen unterhalten, habe Großgrundbesitzer und Fabrikanten aufgesucht und Faschisten aller Grade kennengelernt. Die ersten Beobachtungen hatten mir den Weg gezeigt. Die erste Erfahrung mit Arbeitern und Bauern machte mir weiter Mut.
Es war in Palermo. Ich wandte mich auf der Straße an zwei Arbeiter, die von der Arbeitsstelle diskutierend nach Hause gingen, Sie hatten Lohntag. Der Lohn wurde auf offener Straße, gleich an der Baustelle, wo gearbeitet wurde, ausgeteilt. Eine merkwürdig erregte Stimmung - die Stimmung, die ich später überall wiedergetroffen habe, wo Arbeit und Kapital zusammenstießen - lag über der Gruppe der ihre Lohntüten in Empfang nehmenden Arbeiter. Ich sprach die zwei Männer, die sich bereits von der Gruppe losgelöst hatten, an. Und ohne einen Augenblick zu zögern, zeigten sie dem Fremden ihre Lohntüten und gaben die nötigen Erklärungen zu den einzelnen Posten der Abrechnung.
Die Lohntüte des einen sah so aus:

6 Tage à 13 Lire

78,00 L

 

8 Überstunden à 1,75 L

14,00 L

92,00 L

Sozialversicherung:

 

 

(Invalidität, Arbeitslosigkeit,

 

 

Tuberkulose)

2,50 L

 

Gewerkschaftsabgabe

0,30 L

 

Krankenkasse

0,72 L

 

8prozentiger Lohnabzug

7,36 L

10,88 L

 

10,88 L

81,12 L

(Die Gewerkschaftsabgabe wird von jedem Arbeiter eingezogen, gleichgültig, ob er organisiert ist oder nicht. Über die Bedeutung des Lohnabzuges konnten mir meine Gewährsleute nichts sagen. Sie meinten nur, das ginge an den Staat. Und der Abzug sei erst von den Faschisten eingeführt worden.)
Wir kamen uns im Gespräch immer näher. Schließlich setzten wir uns zusammen in ein Café. Die Arbeiter tranken das Schälchen Kaffee und rauchten die Zigaretten, die ich ihnen anbot, mit sichtlicher Gier. Sie gestanden später ein, dass sie selbst sich diese Genüsse nicht mehr leisten könnten. Mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, mir trotzdem von dem eben erst eingenommenen kärglichen Lohn auch etwas zu spendieren. Als wir wieder auf die Straße traten, waren wir schon gute Freunde, und nun erst fingen sie an, wirklich von sich zu erzählen. Und da kam ganz elementar ihre Erbitterung und ihr Hass gegen das Hungerregime, gegen die Lohnkürzungen, gegen die ständig wachsende Arbeitslosigkeit, gegen die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, die Unmöglichkeit, irgend etwas zu ihrer Verbesserung zu unternehmen, und die ständig über jedem schwebende Gefahr des „Confine", der Verbannung, heraus. Ich war, offen gestanden, verblüfft über die Offenheit und die Kraft ihrer Ausdrücke. Einige Tage später suchte ich sie in ihren Wohnungen auf. Sie wohnten in einem jener „Cortile", von denen schon die Rede war. Dort lernte ich Dutzende von anderen Arbeiterfamilien kennen. Es war immer das gleiche Elendsbild. Und immer kam dieselbe Empörung gegen das faschistische Regime zum Ausdruck. Wenn ich in einem der ärmlichen Zimmer saß, kamen gleich die Nachbarn. Und nicht ein einziges Mal wurde auch nur eine Stimme der Verteidigung der Faschisten und ihrer Maßnahmen laut.
Ich erinnere mich besonders an eine Szene. Es war in der ärmlichen Stube eines dieser Arbeiterhäuser. Der Bewohner war ein 62jähriger Mann mit grauem Haar und Bart und einer Brille auf der Nase, hinter der ernste und kluge Augen leuchteten. Der Alte war von besonders lebhaftem Temperament. Wir landeten bald bei dem einzigen und ewigen Thema, bei der Elendslage und der Unfähigkeit und Willkür der Faschisten. „Und nicht einmal Arbeit können sie einem besorgen! Dreißig
Jahre lang habe ich mich abgeschuftet. Ich habe nichts gekannt als meine Arbeit. Sehen Sie hier."
Er langte unter die mit einem zerrissenen Tuch bedeckte Bettlade und zog einen Holzkasten hervor. In ihm lagen, fein säuberlich in ein Tuch eingeschlagen, die Arbeitsgeräte eines Schlossers. Der Alte packte sie vorsichtig auseinander und legte sie vor mich auf die Erde. An der Art der Werkzeuge war zu erkennen, dass er ein qualifizierter Arbeiter war.
„Das war mein Leben. Dreißig Jahre lang habe ich gut verdient. Ich habe meine Kinder etwas lernen lassen, habe mir etwas gespart und ein paar Sachen angeschafft. Und was ist davon geblieben? Meine Kinder haben ebenso wenig Arbeit wie ich. Alles, was sie gelernt haben, ist für die Katz'! Sie schlagen sich heute in Caltanisetta und Enna als Tagelöhner durch. Sieben und acht Lire am Tage verdienen sie, wenn sie etwas finden. Und ich sitz' bald drei Jahre ohne Arbeit herum. Die Ersparnisse sind alle. Und sehen Sie, wie kahl es hier ist. Die paar Sachen, die ich hatte, sind längst auf dem Monte Pietà, dem Pfandhaus. Nichts haben wir mehr, keine Arbeit, kein Geld, nichts zu fressen und keine Freiheit... Vor dieser Regierung . . ."
Hier unterbricht er sich, macht mit der Hand eine Geste und blickt mich an:
„Regierung? Nein, Verwaltung! Bevor diese Kerle sich bei uns eingerichtet haben, hatten wir noch eine freie Regierung. Da gab es viele Parteien. Auch Sozialisten und Kommunisten. Man konnte sich organisieren, diskutieren, es gab Zeitungen, in denen man die Wahrheit sagen konnte, und man konnte kämpfen. Jetzt -alles ist verboten!"
Das Zimmer war längst voller Nachbarn, die die Worte des Alten, der sich eines besonderen Ansehens zu erfreuen schien, mit ihren Bemerkungen begleiteten. Wir kamen auf die Arbeitslosigkeit zu sprechen. Sie wussten alle Bescheid über die Verbreitung dieses Übels in der ganzen Welt. Ja, sie kannten genau die Zahlen aus andern Ländern.
„Aber nicht in allen Ländern gibt es Arbeitslosigkeit", werfe ich ein. „Es gibt ein Land, wo sie unbekannt ist." Man blickt mich erstaunt an: „Welches denn? Frankreich wahrscheinlich!"
Aber es finden sich sofort Leute unter den Anwesenden, die widersprechen. Sie haben Verwandte in Frankreich, und von ihnen wissen sie, dass es dort auch aus ist mit der ewigen Arbeit. „Nein, Russland meine ich." Der Alte springt auf.
„Ja, Russland, das ist auch etwas anderes! Ein großes Land, ein reiches Land! Und dort ist unser Ideal verwirklicht: der Bolschewismus. Das ist so ähnlich, wie es bei den alten Christen war." Er ist wie verwandelt. Zu den Anwesenden gewandt, erklärt er ihnen, warum es in Russland anders ist. Ja, da gibt es keine Unternehmer und keine Großgrundbesitzer mehr. Da gibt es niemanden mehr, der den Werktätigen etwas wegfrisst, ohne zu arbeiten. Da halten alle zusammen und helfen einander. Da werden Millionenwerte geschaffen, und alles kommt dem Volk zugute! Es ist ordentlich hell in der Stube geworden. Erstaunt, aber zustimmend, hören diese Arbeiter, Handwerker, Straßenhändler und ihre abgezehrten Frauen den Erzählungen des Alten zu. Die Kinder haben sich nach vorne gedrängt und gucken mit offenen Mäulern auf den Alten, der mit lauter Stimme und aufgeregt solche sonderbaren Sachen erzählt.
Ich bin ganz vergessen. Und ich selber habe vergessen, wo ich bin. Ich höre dem Alten zu, ohne auf die Sprache achtzugeben, in der er redet. Ich fühle mich unter Klassengenossen, unter Revolutionären. Bei niemandem, bei mir am wenigsten, taucht der Gedanke an eine Gefahr auf. Wir sind unter uns, in der großen Familie der Proletarier aller Länder!
Dieser Alte war der erste, dem ich mich während meiner Reise in Italien zu erkennen gab. Wir hatten uns schon verabschiedet. Im Namen aller hatte er mir Grüße an die deutschen Arbeiter aufgetragen. Von Kindern umringt und von den Nachbarn begleitet, stieg ich die steile, dunkle Treppe hinunter. Unten angekommen, kehrte ich unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, noch einmal um. Oben war ich mit dem Alten allein. Ich erzählte ihm, wer ich bin, berichtete von unseren Kämpfen, unsern Hoffnungen. Unser Kampf und unser Sieg würde auch ihnen helfen, ihre Fesseln abzuschütteln. Er hatte Tränen in den Augen und küsste mich beim Abschied. Ich versprach, ihn wieder aufzusuchen, wenn wir soweit wären.
In immer neuen Variationen wiederholte sich diese Szene später auf meiner ganzen Reise. In den Arbeitervierteln der Städte, in den Bergwerken, in den Dörfern, auf den Gütern, bei den Metallarbeitern in Turin und in Mailand, bei den Wollwebern von Biella - überall gab es bei den Ausgebeuteten und Unterdrückten nur eine Stimme: Tod dem Faschismus!
Ich habe mir die Leute, mit denen ich sprach, nicht ausgewählt. Ich sprach sie zufällig an, so wie ich es das erste Mal, in Palermo, getan hatte. Immer erst später, wenn ich die Stimmung, die Gedanken und Wünsche der Namenlosen, Unorganisierten kennengelernt hatte, suchte ich dort, wo es am Platze war, unsere kommunistischen Genossen auf. Das musste ja schon aus Vorsichtsgründen geschehen, weil ich sonst die einen wie die anderen hätte gefährden können.
Eins ergab sich mit überzeugender Eindringlichkeit aus all diesen Gesprächen:
Die Faschisten sind nicht nur ein Fremdkörper im werktätigen Volk, sie sind nicht nur von ihm getrennt durch einen Klassenabgrund - sie sind aufs tiefste verhasst! Sie sind die fremdstämmigen Eroberer, die Sklavenhalter, die Feinde!
Überall schlossen die Schilderungen des Elends in grausamer Monotonie:
„Ci tengono come la pecora - come i cani ci tengono." „Sie halten uns wie das Vieh - wie die Hunde halten sie uns." Wie das Vieh - das waren die Bauern, die das sagten; wie die Hunde - so nannten es die Arbeiter.
Das ist die Meinung des werktätigen Volkes über den Faschismus. Wenn hie und da ein paar Arbeiter und wohlhabendere Bauern mit den Faschisten mitmachen, weil sie irgendwelche Vorrechte, Prämien, Vergünstigungen dafür bekommen, so ändert das nichts an dieser Stimmung der Massen des Volkes. Auch nicht die Tatsache, dass Zehn- und Hunderttausende in den faschistischen Gewerkschaften organisiert sind oder das Abzeichen der „Dopo-Lavoro"-Organisation tragen. Ihr Gewerkschaftsbuch und ihr Abzeichen haben mir Arbeiter und Tagelöhner gezeigt, die ihren Hass gegen den Faschismus unverhohlen ausgedrückt hatten; und sie haben es mir auch erklärt: Kann man das Gewerkschaftsbuch ausschlagen, wenn man nur in seinem Besitz Aussicht hat, wenn überhaupt, eine Arbeit zu bekommen? Soll man sich die fünfzig Prozent Ermäßigung auf den Eintritt ins Kino und den Rabatt bei manchen Händlern entgehen lassen, die die Zugehörigkeit zum „Dopo Lavoro" gewährt?
Das Volk hasst den Faschismus. Es wartet auf seinen Sturz. Es wartet darauf, um die 1920 begonnene Aktion wieder aufzunehmen, um in die Fabriken und auf die Landgüter als Herren einzuziehen.
Noch wartet es. Noch arbeitet nur die kleine Minderheit der Kommunisten in ihren Geheimorganisationen an der Vorbereitung und Organisierung des Sturzes der verhassten Machthaber.

 

SKLAVENMÄRKTE

Es ist kein Zufall, wenn bisher soviel von landwirtschaftlichen Problemen die Rede war. Ungeachtet der Industrialisierung Italiens in den letzten Jahrzehnten ist das Land vorläufig noch vorwiegend Agrarland. Das trifft im besonderen Maße auf die jetzige, faschistische Periode seiner Entwicklung zu. Horcht man aufmerksam hin, liest man täglich die Zeitungen und hat man Gelegenheit, an einigen der zahllosen Kundgebungen und Tagungen der verschiedenen faschistischen Organisationen teilzunehmen, so erhält man bald den Eindruck, dass die Agrarprobleme im Mittelpunkt des Interesses der Faschisten stehen. „Der Faschismus ist agrarisch", sagt Mussolini. Eine der Losungen des Regimes ist die „Ruralisierung", die „Verlandwirtschaftlichung" Italiens. Sie ist im offenbaren Gegensatz zu der Grundparole der Sowjetunion, der „Industrialisierung", aufgestellt. Wenn man sich an den geschichtlichen Ursprung des Faschismus erinnert, so versteht man leicht den Sinn dieser Parole: Die Großgrundbesitzer haben den Faschismus in den Sattel gehoben, und die Regierung ist seitdem verpflichtet, sich dieser Bevölkerungsschicht in erster Linie erkenntlich zu erweisen. Was kommt nun bei der „Verlandwirtschaftlichung" für die Werktätigen auf dem flachen Lande heraus?
Auf meiner ganzen Reise hat keine Bevölkerungsschicht in Italien so große Bereitwilligkeit gezeigt, mir ihre Not zu klagen und ihrem Hass gegen das Regime Ausdruck zu verleihen, wie gerade die Bauern. Aber kann man überhaupt von „Bauern" reden? Gibt es in Italien als wesentlichen Bestandteil der ländlichen Bevölkerung das, was wir unter „Bauern" verstehen? Es gibt bis heute noch keine offizielle Statistik über die Bodenverteilung in Italien. Das ist gewiss kein Zufall. Die Veröffentlichung einer solchen Statistik würde den schamlosen Ausbeutungscharakter der Besitz- und Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft des Landes aufdecken.
Aus Teilangaben über die Besitzverhältnisse könnte man den Eindruck gewinnen, dass es auch in Italien eine größere Zahl von freien mittleren und kleinen Landwirten gibt. Sieht man dann aber genauer hin, so findet man, dass diese selbständigen Bauern sich fast ausschließlich auf die Bergzonen und den weniger fruchtbaren Teil des Hügellandes verteilen. Und auch ihre Selbständigkeit ist zweifelhaft. In der Bergzone stirbt die Landwirtschaft nach und nach ab. Sie ist in diesen Gegenden nicht mehr imstande, die Menschen zu ernähren. Wir haben diese Tatsache schon bei dem Ausflug ins Hinterland der Riviera kennengelernt. Für den Südabhang der Alpen und für die übrigen Berggegenden des Landes trifft dasselbe zu. Die landwirtschaftlichen Beobachtungsstationen beschäftigen sich bereits mit der Untersuchung dieser Vorgänge. Die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse, die noch nicht veröffentlicht worden sind, beweisen ein geradezu katastrophales Aussterben dieser Regionen.
Dort, wo noch kleine Bauern auf der Scholle sitzen, sind sie in steigendem Maße gezwungen, sich nebenbei Arbeit als Tagelöhner und Saisonarbeiter in landwirtschaftlichen und industriellen Betrieben zu suchen.
Das eigentlich fruchttragende Land in der Ebene und in den Hügelzonen gehört großen und mittleren Grundbesitzern. Zu einem Teil, besonders im Süden, sind noch heute die alten Adelsfamilien Besitzer des Landes.
Soweit dies nicht der Fall ist, sind „Neureiche" an ihre Stelle getreten. Es gehört für den wohlhabenden Städter zum guten Ton, ein Landgut zu besitzen. Aber die Besitzer begnügen sich meistens damit, „Besitzer" zu sein. An der Bewirtschaftung nehmen sie keinen Anteil. So kommt es, dass neben den Großgrundbesitzern eine zahlenmäßig außerordentlich große Schicht von Generalpächtern besteht. Sie zahlen dem Besitzer, der ja über Tausende und Zehntausende von Morgen verfügt, eine nicht sehr hohe Pachtsumme und geben ihrerseits das Land wieder weiter in Pacht. Auch sie sind selten wirkliche Bewirtschafter. Sie haben wieder eine weitere Schicht von Unterpächtern unter sich; erst diese stehen dann mit der eigentlichen Landbevölkerung, den
Kleinpächtern, Halbpächtern, Kolonisten, Landarbeitern und Tagelöhnern in direkter Beziehung.
Sobald man das weiß, ist man nicht mehr erstaunt über den Widerspruch zwischen dem „Reichtum des Landes" und dem Elend der Massen, der sich einem als erster Eindruck aufdrängt. Die Werte, die die Arbeit von Millionen landloser „Bauern" dem Boden abgewinnt, werden von einigen Zehntausenden besitzender Parasiten angeeignet. Innerhalb dieser buntscheckigen Gruppe von Besitzern, Generalpächtern, Unterpächtern, Verwaltern usw. gibt es ernste Kämpfe. In den letzten Jahrzehnten sind in manchen Gegenden die Generalpächter zu den eigentlichen Herren geworden und haben die Rechte der Besitzer zu ihren eignen Gunsten eingeschränkt. Umgekehrt hat es Zeiten gegeben, wo die Unterpächter einen erfolgreichen Kampf zur Vergrößerung ihrer Verdienste auf Kosten der Generalpächter geführt haben. Im Kampf der Generalpächter gegen die Großgrundbesitzer kam sehr häufig der Gegensatz des Bank- und Industriekapitals gegen den halbfeudalen Großgrundbesitz zum Ausdruck: Hinter den Generalpächtern standen Industrie- und Bankgruppen, die an einer Modernisierung der Landwirtschaft interessiert waren, von der sie eine Erweiterung des Absatzes von Industrieprodukten und der Möglichkeit gewinnbringender Kapitalanlagen erwarteten.
Aber diese Gegensätze innerhalb der Schicht der Ausbeuter schwiegen immer dann, wenn aus den Massen der ausgebeuteten Landleute das Gespenst des Bolschewismus aufstieg. Dann standen die Ausbeuter in schier unerschütterlicher Einheitsfront. In dieser Einheitsfront stehen sie auch heute hinter dem Faschismus, obgleich dieser ihnen mit seiner bald die eine, bald die andere Gruppe der Besitzer bevorzugenden Zickzackpolitik manche harte Nuss zu beißen gibt.
Die Zahl der Werktätigen auf dem Lande kann gegenwärtig auf acht bis neun Millionen angesetzt werden. Und diese Millionen haben kein Land, sondern müssen unter den verschiedenartigsten Bedingungen für die Großgrundbesitzer und ihren ganzen Anhang schuften.
Ganz außerordentlich groß und unter den jetzigen Verhältnissen in ständigem Steigen begriffen ist die Zahl der Tagelöhner, die, nur manchmal ein kleines Fleckchen schlechten eigenen Landes bearbeitend, ohne feste Arbeit, von Gelegenheit zu Gelegenheit sich durchschlagen. Es ist oft schwer festzustellen, wer heute auf dem Lande in Italien nicht Tagelöhner ist. Tatsächlich findet man in allen Landesteilen auf den Arbeitsmärkten alle Arten von Landleuten: Kolonisten, Pächter, Halbpächter, Siedler und arbeitslos gewordene „feste" Landarbeiter, die kleine Tagesverdienste suchen.
Meine erste Begegnung mit diesen arbeitsuchenden Tagelöhnern, deren überall in den Landstädten herumstehende Gruppen für das heutige Italien ebenso charakteristisch sind wie die Gruppen von arbeitslosen Industriearbeitern in den Städten, geschah unter eigenartigen Umständen.
Ich war am späten Nachmittag in der an der Südküste Siziliens liegenden Stadt Agrigent angekommen. Es dunkelte schon, als ich den ersten Rundgang durch die unbekannte Stadt antrat. Die Hauptstraße, welche die altertümliche auf dem Gipfel eines Berges aufgetürmte Stadt durchzieht, bot das übliche Bild: herumflanierende „bessere" Leute, darunter besonders viele jüngere vom Typus des Bankangestellten. Zwischen ihnen Faschisten in Zivil und in Milizuniform.
Etwa in der Mitte der Stadt öffnet sich die Straße auf einen kleinen Platz. An seiner Südseite liegt eine Terrasse. Zwischen den engen und schmutzigen Häusern tut sich plötzlich eine bezaubernde Landschaft auf: mit Olivenhainen, blühenden Mandeln und Pfirsichbäumen fällt der Berg von der Stadt zum Meere hinunter ab. Aber bevor der Blick das Meer erreicht und sich an seinem weiten Horizont verliert, wird er noch einmal aufgefangen durch eine goldene Kette, die sich quer durch das dunkle Grün der Fruchtbaumhaine und jungen Weizenfelder zieht. Das sind die Ruinen der mächtigen altgriechischen Tempel, letzte Reste der nach Hunderttausenden von Einwohnern zählenden Hafenstadt des Altertums, Akragas. Im Licht der untergehenden Sonne leuchtet der gelbliche Muschelkalk dieser gewaltigen Bauten wie reines Gold.
Aber ich bleibe nicht lange an diesem zauberhaften Bild hängen. Etwas anderes nimmt meine Aufmerksamkeit in Anspruch: Was geht dort hinter mir auf dem Platz vor sich? Die Hälfte des
Raumes unter der Freitreppe einer Kirche, aus der eben Scharen dunkelgekleideter Menschen von der Fastenpredigt herauskommen, wird eingenommen von Gruppen magerer, abgehärmt aussehender Männer in zerrissener, beschmutzter Kleidung. Sie stehen zu fünft und sechst zusammen. Sie reden wenig. Die Hände auf dem Rücken, stehen sie unbewegt, nur manchmal von einem Fuß auf den anderen tretend, ein Steinchen wegstoßend, den Kopf wendend. Es mochten an die hundert Männer sein. Sie standen da, als warteten sie auf ein Zeichen: Jetzt, jetzt, so schien es mir, werden sie sich aufraffen, werden sich umdrehen und losstürzen auf einen unsichtbaren Feind. Wer konnte der Feind sein?
Zwischen den Gruppen dieser Arbeiter gingen einzelne Männer in guten Anzügen mit Filzhüten auf dem Kopf hin und her. Hin und wieder machten sie bei einer Gruppe halt. Die Köpfe der Männer wandten sich ihnen zu. Man wechselte einige Worte. Dann ging der Mann weiter, und unbeweglich wie früher stand die Gruppe der Arbeiter. Was tun diese Männer? Wollen sie die Arbeiter beschwichtigen? Wollen sie versuchen, sie von einem unbedachten Schritt abzuhalten?
Irgend so etwas musste in der Luft liegen. Denn um diese ganze Szene herum wanderten ständig, aufmerksam beobachtend und hinhorchend, Gendarmen, den Sturmriemen unter dem Kinn, und faschistische Milizionäre mit der Hand auf der Revolvertasche, die offen an ihrem Gürtel hing.
Ich war so überzeugt, dass man hier am Vorabend eines Aufstandes war, dass ich mich nicht traute, einen der Herumstehenden zu fragen, was los sei. Es lag eine so unheimlich gespannte Kampfstimmung über dieser Szene, dass ich fürchtete, mit einer unbedachten Frage das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Es wurde dunkler und dunkler, und nun begannen zu meiner Überraschung die Gruppen der Arbeiter sich nach und nach aufzulösen. Mit müden, hoffnungslosen Gesichtern verschwanden sie langsam in die umliegenden Straßen. Der Strom der Nichtstuer und Flaneure, der bis dahin vor diesem Platz haltgemacht hatte oder in großen Bogen um die Gruppen herumgegangen war, konnte nun ungehindert zwischen der kleinen Kirche und der Terrasse mit der herrlichen Aussicht hindurchgehen.
Jetzt fasste ich mir ein Herz. In einer der Gassen sprach ich zwei Männer an, die bis vor kurzem mit auf dem Platze gestanden hatten. Ich fragte geradezu, was denn dort unten auf dem Platze
losgewesen sei. Verständnislos sahen sie mich an und zuckten die
Achseln. Sie machten auch nicht halt, als ich weitere Fragen stellte, und gaben, hastig weiterschreitend, kurze, nichtssagende Antworten. Nach wenigen Schritten ließ ich sie gehen. Es war mir nicht gelungen, den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Ich wusste, dass mein Instinkt mich nicht trügen konnte: Der Klassenkampf hat einen bestimmten „Geruch", der nicht zu verkennen
ist. Ich war in eine Szene schärfsten Kampfes geraten, das war mir klar. Aber worum es sich im Einzelnen handelte, verstand
ich nicht.
Erst am nächsten Abend löste sich das Rätsel. Ich war zum Meer hinabgestiegen und kehrte in der Dämmerung auf Nebenwegen, die durch Felder, Olivenhaine, Mandelplantagen und leerstehende Gutshöfe führten, in die Stadt zurück. Es wurde schnell dunkel. Als ich auf einen größeren Weg einbog, der von den Feldern zur Stadt hinaufführte, fand ich mich inmitten einiger Gruppen von Landleuten, die, teils zu Fuß, teils auf Mauleseln, mit Säcken und Ackergeräten der Stadt zustrebten. Ich versuchte etwas von ihren Gesprächen aufzufangen. Da hörte ich hinter mir in einer Gruppe halb verwunderte, halb ironische Bemerkungen über meinen Hut und meine Kniehosen austauschen. Ich wandte mich um und mischte mich in dies Gespräch, an dem ich doch sozusagen auch beteiligt war. Großes Erstaunen: Der „Fremde" sprach italienisch! Das schuf sofort eine freundschaftliche Atmosphäre. Es war nicht ganz leicht, das Gespräch zu führen, da die Leute im sizilianischen Dialekt sprachen, der sehr viele fremde Wörter enthält. Nur die Jüngeren verstanden mich ohne weiteres. Die Älteren mussten sich manches übersetzen lassen. Aber die Vertrautheit wuchs, als ich im weiteren Gespräch nicht nur eine solide Kenntnis aller landwirtschaftlichen Fachausdrücke, von den einzelnen Pflanzenarten bis zu den Wirtschaftsmethoden, an den Tag legte, sondern auch einzelne sizilianische Ausdrücke unter meine Worte flocht. Bald war ich von einer Gruppe von vielleicht fünfzehn Mann umringt. Das Gespräch ging sofort auf die Lage der Bauern über. Meine Begleiter
gaben bereitwillig über ihre eigene Lage Auskunft und stellten ebenso viele Fragen über die Lage der Bauern und der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Die alten Leute ließen sich besonders diese Teile unseres Gesprächs sehr ausführlich übersetzen. Meine Begleiter waren in ihrer Mehrzahl Tagelöhner, die von der Feldarbeit in die Stadt zu ihren Familien zurückkehrten. Sie hatten von Morgengrauen bis Sonnenuntergang zu tun gehabt. Manche von ihnen waren schon eine Stunde unterwegs. Jetzt kehrten sie zurück, um die erste und einzige Mahlzeit am Tage einzunehmen. Was sie zu Hause in ihren Wohnlöchern, für die sie fünfhundert Lire im Jahre Miete zahlen müssen, erwartete, war nicht viel: eine Suppe aus Teigwaren und Gemüse, vorwiegend Zwiebeln, Brot und etwas roher Fenchel. Fleisch? Sie lachten über meine Frage! Als wir uns - wir waren inzwischen eine ganze Herde geworden - dem Stadteingang näherten, drängten zwei Männer zu mir nach vorne. Einer blickte mir unter den Hut. Zu seinem Begleiter gewandt, sagte er: „Siehst du, dass ich recht habe!" Und zu mir gewandt, fuhr er fort:
„Das sind doch Sie, der uns gestern Abend in der Stadt angesprochen hat? Wir wussten nicht recht, was Sie wollten und dann: Wir waren noch nicht zu Hause gewesen und hatten Hunger. Deshalb wollten wir uns nicht unterwegs aufhalten. Aber was wollten Sie eigentlich?"
Jetzt, nachdem ich schon einiges über Arbeit und Leben dieser Tagelöhner erfahren hatte und das gegenseitige Vertrauen hergestellt war, konnte ich meine Frage besser formulieren. „Ach so! Nein, das war nichts Besonderes auf dem Platz. Wir waren nur zur Arbeitssuche dort. Sehen Sie, wir haben doch alle keine feste Arbeit. Ich und der Kollege hier sind eigentlich Arbeiter. Wir haben früher einmal in einer Maschinenfabrik gearbeitet, aber die ist jetzt zu. Dann haben wir dort oben am Athene-Felsen gearbeitet. Da waren Sie doch sicher auch? Haben Sie die großen Neubauten dort gesehen? Da hat man das Provinzial-Irrenhaus zu bauen angefangen. Zwanzig Häuser stehen schon da. Aber jetzt hat auch das aufgehört. Es ist kein Geld mehr da, und da suchen wir eben Arbeit auf dem Lande. Das waren alles Tagelöhner, was Sie da auf dem Platze gesehen haben. Man bekommt ja selten mehr als für einen Tag Arbeit. Abends spät oder morgens früh geht man auf den Platz. Da kommen dann die Herren von den Besitzern - die haben Sie doch sicher gesehen? Die Leute mit den Hüten - und suchen sich die Arbeiter aus. Lohn? Sieben oder acht Lire für den Tag. Es stehen ja immer so viele herum, dass man nicht mehr bekommen kann. Wenn man mehr verlangt, nimmt der Herr eben einen anderen. Und dann geht es beim Morgengrauen hinunter auf die Felder. Das ist immer ein ordentliches Stück Weg. Wir zwei haben eine gute Stunde. Und dann muss man auch noch das Ackergerät mitschleppen. Der Alte da hat's gut. Der war früher mal Bauer und hat noch einen Maulesel. Aber wir Arbeiter müssen zu Fuß gehen."
„Aber gibt es denn keine Vermittlungsbüros?" fragte ich erstaunt. „Man hat mir in Palermo erzählt, dass durch Gesetze vom April 1926 und vom März 1928 die Arbeitsvermittlung wieder eingeführt ist. Das geht doch nicht, dass die Besitzer sich die Leute auf dem Platz einfach aussuchen, und dabei immer schlechtere Bedingungen stellen."
Meine Frage interessierte alle sehr, und sie musste zuerst übersetzt werden. Allgemeines Lachen und eine angeregte Diskussion im reinsten Sizilianisch waren die erste Antwort. Aber dann schaffte mein neuer Begleiter Ruhe und erklärte mir: „Ja, wissen Sie, das mag alles ganz schön sein. Die Faschisten" -so sagte er: die Faschisten und nicht die Regierung! - „haben mal so etwas versucht. Aber das ist doch nur auf dem Papier. Es gibt solche Büros in der Stadt. Aber da geht niemand hin, die Herren nicht und wir nicht. Da muss man ja auch das faschistische Büchlein mitbringen, und das kostet wieder Geld. Nein, das wird alles auf dem Platz gemacht. Früher einmal, bevor die Faschisten kamen, da gab es so etwas. Das war noch zurzeit, als die Soz..." Aber wir waren inzwischen in die Stadt gekommen. Mein Begleiter unterbrach seine Rede. Er und verschiedene andere wandten sich einer Gruppe von gut angezogenen Leuten zu, die vor einem Cafe an einer Ecke standen. Die Arbeiter zogen die Mütze: „Bacciam le man!" Die Herren antworteten mit einer jovialen Handbewegung.
„Wer ist denn das?" fragte ich neugierig.
„Das? Das sind unsere Herren." „Und was tun sie so den ganzen Tag?"
„Die? Nichts! Verdienen unser Geld, stehen auf dem Platze herum, trinken Kaffee und machen Geschäfte. Ist das nicht genug?" Alle mussten lachen. Die Szene wiederholte sich noch ein paarmal und immer wieder ertönte das „Bacciam le man" Wir küssen die Hände", dieser alte Gruß der Hörigen an die Feudalherrn, der sich als Symbol der unverändert gebliebenen Knechtschaft als Begrüßung der Herren durch die Knechte in ganz Sizilien erhalten hat.
Jetzt also war das Rätsel gelöst: Ich hatte recht gehabt. Was ich da am Abend vorher auf dem Platze gesehen hatte, war ein Stück Klassenkampf gewesen. Aber es war kein Aufstand, der sich da vorbereitete. Es war der einfache, „normale" Sklavenmarkt, der Kampf um den Preis der Arbeitskraft, der den Kern jedes Klassenkampfes bildet!
Damals lernte ich zum ersten Mal die eigenartige Struktur der Landwirtschaft kennen, die so bezeichnend ist für ganz Süditalien und die Inseln und die das Verständnis der Herrschaftsmethoden des Faschismus in jenen Gegenden sehr erleichtert. Es gibt in diesem Teil Italiens keine „Bauern "und keine „Dörfer". Das Landvolk - wenn man diese durchweg landlosen Arbeitstiere überhaupt so nennen kann - lebt seit Jahrhunderten in Städten. Diese Städte mit durchschnittlich zehn- bis zwanzigtausend Einwohnern liegen an erhöhten Stellen, auf Hügelkuppen und Bergen, weit entfernt von den Feldern. Der Boden gehört den Großgrundbesitzern und den verschiedenen besitzenden Zwischenschichten. Die eigentlichen Besitzer wohnen meist weitab in den Großstädten. Mit den Landleuten zusammen wohnen in den Landstädten die Pächter, Unterpächter und Verwalter. Jeden Morgen findet auf dem Marktplatz, der in keiner Stadt fehlt, der Sklavenhandel statt. Die Landleute verkaufen sich für einen oder mehrere Tage, in guten Zeiten für eine ganze Woche. Jeden Tag legen sie morgens und abends den weiten Weg zur Arbeitsstelle zurück. Tagsüber gibt es auf dem Felde Brot, Käse und Wein, vielleicht auch eine Suppe, die in manchen Gegenden der Besitzer oder Verwalter stellt. In den „guten Zeiten" gehen die Leute Sonntagnacht von Hause fort, kampieren auf dem Felde in Stroh- und Lehmhütten oder, wie in Sizilien, in den „Masserie", den Steinhäusern, die von den alten Gutsgebäuden übriggeblieben sind und die sonst leer stehen, und kehren Sonnabendabend zu ihren Familien zurück. Die Landleute, die den größten Teil der Bevölkerung dieser Städte bilden, sind tagsüber dort nicht anzutreffen. Sie sind auf dem Felde. In den Städten bleiben außer ihren Angehörigen, Frauen und Kinder, die anderen Bewohner: die Großpächter und Verwalter, die Händler, Handwerker, Schreiber, Beamten und anderen Mittelspersonen. Die Anhäufung der Landbevölkerung in den Städten lässt die Zahl dieser Mittelspersonen sehr viel höher anschwellen, als es in unseren Ländern mit dörflichen Siedlungen der Fall ist. Der ständig von Hause abwesende Kleinpächter, Landarbeiter und Tagelöhner braucht in viel höherem Maße als unsere Bauern die Arbeit des Handwerkers, des Händlers und anderer Mittelspersonen. Er ist ja nie da und kann sich fast nichts selber machen. Wegen jedes zerrissenen Riemens, jedes zerbrochenen Spatens muss er sich an die Handwerker wenden. Das Feld, auf dem er für den Besitzer arbeitet, wirft wenig Produkte für ihn selber ab. Er muss sich einen großen Teil seines Brotes, seines Weines, seines Gemüses und seiner Hülsenfrüchte beim Kaufmann besorgen. In unseren kleinen Dörfern kann der Beruf des Posthalters vom Gastwirt oder Metzger während ein paar Stunden am Tage im Nebenberuf ausgeübt werden; in diesen Städten aber müssen gleich ganze Postbüros mit einer größeren Zahl von Beamten unterhalten werden. Alle diese Umstände lassen uns die Entstehung und die Herrschaftsmethoden des Faschismus in diesem Teil des Landes besser verstehen. Das System des Faschismus besteht ja darin, dass er einen Teil der städtischen Mittelschichten mobilisiert und zur Durchführung der gesteigerten Ausbeutungspolitik im Interesse des Finanzkapitals einsetzt. Der größte Teil der Mitglieder der verschiedenen Zwischenschichten in den Bergstädten gehört der faschistischen Partei oder den von ihr geschaffenen und kontrollierten besonderen Organisationen an. Während die Landleute über die vielen weitverstreuten Felder der Umgebung verteilt sind und von Morgengrauen bis Sonnenuntergang arbeiten, sind diese Leute ständig in der Stadt anwesend. Als Mitglieder der
faschistischen Partei und der Miliz sind sie allein bewaffnet. Sie kontrollieren alles: angefangen von der Arbeitsvermittlung bis zur Privatkorrespondenz, die ja durch ihre Hände geht. In einem anderen Teil von Sizilien habe ich diese Struktur der Bergstädte noch genauer kennengelernt.
Die Nord- und Ostküste der Insel ist außerordentlich fruchtbar. Sie ist das Zentrum der Zitronen-, Orangen- und Mandelkulturen.
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunklen Laub die Goldorangen glühn?..."
Hier ist dieses Land!
Wie gut es die Leute hier haben müssen! Unter ewig blauem Himmel wandeln sie zwischen ewig grünen Hainen, die von malerischen Bergstädtchen überragt werden. Voller Befriedigung nehmen die Pärchen, die auf der Hochzeitsreise den traditionellen Weg von Messina nach Syrakus im Schnellzug zurücklegen, diese malerischen Landschaften in sich auf. Aber wie anders ist die Wirklichkeit! Das dunkle Laub der Goldorangen und die malerischen Bergfesten verstecken ein namenloses Elend, eine mittelalterliche Sklaverei. Ich nahm statt des Schnellzuges den Bummelzug und verließ ihn auf der Station Lentini, die zwischen Catania und Syrakus am Südrande der fruchtbaren Ebene von Catania liegt. Nach einer halben Stunde Fußmarsch langte ich in der auf einem Ausläufer der Iblei-Berge liegenden Bergstadt Carlentini an. Zwischen immergrünen Hainen und Kaktushecken windet sich die Straße in großen Serpentinen den Berg hinauf. Nun betreten wir die Stadt. Breite, beinah dörfliche Gassen mit niedrigen grauen Steinhäusern nehmen uns auf. Aber sonderbar: Sie liegen da wie ausgestorben. Nur hin und wieder einmal begegnet man einer Frau oder laufen einem ein paar Kinder über den Weg. Die Leute, die man trifft, sind ärmlich und abgerissen, und auch wohlgenährt sehen sie nicht gerade aus. Eine Gasse ist wie die andere. Es will gar kein Ende nehmen.
Aber jetzt werden die Häuser etwas ansehnlicher. Hin und wieder stehen Handwerker vor der Tür, Wagner, Schmiede, Sattler. Jetzt tauchen auch zwei- und dreistöckige Häuser auf. Sie heben sich deutlich von den anderen Gebäuden ab. Was sie besonders auszeichnet, sind ihre Balkons. Es scheint, als ob der Erfindungsgeist der Ortsbaumeister sich ganz auf die verschiedenartige Ausstattung dieser Balkons konzentriert habe. Die größte Aufmerksamkeit ist den Trägern gewidmet, auf denen sie ruhen. Sie sind mit reichen Steinbildhauereien oder Stuckornamenten verziert. Da sieht man grimmige Löwen, Seejungfrauen, Blumen und Früchte. Hin und wieder prangt über den Eingangstoren ein altes Adelswappen.
Und nun biegen wir auf den Marktplatz ein. Mehrstöckige Steinhäuser umgeben ihn: Läden, ein Café, ein Kino. Aber auch dieser Platz liegt völlig ausgestorben da, gerade als hätte eine Seuche die Bevölkerung hinweggerafft. Eine Katze, die langsam und gravitätisch über die Fliesen des weiten Platzes spaziert, ist außer mir die einzige Vertreterin des Lebens. Mehrmals im Laufe des Tages kehrte ich auf den Platz zurück, morgens, zur Mittagszeit und nachmittags. Immer war er gleich leer. Ich musste bis zum nächsten Morgen warten, ehe Stadt und Platz ihr Aussehen veränderten. Es war in den ersten Morgenstunden. Die Sonne war kaum heraus. Da auf einmal fand ich den Platz dicht besetzt mit Menschen: Gruppen ärmlich gekleideter Männer standen wartend herum, wie in Agrigent. Die abgetragenen und vielgeflickten Anzüge verschwanden unter verblichenen, schwarzen Capes oder einfachen dunklen Tüchern, die die Männer auf den Schultern trugen. Die alten Männer hatten sich die Tücher über den Kopf gezogen: es war kühl in den ersten Morgenstunden. Und wieder strichen wie in Agrigent Gestalten in Paletot und Filzhut zwischen den Gruppen herum. Sie schienen einer anderen Welt anzugehören: Bei näherem Hinsehen erkannte man auch das Abzeichen der Faschistischen Partei im Knopfloch ihrer Jacketts. Immer von neuem sah ich sie an einzelne Gruppen der anderen Männer herantreten. Dann gab es erregte Gespräche. Das Ergebnis war jedesmal, dass sich ein paar von den ärmlich gekleideten Männern aus den Gruppen lösten und den Platz verließen. Nach einer Weile sah ich sie dann mit Hacken, Spaten, dem Holzpflug oder Säcken beladen zu Fuß oder auf abgetriebenen Mauleseln durch die Gassen mit den niederen Häusern zum Tal hinabsteigen. Nur einzelne Gruppen blieben noch auf dem Platze. Aber schließlich verloren sich auch diese Gestalten. Und nun lag der Platz wieder leer, und auch die Gassen an der Peripherie zeigten dasselbe Bild der Verlassenheit wie am Tage vorher.
Zum zweiten Mal war ich Zeuge des Sklavenhandels geworden, der das Verhältnis von Kapital und Arbeit in diesen Gegenden regelt!
Es lohnt sich, etwas genauer zu betrachten, wie diese Landleute leben.
Das Hügelland südlich von der Ebene von Catania ist eines der größten Zentren der Apfelsinenkulturen Siziliens. Gegenüber den Apfelsinen treten Zitronen, Getreide, Mandeln und Feldfrüchte hier zurück.
Mehr als fünfzig Prozent des Bodens gehört Großgrundbesitzern, die über tausend und mehr Morgen verfügen. Der größte Teil des Restes ist in Händen mittlerer Besitzer - jener Leute, die in den balkongeschmückten Steinhäusern wohnen - und nur ein kleiner Teil wird von den Landleuten selbst direkt bewirtschaftet, Es sind das die mageren, von wuchernden Kakteen durchsetzten Felsstücke an den steileren Abhängen in unmittelbarer Nähe der Städte.
Der überwiegende Teil des Landes ist mit Obstkulturen bedeckt. Nur in den flacheren Landstrichen mit feuchterem Boden wird Getreide und Gemüse gezogen. Dabei herrscht eine primitive Zweifelderkultur vor. Pacht oder Halbpacht gibt es fast nur für Getreidebau und Weidewirtschaft, oder dort, wo der Besitzer ehemaliges Weide- und Getreideland in Obstkulturen umwandelt. In diesen Fällen liefert der Besitzer den Pächtern den Samen, die Pflanzen und was sonst zur Anlage dieser Kulturen notwendig ist. In den ersten fünf Jahren braucht der Pächter keinen Zins zu bezahlen. Aber er hat auch nicht viel von dem Boden, der so bewirtschaftet werden muss, dass die jungen Obstbäumchen sich gut entwickeln. Vom sechsten bis zum neunzehnten Jahr muss der Pächter die Hälfte der Ernte an den Besitzer abliefern. Im zwanzigsten Jahr gehen die inzwischen großgewordenen Obstgärten in die alleinige Nutznießung und direkte Bewirtschaftung des Besitzers über.
Die Obstkultur ist sehr einträglich. Der Boden trägt hier 150 bis 300 Doppelzentner Orangen und 250 bis 350 Doppelzentner
Zitronen pro Hektar. Unter diesen Umständen haben die Besitzer kein Interesse daran, die Obstgärten, sobald sie voll ertragfähig sind, weiter in Pacht oder Halbpacht zu geben. Sie ziehen es vor, mit billigen Tagelöhnern zu wirtschaften. Tagelöhner sind infolgedessen auch die meisten der Stadtbewohner. Allein in Lentini und Carlentini gibt es deren etwa je sechs- bis siebentausend. Nach dem Kriege setzte einmal im Verlauf der Aufteilung von etwa zehn der alten Feudalbesitze ein Prozess der Bildung von Produktionsgenossenschaften durch Bauern ein, die mit den während des Krieges gemachten oder aus der Emigration zurückgebrachten Ersparnissen Land erwarben und gemeinsam bewirtschafteten. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen es sich vorwiegend um die von der Regierung unterstützten faschistischen Genossenschaften ehemaliger Kriegsteilnehmer handelt, sind diese Bildungen von den sich modernisierenden großen Besitzungen niederkonkurriert worden. In den von den faschistischen Gewerkschaften aufgesetzten Kollektivverträgen ist die Bezahlung der Tagelöhner mit durchschnittlich 1,50 Lire pro Stunde festgesetzt. Aber diese Normen stehen nur auf dem Papier. Tatsächlich bestimmt die „Piazza", der Marktplatz, auf dem sich die Tagelöhner verkaufen, die Höhe des Lohnes. Der tatsächliche Lohn bewegt sich auch hier zwischen acht und zehn Lire pro Tag. Die Zeiten, wo der freie Handel um die Arbeitskraft sich zugunsten der Arbeiter auswirkte, sind längst vorbei. Durch den ständigen Zuzug aus den größeren Städten, aus denen die „nichtzuständigen" Arbeitslosen in ihre Heimatsorte abgeschoben werden, entsteht ein wachsendes Überangebot an Arbeitskräften, das auf den Lohn drückt. Gleichzeitig vollzieht sich in der letzten Zeit ein Prozess der Mechanisierung der Landwirtschaft, der allerdings vorwiegend die Getreidewirtschaft betrifft. Im Gebiet von Lentini gibt es jetzt bereits viele Traktoren mit kompliziertem Anhang. Sie machen die Halbpächter, die mit dem Holzpflug arbeiten, überflüssig, und wieder wächst die Zahl derer, die als Tagelöhner auf der „Piazza" Arbeit suchen gehen.
Tagelöhner, Tagelöhner, Tagelöhner! Ich habe sie auf der ganzen weiteren Reise nicht mehr aus den Augen verloren, wo immer auch ich das Land aufsuchte. In Kalabrien und Apulien unterscheiden sich ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse in fast nichts von dem, was ich in Sizilien vorgefunden hatte. Überall dieselbe Zusammendrängung des Landvolks in den hochgelegenen Städten, dieselben endlos weiten Wege zu den Feldern, dieselbe Methode des Verkaufs der Arbeitskraft auf der „Piazza", dieselben elenden Löhne, Wohn- und Ernährungsverhältnisse. Erbarmungslos nützen die faschistischen Grundherren und ihre Handlanger in den Städten die wachsende Arbeitslosigkeit und die zunehmende Agrarkrise dazu aus, die Lebensbedingungen dieser Parias ständig zu verschlimmern.

 

DIE PARIAS DER REISFELDER

Auch im Norden herrscht der Tagelöhner auf dem Arbeitsmarkt vor. Die Zahl der festen Landarbeiter, die wie das Vieh in den Kasernen der festungsähnlichen Pachthöfe, der Casinali, gehalten werden und die ganz der Willkür des Verwalters ausgeliefert sind, der selbst darüber bestimmt, ob und wann der Landarbeiter in seiner „Freizeit" den Gutshof verlassen kann, geht zurück. Auch bei den Hundelöhnen, die sie erhalten, ist ihre feste Anstellung für die Besitzer zu teuer. Die Herren ziehen es vor, Tagelöhner mit unbeschränkter Arbeitszeit einzustellen, wann sie sie brauchen. Wovon diese Leute in der Zwischenzeit leben, ist ihnen gleichgültig. Hier im Norden ist es auch schon häufig zu Aufstandsbewegungen dieser Sklaven gekommen. Unter den Kommunisten, die allmonatlich zu Dutzenden vom Ausnahmegericht zum Schutze des Staates verurteilt werden, nimmt in der letzten Zeit die Zahl der Landarbeiter aus den nördlichen Provinzen zu.
Hier im Norden gibt es Zustände, die in ihrer Furchtbarkeit noch weit über das graue Elend hinausgehen, in dem die Massen der Landarbeiter und Tagelöhner im Süden leben. In einzelnen Teilen der Po-Ebene wächst Reis, der infolge seiner guten Qualität weltberühmt ist. Das Zentrum der Reiskultur ist das kürzlich in den Stand einer Provinz erhobene Gebiet um Vercelli. Fährt man mit der Eisenbahn von Mailand nach Turin, so sieht man auf beiden Seiten der Strecke unabsehbare Wasserflächen. Es sieht aus, als sei das Land von einer schweren Überschwemmung heimgesucht. Aber das sind nur die Reisfelder. Sie müssen im Frühjahr unter Wasser gesetzt werden. Ist die Erde genügend aufgeweicht, so beginnt die wichtigste Arbeit beim Reisbau, die Säuberung und das Versetzen der Stecklinge. Diese Arbeit muss unter Wasser ausgeführt werden. Sie beginnt im Mai
und muss für die ganze riesige, mit Reis bedeckte Fläche in etwa § einem Monat durchgeführt werden. 150000 Hektar sind gegenwärtig ungefähr in der Po-Ebene mit Reis bestellt. Die Reiskultur ist sehr ergiebig. Die 150000 Hektar Reisland produzieren eine Menge, die gleich der Durchschnittsproduktion von 600000 Hektar Getreideland ist. Das ganze Reisland gehört einigen wenigen Großgrundbesitzern, wird aber praktisch von den mächtigen Generalpächtern bewirtschaftet. In der Nachkriegszeit ist in Gestalt dieser Generalpächter eine starke, neue Bourgeoisie herangewachsen. Sie stellte eine der festesten Stützen der faschistischen Bewegung in jenen Gebieten dar. Diese eigentlichen Herren des Reisbaues, die es verstanden haben, durch eine Herabsetzung ihrer Abgaben an den Großgrundbesitzer und eine ständige Senkung der Löhne ihre Einkünfte außerordentlich zu vermehren, haben in der letzten Zeit immer neue technische Verbesserungen eingeführt. Bei gleichbleibender Aussaatfläche wuchs der Reisertrag von Jahr zu Jahr um viele Hunderttausende von Doppelzentnern.
Für die Saisonarbeit im Frühjahr sind etwa 130000 Arbeitskräfte notwendig. Die an Ort und Stelle vorhandene Landbevölkerung reicht bei weitem nicht aus, insbesondere da die „Mondariso", die Arbeit im Wasser, fast ausschließlich von Frauen ausgeübt wird. Nach altem Brauch steigen im April und Mai Zehntausende von Frauen von den Hügeln und Bergen Emiliens, Friauls und des Aostatales in die Reisgebiete hinunter. Sie gehen nicht allein. Sie werden von „Korporalen" geführt, von gewinnsüchtigen Werbern, die es gegen hohes Entgelt unternehmen, die unerfahrenen Bauersfrauen zu transportieren, sie zu vermieten und in den Baracken zwischen den Reissümpfen unterzubringen. Mit den Frauen gehen die Säuglinge und kleinen Kinder, die sie ja nicht anderthalb Monate lang zu Hause allein lassen können. In den Baracken zusammengepfercht, schlecht ernährt und den „Korporalen" in jeder Beziehung ausgeliefert, hausen hier die Frauen wochenlang und arbeiten vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang, bis an die Knie im Wasser, gebückt und mit den Händen unter Wasser im Schlamm wühlend, auf den überschwemmten Reisfeldern.
In den Jahren unmittelbar nach dem Kriege haben diese Reis-
Kulis unter Führung der Landarbeitergewerkschaft in zähen Kämpfen Schritt für Schritt eine langsame Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen durchgesetzt. Eine der ersten „Taten" der Faschisten von Vercelli war die Zerstörung der Landarbeitergewerkschaft, die Organisierung einer faschistischen Zwangsgewerkschaft und der Abschluss eines neuen „Vertrages", der eine sofortige Senkung der Löhne um zehn bis dreizehn Prozent brachte. Für die Grundherren kamen goldene Tage. Die Bodenpreise stiegen, in Goldlire berechnet, um mehr als das Doppelte. Im selben Maße ging der Anteil der Löhne an den Produktionskosten zurück. Hatten die Löhne (nach den Angaben eines von den Faschisten anerkannten Berichtes von S. Pugliese) im Jahre 1912 27,3 Prozent betragen, so waren sie im Jahre 1925 bereits auf 21,5 Prozent gesunken. Da niemand ernsthaft die Arbeitsbedingungen der Landarbeiter verteidigte, gingen die Unternehmer zu immer neuen Angriffen vor. Im Jahr 1927 erfolgte eine weitere starke Lohnsenkung, durch die die Löhne von durchschnittlich dreiundzwanzig auf achtzehn Lire pro Tag gesenkt wurden. Die Versuche der Landarbeiter, sich durch Streikbewegungen gegen diese Willkür zur Wehr zu setzen, wurden grausam unterdrückt.
Im August vorigen Jahres ordnete die Regierung für das ganze Land neue Lohnkürzungen an, durch die die Löhne „der gesteigerten Kaufkraft der Lira angepasst werden sollen". Am 16. Dezember verkündete Mussolini eine weitere Kürzung der Beamtengehälter und forderte Industrie und Landwirtschaft auf, auch bei sich durch eine acht- bis zwölfprozentige Lohnkürzung „die Gestehungskosten der Produktion herabzusetzen". Die Besitzer der Reiskulturen ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie forderten eine sofortige neue gewaltige Herabsetzung der Löhne.
Als die erste Kunde von diesen Plänen nach Vercelli und in die Bergdörfer drang, wo die Frauen sich schon wieder zur Reise in die Reissümpfe bereitmachten, brandete eine Welle der Empörung auf. In vielen Orten erklärten die Frauen, unter diesen Umständen auf die traditionelle „Frühjahrsreise" zu verzichten. Die „Monda" stand vor der Tür. Wenn die Felder nicht unbestellt bleiben sollten, musste etwas geschehen. Da traten die faschistischen „Gewerkschaften" auf den Plan und strengten vor dem Arbeitsgericht eine Klage gegen die Unternehmer an. „Die Opfer, die die Arbeitermassen durch die vorhergehenden Lohnkürzungen bereits gebracht haben, dürfen nicht aus Gründen der Menschlichkeit gesteigert werden durch Löhne, die noch unter den bereits erreichten und in einzelnen Fällen schon fünfzig Prozent betragenden Kürzungen liegen", schrieb die zentrale Gewerkschaftszeitung „Il Lavoro Fascista" in ihrer Nummer vom 12. April in einem Artikel, der den Titel trägt: „Ein Prüfstein für das Arbeitsgericht."
„Wir erwarten mit Sicherheit, dass die wirtschaftlichen Interessen der Massen nicht wieder den Forderungen einzelner Gutsbesitzer geopfert werden ... Dass das Unglück gleichmäßig verteilt wird, ist menschlich. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass die Arbeiter, nachdem ihr Familienbudget auf Zahlen gesunken ist, die genau die Hälfte der Einkünfte früherer Zeiten ausmachen, schon alles geopfert haben, was zu opfern ist und noch einiges darüber hinaus."
So endete dieser Artikel. Unter Berufung auf die von ihnen eingeleitete Aktion machten sich die faschistischen Gewerkschaftsbürokraten daran, die Frauen zur Abreise in die Reisgegenden zu bewegen. Sie taten ein Übriges, indem die sich bemühten, die „Korporale" auszuschalten, an deren Stelle sie ihre eigenen Funktionäre setzten. Die Masse der Frauen ließ sich überreden. Den großen Versprechungen der Faschisten vertrauend, ließen sie sich zu vorläufigen Löhnen anwerben, die allerdings auch unter dem vorjährigen Lohnniveau lagen. Die Faschisten versprachen ihnen die Auszahlung der Lohndifferenz, sobald das Arbeitsgericht seinen Spruch gefällt haben würde, der, wie sie sagten, natürlich mit ihren Vorschlägen übereinstimmen würde. So lagen die Dinge, als ich Mitte April Vercelli aufsuchte. Es war ein scheußlicher regnerischer Tag. Ich verließ die Stadt mit ihren Plätzen, auf denen Gruppen Arbeitsloser herumstanden, und ging an dem drohenden, in ein Zuchthaus verwandelten mittelalterlichen Kastell vorbei auf das Sesiatal zu. Hinter der Brücke schwenkte ich nach Osten in der Richtung auf Mortara ab. Rechts und links lagen die unabsehbaren Spiegelflächen der überschwemmten Reisfelder. Unterwegs machte ich die Bekanntschaft eines wandernden Händlers, der, durchnässt wie ich, sein schweres Bündel in den nächsten Ort schleppte. Von ihm erfuhr ich in großen Zügen die Lage. Im ersten Ort, dessen Namen ich vergessen habe, machten wir halt. Anstatt in ein Cafe oder in ein Restaurant zu gehen, lud er mich ein, ein Glas Wein bei einem ihm bekannten Bauern zu trinken. Wir wurden freundlich aufgenommen, und bald kam ein Gespräch in Gang. Wie an anderen Orten, so fanden sich auch hier schnell zahlreiche Nachbarn ein. Unter ihnen waren besonders viele Frauen. Im Gegensatz zum Süden, wo die Frauen fast durchweg schweigend im Hintergrunde standen, wenn wir Männer uns über die bösen Zeiten unterhielten, nahmen die Frauen lebhaft an der Unterhaltung teil. Man sah sofort, dass sie in dieser Gegend eine bedeutende Rolle in der Produktion spielen.
Die Empörung über die neuen drohenden Lohnkürzungen war allgemein. Aber die Meinungen waren verschieden. „Es sind die Fremden, die uns alles verderben! Was brauchen diese Weiber von so weit herzukommen, um uns das Brot fortzunehmen? Und dazu kriegen sie noch eine Lira mehr am Tage, man kocht für sie, sie können ihre Kinder in die Krippe bringen und haben keine Hauswirtschaft am Halse." Andere Frauen widersprachen: Was nützt schon die eine Lira Zulage? Was die Frauen dem „Korporal" geben müssen, macht ja allein schon mehr aus, und dazu kommt noch die Reise! Und ob sie vielleicht gern anderthalb Monate lang von Mann und Kindern weggehen möchten?
Einige Männer waren wieder der Ansicht der ersten Frau: Anstatt der fremden Weiber sollte man doch lieber Männer von hier beschäftigen, die sowieso arbeitslos wären. Auch diese Meinung fand Widerspruch: Es bestände doch noch Hoffnung, dass die Kunstseidenfabriken und die Webereien wieder voll arbeiten würden. Hätten die Männer aber erst einmal Arbeit als Landarbeiter angenommen, so verlören sie ihre Qualifikation und würden nicht so bald wieder in ihrem eigentlichen Beruf Arbeit finden.
Geteilt waren die Meinungen auch über den Ausgang der Verhandlungen betreffs der Löhne. Die einen erinnerten an den bösen Streich, den die faschistischen Gewerkschaften den Reisarbeitern im Jahre 1927 gespielt hatten. Auch damals hatten sie eine Klage beim Arbeitsgericht eingereicht und gegen die Lohnkürzungen protestiert. Auch damals hatten sie „provisorische" Löhne vorgeschlagen und die Annahme ihrer Klage durch das Arbeitsgericht versprochen. Um die Massen zu beruhigen, hatten die faschistischen Bürokraten große Versammlungen abgehalten und den Arbeitern das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Nachher hatte sich herausgestellt, dass sie mit den Unternehmern gemeinsames Spiel getrieben und nur beabsichtigt hatten, die Leute an Ort und Stelle zu bringen und hinzuhalten. Inzwischen organisierten sie ihre Kräfte zur Niederwerfung etwaiger Unruhen. Als die Arbeiter ihre Tätigkeit begonnen hatten, führten die Unternehmer einfach die geplanten Kürzungen durch. Und dabei blieb es. Das Arbeitsgericht ließ nichts mehr von sich hören. Es kam zu großen Unruhen; geheime Versammlungen wurden in den Feldern abgehalten. Aber dann setzte auch schon der Gegenangriff der Faschisten ein, und die Bewegung wurde mit Gewalt niedergeschlagen. Würde es jetzt anders kommen? „Aber können die denn wagen, uns noch einmal so mitzuspielen? Wovon sollen wir denn noch leben? Wo sollen wir denn noch hin?"
Aber es gab auch Skeptiker.
„Ihr werdet schon sehen, es kommt wieder genauso. Und wieder werden wir nichts machen können. Versucht doch mal zu streiken! Dann würde die kleine Frühjahrsreise vielleicht für manchen zu einer Reise ins Mittelländische Meer werden!" Das war eine Anspielung auf die als Strafe für jede Lohnbewegung drohende Verbannung. Die Verbannung erfolgt auf die im Mittelländischen Meer liegenden Inseln.
An diesem Punkte ging die Unterhaltung ganz ins Politische über. Es waren die Tage der spanischen „Revolution". Ich konnte damals feststellen, in wie viel höherem Maße, auch trotz des Fehlens wirklicher politischer Klarheit, selbst diese Landarbeiter den Sinn einer proletarischen Revolution verstanden hatten. Als ich Italien verließ, hatte das Arbeitsgericht seinen Spruch noch nicht gefällt. Erst in Deutschland erfuhr ich den Ausgang des „Kampfes" aus den Zeitungen. In seiner Nummer vom 28. April 1931 schrieb der „Corriere della Sera":
„Als Abschluss des bekannten Streits zwischen dem Verband der Gutsbesitzer von Vercelli und der Provinzialunion der faschistischen Landwirtschaftsgewerkschaften über die Festsetzung der Löhne der Arbeiter des Gebiets von Vercelli hat die ,Magistratur dei Lavoro' (das Arbeitsgericht) heute den Spruch gefällt, der mit Gültigkeit bis zum nächsten 10. November folgende Tarife festsetzt:
Für Männer: 1. Gruppe: gewöhnliche Frühjahrsarbeit, Stundenlohn Lire 1,25; 2. Gruppe: Spezialarbeiten 1. Ordnung Lire 1,40; 3. Gruppe: Spezialarbeiten 2. Ordnung Lire 1,30. Für Frauen: 1. Gruppe: gewöhnliche Frühjahrsarbeiten Stundenlohn Lire 0,65; 2. Gruppe: Spezialarbeiten 1. Ordnung Lire 1,10, in der Gruppe der Spezialarbeiten 2. Ordnung Lire 0,90. Zuschläge: Für Männer: Dungstreuen Lire 0,90 täglich. Streuen von Kunstdünger Lire 3,75 pro Doppelzentner ohne Berechnung auf den Tag. Reisaussaat, doppelte Tour Lire 1,20 pro Arbeitstag; Reisaussaat, einfache Tour Lire 0,90 pro Arbeitstag. Jäten pro Feld Lire 0,30.
Für Frauen: Arbeit unter Wasser Lire 0,85 täglich. Der Spruch erklärt den Tarif von Lire 1,15 stündlich für Männer und Lire 0,65 für Frauen, der schon in Ausführung der Anordnung des Ministeriums der Korporation vom 9. März 1931 angeordnet wurde, für definitiv."
Das Ungeheuerliche ist geschehen! Wieder sind die Arbeiter betrogen worden. Wieder hat das Arbeitsgericht die Forderungen der Unternehmer bewilligt. Wieder sind die „provisorischen Löhne", die nach den Versprechungen der Faschisten später durch Nachzahlungen ergänzt werden sollten, rückwirkend bestätigt worden!
Aus den Reissümpfen von Vercelli sind keine Nachrichten über Aktionen der so schändlich betrogenen Arbeiter an die Öffentlichkeit gedrungen. Nur in einer Reihe von Orten, wo die Frauen noch nicht zur Arbeit abgereist waren, ist es wieder zur Verweigerung der Abreise gekommen. Aber die Faschisten haben nicht lange gefackelt. Sie haben die Frauen durch Gendarmen aus den Häusern holen und per Schub an ihre Arbeitsstellen bringen lassen!

 

VERRATEN UND VERKAUFT

Im gegenwärtigen Augenblick, war die allgemeine Agrarkrise trotz der hohen Schutzzölle auch die italienische Landwirtschaft in eine schier aussichtslose Lage gebracht hat, wird die Stellung der kleinen Pächter ebenso hoffnungslos wie die der Tagelöhner. Einen Einblick in ihre Lage gab mir der Besuch der kleinen Landstädte, die um das sogenannte Fucinobecken liegen. Man muss die Geschichte dieser Gegend etwas ausführlicher erzählen.
Ungefähr hundert Kilometer östlich von Rom lag in den Abruzzen inmitten eines Kranzes von Hügeln und Bergen ein Binnensee, der Fucino, mit einem Durchmesser von zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometern. Der See wurde gespeist von den Wassern, die aus den zum Teil bis tief in den Sommer hinein mit Schnee bedeckten Bergen der Abruzzen herunterkommen. Aber der See hatte keinen sichtbaren Abfluss. Die Wasser verzogen sich durch unbekannte Risse im felsigen Gestein. Infolgedessen hatten die umliegenden Orte, die von den Nachkommen des alten kriegerischen Stammes der Marser bewohnt waren, ständig unter Überschwemmungen zu leiden, die ihre an den hügeligen Seerändern liegenden Kulturen zerstörten. Bereits im Altertum tauchte die Idee auf, diese Katastrophen durch einen künstlichen Abzugskanal zu verhindern. Der Kaiser Claudius legte dann um das Jahr 50 nach der Zeitrechnung einen solchen Kanal an, dessen Eingang in der Höhe des damaligen Seespiegels lag. Dieser Kanal, der noch heute vorhanden ist, sollte verhindern, dass die Wasser sich über den normalen Seespiegel erhoben. Es bestand schon damals auch der Plan, den See ganz trockenzulegen; aber die technischen Mittel, über die man zu jener Zeit verfügte, waren offenbar nicht ausreichend, um dies große Projekt durchzuführen. Unter den politischen Wirren der folgenden
Jahrhunderte geriet der Kanal in Verfall. Verschiedene der späteren Herrscher Italiens bemühten sich, allerdings mit geringem Erfolg, um die Wiederherstellung des Werkes. Immer wieder tauchte der Plan der Trockenlegung auf. Jede der Regierungen, die über Italien herrschten, unternahm entsprechende Versuche. Aber erst im neunzehnten Jahrhundert wurde das Werk unter den Bourbonen in Angriff genommen. Eine Aktiengesellschaft wurde gegründet und hervorragende ausländische Ingenieure zur Mitarbeit herangezogen. Die Hälfte der Aktien befand sich in der Hand eines durch Heereslieferungen für die bourbonische Armee sehr reich gewordenen Franzosen, eines Herrn Torlogne. Wiederum störten politische Unruhen die Arbeit. Die Aktiengesellschaft stand vor dem Bankrott. Da erwarb Herr Torlogne, der sich inzwischen in einen Italiener mit Namen Torlonia verwandelt hatte, für billiges Geld den Rest der Aktien. „Entweder lege ich den Fucino trocken oder er mich", mit dieser Parole machte sich Herr Torlonia an die Arbeit, nachdem er sich vorher von der Regierung ausbedungen hatte, dass, im Falle der erfolgreichen Durchführung, das durch die Trockenlegung gewonnene Land - es handelt sich um die Kleinigkeit von 16500 Hektar - ihm als Eigentum zufallen solle. Im Jahre 1870 wurde der Tunnel zur Ableitung des Wassers fertiggestellt. Es bedurfte weiterer acht Jahre, bis das große System der Abzugskanäle fertiggestellt werden konnte, durch die der Seeboden endgültig in fruchtbares Ackerland verwandelt wurde. Zum Lohn für die Wohltaten, die er dem Lande und den Bewohnern des alten Marserlandes hatte angedeihen lassen, wurde Herr Torlonia im Jahre 1875 in den Fürstenstand erhoben. Heute gehören die Fürsten Torlonia zu den mächtigsten Leuten von Italien und zu den treuesten Stützen des faschistischen Regimes. In einer der Villen, die der jetzige Fürst in der Umgebung von Rom besitzt, wohnt Mussolini.
Aber mit den „Wohltaten" hatte es eine eigenartige Bewandtnis. Der Plan des Fürsten bestand darin, auf dem neugewonnenen Land eine größere Anzahl von Kolonisten aus anderen Teilen Italiens anzusiedeln. Dieser Plan stieß auf den heftigsten Widerstand der ehemaligen Anwohner des Sees. Sie hatten früher ihren Lebensunterhalt durch Fischfang und durch Oliven- und Obstzucht an den fruchtbaren alten Abhängen des Seegeländes bestritten. Gregorius schreibt in seinen „Wanderjahren in Italien": „Lachende Uferhöhen, jetzt weit zurückgetreten, mit üppiger Garten- und Weinkultur, stiegen über der trefflichen Fahrstraße auf." Das war im Jahre 1871, als der See erst halb trockengelegt war! Nun stellte sich plötzlich heraus, dass die alten freien Marser Bauern durch die Großtat des Fürsten - in Bettler verwandelt worden waren! Nicht nur waren mit dem Wasser die Fische verschwunden, sondern durch die Entziehung des Grundwassers und durch das Sinken der Temperatur (infolge des Verschwindens des regulierend wirkenden Sees) um zwei bis drei Grad verloren die ehemaligen Seeufer ihre einstige Fruchtbarkeit: die Oliven- und Obstkulturen gingen ein. Für Getreideanbau ungeeignet, gab der entwertete Boden nur eine magere Gemüseernte. Unter dem Druck der empörten Bevölkerung verzichtete der Fürst auf den Plan der Ansiedlung fremder Bauern und erlaubte den Einwohnern der elf um den See herum liegenden Städtchen großmütig, als Pächter und Landarbeiter auf „seinem" Land, dem ehemaligen Seeboden, zu arbeiten. Die Wohltat des Fürsten stellte sich auf diese Weise als ein beispielloser Raubzug dar. Den großen „Seccatore", den Trockenleger, nannte man Torlonia vor sechzig Jahren Aber „Seccatore" hat auch noch einen anderen Sinn, es bedeutet „Quälgeist"! Und so nennen ihn auch die Bauern des Fucino!
Ich habe bei meinem Besuch der verschiedenen Städte noch alte Leute getroffen, die als Knaben die Fische des Sees in der Umgebung verkauft und in den Oliven- und Obstgärten ihrer Väter die damals freie Bauern waren, gearbeitet haben. Heute sind sie zum größten Teil nicht einmal mehr Pächter, sondern einfache Tagelöhner.
Bei der Anlage der Entwässerungskanäle wurde der Seeboden mit einem Netz von Straßen überzogen, die das ganze Gelände in mathematisch abgezirkelte Feldstücke von je hundert Morgen einteilen. Hundert Morgen war die Einheit, die in der ersten Zeil gegen eine damals nicht sehr hohe Pacht an die einzelnen Bauern zur Bewirtschaftung abgetreten wurde. Aber diese Feldeinteilung stellte sich auf die Dauer als unmöglich heraus. Die
Felder waren zu groß, als dass eine Familie sie hätte mit eigenen Kräften bearbeiten können. Die nötige Zahl von Knechten einzustellen, ging wiederum über die Kraft der kleinen Bauern; nur die größeren konnten sich das leisten. Es fing ein zäher Kampf zwischen den Bauern und der Verwaltung des Hauses Torlonia um eine andere Feldeinteilung an. Gleichzeitig mit der Herabsetzung des Pachtzinses strebten die Bauern eine Verkleinerung der verpachteten Landeinheiten an. Sie hatten Erfolg, und es kam zu einer gewissen Anpassung der Wirtschaftsformen an die Bedürfnisse der Bauern. In den Jahren unmittelbar nach dem Kriege gelang es den Bauern, weitere Konzessionen zu erkämpfen. Damals ging es auch im Fucinobecken wie in anderen Teilen Italiens den Pächtern gut. Die stolzen Marser, die einen vom Italienischen ziemlich stark abweichenden Dialekt sprechen und sich nie eigentlich zu „Italien" gehörig gefühlt hatten, gewannen an Selbstbewusstsein. Während die Administration Torlonias bestrebt war, das Städtchen Avezzano, wo die Verwaltungsgebäude liegen, zum Hauptort des Gebietes zu machen, hielten die Marser an ihrer Hauptstadt, dem alten Celano fest, das, von einem mächtigen, mittelalterlichen Kastell überragt, auf der Spitze eines Hügels am Nordrande des Sees liegt. Im Jahre 1915 wurde das ganze Seebecken von einem furchtbaren Erdbeben heimgesucht, welches das Städtchen Avezzano vollständig und die übrigen Städte zum größten Teil in Trümmer legte. Allein in Avezzano fielen 30000 Personen der Katastrophe zum Opfer. Heute noch wohnt ein großer Teil der Einwohner von Celano und anderen Orten in den damals eilig errichteten Notbaracken. Das Erdbeben brachte, so traurig es war, eine gewisse Entspannung des Arbeitsmarktes; zahlreiche Familien aus dem Fucinobecken kehrten nach dem Kriege aus allen Teilen der Welt, wohin sie ausgewandert waren, in ihre Heimat zurück und traten, mit ihren Ersparnissen größere Stücke Lands in Pacht erwerbend, an die Stelle der von dem Erdbeben Getöteten. Ich habe in allen Orten im Fucinobecken eine besonders große Zahl von Leuten getroffen, die ausgezeichnet deutsch und englisch sprachen. Aber die Lage änderte sich mit dem Einzug der Faschisten. Der Fürst bekam freie Hand, die Konzessionen, die er in den vorhergehenden Jahren an die Bauern hatte machen müssen, zurückzunehmen. Einer nach dem anderen wurden die Verträge mit den Kleinpächtern gelöst. Ein ganzer Schwarm von Neureichen zog im Seebecken ein. Es waren Spekulanten, treue Anhänger des Faschismus, die, in kurzer Zeit zu Bürgermeistern usw. ernannt, dem Fürsten große Landstücke auf einmal abpachteten und die ehemaligen Pachtbauern nun als Unterpächter, Landarbeiter und Tagelöhner einstellten. Der Pachtzins für die Kleinpächter und Unterpächter wurde von Jahr zu Jahr erhöht. Er blieb auf der gleichen Höhe, als durch die Stabilisierung der Lira die innere Kaufkraft des Geldes wuchs und gleichzeitg durch die Agrarkrise die Landwirtschaft immer unrentabler wurde. Immer mehr kleine Pächter mussten die für sie unerträglich werdende Pacht aufgeben und sich mit der Rolle von Landarbeitern und Tagelöhnern abfinden. Die Lage wurde vollends unerträglich dadurch, dass nach der Errichtung einiger großer Zuckerfabriken die Administration Torlonia eine ständig wachsende Ausdehnung der Zuckerrübenkulturen auf dem hierfür besonders geeigneten Seeboden anstrebte. Der Zuckerrübenbau schließt die Gewinnung von Nebenprodukten aus. Wovon aber sollten die Bauern leben? Der Erlös der Ernte, die sie, um ihre Schulden zu zahlen, immer schnell verkaufen mussten, wobei sie ihre Produkte den Aufkäufern, die zum Teil mit der Administration Torlonia unter einer Decke steckten, zu niedrigsten Preisen abgeben mussten, reichte meistens gerade aus, um den Pachtzins zu zahlen. In den Zeiten, als die Empörung über die „Wohltaten" des Herrn Torlonia die Bauern des Fucino bis zu Aufständen gebracht hatte, hatte der Fürst 2500 Hektar zur freien Benutzung an die Bewohner der kleinen Städte abgetreten. Es handelte sich dabei aber um das ehemalige Uferland, das infolge des von dem alten See abgeladenen Kieses so gut wie unfruchtbar ist. Auf diesem Land und auf den Abhängen, die früher die Olivenkulturen getragen hatten, kann die Bevölkerung kaum das Nötigste für sich gewinnen. Aber das faschistische Regime sorgte dafür, dass die Bauern nichts gegen diese ständige Verschlechterung ihrer Lage unternehmen konnten. Mit Hilfe von Provokateuren wurden Aufstände angezettelt und dann blutig niedergeschlagen. Besonders das Städtchen Pescina spielte hierbei eine Rolle. Als ich zur Osterzeit die Städtchen des Fucinobeckens besuchte, war ich erstaunt, auch in dieser Gegend Verhältnisse zu finden, die sich äußerlich in nichts von denen in Sizilien und dem eigentlichen Süden unterschieden. Die Marktplätze von Cerchio, Ajelli und Celano boten in den frühen Morgenstunden genau dasselbe Bild wie die Plätze der süditalienischen Bergstädte. Wieder sah ich zu Dutzenden die abgerissenen, fröstelnden Gestalten der Landleute die Plätze füllen, wieder sah ich die Anwerber mit ihnen verhandeln und die Gestalten der Berufsfaschisten lauernd um die Gruppen herumstreichen. Als ich mit den Arbeitsuchenden ins Gespräch kam, stellte es sich heraus, dass ein großer Teil von ihnen - Pächter waren. Aber sie alle waren gezwungen, neben ihrer Tätigkeit auf dem gepachteten Stückchen Land bei den Großpächtern Arbeit als Tagelöhner zu suchen. „Arbeit, Arbeit", das war die Forderung, die in allen Gesprächen mit den dortigen Bauern immer wieder aufgestellt wurde. „Hat denn das neue Regime an eurer Lage nichts gebessert?" Der junge Bauer, den ich das fragte, verstand nicht. Von was für einem Regime sprach ich? Ich musste ihm umständlich erklären, was ich meinte.
„Ach so, die Faschisten meinen Sie! Nein, von denen merken wir nicht viel. Das heißt, seit sie da sind, geht es uns noch schlechter. Die sind mit einem ganzen Schwarm von fremden Leuten gekommen. Unsern alten Bürgermeister haben sie abgesetzt. Sie haben einen Fremden zum Podestà ernannt. Und alles, was der tut, tut er für sich und seinen Anhang. Die reden immer von ,Interessen der Nation', im Interesse der Nation haben sie unsre Bäche umgeleitet und haben altes Gemeindeland, die ,Tratturi', in Felder verwandelt. Das Wasser haben sie ihren eigenen Feldern zugeleitet, und die ,Tratturi' haben sie sich selber genommen. Ich war verwundert. Ich wusste: „Tratturi" heißen die alten, grasbewachsenen Straßen, auf denen die Herden, sich langsam durchfressend, aus der Ebene in die Berge und wieder zurück steigen.
„Geht denn das so einfach? Ist denn das Gemeindeland nicht durch Gesetze geschützt?"
„Ja, die Gesetze! Sie wissen doch, was das bedeutet, ein Podestà? Früher haben wir die Bürgermeister selber gewählt, und sie standen unter unserer Kontrolle. Die Faschisten haben das abgeschafft. Der Podestà wird vom Präfekten ernannt und kann dann machen, was er will. Da haben wir nichts mehr zu sagen. Er und der Sekretär der Faschistischen Partei machen alles. Sie allein könnten schon über das Gemeindeland bestimmen. Aber Sie haben ja keine Ahnung, wie die Faschisten mit uns Schindluder treiben! Es ist ja wahr, unsere Bauern hier sind dumm und ungebildet. Nur wir, die ein bisschen in der Welt herumgekommen sind, verstehen, was gespielt wird. Aber wir sind auch verdächtig und immer unter Beobachtung. Schon viele von unseren Leuten sitzen auf den Inseln. Besonders nach den letzten Unruhen. Denn wenn unsere Bauern auch dumm sind, so sind sie auch dickköpfig, und schon ein paarmal haben wir hier allerhand Aufstände gehabt. Aber das muss ich Ihnen erzählen, wie es die Faschisten mit den ,Tratturi' gemacht haben." Die Geschichte, die mir dieser Bauer von Celano, unterstützt und ergänzt von ein paar anderen, die wie er an diesem Tage keine Arbeit gefunden hatten, oben in den Ruinen des Kastells erzählte, wäre der Feder eines großen Satirikers würdig - wenn sie nicht so grausam wäre.
Die Umwandlung der „Tratturi" in Privatland ist nämlich auf „einstimmigen, begeisterten Antrag der gesamten Bauernschaft des Fucinobeckens selbst" durchgeführt worden! Ich will das kurz so wiedergeben, wie es mir die Leute vom Fucino erzählt haben:
Eines Tages erschienen in den Dörfern zurzeit, als die meisten Männer auf dem Feld waren, junge Leute in faschistischer Uniform. Sie ließen ein paar alte Männer und Frauen in der Gastwirtschaft zusammenrufen und erklärten ihnen, dass die Regierung etwas für die notleidenden Bauern des Fucino unternehmen wolle. Sie seien gekommen, die Klagen entgegenzunehmen und gleichzeitig die Unterschriften der Einwohner für eine entsprechende Eingabe zu sammeln. Um die Sache abzukürzen, sollten die Bauern gleich unterschreiben. Den genauen Text der Eingabe würde man dann schon zusammenstellen. Die Bauern waren zuerst recht misstrauisch. Sie dachten, dass es sich wieder um neue Steuern handle, von denen es schon übergenug gab. Als dann aber doch einige von den Anwesenden mit krakliger Schrift ihre Namen auf den weißen Bogen Papier setzten, machten auch die anderen mit. Da die Mehrzahl der Männer bei der Feldarbeit war, wurden ihre Namen nach dem Diktat der anwesenden Bauern gleich mit draufgesetzt. So kamen in all den Bergstädtchen Blätter mit den Unterschriften der Gesamtbevölkerung zusammen. Längere Zeit hörten die Bauern nichts mehr von ihrer Eingabe. Dann wurden sie eines Tages auf Lastautos und Wagen in die Hauptstadt Avezzano abgeholt. Es sollte ein großes Fest stattfinden. Ein Vertreter der Regierung, der Präfekt und der Bischof würden da sein. Die Bauern machten gern diese kleine Reise in die Stadt, in die sie sonst nicht oft kommen. In Avezzano wurden sie auf Straßen und Plätzen aufgestellt. Sie wurden instruiert, wie sie den Minister, den Präfekten und den Bischof mit „Hurra" begrüßen sollten. Alles klappte vorzüglich. „Unter allgemeiner Begeisterung" fuhren die Würdenträger in die Administration Torlonia, wo ein Festessen stattfand. Die Bauern warteten auf das große Ereignis. Aber nach ein paar Stunden Wartens erfuhren sie, dass schon alles beendet sei und dass sie nach Hause gehen könnten. Aber sie erfuhren noch mehr. Die Zeitungen feilten in großen Lettern mit, dass anlässlich seines Besuches in Avezzano der Minister auf den einstimmigen und begeisterten Antrag der gesamten Bevölkerung des Fucinobeckens die Umwandlung der „Tratturi" in Ackerland wohlwollend genehmigt habe! Die Bevölkerung habe bewiesen, dass sie imstande sei, „die Interessen der Nation", die eine Vergrößerung der Anbauflächen erforderten, über ihre Privatinteressen zu stellen!
So wurde den Marsern das Fell über die Ohren gezogen! Aber schauen wir uns an, wie es ihnen jetzt geht. Die Berechnung des Zinses für die Felder im Fucino geschieht nach der Einheit der „Coppa". Ein Morgen hat fünf Coppe. Vor dem Krieg betrug der Pachtpreis für die Coppa sieben Lire. Heute muss der kleine Pächter sechsunddreißig Lire bezahlen oder siebenhundert Lire für den Hektar. Die Städtchen lagen früher einmal am Seeufer und inmitten der Oliven- und Obstbaumhaine an den Bergabhängen. Heute sind die Felder, auf denen die Pächter und Tagelöhner arbeiten, sechs bis zehn Kilometer von den Städten abgerückt. Um rechtzeitig aufs Feld zu kommen, müssen auch hier die Bauern beim ersten Morgen-
grauen losziehen. Glücklich, wer ein Maultier und einen kleinen, zweirädrigen Karren hat. Wenn die Sonne noch hinter den Bergen ist, sieht man in den Gassen der Städtchen überall die Bauern die Wagen anschirren. Wer keinen Wagen hat, geht, das kleine Feldgerät auf der Schulter, zu Fuß. Wenn er einmal größere Ackergeräte, den Pflug oder die Egge mitnehmen muss, so muss er sie von einem Kollegen, der einen Wagen hat, mitnehmen lassen und dafür bezahlen. Auch die Ernte muss auf eigene Kosten zu den Lagern der Verwaltung oder der Aufkäufer gebracht werden. Wer keinen eigenen Wagen hat, muss auch dafür wieder bezahlen. Die Fruchtfolge wird mehr und mehr von der Administration bestimmt. Sie verlangt zum Beispiel von den Pächtern, dass sie jedes zweite Jahr Klee oder andere Leguminosen anbauen. Dass der Ertrag dieser Kulturen den Bauern kaum so viel einbringt, dass sie die Pacht bezahlen können, interessiert die Administration Torlonia nicht. Ein bestimmter Teil des gepachteten Landes muss immer mit Zuckerrüben bestellt werden. In diesen Fällen kann der Zins in natura - fünf Doppelzentner Rüben pro Coppa - bezahlt werden. Bleibt die Ernte hinter dieser Norm zurück, so muss der Pächter die Differenz in Geld bezahlen.
Der Tagelohn schwankt auch hier zwischen acht und zehn Lire. Mit Ausnahme der Herbstmonate, wo ein paar tausend junge Männer für einige Wochen in den Zuckerfabriken Arbeit finden, in denen auch durchschnittlich zehn Lire pro Tag gezahlt werden ist immer ein starkes Überangebot an Arbeitskräften vorhanden. Deswegen zeigen die Löhne auch hier eine sinkende Tendenz. Arbeitsvermittlungsstellen gibt es wohl, aber nicht für die Arbeit im Fucino. Wer sich anwerben lässt, muss das Dorf verlassen und weit fort auf die Meliorationsgebiete oder zum Straßenbau ziehen. Die Familie muss dabei zu Hause bleiben. Die zehn Lire Tagelohn, die es auch für diese Arbeiten gibt, werden in der Fremde restlos verbraucht. Wovon soll dann die Familie leben?
Das ist das Schicksal der Kleinpächter auf den Ländereien des mächtigen Fürsten Torlonia, der mit Hilfe seines Freundes Mussolini immer neue Millionen aus den mageren Körpern der 50000 Nachkommen der alten Marser presst.
Die Marser aber stellen ständig einen guten Nachwuchs für die revolutionäre Bewegung Italiens. Erst in den Tagen, wo ich diese Zeilen schreibe, hat das Ausnahmegericht in Rom einen jungen Marser, den Drucker Romolo Tranquilli, der sich vor Gericht freimütig als Kommunist bekannte, zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt!

 

DIE HÄLFTE DER ERNTE BEKOMMT DER HERR

Während die kleine, mit Geld abgelöste Pacht seltener wird und die Verwandlung der Pächter in Landarbeiter und Tagelöhner ständig Fortschritte macht, hat sich eine andere Form der Pacht nicht nur erhalten, sondern die Faschisten versuchen sie auch noch weiter auszudehnen: die sogenannte Halbpacht (Mezzadria).
Dasjenige Gebiet, wo die Halbpacht am meisten verbreitet ist, ist die Provinz Toskana. 60 Prozent der Bauern sind hier Halbpächter. So ist es unverändert seit vielen Jahrhunderten. Erst in der allerletzten Zeit wächst unter den Schlägen der Agrarkrise auch in der Toskana langsam die Zahl der Tagelöhner. In den frühen Morgenstunden kann man heute Scharen von Tagelöhnern zu Fuß und zu Rad aus den Hügeln um Florenz, Siena und den anderen größeren Städten Toskanas zur Arbeit in der Ebene herabsteigen sehen.
Wir haben schon früher einen kurzen Blick auf die Siedlungs-und Besitzverhältnisse in der Provinz Toskana geworfen, die seit Jahrhunderten unverändert geblieben sind. Ich habe mir Mühe gemacht, einmal in einige solcher Betriebe einzudringen, um festzustellen, was wirklich bei dieser Halbpacht vor sich geht.
Die Bedingungen der Halbpacht sind in ihren Bestimmungen von Ort zu Ort sehr verschieden. Die Einzelheiten der Verträgewaren in der Zeit nach dem Kriege Gegenstand heftiger Kämpfe. Auch heute noch wird um einzelne Punkte, wie zum Beispiel jetzt um die Verrechnung der Gewinne und Verluste in der Viehwirtschaft lebhaft gestritten. Die allgemeinen Bestimmungen, die im Großen und Ganzen in allen Halbpachtverträgen wiederkehren, sind folgende:
Der Besitzer oder sein Vertreter gibt das Land an eine Bauernfamilie, die durch den Hausvorstand vertreten wird. Der Bauer hat das Ackergerät und Arbeitsvieh selbst zu stellen. Saatgut und Setzlinge werden vom Besitzer geliefert, aber nur auf Borg; sie müssen nach der Ernte abgerechnet werden. Der Besitzer beschränkt sich darauf, das Land zu geben, bei den Wein- und Baumkulturen die Pfähle zu liefern, die sein Eigentum bleiben und einen Teil der Transportkosten zu übernehmen. Die Erhaltung der Gebäude, der Mauern, Brunnen usw., die ebenfalls Eigentum des Besitzers sind, obliegt dem Halbpächter. Im Übrigen wird die gesamte Bruttoernte in zwei genaue Hälften geteilt, von denen die eine an den Besitzer fällt, während die andere dem Pächter zur Verwendung nach seinem Gutdünken bleibt. Ein bedeutender Teil dieser Hälfte wird von dem Halbpächter in natura verzehrt, während er vom Erlös des verbleibenden Restes seine Einkäufe bestreiten muss.
Schon auf den ersten Blick stellt sich also die Halbpacht als eine tolle Form der Ausbeutung dar: Der Besitzer, der nichts zu tun hat, als den Boden zu „geben", steckt ohne weiteres die Hälfte der Ernte ein. Da ein Besitzer meistens Dutzende, ja Hunderte von Halbpächtern beschäftigt, kann man sich ein ungefähres Bild von seinen Einkünften machen. Von der anderen Hälfte muss die große Zahl der Familienmitglieder der Pächter leben, müssen die Produktionskosten, das Inventar und seine Reparatur und das Arbeitsvieh bezahlt werden. Diese Verteilung des Bodenertrages wird dadurch für den Halbpächter noch ungünstiger, dass er, wie wir schon gesehen haben, gezwungen ist, seine Ernte, soweit sie nicht schon verzehrt ist, möglichst schnell auf den Markt zu bringen. Während der Besitzer das Korn, den Wein, das Öl usw. solange zurückhalten kann, bis eine möglichst günstige Marktkonjunktur eintritt, muss der Halbpächter seine Produkte dem ersten besten Händler ablassen. Dazu zwingt ihn der Pachtvertrag, der eine Abrechnung seiner Schulden nach der Ernte fordert. Denn schon im Laufe des ganzen Jahres kann sich der Halbpächter nicht darauf beschränken, von den konservierbaren Produkten der letzten Ernte - Korn, Mais, Bohnen, Wein, Öl usw. - zu leben und die Nebenprodukte seines Betriebes - Gemüse, Früchte, Eier - zu verzehren, sondern er braucht Bargeld für Kleidung,
Brennstoff und andere Industrieprodukte. Dieses Bargeld schießt ihm der Besitzer vor. Die dadurch entstehenden Schulden müssen nach der Ernte abgerechnet werden.
Diese ganze Wirtschaft ist nun nur möglich, wenn es sich um Bauernfamilien von einer großen Kopfzahl handelt und wenn alle Familienmitglieder mitarbeiten. Tatsächlich hat sich in den klassischen Halbpachtgebieten nicht nur ein Vertragsverhältnis erhalten, das seit dem 13. Jahrhundert unverändert geblieben ist, sondern mit diesen Verträgen hat sich die uralte, patriarchalische Großfamilie erhalten.
Die Halbpacht fordert also das Vorhandensein einer zahlenmäßig außerordentlich großen Familie, die dadurch zustande kommt, dass die Söhne und Schwiegertöchter mit den Enkeln in der väterlichen Wirtschaft bleiben, so dass Familien von fünfundzwanzig, dreißig und mehr Personen nicht selten sind. Aber sie verlangt auch eine strenge Disziplin innerhalb der Familie. Kein Korn Getreide, kein Tropfen Öl, kein Glas Wein darf unnötig verschwendet, kein Pfennig unnötig ausgegeben werden. Für die ganze Familie gibt es nur eine einzige Kasse. Diese Ordnung wird aufrechterhalten durch eine ebenso jahrhunderte alte Familienorganisation, an deren Spitze ein Dreier-Kollegium steht: der Capoccia, der Hausvater; die Massaia, die Hausfrau; und der Bifolco, der Viehwart.
Der Capoccia vertritt die ganze Wirtschaft gegenüber den Besitzern und dem Staate. Er schließt die Verträge ab, er verteilt die Arbeit an die Familienmitglieder, er regelt alle Geschäfte, die mit Ein- und Verkauf zusammenhängen. Er führt das Wirtschaftsbuch. Er verwaltet die Kasse. An ihn muss man sich wenden, wenn man einen Anzug, einen Schlips, ja einen Kragenknopf braucht. Er bestimmt das Wirtschaftsgeld, zahlt den Arzt usw. Den Platz des Capoccia nimmt der älteste, verheiratete Mann der Familie, oder wenn der eigentliche Familienvater gestorben ist, der älteste seiner Söhne ein. Die Einsetzung erfolgt auf einem regelrechten Familienrat. Die Rolle der Massaia kommt in der Regel der Ehefrau des Capoccia oder, wenn sie nicht mehr lebt, der Frau seines nächsten Bruders oder ältesten Sohnes zu. Die Massaia ist von aller Feldarbeit befreit. Ihr untersteht das Haus, die Kinder, das Brot-
backen, die Zubereitung des Essens, die Sorge für die Instandhaltung der Kleidung und das Kleinvieh. Der Bifolco ist die am meisten gesuchte Stellung in dieser Hausverwaltung. Ihm ist das Großvieh anvertraut. Aber er hat nicht nur für seine Pflege, Fütterung usw. aufzukommen, sondern ihm obliegt gleichzeitig der Verkauf des Viehes. Bei diesen Gelegenheiten begleitet er die Viehtransporte auf die Wochenmärkte und schlägt sich mit den Viehhändlern um den Preis herum. Und gerade diese Seite seiner Arbeit macht die Stellung so gesucht. Denn während die übrigen Familienmitglieder so gut wie nie aus ihrem „Podere", der Besitzung mit dem mächtigen, uralten Steinhaus, herauskommen, hat er Gelegenheit, die Marktflecken und Städte aufzusuchen und unter die Leute zu kommen. Aber er hat noch etwas mehr. Der Capoccia gibt ihm bestimmte Normen für die Preise mit, die er erzielen muss. Gelingt es ihm, das Vieh zu höheren Preisen loszuschlagen, so fällt ihm die Differenz zu. Er ist also der einzige in der ganzen Familie, der freie Nebeneinkünfte hat. Denn auch die Einkünfte, die andere Familienmitglieder durch Lohnarbeit auf fremden Gütern hereinbekommen, müssen an die gemeinsame Kasse abgeliefert werden. Die Stellung als Bifolco kommt im Allgemeinen dem ältesten Bruder des Capoccia oder dem ältesten Sohn zu.
Wie wir schon sagten, ist diese patriarchalische Organisation eine Existenzbedingung der Halbpacht. Ohne sie wäre es nicht möglich, dass die Pächterfamilie mit der Hälfte der Ernte unter Abzug der Betriebskosten überhaupt auskommt. Unter den Schlägen der Agrarkrise und angesichts der Industrialisierung des Landes hat diese Organisation in letzter Zeit Risse bekommen. Die Söhne und ihre Kinder drängen aus dem engen Rahmen der alten Großfamilien heraus. Sie sehen um sich herum ein freieres Leben, neue Arbeitsmöglichkeiten und sind bestrebt, die Fesseln der alten Familien abzuschütteln. Sie verlassen die Familie und suchen selbständige Arbeit als Tagelöhner und Arbeiter. Dieser Zerfall der Großfamilie bedroht das ganze System der Halbpacht. Und da, wie wir schon gesagt haben, die Faschisten im Interesse der Großgrundbesitzer nicht nur an der Erhaltung der Halbpacht interessiert sind, sondern sogar ihre Ausdehnung auf ihr Programm gesetzt haben, müssen sie auch für die Erhaltung der patriarchalischen Großfamilie und ihrer Sitten eintreten. So erklärt sich in erster Linie die große Propaganda der Faschisten für die „Stirpe", die Familien- und Stammeszucht, für die Heiligkeit der Familie und den reichen Kindersegen. So erklärt sich auch die eifrige Unterstützung dieser Propaganda durch die katholische Kirche, die ja als Großgrundbesitzerin ebenso unmittelbar an der Halbpacht interessiert ist.
Die entstehenden Lücken in der Familie werden in der letzten Zeit immer häufiger auf eigenartige Weise ausgefüllt: Die Kinderarbeit in der Halbpacht ist im Wachsen begriffen. Zur Vermehrung der Arbeitskräfte werden von den Gemeinden Waisen und Findelkinder in die Großfamilien übernommen. Sie werden als „Kinder" behandelt und erhalten keinen Lohn. Neben ihnen wächst die Zahl der „Garzoni", der Lehrlinge. Das sind meistens Kinder armer Tagelöhner. In den Gegenden, die ich besucht habe, setzen sich die Garzoni vorwiegend aus den Kindern der arbeitslosen Bergarbeiter des in der Nähe des Chiantigebiete liegenden Braunkohlenreviers von Castelnuovo dei Sabbion zusammen. Diese Garzoni bekommen (oder sollen bekommen eine Geldentschädigung, das sind aber nur wenige Lire im Mona! Die Untersuchungen über die Familienbudgets derartiger Halbpächterfamilien, deren Resultat ich im folgenden mitteilen werde sind in dem berühmten Chiantigebiet, südlich von Florenz, durch geführt, das den in ganz Italien und auch im Ausland berühmt Chiantiwein liefert. Als Nebenprodukt dieser Untersuchung und der Beobachtungen an Ort und Stelle hat sich übrigens geben, dass mit diesem Chiantiwein ein großer Schwindel getrieben wird: Wenn der Reisende in seinem Restaurant nicht dem gewöhnlichen offenen Wein vorliebnehmen will, bestellt sich bestimmt eine Flasche „Chianti". Dem Chianti kann man nirgends entrinnen. Es ist vor allem eine Firma, das Haus Ruffino, die ganz Italien mit den bekannten, bastumflochtenen Flaschen üb schwemmt.
Als ich die Chiantigegend aufsuchte, um dort die Halbpacht kennenzulernen, erwartete ich, die Berghänge von unten und oben mit Rebengärten besetzt zu finden, wie es etwa am Rhein und an der Mosel der Fall ist. Wie erstaunt war ich, als ich, vor den Chiantibergen herniedersteigend, vom Pian d'Albola den ersten Blick in das Pesatal hinabwarf, das das Chiantigebiet der Länge nach durchzieht. Ich glaubte im Odenwald zu sein! Die ganzen oberen Bergabhänge waren mit dichtem Wald bedeckt. Auf den Lichtungen zwischen den Eichen- und Buchenwaldungen lagen Kohlenmeiler. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich an die untere Waldgrenze kam.
Das erste, was sich hier meinen Blicken darbot, war eine Kette von Burgen und Schlössern, die in Zypressenhainen auf den Hügelkuppen lagen. Zu ihren Füßen streckten sich bestellte Felder, zwischen denen mächtige, zweistöckige Steinhäuser, teils mit Türmen verziert, aufragten. Von Weinbergen war noch nichts zu sehen. Es gab wohl Weinpflanzen, aber die standen weit auseinander, wie zufällig, auf den Feldern. Zwischen ihnen wuchs unter Oliven- und Obstbäumen mageres Getreide und Gemüse. Später erfuhr ich, wie die Dinge liegen: Der Weinbau verschwindet langsam, aber sicher. Die Reblaus frisst an seiner Wurzel, und von oben frisst die Krise des Weinbaues an ihm, die in den ständig sinkenden Weinpreisen zum Ausdruck kommt. Einer nach dem anderen werden die alten Weinberge ausgerodet. Selten werden neue Weinberge angelegt. Der Rückgang ist geradezu katastrophal. Vor dem Kriege wurden in dem Gebiet von San Vincenzo 2500 Doppelzentner Trauben geerntet. Im Jahre 1920 ging die Ernte auf 85 Prozent, im Jahre 1925 auf 62 Prozent und 1930 auf 30 Prozent zurück. Noch katastrophaler ist der Rückgang des Weinbaues in dem nahe bei Florenz liegenden Gebiet von Casciano, wo Macchiavelli, der erste große Denker des modernen nachmittelalterlichen Italiens, seine Sommerresidenz hatte. In der Vorkriegszeit betrug die Weinernte hier 4500 Doppelzentner im Jahr. 1920 hielt sie sich noch fast auf gleicher Höhe. 1925 war sie schon auf 50 Prozent gesunken und betrug 1930 nur noch 22 Prozent. Hier machte sich die Einwirkung der Fremdenstadt Florenz geltend, die einen wachsenden Bedarf an gutbezahltem Frischgemüse hat. Unter diesen Umständen ist das Chiantigebiet gar nicht imstande, all den Chiantiwein hervorzubringen, der in Italien getrunken wird. Der Chianti wächst längst woanders: in den Kellern der großen Exporthäuser. Die Firma Ruffino hat ihre Kellereien auch gar nicht im Chiantigebiet, sondern in Pontassieve, einem Städtchen an der Eisenbahnlinie Florenz-Arezzo. Aus ganz Italien strömt hier billig aufgekaufter Wein zusammen, der dann in den Kellern der Ruffino zum feinsten Chianti verarbeitet wird. Aber kehren wir zurück in das obere Pesatal. In der Nähe des Waldes liegt in seinen Weizenfeldern, Bohnengärten und weitverstreuten Weingehegen der „Podere" der Familie P. Es ist ein großes zweistöckiges steinernes Haus mit vielen Zimmern, einer Halle, Ställen und einem Backofen. Die innere Einrichtung des Hauses und seine Sauberkeit ließen auf eine gewisse, wenn auch bescheidene Wohlhabenheit schließen. Ich kannte das alles schon aus den Beschreibungen, die ich in der landwirtschaftlichen Beobachtungsstation von Cascine bekommen hatte.
Der Capoccia, Faustino P., ein rüstiger Mann von sechsundfünfzig Jahren, war zu Hause. Im Knopfloch seiner Hausjacke trug er das faschistische Abzeichen. Auf die Nachricht von dem eingetroffenen Besuch kam auch seine Frau Maria, die Massaia, ins Haus, um den Gast in angemessener Weise zu empfangen. Die Familie ist nicht groß; sie zählt nur acht Köpfe. Zum Haushalt gehört auch ein Garzone, der zwölfjährige Rinaldo. Er ist der Sohn eines arbeitslosen Bergarbeiters aus dem Dorfe Massa, das ich am Vormittag durchwandert hatte.
Ich musste mir zuerst Haus und Hof ansehen. Nicht alle Zimmer des Hauses waren bewohnt. Man sah, dass die Räume ursprünglich auf eine sehr viel größere Familie berechnet waren. In jedem Zimmer hingen Heiligenbilder. Die Familie ist streng katholisch. Man besucht regelmäßig die ziemlich weit entfernte Kirche, gibt dem Geistlichen einen Scheffel Getreide für die Segnungen der Felder und ist freigebig gegenüber den herumziehenden bettelnden Mönchen und Nonnen. Niemand verlässt das Haus ohne etwas Getreide, Wein, Wolle oder Käse. Die Religiosität hindert nicht, dass auch der alte Aberglauben weiter besteht. Beim Eintreten hatte ich bemerkt, wie man mich schnell musterte, ob ich nicht vielleicht den bösen Blick habe und dem Hause Unglück bringen könnte. Wenn das Vieh krank wird oder ein Hausbewohner schlappmacht, wendet man sich schon an den Arzt unten im Tale, aber man verschmäht es auch nicht, den Ortsbader zu Rate zu ziehen, und was kann es schaden, wenn man in besonders schwierigen Fällen auch einmal jemanden nach Siena schickt, um die „Hexe" von Siena um Rat zu fragen?
Der Wein, bei dem wir uns nachher in der Halle niederließen, war nicht gerade sehr hervorragend. Die guten Sorten werden verkauft, und man behält sich für den Hausgebrauch nur den dünnen, zuckerarmen Wein. Ich sah mich um. Das Zimmer war altmodisch, aber solide eingerichtet. Auch der Kleidung der Leute sah man an, dass es der Familie einmal ganz gut gegangen sein musste. Aber Kleider und Wäsche schienen längere Zeit nicht erneuert zu sein. Es ist ihnen in den letzten zwei Jahren sichtlich schlecht gegangen. Kleider und Wäsche müssen in der Stadt eingekauft werden. Der größte Teil des Ertrages der Feldarbeit wird, soweit er nicht an den Herrn abzuliefern ist, selbst verzehrt. Das Geld, das von dem Verkauf des Restes hereinkommt, muss zum Teil wieder in den Betrieb gesteckt werden, und nur von dem, was dabei übrigbleibt, können Anschaffungen gemacht werden. Kleider, Wäsche und Fleisch sind fast die einzigen Dinge, die man einkauft. Wenn die Einkünfte geringer werden, wenn die Ernte schlecht ausfällt, wenn die Preise sinken, muss eben gespart werden. Und das erste, woran man spart, sind Kleidung und Fleisch. Der „Podere" ist nicht groß. Er umfasst neuneinhalb Hektar, achtunddreißig Morgen. Sechs Morgen davon sind Wald und Weide. Die Feldstücke liegen nicht zusammen, sondern sind im ganzen Tal verstreut.
Das Kapital, mit dem die Familie wirtschaftet, ist nicht sehr groß. Da das Land, das Haus und das Vieh dem Besitzer gehören, setzt es sich folgendermaßen zusammen:

Möbel                                     im    Werte   von

2 800 Lire

Wäsche                                 „        „        „

3 000 „

Kleider                                „        „        „

5 000  „

Ackergerät                             „      ,#„

1 700  „

Kleines Gerät                          „        „        „

600  „

Hühnerstall                            „        „        „

400 „

Dazu kommen noch die Reste

 

der Ersparnisse, ungefähr

6 000 „

Das macht zusammen:

19 500 Lire

Mit den Ersparnissen ist das allerdings so eine Sache. Wie es wirklich damit aussähe, könne man im Augenblick nicht sagen, meinte der Capoccia. Denn im Laufe der Jahre hätte er bei dem Herrn mehr Vorschüsse nehmen müssen als gewöhnlich, und man würde erst im Herbst sehen, wie die Rechnung abschließen würde.
Wir gingen dann zusammen die Aufstellung durch, die ich aus der Beobachtungsstation mitgebracht hatte. Sie bezog sich auf das Jahr 1929. Niemals früher hatte man eine solche Aufstellung gemacht und würde sie auch in Zukunft wohl nicht wieder machen. Für die Wirtschaft selbst war sie ja nicht nötig. Man war dem jungen Doktor aus der Beobachtungsstation und dem Ortsgeistlichen, der ihm behilflich war, entgegengekommen und hatte ihnen alle möglichen Angaben gemacht. Erst durch mich bekamen sie übrigens die Aufstellung im Zusammenhang zu sehen, und die Neugierde, zu erfahren, „wie sie lebten", ließ sie gern etwas von ihrer kostbaren Zeit auf die Unterhaltung mit mir verschwenden.
Im Großen und Ganzen stimmten die Angaben. Nur: sie bezogen sich auf die Vergangenheit. Inzwischen war die Laus auch in ihre Weinberge gekommen, und die Preise für Getreide und Wein waren weiter gefallen. 1926 hatten sie für 100 Kilogramm Trauben noch 150 Lire erhalten. Im Jahr der Aufstellung der Rechnung hatten sie nur noch 125 Lire bekommen, und 1930 war es schwergefallen, die besten Sorten für 115 Lire loszuschlagen. Mit dem Weizen war es das gleiche: 180 Lire für den Doppelzentner im Jahre 1926, 125 Lire im Jahre 1929 und 115-120 Lire 1930. Der Capoccia meinte, es wäre gut, dass sie ihr Getreide gleich verkauft hätten. Der Herr hätte das ihm von den verschiedenen „Poderi" abgelieferte Getreidezurückgehalten, um bessere Preise zu erzielen. Aber er sei damit hereingefallen. Heute bekäme er auf dem Markt im besten Falle 115, meist aber nur 110 Lire für den Doppelzentner.
Da die anderen Angaben von dem Capoccia und der Massaia bestätigt wurden, will ich sie einfach hierhersetzen. Das Familienbudget des Faustino P. sah demnach im Jahre 1929 folgendermaßen aus:
Einkünfte aus der Wirtschaft (Hälfte der Ernte)

 

 

 

 

verkauft:

verbraucht

Getreide

27 dz

zu 125 Lire

375 Lire

3000

Bohnen

60 kg

2

_

120

Kartoffeln

4 dz

„   40

_

160

Puffbohnen

5 „

„ 100

500  „

 

Hafer

5 „

„   80

400  „

 

Wicken

2 „

„ 100

200  „

 

Wein

40 „

„ 125

 

 

Wein

10 „

„ 120

47S0  „

1450

Öl

26 kg

8

208

Ölkuchen

80 „

„     0,6 „

48   „

 

Wolle

10 „

9

90   „

 

Käse

20 „

„   10

100  „

100

Schweinefleisch

55  „

„     5

275

Hühner

 

250   „

360

Eier

125 Dtzd.

„     5

300   „

325

Gänse

5 St.

„   30

150

Essig

20 kg

„     1

 

20

Gemüse

 

 

 

300

Vieh

 

 

 

2000  „

_-

Mietwert der Wohnung

 

 

_

450

Brennstoff

 

 

 

 

280

Verschiedene Zuschüsse

 

 

266  „

_

      9279 Lire 7198 Lire
      zusammen: 16477 Lire

Diesen Gesamteinkünften der Familie von acht Köpfen stehen zweierlei Arten von Ausgaben gegenüber: Ausgaben für die Wirtschaft und ihren Betrieb und Ausgaben für Ernährung, Kleidung und Erhaltung der Familie.

Ausgaben für den Betrieb:

 

 

 

in Geld

in natura

Renovierung, Erhaltung

200 Lire

— Lire

Brennstoff für Dreschen

40  „

Viehfutter

250  „

Düngemittel

300  „

 

Feuerversicherung

30  „

Schädlingsbekämpfung

250  „

Ausgaben beim Viehverkauf

 

 

(Reisen, Spesen usw.)

400  „

Hühnerstall (Erweiterung)

200  „

50   „

Hühnerstall (Erhaltung)

145   „

 

1670 Lire

195 Lire

 

zusammen:

1 865 Lire;

Ausgaben für die Familie:

 

 

 

in Geld

in natura

Essen

3451 Lire

6273 Lire

darunter: Getreide

(-) »

(3000) „

Öl

(992) „

(203) „

Rindfleisch

(1000) „

Schweinefleisch

(275) „

Wein

(-)

(1450) „

Wohnung

 

450   „

Abnützung

 

Möbelreparatur

200  „

Brennstoff

140  „

280  „

Beleuchtung

200  „

Kleidung

 

 

Erneuerung, Reparatur

1 540  „

 

Waschseife

50  „

 

Kirche

90   „

Tabak

340   „

 

 

6011 Lire

7003 Lire

 

 

 

 

 

in Geld

in natura

 

 

Übertrag:    6011 Lire

7003 Lire

 

Theater, Kino

50   „

 

Feste

100  „

            »)

 

Arzt

150  „

            f »

 

Mitgliedsbeiträge

30   „

 

 

Lohn an den Garzone

400  „

 

 

Steuern

300  „

 

 

 

7041 Lire

7003 Lire

 

 

zusammen :

14044 Lire

 

Das macht eine Gesamtausgabe für den Haushalt von 14 044 Lire. Rechnet man hierzu die Ausgaben für die Wirtschaft, so betragen die Gesamtausgaben 15909 Lire. Es bleibt also gegenüber den Einkünften ein Rest von 568 Lire Überschuss. Wie kommen diese Einkünfte nun zustande? Wie sieht das Leben mit diesen Einkünften aus? Wie viel verdient der einzelne? Wie viel muss er arbeiten, um sich sein Leben zu verdienen? Erst die Beantwortung dieser Fragen gibt uns ein Bild, was die Halbpacht wirklich für die Landleute darstellt.
Bei diesem Punkt der Aufzeichnungen gab es einen kleinen Streit. In dem Material der Beobachtungsstation war die Gesamtzahl der Arbeitsstunden der Massaia mit 3 655 Stunden im Jahre aufgestellt. Für den Capoccia waren nur 2587 Stunden errechnet. Ich fragte verwundert, ob das richtig sei, dass die Frau soviel mehr arbeite als die Männer.
„Natürlich", sagte die Massaia stolz. „Das ist doch immer so. Ich habe den ganzen Tag von früh bis spät im Haus zu tun. Ich steh' doch als erste auf und leg' mich als letzte hin. Ich muss das Essen machen und nach den Hühnern sehen und die Stuben aufräumen und für den Gemüsegarten sorgen und die Schweine füttern und dann noch die Kleider ausbessern und die Kinder waschen . . ."
„Na ja", unterbrach sie der Mann. „Aber faulenzen wir vielleicht?"
„Da, sehen Sie! Das ist doch gar nicht gerecht! Das stimmt ja gar nicht! Hier steht bei Pasquale, meinem Bruder" - Pasquale hatte
Er blickte in meine Zahlen:
die Funktion des Bifoico, des Viehwarts, inne - „dass er über 3000 Stunden arbeitet. Aber der arbeitet doch weniger als wir! Dem seine Arbeit möchte ich haben! Also da muss man schon gerecht sein und uns mindestens ebenso viel Stunden anschreiben. Und mir besonders. Denn es ist doch klar, dass ich mehr zu tun habe als die anderen. Ich gehe mit ihnen aufs Feld. Aber außerdem muss ich mit dem Herrn verhandeln und über den Rechnungen sitzen und den Händler besuchen - denken Sie vielleicht, dass alle diese schönen Zahlen hätten zusammengestellt werden können, wenn ich meine Buchführung nicht instand hätte?" Es war inzwischen Abend geworden, und die Söhne waren nach Hause gekommen. Sie hatten sich diesen Streit mit angehört. Und jetzt war an ihnen die Reihe zu protestieren. Wenn einer mehr zu tun hätte, dann seien sie es. Was es schon für eine Arbeit sei, die Bücher zu führen und die Hühner zu füttern! Aber pflügen und graben, Dung schleppen und die Puffbohnen behäufeln, das sei erst richtige Arbeit. Der Vater - nun ja, er arbeite auch auf| dem Felde. Aber bestimmt nicht soviel wie sie, und dann mache er meistens die „bessere Arbeit".
Aber es meldet sich noch eine Anwärterin auf die höchste Arbeitsleistung: die andere Maria, die Frau des ältesten Sohnes. Stolz zeigte sie auf meine Tabelle: hier kann man doch gleich sehen, wer am meisten arbeitet! 3400 Stunden im Hause und 400 Stunden auf dem Felde. Und wenn es bei den 400 Stunden im Jahre bliebe! Eines ergab sich mit Sicherheit aus diesem Streit: Die Angaben der Beobachtungsstation in diesem Punkte waren nicht zuverlässig. Sie waren offensichtlich schöngefärbt, um das Resultat der Untersuchung weniger furchtbar zu machen. Nach der Berechnung der Agrarspezialisten ergab sich nämlich ein Stundenlohn von 0,98 Lire. Das wäre wenig, bedeutend weniger als ein Tagelöhner und Lohnarbeiter bekommt. Schon diese Zahl würde genügen, um den unter alten Traditionen versteckten Ausbeutungscharakter der Halbpacht aufzudecken. Die Korrekturen, die ich nach dem Streit über die Arbeitszeit in meinem statistischen Material eintragen musste, machten das Bild aber erst vollends klar.
Nach langem Hin und Her einigten wir uns darauf, dass man ungefähr richtig gehen würde, wenn man eine Durchschnittsarbeitszeit für jedes Familienmitglied von 3500 Arbeitsstunden im Jahre annähme. Nur für den zwölfjährigen Garzone einigten wir uns auf 2500. Unter Zugrundelegung dieser auch sicher noch optimistischen Zahlen ergeben sich 27 000 Arbeitsstunden für den ganzen „Podere," darunter 20 000 Stunden für Feldarbeit, was mehr als 2000 Stunden für den Hektar ausmacht. 27 000 Stunden muss die Familie von acht Köpfen arbeiten, um eine Einnahme von rund 16 500 Liren zu erzielen. Das heißt, dass in einer Arbeitsstunde 0,61 Lire verdient werden, was etwa 13 deutschen Pfennigen gleichkommt!
Aber auch das gibt noch kein richtiges Bild. Denn von diesen Einkünften muss ja wieder ein Teil in den Betrieb gesteckt werden. Wir müssen die einzelnen Posten der Ausgaben für die Hauswirtschaft untersuchen. Und dann stellt sich heraus, dass in der Familie pro Kopf 1215,50 Lire jährlich oder noch nicht einmal 3,40 Lire = 73 Pfennig täglich für Essen ausgegeben werden! Für Kleider und Wäsche darf im Jahre 192,50 Lire pro Kopf ausgegeben werden. Aber ein einfacher Arbeitsanzug kostet allein ungefähr 200-250 Lire. Und noch nicht genug: Wir haben schon gesehen, dass seit der Aufstellung dieser Berechnung die Lage immer schlimmer geworden ist. Die Preise für Wein und Vieh, also für die Produkte, die die Hauptgeldeinnahmequelle darstellen, sind inzwischen weiter gesunken, das heißt, dass mit den Einkäufen an Fleisch, Öl und Kleidung immer mehr gespart werden muss. Ich hatte die Auswertung dieser Zahlen nicht erst für die Zeit aufgehoben, bis ich unten in der Stadt alles in Ruhe nachrechnen konnte. Der Streit über die Arbeitszeit hatte die Gemüter erregt, und jetzt waren alle interessiert, zu erfahren, wie viel sie nun eigentlich verdienten. Wir saßen also zusammen und rechneten. Der Capoccia und der Bifolco wetteiferten in der Vorführung ihrer Rechenkünste. Aber auch die Söhne wussten mit Zahlen umzugehen.
Das Endergebnis unserer Berechnungen kam für alle unerwartet. Es platzte wie eine kleine Bombe in den Frieden der Familie hinein.
Der jüngste Sohn Nello war der erste, der versuchte, Schlussfolgerungen aus unseren Rechnungen zu ziehen.
„Siehst du, siehst du, Vater! Habe ich es nicht immer gesagt? Es ist doch ein Blödsinn, so zu arbeiten! Für 61 Centesimi die Stunde! Und sicher stimmt das noch nicht einmal. Dass ich nur für 3,40 Lire am Tage zu fressen kriege, das habe ich gemerkt!" Die Massaia sah ihn empört an. Sie fühlte sich in ihrer Hausfrauenehre gekränkt. Sie suchte Unterstützung bei ihrer Hausgehilfin, der zweiten Maria. Aber da kam sie an die richtige. „Natürlich hat er recht! Ich habe es Virgilo schon tausendmal gesagt, dass es ein Quatsch ist, hier oben zu hocken. Ich will ja nichts gegen den Capoccia sagen. Er kann ja auch nichts dafür, Aber unten im Tale oder gar in der Stadt verdient man ganz anders."
„Wie du dir das so vorstellst!"
Der älteste Sohn des Hauses, ihr Mann, fiel ihr ins Wort „Denkst du vielleicht, du findest da überhaupt Arbeit? Geh bloß mal über den Berg, ins Arnotal 'rüber. Da kannst du sehen, wie sie arbeiten! Die ganzen Gruben liegen still. Die Spinnerei und die keramische Fabrik arbeiten nur drei Tage in der Woche, Denkst du, ich habe nicht schon herumgehorcht? Oder frage einmal Rinaldo, wie es seinem Vater geht. Nein, da bleibe ich schon lieber hier und schufte mich ab. Ein Stück Brot, einen Teller Bohnen und ein Glas Wein hat man dann auf jeden Fall immer noch
„Jawohl, so lange bis die Schulden bei dem Herrn so ins Kraut geschossen sind, dass der „Fattore" dich höflich daran erinnert, wem eigentlich das Land und das Haus gehören. Dann kannst du deinen Kram packen und losziehen. Und kannst dir deine Bohnen und dein Korn und deine Weinstöcke anderswo suchen." Es war Nello, der jüngste, unverheiratete Sohn, der dem Streit diese gefährliche Richtung gab, indem er an den Herrn und an den „Fattore" erinnerte und daran, dass man ja nur „zu Gaste" war. Alle wussten, woran er dachte: Viele der Halbpächterfamilien sitzen seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten auf ihrem „Podere". Sie betrachten das Land als ihr Eigentum und liefern die Hälfte der Ernte an den Besitzer ohne zu fragen und mit derselben Selbstverständlichkeit ab, wie man sein Geld in den Klingelbeutel in der Kirche legt. Das alles schien eine ewige und unerschütterliche Ordnung zu sein. Aber dann war es geschehen, dass eine der
alten Pächterfamilien nach der andern vor die Tür gesetzt wurde. Sie waren in Schulden geraten, und die Herren konnten das Land, vor allem in der Nähe der Städte, doch billiger mit Tagelöhnern bearbeiten. Die Drohung der Kündigung schwebt jetzt über vielen der alten Pächterfamilien. Der Capoccia machte dem Streit ein Ende: „Das könnte euch so passen! Hier von unserem alten Land weggehen, 'runter in die Städte, wo es Kinos gibt und Mädchen und wo man acht Stunden arbeitet! Aber das gibt es nicht. Die Nation fordert, dass wir auf unserem Lande bleiben und das Volk ernähren. Unser Duce hat uns diese Aufgabe gestellt, und es ist unsere heilige Pflicht, sie zu erfüllen. Zu lange haben sich die Italiener in den Städten herumgetrieben. Es ist Zeit, dass sie zur Mutter Erde zurückkehren ..."
Der Capoccia war aufgestanden und hatte sich in die Brust geworfen. Das Parteiabzeichen glänzte. Er redete wie ein Leitartikel aus der faschistischen Lokalzeitung. Wie er so dastand, war er nicht mehr der alte, armselige Halbpächter Faustino P., sondern der Vertreter der Ordnung, ein kleiner Duce. Ich verstand jetzt, warum er das Parteiabzeichen trug. Auch seine schon so kleine Familie war von der weiteren Auflösung bedroht. Die väterliche Gewalt allein reichte gegenüber den aus dem Hause hinausstrebenden Söhnen nicht mehr aus. In kritischen Augenblicken verwandelte er sich in den Vertreter der Staatsmacht, hinter dem nicht nur die Nation und der Duce, sondern auch die Miliz und die Gendarmerie und die Gesetze über den Abschub der Arbeitslosen aus den Städten in ihre ländliche Heimat stehen.
Nello hörte sich die Rede nicht bis zu Ende an. Er stand auf, ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
„Der Junge versteht eben noch nichts", sagte der Vater schließlich zu mir gewandt.
Aber ich hatte verstanden. Wieder hatte ich ein kleines Stück Klassenkampf miterlebt, der in eigenartiger Verkleidung auch in diese patriarchalischen Familien eingezogen ist. Jetzt hatte ich sie kennengelernt, die verschiedenen Gestalten des Italienischen Landvolks: die Halbpächter und Pächter, die Landarbeiter und Tagelöhner. Es ist ein fleißiges und kluges Volk. Die
Leute haben bessere Zeiten gesehen und sind nun gewaltsam ins Mittelalter zurückgestoßen.
In den Bergstädten der Abruzzen habe ich am Schluss unserer Gespräche verschiedenen Bauern erzählt, dass es auch in Deutschland eine Partei gibt, die den Faschismus bei uns einführen will. Sie berufe sich auf Italien als Beispiel.
„Sollen wir dieser Partei Folge leisten, sollen wir den Faschismus bei uns einführen?"
Die Antwort, die ich bekam, war stets die gleiche. Beinah erschreckt sahen mich die Leute an.
„Den Faschismus einführen? Um Gottes willen nicht! Faschismus ist das Schlimmste, was geschehen kann."
„Ich habe die Welt gesehen", sagte ein andrer; er hatte mich auf dem Platz im reinsten Bayrisch angeredet, in das er nur hie und da ein paar Worte Amerikanisch flocht. „So besonders schön ist es für unsereinen ja auf der ganzen Welt nicht. Aber solche Zustände, wie wir sie jetzt haben, habe ich doch noch nicht gesehen. Wenn ich nur wieder fort könnte! Aber sie lassen einen ja nicht 'raus. Und hier darf man ja nichts sagen. Man muss zu Hause sitzen und schweigen. Sagen Sie Ihren Bauern, was ich Ihnen sage: den Faschismus sollen sie auf keinen Fall bei sich großwerden lassen ..."

 

FREIE HAND DEN INDUSTRIELLEN

Einer der letzten Besuche, die ich dem norditalienischen Industriegebiet abstattete, galt der Stadt Biella. Am Fuße der Alpen ist hier im Laufe von Jahrhunderten das Zentrum der Wollindustrie, das italienische Lancashire, entstanden. Zwei Faktoren haben sich zusammengefunden: die Wolle der im Alpenvorland gezüchteten Schafe und das Wasser der Gebirgsbäche, das sich in dieser Gegend hervorragend zur Wollwäscherei eignet. Diese Grundlagen haben sich längst verschoben. Die italienische Schafzucht geht ständig zurück. Über achtzig Prozent der jetzt im Gebiete von Biella verarbeiteten Rohstoffe kommen aus Australien und Südamerika. Die Wollwäscherei ist längst technisiert, und das Gebirgswasser spielt nicht mehr die entscheidende Rolle. Aber die Wollindustrie hat sich trotzdem im Biellese ununterbrochen mächtig entwickelt und ist jetzt eine der wichtigsten Exportindustrien Italiens, die nach wie vor England und Deutschland auf dem Weltmarkt erfolgreich Konkurrenz macht. Die Städtchen des Biellese liegen inmitten eines Kranzes von Vorbergen, die in die schneebedeckten Alpen übergehen, und sind in ein reiches, auch hier bis zum letzten Flecken ausgenutztes Ackerland eingebettet.
Ich hatte vorher verschiedene andere Industriegebiete, die Textilindustrie von Neapel, die Schwefelindustrie von Sizilien und die Metallindustrie von Turin aufgesucht, aber es war mir weder aus diesen Besuchen, noch aus der Lektüre der Presse klargeworden, welches eigentlich die faschistische Politik gegenüber der Industrie sei.
Als ich in einem großen Saal des prächtigen Palastes, in dem die Leitung des Verbandes der Wollindustriellen ihren Sitz hat, dem Sekretär dieses Verbandes, Dr. D., gegenübersaß, stellte ich ihm deshalb ohne weiteres die Frage, welche Vorteile die Industrie und insbesondere seine Industrie von dem neuen Regime, von dem System der Korporationen, habe.
Dr. D. war durch meine Frage sichtlich verwirrt. Er gab zu, dass sie präzise gestellt sei, meinte aber, dass es trotzdem schwer sei, sie zu beantworten. Er musste eine Weile nachdenken, ehe er folgendes sagte:
„Wenn ich es recht überlege, so besteht der eigentliche direkte Nutzen in der wiederholten Herabsetzung der Löhne. Auf Grund der Anordnungen, die man in Rom getroffen hat, wurden die Löhne mehrere Male von einem Tag auf den andern heruntergesetzt. Das ging ganz glatt vonstatten. Die Vertreter der Parteien versammelten sich, und nach kurzer Diskussion waren die Beschlüsse gefasst. So etwas, sehen Sie, ist bei Ihnen natürlich nicht möglich. Da kommt es dann jedesmal zu langen Verhandlungen, zu Kämpfen, Aussperrungen und Streiks, die immer mit großen Verlusten verbunden sind. Diese Verluste sind uns erspart worden."
Er machte eine Pause, indem er wartete, bis ich mir seine Angaben notiert hatte. Und dann fuhr er fort: „Aber das ist auch ein zweischneidiges Schwert. Sie wissen, dass wir zum großen Teil für den Export arbeiten. Im Zusammenhang mit den großen Preisstürzen auf dem Wollmarkt hat diese Lohnsenkung unsere Exportmöglichkeiten sehr verbessert. Aber wir arbeiten doch nicht nur für den Export. Gerade während der Wintermonate haben wir einen ziemlich starken Absatz im Lande selbst. Und hier zeigte sich die Kehrseite der Medaille. Wäre die Lohnsenkung nur für die Wollindustrie durchgeführt worden, so wäre alles in Ordnung gewesen. Aber wie Sie wissen, wurden die Löhne und Gehälter überall in Stadt und Land gleichzeitig herabgesetzt, und zwar gerade zu Beginn der Wintersaison. Der Erfolg war ein Rückgang unseres Absatzes auf dem Innenmarkt um dreißig bis vierzig Prozent. Wahrscheinlich ist der Rückgang sogar noch größer, weil viele Grossisten ihre Bestellungen gemacht hatten, bevor die Einschränkung des Innenmarktes fühlbar wurde. Da sehen Sie, dass es nicht so einfach ist." „Aber da hat Ihnen doch sicher der Staat, der ja durch seine Lohnreduktionen die eigentliche Ursache der Verschlechterung Ihrer Konjunktur ist, irgendeine Hilfe geleistet. Ich habe gesehen, in wie großem Umfang der Staat zum Beispiel der bedrängten Landwirtschaft zu Hilfe kommt. Gibt es ähnliches auch für die Industrie?"
„Das ist es ja eben: Die Industrie bekommt keinerlei derartige Unterstützungen. Die ganze Aufmerksamkeit des Staates ist der Landwirtschaft gewidmet, und wir haben darunter oft unmittelbar zu leiden. Nehmen Sie zum Beispiel die hohen Schutzzölle für Getreide, die den Weizenanbau fördern. Wir müssen dafür büßen, indem wir gezwungen sind, immer mehr Wolle aus dem Ausland zu importieren. Denn die Landwirte verwandeln immer mehr Weideland in Weizenfelder. Aber ich will auf Ihre Frage antworten: Der Staat ist uns in unserer schwierigen Lage doch entgegengekommen. Er pflegt uns zu Beginn des Sommers immer große Posten von Wollgewebe für den Heeresbedarf abzunehmen. Damit kommen wir durch diese Zeit, in der der Innenabsatz sonst naturgemäß zurückgeht. In diesem Jahre hat die Heeresverwaltung diese Bestellungen nun vordatiert. Aber, sehen Sie, auch das ist wieder eine zweischneidige Sache." Dr. D. blickte mich an und lächelte ironisch. „Der Staat hat dabei ein gutes Geschäft gemacht. Wir mussten in unserer Zwangslage natürlich die Stoffe billiger abgeben als sonst. Der Staat hat dabei gut verdient, und für uns war es ein zweifelhaftes Geschäft, denn die Bestellungen waren ja nur vordatiert. Die Heeresverwaltung hat ihre Bestände jetzt aufgefüllt, und wenn der Sommer kommt, werden uns die sonst üblichen Heeresbestellungen fehlen."
Dr. D. war der Typus des klugen, welterfahrenen, jungen Industriellen. Er kam viel in Europa herum, besuchte jedes Jahr Deutschland und England, und seine Gedanken gingen offenbar weiter als die der faschistischen „Wirtschaftspolitiker". Wir kamen bald in eine angeregte nationalökonomische Diskussion, in deren Verlauf Dr. D. sich recht kritisch über die Agrarpolitik der Regierung äußerte, die im Zusammenhang mit der eben in Rom stattfindenden Welt-Weizenkonferenz wieder lebhafter in der Presse diskutiert wurde. Er sprach sich abfällig über den forcierten Getreidebau Italiens aus, und seine Überlegungen mündeten in die Idee einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit der europäischen Völker. Ich gab ihm hierin durchaus recht, ohne natürlich meinen Standpunkt zu entwickeln, dass eine solche Zusammenarbeit praktisch nur auf sozialistischer Grundlage möglich sei.
Im Ganzen bestätigte mir diese Unterredung den Eindruck, den ich bereits beim Studium der anderen Industriezentren gewonnen hatte: Der Faschismus hat keine eigentliche Industriepolitik. Entgegen allem Gerede von der „Unterordnung der Produktion unter die nationalen Interessen" und der „Bekämpfung des Wirtschaftsliberalismus"  beschränkt er sich  gegenüber der Industrie darauf, den Industriellen freie Hand zu lassen, vor allem gegenüber den Arbeitern. Die letzten Endes immer gegen den Arbeiter gerichtete Industriepolitik Mussolinis kommt vielleicht am deutlichsten in der Frage der Rationalisierung zum Ausdruck. Man kann jeden Tag in den italienischen Zeitungen unmittelbar nebeneinander offizielle Artikel gegen eine weitere Mechanisierung und Rationalisierung der Industrie und Landwirtschaft und ebenso offizielle Artikel für die Einführung neuer und neuester Maschinen in allen Zweigen der Volkswirtschaft finden. In der Praxis haben die Industriellen freie Hand und machen ausgiebigen Gebrauch von dieser Freiheit. Wir haben schon gesagt, dass der größte Teil der italienischen Industrie mit der modernsten Technik ausgerüstet ist. Dazu kommt eine erbarmungslose Rationalisierung. Das Bedeauxsystem breitet sich aus, und die Arbeiter bekommen jeden Tag die Wirkungen der Stoppuhr auf die Akkordsätze und ihre Löhne zu spüren. Ich hatte Gelegenheit, die Auswirkungen der Industriepolitik des Faschismus an Hand des Schicksals der Arbeiter einer großen Neapolitaner Textilfabrik kennenzulernen. Am Abend des 12. März beschloss ich meine Wanderung durch die ausgedehnten Fabrikvororte im Nordosten der größten italienischen Stadt Neapel in einem kleinen Vorortkino. Es wurde ein gräulicher, uralter Film italienischer Eigenproduktion, der „Arzigogolo", gespielt. Das Publikum, das größtenteils aus Arbeitern bestand, riss Mund und Nase auf angesichts der erstaunlichen Seelenkonflikte der in Kostüme des 15. Jahrhunderts gesteckten Damen und Herren. Bald wurde der unverständliche Zimt, der auf der Leinewand abrollte, den Leuten langweilig, und um mich herum schlief einer nach dem andern ein. Vor mir
in der Reihe saß ein Arbeiferehepaar mit verschiedenen Verwandten. Auch ihnen war das Spiel längst langweilig geworden. Insbesondere aber ließ sich das kleine Kind, das die gerade vor mir sitzende, sehr hübsche junge Frau auf dem Arme trug, nicht bewegen, sich die Leinwand anzusehen. Es interessierte sich viel mehr für das Aluminiumfutteral meiner Brille, besonders nachdem sich dieses Futteral wie ein Fisch in den Ärmel seiner Jacke verbissen hatte. Wir kümmerten uns schon längst nicht mehr um das Spiel auf der Leinwand: Wir hatten unser eigenes Spiel. Auch Mutter und Vater interessierten sich mehr für den Fremden, der mit ihrem Kind spielte, als für die Seelenqual des edlen Herzogs, der für seine hartherzige Geliebte zum Lumpen und Bettler geworden war. Wir warteten das Ende des Films nicht ab und gingen hinaus. Aber das Kind wollte sich nicht von meinem Silberfisch trennen, und so mussten die Eltern auch mich, den Besitzer des Brillenfutterals, wohl oder übel mit in Kauf nehmen. Sie luden mich denn auch ein, bei ihnen zu Hause ein Glas Wein mitzutrinken.
Die Wohnung, in die wir gingen, war etwas besser als die, die ich später in den Arbeitervierteln im Zentrum der Stadt, in Palermo und anderen Orten des Südens kennenlernte. Nach den ersten, etwas genierten Fragen und Antworten über Woher und Wohin kamen wir bald unter Mitwirkung des Kindes, das mich offenbar in sein Herz geschlossen hatte, in ein freundschaftliches Gespräch. Mein Gastgeber war qualifizierter Arbeiter in der Fabrik Miani-Silvestri, die gegenwärtig etwa 1500 Arbeiter beschäftigt. Das heißt, er war qualifizierter Arbeiter gewesen. Jetzt war er es nicht mehr. Die Erklärung dieses merkwürdigen Vorgangs gab mir einen tiefen Einblick in die Methoden, die die Unternehmer mit Duldung der faschistischen Regierung gegenüber den Arbeitern anwenden.
Das „Grundgesetz der Arbeit", die „Carta del Lavoro", durch welche im faschistischen Italien die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit „geregelt" werden sollen, sagt in Punkt 24: „Die Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer sind verpflichtet, ein Auswahlverfahren unter den Arbeitern zu treffen zu dem Zweck, ihre technischen Fähigkeiten und moralischen Wert immer mehr zu heben."
Dieser Punkt nimmt sich sehr schön aus. In der Praxis der faschistischen Industriepolitik bringt er aber genau das Gegenteil von dem mit sich, was er zu bezwecken scheint. Da die faschistischen „Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer" in den Betrieben keine Vertretungen, ja nicht einmal Vertrauensleute haben dürfen, liegt die Durchführung dieses Punktes in der Hand der Unternehmer, und diese verwenden die Bestimmung dazu, um. die Arbeiter planmäßig aus einer höheren Qualifikationsstufe in eine tiefere herabzusetzen und auf diese Weise über die offiziell angeordneten Lohnherabsetzungen hinaus neue Kürzungen der Löhne bei den einzelnen Arbeitern vorzunehmen. „Passen Sie einmal auf, wie das gemacht wird", sagte mir mein Gastgeber. „Die Faschisten haben in jedem Betrieb eine Anzahl von Duckmäusern um sich gesammelt. Das fällt ihnen nicht schwer: Bei der allgemeinen Not finden sie immer einige Arbeiter, die mit Rücksicht auf ihre Familien sich bereit finden, gegenüber der Masse der andern Arbeiter die Lohndrücker zu spielen. Diese Arbeiter fahren ja nicht schlecht dabei. Sie bekommen besondere Prämien und Zulagen. Die Lohnsätze, die in den Kollektivverträgen enthalten sind, stehen ja nur auf dem Papier. In Wirklichkeit verhandelt die Administration mit jedem Arbeiter einzeln über seinen Lohn. Da gibt es das ,schwarze Kabinett', in dem die Faschisten mit den Unternehmern zusammen alles aushecken. Und da gibt es gar keine Kontrolle. Die Gewerkschaften stecken ja mit den Unternehmern unter einer Decke. Die Sekretäre sind ja alles zuverlässige Faschisten. Und außerdem könnten sie auch gar nichts machen, weil sie offiziell keine Vertreter im Betrieb haben. Die Einordnung des Arbeiters, der angestellt wird, in eine bestimmte Kategorie erfolgt im ,schwarzen Kabinett' und dann in den Einzelverhandlungen mit der Verwaltung. Hier werden auch die Prämien festgesetzt. Und jetzt lassen die Unternehmer ihre prämiierten Günstlinge sich abrackern, um neue Arbeitsnormen herauszukriegen. Wie das vor sich geht, wissen wir gar nicht einmal. Wer soll das kontrollieren? Wir sehen nur, dass diese Arbeiter meistens an die neuesten Maschinen gestellt werden und die besten Rohstoffe oder Halbfabrikate bekommen. Damit kann natürlich jeder bessere Resultate erzielen! So werden dann neue Akkordnormen aufgestellt und den entsprechenden Kategorien zugrunde gelegt. Jeder Arbeiter, der hier nicht mitkommt, wird einfach in eine tiefere Kategorie versetzt. Damit hat man jetzt bei uns angefangen."
„Aber lassen sich denn die Arbeiter das so ohne weiteres gefallen? Und können die Gewerkschaftsfunktionäre dazu einfach schweigen?"
Ja, wissen Sie, der Unternehmer ist schlau. Er hat diese Maßnahmen nicht auf einmal durchgeführt. Es hat vor vierzehn Tagen in der Abteilung begonnen, wo hauptsächlich Frauen beschäftigt sind. Vorige Woche kam unsere Abteilung dran. Und so wird wohl in den nächsten Wochen der ganze Betrieb dran glauben müssen. Und die Gewerkschaften? Die Stimmung der Arbeiter ist sehr erregt. Man redet schon davon, dass man passiven Widerstand anwenden will. Aber Sie wissen ja, wie es bei uns mit den Streiks ist. Rühr dich - und du kannst einen Besuch auf den Inseln machen! Ein paar von unseren Arbeitern, die noch an die Faschisten glauben, haben übrigens eine Delegation zum Gewerkschaftssekretariat geschickt. Da hat man ihnen Honig ums Maul geschmiert. Man hat ihnen erzählt, dass der Gewerkschaftssekretär Ricchizzi dieser Tage nach Rom fahren würde, um für die Arbeiter ein Wort einzulegen. Aber es ist natürlich Schwindel. Wir sehen den Ricchizzi jeden Tag bei unserm Unternehmer ein und aus gehen. Und was soll er schon aus Rom mitbringen? Die Unternehmer können ja sowieso machen, was sie wollen! Aber ich glaube, diesmal werden es sich unsere Arbeiter doch nicht gefallen lassen."
Ich verließ diese Familie spät in der Nacht. Erst sehr viel später, kurz vor meiner Abreise aus Italien, erfuhr ich von einem Genossen in Biella, dass es tatsächlich später in der Fabrik zu einem Streik gekommen ist. Aber er wurde niedergeschlagen. Derselbe Ricchizzi, der gar nicht nach Rom gefahren war, hatte selbst Gendarmerie und Milizionäre in die Fabrik mitgebracht und ließ die Arbeiter auseinanderjagen.
Die Industriellen haben eben freie Hand. Sie können mit den Löhnen, mit der Arbeitszeit schalten und walten, wie sie wollen. Der Achtstundentag ist „im Interesse der Nation" längst aufgegeben und in einen Neunstundentag verwandelt worden. Über-
stunden müssen höher bezahlt werden. Das ist richtig. Aber angesichts des niedrigen Standes der Löhne fallen die Zuschläge der Unternehmer kaum ins Gewicht. Und ich habe keine Lohntüte gesehen, auf der nicht Überstunden verzeichnet gewesen wären.
Schon das „Grundgesetz der Arbeit" öffnet der Willkür der Unternehmer hinsichtlich der Löhne Tür und Tor. Es heißt zwar in Punkt 12 der „Carta del Lavoro":
„Die Tätigkeit der Gewerkschaft, das vermittelnde Einwirken der korporativen Organe sowie die Urteile des Arbeitsgerichts garantieren, dass der Lohn den normalen Lebensbedingungen, den Produktionsmöglichkeiten und dem Arbeitsertrag entspricht."
Aber diese schon durch die Einführung der Berücksichtigung der „Produktionsmöglichkeiten" und des „Arbeitsertrages" eingeschränkten Bestimmungen werden vollends aufgehoben durch den Zusatz:
„Die Festsetzung des Lohnes wird jeder allgemeinen Norm entzogen und dem Einvernehmen der Parteien in den Kollektivverträgen überlassen."
Auf diese Weise kommen jene Hungerlöhne zustande, die schon auf dem Papier niedrig genug sind und die sich in Wirklichkeit fast immer auf dem Niveau der Mindestlöhne und der untersten Kategorien halten. Insbesondere wird der Grundsatz sehr weiter Abstände zwischen den höchstqualifizierten Arbeitern und den Hilfsarbeitern und Frauen verfolgt.
Ich habe mir aus den Angaben von Arbeitern in verschiedenen Gebieten folgende Stundenlöhne notiert:
In den Granit- und Marmorbrüchen in Sizilien: In den Granitbrüchen:

Vorarbeiter

2,75 Lire

 

Arbeiter im Steinbruch

 

 

1. Kategorie

2,30  „

 

2. Kategorie

2,-  „

 

Hilfsarbeiter

1,40  „

 

Gesellen von 16-18 Jahren

1,20   „

 

Jugendliche unter 16 Jahren

0,65  „

 

1 In der Steinsägerei:

1,70

Lire

i;  In den Marmorbrüchen:

 

 

Bildhauer

3,70

 

Stein metze

2,05-

-2,40 Lire

Lehrlinge

0,95

Lire

In den Kalk- und Ziegelbrennereien der Romag

na:

 

Für Erdarbeiten:

 

 

1. Kategorie

2,05

Lire

2. Kategorie

2,—

»»

Gesellen von 16-18 Jahren

1,95

»»

Jugendliche unter 16 Jahren und Frauen

 

 

1. Kategorie

1,35

tt

2. Kategorie

1,25

tt

Fabrikation von Spezialmaterial:

 

 

Männer 1. Kategorie

2,35

tt

Männer 2. Kategorie

2,25

19

Gesellen von 16-18 Jahren

2 —

Jugendliche bis 16 Jahre

1,20

Hilfsarbeiten beim Verladen:

 

 

Jugendliche bis 17 Jahre und Frauen

 

 

1. Kategorie

1,50

tt

2. Kategorie

1,40

*>

In den Wasserwerken von Venedig:

 

 

Höchstqualifizierte Monteure

4-

Lire

Schlosser

2,80-

3,20 Lire

Hilfsarbeiter über 18 Jahre

1,95

Lire

Lehrlinge unter 18 Jahre

0,80

»»

In Metallfabriken im Aostatal:

 

 

Arbeiter höchster Spezialisierung

3,20

Lire

Qualifizierter Arbeiter

2,45

)>

Gelernter Hilfsarbeiter

2,10

 

Ungelernter Hilfsarbeiter

1,90

tt

Lehrlinge von 18-20 Jahren

1,20

tt

Lehrlinge unter 18 Jahren

0,90

 

Frauen

0,90

tt

Kinder

0,47

 

Die Textilarbeiterinnen in Turin und Biella, die noch 1930 vierzehn bis fünfzehn Lire am Tage verdienten, sind nach den neuesten Lohnkürzungen bei acht bis neun Lire täglich angekommen. Diese Zahl ist übrigens das „Verdienst" der faschistischen Gewerkschaften. Die Unternehmer hatten 7,50 Lire Tagelohn gefordert!
Um diese Löhne aber richtig verstehen zu können, muss man noch in Betracht ziehen, dass ein großer Teil der Fabriken nur schichtweise arbeitet.
In der kleinen Industriestadt San Giovanni, die zwischen Arezzo und Florenz im Arnotal liegt, erzählten mir die arbeitslos auf den Straßen herumstehenden Arbeiter, dass von den vielen im Orte befindlichen Fabriken nur eine, das Hüttenwerk, ihre Arbeiterzahl erhalten habe, sie aber nur zwölf Tage im Monat beschäftige. Die Glasfabrik und die keramische Fabrik liegen ganz still. Die Baumwollspinnerei und -weberei, in der sechs bis acht Lire Tagelohn gezahlt werden, arbeitet nur drei Tage in der Woche. Ähnlich lauteten die Berichte aus Umbrien, aus Neapel und aus einer ganzen Reihe von Industriezweigen im Norden. Gedeckt durch die Phrasen vom Korporativsystem, lässt die faschistische Regierung also den Industriellen jede Freiheit bei der Verschärfung der Ausbeutung durch Rationalisierung, Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzung. Aber sie tut mehr: Durch direkte Anweisungen der zentralen Stellen und durch die Gewerkschaften ermuntert und fördert sie dieses ganze Raubsystem.

 

OHNE ARBEIT

Die Folge der faschistischen Industriepolitik ist eine ungeheure Arbeitslosigkeit. Wie groß sie, in Zahlen ausgedrückt, eigentlich ist, weiß niemand. Für das Gefühl der Arbeiter ist sie das beherrschende Moment. Ich besinne mich auf einen Chemiearbeiter in Palermo, der selbst noch Arbeit hatte und der mir in einem Gespräch halb im Flüsterton mit wichtiger Miene sagte: „Die Arbeitslosigkeit ist fürchterlich. Wir haben hier 400000 Einwohner in Palermo. Davon sind sicher 100000 arbeitslos." Diese Zahl ist bestimmt übertrieben. Sie dürfte höchstens stimmen, wenn man alle Angehörigen der Arbeitslosen mitrechnet. Aber sie zeigt, wie sich die Arbeitslosigkeit im Bewusstsein der Arbeiter malt. Jeder Arbeiter hat Dutzende von Bekannten und Freunden, von denen er weiß, dass sie keine Beschäftigung haben. Und so überträgt er seine persönliche Erfahrung und weiß: „Es sind furchtbar viele, hunderttausend!"
Die faschistische Presse bringt täglich spaltenlange Artikel über die Arbeitslosigkeit - in den anderen Ländern. Ich habe bei allen Arbeitern und Bauern genaue Kenntnisse über die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland, England, Amerika usw. vorgefunden. Der Zweck dieser Artikel ist, die Arbeitslosigkeit als eine allgemeine „Weltkrankheit" zu schildern, an der der Faschismus nicht schuld sei. Ja, die Faschisten behaupten immer wieder, dass Italien besonders wenig Arbeitslose habe. Angesichts der Hungerlöhne, die in Industrie und Landwirtschaft gezahlt werden, wäre das sogar denkbar. Aber trotzdem stimmt es nicht. Die offizielle faschistische Statistik gab für März 1931 rund 800000 Arbeitslose (gegenüber 450000 im vorigen Jahre) zu. Diese Zahl ist richtig - im Rahmen der faschistischen Gesetze und der Praxis, die gegenüber den Arbeitslosen und bei der Aufstellung der Statistik angewendet wird. Die Praxis aber ist folgende:
Registriert werden nur die unterstützungsberechtigten Arbeiter. Die Unterstützungsberechtigung gilt nur unter der Voraussetzung des Nachweises einer ununterbrochenen sechzigtägigen Arbeitszeit, die der Registrierung vorausgehen muss. Sie erlischt neunzig Tage nach Auszahlung der ersten Unterstützung. Bei diesem System ergeben sich vor allem für das Land Zahlen, die um ein Vielfaches hinter der wirklichen Arbeitslosigkeit zurückbleiben. In der Landwirtschaft können nur die festangestellten Landarbeiter überhaupt registriert werden. Auf diese Weise fehlt in der Statistik die nach Zehn- und Hunderttausenden zählende Armee von Tagelöhnern, Gelegenheitsarbeitern, arbeitsuchenden Kleinpächtern und Kleinbauern, die ja vor allem auf dem ländlichen Arbeitsmarkt lasten.
Ihre Zahl wird noch vergrößert durch die Gesetzgebung, die die Freizügigkeit aufgehoben hat. Das Verlassen des Heimatortes ist nur demjenigen erlaubt, der einen sogenannten Binnenpass besitzt. Dieser Pass wird von den Präfekturen ausgestellt, und zwar nur dann, wenn triftige Gründe für das Verlassen der Heimat angegeben werden. Ganze große Gebiete, wie die Abruzzen, in denen eine saisonmäßige Abwanderung in die Ebene zum normalen Leben gehörte, sind durch diese Gesetzgebung abgeschnürt. Besondere Wachen auf den Bahnstationen sorgen dafür dass die arbeitsuchenden Bergbewohner nicht wie früher während einiger Wintermonate in die Ebene und die Städte hinuntersteigen können. Andererseits wird in den Städten eine ständige Kontrolle über die Arbeitslosen geführt. Arbeitslose, die in der Stadt nicht „zuständig" sind und die nicht innerhalb von vierzehn Tagen eine neue Beschäftigung nachweisen können, werden zwangsweise in ihre Heimatorte abgeschoben. In der Heimat haben sie natürlich kein Recht auf Arbeitslosenunterstützung, da sie ja über die Anwartschaft hinaus von zu Hause entfernt waren und erscheinen infolgedessen auch nicht in der Erwerbslosenstatistik.
In den Städten hat sich darüber hinaus eine Praxis eingebürgert, die der ganzen Unterstützung Hohn spricht. In Mailand und Turin erzählten mir arbeitslose Metallarbeiter, auf welche Weise sie um ihre Arbeit und ihren Unterstützungsanspruch geprellt worden sind. Die Firma teilte ihnen eines Tages mit, dass für sie vorübergehend keine Arbeit vorhanden sei. Sie werden, natürlich ohne Lohn, in Reserve gestellt, dürfen sich aber in dieser Zeit nicht arbeitslos melden. Nachdem man sie längere Zeit vergeblich hatte warten lassen, wurde ihnen mitgeteilt, dass für sie endgültig keine Arbeit mehr vorhanden sei. Und dann war es ihnen wiederum unmöglich, sich arbeitslos zu melden, da sie ja die vom Gesetz verlangte ununterbrochene Beschäftigung bis zum Zeitpunkt der Erwerbslosmeldung nicht nachweisen konnten. Der Arbeiter, der nach all diesen Schikanen endlich doch als Arbeitsloser angenommen und registriert wird, erhält, unabhängig von der Lohnklasse usw., zu der er bis dahin gehört hat, einen einheitlichen Entschädigungssatz von - 3,75 Lire (etwa achtzig Pfennige oder fünf Pfund Brot!) täglich. Der Anspruch auf Unterstützung erlischt nach neunzig Tagen. Danach gibt es keinerlei Unterstützung mehr. Krisenfürsorge oder Wohlfahrt ist in Italien unbekannt. Das einzige, was dem Arbeiter dann bleibt, wenn er nicht verhungern will, ist, sich der entwürdigenden Prozedur des Anstehens vor dem faschistischen Parteilokal zu unterziehen, wo an die Ärmsten der Armen - vorausgesetzt, dass sie sich nicht irgendwie unbeliebt gemacht haben - eine Gratissuppe, ein Stück Brot oder ein Pfund Reis ausgeteilt wird. Aber wir wollen nicht ungerecht sein:
Der Faschismus unternimmt auch etwas zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Mitte März dieses Jahres konnte man in den großen italienischen
Zeitungen auf der ersten Seite ein paar Tage lang folgende
Schlagzeile und Untertitel finden:
„Der Faschismus beseitigt die Arbeitslosigkeit!
Dank dem persönlichen Eingreifen Mussolinis ist es gelungen, die Braunkohlenwerke im Arnotal nach fünfmonatigem Stillliegen zu eröffnen.
Fröhlich nehmen die Bergarbeiter von Castelnuovo dei Sabbioni die Arbeit wieder auf."
Am 19. März brachte die zentrale Gewerkschaftszeitung „Il Lavoro Fascista" einen Bericht ihres Korrespondenten, der der Wiederaufnahme der Arbeit beigewohnt hatte. „Noch im Dunklen sah man gestern morgen die Flämmchen der Azetylenlampen aufleuchten. Von oben aus der Stadt stiegen die
Bergleute zu ihrer Arbeit herab, die, wie schon gesagt, nach viereinhalb Monaten Arbeitslosigkeit wieder aufgenommen worden ist. Zu dieser Stunde wurden keine Reden gehalten, keine Zeremonie fand statt, die Sonntagsanzüge ruhten, abgelöst von den Blusen und Hosen aus türkischem Barchent. Jener Ausdruck von Mutlosigkeit und drückender Ahnung der Not war aus den Augen der Bergleute verschwunden. Ruhige, außerordentlich gute Gesichter zogen an mir vorüber. Die Bergleute haben in ganz besonderem Maße jene Scham der Pflichterfüllung bewahrt: Das macht sie sachlich und verbunden mit der harten Realität des Alltags. Und doch konnte man ihren Grüßen, ihren Stimmen eine tiefe Zufriedenheit anhören. Ein ganzes Land hat wieder zu leben begonnen um die elf Stollen der Gruben." War das nicht verlockend? Konnte ich mir dieses herrliche Schauspiel der besiegten Arbeitslosigkeit entgehen lassen? Durfte ich dies „Wunder des Arnotals" versäumen?
„Es ist nötig, dass man hierher kommt und dieses Leben von allen Seiten kennenlernt", schloss Herr Sinapo seinen Bericht. „Die Bergleute verdienen, dass man einen Film von ihnen aufnimmt." Ja, weiß Gott, das verdienen sie! Zu diesem Schluss kam auch ich, als ich am 9. April Stadt und Gruben in Begleitung einiger braver Kumpels besucht hatte.
Ich war sehr früh am Morgen von Florenz aufgebrochen. Etwa dreißig Kilometer oberhalb der Stadt weitet sich das Arnotal aus. Zwischen dem Fluss und den Bergen, die gegen Süden hin etwa sechshundert Meter hoch aufsteigen, dehnt sich eine flache Mulde. Hier liegt, fünfhundert Meter tief in der Erde, die Braunkohle. In dem Städtchen San Giovanni Valdarno verließ ich die Eisenbahn. San Giovanni, einstmals Zentrum einer Reihe von Feudalbesitzen, deren Wappenschilder heute noch an dem altertümlichen Rathaus mit seinen Bogengängen hängen, hat sich längst in ein kleines Industriezentrum verwandelt. Marktplatz und Straßen zeigten das charakteristische Bild der Industriestädte: Zu Dutzenden standen schon am frühen Morgen die Arbeitslosen, größtenteils rüstige jüngere Männer, überall herum. Meine Frage nach der Abfahrtszeit des Autobusses, der mich nach Castelnuovo hinaufbringen sollte, leitete ein Gespräch mit einer der herumstehenden Gruppen ein. Es ging wie überall: Nach ein paar Minuten waren wir bei dem ewigen Thema angelangt, bei der wirtschaftlichen Lage und dem grauen Elend der Arbeiter. Viele von denen, die hier herumstanden, hatten früher in den Braunkohlenbergwerken oben am Berg gearbeitet. Manche waren fünfzehn, ja zwanzig Jahre dort tätig gewesen. Die Söhne pflegten mit zwölf oder dreizehn Jahren ihren Vätern in den Schacht nachzugehen. Jetzt ging es den Leuten hundeelend. Sie waren längst ausgesteuert.
In den Betrieben von San Giovanni war keine Arbeit zu finden. Wovon sie lebten? Manchmal gab es kleine Gelegenheitsarbeiten bei dem Hüttenwerk, beim Ein- und Ausladen an der Eisenbahn. Der eine oder andere hatte ein Stückchen Garten, in dem er Kartoffeln und etwas Gemüse zog. Die meisten lebten auf Kosten von Verwandten: des Bruders, der Frau, des Sohnes - die noch Arbeit hatten oder in der Landwirtschaft beschäftigt waren. „Ja, wenn man auswandern dürfte! Kein Schwanz würde mehr hier sein! Aber nicht einmal in eine andere Stadt darf man gehen!"
Es folgten dann die üblichen Flüche gegen die sogenannten Gewerkschaften und gegen die Faschisten. Wir standen auf offener Straße in der Nähe des Bahnhofes, aber niemand hielt es für nötig, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich erfuhr später von unseren Genossen, die hier starke Zellen haben, dass die Stimmung der Arbeiter auf dem Siedepunkt angelangt ist und dass die Faschisten nicht mehr wagen, mit Repressalien vorzugehen. Die Arbeiter lachten, als ich ihnen meinen Plan mitteilte, nach Castelnuovo zu fahren, um mir die Wiederaufnahme der Arbeit im Braunkohlenbergwerk anzusehen.
„Ja, fahren Sie mal dahin! Da werden Sie Ihr blaues Wunder erleben."
Ich wollte gleich von ihnen einiges wissen. Sie hatten doch dort gearbeitet.
„Nein, nein, fahren Sie nur selber hin. Vielleicht schwindle ich Ihnen etwas vor. Sie sollen sich selbst an Ort und Stelle überzeugen, was dort los ist."
Diese Unterredung hatte ihr Gutes gehabt. Die Arbeiter nannten mir Name und Adresse eines Kollegen, der offenbar in der ganzen Gegend bekannt war und großes Ansehen genoss. Sie nannten ihn mit dem Vornamen. An ihn sollte ich mich wenden. Ich würde ihn bestimmt zu Hause treffen, und er würde mir alles zeigen.
Sehr neugierig gemacht durch diese Mitteilungen, stieg ich, von den beobachtenden Blicken einiger herumstehender Faschisten begleitet, oben im Städtchen aus. Aber es folgte mir niemand, als ich zu der Gasse hinunterstieg, wo mein Gewährsmann wohnen sollte.
Ich gelangte bald zu der langen Reihe von elenden Baracken, die die Gesellschaft den Bergarbeitern für fünf Lire pro Zimmer im Monat ablässt. In einem dieser Zimmer fand ich einen rüstigen Mann in mittleren Jahren, der sich als der „Secondino" zu erkennen gab, den ich suchte. Er legte die Schuhreparatur hin, an der er saß, band sich die Schürze ab, und wir gingen los. „Sehen Sie, damit verdiene ich jetzt mein Brot, so gut es geht", sagte er beim Hinausgehen, auf sein Schusterwerkzeug zeigend.
„Arbeiten Sie denn nicht in der Grube?"
„Das war einmal! Neunzehn Jahre habe ich darin gesteckt. Aber Sie wissen doch, im vorigen Herbst ist alles stillgelegt worden, und da hab' ich meine Arbeit verloren."
Wir waren inzwischen auf dem großen Verladepiatz des einen Schachtes angekommen. Zu beiden Seiten unseres Weges lagen riesige Halden aufgestapelter Braunkohle. „Sehen Sie sich das mal an! Viel wert ist die Kohle ja nicht. Sie ist das reine Holz. Das lohnt sich nicht zu transportieren. Früher hat man die Braunkohle gleich hier verbrannt. Sehen Sie dahinten die große Anlage? Das ist das Kraftwerk. Von hier ging elektrischer Strom nach San Giovanni und weiter nach Florenz. Wir wissen selber nicht, was da los ist. Unsere Direktion muss sich mit dem Kraftwerk verzankt haben. Eines Tages jedenfalls nahm das Kraftwerk keine Kohle mehr ab und machte zu. Und dann kam das Unglück. Wenn man dies leichte Zeug hier transportieren will, wird es ja viel zu teuer. Im Nu ist ein Waggon voll. Und da wurden eben auch die Gruben zugemacht." Man sah den Anlagen, durch die wir schritten, an, dass sie ziemlich neuen Datums waren. Zwischen Fördertürmen, Silos und Sortiermaschinen zogen sich die Lorenstränge hin, die die einzelnen Verladeplätze miteinander und mit den Enden der Seilbahnen verbinden.
Aber Totenstille lag über dem Ganzen. Man sah keinen Menschen. „Was war hier früher für ein Betrieb!" sagte mein Begleiter. „Wir haben gut verdient, und es war ein schönes Leben. Hier wimmelte alles von Menschen, und es war immer ein Heidenkrach. Und jetzt...?"
„Ich denke, der Betrieb ist wieder aufgenommen?" fragte ich. Mein Begleiter lachte.
„Aufgenommen? Wissen Sie, was los ist? Früher waren hier viertausend Mann beschäftigt, in der besten Zeit sogar sechstausend: das war während des Krieges. Damals mussten sogar Hunderte von fremden Arbeitern hergeholt werden. Im Laufe des vergangenen Jahres hat man die Arbeiter gruppenweise abgebaut, und im Oktober hat man dann die ganze Bude zugemacht." „Und die Wiedereröffnung? Alle Zeitungen waren doch voll davon!?"
„Ja, das habe ich auch gemerkt! Und ich bin schön hereingefallen. Als es hier so trostlos aussah, bin ich weggegangen, um Arbeit zu suchen. Ich war nach Umbrien hinüber, war auch in Spoleto. Da ist übrigens auch nichts los. Die Baumwollfabrik dort hat zugemacht. Und auf dem Lande können Sie nicht mehr als sieben Lire am Tage bekommen. Ais dann die Zeitungen von der Wiedereröffnung schrieben, bin ich natürlich zurückgekommen. Ich habe doch lange genug im Schacht gearbeitet. Mich kennt hier jeder Mann. Ich dachte natürlich, ich komme als einer der ersten dran. Aber, hat sich was! Wissen Sie, wie viel Leute eingestellt worden sind? Zweihundert, ganze zweihundert! Und was für welche! Es hat schon seinen guten Grund, warum sie uns Alte nicht genommen haben. Mich überhaupt: auf mich haben sie es abgesehen." Wir waren inzwischen von den Verladeplätzen hinaufgestiegen zu einer der Förderanlagen. Hier trafen wir auf die ersten Arbeiter. Es waren robuste Männer zwischen dreißig und vierzig Jahren.
„Sehen Sie sich die mal an. Die leben nicht von Luft und Sonnenschein! Und jeder hat seine Familie und ein halbes Dutzend Kinder auf dem Halse. Und dann fragen Sie mal, was sie jetzt bekommen."
Wir machten bei einer Gruppe von Arbeitern halt. Sie hatten nicht viel zu tun. Die Waggons kamen in großen Abständen den Bremsberg herauf. Wir wurden freundlich begrüßt. Ich merkte auch hier, dass mein Begleiter bei den Kumpeln eine besondere Achtung genoss.
„Der Genosse" - mein Begleiter gebrauchte unvermittelt dieses Wort - „ist hergekommen, um zu sehen, wie es uns geht. Er kommt aus Deutschland. Er möchte gern wissen, was für Löhne ihr bekommt."
Das war bald festgestellt: Die Männer über Tage bekamen zehn Lire am Tage, von denen noch etwa zwölf Prozent an Abzügen (also mehr als sonst) abgingen. Unter Tage wurden, wie sie mir erzählten, sechzehn Lire täglich gezahlt. Damit soll dann die ganze Familie auskommen.
„Sie können sich vorstellen, wie wir da leben. Und die, die keine Familie haben, denen wird ihr Teil durch die Ledigensteuer abgeknapst. Und wissen Sie, was wir hier früher bekommen haben? Achtzehn bis zwanzig Lire über Tage und sechsundzwanzig bis zweiunddreißig Lire unter Tage. Im Akkord konnte man es bis auf vierzig Lire täglich bringen."
Das bedeutete also eine Lohnreduktion von fast fünfzig Prozent! Und dazu erfuhr ich dann noch, dass die Arbeitszeit unter Tage auf neun Stunden heraufgesetzt worden war. „Aber ist das Leben nicht wenigstens billiger geworden seitdem? Man schreibt doch soviel vom Preisabbau?" „Ja, schreiben tut man viel. Bloß wir Arbeiter merken nichts davon. Es kostet alles dasselbe. Sehen sie da unten das Haus? Das war einmal unser Konsum. Den haben wir Häuer mit unseren Pfennigen aufgebaut. Damals konnten wir auch die Preise mitbestimmen. Aber jetzt haben die Faschisten die Hand draufgelegt. Sie haben unseren Sekretär abgesetzt und den Leiter der Werkkantine an seine Stelle gesetzt. Der wirtschaftet jetzt mit unserm Gelde dem Unternehmer in die Tasche." Wir stiegen weiter zwischen Schachteingängen, Förderbahnen und alten Halden herum. An einer Stelle hatte man Kohle über Tage gewonnen. Aber das Lager war erschöpft, jetzt gab es Kohle nur in den Schächten, die bis zu fünfhundert Meter tief sind und wo unten eine Temperatur bis zu achtunddreißig Grad herrscht.
„Es ist eine Sauwirtschaft hier. Wie die Hunde leben wir. Alles ist Willkür. Die Kapitalisten machen, was sie wollen. Der ganze Betrieb ist korrumpiert. Überall sitzen allmächtige Herren, die niemand kontrollieren kann: in der Provinz die Präfekten, und die ernennen dann wieder die Podestà. Die Podestà stecken mit den faschistischen Parteidirektoren zusammen. Was die tun, ist recht. Und die Kapitalisten nützen das schön aus. Sie bestechen hinten und vorn. Die Faschisten werden reich dabei. Aber natürlich nur die großen. Die kleinen Faschisten, die Arbeiter sind -solche gibt's auch hier, aber nicht viele -, sind ebenso schlimm dran wie wir. Und sind auch ebenso wild. Aber Opposition gibt es keine. Wer aufmuckt, wird aus der Partei getan, oder wenn's schlimmer ist, verbannt."
Unser Gespräch wurde dann sehr politisch. Mein Begleiter entpuppte sich als alter Sozialist, der die Abspaltung der Kommunisten in Livorno heute noch für einen Fehler hielt. Wir stiegen langsam wieder seiner Wohnung zu. Ich erkundigte mich danach, ob die Regierung der Gesellschaft irgendetwas für die Wiedereröffnung gegeben hätte.
„Aber gewiss! Eine halbe Million hat sie von der Regierung verschluckt. Damit lässt sich's aushalten. Sehen Sie da oben" - mein Begleiter zeigte auf eine zypressenumstandene Villa auf dem benachbarten Hügel - „da sitzen sie, der Herr Raffo und sein Neffe, der Herr Gerini. Sie haben sich nur für ein Jahr zur Wiederaufnahme des Betriebes verpflichtet. Solange wird die halbe Million schon reichen."
Ich hatte genug gesehen und gehört. Die Wiederaufnahme des Betriebes war ein plumper Schwindel. Für den Preis der Lohnherabsetzung um fünfzig Prozent und der Arbeitszeitverlängerung hatten zweihundert von viertausend Arbeitern Beschäftigung gefunden. Das hieß dann: „... ein ganzes Land hat wieder zu leben begonnen um die elf Stollen der Gruben". Das war die „Liquidierung der Arbeitslosigkeit"!
Als ich mich auf den Heimweg machte, begleiteten mich noch einige andere Kumpel. Sie waren von meinem Gastfreund, der es sich nicht hatte nehmen lassen, mich noch mit ein paar Eiern und Bohnensalat zu traktieren, über mich und den Zweck meines Besuches informiert worden. Wir schritten zusammen an dem Verwaltungsgebäude vorbei. Mir fiel ein mageres Bäumchen auf, das dort in einer Umzäunung stand. Ich fragte nach seiner Bedeutung.
„Ach, das - das haben sie gepflanzt zur Erinnerung an den Ingenieur Lunghi. Den haben sie damals hier erschlagen. Das muss so 1920 oder 1921 gewesen sein. Damals waren noch viele fremde Arbeiter hier. Es war übrigens eigentlich ein Versehen. Die Arbeiter hatten Streif mit der Verwaltung. Sie waren aufs äußerste empört und wollten den Blutsauger Raffo hinmachen. Aber sie wussten nicht, wie er aussieht. Er kam ja nie in die Nähe des Schachtes. So haben sie Lunghi mit ihm verwechselt." Die anderen Kumpel waren von meinem Begleiter offenbar auch unterrichtet worden, wie ich über solche Dinge dachte. Denn als wir weitergingen, sagte einer von ihnen halb vor sich hin: „Der Herr Raffo und die anderen würden gut tun, sich jetzt schon in ihrem Parke Bäumchen auszusuchen, die sie auf ihrem Grabe haben wollen!"
„Aber ich fürchte", sagte ein anderer, den Gedanken aufnehmend, „dass sich dann niemand mehr finden wird, die Erinnerungsbäumchen für sie zu pflanzen!"
Wir mussten alle lachen, und lachend trennten wir uns. Ich verließ diesen Ort, wo das faschistische Wunder die Arbeitslosigkeit beseitigt hatte, mit dem sicheren Gefühl: Nicht allzu lange mehr werden diese Kumpel Schindluder mit sich treiben lassen!

 

DIE KINDERHÖLLE DER SCHWEFELGRUBEN

Am Beispiel des Schicksals der Reisarbeiterinnen von Vercelli haben wir gesehen, wie sich aus dem Bild der allgemeinen Not und des Elends des Landvolkes hier und da Ereignisse abheben, die in ihrer Furchtbarkeit weit über die Phantasiebilder hinausgehen, die man sich von der Lage der Werktätigen unter dem Faschismus macht. In der Industrie ist es nicht anders. Man stößt alle Augenblicke auf Zustände, die so toll sind, dass man sie nicht glauben würde, wenn man sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.
Eines der schlimmsten Beispiele in dieser Beziehung bietet die Schwefelindustrie in Sizilien. Dass in der Schwefelindustrie Siziliens in großem Ausmaße Kinder beschäftigt werden, ist eine altbekannte Tatsache. Die Kinderausbeutung ist oft Gegenstand ausgedehnter Kampagnen humanitärer Vereinigungen gewesen. Die früheren italienischen Regierungen waren gezwungen gewesen, verschiedene gegen die Beschäftigung von Kindern in den Gruben gerichtete Reformen durchzuführen. Was ist nun unter der faschistischen Herrschaft aus der Kinderarbeit in den Schwefelgruben geworden? Als ich Sizilien in meinen Reiseplan aufnahm, hatte ich mir vorgenommen, diese Frage besonders zu ergründen. Ich hatte mir vorgestellt, dass die Faschisten das vor ihrer Herrschaft begonnene Reformwerk kaum würden gefördert haben. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie es fertiggebracht haben, diese Reformen tatsächlich abzuschaffen und die Hölle der Kinderarbeit in den Schwefelgruben in ihrer früheren Form wiederherzustellen, ja zu verschlimmern! Die Schwefelindustrie war lange Zeit die bedeutendste, ja fast einzige Industrie Siziliens. Vor der Entdeckung des amerikanischen Schwefels hatte Italien das Weltmonopol der Schwefelproduktion. Gegenwärtig liefern die Schwefelgruben von Süd-
Italien und Sizilien nur noch einen geringen Teil der Welt-Schwefelproduktion. Etwa zwei Millionen Tonnen von in Amerika hergestelltem Schwefel stehen nur 215000 Tonnen Schwefel sizilianischer Herkunft gegenüber. Die Zahl der Gruben hat abgenommen. Von 390 im Jahr 1922 ist sie auf 240 im Jahre 1930 zurückgegangen. Auch die Zahl der in der Schwefelindustrie beschäftigten Arbeiter hat dementsprechend abgenommen. Sie wird 1931 ungefähr nur noch 15000 betragen. Eine große Zahl von kleinen Gruben sind ausgeschaltet, und in den größeren Gruben hat eine straffe Rationalisierung eingesetzt. Die Arbeitsleistung des einzelnen Arbeiters ist außerordentlich gesteigert worden. Von 1922 bis 1927 hat sie sich mehr als verdoppelt. Aber die Ausbeutung der Menschen hat dabei nicht ab-, sondern zugenommen, und da, wo Menschen und nicht Maschinen arbeiten: beim Abbau des Schwefelgesteins und beim Transport des Schwefelerzes zu den mechanischen Beförderungsmitteln, sind die allerprimitivsten und unmenschlichsten Arbeitsformen bestehen geblieben.
Die großen Schwefellager Siziliens liegen an der Südküste, an den zwei Flüssen Platani und Salso, die westlich und östlich von Agrigent in das Afrikanische Meer fließen. Von Agrigent aus habe ich verschiedene Schwefelgruben, nämlich die bei Ravanusa, Racalmuto und Comitini, besucht. Ich lernte die verschiedensten Typen von der ganz primitiven bis zur weitgehend mechanisierten Grube kennen. Die Arbeit und Lebensbedingungen der Arbeiter, Greise, Männer und Kinder waren in allen gleich. Ich kann mich daher auf die Schilderung der Zustände in einer Grube beschränken, in der ich fast den ganzen Tag zugebracht habe, um sie wirklich gründlich kennenzulernen.
Die gartenähnlichen Felder, die an der Südküste der Insel die Ufer des Afrikanischen Meeres bedecken, machen gegen Norden hin kahlen, unwirtlichen Bergen Platz. In diesen Bergen liegt der kostbare Schwefel. Jahrhundertelang wühlen die Menschen in den Bergen. Ihr Inneres ist durchlöchert wie ein Schwamm. Halden tauben Gesteins bedecken terrassenförmig die Bergabhänge. Zwischen den Halden liegen, teils verlassen, teils noch in Betrieb, die primitiven Öfen, die aussehen wie Maulwurfshaufen mit Schornsteinen. In ihnen wird der Schwefelkies, der aus dem
Berge kommt, gleich ausgeschmolzen und der rohe Schwefel dann in viereckigen Tafeln in die Hafenstädte abtransportiert. Schon von weitem sieht man über den Stätten, wo nach gearbeitet wird, graugelbe Rauchschwaden liegen. Die ganze Landschaft sieht unglaublich trostlos und düster aus. Auf den Kuppen der Berge liegen die Städte, in denen die Bergarbeiter und die wenigen Bauern der Gegend wohnen. Die Grube, von der im Folgenden die Rede sein wird, liegt in dem Dreieck, das durch die Städte Canicatti, Aragona und Racalmuto gebildet wird. Es war noch früh am Morgen, als ich von der Eisenbahnstation zu der ersten sich meinen Blicken darbietenden Grube hinabstieg. In dem kleinen Häuschen, das über dem Schachteingang errichtet ist, fand ich einen der drei Besitzer, von denen je einer täglich sich in der Grube aufhält.
Ich wurde sofort sehr freundlich aufgenommen. Nur alle paar Jahre einmal verirrt sich ein Fremder in diese Gegend, und die Besitzer fühlen sich geehrt durch den Besuch eines Ausländers. Ich hatte nicht die geringste Schwierigkeit, den Betrieb in allen Einzelheiten kennenzulernen.
Die Grube hier ist klein. Sie beschäftigt nur hundert Arbeiter. Aber so sind die meisten Gruben in der Gegend. Nur selten einmal sieht man eine größere Anlage wie die, deren eiserner Förderturm von dieser Grube aus unten im Tale zu erkennen ist, und die dem Podestà von Comitini, Herrn Mandrazzi, gehört. In unmittelbarer Nähe des Schachtausganges liegen die Öfen. Ihnen gilt unser erster Besuch.
Zur Grube gehören zwei Öfen mit je vier Feuerstellen. Die Öfen sind an den Abhang des Berges gelehnt, so dass ihre Decke eine Terrasse bildet, die man von oben her betreten kann. Von hier werden die Öfen mit dem Schwefelkies beschickt, der auf Loren aus der Grube herauskommt. Je eine der Feuerstellen der beiden Öfen liegt kalt und wird mit Erz angefüllt. Aus den anderen Feuerstellen steigt gelber, beißender Rauch auf und kriecht langsam über den Abhang. Die Luft ist unerträglich. Ich muss husten und immer wieder husten. Mir fällt ein, wie wir als Kinder manchmal hustend und mit tränenden Augen aus den vor der Weinernte frisch ausgeschwefelten Fässern zurückprallten, in die wir neugierig den Kopf zu tief hineingesteckt hatten. Die Arbeiter, die hier mit dem Verladen des Schwefelkieses und mit dem Beschicken der Öfen beschäftigt sind, lachen, wenn ich von Zeit zu Zeit aus dem Dampf ein paar Schritte den Berg hinauflaufe, um Luft zu schöpfen.
Steinbrocken kullern in den Ofen. Ihnen folgen sonderbare runde Klumpen, die sogenannten Brote. Ein Teil des Erzes kommt als staubiger Sand aus dem Schacht. Dieser Grus würde den Ofen verstopfen. Man feuchtet ihn deshalb an und bäckt ihn zu „Broten", die in der Sonne oder oben auf den Öfen zum Trocknen liegen. Nach alter Überlieferung wird jedem Brot ein kleines helles Steinchen aufgeklebt. Einen praktischen Sinn haben diese Steinchen nicht. Es ist, als ob die Arbeiter sich durch diese kleine „Verschönerung" über ihre trostlose Lage und die Düsterkeit der kahlen Landschaft hinwegtrösten wollten. In den Öfen brennt ein ewiges Feuer. Sie werden nicht besonders geheizt. Der Schwefel selbst wird angesteckt: ein Teil verbrennt, aber dabei schmilzt der Rest und sinkt zwischen dem tauben Gestein auf den Boden des Ofens hinunter. Alle paar Stunden ist einer von den Öfen „gar", und die kostbare Masse fließt zäh und klebrig aus einem kleinen Loch unten im Ofen heraus. Sobald das Loch geöffnet ist, schlägt die Flamme zu der benachbarten Feuerstelle über, die bis dahin fertig beschickt sein muss. Wieder greift das Feuer den Schwefel in der oberen Schicht der neuen Feuerstelle an und frisst sich dann langsam nach unten, bis der ganze Schwefel ausgeschmolzen ist.
Zwei Wärter bedienen die acht Feuerstellen. Sie machen abwechselnd vierundzwanzig Stunden Dienst. Jetzt ist an einem der Öfen etwas nicht in Ordnung. Der Wärter deckt das Loch auf und stochert, über den Qualm gebückt, mit einer langen Stange in der schwelenden, in kleinen bläulichen Flammen zuckenden Masse herum.
„Ist denn der Rauch nicht schädlich?" frage ich den Wärter. Er hat keine Zeit für mich. Ohne aufzublicken, sagt er nur trocken: „Dabei ist schon manch einer tot umgefallen." Aber es ist an der Zeit einzufahren. An den Verladern vorbei, deren lumpenbedeckte mächtige Körper von dem giftigen Rauch von innen ausgehöhlt zu sein scheinen, gehen wir zum Schachteingang. Eine Tafel hängt darüber, mein Begleiter hält mich an:
Lesen Sie!" Und ich lese:
„Das Himmelreich ist gleichsam wie ein verborgener Schatz." (Jesus.)
„Wer arbeitet, erfreut sich des Himmels, auch in den Eingeweiden der Erde." (Ein Freund der Arbeiter.) Mein Begleiter unterbricht mich:
„Ein Freund der Arbeiter: das ist auch Jesus. War er nicht ein Freund der Werktätigen?" Schweigend lese ich weiter:
„Wer Durst hat, komme zu mir und trinke." (Jesus.) „Ich bin das Brot des Lebens." (Jesus.)
Ich habe erst später die ganze Grausamkeit dieser Worte verstehen gelernt. Aber ich war gleich so benommen, dass ich mir nach ein paar Schritten in dem dunklen Gang, den wir eingeschlagen haften, den Kopf stieß.
„Sie müssen sich bücken, es wird noch niedriger", sagt lächelnd mein Begleiter.
Fünfhundert Meter weit gehen wir in den Berg hinein. Die Karbidlampen, die wir tragen, erleuchten ein wenig den Weg. Von Zeit zu Zeit führen dunkle Löcher seitwärts hinunter. Manche sind vermauert: verlassene Stollen. Der Gang, dem wir bisher gefolgt sind, endet. Mit ihm der Lorenstrang. Wir machen halt.
„Sie müssen sich ausziehen, unten wird es heiß", belehrt mich der Besitzer.
Wir legen unsere Kleidung ab und behalten nur Hosen und Schuhe an. Rechts und links gähnen schwarze Löcher, die fast senkrecht in die Erde hinabführen. Sie sind wie Maulwurfslöcher. Die Decke ist ungestützt und der Boden rauer Fels, in den so etwas wie Stufen geschlagen sind. Tastend und rutschend steigen wir hinunter. Weiter, immer weiter.
„Treten Sie zur Seite", ruft von hinten mein Begleiter. Ich drücke mich an die Wand. Unter mir aus dem schwarzen Loch steigt geisterhaft ein großer Stein herauf. Im Licht meiner Lampe erkenne ich jetzt darunter ein paar Schultern, dann zwei Arme, die sich tastend an den Wänden halten, schließlich einen Kopf und einen Körper. Er ist ganz nackt. Er glänzt schweißbedeckt.
Ohne aufzublicken, keuchend, steigt das Gespenst, mit den bloßen Zehen Halt suchend, an uns vorbei. Es ist ein alter Mann, mager wie ein Skelett. Unter dem Felsblock, der in seinem Nacken ruht, hängt auf seinem Rücken noch ein mächtiger Sack. Die Gestalt verschwindet über uns im Dunkeln. Wir steigen tiefer hinunter.
Eine zweite, ähnliche Gestalt schleicht vorbei: ein Knabe. Ebenso mager, ebenso schweißbedeckt. Auch er trägt keine Lampe. Wo sollte er sie anhängen? Und die Hände braucht er, um sich zu stützen.
Fragend wende ich mich zu meinem Begleiter um. „Das ist ein Caruso."
Caruso? Wer von den zahllosen Verehrern des großen Sängers hat wohl je daran gedacht, dass dieses klangvolle Wort eine der schändlichsten Erscheinungen deckt, die die Menschheit duldet? Caruso - das ist im sizilianischen Dialekt gleichbedeutend mit „Junge". Ich habe geschniegelte und aufgeputzte Zöglinge der faschistischen Kinderorganisation in Catania sich mit diesem Namen rufen hören. Aber Caruso bedeutet gleichzeitig soviel wie - Schlepper. Es gibt kein anderes Wort für die Kinder und Greise, die das Schwefelerz unter Tage vom Ort der Gewinnung zum Verladeplatz schleppen.
Jetzt erst merke ich, dass mir der Schweiß in großen Tropfen über Schultern und Stirne rinnt. Es ist unerträglich heiß geworden. Aber es geht weiter hinunter, und es wird immer heißer. Tief unter uns leuchtet ein Licht auf. Ich mache halt. „Wir sind gleich da", sagt mein Begleiter. Ich lausche: Durch die Totenstille, die uns bisher umgeben hatte, dringt Geräusch herauf.
Es ist das regelmäßige tak ... tak ... tak ... der Pickel. Aber es ist noch etwas anderes: ein gepresster tierischer Laut, ein kurzes dumpfes Ah ..., das sich in regelmäßigen Abständen vernehmen lässt. Was ist das? Ist jemand verschüttet? Ich habe einmal im Leben diese Schreie gehört. Das war im Kriege, vor Loretto, als wir verschüttet waren und acht meiner Kameraden neben mir mit diesen Schreien unter der Last der Erde, die uns bedeckte, starben.
Ich versuche, schneller hinabzuklettern.
Jetzt sind wir angelangt. Drei Karbidlampen erhellen das Loch, in dem drei Männer, halb kniend, halb liegend, ihre Hacken ins Gestein schlagen. Einen Augenblick lang hört die Arbeit auf. Der Besitzer stellt mich vor. Die Männer lächeln. Aber es ist ein bösartiges Lächeln: Was will der Nichtstuer hier? Und dann geht gleich die Arbeit weiter. Wieder schieben sich die nackten Körper an den Steinen vor. Wieder fliegen die Hacken. Jede Minute ist kostbar: es wird im Akkord gearbeitet.
Und jetzt verstehe ich: Bei jedem Schlag der Hacke ringt sich ein gepresster Schrei aus diesen Brüsten. So furchtbar ist die Arbeit in dieser Hitze, in dieser Luft! Die Lungen weigern sich, dies Gemisch aus Staub, Schwefel, Karbid- und Schweißgeruch aufzunehmen. Der gequälte Mensch schreit. So schreien, denke ich, diese ganzen Berge, und kein Mensch hört den Schrei der Qual! Auch diese Männer sind nackt. Auch sie sind über und über mit Schweiß bedeckt. Nur die Schultern, die Backenknochen, der Nasenrücken, die Augenlider sind stumpf: bedeckt mit einem Brei aus Schwefel, Staub und Schweiß.
Auch ich, der hier nur steht und zusieht, bin schweißgebadet. Große Tropfen fallen auf meinen Fotoapparat. Während ich beschäftigt bin, mit Hilfe der wenigen Karbidlampen Aufnahmen zu machen - denn wer wird mir glauben, was ich hier erzähle? -, ist um uns herum ein ununterbrochenes Hin und Her: Lautlos kommen, eine nach der anderen, gebückte Gestalten aus dem dunklen Loch über uns herunter, heben sich die schweren Säcke mit dem Schwefelkies auf den mageren Rücken, bekommen obendrauf einen mächtigen Stein aufgeladen und verschwinden wieder über uns im Dunkeln. Es sind in der großen Mehrzahl - Kinder, Kinder von elf, zwölf, dreizehn Jahren! Tagaus, tagein machen sie im Dunkeln Hunderte und Tausende von Malen den Weg von der Stelle, wo die Häuer arbeiten, zum Verladeplatz und zurück. Zwischen Hitze und Kälte eilen die magern Kindergestalten, an denen kein Stück Haut trocken ist, die hundert bis hundertfünfzig Meter langen „Treppen" hinauf und hinab. Sie schleppen Lasten von dreißig bis fünfunddreißig Kilogramm. Sie haben keine feste Arbeitszeit. Ja, sie haben nicht einmal richtigen Lohn.
Die Carusi werden nicht vom Unternehmer bezahlt. Dieser entlohnt nur den Häuer. Der Häuer steht im Akkord. Für den Waggon Erz bekommt er zehn Lire. Vier Waggons ist seine Durchschnittstagesleistung, wenn das Gestein nicht zu hart ist. Jeder Häuer hat zwei bis drei Schlepper. Ihre Bezahlung geschieht durch ihn. Aber nicht nur wirtschaftlich sind die Kinder den erwachsenen Bergleuten ausgeliefert. Unter den Arbeitsbedingungen werden die Knaben - bei der unerträglichen Hitze, selbst nackt, mit den nackten Männern zusammengepfercht und von der Außenwelt abgeschnitten - zum Objekt der geschlechtlichen Ausschweifung der in ihrer Arbeit entarteten Erwachsenen. Wir steigen noch in verschiedenen anderen Löchern herum. Überall dasselbe Bild, dieselben Schreie der Qual, dieselben gespensterhaften Gestalten von Greisen und Kindern! An einer Stelle wird ein neuer Gang in die Tiefe vorgetrieben. Es gibt hier keine wissenschaftliche Schürfarbeit. Die Schwefeladern sind, so sagen die Leute, unberechenbar. Man buddelt versuchsweise im Gestein herum. An der Seite des alten Häuers, der hier arbeitet, finde ich einen Knaben, der ihm hilft. Er ist fünfzehn Jahre: schon zu alt, um Caruso zu sein. Er arbeitet als Hilfshäuer. Ich versuche eine neue photographische Aufnahme. Aber der Besitzer sieht es nicht gern, dass ich den Jungen aufnehme, sondern möchte selbst auf die Platte. Ich muss schwindeln, und es ist mir gelungen, den Knaben nur halb aufs Bild zu bekommen.
Endlich gehen wir zurück, hinauf zum Lorenstrang. Die Luft scheint eiskalt. Ein Schauder überläuft meinen nackten Körper. Schnell ziehen wir uns an. Neben mir stürzt ein alter Mann, der eben seine Last in die Lore geschüttet hat, auf ein kleines Wasserfass zu und hebt gierig das Spundloch an den Mund. „Wer Durst hat, komme zu mir und trinke", fällt mir ein. Wortlos schreiten wir den langen Tunnel zum Ausgang zu. Jetzt leuchtet, ein kleiner Punkt, das Tageslicht vor uns auf. Mein Begleiter wendet sich zu mir. Auf das Licht deutend sagte er: „E quindi uscimmo a rivedere le stelle."
Es sind die Worte, die Dante bei seinem Austritt aus der Hölle spricht:
„Dann traten wir hinaus und sah'n die Sterne."
Wir kamen aus der Hölle!
Was hat der Faschismus mit dieser Hölle zu tun? Nun, ihn trifft die Schuld, dass sich nichts in ihr verändert hat, dass die Arbeit heute noch so betrieben wird wie vor Hunderten von Jahren. Und ihn trifft die Schuld, dass die Kinder wieder zu Tausenden in diese Hölle eingezogen sind! Millionen gibt die Regierung in Sizilien in Gestalt von Subventionen und Krediten den Großgrundbesitzern. Die Schwefelindustrie, deren Lage durch das Sinken der Schwefelpreise auf dem Weltmarkt (von 499 Lire pro Tonne im Jahre 1926 auf 411 Lire im Jahre 1929) sehr schwierig geworden ist, steht ohne Hilfe da. Die Schwefelindustrie kämpft tatsächlich um ihre Existenz. Nur eine ganz großzügige Rationalisierung und Mechanisierung könnte die Gruben retten. Die Regierung rührt keinen Finger. Aber der Todeskampf der Schwefelgruben wird zu einem guten Geschäft für die großen Banken.
Der Besitzer dieser kleinen Grube hat mir die schwierige Lage, in der sich die kleinen Betriebe befinden, ausführlich geschildert. Der freie Handel ist unterbunden. Die Gruben sind zu einem Zwangskonsortium zusammengeschlossen. Die Grubenbesitzer müssen den Rohschwefel auf ihre Kosten bei dem Kontor des Konsortiums in Porto Empedocle abliefern. Für jeden Posten abgelieferten Schwefels bekommen sie eine Empfangsbestätigung, einen sogenannten Warrant. Früher bezahlte das Kontor bei der Ablieferung einen vorläufigen Betrag, der dem Wert des abgelieferten Schwefels nach dem jeweiligen Marktwert entsprach. Seitdem die Faschisten am Ruder sind, ist diese Bezahlung abgeschafft. Der Schwefel wird erst dann bezahlt, wenn er tatsächlich vom Konsortium verkauft ist, und zwar zu dem Marktpreis des Verkaufstages. Der Verkauf dauert sechs bis acht Monate. Das Konsortium zahlt keine Verzugszinsen. Aber die Besitzer können den Warrant bei der Bank von Sizilien diskontieren. Die Bank hat ihre Filiale unmittelbar neben dem Büro des Konsortiums. Für diese Beleihung ihrer Zahlungsanweisungen müssen die Unternehmer acht Prozent Zinsen zahlen!
„Da sitzt eine ganze Camorra drin. Das Konsortium und die Bank nehmen uns doppelte Zinsen ab. Die Arbeiter müssen dafür büßen und sich zu Tode schuften."
Der das sagte, war nicht ein Arbeiter, sondern einer der Besitzer jener kleinen Grube. Es ist ganz klar, dass die Besitzer sich für diese Verschlimmerung ihrer Lage durch die Auslieferung an die Wucherpolitik der Bank von Sizilien an den Arbeitern schadlos halten.
Aber die Arbeitsbedingungen hätten sich dabei vielleicht noch nicht einmal so verschlimmert, wie es jetzt der Fall ist, wenn die Faschisten nicht auch hier durch ihre Anordnungen bezüglich der Löhne und durch die Politik ihrer „Gewerkschaften" das ihre zur Verschlimmerung der Lage beigetragen hätten. Die allgemeinen Lohnreduktionen vom Oktober und Dezember vorigen Jahres wurden auch auf die Löhne der Schwefelarbeiter angewendet und führten zu Lohnkürzungen von zwanzig bis dreißig Prozent. Der achtprozentige Lohnabzug wurde auch für die Hungerlöhne der Schwefelarbeiter eingeführt. Und das ist es, was die Kinder wieder in die Schwefelgruben getrieben hat! Denn in der Kriegs- und Nachkriegszeit war die Kinderarbeit bereits stark zurückgegangen und teilweise ganz verschwunden. Erst unter dem Faschismus hat sie den jetzigen großen Umfang wieder erreicht.
Ich habe verschiedene erwachsene Arbeiter gefragt, warum sie denn ihre Kinder in die Bergwerke gehen lassen. „Aber was wollen Sie denn? Sollen wir vielleicht verhungern? Von den Löhnen, die wir Erwachsenen bekommen, können doch unsere Familien nicht existieren. Das geht ja schon fast für die Mieten drauf. Wenn unsre Kinder nicht mitarbeiten, so können wir ganz einpacken. Und andere Bedingungen zu erkämpfen ist unmöglich. Jede Bewegung wird ja sofort unterdrückt. Wir sind doch einfach ausgeliefert."
Und die faschistischen Arbeitsinspektoren, die nach den bestehenden Gesetzen verpflichtet sind, die Kinderarbeit zu verhindern, blicken durch die Finger. Es gibt natürlich gar keine Kinderarbeit! Die Kinder sind alle über fünfzehn Jahre alt. Auch der kleinste Knirps, den man fragt, gibt lächelnd ein Alter über fünfzehn Jahren an. Einer, der knapp vierzehn haben mochte, gab mir auf meine Frage nach seinem Alter sogar stolz die Antwort: neunzehn Jahre. Der Unternehmer selbst erklärte mir das Geheimnis:
„Der da ist vor vier Jahren bei mir eingetreten. Damals war er natürlich ,fünfzehn', jetzt ist er inzwischen ebenso natürlich -,neunzehn' geworden."
Die Eltern schicken ihre Kinder mit gefälschten Dokumenten in die Grube. Jedermann weiß das. Der Unternehmer zuckte die Achseln.
„Soll ich jedes Dokument nachprüfen?"
Vor zwei Jahren war der Arbeitsinspektor zum letzten Mal in dieser Grube. Er hat sich selbst davon überzeugt, dass in ihr keine Kinder beschäftigt werden, als er oben im Büro die Arbeitsdokumente durchblätterte. Auf den mit Beil und Rutenbündeln gezierten Ausweisen stand es doch schwarz auf weiß geschrieben! Wozu erst in die Grube hinuntersteigen, wenn Dokumente vorliegen? Kann ein Dokument mit dem heiligen Symbol der faschistischen Unterdrückung lügen?
Wenn der Faschismus nichts anderes auf dem Gewissen hätte, als die Zustände, die heute wieder in den Schwefelgruben Siziliens herrschen, so würde das genügen, ihn vor dem Urteil der ganzen zivilisierten Menschheit zu richten.

 

DIE SO GENANNTEN GEWERKSCHAFTEN

Schon wiederholt war bisher die Rede von den „Gewerkschaften", die die Faschisten aufgebaut haben und die angeblich ein wichtiger Bestandteil ihres Staatssystems sind. Wir haben schon gesehen, was Arbeiter und Bauern über die Gewerkschaften denken. Sie haben von ihnen nichts zu erwarten, es sei denn die Unterstützung der Unternehmer bei der Verschärfung der Ausbeutungspolitik. Aber was sind diese Gewerkschaften eigentlich? Wie sind sie aufgebaut, und womit beschäftigen sie sich? „Wissen Sie, unser Gewerkschaftssystem ist eine wundervolle Sache. Es ist so vollkommen durchdacht und so großartig konstruiert. Nur, leider - das Volk versteht es nicht!" Der mir das sagte, war ein junger Gewerkschaftsekretär in Palermo. Sohn eines Professors aus Norditalien, befand er sich hier im Süden als höherer Funktionär. Es war einer der vielen Fälle, wo ich feststellen konnte, dass die leitenden Körperschaften des Südens durch Funktionäre aus dem Norden besetzt sind. Das gehört zum System. Der agrarische und zum Teil noch sehr rückständige Süden ist für den industriellen Norden - Kolonie. Der alte Gegensatz zwischen Nord und Süd, der seit jeher eines der großen Probleme der italienischen Politik darstellte, ist vom Faschismus höchst einfach „gelöst" worden: Die „Verbesserung der Lage des Südens" geschieht in der Form der Unterwerfung und Durchdringung der Wirtschaft in den südlichen Provinzen und auf den Inseln durch das norditalienische Finanzkapital. Ein ganzes Heer von faschistischen Beamten und Halbbeamten aus dem Norden sind die Träger dieser Politik. Mein Gewährsmann gehörte zu dieser Schicht. In Stunden gemütlichen Beisammenseins machten er und seine Freunde gar kein Hehl daraus, dass sie sich hier im Süden wie in einer Kolonie fühlten. „Die Leute hier sind ja wie die Neger", sagten sie und
ergingen sich in süßen Erinnerungen an ihre schönen norditalienischen Städte.
„Das Volk versteht sie nicht", diese „Gewerkschaften", die sich die Professorensöhne so herrlich und harmonisch ausgedacht haben. Und es hat seinen Grund, wenn das Volk sie nicht versteht!
Schon ganz allgemein betrachtet sind die faschistischen Gewerkschaften ein phantastisches Gebilde.
Sie wurden tot geboren. Ihre Geburtsurkunde ist das Gesetz vom 3. April 1926 über die „rechtliche Disziplinierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen". Die alten Klassengewerkschaften der Arbeiter waren längst zerstört. Sie hatten sich aufgelöst, teils durch die faschistischen Strafexpeditionen mit Feuer und Schwert und durch zwangsweise Absetzung und Ermordung ihrer Führer, teils dadurch, dass die sozialdemokratischen Führer sie Hals über Kopf im Stich ließen, kampflos das Feld räumten und sich aus dem Staube machten. Das Gesetz vom 3. April 1926 gab ihnen offiziell den Todesstoß. Es führte die einheitliche faschistische Zwangsorganisation ein. Nur eine einzige Vereinigung von „Arbeitnehmern" wurde anerkannt, die faschistische. Auf dem Papier wurde ihr die Anerkennung zugesprochen, auch wenn sie nur ein Zehntel der Arbeiter des betreffenden Berufszweiges umfasste. Tatsächlich wurde auch diese Bedingung nirgends beachtet: Jedes von der örtlichen Parteiorganisation ernannte Gewerkschaftssekretariat wurde ohne weiteres legalisiert. Und dieser bürokratische Apparat erhielt vom Gesetz das Recht, von allen „Arbeitnehmern", auch wenn sie der Organisation überhaupt nicht angehören, einen Beitrag zu erheben. Der entsprechende Betrag wird einfach durch den „Arbeitgeber" allwöchentlich vom Lohn abgezogen! Auf jeder Lohntüte kann man diese Abzüge finden. Dafür ist dann aber diese Gewerkschaft allein berechtigt, im Namen aller Arbeiter zu verhandeln. Sie tut es, ohne auch nur irgendwie selbst diejenigen Arbeiter zu befragen, die ihr Mitgliedsbuch besitzen. Denn es gibt gar keine Versammlungen. Wozu wären sie auch nötig? Die Funktionäre werden ja auch so nicht gewählt, sondern von der jeweils höheren Instanz ernannt. Nach diesem Prinzip wurde eine große, alle Branchen umfassende Organisation aufgebaut: eine köstliche Futterkrippe für Tausende von erwerbslosen Faschisten, die hier „Lebensstellungen" auf Kosten der den Arbeitern zwangsweise abgezogenen Beiträge erhielten. So entstand die faschistische Gewerkschaftskonföderation mit dem Sekretär Rossoni (einem ehemaligen Syndikalisten) an der Spitze.
Und sonderbar: Auch diese Karikatur auf eine Arbeiterorganisation wurde gefährlich. Irgendetwas musste dieser Apparat doch tun. Und schon diese bescheidene, nur zum Schein und mit aller Demagogie durchgeführte „Tätigkeit zum Schutz der wirtschaftlichen und moralischen Interessen und zum Zwecke der Wohlfahrt und Bildung der Arbeiter" wurde für den Faschismus untragbar. Klasseninteressen begannen sichtbar zu werden. Zur Tür hinausgejagt, kam der Klassenkampf zum Fenster wieder herein. Das Ergebnis war, dass man die Gewerkschaftsföderation auflöste, Herrn Rossoni auf ein anderes Pöstchen abschob und die einzelnen Gewerkschaftsorganisationen in dem Labyrinth des „Korporativsystems" begrub.
Aber man ging noch weiter: Man nahm diesen Scheingewerkschaften auch noch die Funktionen der „Wohlfahrt" und „Bildung". Für beide Tätigkeitszweige wurden neue besondere Organisationen geschaffen, die „Casse mutue" (Kassen der gegenseitigen Hilfe) und die „Dopo-Lavoro"-Organisation. Man schlug dabei zwei Fliegen mit einer Klappe: den Gewerkschaften wurde das Tätigkeitsfeld noch weiter verengt, und zugleich wurden Tausende von neuen Posten zur Unterbringung faschistischer Funktionäre geschaffen.
Was blieb eigentlich für die Gewerkschaften übrig? Ich bin darüber von höchst zuständiger Seite genau informiert worden und habe auch ein Stückchen praktischer Gewerkschaftsarbeit mit eigenen Augen und Ohren kennengelernt. Auf dem Corso Ferraris in Turin steht ein großes, mehrstöckiges Haus. Hier bin ich in den Jahren 1920/21 oft ein und aus gegangen. Damals war das etwas schmuddlige Gebäude ständig von zahlreichen Gruppen diskutierender und scherzender Arbeiter umgeben. In den vielen Zimmern herrschte reges Leben. Proleten gingen ein und aus. In allen Zimmern und Sälen fanden Sitzungen statt, wurden Besprechungen abgehalten und Auskünfte erteilt. Das Haus beherbergte damals die „Arbeitskammer" von Turin, die Hochburg der stark entwickelten und kämpferischen Turiner Arbeiterbewegung. Ich habe dasselbe Haus einige Jahre später anders wiedergesehen: Die eingeschlagenen Fenster trugen schwarze Brandspuren. Das Dach fehlte. Als klägliche Ruine ragte die alte Festung des Sozialismus in den blauen Himmel. Die faschistischen Banden hatten gründliche Arbeit getan!
Und nun war ich wieder hier. Wiederaufgebaut und frisch angestrichen lag das Gebäude still und verlassen in der breiten Straße. Am Tore zwei Faschisten in Milizuniform. Auf den Treppen und Korridoren dieselbe Verlassenheit wie draußen. Durch eine Kette von Sekretären, Untersekretären und Wachtposten, deren römischen Gruß ich mit saurer Miene mit ausgestrecktem Arm beantwortete, kam ich endlich zum Herrn Generalsekretär der Industriegewerkschaften. Aber der Herr hatte keine Zeit für mich. Er war in dem pompös ausgestatteten Saal, der ihm als Kabinett diente, bei einer Unterredung mit zwei wohlgenährten besseren Herren beschäftigt. Ich musste mich mit dem Vizepräsidenten Herrn Scolari begnügen. Auch er sah den Arbeitersekretären wenig ähnlich, die ich in früheren Jahren hier getroffen hatte. Mich interessierte es zu erfahren, womit sich alle diese Leute, die da mit ihren Sekretären, Sekretärinnen und Maschinistinnen in den vielen Zimmern herumsaßen, eigentlich beschäftigten. Ich wurde bald belehrt, wie umfangreich und verantwortungsvoll ihre Arbeit ist! Ja, sie haben viel zu tun, diese Sekretäre, denn sie sind ja - die ganze Organisation! Niemand nimmt ihnen die Arbeit ab. In den vielen Hunderten von Fabriken, die es in Stadt und Provinz Turin gibt, bestehen keinerlei Gewerkschaftsvertretungen.
„Vertrauensleute in den Betrieben haben wir nicht. Sie sind vom Gesetz nicht erlaubt. Wir haben dort so etwas wie ,Korrespondenten', die uns über die Vorgänge auf dem Laufenden halten müssen. Aber die sollen auch abgeschafft werden. Vielleicht werden sie durch eine Art von Experten ersetzt, wenn das Gesetz sie anerkennt."
„Und was macht der Arbeiter, der etwas von seiner Gewerkschaft will?"
„Nun, er kommt eben zu uns. Dazu sind wir ja da. Wir nehmen seine Beschwerden entgegen. Sehen Sie", erklärt mir Herr Scolari, indem er einen Pack Papier aus seinem Schreibtisch nimmt, „hier haben wir Formulare. Wenn ein Arbeiter zu uns kommt, wird gleich ein Protokoll aufgenommen. Ohne das geht es nicht."
Ich sehe mir die Formulare an. Ja, das ist alles wunderschön:
„Ich, der Unterzeichnete...... aus......, geboren in......,
...Jahre alt, wohnhaft in......, Straße......Nummer ... erkläre im Sinn des Artikels 4 des Königlichen Dekrets vom
26. 2.1928 Nr. 471, dass der Unternehmer ...... Firma......"
Und so geht es weiter und weiter. Da fehlt nichts, und am Ende legt der Unterzeichnete (der „Denunziant" heißt es auf italienisch) alle seine Rechte und Ansprüche in die Hände der Gewerkschaft; „respektvoll unterzeichnet......", wie es so schön am
Ende lautet.
Man kann sich recht vorstellen, mit welchem Gefühl brüderlichen Vertrauens der „respektvolle Denunziant" sein Schicksal in die Hände des wohlerzogenen, rosigen Herrn Sekretärs legt, der da hinter dem großen geschnitzten Eichentisch ihm gegenüber thront! Wie leicht und einfach das alles ist: Aus der Fabrik den Weg zu finden zu diesem hohen Herrn, der da nichts anderes tut, als auf den respektvollen Besuch seines Klienten zu warten; und wie freudig er sich als „Denunziant" mit Haut und Haar, Straße und Hausnummer „seiner" Gewerkschaft ausliefert. Aber was wird denn nun eigentlich hier verhandelt? Womit kommen die Arbeiter?
Die Möglichkeiten sind von vornherein weise eingeschränkt. Ein Protokoll wird nur aufgenommen, wenn es sich um irgendeine Art von Verletzung der von der Gewerkschaft (wie wir wissen ohne Zutun der Arbeiter) abgeschlossenen Verträge handelt. Im Monat März beschäftigte sich das Provinzsekretariat von Turin, unter dessen „Leitung" über 100000 Industriearbeiter stehen, mit - 675 Fällen. Davon waren 580 Einzelfälle. Und fast die Hälfte von ihnen betraf wiederum die Frage der Anerkennung des Dienstalters und die Einhaltung der Kündigungsfrist. Es wurden Summen von 80,100,300 Lire gefordert. Sieht man die Statistiken noch genauer an, so findet man, dass die Mehrzahl der „Arbeitnehmer" aus der Industrie - Angestellte waren!
Und wie wird nun ein solcher Fall behandelt? Ist die „Denunziation" erfolgt, so kann der Herr Gewerkschaftssekretär nicht etwa mit der Firma verhandeln. Wozu gäbe es sonst „Arbeitgeberverbände", in denen wiederum Tausende von Faschisten Posten und Pöstchen innehaben? Die müssen doch auch etwas zu tun bekommen. Der Gewerkschaftssekretär wendet sich also zunächst einmal an den zuständigen Verbandssekretär. Und dann geht es los. Dann werden neue Akten angelegt, Forderungen formuliert, auf beiden Seiten Advokaten herangezogen, Gerichte treten in Tätigkeit... Ja, dann gibt es zu tun. Ein ganzer Schwarm von Schreibern, Advokaten, Vertretern, Richtern und weiß Gott, was noch alles, wird in Bewegung gesetzt.
Mit überlegener Miene breitet Herr Scolari alle Einzelheiten dieses großartigen Verfahrens vor mir aus. Und dann soll noch jemand kommen und den Faschismus beschuldigen, er tue nichts für die Arbeiter! Die sechshundert Mann, die den weiten Weg bis zum Provinzsekretär gefunden haben, ernähren mit ihren Denunziationen ein ganzes Heer von faschistischen Angestellten. Da sage noch einer, der Faschismus bekämpfe nicht die Arbeitslosigkeit!
Aber auch um die Löhne kümmert sich die Gewerkschaft. Die Rahmenverträge werden weit ab in Rom geschlossen, wo die höchsten Funktionäre der beiden Seiten schnell eine gemeinsame Sprache finden. Die Punkte Lohn und Arbeitszeit bleiben dabei offen. Sie zu „konkretisieren" ist Aufgabe der lokalen Organisation. Und das geschieht auf folgende sinnige Weise: Die Unternehmer teilen - ich gebe hier, wie überall, wieder, was Herr Scolari mir erzählt hat, und der muss es schließlich wissen - die Mindestlöhne mit, die sie tatsächlich ihren Arbeitern zahlen. Diese Angaben werden dann von den Gewerkschaften als Grundlage für die in den Vertrag aufzunehmenden Minimallöhne genommen, die das Existenzminimum ausdrücken. Ein Unterschied zwischen Existenzminimum und tatsächlich gezahlten Mindestlöhnen kann es ja nicht geben, meint Herr Scolari, denn die Unternehmer können doch nicht weniger zahlen als soviel, dass die Arbeiter davon leben können. „Allerdings bemühen sich die Unternehmer dabei, niedrigere
Löhne anzugeben, als sie wirklich zahlen. Aber das ist schwer nachzuprüfen. Wir haben ja keine Vertretungen in den Fabriken. Eine Nachprüfung kann nur erfolgen durch die Inspektoren des Ministeriums der Korporationen."
Man kann sich vorstellen, wie oft solche Nachprüfungen erfolgen und was dabei aus den „Minimallöhnen" wird. Aber das alles war noch Theorie. Erst zwei Tage später sollte ich ein Stück Praxis erleben.
Es war in Vercelli, der Provinzhauptstadt, die zwischen Turin und Mailand in der Po-Ebene liegt. Wieder besuchte ich den Provinzsekretär der Industriegewerkschaften. Wieder führte man mich durch Korridore und große Säle, bis wir in dem „Kabinett" des Sekretärs, Herrn Uitthemperghe, anlangten. In einer Ecke des großen, mit spiegelndem Parkett ausgelegten Saales saß hinter seinem mächtigen Schreibtisch der Herr Sekretär. Auch er schien eine Fabrik nur vom Hörensagen zu kennen. Aber im Knopfloch des gutgeschnittenen schwarzen Anzuges prangte das faschistische Abzeichen. Und das verleiht ja bekanntlich Allwissenheit.
Herr Uitthemperghe ist noch mehr beschäftigt als sein Turiner Kollege. Er hat wenig Zeit für mich und drückt mir zunächst einen großen schriftlichen Bericht über seine Gewerkschaft in die Hand, aus dem ich alles Nötige entnehmen könne. Während ich zu lesen beginne, hat er wichtige Telefongespräche zu erledigen. Er erkundigt sich nach der Gesundheit der Frau eines unbekannten Mannes am anderen Ende der Strippe, verabredet sich zum Mittagessen mit einem Herrn Advokaten - kurz, er erledigt die dringendsten Gewerkschaftsarbeiten. Diese Beschäftigung dauert an, als man ihm einen Arbeiter meldet. Er braucht eine Weile, bis er Zeit findet, den Besucher eintreten zu lassen.
Ich bin sehr mit der Lektüre meines Materials beschäftigt und achte natürlich nicht auf den Besuch, der ja auch nicht für mich bestimmt ist.
In der Tür am anderen Ende des Saals erscheint eine abgehärmte Gestalt, die schon durch ihr Äußeres die enge Verbundenheit des Mannes mit der Gewerkschaft bezeugt, zu deren Sekretär er kommt. Schüchtern, die Mütze in den Händen drehend, macht der Besucher an der Tür halt. Er sucht mit den Augen „seinen Vertreter".
„Komm nur, komm nur näher", lädt ihn Herr Uitthemperghe leutselig ein.
Langsam nähert sich der Arbeiter. Der Weg über den glänzenden Parkettboden ist weit. Schließlich steht er neben mir vor dem Schreibtisch, immer noch die Mütze in den Händen drehend. „Nur vorwärts, keine Angst", fährt der Herr Sekretär fort, einen Seitenblick auf mich werfend. „So, nun gib mir die Hand! Hier bei uns gibt man sich die Hand!"
Zögernd streckt der Besucher dem feinen Herrn die nicht gerade saubere Hand hin. Aber der Herr fasst sie und schüttelt sie kräftig.
„Nun, mein Lieber, wie steht's, wie geht's?" „Schlecht, schlecht, Herr ..."
„Uitthemperghe, Kamerad Uitthemperghe! - Was führt dich her?"
Eine kleine Pause. Der Arbeiter blickt ein paarmal auf und nieder. Er sucht nach Worten. Aber dann geht es mit einem mal los, in ununterbrochenem Redeschwall:
Seit fünf Monaten ist er arbeitslos. Schon lange bekommt er nichts mehr. Eine Frau und drei Kinder. In der Stadt, auf dem Lande keine Verwandten, keine Bekannten, nichts. Und jetzt, jetzt wird er aus der Wohnung geschmissen. Seit einem Monat hat er keine Miete mehr bezahlt. Der Hausherr weiß, dass von ihm nichts zu holen ist. Heute soll schon alles auf die Straße geschafft werden. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll." „Ja, wo bist du denn eigentlich her?"
„Ich? Aus Biella. Ich habe dort in der Fabrik N. als Wollweber gearbeitet. Bis vor fünf Monaten. Ich habe das schon gesagt: dann bin ich entlassen worden ..."
„Aus Biella? Ja, aber dann musst du dich doch nicht hierher wenden! Hier bist du bei der falschen Adresse. Du hättest erst einmal in Biella ein Protokoll aufnehmen lassen müssen ..." „Das habe ich ja, das heißt, ich war dort schon überall in Biella, die ganzen letzten Tage. Aber da war doch nie jemand da." „Bist du denn beim Kameraden Lazzari gewesen?" „Na ja, aber der ist doch eben nie zu finden."
„Nun, das ist schon möglich. Der hat eben schrecklich viel zu tun. Er hat nicht bloß Biella, sondern auch noch Graglia und Cossato und Mongrando und ..."
„Was kann ich denn dafür? Ich kann doch nicht warten." „Ja, da hilft nichts. An den musst du dich zuerst wenden. Bist umsonst mit der Eisenbahn hergekommen. Ich werde dir hier ein Briefchen an ihn schreiben ..."
„Was soll ich denn mit dem Briefchen machen? Heute soll ich schon 'rausgeworfen werden. Vielleicht steht meine Frau jetzt schon mit den Möbeln auf der Straße. Ich weiß nicht mehr - ich tu irgendwas Schreckliches! So kann ich nicht weiter ..." „Nur die Ruhe, mein Lieber, nur die Ruhe. So schlimm wird es ja nicht gleich sein. Nimm den Zettel, geh zu Lazzari, und er wird schon sehen, wird dir wieder Arbeit verschaffen . . ." „Arbeit? Arbeit? Bei uns werden immer nur noch mehr Leute entlassen."
„Bist du denn nicht im Vermittlungsbüro eingetragen?" „Ja, das sind wir alle. Ich bin schon seit fünf Monaten da. Es werden immer mehr."
„Da heißt's eben warten! Wir werden schon etwas finden. Du wirst sehen, wir verlassen dich nicht! So, und nun fahre schön zurück."
Zögernd macht der Arbeiter kehrt. Noch einmal wendet er sich zurück.
„Aber das sage ich Ihnen: Ich weiß nicht, was ich tue! Und wenn ich irgend etwas anstelle" - er machte eine bezeichnende Geste mit der Hand, die die Mütze hält - „ich hab's Ihnen gesagt!" „Na, so schlimm wird's schon nicht werden, nur mit der Ruhe, mein Lieber, addio."
Uitthemperghe war während dieser Szene aufgestanden. Jetzt
nimmt er gemütlich Platz; er zuckt die Schultern.
Aber ich bin noch nicht mit dem Studium meines Materials fertig,
aus dem ich vorhin so schön - das ganze Gespräch aufgezeichnet
habe!
Ich erfuhr nachher noch, dass die Stimmung bei den Arbeitern in der Provinz, die zu siebzig Prozent in den Gewerkschaften organisiert seien, „ganz ausgezeichnet und diszipliniert" ist. Ja, weiß Gott, das habe ich gesehen. Ich konnte es mir schon denken, als mir am Tage vor die Arbeitslosen in Biella, die dort überall auf den Plätzen herumstehen, ihr Herz ausgeschüttet hatten.
Jetzt hatte ich endgültig die Herrschaft und Harmonie dieses Systems verstanden - aber auch warum das Volk sie so ganz und gar nicht versteht!

 

FASCHISTISCHE KOLONIALPOLITIK

In dem Maße, wie sich seine Industrialisierung entwickelte, ist Italien zu einem modernen imperialistischen Lande geworden. Die Tendenz zur „Verlandwirtschaftlichung", die wir als ein wichtiges Kennzeichen der faschistischen Politik kennengelernt haben, hat daran nichts geändert. Wir haben ja gesehen, dass auch der „Verlandwirtschaftlichung" das Bestreben zugrunde liegt, das Finanzkapital zu stärken. Als Platzhalter und „Exekutivkomitee" des Finanzkapitals musste die faschistische Regierung die imperialistischen Tendenzen ihrer Vorgänger nicht nur weiterführen, sondern noch verstärken. Wenn man die faschistische Politik und ihren Klasseninhalt untersuchen will, muss man die italienischen Kolonien in den Kreis der Betrachtungen mit einbeziehen.
Mir bot sich eine Gelegenheit hierzu durch den Besuch der Kolonie Tripolis. Es war in dieser Zeit besonders leicht, dorthin zu kommen, weil gerade die tripolitanische Messe stattfand, aus deren Anlass besondere Erleichterungen für den Besuch der nordafrikanischen Kolonie gewährt werden. Der Besuch erwies sich bald als ungewöhnlich lohnend, denn in den Kolonien treten die Züge der faschistischen Politik in vieler Hinsicht besonders klar und deutlich hervor. Der Faschismus rühmt sich, „ganz neue" Wege der Kolonialpolitik eingeschlagen zu haben. Und das ist richtig: Hinsichtlich der Methoden der Besitzergreifung des Landes, seiner militärischen Beherrschung und seiner Verwaltung hat die faschistische Regierung tatsächlich Wege beschritten, die von denen ihrer Vorgänger wesentlich verschieden sind. Davon konnte ich mich bei meinem Besuch in Tripolis sehr schnell überzeugen. Kolonien haben für das „Mutterland", das heißt für die herrschenden kapitalistischen Kreise des „Mutterlandes", nur dann einen
Sinn, wenn man in ihnen Geschäfte machen kann. Die ersten und größten Geschäfte, die in einer Kolonie zu machen sind, liegen auf dem Lande. Das gilt auch von Tripolis. Aber da gibt es eine Schwierigkeit: Das Land gehört dort seit Jahrhunderten den Beduinen. Wie sollen die neuen Herren von dem Land Besitz nehmen, ohne sich gleich als Kolonialräuber zu entlarven? Bei der Lösung dieses Problems hat der Faschismus eine meisterhafte Probe seiner Demagogie gegeben.
Am dritten Tage meiner Anwesenheit in Tripolis beschloss ich, eine der Oasen aufzusuchen, um die Landwirtschaft der Kolonie kennenzulernen.
Gegen sechs Uhr morgens kam ich in der Oase Tadjurah an. Sie besteht aus einem fast fünf Kilometer langen Palmenhain, in dem weitverstreut die kuppelgeschmückten weißen Steinhäuser der Marabus, der reichen Leute und Geistlichen, die Lehmwohnungen der beduinischen Bauern und die Strohhütten der Landarbeiter liegen. Hohe Lehmmauern säumen die Wege ein. Hinter ihnen sieht man das satte Grün der Felder, die mit Puffbohnen, Erbsen, Gerste, Tomaten und Kartoffeln bestellt sind. Dieses üppige Grün wirkt wie ein Wunder gegenüber dem Sand, durch den man watet.
Die Luft ist erfüllt von einem eigenartigen Gezwitscher, das von allen Seiten ertönt. Aber es sind nicht Vögel, die man da hört, sondern die Musik der zahllosen Ziehbrunnen, deren treppenförmige, weiße Mauern überall zwischen den Feldern leuchten. In der Kühle der ersten Morgenstunden schöpfen hier die Beduinen das Grundwasser herauf, um es dann dem durstigen Boden zuzuleiten. Das muss in aller Frühe geschehen, denn gegen Mittag wird auch jetzt im März schon die Hitze so arg, dass kein lebendes Wesen sich lange im Freien aufhalten kann. Die Musik begleitet mich auf Schritt und Tritt. Überall quietschen die Räder der Ziehbrunnen, ertönen die Rufe der Beduinen, die ihre Büffel antreiben, und ergießt sich plätschernd das Wasser aus dem Ledersack, der aus der kühlen Tiefe heraufsteigt, in die Sammelbecken. Auf allen Feldern sind Beduinen und Neger fleißig an der Arbeit. Während die einen das kostbare Wasser heraufholen, arbeiten die andern auf dem Acker, schütten kleine Erdwälle auf, die das Land in quadratmetergroße Vierecke einteilen, öffnen und schließen die kleinen Tore, die von den Zuleitungskanälen zu diesen Quadraten führen und lockern mit Hacke und Spaten den Boden auf. Es ist eine schwere und mühselige Arbeit. Aber sie lohnt sich. Das Land gibt die aufgewandte Mühe in Gestalt von kräftigen und gutstehenden Pflanzen zurück.
Anders ist es am Rande der Oase, wo die Palmen aufhören und die Sonne auch morgens schon unbarmherzig vom Himmel herunter strahlt. Hier sehen Gerste und Tomaten recht kümmerlich aus. Hier ist mit Ziehbrunnen, Hacke und Spaten schwer vorwärtszukommen. Und noch weiter draußen, wo die Wanderdünen beginnen, sind die Aussichten, mit den ärmlichen und primitiven Produktionsmitteln der Beduinen etwas aus dem Boden herauszuholen, sehr gering.
Aber wo sind die Italiener? Was können sie mit einer Kolonie anfangen, deren Land den Eingeborenen gehört? Sie können nichts damit anfangen: Sie müssen sich dieses Land aneignen. Wie kann das geschehen?
Nun, man kann es einfach wegnehmen. Und das tut man auch. Ein Gesetz vom 11. 4. 1923 verfügt die Beschlagnahme der Güter aller derjenigen Eingeborenen, die sich gegen die italienische Herrschaft auflehnen. Gerade an dem Tage, an dem ich in Tripolis eintraf, wurde ein Dekret über die Konfiszierung des gesamten Eigentums des Stammes der Senussi veröffentlicht. Dieser Stamm hatte die Unverschämtheit gehabt, den alten Besitz seiner Väter gegen die Italiener zu verteidigen. Der letzte Zufluchtsort der Senussi, die Oase Kufra, war im Februar 1931 durch die italienischen Truppen erobert worden.
Über die näheren Umstände dieser Eroberung habe ich später in der Stadt ungeheuerliche Dinge erfahren. Durch einen merkwürdigen Zufall gelang es mir, Eingang in das Haus eines reichen, den Italienern feindlich gesinnten Beduinen zu bekommen. Während der Dampferfahrt hatte ich einen deutschen Landsmann kennengelernt, der in Gestalt eines einfachen, beinah primitiven Touristen zum vierten- oder fünften Mal die Kolonie Tripolis aufsuchte. Was er dort eigentlich machte, weiß ich nicht. Aber er hatte gute Beziehungen in der Stadt, und ich sagte natürlich nicht nein, als er mich einlud, ihn zu einem seiner beduinischen Bekannten zu begleiten. Die Häuser in dem alten Beduinenviertel sind sonst für den Fremden unzugänglich. Die malerischen Gassen sind mit Ausnahme des Judenviertels von hohen, fensterlosen Mauern eingefasst. Nur selten kann der gewöhnliche Reisende einmal einen Blick durch eine zufällig sich öffnende Tür in das Innere dieser Häuser werfen. Mir war es, wie gesagt, vergönnt, ein solches Haus zu betreten. Von der Straße aus kann man nicht ahnen, was für einen Reichtum die weißen, kahlen Mauern verbergen. Wie die Häuser der alten Römer sind auch die Häuser der Beduinen ganz nach innen gewendet. Um mehrere, mit Wasserbassins, Bäumen und Blumen ausgestattete Höfe oder Gärten herum liegen die Zimmer, deren Eingänge unter Bogengängen verschwinden.
Die Einführung durch meinen Reisebekannten genügte, um meinen Gastwirt bei einer Schale türkischen Kaffees schnell zum Sprechen zu bringen. Und ich erfuhr folgendes: Bei der Eroberung der Oase Kufra im Februar, von der die Öffentlichkeit nur flüchtig durch die offiziellen italienischen Siegesberichte Kenntnis erhalten und darüber hinaus nur erfahren hat, dass in der eroberten Siedlung Streichholzschachteln - sowjetrussischer Herkunft - gefunden wurden, sind die Italiener außerordentlich grausam vorgegangen. Das ganze Gebiet wurde gebrandschatzt. Frauen und Mädchen, auch ganz jugendlichen Alters, vergewaltigt, und alte Leute, die um Verzeihung und um Einstellung aller dieser Schandtaten bitten wollten, ermordet. Mein Gastgeber nannte die Zahl von 50000 Eingeborenen, die dabei zugrunde gegangen sein sollen. Die große Moschee der Senussi wurde in ein Kasino verwandelt.
Er erzählte außerdem ähnliche Dinge aus der benachbarten, östlich von Tripolis liegenden Kolonie Cyrenaika. Dort haben die italienischen Behörden 80000 Araber mit ihren Familien in die Wüste der Syrte abtransportiert, weil sie angeblich mit den Aufständischen in Beziehung gestanden hätten. Das war aber frei erfunden. Diese Araber waren seit langer Zeit entwaffnet und lebten ganz friedlich als Bauern. Sie mussten zu Rebellen erklärt werden, weil sich die Italiener ihren Landbesitz aneignen wollten.
Aber die „Rebellen" werden immer weniger. Mit Flugzeugen,
Bomben, Panzerwagen und Verbannungen treiben die italienischen Zivilisatoren den unverschämten Beduinen die Lust aus, sich als Herren des Landes zu fühlen, das doch in den Italienern seine einzig wahren neuen Herren erhalten hat. Und diese neuen Herren brauchen nicht Zehntausende, sondern Hunderttausende von Hektaren Land!
Und so fand man einen anderen Ausweg. Die guten Katholiken und Verbündeten des Papstes entdeckten den Koran. In ihm fanden sie eine Sure, die besagt, dass Eigentum nicht nur Recht, sondern Pflicht ist, und dass derjenige, der das ihm von Allah geschenkte Land nicht so bearbeitet, wie es sich gehört, es herzugeben hat. Über dieses: „Wie es sich gehört", gibt es aber verschiedene Meinungen. Die Italiener haben in ihrem Lande große Fabriken, in denen Pumpen, Beton, Lastautos, künstliche Regenanlagen und Düngemittel hergestellt werden. Sie haben landwirtschaftliche Institute, in denen mit großem Geldaufwand alle möglichen Methoden des Kampfes gegen die Dürre studiert werden. Sie haben Großbanken, die sich nichts sehnlicher wünschen, als diese Segnungen der Kultur zu kreditieren. Und so können sie den Beduinen mit Recht sagen: Ihr bearbeitet das Land nicht so, wie es sich gehört! Damit verliert ihr das Recht auf seinen Besitz. Wenn ihr statt Pumpen nur Ziehbrunnen, statt Beton nur Lehm und statt Traktoren nur Büffel habt - umso schlimmer für euch!
So geht das Land in Tripolis im Namen des Korans an die neuen, italienischen Herren über.
Rund eine Million Morgen haben sich die italienischen Herren auf diese Weise ganz gesetzlich angeeignet. Und das Land bleibt nicht liegen. Es wird an italienische Kolonisten vergeben. Da kommt jeder auf seine Kosten, der sich um die Kolonien verdient gemacht hat. Ich hatte Gelegenheit, auf der Messe die Liste der Kolonisatoren zu studieren. Da ist der General Graziani, der Eroberer von Tripolis, der jetzt in der Cyrenaika sein Schreckensregiment ausübt. Er hat in Garian eine Konzession von 731 Hektar. Der frühere Gouverneur von Tripolis, Graf Volpi (derselbe, der als einer der Häupter der Faschisten sich 1924 mit dem Blute des Sozialisten Matteotti befleckt hat und, als die Sache aufkam, nach dem Süden abgeschoben wurde), „bebaut" 1000 Hektar in
Misurata. Der Ritter des Großkreuzes, Herr Chiavolini, nennt 1200 Hektar sein eigen. So marschieren sie einer nach dem anderen auf, die arbeitsamen bedürftigen Italiener, denen die faschistische Republik in den Kolonien eine neue, menschenwürdige Existenz schafft.
Und diese Existenz ist, weiß Allah, menschenwürdig! Wer seine Befähigung zur Landwirtschaft nachweist, das heißt, mindestens 10000 Lire eigenes Kapital mitbringt, bekommt vom Staate alle möglichen Zuschüsse zur Anlage von Straßen, Brunnen, Gebäuden, Kamelen, Pumphäusern usw. So kommt es, dass man am Rande der Oase plötzlich jenseits der letzten dürren Felder der Eingeborenen auf blühende Gärten trifft, die von Betonkanälen durchzogen sind. An Stelle des Quietschens der Brunnen und des Brüllens der Ochsen hört man das Puffen der Benzinmotoren. In schattigen Eukalyptushainen liegen schmucke, weiße Villen, und die von dem mechanisch gepumpten Wasser genährten Felder strecken sich in breiter Fruchtbarkeit der Wüste entgegen. Kann noch jemand daran zweifeln, wer die einzig rechtmäßigen Besitzer dieses Landes sind? Nur ein ausgemachter Bolschewist kann auf den unerhörten Gedanken kommen, dass man diese Millionen und diese Produktionsmittel auch den beduinischen Besitzern hätte zur Verfügung stellen und dass diese dann das Land ebenso hätten ausnützen können, „wie es sich gehört". Die auf den Koran gegründete Bodenpolitik der Faschisten ist begleitet von einer Verwaltungsreform. Die früheren italienischen Regierungen, die den Koran für ihre Zwecke noch nicht entdeckt hatten, beherrschten das Land mit den auch von anderen imperialistischen Regierungen angewandten Methoden: Sie kauften sich die herrschende Klasse des Landes, die sogenannten Notabeln, durch hohe Geldgeschenke. Die Notabeln übernahmen dafür ihrerseits die Verpflichtung, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Verwandten der Notabeln wurden als „Mudir", „Kadi", „Vizekadi", „Mudirsekretäre" usw. zufriedengestellt. Die ausländischen Beherrscher teilten sich auf diese Weise mit den einheimischen Ausbeutern in die Herrschaft. Die Grundlage dieser Teilung der Herrschaft bildete der Großgrundbesitz der Notabeln.
Nun hat die italienische Regierung die alten Notabeln weitgehend enteignet. Das Land gehört jetzt den Italienern. Die italienischen Großgrundbesitzer und Konzessionäre stellen die Schicht der neuen Notabeln dar. An Stelle von Beduinen sind ebenso viele regierungstreue Faschisten als „Mudir", „Kadi", „Sekretäre" usw. in den Verwaltungsapparat eingestellt worden. In den neuen Konzessionen finden zahlreiche Beduinen, Neger und Juden gegen sechs bis acht Lire Tagelohn Beschäftigung als Landarbeiter. Wozu braucht da die italienische Regierung noch beduinische Notabeln? Stolz erklärt der Gouverneur von Tripolis, Marschall Badoglio:
„Die Regierung tritt auch nicht den geringsten Teil ihrer Rechte an einzelne oder Gruppen ab. Die Regierung befiehlt, und die anderen gehorchen. Die Regierung befiehlt und hat die Macht, ihre Befehle durchzuführen. Sie braucht deshalb (und das ist meine Antwort auf die Klagen der Notabeln) nicht zum Paktieren, Konzessionen machen und anderen speziellen Künsten zu greifen ... So endet eine Art Epidemie; die Methode, das Volk vermittels eines nur zu oft unsauberen Filters zu regieren. An die Stelle der alten Formel ,Weder mit den Häuptlingen noch gegen sie' habe ich eine andere gesetzt: ,Das Wohl der Kollektivität und nicht das der einzelnen direkt zu suchen.' Die Häuptlinge existieren nicht mehr."
Die zahlreichen Faschisten, die in dem so reformierten Verwaltungsapparat viele und fette Posten gefunden haben, sind damit natürlich sehr einverstanden. Und die faschistische Jugend wird zum Hüter und Vorkämpfer dieser neuen Ordnung. Der faschistische Jugendverband gibt in Tripolis eine eigene Zeitung mit dem Titel „Die schwarze Patrouille" heraus. Das ist ein sehr kämpferisches Blatt. Es riskiert gegenüber der Regierung eine scharfe Sprache. Und wofür kämpft es?
In seiner Nummer vom 16. März steht ein Leitartikel, der die Regierung angreift, weil im letzten Jahre - die Regierungszuschüsse zu den Konzessionen nicht voll ausgezahlt worden sind: „Wenn die Dinge so stehen und wenn aus formalen Gründen eine so wertvolle Unterstützung des Landes eingestellt wird, so können wir gewissen Systemen gegenüber nicht schweigen, sondern müssen unsere Meinung sagen ... Wir wollen hoffen, dass man in dieser Hinsicht bald zur Einsicht kommt, und wir werden gern auf diese Frage zurückkommen, da wir wissen, dass wir damit der allernobelsten Sache dienen."
Wirklich, was kann es für diese jungen Herren Faschisten Nobleres geben, als dafür zu sorgen, dass die den hungernden Arbeitern und Bauern Italiens ausgepressten Steuergelder rechtzeitig und ohne Abzug den Herren Generälen, Grafen und sonstigen Konzessionären zugesteckt werden? Die dritte „große Reform" der Kolonialpolitik des Faschismus liegt auf militärischem Gebiet.
Der Faschismus hat den nordafrikanischen Kolonien „Ruhe und Ordnung" gebracht. Gibt es einen besseren Beweis hierfür als den, dass die faschistische Regierung die Zahl der Besatzungstruppen herabgesetzt hat? Mit dieser Behauptung geht sie nämlich besonders gern hausieren. Und sie ist keine faschistische Lügenmeldung, sondern beruht auf Wahrheit. Die Besatzungsarmee ist zahlenmäßig tatsächlich reduziert. Wie das zustande kam, darauf gibt der Militärpavillon Antwort, der eine der Hauptsehenswürdigkeiten der großen Kolonialmesse von Tripolis ist.
Früher unterhielt die Regierung in Tripolis nach altem Muster ein großes Netz von Forts mit starken, hinter Stacheldraht und Gräben sitzenden Garnisonen. Das war eine kostspielige Angelegenheit. Diese Forts sind jetzt zum großen Teil aufgegeben. Statt ihrer wurde - auch das ein herrliches Geschäft für das Finanzkapital - ein ebenso dichtes Netz von erstklassigen Automobilstraßen angelegt. Sie sind dazu bestimmt, die mit modernsten Motorfahrzeugen (Truppentransportwagen, Lastautos mit Gebirgsgeschützen und zwei oder vier MGs, Panzerwagen) ausgerüstete Kolonialarmee schnell an jeden Punkt des Landes bringen zu können, wo die Eingeborenen sich etwa gegen die orthodoxe Anwendung des Korans auflehnen könnten. Ein ausgezeichneter Flugzeugpark ergänzt diese Armee, die nun natürlich mit wenigen Truppen auskommt. In jeder Siedlung sind darüber hinaus verstärkte Gendarmeriestationen eingerichtet (mit einheimischen Polizeimannschaften unter italienischen Offizieren), die dem Gouverneur als Horchposten und Thermometer der Stimmung dienen.
Und alles das ist nicht zum Scherz eingerichtet. Im Militärpavillon der Kolonialausstellung bekommt der Besucher handgreiflich vordemonstriert, worum es sich handelt: kleine, plastische Modelle, wahre Militärpuppenstuben, zeigen uns Szenen, in denen Schützenlinien, gedeckt durch Panzerwagen, gegen Beduinen vorgehen, die hinter Sanddünen ihr Unrecht verteidigen. Reizende Fliegeraufnahmen, die das Herz jedes modernen Photographen erfreuen würden, zeigen den neckischen Effekt, den platzende Flugzeugbomben in der Beduinenstadt Bu-Ngen hervorrufen. Nicht umsonst hat man auf dem letzten großen Flugtag in Rom am Ufer des Tiber ein kleines Araberdorf aufgebaut, um daran das Einschlagen von Fliegerbomben zu demonstrieren. Sicher findet sich auch im Koran eine Sure, die dem Bibelspruch entspricht:
„Aller Segen kommt von oben!"

 

DIE „ELITE"

Die in- und ausländischen Theoretiker des Faschismus stellen die Behauptung auf, dass die Politik der italienischen Regierung, deren Wirkung auf die Lage der werktätigen Massen wir kennengelernt haben, in den Händen einer „Elite" liege, die den einzig wahren Fortschritt des italienischen Volkes im Auge habe. Gemeint ist mit dieser Elite die Faschistische Partei. Was ist nun diese Partei? Wie setzt sie sich zusammen, wer gehört ihr an, und wie ist ihr innerer Mechanismus?
Es genügt, mit offenen Augen durch das Land zu gehen, um zu sehen, wer die Faschisten sind.
Man muss einen Unterschied machen zwischen den offiziellen Leitern der faschistischen Politik, ihren wirklichen Leitern und der Masse der faschistischen Parteimitgliedschaft, in deren Händen die Durchführung der Politik bis hinein ins letzte Dorf liegt. An der Spitze der Partei und in den leitenden Staatsämtern sitzen größtenteils „alte Faschisten" (das heißt Leute, die seit Beginn der faschistischen Bewegung sich in ihr irgendwie hervorgetan haben). In diesen Stellen geht allerdings ein schneller Wechsel vor sich. Die Parteisekretäre, die Mitglieder des „Großen Rates", die Provinzsekretäre usw. wechseln außerordentlich häufig. Hier findet eine ständige „Auslese" statt. Untersucht man, welche Gesichtspunkte diese Auslese bestimmen, so kommt man sehr schnell auf die eigentlichen Leiter der Politik des faschistischen Italiens.
Es ist nicht schwer zu erraten, wer diese eigentlichen Herrscher sind. Der Klasseninhalt der faschistischen Politik deutet auf sie hin: Es sind die Großgrundbesitzer, die Leiter der großen industriellen Verbände und Unternehmungen, und die Herren, in deren Händen sich das Finanzkapital konzentriert. Der Großgrundbesitz befindet sich in Italien heute noch zu einem großen Teil in den Händen der alten Adelsfamilien. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn man Grafen und Barone mit alten, aus der Geschichte Italiens bekannten Adelsnamen überall im Lande an entscheidenden Stellen findet. Geht man die Liste der Gouverneure und der Podestà der großen Städte durch, so stößt man überall auf diese Namen: Die Buoncompagni, Mondrone, Spadafora, Scierina und wie sie alle heißen, sind als von der Regierung eingesetzte Präfekten und Stadtoberhäupter an die Stelle der von den Gemeinden gewählten bürgerlichen Regierungspräsidenten und Bürgermeister getreten. Es ist oft komisch zu sehen, wie die Faschisten diese adligen Herren umwerben. Mussolini, der ehemalige Sozialist und Republikaner, liebt es ganz besonders, sich in Gesellschaft dieser Fürsten und Herzöge zu zeigen. In seinem Privatleben ahmt er ihre Sitten nach. Er bemüht sich krampfhaft, sich immer als hoffähig zu zeigen, und wenn ihm die Revolution dazu Zeit lässt, wird er sicher in absehbarer Zeit zu dem ihm von seinen Anhängern verliehenen Titel des „Duce" (des Herzogs) einen „wirklichen" Fürstentitel verliehen bekommen. Seinen ehemaligen Freund und Mitkämpfer, den Dichter d'Annunzio, hat er ja schon selbst mit dem phantastischen Titel eines „Fürsten vom Schneeberg" auszeichnen lassen.
Aber nicht nur die Leitung der Staats- und Gemeindegeschäfte ist tatsächlich den kapitalistischen Mächtigen des Landes ausgeliefert. Auch bei der Zusammensetzung und Leitung der Partei selbst haben die Großgrundbesitzer, Fabrikanten und Bankiers ihre Hand im Spiele. Sie haben es natürlich nicht nötig, in eigener Person leitende Stellen in der Partei einzunehmen. Sie begnügen sich damit, das Parteiabzeichen zu tragen und im Übrigen dafür zu sorgen, dass ihnen treue und ergebene Leute zu Funktionären der Partei und der übrigen faschistischen Organisationen ernannt werden. Wie das geschieht, ist jüngst bekannt geworden durch den Beschwerdebrief, den ein Turiner Faschist, ein Mann von der „alten Garde" namens Renato Burrini, an Mussolini geschrieben hat. In diesem Brief schildert Burrini, wie der Turiner Großindustrielle, der Baron Mazzonis (es ist derselbe, in dessen einer Fabrik im Jahre 1919 die erste Besetzung eines Betriebes durch die Arbeiter erfolgte!), die Reorganisation der Faschistischen Partei von Turin dazu benutzt hat, um seine Günstlinge an alle Stellen zu bringen, wo er im Interesse seiner Industrie ergebene Diener brauchte. Mazzonis bediente sich hierbei seines Freundes, des Grafen di Robilant, der kurz vorher von der Parteizentrale zum Provinzsekretär für Turin ernannt worden war. Die Reorganisation wurde recht gründlich durchgeführt. Zu Podestà der Kreisstädte Pinerolo und Rivarolo, in deren Gebiet die Betriebe Mazzonis' liegen, wurden ein Turiner Spekulant, Bonade Bottino, und ein ausgemachter Trottel, der Marquis Carlo Scarampi, ernannt. Ebenso wurden die Posten des Leiters des Provinzial-Handwerker-Verbandes, des Leiters der Wirtschaftsabteilung des faschistischen Bezirksausschusses, des Vizepräsidenten der Industrievereinigung, des Kommunalkommissars von Turin usw. mit Kreaturen Mazzonis' besetzt. Der größte Teil dieser neuen Funktionäre gehörte gar nicht oder erst seit jüngster Zeit der Faschistischen Partei an. Zur gleichen Zeit wurden im Auftrage Mazzonis' radikal gestimmte Faschisten der „alten Garde" abgesetzt und zum Teil willkürlich vor Gericht gestellt, verbannt und verurteilt.
Diese Vorgänge in Turin sind typisch für ganz Italien, wenn wir auch selten einen so genauen Einblick in die Methoden der Herrschaft der Kapitalisten innerhalb des faschistischen Staates und der Partei tun können wie auf Grund dieses durch einen Zufall bekannt gewordenen Briefes von Burrini.
Die Faschistische Partei bildete sich im Jahre 1919 auf Grund eines „revolutionären" kleinbürgerlichen Programmes, das unter anderem folgende Punkte enthielt:
die Ausrufung der Republik; Volksherrschaft, ausgeübt durch ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht für beide Geschlechter; Abschaffung aller Adelstitel; Auflösung der industriellen und finanziellen Aktiengesellschaften; Umstellung der Produktion auf genossenschaftlicher Grundlage.
Um dieses Programm hatten sich die Schichten des radikal gestimmten Kleinbürgertums gesammelt, die von den Sozialisten enttäuscht worden waren. Darunter waren viele ehrlich antikapitalistische Elemente. Ein großer Teil der Syndikalisten ging damals zum Faschismus über. Im weiteren Verlauf der Entwicklung aber wurde die Partei, wie wir wissen, zum Sturmbock der reaktionärsten kapitalistischen Interessen. Die radikale Umstellung der Parteipolitik, die damit einsetzte und die zur Aufgabe aller ursprünglichen Programmpunkte führte, rief den Unwillen großer Kreise der unteren Parteimitgliedschaft und auch vieler inzwischen in leitende Stellen aufgestiegener Faschisten hervor. Diese innere Krise der Partei erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1924. Damals begann dann die große Reinigungsaktion. Sie wurde durchgeführt unter Leitung des Parteidirektoriums mit Mussolini an der Spitze, der sich bereits rückhaltlos und unwiderruflich den Adligen, Großgrundbesitzern, Fabrikanten und Bankiers verschrieben hatte.
„1925 waren wir gezwungen, die Faschistische Partei von oben bis unten neu aufzubauen", erklärte Mussolini ganz offen ein Jahr später.
Im Jahre 1926 wurde dann die Sperre für Neuaufnahmen verhängt. Sie diente dazu, den Eintritt von neuen „links"gestimmten Anhängern zu verhindern. Die noch in der Partei befindlichen Anhänger des Programms von 1919 wurden bei den Reinigungen der Partei planmäßig von allen leitenden Stellen entfernt, zum Teil aus der Partei ausgestoßen, vor Gericht gestellt, verbannt und eingekerkert. Ein Teil von ihnen befindet sich im Ausland und arbeitet mit den bürgerlichen, demokratischen und sozialistischen Antifaschisten zusammen. Aber die Neuaufnahmen von Mitgliedern hörten damit durchaus nicht auf. Durch die Ausstellung von „Ehrenkarten", „obligatorischen Karten" usw. wurden zahllose neue Mitglieder aufgenommen, die sich als treue Anhänger des neuen Kurses bewährt hatten. Wer durch einen Beschluss der Parteiinstanzen zum Staats- oder Gemeindefunktionär ernannt wurde, erhielt, wenn er bis dahin nicht Mitglied der Partei war, die „obligatorische" Mitgliedskarte. Großgrundbesitzer, Fabrikanten, Bankiers und Professoren, die die neue kapitalistische Politik der Partei gut durchführten, wurden zu „Ehrenmitgliedern" ernannt.
Diese ganze Reorganisation und Umgruppierung der Kräfte machte aus der faschistischen Parteiorganisation endgültig ein Instrument zur Durchführung der Politik der besitzenden Klasse. Aber sie änderte nichts daran, dass die Partei ihrer Zusammensetzung nach vorwiegend eine Mittelstandspartei blieb. Aus allen
Veröffentlichungen über die soziale Zusammensetzung der Parteimitgliedschaft ergibt sich das mit aller Deutlichkeit. Auf Grund von Angaben, die ungefähr zwei Jahre zurückliegen, war zum Beispiel die Provinzorganisation von Rom folgendermaßen zusammengesetzt: Angestellte der staatlichen und öffentlichen Behörden 34,1 Prozent; Privatangestellte 14 Prozent; freie Berufe 12,1 Prozent; Kaufleute 8,1 Prozent; Industrielle und Unternehmer 3,1 Prozent; Handwerker und qualifizierte Arbeiter 15 Prozent; Bauern und Gärtner 8,1 Prozent; Studenten 5,5 Prozent. Das gleiche Verhältnis zeigen fast alle Provinzorganisationen. Im Süden nimmt der Prozentsatz der Handwerker und freien Berufe noch zu. Im Norden ist der Prozentsatz der Großgrundbesitzer und ihrer Vertreter (Generalpächter usw.) größer. Daraus ergibt sich, dass das Gros der faschistischen Mitgliedschaft von den Schichten des Mittelstandes gestellt wird, die an der faschistischen Herrschaft unmittelbar interessiert sind. Ihnen kommt es darauf an, das faschistische Abzeichen zu tragen und dadurch Autorität zu gewinnen und für die Durchführung ihrer Funktionen als Hüter der kapitalistischen Ordnung freie Hand zu erhalten. Es ist ganz klar, dass diese Mitglieder keinerlei Interesse an politischen Versammlungen, Diskussionen und dergleichen haben. Das Parteiregime, das derartige Diskussionen durch die Unterbindung jedes Organisationslebens ausschließt, ist ihnen nur willkommen. Wenn einzelne Mitglieder hin und wieder einmal den Versuch machen, aus diesem „Sumpf" herauszukommen, um etwas politisches Leben in die Organisation zu bringen, so werden solche Versuche sofort erstickt. In Nummer 6 der Zeitschrift „Critica Fascista" vom 15. März 1931 berichtet ein junger Faschist aus Rovigo über einen derartigen Versuch. Er hat es unternommen, einen „Zirkel" (Arbeitsgemeinschaft) für die Gruppenleiter der faschistischen Jugendorganisation zu gründen.
„Das Ziel dieses Zirkels war", so schreibt er, die „Gruppenleiter der ,Avanguardia' (der Organisation der 14- bis 18 jährigen) zusammenzubringen, damit sie untereinander die Probleme der aktuellen Politik diskutieren könnten." Dem jungen Faschisten schien die Gründung eines solchen Diskussionszirkels notwendig, weil die allgemeinen Versammlungen der „Avanguardia" „immer von den Vorgesetzten geleitet werden, deren Gegenwart die Gruppenleiter unter einen gewissen Druck setzt, der es nicht erlaubt, sich mit der Spontanität und Offenheit auszudrücken, die nötig wäre."
Der Versuch machte den „Vorgesetzten" Angst, und sie verwandelten den Zirkel in eine Veranstaltung für alle „Avanguar-dia"-Mitglieder:
„Aus einer ernsten Angelegenheit, die der Zirkel war, haben die Vorgesetzten einen x-beliebigen Zirkel gemacht, wohin man geht, um die Zeit totzuschlagen, zu klatschen und (warum nicht) zum Karneval zu tanzen." So schließt der enttäuschte junge Faschist seinen Bericht.
Nach alledem wundert man sich nicht, wenn man erfährt, dass die einzelnen faschistischen Organisationen innerlich verfaulen. Hören wir, was die Faschisten selber über diese Vorgänge sagen.
Als ich Anfang März in Rom war, wurde eine große Kampagne zur „Belebung" der römischen Parteiorganisation angesetzt. Diese Kampagne beschränkte sich darauf, dass in den einzelnen Bezirksorganisationen   Mitgliederversammlungen   abgehalten wurden, in denen höhere Parteifunktionäre anfeuernde Referate hielten, ohne dass natürlich über die Referate diskutiert werden durfte. Zur Begründung dieser außerordentlichen Maßnahme schrieb die Zeitung „Il Lavoro Fascista" vom 11. März folgendes: „Seit einiger Zeit ist das Leben des römischen Faschismus in einer Art gewohnheitsmäßigem Quietismus untergegangen, der droht, zur Lethargie zu werden ... Der römische Faschist erneuert seine Mitgliedskarte wie er seinen Waffen- oder Jagdschein, sein Billett des Touring-Clubs oder seinen Führerschein erneuert. Er steckt mechanisch jeden Morgen mit einer beinah automatischen Geste sein Parteiabzeichen ins Knopfloch, als wenn es sich um die Medaille des Flottenvereins oder das Abzeichen einer Sportorganisation handelte ... Aus einer Art Gewohnheit wurden alle oder fast alle faschistischen Pflichten vergessen und aufgegeben und waren drauf und dran, in bedauerlicher Weise aus der Gewohnheit zu kommen." Weiter ist die Rede davon, dass sich in der Parteiorganisation „eine muffige, abgeschlossene Luft bemerkbar mache" und dass das Leben der Partei-Clubs darin bestehe, dass die Mitglieder „hin und wieder hingingen, um Freunde zu treffen, die sie lange nicht gesehen hatten, um schnell einmal Zeitungen und Zeitschriften zu durchfliegen und in der Bibliothek in einem Buch zu blättern." Wenn die faschistische Presse selbst die Zustände schon so schildert, kann man sich denken, wie sie in Wirklichkeit sind. Ich habe öfter Gelegenheit gesucht, mir ein Bild von dem zu     | machen, was die faschistischen Mitglieder eigentlich im Kopfe haben. Ich wählte mir hierzu die kleinen Provinzorganisationen, die ja für die Bildung eines Eindrucks von der Durchschnittsideologie der Faschisten aufschlussreicher sind als die Organisationen in den großen Städten. Die Resultate waren erstaunlich. Ich will eine solche Begegnung kurz schildern: Am 13. März besuchte ich das Städtchen Barra, das zwischen Neapel und dem Vesuv liegt. Barra zählt 20000 Einwohner. Die Bevölkerung verdiente früher ihren  Lebensunterhalt durch Ackerbau. Im Maße, wie sich Neapel in eine Industriestadt verwandelte, verwandelten sich die kleinen Bauern in Industriearbeiter. Die Gärten in der Umgebung von Barra dienen heute nur noch dem Nebenerwerb. Sie sind vernachlässigt und halb verfallen, und die von früher her bestehenden Bewässerungsanlagen sind nicht mehr in Gebrauch.
Auf dem kleinen Marktplatz standen, als ich ankam, wie üblich, Gruppen von faschistischen Nichtstuern herum. Ich begann photographische Aufnahmen des Platzes und der spielenden Kinder zu machen. Das erregte die Neugier der Faschisten. Die Aussicht, aufgenommen zu werden und Gratisabzüge der Bilder zu bekommen, ließ sie sich mit der Bitte um eine Gruppenaufnahme an mich wenden. Ich sagte natürlich nicht nein. Als die Aufnahmen gemacht waren, blieb ich mit ein paar der Faschisten zusammen, und wir machten anschließend einen mehrere Stunden dauernden Spaziergang in die Umgebung.
Die jungen Leute, mit denen ich mich da bekannt machte, waren Abteilungsleiter der Jugendorganisation und der Miliz von Barra. Ihrem Beruf nach waren sie: ein Student der Technischen Hochschule, ein junger Kaufmann (Juwelenhändler), ein Elektrotechniker, ein Berufs-Fußballspieler und ein - Nichtstuer (so stellten mir ihn wenigstens seine Kameraden vor).
Um es gleich vorwegzunehmen: Das einzige, was ich im Laufe von mehreren Stunden aus ihnen herausbringen konnte, war eine ausführliche Darstellung der Methoden, wie man Mädchen lieben kann, ohne sie zu entjungfern, oder wie sie sich ausdrückten: wie man es anstellen muss, „um seiner Leidenschaft einen Auspuff zu verschaffen, wenn man einen Schatz hat, aber nicht heiraten will."
Es war nicht etwa so, dass die jungen Faschisten mit der Sprache zurückgehalten hätten. Sie waren im Gegenteil sehr zutraulich, und wenn sie nichts über politische Dinge zu sagen wussten, so einfach deshalb, weil sie nichts davon im Kopfe hatten. Unwillkürlich drängte sich mir ein Vergleich mit dem auf, was ich in der Sowjetunion erlebt hatte. Jeder Ausländer ist überrascht, nicht nur bei leitenden Funktionären, sondern auch bei einfachen Mitgliedern der Partei- und Jugendorganisationen in der Sowjetunion auch noch in der kleinsten Stadt politische Kenntnisse, politisches Interesse und politische Urteilskraft zu finden, wie er sie nie erwartet hätte. Ich besinne mich auf den Besuch, den ich im Jahre 1925 einem winzigen tatarischen Städtchen im Ural mit dem schönen Namen Bilimbei abstattete. Auf die Nachricht hin, dass ein ausländischer Genosse angekommen sei, strömte die ganze kommunistische Jugend zusammen. Ich wurde sofort in ein richtiges Kreuzverhör über die politische Lage in Deutschland und Frankreich, woher ich gerade kam, genommen. Und die Jungen und Mädchen, die zum größten Teil an dem kleinen altmodischen Hochofenbetrieb des Ortes beschäftigt waren oder dessen Werkschule besuchten, stellten mir derartig detaillierte Fragen über die Regierung des Linksblocks in Frankreich, über Herriot, über die Aussichten Poincarés, wieder zur Macht zu kommen, und was weiß ich sonst noch, dass ich manchmal direkt in Verlegenheit geriet.
Der Arbeitervorort Barra, der zu Neapel gehört, lässt sich nicht im entferntesten mit Bilimbei vergleichen. Aber die Leiter der Jugendorganisation von Barra waren von den Komsomolzen von Bilimbei so weit entfernt wie Himmel und Erde, oder sagen wir besser, wie Bourgeoisie und Proletariat. Ich will aber nicht ungerecht sein. Irgend so etwas wie politische Gedanken bekam ich aus meinen jungen Begleitern doch heraus: Und zwar folgendes:
1. Der Faschismus, das ist - der Duce, Mussolini. Wehe dem, der seine Hand gegen ihn erhebt. Wie ein Mann werden sie ihm an die Gurgel springen!
2. Es ist sehr gut, dass die Regierung sich mit dem Papst geeinigt hat. Jetzt kann die Faschistische Partei in Barra mit dem Ortsgeistlichen zusammenarbeiten. Und sie kommt mit ihm sehr gut aus.
3. Wie steht es in Deutschland? Wer wird siegen? Hitler oder Hindenburg?
Es war mir nicht ganz leicht, meine Meinung über dieses dritte und letzte politische Thema auf eine Formel zu bringen, die auf dem Niveau des Verständnisses meiner Begleiter lag. Wie sollte ich ihnen klarmachen, dass die Frage gar nicht so stand, dass der Kampf zwischen ganz anderen Kräften ausgetragen würde? Aber schon die Fragestellung war für mich aufschlussreich hinsichtlich des politischen Horizonts dieser jungen Faschisten. Im Übrigen kehrten sie immer wieder zum „Hauptthema" zurück, und ich musste auch einsehen, dass dieses Problem für sie eine ziemliche Bedeutung hat. Es sind alles junge Leute ohne ausreichende Beschäftigung in ihrem Beruf. Sie leben auf Kosten ihrer Familien. Zur Mittagszeit brachten sie mich in ein kleines Restaurant und gingen selbst nach Hause, um dort Mittag zu essen. Erst nach Beendigung ihrer Mahlzeit kamen sie wieder zu mir, um sich zu einem Glase Wein einladen zu lassen. In ihrem Städtchen aber sind sie die großen Herren, die Vertreter der Staatsautorität und müssen sich dementsprechend aufführen. Das gilt sicherlich besonders gegenüber dem weiblichen Teil der Bevölkerung, und da kann sich die Ausübung der Autorität nicht auf Reden halten beschränken. Nun gibt es zwar in Italien keine Alimente, aber dafür Gefängnisstrafe auf „Verführung". Und „Verführung" liegt da vor, wo ein Verhältnis Folgen hat. Ich bekam gelegentlich dieses Spazierganges übrigens auch noch vordemonstriert, worauf sich eigentlich die Autorität dieser jungen Leute aus dem Mittelstand in dem Arbeiterort Barra stützt. Ich wusste von früher her, dass die Vorstädte Neapels Hochburgen der „Roten" gewesen waren. Ich fragte meine Begleiter, wie es damit stünde. Als Antwort langten sie in die Rücktaschen ihrer Hosen und zogen daraus ihre Revolver hervor.
„Mit den Roten haben wir schön abgerechnet. Von ihren Führern hier lebt keiner mehr. Und die anderen, die geblieben sind, wagen sich nicht zu rühren: Wir haben ja die Waffen. Jedes Mitglied der Partei ist in der Miliz organisiert. Die Miliz von Barra hat hundertzwanzig Mitglieder. Die können jeden Augenblick mobilisiert werden. Wer mobilisiert ist, bekommt achtzehn Lire am Tage Gehalt. Hier unser Mario - sie zeigten auf den, den sie mir als Nichtstuer bezeichnet hatten - will jetzt in die Hafenmiliz in Neapel eintreten, Dann hat er keine Sorgen mehr." Ich habe später überall dasselbe Bild gefunden: An der Spitze der Lokalorganisationen der Faschistischen Partei stehen junge Leute aus dem Mittelstand, wirtschaftlich parasitäre Existenzen, bestenfalls in verschiedenen, nicht gerade hochbezahlten Posten untergebracht und ohne den geringsten politischen Gedanken im Kopfe. Für diese Leute ist die Partei nichts anderes als ein Mittel, um Karriere zu machen. Wenn die Partei sechs Jahre lang die direkte Aufnahme von neuen Mitgliedern eingestellt hat, so besagt das nicht, dass sie sich nicht ergänzt, ganz abgesehen von den „Ehrenaufnahmen" usw. Denn gleichzeitig mit der Sperrung der Mitgliedsaufnahmen ist der automatische Übertritt der Mitglieder der ihren Altersklassen nach unterhalb der Partei stehenden faschistischen Organisationen eingeführt worden. Bis zu diesem Jahre gab es nur zwei derartige Organisationen: die Kinderorganisation „Balilla" für Kinder bis zum vierzehnten Jahre und die „Avanguardia" für Jugendliche bis zum achtzehnten Jahre. Hier bestand eine Lücke. Sie ist jetzt dusch die Gründung der „Faschistischen Jugendorganisation" ausgefüllt worden. In ihr finden junge Männer von achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren Aufnahme. Der Übertritt von der „Balilla" in die „Avanguardia", von dieser in die „Faschistische Jugend" und von der Jugend in die Partei vollzieht sich jetzt automatisch bei Erreichung der Altersgrenze und wird durch öffentliche Feiern begangen. Bei diesen Feiern werden die in die entsprechenden Organisationen übertretenden Mitglieder nicht etwa auf ein Programm, sondern auf die Person Mussolinis zu Treu und Gehorsam verpflichtet. Dieses System von ineinandergreifenden Organisationen stellt zugleich die Stufenleiter dar, auf der man zu verantwortlichen Stellungen aufsteigen kann.
Die Mitgliedszahl dieser Organisationen nimmt zu, je weiter man nach unten kommt. Die „Balilla" zählt gegenwärtig ungefähr zwei Millionen Mitglieder. Das bedeutet, dass bereits ein großer Teil der Kinder, einschließlich der Arbeiter- und Bauernkinder, durch die „Balilla" erfasst ist. Wie das zustande kommt, haben mir junge Faschisten selbst erklärt: In allen Schulen und anderen Stellen, wo Kinder zusammenkommen, werden die „Balilla" -Gruppen gegründet. Die Organisation ist ein „Nationales Werk", das heißt, ihre Unternehmungen werden vom Staate finanziert. Ihre Mitglieder erhalten von der Organisation Uniformen geliefert. Diese Uniform, die derjenigen der faschistischen Miliz nachgebildet ist, und die Feste und Umzüge, die die Organisation veranstaltet, sind das eigentliche Anziehungsmittel. „Darin beruht gerade die Stärke der ,Balilla'. Die Kinder in der Schule sehen die Uniformen bei ihren Kameraden und möchten sie natürlich auch gern haben. Dann quälen sie ihre Eltern so lange, bis die sie ebenfalls eintreten lassen." An diese sehr einleuchtende Darstellung schloss der junge Faschist in Palermo, der mir das alles erklärte, folgende großartige Argumentation.
„Hier sehen Sie die ganze Genialität des Systems. Unser Programm ist, alle Italiener zu Faschisten zu machen. Auf die Erwachsenen kann man da nicht rechnen. Die sind noch zum größten Teil im alten Geist erzogen und können nicht mehr umlernen. Darum kann auch nur ein Teil der Erwachsenen in der Faschistischen Partei sein. Die meisten Erwachsenen sind nicht fähig und nicht würdig, sie zu verstehen. Aber die Kinder sind schon weitestgehend vom Faschismus erfasst und werden in seinem Geiste erzogen. Hier wächst das neue italienische Volk heran. Stellen Sie sich vor, was geschieht, wenn die zwei oder drei Millionen Kinder, die jetzt in der ,Balilla' sind, nach und nach durch die ,Avanguardia' und die ,Jugend' hindurch in die Partei aufsteigen. Dann sind wir bald soweit, dass das ganze italienische Volk faschistisch ist!"
Die Genialität dieser Vorstellung, die in ihrer Mischung aus Naivität und Dummheit ihresgleichen sucht, ist wirklich erschütternd. Ja, wenn man die Kinder ihr Leben lang im glücklichen Zustand der Unerfahrenheit und der mehr oder weniger gesicherten
Existenz im Schoße der Familie halten könnte! Aber aus diesen Kindern werden mit der Zeit „Carusi" und „Garzoni"in den Bergwerken und auf den Feldern. Sie bekommen die Arbeitslosigkeit und die Hungerlöhne der Faschisten zu schmecken, und da dürfte die faschistische Überzeugung, die ihnen in der „Balilla"-Organisation mit ein paar nichtssagenden Phrasen eingeimpft worden ist, bald Stöße erhalten!
Das Misstrauen zu den „Erwachsenen" erscheint gerechtfertigt, wenn man die Partei näher kennenlernt. Es ist ja erstaunlich, zu sehen, was sich alles unter dem faschistischen Abzeichen und den paar angelernten Phrasen verbirgt. Derselbe junge Faschist, der mir die Genialität des Organisationssystems der Partei auseinandergesetzt hatte, entpuppte sich in längeren Gesprächen als ein ausgemachter Liberaler und Demokrat. Ja, sogar als Republikaner. Ich erzählte ihm von meinen Eindrücken in Tripolis. Er zögerte nicht, Kolonialpolitik für völlig unnötig zu halten. „Jedes Volk soll selber sein Schicksal bestimmen." Er bezeichnete das Königshaus und die Ausgaben für seinen Unterhalt als überflüssig. Er meinte, dass das ganze Volk seine Regierung durch ein freies Wahlrecht selbst einsetzen müsse!
Ja, es sind ausgemachte Antifaschisten in der Faschistischen Partei, die das Abzeichen nur tragen, um ihren Posten nicht zu verlieren.
Ich hatte in Florenz die Bekanntschaft eines demokratischen antifaschistischen Professors gemacht, der stolz darauf war, bisher keiner einzigen faschistischen Organisation beigetreten zu sein. Als ich einmal zu einer Verabredung mit ihm auf den Domplatz ging, traf ich in seiner Begleitung einen anderen Mann, den er mir als Professor der Kunstgeschichte vorstellte. Ich nahm meinen Bekannten einen Augenblick auf die Seite und fragte ihn, ob sein Freund alles hören könne, was wir sonst zu besprechen pflegten. Er sagte, dass ich diesen Mann ebenso behandeln könne wie ihn selber. Wir gingen dann zusammen spazieren und unterhielten uns zunächst über Fragen der Ästhetik, wobei ich meine materialistische Auffassung entwickelte. Bald kamen wir auf politische Themen und insbesondere auf die Sowjetunion zu sprechen. Die Diskussion wurde sehr angeregt, und ich äußerte mich in einer Art und Weise, aus der meine politische Überzeugung ohne weiteres hervorging. Mein Freund, der Historiker, verteidigte einen bürgerlichen demokratischen Standpunkt, während er zugleich das faschistische Regime unverhohlen kritisierte. Sein Begleiter war ziemlich schweigsam.
Wir setzten uns dann in ein Café. Hier legte der Professor der Kunstgeschichte seinen Paletot ab, und zu meinem Schrecken sah ich im Knopfloch seines Jacketts das faschistische Abzeichen! Ich gab der Diskussion gleich eine andere Wendung und griff die Haltung meines ersten Bekannten heftig an, der leugnen wollte, dass der Faschismus überhaupt irgendetwas Positives geschaffen habe. Ich wies auf den Straßenbau, die Ordnung des Eisenbahnwesens, die großen Meliorationsarbeiten hin. Das alles könne man doch nicht wegdiskutieren, und es handle sich ja nur darum, festzustellen, wem alle die Dinge nützen. Bei dieser Diskussion hatte ich den neuen Mann gegen meinen alten Bekannten auf meiner Seite. So hatte ich mein Gesicht gewahrt. Als ich dann noch kurze Zeit mit dem Historiker allein zusammen war, fragte ich ihn etwas ärgerlich, wie er mich so hätte hineinlegen und mit dem Faschisten zusammenbringen können, ohne mich vorher zu warnen. Aber er lachte nur: „Machen Sie sich keine Sorge, das ist ein alter Freund von mir. Er ist ebenso wenig Faschist wie Sie und ich. Aber seine Stellung als Wissenschaftler ist nicht so fest wie die meine, und darum hat er es vorgezogen, sich das Abzeichen anzustecken. Sie ahnen ja gar nicht, was in dieser Partei alles herumläuft!" Die Zersetzung der Reihen des Faschismus durch den Klassenkampf kommt natürlich noch stärker als bei den Intellektuellen in den untersten Schichten der Faschistischen Partei zum Ausdruck. Der Prozentsatz der Arbeiter und Bauern, die Mitglieder der Partei sind, ist ja nicht groß. Aber der Unwillen, der sich bei ihnen anhäuft, wird zu einer ernsten Bedrohung der Faschistischen Partei. Wir haben schon von den Fällen gesprochen, wo empörte bäuerliche Mitglieder der Faschistischen Partei Flugblätter der Kommunisten verbreitet haben. Es sind andere Fälle vorgekommen, wo faschistische Arbeiter direkt an Massenaktionen teilgenommen haben. Das war der Fall bei den Unruhen von Legnano bei Mailand, die die Faschisten sich alle Mühe gegeben haben, zu verschweigen. Als die Masse
der antifaschistischen Arbeiter unter Führung der revolutionären Elemente in den Streik traten und einen Demonstrationszug formierten, bildeten die faschistischen Arbeiter einen eigenen Demonstrationszug, an dem auch faschistische Milizionäre teilnahmen. In diesem Zuge wurden Lieder gesungen, die keinen Zweifel an der Stimmung der faschistischen Arbeiter ließen. Der Refrain eines dieser Lieder lautete:
„Mussolini, con la camicia nera t'abbiamo portato su, e con la camicia nera ti butteremo giù!"
„Mussolini, mit dem schwarzen Hemde haben wir dich
hochgebracht,
Und mit dem schwarzen Hemde werden wir dich 'runterjagen!"
Es braucht nicht gesagt zu werden, dass diese Demonstration ebenso von Polizisten und Gendarmen auseinandergejagt wurde wie die der anderen Arbeiter und dass man ihre Teilnehmer aus der Partei ausgestoßen und sie vor Gericht gestellt hat. Solche Fälle, wo sich der Unwillen der kleinen Faschisten in antifaschistischen Aktionen Luft macht, sind allerdings selten. Die Partei hat es verstanden, diesem Unwillen ein anderes Sicherheitsventil zu verschaffen. Sie unternimmt in der letzten Zeit verschiedene Aktionen gegen gar zu ausgemachte Schieber und Blutsauger. Sie stellt einzelne Spekulanten vor Gericht und schickt sie in die Verbannung und lässt gleichzeitig in ihrer Presse das „Wiederaufleben des Geistes von 1919", eine „neue revolutionäre Welle" verkünden.
Zu gleicher Zeit aber fördert die Partei die Entstehung einer Legende, die mir in verschiedenen Teilen des Landes von faschistischen und nichtfaschistischen Arbeitern erzählt worden ist. Es ist die Legende vom „Roten Mussolini", und sie lautet folgendermaßen:
„Mussolini weiß von der ganzen Sauwirtschaft, von der Willkürherrschaft der Kapitalisten, Präfekten und Podestà nichts. Er ist ganz in den Händen einer kapitalistischen Clique. Die hält ihn in Rom fest und lässt ihn nicht hinaus. Mussolini war ja immer ein Roter. Wenn er wüsste, was im Lande vor sich geht...!" Diese Legende knüpft an die Maßnahmen zum Schutz der Person
Mussolinis und zur Einschränkung seiner Reisen im Lande an, die ihm, wie es auch offiziell heißt „gegen seinen Willen" von den leitenden Kreisen der Partei „aufgedrängt" worden sind. Durch diese Legende wird der Unwillen der einfachen Parteimitglieder von Mussolini und damit vom faschistischen Regime abgelenkt, und die Unzufriedenen werden dadurch trotz alledem bei der Stange gehalten.
So sieht also die „Elite" aus, die nach den tiefsinnigen Theorien der Ideologen des Faschismus das Land beherrscht. Die Theoretiker, die diese Behauptung aufstellen - und zu ihnen gehört auch der Ex-Sozialist und von den Faschisten mit der Ehrenmitgliedschaft der Partei ausgezeichnete Professor Robert Michels - sind dieser „Elite" wirklich würdig.

 

DER HEIMLICHE BOLSCHEWISMUS

In seinem Buch „Gestalten und Gestalter" erzählt der demokratische Antifaschist Graf Carlo Sforza eine Episode, die bezeichnend ist für die Unwissenheit, mit der die bürgerlichen Politiker an die Probleme der modernen europäischen Politik herangehen. In den Tagen der schweren Krise von 1920 erhielt der damalige Ministerpräsident Giolitti den Besuch Sir Buchanans des englischen Botschafters in Russland während des Krieges und der ersten Jahre der Revolution. Sir Buchanan, der Gelegenheit hatte, die russische Revolution in ihrem Anfangsstadium aus nächster Nähe kennenzulernen, äußerte Giolitti gegenüber die Befürchtung, dass Italien das Opfer des Bolschewismus werden könnte. Giolitti führte seinen Gast an das Fenster und zeigte ihm einen Ölbaum. Ebenso wenig wie er in Russland je einen Ölbaum finden würde, ebenso wenig würde auch der Bolschewismus jemals in Italien Fuß fassen. Der Sinn dieses Gleichnisses ist klar: Giolitti wollte -und diese Auffassung ist ja weitverbreitet - den Bolschewismus als ein bodenständiges Gewächs der russischen Erde kennzeichnen, das ebenso nur dort gedeihen könnte wie der Ölbaum in Italien.
Der Vergleich wäre ganz schön, wenn nur die Hauptsache richtig wäre: Der Ölbaum ist in Russland ebenso zu Hause wie in Italien! Ich selbst habe auf der Krim große wilde Olivenhaine und an der kaukasischen Küste des Schwarzen Meeres ausgedehnte Ölbaumkulturen gesehen. In jedem größeren Lebensmittelgeschäft in Russland gibt es eingelegte Oliven russischer Herkunft zu kaufen. Der Vergleich ist also auf einem groben Fehler aufgebaut. Giolitti kannte die russische Wirtschaftsgeographie nicht. Aber er kannte ebenso wenig die politische Geographie und die „Klassenbotanik" seines eigenen italienischen Heimatlandes!
Der Bolschewismus wächst überall, wo der moderne Kapitalismus den gesellschaftlichen Boden umgestaltet hat. In Italien wuchs der Bolschewismus der Nachkriegszeit aus den ureigenen Bedingungen des italienischen gesellschaftlichen Bodens, aus den Klassenkämpfen zwischen den Resten des Feudalismus, den landlosen Bauern, der Bourgeoisie und dem modernen Industrieproletariat hervor. Aus denselben Wurzeln schießt er auch jetzt wieder in Italien mächtig empor. Wer Augen hat zu sehen, erkennt unter der Oberfläche der faschistischen Gewaltherrschaft das neue Italien.
Der Bolschewismus steht überall da auf der Tagesordnung der geschichtlichen Entwicklung eines Landes, wo die Massen der Ausgebeuteten aus Stadt und Land zur radikalen Änderung der Gesellschaft, zur Ausrottung jeder Form der kapitalistischen Herrschaft drängen. Ungeheure vulkanische Kräfte sind in den werktätigen Massen Italiens aufgespeichert. Aber wir sagten schon, dass das nicht genügt. Der Bolschewismus wird erst vollkommen, wenn sich die revolutionäre Theorie mit der Massenbewegung verbindet, wenn sich die Organisation der revolutionären Vorhut an die Spitze des Kampfes der Massen stellt. Und auch in diesem Sinn ist der Bolschewismus in Italien lebendig.
Neben der Faschistischen Partei und ihren Zweigorganisationen gibt es, abgesehen von den katholischen Kulturvereinen, nur eine einzige politische Organisation: die Kommunistische Partei Italiens. Sie allein hat sich von allen früher im Lande bestehenden, nichtfaschistischen Organisationen erhalten, sie besitzt einen über das ganze Land verbreiteten Apparat für Agitation, Propaganda und Aktion, sie führt eine planmäßige politische Aufklärung durch, gibt Druckschriften heraus und steht an der Spitze der revolutionären Kämpfe der Arbeiter und Bauern. Sie ist der einzige ernste Gegenspieler des Faschismus in Italien. Während meines Aufenthaltes in Italien fanden vor dem Ausnahmegericht zum Schutze des Staates sieben Prozesse statt. Sämtliche der vierundsiebzig Angeklagten waren der Zugehörigkeit der Kommunistischen Partei und der Teilnahme an ihren Aktionen beschuldigt. Sie wurden zu Gefängnisstrafen von vier bis zwölf Jahren verurteilt. Im Juni 1931 standen drei Anarchisten und einige Demokraten vor dem Ausnahmegericht. Der eine der Anarchisten wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Diese Prozesse stellen Ausnahmen dar: Die Angeklagten der übrigen, im selben Monat verhandelten Prozesse waren ebenfalls wieder Kommunisten. Die Faschisten wissen, dass sie nur in den Kommunisten wirklich gefährliche Gegner haben. Es bedarf kaum eines Wortes, dass die Tätigkeit der Kommunistischen Partei in Italien vollkommen illegal ist. Sie besteht und handelt im geheimen. Ihre Mitglieder bringen tagtäglich unerhörte Opfer. Die Partei rechnet heute damit, dass sie etwa alle drei Monate ihre Bezirksleitungen neu besetzen muss, da die alten Funktionäre verhaftet und eingekerkert werden oder fliehen müssen. Aber immer treten neue revolutionäre Arbeiter und Bauern an die Stelle der ausscheidenden Funktionäre, und der Kampf geht unermüdlich weiter.
Ich habe die Organisation der Kommunistischen Partei, in deren Reihen viele meiner italienischen Freunde aus früheren Zeiten stehen, an verschiedenen Stellen des Landes aufgesucht. Aus verständlichen Gründen kann ich hierüber nicht ausführlich und konkret berichten. Um aber dem Leser ein Gefühl für die Atmosphäre zu geben, in der die italienischen Bolschewisten arbeiten, will ich eine Episode erzählen.
Es war in einer kleinen Stadt Toskanas. Ich hatte sie gewählt, weil eines der Mitglieder der Bezirksleitung mir aus früheren Zeiten her persönlich bekannt war. Vor sieben Jahren hatte ich während meiner Arbeiten in dem schon damals schwer verfolgten Kommunistischen Jugendverband Italiens an einer geheimen Bezirkskonferenz in Florenz teilgenommen. Bei Wein, Brot und frischem Fenchel hatten wir auf dem Dachboden eines Arbeiterhauses, in der Hauptstadt Toskanas getagt. Unter den Anwesenden befand sich ein junger Genosse mit dem Spitznamen „Fenicottero" (Flamingo). Er stammte aus L. Vor einem halben Jahr hatte man vor seinen Augen seinen Vater erschlagen und die Mutter vergewaltigt. Er war aus dem Fenster gesprungen und hatte sich dabei den Fuß gebrochen. Aber er entkam und heilte seinen Fuß, bei einer Bauernfamilie verborgen. Er war gleich darauf in den Kampf zurückgekehrt. Jetzt gehörte er längst der Partei an und arbeitete in der geheimen Bezirksleitung.
Ich musste überall an Orten, wo ich fremd war, solche persönliche Bekannten aufsuchen. Denn die Genossen sind jetzt sehr vorsichtig: Die faschistische Geheimpolizei arbeitet gegen sie mit den gemeinsten Spitzelmethoden, von denen ich auch hier einiges erfahren sollte.
Ich suchte „Fenicottero" in dem Obst- und Gemüseladen auf, in dem er seine bürgerliche Existenz führt. Er war tief gerührt, mich wiederzusehen, und wir gingen gleich in das Hinterzimmer.
„Du bist in einem bösen Moment gekommen. Wir sind eben von einem schweren Schlag getroffen worden. Ich allein bin von der alten Bezirksleitung übrig, alle anderen sind verhaftet. Aber wir haben schon wieder die Organisation aufgebaut. Die Mitgliedschaft ist nicht nur erhalten geblieben, sie hat auch weiter zugenommen. Wir haben besonders Fuß gefasst unter den Bergleuten von S., C. und A. Aber wir müssen jetzt auch Umbrien mitbearbeiten. In Sp. haben wir gerade gute Fortschritte gemacht. Dort liegen die großen Baumwollfabriken still, und du kannst dir die Stimmung der Arbeiter denken." „Aber wie ist es denn zu den Verhaftungen gekommen?" „Das war eine scheußliche Geschichte. Vierundfünfzig Mann haben sie geschnappt, fast die ganzen leitenden Kräfte von Toskana und Venetien. Und alles ist durch einen Zufall und durch eine Unvorsichtigkeit gekommen. Einer der Kommissare der Zentrale ist ,hochgegangen'. Und durch einen so dummen Zufall! Er war in Venetien unterwegs. Auf einer kleinen Station stand er in einer Reihe vor dem Billettschalter. Da entdeckte der vorderste Mann, der gerade zahlen wollte, dass man ihm die Brieftasche gestohlen hatte. Die ganze Reihe wurde festgehalten und untersucht. Dabei fand man bei unserem Genossen verdächtige Papiere, suchte weiter, entdeckte den doppelten Boden im Koffer, und dann war alles zu Ende. Auf diese Weise hat die Geheimpolizei, die uns sonst nur schwer auf die Spur kommt, Adressenlisten und alles mögliche andere bekommen. Es war natürlich alles chiffriert. Aber sie haben es doch 'rausgekriegt. Und dann haben sie ein paar ,Geheime' mit den Papieren ausgerüstet und haben sie, als Vertreter der Zentrale verkleidet, in unsere Organisationen geschickt. Sie wandten genau die Methoden an, die wir für unseren Verbindungsdienst ausgemacht hatten. Einer von den Kerlen kam nach S., wo die Bezirksleitung sitzt. Er verlangte von unserm Genossen, dass er sofort eine Sitzung der Bezirksleitung einberufen sollte. Als dann alle zusammen waren, wurden sie hochgenommen. Nur durch einen Zufall ging ich nicht zur Versammlung; eingeladen war ich auch. Wahrscheinlich kommen mehrere Genossen in den nächsten Wochen vor das Ausnahmegericht. Die Einladung und der Besuch der Versammlung ist Beweismaterial genug. Für einfache Zugehörigkeit zur Partei wird ja schon Zuchthausstrafe von fünf bis zehn Jahren erkannt; für leitende Organisationsarbeit gibt es bis zu fünfzehn Jahren."
Aber „Fenicottero" blieb nicht lange bei diesen traurigen Gedanken. Er war ja frei geblieben, und dank diesem Umstande ging die Arbeit sofort weiter.
Es gab viel Neues. In einer Reihe von Gegenden war ein besonderer Zustrom von Bauern zu bemerken. Arbeitsniederlegungen und sogar Demonstrationen wurden häufiger. Wir saßen dann noch lange beieinander und tauschten Erinnerungen über die alten Zeiten aus. „Fenicottero" war auch auf der lustigen illegalen Reichskonferenz im Mai 1924 dabei gewesen, die wir hoch oben in den Bergen der Comer Alpen inmitten blühender Narzissen abgehalten hatten. Wir hatten einfach eine Berghütte besetzt und dem Wirt gegen gute Entschädigung während dreier Tage jede Verbindung mit der Außenwelt untersagt. Er hatte sich fügen müssen, denn wir waren fünfunddreißig handfeste Kerle gegen ihn. Das war übrigens die erste dieser Bergkonferenzen gewesen, nach deren Muster dann später viele ähnliche Zusammenkünfte organisiert worden sind. Wir unterhielten uns dann noch über die Schicksale alter, gemeinsamer Freunde. Manche waren erschlagen, manche saßen im Zuchthaus und auf den Inseln, aber eine ganze Menge war noch aktiv, sei es im Auslande, sei es im Lande selbst. Am späten Abend trennten wir uns. Ich verließ den Laden mit einem Pfund Orangen im Arm. Aber ich trug nicht nur sie. Ich nahm auch noch die Gewissheit mit, dass die Bauern und Arbeiter Italiens in den kommenden Kämpfen nicht ohne Führung sein werden!
Die Tätigkeit der illegalen Kommunistischen Partei ist äußerst vielseitig. Ihre Hauptaufgabe ist es natürlich, die Massen der Industriearbeiter in Kämpfen für ihre Interessen zu schulen, in Kämpfen, die, sich ständig steigernd, dem faschistischen Regime eines Tages den entscheidenden Stoß geben werden. Die Zahl der verschiedenartigsten Streikkämpfe und Unruhen ist in den letzten Monaten angewachsen. Während meines Aufenthaltes in Italien brachen an verschiedenen Stellen derartige Kämpfe aus. Von den Bauernunruhen in Mittelitalien und in den Reisgebieten habe ich schon gesprochen. Wichtiger sind die Kämpfe in den Industriezentren: die Streiks und Manifestationen in den Textilfabriken von Neapel, in den Glashütten von Empoli und in den Textilfabriken von Legnano bei Mailand. Wie in allen kapitalistischen Ländern ist auch im faschistischen Italien der Streik die Grundform der revolutionären Arbeiterbewegung. Arbeitsniederlegungen sind in der letzten Zeit in Italien so häufig geworden, dass die Faschisten sogar gezwungen waren, in einigen Fällen den Streik, der eigentlich gesetzlich verboten ist, für zulässig anzuerkennen. So hat Mitte April der Oberrichter von Castelfranco (Venetien) einige Arbeiter, die des Streiks in der Fabrik „Fervert" angeklagt waren und die tatsächlich zur Durchsetzung ihrer Forderungen die Arbeit niedergelegt hatten, freigesprochen.
Kurz bevor ich nach Neapel kam, hatte sich dort in den „Südlichen Baumwollwerken" ein großer Streik abgespielt, der dadurch bemerkenswert ist, dass er mit einem Sieg der Arbeiter endigte. Die Einzelheiten dieses Streiks waren folgende: Die Belegschaft ist stark zurückgegangen; von den früheren siebentausend Arbeitern sind nur noch dreitausend beschäftigt. Die Löhne standen auf dem gleichen Hungerniveau wie im Ganzen übrigen Italien: neun bis zwölf Lire Tagelohn für die Männer und vier bis acht Lire für die Frauen. Die Empörung der Arbeiter wurde allgemein, als der Unternehmer in Ausführung der Anordnungen Mussolinis über eine neue achtprozentige Lohnsenkung die Kürzung der Löhne um zwanzig Prozent ankündigte. Ein spontaner Streik brach aus. Die Arbeitsniederlegung war vollkommen. Es blieb nicht beim Streik. Als die Werkleitung Gewaltmaßnahmen ankündigte, gingen die Arbeiter zum Angriff vor, beschädigten die Maschinen und warfen in einigen Abteilungen die Fensterscheiben ein. Das leitende Personal musste fliehen. Die zu Hilfe gerufene faschistische Miliz wurde mit Steinen und Eisenstücken in die Flucht geschlagen. Auch die dann eintreffenden Gendarmen stießen auf heftigen Widerstand und konnten die Arbeiter nur nach längerem Kampf aus ihrem Betrieb vertreiben. Die Arbeiter hatten die rote Fahne gehisst. Es gab auf beiden Seiten Verwundete. Der Kommandeur der faschistischen Miliz soll schwer verwundet worden sein. Aber der Unternehmer musste nachgeben. Am 3. März wurde die Arbeit zu den alten Bedingungen wieder aufgenommen, und die Lohnreduktion wurde nicht durchgeführt!
In den Glashütten von Empoli führte der gleiche Versuch der Unternehmer, die von oben geforderte achtprozentige Senkung der Löhne in Gestalt von zwanzigprozentigen Lohnkürzungen durchzuführen, zum Streik. An diesem Streik nahmen auch verschiedene, in der Faschistischen Partei organisierte Arbeiter teil. Und auch hier mussten die Unternehmer, wenigstens teilweise, nachgeben und sich auf eine Lohnkürzung von acht Prozent beschränken.
Den größten Umfang nahm die revolutionäre Aktion in den Textilfabriken von Legnano an. Der Streik richtete sich auch hier gegen die beabsichtigten Lohnkürzungen und gegen die unerträglichen faschistischen Disziplinarmethoden. Der Kampf verwandelte sich bald aus einem wirtschaftlichen Streik in eine politische Demonstration. Auch die faschistischen Arbeiter waren hier für den Kampf. Sie nahmen an den offen politischen Kundgebungen teil. Am zweiten Tage des Streiks schlossen sich die faschistischen Arbeiter, die bis dahin für sich demonstriert hatten, der allgemeinen Front an. Zur Niederwerfung der Bewegung musste aus anderen Gebieten Verstärkung in Gestalt von Abteilungen der Gendamerie, der faschistischen Miliz und der Truppen herangezogen werden. Die Regierung ging schonungslos vor. Eine Reihe von Toten blieb auf dem Platz, und die Zahl der Verhafteten soll in die Hunderte gehen. Die Bewegung wurde niedergeschlagen. Aber das Beispiel der Arbeiter von Legnano war in jenen Wochen im Munde aller Arbeiter der Po-Ebene.
Wer führt diese Kämpfe? Dass es die faschistischen Gewerkschaften nicht tun, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden. Die alten sozialistischen Gewerkschaften bestehen nicht mehr. Ihre Führer haben schon vor Jahren die Arbeiter schmählich im Stich gelassen, haben die Organisation freiwillig aufgelöst und befinden sich heute im Ausland. Ja, einige von ihnen haben ihren Frieden mit den Faschisten gemacht. Der letzte Sekretär des Gewerkschaftsverbandes, ein gewisser Rigola, sitzt heute in Mailand, wo er ein von den Faschisten zugelassenes gewerkschaftliches Käseblättchen, genannt „Probleme der Arbeit", herausgibt. In diesem Blättchen wird eine lendenlahme Kritik an den faschistischen Gewerkschaften auf dem Boden ihrer grundsätzlichen Anerkennung geführt.
Aber es ist den Reformisten nicht gelungen, die alten Klassengewerkschaften wirklich zu vernichten. Die Kommunisten haben sich an die Spitze des Wiederaufbaues der offiziell aufgelösten freien Gewerkschaften gestellt und ein Netz von geheimen Gewerkschaftsorganisationen geschaffen. Diese revolutionären Gewerkschaften haben bei den genannten Aktionen und bei anderen ähnlichen Kämpfen eine führende Rolle gespielt. Es erscheint in Italien regelmäßig das heimlich hergestellte und verbreitete Organ der Gewerkschaftsbewegung, das den alten Titel der Zeitschrift der freien Gewerkschaften „Battaglie Sindacali" (Gewerkschaftliche Kämpfe) führt. Es wird von der Leitung der illegalen Gewerkschaftszentrale zusammen mit der Kommunistischen Partei herausgegeben.
Die „Battaglie Sindacali" ist eines von den vielen Druckerzeugnissen, die die Kommunisten in Italien auf illegalem Wege herstellen und verbreiten. Das Hauptorgan ist die zentrale Parteizeitung „Unità" (Einheit). Außer diesen Zeitungen erscheint regelmäßig die alte berühmte Jugendzeitung „Avanguardia" (Vorhut), eine Frauenzeitung und manchmal sogar ein revolutionäres Witzblatt. Außerdem werden nach Bedarf besondere Zeitungen für einzelne Branchen herausgegeben. Während meines Aufenthaltes in Vercelli bekam ich eine solche Zeitung zu Gesicht, „La Risaia" (Die Reisarbeit), die aus Anlass der geschilderten Kämpfe der Reisarbeiter herausgebracht worden war.
Alle diese Presseerzeugnisse sind in winzig kleinen Buchstaben auf hauchdünnem Papier gedruckt, Sie sind darauf berechnet, dass der Besitzer sie im Falle einer Überraschung schnell vernichten und im Notfall - verschlucken kann. Der Besitz und die Verbreitung derartiger Schriften führt vor das Ausnahmegericht und wird mit Gefängnisstrafen von vielen Jahren geahndet.
Trotz aller Verfolgungen wachsen so in Italien unter den Augen des Faschismus die Kader des Bolschewismus heran. Seine Entwicklung unter den Arbeitern und Bauern des Landes ist nicht aufzuhalten. Das Bewusstsein, nicht allein dazustehen, wächst unter den Massen. Sie haben ihre Partei, die Partei der proletarischen Revolution, die sie nicht verraten wird, wie es einst die Sozialdemokraten so ausgiebig getan haben. Die Kommunistische Partei, die heute in Italien besteht, hat aus den Fehlern der Kämpfe von 1920, 1921 und 1922 gelernt. Sie wird sie nicht wiederholen.
In ihren Reihen wächst die wahre „Elite" des Landes heran, dieses Landes, das erst durch die proletarische Revolution zu seiner ganzen Größe und Schönheit aufblühen wird!