Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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PERSONEN:

Der lange Engländer, Der Lange
Der dicke Engländer, Der Krumme (sein Schwager)
Der dicke Holländer, Der Dicke
Der junge Holländer, Der Korrekte
Der ältere Holländer, Der Geduckte (sein Bruder)
Der Belgier
Der Russe
Der Däne, Der Rothaarige
Der Schotte, Der Sommersprossige
Der Amerikaner, Der Bebrillte
Der Heilige
Der dicke Deutsche, Der Deutsche
Der Franzose
Die Holländerin, Die Betschwester
Die Französin
Die Jüdin
Der Steward
Die Stewardess
Der Hofmeister
Die Polin
Ein Pastor
Passagiere aus der ersten Klasse
Der Offizier
Die Spitzbärtigen

 

I.

Der Wind pfiff von Norden. Das Schiff war noch mit starken Seilen an dem Pier festgebunden. Es pendelte durch den Druck des anströmenden Wassers langsam hin und her. Manchmal hob es sich steif empor. Es sank aber wieder zurück. Die Seile waren zu fest.
Die Männer, eine bunt zusammengewürfelte Schar von Arbeitern, standen vorn auf ihrem Deck. Sie froren wie junge, unbehaarte Hunde. Sie gingen aber trotzdem nicht von der Stelle.
Endlich kam der Offizier mit der roten Fahne. In dicke Fetzen gehüllte Matrosen stürzten sich auf die Seile, lösten sie von den klobigen Pfosten, warfen sie in das Wasser, und das Schiff fraß sie in sich hinein.
Die rote Fahne wurde geschwenkt. Unter den Männern begann die Schraube zu rumoren. Sie knurrte erst seltsam auf, lief aber später glatt und schütterte nur noch leise.
Ruckweise löste sich nun das Schiff. Es drückte sich schräg gegen die Fluten, heulte auf wie ein kriegerischer Elefant, drehte sich und dampfte in den Strom hinaus.
Auf dem Strom war es noch kälter. Der Wind schlug den Männern so hart um die Körper, dass ihre Nasen und Ohren steif und blau wurden. Sie blieben aber stehen. Sie stemmten ihre Beine fester auf die grob gehobelten Planken und sahen hinüber nach den rufenden, winkenden Menschen und über sie hinaus auf die große, steinerne Stadt.
Neuyork! Gigantisch erhob sich dieser Häuserkoloss aus Wasser und Nebel. Die Spitzen berührten die Wolken, und die rot umränderte Sonne hing über der gewaltigen Höhe wie eine kleine düstere Lampe.
Die Männer wussten nicht recht, warum sie hinüber nach der Stadt sahen. Es hing keiner an ihr. Vor Jahren ihre Sehnsucht, war alles, was sie in ihre Ummauerung gezogen hatte, verschüttet und untergegangen. Aber sie ließen die Augen nicht von ihr. Sie blinzelten sie an, die Stirnen dick gefurcht, jeder mit einem besonderen Gesicht.
Sie waren auch sonst nicht gleich. Sie standen nebeneinander wie ein kurzes Kettenglied mit verschiedenen Ausmaßen. Ein Ring war etwas gröber und verschobener als der andere.
Als der letzte Turm ins Wasser sank, plötzlich, das Wasser konnte ihn auch verschlungen haben, stoben die Männer auseinander. Sie stolperten über das Deck. Schief und ungelenk liefen sie zu den kleinen Treppen, tauchten an ihnen nach unten, und der eiserne Schiffsbauch nahm sie in sich auf, als wäre er schon ewig ihre Behausung.
Als der Gong zum Essen tönte, sahen sie sich alle wieder, Sie sammelten sich in dem großen Speiseraum um eine lange Tafel Langsam setzten sie sich. Ihre Gesichter waren noch blau und rot, und sie hingen über dem grüngewürfelten Tischtuch wie baumelnde, glänzende Glasballone.
Sie waren lange eine schweigende Gesellschaft, Keiner beachtete den andern, und jeder verzog seinen Mund, als hätte er etwas Bitteres gegessen. Mit der dampfenden Suppe veränderte sich das aber. Ihr Duft stieg wärmend in alle Nasen und wärmte die Menschen mit. Die ersten sahen sich an. Sie hoben ihre Augen und tasteten einander ab. Es war ein vorsichtiges und grobes Einanderabtasten. Es ging bis auf die Knochen, aber es schien zur Zufriedenheit auszufallen.
Die beiden Engländer fanden die Gesellschaft zuerst allright. Sie saßen sich gegenüber. Der eine war lang und bleich. Er hatte das Gesicht, das die bessere englische Gesellschaft schon seit Jahrhunderten durch die Welt schleppt, auf einem schlanken Körper einen durch-
sichtigen gelben Kopf mit bläulich schimmernden Augenhöhlen, Die Hände, die unter diesem Kopf saßen, waren schmal und die Finger daran ungewöhnlich dünn und lang. Die abgearbeiteten, verbeulten Fingernägel, die sie abschlossen, sahen aus wie schwarze, kugelige Warzen.
Der andere war kleiner und dicker. Rund hing alles an dem untersetzten, krummen Körper, nur das Gesicht saß schräg, spitz und zusammengedrückt auf dem fetten Halse. Es passte auch sonst nicht zu dem kugeligen Körper. Eine schiefe Nase saß Unmittelbar und so platt, als wäre sie zusammengeschlagen worden, über einem breiten, nach unten gebogenen Mund, und die blinzelnden Augen mit den roten Tränensäcken hingen an dieser Nase wie zwei dicke, laufende Lichter.
„Henry“, sagte dieser Krumme zu dem Langen und machte eine kleine Pause, in der er auf das Schüttern der Schiffsschraube horchte, „wir fahren also".
Der Lange schielte ihn freundlich an, zog seinen Kopf ein und antwortete: „Ja".
„Freut euch das so?" fragte ein kleiner Holländer, der neben dem Krummen saß, und er drehte den beiden sein aufgeschwemmtes Gesicht zu, ein Gesicht, in dem die Bartstoppeln so dicht saßen wie in einem ungepflügten Acker das halbgeschnittene Stroh.
„Sicher!" krähte der Krumme, er blies sich spitz und ließ die Augen rollen, „denn wir fahren heim!" „Ihr seid Engländer?" fragte der Holländer weiter. „Ja, Engländer!" antwortete der Krumme, und du kannst es uns schon glauben, dass wir uns freuen, einmal wieder nach England zu kommen, denn es war kein Vergnügen, sich in diesem Amerika drei Jahre das Kreuz schief zu schuften, krumm zu werden und den Dicken ihre Geldbeutel zu füllen."
„Sucht euch etwas besseres", sagte der Holländer und kniff die Augen zusammen.
„Etwas besseres?" wiederholte der Krümme laut. „Ich möchte wissen, wo es das gäbe. Wir Proleten sind Kühe, und wir werden in jedem Lande gemolken."
Der Holländer sah den Krummen verdutzt an. „Gemolken?" sagte er, und er ließ seinen Mund offen stehen.
Ja, gemolken!" schrie der Krumme noch lauter, und er stierte den Holländer gefährlich in das dicke Gesicht. „Oder melkt man dich nicht?"
„Nein! Nein!" sagte der Angeredete plötzlich schnell, und sein Gesicht rötete sich und wurde dicker, „ich habe ja eine Farm in Kanada. Ich melke selber!"
Den Krummen traf diese Antwort wie ein leichter Schlag. Er zog erst seinen eingedrückten Kopf noch näher an den Hals und wurde nachdenklich. „So, so," sagte er dann, „eine Erdratte bist du also, strülpst Vieh und baust Weizen und Kohl, und was nicht in deinen eigenen Magen geht, das verkaufst du,"
Der Holländer legte seine Hände über den Bauch, lächelte und nickte. „Ja, ja", sagte er.
Den Krummen ärgerte das; er stieß auf einmal seinen Kopf wieder nach vorn und schlug sich mit den Händen auf die Schenkel. „Gemolken wirst du aber doch!" krähte er. „An wen verkaufst du denn deinen Weizen? Wer holt denn deine Kühe? Die Dicken von Chikago. Aber sieh dir sie einmal an. Denkst du, sie werden von der Luft so dick?"
Der Holländer lächelte noch immer. „Lass ihnen ihren Verdienst, „sagte er, „sie wollen doch auch satt werden."
Ha! Ha!" Der Krumme meckerte auf wie eine Ziege, „als ob die Brüder in Chikago nur satt werden wollten!"
„Das weiß ich selbst, „knurrte der dicke Holländer, den das Meckern des Krummen störte, kleinlauter, „aber wenn sie die Preise auch immer niedriger drücken, gehungert habe ich noch nie."
Der Krumme hörte schon auf zu lachen, er ließ den Dicken aber nicht aus den Augen. „Das ist ja das ganze Unglück, „sagte er bitter, „dass die einen, die gemolken werden, das Melken nicht spüren, und den andern bei der Geschichte oben und unten die Luft fehlt. Wenn man uns gleichmäßiger an den Strulpen ziehen würde, hätte die Melkerei auch schon lange aufgehört."
Der lange Engländer, der dem Krummen mit geschlossenen Augen zugehört hatte, blinzelte etwas, machte den Mund halb auf, so dass die Unterlippe ein wenig nach unten hing, und sagte mit näselnder Stimme: „Was schimpfst du schon wieder, John? Du wirst nur heiser, und besser werden die Reichen von deinem Schimpfen
auch nicht."
„Das weiß ich", kreischte der Krumme. „Gegen diese Blase hilft nur das Totschlagen oder das Hängen. Ja, hängen sollte man sie", wiederholte er und drückte dabei seine Hände zu Fäusten.
Der Lange öffnete das rechte Auge und sah den Krummen schärfer an. „Auch die Mühe solltest du dir sparen, John", sagte er,
Der Krumme machte den Mund breit und zog ein dummes Gesicht. „Warum?" fragte er.
„O“, lachte der Lange und öffnete auch das andere Auge, es gibt heute schon mehr Dicke als Dünne, mehr Melker als Kühe. Die Dicken werden sich also bald gegenseitig totschlagen und aufhängen!"
Der Steward hatte, während der Lange sprach, die Suppe ausgeteilt. Die Männer, die alle nach den Streitenden gesehen hatten, fassten nun nach den Löffeln, bogen ihre Gesichter nach unten, zogen die Körper nach und begannen zu essen. Da auch der Krumme nach seinem Löffel fasste, hörte der Streit auf.
Beinahe alle löffelten nun. Sie sogen die gelbe Brühe in ihre rundlich geöffneten Mäuler, schlürften sie nach unten, und außer dem monotonen Tropfen der Überbleibsel hörte man nur dieses gleichmäßige Saugen und Schlürfen. Am unteren Ende des Tisches saß aber noch einer der Männer aufrecht. Er war ungefähr 40 Jahre. Auf einem hageren Körper saß ein kleines Kindergesicht mit großen beschatteten Augen, Er sah still vor sich hin, hielt seinen Suppenlöffel steif in den geballten Händen und bewegte leicht seine Lippen.
„Sieh dir das hagere Männchen an“, sagte der mopsige Deutsche, der noch runder als der Holländer war und nach allen Seiten schielte, zu dem sommersprossigen Schottländer, der neben ihm saß, „er macht ein paar Augen wie ein Heiliger."
Der Schotte, der breit und wuchtig über dem Tisch lag und mit beiden Backen seine Suppe schlürfte, sah kurz hinauf. „Lass den in Ruhe, „knurrte er den Deutschen an, „er kommt aus Pennsylvanien, war Bergmann in unserem Loch, und ich habe noch nie einen besseren Burschen getroffen als ihn!"
„So", gluckste der Deutsche, der gern gelacht hätte, den die Fäuste des Schottländers aber ängstlich machten.
„Ja, „sagte der Schotte noch knurrender, „und damit du es weißt, er ist auch ein Heiliger, und dem, der ihn anrührt, dem schlage ich die Knochen entzwei."
Der Deutsche zuckte kurz zusammen und sah eilig nach der anderen Seite. Da wurde gerade eine der vielen Türen geöffnet, und langsam schob sich die breite Gestalt des Hofmeisters in den Essraum. Er war nicht allein. Hinter ihm zeigte sich das Gesicht einer Frau; es war die Französin. Sie steuerten beide auf den Tisch zu.
Den Hofmeister strengte dieses Gehen an. Er schnaufte dabei. Mit seinen rötlichen, hängenden Backenlappen sah er aus wie ein zu fetter Truthahn. Die Frau tänzelte wie eine junge Henne hinterher.
Alle sahen jetzt auf. Keiner hatte die Frau vorher gesehen. Sie prüften sie wie eine Ware und schnalzten mit den Zungen. Der Schottländer wischte sich sogar über seinen triefenden Mund.
Sie war nicht mehr jung. Sie hatte ein eingefallenes, gelbes Gesicht, aber ein paar glänzende, helle Augen. Unter den Augen, die Nase war etwas zu spitz, der Mund dafür klein und rundlich und leicht geschwungen. Ein ovales, doppeltes Kinn mit breiten Falten schloss das Gesicht gut ab.
Als sie die Augen der Männer sah, die ihr alle bis auf das Fleisch brannten, neigte sie erst den Kopf nach vorn und versuchte sich mit ihm zu verdecken, dann hob sie
Um aber wieder, lächelte, steckte leicht ihre Zungenspitze zwischen die sich wölbenden Lippen und tänzelte weiter. Der Hofmeister führte sie bis an das obere Ende des Tisches zu dem langen Engländer. „Hier!" schnaufte er, wies auf einen Stuhl, schielte danach mit einem wütenden Blick über die gaffenden Männer, wandte sich und stampfte schwerfällig zurück.
Die Frau schnitt ein Gesicht hinter ihm, sagte laut und mit einer hohen, melodischen Stimme: „Guten Tag, Gentlemen", und setzte sich neben dem Langen nieder. Sie strich, schon sitzend, eilig ihre Blusenärmel hoch, so dass man ihre gutgerundeten, fleischigen Arme sah, tunkte dann den Löffel in die Suppe und aß mit.
Die Männer hatte das „Gentlemen" wie ein warmer Wind getroffen. Sie fanden nur keine Antwort, aber sie brummten wohlgefällig vor sich hin. Sie aßen auch nicht gleich weiter. Die Frau freute und ängstigte sie zugleich. Langsamer schoben die ersten die Löffel in die Suppe, schlürften die gelbe Brühe vorsichtiger ein, und das Schmatzen ihrer Lippen wurde leiser.
Der Krumme fand die Sprache zuerst wieder. Er stieß den dicken Holländer in die Seite und sagte mit verkniffenen Augen: „Eine Frau!"
Der Holländer schmunzelte und nickte. Leise wiederholte er die Worte des Krummen. „Ja — eine Frau."
Alle flüsterten sich das zu, kicherten, lachten und grunzten dabei, steckten die Köpfe zusammen und spitzten heimlich die Lippen. Nur der Heilige sah weiter geradeaus. Sein Gesicht war noch starrer und verzückter. Der Löffel stand noch immer zwischen den geballten Händen.

 

II.

Der Hofmeister kam noch zweimal. Zuerst brachte er eine dicke, auseinander laufende Jüdin, Ihr Gesicht war zusammengedrückt, Hals und Kopf hatten einen Umfang. Darunter pendelten unförmige, wurstartige Arme, und zwischen diesen Armen saßen breit und groß ihre Brüste.
Sie watschelte aber nicht, wie es dicke Frauen sonst tun. Ihre Füße waren klein, und sie trippelte auf ihnen wie ein zu dick geborenes Kälbchen. Der Hofmeister setzte sie neben den Krummen.
Danach kam er mit einer schmalen Holländerin. Sie sah aus wie eine katholische Betschwester, spitz, bleich, mit glasigen, großen Augen, die Haare straff und zu einem Knoten zusammengebunden, die Kleider leicht gerafft; in den gefalteten Händen hielt sie ein kleines, schwarzes Buch. Der ganze Tisch meckerte leicht, als sie hereinschritt, und der dicke Deutsche prustete laut heraus, bekam einen zinnoberroten Kopf und schlug sich klatschend auf die fetten Beine.
Der Hofmeister watschelte diesmal bis zu dem kugeligen Holländer, Er ließ ihn aufstehen und wies der Frau seinen Stuhl, Die Frau setzte sich knixend nieder, und der Holländer rückte hinauf an die linke Seite der Jüdin.
Der Krumme saß nun wie eingeschlossen zwischen den beiden Frauen. Sie bedrückten ihn. Er klemmte seine Arme fest an den Körper, um sie nicht zu berühren, und versuchte mit Anstand weiter zu essen. Er verschluckte sich aber einige Male und prustete Suppe und Löffel auf Tisch und Teller.
Die Frauen beachteten es gar nicht. Die Jüdin stemmte ihre unförmigen Arme auf den Tisch und sog die Suppe lauter als der große Schotte in den breiten Mund. Die Betschwester legte erst vorsichtig ihr Buch zwischen Brot und Teller, schloss ein wenig die Augen, löffelte und schöpfte aber dann die Brühe wie eine Maschine, gierig und saugend, als müsste sie etwas einholen.
Nach der Suppe gab es Fisch. Der dünnbeinige Franzose, dem die große Schüssel vor die Nase gestellt wurde, roch daran. Sein eingefallenes, bläuliches Gesicht schob sich darüber, die Nase zog sich spitz zusammen, und sein schwarzer Bart stachelte steil nach oben.
„Er riecht!" sagte er laut, nachdem der Steward wieder hinausgegangen war, zog sein Gesicht zurück und lehnte sich mit einer müden Bewegung nach hinten.
Alle schnupperten mit ihren Nasen in die Luft, verdrehten ihre Augen und machten seltsame Gesichter. „Wirklich“, sagte die Französin mit ihrer hohen Stimme, „er riecht!"
Der Holländer, der die Französin seit ihrem Eintritt noch nicht aus den Augen gelassen hatte, fing diese Worte auf, stemmte sich in die Höhe, lachte der Frau vertraulich zu und zischte: „Ja, ja!"
Die Frau sah das runde Gesicht erstaunt an. Sie zog erst etwas die Schultern ein, als müsse sie sich schütteln. Spitz kam aber gleich ihre Zunge zwischen die Lippen. Sie lachte mit.
Der Krumme hob unter dieser Vertraulichkeit die Augen, als wäre er gestochen worden. Er sah erst die Frau an und dann den Holländer. Seine Augen wurden scharf und grimmig.
„Was lachst du?" schrie er den Dicken an, dass die Betschwester erschrocken auffuhr und nach ihrem Buche tastete, „Ist das zum Lachen, dass sie uns stinkigen Fisch geben?"
Dem Holländer färbte sich unter dem lauten Anruf das Gesicht. Er wollte etwas antworten und erhob schon seine Hand, um sie mit dem ersten Wort auf den Tisch zu schlagen. Es fiel ihm nur nichts ein. Die Französin lachte aber weiter, Sie war unter den groben Worten des Krummen zusammengezuckt wie der Dicke; nun sie sein Gesicht sah, das zerdrückt und schief auf dem fetten Halse saß, war ihr das Lachen wiedergekommen. Sie sah dem Krummen in seine feurigen Augen und auf die roten Tränensäcke, die langsam Wasser ließen, spitzte auch ihm ihre Zunge zu, und ihr Lachen stieg noch einen Ton höher.
Der Krumme wärmte sich in diesem Lachen. Er versuchte, seine Zunge genau so spitz herauszustecken, schnellte sie aus dem Gaumen hervor, und die Französin, die es sah, kreischte vor diesem Ungetüm auf, verschluckte sich, und sie musste sich eilig umdrehen, sonst hätte sie den ganzen Tisch bespieen.
Der Lange wandte sich der heftig Bellenden mit einer müden Bewegung zu. Er richtete sie wieder auf und drückte dabei seine durchsichtigen, schmalen Finger auf ihre Brust, schlug sie mit der anderen Hand langsam auf den Rücken und tat das solang, bis sich die Frau wieder umdrehen konnte.
Unterdessen ging es an der anderen Seite des Tisches noch höher her. Der Fisch wanderte von einem zum andern. Der Belgier, ein großer, schwarzer Mensch mit blitzenden Augen, hob pastoral die Hände, als die Schüssel vor ihm stand. Er machte sein ernstestes Gesicht, nahm eine Gabel, teilte damit einen der großen Fische auseinander, ohne ihn auf seinen Teller zu nehmen, sah in seinen Leib, und während er auf die dunklen Stellen deutete, die sich längs der Gräten hinzogen, sagte er mit einer klangvollen Stimme: „Er ist bereits schwarz."
Der Däne, noch größer und schlanker, der neben ihm saß, und dessen rotes Haar steil und wie Feuer über seinem spitzen Schädel loderte, riss ihm die Schüssel fort. „Warum soll er nicht schwarz sein?" schrie er laut und beugte sich auch über den geöffneten Fischleib. „Wir fahren doch in der dritten Klasse. Proletenbillett! Oder habt ihr schon einmal etwas anderes als Abfälle bekommen?"
Der Amerikaner, der blass und wie aus einem Stück gegossen dem Dänen gegenübersaß, hob seine bebrillten Augen und sah den Schreienden scharf an. „Du hast recht, Kamerad", sagte er. „Wir fallen überall in unseren Stand wie in ein Loch, und wir werden stets so behandelt, wie es der dritten Klasse zukommt."
Der Deutsche, der neben ihm saß und noch an einem zweiten Teller Suppe schleckte, schrie auch auf. Er zog erst seinen Löffel über die dicken Lippen, stülpte sie nach vorn und sagte polternd: „Ich habe mein Geld bezahlt, und ich will guten Fisch haben. Den besten Fisch, ich werde mich sonst beschweren!"
Alle schimpften über den Fisch. Der setzte seine Reise auf der Tischplatte fort. Er stand nun vor einem zweiten Holländer, dem Geduckten, hin. Der stocherte mit seiner Gabel in ihm herum. „Er wird schon noch zu essen sein", sagte er, zog das zerteilte Stück aus der Schüssel, hielt es vor seine Nase und ließ es auf seinen Teller fallen.
Die Schimpfenden waren einen Augenblick still. Sie sahen zu dem Geduckten. Der zog die Fischhälfte noch über seinen Teller, dann hob er das Tier einmal bei dem Kopf und einmal bei dem Schwanz in die Höhe und spielte mit ihm wie eine junge Katze. Plötzlich, sein graues, verwittertes Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Grimasse, schnappte er hinein.
Er spie alles gleich wieder aus, krächzte, als wenn ihm schon etwas in die Kehle gekommen wäre, hob hastig seine Hände hoch, packte seine Armzipfel und fuhr damit rechts und links über Backen und Lippen. Mit einem kurzen „Brrr" schüttete er noch die Fischhälfte in die Schüssel zurück und gab ihr einen Stoß, dass sie bis zu dem Schotten fuhr.
Der Schotte fasste sie mit den Fäusten, als wolle er sie zerdrücken. Er hob sie aber nur vor sein Gesicht, schlug sie wuchtig wieder auf das harte Holz des Tisches und sagte kurz und grimmig: „Pack!"
Der Krumme fing das Wort „Pack" auf, zog die Schüssel heran und hing auch seine Nase hinein. Zur gleichen Zeit schielte er nach der Französin. Als er sah, dass diese, die sich leicht an den langen Engländer gelehnt hatte, wieder mit dem Dicken züngelte, rief er laut, ja, er brüllte beinahe: „In die Fresse sollte man den Brüdern das Zeug werfen!"
Die Französin war diesmal wirklich erschrocken. Sie drückte sich stärker an den Langen, der durch ihre Vertraulichkeit ganz steif und feierlich wurde, schloss die Augen und atmete heftig.
Die Suppe schlürfende Betschwester, die dem Gebrüll des Krummen noch näher saß, war auch erschrocken. Sie ließ ihren Löffel fallen und griff eilig nach dem schwarzen Gebetbuch.
Nur die Jüdin blieb ruhig. Sie zog sogar die Schüssel zu sich herüber, fischte sich mit ihrer Gabel ein Stück heraus, legte es auf ihre vorgeschobenen Lippen und zernagte es mit ihrer Zunge. Es schien ihr auch nicht zu schmecken; sie schob die Lippen noch weiter vor, dass sie aussahen wie das Maul eines fetten Karpfen, drehte sich halb um und spuckte alles klatschend auf den Boden.
Durch den Krummen war der Lärm allgemeiner geworden. Der geduckte Holländer, er sah aus wie ein „Tramp", den die Landstraße in diesen Schiffsbauch gespieen hatte, rief immer: „Es schmeckte wie Dreck!"
Der junge Mann, es war sein Bruder, der korrekt, mit einem steifen Kragen und steifen Manschetten, neben ihm saß, sagte genau so oft, nur kürzer und würdiger: „Gemeinheit!"
Der große Schotte war am ärgerlichsten. Er fand nur keine Worte für seine Wut und schlug darum laut und dröhnend auf die Tischplatte.
Plötzlich zischte der Deutsche, der sich in dieser polternden und schimpfenden Gesellschaft nicht besonders wohl fühlte und immer nach den Türen schielte: „Der Steward kommt!"
Der Steward, ein junger Mann, dem der weiße Kittel etwas lose um die schmalen Schultern hing, brachte das Fleisch. Es war nicht gleich ruhig, besonders der Schotte donnerte noch auf den Tisch. Die anderen brummten und maulten aber doch schon leiser.
Erst als der Steward, der die Fleischschüssel niedergesetzt hatte, die Teller einsammelte, fasste einer den Mut und stand auf. Es war der Korrekte. Er nahm den Steward an seinem weißen Kittel, versuchte ihn zwei Schritte abseits zu fuhren und sagte ihm leise, sich verbeugend: „Ihr Fisch ist schlecht!"
Der Steward verzog kaum das Gesicht, sammelte die Teller ein und antwortete: „Ich weiß es."
Der Belgier, der die Antwort hörte, schnellte hoch. „Du weißt das!" brüllte er, „und hast uns das Zeug doch gebracht!" Seine schwarzen Augen funkelten gefährlicher als Feuer.
Der Steward sammelte ruhig die letzten Teller. Vor dem Heiligen, der erst mit der Suppe begonnen hatte, blieb er einen Augenblick stehen. Langsam drehte er sich dem funkelnden Belgier zu. „Ich bin ein Angestellter", sagte er, und sein Gesicht wurde steif. „Ich bekomme den Fisch. Ich bringe ihn. Das ist meine Arbeit."
Auch der Däne war aufgestanden. Er war aber ruhiger. „Einer muss zum Kapitän gehen", sagte er.
Der Steward verteilte nun schon das Fleisch. Es roch besser. Die ersten schnitten gleich hinein. „Es ist gut", sagte der Deutsche triumphierend, der sich ein großes Stück auf den Teller gezogen hatte, und kaute mit vollen Backen.
Der ganze Tisch beruhigte sich. Selbst die Aufgestandenen vergaßen Beschwerde und stinkigen Fisch, ließen sich auf ihre Stühle zurückplumpsen, langten in die neue Schüssel und kauten mit.
Es war still. Man hörte nur das Schneiden und Kratzen der Messer. Manchmal rief einer nach Kartoffeln oder nach Sauce. Der Krumme säbelte, ohne sich umzusehen, in seinem Fleisch. Er hatte die Französin fast vergessen und spürte nur die Schärfe von Salz und Pfeffer, die er zwischen seine Zähne schob und die ihn hinten im Gaumen kitzelten und brannten,
Nach dem Fleisch gab es noch Apfelsinen. „Madame!" rief der Schotte, vor den der Steward den Korb mit den Früchten gestellt hatte, und warf der Französin eine zu. Sie lächelte dankbar zurück, sie lächelte aber gleichzeitig kokett zu dem Krummen, der sich satt und zufrieden zurückgelehnt hatte und die Frau wie ein brünstiger Stier beglotzte und abtastete.
„Der Teufel soll die Hunde holen!" schrie da der Däne plötzlich auf Er knallte seine Apfelsine auf den Boden und brüllte noch lauter: „Sie ist auch faul!"
Die andern waren glücklicher. Sie schälten die kleinen Früchte, bissen mit den Zähnen hinein, schlürften sie aus oder zerteilten sie mit ihren groben Fingern. Der Krumme steckte die seinige in die Tasche. Die Betschwester, die aufgestanden war und eilends hinaustrippelte, hatte die ihre noch tiefer in einen an ihr hängenden Strickbeutel vergraben. Alle sahen dem enteilenden Persönchen nach. Ihre Röcke schlenkerten etwas hochgezogen hinter ihr her. Man sah ihre spindeldürren Beine, die dicken, hängenden, grau und weiß gestopften wollenen Strümpfe und ein Stück von einem rot- und grüngestreiften Unterrock, Ihr Buch hielt sie wieder fest an die Brust gedrückt in den mageren, spitzen Händen.

 

III.

Nach dem Essen schlürften alle hinaus. An der Tür gab es ein Gedränge. Der dicke Holländer und der Krumme wollten gleichzeitig mit der Französin durch den schmalen Spalt. Der Krumme blieb Sieger. Er schob den Dicken wie einen schweren Sack an die Wand. Der Frau drückte er aber nur schnell die Apfelsine in die Hand, lächelte sie einen Augenblick mit seiner groben Verzerrtheit an und trat dann wieder zurück.
Hinter der Tür stockte der Vormarsch erneut. Keiner wusste, wo er hingehen sollte. Einige drängten nach oben. Das Schiff war aber überall noch kalt, wenigstens in der dritten Klasse. Alles stürzte darum nach den Kabinen. Auch die Kabinen waren nur angeheizt. Schimpfend warfen sich die Männer auf die Betten.
In der ersten Kabine lagen die beiden Brüder. Der Korrekte hatte seinen Kragen abgebunden und die Manschetten abgezogen. Die kleinen Halbschuhe schob er unter das Stahlgestell. Der Geduckte hatte nur seine Jacke abgestreift und sie unter den Kopf gelegt. Seine Stiefel lagen auf dem Bettzeug. Er versuchte zu schlafen.
„Bernd!" rief der Korrekte, der sich halb aufgerichtet hatte und seinen Bruder mit einem ärgerlichen Gesicht betrachtete, „du bist hier nicht auf der Landstraße!"
Der öffnete kaum die Lippen. „Kleiner!" knurrte er, „halt dein Maul!"
Der Kleine machte große Augen. „Bernd!" sagte er lauter, „vergiss nie, dass du ein Aufgelesener bist. Um dich ist anständige Gesellschaft!"
Diesmal stemmte sich der Große hoch. „Anständige Gesellschaft", grunzte er, und aus seinen ledernen Backen kam ein heiseres Meckern. „Quatsch! Vielleicht der kugelige Deutsche oder der runde Holländer? Keiner ist schwerer als 1000 Dollar, Außerdem tue ich, was ich will!"
Sie sahen sich an. Dem Kleinen stieg Zorn in den Kopf. „Bernd!" rief er das dritte Mal und hob seine Stimme, „willst du mir die Schande machen? Das Schiff ist keine 50-Cent-Herberge!"
Der Große meckerte noch lauter. „Wirst du feierlich, Kleiner?" antwortete er. „Spar dir das. Außerdem ist dein vornehmes Schiff kälter als jede Feldscheune."
Das Gesicht des Korrekten wurde ernst. Er verbiss aber seine Antwort. Der Große hatte sich auch schon wieder zurückplumpsen lassen, holte tief Luft und schien einzuschlafen.
Nebenan lagen die beiden Engländer und der dicke Holländer. Die Kabine hatte ein Fenster. Gelbes Licht fiel herein und bildete einen hellen, auslaufenden Tupfen. Der Krumme lächelte noch. Er lag auf dem Rücken, hatte die Beine abgezogen, zwei graue Decken über den Körper geworfen und sah nach oben.
Über ihn war brummend der Holländer gekrochen. Er schnarchte schon. Laut und dröhnend gurgelte er dumpfe Tone aus seinen aufgeblasenen Backen und zog die ausgestoßene Luft saugend und schnaubend wieder in sich ein.
Der Lange, der ihm gegenüberlag und mit steifem, zurückgebogenem Rücken an einem eisernen Bettpfosten lehnte, feilte an seinen Fingernägeln, Er betrachtete sie mit herunterhängender Unterlippe, bog sie nach allen Seiten und schien bekümmert.
Der Krumme drehte sich auf die Seite und sah ihm zu. Er spitzte immer seine Lippen, als wollte er etwas sagen. Endlich brachte er es heraus. „Henry!" zischte er leise durch seine großen Zahnlücken zu dem Langen hinüber, „sie ist doch ein verdammt schönes Weib, diese Französin!"
Der Lange sah auf. Er zog seine hängende Lippe nach oben und lächelte säuerlich. Sie fiel aber gleich wieder bekümmerter nach unten, und er feilte schneller über die schwarzen Kuppen seiner Finger.
Henry!" zischte der Krumme weiter und streckte seinen fetten Hals so weit als es möglich war zu dem Langen hinüber, du hast sie doch angefasst: Ist sie kräftig? Hat sie Brüste?"
Der Lange sah länger auf. Sein Gesicht war nach oben gezogen, und seine Augen glänzten. „John!" sagte er mit näselnder Stimme, „in sechs oder sieben Tagen bist du in Carlisle. Du solltest an Charlain denken."
„Satan!" knirschte der Krumme kurz und stierte dem Langen bösartig in die Augen. Der Lange hielt den Blick aus. Langsam zog der Krumme den Kopf zurück, wälzte sich wieder auf den Rücken und sah ernster nach oben.
In der dritten Kabine ging es lauter zu. Der Däne und der Amerikaner saßen aufgerichtet in den Kissen. Sie schimpften noch über das schlechte Essen und über die Kälte.
So eine Bande!" schrie der Belgier aus dem oberen Bett, „sie behandeln uns ja schlechter als das Vieh!"
„Sie behandeln uns wie Arbeiter!" sagte der Däne,
„0", schrie der Belgier lauter, „also deswegen die Kälte und der stinkige Fisch!"
„Ja“, brummte der Däne, „wir sollen auch in dem Kahn nicht vergessen, dass wir Arbeiter sind!"
Der Amerikaner, der seine Brille abgesetzt hatte, und dessen Augen nun groß und verschleiert aus dem bartlosen Gesicht sahen, wurde feierlich. „Die Erde ist ein Gefängnis", sagte er hart. „Und wir sind die Gefangenen."
„Verdammt!" kreischte der Belgier und hing seinen schwarzbehaarten Kopf bis über die Mitte des Raumes, wir wollen aber keine Gefangenen sein, und das sage ich euch, wir werden auch keine Gefangenen bleiben!"
Der Amerikaner setzte seine Brille wieder auf und sah den Belgier eine Weile an. Er reichte ihm dann seine Hand. „Ich komme aus dem Süden", sagte er langsam. „Ich bin Anarchist!"
„So", brummte der Belgier zurück, betrachtete den Bebrillten auch, zog zuerst seine Lippen etwas bedenklich nach oben, drückte die Hand aber doch. „Wir sind also Genossen", sagte er.
In der vierten Kabine, einem Kasten mit schiefen Wänden, herrschte die gleiche Erregung, Der Deutsche war wieder mutig geworden. Er hatte sich noch nicht hingelegt, trippelte aufgeregt auf seinen dicken Wurstelbeinen hin und her und sog an seiner Zigarre.
„Wirklich!" stöhnte er und blähte sich auf, „ich habe 105 Dollar bezahlt und will ein gutes Essen und auch Heizung. Ich bin ein amerikanischer Bürger. Ich habe eine Schreinerei in Baltimore, und ich will nicht wie jeder Tagedieb behandelt werden!"
Der Schotte, der sich gleichfalls nicht gelegt hatte und auf seiner Bettkante hockte, war noch wütender. Er sagte aber nichts. Er trommelte nur mit seinen riesigen Fäusten auf das Bett, als schlüge er einen Generalmarsch, und manchmal pfiff er einen gellenden, hohen Ton.
Ü ber ihm lag der dünne Franzose. Er hatte sich in seinen Mantel gehüllt und hustete jämmerlich. „Es ist kalt", keuchte er und krümmte sich zusammen.
Wenn er sich durch die Erschütterungen des Hustens hochstemmen musste, erschien jedes Mal sein Gesicht. Es war noch blässer als am Tisch, und die Augen saßen darin wie Feuerräder, rot und fiebrig.
Der Deutsche blieb stehen und sah ihn an. Er blickte nach dem schmalen Mund, auf dem sich rote Bläschen bildeten, und beobachtete die Backen, die einmal gelb und Die Frauenkabinen lagen seitlicher. Rechts führte ein Gang zu ihnen. Man musste an der Kabine des Hofmeisters vorbei.
In der ersten hauste die Französin. Sie hatte sich eine gelbe Strickjacke mit roten Tupfen umgehängt, hielt die geschälte Apfelsine in ihren Händen und kaute daran.
Sie wurde noch possierlicher. Sie dachte an den Krummen, an seinen zusammengedrückten Kopf und die großen Tränensäcke unter den Augen. Sie schüttelte sich und lachte doch wieder darüber, versuchte sein Gesicht nachzumachen und kicherte dabei hellauf.
Die Betschwester, die auf dem höheren Bett thronte, schien die kichernde Französin nicht zu hören. Sie hatte ihren oberen Rock hochgezogen und saß auf den roten und grünen Streifen wie auf einer Gebetsdecke.
Sie blätterte aufgeregt in ihrem kleinen Buch. Sie nickte bei jeder Seite steif mit dem Kopf nach unten, so dass ihr grauer Knoten wie der Schopf einer Haubenlerche immer auf und nieder wippte.
Nachdem die Französin nach langem Fingerabschlecken in ihr Bett hineingekrochen war und sich nun wie ein Maulwurf in ihre Decken wühlte, spitzte die blätternde Betschwester aber plötzlich die Ohren. Sie legte leise das Buch zur Seite, spitzte auch noch ihren Mund, dass sie aussah wie eine horchende Mausemutter, beugte sich aus ihrem Bett und schielte mit ihren glasigen Augen nach unten. Wirklich — das Frauenzimmer schlief.
Noch leiser tastete sie nach einer sackartigen Stofftasche, die sie über sich hinter einem Balken verborgen hatte, nahm eine große Tüte heraus, schüttete kleine gezuckerte Plätzchen auf ihren Rock und aß von ihnen. Sie tat das alles so heimlich, als wäre es etwas Sündhaftes. Stopfte das Gebäck in ihre Backentaschen, und jedes Mal, wenn sich draußen auf dem Gang etwas regte, horchte sie auf, fasste nach ihrem Buch und versuchte wieder ihr ernsthaftes, heiliges Gesicht zu machen.
Im Nebenraum wohnte die Jüdin. Sie war wie ein Sack auf ihrem Lager zusammengefallen. Unförmig wölbten einmal weiß wurden. „Mann, „sagte er und nickte dem Franzosen vertraulich zu, „dein Blasebalg ist ja nicht mehr in Ordnung."
Der Franzose sah ihn groß an, und sein Gesicht wurde noch blasser. „Ich weiß es“, keuchte er, „wenn er nur noch halten wollte. Wenigstens bis Marseille, Ich will nach Marseille."
In der letzten Mannerkabine war es still. Im oberen Bett saß der Heilige. Er sah durch das runde Auge auf das Wasser. Sein Gesicht war noch kindlicher. Sein Mund war ein wenig geöffnet, als wäre er erstaunt.
Draußen rollten in langen Sprüngen die Wellen an. Sie waren erst tiefgrün und nur als kreiselnde Flecken im Wasser verborgen. Dann sprangen sie auf, wurden zu kleinen Ungeheuern, weißgelb, schaumig. Wenn sie vom Fenster in das Wasser zurückklatschten, sah man in der Ferne noch einen Streifen Land.
Der Heilige hockte sich etwas zurück. Sein Gesicht schloss sich. Er sah auch nicht mehr hinaus. Schief hielt er jetzt seinen Kopf nach unten gesenkt, blickte auf seine dürren gelben Hände und schien nachzudenken. Sein ganzer Körper zitterte. Aber er blieb so sitzen, beugte seinen Kopf noch tiefer und bewegte die Mundwinkel. Er tat es genau so ernsthaft wie bei Tische und so, als spräche er Gebete.
Unter ihm im Bett lag ein kleiner, dürrer Russe. Er hatte bei Tische kaum gesprochen, nur manchmal sein unrasiertes, gelbes Gesicht, auf dem die Haare sich nach oben stemmten, wie bei einem Igel die Stacheln, gehoben und gelauscht. Er war unter die Decke gekrochen und schlief. Von seinem Gesicht sah man knapp die rechte Hälfte. Die war von einer großen Narbe durchzogen, die bei jedem Atemzug rot aufglühte, aber sonst klein und unscheinbar wie der ganze Mensch. Gleich über der Nase büschelte sich der Schopf, Die Stirn war ganz überwachsen.
sich ihre Schenkel nach oben, und ihr Gesicht sah im Schlafen noch breiter und rundlicher aus. Nur der große Mund war zierlich zusammengezogen. Er wölbte sich spitz, und wenn sich die Luft aus der unförmigen Brust fauchend nach oben stieß, wurde sie zwischen diesen gewölbten Lippen ein hoher, gellender Ton.
In allen Kabinen wurde nun geschlafen. Wenigstens hörte man keine Stimmen mehr, und außer dem Fauchen und Blasen der menschlichen Lungen schlitterte nur das Drehen der großen Schrauben und das Stampfen der Kolben durch das Schiff.

 

IV.

Der Steward musste dreimal mit seiner großen Glocke in den Gängen läuten, bis sich die Männer rührten. Er rief zum Kaffee. Der Deutsche kam zuerst aus seiner Kabine. Er schüttelte sich in der Kälte wie ein Hund, kraxelte mühsam nach oben und schüttelte sich oben weiter. Langsam kamen die anderen.
Der Kaffee war schon lauwarm, als er auf den Tisch kam. Es gab harten, eingetrockneten Zwieback, dazu eine rote, angesäuerte Marmelade. Der dicke Holländer stülpte die Lippen, als er die Marmelade gekostet hatte, stemmte sich hoch, drehte um und ging wieder nach unten.
Der große Schotte knabberte an den harten Zwiebäcken wie ein unzufriedener Kater, er schlürfte seinen Kaffee dazu und machte ein finsteres und starres Gesicht.
Nur der Krumme war fidel. Er verdrehte die Augen, sah die Französin an, die in ihrer getüpfelten Jacke wie ein Fliegenpilz neben dem Langen saß und öffnete den Mund, um ihr etwas zu sagen. Er wusste aber nicht recht was.
Die Französin lächelte ihn an, gluckste wie eine Henne, um ihm zu helfen, dem Krummen kamen aber die Worte nicht aus den Zähnen, und so schloss er den Mund immer wieder, dachte angestrengt nach, bis er auf die Idee kam,
mitzulachen.
Die Betschwester erschien. Sie hatte einen grauen Schal umgebunden, so dass man von ihrem Gesicht nur die großen Augen sah. Sie knixte wieder, bevor sie sich auf den großen Stuhl setzte, und schlug heimlich ein Kreuz. Sie war besonders heilig.
Die Jüdin schlang wie zum Mittagessen. Zwischen ihren malmenden Backen zerknackte das harte Gebäck, als wäre es in eine Mühle geraten. Der Lange sah ihr heimlich zu, schielte auf ihre sich wölbenden Brüste und machte seine kleinsten Augen.
In der Mitte des Tisches war es lauter. Der Geduckte knurrte über den Zwieback. „Pfui!" sagte er und spie ein Stück wieder auf seinen Teller, „solche harte Knochen gibt man keinem Hund!"
Der Korrekte stieß ihn in die Seite. „Bernd!" rief er und sah ihn strafend an.
Der Geduckte wurde aber nur wütender. Er knallte sein Messer, das er mit Marmelade zum Munde geführt hatte, auf den Tisch und sprang auf. „Gentlemen!" schrie er, „ich bin zwölf Jahre zwischen San Franzisko und Neuyork hin- und hergelaufen, ich bin aber nie so schlecht bedient worden wie hier!"
Der Amerikaner sah den Schreienden erstaunt an. Auch der Däne und der Belgier drehten sich zu ihm hin. Als aber niemand auf seine Rede antwortete, zog der Geduckte seinen aufgeschnellten Körper zurück, kniff verächtlich die Lippen zusammen und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Er holte sich sogar die Marmeladenschüssel erneut heran, tunkte mit dem Löffel hinein und sah nach dem Deutschen.
Der hatte sich die rote Masse auf den Teller gelöffelt, streute Zucker darauf und schob sie auf seine Zunge. Langsam ließ er sie dort warm werden und in seine Kehle hineinlaufen.
An dem oberen Ende des Tisches aßen sie noch gar nicht. Der Amerikaner, der den Kopf gesenkt hatte, blickte zu dem Belgier. „Du fährst wohl nach Antwerpen zurück, Kamerad?" rief er über den Tisch,
„Ja“, antwortete der Belgier, „Amerika ist mir zu kalt."
Der Amerikaner lächelte. „Es ist nicht nur Amerika zu kalt. Der Mensch ist zu kalt!"
„O!" sagte der Belgier lauter, „aber nicht der europäische Mensch. Europa ist ein überheizter Dampfkessel, und die Menschen sind das Feuer darunter!"
Der Däne stimmte ihm zu. „Warte nur“, zischte er zu dem Amerikaner hinüber, „in sechs oder acht Tagen»wenn du die Beine auf dieses Europa setzt, spürst du das Feuer selber!"
Der Amerikaner lächelte. „Es ist gleich“, antwortete er langsam und hob seine Hände etwas in die Höhe, „Kälte oder Feuer, die einen verbrennen und die andern erfrieren. Wir sind am Ende."
Der Däne riss die Augen auf und sah den Amerikaner groß an. Der Belgier war nicht so überrascht von der sonderbaren Predigt, Er knuffte den erstaunten Dänen leicht in die Seite und blinzelte ihn an.
Der dicke Holländer stampfte zurück in den Eßraum. Er hatte ein Paket unter dem Arm, setzte sich umständlich in seinen Drehstuhl und packte aus. Es war Butter darin. Sorgfältig schmierte er sie auf seinen Zwieback, hüllte den runden Klecks schnell wieder ein und steckte alles in einen seiner lang herabfallenden Rockschöße.
Als er zu essen begann, sah er erst nach allen Seiten, ob ihm auch keiner zusah. Die Männer, die nicht sprachen, stierten auf ihre Teller, Nur die Betschwester schielte zu ihm. Sie verzog den Mund, als spüre sie die goldgelbe Butter auf der Zunge. Als sie den Augen des Dicken begegnete, bog sie aber ihren Kopf schnell wieder zur Seite, schlug eines ihrer Kreuze und starrte mit frommem Blick auf ihren schwarzen Buchdeckel.
Neben ihr wand sich noch immer der liebende Krumme. Er schien endlich die richtigen Worte gefunden zu haben. Er spitzte sie schon auf den Lippen, murmelte sie vor sich hin und schnitt dabei die seltsamsten Grimassen.
„Ich komme aus Pittsburgh!" sagte er stotternd, aber mit strahlenden Augen.
„So", antwortet die Französin und nickte ihm zu.
Das schien dem Krummen wie ein Erfolg. Er drückte sich fester in seinen Stuhl, schob seine Fäuste auf die Tischplatte und riss sein Mundwerk größer auf. „Das heißt, „stotterte er schneller, „ich habe auf einem kleinen Nest in der Nähe gewohnt. Wir haben dort Kohle gehackt!"
„So", antwortete die Französin wieder. Ihr Nicken war schon freundlicher.
„Das war ein Spaß!" schrie der Krumme, dem diese Freundlichkeit zu Kopf stieg. „Wir sahen jeden Tag aus wie die Schweine, und wir haben sogar Blut geschwitzt, so haben wir geschuftet!"
Die Französin antwortete das dritte Mal „So", stützte ihren Kopf in die Hände und kam ihm dadurch näher. „Aber“, brummte ihr der Krumme vertraulich zu, kicherte auf und schob ihr auch seinen Kopf entgegen, „die schwarzen Girls mussten uns jeden Abend wieder sauber scheuern. Das war das Beste. Wir sprangen herum wie abgeschleckte Kälber."
„So", nickte die Französin das vierte Mal. Sie bog sich aber zurück, denn der Krumme hatte sich soweit über den Tisch vorgeschoben, dass er sie beinahe berühren konnte.
Auch der Krumme zog seinen Kopf ein. Er war mit seinem Latein zu Ende, lehnte sich nach hinten, drückte ein Auge zu und blinzelte die Frau an. Es sah aus, als erwarte er etwas.
Die Frau spürte das. Sie schnob leicht mit der Nase, näherte sich erneut dem Tisch und sagte, indem sie den Krummen groß anblickte: „Ich komme aus Boston."
Der Krumme machte den Mund spitz, schmunzelte, als wolle er etwas sagen, er wiederholte aber nur: „Boston!" und verdrehte dabei die Augen, als wäre dieser Name der seltsamste, den er je gehört hatte. Die Französin überlegte, was sie dem Schmunzelnden noch sagen könne. Es entstand so eine kleine Pause. „O“, sagte sie plötzlich und reckte sich, „ich fahre jetzt nach Boulogne und später nach Paris."
Der Krumme tat wieder erstaunt. „Paris!" zischte er ihr nach. „Es ist eine große Stadt. Ich habe davon gehört."
Sie schwiegen nun eine Weile. Die Französin hatte die Augen geschlossen und neigte den Kopf. Sie schien an Paris zu denken. Der Krumme beobachtete sie. Als sie die Augenlider wieder hochzog und ihn anlächelte, sagte er schnell: „Und ich fahre nach Carlisle. Es ist schön. Es liegt beinahe am Meere. Ich habe es drei Jahre nicht gesehen!"
„Am Meere", wiederholte die Französin.
Der Krumme nickte. „Ich habe ein kleines Haus. Man sieht das Wasser. Man sieht die Wellen."
„Ja, „sagte der Lange, der ihre wachsende Vertrautheit mit herunterhängenden Mundwinkeln beobachtet hatte, „seine Frau wohnt darin und die Kinder."
Der Krumme zog unter den Worten des Langen Mund, Nase und Augen zusammen, als wäre ihm mitten darauf geschlagen worden. Er wollte etwas erwidern, brachte aber nur einen knurrenden Ton aus den Zähnen. Er schob deswegen seine Hände nebeneinander, und diese Hände wurden zu Fäusten, ballten sich klumpiger und hoben sich, als wolle er zuschlagen. Da sah er, dass die Französin immer noch lächelte.
Die geballten Fäuste fielen wieder auseinander, und er
lächelte mit.
„Sind wir schon in Carlisle?" sagte er frech und blickte den Langen an. „Nein, wir sind auf einem Schiff!"
„Nein, wir sind auf einem Schiff!"
„Auf einem Schiff!" wiederholte die Französin, blinzelte ihm in die Augen und ließ ihre Zungenspitze sehen.
Neben den beiden begann jetzt ein anderes Gespräch. Der dicke Holländer versuchte, sich der Betschwester zu nähern. Er besah sich erst ihr aschgraues Gesicht, blieb besonders an ihrer zu spitzen Nase hängen, dachte aber dann an die Augen, die an seinen Butterflecken gehangen hatten, und fand, dass sie ziemlich feurig gewesen waren.
Die Mägde in Alberta sind draller und haben mehr zwischen dem Rücken, überlegte er. Ist aber hier Auswahl? Nein! Er schob sein rundliches Gesicht näher an die Frau.
„Madam!" meckerte er mit seiner fetten Stimme und stieß ihr ein Stück bestrichenen Zwiebacks hin, „es schmeckt besser."
Die Betschwester rührte sich nicht. Nur ihre Augen blinzelten verstohlen, und sie wackelte leicht mit ihrem spitzen Hinterteil.
Den Dicken enttäuschte das. Er schob sein Gesicht bis vor ihre Augen, blähte seine stoppeligen Backen auf und sagte überzeugend: „Es ist eine sehr gute Butter. Sie ist von meiner Farm!"
Die Betschwester wurde aufmerksamer. Jedenfalls drehte sie ihm ihre Augen zu. Als er aber in diese glasigen, großen Lichter blickte, zuckte er zurück wie ein bei einem Diebstahl ertappter Junge, wandte sich eilig um und verfiel in eine ängstliche Steifheit,
Die Augen der Betschwester veränderten sich nun. Sie wurden hell und glänzend, und ihre spitzen Finger, die sie einfältig vor die Brust gehalten hatte, schoben sich nach dem Butterzwieback, fassten ihn und steckten ihn in den Mund.
Als sich der dicke Holländer wieder zu ihr umdrehte, war der Zwieback schon in diesem Mund verschwunden, Sie zerdrückte wenigstens die letzten Reste zwischen den Zähnen, und sie tat es so geschickt, dass es aussah, als murmele sie ihre Gebete.
Dem Dicken war der Mut vergangen, sie anzusprechen. Er sah aber erstaunt und mit halboffenem Munde, dass sein Butterzwieback verschwunden war. Hatte ihn der Teufel geholt oder einer der Männer, die ihm gegenübersaßen? Schreckhaft fasste er nach seinem Rockzipfel, ob wenigstens der Klumpen bei ihm geblieben war. Da hing er noch. Er umtastete ihn zärtlich. Er stand aber doch auf, um ihn in Sicherheit zu bringen.
Das Gespräch zwischen dem Amerikaner und dem Belgier war wieder in Gang gekommen und lebhafter geworden. Der Belgier hatte seinen Kopf in die Hände gestützt und flammte wie eine überscbraubte Lampe. „Yankee!" brüllte er, „du bist ein Eiszapfen!"
„Danke", sagte der Bebrillte, dessen Gesicht sich nicht verzog. „Aber was ändert das. Wir entwickeln uns doch rückwärts."
„Und Russland?" fragte der Däne und sah dem Bebrillten auf den Mund, „ist das kein Fortschritt?"
„Sicher“, antwortete der Amerikaner, „Revolution des Menschen ist immer Fortschritt. Einige Millionen werden auch für Jahrzehnte glücklicher sein. Was soll das aber sonst? Die Erde revolutioniert nicht mit, und aller menschlicher Fortschritt kann den Zerfall von Welt und Erde nicht aufhalten!"
Der Däne riss seine Augen das zweite Mal auf, der Belgier wurde nun zornig. „Das will ein Revolutionär sein!" brüllte er laut, „Soll der Mensch nicht etwa revoltieren?"
Der Amerikaner sah auf die Seite. „Ich bin Anarchist!" sagte er leise. „Ich habe euch das schon gesagt. Ich kämpfe also mit allen Mitteln für die Freiheit. Auch mit Waffen. Wir sind aber an die Erde gebunden, und unsere Macht reicht nicht über die menschliche Kraft hinaus!"
Der Däne fand plötzlich seine Sprache wieder und auch eine Antwort. „Sie haben dir das Hirn verkalkt, mein Junge!" lachte er laut. „Was geht uns die Erde an und ihre Kälte. Wir kämpfen um unser bisschen Leben, um nichts weiter."
„Ja!" brüllte da der Geduckte auf, der schon lange auf der Lauer lag, um sich mit in den Streit zu mischen, „wir kämpfen um unser bisschen Leben. Ich war bei den letzten Kohlenstreiks mit dabei. Wir haben es ihnen gegeben, bis sie uns auseinanderkartätscht haben. Und," fügte er noch dazu, „lasst den Milchbart reden, was er will, die Revolution ist das Größte!"
Der Amerikaner, der dem Dänen noch antworten wollte, verstummte. Auch die andern schwiegen. Unterdessen stand man bei den Frauen auf.
Erst trippelte die dicke Jüdin aus dem Raum. Der lange Engländer folgte ihr und sah ihr scharf in den Hals. Über die Betschwester, die hinter ihm herschwänzelte, lachten wieder die meisten. Dann kam die Französin. Sie hatte den Kopf etwas gesenkt und schielte zu dem Belgier und zu dem Dänen. Die Männer mussten ihr gefallen. Hinter ihr schob sich der Krumme hinaus.
Alle erhoben sich auf einmal. Die meisten drängten nach oben. Nur der Deutsche saß noch auf seinem Platz. Er löffelte weiter Marmelade und ließ sie auf der hängenden Zunge zergehen.

 

V.

Der Weg nach oben führte an der Küche vorbei. Durch einen kleinen Gang kam man erst auf ein vergittertes Unterdeck. Steil ging es dann nach oben. Der Wind war im offenen Meer zum Sturm geworden. Er wälzte sich heran, als wollte er Wolken und Wasser durcheinander stürzen. Bergehohe Wellen schob er vor sich her und ließ sie über das Schiff jagen, dass die Männer auf eiserne Pfosten flüchten mussten und die Frauen kreischend in den Tagesraum flohen.
„Gibt es Sturm?" fragte der Lange einen Matrosen, der mit Seilen und zu Netzen verschlungenen Stricken vorüberbalancierte.
„He!" brüllte der laut zurück, „stürmt es dir noch nicht genügend? Wir kleistern schon die Decks zu, dass das Wasser euch nicht fortschwemmt!"
„Hier auch?" fragte der Deutsche ängstlich und hielt den Laufenden an der Bluse.
„Morgen“, sagte der glucksend und schüttelte den Deutschen wieder ab, „erst binden wir bei den Fettbäuchen zu, die sind wertvoller als ihr Strauchdiebe!"
Der Däne und der Belgier versuchten einen Rundgang zu machen. Sie stiefelten bis in die hintere Rundung des Schiffes, beugten sich nach unten und sahen einen Augenblick die wirbelnde Schraube. Sie hob sich schäumend und gurgelnd aus dem Wasser. Gleich senkte sich aber das Schiff auf die Seite, es wurde von einer gewaltigen Welle überholt, und die spülte die spähenden Männer klatschend gegen das Steuerhaus.
Sie waren nass bis über die Knie, lachten aber und wollten noch die nächste Welle erwarten. Sie kam an wie ein Ungeheuer und bog das Schiff so tief, dass sie dachten, sie versänken. Als sich das Hinterteil wieder nach oben hob, waren sie nasser als Wassermäuse, tasteten sich schüttelnd zurück und verschwanden auch in dem Tagesraum.
Das war ein viereckiger Kasten mit Tischen und Stühlen. Alle waren jetzt hier versammelt. Einige standen an den Fenstern und sahen hinaus. Die andern standen in kleinen Gruppen zusammen und sprachen miteinander. Nur die Betschwester saß allein in einer Ecke. Sie las in ihrem Buch und machte ihr heiliges Gesicht.
Links von ihr standen der Geduckte und der Amerikaner. Der Geduckte redete auf den Bebrillten ein. Er sprach noch immer von der Revolution. Kamerad!" sagte er und schob sein Gesicht näher an die Brille, „wir hatten einen Irländer bei uns, der war stärker als ein Pferd. Er schlug jeden Policeman mit einem Hieb zusammen und brüllte immer ,Wieder einer'. Kerls, sagte er zu uns, wenn ich weiter jeden Tag ein Dutzend zusammenschlage, nehmen sie bald ein Ende, und wir sind frei!"
Der Amerikaner trat einen Schritt zurück. „Was soll das?" fragte er. „Wenn man Menschen totschlägt, ändert sich nichts. Wir müssten schon die ganzen oberen Klassen totschlagen, wenn wir frei werden wollen."
Der Krumme, der näher kam, hörte die letzten Worte. „Ja, aller schrie er und schlug dem Amerikaner wohlwollend auf die Schulter. „Es ist keiner einen Cent wert. Sie sitzen an uns wie die Kletten, saugen uns aus und werden dick und voll, und wir schinden uns mager und hässlich!"
Er wollte noch mehr sagen, aber er sah, dass die Französin in den Raum trat, sich langsam zum Fenster wandte und hinausblickte. Er ließ die beiden stehen und schlenderte hinüber.
„Es ist ein schlimmes Wetter", sagte er, trat ganz nahe zu ihr, und, berauscht, sie so leibhaftig zu spüren, stieß er sie mit seinem Daumen in den Rücken.
Die Französin kreischte auf. Sie lief aber nicht fort, sondern sah weiter durch das Fenster. Von Osten trieb jetzt Schnee gegen die Scheiben. Der versperrte die weite Sicht, nur das Wasser blieb sichtbar und die hohen Wellen. An den schwankenden Bewegungen des Schiffes spürte man, dass der Sturm minütlich stärker wurde.
„Man kann nicht hinausgehen", sagte der Krumme wärmer, duckte seinen Kopf und stieß die Frau härter.
Sie schien zu spüren, dass die Stöße Liebkosungen des Krummen waren, aber als wüsste sie nichts von seiner Gegenwart, blickte sie weiter in den Sturm und hob und senkte nur schüttelnd Hals und Rücken.
Ihn ärgerte das. Er drängte sich neben sie, stieß den geduckten Kopf hoch und versuchte, sie mit seinen Backenstoppeln zu berühren und zu reiben.
Sie zuckte zusammen. Aber das Reiben und Kitzeln musste ihr mehr behagen als das Stoßen. Sie zog ihr Gesicht wenigstens nicht zurück, ließ es an seinen Stoppeln und drückte es sogar fester hinein.
Es sah sonderbar aus, die beiden nebeneinander. Sie glichen zwei sich reibenden Katern. Der Krumme wurde hochrot dabei. Die Röte schoss aus seinem fetten Hals, legte sich langsam um Mund und Augen und stieg zuletzt bis an die Haare.
Plötzlich stieß ihn der Lange, der die sich immer zärtlicher Reibenden gesehen hatte und eilends herbeikam, mit der Fußspitze in die Kniekehlen.
Der Krumme brach durch den Schmerz beinahe, zusammen. Er fiel erst nach hinten, stemmte sich aber gleichzeitig wieder hoch und rannte dabei mit solcher Wucht gegen die Französin, dass diese wie ein Ballen gegen die Fenster fiel.
Sie erschrak noch mehr und schmerzlicher als der Krumme. Sie dachte erst, die Zärtlichkeiten des zusammengedrückten Engländers wären so stürmisch geworden und wollte davonlaufen. Als sie sich umsah, den sich windenden Krummen erblickte, der sich auf einen Stuhl geschleppt hatte, und neben ihm das Gesicht des Langen, das würdig und ein wenig nach oben gezogen sich über ihn beugte, blieb sie stehen. Sie begriff den Zusammenhang.
„John“, sagte der Lange gerade, und man konnte nicht genau hören, ob er spöttelte oder einen guten Rat gab, hasst du dir weh getan? Du solltest solche Dummheiten auch lassen!"
„O, „sagte er dann und wandte sich nach einer korrekten Verbeugung entschuldigend zu der Frau, „haben Sie sich auch weh getan? Aber er ist mein Schwager. Seine Frau ist meine Schwester."
Der Belgier und der Däne, die sich an ein Heizungsrohr gesetzt hatten, schienen wieder, trocken zu sein. Der Belgier stemmte noch seine Füße auf das dampfende Rohr, der Däne hatte sich aber schon etwas zurückgesetzt, nahm Tabak aus einer gelben Dose und wickelte sich Zigaretten.
„Kamerad, „fragte der Däne, „bist du Anarchist?"
Der Belgier schielte schräg zurück. „Sehe ich so aus wie der Bebrillte?" fragte er.
Der Däne lachte. „Er ist aber höllisch klug, dieser Bruder."
Der Belgier verzog sein Gesicht. „Sie sind alle klug, die Yankees", brummte er leiser. „Das heißt, was sie einmal eingesogen haben, das sitzt in ihnen wie die Wurst in der Schale. Ich habe wenigstens noch keinen gesehen, der sich zwischen Geburt und Tod geändert hätte."
„Kamerad, „fragte der Däne ein zweites Mal, „bist du Syndikalist?"
Der Belgier antwortete nicht gleich. „Früher", sagte er langsam. „In Antwerpen waren wir alle Syndikalisten. Ich habe damals in den Häfen gearbeitet. Heute sind wir Sozialisten geworden."
Der Däne legte sich leicht zurück. „So", antwortete er erst. „Es ist sonderbar mit dem Sozialismus, „knurrte er etwas schärfer, „je näher er seiner Verwirklichung kommt, um so stärker verliert er seine Farbe!"
„Wo?" meckerte der Belgier erstaunt und dann spöttisch.
Der Däne hörte den Spott gar nicht. „Ich denke an meine erste Versammlung", sagte er. „Es war in Kopenhagen. Wir waren 40 Schlosser, frisch organisiert, aber Kerle wie die Bäume. Sozialismus — als wir das das erste Mal hörten, das war so, als ob wir plötzlich die Orgel in unserer alten Kirche verstünden. Und“, der Däne erhob sich etwas, „wir sprachen von diesem Sozialismus noch feierlicher als unsere mageren Pastoren von ihrem Paradies!"
Der Belgier meckerte lauter, „Das ist vielen Grünhörnern so gegangen", lachte er. „Jeder dachte, das Arbeiten höre nun auf und das himmlische Zeitalter begänne schon. Als ob es so leicht wäre, die Welt auf den Kopf zu stellen!"
„Wir haben nach nichts geschielt", antwortete der Däne ernst, „Als wir anfingen, uns zu organisieren, ist es uns sogar höllisch dreckig gegangen. Alle lagen auf der Straße. Aber es war eine große Zeit. Wenn wir demonstrierten, so war das ein Aufmarsch, als zögen wir gegen das Kapital von ganz Europa zu Felde, und wenn wir streikten, so war der Pfennig Aufschlag nur eine Ausrede, Wir wollten sehen, ob wir schon stark genug für den letzen Kampf waren!"
„Wirklich, Kamerad!" sprach er weiter und sah dem Belgier in das spöttelnde Gesicht, „wir waren gute Sozialisten, Wenn wir gerufen wurden, krochen wir immer wieder aus den Löchern, selbst wenn wir von den letzten Prügeln noch warm und blau waren. Was haben sie aber heute aus uns allen gemacht? Einen Arbeiterverein, einen Streikklub, eine armselige, gehammelte Massel"
Der Belgier zog langsam die Beine von dem Heizungsrohr, spuckte zweimal aus und sagte dann giftig: „Nichts haben sie aus uns gemacht. Nichts! Es hat sich nur alles geändert in den letzten zwanzig Jahren. Ist der Sozialismus etwas Besonderes? Nein! Er musste sich also mitändern. Verdammt!" sagte er bissiger, „und was hast du eigentlich, es geht doch vorwärts!"
„Kamerad," antwortete der Däne und sein Gesicht war schmerzlich verzogen, „ich habe meine Beine in Brasilien und Argentinien gehabt, in Mexiko und in Kalifornien, in Neuyork und in Kanada, die Arbeiter krepieren überall noch auf den Straßen, Und die Sozialisten," er machte eine Pause, „wer eine Arbeit hat, lässt sich nicht sehen, und die andern liegen auf dem Bauche und warten, bis man ihnen eine gibt!"
„Sogar in Mexiko?" fragte der große Schotte, der herangetreten war und zugehört hatte, „da sitzen die Roten doch auf dem Thron!"
„In Mexiko!" wiederholte der Däne, „sieht es nicht besser aus. Die Reichen sitzen auf ihrem Land und auf ihren Silberminen und leben so gut wie früher, und wir hocken in den Städten so arm und verkommen wie vor dem Regierungssturz. Streik und Demonstration sind außerdem verpönt wie die Pest, und bewaffnen durften wir uns nur, wenn der rote Thron in Gefahr war!"
Der Schotte lachte und knallte sich auf die Schenkel. „Ja, „schrie er, „so sind sie, diese Arbeiter und Sozialisten. Sie schützen den Staat wie die Hunde das Haus ihres Herrn, und je mehr sie geprügelt werden, umso freundlicher wedeln sie mit den Schwänzen!"
„In den Staaten, „fuhr der Däne fort, „ist es aber am schlimmsten. Im Süden gründen die Genossen Gesangvereine und vom Montag bis zum Sonntag ist Tanz, Im Norden werden Banken gegründet und Krematorien gebaut und darüber schreiben sie: Der Sozialismus marschiert!"
„He! Und in Europa?" fragte der Belgier und stützte
sich auf.
In Europa!" polterte der Schotte heraus, „ist der Sozialismus allerdings verwirklicht. Da hat man die Dümmsten aus dem Volke herausgeholt, ihnen einen Bauch angemästet, dass sie nicht mehr darüber hinaussehen können, sie auf die wackligen Throne gesetzt, und nun herrschen sie im Namen des Volkes,
Hai Ha!" und er polterte noch lauter, „und die tapferen Sozialisten, die ihr halbes Leben an der Muttermilch des Sozialismus gezulpt haben, singen Hosianna dazu und sagen: Es ist vollbracht!"
„Ja“, sagte der Däne und schloss einen Augenblick die Augen, „es treibt einem das Wasser in die Höhe. Sie regieren in unserem Namen und im Namen der Demokratie, sie sind halbe oder ganze Sozialisten, und dem armen Volke und den Massen geht es dreckiger als früher!"
„Quatsch!" brüllte der Schotte wieder. Sag es ihm deutlicher! Sie sind mit ihrem Sozialismus bis zur Futterkrippe geritten, und auf einmal war der Gaul abgehetzt und musste Ruhe haben. Die Ruhe ist ihm aber so gut bekommen, dass er fett wurde, und nun kann er die Reiter überhaupt nicht mehr tragen!"
„Was soll er auch noch", mischte sich der Deutsche ein, der sich breitbeinig vor den Schotten gestellt hatte. „Der Sozialismus hat abgewirtschaftet! Ich habe auch einmal Marken geklebt und wurde mit zu den Demonstrationen geschleppt. Jetzt habe ich eine Schreinerei in Baltimore und habe den Schwindel nicht mehr nötig. Der Mensch muss versuchen, zu etwas zu kommen — also arbeiten und sparen, das ist das Beste. Wer nichts ist und nichts hat, der kann auch durch euren Sozialismus nichts werden!"
Das Gespräch zwischen dem Amerikaner und dem Geduckten wurde genau so laut. Der Geduckte hatte den Amerikaner fest am Rock genommen, „Du bist doch ein Revolutionär", fragte er ihn.
„Sicher, „sagte er und zog den sich Sträubenden näher an seine Seite, „vielleicht ein Rebell, ein Nihilist, ein Anarchist? Man sieht es dir an. Ich habe einmal mit einem Kerl zusammengelegen, der war auch von dieser Brüderschaft, und er sah dir ähnlich!
Es war zwischen Baltimore und Washington“, fuhr er schneller fort, „wir hatten drei Tage gearbeitet. Was sage ich, gearbeitet? — geblutet in der Sonne! Immer auf dem Dampfpflug. Am dritten Tag bauten wir ab. Unser Geld! sagte der Kerl und hielt dem Farmer seine Tatze hin. Der spuckte darauf. Ich habe euch für den ganzen Sommer gemietet und nicht für drei Tage, sagte er. Den nächsten Tag haben wir noch gepflügt, aber am Abend sind wir auf und davon gegangen. Den Pflug stürzten wir vorher in ein Wasserbecken!"
„Hört!" zischte der Krumme, der zu den beiden zurückgekehrt war und gelauscht hatte, wir hatten einen ähnlichen Bruder in unserm Loch. Einmal hackten wir sogar zusammen Kohlen. Er war klein, nicht besonders pfiffig, aber er hatte einen Schädel, dicker als Eisen, Als wir nach dem dritten Streik wieder in das Loch sollten, es war eine dumme Geschichte, die Kohlenkönige hatten uns schon das zweite Mal ein falsches Licht angesteckt, knurrte er und sagte: Es geht mir keiner vor morgen hinunter. In der Nacht kletterte er aber selber hinein, legte Pulver unter die Pumpe und zersprengte sie. Schon am Abend stand das Wasser bis zur zweiten Sohle!"
„Aber was tut der Kerl plötzlich? Auf einmal heißt es, oben in der ersten Sohle ersäuft ein Pferd, wenn das Wasser steigt. Er ist hinunter geklettert, als gälte es sieben Leben. Und der Donner, er ist ersoffen, ist ersoffen wegen einer alten Mähre, die blind und lahm war und nicht mehr ziehen konnte und vielleicht am nächsten Tage vergiftet worden wäre!"
Der Amerikaner, der steif und Verschlossen zugehört hatte, wurde wärmer und erzählte mit. „O“, sagte er, „es gibt solche brave Burschen. Einmal waren wir in Texas und wurden verfolgt. Als wir nachts bei einem Farmer einfielen, fragte er uns, ob wir Flüchtlinge wären. Weiter konnten wir nicht, denn die Grenze war besetzt, wir sagten also ja. Kameraden, antwortete er, ich war einmal ein schlimmerer Bruder als ihr, und vor mir hat die Chicagoer Polizei mehr gezittert als vor einem Hundert von euch. Kurz, er brachte uns über die Grenze, Wir wurden aber gesehen, allerdings als wir schon in Sicherheit waren. Nur dem Gentleman ging es dreckig. Sie haben ihm Haus und Stall verbrannt, und als er aus seinen Prügeln erwachte, war er mehr tot als lebendig. Pah! lachte er, als wir nach vier Wochen zurückschlüpften und vor seinem blauen Gesicht erschraken, was macht das, ich habe ihnen einen Streich gespielt, und der ist die Prügel schon wert!"
Am Fenster stand noch immer der Lange. Er machte sein finsteres Gesicht und sah manchmal zu der Französin. Die war langsam nach der anderen Seite des Raumes gegangen und sprach mit dem Korrekten.
„Es ist eine gemischte Gesellschaft", sagte der junge Mann, der sich nervös an seinem Bärtchen zupfte und sich etwas linkisch mit der anderen Hand auf den Tisch stemmte.
Die Französin betrachtete ihn. Sie spitzte erst spöttisch die Lippen, lächelte ihm dann aber zu. „Ich liebe solche Gesellschaften", antwortete sie und blinzelte mit den Augen,
Den Langen schien das beginnende Gespräch der beiden zu beruhigen. Er sah nach der dritten Fensterseite des großen Holzkastens. Dort stand seit einigen Minuten die Jüdin, versuchte, eines der angelaufenen Fenster abzuwischen und hinauszusehen.
Der Lange machte sein geistreichstes Gesicht, zog die Stirne in die Höhe, drückte die tiefliegenden, überschatteten Augen, die immer halb geschlossen waren, aus ihren Höhlen und ging auf sie zu.
Die Kehrseite der Frau war hässlich. Im Stehen wirkte das Hinterteil wie ein kleiner Globus. Wenn sie sich auf den zierlichen Füßen zu drehen versuchte, hatte man noch mehr das Gefühl von einem auf einen Ständer sich bewegenden Erdkörper, der nur seine ungeheuren Ausmaße etwas nach oben verschoben hatte, vielleicht um besser das Gleichgewicht zu halten.
Der Lange trat leise auf und blieb erst einige Meter hinter ihr stehen. Er sah an ihrem Rücken hinab, an der Rundung ihrer Hüften, hob seinen Kopf wieder in die Höhe und blickte auf die fetten Halswirbel. Dabei schob sich sein Mund ein wenig vor, und seine Nase schniefte leise Luft. Sie tat das eine ganze Weile, als röche es nach etwas anderem als nach Knoblauch.
Die Jüdin spürte die Nähe des Mannes und kostete sie aus. Sie räkelte sich etwas in den unförmigen Hüften. ließ aufschnaubend Luft in ihre Lunge, dass sich alles an ihr spannte und in den Nähten krachte, und dann ließ sie sich wieder zusammensinken, wenigstens soweit das bei ihrer Fülle möglich war.
„Madam!" sagte der Lange, der durch ihre Bewegungen Mut bekommen hatte, und berührte sie mit einem seiner gepflegten langen Finger am Halse, „es ist mir eine Freude, Sie zu sehen."
Die Jüdin drehte ihm schnaufend das Gesicht zu. Sie war sehr ruhig und sah den Langen weder lächelnd noch herausfordernd an. Sie war sogar etwas kritisch. Sie betrachtete den sauberen, aber geknickten Kragen des Engländers, seine Jacke, die schon gelblich glänzte und nicht gebügelt war, und plötzlich blickte sie noch scharf und prüfend in seine Augen.
Dem Engländer wurde unter dieser Prüfung ängstlich. Seine Lippen schoben sich nach unten, die hochgezogene Stirn legte sich in Falten, und die Augen, die immer kleiner geworden waren, überschatteten sich wieder. Er trat einen Schritt zurück.
Die Jüdin merkte seine Ängstlichkeit und trippelte ihm mit zwei kleinen Schritten nach. Sie wollte ihn nicht entkommen lassen und fasste ihn mit ihren von großen Ringen überladenen Fingern am Rock. „Was wollen Sie von mir?" sagte sie, sich an sein Gesicht ziehend. „Sagen Sie das. Sagen Sie das ganz deutlich."
Der Engländer war durch ihren Überfall noch ängstlicher geworden. Sein Körper zuckte zusammen, und sein Kopf schwoll zu einem Viereck. Auch das Anerbieten der Frau kam ihm zu schnell. Es erschütterte ihn bis in die Herzgrube, und er wich weiter zurück.
Die Jüdin versuchte ihn nun durch ein freundliches Gesicht zu halten. Sie drehte ihr Gesicht auf die linke Seite, wenigstens soweit es ihr fetter Hals zuließ, öffnete ihren großen Mund dazu und versuchte zu lächeln. Es war ein grausiges Lächeln. Man sah das tiefe, offene Mundloch, eine Reihe blanker Zähne, und dahinter züngelte wie eine Schlange eine dicke und tiefrote Zunge.
Den Langen trieb das Lächeln ganz in die Flucht. Er bewegte sich eiliger, schob sich und sein Gesicht durch einen Ruck wieder in die richtige Lage und mischte sich dann in einen der großen Kreise, in dem das Sprechen immer hitziger und lauter wurde.
Außer dem Dicken und dem Heiligen standen auf einmal alle in diesen beiden Kreisen. Die Französin und der Korrekte waren zu dem Amerikaner getreten, der Russe und der hüstelnde Franzose lauschten auf den Schotten,
Der Heilige war im übrigen noch gar nicht in dem Raum, und der Dicke saß in einer Ecke und blickte mit seinen kleinen, jetzt etwas hervortretenden und geröteten Augen nach der Betschwester,
Diese las noch eifrig in ihrem Buch und tat so, als ob sie die glänzenden Augen des Dicken gar nicht sähe. Nur jedes Mal, wenn dieser aufstehen wollte, um zu den andern zu gehen, warf sie ihm einen kleinen blitzenden Blick zu. Den fing der Dicke auf, als käme er direkt vom Himmel, setzte sich brav auf seinen Sitz zurück und wartete geduldig auf den nächsten.

 

VI.

Glock sieben kam der Steward herauf und rief zum Souper, Alle diskutierten weiter, nur die Frauen und der Korrekte verließen den Raum. Draußen wehte der Wind noch schauerlicher. Der Sturm schien seinen Höhepunkt erreicht zu haben, das Schiff ächzte und stöhnte, als wäre seine letzte Stunde gekommen.
Die Dunkelheit hob alles ins Grausige. Der Himmel, zerfetzt, nur manchmal von gelben Feuerstrahlen durchbrochen, stand über den anrauschenden Wassern wie eine zerbrechliche Felswand. Lichtspeiend leuchteten große Scheinwerfer hinein. Das Licht zerbarst aber schon an den ersten Nebelbänken, wurde zurückgeworfen und legte sich seltsam über Masten, Kajüten und über das ganze Deck.
Zu einem gläsernen feurigen Kasten wurde das Schiff durch diese Helle. Gespensternd fuhr es in die anrollenden Wogen hinein, hob sich glänzend wie ein großer Silberfisch wieder empor und tänzelte weiter.
Die Frauen trippelten einzeln bis zur Treppe. Jedes Mal, wenn die Wellen ihre Füße umspülten, schrieen sie auf und blieben mit großen Augen stehen. Nur die Französin war mutiger. Sie drohte mit den Fäusten, wenn ihr das Wasser zu nahe kam, schlug ihre Röcke hoch und patschte dann einfach hinein.
Der Korrekte ging ein paar Schritte hinter ihr. Er fasste manchmal nach ihrer Hand, um sie zu stützen, oder stemmte sich gegen sie, wenn der Wind zu einem neuen Stoß ausholte. Er kam ihr dabei immer näher, fasste sie plötzlich um den Leib und drückte sie an sich.
Sie drehte sich in seinen Armen um und sah ihn an, Er presste sie noch fester. Sein Gesicht war steif und beinahe feierlich. Da kicherte sie leise auf, hob ihren Finger und schlug ihn auf die Nase.
Er wusste nicht, wie er das deuten sollte und ließ sie ängstlich los. Da kicherte sie lauter, stieß ihn aufmunternd in die Seite und stupste ihn vorwärts. Enganeinander lehnend wurden sie von der nächsten Welle überschüttet.
Das Schiff war wärmer geworden. Auch im Eßraum war es behaglicher. Die Jüdin und die Betschwester saßen bereits in ihren Stühlen. Die Französin trällerte, als sie hereinkam. Der Korrekte, der sie ein Stück vor sich hergehen ließ, strich sich eilig ein paar Falten am Ärmel glatt.
Nach ihm stießen sich der Krumme und der Geduckte in den Raum. Der Amerikaner stelzte langsamer und aufrechter hinter ihnen.
Der Krumme machte einen Umweg. Er stiefelte an der Französin vorbei, streifte im Vorübergehen ihren Hals, tätschelte sie sogar darauf und versuchte, in ihr Gesicht zu sehen.
Der Korrekte, der es sah, war erstaunt. Er stemmte sich hoch und öffnete den Mund, als wollte er dem Krummen etwas zurufen. Als er aber merkte, dass sich die Frau nicht gegen die Berührung wehrte, ja, sich unter ihr schüttelte, als wäre es ihr angenehm, ließ er sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen. Sein sonst untadeliges Gesicht schien unter dem Vorfall zu leiden. Wenigstens war es um eine Nuance bleicher, und der steife Schnurrbart zitterte leicht.
Der Schotte und der Däne betraten den Saal. Gleich nach ihnen der Belgier und der Deutsche. Sie redeten noch aufeinander ein, sie hatten sich kaum gesetzt, da zerzausten sie sich schon wieder.
Der Belgier reckte sich hoch. Er war gestrafft, und seine Augen blitzten Feuer. Das Knurren ist leicht!" schrie er laut. „Das Bekleckern auch! Beschmutzt ihn also ruhig, den Sozialismus. Er bleibt auch mit eurem Dreck das Beste!"
Der Deutsche wurde puterrot, seine Arme fuchtelten wie klumpige Keulen über den Tisch. Er schien lange nicht zu Wort gekommen zu sein. Dummheit!" krähte er, und seine Stimme stieg so hoch, dass sie kaum aus der Kehle kam, „Dummheit ist alles, was ihr sagt!"
„He! Was!" fragte ihn der Schotte und brachte seine Fäuste vor das Gesicht des Deutschen. Aber der sah es gar nicht, so aufgeregt war er.
„Wer seid ihr denn!" schrie er lauter. „Wo wisst ihr denn das her, was ihr da redet? Zusammengestohlen ist es. Nichts wisst ihr. Das richtige Wissen fängt erst an, wenn man etwas hat. Ich war auch einmal so ein Grünschnabel. Sozialismus! Sozialisieren! Ha! Gibt dir der etwas, der auf den Geldsäcken sitzt? Schuften müsst ihr! Spekulieren! Ich habe sieben Jahre Tag und Nacht gearbeitet, bis ich meine Schreinerei in Baltimore und meinen Bauch hatte!"
Der Deutsche musste eine Pause machen, so hatte er sich angestrengt. Alle lachten und sahen seine dicke, zappelige Gestalt an, „Und", krähte er das dritte Mal los, zornig und giftig durch das Lachen der Männer, auch von mir bekämt ihr keinen Pfennig, ihr sozialistischen Hungerleider! Lieber würfe ich mein Geld ins Wasser und zapfte mir mein Fett selber wieder ab!"
Mit dem Steward, der die Suppe brachte, kamen der Lange und der Russe. Sie gingen nicht nebeneinander. Der magere Russe war zuerst am Tisch, sah sich nach allen Seiten um und setzte sich dann. Der Engländer schritt gravitätischer zu seinem Platz, Er hatte seinen Kopf leicht gesenkt. Das Erlebnis mit der Jüdin saß ihm noch stark in allen Gliedern.
Die blickte auf, als sie ihn sah, rückte mit selbstverständlichen Handbewegungen Messer und Gabel, die etwas entfernt von seinem Platze lagen, näher zu ihm und nickte ihm, nachdem er sich gesetzt hatte, lächelnd und wie eine alte Bekannte zu.
Der Engländer spreizte alle Finger gegen diese Vertraulichkeit, steckte seinen Kopf tief zwischen die Schultern und schloss die Augen. Die Jüdin sah es nur nicht mehr. Sie löffelte schon an ihrer Suppe, schlürfte sie ein und zog sie laut schmatzend nach unten.
Alle aßen, da kam erst der Dicke. Er sah sonderbar aus. Er hatte sich umgezogen. Seine breiten Schultern staken in einem zu engen schwarzen Rock, Um den Hals, den er bis jetzt kragenlos getragen hatte, wand sich ein seidenes Tuch. Es war gelb und grün durchwirkt, und darüber saß der dicke Kopf wie eine große, überreife Melone.
Selbst die Betschwester blinzelte, als er sich hereinschob und sich wie ein Würdenträger neben sie setzte. Er benahm sich auch so, löffelte die Suppe sorgsamer als am Mittag und schleckte den Löffel nur am Schluss ab. Sogar ein Taschentuch brachte er aus der Tiefe seines Rockes, schnäuzte sich umständlich die Nase und wischte sich den
Mund.
Der Heilige erschien zuletzt. Er war ganz nass, und sein Haar hing wild und zerzaust bis auf die Schulter. Das Gesicht war feuerrot, die Hände weiß und durchfroren. Er zitterte.
„Er hat hinten am Steuerhaus gestanden", sagte die Französin zu dem Langen. „Ich habe ihn gesehen. Mitten im Regen. Er ist ein spaßiger Kauz."
Der Lange sah nach ihm. „Er sieht aus wie ein halb verhungerter Pastor", sagte er.
Der Krumme bog sich weit vor. „Nein!" meckerte er, „er sieht aus wie ein zu stark begossener Täufling!"
Alle lachten, die in der Nähe saßen. Auch der Korrekte verzog seinen Mund. Bis zu dem Heiligen selber drang der Lärm aber nicht. Der setzte sich schweigend wie sonst an seinen Platz, bewegte leise den Mund und begann zu essen.
Um ihn her wurde es sehr laut. Der Däne rückte dem Deutschen zu Leibe und schlug dazu mit der Faust auf die Tischplatte, „Also weil du so fett und dick geworden, bist du gegen den Sozialismus?" schrie er zu ihm hinüber. „Das Fett steht dir übrigens schon bis über den Hals und ist dir wahrscheinlich auch ins Gehirn gestiegen!"
Der Schotte setzte dem Deutschen noch derber zu. „Das ist es ja!" rief er, „Die sich erst zu Lebzeiten den Bauch angemästet haben, sind die Schlimmsten. Sie sitzen auf ihren Hinterbacken, als hätten sie die ganze Seligkeit erobert, und sie fluchen danach auf alles. Auf ihre Vergangenheit. Auf die verloren gegangenen Ideen und Ideale. Der Geldsack ist ihnen das Heiligste geworden!"
„Lass sie nur darauf sitzen!" knurrte der Belgier und zwinkerte mit den Augen. „Wenn sie dabei nichts weiter tun als ihr Maul aufreißen, so ist das nicht gefährlich. Wir zünden langsam ein Feuer unter ihnen an und braten ihnen Geld und Fett schon wieder aus!"
„Ja!" rief der Däne und hob seine Stimme feierlich, „ein Feuer müssen wir anzünden. Die Erde muss unter ihnen eine Flamme, ein großer Vulkan werden!"
Der Steward sammelte die Teller ein und brachte Fleisch. Schweigend wurde es herumgegeben. Es war überhaupt stiller. Alle langten nach der Schüssel, gabelten sich die Fleischstücke heraus, nahmen sich noch Salz und Kartoffeln und ließen es sich schmecken.
Plötzlich begann der Schotte zu sprechen. Er blickte hinüber zu dem Dänen und sagte so laut, dass es der ganze Tisch hörte: „Ich pfeife auf euer Feuer, Ich pfeife überhaupt auf euch. Ich habe zehn Jahre auf euch gewartet, demonstriert und gestreikt. Ich kam, wenn gerufen wurde, und ging, wenn wir die Hosen voll bekommen hatten, aber eines Tages bekam ich den Schwindel satt, denn mit Leuten, die nie den Mut aufbringen, einmal selber zuzuschlagen und Hiebe auszuteilen, soll der Teufel Kompanie machen!"
„Ja!" redete er lauter, „ein Dreck ist es, euer Feuer. Genau derselbe Dreck wie euer Sozialismus und Syndikalismus, euer Kommunismus und euer Anarchismus. Ich verlasse mich jetzt auf meine Fäuste. Freilich, ich muss arbeiten. Aber wer mir zu nahe kommt, um mich anzuknurren oder zu pfeifen, als wäre ich ein Hund, den schlage ich zusammen, dass er es nie wieder vergisst. Wozu haben wir unsere Fäuste? Und wozu haben wir unsern Verstand? Damit wir sie gebrauchen, wenn es notwendig ist!"
Der Krumme meckerte Beifall. Der Geduckte gab seine Zustimmung durch Klatschen auf die Schenkel. „Das ist ein Kerl!" schrie er. „So muss man es machen, Ich habe einmal einen gedroschen, der mich mit seinem Knüttel zur Arbeit treiben wollte, dass er das Amen nicht mehr aus der Kehle brachte!"
„Sicher“, sprach der Schotte weiter, „sie teilen auch aus. Mich haben sie dreimal eingesperrt, und einmal habe ich eine Portion bekommen, von der mir noch heute der Hintern brennt. Aber was macht das! Ich habe vorher genau so zugeschlagen!"
„Ist das das Richtige?" unterbrach ihn der Amerikaner. „Wir kämpfen doch alle für die gleiche Freiheit."
„Verdammt!" gab der Schotte zurück, „soll ich denn warten, bis jedes Männchen den Mut hat, die Hand zu erheben? Mein Vater ist von diesem Warten grau geworden und trotzdem arm verreckt. He! Ich dächte, wenn jeder begänne, dann sähe es bald besser aus mit unserer Freiheit!"
Der Belgier schob sich vor und glühte den Schotten an. „Sie werden dich eines Tages totschlagen. Jeden schlagen sie tot, der aus der Reihe läuft, aber den ganzen Haufen zusammen können sie nicht umbringen!"
„So“, antwortete der Schotte, in Chikago haben sie oft einige Dutzend Mal in die Haufen hineinkartätscht. Da hatten die andern die Hosen voll. Und es gibt immer solche, die die Hosen voll haben, und wenn es einmal gar zu schlimm wird, stopft man dem Haufen etwas ins Maul, dann ist er wieder ruhig. Und", der Schotte blitzte den Belgier in die Augen, „hast du vielleicht gehört, dass dein Haufen der Freiheit schon näher gekommen ist?"
„In Russland!" sagte der Däne ruhig.
Der Schotte fuhr sich über das Gesicht. „Ja, davon schwatzen sie in den südlichen Staaten und im Norden. Das schmieren sie sich in Philadelphia und in Boston ums Maul. Das ist ihnen wie ein neubemalter Messias. Habt ihr aber ein einziges Mal gehört, dass das einer von den gröblichen Amerikanern oder Europäern nachgemacht hätte? Da sitzt jeder auf seiner Hoffnung und auf seinem Stühlchen und hat Angst, dass dieses Wunder auch über ihn kommen könnte!"
Es war eine Weile still. Der Belgier und der Däne ließen den Kopf hängen. Die andern aßen. Plötzlich begann der Russe zu sprechen.
Er hatte dem Schotten zugehört. Nun bog er das schmale, schwarzumrahmte Gesicht, in dem man kaum mehr sah als die großen, flackernden Augen, zu ihm hinüber und sagte leise mit einer beinahe verhauchenden Stimme: „Die Menschen sind aber wirklich frei in Russland. Sogar glücklich", setzte er nach einer Pause dazu.
Als ihm der Schotte nicht antwortete, sprach er weiter. „O, „sagte er schneller, „du könntest es bezweifeln. Ich habe zwei Brüder in der Nähe von Ufa. Wir sind alle Bauern. Der Kleine, er ist 19 Jahre, er schreibt: Ich bin roter Soldat! Roter Soldat für die Freiheit! Der andere, er ist 37, Er schreibt: Brüderchen komm! Ich habe Feld! Denke: 15 Morgen Feld! Du kennst unser Dorf. Ich habe den Streifen am Wald, den wir früher für Iwan Wassilij, den Herrn, beackern mussten. Er ist jetzt mein. Ich habe außerdem vier Kühe und ein Pferd. Einmal ist es uns schlecht gegangen. Wir sind bald verhungert. Aber die Sowjets haben uns geholfen, und nun ist alles gut."
„Seht“, sagte er und. zog einen Zettel aus der Tasche, „und das schreibt der Alte, unser Väterchen." Langsam begann er zu lesen, „Simeon, Liebster und Bester, das sagt dir dein alter Vater Iljaß Gawrilo, der 73jährige: Komm heim! Wir haben ein neues Väterchen in Moskau: Wladimir Iljitsch, den sie hier alle das wirkliche Väterchen nennen und für dessen Gesundheit wir täglich beten. Er hat uns allen die Freiheit geschenkt und uns Feld gegeben. Es ist Feld auch für dich da. Ich habe mit meinen alten zittrigen Händen noch schreiben gelernt, um dir das zu sagen. Also Simeon, Bester, komm und umarme deinen glücklichen Vater Iljaß Gawrilo."
Der Russe faltete mit seinen kleinen, zerarbeiteten Händen den Brief wieder zusammen und steckte ihn sorgfältig in die Tasche zurück. So schreiben sie alle aus Russland", sagte er noch und ließ seine Augen nicht von dem Gesicht des Schotten. „Wir wohnten in Wisconsin. Eine ganze Kolonie. Wir sind zwölf und fünfzehn Jahre in Amerika. Uns ging es nicht schlecht. Aber ich bin der letzte, der zurückfährt."
Es war wieder still. Alle, die auf die Worte des Russen gehört hatten, senkten die Köpfe und versuchten zu essen. Nur der Däne nicht. Der hatte seinen Kopf zwischen die Fäuste gestemmt und starrte geradeaus.
„Du fährst also nach Russland?" fragte er, sich umwendend, den wieder stillen und in sich zurückgezogenen mageren Russen.
„Ja", antwortete der. „Zuerst nach Petrograd."
Der Däne nickte ihm zu, drückte die Augen zusammen, dass seine Stirn voller Falten stand, und sagte mehr zu sich selber als zu den andern: „Ich fahre nur nach Kopenhagen!"
Der Steward brachte noch Brot und Butter. Zuletzt Kaffee. Der hob das Schweigen ein wenig. Das Sprechen begann wieder.
Unten am Ende des Tisches rückte der Dicke gegen die Betschwester vor. Er saß auf seinem Stuhl wie ein Hochzeiter, schielte mit den in Fett versteckten Äuglein in ihr Gesicht und versuchte, ihr beim Essen behilflich zu sein. Wenn sie nach links blinzelte, langte er nach der Butter. Wenn sie nach rechts blinzelte, so holte er ihr Käse. Er war so galant, als hätte er sein ganzes Leben für diese ältliche Betschwester sein dickes Hinterteil gedreht.
Er war außerdem fröhlich und hochrot. Die Betschwester machte bereits ein freundliches Gesicht, und wenn sich die Schärfe ihrer Nase und das Kantige und Blasse der Backenknochen unter seinen feurigen Blicken auch noch nicht milderte oder verschönte, sie sagte doch schon „Bitte" und „Danke" zu ihm.
Ho! Er zappelte hin und her wie ein auf dem Leim sitzender Liebhaber, schlug seine kleinen Augen immer zärtlicher in die Höhe, dass es" aussah, als wäre ihm die Liebe schon in den Kopf gestiegen, und die Französin, die ihn seit einiger Zeit beobachtete, kicherte hell auf und hielt sich die Seiten.
Der Krumme wurde aufmerksam und sah auch nach den beiden. Der Dicke schob der Betschwester gerade den Zucker zu. Er versuchte ihn ihr sogar in den Kaffee zu löffeln. Die Frau scheuchte ihn aber mit einem ihrer kalten und feierlichen Blicke zurück, nahm sich den Zucker selber und goss nun das Getränk mit kleinen, glucksenden Schlucken in ihre Kehle.
„Duckmäuser!" schrie der Krumme an der Frau vorbei, die sich erschrocken zurücksetzte. „Willst du heute Nacht in der Bibel lesen? Such dir aber lieber eine rundere Heilige für das Paternoster. Dieser Besen ist für deine Dicke zu stachlig!"
Der Dicke wurde unter diesem Anruf scheckiger als sein Halstuch. Er erstickte beinahe vor Wut und fasste sich mit beiden Händen an dl« Kehle. Als er aber aufkreischen und aufspringen wollte, tasteten sich die spitzen Finger der Betschwester nach ihm, zogen ihn fest nach unten, und die Frau sah ihm außerdem so scharf in sein zitterndes und bebendes Gesicht, dass er das Gefühl hatte, sie würde sich auf ihn stürzen, wenn er sein Mundwerk gegen die Fratze des Krummen öffnete. Da knickte er wie ein Geschlagener zurück und um anzudeuten, dass er schweigen würde, legte er noch beteuernd eine Hand auf den geöffneten Mund.
Die Betschwester beruhigte das. Sie stand aber dann auf, fasste eilig nach ihrem Buch, drückte es an die Brust, ließ Kaffee und Brot stehen und trippelte hinaus.
Der Dicke sah diesem Aufbruch erstaunt zu. Als die Frau ihren Rock raffte, schnellte er gleichfalls in die Höhe. Nach einem schrecklichen Blick auf den Krummen watschelte er hinter der Davonlaufenden her.

 

VII.

Auf dem Gang stand die Stewardess. Als sie die Betschwester kommen sah, ging sie ihr entgegen. „Guten Abend, Miss Grüngel", sagte sie freundlich.
Die Miss Grüngel lächelte säuerlich. „Guten Abend",
antwortete sie.
Der Hofmeister watschelte aus der Küche und wünschte auch einen guten Abend. Er tätschelte die Betschwester dabei unter das Kinn. „Wie geht es?" fragte er.
Die Betschwester lächelte freundlicher. „Nicht gut. Die Geschäfte werden auf jeder Fahrt schlechter."
Der Hofmeister drückte ein Auge zu und blinzelte die Frau abschätzend an. „Du wirst den Jungen zu alt" meckerte er und fasste sie derber unter das Kinn.
So", sagte die Frau spitz und entwand sich seiner fleischigen Hand. Sie sah ihn giftig an. „Kommen Sie", zischte sie dann zu der Stewardess. Sie fassten sich unter und gingen in eine Kabine.
Der Dicke, der der Betschwester gefolgt war und neben dem Hofmeister stand, stierte den Frauen mit großen Augen nach. „Fort!" sagte er leise, als sich die Tür hinter ihnen schloss.
Dem Hofmeister, der den Mann nicht gesehen hatte, blieb vor Verwunderung der Mund offen, „Männeken!" sagte er dann, machte ein ernstes Gesicht und stieß den Starrenden mit seinem Bauch in die Seite, die stehen nicht auf deinem Kostzettel!"
Der Dicke hörte es kaum. Er stierte weiter auf die geschlossene Tür und schlich sogar näher. „Fort!" wiederholte er, drehte nun aber langsam um, lief schief und etwas schwankend zu dem Kantinenhalter und ließ sich einen Schnaps geben.
Allmählich fanden sich alle vor diesem Schalter ein. Erst kam die Französin und hinter ihr der Korrekte, „Whisky", sagte die Frau und schnalzte mit der Zunge.
Der Korrekte ließ zwei Gläser kommen. Er hob das seine hoch und sah über die gelbe Flüssigkeit der Frau ins Gesicht. Die Französin hatte ihr Glas schon in den Mund gegossen, sie blinzelte mit den Augen und zeigte spitz ihre Zunge.
Sie tranken ein zweites Glas und ein drittes. Der Korrekte verbeugte sich immer aufs Neue, bevor er das seine ansetzte. Die Französin, der die Augen überliefen, tätschelte ihm dafür die Backen. Sie tänzelte um ihn herum und nannte ihn einen guten Jungen.
Der Krumme kam und schob sich dick und gewaltsam zwischen sie. Er besah sich erst den Korrekten und ließ dabei sein Gesicht zu einer Grimasse zusammenfallen, dann drehte er sich zu der Französin, bläkte die Zähne und knurrte Schimpfworte.
Die Frau witterte Gefahr. Sie griff zu dem fünften und sechsten Glas, die der Korrekte bestellt hatte, hob sie hoch, lispelte „Dickerchen" und „Freundchen", stupste das eine dem Krummen unter die Nase, rief „Prost!" und trank ihm zu.
Der Krumme war besänftigt. Er schlug die Frau auf den Rücken, bestellte auch Schnaps und die Frau trank mit ihm weiter. Sie kicherte nach dem sechsten Glas schon wie eine Betrunkene, stieß kleine Triller aus und wand sich wie eine Katze,
Der Krumme rückte ihr immer näher. Er machte Augen, als wollte er sie verschlingen, kniff sie in die Backen und fasste sie um die Brüste, „Weibchen", gluckste er dabei und drückte sein Gesicht an das ihre.
Sie wehrte ihn leicht ab. Sie fuhr ihm aber genau so zärtlich unter die Arme, kitzelte ihn, zog ihn an Ohren und Haaren und nannte ihn flüsternd: „Alterchen". Wenn der Krumme nach unten sah oder in die Kantine schielte, versuchte sie, gleichzeitig den Korrekten wieder anzulocken, winkte ihm mit den Händen und zwinkerte ihm zu.
Der kam aber nicht. Er war zu ängstlich, und so musste er mit seinem steifen und eingefrorenen Gesicht zusehen, wie der Krumme wilder wurde, die Frau gröber und sinnlicher abtastete und sie langsam in eine Ecke schob.
Der Franzose und der Geduckte drängten sich zu dem Ausschank. Auch der Amerikaner und der Schotte.
Der Franzose sprach die Frau, die sich bei seinem Eintritt mühsam von dem Krummen gelöst hatte, an. „Du fährst nach Frankreich?" fragte er.
„Nach Boulogne!" antwortete sie fröhlich und nickte
„Ich fahre nach Marseille“, sagte er — und nach einem leichten Hustenanfall — „darauf müssen wir trinken!"
Per Krumme stemmte sich vor. „Sie trinkt mit mir", rief er laut und versuchte, den Franzosen zur Seite zu schieben
Der wurde ärgerlich und stemmte sich dagegen. „Sie ist eine Landsmännin von mir", zischte er. Er wollte noch mehr sagen, aber ein Hustenanfall warf ihn beinahe zu Boden.
Der Krumme drängte trotzdem stärker gegen ihn. Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt und sah aus wie eine fletschende Bulldogge. Der Hustende konnte sich seiner kaum erwehren. Er lehnte sich gegen eine Wand und schloss die Augen,
Der Geduckte, der wie eine Spinne um die beiden herumkroch, kam ihm eilig zu Hilfe. Er packte den Krummen um den Hals und zog ihn an sich, drehte ihm dann die Luft ab, und er tat das so derb, dass das fette Kinn und der schiefe Kopf des Krummen erst rot und später bläulich wurden, und aus dem weitgeöffneten Rachen nur noch krächzende Laute kamen.
Da stützte sich der Franzose eilig wieder auf, fasste nach den Händen des Geduckten und versuchte, sie herabzuziehen, „Nicht", sagte er und unterdrückte mühsam einen netten Hustenanfall. „Nicht! Wir sind doch Kameraden, Arbeiter. Wir wollen lieber trinken!"
Der Geduckte ließ den Krummen auch gleich los. Erst spuckte der und reckte seinen Hals. Als er dann herumschnellte, um den Geduckten zu packen, stand aber der Franzose schon zwischen ihnen. „Kamerad“, sagte er noch mühsamer und fasste den Wütenden leicht an der Schulter, „ein Glas für dich und eins für das Frauenzimmer. Sei friedlich. Wir können unsere Kräfte besser gebrauchen als zum gegenseitigen Totschlagen!"
Die Frau, die ängstlich zum Ausschank zurückgewichen war und wieder nüchterner schien, kam schon mit den Gläsern angelaufen. Sie stieß den rumorenden Krummen leicht in die Seite, beugte ihren Kopf so tief, dass sie in seine nach unten starrenden Augen sehen konnte und kicherte ihn an.
Den Krummen musste das mehr beruhigen als die Worte des Hustenden. Wenigstens glätteten sich seine Stirn und das wütende Gesicht; er öffnete sogar den Mund, um ihn der Frau aufzudrücken. Die Französin schob ihm aber schnell das Glas entgegen, kippte es in den offenen Mund hinein und trank schnell das andere Glas selber.
Der Krumme trank noch ein zweites Glas mit dem Franzosen. Der lehnte wieder an der Wand und mühte sich weiter zu sprechen. „Kamerad“, wiederholte er, „wir dürfen uns wirklich nicht gegenseitig an die Kehle fahren. An der unsrigen sitzen schon zu viel andere, die uns die Luft abschneiden."
„Sieh mich an", fuhr er leiser fort. „Ich bin 35 Jahre und habe schon die Schwindsucht am Hals. Ich bin Glasbläser. Die Luft war zu heiß, Zwölf Stunden Arbeit sind auch zu viel. Aber was willst du machen? Ich habe Frau und Kinder in Marseille. Sie haben Hunger!"
„Jetzt", krächzte er auf, „wage ich seit zehn Jahren das erste Mal heimzufahren. Ich bin Syndikalist. Ich sollte Soldat werden. Schießt ein Arbeiter auf seine Brüder? Ich bin desertiert!"
„Und", begann er das vierte Mal, und sein Gesicht verzog sich schmerzlich, „ich wage die Fahrt nur, weil die Ärzte sagen, dass mir die Luft und das Gebläse in diesem Winter ganz ausgehen. Werden sie einen Sterbenden einsperren?" Er wurde weinerlich. „Bei ihnen ist alles möglich. Nun, wenn ich vorher die Frau und Marseille noch einmal sehen kann, ist es mir gleich."
Der Franzose musste einen Augenblick schweigen, der Husten kam durch das lange Reden wie eine Explosion über ihn. Der dürre Körper schüttelte sich, bog sich fast auf den Boden, und als sich der Hustende wieder aufrichtete, hatte er Speiche! und Blut auf den gelben Lippen. Er sprach trotzdem weiter.
„Kamerad!" flüsterte er und neigte sich ganz nah zu dem Krummen, „es stirbt und geht alles zu Ende. Bei mir siehst du es. Bei unsern Feinden aber auch. Es geschieht etwas in der Welt. Ich spüre es überall. Ich glaube, die nach uns kommen, müssen die Freiheit nicht mehr in der Fremde suchen!"
Der Krumme wurde gerührt von der Vertraulichkeit des anderen. Er nahm ihn fest bei den Schultern und drückte ihn gegen seine Brust. „Ja", schrie er prahlerisch und hob eines der Gläser: „Die Proleten erwachen! Es geht vorwärts! Es geht vorwärts in Pittsburgh, wo ich war, und sicher auch in Carlisle und in Marseille. Es setzt sogar schon Prügel!"
„Kamerad!" schrie er noch lauter, „du hast auch sonst Recht. Wir müssen einiger sein. Wir müssen unsere Kräfte besser gebrauchen. Alle Hiebe sollen von nun an die Dicken kriegen!"
Der Geduckte und der Däne waren nach oben gegangen. Der Schotte und der Dicke folgten ihnen. Es wurde aber nicht leerer vor dem Ausschank, die anderen traten aus dem Eßraum.
Der Heilige lief nur an den Trinkenden vorüber. Er war in sich gekehrt und schien auch in sich zu sehen. Sein Gesicht sah aus, als wäre es eine leere weiße Scheibe.
Der Belgier trat näher und trank. Der Däne, der mit dem Russen herankam, trank mit. „Auf Russland", sagte der Däne und hob sein Glas. Der Russe lächelte und goss den Schnaps hinunter,
„Bist du ein Bolschewik?" fragte der Belgier, der sein Glas ausgetrunken hatte.
Der Russe lächelte wieder. „Ich bestelle Feld. Ich hatte auch in Amerika einen Acker. Was soll ich sein? Ich bin ein Bauer."
Der Belgier machte große Augen und sah den Russen erstaunt an. „Du bist ein sonderbarer Kauz, „sagte er, „fährst zu den Bolschewisten und weißt gar nicht, was der Bolschewismus ist."
Der Russe blinzelte und zeigte dem Belgier die Zähne. „Ich hatte nichts. Ich musste den ganzen Tag für den Herrn arbeiten. Ich wurde verprügelt. Der Alte schreibt: Der Bauer ist frei geworden. Wir haben Feld. Genügt das nicht? Wer dem Bauer in Russland Feld gibt, ist gut!"
Als letzter kam der lange Engländer an den Ausschank. Er war am Tisch sitzen geblieben, um zu warten, bis die Jüdin aus dem Raum ging. Sie ging aber nicht. Wenigstens nicht vor ihm. Endlich hatte er sich aufgerafft und war zuerst gegangen.
Sie kam gleich hinter ihm her, sah ihn bei jeder Gelegenheit ernst und ruhig ins Gesicht und trat auch mit ihm an den Ausschank,
„Schnaps", näselte der Lange und ließ sich ein Glas geben.
und trank es aus. Sie trank noch ein zweites und ein drittes, ließ dann den Langen stehen und trippelte nach der Treppe.
Der Lange, den das überraschte, blickte ihr nach. Die kleinen Füße, die er zum ersten Male sah, und das Schwenken ihres Hinterteils zogen ihn an, Er fasste Mut und folgte ihr.
Auf der Treppe holte er sie ein. Er drängte sich neben sie und bog seinen Kopf auf ihren Nacken, „Was ich von dir will“, sagte er, als setzte er nur das Gespräch vom Nachmittag fort und rieb sich an ihr, „was ich von dir will? Das!" Und er versuchte seinen langen Arm um sie zu schlingen. Da sie es zuließ, wurde er stürmischer, fasste sie fester und drückte sie an sich.
An dem Ausschank wurde es noch einmal laut. Der Krumme und der Franzose wollten mit dem Russen trinken.
„Du fährst also hinüber in das Land der Freiheit", hüstelte der Schwindsüchtige. „Dass wir das noch erleben! Mein Vater war Kommunarde. Er bekam einen Schuss und flüchtete nach Marseille- Er wurde auch nie wieder ganz gesund. ,Jean, sagte er trotzdem, ,es hat den meisten von
uns den Hals gekostet, aber es war doch unsere größte
Zeit!"'
Ja, diese Russen", sagte der Däne. „Sie haben dahinten gesessen, und wir haben nur über sie gelacht. Auf einmal stehen sie auf, stürzen ihren ganzen Staat, und nun lachen sie über uns."
Der Belgier widersprach. „Was ist das besonderes?" zischte er. „Sind sie Europäer? Sie sind Russen, und Russland ist nicht Europa. Was würde aus Europa, wenn wir über Nacht die Ordnung stürzten!"
Der Franzose sah ihn sonderbar an, und sein gelbes Gesicht rötete sich etwas. „Ja“, sagte er, wir haben alle Angst. Aber nicht vor der Ordnung oder vor dem, was kommt, wenn wir sie gestürzt haben, sondern vor uns selber. Wir kennen uns. Darum erkennen wir auch die Ordnung an!
Aber," fuhr er leiser fort — das Sprechen machte ihm wieder Mühe —, „wir kennen wirklich nur uns. Auch Europa ist noch nicht faul. Der Bauer ist gesund, wo er um den Boden kämpft, und in den Städten wohnt noch dasselbe junge Proletariat wie zur Zeit der Kommune!
Was sind wir?" sagte er lauter und sah dem Belgier und dem Krummen in die Augen. „Wir sind abgenutzt! Wir sind müde und all geworden und haben uns schon an die. Ordnung gewöhnt und brauchen sie auch. Die Jungen", rief er so lauf, wie er noch sprechen konnte, „sind aber stark, sind unverbraucht, müssen diese Ordnung nicht haben, und wenn wir nichts mehr können, so sollten wir wenigstens den Mut aufbringen, an ihre Stärke und Gesundheit zu glauben!"

 

VIII.

Der Sturm war zum Orkan geworden. Das Schilf torkelte in dem Auf und Nieder der bergehohen Wogen, als hätte es Fahrt und Richtung verloren. In den Nebel, Schnee und Regen mischte sich außerdem plötzlich Hagel. Er prasselte auf das Deck, als wollte er Eisen, Holz und Glas auseinander schlagen, und er sammelte sich überall an, häufte sich auf, als wäre der Himmel auseinander gebrochen und stürze nun in großen, gläsernen Stücken nieder.
Der Däne und Belgier mussten den Franzosen führen, als sie in den Tagesraum hinüber gingen. Auch die Französin musste sich festhalten, sonst hätte der wirbelnde, über Wasser und Schiff rasende Wind sie mitgenommen.
Der Raum war ganz warm geworden. Der Geduckte erzählte Geschichten, als sie ihn betraten. Er hatte sich einen Stuhl zwischen Heizrohr und Wand gestoßen und saß unmittelbar auf der Hitzfläche. Der Deutsche stand rechts und der Amerikaner stand links von ihm.
„Gentlemen!" rief er etwas lauter, um auch die Ankommenden anzulocken, „es geht nichts über das Leben eines amerikanischen Landstreichers. Im Winter läuft er nach dem Süden, und im Sommer ist er oben im Norden, Ich habe die Fahrt zwölfmal gemacht. Immer mit guten Kameraden. Wenn man dabei täglich zwischen Auto und Eisenbahn wechseln kann, manchmal auch zu Fuß geht, besonders wenn der Magen knurrt, das ist so, als gehörte uns das ganze Land!
Einmal, „schrie er auf und lachte, „da hatten sie uns geschnappt. Es war schon kalt, und wir fuhren zu dritt von St. Louis nach Memphis. Auf einer kleinen Station holten sie uns unter dem Zug vor und begannen, uns zu verprügeln. Da wurde der ganze Zug plötzlich lebendig, wir waren auf einmal sechzehn Tramps, packten die Kerle wieder auf die Lokomotive, und sie mussten weiterfahren. Kurz vor Memphis sprangen wir dann alle in die Büsche.
In der Nähe von Jakson“, fuhr er fort, „es ist unten im Mississippigebiet, ging es uns noch schlechter. Wir luden uns zu sechst bei einem Farmer ein, der gerade Schweine schlachtete. Wir aßen die ganze Nacht; aber irgend so ein Kerlchen war davon gelaufen und holte die Nachbarn. Man nahm vier von uns fest, auch mich, und sie wollten uns noch in derselben Stunde lynchen. Nur einer alten Mutter haben wir es zu verdanken, dass wir
an diesem Tage noch am Leben blieben und dass uns erst in Jakson der Prozess gemacht werden sollte. He! und wir dachten auch, es wäre tatsächlich der letzte Tag angebrochen, denn im Süden hängen sie gleich, wenn sie einen haben, und selbst das Vor-den-Richter-Kommen ist genau so, wie wenn dir der Strick schon um den Hals liegt. Aber was hatten die beiden gemacht, die davongelaufen waren. Sie waren nach Jakson gesprungen und hatten alles zusammengetrommelt, was von Weltfahrern die Stadt bevölkerte, und als uns die Farmer am Morgen durch ein Tälchen fuhren, war plötzlich die Straße versperrt! Hu! gab es da Wichse! Die Farmer sprangen wie die Hasen! Wir haben aber drei Tage gelacht über ihre verbeulten Hinterseiten und sind auf ihren Kästen bis beinahe an die mexikanische Grenze weitergetrottelt!"
Alle lachten. Auch der Holländer und der Russe, die herangetreten waren. Nur der Deutsche machte ein schiefes Gesicht
„So ein Spitzbube bist du also", knurrte er und stellte sich vor dem Geduckten auf. „Ein richtiger Lump! Bestiehlt man ehrliche Leute? Fährt man wie ein Bandit durch das Land? Heute noch sollte man dich dafür anzeigen!"
Der Geduckte hatte einen solchen Angriff nicht erwartet. Er fiel auf seinem Thron zusammen, besah sich den Deutschen blinzelnd und machte ein Gesicht, als hätte er wirklich etwas gestohlen.
Alle lachten lauter. „Ich glaube“, sagte der Däne, „einer von seinen Genossen ist dir einmal über den Weg gelaufen."
Der Deutsche fuhr herum. „Begaunert haben sie mich, „schrie er und fuchtelte mit den Armen, „mich beschimpft, mir meine Ehre beschmutzt. Einsperren sollte man sie alle!"
„Das solltest du uns erzählen", sagte der Däne und rückte ihm näher.
Der Deutsche begann schon. „Ich wohnte damals noch vor der Stadt und machte nur Särge. Zwei kommen und betteln, und ich gebe ihnen Essen, damit sie mir am Nachmittag Holz kleinschlagen und Späne sammeln. Was machen sie aber? Sie stänkern im ganzen Haus herum, hocken in allen Ecken, nur die Hände rühren sie nicht. Was soll ich mit solchen Faulpelzen machen? Ich habe sie auf die Straße geworfen, wo sie hingehören!
Was tun sie nun?" Der Deutsche musste verschnaufen, weil ihm der Atem ausging und weil ihm die Geschichte noch wie eine Krankheit in den Knochen steckte. „Sie hatten mir Kreide gemaust und schrieben die ganze Nacht, drei Meilen im Umkreis und auch unten in der Stadt, an alle Zäune und Wände, dass ich fichtene Bretter unter meine eichenen Särge nagele. Drei Jahre hat es gedauert, bis ich diesen Schandfleck wieder richtig von meinem Schilde hatte."
Die Männer lachten nicht laut, als der Deutsche geendet hatte, sie prusteten nur vor sich hin und kniffen die Augen zusammen. Der Krumme, der hinter den Deutschen getreten war und die Litanei mit angehört hatte, konnte sein Mundwerk aber nicht zusammenhalten. Er ließ es aufplatzen.
„Mister, „redete er den Deutschen vornehm an und versuchte, sein ernstestes Gesicht zu machen, „habt ihr danach weiter die fichtenen Bretter unter die eichenen Särge genagelt?"
Der Deutsche öffnete den Mund, aber die Worte, die er sagen wollte, blieben ihm irgendwo zwischen Magen und Kehle stecken. Er schien auch plötzlich das Gefühl zu haben, in eine für ihn unfaire Gesellschaft geraten zu sein. Er senkte darum bloß den Kopf, um anzudeuten, dass er keinen dieser Burschen mehr sehe und schob sich mit ein wenig ausgebreiteten Armen eilig aus ihrer Mitte.
Alle lachten nun hell und fröhlich hinter ihm her. Auch der Franzose versuchte mitzulachen. „Genossen“, sagte der Kranke, als es wieder ruhiger geworden war, „bei Newark habe ich einen solchen Streich mit verbrochen. Wir waren zu zweit, ein kleiner schwarzer Italiener, den ich in Neuyork aufgelesen hatte, war mit mir, und wir versuchten, Philadelphia zu erreichen. Wir waren leer wie ausgedroschene Weizengarben, hatten keinen Cent mehr in der Tasche aber Hunger wie die Wölfe. In einem Hof, der gleichzeitig Fleischerei war, bettelten wir um Brot und Nachtlager.
Ein Alter kam heraus“, erzählte er langsam, „beleuchtete uns von oben bis unten und schien uns „allright" zu finden für einen schlechten Streich. Wir durften uns in das Schlachthaus setzen, bekamen eine Wurst vorgesetzt, die man scheinbar für Menschen unserer Art aufgehoben hatte, und dann ließ uns der Alte, aber erst nachdem wir zwei Stunden eine schwere Hackmaschine gedreht hatten, in einen leeren Stall, in dem nichts weiter war als Kuh- und Schweinedreck und faules, stinkiges Stroh.
Wir wussten nicht, wo wir uns hinsetzen sollten“, krächzte er weiter, „da ließ der Alte noch einen großen Köter herein, der allerdings anständiger war als der Kerl und uns, nachdem er uns berochen hatte, in Ruhe ließ.
Was sollten wir tun. Das Tor war verriegelt und schien auch fest. Fenster hatte das stinkende Loch zwei, aber sie waren so klein, dass keiner von uns durchrutschen konnte. Nun, wir haben dem Kerl das Dach abgedeckt und sind hinausgeklettert. Aber wir waren so wütend, dass wir ihm noch alle Tore aushängten und sie in den nahen Sumpf warfen. Auch drei kleine Wagen jagten wir hinterher und alles, was auf dem Hof herumstand und nicht angenagelt oder festgekettet war. Bis gegen drei Uhr morgens tobten wir uns aus, dann sind wir losgerannt, um noch vor Mitternacht nach Newark zu kommen und um irgendwie einen Unterschlupf zu finden!"
Der Krumme lachte dröhnend und hielt sich den Bauch. „Den Alten hätte ich sehen mögen, als er am andern Morgen seine Laternen aufsperrte", brüllte er,
Auch der Schotte wieherte wie ein Ross. „Das war tüchtig", schrie er. „Verdammt, Jedem von den Brüdern sollte man die schlechten Späße so gut heimzahlen!"
„Ja, „sagte der Belgier noch und sah den Krummen dabei an, „was soll aber dem Alten besonders passiert sein, als er seine Augen aufmachte. Er wird gedacht haben, sie sind von meiner Wurst so wild geworden!"
Die Gruppe löste sich nach dem Gelächter auf. Der Amerikaner trat zu dem Langen hinüber und stieß ihn an. „Du bist ein Engländer?" fragte er ihn.
„Schon 700 Jahre", antwortete der Lange. Er machte ein Marabugesicht und hielt den Kopf schief.
Der Amerikaner lächelte. „Hast du gearbeitet in den Staaten", fragte er weiter und kam einen Schritt näher.
Das Gesicht des Engländers wurde länger. „Hast du schon einmal gehört, dass jemand in Amerika satt wird, der nichts tut? Ich habe arbeiten müssen Ich war zuerst Tischwascher, dann Gelegenheitsarbeiter. Jetzt bin ich Bergmann“,
„Du fährst wieder nach England?" Der Amerikaner betrachtete den Langen genauer.
„Alle drei Jahre!" nickte der zurück. „Nach Carlisle, später nach London. Im Sommer muss ich aber zurück nach Pittsburgh."
„Alle drei Jahre?" wiederholte der Amerikaner. „Gibt es in England keine Arbeit für dich?"
„England"', antwortete der Lange, hat mehr Arbeitslose auf seiner Insel als Steine auf seinen Straßen. Wenn du die Rentner noch dazu rechnest, könntest du annehmen, das ganze Volk hätte sich zur Ruhe gesetzt!"
„Und sollte sich das nicht ändern?" Der Amerikaner war erstaunt.
„Es wird schlechter!" näselte der Engländer und machte ein melancholisches Gesicht. „Vor 50 Jahren dachte unsere Nation, sie hätte genügend Völker unterjocht, um für die Ewigkeit Zinsen und Renten zu beziehen. Sie machte darum aus unserm Land einen Krautgarten mit Sommervillen Die Fabriken blieben bestehen, aber es war kein Ernst hinter der ganzen Arbeit. Die Kolonien wurden gezwungen zu kaufen, was zusammengeschustert wurde, und auch den Arbeitern ging es dadurch ganz erträglich.
Sie setzten Kinder in die Welt wie die Karnickel, und unsere Insel stank schon, so viel Menschen hockten auf ihr zusammen!
Jetzt", sagte er und machte ein noch trübseligeres Gesicht, „wird den Negern und den Indern, den Arabern und den Hottentotten unsere Fütterung aber zu bunt. Nicht einmal unsere Regierung wollen sie sich mehr gefallen lassen, sie stellen sich auf die Hinterbeine, beschimpfen uns und revoltieren."
„Nützt es ihnen etwas?" fragte der Amerikaner gespannt.
„Heute noch nicht viel", antwortete der Engländer. „Das heißt, auf unsere Waren verzichten sie schon zum größten Teil. Sie besorgen sich von anderen Ländern bessere, oder sie bauen sich selber Fabriken. Unsere Rentner und Fabrikanten schreien Mord und Totschlag deswegen. Aber ihre kriegerischen Gelüste drücken unsere Schlachtschiffe und unsere Soldaten noch tot. Wenigstens heute und morgen."
„Aber später?" wendete der Amerikaner ein.
„Dja!" sagte der Engländer und ließ seine Unterlippe hängen, „deswegen arbeite ich ja schon."
Der Amerikaner lachte und schüttelte sich. Er schob seine Brille von den Augen und setzte sie wieder hinauf.
„Lache nur", sagte der Lange und verzog sein Gesicht noch mehr. „Wir lebten zu dritt, zwei Brüder und eine Schwester, von den Aktien einer Fabrik in Kalkutta. Als die Inder anfingen, unsere Waren zu boykottieren, ging sie Pleite, und wir saßen auf der Straße. Mein Bruder konnte reiten. Meine Schwester konnte gut Foxtrott tanzen. Ich war der Dümmste. Ich konnte nichts!"
Schon lächelnd sprach er weiter. „Wir hielten Kriegsrat. Es gab drei Möglichkeiten. Wir konnten uns bei Onkeln und Tanten herumdrücken, bis sie uns an die Luft setzten. Das war das Leichteste und auch das Bequemste. Wir konnten bei der Regierung um Unterstützung betteln, das war schon schwieriger, vielleicht hätte sie uns aber etwas gegeben. Wir konnten arbeiten, das hätte die größte Mühe gemacht. Außerdem galt es auch für unfair.
Als kurz hintereinander noch drei andere Rentnerfamilien verarmten, kam mein Bruder zu einem Entschluss. Er ist, nebenbei gesagt, ein feuriger Patriot! Henry, sagte er zu mir, ich habe in den letzen vier Wochen folgendes auskalkuliert. Es geht abwärts mit England. Man kann nicht ewig von den Errungenschaften seiner Vorfahren leben. Wir arbeiten zu wenig. Das sehe nicht nur ich ein, sondern hundert andere auch. Was willst du tun? Du kannst auf deinem Platz sitzen bleiben, stockkonservativ, wie du bis heute warst, und sagen, wenn dich England mit seinen Negern und Indern nicht mehr ernähren kann, dann kann es zu Grunde gehen. Du kannst aber dorthin gehen, wo man heute in England noch arbeitet, wo man nicht am Konservativismus zu Grunde gehen will und einen neuen Versuch ,England' probiert, zu den Arbeitern!
Ich", näselte der Lange langsamer und versuchte, ein dummes Gesicht zu machen, „habe mich zuerst geschüttelt wie ein Hund, dem man zu kaltes Wasser über den Rücken gegossen hat. Mein Bruder war aber schon nach drei Tagen in einer Automobilfabrik und nach sechs Wochen mit einem schauderhaft männlichen Wesen von einer Gewerkschaftssekretärin verheiratet. Meine Schwester machte es ihm nach acht Tagen nach. Nur noch schlimmer. Sie spulte ein viertel Jahr in einer Weberei und warf sich dann an einen Kerl, der dort die Stühle reparierte!
Siehst du, „sagte er, holte tief Luft und zeigte auf den Krummen, „damit du glaubst, dass sie sich verkuppelt hat, da drüben steht er und schäkert mit dem Weibsbild. Zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass er früher etwas besser aussah. Brechende Kohle hat ihm das Gesicht so verhunzt, und in ihrer Nähe wird er auch manierlicher. Aber sonst ist er verschossen in jeden Weiberrock und läufig wie ein alter Hase. Dazu jähzornig und versoffen, macht Krakeel und muss in allen Dingen Recht behalten)
Seitdem er aus der Spinnerei hinausgeworfen wurde, hat er umgesattelt und reist in Kohle. Mich hat er, nachdem ich zuletzt von einem Onkel aus dem Hause gesetzt wurde, aus lauter Gutmütigkeit aufgelesen und mitgenommen. Jetzt", der Lange lächelte wieder, „arbeiten wir in derselben Firma. Das heißt, er hackt die Kohlen, und ich schaufle sie ein. Zu mehr bin ich noch immer zu dumm!"
„Bekommt dir diese Arbeit", fragte der Amerikaner und betrachtete den Langen eine Weile.
Der Engländer wurde ernst. „Wie soll mir die Arbeit bekommen", wiederholte er. „Wie sie jedem bekommt, der ihr ein halbes Leben aus dem Wege gegangen ist, — schlecht! Aber ich habe da unten in den schwarzen Löchern manches gelernt.
Zuerst, „sagte er leiser, „dass wir Parasiten doch das schlechteste und gemeinste Pack sind, das auf der Erde wächst. Neben mir schund sich einer, der hatte einen halben Fuß verloren, war taub, und ein Auge war ihm eingeschlagen worden, aber er schuftete für seine drei Kinder, bis ihn der Berg ganz erdrückte. Zwei Frauen schaufelten oben Kohle, davon hatte die erste zwei Kinder, und sie waren alle beide von dem Inspektor, aber der Kerl ließ sie weiter schaufeln. Die andere hatte gar vier von den schmutzigen Würmern, und ihr Mann lag mit zerdrücktem Rückgrat im Bett und musste gepäppelt werden wie ein Säugling. Sie greinten aber nicht oder schimpften, ja, wenn wir sie abends auf den Hintern schlugen, lachten sie noch und machten Späße. Und wir Pack saufen, tanzen, huren, trinken und beten auf dieser Armut herum, lassen uns von ihr ernähren und drücken sie noch tiefer in Elend und Dreck."
Der Engländer machte eine Pause und verschloss sein Gesicht, als hätte er zuviel gesagt. Der Amerikaner ließ ihn aber nicht los. „Mann, „sagte er spöttisch, „ist das alles, was du in den Kohlenlöchern gelernt hast? Das ist eine alte Weisheit, und aus der haben schon deine Väter ihren Nutzen gezogen."
Der Engländer wollte hastig einfallen, aber er behielt seine Antwort noch ein wenig zwischen den Zähnen. Langsam sprach er: „Ja, das ist alles. Sicher, es ist auch nichts, und die Welt besteht schon einige hundert Jahre so. Aber es gab Zeiten, da hatte das alles eine gewisse Berechtigung. Mein Großvater hatte vier Schiffe und fuhr jedes Jahr zweimal nach dem Kap und nach Indien, um sein Vermögen zu vermehren. Er hatte auch in England keine Arbeitstiere, wenigstens waren seine Lagerhalter keine, und wenn die Schiffe ausgeladen wurden, half er selber mit. Warum wurde er reich? Nun, er war groß, stark, hatte Energie und Mut. Es war ein Kerl! Und keiner neidete ihm darum seine Erfolge und dass er langsam zur Herrscherkaste stieg. Jetzt", er schwieg einen Augenblick, fuhr sich mit seinen länglichen Händen über das Gesicht und stöhnte.
„Jetzt?" fragte auch der Amerikaner.
„Was sind wir dagegen", sprach er noch langsamer. Was ist die heutige Herrscherkaste? Ausgedörrtes, fauliges Gesindel, das von der Dummheit der anderen lebt! Tagediebe, Spitzbuben, Trottel! Ja, Trottel!" rief er lauter, „trotz allem Dingeidangel, den sie sich umgehängt haben. Trottel, wie ich selber einmal einer war!"
Der Amerikaner lächelte. „Glaubst du es etwa nicht?" fragte der Engländer, der außer Atem gekommen war. „Ich könnte dir hundert Nächte von unseren Vergnügungen im Club erzählen, von unseren Nachtmälern und Tänzen mit den Mädchen von der Charlotten Street'. Wir trieben es toller als die Hunde, und jedes Hürchen wurde noch rot, wenn wir unsere Späße mit ihr machten!"
Der Amerikaner machte schon ein ernsteres Gesicht. „Und war es bei den Arbeitern besser?" fragte er,
„Menschlicher", fiel der Lange ein, „und heroischer. Ich habe wenigstens noch nirgends so viel Größe und Lebensmut gesehen wie bei ihnen. Wenn es ihnen am schlechtesten ging, brachten sie die meiste Hoffnung auf. Wenn sie sich schon vor Hunger und Elend auf der Erde wälzten, war der Glaube an eine bessere Zeit am stärksten. Und", sprach er nach kurzem Nachdenken weiter, „das Seltsamste war, dass sie bei all ihrem Denken, auch bei den Revolutionen, nicht ausschließlich an sich dachten. Sie sprachen nur immer von dem Menschen, der es einmal besser haben
sollte, vielleicht von ihren Kindern, die das neue Zeitalter noch erleben würden, aber sich betrachteten sie immer nur als die Nochgequälten, als die Nochgepeinigten, als die, auf denen die ganze Verantwortung für die kommende Zeit liegt. Mit mir arbeitete ein kleiner Schlepper zusammen. Es war ein hageres Männlein, irgendwo aus einem ärmlichen Nest in Böhmen, der sagte immer pathetisch: ,Wir sind die Garde, die die Zukunft erobern muss. Vielleicht fallen wir alle. Aber was macht das? Das Blut der Geopferten bringt nur Segen.' Ich habe über ihn gelächelt, bis ich ihn nach einem Streik in Pittsburgh im Krankenhaus besuchen musste. Der Leib war ihm aufgerissen worden, und es gab keine Hoffnung mehr. Flennst du, Genosse? sagte er zu mir, als er mein Wasser sah, du tätest mir einen Gefallen, wenn du mutiger wärest. Was soll das Heulen auch? Mit jedem Toten kommen wir unseren Zielen näher!
Was bringt meine Klasse dagegen auf!" sprach er schneller, als er sah, dass der Amerikaner die Hand erhob und etwas sagen wollte. „Nichts! Das einzige, was sie tun, ist, sie verstärken die Polizei, das Militär. Sie kaufen Gase und Giftstoffe auf. Sie umgeben sich mit einem Stab von Menschen, der ihren Besitz und ihre Trägheit verteidigen soll. Aber was bedeutet das gegen den Anmarsch der unteren Klassen? Was bedeutet das überhaupt gegen den Ansturm und die Wandlungen des Menschen? Die Toten werden sich höher häufen. Es wird gewaltsamer zugehen, wenn der Vormarsch beginnt. Dafür wird aber auch die Rache größer sein!"
„Du hast also gar keine Hoffnung, dass sich diese Klasse noch wandelt", wandte der Amerikaner ein. „Dass sie spüren, dass ihre Rechte untergraben sind, nicht nur durch die Massen, sondern durch die Zeit!"
Der Engländer lächelte schmerzlich. „Ich habe mich geändert, das ist aber weniger meine Schuld als die meines Bruders und meiner Schwester. Wir stammen auch von Bauern ab, vielleicht ist es mir darum leichter geworden. Sonst hat die Aristokratie nur einen Gedanken: Verteidigung. Sicher, sie weiß so bestimmt wie ich, dass ihre Verteidigungslinie schwach ist, und dass sie einmal zerstört werden wird. Aber es ist zu altes Blut in ihnen. Wenn sie schon untergehen müssen, sie wollen auf ihren Bastionen untergehen. Sie setzen dem Heroismus und dem Mut der Massen ihren Konservativismus und ihren Skeptizismus entgegen. Stürmt! schreien sie, wir werden uns verteidigen. Und wenn wir auch fallen, wir besitzen noch so viel Stärke und Größe, um euch mit herabzureißen. Denn was wollt ihr! Ein England ohne unsere Herrschaft, das ist genau so wahnsinnig wie ein Himmel ohne Gott!"
Der Engländer war schwach geworden von seiner langen Rede. Er sah auch ganz blass und käsig aus und trat zurück. Der Amerikaner sah ihn noch immer an, schob nachdenklich seine Brille nach oben und tat ein paar Schritte, um ihm nachzugehen, aber der Franzose, der den beiden zugehört hatte, trat dazwischen und hielt ihn auf.
„Der Mann hat Recht!" sagte er mit seiner hüstelnden Stimme. „Es ist nicht allein der englische Aristokrat, der mit seinem Untergang sein ganzes Volk in die Tiefe reißen will. In deinem Amerika und in den übrigen Staaten ist es genau so. Überall glauben diese Brüder, die von ihrer Geburt an mit dem Hintern auf Gold gesessen haben, ob sie nun auf den Börsen, in den Fabriken oder auf dem Lande hocken, sie hätten das Recht des Reichseins und des Herrschens schon bei der Erschaffung der Erde als Privileg bekommen!
Aber", er hustete auf und spie eine Wolke von Schnaps und Blut auf den Fußboden, „auch ihr Ende kommt. Denn es sitzt niemand auf der Erde, an dem man nicht rütteln könnte. Und es sind nicht die ersten, die man von hohen Sitzen herunterholt!"
Der Amerikaner antwortete nicht gleich. Das gelbe, von zwei roten Punkten betupfte Gesicht des Franzosen hatte ihn erschüttert. „Du hast recht“, sagte er dann, „und ich glaube an ihren Untergang. Wird es aber danach besser? Heute herrscht der, und morgen herrscht jener. Die Menschen sind seit der Erschaffung der Erde nicht glücklicher, sondern unglücklicher geworden!"
Der Franzose sah den Amerikaner erstaunt an, Er hatte eine andere Antwort erwartet und wusste nicht gleich, was er dem Bebrillten sagen sollte.
Der sprach bereits weiter. „Wer hat nicht schon alles das Zepter geschwungen. Die Bauern, die Städte, die Kirchen, die Fürsten, das Kapital! Was suchen sie aber alle. Ihren Nutzen!"
Der Franzose hob sich ein wenig. Er war erregt, und seine Backenflecke wurden röter. „Aber wir!" hüstelte er. „Wir sind doch die Arbeiter! Zählt das nicht! Die ganze Schlechtigkeit soll ausgerottet werden! Der Reichtum, der Besitz, die Kirche. Es wird nur noch eines geben“, er stieß seine Hände nach vorn und erhob seine Stimme lauter: „Die Freiheit!"

 

IX.

Gegen elf Uhr wurde aufgebrochen. Die einzelnen Gruppen zerstreuten sich wenigstens. Zuerst ging der Heilige hinaus. Er hatte den ganzen Abend an einem Eckfenster gestanden und in die Nacht gesehen. Sein Gesicht war noch immer verschlossen, die Augen kaum geöffnet.
„He!" sagte der Deutsche, der sich den anderen wieder genähert hatte und neben dein Schatten stand, „ich habe ihn beobachtet. Ich habe auch versucht, ihn anzusprechen, aber er ist zugeknöpft, als wäre er oben und unten abgebunden. Nur manchmal macht er selber das Maul auf. Weißt du, was er dann sagt?" Er stemmte seine kleine Gestalt bis zu dem Ohr des Schotten, „Holland" flüstert er. Nichts weiter als das Wort „Holland".
Der Schotte horchte aber gar nicht auf den Deutschen. Er sah nach der Tür, vor der ein Gedränge entstand. Der Korrekte, der Dicke und der Krumme balgten sich um die Französin.
Der Krumme war ihr am nächsten. Er hatte sich länger mit der Frau in allen Ecken herumgetrieben, war noch einige Male mit ihr vor dem Kantinenschalter gewesen und wollte nun mit ihr schlafen gehen.
Er war betrunken. Sein Kopf war röter als eine Tomate, und die Augen glänzten hinter den Tränensäcken wie kleine, blitzende Feuer. „Es ist mein, das Puttchen!" kreischte er und drehte seine Arme wie Windmühlenflügel.
Der Korrekte, der sich den beiden mit steifen Schritten genähert hatte, schien ebenso betrunken zu sein. Er machte kleine Verbeugungen vor der Frau, so tief, bis er an die fuchtelnden Arme des Krummen stieß und sagte mit gespitzten Lippen: „Ich liebe Sie!"
Der Dicke trieb es noch toller. Er hatte in einer Ecke gesessen und getreulich auf die Betschwester gewartet; als sie aber nicht erscheinen wollte, stieg ihm seine Liebe zu Kopf, und er rannte nun, mit Bewegungen, die selbst den Krummen erschreckten, gegen die Französin. Er machte das sonderbar. Er ließ seinen Hals und seine Schultern etwas hängen, und dann fiel er einfach nach vorn.
Die Französin stand wie eine Gefangene unter den Verliebten. Sie war so rot wie der Krumme, nur fröhlicher. Die Männer belustigten sie. Sie sah sie abwechselnd an, einmal den Korrekten, einmal den Krummen, drehte sich dabei und wand sich und versuchte, aus den Umschlingungen wieder herauszukommen.
Der Krumme fasste sie darum fest. Er krallte sich mit seiner rechten Hand in ihre Bluse und ließ nur noch die linke Hand kreisen. Das regte die Nebenbuhler auf. Der Korrekte rückte näher und berührte die Frau schon, wenn er seine Verbeugungen machte. Der Dicke belferte Worte, wenn er sich vorn überstürzte, sprudelten sie dem Krummen ins Gesicht, und fasste auch nach der Frau.
Diese hatte sich unter dem Griff des Krummen erst etwas zusammengeduckt. Nun lachte sie lauter und kichernder, blitzte die anderen aufmunternd an und ließ ihre gespitzte Zunge sehen.
Als die Männer handgreiflicher wurden, öffnete sich auf einmal die Tür. Der Krumme, der davorlehnte, stürzte schreiend hinaus. Er ließ die Frau nicht los, und so torkelte sie schwankend hinter seinen fallenden Körper her.
Auch der Dicke fiel. Da die Frau und der Krumme nicht mehr vorhanden waren, schlug er hart, ja, beinahe dröhnend, gegen den Türpfosten. Er schien von diesem Schlag aus seiner Liebestollheit zu erwachen, wenigstens sah er sich plötzlich schreckhaft um, griff sich erst nach einer Weile an den schmerzenden, anschwellenden Kopf und schüttelt« ihn leicht und erstaunt hin und her.
Alle, die es sahen, mussten lachen. Auch über den Korrekten lachten sie. Er hatte nicht bemerkt, dass die Französin verschwunden war, er machte seine Verbeugung weiter, und da der kreisende Arm des Krummen seinen Kopf nicht mehr zurückstieß, neigte er sich sogar tiefer und drohte wie der Dicke gegen die Tür zu schlagen.
Dem Geduckten, der erst am lautesten über seinen korrekten Bruder gelacht hatte, beunruhigte das. Er fing ihn auf und riss ihn hoch, „Ich liebe Sie wirklich!" sagte der Betrunkene feierlich und umklammerte ihn. Dann hob er seine Hände höher und strich sie dem Geduckten zärtlich über die Backen.
Die Tür war vom Steward geöffnet worden. Der hatte erst die Augen aufgerissen, als er die Frau und den Mann auf das Deck fallen sah. Da sich die beiden aber kichernd wieder aufrichteten, drohte er nur und lächelte ihnen zu.
„Feierabend!" rief er und ging mit schnellen Schritten weiter. Er schloss überall die Heizungen und riegelte Läden vor die Fenster,
Der Belgier, den das Rufen des Stewards aufregte, stellte sich ihm entgegen. „Du bist wohl unser Hahn“, knurrte er grimmig, „dass du hier so laut Feierabend krähst!"
Der Steward wich ihm aus. Er hob Papier auf, das auf dem Boden lag, rückte eilig verstellte Tische an ihren Platz und schob die Stühle zusammen,
„Die Arbeiter sind wie die Kinder", sagte er, als er mit seiner Arbeit fertig war und wieder auf das grimmige Gesicht des Belgiers stieß. „Sie sehen in jedem Menschen ihren Antreiber. Befehle ich dir etwas?" fuhr er fort. „Ich sage dir das, was ich dir sagen muss. Ich bin sonst noch weniger als du."
Der Belgier wurde nicht ruhiger. „Hei" schrie er auf, „willst du vielleicht ein Genosse von uns sein?"
Der Steward, der schon weitergegangen war, drehte sich noch einmal um. „Ich weiß nicht“, antwortete er, „wen du deinen Genossen nennst. Jedenfalls bin ich auch Arbeiter. Ich stehe morgens um 5 Uhr auf und komme abends nicht vor 11 Uhr in meine Kabine. Außerdem bin ich fester an diesen Kahn gebunden als du oder deinesgleichen an ihre Werkstatt. Genügt dir das?"
Der Belgier zog eine Schnute und wetterte weiter, „Der Genosse fängt bei der Kameradschaft an!" knurrte er.
„Kamerad!" sagte der Steward wärmer und trat einen Schritt näher, „was tust du, wenn dir dein Meister sagt: Gehe hin und sage der andern Blase, sie soll das Maul halten, wenn sie arbeitet. Du gehst hin und sagst: Genossen, entschuldigt, aber ich soll euch sagen, ihr sollt euer Maul halten. Was willst du dagegen tun? Wir sind alle in der großen Tretmühle. Wir werden getreten und treten wieder!
Sieh!" sagte er schneller, „und das Schlimmste dabei ist, dass wir uns selber nie erkennen. Wir wittern überall nur Gegner. Wir sitzen nebeneinander und schneiden uns doch Gesichter, als wären wir Todfeinde. Wir tun, als hätten wir uns nie gesehen und warteten darauf, dass einer über den anderen herfallen konnte.
Freilich!" sagte er härter, „es ist ein System! Wir sollen uns nicht erkennen. Deswegen geben sie dem einen auch ein paar Pfennige mehr als dem andern und sagen noch zu ihm: Du, der andere ist Pack! Mit dem darfst du dich nicht abgeben. Oder sie hängen ihm gar eine Uniform um und trichtern ihm ein, dass er jetzt das Höchste sei:
Beamter)
Und" — der Steward lachte bitter, „jeder, der es hört, glaubt es auch. Die Hilfsarbeiter schmeißen nach den gelernten Arbeitern mit Steinen und brüllen: Ihr seid halbe Bürger! Die gelernten Arbeiter aber spucken aus und sagen: Das Gesindel! Sie können uns ja kaum das Wasser reichen. Die höheren Beamten sind noch schlimmer. Die, die es angezettelt haben, lachen sich darüber ins Fäustchen und füllen sich ihre Bäuche weiter. Warum sollen sie sich auch Sorge machen! Wir kommandieren und schurigeln uns ja selber und liefern alles getreulich ab, was wir aus unserer und der Arbeit der andern gewinnen! Kamerad!" wiederholte er noch einmal und sah dem Belgier bis in das Schwarze seiner Augen, „wenn einmal alle Arbeiter wirklich wissen, dass sie Arbeiter sind, wenn jeder den Strick spürt, an dem er zappelt und aufgehängt ist, und den Willen hat, sich loszulösen, dann wird es auch anders. Dann fällt das ganze Kartenhaus ein, in dem jetzt getafelt und geschwelgt wird, und du bekommst weder faulen Fisch noch spuckt dir einer über die Schulter oder sagt, dass du dich um 11 Uhr in deine Klappe legen sollst. Dann fängt auch deine Kameradschaft an und deine Genossenschaft! Bis dahin ist es nur noch weit. Besonders, wenn wir selber, du und ich, noch hier herumlaufen, uns anknurren, als wären wir Hunde und einer dem andern kaum über den Weg traut!"
„So einer bist du also", sagte der Belgier, der seinen Kopf eingezogen hatte und den Steward auf die Schulter schlagen wollte. Der hatte sich aber schon wieder nach der Tür gewandt.
Vor dieser Tür stand noch der Geduckte mit dem Korrekten. Der Geduckte hatte den Korrekten wie einen Sack emporgehoben. Er versuchte mit vieler Mühe, den Betrunkenen aufzuwecken und die Trunkenheit aus dem Taumelnden herauszuschütteln. Endlich sah er ein, dass es nutzlos war, packte ihn sich auf die Schulter und schleppte ihn hinaus.
Der Däne und der Amerikaner sahen zu. Der Däne mit hochgezogenen Augenbrauen und einem verbissenen Gesicht. Der Amerikaner lächelte.
„Ist es nicht eine Schande!" sagte der Rothaarige zu dem Bebrillten, „dass das Weib den Mann so lächerlich machen kann? Man sollte die Männer kastrieren, die sich nicht beherrschen können!"
Der Amerikaner verzog den Mund: „Hast du Pech gehabt, mein Junge!" fragte er zurück und sah den Rothaarigen erstaunt an.
„Pech!" lachte der auf. Ich ekle mich, wenn ich einen Rock sehe. Zu was sind sie da? Um den Menschen in den Dreck zu ziehen!"
Der Amerikaner fand nicht gleich eine Antwort. „Roter!" witzelte für ihn der Schotte, der in der Nähe stand und den Dänen mit kleinen Augen anblinzelte, „du sprichst wie der Fuchs von den Trauben. Hängen dir die Weiber zu hoch?"
„Zu hoch?" gab der Däne zurück, „Sie liegen doch alle auf dem Rücken!"
„Aha!" meckerte der Schotte und schüttelte sich. „Du bist also über eine hinweggefallen!"
„Wenn es nur das wäre", sagte der Däne grimmig. „Fallen wir aber nicht alle über sie? Ich hatte zuletzt keinen Kameraden mehr in Stockholm, der nicht an ihnen zugrunde gegangen war."
„Sprich deutlicher!" sagte der Amerikaner. „Ist das noch ein Arbeiter?" sprach der Däne schneller. „Irgendwo eine Mansarde und drei Kinder. Heute Hunger. Morgen Hunger. Übermorgen Hunger. Das Ganze ein schlottriger Kerl, der kaum noch in den Hosen hängt. Verteufelt, das Weib hat mehr Schuld an unserem Leben als wir ahnen!"
Der Schotte bog den Kopf ein und machte ein dummes Gesicht, „Was hast du aber weiter als das Weib", fragte er. „Verdammt, es ist nicht leicht, Arbeiter zu sein und ein ganzes Leben zu schuften. Das Weib und das Bett sind für den armen Mann das Paradies!"
„Und was für ein Paradies!" krähte der Däne auf. „Ein Sumpfloch, in dem wir vielleicht noch ersticken!"
Der Schotte meckerte wieder auf. „Es ist aber warm!" grinste er.
„Ja!" schrie der Däne und bekam ein gelbes Gesicht, „und wegen des bisschen Wärme verraten und verkaufen wir unsere ganze Freiheit. Wegen des Loches vier Treppen hoch und des weichen Hintern heiraten wir und machen Kinder und stapeln unsere ganzen Ideen in eine alte Kiste. Und dann sitzen wir da. Sehen nicht mehr über unser Elend hinaus und kratzen nur noch Geld zusammen, um uns und die Würmer zu ernähren!
Ha!" er schnappte mit der Stimme nach oben vor Eifer, „und wenn uns gar einmal das Wasser bis an den Hals geht, wenn ein richtiger Kerl aufsteht, sich eine Latte losbricht, um sich einmal wieder Luft zu machen, dann heult der weiche Hintern und barmt, dass der Ernährer verloren gehen könnte, die Würmer heulen mit, und schließlich sitzt der Kerl selber da, schreit und lamentiert wie ein Gerber, dem die Felle davongeschwommen sind, und das Weib hebt ihn dann wieder unter ihre Decken, packt ihn gut ein, wie einen Vogel, der zu früh aus dem Nest gefallen ist, und das Elend geht weiter!"
„Mann!" rief der Amerikaner dazwischen und lachte, „die Frauen werden dir die Augen auskratzen, wenn sie dich hören."
Auch der Schotte schniebte mit der Nase und zog den Mund spitz. „Nein, aufhängen werden sie dich!" lachte er,
„Ihr lacht!" belferte der Däne, der die Einwände der beiden kaum gehört hatte. „Stimmt es etwa nicht, was ich gesagt habe?" Er hob seine Hände. „Wirklich“, stieß er heraus, „sie haben uns das Weib angehängt wie eine Last. Und jedes Mal, wenn wir denken, das Leben wird erträglicher, dann hängen sie uns noch ein Kind an. Oder glaubt ihr, sie wissen nicht, warum sie uns oben und unten die Freiheit abdrehen und nur den Weg zum Weibe offen lassen. Glaubt ihr, sie wissen nicht, warum sie uns in Kammern sperren, wo der Bettduft Jahr und Tag nicht hinausgeht und die Kinder wie die Pilze hochschießen? Glaubt ihr, sie koppeln uns umsonst so fest zusammen, dass wir vom Anfang bis zum Ende unseres Elends mit den Bäuchen nebeneinander liegen müssen!
Ja!" rief er beschwörend, „das letzte hat das obere Pack gegen uns mobil gemacht. Sie schicken die Hinter-und Vorderseiten unserer Frauen genau so gegen uns ins Feld, wie sie uns ihre Soldaten, ihre Pastoren und ihre Polizisten auf den Pelz schicken!"
Bevor der Schotte, der nachdenklich geworden war, antworten konnte, wurden die Drei von dem Steward auseinander geschoben. „Es ist spät“, sagte er ruhig. „Ihr müsst schlafen gehen."
Der Amerikaner ging auch gleich hinaus. Der Deutsche, der heimlich dem Gespräch zugehört hatte, watschelte hinter ihm her. Bis zu der kleinen Treppe, die nach unten führte, mussten sie an einem gezogenen Strick balancieren, denn der Wind wehte so stark, dass sie beinahe abgedrückt worden wären.
Unten im Gang blieben sie eine Weile stehen und schüttelten sich. Der Deutsche schnellte dabei an dem Amerikaner vorüber und stellte sich vor ihn.
„Mann!" redete er ihn an, und er holte die Luft dazu aus den hintersten Lungenspitzen, „wir scheinen die einzigen Gentlemen unter den Passagieren zu sein. Ist es nicht beschämend, wie sich die andern benehmen?"
Der Amerikaner bog sich nach unten und sah den dicken Deutschen groß an. „Gentlemen!" wiederholte er seine Betitelung, „kein Mensch benimmt sich besser oder schlechter, als es ihm möglich ist. Auch wir!"
Der Deutsche schien das nicht ganz zu verstehen, aber ehe er antworten konnte, wurde er zur Seite gedrängt. Der Russe und der Franzose stürzten sich in den Gang.
Hinter ihnen kam der lange Engländer. Etwas vor ihm trippelte die Jüdin, die mit ihren dicken Schenkeln den ganzen Gang ausfüllte. Sie tuschelten miteinander.
„Wo schläfst du?" fragte der Lange und legte seinen Kopf an ihren fetten Hals.
Die Jüdin trippelte ruhig weiter. „Sag es!" flüsterte der Lange und fasste sie um den Leib.
Sie musste sich durch den Druck seiner Arme zurückbiegen. Groß und prall sprangen dadurch ihre Brüste aus dem Kleid.
„O!" stammelte der Lange, der es sah, und wollte nach ihnen fassen. Er zog seine Hände aber eilig wieder zurück. Vor ihnen standen dicht und geballt die anderen Männer.
Der ganze Gang war angefüllt mit ihnen. Sie stauten sich, schimpften und lachten. Kurz vor dem Speisesaal war ein Hindernis. Das Hindernis waren der Krumme und der Dicke. Sie hatten den Kampf um die Französin, der durch den Sturz des Krummen unterbrochen worden war, hier fortgesetzt und lagen sich giftig und knurrend in den Haaren.
Der Krumme war noch immer im Vorteil. Er hielt die Frau an der Hand. „Sie bleibt mein!" schrie er dem Dicken zu, der wie eine fletschende Dogge vor ihm stand.
Der Dicke hörte nicht darauf, Getrieben von dem Schmerz, der von der eiförmigen Beule kam, war er den beiden nachgejagt und glaubte, größere Besitzrechte als der kleine Engländer zu haben.
Wie ein Sturmbock hatte er sich ihm genähert, folgte dem kleinen Krummen, der sich kaum des stoßenden Fleischklumpens erwehren konnte und schon bis zu den Kabinengängen zurückgewichen war, und rammte ihn noch stärker.
Er wäre auch sicher zu seinem Ziel gelangt, wenn nicht plötzlich der Geduckte mit dem Korrekten erschienen wären. Der Korrekte, den der Geduckte von der Schulter her unter den Arm genommen hatte, musste die von der Balgerei müde an einer Holzverschalung lehnende Frau gerochen haben. Er richtete sich mühsam auf, wand sich von dem Geduckten los und taumelte ihr entgegen.
Er fiel nicht gleich auf sie zu. Er schnellte wie im Tagesraum in die Tiefe und sagte: „Ich liebe Sie!" Diesmal aber stürzte er, da ihm niemand helfend unter die Arme griff, wirklich, schlug krachend mit seinem Körper gegen die Wand einer Kabine und blieb dort liegen.
Dieser Krach hallte wie ein Hammerschlag durch die Gänge. Zuerst öffnete sich die Kabine der Stewardess. Ihr rundes, von weißem Haar umrahmtes Gesicht tauchte auf, und sie sah den Balgenden mit leicht gespitzten Lippen zu.
Die Betschwester, deren scharfkantige Nase hinter ihr hervorkam, machte ein ernsteres Gesicht. Als sie sah, dass der sich so wütend gegen den Krummen stemmende Mann der Dicke war, trat sie sogar ein Stück vor, damit sie der Dicke sehen sollte.
Der schien ihre Nähe und die funkelnden Augen bereits zu spüren. Er ließ wenigstens gleich in seinen Angriffen nach, duckte zwar den Kopf noch einmal nach unten, aber er blieb in dieser Bewegung stehen, als wäre er plötzlich angerührt und versteinert.
Da zu gleicher Zeit der mühsam von dem Geduckten wieder aufgestellte Korrekte in die gemeinsame Kabine geschleift wurde, wurde der Krumme Sieger in dem großen Kampf. Es kam ihm etwas unverhofft. Besonders die Passivität des Dicken war ihm unheimlich. Er erwartete neue Angriffe. Als sie ausblieben, stöhnte er erleichtert auf, rieb sich wie nach einem schweren Kampf die Hände und sagte „Uff!"
Danach schnaufte er erst noch einige Male Luft, drehte sich nun nach seiner Beute um und sah sie, die Augen fest zusammenkneifend und leise in sich hineinkichernd, an.
Die Frau, die müder geworden war und deren Arme und Kopf schräg und leblos von ihr abstanden, hob und senkte die Brust wie eine Schlafende. Den kichernden Krummen störte das nicht. Er knuffte sie mit einigen Stößen in die Seite wieder munter und versuchte sie fortzuführen.
Die Frau ließ auch alles mit sich geschehen. Der Krumme, der gravitätisch mit ihr nach hinten stolzieren wollte, hatte aber zu früh triumphiert. Der Lange, der sich durch die vor ihm stehenden, witzelnden Männer gedrängt hatte und den sonderbaren Kampf und jetzigen Abzug seines Schwagers schon länger beobachtete, kam ihm nach.
Gerade als der Krumme an seiner Kabine vorbeischieben wollte, packte er ihn. Er löste vorsichtig seine Hände von dem Leib der Frau, fasste ihn dann mit seinen langen Fingern am Rockkragen und am Schenkel, drehte ihn seitwärts und sagte: „Du gehst mit mir!"
Der Krumme, der in dem festen Griff wie in einem Schraubstock saß, versuchte sich zu wehren. Hauptsächlich weil er die Stimme nicht erkannt hatte und in dem heimtückischen Angreifer einen seiner alten Gegner vermutete. Bevor er sich aber von dem Griff freimachen konnte, hatte der Lange schon die Tür zur Kabine geöffnet, ihn hineingeschoben, sie wieder zugeschlagen, und nun lehnte er keuchend davor.
Er versuchte, sein Marabugesicht zu machen, als die Zuschauer an ihm vorbeigingen. Sie lachten trotzdem über den langen Wachtposten.
„Sieht er nicht aus wie ein Erzengel?" spöttelte der Belgier.
„Nein", sagte der Russe. „Wie ein himmlischer Apostel, den die Sünden der Welt melancholisch und mager gemacht haben."
„Vielleicht auch die seinigen!" lachte der Franzose.
Der Amerikaner war freundlicher. Er schob seine Brille hoch und blieb vor dem Langen stehen. „Respekt!" sagte er. Du bist ein tapferer Kerl. Hoffentlich schlägt er dich dafür nicht tot."
Da der Engländer nicht antwortete, schob er die Brille zurück und ging weiter. Der Lange wandte sich, lächelte etwas und sah nachdenklich hinter dem Amerikaner her.
Als er den Kopf langsam zurückbog, merkte er erst, dass die Jüdin neben ihn getreten war. Sie hob sich gerade auf die Zehen, um ihm näher zu sein.
„Nummer 11", sagte sie leise und strahlte den Langen an. „Aber erst später."
Der Lange blickte an ihr vorbei und schloss abwesend die Augen. Hatte er die Jüdin vergessen? Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden.

 

X.

Im Gang war es stiller geworden. Die Stewardess und die Betschwester waren in ihre Kabinen zurückgetreten, und der Lange war auch in die seinige gegangen. Nur die Französin stand noch an der Stelle, wo ihr der Krumme weggerissen wurde, hatte den Mund etwas rundlich geöffnet, und die früher steif abstehenden Arme lagen ihr kreuzweise über den Brüsten.
Langsam kam Leben in sie. Sie merkte, dass sie allein war. Das schien sie zu beunruhigen, Wo waren die Männer? Wo waren besonders der Dicke und der krumme Engländer?
Sie reckte sich auf. Ihr eingefallenes, gelbes Gesicht, das durch die Trunkenheit noch fahler geworden war, belebte sich wieder. Auch ihre Augen wurden lebhafter und blitzten auf. Sie sah nach rechts und nach links. Wirklich, sie waren alle verschwunden.
Da öffnete sich eine Tür, und der Geduckte kam heraus. Er hatte den betrunkenen Bruder in sein Bett gelegt und wollte nach den andern sehen,
Als er die erstaunt umherblickenden Augen der Frau sah, lachte er auf. „Ist dir keiner treu geblieben?" fragte er sie und bog sein Gesicht unter das ihre.
Die Französin fuhr vor den ledernen Backen und den herausstehenden Knochen, die das Gesicht des Geduckten umspannten, erschrocken zurück, „Gott!" kreischte sie auf. „Wer bist du!"
Der Geduckte lachte über den Aufschrei wie über einen schlechten Spaß. „He!" knurrte er und schlug die Frau mit der Faust auf die Schulter, „sehe ich aus wie ein Grünschnabel? Du solltest mich oder unsereinen doch erkennen!"
Die Französin machte aber weiter ein erschrockenes Gesicht. „Nein!" schrie sie und hob dazu ihre Hände, „ich kenne dich wirklich nicht. Ich habe dich noch nie gesehen. Du bist ja zum Fürchten!"
Der Geduckte nahm sie deswegen in die Arme. „Sei still, Schäfchen", flüsterte er, „Sag mir lieber, wo dein Bett ist!"
„O", sagte die Französin, die unter dem harten Griff des Geduckten zitterte. „Es ist unmöglich. Die Graue liegt mit in meiner Kammer!"
„Die mit dem Gebetbuch?" fragte der Geduckte und verzog sein ledernes Gesicht zu einem Grinsen,
„Ja", antwortete die Französin schnell.
„Ha! Ha!" Das Grinsen des Geduckten wurde zu einem Lachen. „Die Sorte kenne ich. Die wird sicher auch Besuch haben!"
Die Französin hielt den Atem an. „Die?" fragte sie. „Sie ist doch so heilig!"
Der Geduckte lachte lauter. „Heilig!" wiederholte er. „Die die Bibel schon über ihren Bauch halten müssen, mit denen steht es ganz schlimm!"
Sie gingen, während der Geduckte weitertuschelte, langsam vorwärts, „Verdammt!" fuhr der Mann plötzlich auf und ließ die Frau los, „da steht der Hofmeister!"
„Hat er uns schon gesehen?" fragte die Französin, die nur einen dicken Bauch aus einer Kabine ragen sah.
„Sicher!" sagte der Geduckte leiser, und nachdem er einen hohen Ton durch die Zähne gepfiffen hatte, sagte er noch: „du gehst einfach erst zu ihm!"
„Zu ihm?" sprach die Französin ängstlich nach und starrte den Geduckten an.
„Ja!" knurrte der Geduckte, es ist das Beste. Ich weiß das von meinen früheren Fahrten. Für diese Kerle ist alles nur eine Schweinerei und verboten, solange ihre eigene Nase nicht darin war. Wenn du also zuerst zu ihm gehst, steht dir danach das ganze Schiff offen!"
„Zu so einem Dicken?" Die Französin schüttelte sich und drückte die Augen zusammen.
Der Geduckte tröstete sie. Ist das so schlimm?" fragte er und stieß sie vorwärts. „Er ist bald sechzig. Außerdem kann er dir auch so nichts mehr tun!"
Die Französin schien das zu beruhigen. Sie ging wenigstens weiter. Du!" rief sie dem Geduckten noch zu und beugte sich zurück, „aber nicht bei der Grauen in der Kabine. Ich fürchte mich zu sehr. Die gegenüber ist ganz leer. Ich habe nachgesehen!"
Vorn im Gang wurde es wieder lebhaft. Die letzten kamen vom Tagesraum herunter. Es waren der Schotte und der Däne, Der Steward, der auf diese Nachzügler gewartet hatte, schloss nun oben die Tür ab und drehte einige der kleinen Lampen aus.
Trotz des gedämpften Lichts und der vorgeschrittenen Zeit wurde es aber nicht ruhiger. Überall hörte man halblaute Stimmen, dumpfer und lauter, beruhigend und erregt. In der Leere und Einsamkeit des im Dunkel verschwindenden Ganges klang es, als wäre jedes der breiten, lackierten Bretter lebendig geworden und summe oder spräche.
Warum schliefen die Männer nicht? Nur der Korrekte schnarchte und stöhnte in seiner Kabine. Der Geduckte hatte ihn über sein Bett geworfen, und nun lag der junge Mann, der jedes Stäubchen von seinem Rock blies und nichts weiter als sich verbeugen konnte, zusammengeschoben in den Kissen.
Er sah auch sonst nicht korrekt aus. Der Kragen war ihm am Hals gerissen, und die Manschetten lagen beschmutzt und zerknüllt auf der Erde. Er hatte sogar gespieen, und jedes Mal, wenn er luftholend den Kopf hob, stieß ihm der Schnaps erneut aus der Kehle.
In der Kabine der beiden Engländer war es am ruhigsten. Oben kauerte der Dicke. Er hockte in Stiefeln und mit seinem geblümten Halstuch steif auf den Decken, sah mit starren Augen geradeaus, tastete manchmal über seine große Beule und stöhnte danach schmerzlich auf.
Der Krumme war trotz seiner unfreiwilligen Haft und seiner Betrunkenheit erregter und wilder. Er lag nicht auf dem Bett; er saß auf der eisernen Außenstange, hatte seine Fäuste auf die Knie gestemmt und brütete, das rote Gesicht darauf, vor sich hin.
Er dachte! Wenigstens machte er harte Anstrengungen, um die Gedanken, die wie Wasserblasen hinter seiner Hirnschale auf- und abstiegen, zu ordnen und einzugliedern.
Nach langer Überlegung wusste er das. Er hatte ein Weib in den Armen gehabt. Jetzt saß er hier. Gegenüber der Lange. Der oder ein anderer aber musste es ihm genommen haben. Jedenfalls war es das Notwendigste, sich an dem Langen für diesen Verlust zu rächen.
Ihm fiel allmählich mehr ein. Er sah plötzlich die Augen dieser Frau blinzelnd vor sich, spürte zwischen seinen Fingern, die sich zusammenkrallten, ihr Fleisch und sprang auf. „Hund!" schrie er den Langen an, „gib mir das Weib wieder!"
Der Lange, der ihn mit seinen eingekniffenen Augen und wie etwas Fremdes und Eigentümliches betrachtet hatte, blieb stumm. Die prüfenden Augen weiteten sich nur. Sie blickten härter und schärfer.
„Das Weib!" brüllte der Krumme, dessen Beine Halt bekamen und dessen Fäuste schon vor Wut und Sinnlichkeit zitterten.
Der Lange antwortete auch jetzt nicht. Sein Kopf streckte sich aber dem Kopf des wütenden Krummen entgegen. Dabei lösten sich seine Augen aus den Höhlen, wurden zu schillernden, kreisrunden Talern und tanzten vor dem Krummen hin und her.
Den beunruhigte das. Es musste ihn an etwas erinnern. „Henry", sagte er auf einmal erschrocken, und er schien seine ganze Wut vergessen zu haben, „was hast du?" Der Lange schüttelte sich unter diesem Anruf. Er verzog aber zu gleicher Zeit sein Gesicht, dass es gelb und fahl wie eine Fratze wurde und die schillernden Augen noch stärker hervortraten.
Den Krummen beunruhigte das genau so. „Henry!" wiederholte er leiser, nachdem er sich zurück auf sein Bett gesetzt hatte, „ich weiß es ja. Ich habe dir wehgetan. Ich bin ein Vieh!"
„Sicher!" sagte er noch schmerzlicher, und die Töne kamen wie ein Grunzen aus seiner Kehle, „ich bin sogar ein großes Vieh!"
„Wirst du es aber Charlein erzählen!" fragte er plötzlich lauernd und streckte seinen Kopf erneut gegen den Langen. „Wirst du das? Es wäre gemein von dir."
Der Lange antwortete auch darauf nicht. Er schloss nur wie nach einer großen, überstandenen Anstrengung die wieder klein gewordenen Augen und fiel zusammen.
Nebenan erzählte der Belgier sein Gespräch mit dem Steward. Er war noch bekümmert, dass ihm der Betresste so hart zugesetzt hatte, der Däne tröstete ihn aber.
„Kamerad!" sagte er „wir Arbeiter sind alle noch Blinde. Wir tappen aneinander vorbei und sehen uns nicht. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die nicht weit zurückliegt. Da ist es uns ähnlich gegangen. Wir sind nur nicht durch eine Predigt klug geworden, sondern durch die Geschichte selber.
Es war in Mexiko!" begann er, nachdem er sich niedergehockt hatte, „irgendwo am Grando. Wir arbeiteten in einer Silbermine und kratzten nicht soviel Geld zusammen, dass wir uns den Mais zum Mittag kaufen konnten. Dabei war es eine Hitze, dass jeden Tag einem von uns das Hirn schmolz. Er bekam Fieber und jammerte nach einem Pastor oder nach der Mutter wie das Kind nach dem Zulpe, Nach vier Wochen wurde uns die Sache zu dumm. Es war an einem Nachmittag, Unser Don Petro, ein braunhäutiger Spanier, der mehr Silber haben sollte, als wir da oben Erde zu bebauen hatten, war in einer Kalesche vorgefahren und sperrte das Maul auf. Er schimpfte wie ein Spatz, dem eine Amsel in die Kirschen geraten ist, und warum? Weil an dem Quantum Silber, was sonst jeden Monat aus dem Loch herausgeholt worden war, noch ein paar Kilo fehlten. Unser Enno, ein hagerer Finne, schrie: ,Drauf' Verdammt, wir ließen uns das nicht zweimal zurufen. Wir hoben den noblen Herrn aus seinem Wagen, prügelten ihn, bis er gelb und blau wurde, spannten ihm einen Esel vor seine Fuhre und schickten ihn wieder fort!
Er brüllte wie ein Wilder, als er halben Weges in Sicherheit war und prophezeite uns, dass er uns alle seine Pächter auf den Hals schicken würde; wir sollten von ihnen gespießt, gebraten und gerädert werden und außerdem noch gehangen. Wie wir auskundschafteten, zottelte er auch mit seinem Esel hinunter zu ihnen. Es waren einige Farmen in der Nähe, die ihm gehörten, und die Burschen, die dort hausten, sollten die wildesten und verwegensten am ganzen Grando sein,
,Boys!' sagte deswegen ein riesiger Ire zu uns, der so was wie ein Vorarbeiter war, ,wir sollten nicht warten, bis sie uns hängen, sondern ihnen entgegenreiten und sie empfangen, dass ihnen die Lust vergeht, sich an ehrlichen Arbeitern zu vergreifen!' Wir taten es auch. Wir bestiegen unsere Rosinanten, von denen manche sich selber kaum tragen konnten, und ritten hinunter zu den Farmern. Wir hatten die Revolver in der Hand, und die Stutzen waren mit grobem Schrot geladen!
Ha!" der Däne schlug sich auf die Schenkel, „was denkst du wohl, was in der Zeit da unten geschehen war? Die Burschen hatten es noch schlimmer mit dem Don Pedro getrieben als wir. Was, die armseligen Miners oben im Gebirge hatten den Mut aufgebracht, das Kerlchen zu verprügeln und ihn wieder heimzuschicken? Jetzt wollten sie ihn noch teeren und federn, diesen Bruder, der ihnen jeden Monat das junge Vieh von den Weiden holte und die Pacht höher und höher trieb. Wir wurden mit Hallo statt mit Flintenschüssen empfangen, und wir saßen noch den ganzen Abend und die ganze Nacht vor ihren Häusern, tranken Freundschaft und Brüderschaft und klagten uns unsere Nöte. Und an dem Tag erkannten wir, dass die Pächter zu uns gehörten, dass sie auch nur in Sold und Lohn standen wie wir, und dass es ihnen sogar oft noch dreckiger ging als den armseligen Maulwürfen und Silberkratzern auf dem Berge!"
„Und was tat der Don Pedro?" fragte der Amerikaner, der den beiden zugehört hatte.
„Ha!" lachte der Däne und strich sich das Kinn mit den Fäusten, „das ist noch eine lustige Geschichte. Er trottete geteert und gefedert auf seinem Esel, die Kutsche war ihm in einem Wasserloch stecken geblieben, nach der nächsten Stadt und schickte uns die Miliz auf den Hals. Sie kam auch nach acht Tagen. Unser Don Petra ritt wie ein Rächer an der Spitze. Zwischen den Farmen und unserem Silberloch bezog sie ein Lager. Wir hatten erst eine Heidenangst und wollten schon durchgehen, denn wir waren fast alle Grünhörner und noch nicht lange tu dem Land. Von den Farmern kam aber einer heraufgeritten und tröstete uns. ,Miners!' schrie er uns zu, „Mut! Das gibt noch einen größeren Spaß!'
Am Nachmittag beobachteten wir, dass die Farmer im Lager der Miliz schon aus- und eingingen, mit den Soldaten wieder zurück nach ihren Farmen ritten und sonst allerlei Kapriolen trieben. Auch in das Gebirge galoppierten sie hinauf. Am Abend rückten sie mit einer ganzen Kavalkade in unsere Nähe. Wir waren noch immer ängstlich und hatten unsere Donnerbüchsen geladen; den halben Weg hatten wir unterminiert, um unsere schlotternden Bälge so teuer wie möglich zu verkaufen. Die Soldaten winkten aber ab, und so ließen wir sie näher kommen.
Mensch!" sagte der Däne und stieß den Belgier gegen das Knie, „wurde das ein Abend und eine Nacht. Die Milizen waren die besten Kerle, Sie hatten gleich Wein mitgebracht und ein paar braune Mädchen, die tanzen mussten, und wir saßen um ein Feuer und johlten und tranken. Von Krieg oder Feindschaft war dabei nicht die Rede. ,Kameraden!' sagte gegen Mitternacht ein Trompeter, der aufgesprungen war, den Don Pedro kennen wir. Er ist ein Schwein und ein Geizhals; wir haben ihn schon vor Jahren aus unserer Stadt gejagt. Jetzt wohnt er mit ein paar schmutzigen Weibsbildern irgendwo auf einem seiner vielen Landsitze. Sollen wir aber wegen so einem dreckigen Kerl ein paar Miners hängen oder totschießen? Wir wären schlechte Mexikaner, wenn wir das täten!'
Nach Mitternacht wurden die Kerle aber beinahe zu ausgelassen. Ein paar waren hinunter zum Lager geritten, und auf einmal donnerten ihre Pferde wieder in unseren Kreis; und glaub' es, sie waren nur hinabgeritten, damit der braunhäutige Geizhals und Silberminenbesitzer auch etwas von unserem Feste sähe. Sie kugelten ihn wie ein Paket vor unsere Füße, und dann wurde er hochgezogen. Er sah wirklich nicht hoffähig aus. Er hatte kaum das Notdürftigste am Leibe und schlotterte wie ein gebadetet Hund, Er musste aber trotzdem noch jedem von uns die Hand geben und uns erklären, dass wir die besten Kerle von der Welt seien. Und dabei ließen ihn die groben Brüder noch ab und zu an ihren Schießprügeln riechen, stießen ihn von einer Seite zur anderen, und als er endlich, mehr tot als lebendig, verkehrt auf eine Mähre gesetzt wurde und wieder abtraben durfte, da halten wir noch Mitleid mit dem alten Schinder.
Die Lehre musste ihm aber trotzdem gut bekommen sein, denn er ließ sich danach nicht wieder sehen. Ja, wir wurden sogar in Ruhe gelassen. Ein paar Tage später kam ein dicker, haariger Kerl, wohl einer seiner Verwalter, zahlte uns unseren Lohn aus und fragte, ob wir unter den gleichen Bedingungen noch weiter arbeiten wollten. Wir waren es zufrieden, denn durch die Freundschaft mit den Farmern kamen wir jetzt leicht zu einem Stück Vieh oder sonst etwas Ähnlichem, und wir konnten es aushalten. Außerdem rückte uns auch keiner mehr auf den Hals, der uns anzutreiben versuchte oder schimpfte, wenn das Loch einige Kilogramm weniger hergab als vereinbart war.
Die Farmer aber blieben unsere Freunde, solange wir da oben unser Silber kratzten, und als wir abrückten, sagte der Älteste, so ein richtiger Wald- und Wiesenbär, zu uns: ,Boys! ihr habt uns eine gute Lehre gegeben. Die Farmer und die Arbeiter gehören zusammen. Alles, was darunter oder darüber ist, soll aber der Teufel holen!"'
„Ja“, fiel der Belgier ein, der den Dänen schon lange unterbrechen wollte, „das war in Mexiko! Glaubst du aber, es geschähe in den Staaten oder in Europa dasselbe?"
„Kamerad!" antwortete der Däne und sah den Belgier mit seinen feurigen Augen scharf an, „es ist überall dasselbe. Wir müssen nur die Augen aufreißen und suchen. Jeder wartet darauf, dass ihm der andere hilft, — und wenn erst einer einmal die Faust hebt und zuschlägt, kommen sie alle, um mitzuschlagen!"
„Ist das so einfach?" fiel der Belgier wieder ein und machte ein spöttisches Gesicht.
„Kamerad!" antwortete der Däne ernster, „das einzige, was uns behindert loszuschlagen, sind wir selber. Nicht, dass wir feig wären oder keinen Mut hätten. Wir sind tapfer, wenn einmal zugeschlagen werden muss, aber", der Däne wurde bitter, „wir sind fünfzig Jahre wie Vieh getreten und gestoßen worden. Man hat uns geführt wie Hammel, die nicht den Weg in den eigenen Stall wissen und dahin geprügelt. Ja, man hat uns entmündigt und enteignet, man hat uns wie Kinder und Dumme behandelt und uns nichts weiter gelehrt als das Gehorchen!
O!" sagte er leiser und verzog sein Gesicht zu einem sonderbaren Grinsen, „und dabei hat man uns eingebläut, dass der Sinn und die Ordnung der Welt und der Gesellschaft etwas Schweres und kaum Lösbares sind, dass wir uns nur den Kopf daran zerbrechen würden, und dass wir deswegen unseren Obrigkeiten den Kampf mit diesen Dingen überlassen sollen! Und", sprach er wieder lauter und sah auch den Amerikaner an, „ist es heute besser geworden? Wir werden noch überall geprügelt und geleithammelt, lassen uns ausbeuten und treten und machen noch ein zufriedenes Gesicht dazu. Sicher, wir stehen auch vor den verschlossenen Toren und ballen die Fäuste, Wir trauen uns aber nicht zuzuschlagen, weil wir noch immer denken, es könnte dahinter etwas zerbrechen und das ganze Leben fiele dann auseinander!
Ja!" schrie er. „Das ist es. Die Ängstlichkeit vor dem, was kommen könnte. Wir trauen uns nichts zu, weil man uns ein halbes Jahrhundert vorgelogen hat, dass wir dumm, beschränkt und unwissend wären, dass uns das Hirn fehlte, um nur einen einzigen Hebel des Staates in Bewegung zu setzen und dass es uns noch unmöglich wäre, uns selber zu regieren!"
„Freund!" fragte der Amerikaner, der den Dänen fest angesehen hatte, „und ist das so leicht?"
„Kamerad!" lachte der Däne und blinzelte den Bebrillten an, „seitdem der Russe gezeigt hat, dass sogar der Bauer regieren kann, der vor einigen Jahren noch schlimmer gehalten wurde als bei uns daheim das Vieh, muss man schon zugeben, dass es nicht so beschwerlich ist, Steuern einzuziehen und für Ordnung zu sorgen. He! Und für eine Ordnung, die an der der Russen gemessen, schlechter ist als die im dreckigsten Kuhstall!"
Der Amerikaner schwieg. Auch der Belgier schob sich zurück in seine Kiste. Donnernd hörte man dafür nebenan den Schotten reden.
Der hatte sich, trotzdem er müde war, mit dem Deutschen in einen Disput eingelassen. Es war schneller dazu gekommen, als es den beiden lieb war.
Der Deutsche, aufgeregt wie ein kollernder Puter von dem Spott, der den ganzen Tag hinter ihm hergeflogen war, war trippelnd auf und abgelaufen, ohne daran zu denken, sich auszuziehen.
Dem Schotten, dem noch der Bericht des Dänen in den Gliedern lag und dem auch die Augendeckel schwer wurden, als hätte er die ganze Woche kein Bett gesehen, brachte das auf.
„Hast du ein schlechtes Gewissen?" brummte er und schielte den Laufenden boshaft an.
Der Deutsche blieb stehen und riss den Mund auf, dann drehte er sich aber plötzlich um und goss alles aus sich heraus, was sich den ganzen Tag an Wut in ihm angesammelt hatte.
„Wegen was?" fragte er erst hastig, und er zog sein dickes Gesicht so lang, dass er aussah wie ein amtierender Richter.
Der Schotte krümmte sich ein wenig zusammen. Das schien spaßig zu werden. „Wegen der fichtenen Bretter", rief er ihm leise zu und klapperte mit den Augendeckeln,
„Pack!" schrie der Deutsche aber schon auf und hob seine Fäuste. „Elendes Pack! Bin ich denn unter lauter Spitzbuben und Tagediebe gekommen? Ist hier kein guter Christ, der einem ehrlichen Handwerker zu Hilfe kommt. Ist hier kein Mensch, der einem andern Menschen beisteht?"
Er schrie das alles so laut, als stäke er an einem Spieß, schüttelte dazu die hochgehobenen Fäuste, als hätte er das Zipperlein, und das Rote in seinem Gesicht färbte sich langsam bläulich,
„Gott!" unterbrach ihn der Sommersprossige der sich aufgerichtet hatte und den Tänzelnden mit aufgerissenen Augen ansah, „es ist wirklich über ihn gekommen!"
Den Deutschen brachte das noch mehr auf. „Ja, Spitzbuben seid ihr“, schrie er und näherte sich dem Schotten. „Spitzbuben und Schweine. Vorhin haben sie beinahe eine Frau auf der Treppe vergewaltigt. Ist das christlich? Dem Kapitän sollte man das sagen! Einsperren sollte man euch! In das Arbeitshaus gehört ihr alle!
O!" schrie er auf einmal kläglicher, „und ich anständiger Mensch soll sechs Tage mit euch zusammen leben!"
Dem Schotten wurde das allmählich zu bunt. Besonders das „Schwein" war ihm in den Magen gefahren.
„Wer ist ein Schwein?" fragte er darum laut und fasste nach dem Deutschen.
„Du! — alle!" — stampfte der Deutsche auf und zog sich ein Stück zurück. Sein gedunsenes Gesicht wurde dabei noch kläglicher und lief auseinander wie zu weich gekochter Brei.
Das brachte den Schotten ganz auf die Beine. „Hund!" schrie er und zog den Deutschen in seine Arme, „willst du wabbliger Bruder einen ehrlichen Arbeiter beschimpfen!"
Der Deutsche versuchte sich erst zu sträuben. Unter dem harten Griff des Schotten wurde er aber käsig und weiß. „Mercy!" stammelte er auf einmal, und seine Augäpfel stiegen nach oben, „Mercy! Er drückt mich tot!"
Das rührte den zornigen Schotten. Er ließ nach in seinem Drücken und nahm den Dicken, der jetzt schlaff nach hinten hing, sogar an seine breite Brust.
„Dickerchen!" sagte er und wälzte ihn hin und her, „bist du schon kirre? Hast du schon genug? Merk dir es aber! Sei das nächstemal klüger. Zu einem ehrlichen Arbeiter sagt man nie Spitzbube oder Schwein!"
Als der Deutsche trotz dieser Zärtlichkeiten nicht wieder zu sich kommen wollte, schüttelte und wälzte ihn der Schotte noch mehr,
„Hulle hei", flüsterte er dazu. „Hulle hei! Das Kind will also lieber schlafen!"
Er ließ den Leblosen dann von seiner Brust in das Bett rollen, streckte ihn langsam aus, nahm die Decken, warf sie über ihn und deckte ihn sorgfältig zu. — —
Der Heilige schlief schon. Auch der Russe. Dieser lag gerade in seinem Bett wie am Nachmittag. Das Gesicht hob sich scharf aus dem Dunkel, und die schwarzen Haare stachelten sich darum, als müssten sie es schützen,
Während der ganzen Zeit — es war wohl eine Stunde vergangen, bis es so ruhig geworden war — hatte der Geduckte in der leeren Kabine auf die Französin gewartet. Nun zog er sich ärgerlich aus und legte sich nieder.
Es war lange nach Mitternacht, da schlich die Frau endlich herein. Sie war erregt und heiß. „Bist du es?" flüsterte sie leise, als sie die Hand des Geduckten berührte.
Der fasste sie eilig um den Leib und zog sie zu sich heran. „Das war ja eine lange Liebe", knurrte er.
„O!" flüsterte die Frau schneller, und ihre Brust keuchte auf und nieder, „er ist ein schlechter Kerl. Er ist eine Sau. Ich will nie wieder zu ihm gehen!"
„Was hat er dir getan?" fragte der Geduckte, um sie zu trösten.
Die Französin wusste nicht gleich, was sie antworten sollte. „Das ist es ja“, zischte sie heiser, „eigentlich nichts!"
Darüber lachte der Geduckte. „Alle Dicken sind so", sagte er. „Außerdem bist du ja jetzt bei mir."
Der Französin war es aber noch nicht geheuer. Auf dem Gang schleiften Schritte. „Ist da einer?" sagte sie furchtsam,
„Komm!" knurrte der Geduckte, der ärgerlich wurde. „Und wenn es der Teufel ist. „Er zog die Frau näher an sich, saugte sich an ihr fest und warf sie über das Bett.
Auf dem Gang trippelte die Betschwester. Sie lachte hell auf, als sie die Kabine leer fand, wühlte erst etwas in dem Bett der Französin, und als sie nichts Besonderes fand, schwang sie sich nach oben und holte sich ihre Tüte.
Sie war possierlicher als am Nachmittag. Der Zucker musste ihr aber nicht mehr schmecken. Sie ließ die Tüte ins Bett fallen und richtete sich hoch. Hinter ihrem Balken waren noch andere Schätze.
Erst brachte sie eine längliche kleine Flasche hervor und danach eine dickbäuchige. Sie hielt sie beide gegen das Licht und lachte lauter. Von der dickbäuchigen löste sie den Stöpsel und trank.
Sie schüttete sich den Likör, der darin war, in raschen kleinen Schlucken hinunter, holte nur manchmal tief Atem und verdrehte dann die Augen.
Plötzlich horchte sie auf. Nebenan, bei der Jüdin rührte sich etwas. Kam jemand? — Nein, die Jüdin zog sich nur stöhnend aus.
Sie hatte angezogen auf den Langen gewartet und glaubte wohl, er käme nicht mehr. Außerdem fror sie, sie wollte sich lieber in ihr Bett legen.
Sie streifte ihr Oberkleid herunter und auch ihre dicken Unterröcke. Sie schüttelte und schob sie nieder wie eine ausgewachsene Schlange ihre alte Haut. Als sie auf der einen Seite den Fuß frei hatte, hob sie ihn und trampelte die Kleider ganz auf den Boden.
Sie sah nun aus wie ein dicker Fleischklumpen, dessen Mitte mit einem weißen Flecken notdürftig zugedeckt war. Aus den abstehenden Borten der gelblichen Hosen quollen die Beine wie zwei zu voll gestopfte Würste, und die Arme wölbten sich noch gewaltiger unter dem fetten Kinn. Dazwischen aber stemmte sich der Leib gegen die dünne Wäsche wie ein ungeheures Gebirge, schwankte und wackelte bei jeder Bewegung und schien auseinander zu brechen.
Die Ausgezogene trippelte langsam nach der Tür und schloss sie ab. Nachdem sie das Licht gelöscht halte, schien sie bedenklich zu werden. Sie trippelte zurück und schnappte leise wieder auf. Vielleicht kam der Lange doch.
Der saß auf seinem Bett, noch zusammengesunken und mit halbgeschlossenen Augen und beobachtete den Krummen, Sah wie sich dieser unter seiner Decke verkroch und einzuschlafen versuchte, aber immer, wenn der Lange von ihm fortsah und gehen wollte, richtete sich der Schlafende wie unter einem Zwang wieder auf.
„Henry!" sagte er dann, „ich will wirklich nicht mehr zu dem Weib. Ich bleibe bei dir."
Er war noch zerknirschter und kleiner geworden. Er nannte sich weiter ein Vieh und einen schlechten Menschen und wartete darauf, dass ihm der Lange ein gutes Wort sagte.
Schlief er jetzt? Der Lange bog sich vor und hörte ihn schnarchen. Endlich, er hatte die Augen fest geschlossen. Das Gesicht des Langen, das noch leidend und nach unten gezogen war, rötete sich. Er stand auf, klingte die Tür nach unten und huschte hinaus.

 

XI.

Der Sturm hatte sich gelegt, als der Tag heraufkam. Das Meer war noch nicht spiegelglatt, aber die großen Wellen waren untergetaucht, und überall, wo sie verschwunden waren, drehte sich das Wasser in tiefen, quirlenden Wirbeln.
Langsam erschien der erste Schimmer der Sonne. Der graue Himmel färbte sich, dann wurden die ersten Schaumkämme farbig, spitzten die leichte Färbung in kleinen, funkelnden Bläschen hoch und trugen sie näher.
Der Himmel wurde gelb. Gelb wurde auch das Wasser. Die goldigen Schaumkämme spritzten schon bis in die Nähe des Schiffes, tanzten hoch und schlugen Ellipsen und Kreise,
Leuchtender quoll die Färbung, Sie wurde Glut, schmolz an der Brandstätte Himmel und Wasser zusammen und lohte auf wie eine flackernde Fackel. Die kleinen Wolken entzündeten sich daran, wurden purpurn und brausten weiter, als müssten sie die halbe Welt verbrennen.
Selbst in das Wasser stürzten sie sich, brannten ihre Glut in die Schaumkämme, machten sie purpurn, wie sie selber waren, und setzten ihnen glitzernde und flimmernde Kronen auf.
Da tauchte die Sonne ganz aus der Nacht. Eine Flamme! Eine große, glühende Scheibe! Eine Feuerkugel! Ein einziges, tiefes, lohendes Gold! Licht!
Wilder hoben sich die Wellen, spritzten in die Sonne hinein, umtänzelten die zuckenden Strahlen, zogen sie in die Tiefe, spielten mit ihnen, balgten sich und versuchten sie zuzudecken. Aber die Sonne stieg stetig höher, leuchtete heller, warf Wellen und Wogen wieder zurück und durchbrannte und zerglühte sie.
Das Wasser wurde dadurch ruhiger. Es beugte sich vor der Sonne, bildete weite durchsichtige Flecken, stieg nur noch vereinzelt hoch und glättete sich zuletzt ganz.
Wie ein großer, goldiger Spiegel erfüllte es nun den ungeheuren Raum, und die kleinen, mit ihren gelben Kronen bespitzten Wellenkämme tanzten in Süden und Norden, in Osten und Westen einen feierlichen Feuer- und Flammentanz darauf.
Die Menschen auf dem Schiff schienen noch alle zu schlafen. Wenigstens hier hinten war niemand zu sehen. Erst als sich die Sonne schon wieder in kleinen Wolkenfetzen versteckte, klapperten Schritte, tönten lauter und polterten in die Höhe. Es war der Heilige.
Er kam herauf, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Sein Gesicht war weiß und verschlafen, und seine Haare standen nach allen Seiten wie Igelstacheln. Bekleidet war er nur mit einem unförmigen, dicken Mantel. Darunter hatte er nichts weiter als seine Unterkleidung. Gelb und zottlich sah sie unter dem Mantel hervor.
Er lächelte, als er das gelbe Meer erblickte, ging mit kleinen schwankenden Schritten an das Geländer und sah hinein. Dann lief er weiter nach hinten, stellte sich in eine geschützte Ecke und sah mit kleinen Augen über das Wasser. Sein Gesicht, das der scharfe Morgenwind gerötet hatte, wurde versonnen und verzückt. Er betete leise und hob in kurzen Abständen seine Hände.
Der nächste, der heraufkam, war der dicke Holländer. Zuerst sah man nur einen großen braunen Schal und einen stachligen Schopf. Dazwischen saß rot und ein wenig verquollen seine zu klein geratene, verwachsene Stupsnase.
Er war noch müder und zerschlagener als der Heilige, blieb auf der Treppe einige Mal stehen und schnaufte Luft in die Lungen. Mühsam keuchte er höher.
Das goldene, ruhige Meer betrachtete er wie einen schlechten Spuk. Er lüftete seinen Schal ein wenig, dass man nun auch seine stachliehen Backen und seine nächtliche Verquollenheit sehen konnte, spitzte die Lippen und spuckte hinein.
Dass sich der Spuk dadurch nicht legte, machte ihn bedenklicher. Er trat zurück, um nach Osten und Westen zu sehen. Als er aber überall diese brennenden Wellen erblickte, schüttelte er erschrocken den Kopf, begab sich mehr nach der Mitte des Schiffes und blieb an einem eisernen Pfosten wie angewurzelt stehen.
Der Däne und der Belgier stampften herauf. Sie waren glatt geschoren und gewaschen.
Der Däne tanzte kindlich hin und her, als er das geglättete Meer sah. „Mensch!" schrie er den Belgier an, das ist wie ein Wunder. Der große Frieden nach dem Sturm. Alles wird viel gleichmäßiger, viel ausgeglichener, viel schöner, wenn der ganze Dreck einmal von unten nach oben gestürzt wurde und die Erde Kopf stand!"
Der Belgier verzog sein Gesicht. Er schien den Dänen nicht zu verstehen. „Hast du das Meer noch nie so glatt gesehen?" fragte er.
„Sieh nur!" sprach aber der Rothaarige schon weiter, „wie wir jetzt vorwärtsschnellen! Wie wir dahinfliegen! Nichts ist mehr da, was uns aufhalten könnte!"
Der Belgier versuchte, auf den Dänen einzugehen. „Bis zum nächsten Sturm!" knurrte er eine Tonlage tiefer und hing sein Gesicht philosophisch nach unten.
„Und ist es nicht überhaupt großartig, so ein Meer!" überschrie ihn der Däne wieder, der sich auf das Geländer gestützt hatte und seinen Kopf dem Wind entgegenhielt. „In allen vier Richtungen Wasser. Nichts als gleichmäßiges, ruhiges Wasser. Und du fährst hinein. Immer vorwärts. Tage und Wochen. Kommst dem Ziel stündlich näher!"
„Ach!" schrie er nach einer kurzen Pause lauter, „in das Leben müsste man einmal so hineinfahren können. In den ganzen Schlamm der Städte und der Menschen. In ihre lumpige Ordnung. In ihre fauligen Gesellschaften, So mitten durch die ganze Menschheit. Und so mit allen Winden, mit allen Wassern, mit allen Motoren! Kamerad! Ich hinge mich morgen vor Freude auf, wenn ich es heute könnte!"
Der Belgier sah den Begeisterten spöttisch an. „Toller Hund!" knurrte er dann, „an dem ersten Schutzmann wirst du dir den Kopf einstoßen!"
Der Franzose und der Russe kamen vorbei. Sie hielten sich aneinander fest und schwankten zum Geländer. Langsam gingen sie an ihm weiter.
In der Heckrundung blieb der Russe stehen. Er reckte seinen Kopf so hoch aus dem schäbigen Rockkragen, dass der Hals wie ein dünner Strich darunter stand. Mit beiden Lungenflügeln zog er Luft ein.
„Das Wasser ist groß", sagte er feierlich und ließ sich wieder auf die Füße fallen. „Man sieht nirgends das Ende!"
Der hüstelnde Franzose, dem der scharfe Wind die gelben Backen etwas rötete, drehte sich nach ihm um. „In Marseille ist das Wasser blauer", flüsterte er leise. „Der Wind wärmer. Wir saßen alle Abende am Kai und sahen hinein."
Der Russe nickte zu den Worten des Hüstelnden. „Freund, „sagte er dann und schob sich an den Franzosen heran, „sieh, es ist, als ob ich über unser Land sehe. Russland ist auch wie ein Meer. Ohne Ende!"
„O!" rief er plötzlich lauter, „wir hatten einen alten Schäfer, der sagte: Russland ist ein großes Becken. Keiner kann es ganz umschreiten. Es reicht von Mitternacht zu Mitternacht. Wir aber sind das Wasser darin. Ein gewaltiges Wasser! Nur ein träges Wasser. Ein faules Wasser. Es müsste einmal ein Sturm kommen. Wir müssten aufgewirbelt werden. Hoch! — denn es stinkt schon!"
„Ha!" schrie der Franzose und blitzte den Russen an, „der Sturm ist ja gekommen! Das Wasser ist höher gestiegen! Und ich hoffe, es steigt noch höher. Es stürzt noch herüber zu uns. Europa stinkt schlimmer!"
Er hatte zu laut gesprochen. Ein Hustenanfall stieß sich aus seiner Brust. Der Russe fasste ihn an der Schulter
und versuchte, ihn zu stützen. Der Franzose wehrte aber ab.
„Russe!" sprach er schon weiter, und der Schaum kam zwischen seine Zähne, „dann ist bei uns Sturm! Dann rechnen wir ab. Dann hängen wir die, die bis heute uns gehangen haben! Hei! soll das ein lustiges Hängen und Totschlagen werden!"
Der Russe sah den Keuchenden groß an und versuchte zu lächeln. Bevor er aber etwas antworten konnte, sprach ein anderer dazwischen.
Es war der Heilige. Er hatte, an einem Pfosten lehnend, das Gespräch der beiden gehört. Mit einem langen Schritt trat er vor und sah den Franzosen mit weit aufgerissenen, feurigen Augen an. „Nur Gott hat das Recht zu richten!" sagte er dumpf und streng.
Der Russe war vor dieser Stimme und vor dieser ganzen unheimlichen Gestalt ein Stück zurückgetreten. Der Franzose hüstelte aber nur trocken auf, meckerte dann leise und sah in das glühende Gesicht des Heiligen hinein.
„Freund!" rief er ihn an, „ich bin nicht zu erschrecken. Außerdem pfeife ich auf deinen Gott und auf seine Rechte. Gerichtet haben, so lange die Erde besteht, immer nur die Menschen, und wir wären alle Prügel der Welt wert, wenn wir auf dieses Recht bei unserer Abrechnung verzichten würden!"
Sie maßen sich einen Augenblick, Die Augen des Heiligen wurden schon kleiner. Er trat zurück. Seine mageren Schulterknochen drückten sich wieder an den Pfosten.
Zwischen dem Geländer der Treppe tauchte der Korrekte auf. Er schien verschüchtert, sah noch proprer und gebürsteter als am vergangenen Tage aus und bemühte sich, nirgends anzustoßen.
Langsam stieg er zu dem Dänen und dem Belgier hinüber, neigte sein durch den Schnaps verquollenes Gesicht und sagte: „Guten Morgen!"
Der Belgier nickte zurück. „Hallo!" lachte er auf, „du siehst ja aus wie ein verkaterter Kranich!"
Der Korrekte wurde rot und ging weiter. Hinter dem Tagesraum stieß er auf den Holländer. Der hatte seinen Pfosten noch nicht verlassen, saß darauf, die Beine an den Leib gezogen, den Mantel über die Ohren geschlagen, und außer den großen, wulstigen Händen waren nur seine stachlichen Haare zu sehen.
„Guten Morgen", sagte der Korrekte wieder und blieb vor dem Vermummten stehen. Als sich aber die kleine Nase aus dem Mantelkragen schob und aus dem Vermummten der Dicke wurde, wollte der Korrekte eilig weiter gehen. Der gestrige Abend stieg ihm ins Hirn.
Der Dicke ließ ihn aber nicht los. Er war froh, dass sich einer seiner Verlassenheit annahm.
„Dja!" sagte er und versuchte, mit den ersten Worten ihre vergangene Nebenbuhlerschaft aus der Welt zu schaffen, „es ist eine Schande, dass wir uns wegen eines Weibes so angestellt haben!"
Der Korrekte, der dem Frieden noch nicht traute und auch nicht wusste, wo der Dicke hinsteuern wollte, nickte brav: „Ja."
Der Dicke polterte weiter. „Und ich glaube gar, „sagte er, „der eckige Engländer, dieser zusammengedroschene Hund, hat sie noch bekommen!"
„Sollte man aber wegen eines Weibsbilds, das sich mit so einem Kerl in ein Bett legt, die Finger ein zweites Mal rühren?" gurgelte er rascher- „Sollte man das?" Er schob sein Gesicht dem Korrekten bis unter die Nase und starrte ihn an.
„Nein! Nein!" antwortete der Korrekte und trat einen Schritt zurück. „Ich habe es mir selber schon gedacht. Sie hat keinen Anstand. Man beschmutzt sich mit ihr."
„Sie hat auch sonst nichts!" sagte der Dicke fröhlicher und grinste vor sich hin. „Weder hinten noch vorn. Die Mägde in Alberta und Columbia sind runder. Überhaupt!" fuhr er fort, „es ist nichts auf dem verdammten Kahn, an dem man seine Freude haben könnte!"
„Die Jüdin", wandte der Korrekte ein und sah den Dicken plötzlich blinzelnd an.
„Die ist so fett, dass man ihn ihr ersaufen würde", lachte der Dicke auf.
„Und die Betschwester?" fragte der Korrekte weiter.
„Pst!" zischte der Dicke nur und sah an dem Korrekten vorüber. Die heilige Dame ging gerade vorbei.
Sie sah spitz und angegriffen aus. Sie wirkte auch nicht so heilig wie sonst. Der Knoten auf ihrem Hinterkopf war lose zusammengebunden, und die Hand mit dem Buch, die gestern fromm auf ihrer Brust gelegen hatte, baumelte lässig nach unten.
Einer der dicken holländischen Matrosen, der Stricke einrollte, stieß sie in die Seite. Sie kicherte auf und schwankte ein wenig. Als sie aber das Gesicht des Dicken sah, das groß und erstaunt auf ihr ruhte, straffte sie sich zusammen und schwankte weiter.
Der Dicke ließ die Augen nicht von ihr. Solange sie au sehen war, blieb er stehen und lächelte. Als sie hinter dem Steuerhaus verschwand, wurde sein Gesicht aber kümmerlich und blass. Sollte er ihr folgen? Er stellte seine Nase, die etwas tröpfelte, nach oben, ja, sein ganzer Körper richtete sich auf, und er wandelte, den Korrekten mit einem sanften Ruck zur Seite schiebend, hinter ihr her.
Von unten dröhnte das Lachen des Krummen. Der Lange zog sich vor ihm durch die Luke. Zuerst erschien sein schmaler Kopf. Langsam kamen die anderen Körperteile.
Er machte sein Marabugesicht. Er war bleich und steif, und seine kraklichen Beine konnten nur kleine Schritte machen. Der Krumme sah ausgeschlafener und frischer aus. Er stieß den Langen fortwährend mit seiner Faust in die Rippen und freute sich, wenn die große Gestalt wie ein Mastbaum hin- und hertaumelte.
Das ruhige, noch immer goldene Meer entzückte die beiden. Dem Krummen öffnete sich der Mund, und er sah mit kleinen, zusammengekniffenen Augen nach allen Seiten. Der Lange stützte sich auf das Geländer und sah auch in das Wasser.
„Henry!" sagte der Krumme und schnupperte dabei mit seiner Nase, „das Wasser ist so klar wie das Wasser um England!"
Der Lange, der die Arme streckte und seinen Kopf wie eine Tauchente immer wieder in die frische Luft stemmte, hielt in seinen Bewegungen inne. „O!" knurrte er sonderbar, und sein Gesicht schob sich breit, „denkst du auf einmal an England?"
Der Krumme sah sich erstaunt um und stieß den Langen erneut in die Seite. „Ais ob ich nicht täglich an England dächte!" brummte er.
„So", sagte der Lange gedehnt. Er wollte noch mehr sagen, aber er ließ die anderen Worte hinter den Zähnen.
„John!" begann er nach einer Weile wieder, und er sprach jetzt beinahe zärtlich, „wir kommen also wirklich noch einmal zurück nach Carlisle!"
Dem Krummen verschoben sich die zusammengekniffenen Augen zu runden Löchern. „Warum nicht?" fragte er.
Der Lange antwortete nicht. „Carlisle!" wiederholte er leise. „Carlisle."
Der Krumme, der ihn plötzlich verstand, sprach das Wort mit. Er schnellte dabei seine dicke Zunge durch alle Mundwinkel, verdrehte die Pupillen und schnalzte mit den Lippen, als schmecke er den Ort bereits.
Der Amerikaner trat zu ihnen herüber. Er sah sauber aus und geputzt. Der ganze Mensch glänzte wie seine Brillengläser.
„Das ist ein Tag", sagte er laut und lächelte den Langen an. Der Lange lächelte zurück.
Als der Amerikaner den Krummen besehen hatte, wurde sein Lächeln zu einem Grinsen. „Er folgt also wieder", sagte er leise.
Der Lange beachtete den Zuruf aber nicht. Er drehte dem Amerikaner den Rücken zu und sah wieder auf das Wasser.
„Mister!" sprach ihn der Bebrillte nun an und bog sich gleichfalls dem Wasser zu, „eure Geschichte von gestern liegt mir noch in den Ohren. Es ist mir erst in der Nacht aufgegangen. Es war ja die Totenrede für die ganze obere Klasse?"
Der Engländer wusste nicht gleich, was er antworten sollte. Die Frage kam zu schnell. „O, „beeilte er sich dann zu sagen, „zweifelt ihr an meiner Litanei? Denkt ihr, ich habe euch belogen?"
Der Amerikaner schüttelte den Kopf. „Nein, „sagte er, „mir will es nur noch nicht in das Hirn. Mir fehlen die Beispiele."
Der Engländer lachte. „Das ist jeder von uns. Auch ich!"
Der Amerikaner sah ihn verwundert an und rieb sich die Handflächen. „Warum?" fragte er.
„Hu!" näselte der Lange, der sich wieder in der Gewalt hatte und legte sich weit über das Geländer, „meine Beichte ist zu lang, und sie könnte dich langweilen. Ich will dir aber etwas anderes erzählen!
Es war im letzten Sommer. Wir wohnten in Harrisberg, in einem kleinen Nest, und hatten zu sechs eine Hütte. Was — Hütte, einen Stein- und Bretterhaufen, in dem wir kaum die Beine ausstrecken konnten. Die fünf waren alte Steinbrucharbeiter aus allen Weltteilen, Kerle, so braun wie die Erde und so verwettert wie alte Eichen, aber dabei kameradschaftlich, als hätten sie schon vor ihrem Erdenleben zusammengehockt, Bett und Essen miteinander geteilt und geschwisterlich nebeneinander gelegen. Ich schneite in sie hinein, wie manchmal ein schwarzes Schaf unter weiße fällt, versuchte, mich ihnen anzupassen, aber ich kam doch keinen Augenblick aus meiner Haut!
Soll ich dir das näher erzählen?" Der Lange hielt einen Augenblick inne. „Nun, ich will es versuchen. Es gab in dem Hüttenloch einen Eckplatz, bis zu dem es weder windete noch regnete. Jeder schlief eine Woche dort. Erst ein alter Irländer und dann ein schmächtiger Neapolitaner. Später die beiden Spanier und zuletzt ein Schwede, von dem man kaum noch das Alter bestimmen konnte. Als ich in ihre Genossenschaft eingereiht wurde, bekam ich den vierten Platz. Und ich bekam ihn, ohne dass sich jemand darüber äußerte oder aufregte. Ich gehörte zu ihnen und sollte auch alle ihre Vergünstigungen haben!
Sieh," fuhr er fort und versuchte, ein klägliches Gesicht zu machen, „als ich aber die Wärme dieses Platzes spürte und seine Behaglichkeit, wollte ich am Schluss der Woche nicht wieder heraus, erreichte es auch, dass ich zwei Tage länger darin blieb, und erst am dritten schob man mich zur Seite. Wieder ohne Krach und ohne Aufregung. Einfach so, wie man einen Dreckhaufen aus einer Ecke schiebt!
Das war noch nicht das Schlimmste!" Der Lange machte eine Pause und dachte einen Augenblick nach. „Der alte Schwede ging nie mit hinaus in den Steinbruch, er blieb in der Hütte und kochte. Eines Tages, als uns das Regenwetter bis auf die Haut einweichte, schlug ich Krach. Schließlich könnte auch einmal ein anderer im Loch bleiben und nicht immer dieser ,olle' Schwede. Die vier Kameraden sahen sich an, nickten sich zu, ohne ein Wort zu sagen, und am nächsten Tag stand ich am Kochtopf. Verdammt, war das eine Kocherei. Der alte Herd rußte die ganze Bude ein, dass ich vor Rauch kaum noch sah, und das, was ich am Mittag den fünf anderen vorsetzte, war alles andere, nur kein Essen für Steinhauer. Sie ließen mich aber trotzdem noch sieben Tage weiter manschen und rauchen, und erst am achten zogen sie mich aus meiner Höhle, die ich jeden Tag mehr verfluchte, und ich war froh, als ich wieder hinter den Steinen landete. Später hörte ich dann, dass sie auch erst wochenweise gekocht hatten; als sie merkten, dass es der Schwede am besten konnte, hatten sie es ihm gern und für immer überlassen!
Das dritte Mal" der Lange zog sein klägliches Gesicht noch länger, „fiel ich aus dem gemeinsamen Rahmen, als ich über die Art des Lohnzahlens und des Einkaufens den Schnabel aufriss. Jeden Freitag kam ein Angestellter aus Harrisburg und brachte uns den Lohn. Er zahlte ihn immer im Ganzen dem alten Schweden aus, und am Samstagnachmittag ritt erst der alte Schwede mit dem Geld ein paar Schluchten weiter, kaufte für die nächste Woche ein, und was übrig blieb, wurde dann am Sonntag verteilt!
Das heißt," sagte der Engländer und lächelte, „jeder, der seinen Teil haben wollte, bekam ihn, aber der, der ihn forderte, war immer nur ich, denn die anderen ließen ihr Geld dem Schweden, wenigstens so lange, bis sie es dringend brauchten oder sich von der Gesellschaft lösten und wieder in ihr Heimatland trotteten!
Ich spukte also eines Tages und wollte mein Geld schon am Freitag ganz haben. Sie maulten weder über meine Forderung noch zog einer ein Gesicht, ich bekam mein Geld und konnte damit tun, was ich wollte. Ich ritt stolz wie ein Freibeuter damit zum Händler, kaufte selber ein, belud den gemieteten Esel vorn und hinten mit meinem Reichtum und kehrte genau so stolz in die gemeinsame Höhle zurück.
Nun, ich will nicht viel davon erzählen, wie kläglich ich schon nach der ersten Woche zu Kreuze kroch. Der Händler hatte mich erstens über die Ohren gehauen, wie man es mit jedem Grünhorn macht, das außer der Reihe bockt und seine eigenen Wege gehen will, dann wurden das Grünzeug und die Früchte, die ich gekauft hatte, schon am dritten Tage faul und welk, und bis ich richtig hinter den Schaden kam, stank auch das Fleisch. Am fünften Tage war ich ganz ohne Nahrung, und wenn mir die guten Kerle am sechsten Tage nicht aus ihrem Topf zugeschöpft hätten, wäre ich wohl am siebenten liegen geblieben und säße heute nicht auf diesem Kahn!
Halt“, sprach er nach einer längeren Pause weiter und machte ein pfiffiges Gesicht, „noch eine meiner Schandtaten fällt mir ein. Du sollst sie hören.
Jeden Monat einmal kam ein schwarzes Weib zu uns. Sie war nicht schlecht von Statur, fett, überall lief sie etwas aus, aber sonst war sie sauber und einladend. Sie machte die Runde in allen Hütten, war an jedem Sechsten in unserm Stall und an jedem Zwölften früh war sie wieder verschwunden. Auch mit ihr war alles geregelt. Erst schlief der Irländer mit ihr und dann der Neapolitaner, später teilten sich die Spanier in sie, und als Fünfter war ich zugelassen. Ich fand die Art erst gräulich, besonders als ich merkte, wie ruhig sich das alles vollzog und wie Jeder auf seine Nacht wartete, ohne den anderen zu stören. Diese Gemeinsamkeit ekelte mich sogar, besonders als ich hörte, dass die Schwarze noch in drei anderen Hütten ihre Beischläfer hatte. Aber was sollte ich tun. Es war nichts anderes da, und die beinahe feierliche und gemeinsame Art der Befriedigung schien mir nach und nach anständiger und besser als die Orgien, die ich früher in unseren Junggesellenhäusern erlebt und mit verbrochen hatte.
Aber der Mensch soll nie für sich prophezeien. Die lange Trennung von der anderen Weiblichkeit erregte langsam ein Liebesgefühl für die schwarze Schöne in meiner noch schwärzeren Seele, und ich lauerte auf sie und auf die Nacht mit ihr wie der bravste und treueste Bräutigam in Carlisle auf seine Braut. Man ließ es auch zu, dass ich mich manchmal schon am Tage mit ihr einließ, wo sie eigentlich unsere Wäsche zu waschen hatte und sonst kleine Verrichtungen tat. Als ich mich aber einmal auch nachts außer der Reihe zu ihr legen wollte und sie meine Braut nannte, ja — mich noch zu anderen und verrückteren Bekenntnissen verstieg, wurde es den guten Burschen zu bunt. Sie setzten mich für eine ganze Nacht vor die Tür, gaben mir nicht einmal meine Decken heraus, und ich konnte über meine Dummheiten nachdenken. Diese Prozedur kränkte aber mein Ehrgefühl so, dass ich am andern Morgen meine Brocken zusammensuchte, dem alten Schweden, der mir aus irgendeiner Neigung besonders gewogen war, heimlich die Hand drückte, und noch am selben Tage das Weite suchte!
Das, Mister, „sagte der Lange und drückte abschließend sein Gesicht zusammen, dass es breit und unschön wurde, „ist meine Geschichte. Genügt sie dir oder glaubst du weiter, dass meine Totenrede zu früh gehalten wurde, und die Klasse, deren Überläufer sich nicht einmal in der neuen Welt zurechtfinden, sich noch ändern und vermenschlichen kann?"
Der Amerikaner fand nicht gleich eine Antwort und versuchte zu lächeln.
Der Lange deutete das falsch.
„Mister“, sprach er schneller, „die Geschichte ist ernster als sie klingt. Mir sitzt das alles wie ein Keulenschlag im Rücken. Was sollen wir in der neuen Gesellschaft, die sich bilden muss und die sich bilden wird, wenn sich die Menschheit nicht auffressen soll. Wir sind die Wölfe in ihrer Herde, die Hindernisse in ihrem Strom, denn unser ganzes Leben besteht nur aus Egoismus, aus Verlangen nach Besitz, aus Verlangen nach persönlicher Befriedigung, und das alles klebt uns in Hirn und Leibern wie Fleisch — ist hineingewachsen, ist hineingeboren, ist hineingezüchtet!"
„O“, fiel der Amerikaner eilig ein, „ich glaube es schon."
Der Lange machte ein finsteres Gesicht und wollte weitersprechen. Da sah er, dass die Jüdin vor ihm stand. Sie hatte schon länger diesen Platz eingenommen, schaukelte sich leicht hin und her und sah mit blitzenden Augen auf seinen Mund. Der Lange brach kurz ab.
Die Jüdin wich nicht von der Stelle. Sie lächelte ihm sogar zu und trippelte näher. Bedrohlich hob sich ihre Dickleibigkeit seiner Länge entgegen.
„Sprich weiter!" sagte sie, und ihr Gesicht neigte sich zum Gruß ein Stück nach vorn und wurde freundlich. Der Lange schien aber die Sprache verloren zu haben.
Auch der Amerikaner war von der Vertraulichkeit der Dickleibigen verblüfft. Erst stemmte er sich an das eiserne Geländer und starrte die Frau von allen Seiten an, Als sie den Langen stärker bedrohte, verbeugte er sich aber plötzlich, machte noch einen zweiten, tieferen Kratzfuß und trat zurück.
„Habe ich gestört?" fragte die Dickleibige und sah dem Amerikaner erstaunt nach. Der Engländer blickte in dieselbe Richtung. Als er sein Gesicht wieder zurückdrehte, war es bedrohlich zusammengezogen. Er sah die Jüdin grimmig und knurrend an.
„Sie war gut, deine Rede!" sagte die Frau, die den Zorn des Langen spürte. Da das den Langen aber nicht besänftigte, schüttelte sie sich, dass das violette Kleid, dessen Hänger wie Stricke auf den fleischigen Schultern lagen, tiefer fiel. Groß und wie zwei überreife Melonen sahen die Brüste aus den Hemdspitzen.
Der Engländer, der Zeit gefunden hatte, sich hinter sein Marabugesicht zu verstecken, war aber auch gegen diesen Überfall gewappnet. „Madam!" sagte er nur, und seine gelb werdenden Pupillen sahen durch die Frau hindurch, „Sie sind hier nicht in Ihrer Kabine, Bedecken Sie sich wieder!"

 

XII.

Der Steward kam und läutete mit der großen Glocke zum Kaffee. Alle gingen hinunter. Vor dem Heiligen ging die Betschwester. Sie war noch immer etwas verkatert, und sie schwenkte mit ihrer Bibel vor dem feierlichen Gesicht des Heiligen hin und her wie ein unerfahrener Messknabe vor seinem Priester.
Der Eßraum war beinahe leer. Nur die Französin saß am Tisch. Ihr Gesicht war gelb und eingefallen, und das doppelte Kinn hing nach unten, als sei es nur angeklebt.
Die Französin sah den Kommenden entgegen. Zuerst kam der Lange. Er grüßte kaum zu ihr hin und setzte sich an seinen Platz. Der Korrekte war höflicher. Er blieb vor seinem Stuhl stehen und nickte ihr zu. Auch der Krumme, der plötzlich hereinpolterte, lächelte zu ihr hinüber.
Die Französin sah die Männer aber kaum. Ihre Augen, die verglast in den blauen Höhlen schwammen, suchten den Geduckten.
Die Jüdin rauschte in den Saal. Sie trippelte so sonderbar wie sonst. Der Mund stand ihr etwas offen, und er war nach oben gezogen wie der Mund von einem gescholtenen Kind.
Bevor sie sich setzte, sah sie erst über den Tisch. Vor jedem Stuhl stand ein dampfender Teller mit Grütze. Dazwischen Weißbrot, Butter und Heringe. Sogar ein Teller mit Schinken.
Als die Jüdin saß, betrachtete sie gleich wieder den Langen. Sie erschrak nicht vor den starren Blicken, mit denen sie der Engländer ansah. Ihr Gesicht glitt nur von seinen Augen auf seinen Teller. Sie schob diesen näher an den Sitzenden, sie schob ihm auch das weiße Brot zu, das neben ihr stand, stichelte sich danach Butter in die Grütze und begann zu essen.
Der Lange sah ihr mit einer giftigen Gebärde zu. Seine dünngliedrigen feinen Finger, die auf der karierten Tischdecke lagen, zitterten. Er wusste aber nicht, was er hier gegen die Frau tun sollte.
Der Russe und der Franzose kamen. Sie hielten sich beide an den Armen, und ihre Gesichter waren hell und freudig.
„Es gibt Grütze", sagte der Franzose und zog Luft in die Nase.
„Grütze", sagte der kleine Russe nach und schnalzte mit der Zunge.
Jetzt nahte der Amerikaner. Sein Kopf hing etwas seitwärts, er schien nachzudenken. Als er in seinem Sitz hockte, blickte er, bevor er den Löffel in die Grütze steckte, hinauf zu dem schmalen Gesicht des Langen. Er betrachtete es eine Weile.
Der Achte, der hereinstolzierte, war der dicke Holländer. Sein Gesicht erschien in der Türfüllung wie ein Mond, und der graue Schal hing darum, als stünde er in schweren Wolken.
Da er sah, dass die Betschwester noch nicht an ihrem Platz war, blieb er an der Tür stehen. Er stand da nicht lange. Sie kam schon.
Sie musste sich besser in der Gewalt haben, denn sie lief bereits wieder ganz manierlich. Sie vergaß nicht einmal, ihr Buch vorsichtig auf den Tisch zu legen. Ja, sie schlug sogar ihr Kreuz, bevor sie den Löffel zum Mund führte.
Der Dicke, der ihr folgte, setzte sich hörbar in seinen Drehstuhl neben sie. Er war verliebter als am vergangenen Tage. Er konnte auch kaum essen. Sein Gesicht schielte mit einem lauernden Blick zu der Nachbarin. Wenn sich ihre Augen trafen, kullerten die seinigen freudig auf und nieder, und aus seiner Kehle kam ein gurrendes Glucksen.
Der Belgier und der Däne stürzten in den Raum. Sie hatten sich verspätet. Als sie sahen, dass sie noch nicht die letzten waren, wurden sie ruhiger. Sie setzten ziemlich laut ein Gespräch fort.
„Sieh, Kamerad!" sagte der Belgier, nachdem er sich zurückgelehnt hatte, „alle Fortschritte werden durch die langsame Entwicklung gehemmt, und wir bewegen uns so schneckenhaft einem Umsturz und einer Änderung entgegen, weil der Mensch selber so schneckenhaft ist. Es gibt zuviel Schlechte und Eigensüchtige. Zuviel Dumme und Beschränkte. Die menschlichen Schichten, auch bei den Arbeitern, liegen zu weit auseinander. Die Klassen sind zu verschieden. Das ist es. Das ist unser Hemmschuh!"
Der Däne ließ ihn kaum aussprechen. „Schichten! Klassen!" sagte er, „was ist das für ein Unsinn? Es gibt nur etwas in der Welt, Ausgebeutete und Ausbeuter! Ob dabei Arme oder Dumme sind, Hohe oder Niedrige, das ist gleich. Notwendig ist nur, dass man sie auseinander trennt!"
„Wer scheidet sie aber auseinander?" fragte der Belgier mit einem überlegenen Gesicht. „Sie laufen zusammen wie rot und lila. Ich habe hundert Ausgebeutete gekannt, die heute selber ausbeuten. Besitz, das ist noch immer die Zukunft!"
Er machte eine Pause und löffelte sich Grütze auf den Teller. „Und", fuhr er fort, „ein noch größeres Hindernis sind die Völker und Rassen. Der Mensch ist zu abgegrenzt, um zu gleicher Zeit dasselbe zu tun. Was nützt den Russen ihr Kommunismus, wenn die ganze Welt gegen sie ist, ja, wenn sich in einzelnen Völkergruppen heute erst der Kapitalismus bildet. Russland ist groß, aber die Welt ist größer! 0!" sagte er, und er würgte dabei an einem Löffel Grütze, den er sich in den Mund geschoben hatte, „ich kann dir überzeugendere Beispiele sagen. Denk an Amerika; der Arbeiter pfeift auf deinen Kommunismus. Denk an Italien, an Portugal, an Spanien, an die Schweiz, auch an Frankreich und an England, du kannst sie zählen, deine revolutionären Weltverbesserer und Propheten!"
Der Däne hatte sich tief geduckt. „Du bist Sozialist?" fragte er. „Du glaubst an den Sozialismus? Ja, was erwartest du denn überhaupt?"
Der Belgier war darauf nicht vorbereitet. „Alles!" antwortete er trotzdem mit Pathos. „Der Sozialismus kommt. Er ist geschichtlich angekündigt! Er ist eine wirtschaftliche Unabänderlichkeit! Die Menschen werden ihm nicht entgehen können, und wenn sie ihren ganzen Verstand dagegen aufstellen!"
Das Gesicht des Dänen war rot geworden. „Ha!" lachte er, „und bis dahin sollen wir uns also weiter zu Tode schuften. Bis dahin sollen wir auf dem Bauch liegen und warten, bis sich das große Wunder vollzieht! Ho!" er schlug mit der Faust auf den Tisch, „lieber renne ich mir doch noch hundertmal den Schädel ein, lieber will ich mir jeden Hirnklumpen einzeln aus dem Kopf schlagen lassen! Warten!" seine Stimme schnappte nach oben, „ich will revoltieren, bis mir der Atem ausgeht!"
Es war still geworden nach der Entladung des Dänen. Alle sahen von ihrem Essen auf und blickten zu ihm hinauf. Auch der Amerikaner schielte den Erregten an. Er lächelte dabei.
„Freund!" sagte er nach einer Weile und legte seine Hand väterlich über den Tisch auf den bebenden Arm des Dänen, „du musst die Welt ruhiger betrachten. Außerdem hat dein Kamerad Unrecht!
Erstens!" er setzte sich umständlich und wie ein amtierender Pastor auf seinen Stuhl, „die Menschen sind im Allgemeinen gleich. Wer ist schlecht? Wer ist eigensüchtig? Wer ist dumm? Wer ist beschränkt? Alle und keiner. Jeder nach seiner Weise und jeder nach seiner Art. Jeder auch in verschiedenen Ausmaßen. Aber was macht das? Keiner hebt sich aus der Menschheit heraus. Keiner verändert das Gesicht der Menschheit. Jeder ist nur soweit dumm oder beschränkt, wie es der Mensch sein kann!
Er hob sein Gesicht ein wenig und fiel in einen dozierenden Ton. „Wo liegen also die Verschiedenheiten? Wo sind also die Schichten? Wir sind ein Ganzes, der Mensch, ein Ganzes, wenn wir auch kranke Außenseiten haben, und dieses Ganze kann, wenn seine Zeit da ist oder wenn es aus seinem Heute geschleudert wird, auch gemeinsam und mit gleicher Stärke etwas Höheres oder Größeres erreichen!
Klassen, Völker, Rassen!" sagte er dann, „was ist das! Sind das Grenzen? Ist das eine Behinderung? Klassen hat der Mensch geschaffen, sicher, sie bestehen oft Jahrhunderte, aber sie können von den Menschen wieder durchbrochen werden. Völker! Völker haben sich seit Jahrtausenden durch alle Länder geschoben, haben sich gemischt und neue Kulturen angenommen, sind über Nacht gewandelt worden, und ihr Gesicht hat sich einem neuen Landstrich angepasst. Was sind sie also? Menschliche Herden! Die heute größte Möglichkeit der menschlichen Gemeinschaft, Sieh Russland an, unsere Vereinigten Staaten, das große England, können sie nicht überall noch zahlreicher ineinander wachsen? Was trennt die Menschen denn? Eine anerzogene Abneigung!
Und Rassen!" Er lächelte überlegen. „Sind nicht unsere Neger in Neuyork und Boston genau so klug wie die Weißen? Steht nicht jeder Chinese in einer älteren und tieferen Kultur als wir? Haben sich nicht die Japaner in einem halben Jahrhundert zur Weltmacht erhoben? Rassen sind nur Ausdruck von Farbe und Landschaft, und sie sind nie losgelöst von der großen Entwicklung oder von dem gemeinsamen Sein!
Oh!" sagte er jetzt feierlich und schob seine Brille dazu in die Höhe, „gibt es überhaupt Grenzen, gibt es überhaupt Absperrungen? Können wir nicht alle dasselbe empfinden? Und empfinden wir heute nicht schon alle dasselbe? Was sind unsere religiösen Handlungen, ob sie nun christlich oder heidnisch sind? — gemeinsame Gefühle der Demut. Und warum stehen wir jetzt alle in unserem Leben, erschrocken und betroffen, und so, als erwarteten wir etwas Gewaltiges und Großes! Ist es nicht gleich, ob du es Kommunismus nennst und der andere Sozialismus, oder der Dritte ein religiöses Wunder erwartet und der Vierte irgendeine kleinere Freiheit. Sicher, ganz sicher!" wiederholte er noch einmal, und er sah den Dänen mit seinen glänzenden, brillenlosen Augen in das zusammengezogene Gesicht, wir empfinden alle dasselbe. Der eine stark und der andere weniger stark. Der eine verbindet es mit seinen Wünschen, und der andere wehrt sich dagegen. Aber es ist da, und man kann es verkünden und aussprechen!"
„Und!" sagte der Däne schnell, der auf den Schluss des Amerikaners gewartet hatte, „man kann es wünschen, und man kann es emporreißen. Man kann an den Pfosten des Alten rütteln und es entwurzeln oder umhauen. Und man kann schon heute auf seinen Trümmern das Neue beginnen!" Er blitzte den Belgier und den Amerikaner an. „Die Kommune! Die klassen- und rassenlose Gesellschaft! Das kommende Bauern- und Arbeiterreich!"
Das Gesicht des Belgiers, das bis jetzt scharf und spitz zu dem Bebrillten gesehen hatte, wurde spöttisch. „Dann haben wir das Paradies“, sagte er mit einem sonderbaren Augenaufschlag, „wenigstens der eine, der nach der großen Zertrümmerung und dem allgemeinen Totschlagen übrig bleibt!"
Fast alle, die am Tisch saßen, hatten zugehört. Der Schotte und der Geduckte, die später eingetreten waren, auch. Einige lachten über die Worte des Belgiers. Besonders der dicke Holländer meckerte auf. Mit diesem Lachen endete das Gespräch. Der Amerikaner schlürfte bereits seine Grütze. Der Däne, der vor Zorn einen feuerroten Kopf bekommen hatte, tat dasselbe, und die anderen schlürften und tranken mit.
Die einzige, die weiter mit Unterbrechungen aß, war die Französin. Sie hatte lange auf den Geduckten gewartet, und als er eingetreten war, hatte sie ihm mit Mund und Körper entgegengezüngelt.
Der, das lederne Gesicht zeigte nicht die geringste Änderung, beachtete sie aber kaum. Auch jetzt, als er seinen Brei löffelte, sah er nicht zu ihr hin, und als sich ihre Gesichter doch trafen, blieb das seine hart und unbeweglich. Er streifte sie bloß und blickte dann hinüber zu dem dicken Holländer.
Die Französin vergaß den züngelnden Mund zu schließen. War der Kerl so? Sie sah ihn schärfer an. Ihre Lippen pressten sich dabei dünn zusammen, und auf ihrer Stirn zeigten sich Falten.
„Ha!" lachte sie plötzlich und ihr Gesicht strahlte schon wieder, es gab ja noch mehr Männer. Dieses Lachen traf den Korrekten, der es erfreut auffing und zurückspiegelte. Es flog einen Augenblick später hinüber zu dem Krummen, der sich darunter bog und aufgrunzte. Es flog sogar dem Schotten in die Augen und berührte den Amerikaner.
Selbst den dicken Holländer lächelte die Französin an. Der warb aber tapfer weiter um seine Betschwester. Er wurde dabei rot und zapplig, fiel aber immer wieder in eine gewisse Schüchternheit. Manchmal wurde er allerdings aktiver. Er versuchte dann, seine linke Hand auf das Knie der Heiligen, zu schieben und sie zu kneifen.
Die Betschwester wehrte sich dagegen. Sie fauchte ihren Liebhaber an. Es half nur nichts. Ihrem heutigen Gesicht fehlte die Strenge, und so musste sie die kneifende Hand immer wieder zurückschieben. Sie knurrte dazu, und ihre spitzen Hände wurden zu Krallen. Sie schlug sie in die wulstigen Finger des Dicken hinein.
Als die Ersten bereits aufgestanden waren, zeigten sich erst der Heilige und der Deutsche. Der Heilige war angezogener als zu seinem Morgengang. Der Deutsche schlich geduckt und klein hinter ihm.
Der Heilige schritt schnell an seinen Platz. Der Deutsche blieb mit eingezogenen Schultern an der Türe. Sein Gesicht war noch fahl und käsig von dem nächtlichen Schrecken, und er blinzelte ängstlich über den Tisch.
Als ihn aber niemand beachtete und auch der Schotte seinen Rücken nicht wandte, wurde er mutiger. Er schlängelte sich langsam zu seinem Stuhl. Wie ein Verhungerter stürzte er sich auf die Grütze.

 

XIII.

Der Geduckte war der Erste, der nach dem Kaffee das Deck betrat. Es war warm geworden. Beinahe heiß. Der Mann wand sich wie ein Kater in dieser Wärme.
Der Schotte, der hinter ihm herkam, machte es ihm nach. „He!" sagte er und schlug dem Geduckten mit der Faust auf den Rücken, „die Sonne ist das einzige, was uns auch gehört!"
Der Geduckte grunzte und sah in das Wasser. Unter ihm kreisten die Wellen in kleinen Trichtern.
„Wo fährst du hin?" fragte er plötzlich den Schotten und schielte ihm in die Augen.
„Nach Glasgow und später nach Dundee", antwortete der. Als er aber merkte, dass der Geduckte die Städte nicht kannte, sagte er noch: „Nach Schottland."
„Du bist dort zu Hause?" fragte der Geduckte weiter.
„War, war", sagte der Schotte. „Vor 15 Jahren. Ich will es einmal wieder sehen!"
Der Geduckte blinzelte. „Hast du Sehnsucht danach?"
„Nein“, lachte der Schotte, „es ist eine schwierigere Geschichte. Ich habe mir in den Staaten einen Haus- und einen Viehstand erworben. Für die brauche ich Hilfe. Es muss jemand nach dem Vieh sehen, wenn ich meine Walzen drehe."
„Also ein Weib", sagte der Geduckte und riss die Augen auf.
„Ein Weib!" antwortete der Schotte ruhig und schob sich Tabak zwischen die Zähne.
„Und gibt es in den Staaten keine?" fragte der Geduckte. „Ich dächte, es müsste dir genügend an den Hals fliegen!"
Der Schotte spuckte in das Wasser. „Ich habe sie versucht", sagte er. „Eine ganze Reihe. Eine war mir zu mager, und eine andere war mir zu liederlich. Und was das Schlimmste ist“, er sah den Geduckten an, „sie sind mir alle zu kalt. Sie liegen im Bett, als waren es Stockfische. Sie haben Blut im Hirn, aber es fehlt ihnen das Blut in den Schenkeln. Was sollst du mit einem Stein? Ein Weib muss Hitze haben!"
Der Geduckte machte die Augen klein und stimmte ihm zu. „Sie sind kalt"? sagte er auch. „Sogar die auf der Straße. Wenn wir ans im Frühjahr keine Negerin kaufen konnten, tippelten wir manchmal bis hinunter nach Mexiko. Das waren Märsche. Die Brunst hing uns zum Halse heraus, als hätten wir Fieber!"
Der Amerikaner und der Engländer traten heran. Der Geduckte sprach aber ruhig weiter. „Das heißt“, sagte er jetzt, „einmal trafen wir auch in den Staaten eine Heiße. Sie hatte mehr Liebe im Leibe als ein Dutzend dieser mageren Girls sonst zusammen haben. Wir waren in Arkansas und strichen hinüber nach Mississippi. Wir waren sieben Landstreicher, und wir krochen über Nacht in eine ihrer großen Scheunen. Als sie uns am Morgen sah und merkte, dass wir ganz propre Kerle waren, packte sie uns erst in eine Schwemme, und wir wurden abgeseift. Acht Tage vertraten wir dann ihren Mann. Sie war mager und eckig, und unter dem Rücken dürr wie ein Stecken, aber die Brunst saß in ihren klapprigen Knochen, als sei es leibhaftiges Feuer!"
„Und wo war ihr richtiger Mann in der Zeit?" fragte der Bebrillte und blickte den Geduckten erstaunt durch seine Gläser an.
Der Geduckte meckerte. „Fort! Sie hielt uns aber so lange in ihren Betten, dass wir ihn noch sehen konnten,
bevor wir abstrichen. Er war groß und schmal. Er hatte ein Gesicht wie ein pensionierter Pfarrer, und er sah aus, als zeuge er nur geistige Kinder!
Ho!" fuhr er fort, „auch ein Landstreicher erlebt etwas, und die Frauen sind in seinem Leben das Beste, Du kommst in eine Farm oben in Idaho oder in Montana, es kann auch drüben im Kanadischen sein, und es ist niemand weiter da als der Mann und die Frau. Vielleicht noch eine Magd oder eine Tochter. Du hast ein schlechtes Gesicht, ein gemeines Gesicht, du bist nicht gewaschen, und du bist nicht rasiert, was macht das, du bist überhaupt ein Gesicht, Du bist ein anderes Gesicht, als das, was die Frau schon 10 oder 12 Jahre gesehen hat, jeden Tag, jede Nacht, und sie sieht dich an wie eine Erlösung. Manchmal überfällt sie dich gleich am ersten Tag. Sie ist dabei plump und spielerisch wie ein Kind, Du bist das Besondere, Sie will auch an dir das Besondere sehen. Dann geht es uns gut, Wochen, Monate, bis wir auch gewöhnlich geworden sind. Und eines Tages fliegen wir wieder aus ihren Betten Plötzlich, so schnell wie wir hineingefallen sind!"
Der Geduckte meckerte. „In Alberta", sagte er und kniff die Augen zusammen, „empfing mich einmal ein Farmer freundlicher als seinen Pastor. Er hatte schlechte Zeiten, wenn er mit seiner Frau allein hauste, und sie nahm ihn erst wieder in ihr Bett, wenn ein Tramp in der Scheune schlief. Dass er mit dem die Frau teilte, schien ihn gar nicht zu stören, wenigstens schüttelte er mir die Hände wie einem Bruder, als ich mich empfahl, und ich war ihm dafür dankbar. Ich habe ihm jeden Walzbruder in sein Haus geschickt, der mir die nächsten Monate über den Weg lief."
„Ja, „sagte der Schotte, der dem Geduckten mit geblähten Nüstern zugehört hatte, „die Weiber sind oft sonderbar. In St. Louis wohnte ich mit einer kleinen Irländerin zusammen, die blieb bei jedem Mann nur 14 Tage, Sie war so zierlich wie ein Reh und so sauber, als würde sie jeden Morgen abgeleckt. Sie war auch keine Hure, und sie verkaufte sich nie. Irgendwoher bezog sie sogar Zinsen. Aber sie hielt immer nur 14 Tage aus. Sie kochte und wusch in der Zeit, buk und briet, und im Bett habe ich nie ein willigeres Tier gehabt als sie. Aber auf einmal war sie fort. Ausgekniffen. Als ich sie später wieder sah, kannte sie mich nicht mehr."
Der Krumme, der mit dem Franzosen in den Kreis getreten war, kicherte auf. „Was ist dabei?" sagte er. „Es war eine Richtige. Sie lebte nur für ihren Bauch. In Harrisburg trieb es eine noch schlimmer. Wir waren mit zweihundert Mann in einer kleinen Mine. Wir wohnten in Baracken und windoffenen Schuppen. Sie war eine ehrbare Bürgerin, aber sie kam zu uns herauf und wusch uns die Wäsche. Sie fing nach einem bestimmten System bei einem hageren Irländer an und versuchte, alle vier Tage zu wechseln. Oft schlug sie der alte Liebhaber halbtot, wenn er sie bei dem Zweiten fand. Aber sie ließ sich nicht beirren, und als ich nach zwei Monaten südlicher walzte, war sie schon bei dem Sechzehnten. Wenn man sie fragte, warum sie das täte, wurde sie scheu. Ich habe meinen Mann verloren, heulte sie los, und ich suche einen, der wieder zu mir passt wie er."
Alle lachten. „Ob sie ihn wohl noch gefunden hat", quäkte der Schotte laut.
„Ja“, sprach der Krumme weiter, und seine kleinen Augen traten froschartig aus seinem eingedrückten Gesicht, „dabei tun sie alles so selbstverständlich, als ob sie es gar nicht anders könnten. Die schwarzen Weiber, die uns in Pittsburgh die Buckel abrieben, legten sich danach auf den Boden, als gehöre das dazu. Sie hielten dann so stille wie die Kühe unter dem Stier. Das einzige, was sie taten, war, sie lächelten."
Der Geduckte schob seinen Kopf nach vorn und grinste den Krummen an. „Sie sind eben Schweine", sagte er. „Große und kleine Schweine, und sie fühlen sich erst wohl, wenn sie auf dem Rücken liegen."
Alle waren einen Augenblick still. Der Deutsche, der mit dem Korrekten in den Kreis getreten war, meckerte auf. Auch der Schotte. Nur der Franzose schien nicht mit den Worten des Geduckten einverstanden zu sein. Er drängte sich vor und keuchte ihn an:
„Und du bist das größte Schwein", sagte er, und er stieß sein gelbes Gesicht bis vor die Pupillen des Geduckten.
„Macht man eine Frau schlecht?" sagte er nach einer kurzen Pause, in der er sich Luft in die Lungen gepumpt hatte. „Wer erniedrigt die Frau? Wer treibt sie auf die Straße? Wer macht sie zur Hure? Wer bezahlt sie? Wer ist also das Schwein?" Seine wässrigen Augen sahen von einem zum anderen.
„Was tut die Frau?" Die Worte kamen ihm nur langsam aus der Kehle. „Was der Mann von ihr verlangt. Was das Schwein von ihr fordert. Warum liegt sie Tag und Nacht auf dem Rücken? Weil sie der Mann sonst hinwirft!
Ee!" und er stieß seine Arme bei den letzten Worten in die Luft, „seit wann spricht ein Arbeiter überhaupt schlecht von der Frau? Seit wann macht er sie zum Schwein? Seit wann tritt er sie noch tiefer?" Er war ganz außer Atem. „Ist sie ein schlechterer Mensch als wir?"
Der Amerikaner nickte ihm zu. „Die Frau ist wie der Mann", sagte er laut und langsam. „Bevor sie mit ihm zusammenkommt, ist sie sogar noch besser. Sie hat Scham. Der Mann hat keine. Sie wird erst schamlos, wenn sie der Mann berührt!"
„Und, „fiel der Franzose wieder ein, „ist sie nicht unser Gefährte? Steht sie nicht mit auf unserer Seite? In Marseille wurden wir einmal auseinanderkartätscht und verfolgt. Wir flohen in den Hafen. Wer nahm uns auf? Wer verriegelte seine Tore? Wer warf mit Steinen nach den Soldaten? Die kleinen Huren. Sie waren tapferer als wir, und den hageren Louis, einen großen Hafenarbeiter, dem die Brust zerquetscht worden war, haben sie gepflegt und gepäppelt, bis er sie alle wieder in den Himmel stemmen konnte."
O!" sagte der Amerikaner und riss das Wort das zweite Mal an sich, „in den Staaten sind die Frauen auch tapfer. In Chikago war ein Mädchen die nannten wir alle die rote Karoline. Sie war in jeder Demonstration die Erste. Sie schwang sich in die Spitzen von allen Streikleitungen. Sie sprach von Rollwagen und von den Schultern der Männer herunter. Einmal rissen die Schutzleute an ihr, dass sie kaum noch das Hemd auf dem Leibe hatte. ,Macht mich nur nackt!' schrie sie die groben Patrone an. ,Wenn die Männer meinen mageren Bauch und meine Dürre sehen, werden sie noch besser verstehen, warum ich sie zum Streik auffordere!'"
Auch der Russe mischte sich in das Gespräch. Sein kleiner Kopf richtete sich schräg auf den Geduckten, und er sah den sich Zusammenhockenden mit einem sonderbaren, aber mehr milden wie zornigen Blick an. „Die Frau ist gut!' sagte er zuerst kurz, und er schob die Worte so langsam aus dem Mund, als müsse er jedes zwischen den stoppligen, schwarzen Zähnen spüren.
„Die Frau ist alles!" sprach er dann weiter. „Sie ist das Haus. Du gehst dein ganzes Leben und weißt nicht, wohin. Du bist traurig. Du bist unglücklich. Auf einmal bist du bei ihr. Auf einmal nimmt sie deine Hände." Er lächelte. „Alles ist gut!
Und was hätte sie nicht!" Der Russe lächelte noch, aber er sah jetzt starr geradeaus. „Sie hat Wärme und sie gibt sie dir. Sie hat große, runde Brüste, und sie legt dich in sie hinein. Sie hat einen Leib, und sie öffnet ihn dir. Ja, sie tut alles!
Unser Väterchen", fuhr er fort, „war oft ein schlechtes Väterchen. Er kam heim und war betrunken, wie ein Vieh. Er schlug dann die Mutter und zog sie durch die ganze Stube. Wir waren groß und wollten uns auf ihn stürzen. Sie wehrte uns aber. Der Mensch ist gut und schlecht, sagte sie danach. Auch euer Vater. Soll ich nur das Gute ertragen? Er erniedrigt mich nicht!"
„Ja!" stimmte der Geduckte zu, als der Russe etwas zurücktrat, „eure Frauen!" Er hatte sein ledernes Gesicht nach unten gehangen und schien beschämt.
„Ho!" meckerte er gleich danach wieder auf, „da fällt mir etwas ein. Es war in Neuorleans, ungefähr 1905 oder 1906, und Russland spie Menschen in die Staaten aus, als wäre ganz Moskau auf der Wanderschaft. Wir waren zu dritt. Ich weiß es nicht mehr genau, die beiden anderen waren wohl aus Italien. Wir wollten nach Little Rock hinauf oder noch weiter, aber es war furchtbar heiß, und wir wären lieber geschwommen als gelaufen.
Am vierten Tage trafen wir so einen Russen, Er saß auf einer kleinen Karre, die von zwei noch kleineren Pferden gezogen wurde, und erklärte uns an Hand einer Adresse und eines Briefes, dass er auch nach Little Rock wollte. Er konnte sonst kaum ,yes' und ,pleace' sagen, er war aber doch allein aufgebrochen, und er schien sicher diesen Ort zu erreichen.
Das Zweite, was wir entdeckten, war eine kleine Frau, die neben dem Wagen ging. Sie war kleiner und zarter als der Mann, hatte das Gesicht auf den Boden gerichtet und hob schnell und ausschreitend ihre Beine, Und sie ging mit einer solchen Beharrlichkeit, als gäbe es für sie nichts anderes als so nebenher zu gehen.
Wir schlossen uns den beiden an, besonders weil die Karre beinahe leer war, und der Mann nur schärfer in die Zügel griff, als wir aufstiegen. Es war eine lustige Fahrt. Die beiden schienen ziemlich arm. Wenigstens sahen wir außer zwei großen Rubelstücken, die der Mann an seiner Uhrkette hatte, nie einen Cent bei ihnen. Die Frau musste wohl sonst auch gebettelt haben. Nun, jetzt sorgten wir für die Kost.
Abends", der Geduckte verzog sein Gesicht zu einem Grinsen, „kochten wir dann, banden die Pferde fest, die der Russe wie zwei Kinder versorgte, und gruben und packten uns ein. Die Nächte waren das Beste. Erst wollte einer der Italiener die Frau gewaltsam nehmen»denn wir waren in der Überzahl und außerdem hungrig auf Fleisch. Er fiel sie an wie ein Hund. Die Frau schrie aber nicht einmal auf. Sie legte sich nur nieder. Sie half ihm sogar. Von dem Tag an nahmen wir sie immer gemeinsam, zuletzt der Russe. Und sie wehrte sich nie. Wie ihr wollt', sagte sie. Oder: ,Ihr seid die Herren.' Dabei war sie nicht hässlich. Sie hielt sich sogar sauber. Sie hatte kleine, feste Brüste. Sie war so zierlich und rundlich, als sei sie abgeschliffen. Wir wollten sie gar nicht wieder verlassen, denn sie verstand das Lieben, als wäre es ihr
Beruf."
„Ja“, stöhnte der Krumme auf, der einen hochroten Kopf bekommen hatte, „die Russinnen und die Italienerinnen!"
„Und die Jüdinnen!" sagte der Schotte, Er schnalzte mit der Zunge. Alle sahen ihn an. Nur der Amerikaner blickte über ihn hin, Er besah sich mit seinen bebrillten Augen den Langen.
„Man kommt selten zu ihnen, „sagte der Schotte mit Betonung, „denn der Jude schließt sie ab, als würden sie durch uns dreckig. Nur die Leisetreter sind in Neuyork und in San Franzisko noch mit ihnen verheiratet, und in den Chinesenvierteln siehst du ihre Gesichter in allen Fenstern. Die Bezopften kaufen sich die Judenmädchen. Oft schon als Kinder. Sie sind auch am tollsten hinter jedem anderen jüdischen Weiberrocke her. Sie zahlen dafür alles. Mancher Hegt für eine Nacht den nächsten Tag arm auf der Straße.
Einmal", der Schotte unterbrach sich hastig und sein sommersprossiges Gesicht glänzte, „hatten wir uns doch eine eingefangen und zwischen unseren Betten, Sie war nicht mehr recht jung, aber sie war trotzdem eine richtige Jüdin. Sie machte uns beinahe rasend mit ihrer Liebe, und wir waren doch alle Kerle, die schon viele Leiber berochen hatten. Zuletzt hat sie einer von uns geheiratet. Er arbeitete als Maurer und sollte aus Norwegen sein. Böse Zungen behaupteten, er wäre dort Pastor gewesen. Jedenfalls fand er sich in den Federn auch gut zurecht, und ich glaube, sie leben noch heute zusammen!"
Der Geduckte erzählte eine andere Geschichte von einer Jüdin. Während er sprach, ging die Französin vorbei. Sie war in Gedanken, wenigstens sah sie die Männer kaum. Sie ging mit kleinen Schritten und gesenktem Kopf an ihnen vorüber.
Umso stärker spürten sie die Männer. Oa!" stöhnte der Korrekte und löste sich aus dem Kreis.
Der Krumme wollte genau so eilig fortstürzen. Der Lange hielt ihn aber an der Schulter. So schnellte ihr nur noch der mopsige Deutsche nach.
Die Frau ging an dem Oberdeck vorbei und lief bis hinten an das Steuer. Sie lehnte sich dort in eine Ecke und sah auf das Wasser.
Die beiden Männer kamen näher. Der Korrekte lief langsamer. Er wollte sich der Frau vorsichtig nähern — wollte ihr etwas sagen — wollte sie dann umfassen — wollte sie vielleicht auch küssen. In der Zeit wälzte sich aber der Deutsche an ihm vorbei.
Der lief so schnell, als wäre er abgeschossen worden. Seine Arme flogen dazu wie Propeller, und er schnaubte wie eine Lokomotive.
Die Französin, die ihn hörte, sah sich nach ihm um. Sie wollte sich vor seinem Ansturm retten. Bevor sie aber zur Seite springen konnte, prallte er schon an sie.
„Missis!" sagte er keuchend, und er blies ihr seinen ganzen Atem ins Gesicht, Er wollte sie noch herzlicher begrüßen, da aus seiner schnaubenden Brust nichts mehr herauskam, kniff er die erstaunte Frau mit einem freundlichen Grinsen fest und ziehend in die Brust.
„Nimm!" sagte er danach und drückte ihr einen Dollar in die Hand, zog sie näher und schleckte ihr mit seiner dicken Zunge über das Gesicht,
Der Korrekte, der jetzt auch herangekommen war, sah es. Er wollte zuerst umdrehen. Dann blieb er aber stehen. Sein Mund wurde immer runder. Seine Augen waren so groß und hell, wie zwei aus den Wolken quellende Monde.

 

XIV.

Das Mittagessen verlief ziemlich einsilbig. Es gab eine schwabbliche, unerkennbare Suppe, die nur die Jüdin und der Geduckte schlürften. Danach eine Zusammenstellung von gelben Rüben und harten Kartoffeln. Hinterher kam eine seltsame Nachspeise. Es war roter, gelber und brauner Pudding ineinander gemischt, und aus den schillernden Farben ragten halbe Waffeln und Semmelbrocken.
„Hu!" fauchte der Krumme, der sich ein paar Löffel auf den Teller nahm, „das sind die Überbleibsel aus der ersten Klasse!"
Der Schotte schob ihm die ganze Schüssel zu. „Friss ruhig weiter“, knurrte er, „es ist schon vorgekaut. Du wirst dir also den Magen nicht selber verderben."
Auch der Deutsche nahm sich ein paar Löffel. Sogar der Russe und der Franzose. Der Erste, der die Schüssel wieder zurückschob, war der Belgier, und der Däne gab ihr einen Stoß, dass sie bis hinunter zu der Betschwester fuhr.
„Zieht es nur hinter!" keifte der Däne noch bissig, dem das Blut in das Gesicht geschossen war. „Es ist euch ja sicher gleich, wer sein Maul schon in dem Trog hatte!"
Selbst der Belgier maulte. „Das wird immer besser", sagte er, „und wenn das so weiter geht, bin ich, bis ich nach Antwerpen komme, dünner als ein Hering!"
Unten am Tisch ließen sie sich aber trotzdem den Pudding schmecken. Die Betschwester löffelte sich den ganzen Teller voll und fischte besonders nach den Waffeln,
Der dicke Holländer packte sich auch einen Berg vor die Nase. Als er sah, mit welcher Gier die Betschwester die kleinen Waffeln auf der Zunge zerdrückte, fischte er die seinen aus dem bunten Brei, zog sie sorgsam auf beiden Seiten durch die geschlossenen Lippen und schob sie der Frau zu.
Die Jüdin, der es genau so schmeckte, füllte sich schon zum zweiten Male den Teller. Als sie sah, dass sich der Lange nichts nahm, griff sie nach seinem Teller und füllte ihn mit. Sie stieß ihn dem Mann mit einem leichten Blinzeln zu. Dem Langen grauste es. Er stand eilig auf und lief mit großen Schritten hinaus.
Der Belgier und der Däne folgten ihm. Danach stand die Französin auf. Sie schob ihren Stuhl zurück, und ihre Arme fielen danach schwer nach unten. Sie war müde.
Der Deutsche, der die Frau während des ganzen Essens beobachtet hatte, sprang zur gleichen Zeit in die Höhe. Sein Teller war noch gefüllt. Er lief aber doch hinter ihr her.
Der Krumme, der sich nach dem eiligen Aufbruch des Langen hin und her gedreht hatte, erhob sich nun auch. Er starrte der Französin nach und fletschte mit den Zähnen. Den Deutschen, der ihm an der Tür zwischen»die Beine lief, warf er mit einem kräftigen Stoß auf die Seite.
Die Französin ging mit schlendernden, kleinen Schritten in ihre Kabine. Der Krumme polterte ihr laut und dröhnend nach. Vor der Kabine stieß er aber noch einmal auf den Deutschen.
Der hatte sich aufgerafft und war dem Krummen nachgelaufen. Jetzt packte er ihn bei den Händen und wollte ihn von der Tür zurückziehen. Seine wurstigen Finger konnten die gestrafften Arme des Krummen kaum umspannen.
„Fettwanst!" schrie der Krumme belustigt und bläkte den Deutschen mit seinem zusammengedrückten, jetzt spöttischem Gesicht an, „willst du auch zu der Frau! Du kannst ja nicht einmal über deinen Bauch sehen!"
Der Deutsche, der schon zornig war, wurde noch zorniger. Er stemmte sich mit seiner ganzen Dickleibigkeit gegen den Krummen und versuchte, ihn nach hinten zu drängen. „Sie ist mein, die Frau!" zischte er dazu durch die Zähne. Ich habe ihr einen Dollar gegeben!"
Auf den Krummen machte das gar keinen Eindruck. Als der Deutsche immer wilder drängte, fasste er sogar nach ihm. Er hob das zappelnde Männlein in die Höhe und stürzte es etwas unsanft gegen die nächste Wand.
Er kam aber auch nicht zu der Französin. Vor ihm stand plötzlich die alte Stewardess und sah ihn mit grauen, blitzenden Augen an.
„Schämt euch!" plärrte sie mit einer kleinen, fistelnden Stimme los. „Ihr solltet mit euren Dummheiten doch wenigstens warten, bis es dunkel ist!"
Der Krumme fuhr erschrocken zurück. Er zog sein Gesicht bis in den Rockkragen und trollte sich in seine Kabine. Der Deutsche, der sich mühsam wieder aufgerappelt hatte, war nicht so gefügig. Er drückte sich gegen die gelben Bretter und blieb dickfellig stehen. „Ich habe ihr doch einen Dollar bezahlt!" wiederholte er.
Der Stewardess imponierte das genau so wenig wie dem Krummen. Sie drehte den Deutschen um, fasste ihn wie einen Arrestanten an der Schulter und stieß ihn mit leichten Knuffen vorwärts. Vor dem Eßraum ließ sie ihn stehen.
Hier erhoben sich gerade die letzten Essenden und stiegen die Treppe hinauf nach dem Deck. Der Korrekte, der auch auf die Französin brannte, aber den eiligen Abgang der Frau nicht bemerkt hatte, wartete an der Treppe und ließ die anderen vorausgehen. Er suchte die Frau,
Als er sie nirgends hörte und sah, lauschte er an den Kabinen. Er ging den kleinen Gang hinunter, in dem eben noch die beiden anderen Liebhaber gestanden hatten, und lauschte da weiter. Er tat es mit ängstlichen, vorsichtigen Schritten. Seine Brust hob und senkte sich. Er sah aus, als wolle er stehlen.
Der Geduckte, der als letzter den Speisesaal verlassen hatte, kicherte leise auf, als er seinen Bruder so schleichen sah. Er lief ihm wie ein Spürhund nach. Als der Korrekte vor der richtigen Tür stand und sie wie ein Tier beschnupperte, kicherte er lauter und sprang eilig näher.
Der Ertappte hörte es und versuchte sich umzuwenden. Bevor er sich drehen konnte, hatte ihn der Geduckte aber schon am Genick. Er riss mit der anderen Hand die Kabine auf, stopfte den Schlotternden wie einen Sack hinein und warf die Kabine wieder zu.
Die Französin lag auf ihrem Bett. Sie rieb sich verwundert die Augen, als sie den Korrekten so plötzlich vor sich sah.
Der Korrekte schlotterte weiter. Ihm war nicht wohl. Er hatte zwar seinen Bruder als den Attentäter erkannt, aber er war so erschüttert, auf einmal und so schnell in der Kabine dieser Frau zu stehen, dass er sich über alle Berge wünschte.
Das Gesicht der Französin, das sich allmählich zu einem Lächeln verzog, machte ihn allerdings ruhiger. Er sperrte seinen durch den Schreck offen stehenden Mund eilig zu und lächelte mit.
Die Französin richtete sich nun halb auf und betrachtete den Korrekten genauer. Sie rückte sogar etwas an das Kopfende ihres eisernen Bettgestells, damit sich der Korrekte neben sie setzen konnte.
Der Korrekte verstand das auch. Sein Gesicht lief aus dem Lächeln in ein kindliches Grinsen. Er schob erst verschüchtert seine Hand auf das Bettgestell; als er aber sah, dass die Frau ihr Lächeln behielt, schob er schnell sein Hinterteil nach und setzte sich neben sie. Sein Gesicht war unbeholfen, Sein Körper schlotterte wieder. Er saß ihr ja auch schon so nahe, dass er sie berühren konnte.
Ich heiße Jens Burmeister", sagte er leise, um mit der Frau ein Gespräch anzufangen.
Jens Burmeister!" sagte ihm die Frau nach. Ihr Mund stand halb offen. Sie gähnte.
„Ja", sagte er freudiger, als er seinen Namen von ihr hörte, „und ich bin Holländer!"
Die Französin nickte diesmal nur.
Es war nun eine Weile still. Der Korrekte wusste nicht mehr, was er sprechen sollte. Da die Französin auf seine letzten Worte mit nichts weiter als mit einem Nicken geantwortet hatte, war außerdem sein Mut wieder gesunken.
Der Gelbe ist wohl dein Bruder?" begann nun die Französin und rückte ihm zu gleicher Zeit näher.
Ja!" antwortete der Korrekte eilig. „Er ist aber ein schlimmer und schlechter Bruder!"
Er setzte sich nach dieser Antwort erst zurecht. „Ich war neun Jahre“, sprach er schneller weiter, und er war erfreut, etwas gefunden zu haben, über das er mit der Frau sprechen konnte, „da war er vierzehn. Er war immer sehr jähzornig. Ich wollte einmal nicht mit ihm spielen, da hat er mich einen halben Tag und eine halbe Nacht in unsern Ziegenstall eingeschlossen. Er hatte mir vorher gesagt, wenn ich einen Laut von mir geben würde, bevor er mich heraushole, so wolle er mich mit dem Kopf nach unten aufhängen. Das war einer seiner liebsten Späße, die er mit mir trieb, und ich hatte große Angst davor. Ich habe auch bis zum Morgen ausgehalten, trotzdem die Mutter die ganze Nacht nach mir schrie und der Vater schon im Kanal nach mir suchen lassen wollte.
Später wurde er Anführer einer kleinen Bande. Sie stahlen nichts. Sie hatten nur eine kleine Höhle in den Büschen, in denen sie wie die Wilden hausten und kochten. Einmal wurden sie darin überrascht. Noch dazu von unserem Pastor. Sie bemalten sich gerade, Braun, rot. Die Brust und die Beine. Sie waren Indianer. Sie hatten ein Mädchen mit in ihrer Höhle. Die Enkelin von der Mutter Wittischen. Das Mädchen bemalte sich auch“,
Der Korrekte machte eine Pause. Die Französin, die sich zu ihm gewendet hatte und ihn ansah, lachte laut auf. Dem Korrekten trieb das das Blut in den Kopf. Er wurde rot.
„O!" sprach er stotternd, „sie haben sich wirklich nur bemalt. Sie haben auch sonst nichts Schlechtes getan. Ich war selber einige Male mit dabei. Der Pastor hat die Geschichte trotzdem bis vor das Gericht gebracht. Bernd", der Korrekte stieß den Namen mit einer leichten Zärtlichkeit aus, „und noch zwei größere Jungen sind dem Gendarm aber auf der Fahrt nach Arnsheim, wo sie zuerst hingebracht werden sollten, davongelaufen. Niemand wusste, wo sie sich hingewandt hatten. Von Bernd dachte man, er wäre nach Rotterdam oder nach Antwerpen. Er wollte ja schon längst auf ein Schiff!"
Der Korrekte machte eine längere Pause. Er erhob in der Zeit seine Hand und wollte sie der Frau auf die Schulter legen. Er ließ sie nach einem kurzen Zögern ängstlich wieder fallen.
„Zwölf Jahre hörten wir nichts von ihm!" erzählte er weiter. „Auf einmal kam eine Karte. ,Ich bin in Mexiko und reise gerade nach Chikago.' Er hatte in Chikago auch die Adresse eines Metzgers angegeben. Dorthin sollten wir ihm einen Gruß senden.
Dreimal hat ihm dann der Vater geschrieben, er solle doch herüberkommen. Einmal sandten wir auch das Fahrgeld. Als er aber auch im vorigen Herbst nicht kam, schickte man mich hinüber nach Amerika. Ich sollte ihn aufsuchen und ihn einfach herüberschleppen. Ich habe ihn sieben Monate lang gesucht. Das heißt, der Metzger in Chikago nannte mir verschiedene Plätze, wo ich ihn finden könnte. Ich bin in dieser Zeit bis hinunter nach St. Louis gefahren. Endlich fand ich ihn in einer Wäscherei am Mississippi. Er wohnte mit einer Schwarzen zusammen und wollte gerade wieder nach Mexiko. Wie einen Sträfling habe ich ihn auf das Schiff schaffen müssen!"
„Ihr fahrt nun zurück nach Holland?" fragte die Französin, als der Korrekte schwieg. Sie bog dabei ihr Gesicht bis dicht vor die Augen des jungen Mannes.
„Nach Beugen!" antwortete der Korrekte schnell, den die Annäherung etwas erschrocken hatte. „Wir haben dort eine Käserei. Sie ist uns über den Kopf gewachsen. Bernd soll deswegen das Land übernehmen."
„Nach Beugen!" sagte ihm die Französin leise nach. Ihre Augen wurden klein, spitz züngelte ihre Zunge, danach wölbte sie die Lippen.
Ja!" sagte der Korrekte noch, „der Vater wird immer älter. Ich bin schon der Buchhalter. Wenn ich heirate, übergibt er mir das ganze Geschäft!"
Die Französin hörte ihm aber schon nicht mehr zu. Sie hatte die Augen geschlossen und stieß heißen Atem aus Nase und Mund.
Auch der Korrekte veränderte sich. Er wurde straffer. Er hatte gesagt, was er wusste. Sein mutiges Erzählen hatte ihn außerdem gehoben. Was sollte er nun noch tun? Er konnte wohl zärtlicher werden.
Er tat es sehr vorsichtig. Er hob seinen Arm das zweite Mal und legte ihn diesmal der Frau um den Hals. Dann tastete er diesen Hals ab. Langsam. Immer nur in der Breite eines Fingers,
Der Französin behagte das. Sie bog ihren Kopf nach hinten und räkelte sich wie eine Katze, Sie bog auch ihren Leib. Sie fasste den Korrekten dabei an seiner tastenden Hand und zog sie nach vorn.
Der Korrekte schob ihr diese Hand zitternd zwischen die Brüste. Er berührte sie, er fasste auf die kleinen Brustwarzen, er keuchte dazu und war ängstlicher als ein Anfänger,
Als er die Frau aber fester umfassen wollte und seine Augen wie vor etwas Ungeheuerlichem zusammenpresste, öffnete sich plötzlich die Tür.
Der Korrekte war so erschrocken, als wenn er bei einem Diebstahl ertappt worden wäre. Er brach fast zusammen. Dann schnellte er sich hoch. Sein Kopf war so rot wie der Kamm eines Puters,
Die Augen öffnend, sah er das gelbe Gesicht der Betschwester vor sich. Sie hatte ihr Buch an den Leib gepresst und machte ihr spitzes Mausegesicht. Sie war aber sonst weder überrascht noch verlegen.
Als der Korrekte aus der Kabine stürzte, kletterte sie schon in ihren eisernen Himmel. Sie kicherte etwas. Ihr bunter Unterrock flatterte wie eine Fahne.

 

XV.

Als der Geduckte auf das Deck kam, setzte er sich auf ein zusammengerolltes Tau und spielte auf einer Mundharmonika. Der Schotte und der Krumme, der Holländer und der Belgier tanzten dazu. Sie wackelten mit den Hinterteilen und stießen sich gegen die Bäuche. Der Amerikaner und der lange Engländer, die ihnen zusahen, lächelten.
Auch der Deutsche und der Däne schielten den Tanzenden zu. Der Deutsche hob seine klumpigen Beine und schaukelte leicht mit.
In Alberta, zur Erntezeit, „sagte der Däne zu ihm, „tanzten die jungen und alten Burschen und die Mägde oft die ganze Nacht. Sie schwenkten die Beine gleich auf der festgetrampelten Erde. Am Morgen, wenn sie mähen sollten, fielen sie in die Felder wie Tote. Der Boss musste sie mit Wasser begießen, wenn er sie zwischen den Garben fand."
Der Deutsche kicherte. Er zog den Mund breit. „In Baltimore tanzen sie auch viel", meckerte er. „Ich gehe manchmal in die ,Graue Ratte'. Dort haben sie schwarze Mädchen. Sie haben nichts weiter als weiße Hosen an und stampfen und grunzen, als wären sie in ihrem Urwald!"
Der Schotte tanzte den zweiten Tanz mit der Jüdin. Die dicke Frau schrie auf, als sie von seinen groben Fäusten umfasst wurde. Er drehte sie aber trotzdem um ihre schwabbernde Fülle.
Der Tanz wurde leider nach kurzer Zeit unterbrochen. Hinter dem Sitz des Geduckten schloss man eine Tür auf, und ein Matrose wurde sichtbar.
„Es kommt Besuch!" sagte das kleine Männchen wichtig und grinste die Passagiere freundlich an.
„Besuch?" fragte der Geduckte, der aufgesprungen war.
„Ja!" erzählte der Kleine leiser, „aus der ersten Klasse. Sie haben sieben Zimmer auf dem Oberdeck. Sie sollen sehr reich sein."
Es schob sich auch schon ein zweiter Mann durch die niedrige Türöffnung. Er war größer als der Lange, und seine Höhe wurde noch überthront von einer großen, karierten Reisemütze.
Das Gesicht darunter war kantig und bissig. Die Backenlappen gestrafft und sauber rasiert. Die Augen gelblich und von einer erschreckenden Kälte. Prüfend und feindlich fuhren sie hin und her.
Der Mann drehte sich nach dieser eiligen Musterung wieder um. Er half jetzt einer jüngeren Lady aus der Türfüllung, die schlank und dürr wie eine Weidenrute war und ein Lorgnon in ihren beringten Fingern hielt.
Hinter ihr kam noch eine dickere Dame durch die kleine Öffnung. Sie schnaufte und hustete wie ein Nilpferd, und der lange Herr und der Matrose mussten ihr behilflich unter die Arme greifen.
„Das ist also die dritte Klasse?" fragte die junge Lady, die wie ein aus dem Nest gefallener Star auf den ungehobelten Brettern auf- und abhüpfte. Sie sah sich Geländer und Stricke, Steuerhaus und Rettungsboote erstaunt und mit einer kindlichen Gebärde an.
„Ja", sagte der kleine Matrose eifrig, der sein blau-verquollenes Gesicht neben sie gestellt hatte.
„Und das sind die Passagiere?" Sie näherte sich den Männern und hob ihr Lorgnon an die Augen.
„Ja", sagte der kleine Matrose wieder. „Es sind fast immer Arbeiter oder kleine Bauern."
„O!" Die Lady trat einen Schritt zurück. Sie sagte das erste Wort etwas furchtsam nach: „Arbeiter!" Als sie die Männer einzeln betrachtete und auf das zusammengedrückte Gesicht des Krummen stieß, tat sie sogar einen leisen Schrei.
Sie wich aber nicht weiter zurück. Sie schob das Lorgnon nur dichter vor die Pupillen und starrte die Zusammengedrücktheit des Krummen mit offenem Munde an. Der Krumme, der seinen Kopf in den Rockkragen zog, betrachtete sie auch. Erst wurde er ärgerlich und wollte sie anbelfern. Er besann sich dann noch, rollte bloß mit den Augen und steckte seine bräunliche Zunge heraus.
„O!" sagte die junge Lady das zweite Mal und wurde blass. Sie sah dem Krummen bis in das schwarze, rundliche Schlundloch.
Es trat eine Stille ein, in der die Männer etwas zusammenrückten. „Gentlemen!" unterbrach sie der Geduckte, und er machte einen tiefen Kratzfuß vor der Gestalt des steifen Besuchers, Sie wollen uns sicher besichtigen!"
„Bitte!" sprach er nach einer kurzen Pause weiter, in der sich die beiden wie zwei bissige Kater gemustert hatten, und er zog noch seinen verbeulten Hut bis auf die Bretter, „ich werde Ihnen jeden von uns gleich vorstellen!"
Der lange Besucher, der seine Mütze gleichfalls gezogen hatte, versuchte abzuwinken, der Geduckte hatte sich aber schon zu den Passagieren gedreht. Er blinzelte sie alle mit kleinen Augen an und zeigte danach auf den Krummen.
„Dieses Individuum", er wandte sich besonders an die junge Lady, „ist in seinem gewöhnlichen Leben ein Kohlenfresser. Er ist gar nicht gutmütig. Das sehen Sie schon an seiner Visage, Man soll ihn darum nur aus der Entfernung betrachten!"
Er schwieg eine Weile, damit sich alle den Krummen richtig besehen konnten.
„Um noch etwas aus seinem Erdendasein zu erzählen“, er zog seine Augenbrauen in die Höhe und sprach pastoraler weiter, „er stammt aus der beinahe menschlichen Gattung der Arbeitstiere. Er kommt gewöhnlich mit einem Wurf von 12 bis 15 Jungen zur Welt, und mit 14 Jahren steckt man ihn unter die Erde!
Das!" der Geduckte stieß den Krummen zurück und wandte sich diesmal, indem er mit spitzem Finger auf den dicken Holländer wies, zu der keuchenden Dame, „ist ein noch interessanteres Tier. Man nennt ihn den Fluroder Landesel Er findet sich in allen Ländern, und in den Staaten verwendet man ihn hauptsächlich auf den Farmen. Er ist leider etwas beschränkt. Er hat einen großen Kopf, mit dem er eigentlich denken sollte; er tut es aber nicht. Dafür ist er lammfromm, arbeitsam und immer fröhlich!
Sehen Sie!" der Geduckte fasste den dicken Holländer, nachdem er sein Zublinzeln verstärkt hatte, unter das Kinn und zog ihn näher an die Dame, „man kann ihn ruhig anfassen!"
Der Geduckte wollte als Dritten den Schotten vorstellen. Er winkte ihn schon heran. Die beleibte Dame wich aber bereits zurück. Sie hob leicht ihre kurzen Finger und schnaufte auf.
„Es sind wirklich Tiere!" rief sie mit einer leise quäkenden Stimme, und ihre schwarzummalten Augen fieberten die Männer ängstlich und erschrocken an.
Auch die junge Lady wurde ängstlich. Als die Männer langsam näher kamen und sie in einem kleinen Bogen umkreisten, fiel ihr rundliches Puppengesicht in eine kalkige Blässe. Sie stopfte eilig ihr Lorgnon in den flachen Busen und rettete sich mit hüpfenden Schritten zu dem langen
Begleiter.
„Komm, George! Komm!" quäkte sie eine Oktave höher als die ältere Lady. „Wir wollen lieber gehen. Sie werden uns sonst etwas tun!"
Dieser George, dessen ganze Länge sich unter dem Spott des Geduckten immer tiefer gekrümmt hatte, ging auch.
Bevor sein Gesicht vollständig in der Tür verschwand, drehte er es aber noch einmal um. Es war verzerrt. Die Lippen waren schmal und blutig zusammengepresst. Auf der hohen Stirn saßen ein paar senkrechte, aufgequollene Falten.

 

XVI.

Die Männer lachten noch über die gestörte Besichtigung ihrer Klasse und ihrer Visagen, als sie sich nach dem Abendessen im Tagesraum sammelten.
Der Herr aus der ersten Klasse hatte sich allerdings beschwert, Der watschelnde Hofmeister hatte ihnen auch zum Essen mit seiner verfetteten Stimme und mit zornig geschwollenem Stirngeäder die Schiffsordnung vorgelesen. Ihre Lustigkeit war aber dadurch nur erhöht worden.
Jetzt standen sie in kleinen Gruppen zusammen und erzählten sich noch schlechtere Späße. Die meisten schwankten. Sie hatten Bier und Schnaps getrunken.
Der Geduckte, der wie ein Türke auf einem runden Tisch saß, war der Lauteste. „Wir haben uns oft solche Witze geleistet!" prahlte er. „Ich will euch nicht den schlechtesten erzählen!
In der Nähe von Corral", sein Gesicht verzog sich zu einem nachdenklichen Grinsen, arbeiteten wir lange auf einer Obstfarm. Es war ein Mann da, ein spitzes, zwei Meter langes Gerippe, der aber ganz anständig zu uns war. Nur sein Weib hatte einen Stich in der Hirnschale. Es saßen ihr wohl zuviel Ahnen darin. Sie war sonst mager und gelb wie er. Fast etwas größer." Der Geduckte versuchte ihre Gestalt mit den Händen anzudeuten. „Und", er sagte das mit leichtem Zungenschnalzen, „schöner.
Sie ritt den ganzen Tag durch die Felder. Uns sah sie dabei gar nicht, und wenn sie uns doch einmal eine Botschaft zuzurufen hafte, waren wir nichts weiter als Pack, Gesindel, Herumtreiber! Sie titulierte uns mit hundert Namen, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir sicher im Stall wohnen müssen, und das Essen hätte sie uns in die Tröge schütten lassen. Dabei war sie aber dem Männlichen gar nicht abhold. Besonders auf einen rosigen Pater hatte sie es abgesehen. Der war wohl zwölf Jahre jünger als sie, und sie schleifte ihn mit sich auf all ihren Ritten wie ein altes Känguru ihre Jungen!"
Der Geduckte zog seine Beine näher an den Leib und sprach schneller. Wir versuchten, sie immer zu überraschen. Einmal glückte es uns auch. Der Schimmel und der Braune des Priesters waren angepflockt, und sie lagen nicht weit davon in den Kakteen.
He!" der Geduckte schlug sich klatschend auf die Schenkel, „war das ein Fressen für uns. Wir hatten uns geschwärzt, und der junge Pater zitterte und schrie, als wäre der leibhaftige Satan über ihn gekommen. Wir rissen ihm nur die Kutte vom Leibe und prügelten ihn davon. Dem Weib aber ging es schlechter. Erst knallten wir ihr alle Wörter auf den nackten Bauch, die sich in unseren Denkkästen angesammelt hatten. Dann fielen wir über sie her wie über frisches Fleisch. Wir waren elf ausgehungerte grobe Kerle. Ein kleiner Mestize, der sich ihre Schimpfworte besonders zu Herzen genommen hatte, trieb es am schlimmsten. Er bepisste sie sogar!"
Der Geduckte machte eine Pause, „Sie hat sich diese Geschichte sehr zu Herzen genommen", fuhr er langsamer fort. „Jedenfalls ließ sie sich nie wieder auf den Feldern sehen, und als ihr Mann durch einen Hitzschlag das Zeitliche segnete, nahm sie die Haube und kroch in der Nähe von Puebla in ein Kloster!"
Der Schotte ergriff das Wort, „Es ist eine weniger tragische Geschichte“, sprach er in das Schweigen hinein, das nach den Worten des Geduckten entstanden war, „aber wir waren damals auch in eine giftige Wut geraten! Kennt ihr die kleinen Goldminen am Kootenay, oben in Britisch-Kolumbien?" fragte er und sah allen in die Gesichter. „Da ist sie passiert!"
Als sie die Köpfe schüttelten, erzählte er weiter. „Wir bohrten und schlugen da oben Stein aus den Felsen und schleppten ihn dann hinunter in die Goldminen. Es war eine miserable Arbeit. Außerdem taugte unser Dynamit nicht viel, Es explodierte vor der Zeit, und es waren schon drei der besten Kerle auseinandergerissen worden. Wir Waren also nicht gerade in einer festlichen Stimmung. Wir schwankten zwischen Streik und Davonlaufen, und einige hatten schon die Bündel geschnürt.
Damit das Maß aber voll wurde, schickte uns die Verwaltung in diesen Tagen noch einen neuen Aufseher herauf. Er sah aus wie ein frischentlassener Bergstudent, abgeschleckt, aber mit den Schalen hinter den Ohren, und er hatte sich kaum in unserem Territorium umgesehen, so benahm er sich auch danach. Er fand alles schlecht und veraltet, was ihm vor die Augen kam, und uns selber putzte er ab, als wären wir seine Schafe und als wäre er nur zur Schur zu uns gekommen!
Wenn ihm aber einer von uns in den Ohren lag und besonders über das immer schlechter entzündbare Dynamit klagte, blies er sich auf wie ein Hahn, nannte uns Feiglinge und Schacher und krakeelte, als käme er gleich nach dem Herrgott. ,Ihr habt ja nur Angst!' schrie er einen dicken Polen an, der das Schießen hauptsächlich besorgte. ,Ich würde mich neben euren Pulverdreck setzen, auch wenn ihr die Zündschnur schon angezündet habt und solange sitzen bleiben, bis der Dreck zischt!'
Das fuhr uns in die Nasen, und da wir alle nicht von Pappe waren und die Schießprügel auch während der Arbeit nicht aus der Tasche nahmen, wollten wir ihn beim Wort nehmen!
Es war an einem Nachmittag!" der Schotte putzte sich erst die laufende Nase und wischte sie nach allen Seiten blank, „der smarte Alfonso wollte uns gerade in die Goldminen hinunter jagen. ,Hallo!' bellte da der dicke Pole und hielt die anderen zusammen. Er setzte, nachdem wir uns alle in einem großen Kreis um ihn und um den Belfernden gesammelt hatten, erst ein kleines Karbidfass sorgfältig nieder und legte unter seinen blechernen Schutz zwei oder drei der gelben kurzen Dynamitrollen. Der immer weiter schimpfende Alfonso, der noch nicht begriff, was die Stunde geschlagen hatte, fuhr in der Zeit mit seinen Armflügeln gegen uns los wie ein eingefangener Sperber. Als er aber sah, wie der dicke Pole an die letzte Patrone eine Zündschnur band und sie dann sorgfältig über den Sand ringelte, schien er die Geschichte langsam zu begreifen!
Erst wurde er nur blass. Danach rannte er wie ein Gestochener gegen unsere Umzäunung. Sie gab aber nicht nach, und so prallte er wieder zurück. ,Mister,' sagte nun der Schießmeister, und näherte sich dem um sich Schlagenden, ,was hast du? Wir wollen doch nichts weiter, als einmal sehen, ob du wirklich so mutig bist, wie du gesagt hast. Setze dich also tapfer auf den Blechtopf, und wenn ich bis 60 gezählt habe, darfst du aufstehen und zu uns herüberkommen. Bleibe aber nicht länger sitzen. Bei 65 fliegt du sonst in die Luft!
Lass es dir aber genau so wenig einfallen,' der Dicke schob dem zitternden Alfonso sein unrasiertes Gesicht unter die Nase, ,aufzuspringen bevor ich 60 gezählt habe.
Jeder von uns hat ein Schießeisen bei sich. Es fährt dir sofort zwischen die Knochen!'
Der Alfonso war nach dieser Anrede schon so klein und ängstlich geworden dass er zitterte und der Dicke, der ihn an den Schultern gefasst hatte, musste ihn bis zu dem Blechnapf schieben. Dort schlug er ihn wie ein Metzger zwischen die Beine, und der Zitternde fiel auf den Blechnapf nieder. Als der Pole aber nach der Zündschnur griff und sie anzünden wollte, schnellte der Schlotternde schon wieder schreiend in die Höhe. Erst unsere Pistolen und unsere entschlossenen Gesichter überzeugten ihn, dass er entweder bis 60 warten musste oder von uns niedergeknallt wurde. Er fiel das zweite Mal zurück. Sein geschniegeltes Gesicht zerlief dabei wie ein überreifer Käse, und die großen, immer kalbiger werdenden Augen schlossen sich.
Ob er das Zählen des Polen überhaupt gehört hat, und wie lange er sitzen geblieben ist, weiß ich nicht. Wir türmten gleich, als er die Augen geschlossen hatte, mit unseren Maultieren und dem Erzstein nach den Mühlen. Als wir aber am Nachmittag wieder heraufkamen, war er noch so klein und zittrig wie eine gebadete Maus. Er lief tun uns herum, als hätte er sieben schlechte Gewissen, und am nächsten Tage packte er seine ganzen Sachen und rückte aus.
Was ihn am meisten geärgert hatte, erzählte uns später der Pole lachend, der in seiner Nähe geblieben war, war die unumstößliche Tatsache, dass er vor gefüllten Sägespänehüllen so gezittert hatte. Ich habe sie ihm nach meinem Zählen und nachdem er mit gesträubten Haaren und blass wie ein Halbgehängter hinter das Haus gestürzt kam, mitsamt der ausgebrannten Zündschnur unter die Nase gehalten. Er hat noch mehr gebrüllt als auf der Blechkiste, und sein Gesicht ist blauer geworden als ein Himmelszipfel."
Sogar der lange Engländer lachte dröhnend, als der Schotte seine Geschichte schloss, und der Amerikaner schob blinzelnd und anerkennend seine Brillengläser hoch.
„Kameraden!" sagte er, nachdem sich das Lachen etwas gelegt hatte, mir fällt ein ähnlicher Spaß ein. Er ist noch lustiger, und der Hereingefallene war ein fetter Pastor."
Er begann gleich. „Wir arbeiteten in Oklahoma. Fast alle in Petroleum. Es war nicht gerade eine gute Arbeit, und sie wurde außerdem sehr schlecht bezahlt. Eines Tages streikten nun aus irgendeinem Grunde die Schlosser in den Betrieben. Den Unzufriedenen kam die Gelegenheit wie gerufen. Bald lagen wir alle auf der Straße, auch einige kleine Berufe in der Stadt. Es war ein richtiges Streikfieber. Jeder und jede wollten plötzlich höheren Lohn haben.
Die Streiker blieben auch alle fest, trotzdem sich die Petroleumbrüder gleichfalls verbanden, den Sheriff bestachen, dass er mit der ganzen Miliz zu ihnen überging und uns auch sonst noch alles auf den Leib hetzten, was in den Vereinigten Staaten gern und freudig gegen die Arbeiter losmarschiert. Sogar Streikbrecher, besonders Schwarze, ließen sie in ganzen Zügen kommen. Sie steckten sie hinter die Pumpen und auf die Bohrtürme und erwarteten, dass uns langsam die Luft ausginge.
Es war aber gerade Hochsommer, und auf den Feldern stand eine gute Ernte. Die Unverheirateten wetzten darum alle Sensen oder saßen auf Mähmaschinen, und für die Verheirateten war noch genügend Geld in den Kassen.
Die Ölbrüder spuckten Feuer und Galle und geiferten alle Gemeinheiten über die tapferen Streiker, als sie das erfuhren. Sie hatten auch schon schwere Verluste. Es waren ein paar Brände entstanden, und in die großen Pumpsysteme war Unordnung gekommen. Sie wollten aber trotzdem nicht nachgeben, und als auch die verschärften Maßnahmen der Polizei uns nicht vor die Arbeit brachten, verschrieben sie sich zur letzten Hilfe und Rettung einen Pfarrer.
Wir lachten hell auf, als wir durch die Zeitungen hörten, dass ein angehender Bischof aus dem Norden in die Stadt käme und wir mit seiner Hilfe und Wort Gottes zur Vernunft gebracht werden sollten und zurück in die Fabriken. Wir gingen sogar in großen Massen auf den Bahnhof, stimmten ein großes Gelächter an, als wir seine Dickleibigkeit sahen, dass die frommen Seelen erschrocken in die Nebenstraßen flüchteten, und als er zu uns sprechen wollte, schrieen wir ihn nieder.
Der Gottesmann war aber mutiger, als er aussah. Er begann mit seinen Rettungsversuchen trotz unseres Konzerts noch am gleichen Tage. Und er machte es wirklich nicht schlecht. Er zog mit Trara und einigen großen Trommeln auf einem Leiterwagen durch alle Straßen und donnerte die Vorübergehenden an, als wären sie allesamt große Sünder. Er sprach dabei nicht gleich vom Streik. Er lief mit seinen Worten um die ganzen Staaten, und was er besonders betonte, war das Wort ,Vaterland'. Amerika ist das größte und schönste Land. Das gewaltigste Land, beinahe das Reich Gottes auf Erden. Seine Bürger sind auch die besten Bürger. Die patriotischsten Bürger. Engel — wenn Amerika das Reich Gottes auf Erden ist. Jeder muss deswegen auch alles tun, damit das Land so groß, so schön, so gewaltig bleibt, ja, dass es noch größer, noch schöner wird. Und dann ließ er auf einmal seine Zunge noch besser spielen. Er drehte die Worte zwischen seinen Lippen wie ein Jongleur. Er machte sie sauer und kalt, hitzig und boshaft, zuckrig und scharf, und er bog sie so lange, bis er plötzlich vom Reich Gottes mitten in unserem Streik war. ,Mitbürger!' schrie er nun, ,und jetzt bin ich hierher gerufen worden, weil in diese Stadt der böse Feind gefahren ist. Weil habgierige, kleinsüchtige Menschen, siehe sogar Sozialisten, euch, meine lieben Brüder, aufgehetzt haben, gegen die göttliche Ordnung dieses Landes, gegen seine paradiesische Freiheit, gegen seine unantastbare Gleichheit zu revoltieren. Was ist das? Das ist Satanswerk an unserem Staate! Das ist Teufelskunst gegen unsere Einigkeit! Das ist Verbrechen gegen unsere Einigkeit! Das ist Verbrechen gegen unsere unumstößlichen Gesetze! Das ist Babel! Das ist Sodom! Das ist der Anfang vom Untergang!'
Er schrie dann noch eine gute Stunde über die Heiligkeit des Staates und über die Unantastbarkeit des Kapitals. Er packte jeden, der ihn hörte, an seiner empfindlichsten Stelle, an seiner Liebe zu Amerika, und jeder, der nach seinen Worten weiterstreikt, der konnte wirklich nur ein Vaterlandsverräter und ein großer Lump sein.
Der brüllende Gottesmann hatte auch Erfolge. Zuerst trat die gesamte Presse auf seine Seite, dann liefen die Frauen mit fliegenden Fahnen zu ihm über, und das war ein ziemlich großer Erfolg, bald kriselte es aber auch unter uns.
Wir wollten sogar schon zu Kreuze kriechen, da machte der heilige Mann im letzten Augenblick einen Bock. Den Ölbrüdern waren seine Erfolge noch nicht durchschlagend genug, und sie hatten ihm wohl einen größeren Zuschuss gegeben, damit er noch gewaltiger gegen uns donnere. Er tat es auch. Während er bis jetzt aber nur an unseren Patriotismus gerührt hatte, packte er diesmal nach uns selber. Als wäre ein himmlisches Feuer über ihn gekommen, und als wäre er von hundert Erscheinungen geheiligt worden, so grimmig fuhr er uns auf einmal an. Er spürte plötzlich die Kraft, uns dem Teufel zu überantworten und uns in die Verdammnis zu stoßen. ,Jeder Streiker ist ein schlechter Mensch!' schrie er von seinen Wagenplanken, ,eine Ausgeburt der Hölle, Abfall, Abschaum, Dreck! Er ist nicht wert, dass er weiter den Boden dieses Landes, dieser Stadt tritt! Dass er unter den anderen Bürgern weilt! Er muss mit glühenden Zangen hinausgezwickt werden!'
Als hätte man uns gemeinsam in das Gesicht gespieen, so krochen wir auf einmal wieder zusammen. Ho! Das wagte man freien Amerikanern zu sagen? Und es waren viele dabei, die in den Staaten geboren waren. Es wurde auch gleich beschlossen, dem Dickbauchigen zu Leibe zu rücken und ihm unseren Teil genau so zu geben, wie er uns seinen Teil gegeben hatte. ,Gentlemen!' schrie ein langer, hagerer Rohrleger, dessen Vorfahren zu den Engländern gehörten, die auf der ,Mayflower' in die Staaten gekommen sind, ,geht mit, und ich will es ihm in eurem Namen besorgen!'
Wir waren 900 Menschen, als wir gegen ihn anrückten. Er stieß gerade auf einem kleinen Platz die Arme in die Luft und bewarf uns mit den unheiligsten Namen. Als wir aber plötzlich so geschlossen anrückten, musste ihm die Puste ausgegangen sein, wenigstens stand sein Mundwerk auf einmal still, und er sah uns mit kleinen, eingefallenen Augen entgegen.
,Bischof!' schrie ihn nun der hagere Rohrleger an, der sich zu ihm hinaufgeschwungen hatte und ihn mit seiner Größe überschattete wie eine Pappel eine krumm gebogene Quitte, ,ihr habt eben freie Amerikaner bespuckt. Ihr habt außerdem, nicht wie ein Bischof, sondern wie der schlechteste Tramp, euren Geifer über uns geschüttet und uns Namen gegeben, die uns selbst der schwärzeste Nigger nicht nachwirft. Ihr könnt nun zweierlei tun. Ihr könnt das alles nachsagen, was ich euch jetzt vorsage, und dann soll euch kein Haar gekrümmt werden, wir wollen euch sogar noch mit einem guten Geleite bis zum Bahnhof bringen. Ihr könnt aber verstockt bleiben oder weiter gegen uns geifern, wir müssen euch aber dann euern Rock vom Leibe reißen, damit jeder gute Gläubige sieht, was für ein schwarzer Sünder hier im Namen Gottes spricht und sein eigenes Gift für die biblische Wahrheit ausgibt!'
Der Bischof, der unter der Anrede immer kleiner geworden war, sah sich erst noch einmal um, ob ihm nicht von irgendeiner Seite Hilfe kam. Als er aber die beinahe tausend Menschen sah, die ihn alle so anstarrten, als könnten sie ihm im nächsten Augenblick ins Jenseits helfen, wollte er hören, was er nachsprechen sollte, und der hagere Rohrleger sprach es ihm vor:
,Misters!' begann er kleinlaut. ,Gentlemen', unterbrach ihn der Rohrleger, .Gentlemen', sagte er nach. ,Ich erkläre, dass ich Sie alle für gute Bürger,' ,erstklassige Bürger', unterbrach ihn der Rohrleger, ,erstklassige Bürger,' wiederholte der Bischof, ,halte. Dass ich alles zusammengelogen habe, was ich früher über Sie gesprochen habe, und dass ich deswegen ein schlechter', ,und ein gottloser', fügte der Rohrleger ein, ,und ein gottloser', musste der Bischof nachsagen, ,Diener Gottes bin, der kein Recht mehr hat, das Wort Gottes an freie Amerikaner zu verkünden!'
Er war gelb und weiß geworden, der gute Bischof, während dieser Rede. Es ist wohl auch die schwierigste gewesen, die er in seinem ganzen Leben gehalten hat. Es ist sicher auch die einzige gewesen, die er selber treulich befolgte. Wenigstens in unserer Stadt sprach er danach zur Ehre Gottes kein Wort mehr. Er verlangte nur nach dem Bahnhof, und er lief schneller nach dessen Halle als das schnellste Auto."
„Goddam!" krähte der Krumme auf. „Ich hätte ihn sehen mögen!"
„He!" meckerte der Geduckte, „und den Rock hättet ihr ihn trotzdem vom Leibe reißen sollen!"
Auch der Schotte hieb sich auf die Knie, „Ja!" sagte er, „besonders für die gaffenden Weiber wäre es erbaulich gewesen, einen Bischof einmal nackt zu sehen!"
Die Männer wurden nun noch ausgelassener. Der Franzose, der hinunter zum Ausschank gegangen war, brachte wieder Schnaps. Dieser war in einer kleinen, gebauchten Kanne. Sogar die Frauen mussten mittrinken. Sie tranken ihn alle in langen, gluckenden Schlucken.
„Frierst du!" schrie plötzlich der Schotte den dicken Holländer an, der verlassen unter den trinkenden Männern stand, kaum mitgelacht hatte und an die Betschwester dachte. Er stieß den Dicken noch mit einem leichten Knuff in die Seite.
Der Holländer, der sich die gestoßene Seite hielt, öffnete bloß etwas erschrocken und erstaunt den Mund,
„Sicher friert er!" sagte der Krumme, der einen schlechten Spaß witterte und sich leise genähert hatte. Er blinzelte dem Schotten zu.
„Wir wollen ihn ein wenig wärmen!" schlug der Sommersprossige lachend vor und langte nach ihm.
Der Holländer, der munter geworden war, wollte belfernd antworten, der Schotte hatte ihn aber schon an den Hüften gepackt, zog ihn zu sich herüber und klemmte ihn, nach unten drückend, zwischen seine Beine.
Haut ihn!" schrie der Geduckte, der von seinem Tisch sprang, und schlug den Dicken auf die gestraffte Kehrseite. Der Schotte ließ den Eingeklemmten, der sich mit beiden Fäusten in seinen Bauch gestemmt hatte, aber bereits wieder los.
„Hunde!" kreischte der Emporschnellende auf, und sein Gesicht glühte wie eine elektrische Birne. Er ballte auch seine Fäuste, aber er wusste nicht, auf wen er sich zuerst stürzen sollte, und bevor er sich darüber klar war, hatte der Schotte, der den Wütenden kaum angesehen hatte, schon den Geduckten nach unten gezogen.
„Haut ihn!" schrie diesmal der Krumme und schlug zu.
Auch der Russe und der Belgier beteiligten sich an dieser Klopferei, Sogar der Däne und der Amerikaner, Sie hieben auf einmal aufeinander los wie große, ausgelassene Kinder,
„Das ist für den Kohlenfresser!" sagte der Krumme, und er hieb das zweite Mal gegen die lederne Sitzfläche des Geduckten.
Und das ist für den Landesel!" quäkte der Holländer auf und wurde fröhlicher.
„Und das ist für die fichtenen Bretter!" Der mopsige Deutsche zappelte, als hinge er an einem Strick, als er zuschlug.
Nach dem Geduckten kam der Russe an die Reihe. Wenn er nach oben schnellte, hatte er immer die Augen geschlossen. Er lächelte, wenn er sie öffnete und den Schuldigen suchte.
„Gss!" zischten die Französin und die Jüdin, die zurückgetreten waren und der Schlägerei mit kleinen, blitzenden Augen zusahen, jedes Mal, wenn die Hände niederklatschten. Es schien ihnen Freude zu machen, dass sich die Männer so die Kehrseiten zerschlugen. Die Französin wurde nun neugierig.
Erst kam sie langsam näher, um die Schlagenden anzufeuern. Als aber der Geduckte wieder zwischen die Beine des Schotten genommen wurde, drückte sie die Augen zusammen und schlug mit.
Der Geduckte, der gleich emporschoss, ertappte sie. Bevor sie flüchten konnte, bog er sie auch schon herab. Der Schotte klemmte sie leichter zwischen seine Beine. Sie wollte sich wieder losreißen. Sie saß aber doch zu fest.
Zuerst schlugen sie die Männer auf den gestrafften Rock. Sie verzogen dabei die Münder, als hätten sie Zucker unter der Zunge, Dann stürzten sie den Rock nach hinten und hieben auf die beblümte zweite Fahne. Zuletzt hoben sie aber auch die. Ihre Augen saßen in den Höhlen wie große, feurige Sonnen, und ihre harten Hände knallten auf die gelben, bespitzten Hosen wie ein Trommelfeuer.

 

XVII.

Es war Mitternacht, Der Steward versuchte schon das dritte Mal, die Männer aus dem Tagesraum zu treiben. Endlich gingen sie. Die meisten schwankten.
Der Krumme und der Geduckte, die sich untergefasst hatten, lallten ein Lied. Der Deutsche und der Holländer sahen aus wie zwei zu volle, aufgetriebene Kühe. Der Däne und der Belgier gingen noch aufrecht. Auch der Engländer und der Franzose, Und der Amerikaner war noch so nüchtern, wie ihn seine Mutter geboren hatte.
Der Schotte, der etwas hinterher trottete, hatte die Französin im Arm. Er verschwand mit ihr. Der Korrekte, der ihnen bis zu den Kabinen nachtrottete, blieb mit großen, glasigen Augen stehen.
Es wurde trotz der vorgeschrittenen Zeit noch nicht ruhig im Schiff, Der Geduckte und der Deutsche torkelten in ihre Kammern. Der Krumme lief hinter dem Belgier und dem Dänen her. Der Lange, der noch mit dem Amerikaner sprach, landete an derselben Stelle. Auch der Franzose und der Russe fanden sich ein,
„Es ist eine Schande, „sagte der rothaarige Däne mit einer weinerlichen Stimme, als sie sich alle auf die Betten gehockt hatten, „das Leben fängt bei uns erst mit dem Schnaps an."
„Ja, mit dem Schnaps!" grölte ihm der Krumme mit seiner betrunkenen Stimme nach.
Der Belgier knarrte ihn aber bissig an. „Querkopf!" belferte er los, Du bist auch mit nichts zufrieden. Du bellst gegen die Weiber, und du keifst gegen die Ordnung. Du willst die Welt umblasen, und jetzt bläkst du deine Zunge noch gegen den Schnaps!" Er wollte weiter schimpfen, er wurde aber unterbrochen.
„Genossen!" sagte der hüstelnde Franzose, der seinen Kopf in die Hände gestützt hatte, „der Schnaps ist unser Bruder. Er ist allerdings ein guter und ein schlechter Bruder, In Marseille war ein Maurer, der atmete erst richtig, wenn er die Flasche am Munde hatte, ,Was haben wir, sagte er, ,ein Leben, das ein Hund nicht ertragen würde. Du schuftest 12 Stunden und bekommst dafür soviel, dass du beinahe die nächsten 12 Stunden leben kannst. Und was beginnt dann?'" Den Franzosen schüttelte ein Hustenanfall, ,„dasselbe wieder von vorn. Das einzige, was dir da heraushelfen kann, ist die Flasche. Du trinkst, und auf einmal bist du dort, wo du gern hinwillst. Da ist ein Baum. Eine Wiese, Ein Haus. Du siehst sie an. Du greifst danach. Du spürst es. Alles ist gut. Was ist dagegen das Wieder-nüchtern-Werden? Du fällst zurück in den Dreck. Du bist der alte, arme, geplagte Hund, Das einzige, was dir bleibt, ist die Hoffnung, dass du dir die Flasche wieder füllen lassen kannst!"'
Der Franzose hustete sich erst aus, bevor er weiter sprach. „Eines Tages zerschlug er sie aber doch. Es war in den Wochen, wo wir durch die Straßen der Vororte zogen und die ersten sieben Centimes zu unseren Stundenlöhnen eroberten, ,Brüder,' sagte er, ,der Schnaps ist gut, aber er macht träg und feige. Ich bin durch ihn, und sicher mit mir noch viele andere, 60 Jahre um jeden Kampf und um jeden Streik herumgegangen. Wir haben unsere Sehnsucht in ihm ersoffen, weil uns das bessere Leben unerreichbar erschien. Auf einmal hebt man nur die Hände und es kommt näher.'"
Der Däne machte große Augen und strich sich seine Haare in die Höhe: „Die Alten haben alle so gedacht", sagte er. Wären sie früher so klug geworden, so ginge es uns schon besser."
„Mein Vater", begann er nach einer Pause wieder, in der die anderen alle geschwiegen hatten, „war genau so ein Säufer, Wenn ich mich bis zu meinen frühesten Jahren zurückerinnere, so hatten wir noch ein Haus in Aarhus. Es war nicht groß, aber es war ein Garten daran, und nicht weit davon war das Meer, Der Alte war damals Gerber, Ich glaube, es gab sogar einen Gesellen, Auf einmal ging es nur abwärts.
Es war noch nicht der Schnaps, es war eine große Gerberei, die uns alle in den Hunger trieb. Sie nahm erst den Verdienst. Dann kaufte sie auch die Felle auf. Eines Tages verloren wir noch das Haus. Der Alte hätte auch nun nicht saufen müssen. Er wäre auch sicher wieder zu Arbeit und Lohn gekommen, Die große Gerberei schickte die Woche oft dreimal zu ihm Aber er wollte lieber verhungern als dort arbeiten, wo man ihm seine Arbeit gestohlen hatte.
Das Leben war ein lange Zeit noch nicht schlimm. Wir krochen in einer kleinen Bodenwohnung unter, der Alte, die Frau, die beiden Schwestern und ich, und versuchten, den Hunger zu überdauern. Der Alte, der mit jedem Tag mürrischer wurde, tat nun überhaupt nichts mehr. Er lungerte herum, schaffte alles, war er tragen konnte, zu einem alten Trödler und ersäufte dann seine Wut und seinen Kummer in Schnaps. Die Frau, die vom Lande war, war tapferer. Sie nähte und wusch, sie schickte uns zum Holz- und Kohlensammeln, sie vermietete sich auch oft wochenweise als Köchin, das ging aber nie länger als sieben Monate."
Dem Dänen trieben der Schnaps und die Erinnerung das Wasser in die Augen, und er machte eine Pause. „Der Alte", begann er wieder, „hatte durch den Schnaps jeden Halt verloren, und wenn er heimkam, besoffen wie ein Schwein, fiel er über sie her wie ein toller Hahn. Die Frau wehrte sich zwar immer, besonders weil die Schwestern und ich in demselben Zimmer lagen, aber er ließ erst von ihr, wenn er sich ausgetobt hatte.
Mir ist es natürlich erst später aufgegangen, warum die Frau plötzlich immer langsamer lief, dicker wurde und eines Tages von der Nachbarin in ihre Kammer geschleift wurde, Es müssen aber stets Fehlgeburten gewesen sein, denn wir sahen keinen Nachwuchs, und zu Abtreibungen war die Frau zu ängstlich und zu christlich. Außerdem dachte damals niemand an solche Dinge.
Die Frau", der Däne wischte sich die Augen, „wurde durch die Blutverluste langsam schmäler und blässer, Sie ai3 auch zu wenig, und wir wussten ja nur, dass wir selber Hunger hatten. Man holte sie auch schon seltener zu irgendeiner Verrichtung. Sie brach zu oft zusammen. Schwere Sachen konnte sie nicht mehr heben. Außerdem hatte sie kaum etwas anzuziehen. Der Alte benahm sich aber trotzdem sieht besser. Er wurde noch rabiater. Er fing an, sie zu schimpfen, zu schlagen. Er warf sie, wenn sie sich niederlegen wollte»aus den Betten. Er prügelte sie auf die Straße, und er ließ erst von ihr, als sie eines. Tages wie ein überarbeitetes Pferd zu Boden stürzte. Das heißt, er hieb auch jetzt noch auf sie ein und merkte erst, dass sie tot war, als er sich über sie wälzte
An demselben Tag bekam er dann für einen Augenblick ein anderes Gesicht. Er wurde gelb und käsig und heulte dick und salzig wie ein Verzweifelter, Er schimpfte und verfluchte sich sogar und versuchte, sich an einem Bilderhaken zu erhängen, Er plumpste leider nach unten und blieb dort mit seinem gedunsenen Gesicht liegen.
Am nächsten Morgen war sein erster Gang aber wieder zu seinem Schnaps, und als ihm am Mittag der Hunger und seine Brunst in das Haus zurücktrieb, warf er mich aus der Tür, ich sollte ihm etwas für seinen knurrenden Magen zusammenbetteln, und eines der Mädchen fiel er an, dass sie aufschrie und sich in seine Haare krallte. Die Nachbarin, die hereinstürzte, konnte ihn kaum wieder herunterwälzen. Sie machte aber noch an demselben Tage eine Anzeige, und der Alte wurde eingesperrt.
Wir", der Däne ließ seinen Kopf nach vorn fallen, „kamen nun in ein Findelhaus. Mit 12 Jahren lief ich fort. Das lange Beten und die dünnen Suppen schienen mir nicht gerade eine Verbesserung, Ich suchte zuerst unsere Bodenkammer wieder auf, aber da wohnten andere Leute. Ich sah auch den Alten einige Male, er war betrunken wie sonst, und ich ging ihm in einem großen Bogen aus dem Wege, Ein Bauer, drüben von Somso, der mit der Frau verwandt gewesen sein sollte, las mich dann auf und nahm mich mit auf seinen Hof.
Als ich 19 Jahre alt war, ich hatte den Alten schon ganz vergessen, war auch gerade des Viehtreibens überdrüssig geworden und wollte nach Kopenhagen, da kam auf einmal eine Botschaft von ihm. Mir fiel aber gleich wieder alles ein, und ich kam in einen Zorn über den Kerl, der meine Mutter erschlagen hatte, dessentwegen meine Schwestern noch immer im Findelhause lagen, und dessentwegen ich selber sieben Jahre wie ein herrenloser Hund auf den Gütern herumgeknufft und gestoßen worden war, dass ich nur den Wunsch hatte, diesen Süffel anzuspeien und meine Fäuste in sein Gesicht zu schlagen.
Die Botschaft war aus dem Aarhuser Spital gekommen, und ich reiste sofort hin. Bevor ich aber zu ihm gelassen wurde und meine Schmähungen ausstoßen konnte, hielt mich eine Schwester auf und teilte mir mit, dass mein Vater zwar ein unverbesserlicher Säufer gewesen sei, dass er sich aber jetzt, und besonders seitdem er vor dem Tode stände, gebessert habe und sein ganzes Leben bereue. Alles, was er getan hat, sagte sie weiter, lässt ihn Tag und Nacht nicht schlafen, und er kann deswegen auch nicht sterben. Wir haben darum deine Schwestern schon kommen lassen, und die haben dem Unglücklichen gesagt, dass sie ihm nichts nachtragen und ihm verzeihen. Jetzt will er nun noch dich sehen.
„Das", der Däne hob seinen Kopf wieder, „und die Helle und Feierlichkeit der Anstalt machten meine Wut kleiner. Als ich den Sünder dann sah, verschwand sie ganz. Er war klein und verhutzelt. Das einzig richtig Sichtbare an dem Mann waren nur noch die großen, flackernden Augen. ,Jan, sagte er mit einer heiseren, fistelnden Stimme zu mir, ,endlich kommst du auch.' Als ich wieder von ihm fortging, drückte er mir sieben kupferne Heller in die Hand. ,Das ist das einzige,' sagte er leise zu mir, ,was ich seit 15 Jahren nicht vertrunken habe. Es ist für dich und die Schwestern. Tue damit, was du willst, kaufe aber für keinen davon Schnaps! Schnaps', flüsterte er mir noch zu, ,ist das Schlimmste, was es gibt. Ein Mensch kann dich ins Unglück stürzen, er kann dir alles nehmen, was du hast, das ist aber nicht das Unglück selber. Wirklich unglücklich wirst du erst durch den Schnaps!'"
Sauertopf!" rief der Belgier quäkend in die Stille hinein, die nach den Worten des Dänen entstanden war, „als ob das ganze Unglück deines Alten nur an dem Schnaps gelegen hätte. Die meinigen", er rülpste erst einige Male auf und strich sich beruhigend über den gärenden Magen, „sind genau nicht glücklicher gewesen, und bei ihnen lag sogar dort, wo bei anderen Leuten die Schnapsflasche steht, das Gebetbuch,
Mein Vater", er kniff einige Male die Augen zusammen, bevor er weitersprach, „nahm sein Unglück allerdings nicht tragisch. Er war das Elend und die Not schon 30 Jahre gewohnt. Er stöhnte und wand sich auch kaum, als ihm dieses Elend beinahe den Hals zuschnürte und ihm die Frau, anstatt ihm zu helfen, sieben lebendige Kinder in das Kellerloch schüttete, sieben Brotfresser, von denen noch sechs Mädchen waren.
Als die Älteste, weil sie nicht satt wurde, sich daran gewöhnte, auswärts zu schlafen, hob er allerdings einen Augenblick seine Fäuste. Er wusste aber wohl nicht recht gegen wen oder gegen was. Ja, es ging ihm bald so schlecht, dass er auch die anderen gehen lassen musste. Was sollten sie noch bei ihm? Ihren Hunger stillen, das konnten sie nur auf der Straße.
Er kam dann ganz unter den Schlitten, und eines der Mädchen nahm ihn mit in ihre Kammer. Bevor ich das erste Mal nach Amerika fuhr, suchte ich ihn dort auf. Er wusste einen anderen Spruch als dein Alter!" rief er dem Dänen zu. ,„Du willst hochkommen’, sagte er, als er erfuhr, wo ich hinwollte, ,das ist ein Unsinn! Du bist im Elend geboren und wirst im Elend sterben. Das Schicksal ist gegen uns!"
Das war sein Evangelium, und es ist sicher sein Evangelium geblieben, damit ist er geboren worden, und damit wird er auch zu Grabe gehen. Wo willst du da aber helfen? Und wo sitzt da der Schnaps?" Der Belgier sah erst den Dänen an und dann die anderen. ,Und sie glauben an dieses Schicksal wie an ihren Gott!" sagte er lauter. Und es glauben noch Tausende daran! Hunderttausende! Die halbe Menschheit!"
Der kleine Russe stimmte ihm zu, „In unserem Dorf, sagte er leise, und er ließ einen Augenblick sein struppiges Gesicht sehen, „dachten alle Alten vor dem Krieg dasselbe.
Einmal", sein Gesicht war jetzt wieder hinter dem Amerikaner verborgen, „kam eine Frau in den Ort und behauptete das Gegenteil. Sie war dürr und schwächlich, und ihre Kleider waren so zerrissen wie die Kleider einer Bettlerin. Sie war aber doch von Moskau bis zu uns herunter gelaufen, um uns das zu verkünden. Sie sagte: ,Alles Schicksal liegt im Menschen. Ihr seid nicht arm, weil ihr arm sein sollt, sondern weil euer Herr zu reich ist. Ihr seid nicht Getretene und Herabgewürdigte, weil es Gott so will, sondern weil euch eure Herren dazu gemacht haben. Erhebt euch also gegen sie, Demut und Langmut sind gute Tugenden, aber Kampf und Freiheit sind größer. Seid ihr denn Tiere? Ihr seid Menschen!’
Es ging ihr schlecht!" sagte der Russe weiter. „Der Pope nannte sie eine Närrin und Ketzerin und schlug das Kreuz gegen sie. Der Herr hetzte die Hunde gegen ihre Fetzen und drohte ihr mit der Peitsche. Der Gendarm band ihr sogar die Hände, als er sie wieder aus dem Dorf hinausführte, und unsere Väter, zu denen sie gekommen war, deretwegen sie Tag und Nacht Steppe und Wald durchlaufen hatte, bewarfen sie mit Dreck und Steinen. Was ist das, was sie gesprochen hat,' sagte der ehrwürdige Georgewitsch, ein alter Schäfer, auf den wir sonst alle hörten, und der die Werfenden anfeuerte, ,da3 sind Teufelsworte gegen die ewigen Gesetze, das ist Unflat, den ein aussätziger Mund gegen Gott speit. Sind wir keine Menschen, weil wir demütig und gehorsam sind und unsere Armut und unser Leben ertragen? Entzweischlagen sollte man einen Mund, der solche Worte gesprochen hat!'
Sie wurde auch beinahe erschlagen. Die Väter jagten sie bis hinunter an den Fluss und trieben sie in die Sümpfe. Wir Jungen hatten sie aber auch gehört, und uns waren ihre Worte keine Versündigung, sondern eine Verkündung. Tscherkoff, ein großer Köhlerbursche, und Sherill, der Sohn eines Kleinbauern, wurden darum bestimmt, am Abend in die Sümpfe zu gehen und sie wieder herauszuholen. Sie blutete noch, als wir uns nachts an dem Weiler um sie sammelten, und das Wasser und der Schreck hatten sie so klein und steif gemacht, dass sie mir mit keuchendem Fisteln zu uns sprechen konnte. ,Freunde!' sagte sie zu uns, als wir sie alle traurig und wehleidig ansahen, sorgt euch nicht um mich und meinen Leib, wer die Wahrheit sagt, wird immer verfolgt, und sie haben mich schon stärker geschlagen, die Brüder in den Dörfern. Sind sie deswegen zu verdammen? Sie werden noch lange ungläubig sein. Vierhundert Jahre sind sie Knechte gewesen! Nicht einmal Gott kann sie in einer Nacht zu Herren machen!'"
Es war eine lange Zeit still nach den Worten des Russen. Man hörte nur das Schnarchen des Krummen und das kurze Rülpsen des Belgiers.
„Dja, „sagte der Franzose, der nachdenklich geradeaus gesehen hatte, „der Arme ist selber der größte Feind seiner Freiheit!"
Der Belgier, der seinen Mund stülpte, war noch resignierter. „Er ist nicht nur ihr Feind!" sagte er. „Er ist ihr Totengräber!"
Es wurde ganz still. So still, dass das Knurren und Dröhnen der Schraube zu hören war.
Der Däne, dessen Gesicht sich steif zusammengezogen hatte und in dessen Augen ein bösartiges Glimmen kam, unterbrach die Stille plötzlich.
„Euch ist es wohl besser ergangen?" sagte er grob und bissig, und er sah den Langen und den Amerikaner, die ihm beide mit spitzen, horchenden Gesichtern gegenübergesessen hatten, mit einem drohenden Blick an.
Der Lange, der zusammengezuckt war, machte sein Marabugesicht. Der Amerikaner, der etwas umständlich seine Brille auf die Stirne schob, antwortete aber:
„Ich bin aus dem Süden! Aus Atlanta!" sagte er. „Mein Vater war dort Rechtsanwalt!"
„Hat er dich nicht auf die Universität geschickt?" fragte ihn der Däne weiter, und sein Gesicht blieb bissig.
„Sogar nach Columbia!" antwortete der Amerikaner.
„Und warum bist du nicht dort geblieben?" Der Däne ließ seine Augen kreisen.
Der Amerikaner schwieg einen Augenblick. „Ich bin in Columbia Anarchist geworden!" sagte er dann.
„Warst du zu dumm zum Studieren?' Das Gesicht des Dänen hellte sich ein wenig auf. Er meckerte.
„Nein!" antwortete der Amerikaner und erhob sich. „Es erschien mir nur plötzlich verdienstlicher, für die Freiheit und für die Gerechtigkeit zu kämpfen als Glaubenslehren und Philosophie zu studieren!"
Auch der Lange stand auf. Er musterte den Amerikaner mit einem schiefen, erstaunten Blick und gab ihm dann die Hand. Als er sie auch den anderen gegeben hatte und hinausgehen wollte, fiel sein Blick auf den schnarchenden Krummen.
„John!" sagte er und stieß dem Schlafenden in die Seite. Der rührte sich aber kaum, und er musste sich über ihn beugen. Mühsam stemmte er ihn empor.
Der Russe, der aufgesprungen war, fasste den Taumelnden an der anderen Seite. Sie stellten ihn auf und schleppten ihn hinaus.
Als der Russe, der den Krummen bis in die Kammer und in das Bett getragen hatte, mit kleinen, leisen Schritten wieder zurückging, zog sich der Lange zuerst aus. Er hockte sich nieder und zerrte an seinen langen, geflickten Stiefeln. Auf einmal wurde sein Gesicht, das bis jetzt leblos in den Raum gestarrt hatte, aber scharf und kantig. Er schob die schon entschuhten Füße zurück in die Stiefel, knüpfte sie fest und stemmte sich langsam wieder auf.
Er ließ nun seine Zähne sehen, und in seine Augen kam ein gelbes Flackern. Das sprang in sein Gesicht und brannte sich durch seinen Körper. Die Lippen und die Halsmuskeln zitterten leicht, seine Schultern bäumten sich gegen die Wand, und seine Hände krallten sich in die Bretter.
Er blieb in dieser Haltung stehen, bis er hörte, dass es auf den Gängen ruhiger war. Dann zwang er seine fingernden Hände zu Fäusten, presste die Lippen zusammen und schlich sich hinaus.
Bis zur Tür der Jüdin kam er ungesehen. Er drückte die Klinke und schlug sie auf. Plötzlich öffnete sich aber die gegenüberliegende Tür, und der Schotte trat heraus. Der Engländer schrak zurück. Die beiden Männer standen sich mit eingezogenen Köpfen gegenüber.
Der Schotte fasste sich zuerst. Er schnellte seinen Kopf nach vorn, und in seine Augen kam ein lustiges, zwinkerndes Grinsen. Der Engländer blieb erschrockener. Sein Gesicht war lang und gelb geworden. Er schlotterte leicht.
Als der Lange das Grinsen des Schotten sah, wurde dieses Schlottern stärker. Er zog seinen eingezogenen Kopf bis auf die Schultern, und seine Hände fielen gekrümmt und mit einem heftigen Zucken von der Klinke nach unten. Langsam bewegte er seine Beine rückwärts. Die Tür, die zu der Jüdin führte, öffnete sich aber in diesem Augenblick ganz. Die Frau, die das Kommen des Mannes gehört hatte, war aufgestanden und stieß sie nach außen.
Der Engländer färbte sich, als sie sichtbar wurde, bis zu einem kalkigen Weiß. Er wollte schneller flüchten. Bevor er sich drehen konnte, stand die Frau, über deren fleischerne Hülle nichts weiter als ein kurzes Hemd hing, bereits neben ihm,
Sie fasste ihn wie ein Kind an der Hand, drückte ihn an sich und zog ihn mit kleinen, plumpen Bewegungen immer tiefer in die Kabine.

 

XVIII.

Als der Krumme am andern Morgen durch das Läuten des Stewards erwachte und seinen Kopf durch das kleine Fenster streckte, schlug ihm ein Regenschauer um das Gesicht Das Wetter war also wieder schlechter geworden.
Trotz seines geschwollenen Kopfes und den kleinen verkleisterten Augen zog er sich aber an, steckte die Seife»in die Tasche, band das Handtuch um den Hals und
stolperte nach dem Waschraum.
Er plätscherte in dem kleinen Becken wie ein Hund, rieb sich dann fauchend wieder trocken und kämmte sich mit einem alten, ausgebrochenen Kamm die strupplichen und widerspenstigen Haare.
Als er in den Eßraum kam, saß nur der Heilige auf seinem Platz. Er umschnitt ihn in einem kleinen Bogen und setzte sich schweigend zu seiner Grütze, Er war hungriger als sonst. Er schlang den schleimigen Brei in großen, aufgehäuften Portionen,
In den Tagesraum stoßend, sah er den Geduckten und den Belgier. Die saßen sich gegenüber und schienen auf ihn zu warten.
„Komm!" rief der Geduckte und schnippte mit einem Spiel verschlissener und eingebogener Karten.
Der Krumme spitzte die Lippen. Er machte zwei große Schritte und schnellte sich zu ihnen.
„Mauscheln!" sagte der Geduckte und steckte schon die Karten zusammen.
„Mauscheln!" wiederholte der Belgier.
Der Krumme rückte sich einen Stuhl zurecht. „Trumpf!" schrie er und schlug das erste Kartenblatt auf den Tisch.
Allmählicher als sonst kamen die anderen. Der Raum lief voll Ais es 11 Uhr schlug, fehlte niemand weiter als die Jüdin,
Es war aber ruhiger als in den vergangenen Tagen. Der Amerikaner und der Lange, die sich zusammengesetzt hatten, spielten schweigend auf einem Brett. Der Deutsche und der Holländer saßen noch schweigsamer zusammen. Sie zogen graue Gesichter und schlossen abwechselnd die Augen.
Nur der Schotte war mobil. Er trommelte mit seinen Fingern gegen die kleinen verregneten Scheiben und blinzelte dazwischen zu der etwas schläfrig in einer Ecke sitzenden Französin.
Es war halb Zwölf, als plötzlich ein Fremder in den Raum trat. Die Männer hatten ihn gar nicht kommen hören und hoben darum erstaunt die Augen, als sich der Mann in der Mitte des Raumes aufstellte und sie mit kleinen, aus dicken Fettpolstern zuckenden Augen musterte.
Er war auch sonst beleibt. Sein Kinn war so dick wie das Kinn des Deutschen und des Holländers zusammen, und sein Bauch stand so weit von ihm ab, als wäre er zur Zierde oder als Ballast nur vorgebunden»
Über dieser Dicke hing ein schwärzlicher, gut gebügelter und durch zwei Schwänze geschmückter, langer Frack Darüber thronte ein großer, breitrandiger Hut, der über dem roten Gesicht wie ein Regendach schwebte, und unten lief alles in zwei gewaltige, gestreifte und versteifte Hosenröhren.
„Bruder!" sagte er langsam und mit einer schmelzenden Weiche, nachdem er festgestellt hatte, dass ihn alle gebührend bewunderten, „will einer von euch das Wort Gottes hören?"
Die Männer rissen die müden Augen noch weiter auf. Sogar die Kartenspielenden legten ihre Blätter auf die Seite und besahen sich den redenden Fettberg.
Der fasste unterdessen nach einem der Frackschwänze und fischte mit vieler Mühe ein längliches Buch heraus. „Kommt näher!" sagte er, nachdem er es aufgeschlagen hatte. Seine Augen wanderten dabei mit einem freundlichen Lächeln von einem zum andern.
Es kamen auch einige. Zuerst nahte die Betschwester. Sie hatte die Augen züchtig nach unten gesenkt, und ihre spitzen Finger presste sie wie eine Andächtige in die Herzgegend.
Der Deutsche, der ihr folgte, watschelte schon unfrommer. Er sah auch nicht nach unten, sondern er schielte zu den anderen. Seine Augen schillerten gelb und zornig, als er sah, dass ihm keiner folgte.
Den Befrackten machte der geringe Zulauf genau so zornig. Er verlor aber noch nicht den Mut und ließ seine Augen ein zweitesmal kreisen.
Es hatte Erfolg. Der Nächste, der sich erhob, war der Dicke. Er stand zögernd auf, und erst ein giftiges Blitzen der Betschwester zog ihn näher.
Der Krumme, der dieses Blitzen gesehen hatte, lachte auf. Er verbiss aber sein Lachen wieder. Ja, er stellte sich sogar plötzlich selber in die Höhe, drückte seinen Stuhl zur Seite und schob sich hinter seinem zusammengekniffenen Gesicht gleichfalls in die Nähe des Predigers.
„Bruder!" fragte er den Schwarzen, ehe er ganz in den Kreis trat, und sein zusammengekniffenes Gesicht öffnete sich fromm und einfältig, „von welchem Gott kommst du eigentlich?"
Dem Befrackten, der bereits seine Hände gehoben hatte und seine Zahne zeigte, öffnete sich der Mund bis hinter die Ohren.
„Von dem Großen, Dreieinigen, Allmächtigen!" donnerte er nach einer kurzen Pause und ließ die erhobenen dicken Hände wie zwei Fallhammer durch die Luft sausen.
„Von dem Einzigen!" donnerte er schon gefasster weiter, und seine Augen umblitzten den Krummen.
Den Krummen schienen diese Blicke auch zu treffen. Jedenfalls senkte er wie die andern den Kopf und drückte die Hände aneinander. Bevor er sich aber ganz in diese Andächtigkeit verlor, öffnete er seinen Mund ein zweitesmal.
„Bruder!" begann er wieder, nur eine Oktave tiefer, und diesmal war sein Gesicht noch einfältiger und wie von einem sonnigen Glanz umschlossen, „werde ich auch so dick wie du, wenn ich an diesen Gott glaube?"
Den Befrackten traf das wie ein Schlag. Seine Augen, die erst wie zwei rote Kugeln aus den Fettpolstern quollen, fielen schreckhaft zurück, und er schwankte sogar. Aufkeuchend drückte er eilig sein Buch an den vorstehenden Bauch. Er drehte sich dann schnaufend und mit kleinen Bewegungen um, und sein sich schüttelnder und hin- und herschwankender Kopf suchte ängstlich nach der Tür.
Die Betschwester, deren Gesicht spitz und wild geworden war, folgte dem Enteilenden.
Auch der Dicke trippelte ihm nach. Vorher spie er dem Krummen, der sein einfältiges Gesicht langsam veränderte, laut und klatschend vor die Füße.
„Den habe ich gut getroffen!" lachte der Angespuckte gellend auf, als sich die Tür hinter dem Flüchtenden schloss. Die anderen lachten belustigt mit, klatschten laut in die Hände, und der Schotte ließ ein paar anerkennende Töne fahren,
„Ich nehme jeden Schwarzrock so aufs Korn!" erklärte der Krumme, der sich schon wieder in seinen Stuhl schob. »Ob sie nun evangelisch sind oder katholisch, jeder ist ein gesottener Sünder, und auf sieben von ihnen kommt erst ein gewöhnlicher Spitzbube!"
„Hat dir einer auf die Nase geschlagen?" fragte der Geduckte spitz und kniff das rechte Auge zu.
„Auf den ganzen Kopf!" kreischte der Krumme auf und duckte sich bissig. „Und dabei war der Kerl noch kleiner als ich!"
„Warst du ihm nicht fromm genug?" Der Geduckte kniff auch das linke Auge zusammen.
„In die Seele haben mir die schwarzen Brüder nicht gesehen. Aber dieser Halunke hat mich einen schlechten Sohn genannt!"
„Gottessohn!" meckerte der Belgier.
„Nein!" antwortete der Krumme. „Er behauptete, ich hätte meinen Vater verhungern lassen. Und das sagte der Bruder, als wir gerade den Sarg in die Erde ließen und uns die Augen schnäuzten!
„Hatte der Kerl aber ein Recht dazu?" Der Krumme stemmte seine Fäuste auf den Tisch. „Der Alte hat mich wie seine sieben anderen Söhne mit zwölf Jahren auf die Straße gesetzt, und ich musste selber sehen, dass mir der Bauch nicht einfiel. Bin ich aber dazu da, dass ich den Schlotbaronen ihre Invaliden erhalte, besonders, wenn so ein einarmiger Krüppel ihnen 50 Jahre lang die Taschen gefüllt hat?
Außerdem", der Krumme holte Luft, „wusste ich gar nichts mehr von dem Alten und von seiner Verkrüppelung, und ich kam nur zum Begräbnis zurecht, weil mir gerade in Lincoln die Arbeit ausgegangen war.
Und warum hing er mir das überhaupt an? Warum bläkte er über die Menschen, dass acht Söhne sich seit 30 Jahren nicht um ihren alten Vater gekümmert haben? Weil die Stadt die Zeche gezwungen hatte, für ihren Krüppel den Sarg zu kaufen. Weil sie auch der Leichenfrau sieben Schillinge bezahlen mussten, und da ihnen das in die Krone gefahren war, ihnen außerdem den Geldbeutel erleichtert hatte, haben sie sicher ihren Bibeltagelöhner mit einigen Pfunden diese Ermahnungen unter seinen heiligen Text geschoben!"
Das Gesicht des Krummen blähte sich auf. „Was geht diese Brüder unser Leben überhaupt an?" schrie er. Was wollen sie von uns? Von ihrem Gesangbuch und von ihrer Bibel ist noch kein Arbeiter satt geworden, und ihre Psalmen sollen sie mit denen plärren, die schon auf der Erde im Paradiese sitzen!"
Der Geduckte meckerte. „Bei denen?" sagte er. „Da kommen sie vor Saufen und Fressen gar nicht dazu!"
„Dja“, sagte der Belgier, und er zog sich an seinen Schnurrbartspitzen, „besonders in den Staaten. Ich habe noch nie so viel wohlgenährte und fettbäuchige Heilige gesehen wie in Amerika!"
Dem Geduckten fiel etwas ein. Er lachte. „Am schlimmsten ist es in Chikago", sagte er. „Da wachsen und vermehren sich diese Schwarzröcke wie die Pilze. In der Michigan Avenue quollen an einem Sonntag einmal 47 aus dem Pflaster. Sie standen an den Straßenecken mit ihren schwarzen Röcken wie Dohlen, und sie fielen über jeden, der an ihnen vorbei musste, wie über einen hingeworfenen Knochen!
Vor einer Kapelle", der Geduckte lachte lauter, „gerieten sich auf einmal zwei van ihnen in die Haare. Der eine hatte, wohl aus Versehen oder weil der seine nicht einträglich genug war, den Platz des andern eingenommen. Erst bewarfen sie sich nur mit dem Wort Gottes. Dann suchten sie ihren eignen Wortschatz zusammen. Aber als sie sich auch damit nicht einigen konnten, streiften sie ihre heiligen Röcke ab, spieen sich in die Hände und stürzten aufeinander los. Sie schlugen sich solange, bis sie von einigen Policemen auseinandergespritzt wurden. ,Teufel! Ausgeburt der Hölle!' schrie der Kleine noch, als sie ihn blutüberströmt abführten. ,Aas! Beelzebub!' kreischte der Große, der in einen Wagen geschafft werden musste. ,Freunde!' posaunte da aber schon wieder ein Dritter von der umstrittenen Erhöhung und streckte seine langen Hände über die belustigte Menge, ,das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!'"
„Trumpf darauf!" schrie der Belgier laut, der die Karten eine ganze Zeit ungeduldig in der Hand gehalten hatte. „Ja, Trumpf darauf!" schrie der Geduckte, der seine Karten schnell ordnete, und überstach den Belgier.
Der Krumme, der noch eine lange Rede zwischen den Zähnen hatte, verzog erst seine Lippen. Danach warf er auch sein Blatt.
Während die drei klatschend und schlagend weiterspielten, begannen der Amerikaner und der Lange ein Gespräch,
„Ihr Engländer seid evangelisch?" fragte der Amerikaner und schob langsam das Brettspiel auf die Seite.
Der Lange nickte nur. „Nicht ganz, „sagte er nach einer Weile, „es ist eigentlich eine besondere Religion!" „Und bist du selber noch ein Kirchengänger?" Der Amerikaner machte kindliche Augen und rückte näher.
Der Engländer zog sein Gesicht zurück. „Ihr seid verdammt neugierig, ihr Amerikaner", antwortete er.
„Ja!" stimmte ihm der Abgewiesne zu. Er lächelte leicht. „Die Kirche", sagte nun der Engländer, „ist in unserem Lande genau so verdorben und schlecht wie in den Staaten. Das Kapital braucht sie zur Erhaltung der Dummheit, und die Regierung macht mit ihrer Hilfe die öffentliche Moral und die öffentliche Meinung. Was soll ich also darin?"
„O!" sagte der Amerikaner schnell, „es ist nicht immer leicht, das zu erkennen. Ich bin aus einer sehr frommen Familie. Mein Großvater war ein bekannter Prediger, mein Vater und meine Mutter gehören zu den Quäkern. Ich", er lächelte wieder, „bin diesen frommen Leuten und ihrem lieben Gott erst mit 21 Jahren entronnen!"
„Sind die heiligen Stimmen oder die Behelligungen bei dir ausgeblieben?" fragte der Engländer spöttisch.
„Nein!" antwortete der Amerikaner. „Ich war bis zum zwanzigsten Jahre sogar so mit heiligem Geist geschwängert, dass ich mein ganzes Leben nur predigen wollte. Ich fuhr deswegen auch mit großen Hoffnungen nach Neuyork in das Seminar. Als ich aber das erste Mal nicht vor, sondern hinter dem Halleluja und dem Amen stand, ist mir das Predigen mitsamt der Kirche aus dem Hirn gefallen!"
„Auch der Glaube?" Der Engländer fragte weiter spöttisch.
„Den habe ich erst später verloren!" antwortete der Amerikaner ernster. „Die alten Leute in Atlanta waren zu gute Christen, als dass ich mit ihrer Kirche gleich ihren Glauben verdammen konnte."
„Und heute?"
„O!" der Amerikaner neigte seinen Kopf schräger nach vorn, „ein paar Hafenarbeitern in Hobbken haben mich nach zwei Jahren ganz kuriert. ,Boy,' sagte der ältere zu mir, zu dem ich mich mit meinen religiösen Nöten flüchtete — und ich hatte nach meiner Flucht aus dem Seminar sehr viele —, ,du musst dir, wenn du bei uns bleiben und ein wirklicher Arbeiter werden willst, das quälen für oder zu einem lieben Gott abgewöhnen. Erstens, für einen Arbeiter gibt es gar keinen „lieben Gott". Oder hast du schon einmal gehört, dass sich einer mit dem Namen „Gott" um unsere schlechten Löhne gekümmert hat? Der ist bloß für die Reichen da. Zweitens, wenn der Kerl wirklich vorhanden wäre, was spricht dann dafür, dass er ein lieber Gott ist. Es ist mir in meinem ganzen Leben noch nichts geschehen, was ich ihm und seiner Liebe in die Schuhe schieben könnte. Und du kannst im Hafen herumfragen, es ist hier auch keinem anderen von einem lieben Gott ein Stück Fleisch oder ein Dollar zugeschickt worden. Im Gegenteil, er muss sogar ein sehr schlechter Kerl sein, und er scheint das, was er hat, nur dahin zu tragen, wo schon ein ganzer Haufen liegt!
Glaubst du das nicht?' fragte er, als ich ihn ungläubig anstarrte. ,Geh einmal morgen in die Wallstreet oder in die Fünfte Avenue und stecke deine Nase zwischen die Gespräche. Freut euch, Freunde, werden überall die Makler sagen, die Apfelsinen sind mit Gottes großer Hilfe sieben Tage früher angekommen, als wir erwartet hatten. Wir können sie also mit fünf anstatt mit vier Cents losschlagen. In den Börsen hörst du das gleiche. Gott sei dank, werden sich die Aufkäufer und Börsianer zuflüstern, die Aktien steigen wieder, steigen alle Tage, steigen bis in den Himmel. Ho,' der Alte ballte seine Fäuste, ,als sie uns 86 in Chikago auseinander bliesen, weil wir uns auch einmal Butter auf das Brot schmieren wollten und zu streiken versuchten, haben sie dem Kerl sogar dafür gedankt, dass wir Hunde und Pack wieder zur Räson gebracht wurden und für den alten Lohn weiterschuften mussten. Das mit seiner Schlechtigkeit ist also richtig!'"
Der Amerikaner sprach schneller: Der andere fasste seine Abneigung kürzer zusammen. „Gott", sagte er, „ist nichts weiter als eine Erfindung. Als es noch lauter Arme auf der Welt gab, wurde langsam einmal einer reich, und als seine Schätze so groß wurden, dass er sie nicht mehr mit seinem Hinterteil bedecken konnte, dachte er darüber nach, wie er sie wohl vor den anderen schützen könnte. Das war damals schwierig. Es gab nämlich noch keine Polizei und noch kein Militär. Es gab auch noch keine Schulen und noch keine Universitäten, und die Armen konnten noch nicht wissen, dass das Eigentum wird, was sich ein Reicher zusammenstielt. Da er aber sehr an seinen Schätzen hing, überlegte er so lange, wie er sich ewig mit ihnen ergötzen könnte, dass ihm endlich auch etwas einfiel — er erfand Gott!
Es war noch nicht der heutige Gott. Es war eine Holzfratze, die er sich vor seine Hütte setzte. Später eine Schlangenhaut mit einem Ochsenkopf, Aber es war immer etwas, vor dem sich die anderen, weil es besonders und schrecklich war, ängstigten. Mit der Zeit, und weil die Armen neugierig wurden, kam dieser erste Schutzmann in den Himmel. Da steht er noch heute und passt auf die Geldsäcke auf, und er wird erst verschwinden, wenn der Reichtum verschwunden ist."
„Ho, ho!" lachte der Engländer laut und strich sich über die Schläfen, „das sind ein paar gute Geschichten. Sie haben dir das Hirn hoffentlich richtig reingewaschen!"
Der Amerikaner reckte sich hoch. „Ja!" sagte er und fiel in seinen pathetischen Ton, „ich glaube an nichts mehr. Weder an den Gott über uns noch an den Gott in uns. Ich glaube nicht einmal an das Gute im Menschen. Der Mensch ist zu alt, als dass er sich und die Erde noch ändern könnte. Das einzige, was ich erhoffe, ist, dass die Menschen in den nächsten Jahrzehnten wenigstens so vernünftig werden, dass sie sich nicht gegenseitig totschlagen und unterdrücken, sondern sich die letzten Jahrhunderte, die sie noch zu leben haben, aneinander gewöhnen und untereinander und miteinander vertragen. Dafür kämpfe ich auch."
Der Engländer stand gleichfalls auf. In sein Gesicht kam wieder der Spott. „Ihr denkt also, dass es mit dem Menschen und seiner Herrlichkeit zu Ende geht?" fragte er.
„Ja!" sagte der Amerikaner. „Das denke ich nicht nur. Das weiß und spüre ich!"
Dem Engländer, der zuerst lächelte, blieb der Mund offen. Bevor er aber antworten konnte, ließ sich eine andere Stimme hören. „Du weißt nichts!" zischte sie hinter den Ohren des Amerikaners.
Der Lange sah sich erstaunt und der Amerikaner drehte sich erschrocken um. Hinter ihnen, am Fenster, stand der Heilige. Sein durchsichtiges, blasses Gesicht wurde ernst, als sich die Augen der beiden groß und verwundert auf ihn richteten.

 

XIX.

Das Essen war wieder schlecht. Die Männer schlangen es diesmal herein. Zu fasten lag ihnen nicht, und ein gefüllter Magen war besser als ein knurrender. Sie machten aber bösartige Gesichter, kauten bloß und löffelten sich die Teller schweigend wieder voll. Der einzige, der etwas mobiler war, war der Dicke.
Der saß auf seinem Platz wie ein aufgeplusterter Truthahn. Die gemeinsame Flucht mit der Betschwester hatte ihn mutig und fröhlich gemacht. Die Frau hatte ihn zwar, als sie beide hinter dem Schwarzrock die Treppe nach unten polterten und er sie, nur um sie zu stützen, umfassen wollte, in die Seite gekniffen. Sie war danach auch eilig in ihre Kabine gelaufen, sie hatte sich aber in der Tür noch einmal umgedreht und ihm mit ihrem dünnen, spitzen Gesicht anerkennend zugelächelt.
Jetzt erwartete er mehr. Er rückte wie ein Hochzeiter auf seinem Stuhle hin und her. Er versuchte, sich ihr dabei auf alle möglichen Arten zu nähern. Er flüsterte ihr prustend Worte zu. Er schob seift Gesicht an das ihre, Er tat es allerdings nicht so plump und ungestüm wie sonst. Der Geduckte, dessen Augen während des Löffelns von einem zum andern glitten, sah es aber doch.
Er kicherte erst nur darüber. Als die Betschwester und mit ihr der eilig aufspringende Dicke hinausgingen, wurde er neugieriger. Er folgte ihnen leise.
Der Dicke war zwischen den Gängen noch zudringlicher. Er streckte einen Finger seiner kleinen, behaarten Hand aus und versuchte, die vor ihm gehende Frau in die Hüften zu stechen. Er tat das ungeschickt und meckerte dazu.
Die Betschwester, die sich im Saal gegen die Liebkosungen des Mannes mit kleinen Handbewegungen und ihrem kalten, abweisenden Gesicht gewehrt hatte, wurde jetzt aber spitzer und böser. Sie zog einige Male ihren Mund zusammen und zischte den Dicken pfeifend an, und als das nicht helfen wollte, blieb sie stehen und sagte mit einer piepsenden, hohen Stimme: „Fort! Geh fort!"
Dem Dicken, der seinen Finger schon wieder gezückt hatte, traf diese Abweisung ziemlich hart. Erst öffnete sich nur der Mund, und die runden Backen fielen zusammen und hingen gelb auf das Kinn. Als die Frau wilder keifte, fiel der ganze Kopf nach. Er hing schräg aus dem fetten Hals, und die kleinen Augen schielten furchtsam auf den Boden.
Der Geduckte, der die beiden in diesem Augenblick einholte, wollte sich an ihnen vorüberdrängen. Die kleine, zusammengesunkene Gestalt des Holländers erbarmte ihn aber. Er stieß ihn kräftig in den Rücken und richtete ihn wieder auf.
„Dicker!" sagte er dazu und schüttelte den Mann nach allen Seiten, einer Henne steigt man nie nach, ein richtiger Hahn nimmt sie einfach. Siehst du", er wandte sich zu der Betschwester, umfasste sie in den Hüften, hob sie hoch und schwenkte sie hin und her, dass ihre Röcke und die stieligen Beine wie ein paar bunte Lappen flatterten, „so!"
„Hilfe!" schrie die Frau, die im ersten Schreck ihre Augen geschlossen hatte, und die nun mit zappelnden Händen und Füßen in der Luft hing. Aber der Geduckte ließ sie eine Weile schweben. Er löste dann plötzlich die Hände, dass die Frau stürzend sein ledernes Gesicht streifte, und er drückte sogar noch seine Bartstoppeln in ihre Dürre. Er tat das allerdings mit einem sauren Gesicht, und er spie aus, als er sie nun wie ein Bündel dem Dicken in die Arme schob.
Dieser, der dem Schwenken des Geduckten wie einem Wunder zugesehen hatte, packte die fast Leblose genau so fest.
Er presste sie erst gegen seinen vorstehenden Bauch. Er fasste sie dann unter die Hinterbacken und versuchte, sie bis zu seinem Gesicht zu heben. Das war sehr anstrengend. Seine Halsmuskeln quollen auf wie Stricke. Auf seine Stirn kam perlender Schweiß.
Als er sie gerade auf seinen schon gespitzten Mund drücken wollte, erwachte die Frau wieder. Ihre Augen verdunkelten sich giftig, und zwischen ihren Lippen bläkten kleine, schwarze Zähne,
„Hunde!" schrie sie und fuhr dem Dicken mit ihnen unter die empfindliche Nase. „Schweine!" schrie sie lauter, und auch ihre Hände fuhren auf den Dicken los. „Viehzeug!" Der Zurückweichende spürte noch ihre trampelnden kleinen Füße.
Die Frau drehte sich nach dieser Abwehr flink, und bevor sie der überraschte Dicke wieder fassen konnte, nach der anderen Seite. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und wollte sich damit auf den Zweiten stürzen, der sie abgeschleckt hatte. Soweit sie aber ihre funkelnden Augen auch aufriss, die Gestalt des Geduckten war in dem langen Gang nicht mehr zu sehen.
Zorniger werdend, hatte sie erst große Lust, noch einmal dem Dicken in die Haare zu fahren. Auf ihn zuhüpfend, besann sie sich eines Besseren und bückte sich nur nach dem aufgeblätterten, ihr sicher bei dem Schwenken des Geduckten entfallenen Buch.
Sie hob es mit einem fauchenden Knurren in die Höhe und flog dann mit schaukelnden, schnellen Schritten und mit einem lustig hinter ihr herflatternden offenen Haarschopf davon.
Der Dicke raffte sich aber trotz seines schmerzenden Gesichts und einer leichten Beule auf und trampelte ihr ein zweitesmal nach. Er kam auch bis zu der Kabine der Frau. Die Hand auf die Klinke schlagend, hörte er nur, wie sich von innen knarrend ein Riegel vorschob.
Nun war er ganz geschlagen. Er trommelte trotzdem an die hölzerne Tür und hörte erst auf, als er sich die Finger blutig getrommelt hatte.
„Willst du zu der Dünnen?" fragte der Steward freundlich, der das Trommeln gehört hatte und herangekommen war.
Zu der Buntrockigen!" sagte der Dicke keuchend.
Der Steward lachte. „Lass das!" sagte er. Er fasste den Dicken an der Schulter und zog ihn fort.
Als sich der Dicke gegen ihn wehrte und seine Schulter wieder frei machen wollte, lachte er lauter. Die bekommst du nie!" sagte er, und seine Augenwimpern zogen sich nach oben.
„Warum nicht?" fragte der Dicke.
„Die ist für die Mannschaft!" antwortete der Steward
Der Dicke schrumpfte ein wie ein angestochener Ballon, als er das hörte. Er wurde immer kleiner und unscheinbarer, fiel vornüber und brach fast zusammen.
„Für die Mannschaft!" sagte er leise nach. Seine Augen wurden groß und glasig. Sie schlossen sich langsam.

 

XX.

Die Männer waren, trotzdem sie heute alles heruntergeschlungen hatten, was auf den Tisch gekommen war, nicht satt geworden. Sie saßen jetzt oben im Tagesraum, zu zweit und zu dritt in den Ecken, und kauten
weiter.
Der Belgier hatte sich in der Kantine verkrüppelte Apfelsinen gekauft und kaute an ihnen. Der Franzose, der ein großes Stück Schokolade in der Hand hatte, lehnte neben ihm und kaute mit.
„Seht ihr!" zischte der Däne den beiden Kauenden zu, „ihr könnt machen, was ihr wollt, ihr seid die Ausgebeuteten, das Proletariat! In der heutigen Gesellschaftsordnung werdet ihr auch immer die Benachteiligten bleiben!"
„Und weißt du eine bessere Ordnung?" fragte der mopsige Deutsche, der zwischen den Stühlen hin- und herstolzierte, und er sah den Dänen bissig an.
„Die Kommune!" rief der Däne. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. „Bevor die Arbeitenden die Verwaltung der Städte und Staaten, der Länder und Erdteile nicht selber in die Hände genommen haben, sitzen wir immer am unteren Ende des Tisches und bekommen die Abfälle."
„Denk dir das nicht so einfach mit deiner Kommune", sagte der Belgier und schob sich eine zweite Apfelsine zwischen die Zähne.
„Einfach!" rief der Däne zurück. „Nichts ist so einfach wie das. Die Arbeiter müssten bloß einmal den Mut haben, eine Kommune anzufangen. Wenn dann jeder sieht und spürt, wie gut sie ist, gibt es bald hunderte, tausende!"
Der Belgier lachte. Er war ungläubig und kaute weiter.
Der Schotte, der zugehört hatte, lachte nicht mit. „Eine Kommune ist wirklich gut!" sagte er. „Wir haben es einmal probiert!"
„Sicher!" sagte er, „es war eine kleine Kommune. Man drehte ihr auch bald die Luft ab. Aber sie hat doch bestanden und gelebt. Elf Jahre liegt es zurück, „sprach er weiter, als er spürte, wie ihn die Männer fragend ansahen, „und wenn ihr wollt, so will ich euch die Geschichte erzählen."
Er ließ sich dröhnend auf einen Stuhl fallen und begann: „Es war im Staate Washington“, sagte er, „ganz nahe an der kanadischen Grenze. Wir waren ziemlich 300 Männer, und wir arbeiteten an einer Eisenbahnlinie. Wir kamen dabei hoch ins Gebirge, 900, 1000 Meter, Der letzte Ort war weit unter uns.
Die Verpflegung, die Versorgung von allem, was wir brauchten, hatte während der ganzen ersten Arbeitszeit die Bahnverwaltung unter sich. Das heißt, sie hatte sie an eine Art von fliegenden Händler abgegeben. Unten im Tal, in der Nähe von Ansiedlungen, waren wir auch anständig verpflegt worden. Es gab viel Bohnen und Rauchfleisch, allerlei Fett und was man sonst noch braucht, damit ein schwer arbeitender und schwitzender Körper unter Dampf bleibt. Als aber die letzten Rauchfahnen der Farmer unter uns verschwanden, und der kleine Probierzug die letzte Möglichkeit war, nach den Städten und hinunter zu den Häfen und an das Meer zu kommen, hörten die guten Tage auf, und das Essen wurde schlechter als in der ärmsten 5-Cent-Bar in Pittsburgh und in Chikago.
Zuerst schlugen wir Krach und wollten diesen Händlern, die zugleich Köche waren, an den Kragen. Wir spukten auch um ihre Gebäude herum und schwangen unsere Hacken. Der Boss ließ uns aber wieder zurücktreiben, und am andern Morgen brüllten er und seine Spießgesellen durch das Lager, dass sie jeden von uns totprügeln und ins Jenseits jagen wollten, der es noch einmal wagte, gegen das Essen das Maul aufzureißen.
Und im übrigen', fügten sie höhnisch hinzu, ,könne ja jeder von uns tun, was er wolle, und wem das Essen aus der Küche nicht genug sei, der könne sich Dinner und Luncheon selber kochen!'
Das letztere war ein sehr bissiger Rat, und weder die Verwaltung noch wir dachten, dass sich jemals einer von uns an ihn halten würde. Als die Köche aber nun erst recht alles in unsere Töpfe gossen, für was sich sogar die Tramps in diesem Lande bedankt hätten, kam er uns wieder ins Hirn, und wir beschlossen, ihn auszuführen. Das war eine sonderbare, beinahe eine feierliche Angelegenheit. Wir kamen nächtens in einem alten Steinbruch zusammen, und unter dem Vorsitz eines alten, weißhaarigen Schweden gründeten wir die Railway Worker Commune of Washington'.
Ihr lacht!" unterbrach sich der Schotte, als er die blinzelnden Augen des Belgiers sah, „uns war das damals eine todernste Angelegenheit, und sie ist es uns auch bis zum Zusammenbruch der Kommune geblieben. Ich will euch das aber der Reihe nach erzählen.
Das erste, was getan wurde, war, dass wir alles»Geld, was wir bei uns hatten, in den Hut des Schweden schütteten, und am nächsten Morgen fuhr der Schwede mit noch zwei anderen nach Bellingham und sie kauften ein. Das war ein großer Kauf. Sie brachten Kessel und Töpfe, Büchsenfleisch und Brote und sonst alles, was notwendig ist, um in einer halbwegs guten Art amerikanischen Arbeitern den Bauch voll zu schlagen.
An demselben Tage, nach Feierabend, wurden noch unter großem Hallo Kochlocher ausgegraben, die neuen Kessel darüber gesetzt und ausprobiert. Wir pfiffen und tobten wie die Kinder, als der erste Dampf unter den Deckeln hervorquirlte, und den Kaffe, der gekocht worden war, zogen wir in unsere schwarzen Mäuler, als wäre er der erste, der unsere Schlünde passierte. Schwieriger war dann das Aussuchen der Köche. Das war gewiss, Kochen war eine Arbeit, die man nicht noch neben dem Sehwellenlegen oder Steine sprengen tun konnte. Da wir kolonnenweise arbeiteten, und als Kolonne Akkordarbeit taten, einigten wir uns so, dass von jeder Kolonne einer ausgewählt wurde, dessen Arbeit mitgetan werden musste, der aber dafür den Kochlöffel schwang. Das ging auch ganz gut. Da oft gewechselt wurde, gab es niemals Streit, Überhaupt Streit hat es unter uns während der Kommune fast nie gegeben.
Das war nicht etwa ein Wunder. Schon nach 14 Tagen merkten wir, wie gut das Kommunisieren tat. Das Essen wurde immer besser, denn die Köche arbeiteten sich ein. Auch die Einkäufer bekamen langsam Routine, und alles, was wir uns kommen ließen, fiel im Preise, anstatt in die Höhe zu gehen. Ho, wir gaben nach vier Wochen kaum noch anderthalb Dollar täglich in die Kommunekasse und setzten doch Speck an und bekamen runde Bäuche,
Das freute uns so, dass wir das Kommunisieren und gemeinsame Einkaufen bald auch auf andere Dinge übertrugen. Erst waren es nur Schuhe und Arbeitsanzüge, die wir in großen Posten kommen ließen. Dann wurden es Hemden, Stoffe, Seiden, Seife, kurz alles, was uns sonst die Kompanie geliefert hatte. Und wir spürten täglich mehr, wie wir früher belogen und betrogen, bestohlen und übervorteilt worden waren. An allem, was sie uns geliefert, hatten die Kompanie und ihre Helfershelfer verdient, und auf jede Ware hatten sie ein paar Cents oder einen Dollar aufgeschlagen. Unsere Begeisterung ging zuletzt soweit, dass wir eine kleine Sparkasse gründen wollten, und wir hätten noch mehr getan, wenn man nur in dieser Einöde noch mehr hätte tun können.
Und das Großartige an unserer Kommune war, dass wir durch unser gemeinsameres Zusammenleben auch kameradschaftlicher und brüderlicher wurden. Wir wuchsen ineinander. Wir, die wir nur wie Vieh zusammen gearbeitet oder besser — geschuftet hatten, lernten uns jetzt erst richtig sehen und erkennen. Einer zeigte sich dem andern mehr von seinen inneren als von seinen äußeren Seiten, und die Prügeleien, die sonst immer zwischen den Polen und Italienern stattgefunden hatten, hörten fast ganz auf. Sogar das: Wir sind Russen! Wir sind Deutsche! Wir sind Engländer! Wir sind Schweden! verwischte sich. Wir hatten durch unser selbständiges und gemeinschaftliches Leben gespürt, dass es nicht mehr als zweierlei Arten von Menschen gibt. Da sind die einen, sie beuten uns nicht nur aus, sie haben uns auch seit Jahren betrogen, und sie würden es heute noch tun, wenn wir uns nicht dagegen gewehrt hätten. Da sind wir, die Ausgebeuteten, die Arbeitenden, die Arbeiter, die Tag und Nacht für diese anderen schuften, und die daher zusammengehören wie die Gesellschaften und Kompanien der Ausbeuter, die sich zusammenschließen müssen zu Verbänden, zu Hilfsgemeinschaften, zu Kommunen.
Es war also von uns aus nichts vorhanden, was gegen die Kommune gewesen wäre, und was ihre Eintracht hätte zerstören können. Ihr könnt euch auch nichts Fröhlicheres vorstellen als unser damaliges Leben. Und es wäre sicher so fröhlich geblieben, wenn nicht Tod und Teufel und alle Gemeinheiten der Welt gegen diese unsere Kommune mobilisiert worden wären.
Natürlich", erzählte der Schotte nach einer kleinen Pause weiter, „ging alles von unserer Kompanie aus, Als wir mit unserer Kocherei anfingen, hatten sie mit einem Blinzeln weggesehen. ,Die Arbeiter werden selbständig', prustete unser oberster Boss los, als wir die Kochlöcher wühlten. Sie hatten nicht erwartet, dass wir aushielten. ,Morgen werfen sie sich die Kessel sicher schon an den Kopf, prophezeiten einige. Als das aber nicht geschah, und ihre Kessel langsam einrosteten, wurden sie skeptischer. Es war ja nicht nur unsere Selbständigkeit, die ihnen in die Nasen fuhr, es entging ihnen ein großer Teil ihres besonderen Verdienstes, und als wir gar einen eigenen .Shop' aufmachten, krochen sie alle Abende zusammen und überlegten sich, wie sie uns wieder zur Räson bringen könnten.
Das war nicht leicht, denn sie hatten uns ja die Selbständigkeit geraten. Außerdem gab es kein Gesetz, mit dem man uns offen zu Leibe gehen konnte. Der Krieg gegen unsere Kommune musste deswegen heimlich und mit unterirdischen Mitteln geführt werden. Die erste Großtat war, dass man uns zum Transport unserer Lebensmittel die Benutzung des kleinen Probierzugs verweigerte. Das war hart, da wir aber schon Großeinkäufer waren und den Verkäufern in Bellingham an unserer Belieferung lag, kamen wir doch zu unseren. Waren. Nun versuchte man schlechtere Mittel. Man kommandierte die Leute ab, die gerade am Kochen waren. Man verlangte zu einigen Arbeiten alle Kolonnenmitglieder, so dass keiner für die Kocherei übrig blieb. Man verweigerte uns den Holzschlag und die Benutzung von Kohle, Da wir aber hinter jeder Maßnahme nur die Wut der Gesellschaft spürten und wussten, dass sie nichts weiter wollte, als uns in ihren Schröpfkreis zurücktreiben, suchten wir ebenso verbittert Auswege, und in unseren Kesseln kochte und briet es weiter.
Wir wurden aber langsam nicht nur für die Verdienstmöglichkeiten unserer Kompanie, sondern auch für die Verdienstmöglichkeiten anderer kapitalistischer Kompanien eine Gefahr. Dass es oben in den Bergen unter den Bahnarbeitern eine Kommune gab, sprach sich herum. Besonders bei den Arbeitern der nahen Bergwerke. Dass diese Kommune eine große Ersparnis für die Ausgaben der Arbeiter sei, verkündete man natürlich auch. Es war also zu befürchten, dass unsere Kommune bald Nachahmer fände, und in einigen kleinen Bergarbeiterdörfem richtete man sie schon ein. Stärkerer Angriff gegen uns wurde deswegen von der Kompanie beschlossen, und da sich die benachbarten Kompanien mit Geld und Menschen an diesem Angriff beteiligten, setzte er auch sofort und mit aller Schärfe ein.
Es war ein gemeiner Kampf! Vielleicht der viehischste und dreckigste, der jemals von einer Kompanie gegen die eigenen Arbeiter geführt wurde. Er begann mit Sabotagen, Allerhand dunkle Elemente kamen in unser Lager, und mit ihrer Hilfe wurden sie ausgeführt. Am Abend standen unsere Kessel noch, und am andern Morgen waren sie umgeworfen und verunreinigt. Am Abend schleppten wir Waren in unsere Schuppen, und in der Nacht gingen die Schuppen in Flammen auf. Das setzte sich jeden Tag fort, und es kamen jede Nacht noch schlimmere Untaten hinzu. Hatten wir irgendwo eine Quelle eingefasst oder einen Bach abgeleitet, um frisches Wasser zu haben, so war plötzlich Chlor oder ein Salz oder eine andere Schweinerei darin. Gab es Wald oder wenigstens Kurzholz in der Nähe, so brannte es schon in den nächsten Stunden lichterloh, und wir wären manchmal beinahe selber mit in Flammen aufgegangen. Dazu kamen noch Prügeleien mit den dunklen Gesellen, die überall Streit anfingen, und die Folge davon war, dass wir bei den Gerichtsverhandlungen verdonnert wurden. Ja, einige von uns wanderten sogar ins Gefängnis. Auch in unseren Arbeitsbedingungen veränderte sich viel. Der Lohn wurde gekürzt und die Akkorde wurden niedriger angesetzt. Die gelieferten Werkzeuge zerbrachen uns unter den Händen, und das Dynamit wurde so schlecht wie der schlechteste Zunder,
Nun", der Schotte sah alle an, „den Zusammenbruch der ,Railway Worker Commune of Washington muss ich euch wohl nicht erst schildern. Nach zwei Monaten tapferer Abwehr war er aber komplett. Wir lösten sie auf und verteilten die Reste unserer Koch- und Verkaufsgesellschaft, die den Kampf überdauert hatten, wie Sakramente. Wir verstiegen uns sogar zu dem Heroismus, nicht zu kapitulieren und zu Kreuze zu kriechen, sondern uns in alle Winde zu zerstreuen, und die Kompanie mit ihrer Arbeit sitzen zu lassen. Die meisten taten es auch. Da es aber damals im Westen mehr Arbeiter als Bäume gab, werden uns die siegreichen Brüder kaum nachgetrauert haben."
Alle schwiegen, als der Schotte mit hängendem Kopf endete, und erst nach einer langen Pause sagte der Franzose, und sein Gesicht hob sich durchsichtig über die anderen: „Ja, sie bringen uns noch immer zur Strecke!"
Auch der Belgier öffnete den Mund. „Sie halten zusammen!" sagte er. „Deswegen sind sie im Vorteil!"
„Ha! Und besonders gegen Kommunen und Korporationen!" setzte der Amerikaner hinzu.
„Weil sie sich davor fürchten!" schrie der Däne laut. „Weil sie vor ihnen Angst haben wie vor Feuer. Was gäbe das auch, wenn sich auf der kapitalistischen Erde, in der jeder Mensch und jedes Tier schon in die allgemeine Ausnutzung einkalkuliert ist, auf einmal diese oder jene Gruppe selbständig werden wollte. Das wäre ja nicht nur ein Fortfall von Verdienst, das wäre Antastung aller überlieferten Spitzbuben- und Straßenräuberrechte. Das wäre außerdem Anschlag auf die gesamte heutige Ausbeutung. Denn welcher Mensch und welcher Arbeiter würde sich nicht selbständig machen, wenn er da oder dort sähe, dass er durch Errichtung von Kommunen nicht nur um Hunderte von Dollars weniger betrogen würde, sondern auch Hunderte von Dollars mehr verdiente."
„Kameraden!" unterbrach da der Belgier den Dänen, da fällt mir auch eine Geschichte ein. Sie handelt von einer beinahen Kommunalisierung, die aber kurz vor ihrem Zustandekommen tragisch endete und elend wieder zusammenbrach. Passiert", sprach er nach schnellem Atemholen weiter, „ist sie in Chikago, und sie Hegt nicht einmal weit zurück."
„Habt ihr euch über das Verteilen nicht einigen können?" fragte der Deutsche boshaft, der noch immer zwischen den Stühlen hin- und herturnte und dabei mit gespitzten Ohren auf die Reden der Männer hörte.
„Nein!" antwortete der Belgier ärgerlich und zog seinen Mund schief. „Bis zum Verteilen ist es gar nicht gekommen.
Pellhelm oder Pellhilm hieß der Mann, der die Sache mit uns beginnen wollte. Es war ein junges Kerlchen, der uns Arbeiter mit einer großen Schuhfabrik geerbt hatte. Aus irgendeinem Grunde hatte er aber einen Stich ins Heilige. Das hinderte ihn, uns wie sein Onkel auszubeuten und uns über die Ohren zu hauen.
Er setzte sich also hin und brütete aus dicken Büchern von Lassalle und Engels, von Marx und Bakunin so etwas Ähnliches wie eine Sozialisierung aus. Sie war nicht schlecht. Er setzte für sich einen Minimallohn, der ungefähr doppelt so groß war wie der unsrige, aus, und dann liefen die Löhne je nach Alter und Arbeit gestaffelt nach unten. Der übrige Verdienst des Unternehmens sollte in eine gemeinsame Kasse fließen und zu einem Viertel alle halben Jahre verteilt und zu drei Vierteln zur Vergrößerung und zu allerlei technischen Neuerungen, aber auch zum Bau von Koloniehäusern und zu Wohlfahrtszwecken, verwandt werden,
Nur eines passte dem wackeren Streiter Gottes nicht, diesen Verdienst, überhaupt den ganzen Betrieb unter unsere Kontrolle zu stellen. Jeder Sozialist, auch jeder nur etwas linke Wirtschafter, den er durchstudiert hatte, schrieb es zwar vor, aber als wir es in einer gemeinsamen Beratung forderten und alle Zitate, bei denen darauf hingewiesen wurde, anführten, blieb er hartnäckig. Diese Menschen sind alle gute Sozialisten gewesen, sagte er als Begründung seiner Weigerung, aber sie waren keine Christen. Der Sozialist kann Kontrolle verlangen, aber für den Christen gilt der Glaube. Und warum verlangen sie Kontrolle der Arbeitgeber, sagte er schon erregter, doch nur, weil sie jeden Kapitalisten für einen schlechten Menschen halten und ihm misstrauen. Ich hoffe aber, dass ihr mir nie misstraut und dass ihr an meine Ehrlichkeit auch ohne Kontrolle glaubt. Und was wäre mit dieser Kontrolle unser gemeinsames Arbeiten: Nichts weiter als ein armer Versuch, durch Zusammenarbeiten den Verdienst zu heben. Größer und verdienstlicher ist es aber, in einer fröhlichen Gläubigkeit brüderliches Christentum zu leben!
Dieser Sermon fiel bei uns nicht gerade auf fruchtbaren Boden. Erstens, weil uns das Misstrauen gegen diesen Heiligen trotz seiner Handlungen nicht verlassen wollte, und dann wussten wir ja gar nicht, wie ein Mensch mit einem religiösen Stich eine Fabrik verwalten und den Verdienst verteilen würde. Schließlich stimmten wir aber doch zu, denn wir dachten, wenn der Mensch so bleibt, wie er augenblicklich war, so ließe sich später über all diese Dinge klarer und besser sprechen. Die Hauptsache war uns auch, dass dieses neue Leben recht bald begänne, damit wir an seinen Vorteilen und seinen Nachteilen unsere eigene Stellung dazu klären konnten.
Jetzt kamen aber die Ecksteine! Dieser junge Mann hatte Brüder und Eltern. Er hatte Onkel und hatte Verwandte, und da sich die christlichen Handlungen unseres Heiligen herumsprachen, schüttelten sie erstaunt und erschüttert ihre Glatzen und ihre Geldbeutel. Zuerst machten sie ihn nur auf das Entwürdigende und Lächerliche einer solchen Preisgabe seines Kapitals aufmerksam. Dann sandten sie einen Pfarrer in sein Kontor, und der sollte ihm im Namen Gottes diese Flausen austreiben. Als aber auch das nichts half, beriefen sie einen Familienrat, und danach schritten sie ernsthaft ein."
Der Belgier lächelte grimmig. Es war ein sehr einfaches Verfahren, Eines Morgens fuhr ein Automobil vor, und unser Heiliger wurde von zwei Männern in eine Zwangsjacke gesteckt und von einem dritten hinunter in den wartenden Wagen geleitet. Die Eltern und Verwandten hatten ihn mit Hilfe von noch anderen kapitalistischen Freunden für verrückt erklären lassen, und die Karre brachte ihn, bevor er etwas gegen diese Vergewaltigung tun konnte, in ein Irrenhaus."
„Und ihr habt nichts unternehmen können, dass er wieder herausgelassen wurde?" fragte der Däne erregt und sah den Belgier mit großen Augen an.
Als ob das in Chikago einen Zweck hätte", antwortete der Belgier. „Wer dort einmal von der Polizei oder ihren Helfershelfern gepackt wird, der ist für immer begraben.
Außerdem", der Belgier ließ seinen Kopf hängen, „die meisten von uns glaubten, dass die Fortschaffung des Mannes in ein Idiotenheim zu Recht geschehen wäre. Das Kerlchen, das mit seinen Arbeitern den Verdienst teilen wollte, war ihnen schon vom ersten Tage an ein Spinner und ein Verdächtiger."
„Ja," knurrte der Däne, „diese eingesessenen amerikanischen Arbeiter fürchten sich vor nichts so sehr als vor der Stunde, in dem sich in ihrem beschränkten und gewöhnlichen Leben etwas ändern könnte, und jeder, der das versucht, ob er nun selber ein Arbeiter ist oder ein Gelehrter oder so ein christlicher Idiot, wird von ihnen lächerlich gemacht und gesteinigt."
„Ist das ein Wunder?" sagte der Schotte. „Dass der Sozialismus und die Sozialisierung gleich nach der Sintflut kommen werden, war den Kindern meiner Wirtsleute in Denver schon im 9. Jahre beigebracht worden. Ein Sozialist ist ein Abgesandter des Teufels, sagten sie, und wer in den Staaten das Wort Sozialismus nur in den Mund nimmt, ist ein Feind des Vaterlandes. Und das wurde ihnen in den Schulen gelehrt, das wurde ihnen tagtäglich in ihre kleinen Hirne gestopft, und das werden sie in 25 Jahren ihren Kindern genau so in die Hirne stopfen lassen."
„O!" sagte der Amerikaner, „und diese angelernte Abneigung gegen alles Soziale oder Sozialistische geht sogar soweit, dass der Amerikaner auch allen Versuchen einer Verstaatlichung der großen Industrien und der Eisenbahnen scheel entgegensieht. Aber nicht bloß der Kapitalist, der ja einen guten Grund dazu hätte, sich gegen das Fortschwimmen seiner Verdienstmöglichkeiten zu wehren. Nein, noch stärker unser gegen jede antikapitalistische Wirtschaftsform geimpfte Arbeiter und Genosse.
17 und 18 zum Beispiel," der Amerikaner lächelte, „als die Eisenbahnen unter staatliche Kontrolle und Oberaufsicht kamen und sich im Senat einige Männer für die gänzliche Verstaatlichung der Eisenbahn aussprachen, waren es nicht nur die für ihre Einnahmen zitternden Eisenbahnkompanien, die alles taten, um diese Verstaatlichung zu verhindern, der Eisenbahnarbeiter protestierte genau so laut gegen die Verstaatlichung. Und als das nichts half, und den kontrollierenden Staatsbeamten deswegen das Unrentable einer Eisenbahn gezeigt und bewiesen werden sollte, mussten die Kompanien ihre Arbeiter gar nicht erst zu einer geheimen Sabotage auffordern. Sie sabotierten selber in der ganzen Zeit, wo sie unter staatlicher Kontrolle standen und Staatsarbeiter waren, und es war erstaunlich, was sie in diesen Jahren kaputtfuhren und heimlich demolierten.
Die Kompanien haben natürlich ihren Zweck erreicht. Der ganze Staat weiß heute, dass eine Verstaatlichung der Eisenbahn nicht nur die Eisenbahnunglücke erhöhen würde, sondern auch im höchsten Grade unrentabel ist. Warum?" der Amerikaner lachte lauter, „das ist allerdings dem Senat und auch dem gewöhnlichen Bürger nicht ganz klar geworden; da es aber durch den Versuch und die nachfolgende Statistik bewiesen wurde, kann wohl die Tatsache nicht bezweifelt werden."
Der Belgier und der Franzose stimmten mit in das Lachen des Amerikaners ein. Auch der Russe lächelte. Nur dem Deutschen musste die Geschichte des Amerikaners nicht gefallen haben oder in das Hirn gefahren sein; er blähte sich auf und krähte die Lachenden giftig an:
„Ich möchte wissen, wo der Arbeitseifer bleibt, „sagte er, „wenn ihr Narren alles verstaatlichen und sozialisieren wollt. Und weswegen ehrliche Kerle, die sich nicht ihr ganzes Leben im Dreck und in den Vorstädten herumsielen wollen, sich mühen sollen, wenn sie nicht erst Boss und später Geschäftsführer werden können.
Und meint ihr gar," der Deutsche wurde hitziger, „ein amerikanischer Bürger, der sich 40 Jahre geschunden hat und nun in einem gut gehenden Shop oder in einer kleinen Fabrik sitzt, würde sich morgen oder übermorgen von euch sozialisieren lassen? Und glaubt ihr vielleicht, Ford und Morgan haben ihre Dollars nur gemacht und gesammelt, damit sie einmal verteilt oder verstaatlicht werden? Dummköpfe sind das, die so etwas predigen oder darauf hoffen."
Er reckte seine Arme. „Verdienst und Gewinn müssen sein“, sagte er pathetisch, „wenn Amerika weiter das beste und tüchtigste Land der Welt sein soll. Und", er zog seine Arme wieder nach unten und schlug sie klatschend auf den schweppernden Bauch, „solange unter der Brust der Bürger der Vereinigten Staaten noch ein amerikanisches Herz schlägt, werden sie auch die Grundpfeiler unserer Nation bleiben.
Euch Sozialisten und Anarchisten, euch Tramps und Bolschewiki, euch Vaterlandsverräter und unpatriotisches Gesindel", er sah den Amerikaner und den Schotten, den Dänen und den Franzosen mit kugeligen, sonderbar nach außen quellenden Augen an, „sollten aber sobald wie möglich der Teufel und die Polizei holen."

 

XXI.

Die Männer wollten dem belfernden Deutschen an den Kragen. Bevor sie ihn fassen konnten, trat der Steward in den Raum. Er läutete zum Abendessen.
„Fettbauch! Verdammter, elender Fettbauch!" schrie der Krumme dem sich eilig hinter den Steward Flüchtenden nach.
Die anderen riefen und schrieen mit. Der Deutsche hob seinen ängstlich schwabbernden Bauch und seine dicken, wurstigen Beine und flüchtete weiter.
„Wir haben Zuwachs bekommen!" sagte der Steward und blieb vor dem Belgier stehen.
„Zuwachs?" Der Belgier sah den Steward ungläubig an.
„Ja", nickte der Steward. „Hinten in der letzen Kabine liegt eine Polin. Sie hat diese Nacht geboren."
„Geboren?" Der Amerikaner war noch ungläubiger als der Belgier.
Der Steward lachte, als er die erstaunten Gesichter der Männer sah. „O!" rief er, „das ist nichts Seltenes. Wir haben beinahe auf jeder Fahrt eine Frau, die uns unterwegs einen Passagier beschert!"
„Ist sie denn allein?" Der Däne eröffnete das Fragen wieder.
„Ja!" Der Steward schob seine Lippen nach unten, „Den Mann und die beiden Kinder haben die Amerikaner behalten. Die Frau hat ihnen wohl nicht gefallen. Es kann aber auch sein, dass ihr irgendetwas gefehlt hat!"
„Und in diesem Zustand jagt man sie zurück?" Der lange Engländer stellte sich mit aufgerissenen Augen breitbeinig vor den Steward.
Der Steward lachte härter und ließ seine Zähne sehen. „Die Beamten von Ellis Island leisten sich noch schlimmere Sachen", antwortete er. „Diesmal ist es ja auch gut gegangen. Im September wurden uns aber drei Italienerinnen aufs Schiff gebracht; die bereits nicht mehr stehen konnten. Dabei war Sturm gemeldet, und unser Kahn schaukelte schon vor Long Island wie eine Badewanne. Es ist nur eine von den dreien lebendig bis Boulogne gekommen. Die beiden anderen haben wir mit den Säuglingen am dritten Tag ins Wasser lassen müssen!"
„Das ist heute möglich und in Amerika?" Der lange Engländer war ganz blass geworden.
,.Das und vieles mehr, besonders, wenn es sich uns arme Teufel handelt!" rief der Steward zurück. Er ging langsam nach der Tür und stieg dann wieder nach unten.
Auch die Männer brachen auf. Der Belgier, der Däne und der Franzose zuerst.
„Als ich herüber kam“, zischte der Franzose dem Dänen zu, „passierte übrigens etwas Ähnliches. Ich habe das Ende durch Briefe erfahren. Aber die ganze Geschichte war schrecklich!
Ich fuhr mit 17 französischen Familien zusammen," hüstelte er am Tische weiter und schob sich dabei Brot zwischen die Zähne, „und als wir in Ellis Island ausgemustert wurden, stellten sie fünf von den Frauen auf die Seite. Erst wusste noch keiner von uns, was das bedeuten sollte; als man die Frauen aber plötzlich hinter ein großes Drahtgitter steckte und wir selber in einen anderen Raum transportiert wurden, ahnten wir, dass wir die Frauen nicht gleich wieder sehen würden."
Der Franzose hustete auf. „Die fünf Frauen mussten zu gleicher Zeit dasselbe gespürt haben, denn sie fingen fürchterlich an zu schreien. Es nützte ihnen nur nichts, und wie wir hörten, kamen sie noch in derselben Nacht auf ein Schiff, das zurück nach Europa fuhr!
Einer ihrer Männer, ein kleiner Bauernbursche, der mit mir nach St. Louis gefahren war, erzählte mir dann das Ende der Tragödie. Die Frauen waren ganz verzweifelt auf das Schiff gekommen, und einer, Magdale hieß sie, es war eine junge Frau aus Nantes, die erst kurz vor der Überfahrt geheiratet hatte, fuhr die plötzliche Trennung so in den Verstand, dass sie ins Wasser sprang. Eine andere hatte durch den ausgestandenen Schrecken eine Frühgeburt und war mit dem Kinde gestorben, und die drei letzten saßen mittellos und heimatlos in Boulogne und wussten vor Hunger und Kälte nicht aus und ein, ,George,' schrieb die junge Frau wörtlich an ihren Mann, ,wenn uns nicht bald jemand hilft oder wenn nicht einer von euch Männern Geld schickt, müssen wir auf die Straße gehen oder uns ins Meer stürzen!'"
Der Franzose bekam einen Hustenanfall, und der Belgier schlug ihn leicht den Rücken. „Bande!" knirschte in der Zeit der Däne durch die Zähne, „so sind sie aber alle, diese kapitalistischen Länder. Erst locken sie die Menschen mit allen Mitteln an, und wenn ihnen dann einer zu klein oder zu dick, zu dünn oder zu mager ist, dann hetzen sie ihn in den Tod!"
Der Amerikaner, der seine Lippen zusammengepresst hatte, nickte dazu. „Ellis Island", sagte er, „ist eine Pestbeule an unserem an und für sich schon dreckigen Bauch. Vielleicht sogar eine der stinkigsten. Wer soll sie aber aufstechen?"
„Die Arbeiter!" schrie der Belgier, der noch immer dem Franzosen den Rücken klopfte.
„Die Arbeiter? Die amerikanischen Arbeiter?" Der Amerikaner verbiss sich ein Lachen. „Die haben dieses Sieb ja selber aufgestellt!"
Der Belgier hielt im Klopfen inne. Er schielte den Bebrillten mit erstaunten Augen an.
„Ich muss es dir wohl erst erklären!" sagte der Amerikaner schneller. „Das amerikanische Kapital möchte nur die besten und die tüchtigsten europäischen Arbeiter hereinlassen, und die eingesessenen Arbeiter ließen am liebsten gar keinen europäischen Tagelöhner herein. Die Kombination von diesen beiden Schlüssen ist Ellis Island!
Du glaubst es wahrscheinlich nicht", sagte der Amerikaner nach einer kurzen Pause und sah den jetzt wieder essenden Belgier groß und mit einem leichten Nicken des Kopfes an. „Es ist aber so. Der Arbeiter in den Staaten findet es einfacher und bequemer, den europäischen Hahn abzustellen, als sich gegen das Lohndrücken und Ausbeuten seiner Kapitalisten zu wehren. Er erreicht seinen Zweck allerdings nie, und die amerikanischen Kapitalisten haben seit 15 Jahren noch nicht ein einziges Mal an Arbeitermangel gelitten oder aus einem anderen Grunde als aus ihrer eigenen Willkür Löhne herauf- oder heruntergesetzt, Was macht das aber? Das Gesetz bleibt die große Beruhigung, Die Schlafhaube! Und dass sie sich diese braven Eisen- und Kohlenarbeiter, diese dickfälligen, konservativen, hundertprozentigen Sternenbannerschwenker und Sozialistentotschläger selber auf die Nase gesetzt haben, erfüllt sie noch mit Freude und Stolz!"
Der kauende Schotte nickte Beifall, „Ja!" rief er mit vollem Munde über den Tisch, „jeder neue Ire oder Deutsche, jeder halbverhungerte Italiener oder Finnländer, der mit Sack und Pack aus seinem Lande kommt, um hier ein besseres Leben zu beginnen, wird von diesen eingesessenen Dollarkratzern angekläfft wie ein fremder Hund. Als ob die Schüsseln nicht groß und tief genug wären, aus denen diese Yankees heute fressen. Als ob dieses Land nicht so viel hervorbrächte, dass einige Millionen europäischer Hungerleider allein von dem Abfall satt würden? Mit einem Knüppel statt mit einem krummen Buckel sollten alle herüberkommen, die in der alten Welt nichts mehr für ihren Magen finden, und diesen knurrenden Hunden damit den Geiz und die Fressgier austreiben!" Der Amerikaner setzte seine unterbrochene Rede fort. „Das mit der Fressgier ist richtig", sagte er. „Sie wollen das allein haben, was sich in ihrem Lande zusammenscharren lässt. Deswegen ändert sich Ellis Island auch nicht. Die Kontrolle wird sogar jedes Jahr schärfer. Die Beamten besehen sich jeden, der herein will, von innen und von außen. Es ist schlimmer, als betasteten sie Marktvieh. Und da hilft nichts. Nicht einmal, dass sich einige unglückliche Frauen ins Wasser stürzen oder an Fehlgeburten sterben. Warum drängt sich das europäische Pack auch so, sagen sie. Es soll langsamer kommen. Es soll überhaupt nicht mehr kommen. Ein Gitter um die Häfen von Amerika, und wer nicht hunderttausend Dollar hat, der soll draußen bleiben!"
Der Däne schob seinen Teller zurück und sprang auf. „Und dann Petroleum um diese elenden Brüder, und überall Feuer hinein, und wer dann heraus will, den sollten sie wieder hinter das Gitter werfen oder totschlagen!"
Der Amerikaner sah den Wütenden blinzelnd an, „Wird dadurch den hungernden europäischen Arbeitern geholfen?"
„Ho!" spöttelte der Belgier schärfer, und besonders unserer Polin und ihrem Kind. Ihr Mann würde ja auch zu Asche!"
„Kameraden!" rief da der lange Engländer, bevor sich der Däne weiter entladen konnte, „ich glaube, das Notwendigste, was wir heute gegen Ellis Island und gegen diese amerikanische Barbarei tun können, ist, dass wir uns die Hinausgeworfene und das Kind einmal ansehen!"
„Well!" stimmten der Franzose und der Amerikaner begeistert zu, und sie stemmten sich beide hoch.
„Die Frau könnte vorangehen", schlug der Schotte vor, der auch aufgesprungen war, und er deutete auf die Französin,
Die Französin war bereit. Da die Männer aber nicht wussten, wo die Kabine der Polin war und sie trotz langen Suchens nicht finden konnten, mussten sie sich noch an die Stewardess wenden.
Die machte erst ein bedenkliches Gesicht, als sie hörte, wohin die Männer wollten. „Ihr müsst sie aber nicht aufregen", sagte sie dann, und ihre Augen wurden schon freundlicher. Wie eine alte Wehmutter lief sie nun vor den Männern her.
Der Weg führte zuerst hinauf und dann wieder nach unten. Vor einer mit einem Vorhang verschlossenen Kabine blieb die Frau in dem letzten Sackgang stehen.
„Ich bin es!" sagte sie laut. Sie winkte den Männern zu, dass sie warten sollten, und trat, indem sie den Vorhang zur Seite schob, ein.
„Kommt!" rief sie nach einer Weile, ohne sich wieder zu zeigen, und die Männer, die schweigend nebeneinander gestanden hatten, kamen leise näher.
Die Kabine, in die sie eintraten, war groß und geräumig. Es waren vier Betten darin, und in einem der unteren lag in geblümtem, etwas verschossenem gelben Bettzeug die polnische Wöchnerin.
Sie hatte ein ältliches, eingefallenes und hässliches Gesicht. Etwas schief zu der Mitte stand der wulstige große Mund. Darüber hob sich eine kleine zusammengekniffene Nase und rechts und links davon standen glanzlose leere und sehr verschüchterte Augen,
„O!" flüsterte sie mit kleinen, stammelnden polnischen Silben, als sich das Zimmer immer mehr füllte, so viele?"
Die Stewardess erklärte: Es sind Passagiere. Sie wollen dir einen Besuch machen!"
„Das Kind sehen?" sagte die Wöchnerin, die die Stewardess nicht ganz verstanden hatte. Die Stewardess nickte. „Auch!" sagte sie. Die Wöchnerin schob mit der linken Hand die Bettdecke etwas zurück und zeigte das Kind. Es war ein kleiner, in saubere weiße Lappen eingewickelter Fleischklumpen.
„Bäh!" schrie das winzige Mäulchen, das gerade an einer spitzen, welken und schlaff nach unten hängenden Brust saugte, als es aufgedeckt wurde.
„Bäh!" krähte es noch lauter, als es die Frau nun nach oben schob, damit es die Männer deutlicher sahen.
Die Männer rückten näher. Der sich windende kleine menschliche Wurm interessierte sie.
„Bäh!" machte ihm der Krumme nach, der sich auf die Knie gelassen hatte.
„Bäh!" krähte der Däne mit ihm und verzog seine Augen, und der Franzose tastete mit seiner dünnen Hand sogar nach dem eckigen, haarlosen roten Kopf.
Der Russe, der etwas polnisch verstand, versuchte unterdessen mit der Wöchnerin zu sprechen,
„Du bist aus Polen?" fragte er sie,
„Ja!" antwortete die Frau freudig, die sonst zu allem, was mit ihr gesprochen wurde, nur mit ein paar englischen Worten antworten konnte, „aus Ilza! Nein“, verbesserte sie sich schnell, „von einem Gut aus der Nähe von Ilza. Wir sind Gutsarbeiter!" ,Du und dein Mann?"
„Wir waren vier Familien, Vier große Familien. Alle von demselben Gut. Zwei andere Familien sind vor zwei Jahren nach Amerika gefahren. Nach Missouri. Sie schreiben, es geht gut. Wir arbeiten an der Eisenbahn. Uns ging es aber schlecht auf dem Gut. Sehr schlecht. Wir haben alles verkauft und zu Geld gemacht und sind auch nach Amerika gefahren!"
„Und du musst wieder zurück?" Der Russe fragte das leise und machte ein bekümmertes Gesicht dazu.
Die Wöchnerin fing an zu schluchzen. „Ja!" heulte sie.
„Alle haben sie genommen, den Mann, die beiden Kinder,
sogar den Potroffski, dem ein Finger fehlt, und die lahme
Katinka, die seit sieben Jahren hinkt. Nur mich nicht!"
„War der Pass nicht in Ordnung?"
„O! Alles!" Die Frau hob beteuernd die freie Hand. „Aber ich habe Flecken, kleine lang gezogene Flecken!
Sieh!" Sie schob das Bettkissen noch weiter nach unten und streifte ihr wollenes, derbes Hemd hoch, „hier!"
Der Russe beugte sich vor, damit er hinsehen konnte. Auch der Krumme schielte mit kleinen Augen hinüber.
Wirklich, da waren Flecken, Da zogen sich etwas unterhalb der Brüste eingeschnittene dünne Streifen. Sie liefen nach dem Rücken zu, und einige waren begrindet und eitrig.
„Es ist nichts Schlechtes!" sagte die Polin, die erst nur in das Gesicht des Russen sah, dann aber ihre Augen zu den anderen Männern drehte. „Nein“, sagte sie wichtig und streifte ihren mageren Körper noch freier, „es sind bloß Schwielen!"
„Schwielen!" wiederholte der Russe und machte ein ungläubiges großes Gesicht.
Die Polin deckte sich umständlich wieder zu und band auch das offene Hemd zusammen. „Der Herr hat uns geschlagen, als wir sagten, dass wir fortwollten", antwortete sie nun mit gesenktem Kopf. „Nicht die Männer, Die fehlen ihm wohl auch nicht weiter, Aber uns Frauen! 0!" und sie stieß einige schrille Töne durch die gespitzten Lippen, „und mich besonders!"
Da sie der Russe nicht unterbrach, sprach sie weiter. „Er hat mich schon geschlagen, als ich erst 14 Jahre alt war", erzählte sie leiser, und das Wasser lief ihr dabei aus den Augen. „Er tat es immer, wenn er mich ins Heu gestoßen hatte. Er brüllte dazu: ,Dass ich dich Kreatur liebe, ist eine Schande, und damit dir diese Liebe nicht in den Kopf steigt, will ich sie dir wieder aus dem Bauche schlagen.' Als ich den Joschok heiraten wollte, wurde er so jähzornig, dass er mich beinahe erschlagen hätte. Wir mussten auch noch sieben Monate warten, und kurz vor der Heirat musste ich drei Wochen mit ihm nach Radom fahren!
Nach unserer Heirat", die Wöchnerin strich sich die Tränen aus dem Gesicht, „wurde es etwas besser. Der alte böse Hengst strich Jüngeren nach. Ich war auch zusammengefallen und kränklich und gefiel ihm nicht mehr.
Als er aber hörte, dass ich und mein Mann unter denen waren, die nach Amerika wollten, rief er mich sieben Tage vor unserer Abfahrt noch einmal zu sich. Katinka und Sofia, die er schon vor mir zu sich gerufen hatte, warnten mich. Er war böse zu uns, sagten sie, und wir haben doch nur einmal in seinem Bett gelegen!"
Die Wöchnerin schluchzte wieder. „Er war auch schlimm. Er war schlimmer als unser alter Gendarm. Zieh dich aus, Ilonka, sagte er zu mir. Zieh dich aus! Und als ich mich aufs Bitten verlegte, riss er mir die Kleider selber vom Leib. Vielleicht wollte er mich erst in sein Bett werfen; als er aber meinen geschwollenen Bauch sah, spie er fluchend vor mir aus und langte gleich nach seiner Peitsche. Er schlug mich beinahe eine Stunde, Ilonka! brüllte er dazu, ich schlage dich nur, damit du spürst, wie traurig ich bin, dass du fortgehst, und damit du deinen Herrn über dem Wasser nicht vergisst. Sieh, und er schlug mich immer wilder, das ist für die Tage in der Scheune, das ist für die Nächte in Radom, das ist für die Nachmittage in den Sümpfen. Als ich aufschrie, brüllte er lauter. Tut es weh? kreischte er mich an, platzt dir das Fell schon? Es soll wehtun. Das Fell soll dir platzen. Leg dir auch morgen und die nächsten Tage nichts darauf. Ich schlage dich sonst wieder. Jeder Striemen ist ein Tag mit mir, und du sollst diese Tage ewig an deinem sündigen Fleische zählen können!"
Die Wöchnerin war, während sie das erzählte, ganz in sich zusammengesunken und schüttelte sich. Sie war auch so erschöpft, dass sie, als sie weitersprechen wollte, die Lippen nicht mehr öffnen konnte.
„Arme!" beruhigte sie der Russe, der nicht wusste, was er der Erregten sagen sollte. „Arme!" sagte er noch einmal und strich ihr leise über die kleinen hornigen Hände.
„Und nun ist es schlimmer geworden mit diesen Flecken!" stammelte die Frau schon wieder. „Schlimmer als er, als ich, als wir alle gedacht haben. Die Männer, die uns auf der kleinen Insel untersuchten, haben sie gefunden, und die Grinder und alles, was daran war, untersucht.
Alle können in das Land, haben sie dann gesagt, nur diese nicht. Sie ist eitrig. Ich bin auf die Knie gefallen und habe sie gebeten, sie sollen mich doch in das Land lassen. Tserkoff hat dasselbe getan und alle die anderen. Wir haben ihnen auch erzählt, woher die Striemen sind und dass ich so geschlagen wurde, aber sie haben es nicht glauben wollen, der Eiter war ihnen wichtiger.
O! Mutter Maria!" stammelte sie plötzlich auf und legte ihre zuckenden Hände über das kleine blasse Gesicht, „und dann wurde ich von den anderen weggerissen, auf dieses Schiff gebracht, und nun fahre ich wieder zurück!"
„Wohin!" fragte der Russe nach einer Weile und nachdem sich die Frau beruhigt hatte.
„Sie sagen“, antwortete sie, „zuerst nach Rotterdam!"
„Und dann?"
„Vielleicht wieder zurück nach Ilza!"
„Hast du denn Geld dazu?" Der Russe sah die Frau mit kleinen, blinzelnden Augen freundlich an.
„Etwas!" antwortete die Frau, und ihr Gesicht wurde auch heller. Sie drehte sich auf die Seite und zog ein verknotetes, buntes Taschentuch unter dem Kopfkissen hervor. „Der Tserkoff hat es mir noch zugesteckt, bevor sie mich von ihm fortschleppten!" rief sie und hielt es dem Russen vor das Gesicht, „Es sind zwei Dollar darin!"
„O!" sagte der Russe erstaunt und bog seinen Kopf nach dem Taschentuch. Er schlug sogar seine Hände zusammen und machte den Mund spitz. Die Wöchnerin, die ihn beobachtete, schien das zu freuen. „Ja, er ist gut, der Tserkoff!" sagte sie lächelnd.
Der Russe wollte noch mehr fragen. Die Stewardess, die die Kranke während des ganzen Sprechens beobachtet hatte, fasste ihn aber an der Schulter und schob ihn zur Tür.
Sie stieß auch die anderen hinaus. Es ist genug für heute!" sagte sie laut. „Außerdem muss der Kleine wieder zu seiner Milch kommen!"

 

XXII.

Die Hinausgeworfenen pilgerten über die Gänge und über die Treppen wieder zum Essraum. Sie durchliefen aber auch den und sammelten sich erst vor der Kantine.
„Kameraden!" schlug der Amerikaner vor, nachdem sich die meisten den gelben, brennenden Fusel in den Hals geschüttet hatten, „wir wollen in eine Kabine gehen!"
Ja, „sagte der Dane, „der Russe soll uns sagen, was ihm die Frau erzählt hat!"
Die Männer waren einverstanden.
„Kommt zu mir!" rief der Franzose, Er ließ sich noch gelben Fusel in eine kleine Flasche füllen und stiefelte dann an der Kabine des Dänen und des Belgiers vorbei in die seinige.
„Setzt euch!" sagte er laut, als sich die Männer alle in den kleinen Raum geschoben hatten.
„Setzt euch!" wiederholte er dringender und ließ sich dröhnend auf eines der kleinen Betten plumpsen.
Die Männer blieben aber trotz der doppelten Aufforderung stehen. Mit ihnen war die Französin in den Raum gekommen, und sie warteten mit etwas eingekniffenen und unbeholfenen Gesichtern, bis diese sich gleichfalls auf eines der Betten fallen ließ.
Der Krumme, der neben ihr gestanden hatte, plumpste an ihre Seite. Der Amerikaner setzte sich rechts von ihr»und der Vierte auf dieser Bettstatt wurde der Korrekte.
Es waren außerdem der Däne, der lange Engländer, der Schotte und der Geduckte in dem Raum. Der Geduckte war in eines der oberen Betten geklettert, und der Schotte, der unten keinen Platz mehr fand, schwang sich gleichfalls hinauf,
„Fang an!" rief der Däne, der sich ungeduldig auf seiner Bettkante hin- und herschob, und stieß den kleinen Russen, der neben ihm saß, in seine schlottrige Magerkeit.
Der Russe begann, Er sagte in kleinen, kurzen Sätzen, was ihm die Polin erzählt hatte, und seine Augen, die halb geschlossen waren, schielten dabei von einem zum andern.
„Zwei Dollar hat sie also noch!" sagte er, seine Worte abschließend. „Zwei Dollar und den kleinen Wurm, und damit will sie wieder zurück nach Ilza!"
Die Männer und die Französin hatten mit hängenden Gesichtern zugehört. Jetzt sahen sie auf und starrten sich alle mit großen Augen und schüttelnden Köpfen an.
Der Franzose öffnete den Mund zuerst. „Und das lassen sich Menschen gefallen!" murrte er.
Der Amerikaner hatte einen roten Kopf bekommen. „Geprügelt und geschlagen wird also immer noch?" sagte er.
„Ja!" krähte der Schotte von seiner Höhe herunter, „und das mitten in der gepriesenen europäischen Zivilisation!"
„O!" sagte der Russe und hob sein stoppliches Gesicht zu dem Schotten hinauf, „in unserm Dorf und in den Nachbardörfern war es, als wir nach Amerika wanderten, genau so.
Höre!" sprach er weiter, nachdem sein Kopf wieder nach unten gefallen war, ich hatte eine Schwester. Dina! Ein Geschöpf wie die Sonne und erst 13 Jahre. Als sie unser Herr das erste Mal sah, sie jätete gerade mit der Mutter im Garten, da schnalzte er nur mit der Zunge, ,Ach Gott!' jammerte die Mutter, die es gesehen hatte, ,deine guten Tage sind vorbei,' Es dauerte auch nicht bis zum Abend, da kam schon ein Knecht und sagte zu dem Väterchen: ,Iljaß! Der Herr möchte einen Korb von deinen Äpfeln, Rufe die Blonde! Die Kleine! Sie soll sie ihm bringen.' Die Mutter jammerte lauter und wollte selber gehen, ,Nein,' sagte der Knecht, ,der Herr will, dass das Mädchen kommt.' Die Mutter ging aber doch. ,Sie ist noch so jung!' bat sie. ,Erst 13!' und sie fiel dem Herrn vor die Füße. Der Herr hörte sie aber gar nicht an. ,Fort!' schrie er und pfiff nach den Hunden. Am Abend holte er sich die Dina.
Sie musste drei Tage und drei Nächte im Herrenhaus bleiben. Als sie wieder herauskam, sah sie aus wie eine Vierzigjährige. Sie war grau und eingefallen, und ihre kleinen Augen flackerten, als seien sie schon am Erlöschen. Langsam trat sie in unsere Stube. Sie sah uns mit den kleinen, traurigen Augen lange an. Der Mutter küsste sie sogar die Hand. Dann ging sie mit vorsichtigen Schritten in ihre Ecke ans Fenster. Wir waren schon froh und dachten, sie würde sich dort wieder hinsetzen, wie sonst. Sie nahm aber nur das kleine heilige Bild von der Wand, zupfte die Blumen ab, die daran hingen, und zerbrach es. Ehe wir sie anhalten konnten, hatte sie mit denselben vorsichtigen Schritten die Stube wieder verlassen."
Der Russe schnäuzte sich, bevor er weiter sprach. ,„Gevatter,' rief am nächsten Morgen, als wir gerade die Grütze löffelten, der alte Justus zu unserem Tor herein, ,an meinem Kahn ist ein Mädchen vorbeigetrieben. Es hatte einen blauen Rock über dem Leib. Das Haar war blond. Ich glaube, es war die eurige!'"
Der Russe schnäuzte sich ein zweitesmal. Er nahm ein großes Taschentuch zu Hilfe und versteckte sich dahinter. He!" schrie in der Zeit der Däne und schnellte sich zu dem Schotten hinauf, „wenn ihr übrigens denkt, dass nur in Polen und vor dem Kriege in Russland die Herren fremde Kühe bespringen oder besprungen haben, so denkt ihr falsch. In Samsö, wo ich sieben Jahre war, tat der Gutsherr dasselbe. Von der Großmagd bis zur Kleinmagd, jede holte er sich ins Bett, und sie kamen erst unter die Haube oder wurden mit einem Knecht zusammengekuppelt, wenn sie im siebenten oder achten Monat schwanger waren. Es war zuletzt so, dass in den ganzen Tagelöhner- und Bauernkaten jeder Erstgeborene ein Herrensohn war, nur der älteste Sohn des zugezogenen Küsters war nicht von einem so vornehmen Vater.
Die Knechte", der Däne lachte, „nahmen es allerdings nicht weiter tragisch, denn jede Tragende bekam mit dem Kind auch ein paar harte Taler und einen Ballen Leinwand, wenn sie in seine Kate kam, und da die Jungmägde nie ausgingen, ließ der Gutsherr die Verheirateten gern in Frieden."
„Und die Mägde selber? Sagten die nichts, wenn sie in das fremde Bett mussten?" fragte der Schotte.
„Was sollten die sagen", antwortete der Däne. „Der Weg in das Bett ihres Gutsherrn gehörte zu ihrem Dienst, wie das Kühe melken, Ihre Vorgängerinnen waren den Weg gegangen, und sie wussten, wenn sie den Mietstaler in den Händen hatten, mussten sie ihn auch gehen." Der Däne lachte grimmiger. „Außerdem", sagte er, „nahmen sie das gar nicht wie etwas Schlimmes. Ein Bett mehr oder weniger, in das sie geworfen wurden, war ja kein Unglück. Und einmal so weich zu liegen, wie in dem Bett des Gutsherrn, war sogar nicht zu verachten.
Ü berhaupt diese Mägde!" Der Däne machte ein ernstes Gesicht. „Die Kühe wurden höchstens zweimal im Jahre läufig, aber sie waren es jeden Tag. In der Futterkrippe oder auf dem Heuboden, auf der Haferkiste oder oben in ihren Kammern. Es musste nur ein Mann kommen, da lagen sie schon.
Mich haben sie mit 14 Jahren das erste Mal in ihre Kammer geschleppt. Es war allerdings eine Alte, die so hässlich war, dass sie keiner mehr wollte, und ich dösiger Stadtbursche kam ihr gerade recht. Aber dann griffen auch gleich die nächsten nach mir, und es dauerte gar nicht lange, so gebrauchten mich auch die jungen,"
„Ist dir das so schlecht bekommen, dass du heute darüber und über die ganzen Weiber knurrst?" fragte der Belgier und blinzelte zu dem Dänen hinauf.
Der Däne hatte das Blinzeln gar nicht gesehen und blieb weiter ernst. „Schlecht bekommen?" fragte er erstaunt. „Ich habe mir damals nichts gedacht. Ich war in der Zeit ein Knecht wie alle anderen, und diese Späße gehörten zu unserem Leben wie die Arbeit. Als ich dann aber nach Kopenhagen kam und Sozialist wurde, sah ich das plötzlich alles besser und deutlicher. Sicher, diese Vergnügungen auf dem Boden und im Stall waren etwas Angenehmes. Sie waren nach der schweren Arbeit sogar nötig. Aber das Schlimme war, wenn die Knechte und Mägde dann in ihren eigenen Katen saßen, setzten sie diese Vergnügungen fort. Jetzt waren sie aber immer fruchtbar, und ihre kleinen Stuben waren bald so voll wie Mausenester.
Ist das gut für den Tagelöhner, wenn er sich fortpflanzt wie Unkraut? Hat das einen Sinn oder einen Zweck, wenn sie mehr Kinder in die Welt setzen, als sie mit ihren zwei Äckern ernähren können? Was tun sie denn? Sie schütten ihren Überfluss in die Städte, und der Hunger und die Armut, die da schon groß sind, werden noch größer. Und ist das nicht sogar gefährlich? Sie fallen den Arbeitern in den Städten überall in den Rücken. Ob die Ziegeleiarbeiter streiken oder die Maurer, ob die Hafenarbeiter oder die Schlosser wegen einiger Pfennige ihre Arbeit verlassen, immer schicken die Unternehmer nur ein paar fliegende Redner oder Werber auf die Dörfer und auf die Inseln, und die Streikbrecher stürzen an wie die Geier,"
„Was können aber die armen Mägde dafür?" lachte der Belgier auf, „Was sie dafür können?" Der Däne wurde bissig. „Sie sollen mehr mit dem Hirn arbeiten als mit dem Hintern. Wenn sie nur einen Sohn hätten, müssten auch nicht vier bei den Herren Knecht spielen, und wenn die Herren keine Knechte haben, bekämen sie außerdem noch ihre Äcker, Sie sollen also mehr an ihre Zukunft denken als an ihr Vergnügen."
„Als ob die Kinder bloß von der Frau kämen!" zischte die Französin zu dem Dänen hinauf. Sie machte kleine, runde Augen und stützte ihre Hände in die Hüften, „und als ob es bloß den Frauen in dem Hintern schwebberte. Sieh dir doch einmal die Männer an! Sie brauchen nur ein Weibsbild zu sehen, und der Verstand rutscht ihnen aus den Hosen wie ein Blitz."
Der Belgier und der Franzose meckerten Beifall. Der Krumme und der Russe klatschten sich knallend die Schenkel.
„Ja," bestätigte der lange Engländer, „der Mann ist bei der ganzen Geschichte genau so schuldig und unschuldig wie die Frau. Was können wir für unsere Brunst? Sie ist einfach da."
Der Schotte schlug sich in die Hände und wieherte. „Und besonders auf dem Lande", setzte er mit zusammengekniffenen Augen hinzu.
O!" Die Französin verzog ihren Mund zu einem leichten Lächeln und sah den Schotten an, „mich haben sie ja auch auf dem Lande verdorben. Ist das aber ein Wunder?" sie züngelte leicht mit ihrer Zungenspitze, „da lernt man doch die Schlechtigkeit zu jeder Tageszeit.
Ich war neun Jahre," sprach sie schneller weiter, als sie merkte, dass die Männer sie alle erwartend anblickten, „und ein alter Ohm hatte mich, weil ich Waise geworden war, auf sein Gut kommen lassen. Es war nicht groß. So", sie deutete mit den Händen einen Kreis an und bog dazu ihren Kopf hin und her. „Zwei Kühe, vier Ziegen, ein Pferd, Hühner. Eines Tages sagte er nur: ,Nimm die Ziegen! Binde sie aber fest. Geh hinauf zum Maire. Sie müssen zum Bock!'
Was lacht ihr!" unterbrach sie sich, als sie sah, dass der Krumme den Belgier in die Seite knuffte. „Jeden Tag ging ein Junge oder ein Mädchen hinauf zu dem Maire. Warum sollten sie mich nicht schicken? Dass der Hahn auf die Hühner sprang, hatte ich schon vorher gesehen, und dem Ohm fiel es nicht ein, zu sagen: ,Schau weg!' Dass man die Kuh zum Bullen führte, damit sie Kälber bekommen konnte, wusste ich auch schon, und selbst der Maire schimpfte nicht oder schickte mich fort, als der stinkende Bock auf meine Ziegen sprang und ich mit ängstlichen, großen Augen daneben stehen blieb.
Ist es also ein Wunder," sagte die Französin langsamer und sah dabei wieder zu dem Dänen hinauf, „dass sie es auf dem Lande toller und schlimmer treiben als in den Städten? Ich legte mich wenigstens bald danach mit den andern zusammen, und wir versuchten dasselbe. Eine Magd, die eines Tages dazu kam, tat dann das übrige. ,Schafsköpfe!' rief sie uns nach, als wir eilig entwischen wollten. Die Menschen legen sich doch nicht übereinander wie die Schweine. Sie legen sich mit den Bäuchen zusammen!
„Ja," meckerte der Schotte von seiner Höhe und nickte der Französin vertraulich zu, „das Dorf ist ein großer Schweinestall, und die Menschen treiben es in jedem Hause schlimmer als das Vieh.
Ich!" rief er lauter, und er zog sein sommersprossiges Gesicht zusammen, als hätte er auf etwas Saures gebissen, „war sogar schon mit fünf Jahren verdorben. Ich machte allerdings noch keine Dummheiten, dazu waren wir zu jung. Aber wir waren sieben Nachbarskinder und wir legten uns übereinander und spielten Zusammenstecken. Ich weiß nicht genau, wer es von uns zuerst begann. Wir hatten es die Knechte und Mägde tun sehen, und wir ahmten es treu und mit vieler Mühe nach. Wir klopften uns dabei auch über die Hinterbacken, tätschelten uns ab und küssten uns, und wir taten das alles sehr ernst und
feierlich.
Eines Tages wurden wir nur von einer der Nachbarinnen erwischt, und es gab fürchterliche Prügel. Es setzte danach eine strenge Kontrolle ein. Die Mütter sahen abends den Mädchen unter die Röcke. Waren sie da dreckig und rot, so gab es neue Prügel. Das machte uns nachdenklich und feig. Wir suchten uns andere
Spiele.
Mit 11 Jahren erinnerten wir uns plötzlich wieder des Spieles, und wir setzten es fort. Wir hatten jetzt schon eine gewisse Freude daran. Wir taten es auch heimlicher als früher. Gewöhnlich in einer finsteren Bodenecke oder im nahen Schilf. Als die Mädchen aber in das Vierzehnte kamen, spielten sie auf einmal nicht mehr mit. Sie hielten sich die Röcke zu. Sie wurden spitz gegen uns und spielten die Tugendsamen."
„Ho!" lachte der Geduckte auf und verschob sein gelbes Gesicht zu einem schrecklichen Grinsen, „die spielen sie immer, wenn sie ihre Unschuld verloren haben. Sie sind dann wie die Katzen nach der ersten Geburt. Sie wollen umjammert und umkratzt werden, bis sie das zweite Mal stillehalten."
„Grobsack! Elender Landstreicher!" belferte die Französin auf und wollte sich erheben. Der Amerikaner, der aber schon länger mit leichten Kopfschütteln auf die Reden der anderen gehört hatte« legte ihr seine Hände auf die Schultern und drückte sie wieder nach unten.
„Männer!" rief er dann laut, und seine bebrillten Augen wanderten von einem zum andern, „wir haben uns zusammengesetzt, um die Geschichte der Polin zu hören. Jetzt fahren wir uns wegen unseren verlorenen Tugenden in die Haare. Wir sollten uns überlegen, was wir für die Frau tun können,"
Der Belgier erhob sich. „Was soll man da überlegen?" sagte er in die eingetretene Stille. „Man muss ihr helfen. Das ist das einzige!"
„Ja," sagte der Franzose, und er zog eine bestickte Geldtasche aus seinem Rock, „wir wollen für sie sammeln!" Auch der Lange und Krumme zogen ihre Geldsäcke, und der Schotte, der von seinem luftigen Sitz heruntergesprungen war, nahm seine Mütze von dem borstigen Haar und sammelte das Geld ein.
„Teufel!" brummte der Geduckte, als ihm die Mütze unter die Nase gestoßen wurde, „bettelt man bei mir Landstreicher auch!" Er zwinkerte aber zu seinen Worten mit den Augen und gab den größten Schein.

 

XXIII.

Während die Männer über die Polin sprachen, erschien der Dicke einige Male in der Kabine. Er trat nie ganz herein, er blieb einen Augenblick in der Tür stehen, steckte seinen Kopf zwischen die Redendem, und seine Augen blitzten dabei nach allen Seiten.
Sein Aussehen hatte sich seit dem gewaltsamen Zusammenstoß mit der Betschwester wenig verändert. Sein Gesicht war noch blass und käsig. Die Arme hingen steif nach unten, und auf dem aufgequollenen Kopf saß schräg und eingedrückt ein kleiner Hut.
Nur die Augen waren nicht mehr starr und glasig. Die Tränensäcke saßen straffer unter den buschigen Wimpern, und wenn die großen Pupillen durch die Kabine fuhren, leuchteten sie gefährlich auf.
„Schotte!" sagte der Geduckte verstohlen, als der Dicke das dritte Mal in den Raum äugte, „der sucht sein
Liebchen!"
Der Dicke, der gleich wieder in den Gang untertauchte, war tatsächlich noch hinter der Frau her. Er suchte das ganze Schiff nach ihr ab. Nachdem ihm der Steward das wirkliche Gesicht dieser heiligen Beterin angedeutet hatte, war er erst in einer dumpfen Resignation vor der verschlossenen Türe stehen geblieben. Als es zum Abendbrot läutete, hatte ihn der Hunger aber in den Essraum getrieben. Er war sogar mit einer gewissen Eile hingelaufen, denn die Frau, die noch nie am Tisch gefehlt hatte, würde wohl, wenn sie ihn nicht mehr vor ihrer Tür wusste, schnell nachkommen.
Ihr Stuhl blieb aber leer. Er blieb während des ganzen Essens leer. Und als er, der kaum von der Suppe genippt hatte, aufsprang und auf seinen Platz vor der verschlossenen Kabine zurückkehrte, sah er, dass die Betschwester sein Fortgehen benutzt hatte, um auszubrechen. Die Kammer stand wenigstens weit auf, und die Frau war nicht mehr darin.
Er zischte Schaum, als er das erkannte, und Wut schoss plötzlich in ihm hoch. Wut gegen diesen Besenstiel, der ihn mit seiner Heiligkeit drei Tage lang genarrt hatte, und der ihm nun entschlüpfen wollte.
Das lange Suchen tötete außerdem langsam seine letzte Verliebtheit und machte seine Wut größer. Nein, er war kein mautzender, äugelnder Kater mehr. Er spie Gift und Galle während seiner eiligen Läufe durch die Gänge, und seine Augen wurden immer gelber und zorniger.
Er kam später auch von dem Verlangen ab, diese wandelnde Dürre in seine Arme zu schließen. Nur sehen wollte er sie noch einmal. Sehen und ihr seine Wut und ihre Scheinheiligkeit in das aufgeblasene, spitze Gesicht schleudern.
Das vergebliche Suchen nach ihr, dieses Lauschen an allen Türen, dieses Trippeln auf das Deck und dieses immer wieder Zurückkehren in ihre leere Kabine machte seine Wut gefährlicher.
„Teufel! Verdammtes Weibsbild! Hure!" keuchte er, wenn er seinen dicken Leib durch die schmalen Gänge schlängelte. „Einen ehrlichen Farmer so zu betrügen, sich so über ihn lustig zu machen!" belferte er weiter. „An die Kehle sollte ich dir fahren, wenn ich dich finde! Dich aufhängen! Dir die Luft abdrehen!" Er war ganz außer Atem und in Schweiß geraten.
Es war auch eine Schande, wenn er sich das richtig überlegte. Eine Schiffsdirne machte sich über seine besten Gefühle lustig. Sie wies ihn außerdem ab. Sie verkratzte ihm das Gesicht. Sie versteckte sich hinter einem Gebetbuch. Und in der Zwischenzeit wälzte sie sich sicher mit den Matrosen herum.
Ho! Dem Dicken ballten sich seine wulstigen, sonst schlaffen Hände zu groben Fäusten, sie hatte ihn nicht nur betrogen und sich über ihn lustig gemacht, sie hatte ihn, den Gutsbesitzer aus Kanada, mit ihrer Abweisung sogar beschmutzt, erniedrigt, ihn noch unter ihre Schweinereien gestoßen. Und das sollte er sich gefallen lassen? Damit sollte er herumlaufen. Er musste sie bestimmt schlagen. Er musste sie wirklich zwischen seine Fäuste bekommen. Als er das vierte Mal zu den redenden Männern hineinsah, war sein Gesicht bereits bläulich, und aus seinen wulstigen Lippen hoben sich drohend und gefährlich die schwarzen Zahmstumpen.
Da er die Frau auch diesmal nicht unter den Männern erblickte, versuchte er das, was er sich als das schwerste und letzte aufgehoben hatte, er warf sich mit seiner ganzen Fülle gegen eine dünne eiserne Kette, die einen kleinen Gang von den anderen Gängen absperrte, um die Ausgerissene auch dort zu suchen.
Dieser Gang war für die Passagiere verboten, weil die Kabinen in ihm alle leer standen. Der Dicke war auch etwas ängstlich, als die aufspringende Kette den Weg frei gab. Um so mutiger wurde er, als er, die Kabinen leise aufdrückend, sah, dass sie tatsächlich leer waren.
Schon wollte er, in der Mitte des Ganges angekommen, das Türenaufdrücken einstellen und wieder umkehren, da hörte er plötzlich aus einer der letzten Kabinen einen leisen, unterdrückten, aber quiekenden und hohen Schrei. Er blieb stehen und lauschte. Seine Ohren wurden so steif wie die Löffel eines Hasen, Seine geballten Fäuste zitterten. Das war sie.
Er stellte sich auf die Zehen und schlich behutsam näher. Rechts in dem dunklen Loch war niemand. Es stand ja auch auf. Sie konnte also nur links sein.
Sein Körper hob und senkte sich, als er sich nach dieser Seite wandte. Sicher, hinter dieser Bretterwand musste sie sein. Er hörte die kleinen, schrillen Schreie lauter, und dazwischen knurrten und brummten die tiefen Töne eines Mannes.
Er versuchte zuerst, die geschlossene Tür leise zu öffnen. Da sie aber quietschte und sofort ein Lichtschein über sein Gesicht fiel, riss er sie einfach auf. Wie eine zähnefletschende Bulldogge sprang er in den hellen Raum. Breit und dick und mit malmenden Zähnen blieb er in der lichtüberschütteten Öffnung stehen.
Als der erschreckte Aufschrei des oder der Überraschten, den er eigentlich erwartet hatte, ausblieb, stutzte er. Es machte ihn sogar verdutzt, dass er, der nun wütend vorstürzen wollte, innehielt und erst seine gelben Augen kreisen ließ.
Er sah nicht gleich alles. Er entdeckte nur das lange, blau umhoste Bein eines Mannes, das aus einem der oberen
Betten hing, und darunter, wie einen Hemdzipfel, den rot und grün gestreiften Unterrock.
Seinen Kopf vorstoßend, erblickte er das zweite Matrosenbein, den lang aufgestreckten Körper des Matrosen und unter dessen hagerem Gesicht die gelben Backenknochen und die spitze Nase der gesuchten Frau.
Der Anblick der Aufeinanderliegenden, besonders der bunte Unterrock und die aufgestülpten, küssenden Lippen der Betschwester, brachten die Wut des Dicken zur Explosion. Wie ein Frosch blähte er seine Kleinheit auf, wuchs ins Riesige, und mit einem wilden Aufschrei warf er sich den beiden Liegenden entgegen.
Er war zu kurz gesprungen, um sich über sie oder auf sie zu stürzen, und um sie mit seinem bis zum Rachen aufgerissenen Mund zu verschlingen, da er aber trotzdem etwas Hartes zwischen seinem Gesicht und den zu Krallen gekrümmten Händen spürte, packte er das fester und krallte und biss sich hinein.
„Au!" queilte der Matrose auf, den bis jetzt der in die Kabine getretene Dicke kaum gestört hatte. „Au!" schrie er noch einmal, schüttelte sich und versuchte, sich aufzurichten, denn das, was der Dicke zwischen Mund und Händen hatte, war sein Bein.
Der Dicke biss sich aber immer fester, und so schlug ihn der Matrose, der sich mühsam und unter immer lauteren Schreien etwas hochgestemmt hatte, mit der rechten Faust auf die Hirnschale.
Der Schlag traf den Dicken mit aller Wucht. Er spürte ihn auf dem Kopf und zu gleicher Zeit auch auf allen übrigen Körperteilen. Besonders seine Knie wankten unter ihm. Sie knickten ein, und der Festgebissene brach zusammen.
„Au!" schrie der Matrose, den das an ihm hängende Gewicht des Zusammengebrochenen fast aus der Bettstatt zog, zum dritten Mal. „Hund!" kreischte er schmerzlicher und ließ sich zu dem Zusammengebrochenen hinabfallen. „Aas!" brüllte er dann. Er riss den Mund des Dicken von seinem Bein los und trommelte mit allen Kräften auf dem sich unter ihm Krümmenden herum.
Der Dicke, der durch den ersten Schlag des Matrosen beinahe ohnmächtig geworden war, und sich wie ein Sack unter der Bettstatt und dem Schrank der Kabine ausgebreitet hatte, wurde durch dieses mildere, unaufhörliche Trommeln wieder lebendiger.
Er hatte auch einige Sekunden das bestimmte Gefühl, dass er sich gegen diesen seine Brust und seinen Bauch beklopfenden Menschen wehren müsste.
Als aber ein langsames Heben seines Armes ein schnelleres Klopfen des Zuschlagenden hervorrief und ihn außerdem der sich über ihn Beugende noch mit einer ganzen Flut fremder Schimpfwörter beschüttete, beschloss er, das weitere Wehren zu unterlassen und seine Rettung und Befreiung von diesem Ungeheuer durch Schreien zu versuchen.
Er setzte damit, nachdem er erst fürsorglich seine Augen geschlossen hatte, auch in allen Tönen ein, und er brüllte so laut, dass ihn sogar die noch immer redenden Männer hörten.
„Hallo!" rief der Geduckte, der am schärfsten lauschte, in die eintretende Stille hinein, „das ist der Dicke!"
„Ja!" bestätigte der Schotte. „Er hat seine Liebste sicher in einem fremden Bett gefunden, und", er lachte, „anstatt davon zu schleichen, lässt er sich noch von ihnen verprügeln!"
Da das Geschrei des Dicken aber mit jeder Minute lauter und verzweifelter wurde, sprangen einige auf, um nach dem Schreienden zu sehen. Zuerst der Krumme, dann der Franzose und der Belgier.
Der lange Engländer, der schon länger gelangweilt und mit eingekniffenem Gesicht auf die Erzählungen der Männer gehört hatte, benutzte diese Gelegenheit, um sich gleichfalls mit hinauszuschieben. Er ging aber nur zum Schein dem Geschrei nach und stahl sich später nach der anderen Seite.
Die Jüdin, zu der er sich mit eingezogenem Kopf schlich, zog sich gerade aus, als er in ihre Kabine trat Er drückte trotzdem die Klinke von innen zu, riegelte noch fürsorglich ab und blieb dann mit hängenden Armen und weitgeöffneten Augen neben ihr stehen.
Die Jüdin, die sich ruhig und unbekümmert weiter auszog, beachtete den Starrenden kaum. Sie öffnete so langsam und umständlich wie sonst ihre Röcke und ließ sie nach unten fallen. Sie streifte genau so langsam die Hosen nach und trat auch aus denen heraus. Nun hob sie noch dehnend und keuchend und unter lautem Gähnen ihre dicken, fleischigen Arme.
Die Augen des Langen waren in der Zeit immer größer und brennender geworden. Selbst sein Kopf wurde rot und begann zu brennen, und seine hängenden Arme zuckten auf und ab wie Dampfkolben.
Die Jüdin sah sich aber auch jetzt nicht nach ihm um. Sie lief mit kleinen Schritten zu ihrem Bett und deckte es auf. Etwas mühsam und mit leichten Schwingen ihrer fetten Schenkel stieg sie hinein.
Der Engländer, der darauf gewartet hatte, fasste mit seinen langen und gepflegten, augenblicklich zitternden und bebenden Fingern nach dem Lichtschalter.

 

XXIV.

Der Krumme, der Belgier und der Franzose, denen nach einer Weile auch der Geduckte und der Schotte gefolgt waren, drangen soweit vor, bis sie deutlich vernahmen, dass das Schreien des Dicken aus dem abgesperrten Gang kam.
„Donner!" rief der Krumme, der seinen Kopf in den Gang steckte, um das Schreien deutlicher zu hören, „der läuft keinem Weibe wieder nach!"
Der Franzose war ängstlicher. Dass sie ihm nur nichts zerschlagen", sagte er.
„Dem dickfelligen Bauern?" lachte der Belgier. „Dem könnte das gar nichts schaden!"
„Man muss trotzdem nach ihm sehen", sagte der Geduckte. „Es ist doch unser Kamerad!"
Bevor sich die Männer aber einig werden konnten, ob sie dem Dicken zu Hilfe eilen sollten, wurde die Kabine aufgestoßen, aus der das Geschrei kam, und der Verprügelte stürzte heraus.
Der Mann, der das Prügeln besorgt hatte und auch noch weiter prügelte, kam hinterher. Als er den Schotten und den Geduckten sah, die mit grimmigen Gesichtern zu ihm aufblickten und außerdem ihre Fäuste hoben, stellte er aber sein Prügeln ein.
„Wollt ihr etwa dieses Fässchen erobern?" fragte er und hob den Dicken hoch. „Das könnt ihr haben, auch ohne dass ihr solche dummen Fratzen schneidet!"
Er kam mit dem Dicken gleichzeitig etwas näher, legte ihn dann wieder auf die Erde und kugelte ihn den Männern vor die Füße.
„Steh auf!" schrie der Belgier, als der Matrose in die Kabine zurückgegangen war, und stieß dem Weiterschreienden mit dem Fuß gegen die Wade.
„Steh auf!" rief auch der Geduckte und zog dem Dicken die Hände vom Gesicht.
Der Dicke schrie aber noch gellender. Der Schotte und der Geduckte richteten ihn dann auf, und der Franzose versuchte, ihm mit seinem Daumen die zusammengepressten Augenlider in die Höhe zu stemmen.
„Kamerad," sagte er dabei, „der Kerl, der dich geschlagen hat, ist fort!"
Der Dicke, dessen Gesicht so blau und gedunsen war wie ein fauliger Apfel, erkannte den Franzosen und verschluckte sein Geschrei auch allmählich. Er war aber so zerschlagen, dass er nun ein schauriges Stöhnen begann und sich auf den Schotten stützen musste. Mit tiefem Schluchzen und kurzen, lauten Aufschreien betastete und befingerte er sich, an ihm lehnend, von oben bis unten ab. „Der Bauch ist wohl noch in Ordnung?" fragte der Geduckte tröstend, der über das schmerzhaft verzogene Gesicht des Dicken lachen musste und patschte ihn darauf.
Auch der Belgier stichelte. „Sieh!" sagte er und fasste den Stöhnenden leicht an der Nase, „sogar deinen Stumpen hat er dir nicht herausgerissen!"
Nur der Franzose war noch weiter besorgt. „Einen lebenden Menschen so zu schlagen!" hüstelte er. Er strich dem Stöhnenden behutsam und tröstend über den Rücken.
Die Männer versuchten nun, den Geretteten langsam zu ihrer Kabine vorzustoßen. Es war etwas schwierig, denn der Dicke, dem der Schmerz immer wieder die Augen schloss, stolperte immerzu.
„Achtung!" meckerte der Krumme, als sie die Schwelle überschritten, „unser dicker Landesel ist in einen Bienenkorb gefallen!"
Die Zurückgebliebenen mussten aber auch ohne die Ankündigung des Krummen lachen, denn der Dicke, der so plötzlich in den Lichtkreis der Kabinenlampe trat, sah noch beängstigender und schlimmer aus als ein zerstochener Landesel.
„Donnerwetter!" schrie der Däne von seiner Höhe und zeigte auf den geschwollenen, blutunterlaufenen Mund, „du musst dir ja schwer die Lippen verbrannt haben!"
„Ja," kicherte der Schotte, „die Betschwester ist sicher zu heiß gewesen!"
„Sieh!" sagte der Amerikaner mitleidiger und hob einen schwarzen Stumpen auf, den der Dicke ausgespieen hatte, „ich glaube, die Geschichte hat dir auch ein paar Zähne gekostet!"
Diesmal machte der Geduckte einen Spaß, „Er war zu stürmisch!" spöttelte er.
„Sogar die Hosen haben sie dir zerrissen!" sagte der Russe mit seiner zischelnden, leisen Stimme. Er trat näher heran und zeigte auf die aufgeplatzten Hosenbeine, aus denen überall das rote Fleisch sah.
„Und er blutet noch immer!" Die Französin, die den Dicken schon länger angesehen hatte, sprang eilig auf, und sie drückte dem Stöhnenden ihr Taschentuch auf den tropfenden Mund,
Den Dicken richtete das etwas auf. Ihm, der bis jetzt unbeholfen seine Schmerzen ertragen hatte, und der in dem Spott und den derben Tröstungen der Männer wie ein Verlorener stand, tat die Nähe und das Bemitleiden der Französin außerdem wohl.
„O!" stöhnte er weiter, aber schon eine Oktave tiefer. „O!" er hob seine linke Hand und drückte sie auch auf das Taschentuch,
„Mann!" warnte ihn nun plötzlich der Krumme, dem die Annäherung der beiden in den Magen fuhr, „das ist ja wieder ein Weibsbild! Pass auf!" schrie er einen Augenblick später, „gleich setzt es neue Prügel!"
Der Däne, den das nicht aufhörende Quellen des Dicken genau so ärgerte, fuhr ihn noch härter an. „Hasenkerl!" schrie er aus seiner Höhe, „eben hat dich so ein Frauenzimmer verhauen lassen und schon hängst du dich an eine zweite!"
Der Dicke stöhnte erst einige Male auf, bevor er antwortete, „Kann man denn wissen," stammelte er dann unter Tränen, , „dass eine, die mit dem Gebetbuch ins Bett geht, einen Matrosen mit hinein nimmt!"
Der Geduckte lachte auf, „Wenn sie einen Mann damit fangen können, angeln sie sogar mit dem Rosenkranz!"
„Mit dem Rosenkranz!" wiederholte der Däne. „Die ganze Dreieinigkeit und ihren lieben Gott geben sie dazu, wenn sie dafür einen Mann eintauschen können. Und wenn er nur eine Nacht in ihrem Bette bleibt!"
Die Französin, die spürte, dass besonders sie durch diese Worte getroffen werden sollte, zuckte auch einige Male zusammen. Sie ließ aber trotzdem nicht von dem Geprügelten ab. Sie drückte ihr Taschentuch fester auf seinen Mund, betüpfelte noch die Nase und die Stirn, führte dann den schon leiser Stöhnenden bis zu ihrem Platz und half ihm auch dort.
„So seht ihr also in Wirklichkeit aus?" keifte sie auf, als der Dicke nun saß, und schnellte sich nach dem Dänen herum, „Das ist eure tägliche Fratze, einen anderen zu verspotten und über eine Frau eure Kübel auszugießen!"
„Und das ist euer ganzer Verstand!" fuhr sie nach einer kurzen Pause fort und bläkte die Zähne, „dass ihr Frauen die Gebetbücher und die Rosenkränze nachwerft und sie selber in den Kehricht schmeißt. Denkst du denn," sie wandte sich besonders an den Dänen, „dass es einer Frau Freude macht, wie eine Heilige herumzulaufen und immer das Kreuz zu schlagen? Wenn sie es nicht müsste, würde sie noch heute ihr richtiges Gesicht zeigen und den ganzen Heiligenkram über Bord werfen!"
„Warum tut sie es denn?" warf der Däne schüchtern ein.
„Grünschnabel!" Die Französin funkelte wie ein Feuer. „Weil es zu ihrem Beruf gehört!"
„Beruf?" Dem Dänen blieb der Mund offen.
„Ja!" sagte die Frau und lachte schallend, „hast du denn nicht gemerkt, dass sie sich außer zum Essen nur an den Nachmittagen sehen lässt? In den anderen Stunden ist sie für die Matrosen da. Und damit sie nicht auch von fremden Hunden beschnüffelt wird, also von euch, muss sie, wenn sie sich zu euch setzt, das Kreuz schlagen und die Heilige spielen."
„Ein netter Beruf!" sagte der Geduckte.
Die Französin schnellte herum und zischte den Geduckten bissig an. „Genau so ein netter wie der deinige. Oder bist du vielleicht mehr als sie?"
Der Geduckte wusste nicht gleich, was er sagen sollte. „Nun", knurrte er nach kurzer Zeit, in der sie sich beide wie zwei Hähne gemustert hatten, „laufen ist immerhin gerader als hinlegen!"
Die Französin wurde noch bissiger. „Mit deinem Hinlegen!" trumpfte sie auf. „Erst scharwenzelt ihr Männchen um so ein Weibsbild herum, und wenn sie unter euch gelegen hat, spuckt ihr nach ihr und nehmt sie nicht ernst."
Der Franzose, der aufgestanden war, strich sich erregt über das Gesicht und mischte sich mit in den Streit. „Die Frau hat recht", sagte er. „Warum sollen wir auf so eine Matrosendirne spucken? Sie ist nicht besser und nicht schlechter als wir. Wer hat sie außerdem in so einen Beruf gezwungen, unsere heutige Ordnung, die jetzige Gesellschaft. Sie ist ein Opfer wie wir!"
„Wie wir?" Der fragende Belgier sah den Franzosen etwas erstaunt und spöttelnd an.
„Ja," sagte der Franzose, „die Frau muss ihren Leib verkaufen, um leben zu können, und wir verkaufen unsere Kraft, oder ist das etwa nicht dasselbe?"
„O!" der Belgier schnappte nach diesem Vergleich nur mit dem Mund.
Die Französin stimmte dem Mann aber eifrig zu. „Ich habe es das erste Mal tun müssen, als ich 17 Jahre war!
Macht nur eure Witze über mich," sagte sie schneller, als sie sah, dass der Geduckte den Dänen blinzelnd in die Seite stieß, „aber wenn ihr glaubt, die Mädchen kämen mit dem Gedanken auf die Welt, einmal bloß mit ihrem Leibe zu arbeiten, so irrt ihr euch. Ich", sagte sie ruhiger weiter, „habe das wenigstens nie gedacht!"
„Ist es in Paris passiert?" fragte der Belgier neugierig. „Ja", sagte die Frau. „Der Ohm, bei dem ich lebte, war über Nacht gestorben, und ich fuhr nach Paris, weil man mir erzählt hatte, dort könne ein Mädchen am leichtesten ihr Brot verdienen!"
„He!" Der Geduckte meckerte auf. „Und hat man dir nicht gleich gesagt mit was?"
Die Französin, die den Spott des Geduckten nicht verstanden hatte, antwortete: „Mit Blumenbinden. Es waren auch schon viele Mädchen aus dem Dorfe als Blumenbinderinnen nach Paris gefahren, und sie schrieben alle, es ginge ihnen gut."
„Und dir ist es nicht gut gegangen?" drängte der Belgier weiter.
„Nein!" Die Französin stemmte die Arme hoch. „Ich war die ersten Tage sehr ängstlich und traurig, weil die Stadt so groß war. Ich kannte ja nur Clermont, wo ich geboren wurde, und das Dorf, wo der Ohm lebte. Als dann die vielen Gänge nach den Blumenmacherwerkstätten begannen, wurde die Traurigkeit noch größer. Überall standen schon 5 bis 10 Mädchen, die sich zu der Arbeit drängten, und nach sieben Wochen lief ich immer noch von Straße zu Straße!"
„Dabei ist dir wohl aufgegangen, dass du dein Geld auf eine bequemere Weise verdienen kannst?" fragte der Geduckte hastig.
„Das kam ganz plötzlich!" antwortete die Frau, die ihre Augen geschlossen hatte. „Ich traf einige Male ein junges Mädchen, die behauptete, sie sei aus der Gegend von Tours. Sie drängte sich eben so wie ich zu den Arbeitsstellen, und als wir uns eines Tages wieder trafen, blieben wir zusammen und schlossen Freundschaft!
Etwas später, wir hatten beide nur noch einige Sous in der Tasche, einigten wir uns, dass ich aus der Dachkammer, die ich bei einer ehrlichen Maurersfamilie bewohnte, ausziehen und mit bei ihr schlafen sollte. Ich tat es, und wir waren nicht gerade unglücklich zusammen. Eines Abends, ihr war schon einige Tage das letzte Geld ausgegangen, brachte sie nun einen jungen Mann mit auf unser Zimmer. Sie hatte mir nichts davon gesagt, und sie genierte sich auch nicht weiter. Der Mann kam also zu seinem Vergnügen, und nachdem er 10 Franken gezahlt hatte, ließ sie ihn wieder gehen!
„Jenetta!' sagte sie dann zu mir, ,du bist sicher erstaunt. Aber was sollte ich tun! Und Paris ist darin groß. Wenn dich nichts mehr ernährt und du denkst schon, du musst verhungern, so ernährt dich doch noch dein Körper. Was ist auch dabei? Du verdienst dir 10 Franken und du wischt dich danach wieder ab!'
Ich war trotzdem entsetzt, aber als die elfte Woche kam und ich noch immer keinen Verdienst hatte, da suchte ich mir auch junge Männer. Nicht oft! Nur, wenn die 10 Franken wieder ausgegeben waren, Es war zuerst schwer. Später gewöhnte ich mich daran."
„Wohl weil es ganz einträglich war! Wenigstens einträglicher als das Blumenbinden!" Der Geduckte meckerte
leise,
„Blumen haben wir daneben auch gebunden", antwortete die Französin. „Es wurde bloß so mager entlohnt, dass wir kaum die Miete davon bezahlen konnten!"
„Und habt ihr euch das gefallen lassen?" fragte der Däne.
„Lassen?" Die Französin wiederholte das Wort des Dänen und lachte hart auf. „Die Kerle, die uns die Arbeit gaben, wussten, dass hinter jeder von uns 10 andere standen, die unsere Arbeit sogar für einige Sous weniger getan hätten, und wenn wir doch das Maul aufsperrten und uns über die kümmerliche Bezahlung beschwerten, lachten sie und sagten, wir könnten uns ja dass, was uns noch fehlte, nach Feierabend auf dem Boulevard Sebastopol verdienen. Sie waren so frech und riefen uns noch nach: Ihr beschäftigt euch ja hier bloß mit den Händen. Ein richtiger Arbeiter muss aber seine fünf Franken Tagelohn mit dem ganzen Körper erarbeiten. Es ist euch also nur dienlich, wenn ihr abends noch über die Boulevards geht!"
„Und wie bist du nach Amerika gekommen?" Der fragende Amerikaner sah die Frau groß an.
„O!" die Französin lächelte. „Wir waren beide nicht nur Blumenbinderinnen und Nachtläuferinnen, wir sahen uns auch um, wie wir unser armes Leben verbessern könnten. Mir half dabei der kleine Maurer, bei dem ich zuerst gewohnt hatte. Er und seine Frau waren Syndikalisten, und eines Tages las ich in einem der Blätter, die mir der Mann oft brachte, dass es den Frauen in Amerika besser ginge als den Frauen in Frankreich! Das lockte uns!"
Der Amerikaner lächelte auch. „Und dann seid ihr einfach hinübergefahren?"
Die Französin schüttelte den Kopf. „Erst mussten wir das Geld zur überfahrt verdienen. Das war schwer! Sehr schwer! Wir konnten es nur aus unseren Straßengängen holen. Aber schon in Neuyork ging es uns so gut, dass wir die schlechten Tage von Paris bald wieder vergaßen!"
„Habt ihr da auch die Straßen abgestrichen?" Der Geduckte duckte sich, als er das sagte.
Die Französin sah aber kaum zu ihm hin. „Der Maurer", sagte sie, „hatte uns einen Brief an eine syndikalistische Organisation mitgegeben. Die empfing uns, als wären wir Ladies, und wir waren die erste Zeit ganz erschrocken vor ihrer Höflichkeit. Sie vermittelten uns am nächsten Tag noch eine gute Wohnung und eine gute Arbeit, und in 14 Tagen standen wir schon auf eigenen Füßen und konnten sparen!"
„Und bist du immer in Neuyork geblieben?" fragte der Amerikaner weiter.
Nein", antwortete die Frau. „Ich war in Chikago und in Pittsburgh, in. Denver und in Boston. Auch in verschiedenen kleinen Orten. Es war ja so leicht, weiterzukommen, nachdem wir erst einmal in Lohn und Arbeit gestanden hatten!"
„Was hast du denn gearbeitet?" fragte der Krumme unvermittelt und schob seinen eingedrückten Kopf vor.
O!" Die Französin lachte den Krummen an. „Alles! Ich war Seidenarbeiterin und Kontoristin. Ich habe einem dicken Bankier seine Briefe geschrieben und habe seiner Frau die Haare onduliert. Einmal hatte ich auch eine Stelle bei jungen Katzen. Aber hauptsächlich bin ich doch in Fabriken gegangen."
„Dir haben die Staaten scheinbar gefallen", sagte der Amerikaner, der die Frau nicht aus den Augen gelassen hatte.
„Sehr! Sehr!" antwortete die Französin schnell. „Besonders, dass die Männer dort so anständig gegen die Frauen sind. Dass sie ihnen jede Freiheit lassen. Ja, dass sie für die Freiheit der Frau eintreten und kämpfen!"
„Tun das die europäischen Männer nicht?" fragte der Belgier. „Wir Sozialisten, wir Arbeiter sind doch schon seit einer Ewigkeit für die Gleichberechtigung der Frau!"
Die Französin sah den Belgier mit kleinen Augen an. „Die Sozialisten! Die Arbeiter! Vielleicht die in Paris oder die in Boulogne!" Ihr Mund verzog sich spöttisch. Geh einmal hin und sieh dir dort die Gleichberechtigung an! In der Rue Gabrielle, wo ich wohnte, war das ganze Haus voll solcher Frauenrechtler, Früh schlugen sie die kleinen Frauen, und mittags und am Abend sangen sie auch alles andere als gemeinsame Töne mit ihnen. Und dabei schlugen sie sich auf die Brust und nannten sich die Zukünftigen der Welt, und wenn sie nachts hinter ihrem Absinth saßen, dann troffen sie von Sprüchen über die kommende Kommune und die große Gleichberechtigung!"
„Ja!" stimmte ihr der Franzose zu, „da sieht es noch schlimm aus. Der Arbeiter sieht die Frau zu klein. Er spürt nicht, dass sie ein Kamerad ist. Er versucht sie auch immer wieder zu erniedrigen!"
„Dummheit!" zischte der Däne. „Sie ist so klein!"
„Aber nicht dummer und kleiner als du!" kläffte ihn die Französin an, „Und das ist es auch gar nicht, ob sie klein oder groß ist!" belferte die Frau weiter, „Der Grund liegt tiefer!
Was ist denn so ein Mann, ob er nun ein Arbeiter ist oder ein Baron, ein Hahn, der in seiner Frau bloß die Henne sieht. Und wenn sie nur einmal den Kopf dreht und nach etwas anderem sieht als nach der Größe seiner Hoheit, dann schwillt ihm schon der Kamm, und er greift nach seinem Stecken und plustert sich auf!
„Und warum tut er das?" Sie sah den Dänen mit funkelnden Augen an, „weil er in irgendeinem Teil seiner schwarzen Seele Angst vor der Frau hat, weil er glaubt, sie könnte einmal sein aufgeblähtes Gesicht durchschauen und dann nicht mehr nach seiner Trompete tanzen!
Nein!" rief sie lauter. „Geht mir nur zum Teufel mit dem europäischen Mann! Er ist ein Filou, ein vollgefressener, eingebildeter Puter, ein Lump, ein Ferkel! Ja, er ist alles, aber er ist nie das, was ein Mann sein soll!"
„Auch ich? Auch die Arbeiter?" Der Belgier versuchte, sie das zweite Mal zu unterbrechen.
„Die ganz besonders!" Die Französin stieß ihre Worte wie kleine Schreie in die Luft. „In der Rue Gabrielle wohnten viele solcher Lumpen. Einer war ein so armseliger Hahn, dass er nicht einmal das Anspucken wert war. ,Weib!' schrie er jeden Abend seine Frau an, in der Fabrik zwiebelt mich der Meister, und hier zwieble ich dich. Dort ist sein Revier, und hier ist mein Revier. Dort kann er schimpfen und prügeln, und hier schimpfe und prügle ich;' und dann fiel er über das zarte Persönchen her und schlug es, bis es zusammenbrach. Ha!" sie lachte schrill, „und so ein armseliger Kerl, so ein schwächliches Vieh, so ein Spitzbube soll seine Frau erhöhen und ihr die Freiheit bringen?" Sie hielt einen Augenblick den Atem an. „Auf den Friedhof hat er sie gebracht!" schrie sie dann.
„Hör auf! Hör auf!" rief jetzt der Schotte, der von seiner Höhe heruntergesprungen war und wollte der Frau den Mund zuhalten. Auch der Geduckte winkte mit beiden Händen und versuchte, die Frau zum Schweigen zu bringen. Sie ließ sich aber nicht beirren und schrie weiter.
„Ja," sagte sie giftig und schielte besonders den Geduckten an, „vor der Wahrheit haltet ihr euch die Ohren zu. Was richtig ist, wollt ihr nicht hören, hauptsächlich, wenn es euch sticht!
Ja, sticht!" wiederholte sie, als sie sah, dass der Geduckte den Mund aufriss. „Oder seid ihr etwa bessere Kerle?" Ihre Lippen wölbten sich rund. „Oder seid ihr etwa wirkliche Männer? Ha!" sie lachte. „So einen wirklichen Mann möchte ich schon einmal sehen!
Nein!" rief sie hastiger, „so sind sie alle! Auch ihr! Erst steigen sie einer Frau nach, und wenn sie sie dreckiggemacht haben, nennen sie sie ,Ferkel' oder ,Hure'. Erst stürzen sie sie ins Unglück und verführen sie, und wenn sie dann auf der Straße liegt, machen sie heilige Augen und sagen: ,Ist das ein schlechtes Mädchen!' Und warum werfen sie die Frau eigentlich so in die Gosse? Weil ihnen selbst der Schlamm bis zum Halse steht! Warum nennen sie sie Ferkel und Hure? Weil sie selber Ferkel und Hurer sind!
Und wer ist denn das größere Ferkel?" Sie stieß ihr Gesicht bis vor die Nase des Geduckten. „Der, der zu einem Ferkel geht oder das Ferkel selber?
Bäh!" plärrte sie auf, als sie sah, dass der Geduckte kaum sein Gesicht verzog, „aber sie werden schon noch einmal klug werden, die Hennen. Sie werden euch schon noch einmal auf den Kopf steigen! Euch die Krallen zeigen und die Hinterseiten, statt mit euch ins Bett zu gehen, und dann könnt ihr euch zusammenstellen und euch gemeinsam anblustern und bewundern, dann könnt ihr euch gegenseitig prügeln, an den Hals und in die Haare fahren und euch eurer Aufgeblasenheit rühmen!
Die Frau aber," sagte die Französin mit ihrer letzten Kraft, „die euch Hähnen dann trotzdem noch nachschielt oder nachläuft, der werden wir das schneller austreiben als euch lieb ist!"
„Bravo!" rief der Franzose, als die Frau sich keuchend aeben ihn plumpsen ließ.
Bravo!" schrieen auch der Schotte und der Krumme und schlugen die Hände zusammen.
Der Russe trat noch offener auf die Seite der Frau. „Es ist so", sagte er. „Der Mann denkt immer, er steht oben und die Frau steht unten und ist nur ein Tier. Deswegen prügelt er sie auch!"
„Und sie hat recht", sagte der Amerikaner, der aufgestanden war. „Der Mann ist das größere Ferkel, er ist ja der Stärkere. Kann sich die Frau überhaupt gegen ihn wehren? Wir haben in den Staaten schon unzählige Gesetze zu ihrem Schutz, und der Mann stößt weiter Hunderttausende auf die Straße!"
Die Männer wurden nach den Worten des Amerikaners still, „Dass es euch bald besser geht!" sagte der Franzose, der sich neben den Bebrillten gestellt hatte. Er trank einen Schluck aus seiner Flasche und gab der Frau danach die Hand.
Die andern taten dasselbe. Sie verbeugten sich sogar, bevor sie hinausgingen.
Du bist mutig!" sagte der Russe, und der Geduckte knuffte die jetzt wieder Lächelnde mit einem grunzenden, anerkennenden Ton in die Seite.
Dem Amerikaner, der den Raum zuletzt verließ, schloss sich die Frau an.
„Warum fährst du eigentlich zurück in dieses schlechte Europa!" fragte der Bebrillte langsam, während er steif und höflich vor ihrer Kabine stehen blieb.
Die Französin, die mit kleinen Schritten hin- und hertänzelte und ihre Zungenspitze sehen ließ, sah den Amerikaner erst eine Weile mit kleinen, halb zugedrückten Augen an.
„Höfliche Männer", sagte sie dann und stieß den immer steifer werdenden Mann leicht in die Seite, sind das beste. Aber sie dürfen dabei nicht kalt oder Eiszapfen werden!"
„Und! sie lachte einige Male auf und ließ auch ihre Zähne sehen, „bevor ich in dieser Höflichkeit einfriere, will ich mich in Paris noch einmal aufwärmen lassen!"

 

XXV.

„Heute Nacht kommen wir nach Southampton!" sagte der dicke Hofmeister zu den Männern, die gerade ihren Kaffee tranken.
„Es wird auch Zeit!" zischte der Krumme zu dem Beleibten hinauf, „Wenn ich noch drei Tage länger au! deinem Kahn bleiben müsste, könnte ich wahrscheinlich gar nicht mehr aussteigen!"
„Warum?" fragte der Hofmeister mit seiner tiefen Stimme und schielte den Krummen gefährlich an.
Der Krumme duckte sich erst hinter seine Kaffeetasse, bevor er antwortete. „Weil ich dann so dick wäre wie du!" sagte er leiser.
„Bist du vielleicht nicht sattgeworden?" brüllte der Hofmeister auf und schwenkte um den Tisch herum zu dem Krummen hinüber.
Sicher! Sicher!" sagte der Krumme lauter. „Zu satt!" und er strich sich über seinen eingefallenen Bauch.
„Das wollte ich dir auch geraten haben, du Schlingel!" prustete der Beleibte schon etwas freundlicher zwischen den Zähnen hervor. „Ich fahre außerdem 40 Jahre auf diesem Kasten, und es hat noch keiner behauptet, dass ihm auf der Überfahrt der Magen nicht richtig gestopft worden wäre!"
„Von innen oder von außen?" fragte der Schotte und sah den Beleibten herausfordernd an,
„Mit dem stinkenden Fisch oder dem faulen Fleisch?" Auch der Belgier starrte dem Beleibten ins Gesicht,
„Nein!" sagte der Däne. „Mit den Puddings und den Soßen aus der ersten und zweiten Klasse!"
Dem Hofmeister kamen die Angriffe unerwartet. Vier wäret) ihm zu viel für seine Beleibtheit, er zog es vor, sich ohne zu antworten zurückzuziehen, „Pack!" knurrte er nur grimmig, als er knallend die Tür zuwarf.
Die Männer halte der Zwischenfall belustigt. Sie lachten laut hinter dem Flüchtenden her. Die Ankündigung der Trennung machte sie aber gleichzeitig nachdenklich.
„Dann fallen wir also wieder auseinander", sagte der Franzose zu dem Schotten, als sie nach oben gingen.
„Ja", sagte der Schotte. „Ich fahre nach Dundee, und du fährst ja nach Marseille!"
„Nach Marseille!" sagte der Franzose nach. Sie traten zusammen auf das Deck. An der Reeling lehnten schon der Engländer, der Amerikaner, der Krumme und der Däne.
„Es war eine gute Kameradschaft, unsere Reise!" sagte der Franzose weiter zu dem Schotten. „Ich werde dich und die andern nie vergessen!"
„Hätte sie schlechter sein sollen?" fragte der Däne, „Es ist doch das einzige, was wir heute haben: Die Kameradschaft!"
Der Schotte nickte. „He!" sagte er, „wenn wir auch noch vergessen würden, dass wir alle zusammengehören, dann könnten wir uns begraben lassen!"
Der Geduckte, der sich herangeschoben hatte, meckerte auf- „Das passiert nicht", sagte er. „Das Zusammengehören steckt uns in der Nase und im Blute. Auf der Landstraße ist es noch schlimmer. Wir beriechen uns wie die Hunde, und erst wenn wir unsern gegenseitigen Gestank eingesogen haben, schütteln wir uns die Hände. Das hält dann aber auch bis ans Ende der Welt!"
„O!" sagte der Amerikaner, „in Amerika ist die Kameradschaft überhaupt groß. Sie gehört zum Lande. Es ist damit groß geworden, und sie wird dem Amerikaner in hundert Jahren sicher noch ebenso stark in den Knochen stecken!"
„Auch den Arbeitern?" fragte der Lange, „Ja!" antwortete der Amerikaner. „Besonders unter den eingesessenen Arbeitern. Du musst nur sagen, dass du ein ,Worker' bist, und sie nehmen dich in ihre Familie auf wie einen alten Freund!"
Ja," lachte der Krumme, „wie einen alten Onkel. Sobald du aber an sein bürgerliches Gemüt stößt, wenn du den Sozialisten sehen lässt und hinter der guten Aufnahme den wirklichen Arbeiter oder den brüderlichen und klassenbewußten Genossen suchst, ist es vorbei mit der Freundschaft!"
Der Amerikaner senkte den Kopf. „Nicht überall!" antwortete er dann, „Du findest auch den Genossen, In den Gewerkschaften! In den sozialistischen, in den syndikalistischen, in den kommunistischen Parteien. In den kleinen Kommunen, Manchmal auch ganz unerwartet in den Fabriken und in Versammlungen. Du musst nur nach ihnen suchen!"
„Das stimmt!" bestätigte der Däne. Als ich in Canton einmal festgenommen werden sollte, weil ich über die Freiheit in den Staaten geschimpft hatte, wurde ich von ein paar tüchtigen Schlossern wieder herausgehauen, und als ich am nächsten Tag doch festgenommen wurde, legten sie gleich zusammen und ließen einen der besten Anwälte aus Boston für mich kommen, der mich verteidigen sollte. Und dabei wussten sie nichts weiter von mir, als dass ich radikal sei und vom Sozialismus gesprochen hatte!"
Da solltet ihr erstmal die Ratten kennen lernen!" sagte der Schotte. „Das sind noch bessere Kameraden!"
„Die Ratten?" wiederholten der Däne und der Krumme und sahen den Schotten groß an.
„Ja, die Ratten!" Der Schotte putzte sich umständlich die Nasenlöcher, bevor er weitersprach. „Ihr kennt sie nicht! Es kennen sie überhaupt wenige. Aber es gibt Tausende davon in den Staaten. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Keiner kennt sie richtig!" „Und was tun sie?" fragte der Däne, „Das ist beinahe eine kleine Geschichte!" sagte der Schotte. „Aber ich will sie euch erzählen!"
Er setzte sich erst auf eine Taurolle, bevor er anfing. Auch der Krumme und der Geduckte hockten sich nieder. Der Franzose, der lange Engländer und der Amerikaner blieben vor ihnen stehen.
„Die Ratten sind eine Organisation von Revolutionären. Was sie wollen, wer sie sind, wer weiß das richtig? Syndikalisten, Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten! Alles passt auf sie, aber keines passt genau. Man weiß nur, wo irgend etwas geschieht, da sind sie, Deswegen hat sie der Bürger auch die Ratten getauft. Sie beteiligen sich an jedem Streik. Sie stecken zwischen jedem Aufruhr. Sie erheben überall ihre Gesichter! Manchmal nur einer, manchmal hundert*:. Und nie in der zweiten Linie. Immer in der ersten! Geduckt, flink, aufreizend! Die Faust erhoben! Sie sind die Spitzen in jeder Aktion und die Nachhut in jedem Rückzug. Dann verschwinden sie wieder. Beinahe unheimlich. Jeder spürt auch: Ihr Fortgang ist nichts weiter als eine Drohung. Sie kommen einmal zurück. Überall fasst man darum nach ihnen. Die Polizei, das Militär, die Bürger. Eine festgenommene Ratte ist ihnen oft mehr wert als ein niederkartätschter Streik. Das wissen die Ratten auch, und der Kampf um so einen Gefangenen ist das Heroischste in ihrer revolutionären Tätigkeit, aber zu gleicher Zeit auch das Lustigste. Besonders wenn man als Unbeteiligter dabei zusehen kann. Aber", der Schotte zog seine Beine an und strählte sich sein borstiges Haar nach hinten, „das muss ich euch genauer erzählen!
Also," er sah sich nach allen um, „es war gegen Ende 1913. Ich lungerte gerade zwischen Huerfano und Santa Fe oben in Colorado herum und besah mir den großen Kohlenstreik. Das heißt, ich habe mich auch daran beteiligt, soweit ich mich daran beteiligen konnte. Aber sobald meine Länglichkeit in die Schussrichtung von Kugeln kam, machte ich einen Bogen und tauchte erst hinter der Schießerei wieder auf!
Ihr dürft nicht denken, dass das Feigheit war. Wir machten das alle so. Deswegen blieb der Kampf auch immer im Gange, denn wenn die Milizen auf der einen Seite keinen Feind mehr sahen und schon Viktoria Schossen, saßen wir plötzlich in ihrem Rücken, und die Schießerei begann von neuem. Es ging natürlich wie in federn Streik. Es waren zu viele gegen uns. Zuletzt bezogen wir unsere Hiebe und kehrten willig in unsere Löcher zurück.
Die Milizen hatten nun ziemlich viel Gefangene gemacht. Manche ließ man nach dem Kampf gleich wieder frei. Viele saßen länger, und einige von den Ratten — es hatten sich viele an dem Streik beteiligt, weil er groß begonnen hatte und viel versprach — waren dazu verdammt worden, ewig zu. sitzen. Man hatte sie unier großer Bedeckung nach Santa Fe geschafft, und dort wurden sie so gut eingeschlossen, dass nicht einmal die Mäuse bis zu ihnen kommen konnten!
Dessen ungeachtet begannen die Ratten aber sofort ihre Befreiungsaktion. Sie fing so an: Erst zogen sich alle Ratten, die mit am Streik beteiligt waren, in Santa Fe zusammen. Es waren 50 bis 100. Dann kamen sie von den entfernteren Kohlenzechen. Aus Denver, vom Gebirge. Kurz, bald waren es gegen 400. Sie zogen nun den ganzen Tag durch Santa Fe. Sie bildeten kleine Züge und hielten Ansprachen. Sie schossen plötzlich alle ihre Revolver in die Luft und verdufteten dann wieder!
An den Abenden", der Schotte lachte, „trieben sie es noch toller. Den friedlichen Bürger hielten sie an und sagten ihm ernstlich, in dem Gefängnis von Santa Fe säßen ein paar Männer, und wenn diese nicht binnen acht Tagen entlassen würden, würde die ganze Stadt in die Luft fliegen. In die Kneipen drangen sie ein und in die Bars und verkündeten überall dasselbe. Die Stadtväter, die Polizeivorstände, der Bürgermeister, große Kaufleute bekamen noch ihre besonderen Besuche, und die ganze Stadt hatte schon so an die vierzehn schlaflose Nächte!
Als die Gefangenen aber trotzdem nicht frei gegeben wurden, wandte man schärfere Mittel an, ,Du gehst morgen zum Sheriff und bittest ihn, dass man die Gefangenen freilässt!" Damit bedrohte man den Fleischer, den Barbier, den Schankwirt, ach, alle Menschen, deren man habhaft werden konnte, und zeigte ihnen dabei große Revolver, dass diesen braven Menschen die Haare zu Berge standen, Die Bedrohten liefen auch sofort zu den Ämtern hin. Es hagelte Bitten und Bittschriften!
Als aber auch das nichts half, machte man die ersten Drohungen wahr. Scheunen brannten ab. Kleine Bauwerke flogen in die Luft. Man setzte auch verschiedene Bürger heimlich fest. Unter anderen den Pastor und ein paar Schullehrer. Und während der ganzen Zeit vergrößerte sich der Haufen der Ratten zusehends. Sie kreisten um Santa Fe wie der Geier um ein Aas. Wer es ihnen gesagt hatte, dass sie hier gebraucht wurden, weiß ich nicht. Aber sie kamen an, als hätten sie es gerochen. Von Kansas, von Tukoma, von Dalles, von Pittsburgh. Erst waren es fast alles Bergleute. Sie nahmen auch Arbeit an, denn sie mussten sich ja ernähren. Aber sobald sie aus dem Loch waren, standen sie auf der Straße, lärmten und bildeten Züge»machten Spektakel und knallten mit ihren Pistolen!
Später kamen auch Landarbeiter und Tischwascher. Menschen, die sich zu jeder Arbeit drängten, und bald waren die innere und die äußere Stadt überfüllt von ihnen ,Über tausend sind es schon, jammerten die Bürger und ihre Zeitungen!"
„Und die Polizei?" rief der Krumme dazwischen. „War die in die Ferien gegangen?"
„Abwarten!" antwortete der Schotte und maß ihn mit einem stechenden Blick. „Weder die Stadtväter noch der Sheriff saßen ruhig auf ihren vier Buchstaben. Sie liefen sich beinahe die Beine aus und taten alles, was sie gegen die heranziehenden Ratten tun konnten. Sie ließen von früh bis spät in die Nacht die Straßen abpatrouillieren. Sie steckten jeden Bürger, dem die Füße nicht zu sehr wackelten, eine weiße Binde an den Arm und hängten ihm ein Gewehr um. Sie ließen Militär kommen. Eine Maschinengewehrabteiltmg." Der Schotte lachte laut. „Selbst zwei große Panzerwagen. Aber was sollte das? Die große Masse der Menschen waren Fabrikarbeiter oder Bergleute, und die blieben passiv. Wenn man also die Ratten überfallen wollte, überfiel man gewöhnlich friedliche Bürger, Wenn gegen Umzüge Maschinengewehre ballerten, zersplitterten nur Häuser oder Kirchen, und manchmal verwundete man ein Kind.
Wirklich, wie die Ratten tauchten diese Brüder auf, teilten sich blitzschnell, wenn sie angegriffen wurden und standen an einer anderen Stelle genau so schnell wieder in einem Zug und demonstrierten weiter. Dabei waren sie kaum organisiert. Jeder tat nur seine Schuldigkeit: Die freie Zeit wurde für die Gefangenen verwendet! Sie hatten nicht einmal Meetings oder geheime Versammlungen, wir konnten das genau beobachten. Alles, was sie taten, wuchs erst während ihrer Aktionen. Nur wenn sie sich auf Plätzen oder vor dem Gefängnis trafen, staffelten sie sich zusammen. Aber dann sprachen die einzelnen nie zu den Ratten selber, sie richteten ihre Worte an die Vorübergehenden, an die Polizei, an die Stadt. Und alles waren nur Aufrufe für die Freilassung und für die Befreiung!
Als die Ratten nach Zeitungsmeldungen das dritte Tausend erreicht haben sollten, es waren aber sicher bloß tausend, ihre Aktivität steigerte sich nur täglich, wurde der Sheriff unruhig. Seine Unruhe steigerte sich noch, als neben den Söhnen einiger reicher Bürger auch sein eigener Sohn verschwunden war. Man sprach jetzt einige Tage davon, dass die Gefangenen nach Denver in ein größeres und besseres Gefängnis gebracht werden sollten. Nach Meldungen von dort dankte man aber für den Besuch, denn man hatte gehört, in welcher Weise die Ratten in und um Santa Fe hausten, und man wusste, ihre Scharen würden den Gefangenen bis ans Ende der Welt folgen!
Nun fing die Bevölkerung von Santa Fe an, teilweise aus Furcht, aber zum Teil auch aus Anerkennung für den Mut und die Ausdauer der Ratten, sich für die Gefangenen und ihre Befreiung zu begeistern. Man hörte immer aufmerksamer zu, wenn die Ratten in den Straßen sprachen. Viele zogen sogar in den Umzügen mit. Andere versuchten, mit gegen die Gefängnisse zu stürmen, und besonders wir Bergleute beteiligten uns beinahe jeden Tag stärker an den Aktionen!
Kurz," der Schotte schlug sich auf die Schenkel, „es dauerte im ganzen ungefähr drei Monate, bis die Stadtväter und der Sheriff kirre waren und plötzlich selber für die Entlassung der Gefangenen stimmten. Allerdings sollte vorher auch dem Recht genüge geschehen, und man inszenierte erst noch eine große Gerichtsverhandlung. Das war das Lustigste! Nach Hunderten von Zeugenaussagen stellte sich heraus, dass sich die Eingekerkerten nicht stärker am Streik beteiligt hatten als jeder andere, dass sie sich sogar zahmer und besser benommen hätten als viele, die zurzeit nicht im Gefängnis saßen. Ihre Einkerkerung wurde deswegen als eine Ungerechtigkeit bezeichnet, sie wurden außerdem noch am gleichen Tage von jeder besonderen Gewalttätigkeit, deren man sie bezichtigt hatte, freigesprochen und durften das Gefängnis verlassen."
Der Schotte sprang auf. „Das war ein Fest!" schrie er. „Ganz Santa Fe beteiligte sich zuletzt daran. Wir schossen und tranken und donnerten zu Ehren der Freigelassenen, und wo sich einer sehen ließ, hob man ihn auf die Schultern!"
„Und die Ratten feierten mit?" fragte der Däne.
Der Schotte sah den Dänen erstaunt an. „Was sollten sie machen? Als die Feierlichkeit am andern Morgen weitergehen sollte, hatten sie sich allerdings bereits gedrückt. Die Stadt war leer von ihnen. Sie waren verschwunden, wie sie gekommen waren. Unbemerkt! Heimlich! Wieder ganz die Ratten, und die Freigelassenen hatten sie mitgenommen!"
Der Franzose machte kleine, ungläubige Augen. „Ist die Geschichte auch wahr?" fragte er. „Was sagten denn die Bürger von Santa Fe, als die Ratten verschwunden waren?"
Der Schotte hielt seine Blicke aus. „O!" antwortete er, „sie sprachen weiter gut von den Ratten. Ja, nachdem die Verschleppten gleich nach dem Abzug wieder zum Vorschein kamen und erzählten, dass es ihnen außer der Einsperrung in einer alten, entfernten Scheune gut gegangen war, versuchte man sogar, den Sachschaden, den die Ratten angerichtet hatten, so klein wie möglich anzugeben. Die Scheunen, die niedergebrannt worden waren, sollten baufällig gewesen sein, und die zersprengten Häuser nannte man alte Budiken.
Das Hauptsächlichste aber," der Schotte machte große Augen, „was sich nach dem Abzug der Ratten die Bürger von Santa Fe sagten, und was sich auch tief in ihren Hirnen festsetzte, war die unumstößliche Tatsache, dass sie jetzt wussten, dass es noch Kerle unter den Arbeitern gab. Kerle, vor denen man Respekt haben musste und die über ihre bürgerliche Aufgeblasenheit, selbst über die eines Sheriffs und eines Bürgermeisters, wie Riesen ragten.
Wir Arbeiter dachten nicht weniger schlecht von den Entschwundenen. Uns war es plötzlich aufgegangen, dass proletarische Gemeinschaft und Genossenschaft nicht schon mit Debattierklubs, mit der Gründung von Arbeitervereinen und mit gewerkschaftlicher Organisation begänne, sondern erst mit Kameradschaft und Brüderlichkeit."
,Und tun sie das überall, diese Ratten?" fragte der Däne und sah den Schotten blitzend an.
Der Schotte, der sich an die Reling gelehnt hatte, schaukelte mit den Beinen. „Ich habe es in Santa Fe gesehen", antwortete er. „Und das genügt mir. Sie sollen es aber in anderen Städten genau so machen. Oben in Kanada und unten in Texas. Sogar in den kleinen Städten in Ohio und in Illinois."
„Und weiß man sonst nichts über sie?" Der Däne fragte wieder.
„Ist das notwendig?" sagte der Schotte. „Es genügt doch, dass sie überhaupt da sind. Dass sie auftauchen, wo sie gebraucht werden, und dass sie nie einen Streik oder streikende Arbeiter in Stich lassen.
Merk dir aber das von ihnen," sagte der Schotte noch, und er hob erst seine Hand, ehe er weitersprach, „sie sind die Hefe in dem großen Teig da drüben. Die ersten Bazillen im Blutkreise dieses riesigen Kapitals und die tapfersten Kerle zwischen Neuyork und San Franzisko!"
„Ja, das sind sie!" sagte der Geduckte laut und nickte dazu mit dem Kopfe.
„Kennst du sie auch?" fragte der Franzose.
„Gut!" antwortete der Geduckte. „Es sind Kerle wie Eisen, und sie fressen sich durch das Leben wie Dampfpflüge. Dabei haben sie keinen anderen Gedanken als immer zu revoltieren. Der Sozialismus sitzt ihnen in den Köpfen wie anderen Leuten das Paternoster. Und mit Marx und Bakunin, mit Engels und Krapotkin hauen sie um sich wie mit Säbeln und Knütteln. He!" der Geduckte sprach schneller, „trotzdem sehen sie oft gar nicht so aus, als ob sie für die große Brüderschaft der Arbeiter agitieren müssten. Ich bin manchmal mit einigen von ihnen getippelt. Zuletzt in Kalifornien. Sie haben ein weißes Fell und lange Fingernägel. Sie sprechen in allen Sprachen der Welt, und was sie wussten, lernt man nicht in den Klippschulen, sondern auf Universitäten und in den Städten.
Sie waren aber trotzdem die besten Kameraden, und sie stellten sich auch auf der Landstraße nicht dumm an. Dass ein Hemd am besten am Leibe trocknet, merkten sie schon am dritten Tage, und dass man unter einer Brücke oder in einem Stall wärmer schläft als unter freiem Himmel, das ist ihnen ebenso schnell aufgegangen."
Der Geduckte dachte einen Augenblick nach. „Die mit uns durch Kalifornien zogen," sagte er dann und sah den Schotten an, „tippelten im übrigen auch zu einer Gefangenenbefreiung. Sie wollten hinauf nach Oregon. Es saßen da oben ein paar Kameraden von ihnen, die sich geweigert hatten, Flinten zu nehmen und gegen die Deutschen zu ziehen. Sie waren aber auch in den Verdacht gekommen, eine Brücke gesprengt zu haben, und zwar eine Brücke, auf der man Kanonen nach Bridgeport fuhr."
Das haben sie damals, als die ganzen Staaten Eisen und Pulver fabrizierten, oft getan!" sagte der Schotte.
Ja," sagte der Amerikaner in die eingetretene Stille hinein, besonders in Pennsylvanien und in Virginia. Ich war manchmal mit dabei.
„Du!" Der Franzose und der Däne drehten sich um und sahen den Bebrillten mit erstaunten, aufgerissenen Augen an.
„Ich", antwortete der Amerikaner nur. Er lächelte.
„Und haben sie dich nie erwischt?" fragte der Däne und schob sich näher an den Bebrillten.
Doch!" sagte der Amerikaner. „Schon nach der vierten Explosion!" Er wurde weiß, und die Pupillen hinter den dicken Brillengläsern färbten sich mit. „Sie haben mich ja erst vor sieben Wochen wieder freigelassen!"

 

XXVI.

Es war am hohen Nachmittag. Die Sonne brannte aus kleinen Wolkenbergen. Überall lagen ihre Strahlen in großen, gelben, kreisrunden Flecken. Wenn sich das Wasser hob, zerliefen sie.
Manchmal kamen schnelle warme Winde: Es fehlte die salzige Schärfe. Noch mehr die schwere, schleppende Nässe. Sie rochen würzig nach Erde und Fruchtbarkeit, War das schon Landwind? Der Lange, der mit dem Amerikaner am Steuer lehnte, tastete mit großen Augen den Horizont ab.
Es standen aber nur zarte, hohe Wolkenbänke im Osten. Sie waren erst rosig und wurden bläulich. Dann schimmerten sie grün, und zuletzt färbten sie sich zu einem hellen, übersonnten Violett.
„Da flutet Schlick vorbei!" rief der Amerikaner, der auf das Wasser gestarrt hatte.
„Dja!" sagte der Lange, und er hob seine Nase in den Wind. „England ist in der Nähe. Ich schmecke es schon!"
Der Krumme ging vorbei. Nach ihm kam der Geduckte, Später ließ sich die Französin sehen.
Die Männer gingen nach hinten. Der Geduckte sah auf die quirlenden Schrauben.
Der Krumme lugte auch hinunter. Wenn er sich unbeobachtet wähnte, schielte er aber nach dem Langen. Sein Gesicht wurde dann klein und listig, und die Augen saßen darin wie angeblasene Kienhölzer.
„0!" sagte der Amerikaner, als er die Französin sah, „da kommt unser Mannweib!"
„Unser Mannweib?" Der Lange drehte sich um.
Die Französin ging vorüber. Sie sah nach dem Himmel, kehrte gleich zurück und lief mit schnellen, hastigen Schritten wieder nach unten.
„Das ist doch die Frau mit der züngelnden Zunge?" sagte der Lange.
„Aber gestern war sie ein borstiger Teufel!" antwortete der Amerikaner. „Ein Höllenprediger! Ein weiblicher Kapuziner! Hast du ihre Reden und ihr Geschrei nicht mehr gehört?"
Der Engländer schüttelte den Kopf. „Nein!" sagte er.
„Du bist vorher davongelaufen!" Der Amerikaner sah dem Langen in das magere Gesicht.
„Ja!" antwortete der Engländer. Er hielt den blinzelnden Blick des Bebrillten aus. „Ich bin zu der Jüdin gegangen!" setzte er nach einer Weile hinzu.
„Zu der Jüdin!" Der Amerikaner wiederholte das Wort.
In das Gesicht des Langen schoss eine Röte. „Das erstaunt dich wohl?" fragte er.
Da der Bebrillte nicht antwortete, sprach er weiter. „Das ist der Dreck in meinem Leben, diese dicken Weiber!" zischte er bitter. „Der Unflat!" Aber wenn ich eine sehe, so muss ich ihr nachlaufen."
Der Amerikaner nickte nur. Der Lange wurde dadurch auch schweigsam. Er bog und streckte bloß seine langen, schmalen Hände, und wenn er sie zurückschnellen ließ, krampfte er sie schmerzhaft in das Fleisch.
„Ich tue das schon seit meiner Kindheit," begann er dann stockend und mit kleinen Unterbrechungen wieder, „und wenn es dabei einen Schuldigen gibt, so war es unsere dicke, schwammige Amme.
Sie war die Frau unseres Gärtners", sagte er nach einer langen Pause und so sonderbar, als spräche er zu sich selber. „Sie war so aufgedunsen und fett, dass die Jüdin nur ein Klecks neben ihr ist. Sie kam aber regelmäßig alle 13 Monate in die Wochen, und von ihrem 17. bis zu ihrem 48. Jahre hat sie 21 tote und lebendige Kinder geboren.
Sie war außerdem neben kleinen Hausmädchen, die oft wechselten, und unserer blassen, immer kränklichen Mutter das einzige weibliche Wesen, was in und um unser Haus lebte. Es ist also nicht gerade ein Wunder, wenn sie langsam in meinem Hirn die Verkörperung alles Weiblichen wurde.
Dabei tat sie nichts mit mir, was schlecht war. Sie nannte mich und meinen Bruder sogar ihre Milchkinder, und wenn sie uns später zwischen ihre riesigen Brüste drückte, so waren das nichts weiter als Liebkosungen Aber uns, richtiger mir", der Lange schloss die Augen und schüttelte sich, „war es mehr. Diese großen Brüste, die immer aus dem nie geschlossenen Hemd hervorsahen, waren etwas Unheimliches und zu gleicher Zeit etwas Lockendes, was mich jedes Mal, wenn ich sie sah, zu ihnen hintrieb. Mit fünf oder sechs Jahren lief mir bloß das Wasser im Munde zusammen, wenn ich sie umfasste. Als ich größer war, wurde der Reiz aber gefährlicher. Er wurde ein Prickeln, das über den ganzen Leib lief, manchmal wurde es so stark, dass es wie ein Brand in meinen Kopf sprang und mich bissig und wütend machte. Es konnte dann geschehen, dass ich, ärgerlich über den roten Kopf, den ich zu gleicher Zeit bekam, in diese Brüste hineinkniff, derb, auch biss. Die Frau, die immer schrill aufschrie, gab mir aber nur einen Klapps und warf mich auf die Erde. Sie hielt es für einen Jungenstreich, den sie sich trotz des Schmerzes auch stets wieder gefallen ließ."
Der Lange schwieg einen Augenblick. Er war ruhiger geworden. „Ich könnte dir noch mehr über diese Frau sagen", sprach er langsamer. „Dass sie sich jeden Morgen unter unsere große Gartenpumpe stellte und sich das Wasser über Rücken und Bauch plantschen Hess, so dass ich, der ich immer hinter der Gardine auf diese Waschung wartete, auch ihren übrigen Körper sah. Dass sie auch sonst nicht besonders heikel war und fast nie die Nacht abwartete, wenn sich ihr zaundürrer Gustave mit ihr vergnügen wollte. Ja, dass sie nicht einmal immer in ihr Zimmer zu diesen Vergnügungen gingen, so dass ich durch meine täglichen Beobachtungen nicht nur ihren ganzen Körper gesehen hatte, sondern auch, aus was allem eine Ehe oder Liebe bestand.
Da ich weder bei meinen Eltern noch bei den dürren Mädchen, die hie und da sittsam mit einem jungen Mann vor unserem Hause hin und her gingen, etwas Ähnliches sah, wurde es mir täglich klarer, dass eine Frau dick und schwabblich sein müsse, wenn sie zur Liebe oder zu solchen Belustigungen taugen sollte, und da ich schon langsam in die ersten geschlechtlichen Träume und Wallungen hineinwuchs, dachte ich mir Tag und Nacht Paarungen mit solchen dicken, unförmigen Frauen aus.
In Oxford, wo ich sechs Jahre auf der Universität gesessen habe, setzten sich diese Paarungen fort. Erst weiter nur in Träumen. Eines Tages gingen wir aber, wir waren sieben junge Studenten, in ein Bordell. Es waren zwölf Mädchen da. und eine schon ältere, dicke Mutter. Jedes Mädchen bot sich mir an, aber ich wollte durchaus mit der Alten in eine Kammer. Schließlich ging sie auch mit.
Mit 21 Jahren hatte jeder von uns ein festes Verhältnis. Eine Professorentochter. Die Tochter eines Bürgers. Manche irgendein Mädchen aus den benachbarten Landsitzen. Nur ich lief noch ohne eine weibliche Hälfte herum, Da die andern spotteten, wollte ich mir eine suchen. Es war schwer. Wo ich sie suchen sollte, waren sie alle so dünn und stirrlich wie ich selber, und wenn ich auf irgendeine dicke Magd traf und mit ihr durch die Straßen promenierte, spotteten die anderen noch mehr. Zuletzt fand ich ein Mädchen, die eigentlich auch nicht viel mehr als eine Magd war, die ich aber, nachdem ich sie in alle möglichen Fahnen gesteckt hatte, doch als Lady ausgeben konnte, Die Geschichte kam leider heraus. Zu einer Abendfeier und einem großen Ball war die Haustochter meiner Magd anwesend, und durch ihren Protest und den der anderen Töchter flogen wir beide hinaus.
Diese Geschichte", der Lange sann einen Augenblick nach und schob seine Lippen nach vorn, hatte aber ein dummes Nachspiel, Meine Vorliebe für dicke Damen und besonders mein Umgang mit Mägden war von einem befreundeten Gutsherrn, der an diesem Ball teilgenommen hatte, meinem Vater mitgeteilt worden, und der Gute hatte sich darüber so aufgeregt, dass er beschloss, mich baldigst zu verloben und gleich nach der Beendigung meines Studiums zu verheirateten.
Er führte seinen Beschluss auch durch. In den nächsten Ferien glich unser Haus einer Mädchenpension. Ich weiß nicht, wo die Nichten, Basen und die anderen jungen Damen überall zusammengesucht worden waren, und es waren so viele und so verschiedenartige, dass wohl jeder von meinen Oxforder Freunden die Seinige oder die Richtige gefunden hätte, bloß ich fand sie nicht.
Sie waren mir alle zu schmal, zu unkörperlich, zu weich, ohne jede derbe Festigkeit, ohne Brust, ohne Bauch, ohne Schenkel. Gespenster, aber keine Frauen, Ich wusste damals allerdings noch nicht, dass meine Vorliebe für das Dicke etwas Krankhaftes oder nur Persönliches war, aber ich wusste, dass ich keine von diesen dünnen Winden heiraten würde, denn schon ihre Nähe war mir unsympathisch, ekelte mich, und eines Nachts entfloh ich ihrem Schwarm und reiste für den Rest der Ferien wieder nach Oxford und zu meiner Magd.
Später, in London, im Klub und während unserer nächtlichen Orgien wurde es etwas besser. Ich bekam mich so in die Gewalt, dass ich wenigstens zusehen konnte, wenn man die Straßenmädchen Kopf stehen ließ, oder sich sonst mit ihnen belustigte. Aber ich blieb stets passiv bei ihren Späßen und ließ mich bloß zu ähnlichen Orgien hinreißen, wenn es durchaus notwendig war.
Seitdem ich Tramp, Hilfsarbeiter und Schlepper bin," der Lange lachte hohl auf, habe ich es noch besser. Die Rücksichten und Beobachtungen sind fortgefallen, und ich kann tun, was ich will. In Amerika", er ließ die Lippen hängen, und seine Backenknochen wurden sichtbar, „gibt es nur wenig Auswahl unter den Dicken, daher bin ich ziemlich schnell bei den Negerweibern gelandet."
Der Lange schwieg nach diesem letzten Geständnis, und er fasste mit den schmalen Händen, die leicht zitterten, nach der Reling. Er schloss zu gleicher Zeit die Augen. Der Amerikaner, der eigentlich etwas sagen wollte, tat dasselbe. Er schob sich außerdem auf den Langen zu. Als seine Schulter die Schulter des Engländers berührte, blieb er stehen.
Während die beiden aneinander gelehnt, in das Wasser starrten, schlich der Krumme an ihnen vorbei. Er hatte den Langen weiter lauernd beobachtet, und als er gesehen hatte, dass dieser die Augen schloss und sich wie abwesend über die Eisenstäbe beugte, war er leise herangekommen. Nun stürzte er schon schneller und sich vor Übereile beinahe überschlagend die kleine Eisentreppe hinunter, raste an der Küche vorbei, durch den Essraum und in die schmalen Gänge zu den Kabinen.
Er suchte die Französin. Er hatte sie wie der Amerikaner kommen und wieder gehen sehen, und er wollte sie, da er endlich einmal den großen Augen des Langen entronnen war, aufsuchen.
Er horchte erst an der Tür. Dann trat er sofort in die Kabine ein. Die Französin war darin. Sie saß auf ihrem Bett und baumelte mit den Beinen.
„Ich bin ihm durchgegangen!" sagte der Krumme erfreut, als er die Französin sah. Er beugte seinen eingedrückten Kopf nach unten und stieß sich wie ein witternder Bock näher an die Frau.
Dem Langen?" fragte die Französin, die gar nicht erstaunt war, als sich das Bocksgesicht neben sie setzte. „Ja, dem Langen!" wiederholte der Krumme, „Ist er dein Bruder?" fragte die Frau weiter. „Nein!" der Krumme stemmte sich erregt auf und setzte sich wieder, „mein Schwager!"
Die Französin machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ach so," sagte sie leiser, du hast ja auch zwei Kinder!"
Die Erregung des Krummen ließ einen Augenblick nach. Et blähte sich auf. „Einen William und einen Richard!" sagte er stolz.
„Ist sie so groß wie der Lange, deine Frau?" Die Französin sah den Mann fragend an.
Der Krumme öffnete einen Augenblick den Mund. „Nein!" antwortete er. Er kniff danach seine Augen zusammen und umtastete die Französin zärtlich, und während er sich näher an sie heranschob, sagte et mit gespitzten Lippen: „Sie ist so groß wie du."
Auch blond?"
" Braun!" Der Krumme fasste die Frau schon an der Schulter und versuchte, sie an sich zu ziehen.
Die Französin wollte noch mehr fragen. „Und schlank?"
presste sie hervor. Der Krumme drückte sie aber bereits
an seinen Körper. Er hob sie dann etwas in die Höhe
und warf sich mit einem glucksenden Laut über sie. —
In dieser Zeit hatte sich der Lange, dem die Annäherung des Amerikaners wohlgetan hatte, wieder etwas beruhigt, und er setzte seine unterbrochene Beichte fort.
Kamerad!" sagte er und schielte den Bebrillten mit seinen glasig gewordenen Augen an, „und das bin ich nun. Beinahe ein Schwein, und ich werde die Sucht nach diesen dicken Weibern und die dicken Weiber selber nie wieder los!"
„Ist das so schlimm?" Der Amerikaner versuchte, den Engländer anzulächeln.
„Ja!" sagte der Lange. „Mir ist es eine Qual geworden. Ich schäme mich. Ich verachte mich. Ich halte es für etwas Schlechtes und Perverses!"
„Getan hast du dagegen noch nichts?
Der Lange lachte hart auf. „Alles!" antwortete er. „Aber was kann man gegen sich tun? Ich habe mich kasteit und habe mich gepeinigt. Ich habe mich mit Gewalt und mit Geduld ändern wollen. Ich bin dabei zum Asket und zum Büßer geworden, zum Frömmler und zum Säufer. Ich habe mich auch in noch tieferem Dreck gewälzt, und ich habe versucht, mich zum Heiligen zu verklären. Was hat es aber geholfen? Nichts!
Nein!" sagte er lauter, „gegen seinen Bauch ist der Mensch machtlos, und wenn man die Askese nicht bis zur Kastrierung treibt, bleibt man ihm auf ewig Untertan."
Der Lange schwieg wieder. Seine Beichte war jetzt auch zu Ende. Außerdem blitzte im Osten au! einmal Licht auf.
„Hallo!" rief er mit plötzlich veränderter Stimme und stellte sich straff in die Höhe, „das ist ja der Leuchtturm von Sankt Katherinen!"

 

XXVII.

„Bernd!" rief der Krumme während des Abendessens zu dem Geduckten hinüber, „heute müssen wir noch Abschied feiern!"
„Ja!" sagte der Schotte und nickte dem Geduckten auch zu, „einen lustigen Abschied."
„Ich stifte den Schnaps!" hüstelte der Franzose. Er versuchte zu lächeln und stand auf.
„Ich stifte die Musik!" Der Geduckte grinste. Er zog seine verbeulte Mundharmonika aus der Tasche.
Die Männer gingen langsam nach oben.
„Scheckiger!" sagte der Däne, der neben dem Schotten trottete, „morgen bist du also wieder in England!"
Der Schotte meckerte auf. „Ja," sagte er, „morgen spucke ich, wenn ich ausspucke, auf englisches Pflaster!"
„Bleibst du in England?" Der Däne sah den Schotten an.
Der Schotte meckerte lauter. „Nein! Nein!" antwortete er. „Ich habe in diesem Liliputanien, wo jeder Schuster und jeder Minister das Gefühl hat, dass er so weise und so gesalbt ist wie Salonio, weder auf etwas zu hoffen noch etwas verloren!"
Der Däne lachte mit. „Sieht es so schlimm aus in England?"
„So", der Schotte verzog sein Gesicht, „und noch schlimmer! Das Schlimmste aber ist, dass sich dieser kleine Dreckhaufen deswegen für den Dung der Welt hält und glaubt, die Erde könnte nicht ohne ihn leben."
Der Däne verstand den Schotten nicht, er sperrte bloß den Mund auf. „Glauben das alle?" fragte er dann.
„Jeder!" antwortete der Schotte. „Sogar der Arbeiter. Ihre Vorfahren haben die halbe Welt erobert, und nun glauben sie alle, die Lords wie die Landstreicher, sie hätten das Privileg, auf diesen Eroberungen sitzen zu bleiben, und sie möchten nichts weiter, als auf dieser Weit und auf der andern den liehen Gott spielen!"
Die Arbeiter sind aber tüchtige Kerle!" wandte der Däne ein. „Sie haben eine große Partei und beinahe die größten Gewerkschaften!"
Ja!" antwortete der Schotte Und klatschte seine Hände zusammen, „und die meisten Arbeitslosen, und die, die noch eine Arbeit haben, sitzen auch nicht im Paradiese!" „Und woher kommt das?"
Der Schotte wurde heftiger. „Weil die englischen Proleten glauben, ihre Partei- und ihre Gewerkschaftsführer sind ebenso weise und unfehlbar wie sie selber. Und da diese oberen Brüder nichts gegen die Armut und gegen die Arbeitslosigkeit tun, so sind nach ihrem Ermessen die Übel überhaupt nicht aus dem Königreich zu bringen, und es kann nur das eine getan werden, man muss sie mit Würde und Heroismus ertragen!"
Der Krumme, der hinter den beiden hergegangen war und die Worte des Schotten gehört hatte, wieherte wie ein Pferd und ließ seine dicke Zunge sehen, „Hoho!" krächzte er.
„Stimmt das etwa nicht, was ich da gesagt habe?" Der Schotte schnellte sich herum und stieß dem Krummen in die Seite. ,.Wie die Frommen in der Kirche, so sitzt ihr Brüder doch in euren Gewerkschaften, und eure Bonzen und Sekretäre sind euch heiliger und unantastbarer als den Katholiken die große Messe und der Papst!"
Der Krumme zog sich etwas zurück, „Wir sperren den Mund ebenso weit auf wie du, wenn wir in dieser Kirche sitzen!" brummte er und ließ seine Zähne sehen.
Diesmal wieherte der Schotte. „Ja, zum Halleluja und zum Amen! Weiter reicht es aber nie!"
Wird sich das nicht einmal ändern?" fragte der Däne. „Heute und morgen nicht!" Die Männer waren in den Tagesraum getreten, und der Schotte stellte sich groß vor den beiden andern auf,
Nein!" sagte er lauter, „und wenn es auch einer versuchte! Zum Ändern fehlt den Großen und den Kleinen unter den englischen Arbeitern der Mut und die Kraft!" „Oho!" krächzte der Krumme wieder.
„Weißt du vielleicht einen?" Der Schotte neigte sich und schob sich dem Krummen unter die Nase. Als der aber schwieg, wurde er bissig. „Wer steht denn an eurer Spitze!" schrie er eine Oktave höher, „sentimentale Kerle, die einmal irgendwo ihr Mundwerk aufgerissen haben, um ,Gerechtigkeit' zu plärren! Und das hat euch genügt, um sie ins Parlament zu schicken und an die Spitzen eurer Partei zu stellen. Aber warum auch nicht?" Er richtete sich wieder auf. „Das Plärren und das Maulaufreißen ist ja das einzige, was ihr tut und was ihr euch getraut!"
Der Krumme wackelte mit dem Kopf. „Als ob wir nicht auch Fäuste und Beine hätten. Wenn die Miners und die Eisenbahner, die Metallarbeiter und die Weber einmal aufmarschieren, wackelt das Land von einer Küste bis zur anderen."
Der Schotte äffte dem Krummen nach. „Fäuste!" wiederholte er. „Aufmarschieren! Wackeln! Als ob es ein englischer Arbeiter fertig brächte, sich gegen seinen Staat zu empören! Der geht ihm über Bauch und Hirn, und er wagt kaum, diese Fäuste in der Tasche zu ballen!"
„Unsere Parteien und unsere Gewerkschaften sind dir also ein Dreck!" Der Krumme kläffte wie ein getretener Hund.
Der Schotte war genau so geladen. „Nicht viel mehr! Warum habt ihr sie denn?" sagte er. „Sie sind so groß, dass sie ihrem Königreich samt ihrem Georg den Hals umdrehen könnten. Aber was tun sie? Es genügt ihnen, dass sie da sind und dass sie überhaupt leben und leben dürfen. Was sollten sie auch mehr? Sozialismus! Freiheit! Revolution! Es könnte ihnen allerdings das Hungern nehmen und die Armut. Es könnte aber gleichzeitig der weißen Weste und der Herrlichkeit des Landes schaden, und ehe ein englischer Arbeiter sein eigenes Pflaster bespuckt, zieht er es vor, zu verhungern oder zu krepieren!"
„Dass wir schon Arbeiterminister hatten und die halbe englische Kammer erobert haben, zählt bei dir wohl genau so wenig?"
Nicht einen Pfifferling!" brüllte der Schotte dröhnend. Besonders die Minister! Das ist nichts weiter als Klimperzeug, das man euch an die Brust gehängt hat. Orden für treue Dienste! Schellen für eure Dummheit! Und ihr seid natürlich auf diesen Schwindel hereingefallen. Ihr habt euch diese Dinger um den Hals gehangen. Habt euch vor den Arbeitern der andern Staaten damit gebrüstet! — Ja, das habt ihr! Ihr seid damit herumgelaufen wie aufgeblasene Wiesenfrösche!"
Der Schotte musste Atem schöpfen. Der Amerikaner, der Lange, der Belgier und der Franzose, die schon länger den Streitenden zuhörten, benutzten diese Pause und lachten hell auf.
Der Schotte ließ sich aber nicht stören. Er belferte weiter. „Und das Parlament!" rief er. „Ist euch das etwa schon von Nutzen gewesen? Dass da ein paar hundert Arbeitervertreter ihre Hosen auf den Staatsbänken wetzen, hat dir weder einen Schilling noch einen Sonntagsbraten eingebracht, und du krummer Hund bist so arm geblieben, dass du noch jedes Jahr nach Amerika auswandern musst, um nur wenigstens genügend Geld für Brot zusammenzukratzen! Was soll das also bei mir zählen?" Der Schotte fasste den Krummen mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn hin und her. „Nein, bevor ihr geliebten englischen Brüder nicht euren Nationalismus und eure Angst vor dem Ändern wie ein altes Hemd von eurem Leibe zerrt, wird bei euch auch nie etwas zu zählen sein!"
Der Schotte schwieg erschöpft und ließ den Krummen wieder los. Die andern sahen sich jetzt mit kleinen Augen an und wechselten verlegen und mit hüpfenden Bewegungen ihre Beine.
„Ja," hüstelte der Franzose nach einer längeren Pause, „es ist aber nicht nur der englische Arbeiter, der hinter seiner Regierung und seinem König wie ein Hund trottet, das ist ein allgemeines Übel, und in Frankreich ist es nicht viel besser!"
„O!" Der Däne stieß seinen Kopf nach oben und jammertet „und erst in Kopenhagen! Da haben sich meine Genossen jetzt eine sozialistische Regierung zusammengewählt, und der König sitzt als Ehrenmitglied und mit der ersten Geige in ihrer Mitte!"
„Wundert euch das?" sagte der Schotte, als er sah, dass die Männer erstaunt aufhorchten. „Ja," sagte er schneller, „soweit ist es schon mit uns gekommen! Da hat man uns seit drei Jahrhunderten soviel Respekt vor Königen und anderen hohen Herrschaften beigebracht, dass wir unsere Staaten nur noch zu demokratisieren und sozialisieren wagen, wenn sich dieses noble Pack mit demokratisieren und sozialisieren lässt. Wie eine solche Sozialisierung aussieht, kann sich wohl jeder von euch denken!"
Der Däne nickte. In dem demokratisierten Deutschland sieht es am schlimmsten aus. Die Arbeiter sind dort seit sieben Jahren am Verhungern!"
„Das sind sie!" bestätigte der Schotte, „und sie sind alle höchst verwundert, dass es ihnen trotz der immer gewünschten und endlich erkämpften Demokratie nicht besser gehen will, und wenn sie nicht eines Tages den ganzen Schwindel durchschauen und merken, dass ihnen da alles andere, nur keine Demokratie auf die Nase gesetzt worden ist, dann werden sie wohl für immer auf diese Ordnung verzichten und lieber wieder Monarchisten sein!"
„Ist das so schlimm?" fragte der Korrekte, der sich vorgedrängt hatte. Wir Holländer haben eine Königin, und das ganze Volk ist mit ihr und mit ihrer Regierung zufrieden!"
„Du!" sagte der Däne, und er stieß den Korrekten vor die Brust.
„Nein!" jammerte der Schwankende auf und hielt sich an dem Langen, der neben ihm stand, fest. „Alle!"
Der Belgier kam ihm zu Hilfe. „Es ist so", sagte er. „Diese Holzpantoffelhelden hängen an ihrer Königin wie die Hennen an ihrem Hahn. Sogar die holländischen Arbeiter. Ich habe viel mit ihnen zusammengearbeitet. T Rotterdam. In Utrecht. Wenn wir abends zusammenkamen und das Gespräch kam auf ihre Wilhelmine, da nahmen sie immer erst die Pfeifen aus den Zähnen!"
Ho! Ho!" Der Geduckte, der die Worte des Belgiers gehört hatte, lachte auf. „Das machten sie vielleicht am Tage," sagte er und steckte sein gelbes Gesicht durch die Männer, „wenn du aber nachts mit ihnen durch die Kneipen und durch den Hafen gebummelt wärest, hätten sie dir ein Lied über diese Wilhelmine vorgesungen, bei dem sie die Pfeifen nicht aus dem Munde nehmen!" „Ein Lied?" Der Belgier war erstaunt.
„Ja, ein Lied, willst du es hören?" Der Geduckte nahm seine Mundharmonika aus der Tasche und klopfte sie auf den gestrafften Knien aus.
„Du singst das nicht!" sagte aber der Korrekte zornig und versuchte, dem Geduckten die Mundharmonika abzunehmen.
Der sah seinen Bruder erst blinzelnd und warnend an. Als sich der Zornige stärker gegen ihn drängte, hieb er ihm mit einer schnellen Handbewegung gegen die Brust. Der Korrekte knickte zusammen und fiel auf einen Stuhl.
„Ist sonst noch einer da, dem das Lied in die Därme fahren könnte?" fragte der Geduckte vorsichtig.
Da aber die andern alle nur schweigend zu ihm hinsahen, hockte er sich auf einen Tisch, hob die Mundharmonika an den Mund und blies ein paar einzelne, hohe Töne.
„Singen!" rief ihm der Franzose zu.
„Singen!" sagten auch der Däne und der Amerikaner.
Der Geduckte nahm die Mundharmonika von den Lippen und steckte sie wieder zu sich. „Singen!" antwortete er und wackelte mit seinen ledernen Backenlappen, „das kann ich nicht!"
Als ihn der Belgier und der Lange noch dringender zum Singen aufforderten, probierte er es doch. Er spitzte die Lippen, Blechern und mühsam begann er:
„Wilhelminchen!
Artig Kindchen!
Komm von deinem Thron!
Du musst marschieren
Musst die Arbeit probieren!
Dein Land ist arm!"
Den zweiten Vers sang er schon lauter und schneller:
„Wilhelminchen! Klebe Tütchen! Mach es aber gut! Die Freiheit ist geboren! Die Freiheit ist geboren! Lang lebe die Freiheit!"
Die Männer, die zuerst nur zugehört hatten, sangen den zweiten Vers wuchtig und in allen Stimmen mit. Der Belgier und der Däne brüllten am lautesten.
„Ja!" wiederholte der Franzose, als die Männer erschöpft und lächelnd schwiegen, „lang lebe die Freiheit!"

 

XXVIII.

Die Tür ging auf, und der Steward brachte den Schnaps. Es waren sechs große Flaschen, und er stellte sie einzeln auf den runden Tisch.
„Auf alle Schotten!" sagte der Belgier und blinzelte zu dem Gescheckten hinüber.
„Ja", knurrte der Krumme und nahm auch eine Flasche. „Besonders auf ihr großes Maul!"
Der Schotte hob die Hand und wollte den Krummen schlagen. Der Franzose stellte sich aber dazwischen und hielt die Hand des Schotten fest.
„Wir wollen Freundschaft halten!" sagte er, „und lieber auf die Einigkeit der Arbeiter trinken!"
Und auf die baldige Revolution!" schrie der Däne.
" Auch auf Russland!" Sogar der Amerikaner nippte mit aus einer der großen Flaschen.
„Ja!" stimmte der Franzose zu, „besonders auf den Mut und die Tapferkeit der russischen Proletarier!"
Alle tranken eine Weile, währenddessen kamen der Deutsche und der dicke Holländer herein.
Der Deutsche sah sich schielend um und verkroch sich dann in eine Ecke. Der Dicke hinkte langsam auf die Trinkenden zu.
„Setz dich!" rief der Schotte und knickte ihn auf einen
Stuhl.
„Danke", lispelte der Dicke. Er griff nach der Flasche, die ihm der Franzose reichte und versuchte, sie in den Mund zu stecken.
Es war schwer. Er hatte noch immer gesehwollene Lippen, und mit seinem rot und schwarz und blau betupften Gesicht sah er aus wie ein angefaulter Fliegenpilz.
In der Zeit schob der Geduckte einige Tische zusammen und stellte einen Stuhl hoch zu einer Musikantenempore.
„Gibt es einen Tanz?" fragte die Französin.
„Einen Ball!" antwortete der Geduckte. Er kletterte hinauf und klemmte sich den Stuhl zwischen die Beine.
Die Französin machte große Augen. „O!" pfiff sie durch die Zähne und hüpfte kindlich in die Höhe. Dann besann sie sich.
„Dazu muss ich mich umziehen", sagte sie. Sie drehte sich in einem wilden Wirbel bis zur Tür und sprang hinaus.
Der Geduckte spielte eine schnelle Melodie.
„Das kenn ich!" rief der Schotte. „Es ist ein Negerlied." Er stampfte mit beiden Füßen gegen den Boden und sang.
„Jon Henry sagt zu seinem Meister, ein Mensch ist nur ein Mensch, und ehe ich sterbe in dem Dampf, nehme ich lieber den Hammer in die Hand!"
„Das habe ich auch schon gehört!" sagte der Belgier. „Das grölen die schwarzen Brüder in Pittsburgh vor den Hochöfen!"
„Und", rief der Krumme, „in Colorado in den Kohlengruben sangen es die Neger auch!"
„Es ist ein tapferes Lied!" sagte der Franzose und griff wieder nach seiner Flasche.
Der Geduckte lachte. „Die Neger sind überhaupt tapfere Kerle!" schrie er von seiner Höhe.
„Nicht alle!" wandte der Krumme ein. „In Colorado gab es immer einige Hundert, die uns bei jedem Streik in den Rücken fielen!"
„Ist euch das in die Nase gefahren?" fragte der Geduckte und blinzelte mit den Augen.
„In die Nase und in den Verstand!" antwortete der Krumme. „Die Schwarzen sind Arbeiter wie wir, und wenn sie Streikbrecher werden, sind sie Verräter!"
Der Geduckte lachte giftig. „Dass die Schwarzen Arbeiter sind, ist euch aber sicher immer erst eingefallen, wenn ihr auf der Straße lagt. Ich kenne die Schwarzen in Colorado, und es hat mir noch keiner erzählt, dass er auch nur ein einziges Mal von euch wie ein Arbeiter oder wie ein Kamerad behandelt worden wäre!"
Der Schotte nickte und zeigte seine Zähne. „Sie nehmen die Neger ja nicht einmal in ihre Bergarbeiterverbände auf, diese Arbeiter-Gentlemen in Colorado, und wenn ihnen sonst ein Farbiger zu nahe kommt und sie brüderlich in seine Arme schließen will, dann rümpfen sie die Nase und spucken sogar vor ihm aus!"
„O!" sagte der Franzose. „Meine weißen Genossen in Saint Louis und Neuorleans taten dasselbe!"
„Und solche Leute sagen dann, sie kämpfen für den Sozialismus!" stichelte der Däne.
„Und für die Freiheit!" belferte der Schotte hinterher. „Das ist ein schlimmes Kapitel in der amerikanischen Arbeiterbewegung!" gab der Bebrillte zu. „Anstatt ihrem bedrückten und geplagten Bruder Neger zu helfen, haben sie ihn mit erniedrigt. Und die Steine, die sie nach ihm
geworfen haben, sind nicht einmal die kleinsten gewesen!"
Der Geduckte sperrte den Mund auf. „Du tust ja genau so, als ob die Schwarzen von den weißen Tagelöhnern heute besser behandelt würden!" sagte er.
„So ist es auch!" antwortete der Amerikaner. „Und es sind nicht nur wir Anarchisten und Syndikalisten. Sogar die Kommunisten und einige Sozialisten nehmen sich der Colouredleute an!"
Der Geduckte schlug sich auf die Schenkel. „Also schon beinahe ein Vierteldutzend!" grölte er auf.
„O!" sagte der Lange und stellte sich neben den Bebrillten, „in Neuyork und in Boston, in Washington und in Chikago treten bereits Bürgerliche für den Neger ein."
Der Geduckte grölte noch lauter. „Ja!" sagte er, Pietisten und verkommene Heilige, die sich hinter der Bibel verstecken und ihren geliebten schwarzen Brüdern für das Brot, was sie auf der Erde zu wenig bekommen, das himmlische Manna versprechen!"
„Aber!" Der Geduckte streckte sich hoch, „Sie pfeifen ja Gott sei Dank schon auf den ganzen weißen Schwindel und auf die heiligen Versprechen, ob sie nun vom Arbeiter oder vom Bürger gemacht werden, denn sie wissen: der Weiße ist ihr Feind, nichts weiter, und er wird es so lange bleiben, bis er sie genau so behandelt, wie er selber behandelt sein will!
„Was werden sie aber bis dahin machen?" fragte der Franzose,
Der Geduckte presste die Lippen zusammen. „Das lässt sich weder sagen noch prophezeien!" antwortete er. „Die mit mir auf der Landstraße lagen, sprachen zum größten Teil in frommen Versen, wenn sie von sich selber redeten. Wir sind das auserwählte Volk! sagten sie, und wir warten darauf, dass uns Gott einen Moses sendet und uns aus unserem Elend in das verkündete gelobte Land führt!"
„Es gab aber auch solche, die sich klar waren, dass sie nicht auf den himmlischen Moses warten müssen, und wenn da irgendwo ein richtiger Kerl aufsteht und die andern zum Auszug oder zur Befreiung aufruft, dann werden die tapferen Schwarzen auch ohne den Himmel in ein ,gelobtes Land' kommen!"
Der Lange und der Amerikaner lachten. „Hoffen wir es!" sagten sie.
„Ja! Hoffen wir es!" rief der Franzose lauter. Sie stießen alle drei mit den Flaschen an.
Es war nun eine Weile still. Die Männer tranken nur und sahen sich dabei groß und lächelnd in die Augen.
„Teufel!" sagte plötzlich der Krumme, und er wandte seinen Kopf nach allen Seiten, „wo stecken eigentlich die Frauen?"
Auch die andern drehten sich um. In den Ecken saß bloß der Deutsche und gegenüber, an einem Fenster, lehnte der Heilige.
„Sie machen sich schön!" sagte der Geduckte geheimnisvoll. In dem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und die Frauen traten herein.
Zuerst kam die Jüdin. Sie hing in einem langen, gelben Seidenkleid und sah aus wie eine zu große, etwas überreife Zitrone.
„Himmel!" lobte der Schotte und schnalzte mit der Zunge. „Ein beflügelter Elefant!"
Die Französin war hübscher. Über ihren runden Schultern hingen zwei violette Träger, die kurz über ihren Brüsten in einen roten, hängenden Rock überliefen.
„Sind wir nicht schön?" sagte sie und stellte sich knixend vor die Männer.
„Sehr schon!" sagte der Krumme. Er näherte sich und steckte einen Finger zwischen die Lippen.
Mit ihm näherten sich der Belgier und der Korrekte. Der Belgier trat zu der Jüdin und fasste sie um die Hüften. „Wollen wir tanzen?" fragte er sie.
„Musik!" schrie zu gleicher Zeit der Schotte zu dem Geduckten hinauf. Er schnellte an dem Korrekten und an dem Krummen vorbei, fasste die erstaunte Französin und hob sie in die Höhe.
Der Geduckte spielte zuerst einen Dreher. Der Schotte hob die Französin bis an seine Schulter und schwenkte sie wie einen Propeller.
Dem Belgier fiel das Tanzen schwerer. Die Jüdin versuchte,
sich nach dem schnellen Takt zu drehen, sie verlor aber das Gleichgewicht und klatschte auf den Boden.
Autsch!" schrie der Krumme, dem sie auf die Beine gefallen war.
Den zweiten Tanz machte der Korrekte mit der Jüdin. Die Frau hatte den dürren Holländer zwischen ihre Brüste gepackt, und er hing so in ihrer Fülle, als wäre er angewachsen.
Die Französin tanzte mit dem Dänen, und der Krumme, der sich nach ihm mit ihr drehen wollte, scherbelte schon mit kleinen, hüpfenden Bewegungen um die beiden herum.
Nach dem fünften Tanz machten sie eine Pause. Sie wollten trinken. Der Schnaps war leider bereits ausgetrunken, und der Franzose lief hinaus und rief nach dem Steward.
„Jenetta!" sagte er, als er wieder zurückkam, und er fasste die Französin um den Leib, „du könntest eigentlich allen, die nicht tanzen, einen Kuss geben!"
„Da!" sagte die Frau. Sie spitzte ihren Mund und küsste den Franzosen,
„Mich auch!" jammerte der Dicke, und er stemmte sich von seinem Stuhl hoch.
Die Französin nahm ihn behutsam zwischen ihre Hände. „Den auf die Nase", sagte sie. „Den auf das kaputte Ohr!" Als der Dicke aber noch einen Kuss auf den Mund haben wollte, gab sie ihm einen leichten Klaps und schob ihn wieder auf seinen Stuhl.
„Und du!" sagte sie dann und trat zu dem Amerikaner.
Der wurde rot wie ein Schuljunge. „O!" stammelte er. „O!" Er wollte sich hinter einen Stuhl flüchten. Die Frau war aber schneller und fasste nach seinem Hals. Sie zog ihn langsam zu sich herunter.
Aber auch die Tänzer wollten nun einen Kuss haben. Der Krumme, der schon betrunken war, packte die Französin am Kopf und riss sie in seine Arme.
„Hallo!" schrie der Schotte und nahm sie ihm wieder
fort. Du willst uns das Frauenzimmer wohl auffressen!"
Da sich noch mehr Männer um die Frau stritten, stürzte
sich der Geduckte von seiner Höhe und schlug die
Kämpfenden auseinander.
„Antreten!" brüllte er dann und stellte den Schotten an die Spitze. Die andern mussten sich neben ihn stellen und er richtete sie aus.
Die Französin, die dem Geduckten mit blinzelnden Blicken zugesehen hatte, bog erst verschämt ihren Kopf nach unten, als sie die ganze Reihe mit großen Augen und aufgerissenen Mäulern anstarrte. Plötzlich züngelte sie und ging mit vorsichtigen Schritten an den ersten heran.
So!" sagte sie, als sie die ganze Front abgeküsst hatte, und zeigte mit beiden Händen auf die Jüdin, „nun soll die Gelbe dasselbe tun!"
Die Jüdin kam auch gleich heran. Sie stülpte ihre Lippen nach vorn und fasste den Schotten an der Schulter.
Puh!" sagte der Abgeschleckte und schüttelte sich. „Das Riesenweib hätte mich beinahe verschlungen!"
Die andern waren freundlicher zu der dicken Frau. Der Krumme und der Korrekte küssten sie sogar zweimal.
Als sie den Korrekten erreicht hafte, stieg der Geduckte auf seinen Thron zurück, und der Tanz ging weiter.
Die Männer und Frauen drehten und wirbelten sich herum bis Mitternacht. Sie tanzten aber nicht mehr zu zweit. Sie hatten sich alle miteinander bei den Händen genommen, und sie traten den hölzernen Boden, als müssten sie ihn bis hinab in das Wasser stampfen.
Da die Männer immer wieder nach den Flaschen griffen, waren sie bald betrunken. Sie hatten große, glasige Augen, und wenn sie sich berührten, schlügen sie sich patschend auf die Hinterseiten oder sie zeigten sich grinsend und glucksend die Zähne.
„Freunde!" sagte der Franzose, als sie endlich ganz erschöpft waren und in die Stühle fielen, „das war ein guter Abend! Das war eine gute Nacht! Darauf sollten wir noch einmal trinken!"
„Ja!" lallte der Däne und hob eine Flasche, „besonders auf die, die uns morgen verlassen!"
Der Franzose, dem der Schnaps schon das Wasser in die Augen trieb, nickte. „Also auf euch!" sagte er.
Er war aufgestanden und lief mit kleinen, unsicheren Schritten zu dem Schotten. Der Schotte stemmte sich auch in die Höhe. Sie fielen sich beide in die ausgebreiteten Arme.
Der Belgier packte in der gleichen Zeit nach dem Krummen. Selbst dem Langen fielen die Männer um den Hals. Zuletzt war im ganzen Raum nur noch ein einziges Umarmen.
„Kamerad!" sagte unterdessen der Franzose leiser, und er führte den Schotten abseits, „du sollst unsere Reise und mich nicht vergessen. Ich will dir etwas schenken." Er holte mühsam ein Bild aus der Tasche und drückte es dem Überraschten in die Hand. „Meine Frau ist darauf und die Kinder!" sagte er.
Der Schotte bekam nasse Augen, und er wischte sie sich behutsam wieder aus. „Danke!" sagte er. „Ich danke dir!" Er machte ein paar kleine Verbeugungen und steckte das Bild zu sich.
Auch der Krumme wurde beschenkt. Der Däne gab ihm eine silberne Nadel, und der Belgier steckte ihm ein Taschenmesser zu.
„O!" lallte er erfreut und streckte seine Hände nach allen Seiten, „jetzt sollten wir uns noch einmal küssen!"
Bevor er aber die Frauen, die ihm von dem Korrekten und dem Amerikaner zugeschoben wurden, umfassen konnte, trat der Offizier vom Dienst in den Raum.
„Feierabend!" schrie der kleine, uniformierte Mann mit einer lauten, belfernden Stimme.

 

XXIX.

Es war noch nicht sechs, da lief der Steward schon durch die Gänge und läutete. „Aufstehen!" rief er. „Wir sind in Southampton!"
Der Lange sprang auf. Er rüttelte den schnarchenden Krummen wach und zog sich an. Danach stieg er nach oben.
Wirklich! Das war die Küste von England! Rechts der Felsen und Wiesenblock war die Insel Wight. Links lag die Einfahrt zum Southamptoner Hafen, und was sich da hinten aus Nebel und Wasserdunst hob, war der Schornstein und Masten-Igel Southampton selber.
An dem verankerten Schiff lag auch schon der kleine Kutter, der sie nach der Stadt hinüberfahren sollte. Die Matrosen luden Koffer und Kisten hinein, und aus dem Kutter lud man dafür Gemüse und Obst.
„Ihr geht wirklich?" sagte der Franzose, der bereits seit einer halben Stunde auf dem Deck hin- und herging.
Der Lange nickte,
Der Belgier und der Däne ließen sich sehen. Sie hatten kleine Augen und schwankten noch.
„Das ist also England!" sagte der Däne, und er streckte sein aufgeschwommenes Gesicht über die Reling.
Ja, und eine seiner stachlichsten Ecken!" sagte der Franzose. „Dort!" er zeigte über das Wasser, „und dort! Das sind alles Forts und große und kleine Kanonen!"
Der Däne legte die Hand über die Augen. „Sie sehen aus wie Warzen!" sagte er.
Der Krumme stolperte zu den Männern. Er hatte die Augen noch zu, die übergestreiften Hosen hielt er mit den Händen, und auf seinem eingedrückten Kopf standen die Haare so steif wie Drahtborsten.
„Fährst du schon fort?" schrie er heiser und stürzte sich auf den Langen.
Der Franzose und der Belgier lachten. „Nein!" sagte der Lange. „Wasch dich nur erst!"
Der Krumme beruhigte sich. Er ließ sich von dem Belgier die Hosen festknüpfen und stolperte zurück.
Der nächste, der heraufkam, war der Schotte. Er hatte sich eine große gelbe Schleife umgebunden, trug einen schwarzen Rock und sah so feierlich aus wie ein Hochzeiter. „Donnerwetter!" schrie der Geduckte, der hinter ihm hergeschlichen war, „ist die Braut schon in der Nähe?"
Der Schotte kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Halt das Maul!" sagte er.
Selbst die Frauen kamen die Treppe heraufgeklettert. Die Französin war gelb, und unter ihren Augen hingen bläuliche Tränensäcke. Sie hatte sich nur einen grünlichen Mantel umgeworfen, und die Haare hingen ihr, eilig zusammengebunden, hinten im Hals.
Die Jüdin sah frischer aus. Auch angezogener. Auf ihrem großen Kopf saß ein umgeschlagener Filzhut, und an seinen Rändern baumelten rote Rosen.
„Du fährst fort?" fragte sie und trat zu dem Langen.
Der Lange, der nach dem Land starrte, drehte sich erschrocken um, als er die Stimme der Frau hörte.
„Sicher nach London?" fragte die Frau schon weiter
Der Lange schielte ängstlich nach den andern Männern. Erst als er sah, dass sich keiner um ihn kümmerte, antwortete er bissig und zischend: „Ja, nach London!"
„O!" die Jüdin schob sich näher zu ihm heran und sagte, ohne die Stimme zu dämpfen, „warum bist du nicht noch einmal gekommen? Ich habe die ganze Nacht auf dich gewartet!"
Dem Langen klappte der Mund nach unten, und er wurde so steif und weiß wie ein Wachslicht. Geh!" zischte er dann giftig und stieß sie auf die Seite.
Der Krumme kam zum zweiten Mal. Er hatte jetzt ein rot und grün getüpfeltes Tuch um den Hals, und um Brust und Bauch schlotterte ihm ein zu großer, altväterlicher Tuchrock. Hinter ihm kamen eilig der Deutsche und der Amerikaner.
Eine Glocke schlug an. Die Matrosen schoben die Laufplanken von dem Schiff zu dem Kutter, und ein hagerer Offizier jagte um das ganze Deck und schrie krächzend: „Einsteigen!"
Die Männer fielen sich noch einmal um den Hals.
„Auf Wiedersehen!" sagte der Franzose, und er patschte dem Schotten zärtlich auf die Schulter.
„Auf Wiedersehen!" antwortete der Schotte. Er winkte den andern mit dem Hut und balancierte als Erster über die Laufplanke.
Der Zweite war der Lange. Er machte große, eilige Schritte. Die Jüdin, die ihn nicht verlassen wollte, lief ihm mit kleinen, schnellen Schritten nach.
„Du!" schrie der Geduckte, der es sah, und packte den Langen am Rockschoß. „Deine dicke Liebste will mit!"
Der Lange drehte sein zorniges, spitzes Gesicht nach dem Geduckten und zerrte sich los.
Aber auch die Jüdin wurde aufgehalten. „Halt!" sagte einer der Matrosen und spannte seine Arme auseinander. „Du fährst doch mit bis Rotterdam!"
Der Krumme verabschiedete sich am längsten. Sogar der Deutsche nahm ihn in seine Arme, „Lass es dir gut gehen, du verdammter Sozialist!" sagte er. Sie hielten sich an den Köpfen und rieben sich Backen und Nasen.
Der Französin näherte er sich zuletzt.
„Weinst du nicht, dass ich fortgehe?" flüsterte er und drückte sich die Frau an die Brust.
Nein!" lachte die Französin und machte sich wieder frei.
Er drückte die Augen zusammen und zog einen Fluntsch. „Ich glaube, du bist nicht einmal traurig!" sagte er.
„Schafskopf!" antwortete die Französin. Sie lachte lauter und stieß ihn auf die Laufplanke. „Du solltest jetzt lieber an deine Frau denken!"

 

XXX.

Der kleine Kutter schwebberte wie eine Nussschale in den hohen Wellen. Er spuckte tiefschwarzen Rauch, und seine Schraube fauchte und knurrte wie ein großer Kater.
Die Männer sahen ihm nach. Sie winkten hinter ihm her, bis er in der inneren Hafenöffnung verschwand.
„Heute Nacht lande ich auch!" sagte der Franzose zu dem Dänen.
„In Boulogne?" fragte der
„Ja, in Boulogne!"
Sie gingen langsam hin und her und sahen nach der Insel Wight hinüber.
„Meine Frau ist mit den Kindern schon dort!" sagte der Franzose nach einer langen Pause, Er lächelte leicht und hob dabei seine dünnen Hände.
„Hast du ihnen geschrieben?" fragte der Däne,
„Ja, ich habe gedacht, es ist besser!"
„Warum?" Der Däne sah dem Franzosen ins Gesicht.
Der Franzose blieb stehen, „Sie sind doch hinter mir her!" Er stemmte sich auf die Reling und schloss die Augen,
„Weil du desertiert bist?"
Der Franzose nickte, „Wenn sie erfahren haben, dass ich heute komme, so holen sie mich gleich vom Schiff!"
„Weiß das deine Frau auch?"
„Nein!" antwortete der Franzose. „Aber so kann ich sie und die Kinder noch einmal sehen, bevor sie mich einsperren!" Er schüttelte sich und stemmte sich fester.
Der Belgier ging vorbei.
„Wir fahren wieder!" rief er dem Dänen zu. „Dort!" er zeigte nach der Küste, „das Häusermeer ist schon Portsmouth!"
Der Däne lief zu ihm hinüber. Die Festung hob sich aus dem Wasser wie ein gewaltiger, steinerner Berg, Vor dem Hafen kreuzten einige Torpedoboote. Sie fuhren Spiralen und tänzelten auf den Wellen wie große Fische.
„Kanonen!" sagte der Däne und wies auf die dunklen Rohre, die über die schwarzen Schiffsleiber standen.
Der Belgier lachte. „Das ist das Gesicht John Bulls!" sagte er, „und das Ganze sind ein paar seiner kleinen bluthungrigen Wasserwanzen!"
Auch eine Fischerflotte war zu sehen. Sie brauste heran wie ein Schwarm ausgewachsener Möwen, und ihre Segel lagen so tief, dass sie beinahe das Wasser berührten.
Der Dicke und der Russe näherten sich.
„Das ist ein fruchtbares Land!" sagte der Dicke. Er kniff die Augen zusammen und tastete das Land ab.
Der Belgier tat dasselbe. „Deswegen sitzen auch keine Bauern darauf", sagte er.
Der Dicke drehte sich um und sah ihm in die Augen.
„Da sind doch aber Häuser!" sagte er. „Stehen sie leer?"
„Das sind Schlösser!" antwortete der Belgier. „Darin wohnen die englischen Grafen und die englischen Lords!"
„Grafen?" Der Dicke dachte eine Weile nach. „Und denen gehört die ganze Küste? Die fette Weide? Der hohe Wald?"
„Alles!" Der Belgier nickte mit dem Kopfe.
„Wo sitzen denn dann die Bauern in diesem England?" Der Dicke kam näher und schob sich an den Belgier heran.
„Dahinter!" sagte der, Dahinter! Der Bauer kommt überall erst nach dem Grafen!"
„Ja," sagte der Russe, „in Russland war es früher ebenso, Ach," er lächelte leicht, „noch viel schlechter! Alles gehörte dem Herrn. Dem Bauer gehörten nur die Steine. Die Steppe. Ein mageres, dürres Äckerchen, Ein winziges Äckerchen." Er breitete seine Arme aus, „So groß! Es langte kaum für eine Kuh!"
Der Dicke tat erstaunt, „Ihr habt aber leben müssen!" sagte er.
„O!" der Russe hob seinen Kopf, „wir waren doch Knechte! Jeder arbeitete, bevor er auf sein Äckerchen ging, auf dem Herrenacker, Es gab nicht viel dafür.
Etwas Weizen. Ein paar Kartoffeln. Die Meisten von uns hungerten auch immer!"
Der Dicke machte große Augen und schüttelte sich. Das habt ihr euch gefallen lassen?" sagte er.
Der Russe nickte. „Was sollten wir tun?" antwortete er leise. „Mit den Herren war das Recht. Auch der Richter. Wer den Mund auftat, wurde geprügelt!"
Der Dicke stemmte sich in die Höhe. Er sah den Russen verächtlich von oben bis unten an. „Ich hätte diese Hunde wieder geprügelt!" krähte er.
„Du!" zischte der Belgier laut. Er lachte auf und stieß den Dicken in die Seite.
Der Däne lachte genau so. „Du bist ja ein recht tapferes Bäuerlein!" sagte er. „Wo kommst du eigentlich
her?"
„Aus Kanada!" rief der Dicke stolz. „Dort ist jeder
Bauer ein tapferer Kerl!"
„Du bist aber doch ein Holländer!" sagte der Däne.
„Ja! Aus der Gegend von Harlem! Ich bin vor sieben Jahren ausgewandert!"
Der Däne schielte ihn pfiffig an. „War dir Holland nicht groß genug, dass du fortgelaufen bist?" fragte er. „Oder war dir die Erde in Harlem zu mager?"
Der Dicke verstand den Dänen nicht. „Wir waren vier Brüder!" sagte er. „Die Wirtschaft war für alle zu klein. Drei von uns mussten also auswandern. Ich bin nach Kanada gegangen!"
Der Däne fragte weiter. „Nach Kanada?" wiederholte er erst. „Die Äcker und Wiesen hingen dir also in Holland zu hoch!"
„Ja!" antwortete der Dicke, „Sie sind zu teuer. Außerdem fressen uns die reichen Städter das beste Land weg. Sie machen sich Parks, Gärten, große Anlagen, Für uns bleibt nur die Heide und das Land am Wasser, das immer überschwemmt wird!"
Der Däne und Belgier lachten lauter. Auch der Russe lachte eine Weile mit.
„Du bist wirklich tapfer!" spottete der Däne danach. „Da spuckt dieses dicke Fässchen nach einem armen russischen Bruder, der sich von seinen Herren verprügeln lässt, und er selber springt von seinen reichen Mynheers, die ihn in die Heide und in das Wasser setzen wollen bis nach Kanada!"
„Das ist immer so!" sagte der Belgier. „Den Stock, mit dem der andere gedroschen wird, den sehen wir, und den, der uns selber auf dem Buckel herumtanzt, den leugnen wir so lange ab, bis wir darunter zusammenbrechen!"
Der Dicke hatte einen roten Kopf bekommen. „In Kanada geht es uns aber besser!" sagte er schnell. „Ich habe ein großes Anwesen. Viel Land. Weide. Mais! Weizen! Sieben Kühe! Ich habe auch jedes Jahr eine gute Ernte!"
„Unsinn!" polterte der Däne. „Dem Bauer geht es überall schlecht. Genau so schlecht wie dem Arbeiter. Du sitzt dein ganzes Leben auf dem Mageren und schuftest wie ein Tier, und wenn das Magere fett ist oder Gewinn abwirft, dann wird es dir einfach weggenommen!"
„O!" stöhnte der Dicke, „in Kanada ist niemand, der mir das Land wieder abnimmt!"
Der Däne polterte weiter. „Heute noch nicht!" sagte er spöttisch. „Der es dir aber einmal abnehmen wird, der kommt schon! Kanada liegt nicht aus der Welt, und deine Mynheers haben Hände, die reichen um die ganze Erde!"
„He!" sagte der Belgier, und er stieß den Dicken das zweite Mal in die Seite, „so lange musst du gar nicht warten. Die großen Yankees über der Grenze haben schon lange ein Auge auf dich geworfen, und wenn sie ihren armen Farmern den letzten Ochsen gepfändet haben, kommen sie über die Seen und spannen dir auch die deinigen aus!"
„Tun sie das?" fragte der Dicke ängstlich.
„Und wie gern!" antwortete der Belgier. „In den Staaten pfänden sie bereits jedes Jahr einige Hunderttausend! Sie setzen sie auf die Straße oder machen sie ihren Pächtern und Knechten, und die armen Kerle laufen herum wie Kühe, die ihren Stall verloren haben!" Der Russe bestätigte es. „Ich habe einige gesprochen!" flüsterte er. „Sie hatten früher viel Land. ,Wir waren reich!' sagten sie. ,Die verdammten Kapitalisten haben uns aber alles wieder abgenommen!"'
Uns wollte das nicht in den Kopf!" sagte er nach einer Pause, „und wir fragten sie, wie das zugegangen wäre. Sie verzogen ihre Mäuler und sagten: ,Sehr einfach! Unser Verdienst ist der Weizen, und wir schickten ihn jedes Jahr zu einem reichen Aufkäufer nach Chikago, der ihn dann mit Profit weiterverkaufte. Den stach aber unser kleiner Verdienst in die Nase, und er wollte ihn auch einstecken. Was macht er? Er kauft fünf Jahre lang keinen Weizen mehr oder nur wenig, und wir mussten, um zu leben, bei ihm borgen. Eines Tages war alles bis auf das kleinste Huhn und die kleinste Schindel verschuldet. Was konnten wir tun? Wir mussten unsere Koffer packen und gehen!"
„Sie sahen aber nicht aus wie Kühe!" sagte der Russe lauter. „Sie waren wilde, feurige Stiere, auch die Ältesten. Und sie kamen zu uns und wollten etwas über das neue Russland wissen. Manche wollten auch hinüber. Die meisten wollten allerdings im Lande bleiben. Sie sagten: ,Wir warten, bis dieses Pack noch mehr Männer von ihren Farmen getrieben hat, dann knallen wir mit den Flinten dazwischen und nehmen uns alles wieder!"'
„Als ob das einfach wäre!" sagte der Belgier.
„Ist es aber nicht das Richtigste?" sagte der kleine Russe feurig. „Wer hat denn ein Recht auf Land? Nur der, der es mit seinen Händen bebaut. Niemand sonst!"
„Ja!" rief der Dicke, der wieder mutiger geworden war, und lehnte sich vertraulich an den Russen, „nur der Bauer! Niemand sonst!"

 

XXXI.

Die Männer waren wieder nach unten gegangen. Die meisten saßen in ihren Kabinen. Sie packten ihre gelben Strohkoffer und füllten die mit Eisen beschlagenen Kisten.
Es war dunkel, als die ersten auf das Deck zurückkamen. Auf dem Steuerhaus brannten bereits die Lampen und über dem Mittelschiff heulte das Nebelhorn.
„Teufel!" schrie der Deutsche, und wandte den Kopf nach allen Seiten, „England ist schon wieder verschwunden!"
Die Jüdin, die neben ihm stand und der er es zugerufen hatte, nickte nur. Dabei schlugen die Rosen ihres Filzhuts soweit nach vor, dass sie dem kleinen Deutschen über das Gesicht fielen.
Dem Mann behagte das. Er nahm seine fleischigen, dicken Hände aus der Tasche, kniff die Augen zärtlich zusammen und rückte der Frau näher. „Sie sind schön, Madam!" sagte er.
Die Jüdin beugte den Kopf nach unten und sah den Deutschen erstaunt an. „Schön?" wiederholte sie und lächelte leicht.
Der Deutsche lächelte mit. Er hob zu gleicher Zeit seine Hand und kniff die Frau in den dicken Arm. „Sicher!" bestätigte er. „Ich wollte es Ihnen schon immer sagen, aber ich hatte keinen Mut dazu!"
Das Lächeln der Jüdin wurde zu einem Lachen. Sie zog den Mund so breit, dass ihre ganzen Zähne sichtbar wurden, Du bist ein recht höflicher Mann!" sagte sie.
Dem Deutschen tat das Lob wohl. „Ich bin auch aus Baltimore!" sagte er. „Und", er warf sich in die Brust und hob sich höher, „ich bin ein Amerikaner!"
Die Jüdin bog ihren Kopf wieder nach unten. „Hast du ein Geschäft dort?" fragte sie.
Der Deutsche nickte vertraulich und machte große Augen. „Eine elektrische Schreinerei mit vier Gesellen!" sagte er stolz.
Ich kenne Baltimore!" sagte die Jüdin nach einer Pause, in der der Deutsche vergeblich versucht hatte, ihre festen Hüften zu umspannen.
Der Mann ließ seine tastenden Hände eilig fallen. „Du kennst es?" sagte er ihr ängstlich nach und bekam einen roten Kopf. „Kennst du vielleicht auch mich?"
Die Jüdin schüttelte langsam den Kopf. „Nein!" antwortete sie. „Ich kenne dich nicht und von Baltimore eigentlich nur eine Straße. Mein Mann verkauft dort viel. Fellchen und Felle. Einmal war es ein großer Posten, Da musste ich mit ihm fahren."
Die Augen des Deutschen quollen aus dem roten Gesicht wie zwei dicke Fühlhörner. „Und einen Mann hast du auch?" stöhnte und stotterte er. Er zog die herabgefallenen Hände dicht an seinen vorstehenden Bauch und versuchte, sich zu entfernen.
Die Jüdin eilte ihm nach, „Ist das so schlimm?" sagte sie und fasste den Fliehenden hinten am Rock.
Ja! Ja!" kreischte der Festgehaltene laut und zappelte sich mühsam los. „Es ist eine Sünde! Eine große Sünde!" Er sprang mit kugeligen Sätzen weiter, erreichte eine der nächsten eisernen Treppen und hopste sie mit genau denselben kugeligen Sätzen nach unten.
Auf dem Deck standen noch der Franzose, der Russe, der Däne und der Geduckte, Der Franzose starrte mit halbgeschlossenen Augen in das gelbliche Wasser.
„Du willst uns also heute verlassen?" sagte der Russe leise und trat auf ihn zu.
„In ein oder zwei Stunden!" sagtet der Franzose. Er zog den Russen leicht an seine Brust und fuhr ihm langsam und tätschelnd über die schwarzen, borstiger. Haare,
„Holla!" schrie der Däne in ihre Zärtlichkeit hinein und zeigte auf den kommenden Amerikaner. „Ich glaube, der Yankee will uns auch verlassen!"
Der Amerikaner, der einen kleinen Lederkoffer in der Irland hatte, kam auf sie zu. „Ich fahre nach Paris!" nickte er.
„O! O!" Der Franzose hüstelte erregt auf. Er ließ des Russen eilig los und ging dem Amerikaner entgegen, „Also nach Paris!" wiederholte er.
„Marseille ist prächtig!" sagte er dann mit geneigtem Kopf, „Frankreich hat überhaupt prächtige Städte, Aber", er drückte seine Augenlider nach unten und spitzte die Zunge, „Paris ist die allerprächtigste! Die größte! Die schönste!"
„Es wird dir dort gefallen!" sagte er hüstelnder und fasste den Amerikaner an den Händen. „Sicher! Es gefällt ja jedem!"
Der Amerikaner nickte zu allem. „Ich bleibe drei Jahre in Paris!" sagte er. Er stellte sich neben den Franzosen und hielt dessen schmale Hände fest.
Die Französin kam vorüber. „Gleich kann man Boulogne sehen!" rief sie den Männern zu. Sie trippelte vor zum Steuerhaus, beugte sich über die Reling und sah nach Westen.
Die Männer stiegen ihr einzeln nach»Sie drängten sich vorsichtig um die Frau und sahen auch nach Westen.
„Dort!" schrie der Franzose plötzlich auf und zeigte auf einige schwimmende Flammenschalen, die auf dem Wasser tänzelten, „ich glaube, das ist das erste Feuerschiff!"
„Und dort!" kreischte die Französin lauter und klatschte in die Hände, das zweite, das dritte, das vierte! Gleich müssen wir im Hafen sein!"
Der Dampfer schnellte eilig an den flackernden Fackeln der Feuerschiffe vorüber. Hinter dem letzten fuhr er einen kleinen, halbrunden Bogen, heulte auf, bremste die surrenden Schrauben und ließ knarrend zwei große Anker fallen!
„Ja, das ist Boulogne!" sagte der Franzose leise. Er sah in die kleinen, fernen Lichtpunkte, die zwischen Himmel und Wasser flimmerten, und hob ihnen seine Hände entgegen.
Die Frau war lustiger. „Frankreich!" schrie sie auf. „Frankreich!" Sie drehte sich wild auf den Absätzen und packte dabei den Dänen und den Russen um die Schulter. Aus den Lichtpunkten schraubten sich pfeifend zwei kleine Kutter. Sie fauchten heran, umtanzten den großen Dampfer eine Weile und legten an.
„Wir müssen jetzt Abschied nehmen!" sagte der Franzose, der sich wieder zu den andern gewendet hatte. Er zitterte leicht, und in seinen Augen saß Wasser.
Zuerst trat er zu dem Dänen. „Leb wohl!" flüsterte er.
Der Däne sah mit kleinen Augen zu ihm hinab. „Grüße mir Marseille", sagte er, „und die tapferen Marseiller Genossen!"
Der Franzose war schon weiter gegangen. Er stand vor dem Belgier, „Wir haben uns manchmal gezankt, Großer!" sagte er. „Wirst du es vergessen?"
Der Belgier nickte nur und presste den Sprechenden an sich.
Dem Russen fiel der Franzose in die Arme. „Grüße mir Moskau!" schluchzte er, „Und Leningrad! Und Odessa! Grüße mir auch die russischen Brüder!"
Der Russe schluchzte mit. „Und werde du wieder gesund!" sagte er.
Der Franzose lächelte und über seine eingefallenen Backen lief ein leichtes Rot. Während er aber hinüber zu dem Geduckten ging, wurde er plötzlich blass und käsig, blieb stehen und horchte. Kamen da nicht eilige Schritte?
In dem Augenblick wurde die kleine Tür aufgerissen, die in die zweite Klasse führte, und drei spitzbärtige Männer und der dicke Offizier vom Dienst traten herein.
„Ist ein Rene Cossain unter euch!" bellte der Offizier die Männer giftig an.
Die machten erstaunte Gesichter und sahen sich gegenseitig in die Augen. Nur der Däne bekam einen Schreck. Er sah zu dem blaßgewordenen Franzosen und pfiff gellend durch die Zähne,
„Das bin ich!" sagte der in die lautlose Stille und schlürfte den Spitzbärtigen einige Schritte entgegen.
Die stürzten sich auf ihn. „Sie sind uns gemeldet worden!" sagte der Kleinste und krallte seine Hand um den Arm des Franzosen. „Sie sind verhaftet!"
Es war einen Augenblick noch stiller. Die Männer hatten die Münder offen und sahen alle auf den Umklammerten, der unter den Griffen des Spitzbärtigen weißlicher, glasig und beinahe durchsichtig wurde.
„Hilft ihm niemand?" sagte da auf einmal eine feierliche, hohe Stimme. Die Männer drehten sich erschrocken um. Es war der Heilige. Er war von seinem Platz hinter dem Steuerhaus hervorgetreten und ging mit langen Schritten auf den Gefangenen zu.
„Lass ihn los!" sagte er genau so feierlich zu dem, der den Franzosen an der Hand hielt.
Der Spitzbärtige blinzelte aber den Heiligen nur an. Die beiden andern fassten den mageren Mann zu gleicher Zeit um die Hüften und schoben ihn zur Seite.
Er nahte sich mit den gleichen langen Schritten wieder. Nicht gewalttätig. Sein Gesicht war sanft. Die Spitzbärtigen machte das trotzdem ärgerlich. Einer ballte seine Faust, und er hieb sie dem Heiligen so lange in den Magen, bis der Dürre zusammenstürzte.
Die Männer brachte das zur Besinnung. „Hund!" schrie der Däne, und er warf sich dem Kleinsten so wuchtig an die Brust, dass sie beide krachend zu Boden fielen.
„Was hat er denn verbrochen?" rief der Belgier und sprang sofort vor den wieder befreiten Franzosen.
„Er ist Deserteur!" sagten die beiden anderen Spitzbärtigen.
„Nein!" keuchte der Däne, der den unter ihm Liegenden noch mit den Füßen bearbeitete. „Er ist ein Sozialist!" „Ho?" quakte der dicke Offizier, „als ob das ein Unterschied wäre. Er hatte sich bis zur Tür zurückgezogen und winkte eilig nach einigen Matrosen.
„Er ist außerdem krank!" sagte der Amerikaner und stellte sich auch vor den Franzosen.
„Ja!" rief der Russe. „Er hat die Schwindsucht und speit den ganzen Tag Blut!"
„Wir müssen ihn trotzdem verhaften!" sagten die Spitz-bärtigen. „Wir haben den Befehl!"
„Hoho!" höhnte der Geduckte. Er strich sich seine Jackenärmel nach oben und ballte die Fäuste. „Dann holt ihn euch nur!" sagte er und schob sich neben den Belgier.
Da nahte der dicke Offizier wieder. Er trieb ein halbes Dutzend kräftige Matrosen vor sich her und einen gewaltigen, bärtigen Bootsmann.
„Nehmt dieses rebellische Pack fest!" krähte er hinter der anmarschierenden Front und fuchtelte mit einer kleinen Pistole,
„Sind es Spitzbuben?" fragte der Bootsmann, der ein rundes, gutmütiges Gesicht hatte,
„Der Blasse dort ist ein Deserteur!" riefen die Spitzbärtigen zum zweiten Mal und drangen mit den Matrosen vor.
Die Tapferkeit der Männer war diesmal vergebens. Es waren zu viele gegen sie. Der Däne, der besonders wild um sich schlug, wurde hochgehoben und gegen einen eisernen Pfosten gerammt. Der Geduckte bekam einen Schlag zwischen die Augen und fiel neben ihn.
Dem Belgier band man nur die Hände. Der Bootsmann nahm ihn danach unter den Arm und trug den sich Sträubenden auf die Seite.
„Schrecklich! Schrecklich!" kreischte die Französin, die sich mit an dem Kampfe beteiligt hatte und plötzlich allein unter den groben Matrosen stand.
Der Russe, der neben ihr auf dem Boden lag, war noch bedrückter. „Was werden sie jetzt mit ihm machen?" heulte er auf.
Der Franzose, der wieder in der Gewalt der Spitzbärtigen war und kleine Fesseln um die schmalen Handgelenke hatte, versuchte, ihn zu trösten. „Was sollen sie mit mir tun!" sagte er leise. „Sie werden mich einsperren. Sie werden mich vielleicht schlagen. Ich werde einige Tage früher sterben. Das ist alles!"
Er lächelte allen noch einmal zu. Er spie dabei Blut und wankte. Die Spitzbärtigen führten ihn eilig hinaus.

 

XXXII.

Alls dem Kanal kam dicker, schwammiger Nebel. Er hing tief und drückend über den langsam immer höher schlagenden Wellen und sah aus wie eine große unübersteigbare und undurchdringliche Wand.
Das Schiff hob seine Anker. Es dampfte erst ein Stück an dem Nebel entlang. Auf einmal schrie es in allen Tonarten auf, pfiff und tutete, drehte sich schräger und tauchte in die schwammigen, dicken Massen hinein.
Die Männer standen noch auf dem Deck. Sie bildeten einen Kreis. In der Mitte lag der niedergeschlagene Däne. Sie hatten ihn etwas aufgestützt. Der Kopf hing über einem Tauende. Die Hände waren weislich. Die Finger daran gespreizt.
Sie mühten sich schon bald eine Stunde um den Leblosen. Die Stewardess saß über ihn gebeugt und beträufelte den geschwollenen, strohgelben Kopf mit Wasser. Der Belgier hielt Riechsalz unter die verbeulte, blutende Nase. Der Geduckte schüttelte den schweren Körper hin und her, und der Russe hatte sich hinter den Liegenden gehockt und blies ihm leicht in die großen, abstehenden Ohren.
Uff!" stöhnte der Däne endlich und schlug die Augen auf. Er tastete gleich nach seinem rechten Ohr, hinter dem er einen stechenden Schmerz spürte.
„Diese Spitzbärte!" knurrte er weiter und befühlte die dicke, brennende Erhöhung, die er gefunden hatte, „ich glaube, sie haben mir das ganze Hirn eingeschlagen!"
Er versuchte sich aufzurichten, fiel aber wieder zusammen. „Uff!" stöhnte er ein zweites Mal.
„Es geht dir ja schon besser!" lispelte die alte Stewardess. Sie wollte den Dänen trösten.
„Besser!" kreischte der Däne auf, und diesmal kam er wirklich in die Höhe. „Besser geht es mir erst, wenn ich die Hunde, die mich so gedroschen haben, ebenso zusammendreschen kann!"
„Dazu wirst du wohl heute und morgen nicht kommen!" sagte der Belgier. „Sie sind mit dem Franzosen über alle Berge!"
Der Däne machte große Augen. „Ja!" lachte der Geduckte, „sie haben dich vorher so geschlagen, dass du schon über eine Stunde im Paradiese warst!"
Der Däne richtete sich ganz auf. „Und das ist also das freie Frankreich?" zischte er.
Der Belgier sah ihn erstaunt an. „Hast du es dir anders vorgestellt?" fragte er.
„Ja!" sagte der Däne und knirschte mit den Zähnen, Nach einer kurzen Pause, in der der Geschlagene einige Male tief Luft holte und sich nach allen Seiten dehnte, sprach er weiter. „In Dänemark", sagte er, „schwärmten wir Sozialisten von der französischen Republik, in der die Arbeiter beinahe jedes Jahr auf den Barrikaden stehen, wie die Gebratenen in der Hölle vom Himmelreich, und in Amerika sprachen die Genossen von dem Staat der Gleichheit und Brüderlichkeit in denselben Tönen!"
Der Geduckte meckerte und zeigte sein zerschlagenes Auge, „Und stimmt das nicht?" spottete er, „Dir haben sie den Schädel zerschlagen und mir das Auge. Dem Heiligen ist der Magen eingedrückt worden und dem Belgier der Brustkasten!"
Der Russe, der noch hinter dem Dänen hockte, lachte auch, „Ja!" sagte er, „sie haben uns alle gleich behandelt!"
Der Däne vertrug den Spott nicht. „Und warum dürfen wir überhaupt so behandelt werden?" fragte er bissig und drückte seine Hände fester auf die schmerzende Beule „Weil wir Jammerlappen und Lumpen gar keine bessere Behandlung wert sind!"
„Ist man in anderen Ländern freundlicher zu dir gewesen?" fragte der Belgier spöttisch.
„Das ist es ja!" kreischte der Däne auf. „Überall tritt man auf den Arbeiter! Wir sind die Hunde und das Vieh, das sich alles gefallen lässt, und die andern trampeln uns zusammen, als wären wir Dreck und Kot!"
„Sachte! Sachte!" sagte der Belgier. „Als ob wir nicht auch manchmal zuschlügen!"
Der Däne wurde bitter. „Ja! Manchmal!" wiederholte er. „Aber immer zu wenig, und wenn wir das reiche Pack einmal von unserm Buckel abgeschüttelt haben und im besten Zuschlagen sind, werden wir gutmütig und hören wieder auf!"
„Wie lange willst du sie denn schlagen?" fragte der Belgier.
„So lange, bis ihnen die Lust, auf uns herumzusteigen, für immer vergangen ist. Was tun sie denn, nachdem wir sie geschlagen haben?" rief er dem Belgier leiser zu, „Erst quälen sie und jammern, versprechen uns Gleichheit und alle sieben Himmel, und wenn wir den Knüttel wieder eingesteckt haben und als brave, dumme Hammel zu unserer Arbeit zurückgekehrt sind, sitzen sie schneller auf ihren alten Sitzen über uns als wir sie heruntergeworfen haben, und das Trampeln und Treten ist schlimmer als früher!"
Der Geduckte stimmte dem Dänen zu, „In Atlanta!" sagte er, „bin ich selber einmal mit unter solchen Dummen gewesen, und unsere Gutmütigkeit ist uns so brav und doppelt zurückgezahlt worden, dass ich noch heute mein Hinterteil spüre! He!" er zog seinen Kopf ein und blinzelte den Dänen und den Belgier an, „die Geschichte ist aber wert, dass ich sie euch erzähle!"
Er erneuerte erst den Lappen, den er um das zerschlagene Auge gebunden hatte, „Ich arbeitete an einem Bau!" begann er dann, „und da es damals wenig zu bauen gab, hatten die Bauführer vor, uns einen ganzen Dollar vom Lohn abzuziehen!
Zuerst ging die Sache auch ganz programmmäßig. Die Brüder sagten uns ihren Teil, und wir sagten ihnen den unsrigen, stellten am gleichen Tage die Arbeit ein und gingen auf die Straße. Nun wäre es, wenn die Geschichte
den richtigen Verlauf genommen hätte, darauf angekommen, wer es am längsten ohne Arbeit aushält. Die Kerle von Baumeistern oder wir. Ihnen schien das aber zu kostspielig, und sie trommelten auf einigen Baumwoll- und Zuckerplantagen Schwarze zusammen und fingen mit denen die Arbeit an!"
„Habt ihr die Neger nicht einfach verdroschen?" sagte der Belgier.
„Nein! Wenn wir sie verdroschen hätten oder mit Steinen beworfen, so hätten die Baumeister die Milizen geholt, wir wären auseinanderkartätscht worden, und der Streik wäre zu Ende gewesen. ,Kameraden!' sagte darum auch ein Ire, ein prächtiger Kerl, der die ganze Geschichte übersah, ,was können die Neger dafür, dass man sie auf unsere Baustätten geholt hat und sie arbeiten lässt? Das beste ist, wir lassen sie weiter Steine schleppen und Balken tragen und versuchen einmal etwas anderes!'
Wir wussten zuerst nicht, was der Kerl tun wollte. Als
wir aber am gleichen Abend in die Vorstadt marschieren mussten, wo die Bauführer täglich zusammen kamen und in einer kleinen Kneipe über den Streik berieten, dämmert« es uns. Wir spuckten in die Hände und schnitten uns einige Stecken, marschierten schneller, und wir konnten sie alle packen, wenn auch einige durch die Fenster sprangen und sich in Sicherheit bringen wollten!
Das war eine lustigere Hauerei als die mit den Spitzbärten!" prahlte der Geduckte. „Die Kerle schlotterten wie die Espen. Wir stellten sie in einer Reihe auf, und jeder bekam ein oder zwei Schläge über die straffgezogene Hose. Sie schrieen Feuer und Mordio, und dabei waren sie gleich so gefügig, dass sie feierlich versprachen, die Schwarzen wieder fortzuschicken, und wir sollten auch unseren Dollar behalten!"
Der Geduckte schlug sich vor den Kopf. „Und wir Hammel!" sagte er, „waren so siegessicher, dass wir ihre Versprechungen für bare Münze hielten! Ja, wir setzten uns sogar sofort an die Bänke, an denen die Bauführer gesessen hatten, und feierten diesen Sieg. Der Wirt musste den ganzen Whisky bringen, den er in seinem Hause hatte, und wir tranken, bis wir unter die Tische fielen!
Teufel!" kreischte er auf und schüttelte sich, „war das ein Erwachen! Den meisten von uns wurde ein Eimer Lauge über den Kopf gegossen, und als sie die Augen öffneten, sahen sie, dass sie im Hof der Mutter Sicher lagen, und ein paar uniformierte Spitzbuben legten dicht neben ihnen Ruten in Essig!
An dem Tag wurde uns beigebracht, dass man mit Verprügeln nicht schon aufhören muss, wenn der Geprügelte schreit. Ja, dass man, wenn man seinen Mitmenschen etwas beibringen will, was ihnen sonst nicht in den Verstand gehen würde, sich lieber die Ohren mit Watte verstopfen soll, als Erbarmen zu zeigen! Denn Schläge wirken erst, spotteten diese Staatsprügler, wenn der Geschlagene mit seinem Geschrei aufhört und überhaupt keinen Ton mehr von sich gibt!"
Bist du wenigstens klüger geworden durch die Prügel?" fragte der Däne.
So klug," antwortete der Geduckte, „dass ich das Vagabundieren angefangen habe und lieber der Arbeit, dem Streik und den Ordnungsprüglern aus dem Wege gehe. Und", er lachte, „wenn ich wirklich einmal wieder auf diese Blase gestoßen bin, wie heute, so habe ich so zugeschlagen, wie sie es mich gelehrt haben!"
Der Däne stöhnte auf. Wenn es nur jeder so machte!" sagte er.
„Vagabundieren?" fragte der Belgier spitz.
„Nein!" antwortete der Däne, „zuzuschlagen, wie wir selber geschlagen werden!
Was nützt es denn," sagte er nach einer längeren Pause, in der er die anderen alle angesehen hatte, „wenn wir bloß unsere Fäuste zeigen und sie danach wieder in die Tasche stecken. Wir bleiben unter der Fuchtel bis an unser Ende!"
Der Belgier lachte. „Du denkst also, wenn wir die große Trompete blasen, wenn wir selber die Fuchtel schwingen und mit einem Knüttel herumlaufen, dann geht es uns besser?"
„Ja!" antwortete der Däne.
Der Belgier lachte lauter. „Du hast es doch gerade an deinem Franzosen gesehen!" sagte er. „Da laufen sich die Massen seit hundert Jahren die Beine ab, um gewaltsam und mit einem Prügel zu ihrer Freiheit zu kommen; sie sind allerdings schon einige Male in Versailles gewesen und haben Könige geköpft und Minister gehängt, aber ehe sie sich richtig auf das Staatspferd setzen konnten, um es nach links zu drehen, da lief es schon wieder nach rechts. So nach rechts," der Belgier machte große Augen, „dass sie heute noch einen Schwindsüchtigen, der Blut spuckt und der nicht auf seine Genossen schießen wollte, einen Deserteur nennen und ihn in Armreifen stecken!"
„Das ist es ja!" rief der Däne wütend zwischen die Worte des Belgiers und stemmte sich in die Höhe, „da haben 1790 die Pariser ihren König und den ganzen Schwanz von adligen und kirchlichen Spitzbuben vom Throne gestürzt und gefangen genommen, weil sie ihnen das Fleisch, das Mehl, das Hemd, ja, sogar die Weiber gestohlen hatten, und sie haben in ihrer Dummheit und Gutmütigkeit nur so wenige von ihnen geköpft und gehängt, dass so viel übrig geblieben sind, dass ihnen ein Jahr später diese Halunken selber Stricke drehen konnten!
Und 1871!" sagte der Däne genau so wütend, „als diese Armen und Arbeiter wieder ganz Paris und ganz Frankreich in ihren Händen hatten, waren sie noch dümmer und gutmütiger. Sie haben weder gehängt noch geköpft. Sie haben nichts weiter getan, als Manifeste über die nun anbrechende wirkliche Freiheit und Brüderlichkeit geschrieben, und als sie, tatsächlich ein paar Bürger erschießen mussten, haben sie dabei geheult und sich auf die Brust geschlagen und gesagt, sie töteten unfreiwillig, aber die revolutionäre Situation zwinge sie leider dazu!
Was hat ihnen diese Gutmütigkeit später eingebracht?" Der Däne keuchte und musste tief Luft holen, bevor er weitersprechen konnte. „Für den geköpften König sind hunderttausend Arme erschossen oder erschlagen worden, und für die andere Sippschaft hat man die ganzen Vorstädte von Paris entvölkert!
Und 1871! Von den tapferen Kommunarden sind kaum hundert übrig geblieben, und für jeden Bürger, der im Straßenkampf in ihre Flinten gelaufen ist, haben die rotkappigen Offiziere ein Dutzend Kartätschenladungen in die zusammengetriebenen Arbeiter gejagt!"
Der Däne schwieg erschöpft. Der Belgier, der Russe und der Geduckte schwiegen auch.
„Ist unsere Gutmütigkeit also besser als ein richtiges Zuschlagen?" fragte der Erschöpfte noch, nachdem er sich etwas verschnauft hatte. „Nein!" antwortete er selber und sah dabei den Belgier an, „und wenn wir nicht ein einziges Mal den Mut dazu aufbringen, kommen wir nie zu unserer Gleichheit und Brüderlichkeit!"

 

XXXIII.

Das Schiff kreuzte vor der holländischen Küste. Der schwarze, nasse Nebel war verschwunden. Über dem Wasser stand tiefrot und übergroß die Sonne. Von England kamen graublaue, haushohe, pfeifende Wellen,
Die Wellen prallten gegen das sich neigende Schiff wie Stoßbäume, Sie quirlten und fauchten zwischen den Schornsteinen und Masten, warfen sich gegen die Kabinenwände und bogen das schaukelnde Schiff bis unter den Wasserspiegel.
Das Deck war leer. Die Männer schliefen noch. Sie waren wenigstens nicht zu sehen, und am Steuerhaus lehnte nur der Heilige,
Er sah blässer und schmaler aus als sonst. Um die hagere, lange Gestalt hing ein großer weiter Mantel, und darüber wirbelten sich wild und gespenstisch seine lockigen, schwarzen Haare.
Er sah nach Land aus. Wenn das Schiff einen Augenblick still stand, hob er jedes Mal eine seiner gelben, dünnfingrigen Hände über die Augen.
Das erste Land wurde auch bald sichtbar. Es lag über dem Wasser wie eine große, schwimmende Blase. Die Wellen überschütteten es, tauchten es gleich wieder unter und liefen spritzend und schäumend darüber hinweg.
Plötzlich stand vor dem Schiff ein breiter, rissiger Steindamm. Klein, geduckt, aber so sicher und unverrückbar erdhaft, als wären hinter ihm schon Wiesen und Felder,
Das Meer jagte gegen ihn mit allen seinen Kräften. Es warf sich über ihn wie eine Lawine und brüllte dabei auf wie ein großer, kriegerischer Elefant.
In diesem Steindamm war eine schmale, durch ein Leuchtfeuer überhellte Öffnung. Das Schiff, das in den großen. Strudeln und Wellen unbeholfen hin- und herschleuderte, bewegte sich mühsam auf diese Öffnung zu.
Wie ein Pfeil schoss es plötzlich hinein. Es richtete sich in den ruhigeren Wogen wieder auf, ließ sich von den schnellen Matrosen kleine bunte Fahnen- auf die Masten ziehen, fuhr langsamer, stolzer — es war in der Maas!
Der Geduckte und der Korrekte ließen sich sehen. Sie stampften die kleine Treppe herauf und hatten offene Mäuler.
„Ich glaube." sagte der Geduckte und rieb sich verwundert die Augen, „das ist schon Holland!" Der Korrekte schlug ihn klatschend auf die Schulter.
„Sicher!" sagte er mit leiser Rührung, „die Spitze dort, das ist der Kirchturm von Maasluis, Danach kommt gleich Schiedam, dahinter Rotterdam!"
Der Geduckte schüttelte den Bruder ab, „Also jetzt ist es vorbei mit dem Ausreißen!" sagte er kleinlaut. Er hob sein Gesicht höher und schielte mit kleinen Augen über das Wasser.
Das Land hing leicht voller Morgendunst. Man sah nur die treppenartigen, altmodischen Landungsstege und dahinter gehügelt den hohen grünen Damm.
„Da oben drehen sich wirklich die alten Windlöffel noch!" spottete der Geduckte.
Der Korrekte sah hinüber. An dem Damm lehnten kleine rot und blau gestrichene Häuser, und dahinter standen groß, beflügelt und hölzern einige Windmühlentürme,
„Hast du gedacht, wir mahlen das Mehl jetzt mit Wasser?" fragte der Korrekte ärgerlich.
„Nein!" lachte der Geduckte. „Mit der Hand!"
Der Korrekte wandte sich ab. An seine Stelle trat, sonntäglich angezogen, der Däne.
„Nett! Niedlich!" sagte der laut. „Das ganze Land sieht aus wie ein großes Dorf!"
„Das ist es auch!" knurrte der Geduckte.
„Sieh nur!" rief der Däne nach einer Weile weiter. „Es ist immer dasselbe. Ein spitzer Kirchturm. Ein oder zwei große Häuser. Darum ein gutes Dutzend kleine!"
Der Geduckte meckerte. „In den Häusern ist es genau so!" sagte er. „In den großen wohnt ein dicker Pastor oder ein dicker Bürgermeister, und in den kleinen wohnen die Bauern oder die Fischer!"
Ü ber den Ortschaften stand ein leichter schwärzlicher Rauch. „Sie kochen Kaffee!" sagte der Däne.
Der Geduckte meckerte lauter. „Bei dem Pastor und bei dem Bürgermeister!" sagte er. „Bei den anderen Seelen gibt es Milchgrütze oder Schnaps!"
„Woher weißt du denn das alles?" fragte der Däne erstaunt.
„Ich bin aus diesem großen Dorf!" antwortete der Geduckte.
Der Däne sah den Geduckten verwundert an. „Du bist ein Holländer?" sagte er.
„Ich war es! Ich war es!" zischte der Geduckte mit einem sonderbaren Gesicht. „Vor 20 Jahren bin ich diesen Grützeessern und trägen Brüdern davongelaufen!"
Der Däne lachte. „Vor 20 Jahren!" wiederholte er. „In der Zeit haben sich auch die Holländer geändert!"
„Die!" der Geduckte schüttelte sich, „ändern sich nie. Hier bleibt jeder so dumm, wie er auf die Welt gekommen ist, und wenn er tausend Jahre alt wird!"
„Warum?"
Der Geduckte bekam einen roten Kopf. „Weil sich die Blase gar nicht ändern will!"
„Was fehlt ihnen denn?" knurrte er weiter. „Die einen melken ihre Kühe, und die andern fangen ihre Fische. Dazwischen löffeln sie die Grütze und trinken Schnaps, und alle drei oder vier Tage kriechen sie zu ihren Weibern. Ist das für einen Menschen zuviel?"
„Das tun sie bis sie umfallen!" sagte er schneller, „und dann kommt der dicke Herr Pastor, nennt sie brave Holländer und gute Bürger und Christen, macht sein Kreuz, und am Sonntag läuten die Glocken!"
Der Däne lachte wieder. „Bist du neidisch auf ihr gutes Leben?" fragte er.
Der Kopf des Geduckten rötete sich stärker. „Neidisch!" schrie er überlaut. „Morgen soll ich ja dieses gute Leben anfangen!"
Der Däne war einen Augenblick still. „Du?" sagte er dann mit schrägen Augenblinzeln.
„Der Alte hat mich dazu einfangen lassen!" sagte der Geduckte leiser. „Der Kleine soll die Käserei bekommen, und mir will er die Kühe und sein Land aufhängen!"
Der Däne blickte gläubiger. „Und fällt es dir so schwer, Bauer zu werden?" sagte er,
„Ich bin bis hinunter in das Feuerland gelaufen!" sagte der Geduckte langsam, um diesen Kühen und diesem ,Bauer werden' und diesem ganzen Holland zu entgehen!"
Der Däne kniff die Augen zusammen. „Um ein zweites Mal zu entlaufen, fehlt dir wohl der Mut!" sagte er spitz.
Der Geduckte nickte. Er ließ seine Unterlippe hängen und auch seine Hände. „Da kann man zwanzig Jahre vagabundieren!" brummte er. „Auf alles pfeifen! Und plötzlich kriecht man doch in ein warmes Nest!"
Der Däne sah ihn an. „Aber weswegen?" fragte er „Warum?"
Der Geduckte zeigte seine Zähne. „Warum?" wiederholte er giftig und trat einige Schritte zurück. „Das ist es ja. Ich weiß es nicht!"
Der Dicke und der Deutsche kamen.
„Das Wasser wird schon breiter!" sagte der Dicke. „Gleich kommt der Rotterdamer Hafen!"
„Ja!" sagte der Deutsche und zog seine Uhr. „Gegen 11 Uhr sollen wir ausgeladen werden!"
Die ersten Hafenanlagen waren kleine Werften. Auf groben Balkengerüsten lagen längliche stählerne Schiffsleiber. Sie wurden gestrichen und ausmontiert. Tackend schlugen die elektrischen Niethämmer herüber, und die Männer hörten auch das Fauchen und Zischen der gelben, stechenden Gebläse.
„Segelschiffe!" rief der auftauchende Belgier,
„Drei! Vier! Sechs!" sagte der Russe, der mit ihm gekommen war und lehnte sich an ihn.
Es war ein ganzer Wald von Seglern. Sie waren in einer Einbuchtung zusammengedrängt, und die weißen und schwarzen Segel hingen über den hölzernen und stählernen Leibern wie eine zu tief gelagerte Wolke.
„Dort sind auch Dampfer!" sagte der Däne und trat zu ihnen.
Es war eine große Flottille. Sie stand in einer langen Reihe, gleich groß, gelb und rot umstrichen, mit dicken schwarzen Rauchfahnen und blitzenden Messingumrandungen.
„Was ist das?" fragte der Russe und zeigte auf rollende, kleine Eisenhäuser, die über den Dampfern standen. „Das sind Kräne!" antwortete der Belgier.
„Und dahinter die hohen Gestelle?"
„Das sind Kippen!"
Das Schiff drehte sich langsam nach rechts, Es fuhr an größeren Werften vorbei und an einigen Schleusenwerken.
„Rotterdam!" rief der Dicke plötzlich und rannte trippelnd über das ganze Deck.
Die Männer reckten sich. Wirklich, da war es. Wie eine alte Seefestung, so hoch und gewaltig ragten Türme und Häuser über Hafenanlagen, Masten und Schornsteine, stellten sich immer höher, standen steif und weiß in den Himmel, und ihre Spitzen tauchten in Dunst und Nebel.
„Rotterdam ist schön!" sagte der Russe. Er sah mit großen Augen nach der Stadt hinüber.
„0!" sagte der Belgier, „Antwerpen ist ebenso schön!"
„Du siehst es heute noch?" fragte der Däne.
„Ja!" antwortete der Belgier freudig. „Heute Abend!"
Der Russe drehte sich zu ihnen. „Du bist da geboren?" fragte er den Belgier.
Der Belgier nickte. „Vor 38 Jahren!" sagte er.
„Willst du dort bleiben?" fragte der Russe weiter.
„Nein!" der Belgier lehnte sich zurück. „Ich will meinen Vater suchen, und wenn er noch lebt, fahre ich im Frühjahr mit ihm wieder nach den Staaten!"
„Weißt du das nicht, ob er lebt?" fragte der Däne erstaunt.
„Als ich ihn das letzte Mal zu Gesicht bekam, war er siebzig Jahre alt und sehr kränklich."
Der Deutsche trat unter die Sprechenden.
„Gleich sind wir am Pier!" unterbrach er den Belgier. „In ein paar Minuten können wir an Land gehen!"
„Du fährst nach Deutschland?" sagte der Russe.
„Nach Hannover! Nach Berlin! Nach München!" sagte der dicke Deutsche schreiend und stolz.
„Du hast dort Bekannte?" sagte der Russe.
„Ja!" sagte der Deutsche eilig. „Nur Bekannte!"
„Es war eine schöne Reise!" sagte er dann und drückte dem Russen die Hand. Dem Belgier und dem Dänen drückte er sie gleichfalls. An dem Geduckten ging er aber mit aufgerichteter Nase vorüber, und um die Jüdin, die gerade die Treppe heraufkeuchte, machte er sogar einen ängstlichen Bogen.
„Ich wünsche dir alles Gute in Antwerpen!" sagte der Däne zu dem Belgier und setzte das Händeschütteln fort.
Der Belgier sah ihm lächelnd in die Augen. „Ich dir in Dänemark eine kleine Revolution!"
Der Däne stand schon vor dem Russen. Sie sahen sich beide an. Der Russe schloss den Dänen in die Arme.
Das Schiff war unterdessen an dem Pier angekommen.
„Hallo!" schrieen Hunderte von Menschen, die auf den breiten hölzernen Rampen standen, und winkten zu dem Schiff hinauf.
„Hallo!" schrieen die Männer zurück. Sie drängten sich an die Reling und winkten auch.
Eine Glocke läutete. Einige Arbeiter schoben die langen Schiebebrücken auf das Deck. Die Matrosen zogen sie nach unten und banden und seilten sie an dem Schiff fest.
„Wir können aussteigen!" schrie der Deutsche fröhlich.
„Wir können aussteigen!" wiederholte der Däne. Er sagte es leiser und eine Oktave tiefer.

 

XXXIV.

Vor der Schiebebrücke war noch eine kleine Kette. Die Männer stießen sich um die Plätze. Der Korrekte stand an der Spitze.
Ein Offizier ließ die Kette herunter. „Langsam!" schrie er die Drängenden an.
Der Korrekte und der Geduckte betraten die schwankende Brücke zuerst. Der Korrekte lief etwas voraus.
Er schwenkte seine Arme und lachte. Der Geduckte ging langsamer und zusammengedrückt hinter ihm her.
Wo die Brücke den Boden berührte, stauten sich die Winkenden. Es war ein schwarzer Haufen. Sie sahen den Kommenden entgegen.
„Bernd! Jens!" schrie ein Alter auf und lief den beiden Brüdern entgegen. Er nahm den Geduckten in seine Arme, küsste ihn ab und führte ihn dann zu einer Frau.
Der Belgier kam gleich nach ihnen. Er hatte ein Köfferchen in der Hand und eine große Reisetasche.
„Jörg!" sagte ein altes Mütterchen zu ihm und nahm ihn bei der Hand.
Der Belgier machte sich wieder los. „Ich bin kein Jörg!" sagte er, ehe er weiterging.
Der Dicke nahte. Um seinen Hals war das bunte Tuch geschlungen, und seine kurzen Beine staken in hohen, gefetteten Stiefeln.
Der Dicke stülpte seine Lippen nach oben und blinzelte und roch die Alte an. „Sie ist es wirklich!" sagte er erfreut. Er fasste sie behutsam um Hals und Schultern.
Die Jüdin keuchte, als sie über den Steg trippelte. Sie hatte sich einen sackartigen Ballen auf den Rücken geladen, und hinter sich schleppte sie eine verschnürte Reisedecke.
„Hast du alles mitgebracht?" quäkte ein kleines Männchen mit langen gebogenen Armen und einem dünnen Hals, und trat auf sie zu.
„Ja!" nickte die Frau und reichte ihm die verschnürte Decke. „Ich habe alles!"
Nun kam der Deutsche. Er hatte nichts in den Händen als einen zierlichen, gelben Stock mit einem silbernen Griff. Er drehte Rad mit ihm.
Als er auf dem Pier stand, reckte er sich stolz in die Höhe. „Eine Droschke!" schrie er laut.
Der Däne und der Russe gingen zusammen. Der Russe schnell und geduckt. Er war in seiner alten Kleidung.
„Fuhrst du mit dem Schiff weiter?" fragte der Däne.
Der Russe nickte. „Mit der ,Rosa'!" antwortete er. „Bis Königsberg! Es ist billiger!"
Der Däne klatschte in die Hände. „Mit der fahre ich bis Kopenhagen!" sagte er.
Als sie das feste Land betraten, lächelten sie sich an. Der Däne rückte näher an den Russen. Sie fassten sich unter die Arme.
Zuletzt verließ der Heilige das Schiff.
Er hatte seinen Mantel in der Hand und eine kleine Pappschachtel. Über der schmalen, hageren Gestalt stand strahlend und durchsichtig sein Gesicht.
Er machte sonderbare, hohe Schritte, als er über die Brücke ging. Das strahlende Gesicht wurde dabei immer heller und schöner. Fast verklärte es sich.
Durch die Wartenden ging er langsamer. Er sah aber keinen an. An der ersten Wegebiegung verschwand er.