Der alte Kusmitsch, genannt der "Chef, 85 Jahre alt, von Jugend auf bis ins hohe Alter Arbeiter in der Fabrik "Krassny Proletari"
Wartanjan, Leiter der Parteiorganisation der Fabrik
Kortschenko, Pjotr Petrowitsch, Direktor der Fabrik, Parteimitglied
Turtschaninow, Benjamin Pawlowitsch, Technischer Direktor der Fabrik
Andrjuschetschkin, Grigori, Arbeiter, Zellensekretär der Martinabteilung
Marussja, seine Frau
Wekschin, Sergej, Arbeiter in der Martinabteilung
Platow, Semjon, früher Arbeiter, jetzt Ingenieur, Parteimitglied, Jugendfreund von Sergej Wekschin
Mochow, Makarytsch, alter Dreher in der Fabrik
Sascha, Mochows Sohn, Pionier
Saizew, Mitja Semjonytsch, Dreher
Nastja, seine Frau
Titytsch, seit 40 Jahren Former in der Martinabteilung, Parteimitglied
Trussow, Wasska, Dreher, Parteikandidat
Nossow, alter Arbeiter
Sharow, ungelernter Arbeiter, bis vor zwei Jahren Bauer
Olga Pylajewa, Arbeiterin in der Dreherei, Kosmolka
Boretzki, Stanislaw Antonytsch, "Stassik", alter Arbeiter, jetzt Werkmeister in der Martinabteilung
Walja, seine Tochter
Bulawkin, Werkmeister in der Dreherei
Kraiski, Wladimir Pawlowitsch, Ingenieur, Leiter der Martinabteilung, Vorsitzender der Kommission für Erfinderwesen
Sorin, Simon Petrowitsch, Ingenieur, Leiter der Dreherei
Akatujew, Pawel Jakowlewitsch, seit 30 Jahren Ingenieur in der Fabrik,
Inspektor der Montage und Materialprüfung
Wera, seine Tochter
Strachow, Andrej Sergejewitsch, Ingenieur, Leiter der Lokomotivmontage
Bruck, Adam Adamytsch, deutscher Ingenieur, Leiter des Lokomotivbaus
Jusow, Redakteur der Bezirkszeitung, Zirkelleiter, Parteimitglied
„Die Revolution ist nicht nur nötig, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen, um zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden." Marx u. Engels über Feuerbach
1
Gehüllt in Ruß und Rauch, ließen sich eines Tages drei schwere, finstere Gebäude im Talkessel des stürmischen Flusses nieder, auf dem Sand, den die Jahrtausende und das Wasser angeschwemmt hatten. Sie brachen die urewige Ruhe der Nadelwälder rings umher: die Bärenspuren verschwanden immer mehr in der Tiefe der Wälder: die Auerhähne, die im Frühling an die gewohnten Balzstellen kamen, hielten mitten in ihrem Liebeslied erschrocken inne, aufgescheucht von dem ungewohnten Getöse. Nur die hohen Grabhügel, die das Andenken an die blutigen Schlachten mit den Litauern hüteten, erhoben sich nach wie vor in feierlichem Schweigen.
In den Nächten glänzten weiße Lichter auf — und es schien, als ob ein tausendäugiges Ungeheuer die ganze Nacht hindurch schlaflos herumrumorte, mit seinen Tatzen scharrte und vor Anstrengung ächzte, als wolle es hinaufkriechen auf den Kamm des Berges, zu den kleinen Hütten, die sich furchtsam dicht an die Erde schmiegten. Morgens aber, wenn die Sonne die Nebelwolken zerriss und das glänzende Band des Flusses entblößte, dann war der Lärm, das Krachen und Donnern noch unerträglicher.
Das war, als Stahl und Eisen zum Angriff vorgingen: die Felder verschwanden in unbestimmter Ferne und schleppten sich als schmale Streifen am Horizont entlang; Tausende von Menschen griffen mit eisernen Spaten die Erde an und wühlten sich tief in sie hinein; Kalk, Sand und Ton, zu Ziegeln gehärtet, wuchsen zu mächtigen Gebäuden aus der Erde empor; der Wald trat einen ungeordneten Rückzug an, und auf dem Wege blieben dürre, gelbe Kiefernleichen und riesige Baumstümpfe, die bis heute noch nicht verwest sind; an Stelle der schlanken, masthohen, sich im Winde wiegenden Kiefernstämme ragten die ziegelroten, starren Säulen der Fabrikschlote zum Himmel empor; schwarzer Rauch verästelte sich über die ganze Gegend hin; die grünen Wiesen verschwanden unter Haufen von Müll, Schlacke und Schutt; an die Stelle der frischen reinen Quellen traten abgestandene, ölige Wassertümpel, die wie mit rötlich-violettem Rost überzogen schienen, und am Fluss wuchsen, gleich mächtigen Wachtürmen, tausendtonnige Erdöltanks aus dem Boden — so wurde die Fabrik geboren.
Sie dröhnte Tag und Nacht und verdeckte den Himmel mit schwarzem Ruß; sie schmolz und schmiedete Stahl und fesselte die ungebärdige Erde mit glänzenden, klirrenden Schienensträngen, und auf den Schienen kamen eiserne Ungeheuer dahergerast, wie die Wälder sie noch nie gesehen -— die Fabrik ging zum Angriff über. Die Dörfer suchten ihre Zuflucht drüben, in den Talmulden hinter dem Fluss, wo sie sich brummend, mit aufgestülpten Strohhüten, jahrelang verteidigten; aber schließlich brach die Hartnäckigkeit des Gegners doch ihren Widerstand, und sie ergaben sich. Die Menschen ließen ihre Felder im Stich und zogen in die rußigen, rauchigen Werkstätten ein, ihr Leben wurde ein anderes. Tausende kleiner Häuser, breite Straßen, Massenquartiere, voll gepfropft mit Menschen, entstanden in weitem Umkreis um die Fabrik.
Oft aber geschah es, dass die Fabrik die Menschen, die sie aufgenommen hatte, wieder ausspie, dass ihr Lärm schwieg und die Feuer ihrer Öfen niederbrannten; dann kehrten die Arbeiter in ihre Wirtschaften zurück, die sie für alle Fälle beibehalten hatten, und Dunghaufen und Bärte wuchsen wieder. Wie stark ist doch diese Nabelschnur! Die Menschen schleppen sie auch heute, an der Schwelle zum neuen Leben, noch hinter sich her; sie hängt in den rostroten geflochtenen Säcken, die sie auf den breiten, vom weiten Wege schweißgebadeten Rücken tragen.
Von der schmalen Treppe aus — sieben wohlbekannte, steile ausgetretene Stufen hoch — sah Kusmitsch dem Beginn der Arbeit zu, von hier aus begrüßte er diesen alltäglichen, gewöhnlichen, tausendmal erlebten, immer von neuem aufregenden Fabrikmorgen.
Er weckte die Erinnerung an versunkene Jahre in ihm, führte ihn an die weit in der Vergangenheit liegenden Quellen des Fabriklebens zurück, und alte Wunden brachen auf und begannen stechend zu schmerzen.
Heulend stieß die Sirene zum letzten Mal weiße Dampfwolken hervor, ihr greller Pfiff scheuchte einen Taubenschwarm vom roten Ziegeldach des Krankenhauses auf — dann stieg ein tiefer Basston aus ihrer Kehle empor, die Dampfpfeifen stimmten aus aller Kraft mit ein, und ein voller, hallender Akkord legte sich über die Fabrik.
Er ergoss sich in breiten Wellen über die Stadt, drang bis zu den Wäldern, die sie wie eine dunkle Mauer umgaben, weckte ein Echo in den stillen Kiefernhainen und lag als ein zitternder Klang über den Feldern. Unter den schattigen Gebüschen am Fluss flatterten erschrockene Wildenten auf; in den Dörfern der Umgegend rückten die Bauern an den Zeigern ihrer Uhren und stellten sie nach der Fabriksirene. Von dem geborstenen Turm der Feuerwache schlug die Uhr eiligst ein paar Stunden hintereinander ab, um die Zeit einzuholen, die ihr vorausgeeilt war. Der mit einem Paar Füchsen bespannte
Wagen des Direktors raste heran, Staubwolken wirbelten hinter ihm auf.
Die Sirene aber heulte weiter und erschütterte die Morgenluft, ihr Ton lief durch Straßen und Gassen und fegte den stürmisch sprudelnden Menschenstrom zum Fabriktor hinein.
Rasch rannten die Menschen die Treppe hinauf; angetrieben von dem letzten, strengen Pfiff der Sirene, verstreuten sie sich schnell über den breiten Fabrikhof, liefen hinein in die verräucherten Werkstätten, zu den Maschinen und Werkbänken.
Jahrzehntelang war auch Kusmitsch so zum Fabriktor hineingeeilt ; von der Müdigkeit fast erdrückt, war er dann nach Hause gegangen, hatte an seine Familie und ans Essen gedacht und davon geträumt, sich einmal auszuruhen. Jetzt brauchte er sich nicht mehr abzuhetzen: an seiner Drehbank standen andere, Kusmitsch kannte nicht einmal ihre Namen, und zu Hause wartete niemand auf ihn. Seine Familie... Der Alte ließ den Kopf sinken, die schweren Erinnerungen bemächtigten sich seiner von neuem. Vieles hatte er vergessen. Aber es gibt im Leben manches, was der Mensch bis ans Ende seiner Tage mit sich schleppt — eine Last, so schwer, das auch die Jahre sie nicht leichter machen können, und das alte Gedächtnis wacht sorgfältig darüber, dass man nichts davon vergisst.
„Die Meinen..." seufzte der Alte, und sein weißer Kopf sank noch tiefer auf die Brust.
An ihm vorüber eilte der Menschenstrom. Scherzen, Gelächter und ernstes, sachliches Gespräch. Junge Arbeiter stritten eifrig über irgendetwas.
„Wenn unser Torwächter nicht ausgerutscht wäre, dann wäre es euch schlecht ergangen!" rief ein kraushaariger Bursche in einer zebraartig gestreiften Maika (Anm.: Sportleibchen) einem blauäugigen Mädchen zu.
„Wir haben euch aber immerhin mit sechs zu zwei geschlagen!" Das Mädchen schüttelte übermütig den blonden Schopf zurück; als sie Kusmitschs ansichtig wurde, grüßte sie zärtlich lächelnd:
„Guten Morgen, Genosse ,Chef'!"
„Guten Morgen, Olga! Gib's ihm nur ordentlich!" nickte Kusmitsch aufmunternd zurück.
Olga und der Krauskopf verschwanden im Fabriktor, die andern lachten hinter ihnen her.
Kusmitsch prüfte mit aufmerksamen Blicken die Vorübergehenden; sie sind anders als jene, die in seinem Gedächtnis leben, besser angezogen, besonders die Jungen; nur wenige tragen ein Paket unter dem Arm — alle essen in der Fabrikkantine zu Mittag, nur die, die vom Fluss, von den Feldern her kommen, tragen die geflochtenen Bastsäcke für ihre Einkäufe in der Stadt und für die Wodka auf dem Rücken; viele Arme sind bis an die Schultern hinauf entblößt, der Sonne freigegeben; viel mehr frohe Gesichter, fester und leichter der Gang bei allen — manche aber wollen überhaupt nicht mehr gehen, auf funkelnden, nickelglänzenden Fahrrädern kommen sie angesaust; es sind schon viele: „Eins, zwei, drei, fünf, zehn, achtzehn"... Kusmitsch hatte sich verzählt — er hält verwirrt inne und lächelt kopfschüttelnd. Die roten Kopftücher scheinen wie hineingesprenkelt in die schwarzen Arbeiterhaufen...
Alles das, was er heute von neuem entdeckte, war mit dem, was ihm aus früheren Zeiten im Gedächtnis haften geblieben war, nicht zu vergleichen. Die Welt hatte sich vor seinen Argen erneuert, die Menschen waren andere geworden; diese Veränderungen, die er am eignen Leben nicht mehr prüfen konnte, die er jedoch deutlich vor Augen sah und völlig erfasste, weckten Erregung und Freude in ihm. In dieser Stunde schien ihm die Last des eignen Daseins fast unwesentlich, er hatte nur das Gefühl einer nie gekannten Lebenslust, die von den vorübereilenden Menschen ausstrahlte und sich auf ihn übertrug...
2
Um den Weg nach der Fabrik abzukürzen, bog Andrjuschetschkin in eine schmale kleine Gasse ein, die zu beiden Seiten von Bretterzäunen eingefasst war; die Frische des frühen Morgens überströmte ihn. Gienig sog er die feuchte, von Fliederduft getränkte Luft ein. Über ihm neigten sich schlanke Birkenzweige mit ihren frischen grünen Blätterbüscheln, hinter den Zäunen wogte der zartrosa Schaum der blühenden Apfelbäume. Er sprang hoch, um einen Zweig der taufunkelnden Apfelblüten abzureißen, roch daran und erkannte, fast überrascht, den Frühling: der zwängte sich in saftigem Grün durch die Latten des Zauns, lugte zu den Gärten hinaus, atmete im süßen Duft der Apfelblüten, im satten Dunst der umgegrabenen Beete des Gemüsegartens, im zitternden Flügelschlag der zwitschernden Stare — in Andrjuschetschkin wallte ein Gefühl heftiger Lebensfreude auf. Er stieß einen lauten Pfiff aus. Aus einem Torweg schnellte ein strubbeliges, graues Wollbündel hervor und kläffte gutmütig auf ihn los.
Andrjuschetschkin schaute verwundert auf den Hund nieder, blies die roten Backen auf und antwortete ihm mit einem lang gezogenen, heulenden Gebell.
„Und so was will Zellensekretär sein! Äfft den Hund nach!"
Titytsch trat aus einer Gartenpforte und schüttelte lachend den Kopf.
„Es ist nicht zum Aushalten, Titytsch! Sieh mal, wie wunderbar alles ist!" Und Andrjuschetschkin fuchtelte Titytsch mit dem Apfelblütenzweig vor der Nase herum.
„Wun—der—bar... Guck lieber mal an, wieviel Äpfel du da vernichtet hast!" brummte Titytsch missbilligend.
Andrjuschetschkin seufzte verlegen und ließ den Apfelblütenzweig unbemerkt zu Boden fallen. Sie bogen um die Ecke, und die Sonne, die sich hinter den Häusern losgerissen hatte, schleuderte ihnen ihre blendenden Strahlen gerade in die Augen.
„So ist's auch mit der Fabrik... Vorerst sind's nur die Blüten, die Früchte sollen noch kommen. Na, das werden saure Äpfel werden!" krächzte Titytsch.
„Was sprichst du in Rätseln?"
„Meine Rätsel sind bitter", orakelte Titytsch weiter.
Sie näherten sich der Fabrik. Auf den Schienen rollte langsam ein Güterzug an. Die offenen Wagen mit den glänzenden Kohlen und dem Koks, der mit glitzerndem Reif überzogen schien, mit den schweren Eisenplatten, den riesigen Kisten, den aus wasserdichtem Zeltstoff hervorlugenden Maschinen, alle diese hochbeladenen Wagen, abwechselnd mit ungefügen Erdölwagen, schoben sich langsam zu den Fabriktoren hinein.
„Siehst du, wieviel wir auffressen! Und was geben wir?" Titytsch war stehen geblieben und sah seinen Gefährten fragend an.
„Lokomotiven liefern wir... Waggons... Was soll das heißen: was geben wir?" entgegnete Andrjuschetschkin unsicher.
„Das geben wir — da schau hin!"
Güterwagen ohne Räder, von Holzgestellen gestützt, wie beinlose Krüppel, zogen sich in endloser Reihe hin — ein niederdrückender Anblick.
„Na, siehst du? Eine Schan—de!" Titytsch spuckte aus und ging schneller. Sein Gesicht hatte sich verdunkelt, als hätte er sich seit gestern nicht gewaschen.
Von allen Seiten strömten die Arbeiter in dichten Scharen herzu, um sich gleich wieder aufzulösen, von den unersättlichen Werkstattoren aufgefressen. Vom allgemeinen Strom mitgerissen, wurde Andrjuschetschkin in die Martinabteilung hineingeschoben und verlor Titytsch aus den Augen.
Die Werkstatt füllte sich mit Lärm, mit zischendem Dampf und dem Klirren von Metall; noch hatten sich die verschiedenen Töne nicht zu einem einzigen Knattern und Krachen vereinigt, noch konnte man das Zischen des Dampfs, das Klirren der Kranketten, das klingende Aufschlagen einzelner Metallstücke unterscheiden. Hier und da sprühten die ersten Funken der autogenen Schweißapparate auf. Violette Flammen umherspritzend, begannen die Elektroden zu zischen. Die Luft wurde von dem donnernden Krachen des Drucklufthammers zerrissen — Wasska Trussow, der den Hammer bediente, hatte seine ohrenbetäubende Arbeit begonnen; die Halle erzitterte von dem Gebrüll, das der Stahl unter seinen Schlägen ausstieß.
Ein langhalsiger Kran pfiff, steckte seinen Kamelskopf zum Tor hinein, klirrte mit den Ketten und ließ vorsichtig drei Räder auf die Erde nieder. Dann stöhnte und schnaubte er und zog sich langsam zurück.
Andrjuschetschkin befestigte ein Rad an dem Handkran und schleppte es nach einem der Apparate in einer Ecke der Werkstatt; aber da lag noch das erste Paar Räder, in weichem Staub vergraben. Kein Mensch stand an der Maschine.
Andrjuschetschkin warf einen Blick auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Wie ein großer, buschiger Kohlkopf saß der zwischen den schmalen Schultern auf dem Hals, der von einem Schuss steifgeblieben war; wenn Andrjuschetschkin zur Seite sehen wollte, so musste er den ganzen Rumpf wenden wie ein Wolf.
Er blickte unentschlossen auf den Schweißapparat: auf dem runden Vollmondgesicht des Amperemeters hing der schwarze Zeiger traurig herab; schließlich schimpfte er laut: „So ein Hund! Bummelt herum... " Eine Minute später brüllte er in dem kleinen Werkstattkontor ins Telefon: „Personalabteilung! Schickt von der Reservebrigade sofort einen Schweißer herüber... einen Elektroschweißer. Aber bitte fix! Was?? Keiner da??? Ach, hol's der Teufel!"
Er beugte sich mit gespreizten Beinen über die Räder, betrachtete die Risse, Lunker und Blasen, die das Eisen bedeckten, und das Gespräch mit Titytsch kam ihm in den Sinn. Der Schweißapparat schwieg, kraftlos ringelten sich die Kabel wie schwarze Schlangen auf der Erde.
Wieder steckte der Kran seinen langen Hals zur Werkstatt herein und setzte eine neue Last auf der Erde ab. Andrjuschetschkin starrte hilflos auf die Räder und schimpfte:
„Ein junger Kerl noch, und so ein Bandit! Ich würde dir ordentlich eine runterhauen, wenn ich dein Alter wäre! Das sind nun die ,Gebüldeten'!"
„Du musst dich beeilen!" rief Borezki.
„Ich weiß alleine, was ich muss."
Andrjuschetschkin trat an den Apparat, brachte die Kabel in Ordnung und legte den Hebelschalter um. Vor sich hinschimpfend, klemmte er die weiße Elektrode in den Halter und befestigte eine Maske vor dem Gesicht.
Eine hellrote Flamme sprühte auf und flackerte hin und her. Krachend füllte die Elektrode die unheilvollen Lunker am Rade mit flüssigem Metall. Kochender Stahl ergoss sich in die Blasen, wo er als rötlichblaue Narbe erkaltete.
Blaue Funkengarben sprühten, von ihm ungesehen, über Andrjuschetschkins Kopf; von draußen sah es aus, als flattre ein blaubeschwingter Vogel ängstlich gegen ein gläsernes Dach.
So schien es dem Genossen Jusow, als er sich der Werkstatt näherte. Er bildete in Gedanken die ersten Sätze, mit denen er seinen Artikel anfangen wollte:
„Die Maisonne kann gegen die Elektrizität nicht aufkommen — es fehlt ihrem uralten Licht die Kraft, die junge Elektrizität zu besiegen. Der mit der Elektrizität bewaffnete Mensch fordert die Sonne heraus. Er schafft Maschinen, die nun endlich auch die Sonne zwingen, wie ein getreuer Hund den Menschen zu dienen... "
„Das wird wunderbar!"
„O — Sie geben der Fabrik die Ehre? Betrachten Sie sie nur, ergötzen Sie sich daran, Genosse Jusow..."
Benjamin Pawlowitsch Turtschaninow, der Technische Direktor der Fabrik, lief ihm so eilig entgegen, dass die Rockschöße seiner bastseidenen Jacke im Winde hinter ihm herflatterten; freudig lächelnd drückte er den Kneifer auf dem Nasenrücken fest, den ihm der Wind hinunterzureißen drohte.
„Genosse Jusow! Sehen Sie, wie schön, wie stark", rief Benjamin Pawlowitsch, mit entzückten Augen eine neue Schnellzugslokomotive liebkosend, die langsam auf den Schienen anrollte. „Unser Stolz: ,SU'."
Der Kneifer sprang hinunter und gab stechende, zusammengekniffene Augen frei; er fiel in die geschickt untergehaltene Handfläche, um gleich darauf wieder einem Schmetterling ähnlich auf dem Nasenrücken zu thronen.
„Nun, was denken Sie, welche Kraft setzt diese wunderbare Maschine in Bewegung?" fragte Benjamin Pawlowitsch mit schlauem Lächeln.
„Der Dampf natürlich... Das weiß jeder Schuljunge."
„Der Dampf? Ha—ha—ha—a—a! Aber ohne Kohle gibt’s keinen Dampf... "
„Selbstverständlich, ohne Kohle gibt’s keinen Dampf... Vielleicht ist's also wirklich richtiger zu sagen: die Kohle", sagte Jusow errötend, etwas unzufrieden über dies sonderbare Examen.
„Auch die Kohle ist's nicht! Absolut nicht die Kohle, sondern das, was die Kohle geschaffen hat. Ich sage es Ihnen mit den Worten Stephensons, des Erfinders der Lokomotive: Diese Kraft ist die Sonne, die Kraft- und Lebensquelle unseres sündigen Planeten."
„Letzten Endes ist's natürlich die Sonne... " gab Jusow zu.
Turtschaninow klatschte in die Hände.
„Letzten Endes? Nein, damit bin ich wieder nicht einverstanden... Letzten Endes wird die Maschine hiervon angetrieben!" Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn, auf der trockenen braunen Haut erschien ein kleiner weißer Fleck.
„Wir Ingenieure und Techniker sind es, die die Sonne wie ein Lastpferd vor die Lokomotive spannen. Aber um dieses Pferdchen unters Joch zu zwingen, muss man es erst mit dem Lasso des Geistes einfangen. Mit dem Lasso des Geistes — jawohl! Und wenn ich den alten Stephenson im Jenseits treffen werde, dann werde ich ihm ins Ohr flüstern: ,Der Geist treibt deine Maschine an!' " Und Benjamin Pawlowitsch eilte weiter, wobei er den linken Fuß leicht hinkend nachzog.
Jusow runzelte die Stirn, er ärgerte sich etwas, weil er Turtschaninow nicht so, wie es nötig gewesen wäre, geantwortet hatte; aber die Übereinstimmung seiner Gedanken über die Sonne mit den Worten der Ingenieurs war ihm eine angenehme Freude. Angeregt betrat er die Abteilung und lauschte dem trockenen Knacken der elektrischen Funken. Es riecht so ganz besonders — etwa nach gebratenem Stahl... Nein — dieser Vergleich ist dumm und abgeschmackt, er erinnert an gebratenen Speck. Es kommt Jusow so vor, als seien hinter den schwarzen Schirmen, hinter denen das violette Licht hervorblitzt, Zauberer verborgen, die nach den Rezepten der Alchimie Gold gewinnen. Ja, das ist Gold; Lokomotiven, Waggons — in Dinge verwandeltes Gold. Jusow ist stolz darauf, dass er wie einer, der dazu gehört, in den Werkhallen dieses Industrieriesen aus und ein gehen kann, wo sechzehntausend Menschen den Nerv des Landes schmieden — das Transportwesen; dass er, Jusow, in jeder Werkstatt Arbeiter trifft, die ihn kennen, die seinen Gruß heiter lächelnd erwidern. Und in seiner Freude darüber, dass er als notwendiges Rädchen zu dem gigantischen Körper dieser Werke gehört, ruft er, vor dem blendenden Auflodern der Elektrizitätsgarben blinzelnd, laut:
„Andrjuschetschkin, guten Tag!"
Die violette Sonne glänzt und funkelt. Jusow tritt hinter den schwarzen Schirm und stolpert dabei über die Haufen von Eisenteilen und die wie schwarze Schlangen am Boden hinkriechenden Kabel.
„Tag... Tag... Läufst wieder herum?"
Die Augen Andrjuschetschkins maßen ihn unfreundlich und kühl.
„Jawohl, ich laufe herum. Als Zeitungsredakteur muss ich alles wissen." Jusow sprach ruhig und gewichtig, wie er gewohnt war, seine Gedanken zu formulieren.
„Alles wissen... Pass nur auf, dass du nicht zu saufen anfängst, wie Sergej Wekschin. Der hat die neunklassige Schule beendet und ist ein gelehrter Mann geworden, der auf die Arbeit pfeift. So schädlich ist die Wissenschaft!" Andrjuschetschkin wandte sich seiner Arbeit zu und drehte gereizt an dem Rad.
Jusow, der die Feindseligkeit in den Augen seines Gegenübers erkannte, lächelte herablassend.
Mit einer brüsken Bewegung zog Andrjuschetschkin die Schutzmaske mit den dunklen Gläsern vor das Gesicht. Wie ein Mann im Taucheranzug sah er aus. Die Ähnlichkeit wurde vervollkommnet durch den Kittel aus Segeltuch, der den kurzen, runden Körper wie ein Sack umhüllte.
„Was räsonierst du fortwährend? Es ist wirklich ein bisschen paradox, mein Lieber: in einer solchen Epoche — Schädlichkeit der Wissenschaft!"
Ungeduldig schob Andrjuschetschkin die Maske auf die Stirn. Auf seinem Gesicht mit den weißblonden Wimpern malte sich Ärger.
„Ich denke gerade an das, was die Epoche verlangt. Arbeiten müssen wir — er hat die neunklassige Schule absolviert, aber arbeiten will er nicht. Warum ist das so? Wenn einer was gelernt hat, dann soll er gefälligst auch arbeiten! Aber er hat sich jedenfalls einen angesoffen und liegt nun irgendwo, den Bauch nach oben... so ein Gebüldeter!"
Wütend schleuderte er die abgebrannte Elektrode bis an die Werkstattür und hantierte brummend an seinem Rad herum.
Jusow fühlte, dass sich die letzten Worte nicht nur auf den Bummler Sergej Wekschin bezogen, und wandte sich beleidigt dem Ausgang zu. Die Schönheit der Schweißfunken war erloschen; jetzt erst merkte er, wieviel Gerümpel, Plunder und Schmutz in der Werkstatt herumlagen. „Das ist es, das blinde, finstere Element, das sich der Kraft des Verstandes, des Geistes, der Technik in den Weg stellt. Wie stark sogar noch im Arbeiter das Misstrauen gegen die ist, die auf einer höheren Kulturstufe stehen!" dachte er, und vor seinen Augen stand die kraftvolle, Energie ausströmende Gestalt Benjamin Pawlowitschs.
„Kraft! Ja, Kraft..."
Knarrend entließ das Tor Jusow, der in vollen Zügen die Mailuft einsog. Andrjuschetschkin jedoch trat zu Trussow heran, der den Hebel des Drucklufthammers, der sich seiner Hand entrissen hatte, fest an sich drückte.
„Wassja! Hast du nicht vergessen, dass in der Pause die Rote-Hilfe-Versammlung ist? Was? Vergessen? Ich werd' dir alle Rippen im Leibe zerbrechen, pass auf! Wir werden mal ,Sacco-Vajnzetti' auf eure Rote Hilfe loslassen, da werdet ihr was erleben, ihr Bande!" Er rieb sich mit dem Handrücken die feuchte Stirn und dachte nach, was er noch hatte sagen wollen. Aber er hatte es vergessen und konnte sich nicht darauf besinnen, was es war; er wandte sich nach rechts und links, fuhr sich mit der Hand durch die zu Berge stehenden Haare, aber das half alles nichts. Ärgerlich stieß er das fertige Rad beiseite und rollte gebückt das nächste heran.
Andrjuschetschkin wechselte die Elektrode aus und ließ dabei die Augen über die Werkstatt schweifen. Trussow hielt mit der Arbeit inne, nahm den Meißel heraus, betrachtete ihn und schleuderte ihn zu dem übrigen Gerümpel.
„Die Bande! Können nicht mal einen ordentlichen Meißel geben..." schimpfte er, zog seinen Tabaksbeutel hervor und setzte sich auf die Erde.
„Und wer soll dir denn einen neuen geben?"
„Wer? Sehr einfach — die Chefs! Die das große Gehalt kriegen, die sollen einen neuen geben!" Besänftigt spuckte Trussow aus und sah zu, wie die Spucke, in ein schwarzes Staubkügelchen verwandelt, weiterrollte.
Andrjuschetschkin richtete sich verwundert auf:
„So wirst du nun hier sitzen bleiben?"
„So werde ich sitzen bleiben."
„Bis zur Pause?" rief Andrjuschetschkin, und Zornröte stieg ihm ins Gesicht.
„Bis zur Pause", versicherte Trussow seelenruhig und tat einen langen Zug aus der Zigarette. „Wird sowieso nach dem Durchschnitt mitbezahlt, weniger kommt nicht heraus."
In seinen kalten grauen Augen glomm ein trotziges Feuer, und Andrjuschetschkin, den diese Ruhe verblüffte, fand keine Worte mehr und schwieg. Das Bewusstsein, dass er Zeit verlor, dass aber Trussow keinesfalls so sitzen bleiben durfte, machte ihn wütend. Vor seinen Augen erschien die lange Kette der räderlosen Waggons, und mit geballter Faust sprang er zu Trussow hin:
„Geh sofort und such dir einen Meißel, sonst wird's dir schlecht ergehn! Du bist doch Kandidat der Partei?"
„Und wenn schon — Kandidat! Was quatschst du da? Was willst du überhaupt von mir?" Wassja reckte sich drohend empor: „Schrei nicht so!" Borezki trat hinzu.
„Was regst du dich so auf, Wassja?"
„Der Andrjuschetschkin fällt ohne Grund über mich her, Stanislaw Antonytsch. Er wirft mir hier vor, dass ich Kandidat bin, was kann ich denn dafür, ich kann doch nicht mit den Fingern meißeln! Der Meißel ist verdorben."
Borezki gab Trussow einen Klaps auf die Schulter, trat ganz nahe an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr:
„Streng' dich ein bisschen an, Wassja, es sind keine Räder da... Ich werde auch deine Mühe nicht vergessen, du kannst dich drauf verlassen... Zur Nachtschicht kannst du auch kommen. Es ist Arbeit da."
Die Augen Trussows glänzten dankbar auf. Er lief schnell fort, um sich einen neuen Meißel zu holen, und bald donnerte sein Hammer wieder durch die Werkstatt.
Beim Schweißen hörte Andrjuschetschkin noch, wie Trussow ihm hämisch zurief:
„So geht man mit den Leuten um! Und nicht wie du, der einem droht! Anständig behandeln musst du die Menschen. Dickköpfiger Teufel, du!"
Durch das Krachen und Donnern drangen die giftigen Schimpfereien Wasskas wie von ferne an sein Ohr.
Das Manometer an dem schweigsamen Apparat Wekschins schien Andrjuschetschkin schmunzelnd anzugrinsen. Der Gedanke, dass Borezki Wassja sofort zur Vernunft gebracht hatte, während ihm, dem Zellensekretär, dies nicht gelungen war, machte ihn nervös und wütend, und ohne es zu merken, schleuderte er die frischen Elektroden eine nach der andern weit von
sich.
Heiser krächzend, mit schlürfenden Schritten, ging Nossow vorüber. Andrjuschetschkin betrachtete den von Krankheit gebeugten Rücken Nossows und, seine Wut bezwingend, rief er Trussow vorwurfsvoll zu:
„So muss man arbeiten! Der Mann müsste nach der Krim; Tbc (Anm.: Tuberkulose) im dritten Stadium! Aber statt dessen arbeitet er!"
Trussow ließ den Drucklufthammer los und brach in ein unbändiges Gelächter aus; man konnte meinen, das Lachen müsse seine gewölbte Brust sprengen und Andrjuschetschkin mit seinen starken Wellen hinwegspülen.
„Drittes Sta-di-um! Hu-hu-h-u-hu, he-he-ho-ho, Te-be-ce! Hört ihr, Jungens, ,Te-be-ce'!"
Wie aus der Erde emporgeschossen, stand plötzlich der „Chef" Wasska gegenüber und schüttelte missbilligend den struppigen Kopf.
Der „Chef" sagte kein Wort, maß Wasska nur mit einem langen, scharfen Blick, unter dem diesem so ungemütlich zumute wurde, dass er verlegen aufseufzte und widerwillig den Drucklufthammer vom Fußboden aufhob. Der „Chef" aber blieb schweigend ein Weilchen stehen und ging dann ruhig in die Dreherei hinüber. Er hörte nicht, wie Wasska respektvoll hinter ihm her sagte:
„So'n Hexenmeister! Steckt seine Stielaugen 'raus und sagt kein Wort. Wenn er wenigstens noch geschimpft hätte!"
Der „Chef" machte seinen gewöhnlichen Rundgang. In der Abteilung für Eisenkonstruktionen stand er lange und betrachtete voller Bewunderung einen zweihundertfünfzigtonnigen Kran für den Dnjeprostroi, der mit seinem gigantischen Leib die halbe Abteilung ausfüllte; dann ging er in die Lokomotiv-Montagehalle, wo ihm gesagt wurde, dass sich die Montage verzögere, weil die Triebräder nicht rechtzeitig geliefert worden seien, und schließlich wandte er sich nach der Martinabteilung. Dort traf er Borezki, der ihm einen mürrischen Gruß zubrummte.
„Warum lieferst du denn keine Räder, mein Lieber?" Der „Chef" blickte ihn streng an.
„Was geht dich das an?" Borezki wandte ihm grob den Rücken zu und betrachtete eingehend das geschweißte Rad.
Der alte Kusmitsch zog die dichten buschigen Brauen zusammen.
„So... Antonytsch, so, so... Ich bin schließlich ein wenig älter als du, ich darf schon mal neugierig sein. Weil ich schon so alt bin, mein Lieber, und aus reiner Langeweile... "
Der „Chef" merkte, dass Antonytsch mit seinem breiten, starken Rücken etwas vor seinen prüfenden Augen verbergen wollte.
Durch das Benehmen Borezkis beleidigt, runzelte er die Stirn und ging weiter, in die Dreherei. Rund um ihn herum erheben sich die fertigen Fabrikgebäude, die eins nach dem andern vor seinen Augen entstanden sind. Er besinnt sich noch darauf, dass das Fabrikgelände einmal bei der Dreherei zu Ende war und dass sich unmittelbar an diese das Fabriktor anschloss. Und der „Chef" erinnert sich daran, wie im Jahre 1897 die Flammen aus dem Eingangstor hervorbrachen, das von den aufständischen Arbeitern in Brand gesteckt worden war, und wie das Feuer auf die Werkstätten übergegriffen und schwarzer Rauch die ganze Fabrik eingehüllt hatte. Auf vieles besinnt sich der „Chef", was er in seinem langen Leben gesehen hat: jedoch darauf kann er sich nicht besinnen, dass er auch nur ein einziges Mal seinen Rücken vor einem andern gebeugt hätte. Borezki aber, damals noch der junge, starke Stassik, stand gern vor den Vorgesetzten stramm und machte schnell Karriere; durch das neugebaute Eingangstor kam Stassik als erster zur Arbeit in die von den Arbeitern im Stich gelassene Abteilung.
Und jetzt — Genosse Borezki — .. Stanislaw Antonytsch...
„Was gehn dich die Räder an?"... In dem Alten kochte der Zorn, er brummte etwas vor sich hin und spuckte aus.
Der gewohnte Lärm der Maschinen in der Dreherei machte den „Chef" nicht taub und vertrieb auch das Gefühl der erlittenen Beleidigung nicht aus dem erregten Herzen. Zornig mit den schweren Stiefeln stampfend, begab er sich nach der Radsatzdreherei.
Von überallher rief man ihm entgegen:
„Großväterchen, guten Tag!"
„Kinder, der Alte kommt!"
„Komm her, wir woll'n ein bisschen plaudern, Genosse ,Chef!"
„Keine Zeit, Kinder, keine Zeit!" antwortete der „Chef" mit besorgter Miene und ging weiter.
Ein dünner Laut, wie eine feine Vogelstimme, ertönte — das Signalhorn. Wie ein kleines Küken in den Klauen des Geiers, schwebte am Kranhaken eine Lokomotivachse heran und ließ sich leicht über der Maschine Saizews nieder. Der „Chef" beobachtete, wie Saizew die Achse an die Maschine heranholte, und eine jede seiner Bewegungen teilte sich dem Alten mit; er presste die Fäuste zusammen, als halte er eine schwere Last fest, strengte seine ganze Kraft an, und die trockenen Lippen bewegten sich. Er fühlte sich von der gewohnten Ungeduld ergriffen — von Hunderten von Menschen, die ganz auf ihre Arbeit konzentriert waren, sprang die Anspannung auf ihn über, und er besaß nicht die Kraft, sich ihrem machtvollen Eindringen in seinen abgenutzten, aber feinnervigen und zähen Organismus zu widersetzen: seine rastlosen Augen liefen durch die ganze Werkstatt, um aufzuspüren, wo irgendetwas nicht in Ordnung war; sein besorgtes Herz begann schneller zu schlagen; instinktiv spannten sich seine Hände, die von der Berührung des Metalls erwacht waren. Er konnte sich nicht beherrschen und schrie mit lauter Stimme: „Gib die Enden her!... Stopp!..."
3
Olga steckte den Kopf zum Führerhaus des Krans hinaus und schaute hinunter. Gebeugt über ihre Maschine arbeiteten dort die Dreher und Hobler. Dort unten wurde das Dröhnen des Metalls geboren; es vereinigte sich mit dem Surren der Drehbänke und breitete sich über die ganze Halle aus; die donnernden Wellen umspülten Olga, und unbewusst fing sie den Rhythmus der Maschinen auf und sang:
„Und diese Arbeit, die uns bese-e-elt,
Hat uns zu starken Kämpfern gestä-ä-hlt..."
Saizew trieb die hölzernen Keile ein, um den Radsatz zu befestigen. Die Keile sprangen wieder heraus, zerbrachen unter den Schlägen des schweren Schmiedehammers. Er trieb neue hinein, die er unter all dem Gerümpel hervorsuchen musste, wobei viel Zeit verloren ging. Eine halbe Stunde mühte sich Saizew auf diese Weise ab, und noch immer war der Radsatz nicht richtig befestigt. Von oben her ertönte das helle Lied der klingenden Metallhobel.
Mit dem Einspannen ging die Zeit hin, die für das Bearbeiten des Radsatzes bestimmt war — und bis die Sirene zur Pause pfiff, musste alles fertig sein. Der „Chef" machte sich bei der Maschine zu schaffen. Eifrig schob er die Keile zwischen die Speichen der Räder.
„So, Freundchen, jetzt schlag' mal zu!" Saizew tat einen wuchtigen Hammerschlag, und der Keil fügte sich krachend in den Spalt, wo er, zu Tode getroffen, festsaß. Das Lied oben brach ab.
Der Meister trat hinzu. Mit trüben, gleichgültigen Augen musterte er das Gesicht Saizews.
„Eil' dich, Saizew! Gestern hat man die Bearbeitungszeit gekürzt. Jetzt wirst du täglich anderthalb Radsätze abdrehen. Von oben wird gedrückt. Simon Petrowitsch hat's befohlen. Es heißt, dass eine Menge Lokomotiven halbfertig stehen, da drängen sie nun."
Saizew zog mit der Hand einen der vier Supporte heran, indem er angestrengt den Griff der Schlittenschraube drehte.
„Anderthalb? Einer ist schon nicht zu schaffen... Fast eine ganze Stunde braucht man für das Einspannen. Daraus wird nichts werden, Bulawkin."
Bulawkin drehte eine Zigarette zwischen den Fingern, steckte sie in eine abgenagte Spitze und seufzte:
„Ich seh' es selber. Aber wenn's die oben verlangen, was kann man da tun?"
Die graublaue Warze, aus der schwarze, borstige Haare hervorstarrten, saß unerschütterlich auf der grauen Wange Bulawkins. Man konnte sie nicht abklauben, man musste sich eben mit ihr abfinden, ebenso wie mit der Verfügung der Direktion.
„Da können wir gar nichts machen, Saizew." Saizew begann eifrig den zweiten Support einzustellen, um die Radreifen seitlich abzudrehen. Aber der Support bewegte sich nur schwer und hielt plötzlich inne, als ob ihn jemand von unten festhielte. Saizew untersuchte den Schlitten und merkte jetzt erst, dass er voll von dickem Schmutz war: Späne und Staub, die unter dem Drehstahl herabfielen, behinderten die Schlittenschraube.
Saizew wischte den Schmutz mit einem Lappen ab und bewegte das Antriebrad mit der Hand. Die Drehbank erzitterte, und der Radsatz begann sich langsam zu drehen, wobei Späne und Schmutz unter den vier Drehstahlen herausfielen. Saizew wischte sich den Schweiß ab und sah auf.
Sein Nachbar, Mochow, schaute über die Brille weg auf die Achse und brummte dabei irgendetwas. „Mochow! Wie findest du das Leben?" Die Brille rutschte auf die Stirn hinauf, und Mochow wandte Saizew sein unzufriedenes Gesicht zu, die grünlichen Augen ärgerlich zusammenkneifend.
„Keinen Pfifferling ist's wert! Immer neue Bestimmungen werden eingeführt... Seit Jahren arbeite ich auf Achsen, weiß Bescheid damit... Und jetzt auf einmal — jeden Tag was Neues — den Flansch mache so und nicht so. Früher war der Anlauf glatt, es war eine Freude, die Triebachse anzusehn; jetzt gibt's lauter Zeichnungen — der Teufel soll sie holen! Auch die Drehbank ist wie wild geworden; der Support ist wie besoffen — absolut nicht in Ordnung zu bringen ... "
Saizew untersuchte die Drehbank Mochows — die Schlittenschraube war voller Späne, der Schlitten knarrte und war gelockert — Späne und Staub machten langsam, im Laufe der Jahre, den präzisen Antrieb der Drehbank zunichte. Mochow machte eine hoffnungslose Handbewegung: „Das nennt sich eine Achsendrehbank! Auf der hat schon der Prophet Elias die Achse zu seinem Wagen gedreht!"
Saizew sah zu, wie Rost und Staub vom Drehstahl auf den Support spritzten. Hunderte von Drehbänken surrten, brummten, kreischten in der riesigen, niedrigen Halle und verwandelten formlosen Metallguss in glänzende Lokomotivteile. Anderthalbtausend Dreher, Bohrer, Fräser und Hobler schufen die Maschine, gaben ihren zahlreichen Teilen ihre endgültige Form, schliffen sie ab, und alle die funkelnden Stahlstücke verbanden sich miteinander zu einer mächtigen, kraftstrotzenden Lokomotive. Saizew hatte sich stets von einer jeden Maschine angezogen gefühlt, sie schien ihm mit ihrer komplizierten und schwierigen Innenwelt wie ein lebendiges, vernünftiges Wesen. Gierig betrachtete er das Ineinandergreifen der Zahnräder, Wellen und Antriebsräder, um ihr Zusammenarbeiten zu erfassen. Diese Beobachtungen und seine Arbeitserfahrung hatten ihn zu einem gründlichen Verständnis für die Maschine gebracht; aus dem wohlbekannten Surren der Drehbank verstand er ihre Unzufriedenheit, Ermüdung und Erschöpfung herauszulesen; an kaum merkbaren Anzeichen erkannte er die Ursachen von Unterbrechungen, und jede Schwankung im Rhythmus der Arbeit der Maschine empfand er sofort schmerzhaft in seinem eigenen Organismus, als ob dieser selbst versagte; dann hantierte er hartnäckig an der Maschine herum, nahm sie auseinander, säuberte und putzte sie und beruhigte sich erst dann, wenn er wieder ihren sicheren, gleichmäßigen Gang hörte. Oft wurde er wegen seiner Liebe für die Maschine verspottet, aber diejenigen, die das taten, hielt er für „Dorftölpel" und ließ ihre Spöttereien unbeachtet.
Auch die Menschen teilte Saizew je nach ihrem Verhältnis zur Maschine in drei Kategorien ein: in die Dorftölpel, die Akkuraten und die, die wirklich über die Maschine nachdachten. Die ersten waren ihm verächtlich, die zweiten achtete er, seine besondere Liebe aber galt denen, die über die Maschine nachdachten. Zu dieser letzten, höchsten Kategorie gehörten nur wenige; dazu rechnete er solche, die wie er selber waren, und zwar traf er strengste Auswahl. Saizew selbst hatte alle diese Stufen hinter sich, und nun, da er sich in seinem Bewusstsein über die Masse der Menschen erhob, die in der Dreherei arbeiteten, betrachtete er sie gewissermaßen von oben herab. Die Kategorie der Dorftölpel war in der Abteilung am stärksten vertreten. Akkurate, zu denen Mochow gehörte, gab es nur sehr wenige, und nur drei gab es, die über die Maschine nachdachten. Das war traurig, aber die Tatsache, dass er, Saizew, diesen ganzen Entwicklungsweg hinter sich hatte, erfüllte ihn mit Stolz. Der Sinn für die Maschine war für ihn der Maßstab für das eigene Wachstum.
Das, was er jetzt bei sich und Mochow entdeckt hatte, war etwas Neues für ihn. Auch früher waren Stahlspäne auf die Schlittenschraube gefallen, aber durch tägliche Reinigung der Drehbank hatte Saizew dagegen gekämpft; jetzt erkannte er, dass dies ein Mangel der Einrichtung der Maschinen war: der wichtigste Teil der Drehbank war ungeschützt und daher zur vorzeitigen Abnutzung verurteilt. Ein Vergleich kam ihm in den Sinn: das menschliche Auge hat die Natur selbst durch dichte Wimpern gegen Staub geschützt, die Schlittenschraube und der Schlitten der Maschine dagegen liegen offen und ungeschützt da. Das ist verkehrt. Man muss die Drehbank so einrichten, dass die Arbeitsteile der Maschine gegen Verletzungen geschützt sind.
Er beugte sich über die Drehbank, ging um sie herum, ließ sich auf die Knie nieder. Immer der gleiche Gedanke ließ ihm keine Ruhe: „Wie, wenn man den Support irgendwie zudeckte, dass weder Stahlspäne noch Rost noch Staub zu der Schraube durchdringen können?"
Saizew dachte an seine Frau am Herd, an die blaue Schürze, die ihr rosa Kattunkleid verdeckte. Vielleicht musste man es auch hier mit einer Schürze versuchen. Das Rätsel war einfach, ganz unkompliziert zu lösen, und Saizew wunderte sich über diese Einfachheit. Er ging um die Drehbank herum und, erfreut über den Gedanken, der ihm plötzlich gekommen war, rief er Mochow.
„Makarytsch, was meinst du, wenn wir dem Support eine Schürze vorbinden täten?"
Mochow hörte die Erklärungen Saizews an, sein finsteres Gesicht hellte sich einen Augenblick neugierig auf, um gleich darauf wieder seine scharfen Züge anzunehmen.
„Denkst du denn, dass der Support ein Weib ist, was? Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Olga! Gib mal dem Saizew deine' Schürze!"
Saizew wandte sich verwirrt der Drehbank zu, aber der Gedanke an die Schürze ließ ihn nicht mehr los, und als Bulawkin wieder auftauchte, teilte er ihm seine Idee mit. Wieder schaute die Warze Saizew ruhig und kalt mit ihrem graublauen, toten Blick an.
„Hör auf zu faseln, Saizew, und pass lieber auf deine Arbeit auf. Sieh zu, dass der Radreifen da nicht hängen bleibt."
Enttäuscht starrte Saizew auf den sich entfernenden gebeugten Rücken Bulawkins und ließ seinen Blick durch die Abteilung schweifen. Ruhig und gleichmäßig drehte sich die Planscheibe der Drehbank, weißlich glänzten die abgedrehten Radnaben. Weiter hinten raste, mit glatt geschliffenen, funkelnden Seiten, die Achse, die zum Aufsetzen der Räder fertig gemacht wurde. Daneben drehte sich, einem Mühlstein ähnlich, auf einer Karusseldrehbank ein Radreifen und spritzte kleine Späne nach allen Seiten. Noch weiter weg aber keuchte die hydraulische Presse, die die Kurbel in die Triebräder presste. Der Presser beobachtete gespannt, wie sich der Kurbelzapfen, von dem gelbes Öl heruntertropfte, in die Bohrung hineinbewegte, und als er plötzlich merkte, dass die Marken nicht aufeinander passten, ergriff er den Bleihammer und verbesserte mit einem wuchtigen Schlag die Bewegung des Kurbelzapfens.
Die fertigen Achsen wurden auf Schienen, die zu der Lokomotiv-Montagehalle führten, abgerollt, und mit ihren blitzenden Kurbeln wie mit Flügeln winkend, donnerten sie an den Maschinen vorüber. Hinter ihnen her lief der „Chef" und fuchtelte mit seinen kurzen Armen herum. Kollernd fraßen sich die Fräser in die kupfernen Gleitschuhe der Kreuzköpfe. Die Hobelbänke bearbeiteten die Gleitbahnen und die Kuppelstangen. Die blank geschliffenen Kulissen glänzten schuppig wie soeben gefangene Fische.
Und alle diese geschliffenen, blinkenden Stahlstücke streben zu der Lokomotiv-Montagehalle. Dort, hinter jener Wand, treffen sie sich alle, und im Körper der Lokomotive vereinigt, legen sie sich auf diese Achse, um Tausende von Tonnen Lasten zu schleppen.
Saizew trieb die Keile hinein, während die Drehbank in vollem Gang war, und entfaltete eine Zeitung.
FÜR DIE MOBILISIERUNG DER INNEREN HILFSQUELLEN
Unsere Fabrik benötigt enorme Mittel. Diese Mittel gibt uns der Staat. Aber wir können und müssen diese Mittel bei uns selbst suchen. Sie sind vorhanden. Sie liegen zu Tausenden von Rubeln über den Fabrikhof verstreut, in den Bergen rostenden Stahls. Sie sind verborgen in den Rohstoffen, im Material, in den Maschinen»die wir nicht sorgfältig genug hüten. Allein im letzten Monat kam es sechshundertmal zu Arbeitsunterbrechungen, weil die Maschinen kaputt gingen. Wir werfen Millionen hinaus. Aber wir müssen sie sparen, müssen sie in der ganzen Fabrik sammeln und in den Dienst der Sache stellen..."
Nachdenklich schaute Saizew auf die entblößt daliegende, glänzende Oberfläche des Radreifens. „Millionen... sie sind auf dem Boden dieser Werkstatt verstreut, sind in dieser Maschine enthalten; man muss sie hüten, wie Nastja ihr rosa Kleid hütet. Man muss ihr eine Schürze vorbinden."
In der Mittagspause trat Saizew, an seinem Brot kauend, in das Abteilungskontor. Der Leiter der Abteilung, Sorin, hörte Saizew an und sagte obenhin und kühl:
„Darüber müssen Sie in der KSI (Anm.: Kommission zur Unterstützung des Erfinderwesens) sprechen... Das ist eine Erfinderangelegenheit. Wir haben jetzt anderes im Kopf... Gehen Sie zum Vorsitzenden der KSI, Ingenieur Kraiski."
Saizew fand Kraiski, kurz bevor die Sirene zum Wiederbeginn der Arbeit rief.
Kraiski verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und strich seinen dichten, herabhängenden Schnurrbart glatt.
„Die Drehbank braucht keine Schürze, sondern Menschen, die mit ihr umzugehen verstehen. Für die Herstellung solcher ,Schürzen' ist Geld notwendig, und das haben wir nicht. Es lohnt sich nicht. Haben Sie heute den Artikel über die Hilfsquellen gelesen?"
„Aber der Support wird doch von dem Metallstaub und den Drehspänen verdorben! Das kommt uns teurer zu stehen."
Kraiski lockerte den Gürtel um seinen runden Bauch und stieß einen Seufzer aus:
„Wissen Sie, wenn die Sache von Bedeutung wäre, wäre der Konstruktionsingenieur schon längst darauf gekommen, glauben Sie mir... Aber solche Schürzen gibt's eben nirgends. Nirgends! Außerdem handelt es sich ja hier auch wirklich nicht darum, diese vorsintflutlichen Maschinen mit Schürzen auszustatten. Sie haben ausgedient. Er wird Zeit, dass sie ins Museum wandern und durch moderne Universalautomaten ersetzt werden... Im übrigen können Sie ja eine Eingabe an die KSI einreichen. Wir werden die Sache prüfen."
Die Sirene heulte durch die Fabrik, Saizew lief in die Dreherei und rannte dabei alles, was ihm in den Weg trat, über den Haufen.
Die Metallspäne rannen wie feine, kurze Spiralen unter dem Drehstahl hervor und verstopften den Support, indem sie ihn in feinen Metallstaub einhüllten. Und im Kopfe Saizews jagten die Gedanken einander wie diese Stahlspäne und ließen ihm keine Ruhe. „Vielleicht ist diese Idee mit den Schürzen wirklich Unsinn? Sollten wirklich die Menschen nicht schon längst darauf gekommen sein? Und Kraiski sagt ja auch, dass... Aber wo liegen denn die Millionen, von denen in dem Artikel die Rede ist?"... Saizew konnte sich nicht zufrieden geben, nicht beruhigen, er suchte in dem kleinen Schränkchen ein Stück Blech und machte sich daran, den rechten Support zu bedecken. Die Metallspäne, die elastisch unter dem Drehstahl hervorsprangen, glitten an den vor Ungeduld leicht zitternden Händen hinab.
Nun ließ er keinen Blick mehr von dem Blechschirm, der das klingende Prasseln der Metallspäne auffing.
Aus den hohen Schornsteinen quoll dichter schwarzer Rauch. Von den Sonnenstrahlen durchbrochen, schwamm er als gelbrosa Wolkengebilde dahin, einen heiteren Tag kündend. Schnell stieg die Sonne am Horizont empor, sie badete sich in den Glasdächern der Fabrik, klopfte an die Fenster, erwärmte die Erde, auf der Eisen und Stahl lagerten, die die Luft mit dem Geruch von Erdöl, Metall und Kohle erfüllten. Gleich zarten schwarzen Schneeflocken senkte sich der Ruß auf den weißen Sand der Strafen.
Da erwachte Sergej...
Die Sonne drang durch das dichte Laub der Ahornbäume und spielte an den Wänden und auf dem Fußboden, malte zitternde, feine Blätterschatten hin. Sie wirbelten durcheinander, sprangen hin und her und es war, als ob alles im Zimmer sich lautlos bewege.
Sofort erinnerte er sich an alles: die schwüle dunkle Scheune ist ganz voll von Menschen, überall fühlt man ihren heißen Atem... Sergej meint in dieser Ansammlung von menschlichen Händen, Beinen, Köpfen zu ersticken. Laut und aufreizend surrt der Ventilator. Bleierne Finsternis im Raum, nur über dem Kopf Sergejs wird sie von einem messerscharfen blauen Lichtstrahl durchdrungen, der den schwarzen Nebel zerteilt und den sonnigen Tag enthüllt, Straßen, Bäume, Häuser... Und weit in der Ferne rast in panischer Furcht ein kahles Hündchen davon, und hinter ihm her rennt ein Mensch mit einem Stöckchen. Er läuft flink wie ein Wiesel, stolpert, fällt lang hin aufs Pflaster.
„Wunderbar sind die Abenteuer von Charlie Chaplin!"
„Der wird's gleich zeigen!..."
„Mischka! Leg' mal los!"
Und die Dunkelheit wieherte und gackerte, dann wurde es auf einmal ganz still. Ein kleiner blasser Mensch in einem steifen schwarzen Hut, der ein Stöckchen zwischen den Fingern drehte, sah Sergej von weitem an; dann zog er die Hosen hoch, die ihm hinabrutschten, schlug mit den Füßen aus und fiel lang hin. Ein begeistertes Johlen erschütterte die Stille, die unter dem stürmischen Lachen zu bersten schien.
Sergej begriff nicht: „Wie kann man denn lachen, wenn ein Mensch hinfällt? Vielleicht ist er krank, oder er hat etwas zuviel getrunken und kracht nun auf das Pflaster hin? Aber das tut ihm doch weh!" Angestrengt starrte er dem Armen ins Gesicht, aber dieses Gesicht war nicht aus der Ruhe zu bringen, zeigte weder Schmerz noch Wut noch Kummer: es war wie eine kalte, starre Maske. Besonders die Augen verblüfften Sergej: sie schienen ihm mit ihrem starren, toten Blick fürchterlich. Nachdem sich Sergej so davon überzeugt hatte, dass er hier einen sichtlich anormalen, einen unglückseligen Menschen vor sich hatte, über den die Leute rund herum herzlos und böse lachten, stand er erregt auf und richtete eine leise Frage an die Finsternis:
„Warum lacht ihr denn?"
Die Finsternis antwortete ihm mit Kichern, Flüstern und Lachen. Da brüllte Sergej voller Wut:
„Weshalb ihr lacht, frage ich euch? Es tut ihm doch weh!"
Unter diesem Schrei erzitterte der Mensch, verschwand und tauchte gleich darauf wieder neben ihm auf, mit demselben leidenschaftslosen Gesicht. Er fasste Sergej bei der Hand und sagte niedergeschlagen:
„Bürger! Es ist hier verboten sich zu äußern, wenn Sie aber zu viel getrunken haben sollten, so kehren Sie an die frische
Luft zurück!"
Aber Sergej musste unter allen Umständen feststellen, warum die Leute hier lachten, wenn ein Mensch auf das Pflaster hinschlägt.
„Schweinehunde, ihr! Warum lacht ihr, vielleicht ist's ein ,Psychischer', nicht bei vollem Verstand?"
„Du bist selber ein ,Psychischer'."
„Der ist ja schön besoffen!"
„Schmeißt ihn 'raus, worauf wartest du?"
Das elektrische Licht flammte auf und erfasste den Kopf des kleinen Kerlchens wie mit einer blendenden Flamme. Sergej taumelte erschrocken zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen:
„Du versengst mich!"
Die Menschen pfiffen, johlten, brüllten etwas von Ruhestörung an öffentlichen Stätten — und alles das vermischte sich zu einem Mordsspektakel. Sergej spuckte aus und ging hinaus. Rund um ihn herum brannte eine fürchterliche Hitze, die ihm schmerzhaft in den Augen stach.
Auf der Straße erlosch die Glut, der Kopf des kleinen Kerlchens wurde schwarz, als ob er verkohlte, und er neigte sich überredend zu Sergej:
„Lieber! Geh, schlaf dich aus!"
Aus den leeren Augen des kleinen Mannes leuchtete jetzt rührendes Mitleid. Sergej umarmte ihn, berührte seinen Kopf und bekam die Kühle von Metall zu spüren: ein Feuerwehrhelm blickte ihn an.
Wie Moorgrund schwankte der Boden unter seinen Füßen. Die Bäume kitzelten sein Gesicht mit ihren kühlen Blättern. Sergej ging den endlosen schwarzen Korridor der Straße entlang. Zu beiden Seiten schwankten, in ehrfürchtigen Reihen aufgestellt, die gelben Köpfe der Straßenlaternen...
Vergnügt wirbeln und hüpfen die Schatten durchs Zimmer — vor den Augen flimmert es unter den stürmischen Sonnenstrahlen; eine schwere Müdigkeit erfasst Sergej, das Herz schlägt nur langsam und widerwillig, die Augen fallen zu, die Zunge steckt in klebrigem Speichel fest.
Geräusch wie knatterndes Maschinengewehrfeuer drang plötzlich ins Zimmer, und der Raum füllte sich mit dem fernen Klingen von Metall. Sergej hob die schweren Lider — von der Wand guckte das in der Sonne funkelnde Auge eines kupfernen Nummernschildes auf ihn herab: Nr. 75 701.
Er zog die Decke über den Kopf, aber durch das lose Gewebe hindurch spürte er das unerträgliche Sonnenlicht, das ihn aufscheuchte, ihn unaufhörlich verfolgte.
„Und wenn schon — mag sie sich zum Teufel scheren, die Fabrik", fluchte Sergej böse, warf die Decke zurück und trat ans Fenster.
Ein warmer Wind rauschte in dem blassgrünen, durchsichtigen Blätterwerk der Ahornbäume und fuhr zum Fenster herein — und dann hörte man im Zimmer ganz deutlich das Brummen des Drucklufthammers, das Dröhnen des Eisens, Sergej schloss das Fenster und sah sich im Zimmer um: ein mit dicken Schmutzkrusten bedeckter Stiefel schaute aus einem Geranientopf heraus; seine Jacke war über einen Stuhl geworfen, ein Kätzchen lag zusammengerollt darauf und schlief; in den neuen, ganz zerknüllten Hosen gähnte an einem Knie ein großes Loch; das Kissen war ganz voll von gelben und grünen Flecken.
„Die Schweine — nicht mal ausziehen konnten sie mich", dachte er und wurde nach und nach von einem Gefühl zorniger Kränkung ergriffen.
Im Hause war alles still — anscheinend waren alle auf dem Markt; nur hinter der Bretterwand plätscherte Wasser. Er sah hinüber: hinter einem geblümten Vorhang schaute ein Bett hervor, darauf ein mageres Bein, das sich zitternd zusammenkrampfte. Und hinter dem Vorhang plätscherte auch das Wasser, das glucksend überfloss.
„Wieder heult sie!"... Sergej warf einen wütenden Blick auf das sehnige Bein.
In einer Ecke stand bescheiden ein brauner Schemel mit eingedrücktem Ledersitz — ein Andenken an den väterlichen Beruf, das die Mutter sorgsam hütete: dieser abgewetzte, mit Riemen ausgebesserte Schusterschemel, eine Raspel und ein Päckchen Holznägel. Sergej seufzte auf und spürte den bekannten und so verhassten Geruch von Schusterpech. Diesen Geruch schienen die im Laufe der Jahre schwarz gewordenen Wände, alle Gegenstände und sogar das dunkle, magere Bein der Mutter auszuströmen.
Schon sechs Jahren war es her, dass der Vater, als er die Holznägel in den letzten Stiefel hineintrieb, plötzlich röchelnd auf den Boden gefallen und nicht mehr aufgestanden war. Aber der Geruch von Schusterpech und Leder verfolgte Sergej heute noch und vergiftete ihm das Leben.
Ü berwältigt von seinem Zorn, ging er zu dem Schemel, ergriff ihn und schleuderte ihn wütend zu Boden. Das magere, anscheinend aus lauter Sehnen zusammengedrehte Bein verschwand zuckend unter der Decke. Der Schemel ächzte jammervoll und rollte über den Fußboden.
Sergej setzte sich ans Fenster und blickte trübselig auf die Straße hinaus. Ein breiter Streifen aus Sand, zog sie sich bis zur Fabrik hin. Aus dem feinen, lockeren Sand blitzten hier und da Glasscherben auf, Konservenbüchsen lagen herum, stellenweise wagten sich spärliche kleine Grasbüschel hervor. Und überall Sand — feiner, lockerer, weißer Sand...
Mit schwarzen Kohlensäcken hoch beladen, die Räder tief in den weißen Sand gedrückt, fuhr ganz langsam ein Kohlenwagen knarrend vorüber. Das kleine Pferd, dem die spitzen Rippen herausstanden, streckte den Hals lang aus und mit dem kleinen Schwanzstummel um sich schlagend, brachte es die schwarze Last nur mit Mühe und Not von der Stelle. Ein finsterer, plumper Mensch, selbst einem schwarzen Kohlensack ähnlich, trieb das Pferd mit der Peitsche an. Es schlug faul mit den Hinterbeinen aus, ruckte mit dem Leib und blieb schließlich stehen.
„Ko-ho-o-len! Wer braucht Ko-ho-o-len?!"
Sergej blickte auf den Gaul, auf seinen jämmerlichen Kopf, der zur Erde herabhing, und dachte: „So werde ich auch mein ganzes Leben unter der Last einer freudlosen Arbeit hinschleppen, vom Fabrikrauch verrußt wie der Kohlenmann. Warum bin ich schlechter als andere?" Und wieder fiel es ihm ein: vor fünf Jahren war ein ebenso heller, sonniger Maitag gewesen. Und er selbst war, von der Sonne durchstrahlt, freudig nach Hause gekommen.
„Mutter, ich fahre auf die Hochschule! Der Senka Platow und ich, wir haben's beide beschlossen."
Die Mutter musste sich vor Schreck hinsetzen.
„Und wir, Serjosha? Ich... und Julia... Shenja... Manja?"
Die Schwestern weinten und heulten. Sergej wurde Tränen gegenüber schwach — und plötzlich wurde ihm klar: er würde nicht fahren. Er spürte diese unüberwindliche Macht, die die Familie über ihn hatte; aber er wollte sich widersetzen und schrie:
„Ich will mich nicht mein ganzes Leben lang so quälen, wie sich der Vater gequält hat!"
An diesem Tage betrank er sich und zertrümmerte mit der Raspel die Fensterscheiben. Dann lief er hinaus in den Wald, warf sich ins Gras und stopfte sich mit den Fingern die Ohren zu, um den verhassten Lärm der Fabrik nicht zu hören. Am nächsten Tag schritt Sergej dann wieder durch die Eingangspforte in die Fabrik — im Herzen brennenden Schmerz und Hass auf die Familie, auf die schwarzen, rußigen Fabrikgebäude, auf Senka Platow und auf alles, alles in der Welt...
In donnernden Wellen drängt der Lärm der Fabrik zum Fenster herein und weckt Unruhe und Erregung. Soll er, Sergej, wirklich sein ganzes Leben lang die schwere Last dieses freudlosen Fabrikdaseins schleppen, wie diese Schindmähre da unten ihre Kohlenfuhre? Tag für Tag immer ein und dasselbe tun, bis ins hohe Alter hinein, bis er schließlich den Verstand verliert, wie der alte, „malacholnische" Kusmitsch?
Da stampft er schwer daher in seinen riesigen Stulpenstiefeln, die so unelastisch sind, als ob sie aus Blech wären, den unbedeckten silbernen Kopf tief auf die Brost gesenkt.
„Schindmähre!" — denkt Sergej spöttisch, steckt den Kopf zum Fenster hinaus und ruft mit lauter Stimme, dass es über die ganze Straße hin zu hören ist:
„Malacholnischer —!"
Der „Chef" wandte nicht den Kopf. Er ging tief in Gedanken versunken weiter, seine Stiefel sanken tief in den Sand ein.
Hinter der rissigen Wand gluckste das Wasser noch immer — wohin sollte man sich bloß vor diesem fürchterlichen Schluchzen retten?
Zu Sergejs Füßen schnurrte der Kater und leckte ihm die Zehen mit seiner kleinen rosaroten Zunge. Unheilkündend gähnte das Loch in den Hosen. Sergej besann sich darauf, dass er versprochen hatte, heute zu Walja zu kommen; darum fädelte er ungeschickt einen Faden ein und machte sich daran, die Hosen zu stopfen.
„Wekschin, hier ist ein Brief!"
Eine sonnverbrannte Hand streckte sich zum Fenster herein und ließ ein blaues Kuvert zu Boden fallen. Der kleine Kater sprang blitzschnell hinzu, ergriff den Brief mit seinen spitzen Krallen, zerknüllte ihn und sprang damit im Zimmer herum. Lachend entwand ihm Sergej den Brief und riss ihn ungeduldig auf.
„Lieber Serjosha! Erwarte in den nächsten Tagen den Ingenieur Platow bei Dir zu Besuch: ich werde in Eurer Fabrik arbeiten. Fürs erste möchte ich bei Dir wohnen. Mir ist es angenehmer, mich bei meinem alten Freund niederzulassen, und Dir wird's Vergnügen machen. Du wirst doch nichts dagegen haben. Für heute leb wohl!
Dein Semjon."
Die vergessene Nähnadel blitzte, leicht vom Winde bewegt.
Der Brief knüllte sich in der zitternden Hand Sergejs zusammen, reizte den Kater zum Sprunge. Und plötzlich füllte sich das Zimmer mit wirbelnden, winzigen Schmetterlingen, die schnell in die Höhe flatterten und sich dann langsam auf dem Fußboden niederließen — Sergej hatte den Brief wütend in kleine Fetzen zerrissen. Der Kater sprang und haschte nach ihnen, wie sie in dichten Schwärmen um seinen Kopf wirbelten.
4
Das Fabriktor hatte den Menschenstrom hinausgelassen. Da erschien Borezki. Vierzig Jahre lang geht er durch dieses Fabriktor ein und aus. Ein halbes Menschenleben hat er der Fabrik gewidmet, mit ihr ist es aufgewachsen, mit ihr gealtert: schon haben seine Haare ihren Glanz verloren und erinnern an trüben, grauen Koks.
Die Maiwärme konnte Borezki nicht verleiten, seine jahrelangen Gewohnheiten aufzugeben: er trug eine dicke wattierte Jacke und um den Hals einen roten Schal.
Borezki liebte die Masse nicht, da er sich in ihr verlor, zu einem Sechszehntausendstel dieser Menge wurde, das von den anderen nicht zu unterscheiden war; wenn er aber allein kam, gaben ihm die Wächter stets ihren Gruß mit auf den Weg:
„Antonytsch! Schluss mit der Arbeit?"
,Der hat's nicht eilig, Bruder... der kennt seinen Wert..."
Antonytsch hörte diese Bemerkungen, und sein Gang wurde noch korrekter und würdiger. In seinen Augen und in den Falten seiner fest zusammengekniffenen Lippen lag hartnäckiger Starrsinn.
Er wurde von den Ingenieuren eingeholt, die mit ihm einen Händedruck wechselten und ein paar Worte tauschten.
„Stanislaw Antonytsch!"
Borezki wandte sich um. Der ungefüge Ingenieur Kraiski, der mit seinem Schnurrbart aussah wie ein Walross, kam auf seinen kurzen dicken Beinen angewackelt.
„Stanislaw Antonytsch! Auf ein Wort... Nossow will auf Urlaub. Das können wir nicht zugeben, verstehen Sie! Unter keinen Umständen!"
„Ich verstehe... " Antonytsch senkte die Augen.
„Er kann dafür entschädigt werden... Wir können ihm für später Urlaub versprechen... Aber jetzt gehen lassen dürfen wir ihn nicht. Es ist im Interesse der Sache unmöglich, verstehen Sie?"
„Ich verstehe", wiederholte Borezki und betrachtete angelegentlich die Spitze seines großen Stiefels.
„Ausgezeichnet."
Kraiski bog in den „Roten Weg" ein, wo der Technische Direktor der Fabrik und er, der Leiter der Martinabteilung, wohnten.
Borezki betrat eine kleine, stille Gasse. Durch die offenen Fenster der dreiäugigen kleinen Häuser konnte man sehen, wie die Familien bei Tisch saßen, man hörte das Klappern von Tellern und Löffeln. Der Essengeruch stieg kitzelnd in die Nase, er trieb Borezki zur Eile an; seine Schritte beschleunigten sich merklich.
In seinen schweren Stiefeln munter ausschreitend, ging der „Chef" dicht hinter Borezki drein und sah, wie sich dessen Rücken vor ihm wiegte. In der harten Bewegung der sehnigen Hände zeigte das Gedächtnis dem „Chef" die Spuren versunkener Jahre, und die Bilder der Vergangenheit, die dort, an der Treppe des Fabriktores, verblasst waren, ergriffen ihn wieder mit aller Macht. Er keuchte vom schnellen Gehen und murmelte in seinen borstigen Schnurrbart:
„So, so, mein Täubchen! Ich fühle es, wir werden uns beide noch einmal treffen..."
Borezki stieg die knarrenden Stufen empor und klopfte wie gewöhnlich dreimal an die Tür.
Im Vorraum hörte man schnelle Schritte, und die Tür wurde aufgerissen.
„Da ist der Papa!" Walja schüttelte ihre dichten kupferroten Haare und rief mit klingender Stimme: „Sergej! Papa ist gekommen!"
„Warum musst du denn aber so schreien, dass es die ganze Straße hört?"
Borezki zog langsam die Jacke aus und stand in der Weste da. Nun wickelte er den Schal ab und entblößte einen spitzen Kehlkopf und einen dicken, von borstigen Haaren bedeckten Hals. An einem Waschständer wusch er sich lange und umständlich. Dann bürstete er sich die Igelhaare hoch und betrat das Esszimmer.
„Guten Tag, Sergej. Warum so früh heut?" Sergej zuckte schweigend die Achseln und deckte unwillkürlich mit dem Bein das schlecht gestopfte Loch zu. Der Antwort ausweichend, fragte er:
„Antonytsch, ist wirklich dein ganzes Leben so vergangen: um sieben zur Arbeit, um vier nach Hause...
Dann Mittagessen... schlafen... und wieder von vorn: um sieben zur Arbeit, um vier nach Hause?"
Borezki zog einen Stuhl heran und setzte sich, nachdem er den Staub vom Sitz geblasen, korrekt hin.
„So ist das Leben. Wie sollte es denn sonst sein?" „Wie sollte es denn sonst sein", wiederholte Sergej und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
„Anders kann es gar nicht sein", bestätigte Antonytsch voller Überzeugung. „Ja, Freundchen, so ist das Fabrikleben seit alten Zeiten schon." Er schöpfte sich einen Teller Suppe auf und bewegte, indem er den Löffel mit der Serviette abwischte, ungeduldig, als ob er kaue, die Zähne. „Und du träumst immer noch von einem anderen Leben? Hat keinen Zweck, Sergej. Du arbeitest, und damit ist's gut; ein Segen, dass du nicht arbeitslos bist wie Walja."
„Aber warum können's denn die andern? Ist denn Senka Platow etwa was besseres?"
„Wirklich, Papa, das ist ungerecht..." Walja schaute mitleidig zu Sergej hinüber.
Borezki aß schweigend seinen Suppenteller leer. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und die grauen Borsten auf den Wangen waren noch deutlicher zu sehen.
„Für jeden gibt es eine Grenze, das ist es... Nehmen wir z. B. die Lokomotive: sie hat einen Kessel und Räder und einen Mechanismus und viele kleine Schrauben — jedes an seinem Platz. Die Schraube ist wichtig, und die Pfeife ist wichtig, und der Schornstein — alles ist gleich wichtig. Dir aber gefällt bloß die Triebachse. Das ist verkehrt..."
„Ja, ich will eben keine Schraube sein, die die andern einschrauben wie sie wollen!" knirschte Sergej böse.
„Nicht jeder kann Ingenieur werden, Sergej. Dazu reicht dem Staat das Geld nicht aus. Wohl ein halbes Tausend Rubel schluckt jeder von ihnen. Und wer muss alle die halben Tausend bezahlen? Wir! Unsere schwieligen Arbeiterhände. So ist's... Den Direktor bezahlen, die Ingenieure bezahlen, und verschiedene Großmäuler sind auch noch zu bezahlen. Und alles müssen wir bezahlen." Sergej schwieg.
„Wo hast du denn deine Hose so zerrissen?" Antonytsch sah lächelnd auf das nur schlecht Verborgene Loch am Knie. „Ich bin vom Rad gefallen."
„Werde ich bald ein Rad kriegen, Papa? Immer nur Versprechungen... " Walja presste ihre eigenwilligen Lippen fest aufeinander.
Borezkis Gesicht verdunkelte sich plötzlich. „Du wirst eins kriegen. Ich tue, was ich kann. Sogar bald wirst du's haben. — So, und jetzt kann man wohl bis zum Tee ein Stündchen schlafen. Was, Sergej? Aber du solltest nicht trinken... Was das mit dem Rad anbelangt, das schwindelst du. Mir hat Nossow alles erzählt, mein Lieber, wie du im Kino gestern Skandal gemacht hast", — die Stimme Antonytschs klang hart und gebieterisch. — „Wenn du weiter so säufst, wirst du Walja nicht bekommen — hast du gehört?" Er ging langsam hinaus, und Sergej schien es, als sei das Zimmer plötzlich geräumiger geworden.
Er zerdrückte erregt seine Zigarette.
Im Zimmer herrschte Stille. Nur eine Biene summte klagend um den blühenden Geranientopf.
„Na schön, Walentina Stanislawowna. Wie können wir dreckige Arbeiter es auch nur wagen... Heute gibt's genug gelehrte Männer..." und Sergej stand auf und griff nach seiner Mütze.
Walja beobachtete die geschäftige Biene und schwieg. Sie kannte den Charakter ihres Vaters und fürchtete, dass er nicht nachgeben würde. Aus seinen Worten hatte eine Unbeugsamkeit geklungen, die nicht zu überwinden sein würde.
„Serjosha, du kannst es aber auch wirklich lassen... Beherrsche dich... Es geht wirklich so nicht..."
Sergej lief aus dem Zimmer, und Walja sah vom Fenster aus, wie er schnell die Gasse hinunterging, tief in dem losen Sand einsinkend.
Sie legte den Kopf auf das Fensterbrett. Die Radioantenne auf dem Dach des Nachbarhauses erzitterte und neigte sich Zur Seite.
Andrjuschetschkin näherte sich mit hastigen kleinen Schritten seiner Wohnung. Der Wind blähte die aufgeknöpfte Bluse, und Andrjuschetschkin sah aus wie eine schnell dahinrollende Kugel. Ebenso schnell jagten einander die unermüdlichen Gedanken, die aus den allerunbedeutendsten Anlässen heraus entstanden. Ein scheckiges Schwein wackelte langsam über die Straße, ihm aber schien es, als zögen sich schon statt des schmalen Fahrdamms glänzende Schienenstränge die Straße entlang, auf denen eine elektrische Straßenbahn daherrast. Das Schwein strömte einen scharfen, durchdringenden Geruch aus, der an Abortgestank erinnerte — Andrjuschetschkin schritt noch schneller aus und hätte fast ein Kind umgerannt. Ein dickes Zweijähriges saß allein auf dem Wege und leckte eine rostige Konservenbüchse ab. Andrjuschetschkin sprang hinzu, entriss ihm den Fund und schleuderte ihn weit fort; dabei fühlte er, wie der Zorn gegen irgend jemand in ihm hochstieg. Hinter ihm her klang das Schreien des Kindes, und in dem Bewusstsein, dem dicken Kleinen Kummer verursacht zu haben, schritt er noch schneller aus. Aus dem dünnen Geplärr des Kindes hörte er seine Verurteilung heraus, aber eine Verurteilung für irgend etwas Anderes, Größeres — vielleicht dafür, dass auf allen Straßen der Fabriksiedlung viele solcher Kinder unbeaufsichtigt herumsaßen. Es handelt sich schließlich nicht darum, ihnen ein schlechtes Spielzeug fortzunehmen, wenn das Wichtigste fehlt...
Was aber war das Wichtigste?...
Andrjuschetschkin beeilte sich und die Gedanken eilten; sie zu Ende zu denken, hatte er keine Zeit, und so — nicht zu Ende gedacht — verwundeten sie das Gehirn in ihrer Ungelöstheit.
Vor ihm schlich langsam wie ein Pferd, das an einer Zu schweren Last zieht, der „Chef".
„Nun, Genosse ,Chef, wie geht's?"
„Ganz gut, mein Täubchen. Bloß die Läuse fressen den Großvater auf..."
„Was für Läuse, ,Chef?" Andrjuschetschkin war stehen geblieben und musterte verwundert und voll Ekel den Rock des „Chefs".
Aber der Rock war ganz rein, und um den dunkelbraunen rissigen Hals glänzte ein sauberer weißer Hemdkragen.
„Die Laus, die dich beißt, brauchst du nicht zu fürchten, mein Täubchen", sagte der Alte kummervoll und bog in eine schlammige, sumpfige Nebengasse ein.
„Ach, zum Teufel", dachte Andrjuschetschkin, „überall Blasen, Schrammen und Risse, wie an den Rädern. Aber mit den Rädern ist die Sache einfach — man gibt Strom, zündet den Lichtbogen an, und der kochende Stahl füllt die Risse aus. Das Leben dagegen ist viel komplizierter."
„Ü berall Narben... überall Läuse..." brummte er vor sich hin.
Er hatte die Türklinke schon in der Hand und ließ sie plötzlich wieder los: das, worauf er sich in der Werkstatt absolut nicht hatte besinnen können, war ihm plötzlich eingefallen und zwang ihn, die Treppe wieder hinunterzusteigen.
„Wo läufst du denn schon wieder hin, verdammter Kerl?! Das Mittagessen ist schon ganz kalt geworden", rief ihm eine laute, beleidigte Frauenstimme nach.
„Ich komme sofort... Muss nur noch auf eine Sekunde zu Nossow hinein. Gib nur inzwischen die Suppe auf."
Andrjuschetschkin verschwand um die Ecke und klopfte an ein Fenster.
„Nossow! Um halb acht Uhr Zirkel... Dir ist nicht gut? Unsinn, Nossow. Du stellst doch unser Aktiv in der Zelle dar. Heute ist zum letzten Mal Zirkel. Jusow ist hier. Ich hätt' es beinahe verschwitzt. Bring auch den Mitka Saizew mit, ja?"
Die Fettaugen schwammen schon wie kleine runde Schilder auf der kaltgewordenen Kohlsuppe, als er sich endlich zu Tisch setzte. Seine Frau hatte die dunklen Brauen finster zusammengezogen, sie klopfte mit dem Löffel ärgerlich an die Schüssel und schwieg. Ihr hübsches Gesicht hatte einen mürrischen Zug — vielleicht sah es darum so aus, als ob es alterte. Im Zimmer war es wie immer still: sauber und ordentlich hingen die weißen Vorhänge vor dem Fenster, thronten die Ansichtskarten, zu einem Fächer geordnet, über dem Bett und blickten überall von den Wänden herab, und aus dieser Ordnung, Sauberkeit und Stille wehte Andrjuschetschkin eine unerträgliche Langeweile an. Schimmerten nicht auch die Ansichtskarten an der Wand wie kaltgewordene Talgblasen? Und die Starrheit aller dieser Dinge, ihr ordentliches, korrektes Aussehen weckten eine stille Wut in ihm.
Er fühlte eine Kluft zwischen dem, was in seinem Innern kochte, was er aus der Fabrik mit heimgebracht hatte, und diesen ordentlichen, abgeschleckten Sächelchen.
„Grischa, wenn du doch wenigstens einmal an mich denken würdest... Den ganzen Tag sitze ich allein, und wenn der Abend kommt, läufst du wieder davon ... "
Die Frau ließ den Kopf sinken und zupfte an den Falten ihres hellen, getüpfelten Kattunkleides. Ihre Stimme klang matt und hoffnungslos.
Andrjuschetschkin schnitt sich ein Stück Brot ab, streute Salz darauf und legte es auf den Tisch. Er blickte unverwandt auf seine Frau, vor seinen Augen flirrten die schwarzen Punkte auf ihrem hellen Kleid hin und her. Er fing mit den Augen einen Haufen dieser schwarzen Punkte, als ob er ihren Sinn erfassen wollte, aber immer neue Scharen sprangen ihm in die Augen, so dass sie ihn schmerzten und er sie zusammenkniff. „Heute gehe ich auch wieder fort... Ich muss." „Und wenn der Sonntag da sein wird, da wirst du auch wieder deine Nase nur für eine Stunde zur Tür hereinstecken. Weder ins Kino gehen wir einmal zusammen noch in den Wald... Wie eine Vogelscheuche hocke ich hier ewig allein zu Hause... "
Andrjuschetschkin schwieg. Alles das stimmte, es hatte keinen Zweck zu streiten.
„Die Nachbarn lachen mich schon aus. Am besten wär's, ich ginge überhaupt nicht mehr vor die Tür."
„Weißt du was, Marussja... Auf die Nachbarn pfeife, aber suche dir irgendeine Beschäftigung. Melde dich vielleicht als Delegierte, was?... Wenn wir Kinder hätten, wär' natürlich alles anders..." Andrjuschetschkin presste die Lippen zusammen.
Sollte er ihr in der Fabrik Arbeit verschaffen? Das ging nicht recht an — er als Zellensekretär. Und wieder begann sein Kopf fieberhaft zu arbeiten und mit den ungelösten Fragen zu kämpfen. Er musste an das Kind denken, das da ganz sich selbst überlassen auf der Straße gesessen hatte, weil seine Mutter jedenfalls noch zehn andere Rangen hatte — und hier saß Marussja, die sich nach einem Kinde sehnte, niedergedrückt von ihrem Kummer — wie sollte man das nun wieder begreifen und erklären?
Andrjuschetschkin fühlte, wie in seinem Herzen langsam Wut aufstieg — Wut auf Marussja, auf diese aufdringlichen schwarzen Punkte und auf sich selber.
Er raffte sich auf.
„Halb sieben... Ich muss gehn. Lies doch wenigstens ein Buch. Hier hab' ich etwas Interessantes mitgebracht, sieh es mal durch. Es handelt davon, wie im Ausland die Bourgeoisie unsere Genossen quält. Eine Veröffentlichung der ,Roten Hilfe'... Die Haare können einem zu Berge stehen... "
Marussja blickte mit einem langen, traurigen Blick zum Fenster hinaus.
„Gib her... " Mit zitternder Hand nahm sie das Buch, und ihre runden Schultern zuckten in krampfhaftem Kummer.
5
Der Zeiger kroch auf sieben, hartnäckig und unaufhaltsam. Aufdringlich tickte der Pendel: es war, als ob das Uhrwerk heute ganz besonders zur Eile antriebe.
Nossow wälzte sich unruhig auf die andere Seite, der Wand zu, und seine Augen starrten auf die weißen Muster des rosa Tapetengrundes. Aus einem Riss in der Tapete kroch eine Wanze und machte unentschlossen halt. Der Geruch des menschlichen Körpers, von der eingenommenen Nahrung erhitzt, hatte sie angelockt, aber das Tageslicht war noch stark und drohend.
Nossow quetschte die Wanze mit dem Finger an die Wand, und über die neue Tapete zog sich wie ein rotbrauner Kometenschwanz ein stinkender Streif.
„Ekelhaftes Zeug!" schimpfte Nossow und fühlte gleichzeitig, dass es ihm nicht mehr gelingen würde, auch nur für eine halbe Stunde einzuschlafen.
Die Müdigkeit zerbrach seinen schwachen Körper. Die Füße waren schwer wie Holzklötze und wollten ihm nicht gehorchen. In seiner Kehle kündete sich kitzelnd ein Hustenanfall an.
Der Zeiger, der auf die dickbäuchige Sechs hinuntergesunken war, kroch wieder hinauf, gierig die Zeit verschlingend. Nossow raffte sich zusammen und setzte sich auf. Als er sah, dass der frisch geplättete Vorhang vom Fenster, das der Wind zugeschlagen hatte, eingeklemmt war, stand er auf, machte ihn frei und glättete ihn wieder. Ein Hustenanfall erschütterte seinen mageren Körper; die Hände auf die Brust gepresst, hustete und spuckte er eine ganze Weile. Ermüdet von dem Anfall, setzte er sich dann aufs Bett zurück und sah sich im Zimmer um.
Seine eifersüchtigen Augen sahen überall Unordnung und Nachlässigkeit: auf dem Fußboden lagen schmutzige, zerrissene Kinderschuhe, schmutziges Geschirr stand hoch aufgeschichtet auf dem unaufgeräumten Tisch, Fliegen flogen in Schwärmen umher und füllten das Zimmer mit ihrem unangenehmen, satten Gebrumm. Alles das beleidigte das Auge und verletzte die strenge Ordnung, die Nossow eingeführt hatte.
Ärgerlich knurrte er etwas vor sich hin. Auf dem Tisch fand er schließlich hinter dem Spiegel das Buch, das er brauchte, blies den Staub davon, steckte es in die Tasche und ging hinaus...
In den langen Korridoren des Schulgebäudes hallten seine Schritte ein lautes Echo: alles im Hause war still. Nossow dachte erfreut, dass der Zirkel vielleicht nicht stattfände, aber durch die runde Glasscheibe der Tür sah er über die Pulte geneigte Köpfe, und matt drückte er die Klinke herunter.
Im Zimmer drinnen ging Jusow auf und ab und sagte, die Hände auf dem Rücken verschränkt:
„Mit dem Studium des Leninismus muss sich jeder Kommunist beschäftigen, sonst ist er nicht imstande, die riesigen und schwierigen Prozesse zu erfassen, die sich in unserer Epoche abspielen, — der Epoche, die von dem immer stärker werdenden sozialistischen Angriff auf die kapitalistischen Elemente gekennzeichnet wird. Die Alltagspraxis eines jeden Parteimitglieds muss vom Lichte der marxistisch-leninistischen Theorie erleuchtet sein, die gleich einem blendenden Scheinwerfer den Weg in die Zukunft weist, die wie die elektrische Schweißung die Kommunisten zu einem unerschütterlichen Monolith zusammenschweißt... "
Andrjuschetschkin stierte den im Zimmer auf und ab schreitenden Jusow an; ruhelos jagten und hetzten seinen Gedanken einander und löschten die Worte des Lehrers aus. Mitunter setzte sich irgendein schweres Wort in seinem Bewusstsein fest und nahm völlig von ihm Besitz, — dann rückte Andrjuschetschkin unruhig auf seinem Platz hin und her, blickte sich verwirrt um, und die Genossen wandten die Augen zur Seite, als ob sie ihm den Weg freigeben wollten; Andrjuschetschkins Blicke fielen auf die Wand, die mit den Kritzeleien der Kinder bedeckt war:
„Es lebe der 1. Mai!"
Den 1. Mai hatte man schon längst gefeiert. Aber diese Losungen hier in der Schule erinnerten Andrjuschetschkin deutlich an die Demonstration, an die laute Musik, die Rufe der tausendköpfigen Menge; sie erinnerten ihn daran, wie der Redner aus dem Obkom (Anm.: Gebietskomitee der Partei.) mit gestikulierenden Händen und mit seiner ganzen Lungenkraft von der Tribüne herab gerufen hatte, dass die Fabrik den Industrie- und Finanzplan nur schlecht erfülle, dass dies „für einen Giganten der sozialistischen Industrie unzulässig" sei...
Da tauchte die schlanke Figur Jusows aus dem blauen Tabaksqualm auf. Verwirrt senkte Andrjuschetschkin seine Augen auf das Pult.
„Genossen! Der Leninismus ist eine schwierige Waffe, die man zu handhaben verstehen muss. Das theoretische Erbe Lenins ist riesig und unerschöpflich, und um sich die Methode Lenins anzueignen, braucht man Hartnäckigkeit und Kenntnisse... Wir müssen aber zugeben, dass noch vielen das Verständnis für die Grundlagen der politischen Elementarkenntnisse fehlt. Lenin jedoch hat gesagt, lernen, lernen und wieder lernen..."
Andrjuschetschkin dachte an seine Kinderjahre zurück, an den Lehrer mit dem langen Schnurrbart, den er hasste, und die Gestalt Jusows nahm irgendwelche bekannten Züge an. Gedanken, deren er nicht Herr werden konnte, füllten sein Hirn aus, aber es bestand kein Zusammenhang zwischen ihnen und dem, was Jusow sagte. Gequält seufzte er auf und beobachtete die Bewegungen von Jusows Füßen. Am linken Stiefel, etwas über dem Absatz, klebte ein Zigarettenstummel, der wie ein Sporn hin und her schwankte. Andrjuschetschkin wollte aufstehen und Jusow darauf aufmerksam machen; aber die Zunge versagte ihm den Dienst, und mit einem schweren Seufzer vertiefte er sich in die Inschriften, die den Pultdeckel zierten: „Kolka ist ein Esel." „Wer laut schreit, ist nicht gescheit." Jusow wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und zog den Notizblock näher an sich heran. Die Schüler rückten erfreut hin und her, die Pulte knarrten, Streichhölzer flammten auf, und die Rauchwolken über den Köpfen der Lernenden verdichteten sich.
„Nun also, Genossen, bitte — stellt eure Fragen!" Jusow blickte auf die Uhr. Es war dreiviertel neun. Um zehn ging sein Zug.
Er warf einen fragenden Blick in die Runde. Nossow ließ den Kopf auf die aufgestützten Hände sinken und blickte Jusow teilnahmslos an.
„Na, der wird nichts sagen", dachte Jusow. Nossow wohnte jedes Mal nur mit Mühe und Not den Stunden bis zu Ende bei, hustete häufig, und Jusow hatte nicht den Mut, ihn mit Fragen zu quälen.
Wassja Trussow streichelte seinen weichen, rötlichen Bart und sah ihn mit einem frechen Lächeln an. Die ewig fragend in die Höhe gezogenen Brauen Saizews waren zu einem Bogen erstarrt, als hätte er ein unlösbares Problem vor sich.
Jusows Blick blieb schließlich auf Andrjuschetschkin haften — der wird sicher was zu sagen haben, aber seine unklaren Fragen zogen die Zirkelstunde stets in die Länge, und Jusow ließ seine Augen schnell weiter schweifen.
„Nun, Genossen?"
Die Zirkelteilnehmer tauschten untereinander Blicke und schwiegen verlegen.
„Kann es sein, dass der Arbeiterklasse durch die Kultur Schaden entsteht?" quetschte Andrjuschetschkin eine Frage heraus.
Jusow lächelte herablassend und griff nach dem Bleistift. Die Teilnehmer atmeten erleichtert auf — der Anfang war gemacht.
„Seht ihr, Genossen... Es gibt ja ganz verschiedene Kulturen. Es gibt eine bürgerliche Kultur und eine proletarische. Und es ist natürlich klar, dass, wenn wir nicht für eine proletarische Kultur kämpfen, sondern ausschließlich das benutzen würden, was uns die Bourgeoisie hinterlassen hat, für das Proletariat daraus die Gefahr entstehen würde, sich an der bürgerlichen Kultur zu vergiften... "
„Und das Grammophon, Genosse Jusow, ist das bürgerliche Kultur oder proletarische?" Andrjuschetschkin begann sein Bombardement, das den Übergang zum Angriff verkündete.
Nun begann ein lautes Gespräch der Zirkelmitglieder, die lebhaft miteinander stritten.
Nossow schaute sich unruhig um und begann zu zittern.
„Genossen, diese Fragen sind an und für sich interessant, aber sie lenken uns von dem eigentlichen Thema ab. (Nossow nickte lebhaft Beifall.) . Solche Fragen kann man eine zahllose Menge stellen... Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Antwort auf jede von ihnen zu suchen, sondern die Hauptsache ist, das Wesentliche zu verstehen, mit dessen Hilfe man jede Frage lösen kann. Dieses Wesentliche besteht darin, dass man es versteht, mit der Dialektik zu operieren ... "
Andrjuschetschkin aber kam es vor, als weiche Jusow der Antwort aus, und ein dumpfer Zorn stieg in seinem Herzen auf. Er erhob sich.
„Erlaubt mal ein paar Worte!" Er hielt eine Minute inne, und dann, als wolle er die verlorene Zeit einholen, begann er, sich überstürzend: „Die bürgerliche Kultur — das ist zu Verstehen... Wenn sich aber die proletarische auf den Kopf stellt? Wir zum Beispiel lernen hier in der Schule der II. Stufe, sie trägt ein Schild ,Lunatscharski-Schule'. Und ein junger Bursche, ein Arbeiter, hat die Schule beendet, und anstatt der Kultur, widmet er sich dem Suff, faulenzt und treibt sich herum... Wie soll man das verstehn? Das muss man erklären... Und weiter... Warum ich das von dem Grammophon gefragt habe? Grammophon ist Grammophon: Musik und allerhand Lieder — das ist ja wohl nichts Schädliches. Und da hat sich vor ein paar Tagen ein Genosse ein Grammophon gekauft — ,komm mal mit zu mir heran', sagt er, ,hör mal zu'."
Andrjuschetschkin hielt inne und bewegte die Lippen. Nossow ließ unruhig seine Augen umherschweifen und begann nervös seinen blonden Schnurrhart zu drehen.
„Und ich habe zugehört... Und da fühlte ich den Wunsch in mir, das Ding, diese Musik, zu nehmen und auf den Boden zu schmeißen!"... „Großartig!"
„Eine sehr vergnügte Musik!"
„A-ha-ha-ha-ha-ha-ha!" Trussow brach in schallendes Gelächter aus und wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen ab, die ihm vor Anstrengung in die Augen getreten waren. Andrjuschetschkin stockte.
„Und warum? Ich meine: was soll werden, wenn sich jeder Proletarier eine solche Kultur zulegt? Wozu gibt’s denn das Radio? Wozu, zum Teufel, sind denn die vier Stockwerke hohen Klubhäuser da? Oder, sagen wir mal, wir bauen eine sozialistische Stadt mit zehntausend Wohnungen — das heißt dann also, für jede Wohnung ein Grammophon? Das sind also zehntausend Grammophone?"
Andrjuschetschkin hob den rechten Zeigefinger, der — geschwärzt von Öl und Ruß und gekrümmt von jahrelanger Arbeit — wie ein Haken, ein Fragezeichen in der Luft hing.
Die Zirkelteilnehmer waren still geworden und beobachteten neugierig Andrjuschetschkin.
„Zehntausend!" rief er hitzig aus. „Bedenkt das einmal!" Er setzte sich und sprang sofort wieder auf: „Noch eine Frage: Werden in sozialistischen Städten Gefängnisse gebaut werden?"
Trussow bellte voller Freude los:
„Der hat den Nagel auf den Kopf getroffen!"
Die Uhr zeigte halb zehn, und Jusow raffte eilig seine Bücher zusammen und schob sie in die Aktentasche.
„Genossen, diese Frage lässt sich natürlich leicht beantworten. Was ist eine sozialistische Stadt? Das ist eine Stadt, in der die neuen Formen des Gemeinschaftslebens durchgeführt sein werden, in der sich die Lebensweise auf kommunistischen Prinzipien aufbauen wird. Die engen, morschen Rahmen der heutigen Familie werden fallen, und der Mensch, den die öffentlichen Einrichtungen von der Notwendigkeit befreien werden, Tausende von Gegenständen, die nur ihm allein gehören, anzuschaffen, wird die Möglichkeit besitzen, seine Energie auf die kulturelle Entwicklung zu konzentrieren... So eine Stadt ... .Mir scheint, beim Bau einer solchen Stadt wird keine Notwendigkeit mehr bestehen, kostbare Ziegel zum Bau von Gefängnissen zu verschwenden... "
Andrjuschetschkin sah irritiert auf die Lippen Jusows und beobachtete, wie sich seine Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen, das bis auf eine schmale Bürste abrasiert war, auf und ab bewegte und dabei die weißen, scharfen Zähne sehen ließ.
„Richtig!" rief Wasska Trussow, der die letzte Nacht wegen Ruhestörung hinter Schloss und Riegel verbracht hatte, freudig und zufrieden. Nossow bestätigte mit einem müden Kopfnicken die Worte Jusows. Andrjuschetschkin schwieg.
„Ich habe ein Frage." Saizew erhob sich. „Lohnt es sich, Geld auszugeben für die Erhaltung alter Maschinen, oder müssen sie durch neue ersetzt werden?" Jusow runzelte unzufrieden die Stirn: „Das, Genossen, hat gar nichts mit unserm Thema zu tun... Obgleich natürlich die Antwort klar ist: man kann den Sozialismus nicht mit der vorsintflutlichen Ausrüstung aufbauen, die wir vom Kapitalismus übernommen haben. Lenin hat gesagt, dass man den Sozialismus nur auf der Grundlage der modernsten Technik und Wissenschaft aufbauen kann. Sie bilden das Fundament der sozialistischen Ökonomie..."
Die Augenbrauen Saizews behielten ihren fragenden und zweifelnden Ausdruck immer noch bei. Und als Jusow, mit der Aktentasche schlenkernd, dem Ausgang zueilte, rief ihm Andrjuschetschkin wütend nach:
„Nichts hat er uns erklärt, im Grunde genommen!... Dialektik! Hat jedem einen Nagel in den Kopf getrieben, und herausholen sollen wir ihn selber?!"
Zum letzten Mal huschte der Zigarettenstummel unter dem Absatz an den Blicken vorbei, als blinzelte er Andrjuschetschkin und Saizew zu...
Sie gingen schweigend durch den Park, ermüdet von der dreistündigen geistigen Anstrengung; die duftende Kühle der Nacht erfrischte sie. Geschwächt von der Last der ungestümen Blätterbüschel, hingen die schlanken Birkenzweige still und nachdenklich herab. Maikäfer surrten zärtlich und lockend, verloren sich in dem dichten Blättergewirr zu ihren Köpfen. Von irgendwoher flog durch die Luft zarter Apfelblütengeruch. Aus dem Park tönte klingendes Mädchenlachen.
Andrjuschetschkin klammerte sich mit müden Füßen an die unsichtbaren Schollen der noch nicht glattgetretenen Frühlingserde. Seine Muskeln waren schlaff, im ganzen Körper fühlte er eine tiefe Müdigkeit. Der Duft der blühenden Apfelbäume und das Surren der Käfer durchdrangen den Körper mit einer süßen Erschöpfung und hielten ihn gefesselt. Weiche, sanfte Worte drängten sich auf die Lippen — sie kamen irgendwo aus dem Innern und verbanden sich zu klingenden, musikalischen Versen; leise bewegten sich die Lippen, den enteilenden Rhythmus festzuhalten...
„Teufel, jetzt müsste man so einen halben Liter hinter die Binde gießen!" rief Trussow, der diese Abendstille nicht aushielt, gelangweilt und wütend zugleich und knackte mit seinen starken Fingern.
Andrjuschetschkin zuckte zusammen. Der Zauber des Maiabends war mit einem Mal verglommen, wie Zunder unter einem Hammerschlag, und vorwurfsvoll rief er aus:
„Wieder denkst du bloß daran, Wassja!"
Trussow klammerte sich an diese Worte, als habe er den Schuldigen für seine Langeweile gefunden, und sagte böse:
„Was daran... daran?! Du verbietest es? Aber ich hole mir doch eine Flasche und saufe sie aus! Sa-u-ufe sie aus! Du darfst das nicht, du bist ja Vorgesetzter, aber ich kann mir das leisten, ich bin bloß Kandidat. Hol' dich der Satan... " Und Wassja lief zurück in die Fabrik.
Nossow tat einen schweren Atemzug, krächzte und begann lange und pfeifend zu husten. Saizew wollte Andrjuschetschkin irgend etwas sagen, aber nach einem Blick auf sein müdes Gesicht wandte er sich schweigend seinem Hause zu.
Der Abend hüllt die Stadt in Stille ein. Die ersten Lichter glänzen auf, und das blaue Abenddunkel verdichtet sich.
Um diese Zeit schlafen die Menschen nicht, mögen sie noch so müde sein: in leisem Gespräch lehnen sie vor den Haustüren; irgendwo das schmachtende Klimpern einer Gitarre, vermischt mit hellem Mädchenlachen; auf den Balken am Wegrand hocken die Alten und blasen schweigend den Rauch ihrer Zigaretten in die Luft; mitunter saust leise schwirrend, wie eine Fledermaus, ein Radfahrer vorüber, seine weiße Bluse löst sich in der braunen Dunkelheit der Ferne langsam auf.
Die Luft ist erfüllt von Frische. Von den Gärten her weht der Duft von blühenden Obstbäumen, Flieder und jungem Gras, er zieht durch die Straßen und bringt die Menschen in unruhige Erregung.
6
Gleich nach den Holzhäusern der Fabrikvorstadt lugte hinter einem zackigen Bretterzaun eine junge Tannenschonung hervor, die in den Wald überging, der am Horizont dunkelte.
Der Wald zog Sergej an, er versprach Einsamkeit und Ruhe. Er hatte immer noch Waljas Worte in den Ohren, und um ihnen zu entrinnen, begann er im Takt seiner hastigen Schritte einen Marsch zu pfeifen. „Wekschin!"
Aus einem Fenster des ersten Stockwerks schaute ein Frauenkopf, dann erschienen runde Schultern.
„Hast du meinen Rumtreiber nicht gesehen? Wohin der sich wieder verlaufen hat..."
„Nein... Ich hab' ihn nicht getroffen... " Sergej blieb unter dem Fenster stehen. „Was sitzt du denn hier, Maria Sergejewna, in der Dunkelheit, einsam wie eine Nonne? Schau mal, was für ein schöner Abend."
„Ach, der ist jeden Tag so... Kommt, schlingt in aller Eile etwas hinunter, und schon ist er wieder weg... Ich versteh' das nicht: an alle möglichen Sachen denkt er, aber hier, seine häuslichen Angelegenheiten, die kommen ihm gar nicht in den Sinn... " Sehnsüchtig tropften die Worte herunter.
„Na, Maria Sergejewna, das weiß man doch: Andrjuschetschkin ist ein vielbeschäftigter Mensch, Parteimitglied... Er kann nicht anders... "
Sergej fühlte sich Andrjuschetschkin gegenüber seiner Versäumnis wegen schuldig, widerwillig reihte er die Worte eins an das andere, bemüht, ihn zu rechtfertigen.
„Was hab' ich davon? Ich sitze ewig allein zu Hause... "
Maria Sergejewna zerrte beleidigt an dem Taschentuch, das sie in den Händen hielt.
Ü ber Sergejs Kopf flatterte im blauen Abenddunkel das Taschentuch, wie eine weiße Taube hatte es sich vom Fenstersims gelöst. Schließlich fiel es, sich entfaltend, vor seine Füße.
„Ich bin aber eine Schlafmü-ü-ü-tze..." sagte Maria Sergejewna, zum Fenster hinausgeneigt, langgedehnt und in kokettem Tonfall.
Sergej hob das Taschentuch auf und wollte es zusammengeknüllt hinaufwerfen: dann aber überlegte er sich, dass es kaum bis hinauffliegen würde, und stand unentschlossen da.
„Wirf es herauf, Wekschin!"
Das Tuch roch aufreizend nach Frauenhaar, Puder und irgendeinem Parfüm. Sergej sog diesen Geruch mit geblähten Nüstern ein und besann sich anders. Er lief schnell zur Haustür hinein und die neuen, noch nicht abgetretenen Treppenstufen hinauf.
In dem von Dämmerung erfüllten Zimmer fühlte sich Sergej von tiefer Stille und von einer ihm unbekannten, warmen häuslichen Behaglichkeit umfangen; schwer ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Seine gierigen Augen, die die feste, runde Figur der Frau prüfend umfassten, blieben auf dem rosigen Bein haften, das zitterte und bebte.
„Du bist ja so verdrießlich, Wekschin? Das steht dir gar nicht. Du lieber Gott! Hab' ich gestern im Kino gelacht! Ich musste mir direkt die Seiten halten vor Lachen!"
Ihr spöttisches Gesicht und die Erinnerung an die schon fast vergessenen Ereignisse des gestrigen Tages ernüchterten Sergej sofort, und er zuckte müde die Schultern:
„So über ist mir das alles... Bin ich denn vielleicht ein Zirkusclown, was?" Nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, fügte er hinzu: „Mögen sie lachen... Ich seh' nur das eine, nämlich dass auch dir nicht zum Lachen zumute ist...
Dieser Dickkopf lässt dich hier rein verkommen. Ein unruhiger Patron! Gönnt weder sich noch anderen ein Vergnügen."
Maria Sergejewna zog fröstelnd das Tuch um die Schultern.
„Dabei bist du ein Weib — oho-o-o — !"
Lächelnd ließ Sergej seine Blicke auf Maria Sergejewnas Brust ruhen und sah, wie sie erzitterte.
Das Tuch in ihren Fingern ballte sich fester und fester, als wollte sie es auswringen.
„Er ist ja auch viel älter als du... " Hartnäckig verfolgte Sergej sein Ziel und sah mit Befriedigung, wie sich bei jedem seiner Worte Maria Sergejewna mehr und mehr dem ruhelosen Andrjuschetschkin entfremdete.
„Was hilft's, darüber zu reden!... Jedenfalls war's mir so bestimmt..."
Sergej lachte auf.
„Da bestimme du doch einfach was andres... Pfeife darauf und bestimme was andres... "
Die Dunkelheit hatte das rosige Bein verschlungen. Die Konturen der Gegenstände verwischten sich. Sergej streckte ungeduldig seine Hand in die von heißem Atem erfüllte Dunkelheit aus.
„Ja, wirklich — was ist weiter dabei?... Ich pfeife drauf und bestimme was anderes!" sagte Maria Sergejewna, als wolle sie sich selber ermutigen, und ihre Stimme war feucht und brüchig, wie schmelzendes Eis im Frühling.
Trocken knackte der Lichtschalter. Die Hand Sergejs hing schief in der leeren Luft.
„Pass bloß auf, dass du nicht zuviel pfeifst..." Andrjuschetschkin hatte, einen Stoß Bücher unter dem Arm, unhörbar das Zimmer betreten. „So, da wäre ich also zu Hause... "
Er sah, wie sich die Wangen seiner Frau langsam mit einer glühenden Röte überzogen, die das blaue Glitzern ihrer Augen noch schärfer hervortreten ließ, und wie sie schnell im Nebenraum verschwand, wobei ihre neuen Schuhe knirschten. Wekschin blickte ihn lächelnd an.
„Hier findet man dich Bummler! Es fällt dir wohl leichter, den Weibern was vorzulügen, als Maschinenteile zurechtzubiegen?"
„Das kommt bei dir wie ein Vers heraus, Freundchen. Du machst wohl heimlich Gedichte?" spottete Sergej.
Andrjuschetschkin zog seine staubigen Stiefel aus und trank einen Schluck Wasser.
„Na, und wenn schon! Natürlich schreib' ich auch Gedichte... Der Mensch von heute muss alles können... Alles... Besser Verse lesen als Flaschen zählen, nicht? Na — siehst du... Ach, und einen Hunger hab' ich!... Marussja, hast du irgendwas da?"
Maria Sergejewna begann, blass und bedrückt, mit den Messern zu klappern und das Abendbrot vorzubereiten.
„Setz' dich, Sergej... Zu trinken ist aber nichts da", blinzelte ihm Andrjuschetschkin zu.
Sergej betrachtete angelegentlich seinen kugelrunden Kopf und dachte dabei: „Ein schrecklicher Dickkopf! Hol' dich der Teufel, warum musstest du ausgerechnet in dem Moment kommen!"
Andrjuschetschkin wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, um seine Lippen war ein wissendes Lächeln. Er machte ein paar Schritte in die Mitte des Zimmers und hob dann plötzlich die Hand. Seine Augen wurden dunkel und streng. Durch das Zimmer tönten unerwartet die Worte:
„Abend...
Die Straßen voll von schwerem Fliederduft. Und heller Sternenschein in warmer Frühlingsluft. Apfelbäume, die unter Blütenlast die Zweige neigen, Und süßer Nachtigallenschlag in schlanken
Birkenzweigen... "
Sergej schaute voller Verwunderung Andrjuschetschkin an. Er erkannte seine Stimme nicht wieder, die erregt klang und leidenschaftlich. Wie sonderbar sah Andrjuschetschkin aus:
sein riesiger Kopf schien angeschwollen, alles Blut hatte sich in sein Gesicht ergossen, und Sergej hatte den merkwürdigen Eindruck, als müsse sich Andrjuschetschkin gleich in einen Luftballon verwandeln und zur Decke hochfliegen.
Ein losgeknöpfter Hosenträger schlenkerte langsam hin und her wie ein Schwanz. Sergej lachte.
Marussja blickte mit verträumten, brennenden Augen durch die dunkle Fensteröffnung. Andrjuschetschkin schwankte ein wenig, die Hände zu der niedrigen Decke erhoben, und sein verschwommener Schatten wiederholte an der Wand seine Bewegungen. Plötzlich duckte er sich wie zum Sprung und rief laut:
„Genossen!
Gefahr birgt dieser süße Fliederhauch,
Verbrennt die Leidenschaft, das Herz im Opferrauch!
Vergesst
Das Lied der Nachtigall in lauer Frühlingsnacht
Und rüstet euch zur letzten, zur Entscheidungsschlacht!"
Sein Gesicht hatte einen strengen, feierlichen Ausdruck angenommen, seine Augen leuchteten. Sergej kreischte und hielt sich den Bauch vor Lachen.
Im offenen Fenster schwankte der Ast einer Pappel, mit der Abendkühle kam scharfer Laubgeruch ins Zimmer, und Andrjuschetschkin musste an den Morgen denken, an die Apfelblüten, das Zwitschern der Stare und an den siegreichen Einzug des Frühlings. Und als er die mit dunkelroten Flecken bedeckten Wangen Marussjas sah und die durchtrieben blinzelnden Augen Sergejs, da kam ihm der Gedanke:
„So hat mich jedenfalls auch Titytsch vom Garten aus beobachtet und das Hundegebell und die abgerissenen Apfelblüten missbilligt. Blüten, aber die Äpfel werden sauer sein... "
Andrjuschetschkin war verstummt und ließ seine verschleierten Augen durchs Zimmer schweifen; als ob er aus einem Traum erwachte, seufzte er auf, dann packte er Sergej bei den Schultern und schob ihn zur Tür hinaus:
„Hau ab, du ungehobelter Lümmel — du kannst mich doch nicht verstehen..."
Die Nacht hatte sich auf die Stadt niedergelassen. Der Tag war vollendet. Aber der Kreislauf des Lebens kennt kein Ende, das Leben kann sich in den engen Rahmen des Tages nicht einfügen; es dringt in das Gehirn ein, verdrängt den Schlaf, erscheint unbemerkt in der jungen Morgenröte und wächst so hinein in den neuen, von Unruhe bewegten Tag.
Bis in die späte Nacht hinein klopfte Saizew mit dem Hammer an einem Stück Blech herum, um ihm die nötige Form zu geben.
Nastja beobachtete unruhig das besorgte Gesicht ihres Mannes.
„Was machst du da nun wieder? Es ist doch ein Unglück mit dir... Sitz doch mal still. Genau so ein ,Malacholnischer' wie der Kusmitsch. Was soll das denn werden?"
„Eine Schürze."
„Eine Schürze?"
„Na ja, eine Schürze! Für die Maschine... Die Maschine muss man auch behüten. Die liebt die Sauberkeit. Hier geht's um Millionen!" Dabei schlug er mit dem Hammer auf, als gelte es, irgendeinen Dritten davon zu überzeugen.
„Quatschkopf! Geh lieber schlafen."
Als Saizew die Schürze fertig hatte, setzte er sich hin, um eine Eingabe an die KSI zu schreiben, in der er anführte, wie viel durch Verminderung der Beschädigungen usw. erspart würde.
Er schrieb:
„Der Support ist, wenn man sich's recht überlegt, für die Maschine dasselbe, wie für den Menschen die Hand, nur eben eine Metallhand; der Arbeiter aber denkt: sie ist ja von Stahl, da muss sie alles aushalten. Wenn er sich aber mal den Finger ritzt, so geht er schnurstracks ins Ambulatorium, und gleich heißt es: ,Warum sind keine Handschuhe da?" Wenn man nun die Maschine beobachtet, wird man deutlich sehen, wie das Gewinde der Schlittenschraube sich mit Spänen und Staub vollsetzt und der Support schlecht zu arbeiten beginnt. Dadurch verliert der Drehstahl die Exaktheit der Bewegung, und in der Radnabe entsteht eine konische Bohrung. Der Arbeiter verliert hierbei wieder viel Zeit mit der Säuberung der Schraube und des Schlittens. Und darum mache ich den Vorschlag, einen Blechschirm anzubringen wie eine Schürze... Jetzt, das die Befestigung der Radsätze auf der Drehbank anbelangt: an Stelle der Holzkeile muss man unbedingt einen Mitnehmer zum Festspannen der Speichen haben, den man so einrichten muss... "
Durch eine Zeichnung in sicheren Strichen erklärte er hier die Einrichtung der Schürze und der Vorrichtung zur Befestigung der Radsätze.
Saizew hob einen Augenblick die Augen vom Papier; er sah zum offenen Fenster hinaus und wunderte sich: die Nacht war gewichen, in grünlichem Licht dämmerte der Morgen herauf und ließ den Bahnkörper aus der Dunkelheit auftauchen: die Lichter an den Weichen verblassen, nur das Auge des Signals blinkte rot und betrachtete schläfrig die trüben Schienen — schließlich blinzelte es ein paar Mal, und dann fiel es zu, und gleich darauf hörte man eine Lokomotive von ferne ächzend schreien, als ginge ihr der Atem aus vom schnellen Lauf. Hoch und singend antwortete ihr das Signalhorn, bis sein Ruf in einem heranstürmenden Donnern unterging — das war der Dreiuhrzug, der Schnellzug.
Der hohe, wuchtige Leib der Lokomotive drang mit seiner scharfen Brust in die morgendliche Stille und zerriss sie in klirrende Splitter; zu einem einzigen, flatternden Lichtstreifen verschwimmend, blitzten die Waggonfenster auf: die durchdringende Stationsglocke übertönte den rasselnden Lärm, und plötzlich war alles still — nur die Lokomotive atmete schwer.
Die kurze Mainacht musste der Morgendämmerung weichen. Am türkisfarbenen Horizont schmolzen die letzten Sterne. Die Morgenröte erschien eilig über der Stadt, die in tiefste Stille versunken dalag. Durch die menschenleere Straße schritt der „Chef" der Fabrik zu. Mitunter blieb er stehen, musterte lange die Häuser, die in festem Morgenschlaf stumm dalagen, und murmelte mit trockenen Lippen irgend etwas vor sich hin. Er kennt diese Häuser seit langem: nach Teer und frischem Holz duftend, wuchsen sie zu beiden Seiten der breiten sandigen Straßen aus dem Boden empor und streckten sich nach und nach bis an die Felder vor — die Stadt breitete sich aus. Jahre vergingen; auf den Dächern der Häuser wucherte graues Moos, sie wurden immer dunkler, und es schien, als sänken sie tiefer zur Erde herab, und die Menschen stöhnten unter der Last der bemoosten Dächer. Und er selbst, ein von den Jahren gebeugtes Männlein, schien in die Erde hineinzuwachsen. Schnell wie die Dörfer vom Fenster eines Schnellzugs aus, war das Leben vorübergeflogen, der unvermeidlichen Endstation zu. Aber nach dem Trägheitsgesetz fuhr der Alte fort, sich weiter zu bewegen, weiter zu leben: beim Pfiff der Sirene stand er auf und eilte in die Fabrik und ging nach Hause, wenn alle gingen. Das Haus empfing ihn mit leeren und ungemütlichen Zimmern, die unerträglich schweigsam waren in den Stunden der Nacht. Der Alte wälzte sich auf dem Bett herum, aber die Schlaflosigkeit trieb ihn hinaus vor die Tür... Dann ging er durch die alten, ausgetretenen Straßen zu der schweigenden Fabrik. Die Wächter ließen den „Chef" mit einem Gruß passieren, als ob er ein Vorgesetzter wäre.
Heute aber ist der „Chef" ungewöhnlich besorgt: er geht schneller als sonst, antwortet nicht auf den Gruß der Wächter und bleibt auch nicht bei der gewohnten Reihenfolge, sondern begibt sich sofort in die Martinabteilung. In der Gussputzerei, an der Stelle, wo er gestern mit Borezki gesprochen hat, hockt er nieder, setzt die Brille auf und betastet mit seinen rauen Fingern den kalten Stahl. Dann steckt er die Brille vorsichtig in das Futteral zurück und verlässt die Abteilung.
Von fern her, wo sich die Trauerweide über den Fabrikzaun neigt, klingt gedämpftes Dröhnen. Über den Rahmen einer Lokomotive hinweg sieht der „Chef", wie Wassja Trussow mit dem Drucklufthammer ein Lokomotivrad bearbeitet; Borezki, der gebückt dabei steht, befühlt den Flansch des Rades, und Nossow schlägt mit dem Hammer kurz und scharf auf diese Stelle.
Die Finger um den Stahl des Lokomotivrahmens gekrümmt, blickt der „Chef" unverwandt zu der Trauerweide hin. Die aufgehende Sonne spiegelt sich in seinen verblassten Augen und entzündet ein heißes Funkeln in ihnen.
So begrüßt der „Chef" den zweiten Fabrikmorgen — er schließt ihn mit ein in die Kette, die von dem brennenden Strom des Lebens angefüllt ist. Jung und leidenschaftlich schlägt sein Herz, und die ungeduldigen Hände ballen sich zu harten, knochigen Fäusten.
1
Vom Fabrikhof herauf drang das Dröhnen des Eisens und das Keuchen des Krans, dessen nervöse, durchdringende Schreie den allgemeinen Lärm der Fabrik übertönten. Sein Keuchen wurde immer hastiger und ging in drohendes Knurren über — er hob eine Last empor, die er mit seinem langen, dünnen Hals dicht am Fenster vorbeischleppte, so dass es Wartanjan schien, als wolle irgend jemand zu ihm hereinschauen.
Wartanjan stand vom Tisch auf und trat ans Fenster. Unten auf dem Fabrikhof, an der Mauer, wühlte der Kran in Bergen verrosteten Eisens herum. Aus dem Haufen von Metallteilen und Eisenstücken, die dem verwitterten Knochengerüst eines riesigen Tieres ähnelten, sprossen hier und da Büschel unverwüstlichen Frühlingsgrüns.
Die Grasbüschel erinnerten Wartanjan an seine Datsche bei Moskau, an Kiefernwälder, Wiesen und Blumen, und er sah seinen kleinen Laso vor sich, wie er einem weißen Schmetterling nachjagte. Laso wird ihn sicherlich fangen — er ist geschickt wie ein kleiner Affe —, und dann wird er sich unter irgendeine Kiefer hinhocken und stundenlang die emsige Arbeit der Ameisen beobachten, das Lockenköpfchen nachdenklich zur Seite geneigt.
Ja — er musste Laso einen Brief schreiben... Er hatte ihm in dieser ganzen Zeit erst ein einziges Mal geschrieben. Schnell legte er einen Briefbogen zurecht und vertiefte sich in seine Gedanken.
Es war Januar... Er erinnert sich an die starkbesuchte Versammlung des Parteiaktivs des Samoskworezker Bezirks (Anm.: Stadtbezirk in Moskau). Er steht am Rednerpult, spricht leidenschaftlich und feurig; aber sonderbar: im Saal herrscht eine verdächtige Stille, eine Ruhe wie vor dem Sturm; harte, feindselige Blicke greifen ihn an. Er kommt in seiner Rede zur innerparteilichen Lage. Die Wachsamkeit des Auditoriums weicht höchster Aufregung. Er fällt wütend über die alten Kommunisten her, die sich durch ihre langjährige Parteizugehörigkeit in Ruhe einwiegen lassen, und bezweifelt ihre Bereitschaft zu revolutionären Kämpfen. Er appelliert an die Aktivität der Jugend, die selbständig, aus eigener Kraft die Wahrheit erkennt, die an allem zweifelt... Seine Rede wird unterbrochen von vereinzelten Beifallsäußerungen und zornigen Rufen „Nieder mit ihm!" Unter dem Lärm der empörten Versammlung verlässt er die Tribüne.
Fünf Monate sind seit diesem Tage vergangen, aber es ist, als ob das alles gestern erst war: so schwer drücken diese Ereignisse ihn nieder. Schon längst hat er ein langes Schreiben, in dem er alle seine Fehler zugibt, nach Moskau gesandt, aber es scheint, dass Moskau nicht an die Aufrichtigkeit seiner Reue glaubt. Ja — dieses Misstrauen ist berechtigt. Mit Worten ist dieser Schandfleck nicht abzuwaschen. Es heißt arbeiten. Diese alte Fabrik wieder hochbringen!...
Die Fabrik... In zahllosen schwarzen Gebäuden zieht sie sich dort vor den Fenstern hin. Mit allen ihren Missständen und wunden Punkten umschließt sie ihn wie ein fester Ring. Sie wartet. Wartanjan fühlt, dass sein ganzes Leben, seine Gedanken und Gefühle nun mit dem Leben aller dieser Bauten unlöslich verbunden sind — die durchdringenden Schreie des Krans erfüllen sein ganzes Wesen mit Erregung und Unruhe.
Die Fabrik, die mitten in den grenzenlosen Wäldern und Sümpfen im Westen der Republik liegt, war ebenso morsch wie die Epoche, die sie hervorgebracht hatte.
Mehr als einmal hatte sie den Besitzer gewechselt, war von einer Aktiengesellschaft zur andern gewandert. Und jeder neue Besitzer richtete die Produktion nach seinem Geschmack ein, fügte neue Fabrikgebäude zu den alten hinzu, projektierte so, wie es für ihn am vorteilhaftesten war, von der Schienenfabrikation, die in den achtziger Jahren riesige Profite abwarf, ging man zum Maschinenbau über; das Wachstum der Städte hatte den Anbau einer mechanisierten Ziegelfabrik und einen großen Aufschwung der Draht- und Nägelproduktion zur Folge; die starke Entwicklung der großen Güter mit ihrer maschinellen Produktion und der Großbauernwirtschaft forderte den Bau spezieller Abteilungen für die Erzeugung von Landmaschinen — Mähmaschinen, Pflügen usw. Im Weltkrieg trat die Produktion von menschlichen Leichen, Krüppeln und Kranken an erste Stelle, und die Fabrikbesitzer stellten die Maschinenproduktion ein und fabrizierten Geschütze und Bomben in niegeahnten Mengen. Die Drehbänke knarrten unter der Hand ungeübter Frauen, die an Stelle der im Felde stehenden Männer Granaten und Geschützteile drehten. Zug auf Zug fuhr nach dem Westen, beladen mit Kriegsmaterial — der Tod war der zuverlässigste und vorteilhafteste Auftraggeber.
Dann umtobten Klassenkämpfe die Fabrik, der Rauch des Bürgerkriegs hüllte ihre Mauern ein, und sie alterte noch mehr. Man meinte damals, dass kein Zauberer je imstande sein würde, diese rostbedeckten Maschinen, die hungrige Menschen zum Teil auseinandergenommen hatten, um sich die Teile anzueignen, die sie brauchten, zu neuem Leben und neuer Arbeit zu erwecken. Diese Maschinen hatten wohl ausgedient und die äußersten Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit erreicht; diese Fabrik, die elementar aus Wäldern und Sümpfen hervorgewachsen war, musste nun wohl wieder unter Rost und Schlamm verschwinden, von Tannen überwachsen werden. Von allen Seiten zogen sie heran: Rost, Schlamm und Wald, und machten sich daran, die in diesen Maschinen, in Stahl und Eisen verborgene Menschenarbeit zu überwuchern. Und die Fabrik, über die Kirchhofsstille hereingebrochen war, sah stumm die Leichen der Dreher und Gießer an, die an den Telegrafenstangen im Winde hin und her schaukelten. An ihren Mauern hauchte die blutige Epoche, die den Waffenrock der Denikinschen Banden übergezogen hatte, ihren letzten heiseren Seufzer aus und ließ den neuen Herren Rost, Verwesung und Blut als Erbe zurück.
An die verrosteten Drehbänke traten die vom Kampf ermatteten Metallarbeiter. Mit abgemagerten Fingern begannen sie den Rost von den Gewinden, Walzen, Maschinen zu feilen, die nun ihre eigenen waren. Der erste Direktor begann seine Arbeit so: er zog den Uniformrock aus, band eine Schürze vor und fing an, eine widerstrebende Hobelmaschine auseinander zunehmen: man musste Kuppelstangen für die Lokomotiven hobeln — das Land begann seinen großen Aufbau. Unermüdliche Tage rastloser Menschenarbeit brachten die Wiedergeburt der Fabrik zustande. Und diese heroischen Tage besingt einer der zahlreichen Dichter des Landes — Gregor Andrjuschetschkin.
Das grandiose Ausmaß der Fabrik und die Kompliziertheit ihres inneren Lebens setzten Wartanjan gleich bei seinem ersten Rundgang in Erstaunen — er konnte sich am Abend durchaus nicht mehr auf die Benennung und Bestimmung der vielen verschiedenen Abteilungen besinnen, und am nächsten Tage irrte er lange auf dem Fabrikterrain herum, verloren im Donnern und Krachen des Metalls.
Wartanjan staunte über die Vielfalt der Fabrik: neben Schnellzugslokomotiven und Eisenbahnwagen wurden Pflüge, und Nägel, Krane und Sensen, Draht und Röhren hergestellt. Auf dem Fabrikhof verrosteten Teile von Fordson-Traktoren — die Überreste einer misslungenen Traktorenproduktion.
Wartanjan traf gerade in dem Moment in der Fabrik ein, als eine Arbeiterkonferenz tagte, die sich mit dem Produktionsprogramm befasste. Mit lautem Beifall nahmen die Arbeiter die Mitteilung des Trustvorsitzenden über die Erhöhung der Zahl der zu erzeugenden Wagen bis auf 2000 Stück auf; sie schwiegen, als der Redner erklärte, dass man die Draht- und Nägelproduktion einer anderen Fabrik überlassen und sich mit der Herstellung von Einrichtungen für den Dnjeprostroi befassen müsse. Sowie aber die Zahl der Lokomotiven bekannt wurde, tobte ein Orkan durch den Saal — die Menschen gerieten in eine unbeschreibliche Aufregung: sie schrieen, schimpften, scharrten mit den Füßen — nur mit größter Mühe gelang es, die Ordnung wiederherzustellen. Im allgemeinen Tumult sprang Titytsch auf die Rednertribüne:
„Ich möchte eine Frage an den Referenten richten: kann der Mensch ohne Herz leben?" fragte er höflich, und unter gespanntester, schweigender Aufmerksamkeit der Versammelten bestätigte der Vorsitzende des Trusts lächelnd: „Nein, das kann er nicht."
Da rief Titytsch, dem Referenten demonstrativ den Rücken zuwendend, in den Saal hinein:
„Genossen! Ebenso wie der Mensch ohne Herz nicht leben kann, gibt es auch für uns kein Leben ohne Lokomotiven! Wir sind bei Lokomotiven geboren und sind neben ihnen aufgewachsen! Ich habe gesprochen!"
Und wieder summte der Saal wie ein in Erregung geratener Bienenstock. Man ließ den Vorsitzenden des Trusts nicht zu Worte kommen, und er war gezwungen, nach telefonischer Rücksprache mit Moskau das Lokomotivproduktionsprogramm zu ändern. Wartanjan merkte, wie stark die Arbeiter an der Lokomotive hingen; sie standen da, die Lokomotiven zu verteidigen wie eine Löwin ihre Jungen: wild und leidenschaftlich und bereit, sich selbst zu opfern.
Wartanjan liebte es, mitunter das steile, abschüssige Ufer des Flusses zu erklimmen und von dieser Höhe aus hinüberzuschauen auf die blauen Wogen der Nadelwälder, die sich bis zum Horizont hinzogen, auf die Schlangenlinien des Flusslaufs, auf dem träge Flöße dahinkrochen, und auf die dünne Rauchsäule einer in der Ferne verschwindenden Lokomotive, und dann schien es ihm, als hämmere die zu seinen Füßen liegende Fabrik wie das eiserne Herz dieses in Wäldern erstickenden Gebiets. Hunderte von Kilometern im Umkreis erstreckten sich die dichten Wälder und endlosen Felder, voneinander getrennt durch schmale Streifen magerer Weiden, durch Gehöfte und Grenzraine, und durch den Drang des Bauern, sich eifersüchtig abzusondern, und fern im Westen stieß alles das auf den schmalen Streif der Grenze — der schweigenden, drohenden Grenze. Und Wartanjan erkannte: diese Fabrik, in Jahrzehnten von Rauch und Ruß geschwärzt, ist dazu bestimmt, die große Last der Epoche auf ihren alten Schultern mit zu tragen...
Wartanjan betrachtete die Karte des Landes und fühlte sich von jenem erregenden Gefühl ergriffen, das er zum ersten Mal auf einer Reise nach Sibirien verspürt hatte — dem Gefühl des Raums.
Es saß im transsibirischen Express, Wälder und Äcker sausten an den Fenstern vorüber, Dörfer und Städte, Berge und Steppen, und von neuem wurde der Zug von dichten Wäldern umschlossen, die in die tiefe, schweigende Taiga übergingen; Stunden schwanden, der Tag starb, die Nacht zog herauf, und wieder dämmerte der Morgen, und die Sonne stieg aus den salzigen Barabiner Seen empor; ein hagerer Amerikaner stellte täglich die Zeiger seiner dicken, goldenen Uhr, denn der Expresszug raste zusammen mit der unermüdlichen Erdkugel nach Osten, der Sonne entgegen, und überschritt die Grenzen der Zeitzonen. Und wieder Steppen, Flüsse, Wälder. So geht es einen Tag, zwei Tage, drei Tage lang... Und der Zug rast donnernd weiter, und frisst sich in die weite, grenzenlose Ferne hinein: der Amerikaner aber zieht wieder seine Uhr und misst die Größe dieses sonderbar weiten und fruchtbaren Landes...
Wartanjan spreizte die zitternden Finger wie einen Zirkel und maß auf der Karte dieselbe Entfernung von Moskau nach der entgegengesetzten Richtung — nach Westen zu.
Ja, das war in Nowosibirsk... Und wenn er mit seinen Fingern denselben Raum in der anderen Richtung überspannte, so griff er über Polen, über Deutschland, über Frankreich hinweg und tippte mit der Spitze seines Zeigefingers auf Spanien, auf die Küste des Atlantischen Ozeans.
Er stand, erstaunt und erregt, vor der Karte im Gang des Waggons, und der Zirkel seiner Finger bebte über den roten Punkten der vier Hauptstädte. „Oho!"
Wartanjan schaute sich um und sah den Amerikaner hinter sich stehen. Und es war ihm nicht klar: beneidete er Wartanjan, oder beobachtete er besorgt die Bewegung von Wartanjans Finger in westlicher Richtung, oder aber wollte er seine Bewunderung ausdrücken?...
Und als Wartanjan jetzt die Karte des Landes betrachtete, spürte er in seinen nervösen Fingern wiederum ein leises Zittern. Jawohl, die Linie nach Westen hin, die er damals im Gang des sibirischen Expresszugs gezogen hatte, ging hier vorbei, durchschnitt seine Fabrik, durchschnitt diese dunklen Kiefernwälder, ging über seinen Kopf weg — dorthin, nach der drohend schweigenden Grenze. Und Wartanjan begriff: wenn die ersten Schüsse fallen, wird hier die Front sein.
Die Tatsache, dass die Fabrik in diesen Wäldern vergraben liegt, dass die Linie über die Fabrikschlote wegführt, dass sie sich über die Felder hinzieht, auf denen sich hier und da noch Einzelgehöfte erheben, lenkt seine Gedanken wieder auf die Fabrik zurück, und er spürt die ganze Schwere der Verantwortung, die auf seinen Schultern lastet. Unruhe lässt sein Herz schneller schlagen. Und dieselbe Unruhe hört er aus den heiseren Schreien des Krans heraus, aus dem klatschenden Aufschlagen eines eisernen Balkens, der herabstürzt, dieselbe Unruhe lauert auch zwischen den Zeilen eines kleinen Zeitungsausschnittes :
„Missstände in der Fabrik ,Krassny Proletari (Anm.: Roter Proletarier) behindern genau wie früher die Erzeugung der Lokomotiven, die das Land so dringend braucht. Nach wie vor gehen Klagen über die schlechte Qualität der Lokomotiven ein... "
Ein Ausschnitt aus der „Prawda"(Anm.: „Die Wahrheit") — ein gewöhnliches, raschelndes Stück Zeitungspapier — und dieser Papierfetzen zittert und bebt unter dem heißen Atem Wartanjans. Seine Augen bleiben an einer Stelle haften: mit fetten, schwarzen Buchstaben steht es drohend da: „nach wie vor". „Jedenfalls — so folgert Wartanjan — äußert sich in diesen fettgedruckten Buchstaben nicht nur die gewöhnliche, beliebte Manier der Zeitungsschreiber, irgendein Wort hervorzuheben — das ist vielmehr ein Wink, der sich an meine Adresse richtet: da sitzt dieser Samoskworezker Redner nun schon ein halbes Jahr in der Fabrik, und alles ist noch genau so wie früher. Also..." Der unbeendete Brief an Laso versank in dem schwarzen Rachen der Aktentasche. Zum wievielten Male schon?
„Ja, Laso, mein kleines Äffchen! Fang' du fürs erste nur deine Kohlweißlinge!" „Bitte den Direktor..."
Im Hörer krachte etwas, er konnte nur schlecht verstehen. „Kortschenko?! Wie stehen die Dinge in der letzten Dekade? Und mit den Großgüterwagen?" Er nahm einen Bleistift zur Hand. „Siebzig? Zusammen mit denen auf den Montageböcken? Drücke dich bitte nicht um die Antwort herum! Ich verlange eine klare Auskunft, Kortschenko! Ein Bolschewik muss geradeheraus antworten! Was machst du da für Ausflüchte?!" Die schwarzen Augen Wartanjans funkelten erregt, der Kopierstift flog über den Tisch, in eine Untertasse mit Teeüberresten hinein, und ließ violette Tränen herabkollern. Das Knacken im Hörer wurde stärker, die Stimme Kortschenkos war nur mit Mühe zu verstehen.
„Gib mir gefälligst eine klare Antwort, eine bolschewistische Antwort... Nun also... Das hört sich schon anders an... 50 Wagen. Keine Räder da? Wieder auf Böcken?
Und die Lokomotiven? Wir werden also den Auftrag nicht bis zur festgesetzten Frist ausführen? Werden ihn ausführen?? Ich verstehe überhaupt nichts mehr, Kortschenko! Drücke dich doch nicht schon wieder um eine eindeutige Antwort herum! ,Beruhige dich'! Wie soll ich mich da beruhigen! Warum hast du dem Büro nichts gemeldet?"
Die Stimme Wartanjans stieg immer höher und höher, er sprudelte hastig die Worte hervor, die am Draht entlang sausten und wie ein Sturmwind in Kortschenkos Ohr einbrachen.
„Komm sofort ins Raikom (Anm.: Bezirkskomitee der Partei) herauf, hörst du? Sofort!" Wartanjan warf den Hörer hin und trat wieder ans Fenster.
Krachend sausten die Drucklufthämmer nieder; aus der Kesselschmiede klang dumpfes Heulen, am Martinofen drüben sang der Kran.
Ü ber die Schienen der Fabrikbahn rannte stolpernd ein Arbeiter, die Hand krampfhaft aufs Herz gedrückt.
„Ein Kranker... ", dachte Wartanjan, aber gleich darauf besann er sich, dass ja das Ambulatorium am entgegengesetzten Ende der Fabrik lag — also etwas anderes. Er sah noch, wie der Arbeiter dem Torweg betrat, aber der Wächter versperrte ihm mit dem Arm, wie mit einem Schlagbaum, den Ausgang. „Da bin ich, Wartanjan."
Kortschenko ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und machte langsam seine Aktentasche auf. Trübe graue Augen schauten Wartanjan gerade ins Gesicht, sie waren wie immer kalt und ruhig.
„Sprich... " Auch Wartanjan setzte sich. Kortschenko wandte keinen Blick von dem pechschwarzen Haar Wartanjans und schwieg immer noch.
„Sprich, bitte!" wiederholte Wartanjan ungeduldig und herrisch.
Da holte Kortschenko ein Papier hervor und tippte mit dem Finger auf eine rotumrandete Ziffer.
„Wir werden die Frist einhalten. Den Auftrag vom Volkskommissariat für Verkehrswesen schaffen wir voll. Beruhige dich."
„Wieder dein ewiges ,beruhige dich'!..." Wartanjan vertiefte sich in den Zettel, fand die Rubrik „Lokomotiven", und seine Augen funkelten:
„Woher nimmst du das: ,wir werden die Frist einhalten'? Sieh mal her, Kortschenko!"
Der Direktor saß in unerschütterlicher Ruhe da, als ob ihn das alles nichts anginge. Er holte ruhig eine Zigarette hervor, strich ein Streichholz an und wartete umständlich, bis es lichterloh brannte.
„Kontrollierst du die Aufstellungen?" „Das ist erst das Konzept. Ungenauigkeiten sind möglich." „Das ist unerhört! Zum Teufel! Gib mir etwas Genaues! Die Partei darfst du nicht betrügen! Was willst du dich da herauslügen, Kortschenko? Sieh mal, wie hoch der Prozentsatz von Ausschuß bei den Lokomotivteilen ist!"
Wartanjan war aufgesprungen und lief im Zimmer auf und ab. Seine Absätze klopften auf dem Parkettboden den Takt zu seinen hastigen, kurzen Schritten.
„Hast du das da gelesen?" Er wies mit einer schroffen Geste auf den Zeitungsausschnitt.
Von der Stille, die eingetreten war, hob sich scharf das laute Aufkreischen des Metalls ab, sein Stöhnen, sein Ächzen und Wimmern unter den Hämmern, den Sägen und Pressen.
Kortschenko überflog die Zeilen mit den Augen und schob den Zeitungsausschnitt ruhig beiseite.
„Kritisieren, Wartanjan, das ist natürlich leicht. Aber versuch' mal, in diesem Ungeheuer von dreißig Abteilungen einen gründlichen Umschwung herbeizuführen ... Und steht vielleicht unsere Belegschaft da wie ein Mann? Warum haben wir denn keine Radsätze? Warum sind wir denn mit der Fertigstellung der Lokomotiven im Rückstand? Weil wir 15 Prozent Ausschuß haben. In der Gießerei arbeiten lauter Neue. Einzelteile sind nicht da, und der Ausschuß überschwemmt die ganze Abteilung... Das ist keine Gießerei mehr, sondern eine Bauernuniversität!"
Wartanjan drehte sich heftig auf seinen Absätzen herum: „Meinst du vielleicht, die Fabrik soll keine Bauernuniversität sein? Sie soll es sein! In zwei, drei Jahren werden die Bauern in Millionenmassen in unsere Fabriken eintreten, und diejenigen, die heute an den Maschinen stehen, werden in der neuen Arbeiterklasse nur eine ganz dünne Schicht darstellen. Den Arbeiterstamm werden diese Bauern bilden. Müssen ihn bilden. Wir müssen es nur verstehen, sie möglichst schnell und gut auszubilden."
Kortschenko stieß heftige Rauchwolken aus seiner Zigarette: „Das hängt von den Ingenieuren und Werkmeistern ab. Man muss verstehen, sie zu interessieren... materiell natürlich... Das ist das Wesentliche... Das andre kommt ganz von allein. Du, ich hatte mit dem Technischen Direktor eine interessante Unterredung unter vier Augen, und der hat mir ganz offen gesagt: ,Interessieren Sie uns, und alles wird gemacht werden'. Der Rubel, Wartanjan, der Rubel hat große Macht..."
„Na, sieh also zu, das musst du besser wissen. Bloß vergiss eins nicht: bald haben wir dem Plenum des Okruschkom (Anm.: Distriktskomitee der Partei) unseren Rechenschaftsbericht vorzulegen... Eile tut Not, Kortschenko! Unser wundester Punkt ist die Martinabteilung. Auf die müssen wir das Feuer konzentrieren: Die Martinabteilung muss durch Spezialisten Verstärkung erhalten. Heute morgen war Platow bei mir, das Zentralkomitee schickt ihn. Ein interessanter Mensch. Jugend und Leidenschaftlichkeit strömen von ihm aus. Wollen wir ihn zum Gehilfen Kraiskis ernennen? Vielleicht bringt er die Abteilung hoch?" Kortschenko lächelte skeptisch:
„Jung? Leidenschaftlich? Pass auf, Wartanjan, diesmal musst du's besser wissen. Wenn's nur nicht schief geht... es wäre nicht das erste Mal..." und damit segelte er zur Tür hinaus.
Wartanjan öffnete seine Aktentasche, aber in demselben Augenblick heulte die Sirene; er packte seine Mütze und rannte hinaus — in der Mittagspause wollte er in der Martinabteilung sprechen...
Ü ber die Stahlstücke hinwegstolpernd, die in den Gängen herumlagen, bahnte sich Wartanjan einen Weg durch die Abteilung. Zu unordentlichen Haufen aufgeschichtet, lagen die Räder da, die eben erst aus den Formkästen herausgenommen worden waren. Die Kästen waren von Formsand bedeckt und standen unordentlich und unansehnlich herum.
Die Arbeiter hatten sich in der „Roten Ecke" der Martinabteilung versammelt. Sie aßen zu Mittag und gossen sich aus dickbäuchigen kupfernen Kesseln Tee ein. Die breiten Blätter der künstlichen Palmen über ihren Köpfen zitterten unter dem frischen Luftstrom, den der Ventilator hereinführte. Aus der schwarzen Kehle des Lautsprechers klang die „Eroica" Beethovens auf sie herab. Die Strahlen der Mittagssonne, die sich ihren Weg durch das gläserne Dach bahnten, wühlten in den zottigen, verschwitzten Haaren der Former.
Titytsch schlürfte voller Wohlbehagen seinen Tee aus einem Riesenbecher — er verspürte den Wunsch, recht lange so dazusitzen, ohne sich zu rühren, und zu fühlen, wie der Körper nach und nach frische Kraft sammelte. Kaum zu glauben, dass all dies — die Palmen, die Sonnenstrahlen und die erhabenen Klänge der Musik — nur zwei Schritte von der schwülen, staubigen und verrußten Martinabbeilung entfernt war, in der er ein halbes Menschenleben zugebracht hatte. Titytsch waren diese Minuten, die er hier ausruhte, sehr teuer, und eifersüchtig wachte er über die feiertägliche Reinlichkeit der „Roten Ecke' ; denn er entsann sich noch sehr gut einer anderen Pause — eines in irgendeinen Fetzen gehüllten kargen Frühstücks, das auf einem Haufen schmutzigen Formsands ausgebreitet und hastig verschlungen wurde. Er hatte gerade Wekschin zurechtgewiesen, der einen Zigarettenstummel in einen Blumentopf geworfen hatte, aber kaum wandte er sich wieder seinem Tee zu, als sich ein schmutziger Fetzen Zeitungspapier auf den Blättern einer Palme schaukelte.
Mit ärgerlich zusammengezogenen Brauen betrachtete Titytsch einen kahlköpfigen, dicken Arbeiter, der seinen Speck direkt auf der Wachstuchdecke schnitt. „Wird noch ein Loch hineinschneiden, der Idiot..." dachte Titytsch und wollte ihn gerade anrufen, als plötzlich aus der Ecke, in der ein hölzernes Modell vom Lenin-Mausoleum stand, eine bekannte Stimme ertönte:
„Genossen!"
Wartanjan wartete, bis Ruhe eingetreten war. Aufmerksam forschte er in den Gesichtern der Arbeiter, als wollte er in ihnen lesen, was der Tag Neues gebracht hatte.
„Als ich eben durch die Abteilung ging, hörte ich Arbeiter sich unzufrieden über die Schlangen vor den Brotläden äußern. Die Unzufriedenheit ist berechtigt. Aber wie hängt das alles zusammen? Es kommt daher, dass die bäuerliche Kleinwirtschaft nicht imstande ist, mit der Industrie Schritt zu halten — wie eine Schildkröte, die nicht imstande ist, eine Lokomotive einzuholen. Und manche von euch, Genossen — wozu sollen wir das leugnen? — verlangen, dass die Lokomotive auf die Schildkröte warten soll... Gestern sind fünfhundert Mann nicht zur Arbeit gekommen! Warum nicht? Sie haben Kartoffeln gelegt, sie hatten keine Zeit, Lokomotiven zu bauen. Und dabei haben wir selber eine Erhöhung des Lokomotivbauprogramms verlangt. Haben selbst Krach geschlagen. Soll das nun so weiter gehen wie jetzt? Das ist unmöglich, Genossen! Es ist eine Schande!" Wartanjan ließ seine strengen Augen über die Arbeitermassen schweifen.
Sergej hörte unruhig auf die Worte Wartanjans, — verfolgten ihn nicht die durchdringenden Augen dieses Menschen? Er wandte sich ab, aber wieder trafen sich ihre Blicke. Aus irgendeinem Grunde erfasste ihn eine finstere Wut, er presste die dünnen Lippen fest aufeinander.
„Es arbeiten viele neue Arbeiter in unserer Fabrik. Sie kommen aus dem Dorfe, aus einem kleinbürgerlichen Milieu... Sie sind noch nicht vom Geiste der Fabrik durchdrungen. Die Fabrik ist für sie nicht ein Mittel zum Zweck, sondern ein notwendiges Übel..."
Wartanjans Augen fielen auf eine Flasche Milch.
„Die Kuh und nicht die Fabrik ist für sie die Hauptsache... Aber schleppt vielleicht die Kuh das Getreide aus Sibirien, aus der Ukraine heran? Kann man die Hebung der Fabrik mit der Kuh bewerkstelligen?"
„Natürlich nicht — sie wird krepieren...", erklärte der dicke Kahlkopf und schob ein halbes Ei in den Mund.
„Ha-ha-ha! Sehr gut gegeben!" rief Wekschin entzückt.
„Und warum gibt's keinen Lohn? Heute ist ja wohl der Erste!"
Alle verstummten in Erwartung der Antwort.
Wartanjan schwieg. Die Arbeiter beobachteten ihn gespannt. Der Minutenzeiger näherte sich der Zwölf, gleich musste die Sirene ertönen.
„Weil kein Geld da ist. Und es ist keins da, weil wir den Auftrag des Volkskommissariats für Verkehrswesen nicht rechtzeitig ausgeführt haben. Darum gibt's heute keinen Lohn!"
Da schnellte Wekschin in die Höhe:
„Das ist keine Antwort, Genosse! Wir haben gearbeitet, und ihr müsst bezahlen", schrie er, und sein Gesicht war blass vor Erregung. „Ihr habt ja euer Gehalt sicherlich schon weg, nicht wahr? Aber wir Arbeiter können drauf warten, was?"
„Was geht das uns an?"
„Gebt den Lohn her!"
„Den L—oh—n!"
Aber da sah Sergej Wekschin plötzlich den kugelrunden Kopf Andrjuschetschkins vor sich.
„Wer hat hier ein großes Maul und schreit, dass er arbeitet?... Du??... Du bist der letzte, der sich beschweren darf, du Faulenzer, du Bummelant! So ein Trunkenbold! Und dabei noch einer mit Bildung! Halt's Maul, Sergej!"
Erregt standen sich beide gegenüber, bereit, sich aufeinander zu stürzen. Wartanjan sah die zitternden Lippen Wekschins und das böse Funkeln seiner Augen.
Der Lärm wurde immer größer.
„Weshalb wollt ihr nun uns die Schuld aufbürden?"
„Was spielst du dich so auf? Ich habe vielleicht mehr als du geschafft, aber ich schweige", ließ sich der Glatzkopf vernehmen.
„Du hast mehr geschafft?" Titytsch wandte sich an die Menge: „Genossen, der Grjasnow hat mehr Ausschuß geschafft als wir, das stimmt!"
„Hast du vielleicht weniger Ausschuß?" krächzte der Dicke.
„Du red' nur lieber von dir selber!"
„Werde ich schon tun... "
„Brot her! Bro—o—o—t!"
„Lo—oh—n her!"
Da löste sich Borezki aus der Menge. Ohne sich zu beeilen, ging er in die Mitte, an dem roten Schal zerrend, der seine Kehle zu würgen schien.
„Das Maul aufreißen — darin sind wir alle Meister... " Und dabei ließ er seine Augen über alle hinwegschweifen, über Wartanjan, Andrjuschetschkin, Wekschin — über alle, so dass keinem klar war, wen er verurteilen wollte. „Das Brot, das wir essen, ist bitter, das ist richtig. Ich arbeite vierzig Jahre lang in der Fabrik und esse jahraus, jahrein bitteres Brot. Und bitter ist es aus dem Grunde, weil unser Schweiß dran klebt. Das ist eben das Schicksal der Arbeiter... Wozu das große Maulwerk?"
Borezki sprach ruhig, ja schleppend, seine Worte tropften wie Öl in die Hirne der Menschen und brachten den Aufruhr zur Ruhe. Wartanjan, der mit dem Resultat seiner Rede zufrieden war, nickte zustimmend mit dem Kopf. Titytsch zog finster die Brauen zusammen, bemüht, den Sinn der nebelhaften Gedanken Borezkis zu verstehen. Er schob sich nach vorn, an das Mausoleum heran, trat Borezki gegenüber und sagte langsam, jedes Wort abwägend:
„Du sagst nicht das Richtige! Das Leben ist jetzt anders geworden. Und dein Brot ist immer noch bitter? Du hast eine krumme Linie, Antonytsch! Bist auf falscher Fährte!" Und wieder erhob sich Lärm in der „Roten Ecke". Das Geschrei und das Scharren der zurückgeschobenen Bänke und Stühle vereinten sich zu einem Mordsspektakel. Rote, schweißglänzende Gesichter wandten sich aufgeregt hin und her. Hände, von Formsand geschwärzt, fuchtelten in der Luft herum... Und erst die Sirene, die zu den offenen Fenstern hereinheulte, beschwichtigte und löschte das Geschrei und zog die Arbeiter in die Abteilung hinein.
Langsam ging Wartanjan durch die Werkhalle, die Menschen aufmerksam beobachtend.
„Hallo, Genosse!" Mit breitem, schwerem Schritt ging ein bärtiger Arbeiter, der einen graublauen Block auf den Schultern trug, an Wartanjan vorüber und versetzte ihm einen heftigen Stoß. Wartanjan sprang schnell zur Seite, als plötzlich dicht an seinem Ohr jemand rief: „Ach—hing!"
Ü ber Wartanjans Kopf hing ein Klumpen Räder, die eine glühende Hitze ausstrahlen. Schaukelnd ließen sie sich sanft neben Wartanjan auf die Erde nieder. Er tat eilig einen Schritt nach links und wäre beinahe mit dem Fuß in einen Formkasten geraten. Von unten, von dem Kasten her, blickten ihn die grauen Augen Titytschs streng an:
„Wer nicht daran gewöhnt ist, der kann sich hier die Beine brechen, Genosse Wartanjan", — er spielte lachend mit dem Stichel und war gleich darauf wieder bei seinem Formkasten. „Irgend etwas ist bei uns in der Martinabteilung nicht in Ordnung!" Titytsch sprang wieder auf und sagte, zu Wartanjan geneigt, mit leiser Stimme: „Ich fühle es, es wird einen Sturm geben, ganz unbedingt: das ist kein Zufall, dass dir der Antonytsch sein bitteres Brot vorgeworfen hat — das ist ein schlauer Teufel."
Titytsch ließ sich auf die Knie nieder und begann eine Form auszuschmieren: ihre helle Farbe verwandelte sich in ein schmutziges Blau gleich seinen verwaschenen Augen.
„Sieh mal dort hin, Wartanjan, soll das etwa arbeiten heißen?" Titytsch wies mit der Hand auf einen bärtigen Arbeiter, der auf einem Formkasten hockte und faul im Sand herumstocherte.
Titytsch winkte mit der Hand.
„Stepan", rief er. „Stampfe mal ein bisschen munterer zu, sonst..."
Der bärtige Arbeiter stampfte drauf los, und wiederholt schlug der Stampfer klingend gegen den Formkasten.
Die Schreie der Menschen, das Dröhnen der Metallstücke und das Krachen der Kräne verschmolzen zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Irgend jemand schrie gellend:
„He, he! Rechts, — zurück!..."
Metall, Staub und Hitze drückten auf das Gehirn und verwirrten die Gedanken. Titytsch wurde von dumpfer Wut auf alle diese Formkästen und mit Formsand bedeckten Gussformen ergriffen. Er dachte an stille, dämmrige Roggenfelder und an den Ruf satter Wachteln. Er nahm einen Spaten zur Hand und ging zu der Sandkiste, wobei er in seinen Bastschuhen über die eisernen Haken wegbalancierte, die am Boden herumlagen.
Wartanjan stand auf der Brücke am Ofen Nr. 2 und blickte hinunter, betäubt von dem dumpfen Getöse der Ölbrenner, aus denen Flammen hervorschossen. Die zum Guss vorbereiteten Einläufe der Formen glänzten weißlich. Menschen wirtschafteten im Sand herum und gaben ihm die Form von Lokomotivteilen. Die Druckluftstampfer stampften donnernd die Erde fest. Von der Stahlgießerei stieg blauer Rauch auf, der sich unter dem Dach zu dicken Wolken ballte.
Der zu einem Haken gekrümmte Finger des elektrischen Krans ergriff ein Lokomotivrad, hob es hoch empor und trug es vorsichtig in die Putzerei. Von dort aus klang das Krachen des Druckluftmeißels herüber, knatternd wie Gewehrfeuer.
Das Rad schwamm, in eisernen Ketten schaukelnd, über der Abteilung in der Luft. Die Sirene des Laufkrans warnte durchdringend und unaufhörlich die Menschen, die an den Form kästen arbeiteten. Ein rothaariger, ungeschickter Bursche, den der Lärm der Fabrik taub gemacht hatte, ging, einen Spaten in der Hand, langsam durch die Gießerei. Er ging um die Formkästen herum und kletterte auf einen Sandhaufen, in den er mit seinen Bastschuhen tief einsank, gerade in dem Augenblick, als das Rad erzitternd seinen Kopf berührte. Er wollte erschrocken zur Seite springen, aber es war schon zu spät, das Rad hatte ihn ergriffen, und er flog durch den Raum, auf die scharfen Kanten der Formkästen aufschlagend. Wartanjan sah, wie das Blut spritzte, und schrie auf. Die Arbeiter liefen zu dem Verunglückten und entzogen ihn Wartanjans Blicken.
„Bauernuniversität" — der Ausdruck Kortschenkos kam Wartanjan in den Sinn. „Ja — dachte er — es stimmt! Und wir sollen das Reifeexamen bestehen, zusammen mit diesen Bauern, die da im Formsand herumwühlen. Und wir Kommunisten müssen dieses Examen bestehen. ,Der Rubel hat große Macht!' " Auch dieser Ausspruch des Direktors kam ihm in den Sinn, und er schien ihm plötzlich kindlich naiv, so dass er lachte und laut vor sich hinsagte:
„Was für eine Dummheit!"
„Mit der Dummheit lässt sich's leichter leben. Klugheit macht mehr Sorgen. Der Dumme ist auch mit wenigem zufrieden, aber der Kluge will mehr. Und ehe du mehr kriegst, musst du dir erst die Fresse zerschlagen... "
Irgend jemand hinter ihm brummte wütend vor sich hin.
Wartanjan wandte sich um und sah einen kleinen verhutzelten Menschen mit einem grünlichen, zottigen Bart vor sich.
„Wer bist du?"
„Ich? Der ,Chef'. Und du?"
„Ich?... Der Sekretär..." erwiderte Wartanjan und musterte den sonderbaren Alten mit verwunderten Blicken.
„Der Parteisekretär? Für sekrete Dinge?" Der Alte setzte seine Brille auf und kam ganz dicht heran, die brennenden Augen auf den erstaunten Wartanjan gerichtet. „Du hast flinke, kluge Augen. Nun, sieh mal hierher, mein Täubchen!" und er wies mit der zitternden Greisenhand über die Abteilung. „Unter diesem Dach habe ich schon gearbeitet, als ich noch jung war, so jung wie du — es sind wohl fünfzig Jahre her, da hab' ich Lokomotivteile gegossen. Unsere Lokomotiven waren die allerbesten im ganzen Mütterchen Russland. Und heute? Heute werden hier Särge gemacht...", und die Stimme des Alten zitterte.
„Was für Särge? Was faselst du da, Alter?" Wartanjan trat misstrauisch einen Schritt zurück.
„Der wird Ihnen wirklich was vorfaseln, Genosse Wartanjan, hören Sie ihm nur nicht zu!" Benjamin Pawlowitsch stand ganz plötzlich neben ihnen, und die feuchte, weiche Handfläche hebend, flüsterte er Wartanjan ins Ohr: „Er hat den Verstand verloren. Ist verrückt, sozusagen schon eine wandelnde Leiche. Lassen wir ihn in Ruhe... Du solltest dich lieber schlafen legen, Kusmitsch. — Ich habe eine sehr eilige Angelegenheit, Genosse Wartanjan. Können Sie mich ein paar Minuten anhören?"
Er fasste Wartanjan fest unter dem Arm und zog ihn dem Ausgang zu. Der Alte blieb starr, wie ein schwarzes, verdorrtes Krummholz stehen und sah ihnen mit verschleierten Augen nach.
Dann betrachtete er die von Rauch und Dampf umwogten Menschen, die die Lokomotivteile formten, und sein ganzes, von Elend und Widerwärtigkeiten verbittertes Leben, ein Leben, das so schwarz war wie diese Werkstatt, stand vor ihm auf.
Tausende von Lokomotivrädern waren durch seine Hände gegangen und über die Schienen dieses waldbedeckten Landes nach allen Seiten davongerollt. Er hasste diese Räder, die er geschaffen, mit soviel Liebe geformt und gegossen hatte: sie waren ihm fremd geworden, waren seinen Blicken entschwunden; manchmal aber kehrten sie wieder, rollten drohend heran. Das war mehr als einmal so... Sie führten wild johlende Kosaken heran, Knuten, die über den Köpfen pfiffen, und führten Gießer, Schlosser und Dreher weg, führten sie fort in Waggons, die sie selbst fest vergittert hatten. Tausende von Kilometern weit transportierten sie Schätze, die für Kusmitsch unerreichbar waren; in weichen Sammetpolstern reisten die Herren des Landes. Und dann ein Tag — da führten sie den letzten Besitz des Alten hinweg: seine beiden Söhne... Wenn er mit Sand die Lokomotivräder formte, mit dem Stichel vorsichtig den Formsand bearbeitete, dann verfluchte er das Schaffen seiner sehnigen Hände, und oft fühlte er den Wunsch, irgendeinen verhängnisvollen Lunker in der Radnabe oder in den Speichen zu vertuschen, um seine verfluchte Arbeit mit dem Donnern einer Entgleisung zu rächen. Aber seine Hände wollten sich kein einziges Mal fügen, um seinen Rachedurst zu stillen — eine in seinem Herzen brennende Macht widersetzte sich der Vernichtung der von ihm geschaffenen Dinge. Im Geheimen war er stolz auf sich selber, freute sich der Vollkommenheit der Maschine, die aus den von ihm gegossenen Teilen gebaut wurde, und in solchen Augenblicken vergaß er, was sie morgen mit sich führen konnte. Sein Hass und seine Liebe zu der Maschine, zu der funkelnden Lokomotive vereinigten sich zu einem einzigen, zitternden Erwarten der Tage, die freudige Arbeit verhießen.
Und diese Tage kamen: sie stürmen wie ein Gebirgsfluss im Frühling daher und spülen den Ruß der Jahrhunderte von den Menschen und erfüllen sie mit der Freude, die das Arbeiten für sich selbst verleiht. Kusmitsch konnte nicht mehr im Sand wühlen — seine Finger waren vom Rheumatismus gekrümmt; aber er fuhr fort zu arbeiten und seine Lokomotiven und die Menschenarbeit zu schützen. Und hierher, zu den alten, Erz schmelzenden Öfen war er mit einem vor Erregung brennenden Herzen gekommen. Das, was er heute früh bei Sonnenaufgang unter der alten verkrüppelten Weide beobachtet hatte, versetzte sein ganzes Wesen in Aufruhr. Er suchte einen Menschen, der seine Unruhe und Aufregung verstehen könnte. Als er Wartanjans ansichtig geworden war, hatte er sich gefreut, denn er hatte in dessen Gesicht die gleichen Gefühle erkannt.
Doch nein, er hatte sich geirrt. Auch dieser Mensch mit den flinken Augen hielt ihn für einen verrückt gewordenen Greis...
Den Kopf gesenkt stand er da, umweht von der glühenden Hitze des Martinofens, umtost vom zischenden Kochen der Ölbrenner.
Und plötzlich rannte der Alte laut polternd die Eisenstufen hinunter und rief mit ärgerlicher Stimme:
„Jegor—ka! Schütte die Kästen aus! Ach, du Esel du!"
2
Die fragend hochgezogenen Brauen Saizews senkten sich nicht einmal beim Anblick des gewohnten häuslichen Bildes: da saß seine Frau Nastja, einen Berg zerrissener Strümpfe vor sich, und stopfte. Das elektrische Licht entzündete in ihren weißblonden Haaren sprühende Funken. Verschlafen blickte sie ihren Mann an und gähnte.
„Leg dich schlafen, Nastja... Du bist müde, geh, leg dich... Ich werde noch eine Weile herumkramen."
Er nahm eine zusammengebundene Papierrolle vom Schrank, band sie vorsichtig auf und breitete die Pläne vor sich auf dem Tisch aus.
„Da holt er wirklich wieder seinen Unsinn vor!" Nastja lachte verächtlich auf und ging hinüber in die andere, durch einen Verschlag abgeteilte Zimmerhälfte, im Gehen zog sie schon den Rock aus.
Saizew spitzte die Bleistifte und überlegte. Er war aus dem Zirkel sehr unruhig heimgekehrt. Eigentlich hätte doch der Leiter jeden Augenblick auf das zu sprechen kommen müssen, was ihn, Saizew, bedrückte und beunruhigte; mitunter war es ihm vorgekommen, als ginge ein Fädchen von ihm zu dem Zirkelleiter, und an diesem Fädchen müsste, wie an einem Draht entlang, Hilfe kommen. Aber die Antwort Jusows, die sonderbar mit den Worten Kraiskis übereinstimmte, zerriss diesen Faden und verwirrte Saizew, und jetzt, wo die Blätter mit den Ziffern und Zeichnungen vor ihm lagen, überkamen ihn Erbitterung und Zorn. Kraiski hatte sein Projekt abgelehnt. Nun gut — mag er... Er wird sein Projekt noch einmal einreichen und wird schließlich doch ans Ziel gelangen. Ein paar Nächte schon hatte er über seinen Plänen zugebracht. Heute muss die Arbeit fertig werden Und sie wird fertig. Und er wird sein Ziel erreichen.
Gestern, auf der Sitzung der KSI, war er nicht imstande gewesen, die entstandenen Zweifel gleich mit der nötigen Klarheit zu zerstreuen, und am liebsten hätte er Kraiski den Bleistift, mit dem ihm dieser seine Berechnungen und Pläne durchgestrichen hatte, aus der Hand gerissen und zerbrochen.
Seufzend über diese neue Erniedrigung, ging Saizew im Zimmer auf und ab.
Die Dielenbretter knarrten unter seinen Füßen, auf dem Tisch tanzte klirrend ein Glas auf der Untertasse hin und her.
„Leg dich schlafen, Mitja... Es ist schon spät", ließ sich die mitleidige Stimme Nastjas vernehmen. „Das Grübeln wird dich noch krank machen. Leg dich hin, sonst verschläfst du morgen die Zeit..."
Saizew blickte schweigend auf den Haufen eng beschriebener Blätter und fühlte, wie Energie und Festigkeit in ihm wuchsen. Die Hand, die den Bleistift fest umklammert hielt, legte sich auf das Papier und zeichnete eine neue Linie, die die alte Zeichnung durchquerte. Erregt, mit verhaltenem Atem, vertiefte er sich von neuem in die Zeichnung und bemerkte plötzlich, dass die feste und energische Linie, die die Arbeit vieler Tage vernichtete, gleichzeitig etwas Neues und ganz Unerwartetes in den Entwurf hineinbrachte.
Noch einmal fuhr der Bleistift über das Papier. Saizews Augenbrauen zogen noch höhere Bogen. Er traute seinen Augen nicht und prüfte die Zeichnung wohl ein dutzendmal. Nein, kein Zweifel war möglich: er hatte die Lösung gefunden.
Er seufzte erleichtert auf. Zufrieden erhob er sich vom Stuhl und reckte den schweren, ein klein wenig gebückten Körper.
„Nun schlafen... Das andere morgen... Nun wollen wir mal sehen, Genosse Kraiski!"
Als er im Bett lag, besann er sich auf Nastja; die Wärme ihres Körpers verspürend, umarmte er sie, während seine Gedanken weiter um die Zeichnung kreisten...
Laut heulend verscheucht die dreistimmige Sirene den Schlaf und treibt die Menschen aus den Betten an die Arbeit, mahnt sie zur Eile.
Nastja bindet sorgfältig Brot und Speck in ein rotes Tüchlein. Aus Saizews Tasche ragt eine Flasche Milch. Er bindet die Rolle beschriebener Blätter fest mit einem Bindfaden zusammen und steckt sie in den Gürtel. Bald füllt ein dichter Menschenstrom die Straßen. Die Erde dröhnt unter den Schritten der tausendköpfigen Morgenschicht.
„Olga!" schreit Saizew nach oben in das* eiserne Dachgebinde hinauf. Als Antwort stöhnt der Kran, der gerade einen Radsatz heranschleppt. Saizew nickt Olga scherzend zu, und sie lacht auf, klirrt mit den Ketten. Er bringt die Lokomotivachse auf der Drehbank in die richtige Lage, stellt den Support ein und reißt den Hebel herum. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass der Drehstahl gut arbeitet, hört Saizew freudig auf das gleichmäßige Surren der Maschine und beobachtet, wie die Stahlspäne unaufhörlich in Spiralen hinunterrinnen... „Semjonytsch!"
Saizew blickte sich um. Mochow sah ihn über die Brille hinweg an und lachte. Er schien irgend etwas Interessantes zu wissen, und Saizew trat einen Schritt näher an ihn heran, von dem spöttischen Lächeln des Nachbarn angezogen.
„Hast du schon gelesen? Hier, lies mal, Semjonytsch." Und der Dreher steckte ihm eine Zeitung in die Hand und machte sich dann mit seinem Schraubenschlüssel zu schaffen.
Es lag irgend etwas Besonderes in seinem schlauen Lächeln.
„Was steht denn da?"
Mochow wischte sich die öligen Finger an einem Bündel Werg ab und schaute ihn immer mit demselben geheimnisvollen Spott an.
„Na, was hast du denn? Heraus mit der Sprache, wenn du schon mal angefangen hast, Mochow!"
„Auf der dritten Seite ganz unten — lies selbst...", sagte er gedehnt, und während Saizew die Zeitung auseinanderfaltete, ließ er seine prüfenden Blicke nicht von dessen Gesicht.
Saizew überflog die Zeilen:
„Das Land, das den Sozialismus aufbaut, braucht Lokomotiven, wir aber haben nur 75 Prozent unseres Programms erfüllt...
... Der Prozentsatz des Ausschusses wächst beängstigend...
... Und ich frage: wo sind eure Versprechungen in bezug auf Teewasser?"
sagte der Arbeiterkorrespondent „Dyschlo" zornig... „Aha, hier!"
„Morgen findet eine Sitzung der KSI statt... Ingenieur Kraiski wird über eine von ihm erfundene Vorrichtung zum Schutz des Supports gegen Verschmutzung berichten. Durch die Anwendung dieser Erfindung wird die Fabrik jährlich Ersparnisse von..."
Die Zahl verschwamm vor Saizews Augen, er rieb sie mit der Hand, aber seine Maschine und überhaupt die ganze Abteilung
drehten sich in einem Nebel um ihn herum. Durch den Nebel sah er das grinsende Gesicht Mochows, der seine alten, schwarz gewordenen Zähne fletschte.
Da fielen Saizews Blicke auf die Drehbank. Mit vor Wut und Schrecken entstelltem Gesicht warf er den Hebel herum, die Maschine erbebte und stand still. Ohne genau nachzusehen, wusste er, dass er den Radsatz verdorben hatte.
Einige Sekunden lang stand er wie erstarrt da und blickte die verdorbene Lokomotivachse an, dann raffte er sich auf und rannte aus der Werkstatt.
Mochow trat an die Maschine Saizews, betrachtete den Radsatz, schüttelte den Kopf und spuckte aus. Dann bückte er sich, nahm die Zeitung von der Erde auf, strich sie glatt und steckte sie sorgfältig in die Seitentasche seiner Arbeitsbluse.
Die Dreherei arbeitete ununterbrochen fort: Drehstähle und Fräser nagten ruhig den Stahl, das Seifenwasser, das ihre heiß gewordenen Zähne kühlte, rieselte langsam weiter, die klatschenden Riemen jagten die Scheiben schleifend.
An der Schranktür bei Saizews Maschine hängt seine Jacke. Aus der weiten Tasche schaut die Milchflasche hervor; oben am Nagel hängt das rote Bündel, die Enden wie Kaninchenohren in die Höhe gereckt.
Olga steckt den Kopf zur Kabine des Krans heraus, schaut hinunter und mustert erstaunt die schweigende Drehbank.
Saizew legte den anderthalb Kilometer langen Weg von der Fabrik nach Hause laufend zurück und taumelte, im Zimmer angelangt, aufs Bett.
Das schweißnasse Hemd war eiskalt, aber Saizew, der unbeweglich und mit geschlossenen Augen dalag, merkte es nicht. Nastja kam herein, und als sie ihren Mann zu dieser ungewohnten Zeit auf dem Bett liegen sah, erschrak sie:
„Was ist passiert, Mitja? Bist du krank?"
Saizew antwortete nicht, sondern presste die weißgewordenen Lippen noch fester aufeinander. Nastja neigte sich über ihn
— war er etwa betrunken? Saizew trank gern, aber in diesem Augenblick roch er nicht nach Wodka, und Nastja schämte sich ihres Verdachts.
„Warum antwortest du denn nicht, Mitja? Soll ich vielleicht den Doktor holen? Ich werde gleich gehen..."
„Nicht nötig", brachte Saizew mit Anstrengung hervor.
So lag er bis zum Mittagessen; er aß aber nichts, rauchte nur ununterbrochen und trank Wasser, als wollte er den Brand löschen, der in seinem Herzen loderte.
So kam der Abend. Von der Straße her tönte Lachen und lautes Gespräch. Im Hause gegenüber schrie das Radio. Eine vorwurfsvolle Frauenstimme zeterte vor dem Fenster:
„Du alter Pfropfen du! Es ist eine wahre Qual mit dir!... Geh doch endlich nach Hause, schlaf dich aus! Wie du bloß aussiehst! Mach, dass du nach Hause kommst, du alter Pfropfen du!"
Als Antwort erklang ein Brummen, als ob irgendein gutmütiger Hund vor dem Fenster säße und knurrte.
„Lüge nicht... Was für ein Pfropfen? Ich weiß es ganz genau... Ich bin der Dreher Mochow, siebente Tarifstufe, und ich habe einen Sohn... Saschka... Und ich sitze hier... weil hier im Hause ein kranker Genosse liegt... Man muss Mitgefühl mit ihm haben... Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!... Und du... du hast einen alten Pfropfen gefunden und stößt ihn mir auf die Nase!"
Saizew lag mit offenen Augen in der Dunkelheit. Er fühlte im ganzen Körper eine unüberwindliche Schwere; nur mühsam konnte er den Hals bewegen, seine Beine waren geschwollen und sein ganzer Körper mit einer Gänsehaut überzogen, die ihn kitzelte. Sein Gehirn arbeitete angestrengt. Saizew suchte einen Ausweg: er musste seine Erfindung verteidigen. Er war fest überzeugt von der Richtigkeit seiner Berechnungen — nicht umsonst hatte er die Nächte hindurch dagesessen, den Bleistift in der Hand, von Arbeitsfreude hingerissen. Oft stand er dem Gewebe seiner Gedanken selbst ratlos gegenüber, dann blätterte er in dem Physik- und Trigonometrielehrbuch seines Sohns, der Student war; aber die kurzen, gedrängten Formeln waren ihm unverständlich und sagten ihm nichts. Dann warf er die Bücher ungeduldig in die Ecke und grübelte stundenlang weiter.
Schließlich schien er gesiegt zu haben. Die Unwiderlegbarkeit seiner Berechnungen wurde durch die festen, sicheren Linien seiner Zeichnungen und durch die Zahlenreihe bewiesen, die all die Erfahrungen in sich schloss, die er im Laufe einer langjährigen Praxis gesammelt hatte. Gestern hatte er, an Nastja gedrückt, fest und traumlos geschlafen, wie ein Kind. Und heute — war er besiegt, schändlich, tödlich besiegt...
Als er heute die Werkstatt verlassen hatte, war er zuerst in das Büro des Betriebsrats hineingestürmt. Der Vorsitzende des Betriebsrats, Teleshkin, der über einen Haufen Papiere gebeugt dasaß, hatte mit gerunzelten Brauen gefragt:
„Was gibt's?"
„Ich will den Betriebsrat bitten, sich meiner Sache anzunehmen. Der Ingenieur Kraiski hat sich widerrechtlich meine Erfindung angeeignet."
Teleshkin riss die Augen von seinen Papieren los und blickte Saizew verwundert an.
„Drück' dich ein wenig vorsichtiger aus, Genosse. Wir kennen Kraiski... er leistet viel gesellschaftliche Arbeit, hält Vorträge in den Gewerkschaftskursen."
„Er ist ein Dieb!" Saizews Stimme zitterte vor Hass und Entrüstung. „Und ihr deckt solche Betrüger noch!?"
Teleshkin stand auf. Mit einer Stimme, die sich vor Aufregung überschlug, schrie er:
„Wer deckt Betrüger? Der Betriebsrat?! Wie kannst du es wagen, solche Sachen zu behaupten?"
Einige Arbeiter betraten das Zimmer, und Teleshkin mäßigte seine Stimme.
„Wir werden die Sache untersuchen ,. . Wie heißt du? Und aus welcher Abteilung?"
„Das ist Saizew. Aus der Dreherei", sagte einer der Hinzugekommenen diensteifrig.
„Saizew... aus der Räderwerkstatt? Sie haben angerufen von dort. Du bist das also? Du hast soeben einen Radsatz verdorben und hast mitten in der Arbeitszeit alles stehen und liegen lassen?"
Saizew schwieg mit zuckenden Lippen.
„Du beschuldigst hier andere, bist aber, wie man sieht, selbst ein lockerer Vogel... Was willst du für ein Erfindet sein, zum Donnerwetter, wenn du dich so benimmst, dass man dich aus der Fabrik wegjagen müsste? Und wer soll deine Erfindung gestohlen haben? Was phantasierst du da? Was hattest du für ,Schürzen' vorgeschlagen? Blechschürzen! Und die taugen nichts! Kraiski aber bringt ganz andre in Vorschlag, aus Zeltstoff, mit Leisten."
„Ich habe aber doch zuerst die Idee von den Schürzen ausgesprochen?!"
„Ausgesprochen... Und der Ingenieur hat's gemacht", schloss Teleshkin die Unterredung.
Gedrückt, mit dem Gefühl einer großen Leere im Kopf, lief Saizew nach Hause. Seine ganze Arbeit, alle seine Bemühungen brauchte also die Fabrik nicht? Es gibt also Leute, die stärker sind als er, und Hindernisse, die schwieriger sind als die Formeln im Lehrbuch für Trigonometrie! Nun gut — seine Schürzen waren noch nicht ganz richtig, aber die Idee — die Idee war doch von ihm, Saizew! Kraiski hatte doch früher überhaupt nicht daran gedacht!
Er fühlte sich schwach und wie ausgepumpt; er hatte nicht den Wunsch, irgend wohin zu gehen, mit irgend jemand zu sprechen. Wo sollte er auch hingehen?
Saizew stellte sich vor, wie er in die Zelle kommt, um sich über Kraiski zu beklagen, und der Sekretär holt eine Schürze aus Zeltstoff mit Leisten hervor und zeigt sie ihm:
„Ist das deine? Hast du sie gemacht??"
„Nein."
„Also, was willst du denn eigentlich?"
Saizew fühlte, dass er in eine Sackgasse geraten war, aus der es keinen Ausweg gab; aber bei diesem Gedanken schlug sein Herz nur noch rascher vor ohnmächtiger Wut. Kraiski hatte seine Idee gestohlen... Wie aber sollte er, Saizew, den anderen beweisen, dass es seine Idee war, seine ganz allein? Wenn er seine Blechschürze vorzeigen würde, so würde er damit nur beweisen, dass er nicht imstande war, seinen Gedanken auszuführen, und alle würden zu der Überzeugung gelangen, dass die „Schutzvorrichtung zur Vermeidung der Verschmutzung des Supports" allein von Kraiski herrühre und von sonst niemand. Ja — den Beweis dafür, dass die Idee sein Eigentum war, konnte er nicht erbringen. Also musste er so handeln, dass die Leute fühlten, dass er im Recht war...
Und er empfand nur den einen Wunsch: so liegen zu bleiben, unbeweglich Tage und Nächte hindurch, damit er nichts hören und sehen brauchte, was ihn an seine Niederlage erinnerte.
„... Du alter Propfen du... Ist das ein Weib, eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen... Du verstehst aber gar nichts... Da ist der Saschka, mein Saschka anders! Den muss ich loben! Ein Schlaukopf ist er, der Lausejunge... Bloß eins sage ich dir, Saschka... gehorche, sonst schlag' ich dich tot!"
Die Worte kamen immer leiser, undeutlicher und abgerissen, man merkte, dass Mochow allmählich vom Schlaf überwältigt wurde.
„Pa—a—p, Papa... komm nach Hause, sonst wirst du morgen die Zeit verschlafen und kommst zu spät zur Arbeit."
„Sascha... du bist's, mein Söhnchen? Du hast recht, ich werde die Zeit verschlafen... Aber das darf ich nicht, mein Junge..."
Die Stimmen klangen immer ferner, wurden immer leiser und verhallten schließlich ganz. Eine quälende Stille trat ein.
Saizew schloss erschöpft die Augen, sofort sah er einen dicken, kurzbeinigen Menschen vor sich. Der sah ihn lächelnd an und raschelte mit bläulichem Zeichenpapier, und sein Lächeln war so unerträglich und furchtbar, dass Saizew aufschrie und erwachte.
Schwarze Schwüle lastete auf seiner Brust und würgte in seiner Kehle. Ja... Saizew und Kraiski. Wer von beiden wird den andern besiegen? Sein Herz schlug schneller und schneller. Die ganze Welt um ihn herum versank — er fühlte nur noch Kraiski und seinen riesigen bleischweren Körper.
3
Wuterfüllt und aufgeregt verließ Wekschin die Werkstatt. Noch keiner hatte es bis jetzt gewagt, ihn in Gegenwart von Zeugen zu beleidigen, jeder fürchtete seine giftige Zunge — aber heute, da hatte ihn einer vor der ganzen Abteilung Faulpelz und Bummelant genannt. Jawohl, Bummelant! Und wenn schon? Schließlich darf man ja auch einmal ausruhen! Die Jugend würde sowieso bald vorüber sein. „Einer mit Bildung..." Und was hatte ihm die Schule schon gegeben? Sie hatte nur den Wissensdurst in ihm geweckt, den Drang nach etwas Besserem, etwas Großem, Interessantem. Und alles das machte die Unzufriedenheit mit dem Leben, das ihn nicht befriedigte, nur noch stärker.
Bei dem Andrjuschetschkin zum Beispiel ist das ganz etwas anderes: der wünscht sich nichts weiter, der ist zufrieden mit dem, was ihm die Fabrik gibt; der ist imstande, sein ganzes Leben so hinzubringen und endlose Arbeiten zu übernehmen; der vergisst sogar seine Frau über der Arbeit und hat nichts dagegen, sie für die Rote-Hilfe-Zelle einzutauschen... Hübsches Weib, die Maria Sergejewna... Ob er nicht doch mal versucht, sie dem Kerl abspenstig zu machen? Das wäre doch mal eine Sache... Zitternd vor hämischer Schadenfreude beschleunigte er die Schritte.
Es ist Sonnabend heute. Ob man ins Kino geht? Aber Wekschin hat soeben, als er am Kino vorbeiging, eine lange Schlange vor der Kasse stehen sehen. Nein — schade um die Zeit. Rechts, hinter dem Lichtspieltheater, erheben sich die weißen Mauern des „Kulturpalastes", die noch von hohen Brettergerüsten umkleidet sind. Wie kleine schwarze Ameisen klettern die Maurer auf dem Gerüst hin und her. Sergej denkt erfreut: „Zum Herbst wird er fertig sein!" Aber wo soll er jetzt hin? Vielleicht Fußball spielen? Da fällt ihm ein, dass das Stadion kürzlich verlegt worden ist, auf einen Platz zwei Kilometer außerhalb der Stadt; da, wo es früher war, hat die Fabrikdirektion ihre Holzlager eingerichtet. Ach, das wäre fein, jetzt so mit einem Stoß einen Ball durch das Tor des Gegners zu jagen, unter dem schallenden Beifall der Zuschauer! Sergej fühlte den starken Wunsch, sich Bewegung zu machen, die Muskeln anzuspannen, zu ringen, irgend jemand zu besiegen und das Bewusstsein seines körperlichen Übergewichts zu genießen.
Vielleicht konnte er mit Freunden in den Wald gehen, eine Flasche Wodka leeren und eine bisschen Unsinn machen?
Walja wartet gewiss. Sollte er zu ihr gehen oder nicht? „Also: wenn vor dem Haustor jemand sitzt, dann geh' ich zu ihr..." Sergej ist fest davon überzeugt, dass niemand vor der Haustür sitzen würde. Aber plötzlich sieht er schon von weitem, dass es doch der Fall war.
Wer konnte das sein?
Ein Mensch saß auf dem Geländer, den Kopf über ein Buch gebeugt. Sein Gesicht war nicht zu sehen, nur die dichten Haare schienen Sergej irgendwie bekannt.
„Senka! Du bist's?"
„Jawohl, ich! Ich hab' dich gar nicht kommen sehen... Guten Tag!"
Senka musterte Sergej mit kleinen, blinzelnden Augen und lächelte.
„Du bist ja ein richtiger Arbeiter — riechst schon von weitem nach der Fabrik. Mensch, was bist du schmierig!"
Platow fuhr mit dem Finger über das rußgeschwärzte Gesicht Sergejs und wischte die Hand an seiner Bluse ab.
„Und du bist so blitzsauber, als ob du dein Lebtag keine Fabrik gesehen hättest. Du hast jedenfalls schon vergessen, wie man ein Rad formt, was? Na, komm mal ins Zimmer, Genosse ,Ingenieur'... Erzähl' uns Ungebildeten und Schmutzigen etwas von deinem kultivierten Leben."
Unangenehm berührt von dem feindseligen Ton Sergejs hörte Senka auf zu lächeln und folgte ihm ins Haus.
Ohne sich zu waschen, setzte sich Sergej an den Tisch.
„So setzt du dich zu Tisch? Wasch dir doch wenigstens die Hände... " bemerkte Platow.
Sergej klapperte gereizt mit dem Löffel.
„Ich will fressen... hungrig bin ich, wie ein Wolf. Wenn man sich müde geschuftet hat, da denkt man nicht an Sauberkeit, da will man sich satt fressen ... "
Er ergriff mit den schmutzigen Händen demonstrativ das Brot und schnitt Scheiben davon ab. Platow sah verwundert sein böses verzerrtes Gesicht und die absichtlich groben Bewegungen, aber er verstand immer noch nicht den Sinn dieses ganzen Benehmens. Sergejs Mutter brachte mit gesenkten Augen Geschirr und Essen herein und deckte mit geübten, geschickten Bewegungen den Tisch.
„Nun, wie steht's in der Fabrik?" fragte Platow, bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„So, dass wir unsern Lohn nicht gekriegt haben. So ist's immer: Plakate, Aufrufe, Vorträge... aber wenn's heißt, Lohn auszahlen, dann ist kein Geld da. Der reine Hohn!... Dabei bekommt man nichts weiter zu hören, wie ,Bummelant', ,Faulenzer'! Bin ich vielleicht 'ne Maschine? Schließlich will ich ja auch wie ein Mensch leben. Oder dürfen das bloß die Ingenieure und wir Arbeiter nicht? Für die Arbeiter wird nur mit Worten gesorgt, in Wirklichkeit aber — prost Mahlzeit! Nur Brot sollen sie fressen, und auch das gibt's nicht einmal genug!..."
Sergej sprach abgerissen und böse, dabei stopfte er sich hastig den Mund mit Bratkartoffeln voll.
„Aber das Schlimmste ist, dass unter uns Arbeitern selbst Leute sind, die unsre Interessen verraten. Kriecher, Streber, Karrieristen! Besinnst du dich auf den Andrjuschetschkin?"
„So ein Plumper, mit dickem Kopf?"
„Ja, der! Den solltest du jetzt mal sehen! A—k—t—i—vist ist er geworden! Der hält solche Moralpredigten in der Abteilung, dass einem schlecht werden kann."
„Na, den kennt man ja, den Quengler! Er ist nie zufrieden, dabei weiß er selbst nicht, was er will."
„Von den Alten halte ich mehr!... Nimm zum Beispiel den Antonytsch Borezki. Der versteht was, mein Lieber", rief Sergej begeistert. „Der wird auch vor niemandem kriechen. Weißt du was, Senka, komm heute auch mit mir zu ihm... Wirst auch die Walja sehn, vielleicht organisieren wir einen kleinen Bummel, was?"
Platow widersprach nicht, da er sah, dass sich Wekschins Augen belebten.
Nach dem Mittagessen rasierten sie sich und begaben sich — auch Sergej sauber gekleidet — zu Borezki.
„Walka! Der Ingenieur ist angekommen... Erlauben Sie, dass ich vorstelle ... " Sergej machte eine spöttische Verbeugung und schlug die Hacken zusammen.
„Oh, sieh mal, wie du dich verändert hast!... Ein ganz anderer Kerl bist du geworden!" bemerkte Walja und musterte Platow aufmerksam.
„Gleich wird er noch seine Hornbrille aufsetzen, dann sieht er vollständig wie ein amerikanischer Affe aus. Teufel — ich hasse diese Brillenschlangen!" Sergej schaltete das Radio ein — zuerst ein Zischen und Knarren, dann folgte eine schnelle Tonfolge auf einem Klavier, die mit einem lauten Akkord abschloss, und eine hohe Geigenstimme sang klagend ein bekanntes Motiv. Sergej warf schwärmerisch den Kopf zurück und sang mit vibrierender Tenorstimme:
„Du le—bst n—och, mein al—tes Mütterchen Auch ich, i—ich le—be, und i—ich denke dei—n. Mög' ü—ü—ber deinem kleinen Hü—ttenda—ach Erglänzen he—e—Her Abendschein."
Platow betrachtete die Fotografien an den Wand.
Auf einer alten, verblichenen Fotografie standen in zwei Reihen hintereinander dicke Werkmeister mit langen Bärten; in der Mitte des Bildes stand ein Mann mit einer Technikermütze, die rechte Hand lose zwischen die Uniformknöpfe seines Rocks gesteckt, während die behandschuhte Linke mit zwei Fingern eine Aktentasche hielt. In einer Ecke des Bildes stand die Jahreszahl 1904. Unter den Meistern erkannte Platow Antonytsch an seiner untersetzten Figur und an seiner Habichtnase.
„Weißt du, Senka", rief Wekschin, „dieses Motiv verfolgt mich geradezu. Sogar während der Arbeit summt es mir in den Ohren. Am liebsten würde ich es laut heraussingen! Wie viel Gefühl, wieviel Schwermut liegt in dieser Musik! Hör mal:
Sie schreiben m—i—r, dass du in heißen Schme—erzen dich nach m—i—ir sehnst, Voll Ku—mmer und voll Gra—am...
Ach, zum Teufel! Es greift einem direkt ans Herz! Man hat danach überhaupt keine Lust mehr, an das verfluchte Krachen und Poltern, an den Ruß, an das. Heulen der Sirene in der Fabrik zu denken!
Dass du im A—a—bendlicht trittst an die Pfo—o—orte
Platow zog eine Grimasse. Er wollte seine Hornbrille aufsetzen, um die Gesichter auf dem Bild genauer zu betrachten, aber die gehässige Bemerkung Sergejs über die „Brillenschlangen" kam ihm in den Sinn, und er ließ die Brille im Futteral stecken. Die kleinen Augen zusammenkneifend, sah er aufmerksam die Bilder an. Überall von den Wänden schauten ehrwürdige, bärtige Werkmeister auf ihn herab, Männer mit Technikermützen auf dem Kopfe, die sich in Gruppen, mit der Fabrik als Hintergrund oder neben einer Lokomotive oder im Fabrikkontor hatten fotografieren lassen. In dem Mann mit der Aktentasche erkannte er Akatujew, und ein Schatten zog über sein Gesicht. Aus den tremolierenden Klängen der Geige glaubte er eine bekannte Stimme herauszuhören. Aber Wera war ja in Moskau, und es lohnte nicht, die alten Dinge wieder hervorzukramen — alles war lange vorbei.
Platow ließ seine Augen im Zimmer umherschweifen — er suchte Spuren eines neuen Lebens... Ah, hier... das Radio. Aber was sollte das bedeuten — er sah verwundert an den Wimpern Sergejs Tränen hängen.
„Ach, Senka, ich kann nicht mehr... ich will mich betrinken, dass alles rund herum Kopf steht!... "
„Wir wollen in den Wald gehen, Senka! Wir nehmen den Papa mit, im Wald lagern wir uns, machen ein Feuerchen... Das wird fein!" Walja sprang freudig auf und eilte geschäftig hin und her, packte Geschirr, Essen, allerhand Flaschen usw. in einen Korb.
Es lag etwas Aufreizendes in der Ruhe dieses Hauses, in den Blumen vor den Fenstern, die dem Sonnenlicht den Eintritt wehrten, in den Fotografien, die hartnäckig längst vergangene Jahre festhielten; und Platow fühlte, dass die alte Welt aufs neue in sein Leben trat, die er fast vergessen hatte, die in den heißen, schweren Tagen seines Studiums im Lärm und in all dem Neuen der Moskauer Straßen versunken war.
Er war doch gern hierher zurückgekehrt, hatte sich darauf gefreut, seine alte Werkstatt, seine Freunde wieder zu sehen. Aber nun, da er Sergej und Walja ansah, da er die mit Fotografien und Ansichtskarten bedeckten Wände betrachtete, fühlte er sich hier überflüssig...
Die Jahre auf der Hochschule hatten Platow sehr verändert:
seine Beziehungen zu dem früheren Freundes- und Bekanntenkreis hatten sich gelockert, er bemerkte an den Menschen neue Züge, die er früher nicht gesehen hatte, die Welt gestaltete sich um, und neue, unerwartete Umrisse traten zutage. Und als er jetzt wieder mit den Menschen in Berührung kam, mit denen er Freud und Leid der Kinderjahre geteilt, mit denen er zusammen in der Fabrik gearbeitet hatte, — da hatte er das unbestimmte Gefühl einer Entfremdung.
Die Vergangenheit... Sie sah ihn aus den verblichenen Fotografien an der Wand an, tönte aus dem schmelzenden Gesang Sergejs, lag in dem Staub auf den Blättern der welken, verblichenen Geranientöpfe.
„Warum bist du so nachdenklich, Senka?" Walja setzte sich neben Platow und schlug kokett die Augen zu ihm auf.
Platow schüttelte seine Gedanken ab. Es sah die flinken blanken Augen Waljas vor sich, die ihn durchdringend musterten, und die beweglichen Nüstern ihres drolligen Stupsnäschens. „Ich bin wohl müde von der Reise... Und du, Walja, bringst du immer noch die jungen Burschen um den Verstand?" lächelte Platow.
Walja schüttelte ihre kupferroten Haare, dass sie aufflammten wie eine Feuergarbe.
„Ich bringe sie nicht um den Verstand, Senja, sie verlieren ihn von selber! Was kann ich dafür?" Sie lachte mit dem ganzen Körper: die Augen funkelten übermütig, das Näschen hüpfte vergnügt, ihr ganzer Körper, schlank und geschmeidig wie der einer Katze, erzitterte, und die Beine, die in glänzenden rosa Seidenstrümpfen steckten, tanzten umher, wobei sie Platows Füße berührten. Herausfordernd blinzelte sie mit den Augen, als wollte sie sagen: Na, dich soll ich wohl auch um den Verstand bringen?!"
Walja, die voller Mutwillen und Lebensfreude war und Platow neugierig zu prüfen schien, gefiel ihm. Er fühlte sich von der Fröhlichkeit, die sie ausströmte, angesteckt und wurde heiterer, und schließlich lachten beide laut und erinnerten sich aller ihrer Streiche während langer abendlicher Spaziergänge. Sie unterhielten sich sehr vergnügt, und Walja übertönte das Radio mit ihrem hellen, sorglosen Lachen. Sergej blickte ununterbrochen finster zu ihnen hinüber und knüllte wütend seine Mütze zusammen.
Da trat Antonytsch ins Zimmer. Er drückte kräftig Platows dargebotene Rechte, musterte ihn zufrieden von Kopf bis Fuß und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter.
„So, so... Willst uns alte Leute nun wohl aus dem Feld schlagen, was? Ja, ja, wird Zeit, dass wir uns pensionieren lassen... Aber immerhin — sowie es sich um irgend etwas Ernstes handelt, kommt ihr doch zu uns... Die Gedärme sind noch zu dünn bei euch Jungen..." Antonytsch zerrte an seinem Schal, und das Blut strömte in das trockene Gesicht mit den dicken, hervortretenden Adern — man wusste nicht, geschah das, weil er den Schal so zusammenzog oder vor innerer Erregung.
Platow hörte aus der Begrüßung Antonytschs denselben Ton heraus wie aus den giftigen Worten Sergejs, und zurückhaltend bemerkte er:
„Ihr empfangt mich ja, als ob ich wirklich ein absonderliches Tier wäre. Dabei haben wir doch jahrelang miteinander die Formen gestampft. Der einzige Unterschied ist, dass ich eben mein Gehirn etwas in Ordnung gebracht habe, sonst bin ich ja doch der gleiche Senka Platow", und mit einer altgewohnten Bewegung strich er die Hosen glatt.
„Der gleiche und doch nicht der gleiche... Du wirst ja jetzt deine fünfhundert Rubel einhamstern und mit den Spezialisten an einem Strang ziehen... Wir kennen euch ja!" Und Sergej zog wütend den Stecker heraus, so dass das Radio plötzlich verstummte.
„Na los, gehen wir!" unterbrach ihn Antonytsch. „Jahrelang habt ihr euch nicht gesehen, und gleich geht's los! Diese Jugend! Also marsch!"
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch die Kiefern und färbten die Stämme blutigrot. Sie ließen sich auf einem trockenen, sandigen Abhang in der Nähe des Eisenbahndamms nieder. Walja breitete ein Handtuch aus und begann die Essvorräte hervorzuholen. Antonytsch rieb sich mit der Handfläche ächzend die kurzen Bartstoppeln und holte eine Flasche aus der Tasche.
„Das ist fein, Antonytsch!" rief Sergej erfreut. „Na, Senka, woll'n wir eins auf dein Wohl, auf dein neues Leben trinken!" krächzte Antonytsch versöhnt. Sie stießen an.
„Für welchen Posten hat man dich denn hierher in die Fabrik geschickt?" erkundigte sich Antonytsch, während er das Glas dem Munde näherte.
„In eure Abteilung... Als stellvertretender Leiter." „Als stellvertretender Leiter? In die Martinabteilung?"... Antonytsch hatte sich verschluckt und spuckte hustend aus. „So, so... Also direkt mein Vorgesetzter! Das ist eine Nummer! Das sind ja schöne Zeiten!" Er wurde dunkelrot im Gesicht, wandte sich ab und schwieg. Zwischen den Kiefern flogen zirpend bunte Meisen. Sergej, dem der Alkohol schon zu Kopf gestiegen war, wälzte sich singend im Gras:
„An einem regnerischen S--a—a—msta—ag... " flötete er im höchsten Tenor.
Walja blickte verträumt zum Himmel auf, über den rosige Abendwolken zogen. Aus dem Wald tauchte auf einmal Mochow auf, umringt von seiner Familie. Man hörte schon von weitem, wie er gute Lehren an seine Kinder austeilte, die müde und verschlafen neben ihm herzottelten.
„Pionier bist du, Saschka... Gut — ich hab' nichts dagegen. Bind' meinetwegen das rote Halstuch um — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!... Ich sehe, es ist nicht zum Schaden, sozusagen bringt es sogar Nutzen. Bloß eins sag' ich dir, Saschka... Saschka... — hörst du zu? Deinem Vater musst du gehorchen... unbedingt! Eine Schraube soll dir aus dem Mund... "
Saschka stolperte vor Müdigkeit. Sein rotes Pionierhalstuch war zur Seite gerutscht; zierliche Haselnusszweige wiegten sich rhythmisch über seinen Schultern, als wollten sie den müden kleinen Körper zur Erde niederdrücken.
„Saschka! Saschka! Gehorche deinem Vater, ohne Widerrede. Sasch — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Du musst wissen, auf welcher Lebensstufe du stehst, und . . , keinen Widerspruch! Hörst du?"
„So ist's richtig! Das sind weise Worte!" krächzte Antonytsch.
Alle schwiegen.
Plötzlich kam noch ein Mann aus dem Gebüsch. Mit den Händen herumfuchtelnd, blieb er auf der Lichtung stehen. Er war von kleinem Wuchs und mager, sein gelbes Gesicht erinnerte an einen überreifen, wurmstichigen Apfel.
Der Mann sah zum Himmel empor und knöpfte die Hosen ab.
Walja wandte sich errötend ab; Sergej schrie:
„He! Sharow! Du kannst wohl keinen besseren Platz finden! Geh weiter weg, in die Büsche..."
Sharow wandte sich auf den Anruf hin nach ihnen um, knöpfte ruhig die Hosen wieder an und trat schwankend näher. Die zerrissenen Hosen rutschten beinahe von seinem mageren Körper, durch die Löcher sah man die blasse Haut. Sein rosa Hemd war schmutzig und so durchlöchert, dass der spitze, knochige Ellbogen herausragte und das Loch in dem morschen Kattun immer weiter aufriss. Die brauenlosen, sozusagen nackten Augen schauten trübselig drein.
„Gebt einem verbitterten Menschen einen Schluck zu trinken!"
Borezki reichte ihm die Flasche, in der noch etwas Wodka war.
„Hier, Sharow, trink, und scher' dich."
Sharow nahm die Flasche und stülpte sie in den Mund, den er so weit aufriss, dass sie beinahe bis zu dem grünen Etikett darin verschwand.
„Zu wenig! Ich bin furchtbar zornig, Brüder! Ich werde heute noch einem den Garaus machen ,.. Weil mir das Herz übervoll ist!" Er stieß einen trüben Seufzer aus und verschwand im Gebüsch.
In einem gewissen Abstand nebeneinander hergehend, erschienen Andrjuschetschkin und Marussja auf der Waldwiese.
„Grischa! Du Aufwiegler! Komm her zu uns!" Sergej winkte den beiden mit seiner Mütze zu.
Andrjuschetschkin sah von weitem den Korb mit den Ess-vorräten und die herumliegenden Flaschen und beschleunigte seine Schritte.
„Es ist schon spät — Zeit, nach Hause zu gehen." Er warf einen Blick auf Marussja und merkte, dass sie ärgerlich die Brauen runzelte.
„Na komm doch, trink ein Glas mit", sagte Sergej überredend; er war zu Andrjuschetschkin herangetreten und versuchte, ihn am Ärmel zu der kleinen Gesellschaft hinüberzuziehen. „Komm! Maria Sergejewna, leisten Sie uns Gesellschaft."
„Lass mich, Sergej", wehrte Andrjuschetschkin. „Du weißt ja, ich trinke überhaupt nicht..."
„Jeder Mensch muss trinken. Muss trinken!" schrie Sharow, aus den Büschen hervortretend.
„Du willst nicht trinken?" Sharow näherte sich schnell Andrjuschetschkin, wobei er Marussja anrempelte und sie mit stinkendem Speichel bespritzte.
Aufmerksam musterte Andrjuschetschkin Sharow, seine traurig herabhängenden Mundwinkel, und schwieg.
„Was stierst du denn so, Grischa! Er rempelt mich an, und du stehst dabei und guckst ruhig zu!" sprudelte Marussja aufgeregt hervor.
„Genosse! Du bist sinnlos betrunken. Geh nach Hause.
Remple die Menschen nicht an! Benimm dich nicht wie ein Strolch!" sagte Andrjuschetschkin ruhig und überredend.
„Ich bin nicht von Wodka betrunken! Von Kummer! Ich bin ein armer, nackter Mensch! Mein ganzes Leben ist nackt und arm. Ein elendes, vernichtetes Leben! Ich bin leer in meinem Innern! Ich verwese... Und du nennst mich einen Strolch! Warum denn?" Er schwankte, und da er das Gleichgewicht zu verlieren drohte, griff er wieder nach Marussja, um sich an ihr festzuhalten.
Marussja sprang mit einem Aufschrei zur Seite. Sharow verlor das Gleichgewicht und schlug lang hin.
„Genosse! Pass auf! Lass die Rüpeleien!" sagte Andrjuschetschkin warnend.
Sharow stand schnell auf und zog ein schartiges Messer. Andrjuschetschkin trat rasch beiseite, und Sharow fiel wieder hin. Sergej sprang wie eine Katze hinzu und drückte ihn zur Erde nieder, wobei er ihm das Messer entwand. Borezki und Walja liefen ebenfalls an die Stelle, wo die beiden miteinander rangen.
Sergej fing einen sekundenlangen dankbaren Blick Marussjas auf und presste rachsüchtig Sharows Kehle zusammen. Sharow entwand sich seiner Umschlingung, drehte sich mit einem Ruck um und biss ihn in die Hand. Da rannte ihm Sergej, rasend vor Wut, das Messer in die Seite.
Sharow stieß einen wilden, tierischen Schrei aus. Er sprang auf und lief davon, fast verlor er dabei die zerrissenen Hosen. Der Wald hallte wider von seinem wilden Gebrüll:
„Au! Au! Man hat mich erstochen! Zu H—i—i—lfe!"
„Was hast du angerichtet?" Blass und zitternd stand Andrjuschetschkin vor Sergej.
Ruhig betrachtete Sergej das blutige Messer und warf es dann ins Gebüsch.
„Damit er sobald keine Frau wieder belästigt. Du bist schlimmer als ein Weib, Andrjuschetschkin... Kommst da mit deiner Agitation... ,Genosse Sharow! Benehmen Sie sich anständig!' Eine richtige Memme! Kannst nicht mal deine eigene Frau beschützen."
Marussja umfasste die Gestalt Sergejs mit einem langen Blick; ihr Mann schien ihr neben ihm klein und unscheinbar. Walja, die der ganze Vorgang sehr erregt hatte, kniff die Augen zusammen und drückte sich an Platow.
Den Vorfall lebhaft erörternd, machten sich alle auf den Heimweg. Platow ging schweigend voran. Er hatte alles, was sich auf der Wiese so überraschend abgespielt hatte, als Unbeteiligter beobachtet. Als er das Messer in Sharows Hand blinken sah, war er aufgesprungen um hinzuzulaufen, hatte aber sofort wieder Halt gemacht. Vor seinen Augen erschienen Bilder aus der Vergangenheit, die er schon für ganz entrückt gehalten hatte. Raufereien, Blut. Damals hatte er sich, ohne viel nachzudenken, in die wildeste Rauferei gestürzt, den Raufbolden das Messer aus der Hand gewunden. Heute aber würde ein Gerücht durch die ganze Fabrik gehen: „Der rote Ingenieur Platow hat mit Wekschin zusammen Sharow erstochen"... Er war zu seinem Platz unter der Kiefer zurückgekehrt und hatte sich matt wieder aufs Gras gesetzt.
Platow fühlte jetzt einen schweren, vorwurfsvollen Blick auf sich. Sergej schimpfte empört:
„Fauler Intellektueller! Hat Angst, sich die Hände schmutzig zu machen..."
Platow hörte aus diesen Schimpfereien einen gerechten Vorwurf. Er schaute zu Marussja hinüber, die angeregt und vergnügt ausschritt, und er schämte sich seiner Handlungsweise. Von irgendwoher kamen die Klänge einer Harmonika, zu der jemand ausgelassen Tschastuschki (Anm.: vierzeilige Stegreimverse) sang; der Wald antwortete mit lautem Echo. An der Biegung des Schienenstrangs tauchte ein Zug auf, der mit seinem lauten Rattern die Klänge der Harmonika, den Gesang und das Zwitschern der Meisen übertönte.
4
Ingenieur Kraiski kam aus der Abteilung zurück und warf mit einer müden Bewegung seine Mütze auf den Tisch. Es war schwül. Zum offenen Fenster drang der widerliche Geruch verbrennender Kohle herein. Kraiski knöpfte den Kragen seiner Bluse auf und machte die fleischige Brust frei, die mit dichten schwarzen Haaren bewachsen war. Der scharfe, heiße Dunst, den sein Körper ausströmte, erinnerte an die Fabrikbadeanstalt, und Kraiski rümpfte voller Ekel die Nase.
Das Telefon klingelte. Matt hob Kraiski den Hörer ab.
„Ja. Das Befinden Andrej Nikolajewitschs? Unverändert. Und für mich allein ist es zuviel, Benjamin Pawlowitsch — ich habe Ihnen das schon oft genug gesagt. — Nein, nein! Ich werde schon irgendwie allein fertig werden, danke. Wie? Ist angekommen? Interessant!" Kraiski stand vom Stuhl auf. „Interessant, sehr interessant!"
Sein herabhängender Schnurrbart bewegte sich unruhig hin und her — Kraiski erinnerte mit seinem dicken kurzen Körper und den herabhängenden Bartenden an ein in Aufregung geratenes Walross. Er schien irgend etwas zu überlegen — dann hob er den Hörer wieder ans Ohr.
„2-45. Alja, bist du's? Gut... Bitte, sorge für ein gutes Mittagessen. Mein neuer Stellvertreter ist angekommen... Soeben, diesen Augenblick... Weiß ich nicht. Weiter weiß ich gar nichts. Nun also, ich bitte darum!... Leb wohl..."
In der Tür stand Borezki. Er trat ins Zimmer und streckte Kraiski seine raue Hand entgegen:
„Eine fürchterliche Hitze, Stanislaw Antonytsch. Wie können Sie bloß im Jackett arbeiten!"
„Alles Gewohnheit, Wladimir Palytsch... Dampf zerbricht die Knochen nicht."
Borezki betrachtete zerstreut die großen Tintenflecke auf dem blauen Papier. Sie schienen ihm sonderbar, fehl am Platz, und er fühlte beinahe den Wunsch, sie mit irgend etwas zu verdecken. „Ich komme in folgender Sache, Wladimir Palytsch. Die Order auf Material für die Schmiede ist eingegangen. Über Schmelzung 2220 wissen Sie Bescheid, Wladimir Palytsch. Es bestehen Zweifel. Eine Achse ist schließlich keine Kleinigkeit... Welche Verfügungen wird man treffen?" Borezki presste die Lippen aufeinander.
„Stanislaw Antonytsch! Sie kennen den Befehl des Direktors. Das Programm muss erfüllt werden. Was die Schmelzung 2220 anbetrifft, so können nicht die geringsten Zweifel bestehen. Nicht die geringsten! Das Urteil des Laboratoriums, Stanislaw Antonytsch, das ist die Hauptsache. Verstanden?"
Zwei Tintenflecke, die durch einen Klecks verbunden waren, erinnerten Borezki an die Räder eines Fahrrads und an Waljas bittende Augen. Er nahm den Löscher und deckte die Flecke damit zu.
„Ich habe verstanden, Wladimir Palytsch. Wie steht es mit Akatujew?"
„Sie wissen, was Sie zu tun haben. Akatujew wird die Einzelteile abnehmen... Er kann sie nicht zurückweisen... Haben Sie verstanden, Stanislaw Antonytsch?"
„Jawohl, Wladimir Palytsch... Ich wollte bloß noch einmal wegen Nossow... Er verlangt Urlaub. Hustet Blut. Er muss einem leid tun, der Mensch, Wladimir Palytsch."
„Auf keinen Fall! Sind Sie denn verrückt geworden? Nossow kann keinen Urlaub kriegen. Auf kei—nen Fa—a—ll!"
Kraiski zog sein Taschentuch und wischte seine schweißigen Hände ab.
„Versprechen Sie ihm Entschädigung und so weiter. Aber Urlaub kann er jetzt nicht bekommen. Es würde uns alles hochgehen... Verstehen Sie, Stanislaw Antonytsch, alles würde missglücken! Können Sie sich denn überhaupt vorstellen, wer ihn vertreten soll? Nun??" Kraiski riss seine erregten Augen weit auf.
„Nein, Wladimir Palytsch — keine Ahnung..." Borezki wandte sich zur Tür und öffnete sie. Im selben Augenblick erschien im Türrahmen die behände Figur eines Menschen, der schnell über die Schwelle trat.
Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte er sich auf einen Stuhl am Schreibtisch und musterte Kraiski mit kleinen, glänzenden Augen. Sein fester, elastischer Körper, der eng von einem Netzhemd umspannt wurde, machte den Eindruck eines glänzenden Hechts, der sich im Netz gefangen hatte.
„Da bin ich, Genosse Kraiski... Sie kennen mich nicht wieder? Das heißt, stimmt — wie sollten Sie sich wohl meiner erinnern!"
„Ich stehe Ihnen zu Diensten. Um was handelt es sich?" Kraiski erhob sich und griff nach seiner Aktentasche. „Bloß etwas schnell, wenn ich bitten darf."
„Ich habe vor fünf Jahren in der Martinabteilung gearbeitet... Dann bin ich auf die Hochschule gegangen — zum Studieren. Nun bin ich fertig mit dem Studium."
Kraiski wurde ungeduldig. Die Worte dieses Menschen schienen irgendeinen besonderen Sinn zu haben. Er warf die Aktentasche auf den Tisch zurück und betrachtete aufmerksam das Gesicht seines Gegenübers, das ihm plötzlich bekannt vorkam.
„Also erlauben Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle, wenn Sie mich völlig vergessen haben. Ingenieur Platow. Hier ist auch meine Überweisung in Ihre Abteilung."
Kraiski erkannte die listigen Schnörkel der Unterschrift des Direktors auf dem Papier, die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, und die Zeilen verschwammen ineinander:
Vom Trust ernannt...
Stellvertretender Leiter der Martinabteilung...
Dir... KORTSCH...
„Entschuldigen Sie mal, aber wohin soll denn Andrej Nikolajewitsch?" fragte Kraiski verwirrt.
„Was für ein Andrej Nikolajewitsch?" fragte Platow verwundert zurück.
„Nein, nein — ich meine ganz etwas anderes... Wissen Sie, man wird vollkommen übermüdet im Laufe des Tages. Also Sie sind das... der... ?"
„Jawohl, ich bin das — der Platow, der als Former bei Ihnen gearbeitet hat... Und jetzt komme ich in die Fabrik zurück."
Platow wandte beim Sprechen keinen Blick seiner kleinen, schwarzen, spöttisch blitzenden Augen, die überreifen Kirschen glichen, vom Gesicht des Ingenieurs, und auf einmal erkannte Kraiski diese etwas groben, holzgeschnitzten Züge und die spöttischen Augen.
„So, so... sehr angenehm, Genosse Platow. Wie interessant das ist, und wie schnell diese fünf Jahre vergangen sind, was? Sind Sie tatsächlich jener Platow, der, wissen Sie noch..?"
„Ja, ja, ich weiß es noch ganz genau, Genosse Kraiski. Ich war mit dem Formen eines Rades beschäftigt. Sie standen daneben und gaben mir Anweisungen. Ich hörte nicht auf Sie. Sie fingen an zu schimpfen. Ich — auch. Sie nannten mich einen dreckigen Bauer. Sie erhielten dann einen öffentlichen Verweis..."
„Nun, wozu das Alte wieder aufwärmen!" unterbrach ihn Kraiski hastig. „Ich habe das alles schon vergessen... Was wollte ich denn gleich sagen?... Ja! Was soll das denn aber heißen, Andrej Nikolajewitsch? Hier ist gar nichts gesagt über..." nervös zerknitterte er das Papier mit der Ernennung.
Mit dünnem, durchdringendem Pfiff kroch unten am Fenster eine Lokomotive vorüber, dicke Dampfwolken ausstoßend. Die Puffer stießen quietschend aufeinander. Irgend jemand schrie:
„Stell' die Weiche um... Die W—ei—ch—e!" Kraiski nahm schnell den Hörer vom Telefon und rief: „2-45. Alja?!" „Die W-ei-ch-e, zum Teu-fel!"
„Alja, ich bin's... ja. Nein — es ist nichts nötig, gar nichts!"
Der Hörer, von Kraiski heftig hingeworfen, fiel hinunter; er schwankte an der Schnur hin und her, die Sprechmuschel sprang ab und rollte über den Boden wie eine Maus.
Platow hob sie auf und befestigte sie wieder am Hörer. Als er sich nach dem Tisch umwandte, war Kraiski schon nicht mehr im Zimmer.
Unten auf dem Fabrikhof schienen die menschlichen Stimmen und die Lokomotive miteinander zu streiten.
„Die W—ei—ch—e! Stell die W—ei—ch—e um... "
Huuu... u-uu... huuuuu... uu...
Das Schreien der Lokomotive und das heisere Pfeifen des auspuffenden Dampfs schienen Kraiski anzutreiben: mit hastigen Schritten rannte er ächzend und pustend über die Schwellen der Schienen. Die Hitze, die in den schmalen Schächten zwischen den einzelnen Abteilungen lagerte, umgab ihn mit ihren drückenden Wellen, dörrte die Kehle aus und weckte ein Sausen und Klingen in den Ohren.
„Nein — das geht auf keinen Fall! Man muss ihnen beweisen, dass sie einen schweren Fehler begehen... Das ist ja geradezu toll! Diesen da zu ernennen... wie heißt er nur gleich? Nicht einmal den Namen kann man behalten. So etwas Graues, Farbloses, wie der Staub da unter den Füßen... "
Er versucht, sich das Gesicht seines neuen Gehilfen ins Gedächtnis zurückzurufen, aber alle Züge verschwimmen ineinander, bis auf die grobe breite Nase; und Kraiski muss sich unwillkürlich vorstellen, wie dieser Mensch zwei Finger an die breiten Nasenlöcher drückt und sich schnäuzt — lange und laut... Und das soll ein Ingenieur sein?! Kraiski verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und riss die Tür auf, an der ein Schild mit Goldbuchstaben angebracht war:
Technischer Direktor Benjamin Pawlowitsch Turtschaninow „Nun?!" Kraiski sah Turtschaninow unverwandt an. Man hörte in der Stille das Ticken der Armbanduhr, die um das fette linke Handgelenk gepresst war. Turtschaninow beobachtete Kraiski schweigend. Der am Fenster sitzende Deutsche Bruck starrte auf einen Fleck in den Hosen, mitten auf dem Knie.
„Nun, warum schweigen Sie, Benjamin Pawlowitsch?!" Kraiski biss auf seinen harten, herabhängenden Schnurrbart, als wolle er ihn sich in den Mund stopfen, um seine Erregung zu verbergen.
„Ihrer Meinung nach müsste ich also nervös werden? Sehr dumm!"
„Aber so etwas darf man doch keinesfalls zulassen!" „Wir müssen uns unterwerfen." „Sie... Sie scherzen, was?" „Keineswegs: wir müssen uns unterwerfen." „Ich bin auch für unterwerfen",... warf Bruck ein, mit den Fingernägeln den Fleck abkratzend.
„Ausgezeichnet! Adam Adamytsch hat mit seinem mangelhaften Russisch sehr charakteristisch meine Meinung getroffen!" lachte Turtschaninow. „Sich unterwerfen und unterwerfen ! Das ist mein Weidmannsprinzip. Ich kann zum Beispiel keinen Schmutz ertragen, aber neulich auf dem Anstand nach Auerhähnen bin ich auf allen vieren gekrochen, die Nase im stinkenden Sumpf: ich habe mich der Notwendigkeit unterworfen, bis an die Ohren bin ich im Dreck versunken. Aber dafür habe ich den Auerhahn abgeschossen, auf dreißig Schritt, ohne zu fehlen — ich habe den Auerhahn meinem Schrot unterworfen!"
„Ich auch großer Vorliebe für Rebhuhnjagd!" sagte Bruck mit einem tiefen, sehnsüchtigen Seufzer.
Nebenan, im Zimmer des Direktors hörte man die Stimme Kortschenkos.
„Kraiski! Sie haben den Auerhahn vorm Schuss... Kriechen Sie!..." befahl Turtschaninow in spöttischem Befehlston.
Kraiski hatte niemals auf Auerhähne Jagd gemacht. Er kannte sich in den listigen Schlichen Benjamin Pawlowitschs nicht aus. Und warum sollte man kriechen, wenn man ebenso gut stolz und aufrecht über den gelben Linoleumläufer in das Zimmer Kortschenkos hineingehen konnte?
Das eine Ohr mit dem Finger zupressend, schrie Kortschenko ins Telefon:
„Ich sage: wir schaffen es! Hallo! Hallo! Moskau! Wieder getrennt, zum Teufel! Hallo! Ptizyn? Ich sage: wir schaffen es! Unsinn! Irgendwas müssen ja schließlich die Zeitungen schreiben. Wie steht's mit dem Fabrikneubau? Forcieren? Wird gemacht. Die Pläne sind fertig gestellt. Nun, also Schluss!... Teufel noch mal, Holzhacken ist leichter, als mit Moskau zu telefonieren..." Er wischte sich mit einem Taschentuch die feuchte Stirn ab und ließ den Blick seiner selbstzufriedenen Augen auf Kraiski ruhen. „Sie kommen gerade recht, Wladimir Pawlowitsch. Morgen müssen wir mit dem Bau der neuen Fabrik beginnen. Endlich haben wir es erreicht! Es ist ein Feiertag für mich!"
Kraiski ist kein Jäger — er weiß nicht, wie man auf den Anstand kriechen muss; aber er hat irgendwo gelesen, dass man ein Tier auch ganz einfach totschlagen kann wie eine Fliege — man muss sich nur auf den Weg setzen, der zur Tränke führt.
„Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Pjotr Petrowitsch... Obgleich es mir sehr schwer wird, die Fabrik zu verlassen, bleibt mir doch nichts anderes übrig. Ich kündige hiermit meine Stellung zum 1. Juli."
„Warum?! Was ist passiert?" Der Blick Kortschenkos verfinsterte sich.
„Unter den neu geschaffenen Verhältnissen bin ich nicht imstande, die Verantwortung für die Martinabteilung weiter zu übernehmen. Die Ernennung meines neuen Stellvertreters ist von Ihnen unterzeichnet. Wahrscheinlich halten Sie diese Maßnahme für zweckmäßig. Ich meinerseits bin fest davon überzeugt, dass dies ein Irrtum ist. Die Martinabteilung braucht gegenwärtig erfahrene Leiter: wir müssen unseren Rückstand einholen, dazu sind kolossale Anstrengungen, sind große Kenntnisse erforderlich. Platow ist kein geeigneter Gehilfe für mich. Fertigen Sie die Verfügung über meine Entlassung aus."
„Erlauben Sie mal... Wie soll ich das verstehen? In diesem schwierigen Moment soll ich der Martinabteilung ihren Leiter nehmen? Das ist eine Unmöglichkeit. Die Martinabteilung ist unser wundester Punkt. Sie haben es ausgezeichnet verstanden, die Produktion wieder in Gang zu bringen. Der Ausschuß sinkt. Nein, das ist ganz unmöglich." Aufgeregt erhob sich Kortschenko.
„Alles das ist richtig; aber ich kann unter solchen Verhältnissen nicht weiter arbeiten."
„Woher soll ich denn innerhalb einer so kurzen Frist einen Ersatz für Sie hernehmen? Wir haben ja in Wirklichkeit schon den Bau der neuen Fabrik begonnen. Und kein andrer als Sie ist es, der den Bau der Gießerei und der Schmiede leiten soll..."
„Leider wird es nun doch ein anderer sein... " Nur undeutlich kamen diese Worte von den Lippen, die an dem borstigen Schnurrbart herumkauten.
Kortschenko öffnete und schloss voller Nervosität seine Aktentasche. Er sah den unbeugsamen Willen in Kraiskis Augen. Nein, gehen lassen darf er ihn nicht... Soll er nachgeben? Die Ernennung Platows zurücknehmen? Aber sie erfolgte ja gemäß der Anweisung Wartanjans. Wartanjan ist auch ein eigensinniger Mensch, er wird nicht damit einverstanden sein, den Beschluss des Raikom einer Revision zu unterziehen. Aber dann wird Kraiski gehen. Der Bau der neuen Fabrik wird sich verzögern...
Der Gesichtsausdruck Kortschenkos wechselte fortwährend von Ungeduld und Unsicherheit zu Ärger und stiller Wut. Tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn, die Augen flackerten unstet. „So geht ein verdurstendes Tier zur Tränke", dachte Kraiski.
„Ich kann nur unter zwei Bedingungen in der Fabrik bleiben. Erstens: Platow arbeitet innerhalb der Grenzen, die ich ihm ziehen werde; zweitens: Andrej Nikolajewitsch muss in der Fabrikleitung bleiben, ich kann seine Hilfe nicht entbehren."
Kortschenko seufzte erleichtert auf:
„Das hätten Sie doch gleich sagen können! Damit bin ich durchaus einverstanden. Platow muss lange und eingehend bei Ihnen als einem alten, erfahrenen Spezialisten lernen. Das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel! Es freut mich sehr, dass wir uns einig sind."
Kraiski ging hinaus, vergnügt strich er sich den borstigen Schnurrbart. An der Tür zu Turtschaninows Zimmer lachte er ironisch auf:
„Jäger!"
5
Der Feuerwehrturm warf nur einen schwachen Lichtschein, gleich der verlöschenden Mondsichel, als Platow nach der Martinabteilung ging. Die Räume waren in ein unbestimmtes Halbdunkel gehüllt, das die Umrisse der Gegenstände verwischte; nur von den Öfen her kam ein flackernder rötlicher Feuerschein, der die zum Guss bereitstehenden Formkästen aus der Dunkelheit auftauchen ließ und grell beleuchtete.
Aus der zwölf Tonnen fassenden Gusspfanne, die vor dem Gießen erhitzt werden musste, stiegen dichte, funkendurch-sprühte Rauchwolken auf. Weiter hinten in der Werkstatt war alles ruhig und unbeweglich.
Platow sah sich in der Abteilung um, die er vor fünf Jahren verlassen hatte. Nichts hatte sich geändert, alles war noch genau so wie damals. Ihm war, als hätte er noch gestern diese riesigen Kräne, die strengen Säulen und hohen Stapel der Formkästen gesehen. Er ging in die Tiefe der Werkstatt, wo er früher Lokomotivteile geformt hatte. Während der Nachtschicht ruht die Arbeit in der Abteilung; erst morgen früh wird sie wieder angefüllt sein von donnerndem Lärm, von den lauten Rufen der Menschen und dem durchdringenden Pfeifen der Kräne. Und morgen früh wird Platow hierher kommen, um die Arbeiter anzuleiten, sie zu lehren, schneller und besser zu arbeiten. Morgen früh wird er denen gegenüberstehen, für die der Ingenieur Platow gestern noch der Former Senka war. „War... Vielleicht bin ich es auch geblieben? Und wäre das gut oder schlecht?"
Plötzlich bemerkte er an dem alten Platz, den er so gut kannte, eine gebückte Gestalt. Mit einer Handlampe kroch ein alter Arbeiter um die Form herum: der Stichel in seiner Hand blitzte auf, wenn der Lichtschein auf ihn fiel.
„Titytsch, du? Was machst du denn hier mitten in der Nacht?"
„Ah — Senja?! Du bist wieder da? Hab's schon gehört, hab's gehört... Und ich — siehst du, ich krieche immer noch auf allen vieren herum. Borezki hat gebeten, die Nacht zu arbeiten, es sind nicht genug Triebräder da... Wie kann man's ihm abschlagen? Da bin ich eben gekommen. Siehst du, so ist das Leben!"
Titytsch hängte die Lampe an einen Nagel, wischte sich sorgfältig an der Schürze die Hände ab und reichte Platow die Hand zur Begrüßung.
„Na, du kannst wohl nun die ganze deutsche Wissenschaft auswendig, was?"
Er strich mit dem Handrücken seinen dünnen Bart glatt und musterte prüfend seinen ehemaligen Gehilfen in der Formerbrigade, ob er wohl eine Veränderung wahrnehmen könnte. Doch genau wie früher standen die dichten Haare über der hohen Stirn, und die etwas kurzsichtig zusammengekniffenen, schwarzen Augen funkelten bald auf, bald verschwanden sie unter den dichten Wimpern. Die breite, platt gedrückte Nase erinnerte Titytsch an irgend etwas Komisches und verstärkte die Überzeugung in ihm, dass sich Platow überhaupt nicht verändert hatte.
„Sieh mal, die Nase ist immer noch dieselbe Kartoffelnase... "
„Immer noch dieselbe, Titytsch!" Platow stieß einen komischen Seufzer aus: „Die ist mir fürs ganze Leben angeklebt! Da im Ausland ist so eine Nase ungefähr dasselbe, wie ein Pass aus dem Barbarenlande. Na, mir war's egal. Schließlich machen wir ja die Lokomotiven nicht mit der Nase, sondern
mit dem Kopf."
„Dein Köpfchen ist ganz gut, das sitzt auf dem rechten
Fleck!"
„Einiges habe ich ihnen abgeguckt, aber nicht alles. Manches zeigen sie uns nicht, die Schlauköpfe. Aber man kann schon etwas von ihnen lernen, Titytsch! Ich hab' meine Praktikantenzeit in der Lokomotivfabrik von Borsig absolviert. Eine ganz alte Fabrik, sehr interessant. Wir machen hier in unserem „Krassny Proletari" mit Müh' und Not hundertfünfzig Lokomotiven im Jahr, die bei Borsig dagegen tausend."
„Nu natürlich — die Deutschen!" unterbrach ihn Titytsch, und aus seiner Stimme klangen Achtung und Neid zugleich.
Semjon Platow lachte:
„Was heißt — die Deutschen! Unseren Lokomotivbau hier leitet Bruck, auch ein Deutscher, und trotzdem wird's immer noch nichts Richtiges. Eins musst du wissen, Titytsch: die Arbeitsproduktivität ist in den deutschen Maschinenfabriken doppelt so hoch wie bei uns. Nimm zum Beispiel nur einmal unsere Abteilung: Tausende von Rubeln fliegen bei uns zum Schornstein hinaus; der hohe Prozentsatz von Ausschuß und die Schlamperei sind unser Verderben. Bei uns bringt ein Former eine Stunde damit zu, einen Spaten zu suchen... "
„Richtig, Senja, richtig... Der Ausschuß frisst uns die Haare vom Kopf. Der Hauptgrund ist: der Bauer hält seinen Einzug in die Fabrik! Einer mit Bastschuhen an den Füßen kann doch kein richtiger Former sein?" Titytsch machte eine verächtliche Handbewegung.
„So darfst du nicht denken, Titytsch! Du und ich, wir kommen doch auch aus dem Dorf. Woher sollen wir denn sonst die Arbeiter nehmen? Und wir können mit diesen Bauern immerhin besser und mehr arbeiten als die Deutschen."
„Ach, was kannst du mit denen schon groß arbeiten!... Übel wird einem, wenn man's mit ansieht! Gestern haben sie mir den Sharow als Gehilfen geschickt; ich rufe ihm zu: ,Deck' den Formkasten zu!' — er aber fängt, betrunken wie er war, an, mit dem Stampfer auf die Formen loszuklopfen. Ich hab ihn zum Teufel geschickt... Siehst du, Senja, so ist das Leben!"
Platow musste plötzlich an das wutverzerrte Gesicht Sergejs denken, an Sharow, an das blutbespritzte Messer, an Marussja, Borezki... Von der Stille der schweigenden Fabrik umfangen, stand er da und dachte über die Zweifel Titytschs nach; „Ja — vieles um uns herum entstammt noch der Vergangenheit, und auch dem Arbeiter haftet ihr Schmutz noch an. Überall kocht und brodelt das wilde, unbändige Blut, das sich in Jahrhunderten in den Adern des Volks angestaut hat, das durch Unbill und Not verbittert worden ist. Und hier und da drängt es an die Oberfläche; wie der Eiter aus einem Geschwür, so spritzt es aus den Adern, das aufrührerische, ungezügelte Blut... Wie viel von diesem Blut fließt noch in den Adern der Bauern! Da erscheint dann so ein junger, verlotterter Bursche wie Sharow auf den Bauplätzen der neuen Städte und Fabriken, zieht den heiseren Balg seiner Harmonika auseinander, heult sein johlendes, betrunkenes: Juch-hu!' und stimmt mit lang gezogener Stimme ein dummes, sentimentales Lied an. Und der Bursche wird in ungeschicktem Tanz umhertaumeln, trunken von dem ungewohnten Geruch von Erdöl, Benzin und Kohle, und schließlich wird er, in Wut geraten, dem Freund ein Messer in die Seite stoßen, wie dies heute Wekschin getan ... "
Alle diese Gedanken lösten einander in seinem Kopfe ab und machten ihn schwankend; sollte Titytsch recht haben? Aber die Tatsache, dass er, der ehemalige Former Senka, jetzt als Ingenieur vor Titytsch stand und morgen als Vorgesetzter von diesem Sharow, von Titytsch, Borezki und allen den andern, von Hunderten, die Abteilung betreten würde, diese Tatsache gab ihm wieder Zuversicht. Auch er war ja ebenso gewesen wie alle die andern: hatte grob geschimpft, die Sonntage vertrunken und durchbummelt, war am Montag dann verschlafen zur Arbeit getaumelt. Aber das Leben hatte ihn abgeschliffen. Die Jahre zogen noch einmal an ihm vorüber, sein ganzes Leben, das einem Stück Stahl glich, das sich auf der Drehbank drehte: grob und unansehnlich zuerst, und beim Drehen rinnen Rost und Staub unter dem Drehstahl hervor. Schon das erste Abschleifen fördert den Glanz des Stahls zutage; aber noch bedecken zahlreiche Schrammen und Risse die Oberfläche — der Stahl muss tiefer greifen, und beim zweiten Abdrehen kommt der starke, gute Kern zum Vorschein. Wie viel Mühe hat man doch mit einem solchen Stück Metall! Es muss geglüht, abgedreht, geschliffen werden! Und so war auch Senkas Leben: nach Jahren schwerer Arbeit an den Maschinen, Jahren im Kommunistischen Jugendverband und in der Partei, nach vielen schlaflosen Nächten, über Bücher gebeugt, war der Former Senka nun Ingenieur geworden. Und in den langen Jahren, die so an ihm vorüberzogen, sah er sich selbst und Titysch, Wekschin, Sharow — sah er seine Klasse, sein Land, das den Rost von sich riss.
Und als Antwort auf die Zweifel Titytschs rief Senka
freudig:
„Macht nichts, Titytsch — wir werden sie abschleifen! Wir werden die Sache schon machen, Alter."
Und Titytsch, angesteckt von der Zuversicht, die Senkas Gesicht ausströmte, bestätigte:
„Wir werden's schaffen... Wer kann daran zweifeln? Das Schlimmste haben wir ja schon hinter uns, nun ist nicht mehr viel zu schaffen übrig!... "
„Nicht mehr viel, Titytsch — aber schwitzen werden wir doch! Macht nichts, wir werden uns anstrengen, und das erwarten auch die deutschen Arbeiter von uns... Du kannst dir nicht vorstellen, Titytsch, welche Aufregung mich immer packte, wenn ich hörte, wie sie über uns urteilen, welche Hoffnungen sie in uns setzen! Sie werden bald anfangen, Titytsch! Bald wird Deutschland erzittern! Dann, Europa, nimm dich in acht! Ich erinnere mich... "
Platow ging erregt um den Formkasten herum und blieb auf einem Sandhaufen stehen. Seine Augen funkelten wie schwarze Emaille.
„...Ich stand ,Unter den Linden' und las den ,Vorwärts' — das ist eine dortige menschewistische Zeitung. Sie erging sich in wüsten Schimpfereien über die Sowjetunion — man hatte nämlich kurz zuvor hier bei uns zwei deutsche Ingenieure als Schädlinge verhaftet.
Die Faschisten mobilisierten ihre Kräfte, veranstalteten Demonstrationen, drohten mit Stöcken, Fäusten...
Und vor dem Gebäude unserer Botschaft hatte eine Bande Faschisten Aufstellung genommen, sie heulten und tobten wie tolle Hunde. Faule Äpfel und stinkende Eier wurden an die Fenster der Botschaft geworfen und wütende Rufe ertönten: ,Nieder mit dem Kommunismus!' Raus mit den Moskauer Agenten!' Zum ersten Mal in meinem Leben hab' ich ein derartig wüstes Bild gesehen! Wir denken so selten an das, was im Ausland geschieht, Titytsch...
Und plötzlich kamen von links her, vom Tiergarten — das ist so ein großer Park in Berlin — rote Fahnen herangezogen. Sie überfluteten die ganze Straße, und das wütende Johlen der Faschisten ging unter in dem lauten Ruf: ,Heil Moskau! Heil!" Dann knallte ein Revolverschuss, und nun entstand ein fürchterlicher Wirrwarr. Die roten Fahnen und die Transparente schwankten über den Köpfen der Menge hin und her wie die Bäume im Walde beim Sturm. Sie wurden hin und her geworfen, hinuntergerissen, und dann schwebten sie wieder hoch über den Köpfen... ,Heil Moskau!' "
„Was quatschst du da für unverständliche Worte, du Deutscher! ,Cheil!' Red' unsere Sprache!" Titysch zog Platow aufgeregt und bittend am Ärmel.
„In unserer Sprache bedeutet das, Titytsch, bedeutet das — die Weltrevolution ... "
Platow fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schwieg. Von irgendwoher wehte ein frischet Luftzug durch die Halle, und der Windhauch machte die Flamme der Lampe erzittern.
Von draußen kam das dumpfe Rollen eines Donners, es schien, als liefe irgend jemand über das eiserne Dach.
Platow warf einen Blick auf die Uhr und wandte sich zum. Gehen:
„Später, als sich die Menge verlaufen hatte, lag ein Mann in« Arbeitskleidung auf dem Pflaster, um ihn herum rote Stofffetzen... Da musste ich an Wolodja Pylajew denken. Ach, Titytsch! Auf unserer Erde wird gemäht..." Platow setzte seine Mütze auf.
Titytsch beobachtete ihn mit unruhigen Blicken. Er sah das ihm so vertraute Gesicht Senkas vor sich, jedoch die tiefe Erregung, die Platow das Blut in die Wangen getrieben hatte, war ungewöhnlich und ansteckend.
Platow verließ die Abteilung, und Titytsch, der ihm mit den Blicken folgte, stieß einen tiefen Seufzer aus:
„Siehst du, so ist das Leben!"
Ganz anders sah er nun dieses Leben vor sich. Die rauchgeschwärzten Wände der Martinabteilung schienen sich zu erweitern, in der grenzenlosen Ferne zu verschwinden; und das, was gestern noch fern und unerreichbar schien, war greifbar nahe gerückt. Titytsch sah vor seinen Augen eine zahllose Menge, von allen Seiten strömten die Menschen heran, sie vereinigten sich zu einem unendlichen Meer von Köpfen, über dem die zornig erhobenen Fäuste wie weiß schäumende Wogenhin und her schwankten. „Heil Moskau!"
Titytsch sah sich um. Im Hintergrund heulten die Ölbrenner, rotflackernde Flammen hochspritzend, und plötzlich kam von dem einem Ofen her ein warnendes Klingelzeichen. Mit donnerähnlichem Krachen erwachte der elektrische Kran und bereitete sich darauf vor, die Last von zwanzig Tonnen Stahl in Empfang zu nehmen. Aus dem Ofen Nr. 2 strömte flüssiges Feuer, ein Funkenregen fiel nieder, der das Dachgebälk erleuchtete und wie bei Sonnenaufgang alle Dinge mit grellem, durchdringendem Licht überschüttete. Der Guss begann. Vom Himmel aber strömte so heftiger Regen, als wollte er die Flammen im Martinofen löschen. Um Mitternacht ging Platow im strömenden Regen durch die Straßen der Stadt.
6
Die Stadt geht schlafen...
Eins nach dem andern erlöschen die Lichter in den Häusern: sie versinken im Dunkel, und nur an den Straßenkreuzungen schwanken knarrend die elektrischen Bogenlampen. Der Wind kommt immer mehr auf und erfüllt die Straßen mit seinem Sausen, er jagt eine Wolke Blätter vor sich her und rüttelt an den Eisendächern, Die Bogenlampe tanzt, der helle Widerschein, den sie auf das Pflaster wirft, wirbelt umher, springt in die Höhe und beleuchtet die rostigen Dächer und das Straßenschild an der Ecke.
„Pylajewstraße"...
Hin und her schleudert der Wind die Lampe und spritzt Lichtfunken auf den Fahrdamm, auf das neue, holzgepflasterte Trottoir, auf die schlafenden Fenster der kleinen Häuser. Der Wind reißt und zerrt an den alten Gittern und Fensterläden, macht die Scheiben erklirren, wirbelt auf den ungefegten Straßen einen Haufen von Schmutz und Blättern zusammen, bis an die nächste Ecke hin, um im Schein der Laterne seine Beute zu untersuchen.
Hier, an der Straßenkreuzung, treibt er den Schmutz, alle die Strohhalme und Papierfetzen wirbelnd in die Höhe, dass sie aufflattern wie Nachtschmetterlinge, die der Lichtschein anzieht...
Der Regen prasselt auf die Eisendächer nieder. Zahllose Drähte ziehen sich von allen Seiten her nach der hohen Telegrafenstange, um, im Lichte gleißend, wieder nach allen Richtungen hin auseinanderzurinnen und im Dunkel der Nacht zu verschwinden. Die Wange an den regennassen, rauen Pfosten gedrückt, steht eine Frau da.
Der Telegrafenpfosten wächst aus der schwarzen Erde hervor und überragt hoch ihre Gestalt; die Drähte reißen ihn nach allen Seiten; er neigt sich schon nach rechts hinüber und wird von hölzernen Seitenpfählen gestützt.
Die Frauengestalt lehnt bewegungslos an der Stange; die Hände hängen leblos an den Seiten herab, aber hin und wieder blitzt Leben aus ihren Augen — oder ist es nur der Lichtschein, der helle Funken über ihr Gesicht huschen lässt, das vom Regen nass ist? Und vielleicht sind es auch gar keine Regentropfen, die an ihren Wimpern hängen?
Der Regen schlägt in schweren Tropfen die Blätter zur Erde und prasselt wie Maschinengewehrfeuer auf die Eisendächer nieder. Der Donner dröhnt, als ob die Stadt von schweren Geschützen beschossen würde. Wie Hunderte von Scheinwerfern huschen grelle Blitze über sie hin.
Der Wind trägt die unruhigen Rufe einer Lokomotive und abgerissenes Hundegebell herüber. Die Straße wird von grellem Blitzschein erhellt, um gleich wieder in tiefstes Dunkel zu
versinken.
Platow kommt aus einer dunklen Seitengasse und gerät in den hellen Lichtkreis der Bogenlampe.. Durch das Netz des Regens vor seinen Augen sieht er die dunkle Gestalt an der Telegrafenstange. „Jedenfalls ein Dreher, der vom Bummel kommt, oder ein Verliebter, der im strömenden Regen zur verabredeten Stunde heroisch auf die Geliebte wartet", lachte Platow vor sich hin. Plötzlich riss sich die Gestalt von der Telegrafenstange los und barg sich in der Dunkelheit; aber das elektrische Licht sprang ihr nach, und Platow erkannte in der fliehenden Gestalt eine Frau. Irgendeine Erinnerung tauchte in seinem Gedächtnis auf, er blieb stehen, betrachtete die Telegrafenstange, las den Straßennamen, blickte auf die tropfenden Porzellanisolatoren, und seufzte tief auf. Der Wind zerriss die dunklen Wolken und trieb sie auseinander, so dass sie in Fetzen über den Himmel flogen. Dann legte sich der Sturm, und nur hin und wieder noch hallten schwache Donnerschläge, wie eine aus weiter Ferne kommende Kanonade.
Ein gleichmäßiger Lichtschein ging von der Bogenlampe aus und erzeugte matte Reflexe auf dem Straßenpflaster. Und Semjon Platow sah sich, wie er vor vielen Jahren als fünfzehnjähriger Junge durch die Straßen der Stadt lief...
Sie sind angefüllt von einer vielköpfigen Menge, über deren Häuptern rote Fahnen in allen Schattierungen wehen. Eine Kapelle zieht die Menge mit schweren Schritten hinter sich her. Aus der Ferne hört man Kanonenschüsse — da werden die gestrigen Herren der Stadt vertrieben, die Denikinleute, und vor dem Anmarsch der Rotarmisten flieht der gestrige, blutbesudelte Tag. Man könnte diesen Tag vergessen, wenn nicht die vielen zerschossenen Häuser an ihn erinnerten, wenn seine Leiden nicht so tiefe Furchen in den Gesichtern der Menschen zurückgelassen hätten, wenn... Die Kapelle zieht die Menge hinter sich her, und sie schleppt ihren Kummer durch die Straßen der Stadt, hasserfüllt. Die Arbeiter tragen Wolodja Pylajew zu Grabe.
Senka versucht, die Kolonnen zu überholen und an die Spitze des Zuges zu kommen, dorthin, wo das schwere Lastauto faucht, das den in Georginen und Feldblumen versinkenden Sarg Wolodja Pylajews trägt. Und er sieht das weiße Gesicht des Drehers Wolodja mit dem schwarzen Schnurrbart, und das kleine Mädchen im rosa Kleid, das verwirrt und bekümmert neben dem Chauffeur sitzt. Dann begreift er, dass das Olga ist, die Tochter Wolodja Pylajews, und er freut sich für sie, dass sie nicht neben allen anderen durch den schweren Sand zu stapfen braucht. Hinter dem Sarge schleppt sich, gestützt auf die Arme der Nachbarn, die Mutter Wolodjas her, die „alte Pylaicha"...
Und wo ist jetzt diese Olga? Und warum steht er, Semjon Platow, der „rote Spezialist" um Mitternacht hier an der Kreuzung der Straßen, von denen die eine mit ihrem Namen die Vergangenheit wieder aufleben lässt?
Er schüttelt die Regentropfen von seiner Mütze und überquert mit schnellen, kleinen Schritten die Straße. Ja, das war die Pylaicha, die den Schatten der Nacht aufsucht, um ihren Irrsinn vor den Menschen zu verbergen. Das war die Pylaicha, die in der Nacht an diese von Telegrafendrähten überspannte Straßenkreuzung kommt, die einzig und allein in ihrem erlöschenden Bewusstsein lebt; die Pylaicha, die hier in der Nacht an der Kreuzung steht, unter der morschen Telegrafenstange, wie ein lebendiges Denkmal jener Tage, die in der Vergangenheit versunken sind...
Ein Monteur schnallt die Riemen fest, prüft mit der Hand, ob sie halten und tritt langsam an den Pfosten heran. Die scharfen eisernen Krallen in das Holz einschlagend, klettert er ungelenk an der Stange hinauf.
Immer weiter entfernt er sich von der Straße unter ihm, und die noch feuchten, buckligen, in der Sonne schwach glänzenden Pflastersteine ähneln entblößten Köpfen einer zahllosen Menge. Immer tiefer unter sich sieht er die verrosteten Dächer der Häuser, wie die Rücken großer Tiere sehen sie aus; schon sieht er in die schwarzen Kehlen der Schornsteine, aus denen der Morgenrauch in dünnen Säulen aufsteigt.
Eine zweite Stadt liegt vor seinen Blicken, eine Stadt, die diejenigen, die unten gehen, niemals zu sehen bekommen: das ist die Stadt hunderter rauchgeschwärzter Schornsteine, der schwarzen und roten, rostzerfressenen und geflickten Dächerrücken, der grünen Flecken der kleinen Gärtchen, der trockenen, sandigen Zeilen der Straßen, die die Stadt in bunte Abschnitte zerlegen. In die Enge der altersgrauen Viertel schieben sich schon neue, weißglänzende Häuserkolosse hinein; sie sind vorläufig noch spärlich über die Stadt verstreut, aber es scheint, als ob sich die alten kleinen Häuser noch dichter an die Erde drückten, als ob sie versuchten, sich zurückzuziehen auf die Felder; aber auch dort hat sich der Ring der neuen Gebäude schon geschlossen. Dahin fährt der „Kuckuck"..— die Fabriklokomotive, deren Schienenweg mitten durch die Stadt geht, mit den langen Reihen der Güterwagen, die mit Eisen und Ziegelsteinen beladen sind.
Von allen Seiten eilen Arbeiter vorbei, von der Fabriksirene gerufen. Sie heben die Köpfe, um den über ihnen am Telegrafenpfosten hängenden Menschen besser zu sehen. Lachend ruft der Monteur einem alten Arbeiter, der mit offenem Munde zu ihm heraufstarrt, zu:
„He, Großvater, mach' den Mund zu, sonst falle ich dir hinein und du musst mich schlucken!"
Die unten lachen. Der Alte verschwindet in der Menge, aber andere treten an seine Stelle und starren unverwandt hinauf.
Die kühlen weißen Porzellanköpfe der Isolatoren sitzen wie komische Früchte da und halten mit ihren Schultern die singenden Drähte fest.
Der Monteur schneidet mit einer Schere die Drähte ab, die in Spiralen zur Erde fallen, wo sie zusammengerollt liegen bleiben und noch lange zittern. Leicht, wie ein fauler Zahn, lässt sich der Isolatorhaken aus dem Holz herausziehen.
„Oh — alles verfault..."
Der Monteur klettert noch höher hinauf, betastet mit den Fingern die Spitze der Stange und bricht morsche Holzstücke ab. Sie fallen auf die Erde hinunter und zerspringen beim Aufschlagen in tausend kleine Splitter.
„Die Spitze ist ganz morsch!" ruft er hinunter, und der Wind greift seine Stimme auf und treibt sie über die Dächer der Stadt.
Und plötzlich tönt von unten, von der Straße her, ein durchdringender, zorniger Schrei hinauf. Worte sind nicht zu verstehen, aber sie klingen voll herausfordernder Kraft. Der Monteur blickt hinunter auf die Straße und sieht, wie die Menschen Ameisen gleich von allen Seiten her auf die Stange zuströmen und sie mit einem bunten Ring umgeben.
„Sicherlich ist jemand ein Stück Holz auf den Kopf gefallen", denkt der Monteur und klettert schnell hinunter.
„Ich hab's doch gesagt, dass Reparaturarbeiten ausgeführt werden! Zur Seite treten... "
Aber die Menge wächst und umdrängt den Pfahl immer dichter, angelockt von dem durchdringenden Geschrei einer Frauenstimme:
„Nein! Ich geb' ihn nicht her! Ich geb' ihn nicht!"
Auf der Straße herrscht tiefe Stille. Gespannt lauscht die Menge auf die heisere Stimme der Frau.
Der Monteur, der die Menschen zurücktreiben will, ist dicht von ihnen umringt. Mit brennenden, leeren Augen starrt ihn die Pylaicha an. Das Taschentuch in ihrer Hand zerreißt unter ihrem zerrenden Griff, und sie schreit völlig außer sich:
„Ich geb' ihn nicht her! Ich gebe ihn nicht, ich gebe ihn nicht!"
Der Wind peitscht ihre dünnen Haare, die wie grauer Rauch um das schmerzverbrannte Gesicht hängen. Ihre magere gebückte Gestalt sprüht vor Zorn. Mit gekrümmten Fingern weist sie nach oben, wo die Morgensonne auf den weißen Isolatorköpfen glänzt, und ihre heisere Stimme ringt mit dem Atem:
„Er gehört — mir! Mir!... Und ich gebe ihn nicht her!" Und als ob ihre Stimme zerbrochen wäre, sinkt sie schließlich zu einem kaum verständlichen Flüstern herab: „Ach — ich flehe euch an... "
Die Pylaicha starrt die zunächst Stehenden an, als suche sie Mitleid in ihren Gesichtern. Für einen Augenblick scheint klares Bewusstsein aus ihren von Irrsinn entstellten Augen aufzuleuchten.
„Hier an dieser Telegrafenstange haben die Weißen ihren Sohn gehenkt", sagt irgend jemand in der Menge.
Feierlich hebt die Pylaicha ihre knochigen Hände in die Höhe und blickt mit starren, trockenen Augen nach der Spitze, als ob sie dort etwas sähe, das den Blicken der anderen verborgen blieb.
Die Menschen folgen unwillkürlich ihren Blicken — oben auf der Stange schaukelt sich irgend etwas im Winde.
„Das ist doch mein Arbeitskittel!" lacht der Monteur. „Es war mir zu heiß, da hab' ich ihn ausgezogen."
Sein Lachen findet kein Echo.
Alle sehen, dass sich dort oben ein ganz gewöhnlicher Arbeitskittel im Winde schaukelt, aber jedem, der an vergangene Tage denkt, läuft eine Schauder über den Rücken, als sähen seine Augen ein anderes Bild.
Der „Chef", der auch in der Menge steht, erschüttert von den Schmerzensschreien der Pylaicha, hebt ebenso wie die anderen den Blick zu der Stelle empor, wo sich die Telegrafendrähte kreuzen. Weißglänzend liegt die Sonne auf den Porzellanköpfen der Isolatoren.
Die plötzlich wieder aufgetauchte Vergangenheit steht vor den Augen der Arbeiter und legt sich wie ein grauer, schwerer Schatten auf ihre Gesichter. Der „Chef" blickt auf die Menge: unter finster zusammengezogenen Brauen funkeln die Augen, funkeln gleich Hunderten von Porzellanisolatoren, von den Strahlen der Sonne entfacht. Und Tage, die fast ausgelöscht waren im Gedächtnis, leben in ihrer ganzen Furchtbarkeit in der Erinnerung auf und erfüllen auch das unruhige Heute mit der Furcht für den morgenden Tag.
Die Stimme der Alten wird immer leiser, und ihr ganzer gebrechlicher Körper scheint von einer unerträglichen Last zur Erde niedergedrückt.
Plötzlich aber teilt sie die Menge und läuft zu der Telegrafenstange und umklammert sie fest mit ihren nackten, mageren Armen, während sie mit Aufbietung aller Kräfte schreit:
„Ich geb' ihn nicht her — und ich gebe ihn nicht her — ich gebe ihn nicht!!"
Entschlossenheit und Kraft strahlen aus ihren Augen.
Ein Mann, den der Monteur manchmal auf Versammlungen gesehen hat, tritt aus der Menge und sagt mit erregter Stimme:
„Genosse! Diese Telegrafenstange rühr' vorläufig nicht an!"
In der Nacht legte sich der Wind. Vom klaren Himmel sahen unzählige Sterne mit ihren hellen Augen auf die alte, morsche, schwankende Telegrafenstange herab.
1
Unruhig blickte Wartanjan auf den großen Haufen Postsachen, die soeben eingetroffen waren. Dicke, schwere, mit festen Siegeln versehene Pakete blickten vielsagend aus dem Haufen der dünnen Briefe und der grauen, mit Kreuzband verschnürten Broschüren hervor. Der zweite Band der Werke Lenins in dem festen hellbraunen Pappdeckel erinnerte Wartanjan an ein Lederetui mit der Geländekarte der Roten Armee. Und dieses Bild weckt plötzlich in Wartanjan längst Vergangenes, das mit verblüffender Deutlichkeit, mit allen Einzelheiten vor seinen Augen steht... Es war ein heller, klarer Septembertag. An dem dürren, gelben Gras hängen silberglänzende Spinnwebfäden, Altweibersommer. Auf die auf der Erde liegende, rot und blau angekreuzte Geländekarte fallen leise raschelnd herbstlich bunte Blätter. Aufpeitschende Unruhe spricht aus dieser Karte, aus den Generalstabsmeldungen, aus den Augen der Kommandeure, aus den tiefen Falten, die Sorge und Übermüdung in ihre Gesichter eingegraben haben... Eine schwierige Situation — der Feind versucht, die Division mit schlauen Manövern zu umzingeln. Die Meldungen, die von den einzelnen Stellungen eintreffen, widersprechen einander, verwirren die Pläne und werfen sie über den Haufen. Aber unaufhaltsam rinnen die Stunden, der Zusammenstoß ist unvermeidlich, rückt immer näher heran. Ein Entschluss tut not... Aber das Spinngewebe des Zweifels hüllt die Köpfe ein, die sich tief über die Karte, tief über die Meldungen beugen...
Warum steigt gerade heute die Erinnerung an diesen fernen Tag so klar und deutlich in Wartanjan auf, warum spürt er gerade jetzt den scharfen Geruch des vom Lagerfeuer aufsteigenden Rauchs, warum wird gerade heute, genau wie damals, sein Herz von jener lähmenden Unruhe erfasst?!
Ungeduldig reißt Wartanjan das Siegel von einem dicken Paket ab, überfliegt die Zeilen flüchtig mit den Augen und schleudert das Papier mit einer heftigen Gebärde in seine Aktentasche. Dann nimmt er das rotgebundene Buch aus dem Schutzumschlag.
„Du beschäftigst dich wohl mit Philosophie?" schreckte ihn plötzlich eine überlegene, ironische Stimme auf.
Wartanjan warf einen kalten, feindseligen Blick auf den Sprecher — über den Tisch geneigt, stand Kortschenko vor ihm.
„Nun, wie steht's?"
„Ich bringe dir eine gute Nachricht, Wartanjan... " Kortschenko faltete lächelnd seine Papiere auseinander. „Im Laufe dieses Monats ist der Ausschuß bedeutend gesunken, von 15 auf 8 Prozent."
Nachdenklich drehte Wartanjan den Bleistift zwischen den dünnen, geschmeidigen Fingern.
„Ich verstehe nicht ganz... Du hast doch noch vor einem Monat behauptet, der Ausschuß käme daher, dass Bauern die Martinabteilung überschwemmen. Habt ihr die Bauern im Laufe eines einzigen Monats gelehrt, besser zu arbeiten?"
„Das ist nun schon ein Geheimnis!" Kortschenko lächelte selbstzufrieden. „Es ist eben ein Wunder, obgleich ja heutzutage angeblich keine Wunder mehr passieren. Alles das wurde durch die Prämiierung der Spezialisten und Werkmeister erreicht. Alles das ist dem Rubel zu verdanken! Denk dir nur, wie sich die Meister anstrengen: sie arbeiten zwei Schichten hintereinander. Gestern Nacht komme ich da in die Martinabteilung, und die Arbeit ist in vollem Gange! Ein feiner Kerl ist doch der Borezki — sogar den Trussow und den Liederjan, den Sharow, hat er dazu gekriegt zu arbeiten. Er hat es verstanden sie anzuspornen."
„Du bist der Meinung, dass der Rubel heute die einzige Triebkraft bildet?" Wartanjan zog langsam die Brauen zusammen.
„Weißt du, Wartanjan, ich bin nicht gewöhnt, mich auf lange Erörterungen einzulassen, ich befasse mich überhaupt nicht mit abstrakter Philosophie." Kortschenko betonte besonders die letzten Worte. „Diese Angelegenheit hat für mich rein praktische Bedeutung — und hier hast du das Resultat: der Prozentsatz des Ausschusses ist um die Hälfte gesunken, die Qualität unserer Lokomotiven ist tadellos. Das bestätig!: sogar der Ingenieur Akatujew, und der weiß Bescheid. Bei der Masse ist's natürlich der Enthusiasmus und alles mögliche andere, wie das Jusow da in seinen Leitartikeln so schön schreibt.,. Aber die Entscheidung liegt immerhin bei den Ingenieuren und Meistern, — die wissen, wo sie anpacken müssen. Sie sind die Macht, Wartanjan, und diese Macht habe ich jetzt in der Hand. Und hier muss man mit großer Vorsicht zu Werke gehen... Ich meine die Sache mit Platow. Kaum ist er in der Fabrik, und schon fangen die Unannehmlichkeiten an. Er ist temperamentvoll, jung, voller Selbstbewusstsein und Draufgängertum — daraus kann jetzt großer Schaden entstehen. Weißt du, was er sich gestern auf der Ingenieurversammlung geleistet hat? Turtschaninow hielt einen Vortrag über die ,Ermüdung der Metalle' — er ist wohl unser einziger Spezialist auf diesem Gebiet, hat verschiedene Bücher darüber geschrieben usw. Das Problem ist außerordentlich kompliziert. Ich beispielsweise habe mich mindestens dreimal soviel mit Metallen beschäftigt wie Platow, und trotzdem hüte ich mich, darüber öffentlich zu sprechen. Das ist eben eine zu komplizierte Sache! Platow aber stellt sich da hin und erklärt: ,Diese Theorie erinnert mich an das Pfaffenmärchen von der Sündigkeit der Menschen... ' Tableau! Turtschaninow verließ demonstrativ die Versammlung... Mit Mühe und Not gelang es mir, die anderen Ingenieure zu beruhigen."
Kortschenko ging aufgeregt im Zimmer auf und ab, eine Zigarette im Mund.
„Aber Platow ist trotzdem einer von den Unsrigen", unterbrach ihn Wartanjan, „außerdem ist er ehemaliger Arbeiter. Er war im Ausland. Roter Spezialist. Es ist nur natürlich, dass er alles anzweifelt, selbständig nach neuen Wegen sucht... Da sind Zusammenstöße unvermeidlich... Das ist ja doch eine der Formen des Klassenkampfes unter den heutigen Verhältnissen bei uns."
Kortschenko drehte sich plötzlich scharf, mit einer Schnelligkeit, die im Gegensatz zu seiner Körperfülle stand, auf dem Absatz herum.
„Also auch du ziehst es vor zu zweifeln?"
Wartanjans Gesicht verfinsterte sich, er klopfte nervös mit dem Bleistift auf den Tisch und wandte sich dem Fenster zu.
„Du redest Unsinn, Kortschenko, oder aber, du willst mich einfach nicht verstehen. Vielleicht hab' ich mich auch nicht richtig ausgedrückt. Es handelt sich hier weniger um das Recht zu zweifeln, als vielmehr um die Pflicht eines jeden, nicht aufs Wort zu glauben. Ich meine hiermit nicht dich als Parteigenossen, den ich achte, und ich spreche nicht von der Partei. Ich meine die Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind. Und es gibt noch viele Klassenfeinde mit der Ingenieurmütze auf dem Kopf. In dieser Beziehung werde ich Platow stets unterstützen, Kortschenko., und du brauchst mir keine Vorlesung zu halten, keine Ermahnungen zuteil werden lassen!" Er warf heftig den Bleistift auf den Tisch.
„Nur nicht gleich so heftig, du kaukasischer Hitzkopf, du!" Etwas verlegen lächelnd ging Kortschenko hinaus.
An den Lippen nagend, las Wartanjan die eben eingegangene Post. Eine klingende Stille lag ihm in den Ohren, als sei das Zimmer angefüllt von summenden und surrenden Bienen — ein neurasthenischer Anfall war im Anzug. Wartanjan schüttete ein Pulver auf die Zunge, spülte es mit einem Schluck Wasser hinunter und sah unruhig auf die Uhr — sie stand. Er drehte sie verwundert in der Hand hin und her, schüttelte sie — das Uhrwerk schwieg still. „Sollte sie wirklich schon kaputt sein? Ich hab' sie doch erst kürzlich gekauft. Er öffnete die Kapsel mit einem Messer — kein Rädchen bewegte sich. Die Rubine funkelten ihn an wie rötliche Kaninchenaugen. „Ich muss sie zum Uhrmacher tragen." Gedankenlos begann er am Knopf zu drehen, und die Uhr tickte munter los. Er hatte gestern abend ganz einfach vergessen sie aufzuziehen. Wartanjan lachte kurz auf und ging in die Fabrik.
Schwer atmend lag die Erde da, gedrückt von der Hitze und von den Tausenden von Tonnen Stahl, Eisen und Kupfer, die auf ihr lastete, zusammengeschnürt von dem engen Netz der Schienenstränge. Ein Arbeiter mit bloßem Oberkörper schlug mit einem Hammer auf einen rostigen Eisenbalken ein, der unter den Schlägen erzitterte und stöhnte. „Könnte man den Balken nicht mit einer Maschine durchsägen?" fragte sich Wartanjan. „Aber wer weiß, vielleicht ist es so richtig?" Er musste unwillkürlich an die Sache mit der Uhr denken. So war es auch mit der Fabrik: seine Augen erfassten nur die äußeren Erscheinungen des Fabriklebens. Die Abteilungen arbeiten. Die Maschinen donnern. Sechzehntausend Menschen sind bei der Arbeit. Aber in das Innere dieses komplizierten Mechanismus, der dem einer Uhr gleicht, kann er nicht eindringen. Dabei ist irgendetwas an diesem Mechanismus nicht in Ordnung. Die Qualität der Lokomotiven ist unbefriedigend. Aber er selbst ist außerstande, die Ursache dieser Mängel in dem komplizierten Räderwerk der Fabrik zu erkennen. Man muss den „Uhrmacher" Kortschenko fragen, und man muss ihm aufs Wort glauben... Er, Wartanjan, kann höchstens den Mechanismus aufziehen, aber ihn reparieren kann er nicht. Wer leitet denn aber in diesem Fall die Fabrik — er oder Kortschenko? Nun sollte er sich in diese unangenehme Geschichte einmischen, in den Zusammenstoß Platows mit Turtschaninow.
Was ist das: „Ermüdung der Metalle"? Das ist irgend etwas äußerst Kompliziertes, etwas rein Technisches. Aber eingreifen muss er auf jeden Fall...
Er war mit sich selbst unzufrieden. Langsam ging er an der Dreherei vorbei, Bekannten einen Gruß zunickend. Um ihn herum summten und surrten die Maschinen, die Treibriemen klatschten. Zwischen all diesen Hunderten von Drehbänken, Fräsmaschinen, Bohrmaschinen, die das Metall bohrten, schliffen und schnitten, standen einzig und allein die Planscheiben, die Lokomotivrädern ähnelten, still und unbeweglich.
Wartanjan trat zu Mochow heran, der in das Betrachten einer Achse versunken war, die sich auf seiner Maschine funkelnd
drehte.
„Warum steht diese Maschine hier still? Ist keine Arbeit da?"
„Keine Arbeit?? Du liebe Zeit — soviel Sie wollen! Aber wer soll denn dran arbeiten? Um an dieser Maschine zu arbeiten, muss man einen schlauen Kopf haben----sie hat vier
Supports. Die Triebsachse fordert größte Genauigkeit. Bei der geringsten Kleinigkeit ist sie hin. An der Maschine da hat ein Dreher gearbeitet, wie selten einer, unser bester Dreher... Und nun ist er weg."
„Wo ist er denn?"
„Sie haben ihn entlassen." Mürrisch trat Mochow an den Werkzeugkasten.
„Warum?"
„Die Vorgesetzten wissen's besser, warum... Er hatte einen Radsatz verdorben — das ist freilich ein teures Stück... "
„Aber du sagst doch selbst, er war ein guter Dreher. Wie konnte das denn passieren?"
Mochow konnte selbst nicht begreifen, wie es hatte passieren können, dass der beste Dreher einen Radsatz verdorben hatte. Er hatte keine Ahnung von den Ereignissen, die sich da vor seinen Augen abgespielt hatten. Er fühlte nur, dass Saizew irgendeine Ungerechtigkeit geschehen war, sah seine unruhig flackernden Augen vor sich, die Zeitungsnotiz, die Saizew erbleichen und schwanken machte, als er sie las; aber er konnte alle diese Tatsachen nicht miteinander in Verbindung bringen und zuckte nur mit den Schultern, als Wartanjan Näheres wissen wollte. „Jedenfalls kam es von der Aufregung... Er ist ein Sinnierer, hat immer dagesessen und über die Maschine nachgegrübelt. Oder er hat die Maschine irgendeiner Kleinigkeit wegen angehalten und dann angefangen dran herumzumurksen, stundenlang. Die Maschinen haben's ihm angetan! Vielleicht dachte er's besser zu machen als der Ingenieur. Na, und so ist eben das Ganze gekommen!"
Wartanjan konnte aus dieser ganzen Rede überhaupt nicht klug werden. Mochow sprach so, als ob er laut dächte, als ob er sich selbst von irgend etwas überzeugen wollte. „Und die Gewerkschaft — weiß die von der Sache?" „Die Gewerkschaft!... Was kann schon die Gewerkschaft davon verstehen? Die Gewerkschaft hat bei uns einen Weiberrock an. Also handelt sie auch nach Weibermanier. Und so kann man's nicht zwingen."
„Wer ist denn Gewerkschaftsobmann?" „Da oben auf dem Kran hängt er... Olga! Komm mal runter! Genosse Martenjan will dich sehen." Mochow sprach diesen für ihn schwierigen Namen auf seine Weise aus; aus seiner Stimme klang dabei höchste Achtung für diesen Mann mit den lebhaften Augen, die schwarzen Johannisbeeren glichen. In jenem vielstöckigen Hause, als das sich Mochow die Fabrik und das ganze Leben vorstellte und in dem er, Mochow, jedem seine Etage bestimmt hatte, hatte Wartanjan für ihn das alleroberste Stockwerk inne, denn er wurde auf jeder Versammlung zum Vorsitzenden gewählt, eröffnete alle Meetings und sprach klug und verständlich zu den Arbeitern. Und Mochow stellte sich lebhaft vor, wie Wartanjan von seinem obersten Stockwerk aus mit seinen flinken schwarzen Augen alles beobachtete, wie das ganze Leben mit allen Einzelheiten wie auf der Handfläche ausgebreitet vor ihm dalag.
„Das ist eine ziemlich verwickelte Sache, Genosse Martemja... Hier muss man geschickt anpacken, wenn man sich auskennen will. Der Mensch ist gewissermaßen auch eine Maschine. Es kann ja sein, dass auch bei dem Saizew irgendeine Feder gesprungen ist..."
Elastisch und schlank wie eine junge Tanne, mit leichten, federnden Schritten kam Olga zu Wartanjan heran. Der eng anliegende blaue Arbeitskittel, in der Taille von einem Gürtel fest zusammengehalten, ließ die Umrisse ihres leichten, festen Körpers deutlich erkennen. Die schwarzen, öligen. Hände und die muskulösen Beine, die bis an die Knie hinauf nackt waren, stachen seltsam ab von der zarten Haut ihres Gesichts, die durchsichtig war, und wie von innen heraus rosig durchleuchtet; von diesem rosa Hintergrund hoben sich die blauen, lachenden Augen besonders strahlend ab.
„Sie wünschen etwas von mir, Genosse Wartanjan?" Wartanjan, dem das hübsche, schlanke Mädel gut gefiel, erwiderte den hellen, funkensprühenden Blick dieser blauen Augen unwillkürlich mit einem freundlichen Lächeln.
„Ich wollte gern wissen, was mit dem Dreher Saizew los ist?"
„Ach, das ist eine ganze Geschichte. Der beste Dreher der Abteilung, mit einemmal hat er einen teuren Maschinenteil vollkommen verdorben und die Arbeit mittendrin stehen und liegen lassen. Es war eine Kommission zur Untersuchung eingesetzt. Der Meister und Sorin, der Leiter der Abteilung, sagen, er hat sich demonstrativ geweigert, die neue, erhöhte Arbeitsnorm zu leisten und hat absichtlich den Radsatz verdorben."
„Und was haben Sie als Gewerkschaftsbevollmächtigte der Abteilung für eine Meinung?"
Olga wurde plötzlich verlegen, und ihre Wangen bedeckten sich mit einer dunklen Röte.
„Ich habe meine Meinung gesagt, aber man will sie nicht berücksichtigen. Ich hab' Lärm geschlagen und hab' mich geweigert, das Protokoll zu unterzeichnen; aber Teleshkin hat sich dem Urteil der Kommission angeschlossen, und Saizew wurde entlassen. Meiner Meinung nach ist hier eine Ungerechtigkeit begangen worden."
Wartanjan musste an die verächtliche Bemerkung Mochows über den Gewerkschaftsobmann im Weiberrock denken und unwillkürlich lächeln. „Wie heißen Sie?" „Pylajewa."
„Pylajewa? Pylajew war also Ihr Vater?" „Jawohl, mein Vater...", antwortete Olga, noch röter werdend, als sie den aufmerksamen Blick Wartanjans auf sich haften fühlte. Sie machte sich an ihrem Kopftuch zu schaffen, aber die widerspenstigen Haare gehorchten ihr nicht, sie quollen in dichten Wellen darunter hervor.
„Nun, und wie geht's der alten Pylaicha?" „Ich sehe sie jetzt fast gar nicht mehr. Sie verbringt den ganzen Tag im Museum. Da sitzt sie in der Ecke, wo jene Telegrafenstange steht. Sie fegt da aus. Vor den Menschen hat sie jetzt nicht mehr so große Angst. Der Museumsleiter bezahlt ihr ihre Arbeit, aber sie kann die Kopeke vom Rubel nicht unterscheiden. Ich habe nun zwei ,Melancholische' im Hause: die Großmutter und den Kusmitsch. Es ist richtig komisch mit ihnen!" erzählte Olga mit gutmütigem Lächeln. An der Tür der Abteilung wandte sich Wartanjan noch einmal um, und als er sah, dass Olga mit flammend rotem Gesicht immer nach dastand, rief er zurück: „Du musst auch weiter Lärm schlagen, Olga!" Er ging weiter von Abteilung zu Abteilung, und überall stieß er auf etwas Neues, was ihn aus dem Wirrwarr der Maschinen, der Metallhaufen, aus den Gesichtern der Menschen, aus allen Einzelheiten des Fabriklebens anschaute. Er war umringt vom Krachen des Stahls, eingehüllt vom Donnern der Maschinen, von den Wogen des Metallstaubs und scharfem Schweißgeruch; und er ging weiter, von Werkstatt 2u Werkstatt, von Maschine zu Maschine, beobachtete mit suchenden Augen die Bewegungen der Maschinen, der Werkbänke, der Menschenhände, die gespannte Aufmerksamkeit auf den Gesichtern der Arbeiter.
In der Martinabteilung blieb er stehen und beobachtete, wie ein langarmiger, mittelgroßer Arbeiter eine Barre Roheisen zerschlug. Mit Anstrengung hob er das große Eisenstück hoch und schlug es gegen die Schienen. Aber die Eisenbarre ergab sich nicht so leicht, sie glitt ihm aus den Fingern, und der Arbeiter musste seine Bewegungen von neuem wiederholen. Als die Eisenstange endlich in zwei Teile zerbarst, hockte sich der Arbeiter erschöpft auf die Erde nieder.
„Ist's schwer, Genosse?"
Der Arbeiter warf ihm einen bösen Blick zu.
„Du kannst's ja mal probieren! Was fragst du so dumm?"
Wartanjan wurde verlegen und wollte weitergehen, aber der Arbeiter hielt ihn mit seinem bösen Blick fest. Unentschlossen stand er da. Sollte er ihm ein paar freundliche Worte sagen? Aber was konnten Worte für diesen ermüdeten Menschen bedeuten? Sie würden ihn höchstens noch mehr aufbringen. Er fühlte, wie der schwere Blick des Arbeiters voller Verachtung auf ihm ruhte.
Ü ber Wartanjan hingen die glänzenden Kupferdrähte der Hochspannungsleitung. Sie durchschnitten direkt über seinem Kopf die Luft und zogen sich, leicht herabhängend, in die Weite, bis sie sich in der Ferne verloren. Die Linie, diese Linie, die er in Gedanken gezogen hatte und die über vier Hauptstädte hinwegführte, sie führte auch über die Fabrik, über Wartanjan, über diesen müden, am Boden sitzenden Arbeiter weg. Und wieder fühlte Wartanjan mit ihrer ganzen Schwere die Verantwortung für diese Fabrik, für diesen von der Ermüdung zu Boden gedrückten Arbeiter, für das Leben und die Arbeit dieser tausende Menschen. Ja, er, Wartanjan, musste alles wissen, musste ihre Gedanken, ihre Stimmungen, ihre Arbeit kennen, damit er das Recht hatte, diese Menschen zu leiten, die hier, unter der drohend den Äther durchschneidenden Linie der künftigen Tage, Lokomotiven bauten.
Er bückte sich, um die Eisenstange aufzuheben.
„Zieh' die Handschuhe an, sonst zerreißt du dir die Finger!" Der Arbeiter warf ihm die dicken Fäustlinge hin.
Wartanjan steckte seine Finger in die formlosen, schmutzigen Säcke und griff nach der Barre. Als er sie emporhob, fühlte er, wie schwer es war, sich wieder aufzurichten; alle Sehnen und Muskeln waren aufs äußerste angespannt, dabei hatte er die Barre erst bis in Kniehöhe gehoben. Er nahm alle Kräfte zusammen und stand nun aufrecht da, die Stange in den Händen; aber er wusste nun nicht, was er mit ihr machen sollte.
„Schlag zu!" kommandierte der Arbeiter, mit den Augen blinzelnd.
Wartanjan ließ die schwere Barre matt aus den Händen gleiten, sie kollerte über die Schienen, bis sie unversehrt im Sand liegen blieb. Wartanjan beugte sich wieder zur Erde. Jetzt schien ihm die Last schon leichter; als er aber die Stange hochheben wollte, um sie mit Gewalt auf die Schienen zu schleudern, schien es, als ob irgend jemand seine Arme unten festhielt, und die Stange sprang wieder weich wie ein Frosch in den Sand.
„Siehst du!" sagte der Arbeiter triumphierend. „Wenn du damit deinen Tag hingebracht hast, da trinkst du dann schon einen Schluck vor lauter Müdigkeit! Wie soll man überhaupt bei solcher Arbeit nicht trinken? Und wenn du trinkst, dann heißt es: ,Pfui, der schlechte Sharow!' Und wirklich — ich bin auch nicht zu halten, wenn ich besoffen bin!"
„Du musst dich aber doch beherrschen... Trink' nicht zuviel", sagte Wartanjan, schwer atmend.
Sharow schaute ihn lange und traurig an.
„Ich kann mich eben nicht beherrschen, mein Lieber. Mich hat es furchtbar gepackt! Zwei Jahre bin ich schon in der Fabrik, aber ich kann mich nicht beruhigen... Mit der Wurzel bin ich ausgerissen, mein Lieber! Und ich bin auch gar kein Sharow... Shurawlow bin ich... Bei uns in Dawydowka heißen alle Shurawlow... „Woher kommst du?"
„Von da drüben..." Sharow wies mit der Hand nach der Richtung, in der die glänzenden Kupferdrähte verschwanden. „Du bist also ein Bauer?"
„Ich war ein Bauer... " Über Sharows nachdenklich werdendes Gesicht zog ein finsterer Schatten.
„Was hat dich denn veranlasst, in die Fabrik zu gehen?" Wartanjan hörte nicht auf zu fragen. Sharow schnitt eine traurige Grimasse. „Wo soll ich denn sonst hin? Ein nackter elender Mensch bin ich. Nicht einmal das Hemd auf dem Leibe haben sie mir gelassen, mein Lieber!"
„Nun erzähl' mir mal, was dir passiert ist!" Wartanjan ließ sich neben Sharow nieder und schaute ihm ins Gesicht, das elend und kummervoll aussah.
„Du bist ja gar nicht los zu werden — klebst an einem wie die Badehose am Hintern!" lachte Sharow. „Ich hab' meine eigene Wirtschaft gehabt. Ein Pferd, eine Kuh und all das andere unbewegliche Gut. Aber sie haben mich einfach vernichtet, mit der Wurzel herausgerissen! Haben alles angezündet... Die Kinder sind verbrannt, und die Frau... Und das Pferd und die Kuh... Für meinen gerechten Sinn haben sie mich abbrennen lassen..." In sich zusammengesunken saß Sharow da, seine langen, wie mit dichtem, dunklem Pelz bedeckten Affenarme hingen matt herab. „Da bin ich in die Fabrik gegangen. Und die Arbeit ist schwer... Ich müsste eine Maschine in die Hand kriegen, dann würde ich wieder aufleben. Ich liebe die Maschinen. Wegen einer Maschine ist auch alles das bloß passiert. Ich habe eine gemeinschaftliche Dreschmaschine organisiert, und dafür haben sie den roten Hahn auf meinem Hof organisiert. Alles kaputt gemacht, mit der Wurzel herausgerissen! Ein verbitterter Mann bin ich heute!"
„Wer —,sie'?"
,Wer'! ,Wer'! — das weiß man schon, wer... ", seufzte Sharow und erhob sich. „Nun mal los — weiter schuften. Aber für die Gerechtigkeit, da steckte ich den Kopf ins Feuer. So bin ich nun mal! Ich kann ein richtiger Held sein!" Stolz streckte er die schmale Brust heraus. „Wenn ich bloß eine Maschine in die Hand kriegte!"
Er ergriff die Eisenbarre und ließ sie mit aller Kraft aufschlagen, so dass die glänzenden Metallstücke auseinanderkrachten.
Wartanjan betrachtete seine Hände: sie waren mit dichtem Metallstaub bedeckt, und deshalb schienen sie stark und schwer. Von der ungewohnten Arbeit lief ein feines Zittern durch die Finger, und der ganze Körper war von einer angenehmen Erregung durchdrungen. Die unmittelbare Berührung mit dieser Arbeit, die Tausende von Menschen tagaus, tagein verrichteten, die schwarzen Flecke an den Händen und der Schmerz im Rücken hatten ihm alles das verständlich gemacht und fühlbar nahegerückt, was gestern nur leere, allgemeine Abstraktion für ihn gewesen war: die trockenen Ziffern aus den Rechenschaftsberichten der Fabrikleitung und aus den Resolutionen verdichteten sich zu schweren Metallbarren, zum Donnern und Krachen der Maschinen, zu Bergen von Rädern, Achsen und funkelnden Lokomotivteilen, zu Haufen von Eisen und Stahl, zitterten im straffen Anziehen der Muskeln. Und jeder einzelne der sechzehntausend Arbeiter, die diese lärm- und raucherfüllten Werkstätten belebten, stand vor ihm, deutlich und eigenartig, wie dieser jämmerliche Sharow hier, mit einer eigenen, tiefen Innenwelt wie Sharow. Und diese sechzehntausend ganz verschiedenartigen, höchst persönlichen Leben wurden durch die Bewegung des Metalls von Maschine zu Maschine zu der mächtigen Einheit des Fabrikkollektivs verbunden — angefangen von Sharow mit seinen grauen Eisenstangen bis zu dem alten Nörgler Mochow und der schlanken Olga, die den Prozess des Maschinenbaus vollendeten. Und dieses ganze, tausendköpftge Fabrikkollektiv, das eingehüllt war in das Donnern des Metalls, in den Geruch von Erdöl und grauen, beißenden Rauch, hatte sich nun auf einmal belebt, seine graue Unpersönlichkeit war verschwunden, an ihre Stelle waren charakteristische Menschengesichter getreten — das Kollektiv in seiner unendlichen Vielfalt und Buntheit war auf einmal körperlich greifbar geworden.
Auf den Schienen kam langsam eine neue, soeben vollendete Lokomotive angerollt. Vor Anstrengung zitternd, schob sie ihren langen, von glänzenden Kupfergürteln umzogenen Körper fauchend vor, bahnte sich durch kurze, dreistimmige Schreie ihrer Dampfpfeife einen Weg durch das Getümmel der Fabrik. Der fünfzackige, flammende Kupferstern, der von der vordersten Wölbung ihrer Brust strahlte, blendete die Augen.
Wartanjan stand unbeweglich, gebannt vom Anblick diesen Lokomotive, dem weit ausgreifenden Schwung der Räder, der ruhigen Bewegung all der Teile, deren Namen er nicht kannte, dem Glanz der frisch aufgetragenen Lackierung, die wie ein schwarzer Spiegel die Gegenstände und Menschen, an denen die Lokomotive langsam vorüberfuhr, wiedergab. Und plötzlich fiel Wartanjan der Zweck seines Rundgangs durch die Fabrik wieder ein. Sollte etwa auch diese Lokomotive „genau so wie früher" gemacht sein? Sollte sie wirklich auch wieder so gemacht sein, dass sie morgen oder übermorgen zu einem neuen Vorwurf für die Fabrik wurde?
„Wie früher..." Wie sollte man das erfahren? Wie sollte man eindringen in ihr dampfendes Innere, um zu prüfen, ob auch wirklich alles in Ordnung war? Sollte man sich wieder an den „Uhrmacher" wenden? Vielleicht wusste der auch nicht mehr? Die Arbeiter fragen?... Aber deren Wissen beschränkt sich auf den einen bestimmten Teil, den sie herstellen. Wer ist denn aber imstande, eindeutig und bestimmt die Wahrheit zu sagen?
Mit wachen, unruhigen Blicken sah Wartanjan der davonfahrenden glänzenden Lokomotive nach — in dieser Wolke zischenden Dampfs, in dem Donnern von Stahl und Eisen fuhr da die gemeinschaftliche Arbeit von sechzehntausend Menschen an ihm vorüber, eine Arbeit, die ihm in ihrer Kompliziertheit beinahe unfassbar war. Er sah nur das, was jeder Reisende sah — die starke, große, schöne Lokomotive. Aber er ist nicht nur ein Reisender, er ist der politische Lokomotivführer... Und wieder wurde Wartanjan von starker Unruhe ergriffen, und er fühlte: ohne Vertrauen kann man nicht leiten; alles selbst wissen aber — das ist unmöglich. Ja — er vertraute diesen Sechzehntausend, er musste ihnen vertrauen. Sie bauen diese Lokomotiven für sich selbst, für ihren Staat. Dieser funkelnde Kupferstern da vorn an der Brust der Lokomotive, der ist selbstverständlich keine technische Notwendigkeit, das ist klar, man ist früher auch ohne diesen Schmuck mit Lokomotiven gefahren. Aber dieser Stern entstammt der Liebe zur Lokomotive, dem Wunsch, der Lokomotive ein schöneres Aussehen zu geben, dem Wunsch, das Schönheitsbedürfnis zu befriedigen, das Siegesbewusstsein auszudrücken und es auf die anderen zu übertragen. Der Stern — das ist die Kunst, die gewaltsam eindringt in die prosaische Sphäre der Produktion. Und er ist die unaufhaltsame Verkörperung der neuen Gefühle, die den Arbeiter beseelen, wenn er seine Lokomotive baut. Das ist der Aufschwung der Revolution auf eine höhere Stufe. So ist es... Sind aber die ganzen Sechzehntausend von diesen neuen Gefühlen durchdrungen?
Bei seinem Rundgang durch die Abteilungen sah er Arbeiter, die ihre Arbeit voller Hingabe verrichteten, die hartnäckig, angespannt und freudig schafften; aber er sah auch die gelangweilten Gesichter jener, die „auf alte Weise" ihr Pensum abhaspelten, mechanisch und ohne zu denken; er sah oberflächliche Schlamperei und nachlässige Hetzarbeit auf der Jagd nach hohen Akkordleistungen. Die meisten gehörten zu der ersten Gruppe, davon hatte sich Wartanjan mit eigenen Augen überzeugt. Aber in der fertigen Lokomotive ist die Arbeit aller verkörpert... die Arbeit derer, die voller Begeisterung die Brust der Lokomotive mit dem flammenden Stern schmücken, die Arbeit jener, die nur dem Rubel nachjagen und auch die Arbeit solcher wie Sharow — die zu den Getreuen gehören, aber die rohen Überreste bäuerlicher Kulturlosigkeit noch nicht abgeschliffen haben.
„Ja — man muss dafür sorgen, dass die Führung dieses tausendköpfigen Kollektivs Menschen übernehmen, die nicht nach alter Weise arbeiten. Darin liegt die Garantie... Man muss ihre Initiative auslösen. Dafür sorgen, dass sie, die ihre Arbeit an den Einzelteilen gut kennen, den gesamten Produktionsprozess erfassen. ,Uhrmacher' muss man aus ihnen machen. Ihnen vertrauen. Kortschenko nur bis zu einem gewissen Grade Glauben schenken. Forderungen stellen. Keine Ruhe geben!" Es fielen ihm die Worte ein, die Kortschenko übet die Ingenieure gesagt hatte: ,Sie sind die Macht. Und diese Macht habe ich jetzt in der Hand.' „Stimmt das? Das muss untersucht werden. Aber die Hauptsache: denen mehr Aufmerksamkeit schenken, die nicht mehr so wie früher, auf alte Weise arbeiten."
Saizew fiel ihm ein. Der beste Dreher. Entlassen. Hat seltsamerweise die Arbeit stehen und liegen lassen und ist fortgelaufen — mitten drin... Wartanjan ging zum Betriebsrat.
Da saß Teleshkin, den Kopf schief zur Seite geneigt, die Zungenspitze etwas herausgestreckt, und kritzelte eifrig mit der Feder auf einem Papier herum.
„Ach, Genosse Wartanjan! Ich bereite mich auf meinen Bericht für das Plenum des Betriebsrats vor. Zwei Stunden mindestens muss ich reden, Wartanjan, nicht weniger!"
Wartanjan unterbrach ihn ungeduldig:
„Weißt du etwas über die Entlassung von Saizew?"
„Natürlich, warum?"
„Wie hast du, der Vorsitzende des Betriebsrats, darauf reagiert?" „Was gibt’s da weiter zu reagieren! Die Sache ist ganz klar. Er ist gemäß den Vorschriften, der Betriebsordnung entlassen worden." „Gemäß den Vorschriften der Betriebsordnung... " wiederholte Wartanjan nachdenklich. „Hast du ihn auch, gemäß den Verpflichtungen der Gewerkschaftsarbeit, in seiner Wohnung aufgesucht?"
„Ich? Saizew in seiner Wohnung aufgesucht!?" Teleshkin riss erstaunt die Augen auf. „Du machst wohl einen Witz? Da gibt es Tausende von Wohnungen, wie soll ich die alle ablaufen? Wann soll ich denn arbeiten?" Und mit einem heftigen Ruck senkte Teleshkin seinen Kopf tief auf das Papier.
„So — o..." Wartanjans Augen funkelten Unheil verkündend. „Möchtest du mir vielleicht sagen, was du eigentlich ,arbeiten' nennst? Papier vollkritzeln? Du wirst so freundlich sein und gleich morgen zu Saizew in die Wohnung gehen."
Teleshkin warf den Federhalter auf den Tisch:
„Bin ich vielleicht ein Laufjunge, was? Ich werde nicht gehen!"
„Jawohl! Ein Laufjunge! Und wenn's dir nicht passt, dann scher' dich zum Teufel!" Wartanjan drehte sich schroff um, im Hinausgehen die Tür hinter sich zuwerfend, und Teleshkin, dem ganz heiß geworden war, hörte, wie auf dem Korridor der Fußboden unter seinen schweren, hastigen Schritten knarrte.
Am Abend ließ Wartanjan die Zellensekretäre aller Abteilungen zu sich kommen.
Er teilte ihnen seine Eindrücke von seinem Rundgang durch die Fabrik mit, sprach darüber, dass jeder Sekretär den Herstellungsprozess der Lokomotiven kennen und wissen müsse, wie jeder einzelne Arbeiter lebt; jede einzelne Abteilung müsse aufgerüttelt werden. „Die Qualität der Lokomotive", sagte er, „ist die Qualität derer, die die Lokomotive bauen: die Qualität der Arbeiter, der Werkmeister, der Ingenieure, des Direktors, die Qualität jedes Kommunisten in der Abteilung."
Andrjuschetschkin glaubte in der Flut der heißen, leidenschaftlich hervorgesprudelten Worte zu ersticken: beobachten und sehen, alles sehen, wissen, wo man vertrauen darf und wo nicht, die Arbeiter in ihren Wohnungen besuchen, sie anhören, alles wissen und alles tausendmal prüfen!
Das alles war neu, ungewöhnlich und unerwartet. Wartanjans Unruhe steckte an. Sie klang aus allen seinen Worten, funkelte aus den glänzenden schwarzen Augen, zitterte in seinen schlanken, blassen Fingern, die nervös ein Stück Papier in kleine Fetzen rissen.
2
Akatujew erwachte plötzlich mitten in der Nacht, geweckt von einem lauten Klopfen ans Fenster.
Ununterbrochen gespannte Wachsamkeit hatte sein ohnehin schwaches Herz gründlich ruiniert. Erschrocken fuhr er hoch, griff sich an die linke Seite — wollte sein Herz zerspringen? Dann wankte er ans Fenster. „Mach' auf, Papa! Ich bin es!"
„Wera? Warum so unerwartet! Sie sollte doch eigentlich nach dem Ural fahren." Freudig erregt über die Ankunft der Tochter, öffnete Akatujew mit zitternden Händen die zahlreichen Riegel und Schlösser, mit denen die Haustür verrammelt war.
„Na — machst du bald auf? Ich bin ganz erfroren!" rief Wera von draußen, und ihre Stimme, die Akatujew dumpf und unbekannt vorkam, verwirrte ihn noch mehr. Er konnte absolut nicht den Schlüssel herumdrehen, so sehr er sich auch bemühte.
„Sofort, Werusska, sofort... gleich mach' ich auf, mein Herzchen."
Endlich war die Tür geöffnet, und Wera trat zitternd vor Frost ins Vorzimmer.
„Ist es denn so frisch heute Nacht, dass du so frierst?" wunderte sich Akatujew und er küsste seine Tochter auf beide Wangen. „Mir schien es schwül..."
Wera rieb sich nervös zitternd die Hände. „Es ist jedenfalls von der Reise... Im Waggon war es sehr heiß, und an der frischen Luft wurde mir dann gleich kühl... Oder vielleicht fehlt mir irgend etwas..."
„Du schriebst doch, dass du nach dem Ural müsstest. Und auf einmal bist du hier? Na, ich bin sehr froh darüber, denn allein ist es furchtbar langweilig. Wirst du lange hier bleiben?" drang Akatujew in sie, seinen Rock zuknöpfend. „Du bist jedenfalls sehr müde?"
„Ja, ich hab' zwei Nächte nicht geschlafen... Ich werde mich niederlegen... Morgen werden wir plaudern, Papa... Also, ich bleibe bis zum Herbst. Ganz unerwartet hat man mich zur Praxis hierher geschickt."
„Ach, das ist ja fein. Da werden wir den ganzen Sommer zusammen sein. Ausgezeichnet!"
Wera kramte einen Brief aus ihrem Koffer und reichte ihn dem Vater; sie zitterte dabei, als ob sie stark fröstelte.
„Das ist für dich, Papa... Von deinen... Bekannten."
In ihren müden Augen entzündete sich plötzlich ein wachsamer Funke, sie blickte dem Vater scharf ins Gesicht, während ihre Finger am Taschentuch zerrten.
Akatujew griff hastig nach dem versiegelten Brief, musterte ihn mit einem schnellen, ungeduldigen Blick und erhob sich.
„Nun, Wera, leg' dich schlafen... Ruh' dich aus. Ich gehe in mein Zimmer hinüber..." und er schlurfte in seinen Pantoffeln aus dem Raum.
In seinem Zimmer öffnete Akatujew mit dem Taschenmesser vorsichtig das Kuvert und las hastig das eng mit Bleistift beschriebene Blatt. Mit jeder neuen Zeile wurde seine Erregung größer, seine Brauen zuckten auf und nieder, sein Herz klopfte wieder stark und unruhig.
Das längst zu Ende gelesene Blatt zitterte in seinen mageren, gichtgekrümmten Fingern. Über sein Gesicht huschte ein vages Lächeln, das sich in seinem harten Schnurrbart verlor.
Draußen dämmerte schon längst der Morgen, die Fensterscheiben färbten sich hellgrün; im Garten zeichneten sich deutlich die Konturen der Geißblattsträucher und Akazien ab, deren Blätter nass glänzten. Akatujew aber saß noch immer unbeweglich und lächelnd in seinem Sessel. Dann stand er auf und wanderte im Zimmer auf und ab. An Stelle des stillen Lächelns lag nun tiefe Nachdenklichkeit auf seinem Gesicht. Als die Sonne aufging, rief ihn Wera unerwartet an: „Papa, komm doch mal zu mir herein." Wera lag angekleidet auf dem Bett, die entzündeten Augen auf die Schnörkeleien an der Zimmerdecke geheftet.
„Papa... Ich hab' auch nicht geschlafen und hab' deine Schritte gehört... Ich muss mit dir sprechen... " Sie schwieg, als fände sie nicht gleich die passenden Worte.
Akatujew musterte unruhig ihre matt ausgestreckte Gestalt. „Ich höre, Werotschka..." „Papa... Ich weiß alles... " Durch Akatujews Körper lief ein Zittern. Mit ineinander verkrampften Händen starrte er in ihre grauen, plötzlich erloschenen Augen. Furcht und Freude, fortwährend miteinander wechselnd, verzerrten sein Gesicht zu einem furchtbaren Krampf. Die Braue über seinem linken Auge zuckte nervös.
„Nun... Wera — und du, Werusska... Du bist mit uns?" Er konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen, sein Herz klopfte wie wahnsinnig gegen die Rippen, als wollte es die Brust sprengen.
Wera richtete sich, auf die Ellbogen gestützt, auf und flüsterte mit vor Erregung heiserer Stimme: „Ich... ich bin... dagegen."
Sie glitt schnell vom Bett und trat schwankend ganz nahe an ihren Vater heran.
„Papa! Lass das alles... "
Mit einer schroffen Bewegung stieß Akatujew ihre zitternde, kalte Hand von seiner Schulter.
Die grauen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, die Braue über dem linken Auge flatterte unruhig hin und her.
Wera stand sonderbar ruhig vor ihm, schlank und grade wie eine dunkle, junge Tanne.
Er sah in ihre unerbittlichen grauen Augen und musste an ihre Mutter denken... genau ebensolche Kälte und Hass ausstrahlende, unerbittlich grausame Augen hatte auch sie gehabt. Und erschüttert über diese Ähnlichkeit, bedeckte er das Gesicht mit den Händen.
„Ja, Papa... ich bin mit einem festen und unerschütterlichen Entschluss gekommen. Er ist mir nicht leicht gefallen, aber ich..."
„Nun gut, geh! Zeig' uns an!" zischte Akatujew von seinem Schaukelstuhl her. „Geh! Mögen sie mich holen und erschießen! Mögen sie's tun! Ich werde von meinen Ideen nicht ablassen. Ich werde mich nicht ergeben! Ich werde um mich schlagen, beißen und kratzen — wenn ich auf der Erde liegen werde, so werde ich den Feind in die Beine beißen. Bis zur letzten Sekunde! Bis zum letzten Blutstropfen!... Geh! Zeig' mich an!!!" Völlig außer sich zischte er das alles hervor. Schaum stand ihm vor dem Mund und spritzte auf seinen dunklen Rock.
„Beruhige dich, Papa... Ich bin nicht hierher gekommen, um dich anzuzeigen. Ich will euch nur davon überzeugen, dass eure Sache aussichtslos ist... Ich weiß viel. Es ist noch nicht zu spät, zu liquidieren, den Rückzug anzutreten ... von neuem zu beginnen."
„Ich soll mein Leben von neuem beginnen?! Du bist verrückt! Ich — ein sechzigjähriger Mann? Und für wen? Für diese Halunken und Tagediebe? Für dieses öffentliche Bordell, das sie Sozialismus nennen?"
„Papa! Komm' zu dir, besinne dich, was du sprichst!" „Ich spreche von dem, was dich erwartet, wenn es zu unserer Niederlage kommen sollte. Du wirst es bedauern, wenn es zu spät sein wird, Wera!" Seine Stimme klang müde und bittend.
Wera schwieg und biss sich fest auf die zitternde Unterlippe.
„Werotschka! Werussja!" Akatujew fiel vor ihr nieder. „Ich liege auf den Knien vor dir wie ein Bettler... Wera! Meine Tochter! Besinne dich auf dich selbst, ich flehe dich an! 150
Sei wie früher mein liebes, geliebtes Mädchen. Ich weiß... Werotschka, liebe..." Seine Stimme brach und sank zu einem heiseren Flüstern herab.
Draußen stieg die Sonne hoch, sie funkelte in den Fensterscheiben und den blitzenden Tautropfen. Ihre Strahlen ließen die Tränen an den Wimpern der dunkelumränderten Augen Akatujews aufblitzen.
Wera erschauerte, als ob irgend etwas in ihrem Innern zerreiße. Mitleid mit ihrem Vater schoss ihr wie eine stürmische, warme Welle zum Herzen. Es würgte in ihrer Kehle, heiße Tränen stiegen in ihr auf. Sie wollte sich losreißen, aber der Vater hielt mit heißen, feuchten Fingern ihre Hand fest umklammert.
„Werotschka... Hab Mitleid mit deinem Vater... um der Mutter willen, hab Mitleid mit mir!"
Plötzlich aber sah Wera das schöne, gute Gesicht der Mutter vor sich, von der Aureole ihrer golden glänzenden Haare umgeben. Heftig stieß sie den Vater beiseite.
„Erinnere mich nicht an meine Mutter... Um so schlimmer für dich! Sie ist in diesen verfluchten Zimmern erloschen, erstickt zwischen Windeln und Daunenkissen, im Kummer und Hass auf alle diese Schränke und Betten, diese ganze warme Gemütlichkeit... Ich bin gegen euch! Ich will nicht, dass dieses saubere, satte, verfluchte Leben von früher wiederkommen soll! Auch mich hat es zu einem jämmerlichen Geschöpf gemacht, euer herrliches Leben. Ich habe viel gesehen und habe viel über alles nachgedacht Ich habe Menschen gesehen, die vom Arbeitsfieber ergriffen waren, die Nächte hintereinander nicht geschlafen hatten und dabei lachten wie Kinder... Das sind starke Menschen — wir aber, und alle, die mit uns sind, wir sind Jammerlappen, zum Untergang verurteilt. Wir lebende Leichname!" Die leidenschaftlich hervorgesprudelten Worte rissen ihr den Atem ab, erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl sinken.
Akatujew fiel in seinen Sessel zurück. Seine Ohnmacht, das Bewusstsein, dass all sein Bitten, die Liebkosungen und Tränen umsonst waren, drückte ihn nieder. Eine unbeschreibliche Schwäche durchdrang seinen schweren, hinfälligen Körper. Stille umgab ihn, nur das helle Zwitschern der Meisen drang zum halbgeöffneten Fenster herein. Akajutew hob den Kopf und begegnete wieder diesen fremden, kalten, undurchdringlichen Augen — er hatte einen Feind vor sich. Aber er hielt den Blick aus, und brennende Wut stieg in ihm hoch.
„Du wirst heute noch abreisen!" sagte er, ohne den feindseligen Blick von ihr zu wenden.
„Nein! Ich bleibe hier und werde hier, in diesem Zimmer wohnen. Ich werde auf keinen Fall abreisen, sondern werde hier im Festigkeitslaboratorium arbeiten. Und du... du kannst leben, wie du willst."
Auf schwachen, schwankenden Füßen verließ Akatujew das Zimmer. In seinem Arbeitszimmer wühlte er lange in seinen Papieren, nahm sie aus den Schubladen, ordnete sie und verschloss sie in einen Schrank. Dann 20g er sich an und ging fort. Auf halbem Wege kehrte er um, drückte die Klinke seines Zimmers nieder und überzeugte sich davon, dass die Tür verschlossen war. Dann verließ er leise wieder das Haus.
Nun sitzt er im Lager der Martinabteilung und starrt auf die Haufen von altem Eisen und Abfällen: Stahlspäne, abgenutzte Maschinenteile, verdorbene Schrauben, zerbrochene Eisenstangen. All diese zerbrochenen, verrosteten Eisen- und Stahlstücke hauchen einen Geruch von Ruhe, von Verwesung aus. Ein Triebrad, das der Rost fuchsrot gefärbt hat wie die untergehende Sonne, liegt da, als habe es sich im vollen Lauf in die heiße Erde hineingewühlt. Seine Reisen sind zu Ende, ruhig wartet es darauf, zurückzuwandern in den kochenden Martinofen. Und dieses verrostete Lokomotivrad, das die vielen Tausende von Kilometern, die es in seinem Leben durchrasen musste, abgenützt haben, schaut Akatujew an, wie das eigene Leben. „Ja, das unerbittliche Alter kommt heran, — ihr seid zum Untergang verurteilt..." Er musste an die Worte seiner Tochter denken, die sie ihm heute morgen bei Sonnenaufgang entgegengeschleudert hatte, und ein Zittern durchlief seinen Körper.
Heute war der Tag, an dem er vor dreißig Jahren seine Arbeit in dieser Fabrik begonnen hatte. Dreißigmal hatte sich die Sonne, bei der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings angekommen, über seinem Haupte geneigt — dreißig Jahre Inspektortätigkeit, Hunderttausende von Stempeln abgedrückt auf Lokomotivteile, Millionen von Minuten verlebt in Erwartung des letzten Tags. Dieser letzte Tag nahte nun. Immer kürzer wurden die Fristen für die Ereignisse, die Akatujew übersehen konnte. „Wera! (Anm.: Wera bedeutet auf russisch: Glaube) Welch eine Ironie birgt dieser Name! Sie weiß alles — aber sie glaubt nicht. Sie steht auf derselben Seite wie alle diese schweißigen Dreher und Gießer — und auf der anderen Seite stehen wir, die Akatujews, die Unversöhnlichen, Erbarmungslosen. Ob auch die zum Untergang Verurteilten... das werden wir sehen!"
Er erhob sich — seine schweren Füße schienen ihm den Dienst zu versagen. Er schlug die Richtung ein, aus der Hammerschläge ertönten.
Die Sonne hing über den Schloten der Martinabteilung wie
eine reife Frucht.
„Nossow! Hier, nimm den Stempel und arbeite! Ich gehe... Ich fühle mich nicht ganz wohl..."
Er zog einen kleinen Metallstempel aus der Tasche und gab
ihn Nossow.
„Gehen Sie ruhig nach Hause, Pal Jaklytsch. Ich werde
auch allein fertig."
Nossow wartete, bis Akatujew hinter den Fabrikgebäuden verschwunden war, dann machte er sich mit einem Seufzer der Erleichterung an die Arbeit. Hustend, mit gekrümmtem Rücken, betrachtete er die Maschinenteile und prägte mit einem Hammerschlag den Stempel auf die rötliche Oberfläche des Metalls - einen kleinen Kreis mit Hammer und Sichel in der Mitte.
Nossow zwängte sich durch die Pyramiden von fertiggegossenen Maschinenteilen, kroch in riesige stählerne Kästen und Zylinder, und wieder und wieder ertönte sein lauter Hammerschlag. Die Füße wurden ihm immer schwerer, als ob Eisenklumpen daran hingen, und die kranken Lungen sogen mühselig die von Sonne und Stahl erhitzte Luft ein und stießen sie in hastigen kurzen Atemzügen wieder aus. Schleim stieg ihm in der Kehle hoch, ein Hustenanfall würgte ihn, und gelber Auswurf fiel auf die rötlich schimmernde Haut des Metalls, dicht neben dem glänzenden Kreis mit Hammer und Sichel in der Mitte. Man hatte Nossow den ihm gesetzlich zustehenden Urlaub verweigert... Wer hatte eigentlich den Urlaub verweigert? Nossow wusste selbst nicht, wie das alles gekommen war. Borezki hatte ihm gesagt: „Du bist selbst daran schuld. Du hättest früher daran denken müssen." Ja, wirklich — er hätte früher daran denken müssen...
Von einem Radreifen her glänzt ein weißes Kreuz. Er muss daran vorbeigehen... Nossow tut einen Schritt, um sich von dem im Metall eingehauenen Kreuz zu entfernen. Es erinnert ihn an irgend etwas Unangenehmes, an das er nicht zu denken wagt... Aber da sieht er von weitem Borezki, der auf ihn zukommt; er kehrt um und prägt seinen Stempel auf den Radreifen, dicht neben das weiße Kreuz, als mache er das unheilvolle Zeichen dadurch unschädlich.
Borezki ruft ihm schon von weitem zu:
„Komm zur Nachtschicht wieder."
„Ich kann nicht, Antonytsch. Befreie mich von der Nachtschicht."
„Von der Nachtschicht befreien?? Wer hat denn gestern erst wieder drei Tscherwonzen (Anm.: 10 Rubel) gekriegt?"
Nossow räuspert sich lange und keucht endlich die Worte hervor:
„Ja, siehst du, ich hab' sie gebraucht, Antonytsch. Ich hab' da auf dem Markt einen schönen Schrank gesehen; und so billig! Eiche. Jetzt werden solche gar nicht mehr gemacht. Außerdem ist da noch eine Bettstelle zu verkaufen, eine vernickelte. Aber dazu hat mein Schießpulver nicht ausgereicht."
„Schießpulver kann ich dir noch aufschütten — aber dass du mir in der Nacht unbedingt antrittst!" Und Borezki holt zwei Tscherwonzen aus der Brusttasche hervor und reicht sie Nossow.
„Da will ich gleich hinlaufen, Antonytsch, sonst wird sie womöglich noch verkauft. Solche Bettstellen werden jetzt gar nicht mehr gemacht — mit Sprungfedermatratze und vernickelten Zapfen an den Ecken!"
„Ein habgieriger Bauer bleibst du doch! Na schnell — lauf!"
Nossow schleppt die Bettstelle vom Markt nach Hause. Sie hängt auf seinem Rücken und drückt ihn tief zur Erde nieder, er kann's kaum schaffen, stöhnt und ächzt, aber schleppt doch weiter. Der Weg nach seinem Hause, der durch die Anlagen führt, ist weit näher, aber Nossow benutzt diesen Weg nicht, sondern schleicht auf langen Umwegen durch die Seitengassen. Mühsam pfeift sein Atem, wie glühendes Eisen brennt das Bett auf seinen Schultern...
Wasska Trussow holt ihn ein.
„Du bist doch ein Idiot! Was quälst du dich so ab? Hast ja schon die Schwindsucht weg, alter Geizhals!" Er lacht dröhnend, sein ganzer schwerer Körper erzittert.
„Wasska, halt's Maul! Ach, ich kann kaum noch", röchelt Nossow und spannt die letzten Kräfte an, um schneller auszuschreiten und Wassja loszuwerden. Schon sieht er die grünen geschnitzten Fensterläden seines Häuschens. Die Sonne badet sich in den Fensterscheiben, die hellgrau schimmern wie flüssiger Stahl. Auf dem Dache liegen, wie unbeweglich dasitzende weiße Tauben, kleine Schneehaufen, die die Sonne noch nicht aufgeleckt hat.
Unter den kleinen, baufälligen Hütten schaut Nossows schmuckes Häuschen mit den sauberen, glänzenden Fensterscheiben wie ein fixer Bursche aus einem Haufen alter Weiber hervor. Hastig schleift Nossow das Bett in den Vorraum, der von einem zarten Harzduft erfüllt ist, und zieht, froh der frischen Kühle, die ihn umfängt, sein durchnässtes Hemd aus. Sofort fühlt er sich leicht und frei. Er lässt einen kalten Wasserstrahl über Hals und Brust laufen und frottiert dann mit einem rauen Handtuch Gesicht, Hals und Brust. Nun fühlt er sich wieder munterer.
Prüfend betrachtet er seinen mageren Körper und reibt ihn lange und kräftig; aber die Haut will keine rosige Färbung annehmen. Schnell hebt und senkt sich die mit dichten schwarzen Haaren bedeckte Brust und lässt die von matter gelblicher Haut überspannten Rippen hervortreten. Die Magerkeit seines Körpers ängstigt ihn; schnell zieht er ein reines Hemd über und stößt einen tiefen Seufzer aus bei den Gedanken, dass er wieder nicht nach dem Süden reisen soll. Der Harzgeruch, der von den Tannenbalken ausgeht, erfüllt das ganze Vorzimmer und erregt die Nerven. Nossow betrachtet seine knochigen Finger, und plötzlich sieht er ein Bild vor sich, das ihn erbeben lässt: mattglänzende Tannenbretter und wachsbleiche, unbeweglich über der Brust gefaltete Hände... Die Stille um ihm herum erdrückt ihn. In panischer Furcht reißt er die Tür auf und brüllt, diese furchtbare, von Harzduft erfüllte Stille hinwegfegend:
„Mittagessen fertig, ja?"
Die Kinder sitzen schweigend um den Tisch und stopfen sich den Mund voll Brot. Die Frau steht am Büfett, einen Haufen Teller an den runden Leib gepresst. Als die Tür krachend zuschlägt, gleiten der Frau die Teller aus den Händen und fallen klirrend zur Erde, zerspringen in tausend Scherben. Mit hassverzerrtem Gesicht und wütend geballten Fäusten stürzt Nossow auf die Frau los. Seine gelben, knochigen Finger hängen zusammengekrallt in der Luft. Aufhetzend flüstert die Wanduhr ihr „Tak — tak... tak — tak... tak... " Der siebenjährige Petka, ein dickes, sonnverbranntes Bürschchen, brach als erster die schwere Stille, die in der Stube hing. Mit den blauen Augen auf die furchtbaren Fäuste des Vaters starrend, schrie er durchdringend und flehend:
Papa! Nicht, n—i—cht... A—a—a—... "
Die Frau fühlte die Schwere des über ihr hängenden Schlages, verdeckte ihr Gesicht mit den Händen und ließ sich zu Boden gleiten. Nossow hämmerte mit den Fäusten auf ihren Kopf ein, doch sie ließ geduldig ihr Gesicht in die Porzellansplitter stoßen.
„Aas, verfluchtes! Hier! Da hast du's! Zum T—eu—fel! Kannst weiter nichts als alles zerschlagen, aber etwas verdienen, das kannst du nicht, das muss ich! Hi—ier! Hi—ier! So—o—o!"
Nossow schnaufte, seine Fäuste stießen in irgend etwas Weiches, Feuchtes, Warmes... Die Kinder schrieen gellend.
Nossow rückte polternd einen Stuhl zur Seite. Sein Blick schweifte über die verzerrten, tränennassen Gesichter der Kinder, fiel dann auf den Tisch und blieb an einer frischen Schramme in der neuen Wachstuchdecke haften.
„Wer hat das gemacht?" Drohend zeigte er mit dem Finger auf die Schramme.
In krampfhafter Angst schwiegen alle still. Nur die Uhr tickte gleichmütig. Die Gesichter der Kinder waren blass und starr wie Masken.
„Wer war's? Heraus mit der Sprache!!!" Und wieder krümmten sich die gelben, knochigen Finger in der Luft zu einer ekelhaften Faust.
Nossow sah Grischka an, den Ältesten, und Grischka senkte die Augen furchterfüllt und schuldbewusst zu Boden. Nossow hatte den Schuldigen erraten, und mit einem dumpfen Schlag sauste seine Faust auf den hellblonden Kopf des Jungen nieder. Grischka glitt auf den Fußboden, und sein entsetztes Winseln und Schreien erfüllte das Zimmer.
„Papa! Ich... hab' die Tischdecke..." rief plötzlich der kleine Petja, der Liebling des Vaters, tapfer die Tränen verschluckend. Da trommelte Nossow, dem nun ein Objekt fehlte, an dem er seine Wut auslassen konnte, mit den Fäusten auf den Tisch, dass das Geschirr durcheinanderkollerte.
„Ich werd's euch zeigen, ihr...!"
Dann sank er hinter der Bretterwand, die das Zimmer in zwei Hälften teilte, schwer aufs Bett nieder — erschöpft, schweißgebadet, von finstrer Wut erfüllt. Er konnte hören, wie nebenan die Frau die Scherben von der Erde aufsammelte und mit leiser Stimme auf die Kinder einsprach. Dumpf klirrten die Scherben aneinander („jedenfalls sammelt sie sie in den Rock", dachte er) und riefen Nossow wieder die zerschlagenen Teller und das zerschnittene Tischtuch ins Gedächtnis zurück; dann dachte er an seine Krankheit, und plötzlich sah er die aufgeprägten Stempel mit Hammer und Sichel vor sich und daneben die großen weißen Kreuze. Drüben in der Fabrik war es genau so wie im eigenen Hause — nirgends fand Nossow die Ruhe, die die grünen Fensterläden nach außen hin ausströmten. Es schien ihm, als ginge diese Unruhe von den Sonnenstrahlen aus, den sengenden, alles durchdringenden... Sie erhellten jeden Winkel, jeden Riss in den Holzbalken der Wände, in der Bretterwand, die das Zimmer teilte; sie spiegelten sich im Oval des Spiegels, in den Glasscheiben der Bilder an den Wänden, sie brannten schmerzhaft im Gehirn und weckten die geheimsten Gedanken.
Dieses Haus, in dem Nossow mit seiner Familie jetzt wohnte, war von Anfang an, seit er aus dem Dorfe gekommen und in die Fabrik eingetreten war, das Ziel seiner Wünsche gewesen. Er hatte damals auf das Unterkommen in der gemeinschaftlichen Wohnbaracke verzichtet, hatte sich am Ende der Stadt eine Erdhütte gegraben, und dort träumte er nun vom eigenen Haus. Drei Jahre lang hatte er gegeizt und gespart, hatte sich und der Familie fast das Allernotwendigste entzogen — aber für ein Dach reichte das Geld doch nicht aus. Und dann kam eines Tages Borezki und führte Nossow in den Wald, wo sie viel tranken, und am anderen Tag saß Nossow untertänig und schüchtern im Zimmer bei Borezki, in dem aus den Bilderrahmen an den Wänden alle die Männer mit den Dienstmützen auf dem Kopfe und in Ledermänteln auf ihn herabschauten. Der finstere Flügel in der einen Zimmerecke strahlte schwarze Kälte aus, die ihn mit starren Fingern umklammerte. In der anderen Ecke saß auf einem ausgetrockneten Birkenstumpf ein mächtiger Auerhahn, die roten Flügel weit gespreizt.
Von dem Tage an begann ein anderes Leben. Feiertäglich neu glänzte das rotgestrichene Blechdach, die glitzernden Fensterscheiben verbargen sich nachts hinter grünen, geschnitzten Läden. Aber innen war es immer noch leer — die aus dem Dorfe mitgebrachten Bettstellen verunzierten in ihrer armseligen Dürftigkeit die neuen, hellen, luftigen Zimmer. Nossow lief stundenlang auf dem Markt herum, beschnüffelte alles, feilschte lange und schleppte schließlich ächzend und stöhnend, weil ihm der Atem ausging, einen Schrank nach Hause oder einen mit geblümtem Kattun überzogenen kleinen Diwan.
Jetzt konnte er zufrieden sein: die Zimmer standen voll Möbel und hatten ein stolzes, städtisches Aussehen. Sonst, wenn Nossow von der Arbeit nach Hause kam, ruhte er hier vergnügt und zufrieden aus: heute aber waren seine Augen trübe, er fasste sich ängstlich an die Brust. Ein langer, furchtbarer Husten zerriss seine Lungen, und er spuckte die roten Fetzen, die ihm aus der Kehle quollen, auf den glänzenden, sauberen Fußboden. Wieder fühlte er das Nahen eines Anfalls...
Aus allen Ecken des Zimmers krochen die Dinge stumm und langsam auf ihn zu: der schwere Eichenschrank in der Ecke drüben, der mit seiner Last den Fußboden fast eindrückte; der Grammophontrichter, der sein zahnloses, staubgefülltes Maul weit aufgerissen hatte, funkelte ihn herausfordernd an; die Kommode drückte ihren dicken Leib vor und ließ ihre Kupferbeschläge in der Sonne glitzern wie Freund Gnussin, der Feuerwehrmann, der seinen dicken Kaufmannsbauch in einer glänzenden Paradeuniform barg...
Und plötzlich ersteht vor Nossow eine Vision: er ist gestorben und liegt im Sarg. Rund herum ist alles still. Leise flüstern nebenan die neugierigen Nachbarn; Freund Gnussin sitzt und schnauft vor Hitze. Aber die Gegenstände im Zimmer hüten die Stille, sie schweigen nach wie vor. Und der Grammophontrichter, der das Maul zu einem Schreckensschrei weit aufgerissen hat, scheint erstickt zu sein an dem Staub, der in seiner Kehle liegt.
Mit klebrigem Schweiß bedeckt springt Nossow auf, die erloschenen Augen irren unstet durchs Zimmer, und tiefstes Grauen erfasst ihn angesichts dieser stummen Verschwörung der Dinge um ihn. Ihre leblose, starre Schwere dringt bis an sein Herz. Eine wahnsinnige Angst ergriff ihn, er glaubte, sein Herz — erdrückt von dieser furchtbaren, lautlosen Stille — müsse aufhören zu schlagen, und er begann zu schreien:
„Petka! P—e—e—t! Pe—tja—a—a... !"
Sein Angstschrei weckte in dem vernickelten Grammophontrichter ein klingendes Echo, das den Staub leise aufwirbelte, dann schwieg der Trichter wieder, erstickt von der drückenden Stille...
3
Ohne dass es Sergej eigentlich gemerkt hatte, war sein Leben, gleich dem Fluss nach einer stürmischen Frühlingsüberschwemmung, hineingeglitten in das ruhige Bett der kleinen Freuden und Sorgen, die Marussja mitbrachte.
Marussja war kräftig geworden, sie hatte sich verjüngt und war aufgeblüht unter der Liebe Sergejs, wie eine Feldblume im Regen. Den Tag verbrachte sie in zitternder Erwartung des abendlichen Wiedersehens. Spät in der Nacht erst kam sie nach Hause, wenn Andrjuschetschkin schon schlief. Morgens ging Andrjuschetschkin zeitig zur Arbeit und ersparte Marussja somit unangenehme Erörterungen — er sah, dass seine Frau zufrieden war; die eigene Enttäuschung, den eigenen Kummer aber trug er schweigend und in sich gekehrt.
Sergej hatte eine so stürmische und leidenschaftliche Liebe, wie sie ihm Marussja schenkte, nicht erwartet. Die zufälligen Verbindungen mit Frauen, die er bisher ohne irgendwelche besondere Leidenschaft eingegangen war, hatten ihn, wie er geglaubt hatte, abgestumpft und ihm die Fähigkeit zu einer festen und dauernden Bindung geraubt, die ihm nichts als eine schwere und langweilige Last gedünkt hatte. Marussja aber nahm ihn mit ihrer heißen Seele, die so lange nach Liebe gehungert, völlig gefangen. Sergej fühlte nicht mehr das Bedürfnis sich zu betrinken, die Schwermut, die ihn bedrückt hatte, schien verflogen. Er kam regelmäßig zur Arbeit, und zum ersten Mal spürte er die Freude gesunder Ermüdung. Auch seine Mutter wurde heiterer und sprach oft abends mit Platow über das unverhoffte Glück, das ihr zuteil geworden.
Dabei saß sie auf dem wackligen Schusterschemel und erzählte Platow von ihrem unglücklichen Leben, und — merkwürdig genug — gerade die erschütterndsten Szenen der Misshandlungen durch ihren Mann schilderte sie mit zärtlicher Stimme, aus der die Liebe zu diesem rohen Menschen durchklang.
Schließlich ging dann die Wassiljewna schlafen, und nahm den alten, wackligen Schemel, von dem sie sich niemals trennte, mit — und dann kam Sergej nach Hause, müde und still. Nun begann eine endlose Unterhaltung: Platow erzählte von seinen Erlebnissen in den letzten fünf Jahren, von Moskau, vom Ausland, von den letzten Errungenschaften der Technik. Sergej hörte anfangs immer ruhig zu, später aber lenkte er das Gespräch auf die Fabrik, und dann entbrannte ein heftiger Streif. Wenn Platow sprach, musste sich Sergej davon überzeugen, dass er selbst überhaupt nichts wusste, und er schämte sich. Aber zu diesem Gefühl der Scham kam dann noch eine tiefe innere Erbitterung über sein Schicksal. Senka — ja, der hat es geschafft! Ist Ingenieur, kriegt Hunderte von Rubeln, er dagegen muss nach wie vor Eisenstaub schlucken und sich die Augen beim elektrischen Schweißen verderben. Er betrachtete die sauberen Hände Platows, den Haufen deutscher Zeitschriften, die für ihn böhmische Dörfer waren, und sein Herz füllte sich langsam mit herbem Neid. Dann wurde er verschlossen und sann lange darüber, wie er diesem Menschen einen Hieb versetzen und sich selbst über ihn erheben könnte. Meist begann er mit giftigen Witzen über die Kommunisten, dann ging er zu den Lebensmittelschwierigkeiten über, dem Brotmangel, zu den Schlangen vor den Schuhwarengeschäften, und zum Schluss erklärte er, dass alles dies ganz unvermeidlich sei, solange Tausende von Müßiggängern und Tagedieben der Arbeiterklasse im Nacken säßen.
Und auch heute erzählte er wieder, wie der Dickkopf Andrjuschetschkin in der Werkstatt herumflitze, wie er die Kommunisten von der Arbeit abhalte, mit ihnen in den Ecken herumstehe und flüstere, während die Arbeit daliege.
„Wie unsere Kommunisten arbeiten, das weiß man ja: mit dem Maul. Und er, ja, er muss die Qualität der Lokomotiven überwachen. Rennt in der Abteilung herum, als ob er Brennnesseln unterm Hintern hätte!"
Platow ließ die deutsche Fachzeitschrift, in der er blätterte, sinken und nahm die Hornbrille ab.
„Ja, um die Qualität der Lokomotiven ist es bei uns noch schlecht bestellt. Das ist unser wunder Punkt."
„Wozu habt ihr's denn übernommen? Wer's nicht kann, soll die Finger davon lassen... Da stellen sich eure Großschnauzen hin. und reißen das Maul auf — sperrangelweit, und füttern die Arbeiter mit ihren Phrasen. Und die Lokomotiven, die fällen wohl vom Himmel? Und nehmt bloß mal die vielen Vorgesetzten, die da in der Fabrik rumlaufen: im Kontor, in den Abteilungen, im Betriebsrat, im Raikom — zwei Direktoren, drei Stellvertreter, Hunderte von Ingenieuren... Und alle wollen sie bezahlt werden, so vier-, fünfhundert Rubel kriegt ein jeder. Und der Arbeiter, der hat genau wie früher nichts zu fressen und nichts anzuziehen. Und das nennt ihr dann Sozialismus!" entgegnete Sergej mit erregt funkelnden Augen.
„Wart' mal, Sergej, warte... Erstens bist du weder hungrig noch nackt. Zähl' mal, wieviel Paar Hosen du im Schrank hängen hast. Zweitens aber sind Schwierigkeiten natürlich unvermeidlich, es kann nicht alles von Anfang an glatt gehen. Natürlich sind Fehler gemacht worden, und es werden auch in Zukunft noch welche vorkommen. Wir werden lernen...!" „Auf Kosten der Arbeiter!" unterbrach ihn Sergej. „Gewiss. Die ganze Revolution ging auf Kosten der Arbeiter. Das ist doch keine Schande. Gewiss, die Arbeiter müssen vieles im Namen der Zukunft auf sich nehmen. Es ist wahr, dass wir hier und da noch schlecht wirtschaften. Aber vergisst doch nicht, dass wir, ganz abgesehen von unserer Unkultur, auch noch den Widerstand unserer Klassenfeinde über winden müssen... "
„Ach Quatsch, was redest du bei einer solchen Sache wie der Lokomotive vom Klassenfeind! Es fehlt euch ganz einfach an Verstand und Kenntnissen, um damit fertig zu werden."
„Na, wenn du es wissen willst, Sergej, so kann ich dir nur sagen, dass zum Beispiel jetzt eben aus dir der Klassenfeind spricht."
Sergej fuhr auf und ballte die Fäuste. Platow beobachtete ihn ruhig und lächelte. „Du brauchst gar nicht so schreckliche Augen zu machen Denk lieber über das nach, was du sprichst. Ich wundere mich überhaupt, woher du das eigentlich hast. Du bist doch ein Arbeiter!"
„Ja, ich verdiene mein Brot durch meiner eigenen Hände-Arbeit, ich lebe nicht auf Kosten anderer wie du, wie alle die Großmäuler, die Ingenieure und Direktoren. Und ich will, dass alle arbeiten sollen. Was das schon groß für Arbeit ist, durch die Werkstätten zu spazieren! Nein! Du arbeite mal so wie ich! Da faselt ihr vom Sozialismus, von Gleichheit und Brüderlichkeit und all dem andern Quatsch, aber dabei steht ihr da mit den Händen in den Hosentaschen. Wenn schon Gleichheit herrschen soll, dann zahl auch allen gleich, damit nicht wieder auf Kosten der Arbeiter eine Bourgeoisie entstehen kann. Aber was nutzt hier das Reden!" Und Sergej schleuderte wütend seine Zigarette in die Ecke.
„Sag' mir einmal offen, Sergej, was fehlt dir eigentlich?" fragte Platow. „Du verdienst gut, hundertfünzig Rubel im Monat. Das ist das Gehalt eines verantwortlichen Bezirksparteifunktionärs. Du bist jung und stark . Was räsonierst du eigentlich? Schließlich bist du doch ein Arbeiter und kein Marktweib."
Sergej wandte sich demonstrativ ab.
„Was das Marktweib anbelangt, so drücke dich ein bisschen vorsichtiger aus, ich remple dich ja auch nicht an, sondern spreche ganz allgemein... Jawohl — ich bin ein Arbeiter, aber kein solcher Arbeiter, wie ihr sie da auf euren Plakaten zeichnet: Brust raus, rote Fahne in der Faust, und alle die anderen Mätzchen. Du denkst wohl, so sind alle Arbeiter? Nein — es gibt auch andere..."
„Was für welche denn?"
„Na, eben andere..." wich Sergej der Frage aus und verstummte.
Platow ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Er hatte längst die Feindseligkeit Sergejs gemerkt, sie hatte ihn gleich beim ersten Wiedersehen in Erstaunen versetzt. Er hatte sich alles damit erklärt, dass Sergej durch seinen, Platows, Anblick daran erinnert wurde, dass sich sein Traum, selbst zu studieren, nicht erfüllt hatte und dass ihn dieser Gedanke erbitterte. Aber in letzter Zeit trat bei Sergej noch ein neuer Zug zutage — er begann mit irgendeiner Kleinigkeit, die er dann verallgemeinerte, als ob er bei diesen Streitereien einen ganz bestimmten Standpunkt innehätte. Aber irgendeinen neuen, eigenen Gedanken sprach Sergej dabei nicht aus, er wiederholte nur die alten, abgedroschenen Phrasen über Gleichheit und über die Schwierigkeiten des gegenwärtigen Lebens. Platow hatte versucht, den Quellen dieser Stimmungen auf den Grund zu gehen. Fünf Jahre hatte Sergej in der Fabrik zugebracht, er war durchaus kein dummer Bursche. Und nun plötzlich diese Redereien! Mit persönlicher Erbitterung allein ließ sich alles dies nicht erklären. Man konnte wohl schimpfen und räsonieren, wie dies alte Arbeiter oft zu tun pflegen, wenn sie mit einzelnen Mängeln und Missständen unzufrieden sind. Aber zu solchen Schlussfolgerungen wie Wekschin ließen sich diese Arbeiter niemals hinreißen. Die Kritik an einzelnen Missständen ging niemals soweit, dass sie die Arbeiter veranlasste, die Vorzüge des neuen Lebens zu leugnen, das sie liebten und schätzten und leidenschaftlich verteidigten, wenn es notwendig war. Sergej aber leugnete diese Vorzüge. Warum wohl?
Platow dachte zurück an die Jahre der Freundschaft, die ihn mit Sergej verbunden hatten, schöne, frohe Jahre. Stets hatte ihn der Überschuss an Kraft, die Lebhaftigkeit und überschäumende Lebensfreude Sergejs in Erstaunen versetzt — Sergej nahm damals an allen Veranstaltungen der Fabrikjugend teil, am Fußballspiel, Schlittschuhlaufen, an Ausflügen, er war überall da, wo die Jugend ihre lärmende und heitere Stimme hören ließ.
Die Tage der Träume vom gemeinschaftlichen Studium — unvergessliche Tage voller freudiger Erregung und Erwartung. Ja, Sergej leidet sicherlich, weil er von seinem Leben unbefriedigt ist. Seine Träume führen ihn über den schwarzen Alltag hinweg. Aber es gibt doch in der Fabrik jetzt soviel Interessantes: Das Leben pulsiert überall, er brauchte ja nur an diesem brodelnden Leben teilzunehmen, da würde er auch ein Tätigkeitsfeld für seine überschüssige Kraft finden. Aber Sergej hält sich abseits. Ganz allmählich hat er die Fühlung mit dem Komsomol (Anm.: Kommunistischer Jugendverband) verloren. Ein fremder, feindselig gesinnter Mensch, steht er Platow gegenüber. Was ist mit Sergej passiert? Persönlich geht es ihm anscheinend gut. Er ist ruhiger geworden, auch sein Gang ist anders als früher, gemessen und gewichtig... Platows Blick fiel zufällig auf den halb zerbrochenen, von Riemen zusammengehaltenen Schemel in der Ecke. Fast eine Minute lang betrachtete er den alten Schemel, der ihm gleichsam sein morsches Innere darbot. Der in Fetzen herabhängende Lederbeschlag, die verrosteten Nagelköpfe, die wie Wanzen aussahen, schienen zu leben und sich zu bewegen. Platow dachte an ferne Gesichter, an die Zeit, als auf diesem Schemel noch der alte Schuhmacher saß. Alles das verband sich mit den Gedanken, die sein Gehirn durchzogen, und auf einmal war ihm alles klar und verständlich. Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar und zupfte nach alter Gewohnheit an seinen Hosen hemm.
„Weißt du, Sergej, wo die Ursache für deine ganze Unzufriedenheit liegt? Aber sei nicht beleidigt, ich werde dir meine Meinung gerade heraus ins Gesicht sagen, als Arbeiter...
„Nun gut, wollen wir einmal auf die weise Rede lauschen, sagte der Esel, indem er dem Hammel zuhörte", spottete Sergej. „Also pass auf!" begann Platow und fuhr sich aufs neue mit der Hand durchs Haar. „In deinem Blut spukt das Erbe des unorganisierten Handwerkertums, das die disziplinierte Arbeit an der Maschine hasst. Dieser alte zerbrochene Schemel da erinnert mich an deinen Vater, den Schuhmachermeister, den Heimarbeiter. Die haben stets nur ihr persönliches Wohl im Auge und murren, wenn man sie zwingen will, fürs Allgemeinwohl zu arbeiten. Gleichheit! Gleichheit der Schusternägel, die einer neben den andern ins faule Sohlenleder hineingetrieben werden."
Sergej war aufgesprungen und schrie Platow zornig ins Gesicht:
Du lügst! Mein Vater hat ehrlich gearbeitet! Er war der beste Meister in der Stadt. Er hat ausgezeichnet gearbeitet!"
„Und hat sich ebenso ausgezeichnet mit der Sinnlosigkeit seines Lebens abgefunden... "
„Du lügst — er wollte nie, dass ich auch Schuster würde Er hat davon geträumt, dass eine Zeit kommen würde, die allen Gleichheit bringen wird. Er hat aus Kummer getrunken, es war sein heißer Wunsch, aus mir einen ganzen Menschen zu machen."
Sergej zitterte wie im Fieber, Platow fühlte den heißen Atem an seinem Gesicht, aber er lächelte ruhig:
„Geträumt! Der Arbeiter aber hat um diese Gleichheit gekämpft, hat sein Blut dafür vergossen. Eure Gleichheit — das ist die Gleichheit der Kleinbürger, die auf Kosten anderer ein besseres Leben gewinnen wollen."
Sergej ballte wütend die Fäuste:
„Senka! Geh nicht zu weit!"
„Ich konstatiere nur ganz ruhig Tatsachen. Du aber regst dich gleich auf. Das ist nicht deine Schuld, sondern dein Unglück. Und du bist nicht der einzige in der Fabrik, der so ist. Es gibt viele von deiner Sorte. Im ganzen Lande zählt ihr nach Millionen, und in tausenden kleinen Bächen ergießt ihr euch in den breiten Strom der Arbeiterklasse und schleppt den trüben Schlamm und Schmutz der verfluchten Vergangenheit mit euch. Das Proletariat hat euch aus diesem Schmutz aufgelesen, ihr aber bringt ihm neue Schwierigkeiten, richtet neue Hindernisse auf... Ihr werdet uns noch viel zu schaffen machen, ehe ihr endlich in die Arbeiterhaut hineinwachst."
Mit vor Wut entstelltem Gesicht sprang Sergej auf Platow zu:
„Was hast du gesagt...? Du sagst, ich sei ein Kleinbürger?! Mit meinem Schweiß verdiene ich dir deine fünfhundert Rubel Gehalt! Du lebst auf meine Kosten! Du und ihr alle — ihr alle seid Großmäuler, ihr seid die Parasiten, die uns Arbeitern im Nacken sitzen!"
Die erschrockene Wassiljewna war aus dem Bett gesprungen und stand nun zitternd da und bekreuzigte sich. Halb angekleidet kamen auch die Schwestern Sergejs zum Vorschein und rieben sich die verschlafenen Augen. Mitleidig blickte Platow Sergej an und schüttelte nur nachdenklich den Kopf.
Sergej maß ihn mit einem böse funkelnden Blick, er riss die Tür auf, im Vorzimmer fiel irgend etwas um; dann hörte man, wie die Haustür ins Schloss fiel.
4
Sergej schaltete den Strom ein, der Transformator begann zu surren, und der Zeiger des Amperemeters schnellte vorwärts.
Die buschigen Brauen zusammengezogen, beobachtete Andrjuschetschkin Sergej.
„Ja, — Sergej ist jung... Sogar wenn er wütend ist, ist sein Gesicht anziehend und hübsch." Er musste an die Geschichte mit Sharow denken, wie Sergej sich so aufgeregt hatte, und jetzt erst verstand er, was Marussja Sergej in die Arme getrieben hatte.
Schwer seufzend zog er die Maske vors Gesicht.
Sergej hatte gemerkt, dass Andrjuschetschkin ihn beobachtete; er hob feierlich die rechte Hand und deklamierte mit einem boshaften Lächeln:
„Genosse! Der Fliederduft bringt Gefahr übers Land, Nimm dein Herz und halt' es fest in der Hand. Hör auf, Nachtigall, mit deinem Gesange, Die Sitzung der Parteizelle ist im Gange."
Wasska Trussows dröhnendes Lachen übertönte das Donnern des Stahls und das Surren der Transformatoren. Andrjuschetschkin zog die Maske tiefer über das verlegene Gesicht. Wasska aber lachte noch immer :
„Och! Das ist glänzend! Das Herz fest in der Hand und die Frau fest hinter Schloss und Riegel."
Sergej nahm eine Elektrode, steckte sie in den Halter und bedeckte das Gesicht mit der Maske. Irgendwo in seinem Innern waren noch Spuren der Erregung vorhanden, das gestrige Gespräch mit Platow wirkte noch nach — die Erregung kam wieder und ergriff den ganzen Körper. Seine Hand zitterte, und die Schweißnaht wurde schief und krumm.
„Was hast du denn da für eine Naht zusammengeschustert? Du stopfst wohl alte Hosen, was? Pass auf, was du machst, wir brauchen gute Schweißung.1' Sergej stieß die Elektrode zur Seite:
„Scher dich weg oder du wirst was erleben! Was willst du von mir? Pass auf dich selber auf!" Und dann fügte er boshaft hinzu:
„Bist wohl eifersüchtig, was, Dickkopf?" Andrujeschtschkin prallte verwirrt zurück und ging schweigend und hilflos, wie ein ertappter Sünder, an seinen Apparat. Sergej ist jung, hübsch und frech... Dazu ist er noch begabt: geschickt hat er seine, Andrjuschetschkins, Verse parodiert; Verse, an denen er selbst wochenlang gearbeitet hat, die ihn manche schlaflose Nacht gekostet haben, leicht und witzig hat er sie parodiert, und nun hat sie Wasska Trussow aufgeschnappt, sie werden von Mund zu Mund, durch die ganze Abteilung gehen, und man wird ihn damit hänseln...
Verständnislos betrachtete Sergej das Lokomotivrad, das der Kran vor ihn hingelegt hatte: die ganze Oberfläche des Radreifens war mit kleinen Blasen bedeckt, als Hätte irgend jemand das Metall mit einem dünnen Pfriem durchstochen. Diese Blasen saßen stellenweise dicht nebeneinander, dann liefen sie nach allen Seiten hin über die Oberfläche auseinander, um sich an anderer Stelle wieder zu einem dichten Haufen zu vereinen. So machte das Metall den Eindruck eines gigantischen Schwammes. Das war ein schlechtes Zeichen. Irgendein Lunker im Stahl ist nicht schlimm, wenn er auch tief ist — aber wenn der Stahl durchlöchert ist wie ein Ameisenhaufen, dann kann man kein Vertrauen mehr zu ihm haben. „Durchlöchert wie ein Sieb."
„Na, was stehst du so steif herum? Ich habe dir doch gesagt, dass die Arbeit sehr eilig ist!"
Borezki stand neben ihm. Sein Blick war stechend und durchdringend.
„Aber sieh doch bloß, Antonytsch — wie ein Sieb... Geht denn das so? Ein Lokomotivrad ist doch gerade keine Kleinigkeit!"
„Weißt du was, Sergej, du musst weniger reden und mehr arbeiten. Die Martinabteilung ist schuld daran, dass die ganze Fabrik im Rückstand ist. Und die Direktion hat befohlen, unbedingt den Rückstand aufzuholen."
„Komisch kommt mir das vor..."
„Und was ist das hier?" Antonytsch wies auf den silbern gleißenden Stempel.
Sergej betrachtete Hammer und Sichel, die in dem runden Kreis kreuzweise übereinander lagen, und vor seinen Augen erstand die gewichtige Gestalt des Ingenieurs Akatujew. „Alles wird streng nach Vorschrift abgenommen?" „Alles streng nach Vorschrift, Sergej, streng nach Vorschrift, und nicht anders!"... Und Borezki sah zu, wie Wekschin den Lichtbogen anzündete. Ein wilder blauer Blitz loderte auf.
„Ja, es heißt arbeiten, Arbeit ist notwendig, und man muss sich unterordnen, wie sich Antonytsch untergeordnet hat; man muss ebenso sein wie er, unabhängig und stolz. Antonytsch ist sich seines Wertes bewusst, er verliert auch vor der Ingenieurmütze seine Fassung und Würde nicht. Er versteht es auch, diesem bebrillten Karrieremacher, dem Platow, eins draufzugeben, wie er's verdient... ,Kleinbürger'... Also auch Borezki ist solch ein ,Kleinbürger' ? Du bildest dir etwas zuviel ein, Genosse Platow"... Sergej arbeitete wütend drauf los; ohne sich Ruhe zu gönnen, schweißte er einen Maschinenteil nach dem andern, so dass sie bald voll von blauroten Stahlnarben waren...
„Sergej! Wekschin!! Du bist wohl taub, was?" Wieder stand Andrjuschetschkin neben ihm: „Bist du verrückt geworden? Was schweißt du denn da zusammen?!"
„Was denn??? Sieh doch hier den Abnahmestempel!"
Andrjuschetschkin schimpfte:
„Die Schweine! Was die da gemacht haben! Was die ge-gema-—acht haben!"
Dann drehte er sich um und war gleich darauf zwischen den Gussstücken verschwunden, die überall herumlagen. Sharow, der am Kran arbeitete, lächelte schlau in sich hinein:
„Ich sage ja immer: Sharow, was geht's dich an! Ihr habt mir zu sagen: hier deine Arbeit, Sharow, mach' sie! Und was anderes geht mich nichts an... "
Platow trat hinzu. Das Netzhemd auf seiner Brust war von Schweiß und Staub so braun wie seine sonnverbrannte Haut. Vor sich hinschmunzelnd, betrachtete Sharow den neuen Vorgesetzten, aber diese wohlbekannte Gestalt, an der der Fabrikschmutz deutliche Spuren zurückgelassen hatte, war nicht dazu angetan, ihm irgendwelchen Respekt einzuflößen. Das war ja doch derselbe Senka, der...
„Halt! Wer hat dieses Material zum Schweißen gegeben?"
Sharow war es, als sei dieser unansehnliche Platow plötzlich um einen halben Meter gewachsen, und sein Gesicht war auf einmal das eines Vorgesetzten, ernst und streng.
Platow warf einen flüchtigen Blick auf die Räder, die verschweißt werden sollten; eine Blutwelle schoss ihm die Wangen, hastig und nervös zog er die Hosen in die Höhe.
Sharow kicherte leise in sich hinein:
„Und du rackerst dich immer noch ab, Senka? Ziehst immer noch die Hosen hoch, die runterrutschen? Dein Gürtel ist verrutscht, Genosse Ingenieur. Was bist du schon für ein Ingenieur, Senka! Hi—hi—hi... Richtig, Sergej, was?"
„Wahrhaftig! Hundert Vorgesetzte, und jeder bestimmt was anderes... " Sergej bedeckte sein Gesicht mit der Maske und nahm die Elektrode zur Hand, die ihn sofort knatternd in lodernde Funken und blauen Rauch einhüllte.
Platow fühlte den prüfenden Blick der Arbeiter. An seine Adresse gerichtete Witze trafen sein Ohr.
„Guck' mal einer an! Unser Senka kommandiert!"
„Na, bei dem Sergej ist er an den Richtigen gekommen."
„Ja — der wird ihm schon Bescheid geben." „Wer wird denn auch auf Semjon hören! Das ist einer von uns, wir haben oft genug zusammen gebummelt."
„Guck mal, guck mal! Der Senka zieht sich die Hosen hoch." Und alle diese Scherze, die durchaus nichts Ungewöhnliches waren und keine Beleidigung enthielten, schnitten ihm in diesem Moment ins Herz. Es gab eine Zeit, da hatten sie einen heiteren Klang, und Semjon selbst lachte mit allen. Jetzt aber drangen die Witze wie scharfe Nadeln in sein Herz und schmerzten ihn. Man beobachtete ihn... Man vertraute ihm nicht so wie den alten Spezialisten. Er war für sie immer noch der vergnügte junge Former Senka.. Eines wurde ihm klar — hier musste er sich durchsetzen, er musste dem Blick dieser prüfenden Augen standhalten, musste die Herausforderung Sergejs annehmen, den Kampf beginnen. Nur ruhig... Nur nicht aufregen...
„Wekschin, hör' sofort auf zu arbeiten", sagte Platow ruhig und eindringlich, aber Sergej tat, als ob er nichts höre und fuhr fort zu schweißen.
Der Widerstand Wekschins und das spöttische Kichern Sharows machten Platow fast toll vor Wut. Aber er beherrschte sich unter den Blicken der Arbeiter, die prüfend auf ihm ruhten. Gelassen ging er an die Wand, drehte den Hebel um, und der Transformator stand still — die erloschene Elektrode in Wekschins Hand zitterte. Sergej richtete sich empor und schob die Maske in die Höhe, die drohend funkelnde Augen freigab.
Ihre Kräfte wägend, standen sie einander gegenüber. Die dünnen Lippen Sergejs waren verächtlich herabgezogen, seine Augenbrauen zitterten krampfhaft. Über seine Schulter starrte Sharow, das Gesicht in Erwartung des Ereignisses, das sich hier gleich abspielen musste, zu einem schadenfrohen Grinsen verzogen.
Und plötzlich musste Platow an den Zusammenstoß denken, den er vor fünf Jahren hier in dieser Abteilung gehabt, an den heißen, kaum zu überwindenden Wunsch, den er damals gespürt hatte, Kraiski mit der Faust ins Gesicht zu schlagen... Und jetzt sah er die Faust Sergejs, die sich um den Elektrodenhalter krampfte, trat einen Schritt zurück und fragte ruhig:
„Weshalb befolgst du den Befehl eines Vorgesetzten nicht, Wekschin?"
Ob es nun dieses Zurückweichen Platows war, das Sergej als Feigheit einschätzte, oder ob es die Worte „Befehl eines Vorgesetzten" waren, die ihn aufbrachten, jedenfalls geriet er in eine wahnsinnige Wut: er holte aus — das schwarze Kabel fuhr wie eine Schlange durch die Luft und traf Platow mitten ins Gesicht. In diesem Augenblick aber umfassten die langen Affenarme Sharows Sergej von hinten:
„Einen Scherz kannst du dir ja erlauben, Freundchen, aber so was lass man bleiben!" Sharow fühlte plötzlich ungeheure Kraft in sich und presste die Handgelenke Sergejs fest zusammen.
Jetzt kam auch Andrjuschetschkin gelaufen, mit der Hand die Maske hochschiebend, die ihm immer wieder auf die Augen hinabrutschte. Langsamen Schritts trat auch Borezki heran.
„Nein, Freundchen, hier sind keine Besoffenen, die du verhauen kannst! Warte mal, du!" rief Sharow; stolz über seinen Sieg reckte er die schmale, fast knabenhafte Brust.
Platow betastete mit der Hand die feuchte Schramme in seinem Gesicht und wandte sich mit vor Aufregung heiserer Stimme an Borezki:
„Diese Räder sind auf das Fehlgusslager zu schicken!"
Dann ging er zur Tür, begleitet von hundert erregten Blicken.
5
Die Lager der Martinabteilung sehen des Nachts aus wie eine verschlafene Stadt: vereinzelte Laternen werfen ihr trübes Licht auf die Haufen von Eisenteilen, die in schwarzen Türmen zur Decke aufsteigen; dazwischen erheben sich die schwarzen Umrisse der Formkästen und der Lokomotivrahmen, zu unordentlichen Haufen geschichtet; regellos und schmutzig wie die elenden Hütten der Vorstädte liegen zahllose Maschinenteile herum; matt glänzen die Schienen des Zufahrtgleises; irgendwo dröhnendes Rattern, es hört sich an, als jage ein einsamer, verspäteter Wagen rasselnd über das Steinpflaster der schlafenden Stadt.
Die Stadt des Metalls schläft und gibt sich nach der glühenden Hitze des Tages der Kühle des Nachtwinds hin. Glatt blinkt das Metall, in kalten Tautropfen spiegelt sich die Nacht. Sharow sucht seine Müdigkeit zu überwinden und befestigt eine Lokomotivkesselstütze am Kranhaken. Erzitternd und unzufrieden schnaufend wickelt die Kranwinde das Kabel auf die Trommel. Die Kesselstütze, über und über mit rotem, schuppigem Rost bedeckt, schwebt leise schaukelnd in die Höhe, hängt dann einen Augenblick unbeweglich in der Luft und lässt sich im nächsten Moment gehorsam vor Sergej nieder. Ein tiefer Riss geht unheilkündend durch die eine Seite der Stütze, er teilt sie fast in zwei Hälften und klafft wie eine Wunde. In rostigroten Tropfen quillt Blut daraus hervor.
Sergej betrachtet nachdenklich den Riss. Diese Stelle soll zusammengeschweißt werden und die Stütze in die Lokomotive wandern. Die schwere Last des Lokomotivkessels soll sie auf ihre Schultern nehmen; fauchend stößt die Lokomotive ihre weißen Dampfwolken aus und macht sich dann auf den weiten Weg, Tausende von Tonnen schleppt sie hinter sich her. Wird eine so verwundete, geflickte Kesselstütze diese Last aushalten ? Sergej wandte sich um und erkannte in der Ferne Antonytsch; seine dunkle Gestalt glitt wie ein Schatten durch das Lager, bald verschwindend, bald, vom Schein einer Laterne beleuchtet, wieder auftauchend. Er machte auf Sergej den Eindruck eines schlaflosen, finsteren Zauberers, der beim Schein des Monds sein dunkles Wesen treibt.
„Antonytsch? Das ist aber hier ein starker Riss!" sagte Sergej kopfschüttelnd.
„Los, los! Halt' dich nicht lange auf... Wir haben schon ganz andre Risse verschweißt", brummte Borezki ärgerlich, und Sergej, dessen Zweifel durch den verächtlichen, selbstsicheren Ton Borezkis gebrochen waren, zog die Maske vors Gesicht.
Ü ber Sergej, über dem Lager, über der ganzen Fabrik flammte das blauviolette Licht auf. Wie ein Bienenschwarm summte der Transformator des Schweißapparats, und die knatternden Funken schwärmten, roten Bienen gleich, nach allen Seiten auseinander.
Geweckt von den flammenden Lichtgarben, erwachte die Stadt des Metalls.
Sergej verschweißte den Riss mit aller Sorgfalt. Er bemühte sich, so ehrlich und sauber zu arbeiten, wie sein Vater die Stiefel besohlt hatte. Und zum ersten Mal erwachte in ihm der Wunsch, sich an seiner Arbeit zu freuen — er strich mit den Fingern über die raue Narbe der Schweißung und lächelte zufrieden: fest und gleichmäßig lag die Naht da.
Mitunter sah er das ernste, fast starre Gesicht Platows vor sich, und dann bemühte er sich jedes Mal, an etwas andres zu denken. Jedoch die Szene vom Morgen ging ihm nicht aus dem Sinn und erregte ihn. Es dämmerte ihm die Erkenntnis, dass er sich dem ehemaligen Freunde gegenüber schlecht benommen hatte. Aber er bemühte sich, seine Reue zu unterdrücken und die unruhigen Gedanken in rastloser Arbeit zu ersticken.
Noch niemals hatte er mit solchem Vergnügen gearbeitet wie in diesem Moment. Fest und sicher führte seine Hand die Elektrode über den Riss.
Müde, aber zufrieden mit sich selbst, hielt Sergej inne und erfreute sich an den flimmernden Sternen oben. Ein kühler Wind strich erfrischend über sein erhitztes Gesicht. Da trat Sharow hinzu, er gähnte und fröstelte vor Müdigkeit:
„Na, Sergej, weniger als fünfundzwanzig lass dir für die Nacht nicht bezahlen. Er ist geizig, der Borezki, aber er wird's schon 'rausrücken, es bleibt ihm ja nichts andres übrig."
„Was heißt das? Er wird soviel bezahlen, wie der Tarif vorschreibt, wie eben jeder kriegt."
„Soviel, wie der Tarif vorschreibt? Für diese Arbeit gibt's keinen Tarif. Die bezahlt Antonytsch selbst."
„Antonytsch selbst? Aus wessen Tasche denn?"
„Aus seiner eigenen, Sergej. Er hat eine dicke Tasche, der Antonytsch. Für das Geheimnis müsste man einen halben Hunderter nehmen!"
„Für das Geheimnis?" wiederholte Sergej verwundert.
Sharow gähnte gelangweilt. „Na ja, jede Sache hat eben ihr Geheimnis. Spiel' bloß nicht den Dummen. Du bist doch kein Kind mehr, was?"
Kalter Schweiß trat Sergej auf die Stirn. Seine Kehle war auf einmal wie ausgetrocknet.
Irgendwo in der Ferne donnerte ein Zug über die Schienen. Mit heiserer Stimme schrie die Lokomotive. Wie Grillen zirpten die dünnen Pfiffe der Rangierer.
Es dämmerte.
In der Morgendämmerung überkam Sergej ein widerliches Zittern. Er wollte weiterarbeiten, aber die Hand hatte keine Sicherheit mehr, die Elektrode sprang hin und her, und die Schweißnaht wurde unsicher und schlecht. Da warf er das Kabel beiseite und ging schwankend hinaus.
„Warum nimmst du die Maske mit?" hielt ihn der Wächter an. „Geh zurück und bring sie in die Abteilung."
Und als Sergej sich matt umwandte, rief der Wächter empört hinter ihm her: „So ein Spitzbubengesindel!"
Sergej zitterte, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt, ein tiefes Rot überzog seine Wangen, wie in den Kinderjahren, wenn er im Nachbargarten mit einem Apfel in der Hand ertappt wurde.
Müde kam er zu Hause an. Mit leerem Blick betrachtete er den Tisch; die Haufen von Büchern und Zeitschriften waren verschwunden, alles war verstaubt und voll Asche. Platows Bett war leer.
„Er ist also weg... Schnell... Na, schön... Eine Liebe ohne Freude — eine Trennung ohne Leid..." Er legte sich zu Bett und schloss die Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Irgend etwas beunruhigte ihn, kitzelte die schweren Lider. Er öffnete die Augen: die Sonne erfüllte das ganze Zimmer, malte feurige Kringel auf den Fußboden und spiegelte sich funkelnd in dem Fahrrad, das an der Wand lehnte.
Sergej stand auf, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und stieß das Fahrrad hinaus auf die Straße. Leicht und schnell glitt das Rad neben dem Bahndamm dahin. Bald war er im Walde und sog den erfrischenden Harzduft ein.
Hinter ihm donnerten die Schienen.
Eine Lokomotive machte ihre Probefahrt. Obgleich sie noch nicht verkleidet und am ganzen Körper mit Nietbeulen und mit weißen Farbflecken bedeckt war, erschien sie Strachow dennoch wie ein schönes, kluges, lebendiges Geschöpf. Strachow stand auf der seitlichen Plattform, hielt sich an der Haltestange fest und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen der Lokomotive. Angestrengt schlug das heiße Herz in dem langen, schmalen Körper der Maschine; der Dampf drückte gegen die Wände des Kessels, als wollte er die stählerne Hülle sprengen, und da er keinen Ausweg fand, stürmte er mit wilder Kraft in die Zylinder und stieß die Kolben vorwärts; der lange, trockene Arm der Schubstange umklammerte fest die Kurbel der Triebachse und jagte die Lokomotive vorwärts auf donnernden Rädern, die glänzten, als hätten sie sich im Laufe entzündet.
Für Strachow ist heute Feiertag — er hat seine dreihundertste Lokomotive fertiggestellt. Zweihundertneunundneunzig Lokomotiven — Schnellzug-, Personenzug-, Güterzuglokomotiven — durchkreuzen das unermessliche Land, blitzschnell jagen die kurzen Eilzüge auf den Schienen dahin, langsam kommen die endlosen Schlangen der Güterzüge angekrochen. Aber nicht das ist es, was Strachow freut; jene zweihundertneunundneunzig Lokomotiven sind ihm fremd geworden, er sieht sie nicht mehr und sie sagen ihm nichts mehr. Er lauscht jetzt angestrengt auf das erste, nervöse Fauchen der dreihundertsten Lokomotive. In dem komplizierten Ineinander greifen der Maschinenteile, in dem Atem des vom Dampf zum Leben erweckten Stahls, im Klopfen der Räder fühlt er sich selbst, den Leiter der Lokomotiv-Montagehalle — den Ingenieur Strachow.
Jeder einzelne Teil dieser Maschine, den er besichtigt und geprüft und dann mit Dutzenden anderer Stahlteile verbunden hat, lebt nun sein eigenes Leben und teilt seine Bewegung der Lokomotive mit. Und in dem heißen Atem des Kessels, den er voller Freude spürt, fühlt er das eigene Leben, das mit dieser Maschine zu einem untrennbaren Ganzen verbunden ist.
Die Lokomotive durchschnitt mit ihrer Brust den harzduftenden Kieferwald; hohe, schlanke Wipfel eilten ihnen entgegen und glitten in rasender Schnelligkeit vorbei. Aber Strachow sah weder den Wald noch die neugierigen Gesichter der Menschen an den Bahnübergängen — sein geübtes Ohr lauschte auf das Geräusch der einzelnen Maschinenteile in dem lauten Donnern, beobachtete prüfend den Pulsschlag des Mechanismus.
Die Lokomotive jagte mit immer größerer Geschwindigkeit vorwärts. Die Telegrafenstangen huschten schemenhaft vorüber, abwechselnd hoben und senkten sich die Drähte. In rasendem Lauf eilte ihnen die Erde entgegen. Der Wind peitschte die Haare Strachows, sie umflatterten wild seinen Kopf. Plötzlich lief ein Zittern durch den Körper der Lokomotive, und die nächste Telegrafenstange, die ihnen entgegeneilen wollte, blieb auf halben Wege stehen, wie festgemauert.
„Andrej Sergejewitsch! Es ist irgendwas mit der Triebachse nicht in Ordnung!" rief der Lokomotivführer, und schnell sprangen alle von der Lokomotive hinunter, in den tiefen Sand des Bahndamms.
Sie prüften die Achslager, die Radreifen, die Bremsbacken; besichtigten die Lagerung der stählernen Federblätter — suchten überall nach der Ursache der Störung. Die Lokomotive stand da, zitternd vor Ungeduld, und stieß zischende Dampfwolken aus, die den zarten Flaum des Löwenzahns, der am Abhang wuchs, in die Luft bliesen.
Strachow lag auf den Knien und untersuchte die Lager der Schubstange, der Triebachse, betastete die heißen, öltriefenden Maschinenteile; sein Gesicht nahm einen erregten und besorgten Ausdruck an.
Auf dem Rückweg fährt die Lokomotive langsam, wie ermüdet vom schnellen Lauf. Am Signal bleibt sie stehen und schreit in die Morgenluft hinaus. Ihr fordernder Ruf klopft an die Fenster des alten Häuschens, das — die Fassade der Bahnlinie zugewandt — verschlafen dasteht; er schreckt die Spatzen von dem Fliederbusch in dem kleinen Vorgärtchen auf, dringt, ein in das Zimmer und schlägt, wie das Dröhnen eines Schmiedehammers, dem Menschen ans Ohr, der da unbeweglich im Bett liegt.
Der Mensch vergräbt den Kopf in die Kissen und verstopft sich die Ohren, aber der Ruf der Lokomotive erreicht ihn doch und reißt an seinem Herzen.
Der Mann, der da liegt, bemüht sich mit allen Kräften, die ganze Umwelt aus seinem Bewusstsein zu löschen, aber mit dem Schrei der Lokomotive vor dem Signal, mit den Windstößen, die den Geruch verbrannter Kohle hereintragen, dringt diese Welt dennoch machtvoll in sein ganzes Wesen ein. Durch die eingefallenen, unrasierten Wangen stehen die spitzen Backenknochen und prägen dem Gesicht den Ausdruck tiefer Erschöpfung auf.
„Mitja! Mitjenka!... Was soll denn das nur heißen? Iß doch einen Teller Borschtsch (Anm.: Suppe aus roten Rüben) — ich hab' ihn so gut gekocht! Wie viel Tage liegst du nun schon so ohne Essen da... Was soll das nur werden?" Nastja birgt das bekümmerte Gesicht in den Händen, nur mit Mühe kann sie die Tränen zurückhalten. Saizew liegt unbeweglich da, nur die Falten im Gesicht vertiefen sich noch. Er fühlt eine sonderbare Leichtigkeit im ganzen Körper — dabei ist er aber nicht imstande sich zu bewegen.
Wie lange liegt er schon so da? Er weiß es nicht — wozu soll er auch die Tage zählen, die farblos und leer sind, einer dem andern gleich?
Dies Gefühl der inneren Leere ist verbunden mit dem starker körperlicher Schwäche — er will weder denken noch sich bewegen noch leben... Ein paarmal hatte er starke Hungeranfälle, träumte von gebratenem Fleisch mit Zwiebeln, glaubte den Geruch in der Nase zu spüren und konnte ihn eine Weile nicht loswerden. Aber dann hatte er nur noch das Gefühl einer stumpfen Gleichgültigkeit. Nun weckte ihn der Schrei der Lokomotive wieder zum Leben: scharf und gebieterisch schrie diese Lokomotive, sie erinnerte ihn an die Fabrik, an tätige Menschen und sausende Maschinen, sie drang fordernd auf den geschwächten Organismus ein. Saizew wollte diesen Ruf des Lebens verjagen, aber er drängte sich ihm auf, lärmte und schrie, krachte in den aufeinander prallenden Puffern der vorbeifahrenden Züge, war da draußen, hinter den Fenstern, in der ununterbrochen schreienden Lokomotive, in den Triebachsen, an denen seine Hände gearbeitet hatten.
Aber dann fuhr die Lokomotive weiter, und wieder herrschte tiefste Stille, die nur von dem leisen Ticken der Uhr unterbrochen wurde. Unter dem Schrank flitzte eine Maus hervor und setzte sich mit einer Brotrinde zwischen den Zähnen unbeweglich mitten ins Zimmer. Saizew starrte die Maus wie hypnotisiert an, irgendetwas an ihrem scheuen Gesicht kam ihm bekannt vor; die gierig funkelnden Äuglein erinnerten ihn an den Blick irgendeines Menschen, den er kannte. Und auf einmal schien dieses Mäuslein zu wachsen und menschliche Umrisse anzunehmen — da erkannte Saizew Kraiski, wie er, sich scheu zu Boden drückend, Saizews Schürze mit den Zähnen davonschleppt... Gleich wird er unter den Schrank schlüpfen und verschwinden...
Saizew sprang vom Bett auf und ergriff irgend etwas Hartes.
Der Geruch von Schimmel und Fäulnis stieg ihm in die Nase, ihm wurde übel, aber er hatte schon nicht mehr die Kraft, dem Gefühl des Hungers zu widerstehen und schlug krampfhaft die Zähne in eine steinharte Brotrinde.
Mit einem scharfen Klingeln des Telefons beginnt der Morgen im Arbeitszimmer Kortschenkos. Lange und wütend läutet der schwarze Tischapparat, bis ihm schließlich die Stimme überschnappt und er heiser weiterrasselt — aber es ist erst fünf Minuten vor sieben, und Kortschenko ist noch nicht da. Endlich verstummt das Telefon, eine Minute später jedoch fängt es wieder an, durchdringend zu läuten, diesmal aber unaufhörlich.
Punkt sieben Uhr tritt Kortschenko ins Zimmer und hebt den Hörer ans Ohr, noch ehe er den Mantel ausgezogen hat.
„Ja, ja — ich... Du bist's, Wartanjan? Sag mal, wann schläfst du eigentlich? In der Nacht hast du zweimal in der Wohnung bei mir angerufen, und jetzt bin ich kaum im Zimmer, da brüllt diese Weckeruhr auch schon wieder aus Leibeskräften? Wie es mit den Lokomotiven steht? Was kann ich dir so früh am Morgen auf diese Frage antworten? Wart' ein wenig, die Leute werden gleich kommen, ich werde mir das Material zusammenstellen lassen, und rufe dich dann an. Um zehn Uhr ? Gut, ich werde sehen, dass ich's schaffe... Ach, hör' auf mit deiner ewigen Hetzerei! Ist das ein Mensch!" Er wirft den Hörer hin und setzt sich an den Tisch.
Nein — so kann man nicht arbeiten. Jede Minute diese Anrufe. Und immer dieselbe Frage. „Wie steht's mit den Lokomotiven?" Dabei gehen die Nerven drauf, einfach unmöglich, so zu arbeiten. Er weiß schließlich selbst, was er zu tun hat, und braucht durchaus nicht alle Augenblicke daran erinnert zu werden. Wartanjan scheint zu denken, es sei eine Kleinigkeit, diese Fabrik hier zu leiten. Der sollte sich mal an seine Stelle setzen und es selber versuchen...
Er nimmt den Hörer auf.
„Bitte Turtschaninow. Benjamin Pawlowitsch? Wie steht's mit den Lokomotiven?" ...
Ein unruhiger Morgen. Ununterbrochen läutet das Telefon, unaufhörlich, ohrenbetäubend. Am Abend schmerzt das rechte Ohr von dem ewigen Anlegen des Hörers. Am Abend summen die Ohren wie eine Muschel.
Die Ingenieure kommen, die Abteilungsleiter, die Leiter der Unterabteilungen, die Buchhalter, der Sekretär. Auf dem Tisch häufen sich die Papiere: Produktionsberichte, Meldungen. Abrechnungen, Pläne, Verordnungen, Briefe, Postkarten, Telegramme, Zeitungen; das Zimmer ertrinkt in diesen Papierhaufen, in der sengenden Sonnenflut, in dem ohrenzerreißenden Läuten des Telefons.
„Was — für zehn Uhr hatte ich's dir versprochen? Na ja, siehst du, alles rund herum ist voller Menschen, ich ersaufe in Arbeit... Bitte, reg' dich nicht auf, Wartanjan. In einer halben Stunde rufe ich dich an!" Der Hörer fliegt am Telefon vorbei in den raschelnden Papierhaufen. Und wieder Ingenieure, Sekretäre, Buchhalter — Menschen, Post, Besprechungen...
„Schon wieder du, Wartanjan? Du liebe Güte, dabei muss der Mensch ja verrückt werden! Wo brennt's denn? Jawohl — wo es brennt?! Ich habe meinen Kopf auch voll, und das ewige Telefongeklingel von dir weicht mein Gehirn auf... In fünfzehn Minuten! Ja, j—a—a—a! Verdammt!"
Man kann den Hörer auf den Tisch werfen, man kann ihn zum Fenster hinausschleudern — aber helfen wird es doch nichts. Schließlich muss man noch selbst ins Raikom laufen, das ist noch schlimmer... Telefongespräche:
„Benjamin Pawlowitsch — wie steht's mit den Lokomotiven?"
„Nr. 7 ist, glaube ich, schon in der Malerwerkstatt, Pjotr Petrowitsch."
„Benjamin Pawlowitsch, mit Ihrem ,glaube ich' kann ich gar nichts anfangen. Sie sind doch der Technische Direktor. Also bitte: in zehn Minuten wünsche ich eine erschöpfende Antwort von Ihnen."
„Sehr richtig. Aber was kann ich tun, wenn mir die Abteilungen nicht rechtzeitig Bericht erstatten? Ich habe bereits mehrmals... Ja, ja, ich verstehe... Jawohl, gewiss doch! Wird gemacht, Pjotr Petrowitsch! Unbedingt ge..." Das Gespräch wird unterbrochen, „-macht", sagt Benjamin Pawlowitsch schon zu sich selbst.
„Wo ist Nr. 7? Auf Probefahrt? Ausgezeichnet! Welche sagen Sie, Adam Adamytsch, Nr. 6? Und Nr. 7? Wo ist Nr. 7?"
„Benjamin Pawlowitsch, Nr. 7 ist noch in der Montagehalle. Auf Probefahrt ist Nr. 6."
„Was! Nr. 6?? Warum Nr. 6? Heute ist der zwanzigste — verstehen Sie? Das ist einfach unmöglich, Adam Adamytsch! Unmö—ö—öglich! Soeben hat der Direktor angerufen. Wir sprengen ja das Programm. Sie sind der Leiter des Lokomotivbaus, Adam Adamytsch!"
„Wir sprengen das Programm, Benjamin Pawlowitsch. Aber wer ist schuld daran? Ich habe es Ihnen schon hundertmal gesagt. Die Kesselabteilung kann die Aufträge nicht ausführen, die Dreherei ebenfalls nicht. Die Martinabteilung liefert Ausschuß — lauter schlechte Einzelteile."
„Adam Adamytsch! Alles, was Sie da sagen, ist nicht stichhaltig. Nr. 7 muss zur rechten Zeit geliefert werden! Forcieren Sie die Ablieferung von Nr. 6! Quantität! Quantität — das ist die Losung. Daran sind wir ja doch interessiert. Üben Sie einen Druck aus auf Kraiski, auf Strachow, auf Stanislaw Antonytsch."
„Gut... Ich werde mich bemühen... "
„Hier Adam Adamytsch... Sind Sie's, Simon Petrowitsch? Hören Sie bitte: die Lokomotiv-Montagehalle klagt darüber, dass die Dreherei bei der Lieferung der Lokomotivteile im Rückstand bleibt. Das geht nicht, Simon Petrowitsch, das geht auf keinen Fall! Bitte, Sie müssen da unbedingt entsprechende Maßnahmen treffen."
„Adam Adamytsch, ich verstehe alles, und ich tue alles, was in meinen Kräften steht. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass die Martinabteilung außerordentlich viel Guss- und Schmiedeausschuss liefert."
„Simon Petrowitsch, Sie sprechen mir da von Ausschuß. Das ist nicht gut, Simon Petrowitsch. Ausschuß darf nicht vorkommen, darf es nicht geben! Was für ein Ausschuß soll das sein?? Verstehen Sie?"
„Ich verstehe, Adam Adamytsch... "
„Kraiski! Warum liefern Sie die Einzelteile zu spät?"
„Sehr einfach, Benjamin Pawlowitsch, weil ich keine habe. Ich werde lieber einen Augenblick hinüberkommen... "
„Dann aber etwas schnell..."
Prustend lässt sich Kraiski in einen Sessel fallen.
„So kann ich nicht länger arbeiten. Platow arbeitet in jeder Weise gegen mich. Jetzt hat er eine ganze Partie auf das Fehlgusslager geschickt."
„Na — und was sagt das Festigkeitslaboratorium? Wie waren die Proben?"
„Alles war tadellos."
Turtschaninow denkt eine Minute lang nach. Seine Raubvogelaugen hinter den Brillengläsern schimmern gelblich, die Pupillen erweitern sich, dann werden sie wieder klein, wie schwarze Stecknadelköpfe.
„Kraiski, ich werde Ihnen eine Lösung sagen: Sie verlassen vorübergehend die Abteilung und beschäftigen sich ausschließlich mit dem Bau der neuen Fabrik. Soll Platow mal die Martinabteilung allein leiten."
„... Wer spricht? Adam Adamytsch? Ich bin's — Strachow. Guten Tag! Jawohl — Nr. 6 ist von der Probefahrt zurück... Ja, wissen Sie, nicht so besonders! Die Federn schlottern. Die Federn, sage ich, schlottern! Und mit der Kurbel haben wir Scherereien. Wie lange das dauern wird? So ungefähr drei Tage... Nichts zu machen — ich bin dafür verantwortlich. Ich kann keine kranke Lokomotive aus der Fabrik lassen. Außerdem würde sie ja auch Akatujew keinesfalls durchlassen. Wie? Was? Was sagen Sie? Ich kann nicht, Adam Adamytsch. Bedaure außerordentlich, aber das kann ich auf keinen Fall."
„Also, Kortschenko, antworte mir gerade heraus und ohne Umschweife: wie steht's mit den Lokomotiven?"
„Was regst du dich auf, Wartanjan? Erst diesen Moment habe ich die Unterlagen bekommen. Nr. 7 ist in der Montagehalle, Nr. 6 ist von der Probefahrt zurück, morgen bekommt sie Akatujew. Nr. 7 hat eine kleine Verspätung, aber alles ist mobil gemacht... Also reg' dich nicht auf!"
„Wie soll ich mich nicht aufregen? Man muss sich immer aufregen, Kortschenko! Wir werden bald vor dem Okruschkom Rechenschaft ablegen müssen, Kortschenko, hast du das vergessen?"
„Ich wiederhole dir: es wird alles gemacht. Punktum! Wir werden uns nicht schämen müssen. Bloß hör' endlich auf, mich mit deiner verfluchten Telefoniererei zu quälen!"
„In die Verkleidungswerkstatt?"
„Jawohl — in die Verkleidungswerkstatt."
„Aber die Kurbel? Die Kurbel hat sich doch gelockert. Und die Federn..."
„Das geht dich nichts an! Es ist so verfügt worden... "
„Da soll der Teufel draus schlau werden... Der eine so, der andere so."
„Genosse Rjachow! Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie Nr. 6 in die Verkleidungswerkstatt schicken sollen? Die Fehler sind doch noch nicht behoben?"
„Genosse Strachow, weiß der Teufel, ich versteh' überhaupt nichts mehr! Mir ist gesagt worden: ,Strachow hat's bestimmt', und nun auf einmal ist's wieder anders!"
„Ich befehle Ihnen, die Lokomotive in die Montagehalle zurückzuschaffen. Haben Sie verstanden?"
„Selbstverständlich! Aber da soll einer draus klug werden... "
6
Sascha Mochow stand im Torweg und las die Bekanntmachungen, die auf flatternde Leinwandlappen geschrieben waren. Alles drehte sich um das eine kurze, unheilvolle Wort: „Planbruch."
„Planbruch... Planbruch... " — flüsterte Sascha vor sich hin und ging weiter. Er eilte in den Stadtpark, wo eine Versammlung der Pionierabteilung stattfinden sollte.
Am Bretterzaun der Fabrik klebte ein Plakat neben dem andern, eine Losung neben der andern:
BUMMLER UND SÄUFER
DIE DIE ARBEIT NUR STÖREN,
MÖGEN SICH SCHLEUNIGST
AUS DER FABRIK FORTSCHEREN!
Das gefiel Sascha ausnehmend, und vergnügt hüpfend summte er vor sich hin:
„Mögen sich schleunigst aus der Fabrik fortscheren! Fortscheren!"
Aber auf einmal verstummte er. Er musste daran denken, dass ja sein Vater auch trank. Allerdings blieb der alte Mochow der Arbeit nur selten fern, aber immerhin bezog sich dieses Plakat auch auf ihn. Sascha sang nicht mehr, nachdenklich und still ging er seines Wegs. Heute hatte der Vater Geburtstag. Zu diesem Tag lud er alljährlich seine Arbeitsgenossen ein, die alten Dreher, und dann wurde das Fest durch ein Saufgelage ordentlich gefeiert. Die Mutter stand schon seit dem frühen Morgen am Herd, ein Dutzend Mal war sie auf den Markt gelaufen, aber immer noch fehlte irgend etwas.
In der Nähe des Marktes traf Sascha die Mutter, sie schleppte zwei volle Körbe und blieb häufig stehen um zu verschnaufen. Von der Hitze und Anstrengung war ihr Gesicht rot wie eine reife Tomate. Sascha wollte schleunigst in der Menge verschwinden, aber die Mutter hatte ihn schon gesehen und rief ihn an:
„Sascha! Wart' mal, sieh mal die lange Schlange da vor dem Wodkaladen, ich hab' gestanden und gestanden und bin immer noch nicht dran, und derweil verbrennt mir zu Hause der Kuchen im Backofen! Saschenka, sei lieb, stell' dich an, und ich laufe rasch nach Hause. Hier hast du Geld!" Dabei steckte sie ihm einen Tscherwonez in die Hand, ergriff ihre Körbe und war auch schon verschwunden.
Verwirrt stand Sascha da und zerknüllte den Tscherwonez in der Hand. Er musste doch schnell zur Pionierabteilung, es war eine wichtige Versammlung heute — der Führer, Simka, hatte irgendeinen interessanten Vorschlag zu machen. Was sollte er bloß tun? Sich um Wodka anstellen? Wenn ihn einer dabei sähe! Einfach fortgehen? Das würde ihm der Vater nie verzeihen, wenn er seinen Geburtstag „trocken" feiern müsste. Unentschlossen näherte er sich dem Wodkaladen und schloss sich hinten an die Schlange an. Vor ihm stand ein zerlumpter Mann. Der stank nach irgendetwas Ekelhaftem, eine Wolke Fusel umschwebte ihn. Sascha wurde es beinahe schlecht. Die Hosen schlotterten dem Mann in Fetzen um die mageren Beine, spitze Ellbogen schauten aus dem zerrissenen Hemd. „Planbruch ... Planbruch... ", musste Sascha wieder denken. Da erkannte er in dem Manne Sharow und trat voller Ekel einen Schritt zurück.
„Und das will ein Pionier sein... schubst hier wie ein Betrunkener. Was trittst du mir auf die Füße, he?" brummte der hinter ihm Stehende ärgerlich.
Da fiel Sascha ein, dass er das rote Pionierhalstuch um hatte. Verwirrt schaute er sich nach allen Seiten um und zupfte dann den zerlumpten Sharow am Ärmel:
„Sharow — merk' dir bitte, ich stehe hinter dir, ich komme gleich wieder..."
Er lief hinter einen in der Nähe stehenden Zeitungskiosk, band schnell das rote Tuch ab und steckte es in die Tasche. Gleich kam die Reihe an ihn. Schon hatte er den Tscherwonez dem Kassierer hingelegt, als er plötzlich rufen hörte. „Sascha! Mochow!"
Saschas Hand zitterte. Er nahm schnell den Tscherwonez zurück. Die hinter ihm schimpften:
„Na, was ist denn los? Mach mal ein bisschen schneller!" „Sascha! Was machst du denn da?"
Mir raschen, leichten Schritten war der rotbäckige Simka Zeitlin an ihn herangetreten. Sascha wurde blass und senkte verlegen die Augen.
„Das ist... für den Vater... Die Mutter hat mich geschickt", stammelte er schließlich verwirrt.
Simka steckte den Kopf mit den schwarzen blanken Augen in das Fensterchen zu dem Kassierer hinein und rief laut:
„Sie haben doch gar nicht das Recht, an Kinder Wodka zu verkaufen! Ich werde sofort einen Milizionär holen!"
„Zeitlin — lass doch..." Sascha zog ihn am Ärmel und überredete ihn, keinen Lärm zu schlagen.
Sie traten auf die Straße hinaus. Zeitlin schimpfte und drohte, er würde die Sache der Komsomolzelle melden. Sascha schlich trübselig neben ihm her. Der Tscherwonez in der Hand war ganz zerknittert.
„Zeitlin, ich hab' jetzt direkt Angst, nach Hause zu gehen. Es gibt bestimmt Krach."
„Wir werden zusammen zu deiner Mutter gehen, ich werde mit ihr reden. Zum Teufel mit solchen Sachen!"
Sie traten gerade ins Haus, als Saschas Mutter den Kuchen aus dem Ofenrohr zog.
„Nun — hast du bekommen?"
Sascha trat schweigend ans Fenster, Simka steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte gewichtig:
„Ich hab's ihm verboten. Ihn trifft keine Schuld, Genossin Mochowa."
„Verb—o—o—ten! Genossin Mo—o—cho—wa! Verboten! Nun hör mal einer bloß diesen Säugling an! Sascha — hast du Wodka gebracht?"
„Pioniere dürfen nicht nach Wodka geschickt werden, Genossin Mochowa!"
Die Mochowa trat zu ihrem Jungen und rüttelte ihn heftig am Arm:
„Hast du etwa tatsächlich keinen Wodka gebracht? Es ist dir also ganz egal, was deine Mutter dir sagt? Mach' sofort, dass du hinauskommst, hörst Du?! Der eigene Sohn kann der Mutter nicht behilflich sein! Soweit ist es also mit euren roten Halstüchern gekommen... Was stehst du hier und hältst Maulaffen feil? Mach', dass du hinauskommst. Hinaus — alle beide!" Sie warf die Tür so heftig zu, dass die Fensterscheiben klirrten.
Bedrückt und schweigend traten Simka und Sascha auf die Straße. Zeitlin war es unangenehm, dass man ihn in Saschas Gegenwart einen „Säugling" genannt hatte — überhaupt hatte die Geschichte ein sehr dummes Ende genommen. Sascha fürchtete die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Vater.
Sie gingen in den Stadtpark und setzten sich auf eine Bank. Die Luft war von harzigem Fichtenduft erfüllt. Die Krähen, die in dichten Schwärmen auf den Ästen hockten, krächzten heiser, als hätte die Hitze ihre Kehlen ausgetrocknet.
„Sascha, heut gehst du nicht nach Hause. Da werden sie saufen, und dein Vater schlägt dich womöglich noch. Wir gehen jetzt in die Pionierabteilung, in der Nacht haben wir da sowieso eine Sache zu schmeißen. Aber dass du ja niemand etwas davon sagst!" Simka dämpfte die Stimme und flüsterte Sascha etwas ins Ohr.
Die Versammlung der Pionierabteilung hatte heute einen anderen Charakter als sonst, die Gesichter der Kinder trugen den Stempel irgendeines Geheimnisses. Alle spürten, dass Simka, der immer voller Einfälle steckte, sich diesmal etwas ganz Besonderes ausgedacht hatte. Sonst fand auch die Versammlung immer auf dem Platz vor dem Kino statt, heute dagegen war eine Stelle ganz am Ende des Parks gewählt worden, in einer jungen Schonung.
In engem Kreis standen die Pioniere um Simka herum. „Kommt mal näher heran und verhaltet euch ruhig. Es handelt sich um eine geheime Angelegenheit", teilte Simka flüsternd mit.
Mit angehaltenem Atem starrte Sascha auf Simkas Mund, in dem zwei Reihen weißer scharfer Zähne schimmerten. Simka kniff das rechte Auge zusammen, und da musste Sascha an den alten Moissej Grigorewitsch Zeitlin denken, der mit einer „alles durchdringenden" Glasscherbe im zusammengekniffenen Auge in Haufen alter Räder, Schrauben und Federn wühlte.
Grischa Nossow bemühte sich krampfhaft, mit der Handfläche einen blauen Fleck auf der Wange 2u verdecken, der von den väterlichen Faustschlägen herrührte, und hörte nur ganz zerstreut 2u. Er war erst am Abend vor dem häuslichen Auftritt in die Pionierabteilung aufgenommen worden, und der Gedanke, dass die Kameraden davon erfahren haben könnten, lastete ihm auf der Seele.
Der dicke, wichtigtuerische Wanja Kortschenko, der in der Abteilung den Spitznamen „Direktor" führte, nickte zustimmend mit dem Kopfe. Die Gesichter der Kinder waren ernst und nachdenklich. Zeitlin hatte sich eine große Sache ausgedacht. Nun wurden die Rollen verteilt. Simka sagte: „Nun noch etwas, Jungens. Gestern hat Grischa von seinem Vater Prügel bekommen. Was sollen wir tun?"
Grischa sah Simka erstaunt mit großen Augen an: woher er das bloß wusste? Aber Simka wusste eben alles, seinem scharfen Blick entging nichts, als habe er wie sein Vater ein „alles durchdringendes" Glas ins Auge geklemmt, das ihm alles sichtbar machte.
„Wir werden im Klub ein öffentliches Gericht über Nossow abhalten," sagte Wanja — der „Direktor" — eifrig.
„Na — um solcher Kleinigkeit wegen... das lohnt sich nicht", sagte Sascha. „Besser, wir bringen die Sache in der Zeitung zur Sprache."
Damit waren alle einverstanden. Die Kinder verließen den Park und gingen gruppenweise in die Stadt, um Brettchen, buntes Papier und Farbe aufzutreiben.
„Ach, ich würde gern was essen, seit dem frühen Morgen hab' ich noch nichts im Munde gehabt... Aber wir haben keine Zeit", seufzte Simka.
„Seit dem frühen Morgen — das ist nicht so arg. Aber unser Nachbar, der liegt schon zwei Wochen da und isst nichts und lebt dabei", sagte Sascha.
„Quatsch' doch nicht, Sascha, zwei Wochen! Das hält bloß ein Fakir aus."
„Ich weiß, die Fakire in Indien. Aber dieser ist kein Fakir, sondern ein Dreher", sagte Sascha heftig, beleidigt, dass er keinen Glauben fand. „Er hat mit meinem Vater zusammen in der Dreherei gearbeitet, und sein Haus steht gleich neben unserem... Er trinkt bloß ab und zu mal Wasser...
„Das ist interessant... Warum macht er das denn?" fragte Simka, in dem Anteilnahme für den Fall erwachte.
„Mein Vater sagt, dass er von zuviel Klugheit verrückt geworden ist. Er hat immer die ganzen Nächte aufgesessen und was gezeichnet."
„Siehst du wohl, das kommt davon!" sagte der kleine Zeitlin nachdenklich, und dabei kniff er das rechte Auge genau so zusammen wie der alte Moissej Grigorewitsch.
Langsam sank die Nacht herab und hüllte die Stadt in ihre warme Dunkelheit. Die Häuser blinzelten mit den gelben Augen ihrer matt erleuchteten Fenster, bereit einzuschlafen. Plötzlich aber wurden die finsteren Straßen vom Schein lodernder Flammen erhellt, die die Fenster der zum Schlaf rüstenden Häuser grell aufblinken ließen. Die Sturmglocke läutete mit aller Macht und trieb die Menschen aus den Betten. Die verschlafenen Augen reibend, liefen sie vor die Haustüren und suchten den Himmel mit den Augen ab, spähten nach dem Ursprung des Feuerscheins. Aber der Himmel hing undurchdringlich, schwarz und still über der Erde.
Die Glocke jedoch gellte immer weiter Sturm und machte die Fensterscheiben erzittern, und züngelnde Flammen krochen die Straße entlang durch die Dunkelheit.
Mochow sprang auf, stieß die wodkagefüllten Gläser auf dem Tisch und die Stühle in seiner Nähe um und rannte auf die Straße. Trunken schwankend, folgten ihm die Gäste. „Es brennt", dachte Mochow; im selben Augenblick machten die unheimlichen Fackeln vor seinem Hause halt, und sein Herz wurde von wilder Furcht ergriffen. Die Straße lärmte, Türen schlugen dröhnend zu, Fensterscheiben klirrten, Hunde bellten, und plötzlich schrie jemand heiser, panische Furcht in der Stimme:
„Marussja! Schnell — Wasser her!"
Aus der Richtung, wo prasselnd die Fackeln loderten, kam vielstimmig die Antwort:
„Faulenzer, Säufer, Tagediebe! Ihr hindert die Arbeit im Sowjetbetriebe. Wir woll'n die Fabrik von euch befrei'n, Für euch ist kein Platz in unseren Reih'n!"
Gellendes Kindergelächter zerriss die Dunkelheit, und Mochow merkte, dass die schwarze Finsternis ja ihn verspottete, der sich in seiner Trunkenheit kaum auf den Beinen halten konnte. Lachen und Schreien, Witze und Schimpfworte brachten die Nacht in Aufruhr, funkensprühende Fackeln zogen die Straßen auf und ab, und das Läuten der Sturmglocke tönte jetzt wie lautes Gelächter, das über die Dächer hinrollte.
Das Licht der Fackeln verschwand hinter der Straßenbiegung, und sofort hüllte wieder tiefste Finsternis die Straßen ein. Brummend und stolpernd kam der „Chef" daher, mühsam tastete er durch die Dunkelheit. Aber die alten Augen betrogen ihn. Da ging er einfach aufs Geratewohl, geführt von der Gewohnheit vieler Jahre, vom Geruch des Teers und Rauchs, den der Wind von der Fabrik herübertrug. Jetzt vertrieb der Lichtschein des Fackelzugs wieder die Nacht, und die Finsternis, die auf dem Alten lastete, schwand, weggejagt von dem fröhlichen Lachen der Kinderstimmen.
Also nicht er allein verbrachte die Nächte schlaflos? Der Alte kicherte vor sich hin und schritt fest und sicher der Fabrik zu. Heute muss er sich endgültig davon überzeugen... Er wird durch alle Abteilungen gehen und alles noch einmal nachprüfen, und morgen wird er dann vor den schwarzäugigen Sekretär hintreten und wird ihm alles erzählen — alles genau der Reihe nach. Da würde der endlich merken, dass der Alte durchaus noch nicht den Verstand verloren hat, dass er ihn vielmehr hütet für die Fabrik, für die Lokomotiven, die ihm so teuer sind, als wären es die eigenen Kinder! Schnell stieg er die Stufen zum Eingang empor. „Passierschein?"
Verwundert blickte sich der Alte um, als höre er dieses Wort zum ersten Mal in seinem Leben, und ging weiter.
„Alter! Hast du einen Passierschein?" Der Wächter holte ihn ein, als er schon das Fabriktor erreicht hatte und hielt ihn am Ärmel fest.
„Das ist mein Passierschein... " sagte der „Chef" und hielt dem Wächter die vom Rheumatismus verkrümmten Hände hin, deren Poren für immer mit Formererde imprägniert waren.
„Schlau bist du, Großvater", lachte der Wächter, „nun mach' aber mal schnell kehrt." Und er nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn um, dem Ausgang zu.
Der „Chef" sträubte sich, aber der Wächter war jung und kräftig, er ergriff seine Hand und führte ihn auf die Straße hinaus, wie ein Kind, das sich verirrt hat.
„Es ist strengstens befohlen worden, Großväterchen, dich nicht mehr in die Fabrik hineinzulassen. Du hättest hier nichts mehr zu suchen, heißt es. Du könntest noch unter irgendeine Maschine geraten. Gute Nacht, Großvater!" Und damit schlug der Wächter das Tor zu und schob den Riegel vor.
Verwirrt, von plötzlicher Schwäche ergriffen, stand der „Chef" in der Finsternis. Durch das Eisengitter fiel der zitternde Lichtschein der Torlaterne. Über den schwarzen Fabrikgebäuden hing in der Luft ein bläulicher Glanz wie das fahle Licht eines Blitzes.
Zum zweiten Mal im Leben stand der Alte, wider seinen Willen, außerhalb der Fabrik. Zum ersten Mal war das an jenem denkwürdigen Tage im Jahre neunzehnhundertvierzehn geschehen, einen Tag, nachdem die von ihm geschaffene Lokomotive seine beiden Söhne weggeführt hatte.
An jenem Tage wollte der Alte nicht arbeiten. Er ging von Werkstatt zu Werkstatt und erzählte von seinem Kummer. Alle Dreher, Schlosser und Gießer hatten dieselben von Sorgen und Gedanken zerfressenen Gesichter — jeder hatte seinen eigenen Kummer. Sie hörten ihm zu, dann ließen auch sie die Arbeit liegen, standen in Gruppen auf dem Hof herum, gingen durch die Straßen der Stadt, schüttelten die geballten Fäuste. Gegen Abend war dann alles still, und der Alte war wegen Agitation aus der Fabrik entlassen und stand ebenso wie jetzt draußen vor dem Tor.
Aber damals waren andere die Herren der Fabrik... Was war denn aber heute geschehen? Fabrikdirektor war Kortschenko, den er noch von der Kolomnaer Fabrik her kannte. Allerdings, damals war Pjotr Kortschenko einfacher, schlichter gewesen. Überall in der Fabrikleitung sitzen jetzt Arbeiter, sogar die Pioniere sind von der allgemeinen Sorge für die Fabrik ergriffen. Wer von all diesen kann jetzt auf den Alten böse sein? Da musste er an das ärgerliche Gesicht Benjamin Pawlowitschs dort beim Martinofen denken, und eine finstere Wut presste sein Herz zusammen. Die Fabrik brauchte ihn also nicht mehr, er war überflüssig, er war für alle nur der „melancholische" Alte...
Seufzend wandte er sich zum Gehen, und die Nacht schlug über ihm zusammen. Langsam stieg der Mond über der Stadt auf. Sein grünliches Licht ließ die Umrisse der Häuser scharf hervortreten. In der letzen Straße stieß der „Chef" auf einen Menschen, der zögernd da stand, als wisse er nicht, wohin er sich wenden sollte.
„Wo kommst du denn her, Alter?"
„Wer bist du denn?"
„Senka Platow... Kannst du dich nicht erinnern, Alter?"
„A—a... Semjon Petrowitsch. Nein, der Alte hat nichts vergessen. Ist immer noch bei Verstand. Hat auch dich nicht vergessen, und deinen Vater, Pjotr Nikolajewitsch, auch nicht, ich besinn' mich noch gut auf ihn. Du stehst doch nun ganz allein."
Platow lachte bitter auf.
„Ja, richtig! Ich hab' nicht mal ein Unterkommen für die Nacht!"
„Wieso nicht?"
„Das ist eine lange Geschichte, Alter... Ich möchte mich jetzt ausschlafen, ich bin müde wie ein Hund. Morgen heißt's früh bei der Arbeit sein."
„In welcher Abteilung arbeitest du, mein Herzchen?"
„In der Martinabteilung."
„So? Ich habe gehört, da bei euch in der Martinabteilung hat heute ein Arbeiter einen Ingenieur geschlagen."
„Mich hat er geschlagen."
Der „Chef" trat erstaunt einen Schritt zurück und betrachtete Platow aufmerksam.
„Was — du bist Ingenieur?" fragte der Alte misstrauisch und setzte sogar die Brille auf, um Platow besser betrachten zu können.
Platow erzählte mit ein paar Worten von sich und was ihm passiert war, und warum er diese Nacht nicht wusste, wo er schlafen sollte.
„Also auch dich verfolgt man, mein Liebchen? Da soll nun einer draus klug werden", wunderte sich der Alte. „Was das jetzt für ein Leben ist! Weißt du was, komm zu mir — mein Haus steht sowieso leer... "
Und so schritt Platow, beladen mit seinen nicht gerade umfangreichen aber schweren Habseligkeiten, hinter dem „Chef" her, der in sich hinein krächzte: „Das ist ein Leben jetzt!"
Zu Hause beim Schein der kleinen, blakenden Lampe öffnete er dann vorsichtig eines der dicken Bücher von Platow; als er die nichtrussischen Buchstaben sah, schloss er es behutsam wieder und bot Platow sein Bett an:
„Leg' dich hier hin, Semjon Petrowitsch. Du bist mir ein teurer Gast."
Platow legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Und sofort stand die heutige Szene mit erschütternder Deutlichkeit vor ihm: die gespannten Gesichter der Arbeiter, die bösen Augen Sergejs und die triumphierende Miene Sharows — in seinen Ohren vermeinte er das Krachen und Donnern des Stahls, das Rollen der Kräne, die giftigen Spöttereien, die an seine Adresse gerichtet waren, zu hören.
Ja — er war blamiert... Blamiert von der ganzen Abteilung, blamiert in den Augen aller, die ihn von früher kannten, für die er der Former Senka war, die ihm, dem Ingenieur Platow, von Anfang an mit Misstrauen begegnet waren. Platow fühlte heiße, brennende Scham. Ihm wurde so heiß, dass er die Decke abwarf, das Hemd auszog und das Fenster aufriss — aber trotzdem brachte ihm die nächtliche Kühle keine Erfrischung.
An die Stelle seiner anfänglichen Zuversicht und Ruhe war eine nervöse Erregung getreten, die ihn schwächte. Hatte er nicht eine Niederlage erlitten, die er in den Augen der Former und Gießer nicht wieder gutmachen konnte? Und würden die höhnischen Witze und das Gekicher denn morgen ein Ende nehmen? O ja, er wusste wohl — Achtung und Respekt hätten die spöttischen Witze verdrängt, wenn er Sergej in gleicher Weise geantwortet hatte. Dann wäre er sofort in den Augen jener gestiegen, die daran gewöhnt sind, die Kraft eines Menschen an seinem Faustschlag zu messen. Aber nicht darin liegt die Stärke des Ingenieurs Platow. Seine Stärke sind die Kultur und das Wissen, die er der Masse bringt. Aber diese Stärke sieht die Masse heute noch nicht so deutlich vor Augen wie die rote Schramme, die der Schlag mit dem Kabel auf der Wange Platows zurückgelassen hat...
Mit heißen Fingern betastete er die Wange, fühlte das geronnene Blut, und ein Gefühl tiefster Scham überflutete ihn. Welche Schande! Wütend knirschte Platow mit den Zähnen. Um ihn herum war alles dunkel und still — ab und zu knarrte der alte Diwan, auf dem sich der „Chef" unruhig hin- und herwälzte.
„Ich glaube, Semjon Petrowitsch, die Menschen von heute haben den Schlaf verloren. Nun sage mir doch bitte, woher kommt das?" fragte der „Chef", und ohne die Antwort abzuwarten, fügte er nachdenklich mit halber Stimme hinzu: „Davon — denke ich — weil das Leben jetzt so beweglich ist...'
In der Nähe des Fabriktors lief Zeitlin geschäftig hin und her und stellte seine Posten aus. Er war sehr ernst und ganz von dem Gefühl der Verantwortung für seine große Sache beherrscht. Stolz drückte er die Brust heraus. Hastig erteilte er Sascha die letzten Anweisungen.
„Nun, Sascha, halt' dich tapfer!" lachte Zeitlin und lief weg, fast geräuschlos huschten die weißen Turnschuhe über den Boden.
Sascha zupfte sein rotes Pionierhalstuch zurecht und stellte sich stramm neben dem schwarzen Brett auf, das am Eingang angebracht war. Zum zweiten Mal zerriss die Sirene mit ihrem gewöhnlichen langen Pfiff die Luft und machte sein Herz heftig und laut schlagen. Es regnete; Sascha, der von der kühlen Morgenluft und noch mehr vor Aufregung zitterte, ging vor dem schwarzen Brett auf und ab; er überlegte den ersten Satz, der ihm große Schwierigkeiten bereitete.
„Ach, wenn ich so reden könnte wie der Simka, das geht bei dem wie geschmiert. Wie hatte er doch gleich gesagt, dass ich anfangen soll? Ich glaube, es war so:
Genosse! Unsere Epoche besteht aus kostbaren Minuten, du aber kommst zu spät zur Arbeit und stiehlst der Fabrik eine ganze Stunde."
Nein — ganz so war es nicht... wie sollte er „ihn" Genosse nennen, wenn er womöglich grade einen Alten abfasste — das würde lächerlich sein. Und was konnte das schon für ein „Genosse" sein, der zu spät zur Arbeit kam! Und Sascha erinnerte sich, mit welcher Verachtung seine Mutter das Wort ausgesprochen hatte, als sie Simka nachäffte. Nein — es wird viel besser sein, wenn er einfach sagt: „Onkelchen — warum kommst du denn so spät?" Und wenn der dann verwirrt mit den Händen herumfuchteln wird, dann wird er ihn ordentlich beschämen und wird sagen: „Das geht doch nicht, Onkelchen, darum haben wir den Planbruch in der Fabrik!"
Die ersten Arbeiter passierten das enge Eingangstor; Sascha begleitete sie mit den Augen und dachte: „So ist's recht, die stehen früh auf..." Zum dritten Mal pfiff die Sirene, in dichten Scharen drängten die Arbeiter in den Fabrikhof, als würden sie von hinten gestoßen, und dann war der Menschenstrom auf einmal versiegt. Rund herum war alles still, aber in der Nähe, aus der Abteilung für Eisenkonstruktionen, hörte man schon die Schläge der Niethämmer. Langsam schlichen die Minuten der Erwartung dahin. Aufmerksam beobachtete Sascha den Eingang, damit nur niemand ungestraft an seinem schwarzen Brett vorbeiflitzte. Der Wächter, der ihn beobachtete, lacht gutmütig.
„Sieh mal einer an, die Lausejungen, was die sich da ausgedacht haben... "
Sascha ärgerte sich über den herablassenden Ton des Wächters, er wollte gerade etwas antworten, als schwere Schaftstiefel auf dem Holzpflaster heranklapperten und ein Mann zum Tor hineinlaufen wollte. Sascha streckte schnell den Arm aus und versperrte ihm den Weg.
„Genosse!" — das klang streng und solide — „Du kommst zu spät zur Arbeit! Unsere Epoche, Genosse, besteht..." Das nächste Wort saß ihm plötzlich in der Kehle fest, wie ein trockenes Stück Brot. Sascha trat einen Schritt zurück und ließ die Hände schlaff herabsinken.
„Sascha? Was machst du denn hier? Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!"
Mochow konnte absolut nicht begreifen, wie sein Sascha hierher kam, und was das „Genosse" und „Epoche"... zu bedeuten hatte. Er musste schleunigst auf seinen Platz in der Dreherei, aber da stand Sascha und versperrte ihm den Weg.
„Lass mich schleunigst durch!" Und Mochow trat dicht an den Jungen heran und hauchte ihm seinen Alkoholatem ins Gesicht.
Aber Sascha, obwohl am ganzen Körper zitternd und den Vater furchtsam anstarrend, wich keinen Schritt aus dem Torweg. Plötzlich musste Mochow an die gestrige Geschichte mit dem Wodkaholen und an das plötzliche Verschwinden seines Sohnes denken; alles das brachte er nun mit der Anwesenheit des Jungen hier vor dem Tor und mit dieser dummen Frage, die er an ihn richtete, in Zusammenhang. Mit geballter Faust stürzte sich der Alte auf seinen Sohn.
„Weg hier, du Rotznase!"
Sascha sah, wie der Wächter niederträchtig grinste. Zitternd vor Scham behauptete er seinen Platz und drückte sich fest an das Geländer.
„Weg hier — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!" Mochow packte den Jungen beim Arm und stieß ihn mit Gewalt beiseite.
Sascha schrie auf vor Schmerz, aber es gelang ihm doch, sich am Rockärmel des Vaters festzuklammern, der ihn so hinter sich herschleifte. Wütend schüttelte Mochow den Jungen ab und schimpfte, was das Zeug hielt. Die Arbeiter auf dem Hof liefen auf den Lärm hin herbei und umringten den alten Mochow und seinen Sohn.
Da holte Mochow aus und gab Sascha eine schallende Ohrfeige.
Die Umstehenden lachten gutmütig. Sascha taumelte zurück und lief, die Hände vorm Gesicht, dem Ausgang zu. Die Wange brannte wie Feuer, und Sascha schien es, als ob alle, die Menschen, die Fabrikgebäude und sogar der Schornstein, seine Schande mit ansähen und ihn auslachten. Tränen liefen ihm über die Wangen, er wischte sie schnell ab, aber immer neue kamen.
„Kümmre dich lieber nicht um Dinge, die dich nichts angehen", lächelte der Wächter mitleidig.
Da platzte Sascha, beleidigt von diesem unerbetenen Mitgefühl, heraus:
„Dir ist, scheint's, der Planbruch ganz egal... Und mit solchen soll man nun arbeiten!"
Mit festem Schritt trat er an das schwarze Brett und schrieb mit weißer Kreide in großen Buchstaben darauf:
„MOCHOW —BUMMLE R."
Zufrieden mit der Größe der Buchstaben, ging Sascha unter den Blicken der Arbeiter stolz erhobenen Hauptes zum Fabriktor hinaus. Draußen aber knickten ihm die Beine zusammen, er konnte sich nicht mehr beherrschen, ein heißer Tränenstrom lief ihm die Wangen hinab, und an den Fabrikzaun gelehnt, weinte er laut und bitterlich.
7
Spät erst, als schon dichte graue Dämmerung in den Straßen hing, kam Wartanjan nach Hause.
Müde ließ er sich in den Ledersessel vor dem Schreibtisch fallen, streckte die Beine von sich und schloss die Augen.
Die Müdigkeit, die diesen Menschen den ganzen Tag anscheinend vergeblich verfolgt hatte, hatte ihn nun endlich eingeholt und trat in ihre Rechte. Sie ergriff Besitz von dem ganzen Körper und beherrschte ihn unumschränkt: seine Beine waren steif und schwer, sein Kopf, von den Eindrücken des Tages angefüllt und vom Tabakrauch vergiftet, schmerzte, als wollte er platzen; das Herz klopfte ungleichmäßig und sprunghaft, mitunter war es gar nicht zu spüren, dann wieder setzte es so heftig ein, als wollte es die Brust sprengen; schlaff und leblos hingen die Arme herab, der ganze Körper war wie eine Maschine, die man auseinandergenommen hatte...
„Nicht einmal das Metall kann der Müdigkeit widerstehen... ,Die Ingenieurpraxis kennt zahlreiche Beispiele der Zerstörung auf Grund der Ermüdung der Metalle'," — ganz plötzlich stand Wartanjan dieser Satz vor Augen. Wo hatte er ihn gelesen? Richtig — das war ja aus dem Artikel Turtschaninows, der heute in der Bezirkszeitung abgedruckt war. Und warum befasste sich Jusow mit solchen technischen Spezialfragen? Turtschaninow... Platow... Ermüdung der Metalle... Er musste da eingreifen... Platow hat schon einen Zusammenstoß gehabt...
Die Gedanken tanzten auf und versanken, ausgelöscht von der Müdigkeit, tauchten aber bald wieder von neuem auf und durchfurchten das Gehirn.
Vor seinen Augen standen Fabrikgebäude, Maschinen, menschliche Gesichter: lächelnd und kokett an ihrem Kittel herumzupfend, blickte ihn Olga Pylajewa an und zog ihn mit ihren hellen, blauen Augen übermächtig an. Wartanjan presste seine zitternden Lippen aufeinander, und Olga war verschwunden; aber an ihre Stelle trat der Alte mit der Brille auf der Nase. Mit seinem grünlichen, zottigen Bart kam er ganz nahe an Wartanjan heran: Särge machen sie... " Was für Särge? Werde ich wirklich auch einmal so ein alter, zittriger Greis sein, der zu nichts mehr nütze ist, der herumläuft und fantasiert? Sogar das Metall wird alt und morsch. Aber er ist doch erst dreißig Jahre alt. Er ist dreißig Jahre... Und wieder trat irgendwo aus dem Nebel die hübsche, schlanke Gestalt in dem blauen Arbeitskittel hervor. Wieder stand das Bild dieses jungen Mädchens vor ihm, mit dem blonden Haarbusch, dem weichen Oval des Gesichts, und die blauen, bezwingenden, sich alles unterwerfenden Augen sahen ihn an.
Olga ging dicht neben ihm, so dicht, dass ihre Schulter ihn berührte. Ihm wurde heiß. Er öffnete die Augen. Was geht mit ihm vor? „Genosse Wartanjan, du lässt dich gehen!" sagte er zu sich selbst und stand vom Sessel auf.
Dichte, dunkelbraune Finsternis umfing ihn. Schwarz zeichnete sich der Fensterrahmen ab. Die Leere und Unbehaglichkeit seiner einsamen Wohnung wollten ihn umklammern. Er schaltete das Licht ein, und sofort hatte das Zimmer ein freundliches Aussehen: vom Bücherbrett her glänzten die Einbände der Bücher, in der Glaskaraffe brachen sich funkelnd die Strahlen des elektrischen Lichts, aus dem Rahmen an der Wand schaute der pausbäckige Laso pfiffig lächelnd herab.
Wartanjan schlug sein Notizbuch auf, das eng beschrieben war. Aus seinen abgegriffenen Seiten schaute ihn der Tag an, der soeben zu Ende war. Mit den Augen die Notizen überfliegend, gab er sich selbst Rechenschaft:
„Rede an die Urlauber auf dem Bahnhof. — Habe über Kollektivwirtschaften, über Traktoren usw. gesprochen... "
„Rundgang durch die Abteilungen: Dreherei, Martinofen, Kesselabteilung — Kesselabteilung habe ich also wirklich nicht mehr geschafft. Morgen."
„Bericht über den Neubau an das Okruschkom. — Abgeschickt."
„Sieben Uhr Versammlung der Gruppenorganisatoren. — stattgefunden. Habe über die Hebund der Qualität gesprochen. Ach, wie das alles noch langsam geht!"
„Vortrag in der Walzwerkzelle. — Hab' ich gehalten."
„Unterredung mit Kortschenko. — O—o—ch!"
„Analyse des Wachstums der Parteiorganisation im Laufe des letzten Halbjahrs. — Es ist eine Schande!"
„Territorium der neuen Fabrik besichtigen. — Bin dagewesen. Hab' Staub und fettes Unkraut gesehen..."
Das Notizbuch platzte beinahe — es ging kaum noch ein Wort hinein. — Ränder, Ecken, alles war eng bekritzelt — sogar der Deckel. Und überall war er gewesen, hatte gesprochen, hatte alle angehört, hatte Anweisungen und Ratschläge erteilt, hatte den Leuten ins Gewissen geredet, wo es nötig war, hatte gewarnt, gelobt, gedroht. Und trotzdem war noch soviel zu tun übrig geblieben!
„Dem Teleshkin ordentlich Bescheid sagen."
„Kortschenko über die Mechanisierung der Zerkleinerung von Roheisen."
„Mit Platow über seinen Ausfall gegen Turtschaninow sprechen. — Da hat er richtig was angestellt, der Platow! Sozusagen frei von der Leber weg gesprochen auf Arbeiterart... Immerhin aber muss man mal etwas über die Ermüdung der Metalle lesen..."
„Der Fall am Fabriktor. — Ja, man muss sich unbedingt mit den Pionieren etwas beschäftigen. Väter und Söhne... Dabei schreibt die ,Komsomolka', dass es bei uns dieses Problem nicht mehr gebe... "
„Angriff auf Platow. — Ach, wieder die Martinabteilung!"
Wartanjan knurrte ärgerlich. „Man muss mal ein Wort gegen die ,Spezialistenfresserei' sagen."
„Empfang der Kominterndelegierten... "
„Brief der Arbeiter des Kursker Depots. — Wieder ein Skandal! Es ist eine Schmach!"
Die abgegriffenen Seiten des Notizbuchs raschelten leise, als ob sie Wartanjan flüsternd an die hundert Dinge, die seiner harrten, an die Besprechungen, Sitzungen, Referate erinnern wollten. Und wie er sich auch abhetzte den ganzen Tag über — kaum eine Minute hatte er gesessen, erst um acht Uhr abends hatte er zu Mittag gegessen — die Zeit reichte doch nicht dazu aus, überall hinzugehen, alles mit den eigenen misstrauischen Augen zu prüfen. Und alles geht wieder den alten Schlendrian... Dutzende von Versammlungen hatte er abgehalten, hatte gesprochen, erklärt ohne Ende — aber er hatte nicht die Überzeugung gewonnen, dass seine Anweisungen auch wirklich befolgt würden, er musste von neuem anfangen zu telefonieren, zu erinnern — und so ging alarmierende Unruhe von ihm aus, wie von der Feuerwehr...
Wartanjan saß da, den schmerzenden Kopf auf die Hände gestützt. Die dichten Brauen beschatteten die Augen und ließen die Ringe, die sie umzogen, fast schwarz erscheinen. Die Müdigkeit verschwand und machte einer nervösen Erregung Platz — ein Zeichen dafür, dass ihm eine schlaflose Nacht bevorstand.
Gleich dem Fluss, der einen See durchfließt, klärten sich die Eindrücke des Tages langsam in seinem Bewusstsein und wurden durchsichtig wie Kristall; er begann die Konturen dessen zu erkennen, was die Haupttriebkraft im Leben der Fabrik, der vielen tausend Menschen und des eigenen persönlichen Lebens darstellt: diese Kraft hatte seine Hände berührt, als er die Roheisenbarre zerschlug; sie hatte gefesselt in den Planscheiben der schweigenden Drehbank gelegen, und freudig funkelte diese Kraft in dem Kupferstern vorn an der Brust der Lokomotive, sie hatte den Zusammenstoß zwischen Vater und Sohn vor dem Fabriktor herbeigeführt, sie hatte aus seiner zornigen Stimme geklungen, als er Teleshkin zurechtwies, und hier sprach sie aus dem Brief der Kursker Eisenbahner. Sie kennt keine Hindernisse, zerbricht alle, die sich ihr in den Weg stellen, und treibt das Land vorwärts, verbindet Fabrik und Depot, Stadt und Dorf. Sie formt das Land um, sie schafft die mächtigen Elektrizitätswerke, sprengt die gefrorene sibirische Erde, baut Werke, so grandios, wie sie die Welt noch nicht gesehen.
Die stürmische Energie der Klasse... sie baut, schafft, siegt — entzündet Millionen von Menschen mit ihrer Schöpferkraft, wandelt das ganze Land in einen mächtigen Akkumulator. Sie ist es, die in unaufhaltsamen Wellen an unsichtbaren Drähten über diese Fabrik wegstürzt, nach Westen zu, sie ist es, die drohend über dem erschütterten Europa hängt und mit ihrem Strom die jahrhundertealten Schranken zwischen den Völkern niederreißt und sich mit der Welle der revolutionären Energie der Aufständischen, die ihr entgegeneilt, vereint.
Und übermorgen werden sich diese Wellen auf der abgelegenen, kleinen Station „Molwa" durch festen Händedruck mit den weißen, gelben und schwarzen Schmieden der neuen Welt verbinden.
Wartanjan dachte über den Empfang der Komiriterndelegierten nach und machte sich ein paar Notizen; dann kehrte er wieder zu seinen Gedanken über die Lokomotiven zurück, warf den Bleistift hin und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, bis ihn die Füße schmerzten und ihm schwindlig wurde. Da setzte er sich wieder hin und schüttete die dicke Aktentasche vor sich auf den Tisch aus, Briefe, Telegramme, Abrechnungen kamen zum Vorschein, und darunter ein vergessenes, blassblaues Blatt. Er führte es an die müden Augen und las mit zitternden Lippen:
„Mein kleiner Lockenkopf Laso!"
Dein Papa ist wirklich schlecht — er schreibt dir nicht und fährt nicht zu seinem Söhnchen. Aber sei deshalb nicht böse. Springe herum und fange deine Schmetterlinge... "
Nachdenklich drehte Wartanjan das Blatt in den Händen.
„Ja, Laso, mein kleines, flinkes Äffchen, spring' herum und fange Schmetterlinge. Ich muss heute noch einen Artikel schreiben." Er stieß einen Seufzer aus und beugte sich über den Tisch.
Und dann schrieb er den Leitartikel für die Fabrikszeitung: „Die wichtigste und entscheidende Aufgabe ist, die Energie der Arbeitermassen auszulösen und sie für den Kampf gegen die Mängel und Missstände in der Fabrik zu organisieren. Es verstehen, die Initiative der Massen zu wecken, sie auf die Überwindung der Schwierigkeiten im Leben der Fabrik zu lenken, jedem Bestreben, das sich in dieser Richtung äußert, die größte Aufmerksamkeit zu schenken — das ist die Pflicht eines jeden Kommunisten. Unsere Fabrik ist krank, und die beste Medizin für sie ist die schöpferische Kraft. Daran müssen alle denken, vom Direktor angefangen.
Sich nicht an den Schreibtischen hinter Stößen von Papier, in Sitzungen usw. vergraben! Sondern hinein in die Werkstätten, hören, was die Arbeiter sagen, von ihnen lernen .
Draußen weckte der kühle Morgenwind die Tannen, die leise schwankend ihre harten, stachligen Arme ausstreckten. Hinter dem Dach des Nachbarhauses stieg die Sonne empor. Wartanjan aber saß immer noch und schrieb, und die Feder hastete über das Papier, außerstande, die schnell voraneilenden Gedanken einzuholen.
„He, Andrjuschetschkin!" brüllte Trussow mit seinem mächtigen Bass. „Du sollst in der Pause ins Raikom kommen."
„Was ist da so Eiliges los?"
„Jedenfalls werden deine Verse besprochen", lachte Trussow neckend.
„Der ist unverbesserlich", ärgerte sich Andrjuschetschkin, dann aber dachte er bei sich: „Vielleicht ist es wirklich etwas, das mich persönlich angeht? In der Martinabteilung passiert doch jeden Tag etwas anderes. Nun wieder die Geschichte mit Platow."
Mit einem unruhigen Gefühl begab er sich ins Raikom — diese Extrasitzung schien unbedingt mit ihm persönlich etwas zu tun haben, und in Gedanken rechnete er nach, wie viel Versammlungen er abgehalten hatte, wieviel Mitglieder für die „Rote Hilfe", für „Osoaviachim" (Anm.: Gesellschaft zur Förderung den Luftschifffahrt und Chemie), für den „Kinderfreund" er geworben hatte — alle seine Verdienste führte er sich selbst vor Augen. Im Raikom setzte er sich in die hinterste Ecke neben Olga Pylajewa und hörte mit gerunzelten Brauen zu.
Wartanjan fasste sich kurz, wie stets. Er ließ die müden Blicke über die gespannten Gesichter gleiten und ging ohne Umschweife auf sein Thema los.
„Ich Habe heute diese außerordentliche Sitzung des Parteiaktivs einberufen, weil in der Fabrik nicht alles in Ordnung ist: wir arbeiten schlecht, wir liefern schlechte Lokomotiven. In der letzten Zeit ist besonders in der Martinabteilung die Atmosphäre sehr schwül geworden, ein Teil der Arbeiter ist schlecht gestimmt — der gestrige Angriff auf Platow ist charakteristisch: das Mißtrauen gegen die Spezialisten wächst; unter den Arbeitern laufen allerlei Gerüchte um; mit dem Bau der neuen Fabrik sind wir stecken geblieben... Was ist los?" Schweigend ließ Wartanjan seine Blicke über die Gesichter der Anwesenden schweifen, als erwartete er dort die Lösung des Rätsels zu finden.
„Ihr wisst alle, welche Rolle unsere Fabrik im Leben des Gebiets und in der Wirtschaft des gesamten Landes spielt: wir sind die proletarische Basis, von uns hängt die Arbeit des Transportwesens ab. Und was liefern wir? Hier — hört unsere ,Erfolge'." Wartanjan nahm ein Blatt Papier vom Tisch und begann zu lesen:
„Genossen! Im Namen der zweitausend Köpfe zählenden Versammlung der Eisenbahner des Kursker Depots wenden wir uns an Euch, die Leiter der Fabrik ,Krassny Proletari' mit einem flammenden Protest in bezug auf Eure Produktion. In unserem Depot stehen fünf Eurer Lokomotiven mit Defekten, die so schwer sind, dass sie aus den Reparaturwerkstätten überhaupt nicht herauskommen. Wir erwarten eine Antwort von den Arbeitern des ,Krassny Proletari' sowie eine Verbesserung der Qualität Eurer Lokomotiven. Ihr macht die Arbeit des Transportwesens im Lande zuschanden."
„Habt ihr gehört?" Langsam und deutlich wiederholte Wartanjan die letzten Worte: „Ihr macht die Arbeit des Transportwesens im Lande zuschanden."
Tiefste Stille. Nur das Papier raschelte unter Wartanjans Fingern.
Als erster ergriff Kortschenko das Wort. Er sprach wie immer langsam und knapp, und daher schien das, was er sagte, gewichtig und bedeutungsvoll.
„Das ist durchaus kein Wunder. Diese Lokomotiven wurden im vorigen Jahre hergestellt. Und ihr wisst, wie schlecht damals die Dinge in der Fabrik lagen. Jetzt können wir den Kursker Genossen voll aufrichtiger Überzeugung antworten: wir machen gute Lokomotiven. Wir hatten ungeheuerlichen Ausschuß am Guss; jetzt aber hat sich die Sachlage von Grund auf geändert. Hier die Zahlen: im Laufe des letzten Monats ist der Prozentsatz des Ausschusses von fünfzehn auf acht gesunken — und acht Prozent Ausschuß ist durchaus normal und unvermeidlich. Ist also da Grund zur Panik vorhanden? Durchaus nicht! Viel trauriger stehen die Dinge mit unserem Verhältnis zu den Spezialisten. Die ,Spezialistenfresserei' nimmt bei uns zu, und — was das Schlimmste ist — es finden sich sogar unter unseren Genossen solche, die sie unterstützen... Ich meine hier das Verhalten Platows, der Turtschaninow, unseren Technischen Direktor, ganz unverdienterweise beleidigt hat. Aber wer das Schwert aufhebt, der wird durch das Schwert umkommen — so hieß es ja wohl. Platow selbst hat gestern die ganze Gefährlichkeit dieser Waffe zu fühlen bekommen. Wir müssen die alten Spezialisten in Ehren halten... "
„Wir müssen die Arbeit Tausender von Arbeitern in Ehren halten!" klang eine junge Stimme, spröde und trocken wie Papier, aus der Ecke, und Wartanjan sah, wie Olgas zartes Gesicht einen erregten Ausdruck annahm; er musste lächeln. Kortschenkos Gesicht verfinsterte sich. „Ich werde auf diese Demagogie aus der Ecke dort hinten nicht eingehen. Lenin hat gesagt, dass wir den Sozialismus mit fremden Händen aufbauen werden... "
„Wir haben sechzehntausend Paar eigene Hände!" rief Andrjuschetschkin aufgeregt.
Das erregte Murmeln im Saal übertönte die Stimme Kortschenkos. Jusow, den Wartanjan ebenfalls aufgefordert hatte, der Sitzung beizuwohnen, schrieb hastig etwas in sein Notizbuch, dann trat er ans Telefon und sprach mit halber Stimme in den Apparat:
„Glasmann? Mit dem Umbruch der ersten Spalte wartet noch! Lasst Raum für eine Information über die Fabrik. Ich komme spät."
Er drängte sich zwischen den engen Stuhlreihen durch und nickte im Vorbeigehen Andrjuschetschkin gönnerhaft zu: „Na, du Querulant?" Andrjuschetschkin wandte sich ab.
Es waren stürmische Debatten zu erwarten. Im Saal herrschte fürchterlicher Lärm, irgend jemand schimpfte laut, der Tabakqualm wurde zusehends dicker. Wartanjan warf hin und wieder einen Blick nach Olgas Ecke hin; Andrjuschetschkin aber bezog diese Blicke auf sich, und er wunderte sich über das freundliche, aufmunternde Lächeln, das um die stets ernsten Lippen Wartanjans spielte. Olga fächelte mit einem Notizblock ihrem glühenden, erhitzten Gesicht Luft zu, dann kritzelte sie mit dem Bleistift irgend etwas auf den Block — sie bereitete sich darauf vor zu sprechen, und vor Erregung brannten ihre Wangen immer mehr.
„Genossen! Ich bin noch ein Neuling in der Fabrik, ich weiß noch nicht viel von ihr; aber in bezug auf die Ziffern, die Kortschenko hier vorgelesen hat, hege ich die stärksten Zweifel."
Alle verstummten.
Olga Pylajewa sah auf den Redner. Das gelbe Netzhemd, das die muskulösen Arme freiließ, die wie eine Bürste geschorenen Haare und das einfache Jungengesicht — alles das war nichts Auffälliges; der Redner unterschied sich in nichts von der Masse der im Saale anwesenden Arbeiter.
„Wer ist das?" wandte sich Olga an Andrjuschetschkin.
„Der neue stellvertretende Leiter der Martinabteilung. Einer von den ,roten Spezen'. Besinnst du dich nicht mehr auf den Former Senka?"
Prüfend betrachtete Olga Platow. „So sieht er also aus... " dachte sie. Und der „Chef" hatte von ihm erzählt: er ist im Ausland gewesen und liest Bücher in deutscher Sprache... So ganz gewöhnlich sah er aus...
„Ich bin der Meinung, dass die Fragen, die Wartanjan hier aufgeworfen hat, für das Schicksal unserer Fabrik entscheidend sind. In Moskau erwägt man bereits, ob der Neubau bei uns überhaupt einen Sinn hat — ich habe soeben einen Brief aus Moskau bekommen. Und das ist weiter kein Wunder. Leuten, die das in sie gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt haben, kann das Land keine neue mechanisierte Fabrik anvertrauen... "
„Was sind das für Anspielungen? Bitte etwas deutlicher!" rief Kortschenko, dessen Gesicht einen gespannten Ausdruck annahm.
„Ruhig, Kortschenko, stör' nicht!" Wartanjan klopfte mit dem Bleistift an das Wasserglas, das vor ihm stand.
„Ich spreche ohne alle ,Anspielungen', sondern sage klar und offen: die Fabrikleitung ist unfähig. Das kann man auch in der ,Prawda' lesen, in der ganz deutlich gesagt wird: die Qualität der Lokomotiven ist nach wie vor schlecht. Wovon spricht der Brief der Kursker Arbeiter? Von Ihrer ausgezeichneten Arbeit, Genosse Kortschenko! Das ganze System Ihrer Leitung, Genosse Kortschenko, ist derartig, dass nicht Sie, sondern die Turtschaninows, Kraiskis usw. die Leiter sind. Mir, einem jungen Spezialisten, wird das Arbeiten unmöglich gemacht. Gestern hat Kraiski eine Verfügung von mir aufgehoben. Ich bin zu Ihnen gekommen, Genosse Kortschenko, und was haben Sie mir gesagt? ,Kraiski — haben Sie gesagt — ist Ihr Vorgesetzter, und Sie haben sich ihm unterzuordnen'." „Wahrscheinlich war Ihre Verfügung falsch — jedenfalls hat er sie deshalb aufgehoben'', unterbrach ihn Kortschenko.
„,Jedenfalls'! Aber Sie haben sich nicht die Mühe genommen zu untersuchen, ob sie falsch war? Nein! Sie haben die Fabrik vollständig in die Hände der Spezialisten gelegt. Sie sind nicht Direktor, sondern..."
„Wartanjan! Mach' dieser Demagogie ein Ende!" Kortschenko konnte sich nicht länger beherrschen.
„Platow, bitte lass alles Persönliche aus dem Spiel. Sprich zur Sache", sagte Wartanjan.
Kortschenko sprang wieder auf.
„Die Art und Weise Platows ist ein deutlicher Beweis für die Gefahr, die in der Spezialistenfresserei liegt. Platow, selbst ein Ingenieur, klagt alle Spezialisten an. Das haben sie nicht verdient. Davon hast du dich ja gestern persönlich überzeugen können!"
Platow wartete ruhig ab, bis Kortschenko ausgesprochen
hatte.
„Werfen Sie mich hier nicht in einen Topf mit allen Ihren Ingenieuren, ich ... "
„Ach so, entschuldige — du bist ja was Besonderes! Du bist ja klüger als alle anderen!" Kortschenko konnte sich absolut nicht beruhigen.
Platow erblasste kaum merkbar, und seine kleinen schwarzen Augen begannen zu funkeln.
„Jawohl! Nennen Sie mich bitte nicht mit jenen in einem Atem. — Ich habe mir meine Ingenieurkenntnisse zu dem Zweck angeeignet, um diese anderen zu führen, sie zu überholen in bezug auf Technik und Sachkenntnis. Sie aber... " Kortschenko brach in lautes Gelächter aus. „Zu überholen! Du hast dich ja auf der Ingenieurversammlung mit deiner technischen Unkenntnis selbst blamiert und mich noch dazu mit blamiert! ,Die Ermüdung der Metalle ist dasselbe wie das Popenmärchen von der Sündigkeit der Menschen.' Zum Lachen!"
Kortschenko schüttelte sich vor Lachen, als sein Blick aber auf die Gesichter der im Saale Sitzenden fiel, verstummte er verlegen: alle sahen gespannt und ernst aus.
Platow schnellte wie eine Sprungfeder in die Höhe: „Jawohl — ich bin auch bereit, dies hier vor dem Genossen Jusow zu wiederholen, der so schädliche Vorträge noch popularisiert. Technisch können sie wohl begründet sein — aber ich bin nicht nur Techniker, sondern auch Kommunist, und ich bin der Meinung, dass jetzt, wo es gilt, die Fabrik zu retten, solche Theorien, wie die von der Ermüdung der Metalle, politisch schädlich sind. Und dumm sind!"
Verwundert blickte Jusow Platow an. Olga ließ kein Auge von diesem aufs äußerste gespannten, leidenschaftlichen Gesicht, das ihr noch vor einer Minute so grau und gewöhnlich erschienen war. Die Geradheit und Sicherheit des Tons, in dem Platow sprach, nahmen Olga gefangen — sie passten zu ihrer eigenen Stimmung.
„Richtig!" rief sie. „Wir brauchen keine Theorie, sondern Lokomotiven. Bei uns in der Fabrik aber stehen die Maschinen still."
„Ja, hol's der Teufel!" brummte Andrjuschetschkin.
„Und das sind die Knospen, die Früchte werden erst noch kommen... " verkündete Titytsch.
„Genossen!" Platow winkte mit der Hand, um den Lärm zu beschwichtigen. „Kortschenko hat hier darauf hingewiesen, dass ich selbst auch schon die Spezialistenfresserei zu spüren bekommen habe. Aber — wenn es sich auch komisch anhört: diese Spezialistenfresserei hat der Ingenieur Kraiski organisiert, der mich mit einer Atmosphäre des Misstrauens umgeben hat."
„Ein Arbeiter aber hat dich geschlagen und nicht Kraiski!" rief Kortschenko wieder dazwischen.
„Und warum gerade mich und nicht Kraiski? Was? Warum gerade mich? Antworten Sie mir!" schrie Platow, der nun auch die Selbstbeherrschung zu verlieren begann.
„Genossen! Ruhe! Ruhe!!" Kläglich und dünn klirrte das Glas unter dem Bleistift in Wartanjans Hand. Der Lärm, das Stühlescharren wurde immer stärker.
„Weil du persönliche Differenzen mit ihm hast!" rief Teleshkin etwas verspätet. „Ich habe diese Sache untersucht. Du hast ja sogar bei ihm gewohnt und bist noch dazu ein alter Freund von ihm."
Verblüfft blickte Platow auf Teleshkin; er hatte nicht erwartet, dass man seinem Konflikt mit Sergej den Charakter eines persönlichen Zerwürfnisses zuschreiben könnte. Alle im Saale waren still und lauschten aufmerksam.
„Das ist nicht wahr. Ich habe bei ihm gewohnt, das stimmt. Aber diese ganze Angelegenheit hat damit nichts zu tun, sie ist von allgemeiner Bedeutung."
„Das bestätige ich!" ließ sich Andrjuschetschkin vernehmen. „Ich kenne Wekschin, er ist ein Liederjan und Raufbold."
„Und ich weiß, dass Wekschin dir deine Frau abspenstig gemacht hat, und darum bist du wütend auf ihn!" unterbrach ihn Teleshkin boshaft. „Du möchtest ihm wohl den Hals umdrehen?"
Verwirrt schwieg Andrjuschetschkin. Dieser Ausfall Teleshkins traf ihn so unerwartet, dass er kein Wort der Erwiderung fand und mit offenem Mund dastand.
Er sah höchst komisch aus, so dass alle laut loslachten.
„Das hat Teleshkin ihm fein gegeben!"
Teleshkin reckte den langen Hals und sah sich mit einem zufriedenen Siegerlächeln um.
Die Stimmung der Anwesenden war mit einemmal umgeschlagen, und Kortschenko wusste diesen Moment geschickt auszunützen. Er sah das verwirrte Gesicht Platows, die schuldbewusste Miene Andrjuschetschkins, und begann zu sprechen. Er sprach darüber, dass die Versammlung irregeführt worden sei, dass es sich hier anscheinend viel mehr um persönliche Momente handle als um sachliche, er erinnerte daran, dass Platow früher einmal einen Zusammenstoß mit Kraiski gehabt habe und dass dieser sich nunmehr räche.
Platow und Andrjuschetschkin saßen verlegen und geschlagen da. Wie sollten sie der Versammlung erklären, was in Wirklichkeit geschehen war? Alles hatte sich zu einem wirren Knäuel geballt.
Schwang hier nicht ein Ton von Unruhe und Unsicherheit hinsichtlich Kortschenkos mit? Wartanjan war es bei den Worten Platows so vorgekommen, und er war froh gewesen, dass die Fabrikleitung von unten angegriffen wurde; das würde ihm die Ausführung seines Plans erleichtern: den Angriff auf die Seelenruhe Kortschenkos. Als er aber nun die entmutigten Gesichter Platows und Andrjuschetschkins sah, verlor er die Orientierung. Kortschenko aber zog indessen durch seine ruhige und überzeugende Rede die Versammlung auf seine Seite hinüber; er hatte sich wieder vollkommen in der Hand, nur die beleidigt herabgezogenen Mundwinkel verrieten seine innere Erregung.
Genau so hatte Wartanjan diesen Menschen damals bei den Frühlingsüberschwemmungen gesehen: die schwarzen Fluten zischten und brodelten und rissen alles weg, was sie auf ihrem Wege trafen, überschwemmten die teuren ausländischen Maschinen, schlugen mit den Baumstämmen, die sie mit sich führten, erbarmungslos auf sie ein und ruinierten sie; da beleuchtete das elektrische Licht grell die Augen Kortschenkos, der bis an die Brust im Wasser watete, gebeugt unter der Last der Metallbarren, die er herausschleppte, die Falten auf seiner Stirn sahen aus wie blutige Risse, als ob seine Haut vor Anstrengung
geplatzt wäre.
„Nein — dieser Mensch kann das Land nicht betrügen, er ist imstande, das Leben hinzugeben, wenn es die Partei braucht. Platow... der ist jung, temperamentvoll, selbstsicher. Wem geht das nicht so? Die Jugend ist imstande, am eigenen Feuer zu verbrennen... "
„Genossen! Wir kennen Kortschenko länger als nur einen Tag. Die Anschuldigungen, die Platow hier vorgebracht hat, sind zu ernst, als dass man sie ihm aufs Wort glauben könnte. Du hast viel Hitze und Temperament in dir, Platow. Deine Angriffe sind vielleicht von den besten Absichten diktiert, aber sie sind überflüssig. Du hast recht, wenn du zum Führer der Spezialisten werden willst, aber das muss man geschickt anfangen. Du musst gute Beziehungen zu den Leitern der Fabrik
herstellen... "
„Und zu den alten Spezialisten!" rief Kortschenko dazwischen.
„Ja — auch zu den alten Spezialisten."
Da rannte Platow zum Präsidiumstisch und schlug mit der Faust auf die Tischplatte:
„Zuerst werde ich mal mit ihnen kämpfen! Sie, Genosse Kortschenko, der Sie selbst nicht dazu imstande sind, die Fabrik zu leiten, Sie haben die alten Spezialisten mit einem grenzenlosen Vertrauen umgeben. Ich traue auch meinem Vorgesetzten Kraiski nicht!"
„Vielleicht sollen wir dich an Stelle von Kraiski zum Leitet der Abteilung ernennen?" fragte Kortschenko spöttisch lächelnd.
Platow kniff einen Moment die Augen zusammen:
„Wenn's nötig ist, bitte — ich weigere mich nicht. Meinetwegen morgen."
„Ich schließe mich dem Ingenieur Senka an, Genossen!" rief Andrjuschetschkin.
„Nun, wünscht noch jemand das Wort?"
„Ich habe schon lange ums Wort gebeten, Genosse Wartanjan."
„Ach richtig, Olga; bitte."
Mit Mühe zwängte sich Olga durch das heiße Gedränge der menschlichen Körper. Darüber, dass Wartanjan sie beim Vornamen genannt hatte, errötete sie heftig.
„Ich will noch folgendes sagen, Genossen. Hier hat jemand gesagt, dass die Arbeiter bei uns häufig die Maschinen zerbrechen. Ich aber sage, dass man bei uns häufig die Menschen zerbricht! Ich spreche hier von den Kindern. Damit weiß ich gut Bescheid, ich leite die Kinderbewegung in der Fabrik. Die Kinder werden zu Hause oft geschlagen... "
„Das gehört nicht zum Thema!" brummte Teleshkin.
„Schweig!"
„Halt's Maul!"
Und wieder schwoll der Lärm im Saal, der sich eben erst etwas gelegt hatte, hoch an.
„Lasst sie reden!"
Ärgerlich trommelte Wartanjan mit dem Bleistift ans Glas, und niemand merkte, dass es zersplittert zu Boden fiel.
„Es bezieht sich auf das Thema, Teleshkin. Und sogar sehr! Und es bezieht sich sogar direkt auf dich! Bezieht sich auf die Fabrik!" rief Olga leidenschaftlich. „Gestern hat ein Vater seinen Jungen, einen Pionier, am Fabrikeingang geohrfeigt. Heute hat man uns für die Zeitung eine Notiz über die Misshandlung eines Kindes in der Familie Nossow zugeschickt. Und niemand schenkt diesen Zuständen Aufmerksamkeit. Die Kinder helfen der Fabrik. Sogar sehr! Sie wollen arbeiten, aber die ältere Generation hat keine Zeit für sie übrig."
„Kürzer fassen, Olga", sagte Wartanjan freundlich, um die Ungeduld der Zuhörer zu dämpfen, obgleich er mit Vergnügen den warmen Worte der Pylajewa über die Kinder lauschte und dabei an seinen eigenen kleinen Laso dachte.
„Ich bin gleich am Ende... Auch Erwachsene werden bei uns unter die Räder geworfen. Ich weiß, was ich sage. Bei uns in der Fabrik wird die Arbeit gering eingeschätzt. Der Arbeiter will, dass man seine Arbeit schätzt, er opfert sich auf. Er ist vielleicht bereit sein Leben für die Fabrik hinzugeben. Wie viele Arbeiter sind im Bürgerkrieg umgekommen... " Ihre Stimme zitterte, und im Saal wurde es ganz still, man hörte die Blätter des Notizblocks in der Hand Olgas rascheln. „Gleich bin ich fertig, Genossen. Platow gebe ich vollkommen recht — er hat das Richtige gesagt. Mit den Ingenieuren ist bei uns nicht alles in Ordnung. Sie möchten die Arbeiter am liebsten mit Haut und Haar verschlucken. Bei uns in der Dreherei hat man einen Arbeiter ganz ungerechterweise entlassen, jetzt liegt er da und hungert..."
„Was heißt: hungert?" fuhr Wartanjan auf. „Hat er keine Mittel?"
„Er hat Geld und auch Brot und Fleisch, aber er hungert — wegen der Ungerechtigkeit, die man ihm angetan. Und dabei ist er ein guter Dreher ... "
Wartanjan blickte zu Teleshkin hinüber:
„Bist du bei ihm in der Wohnung gewesen?"
Teleshkin senkte mit schlechtem Gewissen den Blick:
„Ich werde morgen hingehen... Ich bin nicht dazu gekommen."
Der Bleistift in Wartanjans Hand brach knirschend mitten durch.
Jusow trat ans Telefon:
„Glasmann? Machen Sie den Umbruch der ersten Spalte fertig! Den zweiten Teil des Artikels über die Ermüdung der Metalle lassen Sie nicht weiter setzen. Als Leitartikel bringen Sie den Artikel aus der ,Prawda'. Über die Fabrik..."
Als sie das Raikom verließen und den Fabrikhof betraten, hatten alle von der erregten Auseinandersetzung erhitzte Gesichter, nur Wartanjans matte Wangen waren noch bleicher, und seine Augen lagen noch tiefer als sonst.
Kortschenko, bemüht, die Eindrücke der Versammlung möglichst zu verwischen, forderte Wartanjan und Jusow auf, sich die neue Turbine anzusehen. Wartanjan fasste Platow unter den Arm, und beide gingen hinter den andern her durch das Metalllager.
Links liegen graue Stahlplatten hoch aufgeschichtet; rechts schimmert rotgelbes Kupfer, in dem sich matt die Sonnenstrahlen spiegeln; zu einer ungeheuren Pyramide aufgespeichert liegen Kirchenglocken da, die vor stiller Wut grün angelaufen sind und ihre verrosteten Zungen herausstrecken. Sie bilden einen Teil der Metallvorräte der Fabrik. Schwer und tot lasten die dickwangigen Ungeheuer auf dem Boden, die Ränder zum Teil im Sande vergraben. Mit ihren lauten kupfernen Stimmen riefen sie einst die Menschen in die Kirche; breit flossen ihre Klänge über Wiesen und Felder, flößten den Menschen den Glauben ein an die Unerschütterlichkeit der von den Jahrhunderten eingerammten Grundfesten des Lebens; und wenn die Menschen die Stimmen des fetten Kupfers über ihren eigenen Feldern, ihren moosbewachsenen Dächern vernahmen, dann gingen sie ohne Eile, mit stillen, hoffnungslosen Schritten, ihre Erbitterung und die unklaren Gedanken, die in ihnen wogten, unterdrückend, zu den finsteren Ikonen in der Ecke. In diesem Kupferhaufen liegen auch kleine Glöckchen herum, die plapperten einstmals hastig und lustig drauf los, mit durchdringend hellem Klang, sie begleiteten mit ihrem sorglosen Geschwätz blumengeschmückte Wagen hinter schlanken Rennern, die Wolken undurchdringlichen Staubs aufwirbelten, während die Menschen, trunken von seltenen Gelagen, grölten und herumsprangen. Dagegen konnten die melancholischen Messglocken mit ihrem breiten Bass nicht aufkommen: sie kläfften heiser durch die Fastenzeit und hüllten die Seele der Menschen in Kummer.
Ihre kupfernen Stimmen klangen streng und richtend: sie erinnerten die Gläubigen an den Sündenfall der Menschen, sie löschten alles widerspenstige Nachdenken über die Ursachen der Unvollkommenheit und Ungeheuerlichkeit dieses verfluchten Lebens, das die Menschen zu Verbrechen zwingt; sie flößten den Menschen Entsagung ein, damit sie sich der jahrhundertealten Ordnung unterwarfen, und die Armen, zu Boden gedrückt von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, stammelten heuchlerische Beichten, dass sie Holz gestohlen im Walde, dass sie Ehebruch getrieben mit des Nächsten Weib, dass sie Wechsel ausgestellt, die den Partner ruinierten; aber am Tage darauf, da logen, betrogen und stahlen sie von neuem. Und manchmal weckte mitten in dunkler Nacht die Messglocke das Dorf mit lautem, aufgeregtem Schrei, und wahnsinnig vor Angst stürzten sich die Menschen im grellen Schein der Feuersbrunst auf die armselige Habe, um sie zu retten, sie suchten das Feuer, das rasende Element, mit einem Schöpflöffel Wasser zu besänftigen, sie beteten, schrieen wie Besessene, schimpften, fluchten und kamen um, besiegt von dem wilden Element des Feuers, dem sie schutzlos preisgegeben, und dem heuchlerischen Kupfer der Glocken. Und es gab auch Tage, an denen die Glocken die rasenden Massen zusammenriefen, die sich mit Sensen, Heugabeln und Äxten bewaffnet hatten, und wieder flammte der Himmel im Feuerschein, diesmal aber zogen die Menschen zum Sturm auf die stolzen Paläste mit ihren dickbäuchigen Marmorsäulen, zum Sturm auf die jahrhundertealte Ordnung ihres elenden Hungerdaseins. Am nächsten Tage rief dann dieselbe Glocke wieder und besänftigte die Menschen durch den Gedanken an den Tod, denn nun begleitete sie die Leichen derer, die ihre Widerspenstigkeit mit dem Tode bezahlt hatten, und mit krächzender Stimme befestigte sie heute wieder die Grundfesten der Ordnung, an denen sie gestern gerüttelt hatte.
Nun schweigen sie. Zum letzten Mal werden sie ihre Stimme erheben, wenn sie der unerbittliche Rammbär in Stücke reißt und sie als kupferne Lagerschalen in die Maschine wandern, in die Lokomotive oder in die Turbine, wo sie elektrischen Strom erzeugen werden.
Nachdenklich entzifferte Wartanjan die verschnörkelte Inschrift, die sich um eine Glocke ringelte.
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Gestiftet von dem Kaufmann zweiter Gilde Panuli Chrisanfow, für das Dorf Saussailowo, im Jahre des Heils eintausendachthundertneunzig, im Monat Januar."
Jusow blickte aufmerksam auf den Haufen Glocken und schrieb im Gehen eilig in sein Notizbuch :
„Glocken... sie erinnern an die Apotheose Wereschtschagins... Die alte Welt wird heute in den Martinöfen geschmolzen, umgegossen zum Sozialismus. Das ist übrigens eine Idee: man muss eine Kampagne für das Abnehmen der Glocken im ganzen Distrikt beginnen!"
Auf einmal sahen alle ein sonderbares Bild: aus dem Haufen alter Glocken ragten ein paar Beine in gestreiften Hosen hervor, die krampfhaft zappelten — es sah aus, als ob hier ein Mensch umkäme, erdrückt von der stummen Last des Kupfers. Platow griff nach den Hosenbeinen und versuchte sie hochzuziehen.
„Na, mach' mal, dass du da rauskommst, mein Lieber!"
„Weg — zum Teufel! Stör' mich nicht!" antwortete eine wütende Stimme.
Aber Platow ließ nicht locker, er zog die gestreiften Beine zu sich heran. Da rissen plötzlich die Hosen, der darin stak, sprang mit wutverzerrtem Gesicht hoch und öffnete den Mund zu einem empörten Schrei; als er aber Jusows ansichtig wurde, fiel sein Schrei bedeutend sanfter aus.
„Ach — ihr habt mir alles verdorben!" sagte er ärgerlich und spuckte aus.
„Sinkin! Was machst du denn hier?" rief Jusow, als er seinen Fotografen erkannte.
Sinkin klopfte den Dreck von den Hosen und machte nur eine verächtliche Handbewegung.
„Genosse Jusow, dieser unzivilisierte Kerl da hat mir meine letzte Platte verdorben... Ich hatte gerade ein so interessantes Rakurs auf der Linse — verstehen Sie, ich war gerade bereit zum Knipsen — das ist doch ein ausgezeichnetes Motiv: diese Riesenglocke da von innen und dazu die Unterschrift: „Ohne Stimme". Direkt originell! Und in solchem Moment kriegt mich der da zu packen!"
Wartanjan konnte nicht an sich halten und brach in stürmisches Gelächter aus, das sein Gesicht sonderbar verjüngte; wie ein Schuljunge stand er da und klatschte in die Hände.
„Bravo, Jusow. Dein Sinkin ist einfach kostbar!"
Auch Kortschenko sah man an, dass er gleich losplatzen würde, da kam ihm jedoch Platow vor die Augen, und sein Gesicht verfinsterte sich.
„Was ist das: ,Rakurs', Jusow?" fragte Wartanjan und wischte sich die Lachtränen ab.
Sinkin trat zu ihm heran.
„Sie wissen nicht, was das ist? Das ist der fotografische Gesichtswinkel. Ich werde es Ihnen gleich erklären. Stellen wir uns einmal vor, der Laternenanzünder steht auf der Leiter und steckt die Laterne an, ich liege auf dem Bauch und knipse. Dann erscheint der Gegenstand, das heißt, Sie verstehen, der Laternenanzünder, auf dem Bild wie ein Mensch, der auf einen Wolkenkratzer hinaufklettert. Das verleiht dem Motiv Originalität... Rauch! Rauch", brüllte Sinkin plötzlich, stürmte wie ein Besessener davon und war gleich darauf verschwunden.
„Ach, Jusow, ich kann nicht mehr! Ich habe schon Bauchschmerzen! Was für Rauch denn?" stöhnte Wartanjan, der sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten konnte.
„Das ist ein ausgezeichneter Fotograf, Wartanjan", sagte Jusow voller Begeisterung. „Er holt dir ein Motiv vom Meeresgrund, wenn du es brauchst, verstehst du? Einfach unersetzlich. Einmal..."
Aber in diesem Moment erschien Sinkin wieder auf der Bildfläche. Er stellte in fieberhafter Eile sein Stativ auf, schraubte an seinem Apparat herum und verschwand mit dem Kopf unter dem schwarzen Tuch, wobei er die Beine weit auseinanderspreizte und den Hintern mit dem geflickten Hosenboden herausstreckte. Er stellte den Apparat auf die hohen Schlote der Martinöfen ein, aus denen dicke nachtschwarze Rauchwolken zum Himmel emporqualmten.
„Genosse Jusow! Eine Minute... Ich habe noch zwei Platten da... Sehen Sie nur, ein wunderbares Motiv! Ausgezeichnet! Eine Sekunde..."
Kortschenko schaute mit selbstgefälligem Lächeln Wartanjan an, wobei er Platow mit einem schiefen Blick streifte.
„Genosse Jusow! Schauen Sie bloß auf die Mattscheibe! Wirklich sehr originell! Dieses Bild wird die Macht der Arbeit ausstrahlen... Rauchende Schlote, als Symbol des nahenden Sozialismus."
Auch Jusow verschwand unter dem schwarzen Tuch.
„Ja, tatsächlich gut... Dieses Bild bringen wir auf der ersten Seite... zum Bericht an das Plenum des Okruschkom. Du bist ein Mordskerl, Sinkin! Wirklich, Genossen, ganz ausgezeichnet. Guckt mal, wie die Sonne durch den Rauch hindurch will und wie ihre Strahlen die dicken Wolken nicht durchbrechen können. Genosse Platow, tun Sie mal einen Blick durchs Objektiv. Kortschenko! Wartanjan!"
Kortschenko und Wartanjan steckten einer nach dem andern den Kopf unter das schwarze Tuch, um das „Symbol des Sozialismus" zu betrachten.
Nur Platow rührte sich nicht und sah mit gerunzelten Brauen auf den Apparat.
„Was heißt denn Objektiv, Sinkin, und warum stehen die Schornsteine Kopf?" scherzte Wartanjan heiter.
Sinkin streckte gewichtig den rechten Zeigefinger in die Höhe.
„Das heißt — der objektive Gesichtspunkt... der Gesichtspunkt des Objektiven. Der Gegenstand, das heißt, der Mensch z. B. steht auf den Beinen, wenn Sie durchs Objektiv sehen, dann scheint alles umgekehrt, die Beine nach oben. Das ist ein technisches Gesetz der Fotografie."
„Was für ein Asiatentum!" schimpfte Platow. Er kümmerte sich nicht weiter um die anderen und lief zum Martinwerk hinüber.
„Was ist denn mit dem los! Der spielt hier den Neunmalklugen... " brummte Kortschenko „Das kommt daher, weil er im Ausland gewesen ist, die ,Ingenieur'würde hat ihm den Kopf verdreht... Den muss man mal erst zur Vernunft bringen."
Schweigend gingen sie aufs Martinwerk zu. Aus dem Generatorhaus kam ihnen langsamen und ruhigen Schritts Platow entgegen,
„Was ist passiert?" fragte Jusow ironisch.
„Wie gewöhnlich ist vergessen worden, für regelmäßige Beschickung der Feuerungen zu sorgen. Die Folge davon ist, dass der Brennstoff nicht vollkommen verbrennt und tonnenweise zum Schornstein hinausfliegt. Da haben Ihnen durchs Objektiv die schwarzen Rauchwolken so gut gefallen... Dieser schwarze, dicke Rauch ist unverbrannte Kohle, das schwarze Gold fliegt hier ungenutzt zum Schornstein hinaus. Und ihr steht dabei und freut euch und faselt von ,Rakursen' und vom ,objektiven Gesichtspunkt'! Schönes ,Symbol des Sozialismus'!" Platow machte kurz kehrt und verschwand in dem schwarzen Loch, das den Eingang zum Generatorhaus bildete.
Kortschenko wurde über und über rot und eilte in die Elektroschweißerei. Jusow verzog ironisch die Lippen und ging neben Wartanjan weiter.
„Der hat nicht das geringste ästhetische Gefühl. Er ist imstande, das Schönste und Beste mit seinen technischen Regeln zu erdrücken. Das ist diese amerikanische Geschäftigkeit unter der Maske des sozialistischen Aufbaus."
Jusow sprach davon, dass solche Leute wie Platow bereit seien, das Gefühl für das Schöne in den Müllkasten zu werfen, dass darin eine große Gefahr für den Sozialismus liege, der mit einer Blüte der Kunst und mit der Vervollkommnung der menschlichen Gefühle verbunden sei.
Wartanjan schaute sich um.
Aus den vier hohen, mit Eisenringen verstärkten Schornsteinen der Martinöfen stieg jetzt feiner, durchsichtiger Rauch auf, der sich sofort in der Luft auflöste, wie der leichte Atem eines gesunden Menschen bei starkem, erfrischendem Frost.
Wartanjan blickte Jusow an und lächelte, wie ein Mensch lächelt, der im Spiegel sein eigenes besudeltes, lächerliches Gesicht sieht...
1
Das Plenum des Okruschkom stand dicht bevor.
Kortschenko hatte sich in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und bereitete sich auf sein Referat vor; umgeben von ganzen Stößen von Material — Diagrammen, Berechnungen, Plänen — saß er da; auf Tisch und Stühlen, auf dem Diwan, überall lagen diese Haufen von Papier herum. Kortschenko entfaltete die langen Aufstellungen mit den unendlichen Zahlenreihen, die er hastig überflog, mit den Augen die Stelle suchend, wo das Endresultat verzeichnet stand. Unruhig glitten die Augen über die Aufstellungen, zwischen den ungeduldig zuckenden Lippen hing das aufgeweichte Mundstück einer Zigarette. Er klingelte.
„Rufen Sie bitte Turtschaninow. Warten Sie... Suchen Sie dann Platow in der Fabrik."
Kortschenko presste die Finger an die Schläfen.
„Das muss mir der Teufel eingegeben haben, auf Wartanjan zu hören", dachte er. „Jetzt kann ich die Suppe auslöffeln. Mussten wir diesen eingebildeten Bengel da zum Leiter der Martinabteilung machen! Wieder mal eine Laune dieses temperamentvollen Kaukasiers! Ein Wunder, dass sich Kraiski damit abgefunden hat und sich dem Bau der neuen Fabrik widmet. Aber der Ausschuß, der Ausschuß! Der geht wieder in die Höhe wie ein Hefeteig."
Etwas auf dem linken Bein hinkend, mit finster zusammengezogenen Brauen, betrat Turtschaninow eilig das Zimmer.
„Benjamin Pawlowitsch, mir gefallen die Endresultate für die letzten neun Monate nicht! Wir sind im Rückstand... Sie sagten mir doch ganz etwas andres?"
Benjamin Pawlowitsch nahm die Aufstellung zur Hand rückte den Kneifer auf der mageren Hakennase zurecht und meinte ausweichend:
„Pjotr Petrowitsch, Sie wissen selbst, wie schwierig die Verhältnisse sind, unter denen wir arbeiten. Ich brauche Ihnen nicht erst zu erzählen, dass das gesamte technische Personal Tag und Nacht arbeitet, ohne sich Ruhe zu gönnen; aber eine Reihe von objektiven Umständen macht eben die ganze Arbeit zuschanden; es herrscht z. B. chronischer Mangel an U-Eisen, daran sind die Sormower Werke schuld..."
„Ja, ja... Alles das stimmt. Aber diese Zahlen gefallen mir keineswegs..." Aufgeregt warf Kortschenko die Aufstellungen beiseite und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
Benjamin Pawlowitsch rückte an seinem widerspenstigen Kneifer.
„Ge—fal—len mir nicht, Benjamin Pawlowitsch! Wie soll ich mit diesen Zahlen vor das Plenum hintreten!? Wir haben doch so oft versichert... haben Telegramme geschickt, haben fest versprochen, dass wir bis zum ersten Juli alles einholen, dass alles in Ordnung sein wird... Und nun? Weiß der Teufel, was das heißen soll!" Kortschenko warf wütend die Zigarette in den Aschenbecher, aber sie sprang wieder hinaus und in das halbgefüllte Teeglas.
„Pjotr Petrowitsch, es ist mir auch unangenehm, dass es so gekommen ist. Glauben Sie mir, mir liegt die Ehre unserer Fabrik, dieses Giganten der sozialistischen Industrie, ebenfalls am Herzen. Mir ist das alles im höchsten Grade unangenehm, Pjotr Petrowitsch... Ich kann nur sagen, dass die ewigen Mäkeleien Akatujews bei der Abnahme der fertigen Lokomotiven die Ausführung des Plans stark behindern. Ich schätze Akatujew tatsächlich außerordentlich hoch, er ist ein wertvoller Mitarbeiter, das ist richtig, aber alles muss doch schließlich eine Grenze haben, Pjotr Petrowitsch! Die Geschichte mit der Lokomotive Nr. 7 ist doch wirklich geradezu ein Witz! Er hat die Lokomotive nicht abgenommen, weil — stellen Sie sich vor — die Scheiben nicht eingesetzt waren! Aber die Lokomotive ist doch fe—e—rtig! Vollkommen fertig! Und nur dank den bürokratischen Vorschriften des NKPS (Anm.: Volkskommissariat für Verkehrswesen) ist es möglich, die Lokomotive zurückzuweisen. Genau so ist's mit Lokomotive Nr. 6... da kommt nun auch noch Strachow mit seiner Pedanterie. Er weigert sich, die Lokomotive abzuliefern, weil angeblich irgend etwas nicht in Ordnung sein soll. Meiner Meinung nach ist das einfach ganz unverantwortlich. Strachow benimmt sich überhaupt sehr eigenmächtig. Als ob er sich mit Akatujew insgeheim verabredet hätte. Man muss ihm mal den Standpunkt klarmachen!"
Nervös griff Kortschenko nach dem Telefonhörer: „Andrej Sergejewitsch! Kommen Sie bitte sofort zu mir." Kurz darauf trat Strachow bei ihm ein. „Andrej Sergejewitsch, weshalb verzögern Sie die Ablieferung der Lokomotive Nr. 6? Was ist los?"
„Alles ging in Ordnung, Pjotr Petrowitsch, aber auf der Probefahrt haben sich die Tragfedern gelockert, und auch die Kurbelzapfen der Triebachse sind nicht ganz in Ordnung. Mit der Ablieferung der Lokomotive muss gewartet werden, bis diese Mängel behoben sind."
„Muss gewartet werden? Warum wurden denn diese Mängel nicht bei der Montage bemerkt? Das ist Ihre eigene Schuld! Sie verzögern die Ablieferung der Lokomotive, dadurch verzögert sich die Lohnauszahlung an die Belegschaft, und alles geht zum Teufel!" schrie Kortschenko außer sich.
Benjamin Pawlowitsch betrachtete aufmerksam seine Fingernägel und reinigte sie mit einem Streichholz. Strachow blickte ihn mit zusammengepressten Lippen von der Seite an.
„Pjotr Petrowitsch, ich will meine Schuld durchaus nicht ableugnen. Aber das kann jedem passieren, und da es nun einmal passiert ist, trage ich doch wohl die Verantwortung dafür, dass alle Mängel ausgebessert werden und die Lokomotive in einem solchen Zustande abgeliefert wird, dass wir uns nicht zu schämen brauchen!"
„Sie brauchen sich ja nicht weiter zu schämen, aber ich — ich muss Ihretwegen rot werden! Alle Fristen sind überschritten; alle unsere Versprechungen gebrochen! Ich habe keine Lust, mir aus Ihrer Nachlässigkeit Vorwürfe entstehen zu lassen! Nicht die geringste Lust!" Aufgeregt drehte Kortschenko den, Telefonhörer zwischen den Fingern.
Mit blassem Gesicht stand Strachow da und betrachtete Benjamin Pawlowitsch mit zusammengekniffenen Augen — die gelassenen Bewegungen dieses Menschen brachten ihn auf, nur mit Mühe hielt er an sich.
„Ich wundere mich nur darüber, dass jetzt alles mir in die Schuhe geschoben werden soll. Benjamin Pawlowitsch schweigt, dabei muss er bestätigen, dass ich kolossal viel Einzelteile erhalte, die Ausschuß sind, besonders in den letzten Tagen... Ich kann schließlich aus schlechten Maschinenteilen keine gute Lokomotive zusammenbauen. Daher die Defekte." Benjamin Pawlowitsch lachte spöttisch: „Sie nehmen's zu genau, Andrej Sergejewitsch. Viel zu genau! Was für Defekte meinen Sie denn ? Mit solchen Defekten haben wir auch schon vor der Revolution unsre Lokomotiven abgeliefert, und damals — das werden Sie wohl glauben — ging es etwas strenger zu. Mir scheint, sie wollen päpstlicher sein als der Papst. Sie verstehen, was ich meine? Nicht einmal Akatujew merkt von diesen ,Defekten' etwas, um derentwillen Sie die Ablieferung der Lokomotive verzögern." Ein verächtliches Lächeln umspielte die Lippen Strachows: „Ich, Benjamin Pawlowitsch, habe noch niemals einem blinden Bettler einen Hosenknopf in die Mütze geworfen, nur weil er nicht sehen kann. Das erlaubt mir ganz einfach meine Ehre nicht..."
Benjamin Pawlowitsch lachte auf:
„Sehen Sie, Pjotr Petrowitsch, da ist er schon wieder ganz aufgeregt! Wie immer! Wichtigkeit — die Ehre Strachows!
Und die Ehre der ganzen Fabrik, Andrej Sergejewitsch? Haben Sie die vergessen?! Morgen können Sie's wieder in allen Zeitungen lesen: Schändlicher Planbruch der Fabrik „Krassny Proletari'. Die Spezialisten erfüllen ihre Pflicht gegenüber dem sozialistischen Aufbau nicht. — Das ist eine Schande! Ganz davon zu schweigen, dass diese ganze Geschichte unserem verehrten Pjotr Petrowitsch wieder die größten Unannehmlichkeiten machen wird. Die Lokomotive Nr. 6 muss morgen abgeliefert werden!"
Strachow biss sich schweigend auf die Lippen. In den blauen Adern an seinen Schläfen klopfte das Blut.
„Ich bin nicht dazu imstande, das zu tun."
„Genosse Strachow!! Die Lokomotive muss abgeliefert werden!" forderte Kortschenko.
Turtschaninow beobachtete lächelnd Strachows Gesicht; er sah, wie Strachow die zuckenden Lippen öffnete und sie dann wieder schnell schloss, wie blaue Funken in den Augen aufsprühten und wieder erloschen.
„Ich bin jedoch verpflichtet, dem Inspektor Akatujew davon Mitteilung zu machen, dass die Lokomotive Defekte aufweist."
„Sie haben morgen die Lokomotive abzuliefern! Mit Akatujew haben nicht Sie zu sprechen, sondern der. Technische Direktor — Sie geht das gar nichts an!" schrie Kortschenko die Fäuste ballend.
Strachow riss erstaunt die Augen auf:
„Pjotr Petrowitsch, entschuldigen Sie, aber ich verstehe absolut nichts mehr. Die Verantwortung für die Lokomotive trage ich. Darum kann ich nicht schweigen. Sie können mich entlassen, aber dafür bin ich nicht zu haben." Er nahm seine Mütze vom Tisch, zerknüllte sie in den zitternden Fingern und stülpte sie so auf den Kopf, dass der Schirm hinten zu sitzen kam. Ohne es auch nur zu merken, wandte er sich zur Tür.
,Ja, allerdings, wenn sich die Sache so verhält, dann müssen wir uns eben trennen", schrie Kortschenko wütend hinter ihm her und betrachtete hasserfüllt den Rücken Strachows. „Ich dulde nicht, dass die Ingenieure der mir unterstellten Fabrik mehr auf die Meinung Akatujews geben als auf die des Direktors! Ich bin hier Herr im Hause und nicht Akatujew!"
Benjamin Pawlowitsch nickte zustimmend, und der Kneifer auf seiner Nase zitterte, bereit hinunterzugleiten.
Strachow ging hinaus, sorgfältig schloss er hinter sich die Tür.
„Hat man schon so was gesehen!" Turtschaninow lächelte zufrieden.
„Gegen diese Unverschämtheit muss gekämpft werden, Benjamin Pawlowitsch."
„Wir kämpfen dagegen, Pjotr Petrowitsch. Aber Sie haben ja nun selbst gesehen. Wir kämpfen ununterbrochen mit ihm und mit Akatujew. Geradezu wie Klassenfeinde. Wie Sie wissen, Pjotr Petrowitsch, habe ich bereits vor dem Kriege hier in der Fabrik gearbeitet. Und wissen Sie, es war damals genau dieselbe Geschichte. Nichts hat sich geändert! Buchstäblich nicht das geringste! Damals war es allerdings etwas leichter. Hin und wieder gab's mal ein Bankett, ein kleines Picknick beim Direktor... Und natürlich waren auch die Instruktionen dementsprechend leichter. He— he —he!" Wieder rückte Benjamin Pawlowitsch seinen widerspenstigen Kneifer 2urecht.
„Weiß der Teufel, was das alles heißen soll!" seufzte Kortschenko.
Er stellte sich einen Augenblick lang das Plenum des Okruschkom vor. Er auf der Tribüne, unten im Saal alle die Köpfe, die Aktentaschen. Die Seiten des Notizbuchs rascheln. Im ganzen Distrikt wird man diese verfluchten Ziffern herumschleppen... Eine Schande!
Benjamin Pawlowitsch nahm den Kneifer ab und suchte mit blinzelnden, kurzsichtigen Augen nach der Ursache, warum er nicht mehr fest auf der Nase sitzen wollte.
„Der Mechanismus ist schlaff."
„Was für ein Mechanismus?"
„Nein — ich meine meinen Kneifer... Der Mechanismus ist erschlafft, und es fehlt mir die Zeit, ihn zur Reparatur zu tragen. Ich bin schrecklich mit Arbeit überhäuft. Wissen Sie, Pjotr Petrowitsch, gestern war seit langem der erste Tag, an dem ich mich ein wenig ausgeruht habe — seit langem! Wir sind zusammengekommen, haben ein bisschen gequatscht und so. Jedoch auch bei dieser Gelegenheit habe ich's nicht ausgehalten und habe mich eine ganze Stunde mit Akatujew herumgestritten. Übrigens — er ist sehr unzufrieden, seine Wohnungsverhältnisse sind wirklich ganz unhaltbar. Ein altes Haus, Reparaturen werden" nicht vorgenommen. Sein ausgezeichneter Bechsteinflügel hat unter der Feuchtigkeit stark gelitten... "
Kraiski kam herein und meldete kurz und sachlich: der Bau der neuen Fabrik ist in Angriff genommen. Arbeiter treffen ein; dieser Tage werden die Maschinen für die Bau- und Erdarbeiten erwartet; die Pläne sind bis in alle Einzelheiten fertiggestellt. Er sei mit der Arbeit zufrieden und danke Kortschenko für das ihm, Kraiski, erwiesene Vertrauen. Nur eins verderbe ihm die Stimmung: die furchtbaren Zustände in der Martinabteilung... Aber anscheinend sei dies unvermeidlich, bis es Platow gelungen sein werde, den Betrieb in der Abteilung ganz zu überblicken. Es würde ihm sicherlich gelingen, er sei ja doch ein energischer, mit vielen Kenntnissen ausgestatteter Mensch...
Er verneigte sich, grüßte mit der heißen, feuchten Hand und hastete auf seinen kurzen, dicken Beinen davon.
„Ja... was werden wir denn aber machen, Benjamin Pawlowitsch?" Müde sank Kortschenko über seinen Aufstellungen in sich zusammen.
Turtschaninow setzte den Kneifer wieder auf die Nase, und hinter den dicken Gläsern schienen die Augen plötzlich wie geschwollen.
„Sehen Sie, Pjotr Petrowitsch... Alles in dieser Welt ist, wie man so sagt, relativ... Man kann ja doch den Zahlen schließlich die entsprechenden Kommentare beigeben. In Wirklichkeit sind ja auch die Lokomotiven Nr. 7 und 8 bereits fast fertig. Sie sind ja doch eigentlich schon gemacht. Einzelne Kleinigkeiten fehlen noch daran. Allerdings — wegen des Mangels an Scheiben können sie erst nach etwa einem Monat abgenommen werden; aber was kann uns hindern, sie in den Aufstellungen für den Ersten mit aufzuführen? Sie sind ja doch wirklich fast fertig! Allerdings wird dadurch die Produktion für August sinken, aber im August kann man einen Druck ausüben und das Fehlende nachholen ... "
Finster vertiefte sich Kortschenko in die Aufstellungen. Im Zimmer herrschte Stille. Von draußen drang das Summen eines Motors herein, das Kortschenko an die Sitzungen im Okruschkom gemahnte, bei denen stets ein elektrischer Ventilator surrte, und wieder sah er sich auf der Tribüne stehen.
Als Kortschenko hierher in die Fabrik geschickt worden war, hatte man ihm gesagt: „Nun — mach's gut! Vergiss nicht: das ist der ,Krassny Proletari' — der Gigant, verstehst du??" Und Kortschenko hatte geantwortet: „Seid unbesorgt."
Stets fühlte er die riesige Verantwortung für diesen Betrieb, für dessen Arbeit sich das ganze Land interessierte, und stets hatte er sich bemüht, so zu handeln, dass das Ansehen der Fabrik nicht Schaden leide. Er arbeitete unermüdlich, ehrlich und sorgfältig, und jedes Mal, wenn er auf der Tribüne stand, erklärte er aus tiefster, innerster Überzeugung: die Fabrik erfüllt den Plan und wird ihn auch hinfort erfüllen. Und als Antwort hörte Kortschenko stets den Beifall des Auditoriums, der seinen Glauben verstärkte und seine Kräfte verdoppelte. Niemals handelte oder sprach Kortschenko gegen sein Gewissen, stets sprach er von dem, was seine Augen sahen, was seine Überzeugung war. Er konnte und wollte die Partei über die Lage in der Fabrik nicht falsch unterrichten, und nun musste er also mitteilen, dass das Lokomotivbauprogramm nicht ausgeführt war. Und er wird es auch sagen — bestimmt.
„Man kann etwas von der Augustproduktion auf den 1. Juli tibertragen, Pjotr Petrowitsch."
„Ü bertragen? Ja, das ist doch aber..." „Ach, haben Sie sich doch nicht so, von einer Umstellung der zu addierenden Posten kann sich das Endresultat ja nicht ändern, und die Fabrik wird wenigstens ehrenvoll abschneiden. Wir dürfen es auf keinen Fall zulassen, dass unsere Fabrik hinterdreintrottet, Pjotr Petrowitsch! Ich bin zwar nicht Parteimitglied, aber glauben Sie. mir, mir geht das alles nicht weniger nahe als Ihnen..." Wieder glitt der Kneifer von der Nase, aber mit altgewohnter Bewegung fing ihn Benjamin Pawlowitsch auf und transportierte ihn an seinen Platz zurück.
Draußen summte der Motor, als flöge eine Riesenbiene vor dem Fenster hin und her und fürchte sich, ins Zimmer hineinzukommen.
„Wirklich, — dachte Kortschenko — Lokomotiven und Waggons, alles ist schließlich vorhanden, nur ein paar Kleinigkeiten fehlen, und ganz allein wegen dieser idiotischen, bürokratischen Manier Akatujews figurieren sie in der Aufstellung nicht. Was kann schließlich die Fabrik dafür? Was können wir beide, ich und dieser sympathische alte Mann, Benjamin Pawlowitsch, schließlich dafür? Weshalb soll die Fabrik unter dieser bürokratischen Tatsachenverdreherei leiden und ihr Ansehen einbüßen?"
Kortschenko fühlte sich auf einmal stark und sagte bestimmt:
„Umschreiben."
„Recht so, Pjotr Petrowitsch! Heute Nacht werde ich ruhig schlafen, sonst, glauben Sie mir — wie ein Alpdruck hat es auf mir gelastet und hat mich nicht zur Ruhe kommen lassen..."
Da trat Platow ins Zimmer, und Turtschaninow verstummte.
Kortschenko entfaltete nervös die Aufstellung der Martinabteilung :
„In den letzten Tagen ist der Ausschuß der Martinabteilung ganz wider Erwarten ungeheuer gestiegen... Was hat das zu bedeuten, Genosse Platow?"
„Ja... der Ausschuß steigt... Ich beschäftige mich eben mit der Untersuchung dieser Angelegenheit..." Müde stützte sich Platow auf den Tisch und schaute in die Aufstellung.
„Mit solchen Untersuchungen hätten Sie sich auf der Hochschule befassen sollen; jetzt, wo wir Lokomotivteile brauchen, ist dazu keine Zeit!" erwiderte Kortschenko scharf.
„Soll ich Sie allein lassen?" fragte Benjamin Pawlowitsch und erhob sich.
„Nein... bleiben Sie. Also, was ist los, Genosse Platow? Sie haben die Abteilung von Kraiski in gutem Zustand übernommen. Der Ausschuß zeigte das niedrigste Niveau, aus diesem Grund hielt ich es ja auch für möglich, Kraiski den Bau der neuen Fabrik zu übertragen und Sie zum Leiter der Martinabteilung zu ernennen. Und Sie — wissen Sie noch?--Sie haben selbst erklärt, dass Sie sich vor der Verantwortung nicht fürchten. Und was sehen wir nun? Geradezu ungeheuerlich ist der Ausschuß bei den Rädern, den Achslagern... "
„Ich kann mir ebenfalls nicht erklären, woher das kommt", sagte Platow finster. „Es kann zahlreiche Gründe dafür geben... Zum Beispiel die Zusammensetzung der Beschickung... " „Nein — auf keinen Fall..." fiel Turtschaninow erregt ein. „Die Qualität des Gusses ist ausgezeichnet. Ich habe die Proben im Laboratorium gesehen."
„Vielleicht hat die Qualität der Formerarbeit sich verschlechtert", fuhr Platow fort.
„Es arbeiten aber doch dieselben Former in der Abteilung wie bei Kraiski. Jedenfalls liegt der Grund wo anders...", meinte Turtschaninow langgezogen und vielsagend. „Wo denn?" Platow richtete sich hoch auf. Kortschenko streifte mit einem Blick Platows wachsames, misstrauisches Gesicht, er sah die graugelben Flecke auf den eingefallenen Wangen („der sieht aber mitgenommen aus", dachte er bei sich) und sagte langsam, jedes Wort betonend:
„Die Sache ist jedenfalls die, dass Ihnen die Erfahrung und auch die... Kenntnisse fehlen, die Kraiski in hohem Maße besitzt. Und anstatt dass Sie sich diese Erfahrungen zunutze machen, ignorieren Sie sie. Erinnern Sie sich nur an Ihr Verhalten auf der Ingenieurversammlung... Ich muss mich nochmals Benjamin Pawlowitsch gegenüber Ihres Ausfalls wegen entschuldigen..."
„Oh, nein, bitte sehr! Ich habe das schon längst wieder vergessen." Turtschaninow sprang auf und streckte abwehrend die Hände aus. „So etwas kann doch vorkommen."
„Also, Genosse Platow, jetzt habe ich Ihnen das Geheimnis Ihres Misserfolgs aufgedeckt. Richten Sie sich danach. Derartige Verhältnisse kann ich in der Abteilung natürlich keinesfalls dulden. Entweder Sie werden innerhalb kürzester Frist Herr ihrer Aufgabe und bringen die Abteilung wieder auf die frühere Höhe, oder..."
„Oder ich gehe ganz von selbst!" unterbrach ihn Platow scharf.
„Wir hoffen immerhin, dass es dazu nicht kommen wird... ", sagte Turtschaninow mit weicher Stimme. „Wir brauchen junge frische Kräfte, brauchen den Enthusiasmus der Jugend so nötig..."
„Mit Enthusiasmus werden wir keine Lokomotive bauen, Benjamin Pawlowitsch. Dazu muss man in erster Linie ein guter Ingenieur sein", warf Kortschenko belehrend ein. „Und daran fehlt es uns gerade, und wie es uns daran fehlt!"
„Jawohl — daran fehlt es Ihnen!" konnte sich Platow nicht enthalten zu rufen und verließ schnell das Zimmer.
Kortschenko gab sich den Anschein, als habe er die Worte nicht verstanden, hüstelte und kramte wütend in seinen Papieren.
Turtschaninow suchte seine Aufstellungen zusammen und steckte sie in die Aktentasche.
„Wir haben doch denselben Weg?"
Sie gingen zusammen.
Draußen wälzte sich die dichte Menge aus der Hitze der glühenden Werkstätten dem Hauptausgang zu; sie riss Kortschenko und Turtschaninow mit sich und stieß mit dem Gegenstrom der Arbeiter zusammen, die nach dem Tor, das zum Bahnhof führt, eilten. Die Leute hasteten stoßend vorwärts.
Durchdringend und warnend pfiff der „Kuckuck", die Fabrikslokomotive; sie kreuzte den Weg der sich stauenden Menge.
„Ja, also... den wundervollen Bechsteinflügel hat die Feuchtigkeit verdorben! Das Fis ist verdorben! Wollen wir da gestern die ,Internationale' spielen, und das Fis funktioniert nicht. Es ist feucht geworden, das Fis!" schrie Turtschaninow ganz aufgeregt.
„Da sieht man doch Kulturmenschen", dachte Kortschenko, „arbeiten wie die Pferde, und dabei finden sie noch Zeit, sich um irgendein Fis aufzuregen. Was ist das: Fis?" Aber er fragte nicht danach, um nicht seine gänzliche Unkenntnis in musikalischen Dingen zu zeigen. Er seufzte nur tief auf, als er an die Dürftigkeit seines häuslichen Lebens, an die ewige Hetze dachte, und die Last, die sich auf sein Herz wälzte, presste ihm einen tiefen Seufzer ab. Er verachtete sich selbst für die Rückständigkeit seiner Lebensformen und seine Unzivilisiertheit. Da wuchsen seine Kinder wild heran, meist trieben sie sich irgendwo auf der Straße herum — denn seine Frau studierte an der Arbeiterfakultät, er selbst war stets beschäftigt. Man müsste den Kindern deutschen Unterricht erteilen lassen, auch Klavierunterricht wäre gut. Oder sollen wirklich auch seine Kinder so aufwachsen, wie er selbst aufgewachsen war? Der nicht einmal weiß, was Fis ist! Einfach eine Schande...
Als sich Kortschenko an der Straßenecke von Turtschaninow trennte, sagte er:
„Beauftragen Sie die Bauabteilung mit der Renovierung von Akatujews Wohnung."
„Ist gut, Pjotr Petrowitsch! Sie sind tatsächlich stets feinfühlig und entgegenkommend. Wirklich, wissen Sie, so ein wunderschöner Bechstein, und ganz von der Feuchtigkeit verdorben! Tatsächlich — wir stimmten die ,Internationale' an, und da ist an der einen Stelle so ein wunderbarer Übergang auf eine halbe Note: Reinen Ti—i—sch macht mit den Be—drä—ä—ngern", sang Turtschaninow halblaut mit tremolierendem Tenor, „Heer der Skla—a—ven, wa—a—che auf... das ist die Stelle: Wa—ache auf! .. Hier braucht man das Fis, und die Taste funktioniert nicht. Von der Nässe verdorben! Und dann nochmal an anderer Stelle: Ein Ni—i—chts zu sein, duldet nicht lä—ä—änger... wieder Fis"...
2
Mit hastigen, nervösen Schritten verließ Platow das Zimmer des Direktors. Er war so in die Gedanken vertieft, die das Gespräch mit Kortschenko in ihm wachgerufen hatte, dass er gar nicht hörte, wie ihn Olga auf dem Korridor anrief.
Sie lief schnell ein paar Schritte hinter ihm her; als sie aber sah, wie eilig er weiterging, blieb sie stehen. Weshalb lief sie eigentlich ? Sie wollte ihm ganz einfach ein paar Worte sagen... Vielleicht hatte er sie sogar gesehen und wollte nicht mit ihr sprechen? Er sah so finster aus. Natürlich — er hatte jetzt soviel zu tun, dass ihm jedenfalls keine Zeit für Unterhaltungen blieb ... Na, schön — es musste ja nicht sein! Etwas beleidigt wandte sich Olga um und ging zum Betriebsrat.
Platow aber eilte ganz in seine Gedanken versunken nach dem Festigkeitslaboratorium. Er wollte noch einmal die Qualität des Gusses kontrollieren: schon drei Tage lang musste er sämtliche Lokomotivräder als Ausschuß zurückweisen. Woran lag das? Er zerbrach sich den Kopf, Hunderte von Vermutungen stiegen in ihm auf, um sofort wieder verworfen zu werden; an ihre Stelle traten andere, aber nicht eine einzige führte zum Ziel. Alle eventuellen technischen Ursachen hatte er aufs genaueste untersucht — alles schien in Ordnung, die Abteilung arbeitete genau wie unter Kraiski, aber der Gussausschuss wuchs von Tag zu Tag geradezu katastrophal; die Martinabteilung führte die Aufträge der anderen Abteilungen nicht aus, das Lokomotivbauprogramm wurde gesprengt. Wie eine Seuche verheerte der Ausschuß die Martinabteilung und machte den Stahlguss zuschanden: Räder, Kesselstützen, Verbindungen, Achslager wurden in ganzen Partien 2um Fallwerk geschickt, und von da aus wanderten die zerfressenen, mit Lunkern bedeckten Teile wieder in den Martinofen zurück.
Pfatow sah, dass sein ganzes technisches Können dieser Pest gegenüber ohnmächtig war; aber er wollte sich seine Niederlage noch immer nicht eingestehen. Mitunter fühlte er sich von einer wilden Verzweiflung ergriffen — er saß ganze Nächte hindurch, wälzte sich auf seinem Diwan hin und her und seufzte schwer. Im Morgengrauen lief Platow dann wieder in die Abteilung zurück, stand stundenlang neben den Formern, aber das Formen wurde gut gemacht. Gestern war Titytsch sogar ganz beleidigt, als er den wachsamen Blick Platows auf sich ruhen fühlte.
„Was trampelst du mir hier so auf der Seele herum, he?
Denkst du vielleicht, der Alte arbeitet schlecht? Junge — das
ist ein Formkasten!" Stolz strich Titysch mit der Hand über den Formkasten. „Hier brauchst du nicht aufzupassen, Senja...
Was das anbelangt, da bin ich selbst Ingenieur, mein Lieber!"
Und beschämt und schweigend war Platow weitergegangen.
„Ich muss noch einmal die Proben von dem Guss ,M' genau untersuchen; wenn sie der Prüfung standhalten, dann... Ja — was dann?''
Er betrat das Laboratorium und war erstaunt über die Stille, die ihn plötzlich umfing: schweigend glänzten die vernickelten Apparate; die funkelnde Scheibe des Versuchspendels hing müde herab wie die untergehende Sonne und ließ das Kupfer der Schalter an der Wand und das golden gefletschte Gebiss Ostrowskis mit mattem Glanz auffunkeln.
Ostrowski lachte lautlos, wobei er in eine Ecke des Laboratoriums hinüberblinzelte, und der Bleistift in seinen Fingern tanzte umher und zeichnete mutwillige Linien auf das liniierte Papier, das vor ihm lag.
„Wera Pawlowna! Was haben Sie für Resultate?" fragte er mit dünner Stimme; als er plötzlich Platows ansichtig wurde, vertiefte er sich in seine Aufstellung.
Aus der Ecke, in die Ostrowski hinübergeblinzelt hatte, tönte jetzt das intensive Surren des Elektromotors, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Dann hörte er plötzlich ein donnerndes Krachen, als ob ein großer Metallklumpen herabfiele, und die Stille, die danach eintrat, wurde unterbrochen von einer Frauenstimme, die einen schwingenden Klang hatte, wie die Saite einer Gitarre:
„Das Resultat ist immer dasselbe. Das Probestück ist in der Mitte durchgebrochen... Die Struktur des Stahls ist ausgezeichnet."
Platow blickte verwundert nach der Richtung, aus der die
Stimme kam, und machte dann verwirrt Anstalt umzukehren.
„Wohin, Genosse Platow?" holte ihn dieselbe schwingende
Stimme an der Tür ein, und durch das dünne Gewebe seines
Hemds fühlte er auf der Schulter eine heiße Hand.
„Sie sind hier? Das habe ich gar nicht gewusst..." murmelte er und schritt weiter, der Tür zu. Aber Wera hielt ihn an der Schulter fest.
„Ja — ich bin schon seit drei Tagen hier und arbeite im Laboratorium. Und Sie sind, wie ich höre, Leiter der Martinabteilung geworden? Es geht also bergauf, Platow? Das ist schön! Ostrowski, das ist der, von dem ich gesprochen habe. Wir sind alte Freunde..." Ihre Stimme brach ab und erlosch. Ostrowski räusperte sich vielsagend, und Wera Pawlowna besann sich darauf, dass sie sich im Laboratorium befand.
„Ja übrigens, Platow, wir untersuchen hier gerade den Stahlguß. Sehen Sie nur, was für eine ausgezeichnete Bruchfläche!'1 Sie hielt Platow ein Stahlstück unter die Augen.
Platow sah, dass das Stahlstück in ihrer Hand leicht zitterte. „Ihre Abteilung liefert sehr guten Stahl, Platow. Sind sie zufrieden? Das ist doch etwas, worüber Sie sich freuen müssen, und statt dessen stehen Sie so finster da. Oder ist es Ihnen nicht angenehm, mich hier zu sehen?"
Platow richtete seinen Blick auf das lebhafte Gesicht Weras und fragte leise:
„Weshalb fangen Sie wieder... davon an? Wir sind doch in Freundschaft auseinandergegangen."
Ü ber das Gesicht Weras huschte ein leichter Schatten. Sie warf die Stahlstücke vor Ostrowski auf den Tisch, so dass sie aneinanderklirrten.
„Jawohl... In Freundschaft... Und darum will ich, dass wir einander auch freundschaftlich begegnen! Ostrowski, es ist ja schon vier Uhr. Ich bin also frei. Kommen Sie, Platow!"
Schnell ging sie hinaus, ihre Absätze klapperten laut auf dem Fußboden.
Mit lang gerecktem Hals sah ihnen Ostrowski aufmerksam nach, und als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte er böse vor sich hin:
„So also liegt die Sache!"
Wera und Platow schritten über den still gewordenen Fabrikhof, dem Ausgangstor zu.
„Hören Sie, Platow... Dort im Laboratorium wird dreierlei geprüft: ich prüfe das Metall, ich prüfe mich selbst, und endlich unterzieht dieser ekelhafte Mensch, der Ostrowski, der mich immer an einen Wurm erinnert, mich einer eingehenden, schmerzhaften Untersuchung. Von diesen drei Prüfungen ist die letzte die schwierigste und unangenehmste... Er ist so ein schlüpfriger, ekelhafter, kalter Wurm... "
„Sind Sie denn nun. über sich im klaren, Wera? Oder schwanken Sie noch ebenso wie früher zwischen den beiden Polen unserer Epoche, auf der Suche nach dem ,verheißenen Land'?" lachte Platow.
„Nein, Platow! Ich habe mich davon überzeugt, dass ich mein verheißenes Land schon gefunden habe. Es ist... hier!" Wera warf voller Begeisterung die Arme in die Höhe. „Und ich bin hierher gekommen in dieses schöne, verheißene Land, um es zusammen mit tausenden anderen Menschen noch viel schöner zu machen. Und mein Suchen ist zu Ende. Ich habe ein für allemal die verfluchte Insel meines Kummers und meiner Einsamkeit verlassen."
„Aber auf dieser Insel lebt, wie mir scheint, immer noch Ihr ehrwürdiger Herr Papa?" sagte Platow lächelnd. Wera runzelte die hellen, dichten Brauen. „Mag er leben wie er will... Was geht mich das an." „Sie geht das nichts an? Mir scheint, aus diesen Worten spricht noch sehr viel von Ihrer verlassenen Insel. Sie sind genau dieselbe Individualistin wie früher, die sich nur für ihre eigene Welt interessiert. Er ist doch immerhin Ihr Vater."
„Wir wollen jetzt nicht davon sprechen... Ich bin so froh, dass ich Sie getroffen habe. Mein Leben hier erhält jetzt einen Sinn, Platow. Ich bin so froh! Sehen Sie! Erkennen Sie die Werotschka von früher?" Sie nahm einen Anlauf und sprang leicht über einen hohen Haufen verrosteter Schienen. Entzückt folgte Platow mit den Blicken der schlanken Gestalt.
Ja — das war dieselbe Werotschka, die er in den seltenen Augenblicken leichtsinnigen Studentenfrohsinns unter den lustigen Klängen einer Harmonika in dem engen Zimmer herumgewirbelt hatte. Wo war aber jene zweite Werotschka geblieben, die Platow hasste, jene, die kalte Verachtung für das Leben hegte? Musste er doch um jener zweiten Wera willen die erste vergessen, ihr geliebtes Bild aus seiner Seele löschen.
Und nun sieht er die frühere Werotschka wieder vor sich, sie geht dicht neben ihm, so dicht, dass er ihre Schulter berührt, und lacht vergnügt bei der Erinnerung an jene Studentenveranstaltungen in Moskau. Ihre Augen funkeln, sie ist voll überströmender, lachender Freude. Und Platow selbst wird von ihrer freudigen Erregung angesteckt.
Sie schritten durch die schwülen Straßen der Stadt. „Nicht wahr, Platow, wir werden wieder so wie früher Freundschaft halten? Ich habe Ihnen noch viel, sehr viel zu sagen, und darunter auch etwas sehr Wichtiges... Nun — davon später... Jetzt aber sagen Sie mir, warum waren Sie so aufgeregt und finster, als Sie ins Laboratorium kamen?
Warum haben Sie sofort wieder kehrtgemacht? Was ist mit Ihnen., Genosse Abteilungsleiter?"
Teilnehmend berührte sie seine Hand. „In der Martinabteilung ist irgend etwas nicht in Ordnung, und ich kann der Sache nicht auf den Grund kommen. Lunker und Risse zerfressen das Metall, die gegossenen Räder werden unter dem Fallwerk wie trockene Brezeln zertrümmert... manchmal scheint es mir schon, als bedecke ich mich selbst mit Rissen und Schrammen... Und das feste Vertrauen auf die eigene Kraft, das mich noch nie verlassen hat, wird auch brüchig..." Finster zog Platow die Brauen zusammen.
Als Wera in sein Gesicht blickte, das auf einmal um Jahre gealtert schien und ganz grau aussah, spürte sie plötzlich den heftigen Wunsch, ihm das, was sie für die Zukunft aufgespart hatte, sogleich zu erzählen.
Vielleicht stand das, was ihr bekannt geworden war, in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Unheil bringenden Rissen? Vor ihren Augen stand plötzlich das hassverzerrte Gesicht ihres Vaters, die Schaumspritzer auf dem schmutzigen Aufschlag seiner Jacke, die boshaft verzogenen Lippen. Und wieder spürte sie alles das, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, den ganzen Schmerz, die heftige Spannung ihrer Nerven — alles das schien zurückgekehrt, und sie erbebte. „Was ist Ihnen?'
„Nichts... Mir ist nicht ganz wohl. Hören Sie, Senja... Kann ich Sie so nennen? Wie früher?"
„Es freut mich, Wera. Und es freut mich, dass Sie sich so sehr zum Guten verändert haben. Sie haben sich anscheinend ganz von Ihrem hässlichen Doppelgänger befreit, den ich so gar nicht leiden mochte. Ich war Ihnen gegenüber ja doch stets aufrichtig."
Wera drückte ihm stürmisch 'die Hand. „Senja! Sie haben mir mit Ihrer Aufrichtigkeit geholfen. Wissen Sie noch, sie nannten mich eine intellektuelle Träne'? Diese Träne ist jetzt getrocknet, Senja. Ich hasse meine Vergangenheit. Ich bin jetzt völlig von einem Gefühl ergriffen, das mir neu ist: von dem Gefühl der Achtung für die schwere körperliche Arbeit von Tausenden von Menschen, und für solche wie Sie, Senja, die zu Führern dieser Tausende werden, die das Leben im Sturm nehmen; ich bin ergriffen von einet grenzenlosen Begeisterung für alles, alles, was heute auf dieser wunderbaren, von mir entdeckten Erde geschieht!"
Platow betrachtete lächelnd ihr begeistertes Gesicht.
Wera schritt schneller aus.
„Nun — auf Wiedersehen!"
Olga hatte sie vom Fenster ihres Zimmers aus beobachtet. Sie hatte gesehen, wie leidenschaftlich sie miteinander gesprochen hatten, hatte den langen, kräftigen Händedruck beobachtet.
„So einer ist das! Jedenfalls hat er mich in der Fabrik auf dem Korridor gar nicht bemerkt. Na, an seine Fabrikangelegenheiten hat er wohl auch nicht gedacht, sondern eher an diese gezierte Jungfer da." Ein hässliches Gefühl durchwühlte ihre Brust, ihre blauen Augen verdunkelten sich, während sie den weißen Fleck verfolgten, der auf dem gelben Hintergrund der sandigen Straße langsam verschwand.
„Genosse Platow? Denken Sie immer noch an Ihren Ausschuß?" lachte Olga klingend hinter ihm her.
Platow blieb verwundert stehen; als er dann Olga entdeckte, zog ein breites Lächeln über sein Gesicht.
„Ich möchte den ganzen Ausschuß ausrotten, Olga!"
„Das ist wahr, Platow. Wir müssen unbedingt irgend etwas tun, denn alle unsere Plandrehbänke stehen still, es sind keine Räder da. Ihre Sache steht schlecht, Genosse Ingenieur!"
Platow hörte den Spott aus ihrer Stimme.
„Weshalb freuen Sie sich denn darüber? Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, Olga!"
Immer noch ganz aufgeregt über ihr Wiedersehen mit Platow, ging Wera mit großen, männlichen Schritten im Zimmer auf und ab. In Gedanken ging sie immer noch neben Platow her, sie fühlte seinen kräftigen, muskulösen Körper dicht neben sich und hörte seine etwas grobe, aber so anziehende Stimme. Die Finger schmerzten immer noch angenehm von seinem kräftigen Händedruck.
Lächelnd in Gedanken an irgend etwas warf sie das Kleid ab, zog einen leichten, hellblauen Schafrock an, setzte sich in einem Sessel zurecht und schlug ihr Tagebuch auf. Die unregelmäßigen Zeilen auf der ersten Seite erinnerten sie an jenen Tag, an dem sie zum ersten Mal die Leere und Unbefriedigtheit ihres Lebens gefühlt hatte. Damals hatte sie geschrieben:
„Ich verstehe dieses neue Leben, für das sich dieser Holzklotz Semjon Platow so begeistern kann, einfach nicht. Es steht allen meinen Gefühlen und Gedanken wie irgendein fremdes Ungeheuer gegenüber, das mich anstarrt und mich mit seinem schwarzen Rachen und seinen gefletschten Zähnen bedroht. Es ist ohne Mitleid den Menschen gegenüber, die Zärtlichkeit und Liebe für die Natur, für die Dinge, für all das Schöne bewahrt haben, ohne das es kein wahres Leben gibt. Es zertrümmert und zerbricht wahllos alle, die sich seiner toten Disziplin nicht unterordnen wollen. Es ist kalt und grausam. Es geht mit einer Schere umher und schert alle über einen Kamm, wie ein Gärtner. Ich will dieses Leben nicht haben! Ich lehne es ab. Und ich ziehe mich auf die öde und unzugängliche Insel der Einsamkeit zurück. Da werde ich warten. Dereinst wird mein Schiff kommen, und dann werde ich mich aufmachen, um das verheißene Land zu suchen, das die Menschen verloren haben. Und ich werde es finden. Seien Sie überzeugt davon — Genosse Platow!"
Wera musste vor sich hinlächeln, als sie diese Worte las, die wohl irgendeine Närrin geschrieben hatte. Ach — wie lag das alles weit zurück! Sie steht am Ufer eines neuen Landes... Dieses Land ist durchtränkt von menschlichem Schweiß und von Erdöl, es ist schwarz und unansehnlich, aber es ist ihr jetzt so teuer, dieses neue Land — ebenso teuer, wie dieser lächerliche Holzklotz, der Ingenieur Platow...
Sie warf das Tagebuch hinüber auf den Diwan, es glitt von dem glatten Leder und fiel auf den Teppich, und wieder öffnete es sich — wieder lag die erste Seite offen da. Wera zitterte, als sie diese finsteren, verzweiflungsvollen Zeilen von neuem vor sich sah, und sie setzte den Fuß auf das glatte Papier, als zertrete sie eine ekelhafte, kalte Kröte. Aber als sie den Fuß hob, fiel ihr Blick wieder auf die schiefen Zeilen, die sich wie Würmer schlängelten. Blass vor Wut packte sie das Tagebuch und schleuderte es in den Wäschekorb.
Leise und bescheiden wurde an ihre Tür geklopft:
„Wera! Kann ich zu dir kommen?"
Die Stimme klang dumpf und undeutlich. Dadurch, dass sie durch die geschlossene Tür drang, verlor sie den Ausdruck, wurde farblos und hölzern. Wera drückte sich tiefer in den
Sessel.
„Wera! Bist du noch wach? Ich möchte mit dir sprechen... "
Wera antwortete nicht. Mit geschlossenen Augen saß sie da. Sie biss sich mit scharfen Zähnen auf die Unterlippe, dass diese weiß wurden wie die Zähne selbst.
„Werussja! Es ist vielleicht das letzte Mal, dass ich mit dir spreche." Seine Stimme zitterte. „Werussja, heute ist mein Namenstag... Ich halte es nicht aus, so einsam...'
Ein gelber Lichtstrahl drang durch den Türspalt und schien den Körper Akatujews durchbohren zu wollen. Aber die Stille hinter der Tür wurde durch keinen Laut gebrochen.
Er stand eine Weile horchend da, dann ging er gebückt in sein Zimmer zurück. Verfluchtes Leben! Erst hatte es ihm die Aktien der „Vereinigten Lokomotiv- und Waggonfabriken und Schienenwalzwerke A.-G." genommen und ihm an ihrer Stelle ein Gewerkschaftsmitgliedsbuch gegeben, dann hatte es ihn auf diesem verfluchten Fabrikhof festgebannt, auf dem er nun wie ein Wolf in seinem Käfig elf Jahre lang herumlief, und nun hatte es ihm das Teuerste geraubt — die Waffe, die in dem ungleichen Kampf ihre Kraft eingebüßt hatte... Jetzt war diese Waffe in fremden Händen. Sollte wirklich alles verloren sein? Wera will nicht mit dem Vater sprechen... Sie sind Feinde...
Akatujew seufzt tief, und als er das wahnsinnige Klopfen seines Herzens spürt, zählt er mit zitternder Hand fünfzehn dunkle Tropfen ab, die er in ein Glas Wasser fallen lässt. Schwerer Baldriangeruch verbreitet sich im Zimmer. Nachdem sich Akatujew etwas beruhigt hat, kehrt er zum Schreibtisch zurück, auf dem überall eng beschriebene Blätter herumliegen. Akatujew taucht die Feder ins Tintenfass und sinnt nach...
Dreißig Jahre arbeitet er nun schon in dieser Fabrik. Er denkt an den Tag seiner Ankunft: es regnete stark, und er musste über die Pfützen springen (gepflasterte Straßen gab es damals nicht), um seine eleganten Schuhe und seine tressenbesetzten Hosen (wie sie damals Mode waren) nicht zu beschmutzen. Ehe er das Haus des Fabrikdirektors betrat, wischte er die Schuhe sorgfältig mit einem Taschentuch ab. Er sah sich wieder, wie er im Vorzimmer vor dem Spiegel stand, der seine schlanke, elastische Figur in der eleganten Uniformjacke mit den goldenen Knöpfen des Eisenbahnministeriums zurückwarf. Damals hing über dem Fabriktor ein Schild, das in großen Goldbuchstaben die Worte trug:
VEREINIGTE LOKOMOTIV- UND WAGGONBAUFABRIKEN
UND SCHIENENWALZWERKE A.-G.
Gegründet 1883
Ja, und Benjamin Pawlowitsch war damals elegant und flink, und sein Kneifer saß fest und sicher auf der Nase, ebenso wie das herablassende Lächeln auf den schmalen, hübsch geschwungenen Lippen.
Jahre sind seither vergangen. Akatujew hat die Revolution erlebt. Und Pawel Jakowiewitsch lebt, und auch Benjamin Pawlowitsch lebt, denn die Revolution braucht diese Pawel Jakowlewitsch und Benjamin Pawlowitsch, sie ist von ihnen abhängig. Sozialismus — das heißt Maschinen, Lokomotiven; Lokomotiven, das heißt Akatujew und Turtschaninow, der Sozialismus ist also undenkbar ohne die Akatujews. Hatte man nicht so die Schlussfolgerungen aufgebaut, als man im Gymnasium Logik studierte ? Alles im Leben ist weise eingerichtet und unwiderlegbar, es zieht seine Bahn, das Leben, genau wie der Zug auf den Schienen, und jeder Zug hat seine Endstation.
Und die Bahn seines Lebens verbuchte Akatujew in seiner Dienstliste, genau so wie der Diensthabende einer Station Buch führt über Ankunft und Abgang der einzelnen Züge:
„Eingetroffen um soundsoviel... Abgegangen um soundsoviel... Beschädigungen keine... "
Akatujew konnte stolz sein: er hatte den Weg seines Lebens ohne Beschädigungen zurückgelegt. An die Stelle des Eisenbahnministeriums war das NKPS getreten, aber die Bestimmungen über die Abnahme der Lokomotiven waren unverändert geblieben, und Akatujew war nach wie vor Inspektor. Allerdings — es gab ein paar Ergänzungen und neue Paragraphen, aber schließlich — man kann keine Revolution machen ohne ein paar Ergänzungsparagraphen...
Tagaus, tagein war er in diesen dreißig Jahren durch Werkstätten und Laboratorien gegangen, hatte die Montage der Lokomotiven und die Materialprüfung überwacht. An jedem neuen Tag wiederholte sich bis in alle Einzelheiten der Kreislauf des vorhergehenden Tages. Es entstanden bestimmte Gewohnheiten, feste Methoden. Alles um ihn herum kannte er in-und auswendig, so dass es ihn beinahe anwiderte, es gab nichts Interessantes mehr für ihn. Die Fabrikleitung schmeichelte ihm; hinter seinem Rücken nannten ihn die Ingenieure einen fetten Dachs, aber wenn sie ihn trafen, hielten sie es für nötig, ihm ihre tiefste Hochachtung auszusprechen. Akatujew konnte zufrieden sein. In materieller Hinsicht war er gesichert, eine spezielle Prämie, die er allmonatlich von der Fabrik „für die Normung der Lokomotiven" erhielt, verdreifachte sein Einkommen.
Immerhin aber beunruhigte die Revolution Akatujew durch alle möglichen Überraschungen und Aufregungen. So hatte man ihm z. B. gestern mitgeteilt, dass Wartanjan irgendwo geschrieben habe, dass er, Akatujew, „keine freiwillige Arbeit für die Allgemeinheit leiste".
Eines schönen Tages werden sie ihm das noch vorwerfen... Jedenfalls war das die Folge davon, dass er es irgend jemand in der Fabrikleitung nicht recht gemacht hatte. Die Angst um die Lage in der Fabrik hatte stets sein krankes Herz erregt (er litt an Herzsklerose), Herzklopfen und Beklemmungen stellten sich ein, und er musste sich zu Bett legen.
Heute aber muss er schreiben. Er wird kämpfen mit einer Waffe, die ganz sein eigen ist, die man ihm nicht so leicht entwinden kann. Fast druckfertig lag die von ihm geschriebene Broschüre „Praktischer Lokomotivbau (Methoden der Bearbeitung, des Zusammenbaus und der Prüfung der wichtigsten Teile)" vor ihm. Gestern hatte er geschrieben:
„II. DAS LOKOMOTIVGESTELL
Die Achsen
Als Material für die Achsen dient der den bestehenden technischen Vorschriften gemäß genormte Stahl. Fast jede Fabrik hat ihre eigene Methode für die Herstellung der Achsen. Wir wollen hier eine dieser Methoden kurz beschreiben.
Zuerst wird ein Ingot mit einem Gewicht von 57—59 Pud gegossen in einer gusseisernen Kokille mit einem Kopf aus Schamotte. Bevor der Ingot in den Glühofen kommt, wird er leicht angewärmt bis zu 50°, dann kommt er in den Ofen, wo er allmählich bis auf 1100° erhitzt wird; danach wird er unter die hydraulische Presse gebracht..."
Ruhig und sicher malte Akatujew seine hübschen Buchstaben auf das Papier:
„Er darf nunmehr nicht erkalten, sondern wird gleich von dem Kran in den Glühofen bei dem Dampfhammer geführt, und darauf wird er schon zu einer Achse ausgeschmiedet, mit den erforderlichen Bearbeitungszugaben und mit einer Zugabe auf der Seite des verlorenen Kopfes in Höhe von 16 Zoll zur Entnahme einer Materialprobe aus diesem Teil."
Dabei stellte sich Akatujew vor, wie der Teil für die Materialprüfung mit dem Meißel abgehauen wird, und lächelte herablassend.
„Aber das tun sie nicht, die Hundsfötter! Man müsste spaßeshalber mal kontrollieren. Auf einmal dastehen und sagen: Wo sind die Proben? Sind keine da? Aha—a--a, es sind keine da... Na, was soll man mit euch machen? Jetzt seht ihr, wie ich darüber ,nicht unterrichtet' war. Ich bin ja doch bloß ein ,fetter Dachs'!"
„Der Nabensitzdurchmesser muss um 0,2 mm größer sein als der Durchmesser der Bohrung im Rade; und zwar aus dem Grunde, weil das Rad mit der Achse ein Ganzes bilden soll. Das Aufpressen des Rades erfolgt gemäß den vom Ministerium für Verkehrswesen (schmunzelnd strich Akatujew das Wort „Ministerium" aus und setzte dafür „Volkskommissariat") geforderten Drucknormen... "
Das letzte Wort brachte sein Herz in stürmische Erregung — der brennende Hass, der ihn dabei ergriff, machte ihn erbeben.
„Ja—wo—o—hl! Sehr verehrte Genossen! Direktoren! Betriebsräte ! Raikoms! Zellen: Drucknormen!! Sie stehen unveränderlich fest, diese Drucknormen, sie sind dieselben — bei den Kapitalisten wie auch bei den Kommunisten. Fügt euch gefälligst der Technik, meine Herren! Dem Ingenieur! Der Drucknorm! Sie steht unumstößlich fest. Sie drückt und wird drücken. Fügt euch nur! Ihr habt mir meine Tochter gestohlen. So fügt euch den Druck der Wissenschaft!" Er merkte nicht, dass er diese Worte mitten in den Text der Broschüre hineinschrieb, er flüsterte vor sich hin, und aus dem Flüstern wurde ein unterdrücktes Ächzen, wobei er mit der Feder wütend auf den Tisch klopfte: „Fügt euch!"
Große Schweißperlen traten auf Akatujews Stirn, sie tropften auf das Papier, und die Worte „Fügt euch" verschwammen in einem großen Klecks.
Da holte Akatujew wütend aus und malte mit großen, schreienden Buchstaben hin:
„FÜGT EUCH DEN INGENIEUREN, IHR SCHWEINEHUNDE!"
Sein Herz wollte fast die Rippen brechen und die Brust sprengen. Akatujew fühlte, wie sein Hemd wie ein ekelhaftes, kaltes Pflaster am Rücken festklebte.
„Was den Übergang vom Nabensitz zum Achsschenkel anbelangt, so muss derselbe mit einem Ausrundungshalbmesser ausgeführt werden, der... "
Und wieder zitterte seine Hand in ohnmächtiger Wut.
„Mit einem Ausrundungshalbmesser, den ich euch nicht mitteilen werde! Dieser Halbmesser ist mein Eigentum, das mir keiner rauben kann", flüsterte Akatujew, und dabei fielen schwere Schweißtropfen auf das Manuskript. „Ich werde ihn euch nicht sagen. Nur zusammen mit meinem Herzen könnt ihr euch ihn aneignen..."
Fast von Sinnen, schrieb er mit zitternden, unleserlichen Buchstaben:
„Sergej Michailowitsch!
Ich muss Sie dringend so schnell wie möglich sprechen. Ich erwarte Sie.
P.Ak."
Und auf den Briefumschlag schrieb er die Adresse: S.M. Grajew
Moskau IX Kammergerskigasse 43, Wohnung 4.
Akatujew schloss die müden Augen. Wie im Nebel, sah er künftige Tage vor sich. „Ja — es kommt, dieses langerwartete Jahr. Und Pawel Jakowlewitsch Akatujew wird sein Herz öffnen, und alle werden die Waffe sehen, mit der er gekämpft hat... den Ausrundungshalbmesser. Nur zwei Jahre. Zwei Jahre lang... Monate ... Tage... Das Signal zeigt freie Durchfahrt. Und niemand weiß, welcher Lokomotive es den funkelnden Schienenweg freigibt."
Immer lauter wurde sein Flüstern. Die weißen Lippen bedeckten sich mit flockigem Schaum. Er saß mit geschlossenen Augen und fühlte, wie das Herz sich aufblähte und wieder zusammenfiel gleich einem leeren Sack, wie die Ermüdung durch seinen ganzen Körper kroch und ihn in Fesseln schlug — aber das war schon das qualvoll süße Vorgefühl der ersehnten Tage...
3
Die grauen Wände eines hinfälligen Bretterzauns, der von zahlreichen alten, verwitterten Pfählen gestützt wurde, umschlossen das kleine Gärtchen des „Chefs": fünf Apfelbäume, ein Birnbaum und drei Johannisbeersträucher, erschöpft von der sengenden Glut, umflossen vom Duft des Wermuts und all der namenlosen Gräser, die in der Sonne fast verdorrten.
Die Grillen klopften mit ihren tausend mikroskopischen Hämmerchen an die klingende Stille. Die schlanken Zweige der Apfelbäume wurden zur Erde niedergezogen von der Last der Früchte, die rubinroten Johannisbeertrauben an den hohen Sträuchern streiften das Gesicht des Alten: Er schüttelte einen Zweig, und die überreifen Beeren purzelten ins Gras. Sorgfältig sammelte er sie in die Mütze. Die Sonne irrlichterte in seinem Bart, sie blendete die geschlossenen Augen und erfüllte sie mit heißem roten Licht, und als der „Chef" die buschigen Wimpern aufschlug, da funkelten die Beeren wie rote Blutstropfen.
Der Alte schwankte und trat einen Schritt zurück. Woher kam das Blut? Weshalb war hier Blut, hier in diesem stillen von Licht und Leben erfüllten Garten? Ja — er hatte viel Blut gesehen in seinem Leben, rotes Menschenblut. In Strömen war es geflossen in den Straßen der alten Stadt in den Tagen, da der Lärm der Fabrik geschwiegen hatte und die Menschen schreiend die Gassen entlang gestürmt waren, um ihre Rücken vor den Schlägen der Knuten in Sicherheit zu bringen. In Strömen war es geflossen an jenem Tage, an dem Wolodja Pylajew an der Telegrafenstange hing — an dem Tage schrie die Pylajewa hinter diesem Zaun, im Hause Wolodjas, mit einer Stimme, dass einem die Haare zu Berge standen. Und zum letzten Male hatte Menschenblut den Alten aus den rotbraunen Flecken auf den Seiten des Notizbuchs seines Sohnes angeschaut...
Wollte es den Alten heute wieder quälen?
Drüben hinter dem alten Zaun, im Gemüsegarten der Pylajews, lachte Olga. Ihr klingendes Gelächter schlug in stürmischen Wellen an den morschen Bretterzaun, flatterte über ihn weg und drang in den Garten des Alten.
„Ach, Großmutter! Ach — ich lach mich ja krank! Das ist doch keine Mohrrübe, sondern ein Rettich! Ha—ha—ha!"
Durch die Ritzen des Bretterzauns schimmerte Olgas rotes Kopftuch.
„Olga!" rief der Alte, „komm mal her. Schau, die Johannisbeeren sind reif, und niemand will sie essen."
Olga kletterte flink auf den alten Zaun, so dass die Bretter krachten.
„Guten Tag, Kusmitsch! Ich hab' Johannisbeeren gern... schrecklich gern!"
Sie sprang in die Wermutbüschel hinab, fiel über den zunächst stehenden Johannisbeerstrauch her und riss lachend die vollen Trauben ab.
Zärtlich lächelnd betrachtete der „Chef" Olga, die sich mit kindlicher Hast den Mund voll Johannisbeeren stopfte...
„So ist sie, die Jugend..." sinnierte der „Chef". „Sonne, Johannisbeeren, Menschenblut, Lachen, Leben... Vielleicht sind in diesem fröhlichen Mädchen hier ein paar Tropfen von jenem geronnenen Blut wieder lebendig geworden, von dem das Notizbuch meines Sohnes Viktor durchtränkt war? Vielleicht ist es meines Viktors Blut, das durch die frischen Lippen dieses Mädchens schimmert, das den ganzen Garten mit Frohsinn und Lachen erfüllt? So ist es, das Leben, laut und sorglos bricht es in den Garten ein, fällt über die Johannisbeersträucher her, lacht und spritzt rosenroten Saft herum... "
„Olga! Lass doch wenigstens dem Ingenieur ein paar übrig", lachte der Alte und blinzelte mit den vom Alter verblichenen Augen.
„Ach, was kommt er nicht zur Zeit! Geschieht ihm ganz recht so! Warum läuft er den Zierpuppen nach!" ruft Olga lachend und ihr rotes Kopftuch verschwindet noch tiefer unter den Johannisbeersträuchern.
„Er ist ein stiller, zahmer Bursche, mein Ingenieur, Olga. Für Mädels hat er keine Zeit."
„Das kennt man schon, Kusmitsch. Keine Zeit! Hinter der Akatujewschen läuft er her."
„Hinter der Akatujewschen? Ist das vielleicht dem Pal Jaklytsch seine Tochter?"
„Ja, ja... die Wera!"
Der Strauch raschelte wie unter einem starken Windstoß.
„So, so... Sieh mal einer an, der Senja!... Und du, Olga, dir gibt's einen Stich durchs Herz, was?"
„Mir?... Ich pfeife drauf. Was geht mich dein Ingenieur an!"
„Wer lässt hier seine Demagogie gegen die Spezialisten spielen? Wo ist der Spezialistenfresser?"
Platow stand plötzlich unter dem Apfelbaum; in den Johannisbeerbüschen war alles still.
„Such' ihn mal, Senja, such' ihn mal!" ermunterte ihn der Alte.
Platow war mit einem Sprung bei dem Strauch, aber einer Eidechse gleich war Olga weggehuscht. Er lief ihr nach. Olga war im nächsten Augenblick am Zaun und hatte schon den Fuß gehoben, um hochzuklettern, als sie plötzlich ihren Körper von festen Händen umklammert fühlte, die sie unter den Schatten des Apfelbaums trugen. Sie sträubte und wand sich unter dem festen Griff; aber die starken Hände umklammerten sie immer fester.
„Ich erge—e—be mich!" schrie sie und lag im nächsten Augenblick im hohen Gras. Über ihr stand, schwer atmend, Platow.
„So, so, Senja. Gib's ihr ordentlich. Sie hat dir die ganzen Johannisbeeren weggefressen und immerzu auf dich geschimpft. Mit der Akatujewschen läufst du herum, sagt sie, und sie hast du ganz vergessen... ", lächelte der „Chef".
„Aber das hab' ich ja gar nicht gesagt, Großvater!" fuhr Olga auf.
„Das hat sie also schon erzählt", dachte Platow, „also ist's ihr jedenfalls nicht einerlei, mit wem ich meine Zeit verbringe... " Er setzte sich neben sie und blickte ihr in das verlegene Gesicht. Olga band schnell ihr Kopftuch ab, und die üppigen blonden Haare fielen ihr ins Gesicht und verdeckten die Augen. Das eng anliegende, gestreifte Sportleibchen ließ deutlich die Umrisse ihrer hohen Brust erkennen, und Platow spürte die Elastizität dieses jungen Körpers. Er warf sich in das hohe Gras und sog den bitteren Wermutgeruch ein. Ein leichter Schwindel überfiel ihn.
Der Alte aber schaute auf ihn und Olga nieder, auf den leeren Johannisbeerstrauch, auf das rote Kopftuch, das sich in den Zweigen des Apfelbaums verfangen hatte, und zwirbelte lächelnd den Bart.
„Warum lachst du, Alter?" fragte Platow. „Darum, mein Täubchen, weil ich vielleicht das Glück gesehen habe."
„Hast du es wirklich mal gesehen, das Glück?" Der „Chef" presste die trockenen, runzligen Lippen zusammen und zupfte an seinem Bart herum.
„Ich hab's gesehen, mein Täubchen, mehr als einmal gesehen... "
„Das muss aber interessant sein, Großvater! Erzähl uns mal etwas davon! Wirklich — wie sieht es eigentlich aus, das Menschenglück ? Platow, vielleicht ist es auch nur so ein bürgerliches Vorurteil? Darf eine Komosomolka und Leiterin der Kinderbewegung in der Fabrik ,Krassny Proletari' auch von Glück träumen?"
„Jawohl", lachte Platow, „ich erlaube es... Und ich schließe mich Ihnen an, Olga... Nun los, Alter, erzähl' mal."
Olga kroch zu dem Johannisbeerstrauch, und langsam die letzten Beeren abreißend, barg sie ihr verwirrtes Gesicht in dem duftenden Schatten.
Der Alte rückte näher an den Apfelbaum, in den Schatten, hüstelte und begann:
„Geboren wurde ich, meine Kinder, nicht hier, sondern in Djengubowka, etwa sechzig Werst (Anm.: 1 Werst = 1,067 km) von hier. Das war Anno vierundsechzig. Nun rechnet euch mal aus, wie lange das her ist... Unser Dorf versank förmlich im Sumpf. Manchmal gab es keine Rettung vor den Stechmücken. Rund um das Dorf lagen dichte Wälder. Kein Gedanke an einen Acker— nicht einmal die Handvoll, die man um einen Baumstumpf herum aussät, ging auf. Der Herr aber verlangte das, was ihm zustand. Aber woher sollten wir es nehmen? Wir waren damals Leibeigene, wir gehörten dem Gutsbesitzer Suchojarow. Ein launischer Herr, das! Er zwang uns, im Wald Kanäle zu graben. Ihr tut sowieso nichts, hat er gesagt, ich habe nur wenig Ackerboden, grabt Kanäle! Und so mussten wir graben. Mitunter haben wir den ganzen Tag gegraben — die Beine waren uns so schwer, dass wir uns kaum mehr nach Hause schleppen konnten. Davon hat unser Dorf auch seinen Namen erhalten — Djengubowka — das bedeutet, wie ihr wisst, zugrunde gerichtete Tage. Denn wir richteten unsere Tage zugrunde, so quälten wir uns ab. Ich grub gar manchen Tag und dachte dabei: wann wird das einmal ein Ende haben? Soll ich nie in meinem Leben das Glück sehen?.
Wie dachte ich mir das Glück, auf das ich wartete? Erstens einmal wollte ich diese verfluchte Sklavenarbeit, das Kanalgraben, von mir werfen. Dann eine eigene Wirtschaft gründen, eine Kuh anschaffen, und so weiter. Jung war ich damals, so wie die Olga, kräftig und gesund. Ach, dachte ich, wenn ich so ein Stück Land unter die Finger kriegte! Ich wollte es kneten, dass es gar nicht anders könnte als mir eine fette Ernte liefern!
Und dann kam der Tag, wo uns das Manifest befreite. Da sammelten wir vor lauter Freude alle Spaten und alle Karren, legten sie auf einen Haufen zusammen und verbrannten sie.
Ganz trunken vor Freude waren wir! Das Glück war zu uns Tölpeln gekommen, aber wir Tölpel wussten es nicht zu fassen.
Nach und nach kamen wir dann zu uns. Wir fingen an, die Baumstümpfe im Walde auszubuddeln und dann Ackerland zu roden... Jetzt — dachten wir — jagen wir den ganzen Wald zum Teufel — überall soll Korn wachsen! Erdhütten gruben wir uns da auf dem Neuland. Tag und Nacht arbeiteten wir.
Das Korn wuchs — s—o—o hoch!" Der „Chef" hob die
Hand über seinen Kopf.
„Dann kam der Herbst Wir brauten Bier und liefen dann herum, trunken, und brüllten im Chor:
,Sie ist gekommen, die Freiheit..."
Aber als wir am Morgen erwachten, da standen sie da und wollten Geld von uns holen. ,Für das Land, das ihr bekommen habt, — hieß es — müsst ihr Geld bezahlen.' Wir bezahlten. Vor Kummer betranken wir uns wieder, tranken und wälzten uns herum. Und Korn war nicht da... Da ging's denn hierhin und dorthin, und schließlich zum gnädigen Herrn, zu Suchojarow, zu Vinzent Tarassytsch.
,Ihr geht mich jetzt nichts mehr an', antwortete der ,ihr seid jetzt... frei!'
Und so lebten wir denn — jahraus, jahrein. Die kleinen Kinder starben weg wie die Fliegen, vor Hunger. Bast schälten wir im Walde, flochten Bastschuhe, und wenn uns die Aufseher im Walde dabei ertappten, dann zogen sie uns die Kittel aus und schlugen uns ohne Erbarmen.
Zu jener Zeit hatte man mir eine Frau angetraut. Da fuhr ich denn mit meiner Katja aufs Feld, pflügen. Die Stute aber, die will weder vorwärts noch rückwärts, bleibt mit dem Pflug an einem Baumstumpf hängen, und der Pflug geht in tausend Stücke... Da wurde ich eines schönen Tages fuchsteufelswild und schlug mit dem Stock auf die Stute ein. Katja jammert und schreit, ich aber schlage die Stute mit dem Stock aufs Maul, und dabei heule ich selbst...
Mein Glück ist zerbrochen, denke ich. Und fast schien es mir leichter, die Suchojarowschen Kanäle zu graben.
Und dann kamen die Kinder. Das wird geboren und stirbt. Und wieder ein anderes — wird geboren und stirbt... Bei der schweren Arbeit nicht ausgetragen, kamen sie vorzeitig zur Welt. Mager und dürr wurde meine Katja. Wo ist mein Glück geblieben? dachte ich.
Und da kam plötzlich ein Gerücht auf: eine Eisenbahn sollte gebaut werden, hieß es, und die Fabrik da. Scharenweise gingen die Menschen hin, ich mit ihnen. Erst machten wir Erdarbeiten, dann wurden Arbeiter angenommen für die Fabrik. Maschinen kamen an. Rauch, Donnern und Krachen... Hier, wo wir jetzt sitzen, war damals dichter Nadelwald; die alten Föhren im Stadtpark sind noch von jener Zeit übrig geblieben.
Als ich die erste Maschine erblickte, da bekam ich's mit der Furcht zu tun. Das fauchte und rumorte, als wollte es einen akkurat verschlingen. Zu Hause bleibt dir sowieso nichts anderes übrig, als zu verhungern, dachte ich — und so ging ich auf die Fabrik. Man stellte mich in die Eisengießerei. Eine Hitze! Zum Ersticken! So steht du zwölf Stunden da und schwitzst, und für die Nacht geht's dann in die Baracke. Da schlägt man erschöpft auf den Fußboden nieder, alle Glieder wie gelähmt. Manchmal musste uns der Vorarbeiter morgens mit kaltem Wasser begießen, damit wir überhaupt wach wurden.
Aber so ohne Frau ging das nicht, das Leben in der Fabrik. Am Feiertag wurden die letzten Kopeken versoffen. Da ließ ich Katja kommen. Und dann bauten wir unser Haus. Nun, dachte ich, wird endlich bald das richtige Leben beginnen. Fünf Jahre lang bauten wir an dem Haus. Auch Katja arbeitete in der Fabrik. Manchmal kamen wir beide erst spät abends nach Hause und saßen einander dann schweigend gegenüber, kein Wort konnten wir hervorbringen.
Die vier Wände standen, einen Ofen setzten wir, und dann lebten wir fünf Jahre lang ohne Dach.
Aber es war doch wenigstens ein eigenes Heim. Den Birnbaum hier, den habe ich damals gepflanzt..."
Liebevoll strich der Alte über die raue Rinde des Birnbaums, in der eine tiefe schwarze Höhle gähnte. Olga lag langausgestreckt auf dem Rücken und blickte versonnen zum Himmel auf, an dem langsam lichte Abendwolken dahinzogen, von der untergehenden Sonne vergoldet. Der alte Birnbaum streckte seine knorrigen Äste zum Abendhimmel auf.
„... Ja, so war das Leben... Ich hasste diese rußige Fabrik, aber nach und nach gewöhnte ich mich an sie. Ein starker, geschickter Bursche war ich. Ein einziges Mal hab' ich mir glühendes Eisen über die Füße gegossen — es verbrannte den Stiefel und beschädigte den Knochen, aber sonst ist mir niemals etwas passiert. Andere aus meinem Dorf hielten es nicht aus, sie liefen fort. Aber ich — wohin sollte ich auch?
Allmählich verdiente ich besser; das Leben schien leichter. Ich hatte aufgehört, mich vor der Maschine zu fürchten. Mit einem Wort: ich war Arbeiter geworden. Ich formte Lokomotivräder. So meine sechs, manchmal auch sieben Groschen verdiente ich am Tag. Das Haus bekam ein Dach, Katja wurde ausstaffiert.
Damals meinte ich, dass mir das Leben nun endlich seine gute Seite zeigte. Viktor wurde geboren, und vor Freude betrank ich mich drei Tage hintereinander. Vierzig Jahre alt war ich damals gerade. Wenn doch dieser eine wenigstens feste Wurzeln fassen würde, dachte ich, dass er mir eine Stütze im Alter würde..." Der Alte stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Ein Jahr später kam Mitja zur Welt. Kinder, wie aus hartem Stahl gegossen, schwarz und stark, ganz wie die Mutter. Und Katja war schöner geworden, sie trug wie ein Städterin Röcke mit Volants. Endlich war das Glück auch zu mir Tölpel gekommen! Da habe ich die beiden Äpfelbäume hier gepflanzt — weiße Sorte und Antonowäpfel.
Das Werk hatte sich damals schon bis an den Fluss hin ausgedehnt; Das Kesselhaus war gebaut, ebenso die Nägelfabrik und das Walzwerk... Alles vor meinen Augen. Mindestens achttausend Arbeiter waren schon in der Fabrik beschäftigt. Die Stadt reichte bis an den Wald heran. Aus den Dörfern kamen Arbeiter, sie fürchteten sich vor den Maschinen, aber ich lachte sie aus. Ich arbeitete schon in der Dreherei, war zur Maschine übergegangen, und die Maschine gehorchte mir wie ein Hund. Dafür gewann ich die Maschine lieb, für ihren klugen Gehorsam: Ich bring' den Drehstahl an, und die Späne fliegen schon herunter. Ich aber steh' daneben und gucke zu. Das ist keine Stute mit einem Hakenpflug!
Ja — aber bald war es wieder vorbei mit meinem Glück... Neben mir arbeitete da ein Dreher, ein spindeldürrer Kerl, Panjuschkin hieß er. Er war schwach und ungeschickt, und mit den Maschinen kam er einfach nicht zurecht. Einmal hatte er einen Lokomotivkolben völlig verdorben. Einen teuren Teil, das Malheur war groß! Der Meister kam gerannt und gab ihm eine wuchtige Ohrfeige! Wie er stand, der Panjuschkin, so schlug er auf den, Support hin. Eine Sekunde, und die Maschine hatte ihn gepackt und schwang ihn herum. Ich sprang hinzu, hielt die Maschine an und zog Panjuschkin heraus. Er war besinnungslos. Der Meister aber, er hieß Kraft, ein Deutscher — der steht dabei und grinst über das ganze Gesicht. Da konnte ich nicht an mich halten... Ich hatte einen schweren Schraubenschlüssel in der Hand, mit dem schlug ich zu — da kippte er nur so um und war weg... Das war ein Tumult! Sie brachten mich ins Gefängnis. Aber die ganze Werkstatt war auf meiner Seite. Sie ließen die Arbeit stehen und liegen und stürmten ins Kontor. ,Lasst Kusmitsch frei, dann werden wir wieder arbeiten!' Der Dreherei schloss sich die Martinabteilung an, der Martinabteilung das Kesselhaus — die ganze Fabrik. Alles war in Aufruhr. Die Fabrikleitung rief Polizei herbei, aber unsere Jungens haben sie mit Steinwürfen empfangen. Alle Fenster im Kontor mussten dran glauben. Kraft wurde auf einer Karre aus der Fabrik hinausgefahren und in den Kanal geworfen. Mich holten sie aus dem Gefängnis und trugen mich auf den Händen davon... Schließlich kam Kavallerie aus der Gouvernementshauptstadt, und nun ging's los! Gegen Abend brannte es beim Hinterausgang. Dann ging's in der Dreherei los. In schwarzen Säulen stieg der Rauch zum Himmel. Das war ein Tumult, Kinder! Nicht zu beschreiben! Der Sand im Hof war schwarz von Blut. Einen ganzen Waggon voll Verhafteten hatten sie schließlich, kuppelten unsere neue Lokomotive davor, und fort ging's, unbekannt wohin. Mich haben sie hier im Garten gefasst, unter diesem Johannisbeerstrauch da... Mindestens drei Pfund Blut habe ich dagelassen. Sie schlugen mich mit Knuten, die Bleikugeln an den Enden surrten nur so... "
Zitternd stand Olga auf und trat an den Johannisbeerstrauch. Im Gras unten funkelte eine blutrote Beere, und Olga wich erschrocken zurück.
Still und blass setzte sie sich wieder unter den Apfelbaum. Sie hatte das Gefühl, als seien ihre Hände, an denen der Saft der Johannisbeeren klebte, voll Blut. Sie befeuchtete ihr Taschentuch und rieb nervös an den trockenen, klebrigen Flecken. Sie musste an die Straße mit der Telegrafenstange denken, an die langsam vorwärts schreitende schweigende Menge, an das unterdrückte Rattern des ungeduldigen Lastautos, das ganz unter den unheimlichen Blumen, die den Sarg bedeckten, verschwand, in jenen fernen Tagen...
Der „Chef" hockte schweigend im Gras, den weißen Kopf auf die Brust gesenkt.
Dunkellila Schatten schmiegten sich an die Bäume und den Rasen — der Abend kam. Irgendwo in weiter Ferne pfiff eine Lokomotive. Eine Harmonika klang auf und verstummte wieder. Die Grillen im Garten zirpten stärker.
„Nun, gut. Ich will euch noch von meinem letzten Glück erzählen, meine Lieben.
Ich saß meine Zeit ab. Als ich nach Hause kam, waren die Kinder schon aufgewachsen — wie junge Eichen. Nach und nach vernarbten die Wunden im Herzen. Es schien wieder alles wie früher. Bloß Katja magerte ab und hustete. Die Kinder nahm ich zu mir in die Dreherei. Sie waren nun selbst Arbeiter geworden. Nun, dachte ich, nun fängt das Leben an, Kusmitsch!
Viktor konnte gut auf der Harmonika spielen. In der ganzen Fabrik gab es keinen zweiten solchen Harmonikaspieler... Wenn er so loslegte: ,Der Vollmond glänzt', da hüpften die Beine ganz von selber. Dabei war ich damals schon sechzig Jahre alt. Wir tranken einen Schluck, und dann machten die Beine die wunderbarsten Kunststücke. Ach, auch im Alter ist das Glück so schön!
Und da auf einmal — der Krieg! Witja und Mitka wurden sofort eingezogen... Zum letzten Mal hörte ich die Harmonika auf dem Bahnhof. Katja starb bald darauf.
Und ein halbes Jahr später, da bekam ich eine Karte vom Roten Kreuz... Ich wollte einen Schluck trinken, zum Andenken an Witja und Mitka, wie es so üblich ist, und goss mir ein Glas voll ein — aber austrinken konnte ich es nicht, es wollte nicht hinunter, verdammt!
Da ging ich in die Dreherei... wollte meine Maschine, die verfluchte, in tausend Stücke zerschlagen!... Ich stand und sah sie an... Und drehte mich um und ging wieder weg. Ich konnte die Hand nicht heben... Und nun bin ich fünfundachtzig Jahre alt, Kinder .. "
Alles im Garten versank in dichtem, dunkelbraunem Nebel. Wie ein nächtliches Dach verflochten sich die Zweige über den Köpfen der Menschen. Nur die knorrigen Äste des absterbenden Birnbaums hoben sich wie schwarze Finger vom bleichen Himmel ab.
Platow lag da, ohne sich zu rühren — das Schicksal dieses fünfundachtzigjährigen Menschenlebens, das angefüllt war von Kummer und Blut, lastete wie ein Alp auf ihm.
Großväterchen, so hast du das wahre Glück eigentlich gar nicht gesehen?" fragte Olga mit zitternder Stimme.
„Vielleicht werde ich's noch sehen... Nur eine Sache hätte ich noch in Ordnung zu bringen... Ja, und einen Menschen möchte ich noch sehen, mit ihm sprechen..."
Er holte ein abgegriffenes Büchlein aus der Tasche hervor und strich mit der Hand darüber:
„Das ist Witjas Notizbuch. Ein Deutscher hat's mir geschickt, im Jahre achtzehn. Ein guter Mensch sicherlich. Dem hat der alte Vater leid getan. Karl heißt er. Du kannst ja deutsch, Senja... Nun, guck' mal her, was hat er hier unten hingeschrieben, dieser Karl?"
Platow strengte die Augen an, um in der Dunkelheit die Worte zu entziffern:
„'Auf Wiedersehen, Großvater', steht hier geschrieben."
„Was kann das heißen, Senja?"
Und Platow übersetzte ihm die Worte.
„Afidersehen... ! Das ist's also, Kinder, Afidersehen..."
Der Alte stand auf und schlurfte durch das trockene, raschelnde Gras dem Hause zu. Er murmelte unaufhörlich etwas vor sich hin, als fürchte er, das teure Wort aus dem Gedächtnis zu verlieren.
4
Eine lärmende, aufgeregte Menge füllte das kleine Stationsgebäude und drängte lachend und gestikulierend auf den Bahnsteig. Die außer Rand und Band geratenen Pioniere eilten geschäftig hin und her. Die Sonne funkelte in den Trompeten der Kapelle, die ihre Instrumente stimmte. Die Bahnhofsglocke läutete zweimal.
„Jetzt ist der Zug von der vorigen Station abgefahren."
Heftig stoßend und schreiend, drängte die Menge nach dem Stationsgebäude und gab die Schienen frei. Sascha Mochow sprang den hohen Bahndamm herab und kam angerannt.
„Hierher, Zeitlin! Hierher, fass an!'
Im Laufen entfaltete Zeitlin das rote, samtene Fahnentuch. Die Sonnenstrahlen glitten über die Goldbuchstaben, die vergoldete Kugel an der Fahnenspitze flammte glutrot auf — Sascha trug eine zweite, funkelnde Sonne über seinem Haupt.
„Sascha, Sascha! Hierher! Zu mir!" schrie Olga so laut, dass dem neben ihr stehenden Wartanjan die Ohren wehtaten. „Genosse Wartanjan, du stell' dich hierher, so. Ich in der Mitte, Sascha links. So — das ist die Kolonne der drei Generationen", kommandierte Olga.
Wartanjan spielte mit den silbernen Enden seines kaukasischen Gürtels und lachte:
„Zu Befehl, Genossin Kommandeur!" Mühsam drängte sich der „Chef" durch die Menge nach vorn. Als er Platow bemerkte, packte er ihn am Ärmel:
„Senja, komm mal einen Augenblick her." Man merkte dem Alten an, dass ihn irgend etwas erregte. „Sag' mir noch einmal das Wort von gestern. Wie ich heute morgen aufgewacht bin, konnt' mich nicht mehr darauf besinnen... Af Sidoren — oder wie war's?"
Platow half seinem Gedächtnis nach. Das schwere Wort vor sich hinmurmelnd, bahnte sich der Alte einen Weg nach der Stelle, wo die Fahne flatterte, und stellte sich still zur Seite.
Wartanjan überlegte sich noch einmal seine Begrüßungsrede, aber das Lärmen der Menge und der heiße Atem Olgas, der ihn streifte, verwirrten seine Gedanken. Er sah sich um und bemerkte den Alten, der seine Brille auf der Nase zurechtrückte, wobei seine trockenen, blutlosen Lippen unaufhörlich etwas vor sich hinflüsterten.
„Wieder murmelt dieser komische Alte irgend etwas", lächelte Wartanjan.
„Du bist selbst komisch, Wartanjan", gab Olga zurück. Dieser Alte ist mehr wert als alle drei anderen Generationen zusammen). Kusmitsch! Komm hierher. So! Jetzt sind alle Generationen vertreten!"
Gehorsam stellte sich der Alte neben Wartanjan. „Guckt mal, Kinder, guckt mal! Der ,Chef'!" „Seht mal, sogar 'ne Brille hat er mitgebracht!"
„Der muss doch überall dabei sein, der Großvater." An der Gleisbiegung erschien der Zug. Trompetenstöße durchschmetterten die Luft, und die Klänge der „Internationale" mischten sich in das Heulen der Lokomotive.
„Zeig' mir den Deutschen." Der Alte tippte Wartanjan mit dem Finger an den Arm.
Den hellgelben, breitfenstrigen Waggons entstiegen Engländer, Deutsche, Amerikaner, Chinesen, Neger und waren im Nu von den dichten Haufen der Arbeiter umgeben. Von allen Seiten wurden ihnen Hände entgegengestreckt, nach allen Seiten hin tauschten sie Händedrücke. Fremde Sprachen ertönten, irgendeiner schrie „Hurra!" — und von Tausenden aufgegriffen, wälzte sich der Ruf über die Köpfe der Menge. Von allen Seiten wurden die ausländischen Gäste und die zur Begrüßung delegierten Vertreter der Betriebsorganisationen umdrängt. Mit Mühe und Not hielt Sascha Mochow in dem Tumult die Fahne hoch. All die feierlichen Begrüßungen, die man vorbereitet hatte, erwiesen sich als überflüssig, an ihre Stelle traten Freudenrufe, Lachen, Händeschütteln. Ein krausköpfiger Neger mit funkelnden Augen ergriff Sascha bei der Hand, hob ihn hoch empor und versetzte ihm einen schallenden Kuss. Sascha schien es, als berühre eine schwarze, brennende Sonne sein Gesicht, und vor lauter Verwirrung vergaß er zu rufen. „Allzeit bereit!" Wartanjan sagte zur Begrüßung der Gäste nur ein paar Worte, die in dem allgemeinen Lärm untergingen.
„Welcher von ihnen ist der Deutsche? Zeig' mir den Deutschen", flüsterte ihm der Alte unaufhörlich ins Ohr.
Schließlich nahm ihn Wartanjan bei der Hand und führte ihn zu einem blauäugigen Deutschen, der einen gestreiften Pullover anhatte. Der Alte wischte sich die Hand an seinem Kittel ab, rückte die Brille zurecht und streckte dem blonden lachenden Deutschen seine zitternde Hand entgegen:
„Auf Wiedersehen, mein Teurer", flüsterte der „Chef" dabei und nahm die Mütze ab. Funkelnder Sonnenschein fiel auf das weiße Haar des Alten; der Deutsche verneigte sich ehrerbietig und schüttelte dem Alten die Hand.
Niemand in der Menge, außer Platow und Olga, wusste, warum der „Chef" den deutschen Arbeiter so unverwandt anstarrte und warum seine Hände so stark zitterten. Ununterbrochen sah er diesen heiteren, blonden Menschen an, und tiefe Dankbarkeit sprach aus seinen alten, glanzlosen Augen.
Und als sich alle nach der Fabrik begaben, ging der „Chef" unentwegt hinter dem Deutschen her, ängstlich bemüht, den buntgestreiften Pullover nicht aus den Augen zu verlieren.
Mit trüber Miene blickte Andrjuschetschkin auf die staubigen, verblassten Plakate an den Wänden, sog die mit Tabakrauch getränkte Luft ein und dachte nach. Die „Rote Ecke" war leer, die Versammlung der Roten-Hilfe-Zelle hatte wieder nicht stattgefunden. Auf den Tischen lagen Zeitungen, Zeitschriften und zusammengeknülltes Frühstückspapier herum. Auf dem Schachbrett stand eine einzige Figur, ein Turm, er zog, so einsam im Feld, die Aufmerksamkeit Andrjuschetschkins auf sich — er selbst stand auch so allein im Winkel... Er ging auf den Fabrikhof.
Quer über den Fabrikhof war ein rotes Transparent gespannt:
„GRUSS AN DIE DELEGIERTEN DES KOMINTERN-KONGRESSES!"
Er klatschte sich mit der Hand auf die Oberschenkel und rannte schnell zum Raikom.
„Na, so was! Die einfachste Sache von der Welt hab' ich da vergessen!" Er riss die Tür zum Zimmer Wartanjans auf und blieb wie festgeschmiedet stehen.
Im Zimmer, um Wartanjan herum, saßen unbekannte, fremdartig gekleidete Menschen. Worte in fremden Sprachen erklangen, das Zimmer war von feinem Zigarettengeruch erfüllt. Andrjuschetschkin trat näher und betrachtete aufmerksam die Gesichter. Sie waren ruhig und scheinbar ermüdet. Wartanjan erzählte lebhaft vom Werk, vom Leben der Arbeiter, von der im Bau befindlichen neuen Fabrik, und dabei drehte er, wie stets, den Bleistift nervös zwischen den Fingern.
Andrjuschetschkin fiel besonders das Aussehen eines der Ausländer auf: er war außerordentlich mager, und trotz der Hitze hüllte er sich fröstelnd und hüstelnd in einen warmen Mantel. In seinem wachsbleichen Gesicht brannten grünlich schimmernde Augen. Dünne, flachsblonde Haare standen wirr um den Kopf.
Andrjuschetschkin konnte den Blick nicht von ihm lassen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Scharf und aufmerksam richtete sich der Blick der grünen Augen auf ihn. Andrjuschetschkin fühlte es und lächelte, denn er wusste nicht, wie er die Aufmerksamkeit des ausländischen Genossen anders beantworten sollte. Daraufhin huschte auch über das Gesicht des Gastes ein Lächeln, das sich in den Winkeln der trockenen Lippen niederließ.
„Na, Andrjuschetschkin, du willst Bekanntschaft schließen?" lachte Wartanjan. „Nun also, bitte: das ist einer unserer Arbeiter, Mitglied des Raikom, Sekretär der Zelle, Andrjuschetschkin. Ein guter Bursche, bloß ein bisschen ein Quengler..."
„Guten Tag, Genosse! Na, wie gefällt dir unsere Fabrik?"
„Eine schöne Fabrik, sehr schöne Fabrik!"
Die Ausländer sprachen hauptsächlich deutsch und englisch, hin und wieder radebrechte der eine oder andere ein paar Worte russisch.
„Guter Fabrik, bahnbrechend! Sowjet-Lokomotive — gutes Lokomotiv!"
„Noch nicht alles ist bei uns so, wie es sein sollte, Genossen", seufzte Wartanjan.
Der magere Pole trat an Andrjuschetschkin heran, versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter und sagte mit leiser, heiserer Stimme:
„Guten Tag. Ich heiße Losinski."
„Warum wickelst du dich bei der Hitze so fest in deinen Mantel? Bist du nicht gesund?"
„Nicht gesund, Genosse. Ich komm' aus dem Gefängnis, aus Pabjanice, hast du von dem gehört?"
Andrjuschetschkin, der sich freute, dass er unerwartet einen der Gäste russisch sprechen hörte, rief laut: „Das ist schön." Alle lachten.
„Ich meine nicht, dass er im Gefängnis war, ist schön, sondern dass ihr hierher zu uns gekommen seid, ist schön", erklärte Andrjuschetschkin. „Hör' mal, Genosse, halte mal einen Vortrag bei mir in der Rote-Hilfe-Zelle. Damit ich meine Mitglieder ein bisschen aufrüttle."
„Rote Hilfe? Die hat uns wirklich geholfen! Danke, Genosse!" Die grünen Augen des Ausländers schimmerten feucht. „Ach, wir haben ja bisher noch viel zu wenig getan, Genosse, eine direkte Schande! Vielleicht lässt du wirklich einen kleinen Vortrag vom Stapel, wie?"
Losinski gab seine Zustimmung.
Andrjuschetschkin brachte es fertig, noch vor der Pause die Abteilungen davon zu verständigen, dass ein polnischer Kommunist in der Rote-Hilfe-Versammlung einen Vortrag halten würde.
Die „Rote Ecke" war bald überfüllt. Andrjuschetschkin triumphierte und brachte überall an den Wänden Plakate an. „Genossen! Der Genosse Losinski wird uns sogleich berichten, wie unsere Genossen in den polnischen Gefängnissen schmachten. Er kommt soeben aus dem Zuchthaus. Genosse Losinski, du hast das Wort."
Die leise, heisere Stimme Losinskis drang nicht bis zu den hintersten Bänken. Die Arbeiter riefen: „Lauter!"
„Nichts zu hören!" Losinski erklärte, dass er nicht lauter sprechen könne. Seitdem man ihm kaltes Wasser mit Petroleum vermischt in den Mund gegossen habe, sei seine Kehle krank und schmerze. Alle wurden ganz still.
„Das machen die ganz einfach: der Betreffende wird an Händen und Füßen gefesselt. Dann öffnet man ihm gewaltsam den Mund und gießt Wasser hinein, einen Liter nach dem andern. Wasser ohne Ende. Der Kopf schlägt hin und her, scheint zu platzen. Der ganze Körper ist voller Wasser. Man möchte mit dem Finger ein Loch in den Leib stoßen und das Wasser hinauslassen, aber die Finger sind geschwollen vom Wasser, sie gehorchen nicht. Man beißt sich in die Hand, durchnagt die Haut, um das verfluchte Wasser hinaus zu lassen. Aber es kommt kein Wasser heraus, sondern Blut spritzt. Da verliert man das Bewusstsein. Und dann wieder Wasser — ein Liter nach dem andern, und wieder sehen deine Augen, wie der Leib anschwillt, als wolle er platzen. Diese Folter wenden die Henker am liebsten an — sie hinterlässt keine äußerlich sichtbaren Spuren... "
Wassja Trussow spuckte aus und fluchte. Losinski hielt ermüdet inne, und wieder war alles still. Die Arme auf den Tisch gestützt, saß Andrjuschetschkin blass und finster da. Er betrachtete die Gesichter der Arbeiter vor sich und sah, wie die müden Augen zu funkeln begannen.
Titytsch zerzauste wild seinen dünnen grauen Bart mit den ungewaschenen Fingern und schien ganz rasend. Trussow runzelte nervös die Stirn und zündete ein Streichholz nach dem andern an. Losinski zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die feuchte Stirn ab. Aller Blicke ruhten auf ihm. Titytsch vermeinte zu sehen, wie sich Hunderte von Armen von den Wänden her ihm entgegenstreckten, ihm Hunderte roter Fetzen aus vergitterten Fenstern zuwinkten. Er schloss die Augen, und die ganze Welt schien ihm ein einziges, riesiges, blutbesudeltes Gefängnis. Titytsch erhob sich aufgeregt, er wollte irgend etwas rufen, setzte sich aber wieder hin.
„Schließlich traten wir in den Hungerstreik. Das war unsere letzte Waffe in diesem ungleichen Kampf mit dem Klassenfeind. Wir hungerten dreißig Tage lang."
Dreißig Tage?!"
„Dreißig Tage gehungert!"
Hörst du?"
„Dreißig Tage! Wie hält einer das aus? Wenn man hier einmal nicht zu Mittag isst, da knurrt der Magen schon..." Die Ungläubigkeit Wassja Trussows weckte für einen Moment auch in den andern Zweifel, aber dann blickten sie auf den furchtbar mageren Losinski und schämten sich.
„Ich sage: dies ist die letzte Waffe, etwas anderes blieb uns nicht mehr übrig. Ihr, die ihr hier in der Sowjetunion lebt, könnt den Sinn unseres Hungerstreiks vielleicht nicht verstehen — ihr habt das nicht nötig. Aber in unserem Kampf mit dem Klassenfeind erzielen wir mit dieser Methode Erfolg. Nur aus diesem Grunde seht ihr mich hier vor euch... Wir haben gesiegt!"
Losinski setzte sich schwer atmend hin, er hustete und spuckte den Schleim in ein Fläschchen, das er bei sich trug. Dann fuhr er sitzend fort:
„Sie haben uns nicht gebrochen mit ihren Foltern, mit ihren Drohungen. Gefesselt lagen wir in einer steinernen Gruft, aus unseren Wunden strömte Blut. Und da schickte man uns eines Tages von draußen eine eurer Zeitungen. Wir stürzten uns auf sie, wir schlugen uns buchstäblich darum, wer sie zuerst lesen durfte. Denn, Genossen, vergesst das nicht: in unserem ungleichen Kampf hält uns nur der feste Glaube an den Sowjetaufbau aufrecht. Nachrichten von euren Erfolgen, die wir mit unseren Augen nicht sehen konnten, füllten unsere Adern mit frischem Blut, unsere Seelen mit neuer Kraft, rüsteten uns für den weiteren Kampf gegen den Klassenfeind. Und da lesen wir... in einigen großen Fabriken ist nicht alles in Ordnung... Rückstand... Planbruch... Das lesen wir! Und durch die drei Meter dicken Mauern unserer Kerker hindurch möchten wir euch zurufen, damit ihr es alle hört: Genossen! Ist das wahr?"
Losinskis Stimme war schrill geworden. Nach einer Weile fuhr er weich fort: „Und wenn das wahr ist, so wisset: der Feind freut sich über jeden Fehler bei euch. Jeder eurer Fehler schadet unserer gemeinsamen Sache, der Sache der Weltrevolution!"
Losinski sprudelte diese Worte hervor, als würden sie ihm die Kehle verbrennen, und plötzlich rief er, mit Aufgebot seiner letzten Kräfte:
„Genossen! Macht gute Lokomotiven! Macht sie für die zukünftigen Tage, wenn ihr 2u uns kommen werdet!"
Und als ob sie ein Versprechen leistete, rief die Menge wie aus einem Munde zurück:
„Wir werden kommen! Wir werden kommen!" Die Fensterscheiben klirrten unter dem Schrei. Titytsch schüttelte seine schwarzen Fäuste und brüllte: „Hier meine alten Fäuste! Dafür sind sie noch lange gut!" Trussow erschütterte die Luft mit seinem Bass: „Wir werden die Bourgeoisie zermalmen!" Andrjuschetschkin sah, wie helle Tropfen die eingefallenen Wangen Losinskis herabrollten.
„Ich habe eine Frage: wenn, sagen wir mal, einer von
unseren Genossen gekämpft und gekämpft hat, und sein Recht
doch nicht errungen hat... Kann er dann einen Hungerstreik
beginnen?" fragte jemand mit hastiger, aufgeregter Stimme.
Losinski lächelte:
„Warum soll er hungern, wo er doch der Herr im Lande ist? Da muss er die Kraft haben, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Sonst würde ich ihn einen Feigling, einen Deserteur seiner Klasse nennen, der der Sowjetunion Schande macht." „Na also, das habe ich ihm auch gesagt! Eine Schraube soll ihm aus dem Munde wachsen!" „Wem?" „Was sagt er?" „Was faselt der Esel da?" Aufgeregt erhoben sich die Arbeiter von ihren Plätzen.
Aber der Fragesteller war schon längst zur Tür und durch das hintere Fabriktor hinausgerannt.
Spät abends ging Andrjuschetschkin nach Hause. Als er die Treppe emporstieg, war er mit dem vergangenen Tage sehr zufrieden. Nach der Unterhaltung mit Losinski hatte er lange und leidenschaftlich für die Teilnahme an der Arbeit der Roten Hilfe gesprochen, hatte die Annahme einer Resolution über die Abführung eines Tagelohns an die Rote Hilfe zur Unterstützung der politischen Gefangenen in den kapitalistischen Ländern durchgesetzt, hatte Broschüren verkauft und zahlreiche neue Abonnenten für die Zeitschrift der Roten Hilfe geworben. Die Füße wurden ihm immer schwerer, je höher er die Treppe hinaufstieg, aber sein Herz schlug ruhig und froh.
Er riss die Tür weit auf:
„Da bin ich!"
Aus dem Zimmer strömte ihm die bekannte Atmosphäre entgegen, die Ruhe und Erholung verhieß. Im Rahmen des geöffneten Fensters schwankten die schlanken Zweige der Pappel, vom Licht der Bogenlampe auf der Straße hell beleuchtet.
Alles war an der gewohnten Stelle, aber Marussja war nicht zu Hause.
„Jedenfalls ist sie bei der Nachbarin... Die Wohnung ist ja nicht abgeschlossen. Also muss sie irgendwo in der Nähe sein..."
Er trat an den Tisch, um einen Schluck Wasser zu trinken, da bemerkte er einen kleinen Zettel, der neben der Karaffe lag.
„Grischa! Ich kann nicht länger mit Dir leben. Den ganzen Tag bin ich allein. Du bist entweder auf (der Arbeit oder auf Deinen Sitzungen und Versammlungen. Was ist das für ein Leben? Du denkst, Du kannst mich mit Büchern trösten, aber ich bin eine junge Frau. Ich gehe fort von Dir. Zu wem ich gehe, wirst Du erfahren. Versuche nicht, mich zurückzurufen.
Marussja."
Andrjuschetschkin saß unbeweglich da. Seine Augen hafteten an dem kurzen Satz, der so unerträglich schwer klang: „Ich gehe fort von Dir."
Als sein Blick in den Spiegel fiel, sah er ein graues, verstörtes Gesicht, und er musste an die Rote Ecke denken, an die Stille dort und an die einsame Figur auf dem Schachbrett.
Traurig und leer schien ihm alles. Er trat an die Wand, nahm die Fotografie seiner Frau und tat sie hinter den Spiegel.
Seine teeren Augen glitten über die Wände, als suchten sie irgend etwas Vergessenes. Dann trat er ans offene Fenster und setzte sich müde auf das Fensterbrett. Die Blätter der Pappel murmelten leise. In der Ferne schrie ununterbrochen und unruhig eine Lokomotive.
Die Sonne kroch an dem blassen Horizont hoch, und die stahlblaue Wolkenbank zerrann. Die Luft erhitzte sich, drückte auf die Brust und hinderte am Atmen. Die Metallhaufen hauchten unablässig ihre Glut. In zitternden Wellen lag die heiße Luft über der Erde. Zufrieden klirrte der Stahl, und die Werkstätten antworteten ihm mit lautem Donnern und Krachen.
Müde nahm Nossow die Mütze ab und wischte sich mit dem Handrücken den klebrigen Schweiß ab, der an den Schläfen entlanglief. Das Hemd klebte ihm nass auf dem Rücken und weckte ein unangenehmes Gefühl — es erinnerte ihn an seine Krankheit, erinnerte ihn daran, dass er unbedingt Urlaub haben und eine Heilanstalt aufsuchen musste, und dass dies ganz unmöglich war.
„Ja — das hat der Antonytsch gesagt. Aber wenn er es auch nicht gesagt hätte, es wäre doch unmöglich, auf Urlaub zu gehen, unmöglich und undenkbar..." Hasserfüllt betrachtete Nossow das kleine Stück Stahl in seiner Faust. Das lässt ihn nicht fort. Das kann er niemandem überlassen. Das herrscht über Nossows Leben, hat völlig von ihm Besitz ergriffen, erfüllt seine Seele mit dumpfer Unruhe. Nossow blickte sich um. Da kam der „Chef" und musterte ihn unruhig. Nossow gab sich den Anschein, als rauche er sich eine Zigarette an.
Immer war es so...
Tage, Monate, Jahre gingen dahin. Und dieses verfluchte kleine Stück Stahl, das beherrschte Nossows Leben. Ja, er hatte sich ihm damals ausgeliefert, um seinen alten Traum schneller verwirklicht zu sehen, um endlich das Haus mit den grünen Fensterläden zu bekommen. Dieses blank geschliffene Stück Stahl hatte ihm, wie der Zauberstab im Kindermärchen, die grünen Fensterläden, hatte ihm sein Haus gebracht. Nun hatte die Sonne die grünen Fensterläden schon ausgebleicht, aber die roten hektischen Flecke auf den Wangen Nossows hatte die Sonne nicht weggejagt, und mit jedem Tag ging Nossows Atem schwerer. Der Zauberstab hatte ihm das Haus mit einem Blechdach gedeckt, hatte saubere Gardinen vor seine Fenster gehängt, einen weichen Läufer auf den Fußboden gebreitet. Die langersehnte Ruhe war da. Aber um sich herum fühlte Nossow eine drückende Stille. Trinken konnte er nicht, seine Krankheit verbot es. Um die Beklemmung seines Herzens zu verjagen, hatte er ein Grammophon gekauft. Aber die blecherne Stimme beschwerte das Herz noch mehr.
Unruhe und Verzweiflung lasteten auf seiner Seele. Tränen würgten ihn in der Kehle, aber die Augen blieben trocken.
Nossow dachte daran, wie Andrjuschetschkin damals im Zirkel angefangen hatte, von den Grammophonen zu sprechen, die mit ihrer blechernen Stimme das Donnern der Epoche übertönen, und wie beklommen er sich bei diesem Gespräch gefühlt hatte, wie die Angst in ihm aufgestiegen war, dass alles entdeckt würde...
„Der Teufel soll ihn holen!" fluchte er vor sich hin und spuckte dicken gelben, von roten Fäden durchzogenen Schleim aus. Dann begann er, mit automatischen Bewegungen den Stempel aufzuprägen.
„Und hier ist die Prüfstelle für die Einzelteile... Jeder Teil der Lokomotive wird sorgfältig untersucht und kontrolliert, ehe er weitergegeben wird ... "
„Kontrolleur?"
Eine unbekannte Stimme weckte Nossow aus seinem Sinnen. Eine kleine Gruppe — Turtschaninow, Platow, der „Chef" und ein unbekannter Mensch in einem bunten Pullover — näherten sich.
„Kontrolleur? Guten Tag, Genosse!"
Vor Nossow stand ein blonder Mensch und streckte ihm freundlich lächelnd die Hand entgegen. Verwirrt schlug Nossow mit seiner feuchten Handfläche ein.
„Das ist ein deutscher Delegierter vom Kominternkongress, der Genosse Kampf. Er interessiert sich für unsere Arbeit..." sagte Turtschaninow.
Lächelnd schüttelte Kampf Nossows Hand. „Schwere Arbeit, Genosse, was? Ich bin auch Metallarbeiter, Kontrolleur. Genosse, ein guter Kontrolleur sein bedeutet, gute Sowjetlokomotiven liefern."
Turtschaninow machte den Dolmetscher: „Genosse Kampf sagt, Nossow, dass Sie ihre Arbeit so gut wie nur möglich verrichten mögen, damit die Sowjetlokomotive die beste Lokomotive der Welt wird. Er sieht stolz auf die Arbeiter der Sowjetunion. Er ist freudig erstaunt und erregt über das, was er hier bei uns gesehen hat. Er begrüßt die Sowjetlokomotive, die Lokomotive der Revolution!" schloss Benjamin Pawlowitsch feierlich seine Übersetzung und setzte den unruhigen Kneifer auf seiner Nase fest.
Die feuchte Faust um den heißen Stahl gepresst, sah Nossow verlegen den deutschen Delegierten an; und als dieser längst weitergegangen war, stand Nossow immer nach da wie eine gelbe, verkümmerte Erle, die ein früher Frost gebeugt hat, und sah ihm nach.
Er spürte immer noch den Druck der warmen Hand des fremden Genossen, immer noch sah er die blauen Augen und den bunten Pullover vor sich. Dann verschwand alles, und nur die Augen blieben übrig, die Augen, die Nossow offen und prüfend anblickten...
Nossow stieß einen schweren Seufzer aus und hustete. Erschöpft ließ er sich auf einen Stahlklumpen fallen und saß lange unbeweglich da, fröstelnd vor innerem Schauer.
Die großen strahlenden Augen des ausländischen Genossen hatten ihn vertrauensvoll angelächelt. Dieses Lächeln war schrecklich, war unerträglich, und in grenzenlosem Kummer bedeckte Nossow sein Gesicht mit beiden Händen.
Er stand auf und ging schwankend dem hinteren Ausgangstor zu. Er sah nicht, dass ein Zug der Werkbahn gerade auf ihn zukam, hörte nicht die warnenden Signale und das wütende Schimpfen des Lokomotivführers:
„Was läufst du mir gerade unter die Lokomotive, du Idiot
du!"
Die Puffer des im letzten Augenblick zum Stehen gebrachten Zuges prallten krachend aufeinander, aber Nossow sah und hörte nichts von alledem, er ging mechanisch weiter, über die Metallstücke stolpernd, die überall umherlagen. Auf einmal fühlte er auch hier noch die blauen Augen, als wären sie ihm dicht auf den Fersen. Da begann er zu laufen.
Zu Hause empfingen ihn die Kinder mit freudigem Lärm: „Papa! Pap! Wir haben einen Neger gesehen! Er hat Saschka Mochow einen Bleistift geschenkt. Wie schwa—a—arz der ist! Wie Pech!"
Die Frau, überzeugt von der Pünktlichkeit Nossows, klatschte verwundert in die Hände:
„Ach! Unsere Uhr muss wohl falsch gehen!" Wie im Traum ging Nossow an ihnen vorüber in das sauber aufgeräumte, kühle Wohnzimmer, nahm den nickelglänzenden Grammophontrichter und schlug ihn klirrend gegen die Wand: dann packte er das Grammophon und schleuderte es wütend auf die Erde. Außer sich vor Wut zerstampfte er die grüne Scheibe mit den Füßen, zerbrach die Membrane und schlug, begleitet von dem lauten Geschrei der Kinder und dem Weinen der Frau, den vernickelten Trichter wie toll auf den Fußboden, gegen die Wand, um das eigene verhasste, furchtbare Abbild zu zerstören, das ihn aus dem glänzenden Nickel anstarrte.
5
Langsam drehte sich die Lokomotivachse auf der Drehbank und bot dem Drehstahl ihre braune, vom Schmieden ungleichmäßige Fläche dar. Die dampfende, schräg geschliffene Schneidefläche des Drehstahls bohrte sich in den harten Stahl, und langsam rieselten die kurzen Späne herab. Mochow sah nachdenklich zu, wie sich das unansehnliche Metall in eine glänzende Lokomotivachse verwandelte.
Das Surren der Maschinen, das unaufhörliche Klingen des Stahls lasteten schwer auf Mochow und drückten ihn auf seine Maschine nieder; zusammengekrümmt stand er da und stützte sich mit den Händen auf das kühle, ölige Gestell. Er hätte sich gern umgeblickt, aber er fürchtete, auf den bekannten Gesichtern ein spöttisches Lächeln zu sehen, darum unterdrückte er diesen Wunsch. Er sah in die Höhe, senkte aber sofort wieder den Blick, denn gerade über seinem Kopf hing schweigend der Kran, und aus der Kabine schaute Olga gerade auf ihn hinunter. Nervös wischte Mochow die Stahlspäne von der Maschine. „Na, was gafft die mich denn so an... Auch eine Obrigkeit! ,Du darfst nicht schlagen!' Erst hab' mal selber ein Kind, dann kannst du befehlen. Noch nicht trocken hinter den Ohren... " Wütend stieß er die Stahlspäne mit dem Fuß beiseite.
In den letzten Tagen hatte sich wirklich alles gegen Mochow gewandt... als stände irgendein Tier mit gefletschten Zähnen vor ihm und verfolge jede seiner Bewegungen — aus den blitzenden Maschinen starrte es ihn an, aus dem Donnern und Krachen des Stahls brummte es ihm zornig entgegen. Es verfolgte ihn bis in sein Haus, dort barg es sich in irgendeiner Ecke und lastete auf seiner Seele mit unheimlichem Schweigen. Seine Frau schwieg. Sascha schwieg, die Augen zu Boden gesenkt.
Und das alles hatte Saschka verschuldet! Erst hatte er ihn vor den Freunden blamiert, er hat keinen Wodka gebracht; Mochow bekam ihn erst spät in der Nacht und musste noch dazu den Spekulanten den dreifachen Preis zahlen. Wenn Sascha der Mutter gehorcht und den Wodka rechtzeitig gebracht hätte, wäre Mochow sicherlich am anderen Morgen nicht zu spät zur Arbeit gekommen...
Sascha hatte dann diese nächtliche Geschichte mit den Fackeln und dem Glockengeläut organisiert, und alle hatten sehen können, wie sein Vater auf allen vieren ins Haus gekrochen war. Sascha hatte sich dann noch erlaubt, sich dort am Fabriktor über den alten Vater lustig zu machen. „Ist dir ganz recht geschehen so, misch' dich nicht in Sachen, die dich nichts angehen! Das nächste Mal mach' ich's ebenso!"
Aber da fühlte er wieder den strengen Blick Olgas auf sich. Gestern hatte sie Mochow eine gelbe Vorladung gebracht.
„Du musst dich vor Gericht verantworten, Mochow... Es ist jetzt nicht mehr erlaubt, Kinder zu schlagen... "
Wütend hatte Mochow die Vorladung zerknüllt und in den Werkzeugkasten geworfen. Jetzt brauchte er notwendig den Schraubenschlüssel, aber er konnte auf keinen Fall an den Kasten gehen, da lag ja dieses verhasste Stück Papier drin.
Er, Mochow, Vorarbeiter in der Dreherei, sollte vor Gericht stehen! Was war denn das für eine verdrehte Welt heute? Er sollte nicht das Recht haben, über seinen Jungen zu verfügen, sollte nicht mehr das Recht besitzen, den Menschen frei in die Augen zu schauen ?... Er fühlte sich tief gekränkt.
Unter keinen Umständen würde er vor Gericht erscheinen. Er hatte niemanden ermordet, sich niemals fremden Besitz angeeignet. Er hatte seine Arbeit stets pünktlich geleistet... Immer mehr redete er sich ein, dass er im Recht sei, aber irgendwo in der Tiefe seiner Seele, da saß ein unruhiges Gefühl.
Und geben denn vielleicht alle diese Dreher, Bohrer und Fräser um ihn herum, die ihn jetzt mit höhnischen Blicken mustern, ihren Jungens nicht etwa hin und wieder mal eine Ohrfeige? Sicherlich! Und vielleicht sogar öfter als er. Was wollen sie also von ihm allein? Ist er vielleicht schlechter als andere? Und die Hauptsache: was geht das die Fabrik an und Olga und irgendeinen Zeitlin? Das war ganz allein seine Familienangelegenheit.
Mochow trat an den Werkzeugkasten, warf die gelbe Vorladung zum Fenster hinaus und nahm dann ruhig den Schraubenschlüssel zur Hand.
„Genosse Mochow? Einen Augenblick." Der kleine Zeitlin stand vor ihm.
„Hören Sie, Genosse Mochow, — ich komme im Auftrag der Pionierabteilung und des Komsomol. Übermorgen kommt Ihre Sache vor Gericht 2ur Verhandlung..." Zeitlin hielt verlegen inne.
„Von mir können keine Sachen zur Verhandlung kommen. Ich habe hier zu arbeiten, ich habe keine Zeit, mich mit solchem Unsinn zu befassen!" Mit einem kräftigen Hieb schlug er den zerbrochenen Drehstahl heraus.
„Seien Sie nicht böse, Genosse Mochow, aber dafür müssen Sie Zeit haben. Sie haben Sascha geschlagen, als er seine Pionierpflicht im Interesse der Allgemeinheit erfüllte. Das ist keine Kleinigkeit..." Zeitlin versuchte, streng die Stirn zu runzeln. Mit den Zähnen knirschend, drehte Mochow den Schraubenschlüssel herum.
„Ich bin in guter Absicht zu Ihnen gekommen... Wir wollen Sie doch nicht öffentlich blamieren, vielleicht kann man's anders machen... Na, sagen wir mal, wenn sie z. B. zu uns in die Pionierabteilung kommen und sich entschuldigen würden. Dann würden wir die Sache beim Gericht zurückziehen Mochow riss verwundert die Augen auf: „Was?! Ich mich entschuldigen vor euch Lausbuben? Ich habe fünfundzwanzig Jahre lang keine Buße getan und habe auch nicht die Absicht, es heute zu tun."
„Wählen Sie selbst, Genosse Mochow. Uns kann's ja egal sein. Bloß eins bedenken Sie: vor Gericht wird die Sache unangenehmer. Da wird die Schande größer sein. Morgen komme ich wieder zu Ihnen heran. Entscheiden Sie sich bis dahin." Simka Zeitlin ging, und jetzt erst fühlte Mochow, wie sich sein Herz in heißer Erbitterung zusammenkrampfte. Mit einem scharfen Griff zog er den Riemen auf die äußerste Linke, die kleinste Scheibe, und dröhnend drehte sich die Welle mit großer Geschwindigkeit, blitzend jagte die blanke Radfelge weiter. Krachend erbebte die Drehbank und streute nach allen Seiten heiße Stahlspäne.
„Du wirst die Maschine hin machen", rief der pockennarbige Koschkin, der neben Mochow an der Maschine Saizews arbeitete.
„Ich weiß selbst, was ich zu tun habe. Bleibt mir mit euren Ratschlägen vom Leibe!" schrie Mochow wütend zurück und betrachtete zufrieden die schnell rieselnden heißen Stahlspäne.
Erst gegen Abend legte sich seine Wut. Sein Herz schlug wieder ruhig. Langsam drehte sich die Achse, als sei sie von dem tollen Lauf ermüdet. Ruhig und sicher bearbeitete der Drehstahl die raue Oberfläche des Gussstücks, bis der glänzende Stahl zum Vorschein kam. Auf einmal sah Mochow, dass immer häufiger Risse und Lunker an der Oberfläche des Stahls zutage traten — feine Äderchen, und Unebenheiten, wie die Pockennarben auf dem Gesicht Koschkins. Fast hatte der Drehstahl die Achse schon weit genug abgedreht, aber die Narben auf der Achse wurden immer häufiger. Mochow wurde unruhig, er hielt die Maschine an und rief den Meister.
„Sieh mal, Bulawkin, was das hier für eine Achse wird, eine Schraube soll ihr aus dem Mund wachsen!"
Der Meister schüttelte den Kopf.
„Ein schweinischer Guss ist das jetzt. Na, sie werden die Risse eben verschweißen, es wird schon gehen... Simon Petrowitsch ist sowieso schon ganz ungeduldig: immer nur schnell, schnell... das Programm wird nicht erfüllt..."
Mochow blickte auf die ihm so gut bekannte Warze auf der Wange des Meisters und dachte bei sich: „Auch Menschen werden ja schließlich als Ausschuß geboren" ... Und da er den Meister seit langen Jahren kannte, in- und auswendig wie sich selber, verzieh er ihm die hässliche Warze und beruhigte sich.
„Richtig — 's wird schon gehen... Die müssen's ja besser wissen... "
Er maß den Durchmesser des Achsschenkels, schob den Support vor und schaltete die Maschine ein. In feiner, dünner Spirale rieselten die Späne herab.
Wieder brachte der Drehstahl, der sich in das Metall hineinfraß, Lunker und kleine, unheilkündende Risse zum Vorschein. Und je mehr Narben und Blasen erschienen, um so größer wurde die Unruhe Mochows; aber er führte diese Unruhe auf die Ereignisse vom Morgen zurück.
„Wenn ich nach Hause komme, werde ich ihm erst mal ordentlich eine runterhauen, damit er begreift, was es heißt, den Vater belehren zu wollen! Steck deine Nase nicht in Betriebsangelegenheiten. Ich werde dir schon zeigen... Vorladung... Gericht..." brummte Mochow auf dem Nachhauseweg vor sich hin.
Jeder hatte nach Mochows Meinung seinen Platz auf der Rangliste des Lebens. Und darauf gründet sich die Festigkeit und die Ordnung im Leben: auf der obersten Sprosse steht der Sekretär des Raikom, ein wenig tiefer der Direktor und die Ingenieure, unter ihnen stehen die Meister, noch weiter unten die Arbeiter wie er, Mochow selbst, und ganz unten, unter Mochow, kam dann seine Familie: Frau und Kinder...
Und nun sah er auf einmal, dass die Ordnung durcheinander geraten war: der Esel, der Saizew, will auf die Sprosse hinauf, die für die Ingenieure bestimmt ist; Saschka und Zeitlin, diese Nichtsnutze, wollen sogar auf die alleroberste Stufe hinauf, und er, Mochow, steht auf einmal tiefer wie sie alle, irgendwo ganz unten, und hat nichts, worauf er sich stützen kann... Das ganze Leben schien durcheinander geschüttelt, Ordnung und Festigkeit waren verschwunden.
„Ich werde ihnen ihr ,Gericht' schon zeigen. Bereuen soll ich! Sieh mal einer an, was sich da für ein neuer Pope gefunden hat!" Mochow konnte sich absolut nicht beruhigen.
Er ging an seinem Haus vorüber und lenkte seine Schritte nach Saizews Haus — er musste einmal nachschauen, wie es dem ging...
Vor dem Hause saß Nastja und musterte mit trüben Augen die von der Fabrik Kommenden.
„Na, wie geht's Mitja?"
Nastja machte schweigend eine matte Geste mit der Hand. Mochow trat ins Zimmer. Schwere Stille umfing ihn.
„Mitja, was machst du denn bloß — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!"
Vom Kissen her funkelten in starrer Unbeweglichkeit zwei schwarze Punkte.
„Wie geht's, Mitja?"
Die schwarzen Punkte huschten unruhig umher, dann waren sie wieder starr und unbeweglich. Das gelbe Gesicht Saizews war furchtbar abgezehrt. Mochow stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Das geht aber nicht weiter so, Mitja."
Und flüsternd kam die heisere Antwort:
„Ich muss, Mochow... "
„Was musst du, Mitja? Was soll das heißen?"
Müde schloss Saizew die Augen.
„Ich muss so... handeln... muss mir mein Recht erkämpfen."
Wild sprang Mochow in die Höhe.
„Also du... du machst das absichtlich? Aus Rache?!"
Er stand auf und fuchtelte erregt mit den Armen herum. „Bist du verrückt! Oder willst du Selbstmord begehen?"
„Ich will leben, Mochow, vielleicht ist dieser Wille in mir stärker als in dir. Aber man hat es mir gestohlen... das Leben... meine Zeichnungen... Ich habe doch stets nur an die Fabrik gedacht... Ich wollte, dass es besser würde... Und mich... mich... dieses Schwein... " Von einem Krampf geschüttelt, brach Saizew ab.
Mochow sprang auf, setzte sich wieder hin, dann setzte er die Mütze auf, nahm sie wieder ab und wischte sich den Schweiß fort, der ihm in dicken Tropfen auf die Stirn trat. Er sah plötzlich die schwache, elende Gestalt Losinskis vor sich, die eine ,so unerklärliche Macht ausströmte.
„Ich hasse alles... alle... "
„Aber das geht doch nicht so, das ist doch ganz unmöglich! Du musst ihm ein paar runterhauen dafür, Mitja! Eins in die verfluchte Fratze schlagen, Mitja!"
Saizew hob verwundert den Kopf aus den Kissen. Dieser Gedanke war ihm bisher noch gar nicht gekommen. Ging denn das? Er hielt sich für geschlagen in ungleichem Kampf, die Fabrik hatte sich von ihm abgewandt, und auch er wandte sich nun in schweigendem Kummer ab von diesen Schloten, den riesigen Werkstätten, vom Donnern und Krachen des Metalls. Er konnte absolut nicht verstehen, warum der Alte so aufgeregt war. Mochow aber schüttelte die geballten Fäuste, und seine grünen Augen funkelten zornig:
„Mitja! Du schadest dir ja selbst! Du schadest der Fabrik!
Du bist wie der Riss in einer Achse. Was stellst du bloß an?
Eine Schraube soll dir aus dem Mund... Das darfst du nicht! Da—a—arfst du nicht!" rief der Alte und stampfte dabei heftig mit den Füßen auf.
Nastja kam hereingelaufen. „Was brüllst du denn einen Kranken so an?" „Nastenka, bring Milch. Hast du warme? Gut, gieß sie in einen Becher!"
Saizew atmete schwer und stoßweise.
Mochow hob ihm den Kopf und führte den Becher mit Milch an seinen Mund. Die aufeinandergepressten Zähne waren dunkel angelaufen.
„Trink, Mitja! Eine Schraube soll dir... "
Vorsichtig leckte die dunkle Zunge die weißen Tropfen, dann endlich öffnete Saizew den Mund weit und begann gierig, die warme Milch zu schlucken.
Große Milchtropfen hingen in dem schwarzen Bart. Aus 282
den geschlossenen Augen rollten Tränen über die eingefallenen Wangen und vermischten sich mit den Milchtropfen.
Der erschöpfte Organismus verlangte gierig nach Nahrung, aber die Kehle widersetzte sich — ein Krampf presste sie zusammen, die Milch staute sich im Munde und kam in großem Bogen wieder zurück, troff auf das Bett, auf die zitternden Hände Mochows.
„Wie ein kleines Kind! Trink, Mitja, trink... Wie kann man denn nur so etwas machen? Du großer, alter Dummkopf du! Du bist ja dümmer wie mein Bengel, der Sascha."
Nastja, glücklich über den Erfolg, den Mochow gehabt hatte, klapperte laut mit Tellern, Schüsseln, Messern und Gabeln; sie bereitete ihrem Mann seine Leibspeise. Und dieses Messerklingen und Tellerklirren verschmolz zu einem einzigen Geräusch, über dem der Duft gebratener Zwiebeln schwebte. Der geschwächte Körper sog mit einem wohligen Gefühl diese wohlbekannten Klänge und Gerüche ein — er hatte wieder das Gefühl des Lebens, das er mit äußerster Willensanstrengung so lange unterdrückt hatte.
Saizew versuchte sich etwas aufzurichten und verfolgte mit gierigen Augen, was vor dem Fenster auf der Eisenbahnstrecke geschah. Mit Reparaturen beschäftigte Arbeiter schoben langsam eine mit Eisenbahnschwellen beladene Lore vor sich her, die rote Signalscheibe schwelte wie eine müde Sonne. Auf dem Reservegleis funkelte eine neue Lokomotive mit ihren blank lackierten Seiten: wie ein Feuerreif umzog sie der Kupfergürtel, der ihren Rumpf zusammenhielt; weiß schimmerte die Holzbekleidung an den sorgfältig eingehüllten Kurbeln; der Glanz der sauber geputzten Fensterscheiben blendete die Augen. Saizew fühlte sich von dieser Lokomotive mächtig angezogen — er hätte hingehen mögen, um die zum Lauf fertigen Räder mit den Händen zu betasten. Von der Fabrik klang unaufhörlicher Lärm herüber: die Sirenen der Lokomotiven heulten, die Kräne pfiffen, der Stahl donnerte und krachte. Und Saizew sah die Fabrik vor sich, die Arbeiter, Maschinen, seine Abteilung...
Und er hat zwanzig Tage so dagelegen und seinen Körper gepeinigt, zum Hungern gepresst, er war fast umgekommen in dieser fürchterlichen Einsamkeit... Wie ein schwarzer Abgrund gähnten ihn diese zwanzig Tage an. Saizew zitterte und zog die Decke hoch. Freudig und munter trat Nastja ein, eine dampfende Bratpfanne in den Händen.
„Iß, Mitja! Werde gesund, mein Teurer!" Hastig spießte Saizew ein Stück Fleisch auf die Gabel und führte es so gierig an den Mund, dass er sich die Lippen verbrannte. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und in die Fabrik gelaufen. Größte Ungeduld sprach aus allen seinen Bewegungen, ganz ergriffen fühlte er sich von dieser völlig neuen Entdeckung, die er soeben gemacht hatte: der Lärm, das Metall, der Rauch aus den hohen Essen der Martinöfen und die schweigsame Lokomotive — alles das bestand unabhängig von ihm weiter und wird auch morgen ebenso bestehen — das Leben machte nicht eine Sekunde halt.
Mit Schrecken erkannte Saizew seinen Irrtum, und in einem Anfall ohnmächtiger Wut über seinen kraftlosen, welken Körper warf er die Gabel zur Erde und verbiss sich mit den Zähnen in das Kopfkissen.
Ja, alles existierte weiter, genau so wie früher, alles lebte weiter, auch Kraiski... Nur er lag hier in dem heißen, verschwitzten Bett und wartete — worauf?
Er musste aufstehen. Er wird aufstehen und etwas unternehmen, damit Kraiski unschädlich gemacht wird...
Mit zitternden Händen zog Saizew sitzend die Hosen, die Jacke an, dann stand er auf — aber alles um ihm herum drehte sich wild wie ein Karussell, und langsam sank er wieder auf das Bett zurück. Er fiel sofort in tiefen Schlaf, der erschöpfte Organismus forderte, berauscht von der Nahrung, die ihm zugeführt worden war, seine Rechte.
Die ganze Nacht hindurch schlief er ruhig und tief, und als er am Morgen aufwachte, fühlte er seinen Körper von Kraft durchdrungen und von dem Wunsche zu leben.
Er erwachte sehr früh — die Sonne hatte soeben erst die Saatkrähen geweckt, die in lärmenden Schwärmen auf das Feld flogen, um sich Futter zu suchen. Saizew sprang aus dem Bett, betrachtete es voller Widerwillen und zog sich rasch an. Dann trat er auf die Straße. Er kletterte den sandigen Bahndamm hinauf und stand neben einer Lokomotive. Zwischen den Schienen hüpften einsame Krähen und pickten die Haferkörner auf, die verstreut herumlagen.
Saizew strich mit der Hand über den schwarzen Körper der Lokomotive, mit tiefem Genuss sog er den bekannten Geruch von Metall und frischer Farbe ein... Er beugte sich nieder, betastete die Lager und die Triebachse, betrachtete die Zeichen und Zahlen, die auf den Rädern eingeprägt waren, aber er fand die gewohnten Merkmale nicht: diese Achse hatten fremde Hände abgedreht.
„Fein, unsere Maschine, was?"
Saizew schüttelte die Verwirrung ab und bemerkte im Fenster des Führerhauses ein rundes, zufrieden lächelndes Gesicht.
„Ich fahre die Lokomotive abliefern. Ach, wieviel solcher Maschinen habe ich in meinem Leben schon abgeliefert."
Und zum ersten Mal fühlte Saizew, dass er hier kein Recht hatte, sich mitzufreuen, dass er nicht sagen konnte: „Unsere Maschine"... Von brennender Scham ergriffen, trat er schweigend zurück und entfernte sich nach der Station zu, dann bog er um eine Ecke und lenkte seine Schritte nach dem „Roten Weg", der zu beiden Seiten von hübschen Häusern eingefasst war.
Und als er die breiten Spiegelfenster sah, mit den zarten Spitzengardinen dahinter, da schlug sein Herz dumpf und heftig, vor den Augen drehten sich gelbe und grüne Kreise, und durch die Beine rann ein kaltes Zittern...
Fauchend fuhr ein Auto vorüber. Die fröhlichen Gesichter Wartanjans und Olgas huschten vorbei.
„Dort das kleine Haus. Mit dem Bretterzaun davor..." rief Olga dem Chauffeur zu, und schnaubend hielt das Auto vor der bezeichneten Haustür.
Olga sprang aus dem Auto und lief ins Haus.
Wartanjan folgte ihr, mit Vergnügen beobachtete er das Spiel der Muskeln an ihren nackten Waden.
In der Haustür erschien Nastja.
„Was wollen Sie?" Mit wenig freundlichen Blicken musterte sie Wartanjan und Olga.
„Wir wollen zu Saizew... Wir müssen ihn dringend sprechen", erwiderte Olga sanft.
„Er ist krank, was gibt's da mit ihm zu sprechen!" sagte Nastja grob. „Weshalb stören Sie einen kranken Menschen so in aller Frühe? Als er gesund war, da hat keiner den Weg hergefunden!" Aus ihrer Stimme sprach tiefste Erbitterung.
„Wir haben sehr wenig Zeit, Genossin, und die Sache ist sehr wichtig", mischte sich Wartanjan jetzt in das Gespräch. „Wir wollen ihn auch nur für eine Minute sprechen."
Hasserfüllt blickte Nastja auf das glänzende Auto, das zitternd und ratternd dastand.
„Sind Sie Ingenieur?"
„Nein, wir sind vom Parteikomitee... Bitte, sagen sie Saizew, dass wir ihn sprechen müssen."
„Warten Sie hier einen Augenblick. Und stellen Sie gefälligst Ihren verfluchten Motor da ab. Das rattert und donnert sowieso hier den ganzen Tag... Ein kranker Mensch muss Ruhe haben, und nun faucht das Auto da auch noch!" Wütend schlug Nastja die Tür hinter sich zu.
Sie schaute in das Zimmer ihres Mannes, und als sie das leere Bett sah, rief sie auf den Hof hinunter:
„Mitja, wo steckst du denn?"
Aufgeregt fuchtelte sie mit den Armen herum und ging in den Gemüsegarten um zu sehen, ob ihr Mann vielleicht dort wäre.
Wartanjan und Olga gingen ungeduldig neben dem Auto auf und ab.
„Ich kann mir absolut nicht denken, wohin er gegangen sein kann. Vielleicht zum Nachbar, zu Mochow?" Nastja klopfte bei Mochow, aber auch dort war Saizew nicht.
Enttäuscht blickte Wartanjan Olga an.
„Vielleicht warten wir noch ein wenig?" schlug Olga vor.
„Nein, wozu sollen wir warten. Vielleicht will er ganz einfach nicht mit uns sprechen... Außerdem müssen wir auch aufs Plenum des Okruschkom. Wir kommen sowieso schon zu spät. Also los! Dem Teleshkin wird es aber übel ergehen!"
6
Das Auto raste dem Bahnübergang zu. Der Schlagbaum war niedergelassen, ein Zug mit neuen Wagen fuhr vorüber, in der Mitte die neue Lokomotive, die mit ihren umwickelten Kurbeln winkte.
„Unsere Lokomotive!" sagte Olga stolz.
Wartanjan betrachtete die lange Reihe der dunkelroten Wagen und biss sich auf die Lippen. Er war unzufrieden mit sich selbst. Er hätte sich schon früher mit der Angelegenheit Saizews befassen müssen... Teleshkin hatte seinen Auftrag nicht ausgeführt, er aber hatte zu spät nach dem Rechten gesehen. Diese Unterlassung konnte sich Wartanjan nicht verzeihen; er war den anderen gegenüber streng, sich selbst gegenüber aber noch strenger.
„Für diese Lokomotive werden wir noch was zu hören kriegen, Olga", sagte er nachdenklich, „und mit Recht!"
Das Auto sprang über die unebene Chaussee, fuhr vorsichtig um die großen Wasserpfützen herum, eilte vorwärts, um dann wieder zögernd vor einer tiefen Wasserrinne zu bremsen.
„Olga, du bist entzückt von dieser Lokomotive, du freust dich über ihre Schönheit und Macht. Mit Recht natürlich. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was für eine schwere Last sich jedes Mal auf mich wälzt, wenn ich eine fertige Lokomotive vor mir sehe! Die Last der Verantwortung, die Last der Unruhe! Sie bedrückt mich, diese Unruhe, Tag für Tag, Nacht für Nacht... Heute bin ich um vier Uhr morgens zu Bett gegangen. Und so geht's fast täglich."
„Um vier Uhr morgens? Also haben Sie überhaupt nicht geschlafen? Aber das hält man doch nicht lange aus!" rief Olga und blickte mitleidig in das müde Gesicht Wartanjans.
„Das weiß ich, Olga, dass man das nicht lange aushält. Aber es ist nicht zu ändern. Wir sind im Angriff, Olga, und bei einem Angriff bringt man die Ruhe dem künftigen Sieg zum Opfer. Und erkämpft man einen Sieg vielleicht billig? Ohne Tote und Verwundete? Das Los unserer Generation ist Arbeit, Schlaflosigkeit und Unruhe. Siehst du, ich kann's nicht ermöglichen, ein paar Tage zu meinem kleinen Laso zu fahren. Jeden Tag will ich ihm einen Brief schreiben, und niemals bringe ich ihn zu Ende. Keine Zeit!"
„Aber so geht man ja zugrunde, Wartanjan! Der Mensch ist doch keine Maschine. Haben Sie wirklich an der Arbeit keine Freude, keinen Genuss? Sie sind immer so finster und verschlossen. Ihre struppigen Augenbrauen sind immer zornig zusammengezogen. Kann man denn so leben?"
„Ja — alle sagen, ich sei grob, finster und hart. Aber das sagen die, die ich für ihre schlampige Arbeit rügen muss. Denen gegenüber kenne ich freilich keine Nachsicht, und sie hassen mich ganz einfach... Aber ich bin nicht immer so. Ich kann auch lachen. Allerdings kommt das nicht oft vor. Freude und Genuss sind mir keineswegs fremd. Aber ich kann dir diese Gefühle jetzt nicht erklären, Olga. Sie sind sehr kompliziert. Und sonderbar — sie kommen über mich in den Momenten höchster Anspannung meiner Kräfte, stärkster Ermüdung. Mitunter bin ich, wenn die Nacht da ist, vollkommen erschöpft vor Müdigkeit, aber der Schlaf flieht mich. Dann sitz' ich stundenlang allein, denke nach, springe auf, gehe im Zimmer auf und ab, bis mir die Füße wehtun; und in solchen Momenten zieht mein ganzes Leben an mir vorüber, die Jahre, die ich der Revolution geopfert habe: die Front, Diskussionen, Siege und Niederlagen. Dann spüre ich eine tiefe moralische Befriedigung. Und daraus schöpfe ich neue Kraft und neuen Mut. Und wenn dann der Morgen da ist, dann geht die Unruhe von neuem los..."
Das Auto rattert über das holprige Pflaster der Distriktshauptstadt Swansk. Kleine, graue Häuser, holzgepflasterte Fußsteige, glockenlose Kirchen, Aushängeschilder — das Auto raste von einer Anhöhe herab, als wollte es sich auf die Glasdächer der Fabrikgebäude stürzen, die am Fuße des Abhangs lagen.
„Wie klein diese Fabrik ist! Kein Vergleich mit der unsrigen", meinte Olga. „Aber der Fluss ist hier sehr hübsch, Wartanjan, sehen Sie mal, die schöne Aussicht!"
„Wir werden heute etwas zu hören kriegen, Olga, und mit Recht!" murmelte Wartanjan; er war in Gedanken versunken und sah weder den Fluss noch die begeisterten Augen Olgas.
Die Mitglieder des Plenums waren bereits versammelt. Der glatzköpfige Sekretär des Okruschkom schwang die Glocke.
„Fangen wir an, ja?"
Wartanjan vertiefte sich in die neue Nummer der Zeitung Auf der ersten Spalte waren die heftig rauchenden Fabrikschlote zu sehen, die Lokomotive nahm eine halbe Seite ein; und unter ihr standen, wie Schienenstränge, die Worte.:
„Die Arbeit des ,Krassny Proletari' unter das Feuer der Selbstkritik!"
Wartanjan überflog den Leitartikel und schlug die zweite Seite auf. Da stand, sieben Spalten füllend, der Artikel Kraiskis: „Die Martinabteilung im Kampf für den Promfinplan" (Anm.: Industrie- und Finanzplan).
„Das Wort hat Genosse Kortschenko für seinen Bericht zum ersten Punkt der Tagesordnung."
Gemächlich bestieg Kortschenko die Rednertribüne und holte ein dickes Bündel Papiere aus seiner Aktentasche. Sorgfältig breitete er das Material vor sich aus und zog dann einen zweiten Stoß Papiere aus der Tasche.
„Oho—o—o! Das reicht ja mindestens für drei Stunden!" tönte eine knarrende, unzufriedene Stimme. „Geht's nicht etwas kürzer?"
Wartanjan wandte sich nach der Richtung, aus der die Stimme kam, und drückte einem Mann in der Uniform der Roten Armee kräftig die Hand.
„Tag, Wolski. Was gefällt dir nicht? Du bist von deiner Organisation her gewöhnt, kurz und ohne viel Worte zu handeln. Aber bei uns geht das nicht so, mein Lieber."
„Genossen! Ich beginne meinen Bericht damit, dass ich euch kurz die Lage schildere, in der sich unsere Fabrik noch in jüngster Vergangenheit befand, damit ihr besser versteht, was wir im Laufe der letzten beiden Jahre erreicht haben, und unsere Erfolge richtig einschätzen könnt. Ich erinnere euch daran, Genossen, dass unser Betrieb sehr alt ist, dass er nur über sehr rückständige technische Einrichtungen und eine ganz primitive Betriebsorganisation verfügt... Alles das erschwert die Arbeit ganz außerordentlich, aber dessen ungeachtet haben wir bedeutende Erfolge zu verzeichnen..." Kortschenko hatte seinen Bericht geschickt aufgebaut.
Wolski beugte sich zu Wartanjan hinüber und flüsterte ihm ins Ohr:
„Ich liebe es nicht, wenn man mit den Erfolgen anfängt. Unaufrichtig..."
Von der anderen Seite her wandte sich Jusow an Wartanjan: „Na, gut zusammengestellt, das Material, wie? Ich hab' mir aber auch Mühe gegeben. Nicht genug damit, dass wir einen Leitartikel von zweihundert Zeilen runtergerissen haben, hab sogar das Feuilleton geschrieben. Lies mal das Feuilleton, Wartanjan."
„Genossen! Von entscheidender Bedeutung bei unserer Arbeit ist die richtige Ausnutzung der Spezialisten. Ich erinnere euch daran, dass Lenin seinerzeit diese Frage aufgeworfen hat. Schon 1919, auf dem 8. Parteitag, sagte Lenin, dass wir für die Spezialisten in der Übergangsperiode möglichst gute Lebensbedingungen schaffen müssen. Das wäre die beste Politik, die sparsamste Wirtschaftsmethode. Sonst würden wir ein paar Millionen sparen, könnten dabei aber soviel verlieren, dass die Aufwendung von Milliarden nicht imstande sein wird, das Verlorene wieder zurückzugewinnen. Ihr seht also, wie klar und einfach Genosse Lenin diese Frage aufgefasst hat. Und diesem bolschewistischen Prinzip getreu, hat die Fabrikleitung die Prämiierung der Spezialisten entsprechend der Planerfüllung der betreffenden Abteilung eingeführt. Wir haben für das technische und das Verwaltungspersonal einen fünfzigprozentigen Tarifzuschlag für die Erfüllung der Abteilungspläne und die Herabsetzung des Prozentsatzes des Ausschusses eingeführt. Damit aber jeder einzelne Spezialist an der Erfüllung des allgemeinen Betriebsplans interessiert ist, haben wir dafür weitere fünfundzwanzig Prozent ausgesetzt. Wir schlagen auf diese Weise also zwei Fliegen mit einer Klappe..."
„Pass nur auf, dass sie dir nicht alle beide wegfliegen !" Alle wandten sich um.
„Weißt du, wer das gerufen hat?" Jusow stieß Wartanjan an. „Ich kenne meine Pappenheimer... Das ist der Querulant, der Andrjuschetschkin. Der ist ja wohl bei euch Mitglied des Raikom? Das kann ich nicht begreifen!"
Kortschenko, in seinem Gedankengang gestört, blätterte nervös in den Papieren.
„Ich fahre fort... Anstatt hier Zwischenrufe zu machen, Andrjuschetschkin, solltet ihr in der Martinabteilung lieber besser arbeiten. Die Martinabteilung ist der wundeste Punkt im ganzen Betrieb. Dank den Bemühungen der Spezialisten, insbesondere des Ingenieurs Kraiski, hatten wir die Abteilung hochgebracht. Der Ausschuß war auf neun Prozent gesunken. Leider ist aber mit dem Ausscheiden Kraiskis aus der Abteilung — er ist mit dem Bau der neuen Fabrik beauftragt worden — das Unheil von neuem über die Martinabteilung hereingebrochen, trotzdem wir einen roten Spezialisten, den Genossen Platow, zu ihrem Leiter ernannt haben. Anscheinend waren wir zu voreilig und haben uns geirrt. Wir müssen wiederum die Dienste Kraiskis in Anspruch nehmen. Deshalb sind die spezialistenfeindlichen Stimmungen, die in der letzten Zeit besonders zunehmen, und zwar — davon bin ich fest überzeugt — auch bei den Leitern der Abteilungen, d. h. in Parteikreisen, ganz besonders schädlich. Wir müssen solche Spezialisten wie Kraiski besonders hochschätzen. Sie halten das Schicksal unserer Lokomotiven in ihren Händen..."
„Das Schicksal unserer Lokomotiven halten wir selbst in den Händen!" rief Platow erblassend.
„Sage uns lieber, welche Aufmerksamkeit du den Arbeitern angedeihen lässt. Und wie ihre Stimmung ist!" fügte Andrjuschetschkin hinzu.
Kortschenko beschloss, auf diese Zwischenrufe nicht zu antworten. Er war schon bei den Resultaten des letzten Halbjahrs angekommen, aber je mehr er sich den Aufstellungen näherte, von desto größerer Aufregung und Unruhe wurde er erfasst.
„Genossen! Die Vereinigung aller dieser Umstände gab uns die Möglichkeit, den Promfinplan erfolgreich zu erfüllen... Kortschenkos Augen ruhten auf der Endziffer, die mit roter Tinte verbessert war, aber er nannte sie nicht. „Allerdings müssen wir bei der Abnahme der Maschinen mit tausend bürokratischen Einwänden der Inspektion der NKPS rechnen, das erschwert unsere Arbeit sehr. Trotzdem aber..." Wieder fiel Kortschenkos Blick auf die röte Ziffer, und vor seinen Augen stiegen Lokomotiven ohne Schornsteine und Verkleidungen auf und zeigten warnend ihre nackten Körper. „Trotzdem aber ist es uns gelungen, das Juniprogramm zu erfüllen... " Er suchte nach Worten, wobei er sorgfältig die Zahlen vermied, die sich ihm in die Augen drängten. Er fühlte, dass eine Falschheit aus ihnen sprach. Vielleicht kam das daher, weil die roten Ziffern so schief an der Seite standen. Oder daher, weil durch die rote Tinte hindurch die schwarzen Ziffern einer anderen Summe blickten und sich vordrängten. Verwirrt verstummte er.
Hunderte von Augenpaaren waren auf Kortschenko gerichtet, sie folgten jeder Bewegung seiner Lippen.
„Weiter, Genosse Kortschenko!" rief ihm der Sekretär des Okruschkom zu.
Da erst kam es Kortschenko zum Bewusstsein, dass er hier schwieg, wehrlos in diesem Kampf zwischen schwarzen und roten Zahlen. Er war nicht gewöhnt zu lügen. Er hatte der Partei stets die Wahrheit gesagt. Er wird auch jetzt die Wahrheit sagen...
„Wir haben also diese Periode mit folgenden Endresultaten abgeschlossen, in denen die ungünstigen Bedingungen dieses Jahres zutage treten..."
Aufmerksam setzten die Mitglieder des Plenums den Bleistift an.
„Dieses Endresultat ist folgendes: auf dem Gebiet das Lokomotivbaus haben wir das Programm mit einem geringen..." Er sah die schwarzen Ziffern durchschimmern und fühlte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte.
„...Nein — es geht nicht! Die Leute erwarten Erfolge vom ,Krassny Proletari'. Morgen wird es der ganze Distrikt, wird es ganz Moskau wissen... "
Er blickte in den Saal, und da sah er das böse Gesicht Andrjuschetschkins und begegnete dem feindseligen, wachsamen Blick Platows.
„... Mit einem allerdings nur geringen, aber immerhin... mit einem Plus erfüllt, nämlich zu 100,5 Prozent..."
„Alle Achtung!"
„Ich hab's ja gesagt, dass Kortschenko uns nicht sitzen lässt." Jusow stieß Wartanjan an.
„Ebenso liegen die Dinge auf dem Gebiete des Waggonbaus... Das Programm wurde zu 100,7 Prozent erfüllt, mit einem Plus in den wichtigsten Zweigen der Produktion."
Irgend jemand klatschte energisch in die Hände, gleich darauf erbebte der ganze Saal unter Beifallsstürmen. Kortschenko zündete sich beruhigt eine Zigarette an und vertiefte sich (in die Zeitung.
DAS STÄHLERNE HERZ Skizze von Jusow
Die Julisonne vermag das elektrische Licht nicht zu besiegen, das der donnernde Gigant verbreitet. Sie hat nicht die Kraft, das strahlende Licht mit ihrem matten, alten Glanz zu überstrahlen. Ich sehe, wie der Schweißer, mit den Elektroden gewappnet, die Sonne herausfordert. Der Strahl brodelt und zischt. Die Elektrizität flattert mit violetten Flügeln wie ein märchenhafter Paradiesvogel. Aus dem Stahlblock wird ein viereckiges Stück herausgeschnitten. Seine Bestimmung kenne ich nicht, und ich will den Schweißer nicht durch Fragen stören. Ich schreibe mir nur die Gussnummer des Blocks in mein Notizbuch: Nr. 1007. Ich weiß nur, dass sich dieses Stück Metall auf seinem weiten Rundlauf durch die Fabrik in das stählerne Herz der flinken Schnellzugslokomotive ,SU' — des Stolzes des ,Krassny Proletari' — verwandelt. Und wenn ich ein paar Stunden später das Laboratorium betrete, sehe ich dasselbe Stück Stahl, das hierher gewandert ist, um geprüft zu werden. Es wird auf seine Widerstandsfähigkeit gegen Bruch und Stoß, auf Sprödigkeit und Härte geprüft. Es wird gepresst, gezogen — aber es ist unverwüstlich und hält allen Versuchungen stand. Aus einer Höhe von zwei Metern schlägt ein zehn Kilogramm schwerer Fallbär auf das Stück Stahl auf, fünfzehnmal auf ein und dieselbe Stelle, und der Stahl hält auch dieser harten Prüfung stand. Dann kommt der Stahl in den Pendelprüfapparat, wo seine Sprödigkeit geprüft wird; ein fünfundzwanzig Kilogramm schwerer, nickelglänzender Pendel reißt donnernd das Metall auseinander und ein Zeiger zeigt die ausgezeichnete Qualität des Stahls. Ich sehe das zufriedene Gesicht des Ingenieurs Ostrowski, der zärtlich mit der Hand über den Stahl streicht und sagt: ,Ausgezeichneter Guss, Genosse Jusow! Eine solche Lokomotivachse hält Hunderttausenden von Kilometern stand.'
Und da habe ich verstanden, dass die Arbeit des Schweißers, der den Stahlblock auseinander schneidet, und die Arbeit des Ingenieurs ein und demselben Ziel dienen: eine feste, widerstandsfähige Triebachse für die Schnellzugslokomotive ,SU' herzustellen.
Die ,SU' ist der Stolz der Fabrik. Ihr leichter, eleganter Körper ist ein Sinnbild der Schnelligkeit, des Vorwärsstrebens, ein Sinnbild des neuen Tempos des sozialistischen Aufbaus.
Und das ganze sechzehntausend Mann starke Kollektiv der Fabrik, vom Schweißer bis zum Ingenieur, ist durchdrungen vom Enthusiasmus dieser grandiosen Epoche."
„Ausgezeichnet!" brummte Kortschenko zufrieden.
„Zu idealisiert", warf Wolski ein.
Jusow schüttelte herablassend lächelnd den Kopf.
„Genossen, ihr könnt natürlich hier schwerlich meine Richter sein; ihr dürft nicht vergessen: der proletarische Künstler kämpft für das Ideal seiner Klasse, für den Umbau des Lebens, er verurteilt seine Feinde mit rücksichtsloser Schärfe, kritisiert die eine Seite der Wirklichkeit und — wenn ihr so wollt — idealisiert die andere Seite. Das ist ja doch das ABC des künstlerischen Schaffens. Jawohl — er idealisiert!"
„Aber, Genosse Autor, wo ,kritisierst' du denn hier deine ,Feinde mit rücksichtsloser Schärfe'? Ich merke nichts davon. Nichts weiter wie blanke Belletristik!" warf Wolski verächtlich hin und wandte sich ab, um aufmerksam das finstere Gesicht Andrjuschetschkins zu betrachten.
Kortschenko wurde plötzlich unruhig.
„Hör' mal, Jusow, du hast aber hier etwas verwechselt... Die Gussproben werden doch nicht von den Stahlblöcken, sondern von dem Schmiedestück der Achse genommen. Wahrhaftig, du hast alles verdreht. Was hast du denn eigentlich gesehen: eine Achse oder einen Stahlblock oder eine Kuh?"
Jusow vertiefte sich verwirrt in sein Feuilleton, die Zeilen vor seinen Augen verschwammen zu einer einzigen grauen Masse, und wütend schob er die Zeitung in die Aktentasche.
Und Kortschenko sagte spöttisch und gedehnt, ganz im Tone Wolskis:
„Ach, ihr Federfuchser!"
Andrjuschetschkin zog finster die Brauen zusammen und stützte den Kopf in die kurzfingrigen Hände. Der Beifallssturm umtoste ihn mit aufreizenden Wellen, dröhnte ihm in den Ohren und verwirrte die Gedanken. Das kam jedenfalls daher, weil er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Er hatte es in dem leeren Zimmer nicht ausgehalten — Marussja war fort... „Versuche nicht, mich zurückzurufen"... Er hatte den Zettel zerrissen und war hinausgelaufen auf die Straße.
Eine warme Julinacht hatte ihn umfangen. Am dunklen Himmel funkelten silbrige Sterne. Das Licht in den Häusern war längst erloschen, stumm und schwarz lagen die sandigen Straßen, nur in der Ferne glitzerten die Lichter der Fabrik.
Im Park, in der Nähe der Fabrik, hatte Andrjuschetschkin bis zum Morgengrauen mit leerem Gehirn auf einer Bank gesessen. Fröstelnd von dem kühlen Morgentau hatte er dann, lange bevor die Sirene rief, die Abteilung aufgesucht. Und das, was er dort gesehen, das hatte er mitgebracht, hierher in dieses Zimmer, das mit hohen Fächerpalmen geschmückt war.
Er war hierher gekommen, um es zu sagen, um es vielleicht so hinauszuschreien, wie gestern Losinski geschrieen hatte, vom Feuer der Erregung ergriffen.
„Na, Kortschenko hat's dir ordentlich gegeben, was?" Andrjuschetschkin fing den mitleidigen Blick Platows auf — eilig kritzelte er etwas in sein Notizbuch. Dann wurde die Diskussion eröffnet, und ganz überraschend für sich selbst hatte Andrjuschetschkin als erster ums Wort gebeten.
Sein kleiner Körper wurde völlig vom Rednerpult verdeckt, nur sein runder, klobiger Kopf schaute hervor. Er sah die enttäuschten Gesichter und bezog diese Enttäuschung auf sich.
„Ich werde euch nicht lange aufhalten, Genossen. Aufstellungen stehen mir nicht zur Verfügung und Zahlen auch nicht. Aber ich erkläre, dass ich an die Zahlen des Genossen Kortschenko nicht glaube... Jawohl — nicht einen Augenblick glaube ich an diese Zahlen! Er hat gesagt, dass dank den Anstrengungen Kraiskis der Ausschuß in der Martinabteilung auf neun Prozent gesunken sei. Ich glaube das nicht..."
„Tatsachen! Kannst du Tatsachen anführen?" unterbrach ihn Kortschenko nervös.
Andrjuschetschkin sah, wie sich die plötzlich belebten Gesichter auf die Tribüne richteten, als zöge sie die Blicke an wie der Magnet ein Eisenstück.
„Genosse Kortschenko hat hier von der individuellen Leitung gesprochen und sich dabei auf das Zentralkomitee bezogen. Ich aber sage: wenn ich morgen das Rad eines Schnellzugs mit Rissen in den Speichen sehe, so werde ich ganz einfach den Arbeiter und den Spezialisten dafür verantwortlich machen, die so etwas zulassen. Wie ist das überhaupt möglich: ich habe zu gehorchen und mich nicht einzumischen in Sachen, die mich nichts angehen? Ich sage ganz offen, das tue ich nicht! Zum Teufel mit einem solchen System der individuellen Leitung, wenn der Leiter das Unterste zu oberst kehrt! Jetzt, was die Spezialisten anbelangt..."
Jusow wurde ans Telefon gerufen. Als er an Andrjuschetschkin vorbeiging, flüsterte er ihm giftig zu:
„Du bist ja ein bekannter Spezialistenfresser!"
„Genosse Kortschenko hat sich hier sogar auf den Genossen Lenin bezogen... Ich weiß es nicht, ich hab' das nicht gelesen, vielleicht hat Lenin das von den Spezialisten wirklich geschrieben. Mag er es geschrieben haben... Gut! Aber ich schwöre euch, Genossen, wenn Genosse Lenin jetzt aus seinem Mausoleum auferstehen und in unsere Fabrik kommen und unsere Spezialisten sehen würde, da würde er folgendes Zitat aussprechen : ,Nicht bloß keine Prämien, sondern schleunigst raus aus der Fabrik'!"
Brausendes Gelächter tönte durch den Saal.
„Tatsachen! Das ist alles Demagogie!" Kortschenko sprang erregt auf.
„Ich wiederhole noch einmal: ich traue den ,Spezen' nicht, für die sich der Genosse Kortschenko hier so heftig ins Zeug gelegt hat. Ihr müsstet mal die Gespräche in der Abteilung hören! Alle Arbeiter sind gegen die Spezialisten aufgebracht, und das ist recht so, Genossen, ganz recht so! Sie sind alle miteinander so!"
„Ich muss den Genossen Andrjuschetschkin zur Ordnung rufen..." Der Sekretär des Okruschkom erhob sich. „Das ist ja schon böswillige Spezialistenfresserei!"
„Ich bin sowieso zu Ende." Der aufgeregte Andrjuschetschkin verließ die Rednertribüne, und, auf seinem Platz angekommen, rief er noch einmal durchdringend: „Ich glaube nicht an die Zahlen! Ich traue den ,Spezen' nicht!"
Unterstützung suchend schaute er sich im Saale um. Aber er begegnete überall nur kalten und verurteilenden Blicken. In diesem Moment kam Jusow wieder herein und warf dem Präsidium einen Zettel auf den Tisch.
„Hier habt ihr eine Illustration zu der Rede Andrjuschetschkins:
Telefonogramm. An die Redaktion des ,Swansker Arbeiters'.
Heute früh hat der Arbeiter der Fabrik ,Krassny Proletari' Saizew den früheren Leiter der Martinabteilung, Kraiski, überfallen und misshandelt. Saizew lauerte Kraiski auf, als dieser aus seiner Wohnung trat, und warf mit Steinen nach ihm. Nur dank dem Eingreifen zufällig anwesender Ingenieure wurde ein Totschlag verhindert, und Kraiski kam mit einer unbedeutenden Schramme davon. Es wurde festgestellt, dass Saizew unlängst die Arbeit in der Fabrik niedergelegt hat, nachdem er einen wertvollen Maschinenteil verdorben hatte. In letzter Zeit litt er an einer Nervenerkrankung und hat das Haus nicht verlassen. Man nimmt an, dass Saizew den Überfall in einem Anfall geistiger Umnachtung unternommen hat, was auch von Kraiski selbst bestätigt wird. Saizew wurde zwecks Untersuchung seines Geisteszustandes in eine Nervenheilanstalt gebracht. Der Betriebsrat schloss Saizew auf einet besonderen Sitzung aus der Gewerkschaft aus. Mit der Untersuchung der Angelegenheit wurde der Untersuchungsrichter beim Distriktgericht, Gläser, betraut."
Alle im Saale Anwesenden beobachteten gespannt das Präsidium. Jusow sah Andrjuschetschkin an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
Jetzt betrat Wartanjan die Tribüne.
„Genossen! Soeben haben wir die Nachricht von einem Überfall auf den Ingenieur Kraiski erhalten. Das ist der zweite derartige Fall in der letzten Zeit. Wir müssen daher so spezialistenfeindliche Äußerungen wie die Rede Andrjuschetschkins energisch verurteilen. Die Sache ist anscheinend bereits sehr weit fortgeschritten, wir müssen also die nötigen Schlüsse ziehen ... "
Kortschenko blickte Platow an und lächelte vielsagend. „Nun zur Sache... Ich verstehe den Genossen Kortschenko selbstverständlich vollkommen; er möchte, dass der ,Krassny Proletari' allen voranschreitet. Das ist der Wunsch aller, die hier im Saale sitzen... Aber ich bin der Meinung, dass wir seinen Bericht einer ernsten Kritik unterziehen müssen, und zwar in erster Linie aus dem Grunde, weil der Direktor die Frage der Qualität der Produktion hier vollständig umgangen hat. Und damit steht es bei uns sehr schlecht. Die Arbeiter des Kursker Depots haben uns in dieser Hinsicht eine Warnung signalisiert. Die Fabrikleitung hat jedoch diesen Fall nicht weiter beachtet, sie hat ihren Apparat nicht kontrolliert, seine Arbeit nicht auf die nötige Höhe gebracht. Die Qualität der Produktion muss ein Prüfstein für die Qualität des Apparats und der wirtschaftlichen Leitung sein. In dieser Beziehung ist nichts getan worden. Uns drohen für die Zukunft die größten Unannehmlichkeiten, wenn wir in dieser Hinsicht nicht Herr der Lage werden. Es kann in der Tat soweit kommen, dass man uns den Bau der zweiten mechanisierten Fabrik nicht gestatten wird." Wartanjan sprach auch über die ungenügende Aufmerksamkeit gegenüber der Stimmung der Arbeiterschaft, er führte das Beispiel der Entlassung Saizews an und erklärte, dass das Raikom genötigt sein würde, den Vorsitzenden des Betriebsrats, Teleshkin, seines Amtes zu entheben.
„Zum Schluss will ich mit voller bolschewistischer Offenheit erklären: die Arbeit der Fabrik befriedigt mich nicht. Ich baue meine Bewertung hier nicht auf den sehr ansehnlichen Prozentsätzen auf, die Kortschenko angeführt hat. Ich ziehe sie auch nicht etwa in Zweifel, aber als Leiter der Parteiorganisation, der Fabrik muss ich bei der Bewertung der Leistungen der Fabrik von einer Reihe anderer Tatsachen sehr unangenehmen Charakters ausgehen. Mir fällt es schwerer darüber zu sprechen als irgendeinem anderen, aber dennoch muss ich hier erklären: wir arbeiten schlecht, es ist in der Fabrik irgend etwas nicht in Ordnung!"
Die Erklärung Wartanjans rief im Saale großen Lärm hervor. Zum ersten Mal stand das Plenum einem derartigen Unterschied in der Bewertung der Arbeit der Fabrik durch ihre Leiter gegenüber.
„Sie sind sich mit Wartanjan nicht einig?" fragte der Sekretär des Okruschkom leise Kortschenko.
Kortschenko schwieg. Eine solche Wendung hatte er nicht; im entferntesten erwartet. Er hatte sich zu diesem Kompromiss mit seinem Parteigewissen bereit gefunden, hatte die rote Ziffer gewählt, nur um das Ansehen der Fabrik nicht zu verletzen. Er hatte einen langen und schweren Kampf mit sich gekämpft. Und nun war das alles vergeblich. Natürlich — Wartanjan wollte sich mit dieser Selbstkritik politisches Kapital erwerben, das er sehr nötig brauchte, damit ihm seine früheren Sünden verziehen würden. Klar... nun brauchte nur noch Platow zu sprechen, und er, Kortschenko, war erledigt.
Aber Platow sprach nicht. Er saß schweigend da, biss sich auf die Lippen und dachte über irgend etwas angestrengt nach.
Die Mundwinkel Kortschenkos zuckten gekränkt, als er sein Schlusswort begann:
„Ich bin nicht hierher gekommen, um meine Sünden zu bereuen, wie dies Wartanjan gern sehen möchte. Das ist anscheinend zur Profession gewisser Leute geworden, die sich häufig irren, also häufig bereuen müssen. Ich habe vorläufig noch nichts zu bereuen. Jawohl, es sind noch viele Mängel vorhanden, aber muss gleich darum eine Panik ausbrechen? Das ist natürlich sehr leicht, zu sagen: ,Alles ist schlecht und verkehrt!' Viel schwieriger ist es, das nicht zu sagen, sondern es besser zu machen. Ich will mich nicht auf eine Polemik einlassen. Wir brauchen solche Zuversicht und Überzeugungskraft wie die, von der das prachtvolle Feuilleton Jusows durchdrungen ist. Ich empfehle denen, die nur alles schwarz sehen, es zu lesen.
Jede Zeile des Artikels weckt in dem Leser Begeisterung und Stolz auf seine Sowjetfabrik. Und mit dem Gefühl dieses proletarischen Stolzes verlasse ich auch heute diese Tribüne."
Leise, schüchterne Beifallsäußerungen ertönten, um sofort wieder schamhaft zu verstummen. Der Sekretär des Okruschkom betrat die Rednertribüne, eine Resolution in der Hand.
„Genossen! Wir sind immerhin alle mit Wartanjan einverstanden. Er hat gesprochen wie ein Bolschewik."
Die Resolution wurde unter drückendem Schweigen angenommen. Sie enthielt das, was Wartanjan ausgesprochen hatte.
Erst nachts kehrten sie zurück. Kortschenko fuhr den schweigenden Platow in seinem Auto nach Hause und stieg dann vor seiner Wohnung selbst wie zerschlagen aus. In seinem Zimmer fand er unter einem Glas kalter Milch auf seinem Schreibtisch ein Telegramm. Es roch nach frischem Kleister, die aufgeklebten Papierstreifen waren noch feucht. Müde faltete Kortschenko es auseinander und schlürfte dabei langsam die Milch. Und auf einmal schwankte das Glas in seiner Hand, die Milch floss auf den Tisch und tropfte von da langsam auf den Fußboden.
Mit vor Müdigkeit angeschwollenen und rot entzündeten Augen suchte Kortschenko die abgerissenen Telegrammworte zu entziffern. Laut aufklatschend rannen die Milchtropfen auf das Linoleum.
Ein Nachfalter kam zum offenen Fenster hereingeflattert, mit vibrierenden Flügeln ließ er sich auf den Rand des Milchglases nieder und saß, bezaubert vom Schein des elektrischen Lichts, regungslos da.
Von irgendwoher kamen die Klänge eines Klaviers und gedämpfter Gesang. Was gesungen wurde, konnte man nicht heraushören, aber Kortschenko erinnerten diese Klänge an die Gestalt Turtschaninows. Der Kneifer, der immerfort vom Nasenrücken rutscht, sieht aus wie dieser Schmetterling da...
Mit einer heftigen Bewegung schleuderte Kortschenko den Falter vom Glas, er fiel auf den Tisch und kroch hilflos, mit zitternden Flügeln weiter.
„Hallo! Diensthabender! Suchen Sie Turtschaninow! Er soll zu. mir kommen! Jawohl! Sofort!" Mit heiserer Stimme sprach er in die Telefonmuschel, dann stand er wieder wie erstarrt und beobachtete den Falter, der bei dem vergeblichen Versuch zu fliegen seine gebrochenen Flügel langsam öffnete und wieder zusammenklappte und feinen, gelben Flügelstaub um sich streute.
7
„Entschuldigen Sie, Andrej Sergejewitsch, aber Sie sind kein weit blickender Mensch... Sie sind sogar sehr kurzsichtig."
Mit schlauem Lächeln blickte Turtschaninow Strachow an und schlürfte langsam seinen kaltgewordenen Tee.
Strachow saß in einem geflochtenen Schaukelstuhl und dachte angestrengt über etwas nach; dabei fiel die Asche seiner Zigarette auf sein bastseidenes Hemd.
„Andrjuscha! Du wirst das Hemd noch versengen. Wissen Sie, Benjamin Pawlowitsch, mein Mann ist so zerstreut in letzter Zeit!" Und sorgfältig stäubte Lalja die Asche mit ihrem Taschentuch weg.
„Ihr Andrej Sergejewitsch müsste etwas weniger eifrig nachdenken, das ist es... Dabei kann einer ja krank werden. Ich bewundere immer Ihren Charakter, Andrej Sergejewitsch. Alles erledigen Sie pünktlich, Ihre Arbeit, Ihre Familienangelegenheiten (Lalja wurde rot und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu)... Woher nehmen Sie bloß die Energie? Freilich. Sie sind eben noch jung. Ihr Blut pulsiert noch kräftig, wie man so sagt. Ich dagegen — Augen und Herz, die sind bei mir wie ein gesprungener Lokomotivzylinder... Ich möchte mich schon gern aufmachen ins Paradies, aber, wie man so sagt — die Jugendsünden lassen's nicht zu... Hi—hi—hi..."
Der Kneifer auf der Nase wackelte, die Hand, die ein Praline hielt, kam zu spät, der Kneifer fiel zur Erde. Strachow sah die eingefallenen, blinzelnden Augen und die rote Rinne, die der Kneifer auf dem Nasenrücken eingegraben hatte. Die dünne, gekrümmte Nase glich einem Schnabel, und Strachow sah zum ersten Mal, dass die Augen Benjamin Pawlowitschs ein stark ausgeprägtes drittes Lid besaßen, eine violette Haut wie bei einem verschlafenen Huhn, die fast die Hälfte des Augapfels bedeckte.
„Eine sehr interessante Bestätigung der Darwinschen Theorie", dachte Strachow. „Der Blinddarm — dieser überflüssige Darmauswuchs. Haare am Körper ... Ein drittes Lid, ein Erbe des Vogeldaseins unserer Ahnen. Was für ein zähes Leben doch diese Überreste aus der zoologischen Periode des Menschen haben ... "
Er betrachtete das Zimmer, das mit weichen, mit Schutzüberzügen versehenen Polstersesseln ausgestattet war; hinter den Scheiben einer Rokokovitrine sah man allerhand unnützen Krimskrams, an den Fenstern hingen dunkle Samtportieren, die der Sonne den Eintritt verwehrten; Strachow meinte, eine gewisse Verwandtschaft zwischen diesen mit einem dritten Vogellid behafteten Augen und den in Schutzüberzügen steckenden Möbeln zu erkennen.
Auf dem schäbigen Ledersofa saßen Kraiski, Bruck und Sorin. Der affektierte Ostrowski lief vor ihnen auf und ab und erzählte irgend etwas Komisches. Kraiski stützte seinen verbundenen Kopf gegen die Sofalehne und sah Strachow aufmerksam an; offensichtlich interessierte ihn das Gespräch, das da geführt wurde, mehr als die Witze Ostrowskis.
„Ja—a—a... Der Mechanismus ist nicht in Ordnung" , sagte Benjamin Pawlowitsch betrübt und betastete mit den Fingern den Kneifer. „Sehen Sie, ich bin von Natur aus auch kurzsichtig, aber die Technik, die Optik, stattet mich mit dem mir Fehlenden aus. Sie aber, Andrej Sergejewitsch, macht die Liebe zur Technik im Gegenteil waffenlos, kurzsichtig... Konnten Sie wirklich damals, im Zimmer des Direktors, denken, dass ich auch nur im entferntesten seine Meinung teilte?"
Strachow hob verwundert den Kopf.
„Aber Benjamin Pawlowitsch, Sie sagten doch damals, dass ich von einer krankhaften Empfindlichkeit sei, dass ich dadurch die Ablieferung der Lokomotiven verzögere, die Ausführung des Programms hindere... Das alles haben Sie doch gesagt?!" „Jawohl, gewiss, Andrej Sergejewitsch, das alles habe ich gesagt!" Turtschaninow nickte vielsagend lächelnd mit dem Kopf, so dass der Kneifer wieder zu wackeln begann und sich zu einem neuen Sturz vorbereitete.
„Dann verstehe ich absolut nichts mehr." Strachow machte einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und stieß dicke, blaue Rauchwolken hervor.
„Nun, ich sage es ja, Sie sind nicht weit blickend. Sie sind gekommen und sofort mit der Tür ins Haus gefallen: ,Das kann ich nicht!' War das vielleicht die richtige Weise, mit ihm zu sprechen? Denken Sie vielleicht, dass ich so offen wie Sie mit ihm spreche? Ein Esel müsste ich sein! Ich würde mich überhaupt nicht mehr achten, Andrej Sergejewitsch. Der Chef will, dass etwas rechtzeitig gemacht wird. Also machen Sie's." „Wie soll ich das machen? Es gibt verschiedene Methoden." „Lieber Gott! Sie sind aber wirklich ein zu naiver Mensch... Sehen Sie, sogar Lalja wird ganz rot... Machen Sie's, wie Sie wollen, aber beruhigen Sie den Mann... Wissen Sie, Andrej Sergejewitsch, Sie arbeiten drei Jahre hier in der Fabrik, ich aber dreiunddreißig Jahre, und ich habe allein nach der Revolution hier elf Direktoren überlebt. Bedenken Sie, elf Direktoren! Und es hat mir nichts geschadet. Sie aber wollen sich gleich beim ersten, bei dem Kortschenko, das Genick brechen. ,Ich kann es nicht!' Eine Prinzipienreiterei wie ein grüner Lausbub auf seinem Steckenpferd! Nicht wei—eit—blickend!"
Strachow zündete sich eine neue Zigarette an und zerbrach nervös ein Streichholz nach dem andern.
„Benjamin Pawlowitsch, ich bin vielleicht kein Politiker, vieles an der Gegenwart verstehe ich nicht; aber ich liebe die Maschine... so, wie, sagen wir mal, ein Vater sein Kind liebt.
Kann sich aber ein Vater freuen, wenn sein Sohn mit krummen Fingern geboren wird? Dabei ist er an einem solchen Defekt nicht einmal eigentlich schuld... Ich aber baue die Maschine zusammen. Und ich sehe, wie jedes einzelne dieser toten Teile zusammengefügt wird und wie sie dann nur auf den ersten Atemzug der Triebachse warten, um sich zu beleben und zu rühren. Stellen Sie sich meine Scham vor, als ich da im Kursker Depot meine Lokomotiven sah — verstaubt, in drückendem Schweigen stehen sie da... Und ich? Soll ich da etwa schweigen? Still an ihnen vorübergehen? Dann hätte ja jeder Arbeiter das Recht, mich einen Halunken zu nennen. Meine Ehre ist mir teuer. Niemals werde ich gegen mein Gewissen handeln!" Erregt erhob er sich. „Jawohl. Die Direktoren wechseln. Es können ihrer elf sein oder mehr — was geht's mich an. Aber die Gesetze der gegenseitigen Einwirkung der Teile der Lokomotive, die meine Hände schaffen, die Hände des Technikers, des Spezialisten — die Gesetze ändern sich nicht. Sie sind Kenner des Lokomotivbaus, Benjamin Pawlowitsch, Sie müssen wissen, dass von der genauen Lage der Gegenkurbel der Triebachse die Arbeit der gesamten Steuerung abhängt, das ist die Seele der Lokomotive..."
„Genug, genug!" wehrte Benjamin Pawlowitsch scherzhaft ab. „Sie halten ja einen richtigen Vortrag! Sie sind ein unverbesserlicher Träumer. ,Die Seele der Lokomotive'! Denken Sie lieber an Ihre eigene Seele, Andrej Sergejewitsch. Sie will essen und trinken, Ihre sündige Seele. Und dabei etwas anders leben, als wir heute leben. Ach, ist denn das vielleicht ein Leben!" Wütend stieß er sein Glas beiseite, wobei er den Tee verschüttete und seinen Kneifer wieder in Gefahr brachte. „Sehen Sie, da auf dem Teller liegt ein Dutzend schlechte Pralines, das ist alles, was wir Spezialisten, Leute des Gehirns, des Wissens, für die Seele der Lokomotiven erhalten..." Mit einem schiefen Lachen senkte er seine Vogelnase.
Das Ledersofa geriet plötzlich in Bewegung. Kraiski hielt sich den Bauch, den ein gestreifter Pullover umspannte, und brach in heiseres Lachen aus. Brück wollte vor Lachen schier bersten, Ostrowski kicherte wie ein Backfisch.
„Für die See—ee—le... Ha—ha—ha—a!" brüllte Kraiski mit seinem starken Bass...
„Für die Seele!" wiederholte Bruck und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Das dicke Ledersofa erbebte und knarrte, als wollte dieses wiehernde Gelächter seinen schwarzen Leib aufreißen, dass die klingenden Sprungfedern hervorschnellten.
Strachows Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Er trat ans Fenster. Unten auf der Straße gingen lachend und schwatzend festtäglich gekleidete Menschen vorüber. Die Fabrikjugend eilte auf blitzenden Fahrrädern vorbei. Es war Sonntag. Vom Markt her trugen die Menschen schwere Körbe. Lachen ertönte, die untergehende Sonne vergoldete die gebräunten nackten Arme.
Strachow wurde es schwül hier in diesem dämmrigen Zimmer ; die vielen Sachen und das unnatürliche Gelächter bedrückten ihn. Er wandte sich schnell zum Tisch zurück und reichte Benjamin Pawlowitsch die Hand.
„Nun, Lalja, es ist Zeit zum Nachhausegehen."
Turtschaninow saß lange Zeit schweigend da, den Blick auf die Schale mit dem Konfekt gerichtet, dann sprang er plötzlich auf und lief im Zimmer hin und her.
„Nein, mit dem ist nichts anzufangen! Das heißt nutzlos seine Zeit vergeuden. So ein Quatsch: Ehre, Liebe zur Maschine. Berufsstolz! Idiot! Idiot!! Zum Teufel mit ihm! Los, wir wollen uns ausruhen und ein bisschen lachen. Kraiski, fangen Sie an, erzählen Sie einen Witz."
„Adam Adamytsch ist an der Reihe."
„Nein, ich nicht, ich habe Sie schon voriges Mal unterhalten. Das geht nicht, immer mich auszubeuten, Benjamin Palytsch. Bei Gott, das geht nicht..."
Bruck goss sich ein Glas Bier ein und schloss heftig abwehrend :
„Ich bitte mich heute freizustellen."
„Heute müssen Sie ihre Hausherrnpflicht erfüllen, Benjamin Pawlowitsch. Hier werden nicht Sie über uns, sondern wir über Sie verfügen, nicht wahr, Kollegen?" Kraiski schob mit der rechten Hand den Verband zur Seite, so dass eine rote Schramme auf der Wange sichtbar wurde.
„Na schön! Gegen Sie kann ich ja nicht aufkommen." Lächelnd rückte Turtschaninow seinen Kneifer auf der Nase zurecht. „Also: eines schönen Tages kommt Akatujew ins Laboratorium..."
„Wieder von dem Akatujew! Lassen Sie doch diesen alten Esel beiseite, um Gottes willen", bat Ostrowski.
„Alt und dumm, wie Akatujew selbst", fügte Sorin hinzu.
„Etwas Neues, Benjamin Pawlowitsch, etwas recht Pikantes!" redete Kraiski auf Turtschaninow ein.
Benjamin Pawlowitsch lachte gutmütig.
„Das Neue und Pikante kommt zum Schluss... Jetzt erst mal etwas von dem unsterblichen Akatujew. Zerspringen werden Sie vor Lachen!"
Alle bereiteten sich vor zuzuhören. Kraiski drückte sich tiefer in das Sofa, Ostrowski wandte sein Gesicht dem Erzähler zu und erstarrte in andächtiger Pose. Bruck trank in kleinen Zügen das kalte Bier und aß Gebäck dazu. Der dicke Simon Petrowitsch Sorin knüpfte sich den Kragen auf.
„Also ich beginne... Da kommt eines schönen Tages Akatujew ins Festigkeitslaboratorium. Er sieht die Leute arbeiten. Sie machen Zerreißproben, Schlagproben und so weiter. Ausgerechnet kommt da der Kontrolleur Borezki mit den Proben hereingesaust. Ohne zu merken, dass Akatujew anwesend ist, platzt er heraus:
,Nehmt die Proben, aber vorsichtig, damit nicht etwa Akatujew dazukommt.'
Da meldet sich Akatujew: ,Was haben Sie da gesagt, Antonytsch? Warum vorsichtig?'
Borezki merkt, dass er sich verraten hat. Was nun?
,Ach, Pal Jaklytsch, ich meine wegen des Brandes. Es wurde soeben angerufen und gemeldet: es brennt irgendwo in der Nähe von Akatujew. Und darum sage ich: vorsichtig... regt Pal Jaklytsch nicht unnötig auf, er hat ja ein krankes Herz'.
,Es brennt? Ach, und ich sitze hier... Warum sagen Sie das nicht gleich?'
Na also — als ob ihn der Wind hinweggefegt hätte! Antonytsch aber rief telefonisch den Wächter am Tor an:
,Wenn Akatujew am Tor vorbeilaufen wird, so sagen Sie ihm, vom Depot aus habe man angerufen, alles sei in Ordnung, es sei nur glühender Ruß ausgeschleudert worden'."
„Ach, ihr Bande!" kicherte Ostrowski, „sich so was auszudenken !'
„He—he—he—he—e—e! He—he!" lachte Bruck. „Ruß ausgeschleudert! Der Ostrowski aber, der kennt seine Sache; eins, zwei, drei — Zerreißprobe! Eins, zwei, drei — Schlagprobe. — Nun, jetzt weiter...
Kommt da neulich eine Kommission vom NKPS hereingeschneit. Wir wollen kontrollieren, heißt es, wie es mit der Ablieferung der Produktion steht. Zeigen Sie die Waggons, die per 1. Juli abgeliefert werden sollen, heißt es... Mir — Sie verstehen — mir fiel das Herz in die Hosen vor Angst... Die Waggons! Es waren ja keine d—a—a—a! Die Kommission aber, die packt also ihre Papiere aus, unsere Abrechnungen, Aufstellungen und so weiter. Also bitte, heißt es, die Waggons von Nr. 240 600 bis Nr. 240 750. Die Waggons, Sie verstehen, sind aber gar nicht vorhanden. Was tun? ,Genossen', — sage ich da — ,Sie kommen direkt von der Bahn, und gleich an die Arbeit? Das nenne ich Missachtung der Gesundheit, Genossen! Ruhen Sie sich erst mal gefälligst etwas aus, und morgen früh, da werden wir Ihnen alle diese Waggons zeigen, da können Sie kontrollieren.'
Na also, damit waren sie einverstanden. Da ging's mal erst ausschlafen. Ich aber schnurstracks zu Akatujew: ,Pal Jakowlewitsch', sage ich, ,haben Sie den Akt über die Abnahme der Waggons Nr. 240 600 bis 240 750 unterzeichnet?'
,Das weiß ich nicht mehr genau, ich glaube ja.' Er schaut in sein Buch — jawohl, er hat ihn unterzeichnet.
,Wir müssen die Waggons vorführen, eine Kommission ist eingetroffen.'
Wie ich ihm das sage, da schlägt er mir lang aufs Sofa hin und liegt wie tot. Sein Herz ist doch gar nichts mehr wert. ,Sie haben mich vernichtet, — stöhnt er — vernichtet!' und seine Lippen sind käsebleich. ,Was nun? Die Waggons sind ja gar nicht vorhanden, Sie haben ja doch den Akt schon für einen Monat voraus von mir bekommen!'
Ja, diese Waggons sind nicht vorhanden', antworte ich.
Wieder liegt er da und presst die Hand aufs Herz. Teils musste ich über ihn lachen, teils mich ärgern. Wenn er mir hier wegstirbt, dachte ich, wo kriegen wir da einen zweiten solchen Ingenieur her? Und tatsächlich, bedenken Sie, wo würden wir so einen hernehmen?"
Benjamin Pawlowitsch blickte sich fragend im Kreise um, und alle stimmten ihm zu:
„Wirklich — woher?"
„Ja, wo sollten wir so einen hernehmen?"
„Einen zweiten Akatujew finden wir niemals wieder!" erklärte Kraiski kategorisch.
„Also, schätzen Sie ihn gebührend ein, den Pawel Jakowlewitsch!" Benjamin Pawlowitsch fing den Kneifer auf, der wieder herunterfallen wollte, und fuhr in seiner Erzählung fort:
„Wissen Sie, wie wir uns glücklich aus der Affäre gezogen haben?"
Alle schwiegen, es schien ihnen geradezu eine Unmöglichkeit, sich aus einer solchen Affäre glücklich herauszuziehen.
„Für die Nacht wurden also sämtliche Maler mobil gemacht, jeder hat einen Tscherwonez gekriegt, und am Morgen standen die Waggons fertig da: auf den Maiwaggons waren die Nummern in, die der Juniwaggons umgepinselt worden ... "
„O — das ist ja Meisterleistung!" rief der Deutsche Bruck.
„Ausgezeichnet!" kicherte Ostrowski.
„Aber das Interessanteste kommt noch", fügte Benjamin Pawlowitsch hinzu.
Alle rückten näher heran, Sorin sah gelangweilt nach der Uhr, nahm seine Mütze und verzog das Gesicht.
„Also, eines Tages wacht Akatujew auf und sieht, dass gerade vor seinem Haus Ziegelsteine abgeladen werden. Er hat die Hosenträger noch nicht richtig angeknöpft, und so läuft er hinaus auf die Straße und fragt, was das heißen soll. ,Hier lässt die Fabrikleitung ein Arbeiterwohnhaus bauen', sagt man ihm. ,Was, ein Haus? Mir vor die Nase? Damit ich die ganze Aussicht auf die Straße verliere und mein Haus zum Hinterhaus wird? Das gibt's nicht, das erlaube ich nicht!" schreit er. Na, den Fuhrleuten ist es natürlich ganz egal, ob da Akatujew oder irgendein anderer schreit; sie laden eben ihre Steine ab. Er aber ruft mich an: ,Was soll denn das heißen, Benjamin Pawlowitsch?' Ich gab mir natürlich den Anschein, als wüsste ich von nichts. ,Das ist absolut unmöglich!' brüllte er in die Muschel. Ich antwortete ihm sehr ruhig: ,Pal Jaklytsch, es gibt in der Welt nichts Unmögliches, geben Sie den Akt für die Julilokomotiven her.' ,Lassen Sie ihn holen', sagt er. Den Akt habe ich bekommen, und dank dem Akt haben wir alle unsere Juniprämien erhalten. Verstehen Sie? Und Kortschenko hat auf seinem Plenum glänzend abgeschnitten, und alles ist hübsch rund, wie ein Osterei..." „Und die Bausteine?"
„Die Bausteine wurden wieder aufgeladen und wo anders hingefahren. Für die Arbeiterwohnungen wurde draußen in der Vorstadt ein Platz angewiesen. Denen kann es ja schließlich ganz gleich sein, wo sie wohnen. Allerdings hat die Geschichte etwas gekostet, aber, wie man sagt, Politik kostet Geld. He— he—he..."
Alle waren einfach starr über die Findigkeit von Benjamin Pawlowitsch und betrachteten voller Hochachtung seine dürre Nase, die den Kneifer absolut nicht tragen wollte. Ostrowski saß unbeweglich auf dem Stuhl. Aus seinen Augen sprach tiefste Bewunderung für Turtschaninow. Sein aufgedunsenes, karminrotes Gesicht war unbeweglich wie eine hölzerne Maske, aber auf einmal platzte diese Maske, Ostrowskis Nase flog in die Höhe, der Kopf rutschte hintenüber, die Lippen klafften auseinander und entblößten die goldfunkelnden Zähne, und aus der Kehle kam wieherndes, kläffendes Gelächter. Er schüttelte sich vor Lachen, winselte förmlich und bekam einen heftigen Schlucken. Kraiski schaute ihn an und brüllte laut los. Bruck prustete und bespritzte Sorin wie mit einer Fontäne. Das ganze Zimmer hallte wider von stürmischem Gelächter.
Am lautesten lachte Bruck. Sein weitaufgerissener Mund sah aus wie ein Grammophontrichter, das Lachen drang in kurzen, bellenden Stößen daraus hervor. Sein nackter Schädel glänzte wie eine Billardkugel. Erschöpft wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und hob die Hand.
„Kollegen, jetzt will ich Witz erzählen. Kürzlich kam ich in der Lokomotiv-Montagehalle. Ein Arbeiter machte die Kulisse, Sie wissen nicht, was das ist: Kulisse? Ausgezeichnet! Männer der Technik müssen wissen, was eine Kulisse ist: Aber ich kann es Ihnen erklären kurz. In der Kulisse wird ein Stein enthalten, nicht etwa gewöhnlicher Stein, kein Pflasterstein. Sogar eigentlich gar kein Stein, sondern kleiner Rechteck. Es gleitet an dem bogenförmige Ausschnitt der Kulisse entlang, es beeinflusst Dampfeinlassen in den Zylinder und verändert die Bewegung dem Lokomotive — nach vorwärts oder rückwärts! Dieser Stein spielt große Rolle. Dieselbe Rolle wie der Ingenieur in der Fabrik. Da trat der Direktor Kortschenko heran. Ich schaute zu, und er schaute zu. Arbeiter steckte das Zapfen der Hängestange in das Kulissenlager. Dann muss er den Stein in die Kulisse bringen.
Aber Stein ist nicht da. Kommt öfters vor, so etwas, Stein ist eben weg. Ich sehe aber, dass er neben Kortschenko liegt. Und auch der Arbeiter sieht Stein und hat geruft:
,Genosse Kortschenko, gib mal Stein her!'
Kortschenko blickt sich verwundert um, versteht absolut nicht, welchen Stein er soll geben. Er wird über und über rot, wie ein junges Mädel beim Frauenarzt.
,Gib den Stein her!' schreit Arbeiter schon ganz ärgerlich.
Da ich sehe, wie der Direktor Kortschenko in eine Ecke rennt, einen Ziegelstein vom Boden aufnimmt und ihn die Arbeiter reicht. Tableau! Der Arbeiter hat nicht schlecht auf den Direktor geschimpft, in alle Tonarten, dass es nur so eine Art hatte! Ich aber mir dachte im stillen: mit solch einem Direktor kann man wahrscheinlich eine Lokomotive aus Ziegelsteinen bauen! Und wurde ich so vergnügt wie ein Mädel, dem der Arzt gesagt hat, dass nichts passiert sei... Hi—hi—hi... Sehr gut, was?!"
Schmunzelnd trank Bruck sein Bier aus.
Benjamin Pawlowitsch nahm den Kneifer ab, wischte sich die Tränen aus den Vogelaugen und beobachtete Kraiskis Leib, der, in seinem grünlich gestreiften Pullover an eine Kröte erinnernd, beim Lachen auf- und niederhüpfte.
„Nun kommt das Pikante", sagte Benjamin Pawlowitsch.
Sorin stand auf.
„Es ist spät, ich muss gehen, meine Frau wird räsonieren. Außerdem fühle ich mich nicht ganz wohl", brummte er und zog seinen Mantel an. Er tauschte schlappe Händedrücke aus und ging fort.
„Meine Frau wird räsonieren! Fühle mich nicht ganz wohl! Feigling! Dreckkerl!" schimpfte Turtschaninow wütend. „Na, warte nur, es wird eine Zeit kommen, da wirst du auf allen vieren vor uns kriechen, aber dann wird's zu spät sein. Dann wirst du dich, du Sumpfkröte, wirklich nicht ganz wohl fühlen!"
Ostrowski verzog sein Gesicht zu einer lächerlichen Grimasse :
„O! Mir tut auch der Bauch weh!"
„Du hast einen kräftigen Bauch, einen wahren Popenbauch.
Auf deinem Bauch werden wir bald die Kommunisten verdreschen."
„Ausgezeichnet!" kicherte der geschmeichelte Ostrowski.
Aber auf einmal brach das vielstimmige Gelächter ab — lange und andauernd klingelte das Telefon und erfüllte das Zimmer mit Unruhe. Der Zeiger der Uhr stand auf halb eins. Die Stadt schläft, aber das Telefon läutet lange und durchdringend und verjagt die letzten Überreste des vergnügten Gelächters von den Lippen.
„Benjamin Pawlowitsch! Sofort in die Wohnung des Direktors. Aber bitte sofort! Eine sehr eilige Angelegenheit!" rief der diensttuende Milizionär so laut, dass das Mikrophon klirrte.
Als Platow vom Plenum zurückkam, fand er den alten Kusmitsch in sehr vergnügter Stimmung vor. Munter ging er auf dem knarrenden Fußboden auf und ab, dabei summte er vor sich hin; seine spitzen Schulterblätter zeichneten sich deutlich unter dem Hemd ab, seine ganze, knochige Gestalt schien leicht und elastisch.
„Nanu, Großvater, du schläfst ja noch nicht?"
„Ich hab' auf dich gewartet, Senja, Tee gekocht... Ich dachte mir, du würdest hungrig sein, wenn du kommst..."
„Warum bist du denn so vergnügt?"
„Das Alter ist mir keine Last, Senja. Bis ans Ende meiner Tage werde ich nun vergnügt herumlaufen. Mein vorletztes Glück habe ich gesehen, mein Junge."
„Ach, den Deutschen meinst du? Und was soll denn nun das letzte Glück sein, Großvater?"
„Das ist am allerschwersten zu erringen... Auch dir, siehst du, gelingt es nicht. Du hast ein ganz eingefallenes, fahles Gesicht gekriegt, grau wie Erde, Senja. Es ist schwer, mein Junge, Chef zu sein, was? Es ist schwer, ich weiß es. Ich habe mein ganzes Leben lang unten gestanden, und auch das war nicht immer leicht. Du aber, mein Junge, bist auf die Höhe hinaufgeklettert. Es gibt jetzt viele solche wie du. Und ihr müsst euch festhalten, mit den Zähnen festbeißen, Senja — halte dich, schwanke nicht. Ich werde dir eine Stütze bringen... Aber die Akatujewsche, die kann dir keine Stütze sein, Senja, die wird in der entscheidenden Stunde brechen. Es ist natürlich deine Sache, Senja, ich will dir bloß einen Rat geben, wie alte Leute es halt gern tun. Halt' dich mehr an den Arbeiterstamm, Senja, der wird nicht brechen... Und was deine Sorgen anbelangt, so geht mir da ein Gedanke nicht aus dem Kopf. Nur noch einmal prüfen muss ich die Sache. Dann werde ich vor Freude tanzen! Höre, Senja, jetzt muss ich einen Gang tun, und morgen früh werde ich dir dann alles haarklein erzählen... Einen ganzen Monat bin ich schon hinterher
Der Alte zog seine harten, steifen Stiefel an, nahm seinen Krückstock aus Birkenholz und ging in die finstre Nacht hinaus.
„Wie viel Lebenskraft doch dieser alte Mann besitzt", dachte Platow bewundernd, während er dem gebeugten Rücken des Alten mit den Augen folgte. „Wie er sich ans Leben klammert! Die starke Energie der Klasse erfüllt diesen abgenutzten Organismus mit Kraft. Da besiegt die Jugend der Klasse das körperliche Alter!"
Platow sah zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Da draußen, in dieser warmen, dichten Finsternis, lief der alte Kusmitsch irgendwo herum...
Gelassen wies der Alte am Fabriktor seinen Passierschein vor und stapfte auf die finster daliegende Martinabteilung zu, Sicher schritt er aus, sich mit dem Stock zwischen Formkästen und Gussstücken seinen Weg tastend. Am Eingang der Guss-Putzerei blieb er stehen und musterte aufmerksam das Chaos der Gussstücke.
Ganz am Rand der Gussputzerei flackerte ein grünlicher Lichtschein. Dunkle Gestalten bewegten sich hin und her, ihre riesigen schwarzen Schatten huschten an der Wand auf und nieder, verschmolzen miteinander und trennten sich wieder.
Der „Chef" schlich sich leise näher und blieb dann unbeweglich stehen.
„Na, wird's bald, Trussow? Schneid' schnell ab, ich hab noch die ganze Nacht zu tun."
„Gleich, gleich, Antonytsch. Der Stahl ist mächtig hart. Na, Sharow, hilf mal ein bisschen."
„Ja, der Stahl hier ist besser... Erste Sorte. Fertig? Sharow, du nimmst die abgeschnittenen Stücke und trägst sie in die Dreherei. In welche? In die Dreherei bei der Martinabteilung gegenüber vom zweiten Schornstein. Ein Idiot bist du doch!"
Der Alte wich zurück, lief leise aus der Abteilung, überholte Sharow und drückte dann auf die ölbeschmierte Klinke einer kleinen Tür, die sich lautlos öffnete. Ein paar Drehbänke glänzten matt im Schein der einzigen elektrischen Birne, die brannte. Der Alte drückte sich in eine dunkle Ecke, in der Stahlstücke herumlagen.
Gleich darauf öffnete sich die Tür ein zweites Mal geräuschlos, um den unter seiner Last keuchenden Sharow einzulassen.
„Na, du bist aber mal ein Schwächling, Sharow! Das kommt alles vom Saufen."
„Nein, Antonytsch, das kommt von der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Wenn ich's erst geschafft haben werde, dann werde ich aufhören zu saufen. Ich bin mir selbst zuwider. Aber deinen Weg werde ich nicht betreten, Antonytsch. Du bist ein Aas! Du hast auch den Sergej auf Abwege gebracht!"
„Quatsch nur noch lange, du Trottel. Lauf lieber hin und hol' das zweite Stück."
Sharow verschwand. Die Maschine lief an und erfüllte die kleine Werkstatt mit dem Krachen des Drehstahls. Borezki legte einen Stab, dessen Ende er unbearbeitet ließ, auf das Gestell einer Drehbank. Der Alte strengte seine Augen an, um den Stab genau zu betrachten. So also wurden die Proben bearbeitet, die dem Laboratorium zur Prüfung übergeben wurden! Von jedem Guss werden solche Stahlstücke in Form von kleinen Stäben hergestellt. Diese Stäbe werden dann in die Prüfmaschinen gespannt, werden gezogen, gerissen, gebrochen, um auf diese Art die Qualität des Stahls feststellen zu lassen.
Das glänzende Probestück hob sich deutlich von dem schwarzen Gestell ab. Mit unüberwindlicher Macht zog es den Alten an. Den Atem angehalten verfolgte er, wie die Probestücke eins neben das andere sich funkelnd aneinander reihten. Es stimmte also: sein Verdacht erwies sich als richtig! Morgen früh wird er Senja Platow die Krankheit aufdecken, die an seiner Abteilung zehrt.
„So, so, Antonytsch", flüsterte der Alte. „So verschaffst du dir also weiter das leichte und satte Leben! Damals bist du ja auch als erster wieder an die Maschine gegangen, damals, als die ganze Fabrik in wildem Hass loderte und einen Verzweiflungskampf um ihr Leben führte. Auch jetzt wieder verrätst du Tausende von Arbeiterhänden und bedeckst meine Fabrik mit Schande. Du bist es also, der meine Lokomotiven ins Verderben stürzt, verfluchter Hund!"
Ganz wider Willen schrie der „Chef" die letzten leidenschaftlichen Worte, die ihm die Kehle verbrannten, laut hinaus, so laut, dass es ihm selbst vorkam, als habe nicht er, sondern ein anderer gerufen, so stark und drohend war der Schrei. Im nächsten Augenblick fühlte er einen schweren Druck, der ihn an die Wand presste.
„Was hast du hier zu suchen, du blöder Teufel, was?"
Und kalte Finger tasteten nach der Kehle des Alten, wie wenn eine gigantische Spinne ihn zu umklammern suchte. Kusmitsch fühlte, wie ihm die Luft wegblieb. Auf den Boden niedersinkend, flüsterte er heiser, mit Anstrengung seiner letzten Kräfte:
„Dieb! Wie früher, stiehlst du den Menschen ihr Glück! Du E—len—der... ich ha ... be... dich... entdeckt..."
Seine Stimme zischte zu Füßen Borezkis wie ein erlöschendes Feuer und mischte sich mit dem Rascheln der herumliegenden Stahlspäne.
„Ent... deckt... ha... be ich... "
Da blitzte der eisenbeschlagene Absatz Borezkis auf und traf den Alten an der Stelle, wo über den eingefallenen Schläfen die weißen Haare schimmerten wie vergossene Milch. Röchelnd erlosch die Stimme.
Eine zitternde Acht, rauschte der Riemen im Leerlauf, die Glühbirne flatterte über der Maschine hin und her wie eine Fledermaus, und gierig fraßen die Schatten die rötlich glänzende Pfütze, die über die verrosteten Stahlstücke sickerte.
Über den Maschinen lag tödliche Stille.
1
Wie ein Peitschenschlag trieb der kurze, strenge Pfiff die vor Ungeduld zitternde Lokomotive vorwärts, und der Sonderzug brauste in die Nacht. Die Lichter der Station versanken hinter ihm, er raste ins offene Feld hinaus, der Morgendämmerung entgegen.
Die Nacht wich ängstlich vor dem mit Donnergepolter dahinrasenden Zug zurück, eilig zog sie die funkelnden Wachposten ihrer Sterne ein und löschte den Scheinwerfer des Mondes.
Grünlich schimmernd klopfte die Morgendämmerung an die Fensterscheiben der Waggons. In den Abteilen wurde die Finsternis dünn und wässerig — wie aus einem Nebel traten die weißen Flecke der Gesichter hervor.
Platow sah, wie die Ingenieurmütze ihm gegenüber mit dem rostig angelaufenen, platt gedrückten Hammer und Anker vorn am Schirm ins Gesicht ihres Trägers hinabrutschte. Schon bedeckte sie die Augen. Der Wagen schütterte, die Mütze glitt immer tiefer, und Platow fühlte, dass Turtschaninow absichtlich sein Gesicht verbarg.
Mochow saß streng und steif auf dem ungewohnten Polstersitz. In seinen weitgeöffneten Augen schimmerte das helle Grün der Dämmerung. Er starrte unverwandt vor sich hin, als sei er von den glänzenden Nickelhaken an der Wand des Abteils hypnotisiert. Die dunkelbraune trockene Borke auf seinen zusammengepressten Lippen erinnerte an eine frische Schweißnaht.
Und noch ein drittes Gesicht sah Platow — es kam ihm sonderbar bekannt vor, und schaute ihn irgendwo von der Wand des Abteils her fragend an. Er beugte sich vor und erkannte sich selbst: sein Spiegelbild hatte etwas Eigentümliches an sich, das Gesicht war grün, an Stelle der Augen waren schwarze Höhlen — alle drei Gesichter, die einander sonst gar nicht ähnelten, hatten irgend etwas Gemeinsames.
Allerdings war das Gesicht Turtschaninows unter dem ledernen
Mützenschild verborgen, doch an dem nervösen Zucken der Lippen sah Platow, dass der Ingenieur wach war. Mochow, der so sonderbar gerade dasaß, wurde wie eine steife Holzpuppe auf dem weichen Sitz hin und hergeworfen, er blickte zu Platow herüber, wobei er häufig verlegen mit den Augen blinzelte.
Die Sonne färbte den Himmel rosig, die Umrisse der Gegenstände wurden klar und scharf; auf den Sträuchern am Bahndamm funkelte der Tau, die Felder verschwammen in der Ferne; auf den Händen Mochows sah Platow die dicken, bläulichen Adern.
„Wo ist Titytsch?" fragte Platow, sich umschauend. „Er ist mit Antonytsch in dem Wagen vor uns", brummte Benjamin Pawlowitsch und nahm die Mütze ab. „Sie sind wegen irgend etwas aneinander geraten und zanken sich. Eine schöne Kommission! Wir sind noch nicht einmal an Ort und Stelle, und schon Differenzen! Dabei müssen wir hier scharf aufpassen, denn die Eisenbahner gehen doch immer darauf aus, die Verantwortung von sich abzuwälzen. Darauf müssen wir auch in diesem Fall gefasst sein. Wissen Sie, Genosse Platow, ich habe in meiner Ingenieurpraxis einmal einen höchst interessanten Fall erlebt. Ich bin damals noch ein junger Ingenieur gewesen und habe in Petersburg am Bau einer Brücke über die Newa mitgearbeitet. Nach etwa zwei Jahren rissen die stählernen Fachwerke, und die Brücke krachte zusammen wie einmorscher Balken. Nun begannen die üblichen Untersuchungen, und Verhöre — kurz, die ganze Quälerei. Natürlich waren wieder die Ingenieure, die Erbauer der Brücke, schuld. Gott weiß, was ich damals durchgemacht habe! Erst nach langwierigen, eingehenden Untersuchungen wurde die wahre Ursache gefunden. Natürlich war der Brückenbau durchaus in Ordnung, und nur das blöde Kommando der zaristischen Soldateska hatte den Zusammenbruch der Brücke herbeigeführt... Irgendein General hatte sein Regiment im Gleichschritt über die Brücke marschieren lassen. Dieser alte Idiot! Infolge der rhythmischen Schwingungen brach die Brücke zusammen. Hier haben wir das, was wir in der Sprache der Technik ,Ermüdung des Metalls' nennen. Aber was erzähle ich Ihnen denn das?" lachte Benjamin Pawlowitsch plötzlich und stockte. „Sie, Genosse Platow, verneinen ja doch den Einfluss der Metallermüdung überhaupt."
„Ich habe diese Erscheinung niemals bestritten. Ich habe nur eine andere Auffassung von ihr", erwiderte Platow trocken und wandte sich von Turtschaninow ab, dem Fenster zu.
„Das wäre auch noch schöner! Ein Grundgesetz der modernen Technik zu bestreiten! Wer in das ABC der Technik nicht eingeweiht ist, würde uns für verrückt halten, wenn wir ihm erzählen, dass man durch Geigenspiel eine Brücke zerstören kann. Dabei ist das eine theoretisch durchaus bewiesene Sache. Und absolut nichts Geheimnisvolles, nicht die geringste Mystik ist dabei..."
Mochow schielte Turtschaninow ungläubig von der Seite an, bemüht, den Sinn seiner schnellen, im Galopp hervorsprudelnden Worte zu erfassen; aber sein Bewusstsein war durch etwas anderes gefesselt, das ihn hartnäckig in die jüngst vergangenen Tage zurückführte. Bald stand Sascha vor seinen Augen, neben ihm ein langer, pechschwarzer Neger, bald sah er die runden, streng blickenden Augen des kleinen Zeitlin vor sich. Er wollte diese aufdringlichen Bilder von sich abschütteln — er rauchte, schaute zum Fenster hinaus, beobachtete die auf- und abschwebend an ihm vorübereilenden Telegrafendrähte, lauschte den ihm unverständlichen Worten Benjamin Pawlowitschs und spuckte zerstreut auf den Boden des Wagens. Dann kam ihm plötzlich wieder zum Bewusstsein, dass er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Abteil erster Klasse saß und als Mitglied der Betriebskommission an den Ort eines Eisenbahnunglücks fuhr. Das erfüllte ihn mit Stolz. „Sowie es sich um irgendeine ernste Sache handelt, da kommen sie zu mir. Siehst du wohl!? Mochow! Und da haben sie sich ein ,Gericht' ausgedacht."
Er wurde besserer Laune, und als er hörte, dass man durch Geigenspiel eine Brücke zum Einsturz bringen könne, verzogen sich seine Lippen zu einem schlauen Lächeln.
Ohne anzuhalten, passierte der Zug die Station, in der sich die durch das Unglück aufgehaltenen Züge stauten: hinter den Scheiben der Waggonfenster sah man die aufgeregten Gesichter der Reisenden, über den schlafenden Lokomotiven kräuselten sich dünne Rauchwölkchen. Und die Tatsache, dass er, Mochow, durch das Vertrauen der Fabrik geehrt, an diesen Hunderten von Menschen vorüberflog, die ihm mit hoffnungsvollen Blicken nachsahen, und dass er sich schnell dem Schauplatz der Katastrophe näherte, erfüllte sein Herz mit Verwirrung und drückender Unruhe: und als der Zug nun in verlangsamtem Lauf auf dem hohen Bahndamm dahinkroch, sich vorsichtig vorwärtsschiebend, stieß er einen hastigen Seufzer aus und ließ sich von dem hohen Trittbrett, das in der Luft zu hängen schien, auf den Bahndamm niedergleiten.
Nacht.
Schwarze Stille lagert über dem Gras, über den schweigenden Bäumen. Über den Wiesen hängen weißliche Nebelfetzen. Nur hin und wieder schnellt ein glitzernder Fisch im Wasser auf und verjagt plätschernd die Schwärze der Nacht, um gleich darauf wieder spurlos in der stillen Dunkelheit zu verschwinden.
Dann erzittern in dem stumpfen Spiegel des Flusses die Sterne, verschwimmen in den lautlosen Kreisen, die das Wasser zieht, um bald darauf wieder, grünlich schimmernde Punkte, über dem kalten, schwarzen Abgrund zu schweben. Ein trockenes Knirschen kommt aus dem dichten Nebel, als ob einer in neuen knarrenden Stiefeln durch das feuchte Gras dahinschritte — das ist das Riedhuhn, das jetzt geschäftig seinen Rundgang durch Wiesen und Felder antritt. Irgendwo in der Ferne antwortet ihm die Rohrdommel mit unterdrückter Stimme, und mit ihr zusammen seufzt ermüdet die Augustnacht. Satter Roggengeruch liegt schwer über den Feldern, die reif zur Ernte sind, er mischt sich mit dem bunten Duft des frischen Heus und zieht in matten Wellen über die schläfrige Erde.
Ein neues, undeutliches, kaum hörbares Geräusch wird geboren ; es hört sich an, als striche ein Windhauch über die Wipfel der Bäume; aber Himmel, Bäume und Gräser ruhen unbeweglich, in. sorgloser Stille. Das Geräusch kommt von oben, von unten, von allen Seiten, es steigt an und rauscht wie ein unruhiger Wasserfall und bringt die Nacht in Aufruhr. Die Rohrdommel ist verstummt. Nur das trockene Knarren des Riedhuhns liegt nach wie vor über den Wiesen. Das Geräusch schwillt an zu einem dumpfen, breiten Getöse, das, den Wiesen und Vogelstimmen fremd, unaufhaltsam und mächtig in die Stille der Nacht eindringt. Der schweigende Wald ist plötzlich angefüllt von Eisenklirren, das weit, weit hinreicht, bis in die Ferne dort hinten, wo die Schwärze der nächtlichen Erde mit dem bläulichen Streifen des Horizonts verfließt.
Und die erhabene Stille, das einsame Knarren des Riedhuhns, die ewige Ruhe, die der Morgendämmerung vorangeht — alles das ist verschwunden, nur das dumpfe Getöse ist da, das Krachen, das Donnern des Eisens. Plötzlich entspringt der nächtlichen Finsternis eine rote Fontäne, die ihre sprühenden Funkengarben zum Himmel aufspritzt — als ob hinter dem Wald eine flammende Fackel emporgeschwungen würde. Ihr Widerschein blitzt auf in den weißen Isolatoren der Telegrafenstangen und in den taufunkelnden schwarzen Seiten der Lokomotive.
Die rotentzündeten Augen der Maschine dringen in die Dunkelheit. Vor ihr laufen die glänzenden Schienenstränge in die Finsternis und reißen plötzlich ab, im nächsten Augenblick werden sich die Räder in die schwarze Erde wühlen. Aber die Schienen laufen, immer im gleichen Abstand, ohne sich zu verlängern oder zu verkürzen, vor der Lokomotive her in die Nacht. Der Leib der Lokomotive ist von einem rosa Schein überhaucht, purpurn das Gesicht des Lokomotivführers, beleuchtet von den Funken, die aus der Feuerkiste springen; ununterbrochen taucht die vom Kohlenstaub geschwärzte Hand des Heizers die Schaufel in den glutroten Schlund. Unmittelbar vor der Lokomotive und ihren beiden Seiten flackert wechselnder Feuerschein, und dann wiederum nichts als Finsternis und das hastende Rollen der Räder: eile dich... eile dich... eile dich... Und irgendwo in der Ferne, als Abschluss des unsichtbaren Zuges, schwimmt in diesem Donnern und Krachen das kleine Sternchen einer Laterne.
Zweitausend Tonnen auf ansteigender Strecke — darum spritzt die Fontäne ihre Funken so hoch in den nächtlichen Himmel, darum wird die Feuertür so häufig auf- und zugeschlagen. Die offenen Klappen des Aschkastens saugen gierig die Luft, die bis in die Feuerung vordringt, die wütend brummt und die bröcklige Kohle verschlingt. Und rechts und links, vorn und hinten, rast die Nacht, die wilde, in Aufruhr versetzte Nacht mit ihren weißen, zerzausten Haaren — den vom Winde zerfetzten Rauchschwaden.
„Das ist ein Maschinchen!" ruft heiser der Lokomotivführer, zufrieden mit dem sicheren Lauf der Lokomotive.
„Wie ist die Steigung?" fragt der Heizer zurück, seine Schaufel stößt knirschend in die Kohlen.
„Drei auf Tausend! Eine gute Maschine!" Plötzlich erbebt die Lokomotive, und die Räder rasen kraftlos auf ein und derselben Stelle. Der Lokomotivführer wirft den Hahn des Sandstreuers herum, und, eine Stütze unter den Rädern fühlend, überwindet die Lokomotive sicher die Steigung. Zufrieden lächelnd zieht der Maschinist eine Zigarette aus der Tasche und beobachtet, wie die schwarzen Sträucher langsam vorbeigleiten. Dann fliegen sie immer schneller und schneller vorbei, schemenhaft rasen weißfüßige Birken vorüber, und wieder singen die Räder ihr altes Lied: eile dich... . eile dich... eile dich... Die Lokomotive durchrast jetzt eine ebene Strecke, mit immer größerer Schnelligkeit. Ruhig leuchtet die grüne Lampe des Streckenwärters. Ruhig und gleichmäßig ist der Lauf der Lokomotive. Und wieder ächzt, donnert und klirrt die Nacht, geweckt von dem durchdringenden Pfiff der Lokomotive. Neigung... Der Regler ist geschlossen. Mit aneinander gepressten Waggons fliegt der Zug den Abhang hinab. Fünf, zehn Waggons drücken auf die Lokomotive und jagen sie mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit vorwärts, und die Nacht ist bis zum Rande gefüllt vom Donnern und Klirren — es ist, als müsste der schwarzblaue Himmel bersten und die Sterne in grünlich schimmernden Funkengarben auf die erschütterte Erde hinunterstürzen.
„Das ist ein Masch... " mitten im Wort wird der frohe Ausruf abgerissen, und der Lokomotivführer, der Kessel, ein Dutzend Waggons— alles wird in einem einzigen Augenblick in tollem, tödlichem Wirbel durcheinander geschüttelt. Und Hunderte von Tonnen Metall, Holz, Petroleum donnern in die heulende Finsternis, platzen aufeinander in ohrenbetäubendem, grässlichem Krachen, im Knirschen und Bersten der Waggonwände, im grauenhaften Klirren des Stahls, der Schienen und Räder, in dichten Wolken schwarzen Kohlenstaubs — Funkenbündel spritzen beim Anprall des Metalls auf dem Schotter des Bahndamms in die zerrissene Finsternis. Die Lokomotive bäumt sich hoch auf, dann stürzt sie brüllend den schwarzen Abhang hinab.
Sekundenlange Stille... Dann explodiert der Lokomotivkessel, die Erde erzittert. Und wieder Stille, getränkt von Ölgeruch, zerrissen von dem einsamen Stöhnen eines Menschen... Die Tautränen von sich schüttelnd, weint das Riedhuhn, noch knarrender klagt seine Stimme. Dumpf und trostlos antwortet ihm die Rohrdommel mit menschenähnlichem Todesröcheln.
Schnell kletterte Platow den mit Pfefferkraut, Rotklee und Rispengras bewachsenen Abhang hinauf. Zu seinen Füßen summten Bienen, Grillen und Grashüpfer sprangen durchs hohe Gras.
Platow blickte hinunter und schauderte:
Auf einer Strecke von einigen hundert Metern war die Böschung verschwunden, bedeckt von den Trümmern des Zuges; die rote Bekleidung der zermalmten Waggons lag zerrissen und verbogen auf der Erde, wie das blutige Gerippe eines zerfleischten Tieres; blauen Sehnen ähnlich starrten die ineinander verschlungenen Schienen empor, verknäuelt mit dem Skelett der Waggons; über dem Boden hing, wie ein verendeter Ochse, mit vorgestrecktem Kopf und geöffnetem Rachen, ein Löffelbagger — seine funkelnden Stoßzähne gefletscht, als hätte er die Erde angreifen wollen, wäre aber zu schwach dazu gewesen; sein Unterkiefer hing kraftlos über den weißen Sternen der Margueriten, die im Gras blühten; gigantischen Bomben ähnlich, lagen die grauen, birnenförmigen Betonmischer herum, wie zum Zeichen der Trauer war die Erde mit schwarzem Kohlenstaub bedeckt; betäubend stank das Petroleum, das aus den dickbäuchigen Tanks sickerte.
Vor Aufregung zitternd, glitt Platow den Abhang hinunter. Von allen Seiten, über Wiesen und Felder, Sträucher und Gräben, kamen die Bauern auf den aufgewühlten Bahndamm zugerannt.
Platow lief stolpernd über die Schienen, die wie schwarze Schlangen im Sande lagen. Aus dem Durcheinander von Stahlstücken, Holzsplittern, Steinen, Sand und Kohlen ragte eine zerbrochene Kiste mit importierten Fabrikausrüstungen, aus der der zerschlagene Körper einer Maschine herausguckte. In großen schwarzen Buchstaben trug die Kiste die Aufschrift:
BERLIN—MOLWA UdSSR
Fabrik Krassny Proletari MOSKAU-WEISSRUSSISCH-BALTISCHE EISENBAHN
„Was ist denn das? Unsere Maschinen?" dachte Platow und sah, wie Mochow, der bei der Kiste stand, die Lippen bewegte.
„Hier scheint der Name unserer Station draufzustehen. Was heißt das hier — ich kann das erste Wort nicht entziffern, Genosse Platow... Ist das überhaupt russisch?"
Platow schüttelte bedrückt den Kopf und ging weiter.
Mochow folgte ihm, ängstlich die Berge von zerfetzten Metallteilen, zerbrochenen Maschinen und Schwellen musternd; plötzlich aber blieb er wie erstarrt stehen: aus einem Haufen von Trümmern und Kohlen ragte eine gelbe Hand, die ein grünes Signalfähnchen fest umklammert hielt. Von Grauen gepackt, taumelte Mochow zurück.
Ein wenig abseits, auf der Wiese, sah er etwas Dunkles liegen. Er trat näher. Auf dem weichen, mit Feldblumen üppig übersäten Grasteppich lagen vier Leichen, flüchtig mit roten Signalfahnen zugedeckt.
Ein Eisenbahner mit blassem Gesicht und einer blutigen Schramme auf der Stirn führte Turtschaninow, Platow und Titytsch. Hinter ihnen ging langsam Borezki, den Blick der unsteten Augen auf den Boden gerichtet.
„Hier ist sie."
Neben der aufgebäumten Lokomotive ragte aus dem Sand ein Stück der Achse hervor, das sorgfältig mit Lappen umwunden war. Der Eisenbahner nahm die Lappen ab — wie kalte Sternchen glitzerte die feine Körnung der Bruchfläche. Benjamin Pawlowitsch hockte sich nieder und untersuchte mit zusammengekniffenen Augen die Bruchstelle.
Die Bauern umgaben die Kommission schweigend in einem Halbkreis. Mochow bückte sich und betrachtete aufmerksam den Gesichtsausdruck Turtschaninows. Da sah er, wie das Gesicht Benjamin Pawlowitschs plötzlich von einem zufriedenen, vergnügten Lächeln erhellt wurde.
„Hier, bitte, Genosse Platow. Direkt eine Illustration zu unserem Gespräch vorhin. Ein außerordentlich charakteristischer Bruch! Sehen Sie bitte: die für Ermüdung typischen glatten Zonen. Sehr bezeichnend! Es sind die so genannten Ermüdungsflecken. Beachten Sie: der glatte Teil der Bruchoberfläche hat regelrecht die Form eines konzentrischen Ringes, und nur an dieser Stelle hier, auf einer ganz unbedeutenden Fläche, sehen wir die Körnung, die auf Sprödigkeit zeigt. Ein durchaus typischer Bruch, der in bezug auf die Frage, was die Ursache der Katastrophe ist, keinen Zweifel lässt. In meiner Praxis habe ich selten einen Fall gesehen, wo die Ursache des Unglücks so deutlich zutage tritt... Mir ist ordentlich ein Stein vom Herzen gefallen! Ich fürchtete schon, dass wir irgendwo einen Riss entdecken würden. Das wäre ja für die Fabrik ein Skandal gewesen. Ach — ich bin sehr erleichtert!"
Die Bauern, die von weitem die Szene beobachteten, konnten absolut nicht verstehen, warum dieser Mensch da mit der Brille ein so vergnügtes Gesicht machte, als ob ihn der Anblick der gebrochenen Lokomotivachse ganz außerordentlich freue. Das dachte auch Mochow, der die Achse aufmerksam betastete.
Platow schwieg und blickte finster auf die trüb glänzende Bruchstelle. Die Deutung Turtschaninows war nicht zu widerlegen, die charakteristischen Ermüdungsflecken waren an dem Bruchstück zu deutlich ausgeprägt.
„Nun, was ist Ihre Meinung?" Vergnügt funkelten die Kneifergläser Benjamin Pawlowitschs. „Für mich ist die Angelegenheit vollkommen klar."
Platow blickte auf die finster schweigende Menge, auf den bleichen Eisenbahner, und wies, ohne auf die Frage zu antworten, mit dem Kopf nach den Bauern hin.
„Wenn Ihnen alles klar ist, so gehen Sie zu denen und sagen Sie ihnen Ihre Meinung."
Benjamin Pawlowitsch sah ihn verwundert an und trat zu den Leuten,
„Genossen, ich will euch die Ursache der Katastrophe erklären... "
„Bitte! Bitte!"
„Seht einmal, die Sache ist außerordentlich einfach."
„Natürlich! Furchtbar einfach! Der ganze Zug in. Trümmer!" unterbrach Turtschaninow eine finstere Bassstimme, der man es anhörte, dass ihr Besitzer von vornherein beschlossen hatte, den Erklärungen keinen Glauben zu schenken.
„Jawohl — sehr einfach. Da liegt die Achse, durch die das Unglück geschehen ist. Die Bruchstelle ist fast glatt, als ob die Achse durchgesägt worden wäre. Ein solcher Bruch ist das Kennzeichen der Ermüdung des Metalls. Unter der Einwirkung der andauernden Wechselspannungen finden Veränderungen der Struktur des Metalls statt, die den Augen gänzlich verborgen bleiben... "
„,Sehr einfach"! Dagegen lässt sich nichts einwenden!" brummte derselbe Baß.
„Red' uns doch nicht so unverständlichen Blödsinn vor, uns brummt ohnehin schon der Kopf!" kam ihm eine dünne, singende Frauenstimme zu Hilfe.
„So ein Unglück!"
„Fünf Tote!"
Die einzelnen Stimmen vereinigten sich zu einem dumpfen Getöse, das voller Mißtrauen und Feindseligkeit war. Turtschaninow nahm die Mütze ab, fächelte aus irgendeinem Grunde mit ihr über seinem Kopf hin und her und setzte sie dann wieder auf.
„Seht, Genossen, um sich in dieser Sache auszukennen, muss man wenigstens eine elementare Vorstellung davon besitzen, was Struktur des Metalls bedeutet. Man muss sich in der Technik auskennen... "
„Dabei hat er aber gesagt, dass die Sache ,ganz einfach' sei", triumphierte der Baß.
„Was sollen wir denn von der Technik verstehen?! Wir können ja nicht einmal lesen und schreiben."
„Sag uns mal lieber kurz und bündig: ihr habt die Lokomotive gemacht, nicht wahr? Wo habt ihr da eure Augen gehabt?"
„Seht, Genossen... Es ist wirklich eine von unseren Lokomotiven, das stimmt. Aber ein Bruch infolge von Ermüdung des Metalls passiert stets unerwartet, sozusagen katastrophal, man kann ihn nicht voraussehen. Die Wissenschaft war bisher außerstande, dieses Geheimnis des Metalls zu entdecken."
„So—o—o—o also liegt die Sache! Damit hättest du anfangen sollen", brummte der Baß zufrieden. „Statt dessen redest du große Töne von ,Wissenschaft' und »Technik'! Der hält hier eine richtige Predigt... Die Sache ist also dunkel!" Ein kräftiger, untersetzter, kurzbeiniger Mensch drängte sich vor. Er glättete den Bart, der breit auf der rosa Kattunbluse lag und hob die eine Hand in die Höhe: „Bürger! Das könnt ihr nun verstehen, wie ihr wollt. Eine dunkle Sache! Dabei aber spielen sie sich auf: ,Wir sind Ar—bei—ter, die Vorhut der ganzen Welt'. Wie viel von unserem Geld ist hier nun wieder zum Teufel? Eine Million ? Hunderttausend? Stimmt's, Bürger?" Mit scharfen herausfordernden Blicken wandte sich der Bärtige an die Menge.
„Richtig! Das stimmt!"
„Ri—i—chtig!"
„Nun, Bürger, rechnet mal zusammen. Eine Million! Und alles müssen wir aufbringen. Wir sollen die Steuern zahlen. Steuern zahlen muss man, das wissen wir... Aber das hier heißt unsere Groschen zum Fenster hinauswerfen. Und das ist nun mal unser Los. Aber die Herrschaften brauchen uns nicht den Kopf mit gelehrten Wörtern zu verwirren. Nicht wahr, Bürger? Was seid ihr denn eigentlich für Herren über unser Leben, zum Teufel?" Dabei wandte er sich direkt an Turtschaninow und durchbohrte ihn mit einem Blick, der scharf wie eine Sense war.
Turtschaninow blickte sich verwirrt und hilfesuchend nach Platow um Rings die finsteren, kalten Gesichter der Bauern; ein spöttisches Lächeln kräuselte die Lippen des Eisenbahners, und alles das bekräftigte blitzartig einen in Platow aufgestiegenen unklaren Verdacht. Er fühlte seinen Mut wachsen und trat dicht an die Menge heran.
„Woher soll uns was Gutes kommen?" Der Bärtige ließ nicht locker. „Da hatten wir so ein Subjekt in unserem Dorf — Sharow. Und heute, da ist er Proletaria—a—t. Vorhut der Welt!"
„Lass den Sharow aus dem Spiel, Archip, lass ihn zufrieden", ertönte eine trübe Frauenstimme aus der Menge. „Seine Kinder sind ihm verbrannt. Du freust dich wohl darüber, du Saufbold!?"
„Weshalb soll man noch über einen herfallen, der abgebrannt ist?" protestierten auch andere Stimmen.
„Den Sharow muss man bedauern!"
Platow lächelte dankbar der spitznasigen Frau zu, die so mutig aufgetreten war.
„Dieser Mensch", begann Platow und zeigte dabei auf Archip, „freut sich über unser gemeinsames Unglück, wie er sich jedenfalls auch über das Unglück Sharows gefreut hat, den er jetzt noch hier verhöhnt. Er will euch gegen die Arbeiter, gegen die Regierung aufhetzen. Ich kenne Sharow. Er ist uns zehnmal lieber als dieser Zottelbart da. Er ist einer von den Unsern. Solche wie dieser Archip da haben ihn aus dem Dorf hinausgeekelt; aber unsere Fabrik hat Sharow in ihrem Schoß aufgenommen und wird ihm weiterhelfen. Und du, denke an mich!" rief er Archip zu, der sich wand und krümmte. „Sharow wird zurückkehren in sein Dorf, um solche Feinde wie dich und wie diejenigen, die dieses Unglück verschuldet haben, zu bekämpfen!"
Verwirrt tauchte Archip in der Menge unter. Respektvoll betrachteten die Bauern das mutige, offene Gesicht Platows.
„Genossen! Eure Unzufriedenheit mit den Erklärungen, die euch der Ingenieur Turtschaninow gegeben hat, ist durchaus verständlich. Aber er hat euch ja nur seine persönliche Meinung mitgeteilt. Unsere Kommission besteht aber aus fünf Personen. Wir sind verantwortlich — euch gegenüber, dem ganzen Lande gegenüber: wir haben diese Lokomotive gemacht, und wir müssen auch die Verantwortung für alles, was sich hier zugetragen hat, übernehmen. Mit gelehrten, vielleicht sogar richtigen Worten werden wir uns hier nicht aus der Schlinge ziehen. Nicht wahr, Genosse Mochow?"
„Das ist unbedingt richtig, Genosse Platow. Hier müssen wir in unserem Gehirn etwas herumkramen..."
„Also, Genossen, wir werden die gebrochene Achse mit nehmen und Gericht abhalten über uns selbst. In der Zeitung werdet ihr bald darüber lesen. Jetzt aber wollen wir einmal helfen, die Strecke freizumachen!" Und dabei griff er als erster nach dem schweren Gerippe des Löffelbaggers. Dutzende von Menschen liefen hinzu, um ihm zu helfen, packten an, und der Löffelbagger glitt vom Bahndamm hinunter ins Gras.
Der Eisenbahner setzte sich neben die gebrochene Achse und begann den Verband um seinen Kopf zu ordnen. Er wickelte die blutgetränkte Binde ab und brummte:
„Den Kopf müsste man ihnen dafür abschlagen!"
Mochow blickte auf die glitzernde, körnige Bruchfläche und sann dann angestrengt über irgend etwas nach. Eine unklare Unruhe lastete auf seinem Herzen. Seine Augen mieden den blutigen Lappen in der Hand des Eisenbahners und den Glanz der unheimlichen Bruchfläche und strebten in die Ferne. Schwarze Hummeln summten um die roten Kleeblüten. Heuschrecken schwirrten, mikroskopische Flugzeuge, durch die Luft. Die zu einer Spirale zusammengerollten Schienen ächzten klingend unter den Hammerschlägen. Es roch nach Petroleum. All das erinnerte Mochow an die Fabrik.
Er sah die Abteilung vor Augen, Tausende von Maschinenteilen. Er sah seine Maschine und die Achse, die sich darauf drehte. Hunderte solcher Maschinen rund um ihn, Menschen, klatschende Riemen, Metall, Arbeit. Jahrzehntelang hat Mochow gearbeitet, und niemals hat jemand gesagt, dass er schlecht arbeite. Er führte jeden Auftrag ordentlich aus und galt in der Fabrik als guter Dreher. Hunderte von Lokomotivachsen waren durch seine Hände gegangen. Die abgedrehte Achse, die Mochow von seiner Maschine nahm, sah er nicht mehr wieder, und ihr ferneres Schicksal kümmerte ihn nicht weiter. Seine Gedanken und seine Arbeit beschränken sich auf die Drehbank, innerhalb der engen Grenzen dieser von jeher gewohnten kleinen Welt wirtschaftete er selbständig und unumschränkt. Die seltenen Einmischungen des Werkmeisters erkannte er an und duldete sie.
Und nun plötzlich fühlte Mochow hier, mitten in diesem Wust der Zerstörung, während er, umgeben von der Menge der Bauern, auf die zerbrochene Achse blickte, wie irgend etwas mächtig und gebieterisch in diese abgeschlossene Welt eindrang. Es hat ihn mitten in der Nacht aus dem Bett gejagt, hat ihn hierher geführt. Die kleine grüne Fahne, die aus dem Trümmerhaufen starrt, will Mochow irgend etwas signalisieren, es starrt ihn an aus den Augen der finsteren, misstrauischen Menschen um ihn, die Antwort heischend auf ihn gerichtet sind. Die zerbrochene Achse... Sie reckt ihren abgerissenen Hals in die Höhe, und die Sonne funkelt in der frischen Wunde, als wolle sie das Geschehene noch besonders hervorheben.
Hunderte von Achsen hat Mochow auf seiner Drehbank gehabt, und eine ähnelte der anderen, sie waren nicht voneinander zu unterscheiden. Aber eine von ihnen, die hat sich hier wie ein grauenhaftes Fragezeichen in den Sand gebohrt. „Den Kopf müsste man ihnen abschlagen dafür!" Wem? Dem, der diese Achse gemacht hat. Und wer hat sie gemacht? Und wieder stand Mochow die Fabrik vor Augen, und der Werkmeister Bulawkin mit seiner hässlichen, blaugrauen Warze. „Es wird schon gehen, Mochow. Du hast sie abgedreht und fertig!"
Mochow trat zu dem Eisenbahner heran, er sah den schwarzen Hautfetzen über den Augen und fand keine Worte. Verlegen zupfte er einen Grashalm ab und zerpresste ihn wütend zwischen den trockenen Lippen. In den fiebrig entzündeten Augen des Eisenbahners las Mochow eine strenge Forderung, dieser Ausdruck war ihm schon bekannt. Wo konnte er ihn gesehen haben? Und plötzlich sah er seinen Sascha vor sich. Ja — das war an jenem unvergesslichen Tag gewesen. Saschka antwortete dem Vater damals mit einem ebenso harten, trockenen Glanz in den brennenden Augen. Damals war in die Welt Mochows zum ersten Mal jenes Neue eingedrungen, das er nicht anerkennen wollte und das ihn jetzt aus dem Hautfetzen an der Stirn des Eisenbahners wieder anblickte.
Mit gesenktem Kopf schritt er den Bahndamm entlang.
Vor ihm schaute vorwurfsvoll die grüne Signalflagge aus dem Trümmerhaufen.
Als Mochow zu Hause anlangte, war es spät; alle schliefen schon. Saschka lag da, den Mund mit den vollen Lippen weit geöffnet, und schnarchte. Die Decke war auf die Erde gerutscht und zeigte den bloßen, sonnverbrannten Körper. Eine Zehe war verbunden und erinnerte Mochow an die mit einem Lappen umwickelte Lokomotivachse.
„Da hat er sich wieder irgendwo herumgeschlagen — und nun liegt er da und schnarcht — eine Schraube soll dir aus dem Mund... "
Am liebsten wäre Mochow zu seinem Jungen herangetreten und hätte ihm gesagt: „Fünfzig Jahre hat dein Vater auf dieser Welt gelebt, aber klug ist er noch nicht geworden. Da wirst wohl du, Sascha, mich alten Esel belehren müssen!" Sorgfältig hob er die Decke auf und deckte den Jungen zu. Da setzte sich dieser schlaftrunken auf, rieb sich die Augen und erblickte den Vater.
„Nanu, Kontrolleur, du schläfst ja! Du passt ja heute gar nicht auf deinen Alten auf! Ich habe doch wieder den ganzen Tag verbummelt!"
„Du bist ja doch für den Betrieb fortgewesen, das ist etwas anderes", sagte Sascha beruhigend.
„Na, dann erlaubst du wohl deinem Alten auch, schlafen zu gehen, was? Hahaha! Das sind schöne Zeiten jetzt, 'ne Schraube soll dir aus dem Mund!... Was hast du denn mit deiner Zehe gemacht?!"
„Auf dem Schuttplatz der Fabrik ist mir das passiert... Zeitlin hat gesagt: ,Wir müssen das Patronat über den Schuttplatz übernehmen'. Nun schleppen wir also jetzt das alte Eisen von da weg; ich hab' mir die ganzen Hosen dabei zerrissen So vielleicht fünfzig Pud (Anm.: 1 Pud sind 16 kg) haben wir schon weggeschafft. Morgen geht's weiter."
„Wozu braucht ihr denn das Eisen?'' wunderte sich Mochow. „Wir verkaufen es an die Fabrik, und für das Geld kaufen wir uns Fußbälle."
„Hahaha! Das ist ja ein ganz Gerissener, euer Zeitlin, dieser Itzig."
Sascha machte ein strenges Gesicht.
„Für dieses Wort wird man bei uns aus der Pionierabteilung ausgeschlossen."
„Ach! Wieder was nicht recht gemacht! Eine Schraube soll dir... Das sind, wie gesagt, Zeiten jetzt! Hahaha... "
Mochow widersetzte sich nur noch schwach diesem Eindringen neuer, ihm unverständlicher Gesetze in seine alte Welt. Er legte sich zu Bett, zog die Decke über den Kopf, und sofort fesselte eine schwere Müdigkeit den Körper; sein Gehirn, das dumpf wurde und die Ereignisse des Tages von sich abstreifte, konnte den Sinn der Worte nicht mehr erfassen.
„Das ist noch gar nichts! Es wird bald noch ganz anders kommen. Zeitlin hat gesagt: ,Bald organisieren wir unsere Kommune, wenn wir nur erst ein Haus haben'!"
„Was für eine Kommune?" Verwundert riss Mochow noch einmal die schlaftrunkenen Augen auf.
„Eine Pionierkommune... Da werden wir dann ständig leben. Und alles wird Gemeingut sein... "
Da war es mit dem Schlafen vorbei. Mochow warf die die Decke zurück.
„Was heißt das, ständig leben? Zur Nacht kommt ihr doch nach Hause?"
„Keine Spur. Wir werden auch da schlafen. Wir werden immer dort leben."
Alles das sagte Sascha in einem so frohen, überzeugten Ton, dass Mochow endgültig die Selbstbeherrschung verlor. Sein Sohn will ihn verlassen, er wird ihn damit tief kränken... Und auf einmal fiel ihm wieder ein: übermorgen soll ja die Gerichtsverhandlung stattfinden!
Matt und schweißgebadet lag Mochow da, die Augen auf die Wand geheftet. Sascha war so still geworden, als ob er überhaupt nicht mehr im Zimmer wäre. Aus dem überzeugten Ton, in dem Sascha soeben von der Kommune gesprochen hatte, erfasste Mochow, dass Sascha unbedingt fortgehen würde. Die Wände, mit denen er seine kleine Welt umgeben hatte, wankten und brachen zusammen. Von allen Seiten drangen neue Herren in sein Leben ein. Sie ordneten es auf ihre Weise, warfen die Leitersprossen durcheinander, die Mochow seiner Meinung nach für alle Ewigkeit eingerichtet hatte. An der Unglücksstelle hatte er heute selbst gefühlt, dass ihn das Leben auf eine Höhe hinaufgetragen hatte, von der aus die Welt ganz anders aussah — und diese Höhe war furchtbar. Und nun wird Sascha fortgehen und irgendwo in seiner Nähe, aber doch so fern von ihm, ein selbständiges Leben führen, unabhängig von ihm...
„Saschka! Hörst du? Sage deinem Zeitlin, dass ich morgen zu ihm herankommen werde. Er hat mich gebeten zu ihm zu kommen, er will über irgend etwas mit mir sprechen... "
Dann wickelte er sich in die Decke und verstummte endgültig. Er fühlte eine riesige Erleichterung, Saschka schnarchte schon wieder. Zum letzten Mal sah Mochow die schwarzen unverständlichen Buchstaben auf der zerbrochenen Kiste: BERLIN... vor seinen Augen tanzen.
2
Am Abend erhielt Wartanjan ein Telegramm aus Moskau:
„MOLWA, Raikom. Wartanjan.
Parteifraktion der Trustleitung behandelte in außerordentlicher Sitzung Frage des Baus neuer Lokomotivfabrik. Wegen der ungünstigen Lage in der Fabrik ,Krassny Proletari', bestätigt durch Ihre Rede auf Okruschkomplenum und durch Resolution des Plenums, beschloss Fraktion Einstellung des Neubaus. Kredite gesperrt. Entsenden Sonderkommission zur Untersuchung der Lage zwecks Berichterstattung an Präsidium. Sekretär der Fraktion: Ptizyn."
Wartanjan saß mit dem Telegramm in der Hand da und dachte nach.
„Was werden die Arbeiter nun sagen? Sie haben sich doch schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass die neue Fabrik gebaut wird. Die Erdarbeiten sind schon in Angriff genommen. Kraiski ist in schnellstem Tempo vorgegangen.
Kortschenko natürlich wird voller Schadenfreude triumphieren: Das hast du von deiner ,Selbstkritik'. Man muss gegen diesen Beschluss des Trusts vorgehen. Sich ans Zentralkomitee wenden. Wir müssen kämpfen, bis zum letzten Blutstropfen. Was soll aus der Fabrik werden, wenn aus dem Neubau nichts wird?! Dann sind die Tage dieser alten Fabrik mit ihren abgenutzten Maschinen und ausgeleierten Drehbänken gezählt. Die qualifizierten Kräfte werden alle fortgehen, die Spezialisten zu allererst!
Das bedeutet den Tod der Fabrik... Und was wird dann aus diesem Waldgebiet? Dasselbe, was mit einem Menschen geschieht, dessen Hirn verletzt ist. Kann man einen solchen Wachtposten an den Grenzen des Sowjetstaats brauchen, am Vorabend schwerer Kämpfe? Dann werden alle sagen: Das ist unter Wartanjan geschehen! Nein! Das kann man auf keinen Fall zulassen! Ich werde kämpfen bis zum äußersten. Alles, alles aufs Spiel setzen!"
Er rief an und ließ Kortschenko kommen.
„Das war doch zu erwarten", sagte dieser ruhig, nachdem er das Telegramm gelesen hatte.
„Ja, das ist das Resultat deiner Leitung", antwortete Wartanjan ebenso ruhig.
„Hier steht es schwarz auf weiß, was Moskau veranlasst hat, den Neubau einzustellen. Dein Verhalten auf dem Plenum."
„Du bist also der Meinung, dass ich unsere Arbeit keiner Selbstkritik hätte unterziehen sollen?"
„Du hättest sprechen können, ohne der Fabrik den Todesstoß zu versetzen. Das war Übertreibung und nicht mehr Selbstkritik. Die Selbstkritik soll auf die Gesundung eines Betriebs gerichtet sein. Du aber führst, im Gegenteil, ihre Vernichtung herbei. Du bist mehr auf deinen Ruf bedacht als auf die Fabrik. Jawohl, so ist es! Für dich ist es vorteilhaft zu bereuen."
Wartanjan erhob sich bleich.
„Kortschenko! Erlaube dir nicht noch einmal, mir so etwas zu sagen! Ich habe Irrtümer begangen, das stimmt. Ich habe meine Fehler eingestanden. Es ist mir nicht leicht gefallen. Aber ich fühle mich nicht so schuldig, dass ich durch tägliche Reue meinen guten Ruf wiederherstellen müsste. Ich verdiene mir meinen Ruf, verdiene ihn mir durch meine Arbeit. Erlaube dir nicht noch einmal, derartig schmutzige Anspielungen zu machen!"
„Ich mache durchaus keine Anspielungen. Ich stelle ganz einfach Tatsachen fest. Hier liegt das Telegramm. Da steht es schwarz auf weiß. Und was die schlechten Zustände angeht, über die so schön reden kannst, die sind auch dein Werk."
„Bist du verrückt geworden?"
„Durchaus nicht. Platow habe ich auf dein Drängen hin zum Leiter der Martinabteilung ernannt, und was hat er da geleistet? Der Ausschuß überschwemmt die Abteilung! Heute noch erteile ich den Befehl, dass er den Posten verlässt und dass Kraiski wieder zurückkehrt."
„Das wirst du ohne das Raikom nicht tun!" erklärte Wartanjan im Befehlston.
„Ich werde es doch tun. Ich bin der Leiter, Wartanjan. Das darfst du nicht vergessen. Es ist aller Grund zu diesem Schritt vorhanden. Weiter... Wenn du gegen die Entscheidung des Trusts ankämpfen willst, so musst du schleunigst einen Artikel für die ,Prawda' schreiben und die öffentliche Meinung für uns gewinnen."
„Darüber werde ich nachdenken."
„Weiter", drängte Kortschenko. „Es droht uns neues Unheil: die Eisenbahnkatastrophe ist von der von uns gebauten Lokomotive verschuldet. Es muss bei uns in bezug auf die Ursache der Katastrophe Einigkeit herrschen. Wenn dem Trust bewiesen wird, dass wir die Schuld an dem Unglück tragen, so ist damit unser Schicksal natürlich endgültig besiegelt. Es muss also dafür gesorgt werden, dass Platow nicht etwa wieder eine Diskussion mit Turtschaninow beginnt. Diese Angelegenheit ist eine rein technische, und die alten Spezialisten haben die Frage zu entscheiden. So, das ist alles. Und was unsere gegenseitigen Beziehungen anbelangt, Wartanjan, so vergiss bitte nicht, ich bin ja immerhin ein wenig älter als du. Und dem Zentralkomitee ist der Wert eines jeden von uns bekannt. Leb' wohl!" Ruhig verließ Kortschenko das Zimmer, seine dicke Aktentasche schwankte auf und ab, im Takt mit seinen großen, selbstsicheren Schritten.
Noch niemals hatte sich Wartanjan so klein, so bedrückt gefühlt wie in diesem Augenblick. Von den dunklen Anspielungen abgesehen, enthielten die Worte Kortschenkos viel Wahres. Die Tatsachen richteten sich hartnäckig gegen die Überzeugung Wartanjans, und er fühlte, wie der Wunsch, sich zu widersetzen, immer schwächer in ihm wurde. Nun hielt Kortschenko die Zügel in der Hand. Er war ruhig. Sicherheit und Ruhe begleiteten den Sieg. Er aber, Wartanjan, ist nervös, von Unruhe und Zweifeln zerrissen. Sollte er wirklich gezwungen werden nachzugeben? Das würde einen nie auszulöschenden Schandfleck auf seiner Parteiehre bedeuten... Guter Ruf... Ja, das ist so eine Sache... Verlieren kann man ihn leicht. Aber versuche mal einer, ihn dann wieder zurückzugewinnen. Nicht hinuntersinken. Nicht bis zu dem eigenen kleinen „Ich" hinabsinken, bis zu allen diesen kleinlichen Gefühlen, die Kortschenko in Aufruhr gebracht hat. Die zerren nun an den Nerven, gehen in ganzen Haufen zum Angriff vor, fesseln Willen und Gedanken. Dagegen muss man kämpfen!... Hastig lief der Bleistift über das Papier. Wartanjan machte sich Aufzeichnungen über seinen Plan für die beabsichtigte Kampagne. Mit Ungeduld wartete er auf die Rückkehr Platows, um ihn in milder, kameradschaftlicher Form davon in Kenntnis zu setzen, dass er im Interesse der Fabrik von seiner Stellung als Leiter der Martinabteilung zurücktreten müsse.
Platow kam spät abends, müde und staubig, er roch nach Öl. Mitleidig sah Wartanjan in das eingefallene, gelbe Gesicht und vergaß die Phrase, die er vorbereitet hatte. „Nun, wie war's da?"
„Großer Schaden... Blut. Schande... " Platow fuhr sich mit der Hand' durch das dichte Haar, und auf das vor ihm liegende Papier rieselte schwarzer Kohlenstaub. „Was ist die Meinung der Kommission?" „Wir haben uns im Zuge fürchterlich gestritten." „Was ist die Meinung der Mehrheit?" „Eine Mehrheit ist nicht vorhanden," „Wie steht also die Sache?"
„Turtschaninow und Borezki erklären die Katastrophe mit der Ermüdung des Metalls. Titytsch seufzt: ,Siehst du, so ist das Leben.' Mochow schimpft aus Leibeskräften. Und beide sehen sie mich an, was ich sagen werde." „Und du?"
„Ich?" Platow schwieg eine Minute. Seine von Schweiß und Schmutz verklebten Haare ragten wie dürre Drähte auf dem Kopf durcheinander. „Als Metallurg muss ich die Theorie Turtschaninows unterstützen. Die Ermüdung des Materials ist eine Tatsache. Und diese Tatsache kann ich nicht leugnen, wenn ich Ingenieur bleiben will..."
„Nun also! Ausgezeichnet! Die Spezialisten sind sich einig. Es ist die Meinung der Mehrheit. Die Angelegenheit ist eine rein technische. Dieses Urteil erleichtert unsere Lage. Weißt du, was der Trust beschlossen hat?" Wartanjan entfaltete das Telegramm. „Gut, dass wir wenigstens hier nicht die Schuld tragen."
Platow ließ seinen vor Erschöpfung und Nachdenken schweren Blick auf dem Telegramm ruhen.
„Das ist es ja gerade — dass wir hier... die Schuld tragen." „Wieso? Es ist ein böser Zufall, der nicht vorauszusehen war."
„Ja — es ist ein Zufall. Ein tragischer Zufall. Ebenso wie es ein Zufall ist, dass die Ausrüstungen für die neue Fabrik bei der Katastrophe vernichtet wurden. Aber jeder Zufall hat seine Ursache, er ist stets begründet. Ich will aber kein Mystiker sein und will dieses Teufelswerk nicht mit einer wissenschaftlichen Theorie decken, außer der Metallurgie habe ich nämlich auch die Dialektik studiert."
Wartanjan brach in Gelächter aus.
„Halte dich lieber an die Argumente der Metallurgie. Was die Dialektik anbelangt, so steht's damit bei dir ebenso wie bei allen anderen, das sieht man ... Majakowski hat das prachtvoll gesagt:
Nicht Hegel hat Dialektik uns gelehrt, Mit Waffenklirren drang sie ein in unsre Verse, Damals, als vor dem Feuer unserer Kugeln Die Herren flohen, so wie einstmals wir vor ihren... So ist's doch, nicht wahr? Ausgezeichnet gesagt. Übrigens ist Majakowski mein Lieblingsdichter."
„Ich habe überhaupt keine Lieblingsdichter. Ich hab' keine Zeit gehabt, mir welche anzuschaffen. Die Worte aber, die du hier soeben zitiert hast, enthalten Unheil, sie sind vielleicht sogar Verderben bringend für den, bei dem die Dialektik von selbst ,in die Verse eingedrungen' ist. Das ist falsch. Man muss sie beherrschen, aber das ist nicht so leicht, wie dieser Vers sagt."
„Du hast sie wohl bei Hegel studiert? Du beherrschst sie am Ende?"
„Ich habe Hegel gelesen. Er ist schwierig. Mir liegt Lenin mehr, er ist einfacher."
„Jetzt habe ich dich aber gefangen, Platow. Hegel ist doch die Quelle des Marxismus. Du bist ziemlich rückständig, mein Lieber!"
„Mir genügt fürs erste Lenin", wehrte Platow müde ab.
„Da hocken wir hier beide und philosophieren! Das war eine Abschweifung."
„Nein, das würde ich nicht sagen, Wartanjan. Nun also... wovon sprach ich denn gleich? Teufel, ich bin müde. Ach ja... vom Zufall..."
„Was denkst du also?"
„Ich denke, dass wir die Ursache in unserer Fabrik zu suchen haben. Das bestätigen mir die Beobachtungen bei anderen Zufällen. Sehr interessant ist z. B. die ,zufällige' Übereinstimmung der Ansichten Turtschaninows und Borezkis."
„Was willst du damit sagen?"
„Nichts weiter als das, dass ich in meinen Schlussfolgerungen äußerste Vorsicht walten lassen muss. Bis morgen werde ich mir alles überlegt haben."
„Was beabsichtigst du zu tun?" fragte Wartanjan hartnäckig weiter. Schwerfällig stand Platow von seinem Stuhl auf.
„Ich beabsichtige, die Schlussfolgerungen Turtschaninows zu widerlegen."
„Wart' mal, du widersprichst dir ja selber. Du sagtest ja doch, dass die Ermüdung des Materials Tatsache sei?"
„Jawohl, ich gebe diese Tatsache zu. Auf ihrer Grundlage will ich ja versuchen, die Schlussfolgerungen zu widerlegen und meine eigene Sache aufzubauen."
„Das gefällt mir nicht recht, Platow. Es ist wohl jetzt kaum der geeignete Moment für derartige technische Streitigkeiten. Übermorgen soll eine allgemeine Arbeiterversammlung der Fabrik stattfinden, die sich mit dieser Frage befassen wird."
„Ich werde schon rechtzeitig fertig werden. Ich muss mich nur erst einmal ausschlafen. Nun also — ich gehe. Mein alter Kusmitsch wartet sicher schon lange."
Platow taumelte fast, als er hinausging. Erst in diesem Augenblick fiel Wartanjan ein, dass er vergessen hatte, ihm von der bevorstehenden Maßnahme Kortschenkos Mitteilung zu machen. Wie sollte er auch diesem zum Umsinken müden Menschen etwas derartiges sagen!
Platow schritt die knarrenden Stufen zu seiner Haustür empor und klopfte.
„Der Herr Leiter selbst ist eingetroffen! Bitte sehr", empfing ihn an der Tür eine heisere, aufgeregte Stimme.
„Wer ist da?"
„Ich bin's, Sharow. Kommandant dieses verwaisten Hauses."
„Und wo ist der Großvater?"
„Der Großvater? Der ist weit. Er ist dabei, die letzte Reise anzutreten."
„Was faselst du da für Unsinn! Was für eine Reise will er antreten?"
„Eine ganz gewöhnliche. Früher hieß das ins Jenseits. Jetzt sagt man eine Luftrundreise. In einem Iroplan aus Fichtenholz für elf zwanzig."
„Du bist wohl voll, wie?" fragte Platow und zog Sharow aus dem dunklen Flur ins Zimmer.
„Betrunken bin ich nicht, aber einen gekippt hab' ich — zum Andenken an die Seele des Alten. Ich darf jetzt nicht so viel trinken, Senja! Ich habe zwei Menschen gerettet! Ich bin ein Held, Senja!" Sharow richtete sich stramm auf und streckte die Brust heraus. „Erst hab' ich dich gerettet! Und nun den Großvater. Ich bin direkt zum Lebensretter geboren. Ich werde jetzt mein ganzes Leben lang Menschen retten und werde wieder in die Zeitung kommen, mit einem Bild von mir! Siehst du, so bin ich, Sharow, Alkoholiker und Held!" Er marschierte durch das Zimmer und schlug sich mit dem langen Affenarm auf die Brust.
„Nun höre mal auf, Unsinn zu reden. Erzähle vernünftig, was geschehen ist. Wo ist der Alte?" fragte Platow erregt und packte Sharow bei der Schulter.
„Im Krankenhaus."
„Was ist mit ihm passiert?"
.,Er liegt ohne Besinnung."
„Ist er krank geworden?"
„Er ist durch einen schweren Gegenstand krank geworden."
„Was ist geschehen?"
„Ein eiserner Balken ist ihm auf den Kopf gefallen."
„Wann? Wo?"
„Gestern Nacht in der Dreherei bei der Martinabteilung. Ich komme hinein — ich war in die Gussputzerei gegangen, um ein Gussstück zu holen — da liegt der Alte auf dem Fußboden, ohne sich zu rühren. Und Antonytsch schreit: ,Ein Träger ist ihm auf den Kopf gefallen. Er ist ja blind, der Alte, er sieht und hört nichts mehr! Schnell, lauf und hol eine Bahre.' Wohl eine Stunde lang habe ich nach einer Bahre gesucht. Schließlich hab' ich den ,Chef' auf den Schultern nach dem Krankenhaus geschleppt. Er ist ja leicht, der Alte, wie ein dürrer Stecken. Im Krankenhaus, da kam er dann zu sich: Lauf zu mir nach Hause, Sharow, hat er geflüstert, und sag dem Senja... Und da war er wieder weg. Und so wartete ich hier den ganzen Tag auf dich und hab' vor lauter Langeweile einen getrunken."
Platow stürzte zur Tür hinaus.
Er rannte wie ein Wilder. Stolperte, fiel, sprang wieder auf und rannte weiter — sprang über den Graben der neuen Wasserleitung, über Haufen von Steinen, fegte wie ein schwarzer Schatten unter den Laternen im schlafenden Park hin und stürzte schließlich in das Tor des Krankenhauses.
Mit ihren Pantoffeln über die Steinfließen schlurfend, führte ihn die Schwester in das Krankenzimmer. Im Schein der matten Glühbirne schienen Platow sämtliche Gegenstände formlos, weiß, verschwommen.
„Hier liegt er... gerade hat er noch phantasiert, jetzt ist er ruhig. Ein Mädchen, Olga heißt sie, hat hier lange bei ihm gesessen, und ich glaube, er hat ihr irgendwas gesagt."
Platow ließ sich auf einen Hocker fallen. „Olga... das ist brav von dir, Olga." Alles um ihn versank in unbestimmtem Weiß. Der weiße Bart des Alten verschwamm mit dem weißen Verband, der die Stirn und einen großen Teil des Gesichts verdeckte. Weiße Haare, weiße Kissen. Er nahm die kraftlose, schwere Hand des Alten und fühlte, wie sie seine Finger mit ihrer trockenen, unnatürlichen Hitze versengte — es war, als hätte er einen Formkasten berührt, der noch nicht erkaltet war.
Das vorletzte Glück hatte er gesehen. Aber das letzte, das lässt sich nicht so leicht erringen... Platow suchte in seinem Gedächtnis. „In der Nähe ist es geschehen. Der Alte hatte irgendeinen Gang vor. Da — hat er Antonytsch getroffen. Ein Träger ist ihm auf den Kopf gefallen... Wieder ein Zufall! Zuviel Zufälle in dieser letzten Zeit..."
Platow wartete ungeduldig, dass der Alte erwachen und nur ein einziges Wort sagen sollte, aus dem er alles verstehen würde. Aber der Alte lag unbeweglich da, nur die Decke hob und senkte sich leise, in großen Zwischenräumen.
Bis der Morgen graute, saß Platow so da. Dann ging er mit langsamen, im Sande versinkenden Schritten nach Hause, im Kopf einen dumpfen Schmerz.
Er klopfte bei den Pylajews ans Fenster. Es wurde geöffnet, im Fenster erschien ein hellblonder Kopf — zwischen den Blumenstöcken erkannte er die Gestalt Olgas.
„Platow! Ich habe den ganzen Tag an seinem Bett gesessen. Es geht ihm sehr schlecht. Er hat den ganzen Tag phantasiert: ,Zeigt mir den Deutschen.' Nur ein einziges Mal hat er die Augen aufgemacht und sich nach dir erkundigt. Ich habe ihm gesagt, dass du fortfahren musstest. Darauf sagte er: ,Senja soll die Proben untersuchen.' Dann hatte er das Bewusstsein schon wieder verloren. Ich denke mir, er hat phantasiert. Was für Proben denn? Ich verstehe das nicht. Morgen früh gehe ich wieder zu ihm. Warst du dort?"
Platow merkte gar nicht, dass Olga das „Du" absichtlich betonte. Er sah mit leeren Augen auf die weiße Brust, die durch die Blumen schimmerte. Olga spürte seinen Blick, und die Blumen schlossen sich dichter zusammen.
Platow betrat das leere Haus, blickte stumpf auf den alten knarrenden Diwan und warf sich, ohne sich auszuziehen, aufs Bett. Auf der Erde schnarchte Sharow, die langen Affenarme weit auseinander geworfen.
3
Der alte Schemel rollte polternd unter dem Bett hervor ins Zimmer. Sergej sprang ihm nach und versetzte ihm einen Fußtritt, der gerade den Sitz traf. Das alte Leder platzte, Schmutz und Schuhnägel kollerten auf den Boden.
Sergej brach in lautes Gelächter aus, rannte hinter dem Schemel her und stieß ihn weiter wie einen Fußball. Der Schemel polterte und knarrte und spritzte Schmutz und Staub, die sich seit Jahren angesammelt hatten, von sich.
„Mein Erbteil! Sieh' mal, Marussenka, mein Erbteil!" Sergej ergriff den Schemel und schleuderte ihn an die Wand.
Der Schemel sprang in die Mitte des Zimmers zurück, die Lederfetzen winkten nach allen Seiten.
„Wie zähe er ist, zum Teufel!" Sergej trat auf schwankenden Beinen an ihn heran und spuckte ihn voller Ekel an.
„Ich hasse ihn." Müde setzte er sich auf den Fußboden.
In der Tür stand die Mutter und weinte lautlos. Dann näherte sie sich mit vorsichtigen Schritten Sergej und hob leise den Schemel auf.
Marussja umarmte Sergej: „Geh', Sergej, leg dich schlafen, beruhige dich ... "
„Ich kann mich nicht beruhigen... Ich kann es nicht. Ich als Angeklagter, vor Gericht! Mamssja! Was kann ich zu meiner Rechtfertigung vorbringen? Ach!" Er schüttelte trostlos den Kopf. „Nichts. Nichts. Ich bin schuldig. Und man wird mich morgen verurteilen. Man wird mich mit Schimpf und Schande aus der Fabrik jagen."
Die Mutter ging schluchzend herum und sammelte die Überreste des Schemels.
„Mutter, hör auf zu plärren. Marussja, sieh mal — da sammelt sie ihre Reliquien! Ha—ha—ha! Ich werde ihn verbrennen, den verfluchten Schemel! Er hat mir mein ganzes Leben vernichtet. Sowie ich ihn nur sehe, werde ich wild. Senka sagt, dass väterliche Blut rumort in mir. Vielleicht hat er recht. Aber bin ich denn vielleicht ein Kleinbürger? Marussja! Senka hat mich einen Kleinbürger genannt. Ist das etwa keine Beleidigung? Ich schlage alles kurz und klein!"
„Serjosha, Lieber... Reg' dich nicht auf... " Marussja führte ihn überredend ans Bett.
„Ich liebe niemand auf der ganzen Welt! Alle hasse ich! Das werde ich auch morgen vor Gericht sagen. Mögen sie mich verurteilen!"
„Wieder alles zerrissen, heilige Jungfrau Maria, himmlische Gottesgebärerin", murmelte die Mutter vor sich hin und band sorgfältig den Schemel zusammen.
Sergej warf sich auf dem Bett hin und her, bald aber hatte ihn der Schlaf besiegt, und er schnarchte geräuschvoll.
„Wassiljewna, ich muss dringend fortgehen. In einer Stunde bin ich wieder da. Bleibe du derweil zu Hause."
Und Marussja eilte in die Vorstadt, nach jenem zweistöckigen Haus, in dem sie damals am Fenster gesessen und Sergej ihr Taschentuch vor die Füße geworfen hatte. Morgen sollte die Gerichtsverhandlung stattfinden. Was für ein Schicksal harrte Sergejs? Marussja fürchtete sich, daran zu denken — sie hatte nur den einen brennenden Wunsch: den Schlag abzuschwächen. Und dieser Wunsch trieb sie zu Andrjuschetschkin.
Schüchtern betrat sie das Zimmer. Andrjuschetschkin saß da und schrieb.
„Guten Tag, Grischa. Wir haben uns lange nicht gesehen... " Daran müssen wir uns wohl gewöhnen", antwortete er trocken und schrieb weiter.
„Ich wollte mit dir sprechen, Grischa. Bitte, sei mir nicht böse. Ich liebe ihn. Es ist eben unser Schicksal..."
„Das ist deine Sache. Lebe mit dem, der dir besser gefällt."
„Ich lebe gut. Aber du... wie geht es dir, so allein?"
„Es geht ganz gut. Ich esse in der Fabrik."
„Das Zimmer ist wohl schon lange nicht ausgefegt worden. Wo ist denn der Besen?" Und Marussja suchte den Besen und fegte das Zimmer aus.
Das erinnerte Andrjuschetschkin an das frühere Leben, und er verlor die Ruhe. Aufgeregt warf er die Feder hin. Im Zimmer verbreitete sich der wohlbekannte Geruch nach Frauenkleidern und Puder, neue funkelnde Lackschuhe knarrten über den Boden.
„Was willst du hier, warum bist du gekommen?"
„Ich will dich um etwas bitten, Grischa. Morgen wird die Gerichtsverhandlung stattfinden. Du bist in der Partei und kannst Sergej von Nutzen sein. Wirst du vor Gericht gegen ihn aussagen?"
Andrjuschetschkin schwieg.
„Deine Aussage wird die allerwichtigste sein. Hab Mitleid mit Sergej... Ich bitte dich, mache mich nicht unglücklich, Grischa... " Marussja stellte den Besen hin und schlug die Hände vor's Gesicht.
Andrjuschetschkin zog stöhnend die Luft ein, das Atmen fiel ihm schwer, als habe er die Schutzmaske des Schweißers vor dem Gesicht. Ja — morgen muss er vor Gericht aussagen. Das, was er aussagen wird, steht schon hier auf dem Papier:
„Ich kenne Sergej Wekschin als einen der schlechtesten Arbeiter, als Strolch und Bummler... "
„Grischa, räche dich nicht an ihm dafür, dass ich dich verlassen habe!" bat Marussja bekümmert.
„Sergej Wekschin hat ein liederliches Leben geführt..."
„Grischa, hab Mitleid mit mir. Sergej ist noch so jung. Ebern erst hat unser gemeinsames Leben begonnen. Hab Mitleid mit uns, Grischa..."
„Wekschin ist ein starker junger Kerl. Wenn er wollte, so könnte er für drei arbeiten, aber er liebt die Arbeit nicht und drückt sich, wo er kann... "
„Grischa, sei nicht so hart! Sergej liebt mich... "
„Wekschin hat Schulbildung genossen, ist aufgeweckter als viele andere; aber er macht bei jeder Gelegenheit und aus jeder Kleinigkeit einen Skandal. Solche Leute können wir jetzt in der Fabrik nicht brauchen..."
„Grischa, er ist in den letzten vier Wochen ein ganz anderer geworden. Weshalb willst du jetzt sein Leben vernichten? Was soll aus mir werden ?"
Schweigend überlas Andrjuschetschkin seine vorbereiteten Aussagen. Alles entsprach der Wahrheit. Und Sergej sollte bestraft werden, für alles. Auch dafür, dass er sein, Andrjuschetschkins Leben verödet hatte. Sein Zusammenleben mit Marussja war kein harmonisches gewesen, aber er liebte sie, und in den Tagen seiner Einsamkeit war ihm das erst richtig zum Bewusstsein gekommen. Er hoffte immer noch, dass sie zu ihm zurückkehren würde. Und nun war sie gekommen, saß neben ihm, und Fliederduft schwebte durch's Zimmer und ließ die Vergangenheit wieder aufleben...
„Grischa, ich bitte dich zum letzten Mal... Ich werde ein Kind von ihm haben ... "
Andrjuschetschkin zuckte zusammen. „Nein! Sie wird doch nicht zu mir zurückkehren. Und was soll sie auch bei mir — mit einem fremden Kind?"
„Gut, geh... ich werde nicht im bösen an dich denken Und Marussja ging fort, durch seine Worte ermutigt. Andrjuschetschkin öffnete ein Heft mit einem Wachstuchdeckel. „Genossen! Der Fliederduft birgt schwere Gefahr..."
Lächerlich und höhnisch klangen ihm die Worte entgegen. Er krampfte die Finger zusammen und zerknüllte das Heft.
Mit gesenkten Augen hörte Sergej das Urteil an. Der lange, magere, schwindsüchtig aussehende Richter verlas das Urteil mit dünner Stimme, dabei verhaspelte er sich, wiederholte ganze Absätze von vorn und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Wenn er bloß schon fertig wäre!" dachte Sergej bedrückt; er fühlte Hunderte von Augen mitfühlend oder verächtlich auf sich ruhen.
In dem kleinen Gerichtssaal war es schwül, die Menschen schwitzten. Sharow blickte gewichtig und triumphierend um sich und fühlte sich als Held des Tages. Marussja hielt die Barriere unklammert und starrte dem Richter mit ängstlichen Augen auf den Mund. Sie hatte das Gefühl, als zerrissen seine langen gelben Zähne erbarmungslos ihr zitterndes Herz.
Andrjuschetschkin, das Gesicht rot vor Hitze, ließ verlegen die Augen über die Wand schweifen. Die hellen Brauen zuckten wie Schmetterlingsflügel auf und nieder.
„... Das Gericht beschließt: der Angeklagte Wekschin wird zu drei Jahren Arbeitszwang, ohne strenge Isolierung, verurteilt. Gegen das Urteil kann auf dem gewöhnlichen Wege Einspruch erhoben werden. Die Gerichtskosten in Höhe von 15 Rubel 50 Kopeken werden dem Angeklagten Wekschin auferlegt."
Sergej hielt den Blick gesenkt und wandte sich dem Ausgang zu, die Leute vor sich grob beiseite drängend.
„Der ist ja noch billig davongekommen", wunderte sich jemand laut.
„Andrjuschetschkin hat sehr gelinde ausgesagt, sonst hätte man anders mit ihm abgerechnet", antwortete ein junger Bursche.
„Na, das ist nicht so schlimm. Er wird weiter in der Fabrik arbeiten, und entsprechend dem Urteil muss er sich einen Lohnabzug gefallen lassen."
Sergej war schnell die Treppe hinuntergerannt und lief durch die Straßen, ohne auf Marussja zu achten, die hinter ihm herrief. Wusste nicht jeder Mensch auf der Straße schon das Urteil? Er blickte nicht auf und beschleunigte die Schritte..... In dem engen Vorzimmer Borezkis werden ihm vertraute Gerüche entgegenschlagen. Der karierte Mantel hängt an seinem gewohnten Platz. Daneben die ölgetränkte wattierte Joppe. Er öffnet die Zimmertür. Am Tisch sitzt Borezki über eine Zeitung gebeugt. Die untergehende Sonne vergoldet seinen gebräunten Nacken und das üppige Haar Waljas.
Seinen Hass gewaltsam unterdrückend wird Sergej sagen:
„Ich bin gekommen, um dir für alles zu danken, Antonytsch. Ich habe die Lehrzeit bei dir hinter mir und habe eben mein Examen auf drei Jahre Arbeitszwang ohne strenge Isolierung bestanden. Ich danke dir!"
Das Gesicht wird bis zu dem Nacken mit den Falten plötzlich erblassen und unter dem Tisch verschwinden...
... . Sergej bog in die Lichwinskajastraße ein, wo in dem Haus mit den rosa gestrichenen Fensterläden das geschehen sollte, was er sich eben ausgemalt hatte. Er hatte das Urteil sehr ruhig hingenommen. Er hatte Schlimmeres erwartet. Sonderbar, dass ihn Andrjuschetschkin nicht mehr heruntergemacht hatte. Er war sehr erstaunt gewesen, als Andrjuschetschkin plötzlich darauf hinwies, dass sich der Angeklagte in den letzten vier Wochen sehr gebessert habe, ein ordentliches Leben führe, eine Familie gegründet habe... „Ich habe ihm doch Marussja genommen. Ein sonderbarer Kauz, der Andrjuschetschkin! Nicht einmal ordentlich rächen kann er sich. Aber ich werde mich rächen."
Da war er auch schon in der Lichwinskajastraße. Das zweite Haus rechts. Die rosa Fensterläden schimmern in der untergehenden Sonne.
Die Luft ist feucht wie in einer Badeanstalt. Die Füße versinken im Sand. Da sind die paar Stufen bis zur Haustür. Der kühle Hausflur. Das Vorzimmer. Der karierte Mantel. Die wattierte Joppe. Walka.
Mit erschrockenem, bösem Blick sieht sie Wekschin an.
„Was willst du?"
„Deinen Vater sprechen. Wo ist er?"
„Er wird bald kommen. Was willst du von ihm? Du wirst ihn ja morgen früh in der Fabrik sehen."
„Ich muss ihn aber heute sehen. Ich werde warten."
Er setzte sich auf den wohlbekannten Diwan und streckte die Füße von sich.
„Warum bist du so böse?"
„Nicht alle können gut sein. Zu dir ist ja Marussja gut."
„Sie ist gut, das stimmt. Sie wird mich sogar trotz des Urteils noch lieben."
„Wie ist das Urteil?"
„Drei Jahre ohne strenge Isolierung."
„Na, also, du hast's ja auch verdient, nun musst du eben büßen! So weit hast du's gebracht. Du kannst dich nicht einmal beklagen", erklärte Walja in befriedigtem Ton.
„Ich beklage mich auch nicht. Ich werde eben büßen. Bloß du tust mir leid, Walja."
„Ich brauche dein Mitleid nicht. Es wird mich schon irgendein anderer bemitleiden!" Trotzig schüttelte Walja ihre kupferroten Locken.
Aus dem Garten drang frischer Heugeruch ins Zimmer. Er rief Sergej die Sommernächte, die flammenden Locken, im denen trockene, duftende Heuhalme hängen geblieben waren, ins Gedächtnis, und ein gutes, warmes Gefühl keimte in seinem Herzen auf.
„Walja, ich wünsche dir nur Gutes. Es wird vielleicht bittet für. dich sein, was ich dir jetzt sagen werde. Die Wahrheit ist immer bitter, wie ein Urteil. Aber höre mich an: mein Unglück hat dein Vater auf dem Gewissen. Ich dachte, er würde mir eine Stütze sein im Leben, mein Maßstab, mein Zollstock sozusagen. Und mit diesem Zollstock hab' ich mein Leben gemessen. Aber es hat sich herausgestellt, dass er falsch ist, dieser Zollstock. Ich habe mich verrechnet, geirrt, Walja... Dein Vater ist... ein Halunke... "
Ein leises Geräusch, wie das Schnurren einer Katze, klang vor der Tür. Durch den engen Spalt, der sich öffnete, wurde, langsam und feierlich, ein Fahrrad hereingeschoben. Man hörte es kaum. In kaltem Glanz funkelten die vernickelten Speichen. Auf dem dunkelblauen Samtsattel lag, einer gelben Spinne gleich, eine Hand und führte das Rad ins Zimmer. Und die gelbe Spinne zog die untersetzte Gestalt Antonytschs hinter sich her.
„Walja! Achtung — hier!"
Sergej hatte sich fest in die weiche Diwandecke gedrückt. Mit einem durchdringenden, scharfen Vogelschrei sprang Walja auf, warf sich dem Vater um den Hals und konnte sich lange Zeit nicht von diesem Manne in der schmutziggrauen, nach Rauch und Schmieröl riechenden Jacke losreißen.
„Papa! Für mich? Wirklich für mich? Tatsächlich?! Mein lieber, guter Papa!"
Mit zitternden Händen streichelte Walja den blauen Samt des Sattels, betastete die Reifen, die funkelnden Speichen und warf sich dann dem Vater von neuem um den Hals.
Der fahle, vom glühenden Metall gebleichte Blick Antonytschs glänzte auf vor Freude, die Lippen unter dem harten Schnurrbart zuckten leise. Als aber plötzlich Sergej wie eine Erscheinung vor ihm stand, da sank Antonytsch matt, wie vom Blitz getroffen, auf einen Stuhl.
Außer sich vor Wut, die ihm das Herz zusammenpresste, schlug Sergej Borezki mitten ins Gesicht; dann fasste er mit seiner heißen Hand nach Waljas kühlen Fingern und rief:
„Walja! Walja! Verflucht soll dieses Geschenk sein! Ich... Er... Ihr alle beide seid Halunken. Rühr' es nicht an! Schreie doch! Damit es alle hören! Damit das Volk zusammenläuft!
Damit Tausende von Menschen die sehen, die ihnen das Glück stehlen."
Er schrie, heiser und außer Atem, und kannte seine eigene Stimme nicht wieder. Walja, totenblass, wischte mit zitternden Händen die strömenden Tränen ab und sank schluchzend auf den Diwan.
Sergej wandte sich dem Ausgang zu; dabei blieb er mit dem Fuß in den Speichen des Rades hängen, riss sich los, hörte im Weglaufen, wie das Rad polternd hinfiel, hörte Waljas krampfhaftes Weinen.
Zufrieden mit seiner Rache, lief Sergej durch die Straßen.
Die Freude an dem eigenen starken, kräftigen Körper weckte in ihm ein Gefühl stolzer Zufriedenheit, und nur ganz in der Tiefe der Seele empfand er eine leise, unklare Unruhe, die ihn störte wie eine kleine, unbedeutende Wunde, die Furchen in seine Stirn grub. Und nervös beschleunigte Sergej seine Schritte, als wolle er diesem unangenehmen Gefühl entrinnen.
Er blickte sich um und sah, dass alles war wie sonst. Wie sonst strömte der dichte Menschenstrom vorwärts und verteilte sich in den Straßen und Gassen; die Luft war erfüllt von lebhaftem Gespräch und Gelächter; bis zum nächsten Morgen zogen sich die Menschen in die stille kleine Welt ihrer dreifenstrigen Häuserchen zurück. Auch Sergej wird gleich zu Hause sein, und das Leben geht wie früher seinen Gang.
„Wie früher...?" Sergej spürte, wie seine Handfläche brannte — verwundert sah er sie an und befühlte sogar die raue, harte Haut — alles war in Ordnung. Plötzlich sah Sergej das, was eben in dem Häuschen mit den rosa Fensterläden geschehen war, grell und deutlich wie vom Schein eines Blitzes beleuchtet, vor sich, und er glaubte die stechenden Bartstoppeln wieder an der Handfläche zu fühlen.
Sorgfältig wischte er mit einem schmutzigen, grauen Taschentuch die Hand ab.
Jawohl, er hatte recht getan: Borezki hatte seine besten Gefühle verletzt, hatte ihn erniedrigt, und Sergej hatte sich gerächt, für sich selbst und für Walja, für den verklungenen Traum von einem schönen, freudigen Leben. Weshalb schämte er sich dann bei der Erinnerung dieser Szene?...
Die Schranke beim Bahnübergang war geschlossen. Die Menschen standen wartend da und ließen einen langen Zug neuer Waggons an sich vorüber. Die Räder polterten, wenn sie über die Schienenschwellen rollten; in langen roten Reihen, wie bei einer Parade, zogen die Waggons an ihrem Schöpfer vorüber, und mit liebevollen, eifersüchtigen Augen blickten ihnen die Menschen nach.
Da steht Titytsch, streicht sich schmunzelnd den Bart und stößt seinen Begleiter an, der mit einem roten Bündel unter dem Arm neben ihm steht:
„Einfach Zucker, aber keine Waggons!"
„Wirklich, das ist Klasse!" antwortete das rote Bündel mit Überzeugung.
Nach den Waggons kamen dann neue Lokomotiven. Erst die niedrige „V", dann die schwere, kurzbeinige Güterlokomotive „Eb" und zu guter Letzt, mit lang gestrecktem Rumpf auf hohen Rädern, die strahlend funkelten, die flinke Schnellzugslokomotive „SU".
„Wie ein Orlowtraber", sagte Titytsch zärtlich.
„Die da ist einfacher und dicker — wie ein schweres Lastpferd... Och, das ist eine starke", rief das rote Bündel ganz entzückt aus.
Und plötzlich stellte sich Sergej vor, wie sich tief verborgen unter der funkelnden glänzenden Umhüllung, tief im Innern des Stahlkörpers dieser Riesen, wie Schlangen verhängnisvolle Risse krümmen. Niemand sieht sie. Und niemand weiß es. Wie kann das sein?
Da rühmte Titysch seinen Gefährten gegenüber die ausgezeichneten Eigenschaften der Lokomotive und nickte Sergej zu:
„Fein, was? Na ja, unsere Fabrik, die wird sich doch nicht blamieren."
„Die wissen nichts, garnichts wissen die!"
Vielleicht werden diese wunderschönen, funkelnden Lokomotiven morgen schon irgendwo die Böschung hinuntersausen? Und Blut wird umherspritzen, und beim Klatschen und Krachen des aufeinander prallenden Eisens wird der Tod reiche Ernte halten...
Und da verstand Sergej, wie nichtig und jämmerlich seine Empörung war.
Wiederum musterte er die Gesichter der Menge und sah die aufrichtige Freude auf dem Gesicht Titytschs. Und ein starkes Mitleid mit allen diesen Menschen ergriff Sergej.
Dann machte er plötzlich kehrt, stieß die neben ihm Stehen den grob beiseite und rannte die Straße hinunter, zurück. Man schimpfte hinter ihm her.
„Nanu, du bist wohl blind, du Esel, was?"
„Stößt da herum wie ein Wilder!"
Diese Rufe trieben Sergej nur noch mehr zur Eile, atemlos teilte er die heiße Menge der menschlichen Körper.
Weshalb hatte er früher nicht daran gedacht? Ob es wirklich zu spät war?!
Ganz in Schweiß gebadet kam Sergej schließlich beim Fabriktor an. In langer, verwirrter Rede erklärte er dem verwunderten Wächter, dass er, Sergej, unbedingt sofort in die Fabrik hineinmüsse, dass er schleunigst mit dem Direktor sprechen, ihm etwas Wichtiges mitteilen müsse, dass Borezki den Aufbau des Sozialismus sprenge, und dass ihm, Sergej, alle die Menschen unendlich leid täten, die beim Bahnübergang ständen und sich übet die neuen Lokomotiven freuten.
Lange und andauernd klingelte das Telefon. Kortschenko nahm den Hörer auf.
4
In der Dämmerstunde kam Wera ganz unerwartet zu Platow. Fröstelnd hüllte sie sich fester in ihren grauen, gestreiften Mantel und setzte sich leise auf den knarrenden Diwan.
„Ich fühle mich so einsam zu Hause, Platow, ich möchte ein wenig hier sitzen. Ja?" Sie stützte den Kopf auf die Hände. „Ewig arbeiten Sie, Platow, sind Sie denn niemals müde? Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich. Ich möchte es so!" Sie hob ihren schlanken Arm und, der zurückfallende Ärmel entblößte ihn bis zu den Schultern hinauf; sie zog Platow zu sich heran.
„Nun, kommen Sie?"
Platow klappte das Buch zu und setzte sich neben Wera. Es war schwül, ein Gewitter stand am Himmel. Wera aber, hüllte sich immer noch fröstelnd in ihren Mantel, als könne sie nicht warm werden. „Was ist Ihnen, Wera?"
„Mir ist so unheimlich zumute, Platow. Ich hatte mich ausgezogen und zu Bett gelegt; da war mir plötzlich, als ob hinter der Wand irgend jemand jämmerlich stöhne und weine. Aber es war niemand im Hause. Papa ist in der Fabrik... Da hat mich ein eiskalter Schrecken gepackt, ich hab mir die Decke über den Kopf gezogen und lag da, ohne zu atmen... Mir kam es vor, als müsste jeden Augenblick irgend etwas Furchtbares passieren, das mich vernichten würde. Ich habe es nicht länger ausgehalten und bin hierhergelaufen... Fühlen Sie nur, wie eiskalt meine Hände..."
Geschmeidig wie Schlangen krochen die Arme langsam aus dem Mantel, dann erschienen die nackten Schultern, der Hals — gleich musste der Mantel fallen und ihren lebensgierigen Körper ganz entblößen.
„Ich habe fast nichts an... ich hab' mir nicht die Zeit genommen... Mir ist immer noch ganz unsagbar unheimlich zumute. Sagen Sie irgend etwas Frohes, Vergnügtes, damit ich lache, damit mir wieder warm wird. Ich erfriere!"
Ein feiner, erregender Resedageruch ging von ihr aus. Ihre rosigen Nasenlöcher blähten sich auf wie die Nüstern eines gehetzten Pferdes. Die halbgeöffneten Lippen waren feucht und verlangend. Die Augen schillerten in grünlichem Glanz.
„Sen—ja . .
Durch Platows Körper lief ein Zittern. In heißen Wellen überfiel ihn eine Mattigkeit, die seine Bewegungen, seine Gedanken lähmte — er fühlte nur noch den Resedageruch und den Duft dieses zitternden Frauenkörpers. Er begriff — eine Sekunde noch, und er würde die Beherrschung verlieren, und dann würde alles versinken im Nebel einer dumpfen, dunklen Bewusstlosigkeit. Er riss sich mit Gewalt zusammen und rückte von dem Mädchen ab; der alte Diwan ließ ein durchdringendes Knarren hören.
„Ihre Nerven gehen mit Ihnen durch, Wera. Da helfen Baldriantropfen. Auch Brom, kalte Abreibungen, Gymnastik... " Platow ging im Zimmer auf und ab, er streifte die letzten Überreste dieses Zaubers, der seine Sinne gefangen nehmen wollte, von sich.
„Bin ich zur unrechten Zeit gekommen, Platow? Vielleicht erwarten Sie jemand anders? Ich kann gehen. Ich gehe zurück in mein einsames, verfluchtes Zimmer und werde weinen..." Ihre Stimme vibrierte und füllte sich mit Tränen. „Ich habe soviel in diesen Tagen durchgemacht. Alles Teure, alles Heilige, was ein Mensch nur besitzen kann, habe ich geopfert. Ich lebte in der Hoffnung, dass ich bei dem Genossen, bei dem Freund, für den ich Sie immer gehalten habe, Beistand finden würde. Aber Sie wenden sich von mir ab, Platow. Sagen Sie... Sage mir, Senja, hast du denn nicht einen Funken Liebe für mich bewahrt?"
Platow blickte sie mit einem langen, prüfenden Blick an. Auf dem Diwan saß jene Wera, die er hasste. Erregt und verängstigt warf sie ihre schlanken weißen Arme hoch; der Mantel fiel auseinander und weiße Spitzenbündel rieselten wie kalter Schaum über den Diwan.
Und dieses weiße Spitzengeriesel auf dem Diwan, auf diesem ärmlichen Lager des alten Kusmitsch, schien Platow nicht hierher zu gehören, es schien ihm eine Beleidigung.
„Platow! Sagen Sie aufrichtig: Ihnen gefällt... diese Olga... die Pylajewa?"
„Ja, sie gefällt mir! Sie ist ein lebhaftes, fröhliches und tüchtiges Mädchen. Ich kenne sie schon lange, ich kannte sie schon in den schrecklichen Jahren, als ich ein junger Bursche war und sie ein Kind — ich sehe immer noch ihr Kindergesicht vor mir, schmerzverzerrt und fassungslos über das furchtbare Ereignis. Ja, sie hat auch" — Platow hob das „auch" besonders hervor — „viel durchgemacht. Vielleicht mehr als andere. Aber sie hat sich ein starkes Gefühl für das Leben bewahrt. Sie strömt über vor heißer, brodelnder Tatkraft. Ja, das Leben hat sie gut erzogen!" Platow sprach ganz begeistert von Olga; als er sich umwandte, sah er in die Augen Weras, die ihn eiskalt anfunkelten.
„Was soll ich tun? Mich hat das Leben eben auf andere Weise erzogen. Meinen Vater haben sie, leider, nicht gehenkt..." Wera schüttelte sich und bedeckte die Augen mit der Hand. „Ich bin auf meinem eignen Wege zur Revolution gekommen. Warum soll ich nicht das Recht besitzen, ihre Freuden, ihr Pathos und Entzücken mit denen zu teilen, die sich dieses Recht durch ihre proletarische Herkunft erworben haben? Soll ich nie aus diesem verfluchten, geschlossenen Zauberkreis heraus können? Soll ich wirklich nicht das Recht besitzen, in Ihrem Zuge mitzufahren, Platow, den Sie Sozialismus nennen? Antworten Sie mir!" schrie sie heiser in ungeduldigem Drängen.
„Es ist etwas lächerlich, Wera, jetzt, nach über einem Jahrzehnt, über dieses Problem zu diskutieren. Es ist zu einfach. In unserem Zug sind viele freie Plätze, bitte sehr, steigen Sie ein! Es fahren Arbeiter, Bauern, Intellektuelle mit. Wir nehmen alle mit, die auf den toten Gleisen und in den Sackgassen der Geschichte verrostet sind. Sie können auch einsteigen, Wera, aber werfen Sie Ihr schweres Gepäck weg: Ihren Dünkel, das Gefasel von Selbstaufopferung, Individualismus, und auch all Ihr Handgepäck — die vielen Köfferchen und Körbchen, die mit den intellektuellen Tränen, mit Egoismus und all dem anderen Dreck angefüllt sind. Solch Gepäck brauchen wir nicht. Wir Arbeiter schleppen immer noch selbst allerhand überflüssigen Ballast mit herum... häufig besteigt ein Metallarbeiter noch mit einem Ferkel im Sack den Zug. Steigen Sie ein, bitte sehr! Aber kaufen Sie sich eine Fahrkarte für die Reise. Bezahlen Sie sie mit Ihrer Bereitschaft, zu kämpfen und nicht zu lamentieren. Und dann vergessen Sie nicht: Schlafwagenplätze gibt's in unserem Zug nicht. Alle Plätze sind hart. Bitte, steigen Sie ein! Aber denken Sie daran, Sie können aus ihrem verfluchten Zauberkreis nur dann herauskommen, wenn Sie ihn mit eigener Hand zerschlagen. Und jetzt antworten Sie mir: wenn Sie Ihre Forderungen an uns stellen — was haben Sie getan, um uns den Weg zu erleichtern? Wo ist Ihre Fahrkarte?"
Wera blickte ihn mit einem Lächeln an, das verschmitzt und ängstlich zugleich war:
„Genosse Schaffner, ich werde gleich nachsehen... Hier ist sie!" Mit heißer Hand streichelte sie seine Wange und lachte dabei leise. „Ohne diese Fahrkarte werden Sie ja doch nicht bis zum Kommunismus kommen, Genosse Schaffner."
„Scherz beiseite, Wera Pawlowna. Wo ist ihre Fahrkarte?" Wartend stand Platow vor ihr, und sein strenger, fordernder Ton machte ihr Lachen verstummen.
Da dachte Wera an den Brief, den sie aus Moskau mitgebracht hatte, an das Gespräch mit dem Vater, und sie verstand, dass ihr Zauberkreis noch nicht zerschlagen war. Sein eiserner Reifen hält die zerbröckelnden Teile der alten Welt immer noch zusammen, sie besteht immer noch nebenher, die alte Welt, sie tritt täglich mit ihr in Berührung, wenn der Vater kommt. Was muss sie also tun? Den Vater verraten? Jetzt gleich alles erzählen, was sie weiß? Genügt das Opfer, das sie gebracht hat, immer noch nicht? Muss sie wirklich auch noch eigenhändig den eigenen Vater erschießen? Ja, dann wird der Kreis zerschlagen sein...
„Ihre Fahrkarte!" fordert hartnäckig die trockene Stimme.
Verwirrt sprang Wera vom Diwan auf und wickelte sich in ihren Mantel. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Im nächsten Augenblick würde sie zu Füßen dieses grausamen Menschen hinsinken.
„Sie wollen als blinder Passagier mitfahren? Daraus wird nichts! Da lassen wir Sie auf der nächstbesten Station zurück und fahren ohne Sie weiter zum Ziel. Auf Wiedersehn, Wera."
Sie blieb an der Tür stehen und streifte Platow mit einem irren Blick. Ihr Mantel schlug langsam auseinander, wie eine Flügeltür. Der tiefe Ausschnitt ihres Hemdes ließ die nackte Brust sehen.
„Die Fahrkarte wirst du dir selbst holen, Platow!' Ihre Stimme riss in dem dunklen Vorzimmer ab wie eine zersprungene Saite.
Platow machte das Buch wieder auf, aber die Zeilen schwankten wie dunkle, stumme Pfade vor seinen Augen...
„Morgen ist der entscheidende Tag. Morgen wird die letzte Schlacht geliefert. Und siegen wird der, der an sich selbst glaubt. Den Glauben an mich selbst besitze ich, er hat mich sogar in diesen schweren Tagen nicht verlassen. Man muss die Waffe fest in der Hand halten. Diese Waffe besteht in der Unterstützung derer, die mir nahe stehen. Kusmitsch und Olga. Titytsch. Mochow.. Wartanjan... Wera? Wollen sehen. Die Armee aufstellen. Hinter Olga, Mochow, Titytsch stehen Hunderte, Tausende — steht die Klasse. Die Verbindung mit diesen Tausenden, das Eindringen in ihr ganzes Sein, das Anknüpfen an ihre unklaren, nicht gestalteten Gedanken, das ist eine neue Waffe. Die besitzt der Gegner nicht."
Platow trat in den Garten. Der starke Geruch reifer Äpfel umfing ihn. Im Schein des Mondes hingen die Bäume unnatürlich, wie Kulissen, und wie eine ebenso unnatürliche, auf dem Hintergrund des Himmels hingetuschte Kulisse erschien das bucklige Dach des kleinen Hauses der Pylajewa.
Er klopfte ans Fenster. Da erschien der Kopf der Pylaicha am Fenster, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ängstlich stand sie hinter dem Vorhang und flüsterte irgend etwas,
„Mach' auf, Großmutter. Ich bin es, Senja."
Vorsichtig öffnete die Alte das Fenster.
„Schläft Olga?"
„Sie ist den ganzen Tag herumgelaufen, immer läuft sie herum. Sie hat nichts gegessen, nur ein paar Äpfel geknabbert."
„Ist das Platow, Großmutter? Gleich... " Und Olga trat ans Fenster.
„Entschuldige, Olga, dass ich dich störe. Aber diese Tage sind so unruhig. Was macht der ,Chef'?"
„Sprich bloß leise, damit die Alte nichts hört..." flüsterte Olga so dicht an Platows Ohr, dass ihre Haare sein Gesicht kitzelten. „Der Doktor sagt, der Großvater muss sterben. Er hat zuviel Blut verloren. Er ist bis jetzt nicht mehr zum Bewusstsein gekommen, er phantasiert immer noch von dem Deutschen... Wie schwer, Senja!"
„Ja, wir haben es schwer, Olga." Die bebende Stimme Platows verriet seine Erregung. „Morgen auf der allgemeinen Belegschaftsversammlung müssen wir den Kampf aufnehmen. Du musst mir dabei helfen, Olga. Ich werde nicht in der Versammlung sein. Ich muss die Proben untersuchen, wie Kusmitsch gesagt hat. Das nimmt den ganzen Tag in Anspruch. Da musst du gegen Turtschaninow auftreten. Er wird über die Ermüdung des Materials sprechen und die Eisenbahnkatastrophe damit erklären. Und dagegen sollst du auftreten."
„Aber ich weiß ja gar nicht, was das für ein Ding ist... Ermüdung des Materials. Das ist ja was Gelehrtes..." murmelte Olga nachdenklich.
„Macht nichts, Olga. Lass dich dadurch nicht anfechten Titytsch, Mochow, Wartanjan werden dir beistehen. Schlag drauf los wie du nur kannst. Einen ganzen Sturm musst du entfesseln. Ich brauche dir weiter keine Anweisungen zu geben, wie du vorgehen sollst, du verstehst dich auf so etwas. Die Hauptsache ist, dass die ganze Versammlung gegen die Theorie Turtschaninows Stellung nimmt. Weißt du noch, wie ich damals auf der Ingenieurversammlung gesprochen habe? So in dieser Art musst du loslegen und punktum. Und jetzt geh' schlafen, Olga... " Er streckte ihr die Hand zum Fenster hinein, die die heißen Finger Olgas fest umklammerten.
Am Morgen wurde Platow mitgeteilt, dass auf Grund einer Verfügung des Direktors Kortschenko Kraiski wieder zum Leiter der Martinabteilung ernannt sei und er, Platow, vorübergehend als sein Stellvertreter in der Abteilung bleibe. Platow lachte kurz auf und ging ins Laboratorium. „Na, schön", dachte er, „wenn wir als Kommandeur nichts taugen, werden wir eben einfacher Soldat. So was sind wir gewöhnt."
Er musste durch die ganze Abteilung gehen. Rings die bekannten Gesichter der Arbeiter. Die Blicke, die ihm die Arbeiter nachwarfen, sprachen von Achtung für ihren Senja, der Leiter der Abteilung geworden war, und sie lächelten ihm freundlich zu. Aber die Blicke, dieses Lächeln lasteten schwer auf Platow: sie wissen ja noch nicht, dass er den Posten verloren hat, wegen schlechter Leistungen der Abteilung. Mit gesenktem Blick ging er durch die Halle, seine Hände bedeckten sich vor Erregung mit kaltem Schweiß. Er versuchte sich zu beruhigen, sich zu beherrschen, und war bemüht, dem Gesicht den gewöhnlichen schlichten Ausdruck zu geben und die lächelnden Blicke zu erwidern; aber er fühlte, wie die Gesichtsmuskeln hölzern wurden und sich dem Willen nicht mehr unterordneten. Und das Bewusstsein, dass sein Lächeln dumm und unnatürlich war, machte ihn nur noch verlegener. Die Gleichgültigkeit, mit der er die Mitteilung, dass er nicht mehr Abteilungsleiter war, entgegengenommen hatte, war nur eine scheinbare gewesen: erst jetzt machte sich die tiefe Bitterkeit bemerkbar, die sein Herz erfüllte. Natürlich konnte man auch als stellvertretender Leiter arbeiten. Er würde auch einfache Formerarbeit verrichten, falls es nötig wäre... Aber die Hunderte von Augen, die ihn jetzt alle anlächelten, die würden ihn doch morgen ganz anders betrachten, für die würde sich der Ingenieur Platow nun wieder in den Formerjungen Senja verwandeln, der versucht hatte, in die Höhe zu fliegen und dabei abgestürzt war. Man würde ihn im stillen verspotten und bemitleiden. Nein — nur kein Mitleid; das ist beleidigend, ist wie Almosen, das zu den Füßen des Bettlers hinfällt.
Titytsch sah, wie Platow, ohne ihn zu grüßen, an ihm vorbeiging und zur Tür hinaus lief. Das Gesicht Platows glühte wie eine beim Trocknen verbrannte Form, es war von roten Flecken bedeckt, sogar von weitem sah man, dass es ganz heiß war. Titytsch schaute ihm nach und schüttelte bekümmert den Kopf.
Im Laboratorium war es sauber, still und behaglich, wie stets. Ostrowski war nicht da. Wera ordnete die Gussproben und raschelte mit den Aufstellungen.
„Aha, der Schaffner ist gekommen", lachte sie müde. „Wollen Sie die Fahrkarte holen?"
Platow wies mit einer Handbewegung auf das Laboratorium.
„Sagen Sie bitte, Wera, Sie arbeiten ja schon lange hier, wer liefert hier die Gussproben für das Laboratorium?"
„Borezki. Eben hat er wieder eine Partie hergeschickt. Da liegen sie."
„Sagen Sie, Wera, geschieht die Untersuchung richtig, den Vorschriften gemäß?" Platow nahm dabei einen Probestab und betrachtete ihn. Auf der Probe war deutlich die Zahl 2220 eingeprägt.
„Selbstverständlich. Die Proben gehen durch sämtliche Versuchsapparate. Die Resultate eines jeden einzelnen Gusses werden in die Bücher eingetragen."
„Und Pawel Jakowlewitsch überwacht die Lieferung der Proben ins Laboratorium sorgfältig?" Mit heißen, von der Schlaflosigkeit entzündeten Augen sah Platow aufmerksam in Weras Gesicht, auf ihre zuckenden Lippen.
„Weshalb interessieren Sie sich so sehr dafür?" fragte Wera verwundert und etwas verwirrt. „Ich kontrolliere die Arbeit meines Vaters nicht."
Sobald Platow das Gespräch auf ihren Vater lenkte, fühlte Wera wie gestern ein Zittern, dass durch den ganzen Körper lief. Der Vater. Der Brief. Der verfluchte Zauberkreis... Nein — sie wird die verhängnisvolle Grenze nicht überschreiten. Doch um den Kreis zu zerschlagen, fehlt ihr die Kraft. Und wozu soll sie sich auch zu diesem blutigen Opfer entschließen, wenn dieser Mensch da ihre Gefühle absolut nicht bemerken will? Wenn er mit solcher Begeisterung von einer anderen spricht, so wie gestern?
„Es geht mich nichts an, wie... mein Vater... arbeitet..." brachte sie mühsam aus ihrer trockenen Kehle hervor.
Wie scharfe Pfeile durchdrangen sie diese harten Augen. Sie zitterte und erblasste.
„Es geht Sie also nichts an? Nun gut. Auf Wiedersehn!" Platow wandte sich nach der Tür.
Wera tat einen Schritt vorwärts, als wollte sie ihm nachlaufen. Ihr war, als müsste sie rufen: „Warte! Ich weiß alles. Ich werde dir alles erzählen." Aber ihre Lippen gehorchten ihr nicht, und händeringend ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. Die Stahlproben fielen auf den Steinfußboden und klirrten dabei wie abgetaute Eiszapfen, wenn sie im Frühling sich von den Dächern lösen.
Wie ein Jäger, der dem Wild auf der Fährte, betrat Platow vorsichtig die Schmiede. Das Donnern und Krachen der Dampfhämmer und Pressen, die Rufe der Arbeiter, das Zischen der Ölbrenner betäubten ihn. Langsam, als ob er über etwas nachdächte, hob und senkte sich der gigantische Kolben der hydraulischen Presse. Die Luft zitterte von der Gluthitze der Wärmöfen.
„Achtung!"
Ein schwerer Stahlblock, der bis auf 1100 Grad erhitzt war, schwebte langsam durch die Abteilung und übergoss alles in seiner Nähe mit glühendem rotem Schein, der die Augen blendete, er hing an den schwarzen Ketten des elektrischen Krans wie eine glutrote Julisonne. Um die Luppe herum sprangen Männer mit nacktem Oberkörper. Das Gesicht mit den Händen schützend, leiteten sie die feurige Masse nach dem Dampfhammer hin — sie trieften von Schweiß, und ihre Körper glänzten wie rotes, funkelndes Kupfer.
Der Fünfzehntonnenhammer wartete mit hoch erhobener schwarzer Tatze — kaum senkte sich der feurige Klumpen auf den Amboss, da ließ er seine schwere Tatze fallen, der Feuerklumpen ächzte, in tausend winzige Sterne zerschmettert, und sein abgeschlagnes Haupt rollte zur Erde, der dicke Rumpf aber hüllte sich in ein zartrosa Hemd und stand senkrecht auf. Die schwere Tatze, die sich abwechselnd hob und wieder auf ihn niedersauste, begann ihn abzuplatten und ihm die Form eines Fasses zu verleihen. Halbnackte, schweißtriefende Menschen liefen herzu, kehrten das Fass schnell um, und vor den Augen Platows dehnte es sich unter den Hammerschlägen immer mehr in die Länge und wurde zum Rohmaterial für die Herstellung der Lokomotivachse.
Mächtig und ununterbrochen sauste der Hammer auf das Metallstück nieder, das er in eine Lokomotivachse verwandelte. Von den dröhnenden Hammerschlägen schwankte der Boden unter Platows Füßen, es sah aus, als ob die schweren Körper der schon erkalteten Achsen auf der schwankenden Erde einen wilden Tanz aufführten. Die Achse war geschmiedet. Mit Zinnober übergossen liegt sie nun auf dem dunklen Haufen der schon erkalteten Achsen; nach und nach nimmt ihr Körper eine dunkle, kirschrote Farbe an, er wird kalt und immer dunkler und bedeckt sich mit einem bläulichen Schimmer.
Platow befühlte die warmen Körper der Achsen und schien hartnäckig irgend etwas zu suchen. Ruß und Schweiß hatten seinem Netzhemd ein schokoladenfarbiges Aussehen gegeben. Sein Gesicht war von zahlreichen schwarzen Flecken bedeckt, die von den schmutzigen Fingern herrührten, mit denen er den Stahl angefasst hatte. Seine Augen suchten die schwarzen Metallhaufen ab, als wollten sie bis in ihr Inneres eindringen.
Und plötzlich funkelten sie befriedigt auf... Platow verglich noch einmal die Nummer der Probe. Richtig — es war Nr. 2220.
Hier liegt die mit einem bläulichen Schein überzogene, roh geschmiedete Achse, die die gleiche Nummer trägt. Ihr eines Ende ist angehauen, als bilde es den Kopf dieses stählernen Schmiedestücks. Und der Körper, der Kopf, die Probe — alle tragen sie die Nummer 2220.
Platow trägt eilig ein kleines, dunkles Stück Stahl in die Dreherei, wo ihm Mochow einen Probestab mit zwei Köpfen daraus dreht, der an eine Hantel erinnert. Den Stab fest an sich gepresst, geht Platow ins Festigkeitslaboratorium.
Im Laboratorium ist alles so still und sauber wie in einer Studierstube. Schweigend, nickelglänzend stehen die Versuchsapparate da. Ostrowski raschelt mit den Seiten eines Buchs, in dessen verschiedenen Spalten er Zahlen einträgt. Wera arbeitet, ohne den Blick zu heben, an den Proben.
„Was führt Sie zu uns, Genosse Platow?"
Ostrowski lächelt ihn höflich an, die Goldplomben in seinem Munde funkeln. Und mit den Stahlproben in seiner Hand klirrend, lächelt Platow wieder zurück.
„Ich möchte hier bei Ihnen Gussproben untersuchen, die ich nach einer von mir erfundenen Methode hergestellt habe. Mir scheint, ich besitze das Geheimnis der Herstellung des festesten Stahls der Welt."
„Was sagen Sie da, Genosse Platow, tatsächlich?" lachte Ostrowski ungläubig. „Sie wollen wohl Ihren Namen berühmt machen? Gratuliere, gratuliere! Offen gestanden, ich habe nicht gedacht, dass Sie sich mit irgendwelchen wissenschaftlichen Untersuchungen befassen... Sie kommen doch gerade von der Hochschule..."
„O doch, Genosse Ostrowski, ich befasse mich gerade mit solchen Untersuchungen, und ich bin überzeugt davon, dass mein Stahl in bezug auf Qualität der allerbeste sein wird... Ich werde ihn ,Sieg Nr. 2' nennen."
„Also bitte, Genosse Platow. Ich stehe Ihnen zu Diensten. In unserer Zeit gibt's ja doch so viel Wunderbares, dass ich schon längst aufgehört habe, mich zu wundern... Eine ganz überraschende Epoche!"
Er trat an die Zerreißmaschine heran, spannte den Probestab ein und schaltete den Motor ein. Eine schwere Last senkte sich nach unten, und der Zeiger hob sich...
Der Motor surrte. Das Surren wurde immer lauter und erfüllte das ganze Laboratorium.
Der Stahl, den die Maschine auseinanderzog, wurde dünner und dünner und brach schließlich mit Donnergepolter auseinander. Wera fuhr nervös zusammen und verbarg ihr Gesicht hinter einem großen Buch.
Platow und Ostrowski stießen mit den Köpfen zusammen, so eilig beugten sie sich über den Apparat, um das Resultat der Untersuchung zu sehen.
„Na — ich beneide Sie nicht, Genosse Platow!" rief Ostrowski heiter aus. und hielt Platow das Bruchstück hin. „Ein ganz skandalöses Resultat. Sagen Sie mal... Erstens ist er nahe beim Kopf, anstatt in der Mitte gebrochen. Zweitens, sehen Sie hier — die Blasen im Innern... Und endlich — schon das Gefüge des Materials zeigt dem bloßen Auge, dass es fehlerhaft ist."
Ungeduldig riss ihm Platow das Stahlstück aus der Hand; Ostrowski hatte recht.
„Wir wollen es noch einmal einlegen."
„Bitte sehr, Genosse Platow."
Das Resultat war dasselbe. Ostrowski grinste vergnügt und ließ seine goldenen Zähne funkeln.
„Ein Skandal, Genosse Platow! Der Stahl taugt aber auch gar nichts!"
„Ein Skandal ist es wirklich, Genosse Ostrowski, ein ganz unerhörter Skandal! Der Stahl taugt tatsächlich gar nichts..." Dabei klang die Stimme Platows keineswegs enttäuscht, sondern im Gegenteil fest und sicher. Ostrowski aber, der das russbeschmierte Gesicht Platows vor sich sah, konnte nicht länger an sich halten und lachte laut los.
„Es lohnte wirklich nicht die Mühe, die Sie darauf verwendet haben, Genosse Platow, um diesen Guss zu erfinden. Hi—hi— hi... Das ist ganz gewöhnlicher Stahl, der nicht mal gar wurde, und ein ,Sieg'... hi—hi—hi—hiii. . ,"
Auch die vollen Lippen Platows verzogen sich zu einem Lächeln, dann öffneten sie sich weit, und er brach in lautes Gelächter aus.
„Si—i—ieg! Ha—ha—haa... In der Tat, und ich dachte, die ganze Welt in Staunen zu versetzen. Ha—ha—ha—a... " So standen sie sich beide gegenüber und lachten dröhnend, so dass das Laboratorium widerhallte. Wera blickte sie mit starren Augen an: sie fühlte, dass sich in diesem unnatürlichen Gelächter etwas Furchtbares verbarg.
Ernst und in sich gekehrt verließ Platow das Laboratorium. Es war kein Zweifel mehr — der alte Kusmitsch hatte sein Leben nicht umsonst geopfert.
„Ach, Großvater! Wirst du wirklich noch einmal deine Augen öffnen, um zu sehen, wie sich dein Senja freut?" Seine Freude überstieg alle Grenzen. Er lachte, pfiff ein vergnügtes Lied vor sich hin und klimperte fröhlich mit den Metallstücken in seiner Tasche.
„Ja, ja, sehr geehrter Herr Ingenieur Ostrowski. Der rote Spezialist Platow beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Untersuchungen und wird sie auch zu Ende führen... Mein ,Sieg' wird siegen!"
Dabei fiel ihm die wachsam vorgeneigte Gestalt Nossows ein, den er vor ein paar Tagen beobachtet hatte.
Nun hieß es handeln.
Mit den Stahlstücken in der Tasche klimpernd, riss Platow die Tür des Abteilungskontors auf: „Guten Tag, Ingenieur Kraiski!"
Nachdem Nossow die ganze Wut, den ganzen Hass gegen sich selbst an dem Grammophon ausgelassen hatte, fühlte er sich erleichtert: er wurde ruhiger bei dem Gedanken, dass er endlich die Kraft gefunden hatte, sich dem verfluchten „Zauberstab" zu widersetzen.
Lange betrachtete Nossow die ihn umgebenden Sachen. Sie befanden sich an Ort und Stelle, waren solide und schweigsam. Der eichene Spiegelschrank spiegelte diese stabile Welt wider. Alles war gut und gediegen, wie die starken Wände des neuen Hauses.
Musste er das wirklich alles vernichten, wie das Grammophon? Nossow fühlte, wie sich seine Gedanken von neuem verwirrten. Er besaß nicht die Kraft, sich diese Frage zu beantworten, und suchte nach einer Rechtfertigung für seine Handlungen, aber diese Rechtfertigung war falsch, so falsch wie der Stempel, den er in seiner Tasche trug.
Ja — er hatte die Fabrik betrogen, hatte die Arbeiter betrogen, hatte das ganze Land und diesen blauäugigen Ausländer betrogen. Rundum nichts als Betrug: die Kommoden, die Vorhänge — alles Betrug. Und der Spiegelschrank vervielfältigte diesen Betrug, spiegelte die satte Zufriedenheit aller dieser Dinge.
Er ging hinaus in den Garten. Die Apfelbäume neigten ihre schlanken Zweige, die voll von reifenden Äpfeln waren, über seinem Kopfe. Es roch nach Pfefferminzkraut, Dill und nach irgend etwas anderem, und dieser Geruch erinnerte an das Dorf und an weite Roggenfelder.
Diese Erinnerung an seine Kindheit führte seine Gedanken auf folgenschwere, furchtbare Ereignisse, die ihn zu zermalmen drohten.
Vor fünf Tagen war es geschehen. Nossow hatte Grischa geschlagen. Grischa hatte nicht wie sonst geweint, sondern hatte sich mit geballten Fäusten dem Vater genähert. Es lag etwas Tierisches, Furchtbares in seinen Bewegungen, Nossow wich zurück. Mit funkelnden Augen und hassverzerrtem Gesicht hatte sich Grischa dann ruhig abgewandt und war hinausgegangen.
Am Abend merkte Nossow, dass fünfundzwanzig Rubel aus dem Schrank fehlten. Das Schloss war erbrochen. Grischa kam zur Nacht nicht nach Hause. Am nächsten und am dritten Tage auch nicht. Die Mutter weinte. Die Kinder schlichen lautlos umher. Irgend jemand hatte erzählt, dass man Grischa auf dem Markt in Gesellschaft verwahrloster Burschen gesehen habe, und dass er gesagt habe, er würde nun wegfahren, ans Meer, in ein warmes Land, wo Apfelsinen wachsen, wo man im heißen Meeressand liegen könne und wo es niemandem einfallen würde, ihn wegen eines unabsichtlich zerschnittenen Tischtuchs zu prügeln.
„Du siehst ja so schlecht aus? Bist du krank? Sorgst dich wohl um deinen Jungen? Sag schon die Wahrheit — er ist weggelaufen", sagte der Nachbar durch den Staketzaun hindurch zu Nossow.
Nossow fuhr sich erschrocken mit der Hand ins Gesicht, als könne er das Spinngewebe fortwischen, aber das Spinngewebe überspann sein Gesicht noch enger, der Nebel vor den Augen wurde dichter, und Nossow verließ schnell den Garten.
Er dachte daran, dass er schon seit zwei Tagen nicht zur Arbeit ging, stellte sich vor, wie sie sich in der Fabrik ohne ihn behelfen mussten und freute sich im Innern darüber. Ohne ihn konnte die „Arbeit" bei Kraiski nicht glatt gehen. Dieser Gedanke verlieh ihm Kraft, und er ging schnell in die Fabrik.
Je mehr er sich den Fabrikgebäuden näherte, um so lauter wurden die wohlbekannten Geräusche, um so mehr beschleunigte Nossow seine Schritte. Er steckte die Hand in die Tasche und fühlte boshafte Schadenfreude bei der Berührung mit dem kühlen Metall des Stempels.
In diesem kleinen Metallstab mit dem Hammer und der Sichel wohnten zwei Kräfte. Die eine Kraft hatte über Nossow geherrscht und hatte ihm sein Leben aufgebaut, das sich aus lauter Betrug zusammensetzte, und es harte ihm den Sohn genommen. Die andere Kraft, die noch in diesem Metallstück wohnt, die ist jetzt in seiner Hand. Die beherrscht er jetzt selbst und kann mit ihr machen, was er will.
Er ging in die Martinabteilung.
Schwarz und verrußt hockte Titytsch auf der Erde und hantierte mit der funkelnden Lanzette. Und Hunderte von anderen, ebenso von Ruß und Erde geschwärzten Menschen formten den Sand, stampften ihn, und die formlose Masse nahm unter den fleißigen, geschickten Menschenhänden bestimmte Umrisse an. Zufrieden neigte sich Titytsch nun über die fertige Form, aus seinem Gesicht strahlte inniger Stolz, uneigennützige Freude über das Werk seiner Hände, und Nossow sah, wie diese alten, mit Formersand imprägnierten Hände von freudiger Erregung zitterten.
Nossow fühlte eine plötzliche Lebensgier in sich, die seinen siechen Körper heiß durchdrang, er sprang über den Haufen von Gussstücken und verschwand in dem rauchigen Dunst der
Werkstatt.
Beim schnellen Lauf stolperte er über ein spitzes Gussstück und fiel hin. Staubwolken flogen auf, und ein furchtbarer Hustenanfall würgte ihn.
Im Kontor traf er Kraiski und Antonytsch. Sie standen beide um Fenster. Antonytsch flüsterte irgend etwas, dicht an Kraiskis
Ohr geneigt.
„A—ha... Nossow! Wo hast du dich denn herumgetrieben? Hast gesoffen ? Drei Tage bummelst du schon! Weiß der Teufel, was das heißen soll!"
Nervös schlug Kraiski mit der Faust auf dem Tisch.
„Ich bitte mir zum letzten Mal aus, dass das unterbleibt.
Schließlich könntest du wenigstens Antonytsch den Stempel geben, die ganze Arbeit steht ja doch still. Alles ist überschwemmt von lauter Ausschuß, und du treibst dich herum! Dass mir das nicht mehr vorkommt!'.'
Aber Nossow stand sonderbar froh und heiter vor ihnen. Die roten Flecken auf seinen Wangen wurden immer größer, aus den Augen blitzen Stolz und Übermut, die eingefallene Brust hob und senkte sich krampfhaft.
„Das letzte Mal, Wladimir Pawlowitsch. Sehr richtig! Ich werde keinen Ausschuß mehr abstempeln."
„Was wirst du nicht mehr? Was soll das heißen? Oder vielleicht bist du schon zu reich geworden? Das satte Leben ist dir wohl über, was?! Ha—ha—ha!"
Und plötzlich stand Nossow kerzengerade vor ihnen. Ich hab's satt! Ihr habt mich satt gemacht! Genug! Ich bin schon zu reich! Zum Henker mit euch!"
Kraiski sprang auf ihn zu, packte ihn bei den Händen und zischte :
„Scht! Was brüllst du hier? Bist du betrunken? Mach, dass du hinauskommst und schlaf dich aus... Was quatschst du hier! Überleg dir gefälligst, was du sagst! Still, um Gottes willen!"
Nossow riss sich los, sprang einen Schritt zurück und schrie weiter:
„A—ha! Ihr habt's wohl mit der Angst gekriegt? Jetzt bin ich an der Reihe, ich habe die Macht in Händen! Hier ist sie!" In seiner hocherhobenen Hand blitzte der Stempel. Mit heiserem Flüstern warf sich Kraiski auf ihn.
„Gib den Stempel her, Nossow! Gib her! Antonytsch! Er ist verrückt geworden. Nehmen Sie ihm doch den Stempel weg! Gib her, Nossow!"
Antonytsch ergriff Nossow bei den Händen und versuchte, ihm den Stempel zu entreißen; in diesem Augenblick erschien Platow auf der Schwelle.
„Guten Tag, Ingenieur Kraiski!"
Erstaunt blieb er stehen, als er die erhitzten, aufgeregten Gesichter der Anwesenden sah.
„Was ist passiert? Worum handelt es sich?"
Kraiski ließ sich ermattet auf einen Stuhl fallen.
„Wieder ein Überfall auf mich... Er ist betrunken... Ist hier eingedrungen ... Bedroht mich... " Und plötzlich schrie er mit heller, durchdringender Stimme: „Führen Sie ihn hinaus, Antonytsch! Führen Sie ihn doch hinaus! Er ist verrückt geworden!"
Mit grünlichem, fahlem Gesicht und zitternden Knien lehnte Nossow an der Tür.
„Genosse Platow... "
Platow hörte eine leise, bittende Stimme. Man wusste nicht, hatte das Nossow gesprochen — seine Lippen, von einem Krampf verzerrt, hatten sich kaum bewegt — oder kamen diese Worte leise säuselnd von der Birke her, die ihre schlanken, neugierigen Zweige zum Fenster hereinstreckte...
„Genosse Platow... Nehmen Sie den falschen Stempel... Ich will nicht länger... ein Elender sein... Ich will nicht mehr... "
„Das hättest du früher tun müssen, Nossow... Von den falschen Stempeln weiß ich schon", antwortete Platow und beobachtete dabei aufmerksam Kraiski, der mit bleichen, blutleeren Lippen dastand und auf dem Schnurrbart herumbiss; er starrte dabei Platow stumpfsinnig an.
Als Nossow begriffen hatte, dass er zu spät gekommen war, brach er in winselndes Heulen aus, das von einem langen, würgenden Hustenanfall unterbrochen wurde. Ein dunkler Blutstrom quoll aus der Kehle, rann aus dem Munde und zog sich über das weiße Hemd wie eine rote Schlangenlinie.
5
Der hohe, düstere, im Zwielicht liegende Saal des früheren Gymnasiums, das in einen Fabrikklub umgewandelt worden war, füllte sich schnell mit Arbeitern. Die unteren Bänke, die alle besonders liebten, waren schon besetzt, und schimpfend, niemand wusste auf wen, stieg Mochow zur Galerie hinauf.
Von dieser Galerie aus, die in dickbäuchigen Balkons in den Saal hineinhing, schaute Mochow nun hinunter. Unruhig rückte er auf seinem Platz hin und her.
Alle die kahlen oder behaarten, grauen, pechschwarzen, aschblonden oder mit Haaren von überhaupt unbestimmter Farbe bedeckten Köpfe der Männer und die mit roten Kopftüchern umwundenen Köpfe der Frauen da unten wuchsen ohne Hals, direkt aus den breiten Schultern hervor, und daher sahen alle diese Menschen ganz platt gedrückt aus. Im Saal unten war es entgegen allen sonstigen Gewohnheiten ganz still; nur ein leises Murmeln durchlief ihn, manchmal verstummte es ganz, um dann wieder zu erwachen und in leise raunenden Wellen über die Köpfe hinzuziehen.
Die Menschen betraten den Saal, schauten sich vorsichtig um und drängten sich dann langsam nach vorn. Dort stand auf der Bühne ein kleiner, mit rotem Stoff bedeckter Tisch. Auf dem Tisch lag irgend etwas Dunkles, das einer alten Kanone mit kurzem, stumpfem Rohr ähnelte. Die neu Hinzukommenden gingen mit lang gestreckten Hälsen um den Tisch herum, besichtigten und betasteten das Ding, das einer Kanone ähnelte, schüttelten den Kopf und traten leise vom Tisch zurück — es war, als ob da ein Sarg stände, und Mochow bemerkte, dass auf dem ganzen Saal eine schwere Stimmung lastete wie in einem Sterbehaus.
„Was befühlen die da unten?' fragte Mochow den neben ihm Sitzenden.
„Die Triebachse, die das Eisenbahnunglück verschuldet hat."
„Ach — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen... Ich konnt's von hier oben aus gar nicht erkennen. Also das ist die Achse?"
Und obgleich Mochow die Achse am Ort der Katastrophe gesehen und betastet hatte, so riss er jetzt doch erregt die Augen weit auf in dem Bestreben, die Achse da unten genau zu sehen. Von dem schwarzen Bruchstück ging eine Unruhe aus, die auf den Wellen des heißen menschlichen Atems und des unterdrückten, aufgeregten Flüsterns zu Mochow hinaufstieg. Nervös beugte er sich jeden Augenblick über die Brüstung, suchte mit seinen unruhig flackernden Augen den ganzen Saal nach irgend jemand ab — bis er dann endlich erleichtert aufseufzte: Olga hatte ihm von unten her mit der Hand lächelnd zugewinkt.
Beruhigt richtete Mochow seine Blicke auf den Vorhang. Darauf war ein Schloss mit einer prächtigen Aussicht auf das Meer abgebildet: Marmorsäulen erhoben sich, eine blumengeschmückte Treppe führte in zahlreichen Stufen direkt zu dem azurblauen Meer hinab, auf dem sich ein Segelboot schaukelte. Mochow hatte sich vorgestellt, dass es unter dem Sozialismus so sein würde, so schön und feierlich. Aber eins kam ihm komisch vor: warum waren denn da auf dem Vorhang keine Fabrikschornsteine? Das Unverständliche dieses Bildes machte ihn ganz nervös, er wollte sich schon abwenden, als plötzlich die Marmorsäulen langsam hochflogen; das Segelboot hing irgendwo an der Decke, und an Stelle der bunten Blumen schaute das blasse, wohlbekannte Gesicht des Raikomsekretärs von der Bühne.
Das Raunen im Saal verstummte sofort.
Wartanjan trat an den Rand der Bühne.
„Genossen! Heute müssen wir, von unserem ganzen proletarischen Verantwortungsgefühl geleitet, die Frage beantworten: aus welchem Grunde ist das Unglück mit dem Zuge passiert, den unsere Lokomotive führte? Das Land hat einen Riesenverlust erlitten. Menschen wurden getötet. Genosse Platow hat sehr richtig gesagt: er hat dort riesigen Schaden, Blut und Schande gesehen! Das Blut, das dort geflossen ist, können wir nicht wieder zum Leben erwecken. Die Verluste muss der Staat aus seiner Tasche decken. Und die Schande? Die liegt wie eine schwere Last auf unserer Fabrik, auf einem jeden von uns, die wir hier versammelt sind."
Im Saale herrschte drückende Stille. Die Hände, Köpfe, Schultern, Kopftücher — alles war erstarrt. Der Nachbar Mochows atmete schwer, und Mochow stieß einen lauten Seufzer aus.
„Vergesst nicht, Genossen, dass dies nicht der erste Fall ist. Ihr alle habt den Brief der Arbeiter des Kursker Depots über unsere Lokomotiven gelesen und auf euren Abteilungsversammlungen erörtert. Erinnert euch daran, dass sich in der letzten Zeit in unserer Fabrik allerhand unangenehme Ereignisse abgespielt haben: zwei Überfalle auf Ingenieure, die riesige Zunahme des Ausschusses in der Martinabteilung, der Hungerstreik des Drehers aus der Räderdreherei, der sonderbare Fall mit dem alten Kusmitsch in der Werkstatt der Martinabteilung. Alles das sind Beweise dafür, dass bei uns etwas nicht in Ordnung ist. Was ist los? Und weiter: wir müssen um unsere Fabrik kämpfen. Moskau, und das heißt das ganze Land, will uns den Bau der neuen Fabrik nicht anvertrauen. Es besteht ernster Grund zu der Annahme, dass man uns den Bau der neuen Fabrik nicht gestatten wird, weil wir das Vertrauen, das das Land in uns gesetzt hat, nicht gerechtfertigt haben.
Genossen! Das Land, die Partei, die gesamte Arbeiterklasse erwarten von uns eine Antwort, erwarten von uns, dass wir alle Missstände bei uns beseitigen. Auch die ausländischen Kommunisten, die ausländischen Proletarier, die unsere Fabrik besucht haben, erwarten eine Antwort von uns... Und wir müssen eine offene und ehrliche Antwort geben! Das Wort hat der Ingenieur Turtschaninow."
Benjamin Pawlowitsch kam von der Seite her, aus den zerschlissenen Kulissen heraus und hielt im Gehen seinen Kneifer mit zwei Fingern fest.
„Ich werde mich kurz fassen, Genossen. Für uns Ingenieure und Spezialisten, die wir mit den Gesetzen der Technik, mit den Gesetzen der Struktur des Metalls und mit den verschiedenen Anomalien des Metalls, mit den Ursachen der verschiedenen Arten seiner Deformierung vertraut sind, liegt die Sache klar auf der Hand. Wir haben im vorliegenden Fall die selten so typisch ausgeprägte Tatsache der so genannten Materialermüdung. Von Materialermüdung sprechen wir bei einem Bruch von Material, das äußerlich völlig gesund ist, einen Bruch, der unter der Einwirkung periodischer, sich innerhalb bestimmter Grenzen ununterbrochen wiederholender Deformierungen zustande kommt, die die Folge sind von Wechselspannungen. Es geht eine Strukturveränderung des Metalls vor sich infolge der Konzentration von Spannungen, und dann kommt es unerwartet, katastrophal, zu einem Bruch... So eben bestimmten die deutschen Gelehrten, zum Beispiel Hort, Föppl, Mailänder, Lehr und andere die Erscheinungen der Materialermüdung... "
„Geht's nicht etwas einfacher?" rief eine unzufriedene Stimme von der Galerie, und diese Stimme wirkte wie ein Schlüssel, der die Stille aufschloss: die Menschen im Saal begannen zu lärmen — zu sprechen, sich zu räuspern, mit den Stühlen zu scharren.
„Nichts kann man verstehen!" „Lauter ausländisches Zeug!"
„Man kriegt ordentlich Kopfschmerzen von all den Deformierungen", klang eine helle Mädchenstimme.
„Du hast die Materialermüdung im Kopf — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!" „Ruhe! Lasst ihn aussprechen."
Wartanjan bat Turtschaninow, sich einfacher auszudrücken. Benjamin Pawlowitsch setzte seinen Kneifer auf, nahm ihn wieder ab, putzte die Gläser mit den Taschentuch, setzte ihn wieder auf und wartete geduldig lächelnd.
„Ich werde jetzt ganz einfach sprechen, Genossen, in Beispielen. Also sagen wir einmal, wenn man einen kleinen Kinderhammer, ein Spielzeug nimmt, und damit ununterbrochen, einige Stunden lang ganz leicht auf irgendeinen stählernen Maschinenteil klopft, so wird dieser unbedingt brechen. Was kann man schon mit einem kleinen Kinderhammer machen, denkt man. Höchstens eine Fliege totschlagen. Aber nein. In Wirklichkeit erzielt man damit in einem riesigen, durchaus gesunden Gussstück einen Riss."
„Donnerwetter! Das ist aber gut!" ließ sich eine zufriedene Tenorstimme vernehmen, und sofort wurde der Saal wieder laut: man hörte Lachen, Witze, die Spannung, die auf allen gelastet hatte, war gelöst.
„Oder ein anderes Beispiel: in der Staatsduma brach einmal, ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr das war, die Decke ein. Die Aufregung war natürlich groß, es wurde eine Untersuchung vorgenommen, und so weiter, und so weiter, obgleich Menschenopfer nicht zu beklagen waren, denn die Geschichte war in der Nacht passiert, als der Saal leer war. Aber alles war gut und fest gebaut, nicht die geringsten Fehler konnten festgestellt werden. Was war denn nun aber die Ursache?" Der Saal riss seinen tausendschlündigen Rachen auf. „Die Sache war die..." Benjamin Pawlowitsch zögerte absichtlich, er genoss den Anblick dieser gespannten Gesichter, die er sich machtvoll unterordnete — „die Sache war die, dass nachts der Motor der Heizungsanlage arbeitete, der viele Jahre hindurch das Gebäude rhythmisch erschüttert hatte. Die Folge davon war der Einsturz."
Der Saal brach in laute Verwunderungsrufe aus, vom Hauch der tausendköpfigen Menge bewegten sich die roten Stoffstreifen mit den Losungen an den Wänden, und das Segelboot, das über der Bühne an der Decke schwebte, schwankte hin und her wie auf wirklichen Wellen. Aber Benjamin Pawlowitsch ließ den Menschen keine Zeit, zur Besinnung zu kommen, er erzählte rasch noch den Fall mit der Newabrücke in Petersburg, schimpfte den zaristischen General einen Idioten, und der Saal lachte lange über die Dummheit dieses Generals, der nichts von Technik verstand. Mochow saß mit gerunzelter Stirn da, ächzte, nahm einen Anlauf, um irgend etwas in den Saal hineinzuschreien, schwieg dann aber und presste die Lippen fest zusammen. Olga lachte mit den anderen. Titytsch, der neben ihr saß, zauste an seinem Bart und schwitzte. Wartanjan betrachtete die Gesichter der Arbeiter und dachte angestrengt nach. Er war nicht zufrieden, denn aus der ernsten Versammlung, die hier stattfinden sollte, war etwas wie eine Zirkusbelustigung geworden — die Stimmung im Saal wurde immer vergnügter und wohlwollender. Wartanjan fühlte, dass er seine ernste Einleitungsrede umsonst gehalten hatte, sie war längst vergessen. Die Symphatien waren deutlich auf seiten Turtschaninows. Das war gut und wieder schlecht. An den Gesichtern der Arbeiter konnte man erkennen, dass sie geneigt waren anzunehmen, dass es sich bei der Eisenbahnkatastrophe um einen unglücklichen Zufall handelte, dass die Fabrik nicht die Schuld daran trage. Das war gut — aber es blieb so auch die ganze Summe der Fragen unbeantwortet, die Wartanjan aufgeworfen hatte, und das war schlecht. Was sollte man da wählen?
Wartanjan betrachtete aufmerksam die Masse da unten mit ihren vielen Gesichtern, suchte eifrig in ihnen nach irgendeinem Anhalt und konnte keinen finden.
„Vielleicht noch ein Beispiel... oder ist Ihnen schon alles klar genug?" Liebenswürdig neigte sich Benjamin Pawlowitsch von der Bühne in den Saal hinunter.
„Weiter! Weiter!"
„Auf den ersten Blick wird Ihnen das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wunderbar und geheimnisvoll, unnatürlich, ja unglaubhaft erscheinen. Aber wir Männer der Wissenschaft glauben nicht an den lieben Gott und den ganzen Unsinn. Mit den allmächtigen Gesetzen der Technik enthüllen wir jedes Geheimnis. Also ... Wir haben hier bei uns eine Eisenbahnbrücke, die über den Fluss führt. Das wissen Sie alle. Wir wollen also morgen einen Geigenspieler mit einer Geige unter diese Brücke hinstellen und ihn da fiedeln lassen, ununterbrochen — ein, zwei, drei Tage lang, einen Monat meinetwegen, und ich schwöre Ihnen — die Brücke wird plötzlich aus Ermüdung zusammenbrechen."
„Was?"
„Das ist nun schon Blödsinn — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen", brüllte Mochow aus Leibeskräften vom Balkon herunter, und sofort ließ sich auch Olga vernehmen:
„Betrug: Ihr wollt uns nur den Kopf verdrehen! Ge—nu—u—ug!''
„Stört ihn nicht! Lasst ihn reden!"
„Keine Zwischenrufe!"
Aber Mochow schrie ganz außer sich:
„Genug von dem Schwindel! Erkläre uns lieber das mit der Achse!"
„Ja — wie ist das mit der Achse? Ist die auch vom Geigenspiel gebrochen?" schrie nun auch der wütend gewordene Titytsch.
Mit Mühe und Not brachte Wartanjan die Versammlung zur Ruhe.
„Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der Sonderkommission des Trusts und des Obersten Volkswirtschaftsrats, der Ingenieur Grajew."
Ein schlanker blonder Mann in einem sehr eleganten grauen Anzug betrat die Bühne.
„Ich wollte eigentlich erst nach der Diskussion sprechen. Aber verschiedene Zwischenrufe haben mich veranlasst, sofort ums Wort zu bitten. Ich habe hier Worte gehört wie Betrug, Schwindel, und so weiter. Einen jeden, der nicht in die Gesetze der Technik eingeweiht ist, muss die Theorie von der Ermüdung des Materials als Betrug erscheinen. Das ist unvermeidlich. Ich will daher diese Zwischenrufe den in technischer Hinsicht ungebildeten Leuten verzeihen. Ich persönlich sowie die ganze Kommission des Obersten Volkswirtschaftsrats und des Trusts schließen uns rückhaltlos dem an, was der Ingenieur Turtschaninow hier erklärt hat... Es ist ein Unglück passiert, an dem die Fabrik keine Schuld trägt. Wir werden uns daher dafür einsetzen, das Moskau Ihnen den Bau der neuen Fabrik überträgt."
Lautes Beifallklatschen erfüllte den Saal.
Olga blickte Grajew an, und die Röte der Erregung verschwand langsam aus ihren Wangen. Sie hatte keinesfalls erwartet, dass hier die Moskauer Kommission sprechen und Turtschaninow unterstützen würde. Was nun? Wenn doch Platow bloß bald käme! Verwirrt blickte sie Titytsch an, hob die Augen und sah oben auf dem Balkon das finstere Gesicht Mochows, und ihre Verwirrung wurde noch größer.
„Was werden mir nun machen, Titytsch?" flüsterte sie dem Alten zu.
„Was Senja gesagt hat, das musst du tun. Geh — es gibt keinen Gott — schlag drauf los!" sagte der Alte finster, seinen Bart zausend.
„Wer hat etwas zu sagen? Leider ist Genosse Platow nicht anwesend, und wir wissen nicht, auf welchem Standpunkt er steht...", sagte Wartanjan.
„Doch! Wir wissen es!" rief Mochow vom Balkon.
Da bat Olga, aus Angst, dass Mochow zuerst sprechen und alles verwirren würde, ums Wort.
„Das Wort hat (im Saal wurde es mäuschenstill) die Genossin Olga Pylajewa", rief Wartanjan lächelnd.
Mit vor Aufregung klopfendem Herzen lief Olga die Stufen zur Bühne hinauf. Tausende von blitzenden Augen leuchteten wie Glühwürmchen vor ihr in der Tiefe des Saals.
„Genossen! Ich gehöre zu den Leuten, denen der Ingenieur Grajew hier ihre technische Unbildung vorgeworfen hat. Solche wie ich sind neun Zehntel aller hier im Saale Anwesenden. Und diese neun Zehntel werden die Frage entscheiden. Denn wozu hättet ihr denn sonst diese Ungebildeten hier versammelt? Stimmt das, Genossen?"
„Das stimmt!"
„Leg' los, Olga!"
„Ich bin in technischer Hinsicht ungebildet — das ist richtig Aber ich bin gebildet genug, um zu verstehen, ob man die Wahrheit spricht oder ob man uns die Köpfe verdreht. Außerdem aber arbeite ich fünf Jahre in der Dreherei, und etwas verstehe ich also schon. Genossen!" Olga hob ihre Stimme und sie klang fest und rein. „Der Ingenieur Turtschaninow hat uns hier viel Interessantes erzählt, es war sehr ergötzlich, ihm zuzuhören. Aber hat er auch nur ein einziges Wort darüber gesagt, warum unsere Achse gebrochen ist? Nein — das hat er nicht gesagt! Keiner von denen, die im Saale sitzen, hat ein solches Wort gehört. Dabei sind wir hierher gekommen, um das zu hören, nicht aber, um über interessante Witze zu lachen!"
„Richtig, Olga!"
„Nichts davon hat er gesagt!"
„Nichts davon haben wir gehört!"
„Wi—i—rklich, davon hat er nichts gesagt!" bekräftigte die hohe Tenorstimme.
Von diesen Beifallsäußerungen ermuntert, reckte sich Olga noch höher über das Rednerpult und rief:
„Genossen! Arbeiter und Arbeiterinnen! Was habt ihr von dem Vortrag Turtschaninows verstanden? Ich habe nicht verstanden, aus welchem Grunde unsere Achse gebrochen ist. Vor Ermüdung?... Wovon war sie müde? Von der Deformierung der Struktur und von der Konzentration der Spannungen?"
Im Saale begann man zu lachen.
„Ich frage: was soll das für eine. Erklärung sein? Oder hält man uns vielleicht für Dummköpfe? Warum hat denn die Konzentration der Spannungen stattgefunden? Auch aus Ermüdung? Hast du den Schwanz herausgezogen, versinkt dir die Nase im Sumpf, hast du die Nase herausgezogen, versinkt der Schwanz — was?"
„Ri—i—ch—t—i—g! Wir verstehen nichts", rief die Tenorstimme und brachte den ganzen Saal in Aufruhr.
„Richtig! Wir verstehen nichts!"
„Weiter, Olga! Gibs's ihnen! Weiter!" brüllte Titytsch ganz außer sich.
„Erinnere ihn noch an die Gei—ge! Die Gei—ge vergiss nicht, eine Schraube soll ihm aus dem Mund wachsen!" schrie Mochow herunter.
Wartanjan fühlte sich von der allgemeinen Stimmung im Saal angesteckt und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Deine Redezeit ist abgelaufen, Olga. Kürzer fassen!"
„Ver—lä—ä—an—gern!"
„Lasst sie reden!"
Olga fühlte, wie ihr Herz mit dumpfen, angestrengten Schlägen klopfte, aber die Schläge waren stark und sicher.
Auf der vordersten Bank saß Strachow und blickte Olga voller Verwunderung an.
Erst hatte er etwas skeptisch gelächelt, als er sah, dass Olga, dieses achtzehnjährige rotwangige Mädchen, versuchte, den Standpunkt Turtschaninows, eines alten Ingenieurs, anzuzweifeln. Er dachte, dieses junge Mädchen spräche eben nur, um ihrer Komsomolpflicht Genüge zu tun; sagt eben irgend etwas und setzt sich dann zufrieden wieder hin, hat ihre Pflicht erfüllt... Aber mit jedem neuen Wort, das aus Olgas Mund kam, mit jeder Minute wurde Strachows Meinung über diese rotwangige Rednerin eine andere. Aus jedem Wort hörte er ihre leidenschaftliche Spannung, die sich den Zuhörern mitteilte wie ein elektrischer Strom und höchste Erregung in ihnen hervorrief. Er konnte absolut nicht begreifen, woher dieses Mädchen den Mut nahm, sich in Erörterungen über rein technische Fragen einzulassen; aber er gab ihr unwillkürlich recht, als sie ihre Unzufriedenheit mit den Erklärungen Turtschaninows äußerte. Als Ingenieur betrachtete Strachow die Ermüdung des Materials als eine unbestreitbare Tatsache, was aber diese Ermüdung hervorgerufen haben sollte, das war auch ihm nicht klar — die Konzentration der Spannungen im Material musste eine konkrete, bestimmte Ursache haben. Er verstand Olgas Empörung und schloss sich ihrem leidenschaftlichen Protest an. Der Betriebsunfall der Lokomotive, das war eine Sache, die die Ehre des Leiters der Lokomotivmontage, des Ingenieurs Strachow, sehr nahe berührte. Die gebrochene Achse sah ihn da vom Tisch aus an wie ein auf seine Brust gerichtetes Maschinengewehr.
Die Versuche Turtschaninows, die Versammlung durch den Hinweis auf die Ermüdung des Materials, auf einen unglücklichen Zufall zu beruhigen, hatten keinen Erfolg gehabt. Allerdings war er, Strachow, durch die Erklärungen Turtschaninows von der juristischen Verantwortung für den Bruch der Achse befreit, auf seinem Innern lastete jedoch diese Verantwortung nach wie vor. Vielleicht hatte er irgend etwas übersehen beim Zusammenbau der Lokomotive oder eine Kleinigkeit außer acht gelassen? So eine Kleinigkeit ist für das Auge nicht zu erkennen, und mit Ermüdung des Materials lässt sich alles decken. Aber Strachow war gewöhnt, gegen sich selbst außerordentlich streng zu sein — dazu verpflichteten ihn die Gesetze der Verbindung der einzelnen Teile und ihrer gegenseitigen Einwirkung, die sich auf genaueste Berechnungen gründen.
Ja, dieses junge, rotbäckige Mädchen mit den blauen Augen hatte recht. Aber er sah auch die Hilflosigkeit Olgas und des ganzen Auditoriums — sie konnten den wahren Grund des Unglücks nicht aufdecken. Die Menge wurde unruhig, aufgeregt, wütend — sie schrie, protestierte, aber was konnten hier Menschen unternehmen, die von der Technik nichts verstanden? Strachow wusste sehr wohl, dass das Geheimnis dieser Katastrophe nur von Leuten aufgedeckt werden konnte, die in der Technik Bescheid wissen. Wie viel solcher Leute aber gab es hier im Saal?
Er sah sich um: in allen Blicken las er Hass auf die Gelehrten, Hass auf die unverständlichen Worte, die den Menschen das Verstehen einer so einfachen und durchaus eindeutigen Sache wie der Tod von fünf Menschen, das Verstehen des Verlusts von Hunderttausenden von Rubeln, der Vernichtung einer ganzen Lokomotive unmöglich machten. Und als der ganze Saal einstimmig schrie: „Richtig! Wir verstehen nichts!" — da hatte Strachow das Gefühl einer tiefen Beschämung. Auch er selbst, ebenso wie alle anderen, die ihre Unkenntnis in Aufruhr versetzte, kannte die wahren Gründe der Katastrophe nicht... Aber er musste sie kennen, denn es war seine Lokomotive, mit der das Unglück passiert war. Strachow trat an den Tisch mit dem Bruchstück der Achse. Das Bruchstück wies die Ermüdungsflecken auf... Die Achse war beim Übergang von dem einen Querschnitt zum anderen, bei dem Hals gebrochen — hier konnte natürlich ein Bruch schneller eintreten als an irgendeinem anderen Punkt der Achse, denn jeder Übergang von einem Querschnitt zum anderen ruft eine Erhöhung der Materialspannungen hervor... Das Abdrehen der Achse wird in der Räderdreherei vorgenommen. Der Leiter dort ist Sorin — kein schlechter Ingenieur. Er weiß selbstverständlich, wozu die elementaren Berechnungen der Festigkeitslehre verpflichten. Die Zeichnungen der Achsen sind natürlich richtig. Aber vielleicht hatte sich der Arbeiter geirrt und den Übergang zu scharf ein gedreht? Das konnte sein... Dann musste sich die Spannung natürlich gerade an dieser Stelle um ein bedeutendes steigern, und dann...
Strachow neigte sich schnell über das Bruchstück. In der Tat — so ist's! Der Übergang vom Nabensitz zum Achshals war scharf ausgeführt, nicht allmählich — der Radius der Ausrundung war viel zu klein...
„Genossen!" Die klingende Mädchenstimme hallte über Strachows Kopf hinweg. „Glauben wir es dem Turtschaninow, dass man eine Brücke durch Geigenspiel oder durch das Kommando eines monarchistischen Generals zum Einsturz bringen kann — aber dann frage ich: welche Geige hat da auf unserer Lokomotive gespielt und ihre Achse zerbrochen ? Was für eine Geige war das, Genossen? Das hat uns der Ingenieur Turtschaninow nicht gesagt!" „Richtig!"
„Sieh mal einer an, wie der die Sache verbiegt: ,Ein General mit einer Division'! Eine Schraube soll ihm aus dem Mund wachsen!"
Erstaunt blickte Strachow auf die vor Erregung flammende Olga. Ja, ein bewundernswürdiges Mädchen! Sie behandelt die Frage durchaus richtig. Auch hier, bei dieser Katastrophe, hat irgendeine „Geige" gespielt, die den unmittelbaren Anlass zu dem Unglück bildete. Jawohl, der Übergang von einem Querschnitt zum anderen ist zu schroff, der Radius ist zu klein genommen. Die Gesetze der Materialfestigkeit stehen unwiderruflich fest. Eine Verletzung dieser Gesetze wird mit einer Katastrophe geahndet.
„Genossen!" Die Stimme Olgas war wie klingender Stahl. „Die Geschichte mit dieser Theorie wird zum reinsten Unsinn. Turtschaninow erklärt alles mit der Ermüdung des Materials, wie der Pope alles mit der Sündhaftigkeit des Menschen erklärt. Es hat zum Beispiel ein Mensch ein Stück Brot gestohlen. Der Pope sagt: das kommt von der Sündhaftigkeit, der Mensch ist eben sündig. Aber davon, dass der Mensch das Stück Brot gestohlen hat, weil er hungrig ist, weil ihm die Bourgeoisie seine Produktionsmittel fortgenommen hat, weil die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen besteht — davon sagt der Pope kein Sterbenswörtchen — das passt nicht in seinen Kram. Weil er nämlich davon lebt."
„Ri—ch—tig!"
„Du bist ein fixer Kerl, Olga!"
„Immer feste drauf, Olga!" Titytsch trampelte wild mit den Füßen. Da sprang Kortschenko auf und sagte zu Wartanjan:
„Mach dieser Demagogie endlich ein Ende! Oder schließe die Versammlung. Ich schäme mich ja vor der Moskauer Kommission. Grajew hat empört die Versammlung verlassen."
„Warte, nicht so hitzig, Kortschenko. Sieh mal, wie sie ihr alle zuhören", winkte Wartanjan ab.
„Genossen, ich bin zu Ende", sagte Olga leise mit erschöpfter Stimme. „Man sagt uns: das Metall ist müde. Aber wir Menschen, wir sind schwächer als das Metall, und doch kann uns keine Müdigkeit was anhaben. Warum ist Titytsch, der vierzig Jahre lang formt und dabei ,rhythmische Bewegungen" macht, nicht auseinandergebrochen, sondern arbeitet immer noch weiter fort? Warum hat unser alter ,Chef, unser Großvater Kusmitsch, es bis auf über achtzig Jahre gebracht und ist nicht müde geworden? Sein ganzes Leben hat er der Arbeiterklasse geopfert! Jetzt liegt er im Sterben... " Olgas Stimme zitterte und brach ab. Tausende von Augen funkelten zornig in der schweren Stille, die im Saale herrschte. „Und wenn er jetzt stirbt, so geschieht es nicht aus Ermüdung, nicht wegen seines hohen Alters, sondern darum, weil er irgend jemand im Wege stand, ihn hinderte, seine schmutzige Arbeit zu verrichten. Auch hier ist die Ursache nicht klar. Aber wir werden diese Ursache finden, Genossen! Ich bin zu En ... " Aufgeregt brach Olga ab und ließ sich ermattet auf einen Stuhl neben dem Rednerpult sinken.
Der Saal erdröhnte, der heiße Atem der Menge schien Wartanjan zu versengen.
„Die Sache muss aufgeklärt werden, Wartanjan!"
„Eine dunkle Sache."
„Ohne Grund gibt es keine Dummheit!"
„Rich—tig!"
„Die ist Pylajews Tochter!"
Strachow blickte voller Achtung zu Olga hinauf — sie hatte ihn zu fruchtbarem Nachdenken und Nachforschen veranlasst.
„Ru—he!" schrie Wartanjan, aber der Saal dröhnte, trampelte, brüllte, klatschte Olga Beifall, kochte vor Wut und Erregung. Die Bänke und Stühle knarrten und schurrten. Die aufgeregten Köpfe verschwammen in dichtem Tabaknebel. Seit dem Jahre siebzehn hatte der Saal keinen derartigen Sturm mehr erlebt.
„Genossen! Ruhe! Ordnung! Kortschenko, geh zurück, störe nicht!" sagte Wartanjan ärgerlich. „Ich werde dir doch nicht das Wort geben!"
„Dazu hast du kein Recht", brauste Kortschenko auf.
„Ü ber mein Recht werden wir im Raikom sprechen. Das Worte erteile ich dir nicht! Genossen! Ruhig! Bei einer derartig aufgeregten Stimmung werden wir zu keinem Resultat kommen."
„Stimmt!" schrie der Tenor wieder.
„Hört meinen Vorschlag: die Frage wird in die Abteilungsversammlungen überwiesen, und morgen schon werden wir mit ihrer Erörterung beginnen. Auf den Abteilungsversammlungen wird das in ruhiger und sachlicher Weise geschehen."
Die Menge beruhigte sich. Müde wischten sich die Menschen den Schweiß von den Gesichtern.
„Welches ist denn Ihre Meinung, Genosse Wartanjan?"
Wartanjan wandte sich um: Turtschaninow blickte ihn mit boshaften Augen an.
„Richtig! Wartanjan, sag deine Meinung!" riefen Stimmen aus dem Saal.
„Du musst dich äußern", flüsterte ihm Kortschenko zu. „Wir müssen hier einen Umschwung herbeiführen."
Das kam Wartanjan sehr ungelegen. Er wollte nicht sprechen. Er befand sich in einem völligen Zwiespalt. Hier aber hieß es, eine feste und klare Meinung äußern, Farbe bekennen. Er war der Führer dieser Tausende. Sie wollten seine Meinung hören. Durch seinen Mund sprach die Partei zu allen diesen Menschen Er musste das Für und Wider sorgfältig erwägen...
„Wartanjan! Sprich!" rief der Saal.
„Genosse Martemjan! Sag deine Meinung!" beschwor ihn Mochow von der Galerie herab.
Aufmerksame Stille umfing Wartanjan. Er fühlte, wie alle seine Nerven aufs äußerste gespannt waren. Es galt jetzt die Fabrik zu retten. Grajew hatte sich für den Bau der neuen Fabrik erklärt... Die Ermüdung des Materials durfte nicht angezweifelt werden, das sahen diese vielen tausend Augen da unten im Saal, die Mißtrauen und Unruhe blind gemacht hatte, nicht... Man darf sich nicht von der elementaren Spontaneität beherrschen lassen...
„Ich bin der Meinung, dass eine Ermüdung des Materials vorgelegen hat. Wir haben keinen Grund, das anzuzweifeln, was Ingenieur Turtschaninow hier ausgeführt hat. Und der Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrats, der Ingenieur Grajew, hat selbstverständlich recht, wenn er sagt, dass es sich hier um einen tragischen Zufall handelt, an dem die Fabrik keine Schuld trifft... Die Genossin Pylajewa hat in vieler Beziehung unrecht. So darf man eine ernste technische Frage nicht behandeln... Allerdings hat sich die Versammlung in ihrer Mehrheit auf ihre Seite gestellt, aber das kommt daher, weil Turtschaninow es nicht verstanden hat, in einfacher, verständlicher Weise zu erklären, um was es sich handelt. Diesen Fehler werden wir verbessern. Wir werden dazu alle Spezialisten heranziehen. Hier, Genosse Strachow zum Beispiel, wird sicher bereit sein, auf der Versammlung seiner Abteilung die nötigen Erklärungen zu geben. — Hiermit schließe ich die Versammlung."
Aufmerksam betrachtete Strachow das Bruchstück der Achse. Ja — dadurch, dass der Anlauf zu kurz ausgedreht war, mussten sich die Materialspannungen übermäßig erhöhen... Sie konzentrierten sich auf eine Stelle... Dadurch wurde die Katastrophe ermöglicht. Strachow sah Wartanjan an. Sollte er das in der Abteilung erklären?
Die Menschen strömten dem Ausgang zu, in der nächsten Sekunde waren die Saaltüren verstopft. Dem Strom entgegen zwängte sich Platow zur Tür hinein. Mit vor Ungeduld zitternden Händen teilte er die schweißfeuchten Schultern auseinander, trat den zunächst Stehenden auf die Füße, blieb mit seiner Bluse an einer Bank hängen, es gab einen Riss, aber Platow wandte keinen Blick von der Bühne und bahnte sich hartnäckig seinen Weg nach vorn.
Er sah das in freudiger Erregung strahlende Gesicht Olgas und drückte ihr fest die Hand.
Titytsch blickte seinen ehemaligen Formerjungen liebevoll an und wischte sich den Schweiß von der Glatze.
„Alles ist gemacht worden, Senja, wie du befohlen hast. Und mitten ins Schwarze getroffen. Siehst du, so ist das Leben!"
Die breite Alice des Fabrikparks schien in der Dämmerung wie ein hoher Tunnel: die Kronen der Kiefern, die sich miteinander verflochten, bildeten oben ein Gewölbe. Zu beiden Seiten der Allee brannten trübe elektrische Laternen. Olga hatte das Gefühl, als ginge sie durch einen Tunnel in einem riesigen Berge. Man spürte das nahende Gewitter, das wie bleischwere Erdschollen auf dem dunklen Gewölbe der Allee lastete. Am Ende der Baumreihen über dem Parktor glänzte fern eine Laterne: da war der Ausgang, der aus dem Tunnel in den sonnenhellen Tag führte.
„Ach Olga, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Freude ich nach dem gestrigen trüben Tag erlebt habe! Ich würde am liebsten aus vollem Halse ein vergnügtes Lied singen, ich fürchte nur, dass mich die Leute für betrunken halten würden. Und wirklich — ich bin freudetrunken! Olga, wenn es ein Glück auf der Welt gibt, so ist es jetzt zu mir gekommen. Und sonderbar — ich kann mich kaum vor Müdigkeit auf den Füßen halten, nach all den schlaflosen Nächten, all diesen nervenzerrüttenden Ereignissen — trotzdem aber bin ich bereit, so wie jetzt — neben dir Olga, kilometerweit zu laufen. Und wenn ich ein Schriftsteller wäre, so würde ich jetzt über das Glück der Menschen schreiben, die zu Tode ermüdet sind, aber dennoch vorwärts schreiten. Dieses Glück, Olga, hat eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Geruch. Es duftet nach dem würzigen Kiefernharz, und seine Farbe ist ebenso grell und blendend, wie die Laterne da hinten. Und es klingt so... Hör' mal, Olga... "
Und Olga hörte ein leises melodisches Klingen, als zirpten im hohen Gras die Grillen.
„Was ist das, Senja? Du bist heute so sonderbar... Alles an dir klingt, singt, lacht. Mir geht's ebenso... Ich freue mich so über unseren gemeinsamen Erfolg. Aber was klirrt da so?"
Platow lachte geheimnisvoll und führte Olgas Hand an die Tasche seiner Joppe. Ihre Finger fühlten die kühlen, abgeschliffenen Metallstücke, die in der Tasche Platows leise aneinanderklirrten.
„Was ist das, Senja?" Erstaunt betrachtete Olga die glänzenden Metallstücke und irgendein stählernes Stäbchen.
„Das sind die Proben, von denen Kusmitsch gesprochen hat. Um ihretwegen muss er sein Leben lassen, ohne das letzte Glück gefunden zu haben. Aber ich habe es gefunden. Reich mir die Hand, Olga, ich will dir ein Zeichen zum Andenken zurücklassen." Dabei nahm er ihre linke Hand und presste das Ende des Stahlstäbchens darauf — auf der sonnengebräunten Haut prägten sich Hammer und Sichel ab.
Erst jetzt verstand Olga, was für eine große Rolle sie mit ihrer aufsässigen Rede in der Versammlung gespielt hatte. Sie lauschte der rauen Stimme, aus der eine starke Freude sprach, und tiefer Stolz auf sich selbst und auf diesen Menschen, der da neben ihr ging, erfüllte ihr ganzes Wesen. Und als sich sein starker Arm um sie legte, der sie ganz nahe an ein lachendes Gesicht heranzog, als sie die schwarzen, runden Augen, die gutmütige, breitgequetschte Nase und die lächelnden Lippen dicht vor sich sah, da widerstrebte sie nicht, sondern überließ sich der süßen Ermattung, die sie machtvoll in Fesseln schlug.
Sie näherten sich dem Hause. Vor der Tür schimmerte eine helle Gestalt. Olga musste an das Krankenhaus denken und fuhr leicht zusammen. Morgen früh wollte sie wieder zu Kusmitsch. Ach, wenn er doch noch einmal zu sich kommen würde! Was wäre das für eine Freude!
„Ich gehe schlafen, Senja, ich bin müde. Morgen früh, vor der Arbeit, muss ich ins Krankenhaus... Bloß eins kann ich nicht verstehen: warum hat mich Wartanjan nicht unterstützt? Sonderbar!"
„Wie gut du bist, Olga, und wie feinfühlig!" Platow drückte ihr kräftig die Hand und fühlte dabei, wie die Finger ihrer anderen Hand leise durch sein Haar fuhren. „Was Wartanjan anbelangt, so sei ruhig. Er wird zu uns gehören!" Dabei klimperte Platow siegesbewusst mit den Stahlstücken in seiner Tasche.
„Wer ist dort?" Platow betrachtete forschend die weiße Gestalt, die vor seiner Haustür stand; sie regte sich nicht.
„Ich bin es."
Er erkannte diese vibrierende Stimme.
„Ich bin gekommen, um zum letzten Mal mit Ihnen zu sprechen. Eben habe ich gesehen, wie Sie sich von diesem Mädchen da verabschiedeten. Es ist klar, Sie lieben sie. Ich bin nicht darum hier, um Sie um das zu bitten, was Sie mir nicht geben können. Ich werde mich bemühen, alles zu vergessen... Aber ich wollte Ihnen das sagen, was Sie von mir verlangt haben. Ich habe Ihnen die Fahrkarte gebracht, die mich zur Reise in Ihrem sozialistischen Zuge berechtigt..." Die Stimme Weras sank bis zu einem heiseren Flüstern herab. „Ich habe zu Hause den ganzen Abend geweint... Ich habe mich entschlossen... Sie haben recht: der verfluchte Zauberkreis hält mich noch immer gefangen, aber ich will ihn nun mit meinen eigenen Händen zerschlagen... Ich will alles sagen, was ich weiß — von der Arbeit meines Vaters... Mein Gott, wie grausam ist das Leben!"
Angstvoll blickte Wera in die eherne Finsternis der Nacht; sie schien ihr wie ein tiefer, furchtbarer Abgrund: die Nacht hatte ihren schwarzen Rachen geöffnet, in dem die seltenen Laternen wie goldene Zähne funkelten, und wartete auf ihr letztes Wort. Und wenn sie es gesagt haben wird, dieses letzte Wort, dann wird sich der schwarze Schlund über ihr schließen, und seine feurigen Zähne werden knirschen.
Da steht das Ungeheuer vor Wera und wartet auf sein Opfer. Und woher hat dieser Mensch da solchen unversöhnlichen, kalten Hass in seinen Augen...
„Platow... Senja... Ich bin gekommen... Ich habe mich entschlossen, das Opfer zu bringen. Mein Vater... "
„Zum Teufel!! Ich brauche Ihre Opfer nicht. Ich weiß nicht weniger als Sie selbst über Ihren Vater. Sie sind zu spät gekommen, Wera Pawlowna! Sie haben sich allzu lange mit Ihrem Gepäck aufgehalten. Sie sind zu spät zum Zuge gekommen, Wera Pawlowna. Zum Teufel!!" Platow warf mit aller Macht die Tür zu, und alles war still.
Langsam erhob sich Wera von der Bank. Sie bemühte sich krampfhaft zu atmen, aber die dicke schwarze Finsternis saß in ihrer Kehle und würgte sie mit kalten, knochigen Fingern. Sie griff mit den Händen nach ihrer Kehle, stöhnte heiser und ging leise die Stufen hinab. Der schwarze Rachen mit den goldenen Zähnen schlug über ihr zusammen.
Akatujew ging im Zimmer auf und ab und schaute ungeduldig zum Fenster hinaus. Die Dämmerung löschte die Fensterscheiben. Vom Süden her zog ein Gewitter herauf. Es dunkelte schnell.
Die Geißblattsträucher im Vorgärtchen schlugen wie schwarze, stumme Springbrunnen aus dem Boden.
Die Erwartung, die Schwüle, die schwer auf der Erde lastenden Gewitterwolken und die schnell sinkende Finsternis streuten Unruhe aus. Akatujew fasste mit der Hand nach der linken Seite und fühlte, wie stark und nervös sein Herz schlug. Er legte sich aufs Bett, drehte am Schalter und der zarte, rosa Schimmer der Lampe auf dem Nachttisch ergoss sich in beruhigenden Wellen über die Seiten des geöffneten Buchs. Er las einen Roman — „In den Schären". Akatujew hatte das Buch von ein paar Tagen aus Moskau erhalten und las nun darin bis spät in die Nacht hinein. Er fand in dem Roman viele ihm verwandte Gedanken und Gefühle, sie wirkten erhebend auf seine Stimmung, die durch die Geschichte mit Wera arg gelitten hatte. Er wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, Wera wieder zu gewinnen — er kannte seine Tochter zu gut, sie war wie ihre Mutter. Nun, was tat's? Er würde eben allein weiterkämpfen, bis zur letzten Minute.
Es hatte auch keinen Zweck mehr, sich noch weiter für Weras Leben zu interessieren. Sie hatte sich losgelöst von den Ihren. Aber warum war es da drüben, hinter der Wand, so still? Was tat sie da — dieser geliebte und zugleich verhasste Mensch? Leise schlich Akatujew in Pantoffeln auf den Korridor. Die Tür zu Weras Zimmer stand offen. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Heft.
Ihr Tagebuch... Worüber schrieb sie jetzt wohl? Akatujew neigte seinen Kopf über das Heft.
„Wie grausam und unerbittlich ist diese Epoche! Einer schwarzen Wolke gleich, hängt sie erbarmungslos über mir. Mein Herz ist schwer... Ich bin an der letzten Grenze. Ich will leben, aber das Recht auf das Leben muss ich mir verdienen. So sagt Platow. dieser Mensch, der so grausam ist wie die Epoche und in seiner Kraft so anziehend. Er verlangt, dass ich mir mit dem Blute anderer das Recht erkaufe, in seinem Zuge mitzufahren. Wie furchtbar ist dieser Preis! Wie grausam und erbarmungslos ist das Leben!
So möge denn das Blut des Menschen, der mir am nächsten steht und der mir jetzt so fremd geworden ist, vergossen werden!... Mag es fließen! Ich bin bereit, Genosse Platow! Um meiner Liebe willen, meiner Liebe zu dir. Um meines Hasses willen, meines Hasses auf die, die dich mir rauben will...
Ich habe mich zu diesem furchtbaren Schritt entschlossen.... Ich gehe..."
Die Worte waren schief und krumm, sie purzelten hin, sprangen wieder auf, rissen auseinander und krochen wie schwarze, fette Insekten über das weiße Papier. Und die Insekten bewegten sich, streckten ihre Fühlhörner aus, zogen ihre kleinen Krallen krampfhaft ein und rückten schweigend gegen Akatujew vor. Er lief hinaus, taumelte in sein Zimmer, drehte den Schlüssel im Schloss herum und sank bebend aufs Bett.
„Ist nun wirklich alles, alles zu Ende? Jetzt läuft sie da die schwarzen, finsteren Straßen entlang. Jetzt ist sie an dem furchtbaren Hause, von dort fließt das schreckliche, gerinnende Blut... Es fließt hierher... es ist schon ganz in der Nähe... Da ist es..." Mit wahnsinnigen, weit aufgerissenen Augen starrt Akatujew in die Finsternis.
Plötzlich wurde leise ans Fenster geklopft, Akatujews Zähne schlugen klappernd aufeinander, er sprang schnell auf. An die Fensterscheibe drückte sich von draußen her ein bekanntes Gesicht, und Akatujew schlurfte erfreut ins Vorzimmer.
„Guten Tag, Grajew, guten Tag! Endlich...!" Akatujew umarmte den hochgewachsenen, schlanken, blonden Menschen. „Kommen Sie hier herein."
Grajew trat ins Zimmer, zog müde sein Jackett aus und strich mit der Hand über das dichte blonde Haar.
„Ganz unbeschreiblich, was da los ist. Unter dem Vorwand des Protestes gegen die wüste Demagogie und Spezialistenfresserei, die da irgendein Mädel vom Stapel lässt, habe ich die Versammlung verlassen. Sie brüllen wie hungrige Löwen. Turtschaninow haben sie glatt geworfen. Meine Rede hat nicht das geringste geholfen. Keine Autorität wird mehr anerkannt. Mit gefletschten Zähnen brüllen sie in den Saal. Sie fühlen, das irgend etwas nicht stimmt, aber wo sie anpacken müssen, das können sie natürlich nicht wissen. Und darum sind sie so wütend. Ach, einfach furchtbar sind sie!" Grajew warf sich an die Sofalehne zurück. „Lange kann ich mich bei Ihnen nicht aufhalten, Akatujew, also sprechen Sie... Sie haben mir so lange nicht geschrieben, warum nicht?"
„Wieso... was meinen Sie? Sie sind doch wohl auf meinen Brief hin gekommen, den ich Ihnen vor etwa zwei Wochen geschickt habe?"
„Vor zwei Wochen haben Sie mir einen Brief geschickt? Ich habe nichts bekommen."
„Sonderbar... Ich bat Sie um eine Zusammenkunft, informationshalber. Sehr sonderbar!..." und Akatujew warf einen wachsamen Blick auf die Wand, die ihn von Wera trennte. Irgendein Geräusch kam von dort — als ob ein Stuhl polternd umgefallen wäre.
„Wer ist da nebenan im Zimmer?" fragte Grajew.
„Da ist jedenfalls meine Tochter nach Hause gekommen... " antwortete Akatujew schwer atmend.
„Ihre Tochter, das heißt also eine von den Unsern... Dann bitte, erzählen Sie, ich habe nur wenig Zeit."
Akatujew zog die schweren Portieren vor den Fenstern zusammen, dann schloss er die Tür ab und blieb wieder unschlüssig an der Wand stehen — presste nicht auch drüben jemand das Ohr an die Wand und lauschte?...
„Bitte, Pawel Jakowlewitsch, fangen Sie an, ich habe nur noch eine halbe Stunde Zeit", sagte Grajew nervös.
„Sofort... sofort..." flüsterte Akatujew, aufmerksam in die Stille lauschend. „Ich bin nicht ganz gesund, Grajew. Mein Herz ist nicht in Ordnung. Gleich wird es vorüber sein. Alle Ihre Anordnungen sind ausgeführt worden. Es ist bereits vieles geschehen. Die Arbeit unter den Ingenieuren schreitet erfolgreich fort. Turtschaninow ist völlig auf unserer Seite, und ich habe ihm diese Arbeit übertragen. Er ist für uns äußerst wertvoll. Die Fabrikleitung traut ihm unbedingt, außerdem besitzt er kolossalen Einfluss auf die Ingenieure und verfügt über die glänzendsten organisatorischen Fähigkeiten... Von Kraiski kann man das nicht sagen. Der ist nur auf seinen persönlichen Vorteil bedacht, durch und durch unpolitisch. Bruck wurde für uns gewonnen, was sehr wichtig ist, da er in der Planabteilung tätig ist und den Lokomotivbau leitet... Außer Turtschaninow ist natürlich niemand über meine Rolle unterrichtet."
Es fiel Akatujew schwer, leise zu sprechen, die Worte kamen zischend, pfeifend aus seinem Munde; bald erloschen sie ganz, bald riss sich ein lautes Wort aus seiner Kehle los. Dann unterbrach er jedes Mal seinen Bericht und lauschte aufmerksam nach der Wand hin. Grajew machte sich in seinem Notizbuch Aufzeichnungen und warf dabei hin und wieder einen fragenden Blick auf Akatujew.
„Die Produktion ist desorganisiert. Die Lokomotiven bleiben stehen, oder sie sausen die Böschung hinunter. Die letzte Katastrophe ist kein Zufall..." Ungeduldig unterbrach Grajew Akatujew. „Zunächst habe ich eine Forderung an Sie zu richten, und zwar eine ganz entschiedene: wir dürfen nicht den geringsten Anlass zum Mißtrauen bieten. Ein Eisenbahnunglück ist eine Zu gewagte Sache. Das hat die heutige Versammlung bewiesen. Mit den bisherigen, primitiven Methoden unserer Arbeit muss ein Ende gemacht werden. Die Hauptsache ist, die Planung nicht aus der Hand zu lassen. Darauf sind die Hauptanstrengungen zu richten. Produktionsplanung, Ausführung des Produktionsprogramms, Rekonstruktion der Fabrik — darauf ist die Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Plan und Kader! Kader und Plan!"
Aus dem Nebenzimmer kam ein lang gezogenes Stöhnen.
„Was ist das?" fragte Grajew und hob misstrauisch den Kopf.
„Das ist im Zimmer meiner Tochter... Sie fühlt sich anscheinend nicht wohl...", sagte Akatujew hastig. „Ich fürchte, Grajew, dass die alten Methoden schon zu fest eingewurzelt sind. So kleinliche Naturen wie Kraiski finden sich für ein paar Rubel zu allem bereit. Sie haben doch an dem geheimen Ausschuß alle ausgezeichnete Prämien verdient. Nur die wenigsten kämpfen für ein Ideal, die meisten sind raffgierig, viele sind sogar vollkommen versumpft und versuchen langsam, in den Sozialismus hineinzuwachsen. Nehmen wir zum Beispiel Sorin. Ein außerordentlich kluger Mensch, ein ausgezeichneter Spezialist. Aber er ist direkt gefährlich... Er steht zwischen denen und uns — mit der Miene des unbeteiligten Beobachters. Es ist unmöglich, dass er unsere Arbeit nicht bemerkt, aber er gibt sich den Anschein, als gehe das alles ihn nichts an. Und weiß der Teufel, was ihm morgen in den Sinn kommen kann! Zweifel beginnen an vielen von den Unsrigen zu nagen, und das ist gefährlicher als zehn solche Kortschenkos, denn es bedeutet eine Stärkung unseres Gegners. Wir müssen uns beeilen, Grajew. Sonst werden die Wertvollen von uns abfallen und in das Lager des Gegners überschwenken."
„Die Fristen kürzen sich in ganz elementarer Weise ab, Pawel Jakowlewitsch. Wir stehen am Vorabend großer Ereignisse. Aus diesem Grunde will mir das, was Sie mir soeben da erzählt haben, auch durchaus nicht gefallen. Solches Tempo und solche Ergebnisse — das ist ein Verbrechen, Pawel Jakowlewitsch!" "
Wieder kam das Stöhnen aus dem Zimmer nebenan; diesmal war es länger und schwerer.
„Vielleicht muss man Ihrer Tochter beistehen? Gehen Sie doch zu ihr."
„Nein, nein! Das ist bei ihr oft so. Weibernerven... "
„Pawel Jakowlewitsch, Sie wissen also: die Zeit, die uns bleibt, ist kurz. Wir haben alles auf eine Karte gesetzt. Die Kräfte im Ausland sind vorbereitet. Wenn wir diese letzte Frist versäumen, dann ist alles verloren. Sie führen ihren Fünfjahrplan mit viel Erfolg aus, wozu sollen wir uns das verhehlen? Und sie haben starke Aussichten zu siegen, wenn wir auch nur einen Augenblick zu spät eingreifen. Nutzen Sie die Aktivität Brucks aus, verlegen Sie das Schwergewicht auf die Planung. In den nächsten Tagen wird die Idee des Baus von Lokomotiven schwersten Kalibers auftauchen. Diese Lokomotiven machen eine vollständige Erneuerung des Oberbaus erforderlich. Der Oberbau kostet Millionen. Neue Brücken — Millionen. Greifen Sie diese Ideen auf, tragen Sie sie in die Massen der Arbeiterschaft. In allernächster Zeit werden wir Ihnen jemand zur Arbeit unter den Massen der Belegschaft schicken. Er stammt selbst aus Arbeiterkreisen. Erhalten Sie die Verbindung aufrecht..."
Ein dünner durchdringender Schrei ertönte hinter der Wand, dem ein Wimmern folgte — es hörte sich an, als winsle im Nebenzimmer ein Hund.
„Schon wieder dieser Schrei. Es geht mir durch und durch!" rief Grajew. „Gehen Sie hinüber, geben Sie ihr Tropfen!"
„Hier helfen keine Tropfen... helfen keine Tropfen... " murmelte Akatujew dumpf — er fühlte, wie sein Herz wieder aufgeregt hin und herflatterte, wie der Pendel der Prüfmaschine.
„Schließlich müssen Sie den Bau der neuen Fabrik mit allen Kräften hemmen. Suchen Sie irgendeinen Vorwand dazu. Wir machen Sie dafür verantwortlich, Akatujew, vergessen Sie das nicht! Aber statt dessen lesen Sie hier Romane..." Er nahm das Buch zur Hand, das auf dem Bett lag. „Ach — Strindberg! Wie ausgezeichnet er übrigens unsere Ideen propagiert! Die gesetzgebende Macht gehört uns, den Männern des Hirns und der Technik. Übrigens — diese Idee dringt sogar in die Sowjetliteratur ein. Ich empfehle Ihnen das Vorwort zu dem Buch ,Wissenschaft und Technik der Zukunft' zu lesen, es ist 1928 erschienen. Da wird diese Idee ganz offen propagiert. Wir müssen manchen Schriftstellern direkt dankbar sein — sie arbeiten für uns... Der Held dieses Romans ,In den Schären' führt seine Sache nicht bis zu Ende, er nimmt sich das Leben. Aber wir sind stark genug, um die neue Welt noch zu sehen. Na, ich muss jetzt gehen."
„Grajew, eine Sekunde noch..." Akatujew trat ganz nahe an ihn heran und flüsterte aufgeregt: „Sehen Sie, Grajew, ich schreibe, arbeite... Sagen Sie mir nun aber: wer wird den Posten des Verkehrsministers erhalten?"
Grajew blickte kalt über ihn weg und ging zur Tür.
„Es ist dumm und noch zu früh, darüber zu sprechen. Zu diesem Portefeuille müssen wir durch ganze Ströme von Blut waten. Viel Blut wird es kosten! In Strömen wird es fließen, sich ins Meer ergießen, und das Meer wird seine Farbe annehmen! Haben Sie das nicht vergessen? Alles werden wir hinwegfegen! Aber diese Zerstörung ist unvermeidlich. Denken Sie daran, wie Faust die Hütte von Philemon und Baucis anzündete, um seine Handelsflotte zu bauen!?"
Im Nebenzimmer wurde hysterisches Schluchzen laut, es drang durch die dünne Wand, durch den dicken Perserteppich und erfüllte den ganzen Raum. Akatujew sprang auf, seine dünnen, welken Lippen zuckten wie im Krampf.
„Eine Minute, Grajew. Helfen Sie mir... Ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Meine Tochter, meine Wera ist in das Lager der Feinde übergegangen, und eine Rückkehr gibt es nicht für sie."
„Was? So steht es?!" Grajew wandte sich zurück. „Halten Sie alles von ihr fern. Zwingen Sie sie abzureisen."
„Das wird nichts helfen, Grajew... es wird nichts helfen... Sie... sie weiß ... alles."
„Was sagen Sie da?!" Grajew riss den Hut vom Kopf. „Was sagen Sie da? Wie konnte das geschehen?"
Und Akatujew erzählte, während ihn der Schmerz in der linken Brustseite von neuem packte. Grajew kaute nervös an den Nägeln.
„Haben Sie eine Ahnung, Akatujew, was das heißt? Was das für Sie... für mich ... für unsere Sache bedeutet? Hunderte von Verhaftungen, von Erschießungen bedeutet es! Was haben Sie angerichtet? Vielleicht ist es schon zu spät?! Vielleicht sind die Haftbefehle schon unterzeichnet? Und Sie sitzen da und tun, als ob überhaupt nichts geschehen wäre... Sie haben unsere ganze Organisation verraten!! Hier in Ihrer Wohnung, nebenan, sitzt ein Feind, der unser Geheimnis kennt! Was haben Sie angerichtet?!"
Bleich, wütend, in wahnsinniger Aufregung lief Grajew im Zimmer auf und ab.
„Besteht durchaus keine Hoffnung, dass sie zu uns zurückkehren könnte?" fragte er schließlich, nachdem er irgend etwas überlegt zu haben schien.
„Durchaus keine... sie ist wie ihre Mutter." Akatujew schüttelte matt den Kopf.
Das laute Weinen war verstummt, nur hin und wieder drang abgerissenes Schluchzen aus dem Nebenzimmer.
„Vielleicht hat sie schon alles berichtet, und nun foltert sie das Gewissen? Akatujew, wissen Sie, was unser harrt?! Ich habe nicht die geringste Lust zu sterben. Sie vielleicht?" Die Stimme klang hart und trocken.
Akatujew schwieg. Sein Herz schlug auf einmal sonderbar leise und langsam. Gleich würde es stillstehen, für immer.
Ü ber der Stadt hing eine schwere schweflige Gewitterwolke, bereit, sich zu entladen. In der Minute, bevor das Gewitter losbrach, herrschte im Hause Akatujews tiefe Stille. Schwer und unheimlich, brachte sie jeden Ton zum Schweigen.
Auf einmal aber barst diese Stille — ein gellender, unmenschlicher Schrei zerriss sie.
„A—a—a.... Pa—a—apa! Hi—i—lfe! Hil—fe!" Mit furchtsamen, zögernden Schritten betrat Akatujew das Zimmer seiner Tochter. Wera warf sich auf dem Bett hin und her, fasste sich nach dem Hals und bäumte sich vor Schmerzen. Ihr Gesicht war ganz blau, in wahnsinnigem Entsetzen biss sie ins Kopfkissen.
„Mir ist so schlecht... Alles im Innern... brennt... Ich muss— A—a—a... "
„Was ist mit dir geschehen?" In kalter Gleichgültigkeit neigte sich der Vater über sie.
„Ich ster—be... Ich brenne... verbrenne... Papa! Papa!" Ihre vor Angst weitaufgerissenen, in kindlicher Hilflosigkeit flehenden Augen umfassten bittend den Vater, und ergriffen von dem eisigen Glanz dieser todgeweihten Augen, stürmte Akatujew auf den Korridor, das Haus hallte wider von seinem Geschrei:
„Grajew — einen Arzt! Schnell, um Gottes willen, — schnell!" Er riss Grajew am Arm, sah ihm flehend in die kalten, undurchdringlichen Augen!
Grajew setzte langsam seinen Hut auf, rückte ihn mit der gewohnte Gebärde gerade und ging hinaus. Die kalten Finger Akatujews schüttelte er ungeduldig von sich.
Die von Gewitterspannung geladene Finsternis nahm ihn auf. Von allen Seiten blinzelten ihn die gelben Fenster der in der Dunkelheit verlorenen Häuschen mit schlauer Wachsamkeit an. Grajew beschleunigte seine Schritte, getrieben von dem Wunsch, schneller ans Licht zu gelangen. Unter der Laterne, die an der Straßenkreuzung stand, sah er auf die Uhr. „Ja... Ich schaffe es noch... Einen Arzt?" Er sah plötzlich die schreckensstarren, flehenden Augen Akatujews vor sich, dann blickte er zögernd auf die blanke gelbe Telegrafenstange und schritt eilig dem Bahnhof zu...
Akatujew konnte sich nicht entschließen, das Zimmer seiner Tochter wieder zu betreten. Er hörte ihr ersterbendes Stöhnen, und in stummem Jammer raufte er die spärlichen grauen Haare, die wie dünne silbrige Spinnweben im Schein der elektrischen Lampe aufglänzten und auf den dicken Teppich niederschwebten. Er zitterte bei dem Gedanken, dass Wera sterben könnte, gleichzeitig aber wünschte er ihren Tod. Er glaubte in diesem Augenblick an nichts, er hatte nur das Gefühl, dass irgend etwas Furchtbares unabwendbar über seinem Haupte hing. Von der schrecklichen Erwartung dieses Unvermeidlichen beherrscht schaute er wieder in das Zimmer seiner Tochter. Wera empfing ihn mit einem gleichgültigen, erlöschenden Blick. Sie öffnete die schwarzen Lippen, als wollte sie etwas sagen, aber ein Krampf schüttelte sie, sie krümmte sich, und ihr Körper klatschte gegen die Wand.
Mit starren, zitternden Fingern riss Akatujew den Hemdkragen auf und lief in wahnsinnigem Schrecken auf die Treppe hinaus, krampfhaft nach seinem Herzen greifend.
„Grajew! Grajew!"
Ein heftiger Windstoß fuhr in die Geißblattbüsche, die schwarzen Fontänen schwankten raschelnd hin und her, und das Raunen ihrer Blätter drang an das Ohr Akatujews.
Er rannte durch die heulende Stille und schrie. Ein greller blendender Blitz zuckte über den Himmel, und Akatujew fühlte sich von lähmendem Entsetzen ergriffen: er sah sein Schattenbild auf der Erde — und sein Bein, das der Wind abgerissen zu haben schien, leichengelb im fahlen Schein des Blitzes und mit feuchten Blättern behaftet, flog durch die Luft voran, als wolle es ihn selbst überholen.
1
Mochow erwachte heute lange bevor die Sirene heulte, von dem Wecker einer unbestimmten Unruhe aufgescheucht. Die Astlöcher der im Laufe der Jahre schwarz gewordenen Wände blickten ihn mit ihren alten, halberblindeten Augen an und erinnerten ihn an die Jahre, da er, noch ein Kind, in diesem Zimmer herumgelaufen war, den frischen Harzduft einatmend, der von den durchsichtigen gelben Tropfen herkam, die an den Balken hingen. Er freute sich damals immer darüber, dass die Fliegen, die sich auf den Harztropfen niedergelassen hatten, nicht mehr von ihnen loskamen und ihr Leben lassen mussten.
Jetzt strömten die Wände einen feuchten Modergeruch aus. Mochow hatte die Löcher ausgeflickt und verstopft, aber das half nur wenig. In der Nachbarschaft wurden andere dreifenstrige Häuschen gebaut, die Straße wurde länger, schon langte sie bis zu den Feldern hin. Oft betrachtete Mochow die schmalen, kleinen Fenster, spuckte aus und ging an das andere Ende der Stadt, wo die neuen Steinhäuser aus dem Boden hervorwuchsen. Besonders die Fenster überraschten ihn. Die breiten Spiegelscheiben luden die Sonne geradezu ein, sie hatte freien Zutritt in das Innere dieser Häuser und fiel prall auf die blendend gekalkten Wände. Die Menschen, die hier wohnten, konnten doch keine Geheimnisse mehr haben, sie boten allen ihr offenes Leben dar. Und voll Bitterkeit dachte Mochow dabei stets an die kleinen Löcher, die sein Haus statt der Fenster hatte.
Auch heute war draußen doch sicher schon heller Morgen, hier im Zimmer aber herrschte trübes Dämmerlicht. Mit Mühe und Not bahnte sich das Licht seinen Weg durch die schmalen Fenster und erhellte nur schwach das kleine Zimmer. Daher kam auch die Feuchtigkeit. Mochow erwartete, dass man bald zu ihm kommen und ihm sagen würde: „Mochow, ziehe hinüber in die Siedlung." Das wäre die beste Belohnung für seine langjährige, unermüdliche Arbeit. Er dachte dabei nicht einmal an sich selbst. Aber da lag Sascha und schlief, leise schnarchend. Ein ganzes Heer von Fliegen saß ihm auf Mund, Nase und Augen. Sascha warf sich unruhig hin und her, brummte etwas dabei und fiel dann erneut in tiefen Schlaf. Nein — Sascha, musste unbedingt in so einem Haus mit breiten Fenstern wohnen. Dann wird er auch den Vater nicht verlassen...
Und plötzlich fühlte Mochow eine unbestimmte Unruhe. Die erträumten breiten, hellen Fenster der sozialistischen Stadt verfinsterten sich und schrumpften zusammen, bis sie so klein waren wie die Fenster seines Hauses. Ohne sich recht darüber klar zu sein, woher diese Unruhe kam, fiel ihm der gestrige Tag ein. Ja — die sozialistische Stadt, die war mit der neuen mechanisierten Fabrik verknüpft. Aber der Bau war ja doch eingestellt Moskau traute der Fabrik nicht. Der „Krassny Proletari" machte schlechte Lokomotiven... Die Eisenbahnkatastrophe. Die. Achse. Nun wird die sozialistische Stadt nicht gebaut werden... Die hellen, sonnigen Fenster waren trübe geworden, mit denen war es nichts. Mochow sprang vom Bett.
„Saschka! Steh auf, Kontrolleur! Eine Schraube soll 'dir... Verschläfst die Zeit."
Er zog Sascha an den Beinen, aber Sascha riss sich los, drehte sich um und schlief ruhig weiter.
„Wenn du mich am Fabriktor abfangen willst, dann findest du raus aus dem Bett, aber wenn es heißt, der Fabrik helfen, da kriegst du nicht die Augen auf. Los! Steh auf!" Mochow zog Sascha aus dem Bett, der sich schließlich dazu entschloss, die schläfrigen Augen zu reiben und sich langsam anzuziehen.
„Saschka!" Mochow ließ nicht ab. „In der Fabrik ist der Teufel los, und du pennst!"
„Was für Teufel? Teufel gibt's jetzt nicht mehr", brummte Sascha finster als Antwort auf den unangebrachten Witz seines Alten.
„Doch, Junge. Der Teufel ist los. Er schmeißt die Lokomotiven die Böschung hinunter, lässt die Achsen auseinander brechen, und der ganze Zug ist geliefert! Und du liegst da und schnarchst, du passt nicht auf die Fabrik auf, du Pi—o—nier! Auf die müsstest du aufpassen, und nicht auf deinen alten Vater", sagte Mochow vorwurfsvoll, während er die Fußlappen festwickelte.
„Das sind keine Teufel, sondern das Metall ist müde geworden und gebrochen", sagte Sascha in belehrendem Tone.
„Mü—de geworden!" Mochow blickte verwundert auf seinen Sohn. Der Fußlappen lockerte sich wieder und fiel auf die Erde, und Mochow steckte den nackten Fuß in den Stiefel.
„Na ja, so wie ein Mensch müde wird. Und dann ist sie vor Müdigkeit gebrochen ... Das hat mir gestern Wanka, der ,Direktor' erzählt, und ihm hat's sein Vater gesagt."
„Na, diese beiden Direktoren! Die müsste man nehmen und dahin bringen... Da würden sie sehen... Eine Schraube soll ihnen... Mü—digkeit! Da sind Teufel an Werk, Saschka! Es nimmt einer eine Geige, setzt sich unter die Brücke und fiedelt dann ein, zwei Jahre lang auf seiner Geige: ,So gehe ich ans Flüsschen", und auf einmal — schwupp — da liegt die Brücke im Wasser! Siehst du wohl, mein Junge, was das für schlaue Teufel sind?... Was ist denn das?" Mochow hob den Fußlappen vom Boden und lachte: „Aha, da hat sich die Danilowna verzählt, unsere Mutter. Bei der stimmt's wohl nicht ganz da oben... legt sie mir da drei Fußlappen hin! Die Gehirne werden bei allen weich... Gott allein weiß, was er hier für ein Durcheinander angerichtet hat!" Mochow spuckte voller Verachtung aus.
Sascha hatte sich auf das Bett niedergehockt, und beim Geraunze des Vaters fielen ihm die Augen von neuem zu.
„Sascha, du musst doch zum Direktor! Du hast doch gesagt, dass ich dich wecken soll! Nun zieh dich schon endlich an!"
Da fiel Sascha ein, dass er heute im Auftrag der Pionierabteilung zum Direktor gehen und das Geld für das alte Metall holen musste. Schnell zog er die Hosen an und lief auf den Hof hinaus an den Waschständer.
Dann gehen sie beide durch die gelben sandigen Straßen, die feucht sind vom Tau. Die nackten Füße Saschas lassen im feuchten Sande deutliche Spuren zurück. Mochow schreitet weit aus, von Unruhe getrieben, und Sascha hüpft wie ein Sperling neben ihm her.
„Vater, ich habe Angst, zum Direktor zu gehen. Wenn er mich nun anbrüllt?"
„Warum soll er dich denn anbrüllen? Er ist doch kein wildes Tier. Und du hast ja doch geschäftlich mit ihm zu tun."
Sascha fühlt, wie sein Herz galoppiert, und das Bewusstsein, dass er mit einem wichtigen Auftrag zum Fabrikdirektor selbst muss, lässt es immer schneller pochen. Und wichtig ist die Sache Wenn sie gelingt, dann wird Saschas Abteilung die beste in der ganzen Fabrik sein... Und er eilt weiter, leise erschauernd in der Kühle des frühen Morgens und von den Tautropfen, die auf seine Füße spritzen, wenn er beim Überholen der anderen Arbeiter seitwärts durch das hohe Gras springt.
„Vater! Wenn wir das Geld kriegen, dann bringen wir in unserer Straße einen Lautsprecher an."
„Wenn du doch zu Hause ein Radio einrichten könntest, Saschka. Das wäre doch lustig, da würdest du auch hin und wieder mal zu Hause sitzen; so strolchst du den ganzen Tag herum. Und mir wäre es auch angenehm, so ein bisschen Musik..."
„Erst müssen wir auf der Straße einen Lautsprecher haben, damit alle hören können. Warum zu Hause? Sieh mal, wieviel Häuser! Soviel Geld haben wir nicht, um in jedem Hause ein Radio anzubringen. Erst müssen wir für die Straße einen Lautsprecher haben", erklärte Sascha gewichtig, ohne die naive List des Vaters zu merken.
Das moosbewachsene Dach lastet schwer auf den vom Alter schwarzen Pfählen von Großvater Kusmitschs Haus, so dass sie tief in den lockeren Sand einsinken. In den Brettern und Balken der Wände klaffen Risse. Die kleine, ein paar Stufen hohe Treppe hängt auf schiefen, halbverfaulten Pfählen.
Mochow seufzte schwer, als er an den „Chef" dachte. Sascha sah aufmerksam in das von Runzeln überzogene Gesicht und bemerkte plötzlich eine starke Veränderung an ihm. Gewöhnlich stumpf und trübe, blickte der Vater jetzt nachdenklich und unruhig vor sich hin.
„Vater, wird der „Chef" sterben?" frage Sascha und freute sich über die goldiggrüne Moosdecke des alten Daches.
„Der ,Chef?" wiederholte Mochow nachdenklich. „Der ist zäh, der Alte, der wird schon durchkommen... Dem kann der Tod nichts anhaben, als ob er gefeit wäre gegen ihn. Siehst du, Junge, wie kräftig wir Alten sind. Damit könnt ihr euch gar nicht messen!' Und dabei reckte Mochow seine breiten Schultern, als schüttle er die Last der Jahre von sich.
„Ich werde auch lange leben!" rief Sascha aus. „Bis zum Kommunismus... Dann wird alles anders sein... Ganz anders. Dann werden die Menschen nach ihrer Fabrik fliegen und nicht gehen wie jetzt. Dann werden soviel Flugzeuge herumsurren, wie im Sommer Libellen."
Mochow stellte sich vor, "wie er auf einer Libelle reiten würde, und musste lachen.
„Das kannst schon du besorgen, Brüderchen, das Fliegen. Ich lasse mir's mit meinen zwei Beinen genügen. Das tüftelt wohl alles dein Zeitlin aus, was?"
Sascha nickte bestätigend mit dem Kopf und lachte.
„Das ist ja ein ganz Gerissener, dieser kleine Itz... " Mochow wandte sich um und schritt schnell dem Hause von Kusmitsch zu: „Geh voraus, ich muss mal zu Platow heran... "
„Da hätte ich ja beinahe wieder was Schönes gesagt", dachte er verwirrt und klopfte bei Platow ans Fenster.
Niemand meldete sich. Mochow schaute zum Fenster hinein. Angekleidet, die Hände in der Tasche seines Kittels, lag Platow auf dem Bett. Man hörte sein Schnarchen durch das geschlossene Fenster.
„Der hat sich ordentlich abgequält... Na, soll er weiter schlafen", entschied Mochow und eilte nach der Fabrik.
Er war fast der erste in der Abteilung und benutzte den freien Augenblick, um die neue Nummer der Zeitung zu entfalten, die bei seiner Maschine lag. Zuerst überflog er die vierte Seite, dann die erste. Auf diesen beiden Seiten stand stets das Interessanteste, die Neuigkeiten aus der Stadt und von überall her; in der Mitte der Zeitung wurden lange Artikel abgedruckt, die kaum zu lesen waren.
Auf der vierten Seite stand die Mitteilung, dass der Stadtsowjet die Versorgung der Vorstadtviertel mit elektrischem Licht in seinen Bauplan aufgenommen habe, und Mochow billigte dies. Dann ersah er aus der Zeitung, dass in der „Hinteren Straße" in der Nähe des Flusses ein sechsstöckiges Haus mit Arbeiterwohnungen gebaut werden sollte. Weshalb in der Hinteren Straße? Das war ja fast drei Kilometer von der Fabrik entfernt. Das konnte Mochow keineswegs gutheißen. Er schüttelte den Kopf, riss ein Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb mit Blei:
„Aß die Redaktion
Was für ein Esel ist auf den Gedanken gekommen, das neue Wohnhaus in der Hinteren Straße zu bauen? Vielleicht hat er dabei mit seinem Hintern gedacht?! Das kann ich nicht billigen. Diese Sache muss geregelt werden. Im Stadtinnern ist genug Platz, und es wird näher und zugleich auch hübscher sein. Und dass die Fenster unbedingt breit sind.
Mochow aus der Dreherei."
Auf der ersten Seite wurde berichtet, dass die Berliner Metallarbeiter streikten und Lohnerhöhung verlangten. Damit war Mochow einverstanden und auch wieder nicht einverstanden. Lohnerhöhung — das ist natürlich eine gute Sache, aber besser wäre es, die Bourgeoisie überhaupt ganz und gar zu des Teufels Großmutter zu jagen und ein Sowjetland einzurichten. Was halten sie sich denn da solange bei der Vorrede auf! Weiter unten stand dann, „dass der Krieg in Marokko mit dem endgültigen Sieg des französischen Imperialismus geendet habe, der den Aufstand der Marokkaner in einem Meer von Blut ertränkte". Mochow wusste nicht, wo Marokko liegt und warum dieser Krieg geführt wurde. Er konnte sich die Marokkaner nicht vorstellen, aber er entsann sich des Haufens von Leichen, die er im Bürgerkrieg gesehen hatte, und stieß einen schweren Seufzer aus, in dem sein Mitgefühl mit den unbekannten marokkanischen Menschen Zum Ausdruck kam. Da gellte der kurze und strenge Pfiff der Fabriksirene unter dem Glasdach der Abteilung hin.
Die Transmissionen surrten, die Riemen klatschten und sprangen. Mochow spannte die Lokomotivachse auf die Drehbank, zog den Stahlhalter mit dem Schlüssel fest und schaltete ein - -die Achse begann sich langsam zu drehen, die Stahlspäne rannen spiralförmig herab. Der Stahl fraß die rostrote Umhüllung der Achse und ihre Oberfläche bekam einen matten, weißlichen Glanz und bedeckte sich mit schmalen Rillen. Plötzlich aber kamen immer häufiger kleine schwarze Blasen zum Vorschein. Mochow stellte die Maschine ab und ging, den Werkmeister Zu suchen.
„Bulawkin, komm mal her und sieh, was da für ein Dreck zum Vorschein kommt..."
Der Werkmeister neigte sich über die Achse, strich mit der Handfläche über das Metall und sagte dann ganz ruhig:
„Ganz gewöhnliche Sache... Beim Schweißen verschwindet das. Ist nicht die erste solche Achse."
Die blaue Warze thronte sicher und ruhig auf der Wange Bulawkins, wie alle die vorhergehenden Jahre lang. Und genau so wie stets drehte sich Bulawkin ohne Eile eine Zigarette.
Mochow blickte starr auf die blaugraue Warze — sie schien die Stabilität der Ordnung, die die ganzen Jahre hindurch geherrscht hatte, hervorzuheben, erinnerte an die häufig mit Bulawkin bei einem Glas Wodka verbrachten Abende und bildete gewissermaßen einen Bestandteil seines eigenen Lebens. In diesem Augenblick aber glotzte die Warze Mochow ganz unverschämt an, und die schwarzen Haare, die aus ihr hervorstarrten, waren ihm geradezu verhasst. Und ganz plötzlich fühlte Mochow jene kühne Verwegenheit in sich, die aus Saschas Augen gefunkelt, jene Kraft, die die Leitersprossen des Lebens durcheinander geworfen hatte.
„Ich werde aber diesen Dreck auf meiner Bank nicht abdrehen", sagte Mochow fest und entschlossen. „Du hast wohl was getrunken, ha?"
„Ich bin sogar sehr nüchtern. Wenn ich besoffen wäre, dann würde ich nicht bloß diesen Dreck da abdrehen, sondern womöglich noch deine Warze."
Bulawkin strich ruhig ein Streichholz an und sagte: „Dann wird sie eben ein anderer abdrehen." „Ich werd' sie auch keinen anderen abdrehen lassen, eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Du denkst wohl, ich bin für dich ein Eisenklotz, was?"
„Was ist dir denn bloß auf einmal in die Krone gefahren, -Mochow?" sagte der Meister überredend, mit halber Stimme. „Jahrelang arbeitest da hier, und nun auf einmal heißt es ,ich werde diesen Dreck nicht abdrehen". Was ist denn los? Du willst wohl den Ingenieur spielen, was? Bist auf einmal weise geworden, was? Wenn der Meister befiehlt, hast du zu gehorchen, und damit basta!" schloss er streng, im Tone des Vorgesetzten.
„Na, brüll' man ein bisschen leiser, du hast hier keinen dummen Jungen vor dir! Ich drehe die Achse doch nicht ab, ich hab's dir gesagt und damit Schluss. Gib' ein anderes Stück her."
Der Meister schaute sich verwirrt um, sein Blick fiel auf ein pockennarbiges Gesicht.
„Koschkin! Du gehst zu dieser Bank über."
Koschkin kam heran.
Mochow stellte sich drohend zwischen seine Bank und Koschkin.
„Scher dich weg! Ich lasse dich nicht ran!"
„Was soll das heißen? Streik? Arbeitest selbst nicht und lässt auch andre nicht arbeiten! Du wirst aufsässig? Du fliegst raus!!" Bulawkin zitterte vor Wut.
„Ich lasse keinen an die Bank ran — hast du verstanden?" brüllte Mochow heiser.
Die Arbeiter ließen ihre Drehbänke stehen und kamen von allen Seiten herbeigelaufen. Der Meister holte den Abteilungsleiter. Sorin kam langsam heran und machte sich schweigend daran, die Achse zu prüfen.
„Defekte sind vorhanden. Aber erstens sind sie zu beseitigen, zweitens ist das überhaupt nicht Sache des Drehers. Sie haben die Pflicht, die Achse auf das richtige Maß abzudrehen, und weiter nichts. Arbeiten Sie!" Sorin sprach ruhig und gemessen.
„Richtig! Dazu sind die Chefs da, um das zu verstehen."
„Kann man denn so etwas zulassen, Simon Petrowitsch? Wenn hier jeder seine eigene Ordnung einführen wird, wozu brauchen wir dann Werkmeister in den Abteilungen? Ich sage: mach's so, und er macht mir gerade das Gegenteil! Als ob er verrückt geworden wäre. Wenn's der Meister befohlen hat, so hat er eben zu gehorchen! Basta!" Bulawkin drückte würdevoll die Brust heraus.
„Ich werde sie nicht abdrehen. Weiter habe ich nichts zu sagen. Und du, Hundesohn, mach dich hier nicht so mausig!" Dabei spuckte Mochow dem Werkmeister voller Verachtung auf die Stiefel.
„Mochow, als Abteilungsleiter fordere ich Sie hiermit auf zu arbeiten", sagte Sorin scharf. „Ich weigere mich!"
„Auf Grund der Betriebsvorschriften muss ich Sie entlassen, wenn Sie sich weigern, den Anordnungen des Abteilungsleiters Folge zu leisten!" schrie Sorin, der die Ruhe verloren hatte. Die Arbeiter waren ganz still geworden und sahen auf das eigensinnige Gesicht Mochows.
„Weiß Gott, du bist betrunken, Makarytsch." „Der ist noch von der gestrigen Versammlung her aufgekratzt."
„Kinder, lasst mal, der Alte regt sich sicherlich nicht umsonst auf."
„Sieh' mal einer an, unser Mochow! Was der sich da leistet! Soviel Jahre lang hat er still und leise seine Achsen gemacht, und nun auf einmal..."
Sorin wartete auf eine Antwort. Seine Lippen zuckten nervös. Er zerdrückte eine Zigarette zwischen den Fingern, der Tabak rieselte auf die Erde.
„Ich verlange, dass der Inspektor herkommt. Mag der sagen, ob eine Lokomotive mit einer solchen Achse laufen kann." Mochow stützte sich mit der einen Hand auf der Drehbank, als ob er sie den Blicken Sorins entziehen wollte.
„Das ist ganz überflüssig. Hier ist das Prüfzeichen des Inspektors. Die Achse ist von der Inspektion abgenommen."
Hammer und Sichel blickten Mochow deutlich an — einen Augenblick wurde er schwankend, aber dann tauchte vor seinen Augen ein Trümmerfeld auf — zerschlagene Waggons, Maschinen... Und in den grünlichen Augen flackerte von neuem Unruhe.
„Ich verlange, dass der alleroberste Chef hierherkommt. Er soll sich die Achse ansehen. Ich drehe sie nicht ab."
Von allen Seiten wurden Rufe laut:
„Mochow hat zu tief in die Flasche geguckt!"
„Du hast dir wohl ein Prinzip angeschafft?"
„Wegen der Tarifsätze macht er das jedenfalls ..," sagte Bulawkin boshaft.
Wütend rollte Mochow die grünen Augen.
„Wegen der Tarifsätze? Verfluchter Kriecher du! Das wagt mir einer nachzusagen? Mochow hat umsonst gearbeitet, als es sein musste, als du noch auf dem Dorf deinen Bauch gemästet hast! Und Mochow würde wieder umsonst arbeiten, wenn es nötig wäre... ,Tarifsätze'! Du blöder Hund! Du denkst, alle sind so wie du, was? Es stimmt, früher hab' ich das gemacht: hab' abgedreht, was ihr mir hingelegt habt, ganz egal, was für'n Dreck. Blind war ich, das stimmt! Aber jetzt bin ich sehend geworden. Bei Koslowka habe ich mein ganzes Leben überblickt, Jungens! Ich war der beste Dreher der Abteilung... "
„Wer sagt denn, dass du nicht der beste Dreher bist? Nicht bloß in der Abteilung, in der ganzen Fabrik!"
Aber Mochow hörte nichts, er schrie und fuchtelte dabei mit der ölbeschmierten rechten Faust herum:
„Ich dachte, weiter ist nichts nötig. Abgedreht, abgeliefert, mein Geld verdient, Schluss. Alles andere ist nicht meine Sache. Aber jetzt will ich nicht mehr so arbeiten! Was schielst du da mit deiner Fratze zur Seite, Bulawkin? Sieh mir gerade in die Augen: Was habe ich abgedreht? Was abgeliefert? Was ist draus geworden? Der Leiter?? Ich glaube keinem Leiter!" Mochows Stimme überschlug sich. Er fühlte, dass die Kraft, die die Lebenssprossen durcheinander geschüttelt hatte, bis direkt an sein Herz vorgedrungen war.
Die Transmissionen brummten, die Motoren surrten, der Drehstahl bohrte seinen Zahn knirschend in den Guss — aber keiner hörte ein anderes Geräusch in der Dreherei als Mochows wildes Geschrei.
„Ich glaube euch nicht mehr! Dem Bulawkin glaub' ich nicht, Ihnen glaub' ich nicht" — dabei tippte er Sorin auf die Brust, der verwirrt einen Schritt zurückwich. „Diesem Hammer und dieser Sichel glaube ich nicht. Alles ist falsch, Jungens! Ich glaube nur noch mir selber. Der Zeitung glaube ich. Das von den Marokkanern glaube ich. Aber deiner Warze glaube ich nicht, du kahlköpfiger Teufel, du Kriecher du! Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!"
„Richtig! Die Sache muss untersucht werden!" „Gib's ihm, Makarytsch! Die haben uns genug den Kopf verdreht."
Und Mochow schrie weiter:
„Den Saizew haben sie wegen seiner Zeichnungen ins Irrenhaus gesteckt! Bis zum Hungerstreik haben sie den Menschen getrieben! Ihr Schweine! Jungens, holt mal den Parteisekretär her. Lauft mal zu dem Martemjan!"
Aus der Verwirrung, die in den Lebenssprossen angerichtet worden war, war nur eine einzige heil hervorgegangen — die alleroberste, die, auf der „Martemjan" stand. „Wartanjan heißt er."
„Holt den Martemjan her! Dem werde ich glauben... Martemjan soll kommen. Der war mit Lenin bekannt." Er schrie eigensinnig und gebieterisch: „Martemjan holt her!" Und alle griffen es auf: „Wartanjan holt her!" „Martemjan!!"
„Ins Raikom — los, ins Raikom!" „Die Partei soll's untersuchen!" „Wartan—ja—a—n!"
Die Dreherei hallte wider von dem ohrenbetäubenden Ge schrei, das mit dem Donnern und Krachen des Metalls verschmolz — die Wände brüllten und das Metall schrie, erfüllt vom Zorn der Menschen.
Wartanjan kam hastig in die Dreherei gerannt und wischte sich den Schweiß von dem erregten Gesicht.
„Du musst diese Sache hier aufklären, Genosse Martemjan!" Aufgeregt schlug Mochow mit der Hand auf die Achse.
Wartanjan blickte verwirrt auf die Achse und begriff nichts. Er sah nicht einmal die kleinen Narben, die aussahen, als wären sie mit einer Nadel eingekratzt. Er fühlte sich völlig ohnmächtig diesem sonderbaren Stück Metall gegenüber, das die ganze Abteilung in Aufruhr gebracht hatte, und rief Kortschenko telefonisch herbei.
Kortschenko lief um die Maschine herum, betrachtete den glänzenden Stahl von vorn, von der Seite, fuhr mit der Hand darüber hin und zögerte mit der Antwort. Er sah auf einmal unklar das Gesicht Wekschins vor sich, hörte seine wirren Worte über das Flicken von Ausschuß durch Borezki, und sein Herz begann schneller zu schlagen.
„Nun, was ist deine Meinung?" drängte ihn Wartanjan.
„Der Stahl weist Defekte auf... Aber das Prüfzeichen des. Inspektors ist doch vorhanden?" fügte Kortschenko verwundert hinzu. „Demnach scheint die Achse wohl den technischen Anforderungen zu genügen?!"
„Holt Akatujew her!" befahl Wartanjan. „Und Turtschaninow! Bruck! Platow! Borezki! Diese Sache muss sofort an Ort und Stelle aufgeklärt werden!"
Bruck kam zufällig von selbst. Er besichtigte die Achse lange und eingehend, er neigte sich so dicht über sie, dass sich der glänzende Stahl in seinem kahlen Schädel spiegelte.
„Ich die Meinung, dass man auf eine solche Achse um der ganzen Erdkugel herumreisen kann", sagte er sorglos lächelnd1 und wischte sich seine kahle Platte mit dem Ärmel ab.
Dann kam Turtschaninow. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Umstehenden und bohrte seine Raubvogelaugen in den Stahl.
„Jawohl — diese Achse taugt nichts. Das kann überhaupt nicht verschweißt werden. Sonderbar, wie sie in die Dreherei gelangen konnte", fügte er hinzu, mit einem Blick auf Sorin.
Sorin schwieg und zerdrückte einen Zigarettenstummel zwischen den Fingern. Finsteren Gesichts trat Bulawkin hinzu.
„Genosse Kortschenko, Platow ist noch nicht gekommen. Kraiski auch nicht... Wir haben in seine Wohnung telefoniert, da hat man geantwortet, dass ihn die GPU in der Nacht verhaftet hat."
„Die GPU?" Kortschenko riss erstaunt die Augen auf und stützte sich verwirrt auf die Drehbank. Wartanjan betrachtete misstrauisch sein bleiches Gesicht, wandte dann den Blick Turtschaninow zu, dann Bruck, dann den stumm gewordenen Arbeitern und trat zu Mochow.
„Werden oft solche Achsen zum Abdrehen gegeben?"
„Andauernd, Genosse Martemjan. Nur früher habe ich selber nicht darauf geachtet, hab' sie stumpfsinnig abgedreht und gut."
Mit schweren, ungleichmäßigen Schritten näherte sich Akatujew. In den zerzausten, silberweißen Haaren hingen ein paar dürre Grashalme. Die welken, gelben Wangen schienen die eines Toten. Die Augen waren leer und kalt, sie ruhten gleichgültig auf dem glänzenden Metall der Lokomotivachse.
„Was ist Ihnen, Pawel Jakowlewitsch?" flüsterte Turtschaninow, erschrocken über das furchtbare Aussehen Akatujews.
Akatujew betastete die Achse und sagte leise:
„Das ist nicht mein Stempel."
„Wessen Stempel ist es denn?" fragte Kortschenko mit einem schiefen Lächeln.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Mein Stempel gibt die Zeichen deutlich wieder. Die Sichel hier auf diesem Stempel hat keinen Griff."
Er nahm seinen Stempel aus der Tasche und prägte ihn mit einem Hammerschlag auf dem Gestell ein. Alle sahen, dass Akatujew recht hatte.
„Das ist ein gefälschter Stempel", erklärte Akatujew müde. „Ich muss gehen.... Ich gehe ins Krankenhaus... Da liegt meine Tochter... im Sterben ... " Und langsam ging er dem Ausgang zu — langsam verschwand dieser fürchterliche Kopf, der aussah wie ein Schneeklumpen.
Platow kam ihm entgegen und lächelte. Ihre Augen trafen sich. Akatujew wich zurück, sein ganzer Körper schien plötzlich zusammenzuschrumpfen.
Platow, der nach der ruhig durchschlafenen Nacht wieder ein frisches Aussehen hatte, umfing Akatujews Gestalt mit einem heiteren Blick seiner blinzelnden Augen.
„Was ist denn geschehen, Platow? Warum ist Kraiski verhaftet?" fragte Wartanjan, der Platow entgegengegangen war, unruhig. „Es geschehen geradezu unglaubliche Dinge. Ich begreife gar nichts mehr..."
Platow gähnte breit und zufrieden und erzählte ihm von seinen gestrigen Erfolgen. Wartanjan hörte ihm starr vor Verwunderung zu; er blickte ganz bestürzt in Platows zufriedenes Gesicht und konnte nicht begreifen, wie man in einer solchen Minute lächeln konnte.
„Komm, Wartanjan, komm und sag' den Arbeitern dass der Stempel auf der Achse gefälscht ist, dass mit falschen Stempeln gearbeitet wurde und dass die Betrüger verhaftet sind", schlug Platow vor, immer noch lächelnd.
Ohne den Leuten ins Gesicht zu sehen, die den feierlich schweigenden Mochow umstanden, trat Wartanjan an ihn heran und sagte, jedes Wort ausdrücklich betonend:
„Du hast recht, Mochow. Das ist eine Achse von Schurken." Mochow warf einen vernichtenden Blick auf den finster dreinblickenden Kortschenko und streckte Wartanjan die ölbeschmierte Hand hin:
„Danke, Genosse Martemjan. Ich hab' ja gewusst, dass du die Geschichte ans Licht bringen würdest." Er drückte fest die schlanken Finger Wartanjans und blinzelte vor Aufregung mit den Augen. Die höchste Sprosse, die einzige, der das Durcheinander nichts hatte anhaben können, die thronte fest und unerschütterlich über allen anderen Leitersprossen des Mochowschen Lebens. Blickte er in diesem Augenblick nicht selbst von irgendeiner Erhöhung herab auf die ihn umringenden Menschen, auf die Maschinen, auf die ganze Dreherei, der er vierzig Jahre seines Lebens geweiht hatte? Und von dieser schwindelnden Höhe aus sah er sein ganzes Leben und sich selbst, erdrückt von der Last der verfluchten Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit seiner Arbeit gegenüber, und er sah auch seinen Saschka, der dieses ganze wunderliche und verzwickte Durcheinander eigentlich angerichtet hatte, und den Zeitlin, diesen schlauen Bengel, den Anführer der ganzen Gesellschaft... Ja, und er wird auch unbedingt zu diesen Taugenichtsen hingehen und ihnen erzählen, was er von der allerhöchsten, der Martemjanschen Lebenssprosse aus gesehen hat...
Seine Augen glänzten, er schien wie verjüngt, erneuert durch dieses heiße, jugendliche Blut, das ihm da plötzlich zum Herzen strömte.
Und als Wartanjan schon beim Ausgang war, da kam ihm Mochow nachgerannt und hielt ihn an:
„Du, Genosse Martemjan, schreib' mir jetzt ein Parteimitgliedsbuch aus... So ohne Mitgliedsbuch kann ich jetzt nicht mehr weiter arbeiten..."
Und das sagte Mochow in einem Tone, als sei Wartanjan der Lagerverwalter, und als verlangte er, Mochow, von ihm ein wertvolles und seltenes Werkzeug, das er unter allen Umständen brauchte.
Dann ging er wieder an die Maschine, ruhig und zufrieden. Er dachte an Sascha: „Prügeln gibt's nicht mehr — einverstanden !... Na, warte mal, ich werde dich schon anders rankriegen — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! ... " Dabei rückten seine Finger, die vor angenehmer Aufregung ganz heiß waren, die Brille zurecht, die auf die Nasenspitze hinabgerutscht war.
Wartanjan hatte sich mit Platow in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und den Befehl gegeben, niemand vorzulassen. Mit strahlenden Augen erzählte Platow noch einmal, wie er sich gestern auf die Suche gemacht habe nach dem verlorenen Glück des alten Kusmitsch. Wartanjan ging rasch im Zimmer auf und ab, mit nervösen Fingern drehte er an den Enden seines kaukasischen Gürtels. Auf einmal wurde mehrere Male hintereinander heftig geklopft.
„Da findet eine Sitzung statt! Niemand darf hinein!" rief eine Männerstimme streng.
„Ich muss aber! Ich muss hinein, ich muss!" übertönte sie eine aufgeregte, helle Frauenstimme.
Wartanjan öffnete die Tür und sofort sprang irgendein buntes, aufgeregtes Etwas ins Zimmer.
„Wo ist hier der Oberste? Den Obersten muss ich haben!!"
Erstaunt betrachtete Wartanjan die zerzaust und verwildert aussehende Frau. Sie tobte im Zimmer umher, als ob ihre Füße absolut nicht auf einem Fleck bleiben wollten, und schrie dabei:
„Den Allerobersten muss ich sprechen!"
Irgend etwas in dem Gesicht dieser Frau kam Wartanjan bekannt vor, er packte sie am Arm und drückte sie auf einen Stuhl.
Da beruhigte sie sich einigermaßen.
„Sagen Sie, was ist passiert?"
„Lassen Sie sofort meinen Mitja heraus!" rief die Frau befehlend. „Er fängt schon an, wirklich verrückt zu werden!"
„Welchen Mitja?"
„Ganz verwundert schaute sie Wartanjan an.
„Na, meinen Mann natürlich! Den Saizew! Ich bin die Nastja. Seine Frau. Na, du bist ja ein komischer Kauz, dass du das nicht begreifst! Du warst ja doch bei uns damals!"
Da plötzlich fiel Wartanjan alles wieder ein: das Mißtrauen dieser Frau damals bei seinem Besuch und der Hass, mit dem sie das fauchende Automobil betrachtet hatte.
„Sofort haben Sie ihn freizulassen! Sonst schlage ich alle Fensterscheiben im Krankenhaus kaputt. Sie stellen da alles mögliche mit ihm an. Jetzt läuft er rum und lacht wie ein Wahnsinniger. »Meinen Quälgeist haben Sie jetzt verhaftet', brüllt er, ,diesen Ingenieur, den..' wie heißt er doch gleich ... " Nastja konnte vor Aufregung nicht weitersprechen.
Wartanjan lief zum Telefon:
„Den Chefarzt des Krankenhauses, bitte. Genosse Rumjanzew? Bitte, sorgen Sie dafür, dass der Arbeiter Saizew unverzüglich aus dem Krankenhaus entlassen wird. Aus der Psychiatrischen Abteilung... So ? Wann denn? Soeben? Gut... Hören Sie, Nastja, Ihr Mann ist schon zu Hause."
Der Stuhl, auf dem Nastja gegessen hatte, kippte plötzlich nach hinten, und in einem Nu war das bunte Knäuel zur Tür hinaus. Kaum hatte der lächelnde Platow den Stuhl aufgehoben, als Walja wie ein schwarzer Schatten ins Zimmer huschte. An ihren dichten Wimpern hingen zitternde Tränen. Aus ihren großen braunen Augen, die von breiten schwarzen Ringen umzogen waren, sprach tiefer Kummer. Ihre drollige Nase zitterte krampfhaft.
Walja presste ihr Taschentuch an die Augen und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken.
„Senja... was soll das bedeuten?" Ein lautloses Schluchzen erschütterte ihren Körper, sie ließ den Kopf sinken, und das flüssige Kupfer ihrer Haare floss in dichten Wellen über das Gesicht, auf die weißseidene Bluse nieder.
Fragend blickte Wartanjan von Platow, dessen Gesicht eine dunkle Röte überzog, zu dem unbekannten, weinenden Mädchen, und er begann nervös im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Warum hat man ihn denn verhaftet? Alle Zimmer sind versiegelt... In der Nacht haben sie ihn geholt... Er hat sich nicht einmal von mir verabschieden können. Waru—u—m? Er hat ja doch gearbeitet wie alle anderen! Und lange Jahre hindurch war er einfacher Arbeiter. Du kennst ihn ja, Senja. Und mich kennst du auch ... " sagte Walja jammernd und rang die Hände.
„Ja, ich kenne deine Familie. Ihn. Dich... Nur allzu gut kenne ich euch, leider..." Platow runzelte die Stirn. „Aber ich kann dir hier in keiner Weise helfen. Das war zu erwarten, Walja... Weine nicht um deinen Vater. Er verdient es nicht."
„Er hat mich doch aber so geliebt, Senja... Ich war der einzige Mensch, der ihm nahe stand. Er hat alles getan, was er nur konnte, um mir jeden Wunsch zu erfüllen... " Dabei rannen ihr die Tränen durch die Finger.
Platow betrachtete die zusammengesunkene Gestalt und sah zum ersten Mal, dass dieses stets lachende und lebensfrohe Mädchen auch bitterlich weinen konnte.
„Deinem Vater, Walja, geschieht ganz nach Verdienst. Du wirst später alles erfahren."
„Ich weiß, das Sergej Wekschin ihn verleumdet... Der ist zu allem fähig — er hat meinen Vater damals nach der Gerichtsverhandlung beinahe totgeschlagen ... "
„Davon weiß ich nichts. Aber ich weiß, Walja, dass dein Vater durchaus imstande ist, einen Mord zu verüben..." sagte Platow langsam, in Gedanken an den alten Kusmitsch.
„Was sagst du da, Senja!" Walja sprang auf. „Das ist gemein! Ihr habt euch alle verabredet, meinen Vater zu vernichten. Was hat er euch denn getan?" Ihre Augen funkelten vor Wut.
Wieder wurden draußen hinter der Tür Stimmen laut, diesmal jedoch zwei strenge, scharfe Männerstimmen.
„Fort, niemand darf hinein!"
„Ich darf überall hinein!"
„Wer bist du denn?"
„Und wer bist denn du?"
„Schrei' nicht so!"
„Und du bell' nicht so laut!"
Krachend flog die Tür auf, und auf der Schwelle erschien Sharow. Sein Gesicht war erregt und besorgt.
„Ich hab' etwas mit dir zu reden." Er tippte Wartanjan mit einem Finger auf den Arm. „Du hast mich damals ordentlich geärgert mit deiner ewigen Fragerei. Weißt du noch, wie wir die Eisenbarre zusammen zerschlagen haben? Jetzt ist die Sache ein bisschen schwerer wie eine Eisenbarre... Was sind das hier für Leute?" Er warf einen misstrauischen Blick auf Walja. „Ich habe eine wichtige Sache. Eine geheime Angelegenheit..." Er senkte mit geheimnisvoller Miene die Stimme.
„Sprich, Sharow. Um was handelt es sich?" Platow trat näher an ihn heran.
Sharow warf seinen struppigen Kopf zurück und sagte feierlich:
„Ich weiß, wer den ,Chef' umgebracht hat. Antonytsch!"
„Was?" schrie Walja erschrocken auf. „Mein Vater? Und
ihr glaubt diesem Trunkenbold? Der verkauft seine Seele für
eine Flasche Wodka. Ach, was ist das bloß alles?!" Matt ließ
sie sich auf einen Stuhl fallen.
„Beruhigen Sie sich nur, Bürgerin. Sie geht das gar nichts an. Das ist eine geheime Angelegenheit. Antonytsch hat ihn umgebracht. Er hat seinen Lebensfaden abgerissen. Ein guter alter Mann war er, der Kusmitsch. Als ich ihn ins Krankenhaus schleppte, da kam er auf einmal zu sich und sagte: ,Stassik hat mich ums Leben gebracht.' ,Was für ein Stassik?' dachte ich damals. ,Er phantasiert, der Alte!' Bitte, beruhigen Sie sich. Bürgerin. Stören Sie uns hier bei der geheimen Sache nicht!" Er schüttelte unwillig Walja ab, die mit zitternden Händen seinen Arm umklammerte. „Jetzt eben aber, da redet auf einmal die ganze Martinabteilung: ,Den Antonytsch haben sie eingesteckt.' Und der Titytsch, der schüttelt den Kopf, und sagt: ,Soweit hat er's also gebracht, der Stassik.' Wie Elektrizität ist mir's da durch den Leib gegangen! Im Nu war ich hier. Darum hat er mich auch damals eine ganze Stunde nach der Bahre in der Fabrik 'rumsuchen lassen, damit der Alte erst verblutet! Bürgerin, ich ersuche Sie, bringen Sie mich nicht auf!" rief Sharow erregt, in unaussprechlichem Kummer. „Ich bin kein Trunkenbold. Ein verbitterter Mensch bin ich! Mich verfolgt das Leben. Aber ich will Wurzeln fassen! Ich will mich festhalten im Leben!"
Wartanjan fuhrwerkte wie ein Wilder im Zimmer hin und her und biss sich die Lippen fast blutig. Platow schrieb schnell ein paar Worte auf ein Papier.
„Hier, Sharow, geh da hin und erzähl' alles, was du weißt. Aber schnell!" kommandierte Platow.
„Genosse Platow... " Sharow zupfte ihn bittend am Ärmel. „Ich habe doch nun schon soviel zustande gebracht. Denken Sie mal an alle meine Verdienste. Stellen Sie mich an eine Maschine... Wie mein Kind werde ich sie pflegen... "
„Schnell, schnell, geh' los! Das erledigen wir nachher", mahnte ihn Platow zur Eile.
Sharow lief eilig davon. Walja stand weinend am Fenster. Platow sah sie an, dann schien er sich an irgend etwas zu erinnern und fasste sie bei der Hand.
Unten auf dem Fabrikgeleise kam, in wütenden, zischenden Dampf gehüllt, eine Lokomotive vorbei. Auf ihrer Brust glühte in feurigen Strahlen der rote Stern.
„Walja, dein Vater wollte diese Lokomotive da zum Stehen bringen, aber die Lokomotive hat ihn zermalmt. Und sie wird auch dich zermalmen, wenn du es wagen wirst, dich ihr in den Weg zu stellen. Vergiss deinen Vater. Dein gemütliches Leben hat er mit dem Blute anderer erkauft. Fange an so zu leben, wie alle diese ölgetränkten und rußgeschwärzten Menschen da unten leben. Dann wirst du dein wahres Glück finden."
Mit langsamen Schlitten ging Walja zur Tür, während sie ihre zerknüllte Bluse glatt strich.
„Was machen die Menschen bloß aus dem Raikom?" rief der ganz erschütterte Wartanjan. „Was war das für ein Mädchen? Von was für einem gemütlichen Leben hast du zu ihr gesprochen, Platow? Ich verstehe überhaupt nichts mehr!" Platow lachte müde.
„Ich will dir mit den Worten deines Lieblingsdichters antworten, Wartanjan. Über dieses Mädchen und ihren Vater hat dein Lieblingsdichter sehr treffend gesagt:
„... Ein solches Behagen ist derer Los, Die nicht mehr kämpfen zum Besten aller Die sich bereiten im häuslichen Schoß Nur sich selbst Kanarienvogelbehagen ... "
Ja — die Frage des persönlichen Glücks ist nicht so einfach. „Ach was — scher dich zum Teufel mit deinen Poeten!"' sagte Wartanjan zähneknirschend.
2
Aus den Werkstätten drang der Klang von aufschlagenden Eisenteilen und das Getöse der Maschinen. Blauer Rauch entströmte den riesigen Toren der Eisenkonstruktionswerkstatt und zog in dünnen Strähnen über den ganzen Hof. Unter freiem Himmel bauten die Arbeiter einen Kran für Dnjeprostroi zusammen. In einer Länge von etwa dreißig Metern lastete er mit seinem schweren Körper auf der Erde. Solche Kräne hatte die Fabrik noch niemals hergestellt, die Halle der Eisenkonstruktionswerkstatt konnte ihn gar nicht aufnehmen, er musste draußen auf dem Hof zusammengebaut werden.
„Er wird zweihundertvierzig Tonnen heben können!" Stolz klopfte Platow auf das Eisengerippe. „Hat diese alte Fabrik auch nur geträumt, solche Giganten zu bauen? Alles ist möglich — wie es ja auch möglich war, dass uns diese Kraiskis, Borezkis und wie die Betrüger alle heißen, fünf Jahre lang an der Nase herumführen konnten."
„Wie?" unterbrach ihn Wartanjan aufgeregt. „Haben sie es denn schon lange so getrieben? Was hat das unserer Fabrik für Schaden gebracht! Dem ganzen Lande! Dem Transportwesen!"
„Es war eine Erschütterung des gesamten Organismus der Fabrik. Seine langsame Vergiftung. Für das Land bedeutet es Millionenverluste, eine Hemmung der Entwicklung des Transportwesens um Jahre, ein Durchkreuzen aller unserer Pläne."
Wartanjan musterte im Gehen aufgeregt jedes einzelne Fabrikgebäude, als suche er an den verrußten Wänden Risse zu entdecken.
„Was für eine Schande! Was für eine Schande!" wiederholte er unablässig.
„Aber was wäre erst geworden, wenn es uns jetzt nicht gelungen wäre, alles aufzudecken?" fragte Platow.
„Ja, Platow, du hast recht. Wir... das heißt, du hast hier einen unschätzbaren Dienst geleistet."
„Ich bin nur einer von vielen... Die da sind es, die diese Sache zuwege gebracht haben... " Dabei wies Platow mit der Hand über den Fabrikhof.
Auf dem Bahnkörper der Fabrikbahn waren Arbeiter damit beschäftigt, Eisen und Kohle auszuladen; man hörte das Klingen und Schrillen des auf den Boden hinkrachenden Metalls, begleitet von den lauten Pfiffen der auf den Geleisen manövrierenden Lokomotiven; mit Kränen hoben die Arbeiter das schwarze Metall und stapelten es zu ordentlichen Haufen; bedeckt von Schweiß und schwarzem Staub, entluden sie die Kohlenwaggons. Wie ein Geier sauste von der Kranbrücke des Elektrizitätswerkes der Greifer nieder, bohrte sich in die Berge von schwarzer Kohle und trug sie knirschend in die unersättlichen Bunker der heulenden Kessel. Die Arbeiter zerschlugen und zerkleinerten das Roheisen mit der Hand, um die Beschickung für die Martinöfen vorzubereiten. Mühsam, hochrot im Gesicht, schleppten sie an einem Seil eine riesige Glocke unter das Fallwerk — sie widersetzte sich wie ein Ochse, der zur Schlachtbank geführt wird, jammerte dumpf und zerkratzte die Erde mit ihrem weit aufgerissenen, schwarzen Rachen.
Wartanjan hielt Platow am Ärmel fest.
„Warte einen Augenblick."
Die Glocke war unter dem Fallwerk angelangt. Von der Höhe des Turms sauste der Bär herab. Die Glocke erdröhnte und spritzte ihre klingenden bronzenen Splitter nach allen Seiten auseinander; dann war alles still.
„Wollen wir sie ganz zerschlagen, Wartanjan?" fragte Platow den nachdenklichen Wartanjan.
„Ja, Platow, los!" lächelte Wartanjan plötzlich lebhaft.
In der Martinabteilung mussten sie sich ihren Weg zwischen Formkästen und Modellen bahnen, die überall herumstanden. Würgender Staub, Hitze, Enge. Die Kräne, die die Formkästen über den Köpfen der Menschen wegtrugen, stießen durchdringende Warnungsschreie aus. Gespannt, mit suchenden Augen musterte Wartanjan die mit Erde beschmierten Gesichter der Former.
„Guten Tag, Titytsch."
Wie blasse, verblühende Kornblumen blickten die alten Augen vom Boden herauf.
„Ach, du bist es, Senja. Und der Genosse Wartanjan selbst. Seht mal, da könnt ihr euch dran freuen... Du siehst ja so schlecht aus, Wartanjan, bist du krank?" Teilnehmend blickte Titytsch in Wartanjans dunkles Gesicht: die flinken schwarzen Augen saßen tief in ihren Höhlen; auf den blassen Wangen ragten die Backenknochen spitz hervor.
„Mein Herz ist nicht in Ordnung, Titytsch... "
„Na also, da habe ich doch recht gesehen; du bist ordentlich mager geworden... Siehst du, wie das Leben ist! Sogar die Jungen will es zerbrechen... Was sollen wir Alten da sagen? Das kommt von der Unruhe, Wartanjan. Bei Lenin, hab' ich gehört, ist das Herz auch vor Unruhe zerrissen. Und es ist ja auch wahr: Tag und Nacht diese Unruhe, das ist schwer auszuhalten. Aber man muss es aushalten."
Titytsch steckte einen Stift in den Formsand und sagte nachdenklich :
„Du, Wartanjan, und auch du, Senja, ihr brennt wie diese Stifte. Und jeder Kommunist muss so sein, wie diese Stifte. Die Partei benutzt ihn, um die Verbindung mit den Massen zu festigen. Und da muss er eben brennen. Wie kann es denn anders sein?!" Fragend schaute Titytsch Wartanjan an und steckte den letzten Stift in die Felgenleiste des Rads.
„Du sprichst gut, Alter, du sprichst gut!" lächelte Wartanjan. „Brennen muss man; aber verbrennen darf man nicht, das ist das Geheimnis. Was, Alter?"
Die Hand fest um den Elektrodenhalter gepresst, sah Sergej von weitem den Abteilungsleiter, den Genossen Platow herankommen. Und von neuem kehrten die Tage in sein Gedächtnis zurück, die seiner Freundschaft mit diesem Menschen ein Ende gemacht hatten. Zu drei Jahren verurteilt, sitzt er nun hier am Schweißapparat, klein und gedemütigt, und noch gar nicht lange ist es her, da hatte er hier wutschnaubend gebrüllt.
Er dachte an sich, an Antonytsch, an Walja. Jetzt war Mitte August. Es waren also seitdem vier Monate vergangen; damals hatte der Frühling gestürmt, er hatte an den Zweigen die Knospen hervorgetrieben und das Blut in Wallung gebracht. Sogar die schlanke Birke bei der Werkstatt, die ihre Zweige durch Berge von Metall zwängen muss, schien damals zu triumphieren über ihren Sieg über diese Welt der Maschinen und des Stahls, die sie verachtet, über die sie sich mit unverwüstlicher Lebenskraft erhebt.
Aber das Leben verläuft nicht wie ein gerade gezogener Telegrafendraht — es windet sich wie eine Sprungfeder, die bald elastisch emporschnellt, bald sich dreht und krümmt unter der Last schwerer Tage. Antonytsch... Was mochte er wohl denken, nun, da er hinter Schloss und Riegel saß? Sergej stellte sich das trockene, von roten Adern durchzogene Gesicht vor. Da sitzt er nun, blinzelt mit den Augenlidern wie ein Geier und betrachtet die Welt durch vergitterte Fenster.
„Für jeden gibt's eine Grenze, alles hat seinen bestimmten Plafz... " Ja, das hatte Antonytsch einmal gesagt. Dabei hatte er jedenfalls an sich selber gedacht. Auch er, Sergej, kann diese Grenze nicht umstoßen. Ihm wurde schwül. Er warf die Maske ab und trat vor die Tür.
Im Hof tollte der Wind und lärmte auf den Dächern der Fabrikgebäude; aber die von den Metallhaufen bedrängte Birke beugte sich nicht, nur ihre gelben verstaubten Blätter zitterten raschelnd. Sergej betrachtete die ihn umgebenden Werkstätten, ihre Fundamente drangen tief in die Erde ein, wuchtig und unerschütterlich standen sie da. Ihr heißer Hauch traf Sergej — das war der Atem der Fabrik. Wieder ruhig ging er zu seinem Apparat zurück.
Nun also... Alles war vorbei... Ihm war leichter, wie nach einem kühlen Bad. Die lodernde Glut war ausgebrannt — nur etwas wie leichte Asche war von den Erlebnissen auf dem Grund der Seele zurückgeblieben. Er brachte die Elektrode näher an das Werkstück heran, und das Metall knatterte heftiger.
Blaue Funken sprangen auf und huschten zitternd durch die Luft.
„Je kürzer der Lichtbogen, desto fester die Schweißung.'* Wie kam er darauf? Hatte er das aus irgendeinem Lehrbuch oder hatten es die eigenen Beobachtungen, ohne dass er es merkte, dem Gehirn eingeprägt? Wie er die Elektrode dem Metall näherte, so hatte er auch seine Augen der Wirklichkeit nahegebracht, dem was um ihm, was in ihm selbst geschah. Darum trat auch das bisher Verborgene so klar und deutlich zutage. Die Torheiten, der Ungestüm seiner Jugend sind von seiner Schande hinweggeschmolzen worden... werden dabei die Menschen nicht fester, stärker?
Die ultravioletten und die infraroten Strahlen, die bei der Schmelzhitze entstanden, sprühten frei und leicht umher, Sergej weiß, dass ihnen starke schöpferische Kräfte innewohnen, aber auch Zerstörung und Vernichtung; deshalb muss Sergej seine Hände so sorgfältig durch Lederfäustlinge schützen, und die Strahlen, die die blauen Gläser der Maske nicht durchdringen können, treten den Rückzug an vor dem ihnen so bewaffnet entgegentretenden Menschen. Vielleicht ist's auch im Leben so? Vielleicht kämpfen auch in ihm, in Sergej Wekschin, die schädlichen und die schöpferischen Strahlen miteinander einen erbitterten Kampf? „Guten Tag, Sergej. Wie geht's?"
Sergej schob die Maske hoch und sah in Platows lachende Augen. Er zuckte zusammen und griff sich an die Stirn, um die Maske wieder vor das verlegene Gesicht zu ziehen, aber Platow nahm sie ihm fort und schüttelte den Kopf.
„Wie kannst du nur mit so einer Maske arbeiten? Sieh mal, sie hat ja Sprünge. Du wirst dir die Augen verderben. Geh sofort und hol' dir eine neue!" Und damit ging er weiter.
Und wie, Platow fragte nicht nach dem Gerichtsverfahren? Einfach und ohne Hintergedanken hatte er nur über diese Kleinigkeit gesprochen, die Sergej beim Arbeiten störte — das entfesselte einen Sturm in Sergej. Die Elektrode zitterte in den nervösen Fingern. Der Bogen sprühte wilde Funken. Unzufrieden brummte der Transformator.
„Komm weiter, Wartanjan", mahnte Platow zur Eile. „Übrigens, weißt du, dass mir Jusow mit seinem Feuilleton geholfen hat? Er hat da den Guss Nr. 1007 erwähnt. Ich hab mich gewundert: wie kann der Stahl dieses Gusses jetzt noch in der Produktion sein, wo die Gussnummer längst schon 2000 überschritten hat? Ich prüfte nach, und dabei entdeckte ich, dass aus der Luppe Nr. 1007 die falschen Proben hergestellt wurden."
Sie betraten die kleine Werkstatt der Martinabteilung, dem zweiten Schornstein gegenüber. Einige Arbeiter waren an den Drehbänken tätig, die die kleine Werkstatt mit dem surrenden Geräusch von Zahnrädern anfüllten.
„Da in der Ecke, auf dem Schrotthaufen... Sieh nur, sie sind ganz verrostet... Komm! Es fällt mir schwer hier zu stehen", sagte Platow leise.
Mit langsamen, schweren Schritten gingen sie weiter. Wartanjan erinnerte sich an das kurze Gespräch mit Kusmitsch bei den Martinöfen. Der Alte hatte damals etwas von Särgen gesprochen und ihm etwas erzählen wollen. Irgend jemand war dazwischen gekommen... ach ja, Turtschaninow, der hatte die Aufmerksamkeit Wartanjans abgelenkt. „Sollte das auch einer von denen sein? Nein, unmöglich ... unmöglich... "
Sie gingen in die Dreherei. Wartanjans Augen flimmerten beim Anblick der zahllosen, blitzenden Riemen. Sein Kopf dröhnte vom Donnern der Maschinen, vom Knirschen und Klingen des Stahls.
„Olga, guten Tag!" Lächelnd winkte Platow mit der Mütze nach oben. Aus dem Kranhäuschen blickte Olga finster und trübe herunter. Sie lächelte nicht einmal auf den Gruß Platows zurück. Was war los?
Platow sah ihren traurigen Blick.
„Senja!" rief sie leise hinunter. „Weißt du schon... Kusmitsch wird wohl heute sterben... Es ist eine Blutvergiftung hinzugetreten... Ach, Senja!" Ihre Stimme flatterte an das gläserne Dach der Dreherei und verstummte.
„Olga! Teile her!" rief Mochow, der mit dem Abdrehen einer Achse fertig war, und Olga schwebte in dem polternden Kranhäuschen davon. Wartanjan begleitete sie mit einem langen, nachdenklichen Blick, und sah dann Platow an.
Der stand unbeweglich da, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und dachte über irgend etwas angestrengt nach. Wartanjan fasste ihn unter den Arm und führte ihn hinaus. Der Weg der Triebachse war allzu schwer...
„Weißt du, Platow, wie einfach das alles ist, jetzt, wo wir es wissen, und wie schwierig ist es trotzdem! Ich kann es mit nicht verzeihen, dass ich damals nicht mit dem Alten gesprochen habe. Wir hätten alles viel leichter und schneller entdeckt, wenn jeder von uns neun Zehntel seiner Zeit solchen Gesprächen mit den Arbeitern gewidmet hätte und ein Zehntel den Resolutionen!" Wartanjan machte eine energische Geste mit der Hand.
„Das stimmt, aber es reicht noch nicht, Wartanjan. Auch mit der Lokomotive müssen wir sprechen. Und das ist schwerer. Man muss die Sprache der Lokomotive kennen. Und unser ganzes Unglück — meines, deines, Kortschenkos und das aller Zellensekretäre und aller unserer Arbeiter liegt darin, dass wir diese Sprache nicht gelernt haben. Aber unsere Feinde, die beherrschen sie vollkommen. Wenn du es wissen willst — den wahren Grund der Katastrophe wissen wir auch heute noch nicht... Es ist jetzt zwölf Uhr. Wir haben noch Zeit, einen Ort zu besuchen... Den, an dem der Weg der Triebachse vorläufig zu Ende ist. Ja, vorläufig..."
Sie verließen den Fabrikhof durch den Hinterausgang, überschritten die Straße und standen vor dem Fabrikkrankenhaus. Der Chefarzt, ein hochgewachsener, hübscher Mensch empfing sie und führte sie durch die Krankensäle.
„Es hat in den letzten Tagen eine zu reiche Ernte bei uns gegeben. Für den Alten besteht keine Hoffnung. Es ist direkt ein Wunder, dass er in diesem Zustand, bewusstlos, immer noch lebt. Ein kräftiger Organismus... Da drüben liegt die Tochter des Ingenieurs Akatujew. Sie ist gestern in sehr bedenklichem Zustand mit Anzeichen einer schweren Vergiftung eingeliefert worden. Vielleicht gelingt es uns noch, sie zu retten. Sie phantasiert, sie schreit: ,Hier... nehmen Sie meine Fahrkarte!' Wohl irgendeine Liebesgeschichte."
Platow fühlte, wie seine Kehle ganz trocken wurde. Er war kaum imstande, sich auf den Füßen zu halten, und lehnte sich gegen die Wand.
„Platow... was ist mit dir?" Wartanjan schaute ihm fragend ins Gesicht.
„Ich weiß nicht... Mir ist schwindlig... Vielleicht bin ich überarbeitet..." murmelte Platow, der kein Auge von den schwarzen Lippen Weras ließ. Unbeweglich, sonderbar lang und dünn, wie sie dalag, ähnelte sie weder der ersten noch der zweiten Wera, die er zurückgewiesen hatte. Das war ein andres Mädchen, mit schwarzen, vom Gift versengten Lippen.
Es war still in den Krankenräumen. Man hörte nur heiseres Atmen. Platow trat an das Bett des Alten und berührte die gelbe Hand. Sie war kalt. Ohne sich umzublicken, trat er auf den Korridor hinaus. Vor ihm, auf den hellen Steinfliesen hüpften die Strahlen der schnell sinkenden Sonne.
3
Ein kurzer, müder Pfiff der Sirene verkündete das Ende des Arbeitstages. Der Klang schwoll an, dann nahm er Anlauf zu einem gellenden Schrei und fiel schließlich, ohne seine volle Schärfe erreicht zu haben, auf die Dächer der Fabrik.
Die Wächter öffneten das knarrende Tor, das breit war wie eine Gasse, um dem Menschenstrom den Weg freizugeben, aber nur ein Dutzend Arbeiter schritten hindurch — der Hof war leer. Das Donnern der Werkstätten verstummte; die Drucklufthämmer sausten nicht mehr krachend herunter; unbeweglich verharrten die Transmissionen; zum letzten Mal heulte irgendwo kreischend eine Säge; die Kräne hatten ihre Giraffenhälse weit vorgestreckt, als seien sie erstaunt über die sonderbare Stille — leise zischend nur strömten dünne Dampffontänen aus.
Wartanjan lief unruhig über den Fabrikhof. Er betrat irgendeine Abteilung, hörte die verschiedenen Äußerungen einiger Arbeiter mit an, betrachtete aufmerksam die schweißglänzenden, rußigen Gesichter, blieb einen Augenblick sinnend stehen und lief dann wieder hinaus, in eine andere Abteilung.
Und überall sah er wachsame Gesichter, die eingehüllt waren in die Schatten der gestrigen Erregung. Die Arbeiter standen Wartanjan heute anders gegenüber als früher, und er fühlte, wie der Abstand zwischen ihm und diesen erregten Menschen, den er früher nicht empfunden hatte, unaufhaltsam wuchs. Und diese Erkenntnis drückte ihn nieder. Was war geschehen? Ja, er war nicht imstande, den wahren Grund der Katastrophe aufzudecken, der irgendwo in den Gesetzen der Festigkeit der Metalle verborgen lag und den nur ein Mensch aus dem feinmaschigen Netz aller dieser Gesetze zu lösen imstande war, der die unerschütterliche Kraft dieser Gesetze genau kannte.
Ü ber diese Macht verfügten die Turtschaninow, die Bruck, die Akatujew und Strachow. Platow war auf dem Wege, sich diese Macht anzueignen. Doch auch er machte eine ratlose Gebärde. Was sollte er, Wartanjan, da sagen, für den das Rätsel dieser Ereignisse von der undurchdringlichen Weisheit der Technik verhüllt war?! Verwirrung und Erregung überkamen ihn und schienen sein Gehirn völlig zu entleeren. Sein Herz kochte in wilder Hast und die Finger verkrampften sich in nervösem Zucken.
Aufgeregt öffnete Wartanjan das Tor zur Lokomotiv-Montagehalle. Die Wellblechwände stiegen schroff an und verloren sich in bläulich schimmernder Höhe, über der ein Gespinst von eisernen Dachbindern schwebte. Die elektrischen Kräne hingen wie leichte Schwebebrücken über dem tiefen Abgrund der Halle. Unten standen, zerbrochenem Kinderspielzeug ähnlich, halbzusammengebaute Lokomotiven herum.
Auf dem Boden, auf den Lokomotivteilen, auf den Radsätzen saßen schweigend, eng zusammengedrängt, Hunderte von Gießern, Schmieden, Drehern — lauter Menschen, die an der Herstellung der Achsen teilhatten. Von einem Tender, der als Rednertribüne hergerichtet war, sprach Turtschaninow. Seine schwache Stimme verlor sich in dem unermesslichen Raum dieses gigantischen Gebäudes, und Turtschaninow selbst sah aus wie ein kleines, vom Druck der blauen Höhe an den Boden gepresstes Wesen.
„Ich bin zu Ende, Genossen. Es war für mich in diesem Moment sehr schwer zu sprechen, denn im Zusammenhang mit den Verhaftungen sind Sie jedenfalls den Erklärungen von uns Spezialisten gegenüber nicht sehr wohlwollend gestimmt. Das sehe ich. Aber ich frage Sie: wenn auch Kraiski für seine betrügerischen. Manipulationen, für die Fälschungen und Schädigungen zu verurteilen ist, weshalb soll denn aber unseren ,Krassny Proletari' für die Eisenbahnkatastrophe verantwortlich gemacht werden, an der er keine Schuld trägt? War doch die Achse in ihrer Qualität tadellos! Vor ganz kurzer Zeit ist hier in dieser Abteilung beim Anheben einer Lokomotive die Kette gerissen, und alle, die hier arbeiten, konnten sich davon überzeugen, dass das Glied, das gerissen war, Ermüdungsflecken aufwies."
„Richtig! Die Kette war ganz in Ordnung. An der Bruchstelle wie abgehackt! Hat keine Risse gehabt", ertönten verschiedene Stimmen.
Turtschaninow wurde von Kortschenko abgelöst, und sofort hallte der Raum wider von seiner tiefen, mächtigen Stimme. Er sprach über die betrügerischen Ingenieure, denen er vertraut und die sein Vertrauen missbraucht hatten, er drohte, dass er noch ein Dutzend Ingenieure und Werkmeister vor Gericht stellen würde, er schrie, Schaum stand ihm vor dem Munde, er warf sich auf dem Tender hin und her, sein schwerer Körper drohte jeden Augenblick von dem schwarzen Bord des Tenders hinunterzustürzen. Wartanjan musste lächeln, aber Kortschenko, der sein Lächeln sah, fuchtelte nur noch heftiger mit den Armen, erschütterte die Luft mit zornigem, drohendem Geschrei. Er spottete über die Ermüdung des Metalls und all die komplizierten Theorien. Aus seiner ganzen schweren Gestalt sprach eine wilde Panik — sichtlich traute er niemand mehr, weder den Arbeitern noch den Ingenieuren noch sich selbst; ohnmächtige Erbitterung hatte sich seiner bemächtigt. Ohne Schmerz zu verspüren, schlug er mit aller Macht auf die Eisenverkleidung des Tenders, und als er mit seiner Rede fertig war, sah er erstaunt, dass seine Hand blutete.
Wartanjan rief Strachow beiseite.
„Wir kennen Sie, Genosse Strachow, als einen ehrlichen Sowjetingenieur. Sie wissen in Ihrer Sache gut Bescheid. Sie müssen uns behilflich sein, diese dunkle Angelegenheit zu klären. Sie halten die Macht des Wissens in der Hand. Sie müssen uns helfen. Es ist unmöglich, dass Sie den Grund nicht finden. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich äußeren."
Strachow blickte in die strengen Augen Wartanjans, die eine unbekannte Macht ausstrahlten, der er, Strachow, sich unterordnen musste.
„Jawohl, ich werde sprechen. Ich habe mir ein bestimmtes Urteil gebildet."
Er bestieg den Tender.
„Ich bin Ingenieur. Ich habe diese unglückselige Lokomotive gebaut. Ich habe lange über die Ursache dieser Katastrophe nachgedacht. Und ich habe sie gefunden!" In dem Riesenraum wurde es plötzlich still. „Die Sache ist die, dass der Anlauf beim Übergang vom Radsitz zum Achshals zu scharf eingedreht war. Dadurch wurde die Spannung auf einen Punkt konzentriert, und die Achse brach. Sie müsste brechen. Jedenfalls ist dies durch eine Unaufmerksamkeit des Drehers hervorgerufen worden."
„Ein Arbeiter soll also dran Schuld sein?" rief Mochow mit schriller Stimme und sprang auf den Tender. „Ich drehe die Achsen ab! Also soll ich an dem Eisenbahnunglück die Schuld tragen? Das habt ihr euch fein ausgedacht — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Ich habe in meinem ganzen Leben nicht eine einzige Achse verpatzt. Ich lasse mir hier den Kopf abhacken, wenn ich das getan habe! Das gelingt euch aber nicht, die Schuld auf die Arbeiter abzuwälzen. Wir wissen, wer uns den Bruch unterschoben hat. Sie sitzen schon, die das getan haben. Und Sie brauchen sie nicht noch in Schutz zu nehmen!" Mochows zorniges Gesicht bedeckte sich mit dunkelroten Flecken.
„Jawohl — ich wiederhole, der Anlauf war zu scharf eingedreht, und der ist schuld, der die Achse abgedreht hat. Aber damit will ich nicht sagen, dass ich selbst keine Schuld trage. Ich habe es übersehen. Auch Sorin hat es übersehen", sagte Strachow zögernd. „Wir alle sind schuld daran."
„Du willst bloß was vertuschen!" kreischte Andrjuschetschkin. „Nun auf einmal, wo die Halunken hinter Schloss und Riegel sitzen, sind alle schuld. Ihr seid ja alle miteinander solche Halunken!"
„Richtig!"
„Wieder wollt ihr uns bloß den Kopf verdrehen!"
„Richtig—, g—e—n—u—ug damit!"
Strachow sah, wie in Hunderten von drohenden, furchtbaren Augen plötzlich der Hass aufblitzte. Die Arbeiter schrieen, fuchtelten wild mit den Armen, sprangen von ihren Sitzen auf. Mitten in dem Haufen schmutziger, ölbeschmierter Kittel hüpfte der Kopf Andrjuschetschkins umher wie ein Faustball.
„Genossen! Ich verteidige weder mich noch die Verhafteten. Kann sein, dass sie es nicht anders verdienen. Wenngleich ich den Gedanken, dass ein Spezialist, der sich selbst achtet, absichtlich eine" Maschine verdirbt, einfach nicht fassen kann... Solchen Ingenieuren bin ich niemals begegnet. Wenn es aber irgendwo solche Ingenieure geben sollte, so sind das keine Ingenieure, sondern Ungeheuer, die ihre eigenen Kinder verschlingen... " rief Strachow, aber seine Stimme ging unter in dem unbeschreiblichen Wirrwarr wütender Schreie. „Du kannst uns nicht mehr dumm machen!" „Ge—nu—ug!"
„Seht mal an, was sich da für ein Verteidiger gefunden hat!" Strachow wollte noch hinzufügen, dass er nicht erst seit gestern in der Fabrik arbeite, dass man ihn kenne, dass er ehrlich gearbeitet und mit allen Arbeitern zusammen um das Schicksal der Lokomotiven gebangt habe. Aber seine Kehle war auf einmal zugeschnürt, so dass er nur ein leises, heiseres Flüstern hervorpressen konnte. Er stieg vom Tender und schritt, von den wütenden Schreien der Arbeiter begleitet, dem Ausgang zu. Wartanjan lief zu Platow hin:
„Platow! Los! Du musst helfen! Du musst diesen verfluchten Knoten zerhauen. Du musst die Arbeiter beruhigen! Rette die Fabrik!"
Platow kniff die unruhig irrenden Augen zusammen, zog die Hosen hoch, sein Gesicht war auf einmal voller Falten, um Jahre gealtert. Er hob die Hand, und der Lärm flaute langsam ab.
„Genossen! Ich bin auch Ingenieur. Aber ich bin noch ein schlechter Spezialist. Und ich gebe offen zu: ich kenne den wahren Grund des Unglücks nicht. Ich schäme mich dessen, aber es ist besser, die Wahrheit zu bekennen, als andere an der Nase herumzuführen. Es ist durchaus keine Schande. Viel eher ist es eine Schande, die Miene des allwissenden Direktors aufzusetzen, um dann in wilde Panik zu geraten und allen Drohungen an den Kopf zu werfen... Lasst uns nachdenken! Wir wollen gemeinsam an der Lösung dieser schwierigen Aufgabe arbeiten, aber wir wollen dabei die Ruhe bewahren und die Wachsamkeit, die in euren Augen glänzt. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Sache mit Hilfe unserer Ingenieure, darunter mit Hilfe Strachows, aufklären werden. Jawohl — die Spezialisten haben die Macht des Wissens in der Hand. Aber wir müssen uns diese Macht unterordnen — nicht mit Geschrei oder mit Drohungen, wie das Kortschenko tun will, sondern mit unserer ganzen Reife, mit der Reife der siegreichen Klasse, die — wie Lenin gesagt hat — nicht Stempel und Unterschriften bestätigen, sondern die Erfahrung und die Praxis der Klasse. Wir werden uns diese Macht aneignen. Wir werden sie uns unterordnen durch das moralische Gewicht der siegreichen Klasse..."
Durch den ruhigen und überzeugten Ton seiner Rede unterwarf sich Platow die Zuhörer, er weckte ihr Nachdenken und., seine eigene Schwäche zugebend, steckte er die Menschen im nächsten Augenblick mit seiner Überzeugungskraft an, mit dem kühnen Schwung seiner Gedanken, er zeigte ihnen die ferne Perspektive, führte sie mutig vorwärts wie ein erfahrener Führer auf einem sicheren Pfad, den er allein sah.
„Genossen! Ich bin vor euren Augen aufgewachsen. Ich habe das Recht, offen und rückhaltlos mit euch zu sprechen. Wir Arbeiter sind in den Jahren der Revolution ganz bedeutend gewachsen, aber viele von uns stecken noch bis über die Ohren im klebrigen Dreck der Vergangenheit. Die alten Gewohnheiten halten uns noch immer fest, den Gesichtskreis nur auf die Maschine, den Maschinenteil, die Werkstatt zu beschränken. Und dieser Dreck deckt die gefährlichen Risse und Schrammen zu, die unsere Lokomotiven die Böschung hinunterreißen. Ist es vielleicht das einzige Unglück, dass wir in unserer Fabrik Feinde haben? Daran müssen wir uns gewöhnen. Wir werden noch viele Feinde treffen auf unserem Wege. Aber durch wessen Hände sind die schlechten Achsen gegangen? Durch eure Hände, durch eure Arbeiterhände. Versteht ihr? Vielleicht hatte die dem Aussehen nach gesunde Achse einen Fehler, der die Katastrophe herbeiführte, einen Fehler, den ihr übersehen habt?"
Mochow lauschte aufmerksam Platows Worten, man sah seinen grünlichen Augen an, dass er angestrengt nachdachte, und eine ebenso tiefe Nachdenklichkeit lag auf den Gesichtern der anderen Arbeiter. Jeder besann sich und prüfte in seinem Gedächtnis schweigend die vergangenen Tage.
Und Mochow prüfte sein ganzes Leben — Tag für Tag, die Glieder einer einzigen Kette. Heute brach der Aufstand aus. Aber die Schrammen und Risse waren doch gestern schon da gewesen und im vergangenen Monat... Er aber hatte geschwiegen, hatte dem keine Bedeutung beigemessen. Wie ein Glied an das andere reihten sich die vergangenen Tage. Er strengte, das Gedächtnis an, versuchte sich krampfhaft wieder auf das zu besinnen, was der Alltag ausgelöscht hatte.
Und plötzlich fühlt er, wie sein altes Herz heftiger zu schlagen beginnt unter dem Aufspringen einer heißen Erinnerung, die ihn unerwartet überfällt.
„Halt! Halt!" ruft er, läuft hinüber in die Dreherei, springt vor den Augen der verwunderten Arbeiter behände wie ein Jüngling über einen Radsatz, über eine Arbeitsgrube und verschwindet mit dem Schrei: „Der Anlauf! Der Anlauf!" hinter den schweigenden Lokomotiven.
„Bei dem ist eine Schraube los!" lachte Andrjuschetschkin. „Über den Radsatz — ho—o—opp! Über die Grube — hopp! Wie ein Ziegenbock!"
Sogar Platow musste lachen.
„Der hätt' ja beinahe die Lokomotive da umgeworfen!"
„Brü—ü—der! Die Brille! Die Brille ist hin!" schrie Sharow bedauernd und hielt mit zwei Fingern Mochows Brille wie eine Heuschrecke der Menge hin.
Auf einmal kam Mochow wieder hinter den Lokomotiven zum Vorschein. Er hatte ein so ungewöhnliches und geradezu erschütterndes Aussehen, dass Titytsch dachte: „Sollte es der Mochow gewesen sein, der mich gestern Nacht mit dem verrückten Schrei ,Ai, Grai! So ist das Leben!' erschreckt hat!" und er stieß einen langen Seufzer aus und blickte Mochow mit tiefem Mitleid an: „Wie schade, dass noch ein so tüchtiger Dreher dabei den Verstand verloren hat!"
Mochow stieg auf den Tender — seine Augen wollten vor lauter Aufregung aus den Höhlen treten.
„Da! Sieh' dir das an!" Mit diesen Worten steckte er, ganz außer Atem, Platow ein gelbes Stück Papier in die Hand. „Das sind die Zeichnungen... für die Achse... Vor drei Monaten haben sie neue gegeben. Ich habe noch geschimpft damals... Der Anlauf sah wirklich ganz sonderbar aus nach dem Abdrehen ... "
Alle stürzten auf den Tender zu, klebten an ihm wie Fliegen an einem Stück Kuchen. Die Ungeduldigsten und Neugierigsten kletterten auf den Tender und starrten mit misstrauischen Augen auf das Stück Papier in Platows Hand. Auch Mochow kniff die Augen zusammen und suchte in den sich kreuzenden Linien etwas zu entdecken — dann strich er mit der Hand über die Stirn, tastete nach seiner Brille und sah sich verwirrt um. Sharow drängte sich an ihn heran.
„Bitte sehr, Genosse, Ihre Fenstergläser! In tausend Splitter! Nur das Bedauern ist übrig geblieben!"
Verlegen drehte Mochow sein erblindetes, zerbrochenes „zweites Augenpaar" zwischen den Fingern.
„Siehst du, Genosse Platow, wie komisch der Anlauf ausschaut?" Er tippte mit dem Finger auf die Zeichnung. „Fast wie abgeschnitten, gar keine Abrundung, kein Übergang. Ist das richtig so?"
Platow zog angestrengt die Stirn kraus bei dem Bemühen, sich in dieser fremden Zeichnung zurechtzufinden.
„Weshalb wurden die Zeichnungen für die Lokomotivachsen geändert?" fragte er dabei Sorin, dessen Augen verlegen irgend etwas in der Menge zu suchen schienen.
„Ich weiß nicht... Diese Zeichnung wurde mir aus der Lokomotivkonstruktionsabteilung geschickt. Das ist nicht meine Sache... ", murmelte er.
„Wo ist Turtschaninow?" Platow blickte sich um:„Benjamin Pawlowitsch!" rief er, aber Turtschaninow war plötzlich verschwunden. „Hier ist irgend etwas nicht in Ordnung", sagte Platow in nachdrücklichem Ton und steckte die Zeichnung in die Tasche. „Recht so, Alter!" Dabei klopfte er Mochow auf den heißen, feuchten Rücken.
Mochow schüttelte traurig den Kopf und versuchte seiner alten, ganz verbogenen Brille wieder ihr früheres Aussehen zu geben. Da trat Titytsch auf ihn zu und steckte ihm voller Mitgefühl ein schwarzes abgegriffenes Futteral in die Hand.
„Hier, probier's mal mit meiner... Vielleicht passt sie für deine Augen. Ich hab' zu Hause noch eine. Wir sind ja aus demselben Jahrgang, Makarytsch, meine Augen müssen den deinen wohl ähneln. Und den ganzen Weg haben wir zusammen zurückgelegt... Noch ein paar Jährchen, und wir werden Pension kriegen..." Titytsch ließ einen schweren Seufzer hören, als ob er zum ersten Mal alle diese neuen, jungen Gesichter in der Menge sähe. Achtung und Vertrauen sprachen aus den Augen der Arbeitermasse, die Platow umringte.
„Unser Senja... Das ist aber ein Adler!" Zärtlich ruhten Titytschs Augen auf dem Gesicht seines früheren Formerjungen. „Der wird hoch fliegen!" rief er nachdenklich aus und fühlte in ihm den besten Teil der Sonne seines Lebens, die sich zum Untergehen neigte.
4
Strachow ruhte sich von den Aufregungen in seinem Arbeitszimmer aus. Nach dem ermüdenden Herumlaufen in der Fabrik war es angenehm, hier in dem weichen Ledersessel zu sitzen, eine eben eingetroffene ausländische Zeitschrift in der Hand.
Von der Wand her blickten ihn die Augen Stephensons, des Vaters der Lokomotive, prüfend an. Das war das einzige Bild in Strachows Zimmer. Mehr als die Hälfte dieser Wände war mit riesigen Bücherschränken bedeckt. Auf seine Bibliothek war Strachow mit Recht stolz: man konnte hier die gesamte Literatur über Lokomotivbau finden, für den er sich ganz besonders interessierte; viel Platz war auch den Büchern über Mechanik und Wärmetechnik eingeräumt. Bücher umringten Strachow von allen Seiten, schauten durch die funkelnden Glasscheiben auf ihn herab, erfüllten das ganze Zimmer mit einer besonderen gedankenerfüllten Stille. Er blätterte in der soeben eingetroffenen deutschen Fachzeitschrift, setzte sich bequemer im Sessel zurecht und vertiefte sich in seine Lektüre. Der Artikel sprach von den Errungenschaften der amerikanischen Technik, an Hand von vielen Zahlen und Beispielen. Der Artikel sprach davon, dass die amerikanischen Lokomotiven einem Zuggewicht von 14—16 000 Tonnen gewachsen seien, dank den neuen Großlokomotiven können die Belastung der Achse bis auf 32 Tonnen gesteigert werden, überall sei automatische Kuppelung eingeführt...
Strachow legte das Heft beiseite und dachte nach. Die Gewalt dieser Ziffern verblüffte ihn. Er stellte sich vor, wie der amerikanische „Pacific" über die Schienen dahinrast, eine Last von 16 000 Tonnen hinter sich herziehend, und sofort sah er die Lokomotivmontagewerkstatt vor sich... Da steht die Schnellzugslokomotive „SU", spitzbrüstig und ungeduldig.., Sie ist ein Kind Strachows, und ebenso bescheiden und schwach wie er... Die Schnellzugslokomotive „SU" hat kaum die Geschwindigkeit der amerikanischen Güterzugslokomotiven, und die solide „E" zieht höchstens zweitausend Tonnen. Zweitausend Tonnen und sechzehntausend Tonnen! Das ist der Unterschied, der überwunden werden muss, um Amerika einzuholen... Ob die Kräfte ausreichen?
Strachow entlockte seiner Zigarette dichte Rauchwolken. Draußen in der weichen Dämmerung des warmen Augustabends flimmern die elektrischen Lichter der Arbeitersiedlung. Geräusche des Abends dringen zum offenen Fenster herein — irgendwo singt eine Harmonika ihr lang gezogenes, sentimentales Lied, ein Lautsprecher brüllt, Hunde bellen, in der Ferne pfeifen Lokomotiven. Aus dem Garten kommt der Geruch von reifen Äpfeln und trockenem, von der Sonne versengtem Gras. Laut redend gehen Menschen vorüber — jedenfalls zur Nachtschicht.
Amerika einholen und überholen... Das wollen Menschen, für die eine Harmonika noch wie ein Orchester klingt, Menschen, die in langen Schlangen vor den Brotläden stehen müssen. Werden sie das schaffen? Aber da erstehen vor Strachows Augen die neuen, hellen, soeben erst vollendeten Werkhallen für Großgüterwagen, der Kulturpalast aus Glas und Beton, die Brotfabriken, die Großküchen... Sie werden's schon schaffen... Sie brauchen Strachow dazu — ohne ihn werden sie nicht fertig. Er gibt ihnen ehrlich sein ganzes Wissen, und dafür erhält er von ihnen anständiges Gehalt, und diese Wohnung, und die Achtung, die einem guten Spezialisten gebührt.
Ja, so war es bisher... Jetzt liegen die Dinge anders — und er muss an das Gespräch mit Kortschenko denken. Wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten? Turtschaninow, der verstand es. Der sprach mit Kortschenko in der einen Tonart, und hinter seinem Rücken schlug er eine ganz andere an. Aber das war schon Politik. Das hatte Strachow nicht nötig. Er will nur Spezialist sein und bleiben — ein Fachmann, der sein Fach liebt. Und den Versuchen Benjamin Pawlowitschs, ihn in politische Gespräche zu verwickeln, setzt er Widerstand entgegen. Für diese Fragen ist Strachow nicht zuständig, mögen sich andere damit befassen. Er wird ehrlich und gewissenhaft seine Arbeit tun...
Er öffnet die Zeitschrift und versucht seine Aufmerksamkeit wieder auf technische Fragen zu lenken. Ja — man muss schwere Lokomotiven bauen, nicht mehr die unvorteilhaften schwachen und langsamen Maschinen. Aber eine starke Lokomotive verlangt einen entsprechenden Streckenoberbau. Das würde riesige Mittel verschlingen. Wo sollte dieses Land, das von der kapitalistischen Welt abgeschlossen ist, diese Mittel hernehmen?
Dieses Nachdenken über die Lokomotiven führt ihn zu den Fragen, denen er ausweichen wollte. Es ist, als ob er sich in einem Zauberkreis befände, der seine Gedanken beherrscht, und dem zu entrinnen er nicht die Macht besitzt. Denen, die da Amerika einholen und überholen wollen, denen scheint alles so einfach und klar. Sie schreiben Artikel, halten Reden, aus denen Kraft und Überzeugung sprechen, so wie dieses rotwangige Mädchen da auf der Versammlung. Was gibt ihnen diese Kraft?
Draußen ist finstere Nacht. Der Himmel ist übersät mit hellen, glitzernden Sternen. Sie flimmern, und mitunter fällt eine Sternschnuppe herab und zieht eine leuchtende Spur über das schwarze Firmament. Der Mond hängt über dem Himmel wie ein Stück Stahl, das langsam erkaltet. Die Lichter in der Stadt sind erloschen — die Menschen schlafen, bis sie die Sirene morgen früh wieder weckt. Morgen wird Strachow ihnen allen wieder in der Abteilung begegnen, wird ihre höflichen, aber misstrauischen Blicke auf sich fühlen. Sie werden seine Anordnungen ausführen — aber neben dem Bewusstsein dieser Notwendigkeit spricht aus ihren Augen stets das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit. Darin lag für Strachow immer etwas, was ihn beunruhigte. Die Macht der Bildung Strachows besaßen sie nicht, aber sie besaßen eine andere Macht, die ihm unbekannt war: mit den Worten Marx' und Lenins auf den Lippen gehen sie abends schlafen und stehen sie morgens auf, und diese Worte scheinen ihnen das Brot zu ersetzen, von dem sie zu wenig haben.
Strachow trat an einen der Bücherschränke und überflog die Titel auf den Bücherrücken. Technik, Lokomotiven, Mechanik. In dem anderen Schrank dasselbe ... Er hockte sich nieder und kramte auf den untersten Brettern herum, wo die „sonstige" Literatur untergebracht war — aber das, was er in diesem Augenblick gern in die Hand genommen hätte, das war nicht darunter.
In seiner Bibliothek war weder Marx noch Lenin vertreten. Er hatte nicht eine einzige Zeile von diesen Werken gelesen, die Allgemeingut derer waren, die er in der Produktion leitete. Er wusste, dass die Kommunisten nach der Lehre von Marx alles von der Entwicklung der Produktivkräfte herleiten. Die Produktivkräfte aber — das ist doch die Technik, das sind die Produktionsmittel, die Maschinen? Und die kennt er, Strachow, doch in- und auswendig! Was ging also hier vor? Die Technik verband ihn mit diesen Tausenden da — was aber steht trennend zwischen ihm, dem Ingenieur Strachow, und diesen Tausenden? Warum standen ihm die Arbeiter heute auf der Versammlung so bitter feindselig gegenüber? Er wollte ihnen doch nur helfen, den verwickelten Knäuel dieser Ereignisse zu entwirren?... Er litt unter dem Bewusstsein, abgesondert und einsam zu sein, unter der Ohnmacht, eine Bresche zu schlagen in die Mauer, die sich heute zwischen ihm und diesen Tausenden von Arbeitern erhoben hatte. Diese Tausende waren erfüllt von einer furchtbaren Macht, wie die Drähte einer Hochspannungsleitung, und diese Macht verbrannte ihn und schleuderte ihn zurück. Das war die Technik des Lebens, eine Wissenschaft, die Strachow unbekannt war.
Morgen wird er sich unbedingt aus der Bibliothek die Werke Lenins holen und anfangen, sie zu lesen, um sich über diese Technik des Lebens klar zu werden, über die Gesetze der Zusammenkupplung von Millionen von Menschen zu einem einzigen Organismus. Er will wissen, was die Triebachse dieser mächtigen Lokomotive ist, deren Name „Sowjetland" ist, das Land, das den Kampf mit Amerika, mit der ganzen Welt aufgenommen hat, das von einer Energie getrieben wird, die Strachow nicht kennt.
Noch vor dem Schrei der Sirene betrat er die Abteilung. Rechts neben dem Eingang befand sich an einer Tür ein Schild mit der Aufschrift: „Zelle der KPdSU". Er öffnete die Tür ein wenig — er dachte, dass noch niemand im Zimmer sei, aber da sah er den Zellensekretär an seinem Tisch sitzen, den mageren Shukow — ihre Augen trafen sich. Strachow fühlte, dass es nun nicht mehr anging, sich zurückzuziehen und trat ins Zimmer.
„Nun, Genosse Shukow, wie geht's?" Shukow ließ seine Augen durchs Zimmer schweifen und fahndete in seinen Taschen nach Zigaretten.
„Ach — irgend etwas ist ja immer nicht in Ordnung..."
Strachow beobachtete, deß er die Enden seines dünnen Schnurrbarts öfter als sonst zwischen den Fingern drehte — ein Zeichen von Verlegenheit.
„Ich wollte Sie, Genosse Shukow, nach Ihrer Meinung fragen in einer Sache, die mich sehr beschäftigt. Wie Sie wissen, arbeite ich bereits seit drei Jahren in der Abteilung."
„Ich kann Ihren in diese* Angelegenheit in keiner Weise behilflich sein, Genosse Strachow", unterbrach ihn Shukow mit zur Seite gerichtetem Blick.
„In welcher Angelegenheit? Ich meine hier die Gedanken, die mir gestern in bezug auf Technik und Politik gekommen sind... "
„Wie gesagt, ich kann Ihnen absolut nicht helfen, Genosse Strachow, Ihre Entlassung ist eine beschlossene Sache... "
„Meine Entlassung?" Strachow erblasste.
„Jawohl — auf Verfügung des Direktors werden Sie heute entlassen — wegen Undiszipliniertheit und im Zusammenhang mit der Eisenbahnkatastrophe. Die betreffende Lokomotive entstammt doch Ihrer Abteilung?"
Strachow rieb sich die Stirn.
„Ich bin also nicht mehr der Leiter der..."
„Ja — so ist's... " sagte Shukow mit einem Seufzer.
Ohne die Menschen zu sehen, die über den Fabrikhof gingen, begab sich Strachow ins Hauptkontor. Als er bei der Kesselschmiede vorbeiging, dachte er daran, dass er sich gestern in sein Notizbuch notiert hatte: „Die Nietung des Lokomotivkessels prüfen" — und betrat die Abteilung.
Das donnernde Krachen der Drucklufthämmer und Bohrer schlug ihm entgegen. Die Nieter saßen um den dickbäuchigen Lokomotivkessel herum, die Bewegung der Drucklufthämmer ließ sie immer wieder zusammenfahren. Strachow kroch in das Innere des Kessels hinein und war sofort wie betäubt: das Donnern der Hämmer außen und innen verschmolz mit dem ohrenbetäubenden Heulen des Metalls — jedes kleinste Teilchen des Kessels schien zu donnern und zu heulen. Strachow fühlte, wie seine Ohren unter dem Druck des furchtbaren Lärms die Fähigkeit zu hören verloren; das unerträgliche Krachen und Dröhnen ging allmählich in eine gewissermaßen laute Stille über, — genau so ist es, wenn man einer elektrischen Schweißung zusieht: das grelle Licht blendet einen so stark, dass es schließlich in Finsternis übergeht...
Strachow leuchtete die schwarzen Innenwände des Kessels mit seiner Taschenlampe ab und sah, dass die Nietung genau wie früher ausgeführt war — seine Anweisungen waren nicht befolgt worden. Er schrie dem Arbeiter zu, dass er es anders machen müsse, aber er hörte seine eigene Stimme nicht, die in dem wahnsinnigen Donnern des Stahls unterging. Dann fiel ihm ein, dass es keinen Zweck hatte zu schreien, dass er nicht mehr der Leiter der Abteilung war, und schnell kletterte er aus dem Kessel.
In Kortschenkos Arbeitszimmer fand eine Beratung statt, der Sekretär ließ niemand zu dem Direktor hinein. Er beobachtete Strachow, der ungeduldig im Zimmer auf und abging, mit auffallender Aufmerksamkeit. Strachow fing den Blick auf, wurde verlegen und ging schnell auf den Korridor hinaus. Turtschaninow kam mit gesenktem Kopf den Korridor entlang gestürmt und stieß in der Tür mit Strachow zusammen, wobei ihm der Kneifer von der Nase purzelte.
„Andrej Sergejewitsch... Ich habe schon gehört, habe schon gehört... Außerstande irgend etwas zu tun, mein Lieber. Was jetzt alles vorkommt — einfach schrecklich!... Sie wissen — Kraiski ist verhaftet... Es tut mir leid... Tut mir wirklich leid, Andrej Sergejewitsch..." Dabei riss er die Tür auf und verschwand in Kortschenkos Zimmer.
Strachow verließ die Fabrik durch das hintere Tor und gelangte an den Bahnkörper. Vor ihm zeichnete sich die Eisenbahnbrücke ab. Da würde man nach dem Passierschein fragen. Strachow wandte sich nach rechts und stieg die Böschung hinunter auf die Wiese. Da lagen große Haufen von Schutt und Abfall — alles, was diese riesige Fabrik aus ihrem Innern ausspie; auf der Oberfläche der Wasserpfützen schwammen fettige Rostflecke.
Wie eine Schar von Sperlingen tummelte sich auf dem Schuttplatz ein Haufen Kinder. Die einen zerrten gemeinsam eine Eisenstange weg, andere wühlten in der Schlacke und suchten nach Eisenstücken. Wieder eine andere Gruppe war dabei, die Beute auseinanderzuklauben. Der ganze Schuttplatz war voller Lärm und Leben, und Strachow kam seine Leere und Einsamkeit noch mehr zum Bewusstsein.
Lange wanderte er ziellos über die Wiesen. Erst gegen Abend kehrte er in die Siedlung zurück, ging in den Arbeiterklub, nahm das erste beste Buch, das ihm in die Hände fiel, mit und ging langsam durch die stillen abendlichen Straßen.
Ohne dass er es merkte, war er auf einmal wieder in der Lokomotivmontage — die Stadt, das Fabriktor, die Menschen, die er traf, der Lärm, die Finsternis — alles das lag außerhalb seines Bewusstseins und seines Gefühls. Er erwachte erst wieder, als er vor der schweigenden Lokomotive stand. Starr, in schwarzer Stille, stand die Maschine im Halbdunkel der nur schwach beleuchteten Abteilung. Wie im Halbschlummer blinzelten die Nieten mit ihren Augen.
Strachow fühlte, wie sich die Stille mit der Schwere des Metalls anfüllte, die sein Gehirn bedrückte. Finster starrte die Lokomotive über ihn weg, als wollte sie ihn zermalmen. Furchtsam rückte er in den hellen Lichtkreis der Glühbirne. Das Licht fiel auf die in zwei Reihen ausgerichteten Achsen, die für morgen vorbereitet dalagen. Die Achsen wird man schon ohne ihn unter dem Körper der Lokomotive anbringen. Er besaß nicht mehr das Recht, morgen früh hierher zu kommen und seine Anweisungen zu erteilen. Er steht zum letzten Mal hier...
Bedrückt ließ Strachow seinen Blick durch die Werkhalle wandern, ließ ihn auf der schlafenden Lokomotive ruhen, dann glitt er hinüber auf die ihm zunächst liegende Achse, und eine geheimnisvolle Macht zog seine Blicke auf die Stelle, wo der Achshals in den Radsitz übergeht. Er traute seinen Augen nicht, sondern betastete die Stelle mit der Hand, und dabei bekam er den schroffen, eckigen Übergang von einem Querschnitt zum anderen zu fühlen — es war genau ebenso wie bei jener Unglücksachse. Von einem unklaren Drang ergriffen, untersuchte er die nächste Achse — eine dritte, eine vierte... Er sprang über die schweigend ruhenden, schweren Körper, tastete mit zitternder Hand, ging von einer Achse zur anderen, und überall fand er dasselbe: nirgends war ein glatter, allmählicher Übergang, überall griff seine Hand auf einen kurz eingeschnittenen Anlauf.
Erschüttert stand er mitten in der dämmerigen, stillen Abteilung und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann ging er wie gebrochen mit langsamen Schritten hinaus.
In seinem Zimmer empfing ihn Stephenson mit seinem trockenen und strengen Blick. Die Bücherschränke schwiegen. Die Stadt schlief. Lange saß Strachow unbeweglich im Sessel, die Augen starr auf das schwarze Fensterloch gerichtet, — dann öffnete er ungeduldig das mitgebrachte Buch. Seite um Seite schlug er um — völlig neu waren diese Worte für ihn, aber ihr ungewohnter Klang hinderte ihn nicht, in die knappen, fast wissenschaftlichen Formeln einzudringen. Er wunderte sich über die Fähigkeit dieses Menschen, den einfachsten, kürzesten Sätzen, die bar jeden Schmucks waren, einen so tiefen Inhalt zu geben. Die einfache und dabei gleichzeitig komplizierte innere Gestaltung der Gedanken erinnerte Strachow an Stücke von geschliffenem Werkzeugstahl: die haben auch so ein einfaches Aussehen, und bergen dabei eine riesige Kraft in sich: sie schneiden den Stahl und flößen den formlosen Metallstücken die Ideen der Menschen ein.
„Wenn wir auf die Erklärung einer Gruppe kleinbürgerlicher Demokraten stoßen, dass sie sich der Sowjetmacht gegenüber neutral verhalten wollen, so müssen wir sagen: ,Neutralität' und freundschaftliche Beziehungen — das ist altes Gerümpel, das vom Standpunkt des Kommunismus durchaus nichts taugt."
„Welche Zuversicht! Welch eine schneidende Kraft!" dachte Strachow voller Achtung, und plötzlich wurde ihm von der Berührung mit der nackten Wahrheit dieser erschütternden Zeilen unheimlich zumute. Jawohl — schon morgen würde er die Abteilung nicht mehr betreten. Dieses Recht hatten ihm die Menschen schon genommen, die er bisher für die Triebachse der Menschheit gehalten hatte: seine Kollegen — Spezialisten, Ingenieure, Leute des Gehirns und des Wissen — sie hatten seine Lokomotive verstümmelt. Jetzt wusste er, warum seine fünf Lokomotiven aufgehört hatten zu rauchen und schweigend im Kursker Depot standen. Jetzt war alles klar. Klar war auch, dass er auf dem schmalen Streifen zwischen den zwei Gleisen der Strecke gestanden hatte, auf dem der Luftdruck den Staub aufwirbelt und den Menschen umreißt, wenn zwei Züge aneinander vorüberfahren. Ja — Neutralität, das ist altes Gerümpel. Und er hat sich in diesem Gerümpel verloren.
Auch diese Schlussfolgerung war so klar und einfach wie die Gedanken, die er in dem Buch gelesen hatte, und sie war ebenso furchtbar und unerträglich wie die schwarzen, zur Leichenstarre verurteilten Lokomotiven.
Strachow erinnerte sich daran, wie er in seiner Kindheit einmal am Ufer der Wolga in einem angebundenen Boot gespielt hatte , das sich auf den Wellen schaukelte. Auf einmal hatte das Boot sich losgerissen und sich schnell immer mehr vom Ufer entfernt. Keine Ruder im Boot. Schwimmen konnte er nicht. Mit erschrockenen Augen hatte er auf das entschwindende Ufer geblickt. Hinausspringen? Und er sprang. Und von diesem Tage an konnte er schwimmen.
Auch jetzt hatte sich sein Boot vom sicheren Strand des ruhigen Lebens losgerissen. Von dem gewohnten Ufer treibt es der Wind hinaus auf die weite Wasserfläche. Es schwankt auf den Wellen unerbittlicher Ereignisse. Ruder besitzt er nicht. Schwimmen hat er nicht gelernt, er hat das Leben vom Ufer aus beobachtet... Soll er springen?
Er rieb sich die Schläfen mit eiskalten Fingern.
5
Das Auto ließ die engen Korridore der Straßen hinter sich und gewann in rasendem Lauf die Chaussee. Schemenhaft glitten die vereinzelten Häuser der Vorstadt vorbei und versanken in der violetten Dämmerung des Augustabends.
Die Hupe fegte die Menschen von der Chaussee und unterbrach mit ihren lauten Warnungsrufen die abendliche Stille. Der Zeiger auf dem Geschwindigkeitsmesser schnellte empor — 35, 40, 45, 50... Die Rufe der Hupe wurden zu einem ununterbrochenen Geheul. Der Ford sprang über die Löcher und Unebenheiten des Wegs, die Geschwindigkeit wuchs immer mehr an: 55... 60... 65... ..
Alles versank in einer dunklen, windgepeitschten Schnelligkeit. Irgendwo in der Tiefe, wie in einem schwarzen Abgrund, flammten Tausende von Lichtern auf. Sie flimmerten und verschwammen miteinander zu einem einzigen Lichtmeer, und der von weißlichem Schein übergossene nächtliche Himmel schien leicht und durchsichtig.
„Schön, nicht wahr?" fragte Wolski, und als keine Antwort kam, rief er mit lauter Stimme: „Ich meine, die Fabrik sieht in der Nacht schön aus, Jusow, nicht wahr?"
Jusow fuhr auf und antwortete mit gleichgültiger Stimme: „Ja, schön..." und, seinen unterbrochenen Gedankengang fortsetzend fügte er mit dumpfer Stimme hinzu: „Wer konnte denn auch einen solchen Skandal erwarten? Wer konnte so etwas erwarten?"
Wolski lachte.
„Ich zum Beispiel habe so etwas erwartet, Jusow. Schon seit langem. Und ich habe mich nicht geirrt. Diese Ereignisse der letzten Tage waren nichts als eine Bestätigung unserer Beobachtungen; die Entladung ist nur ein klein wenig früher erfolgt, als ich erwartet hatte. Das ist ganz gut, ich habe nichts dagegen. Den schließlich: das, was Platow, Mochow und die anderen getan haben, das haben wir getan, und umgekehrt. Und darin liegt unsere Stärke."
Das Auto war auf einmal unten in dem schwarzen Abgrund versunken, es zerschnitt die Dunkelheit mit seinen gelben Scheinwerfern und raste über die lange Brücke. In den nächtlich schwarzen Fluten spiegelten sich die blinkenden Lichter der Fabrik.
„Ich kenne sie doch alle ganz gut, Wolski." Jusow wurde plötzlich lebhafter. „Saizew, Nossow und noch viele andere waren bei mir im Zirkel. Sie haben einen Kursus über Leninismus bei mir gehört..."
„Einen theoretischen Kursus, Jusow... Aber nun mach mal mit ihnen zusammen den praktischen Kursus durch. Das ist eine sehr nützliche Sache!" Wolski ließ ein vergnügtes und gutmütiges Lachen hören, das plötzlich abbrach. Das Auto bremste und hielt mit einem heftigen Ruck.
„Da wären wir. Steig' aus."
Mit gesenktem Kopf stieg Jusow die Treppen hinter Wolski empor. Er sah, dass ihn Wolski verspottete, dass er hinter dem Lachen nur die bitteren Vorwürfe verbarg, die er ihm in seinem Innern machte.
Vom hellen Schein des elektrischen Lichts geblendet, ließ sich Jusow dicht an der Tür auf einen Stuhl fallen. Wolski trat an den Tisch und begrüßte die Anwesenden, indem er militärisch die Hand an den Mützenrand legte.
„Nun, Genossen — können wir anfangen?" Wartanjan ließ einen müden Blick über die Versammlung schweifen.
„Genossen! Das, was in der Fabrik passiert ist, ist eine Schande. Und keine kleine Schande, sondern eine Riesenschande. Wir schämen uns jetzt, einander in die Augen zu sehen... Die Tatsachen sind bekannt. Nicht von ihnen soll heute die Rede sein. Wir wollen darüber sprechen, wieso dies passieren konnte. Warum konnte diese Riesenschande passieren? Warum? Warum schien an der Oberfläche alles ausgezeichnet, während im Innern lauter Risse waren, wie in einem schlechten Gussstück?! Bedenkt nur einmal — fünf Betrüger haben sech3ehntausend Proletarier an der Nase herumgeführt! Wir haben es verdient, dass man uns dafür im ganzen Lande an der Nase herumführt, damit alle sehen, was wir für Esel sind! Wir haben nichts gesehen und nichts gehört, unter unseren Augen konnte so etwas passieren!... Wer will sich äußern?"
Alle schwiegen. Wartanjan ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten, und viele senkten die Köpfe tief auf ihre Notizbücher. Kortschenko rauchte ununterbrochen, kritzelte irgend etwas auf ein Stück Papier, dann strich er es wieder aus und kaute am Bleistift.
„Hören wir einmal, was unser Chef zu sagen hat", schlug Wolski vor und wandte Kortschenko einen fragenden Blick zu.
„Richtig!"
„Er muss ja am besten Bescheid wissen!"
„Fang' mal an!"
Kortschenko fühlte, dass ihn alle erwartungsvoll anstarrten und gierig seiner Worte harrten. Er beschloss, kurz und knapp zu sprechen und jeden Satz sorgfältig zu überlegen.
Mit unruhigem Griff entnahm er der Aktentasche einen Stoß Papiere — Berichte, Aufstellungen usw. Als er sie nervös vor sich auf dem Tisch ausbreitete, überstürzte er sich unwillkürlich, irrte sich in der Reihenfolge, und die Aktentasche fiel zu Boden.
„Eine schlechte Vorbedeutung", rief irgendein Spaßvogel; ein paar der Anwesenden lachten, aber das Gelächter verstummte schnell wieder.
Kortschenko strich mechanisch mit der gewohnten Bewegung über den Kragen seiner Bluse. Er begann damit, wie er vor drei Jahren in die Fabrik gekommen sei, in welchem Zustand des Verfalls er sie vorgefunden, wie er Tag und Nacht gearbeitet habe, um die Produktion zu heben. Er führte eine Zahl nach der andern an, behauptete, dass sich in diesen zwei Jahren die Verluste verringert hätten und die Gestehungskosten gesunken seien. Dann ging er zu der neuen Fabrik über, und wieder hörte die Versammlung etwas von Millionen von Rubeln, vom Promfinplan, vom Wert der Gesamtproduktion der einzelnen Jahre, Quartale, Monate.
Unzufriedenes Murmeln wurde im Saale laut. Aufgeregt wurde mit den Stühlen geknarrt. Viele gingen hinaus auf den Korridor, und von dort drangen dichte Tabakwolken in den Saal.
Wartanjan kritzelte etwas auf ein Stück Papier. Wolski saß mit halbgeschlossenen Augen da, als schliefe er.
„Bitte zur Sache!" rief jemand, und sofort griffen die anderen diesen Ruf lebhaft auf:
„Richtig! Zur Sache!"
„Erzähle von dem Prämiensystem, das du eingeführt hast!"
„Von deiner Leitung erzähle uns etwas!"
Die Zwischenrufe aus dem Saal versetzten Kortschenko in Verwirrung, zerrissen seinen Gedankengang. Er griff nach falschen Papieren und warf die Stöße von Material unordentlich durcheinander. Und plötzlich wurde ihm klar, dass all dieses Material durchaus nicht nötig war; dass er sich hier nicht in einer gewöhnlichen, sondern in einer ganz besonderen Versammlung befand, wie er sie noch niemals erlebt hatte. Und dass es außerordentlich schwer war, hier zu sprechen.. Alles das, was er hier erzählte, wussten diese Menschen da im Saale selbst; aber sie wollten von ihm das hören, was sie noch nicht wussten, was man aber nicht mehr geheim halten konnte. Er sprach und bemühte sich angestrengt, den inneren Widerstand zu überwinden, aber sowie er sich der wichtigsten Frage näherte, brach er ab und wandte sich wieder dem Nebensächlichen zu. Verlegen hielt er inne, griff mit unsicherer Hand nach der Karaffe, um sich Wasser einzugießen, goss die Hälfte daneben und trank dann in einem Zug das Glas aus.
Wartanjan blickte ungeduldig auf die Uhr, runzelte die Brauen und seine Augen wurden dunkel — ein Anzeichen des Sturms.
Kortschenko ging zu einer Charakterisierung der Spezialisten über. Er sprach von den schwierigen Verhältnissen, unter denen er arbeiten musste, davon, dass er die Autorität der Spezialisten stets zu stärken bemüht gewesen sei, dass sie sein Vertrauen missbraucht hätten. Das sei allerdings ganz plötzlich geschehen, aber es sei zu erwarten gewesen. Schon Lenin hätte gesagt..." Kortschenko öffnete ein Buch: „Lenin hat folgendes gesagt..."
„Lass Lenin zufrieden!" fuhr Wartanjan auf. „Versuch' nicht noch, dich mit Lenin zu decken, Kortschenko! Schäm' dich! Das ist eine Schande!"
Alle sprangen auf. Blass, mit funkelnden Augen, schlug Wartanjan wütend mit der Faust auf den Tisch.
„Du redest anderthalb Stunden, und dabei sagst du nicht ein einziges Wort über deine Fehler, nicht ein einziges Wort davon, dass du alles verschlafen hast. Lass Lenin aus dem Spiel! Du willst aus Lenin einen Advokaten machen, der alles verteidigt! Lenin hat viel geschrieben, aber nirgends steht bei ihm, dass er Betrüger und verbrecherische Leichtgläubigkeit in Schutz nimmt. Lass Lenin beiseite!"
Kortschenko blätterte nervös in dem Buch.
„Aber ich kann dir aus Lenins Werken das vorlesen, was du immer vergessen hast. Hör mal zu.". Und Wartanjan riss Kortschenko das Buch aus der Hand, fand schnell die Stelle, die er suchte, und begann zu lesen:
„Unter den Sowjetingenieuren, unter den Sowjetgelehrten, unter den privilegierten, d. h. unter den höchstqualifizierten, den besten Arbeitern ... " Arbeitern, Kortschenko! — „in den Sowjetfabriken beobachten wir eine ständige Wiedergeburt aller jener negativen Züge, die der bürgerlichen Ordnung eigen sind, und nur durch dauernden, unermüdlichen und hartnäckigen Kampf, durch proletarische Disziplin und Organisiertheit überwinden wir dieses Übel allmählich."
Hast du gehört? Lass also Lenin aus dem Spiel! Aber dieses Zitat merke dir, es wird für dich sehr nützlich sein."
In leidenschaftlicher Erregung stand Wartanjan vor Kortschenko, seine Finger zitterten, er trommelte nervös auf den Tisch; und plötzlich griff er nach seiner linken Seite und sank taumelnd auf einen Stuhl.
Wolski hob die Lider und heftete den Blick fest auf Wartanjan.
Dicht bei der Tür schob jemand laut seinen Stuhl zurück und ging hinaus: es war Jusow.
Kortschenko stand mit gesenktem Kopf. Der Haufen Diagramme und Aufstellungen, die unordentlich auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet lagen, reizte ihn. Er sah ein, dass ihm diese Materialien nicht halfen, dass sie im Gegenteil alle in Wut versetzten, und erbittert stopfte er die raschelnden Papiere in seine Aktentasche. Aber da sah er den kraftlos auf die Brust gesunkenen Kopf Wartanjans und fühlte sich sofort wieder ermutigt. Vor Aufregung überschlug sich seine Stimme:
„Wer gibt dir das Recht, mich wie einen Schurken zu behandeln? Du willst alle Verantwortung von dir abwälzen, willst sie mir allein in die Schuhe schieben! Das wird dir nicht gelingen! Ich habe gearbeitet... Keine Nacht habe ich geschlafen. Auf meinen Urlaub habe ich verzichtet. Meine Familie habe ich im Stich gelassen. Und du hast nur dagesessen und deine Resolutionen verfasst! Du hast nur bereut, wolltest dir Verzeihung für deine Parteisünden verdienen! Nichts ist leichter als das. Aber stelle dich mal auf meinen Platz!"
„Das wollen wir schon tun!"
Dieser Satz kam aus der Menge der aufmerksam vorgeneigten Köpfe und traf Kortschenko mit einem trockenen, harten Peitschenschlag. Verwirrt sah er die auf ihn gerichteten zornigen Blicke und ließ sich müde auf einen Stuhl sinken.
Als Jusow wieder eintrat, wunderte er sich über die Stille, die im Raum herrschte. Wartanjan sprach nun mit ruhiger Stimme, dazwischen trank er häufig einen Schluck Wasser.
„Es wäre unser unwürdig, wenn wir versuchten, die ganze Schuld dem Direktor aufzubürden. Mit ihm zusammen haben wir alle Dummheiten begangen, und mit ihm zusammen haben wir die Verantwortung zu tragen. Ich selbst habe auch Schuld — ich erinnere nur daran, wie ich auf dem Plenum des Okruschkom nicht verstanden habe, in den etwas wirren Worten Andrjuschetschkins die Wahrheit zu erkennen. Ich habe seine Äußerungen zu formal aufgefasst, das war ein Fehler! Ich habe mir nicht die Zeit genommen, einen Menschen ausführlich anzuhören, der mit dem, was ihn bedrückte, zu mir kam, das war ein Fehler! Ich habe mich zu spät für die Sache Saizew interessiert — das war ein Fehler! Alle diese Fehler gebe ich zu."
„Das ist noch nicht alles, Wartanjan!" rief Olga. „Die Hauptsache hast du vergessen. Du musst noch zugeben, dass du uns auf der Arbeiterversammlung im Stich gelassen hast. Wer hatte recht? Ich, Platow, Titytsch, Mochow, die ganze Versammlung! Du aber — du hast uns im Stich gelassen. Hast lauter Ausflüchte gemacht, und schließlich bist du mit den Spezialisten gegen uns gegangen. Hast uns feige im Stich gelassen, Wartanjan, gib's nur zu!" Olga lächelte spöttisch.
Wartanjan hatte nicht erwartet, dass Olga diesen wundesten Punkt berühren würde, diese Sache, die ihn in den letzten Tagen furchtbar gequält hatte. Er wusste selbst, dass er sich auf der Versammlung nicht richtig benommen hatte, aber es fehlte ihm die Kraft, dies offen zu bekennen, und die Tatsache, dass ihm dieser Fehler jetzt hier vor anderen vorgeworfen wurde, schmetterte ihn nieder.
„Jawohl, ich bin gegen die Massen gegangen... Objektiv betrachtet, sieht es so aus... Aber schließlich macht jeder einmal einen Fehler..."
Jetzt trat Titytsch an den Tisch, er zupfte wie immer an seinem verräucherten Bart:
„Olga hat recht — da ist nun nichts zu machen... du hast die falsche Seite gewählt, Genosse Wartanjan. Wir haben den Feind einfach mit unserem Innern gespürt, und haben direkt ins Ziel getroffen! ,Wissenschaftlich' betrachtet, war vielleicht wirklich kein Grund vorhanden da anzuhaken. Aber unser Inneres, das gibt das Signal: stopp! Siehst du, so ist das Leben! Aber dein Inneres, Wartanjan, das ist blind — nimm's mir altem Mann nicht übel, aber ich sage nun einmal die Wahrheit gerade heraus..."
Wartanjan stützte den glühend roten Kopf auf die Hände. Die Worte Titytschs brannten in seinem wild und gequält klopfenden Herzen. Wie herbstliche Blätter im Wirbelsturm, jagten die Gedanken an die Fabrik, an die Tausende, zu denen er nicht den rechten Weg gefunden hatte, durch sein Hirn. Er fühlte den boshaft triumphierenden Blick Kortschenkos und verbarg sein Gesicht hinter einer Zeitung.
Da erhob sich Wolski. Aufrecht und streng stand er neben dem Tisch, wie ein Wachtposten.
„Aus den scheinbar besten Absichten — das Ansehen des Betriebs nicht zu schädigen — ist nichts als Unheil entstanden. Kortschenko hat an seinen Bericht auf dem Plenum erinnert — ich habe gesehen, Kortschenko, wie du zwischen den roten und den schwarzen Ziffern geschwankt hast! Und schließlich hast du die Ziffern gewählt, die dazu geschaffen waren, uns zu beruhigen, und die uns in den Abgrund hineingerissen haben. Aber warst du der einzige, der so handelte?" Wolski streifte Wartanjan mit einem schlauen Blick, dann heftete er die Augen auf Jusow, und dieser wandte sich ab. „Wir wollen ganz offen sein! Hier, der Redakteur unserer Zeitung... Er möge sich daran erinnern, wie er mit seinen Artikeln und Feuilletons die unheilvollen Risse der Triebachsen überpinselt hat. Leicht und angenehm ist es, auf den Schlittschuhen der Seelenruhe und des wohlfeilen Enthusiasmus über die glatte Oberfläche des Eises dahinzugleiten, das oft genug ein stinkendes Gewässer überdeckt. Aber um so schlimmer der Sturz. Unsere Epoche braucht keine Politik, die die Risse und Schrammen verdeckt, durch die sich unser Klassenfeind zwängt. Mögen diese Risse und Schrammen ruhig an der Oberfläche erscheinen. Wir fürchten sie nicht. Wir sind stark genug!"
Das Läuten des Telefons unterbrach Wolski in seiner Rede.
„Halloh..." Wartanjan hatte der Hörer aufgenommen, dann legte er ihn still vor sich auf den Tisch. Über sein Gesicht ging ein krampfhaftes Zucken, das die Lippen verzerrte und die kummervoll blickenden Augen noch tiefer in ihre Höhlen zu drücken schien.
„Der alte Kusmitsch ist gestorben... " sagte er kaum hörbar, und alle, die sein erschüttertes Gesicht sahen, hielten den Atem an.
Einige Minuten herrschte tiefes Schweigen. Olga schaute verwundert auf Wartanjan, sie verstand nicht, warum sein erschöpftes Gesicht plötzlich anschwoll und zuckend vor ihren Augen verschwamm. Bedrückt von der Stille um sie her, wandte sie sich um — aber sie sah keine Gesichter, nur feurige Flecken zuckten vor ihren Augen hin und her, als ob die Glühbirnen geschmolzen wären und mit ihren heißen Strahlen ihre brennenden Augen versengten... Aus weiter Ferne drang ein ersterbender Seufzer an ihr Ohr:
„Siehst du — so ist das Leben."
Bedrückt und völlig erschöpft verließ Kortschenko das Raikom. Langsam schlenderte er über den Fabrikhof, der von dem schwachen Licht der elektrischen Laternen erhellt war. Über seinem Kopf, in durchsichtiger Höhe, jagten Wolkenfetzen — die Vorboten von Gewitterwolken. Ein starker Wind kam auf und brauste pfeifend über den Hof, er raschelte in den Metallhaufen und heulte in den engen Durchgängen zwischen den schwarzen Fabrikgebäuden, melancholisch knabberte er an den Blechdächern. Mit feuchten Schwingen streifte er Kortschenkos Gesicht, kühlte den erhitzten Körper, fuhr ihm mit kalten Händen über den Rücken. Wie abgerissene Wolkenfetzen jagten Kortschenkos Gedanken dahin, zerflossen spurlos und ließen nichts zurück als einen dumpfen Schmerz in den Schläfen.
Ein Windstoß fuhr in die Birken, die sich über den Zaun neigten, sie streckten die weißen Hände ihrer schlanken Zweige nach oben, zischten zornig und schleuderten Kortschenko einen Haufen welker Blätter ins Gesicht. Die Blätter flatterten wie Falter im grünlichen Schein der Laternen; der Wind packte sie und führte sie fort — unbekannt, wohin. Kortschenko musste an den roten Schmetterling denken, den er zu Boden geschleudert hatte, in dem Augenblick, als er sich zum ersten Mal von diesem Furchtbaren bedroht fühlte, das ihn jetzt tödlich zermalmte. Er sah die unerbittlichen Augen der Arbeiter vor sich, das verächtliche Lächeln um Wartanjans Mund, und überall flüsterte es und wies auf ihn mit weißen, bösen Fingern. Ja — er hatte sich verrechnet. Sein großes Vertrauen hatten ihm die Ingenieure mit Schande belohnt. Da flüsterte ihm Wartanjan irgend etwas ins Ohr. Er versteht nicht, was. Er will nichts verstehen, er kann nichts verstehen, er ist todmüde... Er sieht die schlauen, grausamen Augen des Untersuchungsrichters vor sich — morgen wird er ihn, den Angeklagten, den Fabrikdirektor Kortschenko, verhören. Er wird eine ganz gewöhnliche, in ihrer Einfachheit furchtbare Frage an ihn richten: Sagen Sie, Angeklagter Kortschenko, was wissen Sie von dieser Sache?"
Ja, er weiß nichts von dieser Sache... Er weiß nur, dass Kraiski ein ausgezeichneter Ingenieur ist, den er schätzte, aber es hat sich herausgestellt... „Ach, hätte ich doch damals nachgegeben, als er seine Entlassung verlangte, und ihn gehen lassen; aber statt dessen habe ich noch überredet zu bleiben und habe alle seine Bedingungen erfüllt... Du bist ein Esel, Pjotr Kortschenko!"
„Sagen Sie bitte, Angeklagter Kortschenko, hat Ihnen denn niemals einer von den Arbeitern die Gefahren signalisiert? Haben Sie die Gewohnheit, durch die Abteilungen zu gehen, die Arbeiter anzuhören?" Erbarmungslos kneift der Untersuchungsrichter die Augen zusammen. „Nehmen wir zum Beispiel die Aussagen Wekschins... Er sagt, er sei zu Ihnen gekommen und habe Ihnen von der Tätigkeit Borezkis erzählt. Was haben Sie darauf unternommen, Angeklagter?"
Jawohl, Wekschin war zu ihm gekommen. Er hatte dann den Technischen Direktor Turtschaninow rufen lassen und ihm die Untersuchung dieser Sache übertragen. „Ach — was für ein alter, vertrauensseliger Idiot bin ich doch!"
Kortschenko blickte sich bedrückt um. Die Birken hoben verurteilend ihre weißen Hände und murmelten: „Sagen Sie doch, Angeklagter Kortschenko..."
Aus der Ferne kam der lang gezogene, kreischende Pfiff der Fabrikbahn. Finstere Wolken hatten den ganzen Himmel überzogen, der beginnende Regen zog ein feines Netz vor den grünlich verschwimmenden Schein der Laternen, vor die Schornsteine, die Fabrikgebäude, die spärlichen Lichter in den schweigenden Werkhallen, und Kortschenko hatte den Eindruck, dass er alles das durch ein Gitter hindurch sah, das sich zwischen ihm und der Fabrik aufgerichtet hatte. Er fröstelte und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. „Das ist doch bloß gewöhnlicher Regen", versuchte er sich selbst zu beruhigen. Er hatte auf einmal den Wunsch, so schnell wie möglich den ihn umklammernden Krallen der Finsternis, des heulenden Windes, dem Aufklatschen der großen Regentropfen zu entrinnen. Er beschleunigte seine Schritte, stolperte über die Geleise, drang in das strömende Regennetz, als wolle er es mit seinem bebenden Körper zerreißen. Aber das Regennetz umfloss wie kalter Draht sein Gesicht, seine Hände, seinen) vor Kälte schaudernden Rücken, es wickelte sich um seine Füße — sie glitten aus auf den matt schimmernden Schienen und rissen den schlappen, erschöpften Körper auf die nasse, schwarze Erde. Er fiel hin und verlor dabei seine Aktentasche. Mit zitternden Händen tastete er in der Dunkelheit auf der nassen Erde herum, fühlte Schrauben, Muttern und unbekannte feuchte Gegenstände zwischen den Fingern, packte schließlich irgend etwas Aufgeblasenes, Nasses, Glitschiges, wie eine Kröte, und zog voller Ekel die Hand zurück. Da zuckte ein greller Blitz auf, und Kortschenko sah seine dicke, schwarze, regenglänzende Aktentasche. Er griff nach ihr, aber sie war schwer und schlüpfrig und entglitt seinen Händen und klatschte wieder in die feuchte Dunkelheit zurück. Das kalte, schwere Regengitter sank unerbittlich auf seinen Kopf herab, es wurde dichter und dichter, bis es schließlich eine einzige dicke, graue Wand war, die die Welt seinem Blick entzog. Ein Wolkenbruch überflutete die krachenden Eisendächer, prallte in schäumenden Geisern von der Erde ab und drückte den schwachen Körper Kortschenkos auf den Boden. Kortschenko kroch auf den Knien über die schlüpfrige Erde; seine Hosen blieben an irgendwelchen Metallstücken hängen, er zerriss sie bei dem Versuch, sich von der eisernen Umklammerung zu befreien, die seine Füße gepackt hatte. Wilde Wut und kalter Schrecken ergriffen ihn, und überall tasteten seine Hände auf ekelhafte, schlüpfrige, unsichtbare Aktentaschen. Um ihn heulte der Sturm. Die Regenfluten plätscherten. Wild krachende Donnerschläge erschütterten die Erde.
Die einander jagenden, grellen Blitze tauchten den Himmel in ein einziges zuckendes Feuermeer — die ganze Fabrik schien von einer wilden, grünlich-flammenden Feuersbrunst gepackt.
1
Es kommt der Tag...
Da, wo heute die alte Fabrik ihren schwarzen Rauch zum Himmel schickt, umringt von tausenden niedrigen Häusern, da wird eine nie gesehene Stadt stehen. Die Schlote werden verschwinden, denn es wird keinen Rauch geben. Das Donnern und Krachen wird verstummen, denn die lärmenden Zahnräder werden durch geräuschlose Antriebe ersetzt werden. In den Werkstätten wird es still, sauber und hell sein wie in einem Laboratorium, denn Universalautomaten mit Einzelantrieb werden die Transmissionen verdrängen und sie in die Museen verbannen.
Es kommt der Tag...
Da werden die durchsichtigen Stockwerke der sozialistischen Stadt zum Himmel ansteigen, und der alte Mochow wird von diesen Stockwerken aus verwundert Umschau halten nach den Schloten der Martinöfen, die verschwunden sind. Und sein Sohn wird ihm von dem letzten Aufstand der Marokkaner erzählen und davon, dass die rote Fahne auf dem Eiffelturm weht. Und dann wird Mochow zurückdenken an die ferne Vergangenheit, zu der der heutige Tag geworden sein wird, und viele von denen, die heute mit ihm zusammen für diese Zukunft kämpfen, wird er nicht mehr um sich haben.
Manche werden unterwegs umsinken, wenn ihr Herz aufhört zu schlagen. Andere, die den Glauben an das Gelingen des großen Werks verloren haben, werden abirren vom Wege. Wieder andere werden in grandiosen Schlachten ihr Leben lassen. Noch andere wird die Revolution Tausende von Kilometern weit hinwegschleudern — dahin, wo der Kampf am heißesten brennen wird.
Viele werden das Ziel nicht erreichen. Aber Tausende Hundertausende, Millionen und aber Millionen von Menschen, die unaufhaltsam vordringen wie eine Lawine, gewaltig wie ein Bergrutsch — die werden das Ziel erreichen.
So ist es im Gebirge: der eine stürzt in einem Abgrund, den. eine trügerische Schneedecke verhüllt, der andere erfriert langsam im heulenden, pfeifenden Schneesturm, und der dritte läuft ganz einfach zurück in die Stille des Tals. Aber die anderen erreichen den Gipfel des Berges. Und welch eine Aussicht eröffnet sich ihren Augen...
Es kommt der Tag!
Heute aber sind Mochow und Sascha und Wartanjan und Sharow und alle die Tausende, mit denen sie das Leben verbunden hat, gepackt von einer quälenden Angst um diese alte Fabrik, denn sie umfasst ihre Zukunft und die Zukunft des ganzen Landes, so wie das Ei in seiner Kalkschale den Keim des. neuen Lebens birgt.
Eine schlaflose Nacht ist dies, voll quälender Unruhe. Aufgescheucht flackern die Laternen auf dem Fabrikhof, rauchlos brennt ein Scheiterhaufen inmitten schwarzer Wälder, und hinter dem Licht scheint nichts als unendliche Wegelosigkeit zu sein, Tausende von Kilometern weit.
Unermesslich lastet der Raum auf dem Lande: im Süden unendliche, heiße Steppen, unheimliche sandverwehte Wüsten; im Osten finstere Wälder und klingende Berge voll Metall, im Norden öde, menschenleere Tundren.
Von Moskau bis an die Ostgrenze braucht man zu Fuß ein halbes Jahr unermüdlichen Marsches. Und Pjotr Kortschenko ist diesen Weg zu Fuß gegangen, mit den Ketten klirrend, nach dem Jahre 1905. Damals zogen zweihundertachtzigtausendfünfhundertundzwei Menschen auf dem Wege in die Verbannung über die Wladimirka (Anm.: Wladimirer Landstraße an der östlichen Stadtgrenze Moskaus, Ausgangspunkt der Transporte politischer Verbannter nach Sibirien.).
Und Kortschenko weiß es noch wie heute: Tausende von Kilometern weit war ein einziges Kettenklirren, unendlich die Reihen dieser in Eisen geschmiedeten Menschen, und er, ein junger und kräftiger Bursche, ging stolpernd und fallend in diesen Reihen. Die Zähne, in wildem Hass aufeinandergepresst, knirschten. Dumpf klangen die Schritte der eisenbeschwerten Füße, und schwere, dunkle Blutstropfen sickerten in den Staub. Bajonette blitzten. Und traurig stieg das Lied der Sträflinge zu dem erbarmungslosen, sengenden Himmel auf. Unter dem Dach der Zedern, in der schwarzen, schweigenden Taiga, lauerte der einsame Tod.
Da gab es Tage, an denen Pjotr Kortschenko die Augen schloss und sich still hinlegte auf die Erde : Es kommt der Tag!
Aber der junge, unverbrauchte Körper, der noch kaum gelebt hatte, besaß noch viel Kraft und heißen Lebensdurst, und Kortschenko stand wieder auf und ging weiter, begleitet vom Klirren des Eisens.
Das war schon lange her. Aber jetzt, umgeben von diesen schweigenden, regennassen Fabrikgebäuden, sieht er sich wieder im grauen Sträflingskittel, sich selbst und die vielen Tausende, die ebenso wie er in graue Kittel gekleidet, in klirrendes Eisen geschmiedet, in den Staub des endlos langen, eisenklingenden Wegs gehüllt sind. Und dieser Weg, der sich im Nebel verlor, der steht ihm jetzt plötzlich mit wunderbarer Deutlichkeit vor Augen, und er gibt sich ganz den Erinnerungen hin und sieht, wie Pjotr Kortschenko auf dem endlosen Weg des Lebens dahinschreitet Mit langsamen, schweren Schritten hinaus in die Verbannung. Zurück war es ein leichtfüßiges, freudiges Laufen durch stille Wälder. Dann der hastige, dumpfe Hufschlag des flinken kleinen Pferdes unter der leichten Gestalt des im Felde mager gewordenen Divisionskommissars Pjotr Kortschenko.
Was für ein langer Weg! Und überall steht Pjotr Kortschenko aufrecht und fest, sogar auf dem grünlich schimmernden Eis vor Kronstadt, als ihn die Kugel in die Brust traf. Bloß hier, auf diesem Fabrikhof, haben sich seine Füße verwickelt in den Metallbruch, der da herumliegt, so verwickelt, dass es eine Schande ist.
Und auf einmal begriff Kortschenko, dass der ganze Weg, den er zurückgelegt hatte, nichts anderes war als die Vorbereitung für den Feldzug, den das Land begonnen. Erst jetzt, in dieser Stille, die auf das Gewitter folgte, verstand er plötzlich die ganze Größe der ihm anvertrauten Sache und die furchtbare Schwere seines Fehlers. Das Bewusstsein, dass das Heldentum des zurückgelegten Weges hinter ihm lag, vergrößerte die Bitterkeit seiner Niederlage, aber das Bewusstsein, dass das Heldentum seines Lebens einen untrennbaren Bestandteil dieser großen Tage bildete, ermutigte ihn und gab ihm frische Kraft zu einem neuen Aufschwung. „Nein — nicht die Augen schließen und sich auf der Erde wälzen, sondern vorwärts gehen, vorwärts, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben — vorwärts, bis das Herz den Dienst versagt!"
Kortschenko war in diesen Minuten gealtert. Gelblichgrau war die Haut des Gesichts, aus dem schweres Grübeln sprach, aber der Unterkiefer hing nicht schlaff herab, wie es bei alten Leuten der Fall ist — er war wie versteinert in grausamer Hartnäckigkeit, die schärfsten Widerstand versprach.
Er irrte lange auf dem Fabrikhof umher, und die Nachtwächter blickten ihm erstaunt nach, als ihr Direktor zu dieser ungewohnten Stunde an ihnen vorüberging... Bei Tagesgrauen betrat Kortschenko seine Wohnung und nahm sofort den Telefonhörer auf.
„Wartanjan? Hallo! Wartanjan... Läuten Sie noch einmal an, bitte. Hallo? Habe ich dich geweckt, Wartanjan? Entschuldige... Weißt du, was ich denke? Morgen wollen wir darüber sprechen? Nein — ich will jetzt gleich. Die Sache ist sehr wichtig. Ich schlage folgendes vor: von morgen ab... Hörst du? Ja, ja... Höre, bitte, aufmerksam zu: also ich schlage vor..."
Von den Wänden richtete die Betriebszeitung an die Arbeiter ihren Aufruf:
Auf! Organisiert den Zusammenbau der Lokomotiven unter der Kontrolle der
Arbeitermassen!
Innerhalb von drei Tagen müssen wir die Lokomotive ,SU 10505' abliefern! Für diese Lokomotive ist jeder einzelne
Arbeiter verantwortlich!"
Mit blitzenden Augen lief Mochow durch die Abteilung. „Nun, Jungens? Werden wir's schaffen?" Die Arbeiter lachten ihm in das besorgte Gesicht. „Darüber lass dir keine grauen Haare wachsen, Makarytsch!" „Seht mal den Makarytsch — er sieht aus wie eine Hebamme, wenn's losgeht, mit aufgekrempelten Ärmeln!" „Er wird dem Bulawkin noch den Rang ablaufen!" Bulawkin warf einen finsteren Blick auf Mochow, der so tat, als wäre der Werkmeister überhaupt nicht da, und die ganze Abteilung herumkommandierte. Bulawkin fühlte eine plötzliche Schwäche in den Beinen und schlenderte mürrisch nach dem Abteilungskontor. Aber auch hier sah er ein ungewöhnliches Bild: am Tisch des Abteilungsleiters saß der Direktor, vor ihm stand Sorin mit höflich geneigtem Kopf.
„Sie wussten von der Änderung der Zeichnungen?" Die wuterfüllten Augen Kortschenkos drückten Sorin an die Wand. „Jawohl."
„Und Sie haben dazu geschwiegen?" „Ich habe dem weiter keine Bedeutung beigemessen." „Sie haben mit diesen Betrügern unter einer Decke gesteckt!" schrie Kortschenko mit zuckenden Lippen.
„Nein!" Sorin trat einen Schritt näher an Kortschenko heran, als fürchte er, dieser könne jetzt weggehen. „Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft nicht wohl, sie trauten mir nicht. Und sie hatten allen Grund dazu... Ich bin einer von den wenigen Ingenieuren, die mit den ersten in die Fabrik kamen, um an ihrem Neuaufbau zu arbeiten. Ich wurde damals bedroht, man nannte mich einen Verräter. Später gaben sie sich dann zufrieden, als ob sie es vergessen hätten. Und ich wurde, ohne dass ich es merkte, gleichgültig... Gleichgültig, aber gemeinsame Sache mit denen habe ich nie gemacht..."
„Also nicht für, nicht wider? Sie haben abgewartet, was da kommen würde?" fragte Kortschenko.
Sorin blickte ihm ruhig in die Augen.
„So mag's gewesen sein... "
„Hat Ihnen das wirklich nicht genügt, was im ganzen Lande geschieht, um Ihre Wahl zu treffen? Konnten Sie daran wirklich nicht erkennen, welcher Seite die Zukunft gehört?" fragte Kortschenko erstaunt weiter. „Sie brauchten doch nur die erste beste Zeitung aufzuschlagen..."
„Ich lese keine Zeitungen... "
Verblüfft blickte Kortschenko diesen Menschen an: er schien ihm wie ein vorgeschichtliches Ausstellungsstück, wie die primitive Zeichnung eines Höhlenmenschen — naiv, erschütternd in der Einfachheit der Linien und der nackten Offenheit.
„Ich habe mich geirrt...", sagte Sorin niedergeschlagen und heftete den trüben Blick auf den Boden.
Und Kortschenko, der einfach starr war über diese Aufrichtigkeit, fand kein Wort der Verurteilung. Er schüttelte nur den Kopf, lachte auf und schritt dann plötzlich schnell der Tür zu. Sorin starrte weiter auf die breiten Ritzen in dem dunklen Fußboden.
„Den Zusammenbau der Lokomotive ,SU 10505' werde ich selbst leiten. Sie tragen die Verantwortung für die Vorbereitung der Maschinenteile. Merken Sie sich das!"
Sorin musste an den Witz von Bruck denken: „Bei einem solchen Direktor kann man die Lokomotiven aus Ziegelsteinen bauen", und ein spöttisches Lächeln verzog die dicken Lippen. Neugierig betrat er die Montagewerkstatt. Langsam, wie ein landendes Luftschiff, ließ sich der Lokomotivkessel aus blauer Höhe nieder. Wie ein gläsernes Gehäuse, so vorsichtig setzte ihn der Kran auf dem Lokomotivrahmen ab, und sofort umringten Dutzende von Schlossern und Monteuren mit Drucklufthämmern und Bohrern die Lokomotive „SU 10505". Ein Geprassel wie von Maschinengewehrfeuer krachte durch die Halle, die Drucklufthämmer arbeiteten unter der Lokomotive, im Innern des Kessels und an den Seiten und befestigten die Lokomotivzylinder.
Links funkelten auf breiten Tischen die Lokomotivteile. Einige Schlosser waren damit beschäftigt, die in Schraubstöcke gespannten Lagerschalen zu schaben. Hell funkelte die Bronze unter den knirschenden Feilen, und der goldige Staub tanzte heiter in den schrägen Sonnenstrahlen.
Ein kahlköpfiger, bärtiger Schlosser passte die Lagerschalen auf, dann lachte er und klopfte mit ihnen mutwillig wie ein Kind gegen den Schraubstock; die Bronze gab einen reinen und hellen Klang.
„So, Brüderchen, jetzt wirst du in unseren Tönen klingen! Pjotr Petrowitsch, Direktor! Diese Lokomotive ist aus Glockenkupfer — der wird kein Teufel was anhaben können!" Und dabei lachte er dröhnend und fuhr liebkosend mit der Hand über die geschliffene Bronze.
Kortschenko trat an ihn heran. Er trug einen dunkelblauen Arbeitskittel über dem Anzug. Seine Gestalt schien in dem gegürteten Kittel straffer und geschmeidiger, die Bewegungen der Hände waren geschickt und konzentriert. Er betrachtete das Lager und schüttelte den Kopf:
„Hier muss noch nachgearbeitet werden. Bitte sorgfältiger arbeiten!" Damit trat er zu dem Arbeiter, der die Kulisse zusammenbaute.
Sorins Blick folgte Kortscjienko, immer mit demselben spöttischen Lächeln auf den Lippen. Ganz allmählich aber trat an Stelle dieses Lächelns ein tiefes Erstaunen.
„Was hast du denn da für einen Stein?" Kortschenko sah einen Arbeiter missbilligend an; er nahm eine Lehre, maß den Teil nach und rief Sorin herbei. „Was geht denn hier bei Ihnen in der Abteilung vor, Genosse Sorin? Müssen denn die Nuten etwa so gefräst werden? Oder ist es Ihnen vielleicht egal, ob Sie einen Kulissenstein oder einen Ziegelstein vor sich haben?"
Sorin drehte verlegen ein Stück Stahl zwischen den Fingern, das glänzte wie die Glatze Brucks, und sah plötzlich dessen grinsende Fratze vor sich, wie er sich über seinen eigenen „geistreichen" Witz freute. Mit welchem Vergnügen würde er dieses Stück Stahl hier Bruck an den kahlen Schädel schleudern!
„Lassen Sie sofort diesen Teil ausbessern! Sie verzögern die Montage der Lokomotive. Dem Werkmeister der Abteilung ist ein Verweis zu erteilen. Nach einer Stunde melden Sie mir, was für Maßnahmen Sie getroffen haben."
Erschrocken blickte Sorin Kortschenko an — ein ganz neuer Mensch stand da vor ihm, mit einem Unterkiefer, der hart und kantig war wie ein Bügeleisen — ein Meister seines Fachs, der in seiner Sache Bescheid wusste.
Er rannte hinüber in die Dreherei, fiel über den verdutzten Bulawkin her, hielt ihm den Kulissenstein unter die Nase und schrie:
Du blamierst meine Abteilung! Du blamierst mich vor dem Direktor, vor der ganzen Fabrik! Das lasse ich dir nicht durchgehen!" Er zitterte am ganzen Körper, sein volles, breites Gesicht war dunkelrot vor Zorn, nur die Ohren waren schneeweiß.
Die Lokomotive „SU 10505" wurde zum Barometer des Fabriklebens. Eine Schraubenmutter, die nicht den erforderlichen Durchmesser aufwies, wanderte sofort wieder in die Abteilung zurück, als Beweis von Verantwortungslosigkeit und Nachlässigkeit, und den Namen des Arbeiters, der sie gemacht, sprach die ganze Fabrik voller Empörung aus. Tags darauf standen solche Namen auf dem schwarzen Brett und in der Betriebszeitung, und noch einen Tag später konnte man sie in der Provinz- und in der Zentralpresse lesen — an diesem Tage erfuhr das ganze Land den Namen des schlechten Werkmeisters Bulawkin, den Namen Sorin, der zum ersten Mal in seinem Leben die Seiten der „Prawda" auseinanderfaltete, bleich und zitternd vor Angst, dort seinen Namen zu finden.
Sein Arbeitszimmer, das Telefon, die zahllosen Papiere — alles das schien Kortschenko vergessen zu haben; sowie der Pfiff der Sirene ertönte, erschien er in der Lokomotiv-Montagewerkstatt und verließ sie erst am Abend wieder. Er prüfte selbst jeden einzelnen Maschinenteil, ließ nicht den geringsten Fehler durchgehen, arbeitete selbst voller Leidenschaft und Hingabe. Die Kälte der Entfremdung in den Augen der Arbeiter schmolz allmählich, das drückende Schweigen der ersten Tage wurde von dem einfachen, derb-freundschaftlichen Ton verdrängt, der ein Beweis gegenseitigen Vertrauens ist. Der blaue Arbeitskittel glich ihn seiner Umgebung an — gleichzeitig aber fühlte Kortschenko, dass er, mit der Masse vereinigt, sich nicht etwa in ihr verlor, sondern vielmehr einen neuen Stützpunkt in ihr gewann.
Mitunter fühlte Kortschenko, dass die Arbeiter mit den Verfügungen, die von oben, aus der Fabrikleitung kamen, unzufrieden waren, und er musste im Büro anrufen und manches abändern. Wenn aber die Arbeiter davon sprachen, dass die Entlassung Strachows zu Unrecht erfolgt sei, schwieg er oder brachte das Gespräch auf ein anderes Thema.
„Pjotr Petrowitsch!" Der Werkmeister trat zu ihm heran. „Was sollen wir mit der Exzenterstange machen? Sie ist zu kurz, und wenn wir auf eine neue warten sollen, wird die ganze Montage verzögert."
Kortschenko zerbrach sich lange den Kopf, was zu tun sei, um einen Ausweg zu finden, aber es wollte ihm nichts einfallen.
„So etwas ist auch früher mitunter vorgekommen, aber dann hat Strachow die Keile ein bisschen nachhobeln lassen. Das Nachhobeln ist weiter keine Kunst, aber die Berechnungen dazu kann nicht jeder machen. Und das schlimmste ist: die Arbeit wird aufgehalten."
Da schickte Kortschenko Strachow einen Zettel in die Wohnung und bat ihn, in die Fabrik zu kommen. Strachow kam und trat ruhig und sachlich an die Lokomotive, als ob nichts geschehen sei. Er ließ die Triebräder in die richtige Lage drehen, schrieb ein paar Zahlen auf seinen Notizblock und reichte dem Meister die fertige Berechnungsformel.
„Dreieinhalb Millimeter abhobeln!"
„Andrej Sergejewitsch, einen Moment." Irgendein Arbeiter packte Strachow beim Ärmel und zog ihn in eine Ecke der Werkstatt: „Seien Sie mir nicht böse... Ich war etwas voreilig mit Ihrer Entlassung... Arbeiten wir wieder zusammen — so wie früher... "
Erstaunt blickte Strachow dem Arbeiter ins Gesicht und lachte plötzlich laut auf.
„Pjotr Petrowitsch! Was ist denn mit Ihnen los?! Ich habe Sie gar nicht erkannt!"
„Na schön, das macht nichts. Wenn Sie mich nur jetzt erkennen", lachte Kortschenko. „Ich habe mich selbst erst in diesen Tagen richtig erkannt. Das Leben lehrt uns manches, Andrej Sergejewitsch... " Kortschenko stieß einen tiefen Seufzer aus, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich noch mehr.
„Ja, das Leben lehrt uns manches...", bestätigte Strachow nachdenklich. „Und das ist gut so, Pjotr Petrowitsch! Sehr gut! Sehr gut!" Und diese Worte leise wiederholend, trat er an die Lokomotive und betrachtete aufmerksam den funkelnden Mechanismus.
Der Zusammenbau der Lokomotive „SU 10505" ging seiner Vollendung entgegen, aber die Spannung in den Abteilungen wurde immer größer.
Viele Stürme waren über die alte Fabrik in ihrem langen Leben dahingebraust. Mehr als einmal pfiff der Sturm des Auf-, Stands über ihre hohen Dächer und ließ die rote Fahne flattern Viele Menschenleben sind durch ihre Tore geschritten, auf die Schlachtfelder hinaus, um niemals wieder zurückzukehren.
Aber heute hatte etwas Neues, etwas Niegesehenes die Werkhallen betreten, etwas, das die Menschen stärker erschütterte als alle die Stürme der grausamen Jahrzehnte. Der Himmel war wolkenlos, hell strahlte die Augustsonne. Ruhig schickten die hohen Essen ihren Rauch zum Himmel; die Lokomotiven pfiffen, die schweren Kräne fauchten, die Erde stöhnte unter den Schlägen der Hämmer und Pressen; die Luft war geschwängert von Ruß, von Öl- und Petroleumgeruch, in den Werkstätten mischte sich der blaue Rauch mit dem zischenden Dampf und der heißen Ausdünstung der Menschen. Als Andrjuschetsdikin aber die Arbeiter betrachtete, da sah er: Auge, Hände, Füße, der ganze Organismus — alles war in fieberhafter Bewegung. Er merkte, wie Titytsch, der eine Form fertig hatte, lange den gelben Abdruck streichelte, mit dem Putzhaken darin herumstocherte und, als ob er sich auf seine eigenen Augen nicht verlassen wollte, Andrjuschetschkin heranrief.
„Sieh mal her, Grigori, es scheint alles in Ordnung zu sein, nicht? Aber ich fühl' mich doch nicht ganz sicher... "
Andrjuschetschkin wunderte sich, dass Titytsch, der sein Handwerk in- und auswendig kannte, ihn um Rat fragte.
„Ich bin Schweißer, Titytsch. Vom Formen verstehe ich nicht viel."
Titytsch schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Und du willst Sekretär sein! Du musst alles verstehen Du musst in jeder Sache Bescheid wissen, vielleicht habe ich hier etwas falsch gemacht? Wer wird dafür verantwortlich sein?"
„Der Meister muss verbessern, wen etwas nicht richtig ist..."
„Der Mei—ster!" sagte Titysch verächtlich. „Soll ich womöglich noch den Antonytsch herholen, was? Ach, das ist ein Leben!"
Er ließ sich auf die Knie nieder, blinzelte mit den trüben blauen Augen und holte mit dem Häkchen einen kleinen Klumpen Formsand heraus, den Andrjuschetschkin nicht bemerkt hatte.
„Auf diesem Rad wird vielleicht Kalinin fahren, und du sagst: ,Davon verstehe ich nichts... ' Auf diesem Rad, Bruder, eilt unsere Macht vorwärts, und du sagst: ,Davon versteh' ich nichts'!" brummte der Alte.
Sorgfältig glättete er die Form mit seinen schwarzen, rauen Händen, krächzte, in tiefes Nachdenken versunken, vor sich hin und zeichnete mit irgendwelchen Stäbchen und Häkchen, die Andrjuschetschkin völlig unbekannt waren, alle möglichen Muster in den feuchten graugelben Sand.
„Komischer Alter", dachte er und sah zu, wie die Hände Titytschs mit einer liebevollen Bewegung den feuchten Sand streichelten.
„Wenn das nun aber gerade das Rad ist..." Titytsch sprach den Gedanken nicht bis zu Ende aus, als jage ihm diese Annahme einen Schreck ein. „Was dann, he? Dann geht Titytsch hin und sagt allen Leuten: ,Ich verstehe nichts davon, Genossen.' Eine Scha—n—de!" Missbilligend blickte er auf seine Hände, sah dann Andrjuschetschkin an und seufzte: „Siehst du, so ist das Leben! Wie viel Jahre sitze ich da nun schon beim Formen! Ich hab' ehrlich gearbeitet, da lässt sich nichts sagen. Aber, Grigori, dabei hab' ich doch immer gewartet. Jetzt wird die Quälerei endlich bald zu Ende sein — dachte ich. Eine amerikanische Gießerei werden wir bauen, ich werde an der Maschine arbeiten... Und jetzt? Es heißt doch, es ist ein Telegramm gekommen, mit der neuen Fabrik ist es zunächst mal nichts. Da hast du nun deine amerikanische Gießerei!" Tief bedrückt schüttelte Titytsch den Kopf. „Die Sache haben wir uns versaut, Grigori. Als ob uns einer die Augen zugebunden hätte. Eine Schan—de! Siehst du, so sehen die Äpfel aus, wenn sie reif sind."
Andrjuschetschkin musste an jenen Maimorgen denken, an den Tau auf den blühenden Obstbäumen und an den vorwurfsvollen Blick Titytschs, als er den abgerissenen Apfelblüten-2weig in seiner Hand sah. Ja — damals waren es noch Blüten, heute aber sind die Äpfel reif. Und diese Äpfel sind bitter wie Wermut.
Der Alte hatte recht gehabt damals; aber er, der Zellensekretär, den der Frühling bezaubert hatte, hatte seine Worte achtlos überhört. Das Gefühl seiner Schuld drückte ihn; er wandte sich ab.
Er sah die alten, wohlbekannten Gesichter der Arbeiter und bemerkte in ihnen völlig neue, unbekannte Züge. Sogar dieser Schwätzer Wassja Trussow hatte die Brauen nachdenklich zusammengezogen, er sah düster aus wie der alte Staub der Martinöfen. Schon seit ein paar Tagen ging er schweigend herum und sah niemand an, fluchte sogar nicht einmal mehr. „Jedenfalls hat er gesoffen und nun fühlt er sich dementsprechend", dachte Andrjuschetschkin. Trübe schaute Trussow zu ihm hin.
„Was starrst du mich so an mit deinen Glotzaugen? Kannst du nicht das Maul aufmachen, wie ein vernünftiger Mensch?... Statt dessen läufst du 'rum wie der malacholnische Großvater und trampelst einem auf der Seele herum. Was willst du von mir?" fragte er Andrjuschetschkin mit leiser, vorwurfsvoller Bassstimme.
„Ach, ist das alles langweilig geworden, Wassja", lachte Andrjuschetschkin. „Früher, da hast du manchmal so losgelegt, dass es nur so durch alle Etagen gedröhnt hat, und allen hat das Spaß gemacht. Aber jetzt ist dir scheint's die Zunge abgebrochen... "
„Vielleicht ist etwas Wichtigeres abgebrochen als bloß die Zunge... Ach! Alles kaputt machen möchte man vor lauter Kummer!" rief Trussow verzweifelt, packte den Drucklufthammer und ließ ihn mit solcher Macht niedersausen, dass Andrjuschetschkin sich die Ohren zuhielt.
Ü berall sah Andrjuschetschkin Unruhe und Grübeln. Schweigend wurde hier die gestrige Versammlung fortgesetzt. Und die ganze Fabrik nahm an der Diskussion teil, obgleich man keine Reden hörte. Ein jeder war Redner und Zuhörer im Versammlungssaal seines Herzens. Platow erteilte jedem das Wort und beschränkte niemand in der Zeit; man kann doch die Redezeit von Menschen, die ihr ganzes Leben erörtern, nicht auf ein paar Minuten beschränken. Mussten sie doch ihr Leben nun herabnehmen vom Fundament vergangener Jahre, mussten sie doch jeden einzelnen Balken ihres Lebens prüfen, denn verhängnisvolle Risse durchzogen es von oben bis unten, bis tief in die Grundmauern hinein. Beharrlich starrten die Menschen auf ihre Maschinen, auf die vor ihnen liegenden wohlbekannten Maschinenteile, als ob sie eine heimliche Drohung suchten, die in ihnen verborgen sein konnte. Keine Schramme, nicht der kleinste Riss entging ihrem Auge, sie berieten darüber miteinander, liefen dann zum Meister, und der Meister betrachtete aufmerksam die Metallteile, aus denen die Lokomotive geboren werden sollte.
In allen Abteilungen gerieten Arbeiter und Meister aneinander. Zornig brummten die Maschinen, sie trugen eine Belastung, die nicht vorgesehen war, und diese Belastung wurde zu dem stummen Reifezeugnis der Klasse, von dem Platow gesprochen hatte: die Kraft der Begeisterung und des Willens, die das aufgerüttelte Fabrikkollektiv erfüllte, riss die Belastungsgrenzen der Maschinen, die vom Tage ihrer Geburt an bestanden hatten, um — an diesem Tage übertrafen die Maschinen, von den Händen der nachdenklichen Arbeiter geleitet, jede Norm. An diesem Tage zählte Platow nur acht Prozent Ausschuß, und lächelnd traute er dieser Ziffer. Stolz auf sich selbst und auf die Menschen, mit denen zusammen er alle diese Erschütterungen durchgemacht, ging er durch die Martinabteilung. Von überallher, von den nachdenklich erregten Gesichtern, aus dem Donner des Stahls und aus den Stimmen der Menschen strömte ihm Kraft zu, und zum ersten Mal in dieser ganzen Zeit fühlte er sich als Ingenieur unter diesen Menschen, die ihm das Recht auf diesen Titel schweigend zuerkannten.
„Du siehst so froh aus, Senja...", sagte Titytsch, blinzelte mit den Augen und schaute seinem ehemaligen Lehrjungen aufmerksam in das Gesicht mit der breiten Nase.
„Warum soll ich nicht froh sein? Ich bin ja noch jung, Titytsch!" lachte Platow.
„Jung, aber gescheit", sagte Titytsch stolz. „Bist du klug geworden aus der Zeichnung von Mochow, Senja?" setzte er dann gleich wieder unruhig hinzu.
„So ziemlich. Die Zeichnung ist falsch. Durch diese Art, die Achsen abzudrehen, wird die Ermüdung des Metalls künstlich hervorgerufen. Das ist das Werk von klugen und geübten Händen. Damit werden wir ohne Moskau nicht fertig."
„Wer steckt denn nun da dahinter?"
„Das ist eine schwierige Sache, Titytsch. Die sich damit zu befassen haben, werden's schon herausfinden... "
„Auf die Art, Senja... auf diese Art sind wohl alle unsere Lokomotiven zweifelhaft?"
„Ja, leider. Darum war das vielleicht nicht die letzte Katastrophe."
„So... so...", krächzte Titytsch. „Da sind wir ja weit gekommen, das muss man sagen. Direkt die Lebensader haben sie durchschnitten. Mit der neuen Fabrik ist es nichts... Aber das Schlimmste, Senja, das Schlimmste ist die Schande vor der ganzen Sowjetunion! Ach, die Pest soll sie holen! Direkt die Beine haben sie uns abgeschlagen", sagte Titytsch ganz gebrochen.
„Was für Beine denn, Titytsch?"
„Na — auf diesen Achsen da reist doch das ganze Land... Auf diesen Beinen eilt es vorwärts! Ohne Beine sollen wir also sein! Aber daraus wird nichts! Es wird schon rollen, mein Rad! Bahn frei! Oder es zermalmt euch, zum Teufel!"
Titytschs ganzer dürrer, sehniger Körper zitterte und er drohte irgend jemand mit seiner Faust, die aussah wie schwarzes Eisen.
Beruhigt und nachdenklich fuhr er fort:
„Die Hauptsache ist jetzt, Senja, dass wir uns fest zusammenschließen. Sonst sieht nämlich jeder bloß so weit seine eigene Nase reicht, und das ist nicht weit. Wir sind es nun mal so gewohnt, dass jeder vor sich hinmurkst, und was beim Nachbar geschieht, das ist ihm ganz gleich. Als ob jeder in seinem Stall sitzt, und was nebenan geschieht, davon merkt er nichts... Jetzt aber heißt's die Augen aufhalten!" Titytsch schlug die Lastkette an den Formkasten, der Kran kreischte auf, und der schwere runde Formkasten hob sich leicht von der Erde.
Da kam Sharow herbeigelaufen.
„Genosse Platow, hast du meine Bitte vergessen?"
„Nein, Genosse Sharow, das hab' ich nicht. Du wirst von nun an Schweißer sein. Geh' zu Wekschin, der wird dir alles erklären. Aber dass du mir nicht mehr trinkst, Sharow!"
„Genosse Platow! Semjon Petrowitsch! Ich... ich... "
Verlegen stockte Sharow und rannte spornstreichs ans Ende der Abteilung, wo die blaugrünen Funken der Schweißapparate sprühten.
Sharow trat an das Amperemeter und beobachtete schweigend das nervöse Zucken des Zeigers, und ebenso hastig wie dieser Zeiger liefen seine aufgeregten, erstaunten Augen umher. Dann ahmte er die Bewegung Andrjuschetschkins nach, zog eine dunkle Maske vor das Gesicht und setzte sich vor die Schweißplatte — endlich, endlich hatte er eine Maschine in die Hand bekommen! Schon lange hatte er im stillen die geheimnisvollen Zeiger beobachtet, dem Brummen des Transformators gelauscht hatte von weitem mit zusammengekniffenen Augen die grünvioletten Funkengarben bewundert, bis er schließlich, bezwungen von der Macht der Elektrizität, Platow gebeten hatte, ihn Schweißer werden zu lassen. Andrjuschetschkin erklärte ihm nun, wie er die Elektrode zu halten hatte, was Lichtbogen heißt und wie der Apparat eingestellt wird. Alles schien ganz einfach. Aber sobald Sharow die Maske über das Gesicht gezogen hatte, versank er in dichte Finsternis — als sähe er in einer dunklen Oktobernacht zu den trüben Fenstern seines Häuschens hinaus. Er hatte sofort die Fähigkeit verloren, etwas mit seinen Händen anzufangen — sie schienen weit von ihm entfernt und wollten sich seinem Willen nicht unterordnen. Er öffnete die Maske ein wenig, führte die Elektrode an die Schweißstelle, und sofort fuhr eine lodernde, knatternde Flamme in die Höhe. Geblendet und erschreckt warf er das Kabel beiseite und schob mit zitternder Hand die Maske hoch.
„Na, hast du ordentlich eins abgekriegt?" lachte Sergej Wekschin. und blickte Sharow spöttisch an, der ganz entmutigt vor sich hin starrte. „Mensch, du willst Metallarbeiter sein! Du Kuhschwanz! Du wirst dir die Augen verbrennen ... "
„Ich bin doch bloß mit dem Strom rangekommen, und gleich ging's so los!" Sharow rieb sich mit der Hand die ganz geblendeten Augen.
„,Rangekommen! Rangekommen!' äffte ihm Sergej verächtlich nach. „Du wirst dir noch die Fresse verbrennen, du Missgeburt ! Setz dich hin — ich werde dir zeigen, wie du's machen musst."
Sharow versank wieder in Finsternis. Wekschin riss mit Gewalt seine Hand irgendwohin, plötzlich zischte die Dunkelheit und eine kalte rote Flamme züngelte auf — sie sprang auf die rechte Seite hinüber und ließ einen holprigen Weg hinter sich zurück.
„Deine Hand muss ganz sicher sein. Du darfst die Elektrode nicht ganz dicht an das Metall heranhalten. Der Bogen muss gleichmäßig sein!" kommandierte Sergej, und gehorsam rückte Sharow seine vor Aufregung bleischwere Hand weiter.
„Jetzt hab' ich's verstanden! Ich hab's verstanden!" rief Sharow aufgeregt. „Jetzt werd' ich hier bleiben! Und niemand darf mich wegreißen!" Er tanzte vor lauter Vergnügen um den Apparat, fuchtelte erregt mit seinen langen Affenarmen herum und zog stolz die Maske vors Gesicht.
Andrjuschetschkin schob die Maske zurück. Aus seinen wachsamen Augen sprach tiefe Nachdenklichkeit. Er fühlte, dass sein Herz anfing, rascher zu schlagen, und sein ganzer Organismus wurde von leidenschaftlicher Ungeduld ergriffen. Es drängte ihn etwas Großes, Wichtiges zu vollbringen. Er betrachtete seine Umgebung, die Gesichter der Arbeiter, hörte aufmerksam auf den Gesang des Stahls, und sein Herz öffnete sich unter dem Druck dieser Töne. Er sah, dass in dieser morschen Fabrik, die zusammen mit ihren Tausenden von Arbeitern, von Gießern, Schweißern und Drehern gealtert war, heute ein neues, junges Leben pulsierte; die Arbeiter putzten und wuschen die letzten Rostflecken weg, die sie noch entdeckt hatten; die Gedanken an ihr eigenes Wohl und Wehe, die Angst um die Zukunft der Fabrik, die Hoffnung auf moderne Automaten — alles das war jetzt in den Hintergrund gedrängt von der Sorge um das ganze Land, um die Zukunft der Klasse, um alles das, was mit Entbehrung, Hunger und Blut erreicht worden war. Alle waren beherrscht von einem brennenden Verantwortungsgefühl für die Zukunft der Republik. Die Ereignisse hatten ihren Horizont erweitert und sie sahen das, was gestern noch der Alltag vor ihren Augen verborgen gehalten hatte.
Niemand erzählte dem anderen etwas von diesen Gefühlen, aber Andrjuschetschkin las sie im heißen Glanz der Augen, in den eiligen Bewegungen der Hände; mit hellsichtigem Blick erfasste er die Gedanken der Gießer, der Dreher, all dieser Lokomotivarbeiter, die die schweren Ereignisse wachgerüttelt hatten. Und das alles drang machtvoll in sein eigenes Herz ein. Es klopfte aufgeregt und seine Lippen bewegten sich... sie fanden den gesuchten Rhythmus in dem Donnern des Stahls; es war der seltene, zündende Augenblick gekommen, in dem die Saiten seines Herzens klingend antworteten auf den Gesang des ihn umgebenden Lebens — der Rhythmus wurde geboren. In der Furcht, der kostbare Augenblick der schöpferischen Begeisterung könne ihm entgleiten, griff er zum Bleistift und warf mit hastigen Buchstaben Worte aufs Papier — im Donnern und Krachen des Metalls, im Schein der grünvioletten elektrischen Funken wurde der Gesang von der alten, verjüngten Fabrik geboren:
Gebrechliche alte Fabrik,
Schwarze geborstene Mauern,
Ein neues Lied heute singt
Deine helle Sirene.
Gemeinsam mit allen, mit mir,
Mit dem ganzen ringenden Lande
Strebst du, die Pulse gespannt,
Kämpfend die Höhe hinan.
Vergangenes lastet auf dir,
Schmutzig sind tausende Fäuste,
Doch du, alter Riese, du schlägst
Donnernde Funkengarben.
Krachend dringen die Funken,
Dreher, bis in dein Herz,
Tragen die purpurne Flamme
Hinüber nach Ost und nach West.
Triff stärker, mein Hammer, vernichte
Mit deinem Schlage den Feind!
Verkünde dem ganzen Erdball:
Jung ist die siegreiche Klasse!
Andrjuschetschkin riss seinen Blick von dem Notizblock los und schaute sich in der Werkhalle um. Ganz anders sah alles aus, kaum wieder zu erkennen. Der sonst so dreiste Trussow blickte ängstlich und schüchtern um sich, als sähe er irgend etwas Unerwartetes, das seinen widerspenstigen Geist zähmte. Sharow näherte vorsichtig die Elektrode dem Riss im Achslager und zog die Hand heftig zurück, als habe er sich verbrannt — er war plötzlich eingehüllt in violette Blitze, in leichten blauen Rauch, unter der Maske hervor rannen schwarze Schweißtropfen über sein Gesicht, die sonst stets graubleichen Wangen röteten sich plötzlich — sein Herz war angefüllt von glühender Bewunderung für diese kraftvolle Macht des elektrischen Stroms. Er musste an das Märchen vom wunderbaren Schneiderlein denken das die Wunden des menschlichen Körpers zunähen kann; aber die Elektrode, die er in der Hand hielt, übertraf mit ihrer Kraft die Zaubernadel des wunderbaren Schneiderleins — sie nähte in einem einzigen Augenblick, ohne Nadel und Faden, die Risse und Lunker des Metalls zusammen mit einer Naht von Ewigkeitsdauer, die niemals aufging.
Sergej Wekschin ließ häufig die Arbeit ruhen und trat zu Sharow.
„Du hälst ja die Elektrode nicht richtig, du Esel!" lachte er, nachdem er eine Weile die hastigen Bewegungen Sharows beobachtet hatte.
„Ich hab’s schon verstanden, Sergej. Gleich... ", beeilte sich Sharow und zuckte bei dem unerwarteten Aufflammen der grellen Blitze zurück. Lächelnd beobachtete ihn Platow von weitem.
Plötzlich wurde das Donnern und Krachen übertönt von einer Stimme, die aus Leibeskräften schrie:
„Die Wei—ei—ehe! Stell' die Wei—ei—ehe um!"
Dieser ungeduldige, gebieterische Ruf erinnerte Platow an jenen Tag, an dem er zum ersten Mal die Kraft verspürt hatte, die sich ihm entgegenstellte, die in den Falten um die kalten, verächtlich gekrümmten Lippen Kraiskis verborgen war, — die Kraft des nie verlöschenden Hasses. Diese Kraft hatte ihn langsam umzingelt, hatte einen festen Ring um ihn geschlossen, wie die Jäger um die Höhle des Bären. Sie war ihm aus den wütenden Augen Wekschins entgegengesprüht, hatte sein Herz in Beschämung und Erniedrigung zusammengepresst. Er aber hatte die Zähne aufeinander gebissen...
Platow geht über den Hof und schaut zu den offen stehenden Werkstattoren hinein, die schwarzen Schlünden ähneln. Und wohin sein Blick fällt, überall sieht er Tausende von Händen an den Maschinen arbeiten, sieht er Tausende von Augen, aus denen ein freudiger, nie gesehener Glanz strahlt, hört er das Klopfen von Tausenden von Herzen, sieht er die Gedanken dieser Tausende fieberhaft hasten. Und das gilt der Lokomotive.
Eine nie gekannte Liebe zur Arbeit wird hier geboren, sie ist den Menschen ins Herz gedrungen und hat den jahrtausendealten Hass auf die schwere, freudlose, verfluchte Arbeit daraus verdrängt, und gleichzeitig ist in diesen Herzen der Hass auf jene eingezogen, die das Werk dieser Arbeiterhände zerstören wollten.
Und Platow ging durch die ganze Fabrik, von Abteilung zu Abteilung, er blickte prüfend auf die Tausende von Gesichtern und fühlte immer deutlicher die junge Kraft, die hier vor seinen Augen geboren wurde. Die Menschen kuppelten sich aneinander wie Lokomotivteile, sie vereinigten sich zu einem tausendköpfigen Kollektiv, das überströmte von Liebe zur Lokomotive und von Hass auf den Feind Diese Gefühle beschleunigten die Bewegung der Hände und den Schlag der Herzen, schärften die Wachsamkeit der Augen bis aufs äußerste; und der Blick der jungen Fabriklehrlinge wurde hart und strenger, als es ihrer Jugend zukam.
„Heda — pack zu!"
„Angefasst, Jungens, was steht ihr denn da und glotzt!"
„Holt mal den Bulawkin her!"
Bulawkin kam, drehte unruhig den Maschinenteil hin und her, schnäuzte sich; immer mehr Misstrauische sammelten sich um ihn.
„Aha!"
„Da haben wir den Kater mal richtig am Schwanz gepackt."
Bulawkin bemühte sich zu beweisen, dass alles in Ordnung sei und nichts weiter als Schikane vorliege; aber man glaubte ihm nicht, sondern lief zu Sorin, und dieser rannte schweißtriefend durch die Abteilung, die von Unruhe und Mißtrauen erfüllt war.
An dem Fabriktor, das auf die Hauptstraße hinausging, pfiff langgezogen und laut eine Lokomotive — sie wollte hinaus in die Freiheit, ihre erste zaghafte Probefahrt antreten.
Platow seufzte erleichtert, als er den nackten Lokomotivkörper, dem der glänzende Lack noch fehlte, betrachtete. Offen lag der Körper da, nichts an ihm blieb verborgen, und die prüfenden Augen liebkosten beruhigt jede Schraube, jede Niete. Die Flammen in der Feuerkiste übergossen das Gesicht des Lokomotivführers mit glutrotem Schein.
Mit singendem Knarren öffnete sich das Fabriktor und, eine dichte Dampfwolke ausstoßend, fuhr die Lokomotive den einladend winkenden, hellgrünen Lichtern des Signals entgegen.
2
Am Ende des zweiten Tages, den Kortschenko in angestrengter Arbeit in der Abteilung verbracht hatte, hörte er todmüde, aber von der allgemeinen Begeisterung ergriffen, im Gehen die Meldung Mochows über die Bearbeitung der Lokomotivteile an.
„Höchstens mit den Kolben kann es einen Aufenthalt geben, sonst geht alles so fix, Pjotr Petrowitsch, dass einem geradezu die Puste wegbleibt. So alt ich bin, hab' ich so was nicht gesehen. Einmal ist mir folgendes passiert: ich lag und schlief, da plötzlich merke ich: es brennt! Ich stürze auf die Tür zu, die Tür aber — eine Schraube soll ihr... — also die Tür geht nicht auf, rückt und rührt sich nicht! Wo ich da die Kraft hernahm — ich weiß es nicht, aber ich habe die schwere Eichentür — das Haus ist nämlich noch vom Großvater — direkt aus den Angeln gehoben! Der Mensch besitzt viel Kraft, Pjotr Petrowitsch, sie liegt nur im Innern fest, diese Kraft. Aber wenn sie hervorbricht, dann ist's wie im Frühling beim Hochwasser... alles schwemmt sie weg... "
Mochow, der sich in seiner Rolle als „Kommandeur" der Abteilung sehr gut gefiel, hatte sich die Ärmel aufgekrempelt und ließ die Muskeln spielen wie ein Jüngling.
„Noch nicht alle begreifen, worum es geht", entgegnete Kortschenko misstrauisch. „Da drüben rechts, da arbeitet so ein langer Kerl. Sieh mal, der rührt die Hände, als ob sie steif vor Kälte wären... so wird er nicht viel schaffen... "
„Das ist er ja gerade, der Ugolkow, der an den Kolben arbeitet. Ein gut klifizierter Dreher, aber er trödelt bei der Arbeit — nicht mitanzusehen! Der wird uns sicher noch aufhalten mit den Kolben", seufzte Mochow ärgerlich.
Als Ugolkow merkte, dass sich der Direktor ihm näherte, setzte er sich demonstrativ hin und zog seinen Tabakbeutel vor.
„Tag, Ugolkow!" Kortschenko nickte ihm zu. „Na, wie geht's mit der Arbeit?"
„Nicht hin, nicht her — gar nicht geht's", warf Ugolkow mürrisch hin.
„Warum denn nicht?"
„Darum nicht. Weil man sich für ein paar Kopeken hier abquälen muss. Ich arbeite mit festem Monatslohn und verdiene hundertfünfundzwanzig. Aber der da neben mir, der Faulpelz, der kriegt hundertvierzig raus. Woher soll da die Lust kommen, sich noch besonders anzustrengen?"
„Aber sieh dich doch mal um, wie überall gearbeitet wird! Das reine Hochwasser!" rief Mochow freudig, stolz darauf, dass er selbst mitgeholfen hatte, diesen Aufschwung zuwege zu bringen.
Ugolkow warf ihm einen spöttischen, verächtlichen Blick zu.
„Hochwasser ist einmal im Jahr — und auch dann dauert's nicht lange!"
„Das schwerste für den Gaul ist's, die Karre anzuziehen, nachher geht's schon von alleine", erwiderte Mochow hartnäckig.
„Der Teufel hat sich gerühmt, er würde ein Schwein scheren", erwiderte Ugolkow listig. „Und du weißt doch, was daraus geworden ist? ,Das Geschrei war groß, der Lärm war laut — aber Wolle, die hat keiner geschaut'!"
Da fühlte Mochow, dass er aus diesem Wortgefecht nicht als Sieger hervorgehen würde und sagte Ugolkow direkt ins Gesicht:
,Genug mit deiner Faulheit, Ugolkow, wir brauchen Kolben. Streng' dich mal etwas an."
„Das kannst du selber tun, wenn du Lust dazu hast", antwortete Ugolkow und schaltete absichtlich langsam die Maschine ein.
Kortschenko hatte sich nicht in das Gespräch eingemischt, sondern nur aufmerksam das Gesicht Ugolkows betrachtet, dem der Stempel hartnäckigen Trotzes aufgeprägt war. Mitten in dieser angespannten heißen Atmosphäre der Abteilung entströmte der ganzen Gestalt Ugolkows eine unerträgliche Kälte. So ist es, wenn im Mai die Sonne heiß vom Himmel strahlt und in der Luft der Geruch der warmen Erde hängt, während in Abgründen und Schluchten noch wochenlang der Schnee liegen bleibt und in unverschämt glitzernder Weise funkelt.
Der ärgerliche Mochow führte den Direktor beiseite.
„Ein ausgezeichneter Arbeiter. Er kennt seine Sache wie kein anderer — aber es ist ihm auf keine Weise beizukommen — eine Schraube soll ihm aus dem Mund wachsen! Jeder Mensch hat sozusagen eine Sprungfeder, aber bei dem scheint der ganze Mechanismus eingefroren zu sein. Verdammter Kerl!"
Kortschenko trat an etwa ein Dutzend Maschinen heran, durch Unterhaltungen mit den Arbeitern wollte er ihre Stimmung kennen lernen; und nirgends wurde Ugolkow verurteilt, manche Arbeiter äußerten sogar dieselbe Ansicht. Der Aufschwung war ganz offensichtlich, die meisten arbeiteten mit verdoppelter Energie; trotzdem aber sah Kortschenko: fast jeder war im Grunde seiner Seele ein Ugolkow.
Ohne ins Kontor zu gehen, begab sich Kortschenko direkt ins Raikom. Wartanjan begrüßte ihn mit einem kräftigen freundschaftlichen Händedruck.
„Nun — unsere Sachen stehen gut. Bald werden wir über den Berg sein, Kortschenko! Ich bin sehr froh!" Und mit vor Freude blitzenden Augen schüttelte er Kortschenkos Hand.
„Ja, es geht alles ganz gut; aber ich fürchte, dass dies nur ein vorübergehender Aufschwung ist, den die Ereignisse der letzten Tage hervorgerufen haben. Wenn erst die Wunde etwas vernarbt ist, wird alles wieder so sein wie früher... "
„Was sagst du da, Kortschenko? So etwas sagen, dass heißt das Wesen der neuen Etappe im Wachstum der Arbeiterklasse nicht verstehen!" fuhr Wartanjan auf.
Da erzählte Kortschenko, was er in den Abteilungen gehört und gesehen hatte.
„Ach so", lachte Wartanjan spöttisch, „jetzt ist mir alles klar! Das ist also der Nutzen, den dir deine Arbeit in der Abteilung gebracht hat... Sehr schade! Hast du wirklich nicht erkannt, dass Ugolkow den gestrigen Tag des Proletariats darstellt? Und seinen heutigen Tag die Enthusiasten der selbstlosen Arbeit bilden, die ihre Energie und ihre Kraft in den Dienst des Sozialismus stellen?"
Kortschenko rieb sich nervös die kurzen, spärlichen Bartstoppeln.
„Natürlich gehört Ugolkow nicht zu den Fortgeschrittenen, das sehe ich selbst; aber wenn, du sagst, dass er den ,gestrigen Tag des Proletariats' darstellt, Wartanjan, da bist du etwas voreilig... Glaubst du wirklich, diese Ugolkows sind nur vereinzelt in unseren Betrieben vertreten? Hast du mir nicht einmal selbst gesagt, dass die Bauern bald in Millionen ihren Einzug in unsere Fabriken halten werden, dass wir sie erziehen müssen, dass die Fabriken zu sozialistischen Universitäten für diese Bauern werden müssen? Vergiss nicht, dass diese Millionen, die da kommen werden, lauter Ugolkows sind; und dass wir zu ihren Herzen einen Weg finden müssen... "
„Ja, das habe ich gesagt, und ich bin bereit es zu wiederholen... "
„Glaubst du etwa, dass diese Millionen Ugolkows gleich zu Enthusiasten werden? Dass eine leidenschaftliche Ansprache von dir in der ,Roten Ecke' ausreichen wird, um Enthusiasten aus ihnen zu machen? Unsinn, Wartanjan, ein paar Tage dauert solch ein Aufschwung, und dann kühlen sie wieder ab... Hochwasser gibt's nur einmal im Jahr, und auch dann dauert's nicht lange!" Kortschenko bekräftigte seinen Gedanken mit diesem Vergleich, als ihm aber dann einfiel, dass er von Ugolkow stammte, schwieg er verlegen und wandte den Blick ab, dem Fenster zu.
Verwundert blickte Wartanjan auf den Direktor, betrachtete sein bestaubtes Gesicht, den zerdrückten blauen Arbeitskittel, und plötzlich stieg ein Gefühl scharfer Feindseligkeit diesem für Kortschenko ungewöhnlichen Anzug gegenüber in ihm auf. „Ach, er ist hoffnungslos... Er hat schon die Theorie fertig... ,Hochwasser gibt's einmal im Jahr'... Was für ein Mißtrauen in die Kraft der Arbeiterklasse! Wie leicht gerät er unter fremde Einflüsse! Gestern hat er den Spezialisten gegenüber kapituliert, heute kapituliert er vor den Ugolkows...", dachte Wartanjan, und seine Brauen zogen sich finster zusammen.
„Ü brigens, was ich sagen wollte... Mir scheint, es ist Zeit, dass du die Abteilung wieder verlässt und zu deiner eigentlichen Funktion zurückkehrst. Der Direktor muss weiter sehen, du aber lässt dir deinen Gesichtskreis durch die vier Wände der Abteilung einengen und betrachtest schon die ganze Welt durch diese Brille... Da rächt sich wieder dein kurzsichtiger Praktizismus, deine Verachtung der Theorie... "
„Ich brauche keine Theorien, ich brauche Kolben, verstehst du, Kolben!" Dunkelrot vor Zorn, sprang Kortschenko auf. „Ich brauche Kolben, die Ugolkow macht! Und dem Ugolkow kannst du mit der Theorie nicht beikommen, dem musst du den Rubel zeigen! Das ist seine Triebfeder!"
„Da reitest du ja schon wieder auf deinem alten Steckenpferd herum!" Wartanjan schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Soeben erst hat dich dieses Steckenpferd doch abgeworfen! Du bist ein ganz unverbesserlicher Mensch! Davon sprichst du jetzt, wo es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit selbstlose Arbeit gibt, wo zum ersten Mal in dem Arbeiter die bisher unbekannte Triebfeder des sozialistischen Bewusstseins zu wirken beginnt! Du willst das kapitalistische Prinzip der persönlichen materiellen Interessiertheit wieder aufleben lassen. Du willst den Wagen nach rückwärts ziehen, aber das wird dir niemand erlauben!"
Nervös lief Wartanjan im Zimmer auf und ab; es betrübte und ärgerte ihn, dass Kortschenko, der die Arbeit in der Abteilung so großzügig organisiert, der den richtigen Weg gefunden und seine Fehler eingesehen hatte, nun plötzlich wieder abschwenkte.
„Höre, Kortschenko, es ist in deinem eigenen Interesse, wenn du auf diese Frage nicht noch einmal zurückkommst."
Als Kortschenko Wartanjan verließ, dachte er immer noch an Ugolkow, aber nun mischte sich in seine Gedanken noch ein Gefühl des Ärgers, das das Gespräch mit Wartanjan ihn ihm geweckt hatte. Wartanjan bevormundete ihn wie einen kleinen Jungen, und Kortschenko sah ein, dass er das Recht dazu besaß.
„Vielleicht irre ich mich tatsächlich?" dachte er, als er die Straße überquerte.
„So spät von der Arbeit?" rief ihn plötzlich jemand von oben her an. Kortschenko hob den Kopf: auf dem Dach eines einstöckigen Häuschens saß Ugolkow und lächelte gutmütig auf ihn herab. Er hielt Schindeln in der Hand, die sich wie weiße Flicken auf das bucklige, verwitterte Dach legten. Den Mund hatte er voller Nägel. Mit einer flinken Bewegung zog er einen Nagel nach dem anderen zwischen seinen dicken Lippen heraus und trieb ihn mit drei Schlägen in das morsche Dach.
„Ich hab nach Feierabend schon mein ganzes Dach ausgebessert!" stieß er undeutlich zwischen den Zähnen hervor, denn die Nägel behinderten ihn am Sprechen; auf dem Dach klang sein dumpfer, eiliger Hammerschlag.
Ugolkow war nicht wieder zu erkennen: sein Gesicht glänzte zufrieden, er hantierte flott und geschickt mit dem Hammer, seine ganze Gestalt war in Bewegung, und Kortschenko wunderte sich, wie er sich auf dem steilen Dach halten konnte.
„Da ist sie ja, die Triebfeder!" dachte Kortschenko erfreut.
„Die große Kraft, die seit Jahrtausenden in den Menschen steckt und ihn antreibt — die Liebe zu der Arbeit für sich selbst. Die kennt keine Normen, keine körperliche Ermüdung, und wenn der Uhrzeiger noch so weit vorgerückt ist, sie kennt keine Grenze in ihrem Streben, ist unersättlich in ihrer Gier..."
„Ugolkow!" rief er in einem plötzlichen Entschluss. „Von morgen an kriegst du Stücklohn bezahlt. Soviel Kolben du machst, soviel bekommst du bezahlt."
Ugolkow hielt einen Augenblick in seiner Arbeit inne und rieb sich nachdenklich den Nasenrücken.
„Gut — bloß ohne alle eure Stoppuhren. Sonst steht so eine Maschine da hinter einem und rechnet jedes Niesen für eine Sekunde an."
„Gut", lachte Kortschenko. „Meinetwegen auch ohne Stoppuhr."
Kortschenko ging weiter, das geschäftige Hämmern in den Ohren. Als er den Beschluss gefasst hatte, gegen Wartanjan zu gehen, war er noch nicht fest davon überzeugt gewesen, dass er im Recht war, — aber er war sich dessen wohl bewusst, dass zwischen ihnen in allerkürzester Frist der Kampf entbrennen musste.
3
Die Straßen waren still und menschenleer, als Saizew nach zweimonatiger Unterbrechung wieder zur Arbeit ging.
Die tote Ruhe der breiten Straßen bedrückte ihn, sie erinnerte ihn durch den Gegensatz an die Zeit, als er zusammen mit Tausenden von Genossen nach der Fabrik geeilt war. Damals hatte er sich aufgelöst in dem allgemeinen Strom, hatte seine eigenen Schritte nicht gehört, die in dem Gleichschritt der anderen untergingen. Jetzt aber war sein Gang schwankend und unsicher, wie bei denen, die er verachtete, weil sie keine Liebe für die Maschine fühlten. Er empfand schwer die Einsamkeit und die Schlaffheit seines Körpers, der die gesunde Elastizität eingebüßt hatte. Und wütend auf sich selbst, auf seinen geschwächten Körper, ballte er seine Fäuste, die die Untätigkeit hatte blass und kraftlos werden lassen.
In der Dreherei herrschte eine erwartungsvolle Stille. Saizew lauschte auf das hallende Echo seiner Schritte und betrachtete die in Reihen aufgestellten Maschinen, als ob er sie 2um ersten Mal im Leben sähe. Er war allein mit dieser strengen, schweigenden Welt der Maschinen, die er in jeder Einzelheit, bis auf das letzte kleinste Schräubchen kannte. Die riesigen altmodischen Drehbänke grüßten ihn mit ihren breiten, gutmütigen Planscheiben. Die einfachen, unkomplizierten Drehbänke zwinkerten den nachdenklichen, soliden amerikanischen Banken zu, deren ausländische Instruktionsschilder aussahen, als ob sie sich mit einem Orden geschmückt hätten. Schwer, wie stählerne Türme standen die Karusselldrehbänke stolz auf ihren Fundamenten. Weiter hinten schimmerten durch das Spinngewebe der Riemen Hunderte von Maschinen, die auf das Anlaufen der Transmissionen harrten.
Von oben her drang durch das gläserne Dach die Sonne herein und entzündete in den schweren Öltropfen gelbgrüne Funken. Mit gierigen Nüstern zog Saizew den Geruch der Arbeit ein, den die Wände ausströmten, und gab sich wieder dieser Welt der Maschinen hin, die er verlassen hatte.
Ungeduldig trat er an seine Maschine, fest davon überzeugt, dass man sie während seiner Abwesenheit vernachlässigt und verschmutzt hatte. Er malte sich schon aus, mit welchem Vergnügen er sich an ihre Säuberung und Prüfung machen würde. Aber das, was er nun sah, wunderte ihn mehr als alles, was er in der letzten Zeit erlebt hatte: funkelnd und glänzend vor Sauberkeit stand seine Maschine da; an jedem einzelnen Teil konnte man erkennen, dass hier eine sorgfältige Hand gewaltet hatte — die Maschine sah aus wie neu. Saizew schaute in den Schrank hinein — auch hier herrschte größte Sauberkeit, alle Werkzeuge waren sauber und an ihrem Platz.
Aufgeregt bewegte er den Support, prüfte die Leitspindel — alles war in bester Ordnung. Ein durchdringendes Pfeifen ertönte, die Türen wurden auf- und zugeschlagen, die Arbeiter strömten in die Abteilung. Saizew drehte den Genossen den Rücken zu und hantierte verwirrt in dem Werkzeugschränkchen herum. Und als er das gewohnte Surren der Transmissionen über seinem Kopf hörte, schaltete er die Maschine ein: langsam begann sich die Achse zu drehen. Aber sofort schien es ihm als mische sich in das gleichmäßige Surren der Maschine ein anderer knarrender Klang. Er wechselte den Drehstahl, prüfte die Einspannung, aber das Knarren ließ sich noch immer vernehmen. Saizew wurde unruhig, hantierte mit dem Schlüssel herum, zog unnötigerweise den Support an, lockerte ihn wieder
— seine nervösen, unsicheren Bewegungen passten nicht zu dem gleichmäßigen Rhythmus der Maschine — er hatte das Gefühl für die Maschine verloren. Und je aufgeregter er herumwirtschaftete, um so schlechter arbeitete die Maschine, sie ordnete sich seinem Willen nicht unter: er hatte die Macht über die Maschine verloren, hatte die Macht über sich selbst, ja sogar über diese dummen Schrauben verloren, die seinem Schlüssel hartnäckigen Widerstand entgegensetzten.
Er schaltete die Maschine aus, und der Riemen klatschte kraftlos auf der Leerscheibe auf. Verlegen sah sich Saizew um
— er sah die Gestalt Mochows, sah Hunderte von Köpfen, die über ihre Arbeit gebeugt waren, und spürte zum ersten Mal nicht mehr die alte Kraft in sich, die ihn hoch über die ganze Abteilung erhoben hatte.
Mochow hatte die Brille auf die äußerste Nasenspitze heruntergezogen und den Kopf tief hinabgeneigt; er ließ kein Auge von der Maschine und von der Achse, als fürchte er, jeden Augenblick wieder Risse und Lunker zu entdecken. Aber die Oberfläche der Achse kam rein und glatt unter dem Drehstahl hervor.
Beruhigt riss er seinen Blick endlich einen Moment von der Maschine los. Der magere, finstere Saizew befestigte einen Radsatz auf der Drehbank und ließ sich dabei ganz außer Atem auf die Knie nieder.
„Mochow, hilf mal dem Saizew!" rief Olga aus der Kabine des Krans herunter.
Mochow ging gehorsam zu Saizew.
„Na, wollen's mal zusammen versuchen. Hoppla! So. Früher, da war's für dich allein eine Kleinigkeit. Sieh mal, wie's dich angestrengt hat, eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Du hättest noch ein, zwei Wochen zu Hause bleiben sollen, bis du wieder ganz auf dem Posten bist."
„Macht nichts! Es wird schon wieder werden. Ich hab' genug ausgeruht — manchmal dachte ich, dass ich wirklich verrückt werde." Saizew, den die Teilnahme Olgas und Mochows rührte, wurde lebhafter. „Ich erzähle da dem Doktor alles von den Zeichnungen, richtig der Reihe nach, wie's angefangen hat. Der aber sitzt da und lacht schlau in sich hinein: ,Wir wissen schon, was das für Zeichnungen sind bei den Verrückten!' Weißt du, Mochow, ich hätte ihm beinahe eine 'runtergehauen! Und weißt du, womit ich's ihm schließlich bewiesen habe? Das ist direkt zum Lachen! Da sitzt er eines Abends bei mir und unterhält sich mit mir. Auf einmal — knacks — geht das elektrische Licht aus! Er wurde ganz aufgeregt, bekam's mit der Angst, lief hierhin und dorthin — kannst dir ja vorstellen: in der Dunkelheit mit einem Verrückten allein im Zimmer, das ist gefährlich. Er schraubt die Birne hin und her, dreht den Schalter immer wieder herum, aber es hilft alles nichts, es bleibt dunkel. Und ich höre, er keucht ordentlich vor Angst. Wirklich, denke ich, man müsste ihm eins versetzen! Aber dann hab' ich zu ihm gesagt: ,Auf soviel Universitäten haben Sie sich nun rumgetrieben, aber die einfachste Sache, das verstehen Sie nicht!' Ich hab' ruhig die Sicherung herausgeschraubt, einen neuen Draht eingelegt und — bitte sehr: das Licht brennt! Er lachte direkt vor Freude, der Doktor, und dann sagte er: ,Ich sehe, dass Sie ein ganz normaler Mensch sind. Ein richtiger ,Psych' hätte mir einfach ein paar heruntergehauen. Gehen Sie nach Hause, Genosse!' sagt er. Schwach fühle ich mich noch sehr. Ich könnte mich hinlegen und liegen bleiben, wo ich geh' und stehe. Aber es hat mich in die Fabrik gezogen... Es geht heiß her jetzt in der
Fabrik..."
Saizew trat von der Maschine weg und setzte sich matt hin. Er betrachtete alles rund herum so genau, als sei er zum ersten Mal im Betrieb. Aber es war alles wie sonst. Da hing auch seine Jacke am Nagel, und ebenso appetitlich wie früher schaute die weiße Milchflasche aus der Tasche heraus.
„Ich hab' was durchgemacht, kann ich dir sagen... Da sitze ich in meiner Krankenstube und denke nach über alles das... Der Wärterin habe ich eine Zeitung gestohlen, und die lese ich nun.,... und fange an, am ganzen Körper zu zittern... aus der Gewerkschaft haben sie mich ausgeschlossen... Wie kann das sein? denke ich bei mir... Ich habe doch für meine Zeichnungen gekämpft, dafür, dass die Fabrik Nutzen haben soll. Und das habe ich nun davon! Die Fabrik setzt mich vor die Tür! Da ging mir alles im Kopf wirr durcheinander, als ob ich wirklich anfinge verrückt zu werden. Weshalb, denke ich, hat das Leben eine solche Wendung genommen?" Erregt erhob sich Saizew und schaltete die erste Geschwindigkeit ein. „Ich hatte mich isoliert... ich wollte mit dem Kopf durch die Wand rennen — statt dessen hätte ich die ganze Abteilung mobil machen müssen, dann wäre alles anders gekommen...", bekannte Saizew und senkte schuldbewusst den Kopf; ganz plötzlich war ihm klar geworden, dass er den Grund für seine Niederlage in der selbstsicheren Abgeschlossenheit seiner einsamen Gedanken zu suchen hatte, dass er sich selbst, wie eine Maschine, aus dem gemeinsamen Leben der Fabrik ausgeschaltet hatte, den Treibrieben seines Lebens hatte leer laufen lassen...
„Das heißt also, die ganze Geschichte kommt daher, weil du ein zu helles Köpfchen hast", lachte Mochow und trat rasch zu seiner Drehbank. Wie Korkenzieherlocken rannen die Stahlspäne unter dem Drehstahl hervor und erinnerten Mochow an Saschas Lockenkopf.
„Fünfzig Pud Stahl haben sie da herangeschafft", dachte er bei sich. Und Mochow stellte sich vor, wie diese fünfzig Fud Metall in den Martinofen gelangen, wie sie sich als feuriger Strom in die Kokille ergießen, wie sie sich — funkelnde Sterne nach allen Seiten spritzend — unter den wuchtigen Schlägen des Hammers krümmen, bis sie schließlich als bläulich schimmernde Achse auf dieser Bank liegen. Vielleicht ist das hier tatsächlich gerade die Triebachse Saschas?
Vorsichtig strich Mochow über den kühlen Stahl. Er nahm einen unter dem Drehstahl hervorrinnenden heißen Stahlspan in die Hand und musterte ihn unverwandt. Und er dachte, wie man Saschas kostbaren Stahl in acht nehmen könne, wie man es anfangen müsse, damit jedes Krümel dieses Metalls zu einem nützlichen Bestandteil des Lokomotivkörpers würde... Da dreht sich Saschas Achse vor ihm auf der Drehbank. Aber sie war schon in anderen Abteilungen gewesen, ehe sie zu ihm, Mochow, gekommen war: sie war gegossen, geschmiedet, markiert worden, Hunderte von Arbeitern, Werkmeistern, Ingenieuren hatten an ihr gearbeitet. Und vielleicht hatte irgend jemand, ein Borezki oder Kraiski, Saschas Achse im geheimen verdorben... vielleicht ist sie auf dem Wege zu seiner Maschine ebenfalls von dieser unheilbarem Krankheit — der Ermüdung des Metalls — ergriffen worden? Wie soll man es anstellen, um sie auf dem ganzen Wege vom Martinofen bis in die Lokomotive vor allen Beschädigungen zu schützen?
Mochow drehte die Stahlspäne nachdenklich in der Hand. Saizew sah das von wühlenden Gedanken erregte Gesicht Mochows, sah die zärtliche Bewegung von Mochows Händen und lächelte. Und Mochow wusste nicht, dass sich in diesem Moment die dritte der Saizewschen Kategorien, die allerhöchste Kategorie der Menschen, um eine Person bereichert hatte....
Erst der Pfiff der Sirene riss Mochow aus seinen Gedanken: und erinnerte ihn daran, dass er jetzt am Tore der ganzen Fabrik verantwortungsvolle Worte sagen müsste.
Auf der Tribüne stand Wartanjan und beobachtete, wie das Gewirr der menschlichen Körper, die die Tribüne mit einem festen Ring umgaben, immer dichter wurde, wie die Menge immer aufgeregter redete und gestikulierte.
Der Wind, der durch den Menschenhaufen fuhr, trieb Wartanjan einen schweren Geruch von Schmieröl, Petroleum und verbrannter Kohle in die Nase. Auf Wartanjan blickten alle diese schmierigen, von Schweiß und Erde beschmutzten Gesichter. Und Wartanjan, der wusste, dass alle diese Menschen hungrig und müde waren, dass er mit der Kraft und Zeit dieser Tausende von Menschen vorsichtig umgehen musste, beeilte sich und rief:
„Genossen!"
Die bekannte Stimme durchschnitt die Luft, und die Menschen verstummten.
„Tagaus, tagein bauen wir, mit Überwindung der größten Schwierigkeiten, ohne unsere Kräfte zu schonen, Lokomotiven für die Sowjetunion. Die Lokomotive — das ist unser Herz. Und an dieses Herz hat sich der Klassenfeind mit dem Messer in der Hand heimlich und hinterlistig herangeschlichen. Er hat uns eine schwere Wunde beigebracht. Er wollte den Blutkreislauf in den Adern der Sowjetunion zum Stillstand bringen, damit unser riesiges Land ebenso von einer Katastrophe ereilt würde wie unsere Lokomotive. Er wollte die Lokomotive der Revolution die Böschung hinuntersausen lassen und wollte auf ihren Trümmern das frühere verfluchte Regime wieder aufrichten. Aber es ist ihm nicht gelungen! Wir haben dem Feind das Messer aus der Hand geschlagen! Und wir verlangen die rücksichtslosesten, strengsten Maßnahmen denen gegenüber, die die Arbeiterklasse, die Partei und die ganze Sowjetunion betrogen haben..."
Die Menge geriet in Bewegung, in Aufruhr. Schwarze Fäuste flogen in die Höhe, und wütende Schreie wogten wie stürmische Wellen über die Köpfe der Menge:
„Erschießt sie, die Hunde!"
„An die Wand mit ihnen!"
„Wozu noch lange Umstände... "
„Tod den Banditen!"
„Genossen!" Wartanjan strengte seine Lungen an. „Sie haben riesige Verluste verursacht. Diese Sache kommt uns nicht billig zu stehen. Aber wir werden unseren Nutzen aus dieser Lehre ziehen. Der Feind schlägt uns mit der Waffe des Wissens, mit der Waffe der Wissenschaft und Technik. Diese Waffe müssen wir uns unverzüglich aneignen. Eine Verzögerung ist hier gleichbedeutend mit Tod! Der Feind nutzt unsere Schwäche aus und schlägt uns. Wir haben eine Menge Fehler gemacht. Aber wir werden aus diesen Fehlern lernen! Und wir werden das Vertrauen des Landes nicht täuschen. Wir werden den Feind besiegen! Warum? Einfach darum, weil es keine Kraft gibt, die die Triebachse der Revolution — die Arbeiterklasse und ihre Partei — zerbrechen könnte! Warum nicht? Einfach darum nicht, weil sie aus dem besten Stahl hergestellt sind, den es in der Welt gibt — aus dem unzerbrechlichen bolschewistischen Stahl!"
„Tod den Halunken!"
„Er—schie—ßen!"
Die Schreie verschmolzen zu einem einzigen tausendstimmigen! Geheul, das die Luft erschütterte — der Hass dieser Tausende war zum Ausbruch gekommen. Der Ring um die Tribüne schloss sich immer fester, es schien, als verwüchsen die Menschen zu einem einzigen gigantischen, zornerfüllten Riesenkörper, und Wartanjan fühlte, wie die Tribüne unter ihm bebte.
Und plötzlich fiel der Ring, der die Tribüne umgab, auseinander. Über die Köpfe der Menge, über die still gewordene Fabrik, zogen feierliche Klänge. Sie schwebten über die Menge, vereinigten sich zu hallenden Akkorden und erstarben langsam, verloren sich in dem wirren Laub der schweigenden Birken. Die Menschen entblößten ihre Köpfe, sie öffneten den Ring und bildeten einen breiten Korridor vom Krankenhaus zur Tribüne.
Als erster betrat diesen von dem heißen Atem der Menge angefüllten Gang Sharow.
Feierlich schritt er vorwärts, das grünlichgraue Gesicht der Sonne zugewandt. In den ausgestreckten Händen hielt er behutsam einen Kranz von Georginen. Sharow war vollkommen nüchtern, trotzdem zitterten seine Hände heftig. Die roten Georginenblätter rieselten langsam zur Erde. Die Sonne fing sie auf, durchleuchtete sie, und es sah aus, als rannen rote Blutstropfen in den Sand.
Und über diese roten Blütenblätter hinweg trug man den alten „Chef". Mochow trug den Sarg leicht und geübt, als sei er irgendein Maschinenteil aus seiner Abteilung; sein Gesicht hatte einen besorgten, sachlichen Ausdruck. Neben Mochow ging Platow — es schien als drücke mit dem Sarg die Last der letzten Tage auf ihn. Dahinter kam Wassja Trussow, unbeholfen und schwer, seine riesigen Füße versuchten kleine Schritte zu machen, die ungeschickt und unregelmäßig ausfielen. Um seine Lippen spielte ein kleines schuldbewusstes Lächeln. Rechts neben ihm schaukelte sich der kugelrunde Kopf Andrjuschetschkins.
Hinter dem Sarg gingen Olga, die alte Pylaicha, die irgend etwas vor sich hinmurmelte, und Sascha Mochow mit seiner blitzenden Kupfertrompete.
Die Kapelle schwieg, ihre letzten Klänge verloren sich in der heißen Luft. Die Menge rührte sich nicht. Der dichte schwarze Rauch der Fabrik hing wie ein Trauerband über den gesenkten Köpfen und ließ schwarzen Schnee auf die starren Hände des „Chefs" niederrieseln, die aussahen, als seien sie erfroren.
„Genossen!" Von neuem erscholl Wartanjans erregte Stimme. „In diesem Kampf für die Sowjetfabrik, in diesem Kampf für ihre sozialistische Zukunft haben wir einen der besten aus unseren Reihen verloren — den alten Kusmitsch... Er hat noch die Leibeigenschaft gekannt. Vom ersten Aufflammen der Arbeiterbewegung an ist er mit dem Proletariat marschiert. Zusammen mit der ganzen Klasse hat er für ihre Zukunft gekämpft. Er hat seine Familie dem Moloch des imperialistischen Krieges opfern müssen. Als Greis hat er die Revolution erlebt, und bis an das Ende seiner Tage hat er die Fabrik nicht verlassen. Und Kusmitsch ist gefallen wie ein Soldat, der seiner proletarischen Armee bis ans Ende treu geblieben ist, der bis ans Ende auf seinem Posten im Kampfe gegen den Klassenfeind ausharrte. Er hat den Sozialismus nicht mehr gesehen, aber er ist am Vorabend des Sozialismus gestorben, beim Aufbau des sozialistischen Fundaments — als unzerstörbarer Pfeiler hat er sein kostbares Leben dafür hingegeben.
Genossen! Unsere Fabrik war krank. Sie hat eine Krise durchgemacht. Schon beginnt eine mächtige Bewegung unter den Massen zu wachsen und sich zu erweitern. Die stärksten Kräfte der Arbeiterklasse treten in dieser Bewegung zutage. Sie fegt die letzten Schranken auf unserem Wege hinweg. Und wir werden uns stets an den alten Kusmitsch erinnern als an den der Sache unserer Klasse treu ergebenen ersten Stoßbrigadier. Leben und kämpfen, wie dieser Alte gekämpft hat! Das Leben hingeben, wenn es nötig ist, ohne zu zittern! Denkt daran, dass wir am Vorabend großer Kämpfe stehen. Bald ist die letzte Frist abgelaufen. Wir sind unterwegs. Unser Zug rast unaufhaltsam vorwärts. Und er wird weiter vorwärtsstürmen — das Pfand dafür ist der heldenhafte Tod Kusmitschs, der die Räder unseres Zugs so unvergleichlich geölt hat.
Es lebe die Arbeiterklasse!"
Und wieder griff der Wind die Schreie auf, das trocken knatternde Händeklatschen, und die Klänge der „Internationale" zogen sieghaft über die Köpfe der zahllosen Menge, über die alte, schweigende Fabrik. Sie drangen in das stille Zimmer des Krankenhauses und zerrissen die weiße Stille. Wera öffnete die Augen und erzitterte... irgendwo dicht in ihrer Nähe brandet die Meeresflut. Donnernd rasen die Wellen und brechen sich am Ufer. Sie schreitet über die Mole und betritt den schwankenden Laufsteg der Lokomotive. Wohin fährt sie? Die Wellen lassen das Deck schwanken. Alles scheint sich zur Seite zu neigen, scheint zu fallen. Die Siegesklänge der Kapelle schlagen gegen die Scheiben...
„Weshalb ist man da froh? Weshalb?! Ich will nicht sterben!" rief sie mit freudig erschrockener Stimme und richtete sich im Bett hoch auf.
4
Mit leisen, raschelnden Schritten kam der Herbst. Er warf den Birken, die nachdenklich ihre Köpfe senkten, eine gelblich bunte Kappe über, färbte den Ahorn und rollte die harten Pappelblätter zusammen. Er fegte über den dürren Grasteppich im Garten und füllte die Straßen mit scharfem Wermutgeruch. Er riss die Äpfel von den Bäumen, die schwer auf den trockenen Boden niederklatschten. Die Georginen flammten hellgelb und brennend rot und entfachten die letzten Feuer zwischen den Latten der Zäune.
Platow und Olga gingen die Straße entlang. Der trockene Sand raschelte kaum hörbar unter ihren Füßen — vielleicht waren es auch die unermüdlichen Grillen, die den Sommer bei seinem Scheiden begleiteten.
An der Straßenkreuzung reckte sich eine neue, glattgehobelte Telegrafenstange empor. Sie sandte viele Drähte aus und fing sie wieder auf, indem sie die straff gespannten Fäden mit den weißen blitzenden Fingern der Porzellanisolatoren fest zusammenpresste.
Platow hob seinen Blick zu den Drähten und musste an vergangene Tage denken.
„Olga, ich besinne mich darauf, wie du ein kleines Mädchen warst und ein rosa Kleid anhattest. Du hocktest auf einem Lastauto. Und eine tausendköpfige Menge folgte dir... Weißt du noch?"
Nachdenklich nickte Olga mit dem Kopf.
„Ich sehe dein Gesicht noch vor mir. Es war ein richtiges Kindergesicht, das ganz verwundert war über die Ereignisse. Und jetzt sieht dein Gesicht genau ebenso aus."
„Ja, Senja... Ich wundere mich auch jetzt noch über vieles. Wie schwer, und wie wunderschön dabei ist das Leben! Ich bin noch ein junges Mädel. Aber mir scheint, als hätte ich schon die fünfundachtzig Jahre von Kusmitschs Leben hinter mir. Was soll aus mir werden, wenn ich wirklich einmal alt bin? Da werde ich ja allwissend und allmächtig sein, wie der kahlköpfige Gott der Bibel!" Und Olga lachte laut und klingend, wie Kinder lachen, ihr Lachen hallte durch die stillen Straßen, über die herbstlichen Gärten und die roten Georginen.
Sie ließen die Stadt hinter sich und erreichten den Wald. Die Erde war umgewühlt, Gruben und Gräben waren ausgeschachtet, aber es war alles still hier an dem Platz der neuen Fabrik.
Platow und Olga setzten sich auf einen trockenen Abhang und blickten nachdenklich auf die aufgewühlte Erde. Eins zottige Hummel brummte um eine Blume und stieß sie mit ihren summenden Flügeln an, so dass sie leise schaukelte. Schwärme glänzender Libellen surrten durch die Abendluft... Aus der Tiefe des Kiefernwaldes kam ein starker Pilzgeruch.
„So, Senja, nun ist alles zu Ende..."
„Zu Ende? Nein, ich denke, dass alles noch weitergeht. Siehst du — Gruben, aufgerissener Erdboden, — und tiefe Stille. Da heißt es noch viel und lange kämpfen, damit hier pochendes Leben die Stille vertreibt. Das ist mein Traum, Olga. Wir werden hier eine riesige Fabrik hinbauen und sie ganz nach ausländischem Muster einrichten. Weißt du, Olga, was für unverschämte Gedanken mir jetzt in den Kopf kommen? Ich werde diese Fabrik bauen. Ich habe ein Anrecht darauf! Ich habe mir dies Recht verdient... In unserer alten Fabrik dort bin ich aufgewachsen, da habe ich meine Feuertaufe erhalten. Vom Formen der Räder habe ich mich hinaufgeschwungen zum Formen unseres Lebens. Mit meinen Händen will ich unsere Epoche formen. Mehr als einmal habe ich Erniedrigung und Schande erlebt. Ich war in den Augen der Arbeiter gesunken... du hast keine Ahnung, wie schwer das damals für mich war. Aber jetzt fühle ich eine unüberwindliche Kraft in mir und ich bin bereit, mich an alles zu wagen. Zum Teufel mit der Vergangenheit! Hier auf diesen Baumstümpfen, Olga, werden wir eine wunderbare Fabrik bauen! Dann wird man die Gegend hier nicht wieder erkennen. Eine sozialistische Stadt wird aus dem Boden wachsen. Und unser Mochow wird endlich in ein Haus mit breiten Fenstern einziehen."
„Und wir auch. Und wir werden unser Leben auf neue Weise führen, nicht wahr? Du wirst dein eigenes Zimmer haben, ich mein eigenes Zimmer. Nichts von dem alten Haushaltskram!"
„Was du dir da alles ausmalst!" lachte Platow. „Ich denke an etwas ganz anderes... Da richten wir nun die neue Lokomotivfabrik ein, und bald müssen wir alles wieder umbauen."
„Warum denn? Wieder konterrevolutionäre Schädlinge?"
„Sieh mal an, wie flink du bei der Hand bist! Nein — sondern darum, weil wir die Lokomotiven dann ins Museum befördern!"
„Wa—rum?" fragte Olga verwundert.
„Ach, du unwissende Komsomolka du! Weil die Lokomotive die gefräßigste, unrentabelste Maschine ist. Der Gesamtwirkungsgrad ist bei der Lokomotive 10 Prozent. Verstehst du?"
„Was ist das für ein Ding: ,Gesamtwirkungsgrad'? Drücken Sie sich gefälligst etwas populärer aus, Genosse Ingenieur!"
„Das heißt, dass die Lokomotive 90 Prozent der Energie, die in dem Dampf enthalten ist, zu ihrem hübschen Schornstein hinausjagt. Und nur 10 Prozent verwandeln sich in mechanische Energie."
„Neun Zehntel verpufft sie also in die Luft? Das ist ja allerhand! Das ist ja einfach unerhört, Senja!"
„Ja, es ist eine Schande! Und unsere sozialistische Wirtschaft kann sich damit nicht zufrieden geben. Sie muss dieses Raubtier unter den Maschinen durch eine andere ersetzen. Die Dampflokomotive stirbt langsam, Olga, an ihre Stelle tritt die Diesellokomotive und die elektrische Lokomotive."
„Was sind das nun wieder für Tiere?"
„Das sind solche Tiere, die billiger sind und stärker. Und ich träume davon, solche Tiere zu machen. Denk' nur mal: tausende Kilometer von hier entfernt, in der sibirischen Taiga, im Ural beginnen wir, die größten Fabriken der Welt zu bauen. Nach ein paar Jahren werden wir das alte Russland nicht wieder erkennen. Menschen und Waren werden auf diesen viele tausend Kilometer langen Strecken in ununterbrochenem Strom hin- und herziehen. Wir heben die Schätze, die die Erde unseres Landes in ihrem Schoße birgt. Wir führen den stählernen Schienenweg über die unendlichen Wiesen, Wälder und Sümpfe. Und auf diesen Schienensträngen werden die elektrischen und die Diesellokomotiven lange, schwere Züge hinter sich herschleppen, mit einer Geschwindigkeit, die diejenige des ,Pacific' bei weitem übertrifft. Ich will diesen von Dichtern und Komponisten besungenen amerikanischen ,Pacific' überholen — jawohl, das will ich!"
„Ach, was du da zusammenphantasierst! Dürfen denn Ingenieure überhaupt so träumen? Überholen! Erst überhole mich einmal!" Und Olga stürmte von der Anhöhe hinunter und war gleich darauf in den Büschen verschwunden.
Platow lief ihr nach, sprang mit großen Sätzen über die Gräben. Vor ihm, zwischen den schlanken Kiefern, schimmerte ein roter Fleck, der bald rechts, bald links irgendwo in dem Gebüsch verschwand, um gleich wieder aufzutauchen, als ob hier und da im Walde die roten Feuer der Georginen aufglühten. Und diesen roten Feuern stürmte Platow nach, durch die Büsche hindurch, so dass die trockenen Blätter raschelnd zur Erde herabfielen.
Draußen fielen die Strahlen der Abendsonne auf die herbstlich welken Gräser, die langsam ihre reifen Samenkörner zur Erde rieseln ließen. Eine hohe Tanne streckte behutsam ihre Tatzen aus und ließ ihre glatten dunkelgrünen Nadeln funkeln. Sie saß mit ihrem harzigen rauen Stamm fest in dem Erdreich und dehnte ihren wuchtigen langen Schatten über die ganze Straße aus. Aus dem Gewirr der trockenen Gräser ragte eine einsame Aster. Wartanjan war es, als habe er alles dies — die Tanne und die herbstlich welken Blumen — schon einmal in der gleichen Zusammenstellung, in derselben abendlichen Beleuchtung gesehen. Erstaunt betrachtete er die regelmäßig angeordneten Zweige der Tanne, das Gewirr der namenlosen, dürren Gräser, die zufällige Aster — aber alles war ganz gewöhnlich und ohne eine besondere Beziehung. Wartanjan musste lachen über seine Angewohnheit, die ihn umgebende Welt allzu aufmerksam zu betrachten. Es wurde ihm klar, dass er unter der drückenden Last dieser unruhigen Tage schon lange die Natur nicht mehr gesehen hatte, und nun reizte ihn sein Gedächtnis, indem es ihm längst vergessene Eindrücke vor Augen hielt und seine Aufmerksamkeit für einen Augenblick von dem ablenkte, was ihn bedrückte; er fühlte, wie sein müdes Gehirn die schwere Last der unruhigen Gedanken von sich warf.
Und es war, als ob er sich weit von dem Heute entfernte, um von der Ferne mit Ruhe das zu betrachten, was in der Nähe seinen Geist so beschwerte.
Dort, am Grabe Kusmitschs, war es ihm schwer gefallen, die ganze Tragweite der Ereignisse, ihre tragische Entwicklung zu erfassen — seine überreizten Nerven hatten schließlich allzu stark auf die erregenden Klänge der Musik reagiert, und das Leid, das aus den Tausenden von Augen sprach, hatte sein Hetz verbrannt, seine Gedanken verwirrt.
Nachdenklich sah Wartanjan auf die von der untergehenden Sonne beleuchtete sandige Straße. Der von dem Regen der vergangenen Nacht feuchte Sand schimmerte goldig, nur da, wo der tiefe Schatten der Tanne hinreichte, war er dunkel, bräunlich überhaucht...
Und Wartanjan fühlte, dass die Scham, die er soeben vorübergehend gespürt hat, weggewischt wurde von der Freude über das Bewusstsein, dass er da lebt und arbeitet, dort, wo das wirkliche, pulsierende Leben herrscht, und zum ersten Mal, seit er hier lebte, fühlte er seine Seele frei von dem dumpfen Druck, den er aus Moskau mitgebracht hatte... Dieser Tage wird er nach Moskau fahren, um den Bau der neuen Fabrik durchzusetzen. Mit festem, sicherem Schritt wird er aus dem Waggon aussteigen und den Fuß auf den Bahnsteig setzen, wie ein Mensch, der das Recht besitzt, jedem frei ins Auge zu schauen.
Er schrieb einen Artikel für die „Prawda". Ehrlich und ausführlich erzählte er dem Lande von den Lehren dieser Niederlage. Er schrieb, dass die Arbeitermassen, die der Kampf für die Fabrik auf die höchste Stufe gehoben hat, nunmehr eine neue Etappe ihres revolutionären Seins betreten und in ungeahntem Umfang das entfalten, was der alte, so tragisch ums Leben gekommene Kusmitsch als Keim in sich trug...
Aus den Zeilen sprach heiße Erregung, rastlose Unruhe und die feste Überzeugung einer sicheren Zukunft — plötzlich aber zitterte seine Hand, und ein großer Klecks fiel auf das Papier: über den weichen, goldenen Teppich der sandigen Straße schritten, dicht aneinander geschmiegt, Platow und Olga. Platow sprach auf Olga ein und gestikulierte heftig mit der energischen Hand. Olga fächelte ihren heißen Wangen mit einem grellroten Tuch Kühlung zu und lachte leise. Sie betraten den tiefen Schatten der hohen Tanne, und sofort war das brennende Rot des Tuchs erloschen.
Wartanjan fühlte, wie sich ein dunkles Gefühl in seinem Herzen rührte, und wieder ergriff ihn eine unbestimmte Unruhe. Ja — sie gehörte zu Platow, und das, was Wartanjan so beunruhigte, war völlig unangebracht; aber es saß hartnäckig fest, wurde stärker von Tag zu Tag, wuchs mit jeder zufälligen Begegnung mit Olga. Olga... Sollte aus der unbestimmten Erregung, die ihn ergriff, so oft er sie sah, wirklich etwas anderes, Größeres geworden sein?
Nachdenklich schritt er im Zimmer auf und ab. Draußen herrschte eine kühle Finsternis, der schwarze, spitze Pfeil des Tannenwipfels bohrte sich in das schwarzblaue Himmelsgewölbe. Im Schein des elektrischen Lichts, das die Dunkelheit durchbrach, schimmerte verschwommen das weiße Sternchen der Aster, und oben waren Milliarden dieser Astern über die schwarze Kuppel des Augusthimmels verstreut. Und Wartanjan dachte, dass diese Annäherung zwischen Platow und Olga ebenso natürlich war wie die Tatsache, dass in dem verwilderten Gärtchen da unter seinem Fenster der stille traurige Herbst in seine Rechte trat.
Das einsame weiße Sternchen der Aster erinnerte ihn an seinen kleinen Laso. Wartanjan holte einen hellblauen, zerknüllten Briefbogen aus seiner Aktentasche und fing wieder an, seinem Sohn einen Brief zu schreiben.
„Mein geliebter kleiner Laso! Endlich werde ich mein kleines Äffchen bald umarmen können: in den nächsten Tagen muss ich geschäftlich nach Moskau. Wir wollen eine neue, riesige Fabrik bauen, die so groß sein wird wie Moskau. Da werden wir wunderschöne, flinke Lokomotiven machen, und jede wird vorn an ihrer Brust einen funkelnden goldenen Stern tragen. Und wir beide, Du und ich, werden mit so einer blitzenden Lokomotive fahren. Sie wird pfeifen wie tausend Pionierpfeifen und so schnell fliegen wie ein Vogel. Also erwarte Deinen schlimmen Papa, mein Laso. Ich bin schon ganz reisefertig, meine Lokomotive steht unter Dampf..."
Eine frische, kühle Augustnacht lag über der Stadt. Dort hinten bei der Fabrik ließ der weiße Schein des elektrischen Lichts das tiefe nächtliche Dunkel des Himmels verblassen — da arbeitete angestrengt eine Handvoll hartnäckiger Menschen — die „Erste Stoßbrigade Kusmitsch", die heute an der traurigen Tribüne gegründet wurde: der Weg der Triebachse vom Martinofen bis zur Lokomotive hatte diese Menschen zu einer Brigade vereint. Im Namen der Brigade hatte es Mochow verkündet, hatte angesichts der tausendköpfigen Menge das kurze Versprechen gegeben:
„Wir werden die Triebachse überwachen. Scharf überwachen: — eine Schraube soll ihnen aus dem Mund wachsen!"
„Ja — der Weg der Triebachse ist schwer", dachte Wartanjan und betrachtete die flimmernden Lichter der Fabrik. „Erst die erste Etappe haben wir hinter uns ... Morgen, mit dem trüben, feuchten Herbst, beginnt die zweite Etappe. Wird sie leichter sein als die vergangenen Tage?" Er dachte daran, dass Morgen Hunderte von roten Proletariern die Maschinen stehen lassen und auf den aufgeweichten Feldwegen und den ungangbaren Waldpfaden sich verstreuen würden, um die jahrhundertealten: Grenzraine zu beseitigen, die Grenzpfähle der Gehöfte auszureißen und der Bauernschaft des Gebiets ein neues Leben zu bringen. Morgen wird die Energie der Klasse, die die Triebachse der Industrie in eiligem Lauf dreht, das knarrende Rad des Bauernwagens vorwärts schieben. Morgen wird die Prüfung stattfinden. Die Fristen dieser Epoche sind hart und unabänderlich...
Auf dem Feuerwehrturm schlug es zwölf. Wartanjan schaltete das Radio ein. Die schwarze Scheibe des Lautsprechers wurde lebendig, knatterte und surrte. Einander jagend kamen ferne melodische Klänge. Dreimal kletterten sie in die Höhe und stürzten in unaufhaltsamen, klingenden Trillern die uralten steinernen Stufen des Kreml wieder hinab. Dann folgten dumpfe, zitternde Schläge, unterbrochen von den schlaflosen Autohupen, dem Räderdröhnen der Straßenbahnen. Die Schläge fielen langsam, heiser und dumpf, die zitternden Klänge verhallten klingend im Äther — es war das uralte Moskau, das seine Kremluhr die Mitternachtsstunde schlagen ließ. Und diese Klänge weckten in Wartanjans Seele die ganze Geschichte dieses Landes, erregend wie Menschenblut, seinen ganzen Weg von den verrosteten Ketten der „Schädelstätte", von den naiven, bunten Kuppeln der alten Basiliuskirche bis zu der strengen Architektur des granitenen Lenin-Mausoleums. Dutzende von Epochen vereinigten sich hier auf der schmalen Fläche des Roten Platzes, liegen gefesselt auf dem steinernen Pflaster, über das Millionen von Füßen hinweggeschritten sind. Die grün angelaufenen, gutmütig-dumm dreinschauenden Kanonen, die vereinzelten wilden, vergoldeten Adler sehen stumm und verwundert auf ein nie erlebtes Schauspiel, — und Millionen von Augen, die jahrhundertelang vor ihrer Macht gezittert haben, schauen jetzt gleichgültig an ihnen vorbei — nach dem roten, spiegelblanken Granit des Mausoleums.
Der letzte Schlag der alten Glockenuhr ist verklungen. Und gleich nach ihm tönen nach allen Richtungen — nach Berlin, New York, nach London und Bombay — feurige, triumphierende Orchesterklänge. Singend durchstürmen sie den Äther, löschen die knarrenden Töne der Foxtrotts, dringen ein in die Villen, Schlösser und Paläste — und da schaltet man schnell das Radio aus. Siegreich aber behaupten sich die Klänge in den Proletariervierteln von Berlin und Paris, in den niedrigen Hütten der Kolonialsklaven, und überallhin tragen sie den Ruf zum Aufstand.
In dieser Stunde gerät die ganze Welt in Erregung, bebt, wird erschüttert. Und vor den Mauern des Père Lachaise erheben sich die drohenden Schatten der Pariser Kommunarden — es zieht sie hin zu ihrer alten Kampffahne, die sich über Lenin neigt.
Und in dieser Stunde schreitet die „Brigade Kusmitsch" unter der Führung Mochows durch die Fabrik und überwacht den Weg der Triebachse.
Wartanjan blickte zum Fenster hinaus, aufgewühlt von der Schau künftiger Tage. Seine dunklen Augen funkelten in zitterndem Glanz. Vom dunkelblauen Augusthimmel fielen Sterne lautlos und schwer, wie reife Äpfel, zur Erde nieder.