Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
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Der mahnende Berg

Noch vor dem Aufstehen träumte ich, wie ich einen überwachsenen Wildpfad entlang wanderte, mit weiten Wipfeln darüber und hingetupften Wölkchen am Horizont. Das ließ beim Erwachen meinen Entschluss, den bisher gemiedenen Berg zu besteigen, leichter werden. Vielstimmigem Vogelsang wollte ich lauschen. Den schillernden Tautropfen verfolgen, wie er aus der Baumspitze von Blatt zu Blatt rieselt, stockt und tänzelnd davon springt, das waren hinreißende Bilder, die das Herz beschäftigten und auch ermunterten. Hier und dort wollte ich dann vom Berg hinunter die Augen richten. Beginnend an den wogenden Äckern in der Ebene, die Ferne aufnehmend, in deren bläulicher Dunstfarbe ein angedeuteter Bergrücken verschwamm.
Darum stelle ich mich, nun so im ersten Morgengrauen auf dem Bettrand hockend, auch ganz gelassen an, und tue, hinter leichter Überlegenheit verkapselt, als gäbe es keine ernsteren Gedanken als nur die farbigen Freuden nach eingehender Betrachtung der wildwachsenden Pflanzen. Ich rede mir mit lächerlichem Eifer zu, es verlange mich nach einer Exkursion auf Insekten und Schmetterlinge. Ein Reh wird auch kommen. Hasen bestimmt.
Auf dem Nachttisch liegt noch die Abendzeitung von gestern. Eine Notiz für mich und alle steht darin. Es ist nicht der erste Alarmruf dieser Art. Auf den mir vorliegenden habe ich dem von mir bisher unbegangenen Berg meinen Besuch zugesagt. Noch vor Tagen fühlte ich mich einem Aufstieg seelisch nicht gewachsen. Mit dieser Blitzmeldung im Abendblatt will sich der Berg noch eindrucksvoller machen. Diesem leidenschaftlichen Drängen folge ich. Die Stadt schläft noch. Sie ist ruhig wie in der ersten Zeit der Welt. Goethe, Schiller, Wieland, Herder, Liszt begleiten mich trotzdem. Es begleitet mich auch die alarmierende Notiz der Abendzeitung. Ein Treffen ehemaliger SS-Leute im Rheinland klingt wie eine Salve auf die Arbeiterschaft in meinem Ohr. Drei Zeilen von dieser Art sind drei tödliche Salven, und dazwischen liegen noch Terror, Folter und Hunger.
Ein leichter Aufwind weht. Es ist nicht von großer Bedeutung, die Steigung der Straße zu nehmen. Die Luft wird mir trotzdem knapp. Dabei duftet die Moosdecke, das Gras, die vom Fuß aufgerührte Erde voll Taugemisch. Der Wald wird bald mit dem Sonnenlicht spielen. Das kenne ich von vielen Wanderungen her. Genieße es ewig neu. Links und rechts sind mannstarke Bäume meine Nachbarn. Wenn der Wind mit vorsichtigen Fingern ihre Blattspitzen berührt, fallen Lieder heraus. Zuerst sind es Lisztmelodien. Aber bald werden es heiße, aufregende Gesänge, bei denen mir die Fingernägel schmerzend in die Handteller dringen.
Die neuauflebende Unruhe beschwichtigend, konzentriere ich mich zur Ablenkung auf die Landschaft. Ihre Farben sind von der Sonne belebt. Sie verjüngen sich in Sekunden. Behutsam beginnt ein Leuchten. Schimmernde, feinsilbrige Schleier wehen. Daraufblickend will ich abwehrend dem Einbruch des Schmerzes nicht die Rolle zufallen lassen, die dem Widerstand gebührt. Schmerz wird nicht ausbleiben. Trauer wird folgen. Übermäßig dürfen sie nicht werden.
Als ich dort unten war, seit Tagen im Gewinkel der Straßen von Weimar bummelnd, oft in einer Wolke eiliger Reisender, die durch Gedenkstätten, Museen und Lokale hasteten, vernahm ich die Stimme des Ettersberges nicht sonderlich stark. So mitten unter den frohen Menschen, die Postkarten kauften, beschrieben und abschickten, hielt sich der mahnende Berg noch zurück. Freundlich und anmutig nahm sich die Stadt aus. Gärten, Gässchen, Bauten und Menschen wollte ich einfangen, das Leben suchte ich im Stein, im Wort, im lächelnden Gesicht vor den Läden.
Wie die Bienen zog ich kilometerweit hinaus und kehrte gegen Abend in den Raum zurück, wo sich der Mensch verwegen und heiter bewegte, sich aneinanderschmiegte, voll der Hoffnungen, Sehnsüchte und Gegenwärtigkeit. Gestern kam ich, einen weiten Bogen schlagend, von Berka her. In meinem Blickfeld lag der Höhenzug des Berges, dessen Namen ich oft vernommen hatte. Der Jüngling hörte ihn bewundernd. Der Mann spie bei Nennung des Namens in den Sand. Heute erregt er mich. Er bringt mich in nervöse Gespanntheit. Er wächst aus den trächtigen Feldern, aus den Saftfarben der Wiesen in den Goldhimmel und streckt seinen Buchenreichtum. Er ist ein Berg und dabei doch ein unergründlicher Schlund. Er pocht an mein
Herz und stiftet darin Unruhe. Nicht, weil er mit seinen grünen Fahnen steil in das Himmelsfeld hinein will, o nein! So vermessen gebärdet er sich nicht. Seine Besonderheiten sind anderer Art.
Der Berg bedrängte mich mit seinen eindringlich mahnenden Stimmen, selbst wenn ich vor allzu grellem Sonnenlicht gebeugt meinen Weg nahm, mich hier über einem Käfer, dort jedoch vor einer Wildblume verweilend, zu längerer Betrachtung verlocken ließ. Der Höhenzug hielt mit mir Zwiesprache. Er vergaß mich nicht. Ich musste ihn aus der Ebene betrachten und seine Lehre hören.
Heute bin ich auf sein Drängen hin zum Kamm unterwegs. Empor will ich gehen, wo er in vielen Sprachen der Erde spricht. Dorthin ruft er mich, wo das Grauenhafte nicht schweigen kann und niemals schweigen darf.
Der Weg ist steil. Der Berg flüstert. Es liegt nicht an der Einsamkeit, in der er sich befindet. Mir ist, als trüge ich den Berg auf den Schultern. Mit einem Wagen hätte ich hinauffahren können. Der Gedanke daran hat vergeblich auf die Zustimmung des Herzens gewartet. Nein, dieser Berg ist in seiner ganzen Ausdehnung ein geschlossener Opferstein. Deshalb muss man ihn Schritt um Schritt begehen. Von seinem Fuß bis zum Gipfel hinauf ist jede Falte voll Menschenblut. Tränen haben die Erde getränkt und das Gras genetzt. Fäuste haben sich im Zorn um Steine geballt. Die Erde ist voll der letzten Atemzüge sterbender Männer.
Buchenwald, Höllenwald, Totenwald! Aber man zürne nicht ihm. Denn er war noch Trost den hungrigen, schuftenden Männern, die hier die Straße betonierten und die Feldbahn legten. Ihnen sangen die Vögel, leuchteten die Gewächse und es summte das Insektenvolk für sie, soweit sich noch ihr Sinn für derartige Freuden empfänglich erwies. In jenen Augenblicken versuchte der Berg jener Buchenwald zu sein, dem der Besuch Goethes mit Charlotte von Stein gegolten hatte. Damals war er Entzücken, Glanz, Farbe und Poesie. Die Stunden verrannen als Festtag. An Talenten dafür hatten die liebenden Freunde keinen Mangel.
Aber dann kam der Lärm. Der Wald hielt den Atem an. Der Wind verlor die Wohlgerüche. Die Roheit trillerte, schrie, knüppelte und schoss. Nichtsnutziger und erbärmlicher hatte sich noch nie ein Machtsystem zu Gefangenen benommen. Der Himmel öffnete seine Regenschleusen, der Wind schnitt den Gefangenen in die Haut. - Höllenwald, Totenwald!
Bald bin ich auf dem Gipfel. Trete durch das eiserne Tor. Der Appellplatz weitet sich. Ein frischer Wind weht. Er genügt nicht meinen Lungen. Hier ist der schäbige Plankenzaun, durch den gedeckt die hinterhältigen Mörder auf Thälmann schossen. Von der Erinnerungstafel, den Blumen und den stillen Besuchern trete ich zurück. Ich muss mich abseits niederhocken. Mein Herz läuft Caracho! Mein tiefer Atem bringt es allmählich zur Besinnung.
Die während des Aufstiegs gezügelte Erinnerung kommt heran ...
Wir standen vor Jahren im stillgewordenen Hafen vor den Kaischuppen und starrten auf den Elbfluss, der dem Meere zuwanderte. Keiner von uns Männern setzte die Segel eines Traumschiffes für abenteuerliche Fahrten nach tropischen Küsten, obwohl wir genügend Zeit hatten, ein richtiges Seemannsgarn zu spinnen.
Wir hassten die Zeit, die nutzlos verrann. Schon wenn wir mit Fähren und Barkassen an den so nahe gelegenen Werften gelandet wären, hätte das eine ermutigende Fahrt in das Leben bedeutet, die unser Dasein ausfüllte. Wir aber standen und saßen herum und hofften sehnsüchtig, dass uns ein Angebot zur Arbeit auf die Schiffe riefe.
Achtern lag Hamburg mit seinen alten Häusern, den schmalen Gängen, trüben Fleets und dunklen Höfen. Die Kinder dort lernten eher hungern als laufen. Soviel sie die Mütter auch mit ihrem Geschrei aufpeitschten, die Frauen mussten zusehen, wie der Mangel in den Kochtöpfen größer und größer wurde. Manches Kind ging am Hunger zugrunde. Die Frauen vergaßen, welche Bedeutung die Wörter Fleisch oder Fisch in ihrem Haushalt eingenommen hatten, als Hamburgs Schornsteine noch wie alte Seemannspfeifen qualmten und die Schauerleute, Ewerführer und Hafenarbeiter den verdienten Lohn auf den Tisch legten.
Ernst Thälmann hatte einige Tage zuvor auf einer Versammlung in anklagender Rede gezeigt, was nicht nur in Hamburg, sondern in allen Arbeiterhaushalten vor sich ging, in dem von Krise und Inflation geschüttelten Land. Mit harten, geschlossenen Händen forderte er nachdrücklich ständige Kontrolle der Wirtschaft und des Staates durch die Arbeiter. Seine Augen glühten, als ob längst die schönere Zukunft die größere Rolle in seinem Herzen spielte. Von seinen Mundwinkeln flog ein Lächeln in die Versammlung und kehrte von dort als glückliche Erwiderung zurück zu dem, der da sprach.
Mussten die Mütter zusehen, wie ihre Säuglinge starben? Gab es für den „rätselhaften" Vorgang der Krise und Arbeitslosigkeit keine Lösung? Zog sich nicht eine grausige Kurve der Unsicherheit von den schmucken Villen an der Alster ausgehend in die dürftigen Quartiere des Hafens?
... Es wird Anstrengungen kosten, diese Kurven zu verändern und aus dem Elend und dem Hunger herauszukommen. Aber es wird gehen, wenn die Arbeiter im Bündnis mit den armen Bauern die Macht übernehmen ...
Das war nicht die Verheißung fremden Reichtums und ferner Küsten, sondern der Wille, hier in der Heimat dem größeren Reichtum der eigenen Kräfte zu vertrauen, die Ordnung des Lebens zugunsten der Mehrheit des Volkes nach der Lehre von Marx und Engels zu verändern.
In dieser Stadt eine offene Arbeitsstelle zu finden, hatte ich bei meiner Jugend die geringste Aussicht. An
Bord der Ozeaneimer, die eine Reparatur oder ein Verschönerungswerk nötig hatten, holte man sich die spezialisierten, erfahrenen Teerjacken.
So wanderte ich stromaufwärts durch Vierlanden in die Obst- und Gemüsekammer von Hamburg. Dass ein Stück dieser fruchtbaren Erde einmal zum Friedhof derjenigen werden sollte, die den braunen und schwarzen Menschenjägern in die Fänge gerieten, ahnte ich beim Anblick der blühenden Landschaft nicht. Ich federte im Schritt meiner Jugend über Gräben und Koppelzäune, hörte den Fluss strömen und sah die Leuchtkugeln der Sterne, wo ich später mit vielen Häftlingen geschunden und misshandelt wurde, als man uns in das Mordlager von Neuengamme brachte.
In diesem Lager begegnete ich etlichen Männern der revolutionären Erhebung von Hamburg. Ihrem Kampf hatte ich einige Verse gewidmet. Ich habe nie erfahren, ob sie bei jenen Wohlgefallen und Zustimmung erregten, für die sie geschrieben waren, damals. Unwillen riefen sie jedoch hervor.
Ein Artikel der Reichsverfassung bestimmte: Kunst, Wissenschaft und Lehre sind frei. Unter Bruch dieser Verfassung verbot und beschlagnahmte der vierte Strafsenat des „Reichsgerichts" jedoch die Verse, da sie „Vorbereitung zum Hochverrat" wären. Was Noskes Richter begannen, vollendete die Gestapo.
Nun war ich wieder, diesmal hinter Stacheldraht, mit Männern von der Wasserkante zusammen. In ihren Herzen brannte Sehnsucht und Glaube des Proletariats, in ihren Hirnen lebte die ungeschriebene Geschichte vom Alltag im Hafenviertel. In dieser Geschichte, die vom Geheul der Schiffsirenen und Fabrikpfeifen gellte, drängte das arbeitende Volk aus Ruß und Rostwolken zu dem ihm längst gebührenden Platz im Licht. Dessen blieben sich die Männer in ihrem Tun und Streben auch in der Gefangenschaft bewusst. Sie verfuhren dort nicht anders als auf den Werften zwischen Schiffsbäuchen und Hebekränen, zwischen Schweißbrennern und knatternden Niethämmern.
So feierten wir, eine Minute die Arbeit unterbrechend, den Geburtstag Ernst Thälmanns. Mit aufgeregtem Geheul rannten die „Kapos" umher, aber die überraschend geschlossene Abwehrhaltung, mit der wir das „Lagergesetz" verletzten, ließ ihr Gebrüll verstummen.
In das eingetretene Schweigen sprach ich gedämpft die verbotenen Verse, die den Barrikadenkämpfern und ihrem besten Freunde Ernst Thälmann gewidmet
waren:
Der junge Tag stand auf und strahlte. Wir blickten in sein helles Licht, die volle Morgensonne malte uns Lebensfeuer ins Gesicht.
Als Polizistenkugeln pfiffen, brach unser Sturm den Herrenwahn. In den Betrieben und auf Schiffen, griff nun das Volk von Hamburg an.
Bald hatten sich die „Kapos" von unserer Überrumpelung erholt, schimpften unflätig und trieben die Kolonnen mit heftigen Schlägen und Fußtritten an die Arbeit. Zu Mittag schütteten sie uns den Inhalt der Essenkübel vor die Füße, doch auch diese Niederträchtigkeit konnte uns die feierliche Stimmung nicht rauben. Es mochte ja sein, dass unser Teddy in seiner Isolierung den Schlag unserer Herzen spürte, nur einige Takte lang, und dass sein Lächeln im Hirn seiner Aufseher brannte. Ich stellte es mir vor, dieses siegesgewisse Lächeln. Es schränkte ihren Machtdünkel ein. Es beängstigte sie, obwohl sie uns zwischen Stacheldraht und Mauern bewachten. Sie spürten in dem Lächeln die Kampfgemeinschaft der Arbeiter und Bauern. In ihren Hass und die Wildheit schlich sich die Furcht.
Sie spürten, wie das Lächeln, das seine antifaschistischen Freunde erwärmte und erleuchtete, den Mut weckte, dem Proletariat bis zum Tod die Treue zu bewahren.
Ach, ich wusste es die Tage zuvor, dass mir die Vergangenheit auf dem Berg so deutlich werden würde, als gäbe es keine Gegenwart. Deshalb versuchte ich ja die Stimme des Berges zu überhören. Deshalb versuchte ich krampfhaft, in den Gässchen zu verbleiben. Deshalb lief ich vor der Musikhochschule auf und ab und hörte die Übungsläufe aus den offenen Fenstern springen. Alle Instrumente eines Orchesters zupften, strichen, bliesen und eine Mädchenstimme theorisierte in Trillern. Das ging eine ganze Zeit. Dann klang erneut durch die Vielfalt die mahnende Stimme des Berges hindurch. Sie war in ihrer Wirkung nur für mich bestimmt. Es blieb doch in den Gässchen niemand stehen, als bekäme er diskrete Töne ins Ohr. Töne, die weich in das Herz drangen und den Pulsschlag änderten. Ich sah ringsum die Menschen an. Sie wandelten über das Pflaster, plauderten und betrachteten die Auslagen in den Läden. Hoben die Mädchen ihre frisierten Köpfe und drehten sie, dann geschah es, um sich zu überzeugen, ob jemand hinter ihnen her ging. Nichts anderes ließ sich von ihren Gesichtern ablesen. Manche hörten im Vorbeigehen ein Herz klopfen oder sie spürten Gedanken auf den sonnebraunen Schultern und plötzlich flammte ihr Gesicht und machte sie besonders anmutig. Der Wind unterwehte ihre federleichten Kleider, doch die wachsamen Hände meisterten sein keckes Temperament.
Ich verliege eine lange Zeit am Ende des Appellplatzes im Spiel der Sonne und des Windes. Ich kann liegen bleiben oder aufstehen, wie es mir beliebt. Kein Maschinengewehr beschränkt meinen Schritt. Wenn sich auch die Totenkopfgarde im Rheinland wieder formiert, um das Menschenantlitz zu verwüsten, und ihre rohen Wünsche und Triebe danach drängen, Atombomben zur Explosion zu bringen. Noch ist das Gras grün und der Horizont blitzsauber. Ein duftender Wind kommt den Abhang herauf und streicht dicht über den Erdboden, den Häftlingsfüße festtraten. Ich knabbere Gebäck. Ich rauche. Das muss man begreifen.
Hier brachen Männer zusammen und starben, weil ihnen eine Scheibe Brot fehlte. Hier schoss der Posten auf einen blauweiß gestreiften Anzug, weil er eine Kippe aufhob. Im Rheinland rüstet sich die Totenkopfgarde, den Menschen erneut in einem Krieg zu vergeuden. Sie haben Angst vor dem Leben im Frieden. Sie brauchen Flammen und Schmerz und Öde. Sie sind nicht froh dabei, ein Schiff, einen Staudamm, eine Fabrik zu bauen, einen Acker zu bestellen oder Waldungen zu pflanzen. Atombomben wollen sie werfen. Sie legen keinen Wert darauf, die umständlichen, zeitraubenden Verbrennungsöfen neu in Tätigkeit zu setzen. Atom ist radikaler, auswegloser, geschwinder.
Aber wer wird stärker sein? Das Leben! Darum schläft auch der geschundene Berg nicht. Er schickt den Wind. Der Wind legt den Menschen die Hand auf die Schulter. Er mahnt sie viele Male. Wo wollt ihr hin?

 

Zugang

Der Winter des vierziger Jahres war voll klirrender Kälte. Er brachte Schnee in kaum vorstellbarer Menge. Tag und Nacht glitzerten an den Fensterscheiben eng
gedrängt und übereinander wachsend die mannigfaltigsten Motive aus der Blumenwelt des Eises. In so mancher Morgenfrühe schwiegen sogar die Spatzen. Sie, die ab und zu am vergitterten Fenster wie Schatten vorbeihuschten oder vom Dach des Menschenkäfigs hellstimmig schilpten, diese Lausbuben der Gassen, gaben in der Kälte keinen Laut von sich. Selbst die Stadtbahn weckte mich nicht mehr auf. Der alte Strohsack stank leise und ausdauernd vor sich hin. Sein Mief kam mir intensiver vor, seit mir die dichte Schneedecke die Geräusche der Stadt zunichte machte.
Nach Monaten erst hatte ich gelernt, dass die Augen in der Gefangenenzelle eine untergeordnete Rolle zu spielen hätten. Die Hausordnung sah deshalb auch verschärfte Maßnahmen vor, wenn es der Häftling wagte, einen Blick durch die stählernen Gitter in die Umgebung zu tun.
Man kennt ja so schnell den Grundriss seiner staatlichen Behausung. Man kennt auch bald das Gästebuch. Name und Tag der Einlieferung auf die Wände geschrieben, in den Stein gekratzt, gaben mir Auskunft über eine große Anzahl meiner Vorgänger. Trotz emsiger Arbeit ließ sich jedoch nicht der erste Insasse ermitteln.
So mancher trug mit seinem Namen seine politische Hoffnung, seinen starken, unbesiegbaren Glauben ein,
seinen proletarischen Klassenstolz, der mit dem Vormarsch der Arbeiterbewegung und dem praktischen Kampf für den Sozialismus wuchs. In oft bitteren Stunden sind mir die unterschiedlichen Schriftzüge, die eingegrabenen geballten Fäuste, stilisierten Fahnen und gereimten Zweizeiler zur Stärkung geworden. Sie wurden zur Glücksquelle, die den Gedanken der Vereinsamung ein Ende bereiteten.
Doch bevor ich die Bedeutung jener einfallsreichen Tätigkeit erkannte, die Notwehr gegen die Gefangenschaft, Einsamkeit und Zwiespältigkeit in Schriftzeichen und Bildnissen herausfand, verneinte ich mit kühlem Verstand diese Art der Selbstverständigung und betrachtete sie als Allotria.
Die Langeweile trieb mich zum Licht, zum Fenster. Wenn auch die herben Buchstaben der Hausordnung warnten und die rostbraunen Gitterstäbe meine Sehnsucht brachen, es verminderten sich die Hemmungen in meiner Brust. Ich bestieg die Pritsche. Mir gegenüber befand sich die Abteilung des Erkennungsdienstes. Dort wurde der Eingelieferte katalogisiert, fotografiert, und man nahm von ihm Fingerabdrücke.
Aber wie ein Blitzstrahl schlug mir sofort das Licht auf die Augen, das auf der Flaumdecke des Neuschnees tanzte. Ich schwankte und war, von der Helle übermannt, noch nicht ganz auf den Boden zurückgeglitten, als der Zellenriegel knackte. Ich hatte das viele Licht nicht gut vertragen. Mir war elend. Fast verlor ich das Gleichgewicht. Nur allmählich zeichnete sich in der verwandelten Szene die Gestalt des Wachtmeisters ab. Immer noch leuchtete der Schnee und blitzte das Licht, das mir in die Augen geströmt war. Immer noch befand sich das Hirn in der Welt hinter dem Menschenkäfig. Langsam nur fand es zurück.
Die Tür flog auf und der Wachtmeister überschüttete mich mit heftigen Vorwürfen. Ihn, seine Frau und die Kinder brächte mein Ungehorsam in ärgste Schwierigkeiten. Das betonte er erregt und unsicher.
Da sah ich auch den Kalfaktor, sah seine Genugtuung auf dem grinsend triumphierenden Gesicht und sah den Hass und die Zufriedenheit des schäbigen Kerls. Er hatte mich durch den Spion in der Tür beobachtet und meine Disziplinlosigkeit dem Wachtmeister gemeldet. Ich sah dem Wachtmeister über die Schulter, fixierte den Kalfaktor und konzentrierte mich ganz auf sein teuflisch feixendes Gesicht. Er kroch in sich zusammen. Der Wachtmeister wich rückwärts aus, stemmte mit einem Ruck die Hände in die Hüften und bohrte dem Kalfaktor die Ellenbogen in die Magengrube, dass er mit einem rettenden Sprung auf den Gang verschwand.
Ich kam darauf in die Dunkelzelle, die im Keller lag. Wir gingen sehr langsam. Der Wachtmeister seufzte. Ich verstand. Sein Vertrauen auf einen friedlichen Lebensabend war ins Wanken geraten. Überall kamen wir an seinen Kollegen vorüber, betrachtete uns ein Kommissar oder lauerte ein Kalfaktor. Wir konnten das Schweigen nicht brechen. Unsere Schritte verrieten uns von Stufe zu Stufe. Ich spürte ja, dass er mich nicht gern in den Keller brachte. Sicher hatte er schon viele Männer in den Keller gebracht. Mich hätte er davor bewahrt, wenn mich nicht der Kalfaktor verraten hätte. Als er ihm die Ellenbogen in den Bauch stieß, war es mir ja nicht entgangen, dass er ihm eine schmerzhafte Belehrung erteilte. Ich musste in den Keller. Der Kalfaktor hätte seine Meldung sonst an den ablösenden Wachtmeister weitergegeben. Er würde sich schon Gehör verschafft haben, wäre ich nicht in den Keller gekommen. In die Büßerzelle. Zum Abschleifen. Der Kalfaktor hegte nur Hass gegen den politischen Häftling.
Ich verschwand in dem dunklen Loch. Hier gab es keinen Schemel. Keine Pritsche. Ein Holzrost lag am Boden. Der feuchte Zellenraum war bald abgetastet. Nach beendeter Orientierung hockte ich nieder. Ich dachte nicht nach draußen. Das hatte keinen Sinn. Es brach nur die eigene Kraft. Man durfte in diesem Haus nicht an den unbekümmerten Menschenstrom denken, der täglich an diesem Bau vorbeifloss.
Ich gedachte vielmehr eines einzelnen Menschen, der seinen hastigen Schritt für eine Sekunde zügelte und an der roten Fläche hinaufsah. Mit ihm lief ich im Schnee durch das alte Stadtviertel, begleitete ihn zur Elektrischen und ließ ihn zu den Kollegen in den Betrieb fahren.
Die Kälte kroch mich an. Vor der Tür gab es Stimmen. Rede und Antwort schwankten hin und her. Deutlich konnte ich jedoch kein Wort verstehen. Es wurde still. Ich machte einige Kniebeugen, um warm zu werden. Dann maß ich nochmals den Raum aus und führte Boxhiebe in die Dunkelheit. Ich durfte nicht kalt werden, nicht schlafen. Die wilden Lufthiebe machten mich wieder munter und warm. Wieder hörte ich Stimmengemurmel. Einige Riegel schoben sich zurück. Glühbirnenschein hing vor der Büßerzelle.
Mit barscher Stimme forderte mich der hier amtierende Wachtmeister auf, die Zelle zu verlassen. Ich zögerte. Da flog die Tür zu und die Riegel schnappten ein. Stimmengemurmel kam wie aus weiter Ferne. Vor meinen Augen zuckten bunte Kringel. Sie schleuderten hin und her. Sie stachen wie mit schmerzenden Nadelstichen. Noch mal und noch mal kamen Licht und Dunkelheit. Dann befand ich mich auf dem Gang und tastete mich die Stufen empor.
In meiner Zelle angekommen, überbrückte ich die Demütigung durch die Inschriften auf den Wänden. Sie sprachen vom Kampf ums Dasein. Auch im Faschismus standen sie gleich Signalen dort. Ja, sie wurden weitergeführt. Sie waren sprechende Belege dafür, dass der Freiheitsgedanke des Volkes trotz Faschismus zum Sieg führen würde, dass weder Verfolgung noch Haft die organische Entwicklung zu einem Arbeiter-und-Bauern-Staat hindern könne, weder Marter noch Tod des einzelnen das Ganze zu vernichten imstande sei.
Eines Tages wurde ich dem Arzt vorgeführt. Er saß am Schreibtisch. Es tat mir wohl, dass mein Gesundheitszustand überprüft werden sollte. Ich hätte nie erwartet, dass einem Häftling soviel Wohlwollen zuteil werden könnte. Der Doktor beschrieb eine Kartothekkarte. Seine abwehrende Linke bremste meinen Schritt. Sie deutete auf einen Stuhl. Ich setzte mich. Nach einem neuen Handzeichen stand ich auf. Das Handzeichen wies zur Tür. Ich ging. Es war eine völlig neue, ungewohnte Untersuchung. Ratlos sah ich den Wachtmeister an. Der blickte gleichgültig geradeaus. Diesem banalen Akt folgte der Transport.
Kaum war die „grüne Minna" in Sachsenhausen angekommen und wir sieben Häftlinge ausgestiegen, als ein Rudel SS über uns herfiel. Mit Koppelzeug und Fausthieben schlugen sie uns nieder, mit den eisenbeschlagenen Stiefeln traten sie auf jeden ein, der sich aus dem Schnee zu erheben wagte. Getreten, geschlagen, bespien, hetzten sie uns durch das Tor, rissen uns an den Haaren durch den Schnee, stellten uns Beine und heulten dazu wie Wölfe, denen der Hunger in den Flanken brannte. Sie waren kalt wie der Schnee und grimmig wie der Frost. Es blieb nutzlos, in Deckung zu gehen, sie arbeiteten weiter mit Koppel und Fäusten und schrien lauter als die Tonsäulen, aus denen Musikfetzen tönten.
Endlich wurden wir in einer Reihe aufgebaut. Unsere Lungen arbeiteten wie Blasebälge. In den Nasenlöchern gefror der Atem. Nach dieser „Eingangspolonäse" spürten wir noch nicht die abgesunkene Temperatur. Ich trug einen leichten Sommeranzug. Den Pullover hielt ich in der Hand. Aber wir hatten Befehl, in strammer Haltung zu stehen. Noch glühten wir innerlich. Sonne flimmerte auf dem Schnee. Unser Blick war auf eine SS-Unterkunft gerichtet. Gelächter klang heraus. Sie brüllten uns etwas zu. Sie drohten mit Fäusten und Peitschen. Ihre Stimmen überschlugen sich in einem Wortbrei.
In der Nase juckten die Eiskristalle. Allmählich kroch die Kälte an mir hoch. Auch der Wind blies durchdringend. Die Sonne schien zwar, doch der Frost war stärker. Er fühlte sich durch ihren Glanz beleidigt. Meine Augen begannen in diesem grellen Weiß zu versagen. Die SS-Unterkunft geriet ins Schwimmen und die Gitter an den Fenstern wanderten. Ich begann vor Frost zu beben. Die SS beobachtete uns durch die Fenster ihrer warmen Unterkunft. Ab und zu erfasste ich die Situation ja noch. Vor allem, wenn sich das Geheul hinter den Scheiben wieder hob.
Wie hatte ich mich nach der Klarheit des winterlichen Himmels gesehnt, als ich in meiner einsamen Zelle hin und her schritt, das Auge auf das vergitterte Fenster gerichtet. Unter der dichten Schneedecke wusste ich Keim und Wurzel geborgen vor dem Frost. Hochschäftige Kiefern zeichneten sich mit ihren rissigen Stämmen von der weißen Decke ab und das Nadeldach trug die Schneepatzen, ohne die Äste zu beugen. So verging die erste harte Stunde. Unsere Zähne klapperten. Wir rückten enger aneinander. Unsere Glieder schlotterten. Ich hatte ständig die Zehen bewegt und nach einiger Zeit auch die Finger. Mir war so kalt, dass ich nicht mehr spürte, ob noch das Leben darin saß. Wir warteten vergebens darauf, dass wir uns rühren durften oder in einen Raum geführt wurden.
Die zweite Stunde verging.
Ich wurde müde. Wie oft war ich Stunden um Stunden durch Schnee gegangen und durch schneidende Kälte, aber während der ständigen Bewegung war ich vor der Kälte gesichert. Hier standen die Füße auf dem Fleck fest und die Hände drückten sich an die Hosennaht. Der Blick traf sich mit dem Schnee und der Schnee tanzte. Das Herz wurde schwer und der Schlaf immer quälender. Hinter uns bereiteten sie das Essen. Irgendwo hinter uns roch es nach Gemüse und qualmendem Holz.
Die dritte Stunde war fast herum, da nahte sich uns der Kommandant mit einem Stab von Blockführern. Sie trugen ihre gefütterten Mäntel und Handschuhe und wateten mit ihren knarrenden Langschäftern durch den Schnee, den ich nicht mehr sehen mochte.
Auf ihren Gesichtern lag Hohn. Sie gingen ganz langsam an uns vorbei. Der warme Atem tanzte vor ihren Gesichtern, aber der höhnische Ausdruck um Augen und Lippen bewegte wieder mein Blut, das ich schon erstarrt glaubte. Die Frostschrauben ließen von mir ab.
Der Kommandant stellte seine Fragen nach Alter,
Beruf und Grund der Schutzhaft. Mein linker Nebenmann lallte. Der Kommandant sah ihn unwillig an. Mein Nebenmann rang die Hände. Es kam jedoch kein Wort aus seinem Mund. Unter Qualen entstand ein Ton, wie ihn ein Mensch von sich gibt, der keine Kräfte mehr hat. Es war ein erschütternder Laut.
Der Kommandant lachte. Er lachte lange. Die Schreie meines Nachbarn schraubten sich immer höher, sie wurden wilder und unheimlicher. Die Blockführer lachten, bis allen die Luft knapp wurde.
Der Kommandant sah meinen Nachbarn lauernd an. Mit zusammengepressten Lippen und kaltem Blick überlegte er. Dann verlangte er den Arzt und den Bock. Vier Blockführer entfernten sich im Laufschritt.
Zuerst kam der Arzt. Aus fünf Meter Entfernung warf er einen flüchtigen Blick auf uns alle. Es genügte ihm für eine exakte Diagnose. Wozu nur dieser Aufwand? Der Arzt nickte den Blockführern zu, die soeben ein Holzgerät herantrugen. Sie setzten es ab. Sprangen auf meinen Nachbarn los, warfen ihn über den Bock und schnallten ihn fest. Sie korrigierten hier und dort Schnallen und Riemen. Legten ihre Mäntel hin, prüften den Schwung der Ochsenziemer und der erste Schlag traf das Gesäß. Ich erwartete einen Schmerzensschrei. Nichts. Der Blockführer holte aus, schlug und ging dabei in die Knie. Er stöhnte vor Anstrengung. Fünf Schläge trafen. Der Mann auf dem Bock schwieg. Der nächste Blockführer trat an.
Mein Herz schlug rasend schnell. Mir war, als stände ich auf glühenden Kohlen und nicht auf tiefgefrorener Erde und Schnee. Und immerfort wechselten die Blockführer und fielen die Hiebe. Der Mann auf dem Bock röchelte nur. Hosen, Unterzeug und Hemd gingen in Fetzen. Blut spritzte uns ins Gesicht.
Vierzig Hiebe sausten. Nun schnallten sie den Mann ab. Ein Stoß, er fiel vom Bock in den Schnee. Er versuchte sich zu erheben, war aber zu schwach. Der Arzt bohrte ihm die Stiefelspitze in die Rippen. Was ging denn in seiner Hirnschale vor? Wo war die helfende Hand, wo blieb das oft betonte Gewissen, die Berufsehre, das gütige Herz, der unbestechliche Sinn, entstandene Leiden zu heilen?
Auf Händen und Knien kroch der Geschlagene auf uns zu. Wir standen stramm und wie gestorben da. An meinem Hosenbein zog er sich hoch. Ein Bächlein roten Blutes floss zwischen den bebenden Lippen hindurch. Arzt und Kommandant entfernten sich. Nun konnte ich den Geschlagenen stützen und ihm verstohlen die Hand drücken. Wir stolperten zur Aufnahmebaracke. Wir stürzten gemeinsam in den Schnee und ernteten Fußtritte und Ohrfeigen. Ich sah nichts mehr und fühlte nichts mehr, und wenn den Scharführern die Geduld riss, dann schlugen und brüllten sie, aber das alles rollte ab wie ein gefährlicher Traum, in dem wir uns langsam voran bewegten.
In der Baracke gaben wir sämtliche Utensilien, die wir bei uns trugen, in eine Tüte, wurden registriert und kahl geschoren. Ein Häftling drückte uns Badeseife in die Hand, und wir traten unter die Brausen. Ich genoss die warmen Wasserstrahlen in vollen Zügen. Es schien mir alles überstanden, was einem Zugang zustoßen konnte. Solange das Wasser lief, waren wir den Betätigung suchenden Muskeln der SS entwischt. Ja, ich wagte neugierig durch die dampfenden Strahlen in den Raum zu sehen und erblickte einen Halbkreis der SS. Sie hatten die Hände auf dem Rücken. Sie schnitten böse Gesichter. Sie ermunterten sich durch Zurufe. Ich wich zur Mitte aus. Eiskalt floss das Wasser aus den Brausen über uns her. Ich zog mich krumm, rieb die Haut und strampelte. Wer davon sprang, den traf der Fahrradschlauch der SS. Sie schlugen, fluchten und johlten. Sie warfen Seifenstückchen auf die Fliesen, die Männer glitten aus und die Fahrradschläuche zerschnitten unbarmherzig die nackte Haut. Hilflos krochen die Männer über die Fliesen. Ich hockte verkrampft in der Mitte, bis das Wasser abgestellt war.
Häftlinge drückten uns die Staatsanzüge in die Hand. Noch nass zogen wir das stinkende Zeug über.
Ich bekam eine alte Kavalleriehose, eine geflickte Zebrajacke, ein Hemdbruststück mit halben Ärmeln daran, zwei linke Schnürstiefel ohne Bänder und das Krätzchen.
Dem Geschlagenen lief schon wieder das Blut durch die zusammengepressten Lippen über das Kinn. Sein Gesäß war unförmig aufgeschwollen und schillerte in allen Farben. Wir halfen ihm in die übel riechenden Lumpen, die die Schadenfreude der SS erhöhten.
Wieder standen wir vor der Baracke in strammer Haltung in frostiger Luft und auf eisigem Boden. Uber mir hörte ich die Krähen schreien, und in der Ferne standen Kiefern voll schwarzer Nadeln und trockener Astzacken. Ich hörte auch eine flüchtige Meise. Aber der bittere Wind und der steigende Bodenfrost nebst dem auf uns gedrehten Maschinengewehr triumphierten, die Flüche und Verwünschungen der SS ...
Nein!
Die beschriftete Wand in der Zelle fiel mir ein, die halbverblichenen Ermunterungen, die trotzigen Schwüre, tief in die Ziegel gegraben gegen die bösen Tage, leuchteten deutlich auf.
Da wir allein blieben, machte mir der Geschlagene durch Gesten klar, dass er stumm sei. Ab und zu spuckte er geronnenes Blut in den Schnee, bis ihn ein Blockführer in den Strafbunker brachte.
Wir rückten im Laufschritt in das Barackenfeld ein. Während dieser Gangart verlor ich die unförmigen Schuhe, und wenn auch die Erde kalt und hart war und wie mit Nadeln stach, so erreichte ich doch bald die Baracke, die von Häftlingen wimmelte.

 

Solange das Herz schlägt

Die Schlafstunde ist gekommen. Ich bin auf die mir zugewiesene Pritsche geklettert. Der Raum ist eiskalt. Kopfkissen und Laken sind durch Feuchtigkeit und Frost fast steif gefroren. Einige Zugänge schnarchen schon. Draußen knarrt eine Kiefer. Sie steht in ihrer vollen Lebenskraft und versucht mich mit der Lockung ihres Wesens zu erfüllen, mir Selbstvertrauen und Ruhe zu schenken. Die Winde blasen durch ihre Nadeln, und wenn ich das Lied recht verstehe, erinnert es mich an alte Beziehungen in diesem Landstrich, den ich durchwandert bin, als er noch nicht parzelliert war, um junge und alte Menschen durch einen getarnten Justizapparat zugrunde zu richten.
Ich bin ehrlich bemüht, meine innere Erregung abzubauen und still und müde zu sein, wie die Gesellschaft der schlafenden Männer, die im Sturm und Schneetreiben vor den grünen Baracken wohl das Wiegenlied ihrer in Arbeit und Sorge ergrauten Mütter vernehmen. Der Scheinwerfer streicht an den Fenstern vorbei. Langsam suchend, prüfend, den Ausbrecher erkennen wollend, die dicken Eisblumen durchleuchtend, die am Glas knistern, schiebt das Licht vorüber. Meine Schlafdecke ist zu kurz. Der eiskalte Luftzug trifft auf meine Füße oder kriecht mir um den kahlgeschorenen Schädel.
Ich habe in meinem Leben viel gehungert und gefroren. Hunger und Frost haben meine Empörung geweckt, denn ich sah den Nachbarn schwächer und nackter im Dasein stehen, als Hund oder Katze der reichen
Leute, als ihre Zierfische oder bunten Papageien. Der arbeitende Mensch des XX. Jahrhunderts musste erkennen lernen, dass seine miserablen gesellschaftlichen Zustände niemals von selbst aufhörten, sondern nur durch die Leidenschaft, mit der er kämpferisch die Veränderung des Lebens vornahm.
Die Kälte lässt mich nicht in Ruhe. Die Gedanken galoppieren, und die Frostschauer überrieseln mich. Die Baracken krachen in den Fugen. Ein Mann fällt aus dem oberen Bett. Es gibt eine kurze Auseinandersetzung, grollende Stimmen und klatschende Hiebe. Der Scheinwerfer wandert, die Eisblumen wachsen knisternd, eine winselnde Stimme, die durch Barackenwand und Zaun will, um das Erlittene in die kristallklare Nacht zu tragen, wird mit einem klatschenden Hieb zur Ruhe gebracht.
Dann beginnt eine endlose Wanderung nackter Füße, denn nicht alle Nieren halten die Kälteprüfungen des Winters durch.
Ich will nichts hören, keine Geräusche deuten, keine Betrachtungen anstellen, sondern die Ruhezeit nützen und rolle mich wärmesuchend zusammen und verstecke mich unter der Decke. Ferne Erlebnisse wollen mich erneut zwingen, meinen Weg zurückzuverfolgen. In dieser eisigen Frische, die mich so gewaltig schüttelt, zittert auch meine Pritsche. Schlimmer empfinde ich den klaren Kopf, dem ich die tiefste Müdigkeit wünsche. Ich lege keinen Wert darauf, vor nicht aufgegangenen Lebensträumen schwach zu werden. Sie drängen sich zwar in die Reihe des bisher Erreichten, aber sie müssen zurück ohne Leid, ohne Seufzer vor dem Fehlenden. Wer nur die Verluste im Leben addiert, schwächt seine Kräfte. Wer die Träume zu neuen Zielen macht, wird sich auch behaupten.
Der Weckruf geht durchs Lager. Nun erst könnte ich die Augen schließen, denn jetzt, wo der Morgen anrückt, bin ich voll Müdigkeit. Aber ich steige doch hinunter.
Vorwärts, rate ich mir, während die in der Dunkelheit tastenden Füße auf dem unteren Bett landen. Im nächsten Augenblick liege ich am Boden. Ich denke noch nicht an Böswilligkeit, obwohl mir die angeschlagenen Knochen im Leibe weh tun. Ich lege die Hose an und mache dabei dem Kumpel mit gedämpfter Stimme Vorhaltungen, rede von Leichtsinn, von Unüberlegtheit ... will von der gemeinsamen Gefahr sprechen, doch er lässt mir schon keine Zeit mehr dazu und springt mich wie eine tollwütige Katze an. Meine Faust trifft blitzschnell seine Brust, sein Kinn, bevor er aufgibt.
Ich gehe in den Waschraum. Die Duschen sind eiskalt. Die schwingende Nebelwand steigt von den Leibern der Häftlinge auf, wenn sie der harte Wasserstrahl trifft. Nur mit der Hose bekleidet, setzen wir die Oberkörper dem Druck aus.
Es gibt eine Mehlsuppe zum Frühstück. Dann müssen wir zum Appell. Wir bauen uns vor der Baracke auf. Es findet ein Vorappell durch den Blockältesten statt. Der Wind fegt uns durch die Lumpen. Die Kälte kneift uns mit ganzer Härte. Im Block liegen Ohrenschützer, Handschuhe und Mäntel. Nur Kapos und Blockälteste dürfen davon Gebrauch machen. Es ist müßig, sich dabei vom Zorn anfressen zu lassen.
Deshalb blicke ich in die Kiefer, wage einen poetischen Spaziergang in ihr verschlungenes Geäst und höre der Krähe zu, die mit rostiger Stimme über dem Lager plärrt. Sie hüpft munter und wirft mit ihren Schwingen den über Nacht aufgestockten Schnee zu Boden. Ich bin ganz in der herben märkischen Landschaft, der man Langweile nachsagt, Öde und Traurigkeit.
Aber wer sah denn ihre glühenden Sonnenaufgänge, wer das Abendleuchten an den Kiefernstämmen an versteckten Seen? Wer schwamm wie ein Haubentaucher am Binsen- und Schilfgürtel entlang, wer tat es den Fröschen nach, die sich zwischen den Seerosen tummelten? Wo gab es einen Horizont wie diesen, der die Felder und Wälder schmückte?
Die harte Stimme des Blockältesten führt mich zurück. Die Bodenkälte hat die Füße zu Eisklumpen gemacht, meine weitschweifenden Gedanken müssen in das Hässliche hinein, ich muss nach Befehlen strammstehen, mich nach dem Vorder- und Seitenmann ausrichten, rühren, mich in den Schnee werfen, abzählen, die Kniebeugen, Mütze auf- und abreißen und bin nur noch ein Drecksack, den eine Mutter in die Welt setzte, damit er im Abgrund des XX. Jahrhunderts versinkt.
Das wird uns in den Kopf gehämmert. Aber das sind für mich längst verbrauchte Informationen oder Befehle, die nie meinen Geschmack gefunden haben. Ich habe nie meinen Schritt an die Leine nehmen lassen und habe keine Veranlassung, davon abzuweichen.
Nach einigen Übungen zum Hinlegen und Aufstehen, die uns in der Kälte nur dienlich sind, ebenso wie der Dauerlauf um den Block, marschieren wir zum Appellplatz. Kranke und Tote werden mitgeschleppt, ohne Unterschied will der Kommandant den Haufen zusammen haben. Es wimmelt von SS-Männern. Über dem Eingangstor stehen SS-Wachposten mit Gewehren, vor ihnen bewegen unsichtbare Posten die Maschinengewehre. Die Waffen sind zwar gut eingepackt, besser als wir, aber trotzdem werden sie sekundenschnell schießen, wenn der Befehl dazu erfolgt.
Heute noch nicht. Aber sie werden zu gegebener Zeit nicht darauf verzichten.
Die Blockführer schleichen um uns herum. Sie blicken von hinten in die Reihen und treten uns ins Gesäß. Sie treten uns hinein wie Fußballschützen, die zwölf Meter vom Tor entfernt sind. Aus ihrer Brust kommt dabei jener Laut, der die Kraft verrät, mit der der Tritt geführt wurde.
Was konnten denn die modernen Kannibalen anderes geben? Hatten sie sich nicht bei Lohnstreiks als Verräter an die Seite der Unternehmer gestellt? Hatten sie nicht zur späten Abendstunde Gewerkschaftsfunktionäre in dunklen Straßen mit Gasrohren niedergeschlagen? Hatten sie nicht etlichen Sportfunktionären die Lauben angesteckt und wie rasende Teufel auf Frauen und Kinder eingeschlagen, die das Dach über dem Kopf retten wollten?
Wir haben uns nie in Gedanken gewiegt, dass sie uns einmal glücklich machen werden. Sie wollten von Anfang an die Welt für sich. Wir hatten sie bis in den dunkelsten Teil ihres Wesens erkannt und die Zeit bis in die Nächte hinein genützt, um Tod und Tränen den Weg in die Häuser zu verschließen.
Wir stehen wie Statuen, bis das Kommando zum Abrücken kommt. Wir dürfen jedoch nicht in den Tagesraum, sondern werden in die Toilette gepfercht, die sich im Mittelteil der einzelnen Blocks befindet. Stehkommando, ist die sinnige Bezeichnung zu diesem Stelldichein. Aber dann muss dieser und jener seine Notdurft verrichten. Die Wasserspülung ist jedoch abgestellt. Der Geruch ist fürchterlich, aber er tötet nicht. Die Fenster zu öffnen ist verboten. Wir stehen enggedrängt und erzählen uns etwas aus dem Leben. Irgendein Begebnis, ob erlebt oder erdacht, hilft uns den Abscheu überwinden, den wir vor der Gegenwart haben.
Der Blockführer schreit uns vor die Baracke. Er jagt uns auf die Toilette, er schreit uns heraus. Es geht ihm zu langsam, und er hilft mit Fußtritten und Faustschlägen nach. Am geöffneten Fenster warten Kapos mit Stöcken, und sie prügeln. Nun stauen sich die Männer an der Tür. Etliche stürzen, es ist ein chaotisches
Durcheinander. Es gibt keine Menschen mehr, es gibt nur noch heulende Stimmen, Arme und Beine, die sich aus dem Bereich der schlagenden Stöcke retten wollen. Sie spielen Saalschlacht, diese Feinde des Denkens und der Arbeit. Nicht immer wollen sie Karten spielen, Schnaps schlucken oder schlafen. Sie müssen ihrer Langeweile eine neue Ablenkung geben, damit ihnen das Mittagbrot besser bekommt. Musik oder Dichtung hat keinen Platz in ihrem Leben. Menschen in Gefahr, Menschen im Blut, das gibt ihnen ihr Gleichgewicht wieder.
Nach diesem Auftritt kühlen wir die Stirnen an den kalten Wänden, befeuchten mit Speichel die Augenschwülste, belecken die Wunden und warten in der vergifteten Luft auf den nächsten Appell.
Langsam kommt hier und da ein Gespräch in Gang. Deutsche aus vielen Landstrichen sind wir. Abenteurer, Zuhälter, Schaubudendarsteller, Strichjungen, Portokassendiebe, Wohnungseinbrecher, Landstreicher, Wilderer, Heiratsschwindler, Apostel der verschiedensten Sekten, doch nur wenig Männer mit rotem Winkel. Auch hier eine nüchterne Berechnung unserer Erzieher, eine Angriffsspitze ihres ausgeprägten Hasses, um uns Umstürzler über unsere Würdelosigkeit zu belehren.
Ich sehe meinen Mitgefangenen in die Gesichter, höre ihre Stimmen, zucke empfindsam zurück, fühle mich innerlich gebrannt, geschwächt und geschändet. Sie aber kochen Suppen und feine Gerichte, sie garnieren Nachspeisen, trinken Liköre, auserwählte Weine und löffeln Torten. Ich höre das wohl und spüre, wie qualvoll der Eintopf im Blechgeschirr für sie sein wird. Ich höre auch die Magensäfte kullern, denn die fremdländischen Salate, gefüllten Fische und das gebratene Geflügel schmausen sie mit feuchten Lippen.
Was soll da ein marinierter Hering, Brühnudeln oder ein Eierkuchen bedeuten? Was kann ihnen meine Arbeit bedeuten? Wackerer Steuerzahler, werden sie sagen, kleiner sparsamer Prolet, du Antifaschist und wir Bösewichter gehen an den Galgen, und die Krähen werden keinen von uns verschmähen. Dein Fleiß, dein Lerneifer, deine Geschicklichkeit haben dir nichts genützt. Du hast geschuftet und gespart, und die Erwerbslosigkeit fraß oft dein Sparbuch leer. Wir sind abgeurteilt, gemeinsam auf den Tod zu warten. Wir kennen nur noch nicht die Stunde, in der uns das volle Maß der Grausamkeit erdrückt.
Der Blockälteste sucht zehn Essenträger. Ich bin ihm dankbar, dass er auf meinen freiwilligen Finger achtet. Der Gestank und das Geschwätz sind mir zuwider. Weder im Schädel, noch in den Muskeln will ich nachgeben, solange das Herz schlägt... und wie gut es schlägt... trotz Not und Gefahr ... trotz Raserei oder Stillstand . . . Herz, du hast dich immer wieder in den rhythmischen Takt gebracht, der dir eigen ist.
Der Blockälteste hat nur zwei Essenträger zusammen. Nun stellt er keine Frage mehr. Er durchbricht die Menschenmauer wie ein Wolf die Schafherde, und mit einem Kinnhaken fliegt der Schänder kleiner Schulmädchen durch die Luft. Ihm folgt der Scheckfälscher und der Wäschedieb, dann will alles hinaus, rennt sich erneut die Schädel an den Türpfosten ein, drückt sich an die Wände und bezieht Faustschläge in einem wahren Wirbel.
Im Laufschritt rücken wir zehn Häftlinge ab. Die Luft ist messerscharf. Wir werfen die Beine wie Paradepferde und trampeln uns warm. Wir umkreisen noch einige Baracken, ehe wir uns der Küche nähern. Unser Atem knistert in der Luft. Sie riecht nach Schnee, doch durchdringender schweben die Küchendämpfe unter der Bläue des Winterhimmels. Jeder Atemzug setzt uns plötzlich Eiskristalle in die Nase.
Wir warten vor der Küche. Hunderte Häftlinge warten auf die Kessel. In Blockordnung reihen wir uns auf. Der Küchenkapo sieht aus wie ein Schutzmann aus der Kaiserzeit. Uniform, Mantel und Mütze geben seiner Gestalt den entsprechenden Rahmen. Er lässt uns um die Kessel marschieren und singen, kommandiert zum Dauerlauf, hängt sich lässig den Mantel um die Schultern wie ein General bei der Parade, zwingt uns die Mützen herunter und lässt uns wieder singen.
Endlich dürfen wir die Kessel aufnehmen und in die Baracken abrücken. Wir tragen die Kessel in den Tagesraum und müssen sofort alle zum Appell vor die Baracke. Die Blockältesten öffnen die Deckel, rühren im Inhalt und rücken einen Kessel zur Seite. Sie sind die Macht, die hier Selbstverwaltung genannt wird. Sie haben uns in der Hand wie die SS. Ihr Befehl ist SS-Befehl. Protest ist Meuterei und am Ende steht immer der Tod. Ob aus SS-Hand oder Häftlingshand, das Strafmaß ist ihrer Laune überlassen.
Wir erhalten Kartoffelsuppe. Sie ist schmackhaft, aber dünn. Die Kartoffeln sind schwarz. Sie haben Frost bekommen. Alle löffeln. Kein Wort fällt. Mich schüttelt der Ekel. Ich habe es nicht auf Braten und Gemüse abgesehen. Ich bin ja nicht im Erholungsheim auf dem Wintersportgelände. Ich bin im Erziehungsheim der SS. Deshalb putzt man auch seinen Blechnapf mit der Zunge aus und blickt nach vorn, ob nicht ein Nachschlag im Kessel ist.
Ob der Magen auch rebelliert, er wird sich an die erfrorenen Kartoffeln gewöhnen, oder der ganze Mann geht kaputt. Der Magen wird eines Tages betteln, verzweifelt zerren. Er wird Küchen und Kochbüchervergessen und keinerlei Vorstellung mehr haben, wie er sich einem Stück Fleisch gegenüber benehmen soll, einem Brötchen, einem Fisch. Solange das Herz schlägt, wird er dich mahnen.
Wir spülen die Näpfe und trocknen sie aus. Wir erhalten ein Stück Schmirgelpapier und scheuern Napf und Besteck blank. Wo ein Gespräch aufkommt, kreist es um den Küchenherd oder um Marktplätze, um Fruchtkörbe oder Bäckereien. Die SS jagt uns hinaus in die Kälte, sie treibt uns durch die Fenster, sie prügelt dazwischen. Darauf dürfen wir weiter am Napf und an den Bestecken scheuern, bis zum Abendappell.
Immer sind Tote dabei, immer wimmernde Kranke, die um den Tod bitten, aber nur verlacht werden, denn die SS lässt sich das Pensum für ihr Handwerk nicht durch die Wünsche der Häftlinge in die Höhe treiben.
Ich werde nicht danach gefragt, ob ich Kartoffeln schälen kann oder will, ich werde dazu bestimmt. Im Keller unter der Häftlingsküche kann ich nun meine Geschicklichkeit unter Beweis stellen, denn je mehr wir schälen, je besser, kräftiger, dicker wird auch die Kartoffelsuppe sein, die morgen zur Mittagszeit ausgegeben wird, lautet der Hinweis des Blockältesten. Obwohl wir Faulpelze, Meuterer und Staatsfeinde dem Dritten Reich nur Scherereien machen und Geld kosten, weil wir untätig umherlungern, will uns das Reich nicht verrecken lassen, erläutert uns der Blockführer die nächtliche Arbeit.
Also schälen wir. Die Kartoffeln sind eiskalt. Unter der Haut hat sich eine Eisschicht gebildet. Zu unseren Füßen rollen sich die Schalen, klirren die Eiskristalle und bilden in kurzer Zeit einen stinkenden Brei. Er wächst mit jeder Kartoffel. Einige Männer husten hart und anhaltend. Ich sehe Eiterbeulen auf Köpfen, im Nacken und auf den entblößten Unterarmen. Ich blicke den Männern ins Gesicht, die vor mir sitzen. Leid und Erschöpfung sind in ihre Gesichter geschnitten. Matt und kraftlos schaukeln sie auf dem Sitzbrett und schälen mechanisch wie Maschinen an den Kartoffeln. Ab und zu stecken sie eine Scheibe in den Mund. Verschlossen dösen sie vor sich hin. Ich fühle einfach nur, dass sie nichts sehen und sich selbst längst in das Krematorium getragen haben, wenn die Hände auch jetzt noch Kartoffeln schälen und die letzten Zähne an einer Scheibe mümmeln.
Ein Alter schabt etliche Kartoffeln zu Brei und klebt ihn auf die isolierten Heizröhren. Häftlinge und Blockführer treiben uns durch Zurufe an, schneller und schneller und noch schneller zu schälen. Der stinkende Morast zu unseren Füßen wächst an. Die Füße sind kalt, und die Feuchtigkeit dringt langsam durch die Schuhe. Mein Nachbar schiebt mir gegen die Nässe eine Rollmopsbüchse zu. Er trägt den roten Winkel. Niemand außer uns trägt ihn. Ich will mich bedanken, aber er beachtet mich einfach nicht mehr.
Er hat es sicher vorher genug getan, als ich die harten Köpfe, diese aus Holz geschnitzten Schädel mit ihren vorstehenden Knochen und den tiefen Hautfalten betrachtete, als sei ich in einem Museum, in dem Plastiken und Ikone aufgestellt waren.
Auf den Heizröhren dampfen überall geschabte Kartoffelhäufchen. Als ihre Besitzer der Hunger plagt, stürzen die Blockführer und Kapos auf sie los, schwingen rasend Stöcke, die fieberhaft schnell arbeiten und über Schädel und Buckel trommeln. Häftlinge wälzen sich am Fußboden im Schlamm. Triumphgeheul und wehes Wimmern erfüllen den Keller. Ich springe erregt hoch, doch der Nachbar zieht mich auf das Sitzbrett. Er schält... und ich tue es ihm nach.
Ein Blockführer packt einen Häftling, schleppt ihn zum Kellerfenster, reißt ihn hoch, steckt ihn in die Lüftung und riegelt ab. Das geschieht, bis alle Fenster besetzt sind. Dann hat er einen weiteren Einfall. Er lässt das Fenster öffnen und richtet den Wasserstrahl, mit dem die Kartoffeln gespült werden, auf jeden Mann.
In der Kommandanturküche werden Schäler gebraucht. Der Blockführer holt meinen Nachbarn heraus, und der verweist nun auch auf mich. Da ich keine Eiterherde habe, darf ich mit.
Im oberen Küchenraum erhalten wir warmes Wasser, Seife und Handtuch und werden nochmals auf Eiterherde überprüft, bevor wir in den Schälraum treten. Hier sitzen ein Dutzend Knochenmänner. Es sind Häftlinge, die aus den Reihen der SS stammen. Sie tragen auf den Spiegeln ihrer blauen Polizeiröcke nur die Knochen, die zum fehlenden Totenkopf gehören. Wir sechs mit rotem Winkel setzen uns ihnen gegenüber.
Sie betrachten uns mit verächtlichen Blicken. Hier haben wir, in ihrer Gesellschaft runde glatte Pellkartoffeln zu schälen. Der Raum ist hell, warm und trocken. Der Blockführer verschwindet. Wir Häftlinge sind unter uns. Die Knochenmänner stecken sich ab und an eine Pellkartoffel in den Mund, nachdem sie etwas Salz darangaben. Wir tun es ihnen nach. Zuerst ohne Salz. Mein Nachbar tupft dann doch in ihr Fässchen. Bald stippen wir nun alle ermutigt, als ob wir bewirtet werden.
Die Knochenmänner unterhalten sich über die roten Schweine. Sie protzen mit Heldentaten bei Saal- und Straßenschlachten. Wir schweigen, schälen und stopfen uns den Bauch voll. Schwach und lächerlich führen die Knochenmänner ihr Gespräch. Sie gehen zu Spott und Verachtung über und belachen ihre Dummheit mit Raubvogelgesichtern.
Mit drei Sätzen holt sie mein Nachbar in die Gegenwart. Sie murren. Er misst sie mit ruhigen Augen. Mir ist nicht wohl. Ich gebe es zu, mir erscheint es leichtsinnig. Wenn wir auch jede Sekunde mit dem Tod zu rechnen haben, aber den Knochenmann herausfordern? Aber der Nachbar ist am Zug und bleibt am Zug. Sind wir nicht seine Freunde? Sind wir voll trüber Gedanken? Wir sind Besiegte und werden Sieger sein! Der Nachbar greift in die Vergangenheit und zeigt den Kampf auf, den jede Sklaverei herausgefordert hat, es sind harte Geschichtsstunden, und die Knochenmänner lauschen mit entspannten Gesichtern.
Am frühen Morgen schworen sie, uns umzubringen, sobald sie ihre schwarze Uniform wiederhätten. Sie fürchteten die Wahrheit, sie fürchteten, aus der Finsternis ans Licht getragen zu werden.
Der Blockführer brachte uns in den Keller zurück. Die Knochenmänner sagten kein Wort mehr.
Das Lager rüstet zum Appell.
Im Keller werden die Fenster geöffnet. Wasser und Frost haben an den ausgesperrten Häftlingen ihre Arbeit längst getan. Steif und zusammengekrümmt fallen die Leichen aus dem Loch. Eis platzt von den Körpern.
Die Blockführer lachen aus Verachtung, doch die Toten kümmern sich nicht darum. Sie sind kalt und steif, und wer sie vermisst, wird im Gedenken an den Hingerichteten den Hut ziehen.

 

Frost

Das Land ist weiß vom Schnee, und der Frost schneidet tief in die Erde hinein, und immer noch fällt Schnee. Wenn die Wolken verschwinden und der Himmel ein Sommerblau zeigt, dann pfeift der Wind, als sei an einem Dampfkessel das Ventil undicht, und der Frost zeigt seine Macht. Der Schnee leuchtet, und die Sonne leuchtet, doch der Frost setzt in die Nasen und um den Mund seine Eiskrusten an.
Auf jedem Barackenflügel ist ein eiserner Ofen. Er wartet auf Feuerung. Aber er wartet darauf, wie wir auf die Entlassung warten oder doch auf ein milderes Wetter. Die Kälte und der Schnee scheinen ewig bleiben zu wollen, und nur sie entlassen jeden Tag eine Anzahl Männer dorthin, wo sie in Zukunft weder Hunger noch Frost spüren. Es ist ihr letzter Appell.
Der Frost ist uns in die Ohren, in die Nasen oder in die Hände gekrochen. Bei mir bat er seine Arbeit an den Zehen begonnen. Sie sind aufgebrochen und eitern. Ich binde die Schuhe an den nackten Füßen fest. Auf den vereisten Wegen rutschend wie ein Schiläufer, mach ich den Weg zum und vom Appellplatz.
Schlimmer als der Frost und die schmerzenden Zehen ist jedoch für mich die Beschäftigungslosigkeit, zu der ich nun verdammt bin. Wenn man wenigstens Schnee schaufelt oder den Hauptweg mit Sand bestreut, spürt man nicht so sehr den Mangel an Nahrung. Im Stehkommando machen sie sich mit ihren Kochereien verrückt. Sie krümmen sich vor Bauchweh, hören aber
mit ihrem wahnwitzigen Geschwätz nicht auf. Es scheint, hier sind nur Köche in Haft, die auf den behaglichsten Überseeschiffen und in den teuersten Luxushotels am Herd standen. Sie mixen ihre Sprache aus Dialekt-, Ganoven- und Fremdwörtern und verständigen sich wunderbar. Dazu kann ich nur stumm bleiben. Aber wenn ich nun die Löffelei in der Suppe aus erfrorenen Kartoffeln sehe, denke ich doch an die Einflüsterungen delikater Beköstigung durch ein Muschelgericht, Hammelrücken, Geflügelauflauf, Kompotte und Weine.
Merkwürdig, dass sie nie von einem Beruf reden. Wie sie je im Leben zu Geld gekommen sind, das bleibt ihr Geheimnis.
Am Nachmittag schlurfe ich zur Arztbaracke. Mal sehen, ob ich nicht eine Binde und Salbe für die Zehen erhalten kann.
Die Schneehaufen stehen in dichten Ballen zwischen den Baracken, aber der Wind bläst mich doch mit seinen wilden Sprüngen an. Meine Jacke flattert, der Frost schneidet wie mit Rasierklingen und die Zähne klappern aufeinander. Durch die Lautsprecheranlage singt eine Frauenstimme: Freut euch des Lebens!
Noch glüht ja dein Lämpchen, denke ich. Zwar nicht in solcher Pracht wie das der singenden Dame im Funkhaus, du hast ganz dunkle Augenringe und eitrige Zehen, bist dünn wie ein Komma und stinkst abscheulich nach den erfrorenen Kartoffeln, aber du bist auch kein Fabrikbesitzer oder Landjunker. Das musst du eben teuer bezahlen.
Unterdessen habe ich den Appellplatz erreicht, will zum Revier abschwenken und werde von einem Blockführer aufgehalten. Ich muss ihm dreimal mein Vorhaben wiederholen. Er tut so, als habe er ein schwaches Gehör. Ich krächze gegen den Wind wie hundert wildgewordene Krähen. Das gefällt dem jungen Mann. Er rülpst aus seinem überfütterten Magen heraus und lacht mit erstklassigem Gebiss. Seine Faust mit dem gefütterten Handschuh funkt gegen mein Kinn, ich überschlage mich und stecke mit dem Kopf im Schneehaufen. Dort tritt er mich fest. Ich höre seine Stiefel auf dem Weg knirschen, verhalte mich noch still, dann rapple ich mich heraus und humple zum Revier.
Eine Häftlingsschlange steht davor. Ich reihe mich an. Die Zeit vergeht. Melodie um Melodie kommt aus dem Lautsprecher. Der Wind jault. Der Frost umschleicht uns. Er beugt unsere Köpfe. Dann folgen die Schultern. Die Knie werden weich. Die Augen schließen sich. Ob ich will oder nicht, die Musik und der Wind lassen mich dämmern, als säße ich nach harter Arbeit am Ofen, in dem Bratäpfel summen. Mit Gewalt reiße ich mich aus diesem Zustand. Die Musik darf mich nicht einlullen, wenn ich das Lager der grünen Scheunen einmal zu gegebener Stunde verlassen will. Die Gegenwart ist schwierig, doch das seelische und körperliche Elend lässt sich auch überwinden. Es ist ja von Menschen gemacht.
Die Schlange schiebt sich nicht weiter. Ist sie gestorben? Ist sie am Boden festgefroren? Sie gibt keinen Laut von sich. Sie bewegt sich in der Eisluft nicht einmal auf der Stelle, um das Blut in Bewegung zu halten.
Etliche Blockführer stürzen aus dem Revier, prügeln unter tierischen Schreien die Häftlinge in die Schneeberge. Sie können nicht überall zu gleicher Zeit sein, und ich habe mit hastigem Griff die Schuhe gelöst und hinke so schnell es geht davon. Aber es kommen uns auch Blockführer entgegen. Sie teilen sich in die Gänge auf und verstellen uns den Fluchtweg. Ein tiefer Schreck packt mich. Ratlos laufe ich vor, zurück, vor, zurück. Zwei Häftlinge erklettern katzenhaft die Schneeberge. Ich packe eine Barackentür. Sie ist abgeschlossen oder verklemmt. Der Abstand zwischen den Blockführern wird immer geringer. Das Geheul der verprügelten Häftlinge nimmt zu. Die nächste Baracke! Tür auf! Tür zu!
Alles an mir flattert. Die Baracke tanzt. Eine Hand zieht mich von der Tür. Die Blockführer amüsieren sich draußen nicht schlecht. Ich höre sie gehässig lachen bei ihrem Zeitvertreib, während sie ihre Stöcke auf durchgefrorene Männerrücken schmettern. Mein Schmerz ist noch ungewiss. Die Häftlingshand, die mich festhält, kann mich im nächsten Augenblick auf den Weg hinausstoßen. Meine Flucht in den fremden Block kann für alle hier anwesenden Häftlinge Ärger, Aufregung, Strafe geben. Ich kann mir die Sache schon ausmalen. Ich schlottere.
Der Häftling sieht auf meine Schuhe, die ich unter dem Arm trage. Er sieht auf meine geschwollenen Füße und offenen Zehen, zieht die Stirn kraus und seufzt. Nun sind ja meine Zehen keine Sensation, keine individuelle, einmalige Abnormität. Es handelt sich nur darum, dass der Frost sie verändert hat. Der Häftling redet mich in einer Sprache an, von der ich kein Wort verstehe. Darum habe ich das Wort: Revier für ihn bereit, schüttle den Kopf und sage dann: SS und schüttle wieder den Kopf und wiederhole: Revier, Doktor, SS. Er tut es mir geduldig nach. Darauf macht er mir verständlich, ihm nicht zu folgen, sondern an der Tür zu warten. Ich binde mir die Schuhe fest. Endlich kommt er zurück, gibt mir ein Stückchen Binde und etwas Badeseife.
Welch ein Glückspilz bin ich doch. Wenn auch der eisige Wind erneut in die Zehen beißt und den Rücken kühlt, ich hinke ja reich beschenkt in den Block zurück.
Dort sind die Häftlinge am Bettenbau. Es genügt nicht, das Laken glatt und gerade zu spannen, das Kopfkissen aber in die Mitte der gefalteten Decke zu bringen, das ist ziviles Hinterhofprogramm. Hier werden die Betten künstlerisch gebaut. Hier wird nicht in Scheunen oder auf Öfen gepennt und am Morgen wie aus der Wildschweinkuhle aufgestanden, ihr Galgenvögel, Stinkkröten und Kackmaden, hier ist ein Salon, ein Galablock, ihr Zigeuner, Karnickeldiebe und Aasfresser!
Nach diesem entzückenden Deutschunterricht aus dem SS-Wörterbuch folgt ein Erdbeben, bei dem die Betten durcheinanderstürzen. Unternehmungslustig Strapaziert der junge Blockführer seine Muskeln. Er reißt sogar den dicken Mantel ab, denn es wird ihm darunter zu warm. Natürlich bewundern wir seinen Elan, seine Kraft, seinen unterhaltsamen Umgangston, wobei unter seinen Händen alles in Scherben fällt. Er stürzt noch im Tagesraum die Schränke um, wie das wohl sein Vater macht, wenn er den Schnaps verflucht, um hinterher heulend zu schwören, ab morgen ein besserer Mensch zu werden. Nun ist zwar kein Stück mehr an seinem Platz, und jetzt sollte der junge Blockführer zeigen, wie man einen Salon herrichtet, doch hat er sich derart verausgabt und verachtet uns als Fachmann so sehr, dass er mit langen Schritten aus dem Block geht.
Appell, und wir treten an. Der Eiswind weht und der Schnee stiebt. Wir lüften die Mützen, legen beide Hände steif an die Hosennaht und trampeln wie Dressurpferde zum Appellplatz. Ich verliere meine Schuhe, ein Fangspiel beginnt, ich stecke Tritte ein und humple barfuß über die Eisfläche weiter. Wieder bestehen wir das Abzählen, den Gesang, den Schneewirbel, die Kniebeugen und hinterhältigen Fußtritte, tragen die Toten weg, heben die Kranken auf und marschieren zum Block.
Ich frage einen Kapo nach dem Block aus, in den ich geflüchtet bin, und erfahre, dass dort Tschechen liegen, die typhuskrank sind. Ein Sperrblock. Da wird mir klar, weshalb die Blockführer nicht gefolgt sind. Die Mutigen fürchten einen kleinen Bazillus.
Bevor wir unser Brot empfangen, richten wir den Tagesraum wieder her. Das Lagergesetz verbietet bei Todesstrafe den Diebstahl. Es gestattet dem Kapo, dem Blockältesten und seinen Helfern, aus eigenem Ermessen das Urteil zu vollziehen. Die Selbstverwaltung dient als Blitzableiter, sie ist die Verschleierung für die Bluttaten der SS. Die Entarteten wollen die Henkerarbeit verteilen, und sie formen einen Teil der Häftlinge nach ihrem Bilde.
Zuerst betreten die Häftlinge die Baracke, die im Verwaltungsapparat sind. Nach einiger Zeit dürfen wir folgen. Etwas ist schon aufgeräumt. Und merkwürdig, ich finde meine Zahnbürste nicht mehr, habe ein verrostetes Besteck und einen verrosteten Napf. Es ist kaum zu fassen, wie dieser Kram trotz täglicher Spindkontrolle vorhanden sein kann. Ein Kampf entsteht an den Schränken, Angriff und Verteidigung, die Schlägerei um das Eigentum wird vom Blockältesten und seinen Helfern mit Knüppelhieben beendet. An ihre Schränke kommen wir nicht heran. Das Recht steht uns nicht zu. Die Art von Selbstverwaltung funktioniert wunderbar. Wir können diese ungewählte Selbstverwaltung nicht auswechseln. Wir sind ihre Opfer, wie wir die Opfer der SS sind.
Ich gehe in den Schlafraum, um meine Erfahrungen beim Bettenbau zu bereichern. Denn bevor nicht das letzte Bett einwandfrei steht, gibt es kein Brot. Sofort ist ein Häftling da, der sich anbietet, die Pritsche in Ordnung zu bringen, wenn ich mein Brot mit ihm teile. Ich sage nicht ja und nicht nein. Ich bin kein Bäcker. Mir tritt selbst immer eine kleine Träne ins Auge, wenn ich das Brot rieche. Ich bin auch kein Snob, der nur gelangweilt herumsitzt oder mit einem Aktienpaket durch die Gegend promeniert. Dann wäre ich ja nicht hier.
Ich steuere an den Betten vorbei und tue so, als müsse ich mich überzeugen, dass alle gerichteten Pritschen nach Vorschrift gebaut sind. Es ist gut, diesen Nebenweg zu gehen. Dabei sehe ich, mit wie viel künstlerischen Griffen ein Strohsack verschönt werden kann. Vorsichtig schiele ich nach dem Häftling aus, der es auf mein Brot abgesehen hat und beginne, mein Bett in Ordnung zu bringen.
Nach einiger Zeit bin ich von meiner Arbeit ganz hingerissen. Wenn mir auch der Himmel nicht gerade das schönste Bett gönnt, so ist es doch sehr adrett. Ich betrachte noch sehr viele Pritschen und billige mir die Note: mittlere Qualität zu.
Der Blockälteste hat keinen Einwand. An diesen und jenen verteilt er Maulschellen, und dann verteilt er das Brot. Die Zeit drängt, aber das Stückchen Brot macht den geschwinden Zähnen keine Mühe. Die Kumpel, die noch verzweifelt ihre Betten bauen, legen ihr Brot in den Schrank. Wir putzen uns die Mundecken schon mit dem Handrücken sauber, ziehen uns nackt aus und gehen in den eiskalten Schlafraum. Kaum haben wir uns in die Decken gerollt, müssen wir in den Tagesraum zurück. Ein Stück Brot fehlt.
Das Gericht sitzt angezogen am Tisch. Wir stehen nackt herum. Der Täter soll sich melden. Niemand tritt vor. Der Blockälteste lässt uns Zeit. Zwei Brotportionen hat er vor sich auf dem Tisch. Drei Tote haben wir, an einer Portion kaut der bestohlene Häftling. Wir hören ihn schmatzen. Wir blicken das Brot an, das auf dem Tisch liegt. Die flackernde Kerze daneben wirft einen Schatten umher, der zwei ausgewachsenen Krähenflügeln gleicht. Todesschatten!
Einen Brotdieb wird man hängen. Das ist Lagergesetz. Wir alle wissen darum. Gleich, ob nun die SS oder ob der Blockälteste mit den Kapos das Urteil spricht. Ein Stück Brot wird demjenigen zugesagt, der den Täter nennt. Zuerst ist alles still. Dann schwirren Verdächtigungen auf. Ein Häftling tut sich besonders hervor. Er benimmt sich, als ob er das Verhör zu führen hat. Der Blockälteste bleibt beherrscht. Er steckt sich eine Zigarette an. Uns klappern die Knochen. Wir rücken eng aneinander. Der Blockälteste verspricht dem Täter nur eine Tracht Prügel, wenn er sich sofort meldet. Er legt einen dünnen Stock auf den Tisch zu Ansicht, dass er ohne Ochsenziemer schlagen wir Aber wir rücken nur enger zusammen. Unsere Zähne rattern wie Nähmaschinen. Die Kapos protestieren gegen das milde Urteil. Der Blockälteste legt ein Stück Brot neben den Stock. Beides soll der Täter haben. Zuerst den Stock und dann das Brot, und er will auf der Stelle gehängt werden, wenn er nicht sein Wort hält.
Pause. Gemurmel in unseren Reihen. Und die SS wird nicht informiert, der Block soll nur für die Zukunft vor diesem Brotdieb gewarnt sein, da wir alle ja noch keine erfahrenen Häftlinge sind.
Schluss.
Wir denken an den gemeinen Kerl, der uns das eingebrockt hat, wir denken an unsere Decken, wir sehen das Brot und riechen den Zigarettenrauch und sehen beim Kerzenschein den Brotschatten auf Tisch und Wänden wie Todesschwingen flattern. Und wieder meldet sich die Stimme jenes Häftlings, der sich vorher schon benahm, als hätte er eine Mordkommission zu leiten. Er stelzt wie ein Offizier vor uns auf und ab, und sein schiefer Mund putzt uns herunter und fordert die Kapos heraus. Er wiegt sich sodann in den Hüften wie ein Strichmädel und seine Handbewegungen deuten auf eine tanzende Bajadere. Irgendetwas ist mit ihm nicht in Ordnung. Hat er nun einmal eine taillierte Uniform getragen oder lila Jumper? Er versteht es jedenfalls, mit beiden Möglichkeiten gleichzeitig zu prunken.
Der ganze Block lacht. Das Gericht lacht. Ich kann nicht lachen. Nein, ich kann nicht! Hier ist keine Schaubühne.
Der Blockälteste lässt uns in den feuchtkalten Schlafraum gehen. Unter der Decke ist das eisige Laken zu spüren, denn das Blut wärmt kaum die durchfrorene
Haut. Durch meinen Traum zieht der märkische Wald, die Föhren und Birken, die Eichen und Buchen, die Seen und Fließe, aber dann bin ich an einer Feldschmiede und wärme in der fauchenden Glut viele Nieten für ein Krangerüst. Ja, ich bändige das Feuer, werfe die rotwarmen Nieten hoch, und der Kollege in den Trägern fängt sie wie Fliegen aus der Luft. Ich lebe inmitten des Eisens und der Feuerspritzer und trotz der Schinderei denke ich mit den Kollegen vom Eisen über den Tag in die Zukunft hinaus, wo diese Produktion von uns geregelt wird, ohne Streiks und Arbeitslosigkeit, ohne Krise und Krieg. Aufstehn! Aufstehn! Aufstehn! Mühsam finde ich in die Gegenwart zurück. Noch einen Augenblick besinne ich mich. Nur schnell in den Waschraum! Der mit Wucht geschleuderte Strahl lässt die Kälte des Raumes nicht so spüren, das Blut pulst, und der Kopf wird frei, um drohenden Gefahren zu entgehen.
Wir erhalten unsere Mehlsuppe. Die Kessel stehen dicht neben dem Tisch des Blockältesten, der auch im Tagesraum schläft. Auf dem Tisch liegt immer noch der Stock, und wenn man an den Ochsenziemer der SS denkt, wenn man sich ihn gut eingeprägt hat, dann ist ein Hieb mit diesem Stöckchen eine Spielerei. Ein Stück Brot liegt neben dem Stock. Gestern ging es um zwei Portionen. Ein Gemurmel wie im Bienenstock schwingt im Raum. Eine verdammt gedrückte Stimmung. Der Blockälteste sieht sich jeden Häftling lange und eindringlich an. Wodurch soll sich denn der Täter verraten? Ein ganzes Brot treibt seinen ausgehöhlten Bauch nicht auf, und die Suppe hinterher schafft er allemal.
Es ist kurz vor dem Appell. Der Blockälteste geht an seinen Schrank und legt ein ganzes Brot neben die Portion. Für den, der herausfindet, wer den Häftling bestohlen hat und in der Nacht die eine Portion vom Tisch genommen hat, ja selbst für den Meisterdieb, wenn er sich stellt, ohne Schläge, ohne Meldung an die SS.
Niemand rührt sich. Wirklich ein Meisterdieb. Immer wandelt dieser oder jener in der Nacht zum Mittelblock, erkältet sind wir alle. Auch ein Kapo hat auf der Lauer gelegen. Aber eine Brotportion ist wie nach Auftrag vom Tisch verschwunden.
Der Schiefmäulige stelzt herausfordernd zwischen Tisch und Häftlingen umher. Er beschwört mit seinen weibischen Händen bald den Blockältesten, bald die Häftlinge. Seine Stimme flüstert, sie donnert, sie beschwört, sie wird weich und hochmütig drohend.
Wir sind alle erregt. Hilflos und brütend drücken wir uns zusammen. Wir denken nicht mehr an Wassersucht, Furunkel und Frostbeulen, wir denken an die Vernehmung durch die SS, an ihre bösen Raubtieraugen, an die unerbittliche Feindschaft, die den ganzen Block treffen wird. Wir flüstern oder schweigen und starren das Brot an und wünschen dabei, das fehlende Brot möge zurückkommen, wie in fixen Märchen.
Wir treten zum Appell an. Wir müssen uns beeilen. Wir sind dicht am Appellplatz, da wird von hinten durch geflüstert, dass nun auch die über Nacht liegengebliebene Portion verschwunden sei. Das ist ein tolles Stück! Wenn wir uns auch den Schmerz ausmalen, der diesem Streich folgen wird, der Trick verdient Bewunderung. Ein einziger Mann lacht den ganzen Block aus, alle scharfen Augen, alle klaren, asketischen Köpfe.
Der Appell verläuft in Ruhe. Die Blockführer spritzen zum Rapport. Sie verschwinden durch das Tor. Wir rücken ab. Dabei wird durchgeflüstert, der Brotdieb habe sich gemeldet.
Wird es für ihn ein Unglück geben? Der Blockälteste hat einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Er hat seine Partie gegen den verwegenen Burschen gewonnen. Man sieht es ihm an. Er scherzt, er lacht, sein Ansehen ist gerettet. Mir wird leicht. Dann werde ich traurig.
Der Blockälteste wird sein Wort halten. Aber wer garantiert für die übrigen Häftlinge? Wer schützt den Brotdieb vor der Wut jener Männer, die sich schon kalt auf der Erde liegen sahen, als der Zugwind durch die schlecht verkitteten Fenster gegen die nackte Haut blies und die Vernehmung durch die SS immer bedrohlicher wurde? Ich vermute, sie werden ihn hängen. In Gedanken gönnen doch viele dem Nachbarn nicht das Stückchen Brot, weil ihnen der Magen schmerzt. Sie haben doch kein Mitleid mit der Arbeiterfamilie gehabt, als sie der Hausfrau das Kostgeld aus der Markttasche stahlen oder dem Arbeiter, der eine Woche schwer geschuftet, die Lohntüte entwendeten? Aber hängen? Der verwilderten SS zuvorkommen? Ihr ebenbürtig sein?
Ich will den Ausgang nicht miterleben. Darum hinke ich nach vorn und bitte den Blockältesten, mich zur Revierstube zu entlassen. Das Unheil im Block muss ich ja nicht in allen Einzelheiten aufnehmen. Er will schon nachgeben. Aber dann besinnt er sich. Nein, er will den ganzen Block beisammen haben. Für meine Füße verspricht er mir Warmwasser und Seife. Er ist großzügig.
Die Vorarbeiter werden in den Block entlassen. Der Blockälteste hält uns nochmals einen Vortrag über Kameradschaft. Den Brotdieb stellt er nicht vor. Noch existiert er nur für ihn.
Schweigend und unbeweglich am Gerichtstisch sitzend, empfangen uns die Kapos. Der Blockälteste geht in ihre Mitte. Der Brotdieb tritt vor. Er ist nervös, hohlwangig, und Kopf und Nacken sind übersät mit Furunkeln. Er hastet dem Brot entgegen und streckt bedenkenlos seine Hand danach aus. So einfach ist das nun nicht. Er muss beweisen. Er blickt sich verwundert um.
Enttäuscht steht er da, öffnet den Mund. Er weiß, seine letzte Stunde hat geschlagen, aber das Brot ist ihm den Einsatz wert. Er hat keine Zeit zu verlieren, er hat Brot gestohlen und Brot gewonnen, er will nicht hungrig auf die weite Reise gehen. Er zittert wie Pappellaub, vom Hunger und von bösen Ahnungen geplagt. Er windet sich und stöhnt, dann fängt er aufgeregt an zu erzählen, seine Stimme ist dünn, flüsternd.
Der Blockälteste berät sich mit den Kapos. Der Mann hat keine Chancen. Er hat den Tod herausgefordert, der aber verschmäht sein Angebot. Er hat ein Lügennetz gestrickt und das Netz ist zerrissen. Nun liegt das Brot noch länger auf dem Tisch und wartet auf den, der Anspruch darauf hat und nicht auf den, der sich bei seinem Anblick vor Hunger krümmt und sich des Diebstahls bezichtigt.
Der Blockälteste erhebt sich. Er geht langsam auf den Schiefmäuligen los und starrt ihn an. Der bemüht sich um ein freches Gelächter. Dann bricht er ohnmächtig zusammen. Der Blockälteste zeigt uns die zuletzt gestohlene Brotportion. Ein Kapo hat sie im Strohsack des Schiefmäuligen gefunden. Er liegt zu unseren Füßen. Seine Stirn ist voll Schweiß. Ein übler Dunst kommt aus seiner Hose.
Der Häftling, der sich des Diebstahls bezichtigt hat, schreit vor Enttäuschung wie eine Sirene, lacht und weint unbeherrscht durcheinander und flüchtet hinaus. Niemand setzt ihm nach.
Zwei Kapos schleifen den Schiefmäuligen in den Waschraum, werfen ihn in die Brauseschale, kommen jedoch nicht mehr dazu, die Wasserhähne zu öffnen, denn mit einem Satz ist der Ohnmächtige auf den Füßen. Mit frechen Augen beginnt er uns zu mustern. Er
lacht wie aus einem beständigen sicheren Leben heraus. Er knarrt eine Rede gegen das Lumpenproletariat und den marxistischen Irrwahn wie ein Automat herunter. Alter Krieger ... Vaterlandstreue ... Sturmtruppler ... fanatischer Kämpfer ... Baltikum ... Ruhrgebiet... blutgekittete Kampf schar ...
Er schwört darauf, dass seine Freunde blutige Rache an dem ganzen Block nehmen werden, wenn sich jemand an seiner Person vergreift. Er baut eine geheimnisvolle Armee zu seinem Schutz auf und wird nicht heiser mit seinen Drohungen gegen uns.
Mancher von uns trägt den roten politischen Winkel, aber weder die slowakischen Partisanen sind Marxisten noch die drei österreichischen Gendarmen, weder die pazifistischen Sektenprediger, noch der gelbe Gewerkschaftler. Unsere Weltanschauung einte sich jedoch in der einen Erkenntnis: Hitler, das ist der Krieg!
Appell!
Wir treten vor dem Block an. Wir zählen ab. Der flüchtige Häftling fehlt uns, aber schon wird die Nachricht durchgerufen, unser Mann hängt am elektrischen Draht. Er lebt noch, aber der Nachtfrost wird ihn von den Qualen erlösen. Der Blockälteste macht seine Eintragung im Rapportbuch. Im Laufschritt erreichen wir den Appellplatz, wieder zu spät. Ein Dutzend Blockführer prügeln uns zusammen und auch der Blockälteste erhält seine schallenden Ohrfeigen.
Im Anschluss an den Appell ist Auszahlung im Lager. Es ist das Geld, das wir bei uns trugen, als wir verhaftet wurden oder das uns Angehörige nachschickten. Nur wer über fünf Mark auf dem Konto hat, darf am Kassenblock Aufstellung nehmen. Die Blocks treten geschlossen an. Der Einkauf ist gesichert.
Der Mann im Draht ist vergessen und der schiefmäulige Brotdieb ist vergessen. Wir haben nur noch Brot, Kuchen und Tabak im Sinn. Wir reiben uns gegen die Kälte verzweifelt die Rücken, wir beugen die Knie und rollen Arme und Beine und warten ... warten ... warten. Wir müssen im Paradies angekommen sein, es gibt wirklich Geld, Brot und Rauchware. Nun kann sich der Magen füllen, jetzt kann man blaue Rauchkringel in die Luft blasen. Bebenden Herzens schweben wir zum Himmel empor. Unsere Ohren glühen, das Lager ist ja so unheimlich groß, und der Hunger ist gewaltig, die Finsternis zieht schon über die Barackendächer und das Männergetümmel nimmt und nimmt nicht ab. Es glitzern Lampen in den Wachtürmen, und an uns vorbei tragen Häftlinge ganze Brotstapel und Pappkartons voll Tabakwaren.
Der Wind weht, der Frost zwackt, das Eis blitzt von den Schneehügeln, es funkelt auf den Wegen. Sterne, helle Farbenkleckse zucken wie Lichtreklame.
Die Blockführer haben ihre Arbeit satt. Sie befehlen, dass wir uns sofort im Laufschritt in die Baracken begeben. Wir zittern vor Kälte und Enttäuschung. Wir können den Befehl nicht fassen. Aber die Blockführer besorgen das schon. Ihre Schläge bringen uns in Bewegung. Ich fühle Schuhe auf meinen nackten Füßen,
fühle eiserne Fäuste im Nacken, alle wollen schnell entrinnen, alle vertreiben alle, und die Schwachen fallen, ein riesiges Stimmenmeer braust und dazwischen einzelne gellende Kehllaute.
Keuchend kommen wir im Block an. Berge aus Brot, Berge Tabak. Wir starren durchfroren, von Enttäuschung geschlagen, wortlos den Reichtum an, der auf den Tischen liegt. Aber in der Tür zum Schlafraum steht der Schiefmäulige. Er hat ein Schild um den Hals: Brotdieb!
Wir erhalten unsere Portionen. Der Blockälteste ruft unsere Nummern. Er hat ein Büchlein, und wer ein Konto besitzt, dem stundet er bis morgen ein Brot und eine Zigarette. Niemand kommt zu kurz. Die Portion ist schneller aufgegessen als sonst. Alle überlegen ... Zigarette ... oder ein kleines Stückchen Brot... was wohl zuerst? Aber der Kampf ist kurz. Natürlich ein Stückchen Brot. Das Messer setzt an, man gibt noch einen Zentimeter dazu, oder besser auch zwei. Auf einmal ist das Brot weg.
Unglaublich, ein ganzes Brot!
Es ist im Magen und er tut, als sei nichts geschehen. Es wühlt kein Rülpser in ihm herum. Na denn ... die Zigarette!
Niemand beachtet den Schiefmäuligen. Er steht in der Zugluft mit seinem Schild. Er zeigt keinerlei Unsicherheit. Sein Gesicht ist fast gelb, doch unbewegt. Mein Tischnachbar erzählt mir eine Geschichte. Mit Langusten und Tintenfischen beginnt sie, aber es wird eine splitternackte Frauengeschichte unter italienischem Himmel. Das Brot im vollen Magen und die Zigarette machen ihn lebhaft. Ich lache dem naiven Boccaccio ins Gesicht, ich nicke oder schüttle verwundert den Kopf, aber meine Gedanken sind bei dem Schiefmäuligen, der unbeweglich in der Tür steht und allen das Schild zeigt. Er hat nichts erhalten. Neugierig blickt er umher. Ein Kapo legt ihm plötzlich einen Strick um den Hals und setzt sich wieder in den Kreis seiner Kumpel.
Der Schiefmäulige steht da wie vorher. Seine steife Haltung erregt mich. Seine Position ist doch verloren. Schmerzt ihn der Strick nicht und nicht das Schild: Brotdieb? Hat er kein Wort der Entschuldigung für seinen gemeinen Diebstahl, macht ihn nichts nervös? Denkt er nun an die Maschinengewehre, die auf seinen Befehl in die Arbeiterreihen feuerten, weil ihn die gutgenährten Herren von Industrie und Handel einen Helden genannt haben? Wird jener Vorläufer der augenblicklichen Staatsräsonpolitik genügend Mut aufbringen, das Dasein einer Plakatsäule aufzugeben?
Ich begebe mich in den Waschraum. Ich werde versuchen, die Zehen etwas in Ordnung zu bringen. Eine kalte Abreibung vor dem Schlaf mag auch nützlich sein. Ich mag auch den Schiefmäuligen nicht mehr ansehen, dessen Scharfschützenaugen durch den Raum wandern. Diese Augen können mich nur an die Attacken und blutigen Massaker in den grauen Gassen der Arbeiterquartiere erinnern.
Ich gebe viel Seife auf die Zehen und dann sauge ich daran, bis die Geschwulst nachgibt. Damit gut. Ich muss doch eines Tages wieder in die Schuhe können. Sie sind viel zu groß und es lässt sich kaum genügend Papier finden, um sie auszustopfen. Morgen soll es zwar schon Zeitungen geben. Der Blockälteste sammelt von jedem Häftling eine Mark ein. Nette Summe für Zeitungen! Teures Abonnement!
Draußen brüllen die Straßenhändler mit vollen Lungen den Stürmer, den Angriff und den Völkischen Beobachter aus, und die Passanten haben taube Ohren oder gerade kein Kleingeld. Hier, wo man uns zu Halbmenschen erzieht und man Brot gegen ein Zeitungsabonnement abgibt, lässt sich die Makulatur absetzen.
Der Blockälteste erscheint. Er betrachtet meine Zehen, die nun schon fast wie geheilt aussehen. Er entschuldigt sein Versäumnis mit dem heißen Wasser, aber die überraschende Auszahlung und der Ärger im Block, doch morgen wird es anders. Die Kohlenablader haben Holz und Kohle mitgebracht, morgen wird der Ofen warm sein. Er gibt mir zum Trost eine Zigarette. Er schreibt sie auf mein Schuldkonto. Ich bin es zufrieden.
Er wäscht sich und geht.
Es gibt ein rumorendes Geräusch im Block. Füße trappeln, Stimmen überschlagen sich. Wahrscheinlich ist ein Blockführer zur Kontrolle da. Es ist nicht gut, einem Blockführer allein zu begegnen. Ihre Einfälle, dem einzelnen Mann zu schaden, hat noch kein Gerichtsjournalist notiert. Alles, was bisher von Kriminalisten und Gerichtsärzten aufgezeichnet wurde, was englisches Theater an Massenmorden dargestellt hat, was der Film zeigte oder in Detektivreißern erdacht wurde, ist so leer, so trist, so dünn gegen die Aktionen der wilden Naturen, die ohne Opfer aus diesem geheimen Krieg hinter dem Stacheldraht hervorgehen.
Ich überlege hin und her, was ich tun soll. Ausharren oder hineingehen? So oder so ... ich falle auf ... aber besser einem rasenden Blockführer, einer Mutter liebem rassischem furchtlosem Sohn im Haufen unter die Fäuste kommen, als ihm hier begegnen.
Im Block ist alles still. Nur die Notlampe brennt. Die Häftlinge sind schon in den Betten. Der Blockälteste überschlägt in seinem Büchlein die gestundeten Summen. Er weist mich mit dem Daumen in den Schlafsaal ein. Ich entkleide mich. Lege die edle Garderobe auf den Hocker ab und ziehe mich mit Nachtgruß zurück.
Ich erklimme den feuchtkalten Diwan, schlage die Decke um mich herum und ... am oberen Fensterriegel hängt der Schiefmäulige.
Ich mache mich klein. Ich denke an den, der draußen im Draht klebt, den Hunger und Frost martern und dessen Todesstunde gestoppt wird wie eine sportliche Leistung. Ich schließe die Augen und sinke in den Schlaf.
Nach dem Morgenappell wird wirklich weiter ausgezahlt. Der Blockälteste hat mir in einer Heringsdose etwas Heißwasser gemacht. Er tut sogar Schmierseife hinein, und ich darf im Block warten, bis wir mit der Auszahlung an der Reihe sind.
Eine knappe halbe Stunde bade ich die Füße. Draußen randalieren Blockführer. Sie schlurfen über die vereisten Wege. Sie lachen und lallen einen Schlager. Ich muss hinaus. Es gibt keine Entschuldigung für meine Anwesenheit im Block. Die SS poltert in den Nachbarblock, und ich wetze los, hinkend, schlitternd, mit den Schuhen unter dem Arm.
Zwischen den Kumpeln wickle ich die Zehen in die Binde ein. Sie machen einen recht ordentlichen Eindruck. Ich probiere auch die Schuhe, na ja, die Füße sind nicht mehr so geschwollen, dass sie nicht unter Druck nachgeben. Ich laufe Probe. Ein glücklicher Mensch!
Die Sonne steht am Himmel. Sie ist nur ein rötlicher Fleck. Mit langsamen Flügelschlägen schwingt eine Krähe über das Lager. Ihr folgt ein Schwarm. Eine heisere Meldung, mehrere Antworten und das Rauschen der eilig abschwenkenden Vögel verliert sich.
Da habe ich eine Verszeile im Kopf. Sie lebt wie von selbst auf. Ich spüre ihren Rhythmus und beginne sie zu lieben. Ein zarter lyrischer Atem schwingt aus der Landschaft und fließt in eine zweite Zeile über. Aber was soll das? Bleistifte, Füller und Notizbücher sind in die Häftlingskammer gewandert. Außer der nackten Haut bekam ich die Zahnbürste mit. Die ist nun auch weg. Und unter dem staatlichen Häftlingsfetzen zieht mir der Frost die Haut zusammen. Was sollen empfindsame poetische Zeilen, ein Appell an die Herzen, wenn ein Mann vor Hunger in den Draht geht? Was soll die Vielfalt der Farben, die sich aus der Verborgenheit im Innern lösen, wenn dieser reale Raum so unergründlich schwarz ist?
He, du empfindsamer Muskel in der Brust, schweig!
Die Schuhe beginnen wieder zu drücken. Wir vermissen immer noch das Geld und rücken zum Mittagappell ab.
Am Nachmittag warten wir wieder. Die abgefertigten Blocks verschwinden. Wir halten im Frost aus und lassen uns vom Zugwind krumm biegen. Endlich bin auch ich soweit, um meine Auszahlung zu empfangen. Es gibt am Eingang Fußtritte, an der Kartei Maulschellen und vom Kassierer und seinen Beschützern Gummiknüppelhiebe. Es werden von fünf bis zehn Mark Auszahlungen vorgenommen und das nach Kassiererlaune. Er fragt, was du willst, und er wirft dir zu, was er will. Fang deinen Plunder auf! Er merkt nicht einmal, dass er das Zahlmittel seines heiligen Reiches verächtlich macht.
Es riecht auch nach Alkohol. Gewiss, die Kälte vor den Baracken lässt sich besser bezwingen, wenn nach dem fetten Essen Korn um Korn in die Kehle getröpfelt wird. Schon der Bazillen wegen, die wir Drecksäue in den geheizten Raum blasen.
Ich verfolge jeden Vorgang im Raum. Ich muss wissen, wie sich die SS benimmt und auf welche Weise ein
unerwarteter Ausfall erfolgt, vor dem man seine Haut leidlich retten kann.
Draußen hat niemand über Misshandlungen gesprochen. Wer sein Geld weg hatte, der stürmte davon, ohne sich umzudrehen.
Drei Offiziere hinter dem Tisch, drei Paar glasige Augen, auf dem Tisch drei Gummiknüppel, in der Mitte eine Stahlkassette und ein Dolchmesser in der Tischplatte aufrecht. Mein Vordermann bekommt sein Geld hingezählt. Er schiebt seine nervösen Finger vor. Da geht es schon los. Die Kassette klappt zu, die Hand des Scharführers packt den Dolch und mit einem gewaltigen Hieb nagelt er die Hand des Häftlings fest. Ich bleibe gefasst. Ich weiß nicht warum. Macht mich der Schreck steif? Mir bleibt keine Zeit zur Überlegung. Ich erhalte mein Geld, quittiere und verschwinde.
Aber draußen, wo der Luftzug pfeift, erwischt es mich doch. Die Beine schlottern, mir bricht der Schweiß aus, die ganze Szene wird noch einmal deutlich, dazwischen irrlichtern bunte Pünktchen. Feiner Schneestaub fährt mir ins Gesicht, und ich torkle in die Baracke.

 

Die Natur erwacht

Die Kiebitze sahen nach dem weiten Flug nun endlich die Höhen von Bergedorf. Sie sahen die Stadt auf dem Hang und im Tal und schrien vor Heimkehrfreude. Überall auf der weiten Strecke hatten sich Tiere abgesondert und waren in die Sumpf- und Moorlandstriche eingefallen. Kleiner und kleiner wurde der Schwarm. Auch jetzt zog nur eine Gruppe davon und schwenkte in das Urstromgebiet von Vierlanden ein. Sie sahen die moorigen Wässerchen fließen, sahen die Scheiben der Treibhäuser aufblitzen, sie sahen die schmalen Flurstücke, die Windhecken und Kopfweiden.
Die Erde hatte noch keinen grünen Halm hervorgebracht. Nur der weiche Boden deutete an, dass er aus dem Winterschlummer erwachte. Die Sonne streichelte ihn, und der Wind streichelte ihn, und sein Atem stieg in dünnen Schleiern auf.
Immer wieder befreiten sich Paare aus dem zersprengten Zug und taumelten müde in ihr Neststück. Es gab keine Vogelwolke mehr. Jeder Vogel wusste, wohin er wollte, und schlug die Richtung zum Nistplatz ein. Wieder schwenkten drei Paare ab. Sie blieben jedoch noch lange in der Luft. Dort unten hatte sich für sie die Welt verändert. Sie wären gern tiefer gegangen, schon um zu rasten, streiften jedoch bis zum Elbfluss weiter, behielten die Höhe bei und kehrten um.
Sie kannten gestreifte Vierbeiner. Sie kannten die pflügenden Bauern, ihre Kühe und Pferde, die knatternden Motorkästen der Blumenzüchter und Gemüsegärtner und auch die Ziegelei, aber das Gewimmel der gestreiften Zweibeiner war ihnen völlig fremd.
Die Ziegelei hatte lange Jahre still gestanden. Deshalb hatten die Kiebitze noch im vergangenen Jahr in den verlassenen Tonstichen nisten können. Der stahlfarbene Glanz ihres Gefieders deckte sich mit der Tonfarbe so gut, dass sie fast unsichtbar blieben, wenn sie auf den birnenförmigen braunschwarz gesprenkelten Eiern brüteten.
Sie erkannten dort unten alles wieder. Sie hatten sich nicht verflogen. Die Sehnsucht hatte sie nicht blind gemacht. Aber die Zweibeiner setzten inzwischen grüne Langställe dorthin, wo das Korn bisher wuchs. Das Korn ringsum oder die Kartoffelstücke bildeten gute Deckung. Nun war die Tongrube belebt, die Landfläche, und die Presse des Ziegelwerkes ratterte und dröhnte. Loren rollten hin und her, Spaten senkten sich in den Ton, und die Gestreiften warfen die triefende Last unentwegt wie Eimerbagger am Elbfluss in die Eisenkisten.
Die Schwingen der Kiebitze verlangten nach Ruhe. Die roten Ständer rückten nervös vom Leib ab, aber unter den schneeweißen Brüsten schlug das sehnsüchtige Herz, während die Vorsicht unter dem Fiederschopf mahnte, dass die Luft der sicherste Aufenthalt sei.
Die Vögel flogen und flogen. Sie erkannten bald wieder die Hügelkette von Bergedorf und die Hausreihen, die der Mensch an den Berg baute, gleich den Uferschwalben die trockene Lage nutzend.
Sie flogen den Weg zurück, und die Sehnsucht nach dem alten Nest und die auf Nahrung vermischten sich mit der Müdigkeit in den Schwingen. Die Nebenarme der Elbe und die Grabenrinnsale der Flurstücke mischten ihr Wasser und trieben zum großen Fluss, auf dem die Schleppzüge nach Hamburg schwammen. Alles schien sich zu finden, nur die Kiebitze blieben von der Erde getrennt, die sie nackt und kahl unter sich sahen und die nun den vielen gestreiften Zweibeinern gehörte.
Ein Vogel ging tiefer. Sein Weibchen folgte. Sie trieben links weg, und blitzschnell landeten sie. Noch hielten die zwei Paare zusammen. Auch sie mochten nicht mehr umherstreifen, verließen die obere Luftschicht und näherten sich der Erde. Sie gingen auf der Koppel nieder, durch die sich ein Graben zwängte. Auf den roten Ständern sichernd, horchten sie nach der Tongrube hin, vernahmen die Werkzeuge der Zweibeiner, ihre lauten Stimmen und das Tosen der Ziegelpresse. Sie sahen auch Zweibeiner, die nicht gestreift waren und sich im Gelände wie Pfähle verteilten. Diese schrien sehr oft, als trieben sie Vieh zusammen, aber das galt den Gestreiften unten in der feuchten Grube.
Deshalb gingen die Kiebitze nach einiger Zeit, um eine Mulde zu suchen, die gut war für ein Nest. Sie stelzten umher, wo der Maulwurf schon Erde schob, und sie versprachen sich einen steifen Wurm oder eine fette Larve. Zuerst pickten sie mit großer Vorsicht. Doch allmählich gewöhnten sie sich an den Lärm. Sie stelzten umher und hoben die Schöpfe. Jeder Hahn, nun mit der Henne allein, die Spätsonne im Gefieder, tänzelte, um sie zu belaufen. Sie jedoch verhielt sich noch gleichgültig. Sie trug Laub und Halme ins Nest. So schön die Hahnenfedern auch glänzten, die Henne trug fleißig die Behaglichkeit in die Erdmulde. Nachtlager und Kückenwiege, dieser mütterliche Sinn ließ sie den Gefühlen ausweichen und resolut mit den Schwingen schlagen. Prüfung für beide. Sie schleppten sich auch keineswegs mit einem vollen Magen herum. Sie hatten ihren Verzweiflungsflug längst vergessen, fraßen die Würmchen und nesteten weiter. Und wieder begann das schüttelnde Federspiel des Hahnes, steilte sich der Schopf und tänzelten die Ständer. Sie ließ sich gutherzig herab, ihn zu bewundern, den Bunten, den Schönen, den Heißsporn. Ihre Federn zitterten und lockerten sich, auch sie musste tanzen. Noch einmal kühlte sie ab. Sie wollte nicht leichtfertig sein und trotzte dem Hahn. Er streifte sie. Noch gab er nicht auf.
Da trillerte es. Dann schrien die Zweibeiner. Auf einmal standen sie oben auf der Erde. Viele. Bartlos, schopflos, die Nasen steil in die Luft gerichtet. Sie blinzelten, als vertrügen sie nicht das Abendlicht. Sie schleuderten ihre kahlen Köpfe und schrien dem Nachbarn etwas ins Ohr. Die, die nicht gestreift waren, schrien ganz wild, da hatten die Gestreiften mit einem Ruck gestreifte Schöpfe.
Der Hahn stieg in die Luft. Wiuchi, wiuchi, schrie es aus seiner Kehle. Nun hielt es die Henne auch nicht am Boden. Sie schrie mit ihm. Sie pflichtete seinem wiuchi, wiuchi bei. Sie wirbelten auf und stürzten ab. Leuchtwärme und Erdkühle begegneten sich, und die Vögel fuhren aufeinander los, als wollten sie miteinander kämpfen. Sie stießen fast zusammen und wuchtelten hoch, fielen zurück und schrien.
Die gestreiften Männer lächelten. Sie hatten den ganzen Tag den Frühling gerochen, der sich im Mutterboden regte, der vom Fluss her kam, den die Bäume und Sträucher noch ganz dünn verströmten. Auf einen Kilometer Entfernung hätten sie das Parfüm einer Frau gerochen, derart empfindsam waren ihre Nasen. Sie schlossen ihre Fäuste. Sie verzerrten ihre Gesichter. Ihre Stirnen setzten Schweiß an, und der rann ihnen wässrig genug in die Augen.
Sie zogen singend ab.
Gieh, giewitt, sangen die Kiebitze und flogen ihnen nach. Sie sahen die Männer an die Langställe marschieren, hörten ihre Stimmen und mischten sich mit ihrem gieh, giewitt hinein.
Die Sonne ging ja um diese Jahreszeit, die noch kein Frühling war, schnell unter. Den Kiebitzen verblieb wenig Zeit für den Spätflug und den Sang in kahler Landschaft. Zufrieden purzelten sie ins Nest.
Auch bei den gestreiften Männern saß der Vorfrühling innen. Nur war er von Bitterkeit gewürzt. Die meisten, fast vom Fleisch entblößt, krallten ihre Nägel
in die Strohsäcke, wälzten sich im Traum und redeten von der Flucht und allerlei Mädchengeschichten. Sie lachten und stöhnten und wälzten sich auf dem Stroh herum, als lägen sie auf glühenden Kohlen.
Nur die Kiebitze in ihrem Nest lagen still. Die Nachtfeuchte senkte sich auf ihr Gefieder, aber sie spürten gegenseitig ihre Herzen. Der Wind trieb über sie hin, eins spürte des andern Gegenwart, und sie ruhten nebeneinander, weil es dem Vogel nicht gegeben ist, sich gegenseitig in Zäune zu zwängen.

 

Der Sänger aus Prag

Der Vorarbeiter hat mich mit Bruno zusammen im Wirtschaftsgebäude der Ziegelei eingeschlossen. Mit groben Verwünschungen als bewährtes Zeremoniell hat er uns vor den Posten abgekanzelt. Der herumstreichende Wind putzt ihm den Mund, so dass wir nicht alle Gemeinheiten hören müssen. Wir sollen die getrockneten Pflaumen, Birnen und Äpfel sortieren, die hier auf dem weiträumigen Boden lagern.
Auf den ersten Blick gefiel mir Bruno nicht gut. Sein Häftlingsanzug war tadellos sauber. Die Mütze stand ihm ausgezeichnet. Er war ein junger Mann mit vollem Gesicht und von wenig untersetzter Gestalt. Er machte den Eindruck, dass er beleidigt sei, in der ihm bisher allein gehörenden Einsamkeit durch mich gestört zu werden.
Draußen war er sicher elegant angezogen, stolz und eingebildet umherstolziert. Wirtschaftlich gehobene Stellung schrieb ich ihm zu. Sichere Existenz nennen das die Mütter heiratsfähiger Töchter, denn die Sehkraft ihrer bewertenden Augen durchdringt das Trojanische Pferd.
Wir mustern uns starr und ausdauernd. Unerwartet wird er verlegen und begibt sich ohne einen Laut in die entfernteste Ecke des Bodenraumes.
Ich weiß nicht, was ich hier arbeiten soll. Deshalb esse ich erst einmal von einer getrockneten Pflaume. Bruno wird das ja auch tun. Wenn er schon gegen mich ist, das Trockenobst wird er sicher nicht verachten.
Es ist einsam und still hier oben. Draußen klappert ununterbrochen die Ziegelpresse. Loren kommen bollernd gefahren. Die Drehscheibe quietscht. Unverständliche Wortfetzen, zur Leistung antreibend, erschüttern mich. Ich habe eine Pflaume im Mund. Sie ist süß und doch wieder bitter, denn ich habe die Empfindung, ich sei bei den Kumpeln an den Loren, die unter Magengeknurr und Schikanen zwischen Ziegelpresse und Tongrube pendeln. Bruno hält sich im Hintergrund versteckt. Die Stille wird zur Stahlklammer. Es ist scheußlich, einen Menschen mit im Raum zu wissen, der sich nicht rührt und sogar den Atem versteckt hält. Das reizt und peinigt.
Unentwegt kaue ich Trockenpflaumen. Es ist wie ein Zwang. Ich tippe darauf, dass Bruno mich nicht hierbehalten wird und beim Mittagsappell den Vorarbeiter mürbe macht. Der lässt mich dann wieder Zement schleppen oder Pfahllöcher graben. Was bleibt sonst übrig.
Der Staub und das Alter haben den Pflaumen den Duft genommen, aber ihre Süße spricht von den sonnigen Sommern, den erntenden Mädchenhänden, vom Gekicher und Übermut der Pflückerinnen. Ich will endlich Schluss machen, mich so vollzustopfen, und fange doch immer wieder an. Mit scharfer Deutlichkeit mahnt eine Stimme in mir: Immer essen, solange der Vorrat reicht, selbst wenn man sich dabei nicht mehr ähnlich bleibt. Was einmal im Magen steckt, das ist für den Staub und die Mäuse verloren. Etwas Schimmel ist zwar überall daran, aber es hat keinen Sinn, zu erklügeln, ob Trockenobst dem Magen so oder so bekömmlich ist. Auch wer es einmal angehäuft und dann vergessen hat, damit ich mir trotz seiner Abgunst den Magen vollschlage, ist von untergeordneter Bedeutung.
Ich höre die Loren über die Schienen klappern. Der Kipphebel wird ausgelöst, der Kübel schlägt herum und die graublaue Tonmasse fällt heraus. Das sind die einleitenden Paukenschläge. Dazu kann die Ziegelpresse nicht schweigen. Sie hebt ihre Stimme und der Lautschwall lärmt aus ihren Wellen und Rädern, klappert, heult und stampft, nagt, krächzt und schrillt.
Diese Geräusche beflügeln meine Phantasie und allmählich vergeht die wirkliche Umgebung. Ich bin auf einem Gang über den fernen Werkhof. Überall hämmern Männer, fauchen Heißluftströme, plätschert das Wasser über die Etagen der Kühltürme. Bleche, Röhren, Rohgußteile tanzen, überall eiserne Variationen, überall grüßende Kumpel. Zuerst müde im Gesicht, verdrossen, verbittert unter Ruß, Staub und Schmiere, blitzschnell dann freundlich verwandelt, heiter nachdenklich.
Ich höre Bruno mit Papier rascheln. Schließlich redet er flüsternd mit sich. Mein Traumflug ist zu Ende. Das Herz zieht sich zusammen. Bruno singt. Ich habe ihn und meine Umwelt aus den Sinnen verloren, er aber reißt mich zurück, knistert gedankenlos mit Papier und singt. Seine Melodie umgibt mich mit Wäldern, Bächen und Winden. Aber ich mache diesen Spaziergang nicht mit. Er führt nach der Rückkehr nur in größere Schwäche und Not.
Ich ertrug seinen anfangs leisen, dann anschwellenden Singsang nicht mehr. Es war böse genug, wenn die Erinnerungen lautlos zu reden anfingen, wenn eine zärtliche Stunde im Gaukelspiel der Einbildung das Herz berührte, dem man nachgab, um kurz darauf die Gegenwart härter zu empfinden als die schwächste Stunde des durchlebten Lebens. Neue Abgründe taten sich auf. Die Aussichtslosigkeit, davonzukommen, verstärkte sich, und mit erbarmungsloser Wucht gab die Wirklichkeit durch Schläge und Fußtritte der SS ihre Antwort.
Mein Widerstand gegen Bruno wuchs und wuchs.
Ich ging, die nackten Füße vorsichtig setzend, auf ihn zu. Die alten Bodenbretter knarrten. Durch die Dachluken fiel Sonnenlicht in seine Ecke. Mir war kalt bis in die verkrampften Fäuste hinein. Ich suchte nach einem schmerzenden Wort. Er sah meinen Zorn und wurde sofort still. Die Sonnenstrahlen verflogen und kehrten wieder, und sie beleuchteten den Packbogen, der voller Noten und Verse war.
Meine Fäuste entspannten sich. Statt eines garstigen Wortes drängten sich mir wärmere Töne auf, doch auch sie blieben tot an den bebenden Lippen hängen.
Bruno begann über sein Singspiel zu sprechen. Alte Texte und alte Melodien hatte er zusammengesucht, aber er wurde nicht mehr damit fertig. Es gab keine
Umkehr in die alte Welt. Man konnte die Gegenwart nicht weglügen. Deshalb hatte er den Vorarbeiter gebeten, dass ich ihm behilflich sei. Er sagte es leise und leidenschaftlich.
Bruno war Opernsänger.
Als er das ohne Betonung erwähnte, glitt ein vieldeutiges Lächeln über seine Lippen. Die SS brauchte eine Stimmungskanone. Wein, Weib, Gesang! Bruno sollte ihnen die Mädchen auf das Feldbett singen. Seine Stimme sollte das Wehgeschrei der Gemarterten überdecken. Deshalb durfte er im Hintergrund des Lagers bleiben. Hier experimentierte er an einem Programm für die Zeit, in der die Offiziersmesse von Lichtern erstrahlte, Sektpfropfen knallten und ein Orchester zum Tanz aufspielte, während in den Baracken der Tod umging.
Bruno dachte an Prag und an sein Stelldichein, um das ihn die Gestapo gebracht hatte. Er träumte von dem zierlichen Mädchen und hütete die Spuren des Erinnerns von der ersten Begegnung bis zum unfreiwilligen Abschied. Er hütete ihre verlockenden Augen, die errötenden Wangen, den weichen, lachenden Mund, der Schmeicheleien daherreden konnte oder kluge Gespräche führte, die abwägenden Geist verrieten.
Das erfuhr ich erst einige Monate später, als wir das riesige Erdbeerfeld für die Wachtruppe anlegten. Wir hatten schon mehrere Stunden nebeneinander gearbeitet. Von der Ziegelei, vom Zimmerplatz und dem Häftlingslager trug uns der Wind die antreibenden militärischen Stimmen der robusten SS her, die wieder einmal die schuftenden Kumpel schikanierten, weil eine Urlaubssperre für sie angekündigt war. Nun prügelten sie mit barbarischer Härte und brüllten unflätige Flüche. Wir waren zwar abseits, doch bewahrte uns das keineswegs vor der brutalen Macht, die unsere Rücken und Köpfe treffen konnte. Jeder Schmerzensschrei aus dem Munde eines Häftlings blieb nicht ohne Wirkung in unserem Gemüt, und wir trugen daran mit verschlossenem Gesicht. Jeder wich in sich selbst zurück. Wir handhabten unsere Spaten und Hacken und starrten auf die Erde, die Pflanzen und Dunghäufchen.
Nach Stunden konnten wir nicht mehr in uns halten, was sich angesammelt hatte und womit sich das Hirn beschäftigte, was es zu erforschen versuchte, jedes auf seine Art, doch ausgehend vom Nazifanatismus und der Sorge um den Bestand der Nationen. Es fiel uns schwer, mit verhaltenen Stimmen zu sprechen. So kamen auch keine eindeutigen Bezeichnungen zustande. Wir benutzten Wortspiele und Andeutungen nebst Doppelsinnigkeiten, um die Denkvorgänge mitzuteilen, da uns aus dem bündigen Wort die Gefahr drohte. Es war ein Kunstspiel vor den Ohren der Wachen, die innere Erregung einzudämmen, die sich mit jedem geflüsterten Wort kräftiger anmeldete. Die produktive Tätigkeit auf dem Gartenland durfte keinen Augenblick ruhen. Die Posten hätten uns in ihrer Wut zusammengeschlagen.
Bruno hatte sich auf dem Wenzelsplatz in einem
Cafe mit seiner Liebe verabredet. Sie hatte Geburtstag. Durcheinanderquirlende Melodien im Kopf, ging er durch die Straßen und kaufte den Fotoapparat, das Geschenk für sie. Sie hatte Geburtstag. Sein Herz war erregt und er wehrte sich, Arien summend, gegen dieses sich übersteigernde Gefühl in seiner Brust. Glückszustand und Befangenheit kamen nicht zur Ruhe. Wie im Traum ging er hin und her. Er fühlte eine Enttäuschung aufsteigen. Unsicherheit. Bedrohung. Sein Herz schlug zaghaft und als er darüber erschrak, sprang es unvermittelt heftiger und quälender. Da starrte ihn ein Mann an. Es traf ihn sein durchdringender musternder Blick. Ein offenkundig gehässiges Auge richtete sich auf ihn, so dass er seinen Schritt beschleunigte. Jedoch beruhigte er sich bald wieder. Er widmete sich dem bunten Treiben der Stadt und querte die Straßenzüge, die auf den Wenzelsplatz durchstießen. Ob er diesen Zustand auch lächerlich schalt, er ließ sich nicht unterbinden. Kein hinter ihm stöckelnder Frauenschritt konnte ihn mit der Vermutung narren, plötzlich auf das Mädchen zu stoßen, dem seine Gedanken zustrebten. Männeraugen, die ihn anstarrten, übersah er. Er dachte nur an die Verabredungsstunde. Viel harmlose Freude lag vor ihm. Er war voll zärtlicher Gedanken und summte törichte Weisen. Er besang diesen Tag, das Mädchen, das hoffnungsvolle Leben. Er fürchtete sich vor seiner Naivität, er schämte sich seiner ihm übertrieben dünkenden Gefühle und schätzte sich wiederum glücklich. Lebenshungrig und voll festlicher Takte, strebte er dem Zusammensein entgegen. Er lebte außerhalb der Zeit. Sein Studium, die Musik, der Gesang, die Bühne, das klatschende Publikum waren ihm Welt, Leben, Zeit. Die Schwärmerei für das Mädchen hatte sich neu hinzugesellt. Er sah sich auf den Gipfel gesanglicher Höhen kommen. Die Öffentlichkeit bewunderte ihn immer mehr. Es waren auch Schwierigkeiten da. Das Mädchen war eine Frau. Keine allzu glückliche Ehefrau. Zwangsverheiratet, wie sie sich ausdrückte. Zum Familienvorteil jung und unerfahren an einen guten Verdiener abgegeben. Das saß beiden wie ein Stachel im Fleisch. Die ihnen vorschwebenden Träume blieben stärker. Optimistisch deuteten sie die Ausblicke in die Zukunft.
Bruno schob sich durch den anschwellenden Passantenstrom über den Wenzelsplatz. Er malte sich schon die Überraschung aus, die der Fotoapparat verursachen würde. Er wand sich hier und dort zwischen Menschen hindurch. Auch sie musste kommen. Irgendwo musste sie auftauchen. Gleich würde sie ihn erreichen. Überwiegend Männer gingen hin und her, kreuzten seinen Weg und starrten ihn an. Er aber drängte vorwärts, entschwand und lachte. Die Zeit war heran! Er vermerkte die störende Enge, die Undurchlässigkeit des Menschenstromes, der heute seine Schritte hemmte. Als die Menschenmenge unerwartet aufschrie, fordernd, empört, da hatte ihn schon jemand im Würgegriff an der Gurgel. Der Fotoapparat rutschte weg. Er fühlte nur noch Fußtritte, Fäuste und Blut. Es gab keinerlei
Besinnung mehr. Weder auf dem Lastwagen noch in der Kaserne. Nur einen Schuh besaß er noch. Alles um ihn war prügelnde Handlung und unflätiges Gebrüll, wutverzerrte Gesichter. Er hörte davon, dass die Prager Universität einen Protestmarsch gegen den deutschen Faschismus versucht hatte. Das nahm er nur sehr matten Geistes auf. Er war um eine glückliche Stunde betrogen, um einen freundlichen Händedruck, ein strahlendes Gesicht. Singend war er einer reizenden Frau entgegengegangen und war der Unmenschlichkeit begegnet. Dieser Bruch in seinem sicheren Leben belastete sein Gemüt derart, dass er für die Zukunft nur noch Verachtung für den Menschen hegen wollte. Später, sich besinnend, sah er diese falsche Tendenz langsam ein.
Auf der Fahrt nach Deutschland, im Lager Sachsenhausen, gebärdete er sich zuerst wie ein Stummer unter seinen Mitgefangenen. Bruno aß nicht, schlief nur oder tat so und verzehrte sich an seinen inneren Qualen. Die Kameraden bangten um seine Gesundheit. Er hörte ihren Gesprächen zu und spürte ungenau und mit sich wiederum streitend, mit welcher Unerfahrenheit er bisher im Leben gestanden sei. Er begriff die politisch und sozial aktiven Antifaschisten, die ihm in der Freiheit kaum Gegenstand eines Gespräches gewesen waren. Allmählich erhellte sich ihm der Sinn des Widerstandes gegen das Eindringen der Faschisten in seine Heimat. Sein Standort dünkte ihm der eines gefangenen Vogels. Der Verprügelte und Verschleppte musste für sie singen. Er hatte sich den Auftritt in Deutschland einst ganz anders vorgestellt. Nun war er dem Lande gram. Seine Unbefangenheit war dahin.
Das stete Verlangen der Faschisten, ihn singen zu hören, ihre unklaren Andeutungen auf Hafterleichterung blieben nicht ohne Einfluss auf sein gefühlsgeladenes Vertrauen, wieder zurück nach Prag zu kommen. So stand er denn an einem faschistischen Festtag auf der Bühne. Den Saal überschauend, gewahrte er unter den vielen schwarzen Uniformen verschiedene Zivilisten, wie es denn auch nicht an gut gekleideten hübschen Frauen mangelte. Der Gefangene sang zur Zerstreuung seiner Peiniger. Später erfuhr er, dass ein guter Teil der Zivilisten im Saal ausländische Pressevertreter waren. Die SS schuf ihnen ein Beispiel für das Wunder eines totalitären Staates. Sie demonstrierte den Journalisten den Segen einer soldatischen Bewegung vor, die neben der harten Umerziehung etlicher Aufsässiger auch der Versöhnung nicht abgeneigt sei.
Bruno kannte den Kummer des Alltags, der seine schwarzen Flügel über das Lager breitete. Die düsteren Fittiche entstiegen den Krematoriumsschornsteinen. Die Häftlinge, die dort verbrannt wurden, hatten die SS-Siedlung errichtet, die Kasernen und Repräsentationsräume. Ihre täglichen Peiniger saßen fröhlich beieinander. Was ahnten die Reporter? Führte die Wahrheit ihre Feder?
Bruno begriff, weshalb er singen musste, wenn auch der Atem versagte und der Geist des Aufruhrs in ihm bohrte, der seine Stimme zu lähmen drohte. Er musste einer kommenden Generation seine Erkenntnisse erhalten, damit sie nie wieder im Alleinsein mit sich stürbe.

 

Die Königskerze
(Wort hinter Stacheldraht)

Ich saß einsam auf einem Schlackenberg zwischen den Baracken und reinigte die Zigarettenspitze. Der Zeitungsrest wurde in meinen Händen zu Röllchen umgewandelt, die das Nikotin aufnahmen. In diese Beschäftigung vertiefte ich mich, während sich langst versunkene Lebensbilder auffrischten, wobei ich der Melodie eines Wortes nachhing, ein neues entdeckte, mich in ihnen wie in einem fremden Walde verirrte und die Lichtung suchte, in der ich sie zu einem Reigen verband.
Der schreckliche Regen am Tage, die geschwollenen Füße und das unflätige Gebrüll der Posten störten mich nicht mehr, da mein Herz, sich erinnernd, wieder von der Harmonie durchflutet wurde, die ich einst durch das Wort der Dichter empfing.
Gerade wollte ich ein neues Röllchen drehen, da fand mein Auge auf dem Zeitungsfetzen das Wort: Königskerze. Obwohl ich das Ziel anstrebte, die Zigarettenspitze für die Kippe zu säubern, ruhten die Hände, und das Hirn wollte sich das vergangene Gewächs aus dem gedruckten Wort klarmachen.
Seit Tagen war ich hinter einem Zigarettenstummel her und hatte überlegt, wo ich ihn rauchen würde, nun stand da zu meiner Anteilnahme ein Wort und trieb in glücklichem Eifer seine Blüten.
Gelb prangte es am erhobenen Schaft, Schwebfliege, Schmetterling und Hummel besuchten die anziehenden Fruchtknoten auf der Reise. Da war der Bahndamm,
Schotter, Schienen, Schwellen, da ging der Weg in die Freiheit, nach der wir verlangend die Hände ausstreckten. Ich hatte mich mit der Kippe versteckt, wie sich das Wort Freiheit versteckt hielt, das zum Glücklichsein gehörte.
Das Wort „Königskerze" hatte mich entzündet. Der Frühling war in der Luft zu riechen, ein Frühling, der das Bekenntnis zu neuem Leben in sich trug. Mit dem Hauch ging ich auf die Reise, saß mit fröhlichen Menschen zusammen, essend, trinkend, plaudernd, las in den Büchern und machte Notizen, wenn das gebotene Wort meine Gedanken und Gefühle festhalten wollte.
Nein, ich konnte keine Röllchen mehr drehen, ich sah nur das Wort auf dem Zeitungsschnitzel an, als hätte ich nie tiefer und reiner das Leben empfunden. Ich vergaß die Wildheit der Posten, die Qualen, die sie uns bereiteten, die blutigen Ausschreitungen, ihre ekelerregenden Roheiten.
Beständig schaute ich das Wort an, das mich leitete, um die Zeit mit mir zu teilen, und nun Herz wie Hirn berührte. Das Wort war ein Messer und war eine empfindsame Hand, die aus der Leidstation führte. Es kam mit den wechselständigen Blättern und dem sommerlichen Gebrumm der Bienen und leuchtete ins Jahr hinein, in das Vergängliche einer rückläufigen Zeit.
Dann fürchtete ich, dem Frühling zum Opfer zu fallen wie die zehn Kumpel, die in der Totenkammer lagen. Sie hätten längst unter die Erde müssen. Im Schwung des ersten Frühlingswindes waren sie von den Kugeln der Wachmannschaften um ihren Lebenslauf gebracht. Sie wussten nicht mehr, welche Farbe der Himmel und die Königskerzen haben, und wussten nicht, dass sie selbst schwarz geworden und in allen Windrichtungen spürbar waren. Sie hatten als Lebende die Hoffnung nicht verlorengegeben, die ihr geheimes Freiheitssignal in ihre Ohren blies.
Einige hundert Meter von uns entfernt dürfte unter sanftem Himmel die Königskerze einer Schutthalde schmeicheln.
Ich sah sie ja in Gedanken dort stehen, leicht bewegt von dem Wind, der seine neugekerbte Flöte blies. Die Blüte hob sich hoch über die Erdwelle und flammte etwas pomphaft.
All meine Zeit verschlang das Wort auf dem Papier, denn von dorther rührten sich Träume, wo man sich umarmte oder in Büchern las, die Wissenschaft und Dichtung in sich bargen.
Der Schatten aber, der sich über meine Hände stürzte, ging von dem kleinen Seemann aus, der einem abgeschlagenen Riesen ähnlich sah. Er pfiff durch die Zähne. In meinen stillen Winkel fuhr der Ton. Der Pfiff und der Blick dahinter rissen mich zurück, zogen mir die zivilen Sachen aus und hüllten mich in den Häftlings-Plunder, der jede Öffentlichkeit scheute.
Der Seemann sah mich an. Er sah mich mit dem fehlenden Auge an. Mit dem roten, zerquetschten Schlitz riss er mich aus dem Einfluss des Wortes, das ich in den bebenden Händen hielt.
Der Seemann war Vorarbeiter. Das Lagerleben hatte seine Gefühle zerstört. Gab es keinen Schlüssel zu seinem Herzen? Mit ihm zusammenstoßen hieß mit ihm kämpfen. Niemand kam dazu, ihn aufs Kreuz zu legen, denn der verzerrte Augenschlitz war schon ein gewonnener Überfall und nahm seinem Gegner die nötige Abwehrkraft. Der Blick betäubte, und die Fäuste des Seemanns arbeiteten, als refften sie Segel oder hievten die Schoten. Nun fand er mich hier abseits sitzen, das Stück Zeitungspapier in den bebenden Händen, das mich mit seinem Wort wie eine plötzliche Erkrankung überfallen hatte. Es war grausam, diesen Wechsel der inneren Bilder abzuschließen und in den Schlitz zu starren, dessen garstiger Rest einmal ein Auge getragen hatte.
Ich reichte ihm das Wort. Ich gab ihm, was mir im Schmerz so gut geschmeckt hatte, was mir Freude und Mut brachte, den Stacheldraht niederlegte und das Verlangen nach Freiheit aufschwingen ließ. Ich tastete bewegt das gedruckte Wort mit dem gesprochenen Wort ab, wechselte bald die erschlagende Tonart des Lagers, löste die eigene Einsamkeit im Gespräch und ließ die Königskerze bevorzugt glühen, wie sie für mich geglüht hatte, ließ sie das zuversichtliche, erreichbare Leben wecken, von dem der Frühlingswind auf seiner neuen Flöte blies.
Der Seemann setzte sich und hatte einen hell schimmernden Stern auf dem Sehschlitz. Er schwieg zu meinen Hinweisen und Andeutungen. Da tropfte der hell schimmernde Stern auf seine Hände und ein neuer Stern hüpfte dazu. Es regnete Sterne, und sie wurden zur Sprache, dass es menschlich in der Brust eines Raubeins wurde.
Die Königskerze war der Anfang eines Gerüstes, zu dessen Bau die Stunde günstig war. Sie half uns beiden, über uns hinauszusehen, damit wir von kleinlichen individuellen Zielen hinweg an die Gemeinschaft dachten, die um uns bangte. Sie hörte unsere Lieder aus Moor und Steinbruch klingen, schützte den Flüchtling und erzog zum Widerstand gegen die Welt des Hasses und der Habgier. Sie entwirrte mit dem überzeugenden Wort der nationalen Sprache unsere innere Unordnung und baute die Zukunft, die jeden Tag in uns allen begann.

 

Im Septemberwind

Manche können nicht verstehen, wie wir am Leben blieben. Es ist wahr, man hat uns oft daran gehindert. Die SS hat getan, was sie konnte, um unseren Tod zu gestalten. Aber die Sterbenden haben uns hart gemacht, wenn wir auch, selbst nur noch zitternde Skelette, den Auftrag empfingen, der Welt, die für uns ja gar nicht mehr existierte, von all den Foltern zu berichten. Und damit es von einem Ende des Erdballes zum andern bekannt werde, warfen uns die Kumpel den letzten Funken ihres Lebens zu. Und so sind sie uns auch darin noch überlegen.
Septemberwind wildert über dem Urstromgebiet von Neuengamme. Die goldenen Birnen schaukeln im Wind, die bunten Äpfel duften, und die Tomaten glühen aus den Bauerngärten und schreien uns die Wonnen der Reife in das Bewusstsein, die Köstlichkeit ihrer Säfte, die Mürbe des Fleisches.
Wir stehen nackend, krumm, mit klappernden Zähnen auf dem Lagerplatz, frisch rasiert vom Schädel bis zu den Fußknöcheln, in ätzende Lauge getaucht, der Läuse wegen, die von uns auf die Posten überlaufen. Ein kühler Sprühregen stäubt über unsere eitrigen, beuligen, zerbissenen Gestalten, an denen sich die Haut schält, die weiße Hungerfahne.
Die Posten tragen ihre Mäntel. Sie werfen die wasserdichten Tarndecken über und erinnern uns an das Gefühl der Wärme mit dem Klang ihrer Hackeneisen, die sie gegeneinanderschlagen.
Wir haben vieles vergessen in unserer Haft, da wir selbst noch elastisch waren, einen Mantel kannten, eine Tüte voll Obst, ein Stück Seife, ein liebes Wort, aber das sind wohl die höchsten Höhen unseres Lebens gewesen. Nun sind wir herabgefallen und stehen nackend im summenden Regen, auf rauer, stechender Schlacke.
Vor uns sind die Posten gestellt und sie tragen den Tod in ihren Händen. Sie haben noch nicht das Leben erlebt und sind doch bestellt, es stündlich auszurotten. Ihre Führer spekulieren mit ihrer Einfalt, und wir sind das Dunkel, aus dem man ihren Hass macht. Sie wissen nicht, was uns geformt hat, man filterte ihnen eine bequeme, nützliche Formel ein und duldet nicht, dass wir ihnen von jener größeren Geschichte erzählen, die aus unseren Muskeln und Gedanken stammt, dass eine ewige Kette von Männern nötig war, um ihnen Straßen, Häuser, Fabriken und Kunstschätze zu schaffen, um ihrem Leben die Angst zu nehmen und die gesellschaftsumbildenden Kräfte zu mobilisieren.
Der Lagerkommandant erscheint. Er starrt auf den gedrängten Haufen nasser, frierender Gestalten, er starrt auf seine Untergebenen und starrt auf die Landstraße, über die ein Wägelchen rollt. Ein Mädchen kutschiert mit klappernden Milchkannen dahin. Der Gaul hebt langsam die Beine und liegt schwer in den Gurten, denn der Tonboden saugt Räder und Hufe zurück.
Der Kommandant ist ein Gemütsmensch. Und er hat ein Kardinalrezept, den Gesang. Gesang ist Nahrung, ist Wärme, ist gesegnetes, entzückendes Gemüt.
Aber das Mädchen auf dem Wägelchen schüttelt nur den Kopf, bewegt heftig die Peitsche und treibt mit Knall und Schnalzlaut ihren Gaul der Koppel zu. Die Überraschung ist wohl danebengelungen?
Endlich kommt auch das Auto mit neuer, sauberer Kleidung, mit Mützen, Hemden und Schuhen. Das Hemd ist zu kurz, die Hose zu weit, die Schuhe zu eng und die Mütze ist nicht die schwerste Not. Wir wimmeln, drängen, schieben durcheinander und der Teufel mag wissen, wie es zugeht, es passt uns allen, alles. Wir stehen in unserer gestreiften Eleganz, beherrscht von der modernisierten, zivilisierten, wundertätigen Hülle umgeben, niesen und recken uns wie Lichte auf. Die blauweißen Streifen verdecken nun wieder die Skelette, Geschwüre und was sonst an uns verdirbt. Die heimliche Kratzerei hat aufgehört, wir stinken nicht mehr und kokettieren mit dem, was wir haben, wenn auch der Preis noch so hoch ist, für das empfangene Einheitsglück, das für uns gewebt ist. Und die Schuhe, die köstlichen, neuen, wasserdichten Schuhe! Nein, wir wollen nicht nachträglich über die Qualen in den Holzklotzen klagen, wir wollen uns des duftenden Leders freuen. Ein Salut den Schuhen, in denen wir jeder Pfütze trotzen! Mögen auch Knöpfe und Schnürbänder fehlen, wir wissen, wo der Schlosser den Draht aufhängt und der Maurer die Steinschnur versteckt. Über unsere Findigkeit soll sich niemand beklagen!
Und der Abend ist da, und der goldene Seim, der aus den Birnen rinnt, macht die Luft klebrig, die um unsere Nasen schwebt. Und ein Scherbenhaufen ist da und ein Mann, der seinen Spaß sucht. Deshalb marschieren wir über das Glas im Paradeschritt und singen. Auch das Glas singt und klirrt unter den Sohlen, über das Oberleder und dann hinein und hinaus, schabt, schneidet, schlitzt die Füße auf und dann rollen wir im Tondreck und über Glas wie Walzen und singen dabei und singen. Was den Schuhen geschah, geschieht nun den Hosen und Jacken ohne Tempoveränderung, es schnurrt, reißt, fetzt und macht uns zu plundrigen Schreckgespenstern.
Wir treten ab in die Baracken. Wir denken, nun ist das vorüber. Die Lungen keuchen und die Wunden bluten und brennen. Nun liegen wir unter den Decken, da scheuchen sie uns auf und jagen uns hinaus und hinein mit Koppeln, Knütteln und Fußtritten. Sie schmeißen uns die Essgeschirre nach, die Löffel und Beutelchen mit all den Reichtümern, die wir aus ihren Abfallhaufen klaubten. Ach, keine Qual ist grenzenlos.
Weiße Mottenflügel schlagen gegen die Fenster. Ein spottendes Männergelächter steht lange in der Luft. Septemberwind bläst durch den Luftschacht, und nun rühren sich die Läuse in den Papiersäcken, und ob wir uns auch unruhig wälzen und im Schlaf wimmern und schrecken, sie besetzen unsere Wunden und holen uns zurück aus allen Träumen. Sie haben am Tage geschlafen und können sich's leisten, die Nächte munter zu sein.
Auch die Posten sind munter. Wir hören die Schritte um die Baracken schurren, die Signalhörner von der Elbe her stöhnen, wir spüren den Lichtstrahl der Scheinwerfer in die Fenster stechen, wir fühlen den Septemberwind und schmecken die köstliche Ernte des trächtigen Jahres darin, und die Sterbenden flüstern uns den Auftrag zu, der die Welt empören soll.

 

Ruhr
(Zur Erinnerung geschrieben)

Früher ist das alles einmal Lust gewesen, die grüne Weite und das Wolkenspiel, das in wunderlichem Geflecht am Himmel zerrinnt, ein singender Vogel und der taumelnde bunte Falter über den Büschen und Beeten. Lust ist es gewesen. Das Auge des Gefangenen zielt in jene Sichtbarkeit, die ihn in Gedanken begleitet. Er sucht die Freiheit, stößt in die Vergangenheit. Doch anders brennt die Sonne dem Häftling ins Gesicht, anders riecht die Erde, anders ist der Regenbogen, der seine Farbenbrücke schlägt.
Auf allen vieren schiebe ich mich durch die Wege eines Hausgartens. Zwischen Kresse, Zwiebel-, Mohrrüben- und Rettichbeeten schleiche ich hin und zupfe Unkraut, das hier in großer Fülle auftritt und hinterlistig und gefährlich all dem nahrhaften Gewächs des Lagerkommandanten den Platz an der Sonne streitig macht. Aber ich bin kein großer Gärtner mit Kannen und Harken und Parkplänen im Kopf. Die Ruhr hat mich gepackt! Wohl wurde vom Arzt das Wasser untersucht und festgestellt, dass es weder Trink- noch Kochwasser für den menschlichen Gebrauch sei, doch daraus macht sich der Lagerkommandant von Neuengamme nichts.
Nun hat es mich umgehauen, wie es schon manchen Kumpel erraffte. Schlaff sind nicht nur Beine und Hände, schlaff werden auch die Augen und die Wünsche nach Leben, wenn die Krankheit entscheidet. Seit acht Tagen schlucke ich Kohle, wenn der Magen
rebelliert. Ich weiß nicht, wie viel Holz der Kamerad Dachdecker schon abgebrannt und in mich hineingestopft hat. Ich weiß nur, dass mir seine Priemtüte besser schmeckt, aber er zwingt mich immer dringlicher an seinen Holzvorrat. Was soll all die Erkenntnis der kleinen Lebensmöglichkeiten, wenn man fühlt, es geht zu Ende. Das strömende Wunder des Blutes mit seinem Zauber an Kraft, das mich schuf und erhielt, flieht aus mir und macht mich in Kürze zum Abfallhaufen. Während ich von Erdbeerpflanze zu Erdbeerpflanze krieche, sterbe ich eines mehrfachen, schmerzhaften Todes. Zementtüten sind in die Hose eingelegt. Ich bin wund von Blut und Schleim. Der feuchte Zementrest brennt an dem Gesäß, und die Läuse fressen sich voll und plagen mich mit Juckreiz. Sollten dabei Blumen und Pflanzen, Vogel und pelzige Raupe mit all ihren Farb- und Lebenswundern meinem Dasein etwas Gewicht verleihen? Zweifel und Hoffnung stellen Fragen.
Seit fünf Wochen kommt von zu Hause keine Post, als sei man sich auch dort schon klar, dass ich nun bald die große Reise durch den Schornstein antreten werde. Furcht wäre lächerlich, hat man doch so viele Kumpel über den Schultern auf den gleichen Weg getragen. Diese Möglichkeit steht für jeden jede Minute fest, damit rechnet er. Bald ist es Sehnsucht, bald zorniges Grausen, man sucht durch Optimismus die Tatsachen zu fälschen und zu verwandeln, um sich auf Umwegen ins Leben zu schleichen, aber auf den Griff des dürren Rippenmannes bleibt man gefasst. Unsagbare Schmerzen kommen und gehen, ungesäubert krieche ich, elender als der erbärmlichste Wurm, den Scharführern aus den Augen, denn den freien Tag gönne ich ihnen nicht, den sie an meiner Haut verdienen wollen.
Auch die Kumpel wollen mich nicht missen. Die Guten stützen mich auf dem Marsch vom Arbeitsplatz zum Lager. Sie leisten mir Hilfe beim Appell und halten mich mit ihren Schultern in der Reihe fest, wenn ich wanke und der Schmerz den Körper zur Erde reißen will. Sie verstecken mich im Gemüsegarten, füllen Holzkohle in den geplagten Magen, machen ein Flöz aus ihm und warten, dass die Ruhe auch Krafterneuerung bringen wird.
Es tut mir leid, dass ich ihnen soviel Mühe mache. Sie aber meinen, es sei eine Schande zu glauben, mit neunzig Pfund ließe sich's nicht mehr leben.
Aber ich weiß genau, wie Atze Hilbrich zugrunde ging, und Atze war ein Kerl von hundertachtzig Pfund. Auch er hat geduldig gewartet, dass wir den Stacheldraht einst bezwingen, ihn zerfetzen von innen und außen. Er lebte und bebte in den Vorstellungen um diesen Tag und flüsterte voll Ehrfurcht von der Reise, die uns in die Heimat führte, an die Tür der Wohnung, die der gekrümmte Fingerknöchel beklopfte, damit sie sich mit aller Vertrautheit öffne für den Verdammten.
Atze wurde noch wahnsinnig vor dem Ende und verteidigte den Kehricht, die leeren Konservendosen und Sirupbüchsen der Posten, solange sie sich die Zeit mit ihm vertreiben wollten in dieser Umgebung von
Elend. Sie sind ja in allen Lagerschrecken bewandert und können jetzt mit ihren Händen foltern oder Henkerdienste leisten und mit diesen selben Händen ein Mädchen umarmen und sich die Freiheit dafür mit einem raschen Schuss in den Häftlingsrücken einhandeln. Atze hatte kein Glück mit einer schnellen Erlösung. Es waren keine Mädchen am Zaun und auch allgemeine Urlaubssperre. Alle Schmutzigen und Niedrigen umschwirrten ihn daher wie Fliegen, stießen, höhnten, reizten ihn und bewarfen den Wimmernden mit Staub und Steinen. Sein Geist war ja tot, doch noch fühlte sein Leib, und er besaß noch die wechselnd flehende, ängstliche, müde und gereizte Stimme, um den Angriff erschöpft und bitter zu quittieren. Atze kroch zum Abflussgraben, als ihn der Nebel des Staubes verhüllte und der Sand ihm Augen und Nase verschloss. Als die Schuhspitzen der Posten in Ruhe gingen und sich die Wolke legte, war Atze im Graben ertrunken. Und wie werde ich verenden? In die Revierstube werde ich nicht aufgenommen. Mit Hilfe meiner Kumpel überstehe ich wieder den Marsch von der Arbeitsstelle ins Häftlingslager. Die Klotzpantinen quirlen den Staub der Landstraße hoch, wir marschieren in erstickender Dreckwolke und singen, singen, dass die Scheiben im Dorfe klirren, als sei unser Leben eine Lustigkeit, und die Arbeit hätte uns erst so recht flott gemacht, als müsste uns eine Welt beneiden, so singen wir.
Beim Appell erreicht mich der Befehl, sofort die
Schreibstube aufzusuchen. Sicher droht eine Lagerstrafe, da ein Posten meine Nummer notierte, als ich wie ein Wurm zwischen den Beeten hinkroch.
Und da stehe ich nun in der Schreibstube, Mütze und Hände an der Hosennaht, stehe und bin ein Licht, ein steifer Pfahl, und versuche die Situation zu erfassen, als mich schon die Fäuste der Scharführer treffen, die schweren Stiefel zutreten und hämmern und der heiße Rachen des Wachhundes nach mir schnappt. Doch das Tier hat nicht dieselbe tückische Seele wie die Männer, die es hetzen. Sein Biss bleibt ein Spiel. Der Hund übt Zurückhaltung, ohne mich zu kennen. Wenn ihn auch Befehl um Befehl erreicht, ihn anstachelt, aufreizt und Zeichen des Zornes mit den Marschstiefeln gegen seine Flanken prasseln, das Tier kommt zu keinem anderen Entschluss, als mich mit seinem Leib zu decken, während es scharf und herausfordernd bellt.
Dann reißen sie mich hoch an den Schreibtisch und führen die Hand zur Unterschrift, Marken und Briefbogen empfangen zu haben. Seit fünf Wochen ist uns das vorenthalten worden, und die Anfrage aus der Heimat beantworten sie mit dieser Orgie des Hasses und der Wut. Sie sparen nicht mit volltönenden Kraftausdrücken, sie spucken auf die Erde und scharren mit den Füßen darüber. Nur der Hund verhält sich still und ist unter den Tisch gegangen, um mich von dort sacht mit seiner kühlen Nase zu berühren.
Ich fühle, wie mir das Blut aus dem Munde läuft. Für den Schmerz fehlt jede Empfindung. Und während
die Hand dann die Zeile schreibt: „Mir geht es gut, bin gesund und munter", weiß ich noch nicht, dass mich diese Zeile fünf Zähne kostet.
Vor der Schreibstube lauern die Kumpel und fangen mich auf. Sie lächeln, die guten Kerle, sie greifen nach dem welken Leben und legen mich auf dem verlausten Strohsack zurecht, während ich sie den Kehrreim summen höre: „Uns geht die Sonne nicht unter!"

 

Hansen

Die Sonne war schon tief gesunken. Der Himmel fahlte langsam aus. Rote Lichtwellen schimmerten und flimmerten dicht über dem flachen Wiesen- und Ackerland. Ein verspieltes Kiebitzpaar jagte sich. Die Posten in den Türmen lösten sich ab.
Ich saß vor der Baracke und starrte in das Farbspiel, das sein Rot immer mehr vertiefte und mich innerlich lebhafter machte. Wie ein Wald aus Fahnen und Transparenten beim Aufmarsch flammte das Licht.
Den ganzen Tag über hatte ich Zementsäcke geschleppt. Die Lastwagen kamen in so kurzen Abständen, dass die Arbeit selbst für geübte Abträger nicht mehr zumutbar war. Der Arbeitstag dauerte zwölf Stunden.
Wir Ablader huckten uns den Zement in die Nacken und trugen ihn in den Schuppen. Dabei ging es über drei schwankende, feuchte Bretter, die über Rieselgräben lagen. Am Lastwagen lauerte ein blutjunger Arbeitsdienstführer und im Schuppen feuerte uns der kommandoführende Kapo an. Pausenlos schleppten wir in flottem Gang und trabten im Laufschritt den Weg zurück. Verlangsamten wir das Tempo, dann zog uns hier der Kapo seinen Prügel über den Rücken, dort der Arbeitsdienstführer.
Über dem Wiesenland tanzten die ersten Falter, das junge Grün duftete, die Gräser und Kräuter, Stauden und Dornbüsche würzten die Luft. Vögel lockten und schwirrten. Durch die Gräben zogen in eifrigem Pendelschwung die Rudel der Kaulquappen.
Der Arbeitsdienstführer pfiff nach der Lilli Marleen. Aber bis Hamburg unter die rote Laterne war sein Weg noch weit. Er pfiff und pfiff. Zuerst schmalzig, dann immer forscher. Als seine verwilderte Leidenschaft ihn quälte, hieb er mit wütenden Fäusten auf uns ein. Wir ergriffen hastig die Zementsäcke, während er schlug, wohin er traf. Gedankenlos verrichtete er die Grausamkeit seines Handwerks. Mit wiehernder Jünglingsstimme rief er uns seine Verachtung nach.
Der Bussard schrie. Die Sonne lag auf der Erde und die Erde ließ das hellgrüne Gras sprießen. Wir beugten die Rücken unter der Last und schwiegen. Schweiß und Zementstaub mischten sich im Nacken. Beide fraßen wie Schmirgel auf der Haut. Die Schmerzen der Stockhiebe und der Last, die uns fast besinnungslos machten, nahmen wir still hin und erschütterten allmählich den Machtdünkel unseres politischen Erziehers. Unserem Schweigen war er auf die Dauer nicht gewachsen. Nach einigen ordinären Ausdrücken und zornigen Drohungen, jeden auf besondere Art ins Jenseits zu befördern, hockte er sich auf einen Feldstein. Wir atmeten schwer. Die Beine zitterten. Wir strengten uns an, ohne Sturz über die schwankenden Bretter zu kommen. Er hätte uns im Graben ertränkt wie junge Katzen, wenn ein Sack Zement verlorengegangen wäre.
Die Lastwagen kamen in längeren Abständen. Wir schleppten im gleichen Tempo wie bisher. In der Zwischenzeit sammelten wir Holzabschnitte, die vom Barackenbau umherlagen. Der Arbeitsdienstführer rauchte eine Zigarette. Er tat es ohne Genuss. Er blickte stumpfsinnig und gelangweilt in die Gegend. Dann vergaß er auch das und beschäftigte sich mit seinen Stiefelspitzen. Dabei grünte und blühte es doch auf der Erde. Von Stunde zu Stunde verschwanden die kahlen Stellen im Boden, als webten die Sonnenstrahlen einen Teppich. Feldspatzenschwärme zogen hin und her. Ach, es gab viel, woran sich ein Mensch begeistern konnte. Es bot sich mit Farben und Stimmen an. Mit weichen und jubelnden Tönen erfüllte es die Höhe, mit zartesten Farben trieb der Wildwuchs aus der Tiefe.
Der Lagerläufer kam in eiligen Sprüngen herbei. Er überbrachte dem Arbeitsdienstführer eine Meldung. Dann rief er mich an und wir rannten los. Ich wollte wissen, wohin wir liefen. Er antwortete jedoch nicht. Da blieb ich etwas hinter ihm zurück. Schließlich kamen wir an einem niedrigen Steingebäude an. Mir wurde unbehaglich, ja unheimlich, aber Zeit zu Überlegungen verblieb mir nicht. Der Läufer verschwand in dem Gebäude und ich hatte ihm zu folgen. Obwohl sich mein Leben völlig verändert hatte und jede Sekunde eine neue Unerträglichkeit brachte, die über Geist oder Körper zerstörend herfiel, die streng geübte Selbstzucht, allem Leid mit größter Gelassenheit, Trotz und Verachtung zu begegnen, hatte doch immer wieder Erschütterungen zu bestehen.
Ich betrat den Raum und war sofort an das Vergängliche erinnert. Die Stille und das Halbdunkel griffen an mein Herz. Es schlug nur träge. Ich roch eine beizende, chemische Flüssigkeit, doch konnte sie den Geruch des Todes nicht zurückdämmen, der den Raum stärker durchzog. Draußen war rohe menschliche Wildheit, hier innen war Stille und Dämmerung zwischen den steinernen Wänden. Kein Harmonium spielte, keine Blumen welkten, ich witterte gehobelte Bretter und grobe Späne und die Vergänglichkeit des Fleisches. Der Verwesungsgeruch kam aus dem düsteren Hintergrund, wo einige Häftlinge lautlos hantierten. Der Scharführer ließ mich stehen. Seine Stirn bekam Runzeln. Ich wunderte mich, dass er mir keinen Stoß versetzte. Ich lockerte meine vorschriftsmäßig steife Haltung. Der Scharführer legte sich einen Gazestreifen auf Mund und Nase. Er stahl sich hinaus, an die frische Luft.
Da befreite mich das Erscheinen des Fremdenlegionärs aus der Spannung. Er holte mich von einem fernen Trabanten auf die Erde zurück. Er war mir oft etwas behilflich, mir leichtere Arbeit zu übertragen. Nun sah er mich mit eisernem Blick an.
In der Legion hatte es der ehemalige erwerbslose Saarländer bis zum Offizier gebracht. Frau und Kinder lebten in Paris. Da er nicht schreiben durfte, hatten sie keine Ahnung, wo er sich befand. Hitler hatte an alle ehemaligen Saarländer appelliert, zur Abstimmung in die Heimat zu kommen. Kostenlose Reise und sicheres Geleit wurden ihnen zugesichert. Wohin das Vertrauen zu jenen Versprechungen führte, erlebte der Legionär nun täglich mit. Er fing an zu denken. Leben oder Untergang. Er hasste nun die organisierte Gewalt, die ihn mit Lügen in das Geburtsland gelockt hatte, ihn darauf jedoch des Vaterlandsverrats beschuldigte und der Freiheit beraubte. Malariaanfälle machten ihn als Vorarbeiter oft zum Wolf unter SS-Wölfen, hart, wütend, nach selbst durchlittener Seelennot und körperlicher Pein, doch ließ er sich von mir, wenn auch unwillig in derartigen Situationen, bändigen.
Jetzt nahm er mich gerührt am Arm und führte mich in den Hintergrund des Raumes an einen offenen Sarg. Fünf waren mit ihren miserabel gebeizten Deckeln verschlossen. Wie mit der gleichen Beize überzogen, lag eine Gestalt vor mir. Der Legionär zündete zwei Kerzenstummel an und ich erkannte Hansen unter Papierservietten und ersten Wiesenblumen.
Der Sturmführer hatte Geburtstag gefeiert. Servietten und Kerzenreste kamen von seinem Tisch. Der Legionär hatte sie für den toten Kumpel an sich genommen. Es würde ihm als Diebstahl ausgelegt werden. Das konnte für ihn Auspeitschung bedeuten, den Verlust des roten Winkels oder ein unter Marschstiefeln zertrampeltes neues Opfer. Der Legionär wusste das besser als ich.
Hansen war keineswegs sein Freund. Der Legionär ärgerte sich immer, wenn ich mit Hansen ausdauernd debattierte. Er geriet in Zorn, wenn Hansen auf dem Weg zur Erkenntnis viele Einwände machte. Er sympathisierte mit den Sozialdemokraten. In seinem Hirn waren viel Irrtümer hängengeblieben. Er versuchte jedoch zur Wahrheit durchzukommen. Also entstand unser politischer Zirkel. Die braune Staatsmaschine wollte uns stupide machen. Sie war der Meinung, dass sich die Arbeiterklasse hinter dem elektrischen Draht selbst auffraß. Es ging anders aus. Der Verstand ließ sich nicht einsperren, er organisierte die Solidarität.
Hansen hatte keine Fahne gekauft, keine Plaketten, keine Zeitungen der Faschisten. Als der Sohn des Amtswalters die älteste Hansentochter nicht gefügig bekam, schlug er sie zusammen und erreichte sein Ziel bei der Ohnmächtigen. Hansen machte Anzeige. Doch die Gestapo schenkte den gut vorbereiteten Aussagen des Amtswalters Glauben und nicht dem Mann, der weder Zeitungen, Plaketten noch Fahnen kaufte.
Hansen kam ins Lager. Wenn wir uns nach der Plackerei übermüdet auf die Strohsäcke fallen ließen, verhielten wir uns eine kurze Zeit ganz still und entspannten Muskel und Schädel. Wir lagen weit voneinander entfernt. Manchmal musste mir Hansen aus innerem Drang von seinen Töchtern erzählen. Dann leuchteten seine Augen vor Stolz. Er zauberte sie in die Baracke hinein, und das Geschrei um uns schwieg, der Gestank verflog, die zerfetzte Häftlingskleidung verschwand und die drei blühenden Schönheiten lächelten in die Grausamkeit der verhassten Gefangenschaft.
Vor drei Wochen fand ich nach dem Abendappell seinen Strohsack leer. Gestorben und begraben, unaufhaltsam folgte dieser und jener, verhungert, ertränkt, erschossen. Nun lag er vor mir, seine knochige Blöße mit gestohlenen Papierservietten bedeckt, Verwesung verbreitend.
Ach, wie hatten seine Augen gestrahlt, wenn sein Mund der Mutter seiner hübschen Töchter den innigsten Dank zu sagen wusste. Er hatte mich mit berauscht, begeistert und selig gemacht. Er hatte mir ihre Schönheit ins Herz gegeben. Mutter und Mädchen hielten jetzt meinen Schmerz auf, den ich bitter an den Lippen schmeckte.
Ich starrte in die flackernden Kerzen. Der Legionär nahm Haltung an. Wir rissen die Kopfbedeckung ab. Salut, Kumpel! Knisternd verlöschten die Kerzen. Wir nahmen Hansen auf die Schulter und trugen ihn hinaus in das Sonnenlicht. Es tropfte durch den Sarg. Meine Jacke wurde feucht.
Nun war wieder die jung erblühte Landschaft da, die Lerchen, die Falter, das Kapogebrüll und das SS-Gelächter. Der Lastwagen kam, wir schoben die sechs Särge hinauf, der Fahrer fluchte ordinär und fuhr los, als hätte eine Alarmsirene geheult.
Salut, Kumpel Hansen!
Der Legionär drückte mir die Hand. Er sah sich wohl selbst in den tropfenden Särgen davonfahren. Er ließ den Kopf hängen und sein Unterkiefer zitterte. Er dachte an den Toten, der irgendwo wie ein Stück Vieh im Winkel verendet war und dessen Verwesung aus unseren Jacken roch, als wären wir selbst schon soweit. Nein, er hatte kein Recht, so zu grübeln! Ich suchte
meine Gedanken zusammen, um ihm neue Hoffnung zu geben. Ich wollte zu sprechen beginnen, doch fand ich nicht die Worte, die alles deutlich gemacht hätten. Mein Herz klopfte wie eine Maschine. Auch das mochte Einbildung sein, und ich hörte in Wirklichkeit, wie unweit von uns die Ziegelpresse stampfte. Ich schlug dem Legionär heftig auf die Schulter und ging schweigend davon.
Gleich nach dem Appell setzte ich mich an die Baracke und blickte in die rote absinkende Sonne. Fahnen und Transparente zeichnete sie, vor eine Demonstration in der Hansens Frau und Töchter gegen die Wachtürme marschierten.

 

Regen

Ob der Regen mit oder ohne Warnungszeichen eintrifft, ist völlig egal. Die Arbeit geht überall weiter. Wir dürfen keinen Schutz aufsuchen. Von den Türmen beobachten uns die Posten bei Unwetter besonders streng. Die Sonderstreifen tragen ihr Regenzeug. Die SS vom Arbeitsdienst sucht Deckung, in der Schmiede, in der Ziegelei, auf dem Zimmerplatz im Werkzeugschuppen, bei den Eisenbiegern. Ihre Augen bleiben wie Jagdgläser in das Gelände gerichtet. Es sind junge Augen, gefährliche Augen. Sie suchen eine herumstehende Nummer. Die Nummer ist deutlich genug für ein schwaches Auge an unsere Jacken und Hosen genäht. Sie und der Winkel sind aus haltbarem Stoff. Jacke und Hose sind scheußliche Fetzen, von Lauge zerfressen, von Knüppelhieben durchgeschlagen, während der Arbeit von Brettern, Balken, Ziegelsteinen, Eisenteilen zerlöchert. Wir schlafen darin, wir arbeiten darin, wir sind krank darin und sterben in dem Plunder. Darum sind ihnen die herumhängenden Fetzen nur noch für die Zerreißmaschine wichtig. Wichtiger ist die Nummer. Ihre Eintragung in das Notizbuch bedeutet beim Abendappell Essenentzug oder Prügel für den Häftling, Strafkommando an der Straßenwalze und Himmelsreise durch den Schornstein, aber lobende Anerkennung für die Posten, Urlaub, Beförderung, Diensterleichterung.
Die Eintragungen entsprechen deshalb auch nicht der Wahrheit, sondern dem aufgestachelten Geltungsbedürfnis, der hochgezüchteten Angeberei, dem täglich ein-
geplanten Tod von Häftlingen, und sie werden eines Tages alles auf befolgte Instruktionen und Befehle zurückführen.
Soeben steht noch die erhobene Sonne in meinem Nacken, da lässt eine Wolke ihrem Überdrang freien Lauf und stürzt ihren Inhalt herunter, als sei ein Riesenwasserbecken geplatzt. Zugleich setzt ein schneidender Wind ein. Ich schlottere vor Nässe und Kälte. Schon schlägt die zweite Woge herunter, aber der Wind, der diesmal mitkommt, zwingt mich in die Knie. Die Wolke zieht ab. Die aufstrahlende Sonne kann mich trocknen. Das ist der Anfang, denke ich. Es wird mehr Regen geben. Obwohl sich nun die Düfte aus Pflanzen und Erde erheben, ich denke an den furchtbaren Regen, der uns bald alle Tage heimsuchen wird. Er läuft an mir herunter. Die Wege in diesem Gartenteil sind glitschig wie eine Eisfläche. Das kommt von dem blauen Ton, der dicht unter dem Mutterboden liegt.
Schon längst wollte ich Schlacke von den Brennöfen der Ziegelei heranbringen. Aber bisher war es ja noch so gut wie Sommer. Die heiße Schlacke zu karren, gehörte zu meinem Winterplan. Den Weg am Tomatenfeld hatte ich schon gut beschüttet und in der ofenheißen Schlacke etliche Rüben gebraten. Mohrrüben zuerst. Sie wurden süß wie Honig. Und ich hatte mir dabei vorgenommen, wenn ich doch einmal nach Haus komme, dann werden Mohrrüben nur im Ofen gebraten, als lukullisches Festmahl den Freunden gereicht. Wirklich, nichts hatte mir bisher besser geschmeckt, als die in Schlacke gebratenen Mohrrüben. Aber der Weg an den eigenen Tisch war weit, und das Rezept für das gebackene Wurzelgericht konnte ich mir immer nur wieder selbst empfehlen. Drei Beete der roten Wurzeln waren ausgesät. Der Scharführer hatte mir schon längst halb geraten, halb befohlen, sie umzugraben, weil sie nicht gedeihen wollten. Er war ein Gärtner. Als die ersten winzig grünen Puscheln des Krautes aus der Erde kamen, hielt ich das Zeug für Petersilie. Er nannte es Mohrrüben und deshalb nannte ich es nicht anders. Er war ja ein Fachmann. Ich stand weit bescheidener diesem nahrhaften Beruf gegenüber, und meine jetzige Geschäftigkeit war Stümperei, Selbsterhaltungstrieb und ein Schuss beharrliche Frechheit. Ich goss die Pflänzchen und las das fröhlich treibende Unkraut heraus, und jedes Beet zeigte fünf schnurgerade grüne Striche. Mehr nicht. Eine heitere Tischdekoration oder so. Wenn es wirklich Mohrrüben waren, dann mussten es prachtvolle Wurzeln werden. Die ich gebraten hatte, gehörten zwar in die Häftlingsküche, waren aber den Enten des Kommandanten zugeteilt. Die paar Pfund weniger machten die watschelnden Bratvögel nicht magerer. Sie waren schon jetzt pfannenreif. Sie würden also keinen Anspruch mehr auf die Mohrrüben erheben, denen aus eigenen Nahrungssorgen meine besondere Aufmerksamkeit galt. Der Scharführer konnte sie zwar an die Küche abgeben. Aber er hatte eine Wut auf sie. Er schrie sie an, spuckte darauf und nannte sie Hundsdreck. Jeden Morgen, wenn er zur Kontrolle durch den Garten ging, waren die Beete frisch gehackt und gegossen. Er nannte mich höhnisch allerlei, nur keinen Gärtner. Ich glaubte an die Mohrrüben. Vor Hunger glaubte ich daran. Ich hatte doch schon längst ein Versteck für meinen erwünschten Anteil, um sie in der Schlacke köstlich wie nichts auf der Welt zu braten.
Jetzt nass und frierend, denke ich stärker an die warme Schlacke. Es treibt mich in die Richtung des Ofenhauses, um mich dort einige Minuten aufzuhalten. Die trockene Wärme in dem Halbdunkel streichelt mich. Sie tut mir bis auf die Knochen gut. Die hier beschäftigten Häftlinge sind nicht erfreut, dass ich aufkreuze. Sie sehen aber, wie ich tropfe. Da ich nicht an den Öfen längere Zeit stehenbleibe, lassen sie es zwar geschehen, ohne den Eindringling mit Steinkohle zu bewerfen, schieben mich aber förmlich mit ihren deprimierenden Augen hinaus. Ich winde mich an der ausstrahlenden Wärme vorbei. Natürlich sind die Straßenbauer, die Maurer, Tonstecher und Ablader in der gleichen Lage. Sie müssen im Regen bleiben. Sie müssen Nässe und Wind ertragen, als sei die Haut auf den geschundenen Knochen ein Panzer.
Kurz hinter dem Koksbunker gibt es zwei enge Schornsteinwände. Ich passe hinein. Das ist längst ausprobiert. Da mir kein Kapo, kein Scharführer begegnet, steige ich über die Bunkerwand und quetsche mich zwischen die Abzugswände. Vor Behagen hole ich Luft. Obwohl meine Lungen den Brustkorb nicht wie einen
Blasebalg ausdehnen können, sind sogar mir durch die engen Wände Grenzen gesetzt.
Ich höre, dass wieder eine Regenwoge fällt, und ich höre vom Eingang her Marschstiefel und Stimmen, höre an den Öfen Schaufeln und Schürhaken, und die knirschenden Stiefel bleiben in meiner Nähe stehen. Es regnet sehr, doch ich bin trocken und warm untergebracht. Meine Lumpen riechen nicht gut. Sie riechen immer nach Schweiß und Schmutz, aber nun, leicht dampfend, riechen sie besonders übel. Es ist merkwürdig, dass die Nase nicht endlich daran gewöhnt ist, sondern den Gestank registriert, bis mir im Magen flau wird. Zorn packt mich, aber die Ohnmacht, dem Zorn zum Durchbruch zu verhelfen, setzt den Zorn zurück.
Ich bin durchgewärmt, und die Nase läuft, als ob sich der Regen einen Abfluss sucht. Ich kann es nicht verhindern. Die steife Haltung gestattet mir nicht, mit dem Handrücken an die Nase zu fahren. Ich habe mich ja förmlich zwischen die warmen Wände gepresst. Außerdem sind etwas unter mir ein Kapo und ein Scharführer. Sehen kann ich sie nicht. Es ist zu dunkel. Ich höre sie nur durch die wechselnde Anrede heraus. Jeder Kapo hat einen Namen. Der SS-Mann einen Rang. Wir sind nur Nummern, Drecksäue, Aasgeier, Banditen, Scheusale und Untermenschen. Das gehört zur Kultur unserer Erzieher. Mitunter wird es zur Sucht, ein neues Schmähwort zu finden. Darin entwickeln sie eine  ungeheure Regsamkeit.  Sie  sind  bemüht,  so abfällig, so ordinär, so wuchtig zu sein wie nur möglich und machen sich nur erbärmlich.
Allmählich wird mir wärmer, als ich's vertragen kann. Die beiden Wächter haben nicht die Absicht, das Ofenhaus zu verlassen. Meine Situation wird unmöglich. Es handelt sich nicht nur darum, dass mir der Schweiß über den Körper rennt und die Beine die steife Haltung nicht mehr ertragen, es kann sein, der Posten im Turm vermisst mich. Solange die Schaufeln ununterbrochen scharren, ist auch Gefahr in der Nähe. Die Öfen müssen zwar ständig mit Feuerung beschickt werden, es sind auch die Roste zu reinigen, damit sie nicht verschlacken und die Temperatur gleichmäßig die Klinker umspielt, aber die Ziegelbrenner sind um so geschäftiger, je näher ihnen selbst die schwarze Gefahr ist. Hier sind sie trocken und warm aufgehoben, das Essen ist für sie reichlicher, sie haben Trinkwasser und einen Bottich, in dem sie baden. Ihre Arbeit findet eine gewisse Anerkennung. Sie wollen diesen Platz halten, solange ihre Haft dauert.
Nun stockt das Geräusch der Schaufeln und Kratzen. Tiefes Schweigen darauf. Dann ein zaghaftes Wort, weit entfernt. Das ist mein Augenblick. Das Herz klopft. Ich muss es wagen, aus dem Haus zu verschwinden. Muss mich mit eventueller Entdeckung abfinden. Schon bin ich aus den Wänden, übersteige die Feuerung, sie rutscht nicht ohne Geräusch unter mir weg, mir ist, als packt mich eine Zange an der Gurgel. Herum um den Ziegelstapel drehe ich, achtsam und entschieden, die Tigerhacke nehme ich vom Boden hoch, einen Blick zum Turm mit kurzer Kopfdrehung, gut, alles in Ordnung!
Der Himmel ist bezogen. Weit kann ich von hier nicht sehen. Verwaltungsgebäude, Ofenhaus und Ziegelpresse nehmen mir die Sicht. Aber die Mohrrüben stehen wunderbar. Sie haben mich nicht im Stich gelassen. Sie zeigen sich für meine Pflege dankbar im Wuchs und im Geschmack. Alle, die ich probiere, sind völlig madenfrei. Mit einer Drahtschlinge zerlege ich sie in Scheiben. Eine andere technische Möglichkeit ist nicht vorhanden. Ich muss ja meine zusätzliche Verpflegung verbergen. Darf nicht sehen lassen, dass ich kaue. Morgen werde ich zum Wintervorrat sammeln, bevor sie in die Kommandanturküche kommen. Jeden Tag werde ich am Stamm des Zwetschgenbaumes etliche vergraben. Der Posten im Turm kann das Stück nicht einsehen. Ich betrachte die Stelle noch mal kritisch. Wie ich nun knie und etwas zum Schlosserschuppen hinblicke, ist doch darunter Platz für mich. Es ist mir leichter, die Mohrrüben zu vergessen, als dieses Versteck zu übersehen. Ein wunderbarer Regenschutz. Ich probiere ihn sogleich aus. Nun habe ich zwei Möglichkeiten, der Nässe zu entgehen. Das Ofenhaus und die Lücke unter dem Schlosserschuppen. Ich danke dem Baumeister für seinen verrückten Einfall. Es fängt auch grad wieder an vom Himmel zu brausen. Flach auf dem Bauch kann ich nicht liegen bleiben, dann ist mein Arm sichtbar. Aber seitlich zwischen Erde und Holzdecke verklemmt, lässt sich's machen. Dann ist plötzlich vor Regen nichts mehr zu sehen, noch etwas anderes in der Umgebung zu hören. Er kommt mit unglaublicher Gewalt, er kommt aus übersatten Wolken und gießt im Augenblick ein ganzes Meer aus. Er will mich aus der Lücke vertreiben. Er strömt vom Dach, schlägt unweit von mir auf die Erde und schleudert mir Nässe und morastigen Brei ins Gesicht. Das ist keineswegs erfreulich. Gerade, als ich meine Lage etwas verbessern will, tapsen schwere Schritte heran und ein Doppelposten stellt sich am Schuppen auf.
Wie sie auf diesen Einfall kamen, lässt sich nicht erklären. Sie hatten unendlich viel Möglichkeiten, dem Regen auszuweichen. Sie trugen Regenzeug und dreißig Schritt von mir ab hauste der Tierpfleger mit den Schweinen des Kommandanten in einem Steinstall. Ein winziges Treibhäuschen war da. Im Schlosserschuppen, in der Ziegelei konnten sie gut, warm und trocken unterkommen, ich konnte nicht herausfinden, weshalb sie nun hier und gerade, als es mir äußerst unbequem wurde, herkommen mussten.
Sie reden leise. Nichts ist zu verstehen. Dazwischen klingelt der Regen, und im Schlosserschuppen dröhnen Hammerschläge auf Eisen. Und ich habe den Drang, meine Haltung in dieser engen Höhle nur ein klein wenig zu verändern. Ich mache einige krampfhafte Bewegungen, aber Erleichterung finde ich im Zufluchtsort nicht. Im Gegenteil, der Boden scheint immer rücksichtsloser meine Knochen zu malträtieren. Dabei habe ich durch die zusätzliche Rohkost schon etwas zugenommen. Die Tomaten, Kohlrabi, der Blumenkohl, die Mangoldblätter und die Petersilie polstern ganz klein wenig die Haut auf den Knochen. Mein Atem ist länger und mein Gang sicherer. Aber der Boden drückt und zwackt und peinigt mich unausgesetzt. Wir schlafen im Lager zwar nicht auf Daunen, sondern auf dünnen Papiersäcken, in denen das Stroh zu Häcksel geworden ist, doch in meiner jetzigen Lage ist mir zumute, als ob ich auf Schotter gebettet bin. So gut es geht, versuche ich mich zu beherrschen. Vor mir stehen die Marschstiefel, die unbarmherzig zutreten, wenn mich ihre Träger unter dem Schuppen entdecken. Dann bin ich für sie nicht mehr als ein Regenwurm, ein Käfer oder eine Spinne.
Der Boden verschlammt mehr und mehr. Ich liege noch trocken. Der Regen schlägt dicht neben mir Löcher, es bildet sich eine Pfütze, und das Wasser läuft zu meinem Glück in den tieferen Teil des Gartens ab. Spritzer treffen mich. Die SS-Schützen rühren sich nicht vom Fleck. Sie unterhalten sich. Kein Wort, kein Landschaftsdialekt ist zu verstehen, nur ein gedämpftes Gemurmel, der Regen und zwei Schmiedehämmer. Ein Glück, dass die Stiefelspitzen nicht zufällig in mein Versteck fahren, weil eine Feldmaus vom Regen vertrieben bei mir Unterschlupf sucht. Es ist dann ihr Tod und mein Tod. Eventuell kommt sie auch davon. Ich bin das größere Wild, aber auch keinen Schuss Pulver wert.
Während mir das alles durch den Kopf schießt, fällt ein Zigarettenstummel in die Pfützen. Er zischt. Eine kleine Rauchfahne kräuselt empor. Der Stummel bläht sich im Wasser, dann löst sich das Papier ab, und die Tabakfäden schwimmen auseinander. Ich sehe überrascht zu, wie es dicht vor meinen Augen geschieht. Ich bin entsetzt, dass ich's nicht verhindern kann. Der Tabak ist verloren, und ich habe kein Verständnis für die große Verschwendung, die vor meinen Augen geschieht. Da zischt es schon wieder. Der zweite Stummel ist gefallen. Bedeutend größer treibt er in der Pfütze. Ich schiebe meine Hand hinein, um ihn vor der Auflösung abzufangen.
Die Posten haben ihre Dienstvorschrift verletzt. Sie werden beide in die Umgebung sehen, doch nicht zu Boden. Ich wage das Risiko, fasse den Stummel, juble innerlich ... und sitze in der Falle. Ein Posten steht auf meiner Hand. Ich öffne sie sofort vor Schreck. Bin ich entdeckt? Ist es Zufall oder Absicht, dass mich der Schuh festhält? Ich bleibe still. Ein bittrer Gedanke treibt den andern. Der schwere Mann drückt meine Hand in den Schlamm, der Stummel ist verloren, hat sich aufgelöst. Meine innere Stimme mahnt mich zur Ruhe, aber der Schmerz in der Hand ist so stark, dass ich mich wohl nicht sehr lange beherrschen kann. Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Ich werde bald dem Schmerz nachgeben müssen. Noch halten mich meine Bedenken zurück, und wütend ermuntere ich mich, um nicht zu stöhnen.
Ich höre die Trillerpfeifen der Kapos. Ja, es klingelt nicht das aufgepeitschte Blut in meinen Ohren, es sind die Signale für die Kommandos, an den Stellplatz zu kommen. Die Schufterei ist beendet. Die Posten ziehen sich zurück. Ich warte. Spähe ihnen nach. Dann trabe ich durch den Regen zum Stellplatz, ohne meine schmerzende Hand zu betrachten. Von überall kommen die Kumpel heran, krumm vor Nässe und Kälte, die Klotzen vom Ton verklebt, zitternd und übermüdet taumeln sie in die Reihen. Es regnet und regnet. Fünf Tote liegen im Schlamm, und der sechste legt sich ohne Seufzer dazu. Er fällt aus der Reihe. Die Reihe rückt auf. Der Kapo schlägt noch einigen, die sich wundern, mit der Faust gegen den Kopf. Er läutet ihnen die Glocken von Jericho, meint er dazu.
Die Kommandos zählen ihren Bestand durch, und wir rücken im Gleichschritt ab. Jeder greift sechs Klinker vom Stapel, und die letzten tragen die Toten. Ein Lied wird verlangt. Das Dorf soll uns hören. Denn trotz Regen und Plackerei, trotz Hunger und Toten dürfen wir einfach das Singen nicht lassen. Wir grölen immer die gleichen Lieder, und wir grölen sie schlecht. Der Scharführer und die Kapos schlagen mit ihren Knüppeln in die Reihen, die Klinker fallen, die Männer fallen, und die Toten erhalten noch Hiebe und Fußtritte. Der Regen rauscht. Unsere Herzen beben, das Blut kocht, wir greifen die Klinker, die Toten und ziehen weiter. Wieder wird ein Lied verlangt. Wir grölen lauter. Wir zittern vor Kälte, der Wind nimmt uns die Stimmen vom Mund, die Prügelei beginnt von vorn, bis sich der ganze Trupp auf der Straße wälzt. Steine und Tote werden erneut aufgenommen, und nun brüllen wir wie eine verstimmte, krächzende Orgel.
Endlich sind wir im Lager. Schichten die Steine. Formieren uns auf dem Appellplatz zu Blocks. Der Platz ist ein kleiner See geworden. Wir stehen zum Teil bis an den Knöcheln im Wasser. Der Regen fällt und der Wind bläst. Der Kommandant lässt auf sich warten. Wir zittern und werden immer krummer. Einige nässen schon durch die Hosen. Es kommt ja nicht mehr darauf an, wo das Wasser herkommt, aus den Wolken oder aus dem Leib, das macht der SS nichts aus. Die Reihen darf niemand verlassen. Alle haben auf den Kommandanten zu warten. Der lässt uns stehen, und wenn es die Nacht über ist. Wir erhalten den Befehl zum Strammstehen, dann Mützen ab, ein Lied, und wir singen. Nun schlägt uns noch der kalte Regen auf den kahl geschorenen Schädel und rollt uns ungehindert das Rückgrat entlang. Wir sind nass bis auf die Haut und ziehen doch die Schultern hoch, um nicht so direkt vom Regen getroffen zu werden. Da fallen die SS-Schläger über uns her und knüppeln drauflos. Plötzlich entdecken sie während der Prügelei, dass einige Häftlinge Zementtüten unter dem Zebraplunder haben.
Ausziehen! Nackt stehen wir im Regen, und der peitscht uns wie mit stachligen Ruten. Die Lumpen liegen im Schlamm, und wir versuchen, uns nackt aufrecht zu halten. Einige brechen tot zusammen, einige wälzen sich: in Krämpfen und schreien wie besessen.
Nun dürfen wir in die Lumpen. Die Toten haben für die Zementtüten bezahlt. Wir rücken in die Baracken ab. Der Regen trommelt auf das Dach, gegen die Wände. Wir breiten die Strohsäcke aus, hüllen uns in die Decken und warten auf das Brot. Der Wind jault im Lüftungskasten. Er rast über die Niederung und tobt sich an den Baracken aus. Unheimlich knarren die Bretter, unheimlich knattern die Regenstöße, aber den zwanzig Toten können sie nichts mehr anhaben.
Meine Hand ist dick aufgeschwollen. Sie schmerzt. Aber die warme Decke tut gut. Wenn nur der Regen und der Wind in der Frühe aufhören. . . Zementtüten ... denke ich ... Brot, höre ich ... Zementtüten im Garten... ja, wo finde ich Zementtüten ... wie bringe ich die Zementtüten bis in den Garten... Brot! ... schreien viele Stimmen ... ich höre den Wind und den Regen deutlicher ... Brot ist zwar Leben, aber Regen und Wind, solch ein Regen und der Wind hier, da fallen die Menschen wie Herbstlaub aus dem Leben ... Zementtüten ... Zementtüten ... Zementtüten ... grüble ich die ganze Nacht im Schlaf weiter.

 

Der Abgang

Immer ist die Luft feucht, und ständig weht der Wind über Wiesen- und Ackerland. Die wenigen Weiden, Erlen und niederen Sträucher an den weitverzweigten Wassergräben sind dem Druck des Windes kaum Hindernisse. Noch kreisen die Störche und schreien die Kiebitze, aber bald wird über uns nur das markante Geplärr der Krähen in der kalten Luft sein.
Die Kumpel reden vom Winterzeug. Wind und Regen haben sie in Unruhe gebracht. Nun schwärmen sie so sicher vom Winterzeug, als seien sie zur Kleiderkammer bestellt. Ihre Einbildungskraft ist lebhaft. Sie hat noch nie zum Erfolg geführt. Aber die auferlegten Entbehrungen beflügeln die Phantasie der Männer derart, dass sie sich einer sinnlosen Seligkeit hingeben.
Wir arbeiten an einem Gartenstück. Wir rigolen das Gelände, ziehen mit den Spaten tiefe Furchen und setzen den Boden um. Die Erde klebt am Spaten, sie klebt an den Holzklotzen, und oft wirft uns der Schwung, mit dem wir die ausgestochene Erde fortschleudern, selbst zu Boden.
Getrennt durch einen Maschenzaun arbeiten Kumpel an einer Betonstraße. Dorthin halten wir Augen und Ohren offen. Ein alter, staubiger Landweg verschwindet. Die Straße wird ohne Arbeitsunkosten erbaut. Sie wird eine offene Rechnung bleiben.
Unterernährte Männer schleppen in übervollen Tragen den Sand, die Bordsteine, den Zement herbei. Sie hasten im Laufschritt hin und her. Keine Arbeit in
ihrem Leben, und sei sie noch so hart und schwer gewesen, kommt dieser Schufterei gleich. Fluchend, schreiend und schlagend treibt die SS die endlose Trägerkette an. Die Männer halten die Köpfe tief, sie geben den Händen und Armen die ganze Kraft, die noch in ihnen steckt, sie bohren die Zähne in die Lippen und stemmen die ermüdeten Beine gegen die Erde und schleppen mit keuchenden Lungen. Andere wühlen mit Hacken und Schaufeln im Boden, bedienen die Mischmaschine, legen die Abflüsse, glätten die Straßendecke.
Die Germanenrecken schlendern lachend, höhnend, pfeifend hin und her, sie brechen mit einem Kolbenhieb Männerknochen, spalten mit Steinwürfen die Schädel oder ertränken die Durstigen im modrigen Abflussgraben.
Die Witwen und Waisen erfahren nie, durch wessen Gewalttat der Mann und Vater ums Leben gekommen ist.
Aber das vergossene Menschenblut macht die herrischen Posten für Stunden ruhiger. Bis hier und dort bei einem die Angstzustände vor der Einsicht, vor Gewissensbissen oder aufsteigender Reue, aus gegenseitigem Misstrauen vor Gefühlsduseleien, durch neue Wutausbrüche gegen die Häftlinge unterdrückt werden.
Wir rigolen wie besessen, um möglichst schnell aus dem Kontrollbereich der Posten zu kommen. In unablässigem Rhythmus schaufeln wir die Erde um. Die Herzen tuckern und die Lungen pumpen, wir müssen weg von den Klauen der Ungerechtigkeit, die unvermutet nach uns greifen können. Es ist feucht und kühl. Auch der Schweiß auf unseren Rücken, an den Armen und Beinen ist kühl. Wir haben uns die flatternden Hosenbeine und die Jackenfetzen mit Schnur zusammengebunden. Die Schnur stahlen wir den Maurern. Wir versuchen nicht einmal darüber nachzudenken, dass wir uns strafbar gemacht haben. Wir versuchen den Wind zu überstehen. Ständig setzen wir uns zur Wehr, beschwören dabei neue Gefahren, aber selbst wenn wir korrekt bleiben, macht es keinen Eindruck auf unsere Peiniger.
Ich habe das Bedürfnis, mich aus der gebeugten Haltung aufzurichten. Deshalb mache ich mich aus der Kolonne fort. In lässigem Laufschritt trabe ich am Grünkohlfeld vorbei, freue mich für Sekunden an dem kleinen Asternstück und an dem Flug der Kiebitze. Mein Wunsch ist, ihnen zu folgen, mich zu erheben wie sie. Die Einbildung zaubert an dem betörenden Märchenwunsch, doch die Augen spähen dabei nach einer Uniform und vor allem nach einem Stück Papier. Es soll mir Magen und Nieren vor dem Wind schützen. Deshalb führt mein Weg zwischen die Gebäude und Schuppen. Ich fühle das Papier schon längst in seiner bockigen Art auf meinem Leib. Ich spüre, wie es sich herumspannt und die Wärme festhält, wenn mich der Wind wie ein scharfes Messer anfällt. Such nur, denke ich, verfolge deinen Plan, du bist kein Vogel, der sich in die Lüfte schwingen kann. Habe Geduld, denke ich, noch ist das Schlechtwetter nicht so schlecht als sein Name und der Winter ist noch weit, obwohl sich die Störche schon darüber einig sind, in Kürze an den Nil zu reisen. Du bist an die Erde gebunden, denke ich, eine Grabenreihe, eine Postenkette, geladener Stacheldraht, das macht die Starken fähig, stark zu sein, wie klein sie auch in ihrer Größe sind.
Ich wische unter der Ziegelpresse hindurch. Keine Uniform. Die Eisenbieger sind nicht da. Ihr Feuerchen brennt, ich wärme mich. Außerdem zwingen mich die Läuse dazu, haltzumachen. Sie sind munter geworden. Sie vermehren sich mit unglaublicher Schnelligkeit. So viele ich auch unter den Nagel nehme, mehr noch scheinen mir auf abenteuerlichste Art zu entkommen. Zwanzig Stück sind mein Tagespensum. Wenn ich sie erwischt habe, bestätigt auch der tüchtigste Läusefänger, dass ich sauberer bin als ein Baby im Säuglingsheim. Aber sie kommen wieder. Sie sind von einer ungeheuren Vermehrungssucht berauscht. Ich schiebe die Hand auf die juckende Stelle, kratze mit den abgebrochenen Fingernägeln über die Haut und hole einige Plagegeister aus ihrem nahrhaften Dunkel.
Da sehen meine Augen eine kleine Drahtzange. Schon setze ich sie an die überlangen Fußnägel, um endlich den Schmerz an den Zehen zu lindern. Nach jedem Knips blicke ich durch die Bretterritzen und halte Ausschau nach einer Uniform. Es ist wie ein Feiertag. Ich freue mich. Die Zange knipst wundervoll. Erst arbeite ich hastig und grob an den krummen Nägeln, dann werde ich bedächtiger und verändere mit einer Feile die noch vorhandene Schärfe. Als ich davontrabe, ist mir, als habe ich nun doch Flügel. Die Klotzen wiegen nur halb so schwer.
Nun will ich zu den Kumpeln zurück. Schließlich will ein anderer fort und mein Graben wartet auf den Spaten.
Einen Bogen um die Gebäude schlagend, entdecke ich an der SS-Küche einen Sack. Wahrscheinlich holt ihn ein Häftling sogleich hinein, denke ich. Ein Sack wird ja vermisst werden, selbst wenn er unzählige Löcher hat.
Im Augenblick spüre ich eine ganze Welt voll Wärme am Körper und im gleichen Augenblick schüttelt mich die Enttäuschung, treibt mich die Furcht an dem Sack vorüber. Warte, denke ich, lass dich nicht hinreißen. Warte, dein Mut ist nicht mutig. Papier tut es auch, der Sack ist kein weicher Samt, lass ihn also, du schmutziger, unrasierter Kerl, auf dem die Läuse weiden.
Aber ich sehe mich doch um. Und was ich mir verbiete, das ärgert mich gleichzeitig. Ist es nicht viel leichtfertiger in dieser Situation, sich das Verbotene zu verbieten, als sich in den Besitz eines Fundstückes zu bringen?
Ich umkreise den Sack in weitem Bogen. Aus der SS-Küche riecht es nach Kartoffeln und gebratenem Fleisch. Speichel schießt mir in den Mund und fließt mit einem Druck bis zum Kinn. Ich schlucke. Eine neue Verwirrung, die mich fassungslos macht. Ich trachte danach, dem Anfang ein schnelles Ende zu bereiten. Nochmals versuche ich festzustellen, ob der Sack unbeobachtet ist und meine Anwesenheit noch nicht aufgefallen ist. Ich beargwöhne die Umgebung millionenfach, zögere nicht und gehe mit sicherem Schritt auf den Fund los. Hebe ihn auf, als sei mir der Befehl dazu erteilt, rolle ihn, klemme ihn unter den Arm. Mein Herz steht wohl still, ich sehe nicht, wohin ich gehe, aber ich gehe Schritt um Schritt wie ein Spaziergänger, der nichts zu verbergen hat. Ich atme tief und bewege mich schwerfällig, während vor meinen Augen Funken und Farbspiele kreisen. Plötzlich unterbricht die Ziegelpresse ihr Gepolter und der hohe Laut der spielenden Kiebitze erinnert mich an das Dasein.
Es gongt zum Mittagsappell. Von allen Seiten eilen die Häftlinge herbei. Den Sack verstecke ich im Grünkohl. Wir zählen unsere Gruppen ab, empfangen die Kohlsuppe und löffeln stehend. Wir löffeln schnell, denn der Wind bläst die Wärme aus den verbeulten Näpfen, aber wir wollen innen etwas warm werden und sind deshalb flinker als der Wind.
Nach einigen Minuten geht der Gärtner aus dem Treibhaus zum Arbeitsdienstführer. Ist die Gefahr da? Ich verschlucke mich. Der SS-Mann blickt mit sonderbarer Neugier auf unseren Gärtnertrupp. Ich huste. Ich bin gespannt. Der SS-Mann schiebt die Hand rückwärts an die Pistole. Der Gärtner aus dem Treibhaus spricht leise. Die Hand des SS-Mannes hält nur eine Zigarette.
Die Nervenprobe ist vorbei.
Die Pause ist vorüber. Der SS-Mann nimmt fünf Häftlinge aus meinem Trupp und geht mit ihnen zum Grünkohlfeld. Sie haben den Auftrag, für die Mannschaftsküche Gemüse zu schneiden. Sie werden unbedingt den Sack finden. Schreck und Zorn packen mich heftig. Entsetzt starre ich dem Trupp nach. Ein Schwindelgefühl peinigt mich. Nur nicht zusammenbrechen! Der Magen stößt den Kohl aus. Nun habe ich nichts im Magen und werde nichts auf dem Magen haben. Der Zigeuner blickt mir in die Augen. Er wischt mir den kalten Schweiß von der Stirn. Dann drückt er mit seinen schwarzen Fingern einen Stummelrest zwischen meine Lippen und lächelt, während mir das Schluchzen im Halse steckenbleibt. Ich sehe voll Trauer dem Trupp nach, der in Richtung Kohlfeld verschwindet, dann aber abbiegt und den Weg zum Treibhaus einschlägt. Die Kräfte regen sich in mir. Da raffe ich die Holzpantinen und renne los. Noch bleibt mir ein Trumpf!
Der Zigeuner schreit auf. Er denkt, ich sei plötzlich verrückt geworden und wolle in die bewaffnete Postenkette laufen. Ich muss das Feld erreichen, bevor der Trupp vom Treibhaus mit Körben und Messern zurück ist. Ich laufe mit dem Wind um die Wette. Er darf mich nicht umwerfen, er darf mich nicht langsam vernichten und schon jetzt nicht, wo ich mit dem raufasrigen Kartoffelsack eine Rettung vor dem Winter gefunden habe. Verlass' mich nicht im Grünkohlkraut, du mein Gedächtnis, denke ich und laufe. Lass mich schnell das wärmende Geschenk finden. Lauft, ihr
Beine! Haltet durch, ihr Lungen! Seid Scheinwerfer, ihr Augen! Herz bleib tapfer, es ist ein hoher Einsatz! Ich springe wie ein Kaninchen, schlage lang in das Grünkohlfeld und stopfe liegend den Sack unter meine Jacke. Einer vom Trupp kommt. Der SS-Mann ist noch nicht dabei. Ich springe schon auf, der wilde Lauf zurück ist begonnen, das Siegeszeichen bauscht meine Jacke. Der Komposthaufen ist jetzt mein Ziel. Dort will ich den Siegespreis vergraben.
Alle Häftlinge sind an ihre Arbeitsplätze abgerückt. Die SS ist an der Straße postiert. Ziegelei, Tongrube und Zimmerplatz sind von Spähern frei. Ich durchlebe eine gehobene Stimmung, wie ich sie noch nie beim Kauf eines Anzugs aus bestem Tuch gespürt habe. Der Sack ist so gut wie neu. Er raschelt nicht und trägt nicht auf, er wird nicht zum Verräter, wenn ich ihn über den Körper streife. Mit einem Stück Glas trenne ich kurz entschlossen drei Löcher hinein, passend für Kopf und Arme. Er ist einfach eine Herrlichkeit, ein Märchen, ein Rausch, ein erstklassiges Stück, mein neuer Besitz. Die Kälteschauer haben ein Ende. Nur der Hunger meldet sich. Er martert den Magen.
Die rigolenden Kumpel sagen kein Wort. Sie sehen mich nur lange und nachdenklich an. Ich greife schweigend zur Schaufel und bleibe mit ihnen hungernd in einer Linie bis zum Abendappell.
Am nächsten Morgen bin ich Kaffeeholer. Der Morgen ist frisch und neblig. Die Kumpel klappern mit den Zähnen. Ein elendes Wetter ohne Wind. Für mich fast ohne Bedeutung. Die Kälte kann mich nicht krumm ziehen.
Wir trinken das dünne Gerstenwasser, fühlen den Hunger, treten zum Appell an, formieren die Arbeitsgruppen und setzen uns in Marsch. Die Posten wollen Gesang hören, und wir lassen nach ihrem Willen die blauen Dragoner reiten. Aber es sind hoffnungslose Dragoner auf leeren Hafersäcken und müden Schindmähren. Wir sind keine satten Stare, aber die Posten wollen hören, dass ein Telefondraht voller Stare in den Morgen schmettert. Einige Fußtritte, einige Fausthiebe, einige Sauwörter, aber nach dem Gerstenwasserfrühstück wird auch die neu besungene Dragonerschwadron nicht passabler. Sicherlich eine traurige Heerfahrt, eine Reihe Geschlagener in vielen Schlachten, grad noch entkommen und daher ohne festliche Fähnlein, Wimpel und Standarten.
Also müssen wir auf den Bauch und robben ein Stück durch feuchten Sand, werden in den Rücken, ins Gesäß, gegen den Brustkorb getreten, werden hochgebrüllt, und die dritte Schwadron blauer Streiter muss sich durch den Morgen singen. Auch ihre Stimmen klingen dunkel, verloren und lästerlich.
Bevor wir in den Gliedern bebend an die Arbeit gehen, verkündet der Arbeitsdienstführer allen verdammten Meuterern eine besondere Freude zur Mittagszeit. Er bläht sich in seinem Kriegskleid und freut sich auf den Hinterhalt, in den er uns locken wird. Uns, die Armee von Lumpen in Lumpen, uns lebende
Leichname, uns jämmerliche Überbleibsel unheroischen Denkens im heiligen Reich! Kurze Sätze schlägt er uns um die Ohren, dann ist sein Kopf leer. Er starrt uns an, ob er einen forschen Eindruck gemacht, ein gutes Finale gegeben hat, da kommt ein Scharführer und nimmt ihn erst zur Seite, ruft sodann den Oberkapo und erklärt ihnen etwas.
Ich höre diesen und jenen Magen rumoren. Ein knurrendes Orchester junger Hunde, die an der Leine liegen sozusagen. Die Magen schreien ihre Qual in den Morgen, sie grollen ihre Verwünschungen, wütender pfeifen die Därme.
Meine Nummer wird vom Oberkapo gerufen. Weder Schreck noch Freude ist in meiner Stimme, die sich mechanisch meldet. Ich muss vor die Front, das Kommando wird zur Arbeit befohlen, dann bin ich mit dem Scharführer allein. Ich denke nicht an den Hunger, ich denke an den Sack, den ich auf dem bloßen Körper trage. Sicher hat mich jemand verpfiffen. Jemand hat mir Lampen gemacht, wie das sinnige Lagerwort für Verrat lautet. Wir stehen da und sehen uns eine Zeit an. Er hat manchem etwas voraus. Er ist kein Schinder. Wir sind seine Gegner, gefangene Gegner, besiegte Gegner. Wir haben keine Wohltaten zu erwarten. Aber was nun weiter geschieht, ist ihm zu viel. Die schmutzige Vernichtung von Wehrlosen ist nicht seine Sache. Deshalb sitzt er seit langem in der Verwaltung. Nun steht er vor mir und wartet wahrscheinlich auf eine Frage. Nein, ich überlasse ihm den ersten Zug. Er denkt über mich nach. Er hat die Hände in den Manteltaschen und ich stehe aufgedrillt wie eine Roggenähre und bin seinen fragenden Augen ausgesetzt. Plötzlich besinnt er sich und fordert mich auf, mit ihm ins Lager zu gehen. Gut, gehen wir. Er fragt nach dem Grund der Haft, nach Dauer, nach dem Beruf. Ich warte auf den überraschenden Trick, mit dem er sich nach dem vermissten Sack erkundigen wird. Er spricht vom Wetter. Ich denke an den Streich mit dem Sack, zucke mit den Schultern, sage kein Wort. Wir sind an der Straße, an der die Kumpel betonieren. Nun muss ich vorangehen. Fünf Schritt Abstand. Spießruten gehe ich zwischen den erstaunten Gesichtern der Kumpel und der Gasse ungehobelter Posten und Arbeitsaufseher, die kaltschnäuzig nach dem „großen Fall" fragen, aber darauf warten müssen wie ich selbst.
Als wir ein gutes Stück weg sind, ist der Scharführer schnell an meiner Seite. Mit einer scheuen Kopfwendung sagt er in die Luft hinein, dass ich entlassen werde und befiehlt strengstes Schweigen vor jedermann. Ich weiß nicht, ob mich die Füße weitertragen wollen. Ein Kniff, denke ich. Er erwartet eine Antwort oder Tränen, irgendein Zeichen innerer Bewegung, doch bleibe ich ihm alles schuldig.
Natürlich steigt mir die Mitteilung zu Kopf. Alle Nerven sind erregt. Dann habe ich Hunger. Mir ist fiebrig heiß. Ich bin verstört. Der Hunger fiept wie ein Mäuselager in den Därmen. Misstrauen stürmt durch das Hirn. Misstrauen gegen einen SS-Streich, gegen
einen ihrer verrückten Einfälle des Nervenkrieges. Wir gehen durch das Lagertor. Der Scharführer macht dem anwesenden Adjutanten seine Meldung. Ich muss warten. Sie gehen einige Schritte. Der Scharführer kommt zu mir. Er bringt mich in die Baracke, schickt mich an meinen Strohsack und spricht mit dem Blockältesten.
Ich warte. Mein Strohsack liegt am Barackenende. Der Scharführer kommt und drückt mir ein angebrauchtes Stück Seife in die Hand. Ich gehe in den Waschraum. Er verlässt die Baracke. Ich kehre um, ziehe mich nackt aus und verstecke den Sack. Das Wasser ist eiskalt. Ich seife mich ein und schruppe mich dann vom Borstenkopf bis zu den geschwollenen Füßen mit Sand. Es ist kein Genuss, aber Freudentränen rollen mir nun doch in den Schaum. Das Blut rauscht in meinen Ohren, es rauscht im Gehirn. Ich ziehe mich, nass wie ich bin, wieder an. Gehe wie im Zellenbau fünf Schritte hin, fünf Schritte her und lasse meine Haut trocknen. Die Dielen knarren und der Blockälteste brüllt vor Wut und droht heftig mit beiden Fäusten. Das sind Fäuste wie Klinker. Sie haben sich an Panzerschränken und im Ringverein bewährt. In diesen Pranken bin ich eine armselige Haselnuss. Also setze ich mich mit meinem Hunger auf den Strohsack. Er lässt mich nicht in Ruhe. In Gedanken bin ich schon in der Kleiderkammer. Der Magen klammert sich an sein Problem und knurrt nach Nahrung. Verhalte dich doch still, denke ich, zeige Würde und red nicht immer dazwischen, wenn dir der Kopf erzählt, dass du bald wieder ganz gleichmäßig Nahrung erhalten wirst. Ruh dich noch aus, denke ich, die kommende Fülle wird viel Anstrengung von dir fordern, du entwöhnter Magen!
Etwas lässt der Magen mit seinen Mahnungen nach. Ich ruhe mich aus. Lege den Kopf auf die Knie. Ich sehe mich deutlich auf der Landstraße zum Bahnhof gehen. Aber ich gehe nur bis zu der alten Eiche an der Kreuzung. Hier unterbreche ich den Weg. Ich kann mich ja nicht selbst verhöhnen und dem Traum mehr Recht einräumen als der Wirklichkeit. Noch schaukle ich mit dem Kopf auf den Knien müde und hungrig in der Baracke.
Das geht drei Tage so. Kommt ein SS-Mann, mache ich Meldung und gebe den Grund meines Aufenthalts in der Baracke an. Ich wasche mich, um mir die Zeit zu vertreiben, döse auf dem Strohsack hockend und esse zwei, drei Portionen Weißkohlsuppe, weil sie überzählig ist. Die SS-Männer grinsen zuerst, dann spielen sie das Katz-und-Maus-Spiel, ihr Hohn wächst, ihre Drohungen wachsen, sie verabreichen mir Ohrfeigen und jagen mir blitzartig die Stiefelspitze ins Gesäß, während ich mit zusammengepressten Lippen wie ein Karussell die befohlenen Kehrtwendungen ausführe. Niemand erteilt ihnen einen Befehl dazu. Kein Vorgesetzter treibt sie an. Sie wollen nur die unüberbrückbare Kluft von sich zu mir betonen.
In der Frühe des vierten Tages melde ich mich beim Arbeitsdienst und rücke wieder mit in den Garten aus. Welch ein Glück, dass ich träumend nie weiter als bis zu der Eiche gegangen bin, dass meine Vernunft ordnend der lodernden Phantasie nicht die Macht überlassen hat. Ohne tiefe Enttäuschung schwenke ich mit den Kumpeln an der Eiche zum Arbeitsplatz ab. Während der Arbeit wollen sie vom gesellschaftlichen Leben wissen. Von Politik und Ökonomie und der Veränderung des Lebens wollen sie hören, die Bedeutung von Fremdwörtern muss ich erklären. Sie sind verändert in den drei Tagen. Es geht ihnen nicht mehr um zwei Löffel Weißkohl mehr oder weniger, nicht mehr um Spinnereien, die auf Winterkleidung oder Entlassung zielen, es geht ihnen darum, denken zu lernen.
Ob wir aus- oder einrücken, immer steht der Adjutant an der Brücke. Zuerst scheint es zufällig zu sein. Eine Anweisung des Kommandanten oder so. Wer weiß, was dahintersteckt? Mir fällt auf, dass er stets dort wartet, wo ich komme. Bin ich in der linken Außenreihe, geht er wie zufällig dorthin. Marschiere ich auf dem rechten Flügel oder gar in der Mitte, seine Augen lassen nicht locker, bis sie mich entdecken.
Vierzehn Tage gehen hin, vierzehn Tage voll Mühsal, Gefahr und Fleiß, voll Unterhaltung über die proletarischen Kämpfe in Deutschland, in der Welt und die Hoffnung auf den Sieg der unterdrückten Völker gegen ihre Unterdrücker.
Die Störche rückten ab. Sie hatten die junge Brut aufgezogen und rauschten nun im günstigen Wind davon. Nur die Kiebitze blieben noch und stießen ihre klagenden Rufe beim fröhlichen Flug aus.
Scharf und gebieterisch schreit der Blockälteste die Suppenholer vom Nachtlager, und ich bin dabei. Es ist ein glasklarer Morgen mit sprühenden Sternen. Brillanten funkeln, flammen, leuchten. Wir rasen zur Küche, greifen schnaufend die Kessel und schleppen sie zur Baracke. Die Kumpel klappern schon mit den Blechnäpfen, sie schlürfen am Speichel, sie sind zum Sprung bereit, die Mehlsuppe dampft, der Speichel tropft in die Näpfe.
Der erste Tisch rückt schon an, aber es ist noch zu früh, der Blockälteste und die Kapos prüfen den Inhalt der Kessel und suchen nach dem, der dem Schöpflöffel den meisten Widerstand leistet. Aber da geht ein Gewitter los. Der Blockälteste lässt seinen Fahrradschlauch sausen. Er fletscht die Zähne wie ein Bär, faucht und schlägt, die Männer taumeln, stürzen, kriechen und bleiben unter den Hieben liegen. Er springt von Strohsack zu Strohsack, sein Schlauch klatscht, der Schweiß steht auf seiner Stirn, die Augen sind rot vor Zorn. So hat er im Ringverein seine Kumpane im Zaum gehalten, immer besser und gewalttätiger als alle Anführer feindlicher Haufen. Gerade in dem Augenblick wird meine Nummer von der Tür her gerufen. Ich laufe hin.
Der Scharführer betrachtet mich und befiehlt, nicht von seiner Seite zu weichen, keinen Blick, keine Geste in eine Häftlingsgruppe, sonst sei es mit meiner Entlassung aus. Aber die Suppe, denke ich, es gibt doch heute Suppe. Der Mund schweigt, aber der Magen sagt alles, er ist ja so furchtbar erregt und knurrt schamlos.
Er pfeift auf die uniformierte bewaffnete Macht und ist unglaublich laut.
Der Appell wird abgenommen. Die Arbeitskommandos rücken mit Gesang ab. Der Scharführer will mit mir in die Kleiderkammer. Ich bitte ihn, auf den Abtritt zu dürfen. Er meint zwar, ich könne das ebenso gut in den Drecklappen von Hose tun, ist sich jedoch seiner Empfehlung nicht ganz sicher und geht mit mir zur Baracke. Mir liegt nur daran, den Sack ungesehen zu entfernen. Ich tripple und greife an den Hosenbund. Er zieht die Nase kraus, als wittere er Unrat. Dann lässt er mich laufen, setzt mir jedoch in langen Sprüngen nach. Da er mich dann allein auf der Stange weiß, zieht er sich zurück. Ein kurzer Griff, und der Sack liegt in der Kotgrube.
Nach einer Minute stehe ich vor dem Scharführer. Wir betreten die Kleiderkammer. Der Schädel erhält seinen Feinschnitt und rasiert werde ich auch. Dann liegt mein Sommeranzug da, Oberhemd, Unterwäsche, Strümpfe, Schuhe, Krawatte und Reisemütze. Alles ist zerknüllt, der Mützenschirm eingebrochen. Aber was bedeutet das schon, ich würde auch nackt meinen Weg gehen, um dieser wilden Instanz zu entkommen. Weg von den Aufpassern, weg von der durchbluteten Erde, vom Schmutz und den verlausten Baracken.
Der Scharführer geniert sich, weil ich im hellgrauen Sommeranzug vor ihm stehe und er mich so zur Bahn begleiten muss. Er windet sich und sagt dann entschlossen, er werde zusehen, dass uns ein Auto zur Bahn bringen wird. Mir machen die Windstöße nichts aus, antworte ich ihm. Und das ist die Wahrheit, denn nach der Häftlingsverkommenheit in Sack und Lumpen, bin ich direkt winterfest angezogen. Nur der Hunger macht mich schwach. Der Magen erinnert mich an die nicht erhaltene Suppe. Er lässt sich auf die tröstlichen Versprechungen des Kopfes nicht ein. Er rechnet laut das Soll und Haben vor, knurrt und lässt mich schwitzen.
Der Scharführer bringt mich in die Wachstube am Tor. Ich ziehe meine Stummelpfeife und die Schuhcremedose mit dem Tabak und rauche. Es gongt zum Appell. Der Weißkohl wird ausgegeben. Mein Magen erregt sich wieder. Da wird mir von einem Posten eine Zweiliterschüssel gereicht. Sie auszulöffeln macht mir keine Mühe. Ich setze nicht einmal die Mütze ab. Ich stelle die Schüssel ans Fenster zurück. Nochmals kommt sie voll bis an den Rand wieder. Auch sie wird leer. Ich schaffe auch noch die dritte Schüssel, aber nun bin ich voll wie ein Wasserwagen.
Dann gehen wir. Auf der Kommandantur erhalte ich meine Abgangspapiere und die strikte Anweisung, mich unverzüglich nach meiner Ankunft in Berlin im Präsidium Alexanderplatz bei der Gestapo zu melden.
Dann fahren wir mit einem Lastwagen zum Bahnhof. Der Scharführer übergibt mir an der Sperre die Fahrkarte. Drei Minuten später kommt der Zug und ich steige ein.
Ist das möglich, denke ich, und der Stein in mir beginnt zu schmelzen, und es ist mir, als ob am Fenster dicke Regenschnüre entlang rinnen. Aber der Regen ist ja weder salzig, noch spritzt er durch die Scheiben. Die Augen machen mir wohl diese Schererei.
Der Zug ist geheizt. Ich öffne das Fenster. Nur ganz hinten sehe ich Mitreisende. Der geheizte Wagen ist mir eine Plage. Aber ich zünde mir ein Pfeifchen an. Dabei lege ich die Reiseverpflegung in das Gepäcknetz. Dreihundert Gramm Brot, mit Butterschmalz bestrichen. Eingewickelt in den „Angriff". Ich höre die Maschine fauchen und die Schienen klirren und jage durch die Landschaft, und der Schweiß rieselt mir in Strömen am Körper hinunter, obwohl das Fenster wie im Hochsommer offen ist. Die Sonne schimmert weiß und fein und der Rhythmus der Räder saust unter mir:

Wilde Gesellen, vom Sturmwind verweht,
Fürsten in Lumpen und Loden,
ziehn wir dahin, bis das Herze uns steht,
ehrlos bis unter den Boden.
Fiedel, Gewand in farbiger Pracht,
trefft keinen Zeisig ihr bunter!
Ob uns auch Spötter und Speier verlacht:
uns geht die Sonne nicht unter!

Ich ziehe das Sakko aus und lege die Mütze ab. Der Zug beginnt zu schleifen, verringert seine Geschwindigkeit und bremst. Ich höre eine Männerstimme, gleich darauf jedoch eine Frau, greife die Mütze, um meine Mönchsfrisur zu verdecken, und schon ist ein Bahner mit Koffern im Abteil, ein brauner Teckel und eine junge Frau. Ich will verschwinden, aber sie bittet mit sanftem Gesicht, doch zu bleiben.
Ich will sie nicht kränken und gebe dem Druck ihrer leichten Hand nach. Wir fahren gleich wieder, der Bahner springt vom Trittbrett und ich sehe mit einigem Erstaunen in das Gesicht einer jungen Frau. Ich kenne nur Männergesichter und Uniformen und Häftlingslumpen, Baracken und keine Wohnhäuser, Flachland und keinen Wald und auf einmal fasst mich eine Frau ins Auge, ich sehe ihre Gestalt und höre ihre Stimme, diesen lange entbehrten Klang.
Aufgeregt nehme ich ihren Teckel zu mir, streichle sein Fell, und der Hund macht es sich auf meinen Knien bequem. Sie ist erstaunt und hält mich für den besten Menschen der Welt, weil ich mir die Gunst ihres Tekkels ohne jeden Übergang errungen habe. Sie lächelt mit weißen Zähnen und leuchtenden Augen. Sie ist voll Anmut und duftet nach Creme und Parfüm. Sie ist kindlich heiter und ich bin erschreckt. Ich kenne nur harte Männer, den Gestank ihrer eitrigen Schwären, den rohen Ton der Aufseher und knochige, entstellte und halbverweste Tote. Die Stimme einer Frau, das Gesicht einer Frau, die Überraschung ihrer bebenden Linien rufen in mir Bestürzung hervor.
Sie beginnt ein Gespräch. Ich beschäftige mich mit dem Hund. Aber sie ist meines Schweigens müde und stellt eine direkte Frage nach dem Woher meiner Reise. Ich gebe Hamburg an, erzähle, dass ich Brückenbauer sei und blicke statt in das Ebenmaß ihres Gesichtes auf das braune Hundefell. Harmlos wie ein Kind stellt sie neue Fragen, und ich muss nach Ausreden suchen, denn ich habe ja weder die Zeitung gelesen noch Radio gehört, ich war nicht im Theater noch im Kino und las auch kein Buch. Sie macht mir furchtbar zu schaffen, denn jede ihrer Fragen wird für mich gefährlicher. Traurig und erregt entschuldige ich mich, das sitzt doch noch aus vergangener Zeit im Blut, dann begebe ich mich zur Plattform, hole die Schuhcremedose hervor, stopfe die zerkaute Stummelpfeife und bin froh, den blonden Haaren und den blitzblauen Augen entflohen zu sein. Meine Freude dauert nicht lange, sie spürt mich auf, und mit vorwurfsvoller Stimme rügt sie mich, da sie der Rauch nicht störe, wenn wir auch im Nichtraucherabteil führen. Ich zerschmelze in dem überheizten Wagen, obwohl ich nicht mehr als den Sommeranzug auf dem Leib habe, der Schweiß läuft an mir herunter, aber was weiß jene fremde Frau von meinen Nöten?
Was weiß sie von den einsamen Kämpfen in versteckten Punkten des Heimatlandes, von der Vorschule des Krieges einer bewaffneten Spezialtruppe, die auf verhungerte Männer schießt oder sie mit Feldsteinen erschlägt? Heute habe ich mir nicht einmal Hände und Gesicht mit Wasser nass gemacht, bin einfach aus den verlausten Häftlingslumpen in mein zerknülltes Zeug gestiegen und giere trotz der drei vollen Weißkohlnäpfe, die ich verschlang, nach dem Butterschmalzbrot im Gepäcknetz.
O du gefährliche, tötende Neutralität, o du verdammte Angst vor eurem erwachenden Bewusstsein, ihr Mitmenschen!
Während ich so überlege, ist die junge Frau dabei, zum Aufbruch zu rüsten. Ihre Station ist nahe. Die Frauenstimme läutet und läutet das in meinen Kopf hinein. Der Hund umtanzt mich. Die Lokomotive stößt einen Pfiff aus und bremst. Ich trage die Koffer zur Tür und ziehe mich entschlossen zurück, ohne Gruß. Soll ich den mönchischen Schädel entblößen und plötzlich in dem schönen Gesicht ein Entsetzen auslösen? Ich trockne mir mit dem Ärmel den Schweiß von Gesicht und Hals und verstecke mich im Hintergrund des Abteils.
Wir fahren.
Kurz vor Berlin ist Fliegeralarm. Die Maschine hetzt weiter. Alexanderplatz verlasse ich den Zug. Dunkelheit. Ich taste mich wie erblindet zur Treppe. Der erhaltene Befehl treibt mich ins Präsidium. Unverzüglich bei Ankunft zur Gestapo-Meldestelle, so lautet die Bestimmung. Vorsichtig tasten die Füße, den rechten Arm strecke ich weit vor, unter dem linken Arm trage ich das Brot, und dann frage ich, lauter und lauter werdend, ob da außer mir noch jemand sei. Ich höre jedoch nur meine eigene Stimme. Ich stoße an eine Wand. Vor Wut beginne ich lauter zu rufen. Ich denke an den Meldebefehl und spekuliere nicht auf die Einsicht von Gestapomännern, denn sie haben mich mit ihrem Hass belehrt.
Ein Polizist hält mich an. Er will mich in den Luftschutzkeller verweisen, ich halte ihm meinen Entlassungsschein hin und er führt mich dann zum Eingang des Präsidiums. Draußen bellt Flakartillerie. Der Polizist begleitet mich weiter. Ungehalten werden Gittertüren auf- und abgeschlossen, und endlich betrete ich einen verqualmten Raum.
Grad wollen ihn drei Männer verlassen. Sie runzeln bei meinem Anblick die Stirn und brüllen unflätig los, da weiß ich genau, dass hier das richtige Nest ist. Sie stoßen mich auf den Flur und kreischen den Polizisten an, der fortwährend seine Knochen zusammenreißt. Draußen bellt die Flak. Ich halte ihnen meinen Schein hin. Draußen bellt die Flak. Endlich unterschreibt einer, schwört auf meinen Tod und spuckt mich an. Draußen bellt die Flak. Ich bin mit dem Polizisten allein. Wir gehen. Ich hole Pfeife und Schuhcremedose hervor. Der Polizist gibt mir eine Zigarette. Er lächelt. Draußen bellt die Flak. Er bringt mich an das Tor. Flaksplitter pfeifen und klappern. Ich höre eine Lok ihren Dampf verzischen. Dahin gehe ich nun ganz beruhigt, denn ich habe die Furcht der drei Gestapomänner genossen, die sie nicht hinter ihren Unverschämtheiten verbergen konnten.

 

Wieder zu Haus

Der Morgen hat ein verklärtes Lächeln. Müdigkeit und Lebenslust bilden ein spätherbstliches Gemisch. Ich gehe spazieren. Es ist ein alter Weg zwischen staubigen Häuserfronten und Fensterreihen voll bunter Auslagen, und doch ist es ein neuer Weg, auf dem ich mich nachdenklich erinnere, obwohl mich die Gegenwart verlockt hat, mich einzureihen in den anonymen Menschenschwarm, der hin und her schwingt. Wie grau und wie farbig ist das Leben!
Es ist viel Zeit vergangen, seit mich zwei Dienst­ ausübende Männer gewaltsam in ihre Mitte nahmen. Misstrauisch behielten sie mich im Auge. Ihre Erscheinungen hatten etwas Bedrückendes. Ihre Fragen hatte ich mit der Distanz beantwortet, die unserer Begegnung zukam. Es war ein eiskaltes, trockenes Wortduell. Dann gingen wir und schwiegen. Einer verbarg die linke Hand in der Brusttasche, der andere trug die rechte Hand im Mantel versteckt. Unsere Schultern lagen wie bei vertrauten Freunden eng aneinander. Dass sich in dieser Methode jedoch grundlegende Meinungsverschiedenheiten über menschliche Qualitäten ausdrückten, wussten wir drei nur allein. Auch dass zwei präzis gearbeitete Revolver losgehen würden, wenn ich nicht Schulter an Schulter mit den bewaffneten Männern blieb, war nur uns bekannt.
Die Luft roch an jenem Morgen nach Herbstlaub, nach Kastanien und Eicheln, und die Sonne streute etliche Goldfäden in die Straße. Wenige Frauen tätigten ihre Einkäufe. Die Kinder befanden sich in der Schule. Die Väter arbeiteten in den Fabriken. Sie suchten während der Freizeit mit viel Phantasie das bunteste Leben und arbeiteten sich bei der naiven Ausübung ihres Berufs in das graue Elend hinein. Gern und fröhlich, gesund und lange wollten sie leben, doch ihre Tätigkeit diente dem Schmerz, den Tränen, dem Tod. Ich hatte ihnen helfen wollen, das zu erkennen. Sie sollten nicht auf den Schlachtfeldern verkrüppeln, fallen und verderben. Sie sollten Frieden halten und im völkerverbindenden Wettstreit Geist und Körper, Landschaft und Städte zu ungeahnter Schönheit bringen.
Nun wurde ich von zwei Revolvermännern abgeführt. Staatsbeamte. Rüstig, behände und gewohnt, auf Menschen zu schießen. Ich war gefasst darauf. Aber mir fiel ein, ihre scheußliche Bedrohung zu ignorieren.
Mein Platz war für unbestimmte Zeit nicht mehr dort, wo mein Bett stand und die geschätzten Bücher warteten. Wissenschaft und Dichtung ließ ich zurück und Menschen, die oft mit sorgenverdüsterter Stirn kamen, um sich über die Familie, die Arbeit und die Zukunft zu unterhalten. Denn unsicher war ihnen ihr von der Gesellschaft der Besitzenden angewiesener Platz immer. Verzweiflung in der Arbeitslosigkeit, größere Hoffnung bei wirtschaftlicher Besserung, aber doch Angst vor neuer Krise und dem Alter, dem ungesicherten Brot nebst bedrohtem Wohnraum blieben die unerschöpflichen Themen.
Also ließ mich das Dritte Reich fühlen, dass der Versuch, das Menschenleben zu begreifen und zu deuten, die Verzweiflung zu durchbrechen und dem Frieden und der Freundschaft der Völker zu dienen, das Gewissen der Arbeiter und Bauern zu stärken, damit sie zu ihrem Selbstvertrauen fänden, nur den Hass der Herrschenden zur Folge hatte.
Deshalb verschwand ich. Ungesehen. Es hätte mir auch nichts genützt, wenn uns ein bekanntes Gesicht begegnet wäre. Unbeschadet käme jener befreundete Mensch sicher nicht davon. Das wurde mir bewusst, während das Gefühl wieder den Verstand verschob und umgekehrt.
Einige Sperlinge sah ich. Sie mussten sich für die nahe kalte Zukunft eine andere Futterstelle suchen. Mein Fensterbrett würde ohne Korn und Krume bleiben. Die Katze des Molkereibesitzers klebte am Zaun. Nur die weißen Pfötchen und der kohlschwarze Kopf hoben sich von den verwitterten Brettern ab. Das Hinterteil blieb verborgen. Mochte sie sich über meine Gleichgültigkeit wundern, über meine Abwesenheit, wenn sie etwas davon verstand. Sie zeigte keine Neigung, über den Zaun zu springen.
Zuerst vermeinte ich, in die Ferne sehend, dass sich meine Augen irrten. Sensationsdurstig, mit seinem Watschelgang, kam uns der Briefträger näher. Ich roch zur Beruhigung tief in die Luft, die voll der Urkraft aus Eicheln und Kastanien war. Sekunden schloss ich dabei die Augen. Ich hatte sie wohl überanstrengt. Die verschiedenartigen Rüche aus Eicheln und Kastanien im lauen Wind, dieser gelackten Wildfrüchte, die aus den Schalen barsten, taten zur Abwechslung meinem Gemüt wohl. Dann sahen die Augen wieder den Briefträger, der auf seinen Plattfüßen wie angewurzelt inmitten des Bürgersteigs stand. Er trug auf seiner Dienstuniform das nagelneue Abzeichen der Gewalt, des geistigen Bankrotts, der Zerstörung. Gebeugt unter der Last seiner ledernen Tasche kam er dann tapsend näher. Er bewegte sich in den Schuhen eines Riesen, deren Spitzen weit nach außen liefen. Sein gedrungener Körper war fest, doch klein.
Er hatte mir Briefe, Zeitungen und Zeitschriften des In- und Auslands ins Haus gebracht, bis die faschistischen Scheiterhaufen vor der Universität flammten. Das war für ihn nicht in Vergessenheit geraten. Er kam mit dem schweren Schritt des ehemaligen Landarbeiters, der schon als Schuljunge hinter dem Pflug des Rittergutsbesitzers über die Äcker ziehen musste. Devot lächelnd, mir zuerst die Briefe und Karten mit den bunten Verlagsköpfen überreichend, später, nach Auflösung und Zerstörung jener Unternehmen, kühler, strenger, ironischer auf mich blickend. Entsann er sich wohl auch meiner Bemerkungen, dass er sehr bald Gestellungsbefehle in die Mietskasernen tragen würde und auch jene Wehrmachtsmitteilungen, in denen der Soldatentod für die Hinterbliebenen das Letzte bedeutete? Hatte ich ihn mit meiner Verhaftung in Beziehung zu bringen? Er besaß ein gutes Gedächtnis. Traf mich aus dieser Quelle der Blitz jener Beamten, die dem Kreuzzeichen dienten? Zu erwarten war es schon. In solche Gedanken geriet ich. Vorher kam mir das nie in den Sinn.
Es kamen Frauen aus den Läden und nahmen ihm die Post ab. Sie waren daran gewöhnt, ihm die Arbeit zu erleichtern. Sie erfuhren durch die offenen Karten so viel. Wo Geburtstag im Haus war, Kindtaufe und wo die Mahnungen der Abzahlungsgeschäfte hingingen, behördliche Vorladungen zugestellt wurden, das kam den Frauen nicht ungelegen.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Etwas aufgeregt, zerbrachen zwei Streichhölzer, und vom dritten Hölzchen flog der Kopf davon. Erst darauf gelang es, obwohl die Hände sich noch nicht beruhigt hatten. Nichts hatte sich beruhigt. Die Gedanken nicht, das Herz nicht, und deshalb flatterten die Lippen mit der Zigarette.
Wir stiegen in die U-Bahn hinunter und fuhren davon. Wir standen. Es war noch hier und da ein Sitzplatz frei. Meine Begleiter bestanden darauf, in der Ecke zu bleiben.
Das war nun alles vorbei. Ich schlief wieder in meinem Bett. Ich hörte die Uhr ticken und schlagen. Bett und Uhr und Bücher konnte ich berühren, mich sauber anziehen, lesen und schreiben.
Ich hatte versucht, ein Buch zu lesen. Es gelang nicht. Mich blickten nur Buchstaben an. Irgendwelche dekorativen Zeichen. Ihre Form war mir nicht verlorengegangen. Mein Hirn baute jedoch den Sinn nicht weiter. Es gab keine Zusammengehörigkeit. Die Sätze blieben undeutbar. Die Sätze verflachten, wurden zum Wort und das Wort verschwand im dekorativen Zeichen der Buchstaben. Ich erschrak. Versuchte erneut und wie ein Kind mit dem Finger von Wort zu Wort tippend den Sinn in mir sprechen zu lassen, doch das Echo blieb aus. Ich gab nicht nach. Ich versuchte, das gesprochene Wort mit dem Ohr zu belauschen, als wäre es der Glockenschlag der Uhr. Das Wort sollte leben wie der Gongton, der durch das Zimmer schwang. Die Buchstaben ließen mich im Stich. Auch ausgesprochen war das Gelesene nur ein unbedeutendes Geräusch.
Ich suchte verzweifelt einen anderen Weg. Es gab ihn wohl nicht. So schlief ich ein, den Kopf auf die Hände gestützt. Als ich erwachte, flog das Licht wie ein Pfeil auf meinen Schreibtisch zu.
Eine winzige Bronze, die zwei lesende Kinder darstellt, befindet sich auf meinem Schreibtisch. Das Mädchen sitzt stärker vorgeneigt und spricht wohl laut hin, was in den Kapiteln an Kummer und Glück geschrieben steht. Der ernst blickende Knabe verfolgt zwar die Zeilen mit, lauscht jedoch dabei mehr der fesselnden Stimme seiner Vorleserin und sieht die Begebnisse der Schilderung, wie sie ihm nun das vom lebendigen Wort angeregte Innere erscheinen lassen.
Er hat seinen rechten Arm um die Schulter des anmutigen Mädchens mit dem Ponnykopf gelegt. Sie hält den Burschen an der Hüfte fest. Beider Knie berühren einander, denn das Buch mit seinem geheimnisvollen Inhalt braucht eine sichere Stütze.
Ob der Schöpfer der Bronze ein großer Meister war oder ob hier nun die Aussage eines unbekannten Gießers zur Entwicklung kam, die plastische Wirkung überrascht durch die intime Gestaltung der Kinder, die sich gemeinsam die wunderbare Welt des Buches erschließen.
Weit geöffnet sind die Augen des Mädchens. Der Mund lächelt verständnisvoll in das Buch hinein, dessen Wortgefüge die Phantasie in Gang bringt.
Über wie viel Jahre der Entwicklung hatte wohl jener Träumer in Bronze vorausgesehen, als er sein kleines Kunstwerk schuf? Die Menschen waren damals weder reich gesegnet mit Zeit noch mit Büchern. Pflichterfüllung im Haushalt oblag schon den kleinsten Händen. Zwölf und vierzehn Stunden waren die Väter in den Betrieben beschäftigt. Die Mütter nähten Blusen und Kleider. Sie beugten auch nachts den Rücken über die ratternden Nähmaschinen. Kinder trugen Zeitungen aus, räumten die enge Wohnung auf, bereiteten die Mahlzeiten vor, hüteten die jüngeren Geschwister. Die erarbeitete Nickelmünze wurde für das Brot ausgegeben. Es tobten heftige Kämpfe in den Familien darum, das notwendige Lehrbuch für den Schulunterricht zu beschaffen oder das Brot zu bezahlen. Wo gab es in der Mietskaserne den stillen Winkel, um die Schulaufgaben zu machen, wo war das Versteck, um ein Buch zu lesen? Wer ein Buch las, der verschwendete die Zeit, und die Zeit verschwenden, hieß das Brot verkleinern.
Das Mädchen aus Bronze liest vor. Der Knabe daneben hört vertrauensvoll zu. Begehrend richtet er den Blick auf die Äußerungen, die sein Gefühl durch das Wort in Bewegung bringt. Er spürt dem Klang und der Musik der Sprache nach. Das Wort entzündet seine Empfindungen, seine Sehnsüchte und weckt die Freude am Leben. Das Buch bereitet mit seinem Inhalt ein neues Bewusstsein vor. Soeben war der Leser noch bedrückt, verwirrt, verängstigt, hilflos, die Schöpfung des Dichters verändert diesen Zustand. Die Zukunft schmeckt nicht mehr kalt, ist nicht mehr öde. Seelische und geistige Kräfte beginnen sich zu regen.
Als ein Hirn die sinnvollen Bronzefigürchen erdachte, als dann die Hände immer klarer formten und der Guss gelang, war darin eine Zeit vorweggenommen, die eine mögliche Zukunft bedeutete. Ein Traum der Gesinnung war in das Metall gelegt. Schmerzensreicher Zustand ist durch den vorausdenkenden Menschen aufgehoben. Die wunderbare Welt des Buches spricht mit ihrem Wort jeden an. Es gilt, das Buch sinnvoll zu nutzen, es ist allen nahe.
Der Prophet der kleinen Bronze, der Anlass nahm, lesende Kinder darzustellen, hat dabei nicht die Auseinandersetzung mit seiner Zeit gemieden. Er mag seine eigene Kindheit dargestellt haben. Er hatte sich der Unordnung seines kindlichen Daseins vergewissert. Er hatte das Buch und vor allem den Menschen geliebt.
Er wusste um die Sprachmächtigkeit der Dichtung, die Gedanken bewegt und Herzen glühen lässt. Er wusste von den grauen Hinterhöfen und den Nöten seiner Jugend, die vor lauter Arbeit kaum lesen und schreiben lernte. Darum hatte er sich die Pflicht auferlegt, mit der Bronze seine heimliche Liebe zu verkünden. Sein Atemzug, sein Herzschlag galt weder dem Behagen über das Vorhandene noch der Resignation für das Fehlende. Er hatte sich bemüht, ein Werk zu vollbringen, das den klaffenden Abgrund einer vorgetäuschten Ordnung aufriss, indem er den Kindern ein Dichtwerk in die Hände gab. In seiner metallenen Handschrift des Dargestellten überlieferte er Sehnsucht und Hoffnung des Lernens und Lesens.
Nach dem letzten Gedanken bin ich davongelaufen.
Was ist schon eine Straße im Arbeiterviertel, was gibt sie an Überraschungen her mit ihren glatten Fassaden? Nichts Denkwürdiges noch Historisches, das auf Postkarten verewigt wird. Sie altern wie die Schlösser, sind im Grundstücksamt registriert, doch für die Kunstgeschichte kommen sie nicht in Betracht.
Für mich sind sie heut besonders köstlich, diese Hausgruppen, zwischen denen ich schlendere und meinen Gedanken nachhänge, von keinem unflätigen Gebrüll behindert, von keinem Wehgeschrei verprügelter Männer. Nein, niemand sieht mir in die verschleierten Augen, wie ich in die Konditorei starre, das leckere Gebäck entdecke und vor Entsetzen an den Abend im Lager denke.
Drei Mann ein Messer, drei Mann und ein Brot. Alles ist müde an ihnen. Nur die Augen leben. Dicht hinter den Augen steckt der Wunsch, dass der Mann mit dem Messer ungleich teilen wird. Ihre Nasen laufen. Sie wischen mit dem Handrücken drüber. Auch der Speichel schwimmt aus den Mundecken zum Kinn. Der Handrücken wischt. Sie beobachten das Brot und das Messer. Das Brot liegt dem Verteilenden auf den Knien. Es ist ein gut durchbackenes, duftendes Brot. Der Mann mit dem Messer setzt die Schneide mehrmals auf. Er bekommt das letzte Stück. Auch er will nichts verlieren. Ihm bleibt der Rest, aber der Rest soll nicht weniger sein als der Teil, den der erste wählt. Es geht zwar immer reihum unter den dreien, aber jeder zittert um das Gramm, um den Krümel, der am Messer kleben bleibt. Das Brot hat Stromlinienform. Der, der es schneiden muss, quält sich mit seiner Aufgabe und denkt, dass er sie nicht schafft. Gut schmecken die durchbackenen Enden, doch die Mitte ist eben die hohe Mitte und das Rätsel der Gleichung bleibt dem zu lösen, der das Messer führt. Er kann an niemand die Arbeit übertragen. Immer wird ihm das kleinere Stück bleiben. Heute ist er der letzte. Morgen ist er der erste. Morgen, ja morgen, wenn er lebend ins Lager kommt. Wer weiß, ob er lebend ins Lager kommt? Verzweifelt setzt er das Messer an und drückt es ins Brot, macht den zweiten Schnitt und wartet, bis er den Rest nehmen darf.
Ich möchte weiter. Meine Beine zittern. Ich kann nicht weg von der Konditorei. Ich bin schon der flinken Verkäuferin aufgefallen. Wohl auch den Kundinnen, um deren Münder ein verschmitztes Lächeln spielt. Die Scheibe schließt mich von ihren heiteren Bemerkungen aus. Ihre Blicke treffen mich und rätseln herum, was ich so vor dem Laden treibe, in dem eine Verkäuferin hantiert, die dem leckeren Backwerk gleicht. Aus dem steifen, weißen Häubchen kringeln sich die blonden Haare, leicht geöffnet ist der rote Mund, der Schürzenlatz schweift aus zu wohlgelungener Linie, die Augen blitzen auffordernd und mutig.
Ich war nur äußerlich verwandelt. Innerlich war ich noch der Häftling aus Block zwei.
Ich könnte Ihnen einige nachdenkliche Geschichten erzählen, meine Damen! Sie würden sie für Sensationen halten, um mich vor Ihnen wichtig zu tun. Sie würden einen Abscheu vor mir bekommen, weil ich in Ihrem Gemüt schmerzhafte Brandwunden hinterlasse. Ihre Söhne, Ihre Brüder oder Männer würden kurzen Prozess mit mir machen, weil ich Ihnen nur imponieren wollte, den Staat dabei verleumdet habe und die Organisation wie auch das Bild der Herrenrasse mit Schmutz besudelte. So verworfen, so viehisch, so scheußlich könnte nie und nimmer ... Pfui Teufel!
Also gehe ich. Der Wind ist kühl. Mir ist sehr warm. Ich trage ja nicht mehr die Fetzen aus blauweißen Leinenfäden, die Füße stecken nicht nackt in den Schuhen. Meine Stirn ist feucht. Deshalb lüfte ich den Hut etwas und fahre mit dem Handrücken über den Schweiß. Erst
dann fällt mir ein, dass ich wieder Taschentücher bei mir trage. Nun wird mir heiß vor Scham. Ich muss den Häftling in mir bezwingen. Muss ihn verbannen, auslöschen, damit er mich nicht ständig überrumpelt.
Gleichmäßig laufe ich, denke über die Verwirrungen nach und blicke auf die eingesetzten kleinen Steine, mit denen der Fußsteig gepflastert ist. Sie haben vielerlei Farben. Wenn man einen herausnimmt, dann gibt das ein wunderbares Loch zum Murmelspiel. Die Jungen vom Bann haben das verlernt. Sie lernen, wie man Menschen verfolgt, jagt und tötet.
Eine halbe Zigarette liegt auf dem Pflaster. Wunderbar! Ich gehe auf sie zu. Hebe sie auf. Welch ein Glück, dass mir noch niemand zuvorgekommen ist. Eine gute Sorte aus Orienttabaken. Ich werde sie mit Walter teilen.
Ich begreife nur schwer, dass ich erneut etwas Dummes getan habe, etwas unerträglich Dummes. Sie haben mich aus dem Lager entlassen, aber sie haben mich betrogen. Es gibt keine Entlassung. Die Barackengesetze, die Lagerordnung, die innere Auflehnung gegen die Scheußlichkeiten haben mehr Kräfte beansprucht, als ein Mensch in sich trägt. Ich weiß, dass ich kämpfen oder untergehen muss. Ich darf nicht in Panik verfallen. Sie haben mich entlassen und doch hinter dem Draht behalten. Ich ertappe mich fortwährend dabei. Meine Handgriffe und Gedanken sind die des Häftlings vom Block zwei.
Schon das üppige Frühstück ist mir nicht gut bekommen. Nichts vertrage ich. Außer mir vor Neugierde versuche ich dies und das, alles hindert mich, plagt mich, stiftet im Magen oder Kopf Unruhe, Störungen, Schmerzen. Es ist eine gefährliche Entlassung.
Dem Park habe ich mich genähert. Er ist nicht groß. Er gibt gerade einer Mietskaserne Platz. Der Ahorn trägt noch etliche bunte Blätter. Die Hängebirke wedelt mit den kahlen Schnüren. Dekorativ steht eine Wolke aus weißem Papier dahinter. Hier setze ich mich. Die Bank ist etwas feucht. Aber was tut das. Ich werde die feuchte Kühle nicht spüren. Die Eiche hält ihr Laub noch fest. Auch Schnee und Frost und zügelloser Winterwind werden sie stark finden. Die Erinnerung daran nütze ich aus. Mein Herz pocht wieder besser. Spatzen haben mich beobachtet und kommen herbei. Husch, sind sie da, ohne Laut, picken, drehen sich, husch, sind sie weg. Aber dann kommen sie in Fülle und bringen eine Meise mit. Hinter mir zausen Amseln im feuchten Laub. Die Meise fliegt zu mir auf die Bank. Vorsichtig betrachtet sie mich. Aber ich habe nur kalten Schweiß in der Hand.
Ich erfreue mich sehr lange der Vogelgesellschaft. Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich nichts weiter für sie habe als einen lockenden Pfiff oder ein wiederholendes: Sisisisisi! Aber sie zeigen mir ihre Sprünge, ihre kleinen Raufhändel und Flugkünste und manchmal, aus mir unverständlichen Gründen, schrillen sie im Chor.
Ich nehme den unterbrochenen Orientierungsgang wieder auf. Es zieht mich ins Zimmer. Es lockt die Straße mit ihren Passanten, und ich hebe den Kopf und gehe und betrachte die Fußgänger und bin innerlich sehr ruhig und fest. Ich entdecke wieder einen Stummel, diesmal von einer guten Zigarre, muss zwar meinen Kopf wenden, aber ich gehe nicht zurück, um mich zu bücken. Ich messe ihn nur mit den Augen, gebe jedoch seiner Lockung nicht nach. Es zuckt zwar in Hand und Hüfte, aber ich bleibe stark. Ich richte meinen Blick in die Schaufenster, in die Gesichter, in die trotzigen, schönen, faltigen, törichten, gelangweilten Gesichter, auf den schleppenden, eitlen, lässigen, beschwingten Gang.
Ein SS-Mann klirrt heran, stampft, schurrt. Mütze ab! Laufschritt! Er blickt auf mein Herz, wo Nummer und Winkel sitzt. Er ist die Instanz, das Gesetz, der Jäger mit dem Totenkopf, der erbärmlichste Sünder, dem das Ergebenheitsgelübde das Herz raubt und ihn in die schwarze Uniform der Verwesung steckt. Ich war sein Muselmann, sein Drecksack, sein Mistvogel. Mein Tod war sein Urlaubsziel. Sein Wahn bleibt seine Schande.
Es überläuft mich zwar heiß und kalt, aber in die Knochen geht mir sein Blick nicht. Das ist mehr, als ich von mir selbst erwarten konnte. Aber das ist erst der Anfang der Arbeit. Ich werde mit mir noch schwer und hart zu tun haben, aber durchhalten.
Vor meiner Haustür begegne ich dem Briefträger. Er fummelt sofort nervös am Tragegurt der Ledertasche.
Seine prallen Backen werden schlaff. Die Grußhand will sich in den Himmel recken. Aus seiner Kehle gluckst ein gurgelnder Laut. Das Kinn vibriert. Die Füße grätschen auf der Stelle. Gehen kann er nicht. Er hebt die Beine an, doch er grätscht auf der Stelle. Er möchte fliehen und tapst, als sei die Welt voll Schnee. Dass ich am Leben bin, weiß er. Jeden Monat bringt er den ekelhaften Briefumschlag ins Haus, auf dessen linker Seite ein verlogener Auszug aus der Lagerordnung steht, der Postsendungen betrifft. Daneben prangt ein roter Stempel der Postzensur. Natürlich zeigt er mal solch einen Umschlag herum. Nun bin ich selbst da, und er möchte weg wie eine Katze und hinter den Müllkasten. Ich koste unsere Begegnung nicht weiter aus. Es ist zu erbärmlich.
Es sind andere Menschen da. Menschen voll Besinnung, Mut und Hoffnung, Zielstrebigkeit, Geduld und Klugheit. Wozu die Erbärmlichen im Vordergrund sehen? Es geht um die Treuen, die Unerschütterten, die Aufrechten!
Hier zogen wir mit unseren Fahnen durch die Straße und unser Gesang pochte an Fenster und Türen. Wir wollten nicht auf das Leben verzichten und besangen den Frieden der Arbeiterwelt. Wir waren voll Optimismus und besangen die Einheit der Klasse, die Zukunft der Klasse, den Sieg der Klasse.
Wir werden unser Ziel erreichen. Sie fürchten Marx und Lenin. Sie fühlen sich schwach, obwohl sie mit allen Mitteln unsere Vernichtung betreiben, das Proletariat wird und muss aus sich herauswachsen. Die Arbeiter und Bauern sind die neue Geschichte.
Die Stufen emporsteigend, bin ich wohl nun erst wirklich zu Haus.

 

Wiedersehen mit Vierlanden

Wenn ich an die Gegend von Vierlanden denke, ob im Traum oder im Wachsein, so taucht niemals zuerst das liebenswerte Dorfkirchlein von Altengamme mit seiner Umgebung auf. Ich bin nicht blind für diese gestaltete Einmaligkeit. Es gibt reichere Dörfer in Vierlanden. Kein Kirchlein existiert jedoch ringsum, das in seiner Ausstattung dem von Altengamme gleichkäme. Oft sind meine Fingerspitzen über das Intarsienholz und das Kunstschmiedeeisen geglitten, den unbekannten Handarbeitern für ihren Fleiß und die Geduld dankend. Strich ich über die überlieferten Kostbarkeiten, dann fingen die Künste an, in mir zu leben, die voraufgegangenen Gedankenspiele, wie auch die handwerkliche Geschicklichkeit, die uns Nachfolgenden verlorenging.
Aber dieses Bild ruhiger und schöner Linien entzieht und verhüllt sich in den nachfolgenden Erlebnissen hinter den Kronen zweier Apfelbäume am Wegrand von Neuengamme. Unauffällig fügen sie sich in die Tausende Apfelbäume ein, die Regen, Schnee und Sonne empfangen. Sie stehen nicht einmal einträchtig beieinander. Zäune und Straße trennen ihren Standort. Die unterschiedliche Qualität ihrer Früchte wird jedoch selbst auf weitere Entfernung hin sichtbar. Gut bin ich beiden Bäumen. Dem, der in meinen Nachempfindungen die minderen Früchte trägt, nicht größer als Walnüsse, wie dem, der die saftigen, bunten, halbpfündigen Kugeln im Gezweig schaukelt.
Die kleinen Äpfel begannen sich zu färben, und ich betrachtete sie damals wie eine hohle Katze das Vogelnest. Vier Wochen hintereinander dünne Kartoffelsuppe, vier Wochen lang miserable Mohrrüben und dann Tag um Tag langgezogenen Weißkohl mit einem zerbröckelten Lorbeerblatt wirkten wie ein Dorn im Gemüt. Lethargie und Hunger gingen zwischen den Baracken im gleichen Schritt mit dem Totengräber. Nicht jeder Häftling bestand die Sonnen-, Nebel- und Regenprobe, noch die schmale Kost zwischen Elbe und Doveelbe. Kein Arzt brauchte über die Art des Mordes zu entscheiden, woran der Mann zugrunde ging. Mochte das faulige Wasser, der Hunger oder der Knüppelhieb die Ursache sein, der Doktor Eisenbart zeichnete den Befund als Herzschwäche ab.
In der Nähe des Apfelbaumes mit den winzigen Früchten nährte ich die Hoffnung auf eine zusätzliche Verpflegung. Fast jedes der dürftigen, leichten Äpfelchen war mir bekannt, als hätte ich es in den Zweigen befestigt. Im Laufe der Monate hatte ich um Wachstum und Reife gebangt und den Wind befragt, ob er nicht wenigstens bald dieses oder jenes verkümmerte Äpfelchen in die Beete schütteln möchte. In bitteren Nächten, wenn der Hunger über den Schlaf siegte, wobei das Fleisch vor Schmerzen brannte und jedes Knöchlein im Leibe für sich entsetzlich drückte, beruhigte mich die Traumgestalt der Früchte, mit der Aussicht auf eine kommende festliche Tafelei.
Leider wurde es zur traurigen Tatsache, dass dies und jenes Äpfelchen, über Nacht sozusagen, spurlos verschwand. Befände sich außer mir noch jemand in diesem Gartenstück, müsste ich die Kühnheit anerkennen, mit der dieser blitzschnelle Obstpflücker vorging. Mit den Holzpantoffeln in der Hand sauste ich in den Garten, stand aufgeregt und klopfenden Herzens am Baum und sah Morgen um Morgen meine Aussicht, einen Apfel zu ergattern, vernichtet. Es dauerte Stunden, ehe ich mich beruhigte und glühend wünschte, nur diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Der Wachtposten konnte es nicht sein. Niemals würde er sich bei seiner Verpflegung mit diesen lächerlichen Gänseäpfeln den Geschmack verderben. Er bekam besseres Obst zum Nachtisch. Er hatte Geld und konnte sich Äpfel kaufen, sobald ihm der Sinn danach stand. Wenn er in einer Pächter- oder Bauernfamilie etwas Geselligkeit pflegte, dann waren ihm die reifsten, mürbsten und saftigsten Früchte so sicher wie das abschließende Amen von der Kanzel in Altengamme. Kein Mädchen wies ihm die Zunge, wenn es am Sonntagmorgen mit dem biblischen Buch in den Händen in das Geläut von Altengamme hineinschritt. Er pfiff wie ein Fink in die blonde Schar hinein, von der ein frohes Gelächter zurückschnellte. Sie winkten mit den himmlischen Lehren und den Engelsgesängen, während er federnd die Schuheisen zusammenschlug, die Knarre anzog und den Arm zur Mütze winkelte. Und das alles in gleichzeitiger Bewegung und so vollendet, dass die Mädchen sich's beim Heimgang gern wieder vorführen ließen.
Für mich war Heckenstrauch dazwischen. Das schußfertige Gesetz war an dem Stacheldraht postiert. Es hatte die Gestalt eines stämmigen, unentwegt gereizt spähenden Jünglings mit Wangenflaum. Seine Vorgesetzten hatten ihm erzählt, wir würden aus Übermut mit Dynamit die Eisenbahnbrücken sprengen, würden die Intelligenz des Landes vergiften, wandelten die Kirchen zu Schnapsbrennereien um, erhängten die allerfleißigsten Arbeiter und steckten die Dörfer in Brand, bis die ganze Welt durch Totschlag und Feuer untergegangen sei. Mit diesen durch Schule, Zeitungen und Radio täglich gesteigerten Kehrreimen ging er ängstlich durchs Leben, unsicher, unruhig und vor unserer Existenz schaudernd.
Während ich den Posten aus der Entfernung verstohlen betrachtete, einschätzte und so meinem Hirn eine Beschäftigung gab, die mich nicht fortwährend an die magere, unzureichende Kost erinnerte, kamen zwei Bauernkinder an den Zaun, sahen mir bei der Arbeit zu und liebkosten mit ihren Lippen die guten Äpfel, die sich am Baum des nachbarlichen Gartens rundeten. Mein beklommenes Ich suchte in ihnen eigene unbeschwerte Kindertage zu erkennen, und ich vergaß den Mann mit dem Gewehr, der mich wie ein gefährliches Tier im Auge behielt.
Gern hätte ich die Kleinen auf die Knie genommen und ihnen erzählt, wie Elbe und Doveelbe durch Arbeiter- und Bauernhände besser als bisher zu bezwingen wären. Ich wäre mit den Kleinen auch, wie die
Störche von den Strohdächern, nach Afrika geflogen, und wir hätten alle glücklich in den Flüssen gefischt. Aber wenn sie nicht so weit mochten, gäbe es auch allerlei Geschichten von der Zeit, in der die Großmutter ihre prächtige Trachtenkleidung herstellte, von der Kirmes und den Richtfesten. Schließlich war auch das Kirchlein da, das in Altengamme stand und läutete und von Meistern in Holz und Eisen die schönsten Verzierungen erhalten hatte. Aber ich konnte den Kindern nur stumm für ihre Anwesenheit danken. Der Kinderblick blinzelte durch Maschendraht und verschlungene Stachelwehr. Mich erfreute die Musik ihrer lückenhaften Zähnchen, die die Haut der saftigen Früchte durchbrachen, worauf die junge Unschuld am mürben Fleisch schabte, dass es nur so tropfte. Ihre Augen richteten sich ohne Furcht in mein gestreiftes Dasein. Ich hatte das angenehme Gefühl, dass alles aus meinem Bewusstsein entglitt, was mit der Gefangenschaft verbunden war. So hockte ich mich nieder und pusselte am Beet herum, um dem Buben und dem Mädchen recht lange zusehen zu können, wie die bunten Äpfel in den kleinen feuchten Mündern verschwanden.
Der Bube warf mir einen Apfel zu. Er hatte ihn wie einen doppelten Bauch in der Hose getragen. Die Frucht stöhnte beim Fall unter der Haut mit ihrem Saft. Durfte ich mit einer Harke den Apfel holen? Er war in die Sperrzone gefallen. Der Posten beobachtete jede meiner Bewegungen mit einem Gemisch von Schwäche und Brutalität. Er bog mir den Gewehrlauf zu. Nun schwebte schon der zweite Apfel über den Zaun, von dem flachsblonden Mädchen unter der Schürze hervorgezaubert. Wie ein Ausstellungsobjekt lag er unerreichbar im Wucherkraut der Todeslinie und lockte mit seiner Lackhaut. Aber die Mündung des Gewehrs warnte. Der Schütze warnte so wollüstig mit seiner Waffe, dass selbst die Kinder verstanden und erschraken. Sie hatten ganz rote Köpfe. Das Mädchen strich verschüchtert ihre Schürze glatt, während der Bub die Hände auf den Rücken legte, wie es der Großvater wohl am Sonntag tat, wenn er über die holprige Deichstraße bummelte und die Entschlüsse für die Wochenarbeit reifen ließ.
Als die Kinder weg waren, musste ich auf Befehl dem Posten die Äpfel bringen. Er gab noch die kritische Versicherung ab, dass es Prachtstücke wären. Rings um seinen Standort lagen viele Kernhäuser. Sie stammten von der verwilderten Sorte unserer Gartenäpfel.
Ich ging bestürzt davon.
Ob mir nicht wenigstens das erbärmlichste Äpfelchen nachflog? Nichts! Selbst ein frisches Kernhaus wäre etwas gewesen, das man genießerisch zwischen die Zähne hätte nehmen können, um den Geschmack von Obst auf der entwöhnten Zunge zu spüren. Fiebernd vor Verlangen nach dem entbehrten Apfelstück, machte ich mich an die Arbeit am Grünkohlbeet.
Am nächsten Morgen lagen an der Stelle, wo ich die Hackarbeit unterbrochen hatte, drei goldene Äpfel im
Gras. Sie waren so schön, dass ich nicht wusste, wohin mit dieser Pracht und Üppigkeit.
Aber sogleich begann der neue Kummer. Das begriff ich nicht, als ich die Äpfel aus der Entfernung begehrte, das begriff ich erst, als ich sie nun vor mir liegen sah. Diese Völlerei bedeutete nach dem Lagergesetz eine strafbare Handlung für mich und die Spender. Es gab ja nicht nur den Posten, der die elend dürren Äpfelchen ohne Skrupel vom Baum schlug, bevor er seinen Standort bezog. Auf der Straße wimmelten zu mancher Stunde die misstrauischen Wachtmänner daher, die in Erwartung von Urlaub und Beförderung aufpassten, dass ich bei der Arbeit nicht einschlief, keine arbeitsbehindernden Nahrungszuschüsse erhielt oder gar einen unterirdischen Gang grub, um ohne Entlassungsschein zu verschwinden. Die Machtbewahrer wollten mich wie einen Teufel im Sonnenbrand und strömenden Regen schuften sehen, weil das ein überaus amüsanter Anblick war.
So wühlte ich voller Hemmnis erst einmal ein Loch und deckte die Äpfel mit Erde zu. Darauf rupfte ich Unkraut, tat es in einen Kasten und trug Unkraut und Äpfel zum Komposthaufen. Auch hier lauerten Flinten und Augen in der Nähe. Es war gewiss kein schöner Ort. Ich kannte diesen Kompost durch und durch. Was im Tier- und Menschenmagen seine Pflicht erfüllt hatte, lag mit Pflanzenresten übereinandergeschichtet. Aber es gab keine andere Wahl, selbst wenn die kostbaren Äpfel nach kürzester Zeit im Versteck schlecht würden.
Am nächsten vernebelten Morgen lagen Birnen am Zaun, dann wieder Äpfel und so fort. Grad als ich die rechte Übung hatte, sie zu finden und sie im Versteck unter Hast zu verschlucken gelernt, wurde der Posten im vergitterten Bau eingeschlossen, und da fielen mir die letzten Gänseäpfel auch noch zu.
Aber wie ich nun nach dem Gewesenen wieder zwischen den Treibhäusern und Gehöften nach vielen Jahren gehe, liegt mir mehr auf den Schultern als die Erinnerung an die grellen Farben jener Episode. Ich möchte die ganze Vergangenheit mit dem Blick der Gegenwart übersehen.
Die Doveelbe blinzelt mich vertraut an, und die Weiden, die an ihrem Ufer emporsteigen, wuchern in den Köpfen mit hochgeschossenem Rutenholz. Es riecht herbstlich sumpfig. Wolken in vielfältiger Gestalt und wechselnder Farbzeichnung wälzen sich über den Himmel. Sie machen immer wieder der milden Sonne Platz.
Es kann nicht ausbleiben, dass ich hier oder dort über eine Hecke grüße, und dass dann zwischen dem bunten Schimmer der Herbstblumen höflich eine Kappe gezogen wird. Viel mehr wird es nicht. Zu einem Gespräch besteht noch keine Möglichkeit, da die Männer streitend und wertend die Ernte wiegen und packen. Die Großabnehmer haben ein Aufkaufabkommen für die Ernte. Heute drücken sie wieder einmal die Preise, weil die Hamburger Werftarbeiter im Streik stehen und der Obstabsatz gefährdet ist, so sagen sie. Die Pächter grollen nun den Großabnehmern, sie ärgern sich über die Hamburger Werftarbeiter und sind fuchsteufelswild auf die Vertreter der Treibhauslieferanten, denen sie auf das Abzahlungsgeschäft hereingefallen sind.
Die Großabnehmer haben zur gegebenen Zeit auch den für sie nötigen Fall an Absatzschwierigkeiten bei der Hand, mit dem sie ihren Gewinn sichern. Wenn die Blumen verwelken und die Früchte verfaulen, wer zahlt dann die Pacht? Wer zahlt die Summe für die modernen Gewächshäuser mit den Heizanlagen und der Berieselungsvorrichtung? Liegen nicht im Hafen die Überseeschiffe, die sofort heimwärts funken und eine riesige Flotte mit Früchten und Pflanzen bestellen, wenn die Pächter in Vierlanden ihre Hände in den Schoß legen?
Seit Hunderten von Jahren können sich die Menschen der Gartenbaubetriebe über ihre Situation nicht klarwerden. Sie führen einen prachtvollen Kampf um den ökonomisch bestgenutzten Quadratzentimeter Erde, um die reinste Blumenfarbe, um wohlschmeckendes frühes Gemüse. Sie machen in den Glashäusern der Natur das Vorrecht der Reife streitig, des Wachstums und des Farbzaubers. Aber sie stehen nicht neben der schaffenden Vorhut, die von der angreifenden Polizei Prügel bezieht, weil sie der sinkende Lebensstandard zum Streik herausfordert. Sie sehen nicht in der zum Kampf sich sammelnden Arbeiterschaft ihren eigentlichen Abnehmer, der durch die Willkür der Unternehmer vom Verbrauch ausgeschlossen wurde.
Sie geben der Landschaft mit ihren Gärten das Gesicht. Die roten Ziegel an den Häusern sind in hübschen Ornamenten gesetzt. Ihre Fugen sind schlohweiß gehalten, und das Fensterholz ist hellgrün bemalt. Mitunter ducken sich die Strohdächer fast unter die Deichstraße. Kleine Moospolster bilden sich auf dunkeldurchwettertem Stroh.
Äußerlich ändert sich kaum etwas an diesen Häusern. Aus dem Innern verschwindet jedoch manch Stück vom Urelternhausrat, vom Schmuck und den bislang behüteten Trachten.
Die neue Zeit hat auch neue Bedürfnisse, heißt es. Was die Vergangenheit schnitzte, schmiedete, nähte, stickte und malte, zieht aus, die Volkskunst verschwindet, und die Macht der Reklame verhilft einer industriellen Serienproduktion zum gewünschten Absatz.
Da nichts für sich allein geschieht, werden Volkslied, Volkstanz und die Märchen mitgerissen und vergessen. Die Reklame der Großunternehmer allein kann den Abfall vom überlieferten Brauch und der Volkskunstschöpfung nicht beschleunigen. Die handwerklichen Talente und die Gedanken für Neuschöpfungen sind mit den Jahren verkümmert, denn das Land unter den Treibhäusern fordert ständige Betreuung, und die Sorge um den preiswertesten Absatz der Gartenkulturen verbraucht Zeit und geistige Kraft. Was die Vorväter geschaffen und gesammelt haben, geht bei den Missernten verloren oder während der enttäuschenden Fehlzüchtungen. Die Erben verkaufen ein Stück überlieferter Volkskunst, sonst fallen Garten und Haus unter den Hammer.
Der holprige Deichweg, der sich mitunter vor den Häusern und Gärten großmacht und der den Lebensfaden für die Dörfer bildet, schiebt plötzlich einen Betonarm seitlich ins Land hinaus. Es ist die Straße, die ich mit anlegen half. Sie zieht sich schief und berstet. Die Erde darunter arbeitet beständig. In die Erde und in den Beton ist Schweiß und Blut der Männer eingezogen, die mit einem Feldstein erschlagen wurden, weil den Faschisten die Munition für sie zu schade war.
Vorsichtig setze ich meinen Fuß auf den Beton. Mein Herzschlag bleibt nicht mehr normal. Es geht ein frischer Wind, aber mir ist, als atme ich ein zähes, verbrauchtes Gemisch, das sich nicht definieren lässt. Der Wind weht mir ins Gesicht, doch der Blutdruck macht die Haut unempfindlich für seine lindernde Hilfe. Ich bin gezwungen, tief durch den Mund zu atmen.
Nur an die Apfelbäume will ich denken. Wenn auch viel härtere Erlebnisse das farbenreiche Tageslicht einst verdunkelt haben, die Apfelbäume geben den Anlass zu unruhigen Träumen, die den Schlaf zerreißen, ja sie erinnern mich zur Zeit des Fruchtangebotes in den Geschäften an die Stunde, da ein Gewehrlauf mir offenbarte, wie wertlos ein Leben sei und wie wertvoll eine Frucht, die nicht einmal dem Geschmack der anspruchslosesten Elster behagte.
Ich bin nach den Apfelbäumen unterwegs, die mich einst fürstlich bewirtet haben.
Vierlanden ist durch seine Frühkulturen, Blumenzucht und Obstsorten geachtet und berühmt. Jeder Pächter hat seine Attraktion. Doch ein Wörterbuch kann nicht das wünschenswerte Wort erbringen, um den Genuss zu ermitteln, an dem ich noch heute zehre, wenn ich die verbotenen Äpfel von damals im Traume nachkostend probiere.
Ich bin nun bis zu der Stelle vorgedrungen, wo ich den Apfelbaum wie eine hohle Katze umschlichen hatte.
Nein, er ist nicht mehr!
Ich vermisse keineswegs die Ziegelpresse, das Maschinenhaus, die Schmiede noch den Schuppen. Den Kümmerling vermisse ich, durch dessen Geäst meine Augen schweiften.
Unter seinem Blätterdach besaß ich etwas Regenschutz. Hinter seinem Stamm wich ich dem schneidenden Wind aus. Seine Blätter und die Rinde prüfte ich im Munde bis zur Erschöpfung. Er hielt vom kahlgeschorenen Schädel die Sonnenglut ab. Er war alt und unfruchtbar und war doch edel.
Er ruft mich noch im Traum und ist doch nicht mehr! Ein Mal aus Granit steht an seinem Platz. Jeder, der vorbeigeht, lässt in seiner Nähe jeden Scherz verstummen, weil um diese helle, nüchterne Säule die Stimmen der Toten aufklingen.
Sie starben und verdarben wie die Fliegen, im Frost und feuchten Nebel, im unerbittlichen prasselnden Regen, in der strahlenden Sonne. Sie verwesten, ehe sie in die Erde kamen. Sie welkten aus Nahrungsmangel dahin, sie stürzten und zerbrachen unter den Knüppelschlägen, erstickten im Latrinenkot, verbluteten unter der Gewehrkugel, versanken im Elbeschlick, die Ziegellast zertrümmerte ihre Wirbelsäule, die schwindenden Kräfte höhlten sie aus, das Heimatlose in der Heimat zerfraß die Seelen und brach die Herzen.
Dieses Dokument der unheimlichsten deutschen Vergangenheit spricht nicht einmal die Zahl der Verluste aus, die hier dem Faschismus zum Opfer gefallen sind.
Makellos ist die Farbe des Himmels und der sanfte Anhauch des Windes, und drüben hinter dem Gartenzaun reifen die saftigen Äpfel, von denen mir unsichtbare Hände eine Spende in den Häftlingsgarten warfen. Einige Blätter zeigen schon Bronzetöne. Die goldenen Flammen der Sonne spielen wie unirdische Lichter bis an den Stamm dieses überlebenden Freundes.
Ganz menschlich ist das Gespräch zwischen uns beiden. Er winkt mit den bunten Äpfeln, und ich versuche mein Lächeln so zu halten wie damals, als ich den faschistischen Streifenfetzen trug. Er ist starr vor Überraschung. Ich nicke ihm zu und brumme im widerspenstigen Halse, und er knarrt mit den Ästen. Der Häftlingsbaum starb mit dem Kommandanten und mit dem Verwalter, die im Astwerk angeknotet wurden. Der dürre Baum stand und hielt die Schlingen und hielt die Gegner so lange in der Luft, bis ihre Gesichter so finster waren wie ihre Seelen. Das erzählt mir der lebende Baum. Seine Äpfel sind noch fest. Für eine mürbe Aufmerksamkeit ist mein Besuch verfrüht. Er plaudert hastig, damit wir nach der langen, langen Trennung nicht mit feuchten Gesichtern herumstehen.
Wir sind uns einig, dass die Vergangenheit in uns nicht aufgehoben ist. Sie bestand und sie besteht, aber sie darf nicht auferstehen!
Er hebt den roten Apfel in seiner äußersten Spitze. Es sieht aus, als wäre er mit dem roten Winkelzeichen versehen, das man in der ganzen Welt kennt.
Wo die Betonstraße endet und die Deichstraße beginnt, steht ein wartender alter Mann. Er hat mich beim Gespräch belauscht, das ich mit dem Baum führte. Er hat gesehen, wie er sich beim Abschied hochwarf und mit dem Zeichen der Häftlinge winkte. Sein standhaftes Dasein berührte mich tief in der Brust.
Der alte Mann schlendert rüstig neben mir her. Er räuspert sich begreifend. Er will mich damit auf ganz saubere Art von den Wurzeln des Schmerzes trennen und ist zu höflich, um mit leichtfertigen Fragen die Situation zu nutzen. Er ist von jener verständigen Art, die das Abwarten ziert. Darum auch nur der hüstelnde Versuch, meine Lage zu erleichtern.
Der Geruch der Doveelbe steht in der Luft. Jetzt kann ich ihren Lauf gut sehen und ebenfalls die Kühe, die sich an ihrem Rande die Mäuler kühlen. Nun weiß ich auch meine Stimme bereit und erzähle dem alten Mann die Geschichte meiner Reise. Soweit es in meiner Macht ist, erzähle ich den ganzen Hergang. Manches rau und polternd, manches milder, weil es keine Kleinigkeit ist, vor dem Drang der inneren Bilder die Beherrschung zu behalten. Aber für den alten Mann füge ich wohl die Sätze wie zu einem Buch zusammen, auf das er längst gewartet hat.
Er duldet kaum, dass ich nebenher eine Elster betrachte oder die Schafe, um deren Leib sich die dicken Locken kräuseln, oder den Sperling am Zaun, der feingliedrig ist und mit klingender Stimme die Katze verschreit.
Für den alten Mann gibt es heute nichts mehr als meinen Bericht. Er bedeutet für ihn eine nie erfahrene Aussage.
Der alte Mann will die Geschichte ganz besitzen. Es ist nicht nur die Lust des Zuhörens in ihm, um dies oder jenes Detail wie einen Stein aus dem Mosaik zu heben und sich an dessen Farbe zu begnügen, er will das ganze Bild bewahren und es in die Häuser tragen, wo man nicht darum weiß, damit die Menschenwürde nicht wieder hinabstürzt in die Nacht.
Als sei heute ein Feiertag, so zieht er mit mir zur Bahn. Hier lüftet er den Hut. Noch nie hat er das graue Haupt entblößt, sondern stets fest und freundlich rundum die Hand gereicht und die Hutkrempe mit der Zeigefingerspitze berührt. Aber nun, als der Zug fährt, hebt er den Hut hoch, so wie der Baum in der Frühe sein vertrautes Zeichen gegeben hat. Schon sind wir einige Meter voneinander getrennt. Aus dem Schornstein der Maschine bricht eine rote Lohe. Der Zug rollt,
und um den alten Mann und sein silbernes Haupt sprüht und zuckt der Funkenregen ...
Wie bitter macht mich doch mitunter diese Landschaft, die weiche Ebene und die farbfreudigen Gärten, der weite, weite Himmel und das Singen der toten Kameraden im Wind ... ihr Opfer und ihr Glaube aber sind mir Hoffnung und Gewissheit für das Leben!