Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse

Max Hoelz von Johannes Arnold

Allein sein Name ist Legende, wenn man, dem Lexikon folgend, mit Legende eine unverbürgte, sagenhafte Erzählung meint. Aber Max Hoelz lebte, das ist verbürgt, und wo auch immer sein Name genannt wird, werden Geschichten erzählt, tatsächlich geschehene und erfundene. Die erfundenen sind so möglich wie die wahrhaftigen unglaubwürdig.
Vom Vogtland bis nach Mitteldeutschland will ihn jeder gekannt, jeder auch das erlebt haben, was nur er erlebte, plante, dachte, mit Wohlgefallen hätschelte oder aus Einsicht das Vergessen verbannte.
Freunde und Feinde führen seinen Namen ins Feld, wenn sie die Geschichte der Nachkriegszeit, die diesseits des ersten Weltkrieges liegt, und jene Vorkriegszeit, die am Beginn der faschistischen Herrschaft von sich reden macht, plausibel erklären wollen.
Freunden und Feinden dient Max Hoelz als Beweis für solche und solche Theorien. Ihm wird Verantwortung für Sieg und Niederlage aufgebürdet, zuviel für einen einzigen Mann. Da geraten Wirklichkeit und unerfüllte Wünsche, Hoffnungen leicht durcheinander, Sagenhaftes wird berichtet, dann erzählt, ausgeschmückt, rundgeschliffen, des Effektes wegen. Ein Held ist geboren, der seinen heldenhaften Weg schon hinter sich hat, als sein Name das erste Mal bekannt wird.
Er ist, wissen wir aus der Geschichte, bereits zu seinen Lebzeiten eine legendäre Gestalt der Arbeiterbewegung, des revolutionären Proletariats, der kämpfenden Arbeiterklasse gewesen. Er ist, wissen wir aus den Berichten, Steckbriefen, geheimen Mitteilungen der Polizei, in seinen besten jungen Jahren, noch nicht dreißigjährig, das personifizierte »Gespenst« gewesen, das umging seit einem halben Jahrhundert in Europa.
Aus Liebe und Hass, aus Verehrung und Furcht entstehen Geschichten, die ihm zugeschrieben werden. Oftmals sind sie bewusst bösartig erlogen, manchmal aus reiner Erzähllust erdacht, immer aber geschmückt mit bunten Bändern, der Freude wegen bei Erzähler und Zuhörer gleichermaßen. Verfälscht bis zur Unkenntlichkeit ist das Leben des Mannes Max Hoelz, das nur knappe vierundvierzig Jahre bis zu seiner Vollendung zählte.
Dies wissend, ist keinem der Stolz zu verwehren, Hoelz als Vogtländer im Vogtland gehabt, keinem die Ehre abzusprechen, diesen Kämpfer gegen den Kapp-Putsch in die eigenen Reihen gezählt, keinem die unauslöschliche Erinnerung zu nehmen, diesen ungestümen, unberechenbaren Revolutionär während des Mitteldeutschen Aufstandes kämpfend erlebt zu haben auf verlorenem Posten, das eigene Leben nicht schonend, auch andere Leben nicht aus dem einzigen Grund: Leben zu erhalten.
Wer wünscht nicht, in jener Zeit mit ihm gewesen zu sein? Der Mann, von dem hier die Rede ist, erlebt den ersten Weltkrieg an der Front, sucht seinen Weg als Pazifist, lernt nichts mehr lieben als den Frieden auf Erden, in dem die Menschen in Wohlgefallen leben. Zwar findet er die Straße glatt und begehbar vor, aber er kann ihren Endpunkt nicht entdecken. Er braucht ein Ziel, schließt sich dem kämpfenden Proletariat an, wird zu einem seiner militärischen Führer, zum Kommunisten, einem streitbaren, umstrittenen, tätigen, was heißt kämpfenden, gegen die Macht, die die Unterdrückung des Menschen mit Lust praktiziert; da ist noch mehr als dies alles, es liegt für ihn der Sinn des Lebens im Wirken für die Würde des Menschen.
Auch Gerechtigkeitssinn lebt in ihm, übertrieben, wie wir wissen, oftmals auch unbeachtet, wie wir erfahren aus seinem bewegten Leben. Zwiegespalten ist er hier und dort, aber nie verzagt, kleinmütig gar, es möchte nicht gelingen, mit den Mitteln der Gewalt gegen die Gewalt siegreich zu sein. Auch daher kommen die Geschichten über ihn und seine »Heldentaten«, die in Wahrheit Taten eines Mannes sind, der Zuversicht verbreitet, Entschlossenheit vorlebt, der das Große beginnt, gewinnt, verliert. Er ist ein Mensch, der keinen Kompromiss will, ihn auch für sein eigenes Leben, für seine Sicherheit, seine Gesundheit, sein Wohlergehen nicht in Anspruch nimmt.
Er schlägt den Ratschlag in den Wind, er ist besessen von seiner eigenen Disziplin; wenig hält er von Strategie, lieber schürt er das Feuer der Revolution mit Haken und facht es an mit Öl statt mit Erkenntnissen, mit der Weisheit des Volkes.
Schöne, große, bunte Bilder entstehen vor den Augen der Zuhörer, wenn irgendwo einer anfängt von Max Hoelz zu erzählen, vielleicht oben im heiteren vogtländischen Falkenstein, vielleicht unten im ehemaligen Chemnitz, im Mansfeldischen, im Böhmischen, in Berlin. Am Stammtisch gar Hoelz-Geschichten. Weniger haben sie Platz und Wirkung in vorbereiteten, ideologischen Diskussionen. Es braucht nicht eines geschickten Erzählers, um Max Hoelz lebendig in der Runde zu haben und ihn gleichzeitig auf einem Lastwagen mit bewaffneten Arbeitern Städte im Sturm nehmen zu sehen, die Reichswehr flüchtet, Detonationen, die Berliner Siegessäule stürzt, Banken schütten ihr Geld auf die Straße, damit sich die Armen, geführt von Hoelz, bedienen können, Milch für Kinder wird verteilt, ein Viertelliter vorerst...
Aus dem Kommunisten Max Hoelz wird auf einfache Art und Weise nach dem Willen des Volkes der Räuberhauptmann, der Wegelagerer, der Rebell. Das Volk will ihn so in seiner Erinnerung haben, da helfen nicht wissenschaftliche Analysen seiner Handlungen. Zugute wird Hoelz gerechnet, er rebelliert nicht gegen bestehende Verhältnisse der eigenen Empörung wegen, sondern nimmt für sich in Anspruch, im Namen seiner Klasse zu kämpfen; er raubt nicht, um das eigene Vermögen aufzubessern, denn der unvermögende Hoelz gibt jede erbeutete Mark den Ausgebeuteten. Er liegt nicht am Wege, den Kaufleuten aufzulauern, sondern der Macht, die durchs Land zieht und sich selbst gröblichst missbraucht.
Ein Mensch ist er, wenn man so will, und ein guter Mensch obendrein, der das Böse auf sich nimmt, um die Welt zu bessern.
Hoelz tut nichts zu seinem Ruhm, nur gelegentlich erzählt er seine eigene Geschichte. Aus seinem Mund aber wird sie zur Geschichte seiner Klasse, zu einem Bericht der Kämpfer, zum Protokoll der Zeit: »In einer Sitzung des Arbeitslosenrates erschien ein Blinder, der seinen kümmerlichen Unterhalt mit Korbflechten verdiente, und bat um ein Darlehn von tausend Mark, um sich Weiden für seine Arbeit kaufen zu können. Ich sandte sofort ein Mitglied des Vollzugsrates zu einem steinreichen Großhändler, dem die Unmassen seines Geldes große Sorgen bereiteten, ließ ihn holen und forderte ihn auf, dem Blinden das Gewünschte zu geben; der arme Reiche erklärte sich dazu bereit.«
Solche Episoden sind zu Dutzenden im Umlauf. Heute, aus geschichtlicher Distanz betrachtet, sind sie den Spaß des Erzählens wert, bekommen anekdotischen Charakter; heutzutage über sie nachgedacht, fördern sie die Besinnung, welchen Weg die Würdelosen, Unterdrückten, Ausgebeuteten, Geschundenen bis zu ihrer Befreiung gehen mussten, welchen Irrungen sie unterlagen, welchen Wirren sie entrannen, auch mit Max Hoelz, dem Rebellen, der zu Unrecht Rebell genannt wird.
Max Hoelz, der legendären Gestalt der deutschen Arbeiterbewegung, liegt bei allen seinen Entscheidungen, bei allen Verhandlungen mit Freund und Feind, mutigen und feigen Zeitgenossen, jener Spott auf der Zunge, der aus jahrelanger Demütigung entstanden ist und der jetzt die Hochmütigsten klein werden lässt. Das eigene durchlebte Elend hat ihn gelehrt, mit Sachverstand zu reden, wo gescheite Reden am Platze sind, das eigene Unwissen hat ihn dazu gebracht, sich Wissen anzueignen, um überall mitdenken, mithandeln zu können, wo sich Menschen anschicken, ein Stück Welt zu verändern. Trifft er aber auf die Dummheit der Herrschenden, stellt er sie schonungslos an den Pranger.
Der Pfaffengrüner Rittergutsbesitzer erfährt, dass man Hoelz nicht beim Wort nehmen soll. Er fordert seine Tagelöhner auf, die eine Lohnerhöhung erbitten: »Geht zu Hoelz und lasst euch von ihm etwas geben.« Die Tagelöhner kommen zu Hoelz. Gleichen Abends schreibt er dem Herrn Rittergutsbesitzer einen wohlgesetzten Brief, denn dieser Hoelz kann mit der Feder umgehen wie mit dem Gewehr: Dem Boten wären unverzüglich zehntausend Mark auszuhändigen, widrigenfalls er, Hoelz, die Pferde des Rittergutsbesitzers aus dem Stall ziehe, sie verkaufe, damit die Tagelöhner aus dem Gewinn ordentlich entlohnt werden könnten.
Der Rittergutsbesitzer gibt, Hoelz nimmt. Gibt gleichen Tags den Tagelöhnern. Es kommt ihm nicht in den Sinn, damit die Welt nicht gebessert zu haben.
Zu viele Rittergutsbesitzer, zu wenige Hoelz. Ein Kämpfer zieht mit seinen Kämpfern durchs Land. Er kommt wie der Wind, er geht wie der
Wind. Niemand kann ihn aufhalten, wie niemand den Wind aufhalten kann. Er ist überall, er lässt sich sehen, man kennt sein Gesicht, seine Gestalt.
Da steht er, der oft zu Hilfe Gerufene, der Geachtete, der Geliebte... Nein, dass er geliebt wurde, ist nicht verbürgt. Was ihm vom Volk entgegenschlägt, ist ein anderes Gefühl. Er ist schön anzusehen, wirklich schön. Ein Mann, dem die Frauen nachschauen. Dichtes, gelocktes Haar, Augen unter dicken Brauen. Wohin die Augen auch sehen, entdecken sie Neues, nehmen es auf, speichern es in einem wunderbaren Gedächtnis, aus dem die Bilder bei Bedarf abgerufen werden.
Der revolutionäre Kämpfer ist verheiratet, erstaunlich für so einen Menschen. Warum eigentlich verwunderlich? Er ist doch ein Mensch wie Tausende Menschen neben ihm, gewissenhaft, fehlerhaft, großzügig, leichtsinnig. Nein, Hoelz ist mehr, er ist mit seinem Leib ein Stück Barrikade der Revolution.
Das bringt ihm Missbilligung ein, die der Genossen neben ihm. Nennt man ihn in einem Atemzug mit Karl Liebknecht, weist ihn der besonnene Fritz Heckert in die Schranken. Den Feind in Angst und Schrecken zu versetzen ist die eine Seite der Revolution, die andere ist, Unentschlossene zu gewinnen und nicht in Furcht am Wegesrand stehen zu lassen. Die Politik der Partei und die Taten des Mitglieds der Partei Max Hoelz stehen oftmals nicht im Einklang.
Während des Kapp-Putsches im Frühling 1920 nennen sie Hoelz den »roten General«. Seine Kühnheit, seine Tapferkeit und sein persönlicher Mut werden gerühmt, weit über das Vogtland hinaus. Er ist, wo er gebraucht wird, er wird an allen Orten gleichzeitig verlangt. Die bewaffneten Arbeiter des Vogtlandes folgen ihm und gewinnen durch ihn ein Unmaß an Selbstvertrauen.
Was ist eine Schlacht im Laufe der Geschichte wert? Die Späteren erst werden die Antwort wissen. Max Hoelz, zu seiner Zeit, vergeudet die Stunde nicht mit philosophischen Fragen. Er denkt nur das Praktische, das Machbare, er tut es. Wo ist Not? Überall. In den Städten, auf dem Lande, in den Herzen der Menschen, in ihren Hirnen. Wo wird er wirklich gebraucht? In den Stuben, auf den Straßen, in Werkstätten, in Ratshäusern, die Bürgermeister zur Ordnung zu rufen. Also Not gelindert mit allen möglichen Mitteln und Waffen. Hier mit dem Gewehr das Lebensmittellager eines Kapitalisten aufgeschossen, dort mit der Handgranate ein Gefängnistor aus den Angeln gesprengt, damit die eingekerkerten Genossen frei werden, mit der Faust auf den Tisch der Republik gehauen, dieser verfluchten, die mit dem Volk spielt und nicht Ernst machen will mit seinem Wohlergehen. Mit einer Rede Zweifel zur Seite geschoben, in einer Häuslerstube ein richtiges Wort zur rechten Zeit gesprochen.
Max Hoelz ist auch ein Agitator.
Verblüffung, Verwunderung bleibt hinter Hoelz zurück, auch Nachdenklichkeit. Ist das die Stimme vom Anderswerden und Anderssein? Die Spur des
Rebellen ist kreuz und quer durchs Land zu verfolgen. Nebenher webt er seine Geschichten und seine Taten, seine Erfolge und seine Niederlagen, seine guten Gedanken und seine schlimmen Ideen ins Fahnentuch der Revolution.
Der Mann Max Hoelz, der in Falkenstein zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates gewählt wird, den die Mächtigen jagen in einer Treibjagd ohnegleichen, den seine Klassengenossen schützen, solange er sich schützen lässt, der in die Hände der weißen Mörder fällt und dennoch überlebt, der sich mit der Theorie des Sozialismus bekannt macht und oft nur seine eigenen Vorstellungen über den Sozialismus gelten lässt, den das Sondergericht später zu lebenslangem Zuchthaus und dauerndem Ehrverlust verurteilt, der nach acht Kerkerjahren von seinen Klassengenossen aus dem Zuchthaus befreit wird, diesen Mann zeichnet die Sowjetunion 1923 als ersten Deutschen mit dem Rotbannerorden aus.
Die Generationen nach dem Leben des Max Hoelz, im Vogtland, im Mansfeldischen, in Berlin, erzählen sich die Geschichten des Freundes der Armen, des unnachgiebigen Streiters gegen die Macht und die Herrschaft des Kapitals und seiner Helfershelfer. Und niemand will glauben, dass schon sechzig Jahre seit jenen Tagen vergangen sind, wie auch niemand wahrhaben möchte, dass erst ein halbes Jahrhundert vergangen ist, seitdem Hoelz nicht mehr an unserer Seite geht.
Max Hoelz lebt fort und fort. Aus dem Bild sieht er auf uns Heutige, und es ist, als hätte er ein leises
Lächeln auf den Lippen, als möchte er mitteilen: Erzählt euch ruhig eure Geschichten über euern Max Hoelz, es sind nicht die schlechtesten, denn: »Ich selbst hatte erkennen gelernt, dass es nicht genügt, sich gefühlsmäßig auf die Seite der unterdrückten, besitzlosen Klasse zu stellen, sondern dass man für die soziale Revolution auch mit all den Mitteln kämpfen muss, die ich im Krieg verachten gelernt hatte... «
Auch wenn man, dem Lexikon folgend, mit dem Wort Legende eine unverbürgte, sagenhafte Erzählung meint, sind die Geschichten, die über Max Hoelz bis in unsere Tage erzählt werden, ein Stück Geschichte unseres Landes, seiner Menschen, ihrer Siege, und die erfundenen sind so möglich, wie die wahrhaftigen unglaubwürdig sind.

 

Widmung

Ursprünglich wollte ich dieses Buch auf die Schilderung meiner Zuchthausjahre beschränken. Diese acht Jahre lassen sich aber nicht von dem trennen, was vorher war. Sie waren nur die Folge der Erfahrungen und Eindrücke während der ersten drei Jahrzehnte meines Lebens.
Ich widme den ersten Teil des Buches, der meine Jugend-, Kriegs- und Revolutionserlebnisse umfasst und meine Entwicklung vom christlichen Jüngling zum klassenbewussten Revolutionär schildert, den deutschen und russischen Arbeitern. Denn bei ihnen fand ich die große Idee des proletarischen Befreiungskampfes, die mir zum Wegweiser aus Gottergebenheit und individuellem Streben wurde und mir meinen Platz und meine Aufgabe in den Reihen der Unterdrückten zeigte. Sie waren es, deren Beispiel befruchtend und anfeuernd auf mich wirkte. Das geistige Verbundensein mit ihnen gab mir die innere Sicherheit, ohne die ich meine Kämpfe nicht hätte durchführen und ihre Folgen - acht grausame Zuchthausjahre nicht hätte ertragen können. Ich will ihnen an Stelle der Legenden, die meine Feinde und manche Freunde über mich verbreitet haben, eine ehrliche Darstellung meines wirklichen Denkens und Handelns geben.
Den zweiten Teil, meine Erinnerungen an das »Leben« hinter Zuchthausmauern, widme ich nicht nur allen politischen Gefangenen, sondern auch den kriminellen, den Dieben, den Meineidigen, den Sexualverbrechern, den Zuhältern, Mördern und Schwindlern, allen, die für Jahre oder Jahrzehnte lebendig begraben sind. Ob die »Schuld« des einen auf Veranlagung, die des andern auf das soziale Milieu, in dem er lebte, zurückzuführen ist, gilt mir gleich: ich liebe sie alle. Bei allem Hässlichen und Abstoßenden, das ich an kriminellen Gefangenen wahrnahm, stehen sie mir näher als mancher behäbige und selbstherrliche Mensch, der mir nach meiner Rückkehr in die Freiheit als angeblicher Freund die Hand drückte.
Die Selbstsucht und Verlogenheit, der Neid, die Missgunst und Rohheit der von der bürgerlichen Gesellschaft Ausgestoßenen sind wahr und echt. Sie tragen wenigstens keine Maske. Die Wunden und Geschwüre, die hässlichen Narben, die ihren Körper und ihre Seele verunstalten, hat ihnen das Leben geschlagen. Das Leben aber sind wir alle. Also sind wir alle mitverantwortlich und haben keinen Anlass zur Überheblichkeit.
Auch die klassenlose Gesellschaft wird sich - wenn nötig - gegen Schädlinge sichern.
Bestrafen aber - ob zur Vergeltung oder zur Besserung - ist eine Anmaßung des bürgerlichen Klassenstaates.
Was ich im Zuchthaus erlebte, war nur ein Ausschnitt aus jener Wirklichkeit, die die kapitalistische Gesellschaft hinter den tönenden Worten: Justiz, Gerechtigkeit, humaner Strafvollzug, Fürsorge und sittliche Hebung verbirgt.
Ich schildere meine Erlebnisse, um in den Lesern - vor allem in jungen, unverkalkten - den
Willen zum Kampf gegen die bürgerliche Klassenherrschaft zu wecken und zu schärfen.
Ich bringe dabei viel Persönliches zur Sprache. Das war unvermeidlich, denn alles Persönliche war zugleich Gemeinsames. Nicht nur ich hatte schwer arbeitende arme Eltern, nicht nur ich wurde als Knecht geprügelt, lief weg, suchte hungernd Arbeit, glaubte an Gott und zog in den Krieg, nicht nur mir gingen die Augen auf, so dass ich das Gewehr gegen die Unterdrücker wandte, nicht nur ich stand vor den Klassenrichtern, nicht ich allein lag nackt und blutig in den Folterkammern deutscher Zuchthäuser! Tausende erleben und erleiden dasselbe wie ich. Sie sind stumm. In ihrem Namen spreche ich.
Max Hoelz Berlin, Januar 1929

 

ERSTER TEIL
Jugend, Krieg, Revolution

Kindheit und erste Arbeitsjahre auf dem Lande

Es gibt Menschen, die sich bis an ihr Lebensende an Hunderte von Einzelheiten aus ihrer frühesten Kindheit erinnern. Es gibt aber auch nicht wenige, denen fast alle Kindheitserinnerungen schon bis zur Mitte ihres Lebens wie ein Schemen verblassen.
Ich selbst entsinne mich nur ganz weniger Erlebnisse und Eindrücke meiner Kindheit. Darunter sind aber einige, die ohne Zweifel von bestimmendem Einfluss auf meine spätere Entwicklung waren.
An meinen Geburtsort Moritz bei Riesa, wo ich am 14. Oktober 1889 als zweites Kind meiner Eltern geboren wurde, kann ich mich nicht erinnern. Ich habe diesen Ort bereits im Alter von ein bis zwei Jahren verlassen, da mein Vater von Moritz bei Riesa, wo er Schneidemühlenarbeiter war, nach Hirschstein a. E. übersiedelte.
Das Rittergut Hirschstein mit dem dazugehörigen imposanten Schloss - in Form eines Schiffes auf einem hohen Felsen gebaut, der schroff bis an das Elbeufer abfällt - gehörte damals dem Rittmeister der Großenhainer Husaren, Crusius. Auf dieser Domäne, die einen sehr großen Umfang besaß, war mein Vater einige Jahre als Ackerknecht beschäftigt, und auch meine Mutter arbeitete dort als Tagelöhnerin.
Ich besinne mich, dass ich als vierjähriger Kerl dem Vater das Mittagessen oder seine Vesper bringen musste; zur Belohnung wurde ich manchmal von ihm auf den Sattelgaul seines Gespannes gehoben.
Da weder der Vater noch die Mutter uns Kinder - wir waren indessen vier geworden - tagsüber beaufsichtigen konnten, wurden wir oft ganze Tage lang in die Stube geschlossen, damit wir drau­ßen keine Dummheiten anstellten. Machten wir aber im Hause Streiche, so gab es ganz besonders schmerzhafte Hiebe. Für das geringste Vergehen oder Versehen gab es vom Vater und auch von der Mutter empfindliche Strafen: mit einem starken Ledergurt eine ziemlich derbe Wucht auf den entblößten Hintern - und dann auch noch hungrig zu Bett -, oder wir wurden stundenlang, den halben oder auch den ganzen Tag, an einen Stuhl gefesselt, und zwar so fest, dass ein Loskommen unmöglich war.
Ich hatte weder als Kind noch habe ich heute das Empfinden, dass meine Eltern diese gewiss harten Strafen aus besonderer Grausamkeit oder Lieblosigkeit anwendeten. Die damaligen Erziehungsmethoden, noch dazu auf dem Lande, waren eben nicht anders. Vater und Mutter, beide von einer geradezu seltenen Gewissenhaftigkeit und Ordnungsliebe, mussten darauf achten, dass unsere Streiche und unsere Ausgelassenheit weder den Nachbarn noch dem Gutsherrn Schaden zufügten.
Unvergesslich ist mir geblieben, wie meine Mutter sich mühte, mir das Lesen beizubringen, lange, bevor ich in die Dorfschule aufgenommen wurde.
Da sie täglich schwer auf dem Felde arbeiten, daneben noch für die ganze Familie kochen und die vielen Kleider flicken musste, die wir vier Kinder -später waren es sechs - zerrissen, hatte sie natürlich wenig Zeit, sich um unsere geistige und körperliche Entwicklung zu kümmern. Aber die wenigen Stunden, die ihr blieben, nützte sie so intensiv aus, dass ich im Alter von fünf Jahren ihr einmal unter den Händen davonlief und allen Ernstes ankündigte, ich würde mich gleich in die Elbe stürzen. Sie hatte ihrer Aufgabe, mir das Lesen beizubringen, zu starken handgreiflichen Nachdruck verliehen. Bei meinem Eintritt in die Dorfschule war ich dafür derjenige, der am besten lesen konnte.
Von Hirschstein aus ging ich in die eine Wegstunde entfernt liegende Dorfschule in Bahra. Nach einem halben Jahr verließ mein Vater seine Stelle auf der Domäne, die ganze Familie übersiedelte mit allen Hausgeräten auf einem kleinen Leiterwagen in das etwa einen Tagesmarsch entfernte Dorf Piestewitz, wo mein Vater wieder als Knecht und Tagelöhner auf einem größeren Gute arbeitete. In Piestewitz verunglückte der Vater und musste monatelang das Bett hüten - er war von einem durchgehenden Gespann überfahren worden. Als er wieder gesund war, arbeitete er einige Monate als Kutscher für eine Brauerei in dem Dorf Zähren bei Meißen. Dann ging es wieder eine Tagereise weit auf dem Leiterwagen nach dem Dörfchen Leutewitz bei Riesa. Hier arbeitete mein Vater als Ackerknecht auf einer größeren Domäne.
Ich war etwas über sieben Jahre alt geworden und musste nun schon auf dem Felde mithelfen, Gänse oder Kühe hüten, Kartoffeln hinter der Maschine auflesen oder Rüben ziehen und hacken.
Der Aufenthalt in Leutewitz war ebenfalls kurz. Nach nicht ganz einem Jahre wechselte der Vater die Stelle, und wir zogen in das Dorf Heyda. Dort diente er ein paar Jahre als Ackerknecht bei einem Großbauern, dann arbeitete er in einer Ziegelei. In Heyda beendete ich meine Schulzeit.
Ich habe während der acht Schuljahre nur wenige Male meine Schularbeiten machen können; wir Kinder mussten die Schule meistens schwänzen, um durch Arbeit bei den Bauern für unsere Familie verdienen zu helfen. Wenn wir schon einmal die Schule besuchen durften, mussten wir gleich nach Schulschluss mit den Büchern aufs Feld, um bis in den späten Abend hinein bei der Arbeit zu helfen. Wenn wir dann gemeinsam mit den Eltern heimkehrten, waren wir so todmüde, dass an Schularbeiten gar nicht zu denken war. Gern folgten wir der Weisung: »Marsch ins Bett!«
Obwohl meine Eltern fleißig arbeiteten und sehr sparsam lebten - mein Vater ist nie arbeitslos gewesen - und obwohl auch wir Kinder mitverdienen mussten, langte es dennoch manchmal nicht zum Nötigsten. Oft fehlte sogar das trockene Brot im Hause. Wir, die wir die Erde düngten, pflügten, säten und dann die Früchte für den Arbeitgeber ernteten, hatten nicht das Allernotwendigste zum Leben.
Es kam oft vor, dass meine Mutter, um uns nicht tagelang hungern zu lassen, auf folgenden Ausweg verfiel: Mit zwei Pfennigen musste ich zu dem einzigen Dorfbäcker gehen und ihm vorschwindeln, ein Bettler schicke mich, ich solle ihm für diesen Zweier hartgewordenes Brot holen. Wir schämten uns, zu sagen, dass wir das Brot für uns selbst haben wollten.
Von diesem fast knochenharten Brot, für das der Bäcker sonst keinen Käufer fand, gab er für einen Zweier etwa ein bis zwei Pfund, während sonst das Pfund Brot ungefähr 14 bis 15 Pfennige kostete. Davon kochte uns die Mutter dann eine einfache Suppe.
Als Kind kam mir das Widersinnige eines solchen Zustandes natürlich nicht zum Bewusstsein. Auch waren die Eltern selbst viel zu wenig klassenbewusst, um die Ursachen dieses Vegetierens richtig zu erkennen und dagegen aufzubegehren. Trotzdem war mein Vater kein Stiefellecker; sobald irgendein Krautjunker oder Lakai oder Gutsinspektor ihm ungerechtfertigte Vorwürfe machte, warf er ihm resolut den ganzen Krempel vor die Füße, ging seiner Wege und suchte anderswo Arbeit, die er auch immer ohne Schwierigkeiten fand, da er als gewissenhafter und fleißiger Arbeiter bekannt war. Die streng religiösen Anschauungen meiner Eltern gestatteten ihnen ja nicht, gegen den Stachel zu löcken: die göttliche Ordnung war für sie nun einmal so, dass es Herren und Knechte gibt und dass der Knecht Knecht bleiben und zeit seines Lebens in Armut und Sorge dahinleben muss, ihm aber dafür nach dem Tode ein besseres Jenseits winkt.
Trotz ihrer Armut besaßen meine Eltern einen Stolz, der auch auf uns Kinder abfärbte.
Einige Male in der Woche musste ich in den Abendstunden bei dem Großbauern, wo Vater und Mutter und oft auch wir Kinder arbeiteten, einen halben Liter Magermilch holen, von der uns die Mutter Suppe kochte. Selbst diese abgerahmte, fettlose Milch mussten wir bezahlen. Einmal passierte es, dass in meiner Rüböllaterne, die ich von zu Hause der starken Dunkelheit wegen mitbekommen hatte, das Öl ausging. Ich bat die Frau des Großbauern, mir etwas Rüböl in mein Lämpchen zu gießen und bot ihr dafür 2 Pfennige. Nicht etwa um sie zu kränken oder zu beleidigen, ich wollte nur nichts umsonst nehmen. Die Frau gab mir die zwei Pfennige wieder, sie begriff nicht, warum ich so hartnäckig darauf bestand, ihr den Zweier zu geben. Mir widerstrebte es, von der Frau des Großbauern ein Almosen anzunehmen. Dieses Hin und Her dauerte länger als eine halbe Stunde, bis sie ungehalten wurde und ich den Zweier auf einen Melkschemel legte und meiner Wege ging.
Oftmals riss bittere Not in unserer Familie ein. Das lag vor allem daran, dass Krankheiten die wenigen Sparpfennige aufzehrten. Krankenkassen gab es nicht, die teuren Ärzte und Arzneien mussten also von dem geringen Verdienst bezahlt werden.
Mein Vater verdiente wöchentlich acht Mark. Dafür musste er von morgens vier Uhr, manchmal schon drei Uhr, bis abends neun und zehn Uhr schwer arbeiten - auch an Sonntagen. Er gönnte sich keine Zerstreuung, kein Vergnügen. Er saß in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal in einem Wirtshaus. Seine einzige Verschwendung bestand darin, dass er an ein paar Sonntagen im Jahr, an denen er in der Zeit zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags nicht auf dem Gutshof zu sein brauchte, sich aufs Sofa setzte, um eine Zigarre zu rauchen, deren Duft die ganze Familie mitgenoss. An einem Wochentag eine Zigarre zu rauchen wäre ihm als ein sträflicher Luxus erschienen.
Je größer wir Kinder wurden und je mehr wir auf den Feldern mitarbeiteten, um so mehr Kleider mussten beschafft und geflickt werden. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr habe ich nicht ein neues Kleidungsstück erhalten, weder Hose noch Jacke noch sonst etwas, alles machte die Mutter selbst aus alten Stücken für uns zurecht - aus Röcken vom Vater oder von den Großeltern. Es war daher ein ungeheures Ereignis für mich, als ich zu meiner Konfirmation zum ersten Male einen nagelneuen Anzug tragen konnte, der von einem Schneider angefertigt worden war. Dieses neue Kleidungsstück wirkte viel stärker auf mich als die ganze Konfirmation, die ich durchaus ernst nahm, da ich als Kind keine religiösen Zweifel kannte.
Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahre habe ich insgesamt an drei Kinderbelustigungen teilgenommen, einmal an einem Schulausflug nach einer Klosterruine, ein anderes Mal wohnte ich einer
Vorstellung im Puppentheater bei, wo der Dreifußprozess gespielt wurde, was einen unauslöschlichen Eindruck auf mich machte. Und das dritte Mal, kurz vor meiner Entlassung aus der Schule, besuchte ich in der nahen Stadt auf einem Schützenfest ein Panoptikum; mein Vater hatte mir zwanzig Pfennige zu dem Zweck gegeben. Das war für mich ein Ereignis ersten Ranges, um das mich alle meine Geschwister beneideten.
Gewöhnlich an Sonnabenden ging ich, mit einem Tragkorb auf dem Rücken, in die eine Stunde entfernt liegende Stadt, um Erbsen, Bohnen, Linsen, Graupen und Hirse für die ganze Woche einzukaufen und vielleicht auch ein halbes Pfund Pferdegehacktes mitzubringen. Daraus machte die Mutter durch reichliches Zusetzen von aufgeweichtem hartem Brot einen Sonntagsbraten. Diese Sonntage, an denen es Fleisch gab, waren so selten, dass wir Kinder tatsächlich glaubten, es sei überhaupt ein Verbrechen, wenn arme Leute Fleisch essen, und sie dürften das nur ganz im geheimen tun.
Im Frühjahr, wenn an den Bachrändern und hinter den Hecken, die die Dorfwiesen umsäumten, Veilchen blühten, mussten wir kleine Sträußchen machen und sie in der Stadt verkaufen. Als ich mit einem kleinen Korb solcher Sträußchen einmal von Haus zu Haus ging, fand ich auf den Stufen, die zu einer Gaststätte hinaufführten, ein Zwanzigmarkstück. Ich brachte es meinen Eltern, die trotz ihrer Armut das Geld nicht für sich behielten, sondern in der Zeitung ein Inserat aufgaben und
den Verlierer suchten. An den Sonntagvormittagen waren wir, sofern wir nicht auf dem Felde arbeiten mussten - auch an Sonntagen wurde oft gearbeitet -, mit den Eltern regelmäßig in der Kirche. Meinen Eltern und auch uns Kindern war die Religion mit ihren Vorschriften etwas sehr Ernstes. Für uns war es undenkbar, einzuschlafen, ohne das Abendgebet gesprochen zu haben, oder den Tag ohne das Morgengebet zu beginnen. Wenn der Vater als erster seinen Löffel in die Morgen-, Mittag- oder Abendsuppe tauchte, sprachen die Eltern und wir Kinder im Chor tiefernst das Tischgebet. Und nach den kargen Mahlzeiten wurde nie das Dankgebet vergessen.
Meine Eltern waren alles andere als Frömmler. Nie trugen sie ihre religiöse Überzeugung öffentlich zur Schau. Aber trotz der eigenen Not gaben sie von dem wenigen, das sie hatten, anderen, die noch weniger hatten.
Der Vater meiner Mutter war als Steinbrucharbeiter bei einer Sprengung tödlich verunglückt; die Großmutter wohnte noch in Hirschstein, und ich musste des Öfteren von Heyda aus drei Stunden zu Fuß wandern, um ihr das Essen zu bringen.
Unter all diesen Umständen war es mir natürlich kaum möglich, an den Spielen der anderen Dorfkinder teilzunehmen. Versuchte ich es aber doch einmal, dann wurde ich immer als Außenseiter betrachtet, der eigentlich nicht dazugehörte. Meine gleichaltrigen Schulkameraden, besonders die Kinder der Großbauern, hänselten mich in einer Weise, die mich schwer bedrückte. Der von der
Mutter aus abgetragenen Kleidungsstücken des Vaters oder der Großmutter mit vieler Mühe genähte Rock wurde zur Zielscheibe des Spottes meiner Schulkameraden. Ich war darüber oft ganz verzweifelt. Als ich eines Sonntags wieder arg verhöhnt wurde, weil mein Rock zu sehr von den Röcken der anderen abstach, ergriff mich ein grenzenloser Zorn. Etwa ein Dutzend Kameraden umringten mich: In meiner Verzweiflung griff ich nach einem faustgroßen Stein, schleuderte ihn aber nicht nach den Spöttern, sondern hämmerte mit ihm auf die Finger meiner linken Hand los, bis sie ganz blutig waren. Dabei schrie ich, mit Tränen in den Augen, ich würde mir alle Finger abschlagen, wenn sie mich noch länger verspotteten. Das machte einen so starken Eindruck auf die Jungen, dass ich von Stunde an auf lange Zeit vor ihren Hänseleien und Verfolgungen Ruhe hatte.
Bei meiner Entlassung aus der Dorfschule hatte ich den sehnlichsten Wunsch, Schlosser zu lernen. Ich wollte einen richtigen Beruf ergreifen, weil ich hoffte, dadurch später meine Eltern besser unterstützen zu können. Ich wusste, dass mir das als Knecht oder Tagelöhner, also in einem ungelernten Beruf, nicht möglich wäre, da ich ja für mich selbst kaum das Notwendigste zum Leben verdienen würde. Das beste Beispiel dafür waren meine Eltern, die trotz ihres Fleißes und ihrer Sparsamkeit sehr armselig lebten.
Aber einen Beruf zu erlernen war mir versagt, weil meine Eltern Lehrgeld zahlen und für Kleider und anderes hätten aufkommen müssen, wozu sie gar nicht in der Lage waren; außerdem würde ich mindestens noch drei Jahre nichts verdient haben. Und so schien es, als sollte ich genau denselben Weg gehen wie mein Vater. Nach meiner Konfirmation kam ich als Ackerknecht zu dem Großbauern Klotzsche in Leutewitz bei Riesa. Bei ihm blieb ich zwei Jahre. Ein paar seiner Knechte waren im selben Jahre zum Militär eingezogen worden. Der Großbauer konnte mitten im Jahr nicht gleich Ersatz finden. Und so musste ich trotz meiner Jugend Lasten tragen, die sonst nur von älteren Jahrgängen getragen wurden. Dennoch liebte ich die Landarbeit, alles, was damit zusammenhing, machte mir Freude. Unangenehm waren nur die Prügel, die ich mehr als reichlich erhielt. Es war bei den Bauernknechten ganz ähnlich wie beim Militär: Der jüngere Jahrgang musste unbedingt geprügelt werden, nur so konnte nach Ansicht der Älteren etwas Tüchtiges aus den Leuten werden. Auf demselben Gute arbeitete auch ein junger Knecht, der aus der Stadt stammte und nur ein Jahr älter war als ich. Dieser arme Teufel war sehr schwächlich, und die Landarbeit fiel ihm ungeheuer schwer. Dazu litt er an einer chronischen Blasenkrankheit, im Schlafe ging ihm, ohne dass er es merkte, der Urin ab. Die anderen Knechte aber, die zusammen mit ihm in einem Bett schliefen - es war üblich, dass immer zwei oder drei zusammen schliefen -, behaupteten, er sei nur zu faul, um aufzustehen. Sie verprügelten ihn fast täglich auf die unmenschlichste Weise. Der arme Kerl wurde durch diese Behandlung zum Krüppel.

 

Ich brenne durch - über Heidelberg, Baden-Baden nach London

Obwohl die Landarbeit mir sehr zusagte, hörte ich nicht auf, nach anderer Arbeit zu suchen, bei der ich mehr verdienen konnte.
Doch erst nach zwei Jahren gelang es mir, Arbeit als Hausdiener in einer Gaststätte in Riesa zu bekommen.
Schon nach drei Monaten verließ ich diese Stellung, um den ersten selbständigen Schritt zu tun. Ich beabsichtigte, nach Baden-Baden durchzubrennen. Meine Mutter war dort in ihrer Jugend Kammerzofe gewesen und erzählte uns Kindern Wunderbares von dieser Stadt, die dadurch zum Inbegriff meiner Träume wurde. Aber meine Groschen reichten nur bis Heidelberg. Dort musste ich die Fahrt abbrechen und fand Anstellung als Silberputzer im Hotel »Bayrischer Hof«.
In dieser Stellung zog ich mir eine schwere Blutvergiftung zu; der ganze Arm sollte amputiert werden. Ich wurde - da ich protestierte - zwangsweise in die Universitätsklinik überführt. Der Arm wurde gerettet.
Etwa zwei Monate später, nach meiner Wiederherstellung, verließ ich Heidelberg und reiste nach Baden-Baden. In der Villa »Charlotte« fand ich Stellung als Diener bei einem reichen Fabrikanten. Ich hoffte, hier wenigstens ein paar Stunden freie Zeit zu finden, in denen ich mich weiterbilden könnte, um, nachdem ich mir einiges erspart hatte, vielleicht doch noch einen Beruf zu erlernen. Aber an freie Zeit war nicht zu denken. Ich musste Teppiche klopfen, den großen Park in Ordnung halten, die Schuhe sämtlicher Hausinsassen putzen, selbst waschen und scheuern und dann noch täglich mehrere Stunden die gelähmte Frau des Fabrikanten in einem Rollstuhl in den Parkanlagen spazieren fahren.
Nur wenige Monate blieb ich in dieser Stellung und ging als Lehrling in ein Automobilgeschäft. Von den älteren Chauffeuren bekam ich so viel Prügel, dass ich mich nicht einmal getraute, mich satt zu essen.
Als es mir dort zu bunt wurde, lief ich weg. Ich wurde Liftboy in der Villa »Pension Luisenhöhe«. In der schmucken Uniform mit den blanken Knöpfen kam ich mir ungeheuer wichtig vor, um so mehr, als ich jetzt mit Menschen Berührung hatte, die in einer ganz anderen Welt lebten und für die ganz andere Maßstäbe galten. Ich verdiente sehr gut und konnte mir schon nach einigen Wochen ein Sparkassenbuch anlegen. Mein Guthaben wuchs bald auf etwas über hundert Mark an. Das war für mich ein Vermögen.
In dieser Stellung beging ich gewisse Manöver, die mich noch sehr lange nachher seelisch bedrückten, weil ich sie als Betrug empfand. Die Liftboys, Portiers und Hausdiener in den Hotels und Pensionen machten allgemein Nebengeschäfte mit den Droschkenkutschern: der Kutscher, der von ein und demselben Portier oder Liftboy recht oft geholt wurde, gab Prozente ab. Diese Provisionen anzunehmen war aber nicht gestattet.
Als mein Direktor durch einen Zufall davon erfuhr, nahm er mich in sein Büro und hielt mir eine so eindringliche Strafrede, dass ich mir wie ein ganz großer Verbrecher vorkam. Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn er mich auf der Stelle hätte verhaften lassen.
Vor Scham hielt ich es in diesem Hause nicht mehr länger aus und bat um meine Entlassung. Ich hob meine hundertzwanzig Mark von der Sparkasse ab, kaufte mir ein Handköfferchen für meine Wäsche und fuhr ohne irgendwelche Vorbereitungen über Köln - Rotterdam - Hoek van Holland nach London.
Der Wechsel von Baden-Baden nach London war so krass, dass ich bei meiner Ankunft aus dem Staunen überhaupt nicht herauskam. Dieses Erstaunen muss deutlich auf meinem Gesicht zu lesen gewesen sein, denn sofort heftete sich ein Dutzend Leute an meine Fersen, sie boten mir ihre Dienste an und wollten durchaus mein kleines, kaum vier Pfund schweres Handköfferchen tragen. Ein englischer Schutzmann bemerkte meinen Mangel an großstädtischen Erfahrungen und erbarmte sich meiner. Mit den wenigen Brocken Englisch, die ich als Liftboy in Baden-Baden gelernt hatte, machte ich ihm plausibel, dass ich nach einer bestimmten Straße wollte, in der sich ein deutsches Heim befand.
Der Schutzmann setzte mich in einen Pferdeomnibus und nannte dem Schaffner die Straße. Nach stundenlangem Fahren kam ich glücklich an, merkte aber sehr bald, dass die Straße wohl genauso hieß wie die, nach der ich wollte, dass es aber dennoch nicht die richtige war: es gab siebenundzwanzig Straßen dieses Namens in London.
Nun zeigte sich wieder ein Policeman als rettender Engel, setzte mich in ein cab, eine zweirädrige Droschke, und endlich erreichte ich mein Ziel: das deutsche christliche Kellnerheim.
Dort fand ich gute und billige Aufnahme. Man war bemüht, mir so schnell wie möglich eine Arbeit zu beschaffen. Außerdem nahmen sich noch Landsleute meiner an, die schon länger in London waren, keine Beschäftigung hatten und davon lebten, die neu Ankommenden mit der Riesenstadt bekannt zu machen. Ihr Spürsinn hatte bald heraus, dass ich noch über ein paar Goldstücke verfügte, und sie waren ehrlich bemüht, mir die Ausgabe dieses kleinen Kapitals zu erleichtern.
Sie fuhren tagelang auf meine Kosten mit mir in London herum. Auf einer solchen, sehr interessanten, aber auch aufregenden und ermüdenden Tagestour landeten wir bei hereinbrechender Dämmerung im großen Hyde-Park. Dort sah ich auf den weiten Rasenflächen sich hin und her bewegende dunkle Punkte. Meine Frage, ob das Schafe oder andere Tiere seien, die hier frei herumlaufen und grasen dürfen, löste ein unbändiges Gelächter aus. Das sei etwas ganz anderes, ich solle das Geheimnis gleich kennen lernen. Meine Begleiter schritten rasch mit mir auf einen der dunklen Punkte zu, und da sah ich zu meiner unbeschreiblichen Überraschung, dass alle diese dunklen Flecke nichts anderes waren als Pärchen, die hier ganz ungeniert geschlechtlich verkehrten.
Meine Gelegenheitsfreunde, die aus meinem Benehmen wohl herausgemerkt hatten, dass ich in diesen Dingen noch sehr unerfahren war, legten großen Wert darauf, mich gleich praktisch aufzuklären. Sie fanden in wenigen Minuten fünf Stra­ßenmädchen, die sich für den unglaublichen Preis von 30 bis 50 Pfennigen hingaben.
Ich hatte nicht den Mut, abzulehnen und einzugestehen, dass ich noch dümmer war, als ich meinen Landsleuten erscheinen musste. Jeder ging mit seinem Mädchen etwas abseits, kaum fünf bis zehn Schritt von den andern entfernt, und erledigte seine persönliche Angelegenheit.
Das war mein erstes sexuelles Erlebnis. Ich benahm mich dabei sehr ungeschickt. Das englische Mädchen, wütend darüber, dass seine Kolleginnen schon längst wieder neue Freier suchen konnten, gab mir eine Ohrfeige und lief mit höhnischem Lachen davon.
Meine paar Goldstücke waren bald aufgebraucht, und ich musste ernstlich darangehen, schnellstens eine Beschäftigung zu finden. In einem der vielen tausend Londoner Boardinghäuser fand ich eine Anstellung als Küchenjunge. Ich bekam zwei und einen halben Schilling für die Woche, das sind 2,50 Mark, dazu freie Kost und Logis. Die Kost war so reichlich, dass ich dabei bestimmt verhungert wäre, wenn ich die alte, geizige Besitzerin nicht nach Strich und Faden bestohlen hätte. Ich verschlang Brot, Kartoffeln und Pudding, sooft ich es unbemerkt tun konnte. Arbeiten musste ich für drei, und zwar als Mädchen für alles. Um vier Uhr früh musste ich aufstehen, in eisiger Kälte draußen vor dem Haus die vielen Stufen scheuern und mit Sandstein überreiben, damit sie nach dem Trockenwerden blendend weiß waren. Danach putzte ich die vielen Messingklinken und Klopfer an den Türen, außerdem zweimal wöchentlich die vielen Fenster des Hauses. Dann musste ich Kohlen schleppen, Geschirr spülen, Teppiche klopfen und Schuhe reinigen. Es gab Arbeit über Arbeit, dabei viele Schelte.
Die alte, hässliche, spindeldürre Besitzerin behandelte mich mit verletzender Herablassung und Nichtachtung. Sie hielt es nicht einmal für notwendig, mir das Essen in die Hand zu reichen oder auf den Tisch zu stellen. Ich bekam Mittag für Mittag ein Stück Fleisch, nicht größer als ein Daumen, dazu eine einzige Kartoffel. Diese beiden Delikatessen legte die Alte auf einen Teller und stellte ihn vor mich auf den Fußboden. Ich kam mir vor wie ein Hund, dem das Futter vor die Hütte gesetzt wird.
Ein Buch zu lesen oder ein paar Groschen zu sparen war hier unmöglich.
Ich hielt es begreiflicherweise nicht lange aus, musste aber noch in einer ganzen Reihe ähnlicher Boardinghäuser schuften und hungern, bis es mir endlich gelang, in dem Vorort Chelsea als Kitchenboy in einem Haushalt von zwei amerikanischen Schwestern Stellung zu erhalten. Hier wurde ich gut behandelt, bekam reichlich zu essen, und es blieben mir auch mehrere Stunden am Tage, über die ich frei verfügen konnte.
Ich kaufte mir englische Bücher, versuchte Zeitungen zu lesen und besuchte, sooft ich konnte, die zahlreichen, prachtvoll ausgestatteten öffentlichen Leseanstalten und Leihbibliotheken.
Die eine der beiden Amerikanerinnen erkannte, dass ich vorwärtsstrebte, Interesse für technische Dinge hatte und eifrig bemüht war, irgendwo unterzukommen, wo ich mich beruflich ausbilden konnte. Sie brachte mich mit dem Direktor eines Londoner Droschkenunternehmens zusammen, der mich als Wagenwäscher anstellte. Es handelte sich um eine Tätigkeit, die nur nachts ausgeübt werden konnte und für die ich wöchentlich zwölf Mark erhielt. Das war für meine Verhältnisse und meine Ansprüche ein sehr hohes Einkommen.
Auf ein Inserat hin, in dem ein Zivilingenieur in der City einen Schüler für sein Büro suchte, meldete ich mich und wurde auch angenommen. Von morgens neun Uhr bis nachmittags drei Uhr arbeitete ich mit ihm zusammen, musste Pausen und kleinere Zeichnungen für Bahnbauten anfertigen, deren Ausführung der Ingenieur für Südamerika übernommen hatte.
In den Spätnachmittags- und Abendstunden besuchte ich das Polytechnikum in Chelsea, bei dessen Lehrern ich viel Verständnis für meine schwierige Lage fand. Besonders ein Lehrer, der Unterricht im Brückenbau erteilte, gab sich mit mir die allergrößte Mühe, als er sah, dass ich das Englische noch nicht genügend beherrschte, um dem
Unterricht ungehemmt folgen zu können. Oft setzte er sich neben mich und übersetzte mir die technischen Ausdrücke. Ich war der einzige Deutsche unter den etwa dreißig Schülern.
Bald merkte ich, dass ich mit meinen zwölf Schillingen keine großen Sprünge machen konnte, denn ich musste davon auch Bücher und Zeichenutensilien anschaffen. Meine Eltern, die mir meine heimliche Wegreise nicht nachtrugen, taten, was sie konnten, schickten mir ein Reißzeug, Bücher und manchmal sogar ein paar Mark. Aber es gab doch Zeiten, in denen ich tagelang ohne Nahrung blieb, weil ich nicht einen Pfennig besaß. Einmal brach ich auf dem Heimweg vom Büro auf der Straße zusammen - ich hatte seit drei Tagen nichts gegessen. Man trug mich in einen Hausflur. Unter den Menschen, die sich um mich bemühten, war ein Briefträger, der merkte, woran es mir fehlte. In seiner Familie fand ich freundliche Aufnahme, und von da an ging es erheblich besser.
Durch die beiden Amerikanerinnen lernte ich später einen englischen Geistlichen, Reverend Beardmoore, kennen, der eine Zeitlang in Dresden studiert hatte. Er wurde mir ein wahrer Freund. Ich verdanke diesem Manne ungeheuer viel, da er auf jede Weise mein Vorwärtskommen und mein Studium förderte. Er riet mir auch, einem englischen Schwimmklub beizutreten. Ich konnte nicht schwimmen, obwohl ich kaum ein paar Meter von der Elbe entfernt geboren bin und fast sechzehn Jahre lang immer in Dörfern an der Elbe gelebt hatte. Nun wollte ich das Versäumte nachholen, um mich nicht gar zu sehr zu blamieren. Ich ging täglich eine Stunde in die so genannte Serpentine im Hyde-Park baden, und zwar bis in den späten Dezember hinein. Diese Winterbadekur hätte ich wahrscheinlich kaum durchgehalten ohne ein paar Engländer - darunter ein alter 65 jähriger Herr, der aber aussah wie 40 und schon seit vielen Jahren Sommer und Winter dort badete -, die mir Gesellschaft leisteten. Wir hackten miteinander das Eis auf und konnten so auch an den kältesten Tagen wenigstens ein Tauchbad nehmen. Bei einem wenige Wochen später stattfindenden Wettschwimmen gewann ich den ersten Preis für Schnellschwimmen, eine silberne Medaille, auf die ich mir sehr viel einbildete, zumal ich der einzige Deutsche im Klub war. Leider musste ich sie bald darauf, als es mir wieder einmal schlecht ging, dem Pfandleiher überlassen.
Durch den täglichen und fast ausschließlichen Umgang mit Engländern beherrschte ich nach einigen Monaten die Sprache soweit, dass ich ohne grö­ßere Schwierigkeiten dem Unterricht im Polytechnikum folgen konnte.
Nach Ablauf von nicht ganz zwei Jahren musste ich wegen meiner Militärdienstpflicht nach Deutschland zurück. Ich erfüllte damit zugleich einen dringenden Wunsch der Eltern, die meine »Auslandsreise« nie ganz verschmerzen konnten. Durch meine Schwester hatte ich erfahren, dass die Mutter ohnmächtig auf der Straße zusammengebrochen war, als meine Nachricht eintraf, ich sei nach England gefahren.

 

Zurück nach Deutschland als Eisenbahnbautechniker- Eintritt ins »Weiße Kreuz«

Die Rückkehr nach Deutschland war für mich eine große Enttäuschung. Im Vergleich mit Berlin, wo ich ankam, war mir das Leben in London viel freier und ungezwungener erschienen. In England hatte mich niemand gefragt, wenn ich Stellung suchte, wer und was mein Vater sei, welche Schulen ich besucht habe, ob ich Christ oder Jude sei usw. In Deutschland aber wurden solche Fragen immer zuerst gestellt. Sobald ich in den technischen Büros, wo ich mich um Anstellung bewarb, sagte, dass mein Vater Ackerknecht sei, merkte ich, dass meine Chancen gering wurden und man mehr als einmal über meine niedrige Herkunft die Nase rümpfte.
In England galt nur der Mann selbst, er wurde nach seinen Leistungen beurteilt, nicht nach Beruf und Stellung des Vaters. In Deutschland hingegen war oft die Antwort auf die vielen Fragen nach Eltern, Geschwistern, Großvater, Großmutter und nach Zeugnissen, deren Qualität nicht immer durch persönliche Leistungen erreicht wird, ausschlaggebend. Bei meinen täglichen Bemühungen in Berlin, in einem technischen Büro unterzukommen, erfuhr ich sehr bald, welch großen Wert man auf das Einjährig-Freiwilligen-Examen legte. Ich kam zu der Überzeugung, dass mein Vorwärtskommen durch das Nichtbesitzen dieses Berechtigungsscheines sehr gehemmt wurde. Ich musste also versuchen, dieses Examen nachzuholen. Die Voraussetzung dazu war vor allem, dass ich Arbeit fand.
Ich richtete ein Gesuch an die Militärbehörde, mich vorläufig zurückzustellen, damit ich das »Einjährige« machen könne. Da ich in meinem Beruf als Eisenbahnbautechniker keine Beschäftigung fand, nahm ich kurz entschlossen eine Stelle als Hausknecht und Geschirrspüler im Restaurant »Architektenhaus« in der Wilhelmstraße an. Dadurch kam ich mit meinen Kollegen vom Baufach, deren Rang ich doch einmal erreichen wollte, wenigstens soweit in Berührung, dass ich ihnen die Teller und Gläser spülen durfte.
Nach vier Wochen bekam ich Anstellung im Wernerwerk von Siemens & Halske; aber auch da fand ich keine technische Arbeit, sondern musste als Hilfskellner und Speisenzuträger das Mittagessen auf Wagen in die großen Speisesäle der Werkkantine fahren und dort auf die Tische stellen. Während dieser Zeit versuchte ich unermüdlich, eine Stellung zu finden, die meinen in London erworbenen Kenntnissen einigermaßen entsprach. Durch persönliche Vorstellung in den Büros der Eisenbahnbaufirma Arthur Koppel, Dorotheenstraße, fand ich endlich einen Abteilungsingenieur, der mich nicht nach meiner Herkunft, meinem Leben und meinen Großeltern fragte, sondern mir sofort Gelegenheit gab, zu zeigen, was ich eigentlich könne. Ich musste unter seiner Aufsicht Probezeichnungen und Berechnungen anfertigen und wurde angestellt. Nun besuchte ich in den Abendstunden ein Vorbereitungsinstitut für das Einjährig-Freiwilligen-Examen und zwecks weiterer technischer Ausbildung ein paar Mal in der Woche die Städtische Handwerkerschule.
In Berlin schloss ich mich, wie schon in London, dem Christlichen Verein Junger Männer an, der in der Wilhelmstraße ein großes Haus mit weiten Räumen hatte. Dort verkehrte ich regelmäßig und fand viele gleichgesinnte, vorwärtsstrebende Menschen. Außer meinen Freunden im Christlichen Verein Junger Männer hatte ich überhaupt keine Beziehungen und Bekanntschaften; Frauen mied ich geflissentlich. Meine damaligen moralischen Skrupel und Vorstellungen von Sünde verboten mir jeden außerehelichen Geschlechtsverkehr. Ich hatte mit meinen 21 Jahren starkes erotisches Verlangen; um es zu überwinden, schloss ich mich dem »Weißen Kreuz«, einem evangelischen Keuschheitsbunde, an. Während meiner sechsmonatigen Prüfungszeit musste ich fast täglich mein sexuelles Tun und Denken in aller Ausführlichkeit dem Präses des Sittlichkeitsbundes beichten. Erst nach einem halben Jahr der »Läuterung« wurde ich in feierlicher Sitzung zum Mitglied ernannt. Ich blieb im »Weißen Kreuz« bis Kriegsausbruch.
Eines Tages beauftragte mich der leitende Ingenieur, einen Kostenvoranschlag abzuschreiben. Ich begann sofort und war bemüht, die Arbeit recht schnell und sauber auszuführen. Nach einer halben Stunde kam der Ingenieur, besah sich die von mir beschriebenen Seiten und zerriss alle. »Diese Schmiererei kann ich nicht gebrauchen, lernen Sie erst einmal richtig schreiben!« Über diese Eröffnung war ich sehr niedergedrückt, zumal ich mir bisher eingebildet hatte, dass meine Handschrift sauber und gut lesbar sei. Ich wusste aber, dass es der Ingenieur gut mit mir meinte. Seine scharfe Kritik entsprang sicherlich nicht irgendeiner Gehässigkeit. Also musste ich unbedingt meine Schrift verbessern. Ich hatte auch bald herausgefunden, warum meine Handschrift den Anforderungen nicht genügte, sie war eine so genannte liegende Schrift, fast ohne Druck. Der Abteilungsingenieur bevorzugte aber Steilschrift, wie sie in den technischen Büros üblich war. In den folgenden Tagen und Wochen saß ich ganze Nächte lang über Übungshefte gebeugt und lernte mit krampfhafter Ausdauer Steilschrift. Wenn mich die Müdigkeit übermannte, kochte ich mir auf meinem Spirituskocher ganz starken Kaffee und übte dann bis in die Morgenstunden. Nach wenigen Wochen schon konnte ich dem Ingenieur eine Schrift vorweisen, mit der er zufrieden war. Für mich war es eine besondere Genugtuung, zu sehen, wie sehr es ihn überraschte, dass ich mir in so kurzer Zeit eine ganz andere Schrift angewöhnt hatte.
Nach einem halben Jahr fusionierte sich die Firma Arthur Koppel mit der Firma Orenstein zur Orenstein & Koppel AG; durch die Fusion wurden viele Angestellte entlassen. Ich entging diesem Schicksal und wurde einer Schwesterfirma überwiesen, und zwar der Eisenbahnbaufirma Hermann Bachstein in der Großbeerenstraße. Diese Firma sandte mich mit zwei Ingenieuren in die bayrische Oberpfalz, wo wir die Vorarbeiten für den Bau einer Normalspurbahn von Neuenburg v. W. nach Obervichtach und Schönsee ausführten. Ich liebte meine neue Arbeit leidenschaftlich, weil sie mir erlaubte, den ganzen Tag im Freien zu sein. Wir nahmen in der Hauptsache Nivellierungen und andere Vermessungen vor. Jetzt endlich konnte ich meine in London mühsam erworbenen Kenntnisse auch praktisch verwerten.
Die Vorarbeiten für den Bahnbau dauerten etwa ein Jahr.
Nach Beendigung der Arbeit sollten die beiden Ingenieure und ich in die Berliner Büros zurückkehren, um die Zeichnungen und Berechnungen für den im Frühjahr beginnenden eigentlichen Bau der Bahn anzufertigen. Die Ingenieure rieten mir jedoch, meine ganze Zeit und Kraft darauf zu verwenden, in Deutschland ein Examen zu machen, denn dann würde es mir viel leichter fallen, eine gutbezahlte Position zu bekommen.
Für meine weiteren Studien wählte ich Dresden. Hier suchte ich eine Beschäftigung, die mir Zeit genug ließ, eine Schule zu besuchen. Gleichzeitig aber musste ich auch das Nötige verdienen, um meinen Lebensunterhalt bestreiten und das Schulgeld bezahlen zu können.
Es war sehr schwer, eine solche Beschäftigung zu finden. In Dresden war es fast unmöglich, überhaupt Arbeit zu bekommen. Stundenlang stand ich mit Hunderten von Arbeitsuchenden vor den Schaltern der Zeitungen, wo der Arbeitsmarkt angegeben wurde, dann lief ich im Eilmarsch in der
Stadt herum, um ja der erste zu sein, der sich um die freie Stelle bewarb.
Meine Sparpfennige waren bald aufgebraucht, und je mehr meine Kleider zerschlissen, um so weniger hatte ich Aussicht, irgendwo Stellung zu bekommen.
Ich hatte nur ein einziges Paar Schuhe, die Sohlen waren längst durchgelaufen. In den nasskalten Februartagen konnte ich es kaum noch wagen, auf die Straße zu gehen.
Um wenigstens meine Schuhe besohlen lassen zu können und um nicht ganz zu verhungern, nahm ich eine Beschäftigung als Kegelaufsetzer an. Ich musste täglich von neun Uhr abends bis oft ein und zwei Uhr morgens für die Spießbürger Kegel aufsetzen; dafür erhielt ich pro Abend 75 Pfennige. Solche Arbeit machen sonst nur kleine Jungen im Alter von neun bis 13 Jahren. Die Kegelbahn war so verbaut, dass ich während der ganzen Zeit in gebückter Stellung hocken musste; sobald ich versuchte, mich einmal gerade aufzurichten, stieß ich mit dem Kopf an die niedrige Decke. Ich bekam bald chronisches Nasenbluten und musste meine Beschäftigung aufgeben. Aber ich hatte mir wenigstens so viel verdient, dass ich die fällige Miete von zehn Mark für mein kleines Dachzimmer bezahlen konnte und mir noch ein paar Groschen für ein warmes Mittagessen in der Volksküche übrig blieben. Vorher hatte ich meine zerfetzten Schuhe wieder in Ordnung bringen lassen. Das war allerdings nur möglich, indem ich zum Schuster ging, die Schuhe auszog und mit bloßen Fü­ßen wartete, bis nach einigen Stunden die Reparatur erledigt war.
Endlich, nach monatelangem Suchen, fand ich in einem kleinen Lichtspielhaus Anstellung als so genannter Vorführer. Ich musste von acht Uhr abends bis zwölf Uhr nachts den Projektionsapparat bedienen. Für diese Arbeit in einer entsetzlich engen und furchtbar heißen, feuersicheren Eisenkabine, in der das grelle Licht die Augen blendete, erhielt ich wöchentlich 25 Mark. Das war mehr, als ich erwartet hatte. Davon konnte ich Schulgeld und Bücher bezahlen und fast täglich warm essen.
In Dresden hatte ich mich gleich nach meiner Ankunft wieder dem Christlichen Verein Junger Männer angeschlossen; dort verbrachte ich meine freie Zeit und empfing manche Anregung. Besonders zwei Studenten der technischen Hochschule, die ebenfalls Mitglieder des Vereins waren, ein Italiener und ein Leipziger, nahmen sich meiner an und gaben mir unentgeltlich Nachhilfeunterricht. Der Vereinspräses, Herzog, hatte für mein Vorwärtsstreben viel Verständnis und verschaffte mir manche Erleichterung.
Ich besuchte das Einjährig-Freiwilligen-Institut an der Bürgerwiese. Tagsüber nahm ich Unterricht, in den Abendstunden arbeitete ich im Lichtspieltheater, und in der Nacht musste ich meine Schularbeiten erledigen. Zum Schlafen blieb wenig Zeit. Oft saß ich, wenn der Morgen graute, noch angekleidet über den Büchern und war eingeschlafen.
Dieses aufreibende Leben führte ich etwa ein
Jahr, dann brach ich körperlich vollkommen zusammen. Die Rekrutenmusterungskommission, die mich bei der vorhergehenden Aushebung als tauglich befunden hatte, stellte bei der Generalmusterung eine so furchtbare körperliche Veränderung an mir fest, dass ich wegen Tuberkuloseverdacht für den aktiven Dienst als untauglich erklärt wurde. Die Ärzte, die ich konsultierte, verlangten, dass ich mein bisheriges Leben sofort aufgebe, Dresden verlasse und in eine waldreiche Gegend übersiedle.
Ich spürte, dass ich so wie bisher nicht weiterkonnte, folgte dem Rat der Ärzte und wählte Ende 1912 als Aufenthaltsort Falkenstein im Vogtland. Dort fand ich Anstellung bei einem Landvermesser, abends arbeitete ich als Filmvorführer und -erklärer. In meiner freien Zeit versuchte ich, meine Studien weiter zu betreiben.

 

Erste Kriegsmonate beim Generalkommando des 27. Reservearmeekorps

Den Kriegsausbruch erlebte ich in Falkenstein. Ich war nicht kriegsbegeistert, sondern hatte - aus christlichen Motiven - gegen den Krieg einen starken inneren Widerwillen, der noch verstärkt wurde durch das, was ich gleich in den ersten Augusttagen sah.
Am 6. August befand sich die Stadt in heller Aufregung. Ein guter Patriot hatte gemeldet, dass ein Auto die Stadt passieren wolle, in dem bewaffnete Spione säßen, die im Begriffe seien, die Talsperre bei Falkenstein zu sprengen, damit die ungeheuren Wassermengen die ganze Umgebung überfluteten. Im Nu war alles auf den Beinen, und die Straßen wurden mit Ketten abgesperrt. Die Spießer rannten in glühender Ekstase und wütender Empörung wie besessen auf den Straßen hin und her, allen voran mit einer Jagdflinte der Eisenwarenhändler Kießling. Die anderen Patrioten hatten sich mit Stöcken oder sonstigen Prügelinstrumenten bewaffnet.
Das avisierte Auto traf wirklich ein, die schweren eisernen Ketten versperrten den Weg, und mit Indianergeheul stürzte sich die halb irrsinnig gewordene Bürgermeute auf das Auto. Tatsächlich befand sich in dem Wagen außer sechs Personen noch eine Anzahl Gewehre: also waren es Spione. Ohne auf die Erklärungen und Beteuerungen der Autoinsassen zu hören, warfen sich die hundertprozentigen Vaterlandsverteidiger auf die angeblichen Spione, zogen einen von ihnen durch die Windschutzscheibe, dass die Glassplitter ihm die Schädelhaut zerschnitten, und verprügelten ihn, weil er ein etwas ausländisches Aussehen hatte, in so unmenschlicher Weise, dass er blutüberströmt zusammenbrach.
Die Helden schleiften die »Gefangenen« nach dem Rathaus. Dort stellte sich heraus, dass der am übelsten zugerichtete Mann leitender Ingenieur des elektrischen Kraftwerks in Bergen bei Falkenstein war - ausgerechnet von diesem Kraftwerk bezog Falkenstein Kraft und Licht! Er hatte mit anderen Angestellten vom Generalkommando in Plauen Gewehre geholt, um das Elektrizitätswerk gegen feindliche Angriffe zu verteidigen; denn auch er litt an Spionenfurcht.
Da ich Ersatzreservist war, erkundigte ich mich im Bezirkskommando, wann ich zum Militär eingezogen werde. Man sagte mir: am neunten Mobilmachungstage. Auf meine Frage, ob ich mir dann den Truppenteil wählen könne, erhielt ich eine verneinende Antwort. Ich überlegte: wenn ich sowieso am neunten Mobilmachungstag zum Militär muss, mir aber den Truppenteil nicht wählen darf, melde ich mich lieber einige Tage vorher freiwillig, damit ich mir den Truppenteil aussuchen kann. Ich fuhr also gleich in die Garnison Großenhain in der Nähe meines Heimatortes und meldete mich bei dem dortigen 18. Königshusarenregiment als Kriegsfreiwilliger. Meine Einstellung erfolgte am 10. August.
In den ersten Oktobertagen, nach kurzer Ausbildung, rückte ich mit dem 27. Reservearmeekorps ins Feld. Dieses Korps war ganz neu zusammengestellt und stand unter der Führung des sächsischen Kriegsministers General von Carlowitz. Ich wurde mit elf anderen Husaren dem General als Kavalleriestabswache zu seiner persönlichen Begleitung zugeteilt.
Im Oktober 1914 hatten wir vor Ypern unser erstes Treffen mit den Engländern. Nun konnte ich die schwungvollen Reden in der Heimat mit der Praxis im Felde vergleichen.
Beim Vormarsch sahen wir auf der Straße des kleinen Ortes Ledeghem zwölf erschossene Einwohner, darunter zwei Mädchen im Alter von etwa zehn und zwölf Jahren. Diese Menschen waren nicht im Gefecht gefallen, sondern von deutschen Soldaten einfach niedergeknallt worden. Auf unsere Frage, warum sie erschossen wurden, antwortete ein Offizier, das seien Franktireurs; ein deutscher Leutnant, Führer einer Jägerpatrouille, sei von einem der erschossenen Mädchen nach der Zeit gefragt worden, und dabei habe ihn das Kind niedergeschossen.
Wir bezogen in Ledeghem Quartier und wurden mit den Einwohnern bekannt. Es stellte sich heraus, dass die Beschuldigungen gegen die Erschossenen heller Unsinn waren. Die deutschen Jäger hatten in der Stadt, aus der sie kamen, alle Wein- und Bierfässer geplündert und in ihrer Betrunkenheit die merkwürdigen Schornsteine mit ihren helmartigen Rauchmützen für Franktireure gehalten.
In dem Ort befand sich ein Haus, an dessen Tür mit Kreide geschrieben stand: »Hier sind die Kinder der Erschossenen.« Diese fünfzehn bis zwanzig verwaisten Kinder waren für mich ein erschütternder Anblick.
Solange der Vormarsch gegen Ypern andauerte, kam auch der kommandierende General samt seinem Stab des Öfteren ins Gewehr- und Granatfeuer. Als aber der Stellungskrieg anfing, bezog das Generalkommando sichere Quartiere hinter der Front, und nun begann ein Leben, das mich anwiderte. Weniger v. Carlowitz selbst, auch nicht sein
Nachfolger, der General v. Schubert, als vielmehr die zahlreichen Offiziere und anderen Schmarotzer im Generalstab soffen, hurten, prassten, dass der gemeine Soldat und auch die Einwohner der feindlichen Ortschaften ihre Achtung vor deutschen Offizieren verloren. Leute, die niemals den Feind gesehen hatten, brüsteten sich mit dem damals noch seltenen Eisernen Kreuz. Ein Feldgendarm, von dem wir sagten, dass drei Männer nicht seinen Bauch umspannen könnten, hatte das Eiserne Kreuz für seine Spitzeldienste erhalten, während er uns vorschwindelte, dass eine schwere Granate fünf Meter vor ihm eingeschlagen und krepiert sei, ohne ihn zu verletzen.
Ich sah, wie Verwundete, die schmutzig, hungrig und durstig von der Front kamen, nicht verpflegt, sondern von Offizieren beschimpft wurden, sie hätten nicht tapfer genug gekämpft. Tiefe Scham erfüllte mich, wenn ich in meiner neuen Husarenuniform mit den Kameraden hinter dem General auf der Landstraße galoppierte und endlose Reihen Verwundeter, die oft Gefahr liefen, unter die Hufe unserer Pferde zu geraten, uns mit erbitterten Mienen nachschauten.
Ich bekam damals viele Pakete aus der Heimat von meinen Angehörigen und Freunden und gab des Öfteren den an unserm Stabsquartier vorbeiziehenden Verwundeten Schokolade oder Erfrischungen. Dafür wurde ich mehr als einmal von den Offizieren des Stabes zurechtgewiesen. Es sollte verhindert werden, dass wir vom Stab überhaupt mit gemeinen Soldaten sprachen.
Einem Franzosen, der einen Bajonettstich in den Mund sowie mehrere Schussverletzungen davongetragen hatte und der nun bleich wie ein Toter an mir vorüberwankte, gab ich aus meiner Feldflasche zu trinken. Das trug mir wieder Anschnauzer von Offizieren und Rippenstöße von einem Feldgendarm ein.
Bei der Erstürmung von Zonnebeke hatten die Deutschen viele Gefangene gemacht. Sie wurden in größeren Trupps am Generalstab vorübergeführt, der mit seinen Pferden und Automobilen an der Straße hielt. Die Ulanen hatten die Aufgabe, die gefangenen Engländer in die Etappenstationen abzutransportieren. Sie machten sich ein besonderes Vergnügen daraus, ihnen mit den Lanzen in die Waden und in den Hintern zu stechen. Als ich einmal Zeuge war, wie einer der Ulanen einem sehr kleinen Engländer, der am Ende des Gefangenentrupps marschierte, von hinten mit voller Wucht den rechten Fuß ins Rückgrat stieß, so dass der Gefangene zusammenbrach, bemühte ich mich um den Gestürzten und sprach ein paar Worte in seiner Muttersprache zu ihm. Dies wurde sofort von den Ulanen dem im Auto mitfahrenden Divisionsgeneral gemeldet. Der kanzelte mich vor aller Mannschaft furchtbar ab, und ich galt von Stunde an als ein unsicherer Kantonist, der es mit dem Feinde hielt.
Im Sommer 1915, im Verlauf einer größeren Offensive, stießen die deutschen Truppen weit über die feindlichen Linien vor, in ein Gebiet, das früher Franzosen und Engländer gehalten hatten. Dabei marschierten wir über ein Leichenfeld. Dort lagen zu Hunderten gefallene Franzosen, Engländer, Zuaven und Deutsche. Die Toten waren sechs Monate unbeerdigt geblieben, sie hatten in den Drahtverhauen zwischen den beiden feindlichen Linien gelegen. Die Leichen waren schwarz und aufgeschwollen, aus den Augenhöhlen quoll eine dicke gelbe Masse. Sie stanken furchtbar. Man konnte kaum einige Minuten verweilen, ohne das Taschentuch vor Nase und Mund zu pressen. Trotzdem habe ich stundenlang - wie gebannt, voll Grauen und Wut - vor diesen verwesten Leichen gestanden und mich immer wieder gefragt: Was würden die Angehörigen tun, wenn sie ihre Männer, Brüder, Söhne in diesem Zustand sähen? Würden sie nicht alle Hebel in Bewegung setzen, um dem wahnsinnigen Morden ein Ende zu machen?
Ich war von dem Erlebten so erschüttert, so aufgewühlt, dass ich nachzudenken begann, welchen Zweck und Sinn dieses Gemetzel habe. Unter den Eindrücken der Kämpfe an der Somme und vor Ypern quälte mich immer stärker die Frage nach dem Warum. Ich fühlte, dass hier etwas nicht stimmte. Meine Erlebnisse an der Front ließen mich allmählich erkennen, dass der Kampf, den wir führten, kein Kampf für das Recht war. Ich sah, wie Menschen, die sich nie gekannt und sich nie vorher Leid zugefügt hatten, nun einander abschlachteten.
Mit meinen Kameraden konnte ich mich nicht aussprechen. Sie hatten für mein Bedrücktsein und meine Zweifel kein Verständnis. Ich hatte unter ihnen von Anfang an einen sehr schweren Stand, da ich mich weder an ihren Kartenspielen beteiligte noch an ihren zotigen Unterhaltungen. Mein zurückhaltendes Wesen und meine Beschäftigung mit dem Neuen Testament gaben ihnen reichlichen Anlass zu Spötteleien. Besonders zwei ältere Reservisten misshandelten mich oft; einmal schlug mir der eine die schwere Pferdekandare in die Zähne. In meiner Ratlosigkeit und Verzweiflung war ich nahe daran, mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen. All die Jahre vorher hatte ich die mir zugeteilten Prügel und Misshandlungen hingenommen als etwas, gegen das ein religiöser Mensch nicht ankämpfen dürfe; es lag auch nicht in meinem Wesen, wiederzuprügeln. Bis plötzlich eine Wandlung in mir vorging. Eines Nachts wurde ich wieder von ein paar älteren Kavalleristen gepiesackt. Trotz meiner Müdigkeit ließ man mich nicht zur Ruhe kommen; da sprang ich in fürchterlicher Erregung auf, packte den einen an der Gurgel, würgte ihn und brüllte ihm ein Dutzend Mal ins Gesicht, dass ich ihn umbringe, wenn er mit den Quälereien nicht aufhöre. Die »Kameraden« waren von der mit mir vorgegangenen Veränderung so überrascht, dass sie mich von da ab weniger belästigten.
Meine durch die aufwühlenden und erschütternden Erlebnisse wachgewordenen Zweifel an der Wahrheit der christlichen Heilslehre und der göttlichen Weltordnung hatten zugleich auch bewirkt, dass ich dazu überging, mich gegen jede schlechte
Behandlung und gegen Angriffe kräftigst zu wehren, und wer mir eine Ohrfeige gab, bekam bestimmt zwei wieder.
Als Soldat versuchte ich stets, meine so genannte Pflicht zu tun, aber es kamen mir doch immer stärkere Zweifel, ob alles das, was von mir verlangt wurde, mit den Grundsätzen wahrer Menschlichkeit vereinbar sei.
Beim Anblick gefangener oder gefallener Engländer musste ich daran denken, dass mir in England viele Menschen Gutes getan hatten. Es fiel mir unendlich schwer, mich aus dem Labyrinth meiner Gedanken herauszufinden. Nachdem die Zweifel meine religiösen Vorstellungen erschüttert hatten, musste ich alle Fragen noch einmal durchdenken. Man hatte mich gelehrt, dass es Reiche und Arme geben müsse und dass den Armen für ihr elendes Leben in dieser Welt nach dem Tode das Himmelreich sicher sei. Ich aber sah im Felde, dass es nur Unterdrücker und Unterdrückte gab.
Das Leben beim Generalkommando ekelte mich von Tag zu Tag mehr an. Ich bat um meine Versetzung zu einem Infanterieregiment an die Front. Das Gesuch wurde abgelehnt mit der Begründung, es sei nicht angängig, von der Kavallerie zur Infanterie überzuwechseln. Ich wiederholte mehrmals mein Versetzungsgesuch; endlich wurde ich als Meldereiter zur 106. Reserve-Infanterie-Brigade kommandiert.

 

Freiwillig weg vom Generalstab an die Front

Nun teilte ich mit den Kameraden die Entbehrungen und Strapazen an der Front und war froh, dass es mir nicht besser erging als denen, die mich vorher oft beneidet hatten. Ich erhielt das Eiserne Kreuz und die Friedrich-August-Medaille und nahm an allen Kämpfen des 27. Reservearmeekorps an der Ost- und Westfront 1917 teil. Während des Vormarsches in Russland lernte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Sozialisten kennen und kam durch einen sonderbaren Zufall mit ihm in enge persönliche Beziehung. Der Redakteur der Leipziger Volkszeitung, Georg Schumann, der damals als Soldat im Feld stand, war denunziert worden und wurde vor das Kriegsgericht gestellt, das sich bei unserer Division befand. Einige Kameraden meiner Truppe und ich mussten den verhafteten Georg Schumann bewachen. So waren wir täglich mit ihm zusammen und, obgleich es eigentlich streng verboten war, mit Gefangenen zu sprechen, unterhielten wir uns mit ihm. Er machte aus seiner sozialistischen revolutionären Gesinnung kein Geheimnis und war bemüht, uns politisch Indifferente für seine Weltanschauung zu gewinnen.
Das, was ich von Schumann hörte, war für mich etwas Überwältigendes, Neues, Unerhörtes, war ein Blick in eine ganz andere Welt, von deren Vorhandensein ich bisher keine Ahnung hatte. Ich verstand und begriff vieles nicht, was er sagte, aber es regte mein Denken an und wies mir den Weg zu einer neuen Weltanschauung, von der ich früher nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Georg Schumann, gegen den der Anklagevertreter beim Kriegsgericht zwölf Jahre Zuchthaus beantragt hatte, wurde wegen »Zersetzungsarbeit« unter den Soldaten zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Auf dem Vormarsch in Galizien gegen die russische Grenze erhielten wir Soldaten die ersten spärlichen Nachrichten über den Ausbruch der russischen Revolution. Einen ungeheuer starken Eindruck, auch auf uns Nichtsozialisten, machten die Mitteilungen gefangener russischer Soldaten, dass in Russland Arbeiter- und Soldatenräte gebildet worden seien. Selbst jene deutschen Soldaten, die sich bisher mit dem Sozialismus nie beschäftigt hatten - ich gehörte ja auch zu ihnen -, begriffen instinktiv, dass eine Umwälzung vor sich ging, die nicht auf Russland allein beschränkt bleiben konnte. Fast alle hatten denselben Gedanken: das sei endlich der Anfang vom Ende des Krieges. Als größere Teile der deutschen Truppen sich an der Front mit russischen Soldaten verbrüderten, ließ die Heeresleitung die im Osten stehenden Formationen durch andere ablösen. Wir wurden nach der Westfront zurücktransportiert.
Während der letzten großen Offensive im Frühjahr 1918 stieß der Truppenteil, zu dem ich gehörte, von Cambrai aus vor. Die Verpflegungsschwierigkeiten hatten ihren Höhepunkt erreicht. Wir bekamen pro Tag einen gestrichenen Esslöffel voll Rübenmarmelade und so wenig Brot, dass wir uns kaum auf den Beinen halten konnten. Dabei mussten wir täglich Märsche von 40 bis 50 Kilometern machen.
Auf den Straßen und Feldern lagen Dutzende von toten Pferden - zum Teil schon tagelang -in der Sonnenhitze; aus diesen Pferdeleibern schnitten sich die Soldaten große Stücke Fleisch, das sie nur ungenügend kochten. Die meisten hatten nicht einmal Salz oder andere Zutaten. Sie verschlangen es jedoch mit unbeschreiblicher Gier, um ihren entsetzlichen Hunger zu stillen. So sehr mich der Hunger quälte, brachte ich es doch nicht fertig, von diesem Fleisch zu essen, und dabei war Pferdefleisch fast das einzige Fleisch, das ich in meiner Jugend zu essen bekommen und stets als eine ganz besondere Delikatesse betrachtet hatte. Als ich einmal versuchte, ein Stück Pferdefleisch zu essen, das einer der Kameraden kunstgerecht und mit allen Gewürzen zubereitet hatte, musste ich mich tagelang erbrechen.
Erst vor Amiens kam der deutsche Vormarsch zum Halten. Die Franzosen hatten Verstärkung durch amerikanische Streitkräfte bekommen. Diese Tatsache wirkte furchtbar deprimierend auf die Truppen. Sie fühlten sich von Tirpitz und den anderen Kriegspropheten, die immer behauptet hatten, Amerika könnte unmöglich Truppen herüberschaffen, verraten und verkauft.
Nach fast vierjährigem, zermürbendem Kampf war es den deutschen Truppen, denen es an allem mangelte, einfach nicht möglich, den gutgenährten und technisch aufs vollkommenste ausgerüsteten amerikanischen Soldaten ernsten Widerstand zu leisten. Vor Amiens bekamen wir zu spüren, was es bedeutete, dass an der französischen Front Amerikaner gegen uns kämpften. Die ersten amerikanischen Granaten wirkten verheerend in unseren Reihen, sowohl physisch als auch moralisch; unsere Artillerie konnte nur noch schwach erwidern. An der Straße sah ich die großen 21-cm-Mörser, auf die wir immer so stolz waren, untätig stehen; es fehlte an Munition. Der Vormarsch war überraschend schnell vonstatten gegangen, aber der Munitionsnachschub hatte nicht gleiches Tempo halten können, und nun standen die Kanonen wie traurige Wahrzeichen da, als ein Symbol unserer Hoffnungslosigkeit, während ringsum Tausende von amerikanischen Geschossen den Erdboden aufwühlten und entsetzliche Zerstörung in den Reihen der Deutschen anrichteten.
Am 6. März, an einem regnerischen Morgen, hielt ich mit zwei Kameraden und unseren Pferden in einer Waldecke, wenige Kilometer vor Amiens. Wir hatten die Aufgabe, hier auf Meldungen vom Brigadestab zu warten, die wir dann den einzelnen Regimentern übermitteln sollten. Etwa hundert Meter hinter uns stand der Rest unserer Artillerie. Um sechs Uhr früh eröffnete sie ihr Feuer über unsere Köpfe hinweg gegen die feindliche Stellung. Kaum eine halbe Stunde später begannen die Amerikaner ein wahnsinniges Trommelfeuer gegen unsere Linie. Sie hatten durch ihre zahlreichen Flieger schnell den Standort unserer Artillerie erfahren. Dieser Tag kostete die deutschen Truppen Tausende von Toten und Verwundeten. Neben mir brach ein Telefonist zusammen, der die zerstörten Leitungen nach dem Beobachtungsstand reparierte. Es war ein junger Mensch, der kaum achtzehn Jahre zählen konnte und wie ein Fünfzehnjähriger aussah. Er war schwer getroffen; ein Unterschenkel hing nur noch an der Wickelgamasche. Der Verwundete schrie immerfort: »Mutter, Mutter!« Unaufhörlich schlugen die Geschosse dicht neben uns in den Erdboden und in die Bäume. Über den nahen Kanaldamm kamen etwa sechs Verwundete, die sich gegenseitig stützten. Eine Granate schlug mitten in die Gruppe; als ich kurz darauf an dieser Stelle vorüberritt, sah ich von den Verwundeten nur noch ein paar Zehen, einen nackten Fuß und Fleischfetzen.
Mein Pferd wurde durch einen Granatsplitter getötet. Ich hatte Dreck und Sand in den Augen und konnte kaum noch sehen. Als wir uns um die Verwundeten bemühten, traf einen Kameraden, mit dem ich vier Jahre lang im Felde war, eine Granate und riss ihm das ganze Kreuz heraus. Er blieb noch fünfzehn Minuten am Leben, seine Augen waren schon völlig verglast. Andauernd schrie er meinen Namen. Auf der an der Waldecke vorbeiführenden Straße schleppten sich mühsam viele Verwundete. Ganz in der Nähe, in einem französischen Bauernhof, war ein Feldlazarett eingerichtet; mehr als fünfhundert schwerverwundete Soldaten lagen dort, und nur ein einziger Arzt war vorhanden. Bald ging der Verbandstoff aus. Noch am selben Tage schlugen Dutzende von Granaten in jenes Feldlazarett, alle Insassen samt dem Arzt wurden getötet. Auch den auf der Straße dahinwankenden Verwundeten war ein fürchterliches Schicksal beschieden. Die im Galopp vorbeirasenden Geschütz-Abteilungen achteten kaum auf diese Menschen, sie versuchten über die Straßenkreuzung hinwegzukommen, auf die sich das Feuer der Amerikaner konzentrierte. So wurden viele Verwundete von den Pferden zertrampelt.
Ich durfte meinen Standort nicht verlassen, da ich Meldungen abzuwarten hatte. Das Trommelfeuer wurde immer stärker. Das Krachen der ununterbrochen krepierenden Granaten vermischte sich mit den Schreien der Verwundeten, denen niemand helfen konnte. Es machte mich fast wahnsinnig, und ich sprang in ein Erdloch, das meinem Körper knapp Raum bot.
Mich erfüllte nur der eine Gedanke: Eine Granate müsste mich jetzt treffen, aber so, dass nichts mehr von mir übrig blieb. Vor dem Verstümmeltwerden hatte ich entsetzliche Angst. Nur nicht stundenlang liegen und so schreien müssen!!! Mit verzweifelter Inbrunst betete ich um einen schnellen Tod... Es war mein letztes Gebet! Nach diesen furchtbaren Stunden hatte ich keine religiösen Illusionen mehr.
Ich musste eine Meldung zum Regiment bringen. Mit dem Pferd meines erschossenen Kameraden ritt ich los und geriet nun vollends in den feindlichen Geschoßhagel. Zwei bis drei Meter vor dem Gaul schlug eine Granate in den weichen Ackerboden, das Pferd bäumte sich, überschlug sich, ich geriet unter den Pferdeleib und blieb in dieser
Stellung - vom Sturz betäubt - bis zum Abend liegen. Vorübermarschierende Soldaten befreiten mich aus meiner Lage.
Mit ihnen ging ich zwei- bis dreihundert Meter nach vorn, dann wurde das Feuer so intensiv, dass ein Weitermarschieren Wahnsinn schien. Der Führer gab Befehl, in den unzähligen Granatlöchern Deckung zu suchen. Zu zweit fanden wir in einem Loch Unterschlupf; darin warteten wir durstig, hungrig und frierend - es war ein nasskalter Tag - auf ein Nachlassen des rasenden Feuers, aber es schwoll immer mehr an. Eine schwere Granate schlug in unserer Nähe ein, und die aufgeworfenen Erdmassen verschütteten uns. Erst während einer Feuerpause gelang es der anrückenden Verstärkung, uns auszugraben. Die deutschen Truppen konnten sich nicht mehr halten, sie mussten den Rückzug antreten. Wir wurden durch frische Truppen abgelöst und kamen in Ruhestellung in die Nähe von Verdun. Mich ekelte das Leben in der Etappe noch immer an, deshalb meldete ich mich wieder an die Front und wurde einer Maschinengewehrabteilung zugeteilt. Wider Willen geriet ich in die Hände von Militärärzten, denen ich stets aus dem Wege gegangen war, weil sie den gemeinen Soldaten so rücksichtslos behandelten. Infolge eingewachsener Nägel eiterten meine Zehen, ich musste in die Revierstube. Der Arzt veranlasste meine zwangsweise Überführung ins Lazarett zwecks Operation. Im Lazarett fragte ich den mich behandelnden Arzt, ob mir die Nägel wieder herausgerissen werden sollten; ich hatte schon vor dem Krieg eine derartige Operation durchgemacht. Die Antwort war: »Das geht Sie nichts an, das machen wir, wie wir wollen.« Nun stellten sich sieben Mann um mich herum, hielten mich fest, und der Chirurg riss mir - ohne mich zu narkotisieren - die Nägel samt den Wurzeln heraus. Ich zitterte und bekam Angstzustände.

 

Letzte Kriegsmonate in Lazaretten und als Techniker im Elsass

Vierzehn Tage darauf wurde ich einem Lazarett in Süddeutschland überwiesen. Der Jammer, den ich dort sah, ist kaum zu beschreiben. Mein Bettnachbar, dem durch einen Granatsplitter die Hoden weggerissen worden waren, wollte nicht mehr weiterleben. Er hatte schon viele Selbstmordversuche gemacht, die aber jedes Mal durch die Wärter vereitelt wurden. Der Unglückliche bewies eine zähe Beharrlichkeit. Von einem kleinen Feldpostkarton, in dem man ihm Liebesgaben geschickt hatte, löste er eine winzige Blechecke, die den Karton zusammenhielt. Mit diesem kleinen, kaum sichtbaren Stückchen Blech ritzte er sich unter der Bettdecke den ganzen Leib auf und nahm mit den Händen die Gedärme heraus, während der Wärter nichts ahnend an seinem Bette saß.
Nachdem meine Füße geheilt waren, kam ich in die Ulanenkaserne in Oschatz. Hier begegnete ich einem dicken Wachtmeister, der nie an der Front gewesen war und immer nur Rekruten gedrillt hatte. Er machte mir in herausforderndem Ton Vorhaltungen darüber, dass ich - mit meinen kaum genesenen Füßen - nicht schnell genug laufe. Ich geriet schließlich in Wut und verprügelte ihn. Das hatte den Erfolg, dass man mich auf Erholungsurlaub zu meiner Frau Klara schickte. Ich hatte sie einige Jahre vor dem Krieg kennen gelernt und 1915 geheiratet.
Nach dem Erholungsurlaub sollte ich wieder in die Kaserne zurück. Mir graute vor neuen Zusammenstößen mit den Vorgesetzten, und ich machte auf der Rückreise in die Kaserne einen fingierten Selbstmordversuch. Sanitäter brachten mich vom Leipziger Hauptbahnhof in ein Lazarett; dort ohrfeigte ich einen Hilfsarzt, der mich grob behandelte. Im Herbst 1918 wurde ich als dienstuntauglich und kriegsbeschädigt mit einer monatlichen Rente von 40 Mark aus dem Heeresdienst entlassen.
Ich suchte nun die Rückkehr in meinen Technikerberuf und fand Anstellung bei einer großen Eisenbetonbaufirma. Am Vorabend der Novemberumwälzung arbeitete ich in der Nähe von Mülhausen, dicht an der französischen Front, für eine Dresden-Leipziger Eisenbetonfirma. Die baute im Auftrage der Heeresleitung Betonunterstände für die Artillerie und Drahtverhaue in solchem Umfang, dass man glauben konnte, der Krieg werde noch vier bis fünf Jahre dauern. Es ging das Gerücht um - wenige Tage vor der Flucht des Kaisers -, dass große Kämpfe bevorständen und die
Franzosen an dieser Stelle einen Durchbruch unternehmen wollten.
Ich hatte als Bauführer die Aufsicht über etwa zweihundert Arbeiter, Zimmerer und Maurer.

 

Revolutionsmonate im Vogtland

Am 7. November erhielt ich von meinen Angehörigen die Nachricht, meine Frau sei schwer erkrankt. Ich nahm Urlaub und reiste aus dem Elsass ab. Die Fahrt vom 8. zum 9. November über Straßburg-Frankfurt-Kassel-Halle-Chemnitz-Vogtland zeigte mir ein Bild, das ich nie für möglich gehalten hätte. Die Züge waren von zurückflutenden Truppen überfüllt, und ich konnte nur dadurch mitkommen, dass ich in Frankfurt durch das Abortfenster eines Zuges kletterte und fast die ganze Reise mit zwei anderen zusammen in diesem Notkupee zurücklegte. Während der Fahrt spürte ich schon etwas von der ungeheuren Kraft der Masse, die auch ohne Offiziere zu marschieren und zu handeln weiß, allerdings mit anderen Zielen, als ihre bisherigen Lenker es wünschten. Aber alle diese Kräfte, von denen ich in den verflossenen drei Jahrzehnten meines Lebens nichts gewusst hatte und die jetzt alles zu zermalmen drohten, was sich ihnen in den Weg stellte, konnte ich in diesen Tagen nur gefühlsmäßig erfassen. Ein klares Durchdenken meiner Eindrücke war mir nicht möglich, ich spürte nur, dass es für mich jetzt nicht darum ging, nach Hause, zu einer kranken Frau zu fahren, sondern dass etwas anderes wichtiger war. In diesen Stunden wurden die Worte wieder lebendig, die Georg Schumann - der 1917 während des Feldzuges gegen Russland als erster Sozialist meinen Weg kreuzte - zur mir und den anderen Kameraden, die ihn bewachten, gesprochen hatte.
In Frankfurt, Kassel und Halle, wo unser Zug lange hielt, erfuhr ich, dass die deutschen Arbeiter und Soldaten, dem Beispiel der Russen folgend, Arbeiter- und Soldatenräte bildeten. Was ich damals hörte und erlebte, wurde im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Offenbarung für mich.
Am 9. November kam ich zu Hause in Falkenstein an. Meine erste Frage galt dem Arbeiter- und Soldatenrat. Von einem solchen war dort nichts bekannt. Ich rief für denselben Abend durch ein paar selbstgeschriebene Handzettel die in der Stadt befindlichen Urlauber und Arbeiter zusammen; es fanden sich auch ungefähr dreißig Mann ein, darunter der Führer der Falkensteiner USPD, Storl. Als ich ihm auf seine Frage mitteilte, ich wolle durch diese Einberufung erreichen, dass auch in Falkenstein ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet werde, kam es bereits zum Konflikt. Storl erklärte, und zwar ganz kategorisch, wenn es schon notwendig sei, dann wäre er derjenige, der diese Sache zu machen habe.
Trotzdem wurde am selben Abend noch der Arbeiter- und Soldatenrat in Falkenstein konstituiert. Man wählte Storl und mich als Vorsitzende. Wir forderten ein Zimmer im Rathaus, in dem die Amtsgeschäfte des Arbeiter- und Soldatenrats erledigt werden sollten. Der Bürgermeister erklärte, er werde den Arbeiter- und Soldatenrat und seine Maßnahmen anerkennen, wenn Storl dafür sorge, dass ich aus dem Rat hinausfliege.
Am nächsten Tag fuhr ich, um Waffen zu holen, mit einigen anderen Mitgliedern des Arbeiter- und Soldatenrats nach Leipzig zum Generalkommando, das bereits fest in den Händen der USPD-Führer Fleißner, Lipinski usw. war. Nach vieler Mühe gelang es uns, ein paar Gewehre zu erhalten. Als ich nach zweitägiger Abwesenheit nach Falkenstein zurückkehrte und die Waffen dem Arbeiter- und Soldatenrat übergab, hatte Storl den Wunsch des Bürgermeisters bereits erfüllt und meine Entfernung aus dem Arbeiter- und Soldatenrat durchgesetzt.
Ich versuchte auf andere Weise für die revolutionäre Sache zu wirken. Die »Leipziger Volkszeitung« richtete in Plauen im Vogtland eine Druckerei ein und gründete ein USP-Organ für das ganze Vogtland, die »Vogtländische Volkszeitung«. Dort meldete ich mich und wurde zunächst damit beschäftigt, Abonnenten zu werben. Durch dieses Werben von Haus zu Haus - treppauf, treppab für eine Bewegung, die ich selbst verstandesmäßig noch nicht voll erfasst hatte, lernte ich viel.
Als dann die Vorbereitungen für die Wahlen zur Nationalversammlung einsetzten, wurde ich von den Plauener USPD-Leuten - ich war Mitglied der USPD geworden - in die umliegenden Ortschaften geschickt, um dort mit anderen Genossen zusammen Versammlungen einzuberufen und Ortsgruppen zu gründen. Auf diese Weise sind unter meiner Mitwirkung die Ortsgruppen in Reichenbach, Netschkau und Mühlau entstanden. Und in Reichenbach im Vogtlande habe ich in den Januartagen 1919 als Flugzettelverteiler der USPD meine ersten kräftigen Prügel von SPD-Fanatikern bezogen.
Um diese Zeit bat ich Georg Schumann brieflich, in einer Versammlung in Falkenstein zu sprechen. Ich wünschte nicht nur seine Einwirkung auf die Massen im Vogtland, sondern ich erhoffte vor allen Dingen auch für mich persönlich die Klärung vieler Fragen, mit denen ich allein nicht fertig werden konnte.
Schumann schrieb, er würde meinen Wunsch gern erfüllen, aber er könne nicht mehr in einer USPD-Versammlung sprechen, da er seit kurzer Zeit der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) angehöre. Wenn ich für die KPD eine Versammlung einberufen wolle, käme er. Diese Versammlung wurde nach Überwindung mancher Schwierigkeiten einberufen. Die Falkensteiner Arbeiter hatten die innere Zwiespältigkeit und Unzulänglichkeit der USPD erkannt, die Worte Schumanns fanden einen starken Widerhall; das agitatorische Wirken des Genossen Steinert, der um diese Zeit im Vogtland arbeitete, trug dazu bei, dass in wenigen Monaten das ganze Vogtland eine Hochburg des Kommunismus wurde. Gemeinsam mit den Genossen Paul Popp und Eugen
Steinert gründete ich im Frühjahr 1919 die Ortsgruppe Falkenstein der KPD. Dadurch hatte ich mich politisch in einer Weise exponiert, dass ich in große Konflikte mit meinen Angehörigen und bisherigen Freunden geriet.
Etwas später versuchten die vier- bis fünftausend Arbeitslosen in Falkenstein, sich zu organisieren, um gegenüber dem reaktionären Bürgermeister ein paar lebenswichtige Forderungen durchzudrücken.
Die wirtschaftliche Lage in Falkenstein war besonders kompliziert. Falkenstein, mit seinen etwa 17000 Einwohnern, bot in den Vorkriegsjahren ein reges, lebendiges Bild. Die vogtländische Stickerei-, Spitzen- und Gardinenindustrie war weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt, und der Export dieser Waren bewirkte zu gewissen Zeiten eine Hochkonjunktur in unserem Industriegebiet. Der Ort vergrößerte sich zusehends, ganze Häuserviertel, neue Straßenreihen entstanden im Laufe der Vorkriegsjahre, Hunderte von Stickmaschinenräumen wuchsen innerhalb weniger Monate wie Pilze aus der Erde.
Der Ausbruch des Weltkrieges setzte dieser aufblühenden Entwicklung ein jähes Ende. Die nicht einberufenen Sticker und Weber sowie die Frauen und Mädchen waren gezwungen zu feiern, da der Import der Rohstoffe und der Export der Fertigfabrikate vollständig lahm gelegt war. Tausende von hoffnungsvollen Existenzen waren ruiniert. Das aber, was der Krieg mit seinen Nebenwirkungen in Falkenstein nicht ganz zerstört hatte, vernichtete nun die Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit des Bürgermeisters Queck.
Wenn die darbenden und hungernden Kriegerfrauen dem Bürgermeister Vorhaltungen machten, dass zum Beispiel in dem nur eine halbe Stunde entfernt liegenden Städtchen Auerbach die wirtschaftlichen Zustände bedeutend besser waren als in Falkenstein, dann griff Queck zum Stock und drohte, die ausgemergelten Frauen zu schlagen und die Treppe hinabzuwerfen.
In der Nähe meiner Wohnung befand sich die so genannte Städtische Volksküche, in der sich Hunderte von Frauen, Kindern und Arbeitslosen das armselige Essen holten. Täglich sah ich vor meinen Fenstern dasselbe Schauspiel. Ich war der armen Bevölkerung durch meine kurze Tätigkeit im Arbeiter- und Soldatenrat bekannt. Man forderte mich auf, in einer Arbeitslosen-Versammlung zu sprechen. Dort erfolgte meine Wahl in den Arbeitslosenrat. Und nun wurde ich - mehr gefühlsmäßig als aus Überlegung - zu Handlungen getrieben, die mich ganz unvermittelt aus der normalen bürgerlichen Bahn herausschleuderten.
Diese Arbeitslosenversammlung war die erste größere Kundgebung, in der ich als Redner auftrat. Zugleich war sie der Auftakt zu meiner in diesen Tagen einsetzenden jahrelangen Illegalität und zu inneren und äußeren Kämpfen, die mich mit der revolutionären Massenbewegung zusammenschmiedeten.
Nach Schluss der Versammlung bewegte sich ein langer Demonstrationszug nach dem Rathaus und riss sowohl den Bürgermeister als auch den Stadtrat aus ihrer behaglichen Ruhe.
Als ich dem Bürgermeister angesichts der fünftausend Arbeitslosen nachwies, dass infolge seiner unhaltbaren Kommunalwirtschaft die Sterblichkeit in Falkenstein prozentual bedeutend höher sei als in anderen Orten der Amtshauptmannschaft, erklärte er: »Ich wusste nicht, dass die Not so groß ist.«
Es war notwendig, ihm zu zeigen, dass Dutzenden von Kindern und halbverhungerten Frauen Zehen und Füße erfroren waren. Sie hatten sich halbe, ja ganze Tage lang in härtester Kälte in Schlangen anstellen müssen, nur um einen halben Zentner Kohlenstaub oder ein paar Pfund Kartoffeln zu erlangen. In den Nachbarorten waren, dank einer besseren kommunalen Versorgung, diese Dinge viel leichter zu bekommen.
Die seit langem herrschende Erbitterung gegen den Bürgermeister machte sich besonders an diesem Tage in drastischen Ausfällen Luft. Er hatte am Vormittag eigenhändig vom Rathaus ein Plakat abgerissen, durch das die Arbeitslosen zu einer Versammlung aufforderten. Jetzt waren es die Frauen, die einstimmig die Forderung stellten, der Bürgermeister müsse Abbitte leisten oder an der Spitze des Demonstrationszuges mit den fünftausend Arbeitslosen einen Spaziergang durch die Stadt machen. Er weigerte sich, Abbitte zu leisten, also musste er den Spaziergang durch die Straßen der Stadt mitmachen. Rechts und links hielten ihn zwei Frauen fest, damit er nicht fortlaufen konnte.
So wurde er zwei Stunden lang in seiner eigenen Stadt an den Pranger gestellt.
Nach diesem Spaziergang setzte er sich telephonisch mit der Regierung in Dresden in Verbindung, um die behördlichen Organe zu bewegen, sofort Militär nach Falkenstein zu schicken, da angeblich alles in hellem Aufruhr sei und die vom Arbeitslosenrat aufgeputschten Massen bereits plünderten. Es herrschte damals Belagerungszustand, Demonstrationen waren verboten. Die Staatsanwaltschaft Plauen erließ gegen mich einen Steckbrief wegen Landfriedensbruch und setzte einen Preis von 2000 Mark auf meine Ergreifung aus.

 

Die Treibjagd gegen mich beginnt

Wie sehr schon um diese Zeit eine gewisse Presse bemüht war, unter allen Umständen und mit allen Mitteln eine Pogromstimmung gegen die Kommunisten zu schaffen, beweist das »Nürnberger Tageblatt«, das aus Anlass dieser Vorgänge folgendes schrieb:
»Die Falkensteiner Spartakisten schleppten ihren Bürgermeister fünf Stunden in der Stadt herum, schleppten ihn auf den Schlossfelsen und stürzten ihn dann in die Tiefe.«
In Wirklichkeit war nichts anderes geschehen, als dass der Arbeitslosenrat durch seine Verhandlungen mit dem Stadtrat eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung durchgesetzt und dass die
Falkensteiner Forstverwaltung sich bereit erklärt hatte, Brennholz schlagen zu lassen und zu billigen Preisen an die Arbeitslosen abzugeben.
Der Bürgermeister erreichte, dass noch in der Nacht Militär nach Falkenstein kam und fast alle Mitglieder des Arbeitslosenrats aus den Betten heraus verhaftete; mich, den Vorsitzenden des Arbeitslosenrates, erwischten sie nicht, weil ihr Spitzel einen großen Bock gemacht hatte. Der Bürgermeister und der militärische Führer hatten mitten in der Nacht einen ihnen geeignet erscheinenden Mann beauftragt, festzustellen, in welchem Zimmer ich schliefe. Der Mann machte seine Sache aber so täppisch, dass ich wach wurde und Verdacht schöpfte.
Ich verließ schnell die Wohnung, ging außerhalb der Stadt auf eine Anhöhe und sah beim anbrechenden Morgen zu meinen Füßen ein buntbewegtes Bild. Militärpatrouillen durchzogen die Straßen, und Kommandorufe erschallten. Die Anhänger des Bürgermeisters beherrschten die Situation.
Zwei Freunde - Arbeitslose - machten mir gegen acht Uhr früh die Mitteilung, dass der ganze Arbeitslosenrat verhaftet worden sei. Die Soldaten hätten geschworen, den Ort nicht eher zu verlassen, als bis sie auch mich fingen.
Die verhafteten elf Mann des Arbeitslosenrates waren in Militärautos nach Plauen ins Gefängnis transportiert worden, damit sie in Falkenstein nicht von der Masse aus dem Gefängnis befreit werden konnten.
Diese Nachrichten veranlassten mich, meine sichere Position sofort aufzugeben; ich ging mit den beiden Freunden in die Stadt hinunter. Sofort sammelten sich um mich etwa zwanzig Arbeitslose, die empört den niederträchtigen Überfall besprachen. Ohne Aufenthalt ging ich mit ihnen vor das Rathaus, wo sich beim Bürgermeister der Führer der Truppe aufhielt und auch der größere Teil der Soldaten einquartiert lag. Am Eingang waren Maschinengewehre aufgestellt. Die Soldaten, die mich kommen sahen und denen sofort von den Spitzeln mitgeteilt wurde, dass ich Hoelz sei, glaubten, ich wolle mich selbst stellen.
Ich verlangte den Offizier zu sprechen. Als er kam, fragte ich ihn barsch, warum er den Arbeitslosenrat verhaftet habe und was dieser ganze Aufmarsch eigentlich bezwecken solle. Er antwortete etwas verlegen und betreten, ihm wäre in Zwickau mitgeteilt worden, dass die Arbeitslosen in Falkenstein plündern und schießen und sämtliche Schaufenster demolieren. Er musste auf meine Frage zugeben, dass daran kein wahres Wort sei. Daraufhin forderte ich ihn ganz energisch auf, mit seiner Truppe sofort wieder abzuziehen. Der Offizier stotterte, das ginge nicht, er sehe zwar ein, dass er überflüssig sei, aber er dürfe ohne Befehl seiner vorgesetzten Stelle nicht abrücken. Ich wandte mich an die inzwischen in Massen vor das Rathaus geströmten Arbeitslosen und fragte: »Wollt ihr, dass die Soldaten noch eine Stunde länger in der Stadt bleiben?« Die einstimmige Antwort war: »Nein, sofort 'raus mit ihnen!« Nun merkte der Offizier, dass die Situation für ihn etwas ungünstig stand, er verlangte für seinen Abzug eine Frist von zwei Stunden. Aber auch die wurde ihm nicht gewährt; die Menge stürmte die Stufen zum Rathaus empor, drängte das Militär zurück, nahm die Gewehre und Maschinengewehre und warf sie - so harmlos waren bei aller Erbitterung diese Menschen - auf die Lastautos der Soldaten. Unter dem Druck der Arbeitslosen kletterten die Soldaten auf die Lastautos. Man sah ihnen an, wie froh und erleichtert sie den Ort verließen.
Nach dem Abzug der Soldaten setzten die Arbeitslosen den Bürgermeister gefangen. Er musste an die Regierung in Dresden telefonieren und unter unserer Aufsicht einen Situationsbericht über die Vorgänge geben. Wir zwangen ihn zu sagen, dass auf Grund des nächtlichen Überfalles auf den Arbeitslosenrat er und mehrere einflussreiche Bürger der Stadt im Rathaus so lange festgehalten werden sollten, bis die verhafteten Mitglieder des Arbeitslosenrates ihre Freiheit erhielten. Nach langem Hin und Her gab die Regierung an die Plauener Staatsanwaltschaft Anweisung, die Verhafteten schnellstens freizulassen.
Unter ungeheurem Jubel der Menge, die von früh acht Uhr bis nachmittags sechs Uhr in strömendem Regen gewartet hatte, zogen die Freigelassenen in Falkenstein ein. Nun herrschte für einige Wochen Ruhe in der Stadt. Der Arbeitslosenrat arbeitete Hand in Hand mit den behördlichen Organen, um die Verteilung von Lebensmitteln und Brennmaterial durchzuführen.
Im Zusammenhang damit machte es sich der Arbeitslosenrat zur Aufgabe, den im Ort üppig wuchernden Schleichhandel zu unterbinden. Zwei Mitglieder des Arbeitslosenrates gingen mit zwei Schutzleuten in die Häuser der Fabrikanten, von denen bekannt war, dass sie große Mengen im Schleichhandel erworbener Lebensmittel aufgespeichert hatten. Die Vorräte wurden beschlagnahmt. Es kam vor, dass an einem einzigen Tage im Rathaus ganze Berge von fettem Schinken usw. aufgestapelt wurden. Am nächsten Tag veröffentlichte dann der Arbeitslosenrat im Stadtblatt eine Bekanntmachung, die von der Behörde gegengezeichnet war, dass sich die Kriegerwitwen, die Kranken und Wöchnerinnen im Rathaus einfinden sollten, um dort pro Person ein halbes oder ein ganzes Pfund dieser oder jener Delikatesse in Empfang zu nehmen. Die Verteilung wurde in Zusammenarbeit mit der Behörde durchgeführt.
Unter den vielen Hunderten von abgearbeiteten Frauen kam eines Tages eine alte, vergrämte Mutter, deren sechsundzwanzigjähriger Sohn, für den sie etwas erbat, seit einem Jahr an »Hungertyphus« (Skorbut) daniederlag; sie wurde aufgefordert, am nächsten Tag bei der Verteilung dazusein. Zur festgesetzten Stunde erschien sie im Rathaus und sagte unter tiefer Bewegung, dass es zu spät sei, ihrem Sohn zu helfen, er sei am Vormittag gestorben.
In einer Sitzung des Arbeitslosenrates erschien ein Blinder, der seinen kümmerlichen Unterhalt mit Korbflechten verdiente, und bat um ein Darlehn von tausend Mark, um sich Weiden für seine Arbeit kaufen zu können. Ich sandte sofort ein Mitglied des Vollzugsrats zu einem steinreichen Großhändler, dem die Unmassen seines Geldes große Sorgen bereiteten, ließ ihn holen und forderte ihn auf, dem Blinden das Gewünschte zu geben; der arme Reiche erklärte sich dazu bereit.
Bei einer großen Versammlung in Treuen kam ein alter Tagelöhner auf die Bühne und brachte stotternd und ungeschickt ein Anliegen vor. Er arbeitete seit vierzig Jahren bei dem Rittergutsbesitzer in Pfaffengrün. Auch sein Sohn war dort beschäftigt. Sie erhielten einen Stundenlohn von fünfzig Pfennigen. Das waren fünfundzwanzig Friedenspfennige. Der alte Mann hatte seinen Arbeitgeber gebeten, ihm eine Zulage zu gewähren, da er mit dem Gelde weder leben noch sterben könne. Da hätte der Rittergutsbesitzer geantwortet: »Geht zu Hoelz und lasst euch von ihm etwas geben.«
Ich schrieb dem Rittergutsbesitzer noch am selben Abend, er habe unverzüglich zehntausend Mark an den Boten auszuhändigen, damit wir seinen Tagelöhnern eine Lohnzulage gewähren können; sollte er unseren Wunsch nicht erfüllen, so würden wir ihm die Pferde aus dem Stall ziehen, sie verkaufen und den Erlös seinen Arbeitern geben. Das Geld wurde pünktlich abgeliefert.
Zu einer Zeit, als in Falkenstein schon seit mehreren Monaten keine Kartoffeln mehr zu bekommen waren, kam ein Kraftfahrer zu mir und berichtete, dass in Grünbach - von Falkenstein eine halbe
Stunde entfernt - durch die Gemeinde große Mengen Kartoffeln verkauft würden. Ich hielt die Nachricht nicht für wahr und fuhr selbst nach Grünbach zum Gemeindevorstand. Er verkaufte mir zwei Waggons Kartoffeln und sagte, eine Stunde früher hätte er mir noch fünfundzwanzigtausend Zentner geben können, die er nun anderweitig verkauft habe; er verfüge über gute Beziehungen und habe dem Bürgermeister von Falkenstein schon des Öfteren große Mengen von Lebensmitteln angeboten: Erbsen, Haferflocken, Speck, Kartoffeln usw. Doch der habe diese Angebote regelmäßig abgelehnt.
Der Gemeindevorstand bestellte auf meine Anweisung telegraphisch für eine Million Mark Lebensmittel für Falkenstein und andere Orte des Vogtlandes.
Um die Bezahlung sicherzustellen, forderte ich die Kapitalisten der einzelnen Orte auf, den finanziell schwachen Gemeinden Kredite zu gewähren. Die Gemeinden sollten die Lebensmittel in eigener Regie zu niedrigen Preisen an die Bevölkerung abgeben. Durch den Einmarsch der Regierungstruppen wurde diese Absicht vereitelt. Die Zusammenarbeit mit den behördlichen Organen gefiel weder dem Bürgermeister noch den beiden Führern der USPD, Storl und Pöhlmann; denn die praktischen Erfolge, die der hauptsächlich aus Kommunisten bestehende Arbeitslosenrat für die Arbeiter und Arbeitslosen erzielte, verschafften der kommunistischen Idee in der Stadt und Umgebung viele Anhänger.
Den Bemühungen der Storl-Pöhlmann und des Bürgermeisters gelang es, bei der sozialdemokratischen Regierung in Dresden durchzusetzen, dass erneut Militär nach Falkenstein beordert wurde. Diesmal sollte der Arbeitslosenrat unter allen Umständen aufgelöst und verhaftet und vor allem ich in sicheren Gewahrsam gebracht werden. Der Bürgermeister erklärte wiederholt, die Leute ertrügen ihre Not viel geduldiger, wenn ich sie nicht immer wieder aufputschte.
Am Dienstag, dem 3. Juni, nachts zwei Uhr, rückte ein Regiment Jäger unter Führung eines Oberst Berger in Falkenstein ein und nahm sofort bei etwa hundert Genossen und Arbeitern Haussuchungen vor.
Das Haus, in dem ich wohnte, wurde von hundert Mann mit Gewehren und Handgranaten unter dem Vorwand gestürmt, es sei vom Dach aus auf die Soldaten geschossen worden. Dabei befand sich weder in diesem Hause eine Waffe, noch hatten die Arbeitslosen und Arbeiter überhaupt Waffen. Noskes Jäger eröffneten ein drei- bis vierstündiges Gewehrfeuer nach dem Schornstein des Hauses und warfen Handgranaten in den Garten. Der Offizier schrie: »Der Kerl muss vernichtet werden, und wenn die ganze Bude in die Luft geht!« Ich war nicht im Haus, da mein ausgezeichnet arbeitender »Nachrichtendienst« mich rechtzeitig gewarnt hatte. Von der Höhe des Mühlberges aus beobachtete ich das rührige Treiben der Regierungstruppen.
Obwohl das Militär mehrere Wochen in Falkenstein blieb und kein Haus und keinen Schrank undurchsucht ließ, wurde ich nicht entdeckt. Zuletzt kam man auf die verzweifeltsten Einfälle: So wurde eines Tages auf der Ellefelder Straße eine Hochzeitskutsche mit allen Insassen verhaftet; eine Patrouille von fünfzehn Mann stürzte sich auf die Braut und den Kutscher und behauptete, die Braut sei ich und der Kutscher mein »Adjutant« Gruner. Dieser und ähnliche Missgriffe hatten das Militär schon so lächerlich gemacht, dass die Gassenbuben den vorübergehenden Soldaten zuriefen: »Sucht ihr den Hoelz, ich hab ihn hier in der Tasche.«
Es wäre mir unerträglich gewesen, in diesen Wochen untätig zu Hause zu sitzen, nur um mich vor meinen Verfolgern zu verbergen. Ich wollte für die Bewegung arbeiten. Deshalb sprach ich unter anderm Namen in den umliegenden Ortschaften in öffentlichen und Mitgliederversammlungen. Mein Auftauchen bedeutete jedes Mal eine Blamage für das Militär, das mich stets »beinahe erwischte«. Eines Tages im Juni sollte ich zu einer Parteikonferenz nach Chemnitz. Mein Quartier befand sich in Auerbach bei Falkenstein. Ich musste, um nach Chemnitz zu kommen, unbedingt den Zug benutzen. Der Zug, der von Falkenstein kam, war voll Militär. Es war die abgelöste Truppe, die nach Zwickau fuhr.
Ich geriet in eine schwierige, fast hoffnungslose Situation und glaubte nicht, dass ich diesmal wieder entkommen könne.
In Zwickau, wo das Militär den Zug verließ, musste ich umsteigen. Ich stand auf dem Bahnsteig inmitten der Soldaten. Zivilpersonen, die mit ausstiegen und mich persönlich kannten, glaubten bestimmt, ich sei verhaftet worden. Nur die Soldaten wussten nicht, dass der Hoelz, den sie seit Wochen suchten, sich mitten unter ihnen befand. Die Gefahr ging vorüber, ich schwenkte an einer geeigneten Stelle nach links ab, und das Militär trottete ruhig dem Ausgang zu.
Am 21. Juni, mittags zwölf Uhr, rückten die letzten Jäger aus Falkenstein ab. Um ein Uhr stand ich bereits wieder auf den Stufen des Rathauses und sprach zu Tausenden von Arbeitern und Arbeitslosen. Aber das abgezogene Militär hatte Vorsorge getroffen. Die Bürgerwehr trat, mit Gewehren und Handgranaten bewaffnet, auf den Plan und versuchte die Versammlung zu sprengen und mich zu verhaften. Sie gab sogar eine Salve ab und schwärmte in Schützenlinien aus. Der Erfolg war, dass die empörten Arbeiter sich auf die tapfere Bürgerwehr stürzten, ein paar tüchtig verprügelten und ihnen die Waffen abnahmen. Die anderen rissen aus.
Nach einigen Tagen erschienen ein Vertreter des Ministeriums und ein General Pilling in Falkenstein. Sie verhandelten mit dem Bürgermeister und später mit mir. Sie verlangten, dass der Arbeitslosenrat sofort aufgelöst werde, und stellten verschiedene andere Forderungen, auf die ich nicht eingehen konnte. Die beiden versuchten mich dadurch einzuschüchtern, dass sie erklärten, die Regierung sei entschlossen, zehn Regimenter nach Falkenstein zu werfen, wenn der Arbeitslosenrat nicht aufgelöst werde. Während ich noch mit ihnen verhandelte, waren wiederum Truppen in Falkenstein einmarschiert, umstellten das ganze Rathaus sowie den Platz vor dem Rathaus, auf dem sich etwa sechstausend Menschen angesammelt hatten, verkündeten das Standrecht und ließen bekannt machen, dass keinem Menschen ein Haar gekrümmt werden solle. Die Truppen würden sofort wieder abziehen, nur solle sich die Bevölkerung der Verhaftung des Hoelz nicht widersetzen. Darauf kam ein Kommando mit einem Offizier und einem Maschinengewehr, besetzte die Stufen des Rathauses, auf denen ich, der Regierungsvertreter und der General standen, und erklärten mich für verhaftet.
In diesem Augenblick entstand eine ungeheure Erregung und Empörung unter den Massen, die Menschenmauern drängten mit ungestümer Gewalt nach dem Rathaus, die Soldaten wurden eingekeilt; bei einer Schießerei hätte Militär auf Militär schießen müssen. Der Befehlshaber erkannte die Situation und gab Order, die Truppen nach dem Amtsgerichtsgebäude zurückzuziehen. Der General und der Regierungsvertreter suchten ebenfalls dort Schutz.
Nunmehr schickten wir eine Abordnung von sechs Mann in das Gerichtsgebäude mit der Forderung, das Militär sofort aus der Stadt zu entfernen. Der General verhaftete die ganze Abordnung. Auf diese Nachricht hin wälzte sich der riesige Menschenstrom gegen das Gerichtsgebäude und verlangte stürmisch die Freilassung der Verhafteten und den Abzug der Truppen.
Die Verhafteten wurden zwar freigelassen, aber die Soldaten schwärmten plötzlich aus und suchten sich meiner zu bemächtigen. Das gelang ihnen beinahe; sie waren mir schon dicht auf den Fersen; da stellten sich ein paar Arbeiter den hinter mir her rasenden Soldaten in den Weg, so dass sie der Länge nach hinfielen. Andere Arbeiter packten mich an den Armen und rannten mit mir aus der Stadt fort auf eine Anhöhe.

 

Illegal als Agitator nach Nordbayern und Mitteldeutschland

Während der folgenden Tage und Wochen war es mir unmöglich, nach Falkenstein zurückzukehren. Das Militär hatte Verstärkung bekommen, der Ort und die Umgebung glichen einem Heerlager.
Eines Tages stürzten in mein Auerbacher Quartier aufgeregt zwei Genossen. Sie riefen mir zu, ich müsse sofort verschwinden, heute Abend werde Auerbach besetzt, die Spitzel hätten herausgefunden, wo ich mich verborgen halte. Vor allem aber müsse ich mir die langen Haare abschneiden lassen, da sie jetzt nur nach einem mit langen Haaren suchten.
Ich hatte keine Lust, mir das Haar abschneiden zu lassen, aber dass ich nicht bleiben konnte, sah ich ein. In derselben Nacht marschierte ich zu Fuß mit zwei Genossen von Auerbach bis an die tschechische Grenze, wo ich frühmorgens ankam. Die Genossen kehrten zurück, und ich wanderte in unbestimmter Richtung weiter. Gegen Mittag wurde es so drückend heiß, dass ich beschloss, mir meinen Kopfpelz doch abnehmen zu lassen. In einem Dorfe machte ich Rast und fragte nach dem Barbier. Man wies mich in ein Bauernhaus. Dort sagte mir eine alte Frau, ihr Mann sei Barbier, aber er arbeitete jetzt auf dem Felde und im Steinbruch. Ich wartete im Hof, bis der Barbier mit seinem Wagen und den beiden Kühen heimkehrte. Er holte umständlich einen Stuhl aus dem Haus und setzte ihn mitten auf den Hof. Während er mir gemächlich die Haare abschnitt, erzählte er, dass jetzt ganz tolle Zeiten wären, nach dem Krieg sei alles außer Rand und Band geraten. In Falkenstein im Vogtland herrschten die Kommunisten, ganze Regimenter würden ausgeschickt, um den Kerl, den Hoelz zu fangen; dieser Halunke müsse bestimmt eine Verbindung mit dem Teufel haben, denn es sei fast ein Wunder, dass er immer wieder entwische.
Um mich herum lagen die schönen langen Haare. Ich beschloss, sie dem Oberst Berger, dem Führer der Truppen in Falkenstein, zu schicken. Zu dem Zweck ließ ich mir von dem Barbier einen Briefumschlag geben, steckte die Haare hinein, drückte dem braven Mann die Hand und sagte, er solle nie vergessen, dass er heute dem Hoelz die Haare geschnitten habe. Vor Schreck fiel ihm die Schere aus der Hand. Ich schrieb einen Zettel an den Oberst Berger: »Hier sind die langen Haare, suchen Sie sich den Kerl dazu!« und sandte das ganze ab.
Am nächsten Tag kam ich auf meiner Fußwanderung gegen Mittag in Hof in Bayern an. Von Arbeitern hörte ich, dass nachmittags eine Versammlung stattfinden sollte, in der USPD-Vertreter und Abgesandte von Ruhrzechen sprechen würden, um die Arbeitslosen von Hof unter falschen Vorspiegelungen zu überreden, im Ruhrgebiet Arbeit anzunehmen. Ich nahm an dieser Versammlung teil. Das, was ich zu hören bekam, veranlasste mich, das Wort zu ergreifen und die Arbeitslosen aufzufordern, sich erst einmal zu organisieren. Auch dürften sie sich nicht als Lohndrücker gegen die Bergkumpels im Ruhrgebiet verwenden lassen, sondern nur zu dem Lohn arbeiten, den die organisierten Bergarbeiter bekämen. Außerdem sollten sie sich menschenwürdige Wohnräume ausbedingen.
Obwohl der USPD-Mann Blumentritt im Verein mit den Vertretern des Zechenkapitals sich bemühte, mich mundtot zu machen, war es mir möglich, in dieser Versammlung einen Arbeitslosenrat wählen zu lassen, der noch am selben Tage seine Funktion aufnahm. Am nächsten Tag zeigte sich ein weiterer Erfolg; als ich wiederum in einer grö­ßeren Versammlung auf einem freien Platz zu den Arbeitern sprach, wurden plötzlich unter den Massen durch die USPD Tausende von Flugblättern mit folgendem Wortlaut verbreitet:
»Ein entlarvter Arbeiterverräter! Am gestrigen Samstag sprach nach der Massenversammlung auch ein gewisser Hoelz aus Falkenstein, der sich Müller aus Eisenberg nannte, Hoelz ist ein Arbeiterverräter und Schurke schlimmster Art. Hoelz ist ein von den Kapitalisten bezahlter Schurke, der von Ort zu Ort fährt, um die Arbeiter zu Putschen aufzureizen und dann zu verschwinden, wenn er sein Ziel erreicht hat. Hoelz ist kein Flüchtling sondern kommt und verschwindet ebenso schnell mit einem Automobil. Hoelz ist gestern Abend auch aus Hof in einem schwarzlackierten Auto verduftet. Woher hat Hoelz plötzlich das Automobil?? Hoelz, der angebliche )Flüchtling<? Hört es! der Schurke hat sich dem Direktor Schnell in Falkenstein verpflichtet, die Versammlungen zu sprengen, in denen die Arbeiter über höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen beraten. Hoelz hat das auch durchgeführt! Dazu hat ihm der Direktor Schnell sein eigenes Auto zur Verfügung gestellt! Männer, Frauen und Mädchen, das ist der Mensch, der Euch zu Putschen aufreizen will, dann verduftet und den Noskegarden den Weg ebnet. So wollen es die Kapitalisten, von denen er bezahlt wird, denen die USPD die gefährliche Gegnerin ist, darum muss Hoelz unsere Versammlungen missbrauchen. Pfui Teufel über so einen Schurken. Die Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung ist in Arbeit. Sie wird sofort vom neuen Stadtrat beschlossen. Jetzt geht es um die Entscheidung um die sozialistische Mehrheit! Wer nicht wählt, übt Verrat an seiner Familie! Vorwärts! Wählt die Liste Blumentritt!«
Das Resultat dieser Infamie war, dass ich eine Stunde später, als die Versammlung bereits beendet war, in einem Gasthaus, wo ich zu Mittag aß, von der Polizei verhaftet wurde. Arbeiter, die sich in der Wirtschaft befanden und denen ich mich vorher zu erkennen gegeben hatte, rissen mich aus den Händen der Schutzleute und brachten mich auf Wiesenpfaden nach Oberkotzau bei Hof.
Von dort holten mich der Genosse Paul Popp aus Falkenstein und ein Auerbacher Genosse ab, um mich nach Auerbach zurückzubringen, da, wie sie mir erklärten, das Militär in den nächsten Tagen Falkenstein wieder verlasse.
Während meiner Abwesenheit hatten die SPD-und USPD-Führer in Falkenstein dieselbe Hetze gegen mich entfaltet wie ihre Freunde in Hof: ich sei ein bezahlter Agent der Bourgeoisie usw. usw. Sie erzielten damit aber ein ganz anderes Resultat, als sie erwarteten; bei den Arbeiterratswahlen, die kurz nach dem Abzug des Militärs stattfanden, erhielten die Demokraten 167, die Mehrheitssozialisten 209, die Unabhängigen 264 und die Kommunisten 1303 Stimmen.
Seit dem ersten Tag meines politischen Auftretens - der denkwürdigen Arbeitslosenversammlung am 24. April 1919 - wurde ich steckbrieflich wegen Landfriedensbruchs verfolgt, weil ich als Rädelsführer und Vorsitzender des Arbeitslosenrates eine Demonstration geführt hatte, die, da Belagerungszustand herrschte, verboten war. Die für meine Ergreifung ausgesetzte Belohnung wurde fortwährend erhöht; man hatte mit zweitausend Mark begonnen, beim Ausbruch des Kapp-Putsches betrug sie bereits dreißigtausend Mark.
Von Freunden erhielt ich Ausweispapiere auf die Namen Fritz Sturm und Fritz Werner. Als Genosse Sturm oder Werner sprach ich im Auftrage der Partei in Halle, Ammendorf, Helbra, Osendorf, Merseburg, Leunawerk, Hettstedt, Mansfeld, Oberröblingen und vielen anderen Orten Mitteldeutschlands.
Im Leunawerk war ich acht Tage als Agitator und Versammlungsredner tätig. Als die USPD- und die SPD-Mitglieder des Betriebsrates herausbekommen hatten, dass ich der steckbrieflich verfolgte Landfriedensbrecher Hoelz sei, denunzierten sie mich der Polizei. Aus den Zeugenaussagen, die mir von dem Untersuchungsrichter in meinen späteren Prozessen vorgelegt wurden, ergab sich einwandfrei, dass die SPD- und USPD-Mitglieder des Leunawerk-Betriebsrates der Polizei mitgeteilt hatten, der Wanderredner Fritz Sturm, der im Leunawerk agitiere, sei der gesuchte Hoelz.
An dem Tag, an dem diese Denunzianten der Polizei ihre Mitteilung gemacht hatten, sollte wieder eine Versammlung im Leunawerk stattfinden. Meine Freunde warnten mich, an diesem Abend das Leunawerk zu betreten. Ich hatte aber schon mehrere Tage im Leunawerk geschlafen, kannte die politische Stimmung der Belegschaft und auch die Gebäude sehr gut und glaubte nicht, dass es möglich wäre, mich dort zu verhaften.
Als ich im Begriff war, den Versammlungsraum im Leunawerk zu betreten, ging ein Werkpolizist mit einem Zivilisten an mir vorüber, beide zeigten auf mich, unternahmen aber nichts. Der Versammlungsraum füllte sich erst langsam. Ich stand vor dem Eingang, als plötzlich Freunde kamen und sagten: »Verschwinde, die Gendarmen kommen, an der Pforte draußen steht schon der Wagen der Gendarmerie, in dem du weggebracht werden sollst.« In diesem Augenblick tauchten auch schon acht Gendarmen auf, ich ging schnell in den noch ziemlich leeren Versammlungsraum, setzte mich auf eine Bank, und die Genossen und Freunde, die vorher um mich herumstanden, verstellten den Eingang zum Saal. Die Gendarmen jedoch durchbrachen sofort die Kette und steuerten direkt auf die Bank los, auf der ich ganz allein saß. Einer forderte mich auf, ihm zu folgen, ich sei verhaftet. Ich fragte ihn, wie er dazu käme, das müsse ein Irrtum sein. Da griff er in seine Tasche und hielt mir das Fahndungsblatt mit meinem Steckbrief entgegen, zeigte auf mein Bild und sagte: »Das sind Sie, machen Sie keine Sachen, kommen Sie mit.« Ich erklärte, ich sei Fritz Sturm und hätte mit dem Bild gar keine Ähnlichkeit, das könne ebenso gut er sein, ich ließe mich nicht verhaften. So ging es eine ganze Weile hin und her.
Währenddessen schloss sich der Kreis der Arbeiter um uns immer enger. Den Gendarmen dauerte die Sache zu lange, zwei legten ihre Hände auf meine Schultern und machten Miene, mich zu fesseln. Ich sprang blitzschnell hoch, stellte mich auf die Bank und rief: »Arbeiter, wollt ihr mich verhaften lassen?« Nun setzte ein ungeheurer Tumult ein, rechts und links packten mich Arbeiter, die mich mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem
Knäuel herauszogen, während andere den Gendarmen mit Messern die Koppel durchschnitten und ihnen die Waffen wegnahmen, um sie am Schießen zu hindern.
Die Genossen brachten mich im Nu aus dem Saal. Meine Füße berührten kaum mehr den Boden, und wir jagten über die weiten Fabrik- und Stapelplätze, die mit Tonnen, Holzstapeln und Flaschen überfüllt waren.
Ich landete am Ufer der Saale, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Am andern Tag fuhr ich nach Halle und verbarg mich dort bei Freunden.

 

Ich mache mich mit der Theorie des Sozialismus bekannt

Da ich meine agitatorische Tätigkeit in Mitteldeutschland infolge der Denunziation nicht mehr fortsetzen konnte, entschied die Partei, dass ich in einem anderen Bezirk Deutschlands als Agitator arbeiten solle. Ich hatte aber während meiner Versammlungstätigkeit in den letzten Wochen und Monaten erkannt, dass mir die theoretisch-marxistische Schulung fehlte, die Voraussetzung für agitatorisches Wirken ist. In den ersten Monaten meiner politischen Tätigkeit als Arbeitslosenrat und Versammlungsredner hatte ich nur wenig Zeit und Gelegenheit, Bücher zu lesen, da sich die Ereignisse fortwährend überstürzten und ich aus einer Aufregung in die andere geschleudert wurde.
Ich hatte Kurt Eisner: »Das Ende des Reiches« und Werner Sombart: »Das Proletariat« und einige andere seiner Bücher gelesen. Von der einschlägigen Literatur über Gewerkschafts- und politische Fragen kannte ich nur Hermann Gorter: »Der historische Materialismus«. In den Jahren vor der November-Umwälzung hatte ich ausschließlich technische Bücher gelesen.
Das kleine Buch von Gorter, das ich während meiner Versammlungstätigkeit fast auf jeder Bahnfahrt und wo ich nur irgendwie Zeit fand, las und durcharbeitete, hatte mir zum Bewusstsein gebracht, dass mir in theoretischer Hinsicht noch jede Grundlage fehlte und dass es höchste Zeit war, das bisher Versäumte nachzuholen. Ich wollte tiefer eindringen in die Probleme des wissenschaftlichen Sozialismus, der Lehre von der Befreiung der Werktätigen. Deshalb war ich sehr froh, als ich auf dem Bahnsteig in Halle an der Saale den Genossen Otto Rühle traf, den ich von einer Versammlung in Falkenstein her kannte. Otto Rühle erzählte mir, dass er im Auftrage der Partei in der Nähe von Hannover einen sozialistischen Kursus für Arbeiter und Studenten abhalte. Hannover war auch mein Reiseziel. Ich wollte meine Frau besuchen, die dort bei meiner verheirateten Schwester lebte. In dem kleinen Ort Walsrode in der Lüneburger Heide machte ich Rühles sechswöchigen sozialistischen Lehrkursus mit.
Ich hatte bis zum Kriege am politischen Leben nicht teilgenommen, da mir jedwede Anregung dazu vollkommen fehlte. Erst durch die Erlebnisse im Kriege und während der November-Umwälzung geriet ich rein gefühlsmäßig ins politische Fahrwasser. Die Erlebnisse während meiner vierjährigen Tätigkeit an der Front hatten mein Innerstes aufgewühlt und mir meine religiöse Weltanschauung genommen.
Bis zu dem Kursus von Otto Rühle glaubte ich, dass eine proletarische Revolution zur Befreiung der Unterdrückten und Ausgebeuteten gemacht werden könne durch den Willen und den Mut einiger hundert opfermütiger Menschen. Erst die Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus gab mir die Erkenntnis, dass eine Revolution nicht ausbricht, weil Hunderte oder Millionen Proletarierherzen ihr entgegenschlagen, sondern dass die soziale Umwälzung vor allem bedingt wird durch die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise.

 

Zum ersten Mal im Gefängnis - Genossen befreien mich

Nach Beendigung des Kursus besuchte ich meine Angehörigen in Ilten bei Hannover. Hier wurde ich durch die Gendarmerie verhaftet. Ich hatte mich in einem kleinen Waldhäuschen einquartiert, das weitab vom Dorf lag, und dort holten mich in aller Frühe zwei Gendarmen heraus. Sie waren so besorgt um die Kopfprämie von fünftausend Mark, dass sie mir sofort den Revolver auf die Stirn setzten, denn sie wollten den Kerl lieber tot fangen als ihn entlaufen lassen. Ich wurde gefesselt und in das Kreisgefängnis Burgsdorf bei Hannover gebracht. Man sagte mir, dass ich in den nächsten Tagen nach Plauen transportiert und dort abgeurteilt werden solle.
Ich war mir darüber klar, dass ich aus Plauen nicht so leicht wieder freikommen würde. Deshalb entwarf ich sofort einen Befreiungsplan und versuchte, die Beamten dafür zu gewinnen; sie lehnten ab. Nun schmuggelte ich durch meine Frau an meine Freunde im Vogtland einen Brief mit einem genauen Befreiungsplan.
Auf die Minute pünktlich trafen etwa fünf Mann in Burgdorf ein, einige ganz waghalsige Genossen, die sich zur Durchführung des schwierigen Planes einen wegen seiner Tapferkeit bekannten Wilddieb mitgenommen hatten. Gegen 12 Uhr nachts sollten drei von den Leuten an die Gefängnispforte herangehen, und zwar zwei in etwas besserer Kleidung, der eine mit einer Militärmütze; der dritte mit einem vollen Rucksack auf dem Rücken, schäbig gekleidet und ohne Mütze. Der Mann mit dem Rucksack sollte einen aufgelesenen Landstreicher markieren, die zwei anderen Hilfsgendarmen, die ihn arretiert haben. Zwei weitere Genossen sollten sich im Dunkeln verborgen halten und auf ein Signal warten.
Der mit der Militärmütze klingelte gegen Mitternacht an der Gefängnispforte, und als nach seinem Begehr gefragt wurde, erwiderte er: »Ich bin Hilfsgendarm Müller und bringe einen Arrestanten.« Zwei Beamte öffneten die Tür nur einen Spalt breit, um zu erkunden, was los sei. Die Genossen klemmten die Füße zwischen die Tür, stießen sie weit auf, und einer bemächtigte sich der Gefängnisschlüssel, die anderen fesselten die Beamten.
Den ganzen Abend hatte ich vollständig angekleidet auf meiner Pritsche gelegen und mit klopfendem Herzen auf ein Signal gewartet. Plötzlich gegen neun Uhr, es war schon dunkel geworden, hörte ich ein sägendes Geräusch dicht bei meinem Zellenfenster. Ich war bestürzt; im ersten Moment glaubte ich, die Genossen seien auf den irrsinnigen Gedanken gekommen, mich auf diese Weise zu befreien. Das hätte meinen ganzen Plan über den Haufen geworfen. Das Geräusch verstärkte sich, und ich bemerkte endlich, dass es mein Zellennachbar war, der einen Ausbruch versuchte. Er sägte und sägte mit unermüdlichem zähem Eifer, und je länger er sägte, desto weniger ließ er sich durch das starke Geräusch stören, das seine Arbeit hervorrief.
Ich wünschte, dass seine Flucht gelänge. Zugleich aber hatte ich Angst, sein Sägen werde die Nachtwache aufmerksam machen, und dadurch könne meine Flucht ins Wasser fallen. Der Mann sägte mit ganz kurzen Unterbrechungen bis gegen Mitternacht. Plötzlich ging ein ohrenbetäubendes Lärmen los. Ich hörte Rufe und Schreie, Türenwerfen, Fenster klirren und Schüsse fallen.
Mit einem lauten Hallo wurde meine Zelle aufgeschlossen, ein Genosse schrie mir entgegen: »Max, du bist frei!« Ich stürzte mit nach oben und sah, dass ein Beamter sich frei gemacht hatte und mit einem Revolver blindlings um sich schoss. Wir rannten auf die Straße.
Dort entstand ein wildes Durcheinander, aufgescheuchte Liebespärchen liefen davon, und plötzlich hatten wir einen dichten Menschenhaufen vor uns. Wir bogen schnell von der Straße nach links ab und befanden uns in einem großen, parkähnlichen Garten, der zum Schloss Burgdorf gehörte. Wir wollten weiterstürmen, sahen aber, dass der Park von einem vier Meter breiten, tiefen Wassergraben umgrenzt war. Ein Zurück gab es nicht, denn hinter uns kamen immer mehr Menschen gelaufen, wir mussten unter allen Umständen weiter. Einigen von uns gelang es, über den breiten Graben zu springen, die anderen, darunter ich, plumpsten in das zwei Meter tiefe Sumpfwasser.
Wir arbeiteten uns glücklich heraus und legten den weiten Weg von Burgdorf bis Hannover zu Fuß zurück.
Über diese Befreiung schrieb das Burgdorfer Kreisblatt am 12. September folgendes:
»Gewaltsam aus der Gefangenschaft befreit wurde in letzter Nacht aus dem hiesigen Amtsgerichtsgefängnis der Spartakistenführer Eisenbahnbautechniker Hoelz, gebürtig aus dem Vogtlande, der am Sonnabend voriger Woche durch Gendarmeriewachtmeister Tanisch aus Ilten dort selbst verhaftet worden war. Gegen ihn war von der Staatsanwaltschaft Plauen ein Steckbrief wegen Landfriedensbruches erlassen und auf seine Ergreifung eine Belohnung von mehreren tausend Mark ausgesetzt. Als in vergangener Nacht gegen 12 Uhr der Gefangenenaufseher des hiesigen Amtsgerichts unter dem Vorwande geweckt wurde, ein Hilfsgendarm Müller habe einen Arrestanten einzuliefern, trat diesem ein in Gendarmerieuniform gekleideter Unbekannter in Begleitung eines Zivilisten entgegen, der die Auslieferung des politischen Gefangenen Hoelz forderte. Im selben Moment drängten etwa zwölf weitere fremde Personen in das Gebäude ein, forderten unter Bedrohung mit einem Revolver die Schlüssel, und als der Beamte die Herausgabe verweigerte, entrissen sie demselben die Zellenschlüssel und befreiten den Gefangenen. Bevor der Beamte Hilfe herbeiholen konnte, waren die Eindringlinge mit ihrem befreiten Genossen verschwunden. Vermutlich haben sie bei ihrem Vorhaben ein Auto benutzt. Wie wir erfahren, ist der Entführte, der in nächster Zeit nach Plauen überführt werden sollte, bereits dreimal auf die gleiche Weise befreit worden. Trotzdem dieses bekannt war, ist es unverständlich, dass hier nicht größere Vorsichtsmaßregeln getroffen worden sind.«
Leider stand uns kein Auto zur Verfügung. Aber auch hier zeigten sich die USPD-Denunzianten allen anderen überlegen, denn sie begnügten sich nicht, wie die bürgerliche Zeitung, zu schreiben: »Vermutlich haben sie bei ihrem Vorhaben ein Auto benutzt«, sondern die USPD-Leute schrieben in der »Oberfränkischen Volkszeitung«: »In bereitstehenden Automobilen verschwanden die Angreifer und der Gefangene.«

 

Sie hängen mich nicht - sie hätten mich denn!

In Hannover blieb ich noch zwei Tage. Dann fuhr ich nach Halle, wo ich den Genossen Eugen Steinert und einen Tag später auch Otto Rühle traf. Schon am nächsten Abend hielt ich ausgerechnet im Leunawerk eine große Versammlung ab, gerade dort, wo mich die Gendarmen erst vor ganz kurzer Zeit fast erwischt hätten. Diesmal blieben sie unsichtbar.
Ich kehrte von Halle nach dem Vogtlande zurück, wechselte dort oft mein Versteck und benutzte jede Stunde des Tages dazu, die wertvollen Anregungen, die mir der Kursus von Otto Rühle gegeben hatte, durch fleißige Lektüre noch fruchtbarer zu machen. Mein Tätigkeitsdrang galt nun dem Lernen. Es machte mir viel Freude, meinem rein gefühlsmäßigen Verhalten zur revolutionären Sache ein festes, wissenschaftliches Fundament zu geben.
In dieser Zeit las ich oft in der Tagespresse, dass ich mal hier, mal dort aufgetaucht sei und in Versammlungen gesprochen habe. Mehrmals wurde meine Verhaftung gemeldet, einmal von den »Leipziger Neuesten Nachrichten« sogar meine Erschießung. Trauertelegramme und -briefe sowie Kränze und Delegationen aus dem Reich kamen zu meiner »Beerdigung«.
Trotz der Warnung meiner Freunde erschien ich eines Nachmittags in einer riesigen Arbeitslosenversammlung und sprach dort länger als eine
Stunde. Plötzlich drangen Gendarmen in den Saal, um mich zu verhaften. Schüsse fielen, eine Panik entstand. Als die Gendarmen sich meiner bemächtigen wollten, schlug Genosse Popp mit seinem Spazierstock gegen den großen Kronleuchter. Es gab Kurzschluss, eine fast undurchsichtige Dunkelheit trat ein.
Ich wollte eben vom Podium hinunterspringen, um den Saal zu verlassen, als einige Gendarmen mich packten. Ich stürzte. Sie trampelten auf mir herum und bearbeiteten meinen Schädel mit ihren Revolvern. Die Arbeiter befreiten mich, und ich flüchtete.
Draußen setzte die Polizei meine Verfolgung fort, es kam zu einer regelrechten Straßenschlacht, bei der mehrere Polizisten verletzt wurden. Geschützt von der dreitausendköpfigen Menge, entkam ich.
Am Mittwoch, dem 22. Oktober 1919, hatte die Kommunistische Partei eine Versammlung im Schützenhause Falkenstein einberufen. Ich empfand kein Bedürfnis, dieser Versammlung beizuwohnen. Gegen acht Uhr abends, als die Versammlung schon längst begonnen hatte, wurde mir die neueste Ausgabe des »Falkensteiner Anzeigers« gebracht. Aus dieser Nummer glänzte mir mein erneut veröffentlichter Steckbrief entgegen. Die Kopfprämie war wieder um mehrere tausend Mark erhöht worden. Das reizte mich, die Falkensteiner Spießer, die Spitzel und Gendarmen ein bisschen in Aufregung zu bringen.
Ohne einen Freund oder Genossen zu benachrichtigen, da die Zeit viel zu kurz war - es galt, rasch zu handeln -, sprang ich während der Versammlung von der Gartenseite des Schützenhauses durch ein Fenster auf die Bühne. Die Wirkung meines plötzlichen Auftretens war unbeschreiblich. Frauen schrieen und weinten, weil sie fürchteten, dass ich diesmal bestimmt verhaftet würde. Es war bekannt, dass eben in diesen Tagen die Gendarmerie große Verstärkung erhalten hatte und im Saal aufgestellt war. Nach einer kurzen Ansprache verschwand ich wieder durch das Fenster. Über dieses Ereignis schrieb der »Vogtländische Anzeiger«:
»Der Kommunist Hoelz, auf dessen Ergreifung bekanntlich eine hohe Belohnung ausgesetzt ist, hält sich nicht mehr in Hannover und Umgebung auf sondern im Vogtlande. Er ist am Mittwoch in Falkenstein aufgetreten und hat dort vor einer im >Schützenhause< abgehaltenen, von den Kommunisten einberufenen Versammlung eine kurze Ansprache gehalten, in der er sich für den ihm von seinen Anhängern gewährten Schutz bedankte. Darauf verschwand er wieder im Dunkel der Nacht, aus dem er aufgetaucht war. An der Stadtgrenze an der Plauener Straße wartete ein Kraftwagen auf ihn. Mit ihm war er vermutlich angefahren, und mit ihm ist er wieder geflohen. Wegen der Dunkelheit in den Straßen konnte, wie man uns berichtet, weder seine Spur noch seine Verfolgung aufgenommen werden. Ihn zu verhaften war nicht möglich, weil der vollbesetzte Saal innen und außen von seinen Anhängern stark bewacht war.«
Leider stand mir auch in diesem Fall kein Automobil, nicht einmal ein Fahrrad zur Verfügung. Aber ich hatte in der Versammlung erklärt, es sei zwecklos, mich zu verfolgen, da mich bereits mehrere mit bewaffneten Genossen besetzte Automobile draußen erwarteten.
Als ich meine Flucht im »Vogtländischen Anzeiger« gelesen hatte, beschloss ich, der Polizei zu beweisen, dass mein Entkommen auch ohne Automobile sehr gut möglich sei. Kurz nach dieser Versammlung ging ich am helllichten Tage ohne jede Begleitung in die Stadt. Meine Freunde und Genossen hatten keine Ahnung von diesem Streich. Ich ging langsam durch einige Straßen, die Menschen blieben stehen, glotzten mich an, hielten mich für ein Gespenst oder fanden, dass ich eine überraschende Ähnlichkeit mit Hoelz habe. Dann lief ich direkt nach dem Rathaus in die Polizeiwache, in der viele Beamte waren. Dort sagte ich laut: »Guten Tag, ist alles in Ordnung?« Es war ein ganz toller Augenblick. Die Beamten waren so verdutzt, dass sie sich nicht einmal vom Platze rührten. Sie erwiderten meinen Gruß, und als ich noch einmal laut und durchdringend meine Frage wiederholte, antwortete einer: »Ja, es ist alles in Ordnung.« Darauf sagte ich: »Schön!« und machte kehrt, verließ das Rathaus und ging langsamen Schrittes in das etwa hundert Meter entfernte Cafe Meier, nahm an einem von Stammgästen besetzten Tisch Platz, verlangte eine Tasse Kaffee und sagte zur Wirtin, sie möge sich beeilen, da sonst vielleicht die Gendarmen meinen Kaffee trinken würden. Als ich dann nach wenigen Minuten das Cafe verließ, traf ich auf der Straße den Genossen Paul Popp, der mich suchte. Es war das Gerücht verbreitet, ich sei infolge meiner Tollkühnheit verhaftet worden. Gerade als mir Popp Vorhaltungen machte, kamen zwei Polizisten auf uns zu und legten Hand an mich. Popp zog hinter seinem Rücken einen großen Knüppel hervor, der die beiden bewog, Unterstützung herbeizuholen. Inzwischen verschwanden wir.
Am Abend wurde mir gemeldet, die Polizei sei fest überzeugt, dass ich in der an diesem Abend stattfindenden engeren Mitgliederversammlung der KPD erscheinen werde. Es wären bereits alle Vorbereitungen für meine sichere Ergreifung getroffen. Tatsächlich war in der neunten Abendstunde das »Hotel zum Falken« von Gendarmerie umstellt. Die Polizisten stürmten in den kleinen Saal, wo die Mitgliederversammlung stattfand, suchten mich in allen Schränken und krochen unter die Sofas.
Ich beobachtete von einer dunklen Nische der Kirche aus, die sich in einer Entfernung von kaum zwanzig Metern vom Versammlungslokal befand, das Treiben der Gendarmen.
Zwei Wochen später wurde der Genosse Paul Popp verhaftet, die Polizei betrachtete ihn als einen meiner wichtigsten »Adjutanten«. Die Genossen und ich beschlossen, ihn zu befreien. Es war alles vorbereitet; wir wollten nachts mit einer Leiter in das Schlafzimmer des Justizwachtmeisters eindringen, ihm die Schlüssel entreißen, und während zwei Genossen ihn festhielten, sollten die anderen den Genossen Popp aus der Zelle holen.
Noch vor der Ausführung dieses Planes tauchte ein von der Polizei verfolgter auswärtiger Genosse auf, der, als er hörte, was wir vorhatten, erklärte: »Ich mach' das ganz allein!« Er ging zur Frau des Genossen Popp, die politisch vollkommen indifferent war, und gab sich ihr gegenüber als Kriegskamerad ihres Mannes aus. Tatsächlich hatte er Popp in seinem Leben noch nie gesehen. Er erzählte ein Märchen von seiner englisch-französischen Gefangenschaft und von Aufträgen, die er Paul Popp vor der Gefangennahme für seine Angehörigen übergeben hätte. Er fände seine Familie jetzt nicht mehr, und Paul sei der einzige, der ihm Aufschluss geben könne. Da er eine alte Militäruniform trug, die zu kurz und zu eng war, und er auch sonst sehr elend und herabgekommen aussah, fanden seine Schilderungen bei der naiven Frau Glauben. Er hatte erfahren, dass die Frau fast jeden Abend ihrem Mann etwas Brot und Kaffee ins Gefängnis trug, und bat, sie auf einem dieser Gänge begleiten zu dürfen, damit er mit Paul sprechen könne.
Im Gefängnis wollte ihm der Justizwachtmeister den Eintritt verweigern, aber auch hier fand seine Erzählung vollen Glauben; der Justizwachtmeister ließ den Genossen Popp aus seiner Zelle heraustreten. Zwischen dem Gefangenen und dem Justizwachtmeister auf der einen Seite und dem flüchtigen Genossen und Frau Popp auf der anderen Seite befand sich ein schweres, eisernes Gittertor, das abgeschlossen war. Als der Gefangene Popp aus der Zelle trat, warf der Genosse die Arme hoch und schrie: »Paul, so müssen wir uns wieder sehen!« Dann stürzte er hintenüber und markierte einen Ohnmachtsanfall.
Popp hatte keine Ahnung, um was es sich handelte. Der Justizwachtmeister wollte dem Zusammengestürzten helfen und schloss das eiserne Gitter auf. In diesem Augenblick sprang der Ohnmächtige auf, zog aus beiden Hosentaschen schwere Armeepistolen und schrie: »Nun aber los, Paul!« Die beiden verschwanden, ehe der Justizwachtmeister sich von seinem Schreck und seiner Überraschung erholt hatte. Die Frau stand mit ihrem Kaffeetopf da und wusste nicht, wie ihr geschah. Der Justizwachtmeister hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Frau zu verhaften und in die Zelle ihres Mannes zu sperren. Frau Popp war schwanger, sie hatte zu Hause noch eine ganze Anzahl unmündiger Kinder, darunter Zwillinge, die sie stillen musste. Der Oberamtsrichter Rietschel, der schon oft Beweise seiner Brutalität gegen Arbeiterfrauen und Arbeitslose gegeben hatte, ließ am nächsten Tag die schwächliche und kränkliche Frau gefesselt und unter Bewachung von acht Gendarmen nach Plauen ins Amtsgerichtsgefängnis transportieren. Diese unglaubliche Misshandlung einer vollkommen unbeteiligten und unschuldigen Frau empörte den Genossen, der Popp befreit hatte, ungemein. Er schwor, den Oberamtsrichter Rietschel zu erschießen. Wir mussten ihn mit aller Gewalt von Falkenstein fortschaffen, sonst hätte er bestimmt seinen Vorsatz ausgeführt.
Wir versuchten die Frau auf legalem Wege freizubekommen. Sollte das innerhalb von fünf Tagen nicht gelingen, wollten wir sie mit Gewalt befreien. Aber mit Hilfe eines Anwaltes erreichten wir nach wenigen Tagen ohne Gewaltanwendung ihre Freilassung.
Zwei Tage später ging ich mit einem Genossen in den Abendstunden ein Stück außerhalb der Stadtgrenze spazieren. Es lag tiefer Schnee. Plötzlich kreuzte dicht vor uns ein Skifahrer die Straße. Er war schon etwa zwanzig Meter weiter, als ich zu meinem Begleiter sagte: »Du, das war doch der Oberamtsrichter Rietschel?« Ich verlangte, dass der Genosse dem Skifahrer nachlaufe und ihn nach seinem Namen frage. Der Genosse rannte hinter dem Skifahrer her und rief: »Sind Sie der Oberamtsrichter Rietschel?« Der erwiderte: »Ja, der bin ich, was wünschen Sie von mir?« Da sprangen wir beide auf ihn los, packten ihn, warfen ihn zu Boden, entrissen ihm seine beiden Skistöcke und prügelten ihn länger als eine halbe Stunde windelweich, bis die Stöcke vollkommen zerbrochen waren und die Splitter in unseren Handballen saßen. Während dieser Strafbehandlung wurde von unserer Seite kein Wort gesprochen. Nur Rietschel, der wohl wusste, warum er diese Prügel bekam, jammerte: »Ich kann ja nichts dafür, ich kann ja nichts dafür.«
Die Folge war, dass Rietschel auf einige Wochen ins Krankenhaus kam und um seine Versetzung ersuchte.
Ich hielt es nur einige Monate in meiner Zurückgezogenheit aus. Dann erfüllte ich den Wunsch der Organisation und agitierte wieder im Vogtland und in Nordbayern.
Das erste Mal sprach ich nunmehr auf einer Versammlung in dem Industrieort Werdau. Unter dem Pseudonym Professor Lermontow behandelte ich das Thema: »Bringt uns der Kommunismus Freiheit und Brot oder Elend und Not?«
Aus der Ankündigung im Lokalblättchen war nicht ersichtlich, ob es sich um eine pro- oder antikommunistische Versammlung handelte. Der größte Saal des Ortes war voll besetzt, teils von Arbeitern, teils von einflussreichen Bürgern der Stadt, dem Bürgermeister, mehreren Stadträten und allen Honoratioren. Ich hatte mir eine Hornbrille aufgesetzt und sprach eine Stunde lang; erst am Schlusse der Versammlung lüftete ich mein Inkognito.
Sofort verließen die Bürger, allen voran der Bürgermeister, fluchtartig den Saal, dafür kam sehr bald die Polizei. Die Genossen rissen mich von der Bühne, und ich wurde an einer Strickleiter über die Hinterwand des großen Saalbaues ins Freie gelassen. Die Strickleiter war zu kurz - ich musste noch einen Sprung von mehreren Metern machen, bei dem ich mir einen Bluterguss im Knie zuzog, der mir in den nächsten Wochen viel zu schaffen machte.
Von Werdau fuhr ich nach Selb in Bayern, wo eine Versammlung angesetzt war. Die verlief ruhig. Die bayrischen Gendarmen wagten nicht, mich aus der Masse heraus zu verhaften. Sie glaubten, dies besser nach Schluss der Versammlung tun zu können, und hatten draußen alles abgesperrt. Aber ebenso unsichtbar, wie ich in das Versammlungslokal hineingekommen war, verschwand ich wieder. Als ich am nächsten Morgen abreisen wollte, hatten die Gendarmen, alle in Zivil, den weitab vom Ort liegenden Bahnhof besetzt. Mein kranker Fuß, durch die Anstrengungen der letzten Tage verschlimmert, gestattete mir nicht, Fußmärsche zu machen. Mit meinem Begleiter hatte ich bereits die Fahrkarten nach Hof gelöst, als ich erkannte, dass die Verfolger nur warteten, bis ich in den Zug stieg, um mich in dieser Mausefalle zu fassen. Ich ließ sie in dem Glauben, dass ich den Zug benutzen wolle. Im Augenblick, als der Zug in den Bahnhof einlief, verschwanden mein Begleiter und ich über die Geleise in den nahen Wald. Aber die Gendarmen hatten unsere Flucht bemerkt, und nun begann eine wilde Hetzjagd, die von früh vier Uhr bis abends sieben Uhr dauerte. Das war am 12. März 1920. Im Walde lag noch tiefer Schnee. Die ganze Umgebung war alarmiert worden. Es war unmöglich, auf dieser Flucht auch nur hundert Meter lang eine Landstraße zu benutzen; sobald wir einen Augenblick aus dem Walde heraustraten, sahen wir an irgendeiner Straßenbiegung Helme aufblitzen. Gendarmen zu Fuß und zu Rad und zu Pferde suchten uns. Der Polizeiapparat arbeitete gut. Ein Entkommen wäre undenkbar gewesen, wenn nicht der dichte Wald uns immer wieder den Blicken unserer Verfolger entzogen hätte.
Nass, hungrig und ermüdet kamen wir am Abend in Oberkotzau an. Mein kranker Fuß war durch die Strapazen und Anstrengungen stark angeschwollen und bereitete mir so heftige Schmerzen, dass ich bei jedem Schritt aufschreien musste. In Oberkotzau nahm uns ein Genosse auf. Von ihm bekamen wir die erste Nachricht darüber, dass in Berlin und im Reiche die monarchistischen Offiziere einen Putsch unternommen hätten.
Die wildesten Gerüchte jagten einander. Fest stand, dass etwas Bedeutungsvolles im Gange war und wir Arbeiter deshalb doppelt wachsam sein mussten.
Ich beschloss, von Oberkotzau bis Hof mit der Bahn zu fahren, um dort Näheres zu hören. Am Eingang zum Bahnhof stand ein Gendarm, der meinen Begleiter und mich scharf musterte und dann im Bahnhofsgebäude verschwand. Wir hatten kaum den Zug bestiegen, das Abteil war bereits von fünfzehn Menschen besetzt, da kamen zwei Gendarmen herein und forderten mich auf, ihnen zu folgen. Ich weigerte mich. Es gab eine scharfe Auseinandersetzung, nach der sie das Abteil verließen; kurz darauf kehrten sie mit einer größeren Anzahl Gendarmen zurück. Jetzt gingen sie entschlossen vor und versuchten, mich anzufassen.
In meiner Tasche hatte ich unauffällig eine Eierhandgranate entsichert, die riss ich blitzschnell heraus, hielt sie vor mein Gesicht und rief laut: »In dem Augenblick, wo mich jemand anrührt, fliegt der ganze Wagen in die Luft.« Ich war zu allem entschlossen. Die diesen Worten folgende Bestürzung und Panik war unbeschreiblich. Alles schrie durcheinander und drängte zum Ausgang, die
Gendarmen voran. Dabei riefen sie unablässig den Fahrgästen zu: »Drinbleiben, drinbleiben!« und waren doch die ersten, die nach dem rettenden Boden des Bahnsteiges strebten. Im Verlaufe weniger Sekunden stand ich allein mit meiner Handgranate im Wagen. Selbst mein Begleiter hatte sich davongemacht. Diesen günstigen Augenblick benutzte ich, um durch Überspringen der Barriere und der Geleise das Weite zu suchen. Beim Überklettern eines Gartenzaunes blieb ich mit der Abziehschnur der Granate, die ich noch immer in der Hand hielt, hängen, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich auf diese dumme Weise in die Luft geflogen.
Ich schleppte mich mit meinem geschwollenen Bein unter fürchterlichen Schmerzen bis nach Hof. Dort erfuhr ich Näheres über den Putsch der monarchistischen Offiziersclique gegen die Republik.

 

Kämpfe im Vogtland während des Kapp-Putsches

Es war also das eingetreten, was die Kommunistische Partei längst vorausgesagt und worauf sie die Arbeiter immer wieder hingewiesen hatte, um sie zur Wachsamkeit anzuspornen. In Hof wollte und konnte ich unter diesen Umständen nicht bleiben. Alles in mir drängte ins Vogtland zurück, um mit einem Stamm zuverlässiger und kampferprobter Genossen und Arbeiter die Abwehrmaßnahmen gegen den monarchistischen Putsch in größerem Maßstabe zu organisieren. Mit der Bahn von Hof nach Falkenstein zu fahren war ein Unding, weil die bayrischen Gendarmen alle Stationen und alle Züge besetzt hatten und mich bestimmt erwischt hätten. Ich musste also versuchen, trotz meiner gro­ßen Schmerzen zu Fuß ins Vogtland zurückzukehren.
Etwa fünf Stunden schleppte ich mich mühsam vorwärts. Dann aber war es ganz aus. Der Fuß schwoll stärker und stärker an. Ich bat den Wirt eines an der Landstraße liegenden Wirtshauses, mich gegen Entgelt bis Ölsnitz im Vogtland zu fahren. Als ich gegen Abend ankam, mussten mich Freunde vom Wagen herunter ins Haus tragen. Am andern Morgen verlangte ich, nach Falkenstein gebracht zu werden. Die Genossen lehnten das wegen meines Zustandes ab. Es gelang mir, ein Automobil zu bekommen, dessen Fahrer mich gegen hohe Bezahlung nach Falkenstein schaffte.
In Falkenstein kam ich mittags an. Meine erste Frage war: »Habt ihr schon die Reichswehr entwaffnet?« Ich wusste, dass Falkenstein noch mit den Truppen belegt war, die mich suchten. Ein Genosse erklärte, ein Teil sei dafür gewesen, die Reichswehr zu entwaffnen, der andere Teil der Genossen habe jedoch davor gewarnt, da das ein zu schwieriges Unternehmen sei.
Jetzt galt es zu handeln, und zwar ohne jeden Zeitverlust. Ich verlangte, dass sofort alle erreichbaren Genossen zusammenkämen und dass wir die Reichswehr durch einen Handstreich entwaffneten. Aber noch ehe diese Weisung alle Genossen erreichte, rückte die Reichswehr aus der Stadt ab, da sie Befehl zum Abmarsch bekommen hatte. Sie war als Verstärkung für die Reichswehrtruppen in Thüringen angefordert worden, die dort bereits im offenen Gefecht mit den Arbeitertruppen lagen. Als ich das hörte, packte mich ein grenzenloser Zorn. Ich fluchte und schimpfte auf die säumigen Genossen, begab mich nach dem »Hotel zum Falken« und sah dort noch mehrere Lastautos mit Benzinfässern, die von kleinen Reichswehrkommandos bewacht wurden. Der größere Teil der Truppen war bereits auf dem Wege nach Auerbach.
Mit etwa sechs Genossen entwaffnete ich die zurückgebliebenen Reichswehrsoldaten und beschlagnahmte die Autos samt den Benzinfässern. Dadurch bekamen wir einige Gewehre. Ein Soldat entwischte uns und alarmierte die in Marsch befindlichen Truppen, die sofort kehrt machten und Falkenstein wieder besetzten. Vor dem Schloss kam es zu einer Schießerei zwischen Arbeitern und Soldaten. Wir konnten mehrere Soldaten entwaffnen, mussten dann aber der erdrückenden Übermacht weichen und uns in Sicherheit bringen. Nun begann eine tolle Verfolgung. Nie in meinem Leben bin ich so gelaufen wie an diesem Tage. Während der wahnsinnigen Hetzjagd wurde mein Fuß mit einemmal gesund. Als ich - den Reichswehrsoldaten glücklich entwischt - in Auerbach ankam, spürte ich nicht die geringsten Schmerzen mehr.
Ein paar auf der Straße stehende Arbeiter fragte ich, welche Maßnahmen die Auerbacher Arbeiterschaft getroffen hätte, um dem monarchistischen Putsch zu begegnen. Sie sagten, der Arbeiterrat hätte eine Versammlung einberufen, die soeben im Schützenhaus stattfinde. Ich ging hin. Ein paar hundert Meter vor dem Lokal sah ich, dass die Versammlung schon beendet war und die Massen fortströmten. Mein Ruf: »Alles zurück in den Saal, ich habe der Arbeiterschaft Wichtiges zu sagen!« fand sofort Gehör.
Im Nu war der ungeheure Saal wieder gefüllt, ich ergriff das Wort und verlangte, dass alle Frauen den Saal verlassen. Diese Forderung rief eine ungeheure Spannung bei den Massen hervor, und die Frauen gingen aus dem Saal. Ich ließ die Ausgänge absperren und gut bewachen, so dass niemand nach außen Meldung machen konnte; dann bat ich die Arbeiter, einer ihrer Sprecher solle mir sagen, welche Entschließungen gefasst worden wären. Da erfuhr ich denn, dass der Generalstreik beschlossen war und dass man im übrigen abwarten wollte. Ich sagte, das genüge auf keinen Fall, die Situation sei sehr ernst, man dürfe nicht abwarten, sondern müsse sofort handeln. In anderen Orten kämpften die Arbeiter gegen die Reichswehr, wir dürften daher nicht untätig zusehen, sondern müssten uns sofort Waffen holen, wo sie zu finden seien. Meine Ausführungen fanden begeisterte Zustimmung. Nun ging ich aufs Ganze und schlug vor, sofort geschlossen zum Gendarmeriegebäude zu marschieren, den Gendarmen alle Waffen abzunehmen und mit diesen Waffen die Reichswehr in Falkenstein anzugreifen. Mein Vorschlag wurde angenommen, und ich sorgte dafür, dass die Gendarmerie nicht gewarnt werden konnte. Jeder musste seines Nebenmannes Tun schärfstens beobachten, so dass sich ein Verräter nicht unbemerkt hätte entfernen können.
Als der Zug von etwa zweitausend Personen vor dem Gendarmeriegebäude ankam, guckten die Gendarmen aus den Fenstern und wussten nicht recht, was sie von diesem Aufmarsch halten sollten. Aber ein paar merkten, dass etwas nicht stimmte; sie verbarrikadierten Tore und Türen, und wir mussten mit Äxten und Beilen die Türen zertrümmern. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem einige Gendarmen leicht verletzt wurden; viele gaben ihre Waffen freiwillig, den anderen wurden sie mit Gewalt abgenommen. Wir erbeuteten außer einer Menge Karabiner viele Kisten mit Stielhandgranaten und eine Anzahl Maschinengewehre. Die Gendarmen wurden gefangen gesetzt und mussten mit uns nach einem günstig gelegenen Lokal marschieren, das ich für Verteidigungszwecke bestimmt hatte.
Einige Stunden später schickte ich mehrere Genossen mit einem requirierten Auto in das Schloss nach Falkenstein und ließ dem Kommandeur sagen, wenn er nicht sofort freiwillig die dort befindlichen Waffen an uns abliefere, würde Falkenstein von den Arbeitern der umliegenden Ortschaften eingeschlossen.
Der Kommandeur beantwortete mein Ultimatum damit, dass er die Genossen verhaftete, das Auto behielt und nun seinerseits ein größeres Kommando nach Auerbach sandte, um uns auszuheben.
Es kam in Auerbach zu einem scharfen Nachtgefecht, bei dem wir außer einigen Leichtverletzten keine Verluste hatten. Die Reichswehr erschoss bei diesem Überfall den Rittergutspächter Wanitzki, als er in Nachthaube und Schlafrock aus dem Fenster sah; seine Frau wurde verwundet.
Diesen überraschenden Angriff der Noskiden, die vier große Maschinengewehre und eine Unmenge von Handgranaten und Leuchtkugeln verwendeten, wehrte auf unserer Seite ein zwanzigjähriger Arbeiter mit einem einzigen Maschinengewehr ab. Nach Abwehr des Überfalles entschlossen wir uns zu schärferen Maßnahmen. Wir verließen Auerbach und rückten von verschiedenen Seiten gegen Falkenstein vor. Aber die Noskiden hatten Wind bekommen. Als wir mit unseren Automobilen in Falkenstein ankamen, fanden wir das Nest leer. Die Truppen waren nach der drei Stunden entfernten Stadt Plauen gezogen, um sich mit dem dort liegenden Reichswehrbataillon zu vereinigen.
Wir gaben uns mit dem errungenen Erfolg nicht zufrieden, um so weniger, als wir hörten, dass im ganzen Reich, besonders aber im Ruhrgebiet, die Arbeiter gegen die Truppen von Kapp und Lüttwitz kämpften. Die Meldungen über das Fehlschlagen des Kapp-Putsches und die Wiedereinsetzung der alten Regierung hielten wir für einen Bluff, mit dem man die Arbeiter ködern und beruhigen wollte. Wir waren uns einig: Solange Hunderttausende von Arbeitern und Genossen im Ruhrgebiet im heißen Kampfe standen, mussten wir alles tun, um sie zu unterstützen. Das konnten wir am besten, indem wir die reaktionäre Reichswehr und die Bourgeois-Zeitfreiwilligen des Vogtlandes entwaffneten und die Arbeiter bewaffneten.
Wir errichteten Werbestellen zur Bildung einer Roten Armee des Vogtlandes. Die aus vielen Teilen des Reiches kommenden Arbeiter, die sich am revolutionären Kampf beteiligen wollten, wurden von uns bewaffnet. Um die für die Rote Garde erforderlichen Geldmittel für Verpflegung, Löhnung usw. aufzubringen, forderten wir durch Maueranschläge die Kapitalisten und Kriegsgewinnler auf, sich an einem bestimmten Tag in einem näher bezeichneten Lokal einzufinden. Zur angegebenen Zeit begab ich mich in Begleitung eines Genossen ohne jede Waffe dorthin und fragte die anwesenden Geldleute, etwa sechzig, ob sie gewillt seien, wöchentlich vorläufig fünfundvierzigtausend Mark zur Finanzierung der Roten Truppen aufzubringen. Sie erbaten sich einige Minuten Bedenkzeit. Ich verließ mit meinem Begleiter den Raum.
Nach meiner Rückkehr erklärten sie sich bereit, sich den augenblicklichen Machtverhältnissen zu fügen und die gewünschte Summe aufzubringen. Sie äußerten nur den Wunsch, dass die Rote Garde, nachdem Polizei, Gendarmerie und alle behördlichen Organe von der Arbeiterschaft entwaffnet waren, auch für Ordnung sorgen und Plünderungen verhindern möge. Das lag in unserem eigensten Interesse. Wir durften auf keinen Fall dulden, dass irgendwelche unsauberen Elemente die revolutionäre Sache in Verruf brachten.
In Plauen hatte sich bei einer Haussuchung nach Waffen im Hause des Fabrikanten Zöbisch ein junger Rotgardist durch den Anblick einiger auf dem Tisch liegender Schmucksachen bestechen lassen und sie mitgenommen. Der Fabrikant meldete diesen Vorfall bei der militärischen Leitung. Ich ordnete eine strenge Durchsuchung an, die zunächst erfolglos war.
Nach unserem Aufruf an die Arbeiterschaft meldete sich eine junge Arbeiterin, der ein Rotgardist einen Ring geschenkt hatte. So fanden wir den Übeltäter. Dem Fabrikanten wurde sein Schmuckstück wiedergegeben, um die Sache der Arbeiter nicht zu diskreditieren, der Rotgardist wurde zwecks Bestrafung festgesetzt.
In einem anderen Fall hatte ein von auswärts zugereister Rotgardist, der die Stellung eines Gruppenführers bekleidete, seinem Quartierwirt Silbermünzen entwendet. Bei meiner Ankunft in Klingenthal an der tschechoslowakischen Grenze drängte sich ein Mann in meine Nähe und behauptete, einer unserer Rotgardisten hätte ihm sein ganzes, mühsam erspartes Silbergeld, etwa eineinhalbtausend Mark, gestohlen. Der Mann berichtete: Während unsere Truppen seinen Heimatort passierten, reichten ihnen die Einwohner Kaffee und andere Erfrischungen. Auch er habe eine Gruppe unserer Mannschaften bewirtet, und einer davon müsse unbedingt das Geld an sich genommen haben.
Ich veranlasste die Visitation sämtlicher Rotgardisten, selbst die Kompanieführer mussten sich eine Durchsuchung gefallen lassen. Trotz dieser wiederholt und überraschend vorgenommenen Leibesvisitationen konnte bei keinem der Rotgardisten auch nur eine Spur des Geldes gefunden werden. Ich war durch die Erfolglosigkeit des Suchens sehr niedergedrückt und glaubte fest, der Mann habe mir einen Bären aufgebunden, um einen Schadenersatz herauszuholen.
In der gleichen Nacht kontrollierte ich die ausgesandten Feldwachen. Bei einem der am weitesten vorgeschobenen Doppelposten fehlte der verantwortliche Führer. Auf meine erstaunte Frage nach seinem Verbleib antworteten die Rotgardisten, der Gruppenführer sei schon seit mehreren Stunden verschwunden. Nach fast einstündigem Suchen fand ich ihn völlig betrunken in einem Wirtshaus, wo er bereits eine auffallend große Zeche gemacht hatte, obwohl für die roten Truppen strenges Alkoholverbot bestand. Da stieg der Verdacht in mir auf, dass dieser pflichtvergessene Mensch auch fähig wäre, seinen Quartiergeber zu bestehlen. Die Taschen und das Rockfutter des Mannes wurden genauestens untersucht. Wir fanden auch wirklich einige Silbermünzen, über deren Herkunft er keine genügende Auskunft geben konnte. Ich drang in ihn, und er gestand, das Geld entwendet zu haben. Den Rest der Münzen habe er im Walde versteckt.
Über das Verhalten des Rotgardisten war ich so erbittert, dass ich mich dazu hinreißen ließ, ihn an Ort und Stelle zu züchtigen. Ich prügelte ihn mit seinem Gewehr, bis er wie ein Klotz umfiel; ich befürchtete, ihn totgeschlagen zu haben. Meine Begleiter trugen den Mann in die nahe Wachstube. Am nächsten Morgen meldete er sich ernüchtert bei mir, bat unter Tränen um Verzeihung und um Wiederaufnahme in die kämpfende Truppe. Das musste natürlich abgelehnt werden. Der Bestohlene aber erhielt den vollen Betrag wieder. Das sind die einzigen Fälle, die mir bekannt wurden, wo revolutionäre Soldaten vergaßen, was sie der Sache ihrer Klasse schuldig waren.
Die Zahl der Roten Soldaten vergrößerte sich täglich, und so mussten weitere zahlungsfähige Kreise herangezogen werden. Die Plauener Fabrikanten verpflichteten sich, ohne dass wir einen besonderen Druck auf sie ausübten, zu einer wöchentlichen Zahlung von nunmehr hunderttausend Mark.
Die Aktionsausschüsse der um Markneukirchen liegenden Orte erbaten unsere Unterstützung. Sie befürchteten, von der Markneukirchener Bürgerwehr angegriffen zu werden. Um dem zuvorzukommen, unternahmen wir mit den bewaffneten Arbeitern von Ölsnitz im Vogtland, Adorf und anderen Orten einen Angriff auf Markneukirchen. Während wir langsam gegen die Stadt vorrückten, sandte ich einen Parlamentär zu dem Bürgermeister mit der Aufforderung, innerhalb zehn Minuten die Waffen niederzulegen, andernfalls wir den
Kampf eröffnen würden. Der Bürgermeister antwortete, dass die Einwohnerwehr von Markneukirchen bereit sei, die Waffen an uns abzugeben. Mittlerweile war es aber schon zu einer Schießerei zwischen unseren Truppen und der Bürgerwehr gekommen, wobei ein Zuschauer durch ein abirrendes Geschoß getötet wurde.
Als wir uns mit unseren Autos dem Rathause näherten, konnten die Wagen nicht weiter. Die brave Bürgerwehr hatte durch die vier Jahre Kriegmachens gelernt und regelrechte Schützengräben ausgehoben, die ganzen Straßen aufgerissen und sich auf eine große Schlacht vorbereitet.
Die Bürgerhelden waren bald überwältigt, und ich gab einigen von ihnen, dem Bürgermeister, den beiden Pastoren, dem Führer der Bürgerwehr, Oberleutnant Schatz, und anderen die nötige Anzahl Schaufeln; unter meiner Aufsicht mussten sie die etwa zwei Meter tiefen Gräben zuschaufeln. Als Sicherstellung für die noch abzuliefernden Waffen mussten die reichen Fabrikanten eine sofortige Zahlung von hunderttausend Mark an uns leisten.

 

Der schönste Tag meines Lebens

Wegen der Vorgänge im Frühjahr und Sommer 1919 saßen vierundzwanzig Arbeiter aus Falkenstein seit neun Monaten in Untersuchungshaft im Plauener Landgericht. Unter dem Schutze der Noskiden sollte ihnen während der Kapp-Tage der Prozess gemacht werden. Die Falkensteiner Arbeiter hofften, die Arbeiterschaft in Plauen werde die Genossen befreien. Tag um Tag verging, aber die Ersehnten kamen nicht.
Da entschloss ich mich, die Genossen durch einen Gewaltstreich aus dem Kerker zu holen. Mitten in der Nacht rückte ich mit nur fünfzig Mann und drei Maschinengewehren in das hundertdrei­ßigtausend Einwohner zählende Plauen ein. Ein größeres Aufgebot wäre zu auffällig gewesen. Die Befreiung konnte nur gelingen, wenn sie so überraschend vor sich ging, dass ich dem Militär, der Gendarmerie und der Polizei gar keine Zeit zum Eingreifen ließ.
Da die Tore des Gefängnisses von den Beamten nicht geöffnet wurden, mussten wir alle Türen zertrümmern und mit Gewalt eindringen. In den Innenräumen des Gefängnisses versperrte uns eine sehr hohe und breite Eisentür den Zugang zu den Zellen. Dieser Tür konnten wir mit Äxten nicht beikommen, höchste Eile war aber geboten, damit Reichswehr und Gendarmerie nicht alarmiert werden konnten. Wir stellten uns in Doppelreihen hintereinander auf, so dass Körper an Körper lehnte, und im Takt auf Kommando wurde hin und her gewippt, bis nach einigen Sekunden unter fürchterlichem Krachen das riesige Tor zusammenstürzte. Zum Glück wurde dabei niemand verletzt.
Die Gefangenen in den Zellen, die merkten, dass die Freiheitsstunde nahte, begannen einen ohrenbetäubenden Lärm, riefen, klopften, sangen, pfiffen, jubilierten, so dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Jetzt kamen auch, zitternd am ganzen Körper und weiß wie Kalk, die Nachtaufseher herbei, die sich bisher ganz still verhalten hatten, weil sie es für unmöglich hielten, dass wir diese riesige Tür zertrümmern könnten. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen, denn viele von ihnen hatten unsere Genossen sehr schlecht behandelt.
Ich verlangte die Liste der politischen Gefangenen und befahl: »Schließen Sie die Zellen dieser vierundzwanzig Mann sofort auf, wir nehmen unsere Genossen mit nach Falkenstein.« Ohne Widerspruch wurde der Befehl ausgeführt. Es war der schönste Tag meines Lebens, als wir die Genossen, die seit neun Monaten in qualvoller Untersuchungshaft schmachteten, der Freiheit und ihren Angehörigen wiedergeben konnten.
Aber zu langer Wiedersehensfreude blieb keine Zeit. Die Maschinengewehre wurden auf die Autos geladen und alles zum Abmarsch bereit gemacht.
Und fast hätte ich eine wichtige Angelegenheit zu erledigen vergessen. Mir war bekannt, dass viele meiner Genossen nur durch Denunziationen verhaftet worden waren. Es lag mir sehr daran, aus den Akten herauszufinden, wer die Verräter waren. Ich verlangte von den Beamten die Untersuchungsakten der vierundzwanzig Genossen, die Beamten erklärten aber, die politischen Akten habe der Erste Staatsanwalt in persönlicher Verwahrung. Der Mann, dessen Wohnung am Gefängnis lag, hatte sicherlich schon den nächtlichen Krach gehört, sich aber nicht gerührt. Mit einigen Genossen ging ich an seine Haustür und pochte laut. Nach einer Weile wurde oben zaghaft ein Fenster geöffnet, ein Kopf mit einer Schlafmütze schaute heraus, und eine ängstliche Stimme fragte: »Was wünschen Sie?« Ich antwortete: »Sind Sie der Erste Staatsanwalt?« - »Der bin ich.« - »Na, dann kommen Sie schnell herunter!« Er sagte, dass das nicht so schnell ginge, er müsse sich erst anziehen. Ich erwiderte: »Wenn Sie in zwei Minuten nicht unten sind, sprenge ich die Tür mit einer Handgranate.« Und damit er merkte, dass ich nicht nur drohte, band ich zwei Stielhandgranaten an die Türklinke.
Nach nicht ganz zwei Minuten kam der Erste Staatsanwalt schlotternd herunter und erklärte sich sofort bereit, die Akten herauszugeben.
Ich ging mit ihm in das Gerichtsgebäude, wo die Akten lagen. Er gab mir einige Pakete, aber ich merkte bald, dass das längst nicht alle waren und die wichtigsten Akten fehlten. Ich sagte: »Wir haben keine Zeit, hier länger zu verweilen, aber ich muss die Akten haben. Sie bürgen mir mit Ihrem Leben dafür, dass ich sie noch heute bekomme; ich nehme Sie als Geisel mit nach Falkenstein, und wenn die Akten nicht innerhalb weniger Stunden dorthin gebracht werden, lasse ich Sie erschie­ßen!«
Es blieb ihm nichts übrig, als sich zu fügen. Ich nahm ihn ins Auto, damit ihm nichts passiere. Zu dieser Maßnahme hatte ich allen Grund: in dem
Augenblick, als ich mit den befreiten Genossen die Zellen verließ, war ich Zeuge eines Streites zwischen vier befreiten Genossen. Jeder beanspruchte für sich das Recht, Vergeltung an dem Aufseher zu üben, der sie besonders gequält hatte. Ich wusste, dass unsere Freunde furchtbar gelitten hatten, und begriff ihre grenzenlose Erbitterung. Aber wir hatten keine Zeit, um mit diesen Folterknechten abzurechnen.
In der Stadt begann es lebendig zu werden, die Schreckenskunde hatte sich verbreitet. Aber noch ehe die staatlichen und städtischen Sicherheitsorgane auf dem Plan erschienen, lag Plauen längst hinter uns.
Unter beispiellosem Jubel zogen wir in Falkenstein ein.
Dem Staatsanwalt verschaffte ich ein gutes Frühstück aus dem besten Hotel; er konnte sich auch sonst über schlechte Behandlung nicht beklagen. Ich empfahl ihm, sofort Briefe zu schreiben, die durch einen Motorradfahrer zu seiner Frau gebracht würden. Darin stand: wenn bis zwölf Uhr mittags die noch fehlenden Akten nicht abgeliefert seien, werde er erschossen.
Noch vor zwölf Uhr erschien seine Frau mit einem Beamten des Landgerichts und lieferte alle noch fehlenden Akten an mich ab.
Als der Erste Staatsanwalt merkte, dass er so glimpflich davongekommen war, obwohl er viele unschuldige Arbeiter auf dem Gewissen hatte, wurde er frech und beanspruchte für sich, seine Frau und den Beamten ein Auto zur Rückfahrt. Ich dämpfte seinen Übermut und sagte, dass wir ihm gestatteten, in einem Landauer nach Plauen zurückzukehren, den ein Fabrikbesitzer aus Falkenstein zur Verfügung stellen müsse. Für dieses Entgegenkommen habe er tausend Mark an die Kasse der Kriegshinterbliebenen zu zahlen.
Aus den Akten ersah ich dann, dass zwei Leute, die sich als Mitglieder in die Partei eingeschlichen hatten, Polizeispitzel waren. Sie wurden sofort festgesetzt.
Am Nachmittag des gleichen Tages ging ich mit einem Genossen in das Falkensteiner Gerichtsgebäude und ließ sämtliche Beamten vom Oberamtsrichter bis herunter zu den Gerichtsvollziehern und Justizwachtmeistern zusammenrufen. Ich erklärte ihnen, jetzt habe die Arbeiterschaft die Macht in den Händen. Sie brauche die bürgerlichen Gesetze nicht, die nur gemacht seien, um die Arbeiter ihren Unterdrückern botmäßig zu erhalten. Wir machten uns unsere Gesetze selbst.
Ich hieß die Beamten alle Akten und Bücher aus dem Gericht heraustragen und auf dem großen Platz zwischen dem Gerichtsgebäude und der Schule aufstapeln.
Der Oberamtsrichter hielt meine Anordnung für einen schlechten Witz. Als er merkte, dass es mir ernst war, verlegte er sich aufs Bitten und sagte unter Tränen, sein ganzes Leben hänge doch an dieser Arbeit und an diesen Papieren. Er sei aufgewachsen in diesen Anschauungen, und ich solle doch versuchen, mich in seine Lage zu versetzen. Ich erwiderte, ich könne auf seine Gefühle keine
Rücksicht nehmen, hier handle es sich um größere Dinge als persönliche Empfindungen. Mein Vorgehen sei nur ein winziges Glied in der Kette des großen Befreiungskampfes der Werktätigen.
Es blieb ihm nichts übrig, als die Akten mit hinauszuschaffen. Stundenlang arbeiteten die Richter und die unteren Beamten an der Errichtung eines riesigen Akten- und Bücherhaufens, während ich die Aufsicht führte. Als das letzte Aktenbündel und das letzte Buch - mit Ausnahme der Mündelakten - die staubigen Regale verlassen hatte, gab ich den zwei Amtsrichtern und einem Referendar je eine Schachtel Streichhölzer, eine vierte nahm ich, und auf meinen Befehl wurde der riesige Aktenberg zu gleicher Zeit an vier Ecken angezündet. Das Feuer brannte ununterbrochen drei Tage und drei Nächte.
Ich war mir bewusst, dass es eine historische Pflicht der Revolution ist, diese Aufräumungsarbeiten allerorts zu vollbringen. Denn in diesen Tausenden von Paragraphen und Gesetzen drücken sich ja jene kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aus, die es der kleinen herrschenden Klasse erlauben, von der Ausbeutung der breiten Massen zu leben. Die Revolution muss schon bei ihren ersten Schritten die »Gesetzestafeln« der alten Ordnung zerstören. Die große, allgemeine Umwälzung ist gewiss kein einmaliger Vorgang, sondern ein langwieriger Prozess, in dem solche einzelnen Aktionen zur Störung der bürgerlichen Ordnung und ihres »Rechtes«, wie unsere Aktenverbrennung, symbolische Bedeutung haben.

 

Was ich mit Heinrich Brandler erlebte

Durch die Werbebüros, die wir in Falkenstein eingerichtet hatten, vergrößerte sich von Tag zu Tag die Zahl der aus allen Teilen des Reiches kommenden Arbeiter, die in der Vogtländischen Roten Armee mitkämpfen wollten. Bald stellte sich ein fühlbarer Mangel an Waffen heraus, dem abzuhelfen meine nächste und wichtigste Aufgabe war. Durch Genossen erfuhr ich, dass in der Kaserne in Frankenberg bei Chemnitz große Vorräte von Waffen aller Art, Munition und anderen Ausrüstungsgegenständen lagerten. Diese Waffen standen unter der Verwaltung der Reichswehr, die dort einen Hauptmann und fünfzig Mann untergebracht hatte. Nach meinen Informationen waren diese Waffen des Öfteren dem Chemnitzer Arbeiterrat bzw. Aktionsausschuss angeboten worden, ohne dass er sie holte und, wie es die Situation erforderte, an die Arbeiter verteilte.
Ich beschloss, die Waffen in Frankenberg zu holen. Um nach Frankenberg zu gelangen, mussten wir über Zwickau und Chemnitz fahren. Für diese Aktion wählte ich dreißig Mann - besonders zuverlässige Genossen - aus, die weder Gewehre noch Revolver mit sich nahmen. Nur einige hatten sich Handgranaten eingesteckt.
Beim Umsteigen in Zwickau erregten wir Falkensteiner größtes Aufsehen. Der aus SPD-Leuten zusammengesetzte Aktionsausschuss in Zwickau bekam Angstzustände. Als wir nicht, wie sie befürchteten, in Zwickau ausstiegen, telefonierten
sie nach Chemnitz und meldeten, der berüchtigte Hoelz sei mit seinen Leuten auf dem Wege nach Chemnitz, um den Aktionsausschuss gefangen zu setzen. Beim Aussteigen auf dem Chemnitzer Bahnhof - wir mussten dort wieder umsteigen, um nach Frankenberg zu gelangen - sahen wir uns plötzlich von mehreren hundert Schutzleuten umringt, die sich dreißigtausend Mark verdienen wollten. Die sächsische Regierung hatte am Tage vorher die Prämie auf meinen Kopf auf dreißigtausend Mark erhöht.
Ich war über diesen Empfang einfach sprachlos, weil der Chemnitzer Aktionsausschuss, der paritätisch aus Rechtssozialisten und Kommunisten zusammengesetzt war, die Macht besaß. In diesem Aktionsausschuss spielte mein Parteigenosse Heinrich Brandler eine führende Rolle. Ich konnte mir nicht erklären, wie es unter diesen Umständen möglich war, dass die Chemnitzer Polizeiorgane es wagen konnten, uns einen solchen Empfang zu bereiten.
Die Schutzleute schickten sich an, mich zu verhaften. Als sich der Kreis der Ordnungshüter immer enger um mich schloss, gab ich das Kommando: »Handgranaten heraus!« Die Wirkung war einfach überwältigend. Beim Anblick der plötzlich aus den Taschen herausgezogenen drei bis vier Handgranaten stoben die Tapferen in wilder Hast auseinander.
Wir glaubten nun, freie Bahn zu haben und ungehindert nach Frankenberg gelangen zu können. Beim Verlassen des ersten Bahnsteigs sahen wir uns aber von einem neuen Schutzmannsaufgebot umringt. Ich fragte einen vor mir stehenden Oberwachtmeister, was er denn eigentlich hier wolle. Darauf legte er, entweder um mich zu beruhigen oder um mich im Namen des Gesetzes zu verhaften, seine Hand auf meine Schulter. Das veranlasste mich, ihm eine kräftige Ohrfeige zu versetzen. Er fiel der Länge nach auf die Schienen. Ich nahm seinen Revolver, schoss ein paar Mal in die Luft und trieb damit das ganze Aufgebot auseinander.
Um die Aufregung, die in Chemnitz herrschte, nicht noch zu steigern, verzichtete ich darauf, auf dem Bahnhof zu warten, bis der Zug nach Frankenberg abging. Wir marschierten im Gänsemarsch auf dem Bahndamm von Chemnitz nach Frankenberg. Nachdem wir ungefähr eine Viertelstunde gewandert waren, setzte plötzlich eine tolle Schie­ßerei hinter uns ein. Ich erblickte in einer Entfernung von etwa einem Kilometer Hunderte von Schutzleuten und Angehörigen der Chemnitzer Bürgerwehr, die uns einzukreisen versuchten. Obwohl sie gut bewaffnet waren, hatten sie scheinbar doch nicht den Mut, näher an uns heranzukommen, sondern folgten nur in sicherer Entfernung. Kurz vor Frankenberg erhielten wir auch von vorn Feuer.
Wie sich später herausstellte, hatten die Chemnitzer telephonisch die umliegenden Ortschaften und die dortigen Einwohner- und Bürgerwehren mit der Schauernachricht alarmiert, Hoelz wolle mit seinen Leuten die in der Nähe Frankenbergs internierten russischen Kriegsgefangenen befreien.
Trotz dieser vielfachen Angriffe schlugen wir uns bis Frankenberg durch und wurden von dem dortigen Aktionsausschuss auf das herzlichste empfangen.
Der Vorsitzende des Aktionsausschusses ging den anrückenden Chemnitzer Schutzleuten und Bürgerwehrhelden entgegen und erklärte ihnen, dass ich mit meinen Genossen unter dem Schutze der Frankenberger Arbeiterschaft stehe. Wenn die Chemnitzer es wagen würden, weiter vorzudringen, werde sich die Frankenberger Arbeiterschaft geschlossen auf meine Seite stellen. Über diese Er­öffnung waren die Chemnitzer verblüfft. Sie hatten erwartet, dass der Frankenberger Aktionsausschuss ebenso wie der Chemnitzer gegen uns sein werde. Enttäuscht kehrten sie nach Chemnitz zurück.
Eine Stunde später kam Brandler im Auto in Frankenberg an und bat mich, mit nach Chemnitz zu kommen, um dort dem Aktionsausschuss den Zweck meines Unternehmens zu erklären. Merkwürdig berührte es mich, als Brandler kurz vor unserer Ankunft in Chemnitz mich bat, im Aktionsausschuss nicht zu sagen, dass ich in Frankenberg Waffen holen wollte. Ich sollte erklären, ich hätte Kleider und Schuhe für meine Leute kaufen wollen. Während meiner Besprechung mit ihm versicherte Brandler mir, dass er mein Vorgehen im Vogtland durchaus billige, er freue sich, dass wir in Falkenstein so scharf zupackten, er wolle gerne zu uns kommen und unsere Pressepropaganda ausbauen.
In Chemnitz erlebte ich ein drastisches Beispiel von der »revolutionären Energie« des dortigen Aktionsausschusses. Er hatte es nicht verhindern können - auch gar nicht versucht -, dass die Polizei auf dem Bahnhof einen so blamablen »Empfang« inszenierte. Der Ausschuss fühlte sich überhaupt durch den revolutionären Tatendrang der vogtländischen Arbeiter in seiner Passivität gestört. Während wir handelten, hielt der Chemnitzer Aktionsausschuss lange Konferenzen ab, in denen die KPD- und SPD-Führer verhandelten, ohne eine wirklich revolutionäre Entscheidung zu treffen.
Im Ruhrgebiet stand die Arbeiterschaft im offenen Kampf nicht nur gegen die Kapp und Lüttwitz, zur Abwehr ihrer Militärdiktatur, sondern im Kampf, der sich schon direkt zum proletarischen Aufstand, zum Kampf um die Macht, entwickelte.
Die Stimmung in den Arbeitermassen wichtiger Industriezentren war revolutionär. Der Druck der Massen wirkte sich so stark aus, dass selbst sozialdemokratische Bezirksvorstände nach außen hin Losungen ausgeben mussten, die eine offene Konzession an den revolutionären Willen der Massen darstellten.
So gab der Bezirksvorstand der SPD vom Niederrhein seine Unterschrift zu einem Flugblatt, in dem »die Erringung der politischen Macht durch die Diktatur des Proletariats bis zum Siege des Sozialismus auf der Grundlage des Rätesystems« als erste Forderung stand.
Die Chemnitzer SPD verbreitete gleichfalls ein
Flugblatt mit der Forderung, der Diktatur der Militärkamarilla die Diktatur des Proletariats entgegenzustellen.
Natürlich waren diese revolutionären Losungen von den SPD-Führern nicht ernst gemeint, aber es spiegelte sich doch in ihnen die Stimmung der Massen wider, die zur Revolution drängte. Dieser Massenstimmung entsprachen die revolutionären Aktionen, wie sie die vogtländische Arbeiterschaft unter meiner Führung einleitete. Zugleich fühlten wir unsere proletarische Verpflichtung zu revolutionärem Auftreten, um dadurch die kämpfenden Arbeiter des Ruhrgebiets zu entlasten.
Es ist klar und lässt sich, wenn man heute die damaligen Verhältnisse rückschauend überblickt, nicht bezweifeln, dass für einen Endsieg der Revolution in Deutschland in der Periode des Kapp-Putsches die wichtigste Voraussetzung fehlte: die Existenz einer zielklaren, disziplinierten, eisernen und revolutionär geführten kommunistischen Partei. Auch unsere Aktion im Vogtland war beeinträchtigt durch die Illusion: nicht die Existenz einer solchen revolutionären Partei sei die wesentlichste Voraussetzung für den Endsieg der Revolution, sondern es genüge der revolutionäre Elan einiger beherzter Führer, wenn sie so wie Hoelz im Vogtlande die Massenstimmung zu tatkräftigem Vorgehen ausnützten.
Aber ebenso verhängnisvolle Illusionen über die Führerrolle der kommunistischen Partei, denen wir im Vogtlande uns aus einer Überschätzung der revolutionären Tatkraft des einzelnen hingaben, zeigte die damalige opportunistische Führung der KPD (Thalheimer-Levi-Zentrale), zeigte vor allem auch der Führer der Kommunisten in der Chemnitzer Bezirksleitung, Brandler.
Statt zu begreifen, dass eine revolutionäre Partei in den revolutionären Kämpfen nur die Führung übernehmen kann, wenn ihre eigene Haltung klar, beispielgebend und eindeutig ist, statt sich an die Spitze der Arbeiterklasse als wirkliche Avantgarde des Proletariats zu stellen und so das Vertrauen der breiten Masse zu erobern, richteten Brandler und die damalige Führung der KPD ihr Augenmerk auf die Sozialdemokraten und machten ihre Entschlüsse mehr oder weniger von der Haltung der SPD abhängig.
Es braucht kaum betont zu werden, dass keineswegs die Partei in ihrer Gesamtheit für die Fehler verantwortlich gemacht werden kann, die damals begangen wurden. In der Partei befanden sich auch zu jener Zeit die besten und revolutionärsten Elemente der Arbeiterklasse, aber es fehlte diesen aktiven und vorwärtsstrebenden Elementen, zu denen ohne Zweifel die revolutionären Kämpfer des vogtländischen Proletariats sich zählen dürfen, die genügende Klarheit und ideologische Schulung, die sie befähigt hätte, den Kurs der Partei herumzureißen und die schwankende und opportunistische Politik der leitenden Genossen durch eine konsequente bolschewistische Politik zu ersetzen.
Bei der damaligen opportunistischen Führung der Partei war es sowohl dem einzelnen revolutionären Arbeiter als auch den aktiv kämpfenden Formationen viel schwerer, sich bedingungslos der Disziplin der Partei zu unterwerfen; als es bei einer konsequenten und eindeutigen Führung der Fall gewesen wäre.
Typisch für die opportunistische Politik gewisser Spitzen unserer Partei in der Kapp-Periode ist das Eingeständnis der vollkommenen Pleite, wie es Brandler selbst in seiner Broschüre über den Kapp-Putsch als Resultat dieser Politik aussprach. In dieser Broschüre heißt es auf Seite 76: »Im Stich gelassen von der Arbeiterschaft im Reich, im Stich gelassen von der USPD in Sachsen und angesichts der Gegenarbeit der SPD in ganz Sachsen wie in Chemnitz, blieb uns nichts weiter übrig als uns mit den Dingen abzufinden...«
In deutlichster Klarheit spricht Brandler hier aus, auf welchen ungeheuerlichen Illusionen seine Politik aufgebaut war. Für ihn war es eine Überraschung, dass die SPD Gegenarbeit leistete, dass die USPD die Revolution im Stich ließ. Er war durch die Tatsachen, die für eine wirkliche kommunistische Führung selbstverständlich hätten sein müssen, so überrumpelt, dass »ihm nichts übrig blieb, als sich mit den Dingen abzufinden«.
Das erste Flugblatt in den Märztagen, das die Zentrale der KPD herausgeben ließ, enthielt unbegreifliche Parolen. Ich zitiere gekürzt:
»Der Augenblick, den Kampf mit der militärischen Diktatur aufzunehmen, ist noch nicht da. Er ist erst dann da, wenn das Gesicht der militärischen Diktatur sich enthüllt haben wird. Die große Masse wird die militärische Diktatur erst kennen lernen, wenn statt der Geißeln Skorpione auf die Rücken der Arbeiter niedersausen, wenn eiserne Unterdrückung im Innern und neue Kriegsgefahr ihr Haupt erheben.«
Die Arbeiterschaft aber sollte bis zu Ende kämpfen mit dem rein propagandistischen Schlachtruf:
»Nieder mit der militärischen Diktatur! Für die Diktatur des Proletariats! Für die kommunistische Räterepublik!«
Selbst dem unpolitischen Laienverstand musste ein solches Flugblatt als Gipfel des Irrsinns erscheinen. Auf jeder Zeile zwei verschiedene Parolen: Kämpft nicht gegen die militärische Diktatur! Der Augenblick für die Diktatur des Proletariats ist noch nicht da, aber kämpft für die deutsche kommunistische Räterepublik. Rührt keinen Finger für die proletarische Demokratie - erst wenn die monarchistischen Generäle alle revolutionären Arbeiter erschossen haben, wird die Reichszentrale die Aktionsparole zum Kampf gegen die militärische Diktatur herausgeben. Noch am 22. März 1920 versandte die Zentrale an die Bezirksleitungen ein sehr langes, phrasenhaftes Rundschreiben, mit dem kein Mensch etwas anzufangen wusste und dessen letzten Absatz ich wörtlich zitiere: »Genossen, ihr werdet uns fragen, welche Parole wir Euch geben. Wir wissen, und hoffen mit Euch einig zu sein, dass für die Errichtung der Räterepublik der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Wir haben aber die Pflicht, aus diesem Kampf alles herauszuholen, was für das Proletariat nur irgendwie herauszuholen ist. Wir haben die Pflicht, auf dem Wege zu unserem Ziel so weit als möglich zu gehen. Das Ziel in unserem Kampf wird uns gesteckt durch die revolutionäre Reife des Proletariats. Was aber erreicht werden kann und unseres Erachtens erreicht werden muss, ist erstens die Bewaffnung des Proletariats, damit die kommende Regierung sehe sie aus, wie sie wolle, sich auf die Bajonette der Arbeiter und nicht auf die Bajonette der Bourgeoisie stützen muss; die Wahl von Arbeiterräten überall, damit wir der kommenden Regierung auch wenn sie diesmal nicht aus den Arbeiterräten hervorgehen sollte, als organisatorische Macht gegenüberstehen. Genossen, wir hoffen, dass Ihr alle mit heißem Herzen im Kampf seid und entbieten Euch unseren revolutionären Gruß.«
So die Zentrale der Partei, die also noch am 22. März die Bewaffnung des Proletariats forderte! Im selben Augenblick aber, in dem die Zentrale die Parole herausgab, dass wir, die Arbeiterschaft, uns bewaffnen sollten, versuchte der Chemnitzer Arbeiterrat, der unter Führung Brandlers stand, zu verhindern, dass ich mit den vogtländischen Arbeitern Waffen aus der Reichswehrkaserne in Frankenberg holte, wo sie im Überfluss lagen. Ja, nicht genug damit, verlangte Brandler unter dem Druck der SPD und USPD von mir und den vogtländischen Arbeitern, die in unserem Besitz befindlichen Waffen abzugeben. Derselbe Brandler gab aber während der Kapp-Tage einen Aufruf an das revolutionäre Proletariat heraus, in dem er schrieb:
»Die kapitalistische Gesellschaftsordnung können wir nur beseitigen unter rücksichtsloser Anwendung aller gewaltsamen Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Wer das Proletariat vom schärfsten Kampf abhält und vorgibt, für den Sozialismus zu kämpfen, betrügt das Proletariat. Der Kampf geht um die Diktatur des Proletariats, um den Kommunismus.«
Durch die direktions- und planlosen Parolen unserer zentralen Parteistellen während des Kapp-Putsches wurde eine grenzenlose Verwirrung unter der Arbeiterschaft angerichtet. Genosse Brandler selbst erklärte in der konstituierenden Arbeiterrats-Vollversammlung in Chemnitz, in der die Kommunisten die Mehrheit hatten: »Wir kämpfen nicht unmittelbar für kommunistische Ziele, wir denken nicht daran, gegenwärtig zur Macht zu kommen.«(Zitiert nach Brandlers eigener Darstellung in der Broschüre »Die Aktion gegen den Kapp-Putsch in Westsachsen«, Seite 19.)
Es lohnt sich, auf diese Broschüre des Genossen Brandler näher einzugehen, da sie nach den Kapp-Tagen das von der Zentrale der KPD sanktionierte »Aufklärungsmaterial« für den revolutionären Arbeiter darstellte. Das Niveau dieser Broschüre lässt eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Autor und eine Widerlegung der darin geäußerten Behauptungen kaum zu. Brandler widerlegt selbst seine eigenen Behauptungen in diesem Dokument andauernd, manchmal sogar noch auf derselben Seite. Es genügt also, seine widerspruchsvollen Aussprüche nur auszugsweise zu zitieren, um die Verworrenheit der Brandlerschen Politik zu zeigen.
In einer Vollversammlung der Chemnitzer Arbeiterräte am 16. März hielt Brandler laut seiner Broschüre (Seite 23-24) eine Rede mit der Pointe:
»Entweder wir ringen die Banditen (gemeint ist die monarchistische Reaktion; M. H.) nieder, oder sie uns; ein anderes gibt es nicht. Wenn wir vor dem Abgrund stehen, so wollen wir kämpfen bis zum letzten Augenblick. Nicht um eine Demonstration, sondern um Sein oder Nichtsein handelt es sich.«
Trotzdem verhinderte er nicht, dass in diesen Tagen (wiederum nach seinen eigenen Angaben auf Seite 25 der Broschüre) ein Automobil mit persönlichen Reisebegleitern Noskes und ein anderes Automobil mit reaktionären Offizieren Chemnitz passierten, ja, er stellte ihnen sogar noch einen Reiseausweis aus.
Die folgenden Sätze aus seiner Broschüre (Seite 88) sollte man nicht vergessen:
»Wir mussten auch dem bewaffneten Kampf ausweichen, nachdem das Rheinland niedergeschlagen war. Nach einem kurzen Anfangserfolg wären wir unweigerlich einer schweren Niederlage entgegengegangen.« Dabei hat aber Brandler auch vor der Niederschlagung der Arbeiter im Rheinland nicht ein einziges Mal versucht, durch eine bewaffnete Aktion im Erzgebirge-Vogtland die im schwersten Kampf im Ruhrgebiet stehenden Arbeiter zu entlasten und zu unterstützen. Im Gegenteil, jede Forderung und Anregung, die von unserer Seite aus an ihn erging, lehnte er ab. Ich begnüge mich, an dieser Stelle Brandler zu zitieren: »Obgleich wir in Chemnitz die Macht inne hatten, konnten wir von derselben doch keinen anderen Gebrauch machen, als Feuerwehrdienste im wesentlichen zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung zu verrichten.« (Seite 69 der Broschüre.)
Trotzdem erlaubte er sich in seiner Broschüre folgende Kritik: »Während der Ostertage verrichteten die Wattertruppen ihr Henkerhandwerk im Ruhrgebiet, und die Arbeiterschaft im übrigen Deutschland sah tatenlos zu, wie Ruhrbergleute blutig niedergeschlagen wurden.«
Brandler klagt wiederholt über den Mangel an Waffen. Dennoch kann man folgendes unglaubliche Geständnis lesen (Seite 88 der Broschüre): »Es war der kritischste Augenblick der Aktion, als in elf Kilometer Entfernung von Chemnitz zwei Panzerzüge mit ungefähr tausend Mann Reichswehr standen. Es wäre möglich gewesen, die beiden Panzerzüge zu nehmen. Wir rieten aber davon ab und setzten unseren ganzen Einfluss daran, das ganze Unternehmen zu verhindern.«
Obwohl Brandler selbst wiederholt in seinen Aufrufen und Reden der revolutionären Arbeiterschaft suggerierte, dass es um den Endkampf gehe, schrieb er nach den Kapp-Kämpfen in seiner Broschüre:
»Die Arbeiterschaft trat in den Abwehrkampf ein, zum Teil mit Illusionen, als ob es unmittelbar um den Endkampf ginge, zum größten Teil jedoch mit Zaghaftigkeit, mit halben und falschen Losungen und mit halber, unzulänglicher Entschlossenheit. Sie fürchtete offenbar die damit verbundenen Konsequenzen des Kampfes.«
Heinrich Brandler, der allein durch sein Geständnis über die zwei Panzerzüge beweist, dass er die Konsequenzen des Kampfes scheute, fühlt sich berechtigt, den Arbeitern einen solchen Vorwurf zu machen! Es war kein Arbeiter im revolutionären Vogtland so zaghaft und so voll halber und falscher Losungen und unzulänglicher Entschlossenheit wie gerade der »Führer« Brandler. Die Arbeiter standen alle mutig und selbstlos im Kampf! Kann man sich wundern, dass dieser »Führer« in weiten Kreisen der revolutionären Arbeiterschaft Empörung und Erbitterung erntete?
Genosse Brandler zitiert in seiner Broschüre auf Seite 75 seinen Aufruf, überschrieben: »An das deutsche Proletariat«, worin er sagt: »Was Max Hoelz mit seiner Handvoll Leute tut, wird von keiner politischen Partei gebilligt...« Auf derselben Seite behauptet er: »Im Grund genommen tat Hoelz während der Kapp-Wochen dem Wesen nach nichts anderes als das, was auch in Chemnitz und im Erzgebirge von der in den Arbeiterräten zusammengeschlossenen Arbeiterschaft getan wurde.«
Brandlers Stellung zur SPD wird noch besonders durch folgenden Satz, Seite 87 seiner Broschüre, beleuchtet: »« Schlimmere Anklagen gegen seine Politik, als sie Brandler hier selbst ausspricht, lassen sich kaum erfinden. Die SPD-Vertreter... hatten insoweit vollständig recht, wenn sie sagten, die Kommunisten hätten gar keine kommunistischen Ziele in die Tat umgesetzt, sondern nur mit der SPD für ihr Ziel, Niederwerfung der Kapp-Lüttwitz mitgekämpft.
Ich habe meine Erlebnisse mit Genossen Brandler etwas ausführlicher behandelt, weil ich weder in den Jahren der Illegalität vor der Verhaftung noch in den Zuchthausjahren nach der Verurteilung eine Möglichkeit hatte, gegen seine irreführende Darstellung meiner damaligen Aktionen und seine falsche Politik aufzutreten. Nicht erst heute, sondern schon während der Kapp-Tage wurde mir trotz meiner geringen politischen Erfahrung klar, dass die opportunistische Politik der damaligen Parteileitung falsch war. Sie verstand es nicht, die wirklich vorhandene und auch von niemandem bestrittene revolutionäre Stimmung in den Massen mit den tatsächlich gegebenen Möglichkeiten in Einklang zu bringen. In den Industriezentren wie im Ruhrgebiet, Vogtland, Mitteldeutschland, überall, wo größere Massen zusammengeballt waren, hätte die Partei nicht nur den Angriff der Kapp-Leute abwehren sollen, sondern die Abwehr in einen Angriff gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung selbst umwandeln müssen. Die Ruhrarbeiter und auch die vogtländischen Arbeiter haben damals ihre historische Aufgabe erfasst: Sie haben den Abwehrkampf zu einem Kampf um die proletarische Diktatur zu machen versucht, sie haben losgeschlagen, ihr Leben eingesetzt, ohne auf das Mobilmachungstelegramm der Parteizentrale zu warten, haben gehandelt, wie verantwortungsbewusste Revolutionäre in einer solchen Situation auch ohne Befehl von oben aus eigener Initiative handeln müssen. Eine revolutionäre Führung, die in derartigen Lagen dem Kampf ausweicht, weil die Ergreifung der Macht nicht mit 51 Prozent Wahrscheinlichkeit garantiert ist, verliert - und das hat der Ausgang der Kapp-Kämpfe erwiesen - das Vertrauen der Massen. Wenn ich auch nicht behaupten will, dass damals durch die Weitertreibung der Kämpfe die Eroberung und Behauptung der Macht zu erreichen gewesen wäre, so scheint mir doch unwiderlegbar, dass jene Kämpfe einen ganz anderen Ausgang genommen hätten, wenn die vogtländische und sächsische Arbeiterschaft den kämpfenden Ruhrarbeitern durch eine eigene große Aktion rechtzeitig Entlastung gebracht hätte, was seinerseits wiederum vorwärtstreibende Aktionen in anderen Teilen Deutschlands ausgelöst hätte. Und wenn auch vielleicht alle diese Aktionen zuletzt niedergeschlagen worden wären, es wären doch von der Kommunistischen Partei geführte Massenkämpfe gewesen; und das Proletariat gewinnt seine wertvollsten Erfahrungen nur in revolutionären Kämpfen, die ihm die notwendige Schulung für den Endkampf verbürgen.
Der Kampf, den Brandler und seine Bezirksleitung gegen mich führten, nahm die peinlichsten Formen an. Auf Grund einer Konferenz, die am Ostersonnabend in Falkenstein stattfand und an der SPD-, USPD- und KPD-Delegierte teilnahmen, wurde ein Aufruf plakatiert, der auf der folgenden Seite im Original abgebildet ist. Unter diesem irreführenden Aufruf hatte der Genosse Hecken: ohne mein Wissen (wie er später erklärte, in gutem Glauben) meinen Namen gesetzt.
In Wirklichkeit dachten weder Regierung noch die Staatsanwaltschaft oder die SPD daran, meine Verfolgung aufzugeben. Im Gegenteil, schon am nächsten Tag veröffentlichte die Regierung in der Dresdner Presse ein Dementi, in dem es hieß: »Dieser Aufruf erweckt den falschen Anschein, als ob die sächsische Regierung mit seinem Inhalt einverstanden sei...«
Kurz darauf wurde ich auf Brandlers Antrag von einer Parteikonferenz in Chemnitz, bei der ich natürlich nicht zugegen sein konnte, wegen angeblicher Disziplinlosigkeit aus der Partei ausgeschlossen. Die vogtländische Parteiorganisation erkannte diesen Beschluss aber nicht an und führte mich als Mitglied weiter.
Brandler fühlte sich auch berufen, ein großes Kapitel seiner Broschüre der Kritik meiner Person zu widmen. Obwohl er mich persönlich sehr gut kannte und über meine Verhältnisse und meine Entwicklung genau orientiert war, suchte er durch eine von Unwahrheiten strotzende Darstellung meiner Vergangenheit in der Arbeiterschaft Stimmung gegen mich zu machen. Er behauptete, ich sei im Krieg Feldwebelleutnant und Verwalter eines Etappengefängnisses gewesen (siehe Brandlers Broschüre, Seite 59), obwohl ich während des ganzen Krieges nie etwas anderes als gemeiner Frontsoldat, geschweige denn Gefängnisverwalter war. Diese von Brandler publizierte Legende konnte ich bis heute noch nicht ganz zerstören. Zwar hat Georg Schumann im Chemnitzer »Kämpfer« unter Brandlers Redaktion später die Verleumdung berichtigt, aber bezeichnenderweise fand Brandler nie den Mut, selbst öffentlich zu erklären, dass er mich wider besseres Wissen in Verruf gebracht habe, vielmehr ließ er sich durch Schumann als Opfer falscher Informationen hinstellen.
Diese bequeme Kampfmethode, Genossen statt durch sachliche Problematik dadurch anzugreifen, dass man sie - bewusst oder fahrlässig - mit
Schmutz bewirft und verleumdet, wird leider auch heute noch in immer größerem Umfange ganz allgemein und allseitig in den Kämpfen zwischen Fraktionen und Parteien angewendet. Das Schlimmste dabei ist, dass solche Diskreditierungsmethoden nicht nur dem jeweils Betroffenen schaden, sondern der Partei und der gesamten Arbeiterbewegung.

 

Rückzug und Flucht

Als die Bewegung im Ruhrgebiet niedergeknüppelt war, ging die Regierung daran, den letzten Revolutionskrater im Vogtlande zu ersticken. Fünfzigtausend Mann, ausgerüstet mit allen modernsten Großkampfmitteln, kreisten das Vogtland ein. Ich hatte nicht die Absicht, mich in dieser Situation auf einen regelrechten Kampf mit einer solchen Übermacht einzulassen.
Noch ehe die anrückenden Truppen mit uns in Gefechtsfühlung kamen, verließen wir unsere »Festung« Falkenstein und zogen uns geschlossen bis an die tschechoslowakische Grenze nach Klingenthal zurück. Ich wollte ein planloses Auseinanderlaufen der revolutionären Arbeitertruppe verhindern und hielt es für richtiger, uns von den Tschechoslowaken internieren zu lassen, als in die Hände der Reichswehr zu fallen. Um die Regierung zu warnen und die Reichswehr von dem Vormarsch abzuschrecken, hatten wir beim Abzug aus
Falkenstein Plakate drucken lassen, in denen wir drohten, wenn die Reichswehr ihren Vormarsch nicht einstelle, die Villen der Kapitalisten anzuzünden. In Wahrheit bestand bei uns keinen Augenblick die Absicht, diese Androhung wahrzumachen; wir wollten den Besitzern lediglich Schreck einjagen, damit sie auf die Reichswehr einwirkten, den Vormarsch gegen uns einzustellen. Der Zweck wurde in diesem Fall leider nicht im gewünschten Maß erreicht; dass einige Mitkämpfer bei unserm Abzug dann doch ein paar Villen in Brand steckten, widersprach den Befehlen des Roten Vollzugsrates.
In Klingenthal und in den umliegenden Ortschaften bezogen die Arbeitersoldaten Quartiere. Den tschechoslowakischen Behörden war gemeldet worden, wir planten einen Überfall in tschechoslowakisches Gebiet. Daraufhin sandte die tschechoslowakische Heeresleitung Militär an die Grenze. Ich verhandelte mit tschechischen Offizieren über die Möglichkeit eines Grenzübertrittes in geschlossener Formation und einer eventuellen Internierung.
In den nächsten Tagen kam es zu kleineren Gefechten und Plänkeleien zwischen unseren Vorposten und Reichswehrpatrouillen. Als ich erkannte, dass sich der Kreis um uns immer enger schloss und ein Durchbruch ganz unmöglich sei, ließ ich einige Brücken sprengen und Straßen aufreißen, damit uns die nachrückende Reichswehr nicht noch im letzten Augenblick vor dem Grenzübertritt den Weg abschneiden konnte.
In einer regnerischen Aprilnacht zog ich die Vorposten und Patrouillen zurück, sammelte alle verfügbaren Truppen auf der Straße Klingenthal-Georgenthal und schilderte den Kampfgenossen die Situation. Wir waren vollkommen eingekreist, und es blieben uns nur noch zwei Auswege: entweder gingen wir geschlossen mit unseren Waffen über die Grenze und ließen uns von der tschechoslowakischen Regierung internieren, oder wir lösten uns hier an Ort und Stelle auf und versuchten, in kleineren Trupps oder einzeln durch die Sperrketten der Reichswehr hindurch oder über die Grenze zu gelangen. Die Genossen stimmten letzterem zu, da an einen weiteren Widerstand nicht zu denken war und der Reichswehr der Anlass zu einem Blutbad genommen werden musste.
Ich selbst ging mit einem Genossen nach Klingenthal zurück, um nachzukontrollieren, ob von unseren Truppen niemand zurückgeblieben war, und vor allen Dingen, ob sie keine Waffen dort gelassen hatten. Wir liefen einer Reichswehrpatrouille fast in die Arme und schlugen uns schnell auf die Höhen von Untersachsenberg. Als der Morgen graute, fanden wir Zuflucht in dem kleinen Häuschen eines Musikinstrumentenmachers. Seine Frau reichte uns gerade eine Tasse Kaffee, als plötzlich der erwachsene Sohn der Familie ins Zimmer stürzte: »Die Reichswehr kommt!« Er führte uns schnell auf den über dem Ziegenstall liegenden kleinen Heuboden und versteckte uns in einem Heuhaufen.
Schon hörten wir die Kommandorufe des Patrouillenführers, der das Haus umstellen ließ. Ein Teil der Soldaten durchsuchte das ganze Gebäude. Etwa vier Mann stachen mit ihren Seitengewehren ins Heu. Sie verletzten meinen Oberschenkel, und ich war nahe daran, zu schreien, da ich befürchtete, sie könnten mir oder meinem Begleiter die Augen ausstechen. Gerade als ich im Begriff war, zu rufen, ließen sie ab; wir hörten von unten die Stimme des Patrouillenführers, der seine Leute sammelte und dann im nächsten Haus nachsuchen ließ. Nach einer Weile wagten wir uns aus dem Versteck und beobachteten durch eine Dachluke, wie aus dem Nebenhaus gefangene Genossen herausgeführt und von den Soldaten mit Gewehrkolbenschlägen auf Kopf und Rücken bearbeitet wurden. Diese Misshandlung unserer Genossen untätig mit ansehen zu müssen, war für uns entsetzlich. Wir hatten oft gefangene Gegner in unserer Gewalt, sie aber nie unmenschlich behandelt. Es war schwer, unter diesen Umständen im Versteck zu bleiben.
Ich schlug meinem Begleiter vor, sofort das Haus zu verlassen, da die Reichswehrsoldaten voraussichtlich wiederkämen. Mein Begleiter weigerte sich, er meinte, das Versteck hier sei am sichersten, und den Heuhaufen würden sie bestimmt nicht noch einmal durchsuchen. Trotzdem bestand ich darauf, sofort zu verschwinden; wenn er nicht mitkäme, ginge ich allein. Ungern ging er mit.
Kaum zehn Meter von dem Haus entfernt war die tschechische Grenze. Wir flüchteten in ein Anwesen jenseits der Grenze und hatten das Glück, von den tschechischen Grenzsoldaten nicht gesehen zu werden. Vom Dach des Bauernhauses aus beobachteten wir, wie tschechische Grenzsoldaten aus tschechischen Häusern heraus unsere Genossen verhafteten und sie direkt den deutschen Reichswehrsoldaten an der Grenze in die Hände lieferten. Die tschechischen Soldaten hatten ihre helle Freude daran, wenn unsere Genossen von den Reichswehrsoldaten viehisch geschlagen wurden.
Auch der Musikinstrumentenmacher, seine Frau und seine beiden Söhne wurden übel behandelt. Ich hatte mich nicht getäuscht; nach einer knappen halben Stunde kehrten die Reichswehrsoldaten in das Haus zurück. Diesmal warfen sie das ganze Heu auf die Straße und ließen nichts undurchsucht. Als die arme Frau sich durch die Drohungen des Offiziers einschüchtern ließ und erzählte, dass wir dagewesen seien, das Haus aber wieder verlassen hätten, wurde die ganze Familie verhaftet und unter schrecklichen Misshandlungen nach Klingenthal abgeführt.
Mein Begleiter und ich verließen schnellstens das Haus an der Grenze. Wir wanderten durch die tschechischen Wälder, und als es Abend wurde - wir waren müde und erschöpft und hatten noch nichts gegessen -, versuchten wir, in einem kleinen Dorf ein Unterkommen zu finden. Die Nacht war kalt und regnerisch, und es war unmöglich, im Freien zu bleiben. Die Füße versagten uns den Dienst. Wir suchten in eine einsame Scheune hineinzukommen, doch die Tür war verschlossen.
Trotzdem zwängten wir uns mühsam unter Verlust einiger Kleiderfetzen durch einen schmalen Spalt in das Innere der Scheune. Hier befand sich nur ganz wenig Heu; wir buddelten ein Loch und versuchten, eng aneinandergeschmiegt, uns zu erwärmen. Unsere Kleider waren gänzlich durchnässt, und unsere Zähne schlugen aufeinander.
Sobald es zu tagen begann, verließen wir diese ungastliche Stätte und wanderten, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, weiter, immer nur bemüht, möglichst von der Grenze wegzukommen. Um die Mittagsstunde gelangten wir an genau die Stelle zurück, wo wir am frühen Morgen aufgebrochen waren. Nunmehr hielten wir uns an die Landstraße und versuchten, eine Bahnstation zu erreichen, um nach Eger zu fahren. Auf diesem Marsch trafen wir mehrere Truppenkontingente, darunter auch Artillerie. Als wir die tschechischen Legionäre, die an einem Bach rasteten, fragten, ob sie in die Manöver gingen, erklärten sie: nein, ihr Ziel sei Graslitz, an der Grenze, sie müssten verhindern, dass Hoelz mit seinen Leuten in die Tschechoslowakei einfalle.
Wir kamen unangefochten bis Eger und fuhren von da mit dem Zug in der Richtung nach Pilsen weiter. Ein paar Stationen vor Pilsen verließen wir den Zug, um im Gasthaus eines Dorfes zu übernachten. In der Wirtsstube fielen wir zwei tschechischen Gendarmen auf und versuchten deshalb, in einem Privathaus zu logieren. Die Bewohner fürchteten sich aber, uns aufzunehmen, da sie an unserer Sprache merkten, dass wir von jenseits der
Grenze kamen. Im Begriff, das Haus zu verlassen, sahen wir vor dem Tor etwa fünfzehn Zivilisten und mehrere Gendarmen, die uns gefolgt waren und bei denen man uns bereits als Rotgardisten denunziert hatte.
Ich schlug das Tor rasch zu und sprang mit meinem Begleiter in den Hof des Grundstückes, kletterte auf einer Leiter über die Hofmauer und flüchtete ins Nachbargrundstück. Als wir von den obersten Sprossen absprangen, waren die Verfolger bereits auf den untersten, während der andere Teil durch das Tor des Nachbargrundstückes drang und uns dort in Empfang nehmen wollte. Ich flüchtete wieder über eine Mauer, stürzte dabei von der Höhe in das etwa einen Meter tiefe Jaucheloch eines Misthaufens, und noch ehe ich auf den Boden kam, sprang mein Genosse, den ein Gendarm schon gepackt hatte, von der Mauer herab und mir auf den Rücken. Trotzdem entkamen wir über einen Gartenzaun und gelangten außerhalb des Dorfes auf eine große Wiese, auf der uns - infolge Überschwemmung - das Wasser bis über die Knöchel ging. Die Verfolger befanden sich jetzt etwa dreißig Meter hinter uns. Geschossen wurde, soweit ich mich erinnere, nicht. Die einbrechende Dunkelheit kam uns zustatten. Wir wateten durch einen kleinen Fluss und erreichten einen Bahndamm. Hinter uns hörten wir die Rufe der Verfolger und Hundegebell.
Wir marschierten nun sieben Stunden lang am Bahndamm entlang. Die Nacht war eisig kalt, unsere Kleider durchnässt, dreckig und stinkend. Der
Genosse hatte beim Sturz ins Jaucheloch die Kopfbedeckung verloren, außerdem seinen Mantel. Wir getrauten uns nicht, ein Haus zu betreten, bestiegen aber gegen vier Uhr früh auf einer kleinen Haltestelle den ersten abgehenden Zug. In Marienbad kam um sieben Uhr morgens eine Gendarmeriepatrouille in den Zug und durchforschte jedes Abteil. Zwei Gendarmen betrachteten uns von oben bis unten und tasteten mit ihren Blicken die Gepäcknetze ab, als suchten sie die fehlende Kopfbedeckung meines Begleiters, dann sagten sie: »Kommen Sie heraus.« Auf unsere entrüsteten Fragen erhielten wir keine Antwort. Später erfuhren wir, dass wir bereits telegraphisch und telephonisch signalisiert worden waren.
Die Patrouille führte uns durch die Stadt in das Gebäude der Gendarmeriestation. Auf dem Wege dorthin versuchte ich, eine Eierhandgranate, die ich bei mir hatte, unbemerkt fortzuwerfen, aber es gelang mir nicht. Im Büro der Gendarmerie angekommen, mussten wir unsere Papiere abgeben (die auf andere Namen lauteten), und es wurde uns erklärt, wir müssten warten, bis eine Drahtanfrage beantwortet sei. Man gab uns Kaffee und ließ uns ganz gemütlich an den Tischen niedersitzen, an denen die Gendarmen ihre Schreibarbeiten verrichteten. An den Wänden hingen Karabiner, Revolver und Säbel. Das ganze dreistöckige Haus war Gendarmeriekaserne.
Plötzlich fragte der an seinem Tisch schreibende Kommandant, ob wir Waffen hätten. Wir verneinten. Er sagte, er müsse seiner Pflicht genügen und uns durchsuchen. Zuerst wurde mein Begleiter abgetastet, bei ihm fand man nichts. Dann kam man zu mir. Zwei Gendarmen tasteten meine Taschen und Hosenbeine ab, während der Kommandant zusah.
Ich hatte unterdessen vorsichtig die winzige Eierhandgranate aus der Tasche genommen und behielt sie in der fest geschlossenen Hand, damit die Gendarmen in den Taschen nichts finden sollten. Der kleine, fette, kugelrunde Kommandant jedoch forderte mich auf, die Hände zu öffnen. Ich hob darauf beide Arme seitwärts waagerecht und öffnete die Hände, so dass auf der linken Handfläche das niedliche schwarzlackierte Hühnerei zu sehen war. Im selben Augenblick aber schrie auch schon der uniformierte Rollmops mit der Pickelhaube wie besessen: »Eine Bombe, eine Bombe!«, machte eine militärische Kehrtwendung mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie ihm nicht zugetraut hätte, und schoss wie ein Hecht in das Nebenzimmer, von dort auf den Flur, die anderen vier Gendarmen ihm nach.
Ich stand wie hypnotisiert im Zimmer und hielt, immer noch beide Arme seitwärts gestreckt, die Handgranate friedlich auf dem Handteller. Ich guckte den Genossen an, er guckte mich an, keiner sprach ein Wort. Ich war so benommen, dass mir im Augenblick nicht einmal das unsäglich Komische der Situation zum Bewusstsein kam. Ganz mechanisch und langsam ging ich ins Nebenzimmer und von dort in den Flur. Der Genosse immer ein paar Schritte hinter mir. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Wir gingen langsam die Treppe hinab, traten auf die Straße, und ich bekam langsam Hoffnung, dass die Bahn frei sei. Aber kaum war ich einige Meter vom Fenster weg, als sämtliche Fenster geöffnet wurden und überall Helme aufblitzten. Und sofort schrieen die Kerle wie toll: »Aufhalten, aufhalten! Festhalten! Festhalten!« und wiesen mit den Armen auf mich. Von der anderen Seite der Straße kam jetzt ein Schutzmann auf mich zu und rief: »Bleiben Sie stehen!« Ich antwortete: »Kommen Sie mit!«
Indessen hatten die Gendarmen wieder Mut gefasst. Im Nu standen vierzehn Mann auf der Straße, die Karabiner schussfertig an den Backen. Sie riefen mir zu: »Handgranate hinlegen!« Das schrieen sie mindestens fünfzigmal. Da ich nicht im entferntesten die Absicht hatte, in der Tschechoslowakei von der Handgranate praktischen Gebrauch zu machen, legte ich das liebe gute Ding auf den Bürgersteig an einen Baum. Und erst, als ich wieder einige Meter von der Handgranate weg war, stürzten die Gendarmen auf mich los. Der kleine Dickwanst war jetzt ungeheuer tapfer; er wollte mich am liebsten füsilieren und puffte mich von allen Seiten. Bei mir aber hatte sich die Spannung gelöst, und ich fing ganz unbändig zu lachen an.

 

Interniert in der Tschechoslowakei -  Mein erster Hungerstreik

Wir wurden gefesselt nach Eger transportiert. Zwei Tage später wurde ich zur Vernehmung vorgeführt und sah mich zwei deutschen Reichswehroffizieren und einem Dresdner Staatsanwalt gegen­über, die mich als »den Hoelz« identifizierten. Sie waren überzeugt, dass ich ausgeliefert werde, und die tschechoslowakischen Behörden in Eger waren bereit, mich noch am selben Tage den deutschen Offizieren und dem Staatsanwalt zu übergeben. Da kam im letzten Augenblick - ich war bereits reisefertig - von der Regierung in Prag eine Gegenorder.
Ein paar Tage später wurden wir sechs Mann -es befanden sich noch vier gefangene Rotgardisten in Eger - in einen Sonderzug gesteckt und nach Prag geschafft. Der Zug bestand nur aus einer Lokomotive und zwei Wagen. Ein Wagen war für uns sechs Mann und zwölf Gendarmen bestimmt, im zweiten Wagen fuhren weitere dreißig Gendarmen.
In Prag blieb unser Wagen fast einen Tag auf dem Bahnhof stehen, weil in den Ministerien beraten wurde, wohin man uns bringen solle. Diese Erklärung gab mir der Chef der Prager Kriminalpolizei. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass unser langer Aufenthalt lediglich dazu bestimmt war, uns in Prag zur Schau zu stellen, denn im Wagen ging es zu wie in einem Taubenschlag. Dazu das ewige Gefrage des Polizeichefs und seiner Trabanten.
Ich sagte ihm, als es mir zu bunt wurde, er solle mich... Götz von Berlichingen, und stellte nur noch meine Rückenpartie zur Schau.
Von Prag schaffte man uns per Bahn nach Jitschin, von dort ging's zu Fuß in das Zuchthaus Karthaus.
Dort stellte man mich wegen der Handgranate in Marienbad unter Anklage (Bedrohung mit Sprengstoff). Wir blieben vier Monate in Karthaus interniert. Legionäre mit aufgepflanzten Bajonetten bewachten uns. Draußen im Freien herrschte große Hitze - es war im Mai/Juni -, aber in den Zellen war es so entsetzlich kalt, dass ich Tag und Nacht den Mantel anbehalten musste. Trotzdem schrieen wir noch vor Kälte und Hunger. Diese merkwürdige und furchtbare Kälte kam daher, dass die Zellen im Zuchthaus, das ehemals ein altes Kloster war, keine Heizung hatten und in den zwei Meter dicken Mauern noch der Winterfrost steckte.
Das Essen war nicht schlecht, doch es gab so wenig, dass man davon nicht satt werden konnte. Die erste Zeit war es uns nicht möglich, Zusatzlebensmittel zu erhalten. Später sorgten die organisierten Arbeiter von Jitschin für uns. In den letzten Monaten ging es uns ziemlich gut.
Es war notwendig, für unsere juristische Beratung und für den Verkehr mit den Regierungsstellen in Prag einen tschechisch sprechenden Rechtsanwalt zuzuziehen. Der sozialdemokratische Stadtverordnete und Kaufmann Goliath aus Jitschin empfahl mir als besonders zuverlässig den sozialistischen Jitschiner Advokaten Dr. Abl. Dieser Jurist erklärte sich bereit, meine Verteidigung und die der anderen dreiundzwanzig Internierten zu übernehmen. Gleich bei seinem ersten Besuch verlangte er zu wissen, wer ihn denn für seine Arbeit bezahle, da die Sache doch wahrscheinlich sehr viel Geld kosten werde. Ich versprach, mich mit meinen Parteiorganisationen in Sachsen in Verbindung zu setzen, damit sie ihm den notwendigen Kostenvorschuss schickten.
Kurz vor der Auflösung der roten Truppen hatte der Falkensteiner Vollzugsrat, dem ich als Vorsitzender angehörte, die noch vorhandenen Gelder, die aus den Kontributionen der vogtländischen Industriellen stammten, in Beträgen von fünfzigtausend bis zweihunderttausend Mark an verschiedenen Stellen untergebracht, damit diese Gelder nicht in die Hände der Reichswehr fielen. Es handelte sich um etwa eine dreiviertel Million Mark.
Durch Kassiber setzten wir uns mit einigen noch in Freiheit lebenden vogtländischen Genossen in Verbindung und beauftragten sie, durch die Frau des mit mir verhafteten Genossen einen grö­ßeren Betrag über die Grenze zu schmuggeln. Dieser Frau wurde in Sachsen ein Depot in Höhe von hundertfünfzehntausend Mark übergeben. Sie verbarg die Summe an ihrem Busen, und bei Graslitz gelang es ihr, ohne Pass über die Grenze zu kommen. Beim Besteigen des Zuges, der sie nach Eger und dann nach Jitschin bringen sollte, erlitt sie eine schwere Unterleibsblutung, brach zusammen und musste in das Stationsgebäude gebracht werden. Nur ihrer Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass ihr bei diesem unglücklichen Zwischenfall von den tschechischen Zollbeamten nicht das Geld und die Briefe abgenommen wurden. Unversehrt brachte sie das Depot und die Briefe nach Jitschin, und bei einem Besuch im Kerker gelang es ihr, beides ihrem Mann heimlich zu übergeben. Der Frau des Genossen und meiner Frau Klara, die ebenfalls nach Jitschin gekommen war, schien es ratsamer, das Geld im Kerker aufzubewahren als in dem kleinen tschechischen Gasthause, wo sie logierten. Der Genosse gab mir den Umschlag mit den hundertfünfzehn Tausendmarkscheinen, und mir fiel die schwierige Aufgabe zu, dies Geld so aufzubewahren, dass es bei den täglichen Zellenrevisionen nicht in die Hände der Aufseher geriet.
Eines Tages wurde ich ganz überraschend aus der Zelle herausgeholt. Draußen visitierten mich mehrere Beamte, während andere die Zelle durchsuchten. Ich hatte das Geld in meiner inneren Rocktasche, und als der Beamte nach dem dicken Umschlag griff, sah ich keine Möglichkeit, unser Depot zu retten. Ich erklärte, das sei ein Brief an meinen Anwalt, den ich nicht in fremde Hände geben wolle. Der Aufseher ließ sich verblüffen, und wir konnten nun einen Teil dieser Summe verwenden, um die Anwalts- und Prozesskosten zu bezahlen.
In Karthaus befanden sich außer den vierundzwanzig vogtländischen Rotgardisten, die als Internierte galten und an Deutschland ausgeliefert oder ausgewiesen werden sollten, noch neunhundert kriminelle tschechische Gefangene. Den ganzen
Tag klirrten in den Höfen die Ketten, mit denen die Gefangenen gefesselt waren. Viele mussten mehr als einen halben Zentner Ketten schleppen und dabei noch schwer arbeiten.
Der Gefangene, der meine Zelle säuberte, sprach kaum ein paar Worte deutsch. Er war ein »Lebenslänglicher« und schon siebzehn Jahre in diesem Zuchthaus, das als das furchtbarste und grausamste der Tschechei gilt. Am Tage nach seiner Einlieferung, bei der Umkleidung, war er nackend auf einen Tisch gesprungen und hatte sich blitzschnell mit einem scharfen Messer die Hoden vollständig abgeschnitten, sie verächtlich in eine Ecke der Badezelle geschleudert und gesagt: »Was soll mir das Zeug, ich kann's ja doch nie mehr gebrauchen.« Infolge dieser Selbstverstümmelung hatte er sehr lange im Lazarett des Kerkers gelegen.
Ich drängte, dass das gegen mich eingeleitete Verfahren beschleunigt werde, denn an meinem Schicksal hing auch das der anderen. Als ich den Eindruck gewann, dass das Verfahren verschleppt werde, trat ich in Hungerstreik. Ich führte ihn vierzehn Tage durch, dann war endlich der Verhandlungstermin festgesetzt worden. Da ich diesen Hungerstreik ohne Wasser durchführte, war ich schon nach fünf bis sechs Tagen in einer recht tristen Lage. Ich bekam Fieber, meine Eingeweide brannten wie Feuer. Um zu verhindern, dass man mich gewaltsam füttere, hatte ich die Zellentür von innen so fest vernagelt und verrammelt, dass sie nicht geöffnet werden konnte. Man hätte sie mit
Äxten zertrümmern müssen. Ich hatte jedoch der Verwaltung angekündigt, den Strohsack in der Zelle anzuzünden, sobald der erste Schlag gegen die Tür geführt werde. Ich wäre dabei ohne Zweifel verbrannt. In der Zelle über mir hatte acht Tage zuvor ein Gefangener sich durch Anzünden des Strohsackes ums Leben gebracht. Deshalb wohl unterließ es die Verwaltung, mit Gewalt die Tür zu öffnen. Aber sie plante einen anderen Streich. Jener Kalfaktor, der sich selbst entmannt hatte, teilte mir mit, man träfe Vorkehrungen, um nachts, wenn ich schliefe, ganz überraschend und schnell die Zellentür aufzubrechen. Gegen diese Überraschung musste ich mich sichern. Ich befestigte über der Tür ganz lose die blecherne Waschschüssel sowie die Essschüssel und Blechnäpfe, nahm den Strohsack von der Pritsche und legte ihn so auf den Fußboden, dass beim Schlafen mein Kopf genau unter der Vorrichtung über der Tür lag. Dieser Alarmapparat funktionierte großartig, die geringste Bewegung an der Tür bewirkte, dass mir sofort der ganze Klempnerladen auf den Kopf flog und ich wach wurde. Außerdem machte ich die Verwaltung darauf aufmerksam, wenn sie die Tür mit Gewalt zertrümmern würde, zerschlüge sie damit auch meinen Schädel. Die Situation war geradezu tragikomisch. Die Tschechoslowaken hatten mich eingesperrt, und ich hatte die Tschechoslowaken ausgesperrt. Ich litt Höllenqualen vor Durst, man war gern bereit, mir Wasser zu geben, aber ich nahm es nicht an.
Der Hungerstreik hatte außer der endlichen
Festsetzung des Verhandlungstermins noch einen Erfolg. Ich erhielt jetzt schlüssige Beweise dafür, dass nicht die tschechische Behörde unsere Freilassung verschleppte, sondern Dr. Abl, mein Jitschiner Verteidiger. Darauf telegraphierte ich an einen deutschen Verteidiger, bat ihn, mich zu besuchen, und als er kam, übergab ich ihm die ungeheuerliche Kostenaufstellung, die mir der Jitschiner Anwalt zugestellt hatte. Dabei stellte sich heraus, dass der tschechische Anwalt innerhalb weniger Wochen mehr als sechzigtausend Mark von unseren Freunden und Genossen für die Vertretung erhalten hatte, ferner, dass er weitere zwanzigtausend Mark forderte, ohne dass er überhaupt in der Sache etwas gearbeitet hatte. Mein deutscher Anwalt übergab die Angelegenheit und das Material dem sozialistischen Zentralorgan in Prag, das veröffentlichte die wucherische Kostenberechnung des tschechischen Anwalts, der sozialdemokratischer Parteigenosse war. Daraufhin nahm sich die Anwaltskammer der Sache an, und Dr. Abl sollte wegen dieses Vorkommnisses aus dem Anwaltsstand ausgestoßen werden. Aus Scham darüber erhängte er sich an der Gardine seines Schlafzimmers.
Nun übernahmen mein deutscher Anwalt und ein Prager Advokat die Verteidigung, und unsere Angelegenheit ging von da ab schnell vorwärts.
Etwas ist mir besonders stark in der Erinnerung haften geblieben aus jener Zeit: Im Karthauser Kerker hörte ich in den Sommernächten, während ich auf meiner Pritsche lag, oft den Gesang von Mädchen- und Frauenstimmen, die tschechische
Volksweisen sangen; dieser Gesang war von einer fast überirdischen Schönheit. Ich habe weder in Deutschland, Österreich, Polen, Russland, Belgien, Frankreich noch in England jemals etwas Ähnliches gehört. Später hörte ich in Wien und Berlin Opern, aber sie waren nichts gegen diesen unbeschreiblichen Mädchengesang in den lindenduftenden Sommernächten zu Karthaus.
Hier im tschechoslowakischen Zuchthaus Karthaus erfuhr ich auch von dem Ausbruch des russisch-polnischen Krieges. Obwohl die Nachrichten, die ich darüber in bürgerlichen Zeitungen fand, sehr spärlich waren, versuchte ich, die Ursachen und Zusammenhänge des russisch-polnischen Konfliktes zu erkennen. Sozialistische oder kommunistische Zeitungen, auch Bücher und Broschüren, konnte ich im Zuchthaus Karthaus nicht erhalten.
Meine Informationen waren also nur einseitig. Aber selbst die bürgerlichen Pressemeldungen überzeugten mich, dass der Kampf der russischen Arbeiter und Bauern gegen Polen nicht um nationaler oder imperialistischer Ziele willen geführt wurde, sondern dass Sowjetrussland, der erste Arbeiterstaat, diesen Kampf zu seiner Selbstbehauptung und im Interesse der Arbeiter der ganzen Welt aufzunehmen gezwungen war. Polen, der geographische Pufferstaat, war von den imperialistischen Mächten des Westens vorgeschoben, um für die Bourgeoisie die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Es enttäuschte mich furchtbar, als ich aus der tschechoslowakischen Presse ersah, dass die deutschen Arbeiter ihren russischen Brüdern nicht entgegeneilten, um gemeinsam mit ihnen nicht nur die polnische, sondern auch die deutsche und internationale Reaktion zu zerschmettern.
Es war ein schmerzlicher Tag für mich, als ich hörte, dass sechzigtausend russische Rotarmisten auf deutschem Boden interniert worden waren, ohne dass sich die deutsche Arbeiterschaft sofort mit ihnen verbündete. Wäre ich in diesen Wochen frei gewesen, ich wäre ohne Zögern zu den internierten russischen Brüdern geeilt, um mit ihnen gemeinsam die deutsche Arbeiterschaft zum Kampf aufzurufen.
Im August wurden mein Genosse und ich aus Karthaus entlassen, nachdem bereits in den Wochen zuvor die anderen zweiundzwanzig Genossen nacheinander ihre Freiheit erhalten hatten und aus der Tschechoslowakei ausgewiesen worden waren. Der Genosse und ich mussten uns nach der Freilassung noch die ständige Bewachung durch zwei Prager Kriminalbeamte gefallen lassen.
Etwa acht Tage vor meiner Entlassung aus Karthaus fand vor dem Jitschiner Landgericht die Verhandlung wegen der bei meiner Verhaftung in Marienbad bei mir gefundenen Handgranate statt. Ich wurde wegen Vergehens gegen das Sprengstoffgesetz und angeblicher Bedrohung der Gendarmen zu einigen Wochen schweren Kerkers verurteilt. Absitzen musste ich diese Strafe jedoch nicht. Die Verurteilung geschah wohl nur pro forma, denn ich wurde kurz nach der Urteilsfällung auf freien Fuß gesetzt.
Da ich durch den Hungerstreik sehr geschwächt war, wollte mein Anwalt mich vorerst einmal in ein Sanatorium bei Prag bringen. Bei der Besteigung des Zuges in Jitschin veranstalteten die Arbeiterorganisationen eine Ovation für uns. Wir bekamen in Massen Blumensträuße, rote Schleifen, feuerrote Nelken.
Die tschechischen Rechtsradikalen veranstalteten aus Ärger über die Huldigung eine Gegendemonstration im Bahnhof, mussten jedoch sehr schnell das Feld räumen, da die Sozialisten in Jitschin in der Überzahl waren und der sozialistische Bürgermeister selbst sich an der Kundgebung für uns beteiligte.
Dafür aber rächten sich die tschechischen Rechtsradikalen. Sie riefen in den Orten an, die unser Zug passieren musste, und machten ihre dortigen Anhänger gegen uns mobil. In der nächsten Station legten sich Hunderte von tschechischen Rechtsradikalen einfach auf die Schienen und lie­ßen den Zug nicht weiterfahren. Sie zwangen uns, den Zug zu verlassen, und drohten unter wüstem Geschimpfe, mich mit Steinen und Stöcken totzuschlagen.
Der Kriminalbeamte und der Anwalt meldeten sofort telephonisch den Zwischenfall an das Justizministerium und an die Polizeidirektion in Prag. Von dort wurde ein Auto geschickt, das uns ohne weitere Zwischenfälle nach Prag brachte, wo wir nachts um eins im Sanatorium anlangten. Beim Einsteigen in das offene Personenauto spuckten uns die wildgewordenen Rechtsradikalen an und warfen uns faustgroße Äpfel und Birnen an die Köpfe.
In dem Sanatorium, das sich in einem Prager Vorort befand, fielen wir aus einem Erstaunen in das andere. Es wurden uns zwei Kriminalbeamte auf den Hals gesetzt, deren Unterbringung und Verpflegung ich bezahlen musste. Das bedeutete Kosten, die für mich auf die Dauer untragbar waren, denn die aus den vogtländischen Requisitionen stammenden Mittel durften nicht auf solche Weise aufgebraucht werden.
Es war uns nicht gestattet, das Sanatorium zu verlassen, wir sollten nur in dem großen Garten unter Aufsicht der Kriminalbeamten Spazierengehen. Die Bewachung wurde in folgender Weise gehandhabt: Wir verließen das Sanatorium, und der eine Beamte - die beiden lösten einander in der Bewachung ab -, der ein sehr guter Geigespieler war, ging uns mit seiner Geige voraus und spielte uns die herrlichsten tschechischen Nationalweisen vor, lief dann stundenlang in der Umgebung herum und versuchte, für uns Ziegenmilch aufzutreiben.
Viel weniger angenehm war der zweite Beamte. Das war ein kleiner, dicker, pausbäckiger ehemaliger Kammerdiener des Grafen von Thurn und Taxis, wie er sagte; er hatte erst seit dem Umsturz die Kriminalbeamtenkarriere eingeschlagen. Dieser Mann wollte Geld und immer nur Geld von mir. Er verstand es, fast zu Tränen rührende Geschichten zu erzählen, dass es ihm entsetzlich schlecht gehe, er müsse noch in dieser Nacht sich, seine
Frau und sein herziges Kind erschießen, wenn ich ihm nicht sofort seine goldene Uhr abkaufte. Dafür verlangte er fünftausend Kronen, aber ich konnte ihm beim besten Willen keine fünfzig geben. Jedenfalls hielt er mich für einen kleinen Millionär. Er hatte nämlich unterwegs gehört - aus dem Mund naiver Landleute, die an den Bahnstationen unseren Transport beobachteten -, dass meine Koffer mit Diamanten und Brillanten angefüllt seien.
Im selben Sanatorium befanden sich Damen der bulgarischen Gesandtschaft, ferner die Frau des ukrainischen Bandenführers Jan Petljura. Ich erregte in dieser illustren Gesellschaft begreifliches Aufsehen.
Die tschechischen Nationalisten, die bald von meiner Anwesenheit erfuhren, brachten mir in den Abendstunden oft »Ovationen« dar, in der Weise, dass sie mir und meinen Begleitern Revolverkugeln um die Ohren pfeifen ließen, wenn wir auf dem Balkon saßen. In der Presse forderten sie meine Ausweisung. Wahrscheinlich unter Druck entschloss sich die Regierung zu einem merkwürdigen Dreh. Außer den Kriminalbeamten waren zu unserer Bewachung noch zwei Gendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten in das Pförtnerhäuschen des Sanatoriums gezogen. Es wurde gemunkelt, wir hätten die Absicht, zu fliehen. Eines Tages kam mein Prager Anwalt zu mir und sagte, es sei ihm von höchster Stelle nahe gelegt worden, ich solle der Tschechoslowakei so bald wie möglich den Rücken kehren. Wir verstauten unsere wenigen Sachen in zwei Köfferchen, und am nächsten Tage kam ein Auto, in dem der Anwalt und ein Kriminalbeamter saßen, um uns abzuholen. Die beiden Gendarmen, die im Pförtnerhäuschen saßen, rührten sich überhaupt nicht, als wir an ihnen vorübergingen. Das Auto brachte uns nach einer kleinen Bahnstation außerhalb Prags, dort blieb der Kriminalbeamte zurück, und unser Verteidiger fuhr mit uns bis Znaim an die tschechisch-österreichische Grenze. Dort war unsere Ankunft schon signalisiert, und wir wurden mit behördlicher Konzession ohne Pass oder Ausweis über die österreichische Grenze geschmuggelt. Die Tschechoslowaken waren mich los. Freude hatten sie an mir nicht erlebt, mochten die Österreicher nun sehen, wie sie mit Hoelz fertig wurden.
Ich war gegen Ende August aus dem Zuchthaus Jitschin entlassen worden. Der Aufenthalt im Sanatorium hatte knapp vier Wochen gedauert.

 

Kurzer Aufenthalt in Wien -  Mit falschem Pass zurück nach Deutschland

In den ersten Oktobertagen kam ich in Österreich an. Dort wohnte ich eine Zeitlang in einer kleinen Pension im Eichgraben bei Wien, dann im Sanatorium Prießnitzthal in Mödling. Hier kamen im Auftrage der vogtländischen Parteiorganisationen Genossen aus dem Vogtlande zu mir. Von ihnen erfuhr ich, dass in Dresden zahlreiche Prozesse gegen Rotgardisten liefen und viele schon verurteilt waren. Sie glaubten, dass ich für die verhafteten Genossen und ihre Angehörigen etwas tun könne, wenn ich nach Deutschland zurückkehrte. Daher gab ich meine Absicht, von Wien nach Russland zu reisen, auf und beschloss, in Deutschland die Vorbereitungen zu treffen, um durch einen Handstreich die in Dresden und Plauen in Haft befindlichen Genossen zu befreien.
Durch Vermittlung eines Wiener Studenten, der mit uns sympathisierte und gute Beziehungen zu höheren Polizeibeamten hatte, kam ich in den Besitz eines ordnungsgemäßen Passes auf den Namen Alexander Matiasek.
Ich fuhr von Wien über Passau nach Deutschland zurück. Als ich die Grenze passierte, wo mein Pass kontrolliert wurde und die Beamten mich musterten, wurde mir doch ein bisschen seltsam zumute. Es war immerhin etwas riskant, da ich in keiner Weise verkleidet war. Ich trug nur eine Brille, außerdem hatte ich mein sonst buschiges Haar glatt gescheitelt und den Schnurrbart abrasiert. Von Passau fuhr ich bis Hof, mietete dort ein Auto und überraschte ein paar Wochen vor Weihnachten 1920 meine Freunde in Oelsnitz und Falkenstein durch meine plötzliche Rückkehr.
Für mich bedeutete meine Ankunft im Vogtland eine Befreiung von einem starken seelischen Druck. In Wien hatte ich in Arbeiterkreisen nicht verkehren dürfen, weil ich gerade dort von den Häschern gesucht wurde. Ich hatte mir gute, bürgerliche Kleidung verschafft und lebte nur an Orten, wo die oberen Schichten ihren Vergnügungen nachgingen. Ich besuchte Opern, Theater und Kabaretts sowie viele vornehme Restaurants. Ich wusste, dass ich mit meiner goldenen Brille und meinem gescheitelten Haar in diesen halbfeudalen Kreisen am allerwenigsten für Hoelz gehalten würde.
Nach meiner Ankunft im Vogtlande merkte ich, dass es die allerhöchste Zeit war, dieses illegale Leben in bürgerlichen Kreisen aufzugeben, weil ich mich dadurch den Arbeitern innerlich und äußerlich entfremdet hatte. Sie hatten mich immer als einen der Ihren gekannt, der sich kleidete wie sie selbst und die Sprache sprach, die sie verstanden.
Und nun waren sie enttäuscht, nach kaum sechs Monaten einen Menschen wieder zu sehen, der - so schien es ihnen - Interesse für solche Kleider und allen bürgerlichen Kram hatte. Meine äußere Erscheinung befremdete sie; es war, als ob sich eine Kluft aufgetan hätte zwischen den vogtländischen Arbeitern und mir.
In diesen Tagen fühlte ich, dass alle meine revolutionären Energien wirkungslos verpuffen mussten, wenn meine Handlungen nicht von dem unbedingten Vertrauen der Arbeiter getragen wurden. Dieses fast verloren gegangene Vertrauen wollte ich wiedergewinnen, und dazu war es nötig, die im Ausland angenommenen bürgerlichen Allüren radikal abzustreifen.
Vom Vogtland aus fuhr ich nach Ilten bei Hannover, um meine Angehörigen zu besuchen. Von meiner Anwesenheit in Oelsnitz im Vogtland wussten nur zwei oder drei mir ganz zuverlässig erscheinende Parteigenossen. Dennoch schien ein Spitzel von meiner Anwesenheit erfahren zu haben, denn als ich das Postauto nach Hof besteigen wollte, um von dort mit der Bahn weiterzufahren, sah ich mehrere Kriminalbeamte an der Haltestelle. Ich machte noch rechtzeitig kehrt.
Der Genosse, bei dem ich übernachtet hatte, und seine Frau begleiteten mich nun zu Fuß nach Hof. Während der langen ermüdenden Nachtwanderung wurde ich die Befürchtung nicht los, die Spitzel seien uns auf den Fersen.
Bei der Ankunft in Hof gegen ein Uhr nachts verteilte ich die Rollen so, dass der Genosse und seine Frau zuerst in den Bahnhof gingen, um zu sehen, ob die Luft rein sei, während ich in einem dem Bahnhof gegenüberliegenden Hotel ein Zimmer nahm; wenn Spitzel auftauchten, sollte der Genosse mir kurz vor Abgang des Zuges Bescheid geben.
Ich wartete im Hotelzimmer Stunde um Stunde, es kam niemand.
Ich beschloss, selbst nach dem Bahnhof zu gehen. Aber noch ehe ich das Bahnhofsgebäude betrat, sah ich in den aus der Stadt führenden Straßen auffallend viele Polizisten, die zu dritt oder viert in das Gebäude hineingingen. Mehrere liefen direkt an mir vorüber; da wusste ich, was es geschlagen hatte. Der Genosse und seine Frau waren wahrscheinlich nicht zu mir gekommen, damit sie die
Spitzel und Polizisten nicht auf meine Spur lenkten.
Ich rannte in eine dunkle Seitenstraße, um aus der Nähe des Bahnhofs zu kommen. Da hörte ich hinter mir schnelle Schritte, dann Rufen und Pfeifen. Etwa zwanzig Meter vor mir, etwas seitwärts, befand sich ein ungefähr zwei Meter hoher Bretterzaun, der einen Baumaterialienplatz umschloss. Ich sprang hinüber, zerriss dabei meine Kleider am Stacheldraht und versteckte mich zwischen den aufgestapelten Brettern.
Ein ganzer Stab von Schutzleuten war aufgeboten, die stundenlang die Umgebung absuchten und immer wieder zurückkamen. Überall blitzten Taschenlampen und Blendlaternen.
Ich blieb fast eine Stunde lang unbeweglich in meinem Versteck. Es war eine eisige Novembernacht. Plötzlich hörte ich vor mir ein Rascheln. Bemüht, mit meinem Blick die Dunkelheit zu durchdringen, sah ich dicht vor mir einen großen Wachhund, der mit seiner Nase den Boden beschnupperte. Der Hund konnte mich jeden Augenblick anspringen und mich durch wütendes Gebell verraten. Erschrocken hielt ich den Atem an und schaute mit nicht geringem Entsetzen auf das Biest vor mir. Das Tier aber gab keinen Laut von sich, schnupperte weiter am Boden und machte dann kehrt.
Ein zweites Mal wollte ich mich der Gefahr, durch den Hund entdeckt zu werden, nicht aussetzen und sprang deshalb wieder über den Bretterzaun. Ich kam aus dem Regen in die Traufe. Die
Polizisten suchten mich noch immer. Ich lief, als ob tausend Teufel hinter mir her wären, in eine Richtung, von der ich annahm, dass sie mich aus der Stadt führte. Auf der Flucht kam ich über ein großes Wiesengelände, dessen weite Wasserflächen mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren. Es blieb mir keine andere Wahl, als bis fast zu den Knien durch das Wasser zu waten oder in die Hände der Verfolger zu fallen, die dicht hinter mir waren; gerade mein schnelles Laufen hatte sie auf mich aufmerksam gemacht. Fast eine Stunde lief ich in diesen halbgefrorenen sumpfigen Wasserwiesen herum, bis ich endlich wieder trockenen Boden gewann und mich außerhalb der Stadt befand.
Es war mittlerweile gegen sechs Uhr morgens geworden. Die um diese Zeit noch herrschende Dunkelheit hatte mein Entkommen begünstigt. Ich befand mich in einem trostlosen Zustande: die Kleider zerfetzt, durchnässt bis auf die Haut, zähneklappernd, todmüde und hungrig, mit Kot bespritzt und ohne Hut; den hatte ich auf der Flucht verloren. Immerhin, es war noch ein Glück, dass mir wenigstens mein dünner Mantel geblieben war, den ich bisher in der Hand getragen hatte und nun über die nassen, beschmutzten und zerrissenen Kleider zog, um den mir bei Tagesanbruch begegnenden Menschen nicht aufzufallen; wärmen konnte der Mantel mich nicht.
Ich lief nach einer kleinen Bahnstation, von der aus ich auf Umwegen nach Hannover fuhr. Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr stieg ich vorsichtshalber eine Station vor Hannover aus und ging den Rest des Weges zu Fuß, um nicht den Spitzeln auf dem Hauptbahnhof zu begegnen.
Der Winter hatte mit voller Macht eingesetzt, es lag hoher Schnee. Ich spürte, dass ich mir eine schwere Erkältung zugezogen hatte.
Meine Frau Klara traf ich zu Hause nicht an. Sie befand sich außerhalb der Stadt, bei meiner Schwester in Ilten. Ich schickte die Quartierwirtin meiner Frau in einer Autodroschke nach Ilten mit dem Auftrag, Klara sofort mitzubringen. In Hannover wollte ich mich nur ganz kurz aufhalten, um dann in aller Stille die Vorbereitungen für die geplante Befreiungsaktion der gefangenen Genossen zu treffen.
Gegen Abend traf meine Frau in Hannover ein. Ich blieb mit ihr nicht in ihrer Wohnung. Wir nahmen ein Zimmerchen bei der Schwester eines zuverlässigen Genossen, im vierten Stock eines Mietshauses.
Nachts gegen zwölf Uhr trommelte es plötzlich an die Wohnungstür. Mein erster Gedanke war: Polizei. Die Wohnungsinhaberin schlief im anderen Zimmer. Sie war klug genug, nicht sofort zu öffnen, ließ ruhig weitertrommeln und sagte bloß: »Ja, ja, lasst mir doch Zeit, ich muss mich erst anziehen.«
In der Zwischenzeit stürzte sie in unser Zimmer und fragte, was sie tun sollte. Ich raffte in aller Eile meine Sachen zusammen, da ich keine Zeit mehr hatte, mich anzuziehen, hängte mir die Schuhe um den Hals, nahm alles übrige in die Hände, damit die Polizei nichts von mir vorfinden sollte. Durch ein kleines Fenster kletterte ich auf das Dachgesims - nicht ohne vorher die Frau zu bitten, hinter mir das Fenster zu schließen und einen Wecker davor zu stellen - und kroch von dort über das schneebedeckte, steile Dach. Dort versteckte ich mich hinter einem Schornstein.
Nur halb angezogen, kauerte ich frosterstarrt und zähneklappernd bis zum frühen Morgen, vergeblich auf ein Zeichen wartend, um endlich meinen fürchterlichen Aufenthaltsort verlassen zu können. Gegen sechs Uhr früh waren meine Glieder so erstarrt, dass ich lieber der Polizei in die Hände fallen wollte, als vom Dach herunterzustürzen. Selbst mit Aufbietung aller Energie konnte ich mich nicht mehr festhalten, deshalb machte ich die halsbrecherische Klettertour zurück. Ich fand die Wohnung leer und befürchtete, dass sowohl meine Frau als auch die Schwester des Genossen verhaftet worden seien. Erst nach ein paar Stunden kehrten die Frauen zurück und erzählten, dass sie die Polizei auf eine falsche Spur gebracht hätten.
Am Tage erfuhr ich, dass ich diesmal durch den unverantwortlichen Leichtsinn meiner Frau Klara und meiner Schwester fast verhaftet worden wäre.
Die beiden hatten acht Tage vorher in einem Cafe in Hannover die Bekanntschaft von zwei Herren gemacht, die sich als Jockeis ausgaben. Meine Schwester lud die Burschen mehrfach in ihr Haus nach Ilten ein. Klara war bei diesen Zusammenkünften stets zugegen. Die beiden angeblichen
Jockeis bekundeten starkes Interesse für meine Schwester und Klara - und die beiden Frauen liefen nichts ahnend auf die ihnen vorgelegten, gezuckerten Leimruten.
In der Nacht vor meiner Ankunft in Hannover waren die beiden Männer wiederum mit meiner Frau und meiner Schwester in Ilten zusammengewesen. Sie zechten die Nacht hindurch und hatten bei dieser Gelegenheit wohl herausbekommen, dass ich meiner Frau von Wien aus meine Ankunft angekündigt hatte. Als Klara mit dem Auto abgeholt wurde, waren die Spitzel schlau genug, sich die Nummer der Droschke zu merken. Sie fuhren gemächlich nach Hannover zurück und erforschten bei dem Chauffeur sowie bei der Wirtin meiner Frau, die sie einschüchterten und der sie Geld versprachen, unser Quartier.
Als ich von der Straße aus das verschneite Dach sah, auf dem ich mich nachts aufgehalten hatte, war es mir und dem Genossen, der mich begleitete, unfassbar, dass ich bei der halsbrecherischen Klettertour nicht abgerutscht war. Solche gewagten »Kunststücke« können wohl nur Menschen ausführen, die entweder mondsüchtig oder irrsinnig sind oder in Todesverzweiflung handeln.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Braunschweig, wo ich unerkannt blieb, reiste ich in der zweiten Hälfte des Dezember 1920 nach Berlin, um mit bestimmten Genossen zu sprechen, die an der geplanten Befreiungsaktion mitwirken sollten. Ich hatte keine persönliche Fühlung mit führenden Genossen, kam aber in Verbindung mit den führenden Persönlichkeiten der KAPD. Mit ihrer Taktik war ich nie einverstanden, obwohl sie immer meinten, ein Mensch mit meinem Temperament könne nur auf ihrer Seite stehen. Insbesondere meine scharfe Kritik an dem Verhalten Brandlers, Heckerts und anderer zur Zeit des Kapp-Putsches führender Genossen bestärkte die KAPD-Leute in ihrer Annahme, dass ich ihre politische Linie als allein richtige wählen müsse.
In Arbeiterkreisen, vor allem in Kreisen der Genossen, die sich zur KPD oder KAPD rechnen, ging die Auffassung über die politische Lage in Deutschland dahin, dass sich die monarchistische Reaktion nicht mit der Niederlage im März begnügen werde, sondern dass sie bereits mit allen Kräften an der Vorbereitung eines neuen Vorstoßes arbeite. Die Arbeiterschaft sei um ihrer selbst willen gezwungen, diesmal den Gegner ganz anders zu packen: nicht nur den Angriff abwehren, sondern selber angreifen. Ferner müssten die Arbeiterschaft und die politischen und gewerkschaftlichen Arbeitervertretungen alles tun, um Sowjetrussland bei der Erhaltung und dem Aufbau der Sowjetmacht zu unterstützen und den ersten Arbeiterstaat der Welt gegen seine Feinde zu schützen. Dazu gehörte aber auch, die Widererstarkung der Reaktion in Deutschland zu verhindern, sie niederzuhalten und sie gänzlich zu vernichten.
Die klassenbewusst denkenden Arbeiter waren sich absolut klar darüber, dass in dieser Zeit fortwährender wirtschaftlicher und politischer Spannungen - Beginn der Inflation, Polenkrieg, Fabrikbesetzungen in Italien - jeden Augenblick wieder eine ähnliche Situation in Deutschland eintreten konnte wie im März 1920. Die Warnungsrufe der Kommunistischen Partei Deutschlands fanden starken Widerhall in den Kreisen der Arbeiterschaft. Es galt, wachsam zu sein und in erhöhter Alarmbereitschaft zu bleiben. Nicht die schlechtesten Elemente forderten damals von den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, zur Offensive überzugehen.
Ich selbst hatte erkennen gelernt, dass es nicht genügt, sich gefühlsmäßig auf die Seite der unterdrückten, besitzlosen Klasse zu stellen, sondern dass man für die soziale Revolution auch mit all den Mitteln kämpfen muss, die ich im Krieg verachten gelernt hatte. Ich war aus dem Krieg als Pazifist heimgekehrt.
Aus den Vorgängen im Vogtland und aus meiner Beschäftigung mit der Theorie und Praxis des Klassenkampfes lernte ich aber, dass sich die Befreiung der Arbeiterschaft nicht durch wirtschaftliche oder politische Reformen erreichen lässt, sondern dass der Kampf um die politische Macht notwendig ist und mit allen Mitteln geführt werden muss. Denn die Bourgeoisie hält die wirtschaftliche Knechtung der Arbeiterschaft mit allen Mitteln der Gewalt aufrecht. Durch meine Vertiefung in das Wesen der proletarischen Revolution war ich zur Einsicht gekommen, dass man die soziale Revolution nicht mit einem bewaffneten Putsch herbeiführen kann, sondern dass sie das Resultat bestimmter wirtschaftlicher Bedingungen und sozialer Kräfte ist. Das schließt jedoch nicht aus, dass man die Revolution durch Aktionen fördern kann.
Sofern aber eine der politischen Arbeiterorganisationen einen Massenaufstand und eine bewaffnete Aktion vorbereitet hätte, würde ich mich ohne Bedenken dafür zur Verfügung gestellt haben. Nur eine bewaffnete Aktion - allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen - kann zur Ergreifung und Behauptung der Macht durch das Proletariat führen. Da ich aber von einer solchen Vorbereitung weder etwas sah noch hörte, beschränkte ich mich lediglich darauf, den noch vom Kapp-Putsch her eingekerkerten Genossen Erleichterung zu verschaffen und an ihrer gewaltsamen Befreiung zu arbeiten. Zu diesem Zwecke organisierte ich in Berlin, Braunschweig und im Vogtlande etwa 50 Genossen, die ich bewaffnete und mit Fahrrädern ausstattete. Die Geldmittel, die ich dafür verwendete, stammten noch aus den während des Kapp-Putsches von den vogtländischen Kapitalisten erhaltenen Kontributionsgeldern.

 

Ohne Kontakt mit der Partei - Dynamit-Attentate

Während meines illegalen Aufenthaltes in Berlin machte ich auch die Bekanntschaft jenes Ferry alias Hering, der damals gerade seine Vorbereitungen für die Sprengung der Siegessäule traf. Ferry hatte gehört, dass ich und meine Freunde Bomben und Handgranaten anfertigen wollten, uns dazu aber die nötigen Fachkenntnisse fehlten. Er wusste, dass wir über Geldmittel verfügten, und machte das Angebot, Bomben und andere Sprengstoffe herzustellen, da er Chemiker sei. Wir sollten ihm als Gegenleistung Geld geben, damit er sich Sprengutensilien für die Zerstörung der Siegessäule beschaffen konnte.
Wir gingen darauf ein und erhielten in den nächsten Wochen von Ferry eine größere Anzahl fertiger Bomben und Handgranaten. Seine Mitarbeiter und meine Freunde hatten gemeinsam in Steinbrüchen, Kalischächten und Bergwerken in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet etwa zwanzig Zentner Dynamit entwendet.
Ferry stand bei seinen Mitarbeitern und Freunden in hohem Ansehen, sie waren von ihm begeistert und hielten ihn für einen ganz großen Kerl und besonders tapferen Revolutionär. Dass er kein wirklicher Revolutionär war, bewies er, als ich ihn im mitteldeutschen Aufstand während des ersten Gefechtes in Eisleben traf. Ich war sehr erfreut, ihn zu sehen, weil ich glaubte, er wolle mit uns gegen die Sipo kämpfen. Er dachte aber gar nicht daran, sondern verlangte von mir zwanzig Zentner Dynamit, die er in Berlin für irgendwelche Zwecke brauchte.
Meine Eindrücke von Ferry wurden durch seine spätere Entwicklung bestätigt. Während meiner Zuchthausjahre hörte ich von seinen ehemaligen Freunden, dass er nach seiner Verurteilung im Siegessäulenprozess alles getan habe, um seine Begnadigung zu erwirken. Seine Führung im Zuchthaus war so musterhaft, dass er schon nach wenigen Jahren entlassen wurde. Heute führt er als sozialdemokratischer Gewerkschaftsangestellter ein gutbürgerliches Leben.
Die durch Ferry für uns hergestellten Bomben und Handgranaten wollte ich zur Befreiung der in Dresden, Leipzig und Hof eingekerkerten Genossen benutzen. Aufsehen erregende, am gleichen Tag und zu gleicher Stunde an mehreren Orten ausgeführte Sprengungen in Gerichtsgebäuden sollten die Behörden beunruhigen und die Bürger erschrecken. Begünstigt durch die entstehende Verwirrung wollten wir die Befreiung der Genossen durchführen. Eine politische Wirkung für die kommunistische Bewegung versprach ich mir von diesen Sprengungen nicht. Sie waren für mich nur Mittel zum Zweck.
Zuerst probierten wir in der Jungfernheide die von Ferry gelieferten Handgranaten und Bomben aus. Ihre Sprengwirkung schien gut zu sein, nur waren die verwendeten Zündschnüre viel zu lang und zu feucht. Nach vorgenommenen Verbesserungen bereiteten wir eine größere Sprengung im Charlottenburger Polizeipräsidium vor. Drei Nächte lang umkreisten wir diesen massiven Bau und suchten eine Stelle, wo die Sprengung am stärksten wirken konnte. Aber es fand sich kein Platz, der einen sicheren Erfolg verbürgte.
Damit die Genossen nicht von mir sagen konnten, ich schickte sie ins Feuer, während ich mich in
Sicherheit hielte, nahm ich die erste Sprengung selbst vor. Die Genossen, die ich für die anderen Sprengungen bestimmt hatte, sollten zusehen, wie ich bei einer solchen Aktion arbeitete. Ich reiste mit den Genossen ins Vogtland, um das große Portal des Rathauses in Falkenstein zu sprengen. Durch diese Sprengung und die gleichzeitig ausgestreuten Flugzettel sollten die Arbeiterschaft und die Spießbürger darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir, die von der Polizei verfolgten und gehetzten illegalen Kommunisten, noch lebten, unsere eingekerkerten Genossen nicht vergessen hatten und bereit waren, mit allen Mitteln für ihre Befreiung zu kämpfen.
Am 6. März 1921 kamen wir mit den Fahrrädern gegen elf Uhr nachts in Falkenstein an; Punkt zwölf Uhr sollte die Sprengung erfolgen. Vorher mussten noch einige Vorbereitungen getroffen werden.
Um die Sprengwirkung zu erhöhen, wollte ich die ziemlich umfangreiche Bombe in einen abgeschlossenen Raum des Rathauses werfen. Einige Sekunden vor zwölf lief ich mit der Bombe in der Hand nach dem Rathaus, Genosse Richard Loose begleitete mich; die anderen sollten die Sprengung aus sicherer Entfernung beobachten. Loose hatte die Aufgabe, zu gleicher Zeit eine Handgranate zu werfen, damit, wenn die Bombe durch die Zündschnur nicht zur Entzündung gebracht würde, die explodierende Handgranate dies nachhole.
Im Begriff, die Tür zur Polizeiwache zu öffnen, in die ich die Bombe werfen wollte, brannte ich mit meiner Zigarette die Zündschnur an. Die Bombe musste in spätestens vier Sekunden explodieren. Der Genosse Loose hatte zu gleicher Zeit seine Handgranate abgezogen. In diesem Augenblick merkte ich zu meinem Entsetzen, dass die Tür verschlossen war. Wir waren verloren.
Die bereits entzündete Bombe hielt ich in der Hand, der Genosse seine abgezogene Handgranate, er warf sie schnell in die Ecke, ich die Bombe mit der zischenden Zündschnur dazu; im selben Augenblick explodierte die Handgranate. Splitter verletzten mich im Gesicht so, dass Blut floss und ich geblendet war. Nur dem raschen Zugreifen des Genossen Loose verdanke ich es, dass ich mit dem Leben davonkam. Als er das Blut sah und merkte, dass ich wankte, packte er mich mit einem schnellen, festen Griff und zog mich die Stufen herunter um die Ecke. In diesem Moment erschütterte eine fürchterliche Detonation die ganzen umliegenden Gebäude. Fensterscheiben klirrten und zersplitterten,- krachend stürzten große Steinmassen auf die Straße. Die Bombe war explodiert.
Richard Loose schleppte mich in eine der nächsten Straßen. Als ich endlich die Augen öffnen konnte, sah ich, dass wir uns direkt vor dem Haus des Einwohnerwehrführers befanden, der vor einem halben Jahr eine Salve gegen eine Arbeiterdemonstration hatte abgeben lassen. Um ihn zu bestrafen, warf ich die noch vorhandenen sechs Handgranaten in sein Haus, wo sie unter donnerndem Krachen explodierten. Später erfuhr ich, dass dieser Bursche an jenem Tag noch mehr Glück gehabt hat als ich selbst, denn er war von keiner der sechs Handgranaten verletzt worden.
Trotz meiner Verletzung fuhren wir auf unseren Rädern im Eiltempo die ganze Nacht hindurch. Bei Tagesanbruch versteckten wir uns bei Genossen in Werdau. Dort erst wurden meine Wunden gereinigt und verbunden. Am selben Tag fuhr ich mit der Bahn nach Leipzig, wo ich bis zu meiner Wiederherstellung blieb. Dann reiste ich nach Berlin zurück. Die Genossen sandte ich mit einer ganzen Anzahl Bomben in verschiedene Städte. Die Sprengungen erfolgten genau nach vorgesehenem Plan in Dresden, Freiberg, Leipzig und anderen Orten, wo die Klassenjustiz besonders gewütet hatte. Diese Sprengstoffattentate gegen eine Reihe von Gerichtsgebäuden erregten größtes Aufsehen. Im bürgerlichen und SPD-Blätterwald flatterten die aufgescheuchten und erschreckten Nebelkrähen aus ihren Nestern und machten furchtbares Geschrei. Mit der angerichteten Verwirrung konnte ich also zufrieden sein.
Dennoch empfand ich weder Freude noch Befriedigung über das Ergebnis. Ich gewann immer mehr die Überzeugung, dass dies nicht der richtige Weg war, um für die kommunistische Bewegung und ihre revolutionären Ziele zu arbeiten und zu kämpfen. Es gehört gewiss großer persönlicher Mut zu diesen Terrorakten. Sie ersetzen aber niemals die notwendigen Massenaktionen, lösen sie nicht einmal aus. Die Einzelaktionen und Husarenstreiche in den zwei Jahren meiner Verfolgung und Illegalität waren im Grunde nichts anderes als die
Wirkungen, die sich aus meiner Isolierung von den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen ergeben mussten. Bitter empfand ich, dass ich mit ungenügender politischer und gewerkschaftlicher Erfahrung in jahrelange Illegalität geraten war. Es war ein schwerer politischer Fehler von mir, dass ich es gutgeheißen und manchmal mich sogar daran beteiligt hatte, wenn Expropriationsgruppen Überfälle auf Bankgebäude, Postkassen usw. ausführten. Diese Gelder flossen in die Hände damaliger Führer der KAPD, erfüllten also einen politischen Zweck, indem sie den Druck von Zeitungen und Flugblättern ermöglichten. Nur ein geringer Teil wurde dazu verwendet, die jahrelang illegal lebenden Genossen einigermaßen über Wasser zu halten. Die proletarische Hilfsorganisation »Rote Hilfe« existierte leider zu dieser Zeit noch nicht.
Der tatsächliche politische Gewinn stand aber in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den die kommunistische Bewegung durch die Expropriationen erlitt. Abgesehen davon, dass die meisten revolutionären kommunistischen Arbeiter die Expropriationen nicht verstanden und nicht billigten, wurden viele an den Überfällen beteiligte Genossen durch diese Art des revolutionären Kampfes korrumpiert.
Ich bereitete einmal einen Überfall auf ein Postamt in einem Vorort Berlins vor. Mit meinen Freunden umstellte ich an einem Januarabend das Postamt. Durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall wurden wir an der Ausführung unserer
Absicht gehindert. Das war meine erste und letzte direkte Beteiligung an einer solchen Expropriation.
Mein Plan, im Anschluss an die großen Sprengungen die Befreiung der gefangenen Genossen vorzunehmen, kam nicht mehr zur Ausführung, weil plötzlich der mitteldeutsche Aufstand ausbrach.

 

Der mitteldeutsche Aufstand 1921

Der Aufstand der mitteldeutschen Arbeiter im März 1921 war die unmittelbare Folge der Provokation Hörsings, der nach dem Prinzip handelte: »Der Angriff ist die beste Parade.« Er wusste, dass die mitteldeutsche Arbeiterschaft ihren revolutionären Elan nicht eingebüßt hatte und dass die gärende Unruhe bald zu Entladungen führen musste. Deshalb kam er zuvor, schickte - angeblich um Werksdiebstähle zu verhindern - seine bis an die Zähne bewaffneten Sipos in die mitteldeutschen Betriebe und Bergwerke. Hörsing provozierte die unterernährten und ausgemergelten Arbeiter dadurch, dass er ihnen zumutete, unter Aufsicht von Polizisten zu arbeiten.
Am Montag, dem 21. März, erfuhr ich aus einem Berliner Abendblatt von dem Ausbruch des Generalstreiks in Mitteldeutschland. Mein Entschluss stand sofort fest: Ich wollte erst informatorisch die Entwicklung der Dinge dort beobachten und mich dann den Organisationen zur Verfügung stellen.
Knapp zwei Stunden später bestieg ich mit noch fünf anderen Genossen den D-Zug, der uns nach dem Streikgebiet bringen sollte. Da der Preis meines Kopfes an diesem Tage bereits 55 000 Mark betrug, war ich bemüht, möglichst unerkannt in ein Abteil zu gelangen.
Erst im Augenblick der Abfahrt des Zuges betrat ich den Bahnsteig und verschwand in einem Kupee. Während der Fahrt merkte ich, dass sich im Abteil zwei Offiziere a. D. befanden, die ich als Zeitfreiwillige und Agenten der Abteilung I. A. erkannte. Sie unterhielten sich im Flüsterton über die Vorgänge in Mitteldeutschland.
In Kloster-Mansfeld hielt der Zug plötzlich ganz unfahrplanmäßig. Ein Beamter erklärte, die Maschine müsste Wasser nehmen. Die Gelegenheit war zu günstig, ich gab dem Genossen, der mit mir im Kupee saß, einen Wink, und wir verließen unauffällig den Bahnhof.
Beim Verlassen der kleinen Station bemerkte ich drei dunkle Gestalten - es war ein Uhr nachts -, die sich sofort an unsere Fersen hefteten. Mein erster Gedanke war: Aus dem Regen in die Traufe. Die drei entpuppten sich jedoch als Streikposten, die in uns Streikbrecher oder Spitzel vermuteten. Nachdem wir gegenseitig unsere Harmlosigkeit erkannt hatten, wanderten wir gemeinsam nach dem Streiklokal in Kloster-Mansfeld. Ich sagte den Genossen zunächst nicht meinen Namen. Unerkannt wollte ich in aller Ruhe erst die Dinge beobachten, um Zweck und Ziel der durch den Generalstreik ausgelösten Bewegung zu erforschen. Hierbei kam mir zu Hilfe, dass ich im Sommer 1919, während meiner illegalen Tätigkeit im Mansfeldischen Gebiet und auch in Kloster-Mansfeld, unter dem Pseudonym Sturm Versammlungen abgehalten hatte. Den Hoelz kannten die Genossen nur dem Namen nach.
Bei unserer Ankunft im Orte - der Bahnhof befindet sich weit außerhalb - hielt der Aktionsausschuss eine Nachtsitzung ab. Mein Begleiter wies sich als Genosse aus und stellte mich als politischen Flüchtling vor. Wir nahmen an der Sitzung teil. Von Waffen oder von der Vorbereitung einer bewaffneten Aktion war nicht das mindeste zu merken. Die Arbeiter waren der Ansicht, dass ein Generalstreik den »Sozialisten« Hörsing zwingen würde, seine bewaffneten Aufseher aus dem Mansfelder Kreis abzurufen.
Im Laufe des Tages sprach ich in Versammlungen in Hettstedt, Mansfeld und Eisleben, wo über die zu ergreifenden Maßnahmen Beschlüsse gefasst wurden. Die Versammlung in Hettstedt verlief sehr stürmisch, da dort Spitzel waren, die von den Arbeitern erkannt und an die Luft gesetzt wurden. Nach der Versammlung in Mansfeld versuchten Spitzel zu provozieren.
In allen Kundgebungen zeigte sich Entschlossenheit und Einmütigkeit der Arbeiter; ohne Unterschied der Parteirichtung - es waren USPD-, KPD-, KAPD- und AAU-Arbeiter anwesend - beschlossen sie, sich die frechen Provokationen des »Sozialisten« Hörsing nicht gefallen zu lassen und im Generalstreik zu bleiben. Die SPD- und USPD-
Arbeiter wussten nicht, dass ihre verräterischen Führer bei einer Zusammenkunft in Eisleben, zu der sie von den Behörden geladen worden waren, sich selbst für die Herbeiziehung der Grünen ausgesprochen hatten. Diese »klassischen« Arbeitervertreter hatten es jedoch wohlweislich abgelehnt, ihre Namen unter den von Hörsing verfassten Aufruf zu setzen. Für sechs Uhr abends war eine grö­ßere Versammlung in Eisleben angesetzt, zugleich für die umliegenden Ortschaften und Schächte. Zehn Minuten vor sechs Uhr befand ich mich noch weit außerhalb Eislebens. Es machte mir Kopfzerbrechen, wie ich ungehindert in die Stadt gelangen könnte, denn Eisleben war besonders stark von Sipo besetzt. Vier Hundertschaften lagen dort, mit allen modernen Waffen ausgerüstet. Nach meinem Auftreten in Hettstedt und Mansfeld war mit Sicherheit damit zu rechnen, dass die Sipo in Eisleben alles aufbieten würde, um mich unschädlich zu machen. Nicht nur wegen der ausgesetzten 55000 Mark, sondern vor allem, um durch meine Festnahme oder Beseitigung zu verhindern, dass ich die Bewegung vorwärtstreibe.
Während meines Referats in Kloster-Mansfeld wurde gemeldet, dass in verschiedenen Gruben mehrere nichtorganisierte Arbeiter infolge der Drohungen der Werksleitungen weiterarbeiteten. Im Anschluss an die Versammlung fuhr ich mit einer Anzahl Mansfelder Genossen nach einigen umliegenden Schächten, um die wenigen Streikbrecher zu veranlassen, sich dem Generalstreik anzuschließen.
Gegen sechs Uhr verließ ich die Schachtanlagen und fuhr in Begleitung des Genossen Richard Loose nach Eisleben. Einige hundert Meter vor der Stadt kam uns eine etwa 30 Mann starke Sipo-Radfahrer-Patrouille entgegen. Die Werksleitungen der umliegenden Schächte hatten die Hilfe der Grünen gegen die streikenden Arbeiter erbeten.
Im ersten Augenblick war ich bestürzt. Mir konnte es nicht gleichgültig sein, fünf Minuten vor einer größeren Versammlung, in der ich als Redner sprechen sollte, verhaftet zu werden. Ich wollte rasch kehrtmachen und versuchen, auf einem anderen Wege nach Eisleben zu gelangen. Mein Begleiter machte mich auf das Zwecklose meines Entschlusses aufmerksam. Durch das plötzliche Umkehren würden wir uns verdächtig machen und von der Sipo beschossen werden. Zu langem Überlegen war keine Zeit, es galt rasch zu handeln, entweder kehrtzumachen oder frisch drauflos zu fahren. Ich entschloss mich für das letztere. Dreißig Meter vor den uns begegnenden Sipos bog ich mit meinem Rad scharf nach rechts und steuerte direkt auf den an der Spitze fahrenden Leutnant zu. Auf fünf Meter Entfernung rief ich: »Es ist höchste Zeit, dass Sie kommen, da vorne sieht es böse aus!« Er lächelte über diese Aufmunterung und radelte tapfer weiter. Ich streifte beim Vorbeifahren mit meinem Ellenbogen flüchtig seinen Arm, er ahnte nicht, wie nah das Glück an ihm vorbeihuschte, wie leicht er sein Gehalt durch eine fette Belohnung hätte aufbessern können.
In solchen Augenblicken - sie waren in den nächsten Tagen an der Tagesordnung -, wo die Uhr immer fünf Minuten vor zwölf stand, setzte der Herzschlag sekundenlang aus; nachher hatte ich immer ein Empfinden, als sei ich frisch auf die Welt gekommen.
Die Straße war bis ins Innere der Stadt mit einzelnen Streifenpatrouillen geradezu übersät. Wir wurden überall scharf gemustert, aber nirgends angehalten, wahrscheinlich, weil wir so überaus höflich grüßten. Ich fuhr mit klopfendem Herzen an Dutzenden von Patrouillen vorüber. Unauffällig fragte ich ein paar Jungen, ob im Orte eine Versammlung stattfinde. Nach einigem Kreuz und Quer waren wir endlich am Ziel und wurden von Tausenden von Arbeitern stürmisch begrüßt.
In dieser Versammlung traf ich zum ersten Male Josef Schneider, der in den nächsten Tagen mit mir zusammenblieb. Schneider war Redakteur an der Parteizeitung in Eisleben und leitete dort die Bewegung. Es war zum Schreien komisch, wenn dieser auffallend kleine, überfette Mensch in einem kleinen Wandererauto, das er irgendwo requiriert hatte, durch die von streikenden Arbeitern angefüllten Straßen fuhr. Wer ihn nicht persönlich kannte, musste ihn für einen kapitalistischen Ausbeuter halten. Trotz seines ungeheuren Körperumfangs war Schneider von einer erstaunlichen Beweglichkeit. Bei den in den folgenden Tagen stattfindenden Kämpfen zeigte es sich, dass er organisatorisch begabt war. Ich übertrug ihm die Verpflegung der Truppe sowie die Verwaltung der beschlagnahmten Gelder. Beide Aufgaben erledigte er mit Geschick. Daneben leitete er noch den Pressedienst. Er verfasste über die täglichen Kämpfe Berichte, die er an uns nahe stehende Organisationen und Zeitungen sandte. Seine Frau und sein einjähriges Kind wurden von der Sipo als Geiseln festgesetzt. Als Gegenmaßnahme verhafteten wir den Generaloberarzt Evers und dessen Frau.
Bei dem letzten Gefecht in Beesenstedt rettete sich Schneider mit der Kasse in einem Auto. Er war fast der einzige von den mitteldeutschen Kämpfern, der sich nach Russland in Sicherheit brachte. Als ich später vor den Moabiter Sonderrichtern stand und eine Reihe von Zeugen Schneider sehr belasteten, indem sie ihm nachsagten, er habe eine Tasche voll Tausendmarkscheine eingesteckt, wies ich diese Verdächtigungen entschieden zurück. Er seinerseits schrieb im Ausland unter Brandlers Einfluss eine Broschüre, betitelt: »Die blutige Osterwoche im Mansfelder Land«, die die damalige Leitung der KPOe herausgab. In dieser Schrift verleumdete er mich wider besseres Wissen und verstärkte dadurch die gegen mich gerichtete Hetze. Es gehörte damals selbst in gewissen Parteikreisen beinah zum guten Ton, mich zu verleumden und zum Sündenbock für alles, was man nicht selber verantworten wollte, zu machen.
Die Eislebener Arbeiterschaft war ungeheuer erbittert über das herausfordernde Auftreten der besonders wohlgenährten und gutgekleideten Sicherheitspolizei. Immer wieder erscholl die kategorische Forderung: »Fort mit den bewaffneten Aufsehern!« Das Ergebnis der Versammlung war
der einmütige Beschluss, den Generalstreik weiterzuführen, bis Hörsing seine grünen Banden abrufe. In Eisleben sah ich an diesem Tage bei den Arbeitern keine Waffen. Ohne Zweifel hielt die Arbeiterschaft Waffen versteckt, die sie während des Kapp-Putsches den Einwohnerwehren und Zeitfreiwilligen abgenommen hatte. Ebenso fest steht aber auch, dass die Arbeiter nicht zu den Waffen gegriffen hätten, wenn sie nicht durch das brutale Vorgehen der Sipo dazu gezwungen worden wären. Nach der Versammlung kehrte ich nach Kloster-Mansfeld zurück. Dort war der Sammelpunkt für alle aus dem Streikgebiet einlaufenden Nachrichten.
Noch in der Nacht vom 22. zum 23. März erfuhr ich durch Meldefahrer, dass die Sipo eine Anzahl von Teilnehmern an der Versammlung in Eisleben verhaftet und schwer misshandelt hatte.
Bei dem Versuch, diese Kameraden zu befreien, kam es zwischen den Grünen und der Arbeiterschaft zu den ersten schweren Zusammenstößen, bei denen die Arbeiter noch keine Waffen führten. Das völlig unbegründete und brutale Vorgehen der Sipo veranlasste aber die Arbeiter, sich zu bewaffnen, um die Freilassung der Verhafteten und den sofortigen Abzug der Polizei zu erzwingen. So lagen die Dinge am Morgen des 23. März.
Jetzt war meine Hauptaufgabe nicht die Veranstaltung imposanter Versammlungen, ich musste vielmehr versuchen, die sich spontan bewaffnende Arbeiterschaft zu einheitlichen Kampfhandlungen zusammenzufassen.
Am Morgen des 23. März entsandte ich Kuriere nach Berlin, Hannover, Braunschweig, Halle und ins Vogtland, um den notwendigen Kontakt mit den Parteiinstanzen herzustellen. Dann organisierte ich unverzüglich eine Sturmkompanie, die den Kern der Arbeiterkampftruppe bilden sollte. Hierfür waren am ersten Tag nur fünfzig Gewehre und drei Maschinengewehre vorhanden.
Eine Kardinalfrage für die Durchführung militärischer Aktionen ist die Verpflegung der kämpfenden Truppen. Während der Kapp-Tage im Vogtland hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Kampfhandlungen, die sich über ein lokales Gebiet hinaus erstrecken, nur durchführbar sind, wenn für die leiblichen Bedürfnisse der Kämpfer gesorgt wird.
Ich übertrug die Herbeischaffung der notwendigen Gelder vier zuverlässigen Genossen, die für die Truppen Lebensmittel und Kleidungsstücke kauften. Über die Eingänge und Ausgaben wurde Buch geführt. Die größeren Banknoten, Tausendmarkscheine, wurden besonders aufbewahrt und gegen Quittungen den Kurieren ausgehändigt, die die Kommunistische Arbeiterpartei schickte. Von dieser Seite wurde fast täglich Geld für die Herstellung von Zeitungen und Flugblättern verlangt.
Das Hauptquartier der Arbeiterkampftruppe befand sich in der Mitte zwischen den zwei Siponestern: Eisleben auf der einen und Hettstedt auf der anderen Seite. Mit den Kameraden schlug ich mich bis nach Eisleben durch, um gemeinsam mit den dort wohnenden bewaffneten Arbeitern Eisleben von den Grünen zu säubern. In der dritten Nachmittagsstunde stieß ich in Wimmelburg auf Eislebener und Wimmelburger Genossen. Sie hatten kurz vorher ein Gefecht mit der Sipo bestanden und drei Gefangene gemacht.
In Eisleben war die Sipo auf zwei Gebäude, Seminar und Städtisches Krankenhaus, verteilt.
Während unsere Genossen die Grünen im Seminar mit einem Maschinengewehr und zwanzig Gewehren beunruhigten, leitete ich mit etwa neunzig Gewehren den Angriff auf die Sipo im Städtischen Krankenhaus. Wir kamen bis auf fünfzig Meter an den Gegner heran, und es wäre möglich gewesen, durch einen raschen Vorstoß die Ordnungshüter aus dem Gebäude zu werfen. Nach meiner Schätzung hätte dieser Angriff auf unserer Seite mindestens zwanzig bis dreißig Mann Verluste gefordert.
So wie die Dinge lagen, konnte ich die Kämpfe nur als Vorpostengefechte werten. Das verpflichtete mich, militärische Erfolge nur unter möglichster Vermeidung von größeren Verlusten auf unserer Seite anzustreben. Ich musste versuchen, die Sipo mit List aus dem Gebäude herauszulocken. Das Kräfteverhältnis war sehr ungleich. Der Gegner verfügte über vierhundert gut bewaffnete Mannschaften, wir Arbeiter hatten kaum neunzig Gewehre.
Um die Sipo aus Eisleben zu vertreiben, ohne dabei meine kleine Truppe zu opfern, griff ich zu Maßnahmen, die zwar keine Verluste an Menschenleben forderten, mir aber von bürgerlicher
Seite und sogar von den in Berlin sitzenden führenden Parteigenossen als Verbrechen angerechnet wurden. Ich sandte zwei Parlamentäre zum Bürgermeister mit der Forderung, sich sofort mit dem Sipomajor Folte in Verbindung zu setzen und dahin zu wirken, dass die Sipo die Stadt schnellstens verlasse, andernfalls ich Eisleben an allen Ecken anzünde.
Tatsächlich habe ich nicht einen Augenblick geglaubt, dass auf meine Drohung Folte mit seinen Leuten abziehen werde. Wohl aber durfte ich mit fast absoluter Sicherheit annehmen, die Sipo komme aus ihrem schützenden Bau heraus, um die angedrohten Brandlegungen zu verhindern. In diesem Falle konnten wir der Sipo im offenen Stra­ßenkampf besser beikommen und würden das Kampfziel ohne allzu große Opfer erreicht haben.
Um meiner Androhung den Nachdruck der Tat zu geben, legte ich pünktlich nach Ablauf der gestellten Frist eigenhändig Feuer an ein Gebäude. Dann begab ich mich mit acht Mann in das Stadtinnere und zertrümmerte eine Anzahl großer Fensterscheiben, damit die entsetzten Spießer und ihr Bürgermeister von der Sipo energisch Schutz verlangten. Um Ausschreitungen zu verhindern, hatte ich dieses wenig angenehme Kommando selbst übernommen.
Nach menschlicher Berechnung hätte die für Ruhe und Ordnung sorgende Sipo nun eingreifen müssen, da sie an Zahl und Kampfmitteln den kämpfenden Arbeitern weit überlegen war. In meiner famosen Spekulation fehlte aber der wesentlichste Faktor: der mangelnde Mut der Schutzpolizisten. Obwohl die Behörden der Sipo sofort telephonisch von den Brandlegungen, den Zerstörungen und den angeblichen Plünderungen Mitteilung machten und der Bürgermeister die Ordnungshüter flehentlich um Schutz seiner bedrohten Stadt bat, blieb die Polizei ruhig im sicheren Bau und ließ lieber den ganzen Ort, den sie schützen sollte, in Trümmer gehen.
Um so tapferer war sie dann beim Misshandeln und Niederknallen wehrloser Gefangener.
Nachdem ich das Erfolglose meiner List eingesehen hatte, ließ ich den kleinen von mir gelegten Brand durch die Arbeitersoldaten löschen. Außer ein paar Gardinen und einer Bettdecke war nichts verbrannt.
Im ersten Gefecht in Eisleben zeichnete sich besonders ein kleiner Berliner Genosse durch seine Tapferkeit aus; er bewies in allen Situationen gro­ßen Mut, so dass ich ihn zu meinem persönlichen Begleiter wählte. Im Scherz sagte ich einmal zu ihm, er dürfe sich ruhig Max Hoelz nennen, wenn er damit den Kapitalisten Schreck einjage.
Er machte leider einen zu reichlichen Gebrauch von meinem nicht ernst gemeinten Angebot. Dass er sich bei der Sprengung der Villa des Generaloberarztes Evers (wie dieser vor Gericht bekundete) als Max Hoelz ausgab, war weiter nicht tragisch. Unangenehmer war schon, dass er bei einem zweiten Gefecht in Eisleben während der Kämpfe einen Abstecher in ein Bordell machte und sich dort unter meinem Namen eine halbe Stunde lang amüsierte.
Ich hörte von dieser Tatsache erst im letzten Jahre meiner Zuchthaushaft. Der Wirt des Lokals »Zur Taube« machte meinem Verteidiger Dr. Apfel, der in Eisleben Ermittlungen in meiner Wiederaufnahmesache anstellte, die Mitteilung, Hoelz habe das einzige Bordell im Ort besucht.
Zuerst hielt ich es für einen üblen Scherz. Ich wusste nichts von der Existenz eines solchen Hauses in Eisleben. Als ich mich nach meiner Freilassung in Eisleben erkundigte und mir eine Personenbeschreibung des angeblichen »Hoelz« verschaffte, stellte sich heraus, dass mein Berliner Freund sich auf meinen Namen ein kostenloses Vergnügen erschwindelt hatte.
Dieser Genosse fiel später durch eine große Ungeschicklichkeit, die ich ihm nach seinem Verhalten im Kampf nicht zugetraut hätte, der Polizei in die Hände. Vor dem Gefecht mit dem Panzerzug in Sangerhausen versuchte ich, die noch vorhandenen Kontributionsgelder nach Berlin abzuschieben. Wenn der Kampf zu unseren Ungunsten ausging, sollte nicht die Reichswehr das Geld erwischen. Ich übergab dem kleinen Berliner eine Reisetasche mit mehreren hunderttausend Mark für die KAPD in Berlin. Er ging zu Fuß nach einer entfernten Bahnstation, kehrte unterwegs in einem Gasthause ein, bestellte dort einen Wagen und sagte, er müsse sofort zur Bahn. Er sei Kurier von Max Hoelz und müsse dringend Geld nach Berlin bringen, damit dort die Flugblätter gedruckt werden könnten. Fünf Minuten später war er schon durch die Gendarmerie verhaftet.
Außer der kleinen Bordellaffäre, die sich der Berliner in Eisleben leistete, ist mir kein anderer Fall bekannt geworden, wo während der Kämpfe Rotgardisten oder Genossen sich mit sexuellen Dingen befassten. Bei keiner der Truppen, die unter meiner Leitung kämpften - weder im Vogtlande, noch in Mitteldeutschland - befanden sich Frauen. Als während des mitteldeutschen Aufstandes, nach dem zweiten Gefecht in Eisleben, eine Arbeiter-Samariter-Kolonne auftauchte, die unter der Leitung einer in Männerkleidung auftretenden Hallenser Genossin stand, waren die Rotgardisten von dieser Erscheinung nicht erbaut. Ich hatte den Eindruck, dass die Rotgardisten - auch bei mir war das der Fall - Frauen während der Kämpfe nicht gern um sich sahen. Sie befürchteten vielleicht, durch sie von ihrer Aufgabe abgelenkt zu werden.
Erfreulich war auch, dass, soweit ich beobachten konnte - außer in einem einzigen Fall - während der ganzen Kämpfe kein Rotgardist das Alkoholverbot übertrat. Das Verlangen nach Alkohol war bei keinem von uns sehr stark, obwohl es an Gelegenheiten zum Trinken nicht fehlte.
Nach Einbruch der Dunkelheit zog ich die Arbeitertruppen zusammen und bezog Quartier in Helbra. Dort erwarteten mich schlechte Nachrichten. Die Sipo hatte in Hettstedt den Aktionsausschuss überfallen, Bücher und Schriftstücke beschlagnahmt und Arbeiter unter nichtigen Vorwänden verhaftet. Zwei Mann waren auf der Straße wie Hunde niedergeschossen worden, ein sechzehnjähriger und ein fünfzigjähriger Arbeiter. Dem jungen Menschen trat, als er röchelnd auf dem Boden lag, ein Offizier mit dem Stiefelabsatz ins Gesicht und schrie: »Das Aas hat nichts anderes verdient!« Ferner erfuhr ich, dass die Genossen Roth, Grünberg und Müller durch ihre Unvorsichtigkeit mit der Kriegskasse in Quedlinburg verhaftet worden waren. Ich hatte den drei Genossen ein Auto zur Verfügung gestellt und sie angewiesen, die beschlagnahmten Gelder außerhalb der Gefechtszone in Sicherheit zu bringen und im Walde vor Annarode auf uns zu warten. Sie machten aber unterwegs in einem Gasthaus Halt und kümmerten sich nicht um den uns feindlich gesinnten Chauffeur. Der telefonierte an die Kriminalpolizei nach Quedlinburg, ein Hoelz-Auto mit beschlagnahmten Geldern werde die Stadt passieren; er hatte durch ein Gespräch während der Fahrt das Ziel der Reise erfahren.
Der Genosse Roth trug meinen Siegelring mit den Anfangsbuchstaben meines Namens und meine Taschenuhr bei sich. Deshalb, und wegen einer angeblichen Ähnlichkeit mit mir, wurde er als Hoelz verhaftet und sofort in Ketten gelegt. Die Frage, ob er der Hoelz sei, bejahte er.
Schon am folgenden Tage gelang es Roth, trotz scharfer Bewachung aus dem Militärgefängnis zu entfliehen. Er hatte die beiden anderen Genossen aufgefordert, mit ihm zu entweichen. Sie lehnten aber ab, weil sie die Sache für zu gefährlich hielten. Genosse Grünberg unterstützte das Entkommen Karl Roths. Während des Herumlaufens im Kreise bei der so genannten Freistunde markierte er einen epileptischen Anfall. Der Aufseher bemühte sich um ihn. Diesen Augenblick benutzte Roth, um über die Gefängnismauer zu fliehen.
Für den Genossen Fritz Grünberg hatte diese Beihilfe zur Flucht noch ein böses Nachspiel. Es stellte sich bald heraus, dass er den Anfall nur markiert hatte. Er bekam die strengsten Hausstrafen und wurde in Dunkelarrest von den Aufsehern furchtbar misshandelt. Die Mitgefangenen hörten tagelang seine verzweifelten Schreie und Hilferufe. Durch Dunkelarrest und Misshandlungen in eine tiefe seelische Depression geraten, schnitt er sich mit einem Glasscherben die Pulsadern auf und schrieb mit seinem eigenen Blut einen Abschiedsbrief an seine Angehörigen. Noch ehe er verblutete, wurde seine Tat entdeckt.
In der Nacht entsandte ich eine Gruppe mit einem Lastauto nach der Dynamitfabrik Leimbach und ließ dort zwanzig Zentner Sprengstoff requirieren, die wir zur Herstellung von Wurfbomben, die an Stelle der fehlenden Minenwerfer treten sollten, brauchten.
Wir waren gezwungen, alle Mittel anzuwenden, um die Gegner zu schlagen. Die Bewaffnung unserer Truppe war in den ersten Kampftagen äußerst mangelhaft.
Am Donnerstag, dem 24. März, kam es zu einem längeren Gefecht in Hettstedt. Um die einzelnen Siponester zu beunruhigen und zu verwirren, griff ich ganz überraschend einmal Eisleben, dann wieder Hettstedt an. Durch Verstärkungen, die aus den umliegenden Ortschaften eintrafen, war die Arbeitertruppe an Zahl gewachsen. Ich konnte vier Sturmkompanien von je hundert Mann und sechs Maschinengewehr-Abteilungen bilden.
Der Gegner verfügte über gute und ausreichende Verbindungs- und Verständigungsmittel wie Telefon, Funkstationen und Lichtsignale. Die Arbeitertruppen hatten nichts dergleichen. Ich musste deshalb zu primitiveren Behelfen greifen. Die Frage der Verständigung und Verbindung zwischen den einzelnen Kompanien, Zügen, Gruppen und Maschinengewehr-Abteilungen war, zumal bei einem von verschiedenen Seiten vorzunehmenden Angriff, außerordentlich wichtig. Die zwanzig Mann starke Radfahrerabteilung, die mir zur Verfügung stand, war ein vorzügliches Verbindungsmittel für die Truppenbewegung auf der Landstraße, von Ort zu Ort, jedoch völlig ungeeignet und technisch unbrauchbar für Operationen in dem von Schachtanlagen durchfurchten Gelände des Aufstandgebietes. Den einzelnen Abteilungen wurden unbewaffnete Arbeiter als Meldeläufer zugeteilt.
Aus dem bunten Haufen Hunderter von den umliegenden Schachtanlagen und Industriewerken herbeigeeilter Arbeiter war eine fest gefügte, gut disziplinierte proletarische Sturmtruppe entstanden, nicht im Sinne des alten, wilhelminischen Kadavergehorsams, sondern im besten Sinne der freiwilligen proletarischen Selbstdisziplin. Ich habe bei allen Gefechten und Kämpfen nicht einen einzigen Fall von Zögern oder Feigheit feststellen können. Die Genossen wussten, dass ich nie einen Auftrag erteilte, den ich nicht vorher in gleich schwierigen Situationen selbst ausgeführt hatte. Alle besonders gefährlichen und komplizierten Aufgaben erledigte ich, wenn irgend möglich, persönlich. Dadurch sicherte ich mir das unbedingte Vertrauen der Mannschaften.
In den Vormittagsstunden dieses Tages setzte ich mich durch Kuriere und Radfahrer mit allen Aktionsausschüssen des Mansfelder Gebirgs- und Seekreises in Verbindung. Ich schickte ihnen Aufrufe, in denen ich sie aufforderte, sofort alle verfügbaren kampffähigen Genossen nach Helbra und Kloster-Mansfeld zu übersenden. Der nun Tatsache gewordene Aufstand konnte politisch und militärisch nur dann weittragende Erfolge zeitigen, wenn es mir im mansfeldischen Gebiet gelang, in den nächsten Tagen eine Truppenmacht von mindestens zehntausend Mann zusammenzubringen. Eine Sturmtruppe von einigen hundert Mann kann unter Umständen hervorragende lokale Erfolge erzielen, nie aber Operationen durchführen, die sich über ein Gebiet von hundert und mehr Kilometern erstrecken.
Hierfür müssen in erster Linie Reserven vorhanden sein. Es gehört leider immer noch zur politisch-militärischen Anschauung vieler Genossen, zu glauben, es genüge, in ihren Wohnorten die politisch-militärische Macht an sich zu reißen. Die Absicht, mehrere Orte zu einem größeren, einheitlichen Kampfverband zusammenzuziehen, stieß auch in dieser Aufstandsbewegung - genau wie früher - bei vielen Genossen auf Widerstand.
Täglich schickte ich Kuriere mit Meldungen, Aufrufen, Berichten an die Parteistellen nach Berlin, Braunschweig, Hannover, Halle und anderen Orten. Ich versuchte dauernd, die notwendige Verbindung mit den Parteiorganisationen herzustellen. Trotz dieser Bemühungen erhielt ich keine Informationen von den in Frage kommenden Instanzen. Nur in einem einzigen Fall bekam ich einen schriftlichen Befehl aus Halle, der von führenden Berliner Parteigenossen der KPD und KAPD gezeichnet war, mit dem lapidaren Inhalt, die KPD und KAPD seien damit einverstanden, dass ich die militärische Oberleitung über die kämpfenden Truppen habe und dass ich bis... (der Termin wurde genannt) unter allen Umständen durchhalten müsse.
In der Mittagsstunde des 24. März fuhr ich mit den Mannschaften auf Lastautos nach Hettstedt. Die Hettstedter Sipo hatte beträchtliche Verstärkung erhalten und beabsichtigte, uns in unserem Hauptquartier zu überfallen. Ich kam dieser Absicht zuvor und begann den Angriff. Die Zugänge zur Stadt waren von den Grünen versperrt. Es entwickelte sich ein scharfes Gefecht, das bis in die Abendstunden dauerte und bei dem es uns gelang, den Gegner in das Zentrum der Stadt zurückzudrängen. Hier ergab sich die Notwendigkeit zu den ersten Sprengungen, die wir ausführten.
Durch den Feldstecher sah ich, wie auf dem
Bahnhof Hettstedt eine Lokomotive unter Dampf gesetzt wurde, obwohl der ganze Betrieb lahm gelegt war. Meine Vermutung, dass die Sipo unter dem Schutze einer Lokomotive einen Vorstoß gegen uns machen wollte, erwies sich als richtig. Mit zwei Mann meiner Begleitung legte ich ein paar fertige Bomben unter die Eisenbahnschienen, um im Augenblick des Heranrollens der Lokomotive die Bomben zur Entzündung zu bringen. Infolge meiner geringen Übung und mangelhaften Erfahrung mit Sprengungen hatte ich die Zündschnur für diesen Zweck viel zu kurz gewählt. Ich war kaum dreißig Meter von dem Bahndamm entfernt, als eine furchtbare Detonation erfolgte und neben großen Steinen und Holzsplittern ein über zwei Meter langes Gleisstück in die Höhe schwirrte und knapp einen Meter vor mir sich senkrecht in den weichen Ackerboden spießte. Der Zweck der Sprengung war erreicht. Die Grünen mussten sich unter dem heftig einsetzenden Maschinengewehrfeuer der revolutionären Arbeiter zurückziehen.
Am Abend zog ich die um die Stadt in Stellung liegende Kompanie zurück, um alle verfügbaren Kräfte für einen Nachtangriff auf Hettstedt zu sammeln. Das Ziel des beabsichtigten Nachtangriffs war, die Grünen zu überrumpeln und sie zur Waffenstreckung zu zwingen. Nicht um jeden Preis, sondern unter äußerster Schonung der kämpfenden Arbeiter. Wenn die strategische Notwendigkeit es verlangte, war es besser, List vor Gewalt zu setzen oder z. B. die Villa eines fetten Spießers in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, als das Leben eines revolutionären Arbeiters zu opfern.
Beim Vorrücken nach der von der Sipo besetzten Schule war ich gezwungen, Sprengungen an und in Gebäuden vorzunehmen. Ein Teil des Bahnhofgebäudes sowie zwei Villen und zuletzt eine in der unmittelbaren Nähe der Sipounterkunft befindliche Druckerei wurden gesprengt. Auch diese vier Sprengungen führte ich, von zwei Genossen unterstützt, selbst aus. Die Sonderrichter schlussfolgerten, ich hätte aus reiner Zerstörungswut gesprengt. Als ob sie keine Ahnung von den Zwangsläufigkeiten und Notwendigkeiten während des Bürgerkrieges gehabt hätten, in dem die kämpfenden Arbeiter infolge ihrer mangelhaften Ausrüstung gegenüber dem mit Großkampfmitteln reichlich versorgten Gegner immer im Nachteil sind. In Hettstedt wäre es unmöglich gewesen, ohne Verluste auf unserer Seite vorzusto­ßen, wenn ich die Häuser nicht zerstört hätte. Die Sprengung eines Gebäudes verursacht eine große Staubwolke, die sich oft eine halbe Stunde und noch länger in der Luft hält. Unter dem Schutze einer solchen riesigen Staubwolke war es für uns viel leichter, im Straßenkampf vorzugehen, da der Gegner nichts sehen konnte und daher kein gutes Zielobjekt hatte. Durch diese Sprengungen rettete ich vielen Arbeitern das Leben.
Nach der letzten Sprengung hatten sich die Grünen in der Schule verbarrikadiert. Alle Posten und Patrouillen waren von den Straßen verschwunden. Durch ein paar Gefangene, die wir machten, und durch unsere ausgesandten Radfahrpatrouillen erfuhr ich, dass aus der Richtung Sandersleben Artillerie zur Verstärkung für die Sipo schon im Anmarsch war. Es ging bereits auf vier Uhr früh. Unsere Genossen waren abgekämpft und brauchten dringend ein paar Stunden Ruhe.
Ich leitete die Truppen nach Helbra in die Quartiere zurück. Ausschlaggebend für diesen Entschluss war vor allem das unbedingte Festhalten an meiner von Anfang an geübten Taktik, der allein zuzuschreiben ist, dass es den uns an Zahl und Kampfmitteln weit überlegenen Gegnern erst nach zehn Tagen gelang, meine Truppe aufzureiben. Die Taktik bestand in folgendem:
1. durfte der Gegner aus meinen Handlungen und Maßnahmen niemals Schlüsse auf meine weiteren Absichten ziehen können,
2. durfte ich, solange mir keine größere Truppenmacht und vor allem keine Reserven zur Verfügung standen, unter keinen Umständen länger als höchstens vierundzwanzig Stunden an einem Ort verweilen.
Diese Taktik habe ich konsequent durchgeführt, mit dem Erfolg, dass stets, wenn der Gegner mich eingekreist zu haben glaubte, meine Truppen die Gefahrzone längst verlassen hatten, und er, wie in den Fällen Wimmelburg, Eisleben und Hettstedt, sein Artillerie- und Minenfeuer auf ein leeres Nest verschwendete. Wie sehr mein Vorgehen dem Gegner immer neue Rätsel aufgab, beweist die Aussage des Sipomajors Folte vor dem Sondergericht in Moabit. Als ihn der Vorsitzende fragte, ob es denn der zahlenmäßig weit überlegenen Sipo nicht möglich gewesen sei, die roten Banden einzukreisen und zu schlagen, antwortete er wörtlich: »Es war schwer, an Hoelz heranzukommen, wir hatten schon vorher gehört, dass Hoelz ein gewiegter Kerl sei.«
Am Freitag, dem 25. März, kam es zu einem zweiten und schärferen Gefecht in Eisleben. Durch einen bei einbrechender Dunkelheit unternommenen Angriff gelang es der Arbeitertruppe, bis auf den Marktplatz der Stadt vorzustoßen und das Rathaus zu besetzen. Dabei wurde die Villa des kaiserlichen Generaloberarztes der Marine Dr. Evers gesprengt. Evers, ein Stockreaktionär und Arbeiterfeind, hatte in seinem Haus Orgeschwaffen und Munition in großen Mengen.
Die durch den unerwarteten Überfall überraschten Grünen belegten Rathaus und Marktplatz mit starkem Minenfeuer. Wir hatten bereits acht Verwundete und konnten uns infolge des starken Minenfeuers in der Stadt nicht länger halten. Dazu erhielt ich von unseren ausgesandten Kundschaftern Meldungen, die mich veranlassten, meine Truppen schnellstens aus dem Ort herauszuziehen. In Wimmelburg wurde kurz Rast gemacht. Hier traf ich größere und kleinere Trupps von revolutionären Arbeitern, die aus allen Richtungen kamen und sich uns anschlossen. Die zahlenmäßige Stärke der kleinen Armee war an diesem Tage über zweitausendfünfhundert. Ich erfuhr durch die von Halle und anderen Orten kommenden Arbeiter zum ersten Mal etwas Genaueres über die Lage und die Vorgänge im Merseburger Gebiet. Daraufhin versuchte ich möglichst rasch aus dem sich immer enger um uns schließenden Sipo- und Reichswehrgürtel herauszukommen und die Truppe mit den bewaffneten Arbeitern in Teutschenthal und im Leunawerk zu vereinigen.
Es war die allerhöchste Zeit, den Hexenkessel Wimmelburg zu verlassen. Ein paar Stunden nach unserem Abmarsch unternahmen Sipo und Reichswehr einen konzentrischen Angriff auf Wimmelburg und ließen dort in wilhelminisch-ritterlicher Weise ihre Wut an unbeteiligten und unbewaffneten Arbeitern aus. Noch nach vier Wochen wurden tote Arbeiter in den Schlackenhaufen der umliegenden Schachtanlagen gefunden, von Sipo- und Reichswehrhänden ermordet und vergraben, wie man tolle Hunde verscharrt. Das war der Lohn dafür, dass die Arbeiter die Sipogefangenen stets menschlich behandelt und nicht einen einzigen getötet hatten. Alle von uns gemachten Gefangenen sind nach der Niederschlagung des Aufstandes unversehrt zu ihren Truppen zurückgekehrt.
Mit zehn Lastautos, zum Teil mit Anhängern, sowie auf Wagen und zu Fuß, rückten wir Mittwoch, den 26. März, in Sangerhausen ein. Meine Absicht war, diesen Ort nur als Durchgangsstation auf dem Marsch nach Halle zu benutzen. Hier in Sangerhausen sollten die Arbeiter vor allem ein ausgiebiges, warmes Mittagessen erhalten. Sie waren in den letzten Tagen nur unregelmäßig und unzureichend verpflegt worden. Jeder Gasthof musste für hundert oder hundertfünfzig Arbeiter kochen. Kaum eine halbe Stunde nach unserem
Eintreffen erhielten wir den unerwarteten Besuch eines mit württembergischen Zeitfreiwilligen besetzten Panzerzuges. Obwohl wir während der vergangenen Nacht im schwersten Kampf gestanden und die Arbeitersoldaten nicht eine Stunde Ruhe gehabt hatten, ergriff jeder mit Begeisterung die Waffen.
Die Besatzung des Panzerzuges war ausgeschwärmt und hielt das Gelände um den Bahnhof besetzt. Die tapferen Schwaben verwendeten reichlich viel Munition, während wir die allergrößte Sparsamkeit üben mussten, da wir empfindlichen Mangel daran litten. Nach vierstündigem Gefecht zogen sich die Zeitfreiwilligen in ihren Panzerzug zurück. Wir erbeuteten einige Gewehre und ein Maschinengewehr. Der Gegner hatte erhebliche Verluste; wir einen Toten und mehrere Verwundete.
Erst am Abend konnten die revolutionären Arbeiterkämpfer ihr Mittagessen verzehren. In später Nachtstunde rückte ich mit der Truppe von Sangerhausen ab, um den anbrechenden Sonntag dafür zu benutzen, den erschöpften revolutionären Kämpfern in Schraplau einen Ruhetag zu gönnen. Den kleinen, von Kalkwerken umlagerten Ott bevölkerte eine klassenbewusste Arbeiterschaft, die uns mit Enthusiasmus empfing und bewirtete. Am Abend wurden die Arbeitersoldaten zum ersten Mal gelöhnt. Die Löhnung besorgte die zur Truppe gehörige Finanz- und Verpflegungskommission; jeder Mann erhielt fünfzig Mark.
In Schraplau traf ich mit den Genossen Lembke und Bowitzki zusammen; sie leiteten die Aktion bei Teutschenthal. Obwohl Lembke und Bowitzki von der Partei in ihre Funktionen eingesetzt waren, erhielten sie von den Parteistellen keine Anweisungen für die zu unternehmenden Schritte.
Wir beschlossen, in der kommenden Nacht alle erreichbaren Kämpfer zusammenzuziehen und sie dann mit den Arbeitern im Leunawerk zu vereinigen, um über Ammendorf nach Halle vorzustoßen und uns durch einen Handstreich in den Besitz der in Halle befindlichen artilleristischen Kampfmittel zu setzen.
In der Nacht vom Sonntag zum Montag erfolgte der Marsch der Truppen von Schraplau nach Ammendorf. Am Montag, dem 28. März, fand das verhängnisvolle Gefecht in Ammendorf statt. Zur festgesetzten Zeit erreichten wir beim Morgengrauen diesen dicht bei Halle liegenden Ort.
Ich entsandte den Genossen Alfred Lembke in das Leunawerk, damit er mit der dortigen Kampfleitung die nötige Verbindung herstelle und alle kampffähigen Arbeiter auf Lastautos nach Ammendorf bringe. Vor allem aber sollte er versuchen, Munition aufzutreiben, denn unsere Vorräte waren vollständig erschöpft.
Mit etwa zweitausend Mann ging ich in einer drei Kilometer breiten Front gegen Halle vor. Zweitausend Meter vor Halle stießen wir auf ausgeschwärmte Sipo. Da uns Munition fehlte, war es nicht ratsam, sich auf einen größeren Kampf mit dem Gegner einzulassen.
Ich wartete ungeduldig auf die Ankunft der
Leuna-Arbeiter. Die meisten unserer Genossen hatten kaum ein bis zwei Patronen. Nach zwei Stunden kam Genosse Lembke im Auto vom Leunawerk zurück, brachte tausend Schuss Munition und dazu die Nachricht, dass die Genossen vom Leunawerk sofort frische Kräfte senden. Noch ehe die angekündigte und dringend notwendige Verstärkung eintraf, hatte der Gegner uns umzingelt.
Auf schnellen Lastwagen rückten auf den Stra­ßen Merseburg-Ammendorf, Osendorf-Ammendorf, Bruckdorf-Ammendorf und Halle-Ammendorf Hunderte von Grünen an.
Ich versuchte, mit den am Bahndamm der Linie Halle-Ammendorf liegenden Genossen aus der Umklammerung der Sipo herauszukommen. Viele der kämpfenden Arbeiter wurden bereits aus Ammendorf abgedrängt. Ich ritt mit dem Pferd eines unserer Meldereiter zu den zurückgehenden Truppen und wies sie an, den Ort unter allen Umständen zu halten. Mit den angekündigten Verstärkungen aus dem Leunawerk wollte ich die Grünen im Rücken angreifen.
Zu Fuß lief ich dann zu unserm am weitesten vorgeschobenen Posten. Dabei geriet ich um ein Haar in die Hände der Sipo. Ich sah keine Möglichkeit, zu entkommen, und hielt mich für verloren. Da hörte ich mehrmals meinen Vornamen rufen. Mehrere Bergarbeiter, die Notstandsarbeiten verrichteten, erkannten mich und winkten mir. Sie hatten die große Gefahr bemerkt, in der ich mich befand, und brachten mich in das Innere der Kohlengrube. Die Arbeiter, die sich als gute Parteigenossen legitimierten, verschafften mir Nachrichten über die Vorgänge in der Oberwelt. - Der größte Teil unserer Truppe hatte sich aus der Umklammerung der Sipo freigemacht. Ich beauftragte einen der Genossen festzustellen, auf welchem Wege ich mich zu meinen Leuten durchschlagen könne.
Hunderte von Metern saß ich unter der Erde, kaum einen Schritt von den großen Motoren der Pumpanlagen entfernt, die einen ohrenbetäubenden Lärm machten. Trotz des fürchterlichen Radaus und der Gefahr - ich stand auf schwankendem Brett über der Maschine - fiel ich in einen todesähnlichen Schlaf. Die Natur forderte ihr Recht nach all den Spannungen und schlaflosen Nächten der letzten Tage.
Der zurückkehrende Genosse rüttelte mich: »Es ist Zeit, Max!« Auf schlüpfrigen Leitern, die mir endlos schienen, kletterte ich nach oben. Ein älterer Parteigenosse, der zum Betriebsrat der Grube gehörte, erbot sich, mich zu den in Gröbers kämpfenden Arbeitern zu führen.
In Gröbers traf ich nicht, wie erwartet, meine Ammendorfer Kampfgenossen, sondern eine in Bitterfeld und Holzweißig aufgestellte Arbeiterkompanie unter Führung des Genossen Thiemann. Gerhard Thiemann, der mit seiner Familie in Werdau in Sachsen wohnte, hatte wegen seiner kommunistischen Gesinnung keine Arbeit mehr bekommen und Beschäftigung in einem Betrieb in Bitterfeld gefunden. Kaum hörte er von dem Ausbruch des mitteldeutschen Aufstandes, als er sich sofort mit großem Geschick daran machte, die kampffähigen Arbeiter in Bitterfeld und Holzwei­ßig zusammenzufassen, um sie zu den in Ammendorf kämpfenden Arbeitern zu führen.
Während der Kämpfe in Gröbers, Wettin und Beesenstedt verhielt sich Thiemann ungemein tapfer. Er gönnte sich keinen Augenblick Ruhe, war immer auf dem Posten, und sein gutes Beispiel wirkte anfeuernd auf die Truppe.
Ich hatte Thiemann während der wenigen Tage, die ich mit ihm zusammen kämpfte, lieben und schätzen gelernt. Er war der Typ des einfachen, uneigennützigen und bis zur Selbstaufopferung tapferen Proleten. Um so enttäuschter musste ich sein, als ich aus seinen Aussagen vorm Untersuchungsrichter ersah, dass er vor den Robenträgern nicht den Mut zeigte, der ihn im Kampf gegen die Sipo auszeichnete.
Niederdrückend für mich war, dass außer Thiemann auch viele andere im Kampf äußerst tapfere Genossen vor den Richtern zusammenknickten. Während meiner Haft habe ich oft über diese auffallende Tatsache nachgedacht. Ich fand keine andere Lösung, als dass es sich in diesen Fällen um an sich tapfere Proletarier handelte, die mutig und fest bleiben, wo sie kollektiv auftreten, bei denen aber eine durch Schule und Erziehung künstlich eingeimpfte Autoritätsgläubigkeit zum Durchbruch kommt, wenn sie allein Menschen gegen­überstehen, von denen sie annehmen, sie seien ihnen durch Wissen und Bildung überlegen.
Dieselbe Erfahrung machte ich mit Thiemanns
Unterführer Scheidecker. Auch er war ein einfacher Prolet. In den Kämpfen mit der Sipo und Reichswehr gab er uns ungezählte Beispiele von Mut und Tapferkeit. Vor den Richtern aber versagte Scheidecker ebenso wie Thiemann.
Thiemanns gut organisierte und bewaffnete Truppe hatte sich von Bitterfeld bis Gröbers durchgekämpft und in Gröbers ein schweres Gefecht mit der Sipo bestanden. Dabei erbeuteten die Arbeiter zwei Minenwerfer und andere Waffen und machten vier Gefangene.
Von meinen Bekannten aus dem Ammendorfer Gefecht traf ich nur Josef Schneider. Ich erfuhr, dass Teile meiner Truppe bis ins Mansfelder Gebiet geflüchtet waren und mich dort erwarteten. Ich beschloss, Thiemanns Truppe zu den Genossen im Mansfeldischen zu führen. Um nicht von der Sipo oder der Reichswehr abgeschnitten zu werden, war ich gezwungen, auf Umwegen und im Zickzack vorzustoßen.
Josef Schneider hatte sich in Gröbers einen Mann namens Keller als Pressechef beigeordnet. Kein Mensch wusste, wes Geistes Kind er war. Er kam von auswärts und verstand es, sich das Vertrauen Schneiders zu erwerben. Der hielt große Stücke auf Keller und machte ihn zu seinem täglichen Begleiter, obwohl ich ihn mehrfach vor ihm warnte.
Keller war ein hochaufgeschossener, hagerer Mensch mit unstetem Blick, der sich sehr radikal gebärdete und mit ganz phantastischen Vorschlägen an mich herantrat. Ich lehnte seine Mitarbeit in der militärischen Leitung ab, und er musste sich damit begnügen, in der von Josef Schneider geleiteten Finanz- und Verpflegungskommission als Gehilfe zu fungieren.
Wie recht ich mit meinem Misstrauen gegenüber Keller hatte, bewies die Moabiter Verhandlung, in der Keller mich durch falsche Aussage stark belastete. Er schreckte vor den unsinnigsten Lügen nicht zurück, um, wie er nach seiner Freilassung in einem Schreiben an meinen Anwalt erklärte, seine Haut zu retten. Nach meiner Entlassung aus dem Zuchthaus Sonnenburg wurde ich unter anderm auch in Hannover von den Arbeitern begrüßt. Am Bahnhof stürzte ein Mann mit einem großen Blumenstrauß mir entgegen. Unter hysterischem Schluchzen versuchte er meine Hand zu packen, wobei er schrie: »Kennst du mich? Kennst du mich? Ich bin dein Freund Keller!« Es war ein widerliches Schauspiel; ich musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um ihn nicht zu ohrfeigen.
Auf dem Marsch ins Mansfelder Land kam es in dem Dorfe Roitzschgen zu den Vorgängen auf dem Gutshofe Heß, bei dem der Besitzer erschossen wurde.
In Wettin hatten wir ein Gefecht mit der Einwohnerwehr. Einen von unseren Truppen verwundeten Landjäger verbanden die Arbeitersanitäter und brachten ihn ins Krankenhaus.
Nachdem in Wettin die Truppen verpflegt und gelöhnt worden waren, begann der Weitermarsch nach Mansfeld. Josef Schneider hatte an diesem Tag außer der Löhnung (per Mann fünfzig Mark) noch über 30000 Mark verausgabt, die er an Wettiner Geschäftsleute für Schuhe, Wäsche, Brot und Fleisch auszahlte. Die Bekleidung und Beschuhung der Genossen, die durchweg von ihrer Arbeitsstelle zu den Waffen geeilt waren, befand sich in mangelhaftem Zustand und musste ersetzt werden.
Nach Einbruch der Dunkelheit konnte ich mich an Hand der Karte schlecht orientieren. Ich fuhr wie gewöhnlich an der Spitze des Zuges und war verantwortlich dafür, dass wir uns nicht verirrten. Zwischen dem ersten und dem zweiten Wagen befanden sich die Meldefahrer, die die Verbindung mit dem Vor- und Nachtrupp herstellten. Einer der Radfahrer hielt sich an meinem Wagen fest, um sich mitziehen zu lassen. Ich forderte ihn auf, ein paar Einwohner zu fragen, wie das Dorf heiße, um festzustellen, ob wir auf dem richtigen Wege sind.
Der Radfahrer weigerte sich mit dem Bemerken, die Leute würden ihm ja doch keine richtige Auskunft geben. Auf meine mehrmals wiederholte Aufforderung entgegnete er mir schließlich, ich solle die Leute selbst fragen. Darauf gab ich ihm eine schallende Ohrfeige, die er prompt erwiderte. Ich sprang vom Wagen, packte und schüttelte ihn kräftig. Er entschuldigte sich und sagte, dass er mich in der Dunkelheit nicht erkannt habe.
In der Nacht vom 31. März zum 1. April erreichten die Truppen den Ort Beesenstedt. Hier sollte Rast gemacht und das während des Marsches in der Feldküche gekochte Essen verteilt werden. Die
Arbeitersoldaten wurden in den drei Domänen des Ortes einquartiert. Die größte Domäne gehörte dem Rittmeister Nette, der mit seiner Frau und seinem Sohne ein Schloss bewohnte, das 1914 mit einem Aufwand von Millionen errichtet worden war. Als wir die umfangreichen Vorratsgewölbe dieses Hamsterschlosses untersuchten, fühlten wir uns in das Schlachthaus einer Großstadt versetzt: da hingen Reihen von geräuchertem Schinken, Speckseiten und Würsten. Alle nur erdenklichen Delikatessen waren hier in riesigen Massen aufgespeichert. Das zu einer Zeit, wo in ganz Deutschland die größte Lebensmittelknappheit herrschte. Verschiedene Rotgardisten bekamen über diese zum äußersten Gipfel getriebene Selbstsucht Wutanfälle.
Mir erschien es als ein Verbrechen an der Not leidenden Arbeiterschaft, die Vorräte in ihrer Einsamkeit zu belassen. Acht Mann trugen von zwölf Uhr nachts bis vier Uhr früh an langen Stöcken die Unmengen Schinken, Speckseiten, Würste, auch Butter, Fett und vieles andere in den Tanzsaal des kleinen Dorfgasthofes, wo unser Quartier war. Von den Delikatessen, die wir zur Deckung des Bedarfs des Schlosspersonals zurückließen, konnten sich diese Lakaien noch monatelang ernähren. Die von uns beschlagnahmte Menge an Lebensmitteln bestimmte ich zur Verteilung an die arbeitende Bevölkerung und für die Verpflegung meiner Truppen.
Als zwei Mann mit der schweren Last, unter der sich die Stöcke bogen, an mir vorübergingen, musste ich an jene Kundschafter denken, die Moses nach seinem Zug durch die Wüste in das gelobte Land Kanaan sandte und die zurückkehrten mit Stöcken, die sich unter der Last der reifen Trauben bogen. Charakteristisch für den Rittmeister Nette war, dass er in seinen Schränken außer zahlreichen Hosen aus Militärstoff nicht weniger als achtzehn Paar Militärunterhosen und über zwanzig Militärhemden vorrätig hatte. Wir beschlagnahmten diese für den Herrn Rittmeister ganz überflüssigen Sachen samt fünf Dutzend anderer, vollständig neuer Hemden, getreu dem alten Bibelwort: »Wenn du zween Röcke hast, so gib einen dem, der keinen hat.«
Auf die Frage des Moabiter Ausnahmerichters an den Zeugen Rittmeister Nette, welchen Schaden er durch die Rotgardisten erlitten habe, gab Nette bezeichnenderweise nur den Verlust von fünf Dutzend Eigenhemden an. Er verschwieg aber wohlweislich das Fehlen von Militärhosen, -röcken und -unterzeug, er befürchtete wohl, dass der Richter oder einer der Verteidiger ihm die Frage vorlege, auf welche Weise er zu so auffallend vielen Militärbekleidungsstücken gekommen sei. Außer den genannten Sachen vermisste Nette aus seinem lebenden Besitz noch einen fetten Ochsen, über dessen Verlust er sich vor Gericht bitter beschwerte. Der Ochse war von unserer Verpflegungskommission geschlachtet und an die ausgehungerten Proletarier des Ortes verteilt worden.
Freitag, den 1. April, kam es zu dem mörderischen und tragischen Gefecht bei Beesenstedt. Unsere militärische Lage hatte sich in den letzten achtundvierzig Stunden erheblich verschlechtert. Eine größere Formation revolutionärer Arbeiter existierte nicht mehr. Durch die schweren Kämpfe in Ammendorf und im Leunawerk waren die vereinten Arbeitertruppen in mehrere, kaum ein paar Hundertschaften starke Gruppen auseinandergesprengt worden. Diese verstreuten Formationen strebten intensiv nach einer Vereinigung. Das zu verhindern war das Ziel der Sicherheitspolizei und Reichswehr. Die Sipo, durch Kontingente von süddeutschen Zeitfreiwilligen verstärkt, verfügte über reichliche artilleristische Kampfmittel.
Beim Abmarsch von Wettin sah ich das Aussichtslose unserer Lage klar vor Augen. Ich wollte schon dort die Truppen auflösen. Es war absolut unmöglich, eine Anweisung von einer Parteiinstanz zu bekommen. Unsere Truppe in Beesenstedt auseinander gehen zu lassen, hielt ich für falsch. Einmal war die Gegend absolut nicht geeignet, um unsere Waffen, Minenwerfer und andere militärische Ausrüstung nach erfolgter Auflösung zu verstecken. Dafür kam fast nur das mansfeldische Gebiet mit seinen zahlreichen Schächten und anderen Industrieanlagen in Frage. Zum anderen empfing ich Meldung von uns entgegenrückenden Kampfgenossen. Gelang es uns, auf sie zu stoßen, so durfte ich hoffen, mein gestecktes Ziel zu erreichen.
Ein guter Tagesmarsch konnte uns mit den Genossen verbinden. Gegen Mittag verließen wir
Beesenstedt und wagten den letzten Versuch, uns durch den immer enger werdenden Ring der Sipo und Reichswehr durchzuschlagen. Nach einer Stunde, als wir schon einige Kilometer vorgesto­ßen waren, sichtete ich mit dem Feldstecher in einer Entfernung von etwa 3000 Metern in Schützenlinie anrückende Grüne. Sofort brachten wir unsere Maschinengewehre in Stellung und fanden geeignete Deckung hinter dem Bahndamm einer kleinen Werkbahn. Wir hatten kaum Deckung genommen, als bereits die ersten Granaten und Schrapnells in unseren Reihen platzten. Die Arbeitersoldaten verteidigten sich gegenüber dem überraschenden Angriff mit Todesverachtung und beispiellosem Mut; bei unserem Mangel an Munition aber war ein längerer Kampf aussichtslos. Das schwere Artilleriefeuer des Gegners brachte uns größte Verluste. Nicht einer von uns glaubte, dass er lebend aus diesem Hexenkessel herauskomme. Mehr als zwanzig tapfere Genossen blieben am Platz und opferten dem Befreiungskampfe der Arbeiter ihr Leben. Andere Kämpfer entgingen der Vernichtung nur, indem sie sich schwimmend oder in Kähnen über die in unserem Rücken befindliche Saale retteten.
Der offizielle Regierungsbericht meldete über dieses Gefecht:
»Die von zwei Seiten bei Beesenstedt gestellten Banden, die sich inzwischen auf etwa 500 Kämpfer verstärkt hatten, verloren im Gefecht, das sich nunmehr entwickelte, ihre gesamte Gefechtsbagage (31 Fahrzeuge), sowie fast restlos ihre Waffen (5 Maschinengewehre, 6 Maschinengewehrpistolen, 150 Gewehre, einen Panzerkraftwagen, einen Lastkraftwagen und zwei leichte Minenwerfer). Der Gegner verlor hierbei 18 Tote und 19 Gefangene, die teilweise verwundet waren. Auch hier hatte Hoelz persönlich geführt, unterstützt von Schneider. Eine Anzahl Aufrührer entkamen über die Saale. Sechzig von ihnen wurden am anderen Tage durch die anhaltische Schutzpolizei an der preußischen Grenze bei Unterpreisen gefangen genommen, vierzig andere wurden in der Gegend von Löbejün festgenommen.«

 

Kritiker der »Märzaktion«

Die aufgeriebenen Arbeiterkampftruppen bestanden ausnahmslos aus begeisterten Genossen, die mit beispielloser Tapferkeit und selbstloser Hingabe sich dem übermächtigen Gegner entgegenwarfen und nur durch dessen Artillerie-Kampfmittel geschlagen wurden.
Otto Rühle, der während der Märzaktion auf dem Gut Wolfsthal bei Freiberg weilte, schrieb nach dem Aufstand im Dresdner »Kommunist« und in der »Aktion« eine vernichtende Kritik über die Märztage. Aber er setzte wenigstens seinen Namen darunter. Die Thesen, welche Otto Rühle aufstellte, sind nichts als schöne Gehirnkombinationen, die, auf Papier gemalt, unter Umständen Effekt machen können, in der Praxis angewandt aber hellste Verwirrung und Schaden anrichten würden.
Ich will nur eine seiner famosen Äußerungen zur Märzaktion anführen. Er verficht darin den Gedanken, die Arbeiter müssen bei Aufständen die Fabrik, ihren Betrieb, besetzen und sich darin verteidigen. Ich empfehle ihm, einmal eine solche Besetzung und Verteidigung praktisch mitzumachen. Er würde seinen superklugen Kritikerschädel nur in ganz defektem Zustande aus den Trümmern des Betriebes retten können. Mit einem einzigen Minenwerfer oder einem einzigen Geschütz bricht der Gegner den Widerstand der Arbeiter in der Fabrik. (Der Genosse Kempin-Ützelmann vom Leunawerk scheint sich die Thesen Otto Rühles zu eigen gemacht zu haben. Der Verbleib der bewaffneten Arbeiter im Leunawerk war, gelinde gesagt, ein unverantwortlicher Fehler, der sich auch bitter gerächt hat.)
Unter dem Titel »Leunawerk« gab die Brandler-Thalheimer-Zentrale kurz nach den Märzkämpfen eine kleine Broschüre heraus, in der ein ungenannter Schreibkrampfkranker eine so unsinnige Kritik verzapfte, dass sie um der wahren Tatsachen willen nicht unwiderlegt bleiben darf.
Ist es schon an und für sich bezeichnend, dass dieser Held seinen Namen verschweigt, so bildet der Inhalt eine Musterkollektion von allem möglichen und unmöglichen Blödsinn, Lügen und Entstellungen. Ich bin es den revolutionären Kämpfern, die am Märzaufstand teilgenommen haben, schuldig, ein paar der handgreiflichsten Verdrehungen und Fälschungen festzunageln. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: er kann - was ich allerdings kaum glaube - direkt oder indirekt an den Märzkämpfen teilgenommen haben; in diesem Fall hat der Mann während der Kämpfe geschlafen, oder er hat bewusst geschwindelt. Die andre Möglichkeit ist die, dass er »weit vom Schuss« in Berlin plötzlich ein Kribbeln in seinen Fingern spürte und auf Grund seiner durch Hörensagen erworbenen Kenntnisse Kritik übte an einer Aktion, über die er faktisch nichts wusste. Dieser Anonymus glaubte mit einem bisschen zusammengelesener militärischer Theorie einen Kampf und Aufstand kritisieren zu dürfen, von dem er tatsächlich nicht einmal die wesentlichsten Zusammenhänge und Einzelheiten kannte.
Ich greife nur einige Sätze aus der Leunawerk-Broschüre heraus. Auf Seite 5 heißt es:
»Der Märzaufstand aber musste schon deshalb zu Fall kommen, weil er militärisch auch nicht einen Augenblick eine einheitliche Organisation, eine einheitliche Leitung zustandezubringen vermochte, und weil die vielen militärischen Leitungen auch nicht einen Augenblick im Einklang mit der politischen Leitung der Bewegung standen.«
Die erste Behauptung widerspricht vollkommen den Tatsachen. Die Gruppen Hoelz, Schneider, Lembke, Thiemann standen unter einer einheitlichen militärischen Leitung. In ihr arbeiteten KPD-, KAPD- und AAU-Genossen - unter Beiseitelassen ihrer Parteidifferenz - gemeinsam miteinander. Sie vereinigten unter sich alle bewaffneten revolutionären Arbeiter.
Die zweite Behauptung fällt auf die politische Leitung zurück. Wo befanden sich denn die politischen Leitungen? Vielleicht, wie Otto Rühle, in irgendeiner »Frühjahrsfrische«? Waren sie vielleicht auf der Rabeninsel in Halle oder im Grunewald bei Berlin? Ich habe sie krampfhaft gesucht. Ich habe mich täglich bemüht, mit der politischen Leitung Verbindung zu bekommen. Gehört der Verfasser der Leuna-Broschüre vielleicht gar zur politischen Leitung? Dann wäre er am ehesten in der Lage, meine Fragen zu beantworten.
So beschränkt war keiner der militärischen Führer im Märzaufstand, dass er nicht wusste, wie unbedingt notwendig es ist, die militärische Leitung in Einklang mit der politischen Leitung zu bringen. Unsere militärischen Aktionen hatten nur Wert, wenn sie sich den politischen Möglichkeiten anpassten.
Auf Seite 4 heißt es:
»Wir sahen verschiedene kleine Truppen der Leunawerke, die Lembke-Gruppe, die Hoelz-Gruppe, die voneinander isoliert kämpften und weder miteinander noch mit der politischen Leitung eine Verbindung hatten. Nirgends zeigt sich auch nur für einen Augenblick eine einheitliche Leitung. Nirgends denkt man an ein Zusammenfassen der Kräfte, an die Formierung der Reserven, an die Befreiung der bedrängten Orte, daran, die vereinigten Kräfte an einem Punkt ins Treffen zu führen, die Entscheidung zu erzwingen, den Gegner zu zerschlagen und zu vernichten. In allen diesen Kämpfen finden wir nicht einmal die Spur der elementarsten militärischen Erwägungen«
Du liebe, heilige Einfalt! Soviel Weisheit in fünf Sätzen! Der Pseudo-Moltke schlägt den Tatsachen mit einer Unverfrorenheit ins Gesicht, die einfach klassisch ist. Gerade mein Gefechtstagebuch beweist unzweideutig, dass jede Behauptung dieses anonymen Kritikers durch keine Sachkenntnis getrübt wird. Ich richtete von Anfang an mein Hauptaugenmerk darauf, meine Truppe mit anderen Arbeitertruppen zu vereinigen, was mir auch in vielen Fällen gelang. Ich war immer bestrebt, mit anderen Gruppen Verbindung zu halten, und habe diese auch immer erreicht. Der Märzaufstand brach nicht an der militärischen Unfähigkeit der kämpfenden Arbeiter zusammen, sondern aus Gründen, auf die ich hier nicht eingehen will.
Persönlich freut es mich, wenn an Aktionen und Maßnahmen, für die ich mich verantwortlich fühle, Kritik geübt wird, gesunde, sachliche, auf wirklicher Kenntnis der Zusammenhänge beruhende Kritik. Daran kann ich lernen und meine Fehler erkennen. Der Leunawerk-Broschüre fehlen alle diese Voraussetzungen, und es ist deshalb tief bedauerlich, dass die Partei diese anonyme Schrift herausgab.

 

Sechsundvierzig Stunden in den Händen der weißen Mörder

Nach dem Gefecht bei Beesenstedt, dem letzten Aufflackern des mitteldeutschen Aufstandes, die zerstreuten Kräfte erneut zu sammeln, war nach Lage der Dinge absolute Unmöglichkeit. Das Auf-
Standsgebiet glich einem einzigen Heerlager der Sipo und Reichswehr. Und es war außerordentlich schwierig für die zersprengten und verstreuten revolutionären Kämpfer, aus dieser Umklammerung herauszukommen.
Als sie die Saale im Rücken hatten, trennten sich die Arbeiter in Gruppen von vier bis sechs Mann; aber auch diese geringe Zahl war noch zu auffällig, und wir mussten versuchen, zu zweit, höchstens zu dritt, den Marsch ins Ungewisse fortzusetzen. Mit mir gingen der Genosse Thiemann und ein ortskundiger Genosse, der uns führte. Wir wurden noch immer von dem nachdrängenden Gegner beschossen. Überall tauchten Radfahrerpatrouillen und Lastautos voll Sipos und Reichswehr auf.
Gegen sieben Uhr abends, nachdem wir fünf Stunden lang über weichen Ackerboden marschiert waren, immer die Landstraßen meidend, gelangten wir in die Nähe von Könnern. Zweitausend Meter vor dem Ort sahen wir plötzlich in kaum vierhundert Meter Entfernung ausgeschwärmte Sipo vor uns. Wir drei warfen uns rasch in den etwa einen halben Meter tiefen Graben des Feldweges, der nach Könnern führt, und krochen auf allen vieren vielleicht fünfhundert Meter, bis uns das Blut von den Knien rann. Dadurch hatten wir die Schützenlinie der Sipo umgangen und konnten nun gehend unsern Weg fortsetzen. Die Waffen verbargen wir unter einer Schleuse, um eventuell als völlig harmlose Wanderer durchzukommen. In Könnern war kurz vorher eine Abteilung süddeutscher Zeitfreiwilliger eingetroffen, der wir jetzt direkt in die
Hände liefen. Auf die Frage, wie ich hieße, antwortete ich: »Reinhold König«. Auf diesen Namen trug ich Ausweispapiere bei mir. Unter Kolbenstö­ßen und Fußtritten mussten wir im Eiltempo nach dem Bahnhofsgelände laufen, wo sich bereits etwa zwanzig gefangene Arbeiter befanden. Jeden Augenblick wurden neue gebracht.
Ich konnte nun Vergleiche zwischen der Menschlichkeit der Arbeiter und der Grausamkeit und Rohheit der monarchistischen Schildhalter anstellen.
Diese bezahlten Menschenjäger trugen durchweg neue feldgraue Uniformen mit silbernen Abzeichen, Stahlhelme, Karabiner, Seitengewehre, Trommelrevolver und Gummiknüppel. Bei vielen sah ich auch Totschläger.
Alle Gefangenen wurden mit Gummiknüppeln und Kolbenstößen traktiert. Dabei fragten die Zeitfreiwilligen zu Hunderten von Malen: »Na, wo habt ihr denn euren Hölsch?« (Hoelz). Eine Rückfrage in Ammendorf hätte ergeben, dass meine Papiere, die man mir abgenommen, wohl echt, jedoch nur geborgt waren. Auch die zahlreich vorhandenen Sipo- und Zeitfreiwilligenspitzel konnten leicht in mir den Hoelz erkennen, sofern sie sich nicht durch die Brille, die ich mir aufgesetzt hatte, täuschen ließen.
Nach einigen Stunden mussten die Gefangenen unter »Hände hoch!« auf den Perron treten und in kleinen Gruppen von drei bis vier Mann in den bereitstehenden Zug steigen. Ich kam mit Thiemann und zwei anderen Genossen in ein Abteil.
Vier Zeitfreiwillige übernahmen unsere Bewachung. Jeder hielt seinem Gefangenen den Trommelrevolver an die Stirn. Nach schweren Misshandlungen mit Totschlägern und Seitengewehren kamen wir mitten in der Nacht in Sangerhausen an. In diesem Ort musste ich bestimmt damit rechnen, erkannt zu werden. Bei dem Gefecht mit der Besatzung des Panzerzuges hatten mich hier Hunderte von Einwohnern gesehen.
Vom Augenblick meiner Verhaftung an glaubte ich nicht mehr an ein lebendes Entkommen. Mit meiner baldigen Abreise ins Nichts hatte ich mich abgefunden.
Unter »Hände hoch!« und harten Kolbenstößen wurden wir in den Keller des Bahnhofsgebäudes hineingestoßen. In diesem dreckigen, stinkigen Raum hockten etwa fünfzig bis sechzig gefangene Arbeiter mit blutigen und geschwollenen Gesichtern, in denen man die Augen kaum sehen konnte. Manche hatten faustgroße Beulen am Kopf. Viele lagen wie tot am Boden.
Den Genossen Thiemann fragte ein Offizier, was er bei der Roten Armee gemacht habe. Er antwortete: »Kompanieführer«. Darauf stieß ihm ein danebenstehender Unteroffizier den Gewehrkolben mit solcher Wucht gegen die Brust, dass Thiemann lautlos nach hinten fiel. Ich sprang auf, um weitere Misshandlungen von ihm abzuhalten. Nun richtete die Meute ihre ganze Wut gegen mich.
Während der Nacht kamen ununterbrochen Sipo und Zeitfreiwillige in den Keller und übten ihren Heldenmut an wehrlosen Gefangenen. Den zusammengebrochenen Arbeitern, die teils bewusstlos, teils erschöpft am Boden lagen, traten die Ordnungshüter in viehischer Weise mit den Stiefelabsätzen ins Gesicht, damit sie aufstehen sollten. Viele wurden einzeln aus dem Kerker herausgeholt; einige kehrten wieder zurück, andere nicht.
Ihre Notdurft mussten die in dem Keller befindlichen Genossen in einer Ecke verrichten. Was das bei fünfzig Menschen in einem so winzigen Raum bedeutet, kann sich jeder vorstellen.
Ein Sangerhauser Einwohner, Sohn des Führers der dortigen Deutschnationalen und Mitglied der Einwohnerwehr, war bei unserem Gefecht gegen den Panzerzug von uns als Spitzel verhaftet und zwei Tage lang festgehalten worden. Er hatte reichlich Gelegenheit gehabt, sich mein Gesicht einzuprägen. Dieser Mensch leistete jetzt den wei­ßen Mördern Spitzeldienste. Mehrmals kam er mit den Polizisten in den Keller, leuchtete jedem der Gefangenen ins Gesicht und erklärte dabei selbstsicher: »Ich kenne den Hoelz ganz genau, mir hat er ein paar Ohrfeigen gegeben.« Dass er mich trotzdem nicht erkannte, war mir unbegreiflich.
Meine Genossen waren in Bezug auf meine Freilassung sehr zuversichtlich, jedenfalls zuversichtlicher als ich selbst. Wer glaubhaft nachweisen konnte, dass er am Aufstande nicht beteiligt war, hatte Aussicht, aus dieser Folterkammer herauszukommen.
Ich versprach den Genossen, falls man mich laufen ließe, alle meine Kraft für ihre Befreiung einzusetzen. Am zweiten Tage verlangte ich kategorisch meine Vernehmung. Sonntag, den 3. April, nachmittags gegen drei Uhr wurde nach Reinhold König gerufen. Der sich meldende »König« sah sehr geknickt aus. Es war ein gewagtes Spiel, aber ich hatte nichts mehr zu verlieren; bestenfalls konnte ich gewinnen.
Im Bahnwagen, der als Vernehmungsbüro diente, saßen an einem langen Tisch mehrere Offiziere und Oberwachtmeister. In einer Ecke stand zu meinem nicht geringen Schrecken der Spitzel, der »mich genau kannte«. Ich rechnete jede Sekunde damit, dass man mir auf den Kopf zusagte, ich sei Hoelz. Meine Hoffnung war auf Null gesunken. Der Spitzel besah scharf jeden Vorgeführten. Bei Beginn des Verhörs beschwerte ich mich über die bereits zwei Tage dauernde Haft und die Misshandlungen. Ich erklärte - und dachte bei mir: >Jetzt kann dich nur noch faustdicker Schwindel retten< -, ich sei am Freitagmorgen mit meinem Fahrrad von Ammendorf fortgefahren, um auf dem Land Eier zu kaufen. Bei Beesenstedt sei ich durch die Schießerei zwischen Arbeitern und Polizei von meinem Weg abgedrängt worden. Mein Rad und die Eier hätten die Zeitfreiwilligen an sich genommen, die mich verhafteten. Warum, wisse ich nicht, verlange jetzt aber den Grund zu erfahren. Es sei ein schwerer Missgriff, völlig harmlose, unbeteiligte Leute festzuhalten. Ich forderte meine Freilassung, da sich Frau und Kinder bestimmt sehr um mich bangten. Sie wüssten nicht einmal, wo ich sei.
Ein Beamter protokollierte meine Aussage, und ich unterschrieb. Meine Papiere wurden eingehend geprüft, sie waren in Ordnung: Reinhold König lebte, hatte drei Kinder, bezahlte seine Steuern; wo er selbst im Augenblick war, konnte ich nicht wissen, ich war jedenfalls hier. Man erklärte mir, dass meine Verhaftung ein Missgriff sei. Der Offizier entschuldigte sich, ich war entlassen. Ich sagte aber, dass ich ja an der nächsten Ecke wieder verhaftet werden könnte, und ersuchte um einen Passierschein. Darauf wurde mir meine absolute Harmlosigkeit amtlich bescheinigt.
Nun war ich frei. Aber der erste Schritt, den ich außerhalb des Bahnwagens machte, konnte mir zu neuem Verhängnis werden. Es brauchte nur einer zu rufen: »Das ist der Hoelz!« Ich musste versuchen, schnellstens aus dem Ortsbereich zu kommen.
Ohne eine Straße zu berühren, lief ich aufs Geratewohl den Bahndamm entlang. An einem Bach löschte ich meinen Durst und wusch mir zum ersten Mal seit drei Tagen Gesicht und Hände. Das Gesicht, das mir aus meinem Taschenspiegel entgegengrinste, war entsetzlich! Das war nicht das Gesicht eines Mannes, sondern das einer müden Greisin. Jetzt verstand ich, warum der Spitzel und auch andere mich nicht erkannt hatten. In dieser Verfassung hätten mich nicht einmal meine Angehörigen erkannt.
Mich ergriff tiefe Trauer, fast Mutlosigkeit. Ich dachte an die revolutionären Arbeiter und Genossen, die noch in dem Keller waren, alles ehrliche, treue Kämpfer. War es nicht feig von mir, mich selbst in Sicherheit zu bringen, während sie weiter von ihren Peinigern gequält wurden? Aber ich durfte jetzt meine Freiheit nicht dem Gefühl opfern. Ich konnte und musste in Freiheit den Genossen mehr nützen als dort im Keller. Sie hatten mein Versprechen, dass ich alles Menschenmögliche für sie und ihre Angehörigen tun werde - dieses Versprechen musste Tat werden.

 

Quartierlos in Berlin/Verraten/Verhaftet

Bei Einbruch der Dunkelheit bestieg ich auf einer kleinen Haltestelle den Zug nach Nordhausen. Von da fuhr ich mit dem Schnellzug nach Berlin, wo ich Montag früh gegen acht Uhr ankam. Das erste, was mir aus den Morgenblättern in großer Aufmachung entgegenschrie, war: »Hoelz als Siegessäulenattentäter entlarvt.« Auch andere Attentate außerhalb Berlins sollte ich ausgeführt haben. In den Zeitungen stand, Hoelz sei in Berlin angekommen. Die Polizei wusste alles viel früher als ich selbst.
Mit den sächsischen Belohnungen zusammen war jetzt ein Kopfpreis von hundertfünfundachtzigtausend Mark auf mich gesetzt. Das Berliner Pflaster war für mich verteufelt heiß geworden. Verschiedentlich war mein Name grob missbraucht worden, und das hatte die Hetze gegen mich erheblich verschärft.
Es war nicht möglich, ein Quartier zu bekommen. Die Genossen, bei denen ich vorsprach, fürchteten sich, mich aufzunehmen. Ich hatte in den letzten Wochen nächtelang nicht geschlafen und glaubte bei meiner Ankunft in Berlin, mich bei Freunden einmal richtig ausruhen zu können. In ein Hotel getraute ich mich nicht; ich hatte bei mir nur die Papiere auf den Namen Reinhold König und musste damit rechnen, dass die Sipo in Sangerhausen mich unter diesem Namen suchte, falls sie herausgefunden hatte, dass der von ihr entlassene Reinhold König kein anderer als Max Hoelz war. Die erste Nacht nach meiner Ankunft in Berlin irrte ich obdachlos in den Straßen umher. In der zweiten Nacht sah ich früh gegen vier Uhr in einem Lokal in der Nähe des Bahnhofs Charlottenburg noch Licht. Ich war zum Umfallen müde und ging in das Lokal hinein. Es war ein Nachtlokal, in dem sich nur noch wenige Straßenmädchen mit ihren Kavalieren befanden. Eines dieser Mädchen setzte sich zu mir, und ich war unbeschreiblich froh, als sie mich aufforderte, mit in ihre Wohnung zu kommen. Dort konnte ich wenigstens drei Stunden ausruhen. Kurz nach sieben Uhr musste ich das Haus wieder verlassen. Ich suchte nun durch Vermittlung eines Genossen eine Unterkunft zu erhalten. Er führte mich in die Wohnung eines ausländischen Studenten. Der gute Mensch hatte solche Angst, dass er den ganzen Tag sein Zimmer abschloss, damit seine Wirtin mich nicht sehen sollte. Bei dem geringsten Geräusch, das ich verursachte, trommelte die Wirtin wie besessen an die verschlossene Tür. Sie glaubte, im Zimmer ihres Mieters seien Einbrecher. Deshalb verschwand ich in der kommenden Nacht. Ein Straßenmädchen, dem ich mich in meiner Ratlosigkeit anvertraute, verschaffte mir Papiere. Ich mietete dann ein kleines Zimmer in einer Fremdenpension.
Sobald die Unterstützung der Angehörigen gefallener Märzkämpfer und der Rechtsschutz der Verhafteten organisiert waren, wollte ich Berlin sofort verlassen. Ich hatte Besprechungen mit den in Frage kommenden Instanzen und Genossen und beriet mit ihnen die zu ergreifenden Maßnahmen.
Während der Kämpfe trieb unter anderem auch ein bekannter Genosse der KAP Missbrauch mit meinem Namen. Er hatte - wie mancher andere -, während wir im heißen Gefecht mit der Sipo und Reichswehr standen, ohne meine Zustimmung und ohne dass ich überhaupt davon wusste, große Expropriationen ausgeführt und sich dabei meines Namens bedient. Wo er Geld fand, stellte er den Betroffenen eine Quittung mit meiner Unterschrift aus und erklärte, er selbst sei Max Hoelz. So hatte er auch in einer Fabrik bei Ammendorf einen grö­ßeren Bargeldbetrag erhalten und mit meinem Namen quittiert. Ich weiß, dass der KAP-Genosse aus rein politischen Motiven so handelte, zu verurteilen war sein Vorgehen aber doch, da es unrevolutionär ist, seine Einzelaktionen nicht mit der eigenen Person zu decken.
Als ich erfuhr, dass sich der falsche Hoelz in Leipzig aufhielt, sandte ich einen Kurier nach dort mit der Aufforderung an ihn, eine Abrechnung über die beschlagnahmten Gelder nach Berlin zu schicken oder selbst nach Berlin zu kommen. Er weigerte sich aber. Darauf beauftragte ich zwei zuverlässige Genossen, ihn unbedingt nach Berlin zu schaffen. Sie brachten ihn. In der Wohnung des Genossen Schubert zwangen wir ihn, die noch vorhandenen Gelder und das beschlagnahmte Platin an die Unterstützungskasse der KAPD abzuliefern.
Am 15. April fand eine Zusammenkunft in einem Cafe am Rankeplatz statt. Einer der Teilnehmer hatte das von einem Kurier bei ihm deponierte Geld unterschlagen und sollte sich vor den Genossen in Berlin verantworten. Dieser Bursche, Kaufmann und Offizier a. D. Henke aus Leipzig, war mir von einem bekannten Parteigenossen als zuverlässig empfohlen worden.
Gegen zehn Uhr abends verließen wir das Lokal. Wir waren kaum fünf Schritte gegangen, als von verschiedenen Seiten acht bis zehn Kriminalbeamte mich mit dem Geschrei: »Hände hoch!« umringten. Ich hatte in Könnern und Sangerhausen die Hände nicht hochgehoben und tat es vor diesen Menschenjägern erst recht nicht. Mochten sie meinetwegen schießen!! Wenn sie schießen wollten, dann schossen sie so oder so, mit oder ohne »Hände hoch«. Meine Begleiter streckten ihre Flossen gen Himmel.
In ein paar Autos ging's nach dem Polizeipräsidium. Bei der Abführung in die Zellen weinte Henke und erklärte, es tue ihm leid, so gehandelt zu haben. Er war am Vormittag nach Berlin gekommen und hatte im Polizeipräsidium gemeldet, dass er mit mir zusammentreffe. Henke wurde schon nach ein paar Stunden wieder entlassen. Die Polizei hatte ihn nur zum Schein verhaftet; sein Offizierspaß sicherte ihn, wie er selbst sagte, gegen jede Verdächtigung.
Meine Verhaftung erfolgte genau vierzehn Tage nach der Niederwerfung des mitteldeutschen Aufstandes. Sie war mir keineswegs überraschend gekommen. Fast täglich hatte ich damit gerechnet. Es war klar: Diesmal konnte ich nicht so leicht wieder befreit werden. Die gegen mich herrschende Pogromstimmung bot eine Gewähr dafür, dass die behördlichen Organe alles aufbieten würden, um eine gewaltsame Befreiung zu verhindern.
Meine ersten Eindrücke und Empfindungen nach der Verhaftung waren keine besonders niederdrückenden. Ich nahm die Sache nicht allzu tragisch, erhoffte sogar von der Verhaftung und ihren Folgen einen agitatorischen Nutzen für die kommunistische Bewegung.
In der Nacht, während ich todmüde auf der Gefängnispritsche lag, kamen mehr als ein Dutzend Mal Kriminalbeamte in meine Zelle und versuchten von mir herauszubekommen, wo ich in den letzten vierzehn Tagen gewohnt hatte. Ich war entschlossen, mein Quartier zu verheimlichen, um meinen Quartierleuten keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Als ich jedoch aus dem fortwährenden Drängen der Kriminalbeamten die Verdächtigung heraushörte, ich hätte mir größere Summen von
den beschlagnahmten Geldern angeeignet, packte mich ein maßloser Zorn, ich warf ihnen meine Kofferschlüssel vor die Füße und nannte ihnen meine Adresse.
Unter den Kriminalbeamten, die mir die ganze Nacht schwer zusetzten und durchaus wissen wollten, wo ich die angeblichen Millionen versteckt habe, befand sich ein besonders schuftiges Individuum. Dieser Mensch versuchte sich mit kriecherischer Unterwürfigkeit und den ekelhaftesten Mitteln bei mir anzubiedern. Der Bursche ging mit meinen Schlüsseln davon und war furchtbar enttäuscht, als er bei der Durchsuchung meiner Wohnung merkte, dass ich von den beschlagnahmten Geldern für mich nichts behalten hatte. Dafür stahl er aus meinen Koffern ein Paar neue Schuhe, einen Anzug, einen Rasierapparat und anderes.
Am nächsten Morgen bekam ich einen kleinen Vorgeschmack der Schikanen und Quälereien, denen ich in den kommenden Wochen und Monaten entgegenging.
In der Abteilung für Fingerabdrücke behandelte man mich mit unglaublicher Brutalität. Es fiel mir schwer, diesen höhnischen und zynischen Burschen nicht ins Gesicht zu schlagen. Die Beamten verstauchten mir die Finger und Handgelenke nach allen Regeln der Kunst. Ich wurde einer Reihe von Kommissaren zur Vernehmung vorgeführt. Auf den Korridoren standen Hunderte von Beamten und Stenotypistinnen, aus den Türen lugten neugierige Köpfe, die mich anstaunten und musterten wie einen vielfachen Raubmörder.

 

In Moabit - 50000 Mark für belastende Aussagen

Da von mir nichts zu »vernehmen« war, begnügten sie sich damit, mich von jeder Seite zu photographieren.
In den Abendstunden wurde ich unter stärksten Sicherheitsvorkehrungen aus dem Polizeipräsidium in das Untersuchungsgefängnis Moabit gebracht.
Dort gab es wieder ein großes Spießrutenlaufen durch Reihen neugieriger Beamter. Nach mehreren Stunden erhielt ich eine Zelle zugewiesen als künftigen Wohnraum für unabsehbare Zeit.
Mir wurde bedeutet, diese Zelle sei die Mörderzelle, in der nur Gefangene untergebracht werden, die vor der Hinrichtung stehen.
Das kleine Loch in der Zellenwand, das ein Fenster sein sollte, war dreifach vergittert und so hoch angebracht, dass es unmöglich war, hinaufzusteigen. Das Bett war keine Schlafpritsche, wie in den anderen Zellen, sondern eine massive, mit Holz verkleidete Steinbank, an der sich schwere Eisenringe für die Ketten befanden, in die man die zur Hinrichtung bestimmten Gefangenen legte. Auch die eiserne Zellentür war besonders gesichert. Über der Tür in der Mauer sah ich ein tiefes Loch, in dem unter eisernem Drahtgitter eine Glühbirne brannte. Sie erleuchtete die Zelle die ganze Nacht hindurch, ohne dass der Gefangene die Möglichkeit hatte, das grelle Licht auszuschalten.
Durch die Nachtbeleuchtung wurden mir die
Nächte zur Qual. Es gibt wenig Menschen, die bei Licht schlafen können. Ich gehöre zu denen, die in einem erleuchteten Schlafraum überhaupt nicht einschlafen. Das sagte ich dem Direktor und dem Arzt und bat um die Entfernung der Nachtlampe. Da meine Bitte abgelehnt wurde, versuchte ich es ein paar Tage, mich mit dieser Pein abzufinden. Aber es war einfach unmöglich einzuschlafen. Mitten in der Nacht schob ich den Schemel in das Loch, in dem die Glühbirne brannte. Bald jedoch schreckten mich Schlüsselgeklapper und erregtes Schimpfen aus meinem ersten ruhigen Schlummer. Drei Aufseher standen vor mir und holten den Schemel aus dem Loch. Kaum hatten sie die Tür verschlossen, bugsierte ich den Schemel wieder vor die Lampe. Nach einer Weile kamen sie zurück, nahmen den Schemel abermals heraus und schimpften wie toll. So ging es die ganze Nacht hindurch, fast ein Dutzend Mal schob ich den Schemel in das Loch, und die Beamten holten ihn wütend wieder heraus. Diese blöde Schikane wiederholten sie tage- und wochenlang, bis ich endlich durchsetzte, dass die Glühlampe durch Papier etwas abgeblendet wurde.
Am Tage nach meiner Einlieferung in Moabit sollte ich zur ersten Vernehmung vor den Untersuchungsrichter geführt werden. Zu diesem Zweck wurden mir Fesseln angelegt, und zwar mit einer solchen Brutalität, dass die Haut platzte und das Blut an meinen Händen herunterlief, weil der Beamte das Schloss der Fesseln mit aller Gewalt durch den Handballen presste. Ich versuchte den
Schmerz zu verbeißen, und sagte zu dem Beamten namens Radtke, ob es ihm nicht leid täte, seinen Menschenbruder so zu misshandeln. »Wenn ich einen solchen Bruder hätte, hätte ich mich schon längst aufgehängt!« war seine Antwort. Zugleich schloss er die Fesseln so fest zusammen, dass die Handgelenke knackten und der Schmerz mir die Schweißtropfen auf die Stirn trieb. Durch einen langen Gang wurde ich nach dem Vernehmungszimmer geführt. Unterwegs bat ich einen uns entgegenkommenden älteren Beamten in höherem Rang, mir die Fesseln zu lockern, da ich irrsinnige Schmerzen hätte. Er sagte bereitwilligst zu und schloss sie höhnisch lächelnd noch fester zusammen.
Als ich in das Vernehmungszimmer des Untersuchungsrichters kam, erklärte ich - ich konnte meine ungeheure Erregung kaum noch zurückhalten -, dass ich gar keine Aussagen machen werde, solange man mir die Fesseln nicht abnehme. Er erwiderte, ich würde mich schon noch zu Aussagen bequemen, und ließ mich in die Zelle zurückbringen.
Am nächsten Tag wurde diese Quälerei wiederholt. Sobald man mir die Fesseln anlegte, weigerte ich mich, die Zelle zu verlassen. Die Aufseher wollten mich hinausschleppen. Ich setzte mich schnell auf den Hintern, um durch passive Resistenz gegen die Fesselung und Misshandlung zu protestieren. Da kam ich aber aus dem Regen in die Traufe. Einer der Beamten ergriff mein linkes, der andere mein rechtes Bein, und so zogen sie mich, gefesselt, wie einen Schlitten auf dem Hintern durch viele hundert Meter lange Steinfliesenkorridore, bis von meinem Hosenboden nur noch Fetzen übrig waren. Unter diesen Umständen verweigerte ich jede Aussage. Nach etwa drei Wochen setzten meine inzwischen zugelassenen Anwälte durch, dass die Fesselung unterblieb.
Jeder Untersuchungsgefangene hatte die »unverdiente« Vergünstigung, täglich zwanzig Minuten im Gefängnishof zwischen den hohen Mauern herumgeführt zu werden. Man kann kaum behaupten, dass das in irgendeiner Hinsicht ein Genuss sei, zumal wenn, wie dies bei mir der Fall war, auch während dieser so genannten Freistunde die Hände gefesselt sind. Als ich das erste Mal gefesselt in den Hof geführt wurde, versuchte ich, die zwanzig Minuten auszunutzen, um ein bisschen andere Luft zu atmen als die entsetzliche Stickluft der Zelle. Nach einem Rundgang kam mir das Entwürdigende der Fesselung erst recht zum Bewusstsein. Ich machte kehrt und erklärte den Beamten, die mit Revolvern bewaffnet meinen »Spaziergang« bewachten, dass ich mich weigerte, gefesselt in den Hof zu gehen, um so mehr, als ja die anderen Gefangenen auch nicht gefesselt seien. Nun wurde ich in den nächsten Tagen und Wochen überhaupt nicht an die frische Luft gebracht.
Die unmenschliche Behandlung besserte sich, als ich den Anwälten Vollmachten erteilt hatte. Hegewisch gehörte zur Partei. Broh und Fraenkl nicht, standen sogar in scharfer Opposition zur KPD.
Sie waren mir vom Rechtsschutz der KAPD gestellt worden.
Meine Mutter, die meiner politischen Weltanschauung fern stand, machte die weite Reise und war die erste und fast einzige, die mich besuchte und mir nicht einmal Vorwürfe machte, obwohl sie unter meinen Handlungen, die sie nicht begreifen konnte, sehr litt.
Mir treu ergebene Genossen befürchteten, dass man auch mich, wie so viele vor mir, »auf der Flucht erschießen«, d. h. meuchlings ermorden werde. Um dem zuvorzukommen, bereiteten sie einen Befreiungsversuch vor, der in letzter Minute ins Wasser fiel, weil ein paar Führer der KAPD die benötigten Geldmittel, die ihnen anvertraut waren, unterschlugen.
In diesen Tagen, die stärkste Anforderungen an meine Nervenkraft stellten, war es besonders James Broh, der sich meiner annahm und nichts unversucht ließ, um mir die Untersuchungshaft nach Möglichkeit zu erleichtern. Er sorgte für mich in rührender Weise. Er brachte mir Bücher von Dostojewski, Tagore, Tolstoi usw. Auch Justizrat Victor Fraenkl bemühte sich nach Kräften, mir Erleichterungen in dieser schweren Situation zu verschaffen.
Als dann durch die Bemühungen Brohs und Fraenkls meine Fesselung unterblieb, ließ ich mich, ohne Widerstand zu leisten, zu den Vernehmungen führen, die der Staatsanwalt Dr. Jäger leitete. Ich erklärte ihm, ich würde Aussagen nur in der Hauptverhandlung machen, in der Voruntersuchung aber jedwede Aussage verweigern. Der Staatsanwalt versuchte mit allen Mitteln der Überredungskunst, mich zu bewegen, meine Taktik aufzugeben, die, wie er meinte, mir durchaus schaden würde. Er sei doch nicht nur mein Ankläger, es sei auch seine Aufgabe, alles zusammenzutragen, was mich entlasten könnte. Ich müsse einsehen, dass ich von meiner Partei und allen Freunden und Genossen fallengelassen sei. Schon um meiner Mutter willen, dieser lieben, prachtvollen Frau, solle ich ein offenes Geständnis ablegen, denn dadurch hätte ich Aussicht auf spätere Begnadigung.
Nachdem Jäger mit seinen Versuchen keine Gegenliebe bei mir fand, änderte er seine Taktik. Von da an gab es den ganzen Tag ununterbrochen Verhöre. Es marschierten nacheinander mehr als hundert Belastungszeugen auf. Bei den Vernehmungen wurden alle belastenden Aussagen immer in meiner Gegenwart gemacht. Jäger protokollierte persönlich. Jeden Augenblick fragte er, ob ich nichts zu meiner Verteidigung oder Entlastung zu sagen hätte.
Es wäre für mich oft leicht gewesen, die handgreiflichsten Unwahrheiten der Zeugen zu widerlegen. Aber ich durfte von meiner mit den Verteidigern vereinbarten Taktik, während der Voruntersuchung keinerlei Aussage zu machen, nicht abgehen. Diese Voruntersuchung bedeutete für mich eine schwere Nervenprobe. Es war eine Folter, täglich zwölf bis sechzehn Stunden stumpfsinnig und wortlos dazusitzen und zuzuhören, wie eine Anzahl fanatisch erregter Menschen mich mit allen möglichen Aussagen belasteten. Viele von ihnen kannten mich nicht einmal.
Ende April protokollierte der Staatsanwalt Jäger in meinem Beisein die Aussage eines Belastungszeugen aus Eisleben. Plötzlich kam aufgeregt ein Justizwachtmeister herein, neigte sich zum Ohr Jägers und flüsterte, so dass ich es hören konnte: »Draußen steht ein äußerst wichtiger Zeuge, der sofort vernommen werden soll, das Polizeipräsidium hat ihn hergeschickt.« Jäger bat den im Zimmer befindlichen Zeugen, einen Augenblick hinauszugehen, er müsse jetzt einen anderen Zeugen vernehmen. Ein junger, dem Anschein nach höchstens siebzehn Jahre alter Mensch trat ins Zimmer. Er trug die schmucke Uniform eines Polizeischülers. Jäger fragte den Zeugen, ob er Hoelz kenne und ob er belastende Aussagen machen wolle. Der Zeuge Franke bejahte.
Er schilderte nun, dass er 1920 als Soldat bei der Reichswehr gewesen sei. Sein Bataillonskommandeur habe ihn während des Kapp-Putsches in seine Heimat, ins Vogtland, beurlaubt, damit er sich dort ein bisschen umsehe, was die Arbeiter zur Abwehr des Putsches täten. Franke sollte dann an die militärischen Stellen Berichte liefern. Als er im Vogtland angekommen sei, habe Max Hoelz, also die Kommunisten, bereits die Macht in Händen gehabt. Frau Franke habe vom Zeugen verlangt, er solle sich den Kommunisten anschließen und gegen die Reichswehr kämpfen. Das habe er abgelehnt, darauf habe seine Frau sich von ihm scheiden lassen.
Das Gesicht des Staatsanwaltes wurde bei dieser Vernehmung immer länger und länger, und als der Zeuge nicht weitersprach, fragte er: »Ist das Ihre ganze Aussage? Was hat das mit Max Hoelz zu tun, das ist doch nichts, was Hoelz belasten kann, wissen Sie nichts anderes?« Franke antwortete: »Nein! Wenn Hoelz nicht im Vogtland die Macht gehabt hätte, dann hätte sich meine Frau auch nicht von mir scheiden lassen.« Der Staatsanwalt Jäger war froh, als er seinen »äußerst wichtigen Zeugen« wieder draußen hatte.
Ein anderer Zeuge bekundete eidesstattlich, er habe auf Grund der an den Anschlagsäulen angebrachten Bekanntmachung mit meinem Bild (»Fünfzigtausend Mark Belohnung für belastende Aussagen gegen Max Hoelz«) mich als denjenigen wieder erkannt, der am 9. 11. 1918 in Hamburg am Hauptbahnhof einen Offizier erschoss. Ich war leider niemals in Hamburg gewesen, hatte auch keinen Offizier oder sonst jemanden erschossen.
Ein Gerichtssekretär aus Mansfeld sagte bei seiner Vernehmung aus, ich sei der Mann, der das Gerichtsgebäude in Mansfeld gesprengt habe. Diese Aussage erschien dem Staatsanwalt Jäger besonders wichtig und glaubhaft, denn nach seiner Auffassung durfte - wie er sagte - ein Gerichtsbeamter doch nur die reine Wahrheit sprechen.
Aber bereits am Tage nach der Abreise dieses Zeugen kam ein Telegramm an den Staatsanwalt, in dem er seine ganze Aussage widerrief. Er habe sich getäuscht, ich sei bestimmt nicht der, der das Gerichtsgebäude gesprengt habe.
Es war kein Wunder, dass Hunderte solch »belastende« Aussagen zustande kamen und fein säuberlich protokolliert wurden, nachdem der sozialdemokratische Polizeipräsident Richter in Berlin jene einzig dastehende Bekanntmachung mit folgendem Wortlaut an allen Anschlagsäulen Berlins hatte plakatieren und im ganzen Reiche verbreiten lassen:
Max Hoelz festgenommen! 50000 Mark Belohnung!
Der Bandenführer Max Hoelz ist festgenommen. Zahlreich sind die Straftaten, die auf seinem Schuldkonto stehen. Unzweifelhaft war er die treibende Kraft bei den Märzunruhen. Durch Wort und Schrift hat er zu bewaffneter Gewalt, zu Dynamitanschlägen und anderen hochverräterischen Unternehmen aufgefordert.
Es gilt jetzt, ein lückenloses Bild von dem gemeingefährlichen, volksverderblichen Treiben des Hoelz zu erhalten, damit alle Straftaten, deren Hoelz sich schuldig gemacht hat, die gebührende Sühne vor dem Strafrichter finden.
Für aufklärende Mitteilungen, die zu einer Verurteilung des Hoelz führen, setze ich die obige Belohnung aus. Jeder Mann, der Sachdienliches mitzuteilen oder Beweisstücke zu bezeichnen vermag wende sich an das Polizeipräsidium Berlin, Zimmer 343, oder durch Fernsprecher an die Hausanrufe 300 und 313.
Berlin, den 16. April 1921.

Der Polizeipräsident Abt. IA I. V.: Dr. Weiß, Regierungsrat.
Welche Erfolge diese Aufforderung hatte, die ich in der Hauptverhandlung als Verleitung zum Meineid bezeichnete, wurde mir bald offenbar.

 

Der Fall Heß

Am 7. Mai fand meine erste Gegenüberstellung mit der Zeugin Heß statt, der Frau des während des mitteldeutschen Aufstandes erschossenen Gutsbesitzers. Der Staatsanwalt hatte mir vorher nicht gesagt, dass an diesem Tage Frau Heß vernommen werden sollte.
Ich wurde morgens aus meiner Zelle in das Vernehmungszimmer geführt. Vor der Tür sah ich mehrere Zivilisten stehen, darunter auch eine Frau in Trauerkleidung, mit einem Schleier vor dem Gesicht. Die vier bis fünf Menschen, an denen ich dicht vorbeigehen musste, musterten mich sehr scharf.
Der bereits im Zimmer anwesende Staatsanwalt gab nach meinem Eintritt dem Justizwachtmeister den Auftrag, die draußen wartenden Zeugen hereinzurufen.
Die Tür ging auf, langsam wankte die schwarz gekleidete Frau über die Schwelle, schlug den Schleier zurück und warf beide Arme hoch. Unter krampfhaftem Schluchzen schrie sie laut und durchdringend, indem sie auf mich wies: »Das ist der Mörder meines Mannes!«
Über die Begrüßung war ich erstaunt. Im Augenblick wusste ich nicht, ob diese Szene Theater war oder ein Missverständnis. Ich hatte weder den Gutsbesitzer Heß erschossen noch einen Auftrag dazu gegeben, hatte überhaupt nichts mit der Erschießung zu tun.
Der Staatsanwalt trat zu der zusammenbrechenden, schluchzenden Frau, tröstete sie und redete ihr zu, sich zu beruhigen. Er versprach ihr, den Mörder ihres Mannes der wohlverdienten Strafe auszuliefern. Dann führte er die Zeugin um den Tisch herum und ließ sie auf einen Stuhl nieder. Frau Heß saß so, dass sie mein Gesicht in schärfster Beleuchtung sehen konnte.
Der Staatsanwalt stellte die Frage, ob sie mich bestimmt als den Mörder ihres Mannes wieder erkenne. Die Zeugin sollte mich genau ansehen, er wolle ihr Zeit geben, sich auf die Vorgänge zu besinnen.
Ich musste vom Stuhl aufstehen und im Zimmer herumlaufen, damit Frau Heß meinen Gang und meine Größe beobachten konnte. Damit sie auch meine Stimme höre, ließ der Staatsanwalt mich sprechen. Länger als eine halbe Stunde betrachtete mich die Frau von allen Seiten. In der Zwischenzeit beruhigte sie sich und begann dann ihre Aussage zu machen.
Mit klarer, ruhiger Stimme schilderte sie die Vorgänge bei der Erschießung ihres Mannes. Am Schlusse ihrer Aussage fragte der Staatsanwalt: »Nun, Frau Heß, jetzt sagen Sie einmal, ist Hoelz der, der Ihren Mann getötet hat?« Darauf antwortete die Zeugin: »Ich kann nicht sagen, dass es
Hoelz gewesen ist, der auf meinen Mann geschossen hat.«
Nun war der Staatsanwalt aber wirklich entsetzt. Das hatte er nicht erwartet. Er sagte folgendes wörtlich zu ihr: »Frau Heß, ich kann verstehen, dass Sie sich im Augenblick vielleicht nicht genau auf die Einzelheiten der Vorgänge besinnen. Ihre heutige Aussage können Sie jederzeit zurückziehen. Sie dürfen, wenn Sie sich besser besinnen, auch eine andere Aussage machen. Ich werde Sie jederzeit wieder vernehmen.«
Das war die erste Aussage dieser Frau, die dann drei Tage später, am 7. Mai, vor dem Kriminalkommissar Woosmann in Halle mich schwer belastete und aussagte, sie habe gesehen, wie ich auf ihren Mann geschossen hätte und dass auf meine Aufforderung hin noch mehrere Schüsse auf ihn abgegeben worden seien. Im ganzen hat die Frau Heß über die Vorgänge vier einander widersprechende Aussagen gemacht. Die Erschießung des Gutsbesitzers Heß hat sich nach meinen Feststellungen in folgender Weise zugetragen:
Am Mittwoch, dem 30. März, gegen vier Uhr nachmittags waren die Arbeitersoldaten von Gröbers abmarschiert, in der Richtung nach Mansfeld, um sich dort mit den anderen revolutionären Kämpfern zu vereinigen. Die Truppe wurde von Gerhard Thiemann geführt, der sie in Bitterfeld und Holzweißig zusammengestellt hatte.
Auf dem Marsch requirierten die Arbeitersoldaten etwa fünfzig Pferdegespanne. Fast alle Rotgardisten trugen nur dünne, zerschlissene Kleidung.
Ich schlug vor, einen Wagen mit einigen Genossen dem Haupttrupp voranzuschicken, um auf großen Gütern Mäntel für die Truppen zu requirieren, da in diesen Märznächten noch bittere Kälte herrschte. Bald waren ein paar Dutzend Mäntel beschlagnahmt, ohne dass es zu Konflikten mit den Gutsbesitzern kam.
Wir hatten auf unserem Marsche sieben bis acht Dörfer passiert. Im Dorf Roitzschgen trat an den Wagen der Kampfleitung (ich fuhr mit der Kampfleitung an der Spitze der Truppen) ein Mann vom Requisitionskommando und meldete, es sei auf dem Gutshof Heß zu einem Streit mit dem Besitzer gekommen. Er wolle keine Mäntel herausgeben. Er habe auch den Zutritt zu seinem Hof verweigert und bedrohe und beschimpfe die Arbeiter. Vom Haupttrupp waren inzwischen zwanzig bis dreißig Mann ebenfalls in das Gehöft gedrungen, dessen Tor sie überstiegen und von innen geöffnet hatten.
Der Lärm auf dem Gutshofe veranlasste mich, nachzusehen, warum wegen ein paar alter Mäntel solcher Radau gemacht wurde. Beim Betreten des Hauses fand ich im ersten Stock etwa fünfzehn bis zwanzig Menschen, die den Heß umringten und mit ihm zankten. Verschiedene Arbeiter versuchten sachlich mit ihm" zu verhandeln. Dies scheiterte aber an dem Verhalten des Gutsbesitzers. Er benahm sich unsicher und widersprach sich fortwährend. Kein Mensch begriff, was er eigentlich wollte. Einmal sagte er: »Ja, ich gebe die Mäntel!«, dann wieder: »Ich gebe keine Mäntel!«
Bei meinen Versuchen, den Menschenknäuel auseinander zubringen und mit Heß sachlich zu verhandeln, erhielt ich bei dem wirren Durcheinander mit einem harten, scharfen Gegenstand einen derben Schlag auf die rechte Hand, so dass mein Daumen verletzt wurde. Ich suchte vergeblich, mich in diesem Wirrwarr und Radau durchzusetzen. Es gelang mir nicht, mir Gehör zu verschaffen, weil die meisten der Arbeitersoldaten mich nicht kannten. Ich hatte mich erst wenige Stunden zuvor ihrer Truppe angeschlossen. Von der - mehrere hundert Mann starken - Kampftruppe hatten viele mich überhaupt noch nicht gesehen.
Als ich den Schlag auf die Hand erhielt, drängte auch schon die Menge von oben nach unten in den Hausflur. Heß erklärte, er müsse erst die Schlüssel zu den Kleiderschränken aus den unteren Räumen holen. In dem Durcheinander wurde ich mitgeschoben. Im Hausflur hörte ich meinen Namen rufen. Ein auswärtiger Kurier überbrachte mir Meldungen und Nachrichten.
Während ich mit ihm auf den vorderen Hof hinaustrat, um mit ihm zu sprechen, vernahm ich plötzlich den scharfen Knall eines Schusses. Ich glaubte, dass ein Mann von der auf der Straße haltenden Truppe den Schuss abgefeuert hätte, rief mehrere Male laut: »Nicht schießen!« und schimpfte über diese unmotivierte Knallerei. Im gleichen Augenblick fielen weitere Schüsse. Etwa zwanzig bis dreißig Männer stürzten aus dem Haus auf die Straße.
Ich hörte jetzt, dass Heß vor den ihn umdrängenden Arbeitern nach dem hinteren Hof geflüchtet war. Dort wurde der Gutsbesitzer von den Rotgardisten erschossen, weil er sie mit einem Revolver bedrohte. Der ganze Vorgang von meinem Eintritt in das Haus bis zu dem letzten Schuss dauerte höchstens zwei Minuten. Alles hatte sich so schnell abgespielt, dass die wenigsten überhaupt wussten, was geschehen war.
Ich habe sofort nach der Erschießung des Heß und auch an den darauf folgenden Tagen mehrere Arbeiter über die Vorgänge befragt.
Die Angaben lauteten nicht übereinstimmend. Einige sagten, Heß habe zuerst geschossen, daraufhin hätten sie geschossen. Andere wieder behaupteten, Heß habe den Revolver gegen die Leute gerichtet, da sei man ihm durch einige Schüsse zuvorgekommen.
Während der Verhandlung in Moabit sagte ein Dienstmädchen von Heß aus: »Nachdem Heß erschossen war und alle Leute das Heßsche Gut längst verlassen hatten, kam ein Mann in den Hof zurück, sah den toten Heß an und sagte: >Hättest du nicht zuerst geschossen, dann wäre das nicht passiert.<«
Auf dem Hofe und im Hause befanden sich auch Männer, die nicht zu der Arbeitertruppe gehörten, sondern die aus dem Orte Roitzschgen selbst oder aus der näheren Umgebung stammten. Heß hatte, wie die Einwohner erzählten, während des Kapp-Putsches als ehemaliger Reserveoffizier eine üble, arbeiterfeindliche Rolle gespielt. Da lag für ihn die Vermutung nahe, dass der Auflauf auf seinem Hof eine scharfe Auseinandersetzung bringen könnte.
Das Auftauchen von ein paar ihm bekannten Leuten, die nicht zur Arbeitertruppe gehörten, bestärkte seine Befürchtung.
Die Absicht, Heß zu erschießen, bestand bei keinem der Mitglieder der Arbeiterkampftruppe. Das hat das Gericht auch selbst zugegeben.

 

Vor den Sonderrichtern

Nach Abschluss der Vernehmungen in der Voruntersuchung wurde auffallend schnell der Tag für die Hauptverhandlung angesetzt. Die Verteidiger erhielten kaum Zeit, die Akten einzusehen. Ich war auf den Tag der Hauptverhandlung naturgemäß außerordentlich gespannt. Endlich würde ich Gelegenheit haben, mein bisheriges Schweigen zu brechen.
Mehr als dreiviertel der in der Voruntersuchung gegen mich erhobenen Beschuldigungen mussten in nichts zerfallen, da ich ja nachweisen konnte, dass die Aussagen falsch waren. Übrig konnten nur die Delikte bleiben, die ich tatsächlich begangen hatte und zu denen ich mich auch ganz offen bekannte: Hochverrat, Landfriedensbruch, Beschlagnahmungen, Geiselfestsetzungen, Sprengungen von Bahnanlagen usw. Ich war meiner Sache sehr sicher, rechnete allerdings damit, dass ich zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt würde.
Erst in der Hauptverhandlung merkte ich, wie ungünstig meine Sache stand und dass die Verteidigung die Pogromstimmung durchaus richtig eingeschätzt hatte, als sie bestimmt mit einem Todesurteil rechnete. Jedenfalls wurde von Seiten der Staatsanwaltschaft und des Gerichts nichts unversucht gelassen, um meine Persönlichkeit und meine Handlungen in jeder Hinsicht als abscheulich und abschreckend hinzustellen. So war insbesondere meine Einkleidung für die Gerichtsverhandlungen eine kaum zu beschreibende Schikane. Während alle anderen Untersuchungsgefangenen in der Hauptverhandlung ihre Zivilkleidung trugen, wurde sie mir verweigert. Ich erhielt nicht einmal Schuhe, sondern Lederpantoffeln, von denen der eine die Größe 32 (offenbar aus dem Frauengefängnis) und der andere die Größe 46 hatte. Dazu eine viel zu große Gefängnishose aus schmutzigem Drillichstoff und eine Gefängnisjacke ohne Knöpfe, deren Ärmel um mehr als drei­ßig Zentimeter zu lang waren. In dieser Aufmachung musste ich im Gerichtssaal erscheinen, zum Gaudium der sensationshungrigen Spießer und bürgerlichen Journalisten, die mit hämischem Gelächter meinen Eintritt begrüßten.
Am Richtertisch saßen der Vorsitzende des Sondergerichts, Landgerichtsdirektor Dr. Braun, und neben ihm rechts und links die beiden Beisitzer, die Landgerichtsräte Marcus und Dr. Heinze. Von der kommunistischen Partei war für die stenographische Aufnahme des Prozesses der Genosse Felix Halle erschienen. Über dem Richtertische hing das lebensgroße Ölgemälde irgendeines Herrschers aus der »glanzvollen Kaiserzeit«.
Als ich während der Verhandlungstage durch die provozierenden Methoden des Vorsitzenden und des Staatsanwalts in begreifliche Erregung geriet, versuchte ich, das große Tintenfass vom Tisch meiner Verteidiger auf die weiße Uniform des ölgemalten Potentatengötzen zu schleudern. Justizrat Fraenkl hielt diese Taktik im Gerichtssaale nicht für angebracht. Es war für mich aber unmöglich, die Gerichtsverhandlungen von dem Augenblick an noch ernst zu nehmen, als ich erkannte, dass mir unter allen Umständen die Erschießung des Heß und eine ganze Reihe anderer von mir nicht begangener Delikte zur Last gelegt wurden.
Die Verhandlung begann - wie üblich - mit der Verlesung meiner Personalien. Zum Schrecken der anwesenden bürgerlichen Pressevertreter musste das Gericht feststellen, dass ich bisher unbestraft war. Als dann der Vorsitzende auf die Personalien meiner Angehörigen einging und ich darüber Auskunft geben sollte, verbat ich mir das entschieden. Ich erklärte, unter keinen Umständen meine Angehörigen in die Gerichtsverhandlung hineinschleppen zu lassen, da sie weder direkt noch indirekt am mitteldeutschen Aufstand beteiligt seien. Ferner sagte ich: Ich fühle mich nicht als Angeklagter, sondern als Ankläger des Gerichts und der bürgerlichen Gesellschaft. Aussagen mache ich nur, um den Arbeitern draußen zu zeigen, aus welchen Motiven ich gehandelt habe.
Ich hatte während der Voruntersuchung geglaubt, von den vielen Belastungszeugen würde kein einziger seine falschen Aussagen aufrechterhalten, wenn ich in der Hauptverhandlung mit meiner bisherigen Taktik des Schweigens bräche und bewiese, mit welchen Mitteln der Fälschung und Entstellung gegen mich gearbeitet wird. Nun aber dämmerte es mir, dass es gar nicht darauf ankam, was ich gegenüber den falschen Anschuldigungen vorbrachte. Unwichtig war dem Gericht auch, ob einer der Zeugen Günstiges über mich aussagte.
Es war nicht möglich, auch nur einen Entlastungszeugen vor den Richtertisch zu bringen. Jeder, der etwas zu meinen Gunsten aussagte, kam sofort auf die Anklagebank, als der Teilnahme an den Aufständen verdächtig. Als der bekannte Kriminalkommissar Dr. Kopp sich freiwillig erbot, aus seinen großen Erfahrungen heraus ein Urteil abzugeben über den Wert der Zeugenaussage der Frau Heß - die doch als Frau des Erschossenen unter einem ganz bestimmten psychologischen Zwange handelte -, wurde das kurzerhand vom Gericht abgelehnt. So große Mühe die drei Verteidiger sich gaben, das Gewebe falscher Anschuldigungen zu durchleuchten und zu zerreißen, in dieser Pogromstimmung hatte ein solches Unterfangen keine Aussicht auf Erfolg.
Die Verhandlungen dauerten etwa vierzehn Tage. Meine Verteidiger konnten nicht immer gleichzeitig anwesend sein, da sie noch viele andere politische Prozesse zu führen hatten. Waren doch insgesamt fünftausend Genossen und Arbeiter vor die Sondergerichte Berlins und Mitteldeutschlands gezerrt worden.
Die Hassstimmung gegen mich wuchs von Tag zu Tag. Die bürgerliche Presse veröffentlichte die mich belastenden Aussagen in großer Aufmachung und strotzte von Verleumdungen. Auf meinem täglichen Gange aus der Zelle in den Verhandlungssaal musste ich eine ganze Reihe von Treppen und Korridoren passieren. Wie eine Spalierkette standen an den Seiten der Gänge und Korridore viele Gefängnisaufseher und Justizwachtmeister, die mich während meines Vorbeigehens oft mit den Füßen in den Hintern traten. Für sie stand absolut fest, dass mir der Kopf abgehackt werde, und sie hielten eine solche Strafe noch für viel zu human. Sie fühlten sich verpflichtet, von sich aus das Strafmaß etwas zu erhöhen. Die Stärke dieser Fußtritte war für mich der Maßstab für das Wachsen der Pogromstimmung.
Von dieser fanatischen Hassstimmung gegen mich waren nicht nur die bürgerlichen Kreise und Zeugen erfasst, sondern sogar einzelne Arbeiter. Der Arbeiter Morgenstern aus Eisleben behauptete als Zeuge vor Gericht, ich hätte in einer Versammlung gesagt: »Wir schlachten nicht nur Hunde und Katzen ab, sondern auch Frauen und Kinder.« Diese Aussage machte er unter seinem Eid. Ich glaubte, er habe sich diese Behauptung vollkommen aus den Fingern gesogen. Erst viel später machten mich Genossen darauf aufmerksam, dass ich in der fraglichen Versammlung in Eisleben am Schlusse folgende Verse vorgetragen hatte:
Immer noch versklavt, zerrissen sind wir
und die Zeit. Von dem Mörderblei zerrissen,
Mensch zum Himmel schreit. Ob man uns wie Hunde schlachtet
und in Ketten schlägt, Ausgespieen und verachtet, keiner Ketten trägt. Hundertfach verfolgt, verraten und statt Brot
nur Blei, Schickt nur tausend Mordsoldaten,
wir sind immer frei Frei, weil ja in süßen Worten
Zukunft zu uns spricht Und die schweren Zuchthauspforten
dieser Zeit zerbricht!

Der Arbeiter Morgenstern hatte aus der Zeile »Ob man uns wie Hunde schlachtet und in Ketten schlägt« seine Aussage konstruiert.
Ein ähnlicher, noch krasserer Fall war die Aussage des Gutsbesitzers Bolze. Er bekundete ebenfalls unter Eid, ich hätte zu ihm gesagt: »Ich bin Räuber und Mensch; wenn Sie jetzt den Choral >Ich bete an die Macht der Liebe< sängen, würde ich Räuber und schnitte Ihnen den Hals durch.« Dieser Bolze war von der Arbeiterkampftruppe auf dem Marsch von Wettin nach Beesenstedt gezwungen worden, den Weg zu zeigen. Bei der Ankunft in Beesenstedt nahmen wir ihn mit in das Schloss des Rittmeisters Nette.
Der Schlossverwalter fragte, ob ich die Absicht hätte, das Schloss in die Luft zu sprengen. Zu einer Sprengung lag keine Veranlassung vor. Er glaubte, ich ließe aus reiner Zerstörungswut alles in die Luft sprengen. Diesem Bürger war es unbegreiflich, als ich ihm sagte, dass mir alle Gewalthandlungen im Innersten widerstrebten. Ich litt unter den Gewaltanwendungen seelisch mehr als diejenigen, gegen die sie sich richteten. Wenn ich trotzdem davor nicht zurückschreckte, so lag dies nur an meiner durch die praktischen Erfahrungen der letzten Jahre gewonnenen Erkenntnis, dass die Gewalt oft nur mit Gewalt gebrochen werden kann.
Bei all diesen Konflikten, die sich zwangsläufig aus dem Widerstreit meiner Gefühle und Empfindungen mit den politischen Notwendigkeiten ergaben, blieb mir nur die Wahl, entweder Gewalt anzuwenden oder auf Erreichung der politischen Kampfziele überhaupt zu verzichten. Ohne Gewaltanwendung hat sich noch nie eine geschichtliche Umwälzung vollzogen, weil die neu aufsteigende Klasse von der bisher herrschenden bekämpft und gewaltsam niedergehalten wird.
Eine Zerstörung oder Beschädigung dieses Luxusschlosses ohne militärische Notwendigkeit hätte ich für ein Verbrechen angesehen. Nicht an dem Besitzer des Schlosses, dem übersatten Rittmeister Nette. Auch nicht an der herrschenden Gesellschaft, sondern als ein Verbrechen an Hunderten und Tausenden von Proletarierkindern, die nach dem Siege der Arbeiterklasse in diesem Prachtbau ein Heim finden sollten. Ich verglich dieses Schloss in Beesenstedt, die protzige Pracht der Ausstattung, mit den Bildern des Elends, die ich in Berlin und im Vogtlande gesehen hatte.
Mich beherrschte der Gedanke: In diesen gro­ßen, hellen, luftigen Räumen müssen einmal Kinder sich tummeln und freuen, verwaiste oder verkrüppelte Kinder, die in die jetzt toten, leeren und nutzlosen Räume wirkliches Leben bringen werden. In diesem Sinne unterhielt ich mich mit dem Personal des Schlosses. Als dann jemand auf dem Flügel ein paar Akkorde intonierte, sagte ich zu Bolze und den anderen, dass mir Sprengungen und Gewaltakte wahrhaftig kein Vergnügen machten. Sie seien aber unvermeidlich im revolutionären Kampf, denn jeder Kampf sei Gewalt, und wer die Gewalt unter allen Umständen verwerfe, dürfe sich überhaupt in keinen Kampf einlassen. Ich sagte den Lakaien: Wenn plötzlich die Notwendigkeit an mich heranträte, Gewalt anzuwenden, und es würde gleichzeitig auf einem Flügel das »Gebet aus dem Zapfenstreich« intoniert, wäre ich nicht fähig, unerbittlich hart zu sein.
Ich hatte im revolutionären Kampf der letzten Jahre wiederholt die Dummheit begangen, vor Gegnern oder Indifferenten meine Gefühle bloßzulegen.
Der Staatsanwalt und der Vorsitzende des Sondergerichts argumentierten mir gegenüber, es müsse doch ein leichtes sein, unsere kommunistischen Ideen zu verwirklichen, indem wir alle Menschen ohne Gewaltanwendung zu unserer Überzeugung bekehrten. Mit den einfachsten Beispielen versuchte ich die Unmöglichkeit einer gewaltlosen Durchführung der kommunistischen Ideen nachzuweisen. Die Auftraggeber der Richter verhindern schon die literarische, also gewaltlose Verbreitung unserer Ideen oft genug mit Mitteln der Gewalt. Wenn ich am Strande eines vom Sturm gepeitschten Meeres stehe und draußen auf haushohen Wogen Schiffbrüchige sind, habe ich die Pflicht, ihnen Hilfe zu bringen. Besitze ich selbst kein Rettungsboot und sehe andere Menschen auf ihrer Lustyacht herumstehen, so muss ich sie auffordern, ihr Schiff zur Rettung der Schiffbrüchigen herzugeben. Weigern sie sich aber und sagen: »Was kümmern uns die fremden Menschen, die Yacht ist unser Eigentum«, dann ist es meine Pflicht, auch Gewalt anzuwenden, um die Schiffbrüchigen zu retten.
Ich begnüge mich nie mit der bloßen Erkenntnis einer Notwendigkeit, sondern versuche, das einmal Erkannte nach Kräften zu verwirklichen. Ich kämpfe den revolutionären Kampf nicht um des Kampfes willen. Aber es gibt nur einen Weg zur Überwindung des Kampfes der Menschen untereinander, wie er in der Klassengesellschaft tobt: die Beseitigung der Klassen durch den Sozialismus! Die sozialistische Ordnung kann nur von der siegreichen Arbeiterklasse nach der Niederringung der Bourgeoisie durch Errichtung der proletarischen Diktatur verwirklicht werden. So ist der revolutionäre Klassenkampf eine unbedingte Voraussetzung zur Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln.
Die Sonderrichter bemühten sich krampfhaft, mir nachzuweisen, dass ich unter dem Begriff Bourgeoisie alle Nichthandarbeiter, ja offenbar alle diejenigen, die nicht meiner Gesinnung sind, verstände. Dabei wussten sie sehr gut, dass ich unter Bourgeoisie diejenigen Parasiten an der Menschheit verstehe, die von der Arbeit anderer leben, die Nichtarbeiter, die Spekulanten und Börsenschieber, die Drohnen und Couponabschneider, die laut grölen: »Nur die Arbeit kann uns retten« und sich dabei den Kopf zerbrechen, wie sie selbst die Zeit am besten totschlagen können.
Ich rechnete nicht einmal die Sonderrichter zu dieser Sorte Bourgeoisie, ich rechnete die Sonderrichter zu derjenigen Schicht missratener Kleinbürger, die für die eigentliche Bourgeoisie die Unterdrückung der Arbeiterschaft besorgen und als Hörige ihr eigenes Menschentum entwürdigen.
Es war hoffnungslos, mit den Richtern über Weltanschauungsprobleme zu diskutieren. Wenn ich mich dennoch mit ihnen auseinandersetzte, so nur, weil ich hoffte, aus dem Gerichtssaal zu den Arbeitern sprechen zu können. Das war notwendig, da durch die Hetze der sozialdemokratischen Zeitungen auch in weiten Kreisen der Arbeiterschaft mein Wollen und Handeln herabgesetzt und verfälscht worden war.
Besonders niederdrückend wirkte auf mich die Tatsache, dass der damalige Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Heinrich Brandler, der um dieselbe Zeit wie ich vor den Richtern stand, die Anwendung der Gewalt zur Erreichung der kommunistischen Ziele leugnete. Gerade das unrevolutionäre und unkommunistische Verhalten Brandlers vor Gericht war Wasser auf die Mühle des Staatsanwalts Jäger. Er berief sich fortwährend darauf, dass meine Handlungen gar nichts mit der kommunistischen Bewegung zu tun hätten, da die Partei von mir abrücke und der Vorsitzende der Partei ausdrücklich erkläre, das kommunistische Programm könne auch ohne Gewalt verwirklicht werden.
Wenn in diesen Tagen der Kommunistenhetze die Zentrale der KPD mich nicht in allem deckte, so war das unter Umständen noch zu begreifen, obwohl die Zentrale sehr gut wusste, dass ich in den mitteldeutschen Kämpfen in ihrem Sinn und in ihrem Auftrage gehandelt hatte. Wenn aber der Vorsitzende der einzigen revolutionären Arbeiterpartei Deutschlands vor seinen Richtern eine so klägliche Rolle spielte und dadurch fünftausend revolutionären Kämpfern, die Parteimitglieder waren und ebenfalls vor den Sonderrichtern standen, in den Rücken fiel, kann das durch keine spitzfindigen Redensatten über Taktik entschuldigt werden. Durch das Verhalten der Partei und Brandlers fühlte ich mich verraten und verkauft; es gehörten eiserne Nerven dazu, in dieser Situation nicht den Kopf zu verlieren.
Es war meine selbstverständliche Pflicht, alle in anderen Orten vor den Sonderrichtern stehenden Mitkämpfer zu entlasten, auch diejenigen, die, wie Schneider, geflüchtet waren und sich in Sicherheit befanden.
Dem Vorsitzenden des Sondergerichts wurden von einer Reihe von Zeugen Quittungen vorgelegt, die mit meinem Namen unterschrieben waren. Die Zeugen erklärten, Hoelz selbst habe die Quittungen ausgestellt - aber das wäre nicht ich, sondern ein anderer Hoelz gewesen. Der Vorsitzende gab zu, dass die Unterschriften nicht von mir sein könnten. Ich war wütend über Plättner, der mir diese Sache eingebrockt hatte, verschwieg jedoch seinen Namen.
Ich konnte die ganze Verhandlung kaum noch ernst nehmen und verhöhnte daher sowohl die Sonderrichter als auch die Zeugen, die von der Arbeit anderer lebten.
Nur als über die Erschießung des Gutsbesitzers Heß verhandelt wurde, raffte ich noch einmal meine ganze Energie zusammen. Ich wusste, dass die Arbeiter, die auf Heß geschossen hatten, in Sicherheit waren. Es lag deshalb für mich keine Veranlassung vor, die Erschießung des Heß, mit der ich nichts zu tun hatte, auf mich zu nehmen. Persönlich ließ es mich grundsätzlich kalt, ob ich vom Gericht oder der bürgerlichen Meinung zum Mörder gestempelt wurde. Im revolutionären Kampf musste ich stets damit rechnen, selbst getötet zu werden oder den Kampf- und Klassengegner töten zu müssen.
Meine Überzeugung ist, dass jedes gewaltsame Vernichten von Menschenleben zu verhindern Pflicht aller Menschen ist. Wir Kommunisten sind die einzigen, die mit allem Ernst und aller Konsequenz und ohne Utopien und Phrasen dafür wirken und kämpfen, dass die Ausbeutung und Vernichtung des Menschen durch den Menschen für alle Zukunft unmöglich gemacht wird. Das kann aber innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft niemals erreicht werden. Nicht durch pazifistische Schwärmereien und nicht durch christliche Kanzelpredigten, sondern nur dadurch, dass wir die Ursachen beseitigen, die die Veranlassung zur Vernichtung von Menschen sind.
Man legte mir die Tötung eines Gegners zur Last, an der ich in keiner Weise beteiligt war, nur, um dadurch die Möglichkeit zu haben, ein Todesurteil gegen mich auszusprechen. Aber kein Richter kümmerte sich darum, dass von Seiten der Sipo und Reichswehr während der Märzkämpfe ungezählte Morde an wehrlosen Arbeitern begangen wurden, die nicht einmal an den Kämpfen teilgenommen hatten.
Im Leunawerk sind zweiundvierzig Arbeiter von den Sipoleuten erschlagen worden. Die gleichen Ordnungshüter ermordeten in den Kalkgruben von Schraplau sechs gänzlich unbeteiligte Familienväter. Darunter den Arbeiter Polenz, der sich bei dem Einmarsch meiner Truppe in schärfster Weise gegen unseren bewaffneten Kampf gegen Sipo und Reichswehr ausgesprochen hatte.
Entsetzlich war das Schicksal der beiden Brüder Goldstein, das niemals in vollem Umfange der Öffentlichkeit bekannt wurde.
Die beiden Goldsteins waren politisch ganz indifferent und hatten in keiner Weise an den Kämpfen teilgenommen. Sie waren Kutscher auf einer
Domäne, auf der wir Wagen für den Transport unserer Mannschaft requirierten.
Die Brüder befanden sich unter einem doppelten Zwang. Sie waren ihrem Arbeitgeber verantwortlich, dass die Pferde wieder unversehrt zurückkamen. Außerdem mussten sie auf ihren Wagen unsere Mannschaften befördern, denn wir hatten die reale Macht.
Bei dem Gefecht in Gröbers hatte die Sipo starke Verluste. Jeder Mensch, der ein wenig Kenntnis von militärischen Dingen hat, kann sich vorstellen, welche Wirkungen es hat, wenn eine kämpfende Arbeitertruppe mit Maschinengewehren auf mit Sipomannschaften voll gepfropfte Lastautos schießt. Unter den bei diesem Kampf getöteten Polizisten waren einige mit Dutzenden von Schüssen im Gesicht. Die Gegner konstruierten daraus, die Arbeiter hätten den Sipos die Augen ausgestochen.
Von diesem Gefecht mit der Sipo wussten die Brüder Goldstein nichts. Sie waren erst später von uns zur Mitfahrt gezwungen worden.
Bei den für die Arbeiter ungünstigen Kämpfen in Beesenstedt fielen alle Gespanne mitsamt den Kutschern in die Hände der Polizei. Mehrere Sipomannschaften stürzten sich auf die Brüder Goldstein und zwangen sie unter fürchterlichen Misshandlungen, zuzugeben, dass sie verwundeten Sipoleuten die Augen ausgestochen hätten. Der eine der beiden Brüder wurde bei diesen grausamen Misshandlungen buchstäblich totgeschlagen. Der andere ist zeit seines Lebens ein Krüppel.
Dies geschah mit zwei Menschen, die zum Aufstand gar keine Beziehung hatten.
Der Staatsanwalt Jäger setzte seinen Ehrgeiz darein, zu beweisen, dass ich die Lastautos, auf denen sich die Geiseln befanden, als Kugelfang benutzte. In Wirklichkeit zog ich die Geiselautos - wie die Belastungszeugen bestätigten - stets aus dem Feuerbereich. Die Geiseln - z. B. der Bürgermeister von Sangerhausen und ein Geistlicher - bekundeten in der Verhandlung, die Sipo hätte wie irrsinnig auf die Geiselautos gefeuert und dabei mehrere Geiseln getötet.
Von Seiten der Arbeiter ist während der ganzen Kämpfe 1921 ein Mensch erschossen worden, der nicht in unmittelbarer Verbindung mit einer Gefechtshandlung stand: der Gutsbesitzer Heß. Von Seiten der Sipo, der Reichswehr und der Zeitfreiwilligen aber sind, wie der amtliche Untersuchungsausschuss festgestellt hat, zweiundsiebzig Arbeiter ermordet worden.
Das Sondergericht in Moabit hat im Falle Heß konstatiert, dass eine Tötung von den Arbeitern nicht beabsichtigt war. In meiner Urteilsschrift heißt es wörtlich: »Die Entstehung des Vorfalles auf dem Gutshof spricht gleichfalls dafür, dass es sich nicht um eine überlegte Tötung gehandelt hat.«
Die Ermordung der zweiundsiebzig Arbeiter ist mit klarer Überlegung und in brutalster Weise geschehen, wie die Verhandlungen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss bewiesen.
Die Arbeitertruppen hatten während der mitteldeutschen Kämpfe Gefangene von der Sipo, der Reichswehr und den Zeitfreiwilligen sowie Geiseln aus der Bürgerschaft in ihrer Gewalt; aber nicht einen einzigen hat man erschossen. Wir Arbeiter verschmähten es, wehrlose Gefangene zu töten oder zu misshandeln. Nur in zwingenden Fällen sind Gefangene und Geiseln von uns geschlagen worden. Ich selbst habe in drei Fällen Geiseln geohrfeigt. Wir mussten uns im Kampfgebiet die unbedingt notwendige Autorität verschaffen und dafür sorgen, dass unsere Anordnungen von den Bürgern befolgt wurden. Die Kampfleitung veröffentlichte Aufrufe mit der Androhung schärfster Maßnahmen (wie Erschießen und anderes) gegen diejenigen, die unsere Weisungen sabotierten. Trotzdem wurde uns oft erheblicher Widerstand entgegengesetzt. In solchen Fällen begnügten wir uns damit, den Widerspenstigen ein paar derbe Ohrfeigen zu verabreichen, um sie abzuschrecken. Die Arbeiter bewiesen bei den mitteldeutschen Kämpfen eine beispiellose Humanität. In vielen Fällen, wie in Hettstedt, Helbra, Sangerhausen und Wettin, wo Zeitfreiwillige und Angehörige der Einwohnerwehr auf die Arbeitertruppe aus den Häusern heraus schossen, bestraften die Rotgardisten die hinterlistigen Schützen lediglich mit Backpfeifen.
Dass die revolutionären Arbeiter nach den Erfahrungen, die sie mit der Menschlichkeit ihrer Gegner gemacht haben, in kommenden Kämpfen die gleiche Humanität üben werden, wage ich zu bezweifeln.
Die revolutionären Arbeiter sind durch eine harte und schmerzliche Schule gegangen, in der ihre Todfeinde die Lehrmeister waren. Die Arbeiter sind im wesentlichen noch heute fast ausschließlich Gefühlsmenschen; Herz und Gemüt bestimmen in der Regel ihr Handeln. Die Gegner der revolutionären Arbeiter sind zum weitaus größten Teil abstrakte Verstandesmenschen, für die Gefühlswerte als weibisch und verpönt gelten; gewiss nicht absolut, aber alle Vorgänge und Kämpfe seit 1918 haben unzweideutig bewiesen, welche der beiden sich feindlich gegenüberstehenden Klassen die Menschlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Obwohl der Staatsanwalt Jäger in seinem Plädoyer erklärte, dass der Fall der Erschießung des Gutsbesitzers Heß ein »dunkler und zweifelhafter« bleibe, beantragte er gegen mich die Todesstrafe.
Meine Verteidiger und ich hatten mit aller Bestimmtheit damit gerechnet, dass das Todesurteil gegen mich ausgesprochen und auch vollstreckt werde. Ich hatte mich mit dem Gedanken meiner Erschießung vollständig vertraut gemacht und erblickte darin gar nichts Besonderes mehr. Mein ganzes Denken konzentrierte sich nur darauf, dass ich nach dieser zermürbenden, wochenlangen Verhandlung noch genügend Kraft haben möge, dem Erschießungskommando mit derselben Unerschrockenheit entgegenzutreten, die während des Prozesses und in den revolutionären Kämpfen meine Stärke war. Mein Hoffen und Wünschen kreiste immer nur um ein und denselben Punkt. Ich wünschte, dass mein Tod der kommunistischen Sache auf jeden Fall von Nutzen sein sollte.

 

Meine Anklagerede gegen die Ankläger

Es war eine ungeheure Entspannung für mich, als ich nach dem Plädoyer des Staatsanwaltes und der Verteidiger in meinem Schlusswort den Sonderrichtern noch einmal meine ganze Verachtung ins Gesicht schleudern konnte:
»Bei meinem Eintreffen in Mitteldeutschland hatte noch kein Arbeiter eine Waffe. Ich befand mich in den Märztagen in Berlin. Ich glaubte, es sei meine Pflicht als revolutionärer Kämpfer, hinzugehen und mich den Genossen zur Verfügung zu stellen. Als ich ankam, waren bereits Aktionsausschüsse gebildet.
Nach den erhaltenen Nachrichten mussten wir glauben, dass das gesamte revolutionäre Proletariat geschlossen gegen die Provokation von Hörsing auftreten werde. Infolge der verräterischen Haltung der SPD und insbesondere der USPD kam eine einheitliche, starke Aktion des Proletariats nicht zustande. Erst als in Eisleben und Hettstedt die Sipo nach dem Einrücken Verhaftungen vornahm und einzelne Genossen misshandelte, griff die Arbeiterschaft spontan zu den Waffen. Ich übernahm die mir zugeteilte militärische Aufgabe. Ich habe den Kampf geführt mit allen Mitteln, nicht, weil ich die Gewalt über alles stelle, sondern weil ich erkannte, dass der Klassenkampf des Proletariats nur auf dem Wege der Gewalt zum siegreichen Ziele geführt werden kann.
Vor zwei Jahren glaubte ich noch, dass die kommunistische Idee, dass der Gedanke der Befreiung des Proletariats ohne Anwendung von Gewalt als wirtschaftlicher Kampf durchgeführt werden könne.
Wenn die revolutionäre Arbeiterschaft Gewalt anwendet, so geschieht dies nur in der Erwiderung der Gewalt, welche die herrschende Klasse als erste dem proletarischen Existenzkampf und Aufwärtsstreben entgegensetzt. Wenn heute in einer Versammlung ein kommunistischer Redner auftritt und seine Idee verkündet, so wird er mit allen Machtmitteln der kapitalistischen Ordnung verfolgt und bedrängt. Aber jede Anwendung der Gewalt durch die unterdrückte Klasse wird von der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie als Unrecht, als Verbrechen gebrandmarkt.
Die herrschende Klasse gewährt uns nur auf dem Papier Versammlungs- und Redefreiheit. In der Praxis werden kommunistische Zeitungen verboten und kommunistische Versammlungen verhindert; alles mit Mitteln der Gewalt.
Die weißen Mörder stehen unter dem Schutze ihrer korrupten Justiz. Tausende von Arbeitern hat man in den beiden letzten Jahren widerrechtlich getötet. Aber die bürgerlichen Gerichte versagen. Die bürgerliche Gesellschaft lechzt nach dem Blut der Arbeiterführer. Ich frage Sie nun: Haben revolutionäre Arbeiter schon einmal einen einzigen Führer der bürgerlichen Gesellschaft getötet? Haben revolutionäre Arbeiter einen einzigen König, Minister oder Parteiführer getötet?«
Justizrat Broh: »In Deutschland nicht.«
Hoelz: »Nicht einen einzigen Mord hat das revolutionäre Proletariat in Deutschland begangen. Wie viele politische Morde hat die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands auf dem Gewissen? Wie viele intellektuelle Führer sind durch die Hand der bürgerlichen Gesellschaft gemeuchelt worden? Ich erinnere nur an Liebknecht, Rosa Luxemburg, Jogiches, Landauer, Paaschke, Eisner, Sylt und an das letzte Opfer, Gareis. Alle die Genannten sind nicht im offenen Kampf gefallen, sondern hinterlistig ermordet worden.
Sie legen mir einen Mord an dem Rittergutsbesitzer Heß zur Last. Rein menschlich bedaure ich die Tötung des Heß - aber Heß ist nicht gemeuchelt worden, sondern ist in Verbindung mit der revolutionären Aktion, wahrscheinlich im Kampfe, gefallen. Wir hatten im Vogtlande die Macht, aber nicht ein einziger Richter oder Staatsanwalt ist misshandelt worden. Aber wo sie die Macht hatten, wurden aus dem Hinterhalt Hunderte von Proletariern erschlagen. Überall kennzeichnen blutige Spuren den Vormarsch der Reichswehr und Schupo. Diese Verhandlung hat es bewiesen. In Schraplau sind sechs Arbeiter von der Schupo ermordet worden. Die Leichen lagen ohne Waffen mit zerschossener Brust in den Kalköfen des Ortes. Aber kein Staatsanwalt, kein Richter hat sich gefunden, um dieses Verbrechen zu sühnen. Im Leunawerk sind sechsundvierzig Arbeiter von der Schupo bestialisch getötet worden.«
Vorsitzender: »Das sind einseitige Behauptungen von Ihnen, die nicht Gegenstand der Verhandlung waren. Ich verbiete Ihnen derartige Äußerungen.«
Hoelz: »In Hettstedt wurden zwei Arbeiter von der Polizei umgebracht. Ein achtundfünfzigjähriger Arbeiter ist auf offener Straße ohne jeden Grund erschossen worden. Ein sechzehnjähriger Mensch wollte sich auf der Straße nicht durchsuchen lassen. Er wird an die Wand gestellt, erschossen, und als er schon tot daliegt, tritt ihm ein Offizier dreimal mit dem Stiefelabsatz ins Gesicht.«
Vorsitzender: »Wenn Sie so fortfahren, werde ich Ihnen das Wort entziehen.«
Hoelz: »Das glaube ich, das wollen Sie nicht hören. Dieser Prozess hat bewiesen, dass nicht ich der Angeklagte bin, sondern die bürgerliche >Ordnung<. Alle Ihre Urteile gegen das revolutionäre Proletariat. Sie verurteilen nicht mich, sondern sich selbst. Ich bin überzeugt, dass Sie durch diesen Prozess der Revolution mehr genützt haben als ich während meiner ganzen revolutionären Tätigkeit. Wenn ich nicht gesehen hätte, mit welcher Todesverachtung die revolutionäre Arbeiterschaft kämpfte, dann würde ich nicht die Kraft finden, um den Anstrengungen dieser Verhandlung körperlich gewachsen zu bleiben. Dass ich in meiner Zelle die Zuversicht nicht verliere, beruht in dem Zusammengehörigkeitsgefühl mit allen proletarischen Kämpfern. Wenn ich Ihnen auf diese Weise entgegentrete - Sie nennen es Frechheit, ich revolutionäres Klassenbewusstsein -, dann ist es das Bewusstsein, nicht allein zu stehen in dem unermesslichen Kampfe. Es sind Millionen auf dieser Erde, die zu unserer Sache stehen, und es werden ihrer Hunderte Millionen werden. Diese Gewissheit gibt mir die Kraft und die Ausdauer, das auszuhalten, was mir jetzt auferlegt wird.
Ich hoffe, dass das revolutionäre Proletariat Ihnen einmal die Rechnung vorlegen wird für alles, was Sie der Arbeiterschaft angetan haben. Sie sagen, Sie fürchten sich nicht. Ich kenne Sie zu wenig, um Ihnen den persönlichen Mut abzusprechen. Aber ich behaupte, die bürgerliche Gesellschaft, deren Vertreter Sie sind, zittert heute vor dem revolutionären Proletariat. Darum verhandeln Sie gegen mich nur unter dem Schutze der bewaffneten Macht. Die Schupo ist dazu da, um das revolutionäre Proletariat zurückzuhalten.
Ich sagte schon, auf die Anklage will ich nichts erwidern. Ich erkenne die Ausführungen des Staatsanwaltes, ich erkenne das Urteil des Gerichtes nicht an. Für mich handelt es sich darum, vor der Arbeiterschaft klarzustellen, aus welchen Beweggründen ich gehandelt habe. Ich vertrete meine Handlungen mit dem Mute, den jeder revolutionäre Kämpfer haben muss. Hätte ich einen Mann aus revolutionärer Notwendigkeit erschossen oder Befehl dazu gegeben, so würde ich mich dazu bekennen.
Sie werden heute das Todesurteil gegen mich sprechen. Sie töten nicht viel. Sie töten das Fleisch. Aber den Geist können Sie nicht töten. Sie >richten< mich, wie Sie sagen. Sie schlagen ein Holz ab, und es stehen tausend andere Hölzer auf. Diese tausend Hölzer werden eisern sein und nicht mit Ohrfeigen Revolution machen.
Es wird eine Zeit kommen, wo das Proletariat nicht mehr sagen darf: Wir können nicht kämpfen, wir haben keine Waffen. Mit den Händen, mit den Fäusten muss es seine Gegner zerreißen! Solange die herrschende Klasse es fertig bringen kann, mit zwei bis drei Maschinengewehren zehntausend Demonstranten in die Flucht zu jagen, so lange wird Ihre Herrschaft dauern. Aber in dem Augenblick, in dem sich das Proletariat auf die Gewehre stürzt und sie zertrümmert oder sie umdreht, kommt die wirkliche Revolution! Vor dieser sollen Sie und die herrschende Klasse zittern!
Was 1918 in Deutschland vor sich ging, war keine Revolution. Die feigen Fürsten flohen, und die >tapferen< Herren Ebert und Scheidemann setzten sich auf die leergewordenen Sessel. Ich kenne nur zwei Revolutionen: die französische und die russische. Die deutsche Revolution wird alle Revolutionen an Grausamkeit übertreffen. Die Bourgeoisie zwingt das Proletariat zur Grausamkeit. Sie arbeitet mit kalter Berechnung. Das Gefühl ist auf Seiten des Proletariats. Sie betrachten das Proletariat in der Politik als Stümper. Die Grausamkeiten, die Sie gegen das Proletariat anwenden, kann es heute noch nicht erwidern. Dazu hat es noch zuviel Gefühl. Aber der Tag kommt, an dem das Proletariat zum Rächer wird. Dann entscheidet nur der kalte Verstand. Wenn Sie heute über mich Ihr Urteil fällen, so betrachte ich es als ein Schulexamen. Wenn Sie mich freisprechen, was ich mir natürlich nicht einbilde und was Sie auch nicht können, dann würde es morgen in Berlin vier Tote geben: drei Richter und einen Angeklagten. Sie müssten sich aufhängen, weil Sie sich vor Ihren eigenen Klassengenossen nicht mehr sehen lassen dürften. Ich müsste mich hängen, weil ich mich vor dem revolutionären Proletariat schämen würde. Sie können mich zu zehn, fünfzehn Jahren oder zu lebenslänglichem Zuchthaus, ja sogar zum Tode verurteilen. Zehn Jahre Zuchthaus bedeuten für mich eine >Vier< (mangelhaft). Fünfzehn Jahre Zuchthaus eine gute Note, lebenslänglich Zuchthaus: Zensur >Eins<. Wenn Sie mich aber zum Tode verurteilen, dann erhalte ich die Zensur >Eins a<, das ist das beste Zeugnis, das Sie mir ausstellen können. Dann beweisen Sie den revolutionären Arbeitern der Welt, dass ein wirklicher Revolutionär sein Klassenbewusstsein mit dem Tode besiegeln muss.
Ich will von Ihnen keine bürgerlichen >Ehren< verlangen. Die >bürgerliche Ehre<, um die Sie sich streiten, habe ich nie besessen. Bürgerliche Ehre heißt für mich: die Kunst, von der Arbeit anderer zu leben. Sie bedeutet: Monokel im Auge, voller Bauch und hohler Kopf. Für mich gibt es nur eine proletarische Ehre, und die können Sie mir nicht absprechen. Proletarische Ehre heißt: Solidarität aller Ausgebeuteten, heißt: durch die Tat zu beweisen, dass man für seine Klassengenossen einsteht und für sie kämpft.
Ich habe Ihnen schwere Worte entgegengeschleudert. Ich rede im Prinzip nicht für Sie. Sie werden weiter das sein, was Sie sind: Klassenrichter. Ich kann von Ihnen nicht verlangen, dass meine Worte Eindruck auf Sie machen. Ich weiß, dass die bürgerliche Gesellschaft und Sie als Ihre Vertreter nicht durch Worte, Propaganda, auch nicht durch Bücher zu uns kommen. Sie müssen vor die eiserne Tatsache gestellt werden, erst dann beugen Sie sich.
Der Staatsanwalt hat zu mir in der Voruntersuchung gesagt: Wenn alle Arbeiter von Ihrer Idee durchdrungen sind, dann muss es doch ein leichtes sein, dass sie auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes die Macht bekommen. Ich habe ihm erwidert und sage auch zu Ihnen: Sie ziehen bei dieser Beweisführung nicht die Konsequenz aus den tatsächlichen Machtverhältnissen. Wenn das deutsche Volk in seiner Ideologie: Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat< durch Schule, Kirche, Staat und Presse erhalten wird und gleichzeitig von denselben Faktoren in dem Wahn bestärkt wird, es muss Reiche und Arme geben, der liebe Gott will das so, dafür kommen die Armen in den Himmel...«
Vorsitzender: »Das alles gehört nicht zur Sache. Sie müssen sich auf die Anklage verteidigen. Wir haben nicht die Pflicht, revolutionäre Reden mitanzuhören. Wenn Sie so fortfahren, werde ich Ihnen das Wort entziehen.«
Hoelz: »Das deutsche Volk muss also erst aufgerüttelt werden aus diesem Wahn. Aber gerade Ihre Urteile werden bewirken, dass das Proletariat schneller herauskommt aus der Ideologie, die Sie ihm mit Hilfe von Schule, Kirche und Presse oktroyiert haben. Das deutsche Proletariat muss aus diesem Schlafleben aufgerüttelt werden ... «
Vorsitzender: »Ich entziehe Ihnen das Wort.« (Die Richter begeben sich nach dem Beratungszimmer.)
Hoelz: »Ihr könnt das Wort verbieten, Ihr tötet nicht den Geist.«
Vorsitzender: »Der Angeklagte ist einstweilen abzuführen.«
Hoelz: »Es lebe die Weltrevolution!«
Ich wurde unter Misshandlungen durch die Sipoleute, die mich bewachten, hinausgeführt. Drei Tage darauf trat das Gericht wieder zusammen, um das Urteil zu verkünden.
Das Sondergericht verurteilte mich wegen Hochverrats in Tateinheit mit Totschlag und versuchtem Totschlag und wegen Verbrechen gegen das Sprengstoffgesetz sowie der übrigen zahlreichen Verbrechen zu lebenslänglichem Zuchthaus und dauerndem Ehrverlust.
Ich rief: »Es kommt der Tag der Freiheit und der Rache - dann werden wir die Richter sein! Die Justiz ist eine Hure, und Sie (zu den Richtern) sind ihre Zuhälter!«
Unter Schlägen schleppte man mich aus dem Gerichtssaal. Das so genannte Urteil gegen mich war gesprochen: Lebenslängliches Zuchthaus.

 

ZWEITER TEIL
Acht Jahre in Deutschen Zuchthäusern

Du bist nun ein gefangener Mann

Ehe ich in meinem Bericht fortfahre, lasse ich die Paragraphen der »Hausordnung« sprechen, der ich ausgeliefert war, als ich ins Zuchthaus Münster eingeliefert wurde. Diese Paragraphen, die noch aus dem alten Preußen stammten, veranschaulichen den wahren Sinn des Begriffes »Zuchthaus« in seiner ganzen Unbarmherzigkeit und Heuchelei. Wenn es bei dem Beschluss der Richter blieb, sollte mein ganzes weiteres Leben ein hoffnungsloses Dahinsiechen im Schatten folgender Paragraphen aus dem Jahre 1903 sein:
»Hausordnung der Strafanstalt Münster i. W. (Stark gekürzter Auszug.) Vorwort.
Du bist nun ein gefangener Mann! Die eisernen Stäbe Deines Fensters, die geschlossene Tür, die Farbe Deiner Kleider sagt Dir, dass Du Deine Freiheit verloren hast. Gott hat es nicht leiden wollen, dass Du länger Deine Freiheit zur Sünde und zum Unrecht missbrauchst; darum rief er Dir zu:
>Bis hierher und nicht weiter!<
Die Strafe, die der menschliche Richter Dir zuerkannt, kommt von dem ewigen Richter, dessen Ordnung Du gestört und dessen Gebot Du übertreten. Du bist hier zur Strafe, und alle Strafe wird als ein Übel empfunden; vergiss nie, dass niemand daran schuld ist als Du allein!
Aber aus der Strafe soll für Dich ein Gutes hervorgehen. Du sollst lernen, Deine Leidenschaften beherrschen, schlechte Gewohnheiten ablegen, pünktlich gehorchen, göttliches und menschliches Gesetz achten, damit Du in ernster Reue über Dein vergangenes heben Kraft gewinnest zu einem neuen, Gott und Menschen wohlgefälligen! So beuge Dich unter Gottes gewaltige Hand, beuge Dich unter das Gesetz des Staates! Beuge Dich auch unter die Ordnung dieses Hauses; was sie gebietet, muss unweigerlich geschehen. Besser also, Du tust gutwillig als dass Dein böser Wille gebrochen wird! Du wirst Dich wohl dabei befinden und die Wahrheit jenes Wortes wird sich an Dir bewähren: >Alle Züchtigung wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein. Darnach aber wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübet sind.<
Das walte Gott!

§ 1. Allgemeines Verhalten.
Den Gefangenen ist alles verboten, was gegen die gute Sitte oder die Gesetze des Staates verstößt. Verlangt wird von ihnen vor allen Dingen Gehorsam, Wahrhaftigkeit, Fleiß, Ordnung Reinlichkeit, Wohlanständigkeit.
Im übrigen haben sich die Gefangenen in jeder Beziehung den Gesetzen des Hauses zu unterwerfen, die von den Beamten mit Unparteilichkeit, aber auch mit Ernst und Strenge gehandhabt werden.
§2. Beamte.
Die Beamten der Anstalt sind folgende: der Direktor, die Inspektoren, der Sekretär, der Assistent, der Hausvater, der Oberaufseher, die Anstaltswerkmeister und die Aufseher. Diesen liegt unmittelbar die Handhabung der Disziplin ob. Außerdem gehören zu den Beamten der Anstalt: die Geistlichen, der Arzt und die Lehrer. Allen Beamten sind die Gefangenen Ehrerbietung und unbedingten Gehorsam schuldig. Wird den Gefangenen etwas befohlen oder abgeschlagen, so dürfen sie keine Widerrede haben noch murren, wenn sie sich nicht strenge Bestrafung zuziehen wollen. Glauben sie, dass ihnen Unrecht geschehen ist, so können sie in geziemender Weise durch den Aufseher bei dem Direktor sich melden lassen und diesem ihre Beschwerden vortragen... Wer sich ohne Grund beschwert, falsche Anschuldigungen macht, mit Lügen umgeht, wird bestraft!. . .
Der in Einzelhaft befindliche Gefangene hält, sobald ein Beamter die Zelle betritt, mit der Arbeit inne und erwartet in gerader, ordentlicher Haltung dessen Anrede. In der gemeinsamen Haft geschieht solches auf Kommando des Stationsaufsehers von allen oder von dem Gefangenen, wenn der Beamte ihn anredet!...
Die Beamten haben strenge Zucht unter den Gefangenen zu halten, sie sind ihnen aber auch wohlmeinende Freunde, die für ihr Leid Teilnahme haben und ihnen zur Besserung helfen wollen.
§ 3. Verkehr mit den Gefangenen.
Der Verkehr der Gefangenen untereinander ist verboten. Jeder Versuch der Gefangenen der Einzelhaft, mit ihren Nachbarn durch Sprechen, Klopfen, Schreiben usw. in Verbindung zu treten, wird streng bestraft...
In der gemeinsamen Haft haben die Gefangenen jeder auf seinem Platz schweigend zu arbeiten; ohne Erlaubnis des Aufsehers darf der Arbeitsplatz nicht verlassen werden.
Das Zustecken oder Austauschen von Speisen oder anderen Gegenständen wird streng bestraft.
§4. Aufnahme.... Mitgebrachte eigene Gelder, Wertpapiere und Wertgegenstände werden von der Anstaltskasse zur Bestreitung der Strafvollstreckungskosten eingezogen, wenn letztere nicht auf andere Weise von dem Vermögen des Gefangenen bezahlt werden. Von der Einziehung zur Anstaltskasse befreit sind Invalidenpensionen, Unfallrenten, im Zuchthaus oder Gefängnis erworbene Arbeitsbelohnungen, gewöhnliche Taschenuhren, soweit diese nicht von Gold sind, Trauringe und die von unvermögenden Gefangenen mitgebrachten Geldbeträge bis zur Höhe von drei Mark. Der Versuch, von den mitgebrachten Sachen etwas zu verheimlichen, wird streng bestraft.
§ 5. Wohnung.
Jeder Gefangene wird zunächst in einer Zelle in Einzelhaft, das heißt unausgesetzt Tag und Nacht von anderen Gefangenen getrennt gehalten.
... Die Einzelhaft darf ohne Zustimmung des Gefangenen die Dauer von 3 Jahren nicht übersteigen.
Die Einzelhaft soll den Gefangenen vor der Verschlechterung durch andere Gefangene bewahren, den eingehenden Verkehr mit den Beamten der Anstalt ermöglichen, ihm Zeit und Gelegenheit geben, sich in seinen freien Stunden ungestört mit Lesen, Schreiben, Zeichnen usw. zu beschäftigen und im ernsten Nachdenken über seine Vergangenheit gute Vorsätze für die Zukunft zu fassen. Ob die Einzelhaft vor der gesetzlichen Dauer von 3 Jahren aufhören soll, bestimmt der Direktor.
Einzelhaft ist ausgeschlossen, wenn von derselben eine Gefahr für den körperlichen oder geistigen Zustand des Gefangenen zu besorgen ist....
Das Zelleninventar ist sorgfältig zu schonen... Die Fußböden dürfen nicht mit Ausspucken oder Ausschnauben verunreinigt werden... Die Zelleneimer müssen stets sauber und blank geputzt sein... Die Abtrittsgefäße sind nach der Reinigung innen und außen sauber abzureiben...
§6. Kleidung.... Den Gefangenen wird das Haar kurz geschoren und der Bart abgenommen...
§7. Tagesordnung.... Die Gefangenen müssen, wenn das Zeichen zum Aufstehen gegeben ist, sofort aufstehen, ihr Bett vorschriftsmäßig machen und das Fenster öffnen, welches erst bei Beginn der Arbeit wieder geschlossen werden darf...
§8. Arbeit.
... der fleißige, sorgfältige Arbeiter wird durch eine Arbeitsbelohnung belohnt, der faule und nachlässige wird bestraft...
§9. Arbeitsbelohnung und deren Verwendung.
Um den Gefangenen zu fleißigem Arbeiten anzuspornen und ihm bei der Entlassung die Mittel zur Rückkehr zu einem geordneten Leben zu bieten, wird eine Arbeitsbelohnung gewährt. Nur die Gefangenen können sie erhalten, welche den Anforderungen der Anstalt an Fleiß und Leistungen genügen; je größer der Fleiß und die Leistungen, desto höher die Arbeitsbelohnung...
Den Zuchthausgefangenen kann der Ankauf von Zusatznahrungsmitteln ausnahmsweise gestattet werden, wenn sie drei Jahre Strafe verbüßt haben und der Betrag der Arbeitsbelohnung mindestens 30 Mark beträgt. Zum Ankauf darf monatlich nur die Hälfte der im zweitletzten Monate gutgeschriebenen Arbeitsbelohnung jedoch keinesfalls mehr als eine Mark verwendet werden...
... Den Gefangenen steht ein rechtlicher Anspruch auf Gewährung einer Arbeitsbelohnung nicht zu; dieselbe ist vielmehr nur ein Geschenk...
§10. Beköstigung. Die Beköstigung der gesunden Gefangenen besteht aus; Morgens 1/2 Liter Kaffee, mittags 1 Liter Mittagsgericht, abends 3/4 Liter Suppe und täglich 550g Brot. Einer beschränkten Anzahl von Gefangenen, die besonders schwere Arbeit zu leisten haben, und solchen, die körperlich abgenommen haben und bei denen der Arzt es für erforderlich hält, können, sofern sie Gesundenkost erhalten, tägliche Ernährungszulagen in folgenden 3 Formen gewährt werden:
Zulage I:    150 g Brot mit 10 g Schmalz bestrichen
und 1 Portion Kaffee, Zulage IL   150 g Brot mit 20 g Schmalz bestrichen
und 1 Portion Kaffee, Zulage III:  150g Brot mit 20g Schmalz bestrichen
und 1 Portion Kaffee und 50g Speck.
§12. Besuche und Briefe.
Jeder Gefangene darf in der Regel alle 3 Monate einmal Besuch von Angehörigen in Gegenwart eines Beamten der Anstalt empfangen.
Der schriftliche Verkehr der Gefangenen, welche alle drei Monate einen Brief empfangen und absenden dürfen, unterliegt der Aufsicht des Direktors, bei ihm ist die Erlaubnis zum Briefschreiben nachzusuchen. Alle Briefe gehen durch die Hand des Direktors, die eingehenden Briefe sind daher frankiert an die Direktion der Strafanstalt Münster i.W. zu richten und ist im Briefe der Name des Gefangenen, an welchen er gerichtet ist, deutlich zu vermerken.
Eingaben an die zuständigen Gerichte, Staatsanwaltschaften und Aufsichtsbehörden werden nicht zurückbehalten. Eingaben an andere Behörden und Briefe an Privatpersonen werden zurückgehalten, wenn sie beleidigenden oder sonst strafbaren Inhalts sind. Wird ein für den Gefangenen eingegangener Brief nicht übergeben oder eine Eingabe oder ein Brief des Gefangenen zurückgehalten, so wird ihm davon unter Angabe des Grundes und eventuell unter Auferlegung einer Strafe Kenntnis gegeben. Zurückgehaltene Briefe und Eingaben werden zu den Personalakten genommen.
Die dem Gefangenen ausgehändigten Briefe und Zustellungsurkunden usw. dürfen weder beschrieben noch zerrissen werden. Die Briefe sind in einem dazu bestimmten Umschlage sorgfältig aufzubewahren und die Zustellungen usw. drei Tage nach deren Empfang dem Aufseher zurückzugeben, damit sie in den Personalakten verwahrt werden.
§13. Belohnungen.
... Die vorläufige Entlassung kann niemals als ein Recht in Anspruch genommen werden; sie bleibt stets nur eine Vergünstigung; gute Führung allein berechtigt noch nicht zur Hoffnung auf dieselbe, sondern die Beamten müssen unter Berücksichtigung des früheren Lebens, der verbrecherischen Tat und der Verhältnisse, in welche der Gefangene zurückkehrt, die Überzeugung gewinnen, dass er sich gebessert habe und in ein verbrecherisches Leben nicht zurückfallen werde. Rückfällige Verbrecher gegen das Eigentum können nur in seltensten Ausnahmefällen auf vorläufige Entlassung hoffen.
Wenn ein Gefangener bei außerordentlichen Ereignissen, z. B. bei Unterdrückung eines Aufruhrs oder einer Feuersbrunst oder bei Wiederergreifung eines Entwichenen usw., sich besonders hervorgetan hat, so kann ihm hierfür eine Belohnung bis zur Höhe von 15 Mark bewilligt werden.
§14. Strafen. Für schlechte Führung können folgende Disziplinarstrafen in Anwendung kommen:
1. Verweis,
2. Entziehung hausordnungsmäßiger Vergünstigungen, insbesondere der Besuche, des Briefwechsels, der Verfügung über die Arbeitsbelohnung bis zur Dauer von drei Monaten, sowie Verlust der Arbeitsbelohnung bis zum Betrag der drei letzten Monate.
3. Entziehung der Bücher und Druckschriften weltlichen Inhalts bis auf die Dauer von 4 Wochen.
4. Bei Einzelhaft Entziehung der Arbeit bis auf die Dauer einer Woche.
5. Entziehung der Bewegung im Freien bis auf die Dauer einer Woche.
6. Entziehung des Bettlagers bis zur Dauer einer Woche.
7. Schmälerung der Kost durch Entziehung der warmen Morgen- oder Mittag- oder Abendkost oder durch Beschränkung der Kost auf Wasser und Brot. Die Schmälerung darf nur einen um den anderen Tag zur Anwendung kommen und nicht über eine Woche ausgedehnt werden.
8. Fesselung bis zur Dauer von 4 Wochen. Die Fesselung kann erfolgen:
an den Händen durch einfache Handschellen, sowie durch Handschellen an einer 50 cm langen eisernen Stange; an den Füßen durch Fesselung an einem Fuße oder an beiden Füßen durch Beinschellen mit Kette; an Händen und Fü­ßen zugleich.
9. Einsame Einsperrung. Dieselbe kann bestehen:
a) in einfachem Arrest bis auf die Dauer von 6 Wochen. Derselbe wird in einer Zelle unter Entziehung der Arbeit und Bücher weltlichen Inhalts verbüßt. Die etatmäßige Portion der warmen Mittags- und Abendkost wird auf 3/4 Liter und 1/2 Liter herabgesetzt. Der Bestrafte darf die Zelle nur zur hausordnungsmäßigen Bewegung im Freien verlassen;
b) in Mittelarrest bis auf die Dauer von 6 Wochen. Derselbe wird in den Strafgelassen der Anstalt ohne Arbeit und Lektüre, geschärft durch harte Lagerstätte (Pritsche) und Beschränkung der Kost auf Wasser und Brot, verbüßt. Am vierten, achten, elften und von da ab an jedem dritten Tag sind die geminderte Kost, wie unter a, sowie Strohsack, Kopfkissen und Lagerdecke auf der Pritsche zu gewähren. Der Bestrafte darf die
Arrestzelle nur zur hausordnungsmäßigen Bewegung im Freien verlassen;
c) in strengem Arrest bis auf die Dauer von vier Wochen. Derselbe wird wie der Mittelarrest, jedoch unter Verdunkelung des Strafgelasses, die an den schärfungsfreien Tagen in Wegfall kommt, vollzogen. 10. Körperliche Züchtigung bis zu 30 Hieben.
Die Strafen unter 1 bis 4 können miteinander verbunden werden. Mit der Arreststrafe kann der Verlust der Arbeitsbelohnung (Nr. 2) und die Fesselung (Nr. 8) und muss die Entziehung der Verfügung über die Arbeitsbelohnung mindestens für die Dauer des Arrestes verbunden werden.
Sicherungsmaßregeln. Als Sicherungsmaßregeln gegen einzelne Gefangene sind zulässig:
1. Absonderung bis auf die Dauer von drei Monaten, die auch verhängt werden kann, wenn der Gefangene schon drei Jahre seiner Strafe in Einzelhaft verbüßt hat.
2. Einsperrung in ein Strafgelass bis auf die Dauer von 14 Tagen.
3. Einsperrung in die Tobzelle bei Wutausbrüchen mit Toben und Schreien oder Zerstören von Gegenständen bis zur Beruhigung.
4. Fesselung wie in §14,8 nach einem Flucht- oder Selbstmordversuche oder nach einem tätlichen Angriffe auf Beamte oder andere Personen bis auf die Dauer von drei Monaten. Die Fesselung ist auch zulässig wenn der Gefangene auf dem Transporte einen Fluchtversuch oder tätlichen Angriff gemacht hat.
5. Anlegung der Zwangsjacke zur Bewältigung augenblicklichen tätlichen Widerstandes bis zur Dauer von 6 Stunden.
§ 15. Gottesdienst und Schule.
An allen Sonn- und Festtagen findet evangelischer und katholischer Gottesdienst statt... An den Gottesdiensten haben sämtliche Gefangenen teilzunehmen...
Abends, mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage, findet eine Abendandacht statt in der Weise, dass vom Sängerchor in der Zentralhalle ein Lied gesungen und danach ein stilles Gebet verrichtet wird. Die Gefangenen haben während der Zeit still an ihrem Tisch in der Zelle zu sitzen, das Gesicht nach der Zellentüre, und dürfen ihren Platz erst dann verlassen, wenn das Signal mit der Glocke zum Abtreten der Sänger gegeben ist.
Während des Gottesdienstes und der Schule hat der Gefangene gerade und ordentlich zu sitzen. Ausspucken in den Einzelsitzen ist verboten.
Ehe der Gefangene zur Kirche oder Schule die Zelle verlässt, hat er sein Bedürfnis zu verrichten.
§16. Bibliothek.
Aus der Bibliothek wird den Gefangenen in der Regel einmal wöchentlich durch den Lehrer ein Buch zum Lesen in den Mußestunden verabreicht.
...Im Einzelfalle kann der Direktor die Benutzung von Büchern gestatten, die nicht der Anstaltsbibliothek entstammen.
§17. Verhalten bei besonderer Veranlassung.... Der Gefangene soll keine Krankheit, auch nicht aus falscher Scham, verheimlichen, aber auch keine Krankheit übertreiben oder erdichten; das letztere wird streng bestraft....
§18. Entlassung der Gefangenen.
Die Entlassung der Gefangenen erfolgt zu der Tageszeit, welche nach der von der Staatsanwaltschaft als Beginn der Strafe bezeichneten Stunde berechnet ist...
Es wird darauf gesehen, dass der Gefangene in reinlicher, seiner künftigen Lebensstellung entsprechender Kleidung ins bürgerliche Leben zurückkehrt und dazu in erster Linie sein Guthaben verwendet...
Am Entlassungstage wird dem Gefangenen das aus seinem Guthaben unumgänglich nötige Reisegeld behändigt.
Etwa sechs Wochen vor Ablauf der Strafzeit werden die Gefangenen ausdrücklich von dem Sekretär befragt, wohin sie entlassen werden wollen und ob sie Fürsorge wünschen. Der Direktor und die Geistlichkeit übernehmen die Vermittlung dieser Hilfe.
In allen Provinzen sind Fürsorgeeinrichtungen getroffen, um den Gefangenen Arbeit und Unterkommen zu beschaffen in Verhältnissen, die ihn vor Rückfall bewahren. Die Fürsorgetätigkeit liegt den kirchlichen Organen (Gemeindekirchenräte, Presbyterien) und den eigentlichen Fürsorgevereinen ob.
Das dem Gefangenen bei der Entlassung zuteil werdende Geschenk aus dem Arbeitsertrage ist im Interesse der Fürsorge zu verwenden; dasselbe kann gegen den Willen des Gefangenen nicht in Anspruch genommen werden zur Bezahlung von Schulden oder zur Deckung von Ausgaben, welche die Kommunalverbände für die Gefangenen selbst oder deren Angehörige geleistet haben. Das Geschenk ist vorzugsweise zu verwenden zur Bezahlung der Reisekosten des Entlassenen nach seinem demnächstigen Aufenthaltsorte, zur Beschaffung von Kleidern, Wohnung Unterhalt, Arbeitsgerät usw. sowie in geeigneten Fällen zur Unterstützung der Familie des Entlassenen.
Tritt Fürsorge ein, so sendet der Direktor das Geschenk entweder dem Fürsorgeorgane oder der Polizeibehörde des Ortes ein, wohin der Gefangene entlassen wird. Mit der Verwendung wird erst begonnen, wenn der Entlassene sich bei der Ortspolizei vorschriftsmäßig angemeldet hat.
Nur dann kann das ganze Geschenk bei der Entlassung ausgezahlt werden, wenn dasselbe so gering ist, dass es nur zur Bestreitung der Reisekosten und des Unterhalts für wenige Tage ausreicht.
Weigert sich ein Gefangener, die für nötig erachtete Fürsorge anzunehmen, so behält die Anstaltsverwaltung von dem nach Abzug der Reise- und Zehrungskosten für einige Tage am Entlassungsort noch verbleibenden Reste des Geschenkes die Hälfte zurück; die andere Hälfte wird der Polizeibehörde des Entlassungsortes übersandt, um für den Entlassenen in geeigneter Weise verwandt zu werden.
Wenn ein Entlassener sich weigert, die von den Fürsorgeorganen in Betreff der Verwendung des Geschenkes getroffenen Anordnungen anzuerkennen oder wenn er sich der Fürsorge entzieht oder eine strafbare Handlung begeht, so ist unter Mitteilung der Tatsache der noch vorhandene Rest des Geschenkes der Ortspolizeibehörde zu übersenden, welche dann geeignete Verwendung eintreten lässt.
Weigert sich aber ein Strafentlassener, die von der Polizeibehörde über die Verwendung des Geschenkes getroffenen Anordnungen anzuerkennen, so wird der Rest des Geschenkes, soweit derselbe nicht für die Familie des
Entlassenen Verwendung findet, mit einer Abrechnung der Anstaltsverwaltung zurückgeschickt.
Der Gefangene, der zu der Einsicht gekommen ist, dass die Strafe nicht den Zweck hat, ihn aus der bürgerlichen Gesellschaft auszustoßen, sondern ihn zu einem nützlichen Gliede derselben zu machen, wird willig die von der Kirche oder besonderen Vereinen geübte, die Rückkehr zu einem geordneten, ehrbaren Leben anbahnende Fürsorge annehmen.
Münster i./W., den 18. Juni 1903.
Der Strafanstalts-Direktor I.A. Fliegenschmidt
Genehmigt
Münster i./W., den 29. Juni 1903.
Der Regierungs-Präsident v. Gescher
I.-Nr. 4789. I.B. 10.«

 

Mit der Kette am Bein zum letzten Mal durch Wald und Flur

Was das Wort »lebenslängliches Zuchthaus«, was dieser Begriff zu bedeuten hat, welche Wirkung allein das gedruckte und gesprochene Wort auf mich ausübte, sollte ich erst später erfahren. Vorläufig nahm ich den Urteilsspruch nicht tragisch. Ich war felsenfest davon überzeugt, den Justizirrtum nachweisen zu können. Ich wusste, dass ich mit der Erschießung des Heß nichts zu tun hatte. Ich wusste auch, dass eine ganze Reihe der anderen gegen mich erhobenen Beschuldigungen hinfällig waren. Deshalb musste es mir gelingen, das Urteil auf lebenslängliches Zuchthaus in eine zeitlich begrenzte Haft umzuwandeln. Ich war sehr gespannt, ob man mich im Untersuchungsgefängnis Moabit lassen oder in ein Zuchthaus überführen werde.
Günstiger für mich lagen die Dinge, wenn ich bis zur Wiederaufrollung des Prozesses in Berlin bleiben konnte. Hier hatte ich eher als irgendwo anders die Möglichkeit, mit meinen Verteidigern zu konferieren.
Der erste Tag nach der Urteilsverkündung bewies mir, dass ich von jetzt ab auch die einfachsten Menschenrechte nicht mehr für mich beanspruchen durfte. Justizrat Broh, der mich als erster besuchte, durfte nur in Gegenwart eines Aufsichtsbeamten mit mir sprechen, während ich vorher mit ihm unbeaufsichtigt hatte sprechen dürfen. Am selben Tag kam der Polizeiinspektor des Untersuchungsgefängnisses in meine Zelle, ebenso der so genannte Arbeitsinspektor; beide erklärten mir, dass ich von jetzt ab weder Zeitungen noch Bücher bekomme und dass ich für die Anstalt arbeiten müsse. Nun war ich dazu verdammt, Tüten zu kleben.
Ich nahm, nachdem mir alle Bücher und Zeitungen genommen waren, die Arbeit in meine Zelle, um die Zeit hinzubringen. Täglich zehn Stunden klebte ich Tüten. Klebte, klebte, klebte und verklebte mit diesem Kleben mein ganzes Denken, bis ich herausfand, dass das den Anfang vom Ende meines geistigen Seins bedeutete.
Was es heißt, zehn Stunden am Tag Tüten zu kleben, sonst nichts zu tun als zu kleben, mit keinem Menschen zu sprechen, kein Buch, keine Zeitung zu lesen, nur dreimal am Tag unterbrochen von den so genannten »Mahlzeiten«, dreimal täglich ein paar Löffel immer gleich schmeckender Suppe, das kann nur ein Mensch ermessen, der es selbst erlebt hat. Als ich dann noch hörte, dass es dem willkürlichen Ermessen der Anstaltsleitung überlassen ist, diese zehn Stunden Arbeit zu entlohnen, und dass es im allergünstigsten Fall nur einen Tagesverdienst von acht Pfennigen gibt, von denen wiederum nur die Hälfte, also vier Pfennige, für den Gefangenen verwendet werden dürfen, war es mit meiner Arbeitslust vorbei. Ich warf dem Arbeitsinspektor den ganzen Tisch mitsamt den Tüten und dem Kleistertopf vor die Füße und verweigerte einfach diese Art Arbeit.
Die Folge war, dass die »Hausstrafen« gegen mich zur Anwendung gebracht wurden: Entziehung des Nachtlagers und des täglichen Spazierganges im Hof.
Bis zum 13. Juli blieb ich in Moabit. In der Nacht von 13. zum 14. Juli wurde es plötzlich lebendig in meiner Zelle. Etwa zehn bis zwölf Menschen standen mitten in der Nacht, es war ein Uhr, vor meiner Holzpritsche: »Machen Sie sich fettig, Hoelz, Sie werden ins Zuchthaus transportiert.«
Auf meine Frage, in welches Zuchthaus, wurde geantwortet, das dürfe mir nicht gesagt werden.
Ich kleidete mich an und verließ, noch halb im Schlaf, umringt von diesem Dutzend Menschen, die Zelle. Unter diesen etwa zwölf ausgesucht abstoßenden Gesichtern war ein menschliches, das meines Verteidigers Justizrat Broh. Er hatte es durchgesetzt, bei meiner Überführung ins Zuchthaus zugegen zu sein, um zu verhindern, dass ich bei dieser Gelegenheit wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Jogiches, Sylt, Paasche und viele andere »auf der Flucht« ermordet werde. Im Hof standen drei Automobile. Ich sah Zivilpersonen, die leicht als Kriminalbeamte zu erkennen waren. Die Beamten beförderten mich in eines der Automobile, und noch ehe ich mich recht versah, war an meinem Bein eine fast drei Meter lange und etwa dreißig Pfund schwere eiserne Kette angebracht. Meine Proteste halfen nichts, ich war überrumpelt worden, die Kette war fest ans Bein geschlossen, und die drei Automobile waren bereits in voller Fahrt, nach einem mir unbekannten Ziel.
Im Auto, in dem ich saß, befanden sich außer mir und meinem Verteidiger noch ein Kriminalkommissar und der Staatsanwalt Dr. Jäger, der die Todesstrafe beantragt hatte. Dieser famose Menschenfreund hatte kurz vor der Urteilsfällung zu meiner Mutter, die um Besuchserlaubnis eingekommen war, gesagt, er sei überzeugt, dass ich den Heß nicht erschossen habe. Nun versuchte er, sich bei mir anzubiedern. Durch seine raffinierten Fragen wollte er von mir herauskriegen, welche Rolle einzelne führende Parteigenossen in der Märzaktion gespielt hatten. Um mich gesprächig zu machen, opferte er aus seinem Weinkeller eine Pulle Rotwein, die er auf der Fahrt ins Zuchthaus mir, seinem lebendig begrabenen Opfer, anbot. Er ließ alle sentimentalen Register los, um mich zum Reden zu bewegen.
Nachdem die Weinlockung nicht zog, begann er von seiner Familie zu erzählen, zeigte mir die Bilder seiner zwei kleinen Kinder, und als auch das nicht wirkte, versuchte er zu beweisen, dass er eigentlich mein Lebensretter sei, denn an ihm habe es doch gelegen, mich aufs Schafott zu bringen.
Und nun schilderte er stundenlang die Hinrichtungen, denen er in seiner Eigenschaft als Staatsanwalt beigewohnt hatte. Man musste es ihm lassen, er hatte manches erlebt.
Er hatte Steinchen auf Steinchen zusammengetragen, um soundso viel armen Sündern den Strick um den Hals zu legen, dann die Schlinge zugezogen und hierauf den Delinquenten dem Scharfrichter überantwortet.
Es war schauerlich, wie dieser sachverständige, gesetzliche Mörder in sadistischer Ausführlichkeit die letzten Stunden der vielen Menschen schilderte, die er zum Tode befördert hatte.
Während er seine widerlichen Erinnerungen preisgab, waren die Autos aus Berlin herausgekommen, waren weitergerollt durch die Mark Brandenburg in eine Gegend, die ich nicht kannte, bis ich von meinem Verteidiger hörte, dass wir uns in der Nähe von Magdeburg befanden.
Vor Magdeburg erwartete uns ein viertes Auto, mit Schutzpolizei in Zivil besetzt, das unsere drei Autos um Magdeburg herumleitete, damit wir ja nicht das Innere der Stadt berührten. Ich erfuhr jetzt auch, dass bereits am Tage vorher ein Automobil von Berlin aus die ganze Strecke bis zum Zuchthause gefahren war, um den Weg genau festzulegen und Benzinstationen zu errichten. Die Fahrt ging mit einer rasenden Schnelligkeit vor sich, von früh zwei bis abends neun Uhr, mit einer ganz kurzen Pause. Erst in Hamm in Westfalen sagte man mir, unser Ziel sei das Zuchthaus Münster. Der Staatsanwalt behauptete, dort wäre ich am sichersten untergebracht, weil in Münster nur fromme Katholiken wohnen, aber keine Kommunisten. Es war ein Glück, dass auf dieser rasend schnellen Fahrt nicht Menschen überfahren wurden. Totgefahren wurden eine Gans, ein Hahn, eine Henne und ein Hund.
Sehr niedergeschlagen war ich, als ich sah, wie vor unserem Wagen, der inmitten der mit Kriminalbeamten gespickten Begleitautos fuhr, ein kleiner, schwarzer Hund die Straße kreuzte und unter die Räder geriet. Ich schaute durch das Fenster im Rücksitz und bemerkte, dass der Hund getötet war. Ein kleiner Köter, der dem überfahrenen ähnelte, sprang aus einem Gehöft heraus und stand hilflos und traurig vor dem Kadaver seines Spielgefährten.
Im Flug sausten die an der Straße liegenden
Dörfer, Wälder, Wiesen und Felder vorüber. Meine Augen, die vier Monate lang die öde Gefängnismauer gesehen hatten, tranken begierig das lang entbehrte Stück Natur.
Ich grüßte an diesem Tage die Freiheit und nahm doch zugleich wieder Abschied von ihr. Wie lange sollte ich sie entbehren müssen? Ich hoffte bestimmt, in spätestens eineinhalb Jahren eine Änderung meines Schicksals erkämpft zu haben. Aber es kam anders, ganz anders. Und wenn mich während dieser Fahrt jemand davon überzeugt hätte, dass ich fast acht Jahre im Zuchthaus werde bleiben müssen - ich hätte es sicherlich nicht lebendig betreten.
Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten wir Münster in Westfalen.

 

Der Zuchthausdirektor mit dem Kindergesicht - Die »Zucht« beginnt

Ich hatte nicht zu beschreibende Empfindungen und Eindrücke, als sich, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, vor unseren Automobilen die schweren, eisernen Zuchthaustore öffneten. Ein unheimlich düsterer Bau erhob sich vor meinen Blicken. Aus der Entfernung sahen die kleinen Zellenfenster im Hintergrund des Verwaltungsgebäudes noch winziger aus, als sie waren. Aus der Tür des Verwaltungsgebäudes traten mehrere Menschen, Beamte in Uniform und in Zivil, darunter einer, der sich den mich begleitenden Polizeimajoren und Hauptleuten als der Direktor des Zuchthauses vorstellte. Ich hatte mir unter einem Zuchthausdirektor etwas ganz anderes gedacht, einen alten, griesgrämigen, verbissenen und verbitterten Menschen, aus dessen Augen Paragraphenblitze schießen. Dieser Zuchthausdirektor aber war ein Mann mit einem Kindergesicht und einem so kindlichen Lächeln, dass mit einem Male meine düstere Spannung einem Freudegefühl wich. Dieser Mensch sah nicht danach aus, als ob er andere Menschen quälen könnte. Es schien mir nicht schwer, mit ihm auszukommen. Er begrüßte auch mich, zwar etwas reserviert, doch mit derselben Freundlichkeit und mit demselben einnehmenden Lächeln wie die andern.
Ich wurde durch lange Korridore nach den Zellenräumen geführt, noch immer die schwere Kette am Bein schleppend. Das Verwaltungsgebäude war von den Zellenräumen durch dreifache, eiserne Gittertüren abgetrennt. Als diese massiven Türen sich mit einem dumpfen Krach hinter mir schlossen, legte sich's wie Blei in meine Glieder. Drau­ßen dunkelte es bereits, hier im Zuchthaus herrschte fast tiefe Finsternis. Nur ein paar 01-lämpchen in den endlos scheinenden Zellenkorridoren wiesen mir und meinen Begleitern die Richtung. Strahlenförmig gingen von dem zentral gelegenen Turm vier hohe Zellenflügel nach jeder Himmelsrichtung.
Wir stiegen eine Reihe eiserner Treppen empor.
Im dritten Stockwerk öffnete einer der mich begleitenden Beamten mit seinen schweren Schlüsseln eine Zelle und deutete an, dass sie für mich bestimmt sei. Ich hatte gar keine Zeit, mich umzusehen, denn er sprach sofort weiter und sagte, das dritte Auto sei leider noch nicht angekommen. In diesem befinde sich der Kriminalkommissar, der die Schlüssel zu der an mein Bein geschlossenen Kette habe, sie könne mir deshalb erst am andern Morgen abgenommen werden. Ich erklärte, es sei unmöglich, mit der schweren Kette am Bein die ganze Nacht zu liegen. Nachdem Hammer, Meißel und Feile herbei geholt waren, hämmerte man fast eine halbe Stunde lang, bis die Fesselung gelöst war.
Die Beamten entfernten sich ohne Gruß. Ich war in meiner Zelle allein. Jetzt erst schaute ich mich um. Es war dunkel in diesem Steinsarge, nur eine im Hofe des Zuchthauses stehende hohe Gaslaterne warf einen blassen, gespenstischen Schein in den kleinen, weißgetünchten Raum. Zu erkennen waren ein winziger Holztisch, darüber ein kleiner Wandschrank, in der einen Ecke eine eiserne Schlafpritsche, in der anderen der unvermeidliche Kübel. Das war Wohnraum, Schlafraum, Essraum und Klosett, alles in einem; drei Schritt lang und knapp zwei Schritt breit. Drunten im Hof patrouillierte mit seinen schweren Stiefeln der Nachtaufseher, sonst war kein Laut, kein Geräusch zu hören in diesem riesigen Bau, in dem, wie ich am nächsten Tag erfuhr, achthundert Gefangene in Einzelzellen vegetierten.
Kaum hatten die Beamten meine Zelle verlassen, durchzuckte ein schmerzhafter Krampf meinen Körper. Es war, als würden mir mit einem Schlag alle Arterien abgebunden, ich hatte ein Gefühl, als ob das Schlagen des Herzens aussetzte. Wie eine schwere Falltür schob sich vor mein Denken nur das eine Wort: »lebenslänglich«. Alle meine früheren Hoffnungen auf eine baldige Änderung meines Schicksals versanken in dem unbeschreiblichen Grauen dieses Wortes.
Ich warf mich auf die eiserne Pritsche - ich war müde und konnte doch nicht einschlafen. Um die drei- und vierfachen Gitter nicht sehen zu müssen, deren Schatten durch das spärliche, vom Hof einfallende Licht auf die Decke der Zelle geworfen wurden, zwang ich mich, die Augen zu schließen. Vier Monate war ich in der Tschechoslowakei im Zuchthaus interniert gewesen, hatte vier Monate in einer so genannten »Mörderzelle« in Moabit zugebracht und doch nie vorher dieses Herz und Hirn zerfressende, furchtbare Grauen empfunden wie in meiner ersten »lebenslänglichen« Zuchthausnacht. Im Untersuchungsgefängnis in Moabit hatten die Nervenanspannung der Untersuchung und die Erwartung des Prozesses mir gar keine Zeit gelassen, über das Schwere meiner Einkerkerung nachzudenken.
Während meiner jahrelangen Illegalität vor meiner Verhaftung hatte ich oft mit meinen Angehörigen und Freunden über die Möglichkeit einer Kerkerhaft gesprochen. Die Freunde behaupteten, ich würde die Einzelhaft nur sehr schwer ertragen.
Ich hatte stets erwidert, dass eine Einsperrung in Einzelhaft mich nicht allzu schwer treffen werde, da ich ein Mensch sei, der sich in der Einsamkeit am wohlsten fühlt. An diese Gespräche musste ich denken, als ich jetzt müde und abgespannt auf der harten Pritsche lag und vergeblich auf den alles Grübeln auslöschenden Schlaf wartete.
Früh am Morgen gellte durch das Gebäude ein schrilles, durchdringendes Läuten, das von einem ohrenbetäubenden Lärm abgelöst wurde. Der Übergang von der unheimlichen Ruhe, die während der ganzen Nacht geherrscht hatte, zu diesem unbeschreiblichen Radau war so krass, dass ich, ganz benommen davon, mir überhaupt nicht erklären konnte, wodurch dieser Spektakel entstand. Erst in den folgenden Tagen fand ich des Rätsels Lösung: Sobald das scharfe Läuten die Gefangenen aus ihren Träumen schreckt, schließen die Aufseher die Zellen der so genannten »Kalfaktoren« auf. Das sind Gefangene in einem etwas höheren Rang und bevorzugter Stellung. Die Kalfaktoren müssen die Gänge und Treppen scheuern und kehren, die Schlösser der Zellentüren putzen, die Kotkübel entleeren, das Essen austeilen und das Trink- und Waschwasser für die Gefangenen vor die einzelnen Zellen stellen. Dafür genießen sie die Vergünstigung, den größten Teil des Tages außerhalb ihrer Zelle zu verbringen.
Die Kalfaktoren haben ihr Tagewerk damit zu beginnen, dass sie die mehrere Pfund schweren Stahlriegel an den Zellentüren der anderen Gefangenen ihrer Station zurückschieben. Je zwei Kalfaktoren stoßen im Vorbeieilen mit aller Kraft - der eine mit dem Fuß den unteren, der andere mit der Faust den oberen Riegel - unter donnerndem Krach zurück. Das Nahen der Kalfaktoren vernimmt der Gefangene schon, wenn sie die in der entferntesten Ecke liegenden Zellenriegel öffnen. Durch die starke Akustik in den Hafträumen und Gängen hört sich das Riegelzurückstoßen wie Donnern an. Dieser Lärm schwillt an, bis auch an der eigenen Zelle unter ohrenbetäubendem Krachen die Riegel zurückfliegen.
So werden jeden Morgen in wenigen Minuten mehr als tausend Riegel geöffnet: Ein nervenzerfressendes Erinnern an das Eingesperrtsein.
Die vier Zellenflügel des Zuchthauses in Münster bestehen aus je fünf Stockwerken, so genannte »Stationen«. Jedes Stockwerk hat vierzig bis fünfzig Einzelzellen, die von einem Beamten aufgeschlossen werden müssen.
In diesem Augenblick muss der Gefangene schon den schweren Steingut-Kotkübel mit beiden Händen bereithalten, um ihn schnell vor die Tür zu stellen und seine Kleider, Schuhe und »Essbesteck« - Gabel und Löffel - hereinzunehmen. Diese Gegenstände liegen vor der Tür auf dem Boden. Sie dürfen nachts nicht in der Zelle sein. Ist das geschehen, verschließt der Beamte wieder die Tür.
Während alle Türen der Zellen auf- und zugesperrt werden, entleeren die Kalfaktoren die Kotkübel. Dann wiederholen die Aufseher ihre Runde. Diesmal nimmt der Gefangene den entleerten
Kotkübel in die Zelle und stellt seinen leeren Wasserkrug vor die Tür. Bald darauf beginnt noch einmal die Tortur des Auf- und Zuschließens. Mit dem gefüllten Wasserkrug wird gleichzeitig das so genannte »Frühstück« in die Zelle genommen. Zwei Kalfaktoren, die kurz vorher die stinkenden Kotkübel entleerten und oberflächlich säuberten, schleppen von Zelle zu Zelle einen großen, etwa sechzig Liter fassenden Blechkessel mit einer schwarzen, undefinierbaren, übel riechenden Brühe, die zu Unrecht den Namen Kaffee trägt. Ein dritter Kalfaktor hat an einem Riemen um den Hals einen großen Korb mit Brotschnitten. Jeder Gefangene erhält neben dem Topf Zichorienbrühe ein Stück Brot von etwa Handtellergröße.
Nachdem ich mein erstes Zuchthausfrühstück verzehrt hatte, bekam ich den Besuch des so genannten »Hausvaters«. Das ist der Beamte, dem die Einkleidung der Gefangenen und die Verantwortung für die Reinigung der Gefangenenleibwäsche übertragen ist. Der Hausvater führte mich in die von starkem Kampfergeruch erfüllte Kleiderkammer. Hier musste ich mich nackt ausziehen. Für meine aus Moabit mitgebrachte Gefängniskleidung erhielt ich die braune Zuchthauskluft. Ehe ich meine Blöße damit bedecken durfte, wurde mein ganzer Körper nach Kassibern, Sägen und anderen gefährlichen und verbotenen Dingen abgesucht. Mit einer für die Beamten peinlichen, für den Gefangenen aber entwürdigenden Gewissenhaftigkeit werden bei dieser Prozedur After, Geschlechtsteile und Fußsohlen abgetastet und besehen.
Kaum hatte man mich neu eingekleideten Zuchthäusler in meine Zelle zurückgebracht, als mich ein anderer Aufseher schon wieder herausholte, um mich den Vorschriften entsprechend dem Anstaltsarzt zuzuführen.
Vor dem Raum, in dem die Gefangenen vom Arzt untersucht werden, standen bereits ein paar Dutzend Sträflinge, darunter einige, die gleich mir am vorhergehenden Tag angekommen waren. Alle mussten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen. Es war streng verboten, den Kopf zu drehen und die Augen von der Wand abzuwenden oder gar ein Wort mit einem der fünf Schritt voneinander entfernt stehenden Menschen zu sprechen.
Meine Untersuchung bestand darin, dass der Arzt mich fragte, ob ich mich krank fühle; ohne mir zu einer Antwort Zeit zu lassen, sprach er ununterbrochen weiter - er unterhielt sich mit dem Krankenwärter. Und ehe ich überhaupt Gelegenheit hatte, auch nur ein Wort zu sagen, war ich längst wieder draußen auf dem Gang, wo mich der Stationsaufseher in Empfang nahm und in meine Zelle brachte. Er sagte mir, ich solle mich bereithalten, der Direktor verlange mich zu sprechen.
Wenige Minuten später stand ich im Direktionszimmer dem Mann gegenüber, der als oberste Instanz in diesem Haus galt und der am Abend vorher durch sein freundliches Wesen Eindruck auf mich machte. Der Direktor - ein früherer Staatsanwalt, wie er mir sagte, und während des Kriegs Artilleriehauptmann - fühlte sich verpflichtet, mir eine Menge Ermahnungen ans Herz zu legen. Ich solle mich nur gut führen, tüchtig arbeiten, nicht widerspenstig sein, dann werde mir die Zuchthaushaft nicht allzu schwer fallen. Es gäbe Gefangene, die schon zwanzig Jahre und noch länger hier seien und sich ganz wohl fühlten. Bei sehr guter Führung hätte ich vielleicht Aussicht auf Begnadigung nach fünfzehn bis zwanzig Jahren. Auch beim Direktor war der Empfang sehr kurz, auch ihm kam es nicht darauf an, von mir eine Antwort zu erhalten, er leierte bloß seine Formel herunter, und genau wie beim Arzt befand ich mich außerhalb des Zimmers, ehe ich mich dessen versah.
In meiner Zelle wartete schon der Arbeitsinspektor auf mich, dessen Aufgabe es war, mich in das Arbeitsschema des Zuchthauses einzureihen. Er zählte mir die Arbeiten auf, die er zu vergeben hatte, wie: Tütenkleben, Hanfzupfen, Metallknöpfe oder Nägel stanzen; ich könne aber auch einen Beruf lernen; er empfehle mir das Tischlerhandwerk. Auf meine Frage, ob ich dann aus der Zelle heraus und in eine Tischlerwerkstatt käme, antwortete er, nein, ich müsse in der Zelle bleiben. Nach meinen Erfahrungen mit der Anstaltsarbeit in Moabit hätte ich am liebsten die Zuchthausarbeit von vornherein verweigert. Aber ich tat es doch nicht, denn wie sollte ich die Zeit hinbringen ohne irgendeine Beschäftigung, ohne jegliche Ablenkung in der grausamen Monotonie der Einzelhaft.
Ich bat den Arbeitsinspektor, mir eine Beschäftigung zuzuweisen, bei der ich möglichst viel verdiente, um meinen Eltern und meiner Frau etwas
Geld schicken zu können. Er erklärte mir, wenn ich das Tischlerhandwerk erlernte, verdiente ich mehrere Monate gar nichts. Bei einer anderen Arbeit hätte ich sofort Verdienst, und zwar acht Pfennige pro Tag, wovon aber nur vier Pfennige für den Gefangenen während seiner Haftzeit verwendet werden dürfen. Jetzt jedoch gäbe es nicht einmal Beschäftigung für alle Gefangenen, die Anstalt sei überfüllt.
Während des Hin und Her war es Mittag geworden. In großen Kesseln schleppten die Kalfaktoren das Mittagessen von Zelle zu Zelle. Es bestand aus breiig gekochten Hülsenfrüchten; da ich Hülsenfrüchte gern esse, schmeckte mir in den ersten Monaten das Zuchthausessen nicht schlecht.
Nach dem Mittagessen wurde die Zelle wieder aufgeschlossen, ein kleines, altes Männchen in Zivil, von einem Bücher schleppenden Gefangenen begleitet, stellte sich als Anstaltslehrer vor. Zu seinen Obliegenheiten gehörte es, jedem Gefangenen wöchentlich ein Buch zu geben. Er legte mir einen nichts sagenden Roman hin, den ich eine Woche lang jeden Tag zwei- bis dreimal durchlas, nur um nicht zuviel Spielraum zum Grübeln zu haben.
Am Abend gab es eine Wassersuppe, deren Geruch ekelerregend wirkte und die ihrem Geschmack nach das Spülwasser der Mittagessenkessel sein konnte.
Wenige Minuten nach der Verteilung der Suppe erklang wieder das gellende Glockenzeichen, das Signal für die Gefangenen, die Kleider auszuziehen. Der Beamte hatte mich vorher schon darauf aufmerksam gemacht, dass am Abend alle Kleider vor die Tür gelegt werden müssen. Diese Maßnahme, die während meiner ganzen Zuchthausjahre stets einen ungemein entwürdigenden Eindruck auf mich machte, geschieht, um den Gefangenen eine eventuelle Flucht zu erschweren.
Die Sträflinge sind angewiesen, sich sofort nach dem »Abendbrot« ausgezogen auf ihre Pritsche zu legen. Um sieben Uhr abends verlassen die Beamten die Anstalt, und die Nachtwache beginnt ihren Dienst.
Von dieser Stunde an bis sieben Uhr morgens sind die Gefangenen dazu verdammt, auf ihrer Pritsche zu liegen. Das ist viel schlimmer, als es sich in Worten ausdrücken lässt. Gewiss wären Hunderte und Tausende Menschen, die in der Freiheit leben, froh, wenn sie täglich zwölf Stunden Schlaf haben könnten. Aber diese zwölf Stunden auf einer harten Zuchthauspritsche sind etwas ganz anderes als der Schlaf eines Menschen außerhalb der Kerkermauern. Obwohl durch die Pestluft in den Zellen ermüdet, kann der »Sträfling« nicht einschlafen. Grübelnd liegt er oft halbe oder ganze Nächte lang auf seiner eisernen Pritsche. Morgens müssen die Gefangenen, nur mit dem Hemd bekleidet, das kaum bis zum Nabel reicht, vor die Zelle treten und ihre Kleider wieder hereinnehmen.
Am zweiten Tag nach meiner Einlieferung wurde ich zusammen mit den ungefähr vierzig anderen Gefangenen meiner Station auf eine halbe
Stunde in den Hof geführt. Dieses eine halbe Stunde lang im Kreise Herumlaufen ist die so genannte »Freistunde«, die einzige Möglichkeit, die der Gefangene hat, um ein bisschen andere Luft zu atmen und einen Fetzen Himmel zu sehen. In der Mitte des Hofes war ein großer Schuppen gebaut, in dem riesige Stapel Bretter für die Tischlerei lagen, so dass nur ein schmaler Rundgang blieb. Aber auch diese problematische Erholung in der »Freistunde« wurde den Gefangenen noch durch den Rauch und Gestank einer so genannten »Feldschmiede« verleidet, die die Anstaltsschlosser in Betrieb hatten. Kein Strauch, kein Baum, nichts Grünes belebte das trostlose Bild.
Entsetzlich, dieses im Kreise Herumtrotten erwachsener Männer in fünf Schritt Abstand. Alle fünfzehn bis zwanzig Meter steht ein Aufseher, der darauf achtet, dass keiner der Gefangenen auch nur ein Wort zu seinem Vorder- oder Hintermann spricht.
Trotz des strengen Verbots suchen die Gefangenen sich untereinander zu verständigen. Nur geflüsterte Worte oder Gebärden, wie sie die Taubstummen anwenden, vermitteln den Gedankenaustausch von Menschen, die jahrzehntelang in einem Hause Zelle an Zelle wohnen, sich täglich beim »Spazierengehen« sehen und doch nicht miteinander sprechen dürfen.
Hier im Hof vergaß ich ganz meine eigene Lage. Ich musterte interessiert Gesichter und Köpfe dieser Menschen, von denen ich nicht wusste, wie lange sie dazu verdammt waren, in diesen Mauern zu vegetieren, und welcher Gesetzesbruch sie in diesen Steinsarg geführt hatte.
Kaum fünf Meter vor mir lief ein Mann, über dessen Alter ich grübelte. Er war hager und lief auffallend gebückt mit müden, schleppenden Schritten. Bei den Wendungen in den Ecken des Hofes konnte ich sein Gesicht flüchtig betrachten. Aus diesem hageren, vertrockneten und gramdurchfurchten Gesicht streifte mich ein scheuer Blick. Wenn man sie nur einmal gesehen hatte, diese unendlich traurigen Augen, konnte man sie nie wieder vergessen. Sein Haar war schlohweiß, die Gesichtszüge aber jugendlich.
Als nach Beendigung des Rundganges die Gefangenen wieder einzeln im Gänsemarsch in ihre Zellen zurückmarschierten, suchte ich nach einer Gelegenheit, etwas Näheres über meinen Vordermann zu erfahren.
Die geforderten fünf Schritt Abstand lassen sich beim Rückmarsch nicht ordnungsgemäß durchführen. Die Aufseher müssen oft ihre Blickrichtung wechseln, denn der Gänsemarsch gerät bei der Rückkehr in die Zellen immer in Unordnung. Mein Hintermann, der mir mehrmals etwas zuflüsterte, pürschte sich jetzt etwas näher an mich heran und sagte: »Du bist ein Neuer, von wo kommst du?« Ich beantwortete seine Frage nicht, sondern erwiderte: »Wie viel Jahre hat mein Vordermann, und wie lange ist er schon hier?« Er antwortete: »Der hat nur fünf Jahre, hat schon die Hälfte rum.« - Ich forschte weiter und fragte: »Wie alt ist er?«
»Dreiundzwanzig, er hat seinen Knast wegen Meineids.«
Das Schicksal dieses jungen Menschen ließ mich nicht los. Fünf Jahre war eine furchtbar lange Zeit! Die zweieinhalb Jahre hatten ihn bereits gebrochen. Wenn er den Rest seiner Strafe wirklich überstand, kehrte er als Wrack in die Freiheit zurück. Sooft ich in den nächsten Tagen und Wocher meinen Vordermann wieder sah, konnte ich den Gedanken nicht loswerden, dass er das Zuchthaus nicht lebend verlassen werde. Er machte auf mich den Eindruck eines Menschen, der langsam, Schritt für Schritt, in sein Grab hineinsteigt und für alles andere um sich herum kein Interesse mehr aufbringt.
Diese tägliche halbe Stunde im Hof war die einzige Möglichkeit für mich, andere Menschen zu sehen. In die Anstaltskirche ging ich nicht - jeden Sonntagvormittag war Gottesdienst, katholischer und evangelischer. Am Schulunterricht durfte ich nicht teilnehmen, da nur Gefangene bis zu fünfundzwanzig Jahren zugelassen wurden. So niederdrückend und entwürdigend dieses stumme im Kreise Herumtrotten auch war, so sehnte ich mich dennoch täglich dreiundzwanzig Stunden nach diesen dreißig Minuten, in denen ich wenigstens andere Menschen sah.
Schon in den ersten Wochen spürte ich, dass die Zuchthausluft auf mich eine zermürbende Wirkung ausübte. Bei dem Mangel an frischer Luft verfiel ich von Tag zu Tag. Die ersten Merkmale meines körperlichen Verfalls zeigten sich, wenn ich früh vor der Freistunde meine Schuhriemen band. Sobald ich mich bückte, wurde es schwarz vor meinen Augen, und ich fiel hin. Nur mit äußerster Anstrengung konnte ich mich wieder aufrichten. Während ich in den ersten Tagen die dreißig Minuten Hofstunde immer freudig begrüßt hatte, verließ ich jetzt ungern die Zelle, da ich im Hof nach ein paar Runden wie ein Klotz umfiel. Stets nach der Rückkehr aus der Hofstunde bekam ich Kopfschmerzen. Ich hatte das Empfinden, als sei mein Schädel in einen Schraubstock gepresst und werde mit Meißel und Hammer bearbeitet.
Auch die Arbeit, die ich später in die Zelle bekam - ich musste Tüten kleben - brachte mir keine Ablenkung von den körperlichen Beschwerden. (Wer denkt übrigens daran, dass in der Tüte, die er beim Einkaufen in Empfang nimmt, die Qual eines Zuchthäuslers klebt?) Die Nächte wurden zu einer unbeschreiblichen Pein. Ich konnte nicht eine Stunde ruhig schlafen. Kam der Morgen, so fühlte ich mich wie zerschlagen und war todmüde. Der Arzt, der mich flüchtig untersuchte, erklärte, das sei nicht schlimm, das richte sich schon wieder ein.
Während ich vorher das für eine ganze Woche ausgegebene Bibliotheksbuch täglich ein paar Mal las, um mich zu zerstreuen, konnte ich es jetzt kaum noch zur Hand nehmen. Abends, nach Einschluss, war ja das Buch überhaupt zwecklos, da die Zellen nicht beleuchtet waren.

 

Die furchtbarste Nacht meines Lebens

Um mich von den Schmerzen abzulenken, verfiel ich auf einen Ausweg: Ich rezitierte Verse von Herwegh, Freiligrath, Erich Mühsam und anderen. Dadurch verschaffte ich mir wesentliche Erleichterung.
Die Aufseher waren darüber anderer Meinung. Vier von ihnen traten in meine Zelle und forderten mich auf, herauszukommen. Ich ahnte nichts Gutes und weigerte mich. Sie schlossen die Tür ab und entfernten sich. Nach einer Weile kamen sie wieder und schleppten mich mit Gewalt auf den Gang. Ich war nur mit dem dünnen, kurzen Leinenhemd bekleidet und barfüßig. Zwei drehten mir die Arme in den Gelenken um. Die anderen schlugen fortwährend auf mich ein, der eine bearbeitete mit seinem schweren Schlüsselbund meinen Kopf, der andere schlug mit seinem Seitengewehr auf meinen Rücken und das Gesäß. Abwechselnd traten sie mir mit ihren schweren Stiefeln in die Kniekehlen, bis ich zusammenbrach, und schleiften mich hinunter nach dem Kellergeschoß. Ich rief, sie sollten mich doch nicht so unmenschlich schlagen: Darauf griff einer nach meiner Gurgel und drückte sie mit beiden Händen fest zusammen, so dass ich keinen Laut mehr von mir geben konnte, und sagte: »So, du Hund, jetzt bist du schon stumm.« Mein Hemd hing als loser Fetzen am Leib; ich blutete stark.
Meine Peiniger schlugen immer toller auf mich ein und stießen mich aus dem Hauptgebäude in den Lazaretthof. Aus den nach dem Hof gelegenen Zellenfenstern des Hauptflügels hörte ich Gefangene aufgeregt schimpfen, weil ich geschlagen wurde. Die Aufseher ließen sich aber dadurch nicht beirren. Nachdem sie mich über den langen Hof geschleppt hatten, schlossen sie die in das Lazarettgebäude führende Tür auf, einer der Beamten gab mir einen furchtbaren Tritt von hinten, so dass ich kopfüber sechs Sandsteinstufen hinunterflog. Unten stand der Nachtaufseher vom Lazarett, der meinen Rücken und Kopf sofort mit zwei schweren Holzpantinen bearbeitete. Ich war über die Misshandlung so entsetzt, dass ich nicht einmal daran dachte, mich überhaupt zur Wehr zu setzen. Es hätte auch nichts genützt.
Die Aufseher schlossen eine im Keller liegende Zelle auf, die schalldicht gepolsterte Doppeltüren hatte. Sie rissen mir den Hemdfetzen vom Leibe und schmissen mich wie ein Lumpenbündel in dieses Loch.
Nun lag ich splitternackt und blutend in einem kalten Keller, der, wie ich später erfuhr, im Munde der Gefangenen die Bezeichnung »Folterkammer« führt, amtlich aber zwei Bezeichnungen hat, die einander widersprechen: »Tobzelle« und »Beruhigungszelle«. Es war darin vollkommen leer und noch enger als in den anderen Gefangenenzellen. Es war gar nichts vorhanden, nicht einmal eine Decke, in die ich mich hätte wickeln können. Vom Fußboden, auf dem ich lag, ging mir die Kälte in die Knochen, die Zähne schlugen im Fieberfrost aufeinander. Trotz meiner zerschlagenen Glieder versuchte ich herumzulaufen, um mich zu erwärmen. Durch das Laufen in dieser winzigen Rundzelle - immer im Kreise - wurde ich müde und ganz benommen. Ich versuchte mich auf den Fußboden zu setzen, um etwas auszuruhen, aber da spürte ich wieder die beißende, fast messerscharfe Kälte. Ich raffte mich auf und wankte in der Zelle hin und her.
In diesem Loche herrschte ein fürchterlicher Gestank. Ich konnte mir nicht erklären, warum die Luft so dumpf und stickig war. Bald jedoch fand ich den Grund. Ich musste Urin lassen und meine Notdurft verrichten, es war aber kein Gefäß vorhanden; so musste ich meine Notdurft auf dem Boden verrichten. Den Dutzenden Gefangenen, die vor mir in dieser Zelle gelegen hatten, war es bestimmt ebenso ergangen, und der entsetzliche Geruch der Exkremente hatte sich im Fußboden festgesetzt.
Nach drei qualvollen Stunden hörte ich ein leises Geräusch. Die Klappe des kleinen Gucklochs in der Tür bewegte sich, und ich bemerkte in diesem so genannten »Spion« ein menschliches Auge. Das konnte nur der Nachtaufseher sein, der wohl nachsehen wollte, ob ich wieder auf den Beinen war. Ich bat ihn, mich doch aus dieser furchtbaren Zelle herauszunehmen oder mir wenigstens eine Decke zu geben, da ich schrecklich unter der Kälte zu leiden hätte. »Häng dich auf, du Lump, du hast doch in München sechzehn Beamten die Augen ausgestochen!« war die Antwort. Nie in meinem Leben war ich in München gewesen, hatte nicht nur keinem Beamten die Augen ausgestochen, sondern auch nie einen misshandelt.
Wie mussten diese Menschen verhetzt worden sein! Jetzt glaubte ich die eigentliche Ursache zu kennen, warum die vier Aufseher mich so wahnsinnig geschlagen hatten.
Diese Nacht in der Folterkammer des Zuchthauses Münster war für mich seelisch und körperlich die grauenhafteste Qual meines Lebens.
In dieser Nacht zerbrach etwas in mir.
Wenn ich in den zweieinhalb Jahren vorher jemals noch gezweifelt hätte an der Notwendigkeit der Zertrümmerung dieser Gesellschaftsordnung und ihrer Justiz, so wären hier alle Zweifel gelöscht worden.
Nicht die schweren körperlichen Misshandlungen durch die Aufseher waren das Furchtbarste, sondern das nackte, hilflose Herumtappen in dem eiskalten Kellerraum. Diese Folter wird gerade deshalb angewendet, weil kein Mensch, der es nicht am eigenen Leib erlebt hat, sich vorzustellen vermag, welche Wirkungen auf Körper und Geist eine solche Tortur ausübt.
Wenn ein Gefangener nach seiner Freilassung erzählen würde, man habe ihm die Haut aufgeschnitten und Salz und Pfeffer hineingestreut, ihm die Fußsohlen mit glühenden Zangen gebrannt, Daumenschrauben angesetzt und ihm die Gelenke gebrochen, dann gäbe es keinen Menschen, der sich nicht vorstellen könnte, dass das entsetzliche Folterqualen sind. Aber jemanden nackt in einen kalten Raum einzuschließen wird dem Außenstehenden nicht ohne weiteres als eine besondere Unmenschlichkeit erscheinen.
Nur die Zuchthausaufseher, Direktoren und Ärzte wissen um das Geheimnis dieser höchsten Kunstfertigkeit moderner Menschenquälerei. Sie wissen, dass von hundert Gefangenen, die jemals nackt in ein solches Loch gestoßen wurden, bestimmt fünfundneunzig für ihr ferneres Leben »fertiggemacht« sind. »Fertiggemacht« ist in der Zuchthaussprache der Ausdruck dafür, dass ein Gefangener durch schwere körperliche und seelische Misshandlungen irrsinnig wurde. Ich wusste nicht, wie viel Stunden ich bereits in diesem Zustand verbracht hatte, ob es noch immer Nacht oder schon Morgen war. Ich fühlte nur, dass ich am Ende meiner Kraft war; das Gefühl absoluter Ohnmacht zerfraß mein Denken. In meinen Schläfen spürte ich ein wahnsinniges Pochen. Aus dieser Zelle jemals mit klarem Verstand herauszukommen erschien mir unmöglich.
Plötzlich wurden die Türen aufgeschlossen, und ein Beamter stellte eine Schüssel aus Pappe auf den Fußboden. Ich wandte mich sofort an den Beamten und bat, mich in meine alte Zelle zurückzubringen. Der Beamte entfernte sich, ohne mir Antwort zu geben.
Ich warf einen Blick in die Schüssel, sie enthielt die übliche Zichorienbrühe. Also musste es früh am Morgen und zwar zwischen sieben und acht Uhr sein. Als ich die Schale vom Boden nahm, um zu trinken, bemerkte ich, dass hineingespuckt war. Obenauf   schwammen   dicke   Fetzen   gelben
Schleims, wie ihn Lungen- oder Halskranke auswerfen. Ich konnte nicht einen Schluck trinken, obwohl ich gern etwas Warmes zu mir genommen hätte.
Nach einigen Stunden kam ein Aufseher mit dem Anstaltsarzt. Jetzt hoffte ich aus der qualvollen Lage befreit zu werden. Ich schilderte dem Arzt, wie die Beamten mich misshandelt hatten, und zeigte ihm die Wunden. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, sie zu untersuchen, er sagte bloß, das ginge ihn nichts an, das sei nicht seine Sache. Ich bat ihn, dafür zu sorgen, dass ich aus der Folterkammer herausgenommen werde. Er gab mir keine Antwort und verließ mit seinem Begleiter die Zelle.
Wieder vergingen qualvolle Stunden, die endlos schienen. Um die Mittagszeit wurde in einer Pappschüssel ein undefinierbarer Brei in meine Zelle gestellt, ohne Löffel. Ich war gezwungen, den Kleister mit der Hand zu essen. Dem Beamten, der mir das Essen brachte, sagte ich, er möge mich dem Direktor melden, ich wolle Anzeige wegen der Misshandlungen erstatten. Obwohl ich an diesem und den nächsten Tagen wiederholt beantragte, dem Direktor vorgeführt zu werden, ließ er sich nicht blicken.
Im Laufe des Tages wurde mir eine Hose gebracht. In der folgenden Nacht warfen die Beamten eine zerrissene Matratze, die mit Kot und Urin ganz besudelt war und unbeschreiblich stank, in meine Zelle.
Am zweiten Tag besuchte mich ein anderer
Arzt. Das war der eigentliche Anstaltsarzt, Professor Dr. Többen, zugleich Professor an der Universität in Münster. Auch ihm zeigte ich meine Verletzungen und bat, mich aus der Tobzelle herauszunehmen. Er tat nichts, um mir eine Linderung zu verschaffen. Als der vierte Tag zu Ende ging und ich keine Möglichkeit sah, aus meiner Lage befreit zu werden, bemächtigte sich meiner eine grenzenlose Verzweiflung. Meine Widerstandskraft war erschöpft.
Der Fußboden, mit den Exkrementen der vor mir in diesem Loch untergebrachten Gefangenen wie ein Schwamm voll gesogen, verbreitete eine unerträgliche Ausdünstung. Die atemraubende Stickluft drückte wie eine Zentnerlast auf mein Gehirn. Ich versuchte, durch Rezitieren von Versen mir eine Zerstreuung zu verschaffen. Aber die Worte klangen infolge der eigenartigen Akustik dieses Raumes unheimlich dumpf und hohl; sie wurden von den Wänden wie ein vielfaches Echo mit schaurigem Klang zurückgeworfen. Entsetzen ergriff mich vor der eigenen Stimme.
Ich war überzeugt, dass meine Peiniger mich auf kaltem Wege morden wollten, und hielt es für absolut unmöglich, noch eine Nacht in der »Beruhigungs-«-Zelle auszuhalten, da schien es mir richtiger, die langsame Hinrichtung abzukürzen. In der kommenden Nacht wollte ich mir die Pulsadern aufbeißen, um durch Verbluten der Quälerei ein Ende zu machen. Professor Többen, der mich auch am vierten Tag aufsuchte, mochte wohl gemerkt haben, dass ich vor einer Katastrophe stand. In den
Abendstunden des vierten Tages wurde ich aus der Kerkerzelle herausgenommen und in meine alte Zelle zurückgebracht.
Wie ich später erfuhr, hatte der Professor Többen erst nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem Direktor Scheidges meine Herausnahme aus der Tobzelle durchgesetzt.

 

Das wahre Gesicht des Zuchthausdirektors

Die Nachwirkungen der ausgestandenen körperlichen und seelischen Misshandlungen äußerten sich in einem schweren Nervenzusammenbruch. Die geringste Veranlassung trieb mir das Wasser in die Augen, und die Schädelschmerzen verschlimmerten sich in einem Maße, dass ich fürchtete, wahnsinnig zu werden.
In dieser physischen und psychischen Verfassung hängte ich mich bald darauf in meiner Zelle auf. Der Aufseher schnitt mich ab, als ich bereits die Besinnung verloren hatte. Nachdem ich wieder zu mir gekommen war, wurde mir von dem Inspektor eröffnet, dass ich sofort in eine Arrestzelle geführt und dort gefesselt werden müsste. Diese beabsichtigte Fesselung in einem Arrestkäfig als Repressalie gegen mein Vorhaben, meine Leiden abzukürzen, erschien mir ganz ungeheuerlich. Als der Inspektor sah, dass man auch diesmal brutale Gewalt gegen mich anwenden müsse, nahm er Abstand von der Fesselung und meiner Unterbringung in der Isolierzelle. Es war mir klar, dass ich neuen Gewaltmaßnahmen der Anstaltsleitung und der Aufseher ohnmächtig gegenüberstand, aber ich wusste, dass eine Fesselung mich nicht von meinem Vorhaben der Selbstentleibung abbringen konnte, sondern dass sie mich erst recht zum Freitod treiben musste.
An einem der nächsten Tage wurde ich endlich zum Direktor gebracht. Er hatte im Widerspruch zu den ausdrücklichen Bestimmungen der Strafvollzugsordnung mich nicht vorführen lassen, obwohl ich täglich den Antrag stellte. Auf meine Erklärung, ich wolle wegen der Misshandlungen Anzeige gegen die Beamten machen, erhielt ich zur Antwort, er glaube nicht, dass ich misshandelt worden sei, meine Nerven hätten mir etwas derartiges nur vorgemacht. Wäre ich jedoch tatsächlich geprügelt worden, dann würde er die Sache erst recht nicht an die große Glocke hängen.
Mitgefangene - Zeugen der Misshandlungen auf dem Hofe - hatten die Vorgänge in Kassibern geschildert, die nach draußen gelangten und in linksstehenden Zeitungen erschienen. Dadurch erfuhren es meine Verteidiger; Justizrat Dr. Broh, mit dem mich herzliche Freundschaft verband, kam auf seine eigenen Kosten im Flugzeuge von Berlin nach Münster, um die an die Öffentlichkeit gelangten Nachrichten über mein Ergehen an Ort und Stelle zu prüfen. Rechtsanwalt Hegewisch wurde von der Partei zu mir geschickt. Den Verteidigern gegenüber stritt der Direktor die Misshandlungen ab. Bei der Besprechung mit meinem Anwalt zog ich im Zimmer des Direktors einfach meine Kleider aus und zeigte die noch vorhandenen Spuren der Misshandlungen. Breite, mit Schorf bedeckte Striemen waren noch jetzt, nach fast zwei Wochen, auf meinem Rücken zu sehen. Daraufhin behauptete der Direktor, die Verletzungen hätte ich mir selbst beigebracht.
Meine bei der Staatsanwaltschaft erstattete Anzeige wurde niedergeschlagen, da die Beamten die Misshandlungen abstritten. Die Niederschlagung erfolgte, obwohl der Staatsanwalt mehr als ein halbes Dutzend Gefangener ausfragte, die die Misshandlungen gesehen und ihre Wahrnehmungen eidesstattlich zu Protokoll gegeben hatten.
Von Angehörigen und Freunden besuchten mich in dem ersten Halbjahr meiner Haft nur Mutter und Bruder. Meine Frau Klara besuchte mich erst, nachdem längere Zeit vergangen war. Der Direktor unterschlug viele Briefe, die ich an die Verteidiger und Verwandten richtete. Die Strafvollzugsbestimmungen schreiben vor, dem Gefangenen Mitteilung davon zu machen, wenn einer seiner Briefe aus irgendeinem Grunde von der Anstaltsleitung zurückgehalten wird. Diese Vorschrift ignorierte der Direktor. In den meisten Fällen, in denen meine Briefe nicht abgingen, wurde ich davon nicht in Kenntnis gesetzt.
Am 8. März 1922 sandte mein Verteidiger, Justizrat Fraenkl, folgende Mitteilung an die Presse:
»Ich habe am 27. Februar einen Brief von Max Hoelz erhalten, nachdem seine an mich gerichteten Briefe vom 9. Januar und 5. Februar nicht haben abgehen können, da sie angebliche >grobe Beleidigungen und Unwahrheiten enthalten hätten. Dieser Brief von Hoelz an mich trägt das Datum des 10. Februar. In einem besonderen Schreiben behauptete der Anstaltsdirektor, die späte Absendung sei auf ein Versehen zurückzuführen.«
Der Brief an den Verteidiger, der nach bestehenden Vorschriften hätte beschleunigt befördert werden müssen, brauchte von Münster bis Berlin volle siebzehn Tage. Die Anstaltsleitung hatte den Brief länger als vierzehn Tage liegenlassen, obwohl er eine so genannte Fristsache behandelte. Die Gerichtskasse in Moabit hatte mir mitgeteilt, dass zur Deckung der Gerichtskosten in Höhe von 23816,90 Mark meine Kleidungsstücke, Schuhe und Wäsche gepfändet worden seien und versteigert werden sollten. Gegen die Pfändung und beabsichtigte Versteigerung konnte ich nur innerhalb von acht Tagen Einspruch erheben. Dadurch, dass der Direktor den Brief länger als vierzehn Tage liegenließ, war der darin enthaltene Einspruch hinfällig geworden. So wie mit diesem Brief erging es mir mit allen übrigen: Entweder wurden sie überhaupt nicht abgeschickt, oder sie gelangten erst nach Wochen und Monaten an die Adressaten. Zu Weihnachten 1922 sandte mir ein Genosse ein Paket. Am 6. Januar 1923 schrieb ich an ihn. Der Brief war ganz unpolitisch und enthielt nur ein paar Worte des Dankes. Nach vier Monaten erfuhr ich, dass der Direktor auch diesen Brief nicht zur Absendung gebracht hatte. Meine Anwälte, Angehörigen und Freunde, die kaum noch eine Nachricht von mir bekamen, mussten glauben, ich schriebe absichtlich nicht. Die durch nichts gerechtfertigten Schikanen des Direktors rissen eine Kluft zwischen mir und meinen Verteidigern, Angehörigen und Freunden und erzeugten eine Spannung, die meine Lage noch verschlechterte; Bücher, die an mich geschickt wurden, erhielt ich nicht; auch hiervon hätte mir, nach der Vorschrift, Mitteilung gemacht werden müssen. Der Direktor umging diese wie alle anderen Vorschriften. Ebenso händigte er mir Briefe von meinen Verteidigern, Angehörigen und Freunden oft nicht aus.
Wollte ich an meine Verteidiger in der Angelegenheit der Wiederaufnahme meines Prozesses oder an meine Angehörigen schreiben, dann musste ich bei der Anstaltsleitung die Aushändigung eines Schreibbogens mit Umschlag beantragen. Einen solchen Antrag konnte ich nur an jedem Dienstag stellen. Dann währte es immer fünf bis sechs Tage, ehe ich Brief und Umschlag ausgehändigt bekam. Es wurde stets nur ein Briefbogen bewilligt. Die Bogen waren sehr klein, nur fünfzehn Zentimeter lang und zehn Zentimeter breit. Auf ihnen befand sich noch ein großer Vordruck von der Anstaltsleitung. Außerdem mussten drei Zentimeter breite Ränder unbeschrieben bleiben für die Anmerkungen des Direktors, der zu jedem Brief hinzusetzen konnte, was ihm beliebte. Ein derartiger Zwergbriefbogen reichte natürlich für die Korrespondenz mit Anwälten keinesfalls aus. Ich brauchte oft noch einen oder zwei Bogen. Dazu bedurfte es wieder eines Antrages, den ich erst stellen durfte, wenn der erste Bogen beschrieben war. Bis zur Aushändigung des zweiten Bogens vergingen wieder mehrere Tage.
In keinem Briefe durfte ich etwas von den Misshandlungen schreiben, nicht einmal dass ich mich krank fühlte und wie das Essen schmeckte, durfte ich erwähnen.
Durch die von dem Direktor an den Tag gelegte Missachtung der den Gefangenen zustehenden Rechte geriet ich in größte Erregung und Verbitterung. Wochenlang meldete ich mich zur Vorführung bei dem Direktor, der sich stets verleugnen ließ. Erst als ich mich beschwerdeführend an das Ministerium wandte, hielt er es für nötig, mich zu empfangen. Ich zwang meine große Erregung nieder und hatte die feste Absicht, mich mit dem Direktor ruhig auszusprechen. Mir lag viel daran, mit ihm auszukommen, damit er meine Bemühungen um die Wiederaufnahme meines Prozesses nicht erschwere.
Ich bat ihn, die gegen mich gerichteten ungerechtfertigten und grausamen Maßnahmen aufzuheben, da sie zwangsläufig zu meinem körperlichen und geistigen Ruin führen müssten.
Er erwiderte, es gebe noch ganz andere Mittel, mich gefügig zu machen. Ich würde schon noch merken, dass er der Stärkere sei und die längere Ausdauer habe. Durch ihn wären schon ganz andere Leute als ich mürbe gemacht worden.
Die Art und Weise, wie er mit mir sprach, ließen mich vermuten, dass der Zuchthausdirektor mit dem kindlichen, einnehmenden Lächeln ein Sadist sei.
Sein Ton war so zynisch, dass ich mit kalter Überlegung auf ihn zuschritt, ihn anspuckte und ohrfeigte. Selbst den Lazarett-Hauptwachtmeister, der bei dem Vorfall zugegen war, empörte die Antwort des Direktors so sehr, dass er nicht sofort gegen mich einschritt, sondern erst nach einer Weile auf mich zuging, mir die Hand auf die Schulter legte und sagte, ich solle mich beruhigen.
Ich selbst war darüber verwundert, dass ich in dieser Form gegenüber dem Direktor auftrat, und ich fragte mich, wie es eigentlich kam, dass ich gerade diese abstoßende Form des Mich-Wehrens wählte. Spucken war bisher nicht meine Art gewesen, wenn ich davon hörte, empfand ich es immer als ein besonders unfeines Verteidigungsmittel. In Freiheit kann man Gewalt gegen Gewalt setzen. Im Zuchthaus aber würde das vollkommen wirkungslos bleiben. Die Autorität der Direktoren, Ärzte und der sonstigen Oberbeamten lässt sich nur durch Angriffe erschüttern, die selbst im Zuchthaus als entehrend gelten.

 

Ich fange an zu beten - Zwei alte Genießer

Die Folge dieses und eines zweiten Auftrittes in meiner Zelle war, dass ich wiederum in die Tobzelle geschleppt wurde, in der ich schon einmal vier Tage lang gelitten hatte. Auch am Morgen meiner zweiten Einlieferung in die Tobzelle besuchte mich Professor Többen. Ich lag am Fußboden auf der stinkenden Matratze. Aber diesmal war ich nicht so entsetzlich verzweifelt, sondern es hatte sich meiner fast eine Art Galgenhumor bemächtigt. Allmählich fing ich an, die Situation zu übersehen und zu beherrschen. Ich hatte mir eine besondere Verteidigungsmethode ausgedacht. Professor Többen - ein großer, auffallend stark beleibter Mann - lehnte sich mit dem Rücken an den Pfosten der offenen Zellentür, schaute auf mich herab und fragte: »Na, Hoelz, wie geht es Ihnen?« Die Hände über der Brust gefaltet, sagte ich, zu ihm aufblickend, ernsthaft und langsam folgendes: »Herr Professor, mir geht es sehr gut. Ich habe wieder angefangen zu beten.«
Professor Többen war starr und sagte: »So, so.« Auf seinem Gesicht malte sich grenzenloses Staunen über die Veränderung, die, wie er glaubte, mit mir vorgegangen war. Er kam ein paar Schritte näher und blickte mich interessiert an. Ich fuhr fort:
»Ja, Herr Professor, ich habe die ganze Nacht mit Inbrunst zu meinem himmlischen Vater gebetet, dass er Sie bei lebendigem Leibe verfaulen lässt.«
Die Wirkung dieser ganz ruhig gesprochenen Worte auf den Arzt war unbeschreiblich. Er sperrte den Mund auf und starrte mich an wie ein Gespenst. Erst nach geraumer Zeit fand er die Sprache wieder und sagte:
»Das wünschen Sie wirklich Ihrem Mitmenschen?«
Ich erwiderte:
»Ja, Herr Professor, ich wünsche, dass Sie ganz langsam, Stück für Stück, lebendig verfaulen.«
Da mich sein Entsetzen so belustigte, dass ich kaum noch ernsthaft bleiben konnte, schien er zu merken, dass ich ihn verhöhnte. Er fragte, ob ich aus der Tobzelle wieder herauswolle. Meine Antwort war: nein, mir gefalle es hier sehr gut und er solle mich hier lassen, solange er Lust habe. Darauf machte er wortlos kehrt.
Am nächsten Morgen wiederholte er die Frage. Ich erklärte, ich dächte gar nicht daran, und freiwillig würde ich überhaupt nicht herausgehen. Man habe mich mit Gewalt hereingeschleppt, man müsse mich auch mit Gewalt wieder herausholen. Das war ihm denn doch zu bunt. Als ich ihm am dritten Tage dasselbe sagte, veranlasste er, dass die Aufseher mich aus der Tobzelle in meine alte Zelle zurücktrugen.
Während der ersten Monate meiner Haft hielt ich den Professor Többen für einen ganz gefühllosen, kaltschnäuzigen Menschen. Ich hatte erfahren, dass er sehr fromm war, und hielt ihn für einen von denjenigen Frommen, die, während sie mit den Lippen beten, mit den Händen ihre Mitmenschen umbringen können. Ich musste meine Ansicht über ihn revidieren. Von Mitgefangenen und von einigen mir wohlwollenden Beamten hörte ich, dass Többen in vielen Fällen ernstlich bemüht war, den erkrankten Gefangenen zu helfen und ihnen Erleichterung zu verschaffen. Nur gelang ihm das nicht immer, weil seine Bemühungen auf Widerstand beim Direktor stießen. Der Professor hatte wiederholt stundenlange Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit dem Direktor, um ihn dazu zu bewegen, harte Strafen, die er über kranke Gefangene verhängt hatte, zurückzunehmen.
Nach meinem vereitelten Entleibungsversuch hatte der Arzt es durchgesetzt, dass ich mit zwei anderen Gefangenen in eine Gemeinschaftszelle verlegt wurde. Dadurch sollte verhindert werden, dass ich einen zweiten Selbstmordversuch machte. Ich sollte in der Gemeinschaft etwas Zerstreuung und Ablenkung finden. Der Raum bestand aus zwei nebeneinander liegenden, sehr kleinen Zellen. Die eine davon benutzten wir drei Mann als Tagesraum, in der andern waren für die Nacht zwei eiserne Pritschen aufgestellt, die kaum Platz hatten. Der dritte Mann musste auf dem Fußboden schlafen. Der eine meiner beiden Zellengenossen war ein ganz ergrauter, dreiundsechzigjähriger Bergmann, der wegen Blutschande mit seiner zwanzigjährigen Tochter zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt war; der zweite war ein neunundfünfzigjähriger Weber, von Geburt Holländer, der ebenfalls wegen Blutschande mit seiner achtzehnjährigen Tochter ein Jahr Zuchthaus bekommen hatte.
Der Graukopf, der nahezu sieben Jahrzehnte auf seinem Buckel hatte, sprach den ganzen Tag und auch in der Nacht über nichts anderes als über Frauen und Mädchen, die er schon gehabt hatte und die er nach seiner Freilassung noch haben wollte. Mit Siegermiene erzählte er, dass ihm eigentlich keine Frau und kein Mädchen widerstehen könne und dass er besondere Lockmittel habe, mit deren Hilfe er jede Frau rumkriege. Besonders gern und stolz erzählte er von seinen Erfolgen mittels Petroleum und Brot. Während des Krieges hatte er auf einer größeren Schachtanlage als Lokomotivheizer für eine kleine Werksbahn gearbeitet. Damals war die Zeit der Hungerjahre, in denen die Proletarierfrauen und -kinder um jeden Bissen Brot und jede Kartoffel verzweifelt kämpfen mussten. Brot und auch Petroleum waren begehrte Artikel. Über beides verfügte der alte Schürzenjäger auf Grund seiner Stellung und seiner guten Beziehungen. Petroleum bekam er zum Reinigen und Schmieren der Lokomotive geliefert, und Brot ergaunerte er durch Schleichhandel mit Kohle. Er rechnete mir genau vor, wie oft er für je einen halben Liter Petroleum oder für ein Pfund Brot mit einer Frau geschlafen hatte. Er hielt auf gute Preise und ließ nicht mit sich handeln. Wenn eine Frau seine Forderungen nicht erfüllte, erhielt sie eben kein Brot oder kein Petroleum.
Noch widerlicher aber hörten sich seine Schilderungen an, in denen er berichtete, wie oft und wie sehr er seine Frau in den mehr als vierzig Jahren seiner Ehe geprügelt hatte. Am meisten Spaß hatte es ihm gemacht, wenn er mit dem Feuerhaken in der einen Hand auf sie einschlug und sie mit der anderen Hand an den Haaren schleifte. Zu seiner Entschuldigung führte er an, dass er sie ja immer nur im Suff geprügelt habe.
Nicht viel besser verhielt es sich mit dem andern
Kumpan. Auch sein Denken und Handeln sowie seine Reden waren ganz beherrscht von der sexuellen Begierde.
Die beiden erzählten einander bis in die späte Nacht, ja oft bis in die frühen Morgenstunden hinein ihre sexuellen Erlebnisse mit allen von der Phantasie verklärten Einzelheiten.
Der eine versuchte, da ihm Frauen im Zuchthaus nicht zur Verfügung standen, sich auf gleichgeschlechtlichem Wege zu entspannen. Sein Kumpan war ihm für dieses Liebesspiel zu alt, er wollte etwas Jüngeres und kam deshalb nachts mehrmals leise an mein Lager geschlichen. Er versuchte in der dunklen Zelle mit seinen Händen meine Geschlechtsteile zu fassen. Dabei versprach er flüsternd, dass er für mich alles tun und mir alles geben wolle - Kautabak, Pferdewurst -, und vor allem: er wolle Kassiber für mich aus der Anstalt herausschmuggeln. Das erste Mal glaubte ich, mich plage ein hässlicher Traum. Es dauerte lange, ehe ich begriff, dass der Alte ernstlich versuchte, seine angesammelte Sexualität an meinem Körper loszuwerden. Ich wusste, dass die Anstaltsleitung solche Versuche streng bestrafte, und unterließ deshalb eine Anzeige. In wenigen Wochen sollte er sowieso entlassen werden, er hatte seine Strafe verbüßt. Ich wollte nicht den Anlass zu einer Verlängerung seiner Haft geben.
Die beiden Alten waren starke Alkoholiker und litten sehr unter der Entziehung des Alkohols. Mit allen Mitteln versuchten sie, auch im Zuchthaus Spiritus zu bekommen. In der Anstaltstischlerei wurden für die Politur von Möbeln Lacke verwendet, die Brennspiritus enthielten. Die Kalfaktoren organisierten einen schwunghaften Schleichhandel zwischen den als Tischler arbeitenden und den anderen Gefangenen. Für eine Rolle Kautabak gab es ein geringes Quantum Möbelpolitur. Der eine meiner beiden Zellenkumpane soff dieses fürchterliche Zeug so, wie es war. Er bekam davon furchtbare Magenschmerzen und starkes Erbrechen, aber das scherte ihn wenig, er hatte doch etwas Spiritus in seine Gedärme bekommen. Der andere war gerissener. Er entwickelte beim Destillieren dieser Möbelpolitur eine erstaunliche Routine. Mit Holzkohle, Brot, Zucker und anderen Hilfsmitteln destillierte er geduldig so lange, bis er reinen Spiritus erhielt.
Eines Tages tranken sie sogar das Haarwasser, das mir Justizrat Broh mitgebracht hatte. Meine Befürchtung, dass die beiden sich durch den Genuss dieser Mischung von Seifenwasser und Brennnesselextrakt gründlich den Magen verderben würden, war unnötig, es geschah ihnen nichts; im Gegenteil, ihre Gesichter strahlten, solange sich noch ein Tropfen in der Flasche befand.
Das tägliche Zusammensein von drei Menschen in diesem engen Loch war auf die Dauer unerträglich. Wir drei konnten uns immer nur in einer der Zellen aufhalten, da in der Tageszelle kein Tisch stand, an dem man hätte schreiben oder essen können. Wir mussten unsere Notdurft in einem einzigen Kübel verrichten. Wenn einer auf dem Kübel saß, dann war es für die anderen kaum auszuhalten, ein so widerlicher Gestank verbreitete sich in dem kleinen Raum. Es gab Tage, an denen wir uns nach Genuss von schlechtem Brot oder einer den Stoffwechsel besonders fördernden Mittagssuppe fast ununterbrochen auf dem Kübel ablösten. Dann wurde der Gestank zu einer wahren Höllenqual. Hinzu kam noch, dass der Deckel des Kübels schlecht schloss. Fast alle Kübel waren beschädigt und halb zerbrochen.
Ich hatte die Absicht, die Direktion zu bitten, mich wieder in eine Einzelzelle zu legen, tat das aber doch nicht, um bei den anderen Gefangenen den Eindruck zu vermeiden, als halte ich mich für zu gut, mit kriminellen Gefangenen zusammen zu sein. Außerdem bot mir diese mich peinigende Gemeinschaft sozialen Anschauungsunterricht.
Die Väter meiner beiden Zellengenossen waren - wie sie mir erzählten - ebenfalls Trinker gewesen. Wahrscheinlich ließen sich die abnorme sexuelle Veranlagung und die Trunksucht der beiden auf die elenden Verhältnisse in ihrer Kindheit zurückführen.
Meinen Versuchen, sie im Sinne der Arbeiterbewegung zu beeinflussen, kamen die beiden Kriminellen sehr entgegen. Ich konnte in den letzten Wochen unseres Beisammenseins stundenlang mit ihnen debattieren, hatte dabei aber doch den Eindruck, dass sie nach der Entlassung sofort ihr altes Leben wieder aufnähmen. Sie waren zu alt zum Umlernen und hatten nur noch ein Lebensziel: sich die letzten paar Jahre möglichst gut zu amüsieren.
Wir drei Gefangenen wurden mit dem Wenden von gebrauchten Briefumschlägen beschäftigt, eine Arbeit, der man beim besten Willen kein Interesse abgewinnen konnte. Die zwanzig bis dreißig Pfennige, die ein Gefangener im Monat dafür verdiente, reichten nicht einmal fürs Briefporto. Deshalb verweigerte ich diese Arbeit und beschäftigte mich lieber mit dem Studium philosophischer Werke und der Geschichte des Sozialismus von Max Beer, die mir endlich nach monatelangem Warten ausgehändigt wurde.

 

Hungerstreik mit Schokolade

Oft wurde ich, wenn ich über den Büchern saß, durch lautes Brüllen aufgeschreckt, das sich anhörte, als ob ein Mensch Schmerzensschreie ausstoße. Für meine Vermutung, dass andere Gefangene von den Aufsehern geprügelt wurden, fehlten mir alle Beweise. Der Direktor hatte mir wiederholt erklärt, ich sei der einzige Gefangene, der behaupte, misshandelt worden zu sein; es sei überhaupt unmöglich, dass sich ein Beamter an Gefangenen vergreife. Das Prügeln in Zuchthäusern sei abgeschafft worden.
Ich fragte den Kalfaktor, was die Schreie, die ich des Öfteren hörte, zu bedeuten hätten, ob Gefangene geschlagen würden und ob er schon einmal Zeuge einer solchen Misshandlung gewesen sei. Er sagte, ja, es würden sehr oft Gefangene von den
Aufsehern geschlagen, aber auch von den anderen Gefangenen, er dürfe mir das aber nicht sagen, ich solle ihn nicht verraten, sonst verliere er seinen Posten, der für ihn doch eine große Erleichterung bedeute. Er käme dann wieder in Einzelhaft, und die Einzelhaft habe ihn fast verrückt gemacht. Er sei froh, dass er jetzt am Tage auf den Gängen herumlaufen dürfe. Wenn ich es schlau anstellte, dann könnte ich Gelegenheit haben, selbst zu beobachten, wie Gefangene geschlagen werden. Zumeist würden die Gefangenen von den Aufsehern misshandelt, wenn sie in den Arrest geführt werden.
Wenn wieder einmal ein Gefangener in die Arrestzelle gebracht werde, wolle er, der Kalfaktor, mir ein Zeichen an meiner Tür geben. Dann solle ich schnell »die Klappe ziehen«, damit der Aufseher meine Tür öffne, und frisches Trinkwasser verlangen. Währenddessen müsse ich versuchen, über das Geländer nach dem Zellenflügel, wo die Arrestzellen liegen, einen Blick zu werfen.
Ich tat, wie mir der Gefangene geraten, und sah, dass Beamte mit Schlüsseln und anderen Gegenständen auf Gefangene einschlugen, die in die Strafzellen abgeführt wurden. Vorsichtige Aufseher prügelten die Gefangenen nicht selbst, sondern ließen das durch Kalfaktoren, also Mitgefangene, besorgen. Dafür erhielten die Kalfaktoren von dem betreffenden Aufseher ein Stück Kautabak, ein Stück Brot oder andere kleine »Vergünstigungen«.
Ein übles Kapitel waren auch die Badeverhältnisse. Laut den Vorschriften für den Strafvollzug sollten alle Gefangenen mindestens alle vierzehn Tage gebadet werden. Praktisch erfolgte diese Reinigung jedoch nur alle vier, oft sechs bis acht Wochen, und dann in einer ganz ungenügenden Weise. Für achthundert Gefangene waren nur fünf Brausen vorhanden. In Gruppen wurden die Sträflinge zum Baden geführt. Noch ehe sie mit dem Entkleiden fertig waren, begann das Wasser aus den Brausen zu laufen, nur ein paar Sekunden lang, dann wurde es wieder abgestellt. Die Gefangenen sollten jetzt den angefeuchteten Körper einseifen und abscheuern, was praktisch unmöglich war, da sie ja kein Wasser zum Abscheuern hatten. Nach kaum ein bis zwei Minuten gaben die Brausen noch mal kurz Wasser, das zum Abspülen dienen sollte. Diese unzulängliche »Reinigung« hatte zur Folge, dass die Gefangenen durch den noch am Körper haftenden Seifenschaum eher schmutziger als rein wurden. Sie mussten, zumeist noch nass, schnellstens die Kleider anziehen; denn vor der Badezelle wartete bereits die neue Serie Gefangener, die in gleicher Weise »baden« mussten.
Das Rauchen im Zuchthaus war streng verboten. Es gab auch keine Gelegenheit, Tabak zu kaufen oder sich von draußen schicken zu lassen. Trotzdem wurde in fast allen Zellen sehr viel geraucht. Die Gefangenen durften sich von ihrem Arbeitsverdienst Kautabak kaufen. Mit den ausgekauten, schmierigen Resten des Kautabaks trieben die Kalfaktoren, die die Gänge und Kübel reinigten, einen blühenden Handel. Die Priemreste wurden getrocknet, dann zerkleinert, und mit Zuhilfenahme von Zeitungspapier, das in kleine Stücke geschnitten als Klosettpapier in jeder Zelle lag, drehten sich die leidenschaftlichen Raucher Zigaretten. Aus einem Zwirnsfaden, einem Metallhosenknopf und einem während der Hofstunde aufgelesenen Stein machten sich die Gefangenen ein primitives Feuerzeug. Aus einer Decke, aus einer Weste, aus einem Hemd oder Handtuch schnitten sie ein Stück heraus, glühten es ab, und auf diese Weise gewannen sie für ein bis zwei Wochen Lunte.
Das Kautabakrauchen - noch dazu mit Zeitungspapier - hatte für die Gefangenen große gesundheitliche Nachteile, vor allem gaben sich dadurch die Lungenkranken den letzten Rest. Wurden die Gefangenen beim Rauchen erwischt -und das geschah sehr oft, denn die Aufseher beobachteten sehr eifrig am Tage und des Nachts durch den »Spion«, ob geraucht wurde -, dann wurden sie mit Arrest bestraft. Besonders hart bestraft wurden sie wegen der Herstellung von Lunte. Für diese Sachbeschädigung erhielten die Gefangenen drei, oft sogar vier Wochen Arrest, und außerdem mussten sie den Schaden - nämlich die zerschnittenen Wäschestücke oder Decken - voll ersetzen. Die Gefangenen nahmen lieber alle diese Strafen auf sich, als dass sie auf das Rauchen verzichteten.
Ich selbst hätte oft leidenschaftlich gern eine Zigarette oder eine Zigarre geraucht, aber ich brachte es nicht fertig, diesen fürchterlichen Dreck von ausgekautem Kautabak als Ersatz dafür zu genie­ßen. Einmal versuchte ich es, um zu probieren, wie das Zeug schmeckt - mit dem Erfolg, dass sich mir der Magen umdrehte und ich tagelang krank war.
Ein Ministerialrat aus dem preußischen Justizministerium, der mich in den ersten Monaten meiner Haft besuchte, sagte, er wolle mir das Rauchen gestatten. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, die Rauchererlaubnis auch den anderen politischen Gefangenen und den Kriminellen zu geben. Er erwiderte: Nein, das ginge zu weit, darunter würde die Anstaltsdisziplin leiden. Darauf lehnte ich es ab, als einziger die Rauchererlaubnis für mich anzunehmen.
Ich hatte inzwischen erfahren, dass sich außer mir in Münster noch hundert bis zweihundert andere politische Gefangene befanden. Es wurde mir aber jede Möglichkeit unterbunden, mit meinen mitgefangenen Parteigenossen in Verbindung zu treten. Meine Bitte, mich mit einigen Genossen in Gemeinschaftshaft zu legen, wurde schroff abgelehnt. Erst in den letzten paar Monaten setzte ich es durch, mit einem Genossen zusammenzukommen.
Nach den Weihnachtsfeiertagen 1922 kam es im Zuchthaus zu einem großen Skandal. In der Anstaltsküche und Anstaltsbäckerei waren Schiebungen mit Mehl und Hülsenfrüchten aufgedeckt worden. Beamte hatten sich an den Schiebungen beteiligt. Alle in der Küche und Bäckerei beschäftigten Gefangenen wurden abgelöst. Bei dem einen wurde sogar ein Sparkassenbuch gefunden. Es stellte sich heraus, dass ein Beamter im Laufe der Jahre größere Mengen Lebensmittel aus der Anstalt herausgeschafft und einen Teil davon für sich verbraucht hatte. Von dem Erlös des anderen verkauften Teils war für den an den Schiebungen beteiligten Gefangenen ein Sparkassenbuch angelegt worden. Die verschobenen Lebensmittel waren von den den Gefangenen zustehenden sowieso geringen Portionen abgezwackt worden. Gerade in Münster kam es oft zu Unruhen, weil das Essen immer schlechter und dünner wurde. Es war deswegen schon zu regelrechten Meutereien gekommen.
Das Brot konnte man monatelang nicht genie­ßen, es war bitter und feucht. Die Gefangenen bekamen Darmbeschwerden davon. Wenn das Brot nur kurze Zeit in der Zelle lag, sah es aus wie von Pilzen bedeckt.
Mein Parteigenosse, Landtagsabgeordneter Menzel, besuchte damals die Strafanstalt. Ich sprach mit ihm über das schlechte Essen, besonders über das unverdauliche Brot. Direktor Scheidges, der bei der Unterredung mit dem Abgeordneten zugegen war, sprang sofort auf und bot Menzel eine Kostprobe an, die er im Zimmer hatte. Mein Parteigenosse nahm das Brot, fing zu essen an, kaute eine Weile, und dann sagte er ganz naiv: »Ja, besseres Brot haben wir zu Hause auch nicht, das Brot ist doch ganz gut.« Ich war durch diese Äußerung wie vor den Kopf geschlagen. In den Zellen lagen tatsächlich Dutzende von Gefangenen mit Magenbeschwerden.
Der Direktor der Anstalt strahlte über das ganze
Gesicht, er konnte jetzt gegen alle Beschwerden damit argumentieren, dass ja der kommunistische Abgeordnete das Brot für gut befunden habe.
Genosse Stöcker, der etwa sechs Monate später die politischen Gefangenen in Münster besuchte und den ich in Gegenwart des Direktors sprach, ließ sich vom Direktor Scheidges nicht mit einer Kostprobe fangen. Als der Direktor eine anbot, weil ich mich wieder über das Essen beschwerte, erwiderte Stöcker: »Ich danke, Herr Direktor, ich kenne diese Proben vom Militär her.«
Da sich meine Konflikte mit der Anstaltsleitung vermehrten und immer unerträglicher wurden, beantragte ich bei der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft meine Verlegung in ein anderes Zuchthaus. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ich wandte mich dann durch Vermittlung meiner Verteidiger an das preußische Justizministerium und wies darauf hin, dass mein weiteres Verbleiben in der Strafanstalt Münster infolge der ununterbrochenen Konflikte mit dem Direktor zwangsläufig zu einer Katastrophe führen müsse. Trotzdem lehnte auch diese Stelle meine Anträge ab, weil ich - wie mir gesagt wurde - in einer anderen Anstalt nicht sicher genug verwahrt werden könnte.
Während meiner Internierung nach dem Kapp-Putsch in der Tschechoslowakei hatte ich mit einem Hungerstreik Erfolg erzielt. Deshalb versuchte ich, meine Überführung in eine andere Anstalt durch einen Hungerstreik zu erzwingen. Kalfaktoren und andere Gefangene, die von meiner Absicht des Hungerstreiks Kenntnis hatten, rieten mir, ich solle mir vorher etwas Schokolade auf die Seite bringen und während des Hungerstreiks jeden Tag ein kleines Quantum essen, dann könne ich den Hungerstreik wochenlang durchführen, ohne meiner Gesundheit zu schaden. Der Erfolg war aber ein ganz anderer: Dadurch, dass ich jeden Tag ein Stückchen Schokolade zu mir nahm - zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel - wurde ich das peinigende Hungergefühl überhaupt nicht los. Außer dem nicht nachlassenden Hungergefühl hatte mein fingierter Hungerstreik noch andere Folgen für mich. Da der Magen außer der Schokolade keine Nahrungsmittel bekam, vor allem keine Flüssigkeiten - ich verweigerte auch die Annahme des Wassers -, verstopfte sich der Stuhl. Noch wochenlang danach hatte ich bei jedem Stuhlgang die heftigsten Schmerzen. Die im Darm angesammelten Kotreste waren zu Stein verhärtet, und erst nach Dutzenden von Klistieren nahm der Stoffwechsel wieder seinen normalen Verlauf. Ich war durch dieses Experiment kuriert, und bei den späteren Hungerstreiks, die ich in Münster, Breslau und Groß-Strehlitz durchführte, nahm ich wohlweislich nicht die geringste Nahrung zu mir.
Vor Beginn meines ersten Hungerstreiks teilte ich der Direktion mit, dass ich so lange jede Nahrungsaufnahme verweigere, bis ich in eine andere Anstalt gebracht werde. Aber schon nach neun Tagen musste ich den Hungerstreik abbrechen. Da ich auch das Trinkwasser verweigerte, bekam ich Fieber. Mein ganzer Körper brannte wie Feuer, die trockenen Lippen platzten, und ich konnte nicht mehr sprechen, nicht einmal flüstern. Mitten in der Nacht wurde mein Zustand so ernst, dass mein Zellengenosse glaubte, ich würde den Morgen nicht mehr erleben. Er trommelte mit Fäusten an die Türe, bis der Aufseher kam, den bat er um Wasser für mich, da kein Tropfen in der Zelle war. Der Beamte erklärte, er dürfe allein nicht aufschlie­ßen, und es sei unmöglich, einen anderen Beamten zu erreichen. Mein Zellengenosse gab sich damit nicht zufrieden, er schlug die winzige Glasscheibe des Zellenspions ein. Durch das entstandene Loch steckte er eine aus Zeitungspapier gedrehte Röhre, an die hielt der Aufseher eine Tasse mit Wasser, das der Gefangene aufsog und für mich in eine andere Tasse laufen ließ. Es dauerte viele Monate, ehe ich mich von diesem Hungerstreik einigerma­ßen erholte.
Meine Verlegung in eine andere Strafanstalt erreichte ich durch die Nahrungsverweigerung nicht.
Meine Eltern wollten mir zu Weihnachten eine Freude machen. Sie hatten Lebensmittel, darunter ein paar frische Würste und etwas Kuchen und Obst geschickt, weil ihnen bekannt war, dass jeder Gefangene zu Weihnachten ein Paket erhalten dürfe. Der Direktor verweigerte mir die Aushändigung, obwohl ich ihn darauf aufmerksam machte, dass die Lebensmittel in seinem überheizten Zimmer - er bewahrte sie bei sich auf - schlecht werden mussten. Als ich das Paket nach mehreren Tagen endlich ausgehändigt erhielt, war das meiste verfault und ungenießbar.
Während des Hungerstreiks erklärte mir der Direktor, ihm mache es nichts aus, wenn ich im Hungerstreik sei, er selbst habe ja zu essen. Diese von ihm mit lächelndem Gesicht gesprochenen Worte erbitterten mich noch mehr gegen ihn, ich spie ihn wieder an. Darauf wurde ich zum dritten Mal in die Tobzelle geschafft.
Der Direktor Scheidges war trotz allem nicht der Sadist, als den ich ihn bislang angesehen hatte. Sein Vorgehen gegen mich, seine Maßnahmen und die kleinlichen Schikanen trafen mich hart, und seine Missachtung aller Rechte, die den Gefangenen gesetzlich zustanden, erbitterten mich gegen ihn. Ich fühlte mich durch alles, was er gegen mich unternahm, unaussprechlich gequält. Ich hasste diesen Mann, wie ich noch nie einen Menschen gehasst hatte. Aber ich gewann die Überzeugung, dass seine scharfen Zwangsmaßnahmen gegen mich und andere Gefangene ihm selbst sehr unangenehm waren. Ihm fehlte jedes psychologische Einfühlungsvermögen in die Gefühle und die Gedankenwelt der Gefangenen, und er hatte nicht die geringste Fähigkeit, Gefangene individuell zu behandeln. Er wollte mit übertriebener Härte und überspannten Sicherungsmaßnahmen die Gefangenen bessern und erziehen. Dadurch verbitterte er sie nur. Mein leidenschaftlicher Hass und meine Rachegefühle wandelten sich in Bedauern für diesen Mann.
Eines Tages wurde ein Gefangener mit in meine Zelle gelegt, vor dem mich die Kalfaktoren warnten, er sei ein übler Kerl, der seine Mitgefangenen und auch Beamte denunziere und den der Direktor nur in meine Zelle gelegt habe, um mich bespitzeln zu lassen.
Der Gefangene erzählte Tag für Tag nur von seinen Hochstapeleien und Diebstählen. Dieser Bursche hatte seine frühere Braut, eine Kontoristin, denunziert, sie habe von seinen Diebstählen gewusst. Er erhielt ein paar Jahre Zuchthaus, seine Braut sechs Monate Gefängnis. Ihre Existenz und ihr ganzes Leben waren ruiniert, sie verübte Selbstmord im Gefängnis. Der Hochstapler gab mir und allen anderen Gefangenen gegenüber zu, dass er sie falsch beschuldigt hatte. Als er mir diese Gemeinheiten erzählte, beschloss ich, ihn mit allen Mitteln aus meiner Zelle wieder herauszubringen.
Der Hochstapler war auch bei den Beamten sehr verhasst; er hatte einen Werkmeister um Existenz und Pension gebracht. Kaum drei bis vier Meter von der großen Zuchthausmauer entfernt, stand außerhalb der Anstalt ein von Zivilisten bewohntes Haus. Dort wohnte ein junges Fabrikmädel, das der Gefangene, der Kalfaktorendienste verrichtete, vom Korridorfenster aus beobachtete. Als er ihren Namen erfuhr, schrieb er heimlich Briefe an sie, die ein fast sechzig Jahre alter, menschenfreundlicher Aufseher illegal beförderte. Die neugierige Wirtin des Mädchens ersah aus dem Inhalt der Briefe, dass der Schreiber ein Zuchthäusler war; sie ging mit den Briefen zum Direktor. Der veranlasste eine scharfe Untersuchung. Aus irgendeinem Grunde fiel der Verdacht auf den alten Beamten.
Der Gefangene, der viel zu feige war, den Werkmeister zu decken, gab vor dem Direktor den Sachverhalt zu. Der Aufseher wurde sofort entlassen und später gerichtlich bestraft.

 

Die verwundbare Stelle des Strafvollzugs - Mein Kampf beginnt

Ich stellte bei der Anstaltsleitung den Antrag, den Gefangenen aus meiner Zelle herauszunehmen, da er mir mit dem Erzählen seiner Hochstapeleien auf die Nerven falle. Trotzdem blieb der Denunziant, und ich musste zu einem radikalen Mittel greifen, um seine Entfernung zu erzwingen. Jedes Mal, wenn die Zelle früh, mittags oder abends aufgeschlossen wurde, um die Kübel hinauszustellen und Essen und Wasser hereinzunehmen, lief ich mit meiner Essschüssel in der Hand schnell aus der Zelle, setzte mich auf die Steinfliesen des langen Zellenganges und weigerte mich, wieder in die Zelle hineinzugehen, wenn der Gefangene nicht sofort entfernt werde. Die Beamten mussten mich täglich ein halbes Dutzend Mal in die Zelle hineintragen, und jedes Mal, wenn sie mich anpackten, begann ich mit lauter, in den Gängen furchtbar schallender Stimme revolutionäre Verse zu rezitieren.
Diesen Obstruktionskampf führte ich fast zwei Wochen lang, bis die Beamten es satt bekamen und dem Direktor erklärten, sie könnten das nicht mehr mitmachen. Daraufhin wurde der Gefangene endlich in eine andere Zelle verlegt.
Eine Zuchthausverwaltung kann einen geordneten Strafvollzug nur dann durchführen, wenn absolute Ruhe, das heißt Kirchhofsruhe, in der Anstalt herrscht. Jede, auch die kleinste Störung im Ablauf der schematischen Tageseinteilung und jede Unruhe unter den Gefangenen hemmt das Räderwerk der Strafvollzugsmaschine. Eine planmä­ßige, überlegte und mit zäher Ausdauer durchgeführte Störung der Anstaltsruhe wirkt wie in das Getriebe eines Dieselmotors geschütteter Sand. Das tägliche und mit aller Lungenkraft betriebene Hinausschreien der aufgespeicherten Empörung und Erbitterung aus der Zelle in die weiten Zuchthausgänge stört die Ruhe und »Ordnung« im steinernen Riesensarge. Das ist die verwundbare Stelle des Strafvollzugs, seine Achillesverse. Gegen diese Stelle musste ich meinen Obstruktionskampf richten, wenn ich die Behörden zwingen wollte, mich in ein anderes Zuchthaus zu bringen.
Mitten in der Nacht begann ich zu obstruieren. Mit überlauter Stimme deklamierte ich aus dem Zellenfenster in den Hof hinaus alle revolutionären Verse und Lieder, die ich auswendig konnte. Dieses Brüllen in die unheimliche Stille einer Zuchthausnacht hinein wirkte wie eine ansteckende Krankheit. Ein Teil der aufgeschreckten Gefangenen begann mitzubrüllen, die anderen schimpften über die nächtliche Störung. Sie trommelten mit Schemeln wie besessen an die Zellentüren. Aufgeregt liefen die wenigen Nachtaufseher in den Gängen umher, klopften an die Türen, geboten Ruhe, aber kein Mensch kümmerte sich darum, am allerwenigsten ich. Ich hatte den Kampf aufgenommen und musste ihn durchhalten, bis die Anstaltsleitung oder das durch sie informierte Ministerium mein Verlangen, in eine andere Anstalt überführt zu werden, erfüllte. Die Zwangsmaßnahmen und Strafen, die in Verfolg meiner Obstruktion gegen mich angewandt wurden, durften mich nicht schrecken.
Der Arzt hatte inzwischen meine Unterbringung in das Anstaltslazarett veranlasst, da ich nach dem Hungerstreik und durch den Nervenzusammenbruch sehr geschwächt war. Ich konnte nicht von der Pritsche bis zum Kübel gehen - kaum zwei Schritte -, ohne dass ich aus Schwäche zusammenbrach. Monatelang musste ich während der Freistunde unten im Hof auf einer Pritsche liegen - auch im Winter-, weil ich nicht gehen konnte. Trotzdem setzte ich meine Obstruktion auch im Lazarett fort.
Der Versuch des Direktors, mich durch Einsperrung in die Tobzelle mürbe und gefügig zu machen, war bereits dreimal gescheitert. Er wendete nunmehr andere Mittel an.
In der Krankenzelle, in der ich mit zwei anderen Gefangenen untergebracht war, befanden sich vier Fenster. Der Direktor ließ drei davon - ausgerechnet die Sonnenseite - zumauern. Die Zelle wurde dadurch sehr dunkel und kalt.
Direkt unter dieser Krankenzelle befanden sich die beiden gefürchteten Folterkammer-Tobzellen.
Sie waren immer besetzt. Nur der Fußboden trennte mich von den Gefangenen, die in diesen Löchern genauso wie vorher ich misshandelt wurden. Ich wusste, wie die Eigenart der Tobzellen, wie die Stickluft in ihnen auf Menschen wirkte. Nachts, aber auch am Tag, drangen Schreien, Wimmern und verzweifeltes Klopfen herauf.
Für gewöhnlich durften in die Tobzellen nur solche Gefangenen gesperrt werden, die wirklich tobten. Aber Scheidges hielt sich in keinem Fall an Vorschriften gebunden. Er sperrte zweiundfünfzig Tage lang einen jungen Gefangenen in die Tobzelle, der nie getobt und nichts getan hatte, was nach den Bestimmungen des Strafvollzugs die Maßnahme des Direktors rechtfertigte. Der Direktor wollte von dem Gefangenen ein Geständnis erpressen über Vorgänge in der Anstalt. Während der vielen Wochen durfte er nicht ein einziges Mal aus der Zelle heraus und konnte an keiner Freistunde teilnehmen.
Ein anderer Gefangener namens Schuffenhauer musste sechs Wochen nackend in der Tobzelle zubringen. Seine Stimme klang schon nicht mehr menschlich. Tag und Nacht klang markdurchdringendes Stöhnen aus der Zelle.
Tragisch war das Schicksal eines jungen ehemaligen Frontsoldaten. Der hatte 1918 während eines Urlaubs für seine Frau und sein Kind ein Pfund Butter gekauft. Auf dem Bahnhof nahm ihm ein den Schleichhandel kontrollierender Gendarm die Butter ab. In seiner großen Erregung darüber schoss der Urlauber den Gendarmen mit einer Armeepistole nieder. Die ihm zudiktierte lebenslängliche Zuchthausstrafe empfand er als viel zu hart und grausam für seine Tat. Er versuchte immer wieder zu fliehen. Dadurch kam auch er wochenlang in die Tobzelle. Nach kurzer Zeit war aus dem vorher gesunden, blühenden Menschen ein Wrack geworden.
Schlimm waren die sanitären Verhältnisse in der Anstalt. Ein schwer syphilitischer Gefangener, dessen Gesicht und Hände mit ekelerregendem Ausschlag bedeckt waren, wurde zur Essenverteilung verwendet. Erst als vier Gefangene die Entgegennahme des Essens aus seinen Händen verweigerten und lieber hungerten, veranlasste die Verwaltung die Entfernung des Syphilitikers.
In der Strafanstalt waren Dutzende von geschlechtskranken Gefangenen. In bestimmten Zwischenräumen wurden sie dem Arzt vorgeführt und erhielten von ihm Spritzen, Medikamente und frische Binden. Die alten, mit Eiter getränkten Binden wuschen die Kalfaktoren nur oberflächlich - meist nur mit kaltem Wasser - in der Lazarettbadewanne, in der auch ich während meiner Unterbringung im Lazarett baden musste. Die »gewaschenen« Mullbinden wurden an kreuz und quer laufenden Leinen in der Badezelle zum Trocknen aufgehängt. Es geschah oft, dass in das frisch eingelassene Badewasser Tropfen von den Binden fielen.
Meinen Obstruktionskampf führte ich länger als sechs Monate durch. Der Direktor erfand immer neue Gegenmaßnahmen; er ordnete an, dass an der
Außenseite des einzigen noch nicht zugemauerten Fensters der Lazarettzelle ein dicker Vorhang aus einer Reihe zusammengenähter Wolldecken angebracht wurde. Sobald ich mit meiner Obstruktion in der Zelle begann, ließ ein Aufseher den dicken, schalldichten Vorhang herunter, so dass die Zelle dunkel wurde und kein Laut nach außen dringen konnte. Aber bald hatte ich etwas entdeckt, wodurch ich diese Maßnahme des Direktors unwirksam machte. Sofort, wenn der Vorhang fiel, nahm ich einen Zellenbesen, klemmte ihn zwischen Fenster und Vorhang, so dass eine breite Öffnung entstand; dadurch erhielt die Zelle etwas Tageslicht, und der Schall meiner laut rezitierten Verse drang wie vorher bis in die entferntesten Räume der Anstalt, ja bis hinein in die Straßen der Stadt Münster. Große Menschenmassen sammelten sich in der Nähe des Zuchthauses. Die einen schrieen und schimpften, man solle mich aufhängen, die anderen sympathisierten mit mir.
Nachts patrouillierten im Hof vor meinem Zellenfenster Schutzpolizisten. Kurz nach meiner Einlieferung in Münster war ein Kommando von fünfundzwanzig Mann Schupo in die Anstalt gelegt worden, nur zu dem Zweck - wie der Direktor selbst sagte -, mich zu bewachen und zu verhindern, dass ich entfliehe. Die Sipo-Wachtposten pfiffen mitten in der Nacht oder ganz früh am Morgen vor meinem Zellenfenster ostentativ den »Fridericus Rex« und »Heil dir im Siegerkranz«. Als Gegenmaßnahme arrangierte ich mit den beiden anderen Lazarettinsassen einen Sprechchor, an dem sich bald Hunderte von anderen Gefangenen beteiligten. Jedes Mal, wenn die Sipo ihre Heldenlieder anstimmte, riefen wir Gefangenen im Sprechchor: »Es kommt der Tag der Freiheit und der Rache, dann werden wir die Richter sein.«
Eines Tages wurde vor meinem Zellenfenster ein Gerüst aufgebaut. Die Vorbereitungen ließen darauf schließen, dass nun auch das letzte Fenster zugemauert werden sollte. Das geschah zwar nicht, aber der Direktor hatte, um meiner Obstruktion zu begegnen, einen neuen Schlag gegen mich ausgedacht. Er ließ am Fenster durch Maurer und Schlosser einen ungemein dicken und festen Laden anbringen und an diesem eine Vorrichtung, die es dem Aufseher ermöglichte, jederzeit durch einen kleinen Handgriff die Zelle hermetisch abzuschließen, so dass nicht ein Lufthauch und nicht der kleinste Lichtstrahl hereinkonnte. Der Direktor war überzeugt, wie er sich ausdrückte, dass diesmal mein Widerstand unbedingt gebrochen werden würde. Er brachte es tatsächlich fertig, meine zwei Leidensgenossen und mich tagelang in der vollkommen finsteren Zelle zu lassen, die nicht gelüftet werden konnte. Ich fürchtete, der Direktor werde diesmal Sieger bleiben, ich fand nichts, womit ich seinen Hieb hätte parieren können. Nach längerem Suchen kam mir ein Einfall, durch den ich den Direktor schachmatt setzte. Als nach tagelanger, hermetischer Abschließung der Zelle von Luft und Licht der schwere, torähnliche Laden für einen kurzen Augenblick geöffnet wurde - der Arzt hatte das vom Direktor verlangt, damit wir nicht erstickten - und nach kurzer Zeit wieder geschlossen werden sollte, steckte ich schnell meinen Holzpantoffel zwischen den Laden und den Fenstersims. Der Aufseher konnte von unten nicht sehen, woran es lag, dass der Laden, der mittels eines Drahtseils nur vom Hof aus geöffnet und geschlossen werden konnte, nicht wie sonst sofort in das Schloss einschnappte. Er holte eine Leiter und stieg herauf, um nachzusehen. Nun zog ich schnell den Pantoffel wieder zurück. Der Beamte kletterte hinunter, versuchte erneut den Laden zu schließen, aber schon hatte ich den Pantoffel wieder dazwischen.
Dieses Katze- und Mausspiel ging so lange, bis der Direktor einsah, dass alle seine Zwangsmaßnahmen zwecklos waren, da ich stets eine Gegenmaßnahme fand.
Das Ministerium sandte einen zweiten Direktor ins Zuchthaus Münster, den Staatsanwaltschaftsrat Dr. Hauptvogel. Er behandelte nicht nur mich, sondern auch alle anderen Gefangenen viel menschlicher. Direktor Scheidges war zwar noch auf seinem Posten als erster Direktor, meine Anträge und Beschwerden wurden aber von Dr. Hauptvogel bearbeitet. Obwohl Staatsanwalt, war er doch nach ganz kurzer Zeit bei allen Gefangenen sehr geachtet. Mir fiel es schwer, in seiner Anwesenheit die Obstruktion durchzuführen. Aber ich musste mit allen Mitteln versuchen, von Münster fortzukommen, da infolge der großen Entfernung von Berlin meine Bemühungen um die Wiederaufnahme meines Prozesses sehr erschwert wurden, weil Zeitverlust und Reisekosten der Anwälte zu groß waren.
Die Vollzugsbehörde begriff endlich, dass es die allerhöchste Zeit war, mich von Münster wegzubringen.
Meine Obstruktion hatte alle anderen Gefangenen angesteckt, sie obstruierten mit, und Hunderte von Gefangenen schrieen die ganze Nacht hindurch nur: »Kohldampf!«, »Hunger!« Es kam zu einem regelrechten Aufstand im Zuchthaus.

 

Transport nach Breslau - Die Begleitmannschaft verliert mich

Mitten in der Nacht fuhren plötzlich mehrere Automobile in den Anstaltshof. Ihnen entstiegen mein Anwalt Hegewisch, ein Major aus dem Berliner Polizeipräsidium, ein Kriminalkommissar, ein Arzt und eine ganze Anzahl Schutzpolizisten in Zivil und Offiziere.
Mir wurde eröffnet, dass mein Wunsch, in eine andere Anstalt überführt zu werden, erfüllt werde. Ich befand mich seit fünf Tagen wieder im Hungerstreik, und da ich deshalb sehr geschwächt war, hatten die Behörden angeordnet, dass in dem Auto, in dem ich transportiert wurde, ein Arzt mitfuhr.
Als ich fertig zum Abtransport in den Korridor des Verwaltungsgebäudes trat, kamen ein Polizeimajor und ein anderer Offizier auf mich zu und erklärten, sie hätten den Auftrag, mich zu fesseln. Für die Fahrt mit den Automobilen in das andere Zuchthaus waren zwei Tage vorgesehen, und während dieser ganzen Zeit sollte ich gefesselt bleiben. Die Fesseln bestanden aus meterlangen, schweren Eisenstangen, die mit breiten Eisenbändern zwischen die Füße und Hände geschlossen wurden, außerdem waren die Fuß- und Armstangen noch mit schweren Ketten verbunden. Diese Fesseln wogen fast einen halben Zentner.
Ich erklärte dem Major, dass ich mich unter keinen Umständen fesseln lasse und dass ich, wenn man gegen mich Gewalt anwende, bestimmt nicht lebendig aus der Anstalt herauszubekommen sei. Die Fesselung unterblieb.
Zwischen zwei und drei Uhr morgens verließen die Autos mit mir die Anstalt, in der ich genau vierzehn Monate lang einen harten, unerbittlichen Kampf gegen einen grausamen Strafvollzug gekämpft hatte. Ich atmete auf: Schlechter als im Zuchthaus Münster konnte es mir in einer anderen Strafanstalt kaum gehen.
Während der Fahrt hatte ich das Bedürfnis, auszutreten. Der Major, mit dem zusammen ich im Auto fuhr, weigerte sich, die Autos vor einem Gasthause des nächsten Ortes, wo ich hätte austreten können, halten zu lassen. Er habe die strikte Anweisung, unter keinen Umständen in einer bewohnten Gegend haltzumachen. Er verlangte von mir, dass ich auf freiem Felde austrete, rechts und links von einem Sipomann flankiert. Ich war über diese Zumutung empört und erklärte ihm, wenn er in der nächsten Ortschaft nicht halten lasse, müsse ich im Auto meine Notdurft erledigen. Als er sah, dass ich Ernst machte und bereits die Hosen abzuknöpfen begann, beschwichtigte er mich und veranlasste sofort, dass wir im nächsten Ort Halt machten.
Überwältigend wirkte auf mich die im Herbstschmuck stehende Landschaft. Ich hatte vierzehn Monate lang einen solchen Anblick nicht genossen und war wie berauscht von den Eindrücken, die ich jetzt empfing. Es schien mir, als sei ich nicht ein Jahr und zwei Monate, sondern viel, viel länger von der Außenwelt abgeschnitten gewesen.
In den Abendstunden desselben Tages kamen wir in Magdeburg an. Hier wurde ich in einer Zelle des Polizeipräsidiums für die Nacht einquartiert. Am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter. Ich glaubte, dass mein Antrag, in das Zuchthaus Waldheim in Sachsen überführt zu werden, erfüllt würde, als wir aber den Elbestrom überquert hatten und weiter nach dem Osten fuhren, merkte ich, dass man mich in eine ganz andere Gegend verschleppte. Ich fragte den Polizeimajor, ob er vielleicht den Auftrag habe, mich nach Moskau zu bringen.
Ein paar hundert Meter hinter Cottbus hielten die Autos plötzlich an. Auf der Straße war ein gro­ßer Menschenauflauf. Die mich begleitenden Polizeimannschaften stiegen aus, um nachzusehen, was dieser Auflauf bedeute. Mein Anwalt und ich blieben allein im Auto zurück, und als das Warten zu lange dauerte, stiegen wir aus.
Mitten auf der Straße lag sterbend ein ganz altes Mütterchen, das kurz vorher von einem Privatauto überfahren worden war. Die Frau kam vom Holzlesen aus dem Walde, der an die Straße grenzte. Ein Kinderwagen, in dem sie die Reisigbündel hatte, lag vollkommen zertrümmert auf der Straße. Von den Menschen, die auf der Straße standen und gafften, dachte niemand daran, die Frau mit dem Auto in ein Krankenhaus zu bringen. Der Unglückswagen stand noch da, sein Besitzer stand unter den übrigen Gaffern. Ich erinnerte mich an die Szene auf dem Transport ins Zuchthaus - es drängte sich mir der Vergleich auf zwischen diesen teilnahmslosen Menschen, die kein Mitgefühl für die überfahrene Frau zu haben schienen, und dem kleinen Hund, der traurig auf seinen überfahrenen Gefährten schaute.
Ein Schutzpolizist in Zivil und ich trugen die Frau in das Auto, das sie überfahren hatte. Der Beamte setzte sich mit in den Wagen, er veranlasste den Besitzer, sofort in das nur einige Minuten entfernt liegende Krankenhaus zu fahren.
Ich ging die paar Schritte bis zu der Stelle, wo die Reste des zerbrochenen Kinderwagens lagen. Als ich mich umwandte, um eine Frage an meine Begleiter zu richten, merkte ich zu meiner Überraschung, dass ich ganz allein war. Ich stand unter Dutzenden von fremden Menschen, die mich nicht kannten und - da ich Zivilkleidung trug -, auch nicht wussten, dass ich Zuchthäusler war. Weit und breit war nichts von meinen Bewachungsmannschaften zu sehen. Ich brauchte nur zehn
Schritte seitwärts zu gehen, dann befand ich mich im dichten Wald und hätte mich leicht in Sicherheit bringen können.
Trotzdem benutzte ich diese günstige Gelegenheit zur Flucht nicht. Ich hätte ins Ausland fliehen müssen, und es wäre schwerer gewesen, von dort aus die Wiederaufnahme des Prozesses in Fluss zu bringen. Auch hätte meine Flucht den Eindruck machen können, die persönliche Freiheit sei mir wichtiger gewesen als mein Kampf gegen das Fehlurteil, den zu führen ich für meine revolutionäre Pflicht hielt.
Es dauerte ein paar Minuten, ehe ich meine Begleiter wieder fand; der Kommissar und der Major hatten geglaubt, ich sei bei den Sipoleuten, und die wieder nahmen an, ich sei beim Major und beim Kommissar.
Der Major bat meinen Anwalt flehentlichst, von dieser Sache nichts in die Presse zu bringen, denn das würde ihn, den Major, die Stellung kosten. Der Anwalt war aber klug genug, sich von dem Beamten ausdrücklich bestätigen zu lassen, dass ich hier Gelegenheit hatte, zu entfliehen, und es doch unterließ.
Die Automobile waren früh von Magdeburg abgefahren und erreichten Breslau erst am nächsten Morgen gegen fünf Uhr. Die zweite Hälfte der Fahrt hatte also ununterbrochen nahezu vierundzwanzig Stunden gedauert. Dass das Reiseziel Breslau war, erfuhr ich erst kurz vor meiner Ankunft.
Ich war sehr erregt darüber, dass ich nicht, wie ich beantragt hatte, in ein Zuchthaus in der Nähe meiner Angehörigen überführt wurde, sondern nun noch viel weiter von ihnen entfernt war.

 

In der Irrenabteilung - Mein dritter Hungerstreik - Bücher und Gymnastik retten mich

Die größte Überraschung aber erwartete mich erst in der Anstalt selbst. Dort wurde mir mitgeteilt, dass ich in die Irrenabteilung der Strafanstalt gebracht werden sollte. Ich weigerte mich ganz entschieden, in die Irrenabteilung zu gehen. Die Beamten, die einen Konflikt mit mir in Gegenwart meines Anwaltes vermeiden wollten, wiesen mir eine Krankenzelle im Lazarett an. Nachdem ich mich von meinem Verteidiger verabschiedet hatte, legte ich mich ermüdet auf die Krankenpritsche. Einer der Beamten setzte sich dicht an mein Lager und ließ das Licht brennen. Ich beschwerte mich darüber und verlangte, dass das Licht ausgedreht werde, da ich bei Licht nicht schlafen könne, und dass er die Zelle verlasse. Er weigerte sich und erklärte, er habe den strikten Auftrag, nicht von meinem Lager zu weichen, um zu verhindern, dass ich einen Flucht- oder Selbstmordversuch mache.
Gegen neun Uhr vormittags - ich hatte bis dahin noch keinen Augenblick schlafen können- kam der Direktor der Anstalt und erklärte mir kurz und bündig, er habe die Anweisung erhalten, mich sofort in die Irrenabteilung zu schaffen. Ich protestierte dagegen und verlangte zu wissen, aus welchen Gründen ich in diese Abteilung gebracht werden sollte. Das könne doch nur den Zweck haben, mich dort verrückt zu machen. Der Direktor gab zur Antwort, er könne daran nichts ändern, das sei Sache des Arztes, die Anweisung sei mit von Münster gekommen. Nach dem Direktor kam der Anstaltsarzt, der, ohne mich vorher zu untersuchen, anordnete, mich sofort in die Irrenabteilung zu bringen. Meinen Protest dagegen tat er mit einem ironischen Lächeln ab. Als er dazu noch ein paar höhnische Bemerkungen machte, spuckte ich ihn an. Er gab den sechs herbeigeeilten Irrenwärtern einen Wink, sie packten mich, und einer presste mit eisernem Griff meine Hoden zusammen. Dann trugen sie mich in eine besonders für mich hergerichtete Isolierzelle der Irrenabteilung.
Diese Isolierzelle war ähnlich wie die Tobzelle in Münster. Ein ganz kleines Fenster, das ich nicht öffnen konnte, mit dickem, undurchsichtigem Glas, ferner schalldichte Doppeltüren, durch die kein Schreien, Stöhnen oder Wimmern nach außen dringen konnte. Kein Tisch, kein Stuhl, nur eine eiserne Pritsche.
Als Protest gegen meine Verschleppung in die Irrenabteilung trat ich sofort in den Hungerstreik, obwohl ich erst vor dem Abtransport von Münster fünf Tage im Hungerstreik gewesen war. Dort hatte ich die Erfahrung gemacht, dass es während eines Hungerstreiks unmöglich ist, ein Buch zu lesen, da die Buchstaben vor den Augen tanzen. Nur durch illustrierte Zeitschriften kann man sich eine Ablenkung und Zerstreuung verschaffen. Ich bat einen Beamten, mir ein illustriertes Heft oder Buch zu bringen. Er brachte aber ein Buch ohne Illustrationen. Ich wiederholte meine Bitte, mir ein Buch zu bringen, in dem Bilder sind. Ich wählte das Wort »Bilder«, weil ich glaubte, er verstehe das Wort »Illustrationen« nicht. Daraufhin schrieb der Beamte in den für den Arzt bestimmten Tagesbericht, Hoelz verlange ein Bilderbuch. Dieses Verlangen wurde als ein Zeichen von Geisteskrankheit angesehen.
Am folgenden Tag hörte ich von einem Wärter, dass die Gefangenen ihn fragten, ob ich der Max Hoelz sei. Seine Vorgesetzten hätten ihm aber verboten, das zuzugeben, und ihn beauftragt, den Gefangenen auf ihre Fragen zu erwidern, ich sei nicht Max Hoelz, es sei eben meine Krankheit, dass ich mir einbilde, Max Hoelz zu sein.
Um mich vom Hungerstreik abzubringen, verfiel die Behörde auf folgenden Trick: Aus Forst in der Lausitz bekam ich ein Telegramm mit der Unterschrift meines Schwagers, der, wie sich später herausstellte, von diesem Telegramm gar nichts gewusst und sich niemals in Forst aufgehalten hatte. In dem Telegramm stand, ich solle den Hungerstreik unbedingt sofort abbrechen, da meine Entlassung unmittelbar bevorstünde. Ich brach aber den Hungerstreik nicht ab, sondern verweigerte die Nahrung volle fünf Tage, bis meine Verteidiger kamen und mir versprachen, im Ministerium und in der breiten Öffentlichkeit gegen meine Festhaltung in einer Tobzelle zu protestieren.
Vor meinem Abtransport aus Münster hatte mir die Verwaltung erklärt, ich käme in eine sehr schöne, gesunde Gegend, wo ich viel frische Luft haben werde, und auf der Fahrt erzählten mir der Arzt, der Kriminalkommissar und der Polizeimajor dasselbe. Nun hatte man mich in ein Loch geworfen, das fast noch grausamer war als die Folterkammer in Münster. Der Direktor in Breslau hatte meinen Anwälten gesagt, die Anweisung, mich in die Irrenabteilung zu stecken, sei vom Ministerium ergangen; im Ministerium aber erklärte man, davon nichts zu wissen, der Direktor selbst habe das eigenmächtig angeordnet. Jeder lehnte die Verantwortung ab, einer schob es auf den anderen.
In der Tobzelle brannte die ganze Nacht grelles Gaslicht. An Schlafen war dabei gar nicht zu denken. Ich wälzte mich ruhelos auf der Pritsche herum. Die Zelle wurde fast gar nicht gelüftet. Die ersten Tage überhaupt nicht, in den letzten Wochen nur wenige Minuten am Tag. Durch diese Abschließung von frischer Luft, die mich härter traf und viel empfindlicher peinigte, als wenn man mir wochenlang das Essen entzogen hätte, bekam ich einen neuen Nervenzusammenbruch. Ich flehte den Arzt täglich unter Tränen an, er möge doch die Zelle etwas mehr lüften lassen, ich müsse in dieser entsetzlichen Luft ersticken. Außerdem bat ich, dass das Licht während der Nachtzeit wenigstens ein paar Stunden ausgelöscht werde. Der Arzt lehnte alles ab und erklärte, er könne es mit seinem ärztlichen Gewissen nicht verantworten, das Fenster etwa eine oder zwei Stunden zu öffnen, denn die Luft sei mir sehr schädlich, und er sei doch für meine Gesundheit verantwortlich. Das Licht aber müsse die ganze Nacht brennen, damit die Beamten immer sehen könnten, was ich tue. Zwei Monate musste ich in der Tobzelle der Irrenabteilung bleiben, und was ich dort hörte und sah, übertraf noch um vieles die Misshandlungen und Unmenschlichkeiten, die ich in Münster erlebt hatte. Dass ich in dieser verzweifelten Lage nicht wirklich verrückt wurde, lag daran, dass ich alle Reste meiner früheren Energie zusammenraffte und mit zäher Ausdauer jede Möglichkeit benutzte, um mich von dem Zermürbenden meiner Lage abzulenken.
Nach meinem ersten Nervenzusammenbruch in Münster hatte ich auf Anraten des Professors Többen mit der Zimmergymnastik, System Müller, begonnen. Többen kaufte mir das Buch, das die Übungen enthielt. Die ersten Versuche fielen mir sehr schwer, denn jede Drehung oder Beugung, die ich machte, bewirkte, dass ich zusammenbrach, weil sich alles vor meinen Augen drehte. Ich konnte anfangs kaum drei bis fünf Minuten Gymnastik treiben, aber ich ließ nicht nach. Nach einem Dreivierteljahr brachte ich es auf zwei Stunden täglich. Auch hatte ich - ebenfalls auf Anraten Többens - mit täglichen kalten Abreibungen des ganzen Körpers begonnen.
Hier in der Tobzelle der Irrenabteilung in Breslau setzte ich die Freiübungen und Kaltwaschungen fort. Die Wärter deuteten mir an, dass sie auch mein Turnen als ein Zeichen von geistiger Krankheit betrachteten. Da es physisch unmöglich war, den ganzen Tag und die ganze Nacht Gymnastik zu treiben, versuchte ich, einige wissenschaftliche Bücher in die Zelle zu bekommen, um durch ernstes Studium meine Gedanken von meiner Umgebung abzubringen. Die Direktion erklärte, wenn der Arzt zustimme, dann dürfe ich Bücher in die Zelle bekommen. Der Arzt lehnte ab, weil, wie er sagte, die Bücher meinen Zustand ungünstig beeinflussen würden. Erst nach wochenlangen Kämpfen mit ihm erreichte ich, dass mir das »Kapital« von Marx, Bebels drei Bände »Aus meinem Leben« und Bücher über Gewerkschaftsfragen ausgehändigt wurden. Es war das erste Mal, dass ich die Bekanntschaft mit dem »Kapital« machte. Das Werk war für mich sehr schwer zu lesen, obwohl ich durch den Kursus von Rühle schon eine Einführung in den Marxismus erhalten hatte. Ich las die Bände durch, ohne ihren tiefen Gehalt überhaupt begriffen zu haben. Auch beim zweiten Lesen erfasste ich noch nichts von der ungeheuren Bedeutung der Lebensarbeit jenes Mannes, der den Sozialismus aus einer gefühlsmäßigen Heilslehre zur Wissenschaft erhoben und damit der Arbeiterklasse die geistigen Waffen für ihren Befreiungskampf geliefert hat. Ich merkte, dass es mit dem einfachen Durchlesen nicht getan war, und versuchte nun, die einzelnen Abschnitte und Bände systematisch durchzuarbeiten. Ich machte mir Auszüge und stellte die Analyse, die Marx vom Kapital und der Arbeit gab, den praktischen Erfahrungen gegenüber, die ich vor meinem politischen Erwachen und während der Kämpfe seit 1918 gemacht hatte. Die ganze Nacht hindurch bis früh gegen drei Uhr saß ich auf meiner Pritsche und las. Ohne Bücher hätte die grelle Nachtbeleuchtung zu meinem geistigen Ruin geführt. Ich fand die wissenschaftliche Begründung einer Idee, die mich befähigte, die mir zuteil werdende Behandlung von einem höheren, einem überpersönlichen Gesichtspunkt aus zu begreifen. Das, was mir angetan wurde, richtete sich nicht so sehr gegen meine Person als vielmehr gegen die Klasse, der ich angehörte und die um ihre Befreiung kämpfte. Ich litt ja nicht als einziger oder einzelner, sondern mein Kampf und meine Leiden waren nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus dem unerbittlichen Klassenkampf.
Bei der Durcharbeitung der Bücher vergaß ich oft ganz, wo ich mich befand. Raum und Zeit entschwanden. Nur das Klirren und Rasseln der schweren Zellenschlüssel und Schlösser beim Aufschließen durch die Wärter rief mich von Zeit zu Zeit wieder in die Wirklichkeit zurück.
In diese raue Wirklichkeit zurück rief mich auch jeden Morgen der Kalfaktor, der in einem schmutzigen Papierbecher die übliche lauwarme Brühe mit dem dazugehörigen Stück Brot brachte. Es war ein früherer Fürsorgezögling, der wie alle anderen Insassen der Irrenabteilung hier untergebracht worden war, weil die Anstaltsverwaltung im Hauptgebäude, in dem die großen Zellenflügel lagen, nicht mit ihm fertig werden konnte. In der Irrenabteilung gab es viele und mannigfache Möglichkeiten, mit aufsässigen oder wirklich geisteskranken Gefangenen fertig zu werden. Wer durch die monatelange Absonderung in der Tobzelle nicht mürbe und widerstandslos wurde, den überantworteten die Wärter den Händen der Kalfaktoren, die für eine Rolle Kautabak die ihnen hilf- und wehrlos ausgelieferten Gefangenen so lange prügelten, bis sie ganz klein und fügsam wurden und jeden Widerstand als nutzlos aufgaben. Sie hatten eine ganz bestimmte Methode: Ein Wärter gab einem der vier besonders ausgewählten robusten und ganz rücksichtslosen Kalfaktoren eine Rolle Kautabak, ohne etwa zu sagen, er solle einen bestimmten Gefangenen prügeln. Ein Wink mit den Augen von Seiten des Wärters genügte vollkommen. Der Kalfaktor wusste, was er zu tun hatte, er setzte sich mit seinen Helfern in Verbindung, und wenn die Zelle des zu verprügelnden Gefangenen zum Kübelentleeren oder zum Suppenempfang aufgeschlossen wurde, verzog sich der Wärter. Sofort sprangen die vier auf den Gefangenen zu, einer presste ihm den Mund zu und die Gurgel zusammen, und die anderen schlugen so lange auf ihn los, bis sie glaubten, dass er fürs erste genug habe. Durch ihr Beiseitetreten konnten die Wärter bei einer eventuellen Beschwerde oder Anzeige von Seiten der Geprügelten unter ihrem Diensteid bekräftigen, dass sie von einer Misshandlung nichts gesehen hatten.
Half diese Abreibung nicht genügend, so wurde sie von Zeit zu Zeit mit wachsender Stärke wiederholt. Als einmal ein Wärter in der geöffneten Tür meiner Zelle stand, hörte ich in den Korridoren der Irrenabteilung ein durchdringendes Heulen und Hilferufen sowie laute, klatschende Schläge. Als ich kurz darauf für einige Minuten in den Hof geführt wurde, begegnete ich auf der Treppe einem Gefangenen, der über und über blutete und dessen Zähne eingeschlagen waren. Er gab mir durch Gebärden zu verstehen, dass ihn die Kalfaktoren so zugerichtet hatten. Und zwar war das im Auftrag der Wärter geschehen. Das bestätigte mir einer, der dafür bekannt war, dass er diese Art von Gefangenenmisshandlung scharf verurteilte.
Der Kalfaktor, der mir am Morgen die Kaffeebrühe und mittags die Suppe brachte, trug die »Speisen« so in der Hand, dass aus seiner fortwährend tropfenden Nase in regelmäßigen Zwischenräumen große Tropfen in die Kaffeebrühe oder die Suppe fielen. Gerade dieser Kalfaktor beteiligte sich immer an der Verprügelung seiner Mitgefangenen, und es war nicht ratsam, gegen ihn etwa Beschwerde einzureichen, durch die er um seinen Posten gekommen wäre. Mit aller Bestimmtheit hätte er noch vor seiner Ablösung mit seinen drei Kumpanen mir bedenkenlos sämtliche Zähne eingeschlagen.
Außer den Einzelzellen gab es in der Irrenabteilung noch drei oder vier Gemeinschaftszellen: Tagesräume und gemeinsame Schlafsäle. In den Schlafsälen kam es in den Nächten oft zu schweren Misshandlungen.
Die Beamten hatten ihre Vertrauensleute unter den Gefangenen. Die sorgten dafür, dass Gefangene, die sich missliebig bei den Beamten gemacht hatten, von ihren Mitgefangenen verprügelt wurden. Andere erhielten noch grausamere Strafen: Man band in der Nacht, während der Gefangene schlief, das eine Ende eines Bindfadens an sein Geschlechtsteil, das andere Ende an den Fuß der eisernen Schlafpritsche. War dies geschehen, dann brüllten zwei Gefangene plötzlich in die Stille der Nacht hinein: »Feuer!« Natürlich sprangen alle Gefangenen entsetzt von ihren Pritschen, um nach der verschlossenen Tür zu laufen.
Der Unglückliche, dessen Geschlechtsteile an die Pritsche gebunden waren, brach mit einem Aufschrei unter fürchterlichen Schmerzen zusammen.
Eine ganz alltägliche Strafe war es, missliebigen Gefangenen ihre Schlafdecke über den Kopf zu werfen und sie dann mit Pantoffeln, Besen und dergleichen zu verprügeln.
Beliebt war auch das Auf-den-Kopf-Stellen. Vier Gefangene fielen über einen anderen her, stellten seinen Kopf auf den Fußboden, hielten die Beine in die Luft und ließen ihn stundenlang in dieser Stellung, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Ging einer an den Misshandlungen zugrunde, so erzählten die Beamten und Gefangenen dem Arzt irgendein Märchen, wie der Gefangene Selbstmord begangen habe, und keiner der Gefangenen durfte es wagen, etwas anderes zu behaupten. Er wusste genau, welches Los ihm dann bevorstand. Und selbst, wenn er eine Anzeige machte, war das vollkommen zwecklos, denn ein Zuchthäusler, der einen Beamten wegen Misshandlungen anzeigte, wurde von der Direktion und von den Richtern immer als unglaubwürdig hingestellt. Noch dazu, wenn eine solche Anzeige von einem Gefangenen kam, der in einer Irrenabteilung untergebracht war.
Bei den Zuchthausverwaltungen hat sich mit der Zeit eine feste Regel herausgebildet. Wenn ein Gefangener des Öfteren über Aufseher, Inspektionsbeamte, über den Direktor oder den Arzt Beschwerde führt, wenn er mit dem Essen und anderen Einrichtungen der Anstalt unzufrieden ist und dies in Beschwerden an das Ministerium oder anderen Gefangenen gegenüber zum Ausdruck bringt, wenn er trotz Ermahnungen und Warnungen nicht von seinen Beschwerden ablässt, dann wird er zur Beobachtung seines Geisteszustandes in eine Irrenabteilung gebracht. Darüber kommen Vermerke in seine Akten. Nun ist er von vornherein als geistig minderwertig und unzurechnungsfähig abgestempelt und daher unglaubwürdig, denn welches Gericht und welche Behörde kann einem viertel- oder halbverrückten »Zuchthäusler« Glauben schenken. Diese Methode war in Münster auf mich angewandt worden. Während ich in einer Krankenzelle untergebracht war, führte mich die Verwaltung in ihren Büchern als »zur Beobachtung seines Geisteszustandes in der Irrenabteilung«.
Der Hauptwachtmeister des Lazaretts, ein sehr anständiger und alle Gefangenen menschlich behandelnder Mann, der leider später an Krebs starb, zeigte mir die Eintragung in meinen Krankenakten. Ich teilte meinem Verteidiger Justizrat Fraenkl mit, was ich daraus ersah, ohne natürlich zu schreiben, woher ich es wusste. Ich bat den Anwalt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit ein bekannter Psychiater nach Münster komme und mich auf meine psychische Verfassung hin untersuche, da der Direktor Scheidges mich als unzurechnungsfähig hinzustellen beliebe. Die wiederholten Anträge Fraenkls wurden abgelehnt; zum Glück ließ er sich dadurch nicht abhalten, immer neue Anträge zu stellen, und seinen unermüdlichen Vorstößen und seiner zähen Ausdauer danke ich es, dass ein von ihm vorgeschlagener Professor an der Universität Frankfurt nach Münster kam und mich dort einige Tage beobachtete. Er sandte darüber ein ausführliches Gutachten an das Ministerium, wodurch es dem Direktor in Münster unmöglich gemacht wurde, mich als verrückt hinzustellen.
Ich zitiere aus dem Gutachten dieses Psychiaters nur einige Zeilen:
»Bei dieser Unterhaltung tritt hervor, dass seine Gedankengänge in jeder Beziehung geordnet sind, dass er ausgesprochen ethische Vorstellungen, sowohl was die Familienbeziehungen betrifft wie auch das Verhältnis zur Gesamtheit, besitzt. Er ist beherrscht von der Idee der Menschheit. Seine Äußerungen sind einfach, ruhig und ohne viele Phrasen.«
Nun hatte die Behörde durch meine Überführung in die Irrenabteilung der Breslauer Strafanstalt einen zweiten Versuch gemacht, mich als geistig defekt hinzustellen. Die Direktoren und Ärzte wussten natürlich, dass ein geistig gesunder Mensch durch Unterbringung in einer Irrenabteilung tatsächlich psychisch defekt werden kann. Dass das der wirkliche Zweck der Überführung war, beweisen alle gegen mich angewandten Maßnahmen.
In einer der Tobzellen der Irrenabteilung lag auch ein junger jüdischer Kaufmann, der schwer krank war. Die Wärter suggerierten dem kranken Menschen, Hoelz habe veranlasst, dass er in die Tobzelle komme. Hoelz sei überhaupt schuld an allem Unglück, das ihn verfolge. Der Gefangene geriet dadurch in heftige Erregungszustände und begann zu toben. Darüber amüsierten sich Wärter und Kalfaktoren. Nach einer Weile stürzten die letzteren auf den tobenden Gefangenen, der nur ein zerrissenes, mit Kot beschmutztes Hemd anhatte, und traten ihm gegen die Schienbeine. An diesen Stellen hatte er große, klaffende Verletzungen. Der Gefangene fand in der Tobzelle seinen Tod. Als er starb, war ich bereits ins Hauptgebäude der Anstalt verlegt worden. Von dem kleinen Fensterchen meiner Zelle konnte ich den Eingang zur Leichenkammer sehen. Ich beobachtete eines Morgens, wie die Kalfaktoren, begleitet von einem Wärter, den Toten vollkommen nackt aus der Tobzelle in die Leichenkammer trugen. Ich sah, wie sie die auf die Sezierbank gelegte Leiche mit Fäusten und Gegenständen bearbeiteten. Wie toll schlugen sie auf das Gesicht des Toten ein. Ein Gefangener namens Hoffmann bezeugte mir, dass die Kalfaktoren mit Wissen einiger Wärter dem Toten das goldene Gebiss herausbrachen.
So unbeliebt der Arzt im Männergefängnis war, so beliebt war der des danebenliegenden Frauengefängnisses, der ersteren häufig vertrat. Wenn er über den Gefängnishof lief und Gefangene in der Freistunde waren, dann grüßten ihn alle spontan, und viele liefen ihm schnell nach, um seine Hand zu fassen. Jeder hatte das Bedürfnis, dem Arzt zu zeigen, wie dankbar er ihm war. Was sich irgendwie mit den Strafvollzugsbestimmungen vereinbaren ließ, tat er, um den Menschen, die sowieso schon hart gestraft waren, ihr Los nicht noch mehr zu erschweren. Auch die Wärter und die Beamten hatten ihn gern.
Ich führte lange Gespräche mit ihm. Er war ein gut bürgerlicher Mann, ganz ohne kommunistische oder sozialistische Ansicht, aber er hatte Verständnis für menschliche Nöte und ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
Damals las ich gerade - noch in der Tobzelle der Irrenabteilung- Korolenkos: »Geschichte meines Zeitgenossen«, ein Werk, zu dem Rosa Luxemburg ein wundervolles Vorwort geschrieben hat. Dieses Vorwort sowie die ganze Übersetzung des Buches hatte sie während ihrer Haftzeit in Breslau gemacht. Ihre Arbeit wirkte so stark auf mich, dass ich das Vorwort wochenlang fast täglich einmal las. Zu den Insassen der Irrenabteilung zählte auch ein ungefähr dreißigjähriger, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilter Gefangener. Er hatte als ganz junger Bursche einen Menschen umgebracht. Nahezu zehn Jahre hatte er von seiner lebenslänglichen Strafe schon verbüßt. Er war ruhig und bescheiden, war immer in Einzelhaft und beteiligte sich nie an den Zoten und Prügeleien der anderen Gefangenen. Als meine Angehörigen mich besuchten und mir beim Abschied eine Tafel Schokolade verstohlen in die Hand drückten, traf ich den Lebenslänglichen auf der Treppe und steckte ihm schnell die Schokolade zu. Er war so froh über dieses kleine Geschenk, dass er immer, wenn er mich irgendwo sah, über das ganze Gesicht strahlte.
Eines Tages, als ich ganz allein - beaufsichtigt von zwei Wärtern - im Hof der Irrenabteilung meinen dreißig Minuten langen Kreislauf machte, sah ich, wie der sonst so ruhige Gefangene in den Korridoren entlanglief und mit seinen Fäusten sämtliche Scheiben der Fenster zertrümmerte. Nachdem er Dutzende von Scheiben eingeschlagen hatte, packten ihn die Wärter - seine Hände waren vollkommen zerschnitten - und steckten ihn in die Tobzelle. Ich erfuhr dann, dass er diesen Exzess mit Absicht und Überlegung ausgeführt hatte, um dadurch zu erzwingen, dass er wieder ins Zuchthaus zurückgebracht werde, da er schon länger als ein Jahr in der Irrenabteilung war und befürchtete, unter den wirklichen Geisteskranken und unter den Simulierenden selbst verrückt zu werden. Die Einzelhaft im Zuchthaus erschien ihm nicht so grauenhaft wie der Aufenthalt in der Irrenanstalt. Durch dieses Scheibenzertrümmern, für das er streng bestraft wurde, erreichte er tatsächlich seine Rückverlegung ins Zuchthaus. Man hatte ihn vorher trotz seiner wiederholten Bitten nicht zurückgebracht, weil er der einzige gelernte
Schneider in der Irrenabteilung war und für die Beamten viele Reparaturen ausführte.
Manche Gefangene simulieren Geisteskrankheit, weil sie glauben, dadurch ihr schweres Los ändern oder zumindest erleichtern zu können. Dass sie sich in dieser Annahme sehr irren, merken sie immer erst, wenn es zu spät ist. Gelingt es ihnen - was selten vorkommt - den Arzt zu täuschen, dann kommen sie auf fünf Jahre oder noch länger in eine Landesirrenanstalt, in der es ihnen nicht besser, sondern oft noch schlechter als im Zuchthaus geht. Der Aufenthalt in der Landesirrenanstalt wird ihnen nicht etwa auf die Strafe angerechnet, sondern wenn sie als geheilt entlassen werden, müssen sie immer wieder in das Zuchthaus zurück und ihre volle Strafe absitzen. Ich habe mehrere Gefangene kennen gelernt, die zu drei oder zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden waren und die acht bis zehn Jahre in einer Landesirrenanstalt zubrachten. Am entsetzlichsten aber ist das Los derjenigen Gefangenen, die Geisteskrankheiten simulieren, und zwar so ernsthaft und glaubhaft simulieren, dass sie nach Monaten infolge ihrer Simulation wirklich geisteskrank werden.

 

Missglückter Befreiungsversuch

Kurz vor Weihnachten 1923 wurde ich aus der Irrenabteilung in den Hauptbau der Anstalt verlegt.
Mir wurde eine Zelle mit Steinfußboden zugewiesen. Durch den Aufenthalt in der Tobzelle in Münster hatte ich mir Rheumatismus zugezogen, und sehr bald spürte ich, dass er sich durch den Steinfußboden in der Zelle erheblich verschlechterte. Ein Jahr lang musste ich darum kämpfen, dass der Fußboden mit Holz belegt wurde. In der Zwischenzeit aber hatte sich die Krankheit im Körper verbreitet, und ich konnte monatelang meine Gymnastik nicht durchführen. Die Gelenke waren so steif, dass ich tage- und wochenlang auf der Pritsche liegen bleiben musste, zitternd vor Kälte. Die Zellen hätten im Winter wenigstens geheizt sein müssen. Aber die Heizung, die erst um neun Uhr warm wurde, war schon um ein Uhr mittags wieder abgestellt. Bis nachts zwölf Uhr saß ich in der eiskalten Zelle über meinen Büchern, da ich wegen der grellen Nachtbeleuchtung nicht einschlafen konnte.
Vor den Zellenfenstern waren außerhalb der Gitter besondere Blenden angebracht, die verhinderten, dass selbst bei geöffnetem Fenster auch nur annähernd genügend Luft in die Zelle kam, und die den Gefangenen auch nicht das kleinste Stück Himmel sehen ließen.
Auf den Blenden, die aus zentimeterstarkem, grauem gerippten Glas bestanden, hatten sich seit Jahren Staub und Dreck festgesetzt, da sie weder von außen noch von innen gereinigt werden konnten. Kein Sonnenstrahl drang durch sie in die Zelle. Das einfallende Tageslicht war von fahler Tönung, so dass dem Gefangenen die Zelle wie eine Totenkammer erschien.
Schon die Zelle in Münster hatte auf mich einen totengruftähnlichen Eindruck gemacht, aber die Zellen hier in Breslau waren noch um vieles trister und niederdrückender. Die kahlen Wände waren weiß gekalkt, der Steinfußboden war mit einer Mischung von Öl und Russ geschwärzt und stank unbeschreiblich. Dazu kam das düstere Licht. Der jahrelang in diesem Loch vegetierende Gefangene verfällt hoffnungsloser Verzweiflung.
Die Blenden waren erst einige Jahre zuvor angebracht worden, weil ein paar Gefangene an Sonntagen, an denen die Ausflügler auf der an der Anstalt vorbeiführenden Straße ins Freie pilgerten, ihre Geschlechtsteile durch die Fensterluken den Passanten gezeigt und dabei Zoten gemacht hatten. Weil zwei oder drei Gefangene ihre durch jahrelange Haft vergewaltigten Sexualgefühle auf diese ungewöhnliche Weise abzureagieren versucht hatten, mussten nun siebenhundert ganz unbeteiligte Gefangene jahraus, jahrein dafür büßen und auf jeden Sonnenstrahl, jeden Hauch frischer Luft und den Anblick des Himmels verzichten. Sogar an den Zellenfenstern, die nicht nach der Straße gingen, waren die Blenden angebracht worden.
Wiederholt versuchte ich durch Eingaben an die Behörden zu erreichen, dass die Blenden entfernt würden. Der Präsident des Strafvollzugsamts, Dr. Egon Humann, der den Ruf eines aufrichtigen Förderers humanerer Gefangenenbehandlung genoss, sah ein, dass die Blenden abgeschafft werden mussten; trotzdem verschwanden sie nicht. Sollten diese Blenden heute noch die Anstalt in Breslau
»zieren«, so wäre es Pflicht der gesamten Öffentlichkeit, ihre Entfernung zu verlangen.
Im Breslauer Gefängnis gab es außer mir noch 15 bis 20 kommunistische Gefangene, die wegen der Oktoberkämpfe 1923 oder im Zusammenhang mit dem Parteiverbot in Untersuchungshaft saßen. Im Januar 1924 erfuhren die Genossen und ich vom Tod Lenins. Am Tage seiner Beisetzung verweigerten wir kommunistischen Gefangenen die Nahrungsaufnahme, um unserer Trauer und unserer Ungebrochenheit Ausdruck zu verleihen.
Während meines Aufenthaltes in der Irrenabteilung war ich von der Außenwelt so abgeschlossen gewesen, dass ich die politische und wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr hatte verfolgen können. In der Hauptanstalt erfuhr ich, dass ein ungeheurer Umschwung eingetreten war. Die Inflation hatte viele Reiche zu Armen gemacht, und den kleinen Beamten hatte sie ihre ganzen Sparpfennige geraubt. Selbst Menschen wie die Aufseher, die sich sonst nie um Politik und Parteien gekümmert hatten, schimpften jetzt über die unhaltbaren Zustände und das herrschende System. Früher hatten die Beamten kaum gewagt, sich mit mir zu unterhalten; jetzt sagten sie ganz offen, dass sie eine Erhebung von links begrüßen würden und sich nicht nur passiv dabei verhalten, sondern aktiv helfen würden.
Soviel ich aus der bürgerlichen Presse ersehen konnte - kommunistische Zeitungen durfte ich nicht lesen -, herrschte unter den Arbeitern eine ausgesprochen revolutionäre Stimmung, und ich hatte den Eindruck, dass das Bürgertum und die Regierung sowohl mit einer Erhebung von links als auch von rechts rechneten. In diesen aufgeregten Tagen wurde mir von meinen Freunden durch Kassiber mitgeteilt, ich müsse aus der Anstalt entfliehen, weil man mich jetzt unbedingt draußen brauche und weil meine Befreiung zugleich wie ein Fanal auf die Aktivität der revolutionären Arbeiter wirken würde. Meine Antwort war ein Befreiungsplan, der mit Hilfe meiner Freunde von außen durchgeführt werden sollte. Ich legte eine genaue Zeichnung der Anstalt mit allen Türen, Toren, Telefonapparaten und Zellen bei und schmuggelte das Ganze aus der Anstalt. In Kassibern erläuterte ich meinen Freunden den gut ausgearbeiteten und alle Eventualitäten vorsehenden Befreiungsplan.
Die Ausführung des Vorhabens schien gut zu klappen. Sechs Genossen aus dem Vogtlande und Berlin kamen nach Breslau, nahmen am Bahnhof eine Autodroschke, in der sie vor der Strafanstalt vorfuhren. Zwei der Genossen wiesen sich an der Eingangspforte bei dem Pförtner als Gefängnisaufseher in Zivil aus und erklärten, dass sie mit einem Gefangenentransport aus Görlitz kämen.
Der Pförtner ließ die vermeintlichen Kollegen in sein Stübchen treten, um dort die Ablieferungspapiere über die angeblichen Gefangenen zu übernehmen. Im selben Augenblick entrissen ihm die Genossen die Schlüssel, stellten ihn mit dem Gesicht an die Wand und erklärten, wenn er einen Laut von sich gebe, sei er ein toter Mann.
Da er Pistolen in ihren Händen blitzen sah, glaubte er an den Ernst dieser Drohung und hielt es für ratsam, sich still zu verhalten. Zwei Mann blieben mit Pistolen bei dem Beamten, die anderen stürmten in das Innere der Strafanstalt. Ich hatte den Plan so ausgearbeitet, dass ich gerade um diese Zeit meine Runde im Hofe machte. Ich hörte das Eindringen der Genossen, sie waren nur noch etwa vier Schritt von mir entfernt. Es trennte uns nur eine Hoftür, von der sie bereits den Schlüssel hatten.
Plötzlich aber machten sie kehrt und verließen in wilder Hast die Anstalt, obwohl kein Mensch ihnen Widerstand entgegengesetzt hatte.
Dieser Befreiungsversuch am helllichten Tage erregte viel Aufsehen; er war gut arrangiert: Keiner der Beteiligten wurde je verhaftet.
Ich konnte mir nicht erklären, warum die- Genossen plötzlich umgekehrt waren. Erst nach meiner Freilassung erfuhr ich, dass einer der Genossen im letzten Augenblick eine falsche Parole ausgegeben hatte.
Ich wusste, dass die Befreiung glücken musste, wenn sie genau so ausgeführt wurde, wie ich das in allen Einzelheiten angegeben hatte. Deshalb drückte mich ihr Misslingen sehr nieder. Zudem wurde meine Bewachung nach dem Scheitern der Befreiungsaktion so scharf, dass ich es kaum noch ertragen konnte. Tag und Nacht standen besonders ausgewählte Beamte zu meiner Bewachung bereit. Für alle anderen Zellen gab es einen Einheitsschlüssel, für meine Zelle wurde aber ein besonderer
Schlüssel angefertigt. Ich durfte mit keinem anderen Gefangenen zusammenkommen. In den Freistunden musste ich ganz allein im Kreise herumlaufen.
Die Einzelhaft erzeugt in allen Gefangenen eine übersteigerte Empfindlichkeit. Ich spürte an mir selber und merkte später auch an anderen Gefangenen, wie verheerend lange Einzelhaft und die damit verbundene sexuelle Enthaltsamkeit auf Menschen wirkt. Der Gefangene in Einzelhaft ist ganz und gar auf sich selbst angewiesen. Wohl gibt es in den Bestimmungen des »modernen Strafvollzugs« einen Hinweis, dass die Beamten nach Möglichkeit mit den Gefangenen sprechen sollen, um sie von trüben Gedanken abzulenken und sie näher kennen zu lernen. Das steht jedoch nur auf dem Papier, denn es ist den Beamten bei dem Mangel an Kräften, bei ihrer Dienstüberbürdung überhaupt nicht möglich, sich auch nur ein paar Minuten lang mit einem Gefangenen zu unterhalten. Meistens muss der Stationsbeamte noch ein oder zwei, oft auch drei Stationen mit übernehmen, z. B. nach der Mittagsablösung. Ich habe ausgerechnet, dass an manchen Tagen ein einziger Beamter 160 Zellen insgesamt mehr als 1400mal auf- und zuschließen muss. Dazwischen läuft er treppauf und treppab und hat Dutzende Gefangene den einzelnen Inspektionsbeamten und dem Direktor vorzuführen, Meldungen zu schreiben und Eintragungen in Bücher zu machen.
Aber auch, wenn die Beamten nicht in dem Maße, wie es meistens der Fall ist, überlastet sind, hüten sie sich, mit Gefangenen Gespräche zu führen. Sie haben Angst vor den Vorgesetzten.
Den Beamten in Breslau war es strengstens verboten, mit mir zu sprechen. Ein paar hielten sich nicht an dieses Verbot. Sie sprachen hin und wieder verstohlen mit mir, sehr besorgt, dabei nicht von anderen Gefangenen oder Beamten beobachtet zu werden.
Eines Tages sah der Direktor Vaupel, als ich zu einer Besprechung vorgeführt wurde, dass zwei Beamte mit mir sprachen. Ich hatte die beiden Beamten nur gefragt, wie lange ich denn noch vor der Tür des Direktors warten müsse, und sie wollten mir eben die Frage beantworten, als der Direktor mit vor Erregung rotem Kopf aus seinem Zimmer herausstürzte und mit überschnappender Stimme nach dem Hauptwachtmeister schrie. Als der erschien, rief der Direktor: »Herr Hauptwachtmeister, Herr Hauptwachtmeister, es ist unerhört, die Beamten sprechen mit Hoelz!« Dann lief Vaupel auf die beiden Beamten zu, wies mit Fingern auf sie und brüllte sie an: »Gehen Sie sofort nach Hause, Sie sind unzuverlässig, ich kann Sie nicht gebrauchen!«
Aber nicht nur mit mir, sondern auch mit vielen anderen Gefangenen durften die Beamten nicht sprechen; taten sie es dennoch, so machten sie sich nicht nur bei der Direktion, sondern auch bei den anderen Beamten missliebig.

 

Qualen der Einsamkeit und ihre Folgen

Die älteren Beamten, die schon unter der Monarchie Aufseher waren, sind fast alle wortkarg und verknöchert. Ihnen sitzt noch das absolute Sprechverbot, wie es unter der Monarchie in den Anstalten herrschte, in den Knochen. Es geschieht oft, dass ein Gefangener selbst auf eine rein sachliche Frage keine Antwort erhält.
Eine in solcher Form durchgeführte Einzelhaft zwingt den Gefangenen, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen.
Er denkt nur an seine Lage, an sein Leben und seine Entbehrungen, an seine Wünsche und Hoffnungen. Die Monotonie der Zuchthausarbeit bedeutet für ihn keine Ablenkung und Zerstreuung.
Die Bücher der Anstaltsbibliothek sind ganz selten geeignet, dem Gefangenen geistige Anregung und Ablenkung zu bieten. Aus der Bücherei des Zuchthauses Münster z. B. erhielt ich im Laufe von vierzehn Monaten nicht ein einziges Buch, aus dem ein Mensch etwas hätte lernen können, kein Buch, das auch nur irgendwie interessant und unterhaltend gewesen wäre. In Breslau gab es fast nur Romane, darunter nur wenige gute. Die armselige Bibliothek des Zuchthauses Groß-Strehlitz erhielt während der Jahre meines Aufenthalts nur 20 neue Bücher (für 600 bis 700 Gefangene), darunter allerdings ein paar wertvolle Werke, die aber kaum in die Hände der Gefangenen kamen, da sie erst die Runde unter den Beamten machten.
Zeitungen erhielten die wenigsten Gefangenen. In den Zuchthäusern Münster, Groß-Strehlitz und Sonnenburg und ebenso im Gefängnis Breslau, die für je 600 bis 700 Gefangene eingerichtet sind, bekamen nur 20 bis 30 Gefangene Zeitungen. Es ist streng verboten, dass ein Gefangener seine Zeitung an einen anderen Gefangenen weitergibt. Im allgemeinen dürfen nur solche Gefangene sich Zeitungen halten, die so viel Arbeitsverdienst haben, dass sie davon ihre Zeitungen bezahlen können. Der durchschnittliche Arbeitsverdienst eines Gefangenen beträgt im Monat 1,92 Mark. Davon darf nur die Hälfte für den Gefangenen verwendet werden. Für 96 Pfennige im Monat aber wird heute keine Tageszeitung geliefert. Und außerdem müssen ja davon auch das Briefporto für den Gefangenen bestritten werden und andere Dinge, wie Zahnputzmittel, Seife u. a. Die wenigen Zeitungen aber, die in die Anstalt gelangen, sind einer doppelten und dreifachen Zensur unterworfen, die für die Gefangenen eine Kette von Aufregungen bedeutet. Kommunistische Zeitungen dürfen, wie schon erwähnt, nicht gelesen werden. Aber auch die bürgerlichen Zeitungen, wie Zentrumsblätter, demokratische Blätter, gelangen in den Zuchthäusern nur verstümmelt in die Hände ihrer Bezieher. In Breslau und Münster wurden von der Direktion oder von den Geistlichen einfach große Stücke herausgeschnitten. In Sonnenburg wurden halbe oder ganze Seiten einfach geschwärzt und dadurch unleserlich gemacht, darunter auch die Berliner Illustrierte Zeitung. Selbst die gedruckten Berichte über die Reichstags- und Landtagssitzungen wurden mir und anderen Gefangenen vorenthalten oder nur verstümmelt und geschwärzt ausgehändigt.
In einigen preußischen Anstalten wird für wenige Pfennige eine in einem Zuchthause (zur Zeit im Zuchthaus Wohlau) gedruckte Wochenzeitung an die Gefangenen geliefert: »Der Leuchtturm«. Ihr Inhalt ist nur ein magerer Ersatz für das, was man unter Zeitung versteht. Es wird darin viel vom »lieben Gott«, von Sünde und Schuld und »verdienter Strafe« geschrieben. Anpassungsfähige Gefangene laden in dieser Zeitung selbstgemachte sentimentale Gedichte ab, in denen sie die Zuchthausdirektoren und Geistlichen schwülstig verherrlichen.
Nur um nach Erledigung des verhassten Arbeitspensums irgendeine Beschäftigung zu haben, verfällt ein Teil der Gefangenen auf die sonderbarsten Einfälle. In Groß-Strehlitz - wohin ich nach Breslau kam - war es vielen Gefangenen gestattet, sich von ihren Angehörigen ein Musikinstrument bringen zu lassen. Sie durften an den Sonntagen darauf spielen. In Münster, Breslau und Sonnenburg war das aber nicht gestattet.
In Sonnenburg befand sich ein Gefangener, der die trostlose Einsamkeit der Zellenhaft dadurch zu bannen suchte, dass er sich aus Holzabfällen, die er in der Freistunde im Hof verstohlen aufgelesen hatte, eine kleine Geige zimmerte und darauf mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit spielte. Der Aufseher nahm ihm aber die mit vieler Geduld und Mühe selbstverfertigte Geige weg und vernichtete sie. Und sooft es dem Gefangenen auch gelang, sich aus neu zusammengesuchten Abfällen wieder ein Instrument herzustellen (meines Wissens mehr als zehnmal), immer wieder nahm der Aufseher es bei der Zellenrevision weg.
In Breslau hatte sich der Gefangene Teindl, von Beruf Klempner, aus altem Zeitungspapier ein Schachbrett und Schachfiguren angefertigt. Er war eine Art Landstreicherphilosoph, der in sein Tagebuch kleine Aufsätze über ernste Probleme schrieb; ein ruhiger und bescheidener Mensch, der den Beamten nicht viel zu schaffen machte. Aber sein selbstverfertigtes Schachbrett erregte doch den Unwillen eines Aufsehers, der das Schachbrett nahm und vor den Augen des Gefangenen zerriss. Darüber geriet Teindl, ein sonst nicht aus der Ruhe zu bringender Mensch, in starke Erregung und ließ sich hinreißen, dem Aufseher ein paar heftige Worte zu sagen. Nun wurde er obendrein noch vom Aufseher wegen ungebührlichen Benehmens angezeigt und am nächsten Tag dem Direktor zur Bestrafung vorgeführt. Der Direktor war noch vor wenigen Monaten katholischer Geistlicher in einer anderen Anstalt gewesen und verfügte nicht über die geringste Befähigung, Gefangene zu behandeln. Er schrie den um sein Schachbrett gebrachten Übeltäter an: »Wie können Sie es wagen, sich dem Beamten gegenüber ungebührlich zu benehmen? Ich bestrafe Sie dafür mit sieben Tagen Arrest!« Da erwiderte ihm der Landstreicher: »Du kannst mich siebenmal am Arsch lecken.« Der Direktor, wütend über diese Frechheit und mit keinerlei Humor beschwert, donnerte ihn an: »Jetzt bestrafe ich Sie mit vierzehn Tagen Arrest.« Da war die Antwort. »Du kannst mich vierzehnmal am Arsch lecken!« Darauf brüllte der Direktor fuchsteufelswild: »Herr Hauptwachtmeister, den Mann bestrafe ich mit vier Wochen Arrest!« (Das war das höchste Strafmaß.) Nun rief der gefangene Philosoph: »Du kannst mich vier Wochen lang am Arsch lecken!« Die Szene wegen des vernichteten Schachspiels endete damit, dass der Direktor den Gefangenen aus dem Zimmer hinauswerfen ließ.
Ein anderer Gefangener, seines Zeichens Zuckerbäcker, versuchte auf folgende originelle Weise, ein wenig Abwechslung in sein freudloses Kerkerdasein zu bringen. Er wusste, dass der vom katholischen Geistlichen zum Zuchthausdirektor avancierte Mann sehr fromm war und großen Wert darauf legte, dass ein Gefangener seine Religiosität möglichst sichtbar bekundete. Also verschaffte sich der Zuckerbäcker vier Rosenkränze; einen hängte er über seine Schlafpritsche, den anderen über den winzigen Zellentisch, den dritten um den Hals, den vierten wickelte er sich andachtsvoll um die Hände. Sooft der Direktor die Zelle betrat, ließ der Gefangene mit. tiefernster, trauriger Miene die Perlen des Rosenkranzes von der einen Hand in die andere gleiten. Die Anschaffung der Rosenkränze war die strategische Vorbereitung für weitergehende Versuche.
Eines Tages fragte der Zuckerbäcker den mit mir in die Hofstunde gehenden Gefangenen, ob der Direktor auf Tränen reagiere. Ja, er solle ihm nur etwas vorweinen, dann erreiche er bei ihm alles, war die Antwort.
Am nächsten Tag ließ sich der eifrige Rosenkranzbeter frühzeitig beim Direktor melden. Als man ihn in die Direktion führte, wankte er tränen­überströmt, mit in den Rosenkranz verkrampften Händen, in das Zimmer und jammerte zum Steinerweichen: »Herr Direktor, meiner Seele Seligkeit hängt davon ab, dass ich nur auf eine halbe Stunde mal zu meiner Frau kann. Ich habe in dieser Nacht einen furchtbaren Traum gehabt und kann meine Seelenruhe nicht wieder finden, bevor ich nicht meine Frau gesehen habe.« Der Direktor, erschüttert von dieser Szene, antwortete: »Jaja, jaja, gehen Sie 'raus, Sie dürfen heute noch zu Ihrer Frau.« Zwei Stunden später ging der Gefangene strahlend - in Begleitung eines Beamten - zu seiner in der Stadt wohnenden Frau. Der Beamte lieferte den ungewöhnlich dicken Zuckerbäcker vorschriftsmäßig und rechtzeitig in der Anstalt wieder ab. Aber beim nächsten Ausgang - der gerissene Bursche wiederholte mit Erfolg die tränenreichen Besuche beim Direktor - entwischte er dem Aufseher und wurde nie mehr gesehen.
Nicht alle Gefangenen konnten auf diese oder andere Weise die graue Eintönigkeit ihrer Einzelhaft abkürzen. Die furchtbaren Wirkungen jahrelanger Zellenhaft spürten die Gefangenen, die in den fünf, zehn oder fünfzehn Jahren ihrer Haft nicht einen einzigen Besuch empfingen, weil sich ihre Angehörigen von ihnen losgesagt hatten oder weil sie so arm waren, dass sie die hohen Kosten einer tagelangen Reise nicht aufbringen konnten. Die wenigen Gefangenen aber, die das Glück hatten, jedes Vierteljahr oder jedes Jahr einmal von ihren Angehörigen besucht zu werden, erlebten daran keine reine Freude.
Menschen außerhalb der Zuchthausmauern können sich nicht vorstellen, was für eine Folter der Seele und der Nerven es für den Gefangenen bedeutet, mit seinen Angehörigen nur unter Aufsicht von Aufsehern oder Irrenwärtern sprechen zu können. In Breslau durften die Gefangenen gewöhnlich 10 bis 20 Minuten mit ihren Angehörigen sprechen. Aber es geschah sehr oft, dass diese Sprechzeit noch verkürzt wurde, es kam oft vor, dass nicht genügend Beamte zur Beaufsichtigung von Besuchen vorhanden waren, dann wurden die Sprechzeiten auf fünf Minuten und noch weniger verkürzt.
Man muss sich vorstellen, was es heißt, eine Reise von Hannover oder von Berlin nach Breslau zu machen, eine Reise, die hin und zurück nahezu hundert Mark kostet, um dann knapp ein paar Minuten mit einem Menschen zu sprechen, den man monate- oder jahrelang nicht gesehen hat. Und selbst diese kurze Spanne Zeit nicht ohne Aufsicht, sondern in Gegenwart von einem, oft zwei bis drei Beamten, die auf jedes Wort achten, jeden zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen gewechselten Blick oder Händedruck kontrollieren und beargwöhnen.
Fast jeder Gefangene, der den angekündigten Besuch seiner Angehörigen erwartet, befindet sich in den Stunden und Tagen vor ihrer Ankunft in einer unbeschreiblichen Spannung. Hunderte von Fragen fallen ihm ein, und je näher die Besuchsstunde rückt, um so aufgeregter wird er. Steht er dann endlich im Besuchszimmer, von seinen Angehörigen durch eine breite Holzbarriere getrennt, dann bringt er vor innerer Erregung fast kein Wort über die Lippen.
Noch ehe er richtig zur Besinnung kommt, ist die Besuchszeit abgelaufen, kaum ein Gruß getauscht, kaum ein Wort gewechselt und von all den vielen Fragen nicht eine beantwortet. Nur in den allerseltensten Fällen wird Sprecherlaubnis für eine halbe oder ganze Stunde erteilt, aber auch dann bildet die Gegenwart der Beamten eine so starke Hemmung, sowohl für den Gefangenen als auch für den Angehörigen, dass an eine offene, alle Sorgen und Familienangelegenheiten behandelnde Aussprache nicht zu denken ist. Unter solchen Umständen muss eine Entfremdung zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen eintreten. Ehen, Freundschaften, Familienbeziehungen - der letzte Halt, der den Gefangenen während und nach Ablauf der Strafe an die Gesellschaft bindet -werden zerrüttet und zerstört. Das wissen alle Zuchthausdirektoren und Aufseher sehr gut.
Ich sah viele Gefangene, die tagelang vor und nach solchen Besuchen ganz kopflos waren und sich mit Selbstmordgedanken oder Fluchtplänen trugen. Hinzu kommt noch, dass manche Beamte die internen Familienangelegenheiten, die zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen besprochen werden, nicht für sich behalten, sondern weitererzählen. Ich selbst habe bei meinen Besuchen in Breslau erlebt, dass Aufsichtsbeamte die zwischen mir und meiner Frau besprochene Ehescheidungsangelegenheit in der ganzen Anstalt erzählten. Meine Frau hatte sich damals - überzeugt, dass ich nie mehr in die Freiheit zurückkehren werde - einem andern Menschen angeschlossen. Wir ließen uns daher im Oktober 1923 scheiden.
Ein Gefangener namens Plamp, der in Sonnenburg auf meiner Station Kalfaktor war, erzählte mir und belegte es mit den Prozessakten, dass ein Aufseher, der bei den Besuchen der Frau des Gefangenen in der Anstalt zugegen war, sich an die Frau herangemacht und unter der Vorspiegelung, er könne etwas für ihren Mann tun, bei ihr erreicht hatte, dass sie sich ihm hingab. Der Gefangene, der davon Wind bekam, brach eines Nachts aus der Anstalt aus, um den Aufseher bei seiner Frau zu überraschen. Durch diesen Ausbruch holte sich Plamp noch ein paar Jahre Zuchthaus hinzu. Der Beamte wurde zwar später von dieser Anstalt versetzt, aber die Ehe war zertrümmert.
Alle Verbesserungen des modernen Strafvollzugs und alle Erleichterungen, die den Gefangenen gewährt werden, können nie und nimmer verhindern, dass der Gefangene durch jahrelange Haft körperlichen und geistigen Schaden nimmt. Vor allem, solange es dem Gefangenen nicht ermöglicht wird, mit seinen Angehörigen, besonders mit seiner Frau, bei den Besuchen ohne Aufsicht zu sein.
Die physischen und psychischen Verheerungen, die als Folge erzwungener sexueller Enthaltsamkeit unter den Gefangenen auftreten, sind allen verantwortlichen Stellen genau bekannt.
Die Gefangenen verfallen auf die sonderbarsten Einfälle, um sich abzureagieren. Einer schickte an seine Frau einen Kassiber und bat, dass sie ihm Haare von ihrem Geschlechtsteil bei ihrem nächsten Besuch heimlich zustecken solle. Die Frau konnte ihn in den nächsten sechs Monaten nicht besuchen, weil ihr das Reisegeld fehlte. Sie beging die Unvorsichtigkeit, ihrem Mann das Gewünschte in einem Brief zu schicken, der die Zensur passierte. Der Anstaltsgeistliche, durch dessen Hände alle Briefe an die Gefangenen gingen, war entsetzt, als er den merkwürdigen Inhalt und das dazugehörige Begleitschreiben fand. Er ließ sich den Gefangenen vorführen und hielt ihm eine stundenlange empörte Moralpauke. Außerdem sorgte der Geistliche dafür, dass der Gefangene wegen »Unsittlichkeit« mit Arrest bestraft wurde und für lange Zeit keinen Besuch und keine Briefe bekam.
Sehr beliebt und begehrt waren die von einigen Gefangenen mit seltener Kunstfertigkeit aus Räucherspeck und Haaren nachgeahmten weiblichen Geschlechtsteile. Sie fanden reißenden Absatz und wurden hoch bezahlt: mit Seife, Kautabak, Lebensmitteln oder Zahnpasta.
Ein schwerkranker Gefangener gab monatelang den ihm vom Arzt verordneten halben Liter Milch und die 30 Gramm Fettzulage an einen in der Anstaltsbäckerei beschäftigten Gefangenen ab, damit er ihm aus Teig ein weibliches Geschlechtsteil mit Unterleib und Schenkeln anfertige. Das Produkt war ein kleines Meisterwerk und fand ungeteilte Bewunderung und Anerkennung. Das für diese Zwecke verwendete Mehl wurde den Brotrationen für die Gefangenen abgezwackt.
Nicht wenige Gefangene machten sich aus zusammengelesenen Kleiderfetzen Miniaturfrauen, die sie mit aus zusammengebettelten Taschentüchern und anderen Stoffen hergestellten Höschen schmückten.
Mit den Speck-, Teig- und Stofffrauen bzw. Geschlechtsteilen befriedigten die Gefangenen in den langen schlaflosen Zuchthausnächten ihre misshandelten und doch so natürlichen Triebe.
Mein Begleiter in der Hofstunde, ein ganz junger Mensch, gestand mir, sein höchster Genuss sei, sich nachts eine Fliege, deren Flügel er abreiße, in seine Harnröhre zu pressen.
Der junge Mensch, der mit siebzehn Jahren wegen Fahnenflucht, Landesverrat und Entwendung eines Maschinengewehrs zu neun Jahren verurteilt worden war - er hatte bereits fünf Jahre verbüßt -, litt schwer unter der erzwungenen sexuellen Enthaltsamkeit. Alles, was ihm über geschlechtliche Perversitäten erzählt wurde, nahm er begierig auf und wollte, wie er sagte, alle diese Kunststücke nach seiner Freilassung ausprobieren. Durch täglich fünf- bis sechsmaliges Onanieren war er sehr heruntergekommen, war kaum noch ein Schatten seiner selbst.
Mit guten Ratschlägen und Ermahnungen war dem armen Teufel nicht zu helfen.
Ich erzählte ihm, wie ich nach langen qualvollen Kämpfen vom Onanieren losgekommen sei und es jetzt nur noch in monatelangen Zwischenräumen täte, damit die Drüsen nicht verdorrten und die Geschlechtsorgane ihre Funktionen nicht ganz einstellten.
Mir war bekannt, dass Gefangene infolge jahrelanger gewaltsamer Enthaltsamkeit absolut impotent geworden waren.
Ich gab meinem jungen Begleiter das Buch »Mein System« (Gymnastik von Müller) und bat ihn, das zu versuchen, was mir geholfen hatte, meine Sexualität zu regulieren. Der Lazaretthauptwachtmeister und der Arzt prophezeiten ihm, dass er sich bestimmt noch totonanieren werde. Ich sagte dem Beamten, er möge sich seine Vorwürfe sparen und lieber dafür eintreten, dass den Gefangenen durch den Strafvollzug nicht die ganze Mannbarkeit zerstört wird.
Ich selbst litt kaum weniger als die anderen Gefangenen unter der erzwungenen Askese. Der ganze Körper glühte wie höllisches Feuer im Verlangen nach einer Frau. Um nicht verrückt zu werden in dieser sehnsüchtigen Qual, sprang ich oft des Nachts um ein, zwei oder drei Uhr von der Pritsche und goss einen fünf Liter fassenden Steinkrug mit eiskaltem Wasser über meinen Körper. Dann rieb ich mich trocken, wischte den Fußboden auf und machte anschließend zwei bis drei Stunden lang gymnastische Übungen.
Ein Kapitel für sich ist die in den Zuchthäusern stark verbreitete Homosexualität.
Gerade durch lange Einzelhaft, aber auch durch die Gemeinschaftshaft in den Zuchthäusern wird die bei vielen Männern vielleicht latent gewesene Gleichgeschlechtlichkeit in den Vordergrund gedrängt. Aus einer harmlosen Freundschaft, die mit einem verstohlen während der Freistunde gewechselten Gruß beginnt, entwickelt sich in nicht wenigen Fällen ein festes Verhältnis. Diese Entwicklung wird dadurch begünstigt, dass in den meisten Anstalten gerade während der Wintermonate eine Überfüllung herrscht und die Verwaltung daher gezwungen ist, drei Männer in eine nur für einen Gefangenen bestimmte Zelle zu sperren. Besonders in Münster und Breslau gab es viele Einzelzellen, in denen allen hygienischen und amtlichen Vorschriften zum Hohn drei Gefangene untergebracht wurden, die durch das tägliche enge Beisammensein, das Beieinanderliegen in den langen Nächten, direkt zur Homosexualität gereizt wurden, auch wenn nur eine ganz schwache Veranlagung oder gar keine vorhanden war. Es gibt Gefangene, die es anfänglich nur aus Neugierde versuchen, nachher aber Gefallen daran finden und nicht wieder davon lassen.
Das gleichgeschlechtliche Verhältnis in den Anstalten führte nicht selten zu direkten Tragödien. In Groß-Strehlitz war ein Gefangener namens Baude, der einen jungen Freund fand, mit dem er bei jeder sich bietenden Gelegenheit zärtliche Blicke und Worte tauschte. Sein ganzes Sinnen und Trachten ging dahin, mit seinem Freund zusammen in eine Zelle zu kommen; nach monatelangen Bemühungen gelang ihm das auch. Aber sein Glück war nur von kurzer Dauer, denn der dritte Mann in der Zelle fand auch Gefallen an dem jungen Menschen, und nun begann ein mit allen Mitteln geführter Kampf.
Die Verwaltung sah sich gezwungen, die drei wieder in Einzelzellen zu legen. Eines Tages, als die Station, auf der die drei nun in Einzelzellen lagen, zur Freistunde ging, stellte sich Baude beim Aus- oder Rückmarsch- vom Aufseher unbemerkt - in eine Nische, wartete, bis sein weit hinter ihm laufender Nebenbuhler vorbeikam, und schlug dem Nichtsahnenden mit einem schweren Holzklotz den Schädel halb ein. Baude erhielt dafür eine empfindliche Hausstrafe, die ihn vollends verwirrte und noch mehr verbitterte. Er schrie in der Zelle stundenlang nach seinem Freund und bat die Direktion flehentlichst, man möge ihn doch mit ihm zusammenlassen. Sein Wunsch wurde nicht erfüllt, und darüber geriet er vollends in Verzweiflung. Eines Tages schrie er durchdringend aus der Zelle, man wolle ihn vergiften. Er klammerte sich mit den Händen an die Gitter des kleinen Fensters und weigerte sich, herabzusteigen.
Die Aufseher riefen ein paar Kalfaktoren zu Hilfe, obwohl das verboten war. Die packten Baude und schleppten ihn auf Geheiß der Aufseher in die Arrestzelle. Auf dem Weg dorthin und in der Arrestzelle wurde Baude schwer misshandelt und geschlagen; er erhängte sich noch in derselben Nacht.
In Groß-Strehlitz war ein Kalfaktor, der einen sehr wichtigen Vertrauensposten innehatte. Dieser Gefangene nahm sich einen jungen, wie ein Kind aussehenden Menschen zum Freund. Der Kalfaktor, der den ganzen Tag unbeaufsichtigt auf der Station herumlaufen konnte, da er den Gefangenen, die Schneiderarbeiten verrichteten, die hei­ßen Bügeleisen in die Zellen zu tragen hatte, verschaffte seinem Freund alle möglichen Erleichterungen und Vergünstigungen, gab ihm seine Lebensmittelration und war emsig bemüht, alle seine Wünsche zu erfüllen. Eines Tages wurde der Kalfaktor in der Zelle seines Freundes, die der Beamte gegen alle Vorschriften einen Augenblick unverschlossen gelassen hatte, beim homosexuellen Verkehr erwischt. Nun wurden die beiden durch Verlegung in verschiedene Stationen voneinander getrennt. Der Kalfaktor hatte aber einen so starken Einfluss auf die Beamten, dass es ihm nach kurzer Zeit wieder gelang, mit seinem Freund zusammenzukommen.
Die Beamten und viele Gefangene betrachteten die gleichgeschlechtliche Veranlagung als ein strafwürdiges, abscheuliches Verbrechen. Meine Versuche, den Beamten und einigen Gefangenen auseinanderzusetzen, dass diese Veranlagung gar nichts mit Verbrechen zu tun habe, dass es nur zu verwerfen sei, wenn ein Partner dem anderen Gewalt antue, stießen auf heftigsten Widerstand. Ich bat Erich Mühsam, er möge vermitteln, dass mir Magnus Hirschfeld eines seiner Werke sende. Hirschfeld hatte die Freundlichkeit, mir den ersten und später auch den zweiten Band seiner umfangreichen Arbeit: »Geschlechtskunde« zu schicken. Diese beiden Bände, um die sich sowohl die Beamten als auch die Gefangenen rissen, schafften in wenigen Wochen mehr Aufklärung, als ich es mit Worten in vielen Jahren vermocht hätte. Auch mir selbst brachten die Bücher von Hirschfeld erst volles Verständnis für die Naturbedingtheit der gleichgeschlechtlichen Veranlagung unter Männern und Frauen.
Ich habe seine Werke außer an die Beamten an etwa drei Dutzend Gefangene verliehen. Durch eine Umfrage stellte ich fest, dass mehr als die Hälfte durch diese Bücher vom täglich mehrmaligen Onanieren abkamen. Sie gewannen ihr Selbstvertrauen wieder und hatten sich so in der Gewalt, dass sie wochen- und monatelang auf die bisher im Übermaß betriebene Selbstbefriedigung verzichten konnten. Unter den Inspektionsbeamten und Aufsehern in den Zuchthäusern, die ich hintereinander kennen lernte, gab es ganz wenige, die menschliches Verstehen und Begreifen für die Gefangenenpsyche hatten. Unter den wenigen war der Anstaltslehrer Winkler in Breslau. Dieser gänzlich unpolitische Kopf hing mit allen Fasern seines Seins an - wie er sagte - Deutschlands großer Vergangenheit. Er liebte die Monarchie und ihre Träger, und es schmerzte ihn, wenn ich ihm gegenüber ein scharfes Wort über das frühere System äußerte.
Dieser Mann, der aus seiner Anhänglichkeit an längst gestürzte Götzen keinen Hehl machte, betreute alle Gefangenen ohne Ausnahme, auch die Kommunisten, und suchte unermüdlich das Los jedes einzelnen nach Kräften zu erleichtern. So mancher dankt seine vorzeitige Entlassung dem persönlichen Eintreten Winklers. Trotz der vielen und oft sehr bitteren Enttäuschungen, die er damit erlebte, verlor er seine Hilfsbereitschaft nicht. Die schweren Nackenschläge, die er erlitt, konnten ihn wohl erschüttern und oft recht traurig stimmen, aber er raffte sich immer wieder auf und half, wo er nur helfen konnte.
Er kämpfte jahrelang für die Entlassung eines jungen, früh gestrauchelten Menschen. Er verschaffte ihm eine Anstellung in der Stadt, noch ehe die Begnadigung erfolgte, versorgte ihn mit Kleidern und Wäsche, so dass der Gefangene, als die Begnadigung endlich eintraf, nicht obdach- und stellenlos dastand, sondern die Möglichkeit hatte, sich wieder emporzuarbeiten. Er schmiss die Arbeit aber sehr bald wieder hin, war eine Zeitlang stellungslos und beging dann Betrügereien und Fälschungen. Als Reisender für eine größere Maßschneiderei schrieb er fingierte Bestellungen, unter die er die Namen verschiedener Beamter aus der Strafanstalt setzte. Auch den Namen des Mannes, dem er so viel verdankte, fälschte er, und der Lehrer war nicht wenig erstaunt, als ihm eines Tages ein Anzug ins Haus gebracht wurde, der ihm nicht passte und den er nicht bestellt hatte, der aber sehr viel Geld kosten sollte. Es dauerte nur wenige Wochen, und der Mann saß wieder hinter Schloss und Riegel in seiner Zelle, aus der ihm der Lehrer zur Freiheit verholfen hatte.
Um dieselbe Zeit erlebte der Lehrer eine zweite große Enttäuschung. Ein Gefangener, ein früherer Bankbeamter, hatte wegen Unterschlagungen eine fünfjährige Strafe abzubüßen. Auch für ihn setzte sich der Lehrer ein und erreichte nach langen Bemühungen eine Reduzierung der Strafe; der Mann kehrte in die Freiheit zurück. Auch ihm war vorher eine Beschäftigung zugewiesen worden, die er nur wenige Wochen behielt. Bei seiner Entlassung aus der Anstalt hatte er einen großen Pack vorgedruckter Formulare mitgenommen, wie sie für die Bestellung von Lebensmitteln für die Anstalt vorgeschrieben waren. Auf diesen Bestellungen fälschte er den Namen des Ökonomieinspektors, mietete sich dann einen großen Wagen und holte von den der Anstalt verpflichteten Lieferanten mehrere Zentner Butter, Konserven und andere Lebensmittel, die er sofort unter der Hand verkaufte.
Der Schwindel wurde schon nach wenigen Tagen aufgedeckt, und auch dieser Gefangene kehrte wieder in seine Zelle zurück.
Das Gegenstück zur warmherzigen Menschlichkeit und inneren Anständigkeit des Lehrers bildete der Kasseninspektor, der unter den Gefangenen und auch unter den Beamten ungemein verhasst war und den Spitznamen »Grauer Fuchs« hatte. Er bevorzugte ein paar wohlhabende Gefangene, einen   Rittergutsbesitzer,   einen   schwerreichen
Breslauer Fabrikanten und einen Hochstapler. Da der Inspektor auch Direktorstellvertreter war, verschaffte er seinen Lieblingen alle nur denkbaren Vergünstigungen. Sie durften fünf Stunden lang Besuche bei sich haben, und er drückte gern die Augen zu, wenn sie bei dieser Gelegenheit Hundert- und auch Tausend-Markscheine in die Anstalt schmuggelten und sich damit durch die Vermittlung einiger Aufseher, die sie für sich gewannen, Lebensmittel, Rauchwaren und Alkohol kauften.
Bei einem so ausgedehnten Besuch, den der Kasseninspektor beaufsichtigen sollte, erhielt der Hochstapler eines Tages von seiner Freundin, der durch den Allensteiner Offiziersmordprozess berühmt gewordenen Frau Lüda, früher Frau Major Schönbeck, den Betrag von 2000 Mark zugesteckt. Diesen Betrag steckte er in seinen in der Hausvaterei stehenden Koffer mit Kleidern. Der Hochstapler durfte in der Anstalt seine goldene Uhr tragen, was sonst verboten war, ferner Manschetten, weiße Kragen und seine gelben Straßenschuhe.
Eines Tages fand er seinen Koffer erbrochen, das Geld war verschwunden. Die von ihm erstattete Anzeige hatte einen Erfolg, an den er wohl selbst nicht gedacht hatte. Denn sein Freund, der Kasseninspektor, und ein anderer Beamter wurden noch am selben Abend durch die Kriminalpolizei verhaftet.
Durch diese Verhaftung wurden umfangreiche Durchstechereien und Betrügereien aufgedeckt, in die der Inspektor verwickelt war. Er wurde seines
Amtes entsetzt, aber - soviel ich erfahren konnte - nicht weiter bestraft.
Der Inspektor war ein äußerst frommer Mann, der an keinem Sonntag versäumte, zur Kirche zu gehen. Er war Mitglied des Kirchenvorstandes in seiner Gemeinde und bekleidete noch eine ganze Reihe anderer Ehrenämter.
In Münster hatte ich einen früheren Staatsanwalt als Zuchthausinspektor, und bei meiner Ankunft in Breslau fand ich ebenfalls einen früheren Staatsanwalt als Direktor vor. Letzterer, ein Paragraphenmensch durch und durch, behandelte die Gefangenen verhältnismäßig korrekt. Er hielt sich strikt an die Bestimmungen, und es war mit ihm relativ gut auszukommen. Auch wenn man mit ihm scharfe Auseinandersetzungen hatte, blieb er durchaus sachlich und ließ sich nicht im geringsten aus der Ruhe bringen. Gerade diese Gelassenheit und Gleichmäßigkeit seines Wesens erleichterte den Gefangenen den Umgang mit ihm. Sein Regiment war jedenfalls viel erträglicher als das seines Nachfolgers, des schon früher erwähnten katholischen Geistlichen.

 

Der Priester als Zuchthausdirektor

Dieser Priester, der Zuchthausdirektor Wilhelm Vaupel, wollte in den ersten paar Wochen alle Menschen, sowohl die Gefangenen als auch die Beamten, vor lauter Menschenfreundlichkeit und
Bruderliebe umarmen. Doch er war so grenzenlos unbeherrscht und lügenhaft, dass ihn nach kurzer Zeit kein Mensch mehr ernst nahm.
Eines Tages bat ich ihn, zu gestatten, dass der Aufseher die kleine, kaum 20 Zentimeter im Quadrat umfassende Fensterklappe aufmache, damit ein bisschen frische Luft in die Zelle hereinkomme; ich hatte bei meinen gymnastischen Übungen in der Zelle nie genügend Luft.
Vorher hatte ich ihm seinen Füllfederhalter repariert, und er erzählte mir dabei viele Einzelheiten aus seinem Leben, unter anderm, dass er einmal Privatsekretär bei dem späteren Reichskanzler Marx hatte werden sollen.
Da er an diesem Tag gut gelaunt schien, glaubte ich die günstige Situation im Interesse besserer Lüftung der Zelle ausnützen zu können. Der Direktor antwortete auf meine Bitte: »Aber natürlich, die Fensterklappe kann geöffnet werden, sie kann Tag und Nacht offen bleiben, ich werde das sofort dem Beamten sagen.«
Ich war nahezu überglücklich. Als der Direktor meine Zelle verließ, sagte er zu dem für meine Bewachung speziell bestellten Beamten: »Herr Wachtmeister, schreiben Sie einen Zettel für den Hauptwachtmeister, dass die Klappe bei Hoelz Tag und Nacht offen bleiben kann.« Der Beamte tat, wie ihm geheißen. Am nächsten Tag ging der Direktor durch den Anstaltshof und sah, dass meine Fensterklappe offen war. Darauf raste er in das Verwaltungsgebäude und schimpfte dort wie besessen, es sei unerhört, dass meine Fensterklappe offen sei, wer das denn erlaubt habe? Der Hauptwachtmeister kam aufgeregt in meine Zelle und fragte: »Hoelz, wer hat Ihnen denn gestattet, die Fensterklappe zu öffnen?«
Ich sagte: »Wer schickt Sie denn?« - »Der Direktor«, war die Antwort. Ich rief: »Entweder bin ich verrückt oder der Direktor. Wenn der heute nicht mehr weiß, was er gestern angeordnet hat, dann ist es sehr schlimm.«
Sofort wurde nach dem Beamten geschickt, der zu Hause schlief, weil er Nachtdienst gehabt hatte. Er wurde aus dem Bett geholt, und nur der Umstand, dass er, ebenso wie der Direktor, ein sehr frommer Katholik und sein spezieller Freund war, überzeugte Vaupel, dass er tatsächlich selbst die Anordnung zur Öffnung der Klappe gegeben hatte.
Ein anderes Mal hatte ich eine Rücksprache mit dem Direktor wegen irgendeiner Angelegenheit. Am Schluss dieser Aussprache sagte er mir, es seien Briefe für mich angekommen, und zwar von einem Abgeordneten, von meiner Mutter und einem Juristen aus Sachsen. Er könne sie mir jetzt aber noch nicht mitgeben, er müsse sie erst durchlesen und zensieren. Ich wartete am nächsten und am übernächsten Tag vergebens auf diese Briefe; als ich sie auch am vierten und fünften Tag noch nicht erhielt, ließ ich mich zum Direktor führen und bat um Aushändigung der Briefe. Er fragte mich, woher ich denn wisse, dass Briefe für mich da seien, er selbst wisse von nichts. Als ich ihm sagte, dass ich diese Mitteilung von ihm selbst hätte, erwiderte er, ich solle in meine Zelle gehen, er würde dann auf seinem Schreibtisch nachsehen. Wieder wartete ich fünf Tage vergeblich, dann riss mir die Geduld; ich ließ mich nochmals dem Direktor vorführen und bat dringend um Aushändigung der Briefe, die er mir bereits vor vierzehn Tagen angekündigt hatte. Er war sehr erstaunt und ungehalten, dass ich ihn in dieser Angelegenheit erneut belästigte. Auf seinem Schreibtisch habe er nichts gefunden. Ich bat ihn, er möge doch einmal in den Schubfächern nachsehen. Nach einigem Suchen fanden sich die drei Briefe in der hintersten Ecke eines Faches. Der Inhalt aller drei Briefe betraf meine Rechtssache, durch ihre verzögerte Aushändigung war ich sehr geschädigt.
Unter dieser Vergesslichkeit, Unordentlichkeit und Sprunghaftigkeit litten die anderen Gefangenen und die Beamten ebenso wie ich.
Ein Brief, den ich an meinen Bruder schickte, der in Riesa als Eisenbahnbeamter lebte, enthielt drei beschriebene Bogen. Der Direktor nahm bei der Zensur den mittleren heraus, ohne mir - wie es der Vorschrift entsprach - davon Mitteilung zu machen. Er benachrichtigte auch meinen Bruder nicht. Meine Angehörigen wunderten sich, von mir einen so zusammenhanglosen Brief zu erhalten, und fragten bei mir an, was das bedeute. Meine Beschwerden beantwortete der Direktor mit der Erklärung, er sei nicht verpflichtet, mir von der Herausnahme einzelner Bogen aus den Briefen Mitteilung zu machen. Er setzte sich in diesem wie auch in anderen Fällen über alle Vorschriften hinweg. Auch aus Briefen, die an mich kamen, nahm er Teile mitten heraus, so dass dadurch oft der ganze Brief für mich unverständlich wurde. Genau wie bei dem Direktor in Münster verschwand auch bei dem Direktor in Breslau eine ganze Reihe Briefe, über deren Verbleib ich nichts erfahren konnte. Wegen verschwundener Briefe geriet ich mit dem Direktor in eine heftige Auseinandersetzung, in deren Verlauf er wütend die Zelle verließ und ich nicht weniger wütend ihm nachrief, er sei ein alter, schwarzer, hässlicher Teufel. Da drehte er sich um und schmiss mit aller Gewalt die schwere, eisenbeschlagene Zellentür zu. Wenn ich nicht blitzschnell meine Finger von der Tür weggenommen hätte, wären mir alle fünf Finger einfach abgequetscht worden.
In einem Brief an die Genossin Ruth Halle drückte ich den Wunsch aus, dass ihr Mann, der verunglückt war, recht bald genese, da seine Arbeit als Leiter der juristischen Zentralstelle für alle inhaftierten Genossen von größter Bedeutung sei. Wegen dieses Wunsches schickte Vaupel den Brief nicht ab.
In einem anderen Schreiben an einen Genossen beanstandete Vaupel die Wendung »Ich bleibe der alte«. Auf meine Proteste gegen die Zurückhaltung dieser Briefe erklärte der Direktor, ich dürfe keine politischen Ausführungen machen. Meinen Kampf gegen das Fehlurteil im Fall der Erschießung des Gutsbesitzers Heß sabotierte der Priesterdirektor, wo er nur konnte. Einen Brief meines Verteidigers Justizrat Fraenkl, dem ein Beschluss des Staatsgerichtshofes sowie Aktenstücke und andere Beweismittel für die Wiederaufnahme beigefügt waren, hielt Vaupel wochenlang zurück.
Der Direktor bestrafte die kleinsten Vergehen der Gefangenen sehr hart, und die Gefangenen wunderten sich, wie dieser Mann sein Amt als Direktor und die vielen Strafen mit seinem priesterlichen Gewissen vereinbaren konnte. Die Gefangenen redeten ihn überhaupt nicht mehr mit »Herr Direktor«, sondern nur noch mit »Herr Pfarrer« an, was ihn sehr verdross, woran er aber selbst Schuld trug, denn er hielt auch als Direktor manchmal Gottesdienst für die Gefangenen ab. Außerdem kam er täglich ganz früh in die Anstaltskirche und las dort die Messe; später ließ er sich durch Gefangene in seiner Privatwohnung einen Altar bauen, um sich das Messelesen etwas bequemer zu machen. Zur täglichen Frühmesse in der Anstaltskirche brachte er stets seinen Hund mit in die Kirche, was nach den religiösen Vorschriften doch verboten war. Der Hund verwechselte den Altar fast regelmäßig mit einer Hausecke, und der Gefangene namens Preuß, der als Kirchendiener fungierte, war ärgerlich darüber, dass er täglich die Schweinerei des Hundes wegputzen musste.
Eines Tages, gerade als der Direktor wieder die Messe las, setzte der Hund wieder etwas Nasses und etwas Hartes an der Altarecke ab. Da riss dem Gefangenen die Geduld: er trat den Hund auf den Schwanz. Der Hund schrie auf, und der Direktor stellte den Kelch, den er gerade in die Höhe hielt, weg und stürzte hinzu. Mit seinen »geweihten«
Händen streichelte er den ungeweihten Hund und jagte nicht den Hund, sondern den Gefangenen entrüstet zur Kirche hinaus.
Während der ersten Monate seines Dienstes besuchte Direktor Vaupel fast täglich eine ganze Reihe von Gefangenen in ihren Zellen. Als er wieder einmal zu mir in die Zelle kam, fragte er mich ganz erstaunt, warum mein Aussehen plötzlich so verändert sei, er habe mich doch erst vor einer halben Stunde frisch und munter gesehen, jetzt sei ich plötzlich so verfallen. Ich antwortete, durch den Steinfußboden in der eiskalten Zelle habe sich mein Rheumatismus erheblich verschlimmert, und ich habe von Zeit zu Zeit heftige Schmerzen. Vaupel erwiderte, er habe vor Jahren auch an heftigen Schmerzen gelitten und sei sie durch fleißiges Beten losgeworden. Er empfahl mir, es ebenso zu machen.
Eine recht »christliche« Auffassung vom humanen Strafvollzug hatte auch der Amtsgerichtsrat Hauke, der informatorisch in der Anstalt tätig war. Auch er wunderte sich über die oft auftretende plötzliche Veränderung meines Gesichtsausdruckes, und als er hörte, dass. starke rheumatische Beschwerden die Ursache davon waren, sagte er mir, ich müsste auch die Schmerzen als eine Strafe für meine verbrecherischen Taten ansehen.
Ein Gefangener, der Kalfaktordienste verrichtete, hatte erfahren, dass seine Frau sich einen Freund genommen habe. Als sie ihn dann wieder einmal besuchte, schlug er ihr mit der geballten Faust ins Gesicht, dass ihr das Blut aus der Nase floss. Das Resultat war Scheidung. Nach der Scheidung bemühte sich der Gefangene, dessen Eltern ein kleines Bauerngut hatten, Verbindung mit einem anderen Mädchen anzuknüpfen, das er heiraten wollte.
Der Direktor, der erst seit einem Monat in der Anstalt war und die Verhältnisse des Gefangenen noch nicht kannte, erfuhr von der Absicht des Gefangenen, sich zu verheiraten, aus seinen Briefen. Er fragte ihn, wozu er denn heiraten wolle, er sei doch noch so jung. Der Kalfaktor erwiderte, er sei gar nicht so jung, er sei sogar schon einmal verheiratet gewesen und jetzt von seiner Frau geschieden. Der Direktor, für den als Katholiken eine Ehe nicht lösbar war, entrüstete sich und wollte wissen, warum der Gefangene sich habe scheiden lassen. »Weil meine Frau pervers ist«, war die Antwort. Darauf fragte ihn der Direktor, was denn »pervers« sei, was er darunter verstehe. Da der Gefangene schwieg, wandte sich der Priester-Direktor an den ihn begleitenden Hauptwachtmeister mit den Worten: »Da sehen Sie wieder einmal, Herr Hauptwachtmeister, dass die Gefangenen mit Fremdwörtern herumschmeißen und gar nicht wissen, was sie bedeuten.« Über diese Unterstellung ärgerte sich der Gefangene und platzte mit folgenden Worten heraus: »Was pervers ist, weiß ich schon, meine Frau lässt sich... « Vaupel war entsetzt, bekam einen feuerroten Kopf und stürzte wie von Furien gepeitscht aus der Zelle, während der dabeistehende Hauptwachtmeister sich das Taschentuch vors Gesicht presste, um nicht herauszulachen.
Im Frühjahr stellte ich an die Direktion den Antrag, mir zu gestatten, das in der Mitte des Hofes liegende Stückchen Brachland umzugraben, um darauf ein paar Salatpflanzen zu setzen. Der Antrag wurde genehmigt, und ich versuchte, ein paar Pflanzen aufzutreiben.
Nachdem ich tagelang herumgefragt hatte, ob einer der Beamten ein paar übrige Salatpflanzen habe, fand ich einen alten Beamten, der gern den Gefangenen eine kleine Erleichterung verschaffte und der mir über ein Dutzend Pflanzen von zu Hause mitbrachte. Ich steckte die Pflanzen in das umgegrabene Land, sie wuchsen und gediehen. Die Inspektoren und der Direktor selbst hatten zugesehen, wie ich pflanzte, und nachdem bereits vierzehn Tage darüber vergangen waren und ich den Salat bald schneiden wollte, kam es zu einer großen Aufregung in der Anstalt. Der Beamte, der mir die Salatpflanzen gebracht hatte, sollte für seine Gutmütigkeit bestraft werden. Er war verheiratet, hatte viele Kinder und war sehr niedergedrückt, weil er seine Stellung zu verlieren glaubte. Es wurden wegen dieser paar Salatpflanzen große Protokolle aufgesetzt, und man suchte dem Beamten aus dieser harmlosen Angelegenheit einen Strick zu drehen. Als ich die Absicht des Direktors merkte, ließ ich mich dem Hauptwachtmeister melden und erklärte, wenn der betreffende Beamte bestraft werde, dann schriebe ich sofort an den Justizminister, damit er dafür sorge, dass auch die oberen Beamten, Inspektoren und der Geistliche bestraft werden, die mir Tomaten, Zigarren und anderes in die Zelle brachten. Diese Ankündigung wirkte: Dem gutmütigen Beamten wurde kein Haar gekrümmt.
Der gescheiterte Befreiungsversuch sowie meine Ehescheidung, vor allem meine Unterbringung in der eiskalten Zelle mit dem Steinfußboden bewirkten bei mir einen neuen und noch schwereren Nervenzusammenbruch als seinerzeit in Münster. Andere Enttäuschungen kamen hinzu. Meine Bemühungen um Wiederaufnahme des Verfahrens stießen bei der Partei nicht gleich auf volles Verständnis. Auch mit meinen Verteidigern hatte ich infolge meiner Erregbarkeit schwere Differenzen.
Ich wollte unter allen Umständen von Breslau weg. Denn die dortige Anstalt ist ein Gefängnis. Man behandelte mich darin zwar in jeder Hinsicht gemäß der Zuchthausordnung, die Öffentlichkeit aber musste glauben, mein Los habe sich bereits wesentlich gebessert. Man meinte tatsächlich, ich sei zu einer befristeten Gefängnisstrafe begnadigt worden, und hielt daher mein Verlangen nach Wiederaufnahme meines Prozesses für überflüssig. Der Präsident des Vollzugsamtes erklärte mir wiederholt, das Justizministerium könne meinen Anträgen nicht stattgeben, Breslau sei die einzige Anstalt im Osten, in der ich sicher verwahrt werden könne. Meine Behauptung, ich sei als Zuchthausgefangener in einem Gefängnis untergebracht, stimme insofern nicht, als die Zelle, in der ich mich befände, und die beiden leerstehenden Zellen rechts und links von mir, in denen sich die für meine spezielle Bewachung bestimmten Beamten aufhielten, als Zuchthausabteilung gälten. Ich sei also tatsächlich im Zuchthaus untergebracht und würde ja auch nicht als Gefängnisgefangener, sondern als Zuchthausgefangener behandelt. Es sei also zwecklos, dass ich meine Anträge auf Verlegung in ein Zuchthaus stets wiederhole, ich würde damit ja doch nicht durchkommen. Diese vielen Enttäuschungen und der Rheumatismus, dazu die täglichen Aufregungen und Ärgernisse mit dem Direktor machten mich ganz hoffnungslos. Ich zweifelte an allen Menschen, und wieder - wie vor einem Jahr in Münster - war ich überzeugt, dass ich nicht lebend aus diesen Mauern herauskäme.
Täglich brach ich in der Zelle und im Hof bei der Freistunde zusammen - mehrmals stürzte ich von der hohen Treppe kopfüber nach unten, wobei ich mich ein paar Mal ernstlich verletzte. In der Zelle, wo die Schwächeanfälle sehr häufig auftraten, fiel ich eines Tages mit dem Kopf auf die Scherben eines zerbrochenen Tellers. Ein Stück davon drang mir in die Stirn. Ich blutete heftig, und jedes Mal, wenn ich versuchte, mich aufzurichten, um die Klappe zu ziehen, damit ein Aufseher Verbandszeug hole, stürzte ich wieder zu Boden und verletzte mich erneut. Erst nachdem ich eine Unmasse Blut verloren hatte, gelang es mir, mich dem Aufseher bemerkbar zu machen. Aber auch nun dauerte es noch mehr als eine halbe Stunde, ehe der Lazarettbeamte aus seiner Privatwohnung geholt wurde. Ein Arzt war in der Anstalt nicht anwesend. Wochenlang konnte ich mich infolge der
Schmerzen und der Schwäche überhaupt nicht von der Pritsche erheben. Die Glieder waren ganz steif und wie vertrocknet. Ein paar Parteifreunde, die mich kurz nach meinem zweiten Nervenzusammenbruch besuchten, versprachen sich eine Besserung meines Zustandes nur durch Überführung in ein Krankenhaus. Sie rieten mir, mich an den Reichstagspräsidenten Löbe zu wenden, damit er sich im Ministerium für meine Verlegung in ein Krankenhaus einsetze. Löbe war in früheren Jahren selbst einmal Gefangener gewesen, deshalb erwarteten meine Freunde von ihm ein Eingreifen. Ein führender Parteigenosse, dem meine zerrüttete Gesundheit große Sorgen bereitete, verlangte von mir, ich solle ein Gesuch an den Amnestieausschuss richten und um die Umwandlung meiner Zuchthausstrafe in Festung nachsuchen, da ich als Festungsgefangener mehr für meine Gesundheit tun könne. Ich sandte das Gesuch an den Ausschuss, schrieb auch an Löbe, mit dem Erfolg, dass ich weder in ein Krankenhaus gebracht noch meine Zuchthaushaft in Festung umgewandelt wurde.
Freunde aus Sachsen, die mich besuchten, fanden mich in einer hoffnungslosen Verfassung. Sobald die Rede auf die in Münster und in der Irrenabteilung erlittenen Misshandlungen kam, verlor ich die Sprache und konnte stundenlang kein Wort mehr hervorbringen, während die Tränen hemmungslos aus den Augen brachen. Fast das einzige, was mich in dieser Zeit, wo alles um mich zu stürzen schien, noch aufrecht erhielt, waren Bücher. Durch Spenden meiner vogtländischen Freunde hatte ich mir eine kleine Bibliothek in meiner Zelle aufgebaut, die ich eifrig benutzte. Es waren nicht nur Bücher rein politischen Inhalts, die mein Interesse erregten, sondern auch soziologische und philosophische Werke. Mit besonderem Interesse und großem Gewinn studierte ich alle Werke des bürgerlichen Soziologen Müller-Lyer und die philosophischen Werke von Professor Vorländer. Das Buch Max Stirners: »Der Einzige und sein Eigentum«, das ich in diesen Tagen las, stieß mich ab. Stärksten Eindruck auf mich machte Armin T. Wegners »Ankläger«. Diese kleine Schrift war in der Einsamkeit der Zellenhaft jahrelang und täglich meine liebste Lektüre.

 

Drei tapfere Genossinnen -  Endkampf in Breslau

Nach der endgültigen Trennung von Klara, meiner Frau, suchte ich fieberhaft durch Vermittlung von Parteifreunden und den zentralen Parteistellen eine zuverlässige. Genossin zu finden, die bereit war, mit mir eine Zweckehe einzugehen. Sie sollte die gesetzlich gegebene Möglichkeit ausnutzen, mich als meine Frau in bestimmten Zwischenräumen zu besuchen und so eine regelmäßige und sichere Verbindung zwischen mir und der Außenwelt herstellen. Meine Freunde erkannten die Notwendigkeit einer solchen Zweckehe nicht an.
Mit Traute, der zweiten Frau, nach der Trauung im Zuchthaus, 1925
Weihnachten 1924 hatte ich Gelegenheit, mich mit dem Genossen Arthur Dombrowski zu besprechen, der als Redakteur unserer Breslauer Zeitung damals gerade eine Strafe absaß. Er sollte in etwa vierzehn Tagen aus der Haft entlassen werden und versprach mir, eine Genossin zu suchen, die bereit sei, auf meinen Wunsch einzugehen. Er hielt Wort.
Zunächst gewann Dombrowski zwei deutschrussische Genossinnen, Lena und Katja, von denen die eine in der russischen Roten Armee mitgekämpft hatte. Sie besuchten mich, so oft es gestattet wurde, und arbeiteten mit beispielloser Energie jahrelang für meine Wiederaufnahmesache und zugleich für andere gefangene Genossen. Bald darauf fand Dombrowski eine deutsche Genossin, die, begeistert für die ihr gestellte politische Aufgabe, mit mir die Zweckehe schloss. Genossin Traute, nunmehr vor dem Gesetz meine Frau, entwickelte eine bewundernswerte Aktivität. Sie sprach als Genossin Hoelz im ganzen Reich in Hunderten von Versammlungen und Kundgebungen. Ihre Wirksamkeit brachte nicht nur meine Wiederaufnahmesache endlich in Fluss, sondern förderte auch in hohem Maße die von der Roten Hilfe organisierte Massenbewegung für die Freilassung aller gefangenen Revolutionäre.
Als der Direktor merkte, dass sich wieder Menschen um mich bekümmerten und dass dadurch in der Öffentlichkeit bekannt wurde, wie schikanös er mich behandelte, änderte er sein rigoroses Verhalten und gewährte mir eine ganze Reihe Erleichterungen. Unter anderem durfte ich mich täglich zwei Stunden lang mit zwei anderen Gefangenen im Hof bewegen und auch Turnübungen machen. Ferner wurde mir - als besondere »Vergünstigung« - das Rauchen erlaubt. Meine Mitgefangenen, die ja nicht Zuchthaus-, sondern Gefängnisstrafen verbüßten, durften gemäß der Gefängnisordnung rauchen. So hatte ich keine Veranlassung, das Angebot wie seinerzeit in Münster abzulehnen. Außerdem durfte ich mir von den zwanzig Mark, die mir meine vogtländischen Freunde und die Rote Hilfe allmonatlich schickten, Zusatzlebensmittel, Obst und Zeitungen kaufen. Besuche durfte ich in kürzeren Zwischenräumen empfangen.
Ich wusste, dass viele meiner Leidensgenossen, die in Zuchthäusern saßen, diese Erleichterungen nicht hatten. Ich wollte nicht besser gestellt sein als sie und verlangte deshalb meine Verlegung in ein Zuchthaus. Meine Anträge wurden vom Strafvollzugsamt und dem Ministerium abgelehnt, wieder mit der Begründung, es gäbe im ganzen Osten keine Anstalt, in der ich so sicher wie in Breslau untergebracht werden könne. Nun kündigte ich an, dass ich, um meine Verlegung zu erzwingen, in Obstruktion treten wolle, wie vordem in Münster. Meine Verteidiger wie meine Parteifreunde waren entsetzt, als sie hörten, dass ich unter allen Umständen meine Rückverlegung in ein Zuchthaus erzwingen wolle. Sie sagten, es sei heller Wahnsinn, von Breslau fortzuwollen, ich hätte hier doch eine ganze Menge Erleichterungen, die man mir im
Zuchthaus bestimmt nicht gewähre. Sie begriffen nicht, dass es für mich unerträglich war, besser behandelt zu werden als die übrigen Genossen.
Ich bereitete insgeheim alles für die Obstruktion vor, schmuggelte Briefe an meine Freunde aus der Anstalt, in denen ich genaue Anweisungen gab, wie sie meine Obstruktion von außen unterstützen sollten, schrieb Zeitungsartikel für die kommunistische Presse über die schikanösen, eigenartigen Methoden des Direktors und des Kasseninspektors.
Die Direktion traf Gegenmaßnahmen: sie ließ meine Besucher nicht mehr vor, und eines Tages verhaftete man auf eine Anzeige der Verwaltung hin meine Frau Traute und die Genossinnen Lena und Katja. Wochenlang saßen sie im Frauengefängnis. Alle in ihrer Wohnung befindlichen Briefe und Schriftstücke wurden beschlagnahmt. Dadurch fiel der Behörde ein Teil meines Obstruktionsplanes in die Hände. Das zwang mich früher loszuschlagen, als ich wollte, und ehe ich alle Vorbereitungen getroffen hatte.
Eines Tages - ich hatte von der Verhaftung meiner Frau und der beiden Genossinnen keine Ahnung - befand ich mich mit einem Begleiter in der Hofstunde. Ich bemerkte, wie fremde Zivilisten mich vom Büro des Kasseninspektors aus beobachteten und wie vier Männer, sichtlich Kriminalbeamte, nach den Zellenflügeln in Richtung meiner Zelle liefen. Ich vermutete sofort, dass eine Durchsuchung vorgenommen werden sollte. Dass man nichts finden würde, wusste ich. Aber ich wusste auch, dass sich die Kriminalbeamten bestimmt nicht mit der Durchsuchung der Zelle begnügen, sondern auch mich persönlich durchsuchen würden. Ich trug einen Pack Briefe und Artikel über den Direktor bei mir, die ich am nächsten Tag aus der Anstalt schmuggeln wollte. Wenn die Kriminalbeamten diesen Umschlag bei mir fanden, konnten sie und der Direktor triumphieren. Ich sah keine Möglichkeit, die in meiner Tasche befindlichen Schriftstücke irgendwie und - wo zu verbergen. Der Aufseher beobachtete mich besonders scharf, und überdies wurde ich, wie erwähnt, von verschiedenen Fenstern aus beobachtet. Nach wenigen Minuten wurde ich in die Anstalt gerufen und von zwei Beamten in den Vernehmungsraum - zwei leerstehende Zellen mit durchbrochener Zwischenwand - geführt. In dem Raum befanden sich nur ein Tisch und auf der einen Seite des Tisches etwa vier Stühle. Ich stand allein drinnen, draußen vor der Tür hielten die Beamten Wache. Jeden Augenblick mussten die Kriminalbeamten eintreten, und dann waren die in meinem Besitz befindlichen Schriftstücke so gut wie verloren.
In der Zelle gab es keine Möglichkeit, den dicken Briefumschlag zu verbergen. Plötzlich kam ich auf den Gedanken, die Schriftstücke unter ein auf dem Stuhl liegendes Kissen zu legen. Das war gewagt: es brauchte nur einer der Kriminalbeamten die Lehne des Stuhles anzufassen und ihn etwas seitwärts zu rücken oder ihn zu heben, so rutschte unweigerlich das Päckchen hervor.
Kaum hatte ich die Schriftstücke versteckt, als auch schon die Tür aufging und der Direktor mit sechs Kriminalbeamten eintrat. Der Direktor setzte sich ausgerechnet auf den Stuhl, unter dessen Kissen die Briefe und die gegen ihn gerichteten Artikel lagen. Ich wurde sorgfältig durchsucht; man fand nichts. Dann führte mich ein Beamter in meine Zelle zurück. Ich gab die Schriftstücke schon verloren, denn selbst wenn die Kriminalbeamten den Brief nicht gefunden hatten, bestand kaum eine Möglichkeit, ihn wieder in meinen Besitz zu bekommen.
Als ich an meiner Zellentür den Kalfaktor in Holzpantinen vorbeischlurfen hörte, klopfte ich und flüsterte ihm zu, er möge versuchen, in den Vernehmungsraum zu gelangen, und dort nachsehen, ob auf einem Sessel ein dicker Briefumschlag liege. Der Gefangene, ein findiger Kopf, fand Zutritt in das Vernehmungszimmer und erwischte auch die Papiere. Am nächsten Morgen, als die Kübel entleert und gereinigt wurden, steckte er den Umschlag ungeöffnet in den leeren, gesäuberten Kübel.
Kurz nach dieser Affäre, Ende Juni, begann ich mit der vorbereiteten Obstruktion, um dadurch die Behörde zu zwingen, mich in ein Zuchthaus zu überführen, nachdem alle meine Eingaben abgelehnt worden waren.
Früh beim Zellenaufschluss sprang ich rasch aus der Zelle und begann mit laut durch die Gänge schallender Stimme Verse von Mühsam, Teile aus A. T. Wegners »Ankläger« und das wirkungsvolle »Sturm, mein Geselle, du rufst mich« von Karl
Liebknecht zu rezitieren. Nach einigen Minuten gelang es einem Dutzend herbeigerufener Beamter, mich mit Gewalt in die Zelle zurückzubringen. Da ich diese Obstruktion mittags wie abends mit aller Lungenkraft fortsetzte und unter den Gefangenen dadurch lebhafte Unruhe hervorrief, gab der Direktor die Anweisung, mich in die Tobzelle zu schaffen.
In der Tobzelle wurde ich zwölf Tage festgehalten, ohne an die frische Luft gelassen zu werden. Die Zelle wurde nur sehr wenig gelüftet. Matratze und Fußboden stanken genau wie in Münster entsetzlich nach Kot und Urin, die Suppe erhielt ich in einer Schüssel aus Pappe. Aus Pappe war auch ein kleiner Topf, in den ich meine Notdurft verrichten sollte. In den ersten Tagen war zu diesem Topf überhaupt kein Deckel vorhanden. Erst auf meine Proteste hin wurde einer angebracht. Er schloss jedoch schlecht. Es stank schrecklich.
Mangels jeglicher Lektüre wurde mir das während der ganzen Nacht in der Zelle brennende Licht wieder zu einer unerträglichen Qual. An Schlafen war nicht zu denken, neben der Tobzelle lagen die Zwinger der Wachhunde. Die Köter bellten die ganze Nacht hindurch. Auf meine Beschwerde an den Strafvollzugspräsidenten erhielt ich folgende Antwort:
»Bescheid auf Ihre, meinem Sachbearbeiter am 13. Juni
1925 mündlich vorgetragene Beschwerden:
1. Das Licht in der Beruhigungszelle ist erforderlich, damit der darin befindliche, meist sehr erregte Gefangene stets beobachtet werden kann. Eine Abänderung dieser Vorsichtsmaßnahme lehne ich ab.
2. Der Deckel des Kübels hat so dicht geschlossen, wie es nur möglich ist.
3. Die Verabfolgung der Speisen auf Papiertellern erfolgt im Interesse der in der Beruhigungszelle befindlichen Gefangenen. Es soll dadurch verhindert werden, dass die betreffenden Gefangenen Unheil anrichten. Ich vermag daher diese Anordnung des Direktors nicht zu beanstanden.
4. Eine Störung der Nachtruhe durch die Anstaltshunde ist nicht möglich, weil die Hunde nur bei Tag im Hundezwinger gehalten werden. Es wird im übrigen dafür Sorge getragen werden, dass der Hundezwinger etwas abgerückt wird, soweit es die Raumverhältnisse gestatten.
5. Die Anordnung des Direktors, dass die Gefangenen in der Zeit, in der sie sich in der Beruhigungszelle befinden, nicht zum Spaziergang in den Anstaltshof geführt werden, ist nicht zu beanstanden. Die Lüftung der Beruhigungszelle ist als genügend zu bezeichnen. Eine längere oder dauernde Lüftung der Beruhigungszelle kann im Interesse der Ruhe und Ordnung der Anstalt nicht zugelassen werden.«
Um mich widerstandsfähig zu erhalten, zwang ich mich selbst in der Tobzelle zu meinen gymnastischen Übungen. Ich turnte täglich vier Stunden, und als ich nach zwölf Tagen endlich aus der Tobzelle herauskam, war ich sehr heruntergekommen, aber nicht so gebrochen wie nach meiner ersten Einsperrung in der Tobzelle zu Münster.
Anschließend erhielt ich vierzehn Tage Arrest; außerdem waren alle meine Bücher aus der Zelle genommen worden, auch mein Schreibzeug. Kein Stückchen Papier, kein Bleistift, nichts durfte in meiner Zelle sein. Die Zeitungen wurden mir gesperrt, Besuche meiner Angehörigen verweigert und der so genannte Spaziergang im Hof auf eine halbe Stunde verkürzt.
Nach den Strafvollzugsbestimmungen durfte ich, da ich an Rheumatismus litt, nicht mit Arrest bestraft werden. Der Direktor tat es dennoch und berief sich dabei auf den Arzt, der mich angeblich als arrestfähig bezeichnet hatte. Es handelte sich um denselben Arzt, den ich schon wiederholt angespuckt hatte und der in der Anstalt allgemein als roher Mensch galt.
Ich beschwerte mich beim Strafvollzugspräsidenten über die Unterbringung in der kalten Arrestzelle trotz meiner Erkrankung und darüber, dass der mit Arrest bestrafte Gefangene, der Durst hat oder den Arzt braucht, sich mangels geeigneter Vorrichtungen dem Aufseher nicht bemerkbar machen kann. Ich erhielt folgende Antwort:
»1. Nach dem Gutachten des Anstaltsarztes waren Sie arrestfähig.
2. Die Beamten sind angewiesen, die im Arrest befindlichen Gefangenen besonders häufig zu revidieren, so dass sich die Anbringung einer Vorrichtung durch die sich der Gefangene bemerkbar machen kann, erübrigt. Eine derartige Einrichtung befindet sich in keiner Arrestzelle einer preußischen Anstalt.«

In Wahrheit befinden sich jedoch in fast allen anderen preußischen Anstalten in den Arrestzellen derartige Einrichtungen.
Nachdem ich aus dem Arrestkäfig wieder in meine Zelle zurückgebracht worden war, begann ich, obwohl mir meine angeschwollenen Gelenke das Gehen kaum ermöglichten, sofort wieder zu obstruieren. Ich wollte unter allen Umständen meine Verlegung in ein Zuchthaus erzwingen, um so mehr, als die irreführende Behauptung verbreitet wurde, man begnadige mich demnächst.
Offenbar sollte dadurch der Kampf meiner Parteifreunde und Genossen um die Wiederaufnahme meines Verfahrens gehemmt werden.
Sofort, nachdem ich meine Obstruktion wieder aufgenommen hatte, wurde ich erneut in die Tobzelle geschafft. Dort lag ich vier Tage, dann wurde ich wieder in meine Zelle zurückgebracht, und wieder begann ich mit der Obstruktion, worauf ich zum dritten Mal in die Tobzelle geworfen wurde. Diesmal blieb ich nur etwa zwei Tage drin, dann kamen mitten in der Nacht Automobile in den Anstaltshof. Ich wurde so, wie ich war - im Drillichanzug, ohne Hut, nur mit Pantoffeln an den Füßen -in ein offenes Auto gesteckt und bei strömendem Regen in einer tollen Gewitternacht nach dem Zuchthaus Groß-Strehlitz transportiert.

 

Zwei Jahre verschärfte Isolierung - Obstruktion und Arrest

Die nun folgende, zwei Jahre dauernde Kerkerzeit in Groß-Strehlitz bis zu meiner Überführung ins Zuchthaus Sonnenburg übertraf alles, was ich vorher im Zuchthaus Münster und Breslau erlitten hatte. Mein Pech war, dass auch hier, genau wie in Breslau, der Direktor erst seit einiger Zeit seinen Posten übernommen hatte. Auch er war vorher Gefängnisgeistlicher. Sosehr ich die Staatsanwälte hasse, ziehe ich sie doch als Zuchthausdirektoren bei weitem den Geistlichen vor. Vor meinem Eintritt in die politische Bewegung hatte ich unter Geistlichen verschiedener Konfessionen Freunde gehabt, die ich aufrichtig schätzte und verehrte. Ich war also bestimmt nicht gegen Geistliche voreingenommen. Als ich in Münster hörte, dass seit Schaffung von Strafvollzugsämtern auch Geistliche als Anstaltsleiter verwendet werden sollen, begrüßte ich sogar diesen Gedanken. Wie sehr ich mich irrte, zeigten mir meine Erfahrungen mit den beiden Priester-Direktoren in Breslau und in Groß-Strehlitz.
In Groß-Strehlitz wurde ich von allen übrigen Gefangenen vollständig isoliert und in einer Weise behandelt, die mich ans graue Mittelalter und an die Zeiten der Inquisition erinnerte.
Die vierzig bis fünfzig andern »Lebenslänglichen«, darunter zwei- und dreifache Raubmörder, wurden menschlicher behandelt und waren nicht so isoliert wie ich. Selbst die schwersten Verbrecher durften gemeinsam mit den anderen Gefangenen in die Hofstunde gehen, und wenn es auch streng verboten war, miteinander zu sprechen, so gelang es ihnen doch hin und wieder, unbemerkt von den Aufsehern, sich ein paar Worte zuzuflüstern.
Ich wurde allein in den Hof geführt, und zwar stets von zwei bis drei Aufsehern. Ehe ich aus der Zelle trat, mussten alle Gefangenen und Kalfaktoren von den Gängen verschwinden. Sooft aber zufällig von weitem ein Gefangener auftauchte, fuchtelten die mich begleitenden Beamten mit den Armen, damit der Gefangene schnellstens in irgendeine Zelle eingeschlossen oder mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt wurde. Diese unverständlichen Maßnahmen weckten die Neugierde der Gefangenen natürlich erst recht, und mancher versuchte von seinem Zellenfenster aus, mich zu sehen, wenn ich im Hof im Kreis herumlief. Sobald der mich im Hof Bewachende ein Gesicht am Fenster auftauchen sah, nahm er sein Notizbuch aus der Tasche, rechnete sich die Zellennummer des betreffenden Gefangenen aus und erstattete gegen ihn Anzeige, weil er es gewagt hatte, den Versuch zu machen, mich zu sehen. Ganz schlimm aber erging es denen, die es wagten, mir aus dem Fenster einen Gruß zuzurufen. Die wurden von dem Hauptwachtmeister Czursiedel bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit malträtiert und schikaniert.
Vor meinem Eintreffen in Groß-Strehlitz lag weder in der Anstalt noch in der Stadt Sipo. Zwei
Tage nach meiner Ankunft wurde die Anstalt mit einem Sipokommando belegt.
Während ich die halbe Stunde im Kreis herumlief und von Beamten bewacht wurde, stellte sich noch ein Sipobeamter hinzu, dessen einzige Aufgabe es war, während meiner kurzen Freistunde im Hof zu patrouillieren. Zu ihm gesellten sich meist noch drei bis vier andere Sipobeamte, die nicht im Dienst waren. Es bereitete ihnen sichtliches Vergnügen, sich so hinzustellen, dass ich immer an ihnen vorbeilaufen musste. Sie lachten, machten ironische Bemerkungen und bliesen mir ostentativ den Rauch ihrer Zigaretten ins Gesicht. Ich beschwerte mich über das Verhalten dieser Sipobeamten bei dem wachhabenden Aufseher und nachher beim Direktor.
Meine Beschwerde hatte keinen Erfolg. Täglich wiederholte sich das widerliche Schauspiel, dass mich die Sipoleute in provozierender Weise wie ein im zoologischen Garten zur Schau gestelltes exotisches Tier anstarrten. Ich rief ihnen eines Tages zu, sie sollten sich schämen und lieber arbeiten, als mich durch ihr Auftreten zu reizen. Da ich die Ordnungshüter mit Ausdrücken wie »Laubfrösche« und »Faulenzer« belegte, erstatteten sie gegen mich Anzeige, und der Direktor kündigte mir an, dass er mich dafür mit Arrest bestrafe. Ich weigerte mich, unter solchen Umständen überhaupt noch in die Freistunde zu gehen, und bildete mir ein, durch diese passive Resistenz den Direktor zu bewegen, den Sipoleuten den Aufenthalt im Hofe zu verbieten. Aber nach einigen Tagen sah ich, dass sich nichts geändert hatte. Ich verlor die Geduld und bewarf jeden Sipomann, den ich im Hof erblickte, mit den herumliegenden Steinen. Ich rechnete damit, dass die Sipoleute sich das nicht gefallen lassen und auf mich schießen würden. Sie taten es nicht, sondern stellten ihre Zudringlichkeiten im Hof ein, hielten sich aber dafür schadlos, indem sie an meine Zellentüre schlichen, durch den »Spion« schauten und dabei faule Witze machten. Der Rentmeister, der als stellvertretender Direktor fungierte, brachte außerdem Sipooffiziere an meine Zelle, die sich in derselben albernen Weise benahmen wie ihre Untergebenen. Wenn ich merkte, dass Neugierige an der Zellentür standen und durch das Loch äugten, nahm ich den Schemel und trommelte damit so lange an die Tür, bis die draußen es vorzogen, zu verschwinden.
Der Direktor bereitete seinen Bekannten aus der Stadt folgendes merkwürdige Vergnügen: Um die Zeit meines täglichen Kreislaufs im Hof ließ er sich von neugierigen Spießbürgern besuchen, stellte sich mit ihnen an das geöffnete Fenster des Direktionszimmers und sah ruhig mit an, wie die gaffenden und rauchenden, sensationshungrigen Bürger mit Fingern auf mich wiesen und sich über mich lustig machten.
Nach den geltenden Bestimmungen über den Strafvollzug an Zuchthausgefangenen durfte ich - nach drei Zuchthausjahren - nicht mehr gegen meinen Willen in Einzelhaft gehalten werden, zumindest hatte ich Anspruch, während der Freistunde mit den anderen Gefangenen zusammen zu gehen. Ich beantragte, in der Hofstunde mit den drei politischen Gefangenen, die sich außer mir in Groß-Strehlitz befanden, zusammen gehen zu dürfen. Der Direktor versprach, meinen Wunsch zu erfüllen. In derselben Nacht aber ließ er die drei Gefangenen von Groß-Strehlitz in ein anderes Zuchthaus überführen.
Ich durfte über ein halbes Jahr lang kein Buch in der Zelle haben und später auch noch kein eigenes, sondern nur ein einziges aus der Bibliothek. Eine Zeitung zu halten war mir nicht erlaubt.
Die Zellen aller anderen Gefangenen, auch der Lebenslänglichen und Schwerverbrecher, waren mit nur einem Schloss versehen. Meine Zelle wurde mit zwei Schlössern gesichert, und beim Auf- und Zuschließen mussten stets zwei, oft sogar drei Beamte zugegen sein. Wenn mich der Anstaltsbarbier rasierte oder mir die Haare schnitt, dann standen rechts und links von mir zwei Beamte wie Cherubim und passten auf, dass ich ja kein Wort mit dem Gefangenen sprach.
Diese besonders scharfe Isolierung bedrückte mich schwer. Der Direktor verlangte, dass ich den ganzen Tag über Strümpfe ketteln sollte, eine Arbeit, die sonst kleine Mädchen verrichten, bei der aber ein Mann blödsinnig werden kann. Ich bemühte mich trotzdem, die mir zugewiesene Arbeit auszuführen, da der Direktor mir erklärte, er wolle meine Behandlung mildern, wenn ich arbeitete. Als es mir klar wurde, dass meine Behandlung sich nicht besserte, sondern noch mehr verschlechterte - ich wurde in eine Zelle gelegt, die ganz verwanzt war, in einer einzigen Nacht tötete ich Dutzende dieser Tiere -, verweigerte ich die Arbeit.
Eines Tages wurde die Einsamkeit meiner Zelle durch ein sonderbares Geräusch unterbrochen; ich konnte nicht feststellen, woher die grunzenden, hohlklingenden Laute kamen. Es war, als ob jemand aus einer hohlen Wand heraus meinen Namen rufe. In der einen Ecke der Zelle über dem Kübel befand sich ein kleiner Luftschacht in der Mauer, durch den die Zelle etwas gelüftet und der Gestank aus dem Kübel ins Freie geleitet wurde. Ich rief hinein, ob jemand da sei und was man von mir wolle. Darauf hörte ich wie aus weiter Ferne: »Ich bin der Gefangene, der die Heizung versorgt. Ich sitze hier oben unterm Dach, wo dein Luftschacht mündet. Ich muss sehr aufpassen, dass mich die Aufseher nicht dabei erwischen. Es ist streng verboten, mit dir in Verbindung zu treten und mit dir zu sprechen. Wenn es herauskommt, dann verliere ich meinen Posten, durch den ich viele Erleichterungen habe. Ich komme als gelernter Schlosser öfters in die Beamtenwohnungen, wo ich Reparaturen machen muss, dann bekomme ich manchmal was zu rauchen oder auch etwas Speck. Vielleicht hast du mich schon einmal gesehen, ich bin der mit dem großen Vollbart. Ich weiß, dass es dir schlecht geht, und lass dir jetzt an einem Bindfaden ein paar alte Zeitungen herunter und ein Stück Speck und Brot.« Noch ehe ich antworten konnte, hörte ich ein sausendes Geräusch, kleine Steinchen und Kalk fielen aus dem Schacht, und in einer dicken Staubwolke landete plötzlich vor meinen Augen ein Päckchen. Das alles kam für mich so überraschend, dass ich es kaum für Wirklichkeit hielt. Am nächsten Tage wiederholte sich dasselbe. Der Gefangene erzählte mir unter anderem, dass in der Anstalt viel geprügelt werde, besonders der Hauptwachtmeister Czursiedel bearbeite die Gefangenen immer mit einem Gummiknüppel, vor ihm solle ich mich in acht nehmen. Am Tage vorher habe sich direkt über meiner Zelle ein Gefangener, der oft geprügelt worden war, vom höchsten Stockwerk herabgestürzt und sei zerschmettert unten liegen geblieben. Es kämen hier oft Selbstmorde vor. Ein anderer Gefangener habe sich aufgehängt. Die Anstalt heiße im Munde der Gefangenen »das oberschlesische Sibirien«.
Mein geheimnisvoller Freund bot mir an, für mich Briefe an meine Freunde aus der Anstalt herauszuschmuggeln. Ich hatte vorher auf legalem Wege versucht, meinen Angehörigen und Anwälten mitzuteilen, welcher besonders schlechten Behandlung ich ausgesetzt war. Aber der Direktor hatte die Briefe nicht abgeschickt. Deshalb ergriff ich bereitwilligst die mir gebotene Gelegenheit, hatte aber weder Papier noch Bleistift, um meine Kassiber schreiben zu können.
Mein geheimnisvoller Freund versprach mir, auch das zu besorgen. Da er nur einmal am Tage diese gefährliche Verbindung mit mir aufnehmen konnte, wollte er mir am nächsten Tag das Erforderliche bringen.
Ich schrieb dann einen längeren Kassiber an Erich Mühsam, der damals schon frei war, schilderte ihm alle Einzelheiten der mir zuteil werdenden Behandlung und bat ihn, er möge die Tatsachen in der Öffentlichkeit bekannt machen. Ich musste sehr vorsichtig sein, konnte nur minuten- und sekundenlang schreiben, da ich fortwährend von den Aufsehern durch den Spion beobachtet wurde. Am Bindfaden zog der Gefangene den Brief nach oben, und ich war sehr gespannt darauf, ob der Brief in die Hände Mühsams gelangen werde. Der Brief kam gut aus der Anstalt heraus und gelangte in die Hände eines Parteifreundes in Breslau, der die Einzelheiten in unserer Presse ver­öffentlichte.
Die Strafvollzugsbehörden waren bestürzt, dass trotz meiner scharfen Isolierung die Dinge in die Öffentlichkeit gedrungen waren. Sie veranlassten eine Haussuchung in der Redaktion unseres Breslauer Parteiblattes. Dadurch fiel ihnen eine Abschrift meines Kassibers in die Hände, die mein Parteifreund mit der Maschine angefertigt und der Redaktion übersandt hatte. Ein paar Tage später kam der Direktor aufgeregt in meine Zelle und erklärte, das Strafvollzugsamt in Breslau habe ihm soeben mitgeteilt, dass ich Kassiber aus der Anstalt herausgeschmuggelt hätte. Die Herren seien sehr ungehalten, dass so etwas möglich sei. Der Direktor fragte mich, ob ich tatsächlich Kassiber aus der Anstalt geschmuggelt hätte. Ich sagte: »Nein, das ist doch ganz ausgeschlossen, das wissen Sie ja selbst, wie sollte ich aus dieser Isolierung jemals einen Kassiber herausbringen.« Der Direktor strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Sehen Sie, das habe ich dem Strafvollzugsamt ja auch gesagt. Sie sind hier so bewacht und abgeschlossen, dass Sie gar nichts herausbringen können.« Während er noch mit mir sprach, hörte ich zu meinem Schrecken wieder das Grunzen aus dem Luftschacht, das das Signal dafür war, dass wieder eine Sendung für mich herabkommen werde. Ich war sehr in Ängsten, dass der Direktor mein Geheimnis jetzt entdecken werde. Aber mein Freund unter dem Dache schien gemerkt zu haben, dass die Luft in meiner Zelle nicht ganz rein war. Nachdem sich der Direktor entfernt hatte, versuchte ich einen zweiten Kassiber an meine Freunde zu schmuggeln.
Diesmal hatte ich Pech. Die Verbindung des Gefangenen mit der Außenwelt klappte nicht sofort, und er musste über eine Woche lang den Brief bei sich verbergen, und so wurde er bei einer Revision seiner Zelle gefunden. Der Gefangene verlor sofort seinen Posten und erhielt vier Wochen Arrest. Auch ich bekam für den herausgeschmuggelten Brief vier Wochen Arrest, die ich sofort antreten musste. Im Arrest gab es nur trocken Brot und Wasser. Die Arrestzelle war ein ganz fürchterliches, dreckiges Loch. Nachts kamen die Mäuse und Ratten in Scharen und fraßen das bisschen Brot, das ich mir für den nächsten Tag aufbewahrt hatte. Es gab sehr wenig Brot und jeden dritten Tag ein wenig Suppe. Die Wände waren über und über mit gelbem, vertrocknetem Speichel bedeckt, es sah aus, als ob Dutzende von Lungenkranken die Wände als Spucknäpfe benutzt hätten.
Überall befanden sich Karikaturen auf den Direktor mit wenig schmeichelhaften, mit Nägeln in die Wände geritzten Versen, wie: »Grausamer als ein Henker ist der Pfaffe Adamietz« (Name des Direktors) oder »Hier habe ich mir die Lungenpest geholt, Fluch dem Mörder Adamietz«.
Die Pritsche, auf der ich während der vier Wochen Arrest schlafen musste, bestand aus einer schweren, eichenen Bohle, die mit fünf Zentimeter breiten Eisenschrauben auf einem Unterbau aus Backstein befestigt war. Diese Eisenschrauben standen drei bis vier Zentimeter aus dem Holze heraus und drückten sich des Nachts tief in meinen Kopf und Rücken. Das Schlafen auf dieser Pritsche glich einer mittelalterlichen Folter, denn es gab nur jeden dritten Tag eine Matratze. Erst auf meine wiederholten Proteste und Beschwerden hin ließ der Direktor die hervorstehenden Eisenschrauben etwas abfeilen. Der Gefangene, der damit beauftragt war, arbeitete sich buchstäblich die Hände blutig, ohne dass es ihm gelang, die Schrauben bis auf die Bohlenfläche abzufeilen.
Mehrere Wochen in einer solchen Arrestzelle wirken physisch und psychisch auf den Gefangenen in der gleichen Weise wie die Unterbringung in einer Tobzelle. Dadurch, dass der Gefangene nicht die geringste Ablenkung hat, nur jeden dritten Tag an die Luft kommt, keine Zeitung, kein Buch lesen darf, keine Briefe schreiben oder empfangen und mit keinem Menschen sprechen darf, ist er nur auf sich selbst angewiesen, sitzt grübelnd und brütend, vom Hunger gepeinigt, im Käfig und spürt, wie scharfe Krallen sein Gehirn zerfetzen, verfolgt bewusst seine langsam fortschreitende geistige Verblödung. Gefangene, die nach wochen- und monatelangem Arrest aus diesen Löchern herauswanken, sind ganz verstört und lallen oft wie Kinder. Ich selbst nahm in den vier Wochen zwanzig Pfund ab. Dass ich ohne größeren psychischen Schaden die Arreststrafe überstand, verdankte ich zu einem Teil meinen täglichen gymnastischen Übungen, die ich auch in der Arrestzelle täglich vier Stunden durchführte, obwohl ich nur Wasser und Brot erhielt und dadurch sehr geschwächt war. Wenn ich meine gymnastischen Übungen beendet hatte, rezitierte ich Dutzende von Gedichten und Versen, die ich auswendig konnte. Damit lenkte ich mich vom Grübeln ab und verhinderte, dass ich mich zu stark mit mir selbst beschäftigte.

 

»Die Bestimmungen kann ich so und auch anders auslegen«

Nach Verbüßung der vier Wochen Arrest kam ich in meine alte Zelle zurück. In der Zwischenzeit hatte der Direktor den Luftschacht zumauern und außerdem eine besondere eiserne Vorrichtung an dem kleinen Zellenfenster anbringen lassen, die die Lüftung der Zelle nahezu unmöglich machte. Ich beschwerte mich über diese Schikanen beim Direktor. Der gab mir zur Antwort, ich hätte mir alles selbst zuzuschreiben, er wolle noch ganz andere Zwangsmaßnahmen gegen mich ergreifen und mir beweisen, dass es in Zukunft für mich nie mehr möglich sei, Kassiber aus der Anstalt herauszuschmuggeln. Als der Direktor mir seine Eröffnungen machte, lag ich, vom Rheumatismus geplagt, auf meiner Pritsche. Ich geriet über seine Worte in heftige Erregung und spuckte ihn an. Dafür bestrafte er mich sofort wieder mit vier Wochen Arrest.
Vom 25. November bis 24. Dezember 1925 saß ich wieder im Arrestkäfig. Diesmal ging es mir noch schlechter. Dem Hauptwachtmeister Czursiedel, der bei allen Gefangenen im Rufe eines ausgesprochenen Menschenquälers stand, glückte es, mich zu provozieren. Ich weigerte mich, den Kübel und den Wasserkrug aus der Arrestzelle hinauszusetzen, ich wollte dadurch erreichen, dass der Kalfaktor, der mit mir sympathisierte, Kübel und Wasserkrug selbst heraushole, damit ich ihm bei dieser Gelegenheit einen Kassiber zustecken konnte. Der Hauptwachtmeister ließ den Kalfaktor aber nicht in meine Zelle, und so wurde der Kübel wochenlang überhaupt nicht entleert. Er lief bald über und - vermengt mit dem schmutzigen Waschwasser, das ebenfalls nicht aus der Zelle hinausgebracht wurde - bildete sich in der tiefliegenden Zelle aus Kot, Urin und Wasser ein kleiner See, der von Tag zu Tag größer wurde. Schließlich konnte man kaum noch in die Arrestzelle hineingehen. Es wurden Ziegelsteine gelegt und darüber Bretter. Über diesen schwankenden Steg kam einmal am Tage ein Aufseher in die Zelle, um die
Fensterklappe einen Augenblick zu öffnen. Der Arzt, der wiederholt kam, sah, dass der See aus Wasser, Urin und Kot bereits fußhoch stand, veranlasste aber nichts, um meine Lage zu ändern. In der Zelle verbreitete sich ein Pestgeruch, der die ganze Anstalt durchdrang. Ich musste Tag und Nacht auf der schmalen Holzpritsche sitzen oder stehen, die Flut stieg von Tag zu Tag. Es war bereits Ende Dezember, in der Zelle herrschte eine empfindliche Kälte, die Temperatur betrug kaum acht bis neun Grad. Der durch die langen Arrestwochen ausgedörrte Körper empfand die Kälte und die von dem Wasser aufsteigende Feuchtigkeit viel stärker als ein Organismus, der täglich mit einem warmen Essen gespeist wird. Um mich etwas zu erwärmen, verrichtete ich auf dem schmalen Raum der Holzpritsche meine gymnastischen Übungen. Dabei schwebte ich immer in Gefahr, kopfüber in die meine kleine Insel umspülende Jauche zu stürzen. Erst kurz vor meiner Entlassung aus dem Arrest veranlasste der Hauptwachtmeister die Herausnahme des Kübels und die Säuberung der Zelle.
Am Weihnachtsabend hatte ich meine zwei Monate Arrest bis auf den letzten Tag verbüßt. Alle anderen Gefangenen erhielten bereits Weihnachtspakete von ihren Angehörigen. Mir aber eröffnete der Direktor, dass alle Pakete, die Angehörige, meine Freunde und die »Rote Hilfe« mir geschickt hatten, wieder zurückgeschickt worden seien. Ich sei außer mit zwei Monaten Arrest noch mit Nichtaushändigung der Weihnachtspakete bestraft, ferner hätte ich noch sieben Monate Besuchs-, Schreib- und Zeitungsverbot; damit ich aber merke, was für ein gutes Herz er habe und wie wohlwollend er es mit mir meine, habe er aus den Paketen anderer Gefangener etwas für mich zusammengefochten. Ich würde mich sicher über diese Weihnachtsgabe freuen. Er deutete nach einem Karton, der auf dem Tische stand, in dem einige Äpfel, Nüsse und Pfefferkuchen lagen. Er erwartete sichtlich, dass ich ihm glückstrahlend für diese Bescherung danken werde. Als ich die Annahme seines großmütigen Geschenkes ablehnte, war er verletzt und fassungslos. Ich versuchte ihm auseinanderzusetzen, dass er durch die Nichtaushändigung der Weihnachtspakete mit all den guten Sachen nicht mir besonders viel antue, sondern dass er durch die Rücksendung meinen alten Eltern und meinen Freunden Schmerz und Enttäuschung zugefügt habe. Sie hätten doch zwölf Monate darauf gewartet, mir eine Freude machen zu können, und nun habe er ihnen durch seine Hartherzigkeit diese Freude verdorben. Er hatte nicht das geringste Verständnis für meine Empfindungen und schien auch nicht zu verstehen, wie weh er meinen Angehörigen getan hatte. Ich bat ihn, meinen Angehörigen zu schreiben, dass sie die Pakete nochmals an mich schicken könnten. Ich wollte gern auf die Aushändigung verzichten und schlug vor, den Inhalt an die Schwerkranken im Lazarett zu verteilen. Auf diese Weise hätten wenigstens meine Angehörigen und auch viele kranke Gefangene, um die sich niemand kümmerte, eine Freude. Er lehnte es ab. Darüber empört, spuckte ich ihn wieder an. Diesmal bestrafte er mich nicht wieder mit Arrest; er schien langsam zu erkennen, dass ich durch diese Methode nicht gebessert und nicht friedlicher werden konnte. Er sagte nur, ich könne ihn ruhig ab und zu einmal anspucken, wenn ich meinem Herzen Luft machen wolle, das sei nicht so schlimm, nur dürften es andere Beamte und Gefangene nicht sehen, denn darunter leide seine Autorität. Ihm selbst mache das Spucken nicht viel aus, er wische das einfach wieder ab. Er empfahl mir, ich solle versuchen, den § 51 zu bekommen, dann könne mir doch überhaupt nichts mehr passieren. Er wünschte offenbar, dass ich den Verrückten markierte, damit er mich in eine Irrenanstalt abschieben konnte.
Monatelang zwang mich der Direktor, die Briefe an meinen Anwalt unter Aufsicht von vier Beamten im Sekretariat der Anstalt zu schreiben. Alle anderen Gefangenen durften ihre Briefe in der Zelle schreiben, ich aber durfte in meiner Zelle kein Stück Papier, keinen Bleistift, keine Tinte und keine Feder haben. Der Direktor wusste sehr genau, dass es für einen Gefangenen, der aus einer einsamen Zelle kommt, ganz unmöglich ist, in einem Raum, wo viele Menschen sind, sich auf einen Brief zu konzentrieren. Wochenlang ließ der Direktor Briefe an meine Verteidiger liegen, ehe er sie absandte. An meine Angehörigen durfte ich überhaupt nicht schreiben.
Als mein Anwalt Laskowski mich besuchte, der, wie auch der Direktor, der Zentrumspartei angehörte und mit dem Direktor gemeinsam die Schule besucht hatte, verbot er ihm, mir die Hand zu geben. Zwischen mir und meinem Anwalt stand ein zwei Meter breiter Tisch, und außer dem Direktor war noch ein Inspektor zur Beaufsichtigung meiner Besprechung mit dem Anwalt anwesend. Sobald ich meinem Anwalt nur ein Wort über die mir zuteil werdende Behandlung sagen wollte, brach der Direktor die Unterredung einfach ab und ließ mich in meine Zelle führen.
Er verweigerte mir auch die Anschaffung von Zahnpflegemitteln, Seife und anderem, so dass ich monatelang nicht einmal in der Lage war, mir die Zähne zu putzen, obwohl in den Strafvollzugsbestimmungen ausdrücklich steht, dass die Gefangenen zur Zahnpflege angehalten werden sollen. Ebenso verweigerte er mir den Einkauf von Zusatzlebensmitteln, während das jedem anderen gestattet war. Das Anstaltsessen war oft ganz ungenießbar, und ich litt - auch wenn ich nicht im Arrest saß - immer sehr viel Hunger.
Direktor Adamietz brach das Brief- und Amtsgeheimnis in Angelegenheiten der Gefangenen, wodurch schwere Konflikte zwischen den Gefangenen und ihren Freunden in der Außenwelt entstanden. Von dem Inhalt meiner Briefe an Angehörige machte der Direktor fremden Besuchern Mitteilung. Unter seinem Regime war jeder Gefangene einfach rechtlos. Ich hatte immer den Eindruck, als ob er seine absolute Ungeeignetheit für den Posten eines Anstaltsdirektors hinter rücksichtsloser Härte zu verbergen suchte. Von seinem
Ersten Hauptwachtmeister, dem alle anderen Beamten unterstellt waren, ließ sich der Direktor auf dem Kopf herumtanzen. Das hatte seine guten Gründe. Der Erste Hauptwachtmeister, der als Prügelmeister bekannt war - auch mich hat er misshandelt, indem er mir mit beiden Händen die Gurgel zudrückte -, führte Buch über alle Verstöße und dienstlichen Verfehlungen des Direktors. Er wollte, wie er sagte, bei Gelegenheit einmal den Direktor hineinlegen und die Aufzeichnungen über den Direktor dem Ministerium in die Hände spielen. Alle Augenblicke machte sich der Hauptwachtmeister über den Direktor lustig.
Es verging nicht ein Tag, wo der Hauptwachtmeister nicht irgendwelche Gefangenen oder auch seine eigenen Kollegen zur Anzeige brachte. Selbst die Anstaltsgeistlichen und Anstaltslehrer zeigte er an, den Anstaltspfarrer deshalb, weil der einmal abends nach Zelleneinschluss zu einem Gefangenen gegangen war, um ihm eine wichtige Nachricht in seiner Begnadigungsahngelegenheit zu bringen. Es war den Beamten verboten, nach Zelleneinschluss zu Gefangenen zu gehen. Der Anstaltslehrer, der wegen seiner Menschlichkeit bei allen Gefangenen beliebt war, wurde vom Ersten Hauptwachtmeister angezeigt, weil er einem Gefangenen, der sehr niedergedrückt und hoffnungslos war, eine Tafel Schokolade geschenkt hatte. Der Direktor hasste den Lehrer ganz besonders, weil er scharfe Kritik an seiner Amtsführung übte. Um den Lehrer aus der Anstalt herauszubekommen, scheuten sich der Direktor und sein Erster
Hauptwachtmeister nicht, ihm wegen dieser Tafel Schokolade eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft anzuhängen.
Die beiden hielten wie Pech und Schwefel zusammen, wenn es galt, rücksichtslose Maßnahmen gegenüber Gefangenen zu ergreifen und durchzuführen. Die Gefangenen behaupteten sogar, der Direktor selbst würde gar nicht so harte Strafen verhängen, wenn nicht der Erste Hauptwachtmeister ihn immer dazu ermunterte.
In keiner Anstalt, die ich bisher kennen gelernt hatte, waren die Arrestzellen so überfüllt gewesen wie in Groß-Strehlitz. Nicht nur die regulären Arrestzellen, deren es hier eine größere Anzahl gab als in anderen Anstalten, waren stets belegt, sondern es wurden noch Dutzende von anderen Zellen als Arrestzellen eingerichtet. Wenn ich in die Freistunde geführt wurde, sah ich lange Reihen gewöhnlicher Zellen, an denen ein Schild hing: »Arrest«.
Ich hatte oft große Auseinandersetzungen mit dem Direktor und wies ihn darauf hin, dass er gerade durch diese überspannten Strafen die Gefangenen zu einer Meuterei treibe.
Die nächtliche Ruhe im Zuchthaus wurde oft durch gellende Hilferufe unterbrochen. In der Nacht vom 27. zum 28. April 1926 stieß der Gefangene Wolf verzweifelte Hilfeschreie aus, weil er durch ein paar Aufseher verprügelt wurde. Ein anderer Gefangener wurde von Czursiedel nachts mit dem Gummiknüppel so entsetzlich geschlagen, dass er sich nicht anders zu helfen wusste, als seinen Peiniger kräftig in den Arm zu beißen. Czursiedel lief wochenlang mit verbundenem Arm umher. Der verprügelte Gefangene wurde für diesen Biss hart bestraft.
Laut Strafvollzugsordnung war seit 1918 durch Verfügung des ehemaligen Justizministers Dr. Kurt Rosenfeld der so genannte Dunkelarrest abgeschafft worden. Trotzdem wurde in Groß-Strehlitz - zwar nicht offiziell, aber doch praktisch - Dunkelarrest verhängt. In meinen Aufzeichnungen steht, dass ich während meiner Hofstunde am 12. Juni 1926 sah, wie ein Gefangener in Dunkelarrest gesteckt wurde. An den Arrestzellenfenstern befanden sich noch die schweren, eisernen Läden, die, wenn sie geschlossen waren, die Zelle in tiefstes Dunkel hüllen. Die eisernen Läden waren an diesem Tage geschlossen, und ich hörte aus der Zelle ein dumpfes Stöhnen. Auch am 1. Juli steckte wiederum ein Gefangener in Dunkelarrest und ebenso am 22. September. An diesem Tage drangen durchdringende Schreie aus der verdunkelten Arrestzelle. Von einem Gefangenen erfuhr ich ein paar Stunden später, dass die Aufseher den Arrestanten durch die Arrestkalfaktoren hatten verprügeln lassen. Erst als ich der Direktion damit drohte, die ungesetzliche Verhängung von Dunkelarrest der Öffentlichkeit mitzuteilen, wurden die eisernen Läden entfernt.
Der Präsident des Strafvollzugsamtes, Dr. Egon Humann, dem alle Anstalten in Schlesien und Oberschlesien, also auch Groß-Strehlitz und Breslau, unterstellt waren, erlebte weder an dem Groß-
Strehlitzer noch an dem Breslauer Direktor eine Freude. Er setzte sich hier vergeblich mit seiner ganzen Persönlichkeit für eine wirkliche Humanisierung des Strafvollzugs ein; nachdem er zwölf Jahre als Bezirksamtmann in deutsch-afrikanischen Kolonien lebte, hatte er während des Krieges den Feldzug im Stabe Lettow-Vorbecks mitgemacht und war dann in englische Gefangenschaft geraten. In der Gefangenschaft war es ihm sehr dreckig ergangen, er war lange in Einzelhaft gehalten worden und hatte an sich selbst empfunden, wie furchtbar die Einzelhaft auf den Menschen wirkt. Daher war er als Präsident des Strafvollzugs ehrlich bemüht, das Los der Gefangenen zu mildern, soweit dies im Rahmen der bestehenden Bestimmungen möglich war. Aber gerade wegen seiner aufrichtigen Bemühungen war er heftigen Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt, und ein großer Teil der unteren Strafvollzugsorgane, wie Anstaltsleiter, Inspektoren und Aufseher, sabotierten seine Anordnungen, wo sie nur konnten. Direktor Adamietz und sein Erster Hauptwachtmeister Czursiedel sprachen nur in der abfälligsten und wegwerfendsten Weise über ihn. Wiederholt sagte ich zu Adamietz, es entspreche doch sicher nicht den Absichten des Justizministers und des Strafvollzugs-Präsidenten, dass er im Groß-Strehlitzer Zuchthaus ein solches Schreckensregiment aufgerichtet habe. Er erwiderte jedes Mal: »Ach, der Präsident, was kann der schon, das ist überhaupt kein Mann, und der Minister hat ja auch nichts zu sagen, ich halte mich nur an die Bestimmungen, und die kann auch der Minister nicht umstoßen.« Wie er sich an die Bestimmungen hielt, das bewies seine stehende Redensart: »Die Bestimmungen kann ich so und auch anders auslegen.«
Einmal hatte ich mit Adamietz - der sich oft mit mir unterhielt, denn er hatte einen ausgesprochenen Geltungs- und Rechtfertigungsdrang - eine lange Debatte über die Todesstrafe. Er, der jahrelang katholischer Geistlicher gewesen war und bei jeder Gelegenheit seine Menschlichkeit betonte, war unbedingt für die Beibehaltung der Todesstrafe, und zwar für die Enthauptung, die er als sehr human bezeichnete, da sie ganz sicher einen schnellen Tod herbeiführe. Sein großer Ehrgeiz war ein Posten im Ministerium.
Mit welchen Mitteln der Direktor unter allen Umständen Karriere zu machen versuchte, beweist folgendes: Fast alle preußischen Anstalten haben die Webstühle abgeschafft, mit denen die Gefangenen in früheren Jahren Stoffe für die Anstalt und auch für andere Behörden webten. Wenn ein solcher Webstuhl in einer Zelle stand, dann konnte sich der Gefangene kaum rühren. Fünfundneunzig Prozent aller Gefangenen, die jahrelang an Webstühlen arbeiteten, zogen sich die Lungenschwindsucht zu. Die Webstühle waren verhasst, und nicht nur die Gefangenen, sondern auch die Behörden wussten, dass die mit ihnen geleistete Arbeit eine ganz unrationelle war. Adamietz aber sorgte dafür, dass die in anderen Anstalten abgebrochenen Webstühle nach Groß-Strehlitz gebracht und in den Einzelzellen aufgestellt wurden. Durch leere Versprechungen und kleine »Vergünstigungen« erreichte der Direktor, dass die Gefangenen das Drei- und Vierfache des vorgeschriebenen Pensums pro Tag lieferten.
Mit solchen übertriebenen Leistungen machen sich die Gefangenen unweigerlich kaputt. Belohnt wurden sie meist durch ein Bild mit der eigenhändigen Unterschrift des Direktors, das sie in ihre Zelle hängen durften.
Um unter allen Umständen das vom Direktor so sehr gewünschte enorme Pensum zu erreichen, waren die Gefangenen gezwungen, nicht so sehr auf die Qualität als auf die Quantität zu achten. Die gewebten Stoffe wiesen grobe Fehler auf, die Besteller verweigerten häufig die Annahme, und so sammelten sich große Vorräte in der Anstalt an, für die keine Abnehmer zu finden waren. Ungeheure Stoffballen lagen aufgeschichtet unter dem Dache und in allen Räumen, die nicht mit Gefangenen belegt waren; sie wurden von Mäusen und Ratten zernagt.
Wenn eine Revision durch das Ministerium oder Strafvollzugsamt zu erwarten war - Adamietz hatte im Strafvollzugsamt in Breslau einen Freund sitzen, der ihm immer telephonisch meldete, wenn eine Revisionskommission unterwegs war -, dann wurden die immer mehr anwachsenden, unverwendbaren Vorräte umgeschichtet; die nicht oder wenig beschädigten Stoffe durfte die Kommission sehen, die anderen wurden so versteckt, dass kein noch so scharfes Auge der Kontrollkommission sie entdecken konnte. Dutzende von Gefangenen schleppten an den Tagen vorher die schweren Ballen treppauf, treppab in sichere Verstecke.
Trotz dieser Misswirtschaft behauptete der Direktor, Groß-Strehlitz sei das rentabelste Zuchthaus in Preußen, denn hier würde die meiste Arbeit geleistet, die Gefangenen seien am fleißigsten und schafften das größte Pensum. Das Ministerium habe ihm schon wiederholt die Anerkennung ausgesprochen, dass in Bezug auf Arbeitsleistung seine Anstalt die mustergültigste und vorbildlichste sei.

 

Das Stufensystem

Oft renommierte Adamietz mit der Behauptung, er sei eigentlich der Begründer des so genannten »Stufensystems«, das jetzt nach und nach überall in deutschen Strafanstalten eingeführt werde. Ich habe nie feststellen können, ob er tatsächlich der Vater des Stufensystems ist. Ähnlich sähe es ihm. Alle neu in das Zuchthaus eingelieferten Gefangenen kommen in die so genannte erste Stufe, d. h. sie erhalten keine Vergünstigung, keine Erleichterung, dürfen nur ganz selten einen Brief schreiben, keine Zeitung lesen, keine eigenen Bücher in der Zelle haben, kein Schreibzeug, an den Wänden keine Bilder, keine Blumen an den Fenstern, und nur einmal im Vierteljahr können Angehörige sie besuchen. Sie dürfen nur eine halbe Stunde im Hof spazieren gehen und haben abends kein Licht in der Zelle. Auf ihrem Jackenärmel wird ein schmaler Streifen eingenäht, als Zeichen dafür, dass sie noch nicht für würdig befunden worden sind, in die zweite Stufe aufzurücken. Vor Ablauf von neun Monaten dürfen sie unter gar keinen Umständen in die zweite Stufe aufrücken. Wenn sie sich sehr gut führen und zu keiner Klage Anlass geben - das ist in einer preußischen Anstalt sehr schwer -, wenn sie es verstehen, sich bei dem Inspektionsbeamten, den Direktoren und ein paar Hauptwachtmeistern beliebt zu machen, haben sie Aussicht, nach neun Monaten in die zweite Stufe zu avancieren. Einen Anspruch darauf haben sie bei noch so »guter Führung« nicht.
Gefangenen der zweiten Stufe werden zwei Streifen auf den Ärmel aufgenäht. Aber es gibt Hunderte von Gefangenen, die seit drei, vier, fünf, sechs und noch mehr Jahren in der ersten Stufe sind, also noch immer keinerlei Vergünstigung und Erleichterung haben. Das sind zumeist Menschen von wirklichem Charakter, die nicht kriechen können.
In der zweiten Stufe erhalten die zu »Gefreiten« beförderten Zuchthäusler einige Erleichterungen: Alle vier oder sechs Wochen dürfen sie einen Brief schreiben, Besuch in etwas kürzeren Zwischenräumen empfangen und eine Zeitung halten.
Das Unteroffizierkorps der »Braunen Husaren« (so heißen die Zuchthausgefangenen wegen ihrer braunen Kluft) bilden die Gefangenen der dritten Stufe. Sie sind an drei gelben oder grünen Streifen am Ärmel kenntlich. Eine höhere Stufe gibt es nicht. Die wenigen, die so hoch stehen - es sind unter 600 Gefangenen immer nur 20 bis 30 - dürfen Blumen in der Zelle haben oder ihre Uhr tragen, haben verlängerte Freistunde und dürfen gemeinsam in der Anstaltsschule Radio hören, können bis zu drei Mark im Monat für Zusatzlebensmittel ausgeben und genießen noch andere kleine Vergünstigungen.
Besonders auffallend ist, dass gerade diejenigen Gefangenen am ehesten und leichtesten in die zweite und dritte Stufe aufsteigen, die in Freiheit die allerverwerflichsten Handlungen begingen. Gerade die passen sich den Zuchthausverhältnissen an, sind immer gut Freund mit den Beamten und machen der Verwaltung die wenigsten Schwierigkeiten. In der Regel sind es Menschen, die in der Freiheit jede Arbeit scheuen, in der Anstalt aber Überpensum machen und einen Arbeitseifer und eine Ausdauer entwickeln, die einer besseren Sache würdig wäre.
Alle Gefangenen, die ich in Groß-Strehlitz und später in Sonnenburg sprechen konnte, und selbst der angebliche Vater des Systems, Adamietz, mussten zugeben, dass durch das Stufensystem die Heuchelei und Korruption unter den Gefangenen geradezu gezüchtet wird.
Am leichtesten finden die Vorbestraften sich in das Stufensystem. Sie kennen den Anstaltsbetrieb schon und besitzen eine Anpassungsfähigkeit, die ihnen ermöglicht, sich nach relativ kurzer Zeit einen Posten zu sichern, auf dem sie sich etwas freier bewegen können.
Diese Menschen sind brauchbar und leisten etwas, solange sie einen starken Zwang und eine feste Hand über sich spüren. Sobald sie aber in die Freiheit zurückkehren, versagen sie vollkommen, können bei keiner Arbeit aushalten, sind mit nichts zufrieden. Ich habe durch Gespräche mit Gefangenen zu ergründen versucht, woher es kommt, dass die fleißigsten und tüchtigsten nach ihrer Freilassung keinen Boden unter ihren Füßen gewinnen, sich keine Existenz schaffen können, sondern nach kurzer Zeit wieder im Zuchthaus landen. Die Antworten, die ich erhielt, und die Erlebnisse und Erfahrungen, die mir geschildert wurden, bestärkten mich in meiner Überzeugung, dass die Einsperrung von Menschen, die Isolierung von ihren Angehörigen und der in den Anstalten noch heute herrschende militärische Drill, dessen Existenz zwar abgestritten wird, der aber praktisch noch herrscht, sie für die in der Freiheit notwendige Selbständigkeit und Initiative untauglich machen.
Die schematische Tageseinteilung, die ununterbrochene Bewachung, die sich selbst auf das Schlafen und das Verrichten der Notdurft erstreckt, dieses tägliche: »du musst« oder: »du darfst nicht«, das schablonenmäßige Hineinpressen in starre Regeln rauben dem Gefangenen alles Selbstvertrauen, wecken in ihm Minderwertigkeitsgefühle, die er nicht so leicht wieder verliert und die ihm sein späteres Fortkommen erschweren. Dazu kommt noch, dass fast alle Gefangenen nach ihrer Freilassung in kurzer Zeit alles das nachholen und nachgenießen wollen, was sie in den langen Jahren ihrer Haft entbehrten. Das kostet viel Zeit und Geld, und beides glauben sie am ehesten dadurch erlangen zu können, dass sie ein neues »Ding drehen«.
In Groß-Strehlitz und Sonnenburg konnte man, wie in allen anderen Anstalten auch, die Aufsichtsbeamten in drei Gruppen einteilen, von denen zwei einander fortwährend bekämpften. Die erste Gruppe ist die, welche die humane Behandlung der Gefangenen als ein großes Übel ansieht und alle ihnen gewährten Erleichterungen sabotiert und illusorisch macht. Zur zweiten Gruppe gehören die Beamten, denen alles gleichgültig ist, die ganz stumpfsinnig und mechanisch ihren Dienst verrichten, die zwar keinen Gefangenen bewusst quälen, aber auch keinem ein freundliches Wort sagen, nicht einmal den Gruß der Gefangenen erwidern. Die dritte Gruppe bilden diejenigen Beamten, die, soweit es die Vorschriften und Bestimmungen zulassen, alles in ihren Kräften Stehende tun, um den ihnen anvertrauten Gefangenen die schweren Kerkerjahre erträglich zu machen. Sie haben erkannt, dass durch menschliches Entgegenkommen und Eingehen auf die Psyche des Gefangenen ein in jeder Hinsicht günstiger Einfluss auf ihn ausgeübt werden kann.
In Sonnenburg gab es acht bis zehn Beamte, die zur dritten Gruppe zählten; zu ihnen gehörte auch der Erste Hauptwachtmeister Schneidau. Während die Aufseher Kluck, Hentschke, Quietzke und andere ihrer Kategorie mit den widerspenstigen und leicht erregbaren Gefangenen nichts anzufangen
wussten und sie durch ihr herausfordernd schroffes Benehmen nur reizten, genügte ein Wort von Schneidau, um manchen erregten Gefangenen zu beruhigen. Es fiel ihm nie ein, den Gefangenen irgendeine im Rahmen der Zuchthausordnung gestattete Erleichterung zu versagen. Seine Frau, die, wie er selbst, in den Gefangenen in erster Linie Menschen sah, richtete für eine große Anzahl Anstaltsinsassen, die sie gar nicht kannte und nie gesehen hatte, für den Weihnachtsabend Dutzende von kleinen Paketen, damit auch die eine Freude haben sollten, um die sich sonst niemand kümmerte und die keine Angehörigen hatten.
Auch Schneidau war von der alten Schule, aber einer, der sich der neuen Zeit nicht widersetzte. Für seine Menschlichkeit, die er ohne Ausnahme allen Gefangenen gegenüber bekundete, wurde er von Kluck, Hentschke, Quietzke und anderen tief gehasst, und sie machten ihm Schwierigkeiten und warfen ihm Steine in den Weg, wo sie nur konnten.
Der Aufseher Hentschke - einer aus der alten Schule - hielt mir einen längeren Vortrag darüber, wie schön es doch früher gewesen sei unter dem alten Direktor, da habe er die Gefangenen in der Waschküche beaufsichtigt und immer einen armstarken Knüppel bei sich gehabt und damit die Gefangenen geprügelt. Das sei ihnen sehr gut bekommen, sie hätten dann sehr fleißig gearbeitet, das wäre eine helle Freude gewesen, wie sie in Reih und Glied gestanden und gearbeitet hätten ohne zu mucksen. Einmal habe er seine schöne weiße
Sommeruniform angehabt, die ganz mit Blut bespritzt wurde, als er mit seinem Knüppel einem Gefangenen Vernunft beibrachte. Die Gefangenen aber hätten in einer Stunde den Anzug gewaschen, getrocknet und gebügelt. Es hätte alles geklappt wie am Schnürchen, aber das sei nur möglich gewesen durch die Anwendung des Knüppels. Die Gefangenen hätten diese Misshandlungen nicht tragisch genommen, sondern seien glücklich gewesen, wenn er ihnen dann ein Stück Brot hingeworfen habe.
In der Hofstunde in Sonnenburg hatte ich zu Dutzenden von Malen Gelegenheit zu beobachten, wie Kluck, Quietzke, Hentschke und andere Beamte die Gefangenen provozierten, um dann Anzeige gegen sie erstatten zu können. Diese Aufseher trieben die Demütigung der Gefangenen oft so weit, dass ernste Meutereien zu entstehen drohten. Das Dazutreten Schneidaus, sein ruhiges Einwirken auf die aufgeregten Gefangenen verhinderte in vielen Fällen das Äußerste.
Einen Gefangenen namens Wegner versetzte ein unfreundlicher Blick von Seiten der Wärter Kluck und Quietzke in die größte Aufregung. Er zertrümmerte dann alles, was er erreichen konnte und was nicht niet- und nagelfest war. Sobald er aber Schneidau erblickte, war er stets wie umgewandelt. Ein freundliches Wort dieses Beamten dämpfte seine Wut und Aufregung. Er ging dann ruhig an seine Arbeit.
Eines Tages, als ich in der Freistunde war, hörte ich von Gefangenen, dass der Aufseher Kluck den
Gefangenen Wegner wieder einmal sehr gereizt habe und dieser eben im Begriffe sei, seine ungeheure Wut an irgend etwas auszulassen. Ich sah Wegner, wie er mit einem umfangreichen Korb auf dem Rücken über den Hof ging, in der Richtung nach dem Gebäude, in dem das Sipo-Kommando untergebracht war. Vor den zahlreichen Doppelfenstern setzte er behutsam den anscheinend schweren Korb auf das Pflaster nieder und sah sich ruhig im Kreise um. Dann nahm er in dem Korb befindliche Kohlenstücke - eins nach dem anderen - und warf damit die Fensterscheiben ein. Kluck und die anderen Aufseher trauten sich gar nicht an ihn heran, sondern sahen aus der Ferne dem Bombardement zu. Ohne ein Wort zu sagen, zielte er Wurf um Wurf und zertrümmerte mit etwa 22 Schuss nahezu alle Fenster der breiten Front. Erst beim 22. oder 23. Schuss fing er fürchterlich zu schimpfen an: »Ihr Hunde, ihr Elenden, ihr Banditen und Menschenschinder!!!« Beim Schimpfen vergaß er zu zielen, er traf immer schlechter, und nun stürzten sich mehrere Beamte auf ihn. Wegner kam sofort in die Arrestzelle, und am nächsten Tag schüttete er einem Beamten, der ihm mit neuer Strafe gedroht hatte, den ganzen Kotkübel über den Kopf.
Mit welchen Mitteln Gefangene manchmal versuchen, einen Wunsch erfüllt zu bekommen oder ins Krankenhaus überführt zu werden, dafür ein paar Beispiele, die ich miterlebte. Am Abend beim Zelleneinschluss, bei dem von den Gefangenen die Kleider und der Esslöffel herausgelegt werden müssen, bat ein Gefangener den Aufseher um eine Zigarette. Der Beamte durfte ihm natürlich keine geben, das war gegen die Bestimmungen. Der Gefangene erklärte, wenn er keine Zigarette bekomme, dann werde er auch den Löffel nicht herausgeben. Der Beamte redete ihm zu, den Löffel herauszugeben, da das doch Vorschrift sei, eine Zigarette dürfe er ihm aber doch nicht geben. Da zerbrach der Gefangene vor den Augen des Aufsehers blitzschnell den Löffel und verschluckte alle Teile. Er musste ins Krankenhaus geschafft und dort operiert werden.
Ein anderer trieb sich einen zehn Zentimeter langen rostigen Nagel in die Harnröhre, die er dann mit einem Faden fest verschnürte, und ließ den Nagel tagelang darin stecken. Infolge dieser Selbstverstümmelung schwollen seine Geschlechtsteile an, die Hoden wurden dick wie ein Kinderkopf. Auch er musste operiert werden. Ein dritter Gefangener machte sich mit einer Nadel kleine Öffnungen in die Haut, steckte eine Glasröhre hinein, die er aus dem Lazarettraum entwendet hatte, und blies sich Luft unter die Haut. Ein anderer sogar Petroleum. Die Folge davon waren ganz fürchterliche Schmerzen und starke Anschwellungen der betreffenden Körperteile.
Wieder andere Gefangene rieben mit einem Kopierstift so lange die zarte und empfindliche Bindehaut ihrer Augen, bis sie eine schwere Augenentzündung bekamen. In den meisten Fällen war der Zweck der Übung entweder, aus der Einzelhaft herauszukommen  oder  zwecks  Operation  ins
Krankenhaus überführt zu werden, um von dort zu entfliehen.
Im Schulraum von Groß-Strehlitz und ebenso in Sonnenburg war ein Radioapparat aufgestellt. Die Gefangenen der zweiten und dritten Stufe, also die »Chargierten«, wurden wöchentlich einmal gemeinsam in den Schulraum geführt und durften dort eine Stunde Radio anhören. In größeren Zwischenräumen von sechs Monaten bis zu einem Jahr gab es auch Musikvorführungen, bei denen meist Berliner Künstler mitwirkten.
Bei den Musik- und Gesangsdarbietungen in Sonnenburg wirkte auch die Gattin des Oberjustizrats Lemkes mit, die sich sehr darum bemühte, dass in den Gefängnissen und Zuchthäusern des Berlin-Brandenburger Strafvollzugsbezirkes den Gefangenen gute Musik geboten wurde. Anfang 1927 hörte ich zum ersten Mal nach sechs Jahren in Groß-Strehlitz einen guten Gesangsvortrag und Rezitationen. Der Eindruck auf alle Gefangenen und auch auf mich war sehr stark, aber leider blieb diese Darbietung während meines ganzen zweijährigen Aufenthaltes in Groß-Strehlitz der einzige Genuss. Die nur aus Gefangenen gebildete Hauskapelle in Groß-Strehlitz - auch der Dirigent war ein Gefangener - spielte sehr schlecht, und die von ihr allsonntäglich und jeden Mittwochabend in den Zellenkorridoren veranstalteten Konzerte wirkten auf die Gefangenen in ihren Zellen wie eine Verhöhnung. Man muss versuchen, sich vorzustellen, was Gefangene empfinden, die seit vielen Wochen im Arrestkäfig sitzen, nur bei Wasser und trockenem Brot, und denen dann plötzlich ein lustiger Walzer oder ein flotter Marsch vorgespielt wird.
Die Erleichterungen, die es seit einigen Jahren im Strafvollzug gibt, wie Radio, Konzerte und Vorträge, verhindern nicht, dass die Gefangenen nach Verbüßung ihrer Strafe für das praktische Leben unbrauchbar in die Freiheit zurückkehren, weil das ganze System der Einsperrung von Grund auf faul ist. Durch Isolierung in engen Zellen können Menschen nie und nimmer gebessert werden. Der von Kennern des alten und auch des modernen Strafvollzugs geprägte Satz, dass die Zuchthäuser und Gefängnisse wahre Hochschulen des Verbrechens sind, behält seine Geltung.
Die Öffentlichkeit glaubt, dass das durch Konzerte und Radio gewürzte Leben der Gefangenen doch ganz erträglich sein müsse. Aber gerade diese gewiss anzuerkennenden Erleichterungen bringen den Gefangenen ihre schwere Lage noch stärker zum Bewusstsein und steigern ihre Sehnsucht nach der Freiheit ins Unerträgliche. Guter Gesang und Vorträge wirken unbedingt veredelnd und im guten Sinn anregend auf die Gefangenen. Aber solang in deutschen Strafanstalten nicht, wie dies in Gefängnissen der Sowjet-Union der Fall ist, in kürzeren Zwischenräumen, z. B. allwöchentlich, Gefangene ein oder zwei Tage zu ihren Angehörigen beurlaubt werden, solange sind alle Verbesserungen, wie Radio, Konzerte und Vorträge, ein Tropfen auf einen heißen Stein. Solange die heute noch geübte starre Abschließung von der Außenwelt nicht in einer Form durchbrochen wird, die zwar die Sicherung des sozialen Organismus vor asozialen Elementen gewährleistet, die aber dem gefangenen Menschen die naturgemäßen Voraussetzungen für sein Menschsein und Menschbleiben sichert, solange werden jährlich noch Hunderte und Tausende von Gefangenen auch beim »humansten« Strafvollzug geistig und körperlich zerbrechen.
Dem Präsidenten des Vollzugsamtes Berlin-Brandenburg war bekannt, dass im Sonnenburger Zuchthaus vieles nicht so war, wie es nach den Bestimmungen und Vorschriften sein sollte. Er schickte als Direktor einen jungen Assessor in die Anstalt, der den Dingen auf den Grund gehen und Unregelmäßigkeiten und Misshandlungen abstellen sollte. Der neue Direktor hatte bei seinem Dienstantritt an die versammelten Inspektions- und Aufsichtsbeamten eine kleine Ansprache gehalten, sie auf ihre Pflichten hingewiesen und erklärt, dass die Gefangenen durch menschliche Behandlung eher gebessert werden könnten als durch Misshandlung und militärischen Drill. Wenn aber die älteren Beamten sich auf den humanen Strafvollzug nicht einstellen könnten, dann müssten sie ehrlich sein und die Konsequenzen daraus ziehen. Sie sollten dann lieber aus dem Anstaltsdienst ausscheiden, anstatt hinter dem Rücken des Direktors die früheren brutalen Methoden der Gefangenenbehandlung anzuwenden. Diese Worte verübelten ihm viele ältere Beamte sehr, und sie sabotierten seine Anordnungen. Der neue Direktor Dronsch sah den Beamten sehr scharf auf die Finger. Inspektor
Axthelm, der dienstälteste Inspektionsbeamte, ließ sich Unregelmäßigkeiten zuschulden kommen, durch die die Gefangenen schwer benachteiligt wurden. Einem politischen Gefangenen hatte der Inspektor Dutzende von Briefen unterschlagen.
Der Gefangene steckte mir einen Zettel zu, auf dem stand:
»Du wirst Dich wundern, warum ich mir das gefallen lasse. Nun, ich bin der letzte, der sich was gefallen lässt, aber was willst Du machen, wenn kein Brief - nicht einmal ein Einschreibebrief - abgeht. Ohne Rückhalt von draußen kannst Du absolut nichts machen. Falle ich den Oberbeamten hier zu sehr auf die Nerven, dann schicken sie mich in eine Irrenanstalt und lassen mich >fertigmachen<. Meine langjährige Knasterfahrung bestätigt das, ich will aber gesund rauskommen, um Rache zu nehmen an den Peinigern des Proletariats.«
Einem anderen politischen Gefangenen wurde ein Brief von seinem Verteidiger Justizrat Broh, datiert vom 30. September, der den Eingangsstempel der Anstalt vom 2. Oktober trug, erst am 6. Dezember - also fast neun Wochen später - ausgehändigt. Über zwei Monate hatte der Inspektor Axthelm diesen wichtigen Brief dem Gefangenen vorenthalten.
Ebenso erging es vielen anderen Gefangenen.
Wir wurden beim Direktor vorstellig und erreichten, dass er eine scharfe Untersuchung einleitete. Der Direktor, der die Untersuchung selbst führte, fand in den Regalen und Schränken im Büro des Inspektors ganze Haufen Briefe, die schon viele Monate lang da lagen und vom Inspektor nicht an die Angehörigen der Gefangenen abgeschickt worden waren. Auch Dutzende von Briefen an Gefangene hatte er widerrechtlich zurückbehalten. Der Inspektor konnte für seine Unterschlagungen nicht einmal einen Grund angeben. Leider wurde er nicht aus der Anstalt entfernt, sondern erhielt in der Anstalt einen anderen Posten, er bekam das Archiv für die Gefangenen-Akten, und da hatte er Gelegenheit, die Gefangenen noch mehr zu schädigen als im Sekretariat. Ich beschwerte mich darüber persönlich beim Präsidenten des Strafvollzugsamtes, er veranlasste, dass der Inspektor ganz aus der Anstalt entfernt wurde.
Der Kasseninspektor Xanke, der Gefangenen, die nicht sofort taten, was er wollte, einfach einen Tritt in den Hintern versetzte, war der Tonangebende unter denjenigen Beamten, die gegen humane Gefangenenbehandlung intrigierten. Es kam nicht selten vor, das Xanke und die ihm an Rohheit nicht nachstehenden Kluck und Hentschke den Hauptwachtmeister Schneidau, der der Hausvaterei vorstand, der Direktion denunzierten, weil er die Gefangenen menschlich behandelte.
Hygiene kannte man in Groß-Strehlitz kaum. Der Arzt, ein ziemlich junger Medizinalrat, ging von Zelle zu Zelle und untersuchte die als krank gemeldeten Gefangenen. In der einen Zelle betastete er die Hämorrhoiden des einen, in der anderen die syphilitischen oder sonstigen Geschwüre eines anderen Gefangenen, und ohne sich die Hände zu waschen oder sie irgendwie zu desinfizieren, untersuchte er in einer dritten Zelle einen mund- oder halskranken Gefangenen, dem er mit den unsauberen Händen in den Mund fuhr. Erst auf meine Beschwerde an das Justizministerium hin veranlasste der Medizinalrat, dass ein Waschbecken beschafft wurde.
Im Lazarett wurden die erkrankten Gefangenen oft sehr misshandelt. Ein Lazarettbeamter namens Radek war ein äußerst roher Mensch. Am 30. August 1926 misshandelte er den erkrankten Gefangenen Willi Romba, der durch sein friedliches und freundliches Wesen allgemein bekannt und beliebt war. Der Beamte schlug ihn ohne Grund mit dem schweren Schlüsselbund, bis der Gefangene das Bewusstsein verlor. Nach seiner Wiederherstellung erstattete er gegen den Beamten Strafanzeige wegen Misshandlung. Nun gab es eine für den mit den Zuchthausverhältnissen nicht vertrauten Neuling fast unglaubliche Überraschung. Die Direktion, die natürlich den Beamten deckte, drehte den Spieß um und erstattete gegen den Gefangenen Anzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Das Resultat war, dass nicht der Beamte Radek bestraft wurde, der, wie alle vernommenen Zeugen bekundeten, den Gefangenen absolut grundlos misshandelt hatte, sondern der schwer misshandelte Romba. Er erhielt acht Wochen Gefängnis. Dem Beamten, der bewusst einen Meineid schwor, wurde geglaubt, und die Gefangenen waren unglaubwürdig, obwohl das Gericht feststellte, dass Romba tatsächlich von Radek misshandelt und verletzt worden war. Ich habe in Münster, Breslau,
Groß-Strehlitz und Sonnenburg Dutzende von Fällen erlebt, wo Gefangene von Beamten geschlagen wurden und dann Strafantrag stellten, und wo dann stets die Verwaltung gegen die Gefangenen Anzeige erstattete wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. So gingen die Beamten immer straflos aus. Viele Gefangene unterließen schon aus diesem Grund eine Anzeige.
Als ich nach der Verbüßung der zweiten Arreststrafe in meine alte Zelle zurückkehrte, merkte ich, dass ich in der Nebenzelle einen neuen Nachbarn bekommen hatte. Ich klopfte an die Wand und fragte ihn, ob er schlechte Nachrichten habe, da er unruhig in der Zelle hin- und herlief. Er erwiderte, er sei vor einigen Tagen aus dem Arrest gekommen, wo er von den Aufsehern, besonders vom Ersten Hauptwachtmeister Czursiedel, schwer verprügelt worden sei. Er habe bereits Strafanzeige erstattet. Dann fragte er mich, ob ich Tabak habe. Ich musste leider verneinen, ich hatte schon seit vielen Monaten nichts zu rauchen. Da rief er mir zu, dass er mir Tabak abgeben könne. Er wollte das Päckchen und Streichhölzer an einem Bindfaden befestigen, das Ganze an seinen Stubenbesen binden und dann zu seinem Fenster herauspendeln lassen. So könne ich an meinem Fenster das Päckchen auffangen. Wir vereinbarten, dass er mir vorher durch Klopfen an die Wand ein Zeichen gebe.
Eine halbe Minute später öffnete sich meine Zellentür, und herein traten der Direktor und der Erste Hauptwachtmeister Czursiedel. Der Direktor fragte mich, warum ich nicht arbeite. Ich erwiderte, dass ich es ablehne, für vier Pfennig pro Tag eine geisttötende Beschäftigung auszuüben, die sonst nur kleine Mädchen verrichten. Während er noch mit mir sprach und mir neue Strafmaßnahmen androhte, hörte ich entsetzt das Klopfen an der Wand. Schon sah ich am Fenster, an einem Bindfaden befestigt, ein Päckchen hin und her baumeln. Der Direktor oder der Hauptwachtmeister mussten das bemerken. Und richtig, der Direktor erblickte es als erster. Mit den Worten: »Herr Hauptwachtmeister, sehen Sie doch mal das da!« machte er auch Czursiedel aufmerksam. Der hüpfte vor Freude von einem Bein aufs andere (das war ein gefundenes Fressen für ihn!) und verschwand behände aus meiner Zelle, schloss leise die Nebenzelle auf und erwischte meinen Nachbarn, der auf dem an das Fenster gerückten Tisch stand und sein Geschenk für mich noch immer hin und her schwenkte und vergebens darauf wartete, dass ich das kleine Päckchen Tabak abnehme. Der arme Kerl war nicht wenig überrascht, als ihn der Wachtmeister plötzlich hinten an der Hose packte, mit einem Ruck herunterzog und mit Püffen traktierte.
Für seine Gefälligkeit, die er mir hatte erweisen wollen, bekam er vier Wochen Arrest.
Oft, wenn ich aus der Hofstunde zurückkehrte, musste ich mich splitternackt ausziehen und alle meine Kleider abgeben. Dafür bekam ich dann eine andere Zuchthauskluft. Diese Maßnahme, die mich stets sehr erregte, geschah, weil der Direktor verhindern wollte, dass ich in meinen Kleidern Kassiber oder sonst etwas Verbotenes verberge.
Für die Entleerung meines Kotkübels war ein besonderes Sieb angeschafft worden, und die Beamten, die bei mir Dienst machten, hatten die wenig angenehme und schwierige Aufgabe, täglich meinen Kot nach Kassibern zu durchsuchen.

 

»Spitzbuben« / Das Kübelsystem / Aufgaben für die »Liga für Menschenrechte«

Eines Nachmittags hörte ich in meiner Zelle lautes, durchdringendes Rufen, das aus einer anderen, höher gelegenen Zelle zu kommen schien und das wie »Spitzbuben«, »Spitzbuben« klang. Ich sprang auf den Tisch und, auf die Zehenspitzen gestellt, versuchte ich einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Dabei sah ich folgendes: Aus seiner Zelle rief tatsächlich ein Gefangener, so laut er konnte, in einem fort das Wort: »Spitzbuben«, »Spitzbuben«. Ich konnte es mir nicht erklären, warum er diesen Ruf ausstieß. Da sah ich, dass außerhalb der großen Zuchthausmauer zwei Sipobeamte mit ihren Seitengewehren das reife Obst von den Bäumen herunterschlugen. Die Situation war komisch genug. Ein Gefangener, der wegen Diebstahls verurteilt war, schimpft die Hüter der Ordnung, die das Privateigentum schützen sollen, »Spitzbuben«. Durch das laute Rufen waren bald viele andere Gefangene an den Fenstern, und aus Hunderten von
Kehlen scholl jetzt minutenlang das Won: »Spitzbuben«, »Spitzbuben«. Die Sipobeamten waren starr und liefen mit rotem Kopf davon.
Die Verpflegung in Groß-Strehlitz war nicht nur viel zu knapp, sondern auch so schlecht, dass viele Gefangene oft aus Protest dagegen die Arbeit verweigerten. Einmal fand ich in dem Essen eine halbe Schuhbürste, ein anderes Mal ein Stück einer Socke. Die Kost war geschmacklos. Die Erbsen wie die Bohnen, die Bohnen wie die Linsen, die Linsen wie die Nudeln - alles schmeckte gleich. Der Speisezettel war auf viele Jahre im voraus festgesetzt. Es gab einen Tag Bohnen, einen anderen Linsen, dann Erbsen, dann Graupen und dann an einem anderen Tage ein Gemisch von Erbsen, Bohnen und Graupen, dann am sechsten Tage ein Dörr- oder Büchsengemüse und am siebenten Tage Nudeln oder so genannte Salzkartoffeln, die furchtbar stanken und nicht zu genießen waren, dazu an Feiertagen ein winziges Stückchen Fleisch. Da das Essen für sechs- bis siebenhundert Gefangene in einem einzigen Kessel nicht mit Wasser, sondern mit Dampf gekocht wurde, haftete an allem der widerliche, ewig gleiche Kesselgeruch. Selbst wenn man sehr starken Hunger hatte, konnte man oft nichts essen. Schon bei dem Geruch wendete sich der Magen um, und man musste sich erbrechen. Daher habe ich oft tage- und wochenlang nur von trockenem Brot gelebt. Selbst in der Gemüsezeit, in der nach den Verpflegungsvorschriften den Gefangenen möglichst viel Frischgemüse gegeben werden soll, gab es in
Groß-Strehlitz meist nur Dörrgemüse aus den Jahren 1914/1918 und Konservenbohnen, die entsetzlich versalzen und nicht zu genießen waren. Drau­ßen auf den Feldern und im Garten der Anstalt verfaulte indessen das Gemüse.
Ich sandte an den Rechtsausschuss des Preußischen Landtags eine detaillierte und genau begründete Beschwerde über die in der Anstalt herrschenden unhaltbaren Verpflegungszustände. Ich schilderte und gab Zeugen dafür an, dass die in dem Anstaltsgarten angebauten Gemüsearten, wie Kohlrabi, gelbe Rüben und anderes, so lange stehen blieben, bis alles verfaulte. Wenn aber ein Gefangener während der Hofstunde, um seinen Hunger zu stillen, verstohlen einen Kohlrabi oder eine Rübe an sich nahm, dann wurde er mit vierzehn Tagen Arrest bestraft. Wenn ich mich über das Essen bei dem Wirtschaftsinspektor, der die Verpflegung unter sich hatte, beschwerte, dann bekam ich immer nur höhnische Antworten. Als es endlich einmal Frischgemüse gab, war das davon gemachte Essen so dünn und so wenig, dass die Gefangenen schon nach einer halben Stunde wieder Hunger hatten. Ich sagte dem Wirtschaftsinspektor, das Essen sei sehr dünn, davon könne kein Mensch satt werden. Darauf erhielt ich zur Antwort, dann wolle er gleich veranlassen, dass noch ein bisschen Wasser darunter geschüttet werde. Der Direktor hielt mir immer entgegen, ich sei der einzige, der sich über das Essen beschwerte. Alle übrigen Gefangenen lobten es immer sehr. In Wahrheit aber beschwerten sich täglich Dutzende von Gefangenen über das unmögliche Essen, und ich hielt dem Direktor vor, dass ja sogar der Medizinalrat - der bestimmt kein Freund der Gefangenen war - sich bei dem Wirtschaftsinspektor beschwert habe, nachdem er in den Monaten August/September eine auffallend starke Gewichtsabnahme bei allen Gefangenen feststellte.
In Groß-Strehlitz herrschte dasselbe Kübelsystem wie in Münster und Breslau, nur mit dem Unterschied, dass es in Groß-Strehlitz in einer besonders skandalösen und die ganze Anstalt verpestenden Weise durchgeführt wurde. Vor dem Eingang zu jedem der drei Zellenflügel stand vor der Tür auf einem Wagen eine Jauchentonne. In diese Tonne wurden täglich dreimal vierundachtzig Kübel entleert. Die zirka vierzig Kübel von jeder Station - es gab insgesamt zwölf Stationen - wurden in einen am Ende des langen Korridors stehenden großen offenen Kübel geschüttet. Die offen stehenden Kübel verbreiteten natürlich - ganz besonders in den heißen Sommermonaten - einen unausstehlichen Gestank. Sie standen dreimal täglich, jedes Mal über eine Stunde lang, auf dem Korridor, bis alle Kübel entleert waren. Dann trugen zwei Kalfaktoren die offenen, stinkenden Kübel die Treppe hinunter, wobei es ohne Verschütten nicht abging, und gossen den Inhalt in die vor den Türen stehenden Tonnen. Diese Tonnen wurden dann aber nicht etwa weggefahren, sondern sie blieben tage- und wochenlang stehen, und da die Tonnen nicht verschlossen waren, lief der Inhalt langsam wieder heraus, und um jede Tonne herum bildeten sich oft kleine Seen von Jauche und Kot. Waren die Tonnen voll, so dass nichts mehr hineinging, und konnten sie aus irgendeinem Grund nicht sofort abtransportiert werden, dann gossen die Kalfaktoren den Inhalt der Kübel einfach in die Mitte des Hofes auf ein umgegrabenes Stückchen Land. Während der Freistunde mussten die Gefangenen den Pestgeruch einatmen, den der mit den Exkrementen dicht überschüttete Erdboden ausdünstete; auch die Beamten litten sehr unter diesen Verhältnissen. Besonders ekelhaft ging es sonntags früh zu, weil alles sehr fix gehen musste, damit die Gefangenen rechtzeitig zur Kirche kamen; die Entleerung der Kübel und die Verteilung des Kaffees wurden fast zur gleichen Zeit vorgenommen. Ähnlich war es an den Werktagen während der Mittagszeit. Bis 1 1/2 Uhr wurde Essen ausgeteilt, und während die Gefangenen noch bei der Essschüssel saßen, mussten sie mit denselben Händen schon den Kübel zur Entleerung vor die Türe stellen. Diese Einteilung entsprach nicht den Vorschriften, aber sie geschah, weil das den Beamten bequemer war. Der Direktor kümmerte sich nicht darum.
Einen besonderen Hass hatte der Direktor in Groß-Strehlitz auf die »Liga für Menschenrechte«. Sobald er nur den Namen hörte, wurde er fuchsteufelswild. Die an mich gesandte Zeitschrift der »Liga« bekam ich über ein Jahr lang nicht ausgehändigt, und erst nach monatelangen Kämpfen setzte ich durch, dass ich an die »Liga« schreiben durfte. Die meisten Gefangenen durften überhaupt nicht an die »Liga« schreiben. Die Gefangenen waren überzeugt, dass der Direktor befürchtete, die »Liga« könnte zuviel Material über die Zustände im Groß-Strehlitzer Zuchthaus erhalten. Gefangenen, die den Antrag stellten, einen Brief an die »Liga« zu schreiben, hielt der Direktor einen längeren Vortrag über die Zwecklosigkeit der »Liga«. Die Gefangenen wussten wenig von der »Liga für Menschenrechte«, aber die fühlten instinktiv aus den knappen Pressenotizen heraus, dass die »Liga« einen zähen Kampf gegen Fehlurteile und Justizmorde führte und dass sie die Öffentlichkeit gegen den menschenunwürdigen Strafvollzug aufrief.
Die »Liga« müsste in bestimmten Zeitabständen junge Anwälte, die noch keine allzu große Praxis besitzen und deshalb über etwas mehr Zeit verfügen, in die Strafanstalten schicken, um mit Strafgefangenen, die bei ihrer Verurteilung einen Offizialverteidiger hatten oder deren Fall sonst nicht ganz klar liegt, persönlich Fühlung und Rücksprache zu nehmen. Nur dadurch könnten manche Justizirrtümer und Fehlurteile, deren es mehr gibt, als die Öffentlichkeit es sich träumen lässt, korrigiert werden. Von den vielen, ganz offensichtlichen Fehlurteilen, die mir während meiner fast achtjährigen Haft bekannt wurden, will ich hier nur einen Fall schildern.
In Groß-Strehlitz ging eine Zeitlang in der Freistunde mit mir der kriminelle Gefangene August Warnat; er war wegen versuchter Transportgefährdung zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Ich lernte ihn kennen, als er bereits sieben Jahre verbüßt hatte. Warnat war ungelernter Arbeiter und stammte aus einem ostpreußischen Dorf. Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt. Durch sein tägliches Beisammensein mit mir fasste Warnat Vertrauen und schilderte mir sein ganzes Leben. Der Mann log bestimmt nicht - ich habe auf jede mögliche Art seine Wahrheitsliebe geprüft -, er war von einer herzerfrischenden Offenheit.
Durch längere Arbeitslosigkeit in Not geraten, hatte er den Plan gefasst, in einem Dorf bei einem Bauern Hühner zu stehlen. Am Tage besah er sich den Hof, um während der Nachtstunden den Diebstahl auszuführen. Während er das Gehöft umstrich, wurde er von einer Gendarmeriepatrouille angehalten und gefragt, was er hier zu suchen habe, woher er komme und wohin er wolle. Er wollte natürlich nicht zugeben, dass er die Absicht hatte, in dieser Nacht einen Hühnerdiebstahl auszuführen, und erfand eine ungeschickte Ausrede, durch die die Gendarmerie erst recht Verdacht schöpfte. Kurz vorher war in der Nähe ein geplantes Eisenbahnattentat rechtzeitig bemerkt worden. Die Gendarmen suchten den Täter und glaubten, ihn in Warnat gefunden zu haben.
Er wurde verhaftet und ohne jegliche Voruntersuchung wegen versuchter Transportgefährdung angeklagt. Er nahm die Sache nicht tragisch, weil er überzeugt war, in der Gerichtsverhandlung werde sich seine Unschuld herausstellen.
Seinen Offizialverteidiger sah er zum ersten Mal in der Gerichtsverhandlung. Warnat war schüchtern, errötete sehr leicht und stotterte etwas. Sein Benehmen legten die Richter als Schuldbewusstsein aus, und ehe der arme Teufel überhaupt recht zur Besinnung kam, war er zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.
Kein Hahn krähte nach ihm. Für den Offizialverteidiger war die Angelegenheit erledigt. Die Richter hatten ihre Pflicht erfüllt, ein Urteil gesprochen, wen scherte es, ob es ein Fehlurteil war. Angehörige hatte er keine.
Warnat ging ins Zuchthaus, arbeitete dort fleißig und führte sich gut. Dabei litt er furchtbar unter der Einsperrung. Jahrelange Einzelhaft hatte seine Gesundheit ruiniert. Ein Gnadengesuch machte er nicht, er war ja unschuldig.
Überglücklich war er, als die Frau meines Verteidigers Dr. Apfel ihm einen Stieglitz und ein Kanarienweibchen sandte, die er mit Liebe und Sorgfalt pflegte. Als sie Junge bekamen, war sein Glück vollkommen, er hatte eine kleine Familie, konnte seine aufgespeicherte Zärtlichkeit an die Tierchen verschwenden und lebte wieder auf.
Warnat wurde am 6. Mai 1928 aus dem Zuchthaus Groß-Strehlitz nach acht Jahren unschuldig verbüßter Zuchthaushaft entlassen.
In Groß-Strehlitz befand sich auch Erich Strauß, der Bruder des bekannten Ein- und Ausbrecherkönigs Emil Strauß. Ich hatte ein paar Mal Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, und lernte in ihm einen aufrechten, charaktervollen Menschen kennen, den auch die Gefangenen und Beamten achteten. Er hatte viele Konflikte mit der Verwaltung, vor allern mit dem Direktor Adamietz. Durch die vielen Arreststrafen, die der Direktor über ihn verhängt hatte, war seine Gesundheit schwer erschüttert.

 

Endlich Erfolge im Kampf um die Wiederaufnahme

Mit aller Energie versuchte ich auch vom Groß-Strehlitzer Kerker aus die Wiederaufnahme meines Prozesses in Gang zu bringen. Ich hatte bereits im Jahre 1922 ohne Unterstützung eines Anwaltes einen Wiederaufnahmeantrag beim Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik eingereicht. Er wurde zwar abgelehnt, hat aber doch einen wesentlichen Erfolg gezeitigt: der Staatsgerichtshof anerkannte prinzipiell, dass trotz meiner Verurteilung wegen zahlreicher Delikte (Hochverrat, Sprengstoff-Attentate, Widerstand gegen die Staatsgewalt u. a.) ein Angriff gegen das Sondergerichtsurteil, der sich lediglich gegen die Verurteilung wegen des an dem Gutsbesitzer Heß angeblich von mir verübten Totschlags richtete, zulässig sei. Die anderen Teile des mehr als 30 Schreibmaschinenseiten umfassenden Urteils anzufechten, hatte ich gar keine Veranlassung. Zwar bin ich in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen für andere, die ich nicht preisgeben wollte, verurteilt worden. Dabei handelte es sich aber ausnahmslos um so genannte politische Vergehen. Mein Standpunkt ist, dass ein angeklagter Revolutionär ein paar Jahre Einkerkerung ohne Jammern in Kauf nehmen muss. Mir kam es nur darauf an, nachzuweisen, dass das mir angehängte so genannte gemeine Verbrechen dazu dienen sollte, mich lebenslänglich hinter Kerkermauern zu begraben und die Revolutionäre in den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen. Es war mir klar, dass ich meinen Kampf gegen das Fehlurteil, der von der Roten Hilfe sowie von meiner Partei und Tausenden von Arbeitern tatkräftig unterstützt wurde, nicht ohne einen geschickten Anwalt erfolgreich durchführen konnte. Mit meinen bisherigen Verteidigern hatte ich wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten - mit Hegewisch wegen eines privaten Konfliktes - brechen müssen. Zu meinem oft scharfen Vorgehen gegen die Anwälte und manche Freunde veranlasste mich in der Hauptsache die Überzeugung, dass der Kampf um die Wiederaufnahme von großer prinzipieller Bedeutung war. An einem so krassen Fall wie dem meinen konnte der politischen Justiz die Maske vom Gesicht gerissen werden. Zugleich sollte die Zähigkeit, mit der ich aus der Zuchthauszelle heraus den Kampf betrieb, meinen zahlreichen Genossen, die gleich mir in Zuchthäusern und Gefängnissen verkümmerten, ein Beispiel geben.
Die erste wirksame Hilfe fand ich bei dem Genossen Arthur Dombrowski, der nach seiner Freilassung aus dem Breslauer Gefängnis mit außerordentlichem Geschick und unermüdlichem Fleiß verschiedenen Spuren nachging.
Nachdem seine Ermittlungen überraschend wertvolles Material zutage förderten, nahmen sich auch die Partei und die Rote Hilfe, vor allem aber ihr Leiter, Jakob Schlör, mit großem Nachdruck meiner Wiederaufnahmesache an.
Aber immer noch fehlte der geeignete Anwalt. Ich hatte meinen Freund Egon Erwin Kisch gebeten, einen energischen Anwalt ausfindig zu machen, der die Wiederaufnahmeangelegenheit endlich ins Rollen bringe. Kisch schlug den Rechtsanwalt Dr. Apfel vor. Ich ging auf seinen Vorschlag ein, und die Rote Hilfe übertrug ihm auf meinen Wunsch das Mandat. Dr. Apfel nahm sofort die Nachforschungen auf. Er bereiste das ganze Gebiet des mitteldeutschen Aufstandes, Ort für Ort, prüfte die Ermittlungen des Genossen Dombrowski mit der juristischen Lupe nach, verschaffte sich ein Bild von allen in Betracht kommenden Personen und brachte schließlich, nachdem er etwa hundert Aktenbände anderer mit dem mitteldeutschen Aufstand zusammenhängender Prozesse durchstudiert und Auszüge daraus gemacht hatte, ein überwältigendes Material zusammen. Meine Genugtuung hierüber wurde nur durch den Gedanken getrübt, dass diese Arbeit zum größten Teil schon ein paar Jahre vorher hätte geleistet werden können. Mein neuer Verteidiger, der einer bürgerlichen Partei angehörte und deshalb bis zum Schluss dem größten Misstrauen vieler führender Parteigenossen begegnete, behandelte meinen Fall als reinen Rechtsfall. Auf meine Bedingung, die Verteidigung und die publizistische Aufrollung so zu führen, dass meine politischen und sozialen Ansichten in keiner Weise entstellt werden, ging er bereitwilligst ein. Durch gute Beziehungen gelang es ihm, die maßgebenden deutschen Zeitungen für meinen Fall zu interessieren, obgleich sie mich früher als »Bürgerschreck« in Grund und Boden verdammt hatten.
Es wurde ein »Neutrales Komitee« gebildet, dem sich Männer wie Thomas und Heinrich Mann, Stefan Zweig, Rudolf G. Binding, Dr. Emanuel Lasker, Prof. Albert Einstein, Freiherr von Schoenaich, Prof. Carl Grünberg und Prof. Dessauer (M. d. R.), kurz: Angehörige fast aller politischen Parteien anschlossen und dessen Aufrufe und Kundgebungen deshalb besonders eindrucksvoll waren, weil darunter nicht nur die Namen bekannter linksstehender Vertreter von Kunst und Literatur zu finden waren, sondern auch die Unterschriften solcher Personen, wie sie unter derartigen Dokumenten sonst nie zu stehen pflegen, nämlich von Rechtsanwälten, Universitätsprofessoren aller Fakultäten, Bankdirektoren und selbst Industriellen. Mit großem taktischem Geschick verstand es der Verteidiger, die immer wachsende Schar jener Intellektuellen und Kaufleute zusammenzuhalten, die sich ein Gewissen bewahrt haben, aber offenbar noch immer an der demokratischen Illusion festhalten, im bürgerlichen Staat müsse sich Recht mit Gerechtigkeit decken, und die daher das Fehlurteil im Falle Heß öffentlich als Justizschande bezeichneten.
Neben der publizistischen Arbeit leistete Dr. Apfel eine gewaltige juristische Kleinarbeit, die noch dadurch gefördert wurde, dass er die gro­ßen theoretischen Kenntnisse Felix Halles und die wertvollen Erfahrungen Dr. Kurt Rosenfelds, der sich, wie so oft, auch in diesem Falle in uneigennütziger Weise zur Verfügung stellte, mit seinen Fähigkeiten zu verbinden wusste. Meine Verteidigung verlor auch nicht den Mut, als die Hallenser Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Friehe, der sich selbst als Täter im Falle Heß bezichtigt hatte, einstellte und nicht nur die Öffentlichkeit, sondern sogar meine Freunde das Wiederaufnahmeverfahren für erledigt hielten. Ich persönlich hatte das umfangreiche Werk des bekannten Strafverteidigers Dr. Max Alsberg »Justizirrtum und Wiederaufnahme« mehrmals durchgearbeitet und glaubte daher von Anfang an nicht an eine neue Hauptverhandlung. Das Buch gehörte zu meiner Bibliothek, die ich bei mir in der Zelle hatte, und ich erfuhr daraus, dass es fast unüberwindliche formaljuristische Schwierigkeiten gibt, die einer Wiederaufnahme des Prozesses selbst dann noch im Wege stehen, wenn das Entlastungsmaterial unangreifbar ist. Trotzdem gab ich aus politischen Gründen den Kampf nicht auf.
Eine Bresche in das Fehlurteil hatte bereits die in fünfzigtausend Exemplaren verbreitete Broschüre Erich Mühsams »Gerechtigkeit für Max Hoelz«, die die Rote Hilfe herausgab, geschlagen.
Und nunmehr setzten sich Arthur Holitscher, Egon Erwin Kisch, Ernst Toller, Armin T. Wegner und andere Mitglieder des Neutralen Komitees in Zeitungsartikeln und Kundgebungen für die Wiederaufnahme des Prozesses ein. Egon Erwin Kisch gab im Erich Reiß-Verlag meine durch ihn gesammelten »Zuchthausbriefe« heraus sowie im Mopr-Verlag die Broschüre »7 Jahre Justizskandal«.
Im Sommer 1927 besuchte mich Dr. Apfel im Groß-Strehlitzer Zuchthaus und brachte den - inzwischen leider verstorbenen - Mitarbeiter der »Vossischen Zeitung« Sling mit. Dieser bürgerliche Journalist wurde mir ein aufrichtiger Freund, den ich besonders schätzte, weil er sich nicht nur für mich einsetzte, sondern für jeden Menschen, der unter das Fallbeil der Justiz geraten war.
Die Artikel von Sling in der »Vossischen Zeitung« erregten größtes Aufsehen und trugen viel dazu bei, dass in weiten Kreisen das Interesse für meinen Rechtskampf geweckt wurde. Bald darauf führte mir Dr. Apfel den Juristen und Journalisten Rudolf Olden zu, der - wie Sling - meinen Rechtskampf publizistisch unterstützte und den ich genau wie jenen als einen ehrlichen bürgerlichen Gegner und lieben Menschen schätzen und achten lernte. Er hatte keine Sympathie für meine Partei und die kommunistische Bewegung, aber er versuchte in seiner Weise gegen offensichtliche Justizirrtümer und Justizmorde zu kämpfen. Meine Freunde in der Freiheit und zum Teil auch meine Genossen im Kerker, die von meiner Wertschätzung für Sling, Olden, Holitscher, Toller, A. T. Wegner u. a. wussten, bezeichneten das als krankhafte Neigung zu bürgerlichen Intellektuellen, die mich den Arbeitern entfremden müsse. Ihre Sorge war unberechtigt. Ich vertrete den Standpunkt, dass es taktisch unklug und auch unkommunistisch ist, jeden Intellektuellen als einen bürgerlichen Feind zu betrachten und zu behandeln. Wir wollen Menschen für unsere Bewegung zu gewinnen oder zumindest dafür zu interessieren versuchen, nicht aber uns gegen sie abschließen und sie abstoßen.
Der von Dr. Apfel und Felix Halle gemeinsam ausgearbeitete Wiederaufnahmeantrag wurde von dem Mopr-Verlag der Roten Hilfe in Tausenden von Exemplaren gedruckt und an die Abgeordneten der Parlamente sowie an bekannte Juristen geschickt. Das Original wurde beim Reichsgericht eingereicht und zeitigte den Erfolg, dass der Oberreichsanwalt in seinem Gutachten an den vierten Strafsenat die Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig erklärte.

 

»Na, wie geht's euch, ihr Misthaufen?«

Ende August 1927 wurde ich auf Antrag meines Verteidigers von Groß-Strehlitz in das Zuchthaus Sonnenburg überführt. Die große Entfernung von Berlin nach Groß-Strehlitz hemmte empfindlich die Vorwärtstreibung meiner Rechtssache, da der Anwalt durch die lange Reise jedes Mal viel Zeit verlor. Von Berlin nach Sonnenburg, hatte mein Verteidiger eine viel günstigere Verbindung.
Am Tage meiner Überführung von Groß-Strehlitz nach Sonnenburg wurden Sacco und Vanzetti von der amerikanischen Bourgeoisie ermordet. Ich hatte in den letzten fünf Jahren nichts von dem Leben außerhalb der Zuchthausmauern gesehen und freute mich darauf, nach so langer Zeit einmal wieder etwas anderes als die kahle Zuchthauszelle und die uniformierten Automaten vor Augen zu haben. Jedes Freudegefühl aber wurde an diesem Tage verdrängt durch Wut und Grauen über die an den beiden Italienern verübte beispiellose Unmenschlichkeit. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass die amerikanische Justiz es wagen würde, Sacco und Vanzetti nach siebenjähriger Folter dem Henker auszuliefern. Gerade dieses jahrelange Hin-und Herschleppen zwischen Kerkerzelle und elektrischem Stuhl war weit entsetzlicher als ein schneller Tod oder als meine eigene siebenjährige Zuchthausqual.
Als eine Herausforderung empfand ich es, dass bei meiner Überführung nach Sonnenburg der Direktor Adamietz die zweitägige Reise mitmachte, um mich, wie er sagte, sicher an Ort und Stelle abzuliefern. Nur die Gegenwart meines Verteidigers hielt mich davon ab, ihm noch einmal meine ganze Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Bezeichnend für ihn war, dass er am Tage nach meiner Ankunft in Sonnenburg in meine Zelle kam und mir mit einem Wortschwall einzureden versuchte, dass er eigentlich mein bester Freund sei. Ein paar Wochen später kamen zwei Aufseher, die einen Gefangenentransport von Groß-Strehlitz nach Sonnenburg brachten. Von ihnen erfuhr ich, dass Adamietz, froh, mich los zu sein, am Abend nach seiner Rückkehr ein Fest veranstaltet hatte.
Das Zuchthaus Sonnenburg machte schon aus der Ferne einen anderen Eindruck als die Anstalten in Münster, Breslau und Groß-Strehlitz. Gebäude und Mauern waren geweißt und wirkten dadurch freundlicher. Als wir ankamen, war es noch hell. Der Direktor, dem ich übergeben wurde, war mir nicht unbekannt. Ich hatte ihn in Groß-Strehlitz gesehen, als er dort vierzehn Tage lang vertretungsweise amtierte. Bei meiner Einlieferung behandelte mich einer der Beamten (Schneidau) besonders freundlich und - zum Unterschied vom Direktor in Münster - änderte auch später sein Verhalten nicht: man musste ihn achten, weil er zu allen Gefangenen gleich menschlich und freundlich war. Ebenso wohltuend wie sein Benehmen berührte es mich, dass auf den Tischen und an den Fenstern der Gänge blühende Zimmerpflanzen standen. Einen solchen Anblick war ich nicht gewöhnt. In anderen Anstalten herrschte nicht nur in den Zellen, sondern auch in den Korridoren niederdrückende Nüchternheit.
Meine Zelle war auffallend klein. Ich erklärte, dass es unmöglich sei, meinen Schwitzkasten aufzustellen (ich litt noch immer an Rheumatismus) und meine Turnübungen zu machen. Der Direktor veranlasste, dass ich in der nebenan liegenden Doppelzelle untergebracht wurde. An den Sonntagen durfte ich mich mit vier anderen Genossen in meiner Zelle treffen, während ich an den übrigen Tagen nur eine Stunde im Hofe mit ihnen Zusammensein konnte. Außer mir befanden sich in Sonnenburg noch 27 andere Genossen, von denen einige kurze Zeit später entlassen wurden, da ihre Strafzeit beendet war. In den Genossen lernte ich Menschen kennen, die der Vorstellung entsprachen, die ich mir während der Jahre meiner Abgeschlossenheit von Parteigenossen gemacht hatte, ich fand wertvolle Menschen, unerschrockene, zuverlässige Kämpfer, die sich den Klassenrichtern gegenüber und auch in jahrelanger Haft tapfer verhalten hatten. Bei den Zusammenkünften und sonntags in meiner Zelle erkannte ich zum ersten Mal klar, wie menschenscheu und schwierig ich durch die lange Isolierung und Einzelhaft geworden war.
In Groß-Strehlitz gab es einen dienstergrauten, frommen Beamten- sein Sohn war katholischer Missionar -, den die Gefangenen liebten, weil er seinen Beruf mit mehr Menschenfreundlichkeit ausübte, als im Zuchthaus überhaupt erlaubt war. Dieser Beamte war ein Original. Die Gefangenen, von denen er wusste, dass sie sein Wesen verstanden und ihm daher nichts übel nahmen, begrüßte er immer mit dem derben Ausdruck »Misthaufen«. Auch seine Kollegen redete er in derselben Weise an. Da er einen sehr langen, schwer auszusprechenden Namen hatte, erhielt er selbst im Laufe der Zeit den Spitznamen »Misthaufen«. Dadurch wurde der Ausdruck so populär in der Anstalt, dass es einfach undenkbar war, ihn nicht mindestens jeden Tag ein paar Dutzend Mal zu hören. Die Gefangenen waren direkt von einer »Misthaufen«-Psychose ergriffen, die wir uns nur damit erklären und vor uns selbst entschuldigen konnten, dass wir die tägliche Anwendung dieses und anderer Kraftausdrücke als verschämte Zärtlichkeit deuteten. Auch mir wurde der Ausdruck in Groß-Strehlitz so geläufig, dass ich nach meiner Überführung nach Sonnenburg die dortigen Genossen mit »Na, wie geht's euch, ihr Misthaufen« begrüßte. Die Sonnenburger Genossen waren darüber ganz empört, es kam direkt zu einem kleinen Aufstand gegen mich. Sie hielten meine starken Ausdrücke für anmaßend und verbaten sich diesen Ton.
Die Behandlung der Gefangenen in Sonnenburg war in mancher Hinsicht humaner als in Groß-Strehlitz. Der Präsident des Strafvollzugsamtes Berlin-Brandenburg, dem Sonnenburg unterstellt ist, Geheimrat Finkelnburg, ist ein in der Öffentlichkeit bekannter Reformer des Strafvollzugs. Würden die Zuchthausdirektoren, Inspektionsbeamten, Aufseher und Anstaltsärzte seine Auffassung teilen, dass auch der am tiefsten gesunkene Verbrecher noch Mensch ist und als solcher behandelt werden muss und alle Verbrechen durch soziale Missstände bedingt sind, dann würden die heutigen barbarischen Methoden des Strafvollzugs um vieles gemildert. Finkelnburgs Bemühungen, bei denen er von seinem Dezernenten, Oberjustizrat Lemkes, unterstützt wurde, ist es gelungen, in einigen preußischen Anstalten die gröbsten Schikanen und Misshandlungen der Gefangenen zu unterbinden. In seinem Kern ist das System des Strafvollzugs natürlich dasselbe geblieben. Die Voraussetzung für seine endgültige Beseitigung ist die Überwindung der kapitalistischen Ordnung.
Fast die einzigen Mittel, mich während meiner langjährigen Zuchthaushaft körperlich und geistig elastisch zu erhalten, waren Geräteturnen und Gymnastik. In einigen Anstalten ist das Turnen für die Gefangenen bis zu 20 und 25 Jahren obligatorisch. Wöchentlich ein- oder zweimal dürfen sie für eine halbe oder eine ganze Stunde im Anstaltshof unter Aufsicht der Wärter am Reck, Barren und Sprunggerät turnen und andere Übungen machen. Im Zuchthaus Sonnenburg wurde das Turnen sehr gepflegt. Dort war ein Hauptwachtmeister (Wiehle), der großes Interesse dafür bekundete und der die Aufsicht in der Turnstunde führte. Aber auch hier zeigte sich der hemmende Einfluss der älteren und reaktionären Aufseher wie Kluck, Hentschke und Quietzke, die befürchteten, durch das Turnen werde sich die »Anstaltsdisziplin« lockern, und die den Gefangenen missgönnten, dass sie wegen der Turnübungen über die ihnen zustehende halbe Stunde hinaus im Hof bleiben konnten. Alle Gefangenen sind angewiesen, in ihren Zellen frühmorgens oder abends Gymnastik zu treiben. Davon wird wenig Gebrauch gemacht, weil erstens die Zellen viel zu klein sind, um in ihnen Gymnastik zu treiben, und weil eine eiserne Energie dazu gehört, in einem schlecht gelüfteten, vom Gestank der Kotkübel erfüllten winzigen Raum täglich jahraus jahrein zu turnen oder Atemübungen zu machen. Ich habe in allen Anstalten, in denen ich mich aufhalten musste, versucht, die Gefangenen für den großen gesundheitlichen Wert der Freiübungen zu interessieren. Einige begannen die Übungen mit Begeisterung, ließen aber in ihrer Ausdauer bald nach, da die Zellenluft ungemein schwächend auf den Körper und die Willenskraft einwirkt.
Mich selbst hat außer den Büchern nur regelmä­ßige und systematisch durchgeführte Gymnastik vor Verkalkung und völligem Zusammenbruch gerettet. In den drei Jahrzehnten vor meiner Zuchthaushaft hatte ich leider nie Gelegenheit oder die notwendige Anregung zum Turnen gefunden. Erst im Zuchthaus - und zwar angeregt durch Professor Többen - lernte ich die große Bedeutung und den unschätzbaren Wert - zugleich auch für die Erhaltung der geistigen Frische - der Körperübungen kennen. Ich nahm diese Übungen genau so ernst wie alles andere, was ich anpackte, und erreichte dadurch, dass trotz meiner vierzig Jahre mein fast zusammengebrochener Körper wieder elastisch und leistungsfähig wurde. Während ich vorher oft zwölf Stunden oder sogar ganze Tage lang zur Abfassung einer einzigen Briefseite brauchte, weil ich mich nicht konzentrieren konnte, brachte ich es sechs Monate, nachdem ich mit der Gymnastik begonnen hatte, zu einer Konzentration, die ich früher nie für möglich gehalten hätte. Es machte mir sogar besondere Freude, zu sehen, dass ich die viel jüngeren Gefangenen, denen ich manchmal von meinen Zellenfenstern aus beim Turnen zusah, an Leistungen übertraf. Im Schlusssprung erreichte ich die Höhe von 1,25 m, im Hochsprung 1,65 m, im Weitsprung nahezu 5 Meter. Außerdem übte ich Steinstoßen und täglich eine Viertelstunde Dauerlauf. Früher hatte ich die ganze Nacht nicht schlafen können und furchtbar unter Nachtschweiß gelitten. Jetzt aber konnte ich regelmäßig 3-4 Stunden fest schlafen. Ich sprang früh um vier Uhr von meiner eisernen Schlafpritsche, obwohl die Gefangenen erst um 7 Uhr aufstanden, goss mir ein oder zwei Tonkrüge kaltes Wasser über den Körper, rieb mich ab und machte dann zwei Stunden lang meine gymnastischen Übungen. Anschließend übte ich mich eine halbe Stunde im Boxen, als Partner diente mir ein mit Sand oder Rosshaar gefülltes Kissen, das ich an der Wand befestigt hatte und mit meinen Fäusten bearbeitete. Nach sieben Uhr gab es als Frühstück die lauwarme, stinkende und übelschmeckende Zichorienbrühe und das Stück trockenes Brot. Dann setzte ich mich über meine Bücher und arbeitete bis zur Verteilung der Mittagssuppe. Nachher wurde ich auf eine halbe und später eine ganze Stunde, in Sonnenburg sogar auf zwei Stunden, unter Aufsicht in den Anstaltshof geführt. Das war die »Erholung«, auf die ich mich aber stets freute, weil ich in dieser Zeit, wenigstens in den letzten drei Jahren meiner Haft, etwas turnen konnte.
Die individuellen Möglichkeiten, über das Schwere längerer Zuchthaushaft hinwegzukommen, sind naturgemäß ganz verschieden. Auf jeden Fall braucht der Gefangene irgend etwas, das ihm Freude macht. In einigen Anstalten ist es daher einigen wenigen Insassen, die sich »sehr gut führen«, erlaubt, einen Singvogel in ihrer Zelle zu halten. In Münster, Breslau, Groß-Strehlitz und
Sonnenburg war das nicht gestattet, aber es gelang mir, durchzusetzen, dass wenigstens in Groß-Strehlitz und Sonnenburg einige Gefangene Vögel halten durften.
Jahrelang hatten verschiedene Gefangene versucht, die Erlaubnis zur Anschaffung eines gefiederten Sängers zu erhalten. Ihre Anträge waren immer abgelehnt worden. Um ihnen zu helfen, machte ich folgendes Manöver. Ich stellte sowohl an die Direktion als auch an die Strafvollzugsämter den Antrag, mir zu genehmigen, dass ich in meiner Zelle einen Stieglitz und einen Kanarienvogel halten könne. Die Anträge wurden mehrmals abgelehnt, schließlich aber doch bewilligt. Ich hatte gar nicht die Absicht, selbst Vögel zu halten, da es für mich unerträglich war, die armen Tierchen in einen Käfig zu sperren und in einer düsteren und dumpfen Zelle festzuhalten; ich forderte aber die Gefangenen auf, ihre früheren Anträge zu wiederholen und sich darauf zu berufen, dass ja Hoelz die Genehmigung erhalten habe und diese Vergünstigung deshalb auch anderen gewährt werden müsse. So wurde endlich der langgehegte Wunsch einiger Gefangener erfüllt. Ihre Freude war unbeschreiblich, als sie die Tierchen in ihre Zellen bekamen. Einige machten Luftsprünge und weinten vor Freude. Andere Gefangene hielten sich heimlich Mäuse oder Sperlinge, einer sogar einen Hamster, obwohl das alles streng verboten war. Für sie bedeutete die Fütterung und Pflege dieser Tierchen eine willkommene Abwechslung in der grausamen Monotonie der Einzelhaft, und an diese kleinen Lebewesen verschwendeten sie ihre ganze aufgesparte Zärtlichkeit. Einer baute sich einen großen Glaskasten, den er als Aquarium verwendete. Einmal, mitten in der Nacht, gab es in seiner Zelle einen furchtbaren Krach. Die in dem Kasten enthaltenen über 5 Eimer Wasser hatten die dünnen Glaswände auseinandergesprengt, und die ganze Flut überschwemmte die Zelle.
Der Direktor in Sonnenburg hatte einen ganz besonders schweren Stand, sowohl gegenüber seinen vorgesetzten Behörden als auch gegenüber den Beamten und Gefangenen. Da die Anstalt im Strafvollzugsbezirk Berlin-Brandenburg lag, wurde sie des Öfteren von in- und ausländischen Juristen besichtigt, und die Vollzugsbehörden legten naturgemäß großen Wert darauf, Sonnenburg als Musteranstalt vorzuführen. Nun lagen aber gerade in Sonnenburg eine Anzahl der am schwierigsten zu behandelnden Gefangenen, darunter fast achtzig lebenslängliche, so genannte ganz »schwere Jungen«, wie der Geldschrankknacker Kirsch, der aus dem Magdeburger Mordprozess bekannte Schröder und viele andere. Die Zuchthäuser Brandenburg und Luckau schickten ihre »schwierigsten Fälle« immer nach Sonnenburg, weil sie wussten, dass man dort am ehesten mit ihnen fertig wurde. Der Sonnenburger Direktor versuchte, wenn es irgendwie ging, selbst die widerspenstigsten Gefangenen ohne Härte und Zwangsmaßnahmen in die Anstaltsdisziplin einzureihen. Bei seinen Bemühungen wurde er nur von ganz wenigen Beamten unterstützt. Die meisten sabotierten, wie schon an anderer Stelle erwähnt, die Anordnungen und Wünsche des Direktors, der es schließlich satt bekam und den Strafvollzugsdienst verließ. Er wurde nicht, wie eine gewisse Presse behauptete, strafversetzt, sondern es dauerte sogar sehr lange, ehe sein Wunsch, von seinem Posten enthoben zu werden, erfüllt wurde.

 

Rote Fahnen hängen aus den Zellenfenstern - Amnestie!

Lebhafte Unruhe entstand in der Anstalt angesichts der Hindenburg-Amnestie im Oktober 1927. Nicht nur viele politische Gefangene, sondern auch kriminelle glaubten, dass ihnen diesmal bestimmt ein Teil ihrer Strafe erlassen werde. Meine Freunde und Genossen in Freiheit rechneten sogar bestimmt damit, dass auch ich bei dieser Gelegenheit entlassen würde. Ich gab mich keinen Illusionen hin, sondern war überzeugt, dass die Justizbehörden mich nicht ausgerechnet zu Hindenburgs Geburtstag freilassen würden, wenn ich auch wusste, dass sie krampfhaft nach einem Dreh suchten, durch den sie mich loswerden konnten, ohne dass ihr Ansehen und ihre Unfehlbarkeit zu sehr darunter litten. Den verantwortlichen Justizorganen war bekannt, dass es eine Unmöglichkeit war, mich noch jahrelang festzuhalten, da alle juristischen Voraussetzungen dafür fehlten, und nicht nur die kommunistischen Arbeiter, sondern auch weite Kreise der sozialdemokratischen und indifferenten Arbeiter sowie ein großer Teil des liberalen Bürgertums sich für mein Schicksal interessierten und meine Freilassung forderten. Auch waren mir von Genossen und Freunden in der letzten Zeit wiederholt durchaus Erfolg versprechende Befreiungsangebote gemacht worden, die ich aus politischen Gründen ablehnte. Das alles war den Behörden bekannt, und sie wussten, dass die kommunistischen Arbeiter mich mit Gewalt aus dem Kerker holen würden, wenn meine gesetzliche Freilassung nicht bald erfolgen würde. Die von der Roten Hilfe Deutschlands geführte Kampagne für die Freilassung aller kommunistischen Gefangenen hatte gro­ßen Widerhall unter den Werktätigen und Intellektuellen gefunden und schwoll immer mehr zu einer wuchtigen Massenbewegung an. Im September 1927 hatte die kommunistische Fraktion im Reichstag einen Amnestiegesetzentwurf eingebracht. Aber die Einheitsfront aller übrigen Parteien verhinderte seine Beratung. Erst am 9. März 1928 wurde im Rechtsausschuss des Reichstages darüber verhandelt. Die kommunistische Partei hatte Jahre hindurch einen unermüdlichen Kampf für die Befreiung der eingesperrten Klassenbrüder geführt. Nicht nur im Reichstag und in den Landesparlamenten, sondern ebenso in den Betrieben und in den Gewerkschaften, wo sie - zusammen mit der Roten Hilfe Deutschlands - die Arbeiter mit großem Erfolg für den Amnestiekampf mobilisierte. Ich war überzeugt, dass noch vor Ende des Jahres 1928 meine Freilassung erfolgen werde.
Aber je mehr ich die Überzeugung von meiner baldigen Freilassung gewann, um so größer wurde mein Grauen vor der Rückkehr in die Freiheit. Durch die in mancher Hinsicht humanere Behandlung in Sonnenburg war viel von dem in mir angehäuften Groll und viel Erbitterung ausgelöscht worden. Aber trotzdem war ich noch so erfüllt und im Innersten aufgewühlt von all den grauenhaften Erlebnissen in den nahezu acht Zuchthausjahren, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie eine plötzliche Freilassung auf mich wirken und zu welchen Schritten sie mich treiben werde. Hatte ich mich doch schon seit Jahren an den Gedanken gewöhnt, dass ich noch sehr lange im Kerker werde bleiben müssen. Ich zwang mich zu dieser Annahme, um mich nicht falschen Hoffnungen hinzugeben und mir Enttäuschungen zu ersparen. Andererseits wusste ich, dass meine Freilassung einmal ganz plötzlich erfolgen konnte, und so drängte sich mir die Frage auf: was wirst du in der Freiheit beginnen? Mein sehnlichster Wunsch war, sofort nach meiner Freiwerdung mich auf längere Zeit in ein Dorf zurückzuziehen und dort körperliche Arbeit, Landarbeit oder Gartenarbeit, zu verrichten und so ganz langsam den Übergang in die so genannte Freiheit wieder zu finden. Ob das möglich sein würde? - Ich wusste, dass es nicht allein von mir abhängen werde. Ich sehnte mich mit allen Fasern nach der Freiheit und fürchtete sie doch zugleich. Die kurze Zeit meines Zusammenseins mit den übrigen Genossen in Sonnenburg nach meiner fast acht Jahre langen Einzelhaft hatte mir deutlich gezeigt, wie schwer mir das Zusammensein mit mehreren Menschen fiel. Ich liebte alle Menschen und litt doch unaussprechlich, wenn viele um mich herum waren.
In den ersten Sommermonaten gerieten die politischen Gefangenen - zum Teil auch die kriminellen - in Sonnenburg (und, wie aus der Presse zu ersehen war, auch in anderen Strafanstalten) in größte Erregung. Der Amnestieantrag der kommunistischen Reichstagsfraktion sollte wieder verschleppt werden, ja, es hatte den Anschein, als wolle die SPD durch einen Vorstoß die ganze Amnestie überhaupt zum Scheitern bringen. Die Sozialdemokratie hustete sogar auf ihren Vertreter im Amnestieausschuss, den Abgeordneten Kurt Rosenfeld. Die Erbitterung darüber nahm unter den Gefangenen beängstigende Formen an und führte zusammen mit anderen Ursachen zu impulsiven Entladungen der erregten Gemüter. Es wäre in diesen Tagen bestimmt zu schweren Zusammenstößen und Meutereien gekommen, wenn nicht die geschickte Taktik des Direktors Lüdecke das Äußerste verhindert hätte. In dem Sonnenburger Zuchthausprozess gegen eine Anzahl Beamter wegen Unterschlagung von Heeresgut behaupteten verschiedene Angeklagte, der Direktor sei zu gut gewesen, und unter seiner Amtszeit seien große Disziplinlosigkeit und Misswirtschaft eingerissen. Gerade diese Beamten aber und das Strafvollzugsamt wussten, dass die Behörden es nur dem Direktor zu danken hatten, wenn große Unruhen und Gewalttätigkeiten nicht ausbrachen.  Ich selbst hatte oft sehr schwere Konflikte und scharfe Zusammenstöße mit dem Direktor. Gegen uns Kommunisten hatte er ein besonderes Vorurteil, und fast alle Genossen hassten ihn. Er war weder zu gutmütig, wie einige Beamte sagen, noch zu hartherzig, wie Gefangene behaupten, sondern er gehörte zu den Menschen, die aus klarer Überlegung Konflikte stets erst friedlich zu lösen versuchen und die Zwangsmaßnahmen erst dann anwenden, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.
Wir kommunistischen Gefangenen traten geschlossen in den Hungerstreik, um nach außen hin unserm Protest gegen die Verschleppung der Amnestieberatungen Ausdruck zu geben. Zugleich wollten wir durch diesen Hungerstreik auch einige Erleichterungen im Strafvollzug erzwingen: Zellenbeleuchtung bis zehn oder zwölf Uhr, unbeschränktes Briefschreiben an die Angehörigen sowie gemeinsames Turnen. Wir teilten der Direktion und dem Strafvollzugsamt mit, dass wir geschlossen zu einer scharfen Obstruktion übergehen würden, wenn die gemeinsame Nahrungsverweigerung nicht zur Erfüllung unserer Forderungen führe. Unter uns befanden sich vier schwer lungenkranke Genossen, von denen wir verlangten, dass sie sich nicht am Hungerstreik beteiligten. Aber trotzdem fingen sie schon am zweiten oder dritten Tag an mit zu hungern. Der eine bekam davon schwere Blutstürze, und die Ärzte erklärten, das Leben der vier lungenkranken Hungerstreiker sei ernstlich gefährdet. Darauf beschlossen wir relativ Gesunden, den Hungerstreik sofort abzubrechen und mit der bereits angekündigten Obstruktion zu beginnen. Einzelne Genossen weigerten sich, den Hungerstreik abzubrechen, und wir anderen waren dadurch gezwungen, ihn wieder aufzunehmen. Ein Teil der kriminellen Gefangenen beteiligte sich spontan am Hungerstreik. Sie wollten die Aufmerksamkeit der Parlamentarier und der Öffentlichkeit auf sich lenken. Sie empfanden es als ungerecht, dass immer nur Amnestien für politische Gefangene erlassen wurden. Die kommunistischen Landtagsabgeordneten Artur Golke und Gustav Menzel sowie mein Mitverteidiger, der Reichstagsabgeordnete Dr. Kurt Rosenfeld, kamen nach Sonnenburg und versuchten uns zu bewegen, unseren Kampf aufzugeben, vor allem mit Rücksicht auf die schwerkranken Genossen, die sich trotz unserer Bitten an unserem Vorgehen immer wieder beteiligten.
Den Vorstellungen der beiden Genossen gelang es, uns zu bewegen, den Hungerstreik aufzugeben. Die kommunistischen Gefangenen in Sonnenburg hatten großes Vertrauen zu dem Genossen Golke, der alles tat, um ihnen Erleichterung zu verschaffen. Auch Menzel war beliebt, er wurde allgemein der »Vater der Gefangenen« genannt.
Die Verschleppung und die Verschandelung des Amnestiegesetzes zwang uns bald, einen neuen und noch schärferen Kampf aufzunehmen. Wir begannen die schon früher angekündigte Obstruktion und führten sie in einer Weise durch, die nicht nur die ganze Anstalt, sondern ganz Sonnenburg auf den Kopf stellte. Nach Einbruch der Dunkelheit stellten wir uns an die Zellenfenster, und sprechchorartig deklamierten wir revolutionäre Verse und sangen kommunistische oder selbsterdachte Lieder. Draußen auf den Straßen standen Hunderte von Menschen, die der furchtbare Lärm anlockte und die glaubten, jetzt komme es zu Meutereien. Diese Neugierigen lachten und amüsierten sich, wenn es plötzlich aus Hunderten trockener Zuchthauskehlen erklang:
»O Sonnenburg, o Sonnenburg,
du großes Jammertal.
Hier ist ja nichts zu finden
als lauter Angst und Qual.
Die Wärter, die sind hitzig
die Arbeit, die ist groß,
Und hat man was verschwitzet,
dann ist der Teufel los.«
La
utlose Stille aber trat ein, wenn um Mitternacht in schauerlichem Rhythmus die zwei Dutzend kommunistischer Gefangener Erich Mühsams »Lenin ist tot« deklamierten. Die Obstruktion dauerte oft die ganze Nacht hindurch, die Bewohner der umliegenden Häuser konnten nicht schlafen und beschwerten sich. Der Direktor gab sich alle Mühe, die Obstruktion zu unterbinden. Aus den Zellenfenstern hängten wir an großen Stöcken rote Fahnen. Die als sadistisch bekannten Wärter Kluck, Hentschke, Quietzke und andere, die immer verlangten, dass scharf durchgegriffen werde, hatten selbst nicht den Mut, die Fahnen von den Fenstern wegzunehmen. Als der Direktor persönlich in unseren Zellen erschien und die Entfernung der Fahnen forderte, erfüllten wir sein Verlangen, weil wir ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten wollten, da unser Kampf sich ja nicht gegen seine Person richtete. Gerade weil er uns in unserer Erregung nicht provozierte, verzichteten wir kommunistischen Gefangenen auf schärfere Maßnahmen. Wir hatten Möglichkeiten genug, durch eine groß angelegte Aktion im Zuchthaus der Autorität des Staates und des Strafvollzugsamtes wirksame Schläge zu versetzen.
Am 14. Juli wurde das vom Reichstag beschlossene Amnestiegesetz rechtskräftig, und am 16. und 17. Juli wurden die ersten politischen Gefangenen aus dem Zuchthaus entlassen. Auch dieses Gesetz brachte nur eine mühselig zusammengeflickte Scheinamnestie, denn sie befreite nicht alle gefangenen Genossen. Aus diesem Grunde kam es bei der Entlassung der Amnestierten zu aufregenden Szenen.
Obwohl doch alle unaussprechlich froh waren, endlich die entsetzlichen Mauern verlassen und zu ihren Angehörigen und an die Parteiarbeit zurückkehren zu können, weigerten sie sich, das Zuchthaus zu verlassen. Sie wollten nicht ohne die noch zurückgehaltenen Leidensgenossen in die Freiheit wiederkehren. Die Aufseher waren gezwungen, die kommunistischen Gefangenen gewaltsam aus dem Zuchthaus herauszutragen.
Ein schwer kriegsbeschädigter Genosse, ein einfacher Bergarbeiter namens Wiekowski - seit über neun Jahren ununterbrochen im Zuchthaus -, klammerte sich an mich und wollte erzwingen, dass
ich mit ihm den Kerker verlasse; ich war nämlich wie viele andere Genossen nicht unter die Amnestie gefallen. Die Beamten mussten ihn mit Gewalt von mir reißen.

 

Der Druck der Massen öffnet mir die Zuchthaustore

Am 18. Juli kam ein Telegramm vom Reichsgericht an die Zuchthausdirektion, dass ich sofort zu entlassen sei. Diesem Telegramm lag folgender Beschluss des Reichsgerichts zugrunde:
»In der Strafsache gegen den verheirateten Techniker Max Hoelz von Falkenstein, geboren am 14. Oktober 1889 zu Moritz bei Riesa, zur Zeit Strafgefangener in Sonnenburg wegen Hochverrat und and. hat das Reichsgericht, Feriensenat, in der nicht öffentlichen Sitzung vom 18. Juli 1928 nach Anhörung des Oberreichsanwalts beschlossen: Auf den Wiederaufnahmeantrag des Verurteilten und seiner Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Apfel und Dr. Kurt Rosenfeld in Berlin und auf das Gesetz über Straffreiheit vom 14.Juli 1928 RGBL. I S. 195 wird gemäß §360 Abs. 2 St.P.O. die beantragte Unterbrechung der Strafvollstreckung angeordnet.«
Die zähe Kampagne, die seit Jahren von der Roten Hilfe für die Wiederaufnahme meines Prozesses geführt worden war, der Druck der von der KPD mobilisierten Arbeitermassen, die juristisch geschickte und von warmherziger Anteilnahme getriebene Arbeit Dr. Apfels und Felix Halles, die publizistischen Vorstöße der Journalisten und Schriftsteller wie Sling, Rudolf Olden und Thomas Mann, das unermüdliche Trommeln der Erich Mühsam, Egon Erwin Kisch, Arthur Holitscher, Ernst Toller und Armin T. Wegner, sowie die vielen Hunderte von Kundgebungen, in denen Traute gesprochen hatte, - hatten den Widerstand der Justizorgane gegen eine Aufhebung des ungeheuerlichen Fehlurteils gebrochen.
Ich war frei,... aber ich traute der ganzen Geschichte nicht. Ich glaubte, das Telegramm sei von irgendeiner Behörde fingiert, um mich aus der Anstalt herauszulocken und dann in ein Gefängnis zu überführen. Ich hatte von Beamten gehört, dass ich in ein Gefängnis gebracht werden sollte. Ich war entschlossen, einer solchen Überführung schärfsten Widerstand entgegenzusetzen. Der Direktor wieder glaubte, das Telegramm sei von meinen Parteigenossen fingiert, damit ich durch diesen Trick aus dem Kerker herauskomme. Er sandte eine telegraphische Rückfrage nach Leipzig, worauf die Antwort einging, ich müsse in einer Stunde die Anstalt bereits verlassen haben. Auch teilte mir der Direktor mit, mein Anwalt habe telefoniert, er sei unterwegs nach Sonnenburg, um mich abzuholen. Nun fing ich langsam an zu glauben, dass ich tatsächlich in die Freiheit zurückkehren solle. Ich empfand darüber nicht die leiseste innere Freude. Von dem Augenblick an, wo ich ernstlich mit meiner Freilassung rechnete, legte sich ein schwerer Druck auf mein Denken und Empfinden. Ich war entschlossen, nicht ohne die anderen vier Genossen, die nicht unter die Amnestie fielen, aus dem Zuchthaus zu gehen.
Die Tatsache meiner Freilassung erfuhr ich nachmittags vier Uhr. Um sechs Uhr kamen von Berlin im Automobil Dr. Apfel, seine Frau, seine Sekretärin und mein Freund Egon Erwin Kisch. Sie wollten mich in Empfang nehmen, ich weigerte mich, ihnen zu folgen, wenn die anderen Genossen nicht mit mir zugleich entlassen würden. Es kam zu längeren, teilweise scharfen Auseinandersetzungen, auch mit dem Direktor, der mir ankündigte, dass er rücksichtslose Gewalt anwenden müsse, wenn ich nicht freiwillig das Zuchthaus in spätestens einer halben Stunde verließe. Dr. Apfel und Kisch machten mir klar, dass ich in Freiheit viel mehr für die Freilassung der zurückbleibenden Genossen tun könne als im Kerker. Ich gab nach und verabschiedete mich von den vier Genossen mit dem Versprechen, zurückzukehren und die Justiz zu zwingen, mich erneut einzusperren, wenn es der Roten Hilfe, den Verteidigern und mir nicht gelinge, die Behörden davon zu überzeugen, dass auch sie unter die Amnestie fallen müssten. Ich habe nicht vergessen, was ich den Zurückbleibenden beim Abschied sagte: Sobald ich die letzte Korrektur an diesem Buche vorgenommen habe, werde ich mein Versprechen einlösen.
Im Hof der Anstalt stand ein Auto, das mein Anwalt gemietet hatte. Ich sah den Hauptwachtmeister Schneidau und einige Ober- und Unterbeamte, die sich mir und allen anderen Gefangenen gegenüber sehr menschlich benommen hatten, und verabschiedete mich herzlich von ihnen. Dann führte mich der Wagen durch das große Zuchthaustor in die Freiheit zurück.
Die Empfindungen, die ich hatte, sind nicht auszudrücken. Es war alles so unwirklich, und ich würde mich nicht gewundert haben, wenn ich mich plötzlich aus einem Traum erwacht auf der Pritsche meiner Zelle wieder gefunden hätte. Einige tausend Meter hinter dem Städtchen Sonnenburg bat ich, den Wagen halten zu lassen. Ich erklärte meinen Begleitern, dass ich unter keinen Umständen mit nach Berlin fahre; der plötzliche Wechsel und Übergang vom Zuchthaus in die Riesenstadt sei für mich zu krass. Ich bat, man möchte mich in einen kleinen Ort bringen, wo ich übernachten könne. Es wurde beschlossen, nach Küstrin zu fahren. Dort nahmen wir in einem Hotel Quartier. Um kein Aufsehen zu erregen, trug ich mich unter einem Decknamen ein. Freund Kisch bestellte etwas zu essen. Ich konnte nur mit Mühe ein paar Bissen herunterwürgen. Es hatte mich eine starke seelische Depression überfallen, der ich nicht Herr werden konnte. Ich musste an die vier Freunde denken, die in Sonnenburg hatten bleiben müssen. Am liebsten wäre ich davongelaufen und noch am selben Abend nach Sonnenburg zurückgekehrt.
Ich bat Kisch, Alkohol zu bestellen. Ich wollte damit meine tristen Gedanken verscheuchen. Während wir noch saßen und tranken, kam plötzlich ein Auto vorgefahren, dem die Genossen Schlör und Geschke entstiegen, die uns aufgestöbert hatten. Ich war bestürzt, weil ich fürchtete, es würden bald noch mehrere Freunde und Genossen erscheinen, und mir graute davor, eine Menge Menschen um mich zu haben.
Drei Viertel zwei Uhr ging ich mit Kisch in das gemeinsame Schlafzimmer und legte mich zum ersten Mal seit nahezu acht Jahren in ein richtiges Bett. Schlafen konnte ich nicht. Ich versank in dem weichen Unterbett und geriet in starken Schweiß. In den langen Kerkerjahren hatte ich mich nur mit den dünnen Zuchthausdecken zudecken können. Mir war, als müsse ich ersticken. Drei Viertel vier Uhr sprang ich aus dem Bett, übte eine Stunde Gymnastik, während Kisch neben mir schnarchte. Dann weckte ich meinen Anwalt und erklärte ihm, dass ich sofort das Hotel und Küstrin verlasse, um nicht am Morgen eine größere Anzahl Menschen von Berlin oder sonst woher hier zu sehen.
Gegen fünf Uhr verließ ich mit meinem Anwalt, seiner Frau und seiner Sekretärin, auch von dem Hotelpersonal unbemerkt, das Haus. Kurz vor fünf Uhr fuhren wir mit dem Zug von Küstrin nach Berlin ab. Ich bat Dr. Apfel, mich in Berlin so unterzubringen, dass ich möglichst mit keinem Menschen zusammentreffe.
Im Zug trat die Reaktion auf die Erlebnisse der letzten zwölf Stunden ein. Mir stürzten plötzlich unaufhaltsam die Tränen aus den Augen, ohne dass ich wusste, warum. Noch heftiger als am Abend vorher überfielen mich tiefe Trauer und Bedrücktheit. Ich sah die im Flug vorbeisausenden Wiesen, auf denen Vieh weidete, sah Bäume, Sträucher, Häuser und Brücken und dazwischen Menschen, die keine Zuchthauskleider trugen. Meine Gedanken schweiften unwillkürlich acht Jahre zurück, und greifbar deutlich erlebte ich noch einmal den Tag meiner Einlieferung in das Zuchthaus Münster, hörte die Ketten klirren und die schweren eisernen Türen zuschlagen, und ich spürte noch einmal dieselben, das Herz abschnürenden, grauenhaften Empfindungen wie in meiner ersten Zuchthausnacht. In diesen Sekunden und Minuten konnte ich nicht an die Zukunft denken, alles an und in mir war nur ein einziges, unsagbar schmerzliches Gefühl, und mir war, als ob Tausende von Stimmen mir zuriefen, warum, warum und wozu das alles?
Meine drei Begleiter waren taktvoll genug, mich in meiner Ecke nicht mit gut gemeinten Worten und Tröstungen noch mehr zu verwirren. Ich glaube, wenn ein Mensch mich in dieser seelischen Verfassung angesprochen hätte, wäre ich bedenkenlos aus dem Zug gesprungen.
Unerkannt erreichten wir Berlin. Im Büro des Anwalts hielt ich mich den ganzen Tag über in einem abgeschlossenen Zimmer auf. Am Abend holten mich die Genossen Golke und Schlör zu der Begrüßungskundgebung ab, zu der die Berliner Arbeiter in unübersehbaren Massen aufmarschierten. Es war ein unvergesslicher, mich vollkommen überwältigender Anblick. Ich hatte so ungeheure Massen noch nie auf einem Platz oder in
Straßen zusammengeballt gesehen. Ich musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht wieder wie im Zug von Küstrin nach Berlin die Fassung zu verlieren und den Tränen freien Lauf zu lassen wie ein Kind.
Ich spürte, dass die heißen Wellen von Sympathie und Liebe, die sich mir entgegenwälzten, nicht meiner Person galten, sondern dass diese von der Kommunistischen Partei Deutschlands organisierte und von einem einzigen Willen beseelte Masse an die Revolution und an ihren Sieg glaubte. Die Wogen der Begeisterung, die mich an diesem Abend in fast erdrückender Wucht hin und her warfen, waren mir der sicherste Beweis dafür, dass wir Hunderte von kommunistischen Gefangenen nicht umsonst in den Zuchthäusern gelitten hatten. Aus der kleinen Kommunistischen Partei von 1920 und 1921 war eine Massenpartei geworden, die das Vertrauen der Werktätigen besaß.
Hier in den Straßen Berlins, eingekeilt von un­übersehbaren Mengen, empfand ich mit aller Deutlichkeit, dass ich nicht aus dem Zuchthaus entlassen worden war, weil etwa die Justizorgane ein längst offensichtliches Fehlurteil korrigieren wollten, sondern weil der Druck der Hunderttausende und Millionen kommunistischer Arbeiter und mit der Kommunistischen Partei Sympathisierender den bürgerlichen Staat gezwungen hatten, mich freizugeben. Ich war so ergriffen von diesem machtvollen Aufmarsch und der leidenschaftlichen Begrüßung der Berliner Arbeiter, dass ich vor innerer Freude und Erregung kaum ein paar Worte zu den Hunderttausenden sagen konnte.
Von Hunderttausenden erschollen immer wieder und wieder die Rufe: »Heraus mit Margies, Burkhardt, Mehlhorn und allen kommunistischen Gefangenen!«
Wenn ich in Berlin, in Halle oder in anderen Städten, die ich nach meiner Freilassung sah, auf den Straßen ging, fühlte ich mich wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Der starke Autoverkehr, die vielen Menschen, die an mir vor­überhasteten, die bunten Schaufenster machten einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich. Ich konnte mich von dem, was ich sah, kaum losrei­ßen, und es war, als ob meine Augen sich satt trinken müssten an all dem, was ich seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wenn Freunde oder Bekannte mit mir sprachen, war ich gar nicht imstande, aufmerksam zuzuhören. Meine Augen irrten wie trunken von einem Gegenstand zum anderen, jedes Kind, das ich irgendwo sah, hätte ich am liebsten gepackt und abgeküsst. Erwachsene hingegen wirkten fast fremd auf mich; mit ihnen fand ich schwer Kontakt. Sooft ich mit Freunden oder Genossen zusammen war, empfand ich das Bedürfnis, allein zu sein. Es bedeutete für mich eine fast unerträgliche Qual, mit mehreren Menschen länger als ein paar Minuten zusammenzubleiben. Auch heute, nach einem halben Jahr, sind diese Empfindungen noch die gleichen.
Wenige Tage nach der Begrüßung in Berlin kam ich zum ersten Mal wieder nach fast achtjähriger
Abwesenheit in das mitteldeutsche Kampfgebiet von 1921. In Bitterfeld, Halle, Ammendorf, Merseburg, Eisleben und Hettstedt wurde ich von den begeisterten Bergkumpels stürmisch begrüßt. Eine besondere Freude war es für mich, dass ich in Halle und Ammendorf mit meinem tapferen Sonnenburger Leidensgenossen Heinrich Wiekowski Zusammensein konnte. Der Empfang auf dem Bahnhof in Bitterfeld führte zu einem tragischen Zwischenfall. Beim Aussteigen aus dem Zug sah ich, dass Rote Frontkämpfer versuchten, einen Mann zurückzuhalten, der mit einem großen Blumenstrauß auf mich zustürzen wollte. Trotzdem durchbrach er die Absperrung. Da ein entsetzlicher Alkoholgeruch von ihm ausströmte, geriet ich in große Erregung, und um den Betrunkenen abzuwehren und zu verhindern, dass ausgerechnet er in seinem Rausch mich umarme, gab ich ihm einen scharfen Stoß vor die Brust, so dass er rückwärts in die Arme der Roten Frontkämpfer taumelte. Furchtbar bestürzt war ich, als mir nunmehr die Bitterfelder Genossen sagten, sie hätten mir gern die Szene ersparen wollen, der Mann sei Scheidecker gewesen, der während des mitteldeutschen Aufstandes als Kompanieführer mit mir gekämpft hatte und damals einer der tapfersten Genossen war. Nach seiner schon vor Jahren erfolgten Entlassung aus dem Zuchthause hatte er sich in der Freiheit nicht mehr zurechtfinden können und sich dem Trunke ergeben. Er war offenbar in das Lumpenproletariat hinabgesunken.
Dem Wunsche der Roten Hilfe, sofort nach meiner Freilassung in hundert Versammlungen für die noch in den Kerkern zurückgehaltenen kommunistischen Gefangenen zu sprechen, konnte ich nur zum Teil nachkommen.
Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, ein Versprechen einzulösen, das ich Hunderten von Gefangenen während meiner Kerkerjahre gegeben hatte. Ich wollte ein Buch schreiben über alles, was ich in Deutschlands Zuchthäusern erlebte. Und dieses Buch sollte den russischen und deutschen Arbeitern und allen Gefangenen, auch den kriminellen, gewidmet sein.
Um diese Arbeit zu beginnen, musste ich die Einsamkeit aufsuchen. Ich fühlte mich unglücklich unter vielen Menschen, ich hatte noch nicht den Kontakt mit der Freiheit, mit meiner neuen Umwelt und den Freunden und Genossen gefunden. Wann immer ich mit einzelnen Menschen oder auf Kundgebungen sprach, hatte ich das niederdrückende und hemmende Gefühl, für das, was ich sagen wollte, nicht die richtigen Worte zu finden. Sobald ich vor den meinen Worten lauschenden Massen stand, schnürte mir die Erregung die Kehle zusammen.
Nach der Kundgebung in Hannover besuchte ich zum ersten Mal meine Eltern, die in der Nähe wohnen. Sie hatten in diesen schweren Jahren mehr gelitten als ich. Ich hatte für eine Idee gelitten, von der ich ganz durchdrungen war und für die mir kein Opfer zu groß schien. Meine Eltern aber glaubten nicht an diese Idee, und darum war alles viel schwerer für sie zu ertragen gewesen.
Sie hatten nach meiner Verhaftung förmlich aus ihrer Heimat in Sachsen flüchten müssen, denn die Menschen dort, nicht nur die Bürger, sondern auch die Arbeiter, zeigten mit Fingern auf sie und machten sie für meine Taten und Handlungen mitverantwortlich, obwohl allen bekannt war, dass meine Eltern meine Handlungen verurteilten, da sie meine kommunistische Weltanschauung nicht verstanden.
Erschütternd war, als mein Vater, den ich neun Jahre nicht gesehen hatte, mir beichtete, dass er sich nach dem Kapp-Putsch, als die bürgerliche und sozialistische Presse verbreitete, ich hätte zahllose Morde und Brandstiftungen begangen, öffentlich von mir lossagen wollte. Er hatte innere Kämpfe durchgemacht, und der Entschluss war ihm nicht leicht gefallen. Aber der einfache, schlichte, von bürgerlichen Anschauungen beherrschte Proletarier hatte sich gesagt, wenn sein Sohn alle die Handlungen begangen habe, von denen die Presse berichtete, dann könne er nicht mehr sein Sohn heißen. Er ging in das Rathaus seines Heimatortes, um dort die Trennung von mir amtlich herbeizuführen. Der Bürgermeister redete ihm aber zu, er solle sich von seinem Sohn nicht lossagen, die Dinge seien nicht so, wie die Presse sie darstelle, das Ziel, das sein Sohn verfolge, sei kein schlechtes, nur die Wege, die er dazu eingeschlagen habe, seien verkehrt.
Von Hannover aus reiste ich in den badischen Schwarzwald und folgte der Einladung eines Mannes, der mit der Sache der Arbeiterbewegung sympathisierte und sich 1918 als Mitglied des Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrates den Hass der Reaktionäre zugezogen hatte. Der Tiefbauingenieur Heyd hatte für seine Kinder in dem kleinen Schwarzwälder Dorf Todtmoos-Rütte ein Bauernhäuschen gekauft. Hier in der Einsamkeit und Ruhe des Waldes hoffte ich den Übergang aus meiner engen Welt im Zuchthaus zu den Menschen und Dingen der großen Welt, die ich so verändert vorgefunden hatte, zu finden, und hier wollte ich das niederschreiben, was zugleich Rechenschaft und Abrechnung sein sollte.
Um kein Aufsehen zu erregen und um zu verhindern, dass fremde Menschen oder Freunde mich in meiner Einsamkeit aufsuchten, wählte ich für die Dauer meines Aufenthaltes in dem kleinen Häuschen ein Pseudonym - mein Anwalt hatte dazu vom preußischen Ministerium die Genehmigung erhalten. Ich musste mich nur verpflichten, solange ich das Pseudonym benutzte, dem Ministerium jeweils meinen Aufenthalt anzugeben. In dem Häuschen hatten vor mir eine ganze Reihe von Genossen und Freunden gewohnt, unter anderem Erich Mühsam, Georg Ledebour und Traute.
Ich hatte geglaubt, dass ich sofort nach meiner Ankunft in Todtmoos-Rütte mit meiner Arbeit beginnen könne. Wohl begann ich damit, aber ich kam nicht vorwärts. Fünf Wochen lang zerriss ich am nächsten Tag immer alles, was ich am vorhergehenden Tag geschrieben hatte. Ich hatte noch nie ein Buch verfasst, und das Schreiben fiel mir schon an und für sich sehr schwer. Aber dazu kam noch, dass ich vom Zuchthaus her starke Hemmungen verspürte, die ich nicht überwinden konnte und die mir jede konzentrierte Arbeit unmöglich machten. Obwohl seit jeher fast abstinent, brauchte ich jetzt große Mengen Alkohol, um überhaupt schreiben zu können. Außerdem aß ich übermäßig viel. Ich hatte immerzu Hunger und Durst.
Endlich, nach Wochen, trat die Reaktion auf diesen unhaltbaren Zustand ein. Ich konnte arbeiten, ohne vorher Rauschmittel nehmen zu müssen, ja ich empfand Ekel davor; ebenso vor dem vielen Essen.
Nun kam ich mit der Arbeit vorwärts, und bei jeder Seite, die ich schrieb oder diktierte, wurde ich seelisch freier.
Ich zwang mich zum Schreiben, obwohl ich mich während meiner acht Jahre langen Isolierung nach nichts so sehr gesehnt hatte als danach, sogleich nach meiner Freilassung wieder aktiv für die Sache der Arbeiter zu kämpfen, das heißt mit ganzer Kraft für die Partei zu wirken. Aber nach meiner Entlassung fühlte ich mich dazu nicht imstande, ohne vorher - indem ich meine Erlebnisse schilderte - einen Schlussstrich zu ziehen und zugleich das durch die Presse geschaffene Zerrbild meiner Person durch eine unverfälschte Darstellung meines Wollens und Handelns zu ersetzen.
So ist dieses Buch entstanden.

 

Nachwort

Für viele ist Max Hoelz heute ein Unbekannter. Im dritten Band der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ist im Zusammenhang mit den Märzkämpfen von 1921 ein Absatz über seine Rolle zu finden. Nur in wenigen speziellen marxistischen Abhandlungen wird ausführlich auf ihn eingegangen, aber auch dort - berechtigt - auf seine begrenzte, temporäre Wirksamkeit hingewiesen. Der 1974 zur Aufführung gelangte DEFA-Film »Wolz - Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten« war ebenso wenig geeignet, ein Bild von der Persönlichkeit Hoelz' zu vermitteln wie wirklich Aufschluss über den Anarchismus zu geben, wobei ersteres vermutlich trotz bestimmter Analogien nicht beabsichtigt war. In der BRD ist neben der Darstellung von Max Hoelz als eine Art Räuberhauptmann mit kommunistischen Neigungen in historischer Fachliteratur und Publizistik auch dessen Vereinnahmung in das Traditionsbild linkssektiererischer Gruppen anzutreffen, gänzlich ungerechtfertigt, wie die Autobiographie und das Leben von Max Hoelz nach der Haftentlassung beweisen.
Die noch lebenden Teilnehmer der erbitterten Klassenkämpfe nach der Revolution von 1918/19, vor allem wenn sie damals im Vogtland oder im mitteldeutschen Raum zu Hause waren, werden freilich gerade durch seinen Namen an Ereignisse erinnert, die für sie wenigstens Vorentscheidungen von historischer Tragweite waren.
In der zeitgenössischen biographischen Skizze von Erich Müller, die 1928 erschien, als im Zusammenhang mit der Freilassung von Max Hoelz dessen Name wieder in aller Munde war, ist sogar zu lesen: »Max Hoelz gebührt in Deutschland das Verdienst, im Sinne von Karl Marx die zum revolutionären Fortschritt nötige klare Scheidung der modernen kapitalistischen Gesellschaft in zwei Fronten verdeutlicht, wenn nicht herbeigeführt zu haben.« Er »beschließt die Reihe der sozialen Rebellen und eröffnet die Reihe der Revolutionäre«. Aber gerade das traf nicht zu. Max Hoelz war vielmehr der soziale Rebell, eher motiviert durch ein geradezu abstraktes Gerechtigkeitsgefühl als durch tiefere Einsicht in gesellschaftliche Vorgänge. Er war mutig und selbstlos, seine Spontaneität und Aktivität rissen andere mit; wie Freund und Feind berichteten, besaß er eine starke persönliche Ausstrahlungskraft. Häufig wurde er »Tatmensch« genannt.
Seine Eigenschaften machten ihn populär, weil die Kämpfe der revolutionären Nachkriegskrise schnelles und entschlossenes Handeln verlangten. Um ein Führer des Proletariats von wirklichem Format zu werden, hätte es jedoch der Bändigung des Spontanen in ihm durch die klare Erkenntnis des geschichtlich Notwendigen bedurft. Dass er diese in jenen Kämpfen noch nicht besaß und auch später nicht umfassend erwarb, lag z. T. in seinem Temperament begründet. Wie Wolf Donnerhack in seiner bemerkenswerten Diplomarbeit über das Wirken von Max Hoelz 1919 bis 1921 nachweist, war gewichtiger wohl noch der Einfluss von Mitgliedern der KPD bzw. der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAPD), die selbst linksradikale Positionen einnahmen. Bezeichnenderweise führt Max Hoelz in seinen Memoiren an, seinen Grundkurs in revolutionärer Theorie bei Otto Rühle erhalten zu haben. Rühle war zwar ein suggestiv wirkender Agitator mit zeitweilig beträchtlichem Einfluss vor allem in Ostsachsen, er hatte aber schon auf dem Gründungsparteitag der KPD sektiererische Auffassungen vertreten und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Eine kurze Zeit spielte er noch eine Rolle in der KAPD, die im April 1920 als »linke« Absplitterung der KPD entstand. In der Mitte der 20er Jahre war er in politische Bedeutungslosigkeit versunken, was ihn, wie Ludwig Renn berichtet, nicht hinderte, gelegentlich anmaßend und selbstherrlich aufzutreten.
Über das Vogtland hinaus bekannt wurde Max Hoelz durch seine Beteiligung an den Aktionen gegen Kapp und Lüttwitz 1920 sowie an den Märzkämpfen 1921. Als er seine Erinnerungen daran niederschrieb, sah er seine eigene Rolle selbstkritischer als 1920/21, so wenn er sich z. B. von den Sprengungen vor den Märzkämpfen distanzierte. Andere offenkundig falsche Positionen verteidigte er weiterhin, etwa wenn er die Aktenverbrennungen als historisch notwendig bezeichnete oder wenn er bei der Meinung verharrte, auch nach dem 24. März 1920 hätten bewaffnete Kämpfe eine Perspektive gehabt. Es war gewiss nicht Rechthaberei, die hier Hoelz die Feder führte, sondern das Bestreben, seine Meinung ungeschminkt darzulegen, wie überhaupt Ehrlichkeit ein Grundzug seiner Memoiren ist. Er versucht nichts zu beschönigen, verschweigt auch regelrecht kindliche Handlungen wie das Necken der Polizei in so ernster Situation nicht. Hierin und mehr noch in seinen Streifzügen mit bewaffneten Gruppen sieht man etwas, was Thomas Mann einmal als »Freude am Indianerspiel« bei Schiller zu entdecken glaubte. So ganz unähnlich ist denn auch Max Hoelz dem Karl Moor nicht.
Im Kampf gegen den Kapp-Putsch spielte Max Hoelz zunächst eine durchaus positive Rolle, als er die Bewaffnung der Arbeiter in Falkenstein und Umgebung vorantrieb. Ohne die bewaffneten Aktionen der Arbeiter hätte der Generalstreik kaum diesen Erfolg gehabt. Problematischer waren schon die Requirierungsmaßnahmen bei vermögenden Bürgern u. ä. Es waren nicht so sehr die Maßnahmen an sich, denn in dieser Situation waren Repressalien gegen konterrevolutionäre Kräfte in gewissem Maße notwendig. Aber die Art und Weise, wie er diese Maßnahmen organisierte und nicht zuletzt auch propagierte, machte es dem Gegner leicht, Max Hoelz als Bürgerschreck hinzustellen und die KPD zu verunglimpfen. Der Wortlaut der von ihm autorisierten Plakate konnte schon Schrecken einflößen, die Androhung von Geiselerschießungen tauchte immer wieder auf. Dabei ist nicht eine einzige Geisel erschossen worden, und das Gericht musste ihm später widerwillig zugestehen, dass er sich stets um die humane Behandlung seiner Gefangenen bemüht habe. Beim Lesen der Passagen, die solche Aktionen behandeln, entsteht fast der Eindruck der Großspurigkeit, die sonst Max Hoelz fremd war. Vielleicht liegt das daran, dass er gelegentlich seine Wirkungsmöglichkeiten überschätzte. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass er angibt, 50000 Reichswehrsoldaten hätten nach ihm und seinen Scharen nach Abbruch der Kämpfe gegen Kapp gefahndet. In Wirklichkeit waren es wohl etwas weniger als 20000 Mann, immer noch genug, um auszudrücken, welchen Schrecken Max Hoelz den gegenrevolutionären Kräften einflößte.
Seit dem 22. März 1920 war es endgültig klar, dass eine Fortsetzung des Generalstreiks und der bewaffneten Kämpfe nicht mehr möglich war. Der SPD-Vorstand hatte den Streik ohnehin nur mit dem Ziel unterstützt, den Status quo ante wiederherzustellen, so dass nach dem 18. März die Streikfront brüchig zu werden begann.
Als sich auch die Führungen der Gewerkschaften und der USPD für die Wiederaufnahme der Arbeit aussprachen, musste die Zentrale der KPD dem Rechnung tragen, denn die Mehrheit der Arbeiter stand unter dem Einfluss der reformistischen Organisationen. Deshalb setzte sich auch Wilhelm Pieck für den Abbruch der Kämpfe an der Ruhr ein, damit bürgerliche und sozialdemokratische Politiker nicht den Vorwand hätten, die für die Arbeiter positiven Seiten des Bielefelder Abkommens einfach zu negieren. Immerhin war zugesichert worden,  die  Urheber  des  Putsches  zu bestrafen, den Gewerkschaftseinfluss zu erhöhen und bestimmte Zweige der Wirtschaft zu sozialisieren. Die Bemühungen der KPD zielten jetzt darauf ab, die Aktionseinheit der Arbeiter zur Durchsetzung dieser Ziele neu zu beleben.
Max Hoelz glaubte an die Möglichkeit, die bewaffneten Kämpfe fortsetzen zu können. Die KPD geriet in eine schwierige Lage, denn Hoelz gab vor, im Namen der Kommunistischen Partei zu handeln. Da er sich nicht umstimmen ließ, blieb gar keine andere Möglichkeit, als ihn wegen Disziplinbruchs aus der Partei auszuschließen.
In der Autobiographie polemisiert Max Hoelz mehrfach gegen Heinrich Brandler und dessen Schilderung der Ereignisse in der Schrift »Die Aktion gegen den Kapp-Putsch in Westsachsen«. Er übersieht, dass es sich um eine von der Zentrale oder doch von maßgeblichen Mitgliedern der Parteiführung getragene Darstellung handelt. In ihr wurden die Aktionen vom März und April 1920 im wesentlichen richtig und auch Hoelz differenziert gewertet. Wenn die Parteiführung seine Kritik von 1928 unwidersprochen ließ, dann einmal, um die Authentizität des Buches nicht zu gefährden und zum anderen, weil zum Zeitpunkt des Erscheinens der Autobiographie Brandler in direkter Opposition zur Parteiführung stand, was der KPD zeitweilig nicht geringen Schaden zufügte. Eine Verteidigung seiner Positionen von 1920 gegen Max Hoelz hätte in der KPD 1928/29 eher Verwirrung als Aufklärung gebracht.
Die Märzkämpfe von 1921 stellten für die KPD
eine schwerere Belastung dar als die Aktionen von Hoelz und anderen »Linken« bei der Niederwerfung des Kapp-Putsches, weil die Partei als Ganzes und vor allem die Parteiführung in diese Kämpfe verstrickt waren. Im Dezember 1920 hatte sich die KPD auf marxistisch-leninistischer Grundlage mit dem linken Flügel der USPD vereinigt. Sie war damit zu einer Massenpartei geworden. Im Januar 1921 richtete die Parteiführung einen offenen Brief an die Organisationen und Mitglieder der deutschen Arbeiterklasse, in dem politische und sozialökonomische Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung aufgegriffen wurden. Er zeigte den Weg zum Abbau der Schranken zwischen den proletarischen Organisationen in einheitlichen Aktionen und wurde deshalb von Lenin auf dem III. Kominternkongress im Sommer 1921 als vorbildlich für die gesamte kommunistische Bewegung bezeichnet. Fast gleichzeitig traten erneut linksradikale Kräfte auf den Plan, die eine so genannte Offensivtheorie propagierten. In Überschätzung der neugewonnenen Stärke der Partei glaubten sie, die Kommunisten könnten allein in die Offensive gehen und eine revolutionäre Situation herbeizwingen. Auch der nunmehrige Parteivorsitzende Brandler hing dieser Theorie an.
In Regierungskreisen wurde die Situation in der kommunistischen Partei erfasst und auch, dass die Mehrheit der deutschen Arbeiter zu diesem Zeitpunkt kampfesmüde war. Es entstand der Plan, die Arbeiter im Mansfelder und Leuna-Merseburger Industriegebiet zu bewaffneten Aktionen zu provozieren und niederzuschlagen. Diese Region bildete damals die Hochburg der revolutionären Arbeiter Deutschlands, und deren Beseitigung war als entscheidender Schlag gegen die kommunistische Bewegung gedacht.
Zur Ausführung des ebenso infamen wie geschickt inszenierten Planes beorderte der sozialdemokratische Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen, Otto Hörsig, am 18. März schwerbewaffnete Polizeieinheiten ins mitteldeutsche Industrierevier. Die Empörung unter den Arbeitern dieser Region war groß. Im Mansfelder Revier begann nach einem Aufruf der dortigen Unterbezirksleitung der KPD und des Gewerkschaftskartells am 21. März der Generalstreik, um die Provokation abzuwehren. Der Streik wuchs schnell hier und im Leunawerk in den bewaffneten Aufstand über. Dies war nicht zuletzt auch deshalb möglich, weil die mitteldeutschen Arbeiter noch Waffen und Munition aus der Revolutionszeit besaßen. Sie folgten der Lehre aus dem Kapp-Putsch, dass der Erfolg des Generalstreiks auch von seiner Absicherung mit militärischen Mitteln abhänge. Nur konnte diese Lehre eben nicht schematisch auf die Situation von 1921 angewendet werden. Es war richtig, die Arbeiter ganz Deutschlands zur Solidarität mit Mitteldeutschland aufzurufen, und es wäre auch richtig gewesen, wenn irgend möglich, die Entwaffnung der dortigen proletarischen Formationen zu verhindern. Falsch war aber die Annahme, mit punktuell ausgelösten militärischen Aktionen das Signal für den bewaffneten Aufstand in ganz Deutschland geben zu können. Im Frühjahr 1921 gab es keine revolutionäre Krise.
Neben den schon genannten Ursachen für die falsche Beurteilung der Lage und den Beginn der bewaffneten Kämpfe sind noch folgende Momente zu nennen: In dieser Region hatte auch die linksradikale KAPD relativ großen Einfluss, KPD und KAPD arbeiteten hier wenigstens teilweise zusammen, und nicht immer war klar, was von welcher Partei ausging. Hinzu kam eine gewisse Uneinigkeit in der Führung der KPD, was zu widersprüchlichen Orientierungen führte, die aber eher zum Kampf mit militärischen als mit nichtmilitärischen Mitteln ermunterten. Auch die Kominternemissäre, unter ihnen der Führer der Ungarischen Räterepublik Bela Kun, verstärkten die Bestrebungen zum bewaffneten Kampf. Ein nicht unwesentlicher Faktor war schließlich das Erscheinen von Max Hoelz, der vorgab, im Auftrage der KPD-Führung zu handeln und dessen Aktivismus die noch Zögernden mitriss.
Aber wer wollte es den revolutionären Arbeitern anlasten, in dieser komplizierten Lage zur Waffe gegriffen zu haben? Ihnen war dieser Kampf faktisch aufgezwungen worden. Sie fochten ihn mutig gegen eine Übermacht von Polizei und Reichswehr aus und brachen ihn erst in gänzlich aussichtsloser Lage ab.
Nach den Kämpfen wurden etwa 6000 »Verdächtige« verhaftet, von denen rund 4000 z. T. beträchtlich hohe Freiheitsstrafen zudiktiert erhielten.  Der Prozess gegen Max Hoelz erweckte internationales Aufsehen. Bis auf wenige Ausnahmen versuchte die Presse in Deutschland vor dem Prozess Hoelz als einen blutgierigen Bandenführer, getrieben von niedrigen und selbstsüchtigen Motiven, hinzustellen. Es ist verständlich, wenn er sich von einer Welt von Feinden umgeben und alleingelassen vorkam. Was er zunächst nicht sehen konnte, war ein gewisser Wandel im Urteil der Öffentlichkeit, bewirkt durch sein Auftreten vor Gericht. Sein Mut, seine Ehrlichkeit und nicht zuletzt sein Intellekt verschafften ihm mehr und mehr Respekt und da und dort, selbst im Gerichtssaal, Sympathie.
Die Haft wurde für Max Hoelz zu einer Zeit der Leiden, aber auch des menschlichen und politischweltanschaulichen Reifens. Das vorliegende Buch verdeutlicht dies, aber verglichen mit der wirklichen und bestandenen Bewährungsprobe auf fast unterkühlte Weise. Seine menschliche Größe ist besser noch in seinen Briefen an Angehörige und Freunde zu erfassen. Sie wurden 1927 auszugsweise durch Egon Erwin Kisch publiziert und lassen sich durchaus mit Rosa Luxemburgs Briefen aus dem Gefängnis oder in Passagen mit Ernst Tollers »Schwalbenbuch« vergleichen.
Seine Rebellion im Zuchthaus war eine Fortsetzung des Klassenkampfes und nicht primär auf persönliche Erleichterungen gerichtet. Er unterschied sich hierin beträchtlich von Karl Plättner, der auch in den Märzkämpfen eine Rolle gespielt hatte und verurteilt worden war. Aber für diesen war die Befreiung des Proletariats wohl doch eine zweitrangige Sache und der Glorienschein des »mitteldeutschen Bandenführers« wichtiger gewesen. Seine 1930 erschienenen Erinnerungen aus dem Zuchthaus erscheinen gegenüber dem Lebensbericht von Hoelz als beinahe wehleidiges Lamentieren.
Am 24. November 1921 trat Max Hoelz aus der KAPD, der er seit April 1920 angehört hatte, aus. Damit demonstrierte er, dass er sich von nun an in die Disziplin der proletarischen Partei einfügen wollte.
Die KPD und die Rote Hilfe Deutschlands, die
1921 zur Unterstützung politisch Verfolgter entstanden war und 1924 zu einer Massenorganisation umgebildet wurde, führten seit Ende 1921/Anfang
1922 einen systematischen Kampf zur Befreiung inhaftierter Arbeiter. Max Hoelz wurde zur Symbolgestalt der ungebrochenen politischen Gefangenen, für deren Befreiung sich zunehmend auch Nichtkommunisten, vor allem Künstler und Wissenschaftler, einsetzten. Im April 1927 konstituierte sich ein überparteiliches Komitee zur Befreiung von Max Hoelz und anderer Justizopfer, dem etwa 120 namhafte Persönlichkeiten angehörten, unter ihnen sein Anwalt Alfred Apfel, Hans Baluschek, Otto Dix, Albert Einstein, Heinrich und Thomas Mann, Max Pechstein. Entscheidend war aber letztlich das Ringen der Kommunistischen Partei um ein Amnestiegesetz, das Max Hoelz am 14. Juli 1928 die Freiheit wiedergab.
Die unmittelbar nach der Haft niedergeschriebenen Erinnerungen fanden nicht nur in Deutschland große Resonanz. Noch 1929 erschienen Übersetzungen in tschechischer und russischer Sprache. In der Folgezeit stellte er sich ganz in den Dienst der Kommunistischen Partei. Schon in der Haft hatte er erkannt, dass Gewalt nur eines der proletarischen Kampfmittel sein kann und dass dem politischen Kampf der Primat zukomme. So betätigte er sich zu Beginn der politischen und ökonomischen Krise vor allem als Redner auf Veranstaltungen der KPD und der Roten Hilfe, um mit seiner Beredsamkeit vor der Offensive der Reaktion zu warnen und für die revolutionäre Arbeiterbewegung zu werben. Anfang 1930 reiste er zur Erholung in die Sowjetunion, wo zahlreiche Menschen Anteil an seinem Schicksal genommen hatten und wo er begeistert begrüßt wurde. Bald kehrte er jedoch nach Deutschland zurück. Sein Engagement für die KPD und gegen den Faschismus trug ihm die Todfeindschaft der Nazis ein. Anfang September wurde er in Bad Elster von Nazis angegriffen und dabei schwer verletzt.
Im Herbst 1930 fuhr Max Hoelz erneut in die Sowjetunion. Obwohl er eigentlich die Reise zur Wiederherstellung seiner Gesundheit unternehmen sollte, stürzte er sich bald in eine rastlose Tätigkeit. Er arbeitete als politischer Publizist, vor allem aber widmete er seine Kraft der Unterstützung deutscher Arbeiter in der Sowjetunion, denen er half, die für sie ungewohnten Bedingungen zu meistern.
Es verblieb ihm nicht mehr viel Zeit. Die genauen Umstände seines Todes am 16. September
1933 werden sich wahrscheinlich nie ganz klären lassen, doch kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass er bei einem Unglücksfall ums Leben kam. In Gorki nahmen Tausende von ihm Abschied. Fritz Heckert würdigte ihn im Namen der Komintern und der KPD als »Partisanen der deutschen Revolution«.
Max Hoelz war kein Anarchist. Selbst als es bei ihm anarchistische Tendenzen gab, fühlte er sich so stark dem Gesamtinteresse der deutschen Arbeiter und dem proletarischen Internationalismus verpflichtet, dass er sich nie prinzipiell in den Gegensatz zur revolutionären Arbeiterbewegung brachte. Disziplinierung fiel ihm freilich nicht leicht, auch nach der Haft nicht, aber er bemühte sich darum und letztlich erfolgreich. Max Hoelz war eine starke, lebensvolle Persönlichkeit, die ganz in den Kämpfen ihrer Zeit aufging. Und schließlich wurde er zu einem bedeutenden Chronisten seiner Zeit.
Werner Bramke