Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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l. Buch: STICKSTOFF

I. Die Dik-ta-tuur des Proletariats!!

Wer soll denn über die Menschen herrschen, wenn nicht der, der ihr Gewissen unterjocht und in dessen Händen das Brot ist?
Dostojewski.

Die Direktion des Unawerkes hatte in dem Privatkontor des Generaldirektors eine vertrauliche Besprechung. Der Chef fasste das Ergebnis der Aussprache zusammen:
„Nicht wahr, meine Herren, wir verstehen uns. Es handelt sich darum, in die Belegschaft einen Keil zu treiben, und zwar so unauffällig, dass sie die Geschichte erst merken, wenn es zu spät ist. Harmlos genug sind sie ja dazu. Die Werkswohnungen werden nur an zuverlässige Leute vermietet. Natürlich auch unauffällig. Ungeeignete Bewerber werden vertröstet, nötigenfalls unter irgendeinem Vorwand entlassen, nachdem man ihnen die Zusage auf eine Wohnung gemacht hat. Die Arbeiter aus den Großstädten und die Arbeiter aus bäuerlichen Bezirken werden getrennt. Im Bau II, VIII, XIII und XX sind die Arbeiter aus ländlichen Distrikten zu konzentrieren. Von diesen Stellen aus lässt sich das Werk beherrschen. Auch sind dorthin, soweit es der Betrieb zulässt, die am wenigsten gesundheitsschädlichen Arbeiten zu verlegen. Bei der Prämienverteilung werden diese Baue bevorzugt. Doch müssen auch hier alle in die Augen springenden Maßnahmen vermieden werden. Der
Betriebsrat muss aufgelöst werden, selbstverständlich ohne alle gewaltsamen Schritte. Die Mittel und Wege haben wir besprochen. Sind wir erst soweit, dann entlassen wir, was noch an Hetzern im Werk zurückgeblieben ist und unterstellen von da ab alle Arbeiter der strengsten Kontrolle."
„Eben diese Kontrollmaßnahmen, Herr Generaldirektor", bemerkte der zweite Direktor, „müssten vielleicht noch detailliert werden."
„Ganz recht. Also zunächst: an der Sperre körperliche Untersuchung auf Bücher, Flugschriften und Waffen."
„Eine derartige Maßnahme dürfte auf starken Widerstand stoßen, Herr Generaldirektor."
„Sobald der Betriebsrat aufgelöst ist, hat das nichts zu sagen. Ob die Kerls in ihren Zeitungen stänkern oder nicht — danach kräht kein Hahn und kein Huhn. Weiter: In die Betriebsordnung, die jeder mit dem Eintritt in das Werk anerkennt, ist die Bestimmung aufzunehmen, dass die Einführung und Verbreitung von Schriften mit sofortiger Entlassung bestraft wird. Desgleichen jedwede politische Agitation."
„Eine Bestimmung, die allerdings gegen die Reichsverfassung verstößt", sagte der anwesende Syndikus.
Der Generaldirektor lachte auf. „Wenn's weiter nichts ist, Verehrtester! Papier ist geduldig!"
„Ich möchte mir gestatten, noch darauf hinzuweisen, dass offenbar vielfach Verabredungen auf den Aborten stattfinden", warf ein technischer Subdirektor ein.
„Allerdings!" bestätigte der Chef. „Da müsste Abhilfe geschaffen werden."
„Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, so möchte ich raten, Fenster neben den Aborttüren anzubringen, von denen aus sich der Abort überblicken lässt. Dann lässt sich auch das auf den Aborten benutzte Papier eher kontrollieren."
Die Herren lachten. „Wie kann man so indiskrete Einfälle haben, Neumann!"
„Die Idee ist glänzend", entschied der Generalgewaltige. „Lassen Sie sofort die Einrichtung anbringen!"
„Aber bitte nicht im Gebäude der Direktion!" Die Klubsessel federten unter dem Gelächter der schweren Männer. Ein paar halblaute Herrenzimmerwitze fielen.
„Ich meinerseits", nahm der zweite Direktor das Wort, „würde einen besseren Ausbau des Spitzelsystems für notwendig halten. Es genügt nicht, wenn man sie nur im Werk hat. Vor allem müssen die Leute in den Bahnen beobachtet werden. Dort geben sie sich unbefangen."
„Sehr richtig", bestätigte der Generaldirektor. „Finkenstein, wollen Sie das ad notam nehmen. Ich glaube auch, dass in dieser Beziehung noch viel geschehen kann. Die Kosten spielen keine Rolle."
„Ich möchte noch vorschlagen", nahm der Chef des Baubüros das Wort, „die Werksiedlung mit einem ganzen System von Unterhaltungsstätten zu versehen."
„Sie wollen natürlich wieder bauen, Müller!"
„Herr Generaldirektor wollen die Bedeutung derartiger Anlagen nicht unterschätzen. Wenn ein Kino, ein Theater, gute, komfortable Gaststätten, ein Sportplatz, ein Bad, eine Planschwiese..."
„Er wird idyllisch!"
„... am Orte sind, so wird der Arbeiter von seinen politischen Zicken ganz von selbst abgelenkt!"
„Sicherlich, Müller! Sie haben vollkommen recht! Es wird den Herren ja bekannt sein, welchen Erfolg der Faschismus in Italien mit der Organisation: ,Dopo lavoro' erzielt hat. Sie hat einen großen Vergnügungsapparat für den Arbeiter aufgezogen und zersetzt auf diesem Wege sein politisches Interesse. Also Müller: Machen Sie uns einen Entwurf mit Kostenanschlag. Dabei fällt mir noch eins ein: Wie Sie wissen, sind seit dem Kriege eine ganze Anzahl so genannter Arbeiterbildungsstätten errichtet. Das hatte uns gerade noch gefehlt! Sie wollen dafür sorgen, dass Urlaub zu Bildungszwecken grundsätzlich nie erteilt wird. Wir stehen mit dieser Maßnahme nicht allein. Eine ganze Anzahl Werke
macht es ebenso. Hat noch einer der Herren einen Vorschlag?"
Alles schwieg.
„So ist die Sache geklärt. Gehen wir in dieser Weise zielbewusst vor, meine Herren, dann beherrschen wir in einem Jahr das ganze Werk!"

Der Kreis löste sich auf. Man stand noch in kleineren Gruppen zusammen. Der Generaldirektor hatte mit dem jüngsten Herrn der Direktion einiges zu verhandeln. Es war ein ehemaliger höherer Offizier. Wie so viele seinesgleichen war er nach Auflösung der deutschen Wehrmacht im Jahre 1918 in die Industrie gegangen. Klugheit und starker Wille sprachen aus seinem Gesicht.
„Und dann noch eins, Herr Generaldirektor ..."
„Bitte sehr."
„Die Beiträge für eine gewisse politische Organisation sind wieder einmal fällig. Könnte ich Sie in der Angelegenheit vielleicht noch einmal sprechen?"
„Selbstverständlich, Herr von Blücher! Hernach, wenn die anderen Herren fort sind."
„Die politische Situation", begann der Chef, als sie allein einander gegenübersaßen, „klärt sich in erfreulicher Weise. Auf der einen Seite konsolidieren sich die Ordnungsparteien immer mehr. Es war ein Fehler, dass sie in die Regierung gingen. Hierarchie, Autorität, Disziplin — darum handelt sich's heute. Im übrigen: abwarten. Die anderen an dieser verteufelten Nachkriegssituation kaputt gehen lassen! Regieren können sie ohnehin nicht. Die wenigen von ihnen, die was von Politik verstehen, müssen mit innerer Notwendigkeit scheitern, wie Ebert gescheitert ist. So wächst in ihren Reihen die Desorganisation, indes unsere Leute sich sammeln. Dass die allgemeine Unzufriedenheit ihre Wählerstimmen vermehrt, hat nichts zu sagen. Es ist sogar günstig für uns. Denn auf diese Weise kommen sie um die Regierungsaufgabe nicht drum rum und gehen dran flöten. Ich würde
mich freuen, wenn die nächsten Wahlen ihnen eine Mehrheit brächten. Dann hätte unsre Stunde geschlagen."
„Ich teile diese Auffassung durchaus, Herr Generaldirektor. Es fragt sich aber, ob wir uns über die Mittel und Wege zur Durchsetzung unserer Politik im klaren sind."
„Tja — — —"
„Sie sprachen von ,den' Ordnungsparteien. Wie ist das zu nehmen?"
„Tja------------Es liegen natürlich hinsichtlich der rechtsradikalen Kreise sehr große Bedenken vor------------"
„Die aber überwunden werden können und überwunden werden müssen! Wenn Herr Generaldirektor die Dinge im Zusammenhang mit der sozialen Gliederung des deutschen Volkes sehen wollten — — —"
„Wie meinen Sie das?"
„Der Großgrundbesitz ist bei uns keine überlebte Feudalschicht. Er übt in unserer Wirtschaft eine sehr wichtige Funktion aus. Er versorgt zu einem großen Teil die Städte mit Brot, Fleisch, Zucker und Spiritus. Das Großbauerntum in bestimmten Distrikten steht ihm nahe. Das ist keine feudale Romantik. Das sind Tatsachen. Diese agrarischen Führerschichten haben noch immer eine große Gefolgschaft. Und die Gruppe als Ganzes ist militärisch von überdurchschnittlicher Tüchtigkeit. Denn in ihr lebt noch der alte Preußengeist, der dem Bürgertum stets fremd war und dem Kleinbürgertum, wie es in der sozialdemokratischen Partei vorwiegt, verhasst ist. Die Kommunisten zählen wegen ihrer politischen Verblödung nicht mit. Sie arbeiten mit der Inszenierung von Putschen nur zu unseren Gunsten. Dazu kommt, dass sich gerade die großagrarischen Kreise unter dem Druck des verlorenen Krieges und der verlorenen innerpolitischen Machtstellung stark reorganisiert haben. Ungeeignete Elemente sind abgestoßen. Eine Jugend hat sich entwickelt, auf die man stolz sein darf! Das Unternehmertum kann diese rechtsstehenden Kampftruppen zur Niederwerfung der Arbeiterschaft nicht entbehren."
„Sie wissen, dass sie in unsern Kreisen wenig beliebt sind."
„Ich glaube, einer starken Persönlichkeit würde die Zusammenfassung gelingen."
„Für einen zweiten Bismarck bedanken wir uns!"
„Allerdings! Diese Zeiten sind endgültig vorbei, Herr Generaldirektor! Der starke Mann, der alle nichtmarxistischen Kräfte zusammenfasst, kann nur aus dem Unternehmertum selbst kommen-----------Und er ist da!!-----------
Es handelt sich für die Industrie darum, diese Situation rechtzeitig zu erkennen und danach zu handeln."
Der andere sah lauernd zu ihm herüber.
„Ich habe den Eindruck, Herr von Blücher", sagte er dann betont, „dass Sie nicht nur in eignem Auftrag sprechen."
„Herr Generaldirektor sehen durchaus richtig. Das Unawerk wäre bei einer eventuellen Aktion ein Stützpunkt von Bedeutung. Wenn Herr Generaldirektor befehlen, so werde ich Ihnen demnächst nähere Einzelheiten mitteilen."
„Tun Sie das."

Die Sirenen verkündeten die Mittagspause. Die Arbeiter strömten in die Kantinen, die Angestellten in ihre Kasinos. „Heute ist Vollversammlung der Angestellten, Heinberg", sagte der Vorsitzende des Angestelltenrates zu seinem Kollegen, als sie in ihr Kasino gingen. „Es ist doch überall angeschlagen, dass 12 Uhr 30 die Sitzung stattfindet, nicht?" Sein Kollege lachte spöttisch. „Angeschlagen ist's. Aber ob wer kommt, ist 'ne andere Frage. Wir sollten doch die Affenkomödie einstellen."
„Sie pfeifen auf demselben Loch wie meine Frau, Heinberg. Gestern hat sie mir erst wieder 'ne Szene gemacht, weil ich das Amt nicht niederlege. Die Weihnachtsprämie hab ich wieder nicht gekriegt. Nun schon das vierte Mal. Wenn ich morgen den Betriebsratsvorsitzenden quittiere, so krieg ich die Prämie übermorgen." „Sicher, Schröder."
Ein junger Angestellter näherte sich ihnen. Er hatte offenbar ein Anliegen an Schröder. Aber er sah sich zuerst vorsichtig um. Als er bemerkte, dass einer der Subdirektoren von ferne in Sicht kam, bog er unauffällig ab.
Das Essen war vorüber. Schröder ging in den Versammlungsraum der Angestellten hinüber. Die Tagesordnung war am schwarzen Brett angeschlagen. Sie enthielt nur einen Punkt: Stellungnahme zu dem Revers der Direktion. Man hatte drei Tage zuvor allen Angestellten einen Revers zur Unterschrift vorgelegt. Er lautete:

„Ich bitte, nicht nach Tarif, sondern nach dem in dem Unawerk üblichen Verfahren der Gehaltsfestsetzung besoldet zu werden. Datum. Unterschrift."

Als Schröder den Versammlungsraum betrat, waren drei Mann erschienen. Er wartete noch eine Weile. Niemand kam.
„Schröder", sagte sein Kollege. „Nun können Sie die Sache wirklich mit gutem Gewissen aufstecken. Sie sehen doch, es hat keinen Zweck. Machen Sie Ihrer Frau eine Weihnachtsfreude."
„Fällt mir nicht ein!! Was soll werden, wenn ich auch noch abhaue!"

Feierabend! Die Sirenen heulen. Im Nu sind die breiten Straßen, die das Stickstoffwerk rechtwinklig zerschneiden, von unübersehbaren Menschenmassen erfüllt. 25 000 Mann in dichten Kolonnen, Schulter an Schulter, und doch alles so geordnet, dass in einer Viertelstunde das Werk geleert ist. Nun stauen sie sich auf dem Bahnhof. Zug um Zug rollt ein, um sie aus dem isoliert gelegenen Werk nach Haus zu bringen — in die benachbarten Großstädte, auf die Dörfer, in die entfernteren Orte, 30, 40 Kilometer und mehr im Umkreis.
Doch nicht alle haben Anschluss. Einige hundert Mann schwenken in die Wartehalle ab. Sie wohnen in einer entfernteren Großstadt und müssen eine Stunde auf ihren Zug warten. Der Zeitungsverkäufer bietet die Arbeiter-Illustrierte an. Im Nu ist sie vergriffen. Gruppen bilden sich um jeden, der ein Exemplar erwischt hat. Auf der ersten Seite, groß, eindrucksvoll, mit einem Blick erfassbar, ein russisches Arbeiterkind beim Wintersport. Es strahlt in Gesundheit und Frohsinn.
„Mensch, Meier!"
„Da habt ihr's!"
„Knorke!"
„Das ist Sache!"
„Dufte!"
„Ja! Russland!!!------------"
Bei einer Gruppe steht ein kräftiger, untersetzter Bursch. Breit ist seine Stirn, nicht hoch. Breit springt auch die Nase aus dem Gesicht.
„Is doch alles bloß Schwindel", sagt er. Ein Gejohl ist die Antwort.
„Na natürlich! Busche Emil!!", höhnt sein Nebenmann, ein Arbeiter in der zweiten Hälfte zwanzig, klein von Gestalt, mit scharfen, etwas zusammengedrückten Zügen. Er trägt eine Hornbrille. „Hör bloß uff! Du dämlicher Reformiste! Kommst wohl wieder mit dein'n SPdQuatsch, alter Käsekopp?! Hör bloß uff!!"
„Willste vielleicht bestreiten, dass in Russland 'ne halbe Million Kinder keene Bleibe haben und wie die Tiere in Rudeln rumlungern?"
„Das is alles noch vom Zarismus her. Natürlich is das Land ausgepowert. Jetzt wird das alles anders. Da! Du siehst's doch." Und er schlug auf das Blatt.
„Is alles gelogen", schrie ein Dritter. Er trug das Reichsbannerabzeichen im Knopfloch.
Der Kommunist spuckte aus. „Mit so em Reichsbannerschwein lass 'ch mich überhaupt nich ein." „Kommunistisches Aschloch du!"
Und schon waren sie im Begriff, sich in die Haare zu kriegen.
„Immer feste druff!" Die Streitenden fuhren herum. Ein großer, schlank gewachsener Mann stand hinter ihnen. Zwar
trug er dieselbe Kleidung wie die andern, und seine Hände verrieten den Schwerarbeiter. Doch seine straffe Haltung, die Prägung seines Gesichtes und seine Sprache, die einen merkwürdig fremden Akzent hatte, wollten zu dem Typus des normalen Unaarbeiters nicht passen.
„N'Abend, Konrad!" rief Emil.
„Der Herr Doktor Amthor", höhnte der Kommunist.
„Quatsch nich! Bin kein Doktor. Was gibt's denn schon wieder?"
„Sie pranzen mal wieder mit 'nem Bild in der IAZ!"
„Zeig her!" Konrad sah das Bild mit Interesse an.
„Wieder famos aufgezogen!!-------Natürlich gibt's sowas in Russland. Fragt sich bloß, ob's allgemein so ist."
„Das sag ich doch ooch! 'ne halbe Million Kinder verkommt in Russland!"
„Das bestreiten wir ja nich! Aber das sind noch die Reste vom Zarismus. Heute unter der Diktatur des Proletariats wird alles anders!"
Die meisten Arbeiter hatten sich verlaufen. Sie saßen und lagen auf den Bänken herum. Viele schliefen.
„Menschenskinder", sagte Emil, „wir brauchen uns doch hier nich die Beene in 'n Bauch zu stehen. Wir können doch im Sitzen ooch quasseln." Er sah sich in der Halle um. „Da hinten is 'ne Ecke, wo wir uns setzen können. Bis der Zug kommt, is noch viel Zeit."
Der Kommunist zögerte. Er kannte seine Gegner.
„Komm, Wilhelm", sagte ein junger, hochaufgeschossener Kerl zu ihm. „Wir geh'n mit. Se soll'n schon ihre Dresche kriegen!"
Konrad kannte den Jungen nicht. „Wie heißt du?"
„Heinrich."
„Wo bist du zu Haus?"
Ein leichter Schatten lief über das offene Gesicht; der energische Mund schloss sich fester.
„Zu Haus?"
Konrad begriff.
„Hast 'ne böse Jugend gehabt?"
Der Bursch nickte. „Immer von eener Ziehstelle zur andern."
„Nun sollen sie's entgelten, was?"
„Nein", sagte der Junge fest, „an den einzelnen rächen wir uns nicht. Als Marxisten wissen wir, dass der einzelne nichts dafür kann. Wir wollen die Diktatur des Proletariats aufrichten und dann eine neue Gesellschaftsordnung einführen, so wie sie's in Russland gemacht haben."

In der Ecke des Saales stießen die braunen Holzbänke rechtwinklig aufeinander. Man setzte sich und rückte zusammen. Ein paar Schemel schlossen den Kreis.
„Wenn ihr bloß nich so blöd wär't!" begann Emil. „Diesmal bei den Wahlen geht's ums Ganze. Wir können mit euch zusammen die Mehrheit kriegen — und dann sollten die andern mal sehen, wo sie bleiben!!"
Der ältere Kommunist lachte auf. „Meenste vielleicht, mer wärrn mit Stimmzetteln und Reichstagsbeschlüssen die Bande vertreiben??! — — — Nee, mei Guter!! Nur die Diktatur des Proletariats führt uns an's Ziel."
„Unsinn!" schrie der Reichsbannermann. „Nur die Demokratie kann uns helfen!"
„Da sind wir wieder auf dem alten Fleck", sagte Emil. „Der eene brüllt Demokratie, der andere Diktatur des Proletariats. So bleeken se sich an, un raus kommt überhaupt nischt. Konrad, was sagst du?"
„Ich sage beides — je nach Bedarf!!"
„Mensch, Meier!! Haste denn gar keene Grundsätze??"
„Is einfach Blödsinn!"
„Durchaus nich."
„Aber wie meenste 's denn, Konrad?"
„Ihr lasst mich ja noch nich drei Sätze ausreden."
„Bitte sehr, Herr Doktor", höhnte der Mann mit der Hornbrille.
„Seht mal, — was hat denn Politik überhaupt für'n Sinn?"
„Wieder gefragt wie'n Doktor!"
„Durchaus nicht. Man könnte sagen, es ist, wie wenn man ne Reise macht, um an ein Ziel zu kommen."
„------------Vielleicht------------"
„Wenn nun Politik wie 'ne Reise ist, so muss sie auch ein Ziel haben. Wohin soll die Reise gehen, Emil?"
„Nach Hongkong."
„Meinetwegen! Is jetzt aktuell! Sagen wir mal, die verschiedenen Arbeiterparteien sind wie 'n paar Schiffe, die nach Hongkong wollen. Sie haben alle ein Ziel. Aber die Schiffe sind nicht alle gleich. Das eine ist ein Segler, das andre ein Dampfer, das eine ist moderner, das andere etwas älter,------------"
„SPD", grinste der Bebrillte.
„Quatsch nich dazwischen!"
„Die Schiffe nehmen daher von vornherein nicht alle dieselbe Route. Es geht ihnen auch unterwegs verschieden. Das eine wird durch 'nen Sturm nach Norden verschlagen. Es gerät in die Treibeisregion und muss 'nen großen Bogen machen, um nicht dazwischen zu kommen. — Ein anderes kommt in eine Kriegszone und muss ebenfalls die Route wechseln. — Der Segler leidet wochenlang unter Windstille und kann mit seinen kleinen Maschinen nur ein langsames Tempo schaffen."
„SPD!!"
„Ruhe!"
„Ein viertes endlich verliert den Kurs überhaupt. Es steuert rechts, es steuert links, der Sturm dreht es um und um, und so landet es schließlich in einem Nothafen, ohne das Ziel zu erreichen. — — — Soweit das Bild. Nun die Anwendung. Es kann sich dabei natürlich nicht um die Einzelheiten handeln."
„Du baust vor", unterbrach der ältere Kommunist. Ein spöttischer Blick aus Konrads Augen traf ihn, dass er zurückwich.
„Es handelt sich um das Ziel und die Fahrt. Was ist das Ziel der Arbeiterparteien?"
„Die Diktatur des Proletariats", rief der Junge zuversichtlich.
„Nee!" schrie der Reichsbannermann, „das Ziel is die Demokratie!"
'n scheenes Ziel, eure Mörderzentrale, wo die Volksverräter der SPD für die Kapitalisten den Handlanger machen und die Arbeiterschaft abwürgen!"
„Wirste 's Maul halten von wegen Mörderzentrale, du Nashorn!"
„Ihr rauft euch ganz umsonst", sagte Konrad. „Es handelt sich gar nicht darum, ob die Demokratie gut oder schlecht ist, sondern ob sie überhaupt das Ziel ist. Ich hab gefragt: Was ist das Ziel der Reise? Die eine Partei sagt: die Diktatur des Proletariats, die andre: die Demokratie. Wir wollen die Worte mal nehmen, wie ihr sie jetzt meint. Bei Diktatur denkt ihr an die Räterepublik Russlands, nicht?"
„Jawohl."
„Bei Demokratie an den Parlamentarismus, wie er in den Vereinigten Staaten und in Europa vorhanden ist, einverstanden?" Sie nickten.
„Lassen wir das vorläufig gelten. Prüfen wollen wir's später. Welche Partei nimmst du denn, Emil?"
„Ja,------------ich weeß nich recht!------------Ziel is doch
eigentlich-------keens von beiden. Ziel is, dass der Kapitalismus abgeschafft wird und wir den Sozialismus kriegen."
„Na ja, Mensch", trumpfte der Bebrillte auf, „des meenen wir doch ooch. Die Diktatur is das Mittel, um die neue Gesellschaft aufzubauen."
„Hollah, Genosse", fiel Konrad schnell ein, „das Mittel sagst du! Das Mittel, um das Ziel zu erreichen!"
„Na ja, gewiss doch."
„Also nicht das Ziel selbst, wie du vorhin sagtest?" Der Brillenmann stutzte. „Überlege noch mal, Genosse", wandte sich Konrad an den Jüngeren. „Nimm an, ihr habt die Diktatur errungen. Seid ihr dann am Ziel?"
„Nee! Dann fängt die eigentliche Arbeit erst an, so wie jetzt in Russland."
„Dann wird mit aller Kraft geschafft werden müssen, zu welchem Zweck? Doch, um die klassenlose Gesellschaft aufzurichten, nicht?"
„Ja, das kann ich zugeben", sagte der Junge freimütig. „Erst müssen wir die Diktatur haben, um dann auf's eigentliche Ziel loszugehen."
„Die Diktatur ist also nur die nächste Aufgabe, sagen wir eine Kohlenstation auf der weiten Reise. Wenn sie erreicht ist, und das Schiff gut geladen hat, dann soll's mit Volldampf dem letzten Ziel entgegengehen."
„Menschenskind!! Genosse!! schrie der Mann mit der Brille. „Du hast's erfasst!! Hau ab von der dämlichen SPD!! Schlag ein!! Komm zu uns!!!"
„Ja!", sagte der Reichsbannermann und zog die Augenbrauen hoch. „Danach bist du Kommunist."
„Ihr gebt also zu", sagte Konrad zu den Kommunisten, ohne die Zwischenrufe zu beachten, „dass für alle Schiffe die sozialistische Gesellschaft das Ziel ist".
„Ausgeschlossen!!" brüllte der Brillenmann. „Die Volksverräter von der SPD denken ja gar nich dran. Die wollen ja bloß ihr Pöttchen am Feuer kochen."
„Halt's Maul von wegen Volksverräter!!'
„Rindvieh!!"
„Ruhe", gebot Konrad. „Pass auf, Genosse: Wir hatten von vornherein für alle Schiffe angenommen, dass sie ein gemeinsames letztes Ziel haben sollten. Du hast das zugegeben! Und nun frag ich meine Parteigenossen: Ist die klassenlose Gesellschaft unser Ziel?"
„Aber gewiss doch", sagte Emil.
„Selbstverständlich", bestätigte der Reichsbannermann, im Eifer des Gefechts den Widerspruch mit seiner ersten Antwort nicht bemerkend.
„Na ja, — — — was ihr unter Sozialismus versteht."
„Allerdings nicht 'nen liberalen Bauernstaat, sondern eine Wirtschaftsordnung, in welcher der Besitz an allen Produktionsmitteln an die Gesamtheit übergegangen ist. Und zwar
nicht nur dem Buchstaben nach, sondern in der Wirklichkeit. Stimmt's, dass wir alle dieses Ziel wollen?"
Der Junge war bereit, der Ältere wollte ausweichen.
„Hau hin!"
„Nein, Genosse, hier hilft kein Ausweichen. Du musst schon zugeben, dass alle Schiffe nach Hongkong wollen, dass wir alle die Sozialisierung wollen."
„Mei—net—wä—gen."
„Endlich!! Die sozialisierte Gesellschaft ist also das Ziel der beiden Parteien. Sie verstehen vielleicht nicht überall dasselbe unter Sozialisierung. Aber sie wollen letzten Endes dorthin."

Nun die Fahrt. Ich sagte, die Schiffe sind verschieden, und was ihnen unterwegs begegnet, ist verschieden. Können sie unter diesen Bedingungen alle gleichen Kurs halten?" „Nee, das is klar", bestätigte der Junge. „Für den einen war die Kohlenstation entscheidend, für den andern, z. B. für den Segler, war eine andere Route besser geeignet. Wir verglichen die Diktatur des Proletariats mit der Durchgangsstation eines Kohlenhafens. Sie hätte dem Segler wenig geholfen."
„'s war eben 'n altes Schiff."
„Das ist gar nicht gesagt. Man baut noch immer, und zwar sehr gute, moderne Segler. Aber nehmt das Schiff, das beinah in die Kriegszone gekommen wäre. Hätte ihm eine Kohlenstation dort was geholfen?"
„Nee."
„Es wäre zusammengeschossen gewesen, ehe es nur die Kohlenstation erreicht hätte. — Was sind also alle Reiseveranstaltungen, Route, Kohlen, Kompass usf.?"
„Mittel, um das Ziel zu erreichen."
„Was ist demnach alle sozialistische und kommunistische Parteipolitik?"
„Mittel, um die sozialisierte Gesellschaft zu errichten."
„Ja, Genossen! Genau das, was der Genosse selbst vorhin
gesagt hat: Mittel! Die Diktatur ist Mittel und die Demokratie ist Mittel."
Die anderen schwiegen, mehr logisch überwunden, als innerlich überzeugt.
„Weiter. — Was entscheidet über die Anwendung eines Mittels?"
„Ob 's zweckmäßig ist."
„Jawohl! Seine Zweckmäßigkeit. Also: Wenn die Sowjetrepublik für Russland der kürzeste Weg war, um in der Richtung auf die Sozialisierung loszumarschieren, was musste es dann tun?"
„Sie einführen!"
Begeistert sprang der ältere Kommunist auf.
„Genosse!" schrie er. „Dann gehörste doch zu uns!" Der Junge strahlte. Der Reichsbannermann sah sorgenvoll auf die Gruppe.
„Wenn du aber morgen", sagte Emil, „der Ansicht wärst, nur die Demokratie könnte uns helfen,..."
„So würde ich morgen für die Demokratie eintreten."
Der Kommunist setzte sich wieder, der Junge wandte sich trotzig ab, der Reichsbannermann blickte beruhigt drein.
„Was würdste aber machen", fragte der Junge pfiffig, „wenn übermorgen en deutscher Mussolini käme?"
„Will Mussolini die sozialisierte Gesellschaft?"
„Nee."
„Na also. In den Fällen, die ich anführte, handelte es sich um dasselbe Endziel..."
„Um die Diktatur des Proletariats!!" schrie der Bebrillte siegesgewiss.
Emil und Konrad brachen in ein schallendes Gelächter aus. Der Reichsbannermann nahm die damit demonstrierte Ablehnung der Kommunisten befriedigt zur Kenntnis. „Natürlich die Demokratie", sagte er. Der junge Kommunist schwankte zwischen Ärger über seinen Kameraden und Trotz gegen das Gelächter der SPdMänner.
„Was meinte ich?" fragte Konrad ihn.

„Die sozialisierte Gesellschaft", gab er widerwillig zur Antwort.
„An diesem Ziel sind alle Mittel zu messen. Was dorthin führt, ist recht. Was von dort abführt, ist vom Übel."
*

Aber Emil war noch nicht im Reinen.
„Was stimmt mir doch nich, Konrad. Du vergleichst die Diktatur mit 'ner Durchgangsstation. Gut. Das is richtig. Ooch die Kommunisten können's im Grunde nich bestreiten. Aber für uns is es mit der Demokratie doch was anders. Früher hat man gesagt, der Staat stirbt dann überhaupt ab. Unser Engels hat's geschrieben. Ob das aber so geschwinde geht, ist doch noch die Frage. Wenn wir uns also irgendwie mit 'nem Staat einrichten müssen, dann kann man doch nich sagen, die Räterepublik is 'n Mittel, un die Demokratie is ooch 'n Mittel, un es kann uns egal sein, was von beiden kommt, wenn nur die Sozialisierung kommt."
„So ähnlich wollt ich's ooch sagen", bestätigte der Reichsbannermann. „Siebzig Jahre hab'n mer um de Demokratie gekämpft. Nu hab'n mer se endlich. Nu kann man se doch nich wie 'n Rock anziehn oder ausziehn, wie's grade passt!"
„Erloobe mal", sagte der Brillenmann, „um die Diktatur hab'n mer sogar achtzig Jahre gekämpft."
„Ja, Genosse", sagte Konrad, „bloß weil's ein altes Parteiideal ist, können wir die Demokratie nicht halten."
„Nee", sagte der Kommunist.
„Und die Diktatur des Proletariats ebenso wenig." Der Kommunist knurrte.
„Sieh mal", begann der Reichsbannermann wieder, „du sagst, das eene, die Demokratie, is Mittel, und das andre, die Sozialisierung, is Ziel. Ich kann das gar nich so auseinander halten. Es is für uns doch eens. Mit der Demokratie soll die Sozialisierung kommen, un mit der Sozialisierung soll sich die Demokratie befestigen. Ich kann das nich trennen."
„Dass das in deinen SPdSchädel nich reingeht, das gloob ich", grinste der Brillenmann.
„Halt de Klappe, und lass den Doktor reden!"
„Wie kommste 'n dazu, mir das Maul zu verbieten, Baubudenrülps du??!!"
„Ruhe!" herrschte Emil sie an. „Wir verlieren ja bloß die Zeit mit euerm Gequatsche!! Konrad soll reden."
Konrad schwieg eine Weile. „Wenn ich nur wüsste, wie ich's euch deutlich machen sollte!"
„Machen mer wieder 'ne kleene Reise, Genosse!", grinste der ältere Kommunist.
„Genossen, wollt ihr das überlegen: Heute, wo die Sozialisierung das eine große Ziel ist, da ist der Staat für uns Mittel. Aber an sich betrachtet, hat er auch seine eigne Bedeutung. Er ist also nicht nur Mittel..."
Der Bebrillte brach in ein schallendes Gelächter aus. Gönnerhaft klopfte er Konrad auf die Schulter. „Genosse, mir scheint denn doch, die Sache is dir selbst nich klar!!"
Konrad blickte verzweifelt drein. Er sah, dass er seine Hörer falsch eingeschätzt hatte. Seine Ruhe verließ ihn einen Augenblick. „Wenn ihr nur eine Ahnung davon hättet", sagte er heftig, „dass man dem Leben mit dem einfachen ja oder nein nicht beikommt."
„Na, Genosse, das is 'ne billige Ausflucht!!" Die anderen außer Emil lachten.
„Gut! Lassen wir das! Wenn der Wahlkampf vorbei ist, dann finden wir vielleicht noch mal eine ruhige Stunde, um drüber zu reden. Lassen wir's für heute beim Staat als Mittel. Sieh mal Emil, ich habe nicht gesagt, dass mir Räterepublik und Demokratie ganz gleich sind. Du hattest es selbst etwa so gesagt: ,Wenn die Räterepublik das einzige Mittel ist, um zur Sozialisierung zu gelangen ...' Dem hab ich zugestimmt. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, dass beide Mittel gleich gut sind. Emil, wenn du in einem brennenden Hause bist, und das einzige Mittel, dich zu retten, ist, dass du aus dem Fenster springst, selbst auf die Gefahr ein Bein oder einen Arm zu brechen — springst du dann raus, oder lässt du dich verbrennen?"
„Klar." —
„Aber wenn's noch möglich ist, 'ne Treppe zu erreichen, dann springst du weder aus dem Fenster, noch lässt du dich verbrennen, sondern läufst die Treppe runter, nicht?"
„Du willst also sagen, die Räterepublik is das letzte Mittel, das man nur im äußersten Notfall anwenden soll. Besser wär's, die Sozialisierung auf demokratischem Wege zu erreichen."
„Das ist meine Meinung."
„Warum?"
„Das kann ich nicht mit drei Worten sagen."
Der Zug rollte ein. „Wir reden noch drüber!"

Die Arbeiter schoben sich in den Wagen vierter Klasse zusammen wie Vieh beim Transport. Der kleine Klub blieb in einem Abteil beieinander. Die andern begannen zu dösen oder zu schlafen. Einige warfen spöttische Blicke auf die Gruppe. Einige hörten aufmerksam hin.
„Überhaupt!", begann Emil wieder. „In Russland gibt's ja gar keene Diktatur des Proletariats". Die Kommunisten schlugen ein schallendes Gelächter auf.
„Was ist denn ein Diktator?", fragte Konrad.
„Der Diktator war der oberste Gewalthaber, den die Römer in den Zeiten der größten Gefahr einsetzten. Er hatte unbedingte Machtvollkommenheit", antwortete der Bebrillte selbstbewusst.
„Und was versteht ihr unter Proletariat?"
„Die arbeitende Masse des Volkes, die nicht im Besitz der Produktionsmittel ist", sagte der Junge prompt.
„Rechnest du den Bauer dazu?" *
„Das kommt drauf an. Wenn er allein arbeitet und keinen Profit erzielt, so rechnet er dazu. Der Großbauer dagegen nicht."
„Dann stimmt aber die Sache mit den Produktionsmitteln nicht. Denn auch der Kleinbauer ist Inhaber der Produktionsmittel, genau wie der Handwerker."
„Wir können so sagen", schlug Emil vor: „Der Besitz an Produktionsmitteln ist das Entscheidende. Mit dem kleinen
Bauern und dem kleinen Handwerker machen wir ene Ausnahme. Sie besitzen zwar die Produktionsmittel. Aber weil sie zur handarbeitenden Masse gehören und niemand ausbeuten, rechnen wir sie zum Proletariat."
„Alle einverstanden?" Sie nickten.
„Es ist sehr wichtig", sagte Konrad, „dass ihr den Bauern mit zum Proletariat rechnet. Diktatur des Proletariats würde demnach bedeuten, dass die Masse des besitzlosen, arbeitenden Volkes, einschließlich der kleinen Bauern und Handwerker, die politische Macht in den Händen hat.".
„Aber gewiss doch!"
„Wie steht es denn mit den politischen Rechten des russischen Bauern?" Alle schwiegen. Der ältere Kommunist warf dem jüngeren einen Blick stillschweigenden Einvernehmens zu. Der Junge sah dumm vor sich hin.
„Ist dir das nicht bekannt?" Der Junge zögerte.
„Hat er dasselbe Wahlrecht wie der Städter?"
„Ich weeß nich."
„Hat nicht die städtische Bevölkerung Zusatzstimmen?", fragte Emil.
„Allerdings! Sie können sich in den Sowjets der großen Bezirke durchsetzen. Welchen Prozentsatz bildet die ländliche Bevölkerung von der Gesamtbevölkerung?", wandte Konrad sich wieder an den Jungen.
„Ich weeß nich."
„Etwa achtzig", sagte Emil.
„Demnach hat in Russland die gesamte arbeitende, ländliche Bevölkerung, d. h. vier Fünftel des Proletariats, geminderte politische Rechte."
„Blödsinn!", sagte der Ältere. „In Russland herrscht die Diktatur des Proletariats, und dann von einer Entrechtung der arbeitenden Masse zu reden, Genosse, — das ist ein Betrug der SPD." Konrad beachtete ihn nicht.
„Warum lässt sich der Bauer diese Minderung seines Wahlrechts gefallen? Kerensky hat ihm eine solche Entmündigung nicht zugemutet."
„Der Bauer fürchtet", sagte jetzt der Jüngere, „die alte
Regierung könnte wiederkommen und die Güter des Adels wiederherstellen. Die haben an vielen Stellen die Bauern unter sich geteilt."
„Das ist's. Kerensky wollte ihnen Rechte geben, aber kein Land. Lenin ließ ihnen das Land, doch er schmälerte ihre Rechte."
„Mensch! Wie kannste so was gegen Lenin sagen!", schrie der Ältere. „Das verbitt' 'ch mer!"
„In der heutigen Verfassung", fuhr Konrad unbeirrt fort, „ist den Bauern der Besitz sicher. Das ist ihnen wichtiger, als ein vollgültiges Wahlrecht, von dem sie doch nicht allzu viel Gebrauch machen könnten. Außerdem sieht der Bauer, dass sich die neue Regierung bemüht, ihm wirtschaftlich vorwärts zu helfen. Er hütet sich drum, die neue Ordnung zu erschüttern. — Freilich! Wem macht sie die weitgehendsten Konzessionen?"
Der Junge sah aus dem Fenster.
„Dem Großbauern", antwortete Emil.
„Ja! Er kann Gesinde halten, und sein Eigentum am Boden ist garantiert. Doch die Entrechtung der Massen geht noch weiter."
„Genosse, es ist lächerlich, in dieser Weise über das russische Proletariat zu reden."
„Es gibt", fuhr Konrad fort, „kein freies Parteileben. Das wird nicht geduldet. Sie dürfen nicht Organisationen machen wie wir. Sie dürfen nicht beliebig Versammlungen abhalten, und es gibt keine freie Presse. Man kann auch der kommunistischen Partei nicht einfach beitreten. Sie nehmen nur auf, wer sich längere Zeit bewährt hat. Und wer politisch vorwärts kommen will, muss in die Partei aufgenommen sein. Unser Beispiel vorhin war also schlecht gewählt. Die russische Sowjetregierung ist alles andere, als eine Herrschaft der breiten, arbeitenden Masse. Sie ist keine Diktatur des Proletariats."
„Komm, Heinrich, wir setzen uns weg!"
„Lass doch den Zimt", erwiderte der Jüngere. Er sprang auf und sah Konrad voll ins Gesicht. „Wenn du meenst,
du hast mir was Neues gesagt, so biste uff'm Holzwäge. Es is in Russland so, wie du sagst. Es muss ooch so sein! Denn das Volk is noch so zurück, dass sie nich auf eenmal alles machen können. Sie müssen erst lernen! Bis dahin müssen die andern sie führen."
„Heinrich", fuhr jetzt Emil los, „nu manscht du wieder alles durcheinander. Ob's zweckmäßig is, hat Konrad gar nich gefragt. Er wird's wahrscheinlich gar nich unbedingt bestreiten, nich Konrad?"
„Durchaus nicht."
„Er hat nur behauptet, dass sie mit dem Worte ,Diktatur des Proletariats' Schindluder treiben."
„Das kommt dann auf eine Wortknaupelei hinaus!"
„Nein!", rief Konrad. „Sondern es kommt darauf hinaus, ob wir denken wollen, oder ob wir uns und andere an Schlagworten besoffen machen wollen!! Du hast selbst vorhin die Bauern als Proletariat bezeichnet. Sie bilden die Masse des russischen Volkes. Sie sind politisch entrechtet, und zwar gerade die kleinen! Es handelt sich nicht um eine Wortknaupelei, sondern um die Irreführung, die heute von den russischen Machthabern mit dem Worte ,Diktatur des Proletariats' getrieben wird."
„Das bestreite ich", entgegnete der Junge zielsicher. „Man kann es eine Erziehungsdiktatur nennen. Es ist die Führung der unaufgeklärten Masse durch die kleine Schar der Aufgeklärten. Oder man kann das Wort ,Proletariat' auf die Klassenbewussten Arbeitnehmer beschränken. Eine Diktatur des Proletariats bleibt es immer!!"
„Man kann auch schwarz weiß und weiß schwarz nennen."
Der ältere Kommunist würdigte Konrad keines Blickes und keines Wortes mehr. „Lass dich nur nich verwirren, Junge, mit all dem Gequatsche!"
„Warum soll ich mich verwirren lassen?", warf der Junge unerschüttert zurück. Seine Backen glühten, und seine Augen blitzten. „Der Mann hat mir nichts Neues erzählt! Wenn die Partei mit der Parole: ,Diktatur des Proletariats' die Lage des Volkes heben kann und ihm Brot verschaffen
kann,------------dann soll se se ruhig anwenden! Da braucht
man nich zu fragen, ob's so genau stimmt!! Da braucht sich keen Mensch en Gewissen draus zu machen! Das is Politik!! Auf Wortknaupeleien kommt's dabei nich an. Die überlassen wir den Wortverdrehern und Volksbetrügern von der SPD."
„Bravo!" schrie sein Gefährte, außer sich vor Freude über die unbeirrbare Sicherheit des Jungen.
„Du meinst, das sei Politik?", rief Konrad, nunmehr auch der Leidenschaft Raum gebend. „Politik mag es sein, aber eine schlechte! Denn auch die Politik kann sich auf die Dauer nicht einfach auf Lüge gründen!"
„Mist!", schrie der Ältere. „Richtiger SPdMist!!!"
Sie waren am Ziel. Er stürzte ohne Gruß fort.
„Bei den Wahlen werden wir's ja sehen!", rief der Junge übermütig und rannte ihm nach.
Emil und Konrad gingen noch ein Stück zusammen.
„Ich verstehe, wie du's meinst, Konrad. Man muss mit beidem rechnen. Aber der Prolet kann das nicht! Er kann nur eins."
„Dann soll er drauf verzichten, politisch führen zu wollen!"
„Das is allerhand!"
Sie trennten sich. „Also Weihnachten bei schönem Wetter in Oberwiesental. Sonst bei dir, Konrad! Auf Wiedersehn!" „Auf Wiedersehn!"

 

II. Sti.. hille Naacht — hei.. lige Naacht.

„Martl, komm doch mit!"
„Och Adolf-------"
„Warum denn nich? Die andern Burschen bringen doch ooch ihre Mädels mit!"
„Grad am heiligen Abend! Das kann ich doch gar nich! Was soll denn meine Mutter denken!"
„Du sagst ihr, du gingst zur Weihnachtsfeier in euern Bibelkreis."
„Aber Adolf!"
„Nu mach doch keene Spähne!"
„Und wenn Mutter dahinter kommt?"
„Unsinn, Martl! Um sieben gehste weg. Ich warte auf dich an der Haltestelle von der Elektrischen. Ja, Martl??!!" Und er versuchte, sie um die Taille zu nehmen. Doch das Mädchen wich aus. „Aber du kommst, ja??"
„Na, meinetwägen."
„Endlich!!! — — — Also pünktlich sieben Uhr an der Haltestelle! Auf Wieder sehn!"
„Auf Wieder sehn!"
Pünktlich sieben Uhr war Adolf an der Haltestelle. Marta war noch nicht da. Er wartete geduldig und sah sich derweil die Schaufenster an. Auf einmal hielt ihm jemand die Augen zu.
„Martl!!"
Da stand sie, lachend im Übermut ihrer Jugend. Voller Glück schaute er sie an. Sie hatte sich schön gemacht. Freilich, die Mädels, die in der Stadt aufgewachsen waren, verstanden's besser. Mochte der Teufel wissen, woran das lag. Sie waren auch schlanker, und die Gesichter hatten ein anderes Gepräge. Aber darum hatte er sie ja grade so gern, weil sie so drall und frisch aussah, groß und kräftig, blühend die Farben, rund der Busen und rund die Hüften. Das andere würde sie schon noch lernen. Sie
musste überhaupt noch viel lernen. Aber dafür war er ja da, er, Adolf, dessen Großvater schon vom Dorf in die große Stadt gekommen war, und der Vater war bereits ein aufgeklärter Mann. — Sie sprangen auf den Wagen. Eine halbe Stunde später trafen sie bei dem Unaarbeiter Konrad Amthor ein.
Das Zimmer des Schlossers war ein einfenstriger Raum. Kaum hatten die notwendigsten Möbel Platz. Das Fenster ging auf den Hof der hochstöckigen Mietskaserne. Es sah auf die kahle Fläche der gegenüberliegenden Brandmauer. Trotz seiner Enge war das Zimmer nicht unwirtlich. Das helle Gelb der Wände floss ruhig über die Flächen hin. Braunrot hob sich der Kamin heraus. Die Fenster trugen nichts als den einen tiefgrünen Vorhang, der abends diese kleine Welt nach außen abschloss. Bilder waren nicht vorhanden. Nur in der Fensternische hing ein Frauenbildnis. Man nahm es vom Zimmer her kaum wahr; vom Tisch aus fiel der Blick darauf.
Einige Burschen und Mädels waren schon da. Die meisten trugen Wandervogelkluft. Auch Emil kam.
Um acht Uhr war der Kreis versammelt. Man drückte sich auf dem Bett zusammen, oder hockte auf Schemeln, oder saß auf dem Fußboden. Konrad nahm den Platz am Fenster ein.
„Is es nich gemein?!! So ein Regen grad auf die Feiertage!!"
„Ich wollt' meine neuen Bretter einfahren."
„Nu hat man mal drei freie Tage!!------------"
Die Wirtin brachte eine Kanne dünnen Tees. Der eine hatte sein Abendbrot daheim schon verzehrt, ein anderer zog es aus der Tasche; auch Knuspereien waren mitgebracht.
Die Mahlzeit war vorüber. Ein paar Klampfen erklangen; ein paar Lieder wurden gesungen. „Was machen wir heute Abend, Konrad?" Auf diesen Augenblick hatte Walter Stamm gewartet.
Er zog ein Buch aus der Tasche und setzte sich zurecht. Das Geplauder verstummte.
„Was willste denn lesen, Walter?"
„,Maria in Flandern' von Timmermanns."
„Na!!!!-----------"
Walter begann. Er las einige ausgewählte Stücke. Seine Darbietung war sorgfältig vorbereitet. Mit eindrucksvoller Stimme trug er vor, selbst von dem Kunstwerk sichtlich ergriffen.
Zusammengekauert hörte Emil Busch zu. Die Falte auf seiner Stirn grub sich tiefer. Spöttische Blicke schossen aus seinen Augen. Walter bemerkte es nicht. Sein schmächtiger Körper beugte sich über das Buch, das er in seiner zarten, unausgearbeiteten Rechten hielt, den Ellenbogen auf das übergeschlagene Knie stützend.
Er begann soeben ein neues Kapitel. Da brach Emil los: „Mensch!!! Hör uff!!" Er sprang auf. „Wie kannste uns denn so en Blech vorlesen?!! Sind wir dazu zusammengekommen?! Aber so seid ihr Buchdrucker! Nischt von proletarischem Empfinden!! Nischt von Klassenkampf!! Immer hibsch birgerlich!! Stehkragenproleten!! Haste nich vielleicht noch e Grammophonplatte bei dir mit ,Stille Nacht, heil'ge Nacht', oder e bisschen Engelshaar oder e Krippe mit e Jesusknaben?!"
Walter schwieg verletzt. Und ehe noch die andern zu Worte kamen, zog Emil seine Zeitung aus der Tasche und begann:
,„Seit ein sehr naiver Dichter das Weihnachtslied von der stillen, heiligen Nacht in die Welt gesetzt hat, singen jedes Jahr um die gleiche Zeit die Frommen und die Heuchler und auch die Ahnungslosen: Christ, der Retter ist da'. Da man an jedem Weihnachten auf neue Rettung v/artet, scheinen die alljährlichen Rettereien höchst unvollkommen oder gar liederlich ausgeführt zu werden. Für einen Gottessohn sollte es doch wirklich nicht allzu schwer sein, die Welt endlich in einen solchen Zustand zu versetzen, dass ein für allemal keine Retterei mehr notwendig
ist. Es scheint ihm da wie einem andern ,Retter', dem Herrn von Hindenburg, zu gehen. Von derlei Rettern wagen zuletzt nur noch die Verwandten, Nutznießer und natürlich die nicht kleine Schar derer, die nicht alle werden, zu behaupten, dass ihr Abgott wirklich und wahrhaftig errette. Also Weihnachten wird gefeiert, wenn das mit der Retterei auch nicht stimmen kann.' Siehste, Mensch, das is proletarisch! Das is das, was wir brauchen! Nich dein Geseiche von Maria und 'm Jesukind." Doch Walter hatte seine Wehrbarkeit wiedergewonnen. „Proletarisch nennste das? Gemein is das! Kulturloser Kitsch! Elender Literatenseich." „Lächerlich!"
„Ein richtiger Literatenseich!" „Was meensten damit??"
Nun mischten sich auch die anderen ein. Binnen weniger Minuten wogte ein heißer Kampf. Keiner konnte einen Satz zu Ende bringen, ohne von einem anderen unterbrochen zu werden. Die dünnen Wände der kleinen Bude zitterten von dem Gewirr der Stimmen. Konrad hörte ihrem Toben stillschweigend, aber aufmerksam zu. Endlich begann Franz mit beiden Fäusten auf den Tisch zu trommeln. Seine gro­ßen Kinderaugen leuchteten. War es der Spaß an der tollen Rauferei, oder war es jene fast schelmische Wohlgelauntheit, mit der er aller Zwietracht den giftigen Stachel zu nehmen wusste?
„Ruhe!!!" schrie er.
Die Streitenden ließen einen Augenblick ab.
„Busche-Emil soll reden!"
Es trat Ruhe ein.

„Sag mal Emil, warum bist du eigentlich gegen jede Weihnachtsfeier?"
„Mensch!! Das is doch so klar!! Wer von uns glaubt denn noch an den Zimmt? Und die andern glauben's erscht recht nich. Das tun se doch alles bloß so, und dann baun se sich Geschenke uff, dass der Tisch kracht, und fressen un saufen
sich voll, dass sie selber krachen, und der Pfaffe muss seinen Segen dreingeben, und wir armen Ludersch können zusehen un uns aufs Jenseits vertrösten. Nee!!! Ich kann nur druff rotzen! Ich versteh gar nich, was man da noch drüber reden soll."
„Emil, woran glaubst du eigentlich nicht?"
„Mensch!! An die Weihnachtsgeschichte!! An die Engel!! An'n lieben Gott im Himmel!! Mit en'n Wort: An den ganzen Kram, was da in der Bibel steht."
„Warum nennst du's Kram?"
„Nu mach keene Späne! All das Zeug haben doch die modernen Naturwissenschaften längst widerlegt."
„Wenn der Franz das noch nich weeß, da wer'ch 'n mal e kleene Uffklärung geben", mischte sich jetzt Adolf ein. Auch er war Metallarbeiter, aber nicht von der derben Art Emils. Nicht umsonst war seine Familie schon in der dritten Generation städtisch. Noch hielt sein mittelgroßer, mäßig entwickelter Körper den Anstrengungen des Berufes stand. Aber die fliehende Stirn des schmalen, hochgebauten Gesichtes deutete auf verringerte geistige und seelische Kraft bei stark entfalteter Intelligenz. Er warf sich in Positur. Galt es doch, seinem Mädchen zu zeigen, was er konnte!
„Weeßte Fränzchen", begann er — er stieß mit der Zunge beim Sprechen leicht an, — „hierzulande lernt man nämlich schon 'n bisschen früher denken, als bei euch in Schwab'n."
„Nu da!", feixte Walter.
„Schon mein Vater war e Freidenker. Wenn er abends von der Arbeit kam, hat er mir all den Quatsch abgehört, den se mir in der Schule beigebracht hatten. Junge, lass dich nich verdummen', hat er gesagt. ,Willste wissen', hat er gesagt, ,wie der Weihnachtsmann aussieht? Da hast 'n Fuffziger. Das is der Weihnachtsmann'."
Die meisten lachten beifällig. Walter feixte. Franz schaute einfältig drein.
„Du musst uns das e bissel besser erklären, Adolf."
„Gut, mei Lieber! Da, schau her! Ich will dir zeigen, was
mit deinem lieben Gott im Himmel los ist. Die Menschen haben sich das früher so gedacht." Er nahm einen Bogen Papier von Konrads Tisch, einen Blaustift und begann zu zeichnen. „Siehste, Fränzchen", sagte er, eine Scheibe zeichnend, „so dachten se sich die Erde! 'ne Scheibe, die im Wasser schwimmt. Drüber steht der Himmel wie ene Käseglocke. Unten drunter is die Hölle. Sonne, Mond und Sterne klettern an der Glocke hoch und dann wieder runter. Oben in'n Himmel sitzt der liebe Gott mit 'n langen Bart und regiert von da aus die Welt."
Man lachte. Walter maß ihn mit einem Blicke grenzenlosen Spottes.
„Na, und du glaubst das alles nit mehr?", fragte Franz.
„Neee, mein Guter!!!"
Verstohlen sah er zu Marta hinüber, unsicher, ob Franz es ernst meine oder nicht. „So was glaubt man höchstens noch in Schwaben! Für enen aufgeklärten Menschen haben die modernen Naturwissenschaften das alles längst widerlegt!"
„Wieso??------------"
„Wenn' du denkst, du kannst mich veräppeln, mei Lieber, so biste schief gewickelt. Du weißt so gut wie ich, der ganze Spuk is erledigt, seit man weiß, dass die Erde ene Kugel is un sich um die Sonne dreht. Darauf kommt mir's aber gar nich an. Sondern — wo is nu der liebe Gott oben im Himmel geblieben, nachdem der Himmel erledigt is un alle die Wundergeschichten auch?"
„Ja das is nu die Frage, Adolf", gab Franz mit bedenklicher Miene zurück.
„Er hat seinen Laden zugemacht", grinste Emil.
„Und ihr glaubt wirklich, mit diesem abgeschmackten Zeug uns irgend was Neues gesagt zu haben?", brach Walter los.
„Gib Ruh, Walter", rief Franz. Er wandte sich zu Konrad: „Ich mein', Konrad, es kommt drauf an, jetzt dem Adolf zu zeigen, dass wir uns diese Dinge an den Schuhsohlen abgelaufen haben. Sieh mal, Adolf, was du uns da
auseinandergesetzt hast, das hat vielleicht in rückständigen katholischen Gegenden oder bei den Bauern auf dem Dorfe noch Bedeutung. Es mag auch in unserer Stadt noch Kleinbürger geben, die dran glauben."
„Nee!! Es gibt auch noch viele Arbeiter, die das glauben!"
„Viele?"
„Na du--------"
„Ich glaub's nit. Aber gleichviel. Wir meinen ganz was anderes. Davon will ich jetzt nit spreche. Das verstehst du doch nit."
„Danke."
„Nix für ungut! — Aber sieh es mal von der Seite des Klassenkämpfers an. Mit deinen Angriffen triffst du nit emal das Bürgertum, da wo es noch 'nen Glauben hat."
„Wieso?"
„Ja schau. Als der liebe Gott im Himmel seinen Laden zugemacht hatte, wie Emil sagt, da hat sich das Bürgertum eine andre Religion geformt. Konrad, setz' ihm das auseinander!"
Konrad überlegte. „Warst du mal im Haeckelmuseum in Jena, Adolf?"
„Aber gewiss doch!"
„In der Halle ist ein Goethescher Spruch angebracht. Besinnst du dich vielleicht drauf?"
„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion;
Wer Wissenschaft und Kunst nicht hat, der habe Religion", gab Adolf selbstbewusst zurück. „Aber Konrad! Das is ja gerade, was 'ch meine! Riljohn is was für die Dummen!!!"
Walter und Franz lachten laut auf; doch sie kamen nicht zu Wort.
„Quatsch!" ertönte es aus einer Ecke, wo man sich bisher schweigend verhalten hatte. Es war Otto. Seine lange, hagere Gestalt und die scharfen Züge wollten nicht in die mitteldeutsche Umgebung passen. Er war der Sohn einer
germanisierten Polenfamilie aus Ostdeutschland. Im katholischen Glauben erzogen, hatte er im Alter des Bewusstwerdens den Zusammenbruch aller Tradition erlebt. Seither war er der Arbeiterbewegung mit Leib und Seele verschrieben. Er war aufgestanden und lehnte mit verschränkten Armen, ironisch lächelnd gegen die Wand. „Du kapierst's nich ganz, Adolf."
„Das verbitt 'ch mir!"
„Aber Mensch, sieh dir doch den Spruch an!! Goethe verordnet ja gradezu die Religion denen, die Kunst und Wissenschaft nicht haben."
„Na ja, das mein' ich ja doch! Sie is was Minderwertiges!"
„Aber die andern haben doch auch Religion! Wer Wissenschaft und Kunst hat, der hat auch Religion! Deine Logik, Verehrter, reicht nicht sehr weit."
Konrad schob den persönlichen Streit zurück. „Überleg den Satz noch mal, Adolf! Liegt nicht die Meinung drin, dass der Künstler und der Gelehrte in ihrer Kunst oder in ihrer Wissenschaft Religion verwirklichen?"
„Vielleicht", gab Adolf zögernd zu.
„Und wenn das Haeckelmuseum diesen Spruch aufnimmt, so bekennt es sich wohl auch zu dieser Form einer Religion, meinst du nicht?" Adolf sah ihn ungläubig an. „Ich meine ja nicht, dass du sie teilen sollst, Adolf!"
„Nee, mei Lieber, solche Rückständigkeiten würd 'ch ooch nich mitmachen."
„Wie du willst. Aber an dem Bürgertum, das diesen Spruch vertritt, können wir als Klassenkämpfer nicht einfach vorübergehen, nicht?"
„Nee, das stimmt!" „Also! Dann müssen wir versuchen, ihn wirklich zu verstehen, ja?"
„Nu ja-------"
„Gibst du zu, dass Goethe etwa sagt: Religion liegt in Wissenschaft und Kunst beschlossen. — Daneben natürlich auch noch in vielem anderen. — Religion ist etwas. Sie ist
da. Aber sie tritt nicht ausdrücklich in einer besonderen Veranstaltung in Erscheinung."
„Wegen mir------------!"
„Was also ist nach dieser Ansicht überflüssig?", wandte er sich an den Kreis.
„Die Kirche!"
„Der liebe Gott auf dem Thron, und dass man zu ihm bet't und große Anstalten wegen ihm macht."
„Gewiss! Der Gottesglaube erfüllt sich nach diesem Wort in den höchsten geistigen Bestrebungen des Menschen. Gott lebt für das Bewusstsein dieser Menschen in ihren besten Werken. Nicht mehr: Gott außer der Welt, außer den Menschen, sondern: Gott in der Welt, im Menschen. Wenn aber Gott im Menschen lebt, kann der Mensch dann noch der ,arme Sünder' sein, wie die Kirche lehrte?"
„Nee."
„Man gewann also damals ein anderes Gefühl für alles Menschliche. Man freute sich seines Menschseins."
„Hör mal, Konrad. Stimmt das: Goethe soll auch mal eine Zeitlang so eine Art Wandervogel gewesen sein?"
Es war Rudolf, der so fragte. Frisch und gesund schaute sein junges Gesicht aus der Wandervogelkluft. Die Älteren lachten.
„Könnte man zur Not sagen! Aber nur so in Bausch und Bogen. Worauf es ankommt ist, dass ein neues Lebensgefühl aufwachte, das Gefühl, der Mensch sei gut."
„Nanu?! — — Ich denke, das haben wir zuerst gesagt mit unserm Lied: Hebt unsre Fahnen in den Wind, wo's da heißt: Der Mensch ist gut, die Welt ist schön?!"
„Nein, Rudolf. Das war der Grundton des eben erwachenden Bürgertums. So sagte man im achtzehnten Jahrhundert auch. —"
„Das ist allerhand! Wir singen doch: Und höret, was die Zukunft spricht!"
Mit beißender Ironie lachte Walter auf. „Wir sollten lieber singen: Und höret, was die Vergangenheit spricht."
„Mensch!! Is das 'ne Frechheit!"
„Ruhe!"
„Aber das müssen wir doch klarstellen, Konrad. Haben wir denn das wirklich aus dem bürgerlichen Zeitalter übernommen?"
„Dies — und vieles andere!"
„Was denn noch?"
„Den Menschheitsglauben, von dem ich sprach. Den Zukunftsglauben an ein Endreich hier auf Erden, wo Vernunft und Gerechtigkeit herrschen werden ..."
„Mensch! So was!"
„Hat denn Walter recht, wenn er so verächtlich von dem allen spricht, was wir da übernommen haben?"
„Das glaube ich nicht. Kann je eine neue Klasse, die erst in die Geschichte eintritt, von vorn anfangen?"
„Nee! Zum Beispiel die Maschinen müssen wir auch vom Bürgertum übernehmen!"
„Und den rationalisierten Großbetrieb."
„Ich glaube, Konrad", sagte Franz, „es haben auch viele Arbeiter ein Gottesbewusstsein wie das Goethesche."
„Ausgeschlossen!!"
„Diese Stadt ist nicht das Proletariat, Adolf!"
„Wir wollen das lassen, Franz. Es kommt auf was andres an. Ist das alles in unsrer Hand noch dasselbe wie im Bürgertum?"
„Nee!"
„Also worauf kommt's an?"
„Dass wir was Neues draus machen!"
„Das ist's, Genossen. Man kann jeder geistigen Bewegung nachweisen, dass sie vieles aus der Vergangenheit übernommen hat. Das Entscheidende ist, ob sie was Neues draus macht. — Wir haben auch vom Christentum sehr vieles übernommen."
„Ausgeschlossen!!"
„Lächerlich!!"
„Doch! Aber davon ein andermal. Die Frage ist, ob wir das alles wirklich zu einem neuen einheitlichen Glauben verschmolzen haben?"
Sie schwiegen. „Ja, das ist die Frage, Genossen! Aber wir werden sie hier nicht beantworten — — — Kennt noch einer ein Wort aus jenem Zeitalter, das sich gegen den Armensünderglauben richtet?"
„Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit." Es war Else, welche diese Worte mit der Befangenheit des Neulings sprach. Sie war mit Franz gekommen und saß neben ihm auf dem Bett, leicht an ihn gelehnt. Aber ihre Augen ruhten je länger um so gebannter auf Konrad.
„Ja, Else", bestätigte Konrad, überrascht durch ihr Verständnis. Ein Blick aus der Tiefe seiner durchdringenden grauen Augen umfing das schöne Mädchen in seiner fraulichen Fülle.
„Wo hast du den Vers her?"
„Aus einem Abreißkalender", sagte sie verlegen.
„Was war's für einer?"
„Ich weiß nich mehr-------ein bürgerlicher-------"
Die Burschen lachten laut auf. Selbst Walter vergaß für einen Augenblick seinen Groll.
Auch Konrads Lippen verzogen sich; seine weißen Zähne blitzten. „Es tut nichts zur Sache, oder vielmehr, es ist sehr charakteristisch, dass der Spruch in einem bürgerlichen Kalender stand. Denn mit diesem Wort sagte das Goethesche Zeitalter das Beste, was es zu sagen vermochte. Das heutige Bürgertum zehrt daran. Aber lass es uns genauer betrachten. Heißt es in deinem Vers noch Sünde?"
„Nein", antwortete sie errötend. „Es heißt nur noch Gebrechen."
„Und ist es ein Gott, der von außen her den Menschen richtet oder ihm vergibt?"
„Nein, sondern der Mensch findet seinen Trost und seinen Frieden im Menschen selbst."
„In einem andern oder in sich?"
„Ich weiß es nicht", sagte Else nach einigem Besinnen.
„Du weißt es nicht?------------" Konrad sah einige Sekunden verloren vor sich hin, als wenn er die Umwelt vergessen hätte. „Ich weiß es auch nicht."------------Doch im nächsten
Augenblick sich wieder straffend: „Lassen wir das.------------
Aber, Adolf, nun frage ich dich: Trifft dein Kampf gegen die Pfaffen und den Herrgott im Himmel und die Wunder und den Armen-Sünder-Glauben — trifft er dieses Goethesche Lebensgefühl und den Goetheschen Menschheitsglauben und alles, was sich das Bürgertum davon bewahrt hat?" „Nee!-------Allerdings nich------------"

Sie schwiegen eine Weile.
„Und wir als Sozialisten? —-------" Walter sagte es eindringlich. „Konrad, du entwickelst allerhand interessante
historische Tatsachen-----------------Aber wir! Heute!-------
Darauf kommt es an!!!"
„Du meinst", fragte Adolf, „wo nu für uns der liebe Gott geblieben is, nachdem er vom Himmel in 'n Menschen gerutscht war?"
„Allerdings."
„Für mich is er glatt erledigt!! Für den klassenbewussten Arbeiter überhaupt!"
„Woran glaubst du denn?"
„An die klassenlose Gesellschaft!"
„Und heute?"
„An die Solidarität des klassenbewussten Proletariats! An den Klassenkampf! Alles, was dazu nötig is, entwickelt sich aus der Gesellschaft heraus."
„Bei den Polarbären kann es sich ja auch nich entwickeln", feixte Otto.
„Mensch! Was soll das nu wieder?! Ich hab das bei einem Genossen gelernt, der entschieden mehr kann als du."
„Dazu gehört nich viel!"
„Was hast du gelernt", fragte Konrad.
„Dass wir uns in die Gesellschaft mitten hineinstellen müssen, und aus ihr abzuleiten versuchen, was wir zu tun haben."
„Mach mir mal das vor!"
Adolf sah ihn unsicher an.
„Nimm irgendeine bestimmte Angelegenheit. Nimm an,
du hast ein Mädel und möchtest es ganz haben und möchtest auch ein Kind haben. Aber heiraten könnt ihr nicht." Adolf wurde rot. „Was sagt dir die Gesellschaft, wenn du dich nun mitten in sie hineinstellst?"
Adolf würgte an einer Antwort, ohne sie zu finden.
„Gibt die Gesellschaft dir recht, wenn du deinen Weg gehst?"
„Ein Teil von ihnen — ja."
„Und die andern?"
„Geben mir unrecht."
„Wo bleibt also die Antwort der Gesellschaft?" Adolf druckste.
„Nimm an: Die Gesellschaft ist in sich einig und sagt nein! Du aber willst dein Glück nicht opfern. Ist es einfach deine Pflicht, dich unterzuordnen?"
„Nee!!!"
„Vielmehr: Wenn du überzeugt bist, die Gesellschaft ist verrottet und du bist im Recht, was tust du dann?"
„Was ich will!"
„Es ergeben sich also die stärksten Konflikte, wenn wir uns in die Gesellschaft mitten hineinstellen. Woher nimmst du die Entscheidung?"
Adolf schwieg lange. „Ich weiß nich", sagte er endlich.
„Ich auch nicht", sagte Konrad. „Vielleicht weiß es ein anderer?" Sie schwiegen alle.
„Aber man könnte es sich noch auf andre Weise denken", sagte Otto.
„Nämlich?"
„Nicht, dass ich mich von ihrem Urteil abhängig mache, aber dass ich handle, wie es der Gesellschaft dienlich ist."
„Für einen Sozialisten ein ausgezeichneter Rat. Aber wie soll er verwirklicht werden? Dass die Gesellschaft selbst darüber nicht entscheiden kann, sahen wir eben. Wer würde also darüber entscheiden müssen, was der Gesellschaft dienlich ist."
„Wir selbst."
„Dazu ist es gewiss wesentlich, dass ich mich mitten in die
Gesellschaft hineinstelle, wie du sagst. Ich muss die Gesellschaft kennen, der ich dienen will. Aber ist die Entscheidung damit gefällt?"'
„Nein."
„Mir scheint, die Gesellschaft spielt bei dieser Auffassung eine klägliche Rolle: Man diktiert ihr die Funktionen des lieben Gottes zu — aber leider kann sie sie nicht wahrnehmen.
„Mensch!! Willste uns verkohlen?" rief Adolf.
„Nein! Ich will bloß darauf hinweisen, dass ihr mit neuen Worten alte Sachen sagt, aber nicht die Konsequenz draus zieht!"
„Und du, Konrad", fragte Walter wieder. Eine tiefe Leidenschaft klang durch seine Frage. Konrad antwortete nicht. „Konrad!! Du fragst und du entwickelst! Wo aber bleibt dein Bekenntnis?" Konrad schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es ist an der Zeit abzubrechen." „Nein!" rief Emil. „So können wir nicht aufhören. Konrad. Das mit der Gesellschaft hab ich nich verstanden. Aber wir haben schon was, wo die andern ihre Riljohn haben." „'S mein ich auch", unterstützte Adolf. „Wir haben doch unsre Weltanschauung."
„Ich hab 'nen Vorschlag", sagte Emil. „Es is erst um neune. Heut Abend is 'ne Feier von verschiedenen proletarischen Organisationen. Sie soll um zehne anfangen. Wir gehn alle zusammen hin. Dann sehn wir mal, was die Feier uns sagt."
„Bravo, Emil!"
„Wird gemacht!"
„Wir gehn geschlossen hin."
„Erst noch ein paar Lieder."
Als sie aufbrachen, zog Walter für einen Augenblick den Freund auf die Seite.
Seine dunklen Augen brannten. „Ich verstehe dich nicht", sagte er heftig. „Du hast geradezu gekniffen!!"
„Nein, Walter. Was soll ich denn sagen??!-------Hast du
irgendeine Klarheit?"
„Nein!"
„Habe ich sie?? — Nein." Sein Auge verweilte einen Moment auf Eisens entschwindender Gestalt.------------
„Noch eins, Konrad. Schien dir meine Weihnachtsgeschichte auch verfehlt?"
„Ja."
„Aus psychologischen Gründen?"
„Auch sonst."

Die proletarische Feier fand in einem großen öffentlichen Saale statt. Er war bereits für das morgige Fest des deutsch-nationalen Handlungsgehilfenverbandes festlich geschmückt. Buntes Seidenpapier, schillernde Lampen, Papierblumen, Fähnchen wogten durcheinander. Dazwischen hatte man für die proletarische Feier einige rote Fahnen angebracht.
Die Feier zerfiel in einen ernsten und einen heiteren Teil. Der ernste sollte die gegenwärtige Lage des Proletariats darstellen, der andere die Zukunftshoffnung. Der erste Abschnitt bot in zwangloser Folge Elendsbilder nach Käte Kollwitz und Masereel, durch das Epidiaskop auf eine Leinwand geworfen — Sprechchöre — Lieder des Arbeitergesangvereins — eine Revolutionsszene als lebendes Bild: wütende Volksmassen mit erhobenen, drohend geballten Fäusten in roter Beleuchtung — revolutionäre Gedichte von Toller und Schönlanck, die gut angezogene, hübsche Mädchen mit klangvoller, geschulter Stimme vortrugen. Als Abschluss des ernsten Teils hielt ein von auswärts verschriebener Genosse, Mitglied des Landtages, einen volltönenden Vortrag.
Dann kam die Pause. Walter Stamm ging.
„Ich habe genug! En rot anlackiertes Missionsfest! Viel Glück, Adolf, zum weiteren Studium der sozialistischen Weltanschauung!!"
„Mensch, du bist doof."
„Auf Wiedersehen!"
Es folgte der heitere Teil. In fröhlichen Volkstänzen schwangen Mädels die Beine, wie sie es bei der Gymnastiklehrerin gelernt hatten, indes die Väter aus der Fabrik mit
etwas wunderlichen Gefühlen zusahen. Der Arbeitergesangverein ging nunmehr zu lustigen Weisen über. Auch das Tollermädchen wandelte sich ins Fröhliche und sagte das Heinesche Lied auf, darin der Vers vorkommt: „Ja, Zuckererbsen für jedermann, Sobald die Schoten platzen, Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen." Stürmischer Beifall! Ein Jugendlicher sang: „Hebt unsre Fahnen in den Wind." Dann führte ein ernsterer Sprechchor die Stimmung wieder auf den Grundton des ersten Teil zurück. Zum Schluss wurde die Internationale angestimmt. Alle sangen sie stehend mit. Die Älteren streiften während des Liedes die Mäntel über. Die Jungen blieben zum Ball da.
Schweigend traten die Freunde den Heimweg an.
„Genossen!", sagte Konrad endlich. „Es gibt eben nur eins: Arbeiten! Die Wahlen stehen vor der Tür. Wir kämpfen diesmal um die Mehrheit. Darum: Jede freie Minute der Partei."
„Damit tust du das, was Adolf vorhin meinte, wenn er sagte: Ich orientiere mich am Klassenkampf", entgegnete Otto. „Das ist ein Notbehelf, kein Grundsatz."
„Vielleicht! Es bleibt eben nur die Arbeit. — — — — In den nächsten Monaten, Genossen, werden wir für Zusammenkünfte kaum Zeit haben. Aber wir sehen uns gelegentlich, nicht?"
Sie gaben sich die Hand und trennten sich. Die Paare gingen für sich. Adolf brachte Marta ab. „Komm Martl! Wir gehen noch e bissei spazieren!"
„Ächja", erwiderte sie schnippisch. Hatte er keinen guten Eindruck geschunden?
„War das ein toller Abend", sagte Else, als sie mit Franz heimging. „Aber Konrad hat es immer fein gedeichselt. Wo is er eigentlich her?" „Aus der Schweiz."
„Is es wahr, dass er verheiratet is?"
„Ja; er hat's uns gesagt."
„Erzähle doch, was du von ihm weißt." Und sie hing sich an seinen Arm.
Beim Abschied unter der Haustür schloss er sie in seine Arme. Sie erwiderte seine Umarmung mit einer Leidenschaft, wie er sie bisher an ihr nicht gekannt hatte. Es war ihm plötzlich, als ob sein Herz unter ihren Küssen in dumpfem Schreck erbebte. Aber das währte nur einen Augenblick. Dann entließ er sie in ihr Haus und ging heimwärts.

 

III. Mann und Weib und Weib und Mann...

So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint, so schafft nichtsdestoweniger die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts im gesellschaftlich organisierten Produktionsprozesse jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter.
Karl Marx.

Konrad und Emil nahmen nach Weihnachten die Agitation unter den Unaarbeitern mit einer Anzahl Parteigenossen planmäßig auf. Am Sonntag hatte die Partei Aufträge für sie. Emil arbeitete mit übermenschlicher Anstrengung. Konrad warnte: „Nicht zu toll, Emil!"
„Macht nischt, Konrad!! Diesmal müssen wirs schaffen! Nur einmal im Reichstag eine Arbeitermehrheit — und die andern sollen sehen, wo sie bleiben!!!"
„Wer versorgt die kranke Mutter, Emil?"
„Ich helf ihr, so gut ich kann. Die Nachbarin kommt auch. Sie schimpfen natürlich alle beide auf die Agitationsarbeit. Aber die Partei geht vor!"
Die andern Freunde sahen sie selten. Auch sie waren durch Wahlagitation in Anspruch genommen. Nur Walter Stamm hatte hie und da Gründe, ihr auszuweichen. „Er ist eben kein richtiger Prolet", sagte Emil. „Es gibt viele aus seinem Beruf, die mit größter Energie in der Bewegung arbeiten." „Mag sein."
Auch Else nahm an der Agitationsarbeit teil. Ihr Eifer setzte Franz in Erstaunen. Sie hatte sich bisher nur als Mitglied der Kinderfreunde in der Arbeiterbewegung betätigt. Gefühlsmäßig dem Ganzen verbunden, war sie dem Politischen fremd geblieben. Franz hatte manchmal ihren Mangel an Interesse mit leiser Sorge empfunden. Schon einmal hatte er ein Mädel verloren, weil es auf seine Parteiarbeit eifersüchtig war. Er konnte es lange nicht verwinden. Dann war Else in sein Leben getreten. Ihre glückliche Sinnlichkeit hatte den Bann gebrochen. Er wusste sich eins mit ihr in dem großen Ganzen des proletarischen Kampfes — mochten sie dann getrost jeder seinen Weg gehen. Nur hie und da nagte leise der alte Wurm. Um so mehr beglückte ihn jetzt ihre Wendung auf seinen eignen Interessenkreis. Sie half ihm Flugblätter tragen; sie spielte mit ihm des nachts den „Grünen" Streiche; sie half Plakate ankleben; sie begleitete ihn auf die Landagitation. Bisweilen überfielen sie dann abends beim Heimkehren Konrad in seiner Wohnung, um zu berichten. Übermütig erzählte Else von ihren Taten, und das herbe Antlitz des Schlossers leuchtete fröhlicher als sonst. Franz saß glückstrahlend dabei, stolz auf sein Mädel, stolz auf den Freund, dessen Anerkennung ihm mehr galt, als alle äußeren Erfolge.

Am Sonntag, den 29. April, fand die Wahl statt. Für den Abend des Tages war Treffen bei Konrad verabredet. Bis 6 Uhr hatte jeder noch in seinem Bezirk mit der Wahl selbst zu tun; dann waren Ordnungs und Aufräumungsarbeiten zu erledigen. Zwischen 9 und 10 Uhr trafen sie bei Konrad ein. Sie wollten bis nach Mitternacht zusammen-
bleiben, um die ersten Rundfunktelegramme aus dem Reich zu hören. Burschen und Mädels waren zahlreicher als sonst gekommen. Es drängte sich in der engen Bude, dass kein Apfel zur Erde fiel. Jeder erzählte, was er auf den Agitationsfahrten alles ausgerichtet hatte. „Diesmal muss es klappen!" „Die Deutschnationalen haben wir in unseren Dörfern überall rausgekloppt." „Es gibt sicher en großen Sieg für uns!" „Aber dann!!!-----------" Dazwischen wurden Klampfen angeschlagen. Kampflieder und Liebeslieder schwirrten durch die Luft. Die Paare verkehrten vertraulicher als sonst. Adolf verdoppelte seine Bemühungen um Marta.
Um 1 Uhr war das erste Telegramm zu erwarten. Konrad hatte den Hörer seines Apparates angelegt. Der Kreis wurde stiller; man sah gespannt zu ihm hin — „Achtung! Achtung!" rief er plötzlich. Lautlose Stille trat ein. Ein paar Augenblicke — dann sprang er auf: „Genossen! Von allen Seiten dasselbe! Soweit bisher ausgezählt: Eine große Zunahme unsrer Partei und der Kommunisten!! Eine Niederlage aller übrigen Parteien!!"
Lauter Jubel brach los. Die Sitzenden schnellten in die Höhe. Man schrie durcheinander; man fasste sich an den Händen; man lachte; man rief sich zu. Auch Else war aufgesprungen, und in jähem Überschwang legte sie beide Hände auf die Schultern des Schlossers. „Konrad! Konrad!" Übermütig nahm er sie in seine Arme und drückte einen herzhaften Kuss auf ihre Lippen. Die Mädchen kreischten auf. Die Burschen lachten und schrieen Halloh! Auch Franz lachte, doch ein purpurnes Rot legte sich über sein Antlitz. Die Klampfen wurden herumgerissen, und im nächsten Augenblick brauste das Lied:
„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! Brüder, zum Licht empor!" durch den engen Raum in die Frühjahrsnacht hinaus. Bursch stand bei Mädel — Else zwischen Konrad und Franz.
Sie beschlossen, den Sieg am nächsten Sonntag draußen in der „Aue" zu feiern. Nach den langen Monaten angestrengter Arbeit war ein Tag im Freien mit Lied und Spiel das schönste Fest. —
Franz meldete sich ab. „Ich muss heim. Mei Schwester macht Hochzeit. Se habet 's schon wege mir 'nausgschobe bis nach der Wahl. Ich hab Urlaub für länger, weil's im Geschäft nix z' tun gibt und bleib a Weil drunte."
„Geht Else nich mit?"
„Sie hat keinen Urlaub bekommen."

Um dieselbe Stunde saß ein Arbeiterführer mit seiner Freundin in einem Berliner Cafe. Sie waren beide in der Partei tätig. Seit Jahren teilten sie Freud und Leid des gemeinsamen Kampfes. Diese Waffenbruderschaft hatte sie fester verbunden, als die bürgerliche Trauung es vermocht hätte. Um 1 Uhr gab der Lautsprecher das Wahlergebnis bekannt. Der Mann sah die Frau an. Sie bedurften keiner Worte.
„Also doch!", sagte er endlich bedrückt.
„Schlimm", erwiderte sie und blies den Rauch ihrer Zigarette in blauen Ringeln durch die Luft.--------

Auch der Großindustrielle und Parteiführer Hagenthal war noch auf. Er hatte die Nacht hindurch angestrengt gearbeitet. Jetzt trat der Privatsekretär in das Kabinett.
„Nun, Bülow, ist das Wahlergebnis raus?"
„SPD. und KPD. haben mit fünf Stimmen die Mehrheit im Reichstag."
„Donnerwetter! Genau das, was wir brauchen!!" Er hob den Hörer seines Tischapparates und wählte.
„Hier Hagenthal. Guten Abend Knobeisdorf. Haben Sie
schon gehört?--------— Ja--------Jawohl! — Ganz meine
Meinung!-------Knobeisdorf, da müssen wir doch 'ne Pulle
drauf trinken. Kommen Sie rüber? — — Gut. — — Bringen Sie Rothschild mit. Wir besprechen dann gleich den Arbeitsplan für die nächsten Tage." Eine halbe Stunde später saßen die Herren bei französischem Sekt in dem vornehmen Herrenzimmer.
„Also auf gutes Gelingen!"
„Unter Ihrer Führung, Hagenthal!"------------

Der nächste Sonntag brach mit aller Schönheit eines warmen Maienmorgens an. Konrads Kreis hatte um 6 Uhr Treffen auf dem Bahnhof verabredet. Eine große Schar fand sich zusammen. Jeder hatte Bekannte und Freunde eingeladen. Manch einer war ungeladen dazugekommen. Man legte Beschlag auf ein großes Abteil, das bald bis zum Bersten voll gestopft war. Schwatzen und Lachen, Lieder und Klampfen, Leben und Lieben.
Doch trug der Kreis heute nicht den einheitlichen Charakter proletarischer Jugend. Parteigenössische Studenten mit ihren Damen hatten sich angeschlossen. Auch jüngere Frauen und Männer aus den Organisationen waren gekommen. Diese bürgerlich bestimmten Teilnehmer gruppierten sich um eine Frau von etwa 30 Jahren, deren große, schlanke Gestalt im eleganten Frühjahrskostüm von den derbgebauten Mädels in ihren Wanderkitteln seltsam abstach. Sie war unter dem Pseudonym Alexa Brand als Agitatorin in der Partei tätig. Zwar legte sich die allgemeine Anrede „Genosse" wie ein einigendes Band um alle. Gleichwohl konnten die proletarischen Formen das Auseinanderfallen des Kreises in zwei verschiedenartige Gruppen nur notdürftig verhüllen.
So schied man sich auch, als das Ziel der Fahrt erreicht war. Die große Mehrheit, um Konrad und seine Freunde geschart, marschierte mit Sang und Spiel in flottem Tempo los, während die Intellektuellen mit Alexa Brand an der Spitze gemächlicher ausschritten. „Wir kommen euch nach!" Zwei studentische Paare, Wandervögel, stießen zu dem grö­ßeren Haufen. Desgleichen zwei Mädchen, ein älteres und ein jüngeres, Schülerinnen einer sozialen Frauenschule. Sie machten soeben einen Kursus für praktische Sozialpsychologie mit. Dagegen blieben einige jüngere Arbeiter, in Alexas Bannkreis befangen, bei ihr zurück.
Die Wandernden hatten zunächst das Städtchen zu passieren, um ins Freie zu gelangen.
„Genossen", schlug Alexa vor, „nach dieser Nervenprobe in der Eisenbahn" — und sie rümpfte vielsagend die feine Nase — „sollten wir uns erst an einem guten Kaffee stärken. Drüben sehe ich ein verheißungsvolles Schild." Der Kreis stimmte zu. Sie betraten den Garten eines kleinstädtischen Cafes.
„Es ist noch so früh", sagte Alexa beim Eintreten, „dass man fast fürchten könnte, indiskret zu sein. Man könnte irgendeine zarte Szene stören." Alles lachte. Ein hagerer jüdischer Student mit vogelartig geschnittnem Profil flüsterte seiner Dame etwas ins Ohr, worauf sie ihm mit dem Schirm einen Schlag gab.
„Es scheint, die Luft ist rein", sagte Alexa, nachdem sie Umschau gehalten. „Ja, Kinderchen, in eurer Harmlosigkeit glaubt ihr gar nicht, was ich auf meinen Agitationsreisen in dieser Beziehung gelegentlich erlebe."
„In welcher Rolle?" witzelte ein Student.
„Empörende Frage", erwiderte Alexa mit gespielter Entrüstung, an die niemand glaubte.
Sie nahmen um einen Gartentisch Platz. Zigarettenetuis flogen aus den Taschen. Alexa und die andern Damen wählten mit Kennermiene. Auch die Arbeiter nahmen mit leichter Verbeugung aus den dargebotenen Schachteln. Der Kellner kam. Alexa prüfte mit einem kurzen Blick seine Erscheinung als Mann; er interessierte sie nicht. Einer der Arbeiter hatte ihren Blick aufgefangen. Er verzog einen Augenblick sein Gesicht zu einem vielsagenden Lächeln, um dann gedankenvoll den Dampf seiner Zigarette in die Luft zu blasen. Der Kaffee war bestellt, die Unterhaltung begann.
„Wie war euer gestriger Abend", fragte Alexa einen Arbeiter.
„Bodenloser Kitsch!"
„Wieso?"
„Es handelte sich um die Ausgestaltung eines Frauenabends in der Partei. Eine Ortsgruppe hatte ihn übernommen. Aber mit den Kerls ist ja gar nicht zu reden. Die
kleben immer noch an so sentimentalen Dingen wie Tolstois Volkserzählungen."
,Um Gottes willen, Genosse. Warum nicht gar den Großinquisitor von Dostojewski!?"
„Is auch schon dagewesen,"
„Diese Russen sind verheerend", sagte Alexa. „Wenn man noch die modernen nehmen wollte, Kollontay, Gladkow! Das gibt wenigstens der Spießermoral des Arbeiters einen gesunden Stoß."
Indem sie so sprachen, kam von der Straße her ein größerer Trupp Männer jeden Alters. Die zerfurchten Gesichter, die verarbeiteten Hände und die kleinbürgerliche Kleidung ließen den Arbeiterverein erkennen.
„Seht diese Biederen", spöttelte Alexa. Die jüngeren Mitglieder des Kreises begannen sich über die Ankömmlinge vernehmlich lustig zu machen.
„Um Gottes willen, Kinder! Es könnten Genossen sein! Man kann nie wissen." —
Die neuen Gäste scharten sich um mehrere Tische. Ehe sie sich setzten, gab ihnen der Leiter ein Zeichen. „Ein Gesangverein", flüsterte Alexa. Im nächsten Augenblick erklang die Internationale:
„Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht!" Alex biss die Lippen zusammen; mit ihr hielt die ganze Tafelrunde nur mühselig die Fassung aufrecht.
Der Gesang war beendet:
„Und nu, Genossen", sagte der Dirigent und sein freundliches Kleinbürgergesicht glänzte: „Es lebe die Gemitlichkeit!"
Eine Lachsalve brach im Kreise der Intellektuellen los. Man schüttelte sich. Die andern blickten fröhlich und unbefangen zu ihnen hinüber.
Auf einmal erkannte der Dirigent Alexa. „Herrjeh! Das is ja unsre gute Genossin Dr. Brand. Nu da." Und er eilte zu Alexa hinüber. „Nee heren Se, wie mich das freit! Genossin Dr. Brand! Herrjeh!" Treuherzig bot er der Frau die Hand. Alexa hatte sofort die Fassung zurückgewonnen. Mit der Haltung des distinguierten leutseligen Parteimitgliedes schlug sie in die dargebotene Rechte ein.
„Guten Tag, Genosse! Ich freue mich, Sie zu sehen. Wo sind Sie doch her? — Aus Greuna? Natürlich, wo ich neulich sprach. Ich entsinne mich Ihrer auch. Ihr Chor ist ja ausgezeichnet geschult! Wir waren alle begeistert." Der Dirigent strahlte.
„Wenn's der Genossin Dr. Brand gefällig is, singen wir hinterher noch'n paar Lieder."

Unterdessen stürmte die andere Schar ihren Weg vorwärts. Nach dem Austritt aus dem Städtchen öffnete sich eine weite Ebene. Der Fluss, der sie durchzog, brachte eine schnelle Strömung aus den nahen Bergen mit. Von seinem Hauptarm gliederten sich zahlreiche Gräben und Rinnsale ab, mit denen er das ganze Land rundum bewässerte. Grünende und blühende Wiesen dehnten sich endlos, hier und da durch Baumgruppen oder Gehölz unterbrochen. Meilenlange Dämme waren kreuz und quer durch die Wiesen gezogen. Sie dienten den Wandernden als Heerstraße. Ihre geringe Höhe genügte, um den Blick frei ins Land schweifen zu lassen. Das war der besondere Reiz dieser weiten Ebenen: Sie boten einer wandernden Schar alle Möglichkeiten zu Spiel und Sport — zugleich aber ließ die unendliche Weite von Himmel und Erde das Gefühl ins Unermessliche schweifen.
Der Schar voran schritt ein Bannerträger. Blutrot wehte seine Fahne im Winde. Konrad ging in der Mitte, an Rede und Sang mit vollem Herzen beteiligt. In einiger Entfernung folgte Else. Sie war ein wenig vereinsamt. Mit der Innigkeit des sehnsüchtigen Herzens gab sie sich aller Schönheit hin, die sie umfing. Als das Lied angestimmt wurde: „Wann wir schreiten Seit an Seite" sang sie erhobenen Hauptes und strahlenden Auges den Vers:

„Mann und Weib und Weib und Mann
Sind nicht Wasser mehr und Feuer,
Um die Leiber legt ein neuer
Frieden sich, wir blicken freier,
Mann und Weib, uns freier an."

War es Zufall, dass Konrad den Blick rückwärts wandte und sein Auge dem ihren begegnete? Er blieb stehen und ließ sie herankommen. Eine Weile gingen sie schweigend Hand in Hand, den Blick in die Ferne verloren.
Das Ziel der Wanderung, ein kleines Gehölz, war erreicht. Man vertauschte die Kleider mit dem knappen Badeanzug. Und es begann ein Spiel im Wasser und auf der Wiese, wie nur kraftvolle, erwachsene Jugend es zu spielen vermag — von Liebe durchflutet, aber zugleich frank und frei. Kein schielender Blick traf das andere Geschlecht; kein zweideutiges Wort fiel. Die Maiensonne prallte vom Himmel hernieder, trocknete die nassen Körper, wenn sie aus dem Wasser kamen, und bräunte wärmend die Rücken der Mädchen, wenn sie einem derben Ringkampf der Burschen zusahen. Der Meister in allen Spielen war Konrad. Die Burschen neckten und plagten ihn und waren stolz auf seine Kameradschaft. Die Mädels bewunderten ihn in stiller Verliebtheit.

Abseits von der großen Schar saßen die beiden Frauenschülerinnen. Sie waren anfangs fröhlich mitgewandert. Seit aber die andern im Gehölz ihre Kleider abgelegt hatten, hielten sie sich fern.
„Es geht wirklich zu weit, Erika", sagte die Ältere dringlich.
„Ich bin mir doch nicht klar, Erna", entgegnete die Jüngere. „Schließlich — im Familienbad ist's doch auch nicht viel anders, und das ist doch jetzt allgemein gestattet."
„Erlaube. Erstens ist das Familienbad eine geschlossene Anlage. Das ist ganz was anderes. Hier kann jeder zukucken. — Und zweitens haben sie im Familienbad doch alle wenigstens Anzüge an. Zwei von den Jungens haben
nichts als Schnupftücher vorgebunden; ich habe es deutlich gesehen. Und dann diese ungenierte Art des Verkehrs! Das muss ja zu allen möglichen Laxheiten führen. Wie soll da die Moral der Arbeiterklasse wiederhergestellt werden?"
„Ja, Erna, ... gewiss, aber ..." Sie seufzte und sah die Freundin mit einem zweideutigen Lächeln an.
„Du bist immer noch so unklar, Erika! Das ist das Schlimmste! Wir müssen in diesen Dingen fest sein! Was soll sonst aus den andern werden? Ich werde hernach mal mit dem großen Kerl drüber reden. Er scheint sie alle am Bändel zu haben."

Gegen Mittag fand man sich zum Rastplatz zurück. Nun traf auch Alexas Gruppe ein. Sie waren langsam geschlendert, häufig rastend und ruhend. Eine Erbswurstsuppe wurde auf dem Reisigfeuer gekocht. Brot und Obst dienten als Zukost. Und dann kam die wohlige Stunde, da man sich auf dem Erdboden oder auf mitgebrachten Decken behaglich ahlte — hier ein Bursch und ein Mädel zusammen, verliebt aneinander geschmiegt — dort ein Einsamer — an andern Stellen Gruppen.
Adolf zog Marta abseits. „Komm Martl!"
„Och Adolf!"
Aber der schnippische Ton war verschwunden. Ein Gebüsch verbarg sie vor den Augen der andern. Er zog sie zu sich ins Gras. „Martl!!" Sein Mund brannte auf dem ihren.
Emil blieb allein. Er hatte kein Mädel. Zwar stammten fast alle Mädels des Kreises aus Arbeiterfamilien, aber sie waren zumeist als Angestellte tätig. Emils derbe Art entsprach ihnen nicht.
Konrad hatte sich, müde von der ungewohnten Frühlingsluft, lang ins Gras gestreckt. Er lag auf dem Bauch, den Kopf in die Arme vergraben. Plötzlich knackte ein Zweig. Er sah auf. Alexa Brand stand neben ihm. Gleichgültig ließ Konrad den Kopf wieder zwischen die Arme sinken.
„Störe ich?"
„Bitte Genossin, machen Sie sichs bequem, wies Ihnen beliebt. Wir werden alle müde sein." Und er schloss die Augen. Die Frau setzte sich einige Schritte von ihm entfernt ins Heidekraut. Konrad beachtete sie nicht. Überwältigt von Sonne, Frühlingsluft und körperlicher anstrengung schlief er ein. Doch sein Schlaf dauerte nicht lange. Als er erwachte, war er allein. Der Zauber des lauen Maientages legte sich um seine Sinne. Sie begannen zu spielen. Elses volle und doch geschmeidige Gestalt stand vor seinem Auge. Er sah ihren runden Busen, ihr heißes Erröten. Er kämpfte-----------und kämpfte doch nicht.-------Aber nein,
nein! Hier nicht spielen und sich treiben lassen, wo das Glück seines Freundes auf dem Spiele stand, den er liebte wie keinen andern. Er warf sich herum, zog einen Band Balzac aus der Tasche und begann zu lesen. Aber die erregten Sinne durchbrachen immer wieder die Schranke des Willens.

Zwei von den Mädels hatten sich plaudernd weiter von der Schar entfernt. Mit ihnen waren einige größere Knaben. Am Rande eines Wasserarmes lagerten sie sich. Sie achteten nicht darauf, dass einige fremde junge Arbeiter unweit vorbeigingen. Die Burschen waren ihrer äußeren Erscheinung nach sonntägliche Kleinbürger: billiger Herrenanzug, Stehkragen, Krawatte, Strohhut, in der Hand Spazierstöckchen.
„Nu kuck doch mal die flotten Käfer da im Grase", rief der eine. „Donnerwetter, da lässt sich was machen". Sie steuerten auf die Mädchen zu.
„Guten Tag, Kleene, scheen hier, was?" — „Solche fesche Bubiköpfe!!" — „Da möchte man gleich mal durchfahren!!"
Und sie ließen sich im Grase nieder. Die Mädchen gingen auf das Gespräch ein. Es dauerte nicht lange, so versuchten die Burschen, die Knaben abzuschieben.
„Die gehören zu uns", riefen die Mädchen.
„Na, das wern Se uns doch nich weiß machen, Fräulein! Solche patente Damen wie Sie sind! Was woll'n Se denn
mit solch Grünlingen?" Die Mädchen protestierten. Doch die Burschen setzten ihren Willen durch. Die Knaben wurden weggeschickt.
Nun war die Bahn frei. Der ältere der Burschen drängte sich nahe an das nächste Mädchen heran, dessen roter Trikot im Grase leuchtete.
„Na, scheene Rote", und er versuchte sie um die Taille zu nehmen. Ein derber Puff war die Antwort.
„Allerdings bin ich rot, innen und außen."
Verdrossen stand der Bursch auf. Jetzt versuchte der andere sein Heil bei dem zweiten Mädchen im blauen Trikot. Er zwinkerte mit den Augen.
„Was meensten, kleene Blaue? Heute Abend gehn wir in' weißen Hirsch nach Zwerchau, nich?" Er legte ihr vertraulich die Hand auf die Schulter. „Verstehste mich denn nich?"
„Nee!!" Sie sah ihn freimütig an und schob die Hand zurück.
„Laß doch", sagte der erste verdrießlich, „die gehn lieber stempeln, als dass se sich mal 'nen vergnügten Abend machen. Da lob ich mir meine Braut!"
„Was, du hast 'ne Braut und bändelst so mit andern an?"
„Och, meine Braut, die macht sich da nischt draus, wenn ich mal 'ne andre bestelle! Die is verhaun! Wir sind alle für Abwechslung."
„Hübsche Kleene", begann der zweite wieder, „weeßte denn nich, was 'ne Bestellung is?"
„Nee, wissen mer nich, und woll'n mer ooch nich wissen."
„Aber kleene Blaue, liebste denn nich die Abwechslung? Je verhauner es is, um so scheener. Solche zakschen Mädchen mit'n Bubikopf wie Ihr! Touren werden bezahlt, spendiert wird ordentlich und um 12 Uhr im Auto nach Hause gebracht, ja?" und er schob sich näher.
Das Mädchen stand auf. Nun sprang auch der Bursch in die Höhe. In seinen wässrigen blauen Augen lag tierisches Begehren. Doch das Mädchen blieb gelassen.
„Mach keene Dummheiten", sagte sie und sah ihn ruhig
an. Einen Augenblick währte der stumme Kampf. Dann wich er zurück.
„Lasst den ganzen Zimt", sagte jetzt das rote Mädel. „Setzt euch und singt lieber mit uns ein paar Lieder." Der Friede war geschlossen.
„Was singen wir denn?"
Die Burschen schlugen Turnerlieder vor, die Mädchen proletarische Kampflieder. Man fand keine gemeinsamen. Beim Abschied gaben sie sich kameradschaftlich die Hand.
„Schade, hübsche Blaue!"
„Auf Wiedersehen, kleene Rote."
Noch aus der Ferne winkten sie sich zu.
„Man hätt's ihnen viel besser sagen müssen", sagte das ältere Mädchen. „Sie kennen eben nichts anders!"

Nach einer Stunde begann es wieder lebendig zu werden. Die Mädchen hatten Tee gekocht. Man schmauste und plauderte und wartete zugleich, dass Konrad etwas vorlesen sollte. Endlich schlug er sein Buch auf. Es war „Schuld und Sühne" von Dostojewski.
„Genosse, ich protestiere dagegen, dass wir dieses unmarxistische Buch mit unsern Genossen und Genossinnen lesen", sagte der hagere Student mit dem Vogelprofil.
„Protestiere, so viel du willst, aber erwarte nicht, dass ich mich dran kehre!" Und Konrad begann. Er las die Geschichte von Sonja und Raskolnikow. Sorgfältig hatte er die Abschnitte ausgesucht, dass das Ganze eine Einheit bildete. Tiefe Stille herrschte, als er geendet. Dann kamen Fragen. Das Verhältnis der Liebenden zueinander war den meisten das Wichtigste. Zuletzt wandte sich das Gespräch der Frage von Schuld und Sühne zu. Ob man von Schuld und Sühne überhaupt reden könne? Ob nicht der Mensch ein Produkt seiner Verhältnisse sei? Ob der Sozialismus eine Antwort auf die Frage von Schuld und Sühne gebe? Bei der letzten Frage blieb man hängen,
„Was meinst du, Konrad? Sagt unsre sozialistische Weltanschauung uns was über Schuld und Sühne?"
„Ich glaube nicht."
Die Gruppe Alexas hatte sich bis dahin im Hintergrund gehalten, ohne eine störende Zwischenrede zu wagen. Aber auf den Gesichtern lag unverhohlene Ironie. Jetzt war der Augenblick zum Eingreifen gekommen.
„Ich möchte auf meinen Einwand von vorhin nochmals zurückkommen", nahm der Hagere das Wort. „Genossen und Genossinnen! Ich stelle die These auf, dass die vorliegende Dichtung wesensmäßig eine unmarxistische, ideologische Konstruktion ist, auch den Prinzipien des historischen Materialismus insofern völlig unkongruent, als ein geistiger Überbau als existent vorausgesetzt wird, ohne dass das Prinzip der kausalen Verknüpfung zwischen dem ideellen Überbau und seinem materiellen Unterbau unter Wahrung der Priorität des Materiellen eindeutig in Erscheinung tritt. In Konsequenz dieser unmarxistischen Ideologie ..."
Die Mädchen begannen zu kichern.
„Genossinnen und Genossen! Es ist tiefbedauerlich, wenn Sie für die theoretischen Voraussetzungen des proletarischen Befreiungskampfes ein so geringes Verständnis haben. Ich wiederhole: In Konsequenz dieser unmarxistischen Ideologie ..."
„Als Burlala geboren war
Do was hei noch so lütt", stimmten drei Burschen mit kräftigen Stimmen an. Die übrigen fielen im Chore ein, und das lustige Lied wirbelte in der Frühlingssonne mit hellen Klängen auf. Der Hagere zog sich achselzuckend zurück.
„Ich sage es ja, Dostojewski wirkt verheerend", sagte Alexa. „Die Partei wird gut tun, diesen Schlosser etwas unter Kontrolle zu nehmen." Der Hagere zog sein Notizbuch aus der Tasche und trug etwas ein.

Zum zweiten Mal brach die Schar auf, um das Flussufer zu erreichen. Die Spiele des Vormittags begannen von neuem. Während einer Spielpause traten die Frauenschülerinnen zu Konrad.
„Gestatten Sie, dass wir uns vorstellen", sagte die Ältere, „Erna Schulze und Erika Schottmann".
„Ich heiße Konrad Amthor", sagte der Schlosser belustigt.
Erna Schulze war ein wenig aus dem Gleichgewicht gekommen. Die unmittelbare Nähe des großen nackten Mannes übte einen ungewohnten Druck auf ihre Großstadtnerven aus. Das jüngere Mädchen musterte Konrads Gesicht mit naiver Neugier.
„Ich finde es hier eigentlich himmlisch!" platzte sie heraus.
„Das freut mich", lachte Konrad.
„Ja, Erika, gewiss! Du vergisst aber, dass wir deswegen nicht kommen." — Erna Schulze stockte wieder und errötete vor Verzweiflung über die eigene Ungeschicklichkeit.
„Weswegen kommen Sie denn?" fragte Konrad unbefangen. „Kann ich Ihnen in irgendeiner Sache aus der Verlegenheit helfen?"
Seine Augen ruhten nicht ohne Wohlgefallen auf dem hübschen Gesicht der Jüngeren. In ihren Mundwinkeln sah er ein Lachen zucken. Erna Schulze hatte ihre Ruhe wiedergewonnen.
„Kennen Sie das Buch von Gertrud Bäumer: Die Frau in der Krisis der Kultur?"
„Nein."
Die Unterhaltung kam wieder ins Stocken. Es blieb Erna nichts übrig, als geraden Wegs auf ihr Ziel loszugehen.
„Finden Sie nicht", begann sie, „dass diese Freiheit-----------
im Verkehr der Geschlechter------------ihre Bedenken hat?"
Konrad warf einen schnellen Blick auf die Jüngere. Ihre Augen trafen sich. Ein Schalk sah den andern.
„Zweifellos", entgegnete er ernsthaft.
„Es können doch die notwendigen Grenzen bei------- bei
bei dieser — — Art des Beisammenseins der Geschlechter sehr leicht überschritten werden."
„Sicherlich."
„Warum gestatten Sie das denn?"
„Ich habe hier gar nichts zu gestatten."
„Aber Sie könnten doch Ihren Einfluss dagegen geltend machen."
„Ich denke nicht im Traum daran!"
„Also bejahen Sie diese wahllose Vermischung der Geschlechter? Sind Ihnen denn nicht die moralstatistischen Erhebungen über unsere Großstadtbevölkerung bekannt? Die ungeheure Zunahme der unehelichen Geburten, der Sittlichkeitsverbrechen, der Ehescheidungen ..."
Konrad sah sie noch einen Augenblick mit verhaltnem Lachen an. Dann nahm er die Jüngere bei der Hand.
„Komm Mädle", sagte er, „ich muss mich warm laufen! Wir machen zusammen einen Dauerlauf."
Sie sträubte sich nicht. In langsamem Laufschritt trabten sie von dannen. Nach einigen hundert Metern hielt er an.
„Sag bloß, was wollte sie von mir?"
„Sie findet es eben unmoralisch", sagte die Kleine.
Da lachten sie beide aus vollem Halse, dass die Vögel erschreckt aufflogen.
„Wir setzen uns hier noch ein bisschen", schlug er vor, „und du erzählst mir von eurer Schule."
Sie ließ sich nicht bitten. Ins Gras gestreckt, sprachen sie lange und ernsthaft von den Berufsaufgaben der Frau im öffentlichen Leben.
„Ich finde dein Benehmen geradezu empörend", sagte Erna Schulze, als ihre Freundin wieder bei ihr war. „Hand in Hand mit einem nackten Arbeiter öffentlich davonzulaufen."
„Er ist entzückend", gab die Kleine strahlend zurück.
„Erika!!"
„Ich liefe mit ihm bis ans Ende der Welt." Und sie lachte in tollem Übermut.
„Bis — ans — Ende — der — Welt, mein Schulzchen!" Damit gab sie der Freundin den Versöhnungskuss.

Mit sinkender Sonne traten sie den Heimweg an. Wiederum ging es durch die meilenweite stille Ebene, alle Herzen geschwellt vor Freude, viele lustig der Stunde lebend, andere
träumerisch und sehnsüchtig in unbekannte Fernen schauend, manche befriedet, Hand in Hand schreitend im Gefühl gesicherten Liebesglücks. Als die Sonne versinkend ihre letzten Strahlen versandte, machten sie unwillkürlich Halt. Der Lärm legte sich. Schweigend blickten sie in den untergehenden Feuerball. Else stand an Konrad gelehnt. Sie blickte zu ihm auf; Auge ruhte in Auge. Dann senkte sie den Blick. Große Tropfen rannen über ihr Gesicht. Da war es, als ob der Mann langsam zurückwiche. Noch einmal sah Else einen Augenblick scheu zu ihm empor. Eine kühle Strenge stand auf seinem Antlitz und legte eine tiefe Kluft zwischen sie beide. Krampfhaft zog sich ihr Herz zusammen. Ihre Augen wurden groß und starr, die Tränen versiegten ...
Die Sonne war versunken. Einer stimmte das Lied an: „Wenn alle Brünnlein fließen, So muss man trinken."
Unter seinen Klängen ging es der Heimat zu. Nach lärmender Fahrt in überfülltem Zuge erreichte man die Großstadt. Wie der Vogel in seinen Käfig, so kehrten sie in ihren Dunstkreis zurück. Vor der Bahnhofshalle trennten sie sich unter Zuruf und Winken. Die Freunde sahen sich nach Adolf um. Er war nicht zu sehen.
„Und wo is Marta?"
„Die beiden werden wohl wissen, wo sie sind", lachte Otto.
„Sei nich so gemein", fuhr ihm Rudolf an.
Walter und Rudolf begleiteten Konrad. Sie wollten auf seiner Bude noch einiges mit ihm besprechen.
„Komm", sagten sie zu Else und nahmen sie in ihre Mitte. Halb willig, halb widerstrebend ging sie mit. Oben angelangt, kam man ins Plaudern über die Ereignisse des Tages. Else fragte nach dem Buch Schuld und Sühne. Sie kannte von Dostojewski nichts und bat Konrad, ihr die Brüder Karamasoff zu leihen. Konrad wandte sich zum Fenster, um die Bände herauszunehmen. Sie standen nicht an dem gewohnten Platz. Er begann zu suchen. In diesem Augenblick ertönte von der Straße her ein schriller Pfiff.
„Das ist Otto", riefen die beiden Burschen, „er will uns abholen! Lebt wohl!"
Mit großen Sätzen flogen sie die Treppe hinunter. Langsam wandte sich Konrad um. In der herben Schönheit seines Gesichts glühte das Rot der heißen Maisonne und der jäh aufgesprungenen Leidenschaft. Seine Lippen schlossen sich fester.
„Ich finde das Buch nicht", sagte er mit erkünstelter Reserve. „Wir suchen ein anderes." Sie trat neben ihn an das Bücherregal. Die Enge des Raumes drängte ihre Leiber zusammen; sie standen Schulter an Schulter. Else vermochte ihre Gedanken nicht mehr zu ordnen. Sie wandte sich ab.
„Ich werde ein andermal wiederkommen", sagte sie mit zitternder Stimme. Konrad nickte, ohne sie anzusehen, Sekundenlang standen sie einander regungslos gegenüber. Plötzlich schrie das Mädchen laut auf. Es schlug beide Hände vors Gesicht und barg seinen Kopf an der Schulter des Mannes. „Konrad! Ist es wirklich wahr, dass du Frau und Kind hast?"
„Ja", sagte er heiser.
Einen Augenblick noch kämpfte er.
„Geh, Else", bat er tonlos. Aber es waren nur noch seine Lippen, die Widerstand leisteten. Seine Arme gehorchten seinem Willen nicht mehr. Sie schlangen sich in rasender Leidenschaft um das warme, junge Leben an seinem Herzen.

Wirren Sinnes fuhr Konrad am nächsten Morgen in das Werk. In der Frühstückspause saß er mit einigen Arbeitern zusammen, die aus derselben Kleinstadt kamen — Männer, Burschen und zwei Lehrbuben.
Einer biss in sein mit Ei belegtes Brot. Die andern stießen sich an und grinsten.
„Fängste schon am Montag mit 'ner Eierbemme an?" hänselte sein Nachbar. Alles feixte.
„Warum nich? Eier geben Druck!"
„Haste wohl gestern nötig gehabt, was?"
„Natürlich! So enen Sonntag wie gestern hab'ch lang
nich erlebt. Erst war'n mer zum Schwoofen im Wildpark. Weiber war'n da, Weiber, kann ich euch sagen, Arme hatten se und Beene und was in der Brust — zum Anbeißen. Hinterher — na —" Ein grunzendes Lachen ging durch die Runde.
„Den Heinrich hättste sehen sollen", sagte ein anderer. „Der zog mit der Hilde los. Ich hab se gesehen im Park; 's war schon ganz dunkel. —"
„Was?! Die Hilde? Die bei Wolfs Verkäuferin is?" riefen alle zusammen. „Na, da haste unsern Segen, Heinrich!"
„Was ich mir für euern Segen koofe! Was is denn dabei, wenn ich mit der Hilde losschiebe? Ich kann mir schon denken, dass es euch nich passt. Euch hat se e Korb gegeben. E duftes Mädel is das! E paar Stempel hat die, — na ich kann euch sagen! ... Ich hab se mer aber ooch vorgenomm. Die is de längste Zeit Jungfer gewesen."
Ein schallendes Gelächter brach los. „Weeßte nich, dass die Hilde jeden Sonntag mit 'nem andern geht und ihre Unschuld verliert?"
„Macht ooch nischt! Heute woll'n ja de Männer gar keene Jungfern mehr! Hauptsache is, dass es schnell geht."
„Stimmt."
Einer der Arbeiter war Temperänzler. „Schämste dich nich, Max", sagte er, „über de Weiber so zu reden. Hast doch selbst 'ne Tochter, die Ostern aus der Schule kommt. Was würdste sagen, wenn die so durch'n Dreck gezogen würde?"
„Was sich der Selterwasserjüngling schon wieder uffregt. Natürlich! Mit so 'nem Schlappschwanz wie du wird se sich wohl nich abgeben."
So begann die Unterhaltung. Dann ging sie weiter--------
Konrad stand auf. Er trat aus der Kantine in einen Korridor. Er kam gerade zurecht, um zu sehen, wie ein Oberingenieur eins der Tippmädchen in sein Zimmer einlud. Die Gebärde, mit der er sie hineinnahm, war eindeutig. Dann riegelte er die Tür ab.

 

IV. Koalition?

Ich bin nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen. Im Gegenteil!
Karl Marx.

Die Verhandlungen um die Regierungsbildung begannen. Ein sozialdemokratischer Führer war mit der Aufgabe betraut. Er verhandelte zunächst mit den Kommunisten.
„Mensch Maier, wenn das was würde!" sagte Emil zu Konrad. „Das wäre Sache! Ne reine Arbeiterregierung!! Da könnten wir endlich mal was machen! Es muss was werden."
Konrad antwortete nicht. Nach vierzehn Tagen wurden die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen. Die Enttäuschung der Arbeiterschaft war groß.
„Warum können se sich denn nich einig werden??!! Diese Bonzen! Die Arbeiter wären in drei Tagen einig!!"
Die Verhandlungen mit der bürgerlichen Linken zum Zwecke einer Koalition wurden aufgenommen. Die Spannung stieg. Emil hatte im Werk einen schweren Stand.
„Siehste Mensch! Hab ich 's nich immer gesagt", höhnte der Kommunist mit der Hornbrille. „Eure SPdSchweine versauen alles! Was hätten wir ausrichten können, wenn wir einig gegangen wären!"
Emil berief sich auf die Gründe, die der Pressedienst seiner Partei angab: Die Unzuverlässigkeit der Kommunisten, ihre verstiegenen Forderungen. —
„Das lügen se ja alles bloß!"
Die kleine Koalition scheiterte ebenfalls. Demokraten und Zentrum weigerten sich, ohne die Volkspartei in die Regierung zu treten. Die Erregung in der Arbeiterschaft schwoll stärker an. Fünf Wochen hatte man nun eine Mehrheit — aber zustande kam nichts! Emil wich den Gesprächen mit den Kommunisten aus.
„Aha! Er kneift, der Bursche! Wofür is er ooch en SPdHund!!"
Die Volkspartei stellte ebenso unmögliche Forderungen wie die Kommunisten. Die Verhandlungen mit ihr zer-
schlugen sich gleichfalls. Endlich, nach sechs Wochen, kam eine Einigung der Sozialdemokraten mit Demokraten und Zentrum zustande. Man sprach von großen Zugeständnissen an die katholische Kirche. Der offiziöse Pressedienst beider Parteien bestritt sie.
Unzufriedenheit, Misstrauen überall. Die Partei beschloss, die wichtigsten Distrikte systematisch durch Redner von der Berliner Zentrale bearbeiten zu lassen.
„Nächsten Freitag kommt ooch eener zu uns", sagte Emil zu Konrad, als sie eines Abends vom Werk heimwärts fuhren. „Nu woll'n mer mal sehen, was der weeß."
Die Versammlung fand im großen Saale des Volkshauses statt. Das Volkshaus, ein imponierender Bau, war unmittelbar vor dem Kriege errichtet. Dicke Säulen, die nichts zu tragen hatten als große Gesimse, die wiederum keinen Sinn hatten, legten davon Zeugnis ab, dass die Erbauer es sich hatten etwas kosten lassen. Zur Krönung des großen Bauwerkes hatte man einen turmartigen Aufbau mit kleinen Säulen darauf gesetzt. Die Bedeutung dieser Anlage blieb das Geheimnis ihres Erfinders.
Das riesige Versammlungslokal war, als Konrad und seine Freunde zur angesetzten Zeit eintrafen, mit Menschen überfüllt. In dem großen Mittelraum des Saales, wo Tische standen, war der letzte Platz besetzt. Kaum, dass die Kellner sich ihren Weg bahnen konnten. Stärker noch waren die Menschenansammlungen in den Seitengängen und auf den Emporen. Kopf an Kopf standen hier Hunderte und Aberhunderte wie die Mauern. Es war alles vertreten, was je in einer solchen Versammlung anzutreffen ist. Die große Masse bildeten ältere Arbeiter, die normalen Versammlungsbesucher. Ihre Erscheinung schwankte zwischen dem Proletarier und dem Kleinbürger. Manche hatten ihre Frauen mitgebracht; auch allein stehende Frauen waren da. Die ältere Frauengeneration gliederte sich wie die Männer: Die Frau „aus dem Volk", — daneben die gutangezogene Kleinbürgerin. Die jüngere Arbeiterschaft war schwach vertreten. Teils waren es Jugendbewegte in Kniehosen und Kittel, teils
bürgerlich gekleidete junge Männer nebst ihren Damen. Dazwischen verstreut Halbintellektuelle, Studenten, Parteimitglieder aus den Kreisen des gebildeten Bürgertums — das Ganze eine gewaltige, wogende Masse von ungeheurer Spannung.

Der Vorsitzende, ein Mitglied der örtlichen Parteileitung, eröffnete. Nach wenigen einleitenden Worten gab er dem Referenten das Wort. Der Berliner war ein kräftiger, untersetzter Mann mit buschigem Haar und Bart. Man wusste nicht recht, ob sein Kopf an Marx oder an Christus erinnerte. Er entstammte der Arbeiterklasse. Seine Erscheinung erweckte den Eindruck des robusten Kämpfers. Die manikürten Hände freilich wollten zu der derben Gesamterscheinung wenig passen. In ruhiger Sicherheit nahm er das Wort.
„Genossen und Genossinnen", begann er, mit volltönender Stimme den großen Saal mühelos beherrschend. „In einer Stunde weltgeschichtlicher Entscheidungen stehe ich vor Euch!" — Lautlose Stille. — „Der Wahlkampf hat mit einem glänzenden Sieg des Proletariats über alle seine Feinde abgeschlossen. Was Marx verkündet hat, das ist durch die letzte Wahl Wirklichkeit geworden. Das klassenbewusste Proletariat hat sich selbst in den Besitz der Macht gesetzt!" Das Pathos seiner Stimme dröhnte mit ehernem Klang. „Das Proletariat" — — — wie eine Fanfare fiel dieses Wort
jedes Mal in die Versammlung-----------„muss nunmehr durch
eine energische, zielbewusste Politik dem sterbenden Kapitalismus den Todesstoß versetzen." Schweigende Aufmerksamkeit. Die Worte sprachen an. Man bestätigte gern die gewohnte Phraseologie.
Dem eigenen dogmatischen Empfinden entsprechend erwartete die Masse nunmehr eine prinzipielle Stellungnahme zu der gegebenen politischen Situation. Statt dessen ging der Redner sofort zu praktischen Erwägungen über. Dadurch enttäuschte er. Man empfand den Gegensatz zwischen der eigenen, grundsätzlich bestimmten Einstellung und einem Opportunismus, dem die grundsätzliche Entscheidung fehlte.
Er sprach zunächst von der Möglichkeit eines Zusammengehens mit den Kommunisten. Er entwickelte die Gründe, die dagegen sprachen. „Die Kommunisten sind nicht bündnisfähig ... Sie binden sich an keine getroffene Vereinbarung ... Sie sind von Moskau abhängig."
Die Versammlung konnte sich seinen Gründen nicht verschließen. Nur ein paar Grünschnäbel schrieen dazwischen: „Es lebe die Weltrevolution!" — „Proletarier aller Länder vereinigt euch!!" Die Zurufe wirkten unreif und fielen zu Boden.
Eindrucksvoller noch war es, als der Redner die Politik des Vorstandes mit einem andern Grunde stützte. Er führte aus, dass eine Regierung mit fünf Stimmen Majorität zwar allenfalls im Reichstag Mehrheitssiege davontragen könne, im Lande aber sich nicht durchsetze, weil der ganze Behördenapparat gegen sie arbeitet.
„Bei einem Bündnis mit den Kommunisten, Genossen und Genossinnen, würden wir die geeinte Front aller andern Parteien gegen uns haben."
„Hu — hu!!" — „Hast wohl Bange?!"
„Die Genossen, die in jugendlichem Eifer die Politik des Parteivorstandes anzweifeln, haben wohl keine Ahnung von Bau und Funktion der ungeheuren Maschine, die das Proletariat nunmehr in die Hand nimmt."
„Nee!!!" — „Kommt ooch gar nich in Frage!!" — „Marx hat gesagt, das Proletariat soll die Maschine zerbrechen!!!"
Doch die Zwischenrufer unterlagen noch einmal.
„Halt die Klappe!" — „Lasst den Genossen aus Berlin reden. Der versteht mehr als ihr."
Der Redner nutzte geschickt die Situation. Mit einer Fülle von Beispielen aus der Praxis stützte er die Behauptung, dass die großen Körper der Zivilverwaltung, des Heeres, der Justiz bis in ihre untersten Stellen eine reine Arbeiterregierung sabotieren, ihre Maßnahmen unwirksam machen würden. Man hörte ihm aufmerksam zu, wenn auch seine geschickte Rhetorik keine Wärme auslösen konnte. Nun kam das Bekenntnis zur Koalition mit der bürgerlichen Linken.
„Gewiss, Genossen und Genossinnen, auch wir sind der Ansicht, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selber sein kann ..."
„Na, na!!" — „Wenn’s man stimmt!" — „Kann jeder sagen!"
Und der Referent ging dazu über, die Koalitionspolitik durch Darlegung weiterer praktischer Erwägungen zu verteidigen. So bündig sie waren, so wenig vermochten sie die Masse zu Hass oder zu Liebe zu entflammen. Der grundsatzlose, rein opportunistische Charakter der Rede stieß auf das Bedürfnis des unzerspaltenen Menschen nach grundsätzlichen Entscheidungen. Hätte er mit scharfem Verstand und warmer Überzeugung die Demokratie verteidigt und aus dieser grundsätzlichen Einstellung das Bündnis mit den Kommunisten abgelehnt unter gleichzeitiger Geltendmachung der praktischen Gründe, — er hätte zwar Zorn und Entrüstung geweckt, andrerseits aber eine starke, entschlossene Minderheit für sich gehabt. So aber war er seinen Gegnern kein Widerstand und seinen Gesinnungsgenossen keine Stütze. Die geschickte Redetechnik und die überlegene praktische Erfahrung vermochten den Mangel an innerem Mut zu grundsätzlicher Entscheidung nicht zu ersetzen. Die Massen fühlten sich mit taktischen Mitteln anderthalb Stunden lang hingehalten. Als der Referent schloss, erfolgte matter Beifall.

Die Aufgabe des ersten Diskussionsredners war um so dankbarer. Es war ein Mitglied der örtlichen Parteiorganisation. Entsprechend seiner Stellung im Ganzen der großen organisatorischen Pyramide wirkte seine Gesamterscheinung um einige Grade kleinbürgerlicher als die des Referenten. Die sorgfältig gebügelte Hose und der hochmoderne Haarschnitt steigerten diesen Eindruck eher, als dass sie ihn verringerten. Er nahm zunächst grundsätzlich Stellung — einfach, eindeutig.
„Genossen und Genossinnen! Die weltgeschichtliche Stunde ist gekommen, in der das Proletariat die Macht ergreift!
Diese Macht kann nur von dem Proletariat selbst ausgeübt werden."
„Bravo!"
„Jede Koalition mit dem Bürgertum ist ein Verrat an der Arbeiterklasse!!!"
Eine Bewegung flutete durch den Saal.
„Stimmt!" — „Sehr gut!" — „Sehr richtig!" — „Bravo!" — „Weg mit der Koalition!"
„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selber sein!"
„Jawohl!!" — „Sehr richtig!"
Und als wackerer alter Metaller hämmerte er diese Behauptung den Anwesenden ins Bewusstsein wie ein Nieter seine Nieten in den Kessel, unentwegt, immer dasselbe, Schlag auf Schlag. Zunehmender Beifall begleitete seine Worte. Die Masse fühlte eine grundsätzliche Entscheidung. Ihre Enge entsprach dem eigenen Empfinden und dem eigenen Horizont. Sie empfand auch, dass der Mann da oben an seine Sache glaubte. Es kam aus dem Herzen, nicht aus dem Kopf. Dann ging der Redner zur praktischen Begründung über.
„Genossen und Genossinnen!! Der Redner hat da alle die Erfahrungen ausgepackt, die an der Zentrale gemacht worden sind. Na — wir hierzulande sind ooch nich ganz dumm!" —
„Sehr richtig, Schorsch!"
„Wir brauchen die Berliner Weisheit nich! Wir haben unsere Meinung über die Dinge. Wir haben auch Erfahrungen gemacht! Was hat uns denn die Koalitionspolitik gebracht?!!!-----------------"
„Sehr richtig!!!!--------" — „Bravo, bravo!" — „Weiter,
Schorsch!"
„Wie is es denn in den letzten zehn Jahren gegangen?! Wer ist vorwärts gekommen?! Etwa die Arbeiterschaft?!! Rückwärts is's mit ihr gegangen!! Nur das Kapital hat den Profit von der Sache gehabt!!!" Ein Beifallssturm brach los. Und wie er zuerst den einen grundsätzlichen Gedanken:
„Keine Koalition" eingehämmert hatte, so nun den anderen „Die Misserfolge der bisherigen Koalitionspolitik." Als er am Ende seiner Rede das erste Thema noch einmal erklingen ließ und mit den Worten schloss:
„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selber sein!!" da erscholl tosender Beifall durch das Haus.

Der nächste Redner war ein angesehener Führer im Reichsbanner. Seine Leute waren in der Stadt wie im Saale beträchtlich an Zahl. Die Rede war das schlichte Bekenntnis zur Demokratie. „Sie ist das Ziel, auf das die Partei seit zwei Menschenaltern hingearbeitet hat."
„Hat aber bankrott gemacht!"
„Genossen! Sie ist die einzige Staatsform, in der die Arbeiterschaft unter den gegebenen politischen Verhältnissen Macht im Staat ausüben kann."
„Was geht uns der Staat an!!"
„Wir wollen doch Politik treiben, Genossen!!------------"
„Der Staat ist ein Instrument zur Ausbeutung der besitzlosen Klassen!!"
„Genossen-----------------"
Neue Zwischenrufe prasselten dazwischen.
„Mit politischen Kindern kann man allerdings keine politischen Diskussionen führen."
Lärm!! Schlussrufe!!
Seine Anhängerschaft demonstrierte. Die anderen blieben ihr nichts schuldig, Endlich gelang es dem Vortragenden, die Ruhe wieder herzustellen. Der Reichsbannerführer begann von neuem. Er versuchte ihnen darzulegen, dass die Weimarer Verfassung unter den gegebenen Verhältnissen, insbesondere den außenpolitischen, die einzigmögliche Staatsform sei. Dass sie die Koalition fordere. Hätte der Referent ihm besser vorgearbeitet, so hätte er Boden in der Versammlung gefunden. Denn seine Rede wirkte echt und seine Freunde unterstützten ihn kräftig. Die Masse empfand einen sicher ausgerichteten Menschen. So aber war die Situation bereits zerhauen, als er begann, und seine Mittel reichten nicht aus, sie zurückzuerobern.
Dann sprach Konrad Amthor. Es war zum ersten Mal, dass er vor eine große Versammlung trat. Er begann mit einem scharfen Angriff auf den grundsatzlosen Opportunismus des Referenten. Auch seine praktischen Gründe focht er an, so die Aufrechnung der Fünf-Stimmen-Mehrheit.
„Die Gefolgschaft ist da, wo geführt wird!"
„Sehr gut!"
Dann ging er zur Darlegung der eigenen grundsätzlichen Stellung über. Jede Koalition sei Mittel: „Das Ziel ist alles, das Mittel nichts."
„Bravo." — „Sehr gut!"
Schlicht, undemagogisch kamen seine Worte. Sie klangen anders, als man es gewohnt war. Man empfand das Format seiner Persönlichkeit. Eine Sympathiewelle ging durch den Saal.
Nun zog Konrad die Konsequenz. Die Arbeiterschaft muss je nach der Situation mit dem Mittel arbeiten, das Erfolg verspricht.
„Man muss das eine einsetzen können und das andre, Genossen! Wir dürfen uns nicht grundsätzlich auf ein Mittel festlegen!"
Man wurde stutzig. Das Befremden wurde zur Ablehnung, als Konrad die Rede des örtlichen Parteimannes um ihrer primitiven Einseitigkeit willen angriff. Und als er dann zu dem Schluss kam, die heutige Lage erheische die Politik der Zentralleitung aus eben den praktischen Gründen, die der Referent dargelegt, brach ein Entrüstungssturm los. Die Versammlung fühlte sich genasführt.
„Bist wohl doof?!" — „So e Grünschnabel!" — „Schluss!" — „Abtreten!" — „Lächerlich!" — „Schluss!"
Die Leitung der Versammlung schlug Schluss der Rednerliste und Beschränkung der Redezeit vor. Der Antrag wurde angenomen.
Es folgte ein hochaufgeschossener Jüngling, allen ständigen Versammlungsbesuchern nur zu gut bekannt. In
wohlgesetzter, verständiger Rede sprach er grundsätzlich bei jeder Gelegenheit. Seine Worte, schon vor der Versammlung präpariert, mit Ernst und Bekennermut vorgetragen, hatten nie einen Inhalt. Aber sie rollten fließend ab und klangen gut. Auch versäumte er nie, derjenigen Parteiinstanz, auf deren Empfehlung er gerade Wert legte, einige Höflichkeiten zu sagen. Die sachlichen Entscheidungen traf er aus demselben Gesichtspunkt. Für diesmal hielt er es mit der örtlichen Parteileitung. Die Versammlung erfreute sich daher des verständigen Jünglings und zollte ihm lebhaften Beifall. Er hatte in dem Rennen einige Punkte gewonnen.
Der nächste war der hagere Student mit dem Vogelprofil. Wie am Sonntag ergoss er sich in fließender akademischer Rede, dem Stolz des älteren Semesters, vor dem sich das jüngere staunend beugt. Er begann damit, den geschichtlichen Materialismus zu entwickeln. Das Wort war in der Versammlung populär. Es wirkte als Erkennungsmarke. Aber schon nach wenigen Sätzen ging es ihm wie am Sonntag im Walde. Die Versammlung, ohnehin ermüdet, wurde unaufmerksam. Man begann zu plaudern, der Redner wurde im Saale nicht mehr vernommen.
„Hör uff!" schrie ein Reichsbannermann. „Du weeßt ja nischt!! Du kennst ja das Leben gar nich!! Du erzählst uns bloß Määrchen!"
Der Vorsitzende griff ein, aber er vermochte nicht, ihm Gehör zu verschaffen. So veranlasste er ihn zum Rücktritt. Die Rednerliste war erschöpft. Der Referent bekam das Schlusswort. Die allgemeine Aufmerksamkeit kehrte zurück. Er begann damit, seine Überlegenheit an praktischer Erfahrung herauszukehren. Mit der Geste des erfahrenen Fachmannes warf er Konrad Verworrenheit vor und machte den Studenten lächerlich. Höflicher verfuhr er mit dem örtlichen Parteiführer. Er versuchte, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er sich auch seinerseits in verstärktem Maße der marxistischen Phraseologie bediente.
„Genossen und Genossinnen! Ich sagte bereits in meinem Referat: ,Auch wir sind der Ansicht, dass die Befreiung der
Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selber sein kann'."
„Wer's gloobt!" — „Kann jeder sagen!!"
Der demagogische Trick konnte ihn nicht mehr retten. So versuchte er, die Überlegenheit der Zentrale geltend zu machen. Damit goss er Öl aufs Feuer.
„Ihr habt wohl in Berlin den Vorstand gepachtet?!" — „Wir sind ooch nich von gestern!"
Die Erbitterung wuchs, als er die Zwischenrufe scharf zurückwies. Aber auch die Reichsbannertruppen blieben nicht stumm:
„Maul halten!" — „Seid wohl noch nich hintern Ohren trocken!"
Schon war der Redner minutenlang nicht mehr verständlich. Die feindlichen Brüder begannen sich gegenseitig zu beschimpfen. Der Lärm wuchs zum Tumult. Da sprangen einige jüngere Arbeiter, Anhänger der örtlichen Leitung, auf die Tische und stimmten die Internationale an. Zwanzig, fünfzig, hundert Stimmen fielen ein. Im nächsten Augenblick brausten die Klänge des Liedes mit donnerndem Getön durch den Saal. Der Referent war erledigt. Nach Beendigung des Gesanges schloss der Vorsitzende die Versammlung.

Als man auseinander ging, bildete sich eine Gruppe um Konrad Amthor. Der Reichsbannermann, der ihn vom Unawerk her kannte, begrüßte ihn. Auch der hagere Student trat hinzu, während der hochaufgeschossene Jüngling mit abgewandten Augen vorbeiging. Die Bekanntschaft war nicht opportun. Nun trat auch der Reichsbannerführer an die Gruppe heran und machte sich mit Konrad bekannt.
„Genosse, Ihre Rede gefiel mir anfangs gut. Aber zum Schluss verfielen Sie demselben Opportunismus wie der Referent."
„Ohne Zweifel", sagte der Hagere.
Konrad widersprach.
„Es ist nicht möglich, die Sache hier zwischen Tür und
Angel auszufechten", sagte der Reichsbannerführer. „Haben Sie Zeit für eine Aussprache im Cafe Volkshaus?"
„Gewiss!"
Die Freunde, der hagere Student und einige andere schlossen sich an. Wie zufällig war auch Alexa Brand in der Nähe. Sie begrüßte Konrad und ging mit. Die kleine Gesellschaft trat in das Café des Hauses ein. Es trug seinen Namen „Cafe Volkshaus" zu recht. Denn einmal war es ein Cafe mit allem, was zu einem richtigen Cafe gehört: große Spiegelscheiben nach der Straße, dahinter die Tische mit Marmorplatten, elegantes Geschirr in Rokokoimitation, ein reichgeschnitztes Büfett, bemalte Wände mit fröhlichen Amouretten zwischen bunten Weinranken, bemalte Kassettendecke, Leuchtkörper in bunten Glasbehältern. Ein Café Volkshaus aber war es, weil zwischen den Amouretten und Weinranken der Wände die Medaillons von Marx, Engels, Liebknecht, Bebel und anderen proletarischen Führern angebracht waren.
Die kleine Gesellschaft ging in ein hinteres Zimmer. Man rückte zwei Tische zusammen und nahm Platz. Der Reichsbannerführer saß an der Spitze, Konrad irgendwo dazwischen, Alexa Brand ihm gegenüber. Jeder bestellte seinen Imbiss.
„Bei dem Wort Staat hakte es natürlich wieder aus", nahm der Reichsbannerführer das Wort, als man warm geworden war.
„Mit Recht Genosse", fiel der Student schnell ein. „Wenn Sie unseren Genossen mit einer derartigen Ideologie kommen, so müssen sie sich wehren!"
„Sehr richtig", sagte Emil.
„Ich sehe die Dinge anders", widersprach Konrad.
„Aber Genosse!" Und Alexa runzelte die Stirn.
„Ich habe keine Begeisterung, mich hier in eine akademische Erörterung über das Wesen des Staates zu verlieren", sagte der Reichsbannerführer. „Mögen die Genossen das unter sich abmachen. Wichtiger ist mir die Auseinandersetzung mit Ihrer Auffassung, Genosse Amthor. Mir scheint,
Sie sehen die Dinge nicht realpolitisch genug. Nur wenn Sie die grundsätzliche Notwendigkeit der Koalition anerkennen, stellen Sie sich auf den Boden der Wirklichkeit, treiben Sie politische Arbeit. Alles andere ist Wolkenkuckucksheim."
„Wollen Sie auf allgemeine prinzipielle Entscheidungen verzichten?"
„Keineswegs! Die prinzipielle Entscheidung ist diese: Der Kampf um die Befreiung der Arbeit aus den Fesseln des Kapitals. In ihr ist die Richtlinie für die politische Tagesarbeit gegeben."
„Das ist reiner Reformismus", sagte der Student. „Mit Marx hat das nichts mehr zu tun."
„Wie Sie das nennen, Verehrtester, und ob das Marxismus ist, das ist mir vollkommen gleichgültig!!"
„Der Genosse hat aber recht", sagte Konrad. „Bei Ihrer Stellungnahme verzichten Sie auf die große Entscheidung des Endkampfes, beschränken sich also auf Reformen. Damit verlassen Sie tatsächlich die Grundprinzipien von Karl Marx."
„Endkampf!!! Ha, ha, ha! Sehen Sie denn nicht, wie sinnlos es ist, bei einem Prozess von Jahrhunderten von einem Endkampf zu reden?! Außerdem widerspricht der Begriff des Endkampfes dem Entwicklungsgedanken. Er entstammt der Vorstellung von einem seligen Endzustand. Er ist nichts als christliche Mythologie, rot lackiert!"
„Ich gebe Ihnen zu, dass die Vorstellung vom Endkampf
diesen mythologischen Hintergrund hat-------------------------"
wollte Konrad entgegnen, aber der Student schrie dazwischen.
„Das ist unerhört!! Wie können Sie ein Kernstück des Marxismus als rotlackierte christliche Mythologie bezeichnen!"
Alexa zog die Augenbrauen hoch: „Das ist mir auch unbegreiflich."
„Wenn religionsgeschichtliche Zusammenhänge so klar sind wie diese, so hilft aller Marxismus dagegen nichts", erwiderte Konrad. „Aber lassen wir das! Es lenkt uns von der politischen Frage ab." — Er wandte sich dem Älteren
zu: „Ich gebe Ihnen also das Wort Endkampf preis und sage statt dessen: letzte Zielsetzung, wobei das Wort letzte eine Rangordnung, keine zeitliche Ordnung ausdrücken soll. Ich verstehe darunter die Durchführung der Enteignung. Auf friedlichem Wege, durch das, was Sie politische Gegenwartsarbeit auf dem Boden der Wirklichkeit nennen, werden wir sie nie erreichen."
Der andere wiegte den Kopf. „Ich will das nicht unbedingt bestreiten. Aber für uns kommen diese Dinge auf lange Sicht nicht in Frage. Wir sind von der Entente abhängig. Das Kapital erfüllt bei uns noch ungeheure organisatorische Aufgaben. In dieser Lage können wir den gewaltsamen Kampf um die Enteignung nicht führen. Andere Aufgaben harren heute unser! Wir müssen vor allem die Verwaltung durchdringen!"
„Reiner Reformismus......" murmelte der Hagere.
„Was nützen uns formale Rechte, wenn der ganze große Verwaltungsapparat in allen seinen einzelnen Posten vom Gegner besetzt ist? — Und was würde uns die Enteignung der Produktionsmittel nützen, wenn unsere Leute die Aufgaben der Wirtschaftsleitung nicht in die Hand nehmen können? Darum Gegenwartsarbeit!! Zähe Gegenwartsarbeit!! Stück für Stück!! Langsam dem Gegner den Boden abringen und in allen Zweigen des wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Lebens vordringen. Und zu alledem brauchen wir die Koalition als dasjenige politische Instrument, das allein diese Gegenwartsarbeit ermöglicht."
Nur mühsam hatte Konrad seine Ungeduld zurückgehalten.
„Genosse! Das alles bestreite ich keinen Augenblick....."
„Dann sind Sie also auch Reformist......"
Konrad wandte sich dem Studenten zu: „Ich halte die ganze Zielsetzung, die in der Antithese Reformist oder Revolutionär steckt, für überholt, Genosse! Sie hatte vor dreißig Jahren eine bestimmte Aufgabe. Heute ist sie veraltet. — Und darin liegt auch", wandte er sich wieder an den Reichsbannerführer, „meine Kritik Ihrer Ausführungen. Sie haben
recht! Alles, was Sie nannten, muss geschehen. Aber zugleich muss man das ganze politische Handeln an den Notwendigkeiten des großen entscheidenden Machtkampfes orientieren."
„Darin sind Sie Marxist", bestätigte der Student.
„Mit dem andern genau so, Genosse'!" erwiderte Konrad mit Nachdruck. „Sie nennen sich Marxist und wissen nicht, dass Marx beides von uns fordert?! — die Bereitschaft für große entscheidende Machtkämpfe und die Führung des Kleinkrieges auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung? Und das eine", fuhr Konrad mit gesteigerter Wärme fort, „muss sich am andern orientieren. Der Kampf um schrittweisen Fortschritt muss sein Recht aus der Beziehung auf die Entscheidungskämpfe herleiten — sonst wird er in der Tat zum Reformismus — und der große Kampf muss seine Grenzen dort finden, wo die Möglichkeit des Kleinkrieges einsetzt. Eben hier liegt die falsche Fragestellung unsrer heutigen Generation mit ihrem Entweder—Oder. Eben hier der letzte Grund für die Aufspaltung der Arbeiterschaft in zwei große Parteien, von denen jede nur eine Kampfesart sehen kann."
„Für die Sozialdemokraten können Sie das nicht so einheitlich sagen", wehrte der Reichsbannerführer ab.
„Es sollte wenigstens nicht für sie gelten", erwiderte Konrad. „Aber leider gilt es für weite Kreise. Und so ergeben sich jene Verkrampfungen gegenüber der Frage Koalition, die wir heute wieder erlebt haben. Die einen sehen nur die Gegenwartsfragen und fordern die Koalition mit geradezu grundsätzlicher Haltung. Die andern sind ebenso unbedingt gegen sie. Und sie ist doch nur ein Mittel, das man im Hinblick auf die letzten Zielsetzungen mit Erfolg anwendet oder nicht. Sie ist keine Grundsatzfrage. Wer grundsätzlich für, oder grundsätzlich gegen die Koalition ist, kommt mir vor wie ein Mann, der das ganze Jahr hindurch entweder grundsätzlich einen Sommerhut oder grundsätzlich einen Winterhut trägt."
Der Reichsbannerführer lachte auf.
„Sie werden drastisch, Genosse. Ich sehe jetzt Ihre Absichten klarer, wenngleich ich mich auch zu Ihrem Standpunkt nicht bekehren kann. Aber wissen Sie auch, junger Freund, dass das, was Sie wollen, eine ungeheuer gefährliche Sache ist?"
Konrad verzog spöttisch die Lippen. „Dass eine Sache gefährlich sei, ist hierzulande das dritte Wort. Ich war daheim an die Gefahr gewöhnt." „Was waren Sie?"
„Bergführer in Davos." Die Anwesenden musterten ihn voll Interesse. „Der Bergführer geht fast immer den Weg der Gefahr. Es handelt sich für ihn nur darum, die ihm anvertrauten Menschen den Weg der geringsten Gefahr zu führen. Bei Unwetter oder Lawinensturz ist auch dieser Weg voller Gefahren. — Ich glaube", fügte er wie abirrend hinzu, und seine Mienen nahmen einen eigentümlich harten Ausdruck an — „alles Leben ist gefährlich. —" Alexa Brand beobachtete ihn scharf. „Die Doppelseitigkeit aller Entscheidungen", sprach er gedämpft weiter, „führt sicher in die letzten Zusammenhänge des Lebens. Ich wollte, ich sähe diese Dinge selbst klarer! Ich sehe nur den heillosen Konflikt — den Zirkel
ohne Anfang und Ende------------"
„Sie verlieren sich in das Gebiet der Metaphysik, Genosse", sagte der Student. Menschliche Teilnahme lag in ' dem Gesicht des Älteren.
Konrad sah mit tiefem Blick zu ihm auf. „Wenn man zwei Linien sieht, — — immer und überall sieht — —, die einander entgegengesetzt sind, so kommt man zu der Erkenntnis, dass man unrecht handelt, wie man handelt
------------und das ist das Chaos."
„Genosse! Das alles ist durch und durch unmarxistisch." Konrad schwieg eine Weile. „In einer Weise haben Sie recht, Genosse. Wenn ich Marx recht verstehe, so hat das Geistige für ihn kein Eigenleben. Darum hätte er ein Eingehen auf diese Dinge sicher abgelehnt. — Den Ablauf des geschichtlichen Geschehens aber sieht auch er in zwei
Linien: Die bestehende Gesellschaftsform und die revolutionären Kräfte in ihrem Schoße."
„Vielleicht haben Sie mit Ihrer Auffassung über die Koalition nicht so unrecht, Genosse", lenkte der Reichsbannerführer das Gespräch wieder auf das Thema zurück. „Praktisch gesehen aber ist die Haltung, die Sie fordern, aus psychologischen Gründen unmöglich. Sie ist den Massen nicht zumutbar. Wir brauchen einfache gerade Linien, wenn unsere Leute uns verstehen sollen. Mit einem Sowohl—Als— auch können sie nichts anfangen. Sie haben das selbst in der Versammlung erfahren. Sie können nicht heute von den Massen im Zeichen der Koalition Gegenwartsarbeit gemeinsam mit Zentrum und Demokraten verlangen und morgen sie zum Zwecke eines radikalen Umsturzes der Gesellschaftsordnung mit den Kommunisten zusammengehen lassen."
„Das Zentrum kann das", sagte Konrad nachdenklich. „Es lässt seine Truppen heute für die Monarchie, morgen für die Republik marschieren. Warum kann es das?"
„Weil die Schäflein gewohnt sind, dem Hirten zu gehorchen!"
„Ob es das allein ist? Sollte nicht noch ein anderer Grund hinzukommen? Seine Leute wissen, dass hinter dieser Politik ein Glaube steht.------------"
„Vielleicht!"------------
„Und wie steht es bei uns?"
„Mir scheint", sagte der Reichsbannerführer nach einigem Nachdenken, „es sind doch auch im Sozialismus, wie er in den Massen lebt, starke glaubensmäßige Entscheidungen primär getroffen."
„Das glaube ich auch. Aber das sind nur gewisse primitive Grundentscheidungen: der Glaube an einen Sinn der gesellschaftlichen Entwicklung, die Forderung nach Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Ordnung, nach Solidarität. Reichen diese Entscheidungen zu, um die Spannungen des dialektischen Handelns erträglich zu machen? — — — Meinen Sie nicht auch", wandte er sich mit plötzlicher Leidenschaft an den Älteren, „dass hier die Not unserer Gegenwart an
ihrer eigentlichen Wurzel getroffen wird?" Lange sah der andere vor sich hin.
„Sie mögen nicht ganz unrecht haben."----------------Man
schwieg. Alle fühlten, dass ein Höhepunkt der Unterhaltung erreicht sei, und zögerten, ihn zu überschreiten.
„Welchen Beruf üben Sie hierzulande aus, Genosse", fragte der Reichsbannerführer nach einer Weile. „Ich bin Schlosser."
Der andere musterte ihn zweifelnd. „Dann haben Sie aber irgendwelche Bildungsanstalten besucht?"
„Ja. Ich hatte mich zum Studium vorbereitet und war mehrere Semester auf der Universität. Dann zwangen mich äußere Umstände zum Abbruch des Studiums."
„Das macht mir Ihre Haltung verständlich, Genosse. Sie gehören zu den zahlreichen Arbeitern, die es zu intellektueller Entwicklung gebracht haben und damit den festen Boden unter den Füßen verlieren."
„Ich glaube nicht, dass Ihre Diagnose zutrifft", entgegnete Konrad verstimmt. „Ich habe nicht den Boden unter den Füßen verloren. Aber vielleicht liegt etwas Richtiges darin.
----------------Ich sehe heute das Leben komplizierter als vor
fünf Jahren, da ich die Alp verließ! — Und die Lösung will
nicht so schnell gelingen------------"
Der Reichsbannerführer stand auf. Er bot Konrad die Hand. „Ich würde mich freuen, wenn Sie mich mal besuchen wollten." Grüßend entfernte er sich.
„Woll'n wir die Sache mit dem Staat nich noch ausknobeln, Konrad", fragte Emil.
„Nein, Emil! Es ist zu spät! Ein andermal." Sie brachen auf. Der Student mit seiner Dame verabschiedete sich.
„Wir haben wohl den gleichen Weg", sagte Alexa zu Konrad. Sie gingen einige Schritte zusammen.
„Entschuldigen Sie mich, Genossin", sagte Konrad an der nächsten Haltestelle der elektrischen Bahn, „es ist schon so spät geworden, dass ich die Bahn benutzen muss." Und er
sprang mit den Freunden auf die Elektrische. Otto und Emil waren noch mitten in der Diskussion.
„Du, das mit dem Staat, das müssen wir aber noch mal richtig knobeln."
„Meinetwegen."
„Wann hast du Zeit?"
„Die nächsten Tage nicht." —
„Heute in vierzehn Tagen?"
„Ja."
„Es ist ohnehin unser Freitag. Aber unser Kreis ganz unter sich."
„Ja."
„Nicht mit Alexa Brand?"
„Um Gottes Willen!"

 

V.??Die neue Moral der Arbeiterklasse??

Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selber sein.
Karl Marx.

Sechs Wochen lang weilte Franz bei den Seinen in der Heimat und schrieb glückliche Briefe an Else — sechs Wochen lang blieben Else und Konrad dem Rausch ihrer Leidenschaft hingegeben. Franz' Briefe legte Else uneröffnet fort.
Am Sonnabend vor Franz' Rückkunft kam sie zum letzten Mal.. „Ich geh fort von hier", sagte sie. „Franz hab ich alles geschrieben. Ich lege diesen Brief auf seinen Tisch; er findet ihn morgen früh. Schreib ein paar Worte dazu."
Konrad fand keine. Endlich schrieb er:
Bitte, Franz, komm morgen Abend zu mir. Konrad.
„Und du?----------------" Statt aller Antwort warf sie sich zum letzten Mal in seine Arme.

Am Abend des folgenden Tages wartete Konrad von 7 Uhr ab auf Franz. Den Freund selbst aufzusuchen, glaubte
er kein Recht mehr zu haben. Er wusste, welche Zerstörung er in Franz' Leben angerichtet hatte. Er musste warten, ob Franz zu ihm kommen wollte — oder nicht. Das Warten folterte ihn. Zum hundertsten Male versuchte er, sich Rechenschaft zu geben. Hatte er dieses süße Leben an sich gezogen: Waren sie nicht von Anfang an eins gewesen, ohne es zu wissen und zu wollen. Hatte sie ihn nicht gleich bei der ersten Begegnung im Tiefsten besser verstanden, als irgendein anderer? War sie ihm nicht während des Wahlkampfes der tapfre Kamerad gewesen, der seinen Kampf mitgekämpft hatte, ols ob es der eigne sei? Hatte er diesen Frühlingstag geschaffen mit seinen Wonnen? Er lachte laut auf. Für solche Redensarten bist du ein wenig zu alt, mein gute Junge, auch ein wenig zu erfahren. — Er begann von neuem Hatte er eine Gelegenheit gesucht? Gelegenheit macht Diebe; sie macht auch Ehebrecher.
Aber wozu eigentlich die Aufregung? Gibt es eine alltäglichere Sache? Die Bilder aus der Fabrik begannen vor seinen Augen zu tanzen: Die Gummiwarenfabrik, wo er als Arbeitsloser Beschäftigung gesucht — Männer und Frauen nebeneinander am selben Tisch mit der Fertigstellung der Apothekerwaren beschäftigt, die Worte — — die Handlungen — — das Mädel, wie es den Männersaal passieren
muss , wiederum die Worte-------die Handlungen-------der
Werkmeister, der regelmäßig mit bestimmten Frauen für eine Weile verschwindet — — —, die Baracke am Stickstoffwerk, wo die Mädchen herumgereicht wurden von
einem zum andern-------. Ist der wahllose Geschlechtsverkehr
nicht in der Fabrik die Regel? Was ist denn der Geschlechtsakt für den Fabrikarbeiter? Ein Schnaps! Nicht wert, dass man fünf Minuten lang daran denkt! Wo Burschen und Mädel in demselben Betrieb arbeiten — — — in jedem Winkel, auf jedem Haufen alter Säcke. Was war inmitten dieses Massenschicksals sein persönliches Geschick? Ein Tropfen im Weltmeer!
Wenn er selbst es anders fühlte? „Eine veraltete Ideologie
aus seiner bäuerlichen Vergangenheit", würde der Genosse mit dem Vogelprofil sagen.
Und Else? Lieber Gott!! Mädchentränen. In fünf Jahren denkt sie nicht mehr daran, schon in zweien nicht mehr; schlimmstenfalls: ein Mädchen mit 'nem Kind. Warum nicht? Das ist gerade keine Seltenheit in Arbeiterkreisen. Es verdirbt noch nicht mal die Partie.------------
Nein — nein — nein — so war es hier nicht!! Er wusste, dass er sich selbst anlog.
Und dann Franz — Franz — Franz! Sein Herz zog sich zusammen. Jeder andre hätte es eher sein können, als gerade Franz, der ernste Mann mit dem kindlichen Herzen. Nein, Franz würde ihm keine Vorwürfe machen. Er würde sich auch keinen Strick drehen. Er würde ihn nur ansehen mit seinen guten, offnen, großen Augen. Und das war das schlimmste, tausendmal schlimmer als eine Kugel vorn Kopf. Doch warum? Waren das nicht auch veraltete Vorurteile? Bei andrer Erziehung würde Franz darin gar nichts Verwerfliches finden. Warum nicht ein Verhältnis zu dritt, zu viert, warum nicht? Oder wenn man's anders nähme: Warum nicht eine kleine Eheirrung? Er spuckte aus. Das war das infame bürgerliche Wort, dessen Praxis er in Davos kennen gelernt hatte. Aber hatten sie nicht recht? Kann ein Mann wie ein Mönch leben? Lächerlich! Glücklich, wenn ein junges Blut sich dir an den Hals wirft. Auch Franz würde das verwinden.
Seine Frau? „Hedwig", sagte er leise vor sich hin. Nein! Sie würde ihn so wenig verurteilen wie Franz. Sie litt darunter, gewiss, aber sie verzieh — o, wie gemein, darauf im voraus zu rechnen, mit ihrer Güte Schindluder treiben. Aber doch! Hier war nicht gleitender Sumpfboden. Er wusste, ihre Liebe war unverrückbar gegründet. Hier gab es einen festen Punkt im Chaos. Er hatte es tausendmal in guten Stunden empfunden. Auch heut verließ es ihn nicht ganz. Aber das andere stieß darauf in hartem Anprall, — feindlich, unversöhnlich. Gab es auch hier wieder zwei Linien? Dieselbe grauenvolle, unerbittliche Dialektik des
Lebens wie in der Politik? Mit welchen Mitteln sollte man sie meistern?
Die drei Generationen der Kollontay stiegen vor seinem geistigen Auge auf. Die erste: ein Ehebruch, — und man trennt schnurstracks das bisherige Band, um eine neue Ehe einzugehen, die ebenso wenig bis zu Ende hält. — Er von Hedwig sich jetzt trennen — oder sie sich von ihm? Lächerlich! Die zweite Generation trennt sich nicht mehr. Die Frau lebt in inneren Qualen und Vorwürfen mit zweien — warum nicht auch mit dreien? Eine schwächliche, hilflose Sache. Und die dritte? Alles wahllos durcheinander, wie der Augenblick es gebietet, ohne Skrupel, ohne Scham, — Mutter und Tochter mit demselben Mann.------------Dies am allerwenigsten.
Er ging ruhelos mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Wenn nur Franz käme!
Und wiederum — Es war doch alles so sonnenklar. Die alte Moral war zersetzt, eine neue nicht gefunden. So musste man eben leben, wie es ging — von einem Tag zum andern. Pfui Konrad! Ist das der Mann, der sein Leben einer Sache gelobt hat? Der andre führt? Leben von einem Tag zum andern? Hilflos sich treiben lassen?
„„Das Neue sich aus der Gesellschaft entwickeln lassen"", würde Adolf sagen. Wer war die Gesellschaft? Er? Else? Franz? Hedwig? Die Genossen in der Fabrik? Sie alle zusammen? Das war die Klasse, nicht die Gesellschaft. Und was half ihm das jetzt in seinem persönlichen Handeln?
Er dachte an das Elternhaus, an die Mutter, die vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein geschafft hatte. Wie ein unzerstörbares Kleinod hatte ihn der Gedanke an sie durch das Leben begleitet. Aber das war eine untergehende Welt, brüchig in allen ihren Grundlagen. Oder war da etwas, was über Raum und Zeit und Gesellschaftsordnung hinaus lebendig blieb? Es war immer wie ein Hort gewesen, dieses Elternhaus in seiner Armut, in seiner Treue, mit seinen sechs gesunden Kindern, die unter Not und Hunger aufgewachsen waren wie die jungen Hirsche. Ja,
eben — Hirsche — Naturdasein, unwiederbringlich dahin, Konrad! Laß die Romantik. Du bist nicht mehr auf der Alp. Du bist in der modernen Industriewelt! Da gelten die alten Maßstäbe nicht mehr. Die alten Ideale sind wie ein verwelkter Rosenkranz. Und doch — — — — sie sind
da-----------------Eine Wirklichkeit! Unzerstörbar!
Es war halb neun. Ob Franz noch kommen würde? Wenn nicht? Wenn er sich ein Leid angetan? Wenn er Else nachgereist wäre? Wenn er sich in stummem Schmerz von ihm abwenden würde wie ein verwundetes Tier? Gab es denn nirgends eine Linderung? Nirgends eine Sühne? Wie hatte Else damals gesagt: Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit. Aber wer war der, der hier sühnen sollte? Else — seine Frau — Franz? Er selbst? Seine Gedanken drehten sich im Kreise.
Erna Schulze irrlichterte wie ein Frätzchen an seinen Augen vorbei. Auch das war eine untergehende Welt. Die sterile Tugend des alternden Mädchens hatte keine Erlösungskraft. Und die Kleine war ihm gefolgt wie ein Lämmchen dem Hirten. Er fing wieder von vorn an: Else
-------Franz------seine Mutter-------seine Frau-------er
selbst — —

*

Es klingelte. Das Herz presste sich ihm krampfhaft zusammen. Er ging und öffnete. Alexa Brand trat ein.
„Guten Abend, Genosse", sagte sie geschäftsmäßig. Ein Widerwille gegen sie bäumte sich in ihm auf, so intensiv, dass er meinte, sie müsse es körperlich spüren. Aber sie trat ohne zu fragen in's Zimmer.
„Genossin,------------Sie entschuldigen-------, aber ich erwarte einen Freund, mit dem ich dringende geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen habe. Ich bedaure wirklich, er muss jeden Moment kommen."
„Gut! Erwarten wir ihn! Solange er noch nicht da ist, muss ich Sie schon mit Beschlag belegen, denn ich habe wichtige und eilige Dinge aus der Bewegung mit Ihnen zu be-
sprechen. Ich brauche Ihre Mitwirkung für einen Agitationsabend. Morgen früh muss ich nach Berlin reisen."
Sie setzte sich auf das Bett und fing an, in kühlem, geschäftsmäßigem Ton einige politische Angelegenheiten mit ihm zu erörtern. Was blieb ihm übrig, als in gleicher Weise darauf einzugehen? Sie sprachen ruhig und sachlich. Nach einiger Zeit begann die nüchterne Behandlung sachlich wichtiger Dinge ihn von der Qual der Selbstzerfleischung zu erlösen. Seine Erregung wich. Es war, als ob die Anwesenheit der Frau eine befreiende Wirkung auf ihn ausübte. Ihre schlanken, feingeformten Hände glitten über die Papiere, die sie ausbreitete. Der leichte Duft ihres Parfüms durchzog das Zimmer. Die klugen Augen blickten freimütig zu ihm auf, und der feste energische Mund sprach verständige, wohlbedachte Worte, wie sie das Herz eines Politikers erfreuen. Mit einer tiefen Falte in der Stirn hörte Konrad ihr zu. Aber sein Widerwille schwand.
Die sachliche Aussprache war beendet. Alexa machte keine Anstalten zum Aufbruch. Konrad ließ seine Blicke auf ihrem Profil ruhen. Es war ein fein geschnittenes Gesicht, das einmal von edlerer Bildung gewesen sein musste. Heute vermochte auch die geschickteste Kunst nicht mehr, die harten Zeichen zu verwischen, die das Leben in dieses Antlitz geschrieben. Etwas wie Mitleid wuchs in Konrads Herzen auf. Er dachte nicht mehr daran, sie zum Aufbruch zu veranlassen. Franz war ohnehin nicht mehr zu erwarten. Sie wandte ihm wieder ihr volles Antlitz zu.
„Sie erlauben doch, dass ich mir eine Zigarette anzünde?" sagte sie, indem sie zugleich Konrad ihr Etui anbot. Gegen seine Gewohnheit nahm er eine an und gab ihr ein Streichholz.
„Wissen Sie auch, bester Freund, dass ich hier entsetzlich unbequem sitze? Haben Sie denn gar kein anständiges Sitzmöbel?"
Er bot ihr den eignen Stuhl an. Sie nahm sein Angebot ohne Zaudern an und lehnte sich mit überschlagenen Beinen
behaglich in den Armstuhl zurück, den Rauch der Zigarette in die Luft blasend. Konrad nahm auf einem Schemel Platz.
„Ich fahre morgen nach Berlin, um meinen Sohn zu besuchen", begann sie im leichten Plauderton. „Das heißt", fügte sie spöttisch hinzu, „wenn's mein Sohn ist."
„Die Mutterschaft pflegt doch nicht zweifelhaft zu sein", erwiderte Konrad mit einem Lächeln wider Willen.
„Das sagen Sie so, bester Genosse! Ich wurde in einer Klinik entbunden. Wie, wenn die Pflegerin die Säuglinge beim Baden vertauscht hätte? Es macht mir oft Spaß, mit diesem Gedanken zu spielen. Stellen Sie sich das ganze Theater der Mutterliebe vor, verschwendet an ein fremdes Kind, — sagen wir z. B. an den Sprössling eines Trinkers und einer syphilitischen Mutter. Man hegt es, man nährt es. Alle Tanten und Onkels entdeckten Familienähnlichkeiten. ,Der leibhaftige Großpapa!', sagt der eine. ,Nein! Die Nase hat er von der Großmama!', sagt der andere. Ist der Gedanke nicht zum Totlachen? Wir leben von Einbildungen, mein Freund! Und nach der Konfirmandenstunde zu urteilen, die Sie neulich im Walde hielten, sind Sie auch noch ein Illusionist."
Konrads Miene umdüsterte sich. Die Erwähnung jenes Sonntags hatte mit einem Schlage wieder alles geweckt, was einen Augenblick geruht hatte. Elses Gestalt stand in ihrer ganzen Lebensfülle wieder vor ihm, und das Weib zu seiner Rechten, das seine Absicht auf ihn so schamlos zur Schau trug, ward zum blassen, widerwärtigen Schemen. Alexas scharfem Blick entging die Veränderung nicht. Sie schob sie auf die Erwähnung der Vorlesung und kam darum auf ihr erstes Thema zurück.
„Ja, was können Sie dagegen sagen, dass es reinster Zufall ist, ob ich meine Mutterliebe an das richtige oder falsche Kind wende?"
„Der Gedanke erscheint mir so klug, dass ich ihn dumm finde."
Alexa lachte. „Mein Freund, du wirst grob! Also hast du Unrecht!"
„Nein, ich habe Recht, Genossin. Es ist wie bei meinem Bohrer. Spitze ich ihn zu scharf, so bricht er ab und taugt zu nichts mehr. Ihr Argument beweist mir nur eins: dass in solchen Dingen der Verstand wenig ausrichtet."
„In was für Dingen?" fragte Alexa lauernd.
„In allen Dingen der Liebe", gab Konrad ruhig zurück. Er sah nicht ihren lauernden Blick; er sah überhaupt nicht mehr das Weib. Die Sache stand wieder vor seinem geistigen Auge. Jene Not, jene große Not, in der sie standen, er,
Franz, Else, auch Alexa--------alle, alle! Was die Frau da
hingeworfen hatte in koketter Spielerei, — das hatte ihm wie ein Blitz die Lage erhellt. Er begriff, dass das Grübeln des Verstandes hier enge Grenzen fand. Die eigene Antwort — mehr instinktiv als klar bewusst gegeben — wies in die entgegengesetzte Richtung. Die Linie musste weiter verfolgt werden. Die Unterhaltung mit der Frau begann ihn zu interessieren, anders freilich, als Alexa vermeinte, die mit Befriedigung seine Teilnahme zurückkehren sah.
„Die Dinge der Liebe, Genosse", entgegnete sie gedehnt, — tja — wie sagt Dehmel? — aber die Liebe ist das Trübe."
„Hast du das erfahren, Genossin?"
„Mein Freund, du gehst aufs Ganze!"
„Ja, es interessiert mich! Erzähle mir den Roman deines Lebens." Er zündete sich eine neue Zigarette an, schob seinen Schemel zurück und nahm, den Rücken gegen die Wand lehnend, die Arme über der Brust kreuzend, die Haltung des interessierten Zuhörers an. „Wann und wie ist dir zum ersten Mal der Mann in deinem Leben begegnet?"
Alexa empfand das Unzarte seiner Frage wohl. Sie empfand, wie viel sie sich vergeben hatte, wenn er so mit ihr zu sprechen wagte. Aber was sollten diese lächerlichen Vorurteile? Es ging um einen Sieg, wie er nicht alle Tage zu haben war.
„Der Mann? — Das Männchen, meinst du."
„Meinetwegen."
„Der Unterschied ist wichtig, Genosse! Der Mann! Das
sagt schon allerhand Großartiges aus. Es klingt so wichtig! Und dabei handelt es sich bei allen diesen Dingen nur um die inneren Sekretionen, die wir mit den Tieren gemein haben. Was ist die Liebe sonst?" „Wie du willst, erzähle."

*

„Gott, ich war ein Ding von achtzehn Jahren. Mein Vater war Kaufmann in Breslau. Er interessierte sich für die Felle, mit denen er handelte, meine Mutter für ihre Küche und ihren Wäscheschrank. Ich langweilte mich zu Tode. Tagsüber musste ich der Mutter helfen — nicht allzu viel — abends las ich Romane. Eines Tages lernte ich meinen Mann kennen. Ich verliebte mich blindlings in ihn. Ich fand ihn entzückend. Denn er sagte immer ja zu allen meinen ansichten, während die andern meist nein sagten. Also schien er mir klug und bedeutend. Die Eltern wussten nichts von unsrer Bekanntschaft. Sie hätten die Sache niemals zugegeben. — Also brannte ich mit ihm durch und ließ mich später sogar regelrecht mit ihm trauen. Aus dieser Ehe stammt der holde Sohn, ein netter Junge übrigens, gleichviel ob er vertauscht ist oder nicht."
„Was sagten deine Eltern?"
„Lieber Gott, sie nahmen die Sache tragisch. Ich war ihr einziges Kind. Die bourgeoise Ideologie feierte ihre Triumphe. Wenn noch sie mit dem Mann hätten leben sollen — aber es war doch meine Angelegenheit. Der Vater soll es sich zu Herzen genommen haben." Sie zuckte die Achseln.
„Hast du sie wieder gesehen?"
„Den Vater nicht; er hat nicht mehr lange gelebt. Die Mutter sehe ich hie und da, aber selten. Denn natürlich ist die rote Emma, wie ich dort heiße, ein Stein des Anstoßes für alle Bekannten und Verwandten."
„Und dein Mann?"
„Es war ein guter Kerl! Er liebte mich wirklich. Der Junge begeisterte ihn vollends. Er trug mich auf Händen, wie es bei der CourthsMahler so schön heißen würde. Aber — du liebe Zeit — ich langweilte mich bald bei ihm genau
so, wie ich mich bei meinen Eltern gelangweilt hatte. Es erwies sich auch schnell, dass er meine Ansichten gar nicht teilte. Er entpuppte sich als ein ganz gewöhnlicher Haushahn. Ich habe ihn öfters gefragt: ,Warum hast du mir denn alles bestätigt, damals als wir uns kennen lernten?' Dann lachte er und sagte: ,Das macht man mit jungen Mädchen so, wenn man sie erobern will'."
„Verlangte er von dir häusliche Arbeit?"
„Keine Spur. Er ließ mir völlig freie Hand. Damals habe ich in Breslau mein Abitur gemacht und studiert."
„Hätte er deiner politischen Betätigung was in den Weg gelegt?"
„Nein."
„Und dann?"
„Dann habe ich ihm eines Tages erklärt, dass ich mich bei ihm zu Tode langweilen würde und ihn gebeten, mich allein zu lassen. Erst habe ich ihn aus meinem Schlafzimmer rausgeworfen und dann aus meiner Wohnung."
„Ging er?"
„Gott, er war verzweifelt! Er versprach mir alles und noch was dazu, wenn ich bei ihm bliebe. Er liebte mich wirklich. Er liebt mich noch heute. Sieh, diesen prachtvollen Schal schickte er mir erst vor einigen Tagen."
„Hattet ihr noch mehr Kinder?"
„Um Gottes willen! Diese schauderhafte Prozedur zum zweiten Male?!"
„Wie kam die Scheidung zustande?"
„Eine kleine Eheirrung war schnell konstruiert. Es stimmte zwar nicht, aber der Zweck wurde erfüllt."
„Und seither?"
„Seither------------", sagte Alexa gedehnt, die Spitze ihres
eleganten Schuhes betrachtend. „Seither....." sie hob den
Kopf und sah ihn herausfordernd an, „langweile ich mich nicht mehr."
„Wie machst du das?"
„Nun, erstens arbeite ich in der Partei. Das gibt Schwung,
das gibt Bewegung. Das langweilige Dasein des Bloß-Weibchens ist endgültig überwunden."
„Also ein angenehmer Nervenreiz?"
Alexa zögerte, es zu bestätigen.
„Oder ein Trost für ein gebrochenes Herz?" Sie verzog spöttisch den Mund. „Oder ein Kampf um ein Ideal?"
„Ich finde", gab sie zur Antwort, „du vergisst jetzt selbst, dass man den Bohrer nicht zu spitz machen darf."
Konrad lachte laut auf. „Das darfst du nicht finden, Genossin! — — Du hast also scheint's doch Hemmungen, gewisse Dinge bei ihrem einfachen Namen zu nennen. Das ist von deinem Standpunkt aus unlogisch. — Aber weiter. Genügt die Parteiarbeit? Füllt sie dich ganz aus?"
„Ich finde, du wirst gemein mit deinen Fragen!"
„Gemein? Das gibt es doch gar nicht, Genossin. Das sind ja bürgerliche Vorurteile. Wo bleibt dein Verhalten gegen Mann und Eltern, wenn du solchen bürgerlichen Ideologien noch Raum gibst."
„Gut, mein Freund. Also: ich nehme mir in der Liebe jede Freiheit, die mir passt."
„Liebe? Was verstehst du unter Liebe? Die sexuelle Befriedigung mit jedem netten Jungen?"
„Nein, es ist mehr als das!"
„Mehr als das? Mehr als die Wirkung innerer Sekretionen?" Sie antwortete nicht. Es lag ein grenzenloser Hohn in seiner Stimme und Haltung. Sie warf ihre Zigarette auf den Boden und zertrat sie.
„Gut, lassen wir auch das. Und du fühlst dich seither glücklich?"
„Ja!! Seither sage ich mit der Arbeiterjugend: Der Mensch ist gut, die Welt ist schön!"
„Mit der Arbeiterjugend??!!" Konrad schrie es fast heraus. ------------„Mit der Arbeiterjugend?!------------"
„Na ja! Gewiss! Überrascht dich das?"-----------------
Konrad antwortete nicht. — — — Mit der Arbeiterjugend?? ------------Wo waren die inneren Zusammenhänge
zwischen diesem abgelebten Geschöpf der bürgerlichen Welt
und jenen Burschen, jenen Mädels, die mit ihm durch Sonnenschein und Regen stürmten und das Lied sangen?
„Worin stimmst du mit der Arbeiterjugend überein, Genossin?"
„Wir lehnen beide die verlogene Moral des Bürgertums ab. Die bürgerliche Ehe ist ein Institut vollendeter Heuchelei. Sie ist in neunundneunzig Fällen unter hundert eine Geldbeutelangelegenheit, und sie ist für beide Teile nur ein Deckmantel, um ihr Vergnügen sonst wo zu suchen — vielleicht einen gewissen Prozentsatz Spießer ausgenommen, die noch in veralteten Ideologien stecken."
„Das ist so", sagte Konrad nachdenklich. Er hatte seine kritische Haltung aufgegeben und saß vornübergebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet. „Aber mit der Ablehnung der bürgerlichen Ehe habt ihr doch nur das Negative gemeinsam."
„Nein, auch das Positive. Wir wollen beide dem Triebleben zu einer freien ungebrochenen Entfaltung verhelfen."
„Auch das ist richtig.------------Und doch ist die Kuh auf
der Weide nicht euer Ideal."
„Mein Freund, mit dem Wort Ideal verfällst du wieder in den Ton deiner Konfirmandenstunde neulich im Walde. Diese Dinge sollen sich aus der Gesellschaft nach ihren eignen Gesetzen entwickeln."
Da war das Stichwort wieder! Adolf würde es mit Begeisterung bestätigen. Aber trotz dieser Übereinstimmung — es lag zwischen dieser Frau und seinen Jugendgenossen ein Abgrund — unverrückbar und unüberbrückbar. Er sah schweigend vor sich hin. Auch die Frau schwieg. Sie konnte sich nicht länger verhehlen, dass jede erotische Spannung zwischen ihnen sich verflüchtigt hatte. Konrads Gedanken waren offenbar weit weg. Es war eigentlich ganz zwecklos, dass sie noch hier blieb. Sie wollte gehen. Warum ging sie nicht? Warum bannte sie der Mann dort, der schwer und gedankenvoll dasaß, in seine Gegenwart? Die inneren Sekretionen waren doch allzudeutlich ausgeschaltet. Hilflosigkeit überkam sie.
Konrads Gedanken liefen indes zwischen Else und dieser Frau hin und her. Ja, sie hatte recht. Eine neue Freiheit hatten sie beide, Else und er, auch gesucht. Als sie Hand in Hand auf dem Damm durch die Wiese schritten — um die Leiber legt ein neuer Frieden sich, wir blicken freier, Mann und Weib uns freier an — da schien sie goldene Wirklichkeit. Aber hatte das irgend etwas zu tun mit der Freiheit dieser Frau? Nein, nein und tausendmal nein! Gemeinsam war ihnen der Kampf gegen das Alte und das Suchen nach einer neuen Freiheit. Aber zugleich waren sie dem Wesen nach so zu innerst verschieden wie das Samenkorn und der faulende Mutterkuchen, auf dem es noch steht.
Ja!! Das war es!! Das war es! Die innere Verschiedenheit des Wesens! Dort die konfliktlose Freiheit dessen, dem die sittliche Spannkraft zerbrochen ist. Die dritte Generation aus dem Buche der Kollontay! Ein Geschlechtsakt wie ein Beafsteak zum Gabelfrühstück, oder ein Praline nach Tisch
— konfliktlos, kampflos, spannungslos. Der Lebensstil einer erschöpften Menschheit. Sie kämpft nicht mehr, sie leidet nicht mehr. Entarteter, übersteigerter Liberalismus. Was wir Proleten suchen, muss ganz, ganz anders aussehen -------von dem engbrüstigen Ideal der bürgerlichen Ehe genau so weit entfernt, wie von eurer konfliktlosen Vermischung der Geschlechter. Das werdet ihr nie verstehen! Dazu könnt ihr nichts beitragen!
Nichts?--------
Doch! Etwas hat das Bürgertum uns noch gegeben: Den Willen der Jugendbewegung zum neuen Menschen. Viel Romantik zwar, viel Unkenntnis der Wirklichkeit. Immerhin
— ein Anstoß.-----------------
Aber steht der Arbeiter nicht doch auf einer Linie mit dieser Frau? Hatte er sich nicht selbst vorhin sagen müssen, dass für ungezählte Arbeiter der Geschlechtsakt nichts anderes sei, als ein Schnaps?! Jawohl! Das ist so! — Und doch!! Wenn sie dasselbe tun wie diese Frau und viele ihresgleichen, so ist es doch himmelweit verschieden! Elementare Naturtriebe haben hier ihre Schranken durchbrochen. Es ist
die Verrohung einer primitiven Menschenmasse, die man in ein viehisches Dasein gestoßen hat. Sie wälzt sich darin. Aber zugleich brüllt sie aus ihrem Schlamm auf wie ein misshandeltes Tier.
Er aber und seine Freunde und manche andere, die kleine Schar derer, die sich herausgekämpft haben oder eben noch herauskämpfen, hier ein paar und da und dort — sie sind die Genossen jener Masse, die in ihrem eignen Unrat verkommt— nicht dieser „aufgeklärten" Frau.
Beweisen? — Nein! — Beweisen lässt sich das nicht! — Das ist es ja gerade, was ihm den Gegensatz so deutlich gemacht hat. Wenn man aus dem Lebensgefühl dieser Frau sein Kind ansieht, Mutterliebe ein rührendes Theater — dann hat man dieses Gefühl eben! Daran ist nichts zu ändern. Liebe zwischen Mann und Weib — Wirkung innerer Sekretion? — Wohl. Die innere Sekretion ist da. Sie ist das deutlich erkennbare Symptom des physischen Vorgangs. Wem sich das ganze Geschehen darin erschöpft, der kennt eben das nicht, was er und Else und Franz jetzt durchkämpfen würden. Die Frau hat ganz recht. Es ist für sie nicht da. Aber tausendmal gelogen ist, dass es überhaupt nicht da sein soll. Hier ein Lebensgefühl — dort ein Lebens"gefühl! Hier eine absinkende Schicht — dort eine aufsteigende. Die junge kann einige Waffen für den Befreiungskampf gegen veraltete Eheinstitutionen und veraltete Vorurteile von der älteren übernehmen. Die Jugendbewegung kann ihr ein Anstoß sein. Genau wie Marx es vom Politischen sagt: Sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, kämpft die Arbeiterklasse gemeinsam mit ihr. Der Neubau aber muss ihr eigner sein, just wie der politische auch. Aus den Tiefen einer neuen Klasse muss eine neue Moral aufsteigen. Auch die sittliche Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse
selber sein----------------Die zersetzte Moral der bürgerlichen
Gesellschaft kann niemals die neue Moral der Arbeiterklasse werden!
Und Else? Jetzt wusste er, was Franz zu sagen hatte. Ein Unrecht im Sinne der Gretchentragödie? Nein, das war es
nicht. Diese Gesellschaftsordnung verdiente nicht mehr das Opfer der unehelichen Mutter. Das mochte zu Goethes Zeiten einen Sinn gehabt haben. Die heutige Gesellschaft hatte kein Recht mehr darauf. Aber dass in Franz' und Elses Leben ein namenloser Schmerz gekommen war — das war Tatsache. Und dass er mitschuldig war an diesem Schmerz
— schuldig, ja, ja, schuldig, schuldig und noch mal schuldig,
— das war so!! Diese Schuld war nicht zu beweisen. Aber sie war da!! Er wollte sie nicht zerreden, nicht wegdisputieren. Er wollte sie tragen. Wie? Das wusste er kaum. Warum? Das konnte er nicht sagen.
Sie alle müssen durch ein tiefes Wasser, er, seine Frau, Else, Franz, — es stürzt über sie — über ihre Köpfe! Lasst alles mit den Fluten gehen! — Nur kein Halten des Alten um des Haltens willen. Durch ein tiefes, stürzendes Wasser wollen sie gehen, — müssen sie gehen. Vielleicht ist es ihr Untergang. Gleichviel! Nur nicht im Seichten plätschern wie jene Frau. Sie hatte nur eins vermocht, — ihm das Lebensgefühl der eignen Klasse klarer zum Bewusstsein zu bringen----------------------------------
Konrad raffte sich gewaltsam zusammen. Bleich und zerfallen saß Alexa vor ihm. Sie sah ins Leere. Sollte er das armselige Weib demütigen? Es war genug, dass er ihr die Seele Stück für Stück entblößt hatte, bis sie die eigne, kümmerliche Nacktheit frierend gewahr wurde. Lag doch auch in ihren Zügen ein Leid. Er verstand es jetzt. Sie war nicht geartet für das Alltägliche. Sie brachte Verstand und Willen für starke Kämpfe mit. Aber sie war zerfressen von dem vergifteten Odem einer Schicht, die an Stelle des Kampfes den konfliktlosen Genuss setzte. Dafür war sie zu schade gewesen. Daher ihre Flucht in die Arbeiterbewegung. Aber diese Flucht hatte die Zersetzung nicht aufzuhalten vermocht.
Er sah nach der Uhr. „Genossin", sagte er mit Ritterlichkeit, „ich handle unverantwortlich an Ihnen. Ich halte Sie mit Gesprächen auf. Es ist nach Mitternacht und Sie wollen morgen verreisen. Darf ich Sie begleiten?"
Alexa fuhr zusammen. Noch einmal irrte ihr Auge zu ihm auf. Aber es war nicht mehr das geile Weibchen, das seinen Blick suchte, sondern der zerrüttete Mensch. Im nächsten Augenblick hatte sie die Haltung des distinguierten Parteimitgliedes wiedergewonnen.
„Wenn Sie mich bis zum nächsten Auto bringen wollen ..."
Drei Tage lang kämpfte Franz in brütender Einsamkeit und schlaflosen Nächten. Triebhafte Eifersucht des Männchens? — Nein! — Das war nicht die Natur seines Fühlens. Und doch war die Eifersucht da, unausrottbar, wie der Naturtrieb es ist. — Besitztrieb des Bürgers? — Nein! — Und doch ein Weib sein eigen nennen, wie es nur einmal im Leben sein kann----------------
Drei Tage lang hatte es ihn um und um gewühlt. Jetzt kam er, wie Konrad es vorher gewusst hatte, bleich und zerstört, aber ruhig und gültig.
„Ich komme, dir Lebewohl zu sagen, Konrad. Ich gehe zu Else." Sie saßen zusammen und sprachen lange miteinander. Als sie schieden, wussten sie, dass sie ihr Schicksal ohne Groll zusammen tragen wollten.
Dann setzte Konrad sich hin und schrieb bis tief in die Nacht an seine Frau. Er erzählte ihr alles, was er in diesen Wochen erlebt hatte.

 

VI. Der Staat.

Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden.
Karl Marx.

Am verabredeten Tage trafen sich die Freunde bei Konrad. Es war zum ersten Male seit der Wahl. Noch waren die jüngeren hoffnungsfroh und erwarteten von der neuen Regierung „Taten". Die älteren, auch Emil, konnten der Enttäuschung nicht wehren. Die Burschen, die Mädels schwatzten durcheinander: „Wir machen also heute unseren Klub wieder auf!" „Konrad, eigentlich bist du uns etwas schuldig; 'nen Maitrank oder so was." „Pfui Alkohol!" „Wo ist Else?" „Kommt sie heut Abend?" „Hat jemand von euch Franz getroffen?" „Wie ging es ihm?" „Warum ist der Kerl heut Abend nicht da?" „Konrad, warst du bei dem Reichsbannerführer?" „Nein? Warum nicht? Mensch! Sei nich komisch!" „Adolf — ohne Martl?? Was soll das heißen?" „Wirst ja ordentlich rot, Mensch!"
„Wird's heut noch was?" fragte Otto ungeduldig. „Mit euerm Jequassel verliert ihr den ganzen Abend! Wir woll'n doch heute mit Konrad die Sache ausknobeln, die neulich im Cafe Volkshaus abgebrochen wurde."
„Was war das? Erzähle!"
„Es war die Frage, ob wir in der klassenlosen Gesellschaft noch 'nen Staat brauchen werden oder nich. Überhaupt, ob der Staat uns was angeht."
Sie setzten sich und warteten, dass Konrad die Aussprache einleitete.
Müder als sonst nahm er das Gespräch in die Hand. Er schlug Bebeis „Frau" auf und begann.
„,Der Staat stirbt ab', sagt bekanntlich Engels. Im Anschluss an diese Worte fährt Bebel fort:
,Mit dem Staat verschwinden seine Repräsentanten: Minister, Parlamente, stehendes Heer, Polizei und Gendarmen, Gerichte, Rechts und Staatsanwälte, Gefängnis
beamte, die Steuer- und Zollverwaltung, mit einem Wort: der ganze politische Apparat. Kasernen und sonstige Militärbauten, Justiz und Verwaltungspaläste, Gefängnisse usw. harren jetzt einer besseren Bestimmung, Zehntausende von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen werden Makulatur, sie besitzen nur noch historischen Wert. Die großen und doch so kleinlichen parlamentarischen Kämpfe, bei denen die Männer der Zunge sich einbilden, durch ihre Reden die Welt zu beherrschen und zu lenken, sind verschwunden, sie haben Verwaltungskollegien und Verwaltungsdelegationen Platz gemacht, die sich mit der besten Einrichtung der Produktion, der Distribution, der Festsetzung der Höhe der notwendigen Vorräte, der Einführung und Verwendung zweckentsprechender Neuerungen in der Kunst, dem Bildungswesen, dem Verkehrswesen, dem Produktionsprozess usw. in Industrie und Landwirtschaft zu befassen haben. Das sind alles praktische, sichtbare und greifbare Dinge, denen jeder objektiv gegenübersteht, weil für ihn kein der Gesellschaft feindliches persönliches Interesse vorhanden ist. Keiner hat ein anderes Interesse als die Allgemeinheit, das darin besteht, alles aufs beste, zweckmäßigste und vorteilhafteste einzurichten und herzustellen."
„Klar", sagt Adolf. „Darüber is nich zu diskutieren." Otto lachte laut auf.
„Ich setze den Fall", erwiderte Konrad, „in der sozialisierten Gesellschaft tritt eine Kohlenknappheit ein. So was kann vorkommen. Eine Arbeiterfrau im Kohlenrevier kann nicht mehr die Wohnung für die Kinder warm kriegen. Berge beschlagnahmter Kohlen liegen da. — Was tut sie?" „Sie klaut", sagte Otto.
„Ausgeschlossen!" rief Adolf. „In der sozialistischen Gesellschaft wird nich mehr geklaut! Da gibt's kein Privateigentum. Da sind die Menschen ganz anders als heute." „Du meinst", sagte Konrad, „dass sich ihre moralische Natur von Grund auf geändert hat." „Aber sicher."
„Wir wollten doch aber vom Staat sprechen, Adolf."
„Tu ich doch!"
„Nein. Du sprichst von Moral."
„Das is mir zu fein."
„Gut. Hier müssen wir also anhaken. Wir müssen irgendwie dahinter kommen, was das Politische eigentlich ist. Erst dann können wir es vom Moralischen unterscheiden. Einverstanden?"
„Wegen mir."
„Wo kommt das Wort Politik her?"
„Aus dem Griechischen. Von Polis — Stadt oder Staat", sagte Otto.
„Wir fragen also: Was ist der Staat?"
„Donnerwetter! Da muss ich mir erst Tee holen", meinte Walter und verschwand mit der Teekanne.
„Ich möchte mir sogar 'ne Zigarette anzünden", sagte Konrad.
„Konrad!!!", rief Rudolf. „Dann bist du unser Führer nicht mehr!" Konrad lachte.
„Aber ein Pfeifchen, Rudolf?" Und er machte sich seine kurze Pfeife zurecht. Rudolf schmollte.

„Sag mal, Adolf", begann Konrad, „bist du schon je mit dem Staat in Berührung gekommen?"
„Nee, mei Lieber!! Das überlass ich unsern Bonzen aus der Regierung."
„Schafskopf!" entfuhr es Otto.
„Na erlaube mal, mei Lieber!! Du hast wohl schon mal nähere Bekanntschaft mit der grinen Minna gemacht, ja, dass du den Staat so gut kennst?"
„Nee! Aber mit dem Staat habe ich schon sehr oft zu tun gehabt! Vor allen Dingen, wenn ich wähle. Aber auch, wenn ich den Schutzmann nach dem Weg frage, oder wenn ich mich am fremden Ort auf der Polizei anmelde, oder wenn sie mir meine Lohnsteuer abknöpfen, oder wie ich mal zum Arbeitsgericht gegangen bin, als sie mir von meinem Lohn was abkneifen wollten, oder wenn ich Krankengeld beziehe, sogar schon, als ich eben geboren war und mich aufm Standesamt anmeld'te." Und er lachte, dass sein Gesicht in zahllosen Falten spielte.
„Dafür biste auch en Preuße! Da rennt schon der Säugling auf de Polizei!"
„Das alles", begann Adolf wieder, „hat doch mit dem Staat nischt zu tun."
„Ja, wenn er bei dir erst mit der grinen Minna anfängt!"
„Nee, mit den Bonzen in der Regierung!" warf Walter ein.
„Ich schlage vor: Beides", sagte Otto. „Jrine Minna und Regierungsbonzen — das is für unsern Adolf der Staat."
„Na ja", verteidigte sich Adolf, „Polizei, die uns einlocht, wenn wir was ausgefressen haben, Bonzen, die oben irgendwo regieren, — nehmt noch die Reichswehr dazu — da habt ihr ungefähr das, was für den Proleten der Staat is."
„Nee, Adolf, das stimmt auch für den Proleten nich", widersprach Rudolf. „So fühlt er's — ja, das geb ich zu. Aber so is es nich. Du kannst doch nich alles, was Otto nannte, einfach abstreiten. Das alles gehört doch mit dazu zum Staat."
„Ich finde, es geht alles durchenander", murrte Emil. „Der eene red't von der grinen Minna, der andre von 'nem Büro, dann wieder von Menschen, dann von ener Anzeige uff'n Standesamt! Konrad! Du brauchst dich nich so zu schonen! Wir müssen doch erst mal das einfachste feststellen, was der Staat eigentlich is."
„Da sind wir ja eben dabei", sagte Walter.
„Ächja! Ich meine, ob's de Menschen sind, oder de Polizeibüros, oder das Standesamt, oder de Sipo, oder de Reichswehr, oder was sonst."
„Otto hat es vorhin ganz klar gesagt", erwiderte Konrad. „Ich frage den Schutzmann, — der Schutzmann antwortet: Ich melde mich auf der Polizei, — der Schutzmann schreibt Ich zahle meine Steuern, — das Finanzamt nimmt sie ein. Ich beziehe mein Krankengeld, — die Kasse zahlt mir. Ich gehe vors Gericht, — der Richter entscheidet. Um was handelt es sich hier immer?"
„Dass was getan wird!'
„Oder um ...?"
„Taten!"
„Ein bissei viel gesagt!"
„Handlungen!"
„Endlich, das wäre das erste Ergebnis! Wollt ihr euch das erst mal in eure Köpfe schreiben."
„Wie soll'n wir schreiben, mei Guter: Der Staat ist Handlungen, oder der Staat sind Handlungen??"
„Recht so, mein Lieber! Als heller Sachse führst du uns gleich ein Stückchen weiter! Denn die Handlungen, aus denen der Staat besteht, sind nicht einzelne. Was bilden sie?"
„Eine Einheit."
„Wir werden also nicht sagen: Der Staat ist oder sind Handlungen, sondern ...?"
„Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen."
„Das versteh ich nich", sagte Emil. „Eine Einheit von Handlungen, — das sind für mich bloß Worte."
„Nimm mal das Unawerk, Emil. Was gehört alles dazu?"
„Nu — die Gebäude, die Maschinen, die Rohstoffe und auch die Menschen."
„Wenn das nun alles stocksteif dastünde, Emil, wär's dann ein Betrieb?"
„Nee! Da machten se eben keinen Betrieb."
„Sie müssen handeln, nicht?"
„Jawoll."
„Sind ihre Handlungen lauter einzelne, ohne Zusammenhang?"
„Nee! Zusammenhang muss da sein. Sonst klappt der Betrieb nich."
„Nun wäre ,Zusammenhang von Handlungen' ein etwas schwerfälliger Ausdruck. Er sagt auch noch nicht genug. Bist du einverstanden, statt Zusammenhang lieber Einheit zu sagen?"
„Meinetwegen."
„Man könnte den Betrieb also eine Einheit von Handlungen nennen, nicht?"
„Ja — du, es müssen aber die Sachen auch da sein."
„Freilich! Sind sie beim Staat nicht da?"
„Doch."
„Zum Beispiel:"
„Was die Reichswehr an Uniformen und Waffen hat."
„Die grine Minna!"
„Die Polizeibüros."
„Die Gefängnisse."
„Die Ministerien, wo die Bonzen sitzen."
„Das Reichstagsgebäude."
„Der Präsidentenstuhl drin."
„Das Geld in den Kassen."
„Die Schlagbäume."
„Der Panzerkreuzer A."
„Nehmt an, es käme ein Erdbeben, und all diese sachlichen Hilfsmittel, oder wenn ihr wollt, Betriebsmittel des Staates, wären mit einem Schlage zerstört. Wäre der Staat dann auch zerstört?"
„Nee! Sein Handeln wäre sehr erschwert, aber nich aufgehoben."
„Hier liegt ein Unterschied zum Betrieb", sagte Emil. „Die Fabrik könnte ohne Betriebsmittel nich mehr arbeiten," „Die Fabrik könnte ohne Betriebsmittel nich mehr arbeiten."
„So ist es. Ich habe gefunden, dass diese Bestimmung des Staates als einer Einheit von Handlungen einem vieles klar macht. Früher hatte der Staat für mich so was Gespenstisches. Das kam auch in euern Versuchen, ihn zu bestimmen, zum Ausdruck. Man weiß nicht: sind's die Menschen, oder sind's die Gesetze, oder sind's die Behörden, oder was ist es? Wenn man sich aber klar gemacht hat, dass es die menschlichen Handlungen sind, die den Staat bilden, dann ist der Staat nicht mehr so ein unbestimmtes Etwas. Er steht nicht hinter den Menschen oder über den Menschen, man kann auch nicht sagen, es sind die Menschen selbst, sondern es ist eine bestimmte Gruppe ihrer Handlungen. Seid ihr bis hierher alle einverstanden?"
„Ja!!"
„Zweitens. Wir ziehen noch einen Vergleich mit der Fabrik. Hat die Fabrik ihren bestimmten Bereich?"
„Ja."
„Wenn du raus bist, bist du raus, nicht, Emil? Draußen hat dir der Meister nichts zu sagen."
„Stimmt."
„Gilt das vom Staat auch?"
„Ja."
„Wenn du über die Grenze bist, bist du seinem Arm entzogen."
„Nicht immer, Konrad. Ich kann auch ausgeliefert werden."
„Wann geschieht das?"
„Bei 'nem Mord oder so."
„Ich meine: Liefert jeder Staat aus?"
„Nein, nur wenn sie's vereinbart haben."
„Dann nimmt also wiederum ein Staat dich auf seinem Gebiet auf Grund seiner Hoheitsrechte fest."
„Ja."
„Was gehört also immer zum Staat?"
„Ein bestimmtes Gebiet."
„Wir könnten also nunmehr sagen:
Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen. Er gilt auf einem bestimmten Gebiet. Einverstanden?"
„Ja."

„Wir haben nun so eine Art Gerippe herausgestellt. Jetzt kommt Fleisch und Blut. Wissen wir schon irgend etwas über Sinn oder Zweck oder Aufgabe der Einheit von Handlungen, die man Staat nennt?"
„Nee."
„Wir wollen diese Frage nicht mit Allgemeinheiten beantworten, sondern gehen zu Ottos Beispielen zurück. Warum musste er denn bereits als Säugling auf dem Standesamt vermerkt werden?'
„Weil unser Otto sonst verloren gegangen wäre!! Das wäre doch schade gewesen!"
„Für wen?"
„Ein Verlust für das Jahrhundert", warf Walter ein.
„Vielleicht auch! Aber unmittelbarer?"
„Für sein preußisches Vaterland als Rekrut", sagte Adolf.
„Gibt's heut nich mehr", entschied Emil.
„Kann's aber wieder geben", beharrte Adolf.
„Oder?"
„Als Steuerzahler", schlug Adolf vor. „Da muss sich doch der Staat beizeiten 'ne Liste anlegen, sonst gehn ihm eines Tages seine Steuerzahler verloren."
„Noch andre Gründe, warum der Staat die Geburt eines Staatsangehörigen in seine Listen einträgt."
„Es ist z. B.", sagte Rudolf, „ein Erbonkel in Amerika gestorben. Nu muss man doch feststellen können, ob er auch wirklich sein Neffe is!"
„Schon richtig, — aber leider ist der Erbonkel in Amerika ein seltner Fall. Könnt ihr näher liegende Fälle nennen, dass man die Person eines Menschen feststellen muss."
„Wenn er sich verheirat't."
„Wenn er 'nen Pass braucht."
„Wenn seine Eltern sterben, und er als Ziehkind zu andren Leuten kommt."
„Ist zu allen diesen Dingen der Geburtsschein unbedingt erforderlich?"
„Zum Heiraten sicher nich!"
„Auch nich, wenn die Eltern sterben und er als Ziehkind ausgetan wird."
„Doch! Es muss dann doch für ihn gezahlt wern."
„Also, wozu dient die Listenführung?"
„Damit die Standesbeamten doch auch was zu tun haben und leben können!"
„Quatsch!", sagte Otto. „Sie dient zur Ordnung. Damit bei all diesen Dingen keine Unordnung gemacht werden kann. Zum Beispiel wenn derselbe Mann sechs verschiedene Frauen zu gleicher Zeit heirat't."
„Was tut also der Staat?"
„Er ordnet die menschlichen Angelegenheiten."
„Alle?"
„Nee, das wär' schlimm! Immer nur, was die Allgemeinheit irgendwie angeht. Dass alles orndtlich vor sich geht."
„Ordnet er immer direkt? Mischt er sich in jeden Zank der Eheleute?"
„Nee!"
„Aber der Mann weiß, dass er die Frau nicht beliebig prügeln darf, nicht?"
„Ja."
„Versteht ihr es, wenn ich das mit den Worten ausdrücke: Er garantiert das geordnete Zusammenleben der Menschen?"
„Jawohl!"
„Einverstanden, Emil?"
„Ja."
„Nun also dritte Fassung:
Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen; er garantiert auf einem bestimmten Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen."
„Das is noch nich komplett", widersprach Emil. „Ordnen! Sie mal — unsre Ordner, wenn wir einen Demonstrationszug machen, die ordnen doch auch!! Trotzdem sind sie kein Staat."
„Du hast recht, Emil", gab Konrad nachdenklich zu. „Wir haben also was vergessen. Woran liegt's? Wir müssen die Sache noch einmal überlegen. Also, die Ordner ordnen unsern Umzug. Es kommt aber ein Trupp Stahlhelmleute; die folgen unsern Ordnern nicht. Sie machen vielmehr gro­ßen Klamauk und versuchen, den ganzen Zug mitsamt den Ordnern auseinanderzujagen. Was dann?"
„Dann muss Sipo kommen."
„Scheint mir auch. Die Sipo drängt die Stahlhelmleute zurück, und der Zug kann seinen Weg weiter nehmen."
„Es liegt da eine Abstufung vor, Konrad. Unsre Ordner schaffen zunächst Ordnung. Der Staat verlässt sich sogar auf sie und lässt seine eignen Organe zunächst nicht in Funktion treten. Wenn's aber zum Äußersten kommt, dann muss er eintreten."
„Ja, so is es. Wie könnten wir das kurz ausdrücken? Ordnen tun die Ordner so gut wie der Staat. Wo liegt der Unterschied?"
„Der Staat ordnet als letzter!"
„Oder?"
„Der Staat ordnet in der letzten Instanz!" sagte Otto.
„Wenn wir unsern Otto nicht hätten!"
„Also, um unsre Bestimmung zu vervollständigen ..."
„Allmählich kann ich den Vers auch", unterbrach Adolf.
„Bitte."
„Der Staat ist eine Einheit von Handlungen. Er garantiert in letzter Instanz auf einem bestimmten Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen."
„Bravo, mei Adolf", frozzelte Walter.

Aber Otto schüttelte den Kopf.
„Wir wollen doch noch mal überlegen, Konrad, ob mit dem ,Ordnung in letzter Instanz garantieren' auch alles gesagt ist."
„Meinetwegen. Wie waren deine Beispiele?" „Der Verkehrsschutzmann." „Stimmt's?" „Kla!"
„Die Anmeldung in der neuen Stadt." „Stimmt's?" „Kla!"
„Krankengeld." „Stimmt's?"
„Halt", rief Otto. „Das ist mehr als Ordnung schaffen. Da sorgt er doch für die Menschen."
„Könnte man es doch noch unter den Begriff: ,Er garantiert die, Ordnung' bringen?"
„Es ginge", meinte Emil. „Denn wenn für die Kranken und Alten nicht gesorgt wird, gibt's eines Tages Krach."
„Ist es unbedingt nötig, dass gerade der Staat diese Versorgung übernimmt?"
„Nee. Es wäre denkbar, dass es auch andre machen."
„Zum Beispiel?" Die Kirche."
„Oder?"
„Der Berufsverband."
„Oder?"
„Die Familie!"
Aber Otto geriet in wachsende Opposition. „Wir kommen aber mit dem Begriff der Ordnung doch nicht durch! Nimm z. B. mal 'ne wissenschaftliche Anstalt, die der Staat gründet."
„Das tut er doch bloß, wo sich's um seine Zwecke handelt, um untersuchen zu lassen, wie man Munition am besten herstellt, oder so was, — nich aus Interesse für die Wissenschaft", entschied Adolf.
„Aber eine Staatsoper, Adolf?"
„Na ja, — das sind so Paradepferde."
„Ich will es euch verdeutlichen", sagte Konrad. „Ich denke mir die Tätigkeit des Staates in einem Kreis dargestellt. Hier" — er hatte auf dem Tisch mit Kreide gezeichnet — „liegt das Zentrum. Wie heißt die äußere Linie?"
„Peripherie."
„Gewisse Aufgaben des Staates sind unentbehrlich. Sie liegen hier im Zentrum. Sie gehören zu seinem Wesen. andere liegen an der Peripherie. Wohin gehört die Staatsoper? —
„An die Peripherie."
„Welche andren Tätigkeiten des Staates könnte man aus seiner Wirksamkeit auslöschen, ohne sein Dasein im geringsten zu gefährden?"
„Wenn er Museen gründet."
„Wenn er Schulen baut."
„Wenn er Krankenhäuser baut."
„Auch von der Fürsorge für Alte und Kranke sagten wir, dass sie allenfalls auch von andern Stellen übernommen werden könnte. Hat er oft an diesen Dingen ein starkes eignes Interesse?"
„Aber sicher! Zum Beispiel an den Schulen, dass ,Staatsgesinnung' gepflegt wird", sagte Adolf.
„Ist es festgelegt, was er von diesen Aufgaben übernimmt oder nicht?"
„Nein."
„Es ergibt sich also, dass die Veranschaulichung mit dem Kreis noch einer Ergänzung bedarf. Auf dem Tisch da ist die Peripherie eine feste Linie; in Wirklichkeit..."
„Is sie's nicht!"
„Wisst ihr, in welchem Land er viele Aufgaben den Privaten lässt, die er bei uns übernimmt?"
„In England", antwortete Otto.
„Nun zurück zu Ottos Einwand. Gibst du zu, Otto, dass wir uns bei unsrer Aussprache — wenn wir nicht ins Uferlose kommen wollen — an die zentralen Aufgaben des Staates halten müssen?"
„Ja! Das will ich zugeben. Die Aufgaben der Pflege und Fürsorge mögen peripher sein. Trotzdem genügt der Begriff der Ordnung nicht. Nimm die Rechtsprechung. Das ist doch was andres als Ordnung."
„Was meinen die andern?"
„Es kommt drauf an, was man unter Ordnung versteht", sagte Walter. „Wenn du den Begriff im weitesten Sinne nimmst, so kannste zugeben, Otto, dass es grade die Rechtsprechung ist, die das geordnete Zusammenleben der Menschen gewährleistet."
„Es will mir nicht ein", entgegnete Otto. „Rechtsprechen ist Rechtsprechen. Dass damit auch die Ordnung gewährleistet wird, will ich nicht bestreiten. Aber es ist nicht Ordnung gewährleisten. Vor allem aber kann ich den Krieg unter keinen Umständen unter diesen Begriff bringen." Konrad wollte antworten, doch Otto sprach energisch weiter: „Ich weiß schon, Konrad, deichseln kannst du das! Aber überzeugen wirst du mich nicht!! Mit den Leuten hierzulande hat's ja überhaupt keinen Zweck, drüber zu reden. Für sie ist der Staat das rote Tuch. Sie haben ja auch nie einen gehabt."
„Na erloobe mal!!"
Ottos Gesicht verzog sich zu unbeschreiblichem Grinsen. „Alles, was hier in Mitteldeutschland rumkriecht....."
„Mensch, is das 'ne Frechheit!"
„kann in politischen Dingen nich janz davor."
Ein Entrüstungssturm brach los. Otto freute sich wie ein Schneekönig.
„Wir wollen es nicht so eindeutig auf dies Land zuspitzen", schlichtete Konrad ihren Streit. „Der Arbeiter denkt vielerorts so wie ihr hier."
„Sehr richtig", bestätigte Otto. „Es gibt noch mehr sone ... na, ich will se nich beim Namen nennen. Du z. B., Konrad, siehst das auch nur halb richtig, weil du aus den Bergen bist. Da is das Leben anders. Viel näher zur Natur."
„Also sind wir alle mehr oder weniger erledigt."
„Total erschlagen", lachte Otto.
„Ich schlage vor, unser Otto übernimmt den Vorsitz!" sagte Adolf.
„Nee, noch nicht", entgegnete Otto. „Erst soll Konrad das Kunststück fertig bringen und die äußere Politik unter den Begriff der Ordnung bringen."
„Also krempeln wir uns die Hemdärmel auf."
„Man los!"
„Ich habe nicht gesagt, die Aufgabe oder der Zweck des Staates erschöpft sich darin, für Ordnung zu sorgen. Ich habe gesagt, dass er das geordnete Zusammenleben der Menschen garantiert."
„Na ja! Siehste! Da kommt schon die berühmte Knaupelei! Ich sage dagegen:
1. garantiert is 'n weiter Begriff, und
2. Ordnung wird doch einseitig als Ziel hingestellt. Ich gebe dir ohne weiteres zu: Ohne Staat gäb's kein geordnetes Zusammenleben. Das is klar. Aber er tut eben noch viel mehr, als Ordnung garantieren, auch in der Innenpolitik! Und die äußere Politik is überhaupt ganz was anderes als Ordnung garantieren. Nimm den Kreis da! Geordnetes Zusammenleben garantieren liegt ganz nah am Zentrum, ist
meinetwegen selbst ein Teil des Zentrums, aber das Zentrum als Ganzes ist was andres."
„Nenne ein Beispiel."
Er, besann sich. „Unsre Freiheitskriege!"
„Meinst du nicht, dass gerade sie erst wieder ein geordnetes Zusammenleben innerhalb und außerhalb des preußischen Staates ermöglicht haben?"
„Ja, aber das war nicht ihr Sinn."
„Was denn?"
Otto überlegte.
„Sieh mal, Konrad, würdest du mir zugeben, dass Napoleon eine ganz andere Politik Preußen gegenüber hätte machen können. Er hätte es gut behandeln können. Die Menschen hätten unter einer Art Oberhoheit von ihm ein ganz gutes, geordnetes Zusammenleben führen können."
„Ja."
„Trotzdem hätten sie sich erhoben! Sie wollten als Volk frei und einig sein."
„Aber gewiss!! Weil nationale Freiheit erst das geordnete Zusammenleben der Völker wirklich und dauernd garantiert. Das ist ja der Grund, weshalb ich ein Recht habe, die auswärtige Politik in diesen Begriff miteinzubeziehen. Der erfolgreiche Kampf um die eigne Existenz garantiert einem Volk das geordnete Zusammenleben mit andern Völkern auf der Basis eines Vertragsverhältnisses, das ohne Staat nicht denkbar ist."
„Dass man es so sagen kann, habe ich ja schon zugegeben", sagte Otto. „Es trifft eben nich den Kern."
„Dann umschreibe ihn irgendwie."
„Staat heißt", sagte Otto — und er hatte sein Feixen vergessen —, „dass alle zusammenstehen und nach innen sich helfen und nach außen sich gemeinsam verteidigen."
„Tut das Proletariat als Klasse das nicht auch, Otto?"
„Ja-----------"
„Gleichwohl bildet die klassenbewusste Arbeiterschaft keinen Staat."
Otto zögerte.
„Das stimmt.------------Aber trotzdem! Es gehört unbedingt zum Wesen des Staates, dass----------------durch das
Zusammenstehen — nicht bloß durch geordnetes Zusammenleben, — durch das Zusammenstehen und Zusammenhalten nach innen und außen die Kraft vermehrt wird. Das allein kann es nicht machen. Du hast recht, denn auch die Klasse hat das — aber es liegt auch im Zentrum des Kreises. Irgendwo hab ich mal gelesen. Ungefähr so: Der Staat macht, dass 2 x 2 nicht 4, sondern 8 ist. Das ist mit ,Ordnung garantieren' nicht gesagt."
„Vielleicht nicht. Aber ich würde es gleichwohl hineinnehmen können. Die Wirkung des geordneten Zusammenlebens ist natürlich die vermehrte Macht. Denk an das alte Sprichwort: Friede vermehrt, Unfriede verzehrt."
„Es ist doch was anders", beharrte Otto.
„Ich glaube, du hast recht! Ich sehe es jetzt. Es ist was anders. Vielleicht liegt hier die Grenze des Beweisbaren. Du fühlst: dieses 2 x 2 = 8 ist zentral. Es gehört für dich zum Wesen des Staates. Ich fühle es als Wirkung der staatlichen Ordnung. Können wir darüber noch mit Gründen streiten?"
Ottos Gesicht zog sich zusammen.
„Du meinst, es hat also eigentlich keinen Zweck, drüber zu reden", sagte er scharf.
„In gewissem Sinne nicht. Es steht Gefühl gegen Gefühl."
„Dann halte ich aber unser Gefühl für das richtige!! Denn wir haben einen starken modernen Staat geschaffen. Die andern Deutschen nicht!!" Trotz und Zorn standen auf seinem Gesicht.
„Den Ruhm gönnen wir dir", erwiderte Adolf. Die andern bestätigten. Konrad schwieg. Noch einen Augenblick ließ Otto seine kleinen, scharfen Augen über die Runde gleiten in der Hoffnung, ein Echo zu finden. Umsonst. Da haute er ab. Die harte Kruste seines Wesens, die sich einen Augenblick gelockert hatte, schloss sich. „Dann könnt ihr ja euer Gefühl weiter verfolgen." Und er fiel in die Rolle des grinsenden Spötters zurück.
„Es wird auch Zeit, dass wir zu Worte kommen", sagte Adolf.
„Ja, Konrad", bestätigte Walter, „grade durch die Aussprache mit Otto wurde mir klar: Für uns steht auch was ganz anders im Zentrum, als du uns vorhin weißgemacht hast. Du hast das vorhin so schön aufgezogen wie'n richtiggehender Schulmeister. Damit hast du uns übertölpelt. Du weißt schon, was ich meine: Den Unterdrückungscharakter des Staates. Der Staat ist immer ein Unterdrücker gewesen."
„Ein Instrument zur Ausbeutung der besitzlosen Klasse", bestätigte Adolf.
„Gut", sagte Konrad. „Rollen wir die Frage noch mal von dieser Seite her auf. Ich bestreite keinen Augenblick den Unterdrückungscharakter des bisherigen Staates. Ja, ich gehe weiter. Stimmt ihr mir zu, wenn ich sage: In einer Klassengesellschaft haben alle gesellschaftlichen Einrichtungen einen Klassencharakter und dienen irgendwie der Herrschaft der besitzenden Klasse?"
„Ja! Das hat Marx den Proleten gelehrt."
„So ist es, Genossen. Marx hat diese Erkenntnis in den Mittelpunkt unseres Bewusstseins gerückt! Könnt ihr gesellschaftliche Einrichtungen nennen, die der Klassenherrschaft dienen?"
„Die Kirche."
„Die Schule."
„Die Universität."
„Sogar die Eisenbahn. Ihre 1. Klasse ist ein Geschenk an die Reichen auf Kosten der Steuerzahler."
„Nun müssen wir doch, Genossen, alle diese Dinge, um sie überhaupt voneinander unterscheiden zu können, uns einzeln klarmachen — jedes für sich. Instrumente der Klassenherrschaft sind sie im Klassenstaat alle. Aber jedes in seiner Weise. Wenn ich sie unterscheiden will, muss ich von jedem das Besondere erkennen und herausheben. Wozu dient die Schule?"
„Für'n Unterricht der Kinder."
„Die Eisenbahn?"
„Dem Verkehr." „Die Kirche?" „Dem Aberglauben."
„Wenn ich nun zum Zwecke dieser Unterscheidung nach dem Staat frage, so werde ich sagen: Gewiss, auch der Staat ist, wie Schule, Kirche und so fort ein Instrument zur Unterdrückung der besitzlosen Klasse. Seine besondere Eigenart aber besteht darin, dass er die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens auf einem bestimmten Gebiet in letzter Instanz garantiert. Mit anderen Worten: Ich halte eure Generalbestimmung für durchaus richtig. Sie trifft jedoch nicht das Besondere des Staatlichen. Sie gilt für alle gesellschaftlichen Einrichtungen der Klassengesellschaft. Können wir uns darauf einigen?" Sie fanden keine Gegengründe. Aber man sah ihnen das Unbehagen an, mit dem sie Konrads Gedankenführung folgten.
„Soweit die Frage nach dem Wesen des bisherigen Staates. Ich nehme nun an, die Periode der Diktatur ist vorüber. Man hat sozialisiert. Stehen die gesellschaftlichen Einrichtungen dann noch im Dienst der besitzenden Klasse?" —
„Nein, sowas gibt's dann nich mehr."
„Gibt es gleichwohl Schulen?"
„Kla."
„Wird sich die Gesellschaft als Ganzes um die Schulen kümmern?"
„Aber sehr! Sonst könnte die Reaktion was Schönes anrichten."
„Wird es noch Eisenbahnen geben?"
„Natürlich."
„Aber den Luxus für die Bevorrechteten wird man abschaffen, nicht? Sie werden unter dem Gesichtspunkt eingerichtet sein, der arbeitenden Masse möglichst viele Bequemlichkeiten zu schaffen. Wird endlich eine Stelle da sein müssen, die für ein bestimmtes Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen in letzter Instanz garantiert?"
Alles schwieg, Otto grinste.
„Muss der Verkehr geregelt werden?"
„Ja."
„Müssen Gesetze gegeben werden?"
„Ja."
„Müssen Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern feststellen können?"
„Ja."
„Muss man feststellen können, ob ein Mann sechs Frauen auf einmal hat?"
„Gewiss, Konrad! Aber das alles braucht nicht der Staat zu machen. Das kann irgend eine ordnende Stelle machen, wie Bebel sagt: Ein Verwaltungskollegium."
„Wir sahen: Nicht irgend eine, sondern eine in oberster Instanz."
„Meinetwägen — —"
„Wie du diese Stelle nennst, Adolf, das ist mir egal!! Das Entscheidende ist, ob du anerkennst, dass die ordnenden Funktionen, die der Staat heute für ein bestimmtes Gebiet in letzter Instanz ausübt, auch in einer sozialistischen Gesellschaft ausgeübt werden müssen. Freilich nicht mehr im Interesse der besitzenden Klasse, sondern im Interesse der arbeitenden Masse."
„Zugeben muss man's schon", sagte Adolf. „Aber es stimmt doch was nicht."
„Nein", sagte Otto fest. „Es stimmt auch nicht. Weil du an der Hauptsache immer vorbeiredest. Dein Staat kann allenfalls durch das Bebeische Verwaltungskollegium ersetzt werden. Dafür bist du 'n Schweizer. Meiner nich! Denn wenn morgen die Sowjetrussen über uns herfallen — reg dich nur nicht auf, Rudolf, möglich ist's doch!! — oder meinetwegen übermorgen die Chinesen, die auch mal aufwachen können — und 's is ein Dreihundertmillionenvolk —, dann erst tritt der Staat in seine stärkste Funktion. Dann ist er die organisierte Macht des Volkes zur Verteidigung seiner selbst und ist mit einem Verwaltungskollegium nicht zu verwechseln."
„Du weißt, Otto, dass ich die Aufgaben der auswärtigen Politik nicht verkenne", sagte Konrad etwas gereizt.
„Aber sie sind dir nicht so zentral, wie es nötig ist."
„Nimm aber an, Otto", unterbrach Walter, „wir hätten ein Weltreich, in dem alle Völker endgültig sich geeinigt hätten und in dauerndem Frieden nebeneinander lebten — dann brauchten wir doch keinen Staat mehr! Dann genügten Bebeis Verwaltungskollegien."
„Trotzdem!!", entgegnete Otto. „Denn wenn in diesem Weltreich auch nur ein einziger Mensch wäre, der sich der all gemeinen Ordnung nicht fügte — was dann?"
„Den täte man in ein Irrenhaus!"
„Wenn er aber nicht freiwillig geht? Wer hat das Recht über seine Person zu verfügen? Ist das ein Verwaltungskollegium, das ein Recht hat, über deine Person zu verfügen?"
„Halt!" rief Konrad. „Jetzt sehe ich es klarer! Wir stehen an einem Wendepunkt unserer Besprechung."
„Warte mal!" unterbrach Adolf. „Ehe du dich wendest, mei Lieber, fass das noch mal zusammen, was wir bisher gesprochen haben. Sonst geht uns der Faden verloren."
„Gut. Wir waren zuerst zu diesem Ergebnis gekommen: ,Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen. Er garantiert auf einem bestimmten Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen in letzter Instanz'." Otto war das nicht genug. Er findet die Bestimmung nicht eigentlich zentral. Er will den Ton auf die Machtorganisation, insbesondere zur Verteidigung nach außen, gelegt sehen. Die andern protestieren aus einem andern Grunde. Sie stellen seine gegenwärtige Eigenschaft als Instrument zur Beherrschung der besitzlosen Klasse in den Mittelpunkt und erklären ihn daher für überflüssig, sobald die Klassengegensätze beseitigt sind. Die auch dann noch notwendige Instanz zur Gewährleistung des geordneten menschlichen Zusammenlebens wollen sie nicht mehr als Staat anerkennen. Ottos Einwand, dass auch dann noch die Völker Kriege führen werden, widerlegen die andern mit dem Weltstaatsgedanken. Dabei taucht die Frage auf: Kann und muss irgendeine Instanz selbst in dem Weltstaat einer sozialisierten Gesellschaft über meine
Person verfügen? Das macht uns alle stutzig. Es muss also unsre Bestimmung nicht ganz schlüssig sein. Sie hat noch irgendwo ein Loch."

*

Er besann sich. „Kommen wir doch noch einmal auf die. Kohlenkrise in der sozialisierten Wirtschaft zurück. Ich nehme an, die Not steigt. Es rotten sich aus Anlass der gro­ßen Kohlenknappheit Menschenmassen zusammen und verlangen Kohlen. Das Verwaltungskollegium kann sie ihnen nicht beschaffen. Soll es sich persönlich vor die Kohlenhaufen stellen und sie verteidigen?"
„Nu kommste wohl gar mit der Polizei in der sozialisierten Gesellschaft?"
„Wenn du das Recht hast, die leitende Stelle anders zu nennen, so nenne ich auch diese Funktionäre anders. — Ich nenne sie ,Ordner'. Die Ordner kommen. Sie greifen nicht zu Pistolen und Gummiknüppeln. Aber sie bilden eine dichte Kette und drängen die anstürmenden Menschen unter gutem Zureden, aber zugleich mit körperlicher Gewalt zurück. Einige, die ganz wild sind, schließen sie in ihren Kreis und führen sie wider Willen in ihre Wohnungen. Adolf, kannst du mir das Beispiel zugeben?"
„Meinetwägen."
„Es handelt sich also um eine Gewaltanwendung in mildester Form. Einverstanden?"
„Ja."
„Kann man sich diese Gewaltanwendung von jedem x-beliebigen gefallen lassen?"
„Nein."
„Überhaupt von mehreren Stellen?"
„Nein."
„Sie muss als letztes Mittel einer einzigen Stelle vorbehalten bleiben — diese letzte Instanz nenne ich ,Staat'."
Man schwieg und überlegte. Auch Konrad tastete sich nur unsicher vorwärts. „In unserer Bestimmung von vorhin fehlt dann eine wichtige Tatsache: Das Recht der Gewaltanwendung. Oder: Das Recht, einen Menschen körperlich zu
zwingen. Ich könnte auch sagen: Die Tatsache der Herrschaft und des Gehorsams. Was meint ihr dazu?"
Dass du mir ein gut Stück näher gekommen bist", sagte Otto.
„Aber die andern?"
„Herrschaft und Gewalt, mei Lieber??! — — —", erwiderte Adolf. „Ächjaü!------------In der klassenlosen Gesellschaft is sowas ausgeschlossen!!"
„Aber, Adolf, du musst doch anerkennen, dass die Leute den staatlichen Ordnern gehorchen müssen!! Sie müssen! Ich kann es auch so ausdrücken: Es muss ein Wille da sein, der uns im Interesse des Ganzen zum Gehorsam zwingt."
„Du wirst immer preußischer", sagte Emil.
„,Zum Gehorsam zwingen' — das riecht vollkommen nach dem Klassenstaat", bestätigte Adolf.
„Es wird mir selbst immer klarer", sagte Konrad. „Wessen Wille erzwingt denn im Klassenstaat den Gehorsam?"
„Der Wille der herrschenden Klasse!"
„Kann das auch unter demokratischen Formen geschehen?"
„Das erleben wir ja alle Tage."
„Wessen Wille erzwingt dagegen in der klassenlosen Gesellschaft den Gehorsam?"
„Das is es ja grade!! So was gibt's eben in der klassenlosen Gesellschaft alles nich!! Gehorsam!! Wille!! Erzwingen!! Das wollen wir nich!! Wenn wir das alles mit rübernehmen wollen, — dann haben wir den Staat. Wir wollen Freiheit! Wir wollen diese Zwangsorganisation nicht!!"
„Ich glaube", fuhr Konrad unbeirrt fort, „jetzt sind wir bei dem eigentlichen Streitpunkt angelangt, der sicherlich zum Zentrum gehört. Ich werde nunmehr so bestimmen: Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen. Er garantiert in letzter Instanz das geordnete Zusammenleben der Menschen auf einem bestimmten Gebiet. Er tut das, indem er durch den organisierten Willen der Gesamtheit die Herrschaft auf diesem Gebiet ausübt."
Jetzt war die Geduld der andern zu Ende.
„Nu haste uns aber glücklich wohin bugsiert, wo wir nich hinwollen!! Ich jedenfalls nich!!" rief Adolf.
„Ich ooch nich", sagte Emil.
„Nee, ich ooch nich", ergänzte Rudolf.
Selbst Walter wurde skeptisch. Auch die übrigen lehnten ab. Nur Otto war zufrieden.
„Das muss ich mir dann eben egal sein lassen!! Auf alle Fälle müssen wir uns klarer machen, was in den letzten Behauptungen eigentlich liegt." Er besann sich. „Das Strittige liegt in dem Begriff der Herrschaft."
„Allerdings!!! Wir haben lange genug Herrschaft aushalten müssen, um in der klassenlosen Gesellschaft damit wieder von vorn anzufangen."
„Ihr habt mir doch aber zugegeben, dass nötigenfalls die Ordner gegen Widerspenstige eine sanfte Gewalt ausüben müssen. Die Frauen, deren Kinder frieren, lassen sich nicht mit Worten überzeugen. Der Gehorsam gegen solche Gebote muss erzwungen werden. Ich komme um die Worte: Gewalt, Gehorsam, Wille, Herrschaft gar nicht herum." „Wir machen das aber nich mit!"
„Machen wir uns doch klar", schlug Konrad vor, „wessen Wille es eigentlich ist, dem gehorcht werden soll. Wir als Demokraten haben doch da ganz sichere Grundlagen. Welches Wahlrecht wird für die oberste regierende Körperschaft gelten?"
„Das allgemeine, gleiche, direkte."
„Wessen Willen verkörpert also die oberste Körperschaft in der sozialisierten Gesellschaft?" „Den Willen aller."
„Halt! Stimmt schon nich", sagte Walter. „Die Minderheit will anders."
„Ich nehme an", entgegnete Konrad, „auch die Minderheit will die soziale Demokratie. Das ist in einer klassenlosen Gesellschaft nicht anders denkbar."
„Ja."
„Wer soll dann ihrer Absicht nach regieren?"
„Die Mehrheit."
„Es ist also ein oberster Wille gesetzt, der den Willen aller demokratisch Gesinnten darstellt. Wenn die demokratischen Staatsangehörigen diesem Willen gehorchen — wer ist dann ihr Herr?"
„Sie selbst."
„Mit dieser Beweisführung kannste auch die gegenwärtige Kapitalistenherrschaft verteidigen."
„Nein!!! Haben wir die klassenlose Gesellschaft?"
„Nee."
„Der Gegengrund ist also hinfällig. Ich könnte es auch so sagen: Die im Staat organisierte Gesellschaft regiert die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Also, Regierung ist da, Wille ist da, Herrschaft ist da, Gehorsam ist da, nur nicht als Klassenhandeln, sondern als Handeln aller sozialen Demokraten."
„Das is sehr verzwickt", sagte Emil.
„Ja, Emil. Das ist es. Aber du kannst es trotzdem verstehen. Sieh mal: Folgst du im Geschlechtsleben allen deinen Gelüsten?"
„Nee, wenigstens nich immer."
„Es herrscht also der eine Emil, der sein Geschlechtsleben zu bändigen trachtet, über den andern Emil, der es austoben lassen möchte?"
„Na, wenigstens manchmal."
„Ein anderes Beispiel: Der Mensch, der sein Geld gern verplempert, und lernt, sparsam damit umzugehen", sagte Walter.
„Ausgezeichnet. Der gute Wirt in ihm herrscht über den Verschwender in ihm. Und so wird es in der sozialisierten Gesellschaft sein. Der im Staat organisierte Gesamtwille wird über den unorganisierten Willen aller einzelnen Glieder herrschen."
Sie schwiegen — widerlegt, aber nicht innerlich überzeugt. Der Klasseninstinkt derer, deren Klasse durch Jahrhunderte im Staate nur einen fremden Willen gespürt hatten, bäumte
sich gegen alles auf, was Herrschaft, Gehorsam, Wille, Gewalt heißt.
Konrad sah ihren inneren Widerstand; er sann eine Weile. „Wenn ihr euer Ideal der Freiheit verwirklichen wollt", sagte er dann, „so müsst ihr in meine Heimat ziehen, d. h. wie sie war, ehe die Eisenbahnen auch die entlegensten Täler aufschlossen. Da lebten meine Vorfahren als freie Bauern in kleinen Gemeinden. Niemand störte ihren Frieden. Denn diese Täler waren zu arm und zu entlegen, um einen Herrscher anzulocken. Reste von allen möglichen Völkerschaften flüchteten sich hierher und lebten hier unbehelligt. Alle Stürme des politischen Lebens gingen über uns hin, ohne unsern Frieden zu stören. Zwar macht sich auch hier beim Zusammenleben der Menschen die oberste ordnende Stelle notwendig. Es ist die Schweizer Republik. In ihrem Auftrag besorgen die örtlichen Instanzen das Nötige. Aber davon spürt man wenig. Freiheit herrscht dort! Aber es ist die Freiheit des unangefochtenen Naturdaseins. Ihr aber wollt die komplizierteste gesellschaftliche Verflechtung mit den Lebensbedingungen des Alpenjägers vereinen. Freiheitsromantiker die ihr seid!"
Da fuhren sie auf. Sie ließen sich von Konrad viel gefallen — aber gerade dieses Wort — der klassenbewusste, an Marx geschulte Arbeiter — ein Romantiker — das war zuviel.
„Dann war Marx ooch e Romantiker", schrie Adolf.
„So würde ich ihn nicht nennen", erwiderte Konrad ruhig. „Er hat aber zweifellos einen starken anarchistischen Einschlag. Was wir als unterdrückte Klasse empfinden, das empfand er als Jude. Einer auf Herrschaft beruhenden Zwangsordnung setzt er seinen Willen zur Freiheit des Einzelnen gegenüber, welche die Freiheit aller sein sollte. So sagt er im kommunistischen Manifest. Aber wenn eure Entrüstung es zulässt, so ziehen wir noch ein besonderes Endergebnis aus unserm Gespräch. Wir waren von dem Unterschied des Politischen und des Moralischen ausgegangen, Otto sagte: Die Frau klaut Kohlen. Adolf entgegnete: Das
tut sie nicht. Denn ihre Natur hat sich geändert. Die Menschen sind dann ganz anders. Nun unser Ergebnis: Politik ist Herrschaft zum Zwecke des geordneten Zusammenlebens. Hat Moral mit Herrschaft irgend etwas zu tun?"
„Nee! Sie is sogar glatt unmoralisch!" entgegnete Adolf prompt.
Konrad fuhr auf! „Wenn du zum Schluss so antworten kannst, so war unsre ganze Unterredung umsonst! Ist die Herrschaft des guten Wirtes über den Verschwender in der eignen Brust ,glatt unmoralisch?' — —?" Adolf zuckte die Achseln. „Und zweitens: Wenn sie unmoralisch wäre, so hätte sie mit der Moral etwas zu tun. Sie ist aber in ihrem Charakter als Herrschaft weder moralisch, noch unmoralisch. Um was handelt sich's denn bei der Moral? Welche Tat nennen wir moralisch?"
„Die gute."
„Welche unmoralisch?"
„Die schlechte."
„Ist das Prinzip des Guten oder Schlechten dasselbe wie Ordnung oder Herrschaft?"
„Ich weeß nich."
„Könnt ihr euch denn nicht entschließen, das Politische erst politisch zu sehen und dann die Moral einzusetzen?" Sie schwiegen.
„Es gibt eine höhere Entscheidung über dem Politischen. Gewiss. Das ist auch meine Überzeugung. Aber das Fachliche muss zu seinem Recht kommen." — Sie schwiegen noch immer in verbissenem Trotz.
„Emil! Bohrst du deine Löcher mit Moral oder mit dem Bohrer?"
„Frag nich so dumm." '
„Walter! Setzt du deinen Satz mit Moral oder mit Typen?" Walter machte eine Grimasse.
„Adolf! Machst du deine Schlosserarbeit mit Moral oder mit dem Werkzeug?"
„Ich schließe mich Emil an."
„Gewiss! Ihr seid bei alledem in allem euern Handeln, auch
im beruflichen, immer zugleich moralisch handelnde Menschen! Ihr könnt die Dinge immer auf diese beiden Weisen sehen. Ihr könnt sie speziell fachlich sehen. Ihr könnt sie allgemein moralisch sehen. Ihr dürft aber nicht die fachliche Betrachtung in der Mitte abbrechen, um die moralische einzusetzen. Versteht ihr mich wenigstens, wenn ihr auch bockt?"
„Verstehen tu ich's schon", brummte Emil.
„Ihr könnt also sagen: Ich verwerfe jede Herrschaft, auch die des guten Wirtes über den schlechten. Denn jede Herrschaft ist unmoralisch. Gut. Dann hebt ihr auf Grund einer obersten moralischen Entscheidung ein ganzes Gebiet menschlichen Handelns auf. Die moderne Gesellschaft löst ihr damit in Atome auf. Wenn ihr aber sagt: Eine oberste ordnende Instanz für den großen Kreis eines sozialisierten Wirtschaftsgebietes ist nötig, wenn ihr zugeben müsst, dass sie Herrschaftscharakter haben muss, um zu funktionieren, — dann könnt ihr euch nicht einfach auf das Moralische zurückziehen. Das ist kein sauberes Denken mehr.--------Wie
ist denn die Lage?", fuhr er mit Leidenschaft fort. „Das Bürgertum geht genau den entgegengesetzten Weg. Es hat alles in Fachsysteme aufgelöst, alles spezialisiert. Darüber hat es die sittlichen Zusammenhänge des Lebens verloren. Es kann heute nichts mehr, als tüchtige Spezialisten großziehen. Ihr habt noch die unmittelbare Beziehung aller Dinge auf die sittlichen Grundtatsachen des Lebens. Aber ihr verfallt in den entgegengesetzten Fehler. Als primitive Menschen, die ihr seid, setzt ihr das Moralische ein, ohne das Fachliche zu Ende zu denken. Das ist die Art der Dilettanten. Wenn wir ernsthafte Politik treiben wollen, müssen wir das Politische politisch sehen. Wir dürfen weder die moralische Entscheidung beliebig einsetzen, noch — was auf dasselbe herauskommt — ein radikale Änderung der moralischen Natur des Menschen. Springen wir beliebig vom Politischen ins Moralische hinüber, ohne das Politische zu Ende zu denken, — nehmen wir überdies das Moralische nicht, wie es der Erfahrung nach ist, sondern wie wir's haben
möchten, — dann sind wir keine Politiker! Dann sind wir Utopisten und Wundergläubige."
• „Romantiker, Dilettanten, Utopisten, Wundergläubige", wiederholte Walter. „Hast du noch mehr solche Ehrennamen auf Lager?"
„Nein — ich bin fertig."

*

Er war an's Fenster getreten und schaute in die Nacht hinaus. Die Freunde schwiegen lange Zeit. Dann begannen sie von andern Dingen zu sprechen. Konrad kehrte in ihren Kreis zurück. Aber er sah anders aus als sonst. Sein Antlitz war bleicher, seine Augen unruhiger. Es entging seinen Genossen nicht. Es war doch nicht seine Art, sich von dem gemeinsamen Ringen um das proletarische Wollen verstimmen zu lassen. So heiß es herging, so wenig dachte je einer von ihnen daran, irgend etwas in diesen Kämpfen persönlich zu nehmen. Seine Verstimmung lastete wie eine Schwüle auf dem kleinen Kreise.
„Konrad, haste was?" fragte endlich Emil.
„Ja, Genossen."
„Du bist doch sonst nich so, Konrad. Es geht uns doch allen nur um die Sache."
„Ja — so. Daran hab ich nicht gedacht! Genossen, euch gilt es nicht, wenn ich anders bin als sonst." Er presste die Lippen zusammen, als wolle er reden und könne nicht.
„Genossen!" sagte er dann, „wir haben voreinander keine Heimlichkeiten und keine Unwahrheiten. Wir verabscheuen die Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft. Darum ein offnes Wort."
Sie sahen ihn beklommen an.
„Else ist für immer fortgegangen-------um meinetwillen
— — — durch meine Schuld. Ich, der Ältere, der Verheiratete, bin verantwortlich für das, was geschah, — ich
bin der Schuldige.------------Franz ist ihr nachgegangen —
auch für immer. Er sagt euch durch mich Lebewohl."
Totenstille lastete auf dem kleinen Raume. Den Älteren kam das Geständnis nicht ganz überraschend. Ihre Blicke
hatten sich gesenkt. Rudolf dagegen sah den Freund und Führer mit großen Augen erschrocken an. „Ja, Rudolf, wir singen es:
Um die Leiber schlingt ein neuer Frieden sich; wir blicken freier Mann und Weib uns freier an" aber wir haben es erst halb erkämpft. Die andre Hälfte, die schwerere, liegt noch vor uns.

 

VII. Karl Marx.

Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt.
Karl Marx, Nachlass I, 386.

Es war Anfang Oktober. Seit vier Monaten regierte die Koalition. Im Kabinett Hagenthal fand eine vertrauliche Besprechung der Führer statt.
„Wie Sie sehen, meine Herren", sagte Hagenthal, „war es das Richtige, abzuwarten. Ungeduld bringt uns nicht vorwärts. Diese letzten vier Monate haben unbedingt für uns gearbeitet. Die Zugeständnisse an die katholische Kirche, die sich auf die Dauer doch nicht verhehlen ließen, haben weite Kreise der Arbeiterschaft aufs äußerste vor den Kopf gestoßen. Die Tatenlosigkeit der Regierung auf wirtschaftspolitischem Gebiet hat allgemeine Erbitterung hervorgerufen. Diese Dinge mussten sich erst voll auswirken. Nunmehr sind wir so weit, um durch einen Machtkampf in der Stickstoffindustrie den Stein ins Rollen zu bringen. Die Leitung der Industrie geht mit uns vollkommen einig. Außerdem sitzen in der Direktion eines jeden Werkes unsere Vertrauensleute. Die Arbeiter müssen so stark provoziert werden, dass sie losgehen. Der Konflikt muss dann so gedreht werden, dass Zentrum und Demokraten aus der Regierung ausgeschifft werden, und das Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten unvermeidlich wird. Sind wir erst soweit, dann wird der große Kladderadatsch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich habe Sie zusammengebeten, um die Aktion in der Stickstoffindustrie mit Ihnen durchzusprechen."
Sie rückten zusammen. In fünfstündiger Sitzung wurde der Aktionsplan entworfen.
Im Unawerk war der Betriebsrat Anfang August aufgelöst worden. Konrad hatte gegen die Maßregel agitiert. Er wurde entlassen. Nach der Auflösung des Betriebsrats hatten die Maßnahmen der Direktion zur Niederwerfung der Arbeiterschaft ungestört ihren Fortgang genommen. Emil, durch Konrads Schicksal gewarnt, verhielt sich ruhig. Auch sein kommunistischer Gegner duckte sich. Der Junge flog. Er hatte in der Bahn ungeniert das Maul aufgerissen.
Nun kämpfte Konrad den Kampf der Arbeitslosen. Er musste sein Quartier aufgeben und bezog eine Schlafstelle. Den Tag verbrachte er in öffentlichen Büchereien. Schlimmer noch empfand er es, dass er fortan weder seine Frau, noch Else unterstützen konnte. Franz hatte geschrieben. Else erwartete ein Kind. Sie waren damals, als sie auseinander gingen, alle drei eins gewesen in dem Willen, ein etwa keimendes Leben nicht zu zerstören. Sie wollten auch das Kind als das zur Welt kommen lassen, was es war: das uneheliche Kind eines verheirateten Mannes. Es sollte nicht mit einer Lüge ins Leben treten.
Stand denn schon sein Privatleben unter so schwerem Druck, so wollte er wenigstens die politische Arbeit um so intensiver aufnehmen. Er ging in die nächste Ortsgruppenversammlung seiner Partei. Der Vortrag war kümmerlich. Konrad nahm in der Diskussion das Wort und versuchte, die Rede zu ergänzen und zu berichtigen. Er sprach rein sachlich und vermied unnötige Schärfen. Doch die Versammlung — fast ganz aus älteren Männern und Frauen bestehend — ließ ihn abblitzen. Der Vorsitzende, beherrscht von dem
Minderwertigkeitsgefühl des Kleinbürgers gegenüber dem, der mehr gelernt hat als er, tat ihn wie einen dummen Jungen ab. Die andern riefen Beifall. „Is einfach lächerlich", sagte Frau Körner zu Frau Reimann, „so e junger Mensch." Konrads Bereitschaft, sich an der Kleinarbeit der Gruppe zu beteiligen, wurde fortan sabotiert, sein Angebot, als Referent mitzuwirken, abgelehnt.
Er machte noch einen Versuch und meldete sich als Referent an der Zentrale des Ortes. Hier war sein Auftreten auf jener großen Versammlung nach der Wahl unvergessen. Man zuckte höflich die Achseln. „Wenn Ihre Gruppe Sie ablehnt, können wir nichts tun."
Es war, als ob ein Übermaß von Spannungen das Gefäß sprengen sollte. Im Beruf ein Spiel des Zufalls, in der Partei ein scheel angesehener Fremdling, in seinem Verhältnis zu den Frauen zwar durch seine Ehe fest gegründet und doch hin- und hergeworfen von der Vitalität eines Trieblebens, das er nicht zu bändigen vermochte, wie er wollte. Lag es an ihm? War er als „freier" Sohn der Berge nicht fähig, die Einordnung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu finden, ohne die ein ertragreiches Wirken nicht möglich war? Oder lag es in den Verhältnissen? Waren sie verrotteter als zu anderen Zeiten? Oder war es ein ewiges Gesetz, dass der, der den Normen seiner Zeit trotzt, an ihnen zerschellt? Er begann zu empfinden, dass sein Leben auf dem Grat eines Felsens entlang lief — Abgründe zur Rechten, Abgründe zur Linken. Aber das war er gewohnt gewesen. Nicht um sicher zu wohnen, war er in die Ebene gegangen.
„Man wird an allem irre", sagte Adolf, als die Freunde an einem kalten regnerischen Oktoberabend wieder einmal in der guten Stube von Walters elterlicher Wohnung beisammen waren.
„Woran liegt's nur, Konrad?"
„Es fehlt uns die innere Orientierung", warf Walter ein. „Was meinst du mit innerer Orientierung, Walter?" „Einen Glauben!"
„Wohl den lieben Gott in neuer Auflage?"
„Nein, Adolf, den lieben Gott nicht! Aber zum mindesten das, was das Bürgertum hatte, als es auszog, um für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu kämpfen."
„Aber Walter, wir haben doch die klassenlose Gesellschaft, für die wir kämpfen!"
„Genügt das?!"
„Wir haben Karl Marx", gab Emil zurück.
„Karl Marx verdanken wir", erwiderte Konrad grübelnd, „die politische Grundhaltung: die klassenkämpferische Entscheidung und die dialektische Ausrichtung unseres politischen Handelns, auch die Erkenntnis von der grundlegenden Bedeutung der Gesellschaftsformation für unser geistiges Leben. Aber eine glaubensmäßige Grundlage hat er uns
nicht gegeben---wollte er uns nicht geben---
Er hat sie uns eher genommen!"
„Aber Konrad! Wir haben doch unser Freidenkertum, unsere Jugendweihen, — es sind auch nicht alle Feiern so schlecht wie die zu Weihnachten — das beruht doch alles auf Karl Marx."
„Das eben ist die Frage, Adolf---ob wir uns mit
diesen Dingen auf Karl Marx berufen dürfen."
„Das versteh ich nich, Konrad!"
„Ich habe einen Vorschlag. Ernst Fischer hält über das Thema: Karl Marx oder die Selbstaufhebung des Geistigen eine seiner Aussprachen. Wollen wir hingehen?"
Ernst Fischer war allen bekannt. Er interessierte jeden um seiner Persönlichkeit und seines Schicksals willen. Man wusste, dass er als Sohn einer begüterten Kaufmannsfamilie nach umfassendem akademischen Studium sich soeben an der Universität als Privatdozent niedergelassen hatte. Er stand in dem Ruf, ein bedeutender philosophischer Kopf zu sein. Allerdings wurde seine geistige Aktivität hier und da durch nervöse Abspannungszustände gemindert. Eine Zeitlang hatte er der sozialistischen Studentengruppe angehört. Von dort her kannten ihn die Freunde. Aber es litt den ungewöhnlichen Menschen in keiner Gesinnungsgemeinschaft. Von den Kommunisten kommend, hatte er den Sozialisten ebenfalls bald wieder den Rücken gekehrt, um sich einer politisch nicht abgestempelten Freischar anzuschließen. Auch in den Freimaurerlogen sollte er eine Weile gelebt haben. Man sah ihn bei allen Veranstaltungen, die sich mit Problemen der Gegenwart befassten: In dem Bund für Nacktkultur, bei der Steinergemeinde, bei Keyserling, bei den Freidenkern, bei den ernsten Bibelforschern. Durch alles ging er hindurch, ein rastloser Wanderer. Er unterzog sich stets der Mühe, in eine Zeiterscheinung gründlich und ohne Vorurteile einzudringen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dann ging er weiter. War er in ein ernsthaftes Gespräch über einen Gegenstand verwickelt, so vergaß er Ort und Zeit. Er fiel die Menschen geradezu an, um mit ihnen Probleme zu verhandeln, ihre Anschauungen zu hören. Mit Konrad hatte er Nächte hindurch diskutiert. So waren alle Freunde einverstanden, den Vortrag des tiefen, ernsten, wenn auch etwas absonderlichen Menschen anzuhören. „Wann soll es sein?"
„Am nächsten Sonntag, vormittags 10 Uhr, im alten Saal der Kaufmannsgilde."
Wie verabredet waren alle am nächsten Sonntag rechtzeitig zur Stelle. Der Saal der Kaufmannsgilde war ein auserwählter Raum. Er hatte im achtzehnten Jahrhundert als Börse gedient und gehörte zu den wenigen schönen Resten aus der Vergangenheit, welche die Stadt besaß.
Der besonderen Art seines Wesens entsprechend, hatte Fischer nur einen geschlossenen Kreis von etwa fünfzig Personen geladen. Er hatte ihn schon öfters hier versammelt. Es war ihm stets gelungen, der Aussprache den Charakter eines rückhaltlosen, aber zugleich rein sachlichen Meinungsaustausches zu geben. Der Wille zu gegenseitigem Verstehen war stets gewahrt worden. Die Teilnehmer gehörten den verschiedensten Klassen und Berufen an. Einige akademische Lehrer und eine Anzahl Studenten vertraten die Universität. Lehrer an höheren Schulen und an Volksschulen waren ebenfalls anwesend. Ferner ein Arzt, ein Rechtsanwalt, mehrere Geistliche, zwei Lehrerinnen für rhythmische Gymnastik und endlich eine beträchtliche Zahl jener geistig fortgeschrittenen, intellektualisierten Arbeiter, wie sie heute in jeder Großstadt zu finden sind.
Die Zuhörer saßen in drei konzentrischen Halbkreisen, deren Mittelpunkt der Platz des Vortragenden bildete. Ein Pult war nicht errichtet. Vielmehr nahm Ernst Fischer an einem behangenen Tische Platz, auf dem eine Anzahl Bücher aufgestapelt waren. Sein hohes ernstes Gesicht war von den scharfen braunen Augen und der zwar schmalen, aber stark hervorspringenden Nase beherrscht. Es trug die Spuren unablässiger Geistesarbeit. Heute war es blasser noch als sonst. Mit seinen hohlen Wangen, den düsteren Augen und den blutlosen Lippen sah es aus, als ob der Tod es gezeichnet habe.
„Freunde", begann er. „Ich habe Sie zu einer Aussprache eingeladen. Ich will mit Ihnen — nach Wahrheit suchen"
---es war, als ob ein sonderbares Lächeln seine Lippen
umspielte — — — „und behalte mir nur die Leitung der Aussprache vor. Ich werde Ihnen nur einige grundlegende Gedanken an Hand einiger Zitate von Marx entwickeln. Dann bitte ich, mit der Aussprache einzusetzen. Kurze Zwischenfragen bin ich auch während meiner grundlegenden Ausführungen zu beantworten bereit. Sind Sie einverstanden?" Niemand widersprach.
„Mein Vorschlag ist angenommen. Sie werden mir erlauben, ganz elementar vorzugehen, denn ich spreche hier nicht für ein gelehrtes Publikum, sondern für einen bunt zusammengesetzten Kreis, bei dem ich---den Ertrag meines
geistigen Strebens hinterlegen will."---
Es war, als ließen Ton und Art seiner Sprache im Gefühl seiner Zuhörer etwas gerinnen. „Er ist so verändert", flüsterte Walter Konrad zu. Dieser nickte und sah den Redner unverwandt mit besorgtem Blick an.
„Insbesondere ist es mir wertvoll", fuhr Fischer fort, „mich mit den anwesenden Arbeitern auseinanderzusetzen. Ihnen gilt diese Aussprache in erster Linie. Ich bitte Sie,
sich lebhaft zu beteiligen, auch wenn Sie einmal des Wortes nicht ganz mächtig sind. Das sind Äußerlichkeiten." —
Er winkte einem Studenten. „Ich lege unserer Aussprache einige Stellen aus den Werken von Marx zugrunde. Ich habe sie vervielfältigen lassen, damit die weniger Eingelesenen unter Ihnen die Worte vor Augen haben." Der Student trat herzu, nahm ihm ein Paket schreibmaschinengeschriebener Blätter ab und verteilte sie unter die Anwesenden.
„Ich beginne mit einem kurzen Satz, den auch die weniger Geschulten bewältigen können. Er enthält das Wesentlichste. Sie finden ihn im 18. Brumaire des Louis Bonaparte auf S. 34 der Dietzschen Ausgabe von 1922.
,Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen." Fischer gönnte den Anwesenden einen Augenblick Zeit zum Überdenken des Textes.
„Sie finden hier bereits", fuhr er dann fort, „die einseitige Abhängigkeit des geistigen Lebens von den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihrerseits wiederum von ihren materiellen Grundlagen bedingt werden. — Etwas breiter ist dieser Gedanke in den beiden bekannten Stellen ausgedrückt, die Sie in dem Buch ,Das Elend der Philosophie' auf S. 91 der Dietzschen Ausgabe von 1921 und in der Vorrede ,Zur Kritik der politischen Ökonomie' finden. Beide Auszüge sind in ihren Händen. Ich verlese sie:
,Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Ver­änderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Ge-
Seilschaft mit Feudalherrn, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen.
Somit sind diese Ideen, diese Kategorien, ebenso wenig ewig, als die Verhältnisse, die sie ausdrücken. Sie sind historische, vergängliche, vorübergehende Produkte.'
Das Zitat aus dem Vorwort des Werkes ,Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859', zitiert nach der Ausgabe von Kautsky, Berlin (Dietz) 1924, S. LV, lautet:
,In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.'"
Einer der Anwesenden meldete sich. Es war ein jüngerer evangelischer Theologieprofessor, Angehöriger der sozialdemokratischen Partei. Er war — von Amthor abgesehen — der einzige Teilnehmer in der Versammlung, den Ernst Fischer zu fürchten hatte. Aus seinem stark durchgearbeiteten Gesicht, dessen Augen durch scharfe Brillengläser blickten, sprachen Geist und Verstand. Die Ruhe seines Wesens — wiewohl durch ständiges, leises, nervöses Vibrieren durchkreuzt — bewies Güte und Überlegenheit zugleich. Er diskutierte nie in den gewöhnlichen Formen der akademischen
Polemik. Seine Absicht blieb vielmehr stets auf Verstehen und Verstandenwerden gerichtet. Er galt — weit über Deutschlands Grenzen hinaus — als einer der bedeutendsten Köpfe der gelehrten Welt. In der Partei war er unbekannt.
„Verehrter Freund", begann er. „Sie schlagen mit der Häufung Marxscher Zitate ein Verfahren ein, gegen das ich von vornherein die ernstesten methodischen Bedenken anmelden möchte ..."
„Was meenen Se damit?" rief Emil nicht eben höflich dazwischen.
Der Theologe unterdrückte ein kleines Lächeln. „Ich meine", sagte er höflich zu Emil gewandt, „dass man so grundlegende Dinge bei Marx aus dem Ganzen seines Lebenswerkes beurteilen soll, nicht aus einem Bukett von Zitaten."
„Ich danke Ihnen", erwiderte Ernst Fischer, „dass Sie mir gleich zu Beginn Anlass geben, mich über diese Frage auszusprechen. Ich muss Ihnen natürlich in gewissem Sinne recht geben. Dass mein eignes Urteil nicht in dieser Weise fundiert ist, werden Sie mir ohne weiteres glauben."
Der Theologe nickte.
„Wenn ich heute diesen Weg einschlage, so bin ich insofern vor meinem eignen wissenschaftlichen Gewissen gesichert, dass ich die einzelnen Stellen auf das sorgfältigste unter dem Gesichtspunkt ausgewählt habe, inwieweit sie der Gesamthaltung von Marx entsprechen.
Überdies lässt uns Marx, indem er jede systematische Darstellung seiner eignen grundlegenden Gedanken vermeidet, für eine Aussprache wie diese, der enge Grenzen gezogen sind, kaum einen andern Weg übrig. Über den ,Geist' des ,Kapital' zu diskutieren, würde wohl uns beiden nicht zweckdienlich erscheinen."
Der Theologe bestätigte.
„Ich stelle also alle folgenden Ausführungen unter den Vorbehalt, dass eine Zusammenstellung, wie ich sie bringe, sich nur auf dem Grunde umfassender Studien des wissenschaftlichen Gesamtwerkes von Marx rechtfertigt und den Willen zu größtmöglicher Objektivität fordert."
Sein Kritiker machte eine zustimmende Geste. „Haste das kapiert?" fragte Emil den neben ihm sitzenden Otto leise.
„Natürlich! Halt's Maul!"
„Ich versuche nunmehr", nahm Fischer den Faden wieder auf, „die Beziehung der verlesenen Marxworte auf mein Thema herzustellen. Es handelt sich für uns um die Frage nach der Art des Zusammenhangs, der zwischen den Tatsachen des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lebens und denen des geistigen Lebens besteht.'
Man hat, verehrte Freunde, den strengen Sinn der angeführten Marxworte zu verwässern gesucht."
„Allerdings", bestätigte ein sozialistischer Redakteur.
„Man hat ihn darauf eingeschränkt, dass Marx die Bedeutung der ökonomischen Verhältnisse für alles gesellschaftliche Leben und damit für alles geistige Leben betont habe. Also eingeschränkt, verlieren die Aussagen von Marx jeden Eigensinn. Sie vertragen sich dann mit beinahe jeder Philosophie, mit beinahe jeder Soziologie. Denn niemand von uns wird die Bedeutung der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verhältnisse für die Formen des geistigen Lebens bestreiten wollen. Dem Sinn der Marxschen Auffassung wird man mit solcher Auslegung nicht gerecht. Das Entscheidende ist bei Marx nicht die Abhängigkeit des Geistigen von dem, was er den materiellen Lebensprozess nennt, sondern die einseitige Abhängigkeit."
„Sehr gut!" rief ein Volksschullehrer.
„Es gibt bei Marx nicht eine gleichwertige Wechselwirkung zwischen den Erscheinungen des geistigen Lebens und dem materiellen Lebensprozess, sondern das Geistige ist einseitig an das Wirtschaftlich-Gesellschaftliche gebunden. Es ist sozusagen eine Nebenwirkung."
Ein Arbeiter meldete sich. „Herr Doktor, ich glaube doch, Marx hat nicht verkannt, dass die Ideen auf das gesellschaftliche Leben zurückwirken."
„Sie haben durchaus recht. Aber diese Rückwirkung ist eben Rückwirkung, d. h. sie ist der Rückprall eines geworfenen Balles auf seinen Ausgangspunkt, von dem aus er seinen Antrieb empfing. Sie ist nie selbständige Eigenwirkung. Auf das Wort eigen muss der Ton gelegt werden. Das Geistige hat nach Marx keine Eigenständigkeit, keine Eigengesetzlichkeit, keine Eigenwirkung. Es ist Widerschein, Reflex, Illusion. Es ist im Urteil von Marx irreal, sofern er ihm das andere als real entgegensetzt.
„Nach den Darlegungen der Grundlinie versuche ich nunmehr einzelne Punkte dieser Linie noch im besonderen zu klären. Ich frage zunächst: Welcher Art ist nach Marx der Zusammenhang zwischen der ,materiellen Existenz' und der ,geistigen Produktion?' Sie finden auf diese Frage bei Marx keine eindeutige Antwort. Aus gutem Grunde. Marx lehnte es ab, eine Philosophie zu schreiben. Er lehnte es ab, diese Frage losgelöst von bestimmten, konkreten Verhältnissen zu behandeln. Er hat sie nur gestreift. Seine Ausdrücke über die Art des Zusammenhangs von materieller Existenz und geistiger Produktion tragen unbestimmten Charakter. Er braucht entweder Bilder, so das angeführte von Ober- und Unterbau, so das ebenfalls angeführte, das in dem Worte ,entquellend' liegt. Oder er spricht von ,bedingt, bestimmt'. Er nennt die Ideen ,die Erzeugnisse der gesellschaftlichen Verhältnisse'. Oder er fasst es in die bekannte Formel im Vorwort zur zweiten Auflage des ,Kapital': ,Das Ideelle ist nichts anderes, als das im Menschenkopfe umgesetzte und übersetzte Materielle'.
Diesen mehrdeutigen Ausdrücken, deren Bedeutung nirgends wissenschaftlich präzisiert ist, kann mancherlei Sinn beigemessen werden. Doch wir kommen mit den Ausdeutungen nicht vorwärts. Marx hat gewusst, warum er den Ton nicht auf die wissenschaftliche Präzisierung dieses Sachverhaltes legte.
Er hatte dafür zunächst einen methodischen Grund. Er hielt es für unfruchtbar, diese Dinge auf die Ebene der
philosophischen Untersuchung zu bringen. Er wollte sie von der Ebene der konkreten soziologischen Untersuchung aus behandelt sehen. Er sagt darüber in den ,Theorien über den Mehrwert' I, 381, Ausgabe Dietz 1919:
,Um den Zusammenhang zwischen der geistigen Produktion und der materiellen zu betrachten, ist vor allem nötig, die letztere selbst nicht als allgemeine Kategorie (Anm.: Als allgemeinen Begriff.), sondern in bestimmter historischer Form zu fassen. Also zum Beispiel: Der kapitalistischen Produktionsweise, entspricht eine andere Art der geistigen Produktion, als der mittelalterlichen Produktionsweise. Wird die materielle Produktion selbst nicht in ihrer spezifischen Form gefasst, so ist es unmöglich, das Bestimmte an der ihr entsprechenden geistigen Produktion und der Wechselwirkung beider aufzufassen.'
Sodann verzichtete Marx auf eine ausführliche Beantwortung dieser Frage, weil sie ihm nicht wesentlich war. Es kommt ihm nicht auf das Besondere der Verknüpfung von materieller und geistiger Produktion an. Seine Grundauffassung zielt darauf nicht ab. Sie zielt nur darauf ab, das Geistige des selbständigen Daseins zu entkleiden. Es genügt für Marx die Feststellung, dass das Geistige nur der Ausdruck konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse ist, dass die Idee nur der theoretische Ausdruck von Produktionsverhältnissen ist, nur die besondere Form ist, in der ein bestimmtes Produktionsverhältnis erscheint. Die Art der Verknüpfung kümmert ihn nicht so sehr."
Ernst Fischer pausierte einen Augenblick. „Hat jemand von Ihnen zu diesen Ausführungen eine Rückfrage??" Alles schwieg.
„Eine zweite Spezialfrage, die geklärt werden muss, ist diese: Meint Marx wirklich das Geistige überhaupt, oder meint er vielleicht nur seine jeweilige historische Form, wenn er ihm die selbständige Existenz abspricht? Marx hat die
Frage im Kommunistischen Manifest selbst gestellt und beantwortet. Sie finden Sie auf ihren Blättern, Ausgabe des ,Vorwärts' von 1918, S. 43. Ich lese sie vor:
,Aber, wird man sagen, religiöse, moralische, philosophische, politische, rechtliche Ideen usw. modifizierten sich allerdings im Laufe der geschichtlichen Entwicklung. Die Religion, die Moral, die Philosophie, die Politik, das Recht erhielten sich stets in diesem Wechsel.
Es gibt zudem ewige Wahrheiten, wie Freiheit, Gerechtigkeit usw., die allen gesellschaftlichen Zuständen gemeinsam sind. Der Kommunismus aber schafft die ewigen Wahrheiten ab, er schafft die Religion ab, die Moral, statt sie neu zu gestalten, er widerspricht also allen bisherigen geschichtlichen Entwicklungen.
Worauf reduziert sich diese Anklage? Die Geschichte der ganzen bisherigen Gesellschaft bewegte sich in Klassengegensätzen, die in verschiedenen Epochen gestaltet waren.
Welche Form sie aber auch immer angenommen, die Ausbeutung des einen Teils der Gesellschaft durch den andern ist eine allen vergangenen Jahrhunderten gemeinsame Tatsache. Kein Wunder daher, dass das gesellschaftliche Bewusstsein aller Jahrhunderte, aller Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zum Trotz, in gewissen gemeinsamen Formen sich bewegt, in Bewusstseinsformen, die nur mit dem gänzlichen Verschwinden des Klassengegensatzes sich vollständig auflösen.'" „Bravo!" rief ein Arbeiter.
„Wenn ich die Gedanken der letzten Absätze noch einmal zusammenfassen darf, so ergibt sich dieses: Das Vorhandensein von Religion, Moral, Recht usw. in den verschiedensten Zeitaltern beweist nach Marx nicht, dass es Recht, Moral, Religion als dauernde oder gar ewige Kategorien gibt. Es erklärt sich vielmehr aus der Tatsache, dass alle diese Gesellschaftsformen ein Gemeinsames hatten: den Klassengegensatz. Daher müssen sie auch Gemeinsamkeiten des geistigen Prozesses aufweisen.
Sollte hinsichtlich des Urteils von Marx über den geistigen Lebensprozess noch irgendein Zweifel bestehen, so verweise ich auf die Haltung von Karl Marx gegenüber derjenigen Kategorie, die am ersten als ,ewige' angesprochen worden ist, gegenüber der Religion. Ich verlese einige Kernstellen":
Halblaute Worte wachsenden Interesses rieselten durch die anwesende Arbeiterschaft. Man blickte den Redner gespannt an.
„Ich bringe zunächst die bekannten Stellen aus dem Aufsatz: ,Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie' (Nachlass, I, S. 384 f.).
,Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.'" „Sehr richtig!"
",Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat.'" „Sehr gut!"
„,Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glückes des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glückes. Die Forderung, die Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.'" „Stimmt."
„,Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte, wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, so lange er sich nicht um sich selbst bewegt.'"
Vornübergebeugt, in gespannter Aufmerksamkeit hörten die Arbeiter zu.
„Ich erinnere ferner an die bekannten Worte aus dem Kapitel I, S. 46 und 585:
,Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtige vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen.' Ich mache darauf aufmerksam, wie hier wieder indirekt die religiöse Welt als unwirklich bezeichnet wird." „Is sie ja auch!!"
„,Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht.'" Spontan brach der Beifall der Arbeiter durch. Sie klatschten begeistert. Ernst Fischer ignorierte es.
„Wir stellen endlich noch die Frage, die der heutigen Philosophie besonders wichtig erscheint: Legt Marx den Erscheinungen des geistigen Lebens einen Wert bei? — Mit den eindeutigen Feststellungen, die bisher gemacht wurden, scheint diese Frage bereits beantwortet. Dinge, die kein Eigenleben haben, können keinen eignen Wert besitzen. Auch den Gedanken lehnt Marx ab, dass die fortschreitende Entwicklung des materiellen Lebensprozesses etwa die Entfaltung des Geistigen auf neuer, höherer Ebene ermögliche, so dass wenigstens im Laufe der Geschichte eine Steigerung der Werte wahrzunehmen sei. Er sagt darüber:
,Da der Denkprozess selbst aus den Verhältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozess ist, so kann das wirklich begreifende Denken immer nur dasselbe sein und nur graduell nach der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird, sich unterscheiden.' (Neue Zeit, XX, 2, 222.)
Das bedeutet: Der geistige Lebensprozess ist auf fortgeschrittener Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zwar differenzierter, aber nicht in seinem Wert erhöht. Dieses Wort ist um so bemerkenswerter, als Marx dem Denkprozess noch die relativ größte Bedeutung beimisst. Er kennt und betont den Unterschied von wahr und falsch. Er erkennt also, um in der Sprache der heutigen Wissenschaft zu sprechen, die Erkenntniswerte an. ja, er betont ihre Bedeutung auf das Nachdrücklichste. Das richtige und das falsche Bewusstsein ist in seiner Lehre von entscheidender Bedeutung. Gerade den Arbeitern unter ihnen wird das deutlich sein. Das Klassenbewusstsein ist es, das Marx wecken will. Das Bürgertum kann nach seiner Auffassung zu dem wahren Bewusstsein nicht mehr durchdringen. Seine gesellschaftliche Lage zwingt es in einen unaufhebbaren Zwiespalt von Handeln und Ideologie. Dem Arbeiter allein ist durch seine gesellschaftliche Lage das richtige Bewusstsein zugänglich. Dies Bewusstsein zu wecken war, wie Sie alle wissen, für Marx die Grundforderung. Er hoffte den Auflösungsprozess der kapitalistischen Gesellschaft auf diesem Wege zu beschleunigen. Ich brauche diese Behauptung wohl nicht zu belegen. Sie wird nicht auf Widerstand stoßen.
Verehrte Freunde, ich bin mit der ersten Hälfte meiner Ausführungen zu Ende. Ich stelle das Gesagte zur Diskussion. Wer von Ihnen will dazu sprechen?"

*

Ein Arbeiter meldete sich. „Ich möchte nur dem Herrn Doktor meinen Dank für seine Darlegungen aussprechen. Das musste einmal so klar und unwiderleglich gesagt werden. Es ist von höchster Wichtigkeit für die Arbeiterschaft, zu wissen, dass Marx nicht nur allen religiösen Spuk ablehnt, sondern alle Ideen nur als Erzeugnisse bestimmter Produktionsverhältnisse gelten lässt. Man liest das wohl in den Zeitungen. Aber der Arbeiter kann das nicht selbst in den Werken von Marx nachprüfen. Darum ist es sehr wertvoll für ihn, wenn es einmal so zusammengestellt wird."
Nun folgte ein Universitätsprofessor. Es war ein Mann mit eigentümlicher Physiognomie. Die gewaltige Stirn, durch eine Glatze betont, machte von ferne gesehen einen imponierenden Eindruck. Sobald man aber das Gesicht näher musterte, ergab sich eine merkwürdige Leere, auf der Ausdruckslosigkeit der Nase, den nichts sagenden Augen und der völligen Ungegliedertheit der Kopfmasse beruhend. In diesem seltsamen Widerspiel von Unbedeutendheit und Wucht kam der zwiespältige Charakter des Nachfahren zum Ausdruck. Er war der Sohn eines namhaften Gelehrten. Doch er hatte vom Vater nur die äußere Anlage zu starker Entfaltung der Gehirnmasse geerbt. Der beseelende Funke fehlte. Seine Stellung an der Universität verdankte er, wie so viele seinesgleichen, nicht seinen wissenschaftlichen Leistungen — sie erreichten nur eben einen bescheidenen Durchschnitt —, sondern der Tatsache, dass er der Sohn seines Vaters und daher von früh auf in den akademischen Kreisen eingeführt war. Er vertrat das Fach: Kulturphilosophie.
„Meine Damen und Herren!", begann er. „Die Ausführungen meines verehrten Kollegen Fischer" — er machte eine huldreiche Geste — „waren in sich so schlüssig, dass sie kaum anzufechten sein dürften. Der Marxismus erscheint danach als ein in sich geschlossenes System von völliger ......Geschlossenheit......ich wollte sagen ... Unangreifbarkeit. Ich will daher die Ausführungen unseres verehrten Herrn Referenten nicht in ihren Einzelheiten kritisieren. Das System als Ganzes aber ist ohne weiteres zu widerlegen ..." „Oho!"
„Und zwar von der Ebene der heutigen Kulturphilosophie aus, die mit zuvertreten ich die Ehre habe. Meine Damen und Herren! Die moderne Kulturphilosophie hat sich von der Vorstellung befreit, als ob ein Kultursystem (Anm.: Etwa durch Kulturgebiet zu ersetzen.), sei es Wissenschaft, sei es Staat, sei es Religion oder Wirtschaft, die Basis unsres kulturellen Lebens bilden kann. Sie sieht das kulturelle Leben vielmehr als eine Entität (Anm.: Ganzheit.), deren Komponenten in der Weise der Gestalt zusammenwirken. Sie  wissen,   welche  wachsende  Bedeutung  die  Gestalttheorie in — ich darf sagen — allen Wissenschaften gewinnt, von den Naturwissenschaften über die Psychologie in die Geisteswissenschaften hinein. Einer solchen Grundauffassung ist es unmöglich, die einzelnen Kultursysteme in jener Stufenleiter zu sehen, die der Herr Vortragende als charakteristisch für den Marxismus bezeichnete. Geistesgeschichtlich gesehen, bedeutet der Marxismus die Antithese zu einer idealistischen Philosophie, welche die Stufenfolge umgekehrt sah. Wir sind heute über These und Antithese hinaus und müssen von unserem Standpunkt aus jede Kulturphilosophie ablehnen, die nicht auf dem Prinzip der Gestalt aufbaut. Bei der gewiss noch großen Zahl der nachfolgenden Redner will ich es bei diesen grundsätzlichen Andeutungen bewenden lassen." Er wischte sich die Stirn und nahm mit Wucht seinen Platz ein.
Schon während seiner Ausführungen hatte sich der Redakteur eines sozialdemokratischen Blattes gemeldet, ein untersetzter, kräftiger Mann mit hoher Stirn und kleinen scharfen Augen.
„Genossen und Genossinnen!" begann er mit dem Brustton des berufsmäßigen Versammlungsredners. Ernst Fischer machte eine kleine Handbewegung.
„Verehrte Anwesende!" korrigierte er sich. „Wenn der Herr Professor meint, Marx leicht widerlegen zu können, so kann ich den Herrn Professor noch sehr viel leichter widerlegen."
„Bravo!" rief ein Arbeiter.
Einige Studenten lächelten.
„Wir lehnen die heutige bürgerliche Wissenschaft im Ganzen, damit also auch die Gestaltlehre des Herrn Professors, ab."
„Warum die heutige und nicht die ältere?" rief einer.
„Das wollte ich eben sagen. Wir wissen wohl, dass Marx vieles der Wissenschaft seiner Zeit entnommen hat. Das ficht uns nicht an. Denn damals war das Bürgertum noch eine lebendige, revolutionäre Klasse. Es hatte noch etwas zu
geben. Und wenn Marx seiner zeitgenössischen Wissenschaft etwas entnahm, so wusste er, was er tat. Das heutige Bürgertum dagegen ist derart zersetzt, dass der Klassenbewusste Proletarier ihm nichts mehr entnehmen kann." „Einstein!"
„Die Naturwissenschaften nehme ich aus." „Freud!"
„Sie wissen, dass die Psychologie zu den Naturwissenschaften gehört."
„Das glaubte man vor zwanzig Jahren!"
„Was der Herr Professor uns da aber über Kulturphilosophie aufgetischt hat, das ist ein so leeres Zeug ..."
„Sehr richtig!" bei den Arbeitern.
„dass sich ein näheres Eingehen darauf erübrigt."
Die anwesenden Arbeiter zollten demonstrativ Beifall.
„Ich bitte, in der Aussprache derartige Werturteile zu vermeiden", sagte Ernst Fischer.
Als nächster Redner sprach Walter. Er war der einzige unter den anwesenden Arbeitern, der Ernst Fischers Ausführungen ablehnte. Er focht die Darstellung von Fischer als einseitig an, indem er sich auf die späteren Erläuterungen von Engels berief.
„Ich bitte Sie, Engels aus der Diskussion auszuschalten", entgegnete Ernst Fischer. „Bei aller Verehrung, die ich für Engels empfinde, muss ich doch betonen, dass ihm die Strenge der Marxschen Gedankenführung fehlt. Die Auseinandersetzung mit ihm ist daher geeignet, jene Verwirrung in die Aussprache zu tragen, die ich vermeiden möchte."
Noch einmal nahm der Theologieprofessor das Wort: „Auch ich glaube", begann er, „dass der Marx, den unser Freund Fischer uns gezeichnet hat, von der Ebene irgendeiner heutigen wissenschaftlichen Position aus nicht zu überwinden ist."
„Sehr richtig!" bei den Arbeitern.
„Eine andre Frage ist die, ob die Lehren von Karl Marx in der Tat die Schlussfolgerungen zwingend machen, die der Redner zog. Ich muss noch einmal auf meinen vorhin gemachten Einwand zurückkommen. In ihrer Isolierung genommen sind die zitierten Stellen allerdings zwingend. Im Zusammenhang aber mit der marxistischen Dialektik gewinnen sie ein anderes Aussehen. Wie Sie wissen, gehört für Marx jederzeit These und Antithese zusammen. Nicht durch die einfache Preisgabe der These vollzieht sich der geschichtliche Fortgang, sondern durch die Überwindung in einem Dritten. Marx' eigne Lehre ist nur die Antithese zu eben jener bürgerlichen Ideologie, die er in ein Nichts glaubte zusammenschlagen zu können. Diese seine einseitige Haltung ist für ihn als Vertreter eines neuen Systems notwendig, — als Dialektiker aber braucht er beides, die These wie die Antithese. Sofern er seiner eignen Lehre irgendwelche Bedeutung zuschreibt — und dass er das tut, wird niemand bestreiten —, kann er ihr Gegenstück nicht einfach in einen Schemen verwandeln, sondern muss ihm soviel Realität zubilligen, als er für sich selbst in Anspruch nimmt.
Sodann ein zweites: Zwar lehnt Marx, der Wissenschaftler, die eigenständige Bedeutung der Idee ab. Das steht außer Zweifel. Als Vorkämpfer der Arbeiterbewegung aber hebt er diese Lehre selbst auf. Er verwirklicht jene hohe sittliche Kraft, die nur aus dem Urgrund jenseits aller Endlichkeit von Raum und Zeit zu ziehen ist, wo sich aller Relativismus selbst aufhebt. Und es liegt in der Abgründigkeit dieser seiner letzten Tiefen ..."
„Das verstehen wir nicht", rief ein Arbeiter.
„Wollen Sie damit die Religion hintenherum wieder einführen?" ein anderer.
„Ich sehe ein, dass ich auf Formulierungen hinauskomme, die hier nicht am Platze sind", erwiderte der Theologe ruhig und sachlich. „Ich glaube auch das Wesentliche von dem, was ich sagen wollte, wenigstens soweit angedeutet zu haben, dass der Redner mich verstanden haben wird und in seinem Schlusswort darauf eingehen kann."
„Ich bedaure lebhaft", nahm Ernst Fischer zur Erwiderung das Wort, „mich mit den Darlegungen des Herrn Professors im Rahmen dieser Aussprache nicht hinreichend auseinandersetzen zu können. Allerdings erledigt sich für mich die zweite Hälfte seiner Ausführungen verhältnismäßig einfach dadurch, dass meine ganzen Ausführungen nur Marx, dem Wissenschaftler, galten, nicht dem Politiker. In dieser Einschränkung aber, die ich nicht willkürlich mache, sondern für unerlässlich halte, wofern man zu Marx, dem Theoretiker, vordringen will" — der Theologe nickte — „muss ich für die dargelegten Gedanken strengste Gültigkeit beanspruchen.
Schwieriger ist die Auseinandersetzung mit dem ersten Einwand. Mit Einwilligung meines Kritikers stelle ich sie zurück, bis ich zum zweiten Teil der heutigen Aussprache gekommen bin."
„Wie Sie wünschen."
Der nächste Redner verriet den freundlichen Kleinbürger schon in der Erscheinung: Das runde Gesicht, der kleine Spitzbauch mit der Uhrkette aus Double quer darüber gespannt, die Röllchen. „Ich weiß nich, meine verehrten Herrschaften", begann er zutraulich, „ob ooch wohl mal e Gast e Wertchen sagen derfte?" Fischer machte eine zustimmende Geste. — „'s hat mich ausnähmd gefreit, was unser verehrter Herr Vorsitzender iber de Rillgon gesagt hat. Mit dem Schbug muss endlich mal uffgereimt wärrn! Für mich hat das noch ene ganz besondere Bedeitung! Ich bin nämlich der Vorsitzende des Vereins der Terrarium- und Aquariumfreunde ..."
Otto begann Emil auf die Füße zu treten.
„Meine verehrten Herrschaften! Sie ham sich vielleicht noch nich dariber Rechenschaft abgelächt, was so e Aquarium und Terrarium in der Arbeiterfamilie bedeiten gann ..."
„Ich weiß nicht, ob diese Dinge ..." unterbrach Ernst Fischer vorsichtig.
„Gleich, gleich, mein Verehrtester! Sie wärrn gleich sähn.
Ich behaupte nämlich, meine verehrten Herrschaften--
'e Aquarium oder Terrarium ist der beste nadirlichste Weech für de geschlechtliche Uffklärung, von der heide so viel de Räde is." Ernst Fischer gab Zeichen wachsender Ungeduld. „Gleich, mein verehrter Herr Fischer, gleich!!" Er setzte sich in Positur und nahm die Uhrkette zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. „Sähn Se, in so e Aquarium oder Terrarium, da kenn unsre Kinner den nadirlichen Vorgang der Befruchtung harmlos beobachten. Und dann wird der rilljöse Schbug von selber en Ende ham!! Das warsch, worauf ich Linaus wollde, Herr Vorsitzender. Darum, verehrte Anwesende, beherzigen Sie meine Mahnung: In jede Arbeiterwohnung e Aquarium! In jeden Schrewergarten e Terrarium!!"
Ein fröhliches Geriesel ging durch die Reihen. Bei den Studenten war plötzlich eine Hustenepidemie ausgebrochen. Selbst Fischers ernste Miene löste sich einen Augenblick.
Dann sprach Alexa Brand. „Ich bin dem Vortragenden überaus dankbar für seine klaren Darlegungen. Diese einfachen Sachverhalte sollten dem Arbeiter bei jeder Gelegenheit eingeprägt werden.
„Sehr richtig!"
Um die schmalen Lippen von Ernst Fischer spielte ein seltsames Lächeln.
„Ich möchte ihn bitten, diese Kernworte zusammenzustellen und für den Arbeiter herauszugeben ..." „Sehr gut!"
„Versehen vielleicht mit ein paar erläuternden Noten, die freilich", fügte sie mit ironischem Blick auf den Theologen hinzu, „nicht mit irgendwelchen Ideologien behaftet werden dürfen."
„Bravo", riefen die Arbeiter.
Es folgte ein protestantischer Pfarrer, ein Mann mit buschigen Augenbrauen und langem schwarzen Vollbart.
Mit seelsorgerischer Eindringlichkeit wandte er sich an Ernst Fischer. „Ich bin Ihren Ausführungen, verehrter Herr Doktor, mit lebhaftem Interesse gefolgt. Sie gewährten mir Einblicke völlig neuer Art. Denn die Kämpfe dieser Welt reichen selten in den stillen Frieden unserer in ihrem Erlöser verbundenen Gemeinde. Darum verstehe ich sie auch nicht ganz ..."
„So siehste aus", feixte Adolf halblaut.
„Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Karl Marx in eine so furchtbare Entfremdung von seinem Gotte geraten konnte." Er sah mit großen Augen rundum. „Wenn ich an das Leben in unsrer Gemeinde denke — da gibt es keine sozialen Gegensätze!"
„Weil ihr alle Kleinbürger seid!"
„O nein, meine teuren Zuhörer! Glauben Sie mir! Wir sind durch die Liebe Christi wie ein Leib mit vielen Gliedern! Staunend stehe ich dieser Welt gegenüber, die das Evangelium Jesu verloren hat und in solchen Krämpfen sich windet----"
Schon erhob sich ein sozialistischer Gymnasiallehrer, ein großer, breiter, fetter Mann, auf dessem runden Gesicht mit den kleinen, munteren Äuglein stets der Glanz der Selbstzufriedenheit lag. Der Pastor setzte sich erschrocken.
„Wenn Sie wüssten, Verehrtester, wie unmittelbar Sie Karl Marx, dessen Grundgedanken uns der Vortragende so ausgezeichnet dargelegt hat, bestätigen!"
„Sehr gut!"
„Ihre Worte sind, wie Ihnen schon mit Recht gesagt wurde, nichts weiter als der Ausdruck Ihrer kleinbürgerlichen Existenz ..."
„Sehr richtig!" „Ausgezeichnet!"
„Genau so wie — um ein anderes Beispiel zu nehmen — der kategorische Imperativ Kants unmittelbar aus der Enge seiner dürftigen preußisch-professoralen Existenz zu erklären ist..." Die Arbeiter klatschten Beifall. „Ich werde Ihnen das gleich beweisen ..."
„Sie verzeihen", unterbrach Ernst Fischer. „Wir wollen die Debatte nicht auf dieses Niveau sinken lassen! Wenn wir anfangen, den einzelnen Menschen mit seinen Ansichten aus seiner Klassenzugehörigkeit erklären zu wollen, so geraten wir unter den Nullpunkt. Ein derartiges Verfahren ist plattester Vulgärmarxismus und zudem in seinen persönlichen Wirkungen eine Brunnenvergiftung." Er hatte heftiger gesprochen. Sein ganzes Wesen vibrierte.
„Na erlooben Se mal! Das verbitt'ch mer denn doch!" rief der Gymnasialprofessor entrüstet. Er zog es indessen vor, sich hinzusetzen — wenn auch mit dem ganzen Nachdruck, den seine Breite ihm verlieh.
„Sind die Anwesenden einverstanden, dass wir den ersten Teil unserer Aussprache abschließen?" fragte Ernst Fischer. Ein einstimmiges Ja war die Antwort.
„Wir sind uns darüber klar geworden", fuhr Fischer fort, „dass Karl Marx alles Geistige nur als Folgeerscheinung des materiellen Lebensprozesses ansieht, wobei die Art der Verknüpfung ungeklärt bleibt. Das Entscheidende ist, dass das Geistige kein Eigenleben, keine Eigengesetzlichkeit, keine Eigenständigkeit hat."
„Sehr richtig", bestätigte ein Arbeiter.
„Wenn ich die anwesenden Arbeiter richtig verstanden habe, so stimmen sie — mit ein oder zwei Ausnahmen — dieser Auffassung vorbehaltlos zu."
„Jawoll!" „Sehr richtig!" „Stimmt!" — tönte es von allen Seiten. Der protestantische Pfarrer schüttelte in tiefer Bekümmernis den Kopf.
„Anders gewendet: Die gesamte Ideenwelt eines Zeitalters ist nicht eine selbständig wirkende Kraft, die das gesellschaftliche Sein bestimmen könnte" — „Sehr richtig!" — „vielmehr bestimmt das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein ..."
„Sehr richtig!" „Sehr gut!" „Stimmt!" „Wobei Marx nicht verkennt, dass Rückwirkungen von den einmal gebildeten  Ideen  auf  den gesellschaftlichen
Lebensprozess stattfinden. Insbesondere gilt ihm das für den Erkenntnisvorgang."
„Sehr richtig!" „Wissen ist Macht!"
„Sind Sie ferner einverstanden, dass ich mich ganz und gar an Marx, den Wissenschaftler, halte! Von dem sozialen Propheten sehen wir ab, nicht wahr?"
„Selbstverständlich!" „Der Sozialismus geht immer mit der modernen Wissenschaft!" „Die alten Propheten sind tot, und die neuen taugen nischt."
„So ziehe ich denn aus diesen Thesen, die Sie" — zu den Arbeitern — „restlos anerkannt haben, die Konsequenzen."

*

Ernst Fischer war aufgestanden. Seine schmale Gestalt reckte sich hoch auf. Düster glomm das Feuer seiner Augen; sein Antlitz war kreidebleich. Er sprach langsam, ruhig, in äußerster Selbstbeherrschung, jede Silbe betonend. Die Arbeiter blickten in zuversichtlicher Erwartung zu ihm auf.
„Die erste Konsequenz dieser Lehre ist die Aufhebung von Marx selbst als einer eigenständigen, das gesellschaftliche Sein bestimmenden Größe."
Eine Bewegung ging durch die Versammlung.
„Wir sind gewohnt, ihn als eine Senkrechte im horizontalen Verlauf der Geschichte zu sehen. Diese Geschichtsauffassung widerspricht seiner eignen Grundstellung."
„Natürlich!! Ausgezeichnet, Herr Kollege!!" rief der Kulturphilosoph.
„Ruhe", gab ein Arbeiter zurück.
„Zwar hat Marx anerkannt, dass der einzelne sich über das Niveau seiner Klasse erheben kann. Nach seinen eignen Worten kann ein Bürgerlicher zum theoretischen Verständnis der Arbeiterbewegung vordringen. Niemals aber kann ein gedankliches Gebäude mehr sein als der Ausdruck der jeweiligen Produktionsverhältnisse, also auch sein eigenes nicht"
„Nanu!!----"
„Betrachten wir dieses Lehrgebäude als den Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner eignen Epoche etwas näher! Dann erscheint die einseitige Wertung der Erkenntnisvorgänge als der unmittelbare Ausdruck der frühkapitalistischen Wirtschaft. Rechenhaftigkeit, enge Begrenztheit auf das Nüchterne, Verstandesmäßige, einseitige Überwertung der Wissenschaft — das ist der geistige Widerschein jener gesellschaftlichen Phase. Anders gewandt: Der Gedanke von der Bewusstmachung der Klassenlage ist die angemessene Ideologie jener Epoche, ihr geistiger Überbau, der sich mit der Wandlung des Unterbaus von selbst umwälzt. Wenn Sie Marx mit seinen eignen Maßstäben messen, können Sie zu keiner andern Auffassung kommen. Dann hat Marx für unsere geistige Haltung noch etwa soviel Bedeutung wie die ersten Morseapparate für die moderne drahtlose Telegraphie."
Es war totenstill im Saal geworden.
„Aber lassen wir einmal diese äußerste Konsequenz beiseite! Nehmen wir die innere Gedankenfolge des Systems selbst. Das stärkste, was das Denken vermag, ist nach Marx, sich des Zusammenhangs von Unterbau und Oberbau bewusst zu werden und aus dieser Erkenntnis den gesellschaftlichen Lebensprozess seinen eignen Bedingungen gemäß zu beschleunigen. Darüber hinaus wirkt das Geistige höchstens in der Form verkrusteter Ideologien, deren eine ich soeben zerschlagen muss."
Er hielt einen Augenblick inne.
„Sie können also Karl Marx nie ansprechen als den Mann, dessen Gedankengebäude den Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung durch Auslösung neuer Ideen entscheidend zu wenden vermochte oder vermag."
„Da hört's doch uff!!"
„Es können keine anderen Wirkungen von ihm ausgehen, als die der Erkenntnis und des erkenntnisbestimmten Handelns. Ideen darf man mit seinem Namen nicht in Verbindung bringen. Klassenkampf, Solidarität, klassenlose Gesellschaft sind für ihn gesellschaftliche Tatsachen, nichts sonst. Als Ideen entbehren sie allen Eigenlebens, haben sie keinerlei Realität. Und wenn er den höchsten Zorn seiner sittlichen
Entrüstung schäumen lässt und jene ungeheuren Werturteile fällt, ,Das Kapital kam zur Welt vom Kopf bis zur Zeh aus allen Poren blut- und schmutztriefend', wenn er von ,Ausbeutung', ,Niedertracht', ,infam', ,Vandalismus', ,kleinlich und gehässig' spricht, so ist das alles nichts als der geistige Widerschein jener spannungsreichen Gesellschaft des beginnenden Hochkapitalismus aus den fünfziger und sechziger Jahren. Als sittlicher Wert hat solches Ethos genau soviel Eigenständigkeit, Eigenwert, Eigengesetzlichkeit, wie die Idee der unbefleckten Empfängnis Mariä in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft, oder die lutherische Lehre von der Sündenvergebung im Zeitalter des Übergangs vom Handwerk zur Manufaktur."
„Sehr gut, Herr Kollege", rief der Kulturphilosoph.
„Wenn Sie Marx, den Wissenschaftler, ernst nehmen, können Sie zu keinem andern Resultat kommen. Der Soziologe Marx hebt den Sozialethiker Marx restlos auf. Lassen Sie den Wissenschaftler Marx fallen, so mögen Sie mit dem Bilde des Propheten Marx Ihr Banner schmücken, mit seinen starken Worten Ihre Versammlungen beleben — aber seien Sie sich dann bewusst, dass der Wissenschaftler Marx das alles mit blutigem Hohn zurückweisen müsste."
Wieder pausierte er einen Augenblick. Die Arbeiter starrten ihn entgeistert an.
„Im Vorbeigehen möchte ich bemerken", wandte er sich an den evangelischen Theologieprofessor, „dass in diesen Ausführungen die Antwort auf Ihren Einwand liegt. Nicht beweist die Wirklichkeit der Marxschen Antithese die Wirklichkeit der bürgerlichen These. Die Irrealität beider ist vielmehr die Konsequenz der Lehre von Karl Marx."
„Das können Sie zweifellos auf Grund der Marxschen Theorie sagen", entgegnete der Theologe.
„Die Schlussfolgerungen der Marxschen Grundsätze", fuhr Fischer wieder zur Allgemeinheit gewendet fort, „gehen noch sehr viel weiter. Mit den Lehrsätzen von Karl Marx ist die Bedeutung aller älteren Ideologien für die Arbeiterbewegung aufgehoben. Sie können aus dem Befreiungskampf des Bürgertums keine Ideen für den Befreiungskampf des Proletariats übernehmen, keine! Marx hat das selbst wiederholt ausgesprochen. Er bezeichnet ,Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit und fraternité (Brüderlichkeit)' als ,die Göttinnen der modernen Mythologie'. Bitte, prägen Sie sich das Wort ein, meine verehrten Zuhörer: Die Göttinnen der modernen Mythologie!! Oder Marx schreibt:
,Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Unabhängigkeit... diese mehr oder weniger moralischen Kategorien, die zwar sehr schön klingen, aber in historischen und politischen Fragen nichts beweisen!!! Die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit, die Freiheit usw. mögen tausendmal dies oder jenes verlangen, ist die Sache unmöglich, so geschieht sie nicht und bleibt trotz alledem ein leeres Traumgebilde.' (Nachlass III, 249.)
Bitte, meine verehrten Freunde, nehmen Sie alle diese Urteile in Ihr Bewusstsein auf!! Und wenn Sie in Zukunft den Vers singen ,Die Internationale erkämpft das Menschen-recht' oder die Arbeiter-Marseillaise mit ihren Worten von der Freiheit, vom gleichen Recht, von grünen Hoffnungssaaten und kühnen Taten---------so
versäumen Sie nicht, immer zugleich das Gesicht von Karl Marx zu sehen, wie er Sie mit beißendem Hohn in seinen blitzenden Augen anlächelt: ,Mythologien, meine Herren, Mythologien! Mich haben Sie nicht verstanden!! Oder sofern mich einige von Ihnen verstanden haben sollten, so versagen Ihnen die Nerven. Sie vermögen mich nicht zu ertragen.'"
Die Arbeiter begannen unruhig zu werden.
„Und wenn die Jugend seine Bilder auf ihren Bannern trägt und begeistert ausschreitend die Worte der Aufklärung aus dem achtzehnten Jahrhundert singt: ,Der Mensch ist gut!! Der Mensch ist frei!! Die Welt ist schön', so möge sie wissen, — — — dass Karl Marx darüber herzlich lachen würde: ,Mythologien, ihr guten Kinder!'"
Der Widerstand bei den Arbeitern wuchs.
„Die geistigen Urheber solcher Veranstaltungen fallen unter sein Wort im Briefwechsel mit Engels, IV, 405, ,von der ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doktoren, die dem Sozialismus eine höhere ideale Wendung geben wollen.'"
„Pfui!!!--"
„Verehrte Freunde--ich zitierte nur Karl Marx. Im
übrigen----gebe ich Ihnen die Versicherung, dass
Sie heute Abend das letzte Wort behalten werden!!---
Darum gestatten Sie mir noch einige Augenblicke."
„Was er heute nur hat", sagte Walter leise zu Konrad. Konrad antwortete nicht. Aus seinen Augen sprach wachsende Angst.
„Ich sprach soeben", nahm Ernst Fischer den Faden wieder auf, „von den Ideologien der bürgerlichen Vergangenheit, deren Übernahme durch das Proletariat Karl Marx aufs schärfste ablehnt und in Konsequenz seiner eignen Lehre ablehnen muss. Die weitere Konsequenz ist die Ablehnung aller nachfolgenden proletarischen Ideologien. Was die Arbeiterbewegung an schwungvoller Lyrik — wenn auch in Form pseudowissenschaftlicher Abhandlungen — aus den Jahrzehnten vor dem Weltkriege hinterlassen hat, das ist nichts, als der Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit, mit dieser Zeit auftauchend, mit ihr vergehend, ist günstigstenfalls Bewusstwerden der eigenen Lage, im übrigen geistiger Überbau, Widerschein, Illusion, Mythologie. Nehmen Sie z. B. ein Wort von Bebel in dem Buch: Die Frau und der Sozialismus, Ausgabe Dietz, 1919, S. 382 — ein Buch, das eine wahre Fundgrube für ideologische Konstruktionen aus dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts ist. Bebel schreibt:
,Heute sind Befriedigung des persönlichen Egoismus und Gemeinwohl meist Gegensätze, die sich ausschließen, in der neuen Gesellschaft sind diese Gegensätze aufgehoben; Befriedigung des persönlichen Egoismus und Förderung des Gemeinwohls stehen miteinander in Harmonie,
sie decken sich'---
Mythologien aus dem achtzehnten Jahrhundert würde Marx sagen. Und nun gar die bürgerliche Ideologie jenes Zeitalters, deren Schriften der klassenbewusst sich nennende Arbeiter zum Grundstock seiner Erkenntnis macht: Haeckel, Boelsche und andere!! Hören Sie etwa Haeckel mit seinen unsterblichen Formulierungen in den Welträtseln! Ich zitiere nach Kröners Taschenausgabe, 1918, S. 209/10:
,Zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst wichtig, dass die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern dass sie auch auf dem freigewordenen Bauplatze ein neues, wohnliches Gebäude für das menschliche Gemüt herrichtet, einen Palast der Vernunft, in welchem wir mittels unserer neugewonnenen monistischen Weltanschauung die wahre Dreieinigkeit des neunzehnten Jahrhunderts andächtig verehren: Die Freiheit des Wahren, Guten und Schönen.'
Hören Sie nicht, wie Marx dazu murmelt: ,Mythologien!! Mythologien!!' Zu dem letzten dieser drei Ideale bemerkt Haeckel weiter:
,Die Göttin der Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf dem blauen Meere, auf den
schneebedeckten Gebirgshöhen'---—
Mythologien, meine Herren, Mythologien.-----
„Von stärkster Bedeutung aber wird die Lehre von Karl Marx, wenn Sie sich Ihre eigne geistige Welt anschauen, jenen Überbau des spätkapitalistischen Zeitalters über seine Gesellschaftsformen! Selbstspiegelung vergangener Gesellschaftsformationen sind mit Selbstspiegelungen der gegenwärtigen Gesellschaft zu einem unauflöslichen Ganzen verklittert. Die einzige wirkliche Leistung, die Ihnen nach Karl Marx bleibt, ist die, sich der eignen Lage bewusst zu werden. Alles, was Sie darüber hinaus an geistigen Gebilden produzieren, fällt unter die Begriffe: Überbau, Widerschein, Illusion, Mythologie. Das gilt von den schwungvollen Worten Ihrer Morgenfeiern und Ihrer Abendfeiern. Das gilt von Ihren Worten und Liedern am 1. Mai. Das gilt von Ihrer Jugendweihe, die Sie mit einem ganzen Schwall ideologischer Formen gegenwärtiger und älterer Gesellschaftszustände zu übergießen pflegen. Das würde von der Tauffeier gelten, wenn Sie, was nahe liegt, darauf verfallen sollten, auch für dieses christliche Symbol einen Ersatz zu bilden. Sie könnten wiederum nur den einen Inhalt hineinlegen — den Säugling zum Bewusstsein seiner Klassenlage zu bringen."
Lachen bei den Studenten. Einige Arbeiter verließen den Saal.
„Das gilt von den Leichenfeiern, die Sie nicht entbehren können, und die nach Marx wiederum nur den einen Sinn haben können, sei es, die Überlebenden, sei es, die Toten zum Bewusstsein ihrer Klassenlage zu bringen."
„Das ist gemein!!!--"
„Auch Ihre Revolutionsfeiern schmücken Sie mit allen Resten aus der Vergangenheit, während Karl Marx es ganz klar ausgesprochen hat, dass die Revolution der Zukunft ihre eigene Poesie haben wird. Sie schmücken sie auch mit den ideologischen Gebilden des gegenwärtigen spätkapitalistischen Zeitalters, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, welche Bedeutung solchen Gebilden nach der Theorie von Karl Marx zukommen kann. Sie können eben Karl Marx nicht aushalten. Sie brauchen Mythologien, die der kleinbürgerlichen Gesellschaftslage der oberen Arbeiterschicht entspricht — mit allen typischen Kennzeichen kleinbürgerlichen Empfindens — große Worte, viel Rührung, wenig Richtung — mit einem Wort: im Innersten unmarxistisch! Der Phrasenwust Ihrer Zeitungen, Ihrer Versammlungen, ist Ideologie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die gleiche Ideologie verbrämt mit Fetzen aus der Gegenwart..."
„Kerl, bist du verrückt?!!" Emil war es, der in rasender
Wut aufgesprungen war und dem Redenden die Worte ins Gesicht schleuderte. Ernst Fischer zuckte zusammen.
„Nein, nur konsequent", sagte er mit der Ruhe dessen, der das Leben bereits hinter sich geworfen hat.
Konrad und Walter zerrten den Wütenden auf seinen Platz nieder.
„Ich sehe in Ihrer Aufwallung nur eine Bestätigung der Lehre von Karl Marx. Der geschundene und getretene Proletarier der Marxschen Gesellschaftsepoche konnte die Herbheit der Marxschen Lehre noch aushalten. Er bekam keine Nervenzufälle, wenn man ihm sein wachsendes Elend demonstrierte. Der heutige Kleinbürger kann das nicht mehr. Er schreit unablässig seinen Marxismus in die Welt, aber er baut sich eine Ideologie hinein, die der Ausdruck eben seiner gesellschaftlichen Verhältnisse ist und mit dem geistigen Widerschein jener älteren Welt nur noch wenig zu tun hat. Gestatten Sie mir, das in Bezug auf zwei Tatsachen näher auszuführen.
„Sie beginnen neuerdings mit Kindererziehung — eine Arbeit, die nach Karl Marx nur darin bestehen dürfte, dem Kind seine Klassenlage bewusst zu machen. Damit kommen Sie nicht aus. Es ist charakteristisch, wenn August Bebel auf Seite 457 seines schon zitierten Buches ,Die Frau und der Sozialismus' bei Besprechung des sozialistischen Erziehungswesens dem Bürgertum vorwirft: ,Sie haben keine Ideale mehr!' Man braucht ,Ideale' eben zur Erziehung. Sie werden schwerlich einem Kind aus seiner Klassenlage klar machen, warum es nicht lügen, oder sich nicht an sich selbst geschlechtlich vergehen soll. Sie übernehmen in dieser Verlegenheit das seichteste Schlagwort der niedergehenden bürgerlichen Gesellschaft: Die Forderung nach Gemeinschaft. Ich hoffe, Ihnen eine Empfindung dafür beigebracht zu haben, wie ungeheuer Marx darüber lachen würde.
Das zweite ist Ihr Pazifismus. Kriege sind gesellschaftliche Verwicklungen, von Marx nie anders gesehen, als im Zusammenhang der gesellschaftlichen Gesamtlage. Wenn die
Bedingungen der materiellen Produktion des Lebens den Krieg fordern, so wird er kommen. Wenn er nicht gefordert wird, so wird er nicht kommen. Ich kann auch hier nur das schon zitierte Wort von Marx noch einmal einsetzen: ,Die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit, die Freiheit mögen tausendmal dieses oder jenes verlangen, ist die Sache unmöglich, so geschieht sie nicht'."
Er hielt einen Augenblick erschöpft inne. Seine Zuhörerschaft verharrte in feindseligem Schweigen.
„Zum Schluss", fuhr er fort, „einen Ausblick in die Zukunft. Sieht Marx für die klassenlose Gesellschaft eine andere, eine eigenständige Bedeutung des geistigen Lebensprozesses vor? Mit Nichten! Er schreibt, wie wir schon früher zitieren: ,Der Arbeiter hat keine Ideale zu verwirklichen'----------"
Er brach ab.
Die Aufregung der anwesenden Arbeiter war einem finsteren Hass gewichen. Der Redner, dem man begeistert zugestimmt hatte, war zum Todfeind geworden.
Ernst Fischer holte zu seinem letzten Schlage aus. Da brach plötzlich seine erzwungene Ruhe nieder. Die lodernde Leidenschaft schlug durch, wie die Flamme aus dem Dach eines brennenden Hauses. Eine heiße Röte flog über sein Gesicht, und in wilder Bewegung hoben sich die Arme. Amthor stand auf. Er trat aus der Reihe und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, den Redner scharf fixierend.
„Nicht wahr", rief Fischer aus, „es ist ein Teufelswerk, das ich an Ihnen getan habe?! Alles habe ich Ihnen niedergerissen! Aber es musste sein — es musste sein!! Doch solches Teufelswerk überlebt man nicht. Das fordert den Tod!!"
Unauffällig ging Konrad einige Schritte vor. Fischer sah ihn. Ihre Augen trafen sich für eine Sekunde. Da steigerte sich Fischers Leidenschaft zur Raserei:
„Es ist kein zufälliges Werk, das ich an Ihnen tue!" rief er in die Versammlung. „Ich bin kein Zufälliger, Einzelner.
Ich bringe Ihnen den Gruß des sterbenden Bürgertums, das durch meinen Mund zu Ihnen spricht. Es kann Ihnen nichts mehr geben. Aber es kann Ihnen noch den letzten Dienst erweisen, Ihnen die Binde von den Augen zu reißen. Entweder Sie lösen sich von Marx in der Frage der Eigenständigkeit des Geistigen. Dann seien Sie ehrlich genug, das einzugestehen. Oder aber Sie konservieren jene überalterte Theorie vom ,Widerschein'. Dann schicken Sie auch ihre eigene Ideologie und deren Ausdrücke: Sonnwendfeier, Jugendweihe, Abendfeierstunde, Frauenfeierstunde und wie es alles heißt, zum Teufel. Haben Sie nicht die Kraft, in diesem unerbittlichen Entweder—Oder die Wahl zu treffen, gut — so gehen Sie daran zugrunde! Dann ist es nicht schade um Sie! Dann haben Sie keine geschichtliche Aufgabe mehr zu erfüllen. Ich bin am Ende; ich habe die Mission erfüllt, die das Leben mir übertragen hatte."
Jähes Grauen hatte alle Anwesenden gepackt. Einen Augenblick noch ließ Ernst Fischer seine brennenden Augen über die Versammelten schweifen. Dann ging er mit festen Schritten aus dem Saal.
Konrad sprang vor und wollte ihm nacheilen. Aber schon hatte sich die Tür hinter Ernst Fischer geschlossen. Ein Schuss fiel. Lähmendes Entsetzen legte sich über die Versammelten. Niemand wagte, sich zu rühren. Auch Konrad zögerte einige Sekunden, dann ging er Ernst Fischer nach. Alles verharrte in banger Erwartung. Einen Augenblick später kehrte Konrad zurück.
„Er ist tot", sagte er----„Durch eigne Hand."

 

VIII. Der Zusammenbruch beginnt.

Nichts konnte dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine gleiche Stimmrecht durch eine hierarchische Investitur zu ersetzen.
Karl Marx.

Einige Tage nach diesem Ereignis kam Emil atemlos zu Konrad gestürzt. „Mensch, was sagste bloß! Se haben uns de Tarife gekündigt!! Se forden de Woche drei Stunden Arbeit mehr!!! Elaste Worte!!"
„Ist denn die Bande verrückt geworden?!" „Das sag ich oochü" „Ist es in der ganzen Industrie so?"
„Überall dasselbe durch die ganze chemische Industrie! Diese Leuteschinder!! Diese Blutsauger!!! Mit 50 Stunden Arbeit haben se noch nicht genug! Nu soll 53 Stunden geschuftet werden!"
„Emil! Ich verstehe das gar nicht! Das kann doch gar nicht ihr Ernst sein!!"
„Es is aber so. Heut Abend is noch 'ne Verbandssitzung." Damit lief er fort.
Der Saal überfüllt. Man spricht, man schreit, man debattiert und gestikuliert.
Der Vorsitzende eröffnet. Mit starken Worten zieht er gegen die Unternehmer los. Aber stärker noch ist sein Appell an die Arbeiterschaft, Ruhe zu halten. „Genossen! Man will uns offenbar provozieren!! Das ist der Sinn der ganzen Aktion. Sie wollen uns auf die Straße locken!! Bleibt ruhig!! Haltet Disziplin!!!"
Wie das dumpfe Gewoge des Meeres bei nahendem Sturm — so grollt es durch den Saal. Die Ablehnung der Unternehmerforderung wird einstimmig beschlossen.
An den anderen Orten war es nicht anders gegangen. Die Zentralleitung des Verbandes lehnte daher die Forderung der Unternehmer rundweg ab. Die Arbeitgeber erklärten, die Betriebe am 1. November schließen zu wollen. Die Arbeiterschaft forderte einen Schiedsspruch.
„Nu wärn wer ja sehn, was bei eurer Koalition rausspringt", höhnte Emils kommunistischer Widerpart im Werk.
„Wart's ab!"
Am 25. Oktober fällte der Reichsarbeitsminister den Schiedsspruch. Man hatte bei der Aufteilung der höchsten Ämter dieses Ministerium einem Demokraten überlassen. Der Schiedsspruch erkannte die Forderung der verlängerten Arbeitszeit als berechtigt an.
Am liebsten hätte sich Emil am nächsten Tage während der Pause beiseite gedrückt. Doch die Kommunisten nahmen ihn in ihre Mitte.
„Siehste, Mensch!! Eure Koalition! Und diese Arbeiterverräter von Ministern bleiben immer noch in der Regierung! Allerdings — sie sitzen in der Wolle! Fahren Auto und fressen sich voll. Aber den Arbeiter lassen sie krepieren."
„Halt's Maul! Se können doch ooch nich, wie se wollen!!"
„Warum sind se dann in der Regierung?"
„Ohne sie wär's noch schlimmer!!"
„Um so besser! Dann flöge die ganze Kiste wenigstens balde in de Luft!"
Die Arbeiterschaft lehnte den Schiedsspruch ab. Am Abend kam Emil wiederum zu Konrad.
„Wenn unsre Genossen in der Regierung jetzt bloß durchgreifen, Konrad!!" Konrad zuckte die Achseln. „Du kannst dir nich vorstellen, wie gegen unsre Partei gehetzt wird. Wenn wir jetzt nachgeben, is alles verloren."
„Ich habe wenig Hoffnung."
Die Unterhandlungen gingen weiter. Nach drei Tagen erklärte der Reichsarbeitsminister den Schiedsspruch für verbindlich.
Emil kam wieder. Auch die andern fanden sich ein.

„Mensch! Was soll nu werden?!!" wütete Emil.
„Die ganze Demokratie is 'n Dreck", sagte Rudolf. „Die Kommunisten haben vollkommen recht. Wie kannste nur sagen, Konrad, die Demokratie sei die beste Staatsform!"
„Ja, Konrad", bestätigte Emil, „früher haste mal gesagt,
mir soll's alles eins sein, wenn nur die Sozialisierung kommt. Aber dann haste ooch gesagt, dass du's mit der Demokratie hältst. Wenn sie wirklich die beste Staatsform wäre, dann würde doch bei uns nich alles so schief gehen."
„Wir können ja noch mal drüber sprechen", sagte Konrad. „An dem Gang der großen Ereignisse werden unsere Überlegungen nichts ändern. Gleichwohl wollen wir die Besinnung auf das, was wir wollen, nicht aufgeben."
„Handeln wäre besser!"
„Aber gewiss, Rudolf. Nur müssen wir wissen, auf welches Ziel unser Handeln gerichtet ist."
„Ach, das ergibt sich schon von selbst. Handeln müssen wir!!"
„Auf die Straße gehen, was?"
„Gewiss! Und die Bande verjagen! Das ganze System unmöglich machen!"
„Aber, Kerl! Du musst doch wissen, was du erreichen willst und mit welchen Mitteln!"
„Nee, Konrad, wir haben schon viel zu lange drüber nachgedacht. 's hat keinen Zweck mehr! Ich geh demnächst zu den Kommunisten! Die Demokratie richtet die Arbeiterschaft zugrund."
„So geh!! Und wenn die ganze Karre im Dreck liegt, — dann werdet ihr wieder anfangen, euch zu besinnen!"
Er warf sich auf seine dürftige Bettstatt und zog die Knie hoch. Adolf und Otto hatten sich auf die Stühle gehockt. Emil ging ruhelos auf und ab. Rudolf stand trotzig mit verschränkten Armen am Fenster. ,
„Wär's denn nich doch besser, wenn wir die Demokratie abschafften, Konrad? So geht's doch nich!" fragte Emil.
Laute Rufe tönten von der Straße herauf. Extrablätter wurden ausgerufen. Emil stürzte hinunter. Es war ein kommunistischer Aufruf: „Das Proletariat übernimmt die Macht".
„Menschenskinder! Es geht los!!" schrie Rudolf.
„So wart's doch erst mal ab, Rudolf!! Es ist sicher wieder ein kommunistischer Bluff!"
„Statt zu schreien", sagte Emil, „wollen wir uns noch mal zusammensetzen! Es is vielleicht das letzte Mal. Aber wenn's denn schon um die Demokratie geht, so wollen wir wenigstens wissen, warum."
Sie setzten sich an den Tisch. Konrad überdachte die Aufgabe einge Augenblicke.

„Besinnt ihr euch noch darauf", begann er dann, „dass wir mal vom Staat sagten, er sei eine Einheit von Handlungen."
„Ja! Das war damals, als wir vom Staat sprachen." „Ich würde nun sagen: Diese Einheit wird um so stärker sein, je energischer die Menschen handeln, nicht?"
„Es wär also die Frage zu stellen: Ist eine bestimmte Staatsform ihrem inneren Wesen nach geeignet, das politische Handeln zu steigern? Einverstanden?"
„Ja."
„Vielleicht versuchen wir, uns die Sache an ein paar Beispielen aus der Geschichte klar zu machen. Kennt ihr Fälle, wo eine bestimmte Staatsform ein Volk besonders aktiv gemacht hat?"
„Russland unter dem Zaren und Russland als Räterepublik", sagte Emil. „Unter dem Zaren war Russland mit der Entente verbündet. Es hatte noch all seine Hilfsquellen, schickte Millionenheere an die Front und wurde doch geschlagen. Unter den Bolschewiki dagegen hatte es Bürgerkrieg im Innern, vom Ausland unterstützt. Vorräte und Menschen waren erschöpft — trotzdem behauptete es sich."
„Konrad, das is allerhand", sagte Adolf. „Dann wäre also die Räteregierung die beste Staatsform. Sie hat die Russen aktiver gemacht."
„Kann man aus einem Beispiel gleich allgemeine Schlussfolgerungen ziehen?"
„Nee, allerdings nich."
„Wir müssen also aus der Geschichte noch andere Beispiele beibringen."
„In der großen französischen Revolution war es genau so", sagte Adolf. „Erst saß Frankreich in der Patsche. Als man dann den Konvent machte, hat es sich behauptet-, obwohl der äußere Feind von allen Seiten anstürmte und der Bürgerkrieg in der Vendee und Bretagne tobte."
„Oder?"
„Frankreich 1870 unter Napoleon als Kaiserreich, dann als demokratische Republik. Nach Sedan meinte man, es wäre erledigt. Statt dessen hat es unter der Republik eine viel größere Energie entwickelt, als vorher."
„Aber Konrad", unterbrach Walter, „nun kommen wir ja wirklich zu einem ganz andern Ergebnis! Erst ist die Räterepublik ein Beispiel für die politische Aktivierung eines Volkes, dann der Konvent, dann wieder ist's die demokratische Republik. Und du willst doch auf die Demokratie hinaus."
„Ja, ihr seht, es ist nicht so einfach. Man kann nach den geschichtlichen Erfahrungen nicht einfach sagen: Diese oder jene Staatsform ist unter allen Umständen die beste und macht die Völker am aktivsten. Nehmt noch die Preußen unter Friedrich dem Großen hinzu, so habt ihr eine ganze Musterkollektion."
„Entschieden", sagte Walter. „Nach den Beispielen muss man sagen: Es kommt auf das Volk und den geschichtlichen Augenblick an, welche Staatsform das politische Handeln eines Volkes aufs höchste steigert."
„Das würde ich auch unbedingt sagen", bestätigte Konrad.
„Na, dann sitzt du doch auf dem Trocknen mit deiner Behauptung, dass die Demokratie die beste Staatsform sei."
„Noch lange nicht! Sondern jetzt fange ich erst richtig an. Dies waren die Vorbereitungen, damit wir nicht von vornherein die Frage zu eng und zu leicht nehmen. Man muss die praktischen Forderungen einer bestimmten Situation und die grundsätzliche Entscheidung auseinander halten."
„Na, da bin ich gespannt", sagte Emil. „Mach hin!"
„Nimm an, es kommen zu mir als Bergführer ein paar Touristen. Sie wollen die schönste Tour machen, die es in der Umgegend gibt. Ja, sage ich, der höchste Punkt mit der weitesten Aussicht ist jene Spitze dort. Können Sie diese Tour machen?"
„Was gehört denn dazu?"
„Da müssen Sie firme Bergsteiger sein mit tadelloser Ausrüstung und im Steigen seit Jahren geübt."
„Allerdings", sagen sie, „davon ist keine Rede. Wir fangen eben erst an."
„Dann können wir die Hochtour nicht machen. Nicht einmal die Besteigung der zweit- und dritthöchsten Spitze. Die alle sind nur erfahrenen Touristen zugänglich. Sie müssen sich mit der kleinen Tour nach jener Spitze dort begnügen. Das ist das Äußerste, was Sie leisten können."
Den andern Tag kommen andere. Ihre Kräfte reichen für die dritthöchste Spitze. Dann aber kommen zwei erfahrene Hochtouristen. Mit ihnen ersteige ich die höchste Spitze mit der weitesten Aussicht rundum. Verstehst du das Bild, Walter?"
„Du willst die höchste Spitze mit der Demokratie vergleichen; nur wenige sind ihr gewachsen. Die andern bedürfen je nach ihrer politischen Reife anderer Staatsformen. Nur in ihnen kommen sie zum Handeln. Darum bleibt aber doch die Demokratie die höchste Staatsform."
„So sehe ich es an. Ist euch das deutlich? — Man kann also angesichts des praktischen Lebens nicht einfach sagen: Die Demokratie ist die beste Staatsform. Sie entwickelt überall das stärkste politische Handeln. Mit unerfahrenen Neulingen kann man die höchsten Spitzen nicht ersteigen. Darum bleibt aber doch die Demokratie die höchste Spitze."
„Einverstanden, Konrad", sagte Otto. „Aber nun die Frage: Warum?"
„Eigentlich brauchen wir die Frage gar nicht erst lange zu untersuchen", unterbrach Adolf, „die Demokratie ist die menschenwürdigste Staatsform! Alle Knechtung entehrt den
Menschen. Darum muss die Demokratie unbedingt unser Ziel sein."
Konrad wurde ungeduldig.
„Auf welches Gebiet zerrst du nun wieder eine politische
Frage?"
„Auf das moralische", gab Otto prompt zurück.
„Nu —", sagte Adolf, „-----------wegen mir brauchen wir
unsern alten Zank darüber nich von vorn anfangen. Aber dann sag endlich, warum die Demokratie die beste Staatsform sein soll."
„Gut. — Wir hatten uns darauf geeinigt, dass der Staat handelnde Menschen fordert. Wann handelt der Knecht?"
„Wenn der Herr 's ihm befiehlt."
„Ist es denkbar, dass er unter dem Befehl des Herrn mit großer Energie handelt?"
„Das kann vorkommen."
„Zum Beispiel?"
„Wenn er gemeinsam mit dem Herrn sein Leben gegen Räuber verteidigt."
„Wie aber wird er oft handeln?"
„Lässig."
„Gleichgültig."
„Widerwillig."
„Stumpf."
„Dem Knecht setze ich den freien Menschen gegenüber. Was heißt hier frei?"
„Es befiehlt ihm keiner."
„Das ist richtig. Aber genügt das? Diese Bestimmung sagt doch nur, was nicht ist?"
„Allerdings —aber----------------? Wie soll man's sagen??
Ich seh's nich recht", überlegte Emil.
„Machen wir's uns mal an dem Unterschied von Wehrpflicht und proletarischen Kampforganisationen klar. Stand es vor dem Kriege im Willen des einzelnen Mannes, ob er Soldat wurde?"
„Nee. Er musste."
„So folgte er auch 1914 ohne Besinnen. Wer trug die Verantwortung für das, was geschah?"
„Die Regierung."
„Hatte er als Soldat Einfluss auf sie?"
„Nee."
„Aber als Staatsbürger", warf Otto ein.
„Gewiss. Aber das lassen wir hier mal bei Seite. Nun das Gegenbeispiel: Reichsbanner und Rotfrontkämpferbund. Zwingt euch irgend jemand, in die eine oder andere Organisation einzutreten?"
„Nee."
„Wer hat es also zu verantworten?"
„Wir selbst."
„Wie handelt ihr also?"
„Unter eigner Verantwortung."
„Genossen, das ist es!" sagte Konrad mit Nachdruck. „Das ist meiner Überzeugung nach für einen Sozialisten die Freiheit! Wir können die Freiheit nicht als schrankenlose Willkür ansehen. Wir sind gebunden! Aber gebunden, nicht an die fremde Entscheidung, sondern an die eigne Verantwortung."
„Aber Konrad — wir sind doch auch dem Ganzen verantwortlich!"
„Alle einverstanden?"
„Aber sicher! Wir sind z. B. der Partei verantwortlich,"
„In einem andern Fall: Der Belegschaft des Betriebes."
„Oder der Gewerkschaft!"
„Also sitzen wir in der Patsche!" sagte Otto. „Wir sind beiden verantwortlich: uns selbst und derjenigen Klassenorganisation, die gerade in Frage kommt."
„Und wenn sich das nicht mehr vereinigt?" fragte Konrad.
„Dann geht die Organisation vor", sagte Otto bestimmt.
„Nein! Das eigne Gewissen!" rief Rudolf.
„Konrad, was meinst du?" fragte Emil.
„Ich setze den Fall: Der Verband verlangt ein bestimmtes Handeln. Eure Einsicht sagt euch: das ist falsch. Was tut ihr?"
„Das kommt drauf an", sagte Otto nachdenklich.
„Worauf kommt's an?"
Otto hatte sich entschieden. „Wenn in solchem Falle", sagte er fest, „die Disziplin das Notwendigste ist, dann folge ich der Leitung, auch wenn sie falsch handelt. Wenn dagegen das Handeln gegen die Leitung keine bedenklichen Folgen haben kann, und es ist wichtig, dass der Irrtum geklärt wird, dann handle ich gegen die Organisation."
„Da hat Otto recht", sagte Emil.
„Das glaube ich auch", bestätigte Konrad. „Aber nun gebt acht! Wer entscheidet darüber, ob im Augenblick der Disziplinbruch schlimmer ist, als ein falsches Handeln? —"
„Ich selbst."
„Alle einverstanden?"
„Kla! —"
„Bei wem liegt dann letzten Endes die verantwortliche Entscheidung für dein Handeln, Otto?"
„Allerdings — bei mir."
„— Darum nenne ich den frei, der unter eigner Verantwortung handelt! Hab ich recht, Emil?"
„Stimmt schon, Konrad."
„Dass bei solcher Entscheidung dem Sozialisten die Klassenorganisation wichtiger ist und sein muss, als sein persönliches Interesse — das ist eine Binsenwahrheit. Doch nun das Entscheidende für unsere Frage: Wirst du im Falle des selbstverantwörtlichen Handelns immer wissen, was du zu tun hast?"
„Nein."
„In welcher Gefahr steht also der unter eigner Verantwortung handelnde Mensch?"
„Vor lauter Überlegung gar nicht zu handeln."
„Konrad, damit ist eigentlich über unsere heutige Lage das Entscheidende gesagt. Es wird nich gehandelt."
„Ja, Otto. Damit ist das Entscheidende gesagt! Damit treffen wir unser heutiges Unglück in seiner eigentlichsten Wurzel! Gelingt es aber — und das ist ebenso entscheidend für die Wertung der Demokratie — gelingt es, unter eigner
Verantwortung zu festen, klaren Entscheidungen zu kommen — wie wird dann das Handeln der Menschen sein?" „Da handelt er natürlich ganz anders, als der Knecht."
„Nämlich?"
„Wenn er den Entschluss selbst gefasst hat, und er weiß, warum, und dass es so sein muss, und nicht anders, und s'is alles seine eigne Entscheidung — das is e ander Ding, als wenn nur einer sagt: ,So machst'es.'"
„Damit sind wir am Ziel, Genossen! Aus diesem Grunde glaube ich, dass die Demokratie ihrem inneren Wesen nach als Staat der selbstverantwortlich handelnden Menschen die höchste Staatsform darstellt. — Sie ist geeignet, das stärkste Handeln des Menschen, das selbstverantwortliche Handeln, auszulösen. Freilich — fehlt den Touristen die Erfahrung, die Schulung, das Rüstzeug, der Wille — dann bedeutet der niedrigere Gipfel für sie die bessere Bergtour."

*

„Ich bin aber sicher, Marx hätte diesen ganzen Dreck auch abgelehnt", nahm Rudolf seine Opposition wieder auf.
„Ich auch", lachte Konrad bitter.
„Die Kommunisten sagen sogar, er is überhaupt nich für Demokratie und Parlamentarismus gewesen."
„Halbwahr!"
„Wieso?"
„Ist Demokratie und Parlamentarismus dasselbe?"
„Aber sicher!"
„Kannst du dir ein primitives kleines Gemeinwesen denken, Rudolf, das in Versammlungen aller Bürger seine Angelegenheiten regelt?"
„Gewiss."
„Wäre das Demokratie?"
»Ja."
„Wäre es parlamentarisch?"
„-------— Nee,--------allerdings nich--------"
„Du siehst also, man kann und muss diese Begriffe trennen."
„Aber ich will doch über die Stellung von Marx zu diesen Dingen was wissen", beharrte Rudolf.
„Gerade zu diesem Zweck müssen wir Demokratie und Parlamentarismus trennen lernen. Aber wie soll ich in Kürze Marx' Auffassung charakterisieren? — — Mit ein paar Marxzitaten kommen wir an die Sache nicht ran!"
„O ja, Konrad!", unterstützte Emil den Kameraden. „Wozu is eure vielgerühmte Wissenschaft gut, wenn ihr uns das Wesentliche nich kurz und einfach sagen könnt."
„Sehr richtig!", bekräftigte Otto.
„Gut. Machen wir einen Versuch! Nur das eine muss ich vorausschicken: Ich halte jeden für einen Schwachkopf,. . "
„Hört! Hört!" „... Der auf den Buchstaben von Marx schwört. ,Ich bin nicht Marxist' hat er selbst gesagt. Und gerade im Hinblick auf seine zeitgenössischen Kommunisten sagte er: ,Ich bin nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, — im Gegenteil!' Mir scheint nichts kläglicher und würdeloser, als wenn die Enkel sich um den großen Ahnen katzbalgen. Offen gesagt, Otto, ich glaube, Marx würde den einen wie den andern — mit Fußtritten davonjagen. Bei all solchen Erörterungen hantiert man zumeist an der Außenseite herum. Man zankt um den Buchstaben, und der Geist ist längst zum Teufel. Aber eins will ich ehrlich bekennen: Wenn ich sagen soll, wer in diesem ganzen Zeitalter ihm dem Geist nach am nächsten war, — so sage ich —
Lenin. Im übrigen —--------Wie er sich räuspert und wie
er spuckt — das hat man ihm glücklich abgeguckt. Selbst die Jugend — dort, wo sie sich an der marxistischen Phrase berauscht, — da ist sie dem Schöpfer der deutschen Arbeiterbewegung unendlich fern. Seine strenge Gedankenarbeit, die mit Jahrzehnten maß, und jene billigen Räusche des Augenblicks, — sie sind wie Feuer und Feuerwerk."
„Lass das, Konrad", sagte Adolf gereizt.
„Sei's! Kommen wir zur Sache."
Er nahm zwei Schriften von Marx zur Hand. „Wie immer, wenn sich Köter um ein Löwenfell zerren, behält jeder ein Stück in den Klauen." „Konrad!" Er achtete nicht darauf.
„Die Sache liegt verhältnismäßig einfach. Kennt jemand von euch irgend ein Wort von Marx, an das wir anknüpfen könnten?"
„Er sagt irgendwo", sagte Otto, „das Proletariat müsse die Staatsmaschine, in dem Augenblick, da es sie übernimmt, zerbrechen."
„Recht. Nehmen wir die Frage zunächst von dieser Seite, von der Seite des modernen Parlamentarismus. Es ist keine vereinzelte Äußerung. Die Kritik der parlamentarischen Republik findet sich bereits in jener Schrift, die den Staatsstreich Napoleons vom Jahre 1852 behandelt: Der 18. Brumaire. Der Versuch einer Räteregierung in Paris vom Frühjahr 1871 gab dann Marx Anlass, sich eingehend über diese Dinge zu äußern. Seine Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich" ist geradezu eine Verherrlichung der Kommune im Gegensatz zur parlamentarischen Republik. Ich will nur eine Stelle lesen:
,Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit .... Statt einmal in 3 oder 6 Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- oder zertreten soll' — achtet bitte auf solche hingeworfenen Werturteile — ,sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen.'"
„Wie fasst ihr diese Stelle auf?"
„Ein glatte Absage an den Parlamentarismus", sagte Otto.
„Ich glaube auch, man kann das nicht bestreiten", bestätigte Konrad.
„Na, Konrad, das is allerhand!" rief Adolf erregt. „Dann is wahrhaftig unsre Weimarer Verfassung nich das, was Marx gewollt hat?!"
„Das is überhaupt Quatsch", entschied Otto.
„Warum?"
„Zu sagen: Was Marx gewollt hat!"
„Wieso?"
„So hat er's überhaupt nie gesehen. Ne Verfassung is für Marx nich ne Sache, die man einfach will."
„'s versteh 'ch nich!"
„Sieh mal, Adolf", versuchte Konrad zu erklären, „grade du betonst doch immer den Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft, nicht wahr?"
„Allerdings."
„Dann musst du doch verstehen, dass für Marx die politische Form immer nur der politische Ausdruck bestimmter wirtschaftlich-gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist, nicht Gegenstand irgend eines Wunschbildes!"
„Gewiss, Konrad."
„Dann kann Marx eine bestimmte Verfassung nicht einfach wollen. Die parlamentarische Republik ist seinem geschichtlichen Urteil nach die politische Form einer bestimmten Gesellschaftsschichtung. Sie entspricht der Phase, in der die Bourgeoisie noch ausschlaggebend ist. Also etwa der heutigen Lage."
„Und er hielt sie nicht für geeignet, um die klassenlose Gesellschaft zu erkämpfen?"
„Er sagt das Gegenteil! Er nennt in der Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich" die Kommune die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung
der Arbeit sich vollziehen konnte....... Sie sollte als
Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klasse und damit der Klassenherrschaft beruht."
„Konrad, das hab ich nich gewusst", sagte Adolf beinah grollend. „Dann haben doch die Kommunisten recht, wenn
sie sich immer auf Marx berufen mit ihrem Gebleek gegen die Demokratie!"
„Nu manschst du's wieder durcheinander", sagte Otto wütend.
„Was mansch ich durcheinander?"
„Parlamentarismus und Demokratie."
„Na ja, so mein ich's ja doch! Also, vom Parlamentarismus hat Marx nischt gehalten?!"
„Nein, darin haben die Kommunisten recht!"
„Na also", schrie Rudolf, „Menschenskinder, dann is doch alles kla!! Dann muss man ja zu den Kommunisten gehen. Da wird nicht parlamentiert, da wird nich gequatscht. Da wird gehandelt!! —" Er war aufgesprungen.
„Aber wir haben doch erst die eine Seite der Sache, Rudolf!" schrie Emil dazwischen. „Hör doch zu Ende."
„Is alles Quatsch!! Wir haben's erlebt, so geht's nich weiter. Und wenn's nu losgeht und Marx selbst vom Parlamentarismus nischt gehalten hat, dann is mir die Sache klaa!!"
„Rudolf!! So höre doch!!"
„Nee!! Für mich is es klaa!" Er stürzte hinaus.
„Balde sind wir alle verrückt", sagte Emil. „Mach hin, Konrad. Noch ein Wort zu dem andern. Hat Marx auch die Demokratie abgelehnt?"

Konrad ging in starker Bewegung auf und ab. „Seht euch Russland an", begann er. „Ihr wisst, wie man dort die arbeitende Masse politisch entrechtet hat. In Russland ist das erträglich. Denn die Russen haben keinen Kapitalismus, keine Renaissance, keinen Humanismus, keine Reformation gehabt. Im Zeitalter unserer klassischen Dichtung und klassischen Philosophie kannten sie nichts, als ein grausames Zarenregiment für das Ganze des Reiches und eine ebenso grausame Leibeigenschaft für die Bauernklasse. Erst mit dem 19. Jahrhundert beginnen sich ihre gesellschaftlichen Verhältnisse ein wenig aufzulockern. Langsam folgt ihr geistiges Leben nach. Ein solches Volk weiß nichts von den
Traditionen, die in unserer Arbeiterschaft lebendig sind. Lenin hat diese politische Situation auch ganz klar formuliert. Er nennt das: ,Die Organisation des Vortrupps'. Theorie und Praxis stimmen hier in Sowjetrussland durchaus überein!"
„Aber Marx! Wir wollten doch wissen, wie Marx zur Demokratie steht."
„Gewiss. Ich wollte nur das Gegenbild zeichnen. Für Marx war die Demokratie die selbstverständliche Lebensform des modernen Europa. Du findest nirgends bei ihm den Gedanken Sowjetrusslands von der Bevormundung der breiten Massen durch eine kleine Minderheit."
„Halt mal, Konrad", unterbrach Otto. „Neulich, als ich mit einem Kommunisten darüber sprach, hat er bestritten, dass die Vortrupplehre erst von Lenin aufgebracht ist. Er zeigte mir eine Stelle im kommunistischen Manifest. Hast du's da?" Er nahm es und suchte. „Hier is es:
Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.
Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.
„Otto", entgegnete Konrad, „ist hier von einer Herrschaft des Vortrupps die Rede?"
„Nee — — Das nicht!"
„Dass Marx seine Gesinnungsgenossen als Führer des Proletariats ansieht, das ist doch wohl selbstverständlich. Man kann auch einen Denker niemals aus einer einzelnen Stelle erklären oder darauf festlegen wollen, am wenigsten, wenn sie so zweifelhaft in ihrer Deutung ist, wie diese. Und fragst du bei Marx nach dem Ganzen seiner Auffassung, so triffst du die demokratische Forderung wieder und wieder an. Gemäß seiner Grundeinstellung, die sich auf keine Staatsform festlegt, sondern die Staatsform als Ergebnis des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Kräftespiels ansieht, hätte er das System des Vortrupps vielleicht für das heutige Russland als den gemäßen Ausdruck seiner gesellschaftlichen Lage anerkannt. Für West- und Mitteleuropa dagegen hat er stets an dem demokratischen Gedanken festgehalten. Schon im Kommunistischen Manifest sagt er:
,Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.' — Ihr seht, die Bewegung der ungeheuren Mehrzahl, nicht eines Vortrupps. Und an späterer Stelle: ,Deshalb ist der erste Schritt der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie.' So geht es durch. Und noch in jener Schrift über die Kommune 1871 spricht er immer vom allgemeinen Stimmrecht. Ja, er sagt hier ganz ausdrücklich: ,Nichts konnte dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine gleiche Stimmrecht durch eine hierarchische Investitur zu ersetzen!!'"
„Dann würde er also die Einführung eines Wahlrechts wie in Russland, wo die große Masse des arbeitenden Volkes ein minderwertiges Wahlrecht hat, für Europa ablehnen?" sagte Adolf beruhigt, „und es handelt sich bloß um das Parlament, ob er das für das Richtige hält?"
„So ist es, wenigstens meinst du's recht. Für ,das Richtige' hat er weder das eine, noch das andere gehalten. Aber er hielt die Räteverfassung der Kommune geeigneter zur Durchführung der Sozialisierung als den Parlamentarismus." Adolf war befriedigt.

„Eine Zwischenfrage hab ich noch, Konrad", nahm Otto den Faden wieder auf. „Warum hat Marx am demokratischen Gedanken immer festgehalten?! War das bei ihm Glaubenssache?" Konrad überlegte.
„Ich kenne eine Stelle im Kapital", sagte er dann, „wo
Marx auch den demokratischen Gedanken aus der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lage ableitet."
„Wo ist das?"
„Er sagt gleich im Anfang des ersten Bandes vom ,Kapital', als er sich mit Aristoteles auseinandersetzte, dass der Begriff der menschlichen Gleichheit erst dann die Festigkeit eines Volksvorurteils erwerben konnte, — achtet auf das Wort Volksvorurteil — nachdem das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis geworden war."
„Das soll heißen", tastete Emil sich durch, „die kapitalistische Gesellschaft macht uns alle gleich, weil wir alle kaufen und verkaufen."
„Ja, so etwa verstehe ich es."
„Trotzdem!", wandte Otto ein. „Ich bin doch noch nicht fertig. Mit dem Verstand hat Marx das offenbar alles so gesehen, wie du sagst. Ein bestimmtes Wirtschaftssystem — eine bestimmte Staatsgesinnung. Aber ob er seinem Gefühl nach nich doch Demokrat war und das empfand, was Adolf sagte: Dass es die menschenwürdigste Staatsform sei?"
„Vielleicht! Sogar wahrscheinlich!! Doch hat er selbst von solchen Betrachtungsweisen nie was wissen wollen."
„Alles in allem", sagte Otto, „kämen wir also zu dem Ergebnis, dass weder SPD noch KPD Karl Marx ganz für sich beanspruchen können."
„Wenigstens nicht, so lange sie am Buchstaben kleben. Wer sich an den Buchstaben von Marx hängt, der kommt in arge Verlegenheit, ob er sich rechts oder links entscheiden soll. Und es geschieht ihm recht. Unsere Aufgabe....."

Eine tiefe Männerstimme auf dem Korridor wurde laut. Man hörte schwere Tritte. Es klopfte. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Der Mann vom Reichsbanner, den Konrad vom Unawerk her kannte, trat ins Zimmer. Seine schweren Stiefel waren mit Straßenkot bedeckt; sein Mantel triefte vor Nässe.
„Endlich finde ich dich, Genosse", sagte er zu Konrad. „Mein Vorgesetzter schickt mich zu dir. Es geht los!"
Alles sprang auf.
„Mensch, so sprich doch!" schrie Emil. „Was geht los?"
„In Wittenberg und — am Rhein! Die chemischen Arbeiter haben da heute Mittag Versammlungen abgehalten. Dann sind se uff de Straße gegangen, um zu demonstrieren. Dabei sind se mit der Polizei zusammengestoßen. Es is zu regelrechten Kämpfen gekommen und die Arbeiter haben gesiegt. In Witterberg haben se versucht, das Werk zu sprengen. Die Regierung is zurückgetreten. Mein Vorgesetzter bittet dich, sofort zu ihm zu kommen."
Emil stürzte fort. Die andern umringten den Boten und stellten aufgeregte Fragen. Konrad nahm schweigend Mütze und Windjacke, bot den Freunden ein kurzes Lebewohl und ging mit dem Boten.
Er traf den Reichsbannerführer allein. Eine Konferenz mit andern Führern war soeben beendigt.
„Ich freue mich, dass Sie kommen, Genosse", sagte der Ältere, indem er Konrad stehend die Hand gab. „Ich hatte Sie eher erwartet. Wie geht es Ihnen? Was treiben Sie jetzt?"
„Ich bin arbeitslos und benutze die unfreiwillige Arbeitspause, um meine Studien fortzusetzen."
„Um so besser. Sie haben gehört, wie die Dinge stehen. Es heißt jetzt, alle Mann an Bord. Sind Sie militärisch ausgebildet?"
„Ja. Ich habe der Miliz meiner Heimat ein Jahr angehört."
„Wären Sie bereit, hier sich im Reichsbanner zu betätigen?"
„Vorausgesetzt, dass die Verwendung des Reichsbanners meiner Überzeugung entspricht — ja —"
„Gut, so setzen Sie sich." Beide Männer nahmen an einem großen Tisch einander gegenüber Platz.
„Die Sachlage ist diese", begann der Reichsbannerführer.
„Seit Monaten haben sich die Verhältnisse dahin zugespitzt, dass die Koalition scheitern musste.
Es haben daher seit einiger Zeit in unserer Partei Besprechungen stattgefunden, was für den Fall eines Scheiterns der Koalitionsregierung zu tun sei. Die Leitung ist der ansicht, dass der Versuch einer Regierungsgemeinschaft mit den Kommunisten gemacht werden muss. Es ist die letzte Auskunft für uns. Man hält den Versuch für unvermeidlich. Das Reichsbanner muss für diesen Fall umorganisiert werden. Nach dem Ausscheiden von Zentrum und Demokraten müssen seine Truppen zu gemeinsamer Aktion mit den Kommunisten bewogen werden. Sie waren es, der damals den Gedanken vertrat, eine Gefolgschaft müsse auf eine veränderte politische Situation umgestellt werden können. Wollen Sie uns jetzt bei dieser Aufgabe helfen?"
„In welcher Weise soll sich jetzt die Verbindung mit den Roten Frontkämpfern vollziehen?"
„Beide Formationen sollen bestehen bleiben und nebeneinander kämpfen, wie im Weltkrieg etwa Österreicher und Deutsche."
„Versprechen Sie sich etwas von dieser Form der Verbrüderung?"
„Genosse, — es ist der einzige Weg. Sie erinnern sich vielleicht noch daran, was Sie damals von dem Weg der geringsten Gefahr sagten. Es machte mir Eindruck. Wollen Sie sich in dieser Stunde der Gefahr versagen?"
„Nein" — und er sah den Älteren fest an.
„Was sollte auch aus uns werden, wenn die jüngeren Männer, die noch keine Verantwortung für Weib und Kind haben, in solcher Stunde nicht einspringen wollten?"
Eine leise Bewegung ging über Konrads Gesicht, aber er sagte nichts.
Die amtlichen Angelegenheiten waren erledigt. Die beiden Männer saßen noch bei einem Glase Bier zusammen und sprachen über die Lage.
„Die ganze Schweinerei sehen und doch den Mut nicht verlieren, Amthor — darauf kommt's an", sagte der Ältere.
Konrad erwiderte nichts.
„Gewiss, ich gebe Ihnen zu, dass oben die nötige Entschlusskraft fehlt. Es gibt eben Schlappschwänze, und es gibt Männer!" Um den Mund des lebensvollen Mannes spielte ein Lächeln der Verachtung. „Aber auf der anderen Seite dürfen Sie die Schwierigkeiten der Lage nicht verkennen. Wie steht es denn? Die Zeiten, da der Arbeiter ohnmächtig dem Kapital gegenüberstand, sind vorbei. Gewerkschaften und Partei einerseits, organisiertes Unternehmertum andererseits — das sind heute zwei annähernd gleichstarke Machtfaktoren. Wie sollte da die Lage anders als zwiespältig sein?"
„Man kann und muss auch in einer zwiespältigen Lage handeln können!"
„Gewiss! Aber Sie werden zugeben, dass nur ganz ungewöhnliche Führernaturen eine solche Lage meistern können!"

 

IX. Die Abtreibung.

Wir rechnen die „Ehrfurcht" zu den religiösen Minderwertigkeitsgefühlen.
Die Geistesfreiheit. Organ des Bundes für Geistesfreiheit. 1928. Nr. 8.

Die entfesselte Volkswut wurde noch einmal beschwichtigt. Demokraten und Zentrum traten aus der Regierung
aus. Daraufhin machte--------zur allgemeinen Überraschung
-------die Leitung der chemischen Industrie wesentliche Zugeständnisse.
„Es muss ihnen doch bange geworden sein", sagte der Kommunist zu Emil.
Der unmittelbare Anlass der Unruhen war beseitigt. In
der neuen Regierung saßen die Vertreter der beiden Arbeiterparteien zu gleichen Teilen. Das Bewusstsein, nunmehr in der deutschen Republik die Regierung in Händen zu haben, beruhigte die Arbeiterschaft. Jetzt musste abgewartet werden, was bei dieser Umgruppierung heraussprang. Die Versöhnung der feindlichen Brüder vollzog sich nur unter Schwierigkeiten. Sie blieb äußerlich. Wie die Führer, von gegenseitigem Misstrauen erfüllt, zu keinem einheitlichen Handeln kamen, so ließ sich auch im Empfinden der breiten Massen die Hetzarbeit von Jahren nicht mit einem Schlage auslöschen. Es war für die sozialdemokratische Partei eine Bundesgenossenschaft, die gefährlicher war, als gar keine.
Das Reichsbanner in seiner alten Form wurde aufgelöst. Zentrum und Demokraten bildeten mit der Deutschen Volkspartei eine neue Truppe, „die Freischar", während die Masse des Reichsbanners von den Sozialdemokraten fortgeführt wurde. Damit ergab sich für die sozialdemokratische Partei der besondere Nachteil, dass sie ihre Kampforganisationen in gefahrvoller Stunde umorganisieren und zugleich innerlich umstellen musste, während der Rote Frontkämpferbund unverändert fortbestand.
Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung gingen glatt durch. Sie trügen den Charakter energischer Sozialreform. Das Betriebsrätesystem wurde neu aufgebaut und in seiner Wirksamkeit befestigt. Die Ententestaaten, die der Bildung der neuen Regierung stirnrunzelnd zugesehen hatten, begannen ein freundlicheres Gesicht zu zeigen.
Dann setzte man die Leistungen der Sozialversicherung herauf. Deckung war nicht beschafft. Der Reparationsagent erhob Einspruch. Die Haltung der Ententestaaten schlug um. Sie forderten in scharfen Noten unter Androhung von Repressivmaßregeln die Bilanzierung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches. Man begann zu unterhandeln.
Für Konrad war eine Periode äußerster Aktivität angebrochen. Während der Bürostunden half er die laufenden Geschäfte der Organisation erledigen. In den Freizeiten
drillte er die Mannschaften militärisch oder gab ihnen Instruktionsstunde. Die energische Tätigkeit brachte die stockenden Säfte seines Wesens wieder in Umtrieb. So wenig ihm der Ernst der Situation einen Augenblick lang verborgen blieb, so sehr erfreute ihn die Arbeit an und mit seinen Genossen. Freilich war seine Tätigkeit keine leichte. Die militärischen Übungen zwar vollzogen sich reibungslos unter dem natürlichen Übergewicht seiner disziplinierten Kraft. Seine Instruktionsstunden dagegen stießen auf Widerstand — keinen offenen, der wäre zu packen und zu überwinden gewesen —, wohl aber auf den zähen, unangreifbaren der passiven Resistenz. Nur eine Minderheit folgte ihm wirklich. Der Grund lag nicht nur in dem Neid auf seine Stellung. Man sträubte sich vielmehr zu innerst gegen die anders orientierte politische Entscheidung, die er vertrat. Man wollte von keinem Sowohl—Alsauch etwas wissen.
Das Verhältnis zu seinem Vorgesetzten war von Vertrauen und gegenseitiger Zuneigung beseelt. Der jüngere fühlte sich dem Manne verbunden, der ihm, von freimütigem Vertrauen getragen, in gefahrvoller Stunde eine wesentliche Aufgabe überantwortet hatte. Er empfand auch die Überlegenheit des welterfahrenen Mannes gegenüber dem Neuling auf der politischen Plattform. Der Reichsbannerführer aber wandte dem jungen Genossen die väterliche Zuneigung dessen zu, der den Jüngeren, reicher Begabten in die eigne Lebensaufgabe einführen darf, um in ihm den Sohn und Nachfolger zu finden. Sein sachlicher Ernst empfand die natürliche Überlegenheit Konrads nur als Aktivposten der gemeinsamen Sache.
Für die Freunde hatte Konrad seit Monaten kein längeres Zusammensein mehr ermöglichen können. Sie besuchten ihn gelegentlich auf eine kurze Stunde. Otto, Adolf und Emil waren Mitglieder im Reichsbanner geworden. Rudolf war bei den Roten Frontkämpfern. Walter blieb passiv.
*
Zwei Monate waren also verstrichen. An einem Sonntag, kurz vor Weihnachten, kam Konrad gegen Abend von einer Reichsbannerübung heim, erschöpft durch das Übermaß körperlicher und seelischer Anstrengung. Er ließ sich angekleidet aufs Bett fallen und schlief sofort ein. Noch hatte er in diesen zwei Monaten nicht Zeit gefunden, sein Quartier zu wechseln. Es war ein Raum von äußerster Unwirtlichkeit. Tagsüber als Bügelraum einer Schneiderwerkstatt benützt, war er voll gesogen von unausrottbaren Dämpfen und Dünsten. Kein abendliches Öffnen der Fenster vermochte die Luft zu erneuern. Die buntscheckige Tapete war zerrissen und befleckt. Als Zierrat dienten Postkarten mit gemeinen Bildern. Das Bett war schmal und schmutzig. Konrad hatte des alles nicht mehr acht. Er machte sich um der freundlicheren Wendung seines persönlichen Lebens willen keinen Augenblick über die Not des Ganzen Illusionen.
Er mochte eine Stunde geschlafen haben, als es klingelte. Adolf trat bei ihm ein. Konrad fuhr in die Höhe.
„Entschuld'ge Konrad", sagte Adolf. „Ich weiß, du hast eigentlich keine Zeit. Aber ich brauch dich zu nötig! Ich muss mal 'ne Sache mit dir bereden." Er sagte das mit einem Gesichtsausdruck, den Konrad an ihm noch nicht wahrgenommen hatte.
„Setz dich doch, Adolf", erwiderte er, Anzug und Haare ordnend. „Ich habe den Abend frei und bin für dich da."
„Es handelt sich um mich und Martl", begann Adolf gepresst. „Sie kommt hinterher auch noch. Ich wollte es dir bloß erst mal alles erzählen. Weißte, damals, seit der Fahrt nach der Wahl, da haben wir zusammen verkehrt. Natürlich sollte es keine Folgen haben."
„Natürlich?"
„Och Konrad, nu mach doch keine Spähne. — Ich hab se auch aufgeklärt. Aber die Mächen sind ja so unklug. Sie wollte durchaus von solchen Mitteln nischt wissen. Und dann hat sie's noch nichmal gemerkt. S'waren auch so die Anzeichen da. — Es ging ihr nich gut — ich schickte sie zum Arzt, aber da hat sie auch nich gepiepst, und von selbst hat
er nischt gesagt. Gemerkt muss er's haben. Die Kerls sind ja ooch so. Und auf einmal da war das Kind schon unterwegens — im fünften Monat.
Er hielt inne, vor dem schwereren Teil seiner Beichte zurückbebend.
„Nun?"
„Ja, siehste, Konrad, es ging doch nich!! Martas Eltern hätten sie rausgeschmissen. Wo sollt ich mit ihr hin? Meine Eltern hätten sie noch wenigengenommen. Eine Wohnung kriegt man nich. Sie stand auf der Straße. Und wir beide in ein'n Zimmer und dann noch e Kind! Und das bisschen, was man sich gespart hat, langt auch nich weit. Und nächste Ostern wollt ich mal uff'n Jahr nach Berlin. Wir sind ja doch auch beide noch zu jung....."
„Wie alt seid ihr?"
„Ich vierundzwanzig und Marta zweiundzwanzig. Sieh mal, Konrad, wozu is denn der moderne Fortschritt da, hab ich mir gesagt. Man hat das doch heute in der Hand. Das is doch e Fortschritt. S'is doch mit'm modernen Menschen nich mehr so wie früher, dass man die Kinder einfach kommen lassen muss, ob's einem passt oder nich!"
„Wie hast du's denn eingerichtet?"
„Hier konnten wir's nich machen lassen. Sie hat in Magdeburg 'ne Kusine, die is da verheiratet. Und is 'ne aufgeklärte Frau. Da bin ich erst hingemacht und hab alles mit ihr besprochen. Und dann hat Marta zu ihren Eltern gesagt, sie ginge zu der Kusine auf Besuch, und dann hat se's in Magdeburg machen lassen. S'gibt da einen guten Arzt dafür. Es is natürlich sehr teuer, und sie hat ihre ganzen Ersparnisse reingeschustert."
„Deine nicht?"
„Nu----------------ich hab natürlich auch was zugegeben."
„Wie hat's Marta überstanden?"
„Ja siehste, das is es eben! Sie wollte es ja nich! Ich hab ihr zusetzen müssen, dass sie's tat, das dumme Ding. Im Anfang wär's ja leichter gewesen, aber nu im fünften Monat! Da war's 'ne schwere Sache. Sie is sehr krank gewesen.
Nu gehts ihr ja mit der Gesundheit besser, wenn auch nich gut. Aber sie kommt nich drüber hin und grämt sich. Ich weiß nich, was ich mit ihr anfangen soll. Drum bin ich ja zu dir gekommen."
„Warum kamst du nicht vor der Sache?"
„Och Konrad ... du hatt'st soviel zu tun.....ich wollte
nich stören."
Konrad sah ihn fest an. „Nicht wahr, Adolf, du bist dir über eins klar: Wenn unsere Unterredung irgend einen Sinn haben soll, — so dürfen wir keine Ausflüchte voreinander machen. Du kamst nicht zu mir, weil du wusstest, dass ich alles eingesetzt hätte, deine Tat zu verhindern. Nun es geschehen ist ..."
Es klingelte. „Da kommt Marta", sagte Adolf, erleichtert, dass ihr Gespräch an einer heiklen Stelle unterbrochen wurde. Er ging hinaus, Marta zu holen.

Als das Mädchen ins Zimmer trat, hatte Konrad Mühe, seine aufwallende Bewegung zu beherrschen. Mutter und Kusine hatten ihr Möglichstes getan, um sie herauszufüttern, — die Mutter in der Meinung, sie habe in Magdeburg eine schwere Influenza durchgemacht. So waren Gestalt und Gesicht aufgeschwemmt. Das Derbe, Bäuerliche ihrer Erscheinung hatte nur dieser geringen Steigerung bedurft, um in plumpe Unform überzugehen. Antlitz und Gestalt waren ihrer Reize entkleidet. Die Augen schauten klein und trüb aus dem fleischigen Gesicht. Ein Ausdruck unsagbarer Verstörtheit lag darin. Als sie Konrad erblickte, übermannte sie die Bewegung. Ein jähes Rot überflog ihr Antlitz. Sie gab ihm noch flüchtig die Hand; dann vergrub sie ihr Gesicht in beiden Händen und weinte.
Adolf führte sie — freundlich und verlegen — zu der kümmerlichen Bettstatt. Er setzte sich mit ihr nieder und versuchte, sie zu trösten. Doch er hatte damit wenig Erfolg. Nur zu gut spürte das Mädchen, wie billiges Mitleid sich mit dem Bemühen mischte, diese fatale Angelegenheit möglichst schnell zu beendigen. Sie empfand, was sie in all
diesen Wochen empfunden hatte, — dass sie allein stand. Fast hätte sie lieber an Konrads warmem, brüderlichen Herzen Zuflucht gesucht, als bei dem Manne, mit dem sie durch alle Freuden und Leiden der Liebe gegangen war.
Nach einigen Minuten raffte sie sich zusammen. „Sprecht doch", sagte sie. „Ich höre schon".
„Konrad", begann Adolf wieder, „das musste doch zugeben, — zurück können die Menschen nich mehr. Alle die modernen Erfindungen sind gemacht, und man kann se nich wieder in'n Brunnen werfen."
„Nein, das kann man nicht, Adolf. Die Menschheit muss sich irgendwie mit ihnen auseinandersetzen."
„Und es is doch auch 'n Fortschritt."
Konrad unterdrückte ein Lächeln. „So einfach liegt es wohl nicht, Adolf. Ein Eingriff wie dieser bleibt immer eine sehr gefährliche Prozedur, — wir wollen darüber nicht sprechen", fügte er mit einem Blick auf Marta hinzu.
Marta fuhr auf: „Doch! Doch! Gelogen wird genug in der Welt! Ich hab von den Frauen in der Klinik alles gehört. Ich weiß, wie oft ein Mädchen sich einen Schaden für's Leben holt. Ich weiß, wie krank ich war, und dass ich vielleicht nie wieder ein Kind haben werde, wo ich doch Kinder so lieb habe ..." Sie würgte das Schluchzen hinunter. „Wir wollen nich drumrum reden, Konrad! Deshalb komm ich nich zu dir. Das kann mir keinen Trost geben. Ich hab es all die Wochen in mich 'neingefressen. Mit keinem Menschen kann ich ein Wort darüber reden. Du bist der einzige.-------Hast du e bissel Zeit für uns?"
„Ich hab den ganzen Abend frei, Marta. — Aber erst musst du dir's bequemer machen!" Um sie aus der unerwünschten Situation zu befreien, schob er ihr den armseligen kleinen Lehnsessel heran. Sie löste sich aus Adolfs Armen und setzte sich in den Sessel, den Kopf hinten angelehnt, die Arme müde auf die Lehne stützend.
„Siehste, Konrad", begann sie mühsam, „das war mir schon so schrecklich. Als wir miteinander verkehrten, da
sollte immer verhindert werden, dass e Kind kam. Das hat mich geekelt, Konrad. Adolf hat immer gesagt: Das is altmodisch! Das is 'n überwundner Standpunkt! Konrad, ich glaub das nich!" *
„Ich auch nicht, Marta." Sie ah ihn groß an. Adolfs Gesicht verriet Unbehagen und Verlegenheit.
„Konrad", sagte er unsicher, „vielleicht weißte doch nich, wie das alles so für uns is?!"
„Was meinst du, Adolf?"
„Sieh mal, wenn ich an meine Mutter denke — sieben war'n wir, immer eins nach'm andern. Der Vater ging ins Wirtshaus, um die Misere nich alle Abend von vorne zu erleben. Eene Stube un eene Kammer hatten wir. Dreie von uns haben in een'n Bett geschlafen, zwee in der Küche aufm Boden mit 'n paar alten Kissen. Vom dritten Kind an sind wir alle rachitisch gewesen mit krumme Beine und dicke Gelenke. Wie die älteste Schwester siebzehn war, da hatte se schon das erste uneheliche Kind, hernach kamen noch zwee. Vater hat se gehaun. Mutter hat geheult. Dass der Alte soff, kann ich ihm heute kaum verdenken. Wahrscheinlich hätt ich's auch so gemacht. Aber nu lag alles auf Muttern alleine! Sie hat geschuftet von früh bis in'n späten Abend. Tagsüber ging se waschen, abends machte se den Haushalt. Sie hat sich geschunden, wie man kein Tier schindt! Das will ich für meine Frau nich haben!"
„Ja, Adolf. So ist das Proletendasein. Es war bei uns nicht anders, wenn auch unter bäuerlichen Lebensbedingungen manches anders aussieht. Wir hatten die gesunde Natur und waren im Sommer den ganzen Tag draußen. Aber dafür hatten wir in Notjahren, wenn Missernte gewesen war und die Bauern alles an sich hielten, nicht mehr die trockne Brotkruste. Mit 'nem Magen, der vor Hunger weh tat, bin ich oft zu Bett gegangen. Das ist die alte Proletenexistenz in der Stadt wie auf dem Lande! Die steht uns allen vor der Seele. Da müssen wir raus, auf jeden Fall! Die moderne Technik muss auch in dieser Beziehung in den Dienst der arbeitenden Menschheit gestellt werden. Aber Adolf, — jetzt sei ehrlich. Ist diese große Proletariernot und eure Angelegenheit wirklich dasselbe??!!"
„Nu,---------------------'s war der Anfang dazu gewesen!"
„Wie das?"
„Nu —--------Martas Eltern hätten sie rausgeschmissen,
und wir hätten auf der Straße gesessen—"
„Das is nich wahr", rief Marta dazwischen.
„Na, erlaube mal!"
„Unsinn!! 'S hätt einen großen Krach gegeben, und dann hätten sie mich behalten. Mutter is 's ja selber so gegangen. Sie is vom Lande. Da nimmt man das ja gar nich so! Ich war zwei Jahr alt, wie die Eltern geheirat't haben. Mutter hätte unsern möblierten Herrn gekündigt. Dann hätten wir zu Haus ganz gut leben können. Eng wär's gewesen und manchen Krach hätt's gegeben — aber 's wär gegangen."
„Ich danke dafür, mich mit deinen Eltern jeden Tag rumzuzerren!"
„Es war also nicht die nackte, bittere Not, die dich trieb, Adolf?" sagte Konrad. Adolf schwieg. „Dann aber frage ich dich: Was war es sonst?" Adolf antwortete nicht. „Du sprachst von dem Berliner Aufenthalt. Du sprachst von den Ersparnissen, die drauf gehen würden, von den Unbequemlichkeiten der Existenz. Ist das noch dasselbe, wie das Proletarierelend deines Elternhauses mit den rachitischen Kindern, der geschundenen Mutter und dem versoffenen Vater??!"
Adolf schwieg hartnäckig.
„Adolf, — — — mir scheint: Es war die Angst des Kleinbürgers vor dem Opfer der kleinen Freuden seines Daseins!!"
In Adolfs Antlitz begann es zu kämpfen. Seine gutherzige Seele hatte diese Wochen nicht ohne Erschütterung durchlebt. Doch er hatte die Stimme seines Herzens immer wieder zum Schweigen gebracht. Jetzt regte sie sich von neuem. Zugleich aber regte sich in ihm der Trotz gegen Konrad, der ihm in Gegenwart seines Mädchens solche Dinge sagte.
„Es hilft doch nu alles nischt mehr, Konrad." „Nein! Aber deswegen kommt ihr nicht zu mir. Es handelt sich darum, dass ihr die Not dieser Monate nicht umsonst durchlebt habt. Wir müssen uns nach einem Ausweg aus dieser Wirrsal durchtasten. Und wenn dabei kein gutes Haar an uns bleibt, — das ist nicht das Schlimmste!" Adolf sah mürrisch vor sich hin.
„Sieh Adolf, — ich erlebe es immer wieder. Die große Proletariernot führt man im Munde. Aber das kleine spießbürgerliche Dasein steht für so viele von uns dahinter!" „Konrad!! Das is allerhand!!"
„Wenn irgendwo, so macht hier die Verbürgerlichung des Arbeiters rapide Fortschritte. Wir haben hundertmal davon gesprochen, wie der Arbeiter, sobald es ihm besser geht, Stück für Stück die Lebensformen des Bürgers annimmt. Handelt es sich dabei um Kleider und Bücher, so ist es zwar schlimm genug, aber es mag noch hingehen. Handelt es sich dagegen um diese Dinge, so geht es um die Lebenssubstanz der Arbeiterklasse selbst. Da fallen alle Rücksichten. Adolf, ich meine: Was hinter deinem Handeln stand, war nicht die große Not der Arbeiterklasse, sondern die kleine Angst des Spießers, die Angst vor Unannehmlichkeiten, vor Verzichten auf kleinere und größere Freuden, auf äußeres Fortkommen und geistiges Fortkommen." „Konrad! Das verbitt'ch mir denn doch!" „Gleichviel! Ich muss es aussprechen, Adolf. Stand nicht auch die Feigheit des bürgerlich bestimmten Mannes dahinter, der sich vor den Folgen seines Handelns drückt und lieber Leben und Gesundheit der Frau riskiert?"
Da übermannte Adolf die Wut. „Ich bin nich hierher gekommen, um mich von dir wie'n Schuljunge abkanzeln zu lassen", schrie er. Konrad schwieg.
„Du hast ooch gar keen Recht dazu! Du lebst hier deinen Tag hin! Was wir durchgemacht haben, das haste nich durchgemacht!!" „Woher weißt du das?!!!------------"
„Es is leicht, den andern Spießer schimpfen und selbst sich um nischt kümmern!!"
„Adolf!!"
„Un keene Verantwortung haben! Un noch en nettes Amt
mit enem guten Gehalt dazu! Un-------die Kosten für Else
-----------trägt Franz!!-------Du hast gut reden!!"
Wie ein Donnerkeil schlug Konrads Faust auf den Tisch. Er sprang auf. Einen Augenblick standen sich beide Männer Auge in Auge gegenüber. Unwillkürlich wich Adolf einen Schritt zurück. Er senkte den Blick.
„Konrad", schrie Marta angstvoll. Da wandte sich Konrad langsam ab. Er begann mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.
— — — — „Du sprichst — — — — wie du's verstehst ------------"
„'S war nich so schlimm gemeint, Konrad."
Konrad schoss ihm einen Blick zu, dass er sich duckte. „Ich will dir erzählen, was ich erlebt hab! Seit zwei Jahren bin ich verheiratet. S'ist mir genau so gegangen wie dir. Wir haben auch das Kind gehabt, ehe wir soweit waren, dass wir einen Hausstand gründen konnten. Ich war Student. Mühsam hatt' ich's mir erkämpft!! Hedwig war auf dem Seminar. In der Gruppe der Jungsozialisten arbeiteten wir zusammen. Wir wollten warten — aber dann war das Kind unterwegs. Wir standen dort, wo ihr vor einigen Wochen standet. Die Abtreibung hätte ihr den Beruf gerettet. Mich hätte sie befreit von den Verpflichtungen des Vaters, gleichviel ob ehelich oder nicht. Alle äußeren Gründe sprachen für die Abtreibung. Da, Adolf, hab ich deinen Kampf gekämpft." Er blieb vor ihm stehen und sah ihn durchdringend an.
„Die Abtreibung war uns ein Ekel!!! Wir wollten sie nicht! Aber da haben wir's erfahren, was es heißt, die Folgen auf sich zu nehmen. Hedwig musste das Seminar verlassen, ich meine Studien aufgeben.
„Lass doch, Konrad", bat Adolf.
---------------------„Wie wurde es weiter mit euch?" fragte Marta.
„Ich brachte Hedwig in die Berge zu meiner Mutter, damit sie Hilfe und ein wenig Pflege fände. Aber ich konnte sie meiner Mutter nicht einfach aufhalsen. Sie hätt's natürlich gemacht. Aber es sind noch die jüngeren Geschwister da. Drum blieb mir nichts übrig, als der Berufswechsel. Ich musste verdienen. Ich nahm den Schlosserberuf wieder auf, den ich früher erlernt. Der Bub kam zur Welt, gesund und stark. Und das glaub ich: Ich werde der Arbeiterbewegung auch so dienen können!! Es hängt nicht daran, dass man studiert hat!" „Und nun?"
„Ja, das ist das Schlimme!! — — Als der Bub geboren war, blieb Hedwig noch einen Sommer lang mit ihm oben. Dann bekam sie eine Stelle als Kinderpflegerin in einem Heim. 'S war gegen meinen Willen, dass sie's annahm. Aber sie hängt an ihrem Beruf. Und unser Kind kann sie dort unter gesunden Bedingungen großziehen. Soll ich sie da herausreißen?" Er schwieg einen Augenblick.
„Sie steckt nun in dem Zwiespalt, wie ihn heute die verheiratete Frau durchmacht, auch wenn sie bei ihrem Mann ist: Zugleich Mutter und Berufstätige. Jedes fordert eine ganze Kraft. Ich selbst aber kann nicht dorthin ziehen. Es ist ein Heim in einer kleinen Gebirgsstadt. Wenn ich da wohne, kann ich in der Arbeiterbewegung nicht arbeiten. Anfangs dachten wir, die Trennung sollte auf ein paar Monate sein, nun geht es schon im zweiten Jahre. Wohin es führt, das habt ihr selbst gesehn — als Else hier war —
-------,Und die Kosten für sie trägt Franz', sagst du, Adolf!
Du weißt------------"
„Nein, nein, Konrad! Lass das!! Es war dumm von mir. Es war nich so gemeint!"
Ein düsteres Schweigen trat ein. Adolf war am schnellsten mit sich fertig:
„Sieh mal, Konrad, das kannste nu doch nich bestreiten: Es wär doch besser gewesen, wenn ihr das Kind hättet beseitigen lassen, und hätt't beide eure Berufsausbildung zu Ende geführt, und dann hätt't ihr geheiratet und hätt't e Familie auf ener ganz andern Grundlage gegründet. Besser wär's natürlich noch gewesen, ihr hätt't von vornherein verhütet, dass Hedwig in andere Umstände kam."
„Ja, Adolf. Darum geht's ja gerade, ob das besser gewesen wäre?! Ich sage dir, Adolf, wie ich hier stehe: Wenn ich das alles noch einmal von vorn durchmachen müsste, — ich würde heute genau so handeln wie damals."
Adolf erwiderte nichts mehr. Er lehnte an den erkalteten Bügelofen und sah vor sich hin.

*

Aber Marta war nicht mehr das leidende Weib.
„Konrad", sagte sie, und ihre kleinen Augen funkelten, „ich sage, es is alles eine einzge Schweinerei! All diese Mittel — das is einfach gemeene! Man sollte sie verbieten und ausrotten."
Mit einem Schlage war der Rationalist in Adolfs Seele wieder obenauf.
„Marta! Das verstehst du nich! Du bist eben vom Dorf!"
„Ob ich das verstehe!!! Ich hab's doch eben alles durchgemacht! Bist du nich auch der Ansicht, Konrad: Man sollte das alles verbieten!"
„Es is ja verboten", widersprach Adolf.
„Konrad, rede du! Sollte man das nich alles ausrotten?"
„Nein!"
Sie sah ihn verständnislos an.
„Aber ihr habt's doch nich so gemacht, Konrad!"
„Trotzdem."
„Ich versteh dich nich, Konrad."
„Ich kann die Sache nicht so einfach sehen, Marta."
„Wie meinsten das?"
„Gott, Marta!" fiel Adolf ein. „Es is doch so klar! Früher aufm Lande — da war man eben naiv. Da nahm man das als ,Segen vom lieben Gott!' Heut glaubt das 'n aufgeklärter Mensch nich mehr und damit hat sich's!"
„Lass Konrad reden! Was du denkst, das weeß'ch!" Und sie verzog die Mundwinkel spöttisch.
„Marta, kommst du noch manchmal zu deinen Großeltern auf den Bauernhof?"
„Ja, Konrad. Aber du glaubst nich, wie komisch da noch alles is. Ich kann das gar nich so sagen."
„Siehst du, Marta! Und nun nimm dagegen die Großstadt! Wo arbeitest du?"
„In der großen Nährmittelfabrik, draußen in Körwitz."
„In welcher Abteilung?"
„Wo die Waren fertig gemacht werden."
„Was machst du da?"
„Wir machen die Packungen."
„Wir?"
„Ja, es geht am Band. Du solltest das sehen, Konrad! Jeder macht was. Immer im Tempo! Dreizehn Mädels sind wir, die bloß Packungen fertig machen!"
„Jeder Griff ist ausprobiert, was?"
„Aber genau! Ich setze immer den Deckel auf die Pappdose, das heißt die Maschine macht's. Ich leite es bloß durch."
Adolf sah gelangweilt drein.
„Weißt du, Marta, wie man diese ganze Gestaltung des Arbeitsvorganges nennt?" „Das Band, Konrad." „Das meine ich nicht. Ich meinte ...." „Rationalisierung", sagte Adolf schulmeisterlich. „Das Wort hab ich auch schon gehört", bestätigte Marta. „Es is jetzt viel von die Rede."
„Man meint damit, dass jeder Arbeitsvorgang bis ins Einzelne untersucht und geordnet wird." „Ich verstehe, Konrad." „Ist das beim Bauern auch so?"
„Denkt nich dran! Es geht immer den alten Trott weiter!" „Ist die Rationalisierung der Fabrikarbeit im Großstadtleben ein vereinzelter Fall?" „Nee, Konrad! 's is hier alles so."
„Verstehst du nun, wenn ich sage: In der modernen Großstadt wird das ganze Leben rationalisiert, das heißt verstandesmäßig geregelt."
Sie nickte.-----------------„Und mit Mutter und Kind hat
man's auch so gemacht, nich wahr?"------------
Konrad schwieg einen Augenblick unter dem Eindruck
ihrer Worte. So primitiv sie waren, sie trafen ins Schwarze.
„Ja, Marta. Du hast recht! So hat man's mit Mutter und
Kind auch gemacht! — — — — — — — — — —
Wie man den Arbeitsvorgang rationalisiert hat, so ist man auch dabei, den Naturvorgang des geschlechtlichen Lebens zu rationalisieren."
Nun war Adolf obenauf. „Siehste, Marta, das hab ich dir ja immer gesagt. Es is eben einfach rückständig, wenn man meint, man sollte das alles laufen lassen, wie's läuft. Man muss den Naturvorgang rationalisieren!"
Marta warf ihm einen geringschätzigen Blick zu und sah fragend auf Konrad.
„Kannst du einen Augenblick glauben, Marta, man könnte nun auf einmal das Rad zurückdrehen und das alles ungeschehen machen?"
Sie schwieg widerstrebend.
„Meinst du, man könnte in die geistige Haut deines Großvaters zurückkriechen?"
„Nee, Konrad, allerdings nich." „Un es is e Fortschritt", beharrte Adolf. „Du immer mit deinem Fortschritt", erwiderte Marta schnippisch.
„Lassen wir mal den Fortschritt, Adolf! Das Wort hat einen so verdammt bürgerlichen Beigeschmack. Aber jedenfalls ist die Menschheit vor vollkommen neue Möglichkeiten gestellt. Ein Vorgang, dessen Rationalisierung vordem kaum möglich schien, ist heute weithin rationalisiert und wird voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten noch viel mehr rationalisiert werden. Wir stehen ja erst im anfang dieser Entwicklung und können ihren Verlauf noch gar nicht übersehen. Es kann eins der wirksamsten Mittel
werden, um dem Proletariat aus hoffnungsloser Versumpfung zu helfen! — Wer wollte das bestreiten!"
„Man könnte es wieder mit der Fabrik vergleichen", sagte Adolf. „Wie sie zuerst kam, da schrie alles Zeter und Wehe. Und 's war auch nich schön. Aber heute wissen wir, wir müssen durch und müssen sehen, wie wir das Beste draus machen."
„Ja, Adolf, da bin ich mit dir einig! Wir müssen das Beste daraus machen. Aber hier gerade — hakt's aus"-------

„Wie ist es denn heute?" begann Konrad wieder. „Die neuen Möglichkeiten stehen heute, wie alles übrige Leben, im Dienste des Kapitalismus."
„Wie meinsten das?" fragte Marta.
„Die Gummiwarenfabrik verdient daran, der Drogist und der Apotheker verdient daran, der Kurpfuscher und der gewissenlose Arzt verdient daran. Wer aber fragt nach den Menschen?!!--------"
„Stimmt, Konrad."
„Wie aber ist es mit uns Sozialisten? Gibt uns unser Sozialismus irgendeine Richtlinie für unser heutiges Handeln in diesen Dingen?"
Die andern schwiegen. Endlich sagte Adolf: „In der heutigen Gesellschaftsordnung is überhaupt nischt zu wollen."
,Nischt' scheint mir etwas zuviel gesagt! Aber sicher ist, dass wir auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung zu einer sinnvollen Rationalisierung des Geschlechtslebens nicht kommen. Darum gilt unser erster Kampf nicht diesem Sondergebiet des gesellschaftlichen Lebens, sondern dem großen Kampf um die Beseitigung der Klassenherrschaft."
Marta blickte erstaunt auf.
„Hast du denn das von Adolf nicht gelernt, Marta?" Sie antwortete nicht. Adolf sah sie mit einem Anflug von Geringschätzung an.
„'s is ganz klar, Marta", belehrte er sie. „Erst in der klassenlosen Gesellschaft können wir uns losmachen von all dem, was heute unser Geschlechtsleben runterzieht."
„Ächja", sagte Marta. Das herbe Lächeln der Enttäuschten spielte um ihren Mund. „Die Männer werden immer Männer bleiben."
„Du verstehst eben den Sozialismus überhaupt nich. In der klassenlosen Gesellschaft — da sind die Menschen ganz anders!"
„Lassen wir das in diesem Augenblick!" sagte Konrad. „Aber das ist das Entscheidende, Marta: Erst in einer neuen Gesellschaftsordnung kann auch dies Sondergebiet unseres gesellschaftlichen Lebens sinnvoll geordnet werden. Der große Kampf für die Bewegung enthält darum auch den Kampf für das kleine persönliche Geschick. Darum ist er auch für dich das erste."

„Und was soll bis zur neuen Gesellschaft mit dem werden, was sie unsre sexu—elle Not nennen?" Sie sprach das Wort ungelenk wie ein Abc-Schütz. „Sollen wir bis dahin handeln, wie's uns einfällt?"
„Ja, das ist die frage. Sie ist um so brennender, als es hier wie der Gesamtheit."
im besonderen Maße um das Leben geht — des einzelnen Sie schwiegen wiederum. Konrad nahm ein Buch zur Hand. „Ich will euch mal ne Stelle bei Bebel vorlesen. Sie hat mir viel Kopfzerbrechen gemacht:
,Der Mensch soll unter der Voraussetzung, dass die Befriedigung seiner Triebe keinem andern Schaden oder Nachteil zufügt, über sich selbst befinden. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist ebenso jedes einzelnen persönliche Sache, wie die Befriedigung jedes anderen Naturtriebes. Niemand hat darüber einem andern Rechenschaft zu geben und kein Unberufener hat sich einzumischen. Wie ich esse, wie ich trinke, wie ich schlafe und mich kleide, ist meine persönliche Angelegenheit, ebenso mein Verkehr mit der Person eines anderen Geschlechts.'"
„Das is allerhand, Konrad", sagte Adolf. „Du weißt, wie viel ich auf Bebel halte — aber hier kann ich ihm nich recht geben. Persönliche Angelegenheit is das nich." —
„Dann sind wir uns einig, Adolf. Ich möchte gradezu im Gegensatz zu Bebel sagen: Grade dieser Bezirk meines Lebens steht im besonderen Maße unter der Verantwortung der Gesamtheit gegenüber."
„Vielleicht, wenn Bebel heute lebte, würde er das auch sagen. Aber — — viel hilft uns das nich."
Konrad lachte ein wenig. „Ich dachte, Adolf, du würdest die Richtlinien für dein Handeln aus der Gesellschaft ableiten können?"
„Wir wollen davon nich wieder anfangen, Konrad."
„Soll mir recht sein! —Weiter kommen wir vielleicht mit einem anderen Gedanken. Er ergibt sich uns Arbeitern aus unserm Arbeiterleben. Warum sind wir empört, wenn wir wie Maschinenteile behandelt werden?"
„Weil wir Menschen sind!"
„Ist es nicht so, wir verlangen Ehrfurcht vor unserm Menschentum!"
„Na, Konrad, — Ehrfurcht — 's klingt e bissel unproletarisch! Neulich sagte der Lehrer Mörner von der achten Volksschule — ich treff ihn öfters bei den Freidenkern —: ,Wir rechnen die Ehrfurcht zu den religiösen Minderwertigkeitsgefühlen.'"
„Wenn der Lehrer Mörner das sagt, so beweist er nur, dass sein Menschentum verkrüppelt ist. Solche Ansichten sind die kleinbürgerliche Reaktion auf die Misshandlung des geistigen Menschen in den alten Lehrerseminarien. Der Arbeiter antwortet anders auf die Misshandlungen, die er erfährt. Er fordert sein Recht als Mensch! Und aus dieser seiner Grundhaltung wird er auch im Erleben von Mann und Weib, von Eltern und Kindern wieder ein neues Lebensgefühl zum Durchbruch bringen. Wie wir es nennen — was tut's!"
„Aber, Konrad, — — — die Rationalisierung willste trotzdem?"
„Selbstverständlich!! Siehst du unentwegter Marxist denn
nicht, dass wir auch hier wieder auf die Dialektik des Lebens stoßen??!! — — — dass auch hier wieder zwei entgegengesetzte Haltungen zu vereinen sind? Rationalisierung? Ja! Auf der einen Seite! Und zwar viel zweckbewußter, als sie heute geschieht. Noch stecken wir in einem Wust von Heimlichkeiten, Halbheiten, Unklarheiten. Die besonderen Gesetze dieses besonderen Lebensgebietes sind kaum halb erforscht. Tausend Zusammenhänge ahnt man heute nur. In zwanzig und dreißig Jahren wird man klar sehen! — — Auf der andern Seite: Lösung auch dieses Lebensgebietes aus dem Individualismus und Rationalismus, der noch bei einem Bebel ganz krass da ist. Einordnung in den geistigen Zusammenhang der Arbeiterbewegung und Neuordnung aus dem Geist der Ehrfurcht vor dem Lebendigen. — — Freilich — das ist ein heißer Kampf! Der Kampf auf der Barrikade ist nicht immer der schwerste.

Es war still geworden in dem kleinen Raum. Jeder brütete über den eignen Gedanken. Auf einmal hob Marta den Kopf. Sie sah Konrad fest an.
„Konrad! Kann man sein Leben noch mal von vorn anfangen?"
„Martl!! Ich hab mein Leben schon mindestens sechs mal von vorn angefangen! Wenn ich fünfzig bin, fang ich's sicher zum zwanzigsten mal von vorn an — falls ich's erlebe!"
Der Kampf auf ihrem Antlitz war gewichen. Ruhig und ernst sprach sie: „Ja, Konrad! Ich fange auch noch mal von vorn an! Und manches, was du heute gesagt hast, das werd ich nich vergessen. Wahr muss man sein in allen Dingen, nichts vertuschen und verheimlichen! Und an das Ganze denken, an die Bewegung — nich so sehr an sich selbst! Ich werd von nun an ganz anders mitarbeiten in der Bewegung. Und dann — wie du's nennst: Die Ehrfurcht."
Glückstrahlend war Adolf aufgesprungen. „Ja, Martl, wir fangen noch mal von vorn an!"
Mit fremden Augen sah ihn das Mädchen an: „Wir??!
--------Gewiss, Adolf!--------Du auch! — Aber------------
nicht mehr wir beide zusammen! Ich muss meinen Weg nun allein gehen."
„Marta!!!"
„Du verstehst das alles nich, Adolf. Du hast nur deinen Fortschritt."
„Aber Martl!! Meine gute Martl!!"
„Ich bin dir nicht bös, Adolf! Das musst du nich denken. Aber wir verstehn uns nich mehr. Leb wohl!"
Sie bot ihm ruhig die Hand. Er nahm sie nicht.
„Lass mich aus dem Haus, Konrad."
Sie gingen hinunter.
Als Konrad ins Zimmer zurückkam, saß Adolf auf der Bettkante und weinte wie ein Kind.

 

X. Die rote Fahne wird runtergeholt.

Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehen unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik!
Karl Marx.

Ein harter Winter lastete auf der Bevölkerung. Zur Kälte gesellte sich Nahrungsmittelnot. Die Kartoffelernte war infolge übergroßer Nässe missraten; die ohnehin geringen Vorräte faulten. Das wesentlichste Volksnahrungsmittel stieg von Woche zu Woche im Preise. Die Geduld der Massen begann sich zu erschöpfen. Wozu hatte man eine Arbeiterregierung, wenn sie nicht wenigstens dem Proleten für eine warme Stube und das bisschen Fraß sorgen konnte?
In den Betrieben hatte anfangs Waffenruhe zwischen den feindlichen Brüdern und erwartungsvolle Zuversicht auf das Handeln der Arbeiterregierung geherrscht. Nun begann es wieder unruhig zu werden. Daheim schimpfte oder jammerte die Frau; im Arbeitsverhältnis hatte sich wenig verändert — was sollte der ganze Mumpitz? Anarchisten und Syndikalisten fanden ein willigeres Ohr als sonst. Wilde Gruppen begannen sich zu bilden. Insbesondere spürte die kommunistische Partei den Abstrom breiter Massen, die von ihr die Heraufführung der Weltrevolution erwartet hatten.
„Nich mal de Kartoffelpreise können se unten halten!"
Die Regierung beschloss einzuschreiten. Billige Kartoffelpreise wurden festgesetzt. Die Kartoffeln verschwanden vom Markt. Die kleinen Bauern verfütterten sie, die großen führten sie ins Ausland. Man verbot die Ausfuhr. Der Großgrundbesitzer steigerte seine Spiritusfabrikation. Die Regierung beschloss, sie zu kontingentieren; aber die Maßnahme forderte Zeit. Die Not der Massen, die ihres wesentlichsten Nahrungsmittels beraubt waren, stieg. Der radikale Flügel gewann in der kommunistischen Partei die Oberhand. Er forderte die Enteignung der Kohlenbergwerke und des Großgrundbesitzes. Die Forderung, einmal in die Massen geworfen, wirkte wie ein fressendes Feuer. Der linke Flügel der Kommunisten hatte in wenigen Wochen die Oberhand innerhalb der eigenen Partei. Nun begann die kommunistische Partei die Forderung der Enteignung geschlossen zu vertreten und entsprechende Regierungsmaßnahmen zu fordern. Eine leidenschaftliche politische Diskussion setzte ein.
Emil saß in den Pausen abseits. Der Kommunist mit der Hornbrille beherrschte das Feld.
„Komm nur, mei Kleener!" rief er Emil zu. Emil sah weg. „Jawoll! Es passt dir nich, dass eure Bonzen wieder alles versauen!" Die andern grölten.

Am nächsten Tag warf der offiziöse Pressedienst der sozialdemokratischen Partei die Forderung: „Enteignung auf gesetzlicher Grundlage" als Losung der Partei in die Diskussion. Am Abend stürzte Emil zu Konrad, um sich Aufklärung zu holen. Er traf ihn nicht an. Aber er traf mit Otto zusammen. Sie gingen zu Walter, um gemeinsam die Frage zu erörtern.
„Mensch, wir müssen uns das zusammenknaupeln, was unsre Partei eigentlich meint."
Walter hatte mehrere Parteiblätter gekauft. „Hier is 'n Aufsatz von dem Genossen Steinthal, der uns das auseinandersetzt. Wir können auf dem Boden der bestehenden Verfassung enteignen."
„Ausgeschlossen! Die Weimarer Verfassung und Enteignung??"
„Doch, doch!"
Und Walter nahm die Verfassung von seinem Bücherbrett.
„Siehste, hier steht's ganz klar: ,Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden.' Also kann die Enteignung vorgenommen werden."
„Das hab ich nich gewusst."
„Ich auch nich."
„Wie ist's mit der Entschädigung, Walter?"
„Warte, das steht auch drin! Hier: ,Sie (das heißt die Enteignung) erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt.' Ja — — — Was heißt das nu eigentlich?"
„Man kann es so und so drehen", überlegte Otto. „Wenn man's ohne besonderes Gesetz macht, so muss Entschädigung gezahlt werden. Wenn man ein neues Reichsgesetz macht, so kann man's auch ohne Entschädigung machen."
„Dann sagt aber unsere Parteiparole nichts darüber, ob entschädigt werden soll oder nicht. Auf gesetzlichem Wege geht beides."
„Hm — dumm —. Da sind wir so schlau wie vorher."
„Na warum geben se denn so e zweideutige Parole?"
„Vielleicht wissen se selber nich, was se wollen!"
„Auf alle Fälle sollen se sich endlich dran machen!", murrte Emil.
„Wenn die andern aber meutern?" fragte Otto.
„Dann steht's beim Reichspräsidenten, einzugreifen."
„Wieso?"
„Darauf verweist Steinthal auch. Siehste hier: ,Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört oder gefährdet ist, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die ... Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.'"
„Was sind'n das für Rechte?"
„Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Redefreiheit, Unverletzlichkeit der Person und so was."
„Donnerwetter! Dann kann also auf dem Boden der Verfassung der Reichspräsident eine Art Diktatur ausüben?!"
„Scheint so."
„Dann liegt's also zum großen Teil beim Reichspräsidenten. Denn wenn wir anfangen zu sozialisieren, so machen die andern Krach. Das is sicher. Wenn er will, kann der Reichspräsident gegen sie vorgehen — wenn er nich will — hm —."

In der Frühstückspause setzte sich Emil am folgenden Morgen nicht mehr abseits.
„Na, Kleener, haste uns wieder was vorzupredigen?" empfing ihn sein Gegner.
„Allerdings! Haste die Parole unserer Partei gelesen?"
„Nee! Eure Stinkblätter les ich nich."
„Wir wer'n ooch für die Enteignung eintreten. Aber auf gesetzlicher Grundlage."
Ein Geheul war die Antwort.
„Allerdings!" ereiferte sich Emil. „Die Verfassung erlaubt die Enteignung."
Sie wieherten. „Die Verfassung!! Mensch, die Verfassung!! Die saure Gurke!! Haste Worte!"
„Und wie is's mit der Entschädigung, mei Kleener —!" krallte ihn der Bebrillte von neuem an. Emil zögerte.
„Na, dir geht woll die Puste aus?"
„Quatsch! Nach der Verfassung soll entschädigt werden, aber ...."
Seine Worte gingen im Gebrüll der andern unter.
„Ooch noch ne Entschädigung!!"
„Diese Schweine!!"
„Das fehlte grade noch!"
„Saubande!"
„Das hab ich ja gar nich gesagt", schrie Emil. „Der Reichstag kann's ja ooch anders beschließen!!"
„Der Reichstag!!"
„Das alte Affentheater!"
Und sie brüllten vor lachen.
„Menschenskinder, regt euch nich uff", sagte ein älterer Arbeiter, der vorüberging. „'s bleibt doch alles im alten Dreck!"

Am Abend saßen Konrad und sein Vorgesetzter nach getaner Arbeit noch eine Viertelstunde zusammen. Der Jüngere war längst der vertraute Freund des Älteren geworden. Schweigend sah der Reichsbannerführer vor sich hin.
„Ein Schiff auf hoher See ohne Kapitän und ohne Steuermann. Und dabei bietet die Situation reichere Chancen denn je. Eine energische Sozialisierungsaktion ohne Verletzung des Eigentumsrechtes hätte die weitaus größte Mehrheit hinter sich."
„Sie meinen, dass wir von dem Recht des Reichstags, eine entschädigungslose Enteignung zu beschließen, keinen Gebrauch machen können?"
„Auf keinen Fall. Das bedeutet das Chaos. Meinen Sie, dass die Ententemächte eine solche Aktion ruhig mit ansehen würden? Und dass Russland uns nicht helfen kann, weiß jedes Kind. Die Entente hat uns in der Hand — Russland nicht."
„Eine Enteignung mit Entschädigung ist ein Notbehelf!"
„Das ist sie! Aber es wäre ein Anfang! Die großen entscheidenden Sozialisierungsaktionen können auf diesem
Wege nicht gemacht werden. Sie werden ohne Bürgerkrieg nicht abgehen. Aber so weit sind wir heute nicht. Solange wir in der Hand der Entente sind, ist das Vorgehen unter Achtung des Eigentumsrechtes unsere einzige Möglichkeit. Denken Sie an England. Die Labour Party propagiert die Enteignung der Kohlenbergwerke. Aber sie will zugleich durch Besteuerung des arbeitlosen Einkommens die Mittel dazu aufbringen. In gleicher Weise ist auch uns der Weg gewiesen."
„Wir sollten diese Dinge einmal in dem größeren Kreise, der persönlich zu mir hält, besprechen", sagte Konrad. „Es handelt sich um eine Anzahl Genossen, die heute haltlos hin-und herschwanken."
„Kein Wunder! — Ich bin gern bereit, wofern der Dienst es zulässt."

Unter dem Druck der öffentlichen Meinung beschloss die Regierung, einen Gesetzentwurf über die Enteignung einzubringen. Die kommunistischen Regierungsmitglieder kämpften für entschädigungslose Enteignung. Die soziademokratischen traten für Entschädigung ein. Trotz ihrer Zweideutigkeit wurde seitens der sozialdemokratischen Partei die Parole; Enteignung auf gesetzlicher Grundlage" beibehalten. Der Presseapparat beider Parteien arbeitete mit Volldampf. Alles spannte auf den Ausgang des Ringens. Endlich erschien der Entwurf. Er stellte einen sorgfältigen Organisationsplan für eine sozialisierte Kohlenwirtschaft dar. Da er nach Schluss der Redaktion erschien, wurde er durch Extrablätter bekannt gegeben. Als Emil mit seinen Genossen das Werk verließ, standen die Verkäufer draußen und boten die Blätter an. Im Nu waren sie von Hunderten umringt. Man riss ihnen die Blätter aus der Hand.
„Endlich!" frohlockte Emil. Er durchflog das Blatt. „Genossen, die Regierung handelt einheitlich; — die Sozialisierung wird gemacht!!"
„Wie is's denn mit der Entschädigung?" fragte der Mann mit der Hornbrille.
„Ja so------------ich hab das übersehen.------------Warte
mal!" Er überflog das Blatt zum zweiten Mal. „Ich finde es nich!"
Sein Gegner begann zu grinsen. „Gib mal her!" Er las mit hochgezogenen Brauen.
„Da steht's ja! ,Über die Frage der Entschädigung entscheidet ein späteres Gesetz.'"
Emil sah verdattert drein.
„Aber was soll denn das? Die Entschädigungsfrage is doch die Hauptsache!!"
Der andere brüllte laut auf vor Lachen.
„Mensch!!! Die Courage is ihnen in die Hosen gerutscht. Sie haben sich nich getraut, ja oder nein zu sagen!! Se wissen selber nich, ob se entschädigen wollen oder nich!!"
Er hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Das is doch nich möglich!" schrie Emil. „Auf die Entschädigungsfrage kommt doch alles an!!"
„Na, so lies doch selbst!!"
Emil riss ihm das Blatt aus der Hand und las noch einmal. Dann zerknüllte er den Wisch, schmiss ihn auf den Boden und spuckte aus. Die andern Arbeiter hatten zugehört.
„Genossen!" schrie der Kommunist, „es is alles en eenziger großer Misthaufen. Nischt machen se!! Es lebe die Weltrevolution!!"
Die Abendblätter beider Arbeiterparteien brachten Siegesfanfaren. Jede Partei hatte über die andere gesiegt, jede die eigene Meinung in dem Gesetzentwurf durchgedrückt. „Die Weltrevolution marschiert" schrieben die Kommunisten, „Enteignung auf gesetzlicher Grundlage unter Führung der SPD." die SPdBlätter. Dass die Kernfrage umgangen war, entging in dem Freudenrausch über die bevorstehende große Aktion neunzig Prozent aller Leser. Die bürgerlichen Blätter gossen ihren ganzen Hohn über diese Politik aus, die sich um die Kernfrage herumdrückte. Aber welcher Prolet las sie?
„Sie sehen, Amthor", sagte der Reichsbannerführer zu seinem jüngeren Kameraden, „Führer und Geführte sind einander wert. Eine Masse, die sich so nasführen lässt — kann sie einen großen Führer überhaupt vertragen?"
Emil platzte in ihr Gespräch. Er kam, wütend und verzweifelt.
„Mensch, was soll das werden?! Haste die Gemeinheit gemerkt, dass sie die Hauptsache totschwiegen?"
Konrad zuckte die Achseln.
„Es is en Skandal!! So den Arbeiter zu nasführen! Was tu ich denn mit dem ganzen Entwurf, wenn die Enteignungsfrage nich geklärt is??!!"
Der Reichsbannerführer klopfte ihm auf die Schulter. „Nicht den Kopf verlieren, Genosse. Wir kämpfen nicht umsonst — und wenn's noch so schief geht."
„Noch eins, Emil", sagte Konrad. „Wär's nicht gut, wir trommelten mal alle unsere Leute zusammen, um zu den Ereignissen Stellung zu nehmen? Ich meine nicht nur den engeren Freundeskreis, sondern alles, was sich zu uns hält?"
„Ja, Konrad! Woll'n mer machen."
„Wann geht es?"
„Sonnabend Abend!"
„Wäre es Ihnen möglich, sich den Abend frei zu machen?"
„Ich hoffe!"
„Also dann am Sonnabend 8 Uhr hier in unserm Saal."

Die Agitation beider Parteien verdoppelte sich. Die sozialdemokratische Presse nahm nunmehr die Forderung nach Enteignung unter Entschädigung auf der ganzen Linie als Parteiparole auf. Sie hatte den größeren agitatorischen Apparat. Trotzdem war der Erfolg auf Seiten der Kommunisten. Ihre von Anfang an eindeutige Haltung hatte suggestive Kraft. Ihr Schlachtruf: „Den Boden und die Bodenschätze dem Proletariat!" schlug durch. Kein Nachdenken wurde gefordert. Und die Wirksamkeit ihrer Demonstrationen übertraf die der Sozialisten bei weitem. Unaufhaltsam strömten die Massen ihnen wieder zu. Mit wachsender Besorgnis verfolgten die leitenden Instanzen der SPD. den Mitgliederverlust.
Am Sonnabend trafen etwa sechzig jüngere Arbeiter und Arbeiterinnen auf dem Büro des Reichsbanners ein. Wie sie einst herausgeströmt waren in die weite Aue, eine frohe, kampfbereite Schar, so kamen sie jetzt in der Stunde der Not wieder zusammen. Konrad empfing sie und sprach mit den einzelnen. Der Reichsbannerführer kam. Er trat aufs Podium. Der Ernst der Stunde ergriff alle. Spontan erhoben sie sich von ihren Sitzen. Die Internationale wogte durch den Raum.
Dann sprach der Führer. Er konnte ihnen die Unentschlossenheit der eigenen Partei nicht verhehlen. Zu ihrer Erklärung verwies er auf die politische Lage. Seine Ausführungen gipfelten in dem Hinweis auf die außenpolitische Situation.
„Auf eine Enteignung ohne Entschädigung hin würde sich das gesamte ausländische Kapital wie ein Mann gegen uns zusammentun. Es beherrscht alle Regierungen."
„Die Arbeiterinternationale", rief man dazwischen.
„Genossen, sie ist ein gespaltenes Häuflein — — einige Büros mit einigen Tippdamen, und das eine arbeitet gegen das andere. Das Kapital arbeitet nicht mit großen Worten. Die Barrikadenromantik, zu der man euch erzogen hat, zerschellt an seiner Machtposition wie Schaum an einem Felsen."
Ruhig, sachlich, zugleich väterlich gütig kamen seine Worte. Gleichwohl lösten sie weithin Widerstand aus.
„Russland!" rief ein Zwanzigjähriger. „Es hat sich gegen die Entente behauptet — warum nicht wir?" Er legte ihnen den Unterschied dar.
Sternbergsche Schlagworte prasselten dazwischen: „Das Minimum an Sozialisierungsreife ist erreicht!"
„Was heißt das, Genosse?"—
Langsam begann der Widerstand zu weichen ...
Da sprang Konrad auf die Rednertribüne.
„Genossen, lasst uns nicht so auseinander gehen! Es ist die
Stunde der Gefahr! Genossen, gelobt es, für die Parole der Partei einzutreten!! Mit Leib und Leben!"
Tiefe Stille folgte seinen Worten. Aber er las in ihren Augen. Er sah ihren Willen, sich für die Parteilosung einzulegen.
„Genossen", rief er in leidenschaftlicher Aufwallung, „wollt ihr es geloben: Ich verspreche, die Forderung der Partei: ,Sozialisierung unter Entschädigung' gegen alle angriffe bis zum letzten zu verfolgen?"
Ein einstimmiges Ja war die Antwort.
„Wollt ihr euch durch keine fremde Agitation, keine äußere Wendung der Politik irre machen lassen, sondern euch unentwegt für das einmal erkannte, von der Partei verfochtene Ziel einsetzen?"
„Ja!!!! -"
Und wiederum brach es unvermittelt aus ihren Herzen; „Wir sind die Schmiede! Der Zukunft Schlüssel! Mit unseren Hämmern schmieden wir! Lasst lustig kreisen die schweren Hämmer, Schwingt auf den Feind sie für und für."
Als sie auseinander gingen, kam Emil noch einmal zu Konrad heran. Er schüttelte ihm die Hand.
„Nun weiß ich wenigstens, unter welcher Parole ich kämpfe!"

Am Montag sollte im Reichstag der Gesetzentwurf verabschiedet werden. Zweite und dritte Lesung sollten hintereinander vorgenommen werden. Man wusste, dass um 2 Uhr die Sitzung beginnen würde. Um 6 Uhr erschien das erste Radiotelegramm: „Die KPD. hat den Antrag eingebracht, dem Gesetz einen § 26a einzufügen: ,Die Enteignung geschieht ohne Entschädigung.'" Otto und Walter kamen zu Emil gestürzt. Sie wussten, dass er einen Radioapparat hatte.
„Wann ist die nächste Sendung?"
„Heut Abend nach Schluss der Sitzung." Sie warteten.
„Die Kommunisten kommen auf keinen Fall mit ihrem
Antrag durch. Unsre Partei stimmt geschlossen dagegen. Damit hat sich's!"
„Selbstverständlich!"
Um 10 Uhr ein weiteres Radiotelegramm. „Die Debatten im Reichstag über die Entschädigungsfrage sind noch nicht beendet."
„Ich weeß eigentlich nich, warum se so lange quasseln", sagte Emil. „Die Stellung unserer Partei is festgelegt. Die Bürgerlichen wissen ooch, was se wollen. Was mähren se so lange?"
Es wurde 12, es wurde 1. Emil ließ den Hörer nicht mehr vom Kopf. Da 1.45 Uhr, Radiomeldung über das Ergebnis der Sitzung. Emil drückt den Hörer krampfhaft ans Ohr. Aber schon nach wenigen Sekunden fährt seine geballte Faust auf den Tisch. Sein Gesicht verzerrt sich. Noch stenographiert er das Ende der Botschaft. Dann reißt er den Hörer vom Kopf und haut ihn auf den Tisch, dass er in Stücke springt.
„Gottverdammte Schweinebande!!!"
„Mensch!!!-------------Was is los???---------------------------
„So sprich doch!!"
Mit heiserer Stimme liest er das Stenogramm: „Der Gesetzentwurf wurde mitsamt dem kommunistischen Zusatzantrag mit 178 gegen 163 Stimmen angenommen. Dafür stimmten die Kommunisten, die Nationalsozialisten und ein Teil der katholischen Volkspartei. Die sozialdemokratischen Abgeordneten verließen vor der Abstimmung zum größten Teil den Saal."
Schweigen ....
Dann lacht Emil laut und gellend. „Gekniffen haben se!!! Diese Scheißer!! Diese Mistfinken!!"
Er rennt wild im Zimmer auf und ab. Zusammengefasst wie ein Soldat steht Otto. Seine Züge sind wie versteinert. Seine Augen starren ins Leere. Die andern hocken herum, ohne etwas zu sagen.
„Aber nu weeß 'ch wenigstens, was 'ch zu tun hab!!" schreit Emil wieder. „Adjöh SPD, Adjöh Konrad, Adjöh Reichsbanner! Ich gehe zu den Kommunisten!"-------
Auch Konrad und sein Vorgesetzter hatten die Entscheidung abgewartet.
„Es ist aus, Amthor", sagte der Ältere, als er das Telegramm gehört hatte. „Zu den Kommunisten zu gehen, hat keinen Sinn."

Am nächsten Morgen klingelte Otto um 8 Uhr bei Konrad an.
„Ich gehe in meine Heimat zurück."
„Was willst du da?"
„Das weiß ich selbst nicht. Leb wohl!"
„Leb wohl!"
Emil vermied an diesem Morgen jedes Gespräch mit seinen Kameraden im Werk. Er wollte wenigstens noch die Zeitungsberichte abwarten. Vor den Fabriktoren wurden sie angeboten. „Großer parlamentarischer Erfolg!" schrieb das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei. Und der Leitartikel machte den Lesern klar, dass es der politischen Weisheit letzter Schluss sei, das faktische Kräftespiel richtig einzuschätzen und danach zu handeln. „Die Politik ist die Kunst des Möglichen." Die Verantwortung aber für den Kladderadatsch, der aus der Annahme des Gesetzes über entschädigungslose Enteignung folgen müsse, trage allein die KPD. Die Masse der Leser war befriedigt.
Den Tag darauf ging Emil den Kommunisten nicht mehr aus dem Wege. Triumphierend stürzte sich der alte Gegner auf ihn.
„Halt's Maul", schrie ihn Emil an. „Ich trete bei euch ein."
Der Bebrillte stieß einen Freudenschrei aus.
„Ich bringe dich selbst hin, damit se aufm Büro kein Misstrauen haben."
Eine Stunde nach Schluss der Fabrik war Emil eingeschriebenes Mitglied der kommunistischen Partei.
„Es kommen sicher noch viele von uns", sagte er den neuen Genossen. „Fragt mich nur, ich gebe euch Auskunft!"
Der Sekretär, der ihn aufnahm, hatte ihn aufmerksam gemustert.
„Komm heut Abend um 8 Uhr in die Lange Straße Nr. 8, Hof eine Treppe", sagte er, als Emil ging.
Zur Mittagszeit war Adolf auf Konrads Büro gekommen.
„Adolf — durchhalten — trotz allem!"
„Neee — mei Guter!!! Jetzt is Schluss! Ich komme, um dir das zu sagen. Ich stecke alle politische Arbeit uff und arbeite nur noch bei den Freidenkern.
' Um 4 Uhr klingelte Walter an. „Ich hab gestern die halbe Nacht mit drei andern debattiert. Was wir dir versprochen haben — das geht nicht mehr! Wir haun ab. Wir gehn auf Wanderschaft. Auf Wiedersehn!"
„Auf Wiedersehn!"
Ein Mädel klingelte an. „Konrad-----------Die Änne und
die Gretl und ich------------, wir wissen nu gar nich mehr,
was wir machen sollen! — — — Das mit der Partei, das können wir nich mehr mitmachen, sagen die Burschen. Bist du uns böse?"
„Unsinn!"
„Auf Wiedersehn, Konrad!"
„Auf Wiedersehn."
Um 6 Uhr kam Marta. „All die Zeit hab ich mitgearbeitet. Aber nu kann ich nich mehr! Ich weiß nich mehr ein noch aus."
„Trotzdem müssen wir weiterarbeiten."
„Aber ich glaub doch nich mehr dran? Glaubst du denn noch dran?"
Er schwieg.
„Ich glaub, es is richt'ger, ich arbeite bei den Kinderfreunden weiter."
„Vielleicht, Martl."
Sie gab ihm die Hand und ging.
Am Abend zog ein Trupp aus Konrads Kreis, Burschen und Mädels, grölend an seinem Fenster vorbei. Sie sangen das Jungspartakuslied. Briefe trafen ein. Burschen hauten trotzig ab. Mädels nahmen gerührt Abschied. Ein Namenloser schickte ein Spottgedicht auf die Partei.
*
Emil hatte die Bestellung nach der Langen Straße Nr. 8 nicht versäumt. Er fand einen geschlossenen Kreis von etwa sechzig Arbeitern, ganz überwiegend junges Volk. In zwei Zimmern drückte man sich eng zusammen. Die Fenster waren dicht verhängt. Auch kamen die Teilnehmer einzeln, um nicht aufzufallen. An der Tür hing ein Schild: „Radioklub: Gemütlicher Abend". Einige Kopfhörer lagen auf den Tischen herum. Der örtliche Parteisekretär war anwesend. Er nahm Emil beiseite.
„Genosse, es ist ein großes Vertrauen, das wir dir beweisen, wenn wir dich so schnell nach deinem Eintritt in die Angelegenheiten hier einweihen. Aber es geht heute ums Ganze! Außerdem brauchen wir deine Dienste besonders, weil du im Unawerk arbeitest."
Man sammelte sich. Der Sekretär nahm das Wort:
„Genossen! Ihr alle wisst, dass unsere Partei sich nicht auf den parlamentarischen Weg verlässt. Sobald die kapitalistischen Blutsauger sehen, dass es ihnen wirklich an den Kragen geht, meutern sie. Natürlich müssen und werden ihre Anschläge an dem organisierten Willen des klassenbewussten Proletariats zerschellen ..."
„Bravo!"
„Daher haben wir von langer Hand her vorgebaut. Das wisst ihr. Auf Grund der gestrigen Ereignisse im Reichstag hat aber unsere Leitung ihre Pläne umgestellt. Wir haben Zeit gewonnen. Nachdem die SPdLeute im Reichstag zu Kreuze gekrochen sind wie krumme Hunde" — Bewegung unter den Versammelten —, „können wir unsere Aktion um zwei Wochen hinauschieben. Sie kann dann noch besser vorbereitet werden. Ihr Ziel bleibt dasselbe. Wir besetzen die größten Werke der Schlüsselindustrien, nehmen sie in eigene Verwaltung und gewinnen damit Hochburgen für den proletarischen Kampf."
Man demonstrierte Beifall. Emils Herz krampfte sich zusammen. Er kannte die Misserfolge, die man in Italien mit solchen Versuchen geerntet hatte. Aber er hatte die Brücken
hinter sich abgebrochen. Jetzt vorwärts auf Gedeih und Verderb. Wenigstens wurde hier gehandelt!!
„Genossen!" fuhr der Sekretär fort. „Wie ihr wisst, handelt es sich in unserm Bezirk darum, das Unawerk in die Hand zu bekommen. Wer arbeitet dort?" Etwa zehn Mann, darunter Emil, meldeten sich. „Mit euch verabrede ich hernach die Einzelheiten der speziellen Aktion. Die andern haben den Generalstreik in ihren Betrieben vorzubereiten und ihre Rotfrontabteilungen für die Aktion sturmfertig zu machen. Am 24. bricht in allen großen Werken Deutschlands, also auch im Stickstoffwerk Una, der von uns organisierte Streik aus. Am 25. wird der Generalstreik verkündet. Die Eisenbahnen stehen still. In der allgemeinen Verwirrung besetzen unsere Leute die Werke. Rotfronttruppen, die wir bereit halten, unterstützen sie. Am 26. wird Berlin genommen und der Reichstag besetzt. Dann wird die Räterepublik ausgerufen und die Diktatur des Proletariats errichtet ..." '
Noch einmal packte Emil der Widerwille------------Doch
nein!-------Nein! Nicht mehr denken und nicht mehr zweifeln! Die Stunde ist da, wo man handeln muss. —
In der Nachkonferenz bekam er seinen speziellen Aktionsplan. Der Aktion im Werk standen besondere. Schwierigkeiten im Wege, weil die Direktion ihre Pläne zur Wehrlosmachung der Arbeiterschaft restlos durchgeführt hatte. Aber die Kommunisten hatten seit Monaten vorgearbeitet.
Emil als Maschinist war für den Putsch besonders wichtig. Denn die Besetzung der Maschinenanlagen und der Verwaltungszentrale sollte der entscheidende Schlag sein. Emil kannte seine Leute.
„Zwei Mann in meinem Bau sind dagegen, drei sind unsicher."
„Also müssen die zwei unschädlich gemacht werden. Übernimmst du sie mit dem Genossen Greinow zusammen?" Es war der Kommunist mit der Hornbrille. Emil schwankte einen Augenblick.
„Wie soll ich das machen?"
„Fesseln oder totschießen — je nach der Lage."
Emil zögerte. — — —
„Hast wohl bange??!" — — —
„Nein — — Ich übernehm's."
„Abgemacht. Und im übrigen bis zum 24. mit allen Mitteln werben. Vor allem unterwegs in den Bahnen. Doch auch hier mit Vorsicht wegen der Spitzel."

Das Ausland antwortete auf das Gesetz über die Enteignung mit scharfen Repressivmaßregeln. Die amerikanischen Trustmagnaten machten von einer Vertragsklausel Gebrauch und kündigten eine Reihe von Krediten fristlos. Der Geldmarkt geriet in Aufregung. Die Mark begann rapid zu fallen. Die englische Regierung zog bedeutende Flottenkontingente in der Nordsee zusammen. Eine sofort anberaumte nächtliche Parlamentsdebatte darüber ergab, dass bei einer Enteignung unter Verletzung des Eigentumsrechtes auch die Labour Party wirtschaftliche Repressivmaßregeln, wie Abschneidung der Rohstoffe, nicht hindern werde. Frankreich, Italien, die Tschechoslowakei, Polen verstärkten ihre Truppen an den Grenzen. Es war klar, dass sie die Repressivmaßregeln Englands ergänzen würden. — — — — Die Arbeiterinternationale erließ einen Protest. — — — —
Die Maßregeln der Entente hatten in Deutschland eine weitere Erschütterung der Gesamtlage zur Folge. Der Bürger wurde nervös. Seine Papiere waren bedroht! — — —
„Ein neuer Krieg!!" — — „Inflation!!" — — „Wirtschaftlicher Zusammenbruch!!"-------so heulte es von allen
Seiten. Der Ruf nach Ordnung begann alle anderen Regungen zu übertönen. Man schrie nach dem starken Mann. Auch weite Kreise der Arbeiterschaft wurden in diese Panikstimmung hineingezogen.
Unterdessen trafen die Kommunisten im Unawerk ihre letzten Vorbereitungen. Einer der Pförtner am Werk war bestochen und bemerkte die Pistolen nicht, welche die Arbeiter in den Stiefeln einführten. Sie wurden zweckentsprechend verteilt. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln der Direktion boten Kantine, Garderobe und Abort Möglichkeiten zum Austausch. Am 20. war noch einmal Versammlung in der Langen Straße Nr. 8. Alle hatten angestrengt gearbeitet. Der Sekretär war zufrieden.
„Nu noch vier Tage, Genossen, und unsere Aktion bricht an!"
Am nächsten Morgen machte sich Emil wie gewohnt auf den Weg. Der Arbeiterzug, den er benutzte, um das Werk zu erreichen, war wie immer überfüllt. Die meisten saßen stumpf auf ihren Plätzen und dämmerten noch ein wenig. Da hielt der Zug auf freier Strecke.
„Is ihm mal wieder die Puste ausgegangen!"
Laute Männerstimmen, Geschrei, Gezänk. Man horcht auf. Ein Schuss. Was ist los? Emil springt auf. In demselben Augenblick wird die Tür des Abteils geöffnet. Ein Stahlhelmoffizier grüßt militärisch.
„Meine Herren! Der Eisenbahnverkehr ist an dieser Stelle unterbrochen. Verhalten Sie sich ruhig. Wir bringen Sie sicher nach der Stadt zurück. Aber es dauert eine Weile."
„Ihr seid wohl verrückt geworden", schreit Emil.
„Verhalten Sie sich ruhig!"
„Aas, verdammtes!! Meinst du, du kannst mir befehlen?!!"
Und er drängt sich zur Tür, um den Wagen zu verlassen. In demselben Augenblick hält ihm der Stahlhelmmahn die Pistole vor die Brust. Zugleich lässt er einen Pfiff ertönen. Zwei Mann sind sofort zur Stelle.
„Entweder Sie verhalten sich ruhig, oder ich lasse Sie abführen und erschießen."
„Ihr Hunde....!!!"
Ein Stoß vor die Brust, dass er zurücktaumelt —, und das Abteil ist verschlossen.
„Mensch, reg dir bloß nich uff", sagt ein Arbeiter. „Mer wärrn geschunden — so oder so. Uns kann alles eens sein."
Die andern brummen zustimmend.
Eine Stunde später war die Belegschaft des Zuges zur Stadt zurücktransportiert. Auf den Bahnhöfen Stahlhelmer. Die Stadt ruhig. Aller Nachrichtenverkehr unterbunden.
Emil stürzte zur Längen Straße. Etliche waren schon da, die andern kamen nach und nach. Auch der Sekretär erschien.
„Lasst euch nich bluffen, Genossen. Wir haben uns erkundigt. Se sind ganz schwach. Berlin haben se nich. Wir kloppen se raus. Allerdings werden wir mit den Schweinen vom Reichsbanner zusammengehen müssen."
Zur selben Stunde hielt die Reichsbannerführung des Ortes ihre Konferenz ab. Die telephonische Verbindung nach Berlin war unterbrochen. Aber die Nachrichten, die von andern Stellen kamen, lauteten ähnlich wie die der Kommunisten.
„Wir müssen mit Rotfront und Polizei gemeinsam arbeiten."
Das Telefon mit der Polizei und dem Rotfrontbüro ging hin und her. Boten rasten durch die Straßen. Um 11 Uhr teilte der Reichsbannerführer seinen Leuten das Ergebnis mit:
„Die Schupo wird die militärische Aktion in die Hand nehmen. Reichsbanner und Rotfrontkämpfer werden sie unterstützen. Der Plan ist dieser: Die Schupo belegt die geheime Zentrale des Stahlhelms in der Domgasse mit ein paar Bomben. Dann sind sie desorganisiert. Wir kreisen dann ihre Truppen von drei Seiten her ein, indem wir von Süden, Osten und Westen her in die Stadt eindringen. Die Schupo nimmt die zentrale Stellung im Süden. Die andern unterstützen sie."
Um die Mittagstunde war man kampfbereit. Der Oberbefehl über das Reichsbanner war Konrad übertragen. Die Aktion vollzog sich planmäßig. Kaum war die Befehlszentrale in der Domgasse mit Bomben belegt, als die wenigen überlebenden Führer herausstürzten und sich zu bergen suchten. Sie fielen den Maschinengewehren der Schupo zum
Opfer. Gleichzeitig begannen die Schupotruppen von Süden her vorzurücken.
Konrad hatte seine Position im Westen der Stadt. Er hatte Befehl zu erwarten, bis die Schupo sich dem Zentrum der Stadt näherte. Seine Leute waren ungeduldig.
„Der Kerl mit seiner verfluchten Ruhe wird alles verderben."
„Er is überhaupt en Verderber. Er hat viele verwirrt."
Ein Kamerad, der ihre "Worte hörte, sah sich vorsichtig
um. Er war einmal von Konrad wegen Disziplinbruchs
hart bestraft. Auch war sein Mädchen bis über die Ohren
in Konrad verschossen.
„Ihr habt recht. Der Kerl versaut alles. Man sollte ihn wegputzen."
„Nimm dich in acht!" „Wenn ihr mich deckt, so riskiere ich's." „Wir sagen nichts."
Die Reichsbannertruppen bekamen den Befehl zum Vorgehen. Anfangs fanden sie keinen Widerstand. Sie hatten bereits den Engpass der schmalen Straßen und Durchgänge erreicht, die zur Innenstadt führten. Plötzlich brach aus den Fenstern ein Feuer gegen sie los. Stahlhelmer griffen die überraschte Truppe von den Häusern aus an. Ein wilder Kampf entspann sich. Mann kämpfte gegen Mann. Unsicher wogten die Haufen hin und her. Schon begannen die Reichsbannertruppen von ihren ungeschützten Positionen zurückzuweichen. Da auf einmal Maschinengewehrfeuer im Rücken des Stahlhelms. Die Schupo hatte nach Westen vorgestoßen. Verzweiflung bemächtigte sich der Stahlhelmer. Wutentbrannt kämpften sie weiter, obwohl ihre Sache verloren war. In diesem Augenblick fiel ein Schuss aus einem Haus, das eben noch von dem Stahlhelm besetzt gewesen war. Ehe der Schuss fiel hatten sich der Schießende und Konrad einen Augenblick Auge in Auge gemessen. Blutüberströmt brach Konrad zusammen. Im selben Augenblick zerriss ein gellender Schrei die Luft. Ein Weib stürzte unter
die Kämpfenden. Schluchzend warf sich Alexa Brand auf den Bewusstlosen.
Das Eingreifen der Schupo hatte den Kampf entschieden. Die Roten Frontkämpfer im Osten hatten keinen namhaften Widerstand gefunden. Um 2 Uhr war die Stadt in den Händen der Schupo und ihrer Hilfsmannschaften.
Sanitätskolonnen räumten das Kampffeld am Dom auf.
„Der Reichsbannerkommandiernde soll hier liegen."
Sie fanden ihn. Alexa hatte seinen Kopf in ihrem Schoß geborgen und das quellende Blut mit ihrem Tuch gestaut.
„Er lebt noch!"
Sie luden ihn auf die Bahre. Eine Stunde später erwachte Konrad im Spital. Einen Augenblick kehrte ihm das Bewusstsein zurück. Sein Vorgesetzter beugte sich über ihn.
„Alles gut gegangen, Amthor! Die Stadt ist befreit."
Über Konrads Antlitz huschte ein Freudenschein.
„Und Sie werden bald wieder hergestellt sein. Dann nehmen Sie den Dienst wieder auf."
Der glückliche Ausdruck verschwand von seinem Gesicht.
„Der Schuss kam aus unseren eigenen Reihen", murmelte er. Dann sank er zurück. Tiefe Bewusstlosigkeit kam über ihn.
„Wir kriegen ihn durch", sagte der Arzt. „Die Frau hat ihn gerettet. Sonst wäre er wahrscheinlich verblutet."

Am Nachmittag dieses Tages war wieder Konferenz in der Langen Straße. Der Sekretär nahm das Wort:
„Genossen! Durch den Stahlhelmputsch hat sich die Situation verändert. Nun müssen wir losgehen. Und zwar müssen jetzt zunächst die Werke besetzt werden!"
Und die Aktion im Werk wurde noch einmal bis ins einzelne für den morgenden Tag verabredet.
Am Abend ließ sich die Lage mit einiger Sicherheit übersehen! Die Verbindung war wieder hergestellt. Seit langer Hand vorbereitet, war der Stahlhelmputsch in allen Zentren Deutschlands gleichzeitig in Szene gesetzt. Im
Osten war er siegreich geblieben. In Mittel, West- und Süddeutschland war er zusammengebrochen. Die Züge nach dem Stickstoffwerk verkehrten am nächsten Morgen wieder. Mit einem Blick des Einvernehmens trennte sich Emil an der Sperre von seinen Kameraden.-----------------
Die Mittagspause war vorüber. Die Belegschaft strömte in die einzelnen Baue zurück. Die Sirenen gaben das Zeichen zum Wiederbeginn der Arbeit. Aber sie tönten länger als sonst. Ihr Geheul wollte kein Ende nehmen. Greinow und Emil waren bereits in der großen Halle ihrer Maschinenabteilung angelangt. Nur wenige Menschen waren nötig, um die gewaltigen Kolosse zu bedienen. Auf das Zeichen der Sirenen ging Emil unauffällig zur Tür des Nebenraumes und riegelte sie ab. Die drei neutralen Arbeiter waren gefangen. Im nächsten Augenblick sprang Greinow mit vorgehaltener Pistole auf den einen der anwesenden Gegner los. Emil stürzte sich auf den andern: „Rotfront besetzt das Werk!! Ergebt euch!" Greinows Gegner stand vor Schrecken erstarrt. Aber der andere ließ sich nicht bluffen.
„Schweinehund!!" Er sprang zu, um Emil die Pistole zu entreißen. Emil drückte ab. Im nächsten Augenblick wälzte sich der andere in seinem Blut auf dem Boden. Greinows Gegner ergab sich, an allen Gliedern schlotternd. Nun öffneten sie die Tür nach dem Nebenraum. Mit kurzen Worten wurden die drei Arbeiter informiert. Sic unterwarfen sich ohne Widerstand dem Diktat der Kommunisten.
Noch heulten die Sirenen. Aber die Schlacht war geschlagen. Auch in den anderen Maschinenräumen waren die Kommunisten siegreich geblieben. Im Verwaltungsgebäude und in der Telefonzentrale hatten sie überhaupt keinen Widerstand gefunden. Die Direktion war nicht aufzufinden. Binnen einer halben Stunde war das Werk in den Händen der Kommunisten. Der Tote aus Emils Halle wurde beiseite geschafft. Ein Arbeiterrat konstituierte sich. Emil wurde hineingewählt. „Sonderbar", sagte der Parteisekretär, als sie im Rat die Ereignisse durchsprachen, „ob
die Kerls Lunte gerochen haben? Sie sind verschwunden wie die Ratten."
Nachrichten aus dem Reich trafen ein. Die Besetzung der anderen Stickstoffwerke war ebenfalls geglückt. Desgleichen war ein Teil der Kohlengruben und der Eisenwerke erobert. In den östlichen Provinzen dagegen waren die Aktionen der Kommunisten überall gescheitert. Hier behauptete der Stahlhelm das Feld.
Noch an demselben Tage proklamierte die kommunistische Partei den Generalstreik. Die Gewerkschaften gaben die entgegengesetzte Losung. Der größere Teil der Arbeiter trat in den Streik ein, eine Minderheit arbeitete weiter.
Das Ausland antwortete prompt. Die Entente schob ihre Streitkräfte vor. Die russische Presse begrüßte die Räte als Zellen der Weltrevolution. Auch die Arbeiterinternationale ließ ihre Schreibmaschinen arbeiten. Sie wandte sich an alle Landessektionen, um eine gleichlautende Erklärung über Kriegsächtung und Kriegsdienstverweigerung zustande zu bringen.
Mittlerweile hatte die Einsetzung der Reichswehr begonnen.
Der Posten des Reichswehrministers war von der sozialdemokratischen Partei besetzt. Man hatte ihn einem militärischen Fachmann gegeben, der gesinnungmäßiger Pazifist war. Er widersetzte sich zunächst auf alle Weise den Forderungen des Reichspräsidenten, die Reichswehr gegen beide Fronten einzusetzen. Er erhoffte von Unterhandlungen mehr, als von militärischen Maßnahmen. Als er endlich seine Unterschrift gab, waren kostbare Stunden verloren. Auch bot er seinen ganzen Einfluss auf, um ein energisches Vorgehen der Truppen zu verhindern.
Angesichts dieses Zwiespaltes klammerte sich alles, was auf Wiederkehr eines verfassungsmäßigen Zustandes hoffte, an den Reichspräsidenten. Wenn er von seinen Rechten als Oberhaupt des Reiches voll Gebrauch machte, konnte er den Verlauf der Ereignisse entscheidend beeinflussen.
„An seiner Person hängt jetzt viel", sagte der Reichsbannerführer zu Konrad. „Die reguläre Truppe wird, sobald man sie energisch einsetzt, mit diesem Freischärlertum in kürzester Zeit fertig. Es würde mich wundern, wenn keine von den beiden verfassungsbrüchigen Gruppen daraus die Konsequenz ziehen sollte---------------------"
Am späten Nachmittag dieses Tages, als es bereits dunkel war, fuhr der Reichspräsident vom Bahnhof Friedrichstraße in sein Palais nach der Wilhelmstraße. Der Wagen nahm den weniger verkehrsreichen Weg am Ufer der Spree entlang. An der Ecke der Wilhelmstraße, wo das Auto langsamer fahren musste, wurde es von einem anderen Auto überholt. Ein Schuss fiel. In wilder Jagd raste das zweite Auto davon, dem Tiergarten zu. Es entkam.
Eine Viertelstunde später empfing der Generalgewaltige und Drahtzieher des Rechtsputsches, Hagenthal, in einem Stettiner Hotel den Führer einer völkischen Freischar.
„Es ist alles geglückt, Exzellenz. Der Mann sitzt bereits in der Bahn hierher und geht heute Nacht mit falschen Pässen nach Schweden. Von dort kommt er weiter. Mit Geld ist er reichlich versehen."
„Und Sie haben alle Vorkehrungen getroffen, dass wir das Subjekt der kommunistischen Partei an die Rockschöße hängen können?"
„Zu Befehl, Exzellenz. Der Nachweis kann mittels eines gekauften Mitgliedsbuches geführt werden."
Binnen weniger Stunden verbreitete sich die Kunde von dem Mord durch ganz Deutschland. Die Aufregung der Bevölkerung steigerte sich zur Siedehitze. Die Anhängerschaft des Ermordeten heult auf vor Wut und Empörung. Aber auch seine politischen Gegner verurteilten den Mord als ein kommunistisches Bubenstück. Noch in derselben Nacht fand eine Kabinettssitzung statt., Doch man konnte sich zunächst auf keinen Entschluss einigen.
In der Frühe des nächsten Morgens aber, ehe die Hauptstadt aufgewacht war, zog eine Stahlhelmtruppe durch das Brandenburger Tor ein und besetzte die Ministerien und die Verkehrszentralen. Auch der Reichstag wurde genommen.
Die Führer der Reichswehr, welche noch handeln wollten, wurden mit gefälschten Befehlen irre geführt. Die Truppen waren ihrer Aktionsfähigkeit beraubt. Nun wagte auch die Schutzpolizei nicht einzugreifen. Ebenso war die gesamte Bürokratie desorganisiert; niemand rührte sich. Nachdem die Besetzung geglückt, traf Hagenthal im Auto von Stettin her ein. Er hatte dort den Erfolg des Putsches abgewartet, um bei Misslingen des Anschlags nach Finnland zu entfliehen. An allen Anschlagsäulen und öffentlichen Gebäuden wurde ein Aufruf angeschlagen. Draht und Radio verbreiteten ihn gleichzeitig im ganzen Reich. Er lautete:
„Deutsche Männer und Frauen! Der Reichspräsident ist einem schändlichen Attentat der Kommunisten zum Opfer gefallen. Das Reich befindet sich in Auflösung. Zur Rettung des Vaterlandes übernimmt die Partei der Ordnung unter meiner Führung die Regierung. Hagenthal, Reichsverweser."
Die parteipolitische Anhängerschaft des Ermordeten scharte sich wie ein Mann um den Diktator. Alle, die in dem Reichspräsidenten den Vertreter der Verfassung gesehen hatten, traten auf Hagenthals Seite. Alle politischen und wirtschaftlichen Gegner der Arbeiterschaft jubelten auf. Die Finanzwelt begrüßte ihn als den Mann der Ordnung. Alle Halben und Unentschlossenen, alle Ruhebedürftigen fielen Hagenthal zu. Die Reichswehr stellte sich zum größten Teil auf seine Seite.

Noch aber standen im Reich die Hochburgen der kommunistischen Aktion, die großen Werke. In dem Palais des Reichsverwesers waren einige Vertrauensmänner zur Aussprache über die politische Lage versammelt.
„Es handelt sich darum, meine Herren, wie wir am schnellsten mit den Kommunisten fertig werden."
„Ich schlage vor", sagte einer, „dass wir an einem Werk ein Exempel statuieren. Wir fordern es zur Übergabe auf. Weigert es sich, so setzen wir es unter Gas. Dann gehen die
Kanaillen kaputt. Die Gebäude nebst Maschinen bleiben unversehrt."
Nach längerer Debatte wurde der Vorschlag gut geheißen.
„Welches Werk schlagen Sie vor?" fragte Hagenthal.
„Das Unawerk. Es liegt isoliert. Die Vergasung kann auf das Werk beschränkt werden. Geißeln haben sie nicht, denn die Direktion ist seinerzeit rechtzeitig zurückgenommen worden, nachdem wir die Schlappe in Mitteldeutschland erlitten hatten."
„Gut."

Es war am Nachmittag dieses Tages. Seit Mittag hatte man im Werk Kunde von dem gelungenen Putsche des Stahlhelms. Im Verwaltungsgebäude fand eine Sitzung des Arbeiterrates statt. Der Parteisekretär war anwesend. Er war am Morgen, noch ehe man von dem Stahlhelmputsch etwas wusste, ins Werk gekommen. Auf die Nachricht von dem Staatsstreich hin versuchte er, das Werk unauffällig zu verlassen. Emil bemerkte es und hielt ihn fest. Im Arbeiterrat herrschte Bestürzung. Von den andern besetzten Werken hatte man nichts mehr gehört.
„Ich möchte doch raten", begann der Arbeitersekretär unsicher, „dass man telephonisch mit Hagenthal in Verhandlung tritt."
Die andern schwiegen betreten.
„Aber Genossen!" fuhr Emil auf. „Wir werden doch unsere Sache nicht einfach verloren geben!!"
In demselben Augenblick wurde ein telephonischer Anruf gemeldet. Der Sekretär nahm den Hörer. Er erblasste und legte den Hörer neben den Apparat.
„Genossen!!", stotterte er, „es ist alles verloren!! Hagenthal fordert Übergabe des Werkes. Sonst will er uns unter Gas setzen. Ich lege mein Amt in die Hände des Genossen Busch."
Und er drückte sich eilends aus dem Zimmer. Emil nahm
den Hörer auf. Die Verbindung war noch nicht abgestellt. Er horchte.
„Warten Sie einen Augenblick", sprach er in den Apparat und legte den Hörer hin.
„Genossen! Die Regierung Hagenthal droht wirklich, das Werk zu vergasen, wenn wir es nicht übergeben. Ich halte es für einen Bluff. Offenbar wollen sie uns einschüchtern. Ihr Putsch kann morgen zusammenbrechen. Wir müssen unter allen Umständen auf unserm Posten bleiben. Was soll aus dem Kampf des Proletariats werden, wenn wir beim ersten Rückschlag verzweifeln!"
Seine festen Worte blieben nicht ohne Wirkung. Zwar schaute ein Teil der Anwesenden ängstlich zu ihm herüber. Aber er fand Unterstützung bei andern. Sie sprachen in seinem Sinne. Er nahm den Hörer wieder auf.
„Der Arbeiterrat des Unawerkes lehnt jede Verhandlung mit Ihnen ab."
Die Entscheidung war gefallen. Alle wurden ruhiger. Emil sah sich nach dem Sekretär um.
„Wo is der Hund hin?"
„Laß ihn laufen!! Dass diese Jammerlappen uns zuerst im Stich lassen, wissen wir ohnehin."
„Auf alle Fälle müssen wir nach Unterkunftsräumen suchen, falls sie eine Vergasung des Werkes versuchen sollten", meinte Emil.
Sie begaben sich auf die Suche. Aber sie fanden keine geeigneten Räume.
„Dann müssen wir alles, was von der Belegschaft noch im Werk ist, zusammenrufen und ihnen das Verlassen des Werkes freistellen" schlug einer vor. Eine Viertelstunde später war ein großer Teil der Arbeiterschaft in der größten Halle des Werkes versammelt. Emil legte ihnen die Sachlage dar.
„Genossen! Ich bin der Ansicht, wir warten ab. So unmenschlich werden sie nicht sein. Ich bin überzeugt, sie wollen uns bluffen."
Die Arbeiter waren unschlüssig.
Da-----------------Surrende Töne in den Lüften------------
Ein Arbeiter schreit auf:
„Flieger!!!"
Wildes Entsetzen packt die Männer.
„Ruhe!"--------„Ruhe!"------------
Schon erklingt das Surren unmittelbar über ihren Häuptern — — — — — — — Eine Bombe schlägt durch das
Dach und tötet fünf Mann. — — — — — —
Auch an anderen Stellen erklingt das Platzen von Bomben — — — — — — — Süßlicher Geruch beginnt sich zu
verbreiten------------------------------

Am folgenden Tage wurde das Werk von der technischen Nothilfe besetzt. 11000 Tote mussten geborgen werden.
Das Beispiel des Unawerkes brach jeden Widerstand. Alle übrigen Werke wurden fluchtartig von den Kommunisten geräumt. Eine Woche später war Hagenthals Diktatur gesichert. Der Reichstag war aufgelöst. An den Neuwahlen durften sich nur die Mitglieder der Ordnungspartei beteiligen. Alle anderen Parteien wurden aufgehoben. Die Gewerkschaften wurden auf neuer Basis in vollkommener Abhängigkeit von der Regierung reorganisiert. Eine Anzahl kommunistischer und sozialdemokratischer Führer wurden erschossen, unter ihnen der Reichsbannerführer.
Auch Konrad wäre seinem Schicksal nicht entgangen. Doch seine Frau schaffte den Schwerverletzten mit schweizerischen Pässen und Ausweisen über die Grenze.
Der Frühling war ins Land gekommen. Im Tal grünte und blühte es. In den hochgelegenen Orten des Gebirges war noch alles vereist. Aber an warmen Tagen brütete die Sonne an der Südwand des Hauses.
Seit Wochen schrieb und arbeitete Konrad, so lange die Kraft es erlaubte. Die Frau wusste nicht, was es sei. Jetzt trat er auf die Galerie. Er erschien um zehn Jahre gealtert. Sein Haar war von grauen Fäden durchzogen. Sein Blick verlor sich ins Weite. Die Frau trat zu ihm.
„Konrad?"
Es war, als sähe er ferne Gestalten.
„Die Toten--------------------------"
Beide schwiegen. Stockend sagte er dann: „Die ganze Zeit, als ich im Fieber lag, habe ich Emil gesehen. Es war
oft, als sei er bei mir!----------------------Er saß auf meiner
Bettkante--------— Ich sah ihn wie in einer Gaswolke —
-------Er erzählte------------oft — lange-----------Es hat sich verdichtet. Ich habe es aufgeschrieben, als ob Emil es mir erzählt hätte. Aus unser beider Herzen ist es geflossen. Mein Sohn soll es eines Tages lesen. Dann wird der Lohnsklave aus der Dumpfheit in das Reich der Freiheit getreten sein.

 

2. Buch DAS REICH DER FREIHEIT

I. Auf der Leipziger Messe.

Die Gaswolke senkte sich auf mich — — — — — —
Grausen rund um mich —Dann verlor ich das Bewusstsein — — — — — —
Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich auf einem großen, gepflasterten Platze. Er deuchte mich halb bekannt, halb fremd. Wie mein Bewusstsein klarer wurde, erkannte ich mir gegenüber ein Haus, das ich schon früher gesehen hatte. Es war ein lang gestreckter, zweistöckiger Bau mit mehreren steilen Giebeln, die im rechten Winkel zum Dach heraussprangen. Im Erdgeschoß zog sich eine Kolonnade hin. Ich versuchte, mich zu besinnen! Wo war ich nur? Jetzt wurde es mir klar! Das war ja das alte Rathaus am Marktplatz zu Leipzig. Ich sah mich auf dem Platz um. Das große Kaiserdenkmal war verschwunden. Völlig verwandelt war auch die Umgebung des Platzes. An der Stelle der vierstöckigen Geschäftshäuser in der hässlichen Bauweise des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts erhoben sich riesige Hochhäuser, deren jedes ein Straßenviertel einnahm. Die großen auf den Markt mündenden Straßen waren zu breiten Verkehrswegen ausgebaut.
Inzwischen hatten sich einige Neugierige um mich versammelt. Es waren groß gewachsene, kräftige Menschen von besserem Bau, als ich sie früher gekannt hatte. Ihre Gesichter waren entschlossener und durchgearbeiteter. Sie trugen alle eine gleiche, merkwürdig knappe Kleidung.
Nur die Farbenstellungen zeigten eine Abwechslung. Ihre Mienen drückten Neugier und Besorgnis aus.
„Der Mann ist gestürzt", sagte einer. „Man muss ihm helfen."
Da trat aus dem Kreise, der sich um mich gebildet hatte, ein Mann in mittleren Jahren an mich heran. Er bot mir mit ruhiger Freundlichkeit die Hand und richtete mich in die Höhe.
„Woher kommst du, Fremdling?"
Ich wusste nichts zu antworten. Er musterte mich aufmerksam.
„Deine Kleidung deutet auf vergangene Jahrhunderte."
„Das mag wohl sein", entgegnete ich verworren.
„Sollte es möglich sein, dass Menschen sich über Raum und Zeit hinwegsetzen?" sprach er mehr zu sich als zu mir. „Willst du dir unser Leben und Treiben anschauen?" Ich stimmte zu.
„Wir geben gern jedem Auskunft, der zu uns kommt. Es hat sich viel gewendet seit den Zeiten, denen du anzugehören scheinst. Soll ich dich führen?" Ich bejahte freudig. „Wie heißt du", fragte der Mann weiter.
„Emil Busch. — Aber wo bin ich denn nur. Das ist Leipzig und doch nicht Leipzig!"
„Du bist im Reiche der Freiheit!"
„Im Reiche der Freiheit??----------------In demselben von
dem Engels sprach?"
„In demselben!"
Der Atem stockte mir fast. Aber die ruhige Sicherheit des andern hemmte unbeherrschte Gefühle. „So ist der lange schwere Kampf der Arbeiterschaft nicht umsonst gewesen?"
„Nein."
„Und ich soll es sehen dürfen, das Reich der Freiheit?"
„Komm mit", sagte der andere. „Ich heiße Bernhard. Ehe wir uns aber auf die Wanderung begeben, müssen wir die Erlaubnis zu unserem Vorhaben erwirken."
Er führte mich in eins der Hochhäuser am Markte. Wir
betraten ein Quartier, das die Aufschrift trug: „Ordnungsdienst". Er hieß mich im Vorraum warten. Nach einer kleinen Weile winkte er mich hinein. Man fragte mich nach Namen und Herkunft, auch nach Geburtsjahr und Ort. Das Geburtsjahr erregte Erstaunen.
„Drei Tage dürfen Sie bei uns als Gast verweilen", sagte dann der Beamte. „Wir stellen Ihnen für diese Zeit Nahrung, Quartier und Fahrgelegenheit zur Verfügung. Bernhard wird Sie führen." Dann händigte er meinem Begleiter ein Papier und eine Summe Geldes ein.
„Das ist allerhand!" sagte ich zu Bernhard, als wir wieder auf den Marktplatz heraustraten. „Ich hätte nicht gedacht, dass mein erstes Erlebnis im Reich der Freiheit das Polizeibüro sein würde."
„— — — Polizeibüro?? — — Ja so! — Ich entsinne mich des Ausdrucks aus älteren Schriften, die aus der Vorgeschichte der Menschheit stammen. Die Polizei spielte im Klassenstaat eine große Rolle. Wir gebrauchen das Wort nicht mehr, eben weil es den Klang der Klassengesellschaft hat und wir alles ausgemerzt haben, was an jene finsteren Zeiten erinnert. Aber einen Ordnungsdienst brauchen wir natürlich. Unsre Ordner sind unsre Helfer. Ohne sie würde unser Leben nicht geregelt ablaufen. Soeben ist Messe. Was sollte aus dem Gewimmel der etwa 100000 Besucher werden, wenn nicht ein umfassend organisierter Ordnungsdienst da wäre, dessen Anordnungen sich jeder einzelne fügt — und fügen muss."
„Stößt der Ordnungsdienst auch auf Widerstand?"
„— — — Freilich! — — — Erst gestern ist es zu einem schweren Zusammenstoß mit zwei Autoführern gekommen. Vom Sportsteufel besessen, rasten die beiden in sinnlosem Tempo die überfüllte Autostraße entlang, als ob es eine Rennbahn sei! Bei einem Haar hätten sie zwei andere Wagen umgefahren. —-------Und was das schlimmste war: Sie suchten sich dann durch Flucht ihrer Festnahme zu entziehen. Telephonisch benachrichtigte Ordner mussten sie mit geladener Pistole zum Halten bringen."

„Mit — geladener------------Pistole------------?"
Bernhard schwieg.
„Werden sie bestraft werden?"
„Es wird unvermeidlich sein.------------Ein Jahr Zwangsarbeit bei Sträflingskost ist ihnen sicher!"
„Zwangsarbeit??------------Sträflingskost??------------"
„Ja,-------das sind ernste Dinge!!------------Wir sprechen
vielleicht später davon. Ich weiß aus geschichtlichen Studien, wie viel sich frühere Zeitalter mit diesen Fragen beschäftigen. — — Zunächst aber wird es richtiger sein, dass du dir einen Überblick über das Ganze des hiesigen Lebens verschaffst. Du siehst dort, gegenüber dem alten Rathaus, das größte Hochhaus unserer Stadt. Es hat auf seinem Dach eine große Plattform, von der aus man einen weiten Rundblick genießt. Laß uns hinauffahren. Dann überschaust du aus der Vogelperspektive das Messezentrum des Bundesstaates Europa. Soeben findet die Herbstmesse statt. Viele Dinge unsres heutigen Lebens werden dir dadurch deutlich werden."

Ein Fahrstuhl brachte uns schnell nach oben. Wir betraten eine riesige Plattform. Sie war als Erfrischungsraum eingerichtet. An dem Geländer, das den Blick nicht behinderte, standen bequeme Korbstühle. Wir ließen uns nieder. Eine herrliche Rundsicht bot sich uns dar. Die warme Septembersonne schien auf eine stolze Anlage von gewaltigen Dimensionen. Enorme Hochhäuser bildeten das Zentrum. Einige Bauten aus der Vergangenheit, die man um ihres künstlerischen Wertes willen erhalten hatte, lagen dazwischen wie Stücke aus einer Spielzeugschachtel. Doch es war gelungen, durch gut bemessene Abstände ihren architektonischen Wert zu erhalten.
„Wozu dienen diese Wolkenkratzer, Bernhard?"
„Die Zentralstellen haben hier ihren Sitz. Hier wohnen
die städtischen Behörden, die Messebehörden, die Gerichte,
der Ordnungsdienst. Hier sind die Verkehrszentralen, die
Fremdenquartiere. Fünf Blöcke, deren jeder gegen 20 000
Kabinen enthält, nehmen die Messebesucher auf. Auch die Gewerbe kleiner, gebrauchsfertiger Waren, Keramik, Textilindustrie, Buchgewerbe stellen hier aus. Es war zweckmäßig, dies alles nach Möglichkeit zu konzentrieren Darum wurden die Hochhäuser geschaffen. Wie du siehst, umfassen sie nur einen engen Bezirk. Darüber hinaus geht die Anlage der Stadt ins Breite."
Ich versuchte mich im weiteren Umkreis zu orientieren. Indes, ich konnte den stärksten Orientierungspunkt des alten Leipzig, das Völkerschlachtdenkmal, nicht mehr finden. Ich erkundigte mich bei meinem Begleiter.
„Mein Freund", sagte er nachdrücklich, und seine klugen Augen blickten mit großer Wärme auf mich, „meinst du, dass im Bundesstaat Europa noch Raum für jene Denkmäler sei, die an die gegenseitige Zerfleischung der europäischen Nationen erinnerten? — — Aber du kannst die Stelle leicht wieder finden. Siehst du dort im Südosten den großen Komplex niederer, halbhoher und hoher Bauten?"
„Ja."
„Das ist das Ausstellungsgebiet der technischen Messe. Seine ersten Anlagen reichen bis ins zwanzigste Jahrhundert zurück. Seither ist es um das Vielfache der damaligen Bauten erweitert und nimmt das ganze Süd und Südostviertel des erweiterten Weichbildes ein. Im Nordostviertel siehst du das Großquartier des Buchgewerbes, im Norden die großen Verkehrsanlagen. Die übrigen Großgewerbe sind längst aus Leipzig hinaus verlegt. Denn die damalige sinnwidrige Zersplitterung der Industrie ist heute überwunden. Und nun schau westwärts."
Wir erhoben uns, durchquerten die große Plattform und nahmen an dem entgegengesetzten Rande Platz. Ein Bild von völlig andersartigem Charakter bot sich mir. Da zog sich noch immer der Wald und Wiesenstreifen an der Elster und Pleiße hin, der von jeher den Westen Leipzigs von der übrigen Stadt getrennt hatte. Jenseits aber war alles verwandelt. Die Fabriken der westlichen Vororte waren verschwunden. An ihrer Stelle dehnte sich eine große
Wohnsiedlung weit ins Land hinaus. Sie trug keinen einförmigen Charakter. Hohe Häuserblocks wechselten mit umfassenden Anlagen aus Einfamilienhäusern. Das Ganze bot einen unsäglich frohen und schönen Anblick. Weite grüne Flächen und Parks unterbrachen die Häuserkomplexe. Kein Rauch der Fabriken schwärzte die Luft. Kein Lastverkehr war wahrzunehmen. Auch der Fernverkehr der Autos mied dieses Wohnviertel in weitem Bogen. Es enthielt einige große Zufahrtsstraßen; im übrigen waren nur die notwendigen Zugänge zu den einzelnen Wohnhäusern vorhanden. Es war, als müssten die Stimmen glücklicher Kinder, die hier froh und gesund aufwuchsen, zu mir empordringen. ----------------------
Eine tiefe Bewegung übermannte mich.
Vor meinem geistigen Auge stiegen die Wohnstätten der Arbeiterschaft auf, die einst hier gehaust hatte. Ich sah ihre Elendsquartiere, ihre engen Höfe, ihre lichtlosen Wohnungen, ihre schmutzigen Straßen, erfüllt vom Staub und Lärm eines unorganisierten Verkehrs. Bernhard stand schweigend neben mir. Er verstand, was in mir vorging. Nach einer Weile raffte ich mich zusammen. Wir gingen langsam am Rande der Plattform entlang, um noch einmal das Ganze der Anlage zu überschauen.
„Eins aber fehlt mir", begann ich wieder. „Wo ist die Universität geblieben?"
Wir standen gerade am Südende des Aussichtsplatzes. „Siehst du ganz fern im Süden der Stadt einen großen Komplex inmitten der Waldungen dort? Das ist die Universität. Sie besteht heute nicht nur aus Hörsälen, Bibliotheken und wissenschaftlichen Instituten, sondern auch aus geschlossenen Wohnquartieren, wo die Studenten in Gemeinschaften zusammenleben."
„So ist sie ganz aus dem übrigen Leben der Stadt gelöst?"
„Ich glaube, dass sie fester im Leben steht als früher. Wir sprechen darüber ausführlicher, wenn du von unserm gesellschaftlichen Leben eine klare Anschauung gewonnen
hast. Hatte zu deiner Zeit die Universität eine Beziehung zur Messe?"
„Allerdings", lachte ich. „Man zog aus dem ,verfluchten Commerz' das Geld, indem man die Räume der Universität zur Messe vermietete. Am 25. Februar schloss das Semester. Dann verließen Lehrer und Studenten fluchtartig die heiligen Hallen, um sich daheim hinter ihren Büchern zu vergraben, indes die Messeverkäufer mit ihren Waren und ihrem Lärm sich in den Hörsälen etablierten. Höchstens, dass Werkstudenten die Messe benutzten, um Geld zu verdienen."
Bernhard lachte. „So ist es freilich bei uns nicht mehr. Die Messe hat ihre eigne Stätte. Aber Lehrer und Studenten sind mitten darin. Sie besichtigen die Ausstellungen. Sie nehmen an dem Getriebe des Messeverkehrs teil. Man würde den Soziologen, den Politiker, den Volkswirtschaftler, den Philosophen, den Theologen nicht ernst nehmen, der sich um dieses Leben nicht kümmerte. Siehst du dort den Kellner? Er ist ein Professor der Soziologie."
„Nicht möglich!!!-------Das hätten die Herren zu meiner
Zeit einfach unter ihrer Würde gehalten!!"
„Unter — — ihrer — — Würde??!! das verstehe ein anderer!! Was hat die menschliche Würde mit der Art der Beschäftigung zu tun? Ob ich Bücher wälze und Studierende lehre, oder ob ich ermüdete und hungrige Menschen mit dem Nötigen versorge — das hat doch beides die gleiche Würde!"
Vor meinem geistigen Auge stand unsere Klassengesellschaft mit ihren Begriffen von standesgemäß und nichtstandesgemäß, mit ihren Verkehrsformen, die vom Reserveleutnant herkamen. — — — — „Ich glaube, du kannst
das gar nicht mehr verstehen.------------Aber ich begreife:
Wir haben nicht umsonst unser Leben dahingegeben!! Es ist eine neue Welt geworden!"
„Wir werden uns noch viel zu erzählen haben", entgegnete Bernhard. „Zunächst aber lass mich für dein leibliches
Wohl sorgen. Du siehst erschöpft aus. Wir wollen einen Imbiss nehmen."
Er winkte dem Soziologieprofessor. Bereitwillig kam er herbei. Dabei bewahrte er jenes ruhige Selbstbewusstsein, das die natürliche Haltung aller Menschen in diesem Lebenskreise zu sein schien. Er kannte meinen Begleiter offenbar persönlich, doch er vermied jede persönliche Note. Auch das Ungewöhnliche meiner Kleidung schien er nicht zu bemerken. Er hielt vielmehr streng die Haltung des Berufskellners inne, der seine Ehre dareinsetzt, die eigne Persönlichkeit hinter dem Dienst an dem Gast verschwinden zu lassen.

Das Mahl war eingenommen. Wir lehnten uns in die bequemen Korbsessel zurück. „Ich würde gern einiges von der Organisation eurer Wirtschaft hören, ehe wir in das Getriebe der Messe hinuntersteigen", begann ich. „Ist die Messe wie früher ein Warenmarkt?"
„Das ist eine Doktorfrage! Es kommt darauf an, was man unter Ware und was man unter Markt versteht. Wie du aus Karl Marx wissen---------------------"
„Also ihr kennt Karl Marx und beruft euch auf ihn?!!"
„Wie sollten wir den Mann nicht kennen, der als erster die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft erkannt und zum Kampf dafür aufgerufen hat?! — — Seine Feuerseele lebt unter uns. Seine Lehre ist uns ein Quell der Erkenntnis und der Kraft. Wesentliche Stücke daraus freilich haben wir in hartem Kampf ausgestoßen. — Und seine Dialektik", setzte er mit dem Ausdruck dessen hinzu, der an heilige Dinge rührt, „was die Brücke, die den Lohnsklaven, hinüberführte in das neue Land, wo die Entscheidung des Mündigen von ihm gefordert wird."
„Wie das?! Das interessiert mich!" Ich dachte an Konrad und seine Fragestellungen.
Doch Berhard wich aus. „Du würdest das gleich zu Beginn deines Aufenthaltes im Reiche der Freiheit nicht verstehen."
„Aber so gib mir doch wenigstens einen Fingerzeig, dass ich sehe, um was es geht."
„Die Dialektik von Marx stellt den Menschen vor die Wahl und damit vor die verantwortliche Entscheidung. Das ist der Angelpunkt."
„Ich ahne, was du meinst. Mein Freund sprach davon. Aber er sah nur den Zwiespalt."
„Laß uns vorerst bei dem Greifbaren bleiben! Wir sprachen davon, ob man hier von Waren und Markt reden soll. Karl Marx hat uns gelehrt, dass der Inhalt der Begriffe mit den wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen wechselt. Darum wollen wir die Dinge nicht so theoretisch aufziehen. Stelle lieber unmittelbar anschauliche Fragen."
„Gut. Wo kommen die Verkäufer und die Käufer her, die hier zusammentreffen?"
„In erster Linie aus Deutschland. Die Messe ist die einzige in Deutschland."
„So ist Deutschland noch immer ein fest abgegrenztes Wirtschaftsgebiet?"
„Ja und nein."
„Wie meinst du das?"
„Erst einmal das Ja! Siehst du drüben das Buchdruckerviertel? Dort ist, wie ich schon sagte, das deutsche Buchgewerbe im wesentlichen konzentriert. Auch manch ausländisches Buch wird dort gedruckt. Denn Deutschland, als das Land der Federfuchser, ist nun einmal im Buchgewerbe von alters her besonders leistungsfähig. Aber wäre es sinnvoll, die Bücher der ganzen Welt hier drucken zu lassen?"
„Nein."
„Was von den Büchern gilt, das gilt auch von vielen andern Gütern der Wirtschaft."
„Wir hatten es uns anders gedacht. Die Wirtschaftskreise waren immer größer geworden. Erst das Dorf, dann die Stadt mit ihrem Bezirk. Dann das Land. Dann das Gebiet der Nation. So sollte der Zusammenschluss immer weitergehen, bis die ganze Welt sozusagen eine einzige große Dorfwirtschaft sei."
„Merkwürdig!! Ich glaube, in dieser Erwartung kam die besondere Art des spätkapitalistischen Geistes zum Ausdruck. Du entstammst dieser Zeit?" Ich nickte.
„Soweit ich sie kenne, neigte sie dazu, die Dinge mechanisch zu sehen. Sie setzte sich über die natürlichen Bedingungen des Lebens hinweg. Du musst doch anerkennen: Auch die besten Verkehrsmittel sind teurer, als gar keine. Viele Dinge sind nur bedingt transportabel, zum Beispiel das Haus, oder frische Milch. Mit dem Landmann, der meine Sprache spricht, verkehre ich leichter, als mit dem Fremden. Die Einheit der Sprache fördert die Einheit des Geschmacks, der Lebensgestaltung, der Gesetzgebung, der Presse und so fort. Wir würden heute sagen: Die Wirtschaft einer Nation ist einem dichten Gewebe zu vergleichen, die Wirtschaft eines Kulturkreises einem losen Geflecht, das die dichten Gewebe zu einer Einheit verbindet."
„Aber die Bedeutung der Messe ist nicht auf Deutschland beschränkt?"
„Keineswegs. Das ist die andere Seite der Sache. Die Messe dient zwar vor allem der deutschen Wirtschaft. Sie dient jedoch ebenfalls dem Güteraustausch innerhalb des Bundesstaates Europa. Er ist die höhere wirtschaftliche Einheit. In der langen Zeit seines Bestehens ist die Wirtschaft dieses Kreises etwa so fest zusammengeschlossen, wie früher die nationale Wirtschaft. Darüber hinaus wird die Messe von Käufern und Verkäufern aus der ganzen Welt beschickt."
„Beruht dieser Austausch mit anderen Kulturkreisen noch auf der imperialistischen Vormacht der kapitalistischen Völker?"
„Nein. Den Zwang haben die anderen Kulturkreise zerbrochen. Sie haben in großem Maßstabe ihr eigenes gewerbliches Leben entwickelt. Indien webt heute die Stoffe für seinen Bedarf selbst. Die Vormacht der englischen Baumwollindustrie, begründet auf dem gewaltsam erzwungenen Freihandelssystem Indiens, ist dahin. Aber an Stelle dieses Verkehrs, der auf politischer Übermacht beruht, ist ein
freiwilliger Verkehr getreten. Es erwies sich bald, dass in diesem freiwilligen Verkehr Europa starke Positionen besitzt. Man kann ein so intensives geistiges Kraftzentrum, wie das europäische, mit seiner wissenschaftlichen Tradition, seinen Bildungsanstalten, seiner disziplinierten, aktiven, an Arbeit gewöhnten Bevölkerung nicht einfach nachbilden. Solange es lebendig bleibt, hat es immer wieder besondere Leistungen in den Weltverkehr zu werfen. Solche Leistungen werden von den anderen Kulturkreisen genau so aufgegriffen, wie wir die ihren aufgreifen. Daher ein lebhafter Austausch zwischen uns und ihnen."
„Ich verstehe. Nur die falsch orientierte Politik der damaligen imperialistisch gesinnten europäischen Wirtschaftsführer ist zugrunde gegangen. Sie wollten die europäische Machtstellung durch Maschinengewehre und durch Lohndruck auf ihre eigenen Lohnsklaven retten. Solche Politik konnte keinen Bestand haben. Der freiwillige Austausch nach dem Grundsatz der internationalen Arbeitsteilung dagegen ist nicht zurück-, sondern vorwärts gegangen."

„Nun aber eine weitere Frage: Wer sind hier die, die Waren feilbieten?"
„Vielleicht vermeiden wir den Ausdruck Waren doch besser", sagte Bernhard. „Er ist zu stark mit den Vorstellungen der kapitalistischen Wirtschaft behaftet. Sprechen wir von den Gütern, ihren Eigentümern und Besitzern." —
„Eigentümer und Besitzer? Das ist mir zu fein."
„Du wirst es gleich verstehen. Wer sollte nach eurer Auffassung das Eigentum an Produktionsmitteln und damit an erzeugten Gütern in die Hand nehmen?"
„Die Gesellschaft!"
„Die Gesellschaft?------------Das ist mir nicht ganz klar.
Was verstand man unter Gesellschaft?"
Ich geriet in Verlegenheit. „Ja-----------------wie soll ich
das sagen?----------------"
War es Spott, was um Bernhards Lippen spielte? Doch schon war er wieder bei der Sache.
„Bei uns ist es so: Eigentümer aller Produktionsmittel und damit auch aller erzeugten Güter ist der Bundesstaat Europa."
„Der Bundesstaat Europa?!! — — —"
„Alle sachlichen Produktionsmittel sind ihrem Besitzer nur verliehen. Er hat die Verfügung darüber. Der Staat dagegen bleibt Eigentümer und behält als solcher jederzeit die Oberaufsicht und letzte Entscheidung über ihre Verwaltung. Er kann ihre Verleihung jederzeit rückgängig machen."
„Beinah wie eine Art Lehnssystem."
„Vielleicht. — Doch mit großen grundsätzlichen Unterschieden zum alten Feudalsystem."
„Welche Formen hat der Besitz an Produktionsmitteln?"
„Überaus mannigfaltige! Bestimmte Produktionszweige liegen in den Händen der Konsumvereine, vor allem viele Gegenstände des Haushaltbedarfs. Andere sind von Kommunen übernommen. Wieder andere werden von wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörpern öffentlich-rechtlichen Charakters verwaltet."
„Nanu! Was ist das! Fabriken der Konsumvereine, Kommunalbetriebe — das gab es schon zu unserer Zeit.
Was aber sind-----------ich habe den langen Namen nicht
behalten?"
„Stelle dir vor: Die Gewerkschaft eines Produktionszweiges, sagen wir der chemischen Industrie, ist eine vom Staat anerkannte Körperschaft. Sie umfasst alle Arbeitenden dieser Industrie — vom Betriebsleiter bis zum letzten Handlanger. Sie hat öffentlichen Charakter. Sie ist der verfügungsberechtigte Besitzer der ganzen Industrie. Die Gewerkschaft besitzt natürlich die Industrie nicht in dem Sinne, dass die Gewerkschaftsvorstände oder Gewerkschaftsmitglieder persönliche Besitzer der chemischen Werke wären und die Einnahmen zu ihrem persönlichen Gewinn verwenden dürften."
„Ich verstehe! Etwa so, wie der Bürgermeister und der Rat einer Stadt nicht persönliche Besitzer der städtischen Grundstücke, Bahnen und so weiter sind."
„Ganz recht. Die Mitglieder der öffentlich-rechtlichen Verwaltungskörper sind vielmehr auf feste Bezüge und Prämien gestellt."
„Prämien??!"
„Allerdings, — — — — leider!-----------------Doch was
die Frage der Organisation angeht: Die Gewerkschaftsverbände verwalten die Industrie, wie vordem der Vorstand einer Aktiengesellschaft seine Gesellschaft. Sie haben eine Art Aufsichtsrat neben sich, bestehend aus den Vertretern der anderen Industrien, der privaten Verbraucher und der durch den Staat vertretenen Allgemeinheit."
„Wie kommen Vorstand und Aufsichtsrat zustande?"
„Der Vorstand wird auf dem Verbandstage gewählt, wie es in den Gewerkschaften von jeher üblich war. Der Aufsichtsrat geht teils aus direkten Wahlen der in Frage kommenden Organisationen hervor, teils werden seine Mitglieder von staatlichen Stellen ernannt."
„Sind Vorstand und Aufsichtsrat in der Verwaltung der Industrie völlig unbeschränkt und unkontrolliert?"
„Keineswegs! Sie müssen regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit erstatten, sowohl ihren Mitgliedern als der Öffentlichkeit und den zuständigen staatlichen Stellen. Außerdem bedürfen ihre Preisfestsetzungen, ihre Lohntarife und die Verwendung ihrer Überschüsse der Genehmigung des Staates. Eine bestimmte Quote des Überschusses ist stets an den Staat abzuführen."

„Ich glaube die Grundzüge dieser Organisation zu verstehen. Nun die andere Frage: Wer kauft hier auf der Messe?"
„Wiederum die großen Selbstverwaltungskörper, teils als Käufer für Rohstoffe, Maschinen und Halbfabrikate, teils, wie zum Beispiel die Kommunen, als Käufer für die Gegenstände des letzten Verbrauchs. Ich muss noch ergänzen, dass
auch die Konsumvereine nicht mehr den privatrechtlichen Charakter haben wie früher. Sie sind ebenfalls Selbstverwaltungskörper öffentlich-rechtlichen Charakters; desgleichen die Banken."
„Kämpfen alle diese Großorganisationen im freien Konkurrenzkampf gegeneinander an, wie in unseren Zeiten etwa die Kartelle?"
„Ja und nein! Allerdings schließen die Vertreter der Großorganisationen ihre Geschäfte im freien Handel ab. Heftige Wirtschaftskämpfe werden dabei ausgefochten. Aber zugleich sind starke ausgleichende Tendenzen vorhanden. Vor allem wirkt der Wirtschaftsplan in dieser Richtung. Es wird heute wieder — wenn auch nur in großen Zügen und anders als im Handwerk — nach Bedarf gearbeitet. Natürlich kommen Irrtümer in allen Voranschlägen vor. Da sitzt dann eine Industrie unter Umständen mit einem Zuviel an erzeugten Gütern fest. Die andern suchen sich ihre Situation zunutze zu machen. Das gibt heiße Kämpfe. Droht in solchem Falle der Kampf wilde Formen anzunehmen und eine Industrie die Notlage der andern brutal auszunutzen, so tritt der Staat dazwischen. Er hat, wie ich schon sagte, Einfluss auf die Preisgestaltung. Er schützt in solchem Falle den Schwächeren vor allzu starkem Druck durch den Stärkeren. Freilich hütet er sich, seinen Einfluss zu oft und zu stark einzusetzen. Wir sind zu der Ansicht gekommen, dass Konkurrenzkampf innerhalb gewisser Grenzen unentbehrlich ist,"
„Man würde zu meiner Zeit dagegen geltend gemacht haben: Das sei doch sehr gefährlich." Bernhard sah mich verständnislos an.
„Natürlich!! Ohne Gefahren ist doch kein Leben! Vielleicht sind sie sogar das Schönste am Leben, nicht?"
Ich schwieg. — — — —
Wie anders diese Menschen das Leben empfanden!!-------
„Es nimmt mich wunder", begann ich wieder, „dass das Reich der Freiheit auf den ersten Blick als eine sehr straffe
Organisation von äußerster Kompliziertheit erscheint! Es scheint darin fast mehr Zwang als Freiheit zu geben."
„Das letztere ist unrichtig. Bei näherem Kennen lernen wirst du sehen, wie das Prinzip der Freiheit unser ganzes Leben durchzieht. Freilich — — — Freiheit ist nur bei straffster Ordnung möglich. Sie fordert weitgehende Unterordnung des einzelnen unter die Interessen der Gesamtheit. Diese Erfahrung hat die Menschheit in langen, schweren Kämpfen machen müssen. Erst dann war sie zu einer Neuordnung aller Teile der Gesellschaft nach dem Prinzip der Freiheit fähig. Übrigens — — — was verstehst du unter Freiheit? Ich muss es schon fragen, denn sonst reden wir aneinander vorbei."
„Wir haben oft darüber nachgedacht", sagte ich. „Schließlich kamen wir dahin: Es sei das Handeln unter eigner Verantwortung."
Bernhard sah mich erfreut an. „Dann ist hier eine Stelle, wo wir uns treffen. Hier werden wir die Brücke schlagen!!"
Ich blickte ihn erwartungsvoll an — doch er spann den Faden nicht weiter. So kehrte ich zu meinen Fragen zurück. „Ein System der unmittelbaren Versorgung unter Ausschaltung des freien Handels, wie es in Russland in den ersten Jahren der Bolschewikenherrschaft versucht wurde, habt ihr also nicht?!"
Auch hier kann ich nicht einfach ja oder nein sagen. In den Konsumvereinen ist eine einheitliche Organisation von Produktion und Verteilung geschaffen. Hier ist der freie Handel überflüssig gemacht. Hier ist ein Stück jener erhofften Einheitsorganisation verwirklicht. Desgleichen in manchen städtischen Betrieben. Aber man ist doch bald an die Grenze dieser Möglichkeiten gekommen. — — Wir haben auch durchaus nicht alles Privatkapital aufgehoben. Es besteht noch in kleineren Industrien, im Kleinhandel und in größeren Handwerksunternehmungen, in kunstgewerblichen Unternehmungen und anderen. Dort fristet es sein unangefochtenes Dasein. Für das Gesamtergebnis ist das bedeutungslos. Die Beherrschung der Wirtschaft durch die
Selbstverwaltungskörper ist so unbedingt, dass man die Reste der alten Eigentumsverhältnisse bestehen lassen konnte, ohne Rückschläge in die alte Wirtschaftsweise befürchten zu müssen. — Aber ich glaube, es ist nunmehr Zeit, dass wir hinabsteigen und uns das Messegetriebe ansehen."
Wir brachen auf. Der Soziologieprofessor entließ uns mit höflichem Gruß.

Unten raste der Verkehr. Die Straßen waren so angelegt, dass Autos, Schnellbahnen und Fußgänger sich in getrennten Stockwerken bewegten. So sausten die Wagen unbehindert die Straße entlang, indes der Fußgänger, gegen alle Gefahren des Wagengetriebes geschützt, seinen Weg in Ruhe machen konnte. Das Gewühl der Messefremden bot den buntesten Anblick. Die europäisch-nordamerikanische Bevölkerung, erkennbar an ihrer einheitlichen, zweckbestimmten Kleidung, überwog. Doch sah man auch zahlreiche Vertreter der großen außereuropäischen Kulturkreise in ihren heimischen Trachten. Der Europäisierung hatten sich also diese Kulturkreise wieder entzogen.
Außer den eigentlichen Messebesuchern sah man viele Menschen, die aus allgemeinem Interesse die Messe besuchten. Schulklassen mit ihren Lehrern, studentische Gruppen mit ihren Professoren, Vereinigungen von Künstlern und andere Gruppen mehr wimmelten durcheinander.
„Ist denn diesen Zuschauern der Besuch der Messe gestattet?" fragte ich.
„Gewiss! Die Verwaltung der Messe ist bestrebt, diese Interessen auf alle Weise zu fördern. Die enormen Musterlager der Messe bieten doch den besten Anschauungsunterricht für jeden, der an der Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens nicht nur, sondern auch an den Fragen des menschlichen Verkehrs, des internationalen geistigen Austausches, der Formgebung und vielen anderen Dingen interessiert ist."
Was mir ferner auffiel, war die Veränderung der äußeren Gestalt der Messe. Alles Reklamehafte war verschwunden. Gewaltige Kosten mussten auf diese Weise gespart
werden. Die ganze Veranstaltung erhielt dadurch das Gepräge einer vornehmen Sachlichkeit. Die notwendigen Nachweise fehlten gleichwohl nicht. Auch kam die Schaulust nicht zu kurz. Vielmehr waren in den unteren Stockwerken der Hochhäuser, die das Auge der Fußgänger und Fahrgäste noch erreichte, eine Fülle der erlesensten Waren ausgestellt. Umzüge und Schaustellungen boten den Schaulustigen bunte Bilder.
Wir besuchten zunächst die Textilmesse. Sie zerfiel in drei große Abteilungen. Die eine enthielt alles, was zu jener rein sachlichen Werkkleidung gehörte, die ich an Europäern und Amerikanern bemerkte. Alle Ausstellungsgegenstände dieser Abteilung trugen den Charakter ausgezeichneter Gebrauchsware. Die hervorragende Qualität des Materials und der Arbeit gab den Erzeugnissen ihre Würde und ihre Kleidsamkeit.
„Nach alten Bildern zu urteilen, die ich gesehen habe", sagte Bernhard, „war im Zeitalter des Kapitalismus das Gefühl für diese Würde des Werkkleides nahezu verloren gegangen."
„Allerdings."
„Manches freilich, was da gezeigt wird, muss ich wohl für Spottbilder halten. Dass die Frauen und Mädchen in Seidenstrümpfen und Stöckelschuhen zur Fabrik gingen, das ist doch nur Spaß, nicht?"
Ich schwieg betreten.
„Wie ist es nur zu verstehen, dass im Anblick der Straßen das Werkkleid fast verschwunden war?"
„Ja — das kann ich auch nicht sagen. Vielleicht weil die Arbeit verachtet war!"
„Die Arbeit verachtet?-----------------Ja, dann wäre der
Umschwung zu verstehen. Bei uns trägt jeder sein Arbeitskleid stolz und froh!"
„Unsere Mädchen wollten alle Damen sein!"
„Unbegreiflich!! Dass der Arbeiter so handeln konnte!! Er vertrat doch gerade den Adel der Arbeit!! Da trifft man wieder auf jenes Lebensgefühl, das uns so unverständlich
geworden ist. Freilich — — wenn der Arbeiter sich des eignen Wesens schämte — dann ist die tolle Stillosigkeit eurer Tage zu verstehen."
„Aber es fing an anders zu werden!"
„Das schien mir auf Grund meiner Studien auch so. Nach den Überresten aus jener Zeit und den Bildern zu urteilen, war es allerdings das Bürgertum, das den Anfang machte!!"
Es verdross mich fast, dass er meine Zeit so gut kannte, wenn auch mehr von außen. „Du hast ja recht. Aber wie sollte denn auch der Prolet ,führen'! Es war alles zu meiner Zeit noch halb und halb. Und beim Bürgertum blieb alles in den Anfängen stecken: Die Jugendbewegung, die Sachlichkeit und so fort. Die Arbeiterschaft als neue Klasse konnte allein die neuen Prinzipien durchführen!"
„Ich verstehe! Wie schwer müssen die Träger jener anfänge gekämpft haben. Viele sind sicherlich unterlegen. Aber der mutige Kampf jener Pioniere gibt eurem Zeitalter seinen besonderen Adel. — — Doch nun lass uns die nächste Abteilung besichtigen."

Ein Komplex von Gebäuden, sichtlich kostbarer ausgestattet als die eben besuchten, nahm uns auf. Wir betraten den ersten Saal. Wäre ich eine Frau gewesen, ich hätte vor Entzücken laut aufgeschrieen. Eine Fülle der erlesensten Stoffe aus allen erdenklichen Materialien und in allen erdenklichen Farbenstellungen breitete sich vor mir aus. „Das sind die Stoffe für unsere Festkleider", sagte Bernhard. „Jeder von uns hat deren einige oder wenigstens eins. In der Form ist man hier genau so frei, wie man bei Werkkleidung durch die Forderungen der Zweckmäßigkeit gebunden ist. Die Frauen ergehen sich in allen möglichen Formen und Farbstellungen. Selbst Männer verwenden auf die Wahl viel Sorgfalt."
„Eine Mode gibt es dann wohl bei euch nicht mehr?"
„Mode------------?" sagte Bernhard-------„Ja so!--------
Ich entsinne mich des Wortes. Wir brauchen es nicht mehr. Was besagt es eigentlich?"
Nun zog ich los. Ich schilderte ihm den Rummel der
Modehatz in seiner ganzen Sinnlosigkeit. Er lachte.
„Du scheinst das ja ordentlich im Magen zu haben?"
„Allerdings!! Es war eine sinnlose Verschwendung von Stoff und Arbeitskraft, und der Arbeiter war dabei wieder der Geschundene. Wochenlang hetzte er sich schier zu Tode und dann konnte er stempeln gehen!"
„Waas?"
„Ich meine------------: Er wurde arbeitslos."
„Ach so!--------Nein!!--------Das kennen wir alles nicht
mehr. Bei uns regiert die Arbeit und nicht das Kapital. Solcher Wahnsinn, dass man Menschen erst halb zu Tode hetzt und sie dann arbeitslos auf die Straße wirft — das ist bei uns undenkbar! Dagegen würde sich alles empören. Die regelmäßige Versorgung ist fest organisiert. Die Menschen wissen, dass, wenn sie sich mit ihrem Bedarf an Kleidern nicht rechtzeitig eindecken, sie Gefahr laufen, zur rechten Zeit keine zu haben."
„Und die Wut, immer was Neues haben zu wollen und sich durch Kleidung auszuzeichnen — das kennt man bei euch auch nicht! Nicht wahr?"
Bernhard wiegte den Kopf. „Hör mal", sagte er, „mitscheint, du fliegst in den Himmel!—

,Und jene himmlischen Gestalten —
Sie fragen nicht nach Mann und Weib.
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib?!'

Hm?"
Ich ärgerte mich. „So hab ich's natürlich nicht gemeint!" „Komm", erwiderte er begütigend. „Wir setzen uns hier in diese Nische, wo der Beschauer ein schönes Bild des Ganzen hat. Ich will dir meine ganz persönlichen Erfahrungen erzählen. Ich habe eine Frau, deren Anmut — das darf ich selbst als ihr Gatte sagen — über das Alltägliche weit hinaussgeht. Ich muss dir gestehen, ich freue mich über jedes schöne Gewand, das sie trägt. Ich möchte sie auch nicht
immer in denselben Formen sehen. Die Zeit wandelt sich, und wir wandeln uns mit ihr."
„Das verstehe ich. Das habe ich selbst erlebt. Unsre Alten, das heißt die Frauen, hatten in ihrer Jugend in Kleidern wie in Panzern gesteckt. Genau so steckten sie in allen möglichen Vorurteilen. Unsre Mädels waren frank und frei. Da gehörte sich auch eine andere Tracht hin."
„Dann sind wir uns einig. Eine Modehatz, wie du's nennst, machen wir nicht mit. Aber im Wandel der Zeiten wandelt sich auch das Kleid. — Nun aber das zweite, das Geltenwollen. Ja, ich muss ehrlich sagen — wenn meine Frau ein schönes Feierkleid hat, und wir gehen zu unsern Freunden — du meine Zeit, es ist uns beiden gerade keine furchtbar wichtige Sache — aber wir freuen uns doch, wenn man sie stillschweigend bewundert, oder auch ein Wort darüber fällt. So war's auch schon, als wir uns kennen lernten. Ihre schöne Erscheinung — und die Kleidung ist dabei keine Nebensache — hat mich immer gefreut. Also Emil, der Wunsch sich durch Kleidung auszuzeichnen, ist auch bei uns da, und die erotische Beziehung, die in diesem Wunsche mitschwingt — erst recht."
„Na ja", sagte ich. „Wir haben uns das ja auch nicht so gedacht, als ob die Menschen im Reich der Freiheit wie Mönche und Nonnen rumlaufen sollten."
„Siehst du! Und eine Uniform habt ihr auch nicht beabsichtigt, nicht wahr?"
„Nee! Natürlich nich!------------S'is eben schlimm-------"
„Was ist schlimm?"
„Dass es doch noch Unterschiede gibt — — — und die Menschen------- ja, wie soll ich sagen------------?"
„Dass sie sind, wie sie sind, nicht?"
Bernhard lehnte sich behaglich zurück. Das ärgerte mich wieder. Wenn die Menschen auch im Reiche der Freiheit waren, wie sie waren — so war das eben traurig! — aber nicht um sich behaglich zurückzulehnen und einen schönen Anblick zu genießen. Es fehlte nur noch eine Zigarette. Wir schwiegen beide eine Weile. Er sah meine Verstimmung.
„Es ist schwer für uns, ein gegenseitiges Verstehen zu finden", begann er. „Du willst alles so einfach und gradlinig geordnet sehen. Uns ist die Spannung in allen menschlichen Verhältnissen — das Wesentliche!! Nicht eine unangenehme Zugabe, sondern das Wesentliche! Der tägliche Kampf um den Ausgleich — das ist für uns — das Leben!"
„Ich versteh dich nicht."
„Sieh — an diesem Beispiel wird es dir klarer werden. Wenn meine Frau sich ein schönes Kleid kauft, so weiß sie und ich, dass manch ein Kind nur eben das Notdürftigste an Kleidung besitzt. Dieses Mindestmaß ist freilich durch unsere Wirtschaftsorganisation allen Menschen garantiert. Davon ein ander mal. In solchem Falle entsteht für uns beide die Spannung zwischen unserer berechtigten Lebensfreude und unserem sozialistischen Bewusstsein. Und dieser Kampf, du verstehst, nicht dieser einzelne — sondern als Ganzes, im Prinzip gesehen — er erst führt uns in die Tiefen und Flöhen des menschlichen Daseins. Kannst du das nachfühlen?"
„Nein."
„Du wirst noch viel von unserm Leben sehen. Dann wirst du uns besser verstehen."
Wir standen auf und schlenderten weiter durch die Abteilung. In einem Stand waren handgewebte Stoffe ausgestellt.
„Macht ihr diese Romantik auch noch mit?" knurrte ich.
Bernhard wandte sich an den Vertreter: „Warum werden diese Stoffe mit der Hand gewebt?"
„Wir können auf dem mechanischen Webstuhl diese Muster nicht weben."
„Warum nicht?"
„Sehen Sie hier diese sich wiederholenden Querstreifen von verschiedener Breite? Der mechanische Webstuhl kann nur ein regelmäßiges Muster weben. Hier aber entscheidet sich der Weber beim weben über einzelne Farbenstellungen. Auf solche Willkürlichkeiten lässt sich der mechanische Webstuhl nicht einrichten."
„Du siehst", sagte Bernhard zu mir, „das Mehr an Arbeitsaufwand ist keine sinnlose Willkür."
„Das leuchtet mir ein. Wenigstens erkenne ich hier sachliche Gründe. Ich war auch mal auf der Messe. Alles begeisterte sich damals für handgewebte Stoffe. Ich fragte die Verkäuferin, so wie du eben, nach dem Grunde — ,Das ist eben teurer', sagte sie mir. Ich ging zur nächsten. ,Die Dame, die das kauft, ist sicher, dass nur noch etwa sechs andere Damen in Europa dasselbe Muster tragen.' Ich ging zur dritten: ,Handgewebte Sachen sind modern'.
„Das ist allerdings sehr interessant", erwiderte Bernhard. „Ich begreife mehr und mehr, wie ungeheuer schwer sich unter dem kapitalistischen System der Grundsatz der Sachlichkeit durchsetzen konnte."
„So war es. Er wurde von dem System gemordet."
Die Waren der dritten Abteilung waren für den Austausch mit den europäischen Kulturkreisen bestimmt, wiewohl die ausländischen Käufer auch die anderen Abteilungen besichtigten. Sie bot ein buntes Bild der allerverschiedensten Stoffe und sonstigen Textilfabrikate.

Dann gingen wir in die keramische Abteilung. Ich nahm dort dieselben Gestaltungsprinzipien wahr, wie in der Textilmesse.
„Wir haben nur noch einige Stunden, bis es dunkelt", sagte Bernhard, nachdem wir die keramische Ausstellung verlassen hatten. „Ich rate, dass wir eine kurze Rast in dem zentralen Speisehaus machen und dann die technische Messe aufsuchen."
Das Speisehaus, dessen Zweck nicht eine allgemeine Entspannung der Gäste, sondern die möglichst schnelle Versorgung möglichst vieler Gäste mit Essen und Getränk war, überraschte durch die Zweckmäßigkeit seiner Einrichtungen. Binnen weniger Minuten waren wir versorgt. Eine Viertelstunde später befanden wir uns auf der Schnellbahn zur technischen Messe.
Hier versagt mir die Feder. Was ich als Schlosser dort
fand an Maschinen von ungeahnten Konstruktionen — das kann ich nicht schildern. Die Stunden vergingen im Fluge. Trotz intensivster Arbeit hatte ich nur einen kleinen Bruchteil der Ausstellungsgegenstände gesehen, als es zu dunkeln begann und die Räume geschlossen wurden. Es war 6 Uhr.
„Warum dieser frühe Schluss", fragte ich.
„Früh?"
„Ja! Wir fingen um diese Zeit erst richtig an zu leben."'
„Wirklich???------------Sollte diese Gewohnheit mit dem
nervösen Zusammenbruch der europäischen Menschheit um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenhängen? Er wurde der Anstoß zu einem völlig neuen Aufbau unserer Lebensordnung."
„Vielleicht-----------------"
„Wir beachten heute in unseren Gewohnheiten sorgfältig den natürlichen Rhythmus des Lebens. Wenn wir morgen früh 1/2 6 Uhr mit dem Flugzeug aufsteigen, wirst du unsere andere Ordnung nicht mehr schelten. Laß uns jetzt noch ein wenig in den Anlagen rasten.
Wir betraten weite parkähnliche Anlagen. Bald fanden wir eine Bank. Sie gab unsern müden Gliedern Entspannung. Aber Ruhe bot sie nicht. Der Verkehr rauschte nach wie vor an uns vorüber, denn nach Schluss der Ausstellungsräume zerstreuten sich die Messebesucher in diesen weiten Parks.
„Du scheinst übermüdet", sagte Bernhard.
„Weniger ermüdet als verwirrt! Die ungeheure Fülle der Einzeleindrücke ist schon für jeden Besucher verwirrend. Für mich aber kommt hinzu, dass ich mich in einer anderen Welt befinde. Ich spüre auf Schritt und Tritt euer so durchaus anderes Lebensgefühl. Alles hat einen anderen Grundton, als ich es gewohnt bin. Es will mir nicht gelingen, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.
„Das glaube ich. Wie sollte das nach einem Tage auch möglich sein?"
Während wir so sprachen, entstand in unserer Nähe ein Lärm. Wir sahen auf. Ein widerwärtiger Anblick bot sich uns dar. Eine Gruppe betrunkener Männer und Weiber zog grölend durch den Park.
Bernhards Gesicht umdüsterte sich, aber er behielt ruhig seinen Platz inne. Die Gruppe zog unmittelbar an uns vorbei und machte uns zu Zeugen ihrer Raserei.
Ich war aufs tiefste betroffen. „Bernhard!-----------------"
„Kind" — — — — Verloren schaute er ins Weite.
„Laß uns weiter gehen", sagte er nach einer Weile. „Das Treiben hier verwirrt dich nur immer mehr."
Wir verließen bald die begangenen Wege und schlugen schmalere Pfade ein. Die Menschen begannen sich zu verlieren. Wir näherten uns einer großen, umfriedeten anlage. Sie war von einem eisernen Gitterwerk umschlossen, das hinter dichtem Gebüsch fast verschwand. Da tauchte noch einmal die widerliche Gruppe der Trunkenen vor uns auf. Sie wollten eben den umfriedeten Raum betreten, als die Türen des hohen Gitters, von unsichtbaren Wächterhänden bewegt, zusammenschlugen. Ohnmächtige Wut bemächtigte sich der Schar. Sie raste gegen die Gittertür an und versuchte, sie zu stürmen. Vergeblich. Ein Wutgeheul brach aus ihren heiseren Kehlen. Bernhard hemmte seinen Schritt. Auf seinen Wink traten wir beide zur Seite und warteten. Nach kurzem Toben ließ die Rotte von dem vergeblichen Beginnen ab. Sie wandte sich seitwärts und verschwand unter Kreischen und Lärmen im Dickicht.
Bernhard war sehr ernst geworden. Doch er schwieg. Dann führte er mich zur Pforte. Sie öffnete sich, als wir uns ihr näherten. Beim Eintreten gewahrten wir linker Hand den Wächter; er grüßte uns. Ein gerader, sanft aufsteigender Weg, zu beiden Seiten durch hohe Tannen eingeschlossen, nahm uns auf. An seinem Ende erhob sich ein Kuppelbau von gewaltigen Dimensionen. Seine kühnen Linien, seine Maße, die herbe, keusche Schönheit seiner strengen Sachlichkeit und der Adel seines Materials vereinten sich zu einer befreienden Wirkung von ungeheurer
Wucht. Bernhard hatte kein Wort mehr mit mir gewechselt. Schweigend betraten wir das Innere. Ein breiter Zugang leitete den Besucher zu dem großen Mittelraum unter der Kuppel. Hier dehnten sich in konzentrischen Kreisen Sitze für mehrere tausend Menschen. Sie erhoben sich nicht amphitheatralisch, sondern blieben in derselben Ebene, so dass die Versammelten eine unterschiedlose, große Masse darstellten. Bernhard zog mich auf eine gerundete Bank nieder. Alles verharrte in tiefstem Schweigen. Hier und dort erhoben sich einige, um den Raum zu verlassen; neue Besucher traten ein. Die Wirkung der schweigenden Menge war so feierlich, dass ich nicht wagte, neugierige Blicke umherzusenden. Vielmehr verlor ich mich in die starken Eindrücke des Tages. Ich vermochte auch jetzt nicht, klar über das Erlebte nachzudenken. Aber die tiefe und doch belebte Stille, in die ich gebannt war, legte sich — obschon ich ihren Sinn nicht verstand — lösend um alle Wirrnisse meines Herzens.------------
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen. Als Bernhard aufstand, lag eine tiefere Klarheit als vordem auf seinem Antlitz. Langsam gingen wir zum Portal. Da fiel mein Blick auf den Umgang, der den Innenraum umschloss. Ich gewahrte Nische an Nische, größere mit kleineren in regelmäßigem Wechsel. Sie legten sich wie ein Kranz um den Innenraum. Auch hier saßen Menschen, einzeln, zu zweit, zu dritt — in größeren Gruppen —, alle gleichmäßig in tiefem Schweigen verharrend.
Wir verließen die Stätte des Schweigens auf demselben, von hohen Tannen umstandenen Wege, auf dem wir gekommen waren. Dann nahm uns der Park wieder auf. Wortlos gingen wir nebeneinander. Bernhard bot mir keine Erklärung des Vorgangs. Zu fragen wagte ich nicht. Bald erreichten wir wieder die begangenen Pfade und tauchten in das Gewimmel der Menschen zurück.
„Ich habe Quartier für dich im Zentrum bestellt", sagte Bernhard endlich in kühlem, sachlichen Ton. „Hinter jener Baumgruppe erreichst du die Schnellbahn. Sie führt dich
zum Markt. Dort findest du das Speisehaus, das wir heute Mittag besuchten. In der Nähe liegt auch das Hochhaus, in dem ich für dich Quartier gemacht habe. Hier hast du die nötigen Ausweise. Du wirst in deiner Kabine eine Kleidung wie die unsere finden. Lege sie morgen an, damit du außerhalb der Messestadt nicht auffällst. Früh um 5 Uhr hält auf dem Marktplatz das Auto, das dich zum Flugplatz bringt."
Er bot mir die Hand zum Abschied, ruhig und freundlich. Ich tat, wie mir geheißen. In meinem Quartier angekommen, fiel ich in einen tiefen Schlaf.

 

II. Im Flugzeug über das Land

Am nächsten Tage war klares Septemberwetter, Die morgendliche Fahrt in dem zweckmäßig ausgestatteten Flugzeug war ein Hochgenuss. Im Rücken die aufgehende Sonne, vor uns die rötlich beleuchtete Landschaft, so brausten wir dahin.
„Wohin geht die Fahrt?"
„Nach Gelsenkirchen."
Bald nahm die unter uns liegende Landschaft meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich hatte früher schon einmal die Fahrt über diese Gebiete gemacht. Wie kleine Schnitzel, so lagen damals die Äcker ungezählter Bauernwirtschaften unter uns. Zwar war schon zu meiner Zeit die alte Flureinteilung fast überall aufgehoben und die Zusammenlegung der Äcker durchgeführt. Gleichwohl bot damals das Land den Anblick einer sinnlos zerfetzten Fläche. Wo meilenweite Ebenen sich dehnten, deren zweckmäßige Bebauung mit Körnern und Hackfrüchten sich in landschaftlichen Großbetrieben vollzieht, da häuften sich ungezählte Zipfelchen kleiner und kleinster Roggenfeldchen, Weizenfeldchen, Kartoffeläcker. Jetzt aber breiten sich dort unten große einheitliche Äcker aus. Doch waren die Dörfer erhalten. Nur schienen sie anders gestaltet.
„Sind die alten Bauernwirtschaften überall verschwunden?" fragte ich meinen Führer.
„Durchaus nicht. War nicht schon zu deiner Zeit die besondere Eignung des Bauern zum Viehzüchter anerkannt?"
„Gewiss."
„Der Bauer hat sich in der alten Form überall dort behauptet, wo die Beschaffenheit des Bodens und des Klimas die Viehzucht fordert. Die großbäuerlichen Weidewirtschaften in Nordwestdeutschland sind zum großen Teil erhalten geblieben. Desgleichen die bäuerlichen Viehwirtschaften in den Alpenländern. Auch in den deutschen Mittelgebirgen, wo auf unebenem Boden der maschinelle Betrieb nicht anwendbar ist, findest du die Bauernwirtschaft alten Stils noch. Anders dagegen dort, wo der Boden für Körner- und Hackfruchtbau in großem Ausmaß besondere Qualitäten bietet."
„Es muss ein furchtbarer Kampf gewesen sein, als große Bauernmassen aus ihrem tausendjährigen Besitz gehoben wurden."
„Eigentum meinst du! Besitzer der Flur sind sie geblieben. Trotzdem war die Sozialisierung des Bodens der schwerste Teil der Sozialisierung. Der Vorgang war um so schmerzhafter, als die Landwirtschaft lange Zeit unter dem Druck des Großgrundbesitzes die notwendige Umstellung auf die Anforderungen eines weltwirtschaftlichen Austausches gewaltsam hinausgeschoben hatte."
„Erzähle!"
„Es war in den Zeiten nach dem großen Weltkrieg zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Hast du jemals etwas Näheres vor dieser Zeit gehört?"
„Wie sollte ich nicht, Bernhard? Es war meine Zeit!"
Er sah mich erstaunt an.
„Dann wirst du vieles verstehen! Nach der Erschütterung
durch den Krieg setzte eine Periode der allerschwersten Kämpfe ein. Zunächst bemächtigte sich Großgrundbesitz und Großindustrie der politischen Macht. Sie hatten genau so geräuschlos hinter den Kulissen gearbeitet, wie die Arbeiterschaft mit Kling und Klang und Sing und Sang auf der Straße demonstrierte. Unter der Führung eines Großindustriellen namens Hagenthal errichteten sie eine Diktatur ...."
„Oh! Ich weiß
Bernhard sah mich betroffen an.
„Nur weiter!"
„Viele Jahre lang hielt Hagenthal das Heft in Händen. Man könnte jene Zeit ihrem allgemeinen Charakter nach den Kampf um den Neofeudalismus nennen. Großgrundbesitz und Großindustrie hatten eingesehen, dass die Mittel der Gewalt allein nicht mehr ausreichten. Also versuchten sie, die arbeitenden Massen in Stadt und Land in ein System der Fürsorge und der patriarchalischen Betreuung und Bevormundung durch den Besitz einzuordnen. Die Industrie als die regere, fortschrittlichere nahm die Führung. Sie baute Werkschulen. Sie versah ihre Arbeiter mit Wohnungen und allen Stätten der Unterhaltung und Vergnügung. Ganze Ortschaften wurden neu gebaut. Nichts fehlte darin, was den Menschen zum stillvergnügten Spießer machen kann. Der Großbesitz ging in gleicher Weise vor und brachte Bauern wie Landarbeiter noch einmal unter seine Führung."
„Und was war das Ergebnis?"
„Die Tatsachen: Lohn, Arbeitszeit, Profit ließen sich nicht aus der Welt lügen! Zwar stand der größte Teil der Presse im Sold des Neofeudalismus. Der staatliche Apparat mit allem was daran hing: Verwaltung, Rechtsprechung, Schule, Universität, arbeitete zu seinen Gunsten. Trotzdem war die Macht der wirtschaftlichen Tatsachen stärker. Das städtische und ländliche Proletariat erkannte immer wieder, was es mit diesem Patriarchalismus auf sich hatte. Es vergaß Karl Marx nicht! Er hatte die deutschen Arbeiter die Klassenbedingtheit alles Handelns kennen gelehrt. Er hatte das Bewusstsein geweckt, dass es um etwas anderes gehe, als höhere Löhne und bessere Wohnungen. Er hatte ihnen das Ziel der klassenlosen Gesellschaft gezeigt. An dieser Lehre hat die werktätige Bevölkerung immer wieder Richtung und Ziel gewonnen. Damals begriff man, dass der totgesagte Marx so lebendig war wie je!"
„Und weiter?"
„Auch bereitete sich die politische Befreiung der Arbeiterklasse durch eine innere Wandlung vor. Der proletarische Glaube gewann Gestalt. Er gab die Kraft zum Handeln, die der Nachkriegsgeneration gefehlt hatte. Hagenthal wurde gestürzt! Die Arbeiterschaft gewann nun auch für ihre Agrarpolitik Richtung und Ziel. Der Großgrundbesitz selbst aber musste gewahr werden, dass die Dinge so nicht weiter gingen. Die Anpassung an den Weltmarkt ließ sich nicht mehr umgehen. Er konnte sie aber aus eigner Kraft nicht mehr vollziehen. Der einzelne Landwirt sah sich in ein Getriebe von Zusammenhängen verflochten, das er nicht mehr zu beherrschen vermochte. Heute stiegen die Getreidepreise, morgen fielen sie. Heute bestand Bedarf an Schlachtvieh, morgen nicht. Heute war das Geld billig, morgen teuer. Die Landwirtschaft aber braucht zu ihrem Gedeihen stabile Verhältnisse. Längst aller Tradition beraubt, in diesen Kämpfen zerrissen und zersplittert, verlangte eine Minderheit der Großgrundbesitzer schließlich selbst die Sozialisierung. Sie willigte in die entschädigungslose Enteignung, sofern der Staat bestimmte Ansprüche auf erblichen Besitz — nicht auf Eigentum — und auf erbliche Betriebsleitung anerkennen wolle. Heiße Kämpfe entbrannten. Viel Blut floss. Denn die Mehrzahl war fanatisiert. In manchen Gegenden musste Hof um Hof mit der Waffe in der Hand enteignet werden. So wurde das Eigentum des Staates an dem Boden zunächst des Großgrundbesitzes durchgesetzt."
„Wie wurden nun die Besitzverhältnisse geordnet?"
„Der Betriebsleiter hörte auf, Eigentümer zu sein, genau wie der industrielle Betriebsleiter. Das auf Eigentum gegründete Abhängigkeitsverhältnis der Arbeiter fiel damit. So sehr der landwirtschaftliche Betrieb, wie jeder andere, der Disziplin bedarf, so wenig liegt in seinem Wesen jene Klassenscheidung, auf der in der Vorgeschichte der Menschheit das gesellschaftliche System beruhte. Der Großbetrieb wurde eine soziale Einheit, in der Rang wie Einkommen jedes Einzelnen von der Bedeutung seiner Arbeit abhängig ist. Grundsätzlich kann jeder zum Leiter aufsteigen, jeder zum letzten Knecht herabsinken."
„Aufsteigen — herabsinken??------------"
„Ein andermal davon.------------Aus den einzelnen Groß-
betrieben hat man einen Selbstverwaltungsorganismus aufgebaut. Die kleineren Einheiten sind zu immer größeren Einheiten zusammengeschlossen, Lohn- und Preisfestsetzungen unterstehen in letzter Instanz dem Entscheidungsrecht des Staates. Unter seinem Beistand, damit aber auch unter seiner Entscheidungsgewalt, ist die Anpassung des ländlichen Großbetriebes an den Weltmarkt vollzogen. Man; hat auf Erzeugnisse verzichtet, die das Ausland billiger und besser liefert und betreibt den Anbau der anderen um so intensiver. Es hat sich bald erwiesen, dass bei sorgfältiger Ausnutzung aller technischen Möglichkeiten die deutschen landwirtschaftlichen Großbetriebe in vielen Erzeugnissen überaus leistungsfähig sind."
„Hat man feste Normen für die internationale Arbeitsteilung gefunden?"
„Keineswegs. Die Anpassung muss immer wieder von neuem vollzogen werden. Das ist bei einem so stabilen Gewerbe wie der Landwirtschaft eine sehr schwere Aufgabe. Ihre Leiter sind" daher immer wieder vor die schwersten Entscheidungen gestellt."
„Wie groß ist ein Großbetrieb?"
„Das ist verschieden. Die rationellste Betriebsgröße ist abhängig von der Beschaffenheit des Bodens, dem Stande
der Technik und der Lage. Auch hier müssen immer wieder Umstellungen vorgenommen werden."
„So erheischt also die Leitung des Ganzen eine Fülle der schwersten Entscheidungen?"
„Allerdings. Und du wirst verstehen, dass damit alle Quellen menschlicher Fehlurteile eröffnet sind."
Auf sein Gesicht trat wieder jener Ausdruck tiefen Ernstes, den ich wahrnahm, wenn an solche Fragen gerührt wurde. Er schwieg eine Weile, indes unser Flugzeug über den so anders gestalteten deutschen Boden in rasender Fahrt weiterstob.
Plötzlich wies Bernhard nach unten. Wir überflogen die Südausläufer des Harzes.
„Siehst du den freien Platz auf dem Bergplateau dort? Er gewährt einen herrlichen Rundblick."
„Du meinst jenes Stück, das etwas unterhalb der Höhe von einer hohen Hecke eingefriedet scheint?"
„Ganz recht. Du erkennst noch gerade einige Menschen, die sich dort aufhalten, nicht wahr?"
„Jawohl."
„Es ist eine Stätte des Schweigens, wie wir gestern Abend in Leipzig eine kennen lernten."
Auch heute wagte ich keine Fragen über das seltsame Erlebnis zu stellen.

*

Wir nahmen Unser Gespräch wieder auf.
„Was aber wurde aus den Bauern?" fragte ich.
„Das Großbauerntum rückte durch Abrundung seiner Fläche und Sozialisierung seiner Betriebe in die Reihe der sozialisierten Großbetriebe ein. Der Klein- und Mittelbauer aber wurde in ein neues, besseres Dorfsystem überführt."
„Wie das?"
„Man schloss die Flur eines Dorfes unter Abrundung gegen die Nachbardörfer wieder zu einer Betriebseinheit zusammen, wie sie es ursprünglich gewesen war. Die Zerzipfelung des Landes war ja keine altehrwürdige Einrichtung! Sie war in ihrer radikalen Steigerung erst eine Schöpfung aus der Zeit der Bauernbefreiung. Bis dahin war der große Acker, das Gewann, zwar keine Besitzeinheit mehr, aber doch eine Betriebseinheit geblieben. Wir haben diese Betriebseinheit auf höherer Stufe wiederhergestellt. Du siehst, dass die Dörfer nicht verschwunden sind. Könntest du sie näher in Augenschein nehmen, so würdest du allerdings wahrnehmen, dass ihr Aussehen sehr verändert ist. Der alte Hof als Betriebseinheit besteht nur noch in engen Grenzen. Die Flur ist wieder Gemeinbesitz und gemeinsame Betriebseinheit. Das Ganze ist Eigentum des Staates und den Bauern als verfügungsberechtigten Besitzern verliehen. Die Fähigsten unter den früheren Bauern wurden zu Betriebsleitern der neugeschaffenen Großbetriebe, die andern blieben als Träger der ausführenden Arbeit auf dem Lande. Das Ganze ähnelt dem sozialisierten Großbetrieb stark. Doch die Einzelheiten der Organisation weichen ab, und das Ganze hat — ich möchte sagen — einen anderen Akzent. Man kann das schwer sagen, ohne in viele Einzelheiten zu geraten."
„Aber hat man nicht durch die Umstellung der Eigentumsverhältnisse die Landbevölkerung entwurzelt?"
„Keineswegs, zumal man durch die Gesetzgebung der natürlichen Anhänglichkeit des Menschen an die Scholle Rechnung getragen hat. Allen Mitarbeitenden, den leitenden wie den ausführenden, sind bestimmte, aber fest begrenzte Vorrechte hinsichtlich der Nachfolge ihrer Kinder zuerkannt. Auf Grund der ganzen Neuordnung ist die Landbevölkerung erst wieder richtig sesshaft geworden! Alles sentimentale Gejammer über den Untergang der Landbevölkerung und die Zerrüttung der Volkskraft ist widerlegt. Heute findest du auf dem Lande wieder ein so bodenständiges Leben, wie man es zu deiner Zeit offenbar nicht mehr kannte. Und es ist tausendmal reicher, als es damals war. Es ruht auf dem Grund einer sinnvollen, gemeinwirtschaftlich-notwendigen Funktion. Sofern die Landbevölkerung aus Klein- und Mittelbauern besteht, ist sie
dem Fluch entronnen, auf dem Boden einer wirtschaftlich unhaltbar gewordenen Existenz ein unsicheres, arbeitsüberlastetes Dasein zu fristen. Sofern sie Gutsarbeiter waren, sind sie dem Fluch entronnen, in eine ebenfalls wirtschaftlich unhaltbar gewordene privatwirtschaftliche Ordnung verflochten zu sein. Sie leben auf einer Scholle, in der sie und ihre Kinder fest wurzeln können. Sie tun eine gemeinwirtschaftlich-notwendige, wertvolle Arbeit. Auf dieser wirtschaftlichen Basis sind sie zu freien, selbstverantwortlichen Menschen geworden. Sie gebieten in ihrem engsten Kreise über sich selbst. Im weiteren Kreise gehorchen sie ihren selbstgewählten Oberen. Ernste Verantwortungen sind ihnen auferlegt. Ein neues Menschentum hat sich auf dieser neuen wirtschaftlichen Grundlage und einer gesteigerten Verantwortung gebildet. Die Werktätigen auf dem Lande sind nicht mehr ,Unmündige und Knechte'. Sie haben auch den Städtern gegenüber eigene Formen ihres Lebens gefunden. Zum ersten Mal ist das Landvolk aus seiner geschichtslosen Existenz herausgetreten. Es hat seine eignen Ausdrucksweisen gefunden. Der Landmann ist ein anderer Mensch, als der Städter. Er erfährt Natur und Menschen anders, als der Mensch der Schreibstube oder der Fabrik. Beide bedürfen der eignen Lebensformen, und beide bedürfen des Austausches miteinander als gleichberechtigte freie Menschen. Dies ist im Reich der Freiheit verwirklicht."
„Noch eine Frage, Bernhard: Sind sie glücklicher als früher?"
„Meinst du, ob es ihnen wirtschaftlich gut geht?"
„-----------------Das auch!--------"
„Goldene Zeiten sind für die deutsche Landwirtschaft durch die Neuordnung nicht angebrochen. Sie ist nach dem alten Wort ,umrungen von Gefahr'. Wie die Industrie immer von neuem ihre Stellung auf dem Weltmarkt behaupten muss, so kämpft auch die Landwirtschaft einen unaufhörlichen Kampf um ihre Konkurrenzfähigkeit. Das Reich der Freiheit ist kein Reich des behaglichen Genusses."
„Und das persönliche Glück der Menschen?"
„Glück? —--------— Verantwortung bildet ernste Menschen. Sie belädt manchen mit schwererer Bürde, als ihm lieb ist! Aber eben diese Last ist es, die dem Menschen seine Würde verleiht. In ihr erlebt er seine tiefsten Schmerzen und seine höchsten Freuden. Wenn du das Glück nennen
willst--------------------------."

Plötzlich ging unser Flugzeug nieder. Eine Mittelstadt lag zu unsern Füßen.
„Wo sind wir?"
„In Göttingen. Du sollst wenigstens einen kleinen Einblick in eine Universität gewinnen."
Der Landungsplatz war nicht weit entfernt von einem großen Komplex mannigfacher Bauten, den wir nun aufsuchten.
„Das ist die Universität. Du siehst dort einen Trupp Studenten, der aus dem Mittelportal kommt."
„Ich sehe nur einen Trupp Arbeiter in blauen Blusen."
„Ja, dieselben! Sie kommen offenbar aus einem Kolleg."
Verständnislos blickte ich Bernhard an. „Arbeiter sind doch keine Studenten und Studenten keine Arbeiter!"
Jetzt war die Reihe des Erstaunens an Bernhard. „Warum denn nicht?"
„Ja, wie ist denn das bei euch organisiert?! Bei uns standen hier die Arbeiter und da die Studenten."
„Du musst es selbst in Augenschein nehmen."
Wir traten in das Innere eines mittelgroßen Baues aus dem gleichen Geist jener strengen Sachlichkeit, der das Ganze dieser Kultur beherrschte. Die Abteilung, die wir zunächst durchschritten, auch baulich als Einheit gefasst, trug die Inschrift: Fachschule. Bernhard führte mich hindurch, ohne die Säle zu betreten.
„Dies sind die Fachklassen."
„Was verstehst du darunter?"
„In den Fachklassen der Universität machen die Lehrlinge der so genannten geistigen Berufe, die angehenden Juristen, Ärzte, Lehrer und so fort ihre Lehrzeit durch. Sie
stehen im Ganzen unseres gesellschaftlichen Lebens auf einer Stufe mit den Lehrlingen der werktätigen Berufe." Auch im gesellschaftlichen Ansehen?" Natürlich!! Verschieden ist nur die Vorbildung, die sie mitbringen. Für den juristischen Lehrling sind andere Kenntnisse wünschenswert als für den Schlosserlehrling."
„Aber später gliedert es sich dann nach Gehaltsklassen, nicht???--------"
„Wie???"
„Ich meine — der ehemalige Juristenlehrling kriegt monatlich 500 und der ehemalige Schusterlehrling 150, nicht?"
Verständnislos schüttelte Bernhard den Kopf. „Rang und Einkommen hat doch mit der Art des Berufes nichts zu tun!!"
„Ist der Student während der Zeit seines Studiums freigestellt?"
„Du meinst der Lehrling?"
„Ja."
„Keineswegs. In allen Berufen, den praktischen wie den gelehrten, lernt er von jung auf den Kampf ums Dasein kennen. Denn dieser Kampf ist einer der stärksten Bildungsfaktoren."
Inzwischen waren wir in einen anderen Bau eingetreten. Größere Dimensionen und reichere Ausstattung schienen einen erhöhten Rang auszudrücken. Bernhard sah am schwarzen Brett den Stundenplan ein und öffnete dann leise die Tür eines kleinen Saales. Wir traten ein. In ein Rundgespräch vertieft, sahen Lehrer und Schüler nicht nach uns auf. Wir setzten uns unter die Arbeitenden. Die Kleidung der Teilnehmer ließ erkennen, dass Angehörige der werktätigen und geistigen Berufe hier in buntem Gemisch vereint waren. „Grundfragen des Kunstgewerbes" — so lautete das Thema. Nach kurzer Anwesenheit wurde ich inne, dass man hier nicht Fachkenntnisse paukte. Vielmehr bemühten sich alle Teilnehmer gemeinsam um allgemeine Einsichten, zu denen die Erfahrungen des Werktätigen ebensoviel beitrugen, wie die Kenntnisse der anwesenden geistigen Arbeiter. Bernhard war bald mitten in ihrem Gespräch. Ich musste ausharren, bis die Stunde zu Ende war. Ich tat es gern. Denn es war von höchstem Interesse, den Eifer aller Teilnehmer wahrzunehmen und ihrem Gespräche zu folgen.
„Erkläre mir das", sagte ich, sobald wir den Hörsaal verlassen hatten.
„Dies war eine Klasse der Akademie. Die alten Universitäten nannten sich ,Akademien' nach dem Haine Akademos bei Athen, wo Platon, der griechische Weise, mit seinen Schülern lustwandelte und in ernsten Gesprächen die letzten Fragen des Lebens erörterte, die Fragen nach dem Woher und dem Wohin des Menschen, der Welt. ,Weisheit-Suchende' waren sie. Dieses Suchen ist nicht vielen Menschen gegeben. Es hat mit dem Beruf nichts zu tun. Der Maurer, die Tänzerin, der Bauernbursch — sie mögen Suchende sein — der Jurist oder Sprachforscher vielleicht nicht. Man hat daher aufgehört, die Vorbereitung der geistigen Berufe mit dem Suchen nach Weisheit zu verkoppeln. Die Akademie ist heute allen zugänglich, die da suchen! Diese Suchenden nennen wir ,Studenten'."
Eine tiefe Bewegung übermannte mich. Ich dachte an viele meiner Genossen aus der Arbeiterklasse, die „Suchende" im tiefsten Sinne des Wortes gewesen waren. Man hatte sie schmachten lassen, ohne ihnen die Quellen, nach denen
sie dürsteten, zugänglich zu machen.--------
In diesem Augenblick sah ich aus der Tür eines anderen Lehrsaales eine Hörerschaft herauskommen, die deutlich das einheitliche Gepräge geistiger Arbeiter trug. Daneben öffnete sich eine andere Klasse und eine geschlossene Schar Werktätiger trat heraus. „Hier sind sie aber doch getrennt, Bernhard!" „Freilich! Immer und überall findest du in unserem Leben neben der Leitlinie mehrere andere Linien — zu einer Einheit vereint. So auch hier." „Warum?" „Der angehende Jurist geht mit einem andersartigem geistigen Werkzeug an die Aufgaben des Suchenden heran, als der Schlosser. Freilich ist der Unterschied anders, als im kapitalistischen Zeitalter. Weil uns der Mensch die Hauptsache ist und nicht der Profit, so wenden wir an die Ausbildung aller ein gleiches Maß von Sorgfalt. Die Lehrzeit des Werktätigen wird so gestaltet, dass sie ihn geistig erschließt, statt ihn geistig zu veröden. Desgleichen seine Freizeiten. Er ist daher ein geistig vollentfalteter Mensch. Aber sein geistiges Rüstzeug ist ein anderes, als das des geistigen Arbeiters. Gegenüber dieser Differenzierung durch den Beruf ist unsere Haltung eine doppelte: Einerseits suchen wir auszugleichen. Die Studenten aus den geistigen Berufen haben als wirklich Weisheit Suchende nicht mehr den Ehrgeiz, eine Gelehrtensprache herauszubilden, die außer ihnen kein Mensch versteht. Auch verlangen die Werktätigen, dass Mittel gefunden werden, sich ihnen mitzuteilen. Es heißt hei uns nicht mehr einfach: hier der geistige Arbeiter mit seiner Sprache, dort der Handarbeiter mit einer andern. Es gibt vielmehr für beide eine gemeinsame Plattform. Man verachtet den gelehrten Betrieb, der diese Verständigung nicht sucht!"
„Das leuchtet mir ein. Andererseits habe ich immer von den besten unserer Gelehrten den Eindruck gehabt, dass ihre gesteigerte Sprache keine Marotte sei, sondern einen Sinn habe."
„Den hat sie auch. Sie ist der abgekürzte und präzise Ausdruck des abstrakten Denkens. Man kann daher den geistigen Arbeitern die Pflege dieser besonderen geistigen Form nicht verwehren wollen. Drum gibt es unter den mancherlei Studentenkreisen der Akademie solche, die nur geistige Arbeiter, andere, die nur werktätige Arbeiter vereinen. Dort bearbeiten beide Gruppen die Fragen, jede mit ihren besonderen geistigen Mitteln. Andererseits arbeiten sie in vielen Klassen gemeinsam. Und weil es sich nicht um Fachfragen handelt, sondern um die letzten Fragen des Lebens, so ist der Werktätige von seiner Ebene her genau so leistungsfähig wie der andere, nur in einer andern Weise.
Wie viele Zielsetzungen und Fragestellungen unserer Philosophie sind nicht von den werktätigen Studenten ausgegangen!"
„Wie aber steht es mit den Lebensgemeinschaften, von denen du in Leipzig sprachst?"
„Du siehst dort ihre Stätten. Laß uns erst aufsteigen. Dann überschaust du das Ganze."
Unser Flugzeug hatte sich in die Höhe geschwungen. Doch wir befanden uns noch tief genug, um die Anlagen unter uns im einzelnen erkennen zu können. — — — — — Kleine einstöckige Häuser — größere Bauten— Parks —
Spielplätze — Gewässer-------
„Und hier dürfen die Arbeiterstudenten leben?!?-------"
„Es bleibt jedem freigestellt, ob er in ein Heim geht oder nicht. Wir haben davon bei jeder Universität eine Anzahl. Im besonderen Maße legen die Studenten Wert auf das gemeinsame Leben. Denn erst auf diesem Wege kommen Handarbeiter und geistige Arbeiter zu dem vollen geistigen Austausch, den sie suchen."
Wenn Bernhard gewusst hätte, was mir seine Worte bedeuteten!! ---------------

Einige Stunden mochten verflossen sein.
Bernhard sah nach der Uhr. „Es ist neun. Wir kommen nun bald nach Lothringen."
Ich sah ihn verständnislos an.
„Ja so — du beziehst den Namen noch auf jene Provinz, die in der Vorgeschichte der Menschheit so lange Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich war. Wir bezeichnen damit das große Rohstoffgebiet zu beiden Seiten des Rheines und der Maas, von den Eisenerzen des alten Lothringen an bis zu dem Ruhrrevier und den belgischen Kohlenlagern. — — Hier stand die Wiege des Bundesstaates Europa!"
„Die Wiege des Bundesstaates Europa?! Bernhard, wie soll ich das verstehen?!" „Die Starrheit des nationalen Prinzips, die Erbschaft des
neunzehnten Jahrhunderts, wurde hier zuerst in ihrer ganzen Sinnlosigkeit bloßgelegt----------------und überwunden."
„Erzähle!!!"
„Wie zum Spott auf die nationale Geschlossenheit Frankreichs, Deutschlands und Belgiens bildet hier der Osten des einen, der Westen des andern und der Süden des dritten Nachbarlandes eine natürliche wirtschaftliche Einheit. Die deutsch-französische Sprachgrenze geht mitten hindurch."
„Ich verstehe. Schon in unserem Zeitalter war es klar, dass diese Rohstofflager einer einheitlichen Bewirtschaftung bedurften. Schon damals begannen die Bestrebungen der deutschen, französischen und belgischen Industriellen sich über die Bewirtschaftung dieses Gebietes zu verständigen."
„Dann kennst du die Anfänge. Schritt für Schritt bauten die Unternehmer diese Verbände weiter aus. Schließlich waren sie zu regulären übernationalen Selbstverwaltungskörpern geworden. Eines Tages stand man vor der Tatsache, dass das ganze große Rohstoffgebiet — obwohl Frankreich und Deutschland und Belgien damals drei getrennte Staaten waren — ein einheitlich verwaltetes Wirtschaftsgebiet darstellte. Die Staaten widerstrebten nicht, denn sie standen damals ganz unter dem Einfluss des Kapitals. Warum sollte denn auch eine Verständigung nicht durchzuführen sein? Wenn Nachbarstaaten den guten Willen haben, ein Rohstoffgebiet, das teils dem einen, teils dem andern, teils dem dritten gehört, einheitlich zu bewirtschaften — warum sollte das nicht gehen? Dem Kapital lag nichts an dem blutigen Zwist um diese Bodenschätze. — So setzte es denn auf friedlichem Wege ihre einheitliche Bewirtschaftung durch. Damit fiel der Anlass eines vielhundertjährigen Zwistes zwischen Frankreich und Deutschland, der stärkste Kriegsfaktor des gesamten mittleren und westlichen Europa. Nachdem der Weg der Verständigung einmal beschritten war, kam man schnell vorwärts. Das Unternehmertum schuf gemeinsame Behörden für eine gemeinsame Zollpolitik, dann für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik Frankreichs, Belgiens und Deutschlands.
Es bedurfte nur noch der großen außenpolitischen Krise, die mit dem Einbruch der Vereinigten Staaten in Europa erfolgte, um aus den drei Staaten eine Einheit zu machen."
„Ich verstehe dich nicht!!----------------Du sprichst immer
von dem Unternehmertum! Die Arbeiterschaft war doch der Träger des internationalen Gedankens! Wir sangen die Internationale — — wir demonstrierten gegen den Krieg — — wir veranstalteten internationale Treffen — —"
„Und das Unternehmertum arbeitete!"
„Bernhard!! Wir waren doch aus innerster Überzeugung international!!"
Mit einem kleinen Lächeln blickte Bernhard mich an.
„Wirklich?-------Du musst deine Zeit besser kennen als ich.
Aber wenn man Dokumente aus jener Epoche liest, so möchte man fragen: Wart ihr nicht eigentlich recht provinziell?!"
Ich schwieg betreten — — „Vielleicht — — vielleicht
hast du nicht ganz Unrecht. Wenn ich es gestehen soll------
in den Versammlungen rauften sich die Cliquen und zum Schluss sang man: ,Völker hört die Signale!!!'"
„Man wird rückschauend an das neunzehnte Jahrhundert erinnert, das eine Parallele dazu bietet. Damals war das Bürgertum jung und revolutionär. Es war der Träger des deutschen Gedankens! Es sang die Lieder von Deutschlands Einheit! Wie begeisterte man sich nicht in Wort und Schrift an dem nationalen Gedanken! Politisch zu handeln aber vermochte man nicht! Es war ein Vertreter der alten Herrenschicht, der die nationale Einheit schuf. So kam es auch hier. Das Unternehmertum sang keine Internationale. Aber es baute den Bundesstaat Europa!"
„Aber Bernhard! Wenn das Unternehmertum die Führung in dieser ganzen Entwicklung gehabt hat, dann muss sich mit diesen Erfolgen auch seine Machtstellung ungeheuer befestigt haben?"
„Freilich! Genau wie Monarchie und Junkertum nach 1871 noch einmal eine Periode stärkster Macht erlebt haben, so hat auch das Unternehmertum als die führende Schicht
in dem Ringen um den Bundesstaat Europa noch einmal eine Glanzperiode erlebt. Es war die Zeit, in der es unter Hagenthals Führung das System des Neofeudalismus errichten wollte. Seine Leistungen in der großen Politik kamen natürlich seinen neofeudalistischen Bestrebungen sehr zu statten! Ich sagte dir schon, dass die Arbeiterschaft sich erst nach schweren Katastrophen durchgesetzt hat."
„Wenn meine Genossen das hätten ahnen können!! — -------Sie hätten ihre provinziellen Zwistigkeiten begraben!
— — — Doch mir fehlt noch das Zwischenglied. Du sprachst bisher nur von Frankreich, Deutschland und Belgien und ihrer gemeinsamen Bewirtschaftung Lothringens. Das ist noch nicht Europa!"
„Nein. Aber der Bundesstaat Europa war mit der Errichtung Lothringens eine Notwendigkeit geworden."
„Warum?"
„Durch die einheitliche Zusammenfassung war Lothringen eine wirtschaftliche Hochburg von solcher Macht geworden, dass eine darüberstehende Instanz, welche die Interessen ganz Europas gegenüber Lothringen wahrnahm, gerade im Interesse der übrigen Länder unerlässlich wurde, Nun begannen Kämpfe von ungeheurer Schwere. Die kleinen Nationen wehrten sich gegen jeden Zusammenschluss — zumal die östlichen. Sie hatten so lange unter fremder Hoheit gestanden, dass sie ihre Souveränität verteidigten, als ob es ihrer Seelen Seligkeit gelte. Doch die Macht der wirtschaftlichen Tatsachen war stärker. Es gelang, die meisten durch günstige Wirtschaftsverträge zu gewinnen.
— Die wenigen Übrigbleibenden wurden durch wirtschaftlichen Boykott gezwungen, sich einzuordnen."
„So ist es zu Kriegen um des Zusammenschlusses willen nicht mehr gekommen?"
„Nein. In organisatorischer Beziehung wurde der Pakt im Westen das Vorbild für ähnliche Übereinkommen. Warum sollten Deutschland und Polen sich um die Bewirtschaftung der oberschlesischen Kohlenfelder dauernd die Haare raufen, oder am Weichselstrom mit fletschenden
Zähnen einander gegenüberstehen, jeder eifersüchtig, dass der andere diesen Bissen nicht bekomme! Man hatte die Erfahrung gemacht, dass gemeinsame Bewirtschaftung eines Gebietes, an dem zwei oder drei Staaten interessiert sind, möglich ist, ohne einfache Unterordnung des einen unter den anderen. Man wurde auch immer stärker inne, dass Europa ein viel zu kleines Wirtschafts und Machtgebiet ist, um sich in ein Dutzend Staaten und mehr aufzusplittern. Nun ging die Verständigung mit großen Schritten vorwärts."
„Wenn nun aber zwei Staaten über die gemeinsame Bewirtschaftung in Streit geraten?"
„Dann wenden sie sich an den Zentralrat in Bern. Er hat in jeder Weise die letzte Entscheidung."

„Die nationalen Unterschiede sind dann wohl im wesentlichen verschwunden?"
„Im Gegenteil! Seit die Nationen sich nicht mehr in sinnlosen nationalen Verkrampfungen winden, können sie sich als Kultureinheiten um so stärker entfalten!"
„Aber Bernhard! Ich verstehe dich nicht! Die ,Nation' ist doch eine einzige große Einbildung! Man kann alle Einzelheiten, aus denen sie entstanden ist, an den Fingern herzählen."
„Zum Beispiel?"
„Land und Klima."
Er wiegte den Kopf.
„Du kannst die Wüste genau untersuchen und in ihren Eigenheiten erforschen. Du kannst ihre durchschnittliche Niederschlagsmenge berechnen. Aber was diese unendliche Landschaft mit ihren Lichtern und ihrem Dunkel, ihren Atmosphären und ihrem Sternhimmel, mit ihrem gelben Sandmeer und ihren Oasen in den Bewohnern an inneren Erlebnissen weckt —, das sagt dir keine Bodenbeschreibung und kein Regenmesser."
„Dann meinetwegen etwas anderes. Die einheitliche Abstammung ist Unsinn. Alle Nationen sind Mischvölker. Das weiß man. Zum Beispiel die Engländer."
„Gut. Ich will annehmen, du könntest statistisch feststellen, wie viele Kelten, wie viele Angelsachsen und wie viele Normannen im englischen Volke aufgegangen sind. Was aber diese Mischung für das leiblich-geistige Wesen der also gebildeten Nation bedeutet, welches die Impulse, die Triebe, die neuen Spannungen sind, die sich aus der Vermischung mehrerer Blutströme und ihrer Verfestigung zu einer Einheit ergeben haben — kannst du das auch berechnen?"
Ich antwortete nicht. Aber Bernhard war in Eifer geraten.
„Du kannst alle einzelnen Daten in der Geschichte eines Volkes aufzählen: Wann seine großen Männer geboren wurden. Wann sie starben. Welche Klassen sich bildeten. Wann sie kamen. Wann sie gingen. Welche Kriege geführt, welche Siege, welche Niederlagen erlebt wurden. Welche Erfindungen gemacht, welche Bücher geschrieben wurden. Aber was diese Geschichte für ein Volk bedeutet, was sie an Kräften in ihm belebt oder tötet — das sagt dir keine
Geschichtstabelle.
Du kannst die Worte einer Sprache zählen. Du kannst ihre Regeln erforschen, ihre Wortbildungen feststellen. Was aber die Sprache an geistigem Sein bedeutet, was sie zwischen den Menschen, die sie sprechen, für seelische Gemeinsamkeiten weckt —, das zählst du nicht aus. — So entziehen sich schon die einzelnen Elemente, welche die Nation bilden, der rechenhaften Erfassung. Wie viel mehr nicht das Ganze des großen Körpers, der uns zwar sichtbar und greifbar wird in allen seinen Gliedern, dessen Wesen aber so vieles Unerforschliches enthält."
„Hat sich diese Auffassung auch politisch ausgewirkt?" „Gewiss! In Anerkennung der Nation als Kulturträger gibt die Verfassung des Bundesstaates Europas den Nationen innerhalb des größeren politischen Körpers so viel Selbständigkeit, wie irgend möglich. Die Tendenz zur politischen Großorganisation wird aufgewogen durch die Tendenz zur Kulturautonomie der Nationen."

 

III. Im Bergwerk

Unser Flugzeug ging in eleganter Kurve nieder. Wir hatten während der Fahrt eine ausgiebige Mahlzeit eingenommen. In Gelsenkirchen gelandet, konnten wir uns daher sogleich auf den Weg machen. „Wir wollen zuerst in ein Bergwerk einfahren", entschied Bernhard. Nachdem die Erlaubnis bewirkt war, bestiegen wir einen Förderkorb und fuhren in die Tiefe. Ein Führer nahm uns in Empfang.
Die Anlage des Schachtes überraschte durch die Verbindung von sachlicher Zweckmäßigkeit und sorgfältiger Rücksichtnahme auf Leben, Sicherheit, Gesundheit und Arbeitsfreudigkeit der Belegschaft. Selbst als wir bis zu dem äußersten Ende eines Stollens vorgedrungen waren und die Arbeit der Häuer an Ort und Stelle beobachteten, fanden wir eine technische Gestaltung der Arbeit, die sie für einen gesunden Mann erträglich machte. Wo einst der Lohnsklave sein tiefstes Elend erlebt hatte, da handierten jetzt gesunde, frohe Männer!
„Es interessieren mich nicht nur die technischen Einrichtungen", sagte ich nach ausführlicher Besichtigung der anlagen zu unserem Führer. „Ich würde mir gern auch ein Bild von der sozialen Gestaltung der Arbeit machen." In diesem Augenblick ertönte ein Glockenzeichen. Die Arbeiter stellten ihre Arbeit ein.
„Schließen Sie sich den Arbeitern an", sagte der Führer. „Diese Schicht macht Feierabend; die zweite Schicht ist bereits eingefahren. Zwischen beiden Arbeitszeiten findet heute Betriebsversammlung statt. Gehen Sie mit. Man wird Ihnen Auskunft erteilen." Er wies uns einer Gruppe zu.
„Guten Tag, Doktor", rief Bernhard erfreut, als wir uns einem Trupp Arbeiter angeschlossen hatten.
„Halloh, Kollege, wie kommst du hierher?"
„Ich führe einen Fremden." Er machte mich mit seinem Kollegen bekannt; wir tauschten einige Worte.
„Was treibst du hier?" fragte Bernhard seinen Bekannten.
„Ich diene wieder einmal ein industrielles Jahr als Auflader ab."
„Was bedeutet das", fragte ich dazwischen.
„Da sind wir gleich mitten drin in dem, was du die soziale Gestaltung der Arbeit nanntest. Du siehst, trotz aller sanitären Einrichtungen bleibt die Arbeit unter Tage eine harte, gesundheitsgefährdende Aufgabe. Seit die privatkapitalistische Ordnung aufgehoben ist, nutzen wir keine Menschenkraft mehr vorzeitig ab."
„Ich verstehe."
„Deshalb wurde, sobald das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben war, die Verwendung der menschlichen Arbeitskraft unter völlig neue Gesichtspunkte gestellt. Wollt ihr das dem Kollegen am Beispiel eures Betriebes deutlicher machen, Genossen?" wandte er sich an die Bergarbeiter, in deren Mitte wir gingen. Sie hatten uns mit sichtlichem Interesse zugehört. „Der Fremde kennt unsere Organisation nicht."
„Meine Arbeit ist gelernte Arbeit", begann ein alter Häuer. „Die kann nicht jeder tun. Man kann also die Arbeiter nicht beliebig auswechseln. Zugleich ist sie schwer und anstrengend. Also arbeite ich nur vier Stunden unter Tage. Ich muss mich aber zur Verfügung stellen, wenn über Tage noch Arbeitskräfte gebraucht werden. Es ist nicht immer der Fall, aber oft. Immerhin ist es mit der Verkürzung der Arbeitszeit keineswegs so ganz einfach. Nur zu leicht verliert der Mensch als Konsument, was der Mensch als Produzent gewinnt."
„Wie meinst du das?"
„Wenn ich eine Stunde länger arbeitete, würde ein Viertel mehr geschafft. Und meine Kraft ist nach vier Stunden noch nicht voll verbraucht. Also verlieren die Konsumenten diese Leistung. Die Wirtschaft hat dieses Viertel Kohle weniger zur Verfügung. Es ist eine verantwortungsvolle Entscheidung für unsere Wirtschaftsleiter, uns diese kurze
Arbeitszeit einzuräumen. Und es ist für uns eine große Verantwortung gegenüber der Gesamtheit, sie zu fordern." Man sah seinem nachdenklichen Gesicht an, dass diese Worte keine Phrase waren.
„Meine Arbeit dagegen", begann der Doktor, „ist ungelernte Arbeit. Sie ist ebenfalls wegen der Luft und Temperatur im Bergwerk gesundheitsschädlich. Alle solche Arbeit, die ungelernt ist und den Menschen auf irgend eine Weise schädigt, wird zu gleichen Lasten unter alle Glieder der Gesamtwirtschaft verteilt. Jeder, der durch seine Arbeit nicht gesundheitlich gefährdet ist, muss sie tun. Wie im alten militärischen Staat die Männer ein militärisches Jahr leisten mussten, so leisten heute alle arbeitsfähigen Männer und Frauen ein industrielles Dienstjahr. Und es kommt vor, dass man mehrmals im Leben drankommt."
„Freilich, lange nicht so oft, als man anfangs glaubte", fügte ein junger Auflader hinzu. Seine derberen Züge und blühende Gesichtsfarbe ließen auf den Landarbeiter schließen, „Denn in der Vorgeschichte der Menschheit wüstete man mit der Menschenkraft, als ob sie Häcksel sei. Heute ist ihre Erhaltung ein Grundprinzip unseres Lebens. Und seit die zarten Herren da aus den Schreibstuben" — er lachte den Doktor an — „selber mithalten müssen bei diesem unangenehmen Geschäft, da tun sie, was sie können, um gesundheitsschädliche Arbeit auszumerzen. Die Erfindungen, die ihrer Aufhebung dienen, drängen sich nur so, nicht Doktor?" „Freilich!"
„Wie aber steht es mit der mechanischen und monotonen Arbeit?" fragte ich.
„Genau wie mit der gesundheitsschädlichen. Sie wird gleichmäßig auf alle Schultern verteilt. Du glaubst nicht, wie sehr sie sich verringert hat, seit alle mittun müssen!!"
„So wird sie nicht mehr auf die Frauen abgeschoben?"
„Auf die Frauen???!!!—" schrieen alle auf
einmal. Ich schwieg verdutzt.
„Wie werden wir denn unsere Mädchen und Frauen zur
Übernahme der mechanischen Arbeit verurteilen?!!! — Hat man je dergleichen gehört?"
„Doch! Im kapitalistischen System war das so", entgegnete ich.
„Ist das zu glauben??! Hat solche Barbarei wirklich bestanden?"
Ich schwieg.------------
„Unterbricht ein solches Dienstjahr nicht allzu sehr deine beruflichen Arbeiten?" fragte ich nach einer Weile den Doktor.
„Oft ist es natürlich unbequem. Immerhin — man weiß ungefähr, wann man rankommt und kann sich melden, wie es in der beruflichen Arbeit passt — genau wie seinerzeit mit dem Militärdienstjahr auch."
„Aber ist es euch nicht widerwärtig, eure Arbeit mit diesem Dasein zu vertauschen?"
„Widerwärtig?! Wie meinst du das?"
„Nun — im Büro oder Kontor ist's angenehmer!!"
„Nu hör aber auf!" rief der Doktor. Die Männer lachten.
„Und das Leben unter den Bergarbeitern — in so anderen sozialen Verhältnissen — — —"
„Das ist doch gerade das Interessante an der Sache!! Gerade darum ist ja das Dienstjahr für uns geistige Arbeiter von allergrößtem Wert! Wir lernen eine uns fremde Welt kennen! Vielleicht hat sie der Intellektuelle vergangener Jahrhunderte lächerlich unterschätzt — das weiß ich nicht."
„Ja", sagte ich bitter, „er schätzte sie nur, wenn sie Profit abwarf!" — — Ich fühlte, wie die ruhigen, gesunden Männer mich voll Verwunderung ansahen.

„Nach dem, was du mir früher von der Organisation eurer Wirtschaft erzählt hast", sagte ich zu Bernhard im Weitergehen, „ist wohl der gesamte Kohlenbergbau in solch einem öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörper organisiert, wie du es nanntest?"
„Ganz recht."
„Wie baut sich die Organisation auf?"
„Du siehst hier die Zelle: den Betrieb. Die einzelnen Betriebe sind zum Bezirkskohlenrat als zur nächsthöheren Einheit zusammengeschlossen. Darüber steht die Landesorganisation und als oberste Instanz endlich der Zentralkohlenrat in Bern."
„Wer ernennt die Betriebsleiter?"
„Der Bezirkskohlenrat, jedoch nach Anhörung der Belegschaft."
„Ihr habt es nicht für zweckmäßig gehalten, die Ernennung der Belegschaft zu übertragen?"
„Nein. Wir haben den Versuch gemacht. Aber der Betriebsleiter blieb dann allzu sehr von Gunst und Ungunst einzelner Gruppen im Betrieb abhängig. Die Belegschaft hat nur das Vorschlagsrecht, das Beschwerderecht und ähnliche Rechte. Die Ernennung des Leiters sowie seine Absetzung erfolgt vom Kohlenrat des Bezirks."
„Wie kommt der Bezirkskohlenrat zustande?"
„Er wird teils in Urabstimmungen der Zellen gewählt, teils durch Betriebsvertretungen. Außerdem ernennt der Staat einen Vertreter."
„Im ganzen gesehen ist also das Gewerbe nach demselben Prinzip organisiert, wie du es mir gestern für die Landwirtschaft geschildert hast?"
„Gewiss! Du findest eine entsprechende Organisation in unserem Schulwesen, in unserem Verkehrswesen und so fort."
„Überall hat die Zelle weitgehende Selbständigkeit?"
„Ja, das ist das Grundprinzip unserer gesamten Gesellschaftsorganisation. Der Zentralisierung in großen Ausmaßen stellen wir die Autonomie der Zelle gegenüber."
„Das ergibt dann aber ein kompliziertes System!! Einerseits Zentralisation im großen Bundesstaat. Andererseits Autonomie der Nation und Autonomie der Zelle — —"
„Freilich!! Wo wären solche Spannungen in unserem Leben nicht?? — —"
*
Wir hatten den Versammlungsort erreicht. Es war der große Platz vor den Förderkörben. Etwa achthundert Mann hatten sich eingefunden, die Mehrzahl Handarbeiter, eine Minderheit Ingenieure. Das Büro war aus zwei Handarbeitern und einem Ingenieur zusammengesetzt. Die Betriebsleitung, aus drei Personen bestehend, war ebenfalls anwesend. Sie hatte jedoch in dieser Versammlung weder Sitz noch Stimme.
Der Vorsitzende eröffnete. „Ich gebe zunächst die Tagesordnung bekannt. Sie enthält nur einen Punkt: Verlängerung der Schichten." Ein Gemurmel ging durch die Versammlung. „Sind alle einverstanden?"
„Zur Geschäftsordnung" rief ein junger Arbeiter. „Ich beantrage einen zweiten Punkt auf die Tagesordnung zu setzen: Beschwerde über den ersten Betriebsleiter!"
„Ist der Antrag hinreichend unterstützt?"
„Jawohl; er hat zwanzig Unterschriften."
„Also angenommen. Wir kommen zu dem ersten Punkt. Wie ihr wisst, Genossen, erlitt die Wirtschaft unseres Bundesstaates durch Missernte in den Körnerbaugebieten, sowie durch den Verlust von Auslandsmärkten im Vorjahr schwere Schläge. Nun hat sich unerwartet die Möglichkeit geboten, durch große Aufträge nach Brasilien und Peru diese Verluste einzuholen. Wenn diese Gelegenheit wahrgenommen werden soll, so bedarf es aber einer schnellen Steigerung der Kohlenproduktion. Unter diesen Umständen hat der oberste Wirtschaftsrat in Bern ..." — — — —
„die staatliche Instanz", sagte Bernhard leise zu mir-------
— — „beschlossen, dass wir vier Wochen lang täglich eine halbe Überstunde pro Schicht leisten sollen. Der oberste Kohlenrat hat dem zugestimmt. Ihr wisst, wir sind verpflichtet, diese Mehrarbeit sofort zu leisten. Es steht uns aber das Recht zu, eine Urabstimmung aller Arbeitenden darüber zu fordern. Wenn ein Drittel der Betriebe die Urabstimmung fordert, muss sie stattfinden. Wünscht jemand dazu das Wort?"
Ein älterer Arbeiter meldete sich. „Ich bin nicht der An-
sicht, dass wir den Beschluss des obersten Kohlenrates einfach über uns ergehen lassen sollen. Natürlich müssen wir seinen Anordnungen zunächst Folge leisten. Ich würde es aber für richtig halten, die Urabstimmung zu verlangen. Denn das vorige Mal sind wir auch als erste in die Bresche gesprungen. Die chemische Industrie dagegen weigerte sich, ebenfalls länger zu arbeiten. So blieb die Mehrleistung an uns allein hängen. Das machen wir nicht zum zweiten Mal mit!"
Ein beifälliges Gemurmel lief durch die Reihen.
„Genossen!", nahm der Vorsitzende das Wort, „der Einwand war zu erwarten. Er ist berechtigt. Auch bei dem obersten Wirtschaftsrat ist der Fall, von dem der Kollege sprach, nicht in Vergessenheit geraten. Er hat überall Empörung hervorgerufen. Der oberste Wirtschaftsrat hat daher zunächst die chemische Industrie aufgefordert, für die nächsten vier Wochen eine ganze Stunde Überarbeit pro Schicht zu leisten. Der oberste Rat der chemischen Industrie hat sich diesem Verlangen nicht entziehen können. Er hat die Überarbeit angeordnet. Proteste aus den Reihen der chemischen Arbeiter werden hoffentlich nicht kommen."
Der vorige Sprecher meldete sich wieder.
„Unter diesen Umständen ziehe ich meinen Einspruch zurück."
„Wünscht sonst noch jemand zu diesem Punkt das Wort? — Es ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Wer eine Urabstimmung über die Verordnung des obersten Kohlenrates wünscht, der erhebe die Hand."
Etwa fünfunddreißig Mann meldeten sich.
„Die Angelegenheit ist damit erledigt. Wir kommen zum zweiten Punkt der Tagesordnung: Beschwerde über den ersten Betriebsleiter. Der Antragsteller hat das Wort."
Der Arbeiter erhob sich. Gespannte Erwartung lag auf den Mienen der andern. „Genossen! Ihr alle wisst, dass der größte Teil der Belegschaft mit den Leistungen unseres ersten Betriebsleiters nicht zufrieden ist. Er versteht nicht, den Betrieb zweckmäßig zu organisieren. Wir haben vor
vier Wochen die Explosion erlebt, die beinahe mehreren Kameraden das Leben gekostet hätte. Wir bleiben in unsern Leistungen hinter den andern Betrieben zurück. Da muss aufgeräumt werden. Es geht nicht an, dass unter mangelhafter Leitung die Förderung leidet. Im einzelnen mache ich folgende Beschwerdepunkte geltend." Er öffnete sein Notizbuch und führt eine Menge von Einzelfällen auf.
Eine lebhafte Debatte entspann sich. Der Betriebsleiter versuchte, sich zu verteidigen. Doch die Mehrzahl war gegen ihn. Ein Antrag wurde eingereicht. Er forderte die Absetzung des Betriebsleiters durch den Bezirkskohlenrat. Man schritt zur Abstimmung.
„Wer gegen den Antrag ist, hebe die Hand!"
Etwa ein Drittel der Anwesenden erhob die Hände. Man machte eine Auszählung und Gegenprobe. Der Leiter präzisierte das Ergebnis:
„Die Leitung der Betriebsversammlung wird durch eine Zweidrittelmehrheit beauftragte, die nachfolgend aufgeführten Beschwerden an den Bezirksrat weiterzugeben und die Abberufung des ersten Leiters zu verlangen."
„Werden sie etwas damit erreichen?" fragte ich leise den Doktor.
„Sicher! Wenn zwei Drittel einer Belegschaft sich über den ersten Leiter beschwert, so müssen ernsthafte Gründe zur Unzufriedenheit vorliegen. Wahrscheinlich wird er abberufen werden."
Die Beratungen waren zu Ende. Der Versammlungsleiter wollte gerade die Versammlung schließen, als ihm ein Telefongespräch übermittelt wurde. Man sah, wie sich Schrecken und Besorgnis auf seinem Gesicht malten.
„Einen Augenblick, Genossen", rief er. Die Bergleute sammelten sich wieder.
„Soeben bekomme ich die Nachricht, dass die Belegschaft der chemischen Werke gegen die Überarbeit protestiert. Sie haben sogar den ausdrücklichen Beschluss ihres obersten Fachrates missachtet und die Überstunden verweigert."
Wie eine Bombe schlug die Nachricht ein. Im Nu löste
sich die Versammlung in Gruppen auf. Das Für und Wider wurde hitzig debattiert. Nach einigen Minuten gelang es dem Vorsitzenden die Ruhe wieder herzustellen. „Genossen", begann er, und ein tiefer Ernst lag auf seinem Gesicht. „Wir alle werden der Ansicht sein, dass das Verhalten unserer Kollegen von der chemischen Industrie nicht zu rechtfertigen ist."
„Es ist unerhört!" schrie ein Junger.
„Sie haben die oberste Pflicht unserer Gemeinschaft verletzt: Die Verantwortung für das Ganze! Das darf uns jedoch", sprach er mit Nachdruck weiter, „nicht an unserer Pflicht irre machen!!"
„Fragt sich, worin sie besteht!!?"
„Die Überstunden, die unser Rat beschlossen hat, müssen geleistet werden. Ich habe nicht die Absicht, den vorhin gefassten Beschluss noch einmal zur Diskussion zu stellen."
„Zur Geschäftsordnung!!" schrieen sechs Stimmen zugleich. Ein junger Bursche sprach als erster.
„Genossen!! Wir werden nicht zum zweiten Mal die Narren der chemischen Arbeiter machen!! Ich beantrage, dass wir die Verhandlung über diese Angelegenheit neu eröffnen!"
Der Versammlungsleiter wehrte ab. Eine wütende Debatte über die Geschäftsordnung setzte ein. Der Leiter unterlag. Die Diskussion über die geforderten Überstunden begann von neuem. Sie war leidenschaftlich erregt, aber sie verlief anders, als das bei uns der Fall gewesen wäre. Es fehlten nicht nur die persönlichen Gehässigkeiten und Verdächtigungen, es fehlten nicht nur die demagogischen Reden, sondern es lag auch der Ton nicht so stark auf dem persönlichen Interesse der Arbeitenden an der halben Stunde Mehrarbeit. Wohl ging sie mehrfach auch in dieser Richtung. Aber man empfand diesen Gesichtspunkt offenbar als zweiten Ranges. Die Frage, um die es sich drehte, war vielmehr die, ob die Verantwortung für das Ganze die annahme oder Ablehnung der vom obersten Kohlenrat erlassenen Verordnung fordere.
Der Vorsitzende kämpfte schwer. Man sah, wie in ihm selbst zwei Entscheidungen miteinander rangen. Der Zorn der Belegschaft war nur allzu berechtigt. Man konnte kein Gemeinwesen aufrecht erhalten, wenn ein Teil sich so rücksichtslos über die Notwendigkeiten des Ganzen hinwegsetzte. Und doch wurde das Unheil durch einen Disziplinbruch nicht gebessert, sondern verschlimmert! Trotz des Versagens der chemischen Arbeiter hielt er es für richtig, dem Ganzen die notwendige Hilfe zu leisten. Die Mehrzahl der Anwesenden war geneigt, die Überstunden sofort zu verweigern.
Nach heißem Kampf gelang es dem Vorsitzenden, die Gehorsamsverweigerung gegenüber der eigenen Zentrale zu verhindern. Gleichzeitig wurde eine Resolution an die Zentrale beschlossen. Sie forderte sofortige Urabstimmung aller Betriebe. Auch ein geharnischter Protest an verschiedene andere Stellen wurde losgelassen. In großer Aufregung gingen die Bergleute auseinander.
„Das also ist das Reich der Freiheit-----------------", sagte
ich zu Bernhard.
„Ja — — das ist das —selbstverantwortliche —
— — Handeln!!" Ein Blick aus der Tiefe seiner Augen traf mich. Dann brach er ab.

„Lass uns von neuem im Flugzeug aufsteigen", sagte er, als wir wieder im Freien waren.
„Nein, Bernhard, das ist zu viel! Ich kann nicht in dieser Weise eine mir fremde Welt durchrasen. Was ich gestern und heute gesehen habe, stellt tausend Fragen an mich. Du musst sie mir klären helfen. Mittag ist vorbei. Lass uns heute hier verweilen."
„Wie du willst! Dann wollen wir meinen Bekannten, den Doktor, aufsuchen. Er lud uns ein und nannte mir seine Wohnung. Ich lehnte ab, weil ich noch heute bis Mannheim kommen wollte. Er wird sich freuen, wenn wir doch noch kommen."
Am Ausgang des Werkes erkundigte er sich nach dem Weg.
„Eilen Sie sich, dann bekommen Sie noch die Schnellbahn, die die Arbeiter hinausbringt", sagte der Pförtner. Wir erreichten noch gerade den letzten Wagen. Mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie nie gekannt hatte, sausten wir hinaus. Nach halbstündiger Fahrt lag das schwärzliche Revier der Kohlenhalden hinter uns. Eine große Wohnsiedlung nahm uns auf. Wir fanden bald die angegebene Wohnung. Sie war in dem riesigen Häuserblock einer großen Einküchensiedlung gelegen. Dort waren die „Einjährigen" auf zweckmäßige und angenehme Weise untergebracht. Ein kleines Quartier nur stand dem Doktor zur Verfügung, für einen einzelnen Menschen eben groß genug, durch Zweckmäßigkeit erfreulich, in Proportionen und Ausstattung behaglich.
„Das ist recht, dass ihr kommt", rief der Doktor.
„Mein Gefährte", sagte Bernhard, „hat ein Stück von unserer Welt gesehen. Er möchte manches mit uns durchsprechen. Hast du Zeit?"
„Gewiss! Wir essen erst zusammen im Speisesaal. Dann können wir plaudern, solange ihr wollt."
Wir gingen hinunter. Im Vorbeigehen zeigte mir der Doktor gut ausgestattete Lese- und Gesellschaftsräume, die den Arbeitern zur Verfügung standen.

 

IV. Die Hoffnung des Lohnsklaven

Die Mahlzeit war vorüber. „Wir gehen nicht ins Zimmer", entschied der Doktor. „In dem großen Hausgarten finden wir einen geschlossenen Platz, wo wir uns ungestört unterhalten können." Bald saßen wir in der warmen Septembersonne auf einem von Rosen umsäumten Fleck. Doch ich vermochte nicht, mich dem Behagen des Platzes hinzugeben. Zu sehr bedrängte mich ein Heer von Zweifeln, Fragen und Bedenken.
„Sprich dich aus", sagte Bernhard.
„Ich bin so verworren, wie wenn ich auf einen andern Planeten versetzt wäre! Alles hat andere Dimensionen, als ich gewöhnt bin. Und zwar nicht nur die äußeren Dinge. Nein! Mir ist, als ob auch mein Hirn und mein Herz weiter werden müssten, als ob neue, ungekannte Aufgaben und Forderungen mich bedrängten. Es scheint, dass die Dinge nicht, wie wir hofften, einfacher, durchsichtiger, leichter entscheidbar geworden sind, sondern schwerer und wuchtiger, stärker in Freud und Leid. Mir ist zumut wie einem Menschen, den man plötzlich unter einen andern Luftdruck gesetzt hat. Noch können meine Organe sich nicht anpassen."
„Wer die Kämpfe kennt, aus denen in langer, schwerer Not das Reich der Freiheit hervorgegangen ist, der versteht deine Atemnot", erwiderte Bernhard. „Aber sage uns genauer, was dich bewegt."
„Am härtesten bedrängen mich zwei Erlebnisse: Das Verhalten der chemischen Arbeiter und die Gruppe gestern Abend im Park. Wenn so etwas im Reich der Freiheit möglich ist, dann hat sich die menschliche Natur eben nicht von Grund auf geändert, wie die Arbeiter zu meiner Zeit hofften."
Bernhard sagte nichts.
„Du kannst nicht ermessen, Bernhard, was uns diese Zuversicht bedeutete. Mit ihr ist das Beste unserer Zukunftshoffnung dahin. Es ging uns nicht einfach um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten! Es ging uns um ein neues Reich, in dem alles Gute sich entfalten und alles Böse von selbst abdorren würde."
Bernhard sann eine Weile. „Ich glaube", sagte er dann, „man muss eure Hoffnung aus der damaligen gesellschaftlichen Situation verstehen. Sie war ihr geistiger Widerschein. Sie drückte die Hoffnung des Lohnsklaven aus."
„Du wirst verletzend-----------"
„Freund!! — — Wie kannst du mich so missverstehen! Wir kennen doch beide Karl Marx!"
„Wie meinst du das?"
„Ist dir nicht bekannt, dass seiner Auffassung nach die geistige Welt jeder Epoche durch ihre gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt ist?"
„Freilich — wenn du es so meinst...."
„Zu deiner Zeit lebte der Arbeiter in einem Verhältnis, das er selbst mit vollem Recht als Lohnsklaverei bezeichnet hat, nicht?"
„Das ist richtig."
„Wie konnte also seine geistige Welt eine andere sein, als die des Lohnsklaven?" „Freilich."
„Wenn du das zugibst, so gilt es, sich die Schlussfolgerungen daraus klar zu machen. Würdest du anerkennen, dass der Sklave — eben weil er Sklave ist — in der Sklaverei die Wurzel jeglichen Übels, also auch aller menschlichen Schwächen sehen muss?"
„Das mag sein."
„Die Sklaverei ist für den Sklaven das eine große menschliche Verbrechen. Man hebe sie auf--------und der Mensch
ist gut!"
„Er hat von seinem Standpunkt aus sogar ganz recht", bestätigte der Doktor. „Denn der primitive Mensch — und der Sklave ist primitiv — ist in gewissem Sinne gut! Darum muss ihm die gute Natur des Menschen selbstverständlich sein."
„Wie meinen Sie das?"
„Seine einfachen Verhältnisse fordern keine verantwortungsvollen Entscheidungen. In Zweifelsfällen entscheidet die Sitte. Er steht daher nicht in der Gefahr, falsch zu handeln. Darum weiß er nicht, was Gut und Böse ist. Er lebt in dem kindhaften Zustand harmloser Unzerspaltenheit. Wie viele kindhafte Güte findet man noch heute bei primitiven Völkerschaften!"
Ich sann über ihre Worte eine Weile nach. „Vielleicht habt ihr recht!-------Vielleicht war es so!-------Vielleicht
war das der Grundirrtum des Lohnsklaven.---------------------
Vielleicht war dieser Irrtum eine Quelle unserer Not! Warum vermochte denn der Arbeiter nicht zu regieren, als seine ersten Fesseln fielen? Tausendmal haben wir es uns gefragt! Es mag sein: Er stand noch im Banne seiner Sklavenmoral von der guten Natur des Menschen. Und an der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit musste dieser Glaube zerbrechen!"
Ergriffen schauten beide mich an.
„Ja! Ihr hättet das mit durchkämpfen sollen! In bitterer Enttäuschung erlebten es viele Arbeiter, dass sie selbst, dass ihre eignen Klassengenossen, da wo sie dem Joch der Sklaverei entronnen waren, nicht gut waren. Sie fielen oft tiefer, als sie vordem gestanden hatten. Viele unserer führenden Genossen verloren darum allen Glauben an die Arbeiterbewegung. Sie wurstelten nur noch von Tag zu Tag. Wir aber — die Jugend, die Masse — die wir nur die Ketten der Knechtschaft fühlten, nicht die beginnende Verantwortung des Freiwerdenden —, wir sangen: Der Mensch ist gut!!------------"
Ich schwieg und starrte vor mich hin. Illusionen, die ich lange gehegt, stürzten zusammen wie Götzenbilder. Aber wo sie gestanden, gähnte keine Leere. Es war als ob reicheres Leben dort aufquellen sollte.
„Wenn der Mensch gut und böse ist, so muss sein Leben ein unaufhörlicher Kampf sein", sagte ich endlich.
„So ist es. Und das ist der Reichtum des Lebens!"
„Wo aber findet ihr Kraft, wenn die Versuchung der Gewinnsucht, der Genusssucht, der Feigheit, der Gemeinheit, des Verrats und wie sie alle heißen, euch bedrängen —
„Sage uns lieber", fragte Bernhard zurück, worauf verwies man denn in eurem Zeitalter den Lohnsklaven, wenn er zum Bewusstsein von Gut und Böse gekommen war?"
„Worauf verwies man ihn eigentlich??-------Ja! Auf die
menschliche Gesellschaft als auf die Quelle, aus der alle Erkenntnis fließen müsse."
Bernhard schüttelte den Kopf. „Die merkwürdigste Ideologie, die mir vorgekommen ist. Wir kamen früher schon einmal darauf."

„Ich bin noch längst nicht fertig, Bernhard", begann ich wieder. „Die Erkenntnis von dem zweispältigen Charakter der menschlichen Natur ist keineswegs das einzige, was mich hier beunruhigt. Ich denke nicht nur an die chemischen Arbeiter, die in ernster Krise ihre Mitarbeit verweigern. Ich sehe auch immer den Leiter der Betriebsversammlung vor mir. Man merkte ihm den Kampf, in dem er stand, deutlich an. Ich hatte den Eindruck, als ob der Mann eine schwere Last trug."
„Du hast recht. Auch hier musst du den Gegensatz von Moral des Sklaven und der des freien Menschen unterscheiden lernen. Der Sklave untersteht einem fremden Willen. Man befiehlt ihm. Das enthebt ihn der eigenen Entscheidung."
„Das haben wir erfahren!!!"
„Dann wirst du verstehen, dass ihm das Reich der Freiheit als ein goldenes Zeitalter erscheinen musste, wo der Mensch leicht und froh sein Leben leben würde.
„Freilich, Bernhard. ,Erst wenn wir sie vertrieben haben, scheint die Sonn' ohn' Unterlass', so sangen wir."
„Siehst du wohl! Erst in einer Kette bitterer Erfahrungen haben die ehemaligen Lohnsklaven einsehen müssen, dass Freiheit keine leichte und keine einfache Sache ist. Denn — was ist Freiheit?? Entsinnst du dich? Wir sprachen gestern davon?!"
Ob ich mich entsann!! „Frei ist, Bernhard, wer unter eigener Verantwortung handelt!!"
„Ja! Darin waren wir einig! Und nun denke an den Kampf des Versammlungsleiters! Wie waren denn die Möglichkeiten seines Handelns?! Nimm es unter den Gesichtswinkel des Ganzen. Was forderte der wirtschaftliche Nutzen des Ganzen?"
„Dass sie arbeiteten."
„Was forderte dagegen die Gerechtigkeit, ohne die das Ganze nicht bestehen kann?"
„Dass sie nicht eher arbeiten, als die chemischen Arbeiter."
„Was forderte die Disziplin, ohne die ebenfalls das Ganze nicht bestehen kann?"
„Dass sie arbeiteten."
„Nimm es vom Standpunkt der Belegschaft. Was forderte das tiefer verstandene Wohl der Belegschaft, die nur im Ganzen bestehen kann?"
„Das blieb eben zweifelhaft."
„Was forderte das unmittelbare Interesse der Belegschaft?"
„Das sie nicht arbeiten."
„Also: Wie der Mann handelte — er handelte unrecht!"
Ich dachte an die zerfurchten Züge des Mannes. — — „Ist Freiheit--------so schwer?}}"
„Ja, Emil! Es gibt keine verantwortliche Entscheidung, die nicht irgendwie unrecht wäre!"
„Aber Bernhard!"
„Ich kann dir tausend Beispiele für eins nennen! Da sollte neulich eins technisch rückständig gewordene Industrie umgestellt werden. Die Umstellung machte zweitausend Familien brotlos. Aber sie musste geschehen. Wie der verantwortliche Wirtschaftsleiter sich entschied — er tat unrecht.
Eine dörfliche Gemeinde sollte neu organisiert werden. Alte überlieferte Rechte mussten dabei verletzt werden. Wie der verantwortliche Leiter handelte — er handelt unrecht.
Musste nicht der Ordnungsdienst die tollkühnen Autofahrer verhaften? Aber damit beraubt er zwei Menschen der Freiheit. Das Wohl des Ganzen verlangt Freiheit, aber es verlangt zu gleicher Zeit Ordnung. Wie die Ordner handelten — sie handelten Unrecht.
An unserer Schule waren drei Lehrerstellen zu besetzen. Nur zwei taugliche Bewerber waren vorhanden. Der verantwortliche Leiter musste entweder die dritte Stelle unbesetzt und damit die Kinder verwildern lassen, oder das
Amt an einen Untauglichen verleihen. Wie er handelte — er handelte unrecht."
„Wir standen im letzten Jahre vor der Notwendigkeit einer durchgreifenden Finanzreform", fiel der Doktor ein. „Da war ein ausgezeichneter Finanzmann. Aber menschlich ist er ein Lump. Er kann eine große Reform genial durchführen, aber er wird sie mit seiner Gesinnungslosigkeit belasten. Sollten wir ihm die Aufgabe übertragen? Oder einem durchschnittlich begabten Biedermann? Wie wir handelten — wir handelten unrecht."
„Eine Brücke war zu bauen", fiel Bernhard ein. „Drei gleichbefähigte Baumeister meldeten sich. Für alle drei war der Brückenbau die erste, heiß ersehnte Berufsleistung. Nur einer konnte den Auftrag bekommen. Die beiden andern gingen leer aus. Wie der verantwortliche Leiter sich entschied — er handelte unrecht."
„Unter meinen Bekannten ist ein verheirateter Mann", sagte der Doktor wieder. „Ein Mädchen liebte ihn. Wandte er sich von ihr ab, so zerbrach vieles in ihr, was nie wieder wachsen kann. Erfüllte er ihr Verlangen, so verletzte er das Verhältnis zu seiner Frau. Wie er handelte — er handelte unrecht."
„Ein ferner östlicher Kulturkreis begann unter dem Druck einer starken Bevölkerungszunahme seine kriegerischen Instinkte zu züchten. Sie begannen zu rüsten. Im Lauf eines Menschenalters waren sie zu einer schweren Bedrohung des Weltfriedens geworden. Sollten wir das mit ansehen? Sollten wir Gewalt gegen sie üben? Sollten wir selber rüsten? Wie wir handelten — wir handelten unrecht."
„Über die Zukunft eines hochbegabten Musikers", begann wieder der Doktor, „musste im Erziehungsrat entschieden werden. Die Gemeinwirtschaft ist im Augenblick mit wirtschaftlich unproduktiven Arbeitern überlastet. Sie braucht dagegen dringend Gärtner. Machten die verantwortlichen Leiter den jungen Menschen zum Gärtner, so hemmten sie vielleicht eine einzigartige Begabung. Machten sie ihn zum
Musiker, so schädigten sie die Gemeinwirtschaft. — Wie sie handelten — sie handelten unrecht."
„Ich war aufgesprungen. „Hört auf", schrie ich. „Das kann kein Mensch mehr aushalten!! Das ist entsetzlich!! Das ist empörend!!" und ich ging mit großen Schritten auf und ab.
„Wie recht du hast", erwiderte Bernhard ruhig. „Es ist empörend. Nur dass mit der Empörung alles tiefere Leben
anfängt. Das gesellschaftliche, wie das geistige!------------—
Wenn der Mensch aufhört, einfach ,gut' zu sein.—
Wenn er wählen muss.------------Wenn seine Unschuld zerbricht! ------------Dann empört er sich!!!------------Doch die
Empörung ist nicht das letzte Wort." Und die innige Güte seines Wesens trat in seine Augen. „Laß uns ruhiger reden, Freund!"
Unter dem Banne seiner Klarheit legte sich meine Aufregung. Ich nahm meinen Platz wieder ein. Eine Weile schwiegen wir. Dann sagte Bernhard:
„Weil die Freiheit wie ein fressendes Feuer ist, darum haben viele Gutmeinende sie dem Volke vorenthalten wollen. Selbst seine eignen Führer. Du wirst aus deiner eignen Zeit Beispiele kennen."
„Ich verstehe überhaupt meine eigne Zeit immer besser", erwiderte ich, wieder ruhig geworden. „Ich erlebte den Aufstieg der Arbeiterklasse zur Herrschaft im Jahre 1918. Ich erlebte die ersten Versuche zu regieren. So viele Genossen sah ich damals daran zerbrechen!! — Sie hatten es nicht geahnt, dass die Freiheit so fürchterlich ist. Sie sind an der Erfahrung gescheitert, dass sie unrecht handelten, wie sie auch handeln mochten. Die einen wurden stumpf —, die andern feig —, die dritten verhärteten sich. — Viele nahmen nichts mehr ganz ernst. Da sie unrecht handelten wie sie handelten, so verloren sie alles Gefühl für recht und unrecht. Sie kamen sich dabei besonders klug vor! — --------Aber nicht nur die Menschen werden mir verständlicher, sondern auch die sachlichen Fragen. Dass wir unrecht handelten, wie wir handelten — das war das Verhängnis der Koalition! Das war das Verhängnis des Völkerbundes! Das war das Verhängnis der Diktatur! Das war das Verhängnis der Demokratie------------------------"
„Ja!!------------Das ist der Stachel jeglichen verantwortlichen Handelns."
Ich sann eine Weile über ihre Worte nach.
„Wie klar ich alles jetzt sehe! Die Moral des Sklaven, der nur gehorcht, reichte für unsere gesellschaftliche Situation nicht mehr zu. Was darüber hinaus an sittlichem Erbgut da war, das war das Erbgut der herrschenden Klasse. Wir hatten es hinausgeworfen, wie man die alten Abhängigkeitsverhältnisse abtat. Nun hatten wir nichts-------
-----------------Aber ihr!! Wie ist es denn mit euch? Welche
Lösungen habt ihr denn gefunden?"
„Lösungen?? Wir müssen diese Kämpfe immer von neuem ausfechten!"
„Und ihr zerbrecht nicht daran?" Meine Stimme zitterte fast, als ich diese Frage stellte. Ein langes Schweigen folgte.
„Es ist mehr als einer von uns daran zerbrochen", sagte Bernhard endlich. „Aber die Grundhaltung unserer Zeit ist nicht mehr jenes schwächliche Ausweichen vor der Entscheidung, von dem du sprichst. Wir haben gelernt, sie zu tragen.
„Dann müssen euch Kraftquellen erschlossen sein, von denen wir nichts ahnten."
„Vielleicht", antwortete Bernhard.

Doch mein volles Herz wollte nicht Ruh geben. „Wenn denn schon das Leben im Reiche der Freiheit immer wieder die verantwortliche Entscheidung fordert, und diese Entscheidung so zwiespältig ist, dann müssen doch die schwersten Kämpfe zwischen den Menschen um diese Entscheidungen entbrennen!"
„Hast du das nicht soeben erlebt?"
„Aber wer gibt die Garantie, dass solche Kämpfe gut ausgehen?"
„Niemand!"
„Aber dann kann morgen das Reich der Freiheit auseinanderbrechen?"
„Ja! Das kann es."
Das sagte er!! Und mit dieser Ruhe, ja man möchte sagen, Selbstverständlichkeit!!
„Überrascht dich das?"
„Es überrascht mich nicht —, es empört mich! Im Reich der Freiheit wollten wir sicher wohnen. Dort sollte Ausgleich in allen menschlichen Konflikten, dort sollte Beständigkeit, Dauer, Ruhe zu finden sein! Und du sagst, es kann morgen auseinanderbrechen."
„Du siehst wiederum die Dinge vom Standort des Lohnsklaven! Vergegenwärtige dir seinen Zustand. Hat er irgendeine Hoffnung auf Änderung?"
„Nein!"
„Vielmehr ist seine Sklaverei von unwandelbarer Stetigkeit. Das Heute ist wie das Gestern, das Morgen wird wie das Heute sein — immer dasselbe, ein ewiges Einerlei, ohne Wandel, ohne Aufstieg, oder Abfall. Und wie er seine Sklaverei erlebte, so sah er auch das Reich der Freiheit vor sich. Es schien ihm ein stetiger, unwandelbarer Zustand. Ist es einmal errungen —, dann, wie du selber sagtest, ,scheint die Sonn' ohn' Unterlass!'"
„Ja! So haben wir das Reich der Freiheit erhofft. — — Solltest du recht haben? Sollte es eine Sklavenhoffnung sein??"
„Du lernst schnell, mein guter Junge. Die Arbeiterschaft ging von Enttäuschung zu Enttäuschung, ehe sie begriff, dass das Reich der Freiheit täglich neu erworben werden muss. Nicht nur gegen die äußeren Feinde. Auch das musste erst gelernt werden. Doch diese Lektion war verhältnismäßig leicht. Viel gefährlicher sind die inneren Spannungen, die es enthält. Es schien vor hundert Jahren im Bundesstaat Europa alles so schön geordnet. Da entfaltete sich im Südosten eine junge Nation. Durfte man sie hemmen? Unverantwortlich! Sollte man den alten Nationen überkommene Rechte schmälern? Sie wehrten sich. Der Kampf auf Leben
und Tod war da. Der Bundesstaat drohte auseinanderzubrechen.
Auch heut stehen wir wieder in einer schweren Krise. Die chemische Industrie hat im gegenwärtigen Augenblick ein starkes Übergewicht über die anderen Industrien erlangt, so dass sie unversehens in der Lage ist, die andern Wirtschaftsgruppen zu vergewaltigen. Sie droht, sich zum Herrn der Gesamtwirtschaft zu machen. Damit wäre der Gesamtkörper gesprengt."
„Und vor etwa dreißig Jahren", warf der Doktor ein, „hatte ein ehrgeiziger Führer eine große Gefolgschaft gesammelt. Über Nacht versuchte er, sich zum Diktator aufzuwerfen."
„Dreimal schon ist das Reich der Freiheit verloren gewesen! Dreimal haben wir es mit unserem Schweiß und Blut wieder zusammengeleimt. In diesen Kämpfen haben wir die Sklavenhoffnung von der Sonne, die ohn' Unterlass scheint, begraben! Und wenn ihr sangt: ,Heilig die letzte Schlacht', so wissen wir heute: Die letzte Schlacht ist immer zugleich die erste Schlacht! Mit jedem Schritt aufwärts wird der Kampf nicht aufgehoben, sondern nur auf eine höhere Ebene verlegt! Der sozialistische Bundesstaat Europa ist nicht das Ende der Geschichte!"
„Bernhard, Bernhard!"
„Du wolltest das Reich der Freiheit sehen. Nun musst du den Mut haben, den Anblick zu ertragen."
Der Doktor stand auf und ging hinaus.

„Aber das eine scheint mir völlig ausgeschlossen", begann ich abermals, „dass alle Menschen diese harte Wirklichkeit sehen und ertragen können. Das glaube ich nicht."
„Du hast recht! Es gibt auch heute noch viele Menschen, die diesen Dingen nicht ins Antlitz zu sehen vermögen."
Verwirrt starrte ich ihn an. „Dann begreife ein anderer das Reich der Freiheit!! Du erzählst mir alle möglichen Dinge aus dem Reich der Freiheit, und dann sagst du auf einmal, dass sie nur für eine Minderheit bestehen. Zerfallen
denn die Bürger in dem Reich der Freiheit wieder in zwei Sorten: die Klugen und die Dummen?"
„So lieblos reden wir allerdings von unseren Brüdern nicht."
„Ich verstand dich so ...."
„Euer Urteil stand im Banne des Kapitalismus. Damals hat man die Schwächeren wohl so gesehen. Wir sehen und fühlen diese Unterschiede anders."
„So belehre mich!"
„Es ist nicht ganz leicht, einen Menschen über ein fremdes Lebensgefühl zu belehren. Doch ich will es versuchen!"
Er blickte eine Weile zu Boden, als suche er einen anknüpfungspunkt. „Der Ausdruck ,Sorten', nicht wahr ..."
„Schon gut, Bernhard. Ich hatte mich verplaudert."
„Sodann die Zweiteilung: Das ist eine Betrachtung der Menschheit, die wir ablehnen. Die Menschheit ist ein Ganzes von unendlicher Mannigfaltigkeit. Man kann sie niemals einfach in zwei Gruppen zerlegen, sofern man sie nach dem inneren Wesen gliedern will. Nimmst du die äußersten Gegensätze, die sie enthält, dann kannst du gegenübersetzen: Die Verantwortlichen und die Gefolgschaft. Das sind, wie gesagt, nicht zwei Gruppen oder zwei Klassen, sondern das sind die Pole. Dazwischen spielt es in tausend Farben. Diese Tatsache, dass es solche Gegensätze innerhalb unserer Gesellschaft gibt, ist die Grundlage unserer sozialen Ordnung. Während der ganzen Vorgeschichte der Menschheit beruhte die soziale Ordnung auf..."
„dem Eigentum an Produktionsmitteln."
„So war es. Nun gingen die Produktionsmittel in das Eigentum der Gesamtheit über. In dieser Hinsicht sind heute alle Menschen gleich. Aber sie sind nicht gleich hinsichtlich ihrer natürlichen Möglichkeiten. Es hieße reiche Quellen des menschlichen Lebens verschütten, wollte man diese natürlichen Verschiedenheiten einfach übersehen."
„Werden sie nicht durch gemeinsame und einheitliche Erziehung aufgehoben?"
„Nein! Wie die Menschen körperlich verschieden bleiben,

so bleiben sie es auch ihrem geistig-seelischen Bau und ihren geistig-seelischen Kräften nach. Wie oft findest du in derselben Familie einige kräftige Kinder, dazwischen schwächere, die mit den Geschwistern weder körperlich, noch geistig Schritt halten können."
„Das leuchtet mir ein."
„Und so weist auch die Gesamtheit der Erwachsenen eine Abstufung auf, von jenen an, die stark genug sind, der Verantwortung ins Antlitz zu schauen und die Entscheidung auf sich zu nehmen, bis zu jenen, die man die Unschuldigen nennen könnte. — Wir nennen sie Gefolgschaft. Was sie begehren, ist eine unschuldige Freude am Dasein. Sie wollen nicht die schlaflosen Nächte der Verantwortlichen. Sie freuen sich am ersten warmen Frühlingshauch, an den bunten Blumen des Sommers, an den reichen Früchten des Herbstes, an den stillen und an den geselligen Stunden des Winters. Sie weinen wie die Kinder, wenn ein Unglück sie betrifft. Sie jauchzen, wenn das Glück ihnen lächelt. Sie reden gern ins Breite. Die Bürde der Verantwortung aber mögen sie nicht auf sich nehmen. Sie tragen weder die Verantwortung für die großen Entscheidungen des gesellschaftlichen Lebens, noch die Verantwortung für die großen Entscheidungen des geistigen Lebens. Sie wollen im gesellschaftlichen Leben dem Führer folgen. Im Geistigen übernehmen sie die festgeprägte geistige Form, ohne selbst darüber zu entscheiden."
„So war zu meiner Zeit die große Masse."
„Es ist auch heute noch die Mehrzahl. Und seit die alte Klassenscheidung nach dem Besitz an Produktionsmitteln aufgehoben ist, hat diese Scheidung in unserm gesellschaftlichen Leben eine vordem ungeahnte Bedeutung erlangt. Sie gibt das ordnende Prinzip unseres gesellschaftlichen Lebens ab."
„Erkläre das!! Wir stehen im Zentrum!! — — — —"

„Ja!! Wir stehen im Zentrum! Das ist der hohe sittliche Gewinn, den uns der Sozialismus gebracht hat: An Stelle
der äußerlichen Gliederung der Gesellschaft nach dem oft so zufälligen Eigentum an Produktionsmitteln ist diese Gliederung nach der inneren Qualität getreten."
„Aber wie wird sie durchgeführt?"
„Das Grundprinzip unseres gesellschaftlichen Lebens ist dieses: Die Verantwortlichen sollen führen! Gesellschaftlich wie geistig! Die Gesellschaft soll so geordnet sein, dass die zur verantwortlichen Entscheidung Fähigen überall die leitenden Funktionen ausüben. Der Unterschied zwischen den Verantwortlichen und der Gefolgschaft ist der einzige gesellschaftliche Unterschied, den wir anerkennen. Das ist der unüberbrückbare Gegensatz zu allen Klassenordnungen der vergangenen Zeitalter. Darum nennt man sie auch mit Recht: Die Vorgeschichte der Menschheit."
„Bernhard! Das war ja unsere Ahnung, dass der Sozialismus eine solche Gesellschaftsordnung bringen werde! Nun sage mir aber: Sind innerhalb der großen Gruppe der Verantwortlichen Unterschiede vorhanden?"
„Freilich! Der Abstufungen sind viele! Es gibt Verantwortung im kleinen gesellschaftlichen Kreise: Die Leitung einer Gastwirtschaft, eines Kinderhortes. Es gibt Verantwortung im großen gesellschaftlichen Kreise: Die Leitung eines Staates, eines industriellen Selbstverwaltungskörpers. Je nach dem Umfang der Verantwortung, die jemand trägt, steigt oder fällt sein gesellschaftliches Ansehen. Daher hat der verantwortliche Leiter eines großen Wirtschafts oder Staatskörpers eine größere gesellschaftliche Geltung, als der Leiter eines kleinen Kreises."
„Das ist eigentlich falsch! Es ist eine äußerliche Auffassungsweise. Die Leitung des kleinsten Kreises sollte genau so wichtig sein, wie die des größten."
„Damit hast du wiederum recht und unrecht! Die Aufgaben sind sich gleich und — — sie sind sich nicht gleich. Sie sind sich darin gleich, dass sie alle die gleiche Treue und Hingabe, den gleichen Ernst verlangen. Aber sie sind sich nicht gleich in dem Muss von Verantwortungsfähigkeit, das sie verlangen. Es kann jemand ein guter Kinderhortleiter sein und doch durchaus unfähig, die Entscheidungen etwa eines staatlichen Leiters auf sich zu nehmen. Weil denn unsere gesellschaftliche Ordnung an der Verantwortungsfähigkeit des Einzelnen orientiert ist, so machen wir hier unsere gesellschaftlichen Unterschiede."
„Es ist bedenklich, dass ihr überhaupt welche macht!"
„Die menschliche Gesellschaft bedarf einer sichtbaren Gliederung. Wir können nicht aus den Hunderten von Millionen, die im Bundesstaat Europa wohnen, eine unterschiedlose Masse machen. Das ist gegen die menschliche Natur. Es würde nur dahin führen, dass die großen Führernaturen zu keiner Entfaltung kämen. Sie würden auswandern oder sich auf ungesetzliche Weise die gesellschaftliche Geltung verschaffen, die ihnen die gesellschaftliche Ordnung versagte."
„Mag sein----------------"
„Wir suchen also mit unserm gesellschaftlichen System zwar der menschlichen Natur Rechnung zu tragen — nicht aber in schwächlichem Nachgeben, sondern so, dass wir immer wieder unser gesellschaftliches Handeln an dem letzten Ziele zu orientieren suchen. Hier aber tritt die Spannung ein, von der wir sprachen. Auch hier, und hier erst recht, gilt das Wort, dass wir unrecht handeln, wie wir auch handeln!! Die Bewältigung dieser Spannung gehört zu den schwersten, immer neuen Aufgaben unseres gesellschaftlichen Lebens. Wäre diese Spannung eines Tages aufgehoben und die gesellschaftliche Geltung der Verantwortlichen im großen Kreise blindlings anerkannt, so würde unser gesellschaftliches Leben verfallen."
„Du redest schwere Worte."
„Uns sind sie selbstverständlich geworden."

„Aber die gesellschaftliche Geltung spricht sich doch nicht etwa in größerem Besitz aus?" „Doch!"
„Bernhard!!!-----------------"
„Die höchsten verantwortlichen Ämter gewähren auch
die höchsten Besoldungen, die Annehmlichkeiten großer Dienstwohnungen, ausgezeichneter Verkehrsmittel und so
fort."
Jetzt war es aus!! Damit war alles zerhauen! „Die größere geistige und moralische Leistung wird mit klingender Münze bezahlt!! — — — Pfui, Bernhard, das ist ein Flecken auf dem Reiche der Freiheit!"
Er sah mich ruhig an. „Auch damit hast du recht. Wenn wir erst alle zu Engeln geworden sind, mein junger Freund, werden wir diese unanständige Ordnung der Dinge aufheben. Wir haben in langen Kämpfen die menschliche Natur kennen gelernt und verstehen ihren Zwiespalt. Der Mensch freut sich der Ehrung. Er freut sich, wenn ihm reichere Verbrauchsgüter zur Verfügung stehen. Und selbst die Gefolgschaft freut sich, wenn ihre Leiter in reicherer Entfaltung ihres persönlichen Daseins zugleich die Würde des Ganzen entfalten. Diesen tiefbegründeten Eigenschaften der menschlichen Natur haben wir Rechnung getragen, als wir unsere Ordnung schufen."
Ich schwieg, enttäuscht und verwirrt.
Wieder versuchte Bernhard, mir die Brücke zu bauen. „Ich sprach gestern zu dir von dem schönen Kleid meiner Frau, an dem wir uns beide freuen — entsinnst du dich?"
„Ja."
„Wir freuen uns an dergleichen. Zugleich aber wissen wir, dass andere Menschen diese Freude entbehren müssen. Das zwingt die Freude immer wieder zur Besinnung. Es gibt ihr oftmals einen leisen Stachel. Darin liegt — ich möchte fast sagen — der selbsttätige Regulator unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Denn je ernster es ein Mensch mit seinen Pflichten gegen die Gesamtheit nimmt, um so eher soll er — dem Prinzip unseres gesellschaftlichen Systems nach — äußerer Ehrungen teilhaftig werden. Je höher er aber steigt, desto unerträglicher werden gerade für ihn, als für einen verantwortungsvollen Menschen, die Spannungen zwischen dem Grundsatz der Gleichheit aller und der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Gliederung.

Der wahre Führer, so wie wir ihn fordern, gibt sich niemals den Schönheiten seines Lebens konfliktlos hin. Er misst sie immer wieder an den Hässlichkeiten im Leben anderer! Sein Leben ist ein unablässiger Kampf zwischen der Freude seines begnadeten Daseins und dem Zweifel an seinem Recht darauf. Er trachtet daher immer wieder, die Spannungen zu mildern."
Er schwieg. Ich dachte über seine Worte nach.
„In einem wesentlichen Punkt", nahm Bernhard den Faden wieder auf, „haben wir allerdings unser System der Besoldung anders organisiert, als es früher der Fall war. Die Festbesoldung haben wir aufgehoben!"
„Wie das?"
„Es wäre für unser Gefühl nicht tragbar, dass die einen die Güter herstellen und alle Nackenschläge der Konjunktur ertragen müssen, indes die anderen die Güter verbrauchen und durch Festbesoldung vor den Rückschlägen der Konjunktur gesichert sind. Wie wir das ganze System der kapitalistischen Sicherungen durchbrochen haben, so auch diese. In Notzeiten müssen alle sich mit einem Bruchteil ihres normalen Lohnes begnügen — die Höherbesoldeten mit einem relativ kleineren Prozentsatz. In guten Zeiten geht es allen gut."
Ich schwieg eine Weile. „Bernhard", sagte ich endlich, „diese ganze Art, die menschlichen Dinge zu sehen, enttäuscht mich unbeschreiblich. Ich empfinde sie als so zwiespältig, ja, ich möchte sagen, so glaubenslos. Wir glaubten an den Menschen — ihr tut es nicht mehr! Ihr baut ein ganzes gesellschaftliches System auf, indem ihr die menschliche Schwäche als etwas Selbstverständliches, Unabänderliches einsetzt."
„Das letztere ist nicht richtig. Wir nehmen sie nicht als unabänderlich hin. Unser ganzes System zielt auf ihre Bekämpfung ab. Noch weniger sind wir glaubenslos! Nein, Freund" —, und eine Welle warmer Empfindungen wallte in seinem Wesen auf, „du missverstehst uns von Grund auf. Prüfe ehrlich: Wozu gehört mehr Glauben: Der Wirklichkeit voll ins Antlitz zu schauen, die menschliche Natur zu sehen, wie sie ist — gut und böse —, und trotz der Erkenntnis ihrer Schwäche unentwegt an ihr weiter zu bauen — oder aber sich eine Binde vor die Augen zu binden, erhobenen Hauptes dahinzuschreiten und zu singen: Der Mensch ist gut — die Welt ist schön!"
„Das alles trifft mich zu tief, um mit viel Worten darüber streiten zu können", sagte ich endlich.------------„Nur
das eine, das musst du doch zugeben! Wie leicht kann ein solches System auf den Hund kommen. Es besteht doch die große Gefahr, dass der innere Gehalt sich verflüchtigt und nur die leere Form übrig bleibt!"
„Gefahr?--------Aber gewiss. Darum ist ja das Leben so
schön!! Wir sind keine Lohnsklaven mehr, die ein gefahrloses Dasein bei ewigem Sonnenschein ersehnen."
Ich wagte nicht mehr, den Faden in der gleichen Richtung
weiterzuspinnen.

*

„Wie aber trefft ihr die Auslese der Verantwortlichen vor denen, die diese Kraft nicht haben?"
„Unser ganzes Erziehungssystem zielt darauf ab, diese Auslese vorzubereiten. Es entfaltet bereits die Selbstverantwortung des Kindes. In diesem Alter lassen sich häufig schon die Schwächeren erkennen. Man würde sie erdrücken, wollte man sie mit schwereren Lasten belasten. Es sind oft sehr intelligente Kinder dabei. Aber sie sind irgendwie in ihrer Gesamtkonstitution geschwächt. Die Tragfähigen werden durch Belastung gestärkt und geschult, aber auch geprüft. Viele springen unter diesen Proben ab. Sie mögen gar nicht die schwere Last tragen, obwohl sie es könnten. So wird die Auslese mit fortschreitendem Alter immer enger. Zuletzt ist oft der Kreis so klein, dass man um die notwendigen Kräfte in Verlegenheit ist. Auch wünschen viele Eltern wegen der Strenge des Systems gar nicht, dass ihre Kinder dieser herben Schulung ausgesetzt werden. Sie reihen sie lieber von vornherein in die Gefolgschaft ein."
„Steht den Eltern allein darüber die Entscheidung zu?"
„Den Eltern allein? Das wäre schlimm! Dann würden wir ja wieder dem Familienegoismus der Klassengesellschaft Raum geben! Nein! Wir haben ein ausgebautes System, um diese Auswahl richtig zu treffen. Lehrer, Ärzte und Psychologen wirken darin mit den Eltern zusammen. Morgen wirst du von diesem System eine Anschauung gewinnen."
„Gelingt mit Hilfe dieses Systems die Auswahl stets?"
„Das können wir leider nicht sagen. Es kommen schwere Missgriffe vor. Ehrgeizige Vielgeschäftigkeit wird mit Energie und Verantwortungsbereitschaft verwechselt, bedächtiges, abwägendes Wesen mit Gleichgültigkeit oder Unfähigkeit. Und selbst Fehlurteile gegen bessere Einsicht kommen vor! Oft sind sie nicht mehr gut zu machen. Wenn überall die Verantwortlichen regierten, so hätten die chemischen Arbeiter die Überstunden nicht verweigert."
„Aber Bernhard, was habt ihr dann gewonnen? Auf die Ausübung der verantwortlichen Leitung unter Ausschaltung allen äußeren Vorteils für den Träger des Amtes habt ihr verzichtet. Bei einer Auswahl seid ihr nicht sicher, den Würdigen herauszufinden. Was bleibt dann noch an Vorteilen gegenüber unserm System übrig?"
„Viel!! — — Wenn du nur den Begriff des Vorteils ausschalten möchtest! Das klingt so kapitalistisch. Das Entscheidende ist dieses: Der Zugang zu den leitenden Tätigkeiten nicht mehr wie früher von dem Geldbeutel des Vaters abhängig. Jedem Menschen mit den besonderen Fähigkeiten des Verantwortlichen steht der Zugang zu einem verantwortungsvollen Wirken frei. Das ist die entscheidende Errungenschaft. Der Klassencharakter der Gesellschaft ist damit endgültig aufgehoben. Dass Missgriffe auch in einer sozialistischen Gesellschaft vorkommen — das kann nur den Utopisten überraschen."
Ich erwiderte nicht mehr.
„Sieh", spann Bernhard den Faden weiter, „wenn die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens so einfach wäre, dass keine Fehlgriffe vorkämen und immer die Würdigsten auch
zu den höchsten Ehren aufstiegen — damit zu den höchsten Einnahmen und Vorteilen —, dann fehlte dem Ganzen unseres gesellschaftlichen Lebens jener Stachel, jener Gewissenswurm möchte ich sagen, der aus den Fehlgriffen erwächst. Es wäre alles ,in Butter'. Es ist aber nicht alles ,in Butter'. Wir müssen immer wieder erkennen, dass unsere Einsicht versagt, unser Wille nicht lauter genug ist. Witschen nicht selten den Würdigsten unterliegen, ihm selbst zum tragischen Verhängnis, dem Ganzen zum unwiderbringlichen Verlust. Lieber Freund, dann werden wir hinausgewiesen über uns selbst!—"

Noch einmal nahm ich das Gespräch auf: „Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Verantwortlichen und Gefolgschaft?"
„Du hast recht! Das ist noch eine Kernfrage! Ich möchte so sagen: Die Verantwortlichen sind um der Gefolgschaft willen da, nicht die Gefolgschaft um der Verantwortlichen willen. Alles Tun und Lassen der Verantwortlichen dient ihren schwächeren Brüdern. Es dient deren Wohlfahrt, deren Glück, deren Frieden und Freude — aber vor allem deren Hebung aus dem Dasein der Gefolgschaft in das Dasein der Mündigen. Die Verantwortlichen arbeiten daran, ihre eigene Gefolgschaft aufzuheben. Das ist ihre ernsteste, ich darf hier sagen, ihre heilige Pflicht: Aus Unmündigen Mündige zu machen. Ich glaube, darin liegt der tiefste Gegensatz zu eurem Zeitalter. Du wirst es klarer sehen, als ich das kann. Lag nicht in dem Besitz mit innerer Notwendigkeit das Streben, die Besitzlosen in Unmündigkeit zu erhalten?"
„Gewiss! Das Streben war mit dem Besitz unauflöslich verbunden. Es war die moralische Rechtfertigung des Besitzes vor sich selbst! Immer wieder hörte man sie sagen: ,Sie brauchen uns ja, diese armen Kinder! Sie könnten nicht bestehen ohne unsere Führung.' Der Besitz musste ängstlich darüber wachen, dass ihm diese Rechtfertigung seiner selbst nicht verloren ging. Mit diesen Gründen begann schon zu meiner Zeit das Kapital seine Herrschaftsgelüste zu rechtfertigen. Sie boten zum Schein dem werktätigen Volke eine gewisse geistige Aufklärung: harmlose Bücher, ein paar nette Lieder, ein paar unschädliche Volkstänze, ein paar ungefährliche Volksspiele aus den Tagen von Hans Sachs, die keinen Menschen wissend machten. Aber sie hüteten sich, seine geistigen Kräfte wirklich zu wecken!!"
Er hatte mit tiefem Ernst meinen Worten zugehört. Jetzt blickte er mich fest an: „Noch eine Frage, Emil. War es nur die besitzende Klasse, die den Proletarier in Unmündigkeit zu halten suchte?"
Ich senkte die Augen. „Eine böse Frage, Bernhard." „Ja, aber wir wollen den Dingen ehrlich ins Gesicht sehen!" „Bernhard — dann muss ich sagen: Die eigenen Führer verdummten das Proletariat oft mehr, als die besitzende Klasse! Gegenüber der besitzenden Klasse hatte der Arbeiter seit Karl Marx die Waffe des Klassenbewusstseins. Dem Bestreben der eigenen Genossen, ihn in Unmündigkeit zu halten, verfiel er wehrlos. Man brauchte ihm nur mit radikalen Phrasen zu kommen! In der Presse, in den Versammlungen — wie oft ward er behandelt nach dem Grundsatz: ,Die Kinder, sie hören es gerne!' Das ist vielleicht das traurigste Kapitel der Arbeiterbewegung!"
„Ich verstehe deinen Kummer. Aber du wirst nun vielleicht auch unsere Ordnung nicht mehr gar so sehr schelten, wenn ich sage, die Unmündigen zu Mündigen zu machen, dass sie aus eigener Kraft sich frei und verantwortlich entscheiden können — das ist die Grundforderung unseres gesamten Lebens — das steht wie ein Leitspruch über allem unseren Tun!"
„Woher aber nehmt ihr die Richtlinien für solches Tun, woher das klargeschaute Ziel? Woher die Kraft, es zu verfolgen?" Wieder blieb er mir die Antwort schuldig. Der Doktor kam zurück. „Ich habe für Sie in unserem Block Quartier gemacht. Doch zuvor essen wir gemeinsam zur Nacht."

 

V. Die Familie.

Am nächsten Vormittag landete unser Flugzeug nach flotter Fahrt bei Straßburg, Die Glocke des Münsters schlug die elfte Stunde. Bernhard winkte ein Auto heran.
„Ich habe", sagte er, „Straßburg als Ziel gewählt — nicht um dir, wie bisher, die Dinge des großen gesellschaftlichen Kreises zu veranschaulichen, sondern um dich in eine mir befreundete Familie einzuführen."
Der Wagen hielt vor einem Einfamilienhaus. Eine schöne Frau von etwa dreißig Jahren trat auf die Freitreppe. Zwar trug auch sie jenes strenge Werkelkleid, das ich allenthalben gesehen hatte. Doch — war es der Sonnenschein, der ihre Gestalt umspielte, war es ein Glanz, der von ihrem Wesen ausging — es lag nichts Nüchtern-Zweckbestimmtes in ihrer Erscheinung. Wir traten in den Vorgarten. Schneller, als es sonst in seinem gesetzten Wesen lag, sprang Bernhard die Stufen der Freitreppe hinauf, unsere Wirtin zu begrüßen. Dann wurde auch ich freundlich bewillkommnet. Sie führte uns ins Haus und ließ uns in ein großes Wohnzimmer eintreten. Mein ganzes Wesen entspannte sich, als ich diesen herrlichen Raum betrat. Breit ausladende Fenster ließen reiches Licht einfließen. Hellgrüne Wände lösten es mildernd in warme Ruhe auf. Jegliche Zieraten waren vermieden. Nur an einer Stelle, wo durch das Zurückspringen des Mauerwerkes eine Art Nische gebildet war, standen ein paar Blumen und eine Plastik. Linker Hand von der Tür war ein Platz mit gepolsterten Sitzen. Durch zweckbedingte Gliederung des Raumes hatte er eine behagliche Geschlossenheit gewonnen. Wir ließen uns hier nieder. Unsere Wirtin begann mit Bernhard die Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit auszutauschen, indes ich schweigend zuhörte. Nach den jagenden Eindrücken der letzten Tage überließ ich mich gern als schweigender Zuhörer der ausgleichenden Wirkung der Menschen, wie des Raumes.
Kinderstimmen wurden laut. „Sie wissen, dass du uns
besuchen wolltest und können es nicht abwarten, dich zu sehen", sagte die Frau zu Bernhard.
„So lass sie doch kommen, Eva!" Sie stand auf, öffnete die Tür und rief die Kinder. Eine Schar von vier Kindern unter sechs Jahren kam herbeigestürmt, um dann verlegen im Türrahmen stehen zu bleiben. Kaum aber hatte eins von ihnen Bernhard erkannt, als es jubelnd auf ihn zuflog. Nun fassten sich auch die andern ein Herz und folgten. Das kleinste, ein etwa anderthalbjähriger Junge, wackelte tolpatschig hinterdrein.
„Die vier großen sind wohl noch in der Schule?", fragte Bernhard. Nun wurde gefragt und erzählt. Zutraulich scharten sich die Kinder um Bernhard. Nach einer Weile begehrten sie in den Garten zurück. Wir gingen mit ihnen. Der Garten erstreckte sich hinter dem Hause etwa dreißig Meter tief. Er trug nicht den Charakter unserer Ziergärten. Ein paar Blumenbeete brachten bunte Farben hinein; das übrige war Nutzland. Eine Anzahl solcher Gärten, untereinander nicht durch Zäune getrennt, bildete eine Einheit.
Die Kinder nahmen ihr Spiel in einer Laube nahe dem Haus wieder auf, indes ein etwa achtzehnjähriges Mädchen im Garten arbeitete und von fern auf sie acht hatte. Es dauerte nicht lange, so kniete Eva mitten zwischen ihnen und spielte mit ihnen, als habe sie selber die Kinderschuhe noch nicht vertreten. Auch Bernhard wurde in ihr Treiben hineingezogen.
„Habt ihr den Ziegen schon Trinkwasser gebracht, Kinder?" fragte Eva nach einer Weile. Sie hatten es vergessen.
„Wem war es aufgetragen?" Ein etwa fünfjähriges Mädchen meldete sich verlegen.
„Dann werde ich es morgen wohl einem andern auftragen müssen?" fragte Eva ohne Schärfe. Dem Kinde traten die Tränen in die Augen.
„Möchtest du gern dein Amt behalten?"
Es nickte.
„Also bleibt es dabei. Und morgen, wenn du in deinen
Apfel beißt, dann denkst du an die Ziegen, die auch ihren Durst stillen wollen, nicht wahr?"
Das Kind nickte ernsthaft.
Wir ließen die Kinder bei ihrem Spiel und gingen ein wenig im Garten auf und ab.
„Das ältere der beiden Pflegekinder scheint ein Prachtkerl zu sein", sagte Bernhard. „Wo ist er her?"
„Es ist der Sohn meiner Freundin Anna. Du weißt, dass sie als Ärztin tätig ist. Es ist ihr einziges Kind aus der Ehe mit ihrem verstorbenen Gatten. Sie ist glücklich, es tagsüber bei mir zu wissen, während sie ihrem Beruf nachgeht."
„Und das andere?"
„Es wurde mir von der Fürsorge zugewiesen. Es hat schwere Schicksale hinter sich. Man muss mit viel Liebe und Geduld, aber auch mit konsequenter Festigkeit versuchen, es wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ein Psychiater beobachtet es regelmäßig und berät mich bei seiner Behandlung."
„Und wie geht es mit Arnold?"
Ein Schatten flog über das glückliche Antlitz der Frau. „Er ist schwieriger denn je."

*

„Ich muss jetzt an meine Arbeit gehen", sagte Eva, nachdem wir im Garten einige Früchte geschmaust hatten. „Macht's euch bequem, wo ihr wollt. Um zwei Uhr ist Tischzeit." Bernhard und ich kehrten ins Haus zurück.
„Ich bin erstaunt", begann ich, „im Reiche der Freiheit die Familie als Stätte der Kindererziehung wieder zu finden. Sie schien zu meiner Zeit in der Auflösung begriffen. Viele erwarteten ihre völlige Zersetzung. Wir als Arbeiter bekämpften sie zudem als Brutstätte des Klassenegoismus. Er feierte hier seine Triumphe."
„Das war in einer Klassengesellschaft unvermeidlich. Und zwar um so mehr, je unhaltbarer die Klassengesellschaft wurde. So lange an ihrem Bestand noch nicht gerüttelt war, da konnte noch — wenn auch in festen Grenzen — ein un-
befangener Geist walten. Nachdem aber einmal der Kampf um die Existenz der besitzenden Klasse entbrannt war, musste die Familie zur engen Klassenzelle zusammenschrumpfen."
„Das schlimmste war, dass die Oberschicht der Arbeiterschaft, die doch klassenmäßig anders bestimmt war, denselben Weg ging. Durch ihr Streben nach kleinbürgerlichem Wohlstand verfiel sie in diesen Dingen — wie in so vielen andern — dem Geist des Bürgertums. Der ausgesogene Prolet aber — er hatte ja überhaupt kein Familienleben mehr. Er zählte sozusagen nicht mit."
„Du wirst verstehen, dass mit der Aufhebung der Klassengegensätze auch die Herabwürdigung der Familie zur Brutstätte von engstirnigen Klassenmenschen aufhören musste. Je stärker die Bedeutung der Klassengegensätze war, um so stärker musste sich ihre Aufhebung auf die Familie auswirken. Auf dem andersartigen Boden der großen gesellschaftlichen Ordnung musste auch diese kleinste gesellschaftliche Zelle einen andersartigen Charakter gewinnen."
„Ich verstehe und sehe ein, dass damit einer unserer stärksten Gründe gegen die Familie hinfällig geworden ist."
„Andererseits spricht das Grundprinzip unseres heutigen gesellschaftlichen Systems für sie. Es besteht, wie du gestern sahst, überall in dem Gleichgewicht — oder, wenn du willst, in der Spannung von Zelle und Großorganisation."
„Aber dann erheben sich tausend Fragen, Bernhard!"
„So frage!"
„Wie steht es mit der Unterhaltungspflicht gegenüber den Kindern. Wem liegt sie ob? den Eltern oder dem Staat?"
„Beiden!"
„Wie das?"
„Der Arbeitslohn ist für alle Berufe so geregelt, dass die Eltern einen Teil der Erziehungslast selbst tragen können. Doch schon vom ersten Kind an gewährt der Staat Beihilfen. Vom vierten Kind an bestreitet er die Kosten der Erziehung ganz. Den Eltern steht es frei, ob sie die Kinder
bei sich behalten oder in öffentlichen Anstalten erziehen lassen wollen. Die Kosten sind in beiden Fällen für die Eltern die gleichen, wofern sie zu Haus die Kinder auf dem gleichen Lebensniveau halten, wie in den Anstalten."
„Warum habt ihr nicht einfach dem Staat die ganze Versorgungspflicht auferlegt?"
„Die Sorge für die eigene Nachkommenschaft ist einer der stärksten Motoren des menschlichen Handelns. Ihn ganz auszuschalten, heißt die Gesamtheit einer ihrer wirksamsten Triebfedern berauben. Mein Freund" — und sein Ton steigerte sich — „ich höre schon deinen Einwand! Ja! Du hast recht! Auch das ist gefährlich! Es öffnet dem Familienegoismus, wenn auch nicht dem klassenmäßigen, wieder eine Hintertür! Es besteht die Möglichkeit, dass die Kinder der Verantwortlichen einige Vorteile haben. Zwar sind diese Vorteile eng begrenzt. Sie werden durch Sitte und Moral verpönt. Trotzdem — sie sind da! Du kennst meine Antwort! Willst du sicher und gefahrlos wohnen, so musst du das Reich der Freiheit meiden!!!-------"
„Gleichwohl muss ich sofort wieder auf eine große Gefahr hinweisen. Euer System der Finanzierung birgt die Gefahr einer sinnlosen' Übervölkerung!"
„Das tut es. Und diese Gefahr dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren! Wir gestatten nicht jedem sich fortzupflanzen, sondern nur den Gesunden. Auch ist die Zahl der Kinder, deren Unterhalt der Staat ganz bestreitet, nicht endgültig festgesetzt. Kommen die verantwortlichen Bevölkerungspolitiker zu der Einsicht, dass die Gefahr der Übervölkerung droht, so wird die Zahl der von den Eltern zu versorgenden Kinder heraufgesetzt. Kommen sie zu der entgegengesetzten Einsicht, so wird sie heruntergesetzt."

„Was aber tut ihr, um zu verhüten, dass die Familie sich trotz der Aufhebung der Klassengegensätze nicht doch wieder abkapselt und zu einer Selbstversicherungsanstalt der Einflussreichen wird?"
„Du hast am hiesigen Hause ein Beispiel dafür. Frau
Eva ist eine mütterliche Natur. Mutter sein und leben ist eins für sie. Dass sie ihre Kinder selbst erziehen würde, war ihr selbstverständlich. Dann aber verlangt der Staat von ihr, dass sie auch anderen Kindern, deren Mütter irgendwie verhindert sind, eine Mutter sei. Du sahst die beiden kleinen Pflegekinder. Sie betreut noch ein größeres — außerdem einen Sohn ihres Mannes aus einem früheren Verhältnis. Das sind mit ihren vier eigenen Kindern acht Kinder, die sie zu erziehen hat. Du wirst einsehen: Diese Familie ist kein Puppenidyll mit süßlicher Verzärtelung des „Einzigen" oder der beiden Einzigen. Ihr Rahmen ist weit gespannt! Sie ist nicht kleiner, als eine Gruppe in der öffentlichen Anstalt. Sie stellt starke Anforderungen an die Frau, körperliche und geistige! Sie ist keine Brutstätte für den engen Familienegoismus alten Stils."
„Das ist wahr! Aber die Zusammenerziehung verschiedener Kinder hat doch auch ihre Bedenken! Die Mutter wird ihre eigenen Kinder bevorzugen."
„Natürlich besteht die Gefahr! Ja, noch mehr! Die Mutter wird normaler Weise nie die fremden Kinder so tief beeinflussen wie die eigenen."
„Na also!"
„Hat denn die Fremde in der Anstalt die natürlichen Bindungen der Mutter an ihre Pfleglinge?"
„Nein."
„Und gibt es für den Erzieher unter seinen Zöglingen keine Lieblinge? — —"
„Kommen wir auf die Frage zurück", sagte ich, „wie der Vereinigung der Familie zu einer Brutstätte des engsten Gruppenegoismus vorgebeugt wird. Wie wollt ihr verhindern, dass die Mutter sich wieder ganz an ihre — wenn auch vergrößerte — Familie verliert und nicht mehr fähig ist, den Blick auf das große Ganze zu richten?"
„Unser ganzes Gesellschaftssystem beugt dem vor! Wie du weißt, beruht es auf dem Ineinander von Autonomie der Zelle und zentraler Regelung. Die Zelle ist nie isoliert! Wie das Ganze sich auf ihr aufbaut, so lebt sie selbst im
Ganzen! Es besteht ein ausgebautes System des Zusammenwirkens der Familien im öffentlichen Interesse. Schon räumlich sind sie, wie du siehst, nicht isoliert. Ein Einfamilienhaus ist keine Villa alten Stils. Die Gärten eines Häuserkomplexes gehen ineinander. Auch haben sie eine Anzahl gemeinsamer Einrichtungen, Lesezimmer, Vortragssäle und andere. Und wie die Familie räumlich nur die Zelle einer größeren Einheit ist, so auch geistig. Die Familien sind durch ein reichgegliedertes System von Elternabenden, Beratungs und Kontrollstellen zu großen Selbstverwaltungskörpern des Erziehungswesens zusammengeschlossen. Vorn Staat wird dieses System zwar grundsätzlich gefordert, aber nicht im einzelnen aufgezogen. Außerdem fordert der Staat von jeder Familienmutter ein Stück nebenberuflicher Arbeit. Meist übernimmt sie Fürsorgetätigkeit. Doch kann sie ihren Beruf frei wählen. So ordnen sich die Erziehungszellen sinnvoll zum Ganzen der sozialisierten Gesellschaft zusammen. Man lässt sie bestehen, um die starken, in ihnen wirkenden Kräfte zur Hebung zu bringen. Zugleich empfängt die Zelle vom Ganzen Richtung und Ziel."
„Aber das eine verstehe ich noch nicht. Wo nimmt die Frau Kraft und Zeit her, um die verschiedenartigen Aufgaben zu bewältigen?"
„Du denkst noch an den alten unpraktischen Haushalt aus der Vorgeschichte der Menschheit! Der moderne Haushalt ist so vereinfacht, dass die erforderliche Arbeit sich auf einen Bruchteil der früheren verringert hat."

„Wie aber ist die Anstalt organisiert?"
„Sie gleicht äußerlich häufig einem Komplex von Einfamilienhäusern. Doch wir kennen nicht nur den einen Typus. Wir haben auch Erziehungsanstalten, die als große einheitliche Bauten ihre besondere architektonische Schönheit haben."
„Welche Form magst du lieber?"
„Die erste, weil sie im Bauwerk das Grundprinzip unseres gesellschaftlichen Lebens: Das Ganze eine Einheit aus
autonomen Zellen — sichtbar verkörpert. Der große Zentralbau war dem älteren, zentralistischen System gemäß."
„Im Vergleich zur Familienerziehung ist die Anstaltserziehung zweifellos zentralistischer?"
„Natürlich. Wiewohl wir die Anstaltserziehung in kleinen Gruppen von Knaben und Mädchen organisieren."
„Damit begannen die fortschrittlichen Anstalten schon zu meiner Zeit."
„Aber mancherlei Einrichtungen, Speiseanstalten, Turnhallen und andere sind im Großen für den ganzen Kreis der Beteiligten aufgebaut."
„Nun aber die Resultate! Habt ihr irgend eine Handhabe, um die Ergebnisse der häuslichen und der Anstaltserziehung vergleichen zu können?"
„Gewiss. Wir scheuen keinen Aufwand, um alle Fragen, die das Wohl und Wehe der Menschen betreffen, mit allen Mitteln der Wissenschaft zu klären! Die wissenschaftlichen Beobachtungen haben überraschende Tatsachen festgestellt."
„Nämlich?"
„Die Anstaltserziehung verbürgt ein gutes Durchschnittsergebnis. Im Ganzen unseres gesellschaftlichen Lebens erfüllen die ehemaligen Anstaltszöglinge diejenigen Aufgaben, die ebenmäßig entwickelte Kräfte, aber keine allzustarken Kräfte, insbesondere keine allzustarken seelischen Kräfte erfordern."
„Wie erklärt man das?"
„Die Anstalt hat bestimmte Vorzüge. Sie ist normaler. Sie hat die festeren Formen. Sie hat die fortlaufende Tradition, die Routine, die stärkere Kontrolle, die stärkere Berührung mit der Öffentlichkeit. Es ist auch leichter, neue Erkenntnisse, Erfahrungen für die größeren, öffentlichen Kreise fruchtbar zu machen, als für die von halb privatem Charakter. Ferner gewährleistet die Anstalt sicherer die Einordnung ihrer Zöglinge in den großen sozialen Kreis. Der einzelne fühlt sich stärker einem großen gesellschaftlichen Ganzen verbunden."
„Das bedeutet einen großen Vorzug!"
„Freilich! Aber andererseits fehlen den Menschen der anstalt, den Erziehern wie den Kindern, die besonderen Bindungen, die sich aus der Gemeinsamkeit des Blutes ergeben."
„Vorurteil!"
„Sagte man so in eurem Zeitalter? Wir sehen diese Dinge anders. Wir wissen heute, dass der natürliche Lebensvorgang kein ,Vorurteil', sondern eine Tatsache ist. Der bürgerlich-rationalistische Geist deiner Epoche mag das verkannt haben. Das Verhältnis von Vater, Mutter und Kindern ist eben ein Besonderes — eine Einmaligkeit! Ebenso empfängt das Kind aus dem Miterleben der elterlichen Ehe Eindrücke tiefster Art. Auch lässt sich in der Anstalt nicht das natürliche Zusammenwirken beider Geschlechter als Erzieher herstellen, wie in der Familie. Zwar hat jede anstaltsgruppe einen Leiter oder eine Leiterin. Aber — ob weiblich, ob männlich — es fehlt den Leitern einer Gruppe der Gegenspieler des anderen Geschlechts. Meist wird die Anstaltsgruppe von einer Frau geleitet. Dann fehlt einer solchen Gruppe der Vater. Wir haben versucht, ihn zu ersetzen, indem wir einen beruflichen Erzieher für eine größere Anzahl von frauengeleiteten Gruppen einsetzten und umgekehrt. Es bleibt Ersatz. Denn auch der beste vollamtliche Erzieher kann für fünfzig Kinder nicht das sein, was der Familienvater für acht. Diese Dinge haben nicht den rechenhaften Charakter, den man ihnen früher zuschrieb."
„Und das Ergebnis der Familienerziehung?"
„Sie weist die größeren Schwankungen auf. Doch hat man festgestellt, dass unter den Verantwortlichen ein unverhältnismäßig großer Prozentsatz der häuslichen Erziehung entstammt.
„Worauf führt ihr das zurück?"
„Auf viele Gründe. Vor allem auf jene leib-seelische Verbundenheit von Eltern und Kindern. Sie ist kein Vorurteil — so wenig wie Geburt oder Tod. Darum erfasst durchschnittlich die Familienerziehung den Menschen stärker in Freud und Leid, in Wohl und Wehe. Auch stellt die heutige Familie eine natürliche Auslese der mütterlichen
Frauen dar, die körperlich und seelisch für die Mutteraufgabe besonders veranlagt sind. Denn eine solche Frau wird besonders stark den Drang nach eigenen Kindern haben."
„Aber solche Frauen können doch mitsamt ihren Kindern in die Anstalt gehen, um sich dort auszuwirken!"
„Und der Gatte, der Vater? —"
Der Einwand setzte mich in Verlegenheit. Ich fragte daher weiter: „Aber die Familienerziehung wird selbst im Reich der Freiheit ihre Nachteile haben!"
„Du beginnst die Dialektik der Dinge zu begreifen, die im Reich der Freiheit herrscht!! — — — Die Familienerziehung kommt öfters als die Anstaltserziehung zu schweren Fehlschlägen. Es bleibt auch uns nicht erspart, dass der hochgemut unternommene Versuch, die eigenen Kinder zu erziehen, an dem Gegensatz der Charaktere kläglich scheitert. Und da auch im Reich der Freiheit die goldene Mittelstraße für viele Menschen besondere anziehungskraft hat, so geben viele Eltern ihre Kinder lieber in die Anstalten."
„Wo ist die Mehrzahl der Kinder?"
„In der Familie!"
„Haben sie überall, in der Familie wie in der Anstalt, den gleichen gesunden Nährboden des eigenen Stückes Land?"
„Überall! Wir lassen kein Kind mehr auf der Etage und dem Asphalt aufwachsen!! Auch die Erwachsenen verdammen wir nicht zu solchem Dasein. Wir stellen grundsätzlich für je zehn Menschen etwa ein Viertel Hektar Land als Gartenland zur Verfügung. Das sind einige Prozent unserer landwirtschaftlich bebaubaren Fläche. Selbstverständlich sind die Gärten keine Ziergärten. Kinder und Erwachsene müssen darin arbeiten."
„Rentieren sich die Gärten voll?"
„Nein! Sie werden zwar nach rationellen Methoden bewirtschaftet. Die Kinder lernen gerade am Garten die Achtung vor den Notwendigkeiten der Wirtschaft. Aber wir können auf diesem Gelände nicht die hohen Erträge
erzielen, die der rationelle Gartenbau erzielt. Einige Prozent unserer bebaubaren Fläche werden mithin nicht voll ausgenutzt. Das ist ein großer Aufwand. Aber es ist ein Aufwand, der sich lohnt!"

Die Mittagstunde nahte heran. Die vier größeren Kinder kamen aus der Schule. Drei von ihnen standen im Alter von sieben bis zwölf Jahren, darunter zwei Mädchen, an der Ähnlichkeit des Gesichts und der Gestalt als Kinder unserer Wirtin kenntlich. Das dritte trug einen fremdartigen Charakter. Es war ein Waisenkind, dessen Erziehung in der Anstalt nicht hatte glücken wollen. Froh und vertrauensvoll gesellten sich die drei Kinder zu uns. Zwei von ihnen hatten den Mittagstisch auf dem Platz vor dem Hause zu richten.
Anders ein größerer Knabe, der im fünfzehnten Lebensjahre stehen mochte. Er war von auffallender Schönheit. Weitgeöffnete braune Augen standen unter einer hohen schmalen Stirn. Lebensfülle atmete der volle Mund mit den aufgeworfenen Lippen. Freilich wies das Antlitz in seinem formbaren unteren Teil Spuren beginnender Fehlbildung auf. In den Mundwinkeln lag ein asozialer Zug von Trotz und Hochmut. Auch zeigte die Rundung des Kinns jene verhängnisvolle weiche Linie, die beim Manne den Mangel an Kraft zur Beherrschung des Lebens andeutet. Arnold — so nannten ihn die andern — begrüßte uns flüchtig. An Eva sah er vorbei. Dann gesellte er sich zu den Kleinsten. Hier war er offenbar ein geschätzter Spielkamerad. Sie stürzten sich voller Freude auf ihn, um ihn in ihre Spiele zu ziehen.
Nun wurde das Kommen des Vaters von den Kindern gemeldet. Ich hatte den Gesprächen entnommen, dass er als Arbeiter in einer Maschinenfabrik der Nachbarschaft tätig war. Ich war gespannt, ihn kennen zu lernen. Denn meine bisherigen Berührungen mit dem Arbeiter in dieser so andersartigen Gesellschaft waren nur flüchtig gewesen.
Ein hoher, kräftig gebauter, magerer Mann trat ein.
Gleich auf den ersten Blick erfasste mich freudige Gewissheit: Ja! Das war der Genosse von der Werkbank, wie ich ihn kannte! Seine Züge, seine Haltung, seine stark ausgearbeiteten Hände, sein schwerer Tritt — das alles sprach zu mir in alter, vertrauter Weise. Er war kein „Herr" geworden. Kein „Feiner". Kein Nachtreter fremder Lebensformen!! Doch als er mir freundlich die Hand bot und ich ihm näher ins Antlitz schaute, da ward ich inne, dass ich doch nicht mehr den Arbeiter meiner Tage vor mir sah. Vertieft waren die Züge und vergeistigt. Reicher entfaltet erschien die ganze Persönlichkeit, ohne den Charakter des Werktätigen abgestreift zu haben. Es war, als sei der alte Kamerad jetzt erst zu vollem Menschentum erwacht. Auffällig war seine Ähnlichkeit mit dem größeren Knaben. Nur, dass statt der trotzigen Linie eine unendliche Güte auf seinem Antlitz lag, gepaart mit den Spuren schwerer seelischer Kämpfe. Bernhards Lehre von dem Sowohl—Als auch des Lebens fiel mir ein. Ob er zu denen gehörte, die diese Spannung nur unter Einsatz letzter innerer Kräfte bewältigen?
Wir setzten uns zu Tisch. Die Mahlzeit hatte nichts von dem Zwang, der zu meiner Zeit in vielen Familien der so genannten höheren Gesellschaft vorhanden war. Aber sie verlief auch nicht in jener Formlosigkeit, wie sie für die Arbeiterfamilie nach dem Zerfall der alten bäuerlichen Lebensformen zur Regel geworden war. Sie hatte Anfang und geregelten Verlauf. Gegenseitige Hilfe gab ihr das Gepräge. Behänd wussten die älteren Kinder die jüngeren Geschwister zu versorgen. Die Mutter leitete das Ganze in ruhiger Sicherheit. Doch war nicht sie der Mittelpunkt des Kreises, sondern der Vater. Jedes der Kinder hatte ihm einen Sack voll Erlebnisse zu erzählen. Mit warmem Verständnis ward er jedem gerecht. Arnold schwieg auch jetzt. Der besorgte Blick des Vaters streifte ihn mehrere Male.
Unsere Mahlzeit war beinahe beendet, als ein Zwischenfall den Frieden jählings zerstörte. Eine Frau von etwa vierzig Jahren drang mit hastigen Schritten in den Garten
vor. Ich sah, wie Eva erblasste. Karl, der Hausvater, sprang auf und eilte ihr entgegen, um sie ins Haus zu ziehen. Sie schob ihn beiseite. Dann stürzte sie sich auf Arnold und schloss ihre vollen Arme in wirrer Leidenschaft um seinen Nacken. Unbeherrschte Gluten von Liebe und Hass sprühten aus ihren stahlblauen Augen mit der darüberstehenden finstern Falte. Während sie das Kind zärtlich umschlungen hielt, überschüttete sie Eva mit einer Flut von Vorwürfen. Sie fassten sich in das eine Wort zusammen: Stiefmutter! Tränen stürzten aus Evas Augen. Sie stand auf und ging ins Haus. Jetzt griff Bernhard ein. Mit ruhiger Bestimmtheit löste er die Arme der aufgeregten Frau von dem Nacken des Knaben und führte sie zum Hause. Schweren, mühsamen Schrittes folgte ihnen Karl. Ein Ausdruck unsäglicher Qual lag auf seinen Zügen.
Nach einer Weile sah ich, wie die Fremde, auf Karl gestützt, das Haus verließ. Es dauerte lange, bis Bernhard wiederkam. Die Spuren einer heftigen Erregung lagen auf seinen sonst so ruhigen Zügen. Ich ahnte den Zusammenhang des Erlebten; aber ich wagte nicht, danach zu fragen. Seine Erregung schien jedoch der Mitteilung zu bedürfen. Er forderte mich zu einem Gang durch die Wohnstadt Straßburg auf. Ich folgte gern.

„Es ist fürchterlich", grollte er mehr zu sich, als zu mir, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gegangen waren. „Der Junge geht daran zugrunde und Eva bezahlt diese Kämpfe mit ihrem Herzblut." Mit großen Schritten stürmte er weiter durch die schönen Anlagen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Plötzlich blieb er stehen.
„Wie habt ihr denn den Konflikt des unehelichen Kindes und seiner Mutter zu lösen gesucht?"
„Wir?? zu lösen versucht?? Wir haben das überhaupt nicht versucht!"
„Was??? Was wurde denn aus den Kindern?"
„Man ließ sie in den Familien als mindergeachtete Glieder aufwachsen. Oder man stieß sie als Ziehkinder in irgend
einen Winkel. Mochten sie da aufwachsen, wie sie wollten. — Oder man drehte ihnen, ehe sie zur Welt kamen, im Mutterleibe den Hals ab."
„Entsetzlich!"
„Das war eine beliebte Praxis bei uns. Immerhin — in den Familien der Bauern und Arbeiter ist manch ein vaterloses Kind nicht schlecht versorgt gewesen. Im ganzen gesehen wurden alle diese Dinge in einem Wust von Verlogenheiten erstickt."
Wir traten aus den Wohnkomplexen ins Freie. Vor uns lag der Rhein.
„Laß uns noch ein Stück in die Ebene gehen", sagte Bernhard. Wir folgten dem Zuge der Straße über eine kühn geschwungene Brücke. „Die Heimlichtuerei", nahm Bernhard unser Gespräch wieder auf, „kennen wir nicht mehr. Freilich ist auch hier die doppelte Linie da. Denn die Scheu des Menschen, sein Liebesleben vor den Augen der Neugierigen zu verhüllen, ist ein tiefgründiger und schöner Zug der menschlichen Natur. Wir möchten ihn nicht missen. Aber die Sache selbst ist im Reiche der Freiheit schwerer denn irgendwo! Sieh hier diese unheilvollen Verhältnisse! Du hast Arnold kennen gelernt — und seine Mutter. Mit ihr hat Karl längere Zeit gelebt. Arnold ist ein reich veranlagter Knabe!
Sein Vater, dieser ... dieser ... sentimentale......"
„Aber Bernhard!!" Ich kannte meinen gütigen Führer nicht wieder. „Der Mann ist nicht sentimental!!"
Er kämpfte sichtlich mit sich selbst. „Du hast recht! Ich bin ungerecht gegen ihn ... Aber lassen wir das. Karl will sich von seinem Sohn nicht trennen. Er behält ihn trotz dieser wirren Verhältnisse bei sich. Es wäre ja auch alles tragbar und Eva würde dem Knaben die beste Mutter von der Welt sein, wenn Karl wenigstens Manns genug wäre, Arnolds Mutter fernzuhalten. Du hast sie kennen gelernt — eine Frau von hemmungsloser Leidenschaft. In der törichtsten Weise mischt sie sich in die Erziehung!!" „So soll sie doch das Kind nehmen!!" „Das will sie nicht. Man kann es auch für den Knaben
nun und nimmer wünschen. Aber die getroffene Regelung bleibt für alle Beteiligten eine Quelle ständiger Kämpfe und Aufregungen. Zwar ereignen sich nur selten Auftritte wie der Heutige. Es lag ein besonderer Anlass vor. Aber auf alle Fälle steht das Kind zwischen zwei, ja drei Einflüssen."
„Und wie reagiert Arnold darauf?"
„Im Grunde genommen hat Eva den stärksten Einfluss auf ihn. Es ist vorgekommen, dass er sich ihr weinend an den Hals warf. Sie sei die einzige, die ihn lieb habe und zu der er Vertrauen habe. Dem Vater gegenüber gewinnt er keine feste Linie, so lieb er ihn auch hat. Auch sein Verhältnis zur leiblichen Mutter ist zwiespältig. Ihre so ähnlichen Temperamente stoßen sich mehr ab, als dass sie sich anziehen. Gleichwohl benutzt er sie als Vorspann, wenn es daheim Konflikte gibt, wie sie in keiner Erziehung ausbleiben können."
„Aber daran muss ja dieser prachtvolle Junge Schaden nehmen!! Warum tut man ihn denn nicht in eine Anstalt?!"
„Man kann den leiblichen Eltern das Kind nicht einfach fortnehmen, wenn sie sich nicht eigentliche Verfehlungen zu Schulden kommen lassen. Und dann — was wäre gewonnen? Die heutige Szene würde vielleicht vermieden werden. Aber im übrigen würde die Mutter ihren Einfluss gegen die Anstaltserziehung genau so spielen lassen, wie gegen die Familienerziehung."
„Dann sollte man wenigstens der leiblichen Mutter den Zutritt zu Karls Hause verbieten."
„Du verstehst, dass das im Reich der Freiheit nicht so einfach ist. Karl könnte es tun. Er bringt es nicht übers Herz."
Ich vermochte nichts zu erwidern. Was waren das für unglückselige Verkettungen. „Kommen häufiger derartige Konflikte in dem Leben der unehelichen Kinder vor?" fragte ich endlich.
„Freilich! — — Solche Erfahrungen, Freund, haben unser Gewissen geschärft. Sie haben uns die Verantwortung,
die auf der Zeugung des außerehelichen Kindes liegt, doppelt fühlbar gemacht."
„Sie sind auch für mich erschütternd. Wir hofften, dass sich nach dem Fortfall der Klassenschranken das Leben der Geschlechter in goldener Freiheit von selbst regeln werde!" „In gewissem Sinne ist das richtig. Die Beseitigung veralteter Rechtssatzungen und Sitten hat vieles gesunden lassen. Es treibt keine Frau mehr ihr Kind ab aus Angst vor der gesellschaftlichen Ächtung. Es bekennt auch der Mann ohne Scheu sich zu dem Geschehenen. Und die Gesellschaft verpönt nicht die uneheliche Mutter und ihr Kind. Sie wendet vielmehr doppelte Sorgfalt auf diese Kinder, denen oft schon die rechte vorgeburtliche Erziehung fehlt. Aber gerade die Freiheitlichkeit der gesellschaftlichen Institutionen hat das Wesentliche der Dinge klarer offenbart, als es in der lieblosen und verlogenen Gesellschaftsordnung des Kapitalismus möglich war."
„Kommt ihr dann schließlich doch auf den alten Familienrummel zurück?!"
„Wie du mich missverstehst! Auch ohne die Verzerrung menschlicher Verhältnisse, wie die Klassengesellschaft sie erzeugt hatte, bleibt es eine ernste Verantwortung, ein Kind zu zeugen, ohne ihm die Stätte bereitet zu haben, in der es gedeihen kann. Ich meine nicht die äußere Stätte. Ich meine nicht das bürgerliche Familiennest. Sondern ich meine die Einheit zweier verantwortlicher Menschen, die für ein drittes Vater und Mutter sind und sein wollen. Kann dann ein Elternpaar unter dem Zwang besonderer äußerer Verhältnisse das Kind nicht persönlich aufziehen — es ist doch die unzerspaltene Einheit der elterlichen Liebe und Fürsorge da, jener Nährboden der kindlichen Seele, ja selbst der leiblichen Wohlfahrt des Kindes, für den es keinen Ersatz gibt." „Bernhard, — darin liegt die Forderung der Einehe!"
„In letzter Konsequenz — ja.------------"
„Ich hatte mir das Verhältnis der Geschlechter im Reich der Freiheit leicht und frei gedacht!!"
„Das Handeln unter eigener Verantwortung — die Freiheit — ist nie leicht — Freund!"
Wir hatten einen Bogen durch die Ebene beschrieben und näherten uns wieder dem Rhein.
„Laß uns hier ein wenig verweilen", sagte Bernhard. „Du siehst jenen Hügel mit der runden Bank. Dort wollen wir rasten. Vom Hause unserer Freunde sind wir nicht mehr fern."
Wir stiegen zur Anhöhe hinauf. So niedrig sie war, so bot sie doch inmitten des flachen Geländes einen meilenweiten Ausblick. In hehrer Unendlichkeit lag die sonnendurchglühte, fruchtbare Ebene vor uns. Lange schauten wir in die Landschaft hinaus.
„Du würdest meine Feindschaft gegen jenen Heuchelpakt, Ehe genannt, verstehen", sagte ich endlich, „wenn du durch meine Zeit gegangen wärst! Ekelhaft war es, was alles unter dem Namen der Ehe verübt wurde — geweiht und gesegnet von den Pfaffen!"
„Ich kann eure Verhältnisse nur in ihren allgemeinen soziologischen Zusammenhängen erkennen", erwiderte Bernhard. „Ihr erlebtet die Zersetzung jener alten Ehe, die das Bauerntum geprägt, die das Bürgertum übernommen hatte. Im Zeitalter des höchstgesteigerten Kapitalismus musste diese gesellschaftliche Bildung — wie alle anderen
— in Frage gestellt sein. Neue Formen für das Verhältnis der Geschlechter aber konnten noch nicht gefunden werden. So muss eure Lage unheilvoll gewesen sein."
Ich dachte an alles, was wir im Kreise der Genossen in diesen Jahren durchlebt hatten. Ich dachte an die Fabrik
— an das Kino------------
„Erzähle, was auf unsere Zeit folgte, Bernhard!" „Eure Kämpfe waren nicht umsonst. Die Dinge trieben zu einer Katastrophe. Die Lebenssubstanz der europäischen Menschheit schien der Auflösung verfallen. Das brachte die Wendung!" „Erzähle!!!"

„Weißt du, dass die Zahl der Geburten nach dem großen Kriege rapid zu sinken begann?"
„Ja. Wir sahen darin das Heil des Proletariats. Nun wurde es endlich aus dem Naturdasein erlöst, in dem es mitsamt seiner Nachkommenschaft verelendete."
„So war es! Doch wenn ihr nur diese eine Wirkung saht, so saht ihr die Sache nur halb! Die Zahl der Geburten sank schnell so tief, das alljährlich mehr Menschen starben, als geboren wurden. Der Untergang des europäischen Kulturkreises drohte wie ein unabwendbares Verhängnis. Es war die letzte Zeit des Neofeudalismus. An dem Ruin des Bevölkerungsnachwuchses wurde der Bankrott des Systems offenbar. Der Kapitalismus zerstörte in dieser Phase die stärkste und unentbehrlichste Produktivkraft, den Menschen selbst, indem er eine gesunde Ordnung seiner Fortpflanzung unmöglich machte. Gegenüber diesen Tatsachen hörte alle Verschleierung auf. Die Verzweiflung des Einzelnen, dessen Geschlechtsleben allen Sinn verloren hatte, wetteiferte mit der Verzweiflung des Ganzen, das seinen Ruin vor der Tür sah. Die Menschheit fühlte, dass dieses System alles in den Abgrund riss. In jener Situation trat eine schwere Erschütterung der europäischen Gesellschaft ein: der Einbruch asiatischer Völkermassen in Europa. Es ging ums letzte, um das nackte Leben der europäischen Kulturnationen. Da brach das überlebte kapitalistische System zusammen wie die preußisch-deutsche Monarchie im November 1918. Mitten in den Nöten eines elementaren Existenzkampfes wurde die Organisation der kapitalistischen Völker umgestellt, wie Frankreich sich nach Sedan umstellte, oder Russland 1917. Der Abwehrkampf wurde bestanden, das neue System befestigt. Zwar war es nicht der letzte Kampf gegen den Kapitalismus, wohl aber die entscheidende Wendung!! — — Neuland tat sich vor der Menschheit auf!! Neuland auch für das Leben der Geschlechter! Aus der Not des doppelten Todes durch Feindeshand und inneren Verfall kehrten sie zu den Quellen des Lebens zurück. Grausend hatten sie vor ihrer Vernichtung
gestanden. In letzter Stunde waren sie zurückgerissen. Wie soll ich dir schildern, was ihre Herzen erfasste? Triumph war es nicht. Zu schaurig war der Abgrund gewesen, in den sie geblickt hatten. Sie hielten das Leben wieder in den Händen wie eine Gnade. Sie fühlten sich ihm verbunden in allen seinen Weisen, im Tier, im Baum, in der Liebe zu Mann und Frau, im Kind, im Volk, in der Menschheit, im All. Ehrfurcht kehrte wieder im Gemüt der Menschen ein, Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Weben alles Lebendigen. Und alle Quellen der Liebe, scheinbar verschüttet und versiegt in dem fluchwürdigen alten System — sie brachen mit voller Kraft wieder auf!" — — — —
„Aber auf die Rationalisierung des Geschlechtslebens habt ihr nicht verzichtet, nicht wahr?"
„Keineswegs! Wir haben sie vielmehr aufs Äußerste vorwärts getrieben! Doch wir handhaben sie anders, als das kapitalistische Zeitalter. Wir haben — verstandesmäßig gesehen — die engen Grenzen erkannt, die uns für die Regulierung der Fortpflanzung gezogen sind. In diesen Grenzen bedienen wir uns eines Systems technischer Maßnahmen zur Regulierung des Naturvorganges. Unsere Grundhaltung aber ist diese: Die zeugnerische Kraft des Geschlechtsaktes ist uns heilig."
Sein Blick verlor sich in die Herrlichkeit des prangenden
Lebens vor uns.— —

*

Tiefe Einblicke hatte ich in die Seele dieses Mannes getan. Ob ich noch weiter forschen durfte? — — —
„Bernhard!------------Steht Eva dir nah?"
„Ich liebe sie sehr."
„Ich-------verstehe dich nicht ganz."
„Was ist daran zu verstehen?"
„Immerhin — ihr seid beide verheiratet!"
„Ja — und weiter?!"
Ich fand nicht die Worte, um zu sagen, was ich dachte.
In die weiten Dimensionen dieses Mannes wollten sich meine Worte und Empfindungen nicht einpassen.
„Möchtest du mir einiges über euer Verhältnis sagen?" „Wohl." Er legte die Hände zusammen und schaute zu Boden. „Es war ein junger Lehrer, ein heißblütiger Kerl, seinem Beruf mit aller Kraft seiner Seele ergeben. Er kam an eine öffentliche Erziehungsanstalt. Die Arbeit führte ihn mit einem Mädchen zusammen, das dem Erzieherberuf ebenso hingegeben war, wie er. Von dem ersten Vormittag an, da sie im Kreise der Kinder zusammen arbeiteten, wusste er, dass nur mit dieser Frau sich ihm das Glück der Ehe in seiner ganzen Fülle erschließen würde: Die unlösliche Verbundenheit von Mann zu Weib, die Gemeinschaft zweier, welche ein drittes zeugen wollen, das mehr sei denn sie. Erstaunten Auges nahm eines Tages das Mädchen seine Leidenschaft wahr. Neugierig, bereit zu Liebe und Glück, schaute es in das neue Land, das sich vor seinen Augen auftat. Warum sollte es dieses wundersame Land nicht an der Hand eines trefflichen Kameraden und treuen Freundes betreten? — Sie wurden sich einig. Ein Jahr noch wollten sie warten; es galt erst die gemeinsame Berufsarbeit zu befestigen. — Dann wollten sie eins werden--------eine neue
Zelle des Lebens,-------so hofften sie!"
„Warum vereinigten sie sich nicht, als sie ihrer Liebe gewahr wurden, ohne gleich die Last der Familie auf sich zu nehmen?" „Last??"
„Die Bindung und die Verantwortung bleibt, auch wenn das Materielle erleichtert wird."
„Aber eben in dieser Verantwortung vollendet sich der Mensch! Darum dünkt es uns das Höchste im Geschehen zwischen Mann und Weib, wenn ihre volle Vereinigung den Willen zur elterlichen Verantwortung einschließt. Dieses starke Erleben schmälern sich nur die Schwächeren unter uns, indem sie die genußbetonte Handlung der geringeren Verantwortung vorwegnehmen. Es gibt ihrer genug. Welcher Mahn hätte nicht so gehandelt? — Wir schelten das
nicht. Wir verachten es auch nicht. Niemand legt sich auf die Lauer, das Liebesleben zu beobachten, zu bekritteln. Nur der geringere Rang des Vorgangs ist uns eindeutige Entscheidung."
„Es erstaunt mich, Bernhard, was du sagst!!--------Aber
wie geht deine Geschichte weiter?"
„Ja — — — wie ging sie weiter? Die beiden jungen Menschen besuchten eines Tages eine Ausstellung von Metallarbeiten. Eine Gruppe von Arbeitern, die aus eigenen Mitteln eine kunstgewerbliche Werkstätte unterhielten, hatte sie veranstaltet. Weil der Handarbeiter beruflich mit der Formgebung betraut ist, so findet man bei ihm häufig ein großes Interesse an diesen Dingen und ein natürliches Geschick dazu. Das Mädchen hatte für diese Dinge bisher kein Verständnis gehabt. Eine neue Welt ging ihm auf. Der Leiter der Ausstellung trat zu ihnen. Er zeigte ihnen die Arbeiten. Er erklärte vieles. Mit der Sicherheit des Werktätigen in der Beherrschung von Stoff und Gestalt vereinte er den tiefen Blick des ringenden, kämpfenden Menschen. Und was der junge Lehrer erlebt hatte am ersten Tage ihrer gemeinsamen Arbeit — das erlebte das Mädchen jetzt, als dieser Arbeiter in sein Leben trat: das tiefe, umfassende, eindeutige und einmalige Liebeserlebnis, dessen nur die Starken fähig sind. Und der Mann empfand es nicht anders. Er hatte ein anderes Weib lieb gehabt, er hatte ein Kind mit ihr, aber das Gefühl einer alles umfassenden Liebe war es nicht gewesen. Denn auch der Mann kennt das hohe Glück der einmaligen Liebe und bedarf seiner, wiewohl sein Drang in die Weite geht. — — — — Hier liegt —
— — einer der heillosesten Zirkel des Lebens. — — — — Sie ward sein Weib. Ihre Ehe ist jene seltene Einmaligkeit von höchstem Rang geworden."
„Und der junge Lehrer?"
„Er schnürte sein Bündel und zog in die weite Welt. Verzweifelten Herzens ging er von Rausch zu Rausch. —
— — Endlich führte ihn die Sehnsucht nach eigenen Kindern zu einer Frau, die ihm aus ganzem Herzen ergeben
war. Sie wurden Mann und Weib. — — Freilich — sein Hoffen erfüllte sich nicht — — — die Kinder blieben
aus.------------"
Die Sonne war im Sinken. Rötliche Glut lag auf der Flur.
„Bernhard, wenn ich alles überdenke, so ist es mir, als habt ihr — wenn auch in anderen Dimensionen und mit anderer Betonung — die ganze Stufenfolge der Liebe in Freud und Leid, wie auch wir sie hatten."
„Und wie die Menschheit sie immer haben wird!"--------
„Wir hatten es anders gedacht!!! — — Wir suchten etwas grundsätzlich Neues, eine Befreiung von der Sexualität als einer uns versklavenden Macht."
„Ihr suchtet auch hier das konfliktlose Glück, nicht Emil??"
„Du hast wohl recht"--------------------
„Sieh dieses Land", sagte Bernhard. Seine Stimme war gedämpft. Sein Auge ruhte im Weiten. Es war, als hätte er die Ferne ganz aufgenommen in seinen Blick. „Ist die weite Ebene nicht so nah, so greifbar und doch so sehnsüchtig weit? Und ist es nicht gerade der Widerstreit des Nahen und des Weiten, der unser Herz in Entzücken erbeben lässt? Gerade der Widerstreit, Emil?! — — Und wenn du eine Frau in deinen Armen hälst, so nah, so lebenswarm — und doch ist eure Liebe verwoben in die Fernen der Unendlichkeit, die als Verantwortung sich euch offenbart — und die Ströme aus der Nähe und die Ströme aus der Ferne schlagen brausend gegeneinander, bis sie sich einen zu höherer Einheit------------mein Freund aus fernen Welten, ist das nicht mehr, als das spannungslose Glück des Unmündigen??"
Ich blickte auf zu ihm. Ein hoher Glanz lag auf seinem Antlitz. Er bedurfte keiner Antwort.
„Eingefügt sind uns diese und alle Erlebnisse in ein unendliches Ganze, wie das Haus dort, der Baum dort in diese Landschaft! Wo ist Anfang, wo ist Ende? Wir wissen es nicht. Die Grenzen weichen zurück, sobald wir wandern,
um sie zu erreichen. Doch die Fernen sind so wenig tot und stumm wie jene blassen Linien dort am Horizont. Wir hören ihre Weisen. Und das Leben ist uns ein ewiges Widerspiel zwischen dem Hier und Dort, dem Nahen und dem Fernen, zwischen dem Hohen und dem Tiefen, zwischen Dunkel und Licht, zwischen Recht und Unrecht. Nein! wir sind nicht ,besser' als ihr. Wir schauen vielmehr rückwärts auf eure Nöte als auf die Taten einer kämpfend vordringenden Schar. Aber das glauben wir: Befreit von einer verruchten Ordnung menschlichen Zusammenwirkens, eingefügt in einen sinnvollen Lebenszusammenhang, hinausblickend in die Fernen der Unendlichkeit, erleben wir das Leben in anderm Rhythmus nicht nur, sondern in reicheren Rhythmen. Und in dem Widerspiel von Chaos und Ordnung, wie jedes wahre Leben es ist, ist uns das Richtziel gegeben. Wir fehlen schwerer, als ihr fehlen konntet, seit jeder als freier Mensch unter eigner Verantwortung sich entscheiden muss. Aber wir erleben auch ein unaussprechlich hohes Glück, wenn es — ach nur selten — uns gelingt, die Nähe und die Ferne zu einen und in unserm Handeln die letzte verantwortliche Entscheidung mit dem Glück der nächsten Nähe zu vereinen."

Wir brachen auf. Bald erreichten wir die Wohnviertel. Menschen kamen und gingen. Der Zauber jenes Augenblicks war verrauscht. In gewohnter Ruhe und Beherrschung ging Bernhard neben mir. Wir waren wieder im Alltag. So kehrte auch unser Gespräch in die gewohnten Bahnen zurück.
„Bernhard! Noch eine Frage. Wenn denn euch die Ehe als einmaliges und lebenslängliches Erlebnis heilig ist — schützt ihr sie durch staatliche Gewalt? Die meisten von uns waren dagegen."
„Ist nicht die Ehe", gab er zurück, „mit ihrem ganzen Bestand an die Gesellschaft gekettet? Sie lebt materiell und geistig von ihr. Umgekehrt ist der Bestand der Gesellschaft an sie gekettet. So lange in Ehen Männer und Frauen ihr Leben gestalten, so lange darin Kinder geboren werden, oder nicht geboren werden, so lange hat die Gesellschaft an ihrem Bestand das größte Interesse. Nun wirkt die Gesellschaft in mancherlei Form auf die Ehe ein, durch ihre Wirtschaftsgestaltung, durch ihre Moral, durch ihre Sitte. Auch der im Staat organisierte Wille der Gesellschaft zur Aufrechterhaltung eines geordneten Zusammenlebens der Menschen nimmt, zur Ehe, irgendwie Stellung." „Er kann sie doch einfach sich selbst überlassen!" „Meinst du, das sei keine Stellungnahme?" „Nein."
„Nimm an, ich treffe auf einsamer Straße einen Räuber, der soeben einen Wanderer überfallen hat und ihn abwürgen will. Ich bin gut bewaffnet und kann durch mein Dazwischentreten dem Bedrohten das Leben retten. Ich drücke mich aber seitwärts in die Büsche. Ist das keine Stellungnahme?"
„Doch!"
„Und nun vergegenwärtige dir die oberste Machtorganisation auf einem bestimmten Gebiet. Sie ordnet das menschliche Zusammenleben in letzter Instanz. Das heißt, jedwede menschliche Handlung unterliegt ihr hinsichtlich ihrer Einordnung in den Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens, auch wenn sie gar nicht unmittelbar eingreift. Bleibt diese Macht gegenüber einer so wichtigen gesellschaftlichen Erscheinung wie die Ehe rein passiv, so wirkt sie auflösend, es sei denn, dass, wie im Mittelalter, eine andere Stelle — dem andersartigen Lebensgefühl der Menschen entsprechend — die ordnende Funktion ausübt. Der moderne Staat aber kann an diesen Dingen nie vorbeigehen. Entweder hilft er eine vorhandene Ordnung der Ehe schützen, oder er hilft sie zerbrechen. Unser heutiger Staat hilft sie stützen."

*

Wir saßen wieder in dem Garten unserer Freunde. Auch Marianne war gekommen. Sie war bleich und gefasst; eine wehmütige Schönheit lag auf ihrem Antlitz. Die Kinder begehrten ein paar Lieder zu singen, ehe sie schlafen gingen.
Eva holte ihre Laute. Warm und lind klang der Gesang durch die abendliche Stille. Die meisten Weisen berührten mich seltsam. Sie enthielten eine stärkere Bewegung als die unsrigen. Wir hätten sie vielleicht nicht zu tragen vermocht. Dazwischen klang — fremdartig — ein Lied aus meinen Tagen.
Wir waren allein. Eine Zeitlang saßen wir schweigend. Die Nachtfalter schwirrten ums matte Licht, und die Grillen zirpten im Grase.
„Wie man handelt — man handelt unrecht", sagte Marianne plötzlich. „Das ist das furchtbare Wort! Es zerstört unser Handeln, es zerstört uns."
Mit großer Güte beugte sich Bernhard zu ihr vor und legte seine Hand auf die ihre, die auf dem Tisch lag.
„Nein, Marianne. Es zerstört uns nicht. Es zerstört nur die Schwachen."
„Ich bin schwach, Bernhard."
„Du weißt, Marianne, dass wir eine Zuflucht haben, wenn wir den Kampf nicht bestehen!"
„Zuflucht?? — — — Nein Bernhard!" sagte Karl fest. „So ist es nicht!! Zuflucht wollen wir nicht mehr suchen, auch die Schwachen nicht. Ich ging mit Marianne den Weg der Gefahr. Kraft brauchen wir, die Gefahr zu bestehen, nicht eine Zuflucht, uns vor ihr zu bergen. Der Glaube als Trost und Hort — das war die Lästerung des kapitalistischen Zeitalters. Wie überall, so wollte es auch hier Sicherheit!!!"
Bernhard senkte den Blick. „Du hast recht, Karl — — Ich möchte unserm Gast von diesen Dingen nicht erzählen. Aber er ist heute den letzten Abend bei uns. Willst du ihm nicht sagen, was unser Glaube ist?"
„Wie soll ich das? Schweigen ist das Gebot."
„Ja, Karl", sagte Eva. „Schweigen ist das Gebot. Aber doch kannst du dem Fremdling die Geschichte des Mannes erzählen, der uns zuerst das Wort von den zwei Wegen gab und von der Kraft und das Gebot des Schweigens. Viel ist seitdem von der Menschheit im Reich der Freiheit erkämpft und errungen. Wir können ihm das nicht mitteilen. Er würde es nicht begreifen. Jene Worte waren nur der Anbruch. Aber sie waren eben der Anbruch — und unser Freund aus anderen Welten wird sie am ehesten verstehen."
„Das will ich gern tun", sagte Karl.
Eva stand auf und ging ins Haus. Sie kehrte mit einer schöngeformten Kanne voll Landwein wieder, stellte Gläser im Kreise und schenkte jedem ein. Wir rückten näher zusammen. Karl begann.

 

VI. Die Kraft.

I.

In dem Notquartier einer baufälligen Baracke gebar eine Arbeiterfrau ihren ersten Sohn.
„Wie soll er heißen?" fragte der Mann.
„Kämpfhart. Denn er soll für das Proletariat kämpfen, Aber es wird ein harter Kampf sein."
Kämpfhart sah in seiner Kindheit nichts als Stube und Küche, Hof und Straße. Mit der Schulklasse kam er manchmal ins Freie. Da lernte er Wald und Flur kennen. Als er herangewachsen war, verließ er die Eltern und ging in die Fremde.
Mit 30 Jahren kehrte er heim. Das war zu der Zeit, da der Unternehmer Hagenthal Diktator in Deutschland war. Seine Hand lastete schwer auf der Arbeiterschaft.

Am ersten Abend, da Kämpfhart in seiner Heimat wieder Arbeit gefunden hatte, ging er im Strom von zehntausend Arbeitern aus der Fabrik. Das Brausen der Masse umfing ihn. Da sprach eine Stimme in seiner Brust: „Packe ihre Hände zu Hunderten, zu Tausenden, zu Millionen! Reiße sie fort, wie man Kinder fortreißt, in einer Richtung,
gleichviel in welcher! Erspare ihnen die Wahl! Erspare ihnen die Verantwortung! Erspare ihnen das harte Los des Mündigen. Dann führst du sie zum Erfolg des Tages. Du bist ihr Held, ihr König, ihr Abgott. Die Führer werden sich vor dir beugen. Die Massen werden dich auf die Schultern heben." Lauter aber sprach die andere Stimme: „An ihrer Unmündigkeit ist die Arbeiterschaft zerbrochen! Hart ist der Weg, Kämpfhart. Einsam wirst du sterben. Doch größer als Leid und Tod ist das Wort, dessen deine Brüder bedürfen, das Wort von den zwei Wegen, von der Wahl, von der Schuld, von der Empörung und von der Kraft."
Am andern Morgen, als sie in der Fabrik beim Frühstück saßen, sprach ein Kamerad zu ihm:
„Ich wohne mit meiner Frau und fünf Kindern in einer Stube. Die Kinder haben nur ein Bett. Was soll man da machen?"
„Kämpfe in den Reihen deiner Klassengenossen als Klassenkämpfer."
„Wenn du weiter nichts weißt!! Der Kampf ist aus. Hagenthal ist unser Herr. ,Klassenkampf — das ist die Ideologie der Vergangenheit!"
„So gehe hin! Iß Hagenthals Bettelsuppen! Ersaufe dein Leid in seinen Kinos und seinen Kneipen!"
„Das will ich tun!"
Ein junger Bursch kam zu Kämpfhart.
„Jetzt hab ich ausgelernt. Morgen fliege ich auf die Straße. Denn der Lehrling von 17 Jahren ist billiger als ich, und man presst aus ihm soviel heraus wie aus mir. Die Mutter daheim liegt krank. Sie kam in die Wochen und hatte nicht mehr die Kraft dazu. Wir sind unserer neun, Was soll ich tun?"
„Du musst kämpfen! Du musst jede Minute deines arbeitslosen Daseins nutzen, um dir die Waffen für den Klassenkampf zu schmieden."
„Ich wollte schon kämpfen. Aber die Arbeiterbewegung ist in zwei Lager gespalten, der eine sagt rechts, der andere
sagt links. Der eine sagt heute, der andere sagt morgen. Dieser Zwiespalt hat den Kampf zugrunde gerichtet."
„Er hat ihn nicht zugrunde gerichtet. Er hat die Arbeiterschaft gespalten, auf dass sie lerne, die Entscheidung des Mündigen zu treffen."
„Das verstehe ich nicht. Sage mir lieber, wo soll ich kämpfen? In die Organisationen mag ich nicht gehen. Dort regieren die Alten und die Festbesoldeten und die, die es werden wollen."
„Gehe hinein und kämpfe! Kämpfe in den Verbänden für deine Genossen aus der Fabrik und auf der Straße. Wenn aber die Alten und die Festbesoldeten und die, die es werden wollen, sich dir entgegenstellen, so kämpfe auch gegen sie!"

„Du führst sie in die Irre", sagte ein alter Arbeiter, der neben Kämpfhart an der Drehbank arbeitete. „Sie müssen als treue Glieder in die Verbände gehen — nicht als Spalter." „Spalter sollen sie nicht werden. Aber sie müssen wissen, dass der Weg in den Verbänden voller Fußangeln und Fallstricke ist. Sonst sind sie enttäuscht und brechen ab, kaum dass sie angefangen haben." „Warum greifst du die Festbesoldeten an?" „Sie tragen den kapitalistischen Geist in die Bewegung." „Es gibt ihrer viele, die rechtschaffen sind." „Das weiß ich. Es geht mir nicht um die Person. Unsere festbesoldeten Genossen sind nicht besser und nicht schlechter als wir alle. Das System steht zwischen uns und ihnen." „Was meinst du damit?"
„Weißt du nicht, dass das geistige Sein einer gesellschaftlichen Schicht unter dem Einfluss ihrer wirtschaftlichen Lebensbedingungen steht?!" „Ja, das hat uns Karl Marx gelehrt!" „Wirtschaftlich gesehen stehen die Festbesoldeten auf der Plattform des Kapitalismus." „Warum?"
„Das Kapital gewährt dem Bürger eine sichere Rente. Die
Arbeiterschaft ist der Gegenpol. Ihre einzige Sicherheit ist der Tod. Weil denn die Festbesoldeten auf der wirtschaftlichen Basis der sicheren Rente leben, so unterliegen sie auch dem Geist der sicheren Rente. Darum: Sie mögen so rechtschaffen sein, wie sie wollen — sie tragen den Geist des Kapitalismus in die Bewegung. Doch das Wort gilt nur von dem Ganzen der Klasse, nie von dem Einzelnen. Dass der einzelne sich über seine Klassenlage erheben kann — das hat Marx gelehrt."
„Sie werden dich vernichten."
„Das können sie nicht. Sie können mich nur totschlagen. Mögen sie es tun!"
„Du siehst es einseitig. Was die Festbesoldeten von ihren handarbeitenden Brüdern trennt, ist nicht nur die Festbesoldung. Sondern als leitende Genossen erfahren sie, dass die Politik nicht so einfach ist, wie der Prolet es sich denkt."
„Das ist richtig. Um so mehr müssen wir die Festbesoldung bekämpfen. Sie zerstört die Gemeinschaft zwischen Führer und Masse. Sie hindert, dass die Masse an die umfassendere Einsicht des Führers glaubt. Die Masse sieht nur seine gesicherte Existenz. Die Festbesoldung zerrüttet die Bereitschaft der Masse, vom Führer zu lernen."
Andere Arbeiter kamen zu ihm. Sie klagten ihm ihre Not. Doch er tröstete sie nicht. Sondern er verwies sie auf den Kampf. Bald kannte ihn das ganze Werk. Es bildeten sich zwei Parteien. Die sprachen, wie die beiden Arbeiter gesprochen hatten. Die einen sagten: „Der Kampf ist aus!" Das war die Mehrzahl. Die andern sagten: „Der Kampf ist nicht aus, aber er ist verwirrt."
„Aus der Verwirrung sollt ihr lernen", antwortete ihnen Kämpfhart. Aber sie verstanden ihn nicht.

Eines Abends, als er aus der Fabrik heimging, gesellte sich ein junges Weib zu ihm:
„Du forderst den Kampf, Kämpfhart. Aber gibt es einen Kampf ohne Hass? Und sollen wir hassen?"
„Ja! Wir sollen hassen! Wir sollen die kapitalistische
Ordnung der menschlichen Gesellschaft hassen. Wir sollen auch ihre Träger hassen." „Ich mag keinen Menschen hassen." „Wir sollen die Feinde auch nicht als Menschen hassen, sondern weil sie den Arbeiter ausbeuten. Als Menschen sind sie unsere Brüder. Wir müssen sie lieben und hassen zugleich."
„Das können wir nicht!"
„Doch! Das können wir. Das tun wir schon heute. Stellt sich der Kapitalist der Befreiung des Proletariats engegen, dann müssen wir ihn hinwegfegen — wenn nicht anders, so mit Gewalt. Fällt aber sein Kind vor unsern Augen ins Wasser — springt da nicht jeder Prolet hinzu und rettet es bei Gefahr seines eigenen Lebens?" „Ja, das tun wir."
„Also können wir lieben und hassen zugleich." „Das ist schwer!"
„Ja! Schwer ist es! Aber es ist das Kernstück. Immer beides zugleich: Den Hass und die Liebe, das Tief und das Hoch, das Schwarz und das Weiß — und doch kein Wirrwarr und auch kein Ausweichen."

*

„Der Mann muss raus!" sagte der Vorsitzende des Betriebsrates. „Er weckt den alten Kampfgeist. Wir hatten ihn glücklich eingelullt. Die Arbeiterschaft muss sich ducken und schweigen. Dafür bin ich da!" Kämpfhart bekam seine Papiere. Nun ging er stempeln. In dem großen Hof des Arbeitsnachweises lungerten die Arbeiter herum zu Dutzenden, zu Hunderten. Kämpfhart sprach zu ihnen, wie er in der Fabrik gesprochen hatte. Sie antworteten, wie sie in der Fabrik geantwortet hatten.
Doch einige waren, denen ließ Kämpfharts Rede keine Ruhe.
„Wir wollen wissen, was du eigentlich meinst", sagten sie.
„Wollt ihr noch kämpfen?"
„Ja!"
„So kommt, dass ich euch sage, was das Kernstück ist."
Es war am Abend. Er ging mit ihnen in eine Kneipe. Sie setzten sich in ein Hinterzimmer, wo sie allein waren. Da legten die Arbeiter die Arme breit auf den Tisch. „Nun rede!"
„Genossen! Klar ist das Ziel! Wir alle wollen das Reich der Freiheit, von dem Friedrich Engels spricht."
„Ja", sagte ein junger Bursch. „Da sollen die Fabriken und der Boden und die Eisenbahnen und die Banken nicht einigen wenigen gehören, sondern allen."
„Das wissen wir auch", sagte ein anderer. „Aber Marx hat uns zwei Wege gezeigt, die zu dem Reich der Freiheit führen: Den Endkampf und den Kampf auf dem Boden des Bestehenden. Und die Arbeiterschaft ist zwei Wege gegangen. So ist der Zwiespalt in unsere Bewegung gekommen!"
„Tue ich das eine, so verlasse ich das andere; tue ich das andere, so verlasse ich das eine", sagte ein dritter. „Daran ist die Bewegung gescheitert", ein vierter. Da sprach Kämpfhart mit starker Gebärde: „Genossen, so ist es. Das wissen wir alle. Nun aber ist der Augenblick erschienen, da diese Schwäche des Proletariats in Kraft verwandelt werden soll. Dazu ist die Schwäche gekommen. Sie weist den Weg in ein neues Land." „Wie das?"
„Sie weist uns in die Tiefen des Lebens, die immer da sind, die aber heute erst sich dem Arbeiter auftun." „Wie das?!!"
„Seht Ihr denn nicht, dass die Bewegung in ihrem heutigen Stande das Handeln des Mündigen von der Arbeiterklasse fordert? Vordem waren wir Unmündige und Knechte. Nun aber sollen wir Mündige werden." „Weshalb waren wir Unmündige?"
„In den Anfängen der Arbeiterbewegung trug die Klasse als Klasse keine Verantwortung für das Ganze. Sie wurde regiert. Sie stand abseits, wie das Stiefkind abseits steht. Man misshandelte sie, wie man ein Stiefkind misshandelt. Darum konnte sie zu allem, was die andern taten, nur ,nein'
sagen. Das ging bis zur Jahrhundertwende. Da begann das Neue sich zu regen wie das Kind im Mutterleibe. Der Krieg kam. Im August 1914 pochte zum ersten Mal die verantwortliche Entscheidung an das Tor des Proletariats. Das war die Wendung. Die gesellschaftliche Notwendigkeit schlug um in geistig-seelischen Kampf, die Dialektik der gesellschaftlichen Bewegung in die Dialektik des sittlichen Handelns. Sie traten in ein neues Stadium, wie das Kind, wenn es aus dem Mutterleib tritt. Sie erschraken. Eilends sagten sie ja. Hernach gereute es sie. Sie zitterten vor der verantwortlichen Entscheidung, wie jeder vor ihr zittert, wenn er sie zum ersten Male fällen muss. Da packt uns die Angst. Denn wir ahnen, dass wir schuldig werden. So oder so — wir handeln unrecht.
Die Revolution trieb die Entwicklung weiter. Schärfer und immerwährend ward der Konflikt, wirrer der Kampf des Proletariats. Denn die Revolution, und was auf sie folgte, brachte das besondere gesellschaftliche Kräfteverhältnis jener Tage hart zum Ausdruck. Hie die Macht des Kapitals, hie die Macht der Arbeit. Alles halb und halb. In dieser gesellschaftlichen Lage trat die Zwiespältigkeit alles Handelns stärker hervor denn je. Sie ward die Signatur der Zeit. Sie gab der Epoche das Gepräge. An ihr zerbrach das Proletariat. Es vermochte nicht das Sowohl—Als auch zu fassen. Die einen wollten den Endkampf, die andern den Erfolg des Tages. Darum wurde die Verwirrung noch größer, als sie 1914 gewesen war. In dieser Verwirrung hat Hagenthal gesiegt. Aber sein Sieg kann nicht von Dauer sein. Denn der Arbeiter ist nicht ein toter Hund. Er kämpft jeden Tag seinen Existenzkampf von neuem. Darum wird er auch den Kampf des mündigen Menschen aufnehmen." „Erzähle uns von diesem Kampf!"
„Die Erkenntnis von der Zwiespältigkeit alles Handelns empört den Menschen. Das ist das erste Stadium. In dieser Empörung stößt der Mensch zum ersten Mal auf die unzerspaltene Tiefe des Lebens. Er sucht, er fordert sie, auch wenn er nichts empfindet, als den Zorn über die Zwiespältigkeit.
Denn er will ihr Gegenteil! Darum ist die Empörung der Anfang. Wir fluchen der unbekannten Macht, die uns den Stachel des Zwiespalts gegeben hat."
„Wer aber wird uns aus dieser Wirrnis befreien?"
„Befreiung wird kommen aus jenem Willen, der den Stachel dem Menschen gegeben hat, dass er Mann werde und nicht Kind bleibe. Denn die Kinder wissen nicht, was Schuld ist. Der Befreite aber, dessen Stachel gelöst ist, wird von dem Unschuldigen soviel verschieden sein, wie der Mann vom Kinde. Das Kind ist froher. Aber der Mann kennt die Höhen und Tiefen des Lebens."
„Wir verstehen dich nur halb. Erkläre es uns genauer! Wie werden wir von dem Stachel befreit?"
„Das erklärt man nicht. Das gewinnt nur im Symbol Gestalt. Noch haben wir deren keine. Ist erst zu vollem Durchbruch gekommen, was wir heute nur dunkel erleben, dann wird es auch seine Form gewinnen. Aber man scheue das Wort. Schweigen ist wesentlicher als Worte! Hat uns doch Marx unwiderruflich gelehrt: Jedes Zeitalter hat seine Worte, und alle Worte sind vergänglich. Wer Marx versteht, der ist für immer von aller Gläubigkeit an den Wortlaut befreit. Aber es verstehen ihn nur wenige. Am wenigsten die, welche aus seinen Worten einen Katechismus machen! Nur das eine vermag ich zu sagen: Unser Weg aus dem Zwiespalt zur neuen, reiferen Einheit, aus der Schwäche zur Kraft, aus der Enge zur Fülle des Unendlichen wird nicht Reue, Buße und Zerknirschung sein. Es wird ein Erlebnis der Kraft sein, nicht der Schwäche. Es wird ein Erlebnis der überschwenglichen Liebe sein. Wir werden vor der unbekannten Macht des Lebens unrecht haben wollen, wie man vor dem geliebtesten Menschen nicht recht, sondern mit Freuden unrecht hat. Wir werden ihr unser ,Recht' zu Füßen legen, wie man dem geliebtesten Menschen sein Recht zu Füßen legt. Und das Bewusstsein, immer unrecht zu handeln, wie wir auch handeln, wird zum Wegweiser des Irrenden werden, zur höchsten Freude des Irrenden und zur
unzerstörbaren Kraft des Irrenden, den ein gütiger Wille wollte und werden ließ und trägt." Da versanken sie in tiefes Sinnen. Dann sprachen sie: „Kämpfhart, deine Worte klingen fremd für den Proleten. Aber wir wollen es bedenken, was du das Kernstück nennst, und dich weiter fragen."

Schon am andern Tage, als er durch die Straße ging, hielt ihn einer fest: „Laß uns zusammengehen! Ich muss mit dir reden." Und sie gingen zusammen. Der Arbeiter sprach: „Du sagst: Man scheue das Wort. Wie aber sollen wir das Erlebnis der Kraft verkündigen, wenn wir die Worte meiden?"
„Wir werden es in unsern Häusern, unsern Brücken und Bahnhöfen aussprechen. Wir werden es in unserer Musik erklingen lassen. Unser Essen und Trinken wird es verkörpern. Unsere Kleidung wird es versinnlichen. Im Wirbel unseres Tanzes und in der Würde unseres Schreitens wird es leben. Es wird in unseren Flugzeugen rauschen, in unsern Maschinen surren. Forst und Flur werden danach geformt werden. Unsere Wissenschaft wird in diesem Zeichen stehen. Das Verhältnis von Mann und Weib, von Vater und Sohn, von Freund zu Freund, von Staat und Einzelmensch wird daran Gestalt gewinnen." Der andere sprach:
„Alles, was du da nennst: Häuser, Brücken, Bahnhöfe — das hat alles sein eigenes Wesen und muss sein eigenes Wesen haben. Wie soll es aus dem Erlebnis der Kraft gestaltet werden?"
Kämpfhart antwortete:
„Wenn der Holzarbeiter auf der Werft kostbare Täfelungen in den Luxusdampfer einbaut, so hat seine Tischlerarbeit ihr eigenes Gesetz. Er muss es kennen. Es ist bedingt durch das Wesen des Holzes, der Werkzeuge und durch den Zweck der Täfelung als Teil des Dampfers. Aber die Täfelung ist nicht nur das sinnlich-sichtbare Produkt der Holzarbeit. Sie hat noch ein anderes Wesen. Sie spricht, sie be-
kennt. Sie legt davon Zeugnis ab, dass einige wenige genießen und alle anderen ausgebeutet werden. Sie ist der Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die weder Freiheit, noch Gleichheit, noch Gerechtigkeit kennt. Damit ist sie bezogen auf das Unbedingte, das mannigfaltig erscheint. Dem Arbeiter aber offenbart es sich nicht im feurigen Busch, oder in der Regenwolke, sondern in der Forderung seines Gewissens nach Freiheit, nach Gerechtigkeit, nach Solidarität. So hat jedes Ding einmal sein eigenes Wesen, das in Bedingtheit sich erfüllt. Dieses eigene Wesen genau kennen zu lernen, es rein zur Auswirkung zu bringen — das war der Sinn des kapitalistischen Weltalters. Als unvergängliches Erbe haben sie uns das Wissen und Können davon hinterlassen. Doch jedes Ding hat nicht nur sein eigenes bedingtes Wesen. Es ist zugleich unaufhebbar auf das Unbedingte bezogen."
„Wie das?"
„Dreifach ist die Weise. Es kann tot sein für das Erlebnis der Kraft. Dann ist es auch in sich tot. Es kann ihm feindlich sein; es kann versöhnt in ihm ruhen. Der Kapitalismus, der den Luxusdampfer baut, ist für das Erlebnis der Kraft gestorben. Mit der Empörung stehen wir heute in der Feindschaft. Aber unser Weg wird von Feindschaft zu Versöhnung führen. Doch die Versöhnung ist kein Ausruhen. Auch sie ist Kampf, aber Kampf auf einer anderen Ebene. Sie ist der Weg aus der Nähe zur Ferne und aus der Ferne zur Nähe — von Leid zu Freud und von Freud zu Leid. Und der Rhythmus dieser Bewegung wird stärker schwingen als alles, was die Menschheit jemals erlebt hat. Es wird die Geschichte der Menschheit sein, indes alles Frühere nur ihre Vorgeschichte war."
„Lehrst du das Jenseits?" fragte ein anderer. „Welches Jenseits meinst du?"
Er sann ein wenig nach. Dann sagte er: „Das Jenseits des Todes?"
„Von ihm weiß ich nichts."
„Oder das Jenseits des Himmels?"
„Von ihm weiß ich auch nichts."
„Trotzdem! Wer an das Unbedingte glaubt, der sieht das Leben irgendwie doppelt."
„Du hast recht und unrecht zugleich. Du hast recht, wenn du sagst: Das Unbedingte ist anders als alles andere. Es hat sein eigenes Wesen. Aber zugleich ist es in allem andern als der Grund, der alles trägt, als der Rand, der alles umfängt, als der Odem, der alles durchdringt. Und wenn wir es also fühlen, in allem, was da ist — — mögen wir dann den Namen vergessen, und die Worte und die Formen und das Diesseits und das Jenseits — — — — — — Denn es ist
das Schweigen."
Doch der andere sah zweifelnd zu ihm auf. Da sprach Kämpfhart:
„Muss ich es denn mit dürren Worten sagen? An das Jenseits, wie die alte Zeit es sich dachte, glaube ich nicht. Das Jenseits erfüllt sich für unser Lebensgefühl im Diesseits. Das Unbedingte im Bedingten."

Wiederum sprach ein Arbeiter zu ihm:
„Was du lehrst, ist ein Glaube. Wir aber haben allen Glauben abgetan. Die Arbeiterschaft hat ihn von jeher verflucht!"
„Du irrst! Sie hat nur die Rute begeifert, mit der die andern sie schlugen. Eingehüllt in das Unbedingte, lebte sie noch in dem Zustand der Unschuld. Treu und kindlich glaubte sie an ein heiliges Walten, das eines Tages Unrecht in Recht verwandeln werde, an ein seliges Reich auf Erden, wie es die Menschheit von jeher getan hat, an das Wunder
der Erlösung—"
„Du redest irre!"
„Nein. Ich nenne es nur mit anderem Namen, als sie es nannten. Was tun die Worte? Die Arbeiterschaft sprach von Endreich, klassenloser Gesellschaft. Andere Zeitalter nannten es das tausendjährige Reich, oder das Reich der Vernunft, oder das Reich des ewigen Friedens. Die Arbeiterschaft glaubte an das Wunder von dem neuen Menschen — andere nannten es Erlösung. Sie glaubte an das Gesetz des gesellschaftlichen Lebens, dem der menschliche Wille nicht widerstreben solle — andere nannten es: Gott und Sünde -----------------------------Was tun die Worte? Alle Worte sind nur ein Stammeln. Alle Worte sind vergänglich. Sie sollen uns nicht trennen. Wenn wir nur danach leben!"
„Ich verstehe dich nicht. Unser Ziel war immer ein politisches."
„Das war es nur halb. Noch lebte Glaube und Politik ungeschieden in der Seele des Proleten. Das war seine Kindheit. Doch die Zeit forderte mehr, denn die Einheit des Primitiven. Darum war die Politik des Proletariats unkräftig und sein Glaube unkräftig. Die Politik war verkrüppelter Glaube, und der Glaube war verkrüppelte Politik. Jetzt ist die Stunde da, wo beides sich in seiner Seele scheidet. Glaube wird ihm nicht mehr nur Gerechtigkeit der menschlichen Gesellschaftsordnung sein. Sondern Wahl, Schuld, Fluch, Befreiung. Politik wird ihm das Handeln des Gebietsherrschaftsverbandes sein, welcher das Zusammenleben der Menschen regelt. Hier hat der Glaube nichts zu suchen. Er wird sie begreifen lernen als eine Sphäre für sich. Er wird sie meistern lernen aus ihren eigenen Gesetzen. Aber sie wird ihm kein losgelöster Bezirk für sich sein. Sie wird hineinreichen in die Tiefen des Unbedingten, in denen alles bedingte Leben ruht. Aus diesen Tiefen wird der Arbeiter die Kräfte ziehen, ohne die man in keiner Sphäre des endlichen Lebens stark handeln kann."

Ein Freidenker hörte ihr Gespräch. Es war in der Kaschemme. Da rief er zu allen, die herumsaßen:
„Seht den einfältigen Kerl da! Mir scheint, er glaubt noch an den lieben Gott!!" Da lachten sie alle, dass es schallte. Kämpfhart sprach:
„Nein! An den lieben Gott glaube ich nicht. Ich will euch etwas erzählen. Wollt Ihr zuhören?"
„Ja!" schrieen sie. „Erzähle!"
„Die kapitalistische Gesellschaft hat zwei Götzen. Der eine ist der wahre Herr der kapitalistischen Gesellschaft. Ihm opfern die Träger dieser Gesellschaft. Aber sie nennen ihn nicht. Sie hüten sich, seinen Namen auszusprechen. Das ist der Moloch, der seine eigenen Kinder frisst. Ihm bringt man die jungen Mädchen in den Fabriken und in den Kontoren dar. Er schwängert sie nicht. Aber er saugt ihnen das Blut aus den Adern und das Mark aus den Knochen. Ihm bringt man die tragenden und die nährenden Mütter dar. Er schlitzt ihnen nicht den Leib auf, wie es in alten grausen Zeiten geschah. Aber er lässt ihre Frucht verkümmern und ihre Brüste verdorren. Ihm bringt man die Jünglinge und Männer dar. Er streckt sie nicht mit dem Schwert nieder. Aber er schwächt sie, dass sie vorzeitig grau werden und alt und siech. Ihm bringt man die Helden des Proletariats dar. Er kämpft nicht mit ihnen, wie die Götter der Sage es taten. Aber er lässt sie durch die ,Laufbahn' gehen und bricht ihnen das Rückgrat Stück um Stück, das sie zuletzt sich ringeln wie geschmeidige Schlangen und kein Kampfeszorn und kein Mannesmut mehr in ihren Adern ist. Kennt ihr diesen Moloch, Genossen?"
„Wir kennen ihn!!"
„Nun hört vom zweiten Götzen des Kapitalismus. Man lehrte ihn uns in den Schulen. Er ist ein guter alter Vater."
Die Arbeiter lachten. „Den kennen wir auch!! Es ist der liebe Gott!! Er ist der alte Großpapa mit dem langen Bart. Er lässt regnen und die Sonne scheinen. Er lobt die Guten und straft die Schlechten. Der Obrigkeit borgt er seinen Rohrstock. Und zum Proleten sagt er: ,Sei geduldig, mein Sohn! Ertrage alles, was man dir auferlegt! Dann kommst du in den Himmel!'"
Da lachten die Arbeiter noch mehr und einer von ihnen schrie: „Diese Religion ist das Opium der Völker!"
„So ist es, Genossen!"
„Und diesen andern Götzen des Kapitalismus — den lieben Gott — den schweigt man nicht tot. Man baut ihm Kirchen und Häuser. Man hält ihm viele Diener. Der Kapitalismus sorgt dafür, dass sie ausreichend bezahlt werden. Denn sie bringen dem Volke das Opium dieses Götzendienstes, damit es den Klassenkampf vergesse. Sie leben von seinem Verkauf. Sie sind Opiumhändler. Stürzen müssen wir diese beiden Götzen, Genossen!"
Da wurden sie kleinlaut. Und einige begannen zu weinen wie Kinder.
„Wir stürzen sie nicht mehr, Kämpfhart. Über uns ist Hagenthal. Der schützt sie."

Als er gegessen hatte und die Kaschemme verließ, gesellte sich ein Intellektueller zu ihm. Er war zwischen den Arbeitern gewesen, als Kämpfhart zu ihnen von dem Kernstück seines Glaubens gesprochen hatte. Jetzt sagte er:
„Kämpfhart, du verfälscht Karl Marx!"
„Lehrt uns nicht Marx die zwei Wege: den großen entscheidenden Kampf und den kleinen Krieg auf dem Boden des Bestehenden?"
„Das tut er. Das ist die Dialektik des gesellschaftlichen Lebens. Du aber machst eine Dialektik der sittlichen Entscheidung daraus."
„Das ist richtig."
„Also verfälschst du Karl Marx."
„Nein! Ich habe es klar und eindeutig gesagt: Die gesellschaftliche Notwendigkeit schlägt um in geistig-sittlichen Kampf."
„Doch du gibst der geistig-sittlichen Entscheidung ein Gewicht, das sie bei Marx nicht hat. Marx hat die Eigenständigkeit des Geistigen geleugnet."
„Auch das ist richtig. Ich gebe der geistig-sittlichen Entscheidung ein Gewicht, das sie bei Marx nicht hat. Darin trenne ich mich von Marx. Du neunmal Weiser! Meinst du, Marx habe ein unwandelbares Evangelium für alle Zeiten geben wollen? Was er wollte war, den Arbeiter für den Kampf aktivieren. Das konnte er zu seiner Zeit nur mit einer Lehre von der Dialektik der gesellschaftlichen Bewegung. Heute muss es mit einer Lehre von der Dialektik
beider, der gesellschaftlichen Bewegung, wie des sittlichen Handelns, geschehen. Die Klugen aber und Gelehrten werden diese Lehre am wenigsten begreifen!"

Auch der alte Mann von der Drehbank kam wieder zu Kämpfhart. Tief gefurcht war sein Gesicht von der Not seiner Genossen und dem Grübeln nach einem Ausweg.
„Zwei Linien und mehr gibt es bei allem Handeln. So lehrst du, Kämpfhart, nicht wahr?" sprach er. „Nun aber sage mir, woher sollen wir wissen, welches die Leitlinie sei, der die andern sich beiordnen?"
Kämpfhart sprach:
„Ein Arbeiter hatte jahrelang im Akkord das gleiche Tempo gearbeitet wie alle seine Kameraden. Da erkrankte seine Frau. Ein Kind ward siech, ein anderes stürzte und brach das Bein. Er hatte viele Ausgaben.
,Du musst mehr Geld nach Haus bringen' sagte die Frau.
,Wie soll ich das machen?'
,Du musst deine Akkordleistung steigern.'
,Frau!! Du weißt nicht, was du sagst!! Das ist gegen die Solidarität!!'
,Solidarität hin, Solidarität her! Wir leiden Not. Du musst an deine Familie denken.'
,Das tue ich auch. Aber wenn das Interesse der Familie gegen das Interesse der Klasse steht, so geht das Interesse der Klasse vor!'
Die Frau murrte. ,Du bist ein Dummkopf!'
,Nein, Frau, ich bin kein Dummkopf. Ich bin klüger, als du meinst. Denn es würde mir nicht einmal viel nützen, wenn ich die Akkordleistung steigerte. Der Unternehmer würde es bald gewahr werden und den Tariflohn herabsetzen.'
Verstehst du das Beispiel? Die Solidarität — das war die Entscheidung aus der Tiefe des Gefühls. Man kann sie nicht wie ein Rechenexempel ausrechnen. Sie ist da, oder sie ist nicht da! Der Mann hatte sie, die Frau nicht. Was aber war der andere Beweggrund, der ihn bestimmte?"
„Er kannte die Praxis des Unternehmertums und wusste, welche Folgen sein Handeln haben werde."
„Das ist das andere: Die Kenntnis des Sondergebietes, um das es sich handelt. Darum ist zweierlei nötig, um zu wissen, was die Leitlinie ist: Die Grundentscheidung aus der Tiefe des Gefühls und die Sonderentscheidung aus der Kenntnis des Sondergebietes. Hast du die Grundentscheidung nicht, so wirst du die Leitlinie niemals finden, und wenn du den Stein der Weisen entdeckt hättest. Hast du die Kenntnis des Sondergebietes nicht, so bleibst du ein Pfuscher."

Es war auch unter seinen Anhängern ein junger Arbeiter, klein von Gestalt, doch mit hoher Stirn und tiefen Augen, Er kam aus dem Bürgertum. Der lud ihn zu sich ein. Als sie in dem ärmlichen Zimmer saßen, da sprach er zu Kämpfhart:
„Wie wagst du, sie in dem Wort zu bestätigen ,Wie wir handeln, wir handeln unrecht'? Damit hebst du das rechte Handeln auf. Es gibt einen Unterschied von recht und unrecht. Wie kannst du den Proleten das Gefühl dafür nehmen wollen? Sie sind ohnehin verwirrt genug!"
„Ich nehme ihnen nicht das Gefühl für Recht und Unrecht. Aber deine Frage ist schwer. Sie führt uns in die Tiefen des Geistes, wo das Dunkle hell ist und das Helle dunkel, wo das Ja ein Nein ist und das Nein ein ja. Menschlicher Verstand vermag sie nicht zu durchdringen. Aber das Gefühl gibt uns Antwort. — — — — — — Es ist so: Dieselbe
Handlung kann recht und unrecht zugleich sein."
„Das verstehe ich nicht!"
„Mit dem Verstande verstehen können wir es nicht. Wir können es nur fühlen. Wer es nicht fühlt, dass unser bestes Handeln zugleich recht und unrecht ist, der wird es mit dem Verstande nie erjagen. Ich will dir ein Beispiel sagen:
Eine Witwe im vierten Stock einer Mietskaserne hatte fünf Kinder zu versorgen. Tag und Nacht plagte sie sich, um die Kinder zu ernähren. Die Nachbarin nebenan hatte auch eine große Kinderschar. Der Mann trank, die Frau
war siech, die Kinder verhungerten. Die Witwe half ihnen oftmals mit kleinen Diensten. Da kamen eines Tages die Kinder und bettelten um Brot. Die Frau wies sie ab. Sie umringten sie und weinten. Einen Augenblick schwankte die Witwe. Dann aber sprach sie fast zornig: ,Wir haben selbst nicht satt zu essen! Wie kann ich das Brot meiner Kinder mit euch teilen?' Weinend gingen die Kinder davon. Konnte die Frau anders handeln?"
„Nein!"
„Und doch — war nicht ihre Mutterliebe die Triebfeder, dass sie sich fremdem Leid verschloss?"
Der Mann sann eine Weile nach. Dann sagte er:
„Du magst recht haben! Aber du siehst, dass der Arbeiter es nicht zu ertragen vermag. Wenn der Mensch weiß, wie ich handle, so handle ich unrecht, dann handelt er am liebsten gar nicht."
„Der Mensch — ja! Der Mensch — das ist der Bürger und alles, was seines Geistes ist, mag es sich auch noch so radikal proletarisch gebärden. Diese Art braucht Sicherheit. Der Rentner, der sein Leben mit Zins und Zinseszins sichergestellt hat bis zu seinem Tode — er ist der Repräsentant dieser Klasse. Er will auch für sein Gewissen Sicherheit haben. Er zerbricht an dem Konflikt des Handelns. Das Bürgertum, das unsere Gesellschaft verantwortlich leiten sollte und nicht die Kraft hatte, zu handeln — es ist an diesem Wort zugrunde gegangen. Darum steht es heute unter der Diktatur. Der Arbeiter aber kämpft seinen Existenzkampf jeden Tag von neuem. In ihm wohnt noch die urwüchsige Kraft aus der letzten Tiefe. Sie bricht unter der Belastung nicht zusammen. Sie strafft sich unter ihr. Wenn der Starke weiß: Ich handle unrecht auf jeden Fall, wenn er zugleich sich mitsamt seinem Handeln in den waltenden Willen eingefügt weiß — dann handelt er mit einer Kraft, wie der Rechthaber sie niemals besitzt. Er ist fester als Granit und härter als Stahl."
„Bist du der Arbeiterklasse so sicher? Ist sie heute nicht auch zerbrochen?"
„Ich bin ihrer sicher! Ich muss ihrer sicher sein, denn es ist
die letzte Hoffnung, die wir haben! Freilich __ sie kann
auch zerschellen."
Und das ärmliche Zimmer ward ärmlicher unter diesen Worten.

Kämpfhart machte sich auf und verließ die Heimat. Er durchzog das Land. Er saß bei den Arbeitern in ihren Spelunken und sprach zu ihnen in ihren Versammlungen. Er fand sie schwach und mutlos. Die meisten sagten:
„Der Kampf ist aus. Man muss Hagenthal gehorchen." Doch allenthalben gab es etliche, die den Kampf nicht aufgegeben hatten. Nur fanden sie die Leitlinie nicht. An der Zwiespältigkeit des Handelns wollten sie verzweifeln. Mit ihnen setzte er sich zusammen und wies ihnen den Weg des mündigen Menschen. Mit der Jugend freute er sich. Er schritt mit ihr im Takt ihrer Tänze und im Rhythmus ihrer Fackelzüge. Die Mädchen liebten ihn, und die Kinder brachten ihm Blumen.
Die Versammlungsredner aber sprachen: „Wo bleibt unser Geschäft, wenn dieser sein Wesen so weiter treibt?"
Als Kämpfhart ihren Neid sah, sprach er zu seinen anhängern: „Hütet euch vor den Versammlungsrednern, die in bürgerlichen Kleidern einhergehen. Sie lassen sich mit Doktortiteln und andern Titeln von den Genossen anreden und sitzen an den Vorstandstischen. Sie fressen des Arbeiters Groschen und verdummen ihn durch einfältige Reden. Sie kennen den Zwiespalt nicht. Wo sie ihn aber kennen, da verschweigen sie ihn, damit der Lohnsklave unmündig bleibe."

In einer Nacht saß Kämpfhart allein auf der Bank in einem Park. Da gesellte sich ein Festbesoldeter zu ihm. Er schrieb für eine Zeitung. Er suchte Kämpfhart in der Nacht auf aus Furcht vor den Festbesoldeten und ihrem Anhang. Denn sie stellten Aufpasser aus und ließen alle aufschreiben, die zu ihm gingen. Der Schreiber sprach:
„Du lehrst die hohe Seligkeit des verantwortlichen Handelns. Doch es gibt ein Größeres." „Was meinst du?" „Die Liebe."
Kämpfhart schwieg lange. Dann sprach er: „Es war ein Mann, kraftvoll und schön. Alle Frauen liebten ihn. Und er umfing sie mit der Glut eines heißen Herzens und starker Sinne. Uferlos ging die Fülle seiner Liebe ins Weite. Selbst der Dirne dankte er. Doch zu gleicher Zeit war ihm die Würde der Ehe unaufhebbare innere Gewissheit. So war sein Leben ein steter, wirrer Kampf zwischen dem einen und dem andern. Wie er tat — er empfand es als Unrecht.
Wieder einmal hatte ein Weib ihn umworben. Er war ihr ausgewichen; er mochte sie nicht. Doch eines Abends siegte seine Begierde. Ekel erfüllt kehrte er heim, ein Empörer gegen die Macht, die ihn werden ließ. Er nahm seine Waffe und lud sie.
,Es muss sein', sprach er zu sich selbst. ,Der Zwiespalt muss ein Ende nehmen,'
Die Waffe in der Hand versank er in qualvolles Grübeln. Da trat ein alter Mann bei ihm ein, sein väterlicher Freund, der bis auf den Grund seines Wesens schaute. Er sah, was der andere vorhatte, und sein Herz wallte über vor Sorge und Liebe. Da brach der Verzweifelte zusammen; der starke Mann begann bitterlich zu weinen. Der Alte sprach: ,Hörst du nicht die Stimme der Liebe, die dich ruft?' ,Ich höre nur ihren Fluch!'
,Sie gab dir den Stachel, der dich peinigt, nicht als Fluch! Sie gab ihn dir, dass sich das Leben dir tiefer erschließe als dem, der immer ,recht' handelt.'
In unaussprechlicher väterlicher Güte legte er eine Hand auf die Schulter seines Freundes. Da war es, als ob ein heißer Strom durch die Seele des anderen flutete. Er fühlte eine Glut, nicht minder stark, als er sie für die Frauen empfand, aber anders gerichtet, anders getönt, hingewendet zu der unbekannten Macht, die ihn hatte werden lassen und
die ihn trug. Die qualvolle Seligkeit seiner Liebe zum Weibe widerstrebte nicht mehr der anderen unsichtbaren Liebe, die in anderen Rhythmen schwingt, in anderen Akkorden ertönt, auf anderer Ebene Qual und Seligkeit zu untrennbarer Einheit vereinend. Und er fluchte ihr nicht mehr. — Verstehst du nun, wenn ich sage:
Die Liebe ist inbegriffen in dem, was ich lehre. Denn nur dem wird das verantwortliche Handeln zur hohen Seligkeit, der sich in einer unendlichen Liebe geborgen weiß und mit unendlicher Liebe darauf antwortet.
Und wenn das Reich der Freiheit gekommen sein wird, wenn unsere Genossen aus Unmündigen und Knechten zu Mündigen geworden sein werden, dann wird diese Liebe alle Menschen zu Brüdern machen. Sie wird von allen Höhen leuchten wie die Feuer zur Sonnenwende."

II.

Danach war der erste Mai. Hagenthal hatte den Arbeitern einen Umzug gestattet. Er wusste, dass er ihre Führer nicht zu fürchten hatte, und es lag ihm daran, sich bei der Menge beliebt zu machen.
„Wir wollen den Umzug nicht versäumen", sprach Kämpfhart zu den Seinen. So machten sie sich auf und stießen zu einem der Haufen, die sich zum Umzuge sammelten. Der Haufe reihte sich ins Ganze ein. Als sie den Festplatz erreicht hatten, begann einer der Festbesoldeten am Lautsprecher zu reden. Er erzählte den Massen, was er sich daheim am Schreibpult zusammengeleimt hatte. Seine Worte klangen matt und schwach. Mit halbem Ohre hörten die Arbeiter zu. Ingrimmig stand Kämpfhart dabei. Die Rede war zu Ende. Die Arbeiter wollten auseinander gehen. Da sprang Kämpfhart auf einen Stuhl und begann zu den Umstehenden aus der Kraft seines Herzens reden. Hunderte sammelten sich um ihn und Tausende. Beifall rauschte auf. Er sprach weiter. Die Menge jauchzte. Zwei kräftige Burschen packten ihn und hoben ihn auf ihre Schulter. Jubel brach los.
Man entriss die roten Fahnen ihren Trägern und scharte sich um ihn. Im Triumphzug trugen sie ihm zum Lautsprecher. Die Festbesoldeten sahen voll Wut, was geschah. Aber sie wagten nicht, es zu hindern. Und Kämpfharts Rede erscholl über den weiten Raum. Er sprach zu ihnen von ihrer Schmach, von der Angst ihres Herzens, dass sie nicht zu handeln wagten, von der Mündigwerdung der Lohnsklaven, von dem Reich der Freiheit. Alles jubelte ihn zu. Wiederum hoben sie ihn auf die Schultern, um ihn allen zu zeigen, die da waren. Und die Alten wie die Jungen, die Frauen wie die Männer schrieen:
„Das ist der Diktator des Proletariats!"

Nach diesem Ereignis liefen Berichte beim obersten Rat der Arbeiterschaft ein. Die schilderten Kämpfharts Wirken und warnten vor ihm. Der Rat beschloss, darüber zu verhandeln. Er ließ genaue Erkundigung über Kämpfhart einziehen. Auch mischten sich zwei seiner Mitglieder unerkannt unter die Haufen, zu denen Kämpfhart sprach. Als sie nun zusammengekommen waren und die Berichte entgegennahmen, erhoben sich laute Anklagen gegen Kämpfhart.
„Er ist ein Frechling! Mit seinen Worten über die Festbesoldeten greift er uns unmittelbar an." „Er beschimpft uns."
Doch der Vorsitzende wehrte diese Angriffe ab. Er war ein starker, redlicher Mann, breitschultrig, mit klugen Augen. Seit mehr denn vierzig Jahren stand er in der Bewegung. Bei jedermann genoss er Vertrauen und Achtung.
„Mag er unsere Person angreifen, Genossen", sprach er. „Das darf uns nicht beirren. Auf seine Lehre kommt es an. Dass die Festbesoldung ein schlimmer Notbehelf ist, dass sie uns trennt von unseren handarbeitenden Brüdern, welche die Güter herstellen und alle Nackenschläge der Konjunktur tragen, indes wir die Güter verbrauchen und der Sorge um die Konjunktur enthoben sind, wer wollte das bezweifeln?" „Er greift unsere Person gar nicht an", sprach der Jüngste unter den Ratsmitgliedern. Er war bei Kämpfhart gewesen,
und sein Herz schlug ihm entgegen. „Sein Kampf gilt dem System, nicht der Person."
„Um so weniger dürfen wir ihn wegen dieser Angriffe verdammen."
Aber viele der Anwesenden murrten:
„Wo kommt die Disziplin der Bewegung hin, wenn wir dulden, dass Misstrauen gegen die Führer gesät wird?"
Doch der Vorsitzende sprach:
„Es ist an uns, Genossen, uns das Vertrauen der Massen durch unsere Tat zu verdienen und zu erhalten. Dann fallen ungerechte Angriffe von selbst zu Boden. Gerechte Angriffe aber wollen wir nicht abwürgen, gleichviel ob sie dem System oder der Person gelten. Sie sind die Triebkraft der Bewegung." Da schwiegen sie widerwillig.
Neue Angreifer traten auf. „Er steckt in veralteten anschauungen. Er glaubt an metaphysische Dinge. Mit seinem Unsinn verwirrt er die Köpfe der Arbeiterschaft."
Der Vorsitzende fragte:
„Was versteht ihr unter metaphysischen Dingen?"
Alsbald erhob sich ein Disput darüber, was das Wort bedeute. Es zeigte sich, dass jeder darunter etwas anderes verstand. Da schnitt ihnen der Vorsitzende die Rede ab.
„Ihr seht, wir kommen nicht zum Ziel, Genossen. Diese Dinge sind für uns selbst unklar. Lassen wir metaphysische Fragen Privatsache sein."
Da schwiegen sie wiederum, doch ihr Widerwille war noch größer geworden. Der Jüngste unter den Mitgliedern aber sprach mit Spott:
„Wenn der Glaube an ,metaphysische Dinge' solche Kräfte auslöst — Genossen — dann möchte ich im Interesse der Bewegung wünschen, dass wir alle an ,metaphysische Dinge' glaubten!"
Eine dritte Anklage wurde laut: „Seine Lehre ist unerträglich für das Proletariat. Er bestärkt sie in dem Wahn von den zwei Wegen. Ja, er fordert von ihnen die verantwortliche Entscheidung, welcher Weg der richtige sei!"
Gelächter erscholl.
„Und vollends wirr macht er sie mit der Lehre, dass sie, wie sie auch wählen, unrecht wählen."
Da ward der Vorsitzende sehr ernst. „Das darf nicht geschehen! Der Prolet hat einen einfachen Sinn. Er muss eine klare Linie sehen. Er muss handeln im festen Vertrauen darauf, dass er recht handelt!"
Alsbald sprang der Jüngste unter den Ratsmitgliedern auf: „Ihr entstellt seine Worte. Ihr versteht ihn nicht. Er hebt nicht das entschlossene Handeln auf. Im Gegenteil! Er stellt es nur unter eine schwerere Verantwortung, als der Arbeiter sie trug, solange er Lohnsklave war. Wer nur einmal den Sinn seiner Lehre erfasst hat, der wird klarer und fester handeln, als irgendein anderer."
Und er versuchte, ihnen Kämpfharts Lehre auseinanderzulegen. Doch sie unterbrachen ihn mit vielen Zwischenrufen und entstellten den Sinn seiner Worte. Der Vorsitzende hörte dem Streit aufmerksam zu. Als er aber sah, dass der Verteidiger Kämpfharts zugeben musste, er verlange vom Proleten die Erkenntnis von den zwei Wegen — da schlossen sich seine Lippen hart zusammen. Er hatte als junger Arbeiter den Weltkrieg miterlebt. Er hatte alle Kämpfe, die ihm folgten, mit durchgekämpft. Unverbrüchlich hatte sich in ihm die Meinung verfestigt, dass es für den Arbeiter nicht tragbar sei, beides zu sehen, den Endkampf und den Kampf auf dem Boden der bestehenden Ordnung, dass man ihm in diesen und in allen Dingen die Wahl und die verantwortliche Entscheidung aus der Hand nehmen müsse. Darum sagte er, als der andere geendigt:
„Genossen! Zwiespalt darf nicht in die Bewegung getragen werden! Wenn Kämpfharts Verteidiger selbst zugibt, dass er den Proleten in der Irrlehre von den zwei Wegen bestärkt — dann ist in unserer Bewegung kein Raum für Kämpfhart."
Alle, auch die. Wackersten unter den Männern und Frauen des Rates, stimmten dieser Rede zu. Denn sie alle kannten, wie der Vorsitzende, die Arbeiterschaft dieser Tage nicht mehr. Ihr Urteil ging zurück auf' jene Zeiten
nach dem Weltkrieg, da der Arbeiter zuerst versuchte, aus selbstverantwortlicher Entscheidung zu handeln und es nicht vermochte. Darum war es ihnen allen oberstes Gesetz, dass der Arbeiter nur einen Weg sehen könnte. Von der Sehnsucht der Besten, aus Lohnsklaven, denen man befiehlt, Mündige zu werden, die unter eigner Verantwortung die Wahl vollziehen, wussten sie nichts.
Noch einmal sprang der Jüngste unter den Ratsmitgliedern auf: „Wenn für solche Erkenntnis kein Raum in der Bewegung ist, dann wird die Arbeiterschaft niemals die Herrschaft gewinnen. Nur der Lohnsklave gehorcht ohne Wahl. Eine Klasse aber, die herrschen will, muss zur verantwortlichen Entscheidung fähig sein."
Doch der Vorsitzende hatte seine Entscheidung getroffen. Als sie nun abstimmten, ward beschlossen, Kämpfharts Lehre nicht aufkommen zu lassen.
„Seiner Person aber wollen wir nichts anhaben", sagte der Vorsitzende mit Nachdruck. Da lächelten sich die beiden ärgsten Feinde Kämpfharts stillschweigend zu. Das jüngste Ratsmitglied aber legte sein Amt nieder und ging zu Kämpfhart.

Seit dieser Sitzung trachteten seine Feinde im Rat danach, wie sie ihn beseitigten. Sie hatten aber nicht die Macht, das offen zu tun, weil das Land unter der Herrschaft des kapitalistischen Diktators war. Darum begannen sie Material gegen Kämpfhart zu sammeln.
Sie brachten Zeugen bei, die am 1. Mai Kämpfharts Rede gehört hatten und bereit waren, zu beschwören, er habe sich zum proletarischen Diktator ausrufen lassen. Auch Briefe von Kämpfhart trieben sie auf, in denen von dem neuen Reich die Rede war. Als die Festbesoldeten genug Material in Händen hatten, tauchten Andeutungen in ihren Zeitungen auf über die Gefahr eines Putsches gegen die Unternehmerschaft. Die Regierung wurde aufmerksam. Sie verlangte Auskunft. Da überlieferte man ihr das Material. Das war am Mittag,
Am Abend dieses Tages ging Kämpfhart mit seinen nächsten Genossen hinab zum Hafen. Schwarz lag das Wasser vor ihnen. Lange schaute er hinaus. Dann wandte er sich wieder den Seinen zu. Angst stand in ihren Augen. Da wusste er, dass sie ihn im Stich lassen würden. Langsam gingen sie am Wasser weiter bis zu dem Brückenbogen, wo sie oft übernachtet hatten. Ein Polizist streifte vorbei und musterte sie scharf. Dann legten sie sich alle nieder. Kämpfhart aber schlief nicht. Das Grauen des Todes legte sich auf seine Seele. Da gedachte er des Proletariats. Und aller Kampf wich aus seinem Herzen.
Schwere Tritte wurden laut. Von rechts und links nahte je ein Trupp bewaffneter Polizisten. Als das seine Genossen wahrnahmen, flohen sie davon. Und die Polizisten verhafteten Kämpfhart.

Doch die Regierung zögerte, Kämpfhart den Prozess zu machen. Sie war auf Volksgunst bedacht und war nicht sicher, ob eine Aburteilung Kämpfharts nicht böses Blut machen werde. Nun war am Jahrestage der Aufrichtung der Diktatur eine Amnestie für zehn politische Verbrecher verkündet worden. Ihrer neun waren schon ausgesucht. Nur der letzte musste noch bestimmt werden. Da erschien in dem Blatt der Regierung ein Artikel mit der Überschrift: Kämpfhart oder Werner? Werner war ein völkischer Mordbube. Er hatte mehrere Menschen umgebracht. Fünf Stunden später brachte die Arbeiterpresse die Antwort: Werner.
Trotzdem beschloss die Regierung, die den Hass der Festbesoldeten gegen Kämpfhart kannte, die Stimmung der Massen zu prüfen, ehe sie ihre Entscheidung traf. Sie gab den Festbesoldeten der Arbeiterschaft einen Wink, dass sie eine Kundgebung veranstalten sollten. Da beriefen sie eine große Versammlung in der Stadt, wo Kämpfhart am 1. Mai auf die Schultern gehoben worden war. Der Saal war bis zum letzten Platz besetzt. Redner traten auf. „Er hat unsere Bewegung verhöhnt, indem er sich den
Diktator des Proletariats nennen ließ", lautete die Anklage des ersten.
„Er hat die Arbeiterbewegung geschwächt, indem er das Vertrauen zu den Führern erschütterte", lautete die Anklage des zweiten.
„Er hat die Arbeiterschaft irregeleitet, indem er unmarxistische Reden führte", lautete die Anklage des dritten. Zornige Rufe wurden laut.
„Wir müssen zum Beschluss kommen", sagte der Vorsitzende. Eine Resolution wurde eingebracht. Sie lautete: Die am 15. Mai in Kellers Festsälen versammelte Arbeiterschaft spricht der Regierung die Erwartung aus, dass sie nicht den Aufrührer Kämpfhart, sondern den Gefangenen Werner begnadigen werde.
„Wer für die Resolution ist, der hebe die Hand", sagte der Vorsitzende. Alle Hände fuhren in die Höhe. „Die Gegenprobe." Niemand meldete sich.
Als die Regierung den Verlauf der Versammlung erfuhr, gab sie ihren Befehl. Eine Stunde später wurde Kämpfhart als Hochverräter erschossen.
Am Abend dieses Tages erhielt die Regierung ein Auslandstelegramm vom Vorsitzenden des Rates der Arbeiterschaft. Er bat darin, den Prozess Kämpfhart um eine Woche hinauszuschieben.
So endete Kämpfhart, der Führer des Proletariats. Doch sein Ende war der Anfang.