William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Erinnerungen eines amerikanischen Arbeiterführers

Erstes Kapitel
Kindheit unter den Mormonen

Mein Vater stammte aus einer alten amerikanischen Familie, so amerikanisch, dass sie wahrscheinlich auf die ersten weißen Ansiedler, die frömmlerischen Puritaner oder die Kavalier-Piraten, zurückverfolgt werden könnte. Weder auf die eine noch auf die andere Herkunft könnte ich stolz sein. Die Eltern meines Vaters, der in der Nähe von Columbus, Ohio, geboren wurde, übersiedelten später nach Fairfield im Staate Iowa. Der Bruder und die Vettern meines Vaters dienten als Soldaten im Bürgerkrieg und wurden entweder getötet oder verwundet. Schon als junger Bursche schlug sich mein Vater quer durch die Prärien nach dem Westen durch und wurde Reiter der Pony-Expresspost. Damals durchquerten noch keine Eisenbahnen den Kontinent, die Post wurde mit Pony-Expressstafetten befördert. Die Boten ritten in scharfem Tempo von Lager zu Lager, wo die Pferde gewechselt wurden, durch die Prärien, durch die Wüste und über die Berge von St. Jo, Missouri, nach San Franzisko an der pazifischen Küste. Meine Mutter, von schottisch-irischer Abstammung, wurde in Südafrika geboren, von wo ihre Familie später, nachdem sie ihren ganzen Besitz verkauft und alles aufgegeben hatte, auswanderte. Ihr Ziel war Kalifornien in Amerika. Damals drang der Goldrausch bis in die entlegensten Winkel der Erde. Leute, die keine Ahnung von den Kämpfen hatten, die ihnen bevorstanden, wanderten nach dem Westen aus. Am Kap der Guten Hoffnung schiffte sich die Familie ein. Es gab noch keine luxuriös eingerichteten Dampfer; monatelang währte die traurige, gefahrvolle Reise mit einem Segelschiff. Und mit der Landung im Hafen waren die Gefahren nicht zu Ende: es folgte die Eisenbahnfahrt über eine Strecke von 1800 Meilen und schließlich die lange Reise durch die Prärien und über die Berge im von Ochsen gezogenen Planwagen. Den Reisenden drohten ständig Unfälle, Krankheiten und Angriffe der Indianer, die die Notwehr zwang, dem Eindringen der Weißen Widerstand zu leisten.
Auf dem Wege durch die Prärien wurde eines Tages mein Onkel, damals noch ein kleiner Junge, vermisst. Die Familie wusste nicht, was ihm zugestoßen war. Vergeblich wurde der lange Wagenzug durchsucht. Er war weder in einem der Gefährte noch bei den Viehtreibern, die die Ochsen, Kühe und Esel führten. Der Zug konnte nicht länger halten, ebenso wenig konnte die Familie allein zurückbleiben, um die endlos weiten Prärien zu durchsuchen. Sie gab den Jungen verloren und fuhr voller Gram mit dem Zug weiter. Beim Abstieg durch den Emigrant-Canyon sah die Karawane das schöne Salzseetal vor sich und in seiner Mitte ausgebreitet das tote Meer, den Großen Salzsee. Rechts befand sich die neue Stadt Zion, die eine religiöse Sekte, die Mormonen, 1847 gegründet hatte. Hier verließ die Familie wegen Krankheit den Karrenzug. Außerdem wollte sie die Ankunft des folgenden Zuges abwarten, in der Hoffnung, dass der vermisste Junge gefunden worden wäre und man ihn mitbrächte. Schon bald nach der Ankunft der Familie in Zion sah meine Großmutter unvermutet ihren Sohn mit einem Korb voll Äpfel am Arm die Straße heraufkommen. Sie nahm ihn mitsamt seinen Äpfeln und brachte ihn heim zu seinen Schwestern. Er war schon ein oder zwei Wochen früher in der Stadt angekommen, da er mit dem vorhergehenden Wagenzug gefahren war.
Meine Großmutter eröffnete in Salt Lake City eine Pension. Mein Vater wohnte dort als Mieter und lernte so meine Mutter kennen. Er war damals noch sehr jung; bei der Heirat war er ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt, meine Mutter sogar erst fünfzehn Jahre. Ich wurde am 4. Februar 1869 geboren.
Ich habe fast keine Erinnerung an meinen Vater. Er starb, als ich vier Jahre alt war, an einer Lungenentzündung in Camp Floyd, dem heutigen Mercur. Salt Lake City liegt an einer Krümmung des Wahsatch-Gebirges. Im Osten steigen die Berge jäh hoch an, im Norden liegt der Ensign Peak. Nicht weit vom Gipfel entfernt gibt es eine kleine Höhle, der beliebte Schlupfwinkel aller abenteuerlustigen Jungen der Stadt Im Südwesten, in den Oquirrh-Bergen, liegt ein großer Teil des Reichtums des Staates Utah; dort liegen die Grubenorte Stockton, Ophir, Mercur und Bingham Canyon mit dem großen Kupferbergwerk von Utah. Im Westen, in unmittelbarer Nähe der Stadt, liegt der Große Salzsee, dessen Wasser so salzig ist, dass keine Tiere in ihm leben können.
Auf den Inseln im Großen Salzsee befinden sich Nester von unzähligen Tausenden Möwen, die in Utah besonders geschützt werden, weil sie während einer Heuschreckenplage dieses Ungeziefer zu Millionen vertilgten. Die Vögel verschlangen soviel Heuschrecken, wie sie aufnehmen konnten, spieen sie dann aus und verschlangen wieder neue. Auf diese Weise halfen die Möwen den Farmern, einen Teil ihrer Ernte zu retten, deren völliger Verlust für die Mormonen Hungersnot bedeutet hätte.
Durch das Salzseetal windet sich der Jordanfluss, und weiter im Norden liegen heiße Quellen. Die Großartigkeit der Szenerie und die Schönheit der Stadt selbst wird jedoch durch die schlechte Stimmung beeinträchtigt, die die Mormonenkirche geschaffen hat. Besonders in meiner Kinderzeit war es so, als noch das Massaker am Mountain Meadow im Jahre 1857, die Zerstörung der Aiken-Partei und die Drohungen der Mormonen gegen die „Abtrünnigen", eine andere Sekte, die Atmosphäre in Spannung hielten. Diese Drohungen ertönten mächtig von den Lippen Brigham Youngs, Hydes, Pratts und anderer Mormonen-Prediger. Natürlich machten sie auf mich nicht den Eindruck wie auf die älteren Leute, obgleich ich mich genau an einige Einzelheiten des Prozesses gegen John D. Lee erinnere. Er war ein Führer der Mormonen und der Indianer, die fast einhundertfünfzig Männer, Frauen und Kinder in Mountain Meadow getötet hatten. Das Massaker ereignete sich, nachdem Lee die Einwanderer überredet hatte, die Waffen auszuliefern. Lee selbst und andere Mormonen nährten einen bitteren Hass gerade gegen diese Einwanderer, die aus den Staaten Arkansas und Missouri kamen, wo der so genannte Mormonenprophet, Joseph Smith, und sein Bruder Hyrum im Gefängnis von Carthage, Missouri, ermordet worden waren. Ich erinnere mich noch eines Bildes, auf dem John D. Lee, auf seinem Sarge sitzend, dargestellt war, bevor er in Mountain Meadow hingerichtet wurde. Die Gesetze des Staates Utah bestimmten, dass ein Verurteilter wählen durfte, ob er durch die Kugel oder durch den Strang sterben wollte. John D. Lee wählte die Kugel. Man schaffte ihn von der Kreisstadt, in der er abgeurteilt worden war, zum Schauplatz seines Verbrechens, das zweifellos von anderen, mächtigeren Leuten angestiftet worden war. Zwischen dem Massaker und der Hinrichtung im Jahre 1877 waren zwanzig Jahre
vergangen.
Ungefähr zu dieser Zeit begegnete ich zum ersten Male Brigham Young, dem Präsidenten der Mormonenkirche, auf der Straße. Ich hatte ihn bisher nur im Tabernakel, dem großen Mormonentempel, gesehen und seine heftigen Reden gegen die Abtrünnigkeit gehört. Kurz danach starb er, wie es hieß, vom Genuss unreifen Korns; es liefen aber Gerüchte um, nach denen er sich vorsätzlich vergiftet hatte. Sollten diese Gerüchte wahr sein, so tat er es wahrscheinlich wegen der Verurteilung John D. Lees und weil die „Heiden", wie alle Nicht-Mormonen genannt wurden, forderten, dass auch Brigham Young wegen des Massakers zur Verantwortung gezogen werden müsse. Er war damals nämlich Gouverneur des Staates und Unterhändler der Vereinigten Staaten mit den Indianern. Die Mormonen pflegten vernünftigerweise freundschaftliche Beziehungen zu den Indianern zu unterhalten, und zweifellos waren sie es auch, die das Gemetzel eines anderen Zuges von Einwanderern verhinderten, der ungefähr zur selben Zeit durch das Gebiet zog.
Das Haus, in dem ich geboren wurde, hatte vier Wohnungen: zwei im unteren und zwei im oberen Stockwerk. Die interessantesten Bewohner waren die Familie, die über uns hauste, eine Witwe mit zwei erwachsenen Töchtern. Zur Zeit, von der ich erzähle, waren alle drei Frauen mit ein und demselben Mann verheiratet; eine Reihe von merkwürdigen Beziehungen war die Folge, so zum Beispiel, dass die Töchter Gattinnen ihres eigenen Stiefvaters waren. Vielweiberei war immer einer der religiösen Grundsätze der Mormonenkirche. Etwa vier Jahre nach dem Tode meines Vaters heiratete meine Mutter wieder, und wir übersiedelten nach der in einem Talkessel gelegenen Bergwerkstadt Ophir. Auf unserer Reise dorthin hielten wir uns in Garfield Point am Südende des Großen Salzsees auf, um Mittagbrot zu essen und die Pferde zu wechseln. Inzwischen lief ich ein wenig im Gebüsch umher. Plötzlich hörte ich meine Mutter und zwei andere Frauen, die vor dem Hause saßen, aufschreien. Vor mir sah ich ein hübsches kleines Tier mit schwarz und weiß gestreiftem Fell und großem, buschigem Schweif. Ich rief: „Ich fange es euch!" und lief ihm nach, ohne auf meine Mutter zu hören, die schrie: „Willie, komm her!" Ich warf einen Stock nach dem kleinen Ding. Da entlud das merkwürdige Tier sein Geschoss. Es traf mich nicht, worüber alle sehr froh waren, aber ich wurde fast krank von dem schrecklichen Gestank. So sah ich zum ersten Mal ein Stinktier. Zur Rechten des Canyons fielen die Berge schroff ab, von tiefen Schluchten durchzogen. Zur Linken lagen niedrige Hügel. Der Canyon erweiterte sich an der Stelle, wo die Stadt erbaut war, gerade genug, um für zwei oder drei Straßen Raum zu lassen.
Im ersten Winter wurde der Canyon unterhalb der Stadt von einer Lawine verschüttet. Es musste ein Tunnel gegraben werden, damit die Post durchfahren konnte und das Wasser einen Abfluss fand.
Eines Morgens war ich gerade auf dem Wege zur Schule, als ich Mannie Mills jenseits der Straße seinen Revolver ziehen und auf den Aalglatten Dick schießen sah, der kurz vor mir herging. Dick begann auch zu schießen; nach kurzem, aber heftigem Kugelwechsel brach Mills zusammen und fiel tot aufs Gesicht. Mehrere Leute rannten hinzu. Der Aalglatte Dick blies den Rauch aus dem Lauf seines Revolvers, steckte ihn in die Tasche und ging in ein nahe gelegenes Wirtshaus. Dies war das erste Mal, dass ich einer Schießerei beiwohnte. Es war nicht die einzige in Ophir, das als einer der wildesten Grubenorte im Westen galt. Bei einer späteren Gelegenheit sah ich zwei Mitglieder der Familie Turpin und einen anderen Mann tot auf dem Schauplatz einer Revolverschießerei liegen. Einmal ereignete sich in der Nacht eine Explosion in einem Flügel von Duke's Hotel. Am nächsten Morgen stand ich vor dem Laden von Lawrence, als eine Frau, die man die „alte Mutter" Bennet nannte, die Straße herunterkam und etwas wie „die ganze Stadt niederbrennen" murmelte. Darauf sprang ein Mann, der am Rande des Bürgersteiges gesessen hatte, auf sie zu und schlug sie ins Gesicht. Es war Johnny Duke, der Hotelbesitzer, selbst. Die Frau und ihr Mann hatten sich gerühmt, das Pulver gelegt zu haben. Nach dem Zwischenfall auf der Straße wurden beide verhaftet, und das Bürgerschutzkomitee (Anm.: Bürgersdrutzkomitee (Vigilance Commitee), ursprünglich Selbsthilfe-Organisationen der Farmer und Kolonisten gegen feindliche Indianer und Räuber im „Wilden Westen"; später typische Lynchmördertrupps. Die Red.) schleifte sie noch am selben Nachmittag den Canyon hinunter.
Beim Spiel in einem Stallgebäude entdeckten eines Tages zwei meiner Schulkameraden im Zimmer des Stallknechts unter dem Kopfkissen eine Pistole. Versehentlich zog Pete Bethel den Hahn und tötete Willie Duke. Ich vernahm den Schuss, lief in den Stall und fand Willie tot. Das Blut rann aus seinem Kopf, und der kleine Pete Bethel stand vor Schreck sprachlos an seiner Seite. Diese Gewalttaten und blutigen Szenen ereigneten sich, als ich sieben Jahre alt war. Nach den Erzählungen von den Massakern und Ermordungen in Salt Lake City kam mir das alles als etwas ganz Natürliches vor. Zu einem Ereignis wurde für mich die Ankunft einer holländischen Schuhmacherfamilie. Ein oder zwei Tage nach ihrem Einzug in die Stadt spielte ich unten am Bach
beim Hause des Schuhmachers, als ich ein kleines Mädchen im Schatten einer Weidengruppe sitzen sah. Ich ging hinüber und entdeckte, dass die Kleine sehr hübsch war, mit Wangen wie pralle rote Äpfel. Sie lächelte nur, als ich sie ansprach; darauf nahm ich ihre Hand, dann küsste ich sie, und auch das schien ihr zu gefallen. Jemand rief, wohl ihre Mutter. Das Mädchen riss sich los und lief nach Hause, lächelte mir aber noch einmal über die Schulter zu. Am Tage darauf suchte ich den Schauplatz meines kleinen Abenteuers wieder auf und fand „sie" wieder. Sie schöpfte gerade mit einem Eimer Wasser aus dem Bach. Leise trat ich näher und schlang meine Arme um sie, sie aber drehte sich um, zerkratzte mir das Gesicht, spuckte mich an und hob den Eimer, als ob sie ihn über mich ausschütten wollte. Ich konnte gar nicht verstehen, was in sie gefahren war, und rannte fort. Später entdeckte ich, dass es gar nicht sie selbst gewesen war, sondern ihre Zwillingsschwester.
Die meisten Jungen im Orte besaßen Schleudern, auch ich wollte mir eine anfertigen. Ich stand hinter unserem Haus und versuchte, mir eine Astgabel von einer Eiche zu schneiden, als das Messer ausglitt und mir ins Auge drang. Man schickte mich sofort zur ärztlichen Behandlung nach Salt Lake City, und ich musste nachher noch monatelang im dunklen Zimmer bleiben. Aber auf dem verletzten Auge konnte ich nicht mehr sehen. Die Schule war geschlossen, als ich nach Ophir zurückkehrte, und ich arbeitete zum ersten Mal in der Grube. Damals war ich erst etwas über neun Jahre alt und half meinem Stiefvater, der die Erzprüfungen in der Russischen Grube durchführte. Im nächsten Schuljahr unterrichtete mich Professor Foster, ein finster aussehender alter Mormone aus Tooele, mit magerem, langem Gesicht, grauem Schnurrbart und grauen Augen; aber er war ein ausgezeichneter Lehrer. Er führte mich in die Geschichte ein und lehrte mich Bücher mit Verstand lesen und zu deuten. Ich sah ihn niemals ein Kind schlagen. Kaum eine Woche verging ohne eine Rauferei mit dem einen oder anderen Jungen, der mich wegen meines blinden Auges „Schielauge" oder „Dick mit dem toten Auge" genannt hatte. Solche Kämpfe liebte ich. Nach diesem Schuljahr kehrte die Familie nach Salt Lake City zurück. Zion, wie die Mormonen die Stadt nannten, war ursprünglich zur Hauptstadt eines „Reiches der Mormonenkirche" bestimmt worden. Als in Kalifornien Gold entdeckt wurde, kamen die Einwanderer in Scharen auf ihrem Wege nach den Goldfeldern des Westens durch Utah. Einige blieben in Salt Lake City zurück, aber merkwürdigerweise schlossen sich trotz des allgemeinen Goldfiebers keine Mormonen der Jagd nach dem Mammon an, und keiner verließ seinen Wohnsitz. Die Bevölkerung war geteilt. Die Anhänger der Sekte der Mormonen waren vorherrschend; die übrigen wurden „Heiden" genannt, zu denen in Utah auch die Juden gezählt wurden. Die größten Geschäftsleute und alle Farmer waren Mormonen. Viele der größeren Unternehmungen, Fabriken und landwirtschaftlichen Betriebe waren Eigentum der Kirche. Sie unterhielt ferner ein Kirchenamt, eine Zeitung, „Desert News", und ein historisches Archiv. Die „Heiden" in diesem Gebiete waren Bergarbeiter, einige Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Politiker. Gegen die „Heiden" bestand eine heftige Abneigung, da die älteren Mormonen die erlittenen Gewalttaten nicht vergessen konnten: die Zerstörungen ihres Eigentums, die Ermordung ihrer Führer und schließlich ihre Vertreibung aus den Staaten, in denen sie gelebt hatten. Noch lebte in ihnen die Erinnerung an die Suche nach einer neuen Heimat, wo sie vor den Verfolgern ihrer
Sekte sicher sein konnten und in die ihre alten Feinde nun auch eingedrungen waren. Diese Erbitterung ist mit dem Heranwachsen der neuen Generation so ziemlich verschwunden, aber als ich ein Junge war, bestand sie noch in aller Heftigkeit.
Im nächsten Häuserblock lag die „Akademie der Schwestern zum heiligen Herzen"; zur Akademie gehörte noch ein kleines Gebäude, in dem einige kleine Jungen aus den umliegenden Grubenorten untergebracht waren und ihren ersten Unterricht erhielten. Auch einige Tagesschüler besuchten die Schule, in die ich gleichfalls aufgenommen wurde, obwohl ich kein Katholik war. Schwester Silvia, eine Nonne, war unsere Lehrerin. Während der Ferienzeit kam mein Onkel aus einem der nahe gelegenen Grubenorte zu uns auf Besuch. Eines Tages stieß er auf eine Zeitungsanzeige, durch die ein Junge für eine Farm gesucht wurde. Der Onkel besprach die Sache mit meiner Mutter, und das Ergebnis war, dass ich zu John Holden in die Lehre gegeben wurde. Ein halbes Jahr sollte ich für einen Dollar monatlich und Verpflegung als „Junge für alles" auf der Farm arbeiten. Ich hatte zwei Kühe zu melken, die Kälber zu füttern und den Stall zu reinigen; in der Hauptsache aber oblag mir die Führung eines Ochsengespanns. Als ich eines Tages beim Eggen auf dem Feld war, hob ein Zahn der Egge ein Nest von Feldmäusen aus. Es waren merkwürdige kleine Dinger. Ich hatte niemals etwas Ähnliches gesehen und bückte mich nieder, um sie genauer zu betrachten. Sie waren rötlich und am ganzen Körper unbehaart; die Augen hielten sie geschlossen. Ihr Nest war ein sauberes kleines Häuschen, ganz ausgefüttert mit einer Art Wolle. Ich mochte sie wohl ein paar Minuten betrachtet haben, als ich plötzlich einen scharfen Peitschenhieb über den Leib bekam. Holden, der ein
Stück weiter gepflügt hatte, war quer über das Feld gekommen, hatte den Ochsenziemer, der mir entglitten war, aufgehoben und schlug mich, ohne ein Wort zu sagen. Ich sprang auf und lief geradewegs ins Haus, suchte meine paar Habseligkeiten zusammen, packte sie in ein Bündel und machte mich auf den Heimweg zu meiner Mutter. Aus einiger Entfernung rief ich Holden noch zu: „Good-bye, John!" und wanderte in die etwa zehn Meilen entfernte Stadt. Das war mein erster Streik. Als ich zu Hause meiner Mutter erzählte, dass ich davongelaufen sei, weil Holden mich mit der Peitsche geschlagen habe, war sie sehr böse über die Misshandlung, aber gleichzeitig fürchtete sie, dass der Farmer auf Grund des Dienstvertrages, den sie unterschrieben hatte, etwas unternehmen würde. Holden kam auch am nächsten Morgen zu uns, und meine Mutter machte ihm Vorwürfe. Er gab zu, dass er ein jähzorniger Mensch sei, und versprach, mich niemals wieder zu schlagen. Also ging ich mit ihm zurück und diente meine Zeit bei ihm ab. Holden war ein grausamer Mann, grausam zu seinen Pferden, grausam zu seinen Ochsen, grausam zu seiner Frau, die zu sagen pflegte, „es ist besser, die Geliebte eines alten Mannes zu sein, als die Sklavin eines jungen". Meine nächste Arbeitsstelle war bei Mrs. Paxton, die einen kleinen Laden unterhielt und für die ich die Botengänge besorgte und das Brennholz spaltete, das sie in Bündeln verkaufte. Ihr Sohn, Clem Horseley, war erster Theaterdiener im Salt Lake-Theater und verhalf mir zu einem kleinen Nebenverdienst. Neben dem geringen Lohn von eineinhalb Dollar wöchentlich, den ich von seiner Mutter erhielt, verdiente ich als Platzanweiser fünfzehn Cent für jede Vorstellung. Wir wiesen den Leuten ihre Sitze an und wirkten außerdem auch als Claqueure, indem wir am Ende jedes Aktes mit dem Applaus begannen oder ihn
unterstützten. So bekam ich Gelegenheit, viele Theaterstücke zu sehen, die mir sonst entgangen wären. Mein Interesse für Shakespeares Schauspiele und Tragödien erwachte, als Booth und Barrett in Salt Lake City auftraten. Später wurde ich ein eifriger Leser von Shakespeares Werken.
Danach erhielt ich Arbeit beim alten John C. Cutler, der ein Kommissionshaus für Obstwaren führte. Es ließ sich gut bei ihm arbeiten. Cutler war ein prächtiger, rotwangiger alter Mann, mit einem weißen Bart, von freundlichem, lebhaftem Wesen. Er hatte viele alte Bekannte, die ihn im Laden zu besuchen pflegten. Einmal hörte ich, wie sie über ihre verschiedenen Eheverhältnisse sprachen. Der alte Cutler hatte zwei Frauen. Die ältere war Mutter von vier bekannten Mormonen in Utah und lebte in Salt Lake City; die jüngere lebte in South Cottonwood. Er erzählte, er habe auch noch eine andere Frau, ein feines Mädel mit einem hübschen Baby. „Aber", fügte er hinzu, „ich weiß nicht, wo sie jetzt ist." Warum er lachte, als er dies sagte, konnte ich nicht verstehen. Im Alter von ungefähr zwölf Jahren führte ich dem alten Reese seinen Obststand an der Elephant-Ecke. Eines Tages hörte ich um die Mittagszeit eine Schießerei auf der Straße und bemerkte, wie sich eine Menschenmenge vor Griggs Restaurant sammelte. Ich eilte hinzu, um zu sehen, was los war, als zwei Polizisten einen Neger aus dem Restaurant schleppten. Aus allem, was in der Menge geredet wurde, entnahm ich, dass er einen Polizisten und einen städtischen Beamten getötet und einen anderen Polizisten verwundet hatte.
Die Polizisten mit der Menge hinterdrein wandten sich zur Second South Street. Ich wunderte mich, warum nicht der kürzeste Weg zum Gefängnis eingeschlagen wurde; der Weg, den sie gewählt hatten, war fast um einen Häuserblock weiter. Als die Menge die Second South Street hinunterströmte, verließ ein Krämer seinen Laden und schloss sich an. Dieser Mann, den ich nicht kannte, raffte seine Schürze auf, steckte sie eilig beim Gehen in den Gürtel, und rief: „Holt einen Strick!" Ich dachte bei mir: „Wozu brauchen sie ein Seil? Die Polizei hält ihn ohnehin fest."
Die Menge wuchs und wurde mit jedem Schritt aufgeregter. Je weiter wir kamen, desto zahlreicher wurde der Mob. Als das Gefängnis erreicht war, konnte ich den Gefangenen und die Polizisten auf den Stufen, die zur Tür hinaufführten, sehen. Es schien mir aber, dass die Polizisten, statt den Neger ins Gefängnis hineinzuziehen, ihn vielmehr in die Hände des Mobs hinunterstießen. Ich sah ihn erst wieder, als ich unter den Armen der Leute durchgeschlüpft war, die still, wie vor Entsetzen erstarrt, dastanden. Der Neger hing am Hals im Wagenschuppen. Sein Gesicht war grässlich anzusehen; trotz seiner verhältnismäßig hellen Hautfarbe war es blau angelaufen, und Augen und Zunge quollen schrecklich hervor. Ich schaute auf die hin- und herpendelnde Gestalt und dachte immer wieder: „Was haben sie getan? Was haben sie getan?" Mir war, als hätte ich eine Last kalten Bleis im Magen.
Die Führer des Mobs waren mit dem Tode des Mannes noch nicht zufrieden. Jemand rief: „Zerrt ihn 'raus und vierteilt ihn! Knüpft ihn an eine Telegrafenstange!" Sie schleiften den schlaffen Körper am Hals an die Straßenecke, wo ihnen Bürgermeister Wells Halt gebot, die Aufruhrakte verlas und ihnen befahl, den Leichnam sofort beim Gefängnis abzuliefern. Damals sah ich zum ersten Mal, wohin die besinnungslose Grausamkeit des Mobs fuhren kann. Ich erkannte auch, dass der Pöbel nicht nur aus denjenigen bestand, die bereit gewesen wären, selbst die schrecklichste Tat zu verüben, sondern dass viele nur aus Neugier mitgelaufen waren, um zu sehen, was geschehen würde. Und doch unterstützte jeder einzelne durch seine Anwesenheit die Rädelsführer. Ich glaube nicht, dass mehr als drei oder vier Leute den Mann damals wirklich töten wollten.
Ein Botenjunge sieht mancherlei Dinge und lernt viele Menschen genau kennen; auch ich hatte als Botenjunge dazu Gelegenheit. Mit allen einflussreichen Bürgern von Salt Lake City kam ich in Berührung. Die Leute gaben nicht darauf acht, was sie vor einem jungen Burschen sprachen, und so hörte ich von ihren Geschäften, von ihren Skandalgeschichten und lernte ihre politischen Winkelzüge kennen. Auf diese Weise erfuhr ich auch von den Plänen, die gegen die Mormonen geschmiedet wurden und die zur Annahme des so genannten Edmunds-Gesetzes führten, durch das die Vielweiberei untersagt wurde. Um diese Pläne zu durchkreuzen, kamen die Mormonen auf eine Intrige. Sie dingten eine Frau, ließen sie in die Stadt kommen und brachten sie in einem Hause unter, das mit bequemen Gucklöchern versehen war. Darauf wurden an angesehene Nicht-Mormonen Einladungen mit der Aufforderung versandt, die Dame zu besuchen, die ein paar interessante junge Freundinnen bei sich habe. Durch ein Versehen wurden jedoch einige Einladungen auch an Mormonen verschickt, und die Affäre rief in der Stadt auf beiden Seiten einen großen Skandal hervor, da viele angeblich würdige und angesehene Männer kompromittiert waren. Ich besuchte noch ein Schuljahr lang die St. Mark-Schule. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, scheint es mir, dass ich ein sehr sonderbarer Schüler gewesen sein muss. In einigen Fächern erhielt ich ausgezeichnete Noten, in anderen kam ich nicht vorwärts. Den Unterricht in Geschichte und Geographie erhielt ich in der höchsten Klasse der Schule. Meine Vorliebe für diese Themen und meine Leistungen rührten sicher von dem Unterricht her, den ich früher beim alten Professor Foster erhalten hatte. Mathematikunterricht erhielt ich in einer niedrigeren Klasse, die übrigen Fächer in meiner eigenen Altersstufe. Einer der Jungen in unserer Klasse, John Hyslop, gewann ein Stipendium und sollte auf die Universität gehen, um Geistlicher zu werden. Wir verlachten John wegen seiner Berufswahl. Er aber entgegnete: „Ich kümmere mich den Teufel darum: jedenfalls kann ich jetzt studieren!" Viele Jahre später sah ich John Hyslop auf einer Agitationsreise wieder. Nach der Versammlung blieb er mit anderen zurück, um mich zu begrüßen. Ich erkannte ihn sofort wieder und fragte ihn, was er treibe. Er amtierte als Geistlicher an einer Kirche des Ortes. Ich erinnerte mich an die Bemerkung, die er gemacht hatte, als die Jungens ihn verspotteten, weil er Prediger werden wollte. Er sagte: „Ich kann mich nicht daran erinnern; aber ich bin Geistlicher, und meine Arbeit befriedigt mich." Das Studium hatte also gewirkt.
Als einmal Ben Tillman, Senator für Südkarolina, in Salt Lake City sprach, kam mir zum ersten Mal das Bestehen der Negerfrage zu Bewusstsein. Im Verlaufe des Vortrags äußerte er seine heftige Antipathie gegen die Neger als Menschen und gegen die ganze Negerrasse. Ein Neger, der neben mir saß, richtete eine Frage an den Senator. Dieser antwortete mit heftigen Ausfällen und beleidigenden Bemerkungen über die Mutter des farbigen Mannes. Er sprach von dem Fragesteller als von einem „lederfarbigen Sohn des Satans" und höhnte weiter darüber, was seine Mutter wohl gewesen sein müsse, wenn der Fragesteller, offensichtlich ein Mischling, eine solche Farbe habe. Ich blickte auf den Neger, und sein gequälter
Ausdruck weckte in mir für immer die Gewissheit, dass er und seinesgleichen dasselbe seien wie ich und andere Menschen. Ich an seiner Stelle hätte denselben Groll und die gleiche Erbitterung empfunden, die in ihm brannten und die er nicht auszudrücken vermochte. Mit dem Jahr an der St. Mark-Schule war meine Schulzeit zu Ende. Ich arbeitete danach als Botenjunge im Walker House und im Hotel Continental. Als ich noch im Continental beschäftigt war, erkrankte ich plötzlich an typhöser Lungenentzündung. Nach meiner Wiederherstellung kehrte ich nicht mehr zu meiner alten Arbeit zurück. Meine Mutter und ich hatten beschlossen, dass ich ein Handwerk erlernen sollte. Im Hause neben uns lebte eine Familie Pierpoint. Der Mann war Kesselschmied, und sein Vater besaß eine Gießerei und Kesselschmiede, in die ich in die Lehre gegeben werden sollte. Als die Rede aber auf die Ausstellung der notwendigen Papiere kam, rebellierte ich. Ich wollte nicht wieder gebunden sein wie bei John Holden, von dem ich nicht fort konnte, bevor ich meine Lehrzeit abgedient hatte. So zerschlug sich der Plan.
Mein Stiefvater war damals Oberaufseher in der „Ohio Mine and Milling Company" im Bezirk Humboldt, Nevada. Er entschied, dass er mich dort gebrauchen könne. Ich kaufte mir in Salt Lake City eine Ausrüstung bestehend aus Overalls, Jumper, blauem Hemd, Bergarbeiterstiefeln, zwei Bettdecken, einem Schachspiel und einem Paar Boxhandschuhen. Meine Mutter gab ein großes Abschiedsessen, bei dem der Plumpudding die Hauptsache war. Sie meinte zwar: „In ein paar Wochen bist du wieder zurück", ich aber sagte meinem kleinen Schatz und meiner Familie Lebewohl und machte mich auf den Weg nach Nevada. Ich war damals fünfzehn Jahre alt.

 

Zweites Kapitel
Kumpels, Cowboys und Indianer

Es war meine erste lange Reise. Die Fahrt um den Großen Salzsee ging durch Ogden, da die Luzonbrücke damals noch nicht erbaut war. Ich sah mir Corinne und Promontory vom Zuge aus an, denn ich wusste, dass mein Vater und mein Onkel früher oft dort gewesen waren. Auf der Station Promontory wurde seinerzeit der goldene Schienennagel eingehämmert, als dort die beiden Eisenbahnlinien, die Central Pacific von Osten und die Union Pacific von Westen zusammentrafen. Das eiserne Pferd, wie die Indianer die Eisenbahn nannten, hatte die Ochsengespanne und die Planwagen überholt. Nach Verlassen des Sees fuhr der Zug viele Meilen lang durch Tiefland, das ganz von einer Salzkruste bedeckt war. Dann kamen sandige Salbeistrauch-Steppen, die sich endlos auszudehnen schienen. So weit das Auge sah, gab es nichts als die langen Streifen des grünlich-grauen Gestrüpps. Nur wenige Stationen und kleine Städte lagen an dem Schienenweg. Elko und Battie Mountain wurden passiert, dann tauchte zur Rechten der Humboldtfluss auf. Am Morgen des zweiten Tages kam ich in Winnemucca an, ging in ein Hotel und nahm sofort nach dem Mittagessen die Vier-Pferde-Post nach Rebel Creek. Die Postlinie führte damals bis Fort McDermitt, einer Militärstation. Die Kutsche war mit Paketen beladen. Ich war der einzige Reisende. Von Winnemucca führte der Weg am Zollhaus vorbei durch Sandhügel. Zu beiden Seiten der Wagenspur wuchs das Salbeigestrüpp. Nur wo es niedergetreten war, konnte man eine Zeitlang durchkommen, aber die Sanddünen wechselten beständig, so dass fortwährend neue Wege im Entstehen waren. Gegen Abend kamen wir in Kane Springs an. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, und es war mittlerweile sehr kalt geworden. Der Postillion nahm auf der Station ein Glas Whisky, während ich mich bei einer Tasse heißen Kaffees erwärmte. Inzwischen waren frische Pferde eingespannt. „Wir sind fertig. Fahren wir!" Es war eine kalte, klare Nacht. Vor uns und etwas zur Rechten konnten wir die majestätische Silhouette des Granite Peak sehen, dessen schneebedeckte Gipfel den am Fuße liegenden Ebenen Wasser spenden. So sah ich zum ersten Male die Ketten des Santa-Rosa-Gebirges. Spät in der Nacht trafen wir in Rebel Creek ein. Zitternd vor Kälte kletterte ich aus der Postkutsche und wollte mir schon mit meinen Decken ein Bett zurechtmachen, als ich entdeckte, dass man mir ein Abendbrot bereitet hatte und mich ein sauberes weißes Bett erwartete. Am nächsten Morgen hatte man mir einen gefederten Wagen besorgt; ich warf mein Deckenbündel und meinen Mantelsack hinauf und fuhr nach dem zwei Meilen von der Ohio-Grube entfernt liegenden Eagle Canyon. Nirgends war ein Baum zu sehen; nichts als armselige Weiden an dem Bach, der den Canyon hinunterfloss. In weitem Umkreis war nur ein einziges Wohnblockhaus zu erblicken, das ich, da es mein Ziel war, sofort in Augenschein nahm. Es war ungefähr achtundzwanzig Fuß hoch, vierzehn Fuß breit und im Innern durch einen Verschlag geteilt. Im Vorderzimmer waren in drei Reihen übereinander Schlafpritschen untergebracht. Es gab keine Stühle, keine Tische, keine Einrichtung irgendwelcher Art außer einem Pult und den Sachen, die den Arbeitern gehörten, hauptsächlich Decken, Kleidungsstücke und einige Taschen und Koffer, die unter die unteren Schlafpritschen geschoben waren.
Im zweiten Zimmer befanden sich in einer Ecke ein großer Küchenherd, ein Küchentisch und an der einen Wand ein Küchenschrank. Die Fensterseite wurde von einem langen Tisch, der mit braunem, geblümtem Wachstuch bedeckt war, und von langen Bänken zu beiden Seiten eingenommen. Auf den Balken unter der Decke waren die verschiedenen Vorräte aufgestapelt und die Schlafpritsche des chinesischen Kochs hergerichtet, die er nur mit einer Leiter erreichen konnte. Charley Sing war, wie ich bald feststellen konnte, ein guter Koch und hielt den ihm anvertrauten Teil des Hauses peinlich sauber. Das erste Zimmer war auch rein, das heißt, es gab kein Ungeziefer, aber die Balken waren nicht gestrichen und hatten niemals einen Hobel gesehen. Am Haus war ein kleiner Vorbau mit einer Bank, einem Spiegel darüber, Waschschüsseln und Wasserkrug daneben und Handtüchern, die an der Wand hingen. Der Brunnen befand sich unweit des Baches. In der Nähe des Wohnhauses lag noch eine halbverfallene alte Steinhütte mit einem Dach aus Holzbalken, Reisig und Lehm. Eine Ecke darin war als Laboratorium zur Untersuchung der Erzproben eingerichtet, während der übrige Teil der Hütte zum Aufbewahren von Konserven, Gemüse und anderen Vorräten diente.
Mein Stiefvater kam einige Minuten vor den anderen Leuten, die hier arbeiteten, aus der Grube und begrüßte mich sichtlich erfreut. Nachdem ich den Kumpels vorgestellt worden war und gegessen hatte, breitete ich etwas Heu auf der Schlafpritsche über dem Pult aus und legte die aufgerollten Decken darüber. Ich zog Overall, Jumper und Bergmannsstiefel an und ging noch am selben Nachmittag mit in die Grube. Meine erste Arbeit bestand darin, aus dem Schacht, der am Ende eines offenen Ganges gegraben wurde, Steine hinaufzufahren. Ich merkte sehr bald, dass ich mit einem vollgeladenen Schiebkarren nicht fertig werden konnte, also machte ich die Ladung kleiner und fuhr öfter. Ich war reichlich froh, als die Arbeitszeit zu Ende war.
Es war schon dunkel, als wir nach Hause kamen. Das übliche Bergmannsessen stand bereit, und jeder stürzte sich mit herzhaftem Appetit darauf. Nach der Mahlzeit war in wenigen Minuten das Geschirr abgeräumt, und die Männer setzten sich wieder an den Tisch und lasen oder spielten Karten und Schach, so gut es bei dem flackernden Kerzenlicht ging. Andere streckten sich auf ihr Lager aus oder saßen am Bettrand. So vergingen gewöhnlich die Winterabende. Man konnte nirgendwo hingehen. Die nächstgelegene Stadt, Winnemucca, war sechzig Meilen entfernt. In Willow Creek, der vier Meilen entfernten Poststation, gab es allerdings ein Wirtshaus, aber es wurde nur selten besucht. Ab und zu brachten Arbeitskameraden ein paar Flaschen Whisky von dort mit. Obgleich wir Kumpels in unserer Abgeschiedenheit uns nicht genau über die täglichen Ereignisse auf dem laufenden halten konnten, waren wir doch alle fleißige Leser. Ich erinnere mich, dass mir einer meiner Angehörigen zum zweiten dort verlebten Weihnachtsfest ein Buch über das Baseballspiel schickte. Einige Jahre früher hätte es mich sehr interessiert, aber jetzt hatte ich keine Verwendung dafür, denn nicht einmal im Umkreise einer Tagesreise konnte man auch nur eine halbe Baseballmannschaft auftreiben. Ich war so weit von jedem Baseballspielplatz entfernt, dass ich das Interesse an diesem Spiel völlig verloren hatte.
Ich selbst besaß nicht viele Bücher, dafür hatte aber jeder von den anderen Kumpels eine ganze Anzahl. Der eine einen Band Darwin, ein anderer Voltaire, Shakespeare, Byron, Burns oder Milton. Für diese Schriftsteller zeigte mein Stiefvater große Vorliebe. Die Bücher, die zusammen eine ziemlich wertvolle Bibliothek ausmachten, wurden gegenseitig ausgetauscht. Einige Kameraden waren außerdem auf Zeitschriften abonniert, und auch vier bis fünf Tageszeitungen kamen zu uns. Dass sie sieben Tage alt waren, störte uns wenig.
Ich besaß einen Freund, von dem ich noch nicht erzählt habe. Er hieß Tim und war ein Schäferhund, aber größer als ein gewöhnlicher Schäferhund, mit hellen braunen Augen, schwarzem, braungesprenkeltem Fell und einem weißen Fleck am Halse. Tim war schnell und kräftig. Sein ganzes Gebaren, sein Schwanzwedeln, sein freudiges Gebell, wütendes Brummen, klagendes Winseln oder merkwürdiges tiefes Knurren wurde mir mit der Zeit sehr vertraut, und es war etwas in Tim, das mich an ein menschliches Wesen gemahnte. Jedenfalls war er ein prächtiger Gefährte für einen Jungen, der wie ich sechzig Meilen von der Eisenbahn und vier Meilen vom nächsten Nachbar entfernt bei einer Grube lebte. Den einzigen Jungen in dieser Gegend sah ich nur hin und wieder, aber Tim war die ganze Zeit bei mir. Wir beide erlebten gemeinsam viele Abenteuer. Ich stand ihm in vielen erbitterten Kämpfen mit Luchsen, Wildkatzen und Dachsen bei.
John Kane, der Metallprüfer und Sortierer unserer Grube, mochte mich sehr gut leiden und lehrte mich, Erzprüfungen vorzunehmen. Er war ein großer, kräftig gebauter, gutmütiger Ire mit einem dichten, schwarzen Schnurrbart und braunen Augen. Wenn ich mit ihm arbeitete, half ich ihm beim Herrichten der zur Untersuchung bestimmten Erzproben.
Die verschiedensten Formen und Prozesse wurden angewandt, um die Erze auf ihren Gehalt an Gold, Silber, Blei, Kupfer usw. zu untersuchen. Diese ersten kleinen Entdeckungsfahrten in das Reich der Chemie weckten in mir den Wunsch, Bergwerksingenieur zu werden. Ich beschloss, diesen Beruf zu erlernen und wandte mich an die Bergbauschule in Houghton und an die Columbia-Schule, um ihre Aufnahmebedingungen zu erfahren. Außerdem verschaffte ich mir einige Bücher über Metallprüfungen und -messungen und verwandte viel Zeit auf das Studium. Aber ich bin niemals in eine dieser Schulen eingetreten; andere Pflichten fielen mir zu, und meine weitere Ausbildung erfuhr ich in der Schule der praktischen Erfahrung.
Eines Morgens, als ich auf meinem Wege zur Poststalion das ausgetrocknete Flussbett hinuntermarschierte, sah ich vor Andy Ennigers Haus am Eingang des Ortes Willow Creek mehrere gesattelte Pferde und eine Menge Leute. Ich eilte hinzu und vernahm, dass Kinniger erschossen worden war und dass der Wundarzt von Fort McDermitt eben versuchte, die Kugel zu finden, die irgendwo im Schädel des Toten steckte. Ich bewunderte die Geschicklichkeit, mit welcher der Arzt die Schädeldecke abhob, um herauszufinden, in welcher Gehirnwindung die Kugel lag.
Kinniger war irgendwann am Abend vorher erschossen worden, während er gegen eine Weidengruppe gelohnt auf einem Stuhl saß. Später wurde festgestellt, dass Kinniger vom „Einarmigen Jim", einem Piute-Indianer, getötet worden war. Dieser wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zum Tode durch den Strang verurteilt. Niemand konnte einen Grund für die Tat des Indianers finden, und jeder meinte, sie sei zufällig geschehen. Man ließ eine Petition zirkulieren, und das Urteil gegen den einarmigen Jim wurde in lebenslängliche Haft umgewandelt, die er im Zuchthaus von Carson verbringen musste. Dort sah ich ihn viele Jahre später, als ich in den Kerker kam, um Preston und Smith, zwei Bergarbeiter aus den Goldfeldern, deren Geschick ich noch erzählen werde und die dort ihre lebenslängliche Zuchthausstrafe verbüßten, zu besuchen.
Die Leute im Grenzland waren recht gesellig. Ein Tanzvergnügen war ein großes Ereignis. Es wurde gewöhnlich wochenlang vorbereitet, und die Teilnehmer kamen aus einer Entfernung von dreißig bis vierzig Meilen im Umkreis zusammen. Es war nichts Seltenes, dass die Viehzüchter mit ihren Familien von den entlegensten Ranches zum Tanz herbeieilten, die ganze Nacht und den nächsten Tag durchtanzten und dann wieder nach Hause fuhren. Was die Tänzerinnen anbelangt, so waren es Mädchen und ältere Frauen von den Ranches, und manchmal nahmen auch indianische Squaws am Fest teil. Ich erinnere mich noch an einen improvisierten Tanz in Kinnigers Wirtschaft, zu dem Mrs. Snapp von der Station in Rebel Creek auf einer dreisaitigen Fiedel aufspielte, begleitet von Tom Melody, der aus einer mit ein paar Bohnen gefüllten Zigarrenschachtel ein Tamburin hergestellt hatte.
Interessanter aber waren die Indianertänze, wenn sich die Indianer auf einem vom Salbeigestrüpp gesäuberten kreisrunden Platz zu ihrem Pow-Wow trafen und den Schnecken-, den Geister-, den Sonnentanz oder irgendeinen anderen ihrer geheimnisvollen Tänze aufführten. Die einzige Musik dazu waren das Tönen der Trommeln und der Gesang der Squaws. Ihre Weisen waren klagend und phantastisch und schienen mir alle ziemlich ähnlich zu klingen. In der Nacht, wenn das Feuer angezündet war, wirkten die hypnotisierenden Rhythmen der Trommeln und die federnden, schwebenden Tanzschritte der Indianer, von dem leisen summenden Gesang der Frauen begleitet, schaurig und zauberhaft. Die Geschichte vom Massaker unter den Piute-Indianern auf dem Thacker-Paß vernahm ich einmal von Jim Sackett, der als einer der Freiwilligen bei dem großen Morden mitgemacht hatte. Später erzählte sie mir der Piute Ox Sam, einer von den drei einzigen Überlebenden. Das erste Mal hörte ich die haarsträubende Geschichte, als der alte Sackett zufällig auf Besuch in die Ohio-Grube kam. Die Indianer, so erzählte er, hätten im ganzen südlichen Oregon und nördlichen Nevada viele Plündrereien durchgeführt, welche die Weißen dazu veranlassten, eine Freiwilligenkompanie zu organisieren, die, wie Sackett sagte, dem gegenseitigen und gemeinsamen Schutze dienen sollte. Die Angehörigen dieser Kompanie waren im ganzen Bezirk als die besten Indianerkämpfer berühmt. Ihr Standort war Fort McDermitt; von dort aus durchstreiften sie das Land nach Indianern. McDermitt lag am Westabhang der Santa-Rosa-Gruppe, an der Mündung eines Nebenflusses des Quin River. Sackett war ein alter Rentenempfänger, der im Lande umherzog und nicht mehr viel arbeitete, da er schon zu alt war, um noch etwas zu leisten. Es gab nur noch wenige Menschen seines Schlages. In den Bergen war er ebenso zu Hause, wie in den Hütten der Goldsucher oder auf den Ranches, die längs des Flusses im Tale lagen. Er trug langes, graues Haupthaar und einen langen, grauen Bart; seine Augen waren schwach und sahen aus, als wären sie vom Alkalistaub wund. Beim Sprechen pflegte er den Tabaksaft nach einem bestimmten Ziel, das er sich zur Schießscheibe ausgesucht hatte, zu spritzen, und traf es auch mit bemerkenswerter Genauigkeit. Er berichtete über das Ereignis:
„An dem Tag hatten wir an der Mündung des Willow-Baches unser Lager aufgeschlagen, gerade oberhalb der Stelle, wo jetzt Andy Kinnigers Haus steht. Wir wollten uns gerade schlafen legen, als plötzlich Rufe nach den
Stiefeln und Sätteln laut wurden. Was war los? Die Mannschaft war sehr schnell zum Aufbruch gerüstet, die Maultiere waren beladen und die Pferde gesattelt. Der Führer trat zu uns, zeigte über das Tal hinweg in der Richtung des jetzigen Thacker-Passes und sagte: ,Seht mal da drüben. Wenn ihr genau hinseht, findet ihr ein Feuer. Als es noch hell war, kam es mir schon so vor, als wäre dort Rauch zu sehen, aber jetzt sehe ich das Feuer ganz deutlich. Es ist ein Indianerlager. Bis zum Tagesanbruch müssen wir hinkommen. Sobald es etwas dunkler wird, brechen wir auf.' Es war ein langer Ritt durch die mit Salbeigestrüpp bewachsenen Sandebenen und über Wiesen, bis wir zum Fluss kamen, den wir durchschwimmen mussten. Wieder kamen Wiesen und Salbeisteppen. Ein Pferd trat in ein Dachsloch und brach ein Bein; wir konnten es erst am nächsten Tag töten. Die Indianer hätten den Schuss gehört, und wir hatten keine Veranlassung, sie zu alarmieren. Die Kompanie teilte sich: eine Gruppe ritt weiter den Pass hinunter bis an das Lager, eine kleine Abteilung wurde mit den Packtieren und Reservepferden zurückgelassen, der Rest ritt den Pass hinauf.
Der Tag brach eben an, als wir in Sichtweite des Indianerlagers kamen. Alle schliefen. Wir machten unsere Karabiner los, entsicherten unsere sechsschüssigen Pistolen und ritten im Galopp in das Lager der Wilden; dort schossen wir in ihre Reisighütten hinein. Im Nu stürzten verschiedene Squaws und Kerle und kleine Kinder durcheinander, betäubt von dem plötzlichen Angriff, aber sie wurden niedergeschossen, bevor sie überhaupt noch recht wussten, was los war. Dann kam auch unsere zweite Abteilung, schoss aber erst, als sie nahe herangekommen war. Wir sprengten von einer Hütte zur nächsten und überschütteten sie mit unseren Kugeln.
Dann erst stiegen wir ab und sahen uns um. Dabei fanden wir zwei kleine Indianerkinder, die noch am Leben waren. Einer der Soldaten meinte: ,Wir machen gleich reinen Tisch. Aus Nissen werden Läuse.' Da fiel Charley Thacker ein: ,Ich möchte die zwei Babys behalten, wenn niemand etwas dagegen hat.' Bevor noch die Sache entschieden war, schrie jemand: ,Da macht sich einer aus dem Staub.' Der Indianer war schon eine Meile weg mit seinem großen, grauen Pferd, das wie der Wind davonraste. Einer von uns schoss ihm nach, mehrere warfen sich auf die Pferde und galoppierten hinter ihm her. Aber es war zu spät, er entkam. Die Verfolger kehrten bald zurück. Den Indianern, die nur verwundet waren, verhalfen wir zu einem schnellen Ende ihrer Leiden, dann stiegen wir auf und ritten fort. Charley Thacker nahm seine zwei Indianerkinder mit." Diese Kinder wuchsen unter dem Namen Jimmy und Charley Thacker auf. Als ich sie kennen lernte, waren sie zum Nomadenleben der Indianer zurückgekehrt. Beide waren prächtige, kräftige Burschen und wahrscheinlich viel bessere Menschen als diejenigen, von denen ihre Väter und Mütter, Verwandten und Freunde hingemordet worden waren.
Die Erzählung des alten Sackett ließ mir die bewunderten Indianerkämpfer in ihren Hirschlederhosen, von denen ich in Zehn-Cent-Magazinen so viel gelesen hatte, in einem ganz anderen Licht erscheinen. Niemals hatte ich in diesen Geschichten mit Herzklopfen davon gelesen, dass Frauen und kleine Kinder mitten aus dem Schlaf heraus gemordet wurden. Der alte „Freiwillige" mit seinen Heldentaten konnte mir von da an nicht mehr imponieren und sank noch weiter in meiner Achtung, als mir Ox Sam nach einigen Monaten in seinem gebrochenen Englisch von den Geschehnissen am Thacker-Passe erzählte. Er fügte sachlich nichts Neues zur Geschichte hinzu, aber sie klang aus dem Munde eines der Opfer des Massenmordes ganz anders. Der alte Indianer hockte eines Tages auf einem Sack Holzkohlen vor der Tür der halbverfallenen Hütte, die wir als Metallprüfungsraum benutzten. Ich setzte mich neben ihn und fragte, wie es seiner Squaw Maggie und seinen Papoos (Anm.: Indianerbabys.) gehe. „Ganz gut", antwortete er. Ich bat: „Sam, erzähle mir vom Thacker-Pass." Mit abwesendem Blick sah er auf und murmelte: „Lange Zeit her. Jetzt nicht viel darüber reden." Aber ich drängte: „Sam, ich möchte wissen, warum die Weißen die Indianer töteten. Weißt du es?" Sam zog die Brauen zusammen. „Ja, ich wissen. Du nicht wissen?" Ich verneinte seine Frage. Darauf begann Sam:
„Vor langer Zeit, als ich geboren, vielleicht noch früher, kein weißer Mann in Nevada. Damals Piute leben ganz gut. Im Frühling viele Fische fangen, trocknen, räuchern. Viele Enten, viele Gänse, auch räuchern. Im Herbst Hirsche töten, Fleisch in Streifen schneiden und an Luft trocknen. Beim ersten Frost viele Tannenzapfen sammeln. Immer viele Hasen, Steppenhühner. Piuten nicht kennen große Ranch, keine Farm haben, trotzdem ganz gut leben. Manchmal Bannock, manchmal Schoschone ihm Squaw stehlen. Wir mit ihnen kämpfen. Manchmal Piute stehlen Schoschone- oder Bannock-Squaw, kämpfen ziemlich gut. Manchmal großes Spiel machen; manchmal großen Tanz; manchmal großen Pow-Wow. Heiß, kalt, macht nichts. Piute leben. Wenn er sterben, machen ihm großen Steinhügel, er drin bleiben. Bekommen Pfeil und Bogen, gutes Messer, töten guten Pony, Piute gehen selige Jagdgründe. Alles gut. Weißer Mann, er kommen, er machen kleine Farm,
manchmal heiraten Piute-Squaw. Das ganz gut. Blut mischen macht nichts, das wie Bannocks, Schoschone. Das ganz gut. Ziemlich bald mehr weiße Mann kommen. Er Aufseher; er ganz gut. Ich nicht verstehen: immer Löcher bohren, große Steine auftürmen, mehr Löcher bohren. Er nicht lange an einem Ort bleiben. Soldaten kommen. Ich nicht verstehen Soldat. Er keine Farm haben, er keine Löcher bohren, er nichts tun; immer sagen: ,Onkel Sam'. Alle ein Haus leben, keine Frau. Ich nicht verstehen. Immer sagen, ,Squaw, Squaw'. Er Feuerwasser haben, Piute geben; wenn sie Indianer verrückt machen, weiße Mann nichts fragen. Alle Indianer haben großen Pow-Wow, Häuptling sagen: ,Was jetzt los?' Zu viel Unruhe immer. Indianer lieben Feuerwasser. Feuerwasser ihm nicht gut. Soldaten geben Indianer Feuerwasser. Nicht lieben Feuerwasser. Indianer ihm Nerzfell, Dachsfell verkaufen, verschiedene Felle verkauf en. Auch Squaw für Feuerwasser verkaufen. Nach und nach Indianer verrückt. Kein Feuerwasser mehr, trotzdem verrückt. Häuptling sagen: Soldaten nicht gut; Indianer sagen: alle Weißen nicht sehr gut. Bald Weiße Piuten töten. Indianer nicht viel wissen, er weißen Mann töten. Das ziemlich schlechte Zeit. Soldaten jagen Piute wie Präriewolf.
Das die Zeit von Thacker-Pass. Viele Indianer gehen Quin River, wollen nach Enten, Gänsen tauchen. Diesen Morgen, Soldaten kommen schnell, schießen, schießen. Ich schneide Fell von Hütte hinten auf, laufe schnell und springe auf großes weißes Pferd, reite schnell; Soldaten mich nicht fangen, mich nicht erschießen. Ich Disaster Peak reiten. Lange Zeit versteckt. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder ich nicht mehr sehen. Lange Zeit vorbei. Jetzt nicht viel darüber reden."
Der alte Sam endete mit zitternder Stimme und feuchten Augen. „Ja, ich wissen, ich wissen." Ich ergriff seine Hand: „Bleib noch ein Weilchen, Sam. Wir haben bald Mittagbrot."
In der kurzen Geschichte, die Ox Sam, der Piute-Indianer, mir erzählte, lag Tiefe und große historische Bedeutung. Sie begann zur Zeit, als die ältesten Ansiedler die Manhattaninsel raubten. Sie wiederholte sich immer wieder. Mit Glasperlen und schlechtem Whisky, mit Bibeln und Gewehren führte die herrschende Klasse das Massaker weiter, von einem Ende des Kontinents bis zum anderen.
Männer in unserer Lage schließen manchmal enge Freundschaft. So war es auch zwischen mir und Pat Reynolds. Pat war der Älteste unter uns. Er war groß, stark und knochig. Er hatte einen roten Backenbart, buschige Augenbrauen und ein rotes Mal am äußeren Winkel des linken Auges. Dieser alte Ire führte mich in die Gewerkschaftsbewegung ein. Pat war Mitglied der „Ritter der Arbeit", und manches, was er mir über diese Organisation erzählte, konnte ich damals nicht ganz verstehen. Ich hatte niemals davon gehört, dass die Arbeiter sich zur gegenseitigen Unterstützung organisieren müssen. In unserem Teil des Landes schien kein großer Unterschied zwischen dem Boss und den Arbeitern zu bestehen. Der alte Mann, der als Boss galt, schlief im selben Zimmer und saß am gleichen Tisch und trat ebenso auf wie die übrigen. Aber Pat erklärte mir, dass er gar nicht der wirkliche Boss sei, dass niemand von uns den Besitzer der Grube kenne. Er zählte mir die großen Ranches in der Umgebung auf und sagte: „Die Besitzer leben in Kalifornien, aber die Menschen, die die ganze Arbeit leisten und Profit für die Ranches und Gruben schaffen, sind hier in Nevada." Er erzählte mir von den
Gewerkschaften, denen er angehört hatte: vom Bergarbeiterverband in Bodie, Kalifornien, und von dem 1867 organisierten Bergarbeiterverband von Virginia City in Nevada, dem ersten Bergarbeiterverband in Amerika. Diese zwei Gewerkschaften gehörten zu den ersten, die später die Bergarbeiterföderation des Westens bildeten. Erst nach einiger Zeit verstand ich die volle Bedeutung einer Bemerkung, die er gemacht hatte, dass die Arbeiterklasse nur durch die Arbeiter selbst befreit werden könne. Anfang Mai 1886 wurde mir dieser Gedanke noch klarer, als ich in den Zeitungen die Berichte über die Unruhen auf dem Haymarket in Chicago verfolgte und später die Reden der Angeklagten vor Gericht las. Tag für Tag besprach ich mit Pat Reynolds alle Tatsachen und Einzelheiten. Ich versuchte in Gedanken, mir die Gründe für die Explosion zu erklären. Waren die Streikenden dafür verantwortlich? Waren es die Männer, die ihre Wortführer waren? Warum waren die Polizisten auf dem Haymarket gewesen? Wer hatte die Bombe geworfen? Albert Parsons oder einer seiner Bekannten war es sicher nicht; wenn er es wirklich gewesen wäre, warum hätte er sich dann selbst dem Gericht gestellt? Wer waren diejenigen, denen so darum zu tun war, diese Männer, die sie Anarchisten nannten, an den Galgen zu bringen? Gehörten sie zu derselben Kapitalistenklasse, von der Pat Reynolds ständig mit mir sprach? Mir gingen August Spies' letzte Worte nicht aus dem Kopf: „Es wird eine Zeit kommen, da unser Schweigen mächtiger sein wird als die Stimmen, die ihr heute erwürgt." Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich eröffnete Pat, dass ich der Organisation der „Ritter der Arbeit" beitreten wollte. Von dieser Zeit an fühlte ich mich als Mitglied, obwohl ich niemals Gelegenheit fand, mich wirklich aufnehmen zu lassen.
Bald darauf fuhr ich zum ersten Mal, seit ich in dem Bergwerk arbeitete, auf Besuch nach Hause. Nach einigen Wochen kehrte ich nach Nevada zurück. Das folgende Jahr war ein Jahr der finanziellen Krisen, und Störungen dieser Art bringen Rückschläge für die Bergarbeiter ebenso wie für die Arbeiter in anderen Industrien. Die Ohio-Grube wurde geschlossen; nur ich allein wurde zu ihrer Bewachung zurückgelassen. Nach einiger Zeit kehrte ich nach Utah zurück und fand Arbeit in der Brooklyn-Grube. Ich hatte die Kessel zu heizen, den Förderkorb zu bedienen und über Tage den Schutt und das Erz wegzuräumen. Zeitweise arbeitete ich in dem so genannten Mormonen-Stollen, dessen Name davon herrührte, dass die meisten der dort beschäftigten Arbeiter aus dem San-Pete-Tal, einem streng mormonischen Gebiet, kamen. In dieser Grube, in der Blei gefördert wurde, arbeitete ich an verschiedenen Stellen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen zwischen der Grube und dem Krankenhaus, denn viele Arbeiter litten an Bleivergiftung. Gegen diese schwere Berufskrankheit waren keine Vorbeugungsmaßregeln getroffen. Die Bergarbeiter dieses Reviers wurden nach Salt Lake City in Spitäler geschickt, die sie selbst unterhalten mussten. Jedem Kumpel wurde monatlich ein Dollar Spitalbeitrag abgezogen. Auch die Fahrt zum und vom Spital mussten sie selbst bezahlen. So eine Gruppe von Bleiarbeitern mit ihren aschbleichen Gesichtern ist ein schauriger Anblick.
Außer dem Rheumatismus, der Schwindsucht, der Bleivergiftung und anderen Krankheiten ist ein Bergarbeiter noch vielen Gefahren ausgesetzt. Eine davon ist die ständige Möglichkeit von Steinschlägen, wenn eine Grube nicht genügend ausgezimmert ist. Ich arbeitete ganz nahe bei Louis Fontaine, als er von einer herunterstürzenden Felsplatte getötet wurde, die seinen Kopf an dem von ihm gehaltenen Bohrer zerschmetterte. Wir schafften den Leichnam auf einen Bretterwagen, fuhren ihn zum Förderschacht und taten alles, was von Louis übrig geblieben war, in den Förderkorb. Dann läuteten wir dreimal die Glocke zur Auffahrt. Zur Zeit, als ich in der Brooklyn-Grube arbeitete, ließ ich meine Braut, Jane Minor, aus Nevada kommen. Wir heirateten und ließen uns in Salt Lake City nieder, wo auch unser erstes Kind geboren wurde, ein Junge, der bei der Geburt starb. Kurz nachher kehrten wir nach Nevada zurück, wo ich einige Zeit für Thad Hoppin bei den Abschätzungen mitarbeitete und nach Erz schürfte. Später arbeitete ich eine Zeitlang als Cowboy auf Hoppins Ranch.
Das Leben eines Cowboys ist nicht so lustig und abenteuerlich, wie es im Film gezeigt und in billigen Romanen beschrieben wird oder wie man es auf Weltausstellungen sehen kann. Den Kühen das Zeichen der Farm einbrennen oder halbwilde Pferde zureiten - das alles sieht ohne Zirkuspolitur, ohne Musik und die Hurras der Menge ganz anders aus. Die Arbeit des Cowboys beginnt bei Tagesanbruch. Wenn er gerade auf der Ranch selbst beschäftigt ist, springt er aus dem Bett, fährt in seine Hosen und Stiefel, setzt den Hut auf und geht zum Stall, um seine Sattelpferde zu füttern. Er setzt seinen ganzen Stolz darein, nichts zu Fuß zu tun. Dann wäscht er sich an der Pumpe und setzt sich an seinen Platz am langen Tisch, der von dem chinesischen Koch mit einem Berg von Beefsteaks, Kartoffeln und Plinsen mit „langer Butter" gedeckt wird. Diese „lange Butter" ist eine Art Mehltunke, denn auf einer großen Ranch mit mehreren Tausenden Stück Vieh gibt es oftmals keine einzige Milchkuh und keine Butter, außer der, die aus der viele Meilen weit entfernten Stadt herangeschafft wird.
Auf einer Ranch hat der Cowboy, je nach der Jahreszeit, verschiedene Arbeiten zu verrichten. Das Vieh wird nicht geweidet oder in Herden gehalten, sondern läuft wild auf den Bergen und in den Salbeisteppen umher. Im Frühling und im Herbst wird es eingefangen, eine Arbeit, die „Rodeo" genannt wird. Dieses und noch andere im Südwesten allgemein gebräuchlichen Worte stammen aus der Zeit, als dieser Teil des Landes eine spanische Kolonie und Spanisch die allgemeine Umgangssprache war.
Die Zeiten der „Rodeos" waren immer die interessantesten für den Cowboy, wenn auch hart und anstrengend. Zum „Rodeo" kamen die Cowboys von allen Ranches in einem Umkreis von hundert Meilen oder mehr mit ihren Sattelpferden zusammen. Am Ufer eines Flusses oder in der Nähe einer Quelle wurde für die ganze Mannschaft das Lager aufgeschlagen. Manchmal waren wir aber auch gezwungen, an einer trockenen Stelle zu kampieren, und dann musste im Notfall das Wasser in Fässern herbeigeholt werden.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, ging es dann in die Berge. Die einen wählten diesen Canyon, die anderen jenen. Der Ritt führte bis zu den höchsten Gipfeln, dann kehrten wir um und trieben das gesamte Vieh in dem Gebiet vor uns her. Unten im Tal wurde die Herde dann eingekreist. Fünfzig bis hundert Cowboys umzingelten mehrere hundert Stück Vieh. Einige Cowboys von der größten Ranch ritten in die Herde hinein und trieben die Kühe mit ihren Kälbern heraus. Jede Kuh war an den Brandmalen und Ohrzeichen erkennbar. Dann mussten die Cowboys von jeder Ranch die Kälber mit dem Brandmal und dem Ohrzeichen der
Farm, auf der sie beschäftigt waren, versehen. Die Aufteilung wurde fortgesetzt, bis alle Kühe und Kälber aus der Herde herausgesucht waren. Das übrige Vieh wurde dann wieder in die Berge zurückgetrieben. Während der ganzen Prozedur war nur das Blöken und Schreien der Kühe und Kälber zu hören, sonst war Stille; wir konnten während der Arbeit wenig sprechen, da der aufgewirbelte Staub uns fast erstickte. Inzwischen fuhr der Proviantwagen zum nächsten Lagerplatz. Dieses Einfangen des Viehs dauerte mehrere Wochen; wir ritten die eine Seite des Tales hinauf und die andere hinunter. Ein zweites Mal wurde das Vieh jedes Jahr im Herbst zusammengetrieben, um die Jungtiere für den Markt einzufangen.
Wilde Pferde sind flinker als das Rindvieh und schwieriger zu behandeln. Wenn wir Pferde im Kreis zusammengetrieben hatten, wurden diejenigen, die wir an Geschirr und Sattel gewöhnen wollten, bis zum Herbst oder Winter auf dem Feld oder im „Corral" gehalten. Während dieser Zeit wurden sie zur Arbeit angelernt oder zugeritten, die erheiterndste Seite unseres Cowboylebens. Die Behandlung und das Einreiten der wilden Pferde war etwas sehr Aufregendes, nicht nur für die Reiter, sondern auch für die Zuschauer. Einige Pferde waren äußerst bösartig, bissen, schlugen heftig aus, ganz zu schweigen von den Tücken, die sie während der Brunstzeit offenbarten.
„Heute reite ich den roten Hengst zu", sagte Tom Minor, mein Schwager, eines Morgens, als wir im Schlafhaus von Hoppins Ranch aus den Betten krochen. „Ich wette, er wird allerhand Sprünge machen", bemerkte John White.
„Oh, ich weiß nicht", antwortete Tom, „ich glaube, er wird so bequem wie ein Schaukelstuhl sein."
Nach dem Frühstück gingen sechs oder acht Cowboys hinaus zum „Corral". Es war ein strahlend schöner Morgen, klar und etwas frostig. John White ging mit einem Lasso über dem Arm auf die Pferde zu: „Sie sind heute reichlich übermütig, Tom", sagte er, schlang sein Lasso um den Hals eines flinken Rotschimmels und setzte sich auf das andere Ende. Zwei Burschen liefen hinzu, um ihm zu helfen, und Minor näherte sich dem Pferd, während seine Hände am straff gespannten Lasso entlang glitten.
„Hüh, Schaukelstuhl", schnurrte Tom und streckte seine Hand nach dem Hengst aus, der weder an seinen neuen Namen, noch an den Geruch von Menschen gewöhnt war. Das Pferd bäumte sich und schlug mit beiden Vorderfüßen aus. Nach wiederholten Anstrengungen und vielem Streicheln wurden ihm endlich der Halfter über den Kopf geworfen und lederne Scheuklappen über die Augen gezogen. Das Lasso wurde abgenommen. Der Hengst stand da, an jedem Nerv bebend. Tom murmelte immer wieder: „Hüh, Schaukelstuhl!" Von der Seite und von vorne her drängten die Cowboys das Pferd in die Nähe des Zaunes und banden es an einen Pfahl. Tom warf ihm eine Decke über, aber das ungebärdige Füllen schlug aus, schnaufte und bäumte sich so lange, bis es sie wieder abgeworfen hatte. Dies wurde viele Male wiederholt, bis der Hengst wohl einsah, dass ihm nichts geschehen würde, und er auf das offene Feld geführt werden konnte, wo er sich nach geduldiger Überredung Zaum und Sattel anlegen ließ. Minor schnallte sich seine großgezackten Sporen an, fasste die Reitpeitsche mit der Rechten und die Zügel mit der Linken, stützte sich mit dieser auf den Sattelknauf, steckte seinen Fuß in den Steigbügel und saß oben! Er langte nach vorn und zog die Scheuklappen in die Höhe, versetzte dem Hengst einen Schlag mit der Peitsche, und „Schaukelstuhl" begann sich zu bäumen und, den Kopf zwischen die Vorderbeine gesteckt, mit allen vieren auszuschlagen. Als Minor ihm die Sporen gab und ihn mit der Peitsche schlug, wölbte sich sein Rücken wie ein Kamelhöcker. White rief aus: „Heiliger Strohsack! Kann der sich bäumen! Ein schöner Schaukelstuhl!" Das Pferd wand sich, lief im Zickzack, bäumte sich, kurz, es tat alles, was ein Pferd nur tun kann, außer sich am Boden zu wälzen. Als es vollkommen erschöpft war, führte Tom es zum „Corral" zurück und stieg ab. Einer der Burschen nahm „Schaukelstuhl" in Empfang und sattelte ihn ab. Minor erklärte den anderen, die kamen, um ihm die Hand zu schütteln: „Das ist ein zäher Bursche. Den heben wir uns für die Umzingelung von Pendieton auf."
Die Cowboys und Bergarbeiter des Westens führten ein trauriges und einsames Leben. Sie waren von den großen Zentren der Zivilisation nach dem Westen gefahren und hatten den Kontakt mit dem gesellschaftlichen Leben verloren. Jung und kräftig, von überschäumendem Temperament, machten sie sich manchmal in wilden Trinkgelagen und Schießereien Luft. Da das Land noch fast unbesiedelt war, fehlte es ihnen an Frauengesellschaft, und wenn sie die kleinen, an der Eisenbahnstrecke gelegenen Städte besuchten, ließen sie ihren überquellenden Gefühlen gern freien Lauf. Wir waren immer fleißig auf der Ranch von Hoppin. Je nach der Jahreszeit wurden die Schafe geschoren oder die Pferde zugeritten, das Rindvieh zusammengetrieben oder mit Heumachen die Tage verbracht. Zu dieser Zeit wurde das Fort McDermitt aufgelassen. Es gab nirgendwo in der Nähe ein Industriezentrum, und die Indianer waren eigentlich alle aufgerieben. Mein
Schwiegervater wurde als Wächter für die staatlichen Besitzungen angestellt. Meine Frau und ich fuhren voraus und lebten in dem alten verlassenen Fort, bis die ganze Familie von Willow Creek dorthin übersiedeln konnte.

 

Drittes Kapitel
Heimstätte und schwere Zeiten

Das alte Fort war in der Art angelegt, wie man es damals oft im Westen sah. Es erstreckte sich im Viereck rings um einen gut gehaltenen Rasen, der als Paradeplatz diente. Wenn man durch das große Tor der Schutzwehr aus Stacheldraht trat, lagen die Scheunen und Ställe zur Rechten, ein großer Kornboden, der auf Pfählen über dem Boden errichtet war, zur Linken. Auf jedem Pfahl lag unmittelbar unter den Querbalken ein Zinnkessel mit der Wölbung nach oben, um Ratten und Mäuse vom Speicher abzuhalten. Die Soldatenbaracken lagen auf der einen, die Offiziershäuser auf der anderen Seite des Paradeplatzes. Es waren kleine, aber nette, solide, aus Holz gebaute Wohnungen. Die Offiziere hatten für Schutz gegen den Winterfrost gesorgt und große Stöße von Mahagoniholz angeschafft, das vierzig bis sechzig Dollar pro Klafter kostete und von weither mit Maultieren über die Bergpfade herangeschleppt werden musste.
Wir richteten uns in dem früheren Haus des Kommandanten ein. Unser Mobiliar war bescheiden; es gab weder Jalousien, noch Vorhänge an den Fenstern, noch einen Teppich auf dem Fußboden. Ein großes Bett, ein Tisch
und ein paar Stühle bildeten zusammen mit dem Küchengerät unseren ganzen Hausrat.
Meine Frau war eifrig mit dem Nähen von Kinderwäsche beschäftigt. Eines Morgens, früher als wir erwartet hatten, sagte sie mir zu meinem Schrecken, die Geburtswehen hätten eingesetzt. Wir waren allein und hatten beabsichtigt, die zehn Meilen entfernt wohnende Mrs. Vance zu holen, die unter den Nachbarn Hebammendienste leistete. Meine Frau glaubte, es wäre noch Zeit hinzufahren und die alte Frau zu holen. Also schirrte ich an und fuhr in halsbrecherischem Tempo um Hilfe zur Farm der Vances, wo die alte Dame gleich Hut und Mantel nahm und in den Wagen stieg. Ich brauchte nicht einmal zwei Stunden, um die zwanzig Meilen zurückzulegen.
In der Zwischenzeit waren auch Vater und Mutter meiner Frau aus Willow Creek angelangt. Mrs. Vance eilte ins Haus, während ich erst das Gespann zur Scheune zurückfuhr, meinem Schwiegervater das Abschirren überließ und der Hebamme nachlief. Dort erwartete mich ein toller Anblick: Meine Schwiegermutter war ohnmächtig geworden, als sie das Stöhnen ihrer Tochter gehört und begriffen hatte, was vor sich ging. Da lag sie nun am Fußboden, und als Mrs. Vance in das Zimmer kam, fiel auch sie in Ohnmacht. Ich machte kehrt, holte einen Eimer voll Wasser, das ich ihnen in aller Eile übers Gesicht schüttete, und ließ sie dann liegen, wie sie hingefallen waren.
Ich habe mich in mancher verzweifelten Lage gesehen, aber keine erforderte so viel Ruhe und Kaltblütigkeit von mir, wie diese. Ich wusste nicht, was zu tun war, und fürchtete, meine Frau würde sterben. Sie schien fürchterliche Schmerzen auszustehen. Ich sagte ihr einige Worte der Ermutigung, und während sie stöhnend mit zunehmenden Schmerzen dalag, griff ich nach dem medizinischen Handbuch und las in aller Eile darin nach, was ich über Geburtshilfe finden konnte. Ein Mädchen wurde geboren. Ich hatte bereits die Nabelschnur abgebunden und abgeschnitten, als Mrs. Vance wieder zur Besinnung kam. Ich war bis dahin zu beschäftigt gewesen, um von ihr weiter Notiz zu nehmen; und gerade als ich die Nachgeburt beseitigte, erwachte auch meine Schwiegermutter aus ihrer Ohnmacht. Schließlich hatten sich die beiden alten Frauen so weit beruhigt, dass sie etwas Wasser aufsetzen und meine Frau und das Neugeborene waschen konnten. Die Kleine war hübsch und gesund, obwohl sie keine fachmännische Geburtshilfe, sondern nur die unerfahrene Hilfe ihres Vaters gehabt hatte.
Meine Frau kam gut über alles hinweg. In der ganzen Verwirrung, die durch das unerklärliche Verhalten der alten Damen entstanden war, benahm sie sich ruhiger als irgendeiner von uns. Solange sie noch im Bett lag, kam Old Jim Horsehead, ein Piute-Indianer, jeden Morgen, drückte seine Nase gegen die Fensterscheibe und fragte:
„Was machen Frau und Baby?"
Er zeigte das größte Interesse für die Fortschritte des Kindes. Die Behauptung von der Grausamkeit der Indianer rührt nur aus einem Vorurteil gegen diese her; ich habe viele Indianer kennen gelernt und habe gefunden, dass sie liebevoller und treuer zu ihren Freunden sind, als so manche andere Leute.
Im Frühling arbeitete ich bei einer Vermessungsgruppe der Regierung, die den Landstrich um Black Rock und Quin River Sink vermaß. Moran, der Feldvermesser, hatte seine Leute für die Arbeit gut ausgewählt. Im ersten Monat richteten wir Pfähle her, sägten sie in der richtigen Länge ab, spitzten sie zu und zogen provisorische Linien. Im April allein vermaßen wir neunhundert Meilen, einen Durchschnitt von dreißig Meilen pro Tag, einschließlich der Sonntage. Nach Beendigung der Vermessungsarbeiten wandte ich mich nach Paradise Valley, wo ich während der Heuerntezeit für die Brüder Reese arbeitete. Aaron Reese war ein vierschrötiger Walliser mit braunrotem Gesicht und rotem Bart. Auf seiner Ranch waren ein paar prächtige Burschen, die in den Mußestunden aus einem großen Vorrat von interessanten Geschichten auszukramen pflegten.
Wenn auf dieser Ranch die wilden Pferde an das Geschirr gewöhnt wurden, konnte man alle Sensationen eines Ben-Hur-Wagenrennens durchkosten. Wir pflegten ein sanftes, folgsames Pferd vor eine Mähmaschine zu spannen, nachdem wir die Sichelstange aufgehoben und festgebunden hatten, und das wilde Pferd daneben. Kaum wurde es losgelassen, so versuchte es mit einem verzweifelten Ruck, sich von dem ungewohnten Ding zu befreien, aber die Maschine ratterte und klapperte hinter ihm her. Man brauchte weiter nichts zu tun, als die Pferde laufen zu lassen. Das zahme und an das Geschirr gewöhnte Pferd leistete dabei die beste Hilfe, da es, wenn man am Zügel zog, in die gewünschte Richtung lenkte und den wilden Kameraden zwang, in großen Kreisen mitzulaufen. Nach zwei bis drei Übungen dieser Art konnten wir das Tier schon beim Grasschneiden verwenden.
Nach der Heuernte arbeitete ich noch mit einer Dreschermannschaft. Es gab eine Menge kleiner Farmer, die Korn zu dreschen hatten. Wir waren eine gute Arbeitsgruppe und droschen mit unserer Maschine mehr Getreide aus, als in diesem Tal jemals vorher gedroschen worden war. Es stellte sich aber heraus, dass der Boss der Gruppe uns fünfundzwanzig Cent am Tag weniger auszahlen wollte als in der vorhergehenden Saison. Darauf warfen alle Leute die Arbeit hin und ließen die Dreschmaschine allein auf dem Felde stehen. Bis zu dieser Zeit hatte ich niemals viel getrunken und auch nur selten gespielt. Doch an dem Tage, als wir die Dreschmaschine stehenließen, gingen wir alle in die Stadt in Gillinans Wirtschaft, in der gerade ein Würfelspiel im Gange war. Ich begann mitzuhalten, und bevor die Nacht vorbei war, hatte ich alles, bis auf den Schlüssel zu der Eingangstür der Wirtschaft, gewonnen. Gillinan borgte sich Geld und gewann seinen Besitz zum größten Teil von mir zurück. Was mir verblieb, schickte ich heim.
Von Paradise Valley kehrte ich nach Eagle Creek zurück und arbeitete in der Caledonia-Grube. Hier erhielt ich von meinem Schwager die Nachricht, dass das bisher abgesperrte Gebiet von McDermitt zur Besiedlung freigegeben worden sei. Jeder Siedler konnte bis zu einhundertsechzig Acres, etwa 65 Hektar, Land in Besitz nehmen. Das so genannte Heimstättengesetz verlangte, dass der Ansiedler ein Haus bauen und das Land fünf Jahre hindurch beackern müsse, dann würde es ihm gehören.
Es war schon spät in der Nacht, als ich diese Nachricht erhielt, aber ich sprang dessen ungeachtet sofort aus dem Bett und ritt hinüber nach Fort McDermitt. Ich erinnere mich noch an die vielerlei Gedanken an ein eigenes Heim, die mir während meines Rittes durch den Kopf gingen. Die Ländereien des Forts betrugen nicht mehr als fünf- bis sechshundert Acres, auf denen wir unsere Heimstätten abgrenzen konnten. Wir waren unser zwei, mein Schwiegervater und ich, also war kein Platz mehr für andere Ansiedler, außer auf dem Wiesenland der Regierung im tiefergelegenen Gebiet, wo mein Schwager Jim sein Heim aufschlagen sollte. Obgleich wir wussten, dass sich die Nachricht über die Freigabe des Landes noch kaum verbreitet haben konnte, verloren wir keine Zeit, als erste dort zur Stelle zu sein, da die Farmen ein lohnendes Objekt waren. Wir erreichten McDermitt früh am nächsten Morgen und begannen gleich nach dem Frühstück unsere Grenzen abzustecken. Meine Farm befand sich gerade hinter dem alten Militärlager, an der breitesten Stelle des Tales. Wir legten auf unseren drei Siedlungsstellen die Grundsteine, dann machte ich mich nach Winnemucca auf, um Bauholz zu holen. Ich baute ein Holzhaus mit einem Raum und angebauter Küche. Die Wände und Decke des Zimmers tapezierte ich mit grober Leinwand, die ich wie ein Trommelfell spannte und weiß tünchte. Dann schaffte ich meine Frau und das Kind hinunter in das neue Haus. Das Leben bekam nun ein neues Gesicht; jeder Handgriff, den ich tat, ob ich Zäune baute oder Gräben zog, alles diente dem Aufbau eines eigenen Heims. Vielerlei Fragen tauchten auf und wurden besprochen: wo wir die Scheune bauen sollten, wo der Hühnerhof und wo der Platz für die Pferde liegen sollte, welche Bäume gepflanzt werden sollten. Es war sehr guter Boden, der Lehm reichte tief, und es ließ sich dort alles anbauen. Es gab viele Dinge, die wir anschaffen mussten und für die unbedingt Geld benötigt wurde. Ich fuhr nach Tuscarora, einem ungefähr einhundertfünfundzwanzig Meilen entfernten Grubenort.
Dort machte ich mich sofort zu den Bergwerken auf, um mich nach einer Arbeit umzusehen, und übernahm schließlich eine Pachtstrecke in der Navajo-Grube, die am Abhang des Mount Blitzen gelegen war. Um die Pachtstrecke abzubauen, musste das Erz erst mit einem Seil in den Tunnel, der zum Hauptschacht führte, hinuntergelassen und von dort aus an die Oberfläche gebracht werden. Das bedeutete, dass wir jeden Sack mehrfach zu schleppen hatten. Über Tage trugen wir die Säcke mit dem Erz entweder zur Schüttelsiebmaschine oder direkt an den Sortierer. Die Grubengesellschaft zahlte für das geförderte Erz. Rings um das Schachtgebäude lagen, bergehoch aufgestapelt, Bündel von Salbeigestrüpp; auf dieser Zeche wurden die Kessel noch mit diesen Liliputeichen geheizt. Das Kraut wurde angefeuchtet, bevor man es mit Forken in den Feuerraum warf. Meine nächste Arbeitsstätte war die Commonwealth-Grube. In dem Stollen, in dem ich arbeitete, lernte ich Jay Pollard kennen, den ich erwähne, weil ich ihn viele Jahre später in Cripple Creek, Colorado, wieder sah. Er nahm auch als Delegierter am Gründungskongress der Industriearbeiter der Welt, der IWW, in Chicago teil. Tuscarora war ein interessanter alter Grubenort. Es gab Gruben mitten in der Stadt. Die Gesellschaften unterhielten keine Pensionen oder Läden. Die Bergarbeiter lebten gewöhnlich zu Hause, aßen in Restaurants oder mieteten sich bei Privatfamilien ein. Die stark in Anspruch genommenen Wirtshäuser waren typisch für einen Grubenort. Gewöhnlich nahm ein langer Schanktisch die eine Längsseite ein, davor standen zwei oder drei Tische. Weiter hinten lag ein Spielzimmer, in dem vorzugsweise Faro oder Poker gespielt wurden. Eines Nachts stand ich gerade an der Bar in Louis Engels Wirtschaft, als der Wirt sich zu mir wandte: „Bill, sieh dir doch einmal die Gruppe am Farotisch an." Es waren acht Männer und eine Frau. Jeder von ihnen hatte schon ein bis sechs Leute umgebracht. Die Frau, Molly Forshay, hatte ihren Liebhaber getötet, hatte vor
Gericht gestanden und war zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Nach ungefähr zweijähriger Haft rückte sie mit der Überraschung heraus, dass sie ein Kind erwarte. Um den Skandal zu vertuschen, in den der Gefängnisdirektor verwickelt war, wurde sie vom Gouverneur begnadigt.
Dann war da noch ein Fuhrmann, der Frachten auf der Straße von Tuscarora nach Elko transportierte. Man sah ihn ständig in den Wirtschaften herumlungern und spielen und rauchen, aber niemals trank er; er hatte geheiratet, aber die Frau ließ sich bald wieder scheiden. Später zog dieser Fuhrmann Frauenkleider an, heiratete zum zweiten Mal, diesmal einen Mann, und bekam viele Kinder! Man nannte sie die „Was-ist-es von Tuscarora". Sie hatte Männerkleidung angezogen, um mehr Geld zu verdienen, als für Frauenarbeit bezahlt wurde. Trinken, Spielen und Tanzen waren nicht unsere einzigen Vergnügungen. Wir hatten auch einen Lyzeum-Klub, in dessen Studien- und Diskussionszirkeln den jungen Leuten Gelegenheit geboten wurde, etwas Geschichte, Literatur und anderes zu lernen. Tom Minor, der zur selben Zeit auf der „P-bench"-Ranch in der Nähe von Tuscarora arbeitete, kam eines Tages in die Stadt. Wir beschlossen, nach Hause auf Besuch zu fahren. Tom hatte natürlich seine eigene Ausrüstung. Ich lieh mir Pferd und Sattel.
Wir ritten beizeiten los und kamen am frühen Nachmittag des nächsten Tages daheim an. Die Familie freute sich, uns zu sehen, und ich war überglücklich, wieder bei meiner Frau und dem Baby zu sein. Aber unser Glück wurde durch den Zustand meiner Frau gestört, die gerade einen neuerlichen Anfall ihres, wie die Ärzte behaupteten, rheumatischen Leidens bekommen hatte. Als Mädchen war sie von einem Pferd gestürzt und hatte eine Verletzung der Wirbelsäule davongetragen, die auf ihre Gelenke zurückwirkte. Diese schwollen an und verursachten ihr große Schmerzen, unter denen sie ihr ganzes Leben zu leiden hatte. Ich beschloss sofort, ein letztes Mittel zu versuchen und sie zu den Kyle-Quellen zu bringen, die hundertvierzig Meilen entfernt lagen. Unser Bettzeug, Proviant und eine Lagerausrüstung lud ich auf einen Wagen, und wir machten uns auf den Weg. Das Baby ließen wir bei der Großmutter. Nach dreitägiger Fahrt erreichten wir die Kyle-Quellen. Die heilkräftige Wirkung des Wassers war weit und breit bekannt, aber jetzt lag der Ort verlassen da, weil die Gruben in diesem Teil des Landes erschöpft waren. Auf einem unfruchtbaren, öden Fleck, nicht weit vom Berge Cinnabar, stand ein Haus mit vier oder fünf Zimmern. Unionville und andere alte Bergwerksorte lagen acht bis zehn Meilen entfernt in den Bergen jenseits des Tales. Hier und da gab es kleine Farmen und Ranches.
Drei oder vier Wochen lebten wir hier allein, nur einmal kampierten ein paar Indianer einige Tage an den Quellen. Meine Frau war hilflos, damals sogar unfähig zu gehen, so dass ich sie überall hintragen musste. Nicht einmal selbst ankleiden konnte sie sich. Des Morgens fütterte ich die Pferde, reinigte den Stall, brachte, auf dem einen Tier reitend und das andere am Zügel führend, die Pferde zur Tränke, da es nur weiter oben am Canyon, ungefähr eine Meile weit entfernt, frisches Wasser gab. Nach der Rückkehr wusch und kochte ich, brachte meiner Frau das Frühstück und spülte das Geschirr. Dann rollte ich die Kranke in eine Decke und trug sie an die Quellen. Hier grub ich eine Mulde in den Schlamm, legte sie hinein und bedeckte den Körper bis zum Halse mit feuchtem, warmem Schlamm. Von dem
Schlammloch, das im Freien lag, trug ich sie zum Bade, spülte den Schlamm ab, wickelte sie in eine Decke und brachte sie wieder zurück ins Haus. Am Nachmittag trug ich sie aufs neue an die Quellen, diesmal, um sie in Alaunbäder zu tauchen. Diese lagen in einem Loch, das so schmal war, dass ich Acht geben musste, damit die Kranke sich nicht an den Steinen verletzte. Darauf folgte noch ein Dampfbad und ein Tauchbad. Nachdem wir fast einen Monat an den Quellen zugebracht und die verschiedenen in der Nachbarschaft gelegenen Ranches besucht hatten, stellte ich eines Tages bei der Durchfahrt durch Unionville meine Frau auf eine Waage und entdeckte, dass sie nur noch achtundachtzig Pfund wog. Sie hatte fünfundzwanzig Pfund oder mehr abgenommen. Wir ersahen daraus, dass die Kur an den Quellen zu anstrengend für sie war, und beschlossen, nach Hause zurückzukehren, obwohl ihr Zustand sich noch nicht gebessert hatte. Dort versuchten wir es dann mit Schlangenöl, Salbeibädern und anderen Heilmitteln der Indianer.
Nach unserer Rückkehr von den Kyle-Quellen arbeitete ich auf meiner Farm, baute das Eingangstor fertig, schnitt Pfosten für den Zaun zurecht und hob Gräben aus. Als das alte Grubenfieber wieder erwachte, ging ich in die Berge und übernahm einige Vermessungsarbeiten. Ich vermaß die Wild-Deer-Grube am Flat Creek und zwei andere neu entdeckte Gruben jenseits des Bergrückens am Granite Creek. Dort wurden später außerordentlich reiche Golderzlager entdeckt und National City, ein großer Grubenort, gegründet. Damals herrschte eine schwere Wirtschaftskrise, die sich zu einer wahren Panik auswuchs. Es war sehr schwer, Arbeit zu finden. Mein Schwager Jim und ich gingen nach Delamar. Dort gab es genug Arbeitslose, und wir erfuhren nur, dass für die nächste Zeit keine Aussicht auf Beschäftigung bestehe. Also machten wir uns auf den Heimweg. Die erste Nacht blieben wir bei Billy Beers, der auf einer großen Ranch mit einer großen Familie und einer großen Menge Vieh hauste. Alles war groß an Billy Beers, und er selbst war ein großer, gutherziger Bursche, der große Mahlzeiten liebte. Als wir uns an den Tisch setzten und die Bratenschüssel nicht so reich gefüllt war, wie sie es seiner Meinung nach sein sollte, sagte er in gutmütigem Tone:
„Mama, können wir keinen ordentlichen Braten kriegen? Gott verdamm mich, können wir keinen Braten haben? Hier haben wir tausend Köpfe gottverdammter Rinder und einen gottverdammten Chinesen, der sie jederzeit schlachten kann, und wir können keinen gottverdammten Braten kriegen? Gott verdamm mich, Mama, können wir wirklich keinen Braten haben?"
In diesen Tagen der Sorgen und Not erhielt mein Schwiegervater die amtliche Mitteilung von der Regierung, dass das Land, auf dem wir uns angesiedelt hatten, für die Indianer reserviert bleiben solle. Meinen Schwager Jim berührte das nicht, da er seine Siedlung im Wiesenland gegründet hatte. Aber für den alten Mann und für mich war die Botschaft ein furchtbarer Schlag. Es schien, als sei ein schwarzer Vorhang vor die Zukunft gefallen; es gab keinen Hoffnungsstrahl. Da kam eine verzweifelte Entschlossenheit über mich, und ich schwor, dass wir nicht verhungern würden, solange ich noch das alte Springfieldgewehr hätte und Vieh in der Gegend zu finden wäre. Kurz nachher brachte ich meine Frau und das Kind nach Winnemucca. Nichts war uns übrig geblieben; nicht einmal eine Entschädigung für die Arbeit, die ich an die Siedlung gewandt hatte, für das Haus, das ich gebaut, die Gräben, die ich gezogen, die Bäume, die ich gepflanzt hatte. Mein Geld war völlig aufgebraucht. Es bestand keine Aussicht, in diesem Teil von Nevada Arbeit zu finden, und so machte ich mich nach Angels Camp in Kalifornien auf. Bis Auburn schlug ich mich durch, nur, um zu erfahren, dass ein Feuer in der Stadt gewütet habe und auch dort eine Menge Leute arbeitslos seien. In Reno, Nevada, begegnete ich einem Trupp Männern von Coxeys Arbeitslosenarmee, der nach dem Osten marschierte. Durch die Schneefelder von Truckee fuhr ich zusammen mit einem anderen Burschen in einem geschlossenen Güterwagen, in dem es so kalt war, dass Eiszapfen von der Decke und von den Wänden herunterhingen. Wir mussten im Wagen auf und ab gehen und ständig in Bewegung bleiben, um nicht zu erfrieren.
Von Reno aus wanderte ich mit einem Trupp der „Armee" nach Wadsworth. Einige der Männer erzählten, dass sie in die Bundeshauptstadt Washington gingen, um Arbeit zu verlangen, und dass andere Trupps von Arbeitslosen aus dem Süden und Osten zum gleichen Zweck anmarschierten. Einer sagte, dass „General" Coxey vom Kongress verlangen wolle, ein Gesetz über die Inangriffnahme von Straßenbauten zu beschließen, ein, anderer sprach etwas von „zinsenfreier Staatsanleihe". Mir schien es, als marschierten sie alle als lebende Petition nach Washington, um Arbeit zu fordern oder zu verlangen, dass die Regierung Beschäftigung für die Arbeitslosen schaffen solle. Es war eine der größten Arbeitslosendemonstrationen in den Vereinigten Staaten, obwohl schließlich nur eine geringe Zahl Washington erreichte. Die verschiedenen „Armeen" durchzogen das Land in Frachtzügen; manchmal zwangen sie die Eisenbahngesellschaften, sie weiterzubefördern. Die Bürgermeister der Städte, in denen sie in Scharen erschienen, mussten, um sie wieder loszuwerden, alle verköstigen und ihnen die Weiterfahrt ermöglichen. In Wadsworth sah ich mich um und entdeckte, dass ein Viehtransport nach Chicago abgehen sollte. Es glückte mir, neben vier oder fünf anderen Leuten eine Anstellung als Zugbegleiter zu bekommen. In Winnemucca verließ ich den Zug und ging nach Hause, niedergeschlagener, als ich jemals in meinem Leben gewesen war. Ich verstand das Problem der Arbeitslosigkeit nicht und konnte mir nicht erklären, warum Tausende von Menschen den Kontinent durchqueren mussten, um in Washington Arbeit zu fordern. Meine Gedanken wanderten mehr und mehr zurück zu den Gesprächen, die ich mit Pat Reynolds geführt hatte. Er hatte mir erklärt, dass diese Krisen, in denen die Arbeiter die Hauptleidenden waren, eine Folge des kapitalistischen Systems seien. Aber ein Heil- oder Vorbeugungsmittel fiel mir nicht ein. Ich mühte mich ab in geistiger Dunkelheit.
Plötzlich durchbrach ein starker Lichtstrahl das Dunkel: der Streik der Eisenbahner im Jahre 1894. Lastzüge, beladen mit leicht verderblichem Obst, das für die östlichen Märkte bestimmt war, wurden auf Nebengeleise gefahren, ebenso Waggonladungen mit Kohle und anderen Produkten, die nach dem Westen gehen sollten. Der Streik des Amerikanischen Eisenbahnerverbandes breitete sich aus. Die Gouverneure mehrerer Staaten hatten die Miliz einberufen. In Sacramento, Kalifornien, beantworteten die Milizionäre den Feuerbefehl damit, dass sie die Bajonette in den Boden steckten und nicht schossen.
Die Miliz von Winnemucca weigerte sich, dem Mobilisierungsbefehl Folge zu leisten. Die meisten Milizionäre waren selbst Eisenbahner, die die Miliz als eine Institution im Interesse der Allgemeinheit ansahen. Sie hatten keine Lust, die Waffen auf die Schulter zu nehmen, um das Eigentum der Eisenbahngesellschaften zu schützen. Die Stadt war mit Orangen und anderen Gütern aus den abgestellten Zügen überschwemmt; aber es war besser, sie zu essen, als sie verderben zu lassen. Man brauchte Kohle für den Winter, und die Burschen dachten nicht daran, jemand umzubringen, weil er sich einen Kohlevorrat für das kalte Wetter anlegte. Die Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft hatten sich gegen die Interessen der Eisenbahngesellschaften erhoben. Präsident Cleveland hatte die Bundessoldaten nach Chicago gegen die Arbeiter geschickt, die in den Pullmann-Schlafwagenbetrieben streikten. Eugene V. Debs und andere waren verhaftet und einer „Verschwörung zum Mord" angeklagt worden, und als diese Anklage fallengelassen werden musste, wurden sie wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis geschickt. Vielen heißen Diskussionen über diese offene Ungerechtigkeit hörte ich zu und nahm an ihnen teil. Hier, das fühlte ich, war eine große Macht. Es handelte sich nicht darum, dass Waren aus den Waggons fortgenommen wurden; die Streikenden standen hoch über diesen Dingen. Das Große an ihnen war, dass sie die Züge zum Stillstehen bringen konnten. Es war die Lehre der „Ritter der Arbeit", ein Echo der Stimmen der Märtyrer von Chicago.
Zu dieser Zeit erkrankte unser kleines Mädchen an typhöser Lungenentzündung. Viele Tage und Nächte lang wachte ich ununterbrochen an seinem Bett. Als die Krise überstanden war und es sich zu erholen begann, glaubte ich nicht, dass ich jemals wieder zu schlafen vermöchte. Ich wanderte durch das Haus, ich wanderte durch die Stadt, kehrte nach Hause zurück, dunkelte das
Zimmer ab und trank Whisky. Endlich schlief ich ein und wachte erst nach vierundzwanzig Stunden wieder auf.
Als meine Frau, die damals umhergehen konnte, eines Nachmittags von einem Ausgang zurückkam, entdeckte sie, dass ein Einbruch verübt worden war. Der Verlust einiger kleiner Andenken schmerzte uns nicht so sehr, wie uns die Tatsache des Einbruchs selbst aufbrachte. In den Grubenorten und auf den Ranches war es niemals nötig gewesen, abzuschließen. Wir pflegten die Wohnungen tagelang zu verlassen und den Schlüssel an den Türpfosten zu hängen. Wenn ein Fremder vorüberkam, ging er vielleicht hinein, nahm sich etwas zu essen oder schlief im Hause, räumte nachher wieder auf, hing den Schlüssel an seinen Platz und ging weiter. Niemand hatte uns jemals bestohlen. Im Gegensatz zu den Geschichten, die von ihnen erzählt werden, nahmen die Indianer nicht einmal etwas aus den verlassenen Gruben orten, wo doch Töpfe, Pfannen und Tische herrenlos umherlagen. Einmal verließ ich das Haus bei der Ohio-Grube auf mehrere Monate; als ich zurückkam, stand die Tür offen, aber die Revolver und Betten, für die Indianer so wertvoll, waren unberührt geblieben. Ein Goldfieber brach aus, als man an einem Orte namens Kennedy auf Gold stieß. Zusammen mit Al Richardson machte ich mich auf, mietete eine Hütte und bekam Arbeit bei der Imperial-Bergbaugesellschaft. Ich erinnere mich, dass ich eines Abends zu Bett ging und beim Aufwachen am nächsten Morgen entdeckte, dass über Nacht vier neue Häuser an der Straße aufgestellt worden waren. Später übernahmen wir einen Vertrag zum Bau eines hundert Fuß langen Tunnels. Wir mussten selbst unser Werkzeug schleifen, den Schutt wegfahren und das Pulver beschaffen.
In Kennedy adoptierte mich „Jerry der Penner". Jerry war ein stichelhaariger Skyeterrier. Nachdem er in mein Häuschen eingezogen war, machte ich es ihm so bequem wie möglich, und er folgte mir, wohin ich auch ging, auf Schritt und Tritt. Die Leute in der Stadt sagten: „Du meinst wohl, du hast jetzt einen Hund, nicht wahr? Aber der bleibt nicht bei dir. Jerry der Penner ist schon mal so."
Aber Jerry schien mich ebenso gut leiden zu können, wie ich ihn. Eines Tages, als ich unten in der Stadt beim Postamt war, vermisste ich ihn. Auf dem Heimwege sah ich ihn auf dem Bock eines Frachtwagens sitzen und rief ihm zu:
„Hallo, Jerry, was tust du da?"
Er schien mich nicht zu hören. Ich ging näher heran.
„Komm, wir wollen nach Hause gehen."
Jerry wendete seinen Kopf ab.
„Na schön", sagte ich, „wenn du so darüber denkst, dann auf Wiedersehen!"
Jerry war etwa zwei Wochen fort, als ich ein Kratzen an der Tür hörte, öffnete, und er hereinkam, mit dem Schwanzstummel wedelnd, gerade als ob nichts geschehen sei. Er bekam zu fressen und bezog aufs neue seine alte Ecke. Er verließ mich niemals wieder, solange ich in Kennedy blieb.
Die Arbeit in Kennedy wurde eingestellt und der Ort geräumt, sogar noch schneller, als er aus dem Boden aufgeschossen war. Wieder musste ich nach Winnemucca zurück und arbeitete dort kurze Zeit als Kutscher. Dann ließ ich meine Familie wieder zurück und ging nach Washburn, wo sich mein Schwiegervater erneut angesiedelt hatte, um die Grenzen seiner Farm zu vermessen. Wir transportierten mein kleines Haus von unserer alten Heimstätte dorthin und machten daraus einen
Anbau zu dem Haus, das sich mein Schwiegervater auf seiner neuen Siedlung errichtet hatte. Ich beschloss, mein Glück in Silver City, Idaho, zu versuchen, und gab einigen Männern, die zu dem dortigen Rennen wollten, meine Decken mit. Ich rechnete damit, vor ihnen dort einzutreffen, da sie langsam reiten mussten, um ihre Pferde in guter Form zu erhalten. Noch einmal schaute ich in das Tal zurück, über die wundervollen, salbeibewachsenen Ebenen hinweg auf die Berge, in denen ich so viele Jahre geweilt und in denen ich mein Leben zu verbringen gedacht hatte. Dann verließ ich Nevada und sollte es erst viele Jahre später wieder sehen.

 

Viertes Kapitel
Silver City

Die Straße nach Silver City führte durch ödes, graues, unwirtliches Land ohne alle Ansiedlungen, außer einigen zerstreuten, zumeist verlassenen Stationen und hier und da einer Farm. So weit das Auge reichte war kein Baum zu sehen, nichts als krummes, knorriges Salbeigestrüpp, Fettsträucher und weite Strecken von Krummholz. So blieb es bis zum Fluss; dort wurde die Landschaft hügelig, und im Hintergrund erschienen hohe Berge.
Beim Aufstieg zum ersten Gipfel fiel mir eine von Bill Coulter vor Jahren erzählte Geschichte ein, wie er an dieser Stelle mit seiner Postkutsche von Indianern die Straße hinuntergejagt worden war. Ich konnte mir jetzt Bill auf seiner dahinsausenden Postkutsche vorstellen: wie er auf sein Gespann einhieb, eine Bande von keuchenden und schreienden Indianern hinterdrein, von denen keiner nahe genug an die galoppierenden Pferde herankommen konnte, um einen Pfeil nach dem Kutscher abzuschießen.
Im Jordantal ließ ich mein Pferd weiden, hing Sattel und Zaum im Mietsstall auf und nahm die Postkutsche nach Silver City.
Nach einem Imbiss in einem chinesischen Restaurant trieb ich mich eine Stunde in der Stadt auf der Such nach einem Schlafplatz für die Nacht umher. Ein Mann sagte mir: „Du kannst mit mir im alten Potosi-Schacht haus schlafen, aber sieh es dir besser erst an, damit du nicht in den Schacht fällst, wenn du spät nach Haus kommst." Rund um den tiefen, von keinem Geländer geschützten Schacht, der in eine alte Grube führte, lagen die Schlafplätze. Fürs erste quartierte ich mich dort ein und blieb auch noch einige Tage da, als meine Decke bereits eingetroffen waren. Die Rennen besuchte ich nicht, bat aber die Zurückkehrenden, im Jordantal mein Pferd und Sattelzeug mitzunehmen und zur Ranch in Washburn zu bringen.
Vom ersten Morgen nach meiner Ankunft an wandert ich zur Blaine-Grube auf Arbeitsuche; mehrere Vormittage hindurch, manchmal auch nachmittags, wartet ich auf Arbeit, jedoch ohne Erfolg. Als mein ganzes Geld verbraucht war, ging ich zum alten Hutchinson, dem Betriebsleiter, um einen letzten Versuch zu wagen. Auf seine Fragen nach meinen Fähigkeiten, bedeutete ich ihm, dass ich fast alle Arbeiten im Bergbau verstünde. „Kannst du Wagen bedienen?"
„Ich bin Bergarbeiter, aber ich kann auch Wagen bedienen."
„Schön, komm morgen früh."
Am gleichen Tage traf ich in der Stadt Dave O'Neill, einen Bekannten aus Tuscarora. Er steckte mir ein Fünfdollargoldstück zu und meinte: „Vielleicht kannst du das brauchen, Bill." Ich antwortete ihm: „Ich bin zwar pleite, aber morgen fange ich an zu arbeiten." Na schön, dann kannst du es mir am Zahltag zurückgeben."
Ein solcher Pump war unter den Bergarbeitern üblich, und es geschah selten oder eigentlich niemals, dass geliehene Gelder nicht zurückgezahlt wurden. Es sind noch keine drei Jahre her, dass mir zum Beispiel Herman Andrigg, der beste Bohrer, mit dem ich in Silver City zusammen gearbeitet hatte, eine Summe zurückzahlte, die ich ihm vor mehr als einem Vierteljahrhundert geborgt hatte.
Jetzt konnte ich in das Schlafhaus der Blaine-Grube übersiedeln. Die Pritsche an der Tür war frei. Das war mir gerade recht, denn die Luft war nicht allzu gut, da der Raum, in dem sechzig Pritschen in zwei Reihen übereinander eingebaut waren, fast nur durch das Öffnen und Schließen der Tür Ventilation erhielt. Wenn wir rund um den Ofen saßen oder uns auf den Pritschen räkelten, wurden mit Vorliebe alte Geschichten aus dem Leben der verschiedenen Grubenorte ausgekramt - eigene Erlebnisse oder auch solche, die angeblich aus erster Quelle stammten. Zu unseren guten Plauderern gehörte auch Bill Pooley, ein „Vetter Jack", wie wir die Comwalliser, deren es viele in Silver City gab, nannten. Einmal erzählte er uns von einem Freund, der die schwarzen Blattern gehabt hatte:
... „Und als er wieder gesund war, hatte er so tiefe Narben, dass er sich mit Winkelband und Bohreisen rasieren musste."
Nichts war den „Vettern Jack" lieber, als wenn sie ein Gedinge bekamen, wo sich gutes Geld verdienen ließ. Sie nannten das „Tributing". So hatte eine Gruppe von ihnen in der Poor-Man-Grube im Gedinge gearbeitet. Simon Harres, der Oberaufseher, hatte aber diese Arbeitsform abgeschafft und bestimmt, dass alle Leute zu festen Löhnen arbeiten sollten. Da saßen nun acht oder zehn von den „Vettern Jack" im Wirtshaus um einen großen runden Tisch herum. Sie schimpften und jammerten über den Verlust ihrer Akkordgewinne. Schließlich ließen sie sogar einen von ihnen, Tussy, ein Gebet sprechen, mit dem der liebe Gott dazu gebracht werden sollte, den Kerl von Oberaufseher in die Hölle zu stecken, ihn dort so lange braten und rösten zu lassen, bis er die „netten kleinen Tributes" wieder gewährte. „Und wenn er das tut, lieber Gott, dann bitten wir dich, ihn wieder aus der Hölle herauszunehmen, ihn ein wenig einzuschmieren und ihn laufen zu lassen. Amen!" Allen gefiel dieses Gebet, und sie kauften Tussy zu Ehren noch eine Gallone Bier. Wie alle Gebete blieb aber auch dieses wirkungslos. Das Akkordsystem wurde abgeschafft und die „Vettern Jack" verloren ihre „Tributes".
Die Wagenschieber, von denen auf der Blaine-Grube sechs oder sieben beschäftigt waren und zu denen auch ich gehörte, begannen schon vor den eigentlichen Bergarbeitern mit dem Tagewerk. Unsere Arbeit bestand darin, die Wagen in den Tunnel zu den Rutschen zu schieben, wo die Leute in den darüber gelegenen Abbaustrecken arbeiteten. Wenn wir den Schieber öffneten füllten sich die Wagen von selbst. Nur am Ende des Tunnels mussten wir das Erz aufschaufeln, solange noch nicht die Verbindung zur anliegenden Black-Jack-Grub hergestellt war. Die beladenen Wagen wurden bis zur
so genannten „Abkürzung" geschoben; dort angelangt, traten wir auf das Trittbrett am hinteren Wagenende, denn nun erhielten die Wagen eine solche Geschwindigkeit, dass wir den ganzen Weg bis zum Abladeplatz mitfahren konnten.
Nach einigen Tagen wurde mir die Arbeit in den Strecken an der „Abkürzung" zugewiesen, wo ich Matt McLain kennen lernte. Als er Vorarbeiter unserer Schicht wurde, arbeitete ich unter ihm. Eines Tages, als ich gerade ein Gerüst aufgerichtet hatte, begann er, die Arme auf das Gerüst gestützt, von den alten Zeiten in Pennsylvanien zu erzählen. „Hast du schon einmal etwas von den Molly Maguires gehört?"
Ich bejahte die Frage; jeder hatte von den Molly Maguires gehört.
„Aber", fuhr er fort, „du weißt bestimmt nicht, wie sie gefangen wurden. Da war ein gewisser Franklin B. Gowen, der Direktor einer oder mehrerer Gruben im Shamokin-Tal. Er beschloss, die Molly Maguires zu vernichten, das war so eine Arbeiterorganisation, die sich gegen die Herabsetzung der Löhne wehrte. Gowen wandte sich an die Pinkerton-Detektivagentur, die einen ihrer Spitzel entsandte.
Er kam als James McKenna nach Pottsville, aber sein wirklicher Name war McParlan. Er trug ein kleines Bündel an einem Stock über der Schulter. So wanderte er in die Stadt hinein und erkundigte sich nach einer Herberge, bald fand er auch eine passende Pension. Eines Abends kam er scheinbar zufällig in Barney Hogles Wirtshaus und lud alle Anwesenden zu einem Glas ein. Beim Bezahlen Heß er ein ganzes Päckchen Geldscheine sehen und bemerkte so nebenbei, er hätte eben sein Schiff in Philadelphia verlassen, das Wasser hätte er satt, und er wollte jetzt eine Zeitlang Arbeit auf festem Boden annehmen. Von Hogle wollte er wissen, ob er in dieser Gegend Arbeit bekommen könnte. Hogle gehörte zu den Führern der Molly Maguires. Das war eine in Irland entstandene Organisation, die auch in Amerika Wurzel gefasst hatte und in Pennsylvanien: hauptsächlich aus Bergarbeitern bestand. (Anm.: Eine Organisation der „Molly Maguires" hat es niemals gegeben. Die irischen Bergarbeiter im Kohlenrevier Pennsylvaniens waren in einer freimaurerähnlichen Loge, dem Alten Orden der Hibernier zusammengeschlossen. Um die Gewaltmaßnahmen der Regierung gegen die Führer der Arbeiterorganisationen in der Kohlenindustrie zu rechtfertigen, erfanden die Unternehmer eine geheime Terrororganisation, der sie den Namen „Molly Maguires" gaben. Die Red.) Hogle war aber auch Gastwirt und hatte den Haufen Geld gesehen. Der junge Ire war ein guter Zecher, und Hogle wollte ihn als Gast behalten. Andererseits wollte er aber auch kein zu großes Interesse zeigen und antwortete McKenna, man müsste schon ein tüchtiger Kerl sein, um hier zu arbeiten. McKenna geriet in Hitze. ,Wer sagt dir, dass ich keiner bin?' brauste er auf und bestellte noch ein Glas. ,Soll ich euch ein Lied singen, eine Gigue tanzen oder mit dem erstbesten Kerl hier im Saal um eine Runde Whisky für alle kämpfen?' Er sang ein irisches Lied und tanzte einen irischen Tanz. Als er sich dann umschaute, sah er einen kräftigen Burschen, der ihn mit den Augen maß. Auf diesen jungen Kumpel ging er zu und fragte: ,Also, du willst es mit mir versuchen?' Ja, ich!' war die Antwort. Die ganze Gesellschaft zog sich in das Hinterzimmer zum Handballspiel zurück. McKenna machte ein paar Minuten mit, dann zogen sich beide Burschen zum Kampf aus, der eine ,faire Sache' werden sollte. Das Publikum bestand aus lauter Iren, und nichts machte ihnen mehr Spaß, als ein guter Zweikampf. Aus ihrer Mitte wurde ein Schiedsrichter gewählt, und dann gaben sie einen quadratischen Raum für die Kämpfenden frei.
Der Bergarbeiter traf McKenna an der Backe, aber Mac führte mit der Linken einen Konterschlag gegen die Kinnlade und stieß seinem Gegner die Rechte in die Rippen. ,Gib ihm Saures!' rief eine Stimme. Aber schon trieb der junge Kumpel McKenna mit einer geraden Linken unter das Kinn gegen die Rückwand. Wieder wechselte das Glück: McKenna erholte sich rasch, bearbeitete den Rumpf des Bergarbeiters mit beiden Fäusten und ließ ihn nicht mehr aus der Umklammerung. In der nächsten Runde machte der Bergarbeiter mit der Linken eine Finte und gab Mac einen Hieb auf die Nase. Das Blut schoss hervor, aber Mac drehte sich herum, versetzte dem jungen Burschen einen Faustschlag ins Gesicht und warf ihn so auf den Rücken. Der Kampf war zu Ende. Jedermann war höchst befriedigt. McKenna wusch sich seine blutende Nase: sein rechtes Auge war fast zugeschwollen. Dem jungen Kumpel schüttelte er die Hand: ,Du kannst mehr, als ich dachte.' Im Schankzimmer wurde weiter getrunken und getanzt. Alle waren sich einig, dass es ein feiner Abend war. McKenna kam nun häufig in das Lokal, und Hogle verschaffte ihm Arbeit. Alle seine Kollegen waren Molly Maguires. Das war es gerade, was er wollte. Bald darauf wurde er aufgefordert, selbst ein Molly Maguire zu werden. Er war natürlich sofort einverstanden, sagte aber, um ein guter Molly Maguire zu sein, hätte er wohl doch noch nicht genug Erfahrung. Schon kurze Zeit nach seinem Eintritt bekam er irgendeine Funktion in der Organisation.
Jetzt hatte er, was er wollte. Durch die Intrigen dieses Spitzels wurden ein paar junge Kumpels in eine Mordaffäre verwickelt; das heißt, das Ding wurde so gedreht, dass sie als Mörder angeklagt wurden. Als die jungen Arbeiter vor Gericht standen, erschien
McKenna als Hauptbelastungszeuge, nannte sich James McParlan und entpuppte sich als Pinkertondetektiv. Der Preis, den die Molly Maguires dafür zahlen mussten, dass sie ihre Angelegenheiten einem Gastwirt anvertraut hatten, war das Leben von zehn ihrer Mitglieder, die hingerichtet wurden, und zwei bis sieben Jahre Zuchthaus für eine Anzahl weiterer Mitglieder. Dem schmierigen McParlan wäre es wahrscheinlich ohne Hogles Hilfe nicht möglich gewesen, sich in die Organisation einzuschleichen."
McLains Bericht machte einen tiefen Eindruck auf mich; es war das erste Mal, dass ich etwas von einem Agent provocateur hörte. Später erfuhr ich, dass die Verfolgung der Molly Maguires der erste Fall in Amerika war, in dem Pinkertonmethoden gegen die Arbeiterklasse angewandt worden waren.
Am 19. Juni 1896 erlitt ich einen Betriebsunfall und zwar eine so starke Quetschung meiner rechten Hand, dass der Arzt einen Teil amputieren wollte. Dagegen wehrte ich mich: ich wollte nicht als zweifacher Krüppel durchs Leben gehen, da ich schon durch den Verlust eines Auges schlimm genug daran war. Wenn irgend möglich, sollte der Arzt versuchen, die Hand zu retten. „Wir wollen sehen", erwiderte er und verband die Hand. Jede Narkose wies ich zurück, trotz der Schmerzen, weil ich fürchtete, dass er mir während der Bewusstlosigkeit die Finger abnehmen würde. Nach einigen Tagen zeigte es sich, dass die Hand heilen würde. Gerade zu dieser Zeit war auch meine Frau mit unserem kleinen Mädchen nach Silver City gekommen. Da ich infolge der verletzten Hand arbeitsunfähig war, veranstalteten Kameraden eine Sammlung und schenkten mir eine Börse mit Geld; damit kamen wir sehr gut über diese schwierige Zeit hinweg. Einem Kumpel, der die Stadt verlassen wollte, kaufte ich ein Haus mit zwei Zimmern ab, zahlte ihm einen Teil sofort und den Rest in Raten. Von dem Idaho Hotel, in dem wir vorläufig Wohnung genommen hatten, übersiedelten wir in unser neues Heim.
Anfang August desselben Jahres kam August Edward Boyce, Präsident der Bergarbeiterföderation des Westens, nach Silver City, um die Bergarbeiter zu organisieren. Zwei Versammlungen, eine am 8. und eine am 10. August, wurden abgehalten. Ich ging zu beiden, obwohl ich damals noch nicht wusste, ob ich jemals wieder imstande sein würde, zur Arbeit im Bergwerk zurückzukehren, da ich meinen Arm noch immer in der Schlinge trug. Aber mich interessierte sehr, was Boyce uns zu sagen hatte, der am Streik in Coeur d'Alene im Jahre 1892 teilgenommen hatte. Er war groß, schlank und hatte einen feinen Kopf mit dünnem Haar. Seine sympathischen Züge wurden nur durch hervorstehende Zähne gestört, eine Folge des Speichelflusses, einer Berufskrankheit der Hüttenarbeiter, die er sich durch die Arbeit mit Quecksilber in einem Quarzhüttenwerk zugezogen hätte.
Mit seinen Berichten über die in Coeur d'Alene mit ungeheurer Erbitterung ausgefochtenen Kämpfe packte er die Zuhörer. War er doch selbst zusammen mit über tausend anderen Bergarbeitern von Bundessoldaten verhaftet und über sechs Monate hinter Stacheldrahtverhauen eingesperrt worden.
Sehr großen Eindruck machte auch die Schilderung von der Geburt der Bergarbeiterföderation des Westens im Bezirksgefängnis Ada in Boise, Idaho. Boyce und dreizehn andere Gefangene arbeiteten im Kerker zusammen mit ihrem Verteidiger Jim Hawley, selbst ein ehemaliger Kumpel, die Pläne für die neue Organisation aus, die nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in einer zum 15. Mai 1893 nach Butte, Montana, einberufenen Versammlung gegründet wurde.
Mit diesen Versammlungen, in denen er über seine eigenen Erlebnisse und über die Kämpfe der Bergarbeiter berichtete, warb Boyce mehrere hundert Mitglieder für den Ortsverband 66 (Silver City) der Bergarbeiterföderation des Westens.
Der Gerichtssaal, in dem die Versammlungen abgehalten wurden, war überfüllt. Berg- und Hüttenarbeiter von der Black-Jack-Grube, vom Hüttenwerk Florida, von der Trade-Dollar-, der Blaine-, der Poor-Man-Grube und anderen kleineren Gruben, die zu unserem Ort gehörten, waren anwesend. Jeder Sitz- und Stehplatz war besetzt. Die Mitgliederliste wurde eine Zeitlang ausgelegt, um möglichst vielen Gelegenheit zum Eintritt in die Organisation zu geben. Ich selbst wurde zum Mitglied des Finanzkomitees gewählt und übernahm später verschiedene andere Funktionen im Verband. Solange ich in Silver City war, nahm ich stets aktiv an der Arbeit der Organisation teil und versäumte niemals eine Versammlung des Bergarbeiterverbandes, außer wenn ich Nachtschicht hatte.
In Silver City waren fast tausend Leute beschäftigt. Er war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Alle, die in den Gruben wie in und bei den Hütten arbeiteten, die Gelernten ebenso wie die Ungelernten, waren Mitglieder der Organisation. Der Unterschied im Lohn der gelernten und ungelernten Arbeiter war nur gering. Je mehr sich die Bergarbeiterföderation des Westens entwickelte, um so stärker konzentrierte sich ihr Kampf auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der niedrig bezahlten Arbeiter.
Die Arbeiter in den Gruben und der Umgebung arbeiteten alle Tage, einschließlich der Sonntage, und auch die Hütten waren niemals geschlossen, nicht einmal an Feiertagen.
Ich habe Silver City noch nicht beschrieben. Die Stadt lag in einer Schlucht zwischen zwei hohen Berggipfeln, dem War Eagle und den Florida-Bergen. Die Sohle der Bergschlucht lag voller Geröll und Felsblöcke, die von den Goldgräbern in früheren Tagen aufgeschüttet worden waren. Die Stadt bestand nur aus zwei Straßen, von denen die hintere von schwarzen, weißen und chinesischen Prostituierten bewohnt wurde. Neben verschiedenen Geschäftshäusern gab es nicht weniger als siebzehn Wirtshäuser in der Stadt, die sich wenig voneinander unterschieden. In einer solchen Kneipe setzte ich mich eines Abends zu den Farospielern, setzte einen Dollar und gewann die Runde. Vom Bankhalter forderte ich Silber und lud die Burschen, die herumstanden, zu einem Glas ein. In diesem Augenblick fiel mir ein Mann in der Ecke auf, der den Hut über das Gesicht gezogen hatte. Auf meine Frage antwortete Ben Hastings, der Wirt:
„Das ist der alte McCann; er trinkt nicht viel, aber für eine Dosis Morphium würde er seine Seele verkaufen." Ich rief McCann zu: „He, Kollege, nimm 'nen Schluck." Der stand auf, schob seinen Hut etwas zurück und redete mich an:
„Halle, Bill, du erkennst mich wohl nicht mehr. Wir waren in Tuscarora zusammen."
Ich starrte in ein abgezehrtes Gesicht und erkannte die Züge wieder, eingefallen und gealtert, zerstört durch den Genuss des Giftes, dem er verfallen war. Beim Fortgehen sah ich McCann noch mit einem der Burschen sprechen, die in der Trade-Dollar-Grube arbeiteten. Am Abend des nächsten Tages erfuhr ich, dass
McCann im Gefängnis saß. Er hatte zeitig am Morgen eine Kiste in einem Handschlitten zum Postamt hinuntergeschleppt, um sie dort aufzugeben. Dort erwartete ihn bereits der Sheriff, der McCann mitsamt der Fuhre auf sein Amt mitnahm. Beider Öffnung der Kiste stellte sich heraus, dass sie eine Menge wertvollen Erzes enthielt. McCann wurde verhaftet und des Diebstahls angeklagt. Nachdem er mehrere Stunden in der Zelle verbracht hatte, erwachte seine Begierde. Er ließ den Sheriff kommen. „Crocheron, du weißt, dass ich wegen meiner Nerven Morphium nehmen muss; ich bin so weit, dass ich unbedingt etwas brauche. Willst du es mir im Drogengeschäft beim Postamt besorgen? Wenn du ihnen dort sagst, dass es für mich ist, wissen sie schon, wie viel ich brauche." „Nun, warum nicht, Mac. Ich werde es besorgen", antwortete der Sheriff, ging fort, und Mac begann, die Zelle auf und ab zu wandern. Seine Schläfen hämmerten, sein Körper war feucht von kaltem Schweiß. Auf und ab ging er, von Minute zu Minute ruheloser und gequälter. Die Stunden dehnten sich, aber der Sheriff kam nicht zurück. In der Nacht glaubte Mac, er müsse sterben. Seine gepeinigten Nerven schienen zu zerreißen, und als der Morgen kam, sehnte er sich nach dem Tode. Er rief mit bebender Stimme den Wächter:
„Ich muss etwas Morphium bekommen. Du kannst es mir verschaffen!"
„Ich kann hier ebenso wenig fortgehen wie du. Du musst warten, bis der Sheriff kommt." Es war schon spät, als Crocheron, der Sheriff, sich blicken ließ. Mac stand an der Tür der Zelle. Er streckte seinen von den Stichen der Injektionsnadeln mit Narben bedeckten Arm durch die Stäbe der Zelle und jammerte verzweifelt: „Gib es mir, Sheriff, um Himmelswillen, gib es mir! Ich sterbe."
Crocheron zog ein kleines, blaues Fläschchen aus seiner Tasche.
„Du kannst es haben, Mac, aber sag mir die Namen der Leute, die dir das Erz zum Verscheuern gegeben haben." Mac taumelte zurück, geriet mit dem Fuß in den Spucknapf und fiel zu Boden. Am Gitter zog er sich wieder hoch, sah dem Sheriff in die Augen und stöhnte: „Ich kann dir's nicht sagen."
Der Sheriff ging fort und ließ Mac in Agonie zurück. Bald darauf fand die Gerichtsverhandlung statt, und Mac, mehr tot als lebendig, wurde verhört. Vom Staatsanwalt wurde ihm eröffnet:
„McCann, die Bergwerksgesellschaft besteht nicht auf
Ihrer Verurteilung, aber sie will die Namen der Leute
wissen, die Ihnen das Erz gaben."
Mac hob sein abgezehrtes, erschöpftes Antlitz:
„Ich kann sie Ihnen nicht nennen."
Er wurde für schuldig erklärt und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt; er starb aber kurz danach. Ben Hastings hatte von ihm gesagt, er würde seine Seele für eine Dosis Morphium verkaufen. Und doch hatte McCann lieber unsägliche Pein erlitten, als dass er zu einem Verräter an seinen Freunden wurde.
Im Juni 1897 wurde unsere jüngste Tochter geboren. Meine Frau konnte sich monatelang nicht erholen. Sie war bettlägerig, und der Haushalt lastete vollkommen auf meinen Schultern, da es keine Frauen oder Mädchen im Ort gab, die außerhalb ihres Hauses arbeiten wollten. Sie kamen wohl des Abends, wenn ihre eigene Arbeit getan war, und halfen uns in nachbarlicher Weise, aber die Hauptarbeit musste ich doch selbst tun. Das Baby schlief von seiner Geburt an bei mir. Ich konnte es nicht in einer Wiege schlafen lassen, denn dann hätte ich in
meinem stets festen Schlaf sein Weinen nicht gehört, wenn es hungrig war. Da ich fürchtete, es im Schlaf zu erdrücken, wenn ich es neben mich legte, hielt ich das Kind jede Nacht an der Brust.
Obwohl ich während dieser Zeit nicht auf Arbeit ging, quälten mich weder der Schlächter noch die anderen Kaufleute, bei denen ich einzukaufen hatte:
„Mach dir keine Sorgen, Bill, alles wird bald wieder gut werden. Vergiss nicht, du kannst jederzeit alles von uns haben."
Manchmal nahm ich meine Frau mit auf Besuch zu den Nachbarn, das Baby auf einem Arm und sie auf dem anderen. Ich erinnere mich noch an einen Abend, an dem wir zu Mrs. Morris zum Fuße des Hügels hinuntergegangen waren. Als wir uns auf den Heimweg machten, war Schnee gefallen; ohne viel Besinnen trug ich meine Frau auf dem einen Arm, das Baby auf dem anderen und das größere Mädchen auf dem Rücken. Ich brachte sie alle drei heil den Hügel hinauf.
Zu dieser Zeit begann die Frage des Achtstundentaggesetzes die Bergarbeiter von Idaho zu beschäftigen. Sie wollten in der kommenden Legislaturperiode versuchen einen Gesetzentwurf durchzubringen, der den Achtstundentag für die in Bergwerken, Hütten und Schmelzereien beschäftigten Arbeiter festlegte. Daraufhin wurde Joseph Hutchinson, von der Trade Dollar Company mit reichen Geldmitteln versehen, ausgesandt, um die Abgeordneten zu bestechen und den Gesetzentwurf zu hintertreiben. Von den Bergwerksbesitzern war eine solche Aktion wohl zu erwarten gewesen. Der Gesetzesantrag würde in dieser Gesetzgebungsperiode abgelehnt, später aber dennoch von den Bergarbeitern durchgesetzt. Die Bergarbeiterföderation des Westens war es, die durch ihren Rechtsanwalt, John H. Murphy, das erste Acht-
Stundengesetz in den Vereinigten Staaten, das so genannte Utah-Gesetz, bis vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten brachte, von dem es als verfassungsmäßig erklärt wurde. Aber auch dann noch mussten die Bergleute und Hüttenarbeiter von Utah um seine Durchsetzung kämpfen.

 

Fünftes Kapitel
Die Bergarbeiterföderation des Westens

Für den Kongress der Bergarbeiterföderation des Westens, der im Jahre 1898 in Salt Lake City stattfand, wurde ich zum Delegierten des Bergarbeiterverbandes von Silver City gewählt.
Die meisten Grubenorte des Westens hatten Delegierte entsandt: Die Kupferbergarbeiter aus Butte, Montana; die Bleibergarbeiter aus Coeur d'Alene, Idaho; die Goldbergarbeiter von den Black Hills in Süd-Dakota und aus Cripple Creek, Colorado; die Silberbergarbeiter aus der Stadt Virginia, Nevada, der „Mutter aller Gruben". Die Bergarbeiterorganisationen der meisten dieser Städte waren früher Gruppen der „Ritter der Arbeit" gewesen. Auch aus anderen Teilen der USA waren Delegierte der Metall- und Kohlenbergarbeiter sowie der Hütten- und Schmelzwerkarbeiter vertreten. Die Föderation repräsentierte zusammen mit den Vereinigten Bergarbeitern, die der AFL angeschlossen waren, das Riesenheer der mit der Hebung der Bodenschätze Nordamerikas beschäftigten Arbeiterschaft.
Gleichzeitig mit dem Kongress tagte in Salt Lake City der Gründungskongress des Arbeiterbundes des Westens (Western Labor Union), einer Dachorganisation, der sich die verschiedenen Organisationen des Westens anschließen sollten. Unter denen, die sofort ihren Beitritt erklärten, war auch die Bergarbeiterföderation des Westens. Von dem früher einmal erwogenen Beitritt zur AFL wurde nicht mehr geredet, nachdem die Delegierten der Bergarbeiterföderation des Westens auf einem Kongress der AFL den Eindruck gewonnen hatten, dass von dem Anschluss an die Gompers-Organisation nichts Gutes zu erwarten sei. Allerdings: die AFL hatte noch nicht alle Hoffnungen aufgegeben. Während die beiden Kongresse in Salt Lake City tagten, erschien plötzlich Samuel Gompers in höchsteigener Person, begleitet von einem ganzen Stab von Mitarbeitern.
Dieses untersetzte Exemplar der Gattung Mensch verkörperte sicherlich nicht die Mitgliedschaft der AFL. Sam war sehr klein und klotzig gebaut, mit einem großen, stellenweise kahlen Kopf, der dem eines an Ringelflechte leidenden Kindes ähnlich sah. Er hatte kleine, unruhige Augen, einen harten, grausamen Mund mit großen, dünnen, abfallenden Lippen, fleischige Wangen und eine knochige Kinnlade. Ein eitler, eingebildeter, eigenwilliger und rachsüchtiger Charakter. Man konnte sich ausmalen, dass er sogar über die Niederlage in einem großen Arbeiterkampf scherzen konnte, wenn dieser vol einer Organisation geführt wurde, die seine Ansichten bekämpfte.
Als Gompers im Jahre 1887 unter dem Druck der Chicagoer Arbeiter vor dem Gouverneur Oglesby erschien, um sich angeblich für die Märtyrer von Chicago einzusetzen, waren seine ersten Worte:
„Ich habe mein ganzes Leben lang die Prinzipien und Methoden der hier Verurteilten abgelehnt."
Die „Ritter der Arbeit" waren damals eine starke, im Wachsen begriffene Organisation mit fast 800 000 Mitgliedern. Ihre rapide Entwicklung zu dieser Zeit zeigte Gompers deutlich, dass die AFL, die Organisation der Berufsverbände, die er gegründet hatte, nicht erfolgreich bestehen konnte, wenn die revolutionären Forderungen der Arbeiter ermutigt wurden. Gompers sagte in seinem an Gouverneur Oglesby gerichteten Gnadengesuch: „Nichts auf Erden würde dieser so genannten revolutionären Bewegung einen größeren Ansporn geben, als die Hinrichtung dieser Leute. Diese Männer würden, und nicht etwa aus Erwägungen der Barmherzigkeit oder Menschlichkeit, als Märtyrer betrachtet werden. Tausende und aber Tausende von Arbeitern auf der ganzen Welt würden glauben, dass diese Männer hingerichtet wurden, weil sie für die Rede- und Pressefreiheit eintraten.
Wir bitten Sie, Sir, Ihre große Macht in die Waagschale zu werfen, um ein so grässliches Unheil zu verhindern." (Anm.: Samuel Gompers: Seventy Years of Life and Labor, Bd. II, New Wk, S 180/181.) In Gompers' Warnung an den Gouverneur kam deutlich das Streben seines ganzen Lebens zum Ausdruck: die Entwicklung der revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse zu verhindern.
„Ich erinnere mich, dass ich kühl und ruhig sprach, dass ich vor dem Gouverneur um Gnade plädierte, so stark ich es vermochte, und ihn bat, den Männern zum mindesten für längere Zeit eine Gnadenfrist einzuräumen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Unschuld zu beweisen, falls sie unschuldig wären."
Das einschränkende Wörtchen „falls" kennzeichnete Sam Gompers' Loyalität gegenüber der revolutionären Arbeiterbewegung Amerikas. Und diese Sätze schrieb Gompers dreißig Jahre, nachdem Gouverneur John P. Altgeld in einer Beurteilung dieses Prozesses eindeutig festgestellt hatte:
„Keiner der Angeklagten konnte irgendwie mit dem Fall in Verbindung gebracht werden. Die Geschworenen waren parteiisch ausgewählt. Man nahm Zuflucht zu großzügigen Bestechungen und Einschüchterungen der Zeugen. Die Angeklagten wurden nicht des Verbrechens überführt, dessen sie angeklagt waren."
Dieses schurkische Verhalten hatte Gompers bereits den Hass aller klassenbewussten Arbeiter eingetragen. Die Erbitterung gegen ihn steigerte sich noch, als seine Rolle bei der Abwürgung des Streiks des Amerikanischen Eisenbahnerverbandes im Jahre 1894 bekannt wurde. Der vom Amerikanischen Eisenbahnerverband unternommene Kampf schien Gompers die geeignete Gelegenheit zu geben, diesen der AFL nicht angeschlossenen Verband zu vernichten. Schon als er in Indianapolis in den Zug nach Chicago stieg, bemerkte er zynisch:
„Ich fahre zum Begräbnis des Eisenbahnerverbandes." Seinen Anstrengungen verdankten denn auch die amerikanischen Eisenbahner und die Arbeiter der Pullmann-Schlafwagenfabriken ihre Niederlage, den Zusammenbruch des Amerikanischen Eisenbahnerverbandes und die Einkerkerung von Eugene V. Debs und einer ganzen Anzahl weiterer Kameraden.
Für Gompers schlugen also in unseren Reihen keine Herzen. Mit diesem Verräter an der Sache der klassenbewussten Arbeiter wollten wir nichts zu tun haben und lehnten deshalb jede Verbindung mit der AFL ab. Zum Präsidenten des Arbeiterbundes des Westens wurde Daniel MacDonald aus Butte gewählt; ich selbst wurde Mitglied der Exekutive. Die Bergarbeiterföderation des Westens war nun eine dem Arbeiterbund des Westens angeschlossene Organisation. Diese Kongresse waren für mein ganzes Leben entscheidende Ereignisse. Ich erkannte die Bedeutung der revolutionären Arbeiterbewegung und verstand nun viel besser den Kampf, den die Arbeiter geführt hatten, und die Opfer, die in ihrem Ringen um die Befreiung aus der Lohnsklaverei von ihnen gefordert wurden. Ich wusste nun, dass der Kampf weitergehen musste, und war entschlossen, aktiv daran teilzunehmen. Nach Silver City zurückgekehrt, nahm ich gleich wieder meine Arbeit in der Blaine-Grube auf. Doch außerhalb der Arbeitszeit widmete ich meine ganze Kraft dem Aufbau der Organisation. Ich war Vorsitzender des Ortsverbandes und berichtete auf der nächsten Versammlung über den Kongress. Zu dieser Zeit begann ich auch an der von der Bergarbeiterföderation des Westens herausgegebenen Monatsschrift „Miners' Magazine" mitzuarbeiten. Die Ortsgruppe machte große Fortschritte, und sehr bald konnten wir in Silver City feststellen, dass jeder Arbeiter gewerkschaftlich organisiert war. Als uns die Aufforderung zur Teilnahme an dem nächsten Kongress der Bergarbeiterföderation des Westens erreichte, wurde ich wieder zum Delegierten gewählt. Kurz vor der Abfahrt nach Salt Lake City, wo der Kongress auch diesmal wieder stattfand, erhielten wir durch die Zeitungen und durch ein Telegramm der Zentrale der Bergarbeiterföderation die Nachricht von einer Explosion in Coeur d'Alene, die einen der erbittertsten Arbeitskämpfe in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung einleitete.
Die Bunker Hill and Sullivan Company und die Last-Chance-Grube zahlten fünfzig Cent am Tag weniger als alle anderen Zechen in Coeur d'Alene. Nun hatten die
anderen Gesellschaften, die bisher dreieinhalb Dollar am Tag zahlten, eine Bekanntmachung angeschlagen, dass auch sie die Löhne herabsetzen würden. Die Bergarbeiter beschlossen, Widerstand bis zum Äußersten zu leisten, und versuchten mit aller Energie, einen höheren Lohn auch für die Kumpels zu erkämpfen, die bislang niedriger bezahlt worden waren.
Die Einführung von Bohrern mit maschinellem Antrieb trug zur Verschärfung des Konfliktes bei. Die Bevölkerung in den furchtbaren Bleigrubenorten war vom Fieber der Revolte gepackt. Verhandlungen waren von vornherein aussichtslos; Streik war ihre einzige Waffe. Am 29. April 1899 wurde in Wardner eine große Demonstration abgehalten, an der alle Mitglieder sämtlicher Gewerkschaften des Bezirkes teilnahmen. Die letzte Warnung war verklungen. Die Lunten wurden angezündet. Dreitausend Pfund Dynamit explodierten und sprengten die Bunker-Hill-and-Sullivan-Hutte in die Luft. Eine wirre Masse von zerbrochenem Stahl, Eisen und zersplittertem Holz war alles, was übrig blieb. Die Bergarbeiter hatten ihrem angesammelten Groll Luft gemacht. Einige von ihnen bedauerten vielleicht die Zerstörung dessen, was Arbeiterhände aufgebaut hatten, aber der Alp, der auf der ganzen Bevölkerung gelastet hatte, war wenigstens vorläufig von ihr genommen. Die Leiter und Grubenbeamten, die kein Wort der Ermutigung für die verzweifelten Bergarbeiter gefunden hatten, wurden jetzt äußerst rührig und forderten ein Eingreifen des Staates. Sie hatten ohne Zögern die gesamte Bevölkerung zugrunde richten wollen, jetzt aber erhoben sie ein Klagegeschrei um ein zerstörtes Hüttenwerk. Der Gouverneur Frank Steunenberg, ein richtiger Scharfmacher, wandte sich an den Präsidenten McKinley um Entsendung von Bundessoldaten, die auch sofort
nach Coeur d'Alene in Marsch gesetzt wurden. Nach
Ankunft der Soldaten wurde der Ausnahmezustand verkündet. Mehr als zwölfhundert Mann wurden ohne Haftbefehl festgenommen und für Monate ins Gefängnis geworfen, ohne dass Anklage gegen sie erhoben wurde. Man steckte sie in den „Bullenstall", eine von hohem Stacheldrahtzaun eingeschlossene Baracke, die nicht einmal zur Unterbringung von Vieh taugte. Im ganzen Westen waren die Bergarbeiter über die niederträchtige Behandlung erbittert, die ihren Brüdern in den Bleigruben von Idaho zuteil wurde. Auf jeder Zeche, in jedem Hüttenort und an vielen anderen Orten wurde Geld gesammelt und den Not leidenden Frauen und Kindern zugeschickt. Protestresolutionen, in denen die Gewaltmaßregeln verurteilt und die Verantwortung der Bergbaugesellschaften nachgewiesen wurden, liefen in Massen beim amerikanischen Kongress ein. Die Ereignisse von Coeur d'Alene warfen naturgemäß auch ihre Schatten auf den Gewerkschaftskongress in Salt Lake City. Die Delegierten konnten kaum an etwas anderes denken oder von etwas anderem reden. Zwölfhundert Mitglieder waren im Gefängnis, darunter neun des Mordes Angeklagte. Frauen und Kinder lebten unter dem furchtbaren Druck des Ausnahmezustandes. Der Bundeskongress, die Gerichtshöfe und die Armee waren gegen uns. Jeder von uns fragte sich: Wie lange wird es dauern, bis so etwas in meinem Grubenort geschieht? Wie kann man es abwenden? Ich wusste nur eine Antwort: organisieren, unsere Kräfte vermehren. Solange wir zersplittert waren, konnten die Unternehmer nach Belieben mit uns umspringen.
Im Herbst wurde eine Sitzung der Exekutive, in die ich hineingewählt worden war, in Butte, Montana, dem Sitz der Bergarbeiterföderation, abgehalten.
Auf der Fahrt dorthin fiel mir die Öde der Gegend ringsum auf. Kein Grün, alles war durch die Dämpfe und den Rauch der Haufen brennenden Erzes getötet worden. Die giftigen Gase wurden von dem Schwefel entwickelt, den man aus dem Erz herausbrannte, bevor dieses verhüttet wurde. Die Schwefeldämpfe waren so giftig, dass sie nicht nur Bäume, Büsche, Gras und Blumen töteten, auch Katzen und Hunde konnten in Butte nicht leben, und die Hausfrauen beklagten sich, dass diese Dämpfe die Kleider verdarben. Die Stadt mit der Kupferseele war rings um die Gruben von Butte erbaut. Ihre Bewohner atmeten Kupfer, aßen Kupfer, trugen Kupfer an den Kleidern und waren vollkommen mit Kupfer durchsättigt. Der Rauch, die Dämpfe und der Staub drangen überall hin und hafteten allen Dingen an. Viele Bergarbeiter litten an eiterigen, durch das verpestete Wasser verursachten Kupfervergiftungen. Die Sterblichkeit in Butte war enorm. Die an die Mitglieder des Bergarbeiterverbandes von Butte ausgezahlten Krankenunterstützungsgelder gingen in die Hunderttausende von Dollar. Die Ausgaben für Leichenbestattungen waren erschreckend groß. Die Zahl der Toten, meist jung gestorbene Bergarbeiter, reichte fast an die der lebenden Bevölkerung heran, obwohl die Stadt noch sehr jung war. Das menschliche Leben war das billigste Abfallprodukt dieses großen Kupferlagers. Der Bergarbeiterverband von Butte, Verband Nr. 1 der Bergarbeiterföderation des Westens, war damals der größte gewerkschaftliche Ortsverband in Amerika; er zählte zeitweilig fünftausend Mitglieder. In Butte existierten außerdem noch ein Maschinistenverband und eine Gruppe der Gewerkschaft der Hüttenarbeiter, die beide der Föderation angeschlossen waren. Die Sitzung der Exekutive beschloss, John C. Williams,
Mitglied der Exekutive aus Grass Valley, Kalifornien, und mich nach Coeur d'Alene zu entsenden, um den Streikenden die Grüße der Bergarbeiterföderation des Westens zu überbringen und um über die Lage in dem Streikbezirk, über den der Ausnahmezustand verhängt war, Informationen zu sammeln und zu berichten. Wir verließen Butte und nahmen in Missoula an der Great Northern den Zug nach Burke, unserer ersten Station. Der Teil der Rocky Mountains, in dem das Grubengebiet von Coeur d'Alene liegt, ist von Bergschluchten und tiefen Canyons zerfurcht und zerklüftet. Die Bergabhänge sind rau und felsig. Überall stößt man auf alte, verfaulte Stümpfe von Bäumen, die zur Verwendung als Bauholz in den Gruben, als Eisenbahnschwellen und als Feuerholz gefällt worden waren; überall Sträucher und Gebüsch, wilde Himbeeren und andere Waldfrüchte in Unmengen. Wo die Wälder noch nicht durch die Axt gefällt oder durch Feuer vernichtet sind, gibt es Bären, Hirsche und anderes Wild. In den kalten, klaren Bächen tummeln sich Bergforellen. Der Coeur d'Alene-See liegt wie ein durchsichtiger Edelstein inmitten der rauen Umgebung der Berge. Es ist eine wundervolle Gegend für eine Sommerreise, aber ein schrecklicher Aufenthalt während des langen Winters mit seinen Lawinen, mit dem Ausgraben von eingeschneiten Häusern und den beschwerlichen Wegen von und zur Arbeit, wenn der Schnee bis an die Hüften reicht. Die Eisenbahn läuft zwischen den Bergen durch Tunnels, auf Stahlbrücken über tiefe Klüfte, enge Schluchten hinauf und hinunter, wo nur gerade genug Raum für die Bahnstrecke ist. Bevor es eine Eisenbahnlinie gab, war der Esel das einzige Transportmittel; Jäger, Siedler und Indianer waren die einzigen Bewohner dieser Gegend. In Burke, unserer ersten Station im Kampfgebiet, suchten
wir die Frau Paul Corcorans, des Sekretärs unserer dortigen Ortsorganisation, auf. Paul Corcoran selbst war kurz nach der Explosion ins Gefängnis geworfen und des Mordes an einem gewissen Bartlett Sinclair angeklagt worden. Auf diese schon nicht mehr ungewöhnliche Weise sollte in der Person ihres Führers die Organisation getroffen werden. Die Bleigrubenunternehmer erreichten, dass Paul Corcoran zu siebzehn Jahren Zuchthaus in Boise, Idaho, verurteilt wurde. Als Staatsanwalt fungierte der spätere Senator der Vereinigten Staaten für den Staat Idaho, William A. Borah. Paul Corcorans Frau versprachen wir, alles zu tun, um die Entlassung unseres Kameraden aus dem Zuchthaus durchzusetzen.
Die einzige Straße in Burke war so eng, dass gerade genug Raum für die Eisenbahnlinie blieb. Wenn der Zug eingefahren war, konnte weder auf der einen, noch auf der anderen Seite ein Wagen passieren. Der Canyon war so tief, dass die Sonne nur in die Stadt hineinschien, wenn sie schon fast im Zenit stand.
In Mullen begegneten wir Paddy Burke und einigen anderen Mitgliedern des Verbandes. Unsere Arbeit musste wegen des immer noch herrschenden Ausnahmezustandes illegal durchgeführt werden; aus diesem Grunde mieden wir auch die Lokale der Soldaten. Wir wollten den Kameraden im Gefängnis einige Worte der Ermutigung zukommen lassen; sie sollten wissen, dass ihnen die Sympathie und solidarische Unterstützung der Organisation, für die sie die Haft in dem verpesteten, von Ungeziefer wimmelnden Loch erduldeten, sicher waren. Die Leiden der Haft im „Bullenstall" hatten die Bergarbeiter nicht gebeugt. Von ihrem Trotz zeugte ein aus Holzleisten, Planken und Leinwand gefertigtes Schild, das - durch ein abgehobenes Stück des Daches
hindurchgeschoben - in weithin leuchtender Inschrift verkündete: Die Amerikanische Bastille. Das ging General Merriam sehr gegen den Strich, da er anscheinend der Meinung war, sein moderner „Bullenstall" werde nicht genügend respektiert.
Wir trafen einen von den acht des Mordes beschuldigten Männern, denen es gelungen war, aus dem „Bullenstall" zu entkommen. Ich bat ihn, mir zu erzählen, wie ihm und seinen Genossen die Flucht gelungen sei. „Nun", sagte er, „es war weiter nichts dabei. Was zu tun war, machten die Burschen draußen. Eines Nachts kam Sergeant Crawford in den Raum, in dem wir gefangen gehalten wurden. Er sagte, ,Kleidet euch an, Leute, ihr sollt ins Spital!' Wir waren bald bereit und marschierten mit einer kleinen Bedeckung von zwei oder drei Soldaten los. Als wir an das Tor in dem Stacheldrahtzaun kamen, ging Crawford voran und antwortete auf die Frage der Wache ,Halt, wer da?', ,Sergeant Crawford mit einer Abteilung für das Spital'. Als wir draußen waren, sagte er uns, wir sollten uns davonmachen. Alle, bis auf zwei von uns, haben den Bezirk verlassen." Sergeant Crawford wurde wegen der Beihilfe zu dieser Flucht auf die Zuchthausinsel Alcatraz, Kalifornien, verschickt. Außer seiner Verurteilung zu neun Jahren wurde er unter Aberkennung aller militärischen Ehren aus der Armee entlassen.
Paddy Burke erzählte uns auch von dem Versuch der Eingekerkerten, durch einen unterirdischen Gang zu entkommen. Die für eine solche Arbeit geeigneten Bergarbeiter hatten unter einer der Pritschen ein Loch in den Boden gegraben, tief genug, um über dem Tunnel eine Decke zu lassen, die auch nicht einbrechen würde, wenn ein Wagen darüber fuhr. Als der Tunnel länger wurde, schaffte man den Schutt in einer Holzkiste hinaus. Sie
mussten ihn in den Schlafkästen oder darunter verstecken und ihn, so gut es ging, zusammen mit der Asche hinaustragen. Der Bau machte gute Fortschritte. Es fehlte nicht viel, und Hunderte von Gefangenen wären durch diesen kleinen Tunnel in die Freiheit der Berge geflohen. Aber eines Tages bemerkte der Mann, der gerade an der Arbeit war, dass die Luft stickig und giftig wurde. Er nahm den Feuerhaken, mit dem er mangels einer Picke grub, und begann an der Decke ein Loch zu bohren, damit die schlechte Luft aus dem Tunnel abziehen könne. Dabei stach er mit der Ofengabel ausgerechnet in das Hinterteil eines faulenzenden Soldaten, der oben am Boden ausgestreckt lag. Der Muschkote sprang auf und schrie, er sei von einer Schlange gebissen worden. Andere Soldaten kamen hinzugelaufen, aber sie konnten keine Schlange finden. Statt dessen wurden sie auf ein kleines Loch am Boden aufmerksam, und bei näherer Untersuchung entdeckten sie den Tunnel. Als die Bergarbeiter erfuhren, dass ihr Tunnel entdeckt worden war, verfluchten sie ihr Missgeschick und den Soldaten, aber sie mussten gute Miene zum bösen Spiel machen. Eine der Soldatenkompanien bestand aus Farbigen aus Brownsville, Texas. Wir hatten alle Ursache, anzunehmen, dass die Regierungsbeamten mit der Einsetzung schwarzer Soldaten als Wächter über die weißen Gefangenen die Bergarbeiter noch stärker herausfordern wollten. Sie rief auch einen Sturm der Entrüstung hervor, aber nicht so sehr gegen die schwarzen Soldaten, wie gegen diejenigen, die überhaupt für die Abkommandierung von Soldaten in den Bergwerksbezirk verantwortlich waren. Einer der Offiziere, ein dreckiger weißer Schurke, sandte Briefe an die Frauen und Schwestern der im „Bullenstall" eingekerkerten Männer, in denen sie aufgefordert wurden, die Soldaten gut zu behandeln und zu unterhalten, mit der Bemerkung, dass sie „dementsprechend berücksichtigt würden". Der Schurke war nicht besorgt um die ihm unterstellten Leute, sondern sein Vorgehen hatte nur den Zweck, den ohnehin schon hilflosen Gefangenen noch eine weitere Kränkung zuzufügen. Es war jedenfalls eine Beleidigung, die Familien der Bergarbeiter aufzufordern, sich irgendwie um die Soldaten zu kümmern, und es war ein bewusster Versuch, auch noch Rassenvorurteile in die Atmosphäre hineinzutragen.  Rassenvorurteile waren aber bisher unter den Bergarbeitern unbekannt gewesen: weder bei der Arbeit, noch in der Organisation gab es irgendeinen Unterschied in Bezug auf Rasse oder Farbe. Während der langen Monate, in denen die Bergarbeiter im Gefängnis lagen, beschäftigten sich die Gesellschaften mit allerlei Plänen zur Abwürgung der Gewerkschaften. Sie brachten Schläger, die auch gut mit dem Revolver umzugehen wussten, in den Bezirk. Aber die Karte, auf die sie am meisten setzten, war das „Allgemeine Arbeitsvermittlungsbüro". das sie in Wallace einrichteten. Mit der Leitung desselben wurde ein früherer Detektiv betraut. Es war eine Art Agentur zur Führung von schwarzen Listen. Um in einer Grube im Bezirk Arbeit zu bekommen, konnte sich ein Mann nicht wie früher direkt in der Grube melden, sondern er musste erst zum Arbeitsvermittlungsbüro in Wallace gehen, um sich dort einer kritischen Untersuchung über seine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft, seine früheren Arbeitsstellen usw. zu unterwerfen. Eine genaue Personalbeschreibung jedes Bewerbers wurde aufgenommen. Jeder, der die Untersuchung passiert hatte, erhielt eine „Bewerberkarte" und eine Anweisung für die Stelle, wo Leute gesucht wurden. So wurden Hunderte von gewerkschaftlich nicht organisierten Leuten und Streikbrechern aus Sudbury, einem
Kupferort in Kanada, aus Joplin, Missouri, und anderen Orten untergebracht. Es war vollkommen klar, dass den Gewerkschaften eine schwere Zeit bevorstand. Bevor ich nach Silver City zurückkehrte, fuhr ich noch nach Rocky Bar und organisierte dort die Bergarbeiter und andere für die Mitgliedschaft in Betracht kommende Arbeiter in einer Ortsgruppe der Bergarbeiterföderation des Westens.
Die Lage in Silver City war unverändert. Ich arbeitete im Florida-Tunnel. Eines Tages, als ich die Lage noch einmal überdachte, nahm ich eine leere Kiste und schrieb auf ein Seitenbrett eine Resolution, in der Gouverneur Steunenberg wegen Einkerkerung der Bergarbeiter im „Bullenstall", wegen der Anwesenheit der Soldaten und der Verhängung des Ausnahmezustandes in Coeur d'Alene verurteilt wurde. Am gleichen Abend schrieb ich die Resolution zu Hause nochmals nieder und legte sie auf der nächsten Versammlung dem Verband vor. Sie wurde angenommen und im „Miners' Magazine" ver­öffentlicht.
Als in der Blaine-Grube Maschinenbohrer eingeführt wurden, arbeitete ich zusammen mit Big Harry Palmer in einem langen Querstollen, der zu der Banner-Grub hinübergetrieben wurde.
In diesem Stollen, viertausend Fuß unter der Erdoberfläche, legte ich den Bohrer zum letzen Mal aus der Hand. Es war 3 Uhr morgens, als ich mich zum Kongress aufmachte, der am selben Morgen um 6 Uhr früh in Denver, Colorado, mit einer Tagung der Exekutive beginnen sollte. Wallace Johnson und Billy Williams waren als Delegierte des Verbandes gewählt worden. Ich selbst war damals nicht Delegierter, sondern Mitglied der Exekutive und fuhr schon eine Woche früher.

 

Sechstes Kapitel
Telluride

Der Kongress wurde im Oddfellow-Saal in der Champa-Straße abgehalten. Es liefen Gerüchte um, dass der Bergarbeiterverband Nr. 1 von Butte Klagen über die Kassenführung der Organisation geäußert habe. Daraufhin setzte Boyce alle sieben Mitglieder der Delegation von Nr. 1, zur größten Erheiterung aller übrigen Delegierten, in das Kontrollkomitee, das die Bücher für das vergangene Jahr zu überprüfen hatte. Das war jedes Mal eine schwere Arbeit, aber in jenem Jahre ganz besonders, vor allem wegen der Kasseneingänge und Zahlungen in Verbindung mit dem Streik von Coeur d'Alene. Auf diesem Kongress empfingen wir auch Vertreter der AFL. Der Vorsitzende verkündete ihre Ankunft. Boyce ernannte eine Ehreneskorte, und als die Brigade der Zylinderhüte erschien, klopfte er dreimal stark mit dem Präsidentenhammer auf. Wir alle warteten stehend, bis sie das Podium erreicht und sich gesetzt hatten. Wieder dreimaliges Klopfen, und auch wir setzten uns. Die Redner der AFL wurden der Reihe nach vorgestellt. Nach Beendigung der Ansprachen ertönte wieder das dreimalige Klopfzeichen, wir erhoben uns, und die Vertreter der AFL verließen den Saal. Man hatte ihnen aufmerksam zugehört. Nicht ein Wort war zu hören, kein Applaus, kein Antrag, den Rednern den Dank der Versammlung auszusprechen. Als die Türen sich hinter ihnen geschlossen hatten und die Zeremonie damit ihr Ende gefunden hatte, ging ein Schmunzeln über die Gesichter der Delegierten; viele brachen in Lachen aus. Nachdem wieder Ruhe eingetreten war, fuhren wir in unserer Tagesordnung fort.
Während dieses Kongresses fragte mich Boyce, ob ich für das Amt eines Hauptkassierers kandidieren wolle. James Maher sollte den Posten verlassen, da er als Kassierer für den Bezirk Silver Bow, Montana, gewählt worden war. Ich erwiderte ihm, dass mich sein Vorschlag freue, dass ich aber fürchte, ich werde nicht fähig sein, diesen Posten auszufüllen. Er antwortete: „Ich habe dich bei der Arbeit beobachtet und würde dich nicht fragen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass du dafür taugst."
„Nun", sagte ich, „wenn ich gewählt werde, so werde ich mein Bestes tun."
Johnson und Williams, die Delegierten aus Silver City, waren mit der Kandidatur einverstanden und erklärten ebenfalls, sie seien überzeugt, dass ich den Posten ausfüllen könne, wenn es auch eine schwere Aufgabe sei. Ich wurde dann auch gewählt.
Vom Kongress wurde beschlossen, die Zentrale der Föderation von Butte, Montana, nach Denver, Colorado, zu verlegen, da Denver für den Bergbau zentraler gelegen sei. Tausende von unorganisierten Arbeitern waren in den Eisen- und Kupferbezirken von Minnesota und Michigan tätig. Dann waren da noch die Hüttenarbeiter von Kansas und die Bleigrubenarbeiter von Missouri, die wir ebenfalls für die Organisation gewinnen wollten.
Nach Beendigung des Kongresses saßen Ed Boyce, Dave Coates und ich zusammen in einem Restaurant und diskutierten die Lage in Idaho. Boyce war der Ansicht, dass der Begnadigungsausschuss sehr bald in Boise, wo Corcoran eingekerkert war, zusammentreten würde und dass ich vielleicht, wenn ich dort wäre, eine Begnadigung für Paul Corcoran durchsetzen könnte. Er fügte hinzu: „Du wirst sicher auch gleich deiner Familie bei der Übersiedlung helfen wollen; warum nicht beides auf einer Reise erledigen? Könntest du heute Abend abreisen?" „Ich muss bloß meine Tasche packen", erwiderte ich. In Boise traf ich Tom Heney und John Kelly, der an meiner Stelle in die Exekutive gewählt worden war. Beide arbeiteten für die Befreiung von Paul Corcoran, Heney war im Besitz einer Petition, welche von neun der Geschworenen, die Corcoran verurteilt hatten, unterschrieben war. Die drei anderen Geschworenen hatten inzwischen den Staat verlassen.
Am folgenden Tage, am 4. Juli, ging ich zu dem etwa eine Meile von Boise entfernt liegenden Zuchthaus. Die abstoßend aussehenden Gebäude waren von einer hohen Mauer mit einem Turm an jeder Ecke umgeben. Über dem Tor stand geschrieben: „Eintritt 25 Cent." Dem Direktor trug ich mein Anliegen vor: ich wollte Paul Corcoran sprechen. „Heute ist zwar kein regulärer Besuchstag, aber das macht nichts", erwiderte er und ließ Paul vorführen.
Corcoran, dem ich mich vorstellte, war hoch erfreut. Er war ein gut aussehender Mann mit hoher Stirn, starkem Schnurrbart und klaren großen Augen. Durch das Jahr Haft hatte er allerdings schon die typische Gefängnisfarbe bekommen. Er arbeitete in der Schusterwerkstatt. Wir setzten uns nebeneinander an den Tisch im Büro des Direktors, der hinausging und uns allein ließ. Ich verbrachte fast den ganzen Tag mit dem gefangenen Genossen. Er hatte davon gehört, dass John Williams und ich seine Frau und Kinder besucht hatten. Für unseren letzten Kongress und für alles, was die Organisation betraf, interessierte er sich sehr. Ich berichtete ihm, dass ich gekommen sei, um den Begnadigungsausschuss zu sprechen, und dass ich mich schon für den nächsten Tag beim Gouverneur angemeldet hätte. „Ver-
lass dich nicht allzu sehr darauf, aber wir wollen unser Möglichstes tun!" sagte ich ihm beim Abschied. Als ich beim Fortgehen zurücksah auf diese düsteren Gebäude mit ihren Gittern und Riegeln, hatte ich noch keine Ahnung von den Umständen, unter denen ich mit diesen dunklen Räumen noch besser bekannt werden sollte. Am nächsten Morgen suchte ich Gouverneur Hunt in seinem Privatbüro auf. Er begrüßte mich freundlich und äußerte im Verlaufe unseres langen Gesprächs, dass „Zuchthäuser nicht für Männer wie Paul Corcoran gebaut seien".
„Sie haben noch nicht Jules Bassett aufgesucht?" fragt er. Der Begnadigungsausschuss bestand aus Bassett, Frank Martin und dem Gouverneur. Ich verneinte die Frage. „Sie brauchen ihn auch nicht aufzusuchen; mit Bassett ist alles in Ordnung. Aber Frank Martin kann ich nicht verstehen." Ich glaubte bemerken zu müssen, Martin fürchte sich vielleicht vor einer ungünstigen Kritik. Der Gouverneur erwiderte, es gäbe manches, was noch schlimmer sei als feindliche Kritik. Bei der Zusammenkunft mit Heney und Kelly wiederholte ich ihnen, was der Gouverneur über Corcoran geäußert hatte, und die Bemerkung, die er über Jules Bassett und Martin gemacht hatte. Mein Eindruck sei, dass Corcoran begnadigt werden würde, falls nicht etwas Unvorhergesehenes einträte; und wenn nicht auf dieser Sitzung des Begnadigungsausschusses, dann auf nächsten.
Da sich sonst nichts weiter tun ließ, fuhr ich direkt nach Silver City, das nur sechzig Meilen entfernt lag. Meiner Frau und den Kindern war es während meiner Abwesenheit gut gegangen.
In wenigen Tagen waren meine Angelegenheiten geordnet und alles gepackt, was wir mitnehmen wollten.
Das Haus und die Einrichtung ließen wir unter der Aufsicht eines Freundes zurück, da wir noch nicht wussten, ob wir nach dem nächsten Kongress zurückkommen würden oder nicht. So verließ ich mit meiner Frau, die damals so weit gesund war, dass sie gehen konnte, unserer kleinen Tochter Vernie und dem Baby Henrietta Silver City, um für einige Zeit in Denver zu leben. Wir mieteten eine möblierte Wohnung in der Nähe der Münze. Sie lag nicht weit von dem neuen Büro der Bergarbeiterföderation des Westens, das im Gebäude der Bergbaubank in vier ausgezeichneten Räumen im sechsten Stock untergebracht war. Dadurch, dass das Büro per Fracht von Butte nach Denver überführt worden war, hatte sich sehr viel Arbeit angehäuft. Die Post war fast drei Monate ungeöffnet liegen geblieben, und auch die Abrechnungen für diese ganze Periode waren nicht gebucht worden. James Maher, mein Vorgänger, hatte mir einige gute Ratschläge gegeben, aber nun lag die ganze Arbeit auf einmal vor mir aufgetürmt. Hunderte von Briefen waren zu beantworten. Wir nahmen zwei Stenotypistinnen, und in kurzer Zeit hatten wir die Korrespondenz größtenteils aufgearbeitet. Kurz nachher reisten Boyce und seine Frau nach Irland ab. Ich sandte ihrem Schiff folgendes Telegramm nach: „Paul begnadigt." Mir schien dies ein guter Anfang. Da Boyce abwesend war, gab es noch mehr Arbeit als sonst. Nacht für Nacht blieb ich bis in die frühen Morgenstunden im Büro. Neben meiner eigenen Korrespondenz hatte ich noch die von Boyce zu erledigen und Artikel für das „Miners' Magazine" zu redigieren und zu schreiben. Vor allem aber musste ich die Bücher führen, und das alles zu einer Zeit, da ich mit dem scharfen Blatt eines Spatens Größe 2 vertrauter war, als mit der Feder
Als die Boyces von ihrer Fahrt zurückkamen, wohnten sie bei uns. Ed nahm die Arbeit in der Organisation wieder mit aller Energie auf. Wenn wichtige Fragen zu diskutieren waren, setzten wir uns an seinen oder meinen Schreibtisch und besprachen sorgfältig jede Einzelheit. Waren wir dann zu gegenseitigem Einverständnis gekommen, pflegte er gewöhnlich zu sagen: „Also, wir sind uns einig" oder „Wir wollen uns also darauf einigen." Und dabei blieb es. Ich brauchte mir niemals Sorgen zu machen, dass er es sich anders überlegen Würde. Niemals wurden unsere gemeinsam entworfenen Pläne oder die Grundzüge unserer Strategie ohne gegenseitiges Einverständnis abgeändert. Eleanor Boyce war früher Schullehrerin in Coeur d'Alene gewesen und unterstützte immer noch ihren Vater und ihre Brüder, die in Herkules auf eigene Rechnung nach Erz gruben. Eines Tages erhielt sie ein Telegramm, dass sie eine Erzader entdeckt hatten! Später wurde daraus eine der größten und ertragreichsten Gruben des Westens. Über Nacht war Eleanor nunmehr Millionärin geworden. Boyce sagte damals wenig oder gar nichts über seine Zukunftspläne. Er hatte schon früher die Absicht geäußert, den Vorsitz bei der nächsten Wahl niederzulegen.
In einer Unterhaltung im Büro setzte ich Boyce eines Tages auseinander, dass Denver als Sitz unserer Zentrale zwar ausgezeichnet gelegen sei, dass wir aber trotzdem nicht bleiben könnten, wenn wir nicht die vielen Tausende von unorganisierten Hüttenarbeitern in Denver und in den benachbarten Städten für die Organisation gewännen. Es sei notwendig, diesen Teil der schon früher beabsichtigten Organisationsarbeit sofort auf energischste in Angriff zu nehmen. Für den Staat Colorado war seinerzeit gerade ein Achtstundentaggesetz,
in den Einzelheiten ähnlich dem Gesetz von Utah, angenommen worden, aber der Oberste Gerichtshof des Staates hatte es für „verfassungswidrig" erklärt. Nun gingen die Bestrebungen der Föderation und anderer Arbeiter dahin, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die auch mit der überwältigenden Mehrheit von 47 714 Stimmen erreicht wurde. Die American Smelting and Refining Company, die United Reduction Company und andere Hütten und Werke im Staate ignorierten aber einfach diese Bestimmung und ließen die Leute weiter elf Stunden Tagesschicht und dreizehn Stunden Nachtschicht machen. So beschäftigte ich mich außerhalb der Bürostunden viel mit der Organisierung der in den Globe-, Argo- und Grant-Hüttenwerken beschäftigten Arbeiter.
Im Jahre 1901 wurde der Kongress der Föderation in Denver abgehalten. Eugene V. Debs und Thomas Hagerty waren anwesend, die in einer für die Kongresswoche organisierten Versammlung im Coliseum sprechen sollten. Hagerty war ein katholischer, mit dem Sozialismus sympathisierender Priester, hochgewachsen, ein guter Theoretiker und ziemlich guter Redner. Wir hofften, er werde auf seine Glaubensgenossen großen Eindruck machen.
Debs war den Delegierten gut bekannt, da er der Bergarbeiterföderation des Westens als Redner und Organisator geholfen hatte, als der Bergarbeiterverband von Cloud City im Jahre 1896 in Leadville im Streik stand. Wir alle kannten ihn als einen der besten Redner der Arbeiterbewegung. Wir kannten aber auch seine Schwächen, und einige wussten auch von seinem pathetischen Brief an John D. Rockefeller, in dem er um Geld zur Finanzierung seines Kolonisationsplanes bat. Nichtsdestoweniger war er unter uns sehr beliebt. Er war ein umgänglicher Mensch, und wir bewunderten den Kampf, den er für den Amerikanischen Eisenbahnerverband geführt hatte.
Debs war schon seit einigen Jahren Sozialist; Boyce und ich waren erst in diesem Jahre nach dem Kongress in Indianapolis der Sozialistischen Partei in Denver beigetreten und hatten uns zu den Prinzipien des Sozialismus bekannt. Auf dem Kongress der Bergarbeiterföderation setzten wir uns für eine energische Bildungskampagne und Schaffung eines Büros für Bildungsarbeit ein. Unsere erste Arbeit in dieser Richtung sollte in der Veranstaltung von Versammlungen mit Debs und Hagerty in den Grubengebieten bestehen. Ich hatte mit beiden unsere Pläne zur Fortsetzung der Achtstundentagkampagne besprochen.
Charles H. Moyer, ein Hüttenarbeiter aus Süd-Dakota und Mitglied des Exekutivkomitees, wurde auf diesem Kongress an Stelle von Boyce zum Präsidenten der Bergarbeiterföderation des Westens gewählt. Vizepräsident wurde John C. Williams. Ich blieb Hauptkassierer. Der Kongress wurde durch den Bericht Vincent St. Johns, des Präsidenten des Bergarbeiterverbandes von Telluride, belebt, in dem er die Arbeitsbedingungen in der Smuggler-Union-Grube schilderte, wo zum 1. Mai ein Streik erklärt worden war. Bemerkenswert waren ferner die Beschlüsse, das „Miners' Magazine" in eine Wochenschrift umzuwandeln und auch einen Rechtsanwalt in den regulären Angestelltenstab der Organisation aufzunehmen. Nach dem Kongress bestimmte die Exekutive John M. O'Neill, einen Bergarbeiter aus Cripple Creek, zum Redakteur der Zeitschrift. O'Neill entwickelte sich zu einem flotten, begabten Journalisten, und das Magazin gewann durch ihn an Popularität. Es gelang ferner, uns die Mitarbeit John H. Murphys, des
Rechtsanwalts der Bruderschaft der Lokomotivheizer, zu sichern. Er behielt diese Funktion und übernahm gleichzeitig die Bearbeitung der juristischen Fälle der Bergarbeiterföderation des Westens. In Erwartung der Ausgaben, die ein energischer Kampf für den Achtstundentag mit sich bringen musste, brachte ich ein Rundschreiben heraus, in dem das Leben der Schmelzarbeiter, Hüttenarbeiter und Bergarbeiter und die Arbeit der Organisation um die Durchsetzung des Achtstundentaggesetzes beschrieben wurden. Jetzt, da wir um den Achtstundentag kämpfen müssten, würde ein Streik dem anderen folgen, und manche würden sehr hart werden. Auf dieses Rundsdireiben hin flossen der Kasse zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Dollar zu.
Telluride ist einer der wichtigsten Silber- und Goldgrubenorte im Bergbaugebiet San Juan in Colorado. Zu den großen Gruben zählte dort die Smuggler Union. Der Leiter dieser Gesellschaft, Arthur Collins, führte das Akkordsystem im Bergbau ein. Er hatte den Bergarbeitern einen Kontrakt aufgezwungen, nach dem sie zu einem bestimmten Preis für den Klafter Erz zu sprengen hatten. Um die Abschaffung dieses Kontraktsystems durchzusetzen, verhängte der Bergarbeiterverband von Telluride, der unserer Föderation angehörte, am 1. Mai 1901 den Streik über die Werke der Smuggler Union. Obwohl der Verband sich erbot, für die Bewachung der Werkanlagen aufzukommen, und der Gesellschaft jeden Schutz garantierte, erwiderte Direktor Collins mit der Einstellung von Streikbrechern. Schließlich wurde ein Abkommen zwischen Collins und dem Verband erzielt, nach dem das Kontraktsystem so geändert wurde, dass der Bergarbeiter zumindest den gewerkschaftlichen Lohnsatz für die Zeit seiner Beschäftigung erhielt und
den Kontrakt jederzeit lösen konnte. Diese Regelung kam aber erst zustande, nachdem ein heftiger Kampf zwischen den Mitgliedern des Verbandes und den Streikbrechern stattgefunden hatte. Charles Becker, der Oberaufseher der Grube, wurde erschossen, zwei Streikbrecher wurden getötet und mehrere verwundet. Die übrige Sippschaft wurde über die Berge eskortiert. Auch ein Mitglied des Bergarbeiterverbandes, John Barthell, kam bei diesem Kampf ums Leben. Die Zeitung von Telluride, „Telluride Journal", führte eine heftige Kampagne gegen den Verband, bis dieser einen geschlossenen Boykott gegen das Hetzblatt organisierte. Direktor Collins gelang es jedoch, eine Vereinigung der Geschäftsleute zustande zu bringen, um das Blatt zu erhalten. Aus dieser Organisation wurde später der Bürgerbund, die treibende Kraft bei allen Terroraktionen gegen die Verbände der Bergarbeiterföderation des Westens. Arthur Collins sollte diese Zeit aber nicht mehr miterleben. Als er einmal nahe beim Fenster stand, feuerte jemand eine Schrotladung auf ihn ab und tötete ihn.
Gouverneur Orman schickte eine Kommission, bestehend aus David Coates, dem damaligen Gouverneur-Stellvertreter des Staates, Senator Buckley und John H. Murphy, dem Anwalt der Bergafbeiterföderation des Westens, nach Telluride. Der Bericht dieser Kommission stellte fest, „dass in Telluride alles ruhig sei und dass die Bergarbeiter die Gruben auf friedliche Weise besetzt hätten". Dieser Bericht rief große Erregung unter der Ausbeuterklasse in Colorado hervor. Die kapitalistischen Blätter, besonders der „Denver Republican", brachten Leitartikel mit heftigen Angriffen gegen die Bergarbeiter.
Am 20. November ereignete sich im Bullion-Tunnel der
Smuggler-Union-Grube eine der entsetzlichsten Tragödien in der Geschichte der amerikanischen Erzbergwerke. Das Stationshaus am Eingang des Stollens geriet in Brand. Kurz vorher war eine Wagenladung gepressten Heues am Ende des Stollens abgeladen worden, das gleichfalls vom Feuer erfasst wurde. Das brennende Heu und das in Flammen stehende Holz verursachten einen dichten Rauch, und der Schacht, der in Verbindung mit der Oberfläche stand, bildete einen ausgezeichneten Rauchfang. Edgar Collins, ein Verwandter des Leiters und Oberaufseher der Grube, versuchte krampfhaft, die Ausbreitung des Feuers zu verhindern und veranlasste, dass die Winchester-Gewehre und Munitionsvorräte aus einem nahe gelegenen Lagerraum weggeschafft wurden. Waffen und Munition waren ihm wichtiger als das Leben der Männer in der Grube.
Das Feuer hatte schon stark um sich gegriffen, bevor der Versuch unternommen wurde, die in der Tiefe der Grube arbeitenden Kumpels zu warnen. Der Bote, der schließlich hinuntergesandt wurde, versuchte, die Kameraden auf dem gleichen Wege, auf dem er gekommen war, nach oben zu führen. Alle, die ihm folgten, und einige Versprengte kamen ums Leben; die Mehrzahl der Arbeiter entkam zu ihrem Glück durch andere Ausgänge. Das Feuer wütete noch immer, als eine Gruppe von Bergarbeitern aus der Tomboy-Grube auf dem Schauplatz erschien. Der Vorarbeiter Billy Hutchinson, der diese Rettungsmannschaft führte, gab sogleich Befehl, den Eingang des Tunnels in die Luft zu sprengen. Wäre dies sofort geschehen, so wäre kein Menschenleben verloren gegangen. Die erste Rettungsmannschaft, die dann in die Grube eindrang, wurde durch die entwickelten Gase und den Rauch zurückgetrieben; im Laufe der weiteren Rettungsarbeiten wurden fünfundzwanzig Männer gefunden, die von der Katastrophe überrascht worden waren und den Erstickungstod erlitten hatten. Am Tage des Begräbnisses feierten die Belegschaften aller Gruben dieses Lagers, und auch aus den benachbarten Orten kamen Delegationen. Etwa dreitausend Mann standen Spalier, als ihre Arbeitskameraden begraben wurden. Jeder Bergarbeiter trug - ein alter Brauch - ein Reis Immergrün, das er als letzten Gruß in das offene Grab warf.
Am 28. Februar des folgenden Jahres zerschmetterte eine schreckliche Schneelawine in Telluride einen Teil des Schlafhauses von Liberty Bell und tötete siebzehn Leute. Die ungeheuren Schneemassen hatten alles auf ihrem Wege ins Tal mitgerissen: Felsen, Baumstümpfe, Gebüsch. Eine Zeitung in Denver brachte in Verbindung mit der Katastrophe einen Bericht, in dem Generaladjutant Gardner die Behauptung aufstellte, die todbringende Lawine sei „ein Beweis für den Zorn Gottes gegen die verbrecherischen Bergarbeiter des Bezirks San Miguel". Diese dumme Bemerkung sollte eine Beleidigung der Bergarbeiter sein. Sie verursachte tiefste Erbitterung bei der Bevölkerung, die ohnehin schon durch die Leiden der Streiks, des Brandes und der Lawine gereizt war. Nur selten kommt es vor, dass Organisationen ihre Monumente schon errichtet vorfinden, aber bei der Bergarbeiterföderation des Westens war es so. Das Monument musste nur noch einen Namen erhalten. Einer der erbittertsten Kämpfe der Föderation wurde mit der riesigen Guggenheim-Gesellschaft und den anderen Schmelzwerk- und Hüttenunternehmungen in Denver wegen der Arbeitszeit der Schmelzwerkarbeiter geführt. Mehr als zwei Jahre lang musste eine hartnäckige Agitationsarbeit geleistet werden, um eine genügend starke Organisation aufzubauen, die auf Einhaltung des gesetzlich beschlossenen Achtstundentages im Bundesstaat dringen konnte.
Am Abend des 3. Juli 1903 wurde in der Stadthalle von Globeville eine allgemeine Versammlung der Hüttenarbeiter, die auf Tagschicht arbeiteten, abgehalten. Diese Versammlung sollte den Ausschlag geben; sie sollte endgültig über den Streik entscheiden. Moyer war in Butte, Montana. Ich hatte ihm über die immer stärker werdende Forderung der Schmelzarbeiter nach dem Streik und über die Versammlung, die abgehalten werden sollte, telegrafiert. Zu meinem Erstaunen drahtete er zurück: „Aktion verschieben bis zu meiner Rückkunft." Ein Aufschub schien mir aber nicht ratsam, ja unmöglich. Ich sagte den Arbeitern nichts von Moyers Telegramm, und die Tagesordnung wurde ohne jede Schwierigkeit abgewickelt. Plötzlich erschien Moyer, gerade noch zur Zeit, um Verwirrung in die Versammlung zu tragen. Die Arbeiter meinten es aber ernst und waren voller Begeisterung. Von Aufschub wollten sie nichts wissen. Sie waren bereit, in den Streik zu treten, und wollten sofort beginnen. Man hörte manche heftige Rede über die schlechte Behandlung, die sie erdulden mussten, über die Unerträglichkeit der langen Arbeitszeit, die endlose Dauer der „langen Wechselschicht", des Übergangs von einer Schicht zur anderen, bei dem die Arbeiter alle vierzehn Tage einmal vierundzwanzig Stunden durcharbeiten mussten.
Die allgemeine Stimmung der Versammlung zeigte das Erwachen der Geister, die unter dem Druck der unmenschlich langen Arbeitszeit und der schweren Arbeit lange geschlafen hatten. Das ließ eine aktive Stimmung während des Streiks und eine schwierige Lage für die Hüttengesellschaft erwarten.
Es wurde beschlossen, dass niemand vor Schluss der Ver-
Sammlung den Saal verlassen sollte. Um Mitternacht wurde einstimmig eine Resolution für den Streik angenommen. Um die gleiche Stunde dröhnten draußen Kanonenschüsse, Pfeifen schrillten, Feuerwerk knatterte: es war der 4. Juli. Mit diesem Lärm und Getobe setzte wie alljährlich die Feier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein.
Der Streik sollte ohne Verzögerung beginnen, sobald die Schicht, die gerade arbeitete, verständigt werden konnte. Die Gesellschaft sollte den Ausbruch des Streiks erst erfahren, wenn die Schmelzarbeiter die Arbeit niederlegten. Sie sollte nicht erst Zeit finden, sich vorzubereiten. Die Arbeiter verließen den Saal in drei Abteilungen: zuerst die Leute von Argo, weil sie den weitesten Weg hatten, dann die von Globe und zuletzt die Arbeiter der Grant-Schmelzwerke. Auf allen drei großen Werken sollte der Streik gleichzeitig ausgerufen werden. Keine Rede mehr von Verhandlungen. „Legt die Arbeit nieder! Sofort! Streikt!" Das war die Parole. Sie wurde auf der Stelle befolgt. Die Meister gerieten in große Aufregung. „Haltet das Feuer in Gang! Die Schmelzöfen erkalten!" Aber ihre Befehle wurden nicht befolgt. Die Arbeiter rannten im Flammenschein umher und riefen: „Streik! Streik! Es wird gestreikt! Schlagt zu, solange das Eisen noch heiß ist!"
Die Hüttenwerke lagen in den Vororten der Stadt. Es dauerte einige Zeit, bis die Streifenwagen der Polizei von Denver auf dem Schauplatz erschienen, und als sie ankamen, konnten sie nicht mehr viel tun. Die Leute hatten die Arbeit niedergelegt, der Streik war ausgebrochen - der Kampf hatte begonnen. In den Globe- und Argo-Werken gelang es den Meistern, Büroangestellten und Beamten, die soweit als möglich telefonisch herbeigerufen wurden, das Feuer halbwegs
in Gang zu halten; aber auf dem Grant-Werk erkalteten die Hochöfen, das Feuer erlosch, das Metall und die Schlacke erstarrten. Diese Hochöfen wurden niemals wieder angeblasen. Der Schornstein des Grant-Hochofenwerks ist einer der höchsten in Amerika. Seit dem 4. Juli 1903 raucht er nicht mehr. Er steht da, ich möchte sagen, als ein Monument des Achtstundentages, für den die Bergarbeiterföderation des Westens so tapfer gekämpft hat.
Auf einer Versammlung des Bergarbeiterkomitees schilderte ich die Arbeitsbedingungen der Leute in den Schmelzwerken. Die Häuser, in denen sie leben mussten, verglich ich mit dem Palast des ehemaligen Gouverneurs Grant, eines der Hauptaktionäre der Grant-Werke, über dessen Wohnpalast und seine wunderbare Ausstattung in den Zeitungen eine Beschreibung erschienen war. Sie forderte geradezu zu dem Vergleich heraus, dass ein einziges Stück von Grants Einrichtung ein Dutzend solcher Häuser und Einrichtungen wert war, wie sie die Streikenden besaßen. Außerdem sprach ich noch ausführlich über die Kindersterblichkeit, die im Hüttenbezirk höher war als in jedem anderen Teil des Staates. Nach dem Ende der Rede trat Grant mit Tränen, die ihm über die Wangen liefen, an mich heran und erklärte, dass er selbst wohl bereit sei, die Verfassung des Staates einzuhalten, und dass er gern die Lebensbedingungen der Hüttenarbeiter verbessern würde, die Gesellschaft ihn aber abgehalten habe, individuelle Schritte zu unternehmen. Ich hatte eben mein Gespräch mit Grant beendigt, als Direktor Guiterman von der zum Guggenheim-Konzern gehörigen American Smelting and Refining Company hinzukam und sagte:
„Mr. Haywood, wir waren überrascht, als der Streik in unserem Werk ausgerufen wurde, da Mr. Moyer mir zugesichert hatte, dass kein Streik ohne vorherige Verständigung der Gesellschaft stattfinden werde." Darüber war ich sehr verwundert, denn ich hielt es nicht für möglich, dass Moyer beabsichtigt hatte, als Verräter an der Organisation zu handeln. Er wusste, dass er als Präsident der Bergarbeiterföderation des Westens nicht berechtigt war, ein solches Versprechen, sei es Guiterman, sei es jemand anderem, zu geben. Weiter wusste er, dass die Gesellschaften keine Benachrichtigung erhalten sollten, wenn die Arbeiter es nur irgendwie im Interesse der wirkungsvollen Einleitung des Streiks vermeiden konnten. Ich nahm daher Guitermans Behauptung nicht ernst; sie schien unhaltbar, und ich tat sie als eine Verleumdung ab.
Am 1. August trat die Jahreskonferenz der Bezirksorganisation San Juan der Bergarbeiterföderation zusammen und nahm eine Resolution an, in der das Inkrafttreten des Achtstundentages für Hütten- und Schmelzarbeiter entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen spätestens am 1. September 1903 verlangt wurde. Ein Komitee der Hüttenarbeiter des Bergarbeiterverbandes von Telluride formulierte diese Forderungen und legte sie dem Bergwerksbesitzer-Verband von Telluride vor. Der Unternehmerverband antwortete, dass ein Teil der Arbeiter, die in diese Forderungen einbezogen waren, unter einem Kontrakt ständen, der noch über ein Jahr liefe, und dass die vom Komitee geforderten Tageslöhne für einen Achtstundentag die gleichen seien, die bisher für zehn und zwölf Stunden gezahlt wurden. Daraufhin wurden auf einer Versammlung der Gewerkschaft die Forderungen umgeändert. Alle kontraktlich verpflichteten Arbeiter sollten wie bisher arbeiten. Es wurde einer allgemeinen Herabsetzung der Löhne um fünfzig Cent am Tag zugestimmt. Drei Dollar täglich sollte der Mindestlohn sein. Ein Komitee unserer Organisation trat mit einem Komitee des Unternehmerverbandes zusammen, dem Bulkeley Wells (der nach dem Tode von Arthur Collins Leiter der Smuggler-Union-Grube geworden war), Cooper Anderson von der Nellie-Grube und A. C. Koch von der Alta-Grube angehörten. Wells, der Wortführer, erklärte, er werde die Forderungen dem Unternehmerverband übermitteln. Dieses Komitee schien zu glauben, dass ein Übereinkommen auf Grund der vom Bezirksverband vorgelegten Bedingungen erzielt werden könne; aber wir erhielten niemals eine Antwort. Es sei denn, dass die kurz darauf folgende Bildung der San Juan Mining Association, die alle Bergbaubetriebe erfasste, als eine Antwort betrachtet wird.
Die im Bergarbeiterverband von Telluride organisierten Hüttenarbeiter beschlossen, am 1. September in den Streik zu treten. Die Bergarbeiter feierten bereits alle, mit Ausnahme einer Mannschaft für die Notstandsarbeiten in der Tomboy-Grube und den Werken der Smuggler Union, wo die Hütte mit Hilfe von Bürokräften und einigen Streikbrechern in Betrieb blieb. Der Betriebsleiter Wells selbst zog einen Arbeitskittel an und stellte sich an einen Arbeitsplatz. Nach einigen Tagen wies die Amerikanische Arbeiterunion die Köche und Kellner der Smuggler-Union-Werke an, die Arbeit niederzulegen. Die Notstandsarbeiter wurden ebenfalls abberufen, so dass der Ausstand nun vollkommen war. In der Tomboy-Grube wurden die Maßregelungen fortgesetzt, bis am 21. Oktober der Streik über sie verhängt wurde. Alle Arbeiter leisteten Folge. Sogar die Schichtmeister und Vorarbeiter legten die Arbeit nieder. Bei Conns Laden wurden Streikposten aufgestellt, um die Gruben zu beobachten. Mitglieder des Bürgerbundes und Sheriffs versuchten, einen Kampf zu provozieren.
Sie warfen Steine auf den Laden und schössen auf einen der Streikposten. Am nächsten Tag wurden die Streikposten in einen anderen Laden von Conn in der Nähe der Smuggler-Union-Grube verlegt. In der folgenden Nacht wurden die Mitglieder des Bürgerbundes in Telluride mobilisiert und standen an den wichtigsten Straßenecken mit Jagdflinten und Winchesters. Bulkeley Wells schleppte aus der Redaktion höchst eigenhändig einen Sack voll Gewehre für die Provokateure heran. Sie drangen in eine Reihe von Wohnungen ein und entwaffneten die Gewerkschaftsmitglieder. Viele Arbeiter wurden festgenommen und wegen „Übertretung der öffentlichen Ordnung", nämlich Überschreitung einer Straße, die seit fünfundzwanzig Jahren ständig benutzt wurde, in Haft gehalten. Erst gegen Bürgschaften, die bis zu tausend Dollar betrugen, wurden sie freigelassen. Die Bergwerksbesitzer bezeichneten den Streik als eine Verletzung des Kontrakts, der am 28. November 1901 für drei Jahre abgeschlossen worden war. Die Gewerkschaft hatte aber schon gegen die Verletzung des Kontrakts durch die Gesellschaft protestiert; der Abzug für die Verpflegung war von neunzig Cent auf einen Dollar erhöht worden, schwarze Listen und Maßregelungen waren bei der Tomboy-Gesellschaft an der Tagesordnung. Der Streik wurde fortgesetzt. Anfang Oktober fanden in Denver zwischen den Direktoren und den Vertretern der Bergarbeiter Besprechungen statt. Die Direktoren Chase, Wells und Atchison trafen in dem Büro von John H. Murphy, dem Anwalt der Bergarbeiterföderation, mit Miller, Murphy und mir zusammen. Die Grubendirektoren schienen bereit, alle Forderungen der Gewerkschaft zu bewilligen; wir einigten uns schließlich auf den achtstündigen Arbeitstag in den Hütten und Gruben und einen Mindestlohn von drei
Dollar täglich. Der stellvertretende Oberstaatsanwalt Melville, der bei dieser Konferenz den Gouverneur vertrat, stellte Bulkeley Wells die Frage, ob er bereit sei, einem Arbeiter denselben Betrag für eine Achtstundenschicht zu zahlen, den er ihm für eine Zwölfstundenschicht gezahlt hatte. Wells erwiderte: „Gewiss. Ich weiß, ich kann meine alten Arbeiter nicht für weniger als dreieinhalb Dollar pro Tag zurückbekommen." Nach dieser Besprechung herrschte der Eindruck, dass der Streik in Telluride nun endgültig beigelegt sei. Die Unternehmervertreter waren jedoch kaum nach Telluride zurückgekehrt, als dort eine Versammlung des Bürgerbundes stattfand, durch die alles wieder ins Wanken kam; Wells äußerte nach der Versammlung, wenn die Sache nur ihm, Chase und Melville für die Bergwerksbesitzer und Miller, Murphy und Haywood für die Bergarbeiter überlassen worden wäre, so hätte die ganze Angelegenheit in einer Stunde geregelt werden können. Es wurde aber nicht einmal der Versuch gemacht, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Der Bürgerbund sandte vielmehr eine Delegation der Bergwerksbesitzer an den Gouverneur mit der Bitte, Truppen zu stellen. Gouverneur Peabody beorderte sofort die Miliz nach Telluride. Die Nachricht traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich benachrichtigte Oscar Carpenter, den Sekretär des Bergarbeiterverbandes von Telluride, dass Miliz eintreffen werde, so schnell der Sonderzug sie hinbringen könne. Da die „Zinnsoldaten" Burschen ohne Verantwortungsgefühl seien, sei größte Vorsicht geboten, um einen Konflikt zu verhindern. Nach dem Eintreffen des Militärs begannen sofort die Verhaftungen. Achtunddreißig Arbeiter wurden alle zugleich wegen „Landstreicherei" festgenommen; bald darauf weitere achtzehn Arbeiter. Darunter befanden sich auch Oscar M. Carpenter und J. C. Barnes von der Amerikanischen Arbeiterunion. Carpenter trug bei seiner Verhaftung den von mir geschriebenen Brief in der Tasche. Er zerriss und verschluckte ihn, um zu verhindern, dass die Soldaten ihn lasen. Mir wäre lieber gewesen, sie hätten den Brief gelesen, weil Carpenters Handlungsweise sie glauben ließ, dass er etwas Besonderes zu verstecken habe. So wurden denn diese beiden in einem Sonderzug nach Montrose gebracht und dort ins Gefängnis geworfen.
So viel erfuhren wir telegrafisch. Unmittelbar darauf, am 3. Januar 1904, folgte die Verkündung des Ausnahmezustandes. Telluride wurde durch Einführung der Zensur für Presse, Telegraf und Telefon von der Außenwelt abgesperrt. Den Pressekorrespondenten wurde mitgeteilt, dass sie ihre Berichte dem Bürgerbund zur Begutachtung vorzulegen hätten. Diese Anordnung fand natürlich nicht den Beifall der Reporter, und so drangen allerhand Gerüchte in die Blätter von Denver. Wir hatten J. C. Williams, unseren Vizepräsidenten, nach Telluride geschickt, um die Finanzierung des Streiks im Bezirk San Juan zu leiten, außerdem General Engley von Cripple Creek, einen Veteranen aus dem Bürgerkrieg, um für die verhafteten Streikenden zu sorgen. In Telluride fand gerade ein Literaturabend im Gewerkschaftslokal statt, als eine Abteilung Soldaten in den Saal marschierte und die Verordnung über den Ausnahmezustand bekannt gab. In derselben Nacht noch wurden General Engley und J. C. Williams zusammen mit einunddreißig anderen Männern in die Stadt Ridgeway abgeschoben. Unter ihnen befand sich auch Guy Miller, Präsident des Bergarbeiterverbandes von Telluride. Nach der Ankunft in Ridgeway mussten sie sich in Reih und Glied auf der Straße aufstellen. Man erklärte
ihnen, sie seien aus dem Bezirk San Miguel abtransportiert worden, weil sie dort unerwünscht seien. Das Heitere an der Sache war, dass sie nicht dort blieben, wohin man sie abgeschoben hatte, sondern dass sie nach Telluride zurückkehrten, bis sie schließlich wieder fortgeschafft wurden. Williams berichtete uns selbst in Denver, wie Joe Barnes sich in einem Fass nach Telluride hatte zurücktransportieren lassen.
Williams berichtete ferner, dass die Gewerkschaft vom Bezirksstaatsanwalt Howe die Schließung der Spiellokale für die Dauer des Streiks verlangt habe. Die Bergarbeiter, das hatte die Erfahrung gelehrt, würden in den Spielhöllen eine Masse Geld verlieren; die Gewerkschaft aber wäre stärker, wenn das Geld in der Tasche der Arbeiter bliebe und nicht in die Hände der berufsmäßigen Spieler wanderte.
Bei einem Trupp von Deportierten war auch der Leiter der Arbeiter-Konsumgenossenschaft in Telluride, A. H. Floaten. Er kam nach Denver in unser Büro mit zerrissenen Kleidern und blutbeflecktem Hemd und erzählte, dass Soldaten und bewaffnete Strolche spät abends sein Haus überfallen hätten, als er sich eben niederlegen wollte, dass sie ihn halbangekleidet, mit den Schuhen in der Hand, herausgezerrt hätten. Am Kopf hatte er eine zollgroße, klaffende Wunde, die ihm ein gewisser Walter Kinley mit dem Gewehrkolben beigebracht hatte.
Nach diesen Deportationen ereignete sich nichts von besonderem Interesse bis zum l. März, als wieder vierunddreißig Arbeiter wegen „Landstreicherei" verhaftet wurden. Siebenundzwanzig davon wurden zu fünfundzwanzig Dollar und Zahlung der Gerichtskosten verurteilt und vor die Wahl gestellt, bis um zwei Uhr des nächsten Tages entweder ihre Strafen zu zahlen und den Bezirk zu verlassen oder Arbeit anzunehmen. Sechzehn über nahmen Arbeit bei der städtischen Kanalisation. Einer der Leute, der Finne Harry Maki, weigerte sich. Er wurde mit Handschellen an eine Telegrafenstange gefesselt und dort viele Stunden lang in der Kälte stehen gelassen. Danach wurde er sechsunddreißig Stunden ohne Nahrung ins Gefängnis gesperrt. Wir hatten nach Engleys Deportation den Anwalt Edmund H. Richardson aus Denver nach Telluride geschickt, um Murphy in der Erteilung der Rechtshilfe zu unterstützen. Seine hohe Meinung von Recht und Gesetz war erschüttert, als er zurückkehrte, obwohl er eine Revision der Beschlüsse in den „Landstreicherei"-Fällen erwirkt hatte. Er erzählte, die Bergarbeiter hätten alle zusammen elfhundertachtundvierzig Dollar besessen, all sie dem Gericht vorgeführt wurden, und außerdem hatten sie die Gewerkschaft hinter sich. Die Gefangenen wurden freigesprochen, aber Richardson saßen die Vorderzähne nur mehr locker im Mund. Walter Kinley, der Raufbold, hatte sich aus Rache für das strenge Kreuzverhör, dem er von dem Anwalt unterzogen wurde, auf ihn gestürzt, als er den Gerichtssaal verlassen wollte. Der Organisationsanwalt John Murphy appellierte an den Bezirksrichter Stephens, um eine Verfügung zum Schutz der nach Hause zurückkehrenden Bergarbeiter vor dem Terror der Mitglieder des Bürgerbundes zu erreichen. Diese Verfügung wurde gewährt, aber die Militärbehörden kümmerten sich nicht um gerichtliche Verordnungen. Murphy sagte, es sei eine bemerkenswerte Gerichtsverfügung gewesen, die vom Richter Stephens an dem Tag erlassen wurde, als er beschloss, den für Mai festgelegten  Gerichtstermin  wegen  Missachtung des Gerichtshofes seitens des Bürgerbundes und des Militärs, das den Bezirk überfallen hatte, zu verschieben. Der
Richter hatte erklärt: „Es wäre einfach eine Farce, zu versuchen, in diesem Bezirk das bürgerliche Gesetz anzuwenden."
Der Kampf zog sich noch durch den ganzen Sommer. Dann wurde die Miliz abberufen und der Streik beigelegt. Gegen Ende November veröffentlichten die Gruben Bekanntmachungen, dass ab 1. Dezember der Achtstundentag gelte, bei Lohnsätzen, wie sie der Verband vor fünfzehn Monaten gefordert hatte. In diesen Tarifvertrag waren auch die Köche, Bäcker, Aufwartefrauen und Geschirrspüler einbezogen.
Während der langen Dauer des Streiks waren von den vielen hundert Mitgliedern der Gewerkschaft im Bezirk San Juan nur siebzehn desertiert. Auch nach der Beilegung des Streiks fuhr der Bürgerbund fort, Strolche wie Runnels, Meldrum und Kinley zu beschäftigen. Diese versuchten fortgesetzt, die Bergarbeiter zu bedrohen und einzuschüchtern. Durch die Drohung, dass niemand, der gegen den Gouverneur Peabody spreche, im Bezirk San Miguel bleiben dürfe, vertrieben sie schließlich viele Arbeiter.

 

Siebentes Kapitel
Barackenelend und Unternehmerwillkür

Der Kampf um den Achtstundentag in Colorado zählt zu den härtesten, die die Organisation jemals zu bestehen hatte. Zum Kongress der Bergarbeiterföderation des Westens im Mai 1902 hatten die Verbände des Bezirks Cripple Creek einige ihrer besten Leute geschickt:
Sherman Parker, Bill Easterly, Dan Griffis, Bill Davis, Charles Kennison, D. C. Copley und John Harper. Von Telluride wurde St. John entsandt, von Silverton Frank Smeltzer. Die Schmelzarbeiter von Denver vertrat E. J. Smith. Der Kongress beschloss einstimmig, den Kampf um den Achtstundentag bis zum siegreichen Ende durchzuhalten, und erklärte sich mit dem Vorgehen der Schmelz- und Walzwerkarbeiter einverstanden. Im ganzen Staate, in Telluride, in Durango, Florence, Canon City, Pueblo, Idaho Springs und Denver ging die Agitation für den Achtstundentag weiter. Sie musste bald zu einem Ausbruch der gewerkschaftlichen Kämpfe in Colorado führen.
Der Kongress bestätigte noch einmal das uneingeschränkte Bekenntnis der Organisation zu den Prinzipien des Sozialismus. Die Politik und die Prinzipien der Bergarbeiterföderation des Westens machten den Bergwerksbesitzern des Westens viel zu schaffen, aber einige Sozialisten vom Schlage Victor Bergers sprachen in kindischer Weise von den sich entwickelnden Kämpfen als von „Grenzfehden", die für die Sozialistische Partei von keinem großen Interesse seien.
Der Kongress nahm auf meinen Vorschlag hin eine bedeutsame Resolution an, in der die Schaffung von Frauen-Hilfsgruppen gefordert und auf die Notwendigkeit hingewiesen wurde, die bestehenden Bezirksverbände zu festigen und neue zu organisieren. Die Hütten- und Walzwerkarbeiter von Colorado City organisierten sich Anfang 1902 als Verband der Bergarbeiterföderation des Westens. Die Angehörigen dieser kleinen Organisation waren sehr aktiv, ihre Mitgliederzahl erhöhte sich von einer Versammlung zur anderen. Moyer und ich suchten die junge Gruppe des Öfteren auf, um den neuen Mitgliedern bei ihrer Arbeit zu helfen.
In Colorado City befanden sich mehrere Werke, in denen die im Bezirk Cripple Creek gewonnenen Erze aufbereitet wurden. Nachdem das goldhaltige Erz die Scheideanstalten durchlaufen hatte, blieb wenig mehr als Abfall und Schlacke übrig. Von dem reinen Gold blieb nichts in Colorado City. Diese abseits gelegene kleine Industriestadt mit ihren Zelten, Blechbaracken, Hütten und Schornsteinen war von der großartigsten Natur umgeben. Sie lag im Schatten von Pike's Peak, nicht weit vom wundervollen „Garden of the Gods". Die Heilwässer von Manitou Springs lagen in der Nähe, fast als Vorstadt der vornehmen Wohnstadt Colorado Springs mit ihren schönen Häusern, in denen die Unternehmer, Fabrikleiter und andere hochbesoldete Angestellte lebten.
Die Beamten der Schmelzwerke waren den Arbeitern gegenüber anmaßend und feindselig. Sie hielten sich an das alte, seit den Tagen der „Molly Maguires" beliebte System und beschäftigten Pinkertondetektive, Geheimpolizisten und Lockspitzel. Die Gewerkschaften waren ihnen ein Gräuel. Von Anfang August 1902 bis Februar 1903 wurden einundvierzig Leute wegen ihres Beitritts zum Verband entlassen.
Der Verband Nr. 125 der Walzwerk- und Schmelzarbeiter von Colorado war zum Streik bereit, sandte den Hüttenbesitzern aber vorher noch ein Schreiben, in dem die Wiedereinstellung der wegen ihrer Zugehörigkeit zum Verband entlassenen Arbeiter verlangt und ein Lohntarif vorgeschlagen wurde. Es erfolgte keine Antwort. Die Gesellschaften blieben bei ihrem System der schwarzen Listen, bis am 14. Februar der Streik ausbrach, durch den alle Hütten stillgelegt wurden. Die Einwohner der Stadt hatten inzwischen den Pinkertondetektiv entdeckt, der die Werkspitzel in Colorado City leitete. Eines Tages
zog fast die ganze Bevölkerung auf die Straße und marschierte vor die Pension, in der dieser Halunke logierte. Er wurde aufgefordert, seinen Koffer zu packen und die Stadt zu verlassen, da die Bevölkerung ihn nicht länger in ihrer Mitte dulden werde. Man eskortierte ihn bis an den Stadtrand, und er kehrte nie wieder zurück. Die Hüttenbesitzer wurden von der Vereinigung der Grubenherren unterstützt und hatten auch den elenden Bürgerbund hinter sich. In geheimen Sitzungen dieser Organisationen wurden Pläne geschmiedet, die staatliche Miliz auf den Schauplatz zu bringen. Überall, wo dieser Bürgerbund bestand, war er ein Nest giftiger Verschwörer mit einem Bankier an der Spitze, einem Parasiten mit weichen Händen, in feinen Kleidern und weißem Kragen. Berufsspieler, faule Geistliche, unflätige Zuhälter und Geschäftsleute gehörten zu den Mitgliedern. Der Bürgerbund wurde von der Vereinigung der Grubenherren unterstützt, die auch die staatliche Miliz und die Bezirks-Sheriffs in der Hand hatte und durch diese so viel Hilfssheriffs, als sie brauchte, bekommen konnte. Die Polizisten und Gerichtsdiener der Städte und Grubenorte waren in der Regel ebenfalls bereit, den Anordnungen der Bergwerksgesellschaften Folge zu leisten. Man hätte glauben sollen, diese vereinten Kräfte wären stark genug für die Durchsetzung aller Absichten der Unternehmer; aber nein, sie mussten noch den Bürgerbund organisieren und ehemalige Sträflinge, Mörder und Revolverhelden dingen. In Cripple Creek war der Bankier A. E. Carton Vorsitzender des Bürgerbundes; auch im Bezirk San Juan war ein Bankier der Gründer der Organisation. Ein anderer Bankier wieder war der Führer der Bürgerschutzliga in Idaho Springs, einem kleinen Bergwerksstädtchen nicht weit von Denver.
Als die Hüttenbesitzer und Vertreter der Vereinigung der Grubenherren erkannten, dass die Streikenden Herr der Lage waren, ließen sie durch die Gemeindebehörden dem Gouverneur einen tendenziösen Bericht zugehen, der die Verwendung der staatlichen Miliz zur Niederknüppelung des Streiks rechtfertigen sollte. Der Gouverneur versicherte in seiner Botschaft an das Parlament des Bundesstaates nach Ablegung des Amtseides mit Nachdruck, „dass er Gesetz und Ordnung aufrechterhalten" werde. Diese Worte des Vertreters der obersten Exekutivgewalt im Bundesstaat wurden von den kapitalistischen Hüttenbesitzern ganz richtig ausgelegt. Sie wussten genau, dass der Gouverneur niemals die Staatsmiliz einberufen würde, um sie daran zu hindern, die Arbeiter zu Hungerlöhnen zu beschäftigen. Am 3. März zur Mittagszeit gab der Gouverneur, der bis vor wenigen Monaten vom Wucher gelebt hatte, einen Befehl heraus, der den Wunsch der Hüttenbesitzer erfüllte.
In Colorado City herrschte allgemeine Aufregung, als die Einwohner erfuhren, dass die staatliche Miliz vom Gouverneur einberufen und in ihre Stadt geschickt worden sei. Nicht nur die Hütten- und Schmelzarbeiter empörten sich dagegen, sondern auch andere Kreise, von denen wir es nicht erwartet hatten. Der Bürgermeister und die Mitglieder des Stadtrats hielten eine Versammlung ab und sandten an den Gouverneur folgendes Protesttelegramm:
„Gouverneur Peabody, es heißt, dass die Miliz in unsere Stadt beordert worden ist. Wir wissen nicht, zu welchem Zweck. Es herrscht hier keinerlei Unruhe. Seit Beginn des Streiks hat es hier außer einigen kleinen Streitigkeiten keine Unruhe gegeben. Wir protestieren mit der gebührenden Achtung dagegen, dass Militär bei uns stationiert wird. Morgen wird Sie eine Delegation vol Geschäftsleuten mit einem offiziellen Protest der Bürger der Stadt aufsuchen."
Dem Gouverneur wurde eine von über sechshundert Bürgern der Stadt unterzeichnete Petition vorgelegt, in der die Abberufung der Miliz gefordert wurde. Die Antwort des Gouverneurs lautete:
„Ich werde die Truppen nicht abberufen, solange der Streik nicht beigelegt ist. Diese Regierung wird nicht von Agitatoren geleitet... Wenn ein Mann arbeiten will, so hat er das Recht dazu, und die Truppen sollen dafür sorgen, dass jedermanns Rechte geschützt werden." Am 10. März ließ ich folgenden Artikel in den Blättern von Denver erscheinen:
„Das Recht der persönlichen Freiheit und der Redefreiheit ist verletzt. Die Streikposten werden auf städtischem Grund und Boden verhaftet, auch wenn sie gar nicht versucht haben, die Anlagen der Gesellschaft zu betreten. Sie dürfen nicht mit den Arbeitern in den Hütten sprechen, obzwar sie nur die friedliche Absicht haben, die Arbeiter zur Niederlegung der Arbeit zu veranlassen. Es haben bereits 'so viele gewerkschaftlich unorganisierte Arbeiter die Betriebe verlassen, dass die Gesellschaft jetzt zu verzweifelten Mitteln greift. Die Lage ist jetzt folgende: die Bergarbeiter dieses Staates beabsichtigen nicht, sich einer solchen Unterdrückung zu unterwerfen. Sie sind für Gesetz und Ordnung und werden nicht lange erlauben, dass diese verletzt werden, und sei es auch von der obersten Exekutive des Staates. Es besteht eine ernste Gefahr darin, die Unterdrückung zu weit zu treiben, und es ist sicher, dass die Bergarbeiter jetzt geneigt sind, zurückzuschlagen. Sie werden ihre Freiheiten schützen und ihre Rechte verteidigen, auch wenn es dazu notwendig ist, das Rote Meer der Revolution zu durchschreiten. Die Kolonisten hatten geringere Ursache, gegen die Autorität König Georgs zu rebellieren, als die Bergarbeiter in Colorado haben, der Unterdrückung des Gouverneurs Peabody Widerstand zu leisten."
Während des Streiks kamen die Reporter täglich in das Büro der Föderation und fragten mich, ob die Hüttenarbeiter von Colorado City einer Schlichtung der Differenzen auf dem Verhandlungswege geneigt seien. Ich antwortete den Zeitungsleuten, die Arbeiter würden meiner Ansicht nach alles tun, was vernünftigerweise möglich sei. Am 6. März sandte die „Denver Post" folgendes Telegramm an die Hüttenbesitzer von Colorado City:
„Sind Sie bereit, die Streitigkeiten zwischen Ihrer Gesellschaft und den von Ihnen beschäftigten Hüttenarbeitern einer Schlichtungskommission zu übergeben, die von den beiden Parteien ernannt werden soll? Rückantwort bezahlt die ,Denver Post'." Eine der eingelaufenen Antworten lautete: „Es bestehen keine Streitigkeiten zwischen unserer Gesellschaft und den von uns beschäftigten Hüttenarbeitern. Unsere Arbeiter waren und sind mit Löhnen und Behandlung vollkommen zufrieden. Bei uns sind höhere Löhne und geringere Arbeitszeit als in den Hüttenwerken, mit denen wir konkurrieren. Unsere Arbeiter verlangen keinen Schlichtungsausschuss. Unser Werk ist in vollem Betrieb, und alles, was unsere Arbeiter und Betriebsanlagen brauchen, ist Schutz vor Gewalttaten Außenstehender, die nicht bei uns beschäftigt sind. Wir Wären erfreut über den Besuch und eingehende Untersuchung unseres Werkes durch Ihre Vertreter.
C. E. MacNeil, Vizepräsident United Reduction and Refining Company."
In derselben Nummer, in der dieses Telegramm erschien, stand ein scharfer Leitartikel, den ich hier ausführlich zitiere, weil er die Gründe für die Unruhen darlegt, die damals in ganz Colorado ausbrachen.
„C. E. MacNeil, stehen Sie Rede und Antwort! Wurde dieses Ihr Telegramm nicht von den anderen Zechenbesitzern gutgeheißen? Ist es nicht richtig, dass es ein Täuschungsversuch ist?
Ist es nicht von Anfang bis Ende eine unverschämte Fälschung?
Ist es nicht ein sorgfältig formuliertes Telegramm, um die Bevölkerung von Colorado irrezuführen? Soll es nicht die Leute glauben machen, dass mehr gegen die Hüttenbesitzer gesündigt wird, als sie selbst sündigen?
Lachen Sie nicht selbst über Ihre List und Schlauheit, und bilden Sie sich nicht ein, dass Sie die Bevölkerung meisterlich an der Nase herumgeführt haben? Ihre Antwort auf jede dieser Fragen muss, wenn Sie ehrlich sind, ,Ja' lauten.
Lesen Sie Ihr eigenes Telegramm, Mr. MacNeil. ,Es bestehen keine Streitigkeiten zwischen unserer Gesellschaft und den von uns beschäftigten Hüttenarbeitern.' Ist es nicht eine Tatsache, dass Ihre Arbeiter streiken? Sie müssen antworten: ,Jawohl.'
,Unsere Arbeiter waren und sind mit Löhnen und Behandlung vollkommen zufrieden.'
Ist es nicht eine Tatsache, dass Ihre Löhne so niedrig waren, dass die Leute mehr als die halbe Zeit hungrig blieben?
Ist es nicht richtig, dass Ihre Arbeiter gezwungen waren, Versicherung und medizinische Einrichtungen zu bezahlen und in Ihren Läden einzukaufen?
Ist es nicht richtig, dass viele Arbeiter gezwungen waren,
in Zelten zu hausen, weil Sie ihnen nicht genug zahlten,
um eine Wohnung mieten zu können?
Sie müssen alle diese Fragen mit ,Ja' beantworten...
Sie sagen: ,Unsere Arbeiter verlangen keinen Schlichtungsausschuss.'
Ist es nicht eine Tatsache, dass die Arbeiter Verhandlungen angeboten haben und dass Sie ablehnten? Ist es nicht eine Tatsache, dass Sie diesen Männern sagen: ,Es gibt nichts zu verhandeln.'? Ist es nicht eine Tatsache, dass Sie versuchen, die Gewerkschaften zu zerschlagen?
Ist es nicht eine Tatsache, dass Sie es abgelehnt haben, das Koalitionsrecht der Arbeiter anzuerkennen, und dies auch weiter ablehnen?
Wissen Sie nicht, dass dieses Recht in der Verfassung der ereinigten Staaten garantiert wird, die jedermann das Recht auf Freiheit und Streben nach Glück garantiert? Wissen Sie nicht, dass Sie versuchen, diesen Männern ihre Freiheit und das Glück zu rauben, indem Sie sie auf das Niveau von Leibeigenen herabdrücken? Sie müssen diese Fragen bejahen, wenn Sie nicht bewusst lügen wollen.
Sie sagen: ,Unser Werk ist in vollem Betrieb, und alles, was unsere Arbeiter und Betriebsanlagen brauchen, ist
Schutz vor Gewalttaten Außenstehender, die nicht bei uns beschäftigt sind.'
Wissen Sie nicht, dass jedes Wort in diesem Satze von Lügen strotzt?
Wissen Sie nicht, dass dieser Satz die Bevölkerung von Colorado nicht irreführen wird, so geschickt Sie ihn auch formuliert haben?
Ist es nicht eine Tatsache, dass Ihre Betriebe nicht voll arbeiten?
Ist es nicht eine Tatsache, dass keine Gewalttätigkeiten vorgekommen sind?
Ist es nicht eine Tatsache, dass Sie die Truppen gerufen haben, um Leute einzuschüchtern, die nur verlangten, dass Sie ihnen für ihre Arbeit genug zahlen, damit sie anständig leben können?
Ist es nicht eine Tatsache, dass die Bürger von Colorado Springs und Colorado City zu Hunderten Petitionen an den Gouverneur Peabody unterschrieben haben, in denen sie erklärten, dass keine Gewalttätigkeiten vorgekommen sind?
Wissen Sie, dass diese Truppen den Staat Colorado pro Tag 2000 Dollar kosten und dass sie in Colorado City gänzlich überflüssig sind?
Ist es nicht eine Tatsache, dass Sie diese Truppen dort halten, um Gewalttätigkeiten zu provozieren? Sie müssen mit ,Ja' antworten. Ist es nicht richtig, dass Ihre Gesellschaft zwölf Millionen Dollar verwässertes Kapital hat und dafür auf Grund von Hungerlöhnen Dividenden auszahlt? Antwort: ,Ja.' Wissen Sie nicht, dass Sie all diese Fragen mit ,Ja' beantworten müssen?
Die Bergarbeiterföderation des Westens fordert: ,Einen den Gefahren unseres Berufes entsprechenden Lohn und das Recht, unseren Verdienst frei vom Diktat jeder beliebigen Person zu verwenden.' Verlangen Sie diese Dinge für Ihre eigene Person? Antwort: ,Ja.'
Besteht irgendein Grund, warum nicht jedermann dasselbe fordern sollte?
Sie müssen antworten: ,Nein.'
Die Bergarbeiter fordern weiter:
,Möglichst schnelle und bleibende Anerkennung unseres
Rechtes auf Bezahlung in gesetzlichem Geld für die geleistete Arbeit und Befreiung von dem ungerechten und unbilligen System, nach welchem wir unsere Löhne ausgeben müssen, wo und wie es unsere Unternehmer oder ihre Agenten oder Beamten bestimmen.' Ist das nicht gerecht?
Würden Sie zustimmen, dass Ihnen irgend jemand diktiert, wie und wo Sie Ihr Gehalt auszugeben haben?... Mr. MacNeil, antworten Sie... "
Ein solcher Leitartikel könnte heute nicht mehr in Amerika erscheinen. Damals war die Presse relativ frei und unbeeinflusst von Bankiers und Industriemagnaten, wenn auch die Inserenten eine gewisse Kontrolle über alle Zeitungen hatten. Die Zeitungen von Colorado waren in ihrem Absatz zum großen Teil von den Bergarbeitern abhängig. Vor fünfundzwanzig Jahren hatten die großen Konzerne ihre Einheitsfront im Kampf gegen die Arbeiterschaft noch nicht geschlossen, und man konnte hier und da eine Stimme des Protestes durch eine Lücke des eisernen Rings hören.
Der Gouverneur konnte seine Behauptung, dass es nichts zu verhandeln gebe, nicht länger aufrechterhalten. Die öffentliche Meinung äußerte sich so stark, dass er gezwungen war, die beiden Parteien zusammenzubringen. Der Gouverneur berief für den 14. März eine Konferenz der Hüttenbesitzer und der Vertreter der Bergarbeiterföderation in seinem Büro ein. Die Bergarbeiterföderation des Westens war durch Präsident Moyer, John Murphy und mich vertreten. Es herrschte eine feindselige Atmosphäre. Außer uns war nicht ein einziger Mann anwesend, der nicht ein bitterer Feind der Föderation war. MacNeil war ein flinkes kleines Männchen, ein typischer Vertreter der Kapitalistenklasse, ein Mann, der niemals in seinem Leben mit einem Arbeiter gesprochen hatte, es sei denn, um Befehle zu erteilen. Er benahm sich, als sei er an den Haaren zu dieser Sitzung herangezogen worden, gegen die er eingenommen war, bevor sie noch begonnen hatte. Fullerton von der Telluride-Hütte war vom selben Typ, aber jünger und geschmeidiger. Peck war ein Mann mit einiger Erfahrung und machte auf mich den Eindruck, als sei er selbst früher einmal Arbeiter gewesen; mit ihm einigten wir uns ohne große Schwierigkeiten. Die Konferenz dauerte von Sonnabend 2 Uhr nachmittags bis Sonntag morgens 3 Uhr, als wir mit Peck und Fullerton zu einem Einverständnis gelangt waren. Sie nahmen den Achtstundentag an, versprachen, keine Maßregelungen von Gewerkschaftern vorzunehmen und die streikenden Arbeiter wieder einzustellen. Ferner erklärten sie sich bereit, mit einem Komitee der Gewerkschaft über einen Lohntarif zu diskutieren. MacNeil blieb hartnäckig und verließ mit den Leitern der Portland- und Telluride-Werke unsere Konferenz. Auf Verlangen des Gouverneurs erklärte er sich jedoch einverstanden, uns am folgenden Tage zu treffen. Wir kamen mit MacNeil zur festgesetzten Zeit zusammen, aber er weigerte sich, Zusicherungen zu geben, dass er die Streikenden wieder einstellen, dass er mit einem Komitee der Gewerkschaft über Lohnfragen verhandeln oder den Achtstundentag anerkennen werde. Sechs Männer waren zu einem Einverständnis gelangt. Der Gouverneur hatte erklärt, dass er die Miliz sofort zurückziehen wolle. Aber ein elender Westentaschendiktator vermochte es, unsere Anstrengungen und unsere Bemühungen zunichte zu machen. Seine Halsstarrigkeit war verantwortlich für den Streik, der nun folgte. Allein hätte er sich gegen den Druck nicht halten können. Welche mächtige Stütze hielt ihn? Die Monopolgesellschaften? Die Kirche? Der Bürgerbund?
Er musste mit ganz bestimmten Instruktionen zu dieser Konferenz gekommen sein.
Über unsere Bemühungen, den Streik zu schlichten, wurden die Organisationen und die Presse durch eine längere Erklärung informiert.
Der Verband des Bezirks Cripple Creek Nr. 1 stand mit den Streikenden von Colorado City in engster Verbindung und war über die Anstrengungen, in Denver mit MacNeil zu einer Einigung zu kommen, und über die Abmachungen mit den Telluride- und Portland-Hütten genau informiert. Moyer war auf einer Konferenz des Bezirksverbandes Nr. 1 in Cripple Creek anwesend, auf der beschlossen wurde, die Arbeiter aller Gruben, die Erz für die Standard-Hütte lieferten, zum Streik aufzurufen. Dieser Beschluß wurde erst am 17. März vier Uhr nachmittags in Kraft gesetzt, da ein Komitee von Geschäftsleuten Zeit verlangt hatte, um mit MacNeil sprechen zu können und ihn zu ersuchen, die Bedingungen des entworfenen Abkommens anzunehmen. Die Intervention der Geschäftsleute war ohne Erfolg, und das Ultimatum des Bezirksverbandes Nr. 1 lief ab. Am gleichen Tag noch zog der Gouverneur die Truppen aus Colorado City zurück und entsandte eine Kommission zu MacNeil nach Colorado City, die im Laufe der Verhandlungen von diesem das Versprechen erhielt, das Achtstundengesetz anzunehmen und die Löhne entsprechend den Bedingungen der anderen Hütten festzusetzen. Obgleich diese Zugeständnisse nicht dem geforderten Abkommen entsprachen, beschloss der Bezirk Nr. 1 doch, einen Waffenstillstand bis zum 18. Mai einzugehen, um MacNeil Gelegenheit zu geben, die Bedingungen seines Abkommens mit der Kommission des Gouverneurs festzulegen. Die Nachricht von dem Waffenstillstand rief im Bezirk Cripple Creek allgemeine
Freude hervor. Die Zechen begannen sofort, Erz zu fördern, um die Betriebe der United States Reduction and Refining Company zu beliefern. Aber MacNeil schien vergessen zu haben, dass er der Kommission jemals ein Versprechen gegeben hatte. In den Hütten von Telluride und Portland betrug der Mindestlohn für Arbeit über Tag zwei Dollar und für Arbeit unter Tag zwei Dollar fünfundsechzig Cent. MacNeil hingegen fuhr fort, nur einen Dollar fünfundsechzig Cent zu zahlen. Der Bezirksverband Nr. 1 nahm die Auseinandersetzung mit diesem Scharfmacher wieder auf, entsandte Komitees, hielt Konferenzen mit ihm ab und versuchte, ihn zur Zahlung der höheren Löhne zu bringen. MacNeil gab zwar zu, dass kein Mensch seine Familie mit einem Dollar fünfundsechzig Cent am Tag erhalten könne, trotzdem weigerte er sich klipp und klar, die Forderung des Verbandes zu erfüllen. Der Hütten- und Schmelzarbeiterverband von Colorado City gehörte zum Bezirksverband Cripple Creek Nr. 1 der Bergarbeiterföderation des Westens. Die Mitglieder dieses Verbandes erkannten die Notwendigkeit, die Hüttenarbeiter zu unterstützen, deren Kampf auch der ihrige war. Am 12. August stellten sie in allen Gruben die Arbeit ein.
Wir hatten schon einmal die Erschütterungen des Ausnahmezustandes im Kampf um den Achtstundentag durchgemacht. Der Kampf hatte mit einem Teilsieg für die Arbeiter von Colorado City geendet. Der Kongress von 1903 erkannte einstimmig die erzielten Fortschritte an. Pläne für die Stärkung der Organisation wurden entworfen. Die Mitgliederzahl war von der Zeit, da ich zum Sekretär und Hauptkassierer gewählt wurde, bis 1903 von zwölftausendfünfhundert auf mehr als das Doppelte gestiegen. Ein größerer Reservefonds war vorhanden. Die Delegierten waren voller Zuversicht, dass die Mitglieder allen Anforderungen gewachsen sein würden.
Der Kampf, den wir mit allen Mitteln zu verhindern gesucht hatten, auf den wir aber dennoch vorbereitet waren, hatte begonnen.

 

Achtes Kapitel
Cripple Creek

Ende Juli des gleichen Jahres explodierte in der Sun-and-Moon-Grube in Idaho Springs ein Kompressor. Diese Katastrophe wurde sofort der Bergarbeiterföderation des Westens zur Last gelegt. Einige Tage darauf drang der Sheriff mit seinen Leuten des Nachts in die Wohnungen von achtzehn Bergarbeitern ein. Die Männer wurden ungeachtet der Tränen und Bitten ihrer Familienangehörigen auf ganz ungesetzliche Weise, ohne Haftbefehl, ins Gefängnis geworfen. Ohne auch nur gegen einen der Festgenommenen Anklage zu erheben, übergab sie der Sheriff am nächsten Morgen dem Mob der „Bürgerschutzliga", der sie verprügelte und aus der Stadt verjagte.
Dies geschah zur Zeit des Waffenstillstandes vor dem zweiten Streik in Cripple Creek, gerade als der Streik der Schmelzarbeiter von Denver unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ein Komitee der deportierten Arbeiter von Idaho Springs kam direkt in das Gewerkschaftsbüro in Denver, während ihre Kameraden der Bande, die sie fortgeschleppt hatte, zurück nach Idaho Springs folgten. Ich besprach die Angelegenheit ausführlich mit dem Komitee und holte telefonisch John Murphys Rat ein. Wir entschieden uns für einen Appell an den Gouverneur. Das Komitee machte sich auf den Weg zum Kapitolgebäude. Währenddessen kam Murphy ins Büro. Er versprach sich nicht viel vom Besuch beim Gouverneur und meinte, wir sollten sofort an den Richter Owers vom Bezirk Clear Creek, der sein Büro in Denver habe, appellieren, um eine gerichtliche Verfügung gegen die Mitglieder der Bürgerschutzliga in Idaho Springs zu erwirken.
Tatsächlich erklärte Gouverneur Peabody dem Komitee, er könne nichts in der Sache tun, sie sollten an das Gericht appellieren. Diesem Rate wurde unverzüglich Folge geleistet. Richter Owers erließ eine gerichtliche Verfügung mit dauernder Geltung. Sooft nun die Bergarbeiter gegen Mitglieder der Bürgerschutzliga Beschwerde erhoben, zitierte Richter Owers die Bankiers, Spieler, Zuhälter, Geistlichen und die übrige Sippschaft vor sein Gericht und las ihnen die Leviten, dass ihnen Hören und Sehen verging.
Die Folge davon war, dass Gouverneur Peabody der Presse ein Interview gab, in dem er Richter Owers beleidigte. Einige Tage später - es war derselbe Tag, an dem der Streik in Cripple Creek erklärt wurde - rief Richter Owers mich telefonisch an und sagte: „Haywood, sobald Sie Zeit haben, möchte ich gern ein ziemlich wichtige Sache mit Ihnen besprechen." Ich erklärte mich bereit, sofort in sein Büro zu kommen wo ich den Richter auf einem Korbliegestuhl ausgestreckt antraf. Er sah müde, abgearbeitet und krank aus, aber in seinen Augen blitzte es hell auf. „Setzen Sie sich", sagte er und fuhr, als ich der Aufforderung nachgekommen war, fort: „Ich habe ein Antwortschreiben an Gouverneur Peabody vorbereitet und
möchte, dass Sie dem Diktat zuhören; vielleicht können Sie einige Anregungen dazu geben." Er rief eine Stenotypistin und diktierte mit Hilfe einiger Notizen folgenden Brief, der in den „Rocky Mountain News" erschien:
„An seine Exzellenz, Hon. James H. Peabody, Gouverneur von Colorado:
Sehr geehrter Herr,
In den ,News' vom Sonnabend, dem 15. August 1903, wird berichtet, dass Sie in einem Interview über die Arbeitskämpfe in Cripple Creek folgendes ausgeführt haben:
,Ich erwarte jedoch keine Unruhen, weder hier noch in Cripple Creek. Die Bergarbeiter fangen an zu begreifen, dass sie das Gesetz nicht verletzen können. Sie können niemanden ermorden, und sie können keinen Sachschaden anrichten. Nicht einmal, wenn sie den Schutz des Bezirksrichters Owers haben. Aus diesem Grunde glaube ich nicht, dass wir irgendwo die Miliz werden einberufen müssen. Aber alle müssen sich darüber klar sein, dass die öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden muss, wenn sie nicht wollen, dass der Staat eingreift.'
Als ich zufällig dieses Interview las, tat ich es in Gedanken als einen Irrtum ab, von der Voraussetzung ausgehend, dass kein Mann, der die Stellung eines Gouverneurs dieses Staates innehat, so sehr jedes Anstands- und Gerechtigkeitsgefühls ermangeln könne, um eine solche Erklärung über ein Mitglied der Richterschaft abzugeben.
In dem Interview beschuldigen Sie die Bergarbeiter von Colorado in Bausch und Bogen das Gesetz zu verletzen, auf Mord und Zerstörung des Eigentums auszugehen,
und mich, den Bezirksrichter, sie bei der Ausübung jedes und aller dieser Verbrechen zu schützen. Das Gesetz nimmt bei jedem Unschuld an, solange kein Schuldbeweis vorliegt. Es ist mir nicht bekannt, und ich habe nicht davon gehört, dass bisher irgendein Bergarbeiter im Zusammenhang mit irgendeinem Verbrechen, das mit den jüngsten Arbeitsstreitigkeiten in diesem Staat in Zusammenhang steht, verhört oder gar verurteilt worden wäre. Ich habe nicht gehört, dass Bergarbeiter, sei es als Personen oder als Verband oder in anderer Form, sich irgendeines Verbrechens oder schlechten Verhaltens öffentlich gerühmt hätten, dass sie öffentlich eine Verantwortung dafür eingestanden oder es in irgendeiner Weise gebilligt hätten, geschweige denn, dass sie Resolutionen angenommen und veröffentlicht hätten, die ein solches Verhalten billigen oder zu unterstützen versprechen. Im Gegenteil, es ist allgemein bekannt, dass es in Denver, Idaho Springs und an anderen Orten dieses Staates eine Organisation gibt, die offen die Verantwortlichkeit übernommen und sich mit Stolz der kürzlich begangenen Ausschreitungen des Mobs in Idaho Springs gerühmt hat, und gegen die Sie bisher noch nicht Ihre Stimme zur Verurteilung oder zum Protest erhoben haben...
Als die ausgewiesenen Arbeiter aus Idaho Springs an Sie appellierten, um zu ihren Familien zurückkehren zu können, waren Sie schnell mit der Verweigerung der Hilfe bei der Hand, gestützt auf eine formale Auslegung Ihrer Pflichten. Sie rieten ihnen mit vielen leeren Phrasen, sich an die Gerichtshöfe um Beistand zu wenden.
Die Arbeiter baten um Brot, und Sie gaben ihnen einen Stein, dennoch befolgten sie Ihren Rat; und wenn das Gericht, an das sie appellierten, sie wieder ihren Familien zurückgab und in zwei Tagen durchführte, was
Sie in zwei Wochen nicht zu versuchen wagten, so beeilen Sie sich mit bemerkenswerter Erregung, Ihren Herren zu Hilfe zu eilen, indem Sie Ihrer Missbilligung und Unzufriedenheit über diese Maßnahme des Gerichts Ausdruck geben, indem Sie öffentlich den Richter beleidigen, der den Vorsitz führte und der den Mut hatte, die Pflicht zu erfüllen, die Sie erkannten, der Sie aber auswichen.
Ich fürchte fast, wäre das Schicksal Colorado so günstig gewesen, mich zu seinem Gouverneur zu machen, ich wäre brutal genug gewesen, die hysterischen Sheriffs abzuweisen, wenn sie bei jedem Hühnerstall, dem Gefahr drohte, verzweifelt nach der Miliz verlangt hätten. Ich hätte vielleicht sogar darauf bestanden, dass zuerst die Machtmittel des Bezirks in Anwendung gebracht würden, bevor der Staat sich dadurch lächerlich machte, dass er unter enormen Kosten die Miliz auf die Reise schickte.
Würde ich als Gouverneur von Leuten angerufen, die geltend machten, sie seien von einem Mob aus ihren Heimen vertrieben worden, so hätte ich es infolge mangelnden Sinnes für Moral vielleicht sogar für meine Pflicht gehalten, ohne Rücksicht auf Präzedenzfälle die Miliz dazu zu verwenden, diese Leute ihren Frauen und Kindern zurückzugeben, und den Rechten, die meinen Mitmenschen durch die Verfassung und das Gesetz garantiert sind, Geltung zu verschaffen. Ich wäre in diesem Falle womöglich noch ,unpolitisch' genug, nicht einmal darauf Rücksicht zu nehmen, dass es sich bei diesem Mob ja um ,unsere besten und angesehensten Bürger' handelte.
Zum Schluss möchte ich der Hoffnung Ausdruck geben, dass Sie mir durch die Presse eine Antwort auf diesen Brief zukommen lassen werden, sobald Sie jemanden
finden können, der eine Antwort für Sie schreibt, und dass Sie in derselben freundlichst die Gründe für die gegen mich erhobene Beschwerde genauer ausführen werden. Hochachtungsvoll Frank W. Owers."
Mein einziger Beitrag zu dem Briefe war die Bemerkung im letzten Absatz, dass der Gouverneur jemand suchen müsse, der die Antwort für ihn schriebe. Anscheinend konnte er niemanden finden, denn der Brief blieb ohne Erwiderung.
Nach Erledigung des Briefes sagte der Richter: „Der Bergarbeiterverband von Leadville hat es schwer." „Ja", antwortete ich, „und es wird immer schlimmer. Seit der Bürgerbund organisiert worden ist, hemmt die scharfmacherische Haltung der Vereinigung der Grubenherren den Fortschritt der Gewerkschaft. Und für unsere besten Mitglieder ist die Lage am schwersten. Die Arbeit zu verlieren ist so ziemlich das Schlimmste, was ihnen geschehen kann, und gerade das trifft gewöhnlich die aktivsten Leute zuerst."
„Ich weiß, dass sie schon mehrmals versucht haben, den Bergarbeiterverband zu schädigen und zu schwächen", erwiderte der Richter und fügte hinzu: „Nächste Woche habe ich vorübergehend eine Vertretung im Bezirk von Leadville, da der Richter dort auf Urlaub geht. Ich habe einen Vorschlag! Wenn während der Zeit, in der ich dort das Richteramt ausübe, ein sorgfältig vorbereiteter Antrag eingereicht wird, kann eine gerichtliche Verfügung erlassen werden. John Murphy ist ein gewissenhafter Rechtsanwalt, besprecht die Sache mit ihm. Wir wollen sehen, dass diese Verfügung wie aus ,Eisen gegossen und mit Kupfer beschlagen' ausfällt." Nachdem wir noch einiges besprochen hatten, verließ ich Owers, um Murphy aufzusuchen.
„Das ist ein ziemlich ungewöhnlicher Fall", sagte John, „aber ich werde den Antrag ausarbeiten, und wenn die gerichtliche Verfügung erlassen und durchgesetzt wird, so wird sie den Bergarbeitern ausreichend Schutz gewähren."
Murphy fuhr also nach Leadville, während Richter Owers dort das Richteramt versah. Die angestrebte gerichtliche Verfügung zugunsten des Bergarbeiterverbandes von Cloud City kam wirklich zustande. Owers begleitete die Verkündigung mit einigen für ihn charakteristischen Bemerkungen über die Notwendigkeit des Schutzes der Bergarbeiter, „die jeden Tag mit dem Tode Würfel spielen", und über die Pflicht der Behörden, den Übergriffen der Unternehmer entgegenzutreten. Dementsprechend wurde der Vereinigung der Grubenherren gerichtlich verboten, sich in irgendeiner Weise in die Angelegenheiten des Bergarbeiterverbandes einzumischen oder Arbeiter wegen der Zugehörigkeit zu dieser Organisation zu entlassen. Obwohl der eigentliche Richter des Bezirks nicht geneigt war, dem Gerichtsbeschluss Geltung zu verschaffen, nachdem Richter Owers nach Denver zurückgekehrt war, hielt die Verfügung die Vereinigung der Grubenherren doch davon ab, ihre Kräfte mit den Vereinigungen anderer Bezirke gegen die Bergarbeiter zu verbinden. Gelegentlich einer Unterredung mit dem Senator Patterson in dessen Büro bei den „Rocky Mountain News" über die Lage in Telluride, Idaho Springs, Colorado City und über den Streik der Hüttenarbeiter in Denver fragte mich der Senator: „Haywood, wo haben Sie nur diesen Moyer aufgetrieben?"
Ich erzählte ihm, wer Moyer sei und dass er sich als ein sehr guter Organisator erwiesen habe. Patterson erklärte nachdrücklich:
„Er hat weder den männlichen Charakter, noch die Beständigkeit, die einen Mann auszeichnen müssen, der leitender Funktionär einer Organisation wie der Bergarbeiterföderation des Westens ist. Ich bin überzeugt, dass ihr noch erkennen werdet, dass ich recht habe." Der Bezirk Cripple Creek lag am Kamm der Ausläufer der Rocky Mountains. Die Natur, diese Zauberin, hatte hier porphyrhaltige Adern bloßgelegt, und jede Spalte, I jede Fuge war mit goldhaltigem Quarz oder Quarzit angefüllt. Zur Verwunderung der Bergbausachverständigen hatte dieselbe alte Zauberin Natur den Muttergranit gespalten und seine Sprünge und Spalten mit Gold gefüllt. Dieser unerhörte Reichtum war durch alle Zeiten verborgen geblieben bis zum Jahre 1899, als ein einsamer Goldgräber, der nicht weiter sah als bis zum Hinterteil seines Esels, mit einer stumpfen Hacke auf eine reiche Goldader stieß. So begann die Erschließung eines der größten Goldfelder der Welt. Männer wie dieser arme Erzschürfer haben die Reichtümer der Welt entdeckt. Umherwandernde Erzsucher entdeckten die Gruben in Kalgoorlie, Witwatersrand, Klondike, Sibirien, die Diamantfelder in Afrika, den Goldklumpen von Ballerat, die Eisenlager in Schweden und Amerika, die Kupfergruben in Chile und Peru, die Silberbergwerke in Mexiko. Aber der Reichtum, den sie entdeckten, ist immer in die Taschen der Ausbeuter geflossen.
Im Jahre 1903 hatte der Bezirk Cripple Creek eine Förderung von vierundzwanzig Millionen Dollar jährlich. Kleine und große Städte wurden auf diesen Berggipfeln erbaut, manche davon über der Baumgrenze. Eisenbahnen erkletterten in Windungen und durch Tunnels die Berge, überzogen sie mit einem Netz bis hinauf zur Schachtmündung am Gipfel.
Cripple Creek und Victor waren saubere, gediegen gebaute Städte mit Straßen und Alleen, aus denen hier und da hohe Schornsteine aufragten und Gruben mitten in der Stadt erkennen ließen. Die Bergarbeiterverbände besaßen in den verschiedenen Städten eigene, gewöhnlich zweistöckige Gebäude. Das untere Stockwerk war meist an einen Kaufmann vermietet; im oberen Stockwerk befanden sich die Säle, Klubräume und die Bibliothek. Die Säle wurden an befreundete Organisationen vermietet. Der Bergarbeiterverband von Cripple Creek besaß eine Bibliothek von achttausend Bänden. Die Bergarbeiter dieses Bezirks waren im allgemeinen nicht weniger belesen und gebildet als jeder andere Arbeiter. Seit Jahren herrschte zwischen den Bergarbeitern und Geschäftsleuten, in der Mehrzahl geborenen Amerikanern, das freundlichste Einvernehmen, und sie gehörten alle den gleichen Geselligkeitsvereinen an. Aber der Streik hatte erst drei Tage gedauert, als die Kaufleute des Bezirkes Cripple Creek am 13. August 1903 unter dem Druck des Bürgerbundes ankündigten, sie würden von diesem Tage an nur mehr gegen Barzahlung verkaufen. Die Bergarbeiter hatten wie gewöhnlich ihre Rechnungen am 1. des Monats beglichen, und die Kaufleute waren der Ansicht, sie hätten nun nicht mehr genug Geld, um bis zum nächsten Monat auszukommen. George Hooten vom Bergarbeiterverband Anaconda kam nach Denver, um die Lage mit mir zu besprechen. Sie brauchten notwendig Kartoffeln für den Bezirk. Ich gab ihm die Vollmacht, sich in der Stadt umzusehen und mit Großhändlern wegen des Kaufs von zwei bis drei Waggons Kartoffeln zu verhandeln. Er trieb auch drei Waggons mit Creely-Kartoffeln auf, die nach ihrer Ankunft in Anaconda direkt von den Waggons aus an die Bergarbeiter verkauft wurden. Dann beschafften wir
einige Waggons Mehl. Da wir im großen einkauften und bar zahlten, erzielten wir niedrige Preise und waren in der Lage, die Waren an die Streikenden und ihre Angehörigen zu niedrigeren Preisen zu verkaufen, als irgendein Geschäft in dem Bezirk sie hätte liefern können.
Kurz darauf kam Hooten mit Tom Parfet aus Cripple Creek und John Harper aus Victor nach Denver, um einen Vorschlag zu besprechen, den ich den Gewerkschaften gemacht hatte: Die Eröffnung von Lebensmittelgeschäften als ein Mittel der Streikunterstützung. Es war der erste Versuch dieser Art, der in Amerika gemacht wurde. Die drei Männer wurden von den Verbänden als Geschäftsführer bestimmt. Beabsichtigt war, die Läden in unsere eigenen Häuser zu verlegen, sobald wir die Räume dort freibekommen konnten. Nach dieser Vereinbarung gingen die Geschäftsleiter zu den Großkaufleuten in Denver und bestellten Warenvorräte. Ich versandte eine Serie von Kuponheftchen, in denen jeder Kupon das Zeichen unserer Organisation trug. Jedes Heftchen enthielt Gutscheine von verschiedenem Wert, für die in unseren Läden jede beliebige Ware eingetauscht werden konnte.
Nachdem die bisherigen Mieter unsere Geschäftslokale geräumt hatten, übersiedelten wir mit unserem Vorrat an sauberen, en gros eingekauften Waren in unsere eigenen Häuser. Jedes Geschäft war eingeteilt in eine Fleischbank, eine Gemüse- und eine Lebensmittelabteilung. Diese Läden waren ein großer Erfolg. Neben den als Streikhilfe abgegebenen Warenmengen erzielten sie auch einen großen Bargeldumsatz. Da keine großen Profite für Aktionäre herauszuwirtschaften und keine hohen Gehälter an die Leiter zu bezahlen waren, konnten wir erstklassige Waren billiger abgeben, als sie jemals vorher im Bezirk Cripple Creek verkauft worden waren. Die Geschäftsleute waren darüber so außer sich, dass sie vollkommen den Kopf verloren. Es gab keinen Streikenden und kein arbeitendes Mitglied des Verbandes, der nicht mit dem Experiment aufs höchste zufrieden gewesen wäre.
Es hatte den Anschein, als wollte die Verwaltung der Grube El Paso einen eigenen kleinen Zirkus eröffnen, denn sie ließ einen hohen Bretterzaun rings um die ganze Grabe errichten. Für diese und ähnliche Arbeit zahlte sie den bei ihr beschäftigten Streikbrechern einen Dollar pro Stunde, ein recht ansehnlicher Lohn, wenn man bedenkt, dass die Bergarbeiter dieser Grube nicht mehr als dreieinhalb Dollar Tageslohn verlangt hatten. Die Mitglieder des Bezirksverbandes waren ständig auf dem Posten und erfuhren eines Tages, dass die Vereinigung der Grubenherren mit Hilfe von gedungenen Halunken versuchen wollte, das alte Schachthaus in El Paso Nr. 2 zu zerstören, um nachher die Streikenden der Tat beschuldigen und die Entsendung von Militär fordern zu können. Die Bergarbeiter verhinderten die Tat, indem sie das üble Komplott aufdeckten.
Inzwischen hatten mir die Sekretäre der Verbände schon früher von mir angeforderte Bilder von Streikbrechern mit ausführlichen Personalbeschreibungen geschickt. Sie gaben das Material für ein wirkungsvolles Plakat gegen die Streikbrecher ab. Der Text prangerte die bodenlose Gemeinheit des Streikbrechertums an. In der Mitte des Plakats prangte Bill Gleason, ein berüchtigter Führer der Streikbrecher. Um sein Konterfei gruppierten sich im Kreise die der anderen Strolche mit ihren Personalbeschreibungen. Zweitausend Exemplare dieses Plakats gingen nach Cripple Creek, wo sie an Telegrafenstangen, Plakatwänden und ähnlichen öffentlichen Anschlagstellen angebracht wurden. Als Bill Gleason eines der Plakate am Fenster unseres Ladens in Victor bemerkte und sein eigenes Bild erkannte, wurde er so wütend, dass er seinen Revolver herauszog und den Anschlag, die Spiegelglasscheibe und alles zusammenschoss. Der Streik war erst zwei Wochen im Gange, als auf einer Konferenz mit dem Präsidenten der Portland-Bergwerksgesellschaft, James Burns, ein Abkommen zustande kam, das siebenhundert Mann die Wiederaufnahme der Arbeit ermöglichte. Die Portland-Grube war eine der führenden im Bezirk. Sie förderte damals Gold im Werte von siebzehn Millionen Dollar jährlich. Die Leitung war außergewöhnlich gut. Zu Beginn des Streiks im Jahre 1894 war sofort ein Abkommen getroffen worden, so dass die Portland-Grube während des ganzen Streiks offen blieb, und sie wäre auch diesmal nicht geschlossen worden, wenn nicht ein Missverständnis zwischen dem Direktor und dem Ausschuss des Bezirksverbandes entstanden wäre. In Berichten vom Bezirksverband winde gemeldet, dass die ganze Stadt Victor mit einem Freudentaumel die Nachricht von dem Abschluss des Abkommens mit der Portland-Grube und die Rückkehr der Männer zur Arbeit aufgenommen habe. Wir nahmen dies als Zeichen dafür, dass der Streik auch auf den anderen Gruben nicht mehr lange dauern werde. Ungefähr zur gleichen Zeit waren wir auch fast zu einem Abkommen mit den Zechenverwaltungen von Telluride gekommen, aber die Verschwörer vom Bürgerbund arbeiteten dagegen.
Vom Gouverneur wurde eine Kommission nach Cripple Creek geschickt. Diese Kommission, die nach den Worten einer Protestresolution aus den Kreisen der Bevölkerung einen „kurzen und verstohlenen Besuch" abstattete, schlich auf Umwegen nach Cripple Creek, wo sie mit dem Sheriff Robertson eine Besprechung hatte. Der Sheriff teilte nicht ihre Meinung, dass ein Truppenaufgebot nötig sei; aber die Bürgermeister von Victor und Cripple Creek reichten trotzdem zwei gleichlautende Briefe ein, in denen es hieß, dass es dem Sheriff und den anderen Friedensrichtern unmöglich sei, die Ordnung aufrechtzuerhalten und das Leben und Eigentum der Bürger zu schützen. Sie verlangten, dass die Nationalgarde von Colorado sofort in den Bezirk gesandt werde. Der Sheriff hatte der Kommission erklärt, dass er Vollmacht besitze, Hilfssheriffs zu ernennen, soweit er deren bedürfe, dass er vollkommen Herr der Lage sei, dass keine Unruhe in seinem Bezirk herrsche oder geherrscht habe, dass keine ungewöhnlichen Menschenansammlungen zu verzeichnen seien und die Wirtshäuser um Mitternacht geschlossen würden. „Die Entsendung von Truppen ist eine willkürliche Überschreitung der Vollmacht seitens des Gouverneurs", sagte er. Das Exekutivkomitee des Bezirksverbandes Nr. 1 erklärte, dass die Kommission gar nicht versucht habe, mit ihm oder anderen Vertretern der Bergarbeiterföderation zu sprechen, geschweige denn den Wunsch geäußert habe, die Auffassung der Föderation über die bestehenden Schwierigkeiten kennen zu lernen. Die Kommission dagegen berichtete, dass sie sorgfältige Erkundigungen bei den Bürgern und Grubenbesitzern einschließlich der Bürgermeister von Cripple Creek und Victor eingeholt habe. Diese seien „der Meinung, dass das Leben der Einwohner des Bezirks unmittelbar gefährdet ist und die persönlichen Rechte auf dem Spiele stehen. Eine sofortige Aktion ist notwendig... Wir sehen, dass im Bezirk ein Terrorregime herrscht. Wir glauben nicht, dass die zivilen Behörden der Lage Herr werden können." Dieser bluttriefende Bericht wurde abgegeben, obwohl im ganzen Bezirk Cripple Creek nicht einmal ein Faustkampf stattgefunden hatte und obwohl eine der führenden Gruben, Portland, bereits wieder arbeitete. Eintausend Soldaten stiegen in Cripple Creek aus dem Zug. Es herrschte vollkommene Ruhe. Sie errichteten Stationen auf jedem Berg rings um die Stadt, auf dem Cow Hill, Bull Hill, Pisgah, Nipple Hill, Squaw Hill und St. Peter's Dome, von denen aus sie die ganze Stadt beherrschten. Sie waren mit Funkstationen, Scheinwerfern, heliografischen Signalapparaten und Fernrohren ausgestattet. Vom ganzen Bezirk nahmen sie Besitz. Die Einwohner mussten vom Militär ausgestellte Passierscheine haben, um in ihrer eigenen Stadt, auf ihren eigenen Straßen umhergehen zu können. Die Soldaten standen unter dem Kommando des Generaladjutanten Sherman Bell, der außer seinem gewöhnlichen Gehalt dreitausendzweihundert Dollar von den Zechenbesitzern erhalten sollte. Die Grubenherren hatten sich auch bereit erklärt, eine halbe Million Dollar für den Unterhalt der Truppen während ihrer Anwesenheit im Bezirk zu zahlen. Ich möchte hier hinzufügen, dass auch die Zechenbesitzer von Telluride sich bereit erklärt hatten, für die Soldaten zu zahlen, die in den Bezirk San Juan eingerückt waren.
Nach Ankunft der Miliz traf eine Ladung von tausend Craig-Jorgsen-Gewehren und sechzigtausend Patronen aus Wyoming ein. Diese Waffen konnten von keiner anderen Stelle geschickt worden sein als von der Bundesregierung.
Der Stadtrat von Victor protestierte gegen die Haltung des Bürgermeisters.
In allen Städten des Bezirks wurden Massenversammlungen abgehalten und scharfe Resolutionen und Petitionen angenommen. Aus Victor kam eine Resolution, die die dort herrschenden unerhörten Zustände feststellte.
Selbst die Demokratische Partei und der Ortsverband der Veteranen des Bürgerkrieges protestierten energisch gegen die Anwesenheit der Miliz. Die Bevölkerung des Bezirks protestierte mit lauter, unmissverständlicher Stimme, aber der Gouverneur Peabody hatte seine Ohren der Vereinigung der Grubenherren verkauft. Die Bergarbeiter des Bezirks benutzten den Tag der Arbeit (Anm.: Labor Day, Staatsfeiertag am ersten Montag im September. Die Red.), der auf den 7. September fiel, um eine wuchtige Solidaritätsdemonstration zu veranstalten. Fünftausend Arbeiter marschierten in Victor in Reih und Glied. Die Soldaten säumten die Bürgersteige und waren an manchen Punkten in ganzen Kompanien aufgestellt.
Während ich im Büro arbeitete, musste meine Frau, die wieder bettlägerig war, ihre Zeit oft allein verbringen, obgleich wir auch eine Wartefrau hatten, die für uns arbeitete. Irgend jemand machte sie mit einer Heilsbotin der „Christian Science" bekannt. Da meine Frau nichts zu tun hatte, ließ sie sich allmählich von dieser Frau, die vorgab, Heilkräfte zu besitzen, „behandeln". Ihre Phantasie beschäftigte sich mit der Möglichkeit einer Erlösung von ihren Leiden durch diese Gesundbeterin, da es den Ärzten nicht gelungen war, sie zu heilen. Eine Scharlatanin nach der anderen nahm sie in Behandlung. Manchmal, wenn meine Frau einen Anfall hatte, ließ sie unsere älteste Tochter Vernie an einen dieser weiblichen Asketen telefonieren, die für sie „beteten" oder sie in „Fernbehandlung" - zu soundso viel pro Behandlung -nahmen. Meine Frau wurde eine eifrige Leserin der Zeitschrift „Wissen und Gesundheit", die weiter nichts enthielt als die Phantastereien eines überspannten, unwissenden alten Weibes. Für mich war das alles Unsinn, begründet auf jene profane Fabelsammlung, die man die Bibel nennt. Vergebens versuchte ich zu protestieren. Solange diese so genannten Behandlungen ihr nur irgendwelche seelische Beruhigung brachten, konnte ich sie noch ertragen, als sie aber auch meine Kinder zu beeinflussen begannen, brachte es mich fast um den Verstand.
Bisher war mir der Alkohol fast unbekannt geblieben. Nun glaubte ich entdeckt zu haben, dass er ein sympathischer Freund sei, der mir über den stets gegenwärtigen, wachsenden Kummer hinweghalf. Die Arbeit im Zentralbüro nahm mich immer stärker in Anspruch. Die Streiks nahmen nicht nur an Zahl, sondern auch an Intensität zu. Wir hatten gegen eine feige, heimtückische, mörderische Kraft, den Bürgerbund, zu kämpfen. Es galt, Abendversammlungen in Denver, Versammlungen außerhalb unter den Hüttenarbeitern, Versammlungen der Partei abzuhalten und Komiteesitzungen beizuwohnen, und doch reichte das alles nicht aus, um meine Gedanken von den häuslichen Verhältnissen abzulenken. Nach meiner Tagesarbeit im Büro pflegte ich auf dem Weg nach Hause in ein oder zwei Wirtshäuser einzukehren, um durch einen Whisky die marternden Gedanken über den Aberglauben zu betäuben, der meine Familie in seine Netze verstrickt hatte. Ungefähr zu dieser Zeit kam „Mutter Jones" nach Denver und nahm im Oxford-Hotel Wohnung, wo ich sie aufsuchte. Sie war eine prächtige alte Frau mit schnee-weißem Haar, zartem Teint und sympathischer Stimme, die aber hart und heftig werden konnte, wenn sie von ihrem Feind, der Kapitalistenklasse, sprach. Als junge Frau hatte „Mutter Jones" im Süden mit dem gelben Fieber gerungen, hatte ihren Mann und ihre Kinder verloren, die alle an dieser schrecklichen Krankheit gestorben waren. Sie zog nun nach dem Norden und begann aus Erbitterung gegen die Hilflosigkeit der Armut die Bergarbeiter zu organisieren. Ihre Arbeit in West-Virginia brachte unerhörte Erfolge. Wo immer ein Kampf der Bergarbeiter ausbrach, da erschien Mutter Jones. Wenn eine Brücke von einer Soldatenpatrouille versperrt war, so watete sie mitten im Winter durch das Wasser. Wurden die Züge beobachtet, so wurde sie vom Bahnpersonal durchgeschmuggelt. Sie erreichte immer ihr Ziel. Als ich sie in Colorado sah, hatte sie nichts von dem Mut und der Unerschrockenheit verloren, die diese Frau den Unternehmern so verhasst und gefürchtet machte.
Während des Streiks der Bergarbeiter fuhr Mutter Jones nach Trinidad. Dort erreichte sie eines Tages ein Telegramm, in dem ich ihr mitteilte, dass am nächsten Morgen Truppen nach Trinidad abfahren würden. (Später erfuhr ich, dass dieses Telegramm den Gouverneur Peabody in Erstaunen versetzt hatte; er erklärte, dass er zur Zeit, da ich das Telegramm abschickte, den Befehl noch gar nicht erlassen und mit niemandem über ihn gesprochen hatte.) Kurz nach der Ankunft der Soldaten in Trinidad wurde Mutter Jones zusammen mit drei anderen Organisatoren deportiert. Die alte Frau wurde rücksichtslos davongeschleppt und nach Helper geschafft. Dort angekommen, wurde sie verhaftet und in das Pesthaus geschafft, in der Erwartung, dass sie dort Blattern oder irgendeine ändere Krankheit bekommen und daran sterben werde. Sie entkam aber am nächsten Tag und traf wieder in Denver ein.
Eine berüchtigte Zeitschrift, „Polly Pry's Magazine", brachte einen infamen Artikel gegen Mutter Jones. John
Mitchell von den Vereinigten Bergarbeitern schien zu glauben, dass an den darin enthaltenen Behauptungen etwas Wahres sei, und entließ zu seiner eigenen Schande Mutter Jones von ihrem Posten als Organisatorin, nach all der tapferen Arbeit, die sie für die Bergarbeiter von West-Virginia, von Pennsylvanien und anderen Gebieten geleistet hatte. Ich war froh, sie als Organisatorin für die Bergarbeiterföderation des Westens anstellen zu können. Während des Streiks in Cripple Creek arbeitete sie eine kurze Zeit für uns, nahm dann aber wieder ihre Arbeit unter den Kohlenbergarbeitern auf. Die Kohlenbergarbeiter des Westens waren zuerst von der Bergarbeiterföderation des Westens erfasst worden, aber da die Vereinigten Bergarbeiter Amerikas, die nur Kohlenbergarbeiter organisierten, ihren Geltungsbereich erweiterten, traten die Kohlenarbeiter der Bergarbeiterföderation zu den Vereinigten Bergarbeitern über. Deren Präsident, John Mitchell, kam nach Denver, stieg im St. James-Hotel ab und stolzierte am Büro der Föderation vorbei, um sich zur Visite beim Bürgerbund einzufinden! Dabei war nichts natürlicher als die Annahme, dass er die Bergarbeiterföderation aufsuchen würde, wenigstens um der Organisation für die Unterstützung zu  danken,  die  sie  den  Vereinigten  Bergarbeitern während des Streiks von 1902 gewährt hatte. Aber nicht nur das schien John Mitchell vergessen zu haben. Zur Zeit seines Besuches saßen sechzehn streikende Mitglieder seiner Gewerkschaft wegen Verletzung eines Gerichtsbeschlusses in Denver im Gefängnis. Mitchell suchte sie nicht auf; er ging zum Bürgerbund! Die Verbände der Vereinigten Bergarbeiter und der Bergarbeiterföderation des Westens kämpften gemeinsam um den Achtstundentag. John Mitchell vertrat nicht diel Arbeiter, die im Streik standen!
Ich erwähnte bereits, dass die Kohlengrubenarbeiter des Westens zuerst in der Bergarbeiterföderation organisiert waren; eine Einschränkung muss ich nachtragen. Es gab einige Ausnahmen,  darunter  die  Bergarbeiter  von Hanna, Wyoming; sie waren in unabhängigen Verbänden organisiert. Die große Mehrzahl der Mitglieder des Verbandes in Hanna waren Chinesen. Ein bemerkenswerter Streik fand in Hanna statt, bei dem die Chinesen die Führung hatten. Als der Widerstand der weißen Arbeiter nach langer Streikdauer zusammenzubrechen drohte, suchten die Chinesen jeden einzelnen auf und versprachen, die Streikunterstützung zu verdoppeln, wenn sie bis zum Siege durchhielten. Bevor ich wieder auf die Kämpfe in Cripple Creek und Denver zurückkomme, soll noch ein tragischer Fall erwähnt werden, der sich in Ely, Nevada, abspielte. John Murphy, den wir zur Feststellung von Einzelheiten hingeschickt hatten, berichtete nach seiner Rückkunft, dass der Verband in Ely beschlossen hatte, eine Forderung an die Gesellschaft zu richten. Ein Komitee von drei Männern sollte dem Betriebsleiter die Forderung überbringen. Dieser, von ihrem Kommen in Kenntnis gesetzt, Wurde, als die Kommission in seinem Büro erschien, anscheinend von einer plötzlichen Panik befallen, zog einen Winchester-Revolver und tötete die drei unbewaffneten I Männer. Murphy erfuhr, dass der Mörder sofort aus der Stadt entflohen war. Es wurde niemals etwas unternommen, um ihn wegen des dreifachen Mordes zur Verantwortung zu ziehen.
Dem Hüttentrust war es gelungen, für einige Tage eine in ihrer Art einzige Mannschaft von Streikbrechern zu dingen. Es waren Navajo-Indianer. Diese eingeborenen Amerikaner fügten sich jedoch nicht gut in die Arbeit, für die sie geholt worden waren. Eines Abends traten sie zu einem Pow-Wow zusammen, auf dem ein junger Häuptling erklärte:
„Lange Zeit leben Navajo-Indianer in diesem Land, lange bevor weiße Männer kommen. Wir bauen Getreide, wir weben Tücher, wir haben Menge Schafe. Wir haben Menge Wild, fangen Fische, leben ziemlich gut. Weißer Mann kommen, er Hütten machen. Machen alles heiß wie die Hölle. Machen Feuerwasser; machen kaltes Wasser heiß. Machen nachts arbeiten. Nacht Schlafenszeit. Navajo nicht mehr nachts arbeiten. Navajo nicht mehr im Hüttenwerk arbeiten. Morgen nach Hause gehen."
Der Streik der Hüttenarbeiter von Denver dehnte sich auf die Arbeiter in den anderen Industrien aus, und eine Zeitlang schien es, als sollte die Stadt Denver von einem Generalstreik betroffen werden. Das wurde vom Buchdruckerverband verhindert, der die zugespitzte Situation in unsolidarischer Weise ausnutzte, um für seine Mitglieder einen Arbeitstag von sieben Stunden und zwanzig Minuten durchzusetzen. Er ließ ohne Skrupel die Hüttenarbeiter im Kampfe gegen den Elf- und Zwölfstundentag im Stich.
Gouverneur Peabody hatte erklärt, dass die Soldaten zur Unterstützung der Zivilbehörden in Cripple Creek seien. Die Truppen lieferten dazu eine bezeichnende Demonstration: unter den ersten Verhafteten befanden sich der Bezirkskommissionär Lynch und  der Friedensrichter Reilly. Sie schleppten Lynch von seinem Mittagstisch fort, setzten ihn aufs Pferd und führten ihn mit Pauken und Trompeten unter militärischer Bedeckung den Generalen Bell und Chase vor. Sie legten weder einen Haftbefehl vor, noch erhoben sie Anklage gegen Lynch. Die Generale erklärten ihm einfach, sie wünschten nicht, dass er weiter so über die Miliz spreche, wie er es bisher
getan habe, und dass er aufhören müsse, die Streikenden in Schutz zu nehmen. Nach dieser Predigt ließ man ihn nach Hause gehen. Dieselbe Behandlung wurde dem Richter Reilly zuteil.
In Verbindung mit dem Militärlager in Goldfield wurde ein „Bullenstall" eröffnet. Charles Kennison, Präsident des Bergarbeiterverbandes Nr. 40 von Cripple Creek, war der erste, der verhaftet und dort eingesperrt wurde. Sherman Parker, Bill Davis, Bill Easterly, Paddy Mullany, Lafferty und andere wurden gleichfalls ohne Anklage verhaftet und folgten Kennison ins Gefängnis. Wir gewannen die Anwaltsfirma Richardson und Hawkins aus Denver für die Verteidigung, außerdem wirkten Frank Hangs, der alte General Engley und John Murphy mit. Diese Anwälte erwirkten eine Verfügung unter Berufung auf die Habeaskorpusakte (Anm.: Ein 1697 erlassenes englisches Gesetz, das die Verhaftung von Staatsbürgern ohne richterlichen Befehl verbietet. Seit 1787 besteht ein ähnliches Gesetz in den USA und ist der Form nach auch heute noch gültig. Die Red.) und ließen sie Chase und Bell zustellen.
Die Generale zögerten die Vorführung der Gefangenen vor das Gericht lange hinaus; als sie schließlich nicht mehr anders konnten, erfolgte die Vorführung unter bewaffneter Bedeckung, nachdem eine Kanone auf das Gerichtsgebäude gerichtet und Scharfschützen auf dem Dach des National-Hotels und der umliegenden Gebäude postiert worden waren. Bei Eröffnung der Verhandlung standen zwanzig bis zu den Zähnen bewaffnete Soldaten im Saal.
John Murphy nahm diesen Aufmarsch der Bewaffneten zum Anlass, um, gegen den Gerichtshof gewandt, zu erklären:
„Ich weigere mich, diesen Prozess angesichts der Bedingungen, unter denen der Gerichtshof tagt, zu führen. Das ist kein Zivilprozess mehr, das ist eine bewaffnete Invasion." Darauf wurden die Gefangenen in den „Bullenstall" zurückgeführt und erst am nächsten Tag wieder vor das Gericht gebracht. Wieder war der Gerichtssaal voll Soldaten, wenn auch ohne Gewehre. Die Begründung des Richters Seeds für den Beschluß des Gerichts auf Freispruch der Angeklagten war sehr ausführlich und nachdrücklich. In heftigen Worten verurteilte er die durch nichts gerechtfertigte Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte durch die Militärs. Hierauf ordnete er die Freilassung der Gefangenen an. General Chase verkündete, dass er den Beschluß des Gerichts nicht anerkennen werde, und befahl den Soldaten, zum großen Erstaunen und zur Verblüffung aller Anwesenden, die Gefangenen abzuführen, die so aus dem Gericht, welches sie eben freigesprochen hatte, zurück in den „Bullenstall" gebracht wurden. Später, am Abend, wurden die Männer ohne jede Erklärung freigelassen. Der Gouverneur hatte wohl an Chase telegrafiert, dass er zu weit gegangen sei.

 

Neuntes Kapitel
In den Schmelztiegeln von Colorado

Der Miliz von Colorado gehörten vornehmlich Handelsangestellte, Geschäftsleute und Rechtsanwälte an, die in „Friedenszeiten" die Organisation als den geeigneten Rahmen für die Veranstaltung von Tanzfesten, Boxkämpfen und anderen Vergnügungen betrachteten. Die meisten Handelsangestellten waren Mitglieder von Max Morris' Gewerkschaft. Max war Mitglied des Exekutivausschusses der AFL, und der Verband, dessen Sekretär er spielte, war eine künstlich gezüchtete Organisation, die einzig zu dem Zweck existierte, Max den Genuss der Einkünfte aus seiner offiziellen Position zu ermöglichen. Er war ein persönlicher Freund von Sam Gompers, der häufig angegriffen wurde, weil er zuließ, dass einige hundert Handelsangestellte einen eigenen Vertreter im Exekutivausschuss der AFL hatten. Viele dieser so genannten Gewerkschafter trieben sich in Cripple Creek, Telluride und Trinidad herum und leisteten dort für den Bürgerbund schmutzige Arbeit.
Der lange Kampf in Cripple Creek zwang die Miliz, besondere Prämien für Ersatzleute anzubieten, da ein Teil der Mitglieder, die schon zu lange von ihrer Berufsarbeit abgehalten wurden, nicht mehr bleiben wollte. Die Miliz wurde mit Raufbolden aus den Elendsvierteln von Denver, Chicago und anderen Städten aufgefüllt. General Sherman Bell ließ drei Führerinnen unserer Frauenhilfsorganisationen verhaften, Margaret Hooten aus Anaconda, Estelle Nicholls aus Cripple Creek und Mrs. Morrison aus Victor. Sie wurden den Generalen vorgeführt, die ihnen eröffneten, dass sie „sich anständig benehmen sollten", sonst würden sie in den „Bullenstall" gesteckt. Auf ihre Frage, was unter „anständigem Benehmen" gemeint sei, erhielten sie keine Antwort und wurden freigelassen.
Dann erließ Bell eine Verordnung, dass alle Waffen im Bezirk zu registrieren seien. Ihr wurde nicht nachgekommen, da die meisten Arbeiter nicht die Absicht hatten, ihre Waffen abzuliefern oder sie auch nur bei den Militärbehörden zu registrieren. General Engley, der Bürgerkriegs-Veteran und Rechtsanwalt der Föderation, spazierte ostentativ mit seinem geschulterten Gewehr
durch die Straßen. John Glover, ein anderer Rechtsanwalt, erklärte in einem offenen Brief, dass er zwei nicht registrierte Gewehre besitze, und wenn die Miliz sie haben wolle, so müsse sie sich dieselben in seinem Büro holen. Hierauf erschien tatsächlich eine Abteilung Soldaten in seinem Büro. Zuerst versuchte er, sie sich vom Leibe zu halten, dann, als er sah, dass sie ihn festnehmen wollten, begann er zu schießen. Die Soldaten erwiderten mit einer Salve von fünfundzwanzig oder mehr Schüssen, von denen einer Glover in den Arm traf. Schließlich ergab er sich und wurde ins Gefängnis gesteckt. Bevor sie ihn freiließen, zwangen sie ihn zu dem Versprechen, der Presse kein Interview über den Vorfall zu geben. Eines Nachts schickte General Bell, um sich der Extrabelohnung würdig zu erweisen, eine Abteilung Soldaten in die Redaktion des „Victor Record", der damals die offiziellen Erklärungen der Bergarbeiterföderation ver­öffentlichte. Die Miliz verhaftete den ganzen Redaktionsstab und schleppte ihn sofort in den „Bullenstall". Emma Langdon, die Frau eines der Maschinensetzer, selbst Buchdruckerin, brachte in dieser Nacht die Zeitung mit der flammenden Überschrift heraus: „Leicht angeschlagen, aber immer noch im Ring." General Sherman Bell, der Wilhelm II. mit seinem Gottesgnadentum um mehrere Jahre zuvorkam, verkündete der Bevölkerung von Cripple Creek und der Welt im allgemeinen, dass „niemand außer ihm, Gott und dem Gouverneur Peabody wisse, was geschehen werde". Er teilte mit, er werde „keine weiteren Anweisungen von den Zivilbehörden entgegennehmen, es sei denn auf besondere Anweisung von Gouverneur Peabody".
General Tom McClellan tat den bis zum heutigen Tage „berühmten" Ausspruch: „Zur Hölle mit der Verfassung!
Wir richten uns nicht nach der Verfassung, wir befolgen die Befehle des Gouverneurs Peabody." Das war eine so auffallende Erklärung aus dem Munde eines Generals der Miliz, dass ich sie als Schlagzeile für ein Flugblatt verwendete und darunter einige Sätze aus der Verfassung abdruckte, die von den Soldaten und Behörden von Colorado verletzt worden waren. Die Streikenden befestigten die Zettel des Nachts an Anschlagbrettern, Telegrafenstangen und anderen Stellen, von wo sie allerdings am nächsten Tag auf Befehl des Generals Bell von den Soldaten wieder abgekratzt wurden. Ungefähr zu dieser Zeit setzte der Bürgerbund durch, dass uns die Büroräume im Gebäude der Bergwerksbörse gekündigt wurden. Das wäre vielleicht schon früher geschehen, wenn wir nicht die Miete immer für ein Jahr im voraus bezahlt hätten. Wir übersiedelten nun in das nur einen Häuserblock entfernt gelegene Gebäude der Pioniere.
Eines Abends saß ich zu Hause über einem Blatt Papier bei der Arbeit. Meiner Frau antwortete ich auf die Frage, was ich täte: „Ich mache Peabody wieder etwas zu schaffen", und zwar war ich bei dem Entwurf des später sehr bekannt gewordenen Flugblattes mit der „verunglimpften Flagge". In rohen Umrissen hatte ich das Bild der Flagge der Vereinigten Staaten gezeichnet, mit der Überschrift: „Liegt Colorado in Amerika?" Außerdem trug jeder Streifen des Sternenbanners eine Inschrift:
In Colorado herrscht das Standrecht. In Colorado ist die Unverletzlichkeit der Person abgeschafft.
In Colorado wurde die Pressefreiheit erdrosselt. In Colorado sperrt man Gewerkschafter in den „Bullenstall".
In Colorado gibt es keine Redefreiheit.
In Colorado missachten Soldaten die Gerichte.
In Colorado wüten Massenverhaftungen ohne Haftbefehl.
In Colorado werden Gewerkschafter von Haus und Familie verbannt.
In Colorado ist das verfassungsmäßige Recht des Waffentragens in Frage gestellt.
In Colorado korrumpieren und beherrschen die Unternehmerverbände die Behörden.
In Colorado ist das Recht auf eine gerechte, unparteiische
und schnelle Gerichtsverhandlung aufgehoben.
In Colorado greift der Bürgerbund zur Mob-Justiz und
Gewalt.
In Colorado steht die Miliz als Streikbrecher im Sold der Unternehmer.
Das Plakat zeigte außerdem ein Bild von Henry Maki, an den Flaggenstock angekettet. Die Fotografie stammte aus Telluride, wo er während des Streiks an eine Telegrafenstange gefesselt worden war. Unter dem Bild stand: „In Colorado, unter dem Schutz der amerikanischen Flagge", und unter der Flagge:  „Wenn das Sternenbanner entweiht wurde, so ist es durch den Gouverneur von Colorado geschehen. Die Streikenden kämpfen, um die Gesetze des Staates durchzusetzen und die Ketten zu brechen, die nicht nur Henry Maki fesseln, sondern die gesamte Arbeiterschaft." Darunter stand die Aufforderung, zum Fonds der Streikenden von Colorado beizutragen, mit Moyers und meiner Unterschrift. Die Vindicator-Grube wurde von der Miliz bewacht; trotzdem wurde eine Explosion in einer Tiefe von sechshundert Fuß, bei der ein Vorarbeiter und der Aufseher ums  Leben  kamen,  der  Bergarbeiterföderation den Westens zur Last gelegt. Die Leichenbeschauer waren
nicht in der Lage, auf Grund ihrer Untersuchung in der Grube und des beigebrachten Materials die genaue Ursache der Explosion festzustellen. Das angebliche Verbrechen wurde nichtsdestoweniger  Sherman Parker, Charles Kennedy, Bill Davis und Tom Foster zugeschrieben. Sie wurden verhaftet, aber der Staatsanwalt des Bezirks hob das Verfahren wegen Mangels an Beweisen auf. Die Verfolgung dieser Männer wurde zum allgemeinen Tagesgespräch im Bezirk. Man hatte sie verhaftet, freigelassen und wieder verhaftet; sie wurden fast jedes Verbrechens beschuldigt, das sich in den Annalen der Verbrechen finden lässt, aber keinem von ihnen konnte jemals auch nur das geringste Vergehen wirklich nachgewiesen werden. Parker, Davis und Foster waren schließlich nach Erlegung einer hohen Bürgschaft auf freien Fuß gesetzt worden. Da sich keine der früheren Beschuldigungen als stichhaltig erwiesen hatte, wurde nun eine schwere Anklage gegen sie fabriziert. Damals war ein bestimmtes Kosthaus in Cripple Creek das Stelldichein der Revolverhelden und Spitzel des Bürgerbundes. Dort pflegten sie ihre verbrecherischen Pläne auszuhecken. Ohne Zweifel war das auch der Ort, wo Sterling und Scott mit Beckman, dem Detektiv der Thiel-Agentur, und McKinney, einem Polizeispitzel und Zuhälter, die Einzelheiten des Planes eines Attentats auf einen Eisenbahnzug besprachen, das Parker, Foster und Davis zur Last gelegt werden sollte. Scott hatte bereits durch einen Lokomotivführer namens Rush die gefährlichste Stelle für ein Eisenbahnattentat ausfindig gemacht. Rush erklärte ihm, man brauche nur eine Schiene auf der hohen Brücke zu lockern, dann müsse der Zug drei- bis vierhundert Fuß tief vom Eisenbahndamm stürzen, und alle Passagiere würden entweder getötet oder verletzt.
Von Scott entsprechend instruiert, brachte Rush in der für das Attentat vorgesehenen Nacht an einer vorher bezeichneten Stelle in der Nähe der hohen Brücke seinen Zug zum Stehen und führte den Heizer und andere Personen auf die Strecke, wo sie feststellten, dass die Bolzen herausgezogen worden waren und sich eine Schiene gelockert hatte. Hätte er versucht, seinen Zug über diese Stelle zu fahren, so wäre es sicherlich zu einer Katastrophe gekommen, bei der zwei- bis dreihundert Menschen getötet oder verletzt worden wären. Auch Kennison, der Vorsitzende des Bergarbeiterverbandes von Victor, und viele andere Gewerkschafter befanden sich in dem Zug und wären unweigerlich ums Leben gekommen.
Sherman Parker, Bill Davis und Tom Foster wurden als die „Haupträdelsführer" dieses ungeheuerlichen Verbrechens verhaftet. In dem Prozess spielte McKinney den Kronzeugen der Staatsanwaltschaft. Er sagte zuerst aus, dass er das Verbrechen zusammen mit den Angeklagten begangen habe, jedoch nach einem strengen Kreuzverhör gab er zu, er habe seine Aussagen auf Veranlassung Sterlings und Scotts gemacht, die ihm tausend Dollar Bargeld und eine Fahrkarte an jeden behebigen Ort versprochen hatten. Für den Fall einer Verhaftung und Verurteilung hatten sie ihm Begnadigung durch den Gouverneur Peabody zugesichert.
Beckman gab zu, dass er für fünfhundert Dollar bereit gewesen war, zweihundert oder mehr Leute zu töten. Die Anwälte der Bergarbeiterföderation verlangten eine sofortige Verhaftung und forderten den Bezirksstaatsanwalt und seinen Stellvertreter auf, ihre Pflicht zu erfüllen. Aber dem Lockspitzel geschah nichts. Sterling und Scott traten ebenfalls als Zeugen auf; aber diese schleimigen Gesellen schoben, da ihr sauberer Plan nicht
gelungen war, alle Schuld auf ihre eigenen Kreaturen, Beckman und McKinney.
Der letzte Zeuge für die Staatsanwaltschaft war Rush, der Lokomotivführer; dieser bezeugte, dass Scott ihn gefragt habe, wo die schlimmste Stelle für einen Unfall sei, und dass er ihm angedeutet habe, man werde einen Versuch an dem bezeichneten Ort in der Nähe der hohen Brücke machen.
Ohne einen einzigen Entlastungszeugen aufzurufen, noch bevor die Angeklagten selbst ein Wort zu ihrer Entlastung oder die Anwälte der Bergarbeiterföderation ein Wort zur Verteidigung vorgebracht hatten, riet der Richter den Geschworenen, das Urteil „nicht schuldig" zu fällen.
Die Verfechter von „Ruhe und Ordnung", mit anderen Worten, die Leute in Seidenstrümpfen, waren zu den Gemeindewahlen in Denver außerordentlich geschäftig. Alle Damen vom Capitol Hill wechselten am Wahltag immer wieder ihre Kostüme, damit sie mehrere Male zur Abstimmung gehen konnten. Billy Green, der politische „Boss" des Bezirkes Green, hatte mit seinem Gehilfen, Cooney dem Fuchs, alle Hände voll zu tun, um festzustellen, wer mehr als eine Stimme für die Demokratische Partei abgegeben hatte. Zu seinem Bereich gehörten auch die Freudenhäuser auf der Market Street. Sogar dieser Stadtteil war von der Aristokratie des Capitol Hill überschwemmt. Der kleine Billy war in Verlegenheit. Er konnte die feingekleideten, angemalten und gepuderten Damen vom Capitol Hill nicht von den Strichmädchen des Bezirks mit den roten Laternen unterscheiden. Die Berichte aus den verschiedenen. Stadtbezirken liefen allmählich im Büro der Bergarbeiterföderation ein, wo wir am Wahltag ruhig an der Arbeit saßen. Dan Mac-Donald, der Vorsitzende der Amerikanischen Arbeiterunion, war gerade aus Butte eingetroffen. Er und Moyer unterhielten sich über die Wahlen. Einer von ihnen schlug vor, einige Wahllokale der benachbarten Bezirke zu besuchen, um zu sehen, was vor sich gehe. Ich steckte meinen 3,8kalibrigen Colt in die Tasche. Vom Büro aus gingen wir durch verschiedene Straßen, bemerkten aber nichts Ungewöhnliches. In der Champa Street schlüpften wir durch die Hintertür in ein Wirtshaus; alle Wirtshäuser sollten nämlich am Wahltag geschlossen bleiben. Mac und Moyer tranken ein Glas, ich kaufte mir eine Zigarre.
Beim Verlassen des Lokals begegneten wir einer Schar von Hilfssheriffs, die von einem jungen Mann, einem Neffen Felix O'Neills, des Hauptmanns der Polizei von Denver, angeführt wurde. Sie alle trugen das Sheriffabzeichen.
Moyer äußerte sarkastisch: „Hübsche Abzeichen!"
O'Neill erwiderte scharf: „Gefallen sie euch nicht?" Moyer erwiderte: „Doch, ich hätte wirklich gern eins für meinen Hund."
Kaum hatte er das gesagt, als ihm einer von den Leuten gerade zwischen die Augen schlug. Der Mann muss einen Schlagring gehabt haben. Moyer stürzte hin, er schlug mit dem Kopf auf die steinerne Schwelle und lag von Krämpfen geschüttelt da. Inzwischen hatte der Neffe des; Hauptmanns eine große sechsschüssige Pistole herausgezogen, ging auf MacDonald los und hieb diesem den Griff über die Stirn, dass ihm die Kopfhaut drei Zoll breit aufgerissen wurde. Mac fiel hin und brach dabei den Arm. Ich schlug den jungen Burschen zurück und machte mich dann über die ganze Bande her. Ich hatte keine Zeit, daran zu denken, wie verzweifelt meine Lage war. Ich kämpfte um mein Leben. Einer von ihnen schlug mir
mit einem Revolver über den Schädel. Ich ratschte vom Bürgersteig hinunter, sank in die Knie und zog meinen Revolver. Der Neffe des Hauptmanns stürzte sich auf mich, um mir einen zweiten Schlag zu versetzen; ich schoss dreimal hintereinander auf ihn. Er taumelte zurück und machte eiligst kehrt. Ich rappelte mich wieder auf, und die Hilfssheriffs rannten Hals über Kopf davon, O'Neill hinter ihnen drein, den Revolver in der Luft schwingend und schreiend wie ein Comanche-Indianer. Ich konnte nicht weiterschießen, da der gegenüberliegende Bürgersteig schon voller Leute war. Ein Polizist lief herzu; auch er, wie die anderen alle, kannte mich. „Ich werde dich auf die Wache bringen müssen, Bill", sagte er.
„Schön", erwiderte ich und bestieg den Streifenwagen, der inzwischen angefahren war. Mittlerweile war auch die Ambulanz eingetroffen und brachte MacDonald und
Moyer ins Krankenhaus. Auf der Wache wurde zu Protokoll genommen, dass ich der Körperverletzung und des Mordversuchs verdächtig sei; ich wurde in eine Zelle gesteckt, einige Minuten später jedoch wieder herausgeführt, um mir vom Arzt den Kopf verbinden zu lassen. Der junge Jim, der Neffe des Hauptmanns, war auch gerade auf der Wache eingeliefert worden. Man sagte mir, dass er übel zugerichtet sei. Ich bat den Doktor, ihn zuerst vorzunehmen, da ich selbst nicht ernstlich verletzt war. Meine drei Kugeln hatten ihn in den linken Arm getroffen, so dass er für immer verkrüppelt blieb. Zwei Kugeln waren im Knochen stecken geblieben, sonst hätten sie ihn wahrscheinlich getötet, da er den Arm vor sich hielt, als ich auf ihn schoss. Der Arzt meinte, während er meine Kopfwunde vernähte, ich könne von Glück sagen, dass es nicht schlimmer ausgefallen sei.
„Ich bedaure, dass ich ihn so übel zugerichtet habe", erwiderte ich, „aber von jetzt ab werde ich einen stärkeren Revolver tragen."
Kurze Zeit danach erschienen Coates und Pettibone im Gefängnis, und ich wurde freigelassen. Ich trollte mich heim, um der Familie diese Begebenheiten eines ruhigen Wahltages zu erzählen. Die Behörden kamen nicht weiter auf diesen Zwischenfall zurück. Anfang Januar 1904 erließ General Sherman Bell eine Verordnung gegen Landstreicherei. Diese sollte sich gegen alle beschäftigungslosen Personen im Bezirk wenden; damit waren natürlich in erster Linie die streikenden Bergarbeiter gemeint. Wir erließen daraufhin von der Zentrale aus sofort folgende Bekanntmachung:
An alle Mitglieder der Bergarbeiterföderation des Westens im Bezirk Cripple Creek. Die Gerichte haben wiederholt entschieden, dass Mitglieder der organisierten Arbeiterbewegung keine Landstreicher sind. Behaltet eure Gewerkschaftskarten und lasst euch nicht aus eurem Hause verjagen. Den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, die mit Waffengewalt gezwungen werden, die Heimat zu verlassen, raten wir, sofort in den Bezirk Cripple Creek zurückzukehren. Die Bergarbeiterföderation des Westens wird für die Familien aller streikenden Bergarbeiter sorgen.
Charles H. Moyer, Präsident
Wm. D. Haywood, Sekretär und Hauptkassierer
Der Bürgerbund versuchte noch einmal, der Föderation ein Verbrechen anzuhängen. In der Independence-Grube hatte sich eine furchtbare Katastrophe ereignet. Sie war durch die Unachtsamkeit eines gewissen Frank Gillese, eines als Maschinisten arbeitenden Streikbrechers aus
Coeur d'Alene, verursacht worden. Er fuhr 2.30 Uhr morgens eine Schicht mit dem Aufzug aus der Grube heraus und ließ den Förderkorb aus irgendeinem unerklärlichen Grund über den Boden des Schachthauses hinaus in das Rad des Aufzuges hineinfahren, wodurch sich das Seil lockerte und vom Rad abrutschte. Der Förderkorb sauste darauf hemmungslos in den Schacht zurück. Ein Mann wurde auf den Boden des Schachthauses hinausgeschleudert, aber die übrigen fünfzehn fanden einen schrecklichen Tod. Bei dem Sturz in die Tiefe von elfhundert Fuß wurden die Arbeiter durch den Luftdruck aus dem Förderkorb hinausgeschleudert und an den Wänden des Schachtes vollkommen zermalmt. Erst vierundzwanzig Stunden nach der Katastrophe konnte man die Überreste der Leichen bergen. Dieses Unglück wurde wie jedes andere, das sich im Bezirk zugetragen hatte, der Föderation zur Last gelegt, obwohl die Independence-Grube ebenso wie vorher die Vindicator-Grube von Soldaten bewacht wurde und der Maschinist ein Streikbrecher war.
Die Leichenschaukommission stellte fest, dass die Gesellschaft die sonst üblichen Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt hatte. Es fehlte an Aufsichtspersonen, es gab keine Sicherungen, die Bremse der Aufzugmaschine war in Unordnung und unbrauchbar. Dieses Gutachten der Leichenbeschauer machte jeden Versuch, die Mitglieder der Bergarbeiterföderation mit dem schrecklichen Unglück in Verbindung zu bringen, unmöglich. Es fand aber keine Untersuchung gegen die Werkleitung statt, die nach dem Urteil der Leichenbeschauer nichts Geringeres als Mord begangen hatte.
Im Büro der Bergarbeiterföderation des Westens ließ sich des Öfteren ein Journalist sehen, um Informationen für seine Berichte über den Streik zu holen. Er schien
mit der Organisation zu sympathisieren. Gelegentlich zeigte er mir die Korrekturbogen des „Rotbuches", einer Broschüre, die von der Vereinigung der Grubenherren herausgegeben werden sollte und eine so genannte Liste der Verbrechen der Bergarbeiterföderation enthielt. Ich begann sofort mit der Vorbereitung einer Gegenschrift über die Verbrechen der Vereinigung der Grubenherren, die als „Grünbuch" erscheinen sollte. Wir beeilten uns mit der Redaktion, so dass die Broschüre in den Buchhandel kam, noch bevor das „Rotbuch" die Presse verlassen hatte.
Einer der Besitzer der Strong-Grube in Cripple Creek, Scott, war Senator für West-Virginia. An ihn wandten sich die Zechenbesitzer mit dem Verlangen, eine Erklärung im Senat der Vereinigten Staaten mit einem starken Angriff auf die Bergarbeiterföderation des Westens vorzubringen.
Die von Scott in der zweiten Sitzungsperiode des 58. Kongresses verlesene, von C. C. Hamlin gezeichnete Erklärung strotzte von verleumderischen Behauptungen über die Führer und Mitglieder der Föderation. Unter anderem wurde versucht, die Erfolge der Föderation einem Terror zuzuschreiben, der nicht vor Mordtaten, Brandstiftungen, Dynamitattentaten, Aufruhr, Körperverletzungen, Einschüchterungen, Drohungen und Beschimpfungen zurückschrecke. Zechenbesitzer, die den Angriffen der Föderation Widerstand leisteten, seien ihres Lebens und Eigentums nicht sicher. Dann hieß es: „Es ist also ersichtlich, dass die Bergarbeiterföderation des Westens bei allen diesen Streiks, nicht nur Zwang, Organisierung von Streikposten, Drohungen und Einschüchterungen angewandt, sondern auch zum Aufstand, zur Brandstiftung, zum Blutvergießen und zur Unruhestiftung Zuflucht genommen hat. In allen diesen Orten wurden auch in Zeiten scheinbarer äußerer Ruhe Angriffe, Einschüchterungen und Mordtaten verübt, um die Arbeiter zum Eintritt in die Föderation zu zwingen. Wo diese Organisation festen Fuß gefasst hat, kann es keine persönliche Freiheit geben ... Während der letzten Monate war der Bezirk Cripple Creek das Zentrum der von der Bergarbeiterföderation geschaffenen Unruhen, einmal, weil dort mehr Arbeitskräfte beschäftigt sind als in irgendeinem anderen Bergwerksgebiet des Staates, zum anderen, weil die Föderation ihn als einen ihrer Stützpunkte betrachtet und als den besten Ort, um einen entscheidenden Schlag zu führen..."
Auf diese Rede erwarteten die Grubenherren wahrscheinlich keine Erwiderung. Doch ich telegrafierte sofort dem Senator Patterson von Colorado und bat ihn, im Senat eine Erwiderung für uns abzugeben. Er erklärte sich bereit, und wir sandten ihm daraufhin eine Antwort von siebenundzwanzigtausend Worten zu. Mit einer einzigen Abänderung - es handelte sich um die Kennzeichnung eines mit Patterson befreundeten Unternehmers als Lügner, die von ihm gestrichen wurde - legte er das Schriftstück dem Senat vor und telegrafierte mir dann, ich solle die ganze Erklärung in der nächsten Sonntagsausgabe seiner Zeitung, den „Rocky Mountain News", veröffentlichen.
Der Artikel nahm mehr als sieben Zeitungsseiten ein. Die Grubenherren waren so wütend, dass sie sich am liebsten selber in den Nacken gebissen hätten, als sie unsere vom Senator Patterson eingebrachte Erklärung lasen, in der wir die Regierung der Vereinigten Staaten zu einer Untersuchung der Streiks in Colorado aufforderten und uns erboten, sie dabei auf jede mögliche Weise zu unterstützen.
Aus der Eingabe des Senators Patterson an den Senat, die unsere Erwiderung an die Zechenbesitzer enthielt, stellten wir unser „Grünbuch" als Antwort auf das bereits erwähnte „Rotbuch" der Grubenherren zusammen. Im folgenden seien einige Beschuldigungen der Grubenherren gegen uns und Auszüge unserer Antworten aus dem Senatsdokument, wie sie im „Grünbuch" erschienen, wiedergegeben:
„Die Grubenherren behaupteten: dass eine große Zahl von Verbrechern und gesetzesscheuen Elementen von der Bergarbeiterföderation des Westens aufgenommen, unterstützt und beherbergt wurde... Die Bergarbeiterföderation des Westens erwiderte: dass eine große Zahl von ehemaligen Zuchthäuslern, Spielern, Desperados und anderem Gesindel wissentlich von der Vereinigung der Grubenherren in Colorado und vom Bürgerbund in Cripple Creek, Telluride und anderen Orten dieses Staates als Hilfssheriffs, Wächter, Detektive usw. beschäftigt und bezahlt wurde und wird... Die Grubenherren behaupteten: dass die Funktionäre dieser Organisation (der Bergarbeiterföderation) und eine große Zahl der Mitglieder, wenn sie vielleicht auch nicht selbst Verbrechen begangen haben, für die sie belangt werden können, direkt und indirekt die Gesetzesverächter in ihren Reihen bei der Begehung von Verbrechen beraten oder ermutigen... Die Bergarbeiterföderation des Westens erwiderte: dass die Angestellten dieser Organisationen (der Vereinigung der Grubenherren und des Bürgerbundes) und eine große Zahl der Mitglieder nicht nur selbst Verbrechen begingen, für die sie belangt und bestraft werden könnten und sollten, sondern dass auch die Organisationen als solche direkt und offen diese Personen unterstützt und angestiftet haben und dass ihre Mitglieder sich solcher
Verbrechen in aller Öffentlichkeit gerühmt und sie gutgeheißen haben...
Die Grubenherren behaupteten: dass diese Funktionäre und Mitglieder die Missachtung der Gesetze und die Verachtung der gesetzlichen Behörden predigen und als Einzelpersonen frei und öffentlich billigen und darüber frohlocken, dass ihre verbrecherischen Verbündeten Unorganisierte zusammenschlagen, morden und gegen sie Sprengstoffattentate verüben...
Die Bergarbeiterföderation des Westens erwiderte: dass die Vereinigung der Grubenherren und der Bürgerbund zur selben Zeit, als sie scheinheilig nach Ruhe und Ordnung schrieen, die Gerichte offen provozierten, die Freiheit der Presse zunichte machten, Hausfriedensbruch begingen, Verhaftungen ohne Haftbefehl veranlassten, Arbeiter, die keines Verbrechens beschuldigt waren, ins Gefängnis warfen, Männer aus dem Bezirk schleppten, nachdem sie sie vorher beraubt hatten... Sie haben Männer gefoltert und Frauen und Kinder eingeschüchtert, um von ihnen Geständnisse zu erpressen. Sie haben sich laut und öffentlich dieser Verbrechen gerühmt, und ihre Organisationen billigten sie durch die Annahme und Veröffentlichung von Resolutionen, in denen diese Dinge gutgeheißen wurden...
Die Grubenherren behaupteten: Wo Mitglieder dieser Organisation ein öffentliches Amt in der Gemeinde versahen oder wo sie die Macht hatten, die Friedensrichter und Gerichtshöfe zu beeinflussen, lähmten sie die Hand der Justiz und machten es beinahe unmöglich, die bei verbrecherischen Handlungen betroffenen Mitglieder der Föderation zu verurteilen...
Die Bergarbeiterföderation des Westens erwiderte: Wo immer Mitglieder der Vereinigung der Grubenherren oder des Bürgerbundes in öffentlichen Diensten standen,
übten sie durch Gewalt und Einschüchterung Zwang aus, wann immer sie es für notwendig hielten. Sie erzwangen den Rücktritt der ordnungsgemäß gewählten öffentlichen Beamten und die Einstellung ihrer eigenen Kreaturen in die angeblich frei gewordenen Stellen. Überall, wo ihre Mitglieder oder ihre Werkzeuge im Amte sind oder wo sie die Macht hatten, die Friedensrichter und die Gerichtshöfe dieses Staates zu beeinflussen, ist das Gesetz, wie es seit der Magna Charta galt,... verdreht worden. Die Verurteilung ihrer Mitglieder konnte selbst dann nicht durchgesetzt werden, wenn sie bei verbrecherischen Handlungen ertappt wurden, diese offen bekannten und sich derselben rühmten.
Die Grubenherren behaupteten: dass diese Organisation, die offiziell die Sache der so genannten Sozialistischen Partei verficht, gegen unsere gegenwärtige Regierungsform ist und ihren Sturz und die Abschaffung der gegenwärtigen Verfassung anstrebt...
Die Bergarbeiterföderation des Westens erwiderte: dass diese Organisationen offiziell für die Sache der so genannten Republikanischen Partei eintreten, von der sie behaupten, sie sei noch immer die Partei Lincolns; dass sie beide gegen unsere gegenwärtige Regierungsform sind und ihren Sturz anstreben. Zu diesem Zweck haben sie Eigentum zerstört und konfisziert, die Freiheit der Presse vernichtet, den Gerichtshöfen Trotz geboten, das Recht auf die Unverletzlichkeit der Person für null und nichtig erklärt, Haussuchungen ohne amtlichen Befehl durchgeführt, das Recht auf Aburteilung durch Geschworene vorenthalten; sie haben sich das Recht angemaßt, Bürger aus ihrem Heimatort zu verbannen, das Recht des Besitzes und Tragens von Waffen verweigert und auch jede andere durch die Verfassung des Staates und der Vereinigten Staaten gegebene Garantie der persönlichen Freiheit mit Füßen getreten. Abgesehen von diesen und anderen Verletzungen der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger versuchen sie, die Verfassung abzuschaffen und die Herrschaft des Geldes einzuführen und haben deshalb einen Satz von geradezu klassischer Knappheit, der für die Leute und ihr Ziel außerordentlich charakteristisch ist, zur Parole erwählt, nämlich: ,Zur Hölle mit der Verfassung!'"
Das Erscheinen des „Grünbuches" war für den Bürgerbund und die Vereinigung der Grubenherren ein schwerer Schlag. Sie hatten keine Ahnung und wissen bis zum heutigen Tage nicht, wie wir zu dem Material gelangten und dass wir die Korrekturbogen von einem Journalisten erhielten. Das „Grünbuch" wurde überall im Bergwerksgebiet kostenlos verteilt und im ganzen Westen weit verbreitet. Die Bergarbeiter waren begeistert, dass es vor dem „Rotbuch" erschienen war; die Mitglieder erkannten, dass ihre Leute in der Zentrale auf dem Posten waren.
Aus den zahlreichen Zuschriften von allen Seiten konnte ich mir ein Bild über die Lage in den Gruben- und Hüttenorten des Westens machen. Der Streik in Colorado City sprühte Funken, die den Kampf um den Achtstundentag an vielen Orten neu aufflammen ließen. Die Belegschaften der großen Schmelzhütten von Pueblo standen jetzt ebenfalls im Streik. Der ganze Staat Colorado war in Brand, und die Bewegung machte auch an den Grenzen des Staates nicht halt. Die Kohlengrubenarbeiter hatten sich uns angeschlossen und ihren Kampf bis nach Wyoming, Arizona und Neumexiko ausgedehnt. Aus verschiedenen Teilen dieses Gebietes kamen Berichte von Terrorakten der Detektivagentur Reno und anderer Halunken und Mörder, die samt und sonders von der Colorado Fuel and Iron Company und anderen
Kohlengesellschaften, einschließlich derjenigen von Südutah, gedungen worden waren. Diese Berichte waren grauenerregend: Häuser der Bergarbeiter wurden mit Dynamit zerstört, streikende Bergarbeiter tödlich verwundet; Familien wurden aus ihren elenden Hütten, die der Rockefeller-Gesellschaft gehörten, exmittiert; Bergarbeiter wurden aus ihrer Wohnung von Frau und Kindern fortgerissen und deportiert; die Organisationssekretäre Warjeon, Mooney und andere waren grausam misshandelt worden.
Ebenso furchtbar wie diese Berichte waren andere über die Tätigkeit von Spitzeln und Detektiven, die in die Organisation eingedrungen waren, um die Pläne des Verbandes auszukundschaften und über die Arbeit und die persönlichen Verhältnisse der Organisationssekretäre zu berichten.
Außer Zeitungsmeldungen und Kuriernachrichten liefen Briefe, telefonische Anrufe und Telegramme aus allen Gebieten ein. Ein Telegramm meldete, dass fünfunddreißig Bergarbeiter in der Daly-West-Grube in Utah durch eine Explosion getötet wurden, weil Pulver in ungesetzlicher und verbrecherischer Weise in der Grube gelagert worden war. Ferner erhielten wir Nachricht, dass dreihundertaditunddreißig Mann in Wyoming bei einer Grubenexplosion umgekommen waren. Zusammen mit den Opfern der Katastrophe in Fernie, in der Independence-Grube und in vielen anderen wurden insgesamt eintausendsiebenundachtzig Todesfälle infolge von Grubenkatastrophen gezählt, die sich hätten verhüten lassen und die nach dem Urteil der Leichenbeschauer den Zechenbesitzern zur Last gelegt werden mussten. Viele Unglücksfälle waren der Bergarbeiterföderation in die Schuhe geschoben worden, aber diese Beschuldigungen wurden in keinem einzigen Falle von
den Leichenbeschauern bestätigt. Brieflich wurde uns über einen Streik in Keswick, Kalifornien, und über die Deportation von Bergarbeitern aus Dutch Flat berichtet. Dann wieder kamen Nachrichten, dass aus Coeur d'Alene Streikbrecher abgegangen seien.
Neben der regelmäßigen Korrespondenz wurden die Sekretäre der Verbände durch häufige Bulletins über die Streiks unterrichtet. Von ihnen wurden ebenfalls Informationen über die Tätigkeit aller Verbandsgruppen verlangt. Sie sandten Bilder von den Streiks, den Versammlungssälen der Verbände, den Demonstrationen usw., und ich veröffentlichte diese in unserem Magazin, um das gegenseitige Interesse der Mitglieder der Bergarbeiterföderation zu stärken. Mein Bestreben war, Alaska mit Arizona, Montana mit Colorado vertraut zu machen, eine Art Händeschütteln auf weite Entfernung. Ich wollte den Geist der Kameradschaftlichkeit wecken, und es gelang mir.
Als ich zum Sekretär und Hauptkassierer gewählt wurde, war ich ein Neuling in der Arbeiterbewegung. Aber die drei Jahre, seitdem ich zum letzten Mal am Bohrer in der Blaine-Grube gearbeitet hatte, waren für mich eine ernste Schule des Klassenkampfes gewesen. Ich hatte erkannt, dass weder die herkömmlichen Fachverbände noch der parlamentarische Sozialismus ein taugliches Mittel
zur Lösung der vor der Arbeiterklasse stehenden Probleme waren.
Immer wieder hatte ich die Schwäche der nach Fachverbänden gegliederten Gewerkschaften beobachtet. Unter den Bergarbeitern von Cripple Creek gab es Streikbrecher; unter den Hüttenarbeitern von Colorado City gab es Streikbrecher; die Eisenbahnen, die beide Orte verbanden, wurden von gewerkschaftlich organisierten Eisenbahnern gefahren, die von Streikbrechern gefördertes Erz in von Streikbrechern in Gang gehaltene Hüttenwerke transportierten. Das ist das Elend der Fachverbände.
Als ich John Mitchell seinerzeit telegrafierte, die Arbeiter der Erzbergwerke des Westens würden zusammen mit den Kohlengrubenarbeitern in den Generalstreik treten, bekannte ich mich damit zum Gedanken der gewerkschaftlichen Organisation nach Industrieverbänden. Zu dieser Erkenntnis kam ich in weniger als drei Jahren, und ich habe meine Meinung darüber nicht mehr ändern müssen.
Gesetze und gesetzgeberische Bestimmungen standen nur auf dem Papier oder blieben fromme Wünsche, solange wir nicht die wirtschaftliche Macht hatten - durch die Stärke unseres Verbandes -, sie durchzusetzen. Die vielgerühmte Garantie der Habeaskorpusakte war gegen das Standrecht wirkungslos. Richterliche Verfügungen waren nur für jene Klasse nützlich, die die Regierung in der Hand hatte.
All diese Streikbewegungen stellten die höchsten Anforderungen an die Organisation. Die Mitglieder wurden in den „Schmelztiegeln" von Telluride, Denver, Cripple Creek und überall, wo der Streik im Gange war, erprobt. Und sie erwiesen sich als hochwertiges Erz.

 

Zehntes Kapitel
„Deportation oder Tod"

Die AFL im Staat Colorado hatte einen Kongress nach Denver einberufen. Unter den dreihundertfünfzig Delegierten, Vertretern der verschiedensten Gewerkschaften, befanden sich auch die Delegierten der streikenden Kohlengrubenarbeiter und der streikenden Bergarbeiter aus Cripple Creek und Telluride. Man diskutierte über die verschiedenen Ereignisse, die im Verlaufe des Kampfes um den Achtstundentag vorgefallen waren, und ernannte ein Hilfskomitee, das soweit als möglich die Mittel zur Unterstützung der vielen Streikenden und ihrer Familien beschaffen sollte. In einer eingebrachten Resolution wurde gefordert, dass sämtliche Delegierte des Kongresses den Gouverneur Peabody aufsuchen und die Abberufung der Truppen, die Abschaffung der Verordnung gegen Landstreicherei und Schutz für alle deportierten Bergarbeiter, die nach Hause zurückkehren wollten, verlangen sollte. Es wurde schließlich beschlossen, dass eine Abordnung des Kongresses den Gouverneur aufsuchen und ihm diese Forderungen unterbreiten solle.
Die Abordnung traf den Gouverneur in seinem Amtsgebäude, das durch den Kampf der Bergarbeiter historische Bedeutung erhalten hat. Gouverneur Peabody erklärte den Delegierten kaltblütig, dass niemand, mit Ausnahme von Ausländern, Raufbolden und Leuten, die falsche Namen angenommen hätten, deportiert worden sei. Er ahnte nicht, dass der Abordnung selbst einige der Deportierten angehörten, so auch Guy Miller, Präsident des Bergarbeiterverbandes von Telluride. Er wusste wohl auch nicht, dass einige unserer besten Gewerkschafter gezwungen waren, ihren Namen zu wechseln, um die schwarze Liste der Unternehmer zu umgehen. Peabody erklärte dem Komitee, alle Bergarbeiter würden in ihren Rechten geschützt. Natürlich behielt es sich der Gouverneur selbst vor, zu entscheiden, welches die Rechte der Bergarbeiter seien.
Der Kongress nahm eine von dreizehn Delegierten, dar-
unter von mir unterzeichnete Resolution an, die feststellte, dass die organisierte Arbeiterschaft im Staate Colorado einen Kampf auf Leben und Tod um das Koalitionsrecht und um ihre Existenz führte, und in knappen Sätzen Punkt für Punkt die schändlichen Verbrechen der Unternehmer, der Behörden, der Miliz und des Pöbels aufzählte.
Eine Zeitlang hatte ich Schwierigkeiten mit dem Unterstützungskomitee der Hüttenarbeiter in Denver. Zuerst wurden so hohe Unterstützungen gewährt, dass ich dem Vorsitzenden sagen musste, er zahle den Hüttenarbeitern mehr aus, als sie bei der Arbeit verdienten. Darauf setzte er die Unterstützungssätze herab, bis schließlich die Frauen der Hüttenarbeiter sich zu beklagen begannen, sie hätten nicht genug zu essen. Jahre später, als ich seine Memoiren las, entdeckte ich, dass der Vorsitzende des Unterstützungskomitees ein Pinkertondetektiv war, der die Unterstützungsarbeit nach den Anweisungen seiner Detektivagentur leistete und bewusst versuchte, Missstimmung zwischen den Streikenden und dem Unterstützungskomitee zu schaffen.
Als Moyer sich in dieser Zeit anschickte, die Verbände in Ouray und anderen Orten im Süden des Staates zu besuchen, gab ich ihm den Rat, einen Reisegefährten mitzunehmen, da er mit den Revolverhelden von Telluride zusammengeraten könnte und zwei Männer besser mit ihnen fertig würden als einer. Gerade einige Tage vorher war ein Mitglied der Bergarbeiterföderation aus Cripple Creek zu uns ins Büro gekommen. Er erschien auch an diesem Nachmittag wieder, und Moyer schlug ihn als Reisebegleiter vor. Auf meine Frage, ob er ihn kenne, erwiderte Moyer, dass er Harry Orchard im „Creek" gesehen habe und dass er einer von der alten Garde aus Coeur d'Alene sei.
Ich fragte Orchard, ob er einen Revolver bei sich habe. Er zog ein sechsschüssiges, anderthalb Fuß langes Ding aus der Hosentasche. Ich sagte: „Das ist keine sehr praktische Kanone, du wirst dir ja die Hosen ausziehen müssen, wenn du sie gebrauchen willst!" Er sah mich an, als ob ihm meine Kritik nicht sehr gefiele, erwiderte jedoch nichts.
In der zweiten Nacht nach der Ankunft der beiden in Ouray wurde Moyer von Beamten des Bezirks San Miguel verhaftet. Er wurde der „Verunglimpfung der Flagge"  beschuldigt  und  nach  Telluride  gebracht. Orchard kam nach Denver zurück und erzählte mir die Einzelheiten von Moyers Verhaftung, die ich schon aus Telegrammen und Zeitungsberichten erfahren hatte. Mir wollte die Art, wie Moyer ohne Widerstand seines angeblichen Beschützers verhaftet worden war, gar nicht gefallen.
Orchard sah, dass ich ärgerlich war, und blieb nur einige Minuten. Vielleicht war ich übrigens nicht einmal so böse auf Orchard, als vielmehr darüber, dass Moyer wegen „Verunglimpfung der Flagge" verhaftet worden war, da ich ja wusste, dass er nichts mit dieser Angelegenheit zu tun gehabt hatte; er war nicht einmal im Büro, als das Plakat mit der Flagge hergestellt wurde. Dann fiel mir allerdings ein, dass seine Unterschrift mit unter dem Text stand, wodurch er natürlich ebenso verantwortlich gemacht werden konnte, als wenn er das Plakat selbst geschrieben hätte.
Mir wurde mitgeteilt, dass auf Grund derselben Anklage auch für mich ein Haftbefehl ausgestellt worden sei. Da John Murphy nicht in der Stadt war, suchte ich das Rechtsbüro Richardson und Hawkins auf, um zu erfahren, was ich tun könne, um mich einer Auslieferung nach Telluride zu entziehen. Hawkins meinte trocken, dass zum Beispiel ein des Mordes Beschuldigter als bürgschaftsunfähig gelte; wenn ich also in Denver des Mordes angeklagt würde, so könnte ich in keinen anderen Bezirk geschafft werden. Mir schien das ein wenig zu stark! Darauf sagte er:
„Nun, warum wollen Sie sich nicht hier in Denver selbst wegen Verunglimpfung der Flagge anklagen lassen?" „Ich möchte nicht gern ins Gefängnis wandern und die Sache so regeln, dass ich meine Arbeit im Büro weiterführen kann."
„Schön", erwiderte er, „wenn Sie einen Richter kennen, der Ihnen einen Beamten mitgibt, bis Sie die Bürgschaftssumme beschafft haben, könnte man die Sache so einrichten."
„Ich glaube, ich kann es mit Bill Hynes regeln", sagte ich, „er ist ein Freund der Gewerkschaftsbewegung." „Gut, lassen Sie mich wissen, wann der Fall verhandelt wird", erwiderte Hawkins.
Vom Rechtsanwalt ging ich zu Pettibone und teilte George mit, dass ich mich wegen Verunglimpfung der Flagge verhaften lassen wolle.
„Kannst du die Sache mit einem der Burschen hier regeln?"
„Gewiss", sagte er, „Jake Wolf wird einen Haftbefehl für dich ausstellen."
Dann ging ich zu Richter Hynes und erzählte ihm die ganze Geschichte. Er versprach nichts Bestimmtes, fragte mich aber, ob der Fall vor seinem Gericht verhandelt werden solle. Ich sagte ihm, dass ich es, wenn irgend möglich, so einrichten wolle. Noch am gleichen Nachmittag wurde der Haftbefehl ausgestellt, und am nächsten Morgen kam der Fall zur Verhandlung. Mr. Hawkins erklärte, dass er einige Zeit zur Untersuchung des Falles brauche, und ersuchte den Richter, eine Bürgschaftssumme zu bestimmen. Es wurden dreihundert Dollar festgesetzt. Ich erklärte dem Richter, dass ich einige Zeit benötigen werde, um diese Summe aufzutreiben. Der Richter rief einen Polizeidiener heran und befahl:
„Connolly, gehen Sie mit Mr. Haywood und bleiben Sie bei ihm, bis er die Bürgschaftssumme beschafft hat." Ich verließ das Gericht und nahm Connolly mit ins Büro. Er blieb Tag und Nacht bei mir, und als die Frist abgelaufen war, kehrten wir zum Gericht zurück; ich bat den Richter um eine weitere Frist, die er auch ohne Zögern gewährte.
Als mein Fall endlich zur Verhandlung vor den Richter Hynes kam, erschien ich vor Gericht mit allen möglichen Inseraten und Reklameartikeln, auf denen die amerikanische Flagge verwendet war. Unbekannte Freunde hatten mir mit jeder Post einige Exemplare zugeschickt. Ich muss wohl zwanzig bis dreißig Muster gehabt haben: Tabaksbeutel,    Zigarettenschachteln,    Etiketten   von Tomatenbüchsen, das Abzeichen eines politischen Negerklubs mit einer Flagge und Inschriften auf den Flaggenfeldern und die Geschäftskarte der Detektivagentur Pinkerton mit dem alles sehenden Auge in einem Kreis von Flaggen, von denen die größte das amerikanische Sternenbanner war.  Der Prozess  wurde eingestellt. Einige Zeit nachher wurde die Verwendung der Flagge zu Reklamezwecken gesetzlich verboten. Schon vor meinem Prozess war Moyer auf Bürgschaft freigelassen und zwei- oder dreimal wieder verhaftet worden, bis endlich die Miliz aus „militärischen Gründen" die Aufrechterhaltung der Haft anordnete. Ich veranlasste den Anwalt Richardson, sich beim Obersten Gerichtshof um eine Rückführung Moyers nach Denver zu verwenden, die auch gewährt wurde.
Am Morgen seiner Ankunft wollten die Stenotypistinnen aus unserem Büro mit zum Bahnhof gehen, um ihn zu empfangen. Ich fragte den Polizisten Connolly, der mich bewachte, wie er darüber dächte, wenn wir auch mitgingen. Er hatte nichts dagegen, und wir machten uns auf den Weg.
Die Mädchen hatten kleine Abbildungen des Flaggenplakats auf ihre Handtäschchen geklebt, und ich sagte ihnen, es wäre vielleicht ganz gut, wenn sie diese nicht gerade den Soldaten unter die Nase hielten. Als der Zug hielt, stieg zuerst eine Abteilung von zwölf Soldaten aus, dann Moyer allein und dann nochmals zwölf Soldaten und Offiziere.
Ich trat hinzu, schüttelte Moyer die Hand und ging mit ihm Arm in Arm auf und ab. Auf einmal fühlte ich einen Druck auf meiner Schulter und spürte, wie uns jemand auseinanderdrängen wollte. Ich sah mich um. Da stand Hauptmann Bulkeley Wells, derselbe Wells, der vor einigen Monaten ein Abkommen mit uns getroffen hatte, das die friedliche Beilegung des Streiks in Telluride herbeiführen sollte, das aber von den Unternehmern nicht gehalten wurde. Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf, ich drehte mich um und gab dem Wells eine Ohrfeige mitten ins Gesicht.
Es war ein verrücktes Stückchen. Wie der Blitz kamen die Soldaten ihm zu Hilfe, schlugen mich mit ihren Gewehrkolben über den Kopf und drängten mich zwischen zwei Waggons. Einer legte das Gewehr auf mich an. Ich konnte in das Loch im Gewehrlauf sehen und rief: „Drück ab, du Hundesohn! Drück ab!" Einer der Offiziere schlug ihm das Gewehr aus der Hand und befahl in scharfem Tone:
„Zurück, zurück!" Und dann zu mir: „Haywood, Sie kommen mit Moyer mit!"
Wir marschierten zum Oxford-Hotel. Den Polizisten Connolly sah ich in der Reihe der Leute, an denen wir vorübermarschierten. Er sah verstört aus. Ich habe ihn seitdem nicht mehr wieder gesehen. Beim Oxford-Hotel angekommen, traten wir ein, und Moyer setzte sich. Ich stand mit meinem Ellbogen auf das Pult gestützt da, als Walter Kinley, einer der Revolverhelden von Telluride, auf mich zuschritt und sagte: „Setz dich!" „Ich habe keine Lust."
Er zog einen sechsschüssigen Revolver heraus, zielte auf mich und schrie:
„Setz dich hin, Gott verdamm dich!" Ich gab ihm, noch bevor er an mich herangekommen war, einen Stoß, und so traf mich der Schuss nicht. Sofort stürzten fünf oder sechs Soldaten herzu, schlugen auf mich los und stießen mich mehrere Male gegen die Wand. Kinley lief so lange hin und her, bis er an mich herankommen konnte, langte herüber und schlug mich mit dem Griff seines Revolvers auf den Kopf. Gleichzeitig versetzte mir einer der Soldaten einen Rippenstoß. In diesem Augenblick stürzte ein Offizier hinzu und rief, seinen Revolver schwingend:
„Zurück, ihr Burschen, zurück! Wie viel Leute braucht ihr, um mit diesem Mann fertig zu werden?" Ich fühlte, dass ich ermattete, und stolperte auf einen Stuhl zu, auf den ich mich jetzt ohne weitere Befehle setzte. Aus den Wunden am Kopf blutete ich wie ein gestochenes Schwein.
Bald wurde ich nach oben geführt. Einer der beiden Revolverhelden, die bei mir im Zimmer gelassen wurden, war Kinley, der mordsmäßig schimpfte, dass er den perlmutterbesetzten Griff seines Revolvers an meinem Kopf zerbrochen habe. Schon nach einigen Augenblicken erschienen auch die Reporter. Ich übergab meine Schlüssel und Papiere John Tierney von den „Denver Times". Bald darauf trafen reine Kleider von zu Hause ein, und ich kleidete mich von Kopf bis Fuß um. Meinen sechsschüssigen Revolver, den die Dummköpfe bei der Leibesvisitation übersehen hatten, behielt ich bei mir. Von einem Militärarzt wurden die Kopfwunden verbunden und mein rechtes Ohr, das etwas abgerissen war, mit sieben Stichen wieder genäht. Bald erschien auch Ham Armstrong, der Sheriff der Stadt und des Bezirkes Denver, und sagte: „Ich komme dich abholen, Bill." Ich stand auf und erwiderte: „Das freut mich zu hören!" Auf dem Weg in sein Büro meinte Armstrong: „Diesmal hast du dir eine üble Geschichte eingebrockt, Bill."
Ich fragte ihn: „Wieso?", worauf er erwiderte: „Sie wollen dich nach Telluride bringen." „Nein, das werden sie nicht tun!"
„Da kommt schon Sheriff Rutan die Straße herauf, um dich abzuholen", erwiderte er. Ich schaute nach Rutan aus, wandte mich dann wieder zu Ham und sagte: „Ich gehe aber nicht nach Telluride." Zusammen mit uns betrat auch Rutan das Büro des Sheriffs und setzte sich. Armstrong fragte mich: „Soll ich vielleicht Richardson anrufen?" Ich erwiderte: „Das wird wohl das beste sein."
Zufällig war Richardson der Rechtsanwalt des Sheriffs und gleichzeitig auch der Bergarbeiterföderation. Ich konnte zwar nur den einen Teil des Telefongesprächs mit anhören, sah aber, wie sich Armstrongs Gesicht aufhellte. Er hängte den Hörer auf und rief mich hinaus in den Korridor. Dort teilte er mir mit, dass Richardson angeordnet habe, er solle mich so lange im Bezirksgefängnis festhalten, bis er von Richardson Bescheid bekäme, dass er mich freilassen könne. Dann erst zog ich meinen Revolver heraus, übergab ihn Armstrong und bat ihn, die Waffe für mich aufzubewahren, bis ich sie mir holte:
„Ich habe dir ja gleich gesagt, dass ich nicht nach Telluride gehe. Sie würden mir hier in Denver wegen Tötung des Sheriffs da drinnen weniger tun, als in Telluride wegen Verunglimpfung der Flagge'." Ham starrte mich an und sagte: „Bei Gott, ist das dein Ernst?"
„Gewiss", erwiderte ich, „ich hätte ihn eher getötet, als dass ich nach Telluride mitgegangen wäre." Ham befahl nun einem Polizisten, einen Wagen zu holen und mich in das Bezirksgefängnis abzuführen. Auf dem Weg dorthin kaufte ich Zigarren und Rauchtabak, weil ich mir dachte, dass es im Gefängnis eine Menge Leute geben werde, die Rauchmaterial brauchen könnten. Bei der Ankunft im Gefängnis meinte der Vorsteher:
„Es tut mir leid, Mr. Haywood, dass wir Ihnen hier nicht so viel Bequemlichkeiten bieten können, wie wir gern möchten."
Ich wurde nach den Gefängnisregeln gewogen und gemessen. Als ich gerade von der Waage herunterstieg, kam der kleine Billy Green, der „Boss des Bezirkes Green", durch eine Seitentür herein und sagte: „Hallo, Bill! Komm doch einmal mit." Ich folgte ihm, in der Meinung, ich sollte in eine Zelle gebracht werden; statt dessen führte er mich in einen anschließenden Lagerraum, wo etwa fünfunddreißig bis vierzig Gewehre auf einem langen Tische lagen. „Such dir eins aus", sagte er, „auch für die anderen Knarren werden sich Männer finden, und wenn diese
gottverdammte Miliz sich zeigen sollte, wird sie den wärmsten Empfang erleben, den sie jemals gesehen hat!" Ich hängte mir ein Gewehr über die Schulter und bemerkte, dass wir hier im Gefängnis ganz hübsch verbarrikadiert seien. Dann gingen wir zurück in die Amtsstube, wo der Sheriff sagte:
„Hier ist ein Schreibtisch, den Sie verwenden können, Mr. Haywood. Durch das Telefon können Sie mit Ihrem Büro in Verbindung bleiben, und wenn Sie irgendeine besondere Arbeit zu erledigen haben, können Sie Ihre Stenotypistinnen kommen lassen." Noch am selben Nachmittag kamen Pettibone und einige andere Freunde auf Besuch. Pettibone übernahm es, meiner Frau die Nachricht von meiner Verhaftung zu bringen.
„Oh, das regt mich gar nicht auf. Jetzt weiß ich wenigstens jede Nacht, wo er ist", sagte sie. Seit Monaten hatte sie schon erwartet, dass ich ihr eines Nachts auf der Bahre nach Hause gebracht würde. Sobald die Gewerkschafter von Denver hörten, dass ich auf dem Bahnhof von der Miliz verhaftet worden war, begannen sie sich militärisch zu organisieren. Es wurden bewaffnete Abteilungen unter dem Befehl von Hauptleuten gebildet, die jederzeit bereitstanden, die Miliz zu hindern, mich aus der Stadt Denver fortzuschaffen. Das war auch wahrscheinlich der Grund, der Gouverneur Peabody veranlasst hatte, mich den Zivilbehörden zu übergeben.
Nachdem ich ungefähr zwei Wochen im Gefängnis verbracht hatte, telefonierte ich Richardson und teilte ihm mit, dass ich es satt hätte und in mein Büro zurück wollte.
„Sie wissen doch, dass Sie verhaftet werden, sobald Sie das Gefängnis verlassen", erwiderte er. „Sie genießen doch alle Bequemlichkeiten und haben Ihr ganzes Büro dort, nicht wahr?"
„Das stimmt", sagte ich. „Ich habe alles. Aber es ist doch nicht so, als wenn ich an meinem eigenen Schreibtisch arbeite. Ich möchte Sie bitten, die Sache mit dem Sheriff zu regeln."
Er tat es, und ich hörte nie wieder etwas von dem Haftbefehl von Telluride.
Einer der erster Bestechungsversuche, die man mit mir machte, wurde nicht direkt unternommen, sondern durch den Anwalt Richardson, der mir erzählte, Cass Harrington, der Anwalt einer der Kohlengesellschaften von Colorado, habe ihm gegenüber geäußert, ich könnte jedes Amt im Staate bekommen, wenn ich nur „diesen sozialistischen Unsinn" aufgeben wollte. Ich ließ ihm durch Richardson sagen, er könne mir den Buckel 'runterrutschen.
Wir setzten einen Antrag für einen Enthaftungsbefehl auf Grund der Habeaskorpusakte für Moyer auf, diesmal an das Landesgericht in St. Louis zu Händen des Richters Thayer. Bald nachher wurde Moyer freigelassen. Es schien nicht länger „aus militärischen Gründen notwendig", ihn zurückzuhalten. Später wurde er nochmals wegen angeblichen Mordverdachts verhaftet, aber da der Haftbefehl weder den Namen der Person angab, die er getötet haben sollte, noch Ort oder Zeit der Tat, war die Anklage hinfällig. Er wurde dann noch einmal wegen Mittäterschaft bei der Vindicator-Explosion verhaftet, die sich einige Zeit vorher in Cripple Creek zugetragen hatte. Aber auch mit dieser Tat konnte man ihn selbstverständlich nicht in Verbindung bringen, und bevor noch der entsprechende Befehl vom Bundesgericht eintraf, war er schon freigelassen worden. Während Moyer in Telluride im Gefängnis saß, fand in
Denver der Kongress der Bergarbeiterföderation des Westens für das Jahr 1904 statt. Viele von den Arbeitern, die an verschiedenen Orten im Gefängnis gesessen hatten, waren als Delegierte anwesend. Am 6. Juni waren schon zeitig am Morgen viele Delegierte im Saale versammelt. Einige hielten Zeitungen in der Hand, andere hatten sie gerade vor sich ausgebreitet. Aller Mienen waren schreckerfüllt: die Zeitungen meldeten, dass am Abend vorher die Bahnstation Independence von Cripple Creek durch eine Explosion zerstört Worden war.
Die Explosion wurde sofort als erster außerordentlicher Punkt auf die Tagesordnung gesetzt. Es ließ sich nicht viel dazu sagen, da niemand mehr wusste, als das, was in den Zeitungen stand. Man beschloss, eine Belohnung von fünftausend Dollar für die Verhaftung und Überführung der Personen festzusetzen, die für dieses schreckliche Unglück verantwortlich waren, ferner sofort eine Delegation vom Kongress nach Cripple Creek zu senden und ihren Bericht abzuwarten, bevor weitere Aktionen unternommen wurden.
Nach der Rückkehr berichtete die Delegation von unglaublichen Zuständen in Cripple Creek. Sheriff Robertson hatte mit seinen Untersheriffs am frühen Morgen den Schauplatz der Explosion aufgesucht und das Gebiet um die Station mit Seilen abgesperrt, um die Neugierigen am Betreten des Geländes zu hindern. Von Trinidad hatte er sofort Spürhunde angefordert. Die furchtbare Explosion hatte zwölf oder dreizehn Arbeiter getötet und viele andere verletzt. Sheriff Robertson wurde zu einer Konferenz von Bankiers und Zechenbesitzern geladen, auf der man seinen Rücktritt verlangte. Er verweigerte energisch die Niederlegung seines Amtes, bis man ihm einen Strick vor die Füße warf und ihm erklärte, man werde die draußen wartende Menge hereinlassen und ihn erhängen lassen, falls er nicht sofort zurücktrete. Erst dann gab Robertson klein bei. An seiner Stelle wurde eine der Kreaturen der Zechenbesitzer eingesetzt. Soweit hatten sich die Dinge bis zum Mittag des Tages nach der Explosion entwickelt. Die Delegation berichtete ferner, dass der Gerichtsbeamte Mike O'Connell von Victor über hundert Gewerkschafter zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestimmt und bewaffnet hatte und versuchte, die örtliche Miliz zu veranlassen, diese Arbeiter bei der Zerstreuung des Pöbels zu unterstützen, der sich an einer Ecke der Hauptstraße angesammelt hatte. Die Miliz verweigerte die Unterstützung. O'Connell wurde zu einer Konferenz von Geschäftsleuten geladen und aus seinem Amt entlassen, nachdem auch er sich geweigert hatte zurückzutreten.
Inzwischen waren die angeforderten Spürhunde eingetroffen, die zur demolierten Eisenbahnstation geführt und dort angesetzt wurden. Gleich der erste Hund lief direkt zum Hause eines Detektivs des Bürgerbundes. Beim zweiten Versuch folgte ein anderer Hund der selben Spur. Dann wurde ein dritter Hund von der Leine gelassen, der direkt zum Pulvermagazin einer der nicht gewerkschaftlich organisierten Gruben lief. Diese eindeutigen Fingerzeige auf die wahren Schuldigen wurden durch folgende Feststellungen unterstrichen: Einige Tage vor der Explosion war der Bankier von Victor, Carlton, dem Polizeihauptmann von Victor, William Graham, begegnet und hatte ihm gesagt: „Billy, du und ich waren immer gute Freunde, und du bist ein guter Offizier gewesen. Du hast dich aber weder für noch gegen den Bürgerbund erklärt, und wir werden darum deinen Rücktritt verlangen, da wir in der Stellung, die du innehast, keinen neutralen Mann brauchen können. Ich gebe dir jetzt hundert Dollar und eine Fahrkarte nach Kansas, und du wirst gut daran tun, so schnell wie möglich zu fahren. Hier gibt es Dinge zu tun, zu denen du nicht bereit sein wirst!" Graham weigerte sich jedoch, seinen Posten aufzugeben. Es hieß, dass Murphy, ein Aufseher der Findley-Grube, versucht hatte, die Arbeiter dieser Zeche zurückzuhalten. Sie sollten wenigstens eine Viertelstunde warten, bevor sie zum Bahnhof gingen. Die Arbeiter aber wollten mit einem bestimmten Zug nach Hause fahren, der bald abgehen musste; also liefen sie zur Station, viele davon in den Tod. Was hatte Murphy von der Sache gewusst? Die Leichenschaukommission stellte trotz alledem fest, dass „Mitglieder und Funktionäre der Bergarbeiterföderation des Westens" für die Explosion auf der Station Independence „verantwortlich sind". Unsere Untersuchungskommission erklärte, dass ihrer Meinung nach das Verbrechen in allen Einzelheiten vom Bürgerbund sorgfältig vorbereitet worden war, da alle Gruben gleich nach der Explosion geschlossen wurden und Streikbrecher und Revolverhelden in Victor versammelt und für diesen Zweck bewaffnet worden waren. Hamlin, der Sekretär der Vereinigung der Grubenherren, hielt eine Ansprache vor dem ,Pöbelhaufen, in der er die Bergarbeiterföderation heftig wegen der Explosion angriff und erklärte, dass wegen des Todes der braven Männer, die bei der Explosion umgekommen waren, fünfzig Gewerkschafter niedergeschossen, ebenso viele an einem Telegrafenmast aufgeknüpft und die übrigen über die Berge davongejagt werden - sollten. Einer der Streikenden in der Menge fragte: „Wen meinen Sie damit?" Und nun brach der Aufruhr los.
Mehrere Streikbrecher und Nichtorganisierte wurden getötet, und viele Gewerkschafter, die Zuflucht im Gewerkschaftssaal gesucht hatten, wurden von den durch Fenster und Luken hereinpfeifenden Kugeln schwer verletzt. Als der Sheriff in den Saal kam, ergaben sich die Gewerkschafter und wurden zum Zeughaus geführt, wo die Miliz ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. In allen Gewerkschaftssälen war die Einrichtung demoliert worden. Der Saal des Metallarbeiterverbandes war vollkommen zertrümmert. Auf einer Tafel stand folgende Drohung geschrieben:
„Als Gewerkschafter hast du Deportierung oder Tod zu erwarten. Der Bürgerbund."
Die Delegation berichtete ferner mit großer Erregung von der Zerstörung der Gewerkschaftsläden in Anaconda, Goldfield, Victor und Cripple Creek. Ganze Tonnen von Waren waren von den Streikbrechern weggeschleppt worden. Bankiers und andere prominente Bürger hatten sich selbst an dem Kampf beteiligt und in den Läden alles, was ihnen in die Hände fiel, zerstört; die Teufel gossen Petroleum auf große Vorräte von Mehl, Zucker, Fleisch und anderen Nahrungsmitteln, zerrissen die Bücher und vernichteten die Kassen. Das Büro des „Victor Record" wurde wieder gestürmt, diesmal von einer stark bewaffneten Bande, die den ganzen Redaktionsstab verhaftete und in den „Bullenstall" steckte. Sie zertrümmerten die Setzmaschinen und richteten eine solche Zerstörung an, dass die weiteren Nummern des Blattes in der Druckerei des „Cripple Creek Star" hergestellt werden mussten. Der Herausgeber des „Record" hatte am gleichen Morgen, an dem die Druckerei zerstört wurde, einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Bergarbeiterföderation aufforderte, den Streik einzustellen. Der Bürgerbund hatte darum
wahrscheinlich gedacht, die Öffentlichkeit werde glauben, dass unsere Gewerkschafter die Maschinen zerstört hätten. Der Herausgeber erhielt viertausend Dollar für den Schaden, und seine bisherige freundliche Haltung uns gegenüber verwandelte sich sofort in das Gegenteil. Die auf der Konferenz versammelten Bergarbeiter waren außer sich, als sie von all diesen Gewalttaten hörten. Während der nächsten Tage kamen viele Mitglieder aus Cripple Creek nach Denver, und alle brachten dieselben schlimmen Nachrichten. Die Leichenschaukommission hatte ein Gutachten abgegeben, dem zufolge die Führer der Bergarbeiterföderation für den Aufruhr mit verantwortlich gemacht wurden. Man sammelte Belastungsmaterial gegen Moyer, die Mitglieder des Exekutivausschusses, mich und ungefähr vierzig andere. Sobald ich die Nachricht erhielt, dass Beamte von Cripple Creek mit Haftbefehlen nach Denver gekommen waren, suchte ich Oberst Irvy, den Sekretär des Bürgermeisters von Denver, in seiner Wohnung auf. Dort blieb ich ein oder zwei Tage. Inzwischen hatte man Moyer und James Kirwin die Haftbefehle zugestellt. Sie zahlten eine Kaution, und die Beamten machten keinen weiteren Versuch, auch mich zu verhaften.
Mike O'Connell, der die hundert Bergarbeiter beordert hatte, den nach der Explosion zusammengelaufenen Mob zu zerstreuen, war einer der ersten unter den fünfzig Männern, die deportiert wurden. Wenige Tage nach seiner Deportation fiel er aus einem Fenster oder wurde, was viel wahrscheinlicher ist, hinausgestoßen. Er wurde tot vor dem Hause aufgefunden.
Von der Vereinigung der Grubenherren wurde eine Arbeitskarte ausgegeben und bestimmt, dass ohne dieselbe kein Arbeiter im Bezirk angestellt werden dürfe. Alle Mitglieder der Bergarbeiterföderation und der AFL standen auf der schwarzen Liste. Als man aber entdeckte, dass der Boykott auch die in den Zeitungsverlagen arbeitenden Mitglieder der AFL treffen würde, stellten die Unternehmer den Angriff gegen die AFL ein und wandten sich statt dessen gegen die Amerikanische Arbeiterunion. Dies geschah, ohne dass die AFL protestierte. Auch die Vereinigung der Grubenherren in Leadville führte die Arbeitskarte ein, obwohl damit eine von Richter Owers erlassene Verfügung übertreten wurde. Die Unternehmer erwarteten, dass ihnen mit diesem Streich die Vernichtung der Bergarbeiterföderation gelingen werde. Aber zu ihrem Erstaunen ließ sich jedes Mitglied des Verbandes eine Karte ausstellen, und alle blieben bei ihrer Arbeit.
Viele Monate lang wurden die verbrecherischen Gewalttaten fortgesetzt. Es wurde wieder der Ausnahmezustand verhängt, und Generaladjutant Sherman Bell setzte ein außerordentliches Gericht und einen obersten Feldrichter für den Bezirk ein. Eintausendsechshundert Männer wurden verhaftet und in die Schwitzkästen des Bürgerbundes gesteckt. Zweihundertfünfzig von ihnen wurden zur Deportation bestimmt und zweiundvierzig bis zum Prozess in Untersuchungshaft behalten. Jedoch kein einziges Mitglied der Bergarbeiterföderation wurde rechtsgültig verurteilt.
Der außerordentliche Gerichtshof erklärte sonder Scham, dass alle Deportierten Diebe, Spieler und ähnliche Subjekte seien. Die Mitglieder des Gerichts wussten wohl, dass dies eine Lüge war, da sich unter den Deportierten die geachtetsten Leute befanden: Männer, die ein Heim in Cripple Creek besaßen und dort schon jahrelang gelebt und gearbeitet hatten. Ihre Kinder waren dort geboren worden. Cripple Creek war ihre Heimat. Außer den Bergarbeitern waren unter den Deportierten ein früherer Generalstaatsanwalt, ein Veteran des Bürgerkrieges, General Engley, und Frank Hangs, Anwalt der Bergarbeiterföderation,  der  schon  lange  im  Bezirk wohnte, ferner J. C. Cole, der Bezirksstaatsanwalt, Richter Frost und der Bezirksschreiber Mannix. Der Bürgerbund nutzte die Gelegenheit aus, um nicht nur die aktiven Mitglieder der Bergarbeiterföderation loszuwerden, sondern auch alle anderen Männer, die er nicht im Bezirk gebrauchen konnte. Jeder Schurke, der eine alte Rechnung begleichen wollte, konnte sich des Bürgerbundes bedienen.
General Bell wurde mit der Zeit so größenwahnsinnig, dass er sich schließlich gebärdete, als sei er ein Offizier des russischen Zaren und die Einwohner von Colorado seine Leibeigenen. Seine Deportationsbefehle, durch die er Männer aus ihren Heimen in die Nachbarstaaten Kansas und Neumexiko ins Exil trieb, wurden mit despotischer Brutalität ausgeführt. Er erklärte: „Was für Schritte ich als militärischer Befehlshaber unternehme, geht niemanden etwas an - ausgenommen mich und meinen Oberbefehlshaber, den Gouverneur des Staates... Ich kann diese Leute nicht in Colorado brauchen." Bell hatte als einer der „Rauen Reiter" unter Präsident Theodore Roosevelt angefangen und war vom gleichen Größenwahn besessen wie sein Vorgesetzter. Er hatte die Gewohnheit, wie Napoleon einherzustolzieren, die Hand vor der Brust in den Mantel gesteckt. Dies war so allgemein bekannt, dass die Zeitungen von Denver ihn in seiner sonderbaren Haltung karikierten und mit der Begründung, dass sein Verstand angegriffen sei, seine Versetzung verlangten.
Die Verwalter unserer Verkaufsstellen in dem Kampfgebiet waren alle deportiert worden und kamen nach Denver. Sie waren entschlossen, zurückzukehren und das
Geschäft wieder zu eröffnen. Harter wandte sich nach der Rückkehr an General Bell mit dem Ersuchen um Schutz für die Wiedereröffnung der Geschäfte. Bell versprach, dass ihnen nichts geschehen werde. Nach kurzer Zeit aber überfielen ein paar Raufbolde die Läden und raubten sie alle wieder aus. Die Verbände in Butte, Montana, zeigten das größte Interesse an den Ereignissen in Cripple Creek. Sie organisierten die Zwischenstaatliche Handelsgesellschaft und schickten zwei Leute aus Butte, um die Organisation zu vertreten und die Verkaufsstellen in Cripple Creek zu leiten. Es wurde angenommen, dass eine Unternehmung, die in einem anderen Staate registriert war, nicht belästigt werden würde.
Die Läden wurden als Geschäfte der Zwischenstaatlichen Handelsgesellschaft wieder eröffnet und mit frischen Waren versehen. Aber auch diese Maßnahme erwies sich nicht als Schutz. Die Läden wurden abermals demoliert und ausgeplündert. Da es aber jetzt eine „fremde" Handelsgesellschaft war, die man geschädigt hatte, wurde beim Bundesgericht von Denver eine Klage gegen Carton, Hamlin und viele andere bekannte Bürger des Distrikts eingereicht. Dieser wurde stattgegeben, und wir hatten von nun ab keine weiteren Unannehmlichkeiten, außer einem Boykott.
Vom Oberst Verdeckberg erhielt ich einen Brief mit der Weisung, Unterstützungen in das Kampfgebiet von nun an nur durch Vermittlung des Militärs zu senden. Dem Brief war eine Kopie der zu diesem Zweck erlassenen Sonderveordnung beigefügt. Ein infamer Versuch, die Familien der Streikenden und Deportierten auszuhungern! Telegramme an den Präsidenten Roosevelt und an das Rote Kreuz blieben erfolglos, und so wurde die Unterstützungsarbeit im geheimen von den tapferen
Frauen des Bezirks weitergeführt. Acht dieser Frauen, Mitglieder der Frauenhilfsorganisation der Föderation, darunter Mrs. Hooten und Mrs. Estelle Nicholls, wurden Verdeckberg vorgeführt, der ihnen mitteilte, dass sie keine Unterstützung verteilen dürften. Aber sie ließen sich durch die militärische Verordnung nicht abhalten, ihre Arbeit wie bisher weiterzuführen. Eine Gruppe von „Weiß-Kappen", auch als „Ku-Klux-Klan" bekannt, drang in das Haus von George Seitz ein; einer von ihnen kam in die Küche, wo nur Seitz und seine beiden Töchter saßen, und befahl ihm, mitzukommen. Um Seitz zu erschrecken, gab er einen Schuss ab. Dieser aber, nicht faul, erwiderte mit einem Winchester-Gewehr und vertrieb die Bande. Am nächsten Morgen teilten die Zeitungen mit, dass zwei bekannte, namentlich angeführte Persönlichkeiten den Distrikt verlassen hätten und wahrscheinlich nicht mehr zurückkehren würden. Es wurde allgemein angenommen, dass diese beiden der Horde angehört hatten und von Seitz verletzt oder getötet worden waren. Das war der letzte Fall eines Hausfriedensbruches. Seitz hatte gute Arbeit getan. Während alle diese furchtbaren Dinge in Cripple Creek geschahen, herrschte das gleiche wahnsinnige Regime der Goldbarone auch im Bezirk San Juan, und die Kohlenbarone im Süden des Staates taten ebenfalls alles, was sie nur konnten, um die Gewerkschaftsbewegung auszurotten.
Ich saß in unserem Zentralbüro fest, immer neue Gewalttaten erwartend. Es waren furchtbare Schläge, aber die Organisation schien nirgends zu erlahmen. Die Streikbewegung hatte ungebrochen und mit größter Intensität bereits über drei Jahre gedauert. Die ersten Merkmale der Ermattung zeigten sich nach der Entdeckung von Gold in Tonopah und Goldfield,
Nevada, und nach der freundlichen Einladung des Gouverneurs Sparks von Nevada an die Bergarbeiter von Cripple Creek, die Gastfreundschaft des Staates anzunehmen und seine Reichtümer mitzugenießen. Er fügte hinzu, dass er den Bergarbeitern von Colorado bis zur Grenze mit einem Sonderzug entgegenkommen werde. Es setzte keine sofortige Massenauswanderung ein, dennoch reiste eine große Zahl von Bergarbeitern nach Nevada ab, nicht so sehr vom Goldfieber getrieben, als von dem Wunsche nach Frieden und von der Aussicht, einmal wieder ohne die plagenden Gedanken an die Miliz, die Revolverhelden, die Gefängnisse und „Bullenställe" schlafen zu können.
Wir dachten ständig darüber nach, was wir zur Stärkung der Position der Bergarbeiterföderation tun könnten. Die strategischen Festungen der Grubenherren waren nicht gänzlich uneinnehmbar, aber sie beherrschten das Oberste Gericht und die Regierung des Staates Colorado. Sie verfügten zusammen mit den Hüttenherren über unbeschränkte Geldmittel sowohl für die Korruption wie für die Unterstützung der Rockefeller-Interessen und des skrupellosen Bürgerbundes, der unter militärischem und zivilem Schutz seine verbrecherischen Gewalttaten offen begehen konnte.
In einem Plakat mit der flammenden Überschrift: „Ist die Freiheit tot?", das ich zu dieser Zeit herausgab, führte ich viele Gewalttaten an, die sich in Cripple Creek ereignet hatten.
Während der Wahlen von 1904 erwies sich die von der AFL des Staates Colorado organisierte „Freiheitsliga" als recht aktiv. Sie hatte sich auf ein Arbeiterpartei-Programm geeinigt, dessen wichtigster Punkt der Sturz des Gouverneurs Peabody war. Ihre Parole lautete: „Jeden, nur nicht Peabody!" Diese Aktion führte allerdings nicht
zur Entwicklung einer Arbeiterpartei, sondern zur Unterstützung der Demokratischen Partei, die auf ihrem Kongress die Forderung der Freiheitsliga annahm. Theodore Roosevelt gewann eine große Mehrheit im Staate, aber Peabody wurde ausgeschifft. Statt seiner wurde Alva Adams, der demokratische Kandidat, Gouverneur. Die Republikanische Partei reichte sofort zugunsten Peabodys einen Protest beim Obersten Gerichtshof ein, der so korrumpiert war, dass er genügend Stimmzettel verschiedener Verwaltungsbezirke und Wahlbezirke kassierte, um erklären zu können, dass Peabody gewählt worden sei. Dieser trat sofort zurück, und der republikanische Gouverneurstellvertreter, Jesse MacDonald, trat an seine Stelle. So hatte Colorado innerhalb von vierundzwanzig Stunden drei Gouverneure!

 

Elftes Kapitel
Die Industriearbeiter der Welt

Nach einem langen und harten Kampf im Süden des Staates brachen die Vereinigten Bergarbeiter dieses Gebietes den Streik ab. Die Colorado Fuel and Iron Company und verschiedene andere Kohlengesellschaften fuhren fort, die Gesetze zu missachten. Es kümmerte sie wenig, dass es ein Gesetz über den Achtstundentag gab, dass es den Gesellschaften verboten war, die Löhne in selbst hergestelltem Geld, das nur im Bereich der Gesellschaft Gültigkeit hat, zu zahlen, dass sie die Arbeiter nicht zum Einkauf in betriebseigenen Läden zwingen durften. Sieben Arbeitsgesetze wurden so straflos umgangen. Nicht das unwichtigste darunter war das Waagemeistergesetz, durch dessen Umgehung die Gesellschaften dreitausendachthundert Pfund Kohle statt zweitausend bekamen.
Während diese verbrecherische Gesetzesverletzung fortdauerte, führte sich der frömmlerische alte Schurke an der Spitze der Rockefeller-Unternehmungen sein scheinheiliges baptistisdies Abendmahl zu Gemüte und hatte mit seinen Golfstöcken mehr Macht als das Volk von Colorado mit seinen Stimmzetteln.
Die Bewegung für die Industriegewerkschaften entwickelte sich rapid. Auf dem Kongress von 1904 hatte die Bergarbeiterföderation des Westens einen Plan für die Zusammenfassung aller Arbeiter in einer Organisation entworfen und dem Exekutivausschuss aufgetragen, dieses Programm durchzuführen. In Denver hatten einige unverbindliche Konferenzen mit Dan MacDonald von der Amerikanischen Arbeiterunion und mit George Estes vom Eisenbahnerverband stattgefunden. Mit Clarence Smith, dem Sekretär der Amerikanischen Arbeiterunion, war korrespondiert worden.
Für den 2. Januar 1905 wurde nach diesen Vorbereitungen eine geheime Konferenz nach Chicago einberufen, für die an ungefähr dreißig Personen Einladungen ergingen.
Moyer, O'Neill und ich wurden vom Exekutivkomitee als Vertreter der Bergarbeiterföderation des Westens für diese Konferenz gewählt. Wir kamen in einem Saal in der Lake Street zusammen, der den Chicagoer Anarchisten oft als Versammlungslokal diente und in dem auch seinerzeit Parsons und Spies zu den Arbeitern gesprochen hatten. Ich wurde zum Vorsitzenden und George Estes zum Sekretär gewählt. Auf dieser Tagung wurde das Manifest formuliert, das als das Gründungsdokument der Organisation der „Industriearbeiter der Welt"
(Industrial Workers of the World - IWW) angesprochen werden muss. Es hieß darin:
„Gesellschaftliche Beziehungen und Gruppierungen spiegeln nur die technischen und industriellen Bedingungen wider. Die hauptsächlichsten Merkmale der Industrie von heute sind die Ersetzung der menschlichen Fertigkeiten durch Maschinen und das Anwachsen der kapitalistischen Macht durch die Konzentration des Eigentums an den Instrumenten für die Produktion und Verteilung des Reichtums...
Restlos vom Boden und von den Werkzeugen losgelöst, geht der Arbeiter, dessen Geschicklichkeit als Facharbeiter nutzlos geworden ist, in der einheitlichen Masse der Lohnsklaven unter. Er sieht, dass seine Widerstandskraft durch zunftmäßige Abgrenzungen gelähmt ist, die sich von längst überlebten Stadien der industriellen Organisation her erhalten haben.
Seine Löhne verringern sich ständig in dem Maße, wie seine Arbeitszeit verlängert wird und wie die monopolisierten Preise steigen...
Während die Kapitalisten die überholte Zersplitterung der Arbeiter fördern, passen sie sich selbst sorgfältig den neuen Bedingungen an. Sie beseitigen alle Differenzen untereinander und treten in ihrem Kampf gegen die Arbeiterschaft als eine Einheitsfront auf... Die Kampfformen und die Kriegsmethoden der Unternehmer entsprechen der Solidarität der technischen und industriellen Konzentration, während die Arbeiter ihre Kampforganisationen noch immer nach den lange überholten Berufsgliederungen organisieren. Die Kämpfe der Vergangenheit beweisen das...
Dieses veraltete und korrupte System bietet keine Möglichkeit für eine Verbesserung und Anpassung an die Verhältnisse. Inmitten dieser Wolken der Finsternis und
Verzweiflung, die die Welt der Arbeiterschaft verdunkeln, zeigt sich kein Silberstreifen. Dieses System führt nur zu einem fortwährenden Kampf um geringe Erleichterungen im Rahmen der Lohnsklaverei. Es ist blind gegenüber der Möglichkeit der Errichtung einer industriellen Demokratie, in der es keine Lohnsklaverei geben wird, in der die Arbeiter die Produktionsmittel, mit denen sie arbeiten, besitzen werden und in der sie ihre Produkte allein genießen werden. Es zersplittert die Reihen der Arbeiterschaft, macht sie hilflos und unfähig auf dem industriellen Kampffelde. Die Trennung einer Berufsgruppe von der anderen macht die industrielle und finanzielle Solidarität unmöglich.
Gewerkschafter verüben Streikbruch an Gewerkschaftern; zwischen dem einen Arbeiter und dem anderen wird Hass gezüchtet, und die Arbeiter, hilflos und untereinander uneinig, sind den Kapitalisten ausgeliefert... Die Gliederung nach Berufsgruppen züchtet politische Ignoranz unter den Arbeitern und spaltet dadurch ihre Klasse vor der Wahlurne ebenso wie im Betrieb, in der Grube und in der Fabrik...
Die Gliederung nach Berufsgruppen verhindert die Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiter und züchtet die Vorstellung von der Harmonie der Interessen zwischen dem ausbeutenden Unternehmer und dem ausgebeuteten Sklaven.
Die allumfassenden ökonomischen Übelstände, unter denen die Arbeiterklasse leidet, können nur durch eine allumfassende Bewegung der Arbeiterklasse ausgerottet werden. Eine solche Bewegung der Arbeiterklasse ist unmöglich, solange nach Fachverbänden gesonderte Lohnabkommen abgeschlossen werden, die es den Unternehmern ermöglichen, sich an anderen Berufsgruppen
in derselben Industrie schadlos zu halten, während andererseits Energien in nutzlosen Kompetenzstreitigkeiten vergeudet werden, die nur dazu dienen, den persönlichen Aufstieg von Gewerkschaftsbürokraten zu fördern.
Eine Bewegung, die diese Bedingungen erfüllen soll, muss einen großen Verband von Industriegewerkschaften darstellen, der alle Industrien umfasst, der die Autonomie der Berufsgruppen im lokalen Maßstab, die industrielle Autonomie im internationalen Maßstab und die Einheit der Arbeiterklasse im allgemeinen sichert. Sie muss sich zum Klassenkampf bekennen und muss im Sinne der Anerkennung des unüberwindbaren Konfliktes zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse geleitet werden.
Sie soll als die wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse ohne Anschluss an eine politische Partei errichtet werden. (Anm.: Die IWW lehnten die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und somit auch die Notwendigkeit einer politischen Partei der Arbeiterklasse ab. Sie waren der Meinung, die Arbeiterklasse Rönne durch die Organisierung von Industriegewerkschaften die neue Struktur der Gesellschaft in der Hülle der alten schaffen. Sie glaubten, auf dem Wege des Generalstreiks die Produktion in die Hand zu bekommen und allein durch die Industriegewerkschaft, ohne jeglichen Staat, ein „industrielles Gemeinwesen" errichten zu können. Die IWW waren Gegner des parlamentarischen Kampfes und verließen sich ausschließlich auf die „direkte Aktion", den Streik. An diesen anarchosyndikalistischen Fehlern, die in den kommenden Seiten dieses Buches deutlich zutage treten, mussten die IWW schließlich scheitern. Die Red.)
Alle Macht soll der kollektiven Mitgliedschaft gehören...
Alle Arbeiter, die mit den hier aufgestellten Prinzipien übereinstimmen, werden am 27. Juni 1905 in Chicago zu einer Konferenz zusammenkommen, um eine wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse nach den in
diesem Manifest vorgezeichneten Richtlinien zu schaffen... "
Auf der Rückseite des Manifestes war ein Organisationsschema mit einer Einteilung der Industriearbeiter in Gruppen dargestellt. Darunter wurden die Erfordernisse einer industriellen Organisation der Arbeiter erklärt. Drei Sekretäre wurden bestimmt, die für die Verbreitung des Manifestes sorgen sollten: einer für den Osten, einer für das Innere des Landes und ich für den Westen. Zweihunderttausend Exemplare des Manifestes wurden verteilt. Außerdem gab es viel Korrespondenz und andere Arbeiten zur Vorbereitung des Kongresses, der, wie wir beschlossen hatten, im kommenden Juni in Chicago stattfinden sollte, zu erledigen. Das Manifest fand allgemein starken Widerhall. Es war erfreulich zu sehen, wie viele verschiedene Berufe und Industrien ein aktives Interesse zeigten.
Mit Ausnahme des Streiks in der Standard-Hütte in Colorado City und des Streiks im Bezirk Cripple Creek waren alle Streiks in Colorado beigelegt oder abgebrochen worden. Überall hatten die Arbeiter im Erzbergbau und in den Hütten erhebliche Vorteile davongetragen. Nach unserer Rückkehr in das Büro der Bergarbeiterföderation in Denver gaben wir ein Rundschreiben an falle Bergarbeiter heraus, in dem wir sie daran erinnerten, dass der Streik in Cripple Creek noch immer im Gange war und dass die von den Grubenherren verbreitete Behauptung von der Beendigung des Streiks eine Lüge war.
Eines Tages kam ich etwas früher als gewöhnlich nach Hause und fand die Wohnung voller lachender, lärmender Kinder. Ich fragte meine Frau, was das zu bedeuten habe.
„Ich weiß es auch nicht!" antwortete sie. „Du musst Henrietta fragen."
Ich sah das rote Köpfchen der siebenjährigen Henrietta zwischen den anderen im Speisezimmer herumhüpfen. Sobald es mir gelang, mich ihr bemerkbar zu machen, rief ich sie zu mir und fragte sie, wo alle diese Kinder herkämen.
„Wir haben eine Gesellschaft!"
„Aber warum hast du deiner Mutter oder mir nichts davon gesagt?" fragte ich. „Wer besorgt denn hier das Haus?"
„Ich besorge es doch auch mit!" antwortete sie und sah mich mit blitzenden Augen an.
Ich sah sie an. Auf einmal wurde mir klar, dass sie kein kleines Kind mehr war.
„Das stimmt schon, aber du hast ja gar nichts vorbereitet, um die Kinder zu bewirten."
„Ich konnte es Mama nicht sagen, denn sie kann nichts für sich behalten, und es sollte ja auch eine Überraschung für sie werden."
„Nun", sagte ich, „dann wollen wir etwas Kuchen und Süßigkeiten für deine Gäste besorgen." Als die anderen Kinder gegangen waren, rief ich Henrietta und Vernie zum Sofa heran, auf dem ihre Mutter lag.
„Heute Nachmittag hat Henrietta mir gesagt, dass sie die Wirtschaft mit führt. Nun, wenn das der Fall ist, dann müsst ihr Kinder auch einen Teil der Verantwortung übernehmen. Ihr müsst über das Geld, das ihr ausgebt, Buch führen, und vielleicht können wir wirklich zu viert besser wirtschaften als bisher." Von diesem Tage an halfen die Kinder im Hause mit, und wir besprachen alles mit ihnen.
Der 12. Jahreskongress der Bergarbeiterföderation fand
1905 in Salt Lake City statt. Trotz der vielen Streiks und der mit ihnen verbundenen Ausgaben war dies der beste Kongress, den wir jemals erlebt hatten. Die Mitgliederzahl war während des vergangenen Jahres um dreitausend gestiegen. Es kamen Delegierte von den neuen Grubenorten in Nevada, von Tonopah, Goldfield, Rhyolite und Bullfrog. Albert Ryan, ein Delegierter aus Arizona, wurde als einer der Vertreter der Bergarbeiterföderation zum Gründungskongress der IWW delegiert. Später geriet er in eine Schießerei, tötete zwei Kerle, die sich als Streikbrecher betätigt hatten, und wurde zu lebenslänglichem Gefängnis in San Quentin, Kalifornien, verurteilt, wo er fünfzehn Jahre absaß, bevor er begnadigt wurde. Die anderen Delegierten für den Juni-Kongress der IWW waren Moyer, Baker, McKinnon und ich. Die Bergarbeiterföderation hatte das Manifest angenommen und uns beauftragt, die Föderation bei der neuen Organisation als Mitglied anzumelden. Wenige Tage nach der Rückkehr von Salt Lake City nach Denver reisten wir schon nach Chicago zum Gründungskongress  der  Industriearbeiter  der  Welt.  Am 27. Juni 1905 war Brand's Hall überfüllt von Zuhörern und über zweihundert Delegierten, unter ihnen zwei alte Veteranen, Mutter Jones, die einzige Frau, die am Gründungskongress teilnahm, und Eugene Debs. Während ich sie und manch anderen alten Kameraden begrüßte, überlegte ich im stillen, wie ich die Konferenz eröffnen könnte. Ich erinnerte mich daran, dass die Arbeiter während der Pariser Kommune einander als „Mitbürger" angeredet hatten, aber es waren viele Arbeiter anwesend, die nicht amerikanische Bürger waren, und so ging das nicht. Ich wollte aber auch nicht die alte gewerkschaftliche Anrede „Brüder und Schwestern" gebrauchen. Ich packte also statt des üblichen Hammers des Vorsitzenden
ein Stück von einem Brett, das auf der Rednertribüne lag, eröffnete die Sitzung mit der Anrede „Arbeitsbrüder!" und fuhr fort:
„Indem ich diesen Kongress eröffne, bin ich mir der Verantwortung bewusst, die auf mir und jedem der hier anwesenden Delegierten ruht. Dies ist der Kontinentalkongress der Arbeiterklasse. (Anm.: Anspielung auf den Kontinentalkongress der dreizehn englischen Kolonien in Nordamerika, auf dem 1776 die Unabhängigkeitserklärung angenommen wurde. Die Red.) Wir sind hier, um die Arbeiter dieses  Landes  zu einer Arbeiterorganisation zusammenzufassen, die sich das Ziel setzt, die Arbeiterklasse aus den Sklavenfesseln des Kapitalismus zu befreien. Es gibt bei uns, so scheint es wenigstens, keine Arbeiterorganisation, die das zum Ziel hat, was uns heute zusammenführt. Zweck und Ziel dieser Organisation soll sein, die Arbeiterklasse in den Besitz der ökonomischen Macht, der Mittel zum Leben, zu setzen, und ihr die Verfügung über den Apparat der Produktion und Verteilung ohne Rücksicht auf kapitalistische Herren zu geben.
,Die AFL, die sich anmaßt, die Arbeiterbewegung dieses Landes zu sein, ist keine Bewegung der Arbeiterklasse. Sie vertritt nicht die Arbeiterklasse. Es gibt Organisationen, die der AFL angeschlossen sind, wenn auch nur lose, die in ihren Satzungen oder ihren Ortsstatuten die Aufnahme von Farbigen oder die Übertragung einer Funktion an einen solchen verbieten; und solche Organisationen, die die Übertragung einer Funktion an Ausländer verbieten. Was wir dagegen jetzt errichten wollen, ist eine Arbeiterorganisation, die ihre Türen jedem weit öffnet, der sich durch seine geistige Arbeit oder seine Muskelkraft seinen Unterhalt verdient. Es ist eine große Arbeit auf diesem Kongress zu voll-
bringen, und jeder von euch muss begreifen, welche Verantwortung auf ihm ruht.
Wenn die Monopolgesellschaften und Kapitalisten begreifen, dass ihr euch für den ausdrücklich erklärten Zweck organisiert habt, die Leitung der Industrie in die Hände derjenigen zu legen, die alle Arbeit leisten, werdet ihr allen Gemeinheiten und Grausamkeiten ausgesetzt sein, die sie nur erfinden können. Ihr werdet auch den so genannten Arbeiterführer gegen euch haben, den Mann, der euch und anderen Arbeitern erzählen wird, dass die Interessen der Kapitalisten und der Arbeiter identisch sind. Ich möchte sagen, dass ein Mann, der solche Behauptung aufstellt, ein schlimmerer Feind der Arbeiterklasse ist als der Fabrikant D. M. Parry oder der Bankier August Belmont. Es gibt keinen Mann mit auch nur einer Unze Ehrlichkeit, der nicht die Tatsache anerkennt, dass ein fortgesetzter Kampf zwischen den beiden Klassen besteht. Und unsere Organisation soll auf der Grundlage des Klassenkampfes geschaffen werden. Sie wird sich auf ihn stützen, ohne Kompromiss und ohne Nachgeben, nur mit einem Ziel und einem Zweck, nämlich, die Arbeiter dieses Landes in den Besitz des vollen Wertes ihres Arbeitsertrages zu setzen." Hierauf wurden die zahlreichen Begrüßungsschreiben aus dem Auslande verlesen; Pouget von der französischen Confédération du Travail, Karl Legien von der deutschen Arbeiterbewegung und die Sekretäre anderer Länder hatten der Konferenz schriftlich guten Erfolg gewünscht. Auch aus den Vereinigten Staaten waren viele Briefe eingetroffen. Ed Boyce hatte sich entschuldigt, dass er nicht teilnehmen könne; Vincent St. John, der später einer der Führer der neuen Organisation wurde, hatte unter einem Decknamen einen Brief geschickt. Die Konferenz bestand aus verschiedenen Gruppen. Die
Bergarbeiterföderation des Westens war der entscheidende Faktor unter ihnen. Moyer, O'Neill, ich und die anderen Delegierten der Bergarbeiterföderation sowie die als Einzelpersonen erschienenen Berg- und Hüttenarbeiter handelten nach den Anweisungen der vorangegangenen Kongresse der Föderation und waren mit klaren Vorstellungen über die Notwendigkeit einer Organisation der Arbeiterklasse auf der Grundlage von Industriegewerkschaften nach Chicago gekommen. Die  Delegierten  der  Amerikanischen  Arbeiterunion waren ebenso entschieden in ihren Ansichten, hatten jedoch nicht die gleiche praktische Erfahrung aus den Streiks im Westen sammeln können, wie die Delegierten der Bergarbeiterföderation.
Die Sozialisten, die mit Debs auf dem Kongress erschienen waren, hatten erkannt, dass die Bewegung für Industriegewerkschaften die Grundlage der sozialistischen Bewegung sei. Von den Politikanten der Sozialistischen Partei, wie Berger, Hillquit, Spargo oder Hayes, nahm keiner teil.
Der Sozialistische Handwerker- und Arbeiterbund, De Leons Organisation, kann als eine Sekte von Leuten bezeichnet werden, die nicht auf Grund ihrer praktischen Arbeit unter der Arbeiterklasse zum Kongress kamen, sondern weil sie das Manifest zur Einberufung gelesen hatten und davon angezogen worden waren. Die wenigen auf dem Kongress anwesenden Anarchisten sahen in der neuen Organisation eine Verjüngung der Arbeiterbewegung.
Außerdem waren Metallarbeiter und Eisenbahner anwesend, die kleine, von der AFL und den Eisenbahnerbruderschaften enttäuschte Gruppen vertraten. Diejenigen, die als individuelle Delegierte teilnahmen, waren Leute, die sich aktiv für die Industriegewerkschaftsbewegung interessierten. Alles in allem konnte der Kongress, zu dessen Vorsitzendem ich gewählt wurde, als die Vertretung von ungefähr einhundertfünfzigtausend Arbeitern angesehen werden. Der erste wichtige Punkt der Tagesordnung war eine Diskussion über das Manifest. Die Diskussion wurde von William Trautmann, dem früheren Herausgeber der Brauereiarbeiterzeitung, eröffnet, der die AFL heftig angriff. Andere Redner folgten, die viele Beispiele von der Korruption und Unfähigkeit der AFL anführten. Nun erhob sich der alte Debs. Neben ihm saßen Mutter Jones und Lucy Parsons, die Witwe eines der Märtyrer von Haymarket. Die drei gaben ein Bild, das symbolisch war für die Arbeit, die wir unternommen hatten. Debs sagte folgendes:
„Sie klagen uns an, dass wir hier sind, um die Gewerkschaftsbewegung zu sprengen. Sie ist aber schon gesprengt. Wenn sie es nicht wäre, dann würden wir hier nicht in dieser Stadt das Schauspiel erleben, dass ein weißer Polizist einen schwarzen Streikbrecher und ein schwarzer Polizist einen weißen Streikbrecher schützt, während die Gewerkschaften mit den Händen in den Taschen danebenstehen und sich fragen, was wohl mit der Gewerkschaftsbewegung in Amerika los sei. Wir sind heute hier, um die Arbeiterklasse zu vereinigen, um jene Form der Gewerkschaftsorganisation auszumerzen, die verantwortlich ist für die Bedingungen, wie sie heute bestehen.
Die Gewerkschaftsbewegung steht heute unter der Kontrolle der Kapitalistenklasse. Sie predigt kapitalistische Wirtschaftstheorien und dient kapitalistischen Zwecken. Unleugbare und überwältigende Beweise dafür treten überall zutage. Alle wichtigen Streiks während der letzten zwei oder drei Jahre scheiterten...
Etwas ist nicht in Ordnung mit dieser Form der Gewerkschaftsbewegung, die ihre stärkste Stütze an der kapitalistischen Presse hat; etwas ist nicht in Ordnung mit dieser Form der Gewerkschaftsbewegung, die ein Bündnis mit solchen kapitalistischen Verbänden wie dem Landesbürgerbund schließt, dessen einziger Zweck es ist, die Arbeiterklasse zu chloroformieren, während die Kapitalisten ihr die Taschen ausrauben... Ich glaube, dass es den hier versammelten Delegierten möglich ist, eine große, starke wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse zu schaffen, die sich auf den Klassenkampf gründet, die breit genug ist, um alle ehrlichen Arbeiter zu erfassen, aber eng genug, um alle Schwindler auszuschließen."
Vor Debs saß Daniel De Leon vom Sozialistischen Handwerker- und Arbeiterbund, mit seinem dachsgrauen Backenbart und schwarzen Kinnbärtchen. Er hatte seinen alten Gegner Debs verstohlen betrachtet und schien ganz entzückt von dem, was der Arbeiterführer zu sagen hatte. Jahrelang hatte ein großer Meinungsgegensatz zwischen Debs und De Leon bestanden. Sie vertraten zwei Extreme in der sozialistischen Bewegung. Nun, als De Leon nach Debs zu sprechen begann, konnte ich verstehen, worin der Gegensatz zwischen den beiden bestand: De Leon war der theoretisierende Professor, während Debs der Arbeiter war, der, als er sich an die Organisierung der Lokomotivheizer machte, eben erst seine Heizerschaufel hingelegt hatte. Debs' Ideen waren, wenn auch nicht klar entwickelt, so doch aus seinem Kontakt mit den Arbeitern in ihrem Kampf entstanden. De Leons einziger Kontakt mit der Arbeiterschaft bestand in den Ideen, mit denen er sie „erfüllen" wollte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen. Ich sprach zum Manifest:
„Es ist gesagt worden, dass dieser Kongress eine mit der AFL rivalisierende Organisation schaffen soll. Das ist ein Irrtum. Wir sind hier, um eine Arbeiterorganisation zu schaffen, die breit genug ist, die ganze Arbeiterklasse zu erfassen. Die AFL ist keine solche Organisation, da ihr eine Reihe von Verbänden angeschlossen sind, die sich absolut weigern, neue Mitglieder aufzunehmen... Wir erkennen, dass wir hier eine revolutionäre Bewegung schaffen und dass die Kapitalisten nicht die einzigen Feinde sind, die wir zu bekämpfen haben, sondern dass der erbittertste Feind der beschränkte Gewerkschafter sein wird. Aber deren gibt es nur wenige. Und sie sind nicht sehr gut organisiert. Ihr habt ein ungeheures Arbeitsfeld vor euch. In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es mindestens zwanzig Millionen unorganisierter Arbeiter, ganz zu schweigen von Kanada. Diese Bewegung für Industriegewerkschaften ist breit genug, um sie alle aufzunehmen, und wir sind hier zu dem Zweck, diese Gewerkschaft zu gründen, die ihre Tore der Arbeiterklasse weit öffnen wird... Ich bin hoch erfreut, zu sehen, wie sich die extremen politischen Kräfte auf diesem wirtschaftlichen Boden begegnen. Dies halte ich für die Basis aller politischen Parteien - eine solide Grundlage, auf der eine Organisation errichtet werden kann, auf der die Arbeiter sich in einer festen, gewaltigen Organisation zusammenschließen können; und ebenso sicher wie die Sonne aufgeht, wird die Arbeiterklasse, wenn ihr sie wirtschaftlich organisiert, auch ihren eigenen politischen Ausdruck bei den Wahlurnen finden... "
Nach längerer Debatte wurden die Statuten mit folgender Präambel angenommen:
„Die Arbeiterklasse und die Unternehmerklasse haben nichts miteinander gemein. Es kann keinen Frieden geben, solange Millionen arbeitender Menschen Hunger und Not leiden und die wenigen, die die Unternehmerklasse bilden, alle Güter des Lebens besitzen. Zwischen diesen beiden Klassen muss der Kampf geführt werden, bis alle Schaffenden auf dem politischen wie auf dem industriellen Gebiet zusammenkommen und durch eine wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse, die an keine politische Partei angeschlossen ist, das, was sie durch ihre Arbeit erzeugen, in Besitz nehmen und verwalten.
Die rapide Ansammlung des Reichtums und die Konzentration der Leitung der Industrien in immer weniger Händen macht die Fachverbände unfähig, den Kampf gegen die ständig wachsende Macht der Unternehmerklasse zu führen, weil sie einen Zustand der Dinge fördern, der es zulässt, dass eine Arbeiterkategorie gegen eine andere Arbeiterkategorie der gleichen Industrie ausgespielt wird, so dass sie gegenseitig zu ihrer Niederlage in den Lohnkämpfen beitragen. Die Fachverbände unterstützen die Unternehmerklasse bei der Irreführung der Arbeiter, indem sie diese glauben machen, dass die Arbeiterklasse gemeinsame Interessen mit ihren Unternehmern habe.
Nur durch eine Organisation, die so aufgebaut ist, dass all ihre Mitglieder in einer bestimmten Industrie oder in allen Industrien gegebenenfalls die Arbeit niederlegen, wann immer ein Streik oder eine Aussperrung in einem Zweig der betreffenden Industrie im Gang ist, so dass jedes Unrecht an einem zu einem Unrecht an allen wird, können diese traurigen Zustände geändert und die Interessen der Arbeiterklasse gewahrt werden." Während der ganzen Konferenz war ich sehr beschäftigt. Fast ununterbrochen führte ich den Vorsitz und nahm nach den Plenartagungen an vielen Besprechungen der verschiedenen Komitees teil, als deren inoffizielles Mitglied ich betrachtet wurde. Sullivan, Vorsitzender der AFL des Staates Colorado, war Mitglied des Komitees, das die Einleitung zu den Statuten redigierte. Ich schlug einige Abänderungen für die Einleitung vor, die auch angenommen wurden. Die Umänderung des alten Wahlspruchs der „Ritter der Arbeit": „Ein Unrecht an einem ist die Sache aller" in: „Ein Unrecht an einem ist ein Unrecht an allen" wurde von Coates vorgeschlagen. Die Bergarbeiterdelegierten waren es, die alle wichtigen Fragen auf der Konferenz entschieden. Sie waren in der festen Absicht gekommen, einen Verband von Industriegewerkschaften zu organisieren.
Der 1. Mai wurde von der Organisation zum internationalen Feiertag auch für die amerikanische Arbeiterklasse erklärt. Als wirksamste Waffe gegen den Kapitalismus wurde der Generalstreik empfohlen. Es wurde entschieden, dass nur Lohnarbeiter als Mitglieder aufgenommen werden sollten; ferner wurde das allgemeine Übertrittsrecht der Mitglieder beschlossen; jeder Gewerkschafter, der mit einer Mitgliedskarte eines Verbandes seines eigenen Landes kam und seine Beiträge an denselben gezahlt hatte, wurde von den IWW aufgenommen. Die amerikanischen Gewerkschaften verlangten damals ungeheure Eintrittsbeiträge von ausländischen Gewerkschaftern, die sich um die Mitgliedschaft bewarben. Ferner wurde eine Resolution für die Schaffung einer Arbeiterpresse, eines Literaturkomitees und einer Referentenzentrale angenommen. Der Militarismus wurde verurteilt, und jeder, der in die Armee, in die Miliz oder in die Polizei eintrat, war ein für allemal von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Dies geschah natürlich vor der Zeit der allgemeinen Militärdienstpflicht, die in Amerika erst 1917 eingeführt wurde.
A. M. Simons und eine Reihe anderer Delegierter hatten in ihren Reden auf die russische Revolution von 1905 hingewiesen, die schon damals ein Ansporn für die Arbeiterbewegung der ganzen Welt war. Lucy Parsons sprach von dem Schrecken, den die russischen Kapitalisten spürten, als die rote Flagge in Odessa gehisst wurde. Der Delegierte der Werftarbeiter, Kiehn, beantragte folgende Resolutionen über Russland: „Da im Augenblick ein mächtiger Kampf der arbeitenden Klasse im fernen Russland gegen unerträgliche Gewalt, Unterdrückung und Grausamkeit und für menschliche Bedingungen für die Arbeiterklasse dieses Landes im Gange ist;
da das Ergebnis dieses Kampfes für die Angehörigen der Arbeiterklasse aller Länder im Kampf um ihre Befreiung von allergrößter Bedeutung ist; da dieser Kongress zu dem Zwecke versammelt ist, die Arbeiterklasse Amerikas in einer Organisation zu vereinigen, die ihr ermöglichen wird, das Joch der kapitalistischen Unterdrückung abzuschütteln; wird beschlossen, dass wir, die auf diesem Kongress versammelten Industriegewerkschaften Amerikas, unsere russischen Arbeitsbrüder auffordern, in ihrem Kampfe weiter auszuharren, dass wir den Opfern der Gewalt, Unterdrückung und Grausamkeit unsere herzliche Sympathie aussprechen und dass wir, soweit dies in unserer Macht liegt, unseren verfolgten, kämpfenden und leidenden Genossen im fernen Russland unsere moralische und finanzielle Unterstützung versprechen." Die Delegierten fuhren auch auf den Waldheim-Friedhof, um die Gräber der Märtyrer von Chicago zu besuchen.
Als es zur Wahl der leitenden Funktionäre der neuen Organisation kam, wurde ich von Guy Miller zum Präsidenten vorgeschlagen. Aber ich musste ablehnen, da ich gerade als Sekretär und Hauptkassierer der Bergarbeiterföderation des Westens wieder gewählt worden war und meine Pflichten mich vorläufig dort festhielten. Da Coates ablehnte, wurde Sherman einstimmig zum ersten - und letzten - Präsidenten der Industriearbeiter der Welt gewählt.
Auf der Rückreise nach Denver erörterten wir miteinander die geleistete Arbeit und tauschten unsere Meinung über die gewählten leitenden Funktionäre aus. Wir hatten den Eindruck, die uns aufgetragene Arbeit gut durchgeführt zu haben. Ich dachte damals noch nicht an die Möglichkeit einer schlechten Leitung oder an andere Unannehmlichkeiten, die innerhalb der neuen Organisation entstehen könnten. Ich stand noch unter dem Eindruck der glühenden Begeisterung der Delegierten und war überzeugt, dass die Industriearbeiter der Welt eine große Zukunft vor sich hatten.

 

Zwölftes Kapitel
„Unerwünschte Mitbürger"

Hunderte von Bergarbeitern aus Cripple Creek waren nach den neuen Goldfeldern in Nevada gezogen. Dort bestanden in Goldfield, Tonopah und in anderen Orten starke Organisationen. Die Streiks in Cripple Creek und Colorado City dauerten noch immer an, ohne bestimmte Aussichten auf ihren Ausgang.
Eines Tages saß ich an meinem Schreibtisch, als Moyer hereinkam und mir ein Telegramm vorlegte. Es kam von seiner Frau aus Kalifornien, die ihn benachrichtigte, dass sie sehr krank sei und ihn bitte, sofort zu kommen. Moyer hatte mir das Telegramm ohne ein Wort hingelegt. Ich nahm es auf, ging in sein Arbeitszimmer und gab es ihm zurück:
„Es tut mir leid, dass deine Frau krank ist, Charlie. Du wirst wohl sofort hinfahren müssen." Er erwiderte, dass er fahren wolle und traf die Reisevorbereitungen für den selben Abend. Nachdem er das Haus verlassen hatte, musste ich aus irgendeinem Grund nochmals in Moyers Arbeitszimmer. Auf seinem Schreibtisch lag ein Durchschreibheft mit Telegrammformularen, das Blaupapier oben auf. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: warum er wohl die letzte Kopie abgerissen habe. Ich nahm das Blaupapier in mein Arbeitszimmer und las es mit Hilfe eines Spiegels. Es war ein Telegramm von Moyer an seine Frau, in dem er sie beauftragte, ihm zu telegrafieren, dass sie krank sei und ihn zu kommen bitte.
Ich war erstaunt über dieses Manöver, da kein einleuchtender Grund dafür vorhanden war. Hätte Moyer den Wunsch geäußert, nach Kalifornien zu fahren, so hätte ich sicher nichts dagegen gehabt. Moyer kehrte zurück und brachte seine Frau mit.
Bald nach diesem Zwischenfall erschienen sensationelle Meldungen in den Zeitungen, dass Exgouverneur Steunenberg von Idaho am 30. Dezember 1905 in seinem Haus in Caldwell von einer Bombe getötet worden sei. Wir ahnten nicht, dass dieses Attentat uns noch näher beschäftigen sollte.
Im Laufe des Januar begann ein gewisser Hynes häufig unser Büro aufzusuchen und hielt sich manchmal eine ganze Weile in der Redaktion auf. Eines Tages, Anfang Februar, fragte er mich, ob ich den monatlichen Kassenbericht schon fertig habe. Ich ging in das Nebenzimmer, um ihm eine Kopie zu holen. Dann fiel mir aber ein, wie merkwürdig es sei, dass er eine Kopie des Kassenberichtes verlangte; das war noch niemals vorgekommen. Also kehrte ich zurück und sagte ihm, dass der Bericht noch nicht vom Drucker gekommen sei. Unauffällig verließ ich dann das Zimmer und sagte unserem Pförtner: „In meinem Büro hält sich ein Mann auf, ein dicker Bursche. Wenn er fortgeht, folge ihm und pass auf, wohin er geht."
Der Pförtner befolgte die Anweisung und berichtete nach seiner Rückkehr, dass Hynes in das Büro der Detektivagentur Pinkerton in der Taborstraße gegangen war. O'Neill schrieb über diesen Detektiv für die nächste Nummer des „Miners' Magazine" einen kurzen Artikel. Eine Kopie des Artikels mit dem Bild des Spitzels wurde als Liebesbrief an das Pinkertonbüro geschickt. „Es muss noch mehr dieser Stinktiere geben", sagte ich. „Sie arbeiten wahrscheinlich nicht nur in einer Schicht." Ich hatte nämlich einen rothaarigen Burschen bemerkt, der sich auf der Straße vor unserem Büro herumtrieb. Um eine Probe aufs Exempel machen zu können, schlug ich Moyer vor, zur Viehausstellung zu gehen. Wir bestiegen die Straßenbahn, und richtig: als sie sich gerade in Bewegung setzte, sprang der Rotköpfige ebenfalls auf. Bei den Viehhöfen angekommen, gaben wir uns den Anschein, als ob wir auf nichts achteten, und bemerkten dabei den Spitzel, der sich durch die Menge hindurchwand. Diese Feststellung genügte uns vorerst. Wir kehrten zum Büro zurück und sahen vom Fenster aus den Strolch etwas später auf einen Mann zugehen, der auf der hinteren Plattform eines Expresswagens saß. „Dann sind es also drei", stellten wir fest. Am nächsten Morgen erzählte Moyer, dass er beim Herauskommen aus seinem Haus einen Mann gesehen habe, der unweit
gegen eine Mauer gelehnt stand. Als er sich umsah, bemerkte er, dass der Mann ihm folgte. Wir sollten bald entdecken, was alle diese Detektive zu bedeuten hatten. In der Nacht vom 17. Februar wurden Moyer, George Pettibone und ich verhaftet; Moyer auf dem Bahnhof, als er zum Hüttenarbeiterverband in Iola und von dort aus weiter in andere Orte des Staates Kansas fahren wollte, Pettibone in seiner Wohnung, und ich in einer Pension in der Nähe des Büros. Ungefähr um 11.30 Uhr abends klopfte es an die Tür. Ich stand auf und fragte, wer draußen sei. Eine Stimme antwortete:
„Ich möchte dich sprechen, Bill." Ich öffnete etwas die Tür und sah durch die Spalte einen mir bekannten Hilfssheriff. Er sagte:
„Bitte, komm mit." Ich fragte ihn, warum, worauf er erwiderte:
„Ich kann es dir jetzt nicht sagen, aber du musst mitkommen." Ich bat ihn, einige Minuten zu warten, kleidete mich an und folgte ihm. Wir stiegen in einen Wagen, und ich fragte, wohin wir führen. „Ins Bezirksgefängnis", erwiderte er. „Wenn du mich verhaftest, warum bist du dann nicht mit einem Haftbefehl gekommen?" „Ich habe keinen Haftbefehl", entgegnete er, „wir haben einen Boten zu Richardson geschickt; wir konnten ihn telefonisch nicht erreichen." Da Richardson einer der Anwälte der Bergarbeiterföderation war, fühlte ich mich bei dieser Mitteilung etwas erleichtert. Im Gefängnis angekommen, wurde ich „eingemessen", wie beim letzten Mal, als dieser Ort in ein Büro der Bergarbeiterföderation verwandelt worden war. Dann teilte man mir mit, dass auch Moyer und Pettibone bereits verhaftet und im Gefängnis eingeliefert seien.
Sie steckten mich in eine der Zellen des Bundesgerichts. Die Kameraden waren in der gleichen Abteilung. Nach einigen Minuten kam der Sheriff, der als Nachfolger meines Freundes Ham Armstrong gewählt worden war. Ich fragte ihn, was all das zu bedeuten habe. Er erwiderte:
„Sie wollen euch nach Idaho bringen. Ihr werdet mit dem Mord an Steunenberg in Zusammenhang gebracht." „Sind wir denn ganz vogelfrei? Man kann doch niemanden ohne Haftbefehl verhaften und ohne Auslieferungspapiere in einen anderen Staat schaffen?" „Es scheint aber, dass sie so etwas Ähnliches vorhaben", gab er zu.
Ungefähr um 5 Uhr früh wurde ich mit Moyer und Pettibone in das Amtszimmer geführt, in dem sich eine Menge fremder Leute, unter ihnen auch wieder Bulkeley Wells, aufhielten. Einer sagte:
„Die Wagen sind bereit. Wir wollen zum Hotel fahren." Die Fahrt ging durch die ruhigsten Straßen, jeder von uns in einem besonderen Wagen und mit drei Mann Bedeckung. Es war sehr dunkel. Kein Haus war durch das Wagenfenster zu erkennen. Als wir anhielten, sah ich, dass wir uns vor dem Oxford-Hotel befanden. Nach kurzem Aufenthalt wurden wir zum Bahnhof geführt, der zu dieser frühen Stunde noch verlassen dalag. Ein Zug stand bereit. Wir stiegen ein und fuhren ab nach Idaho.
Wir hatten einen Wagen für uns und unsere Bewachung, zu der auch Bob Meldrum aus Telluride gehörte. Ich habe niemals ein menschliches Antlitz gesehen, das so sehr dem einer Hyäne glich. Seine Augen lagen tief und eng nebeneinander; die Oberlippe war zurückgezogen und ließ Zähne sehen, die Hauern ähnelten. Der Vizedirektor des Zuchthauses von Idaho kam in den Wagen und setzte sich zu uns. Im Verlauf des Gespräches erzählte er von seinen Heldentaten bei der Verhaftung gefährlicher Männer. In Ermangelung einer besseren Unterhaltung hörten wir ihm zu. Später ließ sich Bulkeley Wells mit einer Flasche Whisky sehen und bot uns zu trinken an. Von ihm erfuhren wir, dass wir uns in einem Sonderzug befanden und am nächsten Morgen in Boise ankommen würden. Der Zug fuhr mit ungeheurer Geschwindigkeit. Die Lokomotive nahm nur auf kleinen Stationen Kohle und Wasser und hielt in keiner der größeren auf dieser Strecke gelegenen Städte.
In Boise, wo sich eine Menge Leute auf dem Bahnhof angesammelt hatten, wurden wir in besondere Wagen gesteckt und zum Zuchthaus transportiert. Noch immer hing die Bekanntmachung: „Eintritt 25 Cent" über dem Tor, aber ebenso wie bei einer früheren Gelegenheit - beim Besuch Paul Corcorans  -, wurde ich ohne Eintrittsgeld eingelassen. Im Amtszimmer unterschrieben wir ein Papier, das den Direktor bevollmächtigte, jeden für uns ankommenden Brief zu öffnen. Ich stellte das Ersuchen, ein Telegramm an John O'Neill nach Denver zu schicken, mit der Aufforderung, meine persönliche Post an das Zuchthaus nachzusenden. Mir entging nicht der Ausdruck des Erstaunens, der das Gesicht Bulkeley Wells' bei diesen Worten überzog; er hätte mit Worten nicht deutlicher seine Verwunderung darüber äußern können, dass ich in meiner persönlichen Korrespondenz nichts zu verbergen hatte.
Nach der Durchsuchung wurden wir ins Gefängnis geführt und in die „Todeszellen" gesperrt. Diese Maßnahme diente offensichtlich dem Zweck, uns in den Augen der Öffentlichkeit schon vor dem Prozess zu verurteilen.
Als wir den Zellengang betraten und unsere Nummern aufgerufen wurden, bemerkte Pettibone:  „Ungerade Nummern bringen Glück, sagte Barney McGraw!" Meine Nummer war 9, Moyer hatte 11 und Pettibone 13. Durch das Fenster an der hinteren Wand konnte ich ein Haus sehen, das, wie ich später erfuhr, das Todeshaus war, in dem die Verurteilten gehängt wurden. Da waren wir nun, als Mörder ins Zuchthaus gesteckt, ohne Haftbefehl verhaftet, ohne Auslieferungsbefehl in einen anderen Staat überführt, unter Aufsicht des Todeswärters! Bei Nacht und Nebel verschleppt, und wir wussten nicht einmal, ob unsere Anwälte unseren Aufenthalt kannten! Sicherlich hatte niemand erwartet, dass wir ohne Verhör, ohne einen Prozess oder selbst den Schein einer Untersuchung ins Zuchthaus kommen würden. Fast drei Wochen lang hielten sie uns hier fest. Später erfuhren wir, dass Gouverneur Gooding geäußert hatte, wir würden „diesen Staat niemals wieder lebendig verlassen".
Links und rechts von meiner Zelle saßen Gefangene, die zum Tode verurteilt waren. Während der ganzen Haftzeit war ich fortwährend dem beobachtenden Auge des Todeswärters ausgesetzt, der gerade meiner Zelle gegen­über saß. Wie oft dachte ich: „Es gibt Augenblicke, in denen man allein sein möchte!" Er schien sich gar nicht für die übrigen Männer zu interessieren, deren Beobachtung ihm oblag. Die ganze Zeit schien er vielmehr seinen boshaften Blick auf mich zu heften, ausgenommen dann, wenn er die Zellen aufschloss, um die Eimer auszuwechseln, oder zur Essenszeit, wenn er die Speise auf die Teller verteilte, um sie dann unter den Türen durchzuschieben. Man kann sich schwer vorstellen, dass unter solchen Bedingungen Nachrichten von irgendwoher in den Kerker dringen konnten. Aber das Zuchthaus von
Boise war nicht anders als die Gefängnisse überall. Die Gefangenen hatten eine Codesprache, mit der sie sich untereinander verständigten. Nachrichten kamen und gingen. Wie - das kann ich nicht sagen, weil noch immer manche von den Männern ihre Strafen in Boise absitzen, die mit mir zugleich vor zwanzig Jahren dort waren.
Eines Tages sah ich von der Nachbarzelle zu meiner Linken zwischen den Lücken der vorderen Gitterstäbe einen Papierstreifen hereingleiten. Ich stand auf und versuchte, ihn zu fassen, aber ich zog zu stark, und der Streifen riss in zwei Stücke. Die eine Hälfte hielt ich in der Hand versteckt, bis ich einen geeigneten Augenblick zum Lesen der Botschaft fände.
Der Wächter, der wahrscheinlich seinen Kopf einen Augenblick abgewandt hatte, dachte nun, dass ich den Brief meinem Nachbar zugesteckt hätte. Er rief einen Kalfaktor und schickte nach dem Direktor. Sofort war alles in Bewegung. Sie zerrten den Mann heraus, warfen sein Bettzeug und seine Pritsche auf den Boden und untersuchten alles aufs sorgfältigste. Schließlich zogen sie den Eimer heraus und entdeckten die schmutzigen Überbleibsel eines Papierfetzens, eines Teiles des Briefchens, das er versucht hatte, mir zuzustecken. Das kleine Stück Papier, das ich erwischt hatte, war unbeschrieben gewesen.
Der Direktor trat an meine Zelle und sagte: „Haywood, so lange Sie hier sind, haben Sie sich den Vorschriften dieses Zuchthauses zu fügen. Ich wünsche, dass Sie alle Versuche, sich mit irgend jemanden in Verbindung zu setzen, unterlassen."
Ich erwiderte: „Sie brauchen sich darüber nicht aufzuregen. Ich weiß gar nicht, wen alles Sie hier hineingesteckt haben."
Nach einer Weile kam er mit einer Schachtel Zigaretten zurück, die uns ein Freund aus der Stadt geschickt hatte. Man hatte die Zigaretten natürlich zuerst herausgenommen und die Schachtel untersucht. Er wollte sie mir durch das Gitter hineinreichen, aber ich bat ihn, mir einige zu geben und die übrigen den Kameraden zu bringen. Unsere Anwälte schlugen einen solchen Lärm über unsere Haft im Zuchthaus, dass wir schließlich in das Bezirksgefängnis Caldwell übergeführt wurden. Die Reise von Boise nach Caldwell machten wir in einem normalen  Personenzug.  Die  anderen  Passagiere  im Wagen lasen ihre Zeitungen. Die Schlagzeilen enthielten die Namen Moyer, Haywood und Pettibone in Buchstaben, die man auf fünfzig Fuß Entfernung lesen konnte. Auf dem Sitz vor mir hatte ein Mann seine Zeitung so ausgebreitet, dass ich sie über seine Schulter hinweg lesen konnte. Ein Detektiv der Thiel-Agentur, der uns bewachte, sagte: „Sie dürfen das nicht lesen." „Nichts interessiert mich aber gerade mehr als das", erwiderte ich ihm. „Ihr Kerle habt uns lange genug im dunkeln gehalten."
Das Gefängnis von Caldwell war ein kleines Ding mit vier Zellen. In einer Zelle wurden wir zur Nachtzeit eingesperrt. Tagsüber gestattete man uns den Aufenthalt in einem großen Zimmer, in dem ein Küchenherd stand. Außer uns befanden sich in Caldwell fünf oder sechs Häftlinge mit kurzen Freiheitsstrafen. Einer der Gefangenen, ein frischer, junger Bursche, teilte uns mit, dass er in einigen Tagen das Gefängnis verlassen werde und bereit sei, eine Botschaft für uns mitzunehmen, falls wir irgend etwas brauchen sollten, und dass er auch die Antwort entweder in das Gefängnis von Caldwell oder an irgendeinen anderen Ort bringen werde, falls man uns inzwischen verlegen sollte. Er erklärte uns, dass er sich darauf verstehe, jederzeit in ehr Gefängnis einzudringen und dass er nichts riskieren werde, was ihn mehr als sechs Monate Haft kosten könne. Wir dankten ihm herzlich und sagten ihm, dass wir durch unsere Anwälte alle notwendigen Nachrichten hinaussenden und hereinbekommen könnten. Es schien wirklich, dass wir nicht ohne Freunde waren. Hier gab es einen Mann, der bereit war, sechs Monate Gefängnis abzusitzen für den Vorzug, uns eine Botschaft übermitteln zu dürfen. Und im Zuchthaus war der andere gewesen, der den Versuch wagte, uns Nachricht zukommen zu lassen, obwohl seine Tage gezählt waren. Und auch andere hatten Strafen riskiert, um uns zu helfen. In Caldwell wurden wir dem Bezirksgericht vorgeführt. Nachdem man unter dem Vorsitz des Richters Smith ein vorläufiges Verhör mit uns angestellt hatte, wurden wir in den Kerker zurückgeschickt. Irgendein juristischer Hokuspokus hatte der Behörde die Möglichkeit gegeben, einen Wechsel des für uns zuständigen Gerichtes anzuordnen. Wir wurden daher in das Bezirksgefängnis von Ada gebracht, in den Bezirk, wo auch unser Prozess stattfinden sollte. Hier wurden wir für die Nacht in ein kleines, vom Hauptgebäude abgesondertes Gefängnis gesperrt, das Tag und Nacht von besonderen Wachen umstellt war.
Das Gefängnis war übrigens das gleiche, in dem 1893, vor dem Gründungskongress in Butte, die Organisationspläne für die Bergarbeiterföderation des Westens besprochen wurden. Ungefähr vierzehn Jahre später saßen nun Moyer und ich, die Funktionäre der Organisation, in diesem historischen Gefängnis.
Der Exekutivausschuss der Bergarbeiterföderation hatte mir einen Urlaub mit einer Beihilfe von fünfhundert Dollar bewilligt. Fünf Jahre lang hatte ich ununterbrochen am Arbeitstisch gesessen und konnte eine Erholung wohl brauchen. Ich habe diesen Urlaub aber niemals genossen; die achtzehn Monate im Gefängnis konnte man kaum Ferien nennen.
Tagsüber hausten wir in einer besonderen Zelle, in der wir gemeinsam unsere Mahlzeiten erhielten; jeder durfte täglich eine Stunde in den Hof hinaus, um unter scharfer Bewachung in der Sonne auf und ab zu spazieren oder sich sonst nach Belieben die Zeit zu vertreiben. Ich achtete auf meine Gesundheit, so gut ich nur konnte. Eine Badewanne stand jederzeit zur Verfügung, und so nahm ich alle Abende ein Bad; kein Morgen verging ohne Turnübungen. Ich fastete mehrere Male zwei oder drei Tage lang, einmal sogar sechs Tage. Zur Zeit des Prozesses fühlte ich mich körperlich und geistig vollkommen auf der Höhe.
Als eine der ersten guten Nachrichten von der Zentrale erfuhren wir, dass spontan ein Verteidigungsfonds für unseren Prozess zusammengebracht worden war. Schon drei Tage nach der Verhaftung, am 20. Februar, sandte die Ortsgruppe Belleville der Vereinigten Bergarbeiter fünftausend Dollar, noch bevor irgendein Aufruf zur Schaffung eines Fonds erschienen war. Vom Bergarbeiterverband Telluride ging ein großer Beitrag zusammen mit der Mitteilung ein, dass er, falls notwendig, zur Ergänzung des Fonds sein Krankenhaus verkaufen würde. Silverton, Colorado, schickte fünftausend Dollar und versprach, falls notwendig, dreißigtausend Dollar durch den Verkauf des Versammlungslokales zu beschaffen. Goldfield sandte sechstausend Dollar. So war ohne weiteres ersichtlich, dass wir genügend Mittel für unsere Verteidigung haben würden.
Die Zentrale ließ ein von mir entworfenes Plakat drucken, auf dem der Zug, in dem wir davongeschleppt wurden, darüber in der Mitte die Verhafteten, umrahmt von Handschellen und Revolvern, abgebildet waren. Darüber stand ein Mahnruf von Debs: „Erhebt euch, Sklaven! Das einzige Verbrechen jener Männer ist ihre Treue zur Arbeiterklasse!" Außerdem enthielt das Plakat eine Beschreibung unserer Verhaftung. Es wurde überall verbreitet und trug wahrscheinlich sehr zu dem großen Erfolg der Geldsammlungen bei.
Die erste Zeit im Bezirksgefängnis von Ada war die ruhigste und friedlichste meines ganzen Lebens. Ich habe mich niemals besser unterhalten als während der ersten Monate meiner Haft. Zum ersten Male hatte ich wirklich Gelegenheit zum Lesen. Ich studierte Buddes „Geschichte der Zivilisation" und erneuerte meine Bekanntschaft mit Voltaire; ich las viele englische Klassiker, „Tristam Shandy", „Die sentimentale Reise", Werke von Carlyle und anderen Schriftstellern über die französische Revolution, viel revolutionäre Literatur, Marx und Engels, und ich erinnere mich noch, dass mich „Der Sumpf" von Upton Sinclair eine ganze Nacht wach hielt. Außerdem studierte ich Rechtswissenschaft nach Lehrbriefen. John Murphy hatte das für mich in die Wege geleitet, denn er trug sich immer mit dem Gedanken, in mir einen Mitarbeiter zu finden. Aber meine Erfahrungen im Gefängnis sowie das, was ich schon früher über die „Rechtspflege" in Colorado und vorher in Idaho beobachtet hatte, nahmen mir alle Lust, mich mit einem für die Arbeiterklasse zu krummen und bedeutungslosen Beruf abzugeben.
Wir hatten uns unter Berufung auf die Habeaskorpusakte an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten gewandt und die ungesetzlichen Umstände, unter denen unsere Verhaftung erfolgte, geschildert. Einem solchen Antrag muss sofort Folge geleistet werden. Trotzdem waren wir vom Februar bis zum folgenden Dezember in Untersuchungshaft. In dem Bescheid, den wir endlich vom Obersten Gerichtshof erhielten, wurde unser Antrag abgelehnt.
Als Antwort auf diesen Beschluß entwarf ich ein zweites Plakat mit dem Titel: „Zum Teufel mit der Unverletzlichkeit der Person. Gebt ihnen statt dessen einen Totenschein." Diese Worte hatte seinerzeit Generaladjutant Sherman Bell gebraucht, als er und Hauptmann Bulkeley Wells die Verfügung unter Berufung auf die Habeaskorpusakte ignoriert hatten, die damals Moyer in Telluride gewährt worden war. Sie waren damals wegen Missachtung des Gerichts zu je fünfhundert Dollar Strafe verurteilt worden, die sie niemals bezahlten. Aber in diesem Falle hatte nun der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten selbst ihr verbrecherisches Vorgehen gutgeheißen.
Als Maxim Gorki aus Russland nach New York kam, war eine seiner ersten Handlungen, dass er uns im Namen der russischen Arbeiter ein Begrüßungstelegramm sandte. In der Antwort bezeichneten wir unsere Verhaftung als eine Folge des Klassenkampfes, der in Amerika wie in Russland und in allen übrigen kapitalistischen Ländern der gleiche sei. Sofort begann nun gegen Gorki eine Hetze wegen seiner Frau, die mit ihm aus Russland gekommen war. Amerikanische Tugendrichter, unter ihnen Mark Twain, ereiferten sich darüber, dass Gorki mit seiner Frau nicht legal verheiratet war, obwohl die beiden schon viele Jahre zusammenlebten. Es war merkwürdig, dass es niemandem eingefallen war, daran Anstoß zu nehmen, bevor Gorki uns ins Gefängnis telegrafiert hatte. Nun wurde er aus Hotels hinausgeworfen, von Zeitungen niederträchtig angegriffen und schließlich gezwungen, das Land zu verlassen.
Der Jahreskongress 1906 der Bergarbeiterföderation des Westens sandte uns eine ermutigende Resolution. Auf der anderen Seite wollte Theodore Roosevelt, der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, bei der Hetze gegen uns nicht zurückstehen und bezeichnete uns als „unerwünschte Mitbürger". Auf diese Äußerung sandte ich eine kurze Erwiderung, in der ich den Präsidenten auf die Tatsache aufmerksam machte, dass wir nach den Gesetzen des Landes als unschuldig zu betrachten seien, solange wir nicht der Schuld überführt wären, und dass ein Mann in seiner Stellung der letzte sein sollte, der uns richtete, bevor der Fall vor dem Gericht entschieden wäre. Aber was konnte auch von einem Manne erwartet werden, der sich in seinem Buch über die Schlacht am San-Juan-Hügel offen gerühmt hatte, einen fliehenden Spanier in den Rücken geschossen zu haben, wobei er hinzufügte: „Erst am nächsten Tage erfuhr ich, dass nicht ich allein so gehandelt hatte, denn ein Leutnant hatte einen anderen Spanier auf die gleiche Weise getötet."
Für die Sozialistische Partei von Colorado kandidierte ich zu den Gouverneurswahlen von 1906. Es war etwas höchst Außergewöhnliches, einen Mann, der in einem anderen Staate im Gefängnis saß, als Kandidaten aufzustellen. Ich kam zwar nicht durch; immerhin zeigten die Wahlergebnisse, dass auf mich über sechzehntausend Stimmen gefallen waren: kein schlechtes Ergebnis in einem Staat, wo die Gesamtstimmenzahl ohnehin gering war.
Bei diesen Wahlen lag ich Kopf an Kopf mit Richter Ben Lindsey, einem Reformer, der das Jugendgericht in Denver leitete. Lindsey stand der Bergarbeiterföderation des Westens im allgemeinen sympathisch gegenüber. Einmal jedoch mussten wir gegen die von ihm angewandte Methode protestieren, den ihm vorgeführten Kindern einen Landaufenthalt zu verschaffen. Er schlug nämlich vor, sie zur Arbeit auf die Rübenfelder zu schicken. Gegen diesen Vorschlag, Kinder zur Feldarbeit zu verwenden, schrieb O'Neill im „Miners' Magazine" einen heftigen Artikel. Er erklärte dem Richter, dass es ihm besser anstünde, den Kindern einen wirklichen Ferienaufenthalt an irgendwelchen schönen Orten in den Bergen zu erwirken. Es gereicht Lindsey zur Ehre, dass er die Anregung mit Verständnis aufnahm und durchzusetzen versuchte.
Auf dem zweiten Jahreskongress der IWW im September 1906 in Chicago kam es zu unliebsamen Auseinandersetzungen zwischen Charley Mahoney, dem damaligen Vizepräsidenten der Bergarbeiterföderation des Westens, und Vincent St. John, der als Delegierter auf der Konferenz anwesend war. Diese Feindseligkeit war zum Teil eine Folge des Gegensatzes zwischen St. John und Charles Sherman, dem Präsidenten der IWW. Sherman wurde abgesetzt und das Amt des Präsidenten abgeschafft. Er hatte sich als untauglich erwiesen; wenn er auch nicht gerade unehrlich war, so hatte er doch ungeheure Summen für überflüssige Dinge verwendet. Mahoney hatte sich mit den Metallarbeitern zusammengetan, und St. John hatte die Ortsgruppen der früheren Amerikanischen Arbeiterunion hinter sich, sowie die paar Mitglieder von De Leons Sozialistischem Handwerker- und Arbeiterbund, die sich der IWW angeschlossen hatten. St. Johns Anhänger hatten den entscheidenden Einfluss auf der Konferenz, aber Sherman und Mahoney besetzten das Büro.
So hatten sich zwei Fraktionen der IWW gebildet: die Fraktion St. Johns mit dem Sekretär Trautmann und die Mahoney-Sherman-Fraktion, die einen Mann namens
Hanneman gewählt hatte. Die letztgenannte Fraktion löste sich jedoch infolge Mitgliedermangels bald auf. Durch die Schiebungen eines sozialistischen Rechtsanwalts, Seymour Stedman, kam die Sozialistische Partei in den Besitz des Büromaterials, der Safes, Schreibtische usw. Die Bergarbeiterföderation hielt sich abseits von beiden Elementen. Während der erbitterte Kampf vor sich ging, waren wir hinter Schloss und Riegel machtlos, irgend etwas zu tun.
Inzwischen entwickelte sich zwischen Moyer und mir eine Verstimmung, und fast ein Jahr sprachen wir nicht miteinander. Zum nächsten Jahreskongress der Bergarbeiterföderation des Westens schrieb ich einen Brief, in dem ich die Methoden Mahoneys, die Art, wie er die ganze Angelegenheit in Chicago behandelt hatte und seine Verwendung handfester Leute zur Verteidigung des Büros der IWW, heftig verurteilte. Mahoney hatte nämlich das Büro besetzt und hielt es mit Gewalt gegen die St. John-Fraktion. Den Brief hatte ich an James Kirwan gerichtet, der in meiner Vertretung Hauptkassierer war. Erst lange Zeit später erfuhr ich, dass Kirwan nur jenen Teil meines Briefes dem Kongress vorgelesen hatte, der sich auf ihn bezog. Den ersten Teil des Briefes, in dem ich Mahoney kritisierte, hatte er ausgelassen. Der Brief erschien so, wie er ihn verlesen hatte, im Kongressprotokoll der Bergarbeiterföderation. Das damalige Vorgehen St. Johns und seiner Anhänger war vollkommen einwandfrei, und ihnen gebührt das volle Verdienst für das Weiterbestehen der IWW. Paul F. Brissenden charakterisiert die Ursachen für die langsame Entwicklung der IWW zu dieser Zeit und für den Austritt der Bergarbeiterföderation des Westens folgendermaßen:
„Obwohl der Moyer-Haywood-Prozess und der schließlich erfolgte Freispruch der Angeklagten die IWW unter der Arbeiterklasse im ganzen Lande etwas weiter bekannt machte und ihnen ein etwas größeres Verständnis sicherte, war er alles in allem genommen doch nur ein Unglück für diese Organisation. Die IWW erlangten nicht einmal eine gewisse Berühmtheit durch den Moyer-Haywood-Prozess. Der Nutzen fiel gänzlich der Bergarbeiterföderation zu. Diese war eine gut gefestigte Arbeiterorganisation, mit einer ereignisreichen - fast sagenumwobenen Vergangenheit. Ihre frühere Tätigkeit hing mehr oder weniger mit der Moyer-Haywood-Pettibone-Affäre zusammen, und in der breiten Öffentlichkeit dachte man ganz natürlicherweise auch an die Föderation, sobald man an Haywoods Verschleppung dachte. Die IWW wurden in der öffentlichen Meinung überhaupt nicht mit dem Prozess von Boise in Zusammenhang gebracht. Die Organisation war gezwungen, ihre wichtigste Organisationsarbeit fast vollkommen einzustellen, um Mittel für die Verteidigung zu sammeln.
Aber das war nicht die schlimmste Folge. Die Verschleppung Moyers, Haywoods und Pettibones war zweifellos eine der Ursachen, die zum Austritt der Bergarbeiterföderation des Westens führte. Haywoods Inhaftierung schwächte sicherlich die Kräfte in der Föderation, die die IWW unterstützten, und stärkte diejenigen, die gegen eine Fortdauer der engen Verbindung mit ihr waren. Dazu kam die Absetzung des Präsidenten Sherman, die den Einfluss der Bergarbeiter, die für die IWW waren, noch mehr schwächte. Das alles verschaffte den Feinden der IWW in der Bergarbeiterföderation schließlich die Oberhand. Das Ergebnis war erstens ein durch Urabstimmung herbeigeführter Beschluß der Bergarbeiterföderation des Westens, an keine der beiden Fraktionen der IWW Beiträge ab-
zuführen, und zweitens die offizielle Abtrennung der Bergarbeitersektion und die Wiederherstellung einer unabhängigen Bergarbeiterföderation des Westens im Sommer 1907." (Anm.: Paul F. Brissenden: The Industrial Workers of the World New York 1920, S. 175.)
Wie mir damals zumute war, lässt sich schwer beschreiben. Ich musste mit ansehen, wie die Arbeit eines ganzen Lebens in Fetzen gerissen wurde. Mit dem Frieden und der Ruhe des Gefängnislebens war es vorbei. Der Dichter, der schrieb: „Steinwände machen noch kein Gefängnis, Eisengitter noch keinen Käfig", empfand sicherlich anders als ich, der, von Gedanken bestürmt, nicht die Möglichkeit hatte zu handeln. Ich war im Gefängnis, und jeder Brief, jeder Artikel, dem ich dieses Auseinanderfallen der Organisation ansah, steigerte meine Unruhe in der Haft.
Aus dem ganzen Lande bekamen wir Briefe verschiedener Organisationen, die von Demonstrationen zu unserer Verteidigung berichteten.  In Boston fand ein Protestmeeting statt, an dem schätzungsweise zwanzigtausend Menschen teilnahmen, um ihre Entrüstung über unsere gesetzwidrige Verhaftung und Verschleppung zu bekunden. Überall wurden Moyer-Haywood-Pettibone-Demonstrationen abgehalten. In Chicago marschierten fünfzigtausend  gewerkschaftlich  organisierte  Männer und Frauen zum Protest auf. In New York war die Demonstration sogar noch größer. Auch die Arbeiter in der kleinen Stadt Boise arbeiteten für uns. Eines Tages erhielten wir aus einem Restaurant in Boise einen Kuchen mit einem Brief von den Bäckern und den anderen Angestellten des Restaurants. Im zweiten Sommer meiner Haftzeit schaffte ich eine Menge Gerümpel fort, das im Gefängnis umherlag, grub
ein Stück Boden um und legte einen Garten an, in dem ich Kapuzinerkresse, bunte Wicken und Sonnenblumen zog, die acht bis zehn Fuß hoch wurden und riesige Köpfe hatten. Auch alle möglichen Gemüsesorten pflanzte ich an, genug nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Familie des Wärters und für die übrigen Gefangenen.
Moyers und Pettibones Frauen lebten während der Zeit unserer Inhaftierung in Boise. Meine Familie kam kurz vor Beginn des Prozesses, und ich verbrachte gewöhnlich jeden Tag eine Stunde mit ihnen auf dem Rasen im Garten. Eines Tages sah ich zu meiner Überraschung meine Mutter aus einem Wagen steigen, der in den Hof eingefahren war. Ich lief auf sie zu und wurde von ihr mit einer herzlichen Umarmung empfangen. Sie fühlte sich nicht sehr wohl, war aber fast bis zur Beendigung meines Prozesses stets im Gerichtssaal anwesend, bis sie schließlich ins Krankenhaus musste. Nach und nach trafen unsere Anwälte ein, bis wir ein starkes  Aufgebot  juristischer   Fachleute   versammelt hatten. Da war John Murphy, der ständige Anwalt der Bergarbeiterföderation des Westens, dann Darrow und Richardson, unser Sachwalter, der die Prozessführung übernommen hatte; John F. Nugent, ein Anwalt aus Silver City, später Senator im Kongress, ein alter Freund von mir, Edgar Wilson, früherer Kongressabgeordneter, Miller und Whitsell. Einige von ihnen kamen täglich ins Gefängnis.
Darrow kam oft niedergeschlagen und verstimmt in das Gefängnis. Pettibone versuchte dann, ihn zu trösten, und sagte, wir wüssten, dass es ihn schwer ankommen würde, seinen großen Prozess zu verlieren, und er pflegte hinzuzufügen: „Aber wissen Sie, schließlich sind wir diejenigen, die gehenkt werden sollen!" Und ich meinte zu Darrow, wenn die Dinge in seinem Büro gar zu trübe aussähen, sollte er nur ins Gefängnis kommen, wir würden ihn schon erheitern.
Als der Eröffnungstermin des Prozesses heranrückte, kamen allmählich die Korrespondenten vieler Zeitungen; von der „Associated Press", der „United Press", dem „Appeal to Reason" (Appell an die Vernunft), an dem auch Debs Redakteur war. Der „Appeal to Reason" ließ viele Nummern über unseren Prozess erscheinen. Eine davon, über unsere Verschleppung, kam in einer Auflage von vier Millionen Exemplaren heraus; etwas Ähnliches ist weder vorher noch nachher wieder vorgekommen.
Auch der „New York American", ein Blatt des Hearst-Monopols, veröffentlichte eine Sondernummer, die nur Artikel über den „Fall Moyer-Haywood-Pettibone" enthielt.
Die Staatsanwaltschaft entschied, dass mein Prozess zuerst verhandelt werden solle.

 

Dreizehntes Kapitel
Der Prozess in Boise

Der Prozess begann am 9. Mai 1907. Als außerordentlicher Staatsanwalt fungierte William E. Borah, der von der letzten Gesetzgebenden Versammlung zum Senator der USA gewählt worden war - derselbe Borah, der seinerzeit gegen Paul Corcoran amtiert hatte. Gleichfalls als außerordentlicher Staatsanwalt fungierte James Hawley, ein früherer Bergarbeiter und Verteidiger der Gefangenen von Coeur d'Alene, die in demselben Gefängnis gelegen hatten, in dem wir uns jetzt befanden; Hawley, der Mann, der den eingekerkerten Kumpels damals im Gefängnis den Plan von der Bildung einer alle Bergarbeiter des Westens erfassenden Organisation eingab! Als Staatsanwaltsgehilfe fungierte der Staatsanwalt des Bezirks Caldwell. Die Verteidiger saßen an einem Tisch an der rechten Seite des Gerichtssaales; hinter ihnen, an beiden Seiten, die Korrespondenten verschiedener Zeitungen. Den Vorsitz führte Richter Woods, der auf einer erhöhten Tribüne hinter den Geschworenen thronte. Ich saß so nahe neben dem ersten Geschworenen in der vordersten Reihe, dass ich ihn hätte berühren können. Ein Arbeitergeschworenenausschuß aus Sozialisten und Gewerkschaftern wohnte unter der Zuhörerschaft jeder Gerichtssitzung bei und fasste am Ende auch seinen eigenen Urteilsbeschluss. Ein Journalist von „McClures' Magazine" schilderte mich mit folgenden Worten: „Ich erwähne als ersten Haywood: er ist ein mächtiger Mann in der Föderation. Und ein Mann, der zur Herrschaft über eine solche Organisation emporsteigen kann, muss nicht wenige außerordentliche Führerqualitäten besitzen. Haywood ist ein Mann von mächtiger Gestalt, von der physischen Stärke eines Stiers. Er hat einen großen Schädel und ein breites Kinn... Selbst aus der Grube, aus den ,Eingeweiden der Erde', emporgestiegen, wie er es nennt, ist dieser Mann eine Art religiöser Eiferer geworden, und seine Religion ist der Sozialismus. Er gehört zu jenem jetzt in Amerika nicht unbekannten Typ, der, ausgerüstet mit einem guten Verstand, kämpfend und ringend emporgekommen ist, der Schläge zu geben und zu nehmen weiß, der die Leiden seiner Klasse tief erfasst hat und darüber hinaus nichts sieht; dessen Geist, verzweifelt auf der Suche nach Abhilfe,
sich eifrig auf eine Idee wie den Sozialismus stürzt, der so leicht und vollkommen alle Schwierigkeiten löst. Man nehme einen Charakter wie diesen, hart, rau, verschlossen, mit ungeheurer Widerstandskraft, und gebe ihm schließlich noch einen Schuss Idealismus, einen jesuitischen Eifer, der den Mann über sich selbst hinaus trägt, und man hat einen Führer wie Haywood vor sich der seine  Leute seinem eigenen Glauben gefügig macht... Was gilt ein Mann oder ein Staat, wenn nur der Sache gedient wird?"
Meine Angehörigen hatten ebenfalls im Zuhörerraum Platz genommen. Der Gerichtssaal war jeden Tag überfüllt.
Ein jeder interessierte sich für das noch nicht veröffentlichte „Geständnis", das, wie man wusste, Harry Orchard abgelegt hatte. Auch Steve Adams, ein Bergarbeiter von Cripple Creek, der auf der Ranch seines Onkels in Oregon verhaftet worden war, hatte Geständnisse gemacht, später jedoch widerrufen. Die Leute, die in den Gerichtssaal geströmt waren, warteten gespannt auf die Eröffnung der Verhandlungen, die jedoch durch die Auswahl der Geschworenen hinausgezögert wurde. Der Kampf um die Zusammensetzung der Geschworenenbank war ein instruktiver Anschauungsunterricht über Klassenkampf. Auf die Geschworenenliste waren alle Bankiers des Bezirks gesetzt worden. Aber Darrow erledigte sie alle kurzerhand. Er fragte sie zuerst, ob sie mit dem Fall vertraut seien, ob sie die Zeitungen zu lesen pflegten, ob sie sich eine bestimmte Meinung gebildet hätten, ob es der Beweise bedürfe, um diese zu ändern. Im Laufe des Frage-und-Antwort-Spiels bewies er, dass nur ein geringer Unterschied zwischen einem Bankier und einem Einbrecher bestehe; der eine arbeite bei Tage mit Zinsberechnungen und Börsenspekulationen als den Mitteln für seine Räubereien, während der andere in der Nacht mit Werkzeugen und mit Nitroglyzerin arbeite. Er lehne diese Geschworenen wegen ihrer Parteilichkeit ab. Es war, als zertrete er Schlangen. Der Geschworenenkörper bestand nach seiner endgültigen Wahl fast ausschließlich aus Farmern. Die Bankiers und Geschäftsleute waren von der Verteidigung abgelehnt worden; die wenigen Gewerkschafter und Sozialisten, die aufgerufen worden waren, hatte die Staatsanwaltschaft abgelehnt.
Die Ankläger ließen den Prozess mit dem Verhör einiger unwichtiger Zeugen beginnen. Dann erst wurde Harry Orchard als Zeuge aufgerufen. Er erschien sauber gekleidet in einem grauen Anzug des Gefängnisdirektors, sorgfältig rasiert. Das Haar trug er glatt zurückgestrichen über einem Kopf so rund wie eine Billardkugel. Mir fiel seine Ähnlichkeit mit dem Detektiv MacParlan auf. Weit davon entfernt, sich wie ein scheues Wiesel zu gebärden, wie man nach seiner Geschichte annehmen sollte, stand Orchard stramm da, selbstbewusst, und äußerte sich in scheinbar freimütiger Weise. Ich hielt meinen Blick auf den Mann gerichtet, während er seine Aussagen machte, aber er wich ihm ständig aus. Orchard wurde von Borah nicht viel gefragt, sondern aufgefordert, seine Geschichte im Zusammenhang zu erzählen. Er brachte eine bluttriefende Geschichte vor, die mit einer Schilderung seines Lebens in Kanada begann. Frau und Kind hatte er in Ontario verlassen, nachfeiern er dort eine Käsefabrik in Brand gesteckt hatte. Sein richtiger Name sei Albert Horseley. Die nächste Tat, der er sich rühmte, war die Entzündung einer der Lunten, die die Explosion auf der Bunker-Hill-and-Sullivan-Grube in Coeur d'Alene verursachte, durch die diese zerstört wurde. Er behauptete, damals einer der Besitzer der Zechengruppe von Headlight in der Nähe von Burke, Idaho, gewesen zu sein.
Als Spieler und Säufer kam er dann in den Distrikt Cripple Creek. Dort hatte er anscheinend eine Zeitlang an der Gewerkschaftsarbeit aktiv teilgenommen, um das Vertrauen der Bergarbeiter zu erlangen; gleichzeitig aber war er der Verbündete und Angestellte des Bürgerbundes gewesen. Ungefähr zu dieser Zeit war er auch zum ersten Mal im Büro der Föderation erschienen - wie wir später entdeckten, im Auftrage des Detektivs Scott, von dem er bezahlt wurde und dem er seine Berichte zu erstatten hatte. Das nächste Mal besuchte er die Zentrale, als er Moyer nach Ouray begleitete. Seine Mitarbeiter waren Beckman und McKinley, dieselben Burschen, die, wie bereits erwähnt, versucht hatten, einen Zug in Cripple Creek zum Entgleisen zu bringen. Dafür waren sie von Scott und Sterling gedungen worden, die jetzt beide im Gerichtssaal von Boise saßen und sich Orchards Geschichte anhörten. Keiner von beiden trat als Zeuge auf.
Orchard erzählte ferner von seiner Beteiligung an der Explosion in der Vindicator-Grube, der Explosion auf der Station Independence und von vielen Anschlägen auf den Gouverneur Peabody, auf die Richter Gabbert und Goddard, McNeill, Hearn, Bradley und andere. Es war die abstoßende Geschichte eines verhärteten Degenerierten, und niemand wird jemals wissen, wie viel davon stimmte und wie viel nicht. Er schloss mit der Beschreibung seiner Teilnahme an der Ermordung des Exgouverneurs Frank Steunenberg. Von Anfang bis Ende führte Orchard immer wieder Pettibone, Moyer und mich als die Anstifter zu seinen Mordtaten an; er erklärte, dass entweder der eine oder der andere von uns ihn mit der Durchführung seiner Arbeit
beauftragt habe. Beim Kreuzverhör wich er von seinem Bericht nur wenig ab, da er von seinem Mentor James MacParlan, dem Leiter der Pinkerton-Agentur in Denver, gut gedrillt worden war. MacParlan war derselbe Kerl, der seine Karriere vor langer Zeit damit begonnen hatte, dass er mit seinen Meineiden die „Molly Maguires" in Pennsylvanien ums Leben brachte. Nach Orchards Vernehmung legte die Staatsanwaltschaft dem Gericht eine Reihe von alten Nummern des anarchistischen Blattes „Alarm" vor, das 1886 von Albert Parsons herausgegeben worden war. Um die Theorie und Praxis der Bergarbeiterföderation des Westens zu illustrieren, immerhin zwanzig Jahre später, las man viele Artikel aus diesem Blatt vor. Darauf wurden Exemplare des „Miners' Magazine" vorgelegt. O'Neill hatte einmal einen Leitartikel geschrieben, in dem er die Explosion, durch die Steunenberg getötet wurde, beschrieb. Dieser Artikel sollte angeblich die feindlichen Absichten der Föderation beweisen; die Staatsanwaltschaft hatte vielleicht erwartet, dass wir den Tod des Gouverneurs betrauern würden.
Auch die Resolution wurde vorgelegt, die ich im Florida-Tunnel in Kilver City geschrieben hatte und die einen Angriff auf Steunenberg enthielt, weil er Bundestruppen angefordert und in Coeur d'Alene das Standrecht erklärt hatte. Als Belastungszeuge erschien Stewart, seinerzeit Mechanikermeister in der Blaine-Grube und -Hütte. Er bezeugte, ich hätte gesagt: „Steunenberg muss ausgerottet werden." Er erinnere sich an diese Worte, weil er mich immer für einen der besten Bürger der Stadt gehalten habe. Nach dieser Bemerkung wurde entschieden, dass es nicht notwendig sei, ihn einem Kreuzverhör zu unterwerfen.
Man hatte angenommen, dass Gouverneur Peabody ein
interessanter Zeuge sein werde; an einem Vormittag hatte er seine Aussage gemacht und sollte nachmittags einem Kreuzverhör unterzogen werden. Während der Mittagspause wurde nach einer Besprechung zwischen Darrow, Richardson und mir beschlossen, auf Peabody nicht weiter Gewicht zu legen. Als das Gericht wieder zusammentrat, nahm der Gouverneur den Zeugensitz ein und saß dort zehn Minuten lang, richtete seine Krawatte, glättete sein Haar, zog seine Weste herunter, strich die Bügelfalten seiner Hosen zurecht - ein Bild der Nervosität. Vor Aufregung verschluckte er sich, als Richardson schließlich sagte: „Das genügt, Gouverneur." Sobald die Berichte über Orchards Zeugenaussage im Lande bekannt wurden, kamen Telegramme von Personen, die er erwähnt hatte, mit dem Anerbieten, als Zeugen aufzutreten und seine Aussagen zu widerlegen. Bill Davis und andere kamen und zerstörten den sie betreffenden Teil von Orchards Zeugenaussage. Es traten ferner zwei Männer aus Mullan, Idaho, auf und bezeugten, dass Orchard im Hinterraum eines Zigarrenladens in dem Augenblick mit ihnen Poker gespielt hatte, als die Explosion auf der Bunker-Hill-and-Sullivan-Hütte stattfand. Ein Baumeister aus San Francisco bezeugte, dass das Gebäude, von dessen Dach aus Orchard angeblich auf Bradleys Haus gestiegen sein wollte, noch gar nicht erbaut war, als Orchard, nach seinen Behauptungen, in San Francisco gewesen war. Eine Frau aus Cripple Creek sagte aus, dass Orchard oftmals Sterling und Scott auf deren Zimmer in ihrer Pension besucht habe.
Darrow hatte sich, wie bei früheren Prozessen, wieder ein „Opferlamm" unter den Staatsanwälten ausgesucht. Diesmal war es Jim Hawley, auf den sich sein Sarkasmus konzentrierte und dem gegenüber er manchmal so ausfallend wurde, dass Hawleys Sohn drohte, ihn wegen Ehrenbeleidigung zu verklagen. Darrow war nicht immer der lächelnde, liebenswürdige, beredsame Mann, als den man ihn manchmal beschrieben hat. Seine großartigsten Augenblicke waren die, wenn er zum Angriff überging. Einige der Zeugen wurden von ihm arg hergenommen. Die Aussagen des degenerierten Orchard zerpflückte er vollkommen und schloss: „Und einen solchen Erzverbrecher schützt die Staatsanwaltschaft noch!" eine Behauptung, gegen die Senator Borah protestierte und mit erhobener Hand ausrief:  „Möge meine rechte Hand verdorren, wenn dieser Mann nicht verurteilt wird!" Als ich auf den Zeugenstand gerufen wurde, führte Darrow die Verteidigung. Ich berichtete über mein Leben,  mein  Verhältnis  zur  Bergarbeiterföderation, meine Erfahrungen mit Orchard und über alle Ereignisse, mit denen ich bis zu dieser Stunde etwas zu tun gehabt hatte. Borah kam bei dem anschließend von ihm angestellten Kreuzverhör nicht auf seine Rechnung. Er starrte mich aus seinem Bulldoggengesicht mit der tiefen Kerbe im Kinn an und fragte in Bezug auf die Resolution, die ich in Silver City geschrieben hatte: „Waren Sie sehr erbittert gegen Gouverneur Steunenberg?"
„Jawohl", antwortete ich, „ich fühlte ihm gegenüber ziemlich das gleiche wie Ihnen und allen anderen gegen­über, die für das Standrecht und den ,Bullenstall' in Coeur d'Alene verantwortlich waren." „Das war auch mein Eindruck", erwiderte der Senator. Mir war nicht recht klar, was er damit wollte. Während des Kreuzverhörs begann die Sonne zu sinken und schien in das Fenster, dem ich gegenüberstand. Ich wandte mich an den Richter: „Wollen Sie bitte veranlassen, dass die Vorhänge an diesem Fenster zugezogen werden? Die Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich kann dem Senator nicht in die Augen sehen." Es war nicht meine Absicht, Borah aus der Fassung zu bringen, aber später erzählte man mir, dass er geäußert habe, er habe niemals von einem Manne gehört, dessen Leben im Prozess auf dem Spiel stand und dem so viel daran gelegen war, dem Staatsanwalt in die Augen zu sehen. „Mir ging förmlich die Luft aus", gestand er. Es kamen fast hundert Zeugen für mich zum Prozess nach Boise; siebenundachtzig davon sagten zu meinen Gunsten aus, einige verweigerten die Zeugenaussage. Diese wurden nicht unter Strafandrohung zur Aussage angehalten, weil die meisten von ihnen Bürger anderer Staaten waren.
Als die Verteidiger mit der Zeugenvernehmung fertig waren, begann Borah mit dem Plädoyer vor den Geschworenen. Er sprach lange und heftig und beschuldigte mich der Ermordung des Gouverneurs Steunenberg, eines Mannes, den ich niemals gesehen hatte und der an einem Ort ermordet wurde, an dem ich niemals gewesen war. Zur Zeit seines Todes war ich über tausend Meilen entfernt. Er war von einem Mann getötet worden, den ich acht Monate oder ein Jahr lang nicht gesehen und von dem ich während dieser Zeit niemals etwas gehört hatte. Mir schien, dass Borah unmöglich einen Schuldspruch erwarten konnte, und in seiner ganzen Rede verlangte er auch nicht einmal, dass ich gehängt werden solle.
Nach ihm sprach Richardson neun Stunden lang. Das Schlusswort für meine Verteidigung hielt Clarence Darrow, nicht nur ein großer Jurist, sondern auch ein scharfer Psychologe.
Darrow erhob sich zu seiner Rede an die Geschworenen, groß, breitschultrig, in einem lose hängenden grauen
Anzug, eine Haarsträhne vor der Stirn, seinen Zwicker am Bügel in der Hand haltend. Er begann mit einer Skizzierung der Geschichte der Bergarbeiterföderation des Westens und schilderte das Gefängnis, in dem wir uns während der letzten achtzehn Monate aufgehalten hatten und das die Geburtsstätte der Bergarbeiterföderation war. Er entwarf ein Bild von den isolierten Gruppen der „Ritter der Arbeit" und den Bemühungen dieser Organisationen, einen menschenwürdigen Lebensstandard durchzusetzen. Der Streik in Coeur d'Alene von 1892 und der von 1899, den man als bewaffneten Aufstand bezeichnet hatte, lebten wieder auf. Darrow erinnerte an die Einberufung der Bundestruppen zur Niederschlagung des Streiks im Gebiet von Coeur d'Alene, an das Standrecht, an die „Bullenställe", an die außerordentlichen Gerichtsverfahren und die Gefängnisstrafen.
Er behandelte ausführlich die vielen Streiks, die von der Bergarbeiterföderation in Colorado geführt wurden, und bewies, dass unsere Verbände nach der Annahme des Achtstundentaggesetzes, für das die Organisation gekämpft hatte, gezwungen waren, für seine praktische Durchsetzung Streiks zu führen. Die Wirkung des Standrechts auf die Bevölkerung eines davon betroffenen Staates oder Gebietes, die Leiden und Entbehrungen, die es für alle mit sich brachte, die unter solchen Bedingungen leben mussten, wurden von Darrow mit Nachdruck geschildert.
Er erörterte weiter die Aussagen der verschiedenen Zeugen der Staatsanwaltschaft und zog dann einen Vergleich zwischen ihnen und den Zeugen, die zu meiner Entlastung aufgetreten waren. Und nochmals kam er auf die ungesetzliche Verhaftung und Verschleppung, den Sonderzug mit der militärischen Bewachung zu sprechen
und bewies, dass die Staatsanwaltschaft vor nichts zurückgeschreckt war, um mich in die Mordaffäre zu verwickeln.
„... Ihr kurzsichtigen Männer von der Staatsanwaltschaft, ihr Männer von der Vereinigung der Grubenherren, ihr Leute, die ihr Hass mit Hass heilen wollt, ihr, die ihr glaubt, ihr könnt die Gefühle, die Hoffnungen und das Streben von Menschen vernichten, indem ihr ihm einen Strick um den Hals knüpft, ihr, die ihr ihn töten wollt, nicht weil er Haywood ist, sondern weil er eine Klasse vertritt: seid nicht so verblendet, seid nicht so töricht zu glauben, dass ihr die Bergarbeiterföderation des Westens abwürgen könnt, wenn ihr ihm einen Strick um den Hals legt. Seid nicht so blind, in eurem Wahnsinn zu glauben, dass ihr die Arbeiterbewegung der Welt töten werdet, wenn ihr drei neue Gräber grabt... Die Gesetzgebende Versammlung wurde 1902 aufgefordert, das Gesetz anzunehmen, das die Verfassung ihr anzunehmen vorschreibt, und was tat sie? Mr. Guggenheim und Mr. Moffatt und die Vereinigung der Grubenherren und alle die guten Leute in Colorado, die vom Schweiß und Blut ihrer Mitmenschen lebten - sie alle drangen in die Kammer und in den Senat ein und sagten: ,Nein, ihr dürft kein Achtstundentaggesetz annehmen; es ist wahr, die Verfassung verlangt es; aber hier ist unser Gold, das stärker ist als die Verfassung.' Die Gesetzgebende Versammlung trat zusammen und diskutierte die Angelegenheit. Haywood war dabei; die Arbeiterorganisationen waren dort und traten für die Armen, die Schwachen, die Unterdrückten ein, wie sie immer für sie eingetreten sind...
Wozu anders ist die Verfassung da, als um es dem Reichen möglich zu machen, den Armen auszurauben?" fragte Darrow, und dann beschrieb er den Richter
Goddard vom Obersten Gerichtshof als den schmutzigsten politischen Schieber in Colorado. „Wenn Sie Haywood töten, werden Sie mit Ihrer Tat bei vielen Beifall ernten; wenn Sie seinen Tod beschlie­ßen, werden die Herren in den Büros der großen Eisenbahngesellschaften unserer Großstädte Ihnen ihr Lob singen. Wenn Sie seinen Tod beschließen, werden bei den Spinnen und Geiern in der Wallstreet Lobeshymnen für diese zwölf guten und treuen Männer ertönen, die Haywood töteten...
Von fast allen Ufern der Welt, wo man Agitatoren und Störenfriede loswerden will, wo man jeden ins Gefängnis wirft, der für die Armen und gegen das verfluchte System kämpft, durch das die Drohnen leben und von dem sie fett werden, werden Sie Segens- und Lobsprüche dafür erhalten, dass Sie Haywood getötet haben. Sprechen Sie ihn aber frei, so bleiben noch immer all jene, die ehrfürchtig ihr Haupt beugen und diesen zwölf Männern für den Charakter, den sie sich bewahrt haben, danken werden. Auf unseren weiten Prärien, wo Männer mit ihren Händen arbeiten, draußen auf dem weiten Ozean, wo Männer die Schiffe lenken, in unseren Werken und Fabriken, tief unter der Erde, überall lenken Tausende von Männern, Frauen und Kindern - Männer, die arbeiten, Männer, die leiden, Frauen und Kinder, die von Mühe und Arbeit erschöpft sind - ihre Gedanken zu diesem Gerichtshof. Diese Männer, diese Frauen und diese kleinen Kinder, die Armen, die Schwachen, die Leidenden der Welt, strecken Ihnen die Hände entgegen und beschwören Sie, Haywoods Leben zu retten... " Elf Stunden währte die Rede. Einmal sprach Darrow leidenschaftlich, mit dröhnender Stimme, die linke Hand tief in der Rocktasche vergraben, den rechten Arm hoch erhoben. Dann wieder nahm er eine beschwörende Haltung ein, seine Stimme wurde sanft und sehr ruhig. Manchmal näherte er sich den Geschworenen fast auf den Zehenspitzen. Diese Rede war, glaube ich, eine der großartigsten, die Clarence Darrow je gehalten hat. Richter Woods erteilte den Geschworenen die übliche Anleitung, die zum Teil von John Murphy, der krank im Spital lag, geschrieben worden war. Am Abend des 27. Juni kam der Fall zur Entscheidung vor die Geschworenen.
An diesem Abend ging ich ungefähr zur gewöhnlichen Zeit zu Bett und schlief friedlich, bis sie mich am Morgen mit der Nachricht weckten, dass der Urteilsspruch gefällt worden sei. Kein Zeichen verriet, wie er ausgefallen war. Der Gerichtshof war überfüllt, als ich eintrat. Die Geschworenen wurden aufgerufen, und der Richter fragte sie, ob sie zu einem Urteil gelangt seien. Der Geschworenenälteste bejahte die Frage und fügte kurz hinzu: „Nicht schuldig." In dem losbrechenden Aufruhr wollten die Geschworenen bereits ihre Plätze verlassen, als sie zurückgerufen wurden, um auf Forderung von Richardson hin jeder einzeln sein „Nicht schuldig" abzugeben. Einer von ihnen zog eine kleine amerikanische Flagge aus der Tasche und sagte: „Haywood, bitte setzen Sie Ihren Namen auf diese Flagge." Ich lachte und erinnerte ihn an die Unannehmlichkeiten, die ich mir in Denver zugezogen hatte, weil ich etwas auf die Flagge geschrieben hatte. Aber ich tat ihm den Gefallen, und er erhielt so sein Andenken.
Der Urteilsspruch „Nicht schuldig" der Arbeitergeschworenen war ebenfalls bereits verkündet worden. Die vielen im Gerichtssaal anwesenden Freunde und meine Anwälte gratulierten mir. Ich schüttelte den Geschworenen die Hand und wurde von ihrem Ältesten eingeladen, ihn vor meiner Abreise noch zu besuchen.
Wim Gefängnis hatte der Vorsteher schon auf mich gewartet. Der Aufseher sperrte die Zelle auf, in der Moyer und Pettibone die gute Nachricht schon erfahren hatten. Pettibone schüttelte mir die Hand, aber Moyer rührte sich nicht von seinem Platz, obwohl mein Freispruch auch den seinigen wahrscheinlich machte. Er erklärte nur lakonisch: „Das ist gut."
Eine Reihe von Mitgliedern der Föderation erwartete mich am hinteren Tor des Gefängnisses, unter ihnen Bill Davis und John Harper, der frühere Leiter unseres Genossenschaftsladens in Victor. Sie beglückwünschten mich warm und herzlich. Einige begleiteten mich in die Wohnung meiner Frau, zu der sie und die Mädchen sofort nach der Verkündung des Urteils zurückgekehrt waren. Ich war von einer fröhlichen Menge umringt. Dann besuchte ich meine Mutter, die im Krankenhaus auf mich wartete, und von dort eilte ich sofort in ein anderes Hospital, wo John Murphy mich in seine Arme schloss und sagte:
„Bill, in dieser Stunde des großen Triumphes bleibe bescheiden!"
Am Nachmittag suchte ich auch den Geschworenenältesten in seiner Wohnung auf. Er erzählte mir, wie der Urteilsspruch zustande gekommen war. Man hatte mehrere Male abgestimmt. Die ersten Abstimmungen hatten zehn Stimmen für den Freispruch, eine für den Schuldspruch und einen weißen Zettel ergeben. Er fügte hinzu, dass er selbst den weißen Zettel abgegeben hatte. „Ich wollte herausfinden, wer für den Schuldspruch stimmte, sagte er. „Bei der Diskussion, die nun folgte, erfuhr ich, dass es Gilbert gewesen war. Die neue Abstimmung ergab nunmehr elf Stimmen für den Freisprach und eine für ,Schuldig'. Gilbert dachte offenbar, dass ich für das Urteil der anderen gewonnen worden sei, und bald kamen wir zu einem endgültigen Urteilsspruch." Dieser Gilbert war mir bei seinem Eintritt in den Gerichtssaal wegen seines grauen, fahlen Gesichts aufgefallen, und ich fragte mich, ob er nicht vielleicht der Staatsanwaltschaft irgendein Versprechen gegeben hatte, das er dann infolge des Druckes der anderen Geschworenen nicht halten konnte. Der Geschworenenälteste hatte in der Tat eine geschickte Methode angewandt. Ich dankte ihm so herzlich wie ich nur konnte und verabschiedete mich von ihm.
Zu Hause fand ich ganze Stöße von Telegrammen vor. Meine Kameraden mussten sie öffnen und vorlesen. Es waren annähernd tausend Gratulationen von verschiedenen Organisationen, Mitgliedern der Bergarbeiterföderation und anderen Personen aus dem ganzen Lande. Wir beschlossen, am folgenden Abend nach Denver zurückzufahren. Am Morgen vor der Reise machte ich mit Darrow einen Spaziergang. Dieser versuchte, mich davon abzubringen, mit meiner Frau und den Kindern nach Denver zurückzukehren. Er riet mir, mich für eine Zeitlang irgendwo aufs Land zurückzuziehen; anscheinend hielt er es für besser, wenn ich mich für einige Zeit der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit entzöge. Aber seine Argumente verschlugen nichts bei mir. Darrow war als Anwalt angestellt worden und nicht als Ratgeber. Ich sagte ihm, dass ich wahrscheinlich beauftragt werden würde, Geld für Moyers und Pettibones Verteidigung zu sammeln.
Nachdem ich meine Mutter heimgeholt hatte, ging ich in das andere Krankenhaus, um zu sehen, ob es möglich wäre, auch Murphy mit uns nach Denver zurückzunehmen. John befand sich in den letzten Stadien der Schwindsucht, und wir wussten, dass er nicht mehr lange leben würde. Er war mit allem einverstanden.
Unterwegs begegnete ich Robertson, dem an Jahren ältesten unter den Geschworenen. „Nun, mein Sohn, wie geht es dir?" begrüßte er mich. „Danke, ausgezeichnet", antwortete ich. „William, eher hätten sie meine alten Knochen bleichen können, bevor ich dich hätte verurteilen lassen. Nun halte dich eine Weile ruhig." Dann wünschte er mir eine glückliche Heimfahrt.
An diesem Nachmittag wurde Moyer gegen eine Kaution von fünfundzwanzigtausend Dollar, die der Bergarbeiterverband von Butte zur Verfügung gestellt hatte, freigelassen. Ich ging noch einmal ins Gefängnis, um mich von Pettibone zu verabschieden. Der Termin für seinen Prozess war noch nicht festgesetzt. Einige der Zeugen wollten bis zu seinem Prozess oder wenigstens bis zur Festsetzung des Termins verweilen. Zusammen mit meinen Angehörigen und John Murphy, den ich mit Unterstützung Moyers aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, trat ich die Reise nach Denver an. Die erste größere Stadt, durch die wir kamen, war Pocatello. Eine gewaltige Menge hatte sich auf dem Bahnhof eingefunden. Auf Verlangen eines Komitees richtete ich von einem Lastwagen aus einige Worte an sie. Das Wetter war schwül und meine Kranken abgespannt und müde, als wir in Salt Lake City ankamen. Wir blieben dort zwei Tage; Murphy fuhr jedoch ohne Aufenthalt mit einem Freund weiter nach Denver. In Salt Lake City wurde ich mit Gratulationen von Mitgliedern der Arbeiterorganisationen bestürmt. In Leadville erwartete mich trotz der frühen Stunde schon eine Delegation auf dem Bahnhof, die mir, da ich noch im Bett lag, von der Plattform aus eine Flasche Whisky zur feierlichen Begrüßung in den Wagen reichte.
Der Zug machte eine Rekordfahrt und traf pünktlich auf
die Minute in Denver ein. Eine ungeheure Menge erwartete seine Ankunft. Am Bahnhof begrüßte für gewöhnlich eine aus elektrischen Birnen gebildete Aufschrift „Willkommen" in der Stadt ankommende Reisende. Bei meiner Ankunft brannten die Birnen nicht; man erzählte mir, dass die Behörden auf Wunsch des Bürgerbundes die Beleuchtung abgeschaltet hatten. Mir bedeutete das wenig; sah ich doch das „Willkommen" in den Augen von Tausenden von Arbeitern leuchten! Ich trug meine Frau in den Krankenstuhl, rollte sie zu dem bereitstehenden Wagen und fuhr mitten durch die Hurra rufende Menge zum Albany-Hotel. Dort sprach ich zur Menge, die sich auf der Straße angesammelt hatte, dankte allen für das, was sie für mich getan hatten, und forderte sie auf, ihre Unterstützung fortzusetzen, bis auch Moyer und Pettibone als freie Männer neben mir stünden. Am Hoteleingang erwartete mich eine große Schar von Freunden, die mir die Hände schüttelten, unter ihnen auch Emma Langdon, die die Geschichte des Streiks von Cripple Creek geschrieben hatte und auf dem Gründungskongress der IWW als stellvertretende Sekretärin amtierte. Sie drückte einen Kuss auf meine Lippen, ein Anlass zu großer Aufregung unter den Reportern, die wissen wollten, wer sie sei.
Meine Arbeit begann sofort mit der Beantwortung der zahllosen Gratulationstelegramme und -briefe. Von dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart traf folgendes Schreiben ein:
„Der Internationale Kongress sendet an William Haywood die Glückwünsche der sozialistischen Bewegung der Welt zu dem großartigen Kampf, den er im Interesse der organisierten Arbeiterschaft der Vereinigten Staaten ausgefochten hat. Er brandmarkt nachdrücklichst den Versuch der Grubenbesitzer, einen Unschuldigen nur wegen seiner Verdienste um die Sache der organisierten Arbeiterschaft gerichtlich verurteilen zu lassen. In dem Prozess und in dem systematischen Verleumdungsfeldzug, der gegen Haywood von der gesamten kapitalistischen Presse geführt wurde, erblickt der Kongress den Ausdruck der immer schärfer hervortretenden Klassenpolitik der Bourgeoisie Amerikas und ihres vollständigen Mangels an Toleranz und Ehrgefühl in allen Angelegenheiten, die ihren Profit und ihre Macht bedrohen. Gleichzeitig beglückwünscht der Kongress die Sozialisten der Vereinigten Staaten zu der Geschlossenheit und dem Enthusiasmus, mit dem sie diesen Angriff abgewehrt haben. Das klassenbewusste Proletariat Europas sieht in der großen Macht, die dieser solidarische Akt gezeigt hat, das Band und die Gewähr für die Zukunft und hofft, dass dieselbe Geschlossenheit und Solidarität des amerikanischen Proletariats für seine volle Emanzipation eingesetzt wird."
Mein Prozess gehörte nun schon der Vergangenheit an. Obwohl Orchard bezeugt hatte, dass ich an der Explosion auf der Station Independence sowie an der Explosion in der Vindicator-Grube und an allen anderen teuflischen Taten in Colorado, zu denen er sich bekannt hatte, beteiligt gewesen sei, und obwohl mich die Gerichte des Bezirks Cripple Creek einiger dieser Verbrechen beschuldigt hatten, wurde nach meiner Rückkehr aus Boise niemals wieder ein Wort gegen mich laut, und kein Versuch wurde jemals unternommen, die Anklage zu erneuern. Die Grubenbesitzer waren mit der Organisierung des Eisenbahnattentats gescheitert, sie waren im Prozess von Boise geschlagen worden, und sie wussten, dass sie nochmals geschlagen würden, falls sie jemals versuchen sollten, einen von uns für die Verbrechen vor Gericht zu bringen, an denen sie die Schuld trugen.

 

Vierzehntes Kapitel
Die Welt weitet sich

Nach meiner Freisprechung in Boise erhielt ich von allen Seiten Aufforderungen zu Vorträgen und öffentlichem Auftreten in Varietes mit hohen Honorarangeboten. Die Tuilerien-Gärten in Denver boten mir siebentausend Dollar für ein einwöchiges Auftreten. Zick Abrams aus Kalifornien bot fünfzehntausend Dollar für vierzig Vorträge. Der „Star Circuit" wollte viertausend Dollar wöchentlich für ein zweimonatiges Auftreten zahlen. Die Gelegenheit, viel Geld zu verdienen, schlug ich aus da ich einsah, dass mein Prestige vor der Arbeiterklasse mit jedem Tag abnehmen würde, wenn ich diese Angebote kapitalistischer Konzerne angenommen hätte. Von den Arbeiterorganisationen und sozialistischen Parteien in Chicago und Milwaukee wurden Versammlungen organisiert, auf denen ich sprechen sollte. Das erste Meeting in Chicago fand im Luna-Park statt. Fünfundvierzigtausend Eintrittskarten waren schon ausgegeben, als die Menge das Gitter niederbrach und den ganzen Park überflutete, in dem ich sprach. Später fand eine von der Sozialistischen Partei veranstaltete Versammlung Riverside Park statt, für die sechzigtausend Karten verkauft wurden. In Milwaukee wurde die Zuhörerschaft auf siebenunddreißigtausend geschätzt Von Milwaukee fuhr ich zurück nach Chicago und war für einige Tage der Gast Anton Johansens, des Organisators des Holzarbeiterverbandes. Er und Matt Schmidt, der jetzt im Zuchthaus von St. Quentin eingekerkert ist, führten mich mit einem Automobil durch die Stadt. Damals stand noch das Monument des Polizisten mit seinem Knüppel auf dem Haymarket-Platz. Ich erinnere mich
an die Empörung, die mich packte, als ich dieses Symbol der Unterdrückung der Arbeiterklasse sah. Dann zum Waldheim-Friedhof! Am Sockel des Gedenksteins für die Arbeiter, die in Chicago vor zwanzig Jahren gehängt wurden, brach ich in Tränen aus. Die Erinnerung an diese Männer, deren Prozess und Hinrichtung ich als Junge in allen Einzelheiten verfolgte, hatte mich im Lauf der Jahre mit ihnen enger als mit Blutsverwandten verbunden.
Nach kurzem Aufenthalt in Denver, wohin ich von Chicago aus zurückkehrte, fuhr ich wieder nach Boise, wo Pettibones Prozess beginnen sollte. Pettibone lag im Krankenhaus.
Auch Darrow war schwer erkrankt; er litt an einem schweren Ohrenleiden, das ihn zwang, während der Verhandlungen zu sitzen. Ungefähr zwei Wochen nach Eröffnung des Prozesses, nach der Auswahl der Geschworenen, musste er sich wegen einer Operation von der Verteidigung zurückziehen. Wir übergaben darauf den Fall Richter Hilton aus Denver, da Richardson nach meinem Prozess zurückgetreten war. Pettibones Prozess begann wie eine Wiederholung meines eigenen Prozesses. Er selbst konnte wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht vernommen werden, und so wurde beschlossen, den Fall den Geschworenen ohne weitere Verhandlungen vorzulegen. Die Geschworenen sprachen ihn frei. Moyers Prozess fand überhaupt nicht statt; seine Verfolgung wurde bald nach Pettibones Freisprechung vom Gericht eingestellt. Pettibone starb nach seiner Rückkehr nach Denver. Ungefähr zur selben Zeit starb auch John Murphy an Schwindsucht.   Die   Bergarbeiterföderation   errichtete beiden Gedenksteine.
Im Herbst 1907 beauftragte mich der Exekutivausschuss
der Bergarbeiterföderation des Westens, nach Goldneid, Nevada, zu fahren, um nach Preston und Smith zu sehen, die zu langen Freiheitsstrafen verurteilt im Zuchthaus Carson saßen.
Preston und Smith waren wegen der Ermordung eines Restaurantbesitzers in Goldfield verurteilt worden. Der Hergang war folgender: Vor einem von den IWW bestreikten Restaurant war es aus irgendeinem Anlass zu einem erregten Auftritt gekommen. Der Wirt war mit einem Revolver in der Hand auf die Straße gerannt und hatte entweder Preston bedroht oder auf ihn gefeuert. Dieser hatte zurückgeschossen und den Wirt getötet. Ich erinnere mich nicht, auf welche Weise Smith in die Sache verwickelt war; aber die allgemeine Meinung ging dahin, dass beide widerrechtlich im Zuchthaus saßen, und ich wurde nun hingeschickt, um zu sehen, was sich für ihre Befreiung tun ließe.
Ungefähr zur selben Zeit wurde Grant Hamilton, ein Organisator der AFL und Freimaurer von hohem Range, von Gompers nach Goldfield geschickt. Er sollte versuchen, eine Organisation der AFL in dieser Stadt zu schaffen - keine leichte Aufgabe, da bereits alle Arbeiter den IWW und die Bergarbeiter der Bergarbeiterföderation des Westens angehörten. Hamilton hatte sich im Montezuma Club, dem Hauptquartier der Bergwerksbesitzer, einquartiert. War es sein Werk, dass kurz darauf eine Gruppe von Restaurationsangestellten, Mitglieder der AFL, als Streikbrechergarde gegen die IWW eintraf? Zwischen den standhaften IWW-Anhängern und den reaktionären Elementen in der Bergarbeiterföderation war es zu Zerwürfnissen gekommen, deren Auswirkungen ich in Goldfield kennen lernen sollte. Vincent St. John war aus Coeur d'Alene nach Goldfield übergesiedelt und arbeitete dort in der Bewegung mit. Im Laufe der Zeit
kam es zwischen ihm und Paddy Mullaney zu Streitigkeiten, die einen ernsten Ausgang nahmen. Eines Tages, als sich die beiden auf der Straße begegneten, zog Mullaney seinen Revolver. Bevor St. John noch die Möglichkeit hatte, nach dem seinen zu fassen, durchschoss ihm Mullaney beide Arme. Als ich in Goldfield eintraf, lag St. John im Spital, und Mullaney saß im Gefängnis. St. John stattete ich einen Besuch ab; er lag im Bett, sein rechter Arm war übel zugerichtet. Obzwar man die Hand retten konnte, blieb er doch ein Krüppel. Auf einer Versammlung des Bergarbeiterverbandes von Goldfield teilte ich den Mitgliedern den Zweck meines Besuches mit und forderte sie auf, fester zusammenzuhalten, um solche Zwischenfälle zu vermeiden, die sich zwischen den organisierten Arbeitern ereignen mussten, wenn die inneren Kämpfe weitergingen. Von Goldfield fuhr ich nach Carson City. Der Staatsanwalt, den ich dort sah, äußerte sich günstig über die Aussichten eines Gnadengesuches für Preston und Smith. Die Jungens im Zuchthaus freuten sich über meinen Besuch und die Mitteilung, dass ich die Aussichten auf eine Begnadigung für günstig halte. Im Gefängnishof begegnete ich noch einem Bekannten: dem alten einarmigen Jim, dem Indianer aus Willow Creek, der wegen der Ermordung Andy Kinnigers zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt war.
Von Carson City fuhr ich nach Reno. Dort traf ich mit dem mir früher in Winnemucca befreundeten Senator George Nixon zusammen. Wir besprachen die Lage in Goldfield, wo es zu heftigen Konflikten zwischen den Bergwerksbesitzern und dem Verband gekommen war. Es liefen Gerüchte um, dass die Entsendung von Militär verlangt werde; im Orte selbst hielten sich bereits viele Revolverhelden, gleichsam als Privatarmee im Solde der
Bergwerksbesitzer, auf. Ich wollte womöglich eine Wiederholung dessen, was sich in den Grubenorten von Colorado zugetragen hatte, verhindern und bat den Senator, sich gegen die Verwendung von Truppen in Nevada einzusetzen. Er versprach es mir; zumindest wollte er mich verständigen, falls ein Versuch gemacht werden sollte, Bundestruppen einzuberufen. Anscheinend hat er später sein Versprechen „vergessen"; ich hörte niemals etwas von ihm, obwohl Präsident Theodore Roosevelt tatsächlich kurz nachher Truppen nach Goldfield beorderte.
Bei meiner Rückkehr nach Denver fand ich eine von Intrigen geladene Atmosphäre in unserer Zentrale vor, gegen die ich nicht aufkommen konnte. Moyer, Mahoney, Kirwan und O'Neill waren radikal gegen die IWW eingestellt oder doch zumindest gegen jene Fraktion, die St. John zum Hauptorganisator gewählt hatte. Obgleich niemals ein Wort des Streites zwischen uns fiel, spürte ich doch die Feindseligkeit, die sie gegen mich hegten. Ungefähr zu dieser Zeit nahm St. John, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, in Chicago seine Arbeit als Hauptorganisator der IWW auf. Anfang Januar 1908 sprach ich in einer Versammlung im Grand Central Palace in New York. Dies war mein erster Besuch in der großen Weltstadt. U. Solomon, der Sekretär der Sozialistischen Partei, holte mich von der Bahn ab und führte mich in ein unweit des Bahnhofs gelegenes Hotel. Dort verließ er mich, und nun schlenderte ich allein durch die Straßen von New York, einsamer, als ich jemals im Leben gewesen war.
Der Versammlungsraum lag in einer Seitengasse in der Nähe des Hotels. Als es mir an der Zeit zu sein schien, ging ich hin und versuchte, mir einen Weg durch die Menge zu bahnen, die das Gebäude umlagerte. Man sagte mir, dass ich nicht hineinkommen könne, da der Saal bereits überfüllt sei. Während ich zum Haupteingang hineinzukommen versuchte, erkannte mich schließlich jemand, und eine kleine Gruppe von Leuten brachte mich an eine Hintertür und von dort auf die Rednertribüne. Sowie ich diese bestieg, brach ein ungeheurer Applaus los. Mein Herz taute ordentlich auf, und das frostige Gefühl, das ich den ganzen Nachmittag mit mir herumgetragen hatte, verschwand. Die nach Zehntausenden zählende Zuhörerschaft war angeregt und voller Begeisterung. Nach der Versammlung wurde ich von Hunderten von Leuten begrüßt. Eine kleine Frau umarmte und küsste mich in einem fort. Als ich ihr endlich ins Gesicht sehen konnte, entdeckte ich, dass es meine Schwester Mary war, die auf Staten Island lebte.
Im Anschluss begab ich mich auf eine Tournee durch das ganze Land. Genossin Luella Twining, eine Delegierte zum Gründungskongress der IWW, war mein Manager. Sie begleitete mich bis Denver, wo ein Kongress der Bergarbeiterföderation des Westens stattfand. Als ich mich auf diesem Kongress erhob, um das Wort zu nehmen, stand Moyer von seinem Stuhl auf und verließ den Saal. Die Atmosphäre war mit Konflikten geladen. Unter den Delegierten waren viele gute Kameraden von der alten Garde. Aber es war ein Riss in die Organisation hineingekommen. Ich fühlte, dass es Zeit erfordern würde, diesen Riss zu heilen.
Über Los Angeles kam ich im weiteren Verlaufe der Reise nach San Francisco, wo ich vor einer großen Versammlung in Dreamland Rink und später vor dem Central Labor Body (Anm.: Gewerkschaftskartell aller der AFL angeschlossenen Verbände. Die Red.) sprach. Von dort fuhr ich mit dem
Dampfer nach Eureka, einem der großen Holzfällerlager in Nordkalifornien, und von dort weiter nach Norden, nach Portland, Oregon, wo man eine Versammlung im „Tabernakel" eines Wanderpredigers organisiert hatte. Von Portland brachte mich ein Dampfer nach Seattle. Im Speisesaal fragte mich ein Mann, der mir gegenübersaß: „Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie erinnern mich an den Rechtsanwalt, wie hieß er doch gleich? der diese Kerle in Idaho verteidigt hat." „Sie meinen wahrscheinlich Darrow", erwiderte ich. „Jawohl, ganz recht. Sind Sie Mr. Darrow?" „Nein", antwortete ich. „Ich bin nicht Darrow. Ich bin der Kerl, den er verteidigt hat." Er sah mich äußerst verärgert an. „Ach so", sagte er, und das Gespräch war zu Ende.
In Seattle fand eine gute Versammlung statt, der noch eine Reihe weiterer Versammlungen im Staate Washington folgten. In Yakima wurde ich verhaftet - wegen Zigarettenrauchens! Nach allen Anklagen, die nun schon gegen mich erhoben worden waren, war es die erste, die eine Verurteilung einbrachte. Dies wiederholte sich noch in einer Reihe von anderen Städten, in denen ein Gesetz gegen das Zigarettenrauchen bestand. Es existierte auch ein Gesetz gegen das Zahlen von Trinkgeldern. Wenn ich auf Grund dieses Gesetzes nicht verhaftet wurde, so nicht etwa deshalb, weil ich das Gesetz nicht verletzte! Meine gerichtliche Verfolgung und die sich daran knüpfenden Erörterungen in der Presse führten übrigens zur Aufhebung des Antizigarettengesetzes.
In Wardner, Idaho, langte ich gänzlich erschöpft von den Anstrengungen der Reise durch Washington an und warf mich ins Bett. Den Genossen, die mich kurz vor der Versammlung abholten, musste ich auf dem Wege zum Lokal erklären, dass sie einen Ersatzredner für mich ausfindig machen müssten; denn mein Kopf war so wirblig, dass ich fühlte, ich würde keine Rede halten können. Im Versammlungssaal stieg ich auf die Tribüne, gerade lange genug, um mich bei der Zuhörerschaft zu entschuldigen und einen der Genossen zu bitten, an meiner Statt zu sprechen. Dann zurück ins Hotel und zu Bett. Von den vielen Hunderten von Versammlungen, die ich abgehalten habe, war dies die einzige, auf der ich versagte. Niemals habe ich sonst eine Versammlung oder auf allen meinen Reisen einen Zug versäumt. Ich sprach gern in Versammlungen; es machte mir Freude, zu fühlen, wie ich auf die Zuhörerschaft wirkte und, wie sie mit mir ging.
In British Columbia, in Kanada, sprach ich auf einer vom Bergarbeiterverband von Rossland veranstalteten Versammlung. Casey, der Sekretär des Verbandes, sprach mit mir über den Schaden, den ich mir durch zu vieles Trinken selber zufügte.
„Gerade das freut Moyer", sagte er. „Ich weiß, dass Moyer auf dem letzten Kongress einigen Mitgliedern Geld gab und ihnen zuredete, hinzugehen und sich mit Bill ein paar vergnügte Stunden zu schaffen und ihn lustig und betrunken zu machen." „Ist das wahr?" fragte ich. Casey erwiderte: „Gewiss!" Als sich der Zug am nächsten Morgen in Bewegung setzte, fiel mir wieder ein, was Casey erzählt hatte. „Wenn Moyer will, dass ich trinke, dann ist das Grund genug, es nicht zu tun", dachte ich bei mir selbst. Freunde und Verwandte hatten mich oft gebeten, das Trinken einzustellen, und ebenso oft hatte ich Versprechen gegeben, von denen ich wusste, dass ich sie nicht halten würde. Jetzt aber war ich wütend, durch und durch wütend! Ich holte eine Flasche mit Whisky aus der Tasche, trat damit auf die Plattform des fahrenden Zuges
und warf sie zwischen den Waggons hinunter auf di Schienen. Von da an berührte ich viele Jahre lang kein alkoholisches Getränk mehr.
Die plötzliche Entwöhnung verursachte zuerst eine heftige Reaktion, die ich eine Zeit lang nur schwer ertragen konnte. Aber mich trieb jetzt ein Wille, der stärker war als der Wunsch zu trinken. Meine Kräfte erneuerten sich, und mit dem alten Schwung und mit größerem Vergnügen, als ich es seit vielen Monaten empfunden hatte, stürzte ich mich wieder in die Arbeit. Obwohl ich nun nicht mehr Funktionär der Bergarbeiterföderation war, brach ich meine Beziehungen zu ihr noch nicht ab. Aber ich war überzeugt, dass dies schließlich geschehen würde, falls Moyer Präsident der Organisation bliebe.
Der Kongress der Sozialistischen Partei, der im Mai 1908 in Chicago zusammentrat, nahm ein Programm auf der Grundlage der Anerkennung des Klassenkampfes an. Es war dies die revolutionärste Periode der Sozialistischen Partei.
Die Partei hatte sich zu dieser Zeit von ihren früheren Kolonisationsplänen und ihrer Absicht, Gruben im Bezirk Cripple Creek anzukaufen, erholt und war noch nicht zu ihrer späteren opportunistischen Politik des Stimmenfanges abgesunken.
Viele der Delegierten schlugen mir vor, mich um die Kandidatur für die Präsidentenwahlen zu bewerben. Ich lehnte dies schriftlich ab und erklärte, dass ich für Eugene V. Debs sei, den der Kongress als Kandidaten der Partei für die Präsidentenwahlen aufgestellt hatte. In diesem Jahr wurde eine so genannte „Wirbelwind"-Kampagne durchgeführt, zu der ein „Roter Sonderzug" für eine Rednertournee durch das ganze Land ausgerüstet wurde. Debs und seine Gruppe sprachen während der dreimonatigen Tournee vor insgesamt etwa achthunderttausend Leuten. Unter den Literaturverkäufern auf diesem „Roten Sonderzug" war Tom Mooney, der als Opfer einer Spitzelmache nach dem Bombenanschlag auf die Parade am Tage der Bereitschaft (Preparedness Day) 1916 in San Francisco zum Tode verurteilt und später zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe „begnadigt" wurde, wegen der er bis auf den heutigen Tag im Kerker von St. Quentin schmachtet.(Anm.: Am 4. Januar 1939 wurde Tom Mooney von dem neu gewählten Gouverneur des Staates Kalifornien, dem Roosevelt-Anhänger Olsen, aus der Haft entlassen. Durch die lange Gefängnishaft entkräftet, starb er am 6. März 1942. Die Red.)
Der propagandistische Erfolg des „Roten Sonderzuges" lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. In jeder großen und kleinen Stadt kamen die Leute scharenweise an den Zug, und an jedem Haltepunkt sprachen die Redner von der rückwärtigen Plattform aus zu der Menge. Die Partei erhielt einen beträchtlichen Stimmenzuwachs, aber noch wichtiger als dieser war der erzieherische Wert der Kampagne.
Während dieser äußerst wichtigen Periode in der Entwicklung der Sozialistischen Partei scharwenzelte die AFL mit dem Zylinderhut in der Hand vor den Beamten der Regierung der Vereinigten Staaten. Zu dieser Zeit waren Gompers, Mitchell und Morrison von der AFL wegen Verletzung einer richterlichen Verfügung mit einem strengen Verweis bedacht und zu einem halben oder zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, einer Strafe, die sie niemals absaßen. Die AFL war ein Teil des Landesbürgerbundes, dieser Vereinigung des Kapitals und der Gewerkschaftsführer für die Klassenzusammenarbeit. Gompers selbst übte eine Zeitlang,
etwa acht Monate, nach dem Tode des ordentlichen Präsidenten das Amt des Präsidenten des Landesbürgerbundes aus.
Diese unwürdige Haltung der Arbeiterführer brachte ihnen bei den Politikern in Washington jedoch wenig ein, im Gegenteil, auch die schüchternsten Versuche, arbeiterfreundliche Gesetze durchzubringen, schlugen fehl.
Ich war in das Landesexekutivkomitee der Sozialistischen Partei gewählt worden und arbeitete eine Zeitlang als Mitglied desselben.  Das Massaker unter den Goldgräbern am Lenaflusse in Sibirien veranlasste das Exekutivkomitee, eine von mir eingebrachte Resolution anzunehmen, in der gegen die Ermordung der Bergarbeiter, gegen die Zarenherrschaft und gegen die Ausbeutermethoden der englischen Goldbergwerksgesellschaften an der Lena protestiert wurde. Im Jahre 1910 fand der Internationale Sozialistenkongress in Kopenhagen statt. Zu meiner großen Überraschung erhielt ich von allen amerikanischen Delegierten die größte Stimmenzahl. Die übrigen Delegierten waren John Spargo, Morris Hillquit, Victor Berger, Robert Hunter, May Wood Simons und Lena Morrow Lewis. Die Vereinigten Staaten hatte ich von einer Küste zur anderen bereist, und nun sollte ich den Ozean überqueren. Ich freute mich sehr auf die Reise und die mir gebotene Gelegenheit, mit Genossen aus anderen Ländern bekannt zu werden und an der Arbeit eines Internationalen Kongresses teilzunehmen. Die „Lusitania" brachte die amerikanische Delegation nach England, wo wir ohne Aufenthalt einen Dampfer direkt nach Kopenhagen bestiegen. Die Stadtverwaltung von Kopenhagen lag zu der Zeit in den Händen der Sozialisten. Überall rote Fahnen,
Menschenmengen,  Demonstrationen.  Niemals vorher hatte ich etwas Ähnliches wie den Kongress gesehen, dem unzählige Genossen beiwohnten, die ich bisher nur aus ihren ins Englische übersetzten Schriften kannte. Vor die Wahl gestellt, an den Beratungen der Abrüstungs- und Friedenskommission oder an denen der Gewerkschaftskommission teilzunehmen, wählte ich die letztere. Berger und Schlüter, der Herausgeber der „New Yorker Volkszeitung", sowie Olive Johnson von der Sozialistischen Arbeiterpartei gehörten ebenfalls dieser Kommission an, deren Vorsitzender Hjalmar Branting war. Im Laufe der Beratungen nahm ich Gelegenheit, über die Arbeiterorganisationen der Vereinigten Staaten und besonders ausführlich über die AFL, ihre hohen Eintrittsbeiträge, die Beschränkung ihrer Mitgliedschaft, über ihre Terminvereinbarungen mit den Unternehmern und  ihre  Beziehungen  zum  Landesbürgerbund  zu sprechen und dann die Entwicklung der Idee von den Industriegewerkschaften und die Entstehung der IWW zu erörtern.
Nach meiner Rede kam es zu einem Zwischenfall, der mir zuerst unerklärlich blieb. Branting schien sich mit dem Übersetzer gestritten zu haben, denn dieser nahm nach dem Wortwechsel seinen Stuhl, kehrte dem Vorsitzenden den Rücken zu und gab meine Rede ausführlich wieder. Später erzählte er mir, Branting habe ihm aufgetragen, meine Rede zu kürzen, er aber habe erwidert, dies sei vielleicht der wichtigste Diskussionsbeitrag in der Kommission, und er werde ihn möglichst getreu wiedergeben.
Lenin war in Kopenhagen der Führer der russischen Delegation, allerdings erinnere ich mich nicht, unter welchem Namen er an dem Kongress teilnahm. Als ich nach mehr als zehn Jahren nach Russland kam, erinnerte mich Lenin daran, dass wir einander auf dem Kopenhagener Kongress begegnet waren. Unter den Delegierten, die ich kennen lernte, waren auch Rosa Luxemburg und Ledebour, dessen Züchtigung Ramsay Macdonalds mir noch lebhaft in Erinnerung ist. Aus Frankreich war Jaurès gekommen, aus England Keir Hardie und viele andere, deren Namen mir als hervorragende Mitglieder der sozialistischen Bewegung und der Gewerkschaftsbewegung bekannt waren. Die Resolution für die Sicherung des Weltfriedens hätte eine bedeutsame Resolution werden können, aber der wichtigste Ergänzungsantrag über die Anwendung des Generalstreiks zur Verhinderung eines Krieges, eingebracht von Vaillant, Frankreich, und Keir Hardie, wurde abgelehnt, hauptsächlich auf Veranlassung der deutschen Delegation, die auf diesem Kongress den überwiegenden Einfluss hatte. Victor Berger unterstützte die Deutschen, und ich fühlte mich veranlasst, ihn zu fragen, wen er eigentlich vertrete, die amerikanische oder die deutsche Arbeiterschaft. Wahrheitsgemäß hätte er allerdings antworten müssen: „Keine von beiden." In Kopenhagen sprach ich auf mehreren Versammlungen. Meine Reden wurden von Clara Zetkjn und Alexandra Kollontai übersetzt. Durch mein Auftreten in den Gewerkschaften lernte ich ihre Organisationsform und ihre Methoden kennen. So erfuhr ich zum Beispiel, dass die Buchdrucker zu hundert Prozent organisiert waren; als ich mich aber nach dem Vorsitzenden erkundigte, wurde mir berichtet, dass er ein eigenes Unternehmen besitze und über hundert Arbeiter beschäftigte. Weiter erfuhr ich, dass der Buchdruckerverband einen neunjährigen Vertrag mit den Unternehmern hatte. Ich erwähnte diese Tatsache in meinen Reden und knüpfte daran die Frage, warum die Arbeiter nicht gleich einen Vertrag für neunzig oder neunhundert Jahre abschlössen, wenn sie schon gerade dabei wären; dann hätten sie wenigstens den Klassenkampf für die ganze Dauer ihres Lebens ausgeschaltet!
Bei Erkundigungen über das dänische Genossenschaftswesen erfuhr ich zu meiner großen Enttäuschung, dass die ausgezeichneten Güter und Milchwirtschaften der dänischen Genossenschaften auf Kosten des Schweißes und Blutes von Saisonarbeitern bewirtschaftet wurden, die jedes Jahr aus Polen, Österreich und Ungarn kamen; für die schwerste Arbeit erhielten sie täglich eine Krone und wurden mit Futtererbsen, Kartoffeln und saurer Milch beköstigt.
Im Anschluss an den Kongress unternahm ich eine ausgedehnte Fahrt durch viele europäische Länder. Der erste Besuch galt Schweden, wo ich in Malmö und Stockholm sprach. Über Göteborg führte die Reise nach Christiania, dem heutigen Oslo, der Hauptstadt Norwegens.
Dort sprach ich in einer Versammlung der streikenden Arbeiter der Teppich- und Gardinenfabriken über die unbarmherzigen Ausbeutermethoden der Kapitalisten, die einerseits Jungen und Mädchen dem Elternhaus entreißen und zu Arbeitssklaven machen, und andererseits die Arbeiterjugend Norwegens im Soldatenrock zur Niederschlagung streikender Proletarier verwenden. Von Norwegen fuhr ich auf einem kleinen Dampfer, der auf der rauen Nordsee wie ein Stück Kork tanzte, nach England.
Lee und Inkpin, die ich im Büro der Sozialistischen Partei in Maiden Lane in London traf, hatten eine Versammlungstournee durch England für mich organisiert. Die erste Versammlung fand in der Memorial Hall in London statt. Man hatte mir die Engländer als kalt und
phlegmatisch beschrieben, aber ich fand diese Charakteristik durchaus nicht bestätigt. Selten habe ich in meinem Leben vor einem Publikum gesprochen, dass so aufmerksam, aufnahmefähig und begeistert war. Nach der Versammlung traf ich mit George Bernhard Shaw zusammen, der mir von den vielen ihm aus den Vereinigten Staaten zugegangenen Einladungen erzählte. Ich bemerkte, dass ihm meiner Meinung nach eine Tournee durch Amerika großen Erfolg bringen würde. „Oh", sagte er, „daran liegt mir gar nichts!" und nannte mir bei dieser Gelegenheit eine Dame aus der New Yorker Gesellschaft, die die Unverschämtheit gehabt hatte, ihm zweitausendfünfhundert Dollar anzubieten, wenn er sein erstes Auftreten in ihrem Salon veranstaltete.
In Glasgow fand eine riesige Versammlung statt. Die Tatsache, dass die Stadt selbst die Straßenbahnen, Wasserwerke und eine große Zahl von Arbeiterhäusern verwaltete, hatte die Lage der Arbeiterbevölkerung nicht verbessert. Das Elendsviertel war so übel, wie ich es nur irgendwo gefunden habe, und des Sonnabends nachts gab es dort mehr betrunkene Frauen auf den Straßen, als ich jemals vorher oder nachher irgendwo sah. Von Glasgow fuhr ich nach Lanarkshire, dem Geburtsort Andy Carnegies, wo ich in einer Versammlung der Bergarbeiter sprach. In Lanarkshire bot sich mir ein abstoßendes Bild. Auf der einen Seite einer Straße stand ein vierstöckiges baufälliges Ziegelgebäude, in dem ungefähr fünfhundert Arbeiter lebten. Sie kochten ihre Mahlzeiten in einer schmierigen Küche. Das Badehaus war unsauber. Die Schlafräume waren schmutzige Löcher. Dieses Haus wurde aus irgendeinem unerfindlichen Grund das „Musterhaus" genannt. Auf der anderen Seite der Straße ragte eine kahle, nackte Mauer auf, so hoch wie eine Zuchthausmauer. Hinter dieser glatten Mauer verbarg sich ein großes Palais mit Hunderten von Zimmern, in denen ein einziger Mann, der Herzog von Hamilton, lebte.
Ich besichtigte das Mausoleum dieser noblen Familie. Einer der Särge aus schwarzem Basalt war aus Ägypten herangeschafft worden. Die aristokratischen Grabschänder hatten die in dem Sarkophag beigesetzte Leiche hinausgeworfen und das Prunkstück nach Schottland gebracht. Als der Schotte starb, der sich seinen Sarg schon zu Lebzeiten besorgt hatte, zeigte sich, dass die Leiche zu lang war. Da man den steinernen Sarkophag nicht verlängern konnte, musste der Tote mit krummen Knien hineingezwängt werden. Nun „ruhte" er so bequem, wie es so ein krummer Hund nur vermag. Die Wohnungen der Kohlengrubenarbeiter glichen Kaninchenlöchern, in langen Reihen, Rücken an Rücken gebaut, mit einer Tür und einem Fenster für jede Wohnung. Ein Zimmer für eine Familie, niemals mehr als zwei Zimmer. Die Betten waren wie Nischen in die Wand eingebaut. Tagsüber standen dort Töpfe und Pfannen übereinander getürmt, bei Nacht wurden sie auf den Boden gestellt, um Platz für die Schlafenden zu schaffen. Nach einigen glänzenden Versammlungen in Edinburgh, Cambushlang und in anderen schottischen Ortschaften wandte ich mich nach dem „schwarzen England", nach Manchester und Salford.
In Burnley sprachen Tom Mann, Henry Myers Hyndman und ich in der gleichen Versammlung. Mann war ein temperamentvoller Redner. Er interessierte sich zu der Zeit stark für die syndikalistische Bewegung und versuchte, die Transportarbeiter in einer Föderation zusammenzuschließen, nach einem Prinzip, das seiner Meinung nach etwa der syndikalistischen Bewegung in
Frankreich entsprach. Im Grunde genommen stand Mann I jedoch  dem  Gedanken  der  Industriegewerkschaften näher als dem des ausgesprochenen Syndikalismus. Von Hyndman, einem der führenden englischen Sozialisten, ist mir eine naive Bemerkung in der Erinnerung haften geblieben: der Hauptgrund, warum er ins Parlament gewählt werden wolle, sei - so sagte er - sein Wunsch, einmal im Unterhaus sprechen zu können. Pottstown ist das Zentrum der Ton-, Porzellan- und Emaille-Industrie. Wenn das Wetter trübe ist, liegt über der Stadt wie eine Decke der Rauch aus Hunderten von Schornsteinen. Während des Aufenthalts in dieser Stadt, in der einige gute Versammlungen stattfanden, besuchte ich mehrere Fabriken. Dort fielen mir besonders die Arbeiter auf, die die Porzellanfabrikate nach dem Brennen in eine bleihaltige Lösung tauchen, die ihnen die weiße Glasur gibt. Die damit beschäftigten Männer werden innerhalb weniger Jahre von dem Blei und seinen Dämpfen so vergiftet, dass ihnen die Zähne ausfallen und ihre Gelenke steif werden wie beim schlimmsten Rheumatismus. Man erzählte mir, dass diese Arbeiter nicht älter als achtundzwanzig bis dreiunddreißig Jahre würden.
Ich fuhr in die Kohlengebiete von Südwales, Rhondda Valley und Merthyr Tydvel, und sprach ein oder zwei Abende, bevor ein Streik für die Gruben dieses Gebietes erklärt wurde, in Tonypandy im „Royal Theatre". Ich erklärte den Kohlengrubenarbeitern die Organisationsform der Bergarbeiterföderation des Westens: dass jeder Mann, der in den Gruben arbeite, der gleichen Gewerkschaft angehöre und dass bei einem Streik alle Arbeiter die Arbeit zur gleichen Zeit niederlegten. Wenn die Bedienung der Pumpen eingestellt werde, sinke der Mut der Grubenherren oben im Büro so rasch, wie das
Wasser unten in den Gruben steige. Die Kumpels von Tonypandy schienen der Meinung zu sein, dass dies kein übler Rat sei. Als der Streik begann, holten sie die Maschinisten, die Männer an den Pumpen, die Ponytreiber und die Stallwärter von unter Tage heraus, so dass die Grubenbesitzer in eine sehr ernste Lage gerieten. Nach kaum einem oder zwei Tagen traf bereits ein Telegramm des Königs von England ein, der wissen wollte, ob die Ponys noch am Leben seien. Die Gesundheit und das Befinden der Bergarbeiter, ihrer Frauen und Kinder interessierte ihn nicht.
Einige wenige Streikbrecher - in England „blacklegs" (Schwarzbeine) genannt -, die sich während des Kampfes bemerkbar machten, hatten nichts zu lachen. Die Frauen nahmen sie richtig in die Kur: fingen die Schufte ein, rissen ihnen die Kleider vom Leibe und zogen ihnen weiße Hemden an, die vorn die Inschrift trugen: „Ich bin ein Streikbrecher." Dann schlangen sie ihnen einen Strick um den Hals und führten sie so durch die Straßen.
In Liverpool sprach ich in St. Georges Hall. Vor mir sprach Ramsay Macdonald. Als ich meine Rede beendet hatte, erhoben sich Leute aus der Zuhörerschaft, besonders auf der Galerie, mit lauten Zurufen, warfen ihre Mützen in die Höhe und schrieen: „Hurra! Du hast die Versammlung gerettet, Bill!"
Von England fuhr ich nach Paris. In der Zentrale der Confédération General du Travail lernte ich Charles Marck, den Hauptkassierer der Organisation, kennen. Auf seinem Schreibtisch lagen ganze Stöße von Ansichtskarten mit Bildern von Opfern des Kampfes der IWW für die Redefreiheit.
Jouhaux, der Sekretär der CGT, berichtete über die Bewegung für einen freien Sonnabendnachmittag für die Arbeiter. Nach mehreren Unterhaltungen kam ich zu dem Schluss, dass die Gewerkschaftsbewegung in Frankreich ziemlich ähnlich organisiert sei wie die AFL. Sie war nur etwas radikaler, weil ihre Mitglieder klassenbewusster waren.
In Paris traf ich William Z. Foster, der als Delegierter der IWW der Konferenz des Internationalen Gewerkschaftssekretariats in Budapest beigewohnt hatte. Foster hatte mit den französischen Delegierten Freundschaft geschlossen, deren syndikalistische Ideen ihn stark zu beeinflussen schienen. Er meinte, dass dem Syndikalismus auch in Amerika ein Weg gebahnt werden müsse. Von Frankreich aus machte ich einen Abstecher nach Italien, allerdings nur zu meinem Vergnügen. Über Paris begab ich mich wieder nach England und von dort aus mit der „Mauretania" nach Hause.

 

Fünfzehntes Kapitel
Der Streik in Lawrence

In New York hatten die IWW alle Vorbereitungen zu einer Versammlung getroffen, in der ich nach der Heimkehr das Wort nehmen sollte. In dem Meeting, das unter dem Vorsitz von Elizabeth Gurley Flynn durchgeführt wurde, gab ich meiner Freude über den Empfang Ausdruck, aber - so betonte ich - ich sei in Wirklichkeit nicht von daheim fortgewesen, denn überall auf meiner Reise durch die verschiedenen Länder sei ich bei der Arbeiterklasse gewesen. Ich berichtete von der Arbeiterbewegung in Frankreich, in England, in den skandinavischen Ländern und in Italien und sprach besonders über die mir wesentlich erscheinenden Unterschiede zwischen der syndikalistischen Bewegung in Frankreich und der Bewegung für Industriegewerkschaften in Amerika. In ihren ersten Jahren hatten die IWW die Geschichte der Bergarbeiterföderation des Westens geteilt; jetzt machten sie ihre eigene Geschichte. Der im Westen begonnene Kampf um die Redefreiheit hatte die Arbeiterklasse im ganzen Lande in Bewegung gebracht. In New York ebenso wie anderwärts war die Organisation im Wachsen. Die Stahlarbeiter im Osten und die Holzfäller und Landarbeiter im Westen wurden von den IWW organisiert. Im New Yorker Osten hatten sich kleine Gruppen von Arbeitern gebildet, die von der Idee der Industriegewerkschaft erfasst worden waren. Arbeiter, die von anderen Organisationen „übersehen" worden waren, fanden bei den IWW Aufnahme. Joseph Ettor, einer der erfolgreichsten Organisatoren der IWW, gründete die meisten Gruppen im Osten, wobei er von Elizabeth Gurley Flynn tüchtig unterstützt wurde. Viele Arbeiter der Schuhfabriken in Brooklyn wurden von den IWW erfasst. Die Vereinigten Schuharbeiter der AFL hatten nur einige wenige Mitglieder in den verschiedenen Betrieben. Sie hatten dort wie anderswo einen Vertrag mit den Fabrikanten abgeschlossen und arbeiteten für geringere Löhne als die IWW oder die unorganisierten Arbeiter. Um zu verhindern, dass auch ihr Lohnniveau auf jenes der AFL-Mitglieder hinabgedrückt wurde, erklärten die IWW einen Streik.
Während dieses Streiks kam es zu einem heiteren Zwischenfall. Ein früheres Mitglied der IWW hatte, noch zur Zeit seiner Mitgliedschaft, durch einen Straßenbahnunfall ein Bein verloren. Die IWW hatten die Krankenhauskosten bezahlt und ihm ein künstliches Bein angeschafft. Als nun aber der Streik begann, arbeitete dieser Mann weiter in der Fabrik. Eines Tages kam eine Gruppe von Streikenden in das Büro der Organisation, einer trug ein künstliches Bein auf der Schulter. „Was hast du da?" wurde er gefragt. „Wir haben hier das Bein, das wir mal für Dan Ritter gekauft haben. Wenn er Streikbrecherarbeit machen will, soll er hinhüpfen, unser Bein geben wir dazu nicht her!" Zu dieser Zeit wurde ich von New York nach Chicago gerufen, wo die Bekleidungsarbeiter in den Streik getreten waren. Die IWW hatten ungefähr achtzehntausend Schneider und Arbeiter verwandter Berufe organisiert, die nun ihre Forderungen aufgestellt hatten. Aber bevor die Forderungen noch den Fabrikanten Hart, Schaffner and Marx, der für diesen Streik ausschlaggebenden Firma, vorgelegt worden waren, hatten diese sogar schon mehr bewilligt, als die Streikenden verlangten; der Streik gegen diese Firma wurde sofort eingestellt. Für eine kurze Zeit hatte es den Anschein, als wollten sich die Schneider endgültig den IWW anschließen, aber sie organisierten dann den Verband der Vereinigten Konfektionsarbeiter, dem später die meisten Arbeiter des Bekleidungsgewerbes beitraten.
Auf einer neuen Tournee erreichte mich in Allentown, Pennsylvanien, ein Telegramm mit der Mitteilung, dass meine Mutter im Sterben liege. Ich sagte alle geplanten Veranstaltungen ab und eilte nach dem Westen - doch zu spät; in der Nacht vor meiner Ankunft war meine Mutter, meine gute Kameradin, verschieden. Nach der Bestattung kehrte ich nach Pennsylvanien zurück. Dort lebte ein Vetter von mir, der als Architekt beim Vandergrift-Stahlwerk gearbeitet hatte. Ihm trug ich den Wunsch vor, einmal das große Stahlwerk besichtigen zu können, und bat ihn, mir eine Erlaubnis dafür zu erwirken. Mein Vetter erklärte sich dazu bereit, erzählte mir aber gleich darauf von einigen Arbeiterführern, die vor kurzem in Vandergrift gewesen waren; man hatte sie zur Stadt hinausgejagt, und sie mussten über den Fluss schwimmen, um dem von den Beamten des Bezirks aufgehetzten Pöbel zu entgehen. Aber ich war unangemeldet nach Vandergrift gekommen, und niemand, außer meinem Vetter, wusste etwas von meiner Anwesenheit.
Nachdem der Einlass für mich erwirkt war, wanderte ich zwei Nächte lang durch die großen Anlagen. Ich erfuhr, dass die Walzer, Former und Putzer die bestbezahlten Arbeiter des Werkes waren. Ihnen gehörten die netten Häuser, die eine kleine Musterstadt bildeten. Sie besaßen Automobile, Ponywagen für ihre Kinder, Klaviere und Grammophone für ihre Frauen. Der Verkehr mit den Stadt- und den Geschäftsleuten ließ sie ihre Nasen hoch tragen. Als ich aber untersuchte, wo die Masse der Arbeiter lebte, stellte sich heraus, dass sie in einer kleinen, unten am Flusse gelegenen Stadt, Rising Sun genannt, hauste. In jedem Frühjahr waren ihre Unterkünfte wegen der Überschwemmungen unbewohnbar. Im Laufe der Ermittlung stellte ich fest, dass die gelernten Arbeiter mehr als die Vorarbeiter und Aufseher verdienten; aber die große Masse der Arbeiter erhielt sehr niedrige Löhne. Hier tat die Organisierung der Arbeiter not.
Von Vandergrift fuhr ich. nach McKees Rocks, wo die IWW einen Streik gegen die Pressed Steel Car Company führten. Dieser Streik war so vorzüglich organisiert, dass der Stahltrust zum Nachgeben gezwungen wurde. Es war das erste Mal, dass die niedrig bezahlten Arbeiter einen Streik gegen den Stahltrust gewannen. Die berittene Polizei von Pennsylvanien, von den Streikenden
„Schwarze Kosaken" genannt, hatte während des Kampfes einen der streikenden Arbeiter getötet. Nach dem Mord gaben die Streikenden der Polizei bekannt, dass für jeden getöteten Arbeiter drei Kosaken dran glauben müssten. Zur Zeit meines Besuches befanden sich einige Mitglieder der IWW, darunter Ben Williams, der Herausgeber der IWW-Zeitung „Solidarity", im Gefängnis. Ich suchte sie im Kerker auf und beteiligte mich an den Vorbereitungen zu einer Versammlung in Newcastle, die zum Protest gegen ihre Verhaftung organisiert wurde.
Im weiteren Verlauf der Tournee kam ich durch Tennessee, Kentucky, den Süden von Ohio und Indiana bis nach Chicago. In Chicago traf ich Abmachungen für eine Fahrt in den Süden, nach Louisiana, Arkansas und Texas, um mich dort mit den Holzfällern zu unterhalten. Der Holzarbeiterverband hatte eine Konferenz nach Alexandria, Louisiana, einberufen, der ich beiwohnen sollte.
Ich wusste, dass unter den Holzfällern und Sägewerkarbeitern in diesem Teil des Landes sowohl Weiße als auch Schwarze waren, und war daher sehr erstaunt, als ich beim Eintritt in den Sitzungssaal des Kongresses in Alexandria keine Neger unter den Anwesenden sah. Als ich mich nach dem Grund erkundigte, wurde mir mitgeteilt, dass es gegen das Gesetz in Louisiana sei, wenn Weiße und Schwarze zusammen in einer Versammlung säßen. Die Farbigen hielten ihre Versammlung in einem anderen Saal ab. Diese Feststellungen veranlassten mich zu einer Ansprache an die Versammlung: „Ihr arbeitet zusammen auf denselben Holzplätzen, in denselben Sägemühlen. Nicht selten fällen ein weißer und ein schwarzer Mann gemeinsam einen Baum. Jetzt haltet ihr eine Konferenz ab, um die Bedingungen zu erörtern, unter denen ihr arbeitet. Es kann nichts Vernünftiges dabei herauskommen, wenn ihr hier Resolutionen annehmt und sie dann in einen anderen Saal schickt, damit die schwarzen Arbeiter sie besprechen. Warum wollen wir nicht vernünftig vorgehen und die Neger zu dieser Konferenz einladen? Wenn dies gegen das Gesetz verstößt, so ist hier sicher ein Fall gegeben, in dem das Gesetz verletzt werden muss." Ohne einen Laut des Widerspruches von irgendeiner Seite wurden die Neger zur Sitzung eingeladen. Die gemischte Konferenz führte ihre Arbeit in geordneter Weise durch, und als es zur Wahl von Delegierten für den nächsten Kongress der IWW kam, wurden sowohl schwarze wie weiße Arbeiter gewählt. Während der Vorbereitungen für eine Massenversammlung in der Oper in Alexandria, auf der ich sprechen sollte, bat ich, für diese Versammlung ebenso wie für die vorangegangene Konferenz bekannt zu geben, dass die Neger unter den gleichen Bedingungen wie die Weißen an dem Meeting teilnehmen und sich hinsetzen könnten, wo es ihnen gefiele. Die Neger sollten nicht auf die obere Galerie gesperrt werden, wie es das Gesetz vorschrieb. Es war das erste Mal, dass eine Versammlung in solcher Weise in Alexandria veranstaltet werden sollte. Die Mitglieder wussten nicht, was möglicherweise geschehen würde, aber sie waren entschlossen, die Versammlung so, wie wir es festgesetzt hatten, durchzuführen. Die Oper war vom Parterre bis unters Dach überfüllt. Viele Neger waren zwar auf der Galerie, wahrscheinlich aus alter Gewohnheit, viele aber saßen auch unten zwischen den weißen Arbeitern. Es kam zu keiner Störung durch die Direktion oder die Polizei, und die Versammlung war von ungeheurer Wirkung auf die Arbeiter, die erkannten, dass sie Versammlungen ebenso gemeinsam durchführen konnten, wie sie gemeinsam arbeiteten.
Im Anschluss an die Tagung besuchte ich mehrere der im Süden gelegenen Holzfällerlager. In einem derselben, in Graybow, waren die Büros, die Warenhäuser und die Post von einem hohen Holzzaun eingeschlossen. Der Laden der Holzgesellschaft, der die Arbeiter mit allen Waren versorgte, arbeitete mit Gutscheinen. Das heißt, die Gesellschaft gab ihr eigenes Papier- und Messinggeld heraus. Diese Scheine und Geldstücke, von den Arbeitern „Fledermausflügel" und „Kirschkerne" genannt, wurden nirgendwo sonst in Zahlung genommen. Trotz aller Überwachung wurde in Graybow gegen die Long Bell Lumber Company ein Streik erklärt, der sich rapide auch auf andere Sägemühlen- und Holzfällerorte ausbreitete. In Graybow wurden einige Wächter und Angestellte der Gesellschaft sowie einige streikende Arbeiter getötet. Sieben weiße und fünf schwarze Streikende wurden ins Gefängnis geworfen und sieben Monate lang festgehalten, aber keiner von ihnen wurde verurteilt.
Man hatte mir von fast unglaublichen Verhältnissen in den Terpentinlagern erzählt, wo sich unter den Arbeitern einige zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilte Männer befanden, die die Unternehmer im wahren Sinne des Wortes von den Bezirken, in denen sie verurteilt worden waren, als Arbeitskräfte gekauft hatten. Diese Leute waren einer unmenschlichen Behandlung unterworfen; oft wurden sie fürchterlich geschlagen. In einem solchen Lager ist erst vor wenigen Jahren der siebzehnjährige Martin Tabert zu Tode geprügelt worden.
Die Terpentin- und Holzverwertungsgesellschaften verstanden es, viele Arbeiter, sowohl schwarze wie weiße, in stärkere Fesseln zu schlagen, als sie es durch die Stahlketten der Sklaverei vermocht hätten. Sie züchteten bewusst die Gewohnheit des Genusses narkotischer Drogen unter den Arbeitern. In jedem Laden der Gesellschaft wurden Kokain, Morphium und Heroin verkauft. Sobald sie einmal dem Laster des Giftgenusses verfallen waren, konnten die Arbeiter nicht mehr daran denken, sich von ihrer sicheren Bezugsquelle zu entfernen, selbst wenn es ihnen gelang, genug Geld für die Reisekosten aufzutreiben. Solche Arbeiter wandern wohl von Lager zu Lager, aber verlassen niemals mehr diese Gegend. Die Gesellschaften hatten Frauen in die Lager geholt und in kleinen Blockhäusern untergebracht. Die Männer wechselten von Ort zu Ort, blieben in einem vielleicht einige Monate, vielleicht ein oder zwei Jahre, die Frauen aber blieben in ihren Hütten und nahmen die Neuankömmlinge für die Dauer ihres Aufenthaltes in dem betreffenden Lager als „Gatten" auf. Ich war oftmals in den Wohnungen der auf diese Weise verheirateten Arbeiter; es waren rohe Blockhäuser, aber so sauber gehalten, wie es nur weibliche Aufmerksamkeit vermag. Nachdem ich noch in Texas vor der Farmer-Bildungsliga, ebenfalls einer gemischtrassigen Organisation, gesprochen hatte, kehrte ich nach Chicago zurück. Dort vereinbarte ich mit der Kerr Cooperative Publishing Company eine Propagandatournee für die in diesem Verlag erscheinende „International Socialist Review". In jeder Ortsgruppe wurden zu den Versammlungen Eintrittskarten verkauft, die zugleich den Preis für ein Abonnement der Zeitschrift einschlossen. Ich berührte Duluth, Minneapolis und St. Paul und hatte eine ausgezeichnete Versammlung in Butte, Montana. In Anaconda, einer Hüttenstadt, herrschte überall eine so gedrückte Atmosphäre, dass ich sie „die Stadt des Gewispers" taufte. Die Arbeiter schienen es aus Angst vor Entlassung nicht zu wagen, ihren Mund aufzutun. In Spokane fand eine ausgezeichnete Versammlung statt. Die Arbeiterschaft war hier noch immer erfüllt von der Begeisterung des Kampfes um die Redefreiheit, den die IWW 1909/1910 geführt hatten. Die Behörden von Spokane hatten versucht, die Organisation der IWW zu vernichten und die Kampfentschlossenheit ihrer Mitglieder zu brechen, indem sie die Arbeiter in das Bezirksgefängnis steckten. Eine Zeitlang war das Gefängnis so überfüllt, dass die Insassen keinen Platz fanden, auf dem sie sich ausstrecken konnten; der Reihe nach legten sich immer nur einige auf einen dafür reservierten Platz, um ein paar Minuten zu ruhen. Die Fenster des Korridors, in den sie gesperrt wurden, waren geschlossen und die Dampfheizung war in Betrieb, um den Aufenthalt in diesem Loch vollends unerträglich zu machen. Schließlich wurde die Hitze so groß, dass die Gefangenen dachten, sie sollten in dieser Hölle ersticken.
Dieser Kampf in Spokane war nur eine der vielen Auseinandersetzungen für die Redefreiheit, die von den IWW im ganzen Lande geführt wurden. Aber jeder Kampf nahm eine besondere Entwicklung und wies immer neue eigenartige Züge auf; so kam es, dass die Tätigkeit der IWW in der Presse viel besprochen wurde und sich bei den jungen Wanderarbeitern das Gefühl von der Wichtigkeit und Stärke der Organisation entwickelte. Sie ließen sich nicht länger von der Polizei von einem Ort zum anderen hetzen, und wenn sie verhaftet wurden, kam ihnen die Gruppe, in der sie organisiert waren, stets zu Hilfe.
Wenn ein Kampf um die Redefreiheit begann, machte sich jeder beschäftigungslose Wanderarbeiter, der davon hörte, auf den Weg in die Stadt, wo der Kampf im Gange war, ließ sich mit in die überfüllten Gefängnisse stecken und machte es den Beamten auf jede Weise so ungemütlich, dass sich das Recht auf Redefreiheit schließlich durchsetzte. So waren zum Beispiel die Gefängnisse in Sioux City von IWW-Mitgliedern überfüllt. Die Behörden hatten einige Wagenladungen Granit kommen lassen und verlangten, dass die IWW-Anhänger ihn zu Schotter für Landstraßen zerkleinerten. Aber anstatt zur Arbeit zu gehen, traten die IWW in den Hungerstreik. Als sie vor das Gericht geführt wurden, fragte der Richter einen jungen Burschen: „Du bist doch ein Arbeiter, wie? Lass mich die Schwielen an deinen Händen sehen." „Ziehen Sie mal Ihre Hosen 'runter, Richter", erwiderte der junge Bursche, „damit ich sehen kann, wo Sie Ihre Schwielen haben!"
Nach einer Versammlung in Portland nahm ich den Dampfer nach Seattle. An Bord befand sich auch Fred Moore, ein Rechtsanwalt, der für die IWW arbeitete. Er kam als Bote von Clarence Darrow, dem Hauptverteidiger für die Brüder MacNamara, die in Zusammenhang mit der Explosion in der „Los Angeles Times" in Kalifornien, bei der mehrere Streikbrecher getötet worden waren, des Mordes angeklagt waren. Meinen Abmachungen gemäß sollte ich durch Kalifornien reisen; Moore überbrachte mir aber von Darrow die Weisung, nicht vor Beendigung des MacNamara-Prozesses nach Kalifornien zu kommen. Darrow war besorgt, meine Vorträge in Kalifornien würden von schlechter Wirkung auf den Ausgang des Prozesses sein. Ich hatte überall für die Genossen gesprochen, und die IWW arbeiteten für sie. Die gesamte organisierte Arbeiterschaft war empört über die Art ihrer Verschleppung. Es war eine Wiederholung dessen, was man mit Moyer, Pettibone und mir getan hatte, als wir von Colorado nach Idaho entführt wurden. Ich wollte nichts tun, was den Brüdern MacNamara schaden könnte, und beschloss nach sorgfältiger Überlegung, alle meine Abmachungen in Kalifornien rückgängig zu machen, änderte meine Reiseroute und fuhr nach Kanada.
Beim Übertritt über die Grenze fragte mich der Zollbeamte, ob ich das Land nur für einen kurzen Ausflug beträte. „Nur für ein paar Tage", erwiderte ich und verschwieg ihm, dass ich beabsichtigte, eine Tournee durch das ganze Land zu machen. Auf dieser Reise kam ich von Vancouver bis nach Cape Breton, von Küste zu Küste, und sprach unterwegs in allen großen Städten. Auf einer dieser Fahrten durch das an Naturschönheiten reiche Kanada passierte der Zug die Ruinen der Stadt Frank, die durch einen Bergrutsch begraben worden war. Frank war ein Grubenort gewesen, in dem Hunderte von Mitgliedern der Bergarbeiterföderation des Westens gelebt und gearbeitet hatten, die ihr Leben bei dem Unglück verloren. Kein Stein war in dem ganzen Ort auf dem andern geblieben; wir fuhren durch ein verlassenes Trümmerfeld, unter dem eine ganze Stadt begraben lag.
Auf dieser Reise hatte ich viel Material für meine Vorträge: meine kürzliche Fahrt durch Europa, den Mac-Namara-Prozess und die Bewegung für die Industriegewerkschaften, für die sich die Arbeiter überall lebhaft interessierten.
Kurze Zeit nach meiner Rückkehr nach New York trat ich in einem öffentlichen Disput über das Thema: „Die Sozialistische Partei und die IWW" gegen den Rechtssozialisten Morris Hillquit auf. Die Sozialistische Partei war von ihrem Programm von 1908 abgekommen und hatte eine eindeutige opportunistische Plattform bezogen.
Die Wahl eines sozialistischen Kongressmitgliedes war nach Meinung der führenden Sozialisten eine der größten Errungenschaften der Partei. In dieser Debatte verlas ich auch die Präambel zum Statut der IWW in ihrer neuen korrigierten Form. Die Stellen über die politische Aktion waren gestrichen und auch andere Veränderungen vorgenommen worden. Die IWW traten jetzt als eine revolutionäre wirtschaftliche Organisation auf. In der Einleitung hieß es jetzt nach der Abänderung: „Die Arbeiterklasse und die Unternehmerklasse haben nichts miteinander gemein. Es kann keinen Frieden geben, solange Millionen Arbeiter Hunger und Not leiden und die wenigen, die die Unternehmerklasse bilden, alle Güter des Lebens besitzen. Zwischen diesen beiden Klassen muss der Kampf weitergehen, bis die Arbeiter der ganzen Welt sich als eine Klasse organisieren, vom Boden und von den Produktionsmitteln Besitz ergreifen und das Lohnsystem abschaffen.
Wir sehen, dass die Konzentration der Leitung der Industrien in immer weniger Händen die Fachgewerkschaften unfähig macht, es mit der ständig wachsenden Macht der Unternehmerklasse aufzunehmen... Um diese Bedingungen zu verändern und die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen, bedarf es einer Organisation, die so beschaffen ist, dass alle ihre Mitglieder in jeder beliebigen Industrie oder, wenn nötig, in allen Industrien die Arbeit niederlegen, wann immer ein Streik oder eine Aussperrung in irgendeinem Zweig im Gange ist, und so ein Unrecht an einem zu einem Unrecht an allen erklären.
Statt der konservativen Losung ,Einen anständigen Tageslohn für eine anständige Tagesarbeit' müssen wir auf unser Banner die revolutionäre Parole ,Abschaffung des Lohnsystems  schreiben. Es ist die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, den Kapitalismus abzuschaffen. Die Armee der Arbeit muss organisiert werden, nicht nur zum täglichen Kampfe gegen die Kapitalisten, sondern auch, um die Produktion weiterzuführen, wenn der Kapitalismus gestürzt ist. Durch Organisierung nach Industrien schaffen wir die Struktur der neuen Gesellschaft in der Schale der alten... " (Anm.: Obwohl die IWW den parlamentarischen Kampf entschieden ablehnten, anerkannten sie auf ihrem Gründungskongress die Notwendigkeit von politischen Aktionen und stimmten einem dementsprechenden Passus in der Präambel zum Statut zu. Diese so genannte „politische Klausel" wurde unter dem Einfluss einer anarchistischen Strömung, die besonders unter den Wanderarbeitern des Westens vorherrschte, auf dem Kongress von 1908 gestrichen. Von diesem Augenblick an haben die IWW in der Praxis gegen jede politische Aktion gekämpft. Die Red.)
Ich verwies darauf, dass die Ablehnung der IWW, sich einer politischen Partei anzuschließen, nicht bedeute, dass sie antipolitisch seien, und dass ich persönlich ebenso gut Sozialist sei, wie jedes andere Mitglied der Sozialistischen Partei.
Dieser Versammlung wohnten viele führende Mitglieder der IWW bei, darunter Ettor, Giovannitti, Elizabeth Gurley Flynn und Jim Thompson. Ettor hatte eben ein Telegramm von den italienischen Arbeitern in Lawrence, Massachusetts, erhalten, mit dem er aufgefordert wurde, hinzukommen, da ein Streik der Textilarbeiter in Sicht sei. Ettor fuhr unverzüglich nach Lawrence ab, und einige Tage später bat er mich telegrafisch, nachzukommen und ihm bei dem Streik zu helfen. Bei meiner Ankunft in Lawrence empfingen mich zehn- bis fünfzehntausend Streikende. Wir bildeten einen Demonstrationszug und marschierten zum „Anger", wie in Neuengland in jeder Stadt der öffentliche Park genannt wird. Dies war, wie die „Tribüne" von Lawrence schrieb,
die größte Demonstration, die jemals zum Empfang eines Besuchers in Lawrence stattgefunden hatte. Bei der Ankunft in Lawrence fand ich, dass Ettor die Lage gut in der Hand hatte. Dem Streikkomitee gehörten je ein oder mehrere Mitglieder aus jeder im Streik befindlichen Fabrik oder großen Werkabteilung an. Dem Streik war folgendes vorausgegangen: Das Parlament von Massachusetts hatte ein Gesetz über die Herabsetzung der Arbeitszeit in der Textilindustrie von sechsundfünfzig auf vierundfünfzig Stunden die Woche angenommen. Die Woll- und Baumwoll-Industriellen kündigten an, dass bei der Durchführung dieses Gesetzes die Löhne entsprechend herabgesetzt werden würden. Die Arbeiter erklärten dagegen, dass die Löhne ohnehin schon untragbar niedrig seien. Der durchschnittliche Wochenlohn betrug acht Dollar und sechsundvierzig Cent, für die Frauen gar nur sieben Dollar und zweiundvierzig Cent. Das war der Durchschnitt für alle Arbeiter, einschließlich der gelernten. Der Durchschnittslohn für jene Arbeiterschichten, die im Streik standen, betrug sechs Dollar wöchentlich. Diese Löhne galten nur für die tatsächlich geleistete Arbeitszeit; es gab keinen Urlaub, und alle Feiertage wurden vom Wochenlohn abgezogen. Bei solchen Löhnen war es unmöglich, Familien zu unterhalten; die Arbeiter mussten in den Streik treten. Alle Textilfabriken wurden bestreikt, und alle Arbeiter, mit Ausnahme einiger der höchstqualifizierten, nahmen an dem Kampf teil. Die Streikenden verlangten eine Vierundfünfzigstundenwoche, eine fünfzehnprozentige Lohnerhöhung, doppelte Entlohnung für Überstunden, Abschaffung jedes Prämiensystems und Unterlassung aller Maßregelungen von Arbeitern wegen ihrer Tätigkeit während des Streiks.
Der Streik von Lawrence breitete sich immer stärker aus,
bis gegen Ende Januar 1912 insgesamt fünfundzwanzigtausend Arbeiter daran teilnahmen. Sie gehörten ungefähr fünfundzwanzig Nationalitäten an und sprachen fünfundvierzig verschiedene Sprachen und Dialekte. Die gesamten Textilbetriebe von Lawrence und Umgebung standen still.
In vielen Streikversammlungen nahm ich das Wort und verließ dann Lawrence, um Gelder zu sammeln und die Solidaritätsbewegung für die Streikenden zu unterstützen. Ende Januar 1912 wurden Ettor und Giovannitti auf Grund einer Spitzelmache wegen Mordverdachts verhaftet. Ein streikendes italienisches Mädchen, Anna LaPizza, war von einem Polizisten getötet worden; doch der Mord wurde, wie üblich, den Streikführern zur Last gelegt. Nach Erhalt der alarmierenden Nachrichten aus dem Kampfgebiet kehrte ich sofort nach Lawrence zurück und wurde zum Vorsitzenden des Streikkomitees gewählt, das aus sechsundfünfzig Mitgliedern bestand und ebenso vielen Ersatzmännern, die bereit waren, an die Stelle von Verhafteten zu treten. Ein Journalist, der im „Outlook", einer konservativen Wochenschrift, über den Streik berichtete, schrieb damals:
„Haywood will keine Verbände der Weber, der Spinner, der Webstuhlzurichter, der Wollsortierer, sondern er will einen allumfassenden Verband aller Textilarbeiter, der später die Textilfabriken übernehmen soll, ebenso wie die Stahlarbeiter die Stahlwerke und die Eisenbahner die Eisenbahnen übernehmen sollen... Haywood vertraut nicht den Tarifverträgen, die nach seiner Theorie nur zum sozialen Frieden führen und ,die Arbeiter in den Schlaf lullen'. Lasst den Unternehmer seine Arbeiter aussperren, wenn es ihm gefällt, und lasst die Arbeiter streiken, wenn es ihnen gefällt. Er ist gegen
Schiedsgerichte, Versöhnung, Kompromiss; er ist gegen die gleitende Lohnskala, Gewinnbeteiligung, Wohlfahrtsarbeit; kurz, gegen alles, was die revolutionäre Kraft der Arbeiter schwächt. Er verlangt nicht den geschlossenen Betrieb (Anm.: Ein Betrieb, in dem nur gewerkschaftlich organisierte Arbeiter eingestellt werden. Die Red.) oder die offizielle Anerkennung des Verbandes, denn er denkt nicht daran, den Unternehmer anzuerkennen. Was er wünscht, ist nicht ein industrieller Friedensvertrag zwischen den zwei großen vertragsschließenden Parteien, sondern lediglich die Schaffung einer proletarischen Macht, die schließlich die Gesellschaft revolutionieren wird..."
Einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der nach Lawrence kam, zeigte ich Lohntüten der Arbeiter, darunter eine für fünf Dollar fünfundvierzig Cent mit dem aufgedruckten Bat, Geld zu sparen, und mit der Annonce der Bank am Orte. Fünf Dollar fünfundvierzig Cent für die Arbeit einer Woche - und unentgeltliche Ratschläge zum Sparen! Das hieß in der Tat, zum Unrecht noch den Hohn hinzufügen! Der Mann, der mir diese spezielle Lohntüte gegeben hatte, war ein alter Arbeiter, der schon längst nach einem arbeitsreichen Leben in der betreffenden Fabrik hätte pensioniert werden müssen. Statt dessen war mit seiner nachlassenden Arbeitskraft auch sein Lohn immer tiefer gesunken, bis er sich nun schließlich als Wollsortierer für etwas über fünf Dollar die Woche abplagen musste! Ich wusste, dass die Untersuchung zu nichts führen würde, aber sie gab gute Propagandamöglichkeiten.
Nach der Verhaftung Ettors und Giovannittis wurde die Forderung gestellt, sie gegen Kaution freizulassen. Sie waren der Ermordung Anna LaPizzas angeklagt, obwohl neunzehn Zeugen gesehen hatten, dass der Polizist Beloit
das Mädchen ermordet hatte. Die Freilassung der beiden Streikleiter wurde jedoch verweigert, sie blieben sieben Monate lang in Haft. Später wurde unter derselben Mordanklage auch noch der Italiener Caruso verhaftet. Elizabeth Gurley Flynn, die führende Frauenorganisatorin der IWW, leistete in Lawrence ausgezeichnete Arbeit, sprach vor den Streikenden, hielt auch außerhalb des Streikbezirks Versammlungen ab und sammelte Gelder für den Unterstützungsfonds und für die Verteidigung der Gefangenen. Die Kinder der Streikenden schickten wir in andere Städte zu Sympathisierenden, die während der Dauer des Streiks für sie sorgten. Diese Kindergruppen waren oft ziemlich groß und wurden überall mit Fürsorge und Sympathie aufgenommen. Als eines Tages wieder eine Gruppe abfahren sollte, bildete die Miliz einen Kordon um den Bahnhof, und die Polizei versuchte, die Kinder am Besteigen des Zuges zu hindern. Sobald einer dieser großen Kerle ein Kind anrühren wollte, begann es natürlich zu schreien, und die Mutter lief zur Rettung ihres gefangenen Kükens herbei. Es kam auf dem Bahnhof zu einem Zusammenstoß zwischen den Polizisten und den kämpfenden Frauen. An diesem Tage hinderten die Unternehmerknechte die Kinder zwar an der Abreise, aber sie versuchten es kein zweites Mal mehr.
Als die ersten einhundertneunzehn Kinder in New York ankamen, wurden sie in das Büro der Sozialistischen Partei geführt und nach einem Imbiss von Ärzten genau untersucht. Die Untersuchung ergab, dass jedes dieser einhundertneunzehn Kinder unterernährt war, das heißt, dass es Hunger litt. Das war nicht etwa die Folge von drei oder vier Tagen Hunger, sondern es war ein chronischer Zustand. Diese Kinder hatten von der Geburt an Hunger gelitten. Sie hatten schon im Mutterleibe gehungert, und ihre Mütter hatten gehungert, bevor sie diese Kinder empfingen.
Eines Morgens wurde ein syrischer Junge, der zum Pfeifer- und Trommlerkorps der Streikenden gehörte, hinterrücks mit einem Bajonett erstochen, als er auf Streikposten stand. Er starb kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus.
Nicht nur die Polizeikräfte von Lawrence wurden gegen die Streikenden verwandt, sondern auch Polizei aus anderen Städten sowie Polizei und Miliz des Staates waren aufgeboten worden. Sie schlugen in den Fabriken ihr Lager auf.
Die streikenden Frauen waren ebenso aktiv und tüchtig wie die Männer und kämpften ausgezeichnet. An einem kalten Morgen hatte man Feuerspritzen aus den Fabriken herangeschleppt und sie gegen die Streikenden auf einer Brücke gerichtet. Darauf fingen die Frauen auf der Mitte der Brücke einen Polizisten ein, rissen ihm Uniform, Unterhosen und alles vom Leib und wollten ihn gerade in den vereisten Fluss werfen, als andere Polizisten herbeieilten und ihn im letzten Augenblick vor dem kalten Tauchbad bewahrten.
Wir richteten einen Appell an den Kongressabgeordneten Victor Berger, er solle eine Untersuchung über den Streik von Lawrence verlangen. Dank den Bemühungen dieses sozialistischen Kongressmitgliedes kam es in der Tat zu einer Untersuchung vor einem Kongressausschuss in Washington. Als wir davon erfuhren, beschloss das Streikkomitee, sechzehn Zeugen nach Washington abzuordnen, alles Jungen und Mädchen unter sechzehn Jahren. Eine der Delegierten war ein kleines Mädchen, dessen Haare sich in einer Maschine verfangen hatten, so dass ihm die Haut vom Kopfe gerissen worden war. Diese Arbeiterkinder aus den Fabriken konnten ihre Arbeitsbedingungen und ihr Leben zu Hause anschaulich beschreiben, und wir waren überzeugt, sie würden fähig sein, zu erklären, warum sie und fünfundzwanzigtausend andere im Textilzentrum von Lawrence und den umliegenden Städten im Streik standen. Margaret Sanger, die später durch ihre Propaganda für Geburtenkontrolle bekannt wurde, fuhr mit den Kindern nach Washington. Schon am Tage ihrer Ankunft erschienen die Mädchen und Burschen vor dem Ausschuss des Kongresses. Samuel Gompers war anwesend, angeblich als Vertreter der AFL. Er wurde als Zeuge aufgerufen und sprach sich gegen den Streik und seine Führer aus. Plötzlich ertönte eine kindliche Stimme:
„Du alter Hundesohn! Erzählst ja gottverdammte Lügen!"
Es war ein polnischer Junge, der Gompers unterbrochen hatte. Der Vorsitzende des Ausschusses schlug heftig mit seinem Hammer auf den Tisch, sah den Jungen streng an und sagte:
„Junger Mann, eine solche Sprache wird hier nicht geduldet, versuche so etwas nicht noch einmal!" „Das ist die einzige Sprache, die ich kenne!" antwortete der Junge, „und ich lasse mir einfach nicht gefallen, dass dieser Kerl über uns lügt, und keiner sagt was!" Von diesem Zwischenfall steht nichts in Gompers' Memoiren „Siebzig Jahre Leben und Arbeit". Ein Zeitungsreporter äußerte über den Vorfall, den er mit angehört hatte, dass „hier das alte und das neue Element in der Arbeiterbewegung einander gegenüberstanden".
Eines Abends sprach ich gerade in einer Versammlung, die fast ausschließlich aus polnischen Arbeitern bestand, als zwei Italienerinnen den Saal betraten und auf die Rednertribüne geführt wurden. Die Jüngere von beiden
sagte zu mir: „Morgen früh keine Männer Streikposten stehen. Alle Männer, Burschen zu Hause bleiben, schlafen. Nur Frauen, Mädchen morgen früh Streikposten stehen. Soldaten und Polizisten nicht schlagen Frauen, I Mädchen. Seht mal", fuhr sie, auf ihre Begleiterin deutend, fort, „ich habe großen Bauch, sie auch hat großen I Bauch. Polizei uns nicht schlagen. Ich möchte zu allen Frauen hier sprechen."
Am nächsten Morgen waren die Frauen in vollem Aufgebot angetreten, unter ihnen auch viele Schwangere. Gerade diese kleine italienische Frau, die das Frauenaufgebot organisiert hatte, und mit ihr eine andere Frau, Bertha Crouse, wurden so schrecklich von der Polizei geschlagen, dass sie Frühgeburten zur Welt brachten und selbst beinahe daran starben. Im weiteren Verlauf des Kampfes wurde eine Bande von Revolverhelden in die Stadt gebracht.
Die Fabrikbesitzer verzweifelten schließlich und kamen auf den Einfall, Dynamit an irgendeine Stelle legen zu lassen, wo es gefunden werden musste; dass der Fund den Streikenden zur Last gelegt wurde, dafür wollten sie schon Sorge tragen, wenn nicht - ja, wenn nicht die Arbeiter auf der Hut gewesen wären und entdeckt hätten, dass das Dynamit vom Leichenbeschauer des Bezirkes gelegt worden war! Dieser Leichenbeschauer, ein Werkzeug des Textiltrusts, wurde verhaftet, für schuldig erklärt und zu einer Geldstrafe von fünfhundert Dollar verurteilt. Später beging ein hoher Angestellter von der American Woolen Company Selbstmord. Es lief das Gerücht um, dass auch er etwas mit dem Dynamit zu tun gehabt habe.
Die Vereinigten Textilarbeiter, die der AFL angeschlossen waren, und die Webstuhlzurichter, von denen die meisten infolge des Streiks arbeitslos waren, beschlossen,
ebenfalls in den Streik zu treten. Sie richteten einen Unterstützungsfonds ein und verschickten Aufrufe. Diese qualifizierten Arbeiter erhielten bei dem später getroffenen Lohnabkommen proportional dieselbe Lohnerhöhung wie die anderen, obwohl sie zu Anfang des Streiks Streikbrecherdienste geleistet hatten. Die IWW waren aktiv in jedem Textilzentrum, das wir erreichen konnten. Die Glut hatte sich über Lawrence hinaus ausgebreitet, und als der Streik beigelegt wurde, erhielten auch einhundertfünfzigtausend andere Textilarbeiter eine kleine Lohnerhöhung. Nach der Rückkehr des Unterkomitees, das nach Boston gefahren war und ein Abkommen mit William Wood von der American Woolen Company getroffen hatte, fand die letzte Sitzung des Streikkomitees statt. Der Bericht des Unterkomitees wurde mit lang anhaltendem Beifall begrüßt. Der Streik konnte beendet werden, falls das Abkommen von der Mehrheit der Arbeiter in allen beteiligten Fabriken gebilligt wurde, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie nicht einverstanden sein würden. Ich forderte das Komitee und die im Saal anwesenden Streikenden auf, ihren Verband fest zusammenzuhalten, da der Zeitpunkt kommen werde, wo sie wieder streiken müssten, falls Ettor und Giovannitti nicht aus dem Gefängnis freigelassen werden sollten. Dann half ich dreiundzwanzig Mitgliedern des Streikkomitees auf die Rednertribüne. Jeder gehörte einer anderen Nationalität an, und gemeinsam sangen wir die „Internationale" in ebensoviel Sprachen wie Mitglieder im Streikkomitee vertreten waren.
Der Abschluss des Streiks Anfang März war ein glänzender Sieg für die Arbeiter. Die Arbeitszeit wurde herabgesetzt, die Löhne wurden um fünf bis zwanzig Prozent erhöht, höhere Zuschläge für Überstunden gewährt, und es sollten keine Maßregelungen der Streikteilnehmer stattfinden. Der Streik war ein ausgezeichnetes Beispiel der Solidarität und ein Beispiel dafür, was die Solidarität für die Arbeiter leisten kann.
Wir alle, Jim Thompson, Grover Perry, Elizabeth Gurley Flynn, Bill Trautmann und weitere Organisatoren der IWW, darunter auch ich, machten uns nun auf, um für die Verteidigung Ettors, Giovannittis und Carusos im bevorstehenden Mordprozess Geld zu sammeln.

 

Sechzehntes Kapitel
„Artikel II, Abschnitt 6"

Donnernder Beifall begrüßte mich in New York anlässlich einer Solidaritätskundgebung für Ettor und Giovannitti, in der ich auch ausführlich über den Streik in Lawrence sprach.
Eine andere von Begeisterung getragene Versammlung fand in der Carnegie Hall statt, in der eine große Summe für den Verteidigungsfonds gesammelt wurde. Ich erinnere mich, dass ich nach der Versammlung mit einer Gruppe von Genossen, unter ihnen Jack London, zusammen ins Restaurant ging und dort einen angenehmen Abend mit dem berühmten Schriftsteller verbrachte. Ein zweiter Streik in Lawrence war im Anzug. Auf dem Anger von Boston wurde ein Massenmeeting abgehalten, zu dem die Teilnehmer in Sonderzügen aus Lawrence, Lynn, Haverhill und anderen Städten herbeiströmten. Unter den vorgesehenen Rednern war auch ich - aber wie sollte ich nach Boston kommen, nachdem in Lawrence Anklage gegen mich erhoben worden war und ich mit ziemlicher Sicherheit rechnen musste, bei der Ankunft auf dem Bahnhof von Boston verhaftet zu werden? Die Schwierigkeit wurde behoben; Kameraden holten mich von Providence mit einem Auto nach Boston ab und fuhren geradenwegs zu dem Regierungsgebäude, das an der Seite des Angers steht. Unter einem Torbogen wartete ich, bis meine Zeit kam, und bahnte mir dann einen Weg durch die Menge bis zur Rednertribüne. Sobald ich unter der Masse war, konnte die Polizei mir nichts anhaben. Nach der Ansprache folgte ich dem Rat eines Teilnehmers, der mir die Richtung andeutete, in der das Auto hielt, und bat die Menge, mir einen Pfad freizugeben. In großer Eile zwängte ich mich durch die Menschenmasse, hörte jemand sagen: „Hier entlang, Bill!" und sprang in ein Auto. Gerade als ich dem Chauffeur zurief: „Gib Gas!" bemerkte ich, dass ich mich in den Händen von Polizeioffizieren befand.
Auf der Polizeistation blieb ich allerdings nicht lange, da von Freunden sofort eine ausreichende Kaution gestellt wurde. Immerhin hinderte mich dieser Zwischenfall, in Lawrence so zu wirken, wie ich es mir vorgenommen hatte, da ich dem Gericht zur Verfügung stehen musste. Als der Fall vor den Untersuchungsrichter kam, wurde ich von diesem nach der Verlesung der Anklage gefragt: „Schuldig oder nichtschuldig?" Meine Antwort war: „Nichtschuldig - mit der einen Ausnahme, dass ich versuche, den Arbeitern von Lawrence zu helfen, etwas mehr Brot zu bekommen." Der Richter brauste auf: „Mr. Haywood, wir wünschen hier keine Reden. Passiert es noch einmal, werden Sie sich wegen Missachtung des Gerichtshofes verantworten müssen. Beantworten Sie die gestellte Frage: Schuldig oder nichtschuldig?" Darauf ich: „Nichtschuldig!"
Der Richter redete dann noch etwas über den voraus-
sichtlichen Termin der Hauptverhandlung; aber diese wie so viele andere an und für sich gut begründete Anklagen gingen unter. Ich wurde deswegen niemals verurteilt.
Als der Prozess gegen Ettor, Giovannitti und Caruso in Salem begann, kehrte ich nach Massachusetts zurück. Der Prozess endete mit einem Freispruch. Zum Empfang der freigelassenen Gefangenen fand in Lawrence eine große Demonstration statt.
Kurz nach dem Streik von Lawrence traten die Textilarbeiter von Little Falls, New York, in den Ausstand und stellten eine Reihe von Forderungen auf, die sie den Fabrikanten vorlegten. Die Hauptführer in diesem Streik waren Ben Legere und Matilda Rabinowitz. Bei meiner Ankunft saß Legere mit mehreren anderen im Gefängnis, während Matilda als Vorsitzende des Streikkomitees arbeitete. Sie war ein kleines Persönchen, füllte aber ihren Posten ausgezeichnet aus. Der Streik war eine Wiederholung des großen Lawrence-Streiks im kleinen. Im Jahre 1912 hielt die Sozialistische Partei ihren Kongress in Indianapolis ab. Die Delegierten waren von ganz anderem Kaliber als diejenigen, die auf dem Kongress von 1908 gewesen waren. Vielen von ihnen, die angeblich die Arbeiterklasse vertraten, bedeutete der Klassenkampf gar nichts. Nicht weniger als siebzehn, wenn nicht gar mehr Geistliche waren darunter, die sich kaum Mühe gaben, ihren Hauptberuf als Himmelspiloten zu verbergen. Außerdem waren viele Anwälte und einige Redakteure anwesend.
Man hatte eine Versammlung für mich in Tomlinson Hall veranstaltet. Ich beschrieb den Streik von Lawrence, vergaß aber dabei zu erwähnen, dass dem Kongressabgeordneten Victor Berger das Verdienst zukomme, die Untersuchung des Streiks vor einem Ausschuss des
Repräsentantenhauses in Washington angeregt zu haben. Berger fühlte sich bis auf die Knochen verletzt. Auch Hillquit konnte es nicht verwinden, dass sein Angebot, als Anwalt für die des Mordes angeklagten Männer in Lawrence aufzutreten, nicht angenommen worden war. Diesen Führern und ihren Hintermännern auf dem Kongress schien der Zeitpunkt gekommen, die Statuten der Sozialistischen Partei zu ergänzen, was sie im Artikel II, Abschnitt 6 folgendermaßen taten: „Jedes Mitglied, das gegen politische Aktionen auftritt oder Verbrechen, Sabotage oder andere Gewaltmethoden als Waffe der Arbeiterklasse im Befreiungskampf befürwortet, wird aus der Partei ausgeschlossen." Der Geistliche W. R. Gaylord brachte die Resolution gegen Sabotage, direkte Aktion und Gewalt ein. Er sagte: „Wir können nichts dergleichen brauchen; wir wollen auch nicht eine Spur davon auf uns sitzen lassen. Wir wollen auch nicht den geringsten diesbezüglichen Hinweis in Verbindung mit uns. Wir weisen es mit jeder Faser unseres Herzens zurück." Victor Berger äußerte sich folgendermaßen: „Ich möchte sagen, dass die Artikel im ,Industrial Worker' von Spokane, dem offiziellen Organ der IWW, denselben anarchistischen Geist atmen wie alles, was Johann Most jemals geschrieben hat. Ich möchte sagen, Genossen, dass ich für mein Teil den Mord nicht als ein Propagandamittel betrachte; ich betrachte Diebstahl auch nicht als ein Mittel der Expropriation, und fortgesetzten Aufruhr nicht als Agitation für die Redefreiheit. Jeder wahrhafte Sozialist wird mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass diejenigen, die meinen, wir sollten an Stelle der ,Marseillaise' lieber ,Halleluja, ich bin ein Penner' singen, besser eine Pennerorganisation für sich allein beginnen sollen."
Es war ein niedriger, gemeiner, ungerechtfertigter Angriff Bergers gegen den „Industrial Worker". Er wusste, dass die IWW niemals Mord als ein Propagandamittel befürwortet hatten, er wusste, dass sie niemals Diebstahl als ein Mittel zur Erlangung des Eigentums der Kapitalisten befürwortet hatten, er wusste, dass die Einstellung der Organisation, die er beschimpfte, marxistisch war. Er hatte Gelegenheit gehabt, ihre Methoden und Taktik in der Führung von Streiks kennen zu lernen; er kannte die Errungenschaften des Streiks von Lawrence; er hatte die Kinder gehört, als sie in Washington ihre Zeugenaussagen machten; er wusste, dass der Streik zu einem großen Siege für die Arbeiter geworden war, und er wusste auch, dass zu der Zeit, wo er sprach, Ettor, Giovannitti und Caruso des Mordes angeklagt noch im Gefängnis saßen. Seine Rede auf dem Kongress zur Unterstützung des Artikels II, Abschnitt 6 war ein Dolchstoß in den Rücken der Männer, die dem Prozess entgegensahen. Hätte sich Berger jemals ein Liederbuch der IWW angesehen, so hätte er gewusst, dass neben dem satirischen Lied „Halleluja, ich bin ein Penner" auch die „Marseillaise", die „Internationale" und viele andere revolutionäre Lieder abgedruckt waren. Man vergleiche den Artikel II, Abschnitt 6 im Statut der Sozialistischen Partei, diesen Vorläufer des Gesetzes gegen verbrecherischen Syndikalismus, mit dem Gesetz selbst.
Der Vorläufer
„Jedes Mitglied, das gegen politische Aktion auftritt oder Verbrechen, Sabotage oder andere Gewaltmethoden als Waffe der Arbeiterklasse im Befreiungskampfe befürwortet, wird aus der Partei ausgeschlossen." Das bestehende Gesetz „Der kriminelle Syndikalismus wird hiermit als jene
Doktrin definiert, die Verbrechen, Gewalt, Zwang, Brandstiftung, Zerstörung von Werten, Sabotage oder andere ungesetzliche Handlungen oder Methoden oder eine dieser Handlungen als Mittel zur Herbeiführung oder Beeinflussung wirtschaftlicher oder politischer Ziele oder als Mittel der Herbeiführung der wirtschaftlichen oder politischen Revolution befürwortet." Die Gesetze gegen verbrecherischen Syndikalismus sind vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten gebilligt worden, und Hunderte von Männern und Frauen sind auf Grund dessen ins Zuchthaus geschickt worden, obwohl nicht einer von ihnen etwas anderes getan hat, als eine Meinung zu haben oder Mitglied der IWW zu sein. Unter diesem Gesetz wurden Kommunisten in Michigan angeklagt und G. E. Ruthenberg, der Sekretär der (Kommunistischen) Arbeiterpartei, für schuldig erklärt und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die vielen, die verfolgt wurden, können den Verrätern in der Sozialistischen Partei dafür danken, die den Artikel II, Abschnitt 6  gegen die  Arbeiterklasse  angenommen haben.
Der Annahme dieses Zusatzes folgte eine Resolution des Nationalkomitees, dessen Mitglied ich damals war, in der ich beschuldigt wurde, direkte Aktion, Gewalt und Sabotage zu befürworten.
Über die Resolution wurde abgestimmt, und ich wurde aus dem Nationalkomitee abberufen. Der Sozialistischen Partei gehörte ich seit ihrer Gründung an; aber nach der Abberufung als Mitglied des Nationalkomitees habe ich keine Mitgliedsbeiträge mehr gezahlt. Später bekannte sich Berger vor dem Bundesgericht in Chicago als der verantwortliche Mann für den Artikel II, Abschnitt 6 gegen Gewalt, Sabotage und direkte Aktion im Statut der Sozialistischen Partei.
Berger wurde im Kongress der Vereinigten Staaten am 18. Juli 1912 gefragt: „Wie wollen Sie die gegenwärtige ökonomische Basis verändern? Geben Sie uns eine konkrete Erklärung zu dieser Frage."
Berger antwortete: „Das ist ganz einfach. Wir könnten sicher das Eigentum der Trusts auf dieselbe Weise erlangen, wie es die Trusts erlangt haben. Die Trusts haben ihren Besitz fast gänzlich mit verwässerten Aktien, sowohl Vorzugsaktien als auch gewöhnlichen Aktien, bezahlt. Wir können die beste Sicherheit bieten, die es heute gibt - Staatsschuldscheine der Vereinigten Staaten." Wäre Berger ebenso gut mit dem „Imperial Washington" bekannt gewesen wie der verstorbene Senator Pettigrew, so hätte er gewusst, dass die Trusts für ihr Eigentum nichts gezahlt haben, sondern dass sie das amerikanische Volk seines Erbteils beraubten. Kongressmitglied Berger aber, der als sozialistischer Kandidat gewählt wurde, war bereit, den Klassenkampf auszuschalten und die Existenz der Ausbeuterklasse zu verewigen, indem er ihr die sichersten Wertpapiere der Welt, Staatsschuldscheine der Vereinigten Staaten, in den Rachen warf!
Das waren wahrhaftig nicht die Prinzipien einer revolutionären Sozialistischen Partei, für die sich die Arbeiterklasse Amerikas immer mehr interessierte. Es braucht
wohl kaum noch erwähnt zu werden, dass die Sozialistische Partei seit dem Kongress von Indianapolis immer
weiter gesunken ist, bis sie jeden Einfluss verloren hat. Die Politikanten auf diesem Kongress waren eine schlüpfrige Gesellschaft, die die elementaren Prinzipien des Sozialismus ignorierten. Das „Kommunistische Manifest" von Marx und Engels bedeutete ihnen nichts. Sie warfen seine Grundlehren beiseite, die mit den anfeuernden Worten schließen:
„Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"

 

Siebzehntes Kapitel
Das Stegreifspiel

Paterson, die Seidenstadt Amerikas, ist in der Nähe des Sumpflandes von New Jersey, einer Moskitogegend, erbaut. Ein elender Ort, mit Fabriken, Färbereien und Seidenspinnereien, in denen zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Arbeiter beschäftigt sind. Ohne einen Park im Arbeiterbezirk, in dem die Kinder spielen können, ohne Gärten oder Boulevards, wo Mütter mit ihren kleinen Kindern etwas frische Luft genießen können. In diese Stadt donnerte jede Woche ein Seidenzug aus dem Westen, aus Seattle, der das aus Japan importierte Rohmaterial brachte.
Die riesige, zum größten Teil im Besitz japanischer Kapitalisten befindliche Doherty-Fabrik und die übrigen Spinnereien, Färbereien und sonstigen Fabriken wurden alle von dem großen Streik im Jahre 1913 betroffen und mussten ihre Pforten schließen.
Die Arbeiter standen im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gegen die Versuche der Unternehmer,
die Zahl der von den einzelnen Arbeitern zu bedienenden Webstühle zu erhöhen. Wie in Lawrence, so handelte es sich auch in Paterson um eine bunt zusammengewürfelte Arbeiterschaft - Italiener, Syrier, Armenier, Franzosen, Deutsche, Juden aus allen Ländern und viele andere Nationalitäten.
Täglich wurden Versammlungen der Streikenden im Turn Hall, einem großen Versammlungssaal, und an anderen Orten abgehalten; oft fanden die Massenmeetings auch in dem benachbarten Ort Haiedon statt, wo wir von der Veranda eines Hauses, das einem Sozialisten gehörte, sprachen.
Während der Streikbewegung versuchten die Seiden- und Fahnenfabrikanten eine ähnliche patriotische Kampagne aufzuziehen, wie seinerzeit in Lawrence. Patersons Seidenweber und  andere im Streik stehende Arbeiter waren, als sie noch arbeiteten, viel mit der Herstellung von Fahnentuch beschäftigt gewesen. Die Unternehmer glaubten, diese Tatsache ausnutzen zu können, und versuchten eine richtige Fahnenpsychose zu züchten. Alle Fabriken waren beflaggt, auch einige Läden waren in den Farben der Nationalflagge dekoriert, und alle „Patrioten" trugen Fähnchen auf ihren Rockaufschlägen. Aber die Streikenden waren sich über die Situation und über die mit dem Rummel beabsichtigte Wirkung völlig im klaren. Sie organisierten eine große Demonstration, bei der jeder Streikende mit seinen Angehörigen eine Fahne trug, auf der folgendes geschrieben war:
Wir weben die Fahne!
Wir leben unter der Fahne!
Wir sterben unter der Fahne!
Aber wir denken nicht daran,
unter der Fahne zu verhungern!
Die von den Fabrikanten angefachte patriotische Welle ebbte danach bald wieder ab. Die großen Fahnen, die im Wind und Regen flatterten, wurden heruntergenommen, und das Fahnenschwingen blieb nur ein Zwischenfall in dem großen Streik.
Die Streikenden von Paterson erklärten: „Leben ohne Arbeit ist Diebstahl, Arbeit ohne Kunst ist Barbarei." Und so machten sie sich an die Organisierung des größten Arbeiterlaienspiels, das jemals in Amerika veranstaltet wurde.
Bei einer Zusammenkunft einiger Genossen im Hause eines meiner New Yorker Freunde wurde vorgeschlagen, den Streik in New York auf einer Bühne darzustellen. Ich überbrachte diesen Vorschlag den Kämpfenden, und er fand ihre Billigung.
Daraufhin fuhr John Reed, damals dramatischer Redakteur des „American Magazine", nach Paterson und verschaffte sich Einblick in den Streik. Es war Johns erster Versuch, an einer revolutionären Bewegung teilzunehmen. Ich stellte ihn auf einer Versammlung den Streikenden vor, zu denen er dann auch sprach. Wie in Lawrence gebrauchten auch die Streikenden von Paterson gegen die Polizei einen bestimmten Ruf. Der langgedehnte Ruf „Buh, buh, buh", geschrieen von fünfundzwanzigtausend Leuten, war wie der Klang aus Gabriels Trompete, der die Mauern von Jericho einstürzen ließ. Diese dröhnenden Chöre wird niemand, der daran teilnahm oder sie „singen" hörte, jemals vergessen.
Am Tag der Veranstaltung für Paterson überquerten zwölfhundert Streikende den Hudson River. Vom Hafen marschierten wir zum Madison Square Garden, der während der voraufgegangenen Woche jeden Abend mit den riesengroßen Buchstaben „IWW" elektrisch illuminiert
worden war. Etwa achtzig bis neunzig radikal gesinnte Leute hatten sich in New York bereitwillig zur Mitarbeit zur Verfügung gestellt. „Bobbie"- Jones, jetzt ein führender Theatermann, hatte zusammen mit John Reed das Plakat entworfen - die heroische Gestalt eines Arbeiters, die sich gegen einen Hintergrund von Fabriken, Rauchfängen und Schloten abhob. Im Saal war eine große Bühne erachtet und mit Kulissen, die die Seidenspinnereien darstellten, versehen worden. John Reed war der Regisseur dieses Stegreifspiels.
Der Andrang zu der Veranstaltung war riesengroß. Die Einlassbegehrenden standen in langen Schlangen vor den Pforten des Madison Square Garden; eine der Menschenketten soll achtundzwanzig Häuserblocks lang gewesen sein.
An diesem Abend sollten die Streikenden der riesigen Zuschauerschaft von  Interessierten  einen Teil ihres Lebens in Paterson enthüllen. Die Lieder dazu hatten die Streikenden selbst geschrieben. Die erste Szene zeigte die Fabrik in vollem Betrieb: Die Lichter scheinen aus Hunderten von Fenstern, die Arbeiter marschieren teilnahmslos die Straße hinunter - den Mittelgang des großen Zuschauerraums - in Gruppen, allein und zu zweien, der eine oder andere wirft einen Blick in eine Zeitung, wieder ein anderer summt eine Melodie vor sich hin, einige sprechen miteinander, alle mit kleinen Körben, Kannen oder Frühstückspaketen in der Hand oder unter dem Arm. Die Fabriksirenen ertönen. Man hört das Stampfen, Dröhnen, Quietschen und Rollen der Maschinen. Der breite Mittelgang - die Straße - wird leer. Alle sind an der Arbeit. Eine kurze Zeit vergeht, es sollen zwei Stunden sein. Plötzlich ertönen Stimmen im Innern der Fabrik. Rufe: „Streik! Streik!" Die Arbeiter kommen lachend, rufend, sich
drängend und stoßend heraus. Die herrliche „Internationale" braust empor, in die das Publikum einstimmt. Die zweite Szene: Die Fabriken liegen tot - keine Lichter, kein Laut. Sie stehen da wie ungeheure Ruinen. Es ist der Morgen nach dem Streikausbruch. Die Arbeiter ziehen in Massen auf Streikposten; sie singen ihre Streiklieder. Einer, ein lebhafter Italiener, zupft lustig seine Gitarre. Einige Polizisten mischen sich unter die lachende, singende Menge, die vor den Fabriken auf und ab marschiert. Die Polizei beginnt ohne Warnung die Streikenden mit den Knüppeln zu schlagen und zu prügeln. Es entspinnt sich ein Kampf, Schüsse knallen, ein Streikender fällt, von der Polizei getötet. Ein anderer hinkt verwundet davon. Der Tote wird fortgetragen. Die Streikenden folgen ihm. Der Tag ist zu Ende. In der dritten Szene: Die Beerdigung des ermordeten Streikenden. Kameraden tragen den Sarg auf den Schultern, gefolgt von Streikenden, die den „Trauermarsch" singen. Der Sarg wird ungefähr in der Mitte der Bühne niedergestellt. Die Streikenden marschieren auf die Bühne, auf jeder Seite legen sie beim Vorübergehen einen Zweig Immergrün und eine rote Nelke auf den Sarg. Die Blumenspenden wachsen in die Höhe, während die Streikenden eine Gruppe im Hintergrund bilden. Dann nahmen Elizabeth Gurley Flynn, Carlo Tresca und ich das Wort. Ebenso wie wir am Grabe eines ermordeten Streikenden in Paterson gesprochen hatten, versuchten wir bei dieser Gelegenheit auf die Zuhörer zu wirken und versprachen im Namen der Streikenden, dass wir weiterkämpfen wollten, bis das unselige System der Ausbeutung gestürzt sei und die Arbeiter ihr Recht erlangt hätten.
Die vierte Szene: Streikende Eltern schicken ihre Kinder in andere Städte, während der Kampf weitergeht. Eine eindrucksvolle Szene der Liebe zu den Kindern, das menschliche Motiv des Streiks veranschaulichend: für die Kinder wurde er ausgetragen. Diese selben Kinder sind in den Schulstreik getreten, weil die Lehrer die streikenden Seidenarbeiter und ihre Führer „Anarchisten und Ausländer, die zu nichts taugen", genannt haben. Die Kinder, die von ihren Eltern Abschied nehmen, tragen rote Schärpen. Sie marschieren ab unter dem Gesange der „Roten Fahne". Sie sollen nun bei ihren neuen Freunden - ihren Streikeltern - bis zum Ende des Streiks bleiben.
Die letzte Szene: Eine Streikversammlung in der Turn Hall von Paterson. Die Streikenden kommen die Hauptstraße entlang - wieder durch den Mittelgang - zur Versammlung. Im Hintergrund der Bühne eine Plattform, um die sich die Streikenden sammeln, mit ihrem Rücken zum Publikum, so dass sich nun die Aufführung in eine geschlossene große Versammlung mit den Zuhörern verwandelt. Zu dieser großen Versammlung sprach ich so ernst und so kräftig, wie es nur einer kann, dessen Herz ganz der Sache gehört und sich von den Tausenden von begeisterten Zuhörern anfeuern lässt. Die große Veranstaltung endete unter den Klängen der „Internationale", die von der ganzen Menge stehend gesungen wurde.
Während in Paterson noch gestreikt wurde, erschütterten schon neue Streiks der IWW die Wirtschaft im ganzen Lande. Der größte und wichtigste war der Streik der Gummiarbeiter in Akron, Ohio. Mit der Leitung des Streiks war George Speed betraut. Ich wurde telegrafisch beauftragt, ihn zu unterstützen und machte mich sofort auf den Weg nach Akron.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, sah ich fünfunddreißig oder vierzig Mann mit langen gelben Bändern am Rockaufschlag. Ich dachte bei mir: „Das ist eine
merkwürdige Dekoration für ein Empfangskomitee."
Dann erst sah ich, dass jeder der Männer einen langen Hickory-Knüppel mit einer Schlinge am Handgelenk befestigt trug. Zwei oder drei der Männer traten, als ich aus dem Wagen stieg, auf mich zu und fragten: „Sind Sie Mr. Haywood?"
Ich antwortete: „Jawohl, das bin ich."
Sie erwiderten: „Der Chef wünscht Sie zu sprechen."
Ich fragte: „Wo ist er?"
„Gleich hier", war die Antwort.
Ich ging zum Chef der Polizei, der mich folgendermaßen empfing: „Mr. Haywood, Sie begreifen wohl, dass die Lage in dieser Stadt gegenwärtig eine sehr angespannte ist. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie sich bei Ihrem Aufenthalt hier auf sehr dünnem Eis bewegen werden."
„Ich weiß, dass hier gestreikt wird", erwiderte ich, „und bei jedem Streik ist die Stimmung gespannt." Dann fragte ich ihn noch, ob er einen Haftbefehl für mich habe. „Ich habe keinen Haftbefehl", sagte er, „ich wollte Sie nur warnen."
„Wenn das alles ist, machen Sie Platz", erwiderte ich. Speed und die anderen Führer standen mit Tausenden von Streikenden auf der Bahnsteigbrücke, die über das Geleise führte. An der Spitze eines großen Zuges marschierten wir durch die Straßen der Stadt zum Hause Margaret Preveys, wo das Streikkomitee tagte. Noch am Nachmittag des gleichen Tages sprach ich in einer großen Versammlung in der Rainbow Hall. Mein Referat war „Eine Lektion über Gummi". Zu Beginn erörterte ich die Verhältnisse auf den Gummiplantagen im Kongogebiet in Afrika, die König Leopold von Belgien in Gemeinschaft mit amerikanischen Kapitalisten ausbeutete. Ich schilderte die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Kongosklaven, die, wenn sie nicht ihr Quantum Gummi ablieferten, nicht nur selbst geschlagen wurden, sondern mit ansehen mussten, wie man ihren Kindern eine Hand oder einen Fuß abschlug. Ich verfolgte die Spuren des blutbefleckten Gummis bis nach Akron, wo er zu Automobilreifen und anderen Dingen verarbeitet wurde.
Die Gummigesellschaften, die zu den reichsten Unternehmungen in den Vereinigten Staaten gehörten, waren damals wohl die ärgsten Ausbeuter der Arbeiterschaft. In ihrem Solde standen Hunderte von Detektiven. Die Unternehmer mussten jedoch erkennen, dass trotz der vielen Spione und Detektive der Streik unvermindert kräftig weitergeführt wurde, nicht zuletzt dank der unermüdlichen Arbeit der Organisatoren der IWW. In dieser Zeit fuhr ich etwa zwei- oder dreimal zwischen Akron und Paterson hin und her. Das eine Mal hatte ich in New York die Eisenbahn nach Paterson bestiegen, als ich verhaftet, vom Zuge heruntergeholt und mit dem Automobil zum Bezirksgefängnis von Paterson gebracht wurde. Keine Anklage war gegen mich erhoben worden, kein Haftbefehl wurde mir verlesen. Ich wurde kurzerhand in dieses verpestete Loch gesteckt. Das war ein Kerker!
Alle Gefangenen waren gezwungen, sich in einer stinkigen Badewanne zu baden, und die Zellen waren vermodert und verfallen.
Zwei Tage steckte ich in dem Dreckloch, als John Reed die Treppen zur Tageszelle herunterkam, in der wir uns unterhielten, lasen oder schrieben.
Ich ging auf ihn zu und fragte: „Was bringst du, John?" Er erwiderte: „Nichts, Bill. Ich bin ein Gefangener, wie die ganze Gesellschaft hier."
Über seine Verhaftung berichtete John: „Ich stand auf der Vortreppe eines Hauses und sah mir den Demonstrationszug an. Ein Polizist kam auf mich zu und befahl mir, weiterzugehen. Ich weigerte mich, und daraufhin verhaftete er mich."
Lange sollten wir dort nicht sitzen. Nach kurzer Zeit wurden wir gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Ich habe auch in diesem Falle niemals erfahren, weswegen die Verhaftung erfolgte.
Ein anderes Erlebnis: Die Streikenden hatten eine Versammlung einberufen, die auf dem Baseballplatz abgehalten werden sollte. Als ich dort ankam, trat ein Polizeioffizier auf mich zu und informierte mich: „Mr. Haywood, Sie haben nicht die Erlaubnis, heute hier zu sprechen." Ich sah ihn wütend an und wandte mich stracks an meine Begleiter mit der Frage, was ich ihrer Meinung nach tun solle.
„Ach was", sagten sie, „dann gehen wir einfach nach Haiedon."
„Schön", erwiderte ich, „schickt Boten aus, damit sie die Menge verständigen." So machten wir uns denn zu unserem alten Versammlungsplatz auf. Wir waren schon fast außerhalb der Stadtgrenzen, als ein Streifenwagen herbeiflitzte, einige von uns verhaftete und ins Stadtgefängnis brachte.
Niederträchtige Grausamkeit der Polizeibehörden war ein besonderes Merkmal des Streiks in Paterson. Mehr als tausend Männer, Frauen und Kinder wurden in der Zeit des Streiks verhaftet.
Für den Geist der Streikenden ist folgender Vorfall bezeichnend. Eines Morgens wurde eine Frau festgenommen, als sie gerade auf Streikposten stand. Ärgerlich sagte sie zu dem Polizisten: „Ich kann nicht ins Gefängnis gehen und meine Kinder zu Hause lassen." Sie nahm ihre fünf Kleinen, schob sie in den Funkwagen und rief einem der Streikenden zu: „Wenn du Freddie siehst, sage ihm, er soll ins Gefängnis kommen." Freddie war ihr ältester Junge.
Aber auch der Sinn für Humor verließ die gefangenen Streikenden nicht. Die Abende im Stadtgefängnis von Paterson verliefen recht stürmisch - die Eingesperrten spielten „Kriegsschiff", das heißt, sie machten einen ohrenbetäubenden Lärm: die Pritschen wurden an ihren rasselnden Ketten niedergerissen, Blechbüchsen schepperten gegen die Gitterstäbe, die Türen wurden gerüttelt, und noch auf andere Art und Weise wurde der Skandal verstärkt.
In der ersten Nacht, um drei Uhr früh, wurde ich dem Polizeichef vorgeführt. In seinem Zimmer saß außer ihm eine Reihe von Kriminalpolizisten in Zivil, die mich in Augenschein nehmen sollten.
Der Hauptmann forderte mich auf: „Gehen Sie einmal bis ans andere Ende des Zimmers und zurück. So, ich glaube, das genügt."
Ich nehme nicht an, dass auch nur ein Bulle unter der ganzen Gesellschaft war, der mich nicht kannte, da ich doch schon einige Monate lang in den Streikversammlungen in Paterson auftrat. Wieder war ich erst ein oder zwei Nächte im Gefängnis, als Kaution für mich gestellt und ich bis zur späteren Verhandlung freigelassen wurde.
Das war nun eine eigenartige Geschichte. Das erste Mal war ich verhaftet worden, weil ich nach Paterson gefahren war, und nun sollte ich vor Gericht kommen, weil ich Paterson verlassen wollte. Zur Verhandlung erschienen mehrere Zeugen, die gegen mich aussagten, darunter ein Polizist, der bezeugte, dass mir „eine große Menge folgte".
Richter Minturn fragte: „War das der Grund, weswegen Sie ihn verhafteten?" Er fügte hinzu: „Auch andere prominente Leute haben unsere Stadt besucht. Vielen von ihnen ist eine Menschenmenge nachgelaufen. Haben Sie die Leute deswegen verhaftet? Menschenmengen folgen auch einem Zirkus, verhaften Sie deswegen die Zirkusleute? Verfahren eingestellt!" Der Seidenarbeiterstreik dehnte sich auf viele andere Orte aus. Wir entdeckten versteckte Seidenspinnereien in Grubenorten in Pennsylvanien und anderen Gegenden. Beim Ausbruch eines Streiks in Hazleton entsandten wir Jessie Ashley und Margaret Sanger als Streikführer. Ich selbst sprach in vielen Seidenindustrie- und Textilzentren auf Versammlungen - in Passaic, Hazleton, Hoboken und anderen Städten.
Während des Kampfes ließ auch die AFL etwas von sich in Paterson hören. Ich war von Anbeginn überzeugt, dass die von der AFL veranstaltete Versammlung dazu dienen sollte, die Reihen der Streikenden zu spalten. Sarah Conboy, eine Führerin der Vereinigten Textilarbeiter und eine „vollkommene Dame", nur etwas zu fett, erklärte in ihrer Rede vor der Versammlung: „Wenn dieser Bill Haywood irgendwie gegen mich spricht, so werde ich ihm noch sein zweites Auge auskratzen." Zu Beginn des Streiks nahmen die New Yorker Zeitungen kaum von ihm Notiz; nach der großen Theatervorführung schenkten sie ihm mehr Beachtung. Einmal wollten die Streikenden ein Inserat von einer halben Seite im „New York Call", einer offiziellen Tageszeitung der Sozialistischen Partei, veröffentlichen. Aber aus irgendeinem unbekannten Grunde wurde es beanstandet und nicht aufgenommen. Der Mann, der den stärksten Einfluss beim „New York Call" hatte und dem die unfreundliche Haltung zugeschrieben wurde, war Morris
Hillquit. Ich erinnerte mich daran, dass er im vorangegangenen Jahre bei unserer Debatte davon gesprochen hatte, wie er auf den Barrikaden für den Sozialismus kämpfen würde. Aber das bezog sich auch nur auf den Fall, dass die Sozialisten siegreich aus einer Wahl hervorgingen. Später sollte er uns zeigen, dass er nicht einmal dann zu einem ernsthaften Kampf bereit war. Als einige Jahre später fünf Sozialisten in das New Yorker Parlament gewählt und ihnen ungesetzlicherweise die Sitze aberkannt wurden, stieg Morris Hillquit auf die Barrikade, eine Barrikade von Gesetzbüchern, und schleuderte wohlstilisierte, jedoch fruchtlose Erklärungen gegen den kapitalistischen Feind.
Ein besonderes Merkmal für den Streik in Paterson waren die vielen Kinderversammlungen. An eine große Versammlung in der Turn Hall erinnere ich mich noch lebhaft. Während die Kinder bei der Erörterung eines Schulstreiks ihre Forderungen formulierten, rief ein kleiner Bursche auf einmal:
„Keine Hausaufgaben, Bill, nimm das auch auf." Ganz wie die Erwachsenen kamen die Kinder zusammen, organisierten ein Streikkomitee, bestimmten ihre Redner, wählten einen Kassierer und sammelten Geld, das bedürftigen Mitgliedern zugewendet wurde. Diesen und in der Folgezeit auch vielen anderen Kindern in den Vereinigten Staaten pflegte ich eine Geschichte von der „Kinderstadt" zu erzählen. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich selbst einmal in der Sowjetunion eine Kinderstadt oder ein Kinderheim, von Kindern selbst verwaltet, sehen würde. Meine Geschichte handelte von einer Stadt, in der nur Kinder lebten, ohne dass ihnen von Erwachsenen ständig ein „Das darfst du nicht!" nach dem anderen entgegengerufen wurde. Ich erzählte den Kindern, dass die Welt ewig jung sei
und sich ständig verändere. Ich erklärte ihnen die Elementarkräfte in der Natur, die verborgen und unausgesetzt an der Arbeit seien. Ich sprach von den wandernden Gletschern, von den Wirkungen der Erdbeben, der Vulkane und des Zusammenstoßes der Wolken, vom Äther und der Wirkung von Hitze und Kälte, vom Leben, das stirbt und neu ersteht und wieder Neues schafft, und wie das alles auch für unser Leben gälte. Die schwierigste Aufgabe aber sei der Kampf gegen das Alte in der Gesellschaft und gegen die alte Generation, zu der auch viele Menschen gehörten, die noch jung an Jahren seien. Diese Alten seien es, die dem Volke verrottete Regierungen, religiöses Muckertum und schreckliche Krankheiten auferlegten und von Generation zu Generation verheerende Kriege anzettelten. Alle diese schrecklichen Dinge gäben die Alten den Kindern als Erbteil mit.
Die Geschichte von der „Kinderstadt" wurde für mich selbst bedeutsamer und interessanter, je öfter ich sie erzählte, weil die Kinder mit ihrer hellen, lebendigen Einbildungskraft viele originelle, interessante Ideen hinzufügten. Ihre jungen Köpfe konnten die Vorteile des Gemeinschaftslebens rasch begreifen. Aber ebenso wichtig waren die Dinge, die sie in ihrer Stadt nicht haben wollten. Kein Junge wollte Polizist sein. Soldaten würden nicht gebraucht werden; sie wollten nicht gegen andere Kinder kämpfen. Ferner meinten sie, dass sie ohne Gefängnisse oder Banken auskommen würden, und keines von ihnen sagte etwas von Kirchen. Die Kinder von Paterson wussten, wer die Werkzeuge und die Maschinen herstellt, wer die Häuser baut, wer alle Nahrungsmittel produziert, alle Kleider fertigt. Sie wussten aber auch, wer alle diese von der Arbeiterklasse produzierten Dinge genießen durfte. Wenn sie gefragt wurden, antworteten sie verächtlich: „Na klar, die Bosse."
Der erzieherische Wert der Streiks der IWW lohnte überreichlich die Anstrengungen, die Redner, Organisatoren, wie überhaupt die ganze Organisation auf sie verwendeten.
Obwohl ich während des lang anhaltenden Streiks in Paterson an Magengeschwüren litt und infolge des aufreibenden Lebens viel an Kraft und Gewicht verlor, versäumte ich niemals eine Versammlung und sprach oft mehrmals am Tag. Nach der Einstellung der Streiks fuhr ich auf die dringende Einladung von Bekannten nach Paris. In Frankreich wollte ich Ferien verleben und eine sehr notwendige Ruhezeit verbringen, zum ersten Mal in meinem Leben. Wir besuchten den Louvre, den Jardin du Luxembourg und vor allem den Friedhof Père Lachaise. Dort brachte ich an der Mauer, wo die Kommunarden erschossen worden waren, ein Abzeichen der IWW an. Während meines Aufenthalts in Paris kam ich mit vielen führenden Köpfen der syndikalistischen und sozialistischen Bewegung zusammen. Ich war kaum eine Woche in Paris, als ich vom „Daily Herald" in London die telegrafische Aufforderung erhielt, nach England zu kommen und für den irischen Arbeiterführer Jim Larkin zu sprechen, der damals im Mountjoy-Gefängnis saß. Ich teilte den Führern der Confédération du Travail in Paris mit, dass ich zur Unterstützung Jim Larkins und des Streiks der Dubliner Transportarbeiter nach England führe und gern ein Zeichen der Solidarität aus Frankreich für die Streikenden von Dublin mitgenommen hätte - etwas, was den Streikenden dienlich wäre. Ich erhielt einen Scheck über tausend Franc, eine für die damalige Lage der französischen Arbeiterklasse ansehnliche Summe.
In London fand die geplante Versammlung in der Albert Hall statt. Larkin selbst war noch rechtzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden, um auf der Versammlung, die einen großartigen Verlauf nahm, sprechen zu können. Fünfundzwanzigtausend oder dreißigtausend Menschen, mehr als der Saal fassen konnte, hatten sich eingefunden. Einige Studenten versuchten zwar, die Versammlung zu stören, aber die Saalordner waren gut organisiert und warfen die lärmende Gesellschaft schnell wieder hinaus.
Für Jim Larkin war diese Versammlung der Anfang eines Kreuzzuges, den er das „feurige Kreuz" nannte. Auf; dem Podium saß auch der Reformist Hyndman, der 1910 mit mir in Burnley gesprochen hatte. Er war sehr entsetzt über die Dinge, die ich in der Albert Hall sagte und erklärte, er wundere sich, dass die Leute nicht erbittert genug seien, mich Glied für Glied zu zerreißen. Ich verurteilte heftig den Krieg und war nicht wählerisch in meinen abfälligen Bemerkungen über das Heer- und Flottenwesen. Meine Ausführungen fanden starken Beifall. Sehr zum Leidwesen Hyndmans, von dem ich später in Erfahrung brachte, dass er von den Dividenden aus Aktien von Waffen- und Munitionsfabriken lebte. Von London aus begab ich mich nach Dublin, wo ich Jim Connolly begegnete, dem Märtyrer des irischen Freiheitskampfes, der im, Jahre 1916 vom Krankenlager gerissen und hingerichtet wurde, nachdem er von den Engländern als Rädelsführer des Osteraufstandes in Irland kriegsgerichtlich abgeurteilt worden war. Ich hatte ihn schon in den Vereinigten Staaten kennen gelernt. Wirf inspizierten die Bürgerarmee auf einem Grundstück, das der Transportarbeiterverband erworben hatte. Vor der Liberty Hall, Eigentum des Verbandes, fand eine ausgezeichnete Kundgebung der Streikenden statt
Auf der einen Seite hatte die Polizei einen Kordon gebildet. Im Verlaufe meiner Rede wies ich auf die kürzlich in Amerika geführten Streiks hin und erzählte, was die Arbeiter durch Solidarität untereinander vollbringen konnten. Die Anwesenheit der Gesetzeshüter reizte mich zu einem kleinen Streich. Ich erwähnte, wie die amerikanischen Arbeiter die Polizei mit besonderen Rufen zu empfangen pflegten und forderte die irischen Arbeiter auf, es auf der Stelle auch einmal zu versuchen. „Also, alle zusammen, so laut ihr könnt, ,Buh, buh, buh'." Schon wenige Minuten darauf zog die Polizei ab.
Nach meiner Rückkehr in die USA verwandte ich beträchtliche Zeit für den Feldzug zugunsten der Arbeiter Ford und Suhr, die in Kalifornien im Zusammenhange mit dem am 3. August 1913 auf der Durst-Farm in Wheatland ausgebrochenen Streik der Hopfenpflücker verhaftet worden waren. Die Hopfenfarm der Brüder Durst war die größte im Staate Kalifornien. Über zweitausend Männer, Frauen und Kinder waren dort als Hopfenpflücker beschäftigt. Sie waren durch lügenhafte Werbeanzeigen aus den Städten und Grubenorten, zum Teil auch aus Gebirgsstädten, herangelockt worden. Durch diese Zeitungsannoncen, die in ganz Kalifornien und in Teilen von Oregon und Nevada erschienen, brachten die Dursts mehr Pflücker auf die Farm, als sie überhaupt beschäftigen konnten. Es war eine bunte Gesellschaft: Syrier, Mexikaner, Japaner, Spanier, Litauer, Italiener,   Griechen,   Polen,   Kubaner,   Portorikaner, Schweden und Amerikaner.
Von menschenwürdigen Unterkünften für diese Arbeitermasse war keine Rede. Außer einer bunten Anhäufung von Zelten, Blockhütten und mit Sackleinwand bespannten „Schutz"-Dächern war nichts vorhanden, was als
notdürftige Unterkunft, geschweige denn als Wohnung angesprochen werden konnte. Die Zelte wurden von den Dursts zu fünfundsiebzig Cent wöchentlich vermietet. Viele der Arbeiter besaßen nicht einmal Decken und schliefen auf Strohbündeln. Eine Gruppe von fünfundvierzig Männern, Frauen und Kindern schlief zusammengepackt auf einem einzigen Strohhaufen. Für all diese Menschen hatten die Dursts ganze acht primitive Latrinen gebaut, die bald zu schmutzig waren, um benutzt werden zu können. Die schmutzigen Latrinen, die Haufen von Unrat und der Dünger auf den Feldern waren die Brutstätten für Millionen von Fliegen, die als Krankheitsträger das Lager verseuchten. Diese Plage und der Mangel an Wasser riefen Epidemien von Durchfall, Ruhr, Malaria und Typhus hervor.
Den Hopfenpflückern wurde kein Trinkwasser geliefert. Alles Trinkbare musste eine Meile weit hergeschafft werden. Die Temperatur betrug zu dieser Zeit auf der Farm 41 bis 43 Grad im Schatten. Von Arbeitern wurde berichtet, dass sie das Wasser auf die Felder schleppen mussten, um es den kleinen Kindern zu geben, die von der Hitze vollkommen erschöpft waren. Die Dursts verkauften eine aus künstlicher Zitronensäure hergestellte Limonade, das Glas für fünf Cent. Ein Vetter der Dursts hatte die Konzession für diesen Verkauf - und diese Tatsache erklärte die fehlende Wasserversorgung zur Genüge.
Das waren die Übelstände, als die Arbeiter zu einer Protestversammlung zusammentraten, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu verlangen. Richard Ford und Herman Suhr, Mitglieder der IWW, waren die Führer dieser Bewegung. „Blackie" Ford hatte eben ein Baby aus den Armen seiner Mutter genommen und es den Arbeitern hingehalten mit den Worten: „Diese Kinder sind es, die wir retten wollen!" In diesem Augenblick fuhren Automobile mit bewaffneten Bezirksbeamten heran, die blindlings in die Versammlung schossen. Ein Neger aus Puerto Rico und ein englischer Junge wurden getroffen und getötet und viele Arbeiter schwer verwundet. Darauf erwiderten einige der Streikenden das Feuer. Dadurch wurden der Bezirksstaatsanwalt Manwell und der Hilfssheriff Riordan getötet. Der Bezirkssheriff versuchte, „Blackie" Ford zu verhaften; er wurde jedoch von den Arbeitern verprügelt, bis er die Besinnung verlor. Die übrige Gesellschaft ergriff die Flucht. Am folgenden Tage beorderte der Gouverneur des Staates die Miliz auf die Hopfenfarm.
Die hier angeführten Tatsachen wurden alle von den Hopfenpflückern in dem Prozess gegen Ford, Suhr, Beck und Bagan in Marysville bezeugt. Ford und Suhr wurden für schuldig erklärt und zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe in Folsom verurteilt. Nach mehr als zwölfjähriger Haft wurde Richard Ford begnadigt. Schon am Tor des Zuchthauses erwartete ihn aber ein Sheriff mit einem neuen Haftbefehl, der vom Sohn des Staatsanwalts Manwell gegen ihn ausgestellt worden war. Ford wurde noch einmal vor Gericht gebracht, aber den Anstrengungen des Verteidigungsausschusses der IWW und der Internationalen Roten Hilfe ist es zu danken, dass er den Klauen der Justiz entrissen wurde. Noch während des Streiks der Seidenarbeiter in Paterson fuhr John Reed als Korrespondent nach Mexiko zu General Villa, einem der Führer der Mexikanischen Revolution, und schrieb einige Artikel für das „Metropolitan Magazine". Viele Mitglieder der IWW in Südkalifornien überschritten damals die Grenze und schlossen sich den mexikanischen Revolutionären an. In den Jahren 1912 und 1913 führten die IWW viele
Kämpfe für die Redefreiheit. Ich war niemals persönlich daran beteiligt, begriff aber sehr wohl ihre ungeheure Wichtigkeit und wusste die Tapferkeit und Ausdauer derjenigen zu schätzen, die an den Kämpfen für die Redefreiheit teilnahmen. Zu ihrer Taktik gehörten sehr oft langwährende Hungerstreiks. Die Kämpfer für die Redefreiheit ertrugen die brutalen Grausamkeiten, an denen sich die „Bürger-Komitees" und die gewählten Beamten der Stadt, des Bezirks und des Staates gleichermaßen beteiligten. Ein vom Gouverneur von Kalifornien ernannter Untersuchungsbeamter musste zugeben, „es sei ihm schwer gefallen, daran zu glauben, dass er seine Untersuchung nicht in Russland (unter dem Zaren) durchführte, sondern im so genannten ,Land der Freien und Tapferen'". Die Redakteure der Lokalzeitungen, diese Geier in Menschengestalt, waren äußerst feindlich eingestellt. Einer von ihnen erklärte: „Aufhängen ist gerade gut genug für die IWW. Sie wären viel besser tot, denn sie sind absolut nutzlos für die menschliche Wirtschaft. Sie sind das Abfallprodukt der Schöpfung und sollten im Kanal des Vergessens weggespült werden, verrotten wie jeder andere Unrat." In Denver hingegen erklärte der Bürgermeister Creel einem Komitee der IWW: „Macht nur weiter, redet soviel ihr wollt. Ich möchte euch nur um einen Gefallen bitten: lärmt nicht direkt unter dem Hauptquartier der Armee. Sie sind nicht so wichtig, aber sie sind kindisch. Sie können eine Menge Scherereien machen, wenn ihr es tut." Ein Kampf für die Redefreiheit brauchte in Denver zu damaliger Zeit nicht geführt zu werden. Für eine geraume Zeit wurde die Organisation der IWW stark durch innere Streitigkeiten erschüttert, die aus sehr hitzigen Debatten über die Frage der Dezentralisation entstanden waren. Die eigentliche organisatorische Arbeit wurde während dieser Zeit stark vernachlässigt. Die Anhänger der Dezentralisierungsbestrebungen verlangten, dass der Exekutivausschuss abgesetzt, die Kongresse eingestellt würden, usw. usw. Die Diskussion war, wie viele andere Dinge, die zeitweilig die Entwicklung der IWW hemmten, nichtsdestoweniger von großem erzieherischem Wert. Die Organisation sammelte sich wieder und wurde stärker als je.
Ich wurde zum Hauptorganisator gewählt, aber meine Arbeit litt eine Zeitlang unter den Auswirkungen meines schlechten Gesundheitszustandes.
Ein wichtiger Streik, der alle Kupferbergwerkarbeiter des Gebietes erfasste, wurde auf der oberen Halbinsel von Michigan ausgetragen. Zu dieser Zeit war die Bergarbeiterföderation des Westens schon an dem konservativen Reformismus, der ihr tief ins Mark gedrungen war, zugrunde gegangen. Die Organisation hieß jetzt Verband der Bergbau-, Hütten- und Schmelzwerkarbeiter und hatte sich der AFL angeschlossen. Das Prestige der Bergarbeiterföderation gehörte der Vergangenheit an. Ihr revolutionäres Programm war zum alten Eisen geworfen und gegen ein neues eingetauscht worden, das allen revolutionären Forderungen entsagte.

 

Achtzehntes Kapitel
Die Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern

Zu der Zeit, über die ich hier schreibe, um das Jahr 1915, waren Tausende von Mitgliedern der IWW wegen ihrer Teilnahme am Klassenkampf im Gefängnis. Eine Anzahl
Männer und Frauen waren in den Kämpfen getötet und mindestens drei, die in der ersten Reihe gestanden hatten, auf Lebenszeit ins Zuchthaus geschickt worden: Cline, Ford und Suhr. Aber trotz dieser ausgezeichneten proletarischen Haltung der IWW fuhr der anmaßende De Leon in seinen Anwürfen gegen sie fort. Er fand keine besseren Ausdrücke als „Pennbruderschaft" oder die „Overall-Brigade", um die Organisation und ihre Mitglieder zu bezeichnen. Während des Kampfes für die Redefreiheit in Spokane schrieb De Leon in einem Brief an Olive M. Johnson, der in Daniel De Leons Buch „A Symposium" zitiert wird:
„Wenn Sie sagen, Sie hoffen, dass die Spokaniten aufhören werden, ,bevor sie ein zweites 1886 machen' (Die Bombentragödie auf dem Haymarket in Chicago. Die Red.), so berühren Sie etwas, das auch mir nicht wenig Sorgen gemacht hat. Ich bin schon immerwährend in Sorge, dass einer dieser Knipperdollings eine Bombe werfen wird... Darum habe ich so hart zugeschlagen. Ich habe versucht, die Sozialistische Arbeiterpartei aus all diesen Dingen herauszuhalten. In der Tat, ich habe mir die schmeichelhafte Gewissheit verschafft, dass zumindest unsere Zeitung ,People' dazu beigetragen hat, eine solche Möglichkeit weniger wahrscheinlich zu machen. Ich bemerke mit Vergnügen, dass einige der kapitalistischen Blätter von Spokane ,People' im Zusammenhang mit Spokane zitieren, sie wissen also, dass es Sozialisten gibt, die gegen den Geist der Pennbruderschaft und alles, was damit zusammenhängt, Stellung nehmen."
Was De Leon veranlasste, zu fürchten, dass Mitglieder der IWW eine Bombe werfen würden, ist bis heute unerfindlich. Dieser Gedanke entsprang der Verwirrung
in seinem eigenen Kopf, einem so verworrenen Kopf, dass er es sich sogar zur Ehre anrechnete, wenn kapitalistische Zeitungen seine Ausfälle gegen den Kampf für die Redefreiheit in Spokane zitierten. Aus dem selben Horn wie De Leon blies der nörgelnde O'Neill, der sein Gift in den Spalten des „Miners' Magazine" verspritzte.
Sogar der verständnisvolle Eugene V. Debs versetzte der kämpfenden Organisation einen kräftigen Schlag. Er erklärte: „Es ist nutzlos, über die IWW zu sprechen. Die Chicagoer Fraktion, das scheint jetzt klar zu sein, vertritt die Anarchie. Möge sie es tun, mögen alle, die gegen politische Aktion und für Sabotage und das Programm des Anarchismus sind, sich dieser Fraktion anschließen." Das geringe Verständnis, das De Leon den Industriegewerkschaften einmal entgegenbrachte, hatte er verloren. O'Neills Aufregung war nichts weiter als Eifersucht über die Fortschritte der IWW. Schwerer war es, die Haltung Debs' zu verstehen, da er uns immer freundschaftlich gegenübergestanden hatte und auch nachher mit den IWW als Organisation sympathisierte.
Eine Wirtschaftskrise war im Anzug, die nur durch den Kriegsausbruch abgewendet wurde. Die Arbeitslosigkeit wuchs in allen Teilen des Landes. In San Francisco hausten Hunderte von Leuten in leeren Gebäuden und schliefen in dichten Reihen auf dem Boden, nur auf Zeitungspapier gebettet. Von San Francisco und anderen Städten aus begannen die Arbeitslosen nach Sacramento zu marschieren, um an die Gesetzgebende Versammlung um Unterstützung zu appellieren. Ihnen zogen mit Knütteln bewaffnete Bürger entgegen, Feuerspritzen wurden gegen sie gerichtet, und so wurden sie aus der Stadt vertrieben. In New York City wurden die Arbeits-
losen von den IWW organisiert. Eine Suppenküche wurde für die Hungernden eingerichtet. Die Arbeitslosen versuchten, in Kirchen zu übernachten, wurden aber von den Geistlichen belehrt, dass Kirchen keine Wohnstätten seien. Viele der Arbeitslosen wurden verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt. In Salt Lake City, Utah, war Joe Hill, ein bekannter Liederdichter der IWW, verhaftet und des Mordes angeklagt worden. Ich gab den ersten Aufruf für ihn heraus, in dem ich die in Utah üblichen Exekutionsmethoden beschrieb, die Joe Hill für den Fall seiner Verurteilung zu erwarten hatte.
Nach dem Prozess, der mit einem Todesurteil endete, erhielt ich einen Brief von Joe, in dem er erklärte, dass ihm keine Gerechtigkeit widerfahren sei und dass das Leben eines jeden Mannes, nicht nur das seine, einen gerechten Prozess wert sei. Ich entsandte den Juristen Hilton aus Denver nach Salt Lake City, um ein Wiederaufnahmeverfahren zu betreiben. Präsident Wilson ersuchte den Gouverneur Spry um Aufschub der Urteilsvollstreckung, auch die schwedische Regierung protestierte gegen die Hinrichtung Joe Hills. Zu den bekanntesten der von Joe Hill verfassten Lieder gehören: „Was wir wollen", „Nehmt mir nicht meinen Vater weg", „Der weiße Sklave", „Im Verband liegt Macht", „Casey Jones - der Gelbe", „Hallelujah, ich bin ein Penner", „Mr. Block" und „Sollte ich jemals Soldat sein".
Der Kriegsausbruch brachte mich vollkommen außer Fassung. Wochenlang konnte ich kaum sprechen. Meine Zeit verbrachte ich in Bibliotheken, im Schachklub und in Udells kleinem Buchladen in der North Clark Street in Chicago. Ich konnte meine Gedanken nicht auf das
Schachspiel konzentrieren, aber ich brauchte wenigstens nicht zu sprechen, während ich auf das Spiel sah. Und auch das Lesen fiel mir schwer, da meine Gedanken immer mit dem Krieg beschäftigt waren, in den - daran zweifelte ich nicht einen Augenblick - die Vereinigten Staaten mit hineingezogen werden würden. Ich setzte kein Vertrauen in Woodrow Wilson, den Mann, der ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt wurde, weil er „uns vor dem Krieg bewahrte".
Wir hatten beschlossen, die Landarbeiter zu organisieren und wollten auch mit der Arbeit in anderen wichtigen Industrien, besonders dem Erzbergbau, der Holzindustrie, der Erdölindustrie und der Konservenindustrie in Chicago und an anderen Orten beginnen. Der Landarbeiterverband wurde in Kansas City ins Leben gerufen, und wir begannen ein System von Arbeiterdelegierten am Arbeitsplatz zu organisieren. Zum Sekretär wurde Walter T. Nef und als Sitz des Hauptbüros Minneapolis bestimmt. Der Verband wuchs sehr schnell. Meine nächste Aufgabe war die Organisierung der Erzbergarbeiter. Zu diesem Zwecke entsandte ich Grover H. Perry als Sekretär der Industriegewerkschaft der Erzbergarbeiter nach Phoenix, Arizona. Mit dem Büro der IWW übersiedelten wir in ein dreistöckiges Gebäude, 1001 West Madison Street. Die Druckerei wurde in das Erdgeschoss des nebenstehenden Gebäudes verlegt, neue Maschinen wurden aufgestellt, und die Redaktion der „Solidarity" übersiedelte aus Cleveland nach Chicago. In der Druckerei wanden dann auch andere Zeitungen in verschiedenen Sprachen hergestellt, unter anderem in tschechischer, bulgarischer, kroatischer, finnischer, deutscher, ungarischer, italienischer, jiddischer, litauischer, russischer, slowakischer, spanischer und schwedischer Sprache.
Die Monatsschriften „One Big Union Monthly" und „Tie Vapauteen", ein finnisches Organ, wurden ebenfalls in Chicago herausgegeben. Auch in verschiedenen anderen Städten wurden englische und fremdsprachige Zeitungen veröffentlicht. Darunter der „Industrial Worker", das englische offizielle Organ der Organisation in Seattle, Washington, und eine finnische Tageszeitung in Duluth. Auch die IWW-Arbeiterschule, in der ein gründlicher Unterricht in Marxismus erteilt wurde, befand sich in Duluth. Außerdem fanden ausgezeichnete Rednerkurse in englischer Sprache für ausländische sowie für amerikanische Arbeiter statt; ferner Kurse in Buchführung und Organisationsfragen. Die IWW hatte allen Grund, auf ihre Schule stolz zu sein, aus der viele tüchtige Organisatoren hervorgegangen sind. Im Staate Colorado, dem alten Kampfplatz der Bergarbeiterföderation des Westens, wurde 1914 ein furchtbares Gemetzel unter den streikenden Kohlenbergarbeitern in Ludlow angerichtet. Die Streikenden waren aus ihren Wohnungen exmittiert worden und hatten eine Zeltkolonie errichtet. Eines Tages, die Männer standen zum größten Teil auf Streikposten vor den Gruben, ritt eine Kompanie der Miliz an der Kolonie vorbei. Einem jungen Bergarbeiter, der sich der Miliz mit einer weißen Parlamentärfahne näherte, wurde von einem Leutnant der Schädel mit dem Gewehrkolben zerschmettert. Dann feuerten die Bestien wie wild in die Zeltkolonie hinein, töteten Frauen und Kinder, steckten die Siedlung in Brand und ließen die Leichen zu Asche verbrennen.
John D. Rockefeller jr. schrieb in einem Artikel im „Atlantic Monthly": „Ein Zustand, gleichgültig welches seine Ursache, der so viel Bitterkeit entstehen lassen konnte, bedurfte zweifellos der Besserung", und fügte noch die verächtliche Lüge hinzu: „Es war immer der Wunsch und das Streben der Direktion der Colorado Fuel and Iron Co., ihre Beschäftigten verständnisvoll und anständig zu behandeln."
In späteren Reden im Staate Colorado wiederholte er den Unsinn, dass Kapital und Arbeit Partner seien, und sprach mit der Lüge auf den Lippen über den Schutz, den die Arbeiterschaft gegen Unterdrückung und Ausbeutung erhalten habe, während er gleichzeitig einen Industrieplan vorlegte, durch den die Arbeiter der Colorado Fuel and Iron Co. wehrlos ausgeliefert werden sollten.
Dieser Industrieplan wurde von Mackenzie King entworfen, dem späteren Premierminister von Kanada, der, wie es heißt, einmal sagte, „der Lebensstandard der Arbeiterschaft in Kanada müsse gesenkt und näher an das Niveau des chinesischen Arbeiters herangeführt" werden. Rockefeiler erklärte: „Die Aktionäre haben vierunddreißig Millionen Dollar in dieser Gesellschaft angelegt, um sie in Betrieb zu setzen, damit ihr Arbeiter eure Löhne, ihr Angestellten eure Gehälter und die Direktoren ihre Tantiemen erhalten. Aber nicht ein Cent davon ist in diesen vierzehn Jahren an die Aktionäre zurückgelangt."
Dieser hartgesottene Parasit muss die Leser für ausgemachte Dummköpfe gehalten haben, wenn er ihnen weismachen wollte, die Aktionäre einer Industrie legten ihr Geld nur an, um den Arbeitern Löhne zu zahlen. Schließlich weiß jedes Kind, dass die gesamte Industrie nur für den Profit betrieben wird.
Ich wurde nach Washington berufen, um vor dem Ausschuss für Industriebeziehungen als Zeuge aufzutreten. Dieser Ausschuss war durch einen Beschluß des Kongresses unter der Regierung Theodore Roosevelt ins
Leben gerufen worden, nahm aber seine Arbeit erst auf, nachdem Woodrow Wilson zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden war und die Mitglieder des Ausschusses Frank P. Walsh, einen Rechtsanwalt aus Kansas City, zu ihrem Vorsitzenden ernannt hatten. Den Anlass zur Bildung dieses Ausschusses gaben die Wirtschaftskämpfe, die überall mit großer Erbitterung ausgefochten wurden: der Woll- und Baumwollarbeiterstreik in Lawrence, der Seidenarbeiterstreik in Paterson, der Textilarbeiterstreik in Little Falls, der Kautschuk- und Gummiarbeiterstreik in Akron, die Streiks in Colorado, die Holzarbeiterstreiks im Nordwesten und im Süden, der Streik der Hopfenpflücker in Wheatland und andere Kämpfe in Kalifornien, der Streik der Kupferbergarbeiter in Michigan, die Kämpfe für die Redefreiheit und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft im Süden.
Der Ausschuss stellte ausführliche Untersuchungen an, aber nichts oder doch nur wenig geschah vom Kongress aus, als das Ergebnis seiner Tätigkeit in einem Bericht, der elf dicke Bände umfasste, vorlag. Der Walsh-Ausschuss hatte für die Untersuchung ausgedehnte Vollmachten erhalten. Die Industriemagnaten wurden zu Zeugenaussagen gezwungen und mussten sich dem strengsten Kreuzverhör unterwerfen. Unter ihnen befand sich auch John D. Rockefeller jr., von dem einer der Ausschussmitglieder behauptete, er sei „von innen nach außen gekehrt worden".
Ich stand fast zwei volle Tage in der Zeugenbank und berichtete, vom Vorsitzenden Walsh befragt, über die Zustände, von denen ich auch in diesem Buch erzählt habe. Zum Schluss meiner Ausführungen erklärte ich, dass es keine Übereinstimmung der Interessen zwischen Arbeitern und Unternehmern geben könne.

 

Neunzehntes Kapitel
Morde! Überfälle! Verhaftungen!

Der Streik der Bergarbeiter in den Eisenerzgruben von Minnesota im Jahre 1916 war ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der IWW, obgleich während dieses Kampfes ein widerlicher Vorfall einen unaustilgbaren Fleck auf dem Ansehen der Organisation hinterließ. Es war die Verurteilung dreier Streikteilnehmer, die des Mordes angeklagt waren. Ich werde diese Angelegenheit später schildern.
Der Streik begann in der Silver Mine in Aurora, einer Eisengrube, in der die Arbeitsbedingungen für die Bergleute unerträglich geworden waren. So gab es, um ein Beispiel anzuführen, unter Tage Stellen, an denen die Bergleute gezwungen waren, das Bauholz durch so niedrige Gänge zu schleppen, dass sie auf allen vieren im Schlamm  und  Schmutz  kriechen  mussten,  um  die schweren Balken an ihre Arbeitsstellen zu schaffen. Die Arbeiter erhoben Forderungen nach Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen und traten in den Streik. Der Kampf griff sofort auf die Eisenbergbaugebiete von Mesaba, Cayuna und Vermilion über. Es waren ungefähr sechzehntausend Mann an dem Streik beteiligt.
Zu dieser Zeit war die United States Steel Corporation mit Bestellungen von Kriegsmaterial aus allen am großen Massenmorden beteiligten Ländern überschwemmt. Als erste Gegenmaßnahme rief der Stahltrust die bei ihm in Sold stehenden Wächter und Revolverhelden auf den Plan. Dann entsandte der Staatsgouverneur die Miliz in die Eisenreviere, um den Streik niederzuschlagen.
Gouverneur Burnquist erließ eine Verordnung, durch die alle Paraden, Aufmärsche oder Demonstrationen der Streikenden verboten wurden. Die Befolgung dieser Anordnung hätte die Kämpfenden eines ihrer stärksten Agitationsmittel beraubt. Der Befehl wurde daher ignoriert.
In Eveleth wurde ein finnischer Arbeiter, John Alar, auf der Schwelle seines Hauses getötet, auf der er mit seinem kleinen Kinde im Arm saß. Die Beerdigung des ermordeten Kumpels wurde Anlass zu einer eindrucksvollen Demonstration aller Bergarbeiter aus den verschiedenen Bezirken. Die Streikenden aus der Stadt Virginia trugen an der Spitze des Zuges ein Banner mit der Inschrift: „Auge um Auge, Zahn um Zahn." Die Organisatoren der IWW hielten die Spitze der Demonstration, hinter ihnen marschierte eine Musikkapelle. Während des Marsches sammelten sich die Revolverhelden und Betriebswächter auf dem Bürgersteig. Nach den Reden am Grabe des toten Kameraden erhoben die Demonstranten, Männer aus allen Teilen der Welt, die rechte Hand und bekräftigten den alten biblischen Eid: Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Dieser Vorgang wurde später in einem Prozess gegen die verhafteten Organisatoren der IWW, die der Ermordung eines der Revolverhelden namens Myron beschuldigt wurden, von den Anklägern weidlich ausgenutzt. Myron gehörte zu einer in Duluth organisierten Bande, die in das Kampfgebiet einrücken sollte, um die führenden Leute des Streiks zu beseitigen oder unschädlich zu machen. Die Horde drang in das Haus des Bergarbeiters Masonovitch, bei dem auch zwei andere Bergarbeiter, Geogorovitch und Orlanditch, zur Miete wohnten. Die Banditen trafen auf Widerstand. Im Verlaufe des Kampfes wurden zwei Männer erschossen.
Eine Kugel traf den Fuhrmann eines Lebensmittelwagens, einen finnischen Arbeiter namens Latvala, und eine andere den Revolverhelden Myron. Diesem Scharmützel folgte unmittelbar die Verhaftung Masonovitchs und der beiden anderen Bergarbeiter sowie der Organisatoren der IWW, Joe Schmidt, Sam Scarlett und Carlo Tresca. Die sechs Männer wurden in das Gefängnis von Duluth gebracht. Ich begann sofort eine Kampagne zu ihrer Verteidigung. Ohne Verzug schickte ich nach Richter Hilton in Denver, den wir schon früher zur Verteidigung Joe Hills beschäftigt hatten und der auch bei der Verteidigung George Pettibones in Boise, Idaho, die Stelle von Clarence Darrow eingenommen hatte. Außerdem rief ich den jungen Anwalt Whitsell, der gleichfalls für die Bergarbeiterföderation des Westens während des Prozesses in Boise gearbeitet hatte. Ferner beschäftigten wir in Minnesota ansässige Anwälte und waren nun der Überzeugung, dass wir alle Vorkehrungen zur Verteidigung nicht nur der Führer, auf denen die schreckliche Anklage des Mordes lastete, sondern auch der streikenden Bergarbeiter, die in diesen Fall verwickelt waren, getan hatten.
Joe Ettor, der zu dieser Zeit Hauptorganisator der IWW war, wirkte damals in Scranton, Pennsylvanien, und Umgebung. Kurz nach dem Beginn des Streiks war er auf dem Schauplatz erschienen und begann nun ebenfalls mit Geldsammlungen für die Verteidigung der Angeklagten. Durch seine Arbeit und die des Zentralbüros wurde eine große Summe Geldes für diesen Zweck aufgebracht.
Dem Prozess konnte ich, da ich nicht am Orte war, nicht beiwohnen. Eines Tages erhielt ich durch die Presse die Nachricht von der Verurteilung der drei Bergarbeiter.
Sofort telegrafierte ich an Ettor, er solle ein Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens einreichen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich von ihm erfuhr, dass die Bergarbeiter sich schuldig bekannt hatten und zu fünf bis zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt seien. Ich forderte ihn sofort telegrafisch auf, zusammen mit den freigelassenen Organisatoren in die Zentrale zu kommen. Mit ihnen erschien auch Elizabeth Gurley Flynn, die gleichfalls in diesem Streik tätig gewesen war.
Bei genauer Untersuchung der Lage ergab sich folgendes: Im Gefängnis von Duluth war vereinbart worden, dass die Bergarbeiter sich schuldig bekennen und zu einem Jahre Zuchthaus verurteilt werden sollten, während die Organisatoren der IWW freigelassen und die Mordanklage gegen sie eingestellt werden sollte. Dieser Vorschlag war den Bergarbeitern von Richter Hilton durch einen gewissen James Gilday übermittelt worden; Gilday war ein Mitglied des Landarbeiterverbandes, der sich jedoch später als ein Spitzel entpuppte. Die Verhandlungen im Gerichtssaal waren nur eine Farce. Die Bergarbeiter, die der englischen Sprache nicht vollkommen mächtig waren, entdeckten schließlich, dass sie sich des Mordes zweiten Grades schuldig bekannt hatten und dass sie zu fünf bis zwanzig Jahren verurteilt worden waren.
Joe Schmidt, ein polnischer Organisator, sagte mir auf der Konferenz in der Zentrale: „Es war unrecht, Bill, unrecht vom Anfang bis zum Ende. Diese Männer hätten niemals ins Gefängnis kommen dürfen." Scarlett pflichtete Schmidt bei. Daraufhin ging ich Ettor, Flynn und Tresca um eine Erklärung an. Von Tresca erwartete ich nicht viel, da er nicht Mitglied der Organisation war, wenn er auch während des  Streiks in Lawrence,
Massachusetts, gute Arbeit geleistet hatte. Ettor und Flynn sagten nur, das sei das beste gewesen, was man hätte tun können! Daraufhin erklärte ich Ettor unmissverständlich, als er wegen Mordes in Lawrence verhaftet worden sei, habe ihm die Organisation auch nicht gestattet, sich eines Verstoßes schuldig zu bekennen, und sei es dessen, auf den Bürgersteig gespuckt zu haben. Alle drei wussten sehr wohl, dass den drei verurteilten Bergarbeitern, die jetzt ins Zuchthaus geschafft wurden, ein Unrecht geschehen war. Die Rolle, die sie in dieser Angelegenheit spielten, machte ihren Beziehungen zur IWW ein Ende. Ettor und Flynn waren lange mit den IWW verbunden und waren ernste, energische Arbeiter. Sie hätten nicht zulassen dürfen, dass sie von Rechtsanwälten, die immer lieber einen Prozess „arrangieren", als ihn bis zu Ende durchfechten, in eine Falle gelockt wurden. Joe Schmidt ging zurück nach Pennsylvanien. Ich habe niemals wieder von ihm gehört. Noch während des Streiks entsandte Gouverneur Burnquist eine Kommission zur Untersuchung der Lage der Bergarbeiter in das Eisengebiet. Später fand auch im Staatsparlament von Minnesota eine Untersuchung und die Befragung einer Deputation statt. Nachdem die Kommission des Gouverneurs ihren Bericht erstattet hatte, kehrten die Bergarbeiter zur Arbeit zurück, und merkwürdigerweise bewilligte der Stahltrust ohne Konferenz, ohne Schiedsgericht, ohne besondere Abkommen irgendwelcher Art alle Forderungen, die von den Arbeitern gestellt worden waren. Die Bergarbeiter erhielten eine Lohnerhöhung, den Achtstundentag und im allgemeinen bessere Arbeitsbedingungen. Es war dies das zweite Mal, dass der mächtige Stahltrust die von den IWW erhobenen Forderungen bewilligt hatte, obwohl die Führer und Mitglieder der Organisation mit den
Beamten des Konzerns am Ende des Streiks nicht besser bekannt geworden waren als zu Beginn desselben.
Die Industriemagnaten der Vereinigten Staaten begriffen, dass ein siegreiches Deutschland ein starker Konkurrent auf den Weltmärkten sein würde. Die USA waren drauf und dran, ihre Batterien auf diesen immer stärker werdenden Gegner auf wirtschaftlichem Gebiete zu richten. Die Invasion Belgiens durch die „Hunnen" war ihnen als passender Anlass zu einer Kriegserklärung entgangen. Die Zerstörung der „Lusitania" reichte für eine Kriegserklärung nicht aus. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten, besonders die des Mittelwestens und des Westens, war entschieden gegen den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg. „Onkel Sam", in Gestalt der Imperialisten der Wallstreet, hielt es darum für notwendig, eine großzügige Kriegsrüstungskampagne zu eröffnen. Zuerst sicherten sie sich die Kontrolle über alle einflussreichen Zeitungen des Landes. Dann begannen die Klubs und Verbände der Kaufleute, die Fabrikantenverbände usw. mit ihren Bereitschaftsparaden. Demonstrationen dieser Art wurden in vielen der großen Städte abgehalten. Entscheidend für den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg waren natürlich die Milliardenkredite, die den alliierten Mächten gewährt worden waren.
In San Francisco wurde zwei Tage vor der von den Kriegstreibern organisierten Kriegsparade eine große Protestversammlung gegen den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg abgehalten. Auf dieser Versammlung schlug einer der Redner als Mittel zur Beendigung des Krieges vor, dass die Soldaten ihre Offiziere erschießen und heimgehen sollten.
Am nächsten Tage erhielten alle Zeitungen Warnbriefe,
in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass „etwas geschehen werde, wovon man in der ganzen Welt hören werde". Und am Tage der Bereitschaftsparade ereignete sich wirklich eine Bombenexplosion, die zehn Menschen tötete und viele andere verwundete. Tom Mooney, Warren Billings und einige andere wurden daraufhin verhaftet und des Mordes angeklagt. Tom Mooney hatte kurz vorher einen Streik der Straßenbahner in San Francisco geführt. Dieser energisch und geschickt geführte Streik hatte Mooney den Hass der Unternehmer und der Staatsgewalt eingebracht. Seiner Tätigkeit als Streikorganisator ist es zuzuschreiben, dass er verhaftet und angeklagt wurde, die Explosion mit veranlasst zu haben. Mooney und Billings wurden auf Grund der Aussagen meineidiger Schurken für schuldig erklärt und zum Tode verurteilt. Später wurde dieses Urteil in lebenslängliche Haft umgewandelt. Mooney und Billings wären ebenso kaltblütig ermordet worden wie später Sacco und Vanzetti, wenn nicht eine sehr starke Protestbewegung eingesetzt hätte, die den endgültigen Justizmord verhinderte. So suchte unter anderem auch ein Komitee von russischen Arbeitern den amerikanischen Botschafter Francis in Petrograd auf und erklärte ihm, dass ihre Brüder Tom Mooney und Billings nicht gehängt werden dürften. Francis setzte sich dann in einem Telegramm an die Regierung der Vereinigten Staaten für Tom Mooney und Billings ein.
Zu dieser Zeit entfalteten die IWW eine starke Propagandaaktion gegen den Krieg.
Der Kongress der IWW von 1916 nahm folgende Entschließung an, die unter dem Titel „Eine Erklärung" erschien:
„Wir, die auf dem Kongress versammelten Industriearbeiter der Welt, bekräftigen hiermit aufs neue unser Bekenntnis zu den Prinzipien der Industriegewerkschaften, und wir wollen uns auch weiterhin unnachgiebig und ohne Schwanken dem Kampf für die Abschaffung der Lohnsklaverei und die Verwirklichung unseres Ideals der industriellen Demokratie widmen... Wir verurteilen alle Kriege, und um sie zu verhüten, bekennen wir uns zur antimilitaristischen Propaganda in Friedenszeiten, um so die Klassensolidarität unter den Arbeitern der ganzen Welt zu fördern, und in Kriegszeiten zum Generalstreik in allen Industrien. Alle Arbeiter, die unter den Händen der Kapitalistenklasse wegen ihrer Treue zu diesen Prinzipien leiden, versichern wir unserer moralischen und materiellen Unterstützung und fordern alle Arbeit r auf, sich mit uns zu vereinigen, damit die Herrschaft   der Ausbeuter aufhören und diese Erde durch die Errichtung der industriellen Demokratie befreit werden möge." Wir verfassten ein Flugblatt unter dem Titel „Eine tödliche Parallele", auf dem wir die Entschließung der IWW rot umrandet neben eine schwarz eingerahmte patriotische Resolution der AFL setzten. Das Flugblatt wurde in riesigen Mengen im ganzen Lande verbreitet. Die „tödliche Parallele" wurde auch in einer Broschüre ver­öffentlicht, die wir „Der letzte Krieg" betitelten. Zu den wichtigsten Kriegsmaterialien, die von den Vereinigten Staaten in die kriegführenden Länder ausgeführt wurden, gehörte Fichtenholz. Als der Holztrust später auch noch die Regierung der USA belieferte, konnte er seine Preise um mehr als dreihundert Prozent steigern. Die Holzarbeiter, Mitglieder der IWW, waren daher der Meinung, sie könnten mit Recht bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, kürzere Arbeitszeit und eine Erhöhung der Löhne fordern. Sie machten
große Anstrengungen, die Holzfäller, Sägemühlenarbeiter und anderen in der Holzindustrie beschäftigten Arbeiter zu organisieren. Aber sie stießen dabei an vielen Orten auf die Feindschaft der Bezirksbehörden, die alle unter dem Einfluss der großen Holzgesellschaften standen.
Dies war auch in Everett, Washington, der Fall, wo der Sheriff fortgesetzt die Organisatoren und Redner der IWW verhaftete und die Versammlungen auflöste. Unsere Ortsgruppen in Seattle beschlossen angesichts dieses Terrors, eine Anzahl ihrer Mitglieder nach Everett zu senden, um dort für Redefreiheit und Koalitionsrecht zu sorgen. Am Sonntag, dem 5. November 1916, charterten sie die „Verona" und ein Schwesterschiff und fuhren nach Everett. Als die „Verona" den Kai erreichte, wurden die an Bord befindlichen Arbeiter mit einer Salve von Gewehrschüssen empfangen, die von einer im Gebüsch versteckten Horde von Hilfssheriffs und Revolverhelden abgefeuert wurde. Fünf IWW-Mitglieder wurden getötet und viele verwundet. Grausam und heimtückisch hingemordet wurden IWW-Arbeiter, verhaftet und unter Mordanklage gestellt wurden aber nicht die Mörder, sondern eine große Anzahl derer, die sich an Bord der „Verona" befunden hatten. Ihnen wurde der Prozess gemacht, weil einige der Beamten durch Schüsse, die vom Schiff aus zur Abwehr des Überfalls zum Ufer hinübergesandt wurden, getötet worden waren. Sie wurden nach langer Haft freigesprochen.
Die Organisierung der Holzarbeiter schritt fort. Sie traten schließlich in einen mit großer Energie geführten Streik, den sie aber wegen Mangels an Geldmitteln abbrachen und durch eine andere Form des Arbeitskampfes ersetzten. Die Leute kehrten zur Arbeit zurück und verließen die Arbeitsplätze, wenn ihre acht Stunden um waren. Dieses Vorgehen ärgerte die Leitung und die Vorarbeiter der Holzgesellschaften. Sie hielten den Arbeitern wiederholt vor, dass sie zehn Stunden zu arbeiten hätten, dass sie in einem „Zehnstundenlager" seien. Die Arbeiter erwiderten schlankweg, das hätten sie bei Annahme der Arbeit zwar gewusst, aber sie seien Achtstundenleute" und würden nicht länger arbeiten. Sie zwangen die Gesellschaften, Betten an Stelle der bisher benutzten schmutzigen Pritschen aufzustellen und erhielten Brausebäder, Waschgelegenheiten und bessere Verpflegung. Am 1. Mai 1917 verbrannten alle Holzarbeiter ihre eigenen verdreckten und verlausten Decken. Auch die Zustände in den Ölfeldern von Oklahoma, Texas und Kalifornien waren sehr schlecht. Der den IWW angeschlossene Industrieverband der Ölarbeiter traf Vorbereitungen, um für die an den Ölquellen und mit den Bohrungen nach neuen Öllagern beschäftigten Arbeiter bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.
Für den ersten Ansturm wurde Tulsa, Oklahoma, bestimmt. Es herrschte Kampfstimmung. Eines Abends drangen einige Mitglieder des Kaufleuteklubs mit einem Trupp Polizisten in den Versammlungsraum der IWW ein, verhafteten alle dort anwesenden Mitglieder und schleppten sie ins Gefängnis. Aber sie hatten ganz gegen die sonstige Gewohnheit nicht daran gedacht, eine bestimmte Anklage gegen die Männer zu fabrizieren; daher wurden die Verhafteten wieder aus dem Gefängnis herausgezerrt, aber nicht entlassen, sondern in Automobile gesteckt und aus der Stadt geschleppt. Außerhalb der Stadtgrenze fesselten die Bestien ihre Opfer an die Bäume und prügelten sie mit Ochsenziemern, bis das Blut vom Körper rann. Damit nicht genug, goss der Pöbel
heißen Teer über die wunden Leiber und wälzte die Gemarterten in Federn. Dann erst ließen sie ihre Opfer los und sagten ihnen, sie sollten sich fortscheren und sich niemals wieder in Tulsa sehen lassen, wenn sie nicht noch Schlimmeres erleben wollten.
Während dieser aufgeregten Zeit erhielt ich ein Telegramm von meinen Töchtern aus Denver mit der erschütternden Nachricht, dass die Mutter gestorben sei. Der Tod hatte meine Frau von ihrem langen Leiden erlöst. Ihren letzten Ruheplatz bereiteten wir ihr in der Nähe ihres Vaters und ihrer Mutter in McDermitt, das noch heute in unwirtlichem Grenzland liegt.
Lange Zeit hindurch wurde jede Versammlung der IWW und, soweit als möglich, jeder Schritt der Mitglieder von besonderen Agenten beobachtet. Im Januar 1916 sollen fünfundsiebzig bis hundert Leute mit dieser Arbeit beschäftigt gewesen sein. Sie hatten dabei die Unterstützung und Hilfe aller Staats-, Bezirks- und Kommunalbehörden. Die Spitzel hatten nicht viel zu tun. Alle unsere Versammlungen waren öffentlich; wir brauchten nichts von unserer Arbeit zu verstecken. Nachdem Präsident Wilson im Februar 1917 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen hatte, wurde die Überwachung der IWW durch die Organe der Regierung noch schärfer. In unserem Monatsbulletin vom April 1917 schrieb ich: „Seit dem Erscheinen des letzten ,Bulletins' hat Präsident Wilson gegenüber der kaiserlichen Regierung von Deutschland den Kriegszustand verkündet. Es ist ein Aufruf für die Bildung eines Freiwilligenheeres ergangen, und möglicherweise wird der Kongress der Vereinigten Staaten Maßnahmen zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht beschließen. Alle klassenbewussten Mitglieder der IWW wenden sich bewusst dagegen, das Lebensblut menschlicher Wesen zu vergießen, nicht aus religiösen Gründen, wie die Quäker und die Vereinigung der Freunde, sondern weil wir der Meinung sind, dass die Interessen und das Wohl der Arbeiterklasse in allen Ländern identisch sind. Obwohl wir der imperialistischen kapitalistischen Regierung Deutschlands in bitterer Feindschaft gegenüberstehen, sind wir gegen das Hinschlachten und Verstümmeln von Arbeitern eines jeden Landes. In vielen Ländern erdulden unsere Mitglieder Gefängnishaft, Tod und Misshandlungen aller Art in dem Klassenkrieg, den wir für soziale und industrielle Gerechtigkeit führen."
Die IWW hatten ihre Aktivität bis nach dem fernen Australien ausgedehnt. Auch dort führten die Anhänger unserer Bewegung eine Kampagne gegen den Krieg. In Sidney wurden zwölf Mitglieder vor Gericht geführt und zu vierzehn Jahren Kerkerhaft verurteilt. Unser Blatt „Direct Action" wurde verboten und der Herausgeber, Tom Barker, deportiert.
In der Juli-Nummer des „Bulletins" veröffentlichte ich folgenden Bericht an die Industrieverbände und die ganze Mitgliedschaft:
„In Rockford, Illinois, haben sich über einhundertfünfzig Mann, Mitglieder der IWW und Sozialisten, freiwillig den Behörden wegen Umgehung des Einberufungsgesetzes gestellt. Sie wurden mit außergewöhnlicher Brutalität behandelt. Als sie dagegen protestierten, voneinander isoliert und truppenweise in andere Gefängnisse abgeschoben zu werden, wurden sie vom Sheriff des Gefängnisses von Rockford und seinen Gehilfen erbarmungslos mit Knüppeln geprügelt. Als ihr Fall vor Gericht kam, wurden sie einem notorisch unfairen Richter vorgeführt, einem Richter, der in einer kurz vor dem
Prozess gehaltenen Rede erklärte, er bedaure, nicht in den Krieg ziehen und kämpfen zu können, aber zumindest könne er in der Heimat die Männer bekämpfen, die hier gegen die Soldaten aufträten. Dieser Richter, Kenesaw Mountain Landis, hat einen Sohn in der Armee; man kann sich also vorstellen, wie gerecht er Männern gegen­über sein konnte, die gegen die allgemeine Dienstpflicht sind und nicht an die Notwendigkeit von Kriegen oder Armeen glauben. Wie erwartet, stellte der ,Ehrenwerte' (Ehre, wem Ehre gebührt!) Richter einfach ein Känguruverfahren mit den Kameraden an, gab fast allen die Höchststrafe und schickte sie, um ihre Strafe zu verschärfen, nach Bridewell in Chicago, ,wo', wie er sagte, ,die Arbeit viel härter ist als im Bundesgefängnis'. Er nutzte auch ihre Hilflosigkeit aus, um eine beleidigende Rede an sie zu halten, in der er sie ,Feiglinge' und ,winselnde, wehleidige Hündchen' nannte, weil sie nicht für Morgan und seine Kapitalanleihen kämpfen wollten." Im Juni 1917, gerade drei Jahre nach dem Tage, an dem der Versammlungssaal der Bergarbeiter in Butte, Montana, in die Luft gesprengt wurde, ereignete sich an diesem Ort ein schreckliches Unglück in der Speculator-Grube. Aus unbekanntem Grunde brach in einer Tiefe von zweitausendvierhundert Fuß ein Feuer aus, das den Tod von einhundertvierundneunzig Menschen mit sich brachte. Die Opfer konnten nicht aus der Grube herausgelangen und konnten sich auch nicht in die benachbarten Gruben hinüberretten, da die Grenzen von betonierten Wänden versperrt worden waren, die nicht ohne Sprengung geöffnet werden konnten. Die Kumpels, die ihre Werkzeuge liegengelassen hatten, gruben und kratzten mit den Händen, um aus der Hölle herauszukommen, bis ihre Finger bis an die Knochen wund waren. Diejenigen, die nicht direkt vom Feuer getötet wurden, erstickten
durch den Rauch. Furchtbare Geschichten wurden über die Vorgänge im Leichenschauhaus erzählt; die ausgegrabenen Überreste und nicht identifizierten Leichen sollen für zwölf Dollar das Stück, wahrscheinlich zu Sektionszwecken, an medizinische Fakultäten verkauft worden sein.
Der Feuerkatastrophe in der Speculator-Grube folgte sehr schnell ein Generalstreik in allen Gruben von Butte. Dieser Streik wurde von einem neu gebildeten Verband, den Vereinigten Erzbergarbeitern, geführt. Seine Funktionäre waren ehemalige Mitglieder der Bergarbeiterföderation des Westens und Mitglieder der IWW.
Nach der Kriegserklärung im Jahre 1917 erzählte mir Robert Bruere, der damals eine Artikelserie unter dem Titel: „Auf der Fährte der IWW" schrieb, dass die Organisation einen Überfall zu erwarten habe. Er berichtete mir, dass Sam Gompers sich zu diesem Zweck an den Kriegsminister Newton Baker gewandt und diesem einen Plan zur Vernichtung der IWW vorgelegt habe. Baker weigerte sich, diesen Vorschlag von Gompers ernst zu nehmen; der aber wandte sich an das Justizministerium, wo er mehr Erfolg hatte.
Die Presse begann eine äußerst heftige Attacke und beschuldigte die IWW, im Dienste Deutschlands zu stehen und große Summen deutschen Goldes erhalten zu haben. Es wurde behauptet, wir beabsichtigten, die im Heer verwendeten Lebensmittelkonserven zu vergiften; wir seien ferner für die Verbreitung der Maul- und Klauenseuche verantwortlich, die zu dieser Zeit wütete und große Viehherden vernichtete. Die Organisationsarbeit des Industrieverbandes der Bergarbeiter breitete sich erfolgreich auf die verschiedenen Bergwerksbezirke des Landes aus. Besonders
1 stark wurde die Organisation im Staate Arizona, wo die Mitgliedschaft beschlossen hatte, eine Erhöhung der Löhne zu fordern. Der Kupfertrust hatte den Preis des Kupfers auf das Dreifache erhöht, ohne jedoch die Arbeitsbedingungen der Arbeiter, die das Erz förderten, in irgendeiner Weise zu beachten. Der berüchtigte Bürgerbund wurde wiederhergestellt und begann unter dem Namen einer Loyalitätsliga seine unmenschlichen Grausamkeiten auszuüben.
Zeitig am Morgen des 10. Juli 1917 umzingelten bewaffnete Söldlinge der United Verde Copper Company, die dem ehemaligen Senator William Clark gehörte, in Jerome, Arizona, das Lager der kämpfenden Bergarbeiter. Sie griffen siebzig Mitglieder heraus, luden sie auf Viehwagen und schickten sie nach Kalifornien. Der Sheriff von Kalifornien verweigerte jede Hilfe und schaffte sie zurück über die Grenze von Arizona. In Kingman, Arizona, löste sich die Gruppe auf. Am 12. Juli 1917 wurden die Bergarbeiter von Bisbee, Arizona, ganz überraschend durch die Revolverhelden der Bergwerksgesellschaften und einer von Geschäftsleuten gebildeten so genannten Bürgerwehr festgenommen. Sie brachen in den frühen Morgenstunden in die Wohnungen und Pensionen der Bergarbeiter ein und rissen sie aus den Betten. Die Männer wurden in den Baseballpark in der Nähe des Bahnhofs geführt. Nachdem eintausendeinhundertzweiundsechzig  von  ihnen zusammengetrieben worden waren, wurden sie in Vieh- und Frachtwagen geladen und in die Wüste von Hermanas geschafft. Dort wurden sie ausgesetzt und ohne Nahrungsmittel oder Wasser zurückgelassen. Sobald ich von dieser niederträchtigen Gewalttat erfuhr, forderte ich telegrafisch vom Präsidenten Wilson in Washington, dass die Bergarbeiter in ihre Heime in Bisbee
zurückgeführt und dort vor den Verfolgungen des Pöbels geschützt würden. Ich erhielt keine Antwort; ein oder zwei Tage später erfuhr ich aber, dass die Leute weiter nach Columbus, Neumexiko, geschafft worden waren. Wieder telegrafierte ich dem Präsidenten, und wieder kam keine Antwort.
Die Mitglieder der IWW waren über die ihren Kollegen angetane Unbill aufs äußerste erbittert und begannen ernsthaft für einen Generalstreik in allen Industriezweigen zu agitieren, in denen die IWW vertreten waren oder über genug Einfluss verfügten, um die gewünschte Aktion herbeizuführen. Diese Agitation führte zu harten Vergeltungsmaßnahmen seitens der Untemehmerklasse und der Regierung; in vielen Teilen des Landes fanden Verhaftungen und Deportationen der IWW statt. Auf einer Versammlung des Exekutivkomitees in Chicago im Juli 1917 wurde der Krieg von verschiedenen Standpunkten aus diskutiert, aber es wurden keine neuen Aktionen beschlossen, die über das hinausgingen, was die Organisation bisher schon getan hatte. Man kam aber überein, eine Erklärung an die Mitglieder herauszugeben. Nach der Sitzung des Exekutivkomitees ver­öffentlichte Ralph Chaplin, damals Herausgeber der „Solidarity", folgenden Artikel in der Nummer vom 28. Juli:
„Wurdest du einberufen?
Der Standpunkt der IWW zur Frage des Krieges Die Haltung der Industriearbeiter der Welt ist der Bevölkerung der Vereinigten Staaten gut bekannt und wird im allgemeinen von der Arbeiterbewegung in der ganzen Welt anerkannt.
Seit ihrer Gründung hat unsere Organisation alle nationalistischen und imperialistischen Kriege bekämpft. Wir
haben einwandfrei bewiesen, dass der Krieg eine Frage ist, in der wir niemals ein Kompromiss geschlossen haben und niemals zu schließen gedenken. Mitglieder, die der Armee irgendeines Landes beitreten, sind stets aus der Organisation ausgeschlossen worden. Die IWW haben ihre Gegnerschaft gegen den Krieg ausdrücklich betont und haben auch heftig dagegen protestiert, dass ihre Mitglieder in die blutigen und nutzlosen Streitigkeiten der herrschenden Klasse der verschiedenen Nationen hineingezwungen werden sollten. Das Prinzip der internationalen Solidarität der Arbeiterschaft, dem wir immer treu geblieben sind, macht es uns unmöglich, an den Balgereien der Parasitenklasse um Beute teilzunehmen.
Unsere Lieder, unsere Literatur, die Überzeugung unserer gesamten Mitgliedschaft, der Geist unseres Verbandes selbst, zeugen von unserer unwandelbaren Gegnerschaft sowohl gegen den Kapitalismus wie gegen seine Kriege.
Alle Mitglieder der IWW, die einberufen worden sind, sollten ihre Forderung nach Befreiung vom Militärdienst mit der Begründung ,IWW, Kriegsgegner' versehen." Nach der Sitzung des Exekutivkomitees fuhr eines seiner Mitglieder, Frank Little, nach Butte, Montana, um bei dem dortigen Streik mitzuhelfen. Er hinkte auf Krücken und trug ein Bein, das er kurz vor dem Verlassen Arizonas gebrochen hatte, im Gipsverband. Er war jedoch überzeugt, dass er trotz dieser Verletzung einiges zur Unterstützung der streikenden Bergarbeiter leisten könnte. Er war ein energischer Arbeiter indianischer Herkunft, schwarzäugig, heißblütig und zuverlässig. Er sprach in mehreren Versammlungen in Butte und wurde beschuldigt, sich verächtlich über die Armee der Vereinigten Staaten geäußert zu haben.
Während seines Aufenthaltes in Butte lebte Little in einem finnischen Kosthaus in der Nähe des Lokals der IWW. Am 1. August 1917, 3 Uhr morgens, fuhr ein Auto, voll besetzt mit Strolchen, vor dem Kosthaus vor. Die Kerle drangen in Littles Zimmer ein und schleppten unseren Kameraden mit seinem gebrochenen Bein hinunter.
Sie schlangen einen Strick um den Hals des Wehrlosen und schleiften ihn so den ganzen Weg oder einen Teil des Weges bis zu einer Eisenbahnbrücke, wo sie ihn aufhängten. An sein Hemd befestigten sie eine Karte: „3 - 7 - 77".(Anm.: Diese Zahlen entsprechen den Ausmaßen eines Grabes: 3 Fußbreit, 7 Fuß lang, 77 Zoll tief. Die Red.) Bill Dunne, Tom Campbell und ein oder zwei andere erhielten ebenfalls solche Karten mit der Todesandrohung „3 - 7 - 77" der blutdürstigen Bürgerwehr.
Als Littles Leiche gefunden wurde, nahmen sich die Bergarbeiter ihrer an und bestatteten sie unter ungeheurer Beteiligung auf dem Friedhof in der Ebene unterhalb Buttes.
Von dem Leichenbegängnis wurde eine Filmaufnahme gemacht. Aber diese und die Filmaufnahme der Leichenfeierlichkeiten für Joe Hill wurden von einem Fotografen namens George Dawson, der in der Nähe von Pittsburgh lebte, aus der Zentrale gestohlen; er entpuppte sich auf diese Weise als ein Spitzel der Bundesregierung. Das Land geriet in Raserei über den Krieg. Am 5. September 1917 überfielen die Geheimagenten des Justizministeriums die IWW wie ein Schwarm Geier. Von einer Küste bis zur anderen, von den großen Seen bis zum Golf von Mexiko, überall wurde die Organisation überrannt. Die Zentrale, die Hauptbüros der Industrieverbände, die Ortsgruppen der Industrieverbände und
die Werbebüros waren in den Händen der Regierung. Sogar in die Wohnungen der Mitglieder wurde eingebrochen. Und all dies geschah, ohne dass ein Befehl für die Durchsuchung vorgewiesen werden konnte. Die Bücher, in denen die Umsätze der Organisation eingetragen waren, die Literatur, die Einrichtungen, die Schreibmaschinen, die Vervielfältigungsapparate, ja die Bilder an den Wänden und die Spucknäpfe auf den Fußböden, alles, alles wurde als Beweismaterial mitgenommen und nach Chicago geschickt. Tonnenweise wurde das Eigentum der IWW im Bundesgebäude aufgestapelt. Alle Briefe, die gesamte Korrespondenz, wurden von den Spürhunden der Bundesregierung sorgfältig geprüft; für die Arbeit wurden besondere Justizbeamte bestimmt.
Gegen die Funktionäre und Mitglieder der IWW wurde eine richterliche Verfügung in fünf besonders aufgeführten Punkten erlassen. Alle Gesetze, deren Verletzung wir beschuldigt wurden, waren erst nach der Kriegserklärung angenommen worden. Es waren alles Ausnahmegesetze, die nach Beendigung des Krieges wieder null und nichtig werden sollten. Die erwähnte richterliche Verfügung war der Anlass zu einem zweiten Generalüberfall auf die IWW am 28. September 1917.
Diesmal war die Verhaftung der Führer und Mitglieder der Organisation allgemein. Tausende von ihnen wurden in allen Teilen des Landes in die Gefängnisse zusammengedrängt, und zwar in drei Gruppen: eine in Sacramento, Kalifornien, eine zweite in Wichita, Kansas, und eine dritte, die größte, in Chicago, Illinois. Die verheirateten Mitglieder wurden aus ihren Heimen und von ihren Familien fortgeschleppt, die Unverheirateten aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und in Ketten und Handschellen nach Chicago gebracht. Die Verhaftungen kamen nicht unerwartet, aber niemand hatte seinen Posten verlassen, obwohl es für viele von ihnen leicht gewesen wäre, über die Grenzen nach Kanada oder Mexiko zu entkommen. Die Verhaftungen sollten alle zur gleichen Stunde stattfinden, und sie wurden auch ungefähr so durchgeführt, obwohl in Chicago die Haftbefehle noch nicht vorbereitet waren. Als die Bundesbeamten die Zentrale in Chicago umzingelten, weilten Taro Yashiharo und ich in einem Friseurladen unweit des Büros. Einige Mitglieder stürzten in das Geschäft und berichteten mir, was vorging. Wir ließen uns nur fertig rasieren und kehrten dann zurück, um zu sehen, was los war. Beim Eintritt in das Haus stand ich vor mehreren Gerichtsbeamten. Die meisten von ihnen kannte ich von der ersten Haussuchung her, während der sie sich mehrere Tage lang im Büro herumgetrieben hatten. Einer von ihnen forderte mich auf: „Mr. Haywood, steigen Sie bitte in das Auto." Es standen mehrere Automobile vor dem Eingang. Ich stieg ein, wurde zum Gebäude der Bundespolizei gefahren und dort in das Büro der Geheimabteilung gebracht. Hilton Claybaugh, der Leiter der Geheimpolizei, forderte mich auf, in ein Nebenzimmer zu kommen, und begann mich nach dem Aufenthaltsort von Mitgliedern der Organisation zu fragen. Ich verweigerte jegliche Mitteilung.
Wir wurden in die Untergrundstation des Hauses geschafft, in Patrouillewagen geschoben und in das Bezirksgefängnis von Cook übergeführt. Wir kamen durch den rückwärtigen Eingang hinein und wurden in eine kleine Zelle gesteckt, wo wir warten sollten, bis unsere Namen in die Bücher eingetragen wären. Chaplin vertrieb sich die Zeit, indem er das Abzeichen der IWW an die Wand malte.
Wir weilten jetzt in demselben Gefängnis, in dem die Märtyrer vom Haymarket achtzehn Monate lang in Haft
gelegen hatten und dann gehenkt wurden. Ich weiß nicht, in welchen Zellen sie seinerzeit untergebracht waren, aber sicherlich haben einige von uns in den gleichen Zellen gesessen wie sie.
Bei der Personalaufnahme hatten wir unsere Namen, Geburtsdatum und Ort, Alter, Religion usw. anzugeben. Einige der Kameraden antworteten auf die Frage nach ihrer Religion: „Die der IWW." Der Wärter sagte: „Das ist keine Religion." „Nun", erwiderten sie, „eine andere habe ich nicht." Eine andere Frage, die uns gestellt wurde, lautete: „Wer ist Ihr bester Freund?" Ein Mitglied sagte: „Bill Haywood." Der Wärter bemerkte: „Der kann Ihnen nicht viel nützen, der ist ja hier mit Ihnen zusammen eingesperrt." Der Bursche antwortete jedoch ungerührt: „Schon gut, er ist aber mein bester Freund."
Das Gefängnis liegt im Zentrum von Chicago, an der Ecke der Austin Avenue und der Dearborn Street. Ein abstoßendes, schmutziges Gebäude aus grauem Granit. Lange vergitterte Fenster schauen wie Felsspalten auf die Straße. Die Fensterbretter liegen hoch über der Straße. Die Fensterscheiben hatten schon lange ihre Durchsichtigkeit verloren in all den Jahren, in denen sich Staub und Spinnweben daran angesammelt hatten. Das Zellenhaus bildete ein großes Viereck, in dem die einzelnen Käfige aneinandergereiht lagen. Die Zellen waren schwarz gestrichen und starrten von Schmutz und ausgespienem Tabakssaft. Ein rostiges eisernes Becken und ein Abortkübel in der Ecke hinter der Pritsche bildeten die ganze Einrichtung. Die Heizungs- und Wasserröhren waren verdreckt und rot vom Rost. Drei schmale Pritschen, eine über der anderen, nahmen über die Hälfte
des Raumes ein. Auf jeder Pritsche lagen alte Zeitungen und eine schmutzige und durchgelegene Strohmatratze. Das kärgliche Bettzeug war total verdreckt, voller Ungeziefer und Infektionskeimen. Von der rückwärtigen Wand bis zur Tür waren es nur drei Schritte. Um diese drei Schritte überhaupt zurücklegen zu können, musste man das ganze Mobiliar, das aus einem Stuhl bestand, auf das „Bett" stellen.
Von einer Beleuchtung der Zellen war keine Rede, es sei denn, dass man den geringen Lichtschein, der durch das Gitter von der verhängten elektrischen Lampe jenseits der Tür hereindrang, als „Beleuchtung" bezeichnen wollte. Das Lesen war wegen des trüben Lichts schwierig. Alle Gefangenen waren zwanzig Stunden am Tage in diesen Zellen eingesperrt.
Zwei Stunden vormittags und zwei Stunden nachmittags wurden die Gefangenen herausgelassen, um sich Bewegung zu machen, und marschierten in langsamem, abgemessenem Schritt um den Korridor herum und immer wieder herum. Es war immer düster dort, und der Boden, auf den niemals die Sonne geschienen hatte, war feucht und schlüpfrig von Speichel und Auswurf. Die Gesetze des Landes erlaubten keinen Unterschied zwischen kriminellen und politischen Gefangenen. Des Morgens wurden wir durch die heisere Stimme eines Läufers aufgescheucht, der in einem fort rief: „Becher 'raus, Becher 'raus!" Wir hielten unsere Becher durch das Gitter, ein Wärter füllte sie mit einem üblen Gebräu, einem Ersatz für Kaffee, ein zweiter verteilte ein paar Stücke Brot. Zu Mittag und Abend waren die Mahlzeiten reichlicher, aber die Speisen waren oft ungenießbar. Eines Tages brachte man uns Corned beef und Kohl. Das Fleisch war verdorben. Alle Gefangenen beförderten ihre Schüsseln über die Galerie auf die darunter liegende
Etage, so dass die Luft mit dem Gestank des Kohls und der Fleischreste erfüllt war.
Besuchstage waren Dienstag und Freitag. Wir waren von unseren Besuchern durch zwei enge Drahtgitter, die zwei Fuß auseinander lagen, getrennt. Wenn jemals ein Ort ein Krankheitsherd war, so dieser. Ein Mensch nach dem andern trat an das Gitter heran, Gesunde und Kranke - die Gefangenen auf der einen, die Besucher auf der anderen Seite. Und nicht etwa einzeln, sondern mehrere auf einmal. An diesen Besuchen hatte man wenig Freude, konnte man doch manchmal in dem Durcheinander der Stimmen kein vernünftiges Wort sprechen. Das Lazarett und der Baderaum waren eine wahre Schande für eine zivilisierte Gesellschaft. In diesem furchtbaren Gefängnis wurden über hundert Mitglieder der IWW über ein Jahr festgehalten, bis ihr Prozess abgeschlossen war!
Wir begannen eine Zeitung unter uns herauszugeben, den „Büchsenöffner" (Anm.: can (Büchse) ist im amerikanischen Slang eine Bezeichnung für Gefängnis. Die Red.), die manchem der Kameraden eine Möglichkeit gab, sich etwas die Zeit zu vertreiben. Des Morgens vergaßen wir nie, Freiübungen zu machen, um uns, so gut es eben ging, elastisch zu erhalten. In dem Gefängnis besaß ein Mann, dessen Vater in diesem Schreckenshaus „aus Versehen" gehenkt worden war, die Konzession auf einen kleinen Laden. Ihm waren zwei Zellen eingeräumt, in denen er Pasteten, Tabak, Zigaretten, Zeitungen und andere Dinge, die die Gefangenen brauchten, verkaufte.
Jede Woche hielten wir eine Versammlung ab, auf der Mitglieder, die von einem Programmkomitee ausgewählt wurden, entweder eine Rede hielten, eigene Gedichte vortrugen oder Geschichten erzählten. An einem Sonntag
erzählte ich eine Geschichte, die ich „Den Streik der Affen in Kalifornien" nannte. Ich wollte damit eine Vorstellung geben von den Mitteln, zu denen die Ausbeuterklasse fähig ist. Ich begann folgendermaßen: „Die Obstfarmer des goldenen Staates hatten beschlossen, sich von den Mitgliedern der IWW zu befreien. Ihr erster Schritt zu diesem Ziel war, japanische Arbeiter in den Obstanlagen und Weingärten anzustellen. Einige der kleinen gelben Burschen schlossen sich aber den IWW an, die sie, zum Unterschied von vielen Gewerkschaften Amerikas, ebenso aufnahmen wie weiße Arbeiter oder Männer irgendeiner anderen Farbe. Die Japaner waren bald nicht mehr damit zufrieden, für niedrige Löhne unter den elenden Bedingungen zu arbeiten, die ihnen von den Mitgliedern des Obstzüchterverbandes geboten wurden, und so bildeten sie Genossenschaften, sparten ihr Geld und begannen, für sich selbst Land zu kaufen und ernste Konkurrenten ihrer bisherigen Arbeitgeber zu werden. Aus Furcht, die Japaner würden das ganze Obstland von Kalifornien aufkaufen - denn sie besaßen schon den größten Teil des Bodens im Vacatal -, wurden im Parlament des Bundesstaates Gesetze angenommen, die den Verkauf von Land an Japaner verboten, und in Washington wurde ein Bundesgesetz angenommen, das ihre Einwanderung nach den Vereinigten Staaten beschränkte. Ein Gesetz zur Einschränkung der Einwanderung von Chinesen bestand bereits. Die Obstpflanzer waren wieder gezwungen, weiße eingewanderte Arbeiter zu beschäftigen, bis schließlich auf einer der Konferenzen des Obstzüchterverbandes eine Wundervolle Idee zum Vorschein kam. Einer der Delegierten stand auf und schlug vor, man solle Affen zum Pflücken und Verpacken der Früchte abrichten. Dies wurde ohne Zögern beschlossen, und man unternahm sofort Schritte, um eine Anzahl Affen als Obstpflücker einzustellen.
Man entschied sich für die Schimpansen, als die intelligentesten.
Man baute für die Affen ausgezeichnete kleine Häuser, alle hübsch gestrichen und eingerichtet. Die Schimpansen wurden sorgfältig gefüttert und für ihre künftigen Obliegenheiten ausgebildet.
Als die Früchte reif waren, brachten die Pflanzer ihre Freunde aus der Stadt, um ihnen zu zeigen, wie genial sie die Arbeiterfrage gelöst hatten. Die Affen waren schon unruhig in ihren Häusern, da die Luft erfüllt war von dem Duft des reifen Obstes. Als sie herausgelassen wanden, kletterten sie geschwind auf die Bäume. Aber anstatt das zu tun, was man sie gelehrt hatte - die Früchte zu pflücken und in eine Kiste zu legen -, fingen die unartigen kleinen Teufel an, Unsinn zu treiben. Sie wählten sich die besten Früchte aus, fraßen ein oder zwei Bissen, warfen das übrige fort und holten sich neue.
Bevor noch der Tag herum war und die Affen mit vollen Wänsten in ihre Häuser zurückkehrten, war viel Schaden angerichtet worden.
Die weißen Obstpflanzer mussten sich nach einer anderen Methode umsehen. Am nächsten Tage bekam jeder Affe einen Maulkorb umgetan.
Sie kletterten schnell genug auf die Bäume, aber keiner von ihnen begann zu pflücken. Sie waren eifrig bemüht, sich von der schrecklichen Fessel zu befreien, die sie daran hinderte, zu fressen und sich zu amüsieren. Die Obstzüchter waren in einer schrecklichen Klemme mit so vielen Affen, die sie füttern mussten und die ihnen keine Arbeit dafür leisten wollten. Sie wandten sich an
den Gouverneur des Staates, der bedauernd erwiderte, er könne nichts für sie tun, da die Verbrecher gar keine Menschen seien und deshalb nicht den Gesetzen unterlägen. Wenn es IWW wären, könnte er sie einsperren und vielleicht ihre Führer erschießen lassen. Aber über Affen habe er keine richterliche Gewalt. Als der Tierschutzverein, der sich niemals für die IWW oder die Japaner eingesetzt hatte, erfuhr, dass die Affen schlecht behandelt wurden, drohte er, die Obstzüchter unter Anklage stellen zu lassen, falls die kleinen Tierdien nicht ordentlich gepflegt würden. Nun waren die Schimpansen ebenso unbeliebt wie die IWW geworden. Einige der Obstzüchter besaßen auch Baumwollplantagen im Imperial Valley, wo es ihnen schwer fiel, genügend geschickte weiße und schwarze Lohnsklaven für die Arbeit des Baumwollpflückens zu finden. Es fiel ihnen nun ein, dass die Affen zum Baumwollpflücken verwendet werden könnten, denn die würden sie ja schließlich nicht fressen.
So wurden denn alle Affen an den neuen Ort verfrachtet. So merkwürdig es auch klingt, sie verstanden es, die Baumwolle zu pflücken und das in einem Tempo, das ihre Besitzer sehr glücklich machte. Hier war also die Lösung der Arbeiterfrage, soweit sie das Baumwollpflücken betraf. Aber ihr Glück währte nur kurze Zeit. Eines Tages, als alle Affen bei der Arbeit waren und lebhaft schnatterten, während sie die weißen Baumwollflocken sammelten, trieb ein sanftes Lüftchen einem Affen eine weiße Flocke aus der Hand. Es gefiel ihm, wie die Flocke in der Luft schwebte. Er zupfte ein zweites Stückchen heraus und ein drittes. Die anderen Affen, denen der Spaß gefiel, begannen das gleiche Spiel. Zuerst mit kleinen Stückchen, dann mit ganzen Händen voll, bis die Luft von Baumwollflaum erfüllt war. Es sah aus, als habe ein Schneesturm das sonnige Südkalifornien heimgesucht.
Die Aufseher gerieten in Aufregung. Es gab kein Mittel, die Affen von ihrem eifrigen Spiel abzuhalten, das, noch bevor sie müde geworden waren, fast die ganze Ernte dieser Plantage zerstört hatte. Auf irgendeine merkwürdige Weise erfuhren die Affen auf den anderen Plantagen von diesem Spaß, und auch ihre Finger richteten dasselbe verheerende Unheil an. Nun waren die Obst- und Baumwollpflanzer am Ende ihrer Weisheit. Sie wussten nicht, was sie mit den Affen tun sollten. Schließlich entschied man sich für Deportation. Die Schimpansen wurden zurück in die afrikanischen Wälder verfrachtet. Dort versammeln sie sich heute noch, und der Älteste, mit einem Grinsen auf dem Gesicht und an seinem Schwanz von einem Ast hängend, erzählt der jüngeren Generation, wie sie den Streik in Kalifornien gewannen."
Diese Fabel fand Beifall, und am nächsten Sonntag gab Dick Brazier sie noch einmal verbessert und geschliffener in Versen zum besten.
Von meiner Zelle Nr. 275 aus konnte ich bis zu dem Ende des Korridors hinunterschauen und mir die Galgen ausmalen, die dort vor etwa dreißig Jahren für die Märtyrer Parsons, Spies, Engel und Fisher errichtet worden waren. Ihre mannhaften Worte schienen noch im ganzen Gefängnis widerzuhallen. Ihr Schweigen sprach mit nimmer sterbender Zunge.
Die Nachricht von dem Ausbruch der russischen Revolution im Februar 1917 hatte in den Vereinigten Staaten die ganze Nation vor Freude aufjauchzen lassen. Jedermann schien über den Sturz des grausamen Monarchen, des russischen Zaren, zufrieden zu sein, jeder war froh, dass Nikolai Romanow und seine degenerierte Familie der Vergessenheit anheim gefallen waren. Aus Russland traf ein Aufruf ein, der alle Verbannten und Ausgewanderten, die infolge von Pogromen und anderen bitteren Verfolgungen in die Fremde gezwungen worden waren, zur Rückkehr aufforderte. Der Herausgeber unserer russischen Zeitung, Wladimir Losjew, setzte sich mit dem russischen Konsul in Chicago in Verbindung, der für den Rücktransport einer Reihe von Russen, die in ihr Geburtsland heimkehren wollten, sorgte.
Als dann aber die wirkliche Revolution am 7. November folgte, war die Stimmung der großen Masse der Bevölkerung anders als im Februar. Ihre Ansichten schienen von den Geldinteressen Wallstreets bestimmt zu werden. Es herrschte jetzt ein Gefühl der Feindseligkeit gegen Russland, ausgenommen unter denjenigen, die bewusst genug waren, zu begreifen, was die Diktatur des Proletariats bedeutete.
Zeitig im Frühjahr 1918 wurde ich gegen Leistung einer Kaution freigelassen.
John Reed machte zu dieser Zeit gerade eine Tournee durch das ganze Land, um die Wahrheit über die russische Revolution und die proletarische Diktatur zu verbreiten. In Chicago sprach er in einer ausgezeichneten Versammlung im Theater. Von John erfuhr ich viele interessante und neue Einzelheiten über das, was sich in Russland zugetragen hatte. Sein Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten" sah ich erst später, als ich im Zuchthaus Leavenworth saß, und bezeichnete es damals als „das Protokoll der russischen Revolution". Der Generalstreik von Seattle, an dem alle Mitglieder der IWW dieser Stadt teilnahmen, wurde von den IWW hauptsächlich als ein Mittel betrachtet, die weitere Verladung von Munition und Lebensmitteln für die Interventionstruppen im fernöstlichen Sibirien zu verhindern. Als ich später nach Seattle kam, sah ich viele Hunderte Tonnen Fracht, die nicht verladen worden waren, am Strande aufgestapelt.

 

Zwanzigstes Kapitel
Die IWW-Prozesse

Als das Gesetz gegen verbrecherischen Syndikalismus in Kalifornien angenommen wurde, unterzeichnete Jack Gaveel, ein Holländer, einer unserer fliegenden Organisatoren, die im ganzen Lande herumfuhren, einen Aufruf zur Aktion gegen das infame Gesetz. Die Parole lautete „Füllt die Gefängnisse!" Gaveel gehörte zu den ersten, die Zuchthausstrafen von einem bis zu vierzehn Jahren erhielten. Der Besitz eines Mitgliedsbuches der IWW oder eines Liederbuches genügte als Belastungsmaterial, um einen Mann in die Staatsgefängnisse zu schicken, entweder nach Folsom oder San Quentin. Die fürchterliche Verfolgung brachte über hundert Männer und auch mehrere Frauen in die Gefängnisse Kaliforniens.
Andrew Furuseth, der Präsident des Seeleuteverbandes, und weitere Führer der AFL taten sich mit anderen Reaktionären zusammen, um die IWW zu vernichten, die sie die „Rote Gefahr" zu nennen beliebten. Die Behörden hatten einige reisende Zeugen in Sold genommen, die von einem Ort zum anderen fuhren, um belastende Aussagen gegen die IWW zu machen. Diese Spitzel, Verbrecher mit langjährigen Strafen, traten in
vielen Prozessen auf, und ihr Zeugnis genügte, um die IWW-Anhänger ins Zuchthaus zu schicken. In einigen Fällen wurde nicht einmal ein Schuldbeweis für notwendig erachtet. Leute, die vorgeladen waren, für ihre unter Anklage stehenden Arbeitskollegen als Zeugen aufzutreten, wurden sofort verhaftet und verurteilt, wenn sie zugaben, dass sie selbst Mitglieder der IWW waren. Ihre Verfolgung hörte nicht auf, wenn sie mit Urteilen von einem bis vierzehn Jahren Gefängnis oder gar mit einem doppelten Urteilsspruch von zwei bis achtundzwanzig Jahren vor dem Gefängnistor landeten. Noch im Gefängnis verfolgte sie bitterer Hass. Die Gefängnisdirektoren gaben ihnen die härteste und schmutzigste Arbeit, die sie nur finden konnten. Diese Behandlung führte zu vielen Revolten und langen Hungerstreiks, die mit Einsperren im „Schwarzen Loch" bei Brot und Wasser bestraft wurden.
Da war zum Beispiel der Fall Tom Connors, Sekretär des Verteidigungskomitees für das Gebiet von Kalifornien. Connors hatte einen Aufruf zugunsten von Mitgliedern, deren Prozess bevorstand, im ganzen Staat verbreiten lassen. Zufällig erreichte einer dieser Aufrufe einen Bürger, der später als Geschworener bestimmt wurde. Connors wurde nun verhaftet und wegen Versuchs, Geschworene zu beeinflussen, mit einem bis vierzehn Jahren Gefängnis bestraft. Im Gefängnis von San Quentin wurde eines unserer Mitglieder ermordet. Die Gefangenen marschierten gerade einer hinter dem anderen im Gefängnishof; einer von ihnen wollte sich niederbücken, vielleicht um etwas vom Boden aufzuheben. In diesem Moment wurde er von einem der Wärter erschossen.
Auf Grund des Gesetzes gegen verbrecherischen Syndikalismus wurden auch in vielen anderen Staaten, besonders in Washington, Idaho, Oregon und Kansas viele Männer ins Gefängnis geworfen.
In der Zentrale wurden wir fortwährend von Vertretern der Regierung wegen der Zeichnung von Kriegsanleihescheinen, den so genannten „Liberty Bonds", belästigt. Plakatkleber wollten an den Fenstern unseres Büros ihre Propagandaplakate für den Kauf von Kriegsmarken und Liberty Bonds sowie andere Kriegspropaganda anschlagen. Sie bemühten sich vergebens. Ich gab eine Sorte von Freiheitsanleihescheinen und Verteidigungsmarken heraus, an denen wir viel mehr interessiert waren. Mittlerweile waren fünf Gruppen auf Grund einer richterlichen Verfügung oder in Erwartung einer solchen in fünf verschiedenen Städten im Gefängnis, in San Diego, Sacramento, Omaha, Wichita und Chicago. Die Gefangenen von Wichita und Sacramento waren am schlimmsten daran; der Zustand der Gefängnisse spottete jeder Beschreibung. Im Gefängnis von Sacramento wütete die spanische Influenza. Mehrere Mitglieder der IWW starben während der Untersuchungshaft. Die mangelnde ärztliche Behandlung und Pflege, das Fehlen genügender Medikamente und die unzureichende Kost waren zweifellos die Ursache für den Tod dieser Männer, von denen einige auch durch lange Hungerstreiks geschwächt waren.
Die Influenzaepidemie herrschte noch zur Zeit des Prozesses. Der Richter, die Staatsanwälte, die Wärter, die Polizisten und die Zuhörer - alle trugen Masken zum Schutze gegen die Krankheit. Den Angeklagten aber wurden keine Masken zur Verfügung gestellt, und sie würden wahrscheinlich auch keine Masken benutzt haben, wenn man sie dazu aufgefordert hätte. Denn sie hatten sich zu einer Art der Verteidigung entschlossen, die ohne Beispiel war.
Die Angeklagten von Sacramento lehnten es ab, sich zu verteidigen, Aussagen zu machen oder überhaupt ein Wort zu äußern. Diese „schweigende Verteidigung" war eine schonungslose, durch Worte nicht wiederzugebende Bloßstellung des ganzen Prozesses. Erst als das Urteil gesprochen war und sie zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, brachen sie ihr Schweigen im Gerichtssaal durch den brausenden Gesang der „Internationale".
Die Regierung gab sich nicht damit zufrieden, uns wegen angeblicher Verletzung der Kriegsmaßnahmen aufs härteste zu verfolgen. Es wurde alles mögliche getan, um uns an der Sammlung von Verteidigungsfonds zu hindern. Die Aufrufe, die wir durch die Post oder die Expressgesellschaften sandten, wurden beschlagnahmt und vernichtet. Unsere Redner wurden verhaftet, unsere Versammlungen gesprengt.
Am 15. Dezember 1917 fanden die ersten Vernehmungen zum Chicagoer Prozess statt. Wir versammelten uns alle im Bundesgebäude, sowohl die aus dem Bezirksgefängnis, wie diejenigen, die gegen Kaution vorläufig freigelassen worden waren. Ettor, Flynn und Tresca kamen von New York herüber, aber der Prozess gegen sie wurde aus irgendeinem Grunde eingestellt und wurde niemals verhandelt. Arturo Giovannitti verlangte Auskunft, warum sein Name vom Schreiber nicht verlesen worden sei, worauf auch ihm mitgeteilt wurde, der Prozess gegen ihn sei eingestellt worden. Er protestierte heftig und verlangte, jedoch vergeblich, mit den übrigen Angeklagten zusammen vor Gericht zu kommen. Alle übrigen von uns erklärten sich für „Nicht schuldig". Der große Prozess begann am 1. April 1918. Der Richter Kenesaw Mountain Landis war der Obmann des Landesgerichts für das nördliche Gebiet von Illinois, Abteilung Osten. Man hatte ein wahres Aufgebot juristischer Talente gegen uns mobilisiert, darunter Charles F. Clyne, den Staatsanwalt von Chicago, Frank K. Nebeker, den früheren Anwalt der Utah Machinery Co. in Salt Lake City, und Claude R. Porter aus Iowa. Als unsere Verteidiger fungierten George F. Vanderveer aus Seattle, der geschickt und erfolgreich die Verteidigung im Prozess von Everett geführt hatte, Otto Christensen aus Chicago, William B. Cleary aus Bisbee, Arizona, und Caroline Lowe, die schon als Verteidigerin im Prozess von Wichita aufgetreten war.
Der Gerichtssaal, in dem unser Prozess stattfand, war mit weißem Marmor und Goldstukkatur geschmückt. Die Richterbank stand auf einer erhöhten Plattform rechts der Tür, durch die wir in den Saal traten. Alle übrigen überragend, hinter einem hohen Pult, saß Richter Landis. Zu seiner Linken war der Zeugenplatz und die Bank der zwölf Geschworenen. Die Staatsanwälte saßen an einem Tisch in der Nähe des Richters, die Verteidiger hatten einen Tisch unmittelbar hinter ihnen. Ein anderer langer Tisch stand jenseits der Barriere, die den Zuschauerraum abtrennte. An diesem Tisch saßen Zeitungs- und Zeitschriftenreporter aus verschiedenen Teilen des Landes sowie einige ausländische Berichterstatter. Am Ende des Tisches in der Nähe der Staatsanwälte saß ein Subjekt namens Karm, dem Namen nach ein Arbeiterreporter, der seine Hauptaufgabe aber darin sah, unseren Anklägern Dokumente in die Hände zu spielen und Informationen in die Ohren zu blasen.
Die Angeklagten saßen hinter dem Pressetisch an der Barriere und einige von uns an Tischen mit unseren Anwälten. Die Liste der Geschworenen wies nicht weniger als zweihundert Namen auf, von denen zwölf ausgewählt werden mussten.
Drei Geschworene waren bereits von beiden Seiten angenommen worden. In diesem Augenblick schienen die Dinge nicht ungünstig für die IWW zu liegen. Ganz überraschend wurden wir jedoch des Versuchs, die künftigen Geschworenen zu beeinflussen, beschuldigt. Es wurde behauptet, dass ein Mitglied namens Russell eine Unterredung mit einem Verwandten eines der vorgeschlagenen Geschworenen gehabt habe. Der Richter setzte kurzerhand nicht nur die bereits ausgewählten Geschworenen ab, sondern auch alle übrigen noch auf der langen Geschworenenliste verzeichneten Personen. Dies geschah meiner Meinung nach nicht allein durch die persönliche Initiative des Richters, sondern auf Veranlassung des Generalstaatsanwalts Gregory in Washington, der briefliche Anweisungen gegeben hatte, welche Eigenschaften die Geschworenen in diesem Prozess unter allen Umständen aufweisen mussten. Einer der Geheimagenten erbot sich sogar, uns das betreffende Schreiben für die Summe von tausend Dollar zu beschaffen. Da die Geschworenen bereits abgesetzt worden waren, verzichteten wir auf das Angebot, denn von irgendwelchem Nutzen schien uns die Enthüllung dieser Intrige nicht mehr.
Der Prozess erwies sich als eine höchst langwierige Propagandaversammlung von fast sechsmonatiger Dauer. Als die neue Geschworenenliste zusammengestellt war, wurde der Staatsanwalt Clyne sang- und klanglos abgesetzt. Nebeker übernahm nun die Führung der Anklagevertretung. Das Duell zwischen ihm und Vanderveer bei der Auswahl der Geschworenen war sogar noch heftiger, als es zwischen Vanderveer und Clyne gewesen war.
Nebeker fragte die vorgeschlagenen Geschworenen: „Haben Sie irgendwelche Sympathie für eine Organisation, die die Einrichtungen dieses Landes zu stürzen oder seine Gesetze zu verletzen sucht?" „Glauben Sie, dass die Redefreiheit jemand das Recht gibt, die Übertretung der Gesetze zu befürworten?" „Anerkennen Sie das Recht der Individuen, Besitz zu erwerben?" „Erkennen Sie irgendeiner Körperschaft von Männern oder einer Organisation das Recht zu, diesen Besitz durch Gewalt oder andere ungesetzliche Mittel fortzunehmen?" „Glauben Sie, dass jemand das Recht hat, eine Rebellion oder eine Revolution anzustiften?" „Anerkennen Sie das Lohnsystem und das gesellschaftliche System, wie es gegenwärtig organisiert ist?" Und weiter fragte er: „Waren Sie aus vollem Herzen für die Kriegserklärung an die kaiserliche deutsche Regierung?" „Billigen Sie die verschiedenen Maßnahmen, die zur erfolgreichen Beendigung dieses Krieges getroffen wurden?" Und dann kam Vanderveer, der Hauptverteidiger, mit seinen Fragen:
„Billigen Sie das Streikrecht?" „Anerkennen Sie. das Recht der friedlichen Streikpostentätigkeit?" „Sind Sie für die Redefreiheit?"
Nach diesem eingehenden Examen, in dem sich der Klassenkampf deutlich widerspiegelte, lastete die Verantwortung bei den Geschworenen. Nebeker, der Hauptstaatsanwalt, war der erste, der sich an die Geschworenen wandte. Er erzählte fünf Stunden lang, was er über die IWW wusste und was er nicht wusste. Er legte uns Verbrechen zur Last, von denen wir nie geträumt hatten. Aber er kannte die Struktur der Organisation, berichtete über den Werbeverband, die Betriebsgruppen, die Gruppen der Industrieverbände und über die Art, wie die Industrieverbände mit der zentralen Leitung verbunden waren. Er behauptete, Bill Haywood sei der ungekrönte König im Schreibtischsessel, unterstützt vom Exekutivkomitee, und wir seien darauf aus, eine Regierung innerhalb der Regierung aufzubauen. Er erzählte, wie die Organisation mit ihren zweihunderttausend Mitgliedern (Anm.: Die IWW hatten 1916 sechzigtausend Mitglieder. Das ist wahrscheinlich die größte Zahl, die sie jemals aufzuweisen hatten. Die Red.) die Kupferbergwerke von Arizona und Montana stillgelegt und wie sie versucht habe, einen Streik in den Blei- und Kupfergruben von Utah auszurufen. Nebeker berichtete von den Anstrengungen, die seitens der IWW gemacht worden seien, um die Holzindustrie lahm zu legen, von den Versuchen der finnischen Arbeiter, die Eisenbergwerke zu schließen, und fügte noch hinzu, dass es unsere Absicht gewesen sei, die Farmer bei den Erntearbeiten in Schwierigkeiten zu bringen.
Außer vielen Leitartikeln aus der „Solidarity" las Nebeker aus dem IWW-Liederbuch mit vibrierender Stimme die Parodie auf die bekannte religiöse Hymne „Vorwärts, Gottes Krieger" vor:
„Vorwärts, Gottes Krieger, frisch und unverzagt! Unter euren Stiefeln Menschenwürde klagt. Preist den Herrn, sein Dollar segnet unser Land, Fremde Lumpen, ehret unsern Gnadenstand."
Als Nebeker mit der Verlesung des nächsten Liedes beginnen wollte, schlug Staatsanwalt Porter ihm vor, er solle es vorsingen. Nebeker bedauerte, diesem Wunsche nicht entsprechen zu können, da er nicht bei Stimme sei.
Dieses und viele andere von Nebeker vorgetragene Lieder waren eine ausgesprochene Erholung nach den Hunderten von Geschäftsbriefen und Bulletins, die den Geschworenen vorgelesen worden waren. Nebeker er-
wähnte im Laufe seines Vortrags auch, dass die finnischen Bergarbeiter von Mesaba einen Streik gegen die militärische Einberufung erklärt hätten. Es stimmte, dass die finnischen Bergarbeiter einen harten Kampf gegen den Krieg und gegen die Einziehung als Soldaten geführt hatten. Auch diese Tatsache wurde als belastend vorgetragen.
Die ersten Zeugen für die Regierung waren die Stenotypistinnen, die Archivare und die Buchhalter aus dem Büro unserer Zentrale. Sie berichteten über die tägliche Arbeit der Organisation. Dann wurden die amtlichen Bücherrevisoren der Regierung aufgerufen, die unsere Kassen und Bücher durchgesehen hatten und die bezeugten, dass die Abrechnungen gut geführt wurden und dass die IWW niemals deutsches Geld erhalten hatten. Die nächsten Belastungszeugen waren Sheriffs und Revolverhelden aus dem Kohlenrevier von Pennsylvanien, die über die Verhaftung der IWW nähere Angaben machten und bezeugten, dass sie Versammlungen der IWW ohne Vollmacht gestört hätten, manchmal auf Verlangen der Vereinigten Bergarbeiter Amerikas, in anderen Fällen auf Grund mündlicher Aufträge vom Gericht. Dann kamen andere Sheriffs und Revolverhelden aus Arizona, Montana und Washington, einige Farmer, die aussagten, dass sie ihre Beschäftigten 16 Stunden am Tag arbeiten ließen, Holzhändler, Grubenbesitzer und ein oder zwei Renegaten der IWW mit einer Horde von Agenten der Geheimpolizei.

 

Einundzwanzigstes Kapitel
2091 Jahre Zuchthaus!

George Vanderveer, Hauptverteidiger, ein Anwalt von außergewöhnlichen Fähigkeiten, eröffnete den Reigen der Verteidigungsreden in kühlem, ruhigem Tone, aber er hatte noch nicht lange gesprochen, als seine Augen zu glänzen begannen und er den Geschworenen in eindringlichen Worten vom Klassenkampf sprach: „Dieser Prozess ist ungewöhnlich. Er ist angeblich ein Prozess gegen William D. Haywood, James P. Thompson, John Foss und eine große Zahl anderer Männer, von denen Sie bisher niemals etwas gehört haben, aber - es ist eine Anklage auf ,Verschwörung', in der die Staatsanwaltschaft behauptet, diese Angeklagten hätten sich zwecks Verletzung gewisser Gesetze der Vereinigten Staaten verschworen; für dieses angebliche Verbrechen will die Staatsanwaltschaft die Angeklagten ins Gefängnis schicken. In Wirklichkeit jedoch bezweckt die Staatsanwaltschaft nichts weiter als die Zerstörung der Organisation, mit der diese Männer verbunden sind, und die Vernichtung des Ideals, für das ihre Organisation einsteht... Ich möchte Ihnen erklären, was diese Männer gesagt und was sie getan haben und welche Absichten sie damit verfolgten.
Der Herr Richter hat meine Bezugnahme auf den Bericht des Ausschusses für Industriebeziehungen für unzulässig erklärt. Ich möchte nichts wiederholen. Sie werden sich erinnern, dass die große Mehrheit unserer einfachen Arbeiter in den Schlüsselindustrien, aus denen die IWW ihre Mitgliedschaft rekrutieren, nicht in der Lage ist, den notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu verdienen. Es war die Aufgabe der Angeklagten,
diese Tatsachen der arbeitenden Bevölkerung mitzuteilen, damit sie - zum Verständnis ihrer Lage und zur Erkenntnis der Ursachen dieser Lage gelangt - klüger und wirksamer nach einem Mittel zur Abhilfe suchen und dieses anwenden kann. Es wirft ein trauriges Licht auf unser System, dass neunundsiebzig Prozent der Familienväter der Arbeiterschaft überhaupt nicht imstande sind, ihre Familien zu erhalten und ihre Kinder auf einem der Zivilisation würdigen Niveau zu erziehen. Niemand kann das Unrecht der Vergangenheit ungeschehen machen. Alles, was wir tun können, ist, uns mit der Zukunft befassen und, wenn möglich, die weitere Entwicklung und das weitere Wachsen eines Systems zu verhindern, das diese Zustände mit sich bringt..." Vanderveer sprach dann von den großen Trusts, die eine größere Macht repräsentieren als die Regierung: „Man hat hier ein Ding großgezogen, das mächtiger ist als die Regierung, ein Ding, das in Wahrheit die Regierung ist - die unsichtbare Regierung Ihres Landes, die Tag für Tag bestimmt, wie viel Sie essen, wie viel Sie für Ihre Arbeit erhalten, welche Schulbildung Ihre Kinder erhalten und wie viel Nahrungsmittel; und noch etwas: sie hat die Geschäftsethik, die Geschäftsmoral vollkommen zerstört...
Dieses Ding, von dem ich sprach, wurde nicht vom Gesetz großgezogen. Es wuchs, weil einige Menschen durch die Bildung von Trusts und Aktiengesellschaften in der Industrie die Macht erhielten, die Arbeiterschaft auszubeuten. Und es wird aufhören zu wachsen, sobald sich die Arbeiterschaft organisiert und die Macht erlangt, ihrer Ausbeutung durch das Kapital Einhalt zu gebieten. Aber ihr wendet Sabotage an', sagt der Staatsanwalt, und von den Tausenden von Sägewerken in Washington bringt er nur zwei, in denen Sägen aus irgendeinem
nicht festgestellten Grunde zerbrachen, und einige wenige Dreschmaschinen von Hunderten, über die hier von Zeugen ausgesagt wurde. Wir werden Zeugen bringen - nicht von der Art, die Sie bisher hier gesehen haben -, sondern angesehene Farmer, die an den Orten, wo die IWW am besten organisiert sind, schon seift Jahren mit ihnen arbeiten, und die Ihnen erzählen werden, dass sie niemals bessere Arbeiter hatten als die IWW..."
Dann sprach Vanderveer von den Vorgängen in Butte und von der industriellen Tyrannei des Kupfertrusts mit seinen abgefeimten „schwarzen Listen". „Am 8. Juni brach ein Feuer, das so genannte Speculator-Feuer, aus - und wenn Sie niemals ein Grubenfeuer gesehen haben, dann kann Ihnen keine Schilderung eine Vorstellung davon geben. Niemand kann es Ihnen schildern. Es spottet einfach jeder Beschreibung. Das Volk, das zur brennenden Grube eilte, fand die Tore versperrt und die Anlagen verrammelt. Frauen und Kinder konnten nicht hineingelangen, um nachzusehen, ob ihre Männer und Väter im Feuer umgekommen waren. Und schließlich wurden die Leichen herausgetragen. Und mit den Leichen kamen die Männer, die sie entdeckt hatten und mit diesen Männern, die die Opfer geborgen hatten kam auch die verruchte Geschichte zutage, wie sich die Katastrophe zugetragen hatte! Die bedauernswerten Menschen wanderten zum Leichenschauhaus, sahen die Leichen dort aufgeschichtet, einhundertfünfundsiebzig an der Zahl; achtundsechzig davon so schwarz verkohlt, dass sie nicht identifiziert werden konnten. Ein anderer Streik fand unten in Arizona statt. Am 12. Juli wurden in Bisbee eintausendeinhundertsechsundachtzig Männer, bedroht von Maschinengewehren, in schmutzige Viehwagen geladen, in denen der Unrat
sechs Zoll hoch lag. Sie wurden in die brennende Hitze der Wüste von Arizona an einen Ort namens Hermanas verfrachtet, zwischen diesem Ort und Columbus, Neumexiko, hin und her geschoben und schließlich in Columbus den amerikanischen Bundestruppen übergeben. Etwas Merkwürdiges geschah aber am 12. Juli: jeder dieser Männer wurde gefragt: ,Wollen Sie arbeiten oder deportiert werden?' Währenddessen blieben die Frauen und Kinder zu Hause im Elend zurück, ohne Geld, ohne Lebensmittel, ohne irgend etwas." Sich dem Schlusse nähernd, fuhr Vanderveer fort: „Wenn Patriotismus bedeutet, die Fahnen vom Dach wehen zu lassen und dann Profite zu machen, so sind die IWW unpatriotisch. Wenn Patriotismus bedeutet, dass man den Krieg für das beste Mittel, Differenzen zu regeln, und das Massenabschlachten unschuldiger Leute für richtig halten muss, dann sage ich nochmals, dass die IWW seit Jahren in diesem Sinne unpatriotisch gewesen sind, denn die IWW waren niemals Anhänger des Krieges und sind es auch jetzt nicht." Viele Zeugen waren nach Chicago gekommen, um zugunsten der IWW auszusagen. Wir konnten beweisen, dass Hunderte von Mitgliedern unserer Organisation Waldbrände bekämpft und die Forsten von Washington, Idaho und Montana gerettet hatten. Farmer traten als Zeugen auf und bezeugten, dass die IWW die besten Arbeiter waren, die sie auf ihren Farmen beschäftigt hatten.
Eines der Opfer, die in Tulsa, Oklahoma, geteert und gefedert worden waren, berichtete vor Gericht von der Art und Weise, wie der patriotische Pöbel vorgegangen war. Bergarbeiter, die zur Zeit des furchtbaren Grubenbrandes in der Speculator-Grube waren und den Flammen entkamen, erzählten, wie sie zweihundert Fuß zum nächsten Stollen emporklettern mussten, in ihn hineinliefen und sich dort mit Brettern und Planken verbarrikadierten. Die Ritzen verstopften sie mit ihren Kleidern. Sechsunddreißig Stunden mussten sie in dieser Lage, mit nur wenig Luft und ohne Wasser, aushalten. Die Verteidigung setzte mit James P. Thompson, einem alten Organisatoren und einem prächtigen Menschen mit klarem Verstand, ein. Ein amerikanischer Künstler hat später von ihm ein Bild gemalt, das jetzt im Versammlungssaal der irischen Arbeiter in Dublin hängt. Thompson begann seine Aussage mit einer Bezugnahme auf den Bericht des Ausschusses für Industriebeziehungen, der vom Richter Landis nicht zugelassen worden war. Thompson wurde es jedoch gestattet, sich auf den Bericht zu berufen, da er vor dem Ausschuss als Zeuge aufgetreten war.
Er schloss seine Aussagen mit folgenden Worten: „Gerade die Leute, die heute die IWW beschimpfen, hätten die Stiefel König Georgs geleckt, wenn sie in den Tagen unserer Vorfahren gelebt hätten. Von den Burschen, die barfüßig in Valley Forge im Schnee für die Unabhängigkeit unseres Landes kämpften, hätten sie gesagt: ,Seht sie an! Sie haben nicht einmal Schuhe an den Füßen und sprechen von Freiheit!'"
Nebeker erhob sich, um zu protestieren. Aber er erhielt eine gepfefferte Antwort: „Ich habe niemand persönlich angesprochen. Ich wiederhole nur, was ich in meinen Vorträgen gesagt habe. Aber wenn Ihnen die Jacke passt, bitte sehr."
Bill Dunne, ein Elektrizitätsarbeiter, damals Herausgeber des „Bulletins" in Butte, schilderte den Märtyrertod Frank Littles, der ein Opfer des Kupfertrusts wurde. Er erwähnte die Tatsache, dass Little wegen eines gebrochenen Beines an Krücken ging, dass er an einem
doppelten Bruch litt, den er den Misshandlungen des Pöbels in Wisconsin zu verdanken hatte, dass er nur ein Auge hatte und dass seine Mörder die Todeswarnung des so genannten Bürgerschutzkomitees, 3-7-77, an der Leiche befestigt hatten. Dunne hatte selbst eine ähnliche Warnung erhalten.
Ein Angeklagter nach dem andern machte seine Aussagen für sich und die Organisation, der er angehörte. Da waren die Sekretäre der verschiedenen Industrieverbände, die Herausgeber der englischsprachigen Zeitungen, der Monatszeitschrift und der verschiedenen Blätter in ausländischen Sprachen.
Ich gehörte zu den letzten, die vernommen wurden. Wieder musste ich mein Leben und meine Arbeit schildern, meine Beziehungen zur Bergarbeiterföderation des Westens, die Gründung der IWW, Ziel und Zweck dieser Organisation. Mein Verhör dauerte vier Tage, ich wurde direkt von Vanderveer befragt und von Nebeker unter Kreuzverhör vernommen.
Nebeker, der Hauptstaatsanwalt, war ein aalglatter Bursche, eine schleimige Kreatur, vielleicht noch fuchsschlauer, als er vor mir scheinen wollte. Er befragte mich ausführlich über die Literatur der Organisation, über die Streiks der Eisen- und Kupferbergarbeiter, der Holzarbeiter, über meine Telegramme an den Präsidenten und die offiziellen Beziehungen zu verschiedenen Mitgliedern der Organisation.
Während ich von Nebeker im Kreuzverhör vernommen wurde, überreichte Karm, das schon erwähnte Subjekt von der Sozialistischen Arbeiterpartei, dem Staatsanwalt
eine Broschüre Daniel De Leons „Über Politik". Nachdem Nebeker diese Broschüre durchgesehen hatte, gab er sie mir mit dem Bemerken, er werde mich später
darüber verhören. Später verlangte Nebeker die Broschüre von mir zurück, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
Als ich zum Zeugenstand gerufen wurde, füllte sich der Gerichtssaal. Es lag eine dramatische Spannung in der Luft. Ja, es war dramatisch, die Geschichte der Arbeiterkämpfe in den letzten dreißig Jahren zu hören. Stundenlang saß alles regungslos da. Die Geschworenen beugten sich vor, um sich nur kein Wort entgehen zu lassen. Selbst der Richter bemerkte nicht, wie die Stunden vergingen, der Gerichtsdiener musste ihn erinnern, dass die Zeit bereits überschritten sei.
Ich sprach von dem Gegensatz zwischen Reichtum und Armut, die im reichsten Land der Welt Seite an Seite zu finden sind, vom elenden Leben jener, die in den Gruben des Westens, den Industriewerken des Nordens, den Terpentinlagern des Südens und den Textilfabriken des Ostens den Reichtum produzieren. Ich berichtete, wie in Fall River Frauen und Kinder für Hungerlöhne einen endlos langen Arbeitstag hinter sich brachten, sprach von ihrem unbeschreiblich elenden Leben, von unterernährten Müttern, die ihre Säuglinge nicht stillen konnten, von der erschreckend hohen Kindersterblichkeit von 40 Prozent. Und neben diesem Höllenpfuhl des Kapitalismus, nur am anderen Flussufer, so sagte ich, steht Newport, wo die „beschäftigungslosen" Kapitalisten ihre Orgien der Idiotie und sexuellen Perversität feiern, wo sie sich mit Affendiners und Hundehochzeiten vergnügen und Parasiten wie Mrs. Penrose, Mrs. Frank Heath und Mrs. MacNeil der Hochzeit von zwei Pudeln beiwohnten. Das seien dieselben Penrose und MacNeil, in deren Kupfergruben die IWW streikten.
Staatsanwalt Nebeker erhob Einwände gegen die Vorlage einer Anzahl fotografischer Aufnahmen von Arbeitern, die in den Bergwerken in Stücke gerissen oder vom Pöbel im Auftrag der Unternehmer gemartert und gelyncht worden waren. Nebeker bezeichnete sie als „grauenhaft", und ich antwortete darauf, grauenhaft seien die Zustände, die von der Kamera nur wahrheitsgetreu wiedergegeben worden seien. Im Laufe der Verhandlungen hatten wir festgestellt, dass unseren Zeugen Schwierigkeiten bereitet wurden, dass nicht nur die Briefe des Verteidigungsausschusses aufgehalten, sondern auch Sammler für den Verteidigungsfonds verhaftet wurden. Es wurde vor Gericht erwiesen, dass vorgeladene Zeugen in ihren Hotels von Geheimagenten der Staatsanwaltschaft aufgesucht und bedroht worden waren.
Als die Vernehmung der Zeugen abgeschlossen war, sprach als erster Nebeker zu den Geschworenen. Das Plädoyer währte weniger als eine Stunde. Zum Erstaunen der Staatsanwaltschaft beschlossen unsere Verteidiger, auf das Schlussplädoyer zu verzichten. Dieser Schachzug hinderte die Staatsanwaltschaft daran, das Schlusswort an die Geschworenen zu richten. Richter Landis belehrte die Geschworenen, die sich darauf zurückzogen und schon nach einer Stunde zurückkehrten. Ihr Urteilsspruch war gefällt und wurde dem Gericht verkündet: „Schuldig im Sinne der Anklage."
Die Geschworenen hatten Scharen von Zeugen angehört. Hunderte von Beweisstücken waren zu untersuchen. Nicht weniger als siebzehntausendfünfhundert Gesetzes­übertretungen waren zu beurteilen; vierzigtausend maschinengeschriebene Seiten Berichte lagen vor. All dies hätte untersucht und geprüft werden müssen, und doch gaben die Geschworenen ihr Urteil binnen einer Stunde. Es war keine Überraschung für uns; der Urteilsspruch war eine vorher abgekartete Sache.
Bei der Bekanntgabe der Urteile wurden die Angeklagten in Gruppen vor die Schranke gerufen. Einer oder zwei der Angeklagten wurden freigesprochen, Meyer Friedkin und Charles Roberts wurden zu je zehn Tagen Haft im Bezirksgefängnis verurteilt. Eine kleine Gruppe zu einem Jahr im Bundeszuchthaus. Eine größere Gruppe zu fünf Jahren Zuchthaus. Eine andere, nicht so große Gruppe zu zehn Jahren. Und aus irgendeinem unbekannten Grunde wurde die vierte Gruppe wieder zu fünf Jahren verurteilt. Die letzte Gruppe wurde zu je achtunddreißig Jahren Zuchthaus verdammt. Als wir uns anschickten, den Gerichtssaal zu verlassen, richtete der Präsident an Vanderveer die Frage, ob die Verteidigung beabsichtige, eine Wiederaufnahme des Prozesses zu beantragen. Vanderveer bejahte dies. Daraufhin rief der Richter alle Angeklagten zurück und belegte jeden mit einer Geldstrafe von zwanzig- bis dreißigtausend Dollar. Pontius Pilatus oder der „Blutige Jeffreys" haben sicherlich niemals einen erhebenderen Augenblick erlebt, als Richter Landis in dieser Minute, da er einer Schar von Arbeitern die grausamsten Strafen auferlegte.
Ben Fletcher trat auf mich zu und meinte: „Der Richter hat aber heute ein schwer verständliches Englisch gesprochen. Mir war das zu hoch - in jeder Beziehung!" Bei einem früheren Anlass während des Prozesses bemerkte Ben in einer humoristischen Anwandlung: „Wenn ich nicht da wäre, wäre dieser Prozess vollkommen farblos." Er war nämlich der einzige Neger unter den Angeklagten.
Die Kautionen aller, die sich zuletzt auf freiem Fuße befunden hatten, wurden für ungültig erklärt. Wir wurden alle von dem Gerichtssaal aus durch einen unterirdischen Gang aus dem Gebäude geführt, in Patrouillewagen gesteckt und in das Bezirksgefängnis von Cook geschafft.
Wir setzten alles in Bewegung, um die Gültigkeit unserer Kautionen für die Zeit bis zur Entscheidung des Landesgerichts über das beantragte Wiederaufnahmeverfahren zu verlängern - ich will gleich hier bemerken, ohne jeden Erfolg. Eines Tages wurde ich in dieser Angelegenheit zum zuständigen Gerichtsbeamten geführt, der sein Büro im oberen Stockwerk des Bundesgerichtsgebäudes hatte. Zu ebener Erde des massiven, granitnen Baus, der einen ganzen Block in dem dichtbebauten Teil des Stadtzentrums einnahm, lag das Postamt.
Die Dinge, die ich dort zu erledigen hatte, nahmen sehr viel Zeit in Anspruch, so dass eine Ruhepause eingelegt wurde, während der mich zwei Gehilfen des Gerichtsbeamten den Aufzug hinunter und über die Straße in eine Imbissstube zu ebener Erde begleiteten. Nach dem Imbiss kehrten wir in das Bundesgebäude zurück. Ich hatte die Erlaubnis bekommen, mit einer Stenotypistin zu arbeiten und hatte eben wieder begonnen, Elizabeth Serviss zu diktieren, als plötzlich eine donnernde Explosion das Gebäude erschütterte. Für einen Moment schienen alle wie erstarrt. Dann hörten wir, wie auf dem Pflaster unten eine Menge Glas klirrte. Erst nach einigen Minuten erfuhren wir, was geschehen war. In der Nähe des Portals, durch das wir eben erst eingetreten waren, war eine Bombe explodiert und hatte eine Frau und zwei Männer getötet und mehrere Personen schwer verletzt. Auch das Gebäude war leicht beschädigt. Die Explosion ereignete sich am frühen Nachmittag; trotzdem wurde ich bis 6 Uhr zurückgehalten. Als wir dann mit dem Fahrstuhl hinunterfuhren, hielt er nicht zu ebener Erde, sondern im Keller, wo die Post verladen wurde. Dort stand eine ganze Reihe von Patrouillewagen, insgesamt sieben, wenn ich mich recht erinnere, alle voll gepackt mit Polizisten. Man befahl mir, in den mittleren Wagen einzusteigen. Unter dieser Eskorte von sieben „grünen Minnas" wurde ich in das Gefängnis zurückgeschafft.
Die Genossen erfuhren bald von meiner Rückkehr und auch, dass ich unverletzt war. Viele hatten geglaubt, dass ich das Opfer eines Verrats geworden sei und dass das Attentat, von dem jeder im Gefängnis schon erfahren hatte, mir persönlich zugedacht war. Die Explosion ereignete sich an einem schönen, sonnigen Tag im September 1918, zu einer Zeit, da viele Leute in dem geschäftigen Hause ein- und ausgingen, in dem Bundesgerichtsbeamte, die Justizbehörden und der Geheimdienst der Vereinigten Staaten untergebracht waren. Trotzdem wurde niemand in Verbindung mit der Explosion verhaftet; die Behörden schwiegen sich über die Ursachen aus. Dieses ungewohnte Verhalten ließ unwillkürlich die Frage auftauchen, ob die Vermutung meiner Genossen im Gefängnis nicht doch richtig war. Die Explosion am Postgebäude von Chicago ist eines der scheußlichen Geheimnisse der verbrecherischsten imperialistischen Regierung der Welt.

 

Zweiundzwanzigstes Kapitel
Im Zuchthaus

Eines Tages wurde uns mitgeteilt, dass wir nach Leavenworth übergeführt würden. Ich befand mich damals in einer Zelle an der Rückwand des Gefängnisses. Ich hörte das Knarren der Schlüssel und das Zuschlagen der Zellentüren, als die Männer herausgeholt wurden. Außerdem drangen die Rufe der zurückbleibenden Gefangenen bis in meine Zelle: „Auf Wiedersehen, viel Glück!" Ich wusste gar nichts über den Ort, wohin ich nun kommen sollte, aber ebenso wie die anderen war ich froh, das düstere, moderige Bezirksgefängnis von Cook verlassen zu können.
Mich ließ man bis zuletzt. Jim Rowan ging gerade vor mir, und als wir zum Büro des Gefängnisvorstehers kamen, legte uns Davies, der Kerkermeister und Henker, Handschellen an. Mein Blut begann fast zu sieden, als seine Finger meine Gelenke berührten. Ich dachte in diesem Augenblick unwillkürlich an die vielen Unglücklichen, die er aus dem Leben befördert hatte. Seine Hände hatten achtundfünfzig Menschen den Strick um den Hals gelegt.
Als ich den Gefangenenwagen bestieg, sagte ein danebenstehender großer, kräftiger Polizist: „Diesem Burschen möchte ich gern eine Kugel in den Wanst jagen." Ich hatte diese Bemerkung nicht selbst gehört, aber einer der Genossen erzählte mir davon später im Zuge. Die lange Reihe der Wagen setzte sich zum Bahnhof La Salle Street in Bewegung. Wir fuhren an der Rückseite des Gebäudes vor und wurden in einen Sonderzug verladen. Die vielen Gefangenen und eine starke Bewachungsmannschaft wurden in die Waggons verteilt. Jerry Soper, der kräftigste Mann in unserem Wagen, wurde von den Handschellen befreit, um als Läufer zu dienen. St. John wurde an mein linkes Handgelenk gefesselt.
Der Posten, der unseren Wagen bewachte, wollte Jim Rowan, mit dem ich zusammengefesselt war, an den Sitz festketten. Auf diese Weise hätte ich mein rechtes Handgelenk freibekommen. Aber St. John protestierte. Er erklärte dem Wächter, dass ein Mann, der an den Sitz gekettet sei, im Falle eines Eisenbahnunglücks gar keine Möglichkeit hätte, sich zu retten. Das war wohl richtig, aber so blieb ich an zwei Kameraden angeschlossen. Der Wärter erwiderte nur kurz: „Nun, wenn Sie es so aushalten können, ich kann es."
Während der Fahrt inszenierte Ben Fletcher zum Zeitvertreib eine Gerichtsverhandlung. Die Art, wie er Richter Landis nachahmte, war äußerst komisch. Er saß auf der Bank zurückgelehnt, ernst dreinschauend und Tabaksaft spuckend. Er hatte seine Schuhe, seinen Kragen und seine Krawatte abgenommen und auch Rock und Weste, soweit er sich von ihnen freimachen konnte. Er griff nach seinen Hosen, um sie vor dem Herunterfallen zu bewahren, wie es der Richter einmal im Gerichtssaal getan hatte. Denn Richter Landis war nicht ein so feierliches, in Schwarz gekleidetes Individuum, wie man es sich oft unter einem Richter vorstellt. Während des heißen Sommers, in dem unser Prozess stattfand, war er so wenig bekleidet, als es der Anstand eben noch gestattete. Fletcher ahmte gut die Gebärden der Richter nach. Er nahm einigen Gefangenen den Geschworeneneid ab; dann rief er die Gefangenenwärter und Detektive zu sich und verurteilte sie ohne weitere Umstände zum Tode durch den Strang oder die Kugel oder zu lebenslänglichem Gefängnis.
Nachdem wir die ganze Nacht und den größeren Teil des folgenden Tages durch die Prärien gefahren waren, konnten wir in der Ferne das Zuchthaus von Leavenworth sehen. Als wir dort ankamen, fuhr der Zug in einen geräumigen, von Mauern aus roten Ziegelsteinen umschlossenen, lang gestreckten Korridor ein. Das große eiserne Gitter gegen die Außenwelt wurde geschlossen.
Wir stiegen aus und wurden in Reih und Glied gestellt; die Handschellen und Ketten wurden uns abgenommen und auf einen Haufen geworfen, alle zusammen hätten gut einen Schubkarren gefüllt.
Wir marschierten durch das innere Tor zur Kapelle. Zu unserer Linken lagen das Lazarett und die Zellenhäuser, die die eine Seite eines etwa zehn Acres großen Platzes füllten. Zur Rechten lagen die Tischlerwerkstätte, das Kessel- und Maschinenhaus. Rechts in der Ecke eine Ziegelei und ein Hof, auf dem Steine geschlagen wurden.
In der Kapelle führte mich der Gefängnisdirektor zu den Zeitungsreportern aus Kansas City. Ich hatte ihnen nicht viel zu sagen.
Der Direktor richtete dann eine Ansprache an uns und erklärte, dass jeder von uns im Zuchthaus als Individuum gelte, dass jeder als Häftling erster Klasse gelte und dass wir darauf bedacht sein sollten, diese Vergünstigung zu bewahren. Nach diesen Worten wurden wir den Kerkermeistern übergeben, die uns alles aus unseren Taschen nahmen und ein Verzeichnis der bei jedem einzelnen vorgefundenen Wertsachen anlegten. Viele von uns ließen ihre Zigaretten und den Tabak zu Boden fallen, da wir wussten, dass andere Gefangene sie gern aufheben würden.
In Zweierreihen marschierten wir darauf in den Speisesaal, eine große, geräumige Halle mit vielen Fenstern und langen Gängen, die zwischen den Sitzreihen an den kleinen schmalen Tischen hindurchführten. Vor jedem Tisch standen drei Klappsitze. Alle Gefangenen saßen mit dem Gesicht zum Musikpodium und zur Küche. Der Speisesaal sah mit seinen reingeschrubbten Tischen, mit den Tassen und Tellern aus weißem Porzellan, mit Messern und Gabeln und zwei roten Tomaten auf jedem
Platz recht anziehend aus. Das Ganze hatte Farbe, ein Anblick, den wir eigentlich nicht erwartet hatten. Wir wurden alle zum Zellenhaus „B" geführt. Auf dem Wege dahin kamen wir am Zellenhaus „D" vorbei. Die dort untergebrachten Gefangenen konnten uns von ihren Fenstern aus sehen und sandten uns einen kräftigen Willkommensgruß hinunter. Ich hörte eine Stimme: „Hallo, Bill!" rufen. Als wir das Zellenhaus „B" betraten, klang die Melodie der „Internationale" an unser Ohr. Ein Sozialist, Mitglied der Musikkapelle des Zuchthauses, hatte sein Instrument, eine Flöte, in die Zelle mitgenommen und begrüßte uns damit. In der ersten Nacht hauste ich zusammen mit Charles Ashleigh in einer Zelle im fünften Stockwerk. Wir waren müde, da wir in der vorangegangenen Nacht nicht geschlafen hatten, und wollten uns eben niederlegen, als ein Mann über das Geländer vor unserer Zelle geklettert kam und uns fragte, ob wir etwas zu rauchen wollten. Nichts hätte ich mir in diesem Augenblick mehr gewünscht. Er steckte uns etwas Tabak und Zigaretten zu und sagte: „Ich wäre beinahe erschossen worden, als ich versuchte, hier heraufzukommen." Später erfuhr ich, dass „erschossen" soviel bedeutete wie erwischt und angezeigt werden; die Folge ist in einem solchen Fall, dass der Erwischte am nächsten Morgen eine „Vorladung" bekommt, sich beim Vizedirektor melden muss und gewöhnlich ins „Schwarze Loch" gesteckt wird; außerdem verliert er einige Tage seiner „guten Zeit" als Gefangener erster Klasse. Am Morgen nach unserer Ankunft wurden wir nach einem Frühstück aus einer Hafergrütze, Brot, Sirup und Kaffee in die Kleiderkammer geführt. Dort wurden uns Schuhe und Kleider anprobiert und das Maß unserer Kopfweite genommen. Im Badehaus wurden unsere Kleider in separate Bündel gepackt. Nach einer Dusche wurde uns vom „Schwarzen" Chase, einem Kalfaktor, eine große Büchse mit blauer Salbe gereicht: „Schmiert euch damit unter den Armen, auf der Brust und zwischen den Beinen ein." Es war ein Mittel gegen Läuse und anderes Ungeziefer.
Dann zur nächsten Station: zum Barbier, um, noch immer nackt, rasiert zu werden. Erst dann erhielten wir unsere Gefängniskleider: Unterwäsche aus rauem Baumwollflanell, ein gestreiftes Hemd und ein paar blaue Overalls; außerdem zwei Paar Socken, zwei Taschentücher, einen Winteranzug aus grauem Stoff und einen Mantel mit Messingknöpfen. Dazu eine Kappe aus demselben Material. Man gestattete uns, unsere eigenen Schuhe zu tragen. Mit unseren Reservekleidern über dem Arm gingen wir dann ins Büro des Vizedirektors. Dort sollten wir unsere Zellen und unsere Arbeit zugewiesen bekommen.
Dieser Beamte fragte mich: „Haywood, die Zellen sind klein und würden für zwei große Leute ein allzu enges Quartier abgeben; gibt es unter den kleinen Männern einen, den Sie gern als Zellengefährten hätten?" Ich sagte: „Gut, ich werde mir einen aussuchen." „Lassen Sie mich seinen Namen sobald als möglich wissen."
Wladimir Losjew saß mir gerade gegenüber. Ich fragte ihn, wie es ihm gefallen würde, die nächsten zwanzig Jahre mit mir zusammen zu leben. Er erwiderte: „Das wäre fein!"
Wir saßen gerade im Korridor, als ich wieder in das Büro des Vizedirektors gerufen wurde. Er fragte mich: „Haben Sie sich einen Zellengefährten ausgesucht?" Ich erwiderte: „Jawohl, Wladimir Losjew." „Sie bekommen Zelle Nr. 200 im Zellenhaus ,D'."
Der Direktor erkundigte sich nach meiner früheren Beschäftigung, eine Frage, die ich ihm mit dem Hinweis beantwortete, dass ich während der letzten siebzehn Jahre hauptsächlich im Büro oder auf der Rednertribüne zugebracht hätte. Er wies mir daraufhin die Arbeit eines Schreibers in der Kleiderkammer zu. Meine Aufgabe sollte von nun ab sein, über alle Kleider, die den Gefangenen zugeteilt wurden, Buch zu führen. Die Zellen waren wirklich klein. In unserer Zelle, in der wir fast ein Jahr lang eingesperrt waren, konnte ich mich mit der Schulter an die eine Wand lehnen und mit ausgestrecktem Arm über die ganze Breite hinweg die gegenüberliegende Wand mit den Fingerspitzen berühren. Das Loch war ungefähr zehn Fuß lang. Ich schlief auf der oberen Pritsche.
Um 9 Uhr abends blies ein Hornist Zapfenstreich, und die Lampen wurden gelöscht. Des Morgens wurden wir um 6.30 Uhr durch das Reveillesignal eines Trompeters geweckt. Zur Mittagsstunde mussten wir in langen Reihen antreten, um in den Speisesaal zu gehen. Man kann sich unser Erstaunen vorstellen, als wir dabei die Klänge einer Musikkapelle zu hören bekamen. In langen Reihen marschierten wir die Gänge hinunter, wobei die ersten die rückwärtigsten Sitze einnahmen. In einigen Minuten hatten sich alle, die Gesichter der Musikkapelle zugekehrt, gesetzt. Dann kamen die Speiseausträger mit mächtigen Brettern voller Brot, wovon jeder soviel nehmen konnte, wie er wollte. Andere folgten mit Suppe; gekochte Kartoffeln gab es reichlich. Die Küche war mit großen Kupferkesseln ausgestattet, und fast das ganze Essen, außer dem Brot, wurde mit Dampf zubereitet, eine Methode, bei der alles gleich schmeckte. Auf unseren Gefängniskleidern waren schon an der Schulter des Hemdes und über beide Knie unsere Gefängnisnummern gestempelt. Meine war 13 106. Damit waren die Aufnahmeformalitäten allerdings immer noch nicht ganz erledigt. Am zweiten Tage nach unserer Einlieferung wurden wir mit unseren Nummern fotografiert, unsere Schädel gemessen und nach dem Bertillonsystem Fingerabdrücke von beiden Händen genommen. Dieser Prozedur folgte eine Unterredung mit dem Kaplan. Während meiner kurzen Unterhaltung mit diesem Himmelspiloten des Gefängnisses erklärte ich ihm, dass drei Institutionen in diesem Lande Gitter und Schlösser verwendeten: die eine sei das Gefängnis, um des Menschen Leib einzusperren; die zweite die Kirche, um seine Seele gefangen zu halten, falls er eine habe; und dann die Bank, die einem das Geld aufbewahre. Unsere fast einheitliche Opposition gegen jegliche Kirche oder Religion führte dazu, dass ein Befehl herauskam, dass Männer, die am Sonntagmorgen nicht in die Kapelle kommen wollten, in den Zellen zu bleiben hätten. Die meisten, wenn sie auch nicht an der Predigt des Kaplans interessiert waren, wollten unbedingt aus ihren Zellen herauskommen, und so gingen sie in die Kirche. Am folgenden Tage wurden wir alle ins Lazarett geführt. Wir mussten uns auskleiden, wurden gewogen, geimpft und von einem Zahnarzt untersucht. Nun, so kann man sagen, begann unser Gefangenendasein.
Eine große Gruppe von Männer arbeitete am Zellengebäude „A", das noch nicht fertig gestellt war. Jim Thompson erhielt den Posten eines Vorarbeiters über eine Gruppe von Betonarbeitern, von denen viele Mitglieder der IWW waren.
Eines Tages fragte ein farbiger Gefangener einen unserer Kameraden, ob dieser große Kerl Thompson ein IWW sei. Diese Frage wurde bejaht.
Aber der Farbige erwiderte: „Ich glaube nicht, dass e
ein IWW ist; er benimmt sich nicht wie ein IWW. Warum beeilt er sich die ganze Zeit? Ich sag dir, Kamerad, ich habe eine kleine schlaue Katze oben in meiner Zelle, und wenn dieser Bursche Thompson nicht aufhört, so anzutreiben, dann lasse ich diese Katze auf ihn los." (Anm.: Mit dieser „Katze" ist die Drohung mit Sabotage umschrieben; darum auch „sab cat" (Sabotagekatze) genannt. Die Red.) Eines Morgens marschierten Thompson und seine Gruppe in das Zellenhaus zur Arbeit. Am Abend vorher hatten sie eine Form ausgegossen und diese mit Schrauben zusammengehaltene Form zum Festwerden über Nacht stehen lassen. Aber als sie jetzt zu ihrem Arbeitsplatz kamen, waren die Muttern nicht mehr auf den Schrauben, und die Betonmasse hatte die Bretter auseinandergedrückt und sich über den Fußboden ergossen. Sie war während der Nacht so hart geworden, wie nur Beton werden kann.
Der Aufseher berichtete den Vorfall dem Vizedirektor, der Thompson vorladen ließ. Dieser meldete sich am nächsten Tage im Büro. Der Direktor verlas ihm das Gesetz über Sabotage und informierte ihn, was es in Bezug auf Geldstrafe und Haftstrafe zu bedeuten habe. Dann fragte er Thompson: „Gibt es jemand in Ihrer Gruppe, der Ihnen diese Sache eingebrockt haben könnte?" Thompson antwortete, dass er es nicht glaube. Darauf fragte der Direktor: „Nun, wie ist dann diese Sache geschehen?"
Thompson konnte nur erwidern, dass er es nicht wisse. Ziemlich niedergeschlagen ging er zur Arbeit zurück. Einer der Kameraden fragte ihn: „Warum wolltest du auch die Pflichten eines Vorarbeiters auf dich nehmen? Deine Arbeit ist nicht besser als meine, du bekommst nicht mehr Geld als ich, nämlich gar keines. Gib lieber
diesen Posten auf." Thompson gab ihn auf. Ein Neger übernahm den Posten, und es gab keine weiteren Ärgernisse mit der Sabotagekatze.
Eine Gruppe von IWW-Gefangenen arbeitete als Steinhauer. St. John war der Vorarbeiter dieser Gruppe. Aber er hatte es durchaus nicht eilig. Der Wärter war es, der zu meinen schien, es werde nicht genug Arbeit geleistet, und der begonnen hatte, seine Autorität geltend zu machen. Als er eines Tages in einem ziemlich lauten Ton einen der Burschen anfuhr, schlug ihn ein anderer mit einem Hammer über den Kopf. Er sackte bewusstlos hin. Eine Untersuchung wurde wohl eingeleitet, aber da keiner jemanden zuschlagen gesehen hatte, wurde die Sache fallengelassen, jedoch nicht vergessen. Der Sklaventreiber erholte sich wieder und spürte keine weiteren Beschwerden als etwas Kopfschmerzen. Eines Tages erhielt die Gruppe, die alle Gelegenheitsarbeiten zu verrichten hatte, den Auftrag, zwei Wagenladungen voll Kohle auszuladen. Die Männer hatten gerade an diesem Morgen gebadet. Durch das Kohleschaufeln wären sie sofort wieder schmutzig geworden und hätten eine ganze Woche so umherlaufen müssen. Sie protestierten dagegen und verlangten, man solle sie zum Direktor führen. Dieser schickte sie sofort in ihre Zellen und erklärte ihnen, sie würden entweder Kohlen schaufeln oder bei Wasser und Brot in ihren Zellen bleiben und während der Arbeitsstunden stehend an das Gitter angekettet werden.
Das Zellenhaus „C" war einigen hundert Negergefangenen eingeräumt. Unter ihnen waren einige, die zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen wegen so genannter Meuterei im Heer in Houston, Texas, verurteilt waren. Ich wurde mit vielen dieser ehemaligen Soldaten bekannt, die früher in Brownsville, Texas, stationiert gewesen waren und von denen eine Anzahl bei der Niederschlagung des Streiks in Coeur d'Alene im Jahre 1899 mitgewirkt hatten. Sie waren ehrlich genug zu bedauern, dass sie sich seinerzeit hatten zwingen lassen, die Bergarbeiter zu bewachen, die im „Bullenstall" eingesperrt waren.
Die Sehkraft meines einen Auges wurde mit der Zeit so schlecht, dass ich nicht mehr bei den Büchern arbeiten konnte; so wurde mir die Leitung der Einkleidungsabteilung übertragen. Das war die Stelle, wo die Gefangenen, die ihre Zeit abgesessen hatten und entlassen wurden, ihre neuen Kleider bekamen. Jeder Mann, der das Gefängnis verließ, erhielt in der „glücklichen Ecke" - den Namen gab ich meinem Arbeitsplatz - einen Anzug, einen Hut, Schuhe, Unterwäsche, Hemd, Kragen, Krawatte und ein neues Taschentuch. Die ganze Ausstattung kostete weniger als dreizehn Dollar. Die „glückliche Ecke" war der letzte Ort, den die Gefangenen passierten, bevor sie das Zuchthaus verließen - der einzige Platz im ganzen Zuchthaus, wo man ein wirklich frohes Lächeln sehen konnte.
Es gab verhältnismäßig wenig Wärter in dieser großen Anstalt. Alle Arbeiten wurden von den Gefangenen selbst geleistet. Die Führung der Akten im Büro des Hauptgebäudes, die Erledigung aller damit zusammenhängenden Arbeiten, wie Fotografieren, Schädelmessen, die Besorgung der Fingerabdrücke nach dem Bertillonschen System, alles wurde den Gefangenen zugewiesen. Die Archivare waren Gefangene. Die Buchhalter und Maschinenschreiber waren Gefangene. Die Druckerei, die Schusterei, die Schneiderei, die Tischlerei, der Steinbruch, die Wäscherei, die Ziegelei, der Maschinenraum, die Küche, der Speisesaal und das Lazarett, alles wurde von den Gefangenen selbst geführt.
Neben den Wärtern waren noch einige Zivilbeamte in dem Zuchthaus beschäftigt: der eine, ein Mitglied des Justizministeriums, hatte die Aktenführung zu überwachen; ferner ein Arzt, der Küchenmeister, der Leiter der Schneiderwerkstätte, der Kaplan und vielleicht noch ein oder zwei andere.
Während meiner Haftzeit entwichen mehrere Gefangene. Sobald nach der Abzählung entdeckt wurde, dass ein Gefangener fehlte, ließen sie die „Wildkatzensirene" am Kesselhause ertönen. Sobald die „Wildkatze" zu heulen begann, stimmten die Gefangenen in den verschiedenen Zellenhäusern einen tollen Lärm an. Obwohl noch niemand von ihnen wusste, wer nun wieder entkommen war, schrieen sie mit lauter Stimme: „Leb wohl! Viel Glück, viel Glück! Komm nicht zurück! Lauf! Lauf, du Hundesohn!"
Das Zuchthaus Leavenworth unterschied sich ein wenig von anderen. Die Gefangenen trugen hier nicht die sonst übliche schwarz-weiß-gestreifte Sträflingskleidung. Au­ßerdem war hier nicht das furchtbare Schweigesystem eingeführt. Aber es blieb genug übrig, um auch dieses Zuchthaus, wie alle Kerker, zu einem furchtbaren Ort zu machen. Man hat die Gefängnisse „Universitäten des Verbrechens" genannt. Leavenworth war eine solche Universität mit vielen Absolventen.
Der Speisesaal war der einzige Ort, wo absolutes Schweigen herrschen musste. Wenn jemand dort zum Beispiel ein Stück Brot wollte, musste er die Faust in die Höhe halten; wenn er Zucker wollte, musste er eine Bewegung machen, als wolle er einen Löffel voll in seinen Tee oder Kaffee tun; um Salz musste man die Hand schütteln, um Pfeffer mit dem Finger schnippen.
Eines Tages wurde der Speisesaal fast der Schauplatz eines Aufruhrs. Das Gefangenenorchester lieferte uns
Musik, aber aus der Küche hatte man uns nun schon den dritten Tag gedämpfte Pastinakenwurzeln geschickt. Viele Gefangene riefen: „Nehmt die verdammte Musik fort und gebt uns etwas zu essen!" Jemand hatte gewagt, laut im Speisesaal zu sprechen! Der Klang der zornigen Stimmen verursachte einige Aufregung unter den Wärtern. Schon drohte offene Meuterei; man hörte das Krachen von zerbrochenen Tellern, die auf den Fußboden geschleudert wurden. Als der Direktor kam, flogen ihm einige Teller und Tassen an den Kopf. Er beorderte die Negergefangenen, die vorne saßen, in ihre Zellen. Seinem ersten Befehl folgten sie nicht, dann aber standen sie doch auf und marschierten hinaus, gefolgt von uns anderen. Am nächsten Morgen ergingen viele Vorladungen. Eine ganze Anzahl wurde mit Einzelhaft bestraft. Am Abend wurden zwei Neger mit Baseballmasken geschützt und mit Knüppeln bewaffnet in die Einzelzellen geschickt, um „den Halunken die Hölle heiß zu machen". Niemand wurde getötet, keine Knochen gebrochen, aber die Jungens wurden schmählich misshandelt. Zwei weiße Gefangene, wegen Unterschlagung verurteilte Bankiers aus Süddakota, äußerten nachher, die IWW hätten nur erhalten, was sie verdienten.
Während der Wintermonate wurde der Speisesaal jeden Abend in einen Schulraum verwandelt. Vierunddreißig Mitglieder der IWW waren Lehrer verschiedener Klassen, in denen alles mögliche, vom Autofahren bis zu Fremdsprachen, gelehrt wurde.
Vorladungen waren nichts Außergewöhnliches, da täglich Übertretungen der Anstaltsordnung vorkamen und entdeckt wurden. Aber es gab auch viel, was die Wärter nicht sahen oder hörten, obwohl überall Angeber steckten.
An verschiedenen Stellen des Zuchthauses wurden geheime Whiskybrennereien betrieben. Aus der großen Menge der Vorräte an Nahrungsmitteln, die in einer solchen Anstalt liegen, war es leicht genug, Kartoffeln, Roggen oder Mais und oftmals sogar Rosinen in genügenden Mengen zu erlangen, um eine gute Portion „Mondscheinwhisky" herzustellen. Wurde doch einmal sogar in einem Rauchfang eine Destillation entdeckt, die noch in vollem Betrieb stand. Wie lange diese Schwarzbrennerei in Funktion gewesen war, wusste keiner.
Die Stadt Leavenworth wurde eine Zeitlang mit Falschgeld überschwemmt. Die behördliche Untersuchung ergab, dass die falschen Münzen von Gefangenen aus dem Zuchthaus stammten. Innerhalb der Zuchthausmauern wurden dann auch tatsächlich zwei Münzschlägereien entdeckt; eine davon befand sich unten im Abzugskanal. Einige Gefangene hatten dort alles Nickel, Kupfer und Messing, das sie auftreiben konnten, geschmolzen und daraus Geldstücke fabriziert. Die Vorzugsgefangenen, die außerhalb arbeiteten, hatten Gelegenheit, das Falschgeld auszugeben und brachten dafür jeden Tag nach der Arbeit ihre Einkäufe ins Gefängnis. Eines Tages verlor Charlie Plahn, ein zu fünf Jahren verurteilter Mann aus unserer Gruppe, der mit einer Straßenbauabteilung außerhalb der Mauern arbeitete, den Anschluss an den Trupp. Es war gerade Feierabend, und die anderen waren schon ins Zuchthaus zurückgegangen. Plahn sah sich um. Er konnte keinen von ihnen sehen. Als er an das Tor kam, fand er es zugesperrt. Nicht zufrieden damit, ausgesperrt zu sein, klopfte und rief er, bis man ihn hereinließ. Als die Geschichte bekannt wurde, zogen ihn die Gefangenen alle weidlich wegen dieses genialen Streiches auf: ein Gefangener, der darauf bestand, in das Zuchthaus einzudringen - das war noch nicht dagewesen.
Eines Tages erhielten wir Befehl, uns hinunter in das Meldezimmer zu begeben.
Ich sagte zum „Roten" Spain: „Das geht auf uns." Er antwortete: „Ich glaube auch." Wir gingen hinaus, und alle in der Kleiderkammer, dem Lagerraum und dem Einkleideraum beschäftigten Gefangenen wurden in Reih und Glied aufgestellt, ins Meldezimmer geführt und blieben dort, ohne zu wissen, was in unseren Arbeitsräumen vorging. Man ließ uns über eine Stunde warten.
An der Tür stand ein Wärter, und auf irgendeine Weise, ich weiß nicht wie, verbreitete sich die Nachricht, dass Revolver in meiner Abteilung gefunden worden seien. Kurz nachher kehrten wir zu unserer Arbeit zurück. Der Ort sah aus, als hätte ein Orkan in ihm gewütet. Alle Fächer waren aufgerissen worden. Taschen, Koffer und Bündel waren geöffnet, die Anzüge lagen verstreut umher. Wir brauchten einige Zeit, um wieder Ordnung zu schaffen. Dann erfuhr ich, dass einige sechsschüssige Revolver mit Munition in dem Schrank gefunden worden waren, der von „Blacky", dem „Roten" Spain und mir benutzt wurde. Ich konnte mir die Sache nicht erklären. Für die anderen Gefangenen war es ausgemacht: „Die Burschen kommen ins Loch."
Ich hatte „Die Zwangsjacke" von Jack London gelesen und konnte mir vorstellen, wie leicht es war, einen Gefangenen in eine Spitzelmache zu verwickeln; oder wie leicht ein gedankenloser Mensch ein Wort über Dynamit fallenlassen konnte. Es wäre ebenso leicht gewesen, Dynamit ins Gefängnis zu bringen wie Revolver. In der Tat, der Gedanke an Explosivstoffe war den Wärtern schon gekommen. Während sie die Schränke ausleerten, ließ - so wurde uns erzählt - einer eine Tasche aus einiger Höhe auf den Boden fallen. Ein anderer rief erschreckt: „Um Gottes willen, wirf die Sachen nicht so herum! Du weißt nicht, was diese Burschen vielleicht hier versteckt haben."
Am nächsten Morgen wurde ich zum Vizedirektor gerufen. Er begann das Gespräch mit der Bemerkung, dass es etwas gebe, was die Beamten von den Gefangenen jederzeit erwarteten, und zwar, dass sie zu entkommen versuchten. Dabei stand er auf, ging in die Ecke des Zimmers und hob eine Schaufel mit kurzem Griff in die Höhe.
„Wir haben eben herausgefunden, dass einige der Gefangenen versuchten, sich unter der Mauer durchzugraben. Sie wissen, dass Revolver in Ihrem Schrank gefunden wurden."
„Jawohl", sagte ich, „ich habe davon gehört." „Haben Sie sie dorthin getan?" fragte er. „Nein, ich habe es nicht getan", erwiderte ich und versuchte, ihm dabei in die Augen zu sehen. Das war nicht leicht, denn Vizedirektor Fletcher war ein Mensch, der die Augen niemals stillhielt. „Wissen Sie, wer es getan hat?" „Nein, ich weiß es nicht", war meine Antwort. „Nun, das ist für heute alles."
Ich machte mir viel Gedanken über die in meinem Schrank vorgefundenen Revolver, bis eines Tages der Mann, der sie wirklich dorthin getan hatte, mir davon erzählte und mit einem Grinsen auf dem Gesicht sagte: „Als ich sie über den Hof trug, riss das Packpapier, und ich verlor bei jedem Schritt einige Patronen; ich musste zurückgehen und sie wieder aufklauben. Ich weiß wirklich nicht, wieso man entdeckt hat, dass ich diese Revolver hatte. Es gibt eben Spitzel in jeder Ecke."
Das Zuchthaus von Leavenworth war alles in allem eine Hölle; die Mitglieder der IWW wurden bis aufs Blut gemartert. Einige von uns befanden sich gleichsam in einem Gefängnis innerhalb des Gefängnisses, in den Isolierzellen und im „Schwarzen Loch". Andere wieder wurden jeden Tag während der Arbeitsstunden an das Gitter gefesselt. Viele wurden grausam geprügelt. In dieser Stunde der Not erhoben die mexikanischen Delegierten auf der Panamerikanischen Arbeiterkonferenz in Laredo, Texas, ihre Stimmen für die Freilassung aller politischen Gefangenen. Samuel Gompers, unterstützt von einigen Funktionären der AFL, darunter Charles H. Moyer, ehemals Präsident der Bergarbeiterföderation des Westens, wies die Forderung der mexikanischen Arbeiter zurück.

 

Dreiundzwanzigstes Kapitel
Mit Blut geschrieben

Für alle, die in Chicago verurteilt worden waren, wurde ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens beim Appellationsgerichtshof der Vereinigten Staaten, Gerichtsbezirk sieben, eingereicht. Dieser Antrag war mit umfangreichen Rechtsausführungen und Argumenten seitens Vanderveers und Christensens unterstützt. Inzwischen stattete Richter Landis dem Zuchthaus von Leavenworth einen Besuch ab. Wir konnten niemals genau erfahren, warum er das tat, es sei denn, dass er sich am Anblick seiner Opfer weiden wollte. Der IWW-Prozess war der letzte größere Prozess, in dem Landis den Vorsitz führte, da er bald nachher das Richteramt niederlegte, um eine Stelle als Baseballkommissionär für fünfundvierzigtausend Dollar jährlich zu übernehmen, ein Gehalt, das inzwischen auf sechzigtausend Dollar jährlich erhöht worden ist.
Unser Prozess war für Landis eine schwere Last, da er während dieser vielbeschäftigten Zeit nicht an so vielen Spielen teilnehmen konnte, als er sonst gewohnt war. Bei seinem Besuch in Leavenworth nahm Landis nicht auf der Galerie über dem Musikpodium Platz, wo die Besucher gewöhnlich saßen, sondern er steckte seinen Kopf zur Türe herein und musterte verstohlen alle Gefangenen. Er wollte wahrscheinlich die Genugtuung haben, mit eigenen Augen zu sehen, dass wir wirklich alle da waren.
Von Landis' Gericht waren auch fünf Sozialisten verurteilt worden, nämlich Berger, Germer, Tucker, Engdahl und Kruse. Jeder von ihnen war zu zwanzig Jahren in Leavenworth verurteilt worden. Aber der Richter hatte sich nur zum Schein geweigert, die Proteste der Angeklagten, die sich gegen die Zuständigkeit seines Gerichts richteten, zu beachten. Sein Urteil wurde vom Appellationsgericht verworfen, und der Prozess gegen die fünf wurde niemals wieder aufgenommen. Es wäre eine Ironie des Schicksals gewesen, wenn Berger mit einer Strafe von zwanzig Jahren im Zuchthaus von Leavenworth gelandet und dort mit den IWW zusammengeraten wäre, die er so brutal während seines Prozesses angegriffen hatte, um einer Verurteilung zu entgehen.
Die Monotonie des Gefängnislebens lastete schwer auf mir. Ich begann zu verstehen, was mit dem „Gefängnisjammer" gemeint war. In mir wurde diese Stimmung zum großen Teil durch den Mangel an befriedigenden Nachrichten aus der Zentrale hervorgerufen. Ich empfing nur wenig Besuche, und wir durften nur einen Brief in der Woche schreiben. Außerdem ging ich am Sonntagmorgen niemals zur Kirche und besuchte auch nicht während der Wintermonate die Schule. Die Baseballspiele am Sonnabendnachmittag und der Spaziergang in dem Gefängnishof am Sonntag waren für mich von keinem besonderen Interesse, nur boten sie mir schon eher eine Gelegenheit, mich mit einigen anderen Mitgliedern über die Lage zu unterhalten. Die Gefängnispsychose brachte manchen Menschen um den Verstand. Bei jedem Anzeichen von Geistesgestörtheit wurde man in besondere Quartiere gesteckt, in dazu bestimmte Zellen im Parterre des Zellenhauses „B". Für schwere Fälle waren Zellen für Geisteskranke im Lazarett reserviert. Wenn sich keine Besserung zeigte, wurde der Gefangene in eine Irrenanstalt in die Bundeshauptstadt Washington geschickt.
Die Monotonie wurde eine Zeitlang unterbrochen, als die Kameraden aus Sacramento, Kalifornien, ankamen und ich Gelegenheit hatte, mit ihnen über die sensationelle Art und Weise zu sprechen, in der sie durch hartnäckiges Schweigen ihren Prozess geführt hatten. Diese Gruppe war noch nicht lange in Leavenworth, als bereits einer von ihnen, Connors, einen Fluchtversuch machte. Sein zeitweiliges Fehlen genügte, um die „Wildkatze" ertönen zu lassen, aber man fand Connors bald in einem Gerätekasten auf dem Baseballplatz, von wo aus er in der Dunkelheit der Nacht versuchen wollte, über die Mauer zu gelangen.
Der Verteidigungsausschuss war nach Kräften bemüht, Kautionen zu sammeln, und viele meiner persönlichen Freunde versuchten alles, um meine Freilassung auf ihre Bürgschaft hin durchzusetzen. Das gelang auch schließlich, und ich wurde bis zur Entscheidung des Appellationsgerichtshofes über die Wiederaufnahme des Prozesses freigelassen.
Am 28. Juli 1919, am Jahrestag meiner Freisprechung in Idaho, verließ ich das Zuchthaus von Leavenworth. Ich konnte mich nicht von vielen meiner Genossen verabschieden, aber ich hatte mir vorgenommen, während der Zeit, da ich durch die Bürgschaft auf freiem Fuß war, mich mit allen Kräften für sie einzusetzen. Zur Zeit meiner Freilassung waren große Umwälzungen in der Arbeiterbewegung im Gange. Die Spaltung der Sozialistischen Partei in einen rechten und einen linken Flügel reifte nach der im März 1919 erfolgten Gründung der Kommunistischen (Dritten) Internationale heran. Im September sollte es in Chicago zur Entscheidung kommen. Im gleichen Monat begann der große Streik in der Stahlindustrie. Bergarbeiterstreiks lagen in der Luft. Und während dieser ganzen Zeit wurden wir IWW von allen Seiten heftig angegriffen.
Bei meiner Ankunft in Chicago fand ich in der Zentrale vieles verändert. Das Hauptbüro war nicht nur in den obersten Stock geschafft, sondern alles schien vollkommen verwirrt und auf den Kopf gestellt zu sein. Ich berief sofort eine Konferenz der Sekretäre der Industrieverbände ein, an der außerdem der Leiter der Druckerei, der Generalsekretär und Hauptkassierer Tom Whitehead aus Seattle und die Redakteure der verschiedenen Zeitungen teilnahmen. Auf dieser Konferenz erörterte ich die Notwendigkeit der Reorganisierung des Verteidigungskomitees, denn während des Jahres unserer Haft waren nur etwas über siebentausend Dollar für die Verteidigung aufgebracht worden. Ich erklärte den Konferenzteilnehmern, dass ich überzeugt sei, ich könne durch eine Vortragstournee selbst in wenigen Monaten eine größere Summe aufbringen. Die Konferenz beschloss, mich zum Sekretär und Hauptkassierer des Verteidigungskomitees zu wählen.
Ich machte mich ohne Verzug an die Arbeit: brachte das Adressenmaterial in Ordnung, stöberte einen der Vervielfältigungsapparate, rostig und schmutzbedeckt, im Keller auf, ließ ihn reinigen und herrichten; dann sandte ich einen Brief an die gesamte Mitgliedschaft mit der Bitte, mich bei der Wiederbelebung der Arbeit unseres Verteidigungsausschusses zu unterstützen. Mein erster öffentlicher Aufruf war ein Brief: „In Memoriam", der mit breitem schwarzem Rand erschien:
„Arbeitskameraden und Freunde!
Dieser Brief gilt dem Andenken R. J. Blaines, Ed Bums', H. C. Evans', James Nolans und Frank Travis', die alle während der Untersuchungshaft im Gefängnis von Sacramento, Kalifornien, starben... sowie dem Andenken James Gossards, der im Gefängnis von Newton, Kansas, in der Untersuchungshaft... starb. Gleichzeitig soll Euch dieser Brief daran erinnern, dass Hunderte von Mitgliedern der IWW in den Zuchthäusern und Gefängnissen schmachten, von denen ein Teil lange Strafen abzusitzen hat, während andere noch ihre Verurteilung erwarten. Im Staate Kansas befinden sich dreiunddreißig Männer seit fast zwei Jahren in einem der zweifellos übelsten Gefängnisse der Vereinigten Staaten in Haft. Schon zweimal wurden gegen diese Männer Anklagen erhoben, die sich als unhaltbar erwiesen. Auch die dritte Anklageschrift wurde zurückgeschickt. Der Prozess ist für kommenden September anberaumt worden..."
Ich sandte diesen Brief in schwarzumrandeten Briefumschlägen. Als ich jedoch erfuhr, dass unsere Post in Chicago zurückgehalten wurde, schickte ich einige riesige
Koffer voller Briefe nach Minneapolis, Milwaukee, Detroit, Cleveland und andere Städte, von wo aus sie aufgegeben wurden. Der Eingang des ersten Monats machte über neuntausend Dollar aus. In weiteren Briefen bat ich die Mitgliedschaft um ihre Hilfe für die Opfer der Prozesse von Wichita, Chicago und Sacramento und vieler anderer Prozesse, die noch in allen Teilen des Landes liefen.
Der Prozess von Wichita, der mit einem Schuldspruch endete, fand im Dezember 1919 statt. Ich hatte die Dienste eines erstklassigen Rechtsanwaltes in Kansas City gesichert, der zusammen mit Fred Moore arbeiten sollte. Dieser Anwalt fuhr mit Fred Moore nach New York. Von dort reiste er in Verbindung mit dem Prozess nach Washington. Während seines Aufenthaltes in New York verschwand Fred Moore für einige Tage. Man fand sein Gepäck, seine Aktentasche und alle Dokumente auf seinem Zimmer im Hotel. Der Anwalt von Kansas City ließ den Prozess nach seinem Besuch in Washington fallen.
Wir entwarfen einen Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses der in Wichita verurteilten Männer. Aber aus irgendeinem Grunde versäumte es Moore, das Gesuch rechtzeitig einzureichen.
Dieser Vorfall veranlasste mich, wieder eine Konferenz nach der Zentrale einzuberufen. Ich forderte Moore auf, vor derselben dieses offensichtliche Versäumnis zu erklären, und verlangte von ihm, dass er in einem Briefe an den Richter den Grund dafür angebe, warum er als der verantwortliche Rechtsbeistand den Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses nicht innerhalb der geforderten Frist eingereicht habe. Moore weigerte sich und wandte ein, dass ein solcher Schritt seinerseits einem Selbstmord gleichkäme. Daraufhin machte ich den auf der Konferenz Versammelten Mitteilung von anderen Fehlschritten Moores, die er während des Prozesses gegen Ettor und Giovannitti in Salem und in Verbindung mit dem Everett-Prozess in Seattle begangen hatte; wenn diese auch nicht so ernst gewesen seien, wie der zur Debatte stehende Fall, so müsse sich die Organisation doch dagegen schützen.
Moore fungierte damals auch als Rechtsanwalt für die Verteidigung von Charles Kreiger in Tulsa, Oklahoma. Kreiger forderte, dass er weiter sein Anwalt bleiben solle. Moore führte den Kreiger-Prozess auch mit Erfolg durch, aber damit endeten seine Beziehungen zu den IWW. Er wurde später vom Arbeitsverteidigungskomitee für die Verteidigung Saccos und Vanzettis herangezogen.
Ich fuhr nach New York City, wo ich in mehreren Solidaritätskundgebungen sprach, und von dort nach Philadelphia, wo ich am Tage nach meiner Ankunft in der Arbeiterversammlungshalle das Wort nahm. Schon am nächsten Nachmittag fuhr ich weiter. Vor dem Besteigen des Zuges besorgte ich mir die Zeitungen von Philadelphia und New York und las die ersten Nachrichten von der furchtbaren Explosion, die sich in der Wallstreet von New York zugetragen hatte. Neunundzwanzig Personen waren getötet und zweihundert verletzt worden. Ohne den geringsten Beweis wurde in bewusst tendenziöser Form die Beschuldigung erhoben, dass Kommunisten oder andere Radikale geplant hätten, einige der größten Kapitalisten Amerikas zu töten. Unterwegs gelang es mir, eine Chicagoer Zeitung zu kaufen, in der ich in großen Lettern die Nachricht fand, dass Haywood im Zusammenhang mit der Explosion in der Wallstreet von den Behörden gesucht werde. Ich beschloss, mich in diesem Falle nicht zu stellen, sondern einer Verhaftung so lange wie möglich aus dem Wege zu gehen.
In Chicago suchte ich Otto Christensen, einen von den IWW beschäftigten Anwalt, in seinem Büro auf und fuhr mit ihm zusammen nach Grace Bay, einem Sommerkurort, wo ich die Gastfreundschaft des Verwalters eines Sommerhauses, das einem Chicagoer Kapitalisten gehörte, genoss.
Man kann sich leicht vorstellen, welchen Einfluss die Explosion in der Wallstreet auf die Einstellung der Richter des Appellationsgerichtshofes hatte, der gerichtlichen Instanz, bei der unser Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens schwebte.
Nach der Rückkehr in die Zentrale beschloss ich, einen neuen Aufruf zu entwerfen. Maurice Becker, einen Zeichner, der für die Organisation arbeitete, bat ich, mir einen Blutstropfen zu malen. Was er dann aufs Papier brachte, sah mehr einer Perle oder einer Weinbeere ähnlich. Darauf nahm ich eine Feder, tauchte sie in das Tintenfass und hielt sie in die Höhe, bis ein Tropfen aufs Papier fiel. „So was wollte ich haben!" sagte ich. Becker erwiderte: „Nun, warum wollen wir nicht gleich davon ein Klischee machen lassen?" Dies geschah, und ich verwendete es zu dem von mir entworfenen Aufruf mit der Überschrift: „Mit Blutstropfen ist die Geschichte der Industriearbeiter der Welt geschrieben worden." Die ersten Worte waren in roten Lettern gedruckt, und von der ersten und vierten Seite leuchtete der Blutstropfen. Der Appell wiederholte im einzelnen die Verfolgung der IWW, die Verhaftungen und Morde, die Überfälle auf unsere Lokale und die Verweigerung des Rechts, als Organisation der Arbeiter zu existieren und zu wirken.
Dieser Aufruf hatte eine große Wirkung. Im Laufe des
Monats November gingen über zweiundzwanzigtausend Dollar für die Verteidigung ein. Liberty Bonds und Bargeldbeträge wurden zur Verwendung als Kautionen eingesandt. Während der Prozesse erhielten wir insgesamt vierhunderttausend Dollar für die Verteidigung und eine halbe Million Dollar für Kautionen. Die schwarz umrandeten Briefe, deren Expedition die Post verweigert hatte, wurden in Straßenbahnwagen, Theatern und Restaurants verteilt und hier und dort in den Straßen fallen gelassen. Es war sicher, dass neugierige Leute einen Brief mit einem schwarzen Rand auf jeden Fall untersuchen würden, um festzustellen, wer da wohl gestorben sei.
Das Rundschreiben mit den Blutstropfen bewirkte eine ausgesprochene Sensation. Es wurde in England, Sowjetrussland und in anderen Ländern abgedruckt. Viele bekannte Personen traten in Artikeln für die Organisation und die inhaftierten Männer ein. Die Amerikanische Vereinigung für bürgerliche Freiheiten nahm unseren Fall auf und gab mehrere Broschüren für uns heraus, oder vielmehr, wie sich die Mitglieder dieser Organisation ausdrückten, „für Gerechtigkeit und bürgerliche Freiheit".
Im September 1919 versammelten sich in Chicago der ausgeschlossene linke Flügel der Sozialisten und andere Klassenkämpfer zur Gründung der Kommunistischen Partei. Bedauerlicherweise traten jedoch Meinungsverschiedenheiten in dieser Gruppe auf; ein Teil sonderte sich ab, so dass sich zwei Parteien bildeten: die Kommunistische Partei und die Kommunistische Arbeiterpartei. Die letztgenannte Organisation hielt ihre Tagung in den Räumen der IWW unter dem Vorsitz John Reeds ab. Ich wurde aufgefordert, vor den dort versammelten Kommunisten zu sprechen. Ich schrieb ihnen, dass ich beabsichtigte, auf eine Vortragstournee zu gehen, dass ich jedoch hoffte, sie auf den Versammlungen zu sehen, die ich abhalten würde.
Zwölf bekannte Rechtsgelehrte, einige von ihnen Mitglieder der juristischen Fakultät der Harvard-Universität, veröffentlichten einen Bericht, in dem sie das Justizministerium wegen der von ihm angewandten hinterhältigen Methoden und wegen der Beschäftigung von Agents provocateurs für die Regierung heftig verurteilten. Sie wandten sich mit einer Erklärung an das amerikanische Volk, in der sie nach einer Schilderung der Sachlage ausführten:
„Die Handlungen lassen sich in folgende Gruppen zusammenfassen:
1. Grausame und ungewöhnliche Strafen.
2. Verhaftungen ohne Haftbefehl.
3. Ungerechtfertigte Haussuchungen und Beschlagnahmen.
4. Agents provocateurs.
5. Nötigung von Personen, gegen sich selbst auszusagen.
6. Propaganda durch das Justizministerium... "
Dann kamen die so genannten Palmer-Überfälle. Wieder hatte die Regierung ihre Netze gelegt, um Radikale zu fangen. Die neuen Opfer, die in die Tausende gingen, waren Mitglieder der beiden Kommunistischen Parteien und mehrere hundert IWW, darunter auch ich. Hier als ein Beispiel eine der von den Behörden erlassenen Geheimverordnungen:
„An alle Spezialagenten und Beamten: Ich habe Ihnen bereits zwei in dieser Abteilung zusammengestellte Übersichten über die Kommunistische Partei Amerikas und die Kommunistische Arbeiterpartei gesandt, mit der Anweisung, diese genau zu studieren,
damit Sie und die Ihnen unterstehenden Agenten sich mit den Prinzipien und der Taktik dieser beiden Organisationen vertraut machen.
Sie haben mir mehrere eidesstattliche Erklärungen über verschiedene mit diesen Organisationen im Zusammenhang stehende Individuen geschickt und mitgeteilt, dass diese Personen Ausländer und Mitglieder besagter Organisationen sind. Ich habe dem Generalkommissar für Einwanderungsfragen die von Ihnen gelieferten Erklärungen mit der Aufforderung übermittelt, sofort Haftbefehle zu erlassen. Diese Maßnahme wird jetzt vom Einwanderungsbüro getroffen, es werden Haftbefehle vorbereitet und binnen kurzem dem Einwanderungsinspektor Ihres Bezirks zugehen.
Die Abmachungen, die getroffen wurden, sind, kurz gesagt, folgende: Die Haftbefehle werden an den Einwanderungsinspektor weitergeleitet, der sich sofort mit Ihnen in Verbindung setzt und Ihnen die Namen der Personen bekannt gibt, für die er Haftbefehle erhalten hat. Sie werden dann die betreffenden Personen, sofern dies möglich ist, beobachten lassen; zur gegebenen Zeit werden Sie von mir telegrafisch verständigt, wann alle Personen, für die Haftbefehle erlassen wurden, festzunehmen sind.
Bis zur Festnahme dieser Personen müssen Sie alle Anstrengungen machen, um einwandfrei beweisen zu können, dass die Verhafteten Mitglieder der Kommunistischen Partei Amerikas oder der Kommunistischen Arbeiterpartei sind. Von zuverlässiger Seite habe ich erfahren, dass die Zentralen dieser Organisationen ihren Mitgliedern Anweisungen gegeben haben, auf jede von einem Bundesbeamten gestellte Frage die Antwort zu verweigern und alles Beweismaterial für die Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit zu den betreffenden Organisationen zu vernichten. Es ist daher von allergrößter Wichtigkeit, dass Sie sofort den Aufbewahrungsort aller Bücher und Akten dieser Organisationen in Ihrem Gebiete feststellen und dass diese im Augenblick der Verhaftungen sichergestellt werden. Sobald die betreffenden Personen festgenommen sind, werden Sie sich bemühen, von ihnen, wenn möglich, Eingeständnisse zu erlangen, dass sie Mitglieder einer dieser Parteien sind, sowie Erklärungen über ihre Staatsangehörigkeit. Ich kann nicht stark genug betonen, wie wichtig die Erlangung dokumentarischer Beweise für die Mitgliedschaft der Verhafteten ist.
Es müssen besondere Anstrengungen gemacht werden, alle Funktionäre dieser beiden Parteien, soweit sie Ausländer sind, festzunehmen; die Wohnungen dieser Funktionäre sind in jedem Falle nach Literatur, Mitgliedskarten, Akten und Korrespondenz zu durchsuchen. Die Versammlungsräume sind eingehend zu durchsuchen, und es sind alle Anstrengungen zu machen, das Statut der Kommunistischen Partei Amerikas oder der Kommunistischen Arbeiterpartei, nach dem die betreffende Ortsgruppe arbeitet, ausfindig zu machen, desgleichen die Mitgliederlisten und Kassenberichte, die, falls sie nicht im Versammlungslokal der Organisation gefunden werden, wahrscheinlich in der Wohnung der Schriftführer und Kassierer zu finden sein werden. Alle Literatur, Bücher, Papiere, alles was an den Wänden hängt, muss gesammelt werden; Fußböden, Wandtäfelungen und Nischen sind nach Verstecken zu durchsuchen. Das aufgefundene dokumentarische Beweismaterial ist zu verpacken, und auf jedem Paket ist der Fundort, der Name der Personen, die das Material fanden, und der Inhalt zu vermerken. Gewaltsames Vorgehen gegen Ausländer soll aufs peinlichste vermieden werden. Sofort nach der Festnahme ist jeder Ausländer eingehend zu durchsuchen... Unter keinen Umständen dürfen Sie die örtlichen Polizeibehörden oder die bundesstaatlichen Behörden vor der Durchführung der Verhaftungen ins Vertrauen ziehen. Es ist gegenwärtig nicht die Absicht dieses Amtes, amerikanische Bürger, die Mitglieder der beiden Organisationen sind, zu verhaften. Falls jedoch irrtümlicherweise amerikanische Staatsbürger in Gewahrsam genommen werden, die Mitglieder der Kommunistischen Partei Amerikas oder der Kommunistischen Arbeiterpartei sind, so sind sie sofort den lokalen Behörden zu übergeben.
Zwecks erfolgreicher Durchführung der Verhaftungen kann es notwendig werden, die Mithilfe der örtlichen Behörden im Augenblick der Verhaftungen zu sichern. Dieser Schritt soll nicht unternommen werden, falls er nicht absolut notwendig ist... Eine solche Mithilfe soll jedoch erst einige Stunden vor der für die Verhaftungen festgesetzten Zeit angefordert werden, damit nichts ,durchsickert'. Es ist deutlich zu verstehen zu geben, dass die vorzunehmenden Verhaftungen unter der Leitung und Überwachung des Justizministeriums durchgeführt werden.
Zu Ihrer eigenen Information habe ich Ihnen mitzuteilen, dass der Tag für die Verhaftungen der Kommunisten vorläufig auf Freitagabend, den 2. Januar 1920, festgelegt ist. Dieser Termin kann noch geändert werden, wenn bis zu diesem Zeitpunkt nicht alle Haftbefehle für Einwanderer ausgefertigt sind. Sie werden jedoch noch telegrafisch über das genaue Datum und die Stunde, in der die Verhaftungen zu erfolgen haben, in Kenntnis gesetzt.
Wenn möglich, sollten Sie mit Ihren innerhalb der Organisationen arbeitenden Gewährsleuten Maßnahmen treffen, damit an dem Abend des festgesetzten Datums Versammlungen der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Arbeiterpartei stattfinden. Ich habe von einigen der Beamten des Büros erfahren, dass solche Veranstaltungen veranlasst werden. Dies würde natürlich die Durchführung der Verhaftungen erleichtern. An dem für die Verhaftungen festgesetzten Abend wird dieses Amt die ganze Nacht geöffnet sein, und ich wünsche, dass Sie telefonisch Mr. Hoover alle Dinge von Bedeutung oder von Interesse mitteilen, die sich im Verlaufe der Verhaftungen ergeben können... Ich wünsche, dass Sie am Morgen nach den Verhaftungen ,zu Händen von Mr. Hoover' durch Eilboten eine vollständige Liste der Namen der verhafteten Personen senden, mit Angabe des Wohnorts oder der Organisation, zu der sie gehören, und einem Hinweis, ob sie in der ursprünglichen Liste der Haftbefehle aufgeführt waren oder nicht. In Fällen, wo Verhaftungen ohne Haftbefehle vorgenommen wurden, sind sofort von den örtlichen Einwanderungsbehörden Haftbefehle zu verlangen. Gleichzeitig ist auch dieses Amt zu verständigen. Ich wünsche auch, dass Sie am Morgen nach den Verhaftungen durch ausführliches Telegramm ,zu Händen von Mr. Hoover' die Ergebnisse der durchgeführten Verhaftungen mitteilen und die Gesamtzahl der von jeder Organisation in Gewahrsam genommenen Personen sowie einen Bericht über etwaiges interessantes Beweismaterial geben.
Dies sind die allgemeinen Richtlinien, die bei diesen Verhaftungen zu befolgen sind; sie werden zur gegebenen Zeit durch telegrafische Anweisungen ergänzt." Diesen allgemeinen Richtlinien waren noch „Anweisungen an die Agenten" beigegeben, die die schmutzige
Arbeit zu verrichten hatten. Dass mit diesen in Washington erlassenen Anweisungen ganz offiziell die verfassungsmäßigen Rechte verletzt wurden, beweist besonders eindeutig der hier beigegebene Absatz 5 derselben: „Den festgenommenen Personen wird nicht gestattet, mit außenstehenden Personen in Verbindung zu treten, solange nicht die Untersuchung durch dieses Amt abgeschlossen ist und dieses Amt die Erlaubnis dazu erteilt hat."
Ich war zum Neujahrsessen bei Ben Schrager eingeladen gewesen und war dann nach dem Norden zum schwedischen IWW-Lokal gefahren. Kaum hatte ich den Hinterraum betreten, als einer der Genossen hereinkam und mir berichtete, dass vorne am Buffet zwei Detektive seien.
Ich sagte: „Dann will ich lieber verschwinden", denn die Kameraden hatten mir schon eine der Abendzeitungen mit der flammenden Überschrift: „Wieder polizeiliche Haussuchungen bei den IWW" gezeigt. Ich fuhr in die Wohnung von Bekannten, wo ich die Nacht über blieb. Am folgenden Abend sandte mir Jack Johnstone, der damals Organisator der Schlachthofarbeiter war, seinen Wagen mit der Aufforderung, ein Quartier aufzusuchen, das sie auf der Ontario Street in der Nähe des Michigan Boulevard für mich ausgesucht hatten. Dort blieb ich einige Tage. Als ich dann plötzlich in Christensens Büro erschien, waren alle erstaunt, mich zu sehen und fragten: „Hat die Polizei Sie denn noch nicht erwischt?" „Noch nicht", erwiderte ich.
Hier wurde mir dann auch mitgeteilt, dass alle in der Zentrale beschäftigten Kameraden, mit Ausnahme der Stenotypistinnen, verhaftet seien. Noch am gleichen Nachmittag ging ich mit William Bross Lloyd zum Gericht des Richters Pam. Dort erlegte Lloyd für mich eine
Kaution von zehntausend Dollar. Im Gerichtssaal traf ich auf Ed Nockles, Sekretär der AFL in Chicago. Ich sagte ihm: „Es soll doch der Teufel holen, Ed, dass die IWW immer für das dran glauben müssen, was die AFL ausgefressen hat." Er lächelte verständnisvoll und sagte: „Es ist schon etwas Wahres dran." Von den Tausenden, die in diesen „Razzien auf die Roten" zusammengetrieben wurden, wurden viele hundert in ihre Heimatländer zurückbefördert. Eine ganze Schiffsladung voll verließ das „Land der Freiheit" mit dem Dampfer „Buford".
Achtundzwanzig Kommunisten, die bei der polizeilichen Razzia in Chicago verhaftet worden waren, wurden schuldig gesprochen und in das Zuchthaus von Joliet im Staate Illinois geschickt, wo sie zehn Tage verbrachten und dann begnadigt wurden.
Die Ortsgruppe Seattle des Verteidigungsausschusses leistete gute Arbeit bei der Sammlung von Kautions- und Unterstützungsgeldern. Als sie die ersten zehntausend Dollar beisammen hatte, veranstaltete sie eine Verlosung. Manuel Rey war der erste, dessen Name aus dem Sack gezogen wurde; aber da die für ihn geforderte Kaution höher als die vorhandene Summe war, kam es zu einer zweiten Ziehung, bei der Red Doran ausgelost wurde.

 

Vierundzwanzigstes Kapitel
Die Tragödie von Centralia

Wir sollten jetzt einiges über den Krieg erfahren. Präsident Woodrow Wilson erklärte: „Dies ist ein Industrie- und Handelskrieg." Er hätte auch hinzufügen können,
dass die in diesem Kriege von den Vereinigten Staaten gewonnene Beute dreißig Milliarden Dollar ausmachte. Die Presse und die Politiker erzählten dem Volk, dieser Krieg werde geführt, um „die Welt zu einem Hort der Demokratie zu machen". Es war ein Krieg, der aus einer mit sechs Milliarden Dollar Schulden belasteten Nation eine Gläubigernation mit vierundzwanzig Milliarden Dollar machte. Es sollte ein Krieg zur Beendigung aller Kriege sein, aber die Raubvögel der Wallstreet haben eine ganze Brut von Kriegsmillionären in die Welt gesetzt, die jetzt für einen neuen Krieg rüsten. Der Waffenstillstand setzte dem Krieg in den Vereinigten Staaten kein Ende.
Diese Tatsache wurde den IWW durch die Tragödie von Centralia, Washington, am ersten Jahrestag des Waffenstillstands, dem 11. November 1919, gewaltsam zum Bewusstsein gebracht. Die Behauptung, dass die Verantwortlichen für diese Tragödie bis zu einem Ministerium der Bundesregierung verfolgt werden könnten, ja, dass der Hauptverantwortliche William B. Wilson, ehemaliger Sekretär der Vereinigten Bergarbeiter Amerikas und damals Minister für Arbeit bei der Regierung der Vereinigten Staaten, sei, könnte auf den ersten Blick wie an den Haaren herbeigezogen erscheinen. Und doch kam ein Untersuchungsausschuss der Universität von Washington, also nicht der IWW, zu eben diesem Ergebnis. Der Minister für Arbeit musste sich von diesem Ausschuss sagen lassen, dass die größte Sorge der Holzarbeiter die Unfähigkeit ihrer Führer sei und dass der Minister, wenn er gut informiert sein wolle, einen ernstlichen Versuch unternehmen müsse, die Absichten und Methoden der IWW zu verstehen.
Der Minister für Arbeit, der eigentlich nur ein in die Regierung entsandter Vertreter der AFL war, schlug in heiligem Entsetzen über eine solche Zumutung die Hände über dem Kopf zusammen und erklärte den Mitgliedern des Ausschusses, dass es eine Organisation der IWW überhaupt nicht gebe. Arbeitsminister Wilson hatte damit, soweit es in seiner Macht stand, die IWW außerhalb des Gesetzes gestellt.
Der Verband der Holzindustriellen und die Presse wussten und kümmerten sich nur darum, dass Arbeitsminister Wilson die IWW zu einer ungesetzlichen und ausgestoßenen Gruppe der Gesellschaft gestempelt hatte; sie setzten daraufhin mit einer Unterdrückungs- und Terrorkampagne unter dem Deckmantel der Gesetzlichkeit ein, in dem sicheren Gefühl, dass sie die Sanktion und Billigung der Behörden in Washington hatten. Es war also der Arbeitsminister Wilson, der die Schande von Centralia möglich machte.
Im ganzen Westen waren Hunderte von Versammlungslokalen der IWW von der Polizei überfallen und ihre Einrichtung zertrümmert worden. Die erste Razzia in Centralia fand bereits im April 1918 statt. Der Anlass dazu war eine Parade des Roten Kreuzes. Zwei Zeitungen des Holztrusts in Centralia, „Hub" und „Chronicle", führten unverschämte Angriffe gegen die IWW, von denen sie in denselben Ausdrücken sprachen, wie sie vor dem Bürgerkrieg gegen die Abolitionisten, die Gegner der Sklaverei, verwendet worden waren. Bei dieser Parade hatten der Polizeikommandeur, der Bürgermeister und der Gouverneur des Staates Ehrenplätze an der Spitze des Zuges erhalten. Auch die Kompanie „G" der Nationalgarde nahm teil, aber den Hauptteil des Zuges bildeten die Mitglieder des „Klubs der Elche". Das waren die bösartigen reaktionären Elemente. Als sie vor unser Versammlungslokal kamen, riefen sie: „Lasst uns das IWW-Haus stürmen!" Sie brachen mit Knüppeln und Steinen in das Haus ein und zerschlugen alle Türen und Fenster. Die Seitenwände des Hauses wurden von dem Pöbel in blinder Wut durchbrochen. Dann wurde im Innern die Einrichtung demoliert. Möbel und Bilder wurden zerschlagen, die Gewerkschafter umzingelt, verprügelt und auf die Straße geschleppt, wo sie gezwungen wurden, zuzusehen, wie vor ihren Augen das gesamte Mobiliar, die Akten, die Schreibmaschinen und die Literatur vernichtet und verbrannt wurden.
Ein Grammophon und ein Schreibtisch wurden sorgsam auf die Straße gebracht. Das Grammophon wurde auf der Stelle zugunsten des Roten Kreuzes versteigert. Der Besitzer einer Handschuhfabrik gewann es und rühmt sich noch immer seines Besitzes. Der Schieibtisch wurde an das Büro der Handelskammer verschachert. Der Pöbelhaufen stürzte sich dann wieder auf die Männer, die im Lokal anwesend gewesen waren; mit Hieben und Stößen wurden sie zu bereitstehenden Lastautos gedrängt, an den Ohren hinaufgezogen und dann erneut bewusstlos geprügelt. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, hielt der Pöbel Stricke bereit, die um den Hals der Opfer geschlungen wurden.
„Hier ist ein IWW!" schrie einer. „Was sollen wir mit ihm machen?"
„Lyncht ihn! Lyncht ihn!" brüllte die Menge. Einige der Arbeiter wurden ins Stadtgefängnis geführt und die anderen über die Bezirksgrenze geschleppt. In diesem Falle hatten die IWW nicht versucht, ihr Lokal gegen den Überfall zu verteidigen; aber am Waffenstillstandstag kam es anders.
Der Industrieverband der Holzarbeiter war nicht vernichtet worden. Im Gegenteil, er wurde stärker. Aber auch der Unternehmerverband des Bundesstaates hatte
seine Anstrengungen verdoppelt und führte seine heftige Kampagne gegen die Organisation fort. Hier einige der Ratschläge, die er in seinem Bulletin den Mitgliedern erteilte:
30. April 1919: „Haltet den Betrieb frei von Radikalen und den IWW... Bekämpft die Agitation... Räumt mit den Agitatoren auf... Hängt die Bolschewisten... "
30. Mai 1919: „Wenn mit den Agitatoren aufgeräumt würde, hätten wir kaum noch Schwierigkeiten... Propaganda zur Bekämpfung der Radikalen und Überwindung der Agitation... Steckt die IWW ins Gefängnis... "
2. Juli 1919: „... Importiert japanische Arbeitskräfte... Importiert chinesische Arbeitskräfte..."
31. Juli 1919: „Deportiert ein Dutzend Russen aus dieser Gemeinde..."
31. Oktober 1919: „... Geschäftsleute und Steuerzahler von Vancouver, Washington, haben die loyale Bürgerschutzliga organisiert; gegen die Bolschewiken und die Regierungsform der Sowjets und für den offenen Betrieb... Sperrt die Radikalen ein und deportiert sie... Seit dem Waffenstillstand machen sich diese Radikalen wieder bemerkbar....Nur zwei Gemeinden in Washington lassen IWW-Lokale zu!"
Am 19. Oktober veröffentlichte der „Hub" von Centralia einen Artikel unter folgendem Titel: „Die Unternehmer sollten die Behandlung des IWW-Problems diskutieren."
In diesem Artikel wurden alle Unternehmer dringend aufgefordert, zu einer Versammlung im „Klub der Eldie" zu kommen. Am 20. Oktober, drei Wochen vor der Schießerei, wurde diese Versammlung des „Klubs der Elche" von Centralia abgehalten. Ihr ausdrücklich erklärter Zweck war „die Behandlung des IWW-Problems".
Die IWW von Centralia gaben daraufhin ein Flugblatt an die Bevölkerung heraus, in dem sie die von den Reaktionären getroffenen Vorbereitungen für einen Gewaltstreich vor der Öffentlichkeit entlarvten. Insbesondere wurden die Hauptführer bei diesem Kesseltreiben gegen die Revolutionäre, die Barone des Holztrusts, angegriffen und ihre Schuld für alle kommenden Dinge festgestellt
Unter den Mitgliedern der IWW in Centralia befand sich auch Wesley Everest, ein Weltkriegsteilnehmer von hervorragendem Mut und großer Tapferkeit. Von ihm wurde erzählt, dass er mehr Orden und Medaillen in Frankreich erhalten habe, als der sagenumwobene Sergeant York. Jetzt war er wieder zu der Arbeit zurückgekehrt, die ihn interessierte: er organisierte seine Berufskameraden, die Holzarbeiter. Er verkaufte Literatur, als Elmer Smith, ein ehrlicher Anwalt, in einer Versammlung den Holzarbeitern mitteilte, sie hätten das gesetzliche Recht, ihr Lokal vor Überfällen zu schützen. Am 11. November 1919 wurde eine Parade der Amerikanischen Legion abgehalten, an der das ganze Sortiment von Patrioten teilnahm. Auf der bereits erwähnten Versammlung im „Klub der Elche" war von den Führern des Holztrusts ein geheimer Plan ausgeheckt worden, wie die Demonstranten zum Angriff auf das IWW-Lokal geführt und wie „mit den IWW aufgeräumt" werden sollte.
Im vereinbarten Augenblick während der Parade brüllten die Führer der Aktion auf ein Zeichen eines Berittenen hin aus Leibeskräften: „Lo-o-o-o—s! Auf sie, Jungens!" Die Eingangstür wurde aufgebrochen. Einige der Angreifer waren schon in das Haus gedrungen, als von innen her Schüsse krachten. Die Eindringlinge flohen und ließen zwei Tote und mehrere Verwundete zurück.
Mehrere der Angreifer hatten Stricke mitgebracht, offensichtlich in der Absicht, die Gewerkschafter zu lynchen. Einer der tödlich Getroffenen sagte noch kurz bevor er starb: „Geschieht mir recht!" Das war Warren Grimm. Das Versammlungslokal war jedoch umstellt. Die Angreifer erzwangen sich durch ihre Übermacht den Eintritt und ergriffen die wenigen Arbeiter, die anwesend waren, mit Ausnahme eines Mannes, Wesley Everest. Er entkam durch die Hintertür, brach durch den Mob und rannte in Richtung auf den Fluss davon, während um ihn herum die Kugeln der Mordgesellen pfiffen. Er hielt einen Augenblick inne, um seinen Revolver neu zu laden, und versuchte dann, den Fluss zu durchwaten. Da ihm dies wegen der großen Tiefe nicht gelang, kehrte er zurück und rief den Verfolgern zu, er sei bereit, sich jeder ordentlichen Behörde zu stellen. Der Pöbel hörte nicht einmal darauf, sondern rückte lebhaft schießend immer näher, bis sich Everest überzeugte, dass an ein Ende des Kampfes nicht zu denken sei und auch er wieder zu schießen begann. Einen Augenblick hielt das den Mob zurück, aber einer der Leute kam immer näher. Mit seiner letzten Patrone erschoss Everest diesen Mann, Dale Hubbard, den Neffen des Hauptverschwörers. Dann fiel die Meute über Everest her und schleppte ihn davon.
Auf dem Wege zum Gefängnis wurde Everest misshandelt, geprügelt und verhöhnt. Mit dem Gewehrkolben wurden ihm die Zähne in den Hals gestoßen. Man schlang ihm einen Strick um den Hals, aber mit dem Mut, den Everest während des ganzen Überfalls bewiesen hatte, rief er: „Ihr habt ja nicht die Courage, einen Mann am helllichten Tag zu lynchen!" Es wurde Nacht. Erschöpft und blutend lag Everest in der Zelle neben seinen Genossen; langsam vergingen ihm die Stunden. Spät in der Nacht erloschen plötzlich alle Lichter in der Stadt. Das Gefängnistor wurde eingeschlagen. Kein Versuch wurde unternommen, die lynchlustige Menge zurückzuhalten. Sich taumelnd aufrechthaltend, rief Everest den anderen Gefangenen zu: „Sagt den Kameraden, dass ich für meine Klasse gestorben bin."
Ein kurzer Kampf. Viele Schläge. Ein schleifendes Geräusch. Das Ankurbeln starker Automobilmotoren. Dann das plötzliche Wiederaufflammen der Lichter in der verdunkelten Stadt.
Die Autos erreichten die Brücke am Chehalis-Fluß. An das eiserne Geländer wurde das eine Ende eines Seils geknüpft, das andere um Everests Hals geschlungen. Nun wurde der halb bewusstlose Mann mit einem brutalen Stoß von der Brücke geschleudert. Eine Pause, dann wurde der Leib wieder emporgezogen. Da Everest noch schwache Lebenszeichen von sich gab, nahmen die Mörder einen längeren Strick und stießen ihr Opfer erneut in die Tiefe. Der Leichnam wurde abermals emporgezogen und bot im Licht eines auf ihn gerichteten Automobilscheinwerfers einen grausigen Anblick. Ein teuflischer Sadist, der noch unmenschlicher war als seine übrigen Spießgesellen, hatte Everests Geschlechtsorgane während der Autofahrt zur Brücke mit einem scharfen Instrument fast gänzlich vom Leibe abgetrennt. Im blendenden Kegel des Scheinwerfers wurde der Leichnam mit Kugeln durchlöchert. Dann schnitten die Henker den Strick durch, so dass der verstümmelte Körper in den Fluss fiel. Dort wurde er gefunden, eine grauenerregende, grässliche Masse, in das Stadtgefängnis vor die Augen seiner Freunde und Genossen geschleppt und schließlich in einem namenlosen Grab verscharrt. Vier seiner Kameraden wurden unter schwerer Bewachung aus dem Gefängnis geführt, um ihn zu begraben. Danach wurde, um den Schein zu wahren, eine geradezu lächerliche Untersuchung durchgeführt.
Im IWW-Lokal waren außer Wesley Everest noch die Kameraden Bert Faulkner, Roy Becker, Britt Smith, Mike Sheehan, James Maclnerney und Morgan gewesen. Der Letztgenannte brach unter den Foltern zusammen. Ein anderer, der neunzehnjährige Loren Roberts, wurde im Gefängnis irrsinnig.
Ein Terrorregime herrschte im ganzen Nordwesten. Im Staate Washington allein wurden über tausend Männer und Frauen verhaftet. Gewerkschaftslokale wurden geschlossen, Arbeiterzeitungen unterdrückt, und viele Genossen erhielten Gefängnisstrafen von einem bis zu vierzehn Jahren, weil sie im Besitz von Exemplaren der Zeitungen waren, die nichts anderes als die Wahrheit über die Tragödie von Centralia enthielten. Von der Zentrale des Unternehmerverbandes wurden viele Bulletins ausgegeben, darunter eines vom 31. Dezember 1919, in dem es hieß: „Befreit euch von allen IWW und anderen unamerikanischen Organisationen... Deportiert die Radikalen oder nehmt den Strick, wie in Centralia... Bevor wir nicht die IWW und die Radikalen los werden, können wir nicht viel in diesem Lande erwarten... Fahrt fort, mit den IWW aufzuräumen... Lasst die Sache nicht einschlafen... Erhaltet die öffentliche Stimmung lebendig... "
Mit George F. Vanderveer, dem Rechtsanwalt der IWW, besprach ich in meiner Eigenschaft als Sekretär des Verteidigungsausschusses die Lage in Centralia. Es war dies der wichtigste Prozess, in den die IWW jemals hineingezogen worden waren. Wenn es in diesem Falle auch nicht um so viele Angeklagte ging, so doch auf Leben und Tod. Und in noch etwas unterschied sich dieser Fall
von allen anderen: die Männer in Centralia waren des Mordes angeklagt, während sie in der Tat nichts weiter getan hatten, als Leib und Leben und Eigentum vor Banditen zu schützen, deren Hände von Blut dampften. Vanderveer eilte, um die Verteidigung der elf Kameraden zu übernehmen, die in Centralia verhaftet worden waren.
Der Bezirk Lewis und die Unternehmerverbände hatten für besondere Staatsanwälte zu diesem Prozess vorgesorgt. Ein ganzes Aufgebot dieser Wortführer des Kapitalismus marschierte auf, hinter sich die Autorität des Staates. Der Gouverneur des Bundesstaates beorderte die Miliz in die Stadt Montesano, wo der Prozess stattfand, und das Kongressmitglied für den Bundesstaat hatte die Nachricht gesandt, dass alle Mitglieder der Amerikanischen Legion, die als Hilfssheriffs eingesetzt waren, im Gerichtssaal ihre Uniformen mit einer roten Armbinde tragen dürften, zum Zeichen, dass sie früher in der Armee gedient hatten. Gegen diese Kräfte, die die Holzbarone aufgeboten hatten, stand Vanderveer allein da. Er war ein Rechtsanwalt, dem das Herz am rechten Fleck saß, ebenso gefährlich wie ein Arbeiter, der zu denken versteht.
Nach der Gerichtsverhandlung vergingen zweiundzwanzig Stunden und zwanzig Minuten, bevor die Geschworenen von ihrer Beratung zurückkamen. In ihrer ersten Entscheidung hatten sie Eugene Barnett und John Lamb des Totschlages oder des „Mordes dritten Grades" schuldig erklärt. Der Richter weigerte sich, dieses Urteil anzunehmen und schickte die Geschworenen zurück, um ein anderes Urteil zu finden. Der endgültige Urteilsspruch lautete: „Schuldig des Mordes zweiten Grades: Eugene Barnett, John Lamb, Britt Smith, Bert Bland, Commodore Bland, Roy Becker und John MacInerney.
Freigesprochen: Mike Sheehan und Elmer Stewart Smith."
Loren Roberts wurde für geisteskrank und unverantwortlich erklärt.
Bert Faulkner war während des Prozesses entlassen worden.
Trotz der Atmosphäre des Terrors, in der die Geschworenen ihr Urteil fällten, legten sie dem Gericht dennoch folgendes nahe:
„Wir, die unterzeichneten Geschworenen, ersuchen das Gericht respektvoll, den Angeklagten gegenüber, deren Namen im beigefügten Urteil enthalten sind, Milde walten zu lassen. Unterzeichnet und gesiegelt..." Ein „Arbeiter-Geschworenenkörper" war von einer Anzahl AFL-Gewerkschaften gebildet worden. Er wohnte den Verhandlungen ständig bei. Sein einstimmiges Urteil lautete „Nicht schuldig", und es wurde beschlossen, den Bericht darüber in der Presse zu veröffentlichen. Den Vorsitz in diesem Prozess führte Richter John M. Wilson. Vanderveer erklärte ihm in aller Öffentlichkeit: „Es gab eine Zeit, da ich dachte, Ihre Methoden entsprängen einer Unkenntnis des Gesetzes; diese Einschätzung reicht aber nicht mehr aus." Der Richter verurteilte die sieben für schuldig erklärten Männer zu Strafen von fünfundzwanzig bis vierzig Jahren Haft im Zuchthaus von Walla Walla. Obwohl die Geschworenen um Milde gebeten hatten, diktierte der Richter den Verurteilten die Höchststrafe zu. Fünf von den ordentlichen Geschworenen haben seither in eidesstattlichen Erklärungen zugegeben, dass das Urteil ungerecht war. Einer berichtete von einer Vorabstimmung, die einen einstimmigen Freispruch ergeben hatte.
Ich versuchte, jedes Mitglied der IWW, das auf Kaution aus dem Zuchthaus entlassen worden war, für eine Rednertournee zu seiner eigenen Verteidigung, zur Verteidigung seiner Genossen und der Organisation im allgemeinen zu gewinnen. Auf meinen Vorschlag hin fuhr Ralph Chaplin nach dem Nordwesten. Während seiner Anwesenheit in diesem Gebiet sammelte er das Material für seine ausgezeichnete Broschüre „Die Verschwörung von Centralia".

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel
Lebewohl, kapitalistisches Amerika!

Unser Antrag auf Wiederaufnahme des Chicagoer Prozesses war vom Appellationsgericht der Vereinigten Staaten abgelehnt worden, obgleich es einen der Punkte, unter denen wir verurteilt worden waren, für ungültig erklärte und die Geldstrafen aufhob, die uns Richter Landis auferlegt hatte.
Es ist jedoch klar, dass die Revisionsinstanz die Zeugenaussagen nicht überprüfte. So wurde, um ein Beispiel anzuführen, Clyde Hough, ein junger Maschinist aus Rockford, Illinois, zusammen mit uns verurteilt, obwohl er zur Zeit der Annahme des Spionagegesetzes im Gefängnis saß und dort geblieben war, bis er schließlich nach Leavenworth geschickt wurde. Er hatte also gar keine Gelegenheit gehabt, selbst wenn er gewollt hätte, das Gesetz zu verletzen, auf Grund dessen er verurteilt wurde.
Der nächste Schritt, auf den wir unsere Hoffnung setzten, zielte darauf ab, den Prozess vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zu bringen; die Entscheidung stand noch aus, als ich das Land verließ. Von dem Beschluß dieser hohen Körperschaft sollte es abhängen, ob wir in den Kerker von Leavenworth zurückkehren mussten, um zusammen mit denen, die noch dort waren, unsere Strafzeit abzusitzen.
Ich erfuhr, dass Präsident Harding, der Nachfolger Wilsons, von Meyer London, dem sozialistischen Kongressabgeordneten aus dem Staate New York, über den Fall interviewt wurde und vom Präsidenten die Antwort erhielt, die IWW-Mitglieder würden begnadigt - mit Ausnahme von Haywood, den man festhalten wolle. Man kann sich vorstellen, wie ich nach diesen Erfahrungen erfreut war, als ich 1924, fern von Amerika, die Nachricht vom Sturz William J. Burns, Direktor des Justizministeriums, erfuhr, der die Geschäfte dieses Ministeriums im Interesse seiner privaten Detektivagentur geführt hatte. Die IWW „gelangten in den Besitz" persönlicher Dokumente William J. Burns', die sie in ihrem offiziellen Organ abdruckten. Das Ergebnis war, dass Burns von der Regierung auf den Misthaufen geworfen wurde, auf den er gehörte, und dass verschiedene Detektive und Lockspitzel innerhalb der IWW entdeckt und vom Exekutivkomitee aus den Reihen der Organisation ausgeschlossen wurden.
Anfang 1920 erreichte uns ein langer an die IWW gerichteter Brief der Kommunistischen Internationale. In diesem Schreiben wurde sehr ausführlich die Lage des Kapitalismus nach dem imperialistischen Krieg geschildert, die Ansichten, in denen die Kommunistische Internationale und die IWW übereinstimmten, aufgezählt, vor der kommenden Offensive des Kapitals gewarnt, die Sinnlosigkeit des Reformismus betont, die Rolle des Staates und der Diktatur des Proletariats untersucht und über den Aufbau des Sowjetstaates der Arbeiter und
Bauern berichtet. Solche Grundfragen, wie die der „politischen" und „industriellen" Aktion, des demokratischen Zentralismus, des Wesens der sozialen Revolution und der zukünftigen Gesellschaft wurden erörtert. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, äußerte ich Ralph Chaplin gegenüber: „Hier ist das, wovon wir immer geträumt haben! Hier sind die Ideen der IWW voll und ganz zu Ende gedacht."
Der Empfang dieses Briefes war ein bedeutsames Ereignis in meinem ziemlich bewegten Leben. Obwohl er an die IWW als Organisation gerichtet war, empfanden ich und viele andere Mitglieder, dass er eine persönliche Anerkennung für uns bedeutete, die wir dazu beigetragen hatten, diese klassenbewusste Bewegung aufzubauen. Am 4. Juli 1920 sprach ich vor einer ungeheuren Menge im Renton Park in Seattle. Der Ertrag dieser Versammlung war etwas über sechstausend Dollar. Von Seattle fuhr ich nach Portland, Oregon, wo ebenfalls eine große Versammlung unter dem Vorsitz George F. Vanderveers stattfand und in der weit über tausend Dollar für den Verteidigungsfonds gesammelt wurden. Sobald die Kommunistische Partei in den Vereinigten Staaten feste Form angenommen hatte, trat ich ihr bei. John Martin wurde zum Sekretär des Verteidigungsausschusses gewählt.
Ich begab mich nach New York City und schlug dort den Mitgliedern des Zentralkomitees der illegalen Kommunistischen Partei vor, Anstrengungen zu machen, die Partei aus der Illegalität herauszuführen oder eine Organisation zu schaffen, die sie legal vertreten könnte. Meiner Meinung nach konnten wir nur wenig tun, solange wir nicht unsere Zeitungen frei herausgeben und einen Platz auf der öffentlichen Tribüne einnehmen konnten.
Ich sprach noch in mehreren Versammlungen für die Verteidigung. Auf meiner letzten Kundgebung in der Rand School sprachen auch zwei mit mir zusammen verurteilte Genossen, die ebenfalls gegen Kaution freigelassen worden waren, George Andreychine und Charles Ashleigh.
Man hatte mir zu dieser Zeit den Vorschlag gemacht, ich solle nach Sowjetrussland fahren. Es bestand nur wenig Hoffnung auf eine günstige Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, und meine Freunde waren der Auffassung, es wäre angesichts meiner untergrabenen Gesundheit ein unnötiges Opfer, wenn ich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen sollte. Ich antwortete auf diesen Vorschlag: „Es wird nicht leicht für mich sein, hier herauszukommen, aber ich werde es versuchen."
Für einige andere Freunde und mich wurden Plätze für den Dampfer „Oscar II", Henry Fords „Friedensschiff", gebucht. Nachdem ich mich von meinen Freunden verabschiedet hatte, verbrachte ich die letzte Nacht in den Vereinigten Staaten im Hause einer lettischen Familie. Von dort fuhr ich zeitig am Morgen zum Frühstück in ein Hotel in Hoboken, dann zum Hafen und direkt zum Dampfer. Dem Beamten wies ich meinen angeblichen Pass vor, stieg an Deck und kletterte hinunter in den Schiffsbauch, wo man mir eine Koje reserviert hatte. Ich blieb dort so lange, bis das Schiff in Fahrt war. Als ich dann aufs Deck stieg, fuhren wir gerade an der Freiheitsstatue vorbei. Die alte Hexe mit ihrer erhobenen Fackel grüßend, sagte ich: „Good-bye, zu lange hast du mir den Rücken zugekehrt, jetzt fahre ich in das Land der Freiheit."
Zufällig war einer der Stewards, der mich erkannt hatte, ein IWW, und diesem Umstand verdankten wir eine bessere Überfahrt, als Passagiere des Zwischendecks sie gewöhnlich genießen.
Nach Riga fuhren wir durch ein vom Krieg zerstörtes Land voller Friedhöfe, Schützengräben, verlassener Befestigungen und meilenlanger Strecken von Stacheldrahtverhauen.
In Riga wurden wir in Viehwagen geladen und auf der Fahrt bis zur Grenze von lettischen Soldaten bewacht. Als wir dann aber die russische Grenze passierten, ertönten laute Hurra-Rufe und der Gesang der „Internationale". Der Zug bewegte sich wie durch ein rotes Flammenmeer. Rote Banner, rote Fahnen, rote Tücher wurden durch die Luft geschwenkt. Auf der Grenzstation bestiegen wir den Zug nach Moskau. Als wir in der alten Stadt ankamen, die jetzt wieder die Hauptstadt Russlands ist, wurden wir am Bahnhof empfangen und sofort ins Hotel gefahren. Eine der ersten Fragen, die an mich gerichtet wurde, war die Michael Borodins, ob ich in den Kreml gehen wolle. Leider war mir das nicht sofort möglich, da mein Zustand sich sehr verschlechtert hatte und ich dringend der Ruhe bedurfte.
Nach einigen Tagen wurde dann eine Unterredung mit dem Genossen Lenin vereinbart.
Es ist nicht meine Absicht, den Eindruck seiner Persönlichkeit oder unser Gespräch näher zu schildern. Ich möchte diese Aufzeichnungen nur mit der Wiedergabe einer Frage und einer Antwort aus unserem Gespräch schließen.
Ich fragte Genossen Lenin, ob die Industrie der Sowjetrepublik von den Arbeitern geleitet und verwaltet werde.
Seine Antwort war: „Jawohl, Genosse Haywood, das ist Kommunismus."

 

Haywoods letzte Jahre in der Sowjetunion

Die Leser der Aufzeichnungen „Big Bills" wissen aus seiner eigenen Feder, dass er beim Verlassen der Vereinigten Staaten von Amerika ein schwerkranker Mann war. Dass seine Krankheit eine Folge des unerhört harten Lehens im Zuchthaus war, oder doch zum mindesten stark durch die Haft verschlimmert wurde, unterliegt keinem Zweifel. Alle, die ihn nach der Entlassung aus dem Zuchthaus sahen, mussten die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes feststellen. Die Zeit vor der Abreise aus New York verbrachte er im Hause eines befreundeten Arztes, der die Sorge für den Schwerkranken übernahm.
Kurz nach der Ankunft Haywoods in Moskau besserte sich das Allgemeinbefinden ein wenig. Doch nicht für allzu lange Zeit. In wenigen Jahren zerrüttete die Krankheit seine Lebenskräfte. Das fortschreitende Leiden war auch nicht ohne Einfluss auf die Entstehung des vorliegenden Werkes. Es ist in manchen Teilen skizzenhaft geblieben, andere Teile wieder zeichnen sich durch große Ausführlichkeit aus - je nachdem, wie des Kranken Befinden in körperlicher und geistiger Beziehung war. Leider hat Haywood nicht einmal mehr Gelegenheit gehabt, das Manuskript selbst durchzusehen - geschweige denn die von ihm beabsichtigte Niederschrift einiger zusätzlicher Kapitel über sein Leben und seine Arbeit in der Sowjetunion zu beginnen. Darum soll einem Freunde und Mitarbeiter des verstorbenen Kameraden und Genossen das Wort gegeben werden, um in wenigen Zeilen die letzten Lebensjahre William D. Haywoods, des „Großen Bill", in der Sowjetunion zu schildern.
Haywood wurde von den russischen Massen und von den Führern der Kommunistischen Partei als ein alter bewährter Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse willkommen geheißen. Wo immer er erschien, wurde er mit begeistertem Beifall empfangen. Mit Stolz trug er eine Medaille, die ihm als einem revolutionären Helden überreicht worden war und die auch auf seiner Brust lag, als er entschlafen war und im Sarge ruhte. Haywood betrachtete sich selbst als einen politischen Emigranten, „bis zur Revolution in Amerika". Sorgfältig und mit großem Interesse verfolgte er bis an sein Lebensende alle Einzelheiten der Entwicklung der amerikanischen Arbeiterbewegung. Er schrieb zahlreiche Artikel für die Presse; besonders die Moskauer Zeitungen waren ständig hinter ihm her, um seine Meinung über Ereignisse in Amerika zu erfahren. Seine Wohnung im Hotel Lux war ein Anziehungspunkt für alle amerikanischen Arbeiter, die Moskau besuchten. Mit ihnen diskutierte Haywood über alle sie und ihn selbst bewegenden Probleme. Viele Stunden kameradschaftlicher Geselligkeit verflogen im Nu. Es kam nicht selten vor, dass das Morgenrot bereits über den Türmen der alten Stadt leuchtete, wenn die Besucher ihn verließen. Seine Räumlichkeiten wurden aber auch von anderen mit Vorliebe aufgesucht: von den Kindern, die in den Gängen des Hotels umhertollten. Ganze Nachmittage konnten sie in Gesellschaft „Bolschoi Bills" verbringen, der sie mit Süßigkeiten bewirtete und sie mit kleinen Geschichten ergötzte. Er erzählte sie ihnen auf russisch, obwohl er die Sprache nie ganz meisterte. Er heiratete eine sowjetische Genossin und lebte friedlich in Moskau. Viel Vergnügen bereitete ihm immer wieder die Lektüre der amerikanischen kapitalistischen Presse, die in ihren Spalten sehr oft Berichte über angebliche „Verfolgungen Haywoods durch die Roten" und über seine „Flucht durch die Schneesteppen nach der Türkei" brachte. Immer ein Mann der Tat, wünschte er mit Hand anzulegen beim Wiederaufbau der durch Krieg und Konterrevolution zerstörten Wirtschaft. Kurz nach seiner Ankunft in der Sowjetunion, im Jahre 1921, nahm er an den Arbeiten des Organisationskomitees der Kusnezker Kolonie teil. Das Projekt betraf die Wiedereröffnung und Inganghaltung der Industriebetriebe im Kusnezker Becken, etwa tausend Meilen östlich des Urals in der Nähe der Stadt Tomsk.
Niemals vergaß der alte Kämpfer seine von der Klassenjustiz in den Vereinigten Staaten verfolgten und gemarterten Kameraden und Genossen. Sofort nachdem er die Arbeit für das Kusbass aufgegeben hatte, begann er aufs rührigste in der „Mopr", der russischen Sektion der Internationalen Roten Hilfe, zu wirken. Im Auftrage der „Mopr" reiste Haywood im ganzen Lande umher und verbreitete die Kenntnis über das Schicksal Mooneys und Billings', der Opfer der Centralia-Tragödie, der vielen anderen IWW-Gefangenen wie auch aller übrigen Opfer der „Gesetze gegen verbrecherischen Syndikalismus". Auch als politischer Emigrant hielt er seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der USA aufrecht, und sein Interesse an den Vorgängen in den Vereinigten Staaten erlahmte nie. Andererseits konnte er nie genug die Fortschritte der Sowjetwirtschaft rühmen. Mit welchem Eifer konnte er seinen Besuchern den ungeheuren
Kontrast zwischen dem von Hungersnot und Ruin bedrohten Land, das er bei seiner Ankunft antraf, und dem nunmehr überall geschäftigen Leben in den Läden und Betrieben des Staates und der Genossenschaften schildern! Er konnte seiner Genugtuung über den Maschinenlärm der Fabriken und über die starke Bautätigkeit gar nicht deutlich genug Ausdruck geben. Mit großer Aufmerksamkeit hörte er allen zu, die zu ihm mit Klagen und mit Bedenken über die Entwicklung in der Sowjetunion kamen. Haywood erinnerte sie an das unverkennbare Wachstum des sozialistischen Sektors der Sowjetwirtschaft und verwies auf die Bedeutung, die dieser Tatsache im Kampf gegen den Weltimperialismus zukomme. Unbelehrbaren aber pflegte er zum Schluss ärgerlich zu sagen, dass sie wahrscheinlich zu lange in der Sowjetunion gelebt hätten und lieber dahin zurückkehren sollten, woher sie gekommen seien, „um eine frische Probe des Kapitalismus am eigenen Leibe zu spüren". Im März 1928 bereitete sich Haywood zur Teilnahme an dem Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale vor, dem er auch in früheren Jahren beigewohnt hatte. Er bedauerte, dass er der Eröffnungssitzung, die für den 17. März anberaumt war, nicht beiwohnen könne, da er am gleichen Abend im Auftrage der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, deren Mitglied er eben geworden war, auf einer Gedenkfeier zu Ehren der Pariser Kommune sprechen sollte. Er konnte an keiner der beiden Veranstaltungen teilnehmen. In der Nacht zum 16. März erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich erst nach dreiwöchiger Behandlung durch die hervorragenden Ärzte des Kreml-Krankenhauses erholte. Die gute Pflege und sein erstaunlicher Lebenswille trugen dazu bei, dass er noch einmal in seine Wohnung zurückkehren konnte. Seine Gedanken beschäftigten sich sofort wieder mit der Arbeiterbewegung. Er empfing viele der immer noch in Moskau weilenden Delegierten zum Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale, mit denen er eingehend die auf dem Kongress diskutierten Probleme und die dort gefassten Beschlüsse besprach. Doch ganz plötzlich traf ihn ein neuer Schlag, von dem er sich nicht wieder erholen sollte, obwohl er sofort ins Krankenhaus übergeführt wurde. Am 18. Mai 1928 schloss „Big Bill" seine Augen. An den Bestattungsfeierlichkeiten nahmen außer der ganzen Kolonie der amerikanischen Arbeiter viele Delegationen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und zahllose Abordnungen von Organisationen der internationalen Verbände, der Kommunistischen Internationale, der Roten Gewerkschaftsinternationale und der Internationalen Roten Hilfe teil. Sein Körper wurde den Flammen übergeben und ein Teil seiner Asche an der Kremlmauer auf dem Roten Platz beigesetzt. Die andere Hälfte der Asche William D. Haywoods hegt, so wie er es gewünscht hatte, auf dem Waldheim-Friedhof in Chicago, nahe bei den Gräbern der Haymarket-Märtyrer, deren Geschichte so gewaltig sein ganzes Leben und seine ganze Arbeit im Dienste des Kampfes für die Befreiung der Arbeiterklasse beeinflusste.

 

Nachwort

Schwer sind die Opfer, die die internationale Arbeiterbewegung in den anderthalb oder zwei Jahrhunderten seit der Herausbildung der kapitalistischen Gesellschaft gebracht hat. Mit grausigen Blutbädern beginnt ihre Geschichte: mit dem Gemetzel von Peterloo 1819 in England, der Niederwerfung der Weberaufstände von Lyon 1881 und 1834 in Frankreich, dem Terrorregime der preußischen Pickelhauben nach dem Aufstand der schlesischen Weber von Langenbielau und Peterswaldau 1844 zieht sich in der kapitalistischen Welt der ununterbrochene Blutstrom bis in unsere Zeit. Aber jedes dieser Daten bedeutet zugleich eine historische Stufe in der Entwicklung der modernen Arbeiterbewegung. Überall war die Ausbeutung gleich hart, und überall waren die Arbeiter vom Genuss der bürgerlichen Rechte ausgeschlossen. Alle ihre Kämpfe richteten sich in gleicher Weise gegen die harte Ausbeutung und für bürgerliche Gleichberechtigung vor dem Gesetz. Erst in diesen Kämpfen entwickelte sich ein echtes Klassenbewusstsein, das die hemmenden Schranken der alten Zünftlerei und den trügerischen Glauben an eine Gerechtigkeit für alle zerriss.
Schon 1844 konnte Karl Marx schreiben: „Der schlesische Aufstand beginnt grade damit, womit die französischen und englischen Arbeiteraufstände enden, mit dem Bewusstsein über das Wesen des Proletariats. Die Aktion
selbst trägt diesen überlegenen Charakter." (Anm.: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 1, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 404.) Doch das schwerste Hindernis war und blieb die Isolierung der einzelnen Kämpfe und Kämpfer, die sich ebenso in der lokalen Beschränktheit der einzelnen Aktionen, wie in der berufsständischen Abkapselung der Gewerkvereinigungen (Trade-Unions) ausdrückte. Solange noch eine politische Partei des Proletariats fehlte, die den Klassenkampf bejahte und unter Ausnutzung aller gesetzlichen Mittel die Arbeiter im politischen Kampf auch über die Schranken der bürgerlichen Gesetzlichkeit hinaus leitete, blieb die Arbeiterschaft führerlos und musste in jedem entscheidenden Kampf den Machtmitteln der Bourgeoisie unterliegen. Die Voraussetzungen, auf denen die moderne Arbeiterbewegung geschaffen werden konnte, bildeten sich zwischen der ersten industriellen Revolution in England und der deutschen bürgerlichen Revolution von 1848. In dieser Zeit trat das Proletariat fast gleichzeitig in England, Frankreich und Deutschland als selbständige Klasse mit eigenen Forderungen auf. In den Vereinigten Staaten von Amerika konnte sich die Arbeiterbewegung nur mit der wirtschaftlichen, das heißt kapitalistischen Entwicklung des Landes entsprechend entfalten. Im am weitesten entwickelten Osten, dem Gebiet der dreizehn alten Bundesstaaten, wo es eine für ihre Zeit bereits hoch entwickelte Industrie gab, entstanden die ersten „National Trade Unions" bereits 1834, führten aber nur ein kümmerliches Dasein. Selbst in den eigentlich industriellen Nordstaaten konnte von der Entstehung eines wirklichen amerikanischen Proletariats vor dem amerikanischen Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten nicht die Rede sein. Auch die wenigen Revolutionäre, die nach dem Zusammenbruch der deutschen Revolution von 1848/1849 nach Amerika auswanderten, blieben im industriellen Norden. Viele von ihnen kämpften an der Seite der fortgeschrittensten Amerikaner im Bürgerkrieg mit und halfen so, die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft und damit einer spezifisch amerikanischen Arbeiterbewegung zu schaffen. 1857 gründete der deutsche Kommunist F. A. Sorge, bekannt durch den umfangreichen Briefwechsel, den er mit seinen alten Freunden und Kampfgenossen Karl Marx und Friedrich Engels führte, den Communist Club, in dem sich meist deutsche Emigranten trafen. Die Internationale Arbeiterassoziation hatte auch in den Jahren nach dem Bürgerkrieg nur eine geringe Mitgliederzahl in den Vereinigten Staaten und löste sich bekanntlich bereits kurze Zeit nach ihrer Verlegung nach New York, 1876, auf Anraten von Marx auf.
Wie Marx bereits in dem noch im Jahrzehnt des Bürgerkrieges erschienenen ersten Bande des „Kapital" schrieb, blieb „in den Vereinigten Staaten von Nordamerika jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete. Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird. Aber aus dem Tod der Sklaverei entspross sofort ein neu verjüngtes Leben. Die erste Frucht des Bürgerkriegs war die Achtstundenagitation, mit den Siebenmeilenstiefeln der Lokomotive vom Atlantischen Ozean bis zum Stillen Ozean ausschreitend, von Neuengland bis nach Kalifornien. Der allgemeine Arbeiterkongress zu Baltimore (16. Aug. 1866) erklärte: ,Das erste und große Erheischnis der Gegenwart, um die Arbeit dieses Landes von der kapitalistischen Sklaverei zu befreien, ist der Erlass eines Gesetzes, wodurch 8 Stunden den Normalarbeitstag in allen Staaten der amerikanischen Union bilden sollen. Wir sind entschlossen, alle unsere Macht aufzubieten, bis dies glorreiche Resultat erreicht ist.'" (Anm.: Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 315.) So optimistisch die Resolution dieses Kongresses war: der Kampf begann erst. Zwar waren die Sklaven jetzt nach der Verfassung frei - frei nämlich für die kapitalistische Ausbeutung und damit als neuer Motor eines industriellen Aufschwungs, wie ihn die Welt bis dahin noch nicht erlebt hatte. Aber ihr Kampf um Gleichberechtigung ging weiter - bis weit in die Reihen der Arbeiterbewegung hinein.
Auch die territoriale wirtschaftliche Erschließung der Vereinigten Staaten wurde erst nach dem Bürgerkrieg zu Ende geführt. Von den drei großen wirtschaftsgeographischen Gebieten, in die nach W. I. Lenin die Vereinigten Staaten zerfallen - dem industriellen Osten, dem ehemals sklavenhaltenden Süden und dem noch im Zustand der Kolonisation befindlichen Westen -, sollte das letzte, der Westen, erst jetzt zur vollen ökonomischen Entfaltung kommen. Es war das Eldorado der Nichteisenerze mit seinen riesigen Vorräten an Edel- und Buntmetallen. Um ihre Besitznahme und Ausbeutung entbrannten blutige Kämpfe - zugleich Klassenkämpfe von selten erlebter Brutalität, kaum weniger grausam als die letzten Ausrottungsschlächtereien gegen die aus ihren Stammessitzen verdrängten Indianer - deren letzte noch in die Lebenszeit Bill Haywoods fallen. Die Zeit der Pioniere des „Far West", des fernen freien Westens, wie dieses endlich entdeckte Eldorado, das über dreihundert Jahre gesuchte Goldland des vierten Erdteils genannt wurde, verliert beim Studium ihrer Sozialgeschichte viel vom Nimbus der Großartigkeit, mit
dem die Apologeten des Kapitalismus diese letzte Etappe einer „ursprünglichen Akkumulation" umstrahlt hatten. Gigantisch war nur die Brutalität, die Skrupellosigkeit, mit der die Antreiber, die wirtschaftlichen und politischen Bosse dieser Exploitierung, die echten Pioniere, nämlich die Arbeiter, anpeitschten, ausquetschten und oft genug in den sicheren Tod hetzten. Um so großartiger erscheint auch hier die Schnelligkeit, mit der sich dieses noch meist blutjunge Proletariat zu mächtigen Klassenschlachten erhebt. Zwei Jahrzehnte nach der Entdeckung der kalifornischen Goldgruben, dem „wichtigsten Faktum, das sich hier ereignet hat, wichtiger noch als die Februarrevolution" - wir zitieren hier und im folgenden Karl Marx im zweiten Heft der „Neuen Rheinischen Zeitung - Politisch-ökonomische Revue" vom Januar/Februar 1850 - „zeigen sich bereits die unheilbaren Widersprüche dieses amerikanischen Neukapitalismus in vollster Blüte". „Achtzehn Monate lang", schrieb Marx in genanntem Artikel, „sind die kalifornischen Goldminen entdeckt, und schon haben die Yankees eine Eisenbahn, eine große Landstraße, einen Kanal vom Mexikanischen Busen in Angriff genommen... schon konzentriert sich der Handel des Stillen Meeres in Panama, und die Fahrt um Kap Horn ist veraltet. Eine Küste von 30 Breitengraden Länge, eine der schönsten und fruchtbarsten der Welt, bisher so gut wie unbewohnt, verwandelt sich zusehends in ein reiches, zivilisiertes Land, dicht bevölkert von Menschen aller Stämme, vom Yankee zum Chinesen, vom Neger zum Indianer und Malaien, vom Kreolen und Mestizen zum Europäer." (Anm.: Marx/Engels: Werke, Bd. 7, S. 220.) Ein mächtiger Strom von Einwanderern erschloss jetzt auch die riesigen Bergwüsten der Rocky Mountains. Mit unter den ersten waren die Sektierer der
„Heiligen der jüngsten Tage", geschäftstüchtige Kleinbürger, Händler und Handwerker, deren besondere Anziehungskraft die zuerst empfohlene, bald nur erlaubte, später verbotene Vielweiberei bildete. Die von ihnen nach längerem Suchen gegründete Stadt, Salt Lake City, wurde bald das Zentrum der neu erschlossenen Erzgebiete der Vereinigten Staaten, die zu den mächtigsten Vorkommen der Erde gehörten. Zu den Sektierern kamen Arbeit und schnellen Verdienst suchende Zuwanderer entlang der großen Ost-Weststraße, denen schnell die Trasse der transamerikanischen Eisenbahn folgte. Wie auf das kalifornische Gold stürzten sich auch in den Rocky Mountains die Prospektoren auf die jedem Zugriff offen stehenden Minen. Noch bis in die siebziger und achtziger Jahre hinein glaubten viele von denen, die diese Gruben mit ihren Händen erschlossen hatten, sich als freie Bergknappen auf eigenem Grund fühlen zu können - so brutal auch der schnell aufholende amerikanische Kapitalismus seine Hand bald auch nach dem kleinsten Streubesitz ausstreckte.
Primitiv wie die Räubereien des Pionierkapitalismus waren auch die ersten Versuche der Arbeiterschaft, sich eigene Kampforganisationen zu schaffen. Sie waren Ausdruck des Willens, sich, sei es wie immer, zur Wehr zu setzen gegen die Brutalität der Ausbeutung, aber noch längst nicht der Ausdruck echten Klassenbewusstseins. Es fehlten alle Erfahrungen, die sich die Arbeiter Europas schon erworben hatten. Was aber der Entwicklung der amerikanischen Arbeiterbewegung ihre eigenartige, für uns oft unverständliche Richtung gegeben hat, ist vor allem die Entwicklung des Kapitalismus in den Vereinigten Staaten. Es war, bei aller Brutalität, ein junger, revolutionärer, voranstürmender Kapitalismus, der später als der europäische geboren wurde und dennoch als erster in das monopolistische Stadium eintrat. Bis spät in das 19. Jahrhundert hinein dauerte noch die Erschließung des eigenen weiten Territoriums an. Unter diesen Umständen war es immer wieder möglich, dass sich einzelne amerikanische Arbeiter im Westen als selbständige Farmer, Geschäftsleute oder Gastwirte ansiedeln konnten oder als gut bezahlte Facharbeiter geachtete Bürger ihrer Stadt wurden. Die Reihen des Proletariats wurden ständig durch den Strom der Einwanderer aus allen europäischen Ländern aufgefüllt, die eine starke Fluktuation in die amerikanische Arbeiterklasse brachten und zudem die verschiedenartigsten Auffassungen und Tendenzen hineintrugen. Dass gerade syndikalistische Tendenzen mit einer Abneigung gegen eine straff organisierte, disziplinierte Organisation und einer Überbetonung der „direkten Aktion", besonders des Generalstreiks, einen starken Anklang bei den Arbeitern fanden, ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich.
Ein solches Sammelbecken verschiedenster Auffassungen und Tendenzen war die Organisation der Ritter der Arbeit in den siebziger und achtziger Jahren, die Friedrich Engels 1887 im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe seiner berühmten Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" als die für den gegenwärtigen Stand der Bewegung „typischste Abteilung" charakterisierte, „weil sie die zweifellos weitaus stärkste ist. Eine gewaltige Vereinigung, verbreitet über ein gewaltiges Gebiet des Landes, in zahllosen Versammlungen', alle Schattierungen individueller und lokaler Meinungen innerhalb der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringend; das ganze unter einer Plattform von entsprechender Unbestimmtheit und zusammengehalten weniger durch ihre unpraktizierbare Verfassung als durch
das bestimmte Gefühl, dass ihr festes Zusammenstehen für ihr gemeinsames Streben sie zu einer größeren Macht im Lande macht; eine echt amerikanische paradoxe Verkleidung modernster Tendenzen im mittelalterlichsten Mummenschanz und das Verstecken des demokratischsten und selbst rebellischsten Geistes hinter einem scheinbaren, in Wirklichkeit aber machtlosen Despotismus -das ist das Bild, das die Ritter der Arbeit dem europäischen Beobachter darbieten. Aber wenn wir uns nicht verwirren lassen von bloß äußerlichen Wunderlichkeiten, so können wir nicht anders, als hierin die gewaltige Zusammenballung einer gewaltigen potentiellen Energie sehen, die sich langsam aber sicher zu einer wirklichen Kraft entwickelt. Die Ritter der Arbeit sind die erste nationale Organisation, geschaffen von der amerikanischen Arbeiterklasse als einem Ganzen; welches immer ihr Ursprung und ihre Geschichte, welches auch ihre Mängel und kleinen Absonderlichkeiten, wie auch ihre Plattform und ihre Verfassung sein mögen..." (Anm.: Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 382/383.) Als Friedrich Engels das schrieb, war der Stern der Ritter der Arbeit allerdings schon im Sinken. Eben die von Engels charakterisierte Vielfalt der Meinungen und Unbestimmtheit der Plattform brachte es mit sich, dass immer mehr der Arbeiterklasse fremde, ja sogar feindliche Elemente in die Organisation eindrangen und sich der Führung bemächtigten. In der Organisation entstanden unüberbrückbare Widersprüche, einmal zwischen der kämpferischen Mitgliedschaft und der kompromissbereiten Führung, die schon mehr als einen großen Streik abgewürgt hatte, und zum anderen zwischen einem gewerkschaftsfreundlichen und einem gewerkschaftsfeindlichen Flügel. Die Arbeiter strömten der jungen AFL (American Federation of Labor) zu, die mit ihrem klar definierten Programm gewerkschaftlicher Forderungen ihren Interessen besser entsprach. Schon zu Anfang der neunziger Jahre hatten die Ritter der Arbeit jede Bedeutung eingebüßt.
Freilich zeigte es sich nur zu bald, dass auch von der AFL nicht ein wirklicher Kampf für die Rechte der Arbeiter, geschweige denn für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, zu erwarten war. Die nach Fachverbänden gegliederte AFL wurde unter der Führung ihres Gründers, Samuel Gompers, zum Typus der den Klassenkampf aufgebenden, die Rechte der Arbeiter an den meistbietenden der herrschenden Parteien verkaufenden „wirtschaftsfriedlichen" Gewerkschaft, die die reaktionärsten und chauvinistischsten Forderungen der herrschenden Klasse verteidigte.
In den Grubengebieten des Westens gaben sich indessen die Bergarbeiter mit dem reaktionären Kurs der AFL nicht zufrieden. Aus den Trümmern der alten Ritter der Arbeit entstanden neue Verbände, Industriegewerkschaften, wirkliche Kampforganisationen, die nach dem Willen der Arbeiter fähig sein sollten, der skrupellosen Ausbeutung durch die Unternehmer Widerstand zu leisten. Sie waren es, die die alte, 1886 in Chicago erhobene Forderung nach dem Achtstundentag übernahmen und weit darüber hinaus bereit waren, für die Rechte der Arbeiterschaft zu kämpfen. Auch sie traten, wie die Ritter der Arbeit, für die Rechte der arbeitenden Frauen, für die ungelernten Arbeiter und für die Gleichberechtigung der Negerarbeiter ein, während die AFL die beitragsstarken hochqualifizierten „Arbeiteraristokraten" bevorzugte, sich immer mehr den bürgerlichen Parteien unterordnete und mit den Bossen der Wallstreet im Landesbürgerbund, einer ausdrücklich zur Unterdrückung jeden Klassenkampfes geschaffenen reaktionären Propagandaorganisation, zusammenarbeiteten. William D. Haywood, der Revolutionär, wurde Mitglied der Bergarbeiterföderation des Westens, die zu den am besten organisierten und kämpferischsten Industriegewerkschaften jener Tage gehörte und weit über den Westen hinaus Anklang fand. Sie führte zahlreiche, oft erfolgreiche Streiks und Massenaktionen durch und war ein von den Kapitalisten und ihren Söldnern gefürchteter und gehasster Gegner.
Im Jahre 1905 schlossen sich, wohl nicht unbeeindruckt vom Ausbruch der russischen Revolution, die aktivsten Industrieverbände der Vereinigten Staaten zur Einheitsorganisation der Industriearbeiter der Welt (Industrial Workers of the World - IWW) zusammen. Sie hatten erkannt, dass in einer Zeit, in der sich die Unternehmer zu großen Monopolverbänden zusammenschlossen, die zersplitterten Fachverbände als Kampfinstrument der Arbeiterklasse nicht mehr ausreichten, sondern dass die Arbeiter, in großen Industriegewerkschaften vereint, gemeinsam zuschlagen mussten. Die IWW waren eine kämpferische, klassenbewusste Organisation, die bedingungslos für die Sache der Arbeiterklasse eintrat. Nur so konnten sie die großen Siege erringen, von denen Bill Haywood schreibt. Lenin charakterisierte sie 1920 in seinen „Thesen über die Hauptaufgaben des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale" als eine „durch und durch proletarische Massenbewegung ... , die tatsächlich im wesentlichen auf dem Boden der Grundsätze der Kommunistischen Internationale steht". Die IWW waren bei ihrer Gründung eine sozialistische Organisation, begannen aber bald danach, sich in anarchosyndikalistischem Sinne zu entwickeln. Die Folge davon war eine ganze Reihe von Fehlern, die sich schließlich auf die weitere Entwicklung verhängnisvoll auswirkten. Die Hauptfehler, die auch Lenin in seiner Schrift „Der ,linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus" kritisierte, waren ihre entschiedene Weigerung, an bürgerlichen Parlamenten teilzunehmen und in den reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten. Sie lehnten jede Zugehörigkeit zu einer politischen Partei ab und glaubten, auf dem Wege des Generalstreiks ein „industrielles Gemeinwesen" schaffen zu können. Sie verließen sich in den gewerkschaftlichen Kämpfen ausschließlich auf die „direkte Aktion", den Generalstreik, der oft ungenügend vorbereitet ausgerufen wurde. Dazu kamen Unduldsamkeit in Religionsfragen und gegenüber anders denkenden Gewerkschaftskollegen und in organisatorischer Hinsicht ihre anarchistische Dezentralisation. Auf diese Fehler ist es zurückzuführen, dass die IWW der Unternehmeroffensive nach dem ersten Weltkrieg nicht standhalten konnten. Die besten aus ihren Reihen, unter ihnen William D. Haywood, fanden den Weg in die 1919 gegründete Kommunistische Partei der USA.
I. M. Lange