Es war drei Uhr nachmittags, als sich die Schulen auf dem Rathausplatz versammelten. In langen, geordneten Zügen, an der Spitze Pfeifer und Trommler, zogen sie über die Brücken des Tals nach der Innenstadt zu.
Die Kinder sangen. Sie trugen Papierfähnchen in den Farben der Republik und des württembergischen Landes. Die Trommeln wirbelten, und es pfiffen die Pfeifen.
Girlanden und Fahnen erhöhten das natürliche, bunte Spiel der Lüfte. Musik und Gesang und das Lachen der Jugend drangen in dichtem Zug den Hügel hinauf, vorbei an der Stadtkirche, vorüber an den Fassaden des Barocks, und blickte man von der Bastion aus, die den Hügel krönte, auf das Land, stand es in der reifen Pracht eines seltenen Sommers. In leichten Terrassen stiegen die Weinberge hoch. Karminrot schimmerte ihre Erde. Das ewige Band der vielfarbigen Äcker schlang sich über das Land. Fast unbeweglich unter der Last ihrer Früchte standen die Bäume. Über dem Fluss spielte das Licht in verliebter Bläue, und der Himmel war wolkenlos und ohne Ende.
In die reifen Farben der Natur mischten sich die Fahnen. Sie flatterten von den Warttürmen an der Peripherie der Stadt. Sie wehten von den Pavillons auf den Höhen der Hügel. Sie glänzten an den Ufern des Flusses und vereinigten sich auf der Wiese, wo das weiße Rund des Stadions leuchtete, zu einem wehenden Wald.
Über die Brücken waren bunte Transparente gespannt. Stafetten der Turner in hellen Trikots liefen durch die Straßen. Radfahrvereine, die Speichen der Räder mit farbigem Papier umwickelt, radelten in dichten Schwärmen aus den Dörfern, Lastwagen mit Wein, Bier, Würsten und frischem Brot rollten nach der Festwiese zu, dazwischen klangen die Musikkapellen der anrückenden Vereine, der Gesang der Kinder, der Zuruf der Bürger — die Stadt lebte in den fruchtbaren Farben ihrer süddeutschen Kraft, und das Fest, das sie beging, war der 2. August des Jahres 1927.
Der Zug der Kinder hatte den Platz vor dem Rathaus erreicht. An der Spitze marschierten die Klassen des Gymnasiums, hundertzwanzig Knaben in weißen Trikots und blauen Kniehosen, exakt in der Ausrichtung, exakt in der Musik. Nach zwei kurzen Kommandos schwenkten die Reihen in eine Front, die starr und unbeweglich nach dem Rathaus zu stand.
Der Direktor Holzapfel, begleitet von zwei Herren seines Kollegiums, musterte die Mauer der Knaben. „Rührt euch!" Die Knaben rührten, indem sie ein
Bein vorstreckten. „Ein feiner Tag, erfrischend, das Windchen", sagte der Direktor Holzapfel zu seinen Kollegen.
Kaiserwetter nannte man das früher", lachte der Studienrat Voß.
Holzapfel blinzelte in die Sonne, strich sich den Hambacher Bart und steckte sich eine Zigarre an. Immer mehr füllte sich der Platz. Das Lyzeum zog ein. Hell leuchteten die Kleider der Mädchen in der Sonne des August, als blühten sie. Es folgten die Klassen der fünf Volksschulen, an der Spitze ein Musikkorps mit Trommeln, Pfeifen, Trompeten und einer Pauke.
Lange standen die Kinder. Von dem kleinen Turm des Rathauses schlug es vier Uhr, als plötzlich auf der oberen Bastion ein Trompetensignal erklang, dessen Echo aus dem Tal dreimal wiederkehrte. Die Lehrer sprangen vor die Züge. Trillerpfiffe und Händeklatschen geboten Ruhe. Kommandos richteten die Reihen. Auf dem Fell der Trommeln lagen die Schläger zum Wirbel bereit. Die Schmalseiten der Pfeifen waren an die Lippen gepresst — da krachten vom Tal her drei Böller, und über das Dach des Rathauses stieg die Fahne der Republik. Dumpf schlug die Pauke an, es rollten die Wirbel der Trommeln, es ertönten die Pfeifen, es schmetterten die Hörner, hoch über den Trupps flatterten die Fahnen. Unter den Klängen eines Marsches setzte sich der Zug in Bewegung.
„Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst...", eine bunte Schlange singender Kinder bog ein in die schattigen Straßen der Altstadt.
Unten lag das Tal, blitzend im Licht. Uber den Fluss fuhren bewimpelte Kähne. In den Weinbergen krachten die Böller, und über die Pracht des Landes schwebte, einer hellen Wolke gleich, der Gesang der Jugend. „O Heimat, o Württemberg..." dachte da, überwältigt von dem Antlitz der Natur und dem Rausch der Farben, der Direktor Holzapfel an der Spitze seiner Prima.
Längst hatte der Festzug der Kinder das Tal erreicht, als durch das Portal des Rathauses, gefolgt von dem Magistrat und der Mehrzahl der Stadtverordneten, der Oberbürgermeister den Platz betrat. Prätorius stand still. Seine schweren, dunklen Augen blinzelten mühsam in die Sonne. Er atmete tief. Aber sein Gesicht blieb grau.
„Dr. Kalahne", sagte er, „ist dafür gesorgt, dass die Straßen für die Durchfahrt frei sind?" Der Sekretär Dr. Kalahne, zur Linken des Oberbürgermeisters stehend, verbeugte sich: „Es ist dafür gesorgt, Herr Oberbürgermeister. Sobald der letzte Zug in das Stadion eingeschwenkt ist und dort Aufstellung bezogen hat, geht ein Böller los, zum Zeichen, dass die Durchfahrt frei ist."
Der Oberbürgermeister schwieg. Welch eine Luft, dachte er. Welche Farben!
Die Stadtverordneten nahmen in den Autobussen Platz. Nach Fraktionen geordnet saßen sie auf den Polstern. Hinter den Wagen stand eine halbe Hundertschaft berittener Polizei.
Der Oberbürgermeister, ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, Abkömmling einer reichen Hugenottenfamilie, seit zwanzig Jahren im Dienst dieser
Stadt, württembergischer Demokrat, ein Freund Friedrich Naumanns, Hauptmann der Reserve, Doktor zweier Grade, zögerte, den Wagen zu besteigen.
Warten wir, bis der Böllerschuss kommt", sagte er zu Dr. Kalahne. Der Sekretär verbeugte sich. Prätorius ging ein paar Schritte nach rechts. Vor ihm lag das Grün des Rathausgartens. Prätorius ging durch das Tor. Blutbuchen und Silberpappeln bestanden den Rasen. Ein alter, längst verschütteter Ziehbrunnen aus rotem Sandstein, mit ungehobelten Brettern überdeckt, lag in der Mitte des Gartens. Buchs fasste die Wege ein. Steil fiel die Mauer ab, nach der Altstadt zu, achtzehn Meter. Prätorius sah auf das Tal. Er atmete tief. Er fühlte sich schlecht. Sollte er absagen? Streikte nicht das Herz? Aber dort warteten sie auf seine Rede, auf die Eröffnung des neuen Stadions. Seine Rede... Prätorius lachte laut auf. Zehn eng beschriebene Bogen waren es, die der Oberbürgermeister als Rede für den Verfassungstag, der mit der Einweihung des neuen Stadions gekrönt werden sollte, ausgearbeitet hatte. Nicht viel und nicht wenig dünkte es Prätorius, als er seine Arbeit an jenem Abend überlas. Er war zufrieden mit sich gewesen. Die Sätze standen gut in jenem etwas umständlichen Deutsch, das er liebte. Aber es war ihm geglückt, so glaubte er, für die Jugend, vor der er zu sprechen hatte, das Bild der Verfassung freizulegen, so dass sie als das erschien, was sie war: der würdige Ausdruck der bürgerlichen Freiheit. Prätorius wusste, wie es um diese Jugend stand. Er sah ihre Fremdheit, mit der sie in diesen Staat hineinwuchs, ihre instinktive Ablehnung dessen, was sich heute Politik nannte: diese Mischung aus Unentschlossenheit, Schacher und Feigheit. Und keiner sah deutlicher als er, was es für diesen Staat bedeutete, wenn er die Jugend verlöre. Eigentlich, auch ihm lag nicht mehr viel an diesem Staat. Vier Jahre Abgeordneter im Parlament, acht Jahre Oberbürgermeister, dieser Kalvarienberg von Enttäuschungen hatte ihn geheilt. Aber er wusste, es stand mehr auf dem Spiel. Die Freiheit stand auf dem Spiel, die geistige und moralische Grundlage eines Jahrhunderts, der Traum von drei Generationen. Zerbrach dieses Fundament, dann zerbrach mit ihm eine Welt, und was nach ihr kam, war nicht mehr wert zu leben. Lange hatte er in seiner Bibliothek gesessen in jener Nacht und sich berauscht an den großen Vorkämpfern der Humanität. Und als er in seinem geliebten Heine diesen Satz aus der Reise nach England fand: „Wenn einst, was Gott verhüte, in der ganzen Welt die Freiheit verschwunden ist, so wird ein deutscher Träumer sie in seinen Träumen wieder entdecken", da hatte er ihn rasch als Motto vor seine Rede gesetzt als Trost vor dem Dunkel, das er herannahen spürte.
Als er im Magistrat die Arbeit vorlegte — sie bedurfte der Billigung, weil er im Namen der Stadt sprach —, erhoben sich die ersten Bedenken. In höflichen Worten meldeten die Fraktionen ihre Ansprüche an. Das Zentrum verlangte einen Passus über die christliche Schule und Familie. Die Sozialdemokraten verlangten ein deutliches Bekenntnis zum Pazifismus und zur Sozialpolitik. Die Handwerkerpartei interpellierte wegen des Mittelstands und gegen die Warenhäuser. Die Syndizi der Volkspartei forderten eine scharfe Ablehnung der Kriegsschuldlüge und eine gebührende Würdigung der Privatinitiative. Als jedoch der Freiherr von Iltzenstein, Kommandeur des Reichswehrbataillons, ihn durch einen Mittelsmann wissen ließ, dass er die Beteiligung der Reichswehrmusik von einer starken Betonung des Wehrgedankens und von einer deutlichen Verurteilung des Pazifismus abhängig mache, hatte Prätorius kurzerhand seine Bogen gepackt, sie in die Lade seines Schreibtisches geworfen und den Dr. Kalahne mit der Abfassung einer neuen Rede beauftragt.
Prätorius spürte sein Herz. Es war zu viel gewesen in den letzten Wochen. Er hätte dem Arzt gehorchen und in Bad Nauheim die Kur gebrauchen sollen. Grässlich, dieses leichte Sausen in den Ohren und diese Atemnot.
Und heute morgen wieder diese Attacke. Er hatte, wie er es gewohnt war, im Bibliothekszimmer sein Frühstück genommen zusammen mit Max, der in den Semesterferien zu Hause war. Nie hatte Prätorius es versucht, auf die Meinungen seiner erwachsenen Kinder entscheidenden Einfluss zu nehmen. Es widersprach seinen Prinzipien. Aber diesmal konnte er nicht an sich halten, dem Max einen Aufsatz aus der Frankfurter Zeitung — seiner Zeitung, die er über alles liebte — vorzulesen. In dem gepflegten und würdigen Deutsch, das ach so selten im Lande geworden war, wurde hier der Versuch einer Analyse der demokratischen Verantwortung unternommen, ohne jeden Leitartikelschwulst und ohne jedes literatenhafte Gespreize, getragen von einem Ethos, das an die beste Zeit des Bürgertums erinnerte. Dort stand, dass wahre Demokratie Männer von geistig untadeligem Wuchs voraussetze, Männer von hoher Moral und exemplarischer Lebensführung und dass die Freiheit nur erworben werde durch Selbstzucht des einzelnen. Nur ein Volk, dessen Erziehung hoch sei, wäre reif zur Demokratie, zur Selbstbestimmung. Deshalb habe alle Arbeit in der Erziehung zu liegen, dergestalt, dass man dem Menschen von Jugend auf sage: dein Beispiel ist gültig für alle. Gepackt von den Worten, die ihm vertraut waren von Elternhaus und Schule, hatte der Alte gelesen und über seine Backen war der Glanz einer verspäteten Röte gehuscht, als der junge Prätorius sich erhob, lächelnd zu seinem Vater ging, ihm gegen jede Gewohnheit die Haare streichelte und fast zärtlich zu ihm sagte: „Ach, Papa, das ist heute doch alles überlebt."
Lange sah Prätorius auf das Land. Unten auf der Wiese standen die weißen Karrees der Kinder. Sie warteten auf ihn. Doch was hatte er ihnen noch zu sagen? Ein Böller krachte. Dr. Kalahne stand im Garten. „Es ist gut", sagte Prätorius. Er ging zurück. Als er das Auto bestieg, schwindelte ihn. Während die Wagen der Stadtverordneten ins Stadion einfuhren, sangen die Kinder: „Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand. O Land voll Lieb und Leben, mein teures Vaterland..." Die Tribüne des neuen Stadions war mit Ehrengästen überfüllt. Prätorius nahm neben dem Rednerpult Platz. „Ein Glas Wasser", flüsterte er Kalahne zu. Man brachte es ihm.
Im Rund des Stadions zogen unter ihrem Lied die Turner auf. Im Takt klatschte die Menge mit. Prätorius fühlte Schweiß auf der Stirne. In seinen Händen lag das Manuskript. Wie das in seinen Ohren sauste! Ist es der Wind? Es wird kalt. Auch etwas dunkel. Von fernher klang die Musik. Heute Abend werde ich früh schlafen gehen, und morgen nehme ich acht Tage Urlaub.
Wer redet da? Ach ja, das ist Holzapfel vom Gymnasium. Ein guter Mensch. Was sagt er? Die Jugend sei unsere Zukunft. Sehr originell, Herr Direktor. Und jetzt? Carpe diem. O Carpe diem — nütze den Tag. Haben wir das getan? Nein! wollte Prätorius schreien, aber da klang das Hurra. Prätorius duckte sich. Angriff? dachte er. Hurra! Hurra! Musik. Prätorius erwachte. Da lag alles ganz nahe. Ich bin krank, sagte er. Dr. Kalahne erhob sich. Prätorius stand vor dem Pult. Die ganze Tribüne erhob sich. Neben ihm dieser böse Kalahne. Die Menschen werden immer böser. Was hat man davon, wenn man ihnen helfen will?
Was spielen sie da? Den Marsch kenne ich doch. Natürlich, 1914, schön war das. Viele Fahnen. Schluss! Was ist das für ein Papier? Ah, die Rede. Kalahne, ein Glas Wasser. Da schweigt die Musik. Alle starren mich an. Ich rede ja schon. Ja, das bin doch ich! Nicht wahr? Ich bin das, der da redet. Und dort sitzt der Stadtpfarrer. Und neben ihm der Iltzenstein. Und da ist das Stadion. Wie ich das nur aus dem Budget kriege. Was habe ich eben gesagt? „Friedlich, aber männlich ist unser Volk. Die Schmach des Versailler Vertrags trifft uns nicht." Was hat der eigentlich mit dem Stadion zu tun? Aber Kalahne wird's wissen. „Die christliche Familie, die ewigen Tugenden...", das war für das Zentrum. „Nie aber hätte unser Volk dieses geleistet ohne seinen gesunden Mittelstand und die herrliche Privatinitiative seiner Unternehmer. Weg mit feiger Unterwürfigkeit, weg mit der Knechtsgesinnung... Und so weihe ich dieses Stadion im Namen unserer Bürger, nehme es in Obhut zum Wohle der Jugend, zur Ehre unserer Stadt und zu Nutz und Frommen unseres Vaterlandes. Und so bitte ich alle Anwesenden, die Herren der Stadtvertretung, der Kirche, der Armee und alle Bürger, die hier festlich versammelt sind, und besonders unsere Jugend mit einzustimmen in den Ruf: Unser geliebtes Vaterland, es lebe hoch!"
Hoch! Hoch! Hoch! klang das Echo. Krampfhaft hielt sich Prätorius an den Leisten des Pults. Schatten flogen in Fetzen vor seinen Augen. Weit hörte er das Deutschlandlied. Als es verklungen war, ging er die Tribüne hinab. Kalahne schritt neben ihm. Prätorius sah die Gesichter als Schemen. Höflich lächelnd erreichte er den Wagen. „Nach Hause", flüsterte er. Er sank ins Polster, und als die Kinder, froh über das rasche Ende der Feier, zu den Wettkämpfen und Spielen ins Stadion eilten, richtete sich Prätorius dumpf gurgelnd hoch und schlug nach heftiger Verdrehung der Augen kopfüber auf die Querleiste, die den Sitz des Chauffeurs von dem Coupe trennte.
„Herr Oberbürgermeister", schrie der Sekretär Dr. Kalahne, „aber, Herr Oberbürgermeister!" Doch Prätorius antwortete nicht mehr.
Als die Nachricht vom Tode des Oberbürgermeisters das Stadion erreichte, wurde das Fest sofort abgebrochen. Die Fahnen der Stadt gingen auf halbmast. Gedämpft spielten die Kapellen das Lied vom guten Kameraden. Schweigend zogen die Kinder die Straßen zurück. Dumpf wirbelten die Trommeln. Die Polizeistunde wurde auf zehn Uhr abends festgesetzt.
Noch am Abend traten die Stadtverordneten zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Stehend hörten sie den Nachruf auf Prätorius an, den Stadtrat Schrader sprach. Einstimmig beschlossen sie das Ehrenbegräbnis.
Zwei Tage stand in der Halle des Rathauses der Sarg, eingehüllt in die Fahne der Republik. Am dritten Tag senkten sie ihn in das Grab. Und als die Erde fiel, sangen die Kinder: „So nimm denn meine Hände und führe mich — bis an mein selig Ende und ewiglich..." Die Schützen traten an das Grab. Die Salve rollte.
Die Stadt Siebenwasser zählt gegen fünfzigtausend Einwohner. Sie liegt in einem Seitental des Rheins, wenige Stunden vor der Mündung des Neckars. Um einen Hügel, der das Tal beherrscht, gruppiert sich der alte Teil. Sein mittelalterliches Profil ist unversehrt. Das rötliche Band der Mauer, von Toren und Warttürmen durchbrochen, umschließt die Häuser der eingesessenen Handwerker und die Bauten und Magazine des ausgestorbenen Patriziats. An jener Straße gelegen, die von den oberitalienischen Städten über Augsburg und Nürnberg nach Norden führte und den Orient mit den Plätzen der Hanse verband, hatte Siebenwasser bis zur Entdeckung Amerikas und der Verlagerung des Welthandels in die westatlantischen Staaten eine hohe Blüte erlebt. Als Mitglieder des Süddeutschen Städtebunds schlugen sich seine Bürger mit Fürsten und Bauern. Reichsunmittelbar entfaltete das Gemeinwesen seine Kraft weit über die Länder, seine Schecks und Geldverschreibungen hatten einen guten Namen, der weltläufige Sinn seiner Bewohner, deren Söhne in Italien als Kaufleute in die Lehre gingen, war ebenso beliebt wie die Güte ihrer Waren. Mit dem Dreißigjährigen Krieg erhielt die Stadt ihren entscheidenden Schlag. Zwei Drittel der Bevölkerung verfielen dem Mord oder der Pest. Das Patriziat starb aus. Schweden, Franzosen, Kaiserliche, Evangelische — sie alle plünderten und brannten im Namen des dreieinigen Gottes.
Bei Abschluss des Westfälischen Friedens zählte die Stadt kaum mehr als achthundert Seelen, die in sechzig Häusern hockten, elende, zerbrochene Menschen und grindige Kinder. Siebenwasser verlor seine Reichsunmittelbarkeit. Der Glanz seines Namens verblasste. Und die Mäuse und Ratten, die früher fett wurden in den Gelassen und Kellern der Magazine, flohen aufs Land. Die Stadt sank in den Kleinstaat und in die Hände der Herzöge von Württemberg. Sie bauten sie aus als einen Stützpunkt ihrer Bürokratie und ihres Militärs. So dämmerte Siebenwasser durch das achtzehnte Jahrhundert. Der Ausbruch der Französischen Revolution traf die Stadt in dem Zustand einer ohnmächtigen Idylle. Zwar lebte das Bewusstsein der vergangenen bürgerlichen Freiheit und Macht noch in den Gehirnen einiger heruntergekommener Handwerkerfamilien, aber fast zweihundert Jahre dynastischer Bürokratie hatten den Geist servil und die Seelen stumpf gemacht. Als sich dennoch aus der Bevölkerung, die inzwischen wieder auf dreitausend Seelen angewachsen war, achtzehn junge Männer erhoben und in der Nacht zum 14. Juli des Jahres 1790 auf dem Marktplatz einen Freiheitsbaum errichteten, wurde die Mehrzahl von ihnen gefasst und unter dem Hohn der Bevölkerung von den Bütteln des Herzogs auf den Hohen Asperg gebracht, wo sie verkamen. Nur zweien gelang die Flucht. Sie erreichten die französische Grenze, wurden Soldaten und marschierten mit in den Armeen der Revolution. Einer fiel bei Lodi, der zweite kam als hoher napoleonischer Offizier 1809 nach Siebenwasser zurück, wo er in seiner Husarenuniform von den Bewohnern angestaunt wurde, als sei er ein seltenes Tier. Von den Freiheitsbäumen sprach er nicht mehr, nur von dem Kaiser. Auch die Leute von Siebenwasser verehrten Napoleon. Hatte er doch aus ihrem Herzog einen König gemacht. Zwei Monate blieb der Offizier mit seinem Stab in der Stadt. Schockweise erlagen die Mädchen den Uniformen der Husaren. Es waren nicht die schlechtesten Kinder, die die Truppe zurückließ. Man nannte sie Napoleonstaler. Der Offizier kam nicht mehr nach Siebenwasser. Er machte den russischen Feldzug mit und erschoss sich in der Nacht der Abdankung des Kaisers in den Gärten des Schlosses Fontainebleau.
Nichts hatte den Johann Kaspar Bäuerle in seiner Jugend mehr erregt als die Geschichte dieses Großonkels. In dem kleinen, schmalbrüstigen Haus, das im Schatten der alten Mauer stand, war Johann Kaspar oft hinauf auf den Boden geschlichen. Dort stand die Kiste, die der Onkel zurückgelassen hatte. Ein alter, mit Blech ausgeschlagener Koffer. Zitternd hob das Kind den vermotteten Uniformrock ans Licht. Wie glänzten immer noch die
Schnüre! Wie rot waren die Troddeln! Und wie geheimnisvoll vornehm sah der Dreispitz aus in seiner gelben Seide. Lange saß der Junge auf dem Boden. Er roch an der Uniform, er spielte verzückt an den Troddeln, er streichelte die Litzen und die Schnüre, und er sah sie, die Reiter, wie sie hintrabten über die Erde, herrlich anzusehen im wiegenden Glück ihrer Sättel, und er sah den Onkel mit geneigtem Degen neben dem Schimmel des kleinen Kaisers. Stunden um Stunden verbrachte das Kind zwischen den Spinnweben und den verstaubten Kisten. Es hörte nicht auf die Ermahnungen der Mutter, die als Waschfrau bei den Beamten arbeitete und selten vor Sonnenuntergang nach Hause kam — es saß am Fenster und vor seinen Augen füllte sich das weiche, friedliche Tal mit blitzenden Uniformen, rauchenden Geschützen, flatternden Fahnen, und unter dem hellen Jubel der Clairons, dem jubelnden Zuruf der Truppen ritt durch den dünnen Nebel des Abends ein kleiner Mann, schweigend wie ein Gott. Erst wenn der Vater von der Fabrik nach Hause kam und betrunken in der Küche den Hund zu prügeln begann, schlich das Kind hinunter und zog seinem Vater die Stiefel aus.
Es war das Jahr 1880. Der neue Reichtum nach dem gewonnenen Krieg hatte auch die Stadt Siebenwasser verwandelt. Unten im Tal waren Fabriken entstanden. Neben dem Fluss zog sich das Schienenband der Bahn. Durch die linke Seite des Bergs hatten italienische Arbeiter einen Tunnel gebrochen. Rot schimmerten die Kasernen unterhalb der Weinberge. Neben der alten Steinbrücke mit ihren verwitterten Heiligen spannte sich eine Brücke aus Eisen. Auf der linken Seite des Flusses wuchs das Arbeiterviertel, wo in engen, schlecht gelüfteten Schlafstellen die überzähligen Bauernsöhne aus der Umgebung schliefen und Branntwein tranken. In der Form mittelalterlicher Schlösser, mit Schießscharten, Söllern und Wehrtürmchen auf dem Dach, standen die Villen der Fabrikanten abseits auf den zum Wald ansteigenden Wiesen.
Johann Kaspar Bäuerle war zwölf Jahre alt, als sie seinem Vater den Prozess machten. Der rothaarige, grobknochige Mann arbeitete als Lohntischler in der neuen Möbelfabrik. Zehn selbständige Handwerkergenerationen konnte die Familie aufweisen. Ihr Wappen stammte aus einer Zeit, da es für einen Mann noch unmöglich war, sich durch den Verleih von Geld die Arbeitskraft arbeitender Menschen zu kaufen, wie es jetzt die Aktionäre der Möbelfabrik taten — dumpf vor Wut und dem Trunk ergeben sah sich Amadeus Bäuerle den neuen Fabrikationsmethoden, gegen deren maschinelle Fixigkeit seine handwerkliche Solidität nicht aufkam, unterlegen. Freie Handwerker waren die Bäuerles seit Jahrhunderten — kein Fürst, kein Papst hatte ihren Sinn zu brechen vermocht. Jetzt kam die Maschine, und der Enkel eines alten Geschlechts musste zu Kreuze kriechen. Er musste in die Fabrik. Er war nicht mehr Herr seiner Arbeit. Amadeus Bäuerle besaß ein starkes Familiengefühl. In seiner alten Werkstatt, die jetzt als Küche diente, hingen an der weiß gekalkten Wand eingerahmte Blätter. Da war ein Zunftbrief aus dem Jahre 1580, nach dem es dem Christian Bäuerle, Meister des Tischlerhandwerks, erlaubt war, sechzehn Gesellen zu beschäftigen. Da hing eine Urkunde, in welcher der Herzog von Württemberg einem Bäuerle für die Lieferung „wonnig weicher Betten" ins Jagdschloss Belvedere dankte. Da hingen die Meisterbriefe aller Bäuerle, die vergilbten Urkunden eines vergilbten Geschlechts. War nicht ein Bäuerle in Paris als Lieferant des Königs gestorben? War nicht ein Bäuerle in Petersburg gewesen, um für das Schloss eines Großfürsten die Hölzer auszusuchen? War nicht ein Bäuerle in der Suite des herrlichsten Kaisers geritten? Da stand es an der Wand, und da hing noch an der Wand eingerahmt und mit Flor umwickelt die Todesurkunde jenes Bäuerle, der für die deutsche Freiheit gekämpft hatte und von den Preußen bei Rastatt niedergeknallt worden war. Wie? War das nicht ein Geschlecht?
Immer, wenn Bäuerle betrunken nach Hause kam, das war meistens am Samstag, setzte er sich in die Küche und starrte die Urkunden an. Stundenlang konnte er so sitzen. Frau und Kind legten sich in den Schlafraum, der neben der Küche war. Und oft kam es vor, dass sie des Morgens erwachten, und der Vater saß noch in der Küche. Dann lief die Mutter eilig zur Messe, und das Kind lief nach dem Fluss. Der Hass, der in Amadeus fraß, galt nicht den Herren der Möbelfabrik, deren Konkurrenz seine Selbständigkeit vernichtet hatte, nicht den Franzosen, die ihm bei Sedan das Knie lahmgeschossen hatten, nicht den Juden, denen er verschuldet war, nicht den Pfarrern, die sein Weib aufwiegelten gegen ihn, weil er trank und das uralte Recht des aufrechten Mannes, nämlich sein Weib durchzuprügeln, wenn er nicht aus und ein wusste, ausgiebig für sich in Anspruch nahm —, dies alles rührte ihn nicht, und er hätte darüber immer mit sich reden lassen, ohne aufzubrausen, und er hätte Besserung und Einsicht versprochen, sogar wegen des Trinkens hätte er mit sich reden lassen — in einem jedoch verstand er keinen Pardon, das waren die Preußen. Sie hatten seinen Vater erschossen, damals in Rastatt, und der Kartätschenprinz, der vor der Empörung des Volkes nach England flüchten musste, derselbe Mann, der aufrechte Bürger zusammenknallen ließ, war heute der Kaiser der Deutschen. Seit diesem Tag von Rastatt war es zu Ende mit den Bäuerles. Seit diesem Massaker war es aus mit der deutschen Freiheit. Die Teufel aus dem Osten, wo kein Weizen wächst und kein Rebstock gedeiht, hielten das Land besetzt. Sie bauten die Fabriken, die dem ehrlichen Handwerk das Brot wegnahmen, sie durchbrachen mit ihren Reden von der Pflicht jede Freude am Nichtstun, an der stillen Betrachtung eines vollen Weinglases oder des Flusses zwischen den Wiesen, sie pressten den aufrechten einzelnen Mann in eine Armee, wo sie so lange an ihm herumhobelten, bis er nichts mehr war als ein kopfnickendes Etwas, sie sagten, es sei besser, sich für den Kaiser zu opfern, als still und gut für sich zu leben — und wie sahen sie aus? Kam man in ihre Städte, da war es kalt und dunkel, und keine Blume war da. Kam man in ihre Kasernen, da war jener der Beste, der sich am raschesten duckte. Und kam man in ihre Fabriken, dann nahmen sie einem das Handwerkszeug weg, nachdem sie einem obendrein noch den Vater erschossen hatten.
Für Amadeus waren an allem die Preußen schuld. Ihr Kaiser hatte seinen Vater getötet. Unter ihrer Herrschaft ging es los mit dem Teufelsspuk der Maschinen. Sie hatten Napoleon auf dem Gewissen und die bürgerliche Freiheit.
Amadeus war ein Trinker, aber es mangelte ihm nicht an Instinkt. „Es ist nicht Gottes Wille, dass diese Heiden über uns gekommen sind", sagte er oft, und er stieg auf den Dachboden, wo er sich die Uniform des alten Onkels anzog und unter den ehrfürchtigen Augen seines Sohnes gravitätisch einherstolzierte.
Die Preußenmarotte des trunksüchtigen Amadeus wurde bald in der ganzen Stadt zum Gespött. Wenn er schwankend von den vielen Vierteln die Weinstube „Zum alten Württemberger" verließ, liefen ihm die Kinder nach und brüllten: „Der Kaiser ist ein lieber Mann — er wohnet in Berlin...", worauf der alte Säufer jedesmal so in Harnisch geriet, dass er den Kindern nachrannte und unter ihrem Jubel nach wenigen Schritten kopfüber zu Boden stürzte. Es war auch an einem solchen Abend, als Amadeus aus der Kneipe torkelte und einigen Beamten, die gerade von einer Kaisergeburtstagsfeier, einem solennen Hasenessen, kamen, „preußische Schweine" nachbrüllte. Es waren gut württembergische Beamte, und sie liebten den Hasenbraten mehr als den Kaiser, aber das wortreiche Wüten des betrunkenen Tischlers, dem die ganze Straße zuhörte, zwang sie, Anzeige zu erstatten. Der Prozess war kurz.
„Was haben Ihnen die Preußen getan?" wurde Amadeus von dem gutwilligen Richter gefragt. „Ihr König hat meinen Vater ermordet", antwortete Amadeus.
„Sind Sie Sozialist?" fragten die Richter weiter. Da brauste der Tischler auf.
„Nein!" schrie er, „ich will mit solchen preußischen Ideen nichts zu tun haben. Das ist dieselbe Gemeinheit, nur von der andern Seite. Ich bin für die Freiheit!" Kopfschüttelnd verurteilten sie den Mann. Die Mutter weinte. Johann Kaspar, das Kind, wurde von seinen Kameraden in der Schule verprügelt. „Du Soz!" riefen sie und hieben mit ihren Linealen auf ihn ein.
Es war der Lehrer Neureuter, der ihn rettete. „Johann", sagte er, „von heute ab hilfst du mir beim Botanisieren."
Als der Vater das Gefängnis verließ, ging er nicht mehr in die Fabrik. Er saß in der Wohnung und trank. Oft zog er im Rausch die alte napoleonische Uniform an und schwang den Degen. Jeden Morgen ging die Mutter zur Messe. Die Nachbarn mieden das Kind. Der Lehrer Neureuter ging mit dem Knaben durch die Wiesen, sie stiegen auf die Alb und sammelten die Flora.
Die Kollegen in der Fabrik, Sozialisten, verlachten den ewig besoffenen Tischler. Er verwechsle die Preußen mit den Kapitalisten, sagten sie. In der Kneipe jedoch freuten sie sich an seinen irren Reden.
Sie gossen ihm Schnaps ins Bier und brüllten im Chor: „Sag, Amadeus, wie ist das mit den Preußen?" Da sprang Amadeus hoch, bleich vom Alkohol. „Es ist ein Volk berittener Teufel", schrie er, „schmeißt sie aus dem Land hinaus, und es ist Ruhe." Da lachten die Kollegen und riefen: „Prost, du herziges Engelchen, du..."
Amadeus soff und hungerte. Einmal ging er zu Fuß nach Rastatt und legte sich sternhagelvoll auf das Grab seines Vaters. Die Mutter hatte, als man ihn zurückbrachte, den Pfarrer geholt. Dieser, ein Mann von schweigsamer Geduld, hörte sich die wirren Reden des Tischlers an. Als Amadeus betrunken im Bett lag und der Sohn Johann Kaspar ihm die Stiefel auszog, sagte er zu der knicksenden Mutter: „Ihr Mann spürt das Unheil im Land. Er soll weggehen." Und Amadeus ging. Mit ihm das Kind und die Frau. Ihre Habe war gering. Ein Schubkarren trug sie. Sie erreichten New York nach einer schlechten Überfahrt. Amadeus war krank. Die ersten Anzeichen des Deliriums wechselten mit den Zuständen einer beängstigenden Depression. Mit Mühe erreichten sie das Haus des Verwandten. Er war ein Abkömmling des napoleonischen Offiziers. Er besaß eine kleine Farm in den Mittelstaaten. Drei Monate noch schimpfte Amadeus auf die Preußen. Dann riss die Niere. Sitzend musste er sterben, weil er sich vor Schmerzen nicht niederlegen konnte. Der Verwandte zahlte das einsame Begräbnis. Der Frau besorgte er eine Stelle als Beschließerin in einem kleinen Hotel, Johann Kaspar blieb auf der Farm. Wenn er träumte, sah er die Nussbäume von Siebenwasser.
Die „Braunschweig" hatte am 18. September New York verlassen. Sie war ein Schiff von mittlerer Größe, bequem in ihrer Einrichtung und von einer Schnelligkeit, die jener der Ozeanriesen nur wenig nachgab. Dafür war das Schiff frei von der Atmosphäre der schwimmenden Grandhotels. Der laute und respektlose Ton des Nachkriegsreichtums verirrte sich selten in seine Salons. Das Schiff war gesellschaftlich nicht in Mode und wurde gerade deshalb von jenen Menschen gewählt, denen an Ruhe und gediegener Bequemlichkeit gelegen war. Johann Kaspar Bäuerle verdankte die Empfehlung seinem Hausarzt, dem Doktor Baker. Dieser pflegte es bei seiner jährlichen Überfahrt nach Europa regelmäßig zu benutzen, und in allen seinen Erzählungen spielte die „Braunschweig" eine bedeutende Rolle. Baker war irischer Abstammung. Zwar hätte der Mann mit dem mächtigen Oberkörper und den kurzen Beinen eher als Südfranzose gelten können, auch sein Temperament, das im Fluss seiner Rede gerne überschäumte, ließ eher auf eine Mittelmeerabstammung schließen, aber er betonte mit besonderem Stolz, dass seine Großeltern arm und mittellos nach den Staaten gekommen wären und dass sie nichts mitgebracht hätten als ihre Freiheit und ihren Hass. Fünfundzwanzig Jahre war Baker Hausarzt bei Bäuerle. Die Freundschaft der beiden Männer hatte sich in allen Kurven ihres Lebens bewährt. Nur während des I. Weltkriegs prallten sie hart wider einander. Baker trieb irische Propaganda und erflehte den Sieg der Deutschen. Er stand mit Roger Casement in Verbindung und sammelte Geld für den Kampf der Insurgenten. Bäuerle befand sich während dieser Jahre in einem quälenden Zwiespalt. Von seinem Vater hatte er den Hass gegen das Preußentum und den Wilhelminismus geerbt, es war das einzige, was ihm sein Vater hinterlassen hatte, aber dieser Hass vermochte nicht, seine Liebe zu Württemberg, seine Träume an die Kindheit und an die Nussbäume von Siebenwasser zu tilgen. Deutschland war für ihn ein unbefreites Land, das unter die Herrschaft eines volksfremden Geistes gekommen war. Als Baker einmal abends beim Schachspiel erklärte, die Preußen seien das geborene Herrenvolk, das Europa brauche, hatte Bäuerle schweigend das Zimmer verlassen und sich lange geweigert, seinen Freund wiederzusehen.
Als die Staaten in den Krieg eintraten, feierte Bäuerle diesen Tag als den Beginn der Vernichtung des preußischen Geistes und der Befreiung Deutschlands. In allen seinen Reden sprach er von der kommenden Republik, deren Schwerpunkt in Süddeutschland liege. Er begrüßte Wilsons Entschluss als die Geburtsstunde eines neuen Deutschland, als die gerechte Sühne für 1848 und die Toten von Rastatt. Schon sah er die Fahne der bürgerlichen Freiheit über den Städten seiner Heimat wehen und aus den Trümmern des Reichs einen Staat entstehen, der dem deutschen Volk endlich jene Geltung in der Welt verschaffe, die seinem Ingenium gebühre. Irene hatte es erlebt, wie der Vater am Waffenstillstandstag erregt durch die Zimmer ging und den Doktor Baker, der gerade zum Schachspielen kam, umarmte und rief: „Endlich bin ich wieder ein Deutscher!"
Baker, der nach Casements Tod resignierte und den Wunsch nach einem deutschen Sieg seiner Freundschaft zu Bäuerle geopfert hatte, war die Nacht über bei ihm geblieben. Bis zum Morgen sprachen die Männer, und es schien dem Doktor Baker, als habe sein Freund keinen anderen Wunsch, als heimzufahren. Doch Bäuerle fuhr nicht heim. Er blieb bei seiner Fabrik. Abend für Abend saß er über neuen Projekten. Er organisierte Komitees, die Lebensmittel und Geld nach Deutschland sandten. Er sprach in den Klubs über die welthistorische Pflicht, Deutschland zu helfen. Er versuchte Einfluss auf die Zeitungen zu gewinnen und warb in Gartenfesten, die er veranstaltete, für jede moralische und finanzielle Unterstützung des neuen Deutschland. Helft der Republik! Seid großmütig in eurem Sieg! Denn ihr habt nicht Deutschland geschlagen, sondern sein Zerrbild!
Bäuerle fand wenig Echo. Man opferte ein paar Dollars für die hungernden Kinder in Deutschland, man applaudierte auch, wenn Bäuerle sprach, aber man interessierte sich wenig für diese europäischen Geschichten, jetzt, da der Krieg zu Ende war. Man wollte endlich wieder etwas vom Leben haben. Die Franzosen würden Europa schon in Ordnung bringen, und über die Deutschen hatte man sich lange genug aufgeregt. Sie sollten einen endlich in Ruhe lassen und froh sein, dass man ihnen nicht das Land und den Staat zerschlagen hatte, wie sie es eigentlich verdienten.
Bäuerle führte einen verzweifelten Kampf gegen den Versailler Vertrag. Er gründete eine Liga und kaufte eine Zeitung, in der er davor warnte, Deutschland als Besiegten zu behandeln. Jetzt sei endlich die Stunde gekommen, das Land zu pazifizieren, indem man ihm durch die Tat beweise, dass der Kampf nur dem preußischen Militarismus gegolten habe. Die Zeitung fallierte mit fünfzigtausend Dollars Verlust für Bäuerle. Der Klub ging ein. Es war langweilig, über Europa zu reden.
Auf den Bericht des deutschen Generalkonsuls an das Auswärtige Amt über Bäuerle schrieb der Sachreferent in Berlin: „Preußenhasser — utopistischer Demokrat — besitzt Eisfabriken in Baltimore — stammt aus achtundvierziger Familie — politisch bedeutungslos — kommt höchstens für Rotes Kreuz oder Kinderhilfswerk in Frage."
Nach dem Souper war Irene schlafen gegangen. Die Vorbereitungen der Reise, der Abschied von Baltimore, die ersten Stunden in der Brise des Ozeans hatten sie müde gemacht. Der Vater brachte sie noch bis zu ihrer Kajüte, dort küsste er ihr die Stirn und sagte, er gehe noch für eine halbe Stunde in den Rauchsalon. Irene lächelte. Sie wusste, dass aus dieser halben Stunde die halbe Nacht werden würde, aber sie war beglückt über die Frische des Vaters und über die Munterkeit, mit der er den Abschied überwunden hatte. Irene mochte es nicht, wenn sich Männer küssten, aber als sich Baker und Bäuerle an der Pier umarmten und sich stotternd törichte Worte sagten, da hatte Irene sich still nach den Koffern gewandt und geschwiegen. Oh, sie wusste, was Vater aufgab, wenn er jetzt die Staaten verließ, um nach Deutschland zurückzukehren. Seit einem Jahr bastelte Bäuerle an diesem Plan, alle Freunde rieten ihm ab, aber er versteifte sich immer mehr in den Gedanken. Es war erschütternd, wie der siebenundfünfzigjährige Mann von seiner Jugend zu schwärmen begann. Er war allen Ernstes entschlossen, Baltimore zu verlassen, um, wie er sagte, nach seiner Heimat zurückzukehren. Bei dem Wort Heimat leuchteten seine Augen, und seine Sprache wurde leicht unverständlich. Seine Freunde schalten ihn einen Narren. Wie könne er den Abend seines Lebens mit dem Schicksal eines Landes verbinden, von dem er seit fünfundvierzig Jahren getrennt sei? Aber Bäuerle schlug jeden Einwand in den Wind. Er müsse nach Deutschland zurück, sagte er, jetzt endlich herrsche in seiner Heimat jener Geist, für den sein Vater gelitten habe, jetzt endlich sei die große Stunde des deutschen Volkes gekommen, und er wolle dabei sein. In aller
Stille bereitete er die Übersiedlung vor. Er verwandelte die Fabrik in eine Aktiengesellschaft und sicherte sich die Mehrheit der Anteilscheine. Er fand einen Direktor, dem er nach einer Probezeit von sechs Monaten Vertrauen schenkte, und zog sich von den aktiven Geschäften zurück. Er überprüfte sein Vermögen, und er fand, dass er trotz einiger Verluste noch sehr reich sei. Er ließ sich eine Karte von Siebenwasser kommen und suchte mit Irene gemeinsam Gelände aus, wo ihr Haus stehen sollte. Er studierte die neue Verfassung des Reichs und behauptete, es gäbe nirgends auf der Welt soviel Freiheit, und er sei stolz, ein Deutscher zu sein. Irene liebte den Vater in seiner Besessenheit. Nächte hindurch saß sie mit ihm zusammen und hörte auf seine Worte. Der nüchterne, kalte Geschäftsmann, in Baltimore berühmt wegen der Kühle seines Kopfes, erhitzte sich immer mehr, wenn er vom Neckar erzählte, von den Wäldern und den roten runden Dörfern in den Mulden, wenn er die Städte pries und die Hügel, auf denen der Wein wuchs. Er sang Irene Lieder vor, er spielte sie unbeholfen auf dem Harmonium, und wenn er von seiner Schulzeit erzählte, von der Botanisierbüchse, die er getragen hatte, und von dem Salamanderfang, dann standen Tränen in seinen Augen.
Irenes Glück war des Vaters Glück. Der Vater war der Mensch, an dem sie sich maß. Nie vergaß sie jene Nacht, da sie, vom Regen durchnässt, nach Hause gekommen war. Vater stand an der Tür, die ganze Nacht hatte der Mann an der Tür gestanden und auf das Kind gewartet. Nachmittags war sie von Florence abgeholt worden. Sie wollten eine kleine Tour in die Umgebung machen. Unterwegs waren der junge Taler und der junge Brand in den Buick eingestiegen, und sie waren losgefahren, weit hinaus, nach dem Meere zu. Ein Grammophon hatten die Jungens mitgebracht, und sie hatten gebadet und in den Dünen gelegen. Sie hatten mexikanischen Wein getrunken, und Florence hatte gesagt, einmal müsse es doch sein. Dann war Florence mit Taler zwischen den Dünen verschwunden. Es dämmerte, und sie kamen nicht zurück. Irene saß mit Brand hinter einem Ginsterbusch. Das Grammophon spielte, und vom Meer her kam die Nacht. Irene sagte: „Wo nur Florence bleibt!" Da lachte Brand und meinte, sie habe es sicher nicht so eilig, mit dem Taler, das gefalle ihr. Irene schwieg, und als es dunkel wurde, stellte Brand das Grammophon ab. „Wir sind eigentlich dumm", sagte er. Irene bat ihn, sie heimzufahren. Ihr Vater erwarte sie. Brand ging mit ihr ein Stück durch die Dünen. Ob sie noch immer ein Mädchen sei, fragte er. Irene ging rascher. Das wäre doch dumm, meinte Brand, und was sie davon habe. Irene begann zu laufen. Brands heisere Stimme blieb neben ihr.
„Ich habe schon lange ein Auge auf dich, und mit mir kannst du es ruhig tun, ich bin nicht krank wie die meisten vom Tennisklub." Irene rannte.
„Nur einmal", bettelte Brand. Sie waren am Ende der Dünen. Irene sah schon die Lichter der breiten Autostraße. Brand riss sie nieder. „Vater!" schrie Irene, „Vater!"
Unter den breiten Scheinwerfern eines näherkommenden Wagens ließ Brand von ihr ab. „Dumme Katze", sagte er.
Sie gingen zu dem Wagen. Dort stand Florence.
Neben ihr der müde lächelnde Taler.
„War's schön, Darling?" fragte Florence.
Irene stieg in den Wagen. Neben ihr saß Florence.
Irene sagte kein Wort. Florence summte einen Schlager.
Unterwegs wurden sie von einem Gewitter überrascht. Taler hielt den Wagen an. Der Regen verhinderte jede Sicht.
Nachdem sie eine Weile gewartet hatten, meinte Florence, es wäre langweilig. Sie kroch nach vorn zu Taler und Brand setzte sich neben Irene. Taler löschte das Licht.
Starr saß Irene. Krampfhaft hielt sie die Augen auf die leuchtende Uhr am Armaturenbrett gerichtet. Sie sah Florence in der Umarmung Talers. Sie spürte Brand und sie hörte ihn sagen: „Sei doch nicht blöd."
Er begann ihre Schulter zu streicheln. Sie roch seinen Atem.
„Bin ich ein Tier?" dachte Irene. Und während die Hand des Mannes in ihrem Nacken lag und vor ihr Florence Taler umschlang, griff Irene in die Tasche, sie spürte den Perlmuttergriff, sie begann zu zählen, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... dann schoss sie. Es war ein spitzer Knall.
Irene spürte die Hand aus ihrem Nacken sinken. Sie schob die Waffe in die Tasche zurück. Sie war
völlig ruhig. Sie stieg aus dem Wagen. In schweren Schlossen fiel der Regen. Im Schein der Blitze sah sie den verchromten Kühler. „Hallo!" hörte sie Florence schreien. Dann rannte sie los. Niemand folgte ihr.
In einer kleinen Bar, die sie nach einer halben Stunde fand, trank sie Tee. Sie trank zwei Kognaks. Sie verlangte ein Auto. Nach einer Stunde stand sie durchnässt vor dem Hause ihres Vaters. Das Licht im Garten brannte. Immer noch fiel der Regen. Aber unter dem Licht stand der Vater. Irene ging über die Kieswege. Alles in ihr war kalt. „Kind!" rief Bäuerle und lief die Stufen hinab. „Ich bin kein Tier!" antwortete Irene, dann sank sie zusammen. Der Vater trug sie ins Haus.
In der Kajüte, die Irene bewohnte, hing ein Bild. Es zeigte einen verwachsenen Wald, ineinander gewirrtes Geäst, wilde Baumwurzeln, die den Boden sprengten, und in der Mitte eine Quelle, behangen mit Moos. Unter dem Baum lag ein junger Mensch im Gewand der Scholaren. Er hob ein Horn an seinen Mund, und während um ihn das Gezweig sich in beängstigendem Geheimnis wand, lächelte sein Antlitz unter der spürbaren Kühle des Waldes. Irene kannte das Bild seit ihrer Jugend. Der gleiche Stich hing auch in Vaters Zimmer über dem kleinen Kamin. Wie oft hatte sie im Schein der Flammen nach dem bunten Stich geblickt und auf die Märchen gehört, die ihr der Vater vorlas. Die Geschichte von den sieben Geißlein konnte sie nicht satt werden zu hören, und immer, wenn sie den Vater fragte, wo all diese Geschichten sich ereigneten, wo der Froschkönig lebe und das wunderbare Pferd Fallada, da hatte der Vater nach dem Bild gedeutet und gesagt, in Deutschland, im Märchenwald. Und immer wieder hatte sich das Herz des Kindes an diesen Märchen entzündet. Fiebernd verfolgte es die Not und die Unterdrückung der einfachen Menschen, die nichts als das Gute tun wollten und daran von bösen Königen, Hexen und Zauberern gehindert wurden, und es schien seinem wachen Sinn, dass der Mensch nirgends so gut, aber auch nirgends so böse sein konnte wie in diesem Land, das Deutschland hieß. Oft, wenn der Vater die Erzählung schloss und der böse König verjagt, die böse Hexe verbrannt und der böse Zauberer in den Brunnen gestürzt war, wünschte Irene, der schöne Jüngling auf dem Bilde erhöbe sich und hole sie in den Wald. Es geschah nicht selten, dass sie der Vater vor dem Bild träumend versunken fand, und immer wieder versprach er dem Kind, es einmal nach Deutschland zu bringen, nach diesem Wald und zu dieser Quelle. Und als in jener Nacht, da Irene vor Florence und ihren Burschen geflüchtet war, er sie vor das Bild führte und ihr sagte, sie wollten nach Deutschland fahren, und er werde ein Gut kaufen mit vielen Äckern und Wald, und dort solle Irene, fern von Menschen wie Florence und den schlechten Millionärssöhnen des neuen Reichtums, leben und zur Frau werden, da war es Irene, als bewege sich der Jüngling in dem Bild und grüße sie durch ein Lächeln.
Irene legte sich zu Bett. Sie löschte das Licht und zündete die kleine Nachtlampe an. Es war ein rot gebundenes Buch, das Irene aufschlug. „Württemberg" stand in gepressten Goldbuchstaben auf dem Deckel. Irene las:
„Siebenwasser gehört zu den alten, freien Reichsstädten des Landes. Es liegt am Neckar, an Deutschlands zärtlichstem Strom. Umgeben von hohen Wäldern, in denen die lichte Buche vorherrscht, öffnet sich hier das Tal des Flusses nach Süden. Wein gedeiht, und der Sinn der Bewohner ist heiter und fleißig. Seit Beginn des Jahrhunderts erlebt die Stadt einen ständigen Aufstieg. Sie vereinigt in sich wichtige Industrien. Motorenbau, Chemie und Textil. Aber die Industrialisierung hat ihren Reizen und ihrem wahrhaft süddeutschen Charakter nicht geschadet. Der Ursprung der lebhaften Stadt reicht bis ins neunte Jahrhundert. Der Sage nach hielten hier in einem kleinen Seitental die sieben Söhne eines Ritters den Vormarsch der einbrechenden Hunnen in heldenmütigem Kampf so lange auf, bis sich die Landbevölkerung der verstreuten Dörfer in die nahegelegene, heute verschollene Veste gerettet hatte. Durch Verrat eines Schäfers fielen die Sieben nach zweitägigem Kampf. Die Hunnen jedoch, durch den Widerstand betroffen, zogen sich zurück. Als man die Leichen der Sieben fand, sollen aus ihnen viele Tage lang rote Blutbächlein geflossen sein. Und als man sie endlich bestattete, sollen aus ihren Gräbern sieben Quellen entsprungen sein. Dem Tod dieser Sieben zu Ehren erbaute man eine Stadt und nannte sie Siebenwasser." Irene schloss das Buch. Lächelnd grüßte sie das Bild an der Wand. Sie löschte das Licht. Kaum merklich zitterten die holzverschalten Wände unter der Kraft der Maschinen.
Die „Braunschweig" hatte die Zwanzigmeilenzone durchfahren, als Johann Kaspar den Rauchsalon betrat. In der linken Ecke, kurz vor der Bibliothek, fand er einen freien Tisch. Er setzte sich unter die Stehlampe und winkte dem Steward. „Ich möchte einen Wein trinken", sagte Bäuerle, „wissen Sie, einen Wein, der ganz deutsch ist. Ich war nämlich fünfundvierzig Jahre nicht drüben." Der Steward lächelte und legte die Weinkarte vor. Bäuerle setzte umständlich seine Brille auf und begann zu lesen. Seit Jahren hatte er keinen Wein mehr getrunken. Manchmal brachte Baker zum Schachspiel ein Fläschchen Mexikaner mit, aber dieses Getränk war Johann Kaspar zu schwer und zu ermüdend. Früher, als Juana noch lebte, da hatten sie oft abends auf der Terrasse weißen Bordeaux getrunken, den Juana über alles liebte. Sie aßen frische Nüsse dazu, und Juana erzählte Sagen und Märchen aus dem Volke der Indios, dem sie entstammte. Bäuerle kniff die Augen unter der Brille zusammen. Zu oft hatte er heute an Juana gedacht. Vor drei Tagen war er noch an ihrem Grab. Still hatte er auf der Bank gesessen und die japanischen Zwergbäumchen betrachtet, die zwischen den weißen Platten hervor wuchsen. Er hatte laut vor sich hingesprochen und sich nicht vor den vorübergehenden Menschen geschämt. Er hatte Juana erzählt, dass er zurückfahre nach Deutschland und
Irene mit ihm. Sie solle nicht zürnen, dass er sie verlasse, aber sie habe ja Ruhe, und er wolle sie finden, bevor er sterbe, in Siebenwasser, wo er geboren ist. Dort, in der Heimat des Vaters, werde Irene aufwachsen, in Deutschland, das endlich seine Freiheit gefunden habe, dort wollten sie leben, nach fünfundvierzig Jahren Heimweh ginge er endlich dahin zurück, wo er begonnen habe. Und Juana könne unbesorgt sein. Das Kind gedeihe, und des Vaters Auge stehe immer über seinem Leben. Als Bäuerle das Grab verließ, schrieb er mit einem Tintenstift unten in die Ecke des weißen, steinernen Kreuzes: „Leb wohl!" und am Ausgang des Friedhofs, in der Gärtnerhalle, bezahlte er die Grabpflege für fünf Jahre im voraus.
Bäuerle fand sich auf der Weinkarte nicht zurecht. Halblaut las er die Namen, um den Gedanken an Juana zu verscheuchen, doch außer dem Klang sagten sie ihm wenig.
„Schwarzer Herrgott", „Saumagen", „100 Morgen", „Schwarze Katze", „Eselspfad", „Törichte Jungfrau"... Johann Kaspar sah sich verlegen nach dem Steward um.
„Wenn ich raten darf", sagte der Steward, „nehmen Sie Ürziger Schwarzlay."
Bäuerle nickte. Der Steward brachte die Flasche. Gelb stand der Wein vor Johann Kaspar. Ruhig fuhr das Schiff. Glatt im weichen Licht des Mondes lag das Meer.
„Ich fahre heim", dachte Johann Kaspar Bäuerle.
Er schloss die Augen.
Die Kraft des Weins bewegte sein Blut.
Es war ein kalter Abend, als er damals in Princetown angekommen war. Vor dem Bahnhof trieb Regen mit Schnee vermischt. Johann Kaspar hatte den Koffer zwischen die Beine geklemmt und versuchte im dünnen Licht der Bahnhofslampen den Zettel zu lesen, den ihm der Onkel mitgegeben hatte. Miss Dorpfield stand darauf, Washingtonstreet 119. Johann Kaspar ging in den Regen und in die schlecht beleuchtete Stadt. Er musste Miss Dorpfield finden. Dort sollte er wohnen. Für einen Monat waren Zimmer und Essen bezahlt. Das war alles, was ihm der Onkel nach der Missernte geben konnte. Und die Mutter war tot. Sie hatte ihm dreißig Dollar hinterlassen. Johann Kaspar trug sie in einem Säckchen auf der Brust. Das Haus lag zwischen den Fabriken. Es war eine Baracke. Miss Dorpfield hatte daraus vier Räume gemacht, indem sie den Raum durch Holzwände geteilt hatte. Als Johann Kaspar eintrat, roch es nach Salbei und Kamillen. Miss Dorpfield saß mit einer geschwollenen Backe in der Küche. Sie hatte sich das Gesicht wie eine Witwe verhängt. Unter den schwarzen Schleiern brütete die Nässe der Umschläge.
Johann Kaspar bekam einen Verschlag zugewiesen, in dem eine Matratze lag, ein Stuhl stand und auf dem Stuhl eine Blechschüssel zum Waschen. Das Zimmer maß acht Schritte in der Länge und vier Schritte in der Breite. Es besaß ein zerbrochenes Fenster, dessen Hälfte mit Pappdeckel zugesteckt war.
Drei Arbeiter vom nahen Walzwerk wohnten noch in der Baracke. Die Witwe Dorpfield kochte, aß und schlief in der Küche. Ihre kleine, bucklige Nichte, ein rothaariges Mädchen mit entzündeten Augen, besorgte die Zimmer. Johann Kaspar überraschte sie oft, wenn sie an den Bettlaken der Männer roch.
Nach drei Tagen hatte Bäuerle Arbeit im Walzwerk. Fünf Dollars die Woche, das reichte für das Logis und das wenige Essen. Achtzehn Jahre war der Junge alt. Bei den Arbeitern war er unbeliebt. Er ging nicht in ihre Kneipen. Er rauchte und trank nicht. Nach Feierabend saß er in seinem Verschlag und las. Zweimal hatte Witwe Dorpfield versucht, ihn zum Tee in die Küche einzuladen, aber Johann Kaspar war in seinem Verschlag geblieben beim Studium der Wärmetechnik, auf deren Probleme er im Walzwerk gekommen war.
Zwei Monate nach dem Eintritt meldete sich Johann Kaspar beim Boss. Das war ein gewalttätiger Irländer, der wegen seines Antreibertums bei der Direktion besonders beliebt war. Dreimal schon während des letzten Winters war auf ihn während seines Nachhauseweges geschossen worden. Der Boss beantwortete diese kleinen Zwischenfälle mit besonderer Brutalität in der Fabrik. Er schämte sich nicht, auf die Arbeiter dreinzuschlagen, und das tat er mit einem Eisenstück. Er war ständig unter Alkohol, und wenn er zur Direktion befohlen war, spülte er sich vorher den Mund mit Kreidewasser aus. Den Johann Kaspar mochte er gern. Er nannte ihn „Kleiner", und wenn er betrunken war, sagte er immer, Johann Kaspar sei wie sein Sohn, der ihm vor drei Jahren an der Schwindsucht weggestorben war.
„Ich muss etwas Besonderes tun", hatte sich Johann Kaspar gesagt, als er in das Walzwerk eingetreten war. Obwohl er arm war, fühlte er sich gar nicht mit seinen Kollegen solidarisch. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, jahraus jahrein in diese Fabrik zu trotten und schließlich beim Branntwein zu landen. Auch wenn er es bis zum Boss brächte, es bliebe die gleiche Öde um ihn. Ob zwanzig oder fünfzig Dollars die Woche, das Leben fing erst dort an, wo man die Dollars nicht mehr zählt. Zum ersten Mal ging Johann Kaspar an jenem Abend mit dem Boss in die Kneipe. Er trank das Bier und den Schnaps. Er legte vor den Boss die Pläne. Er sprach auf den Irländer ein. Fünfzig Prozent bot er ihm. Der Boss betrank sich und schaukelte den Kopf. „Kleiner", sagte er, „ich will dein Geld nicht, und ich verstehe von dem, was du sagst, überhaupt nichts. Aber wenn einer aus dieser Galeere hier herauskommt und viele Dollars macht, ohne ein Gauner zu werden, dann setz ich drei Whisky drauf und halte zwei Tage die ganze Bude hier frei!" „Ich komme heraus", hatte Johann Kaspar gesagt, und der Boss lachte und rief: „Dann vergiss uns arme Seelen nicht, kleiner Doktor!" Sie betranken sich fürchterlich, und am Ende hat der Boss den Johann Kaspar geküsst. Sie sind noch zu den Mädchen gegangen, die in der vierten Baracke wohnten, und dort bekam der Boss einen Weinkrampf und lag blau wie eine Strandhaubitze über dem Bett und lallte. Johann Kaspar hob den trunkenen Mann hoch und nahm ihn mit in seinen Verschlag. Mit Hilfe von Miss Dorpfields Tee gelang es, den Mann wieder ins Lot zu bringen. Er schlief die Nacht über bei Bäuerle, und am nächsten Morgen führte er Johann Kaspar zur Direktion.
Zwei Tage später war der Hilfsarbeiter Johann Kaspar Bäuerle zum Leiter einer wärmetechnischen Versuchsabteilung bestellt. Sie arbeiteten zunächst an dem großen Zuleitungsrohr zwischen dem Maschinenhaus und der Halle eins. Glückte der Versuch, so war die Fabrik bereit, dem jungen Bäuerle die Erfindung abzukaufen. Es handelte sich um ein Isolierungsverfahren von Kesseln und Rohren, das, wie Bäuerle behauptete, den üblichen Wärmeverlust auf ganz wenige Prozente herabsetzte. Vierzehn Tage arbeitete die Abteilung. Die erste Probe übertraf alle Erwartungen. Die Fabrik kaufte schleunigst das Patent. Mit fünfhundert Dollars verließ Johann Kaspar Princetown. Er ging nach dem Süden und besuchte ein Technikum.
Das war 1890, dachte Bäuerle. Er nahm sein Glas und senkte den Blick. Vor ihm stiegen die Jahre hoch, die er gelebt hatte. Allein in der harten Einsamkeit der amerikanischen Städte, in kalten Buden und widerlich stinkenden Fischküchen, in den Hörsälen und Laboratorien. Fern jeder Freundschaft und Liebe hatte er gearbeitet, und es gab nur einen Gedanken, der ihn hielt: das Geld. Um ihn tobte der Kampf um den Dollar. Täglich, stündlich sah er das Gewühl von Leidenschaften,
Schlauheit und Berechnung durch die Städte, durch die Straßen, durch die Zimmer sich wälzen, und es schien ihm, jedes menschliche Gefühl ersticke unter dem Pesthauch dieses Rausches. Wenn wir reich sind, werden wir gut — das war die einzige Entschuldigung, die die Menschen vorzubringen hatten, wenn sie auf die Reihen zerbrochener Existenzen, geschändeter Herzen, maßlos vernichteter Kreaturen, die auf der Strecke lagen, zurückschauten. Ein Jahr hatte Johann Kaspar in den Quartieren der Armen von den fünfhundert Dollars gelebt. Zwanzig Jahre war er alt, und über die Menschen besaß er keine Illusionen mehr.
Zunächst hatte Herr Thompson gelacht, als der schlecht angezogene junge Mann, der sich Ingenieur nannte, zu ihm gekommen war. Es war auch eine verrückte Idee, mit Hilfe irgendwelcher Maschinen künstliches Eis herzustellen.
Herr Thompson hatte eine Sodawasserfabrik, und es war sein stärkster Wunsch, dass die Sonne möglichst lange und möglichst prall schien. Auch wenn die Straßen verstaubt waren und die Menschen vor Hitze in die Knie sanken, freute er sich. Aber da war ein verflixtes Problem. Eben das Eis! Zwar hatte er für den Sommer tiefe Gewölbe gemietet, um die Flaschen einigermaßen kühl zu halten, aber das reichte nicht aus. Und nun kam dieser Bursche mit seiner Idee, die allen Schwierigkeiten ein Ende bereitet hätte. Herr Thompson schaute Johann Kaspar an. Der Junge sah trotz seines Anzugs gar nicht unmanierlich aus.
„Wann können Sie die Maschine liefern?" fragte Thompson und blätterte in den Plänen, von denen er nichts verstand.
„In zwei Monaten kann sie arbeiten", antwortete Bäuerle.
Man schrieb März. Das wäre also gerade zur rechten Zeit, dachte Thompson. „Wie viel Geld brauchen Sie?" „Fünfzehnhundert Dollars", sagte Johann Kaspar. Thompson überlegte. Ein schönes Stück Geld und das auf einen dahergelaufenen Burschen setzen, der das Blaue vom Himmel herunter schwindeln konnte? Oder aber gab ihm der Zufall hier eine gewaltige Chance? Herr Thompson schwankte. Fünfzehnhundert Dollars, das war gerade soviel, wie er vorgestern seinem Herrn Sohn für Weiber- und Saufschulden bezahlt hatte. Einfach so in die Luft. Das Biest, dachte Herr Thompson. Der junge Mann da vor ihm war das glatte Gegenstück. Ein wenig fanatisch und unterernährt, aber ernst und bescheiden. Und da lag die Bestätigung des Walzwerks über die geglückte Isolation. Nicht übel. „Topp!" sagte Herr Thompson, „Sie können morgen beginnen. Ich kaufe das Projekt." Zwei Monate später fuhren die Thompsonschen Eiswagen weit über Land, und die Dollars hüpften zu Tausenden in Herrn Thompsons Kasse. Nach einem halben Jahr war Bäuerle entlassen. Die Eismaschinen gingen von selbst. Der Mann ist jetzt überflüssig, dachte Herr Thompson.
Johann Kaspar winkte dem Steward. Er bestellte eine zweite Flasche. Es war zehn Uhr abends, und die Menschen, die im Rauchsalon saßen, schwiegen. Das Schiff lief in hoher Fahrt. Bäuerle betrachtete sein Leben.
Es war ein harter Weg aus den Südstaaten hinauf nach dem Norden, damals im Herbst. Knapp hundert Dollars hatte er aus dem Geschäft mit Thompson gerettet. Er trug sie auf der Brust zusammen mit den dreißig, die er von der Mutter geerbt hatte. Johann Kaspar ging zu Fuß. Manchmal schlich er sich in einen Güterzug ein und fuhr ein Stück blind. Es wurde Winter, und die Wege waren verweht. Die Farmer hockten in ihren Häusern, soffen und überwachten ihre Weiber. Johann Kaspar verdiente sich das Essen, Obdach und die Wegzehrung, indem er in den kleinen Städten und in den Dörfern schadhafte Maschinen reparierte. Er war entschlossen, nach New York zu gehen. Er war entschlossen, jedes Mittel zu benutzen, um zu Geld zu kommen. Zweimal hatte man ihn übertölpelt, zweimal hatte man ihn um den Wert seiner Arbeit gebracht — er war entschlossen, zurückzuschlagen. Es war kurz vor Weihnachten, als er auf die Farm seines Onkels kam. Der Alte lag zu Bett. Ein Negerweib pflegte ihn. Sonst war niemand mehr auf dem Hof. Das Vieh war verkauft. In vielen Zimmern fehlte das Mobiliar. „Es geht zu Ende", hatte der Onkel gesagt und sich dabei unter Ächzen im Bett hochgesetzt, „mit mir und dem Hof. Die letzte Weizenernte hat alles über den Haufen geworfen, dazu kam die Seuche im Vieh, was du noch siehst, gehört Larousse." „Wer ist Larousse?" hatte Johann Kaspar gefragt. „Ein Geldverleiher in New York. Ein Gauner."
Acht Tage blieb Johann Kaspar auf der Farm. Bevor der Onkel starb, gab er ihm das Kreuz der Ehrenlegion.
„Das ist alles, was ich noch habe. Mein Vater hat es unter Napoleon getragen. Mehr ist von den Bäuerles nicht übriggeblieben."
Johann Kaspar begrub den Onkel im Garten unter der Blutbuche. Jetzt war er allein auf der Welt.
Zwei Tage und zwei Nächte ging Bäuerle zu Fuß. Er suchte keine Arbeit in den Dörfern. Er stahl sich in Scheunen und Schuppen, um ein paar Stunden zu schlafen. Er kaufte sich Brot und Käse für einen Dollar. Davon lebte er. In der Silvesternacht des Jahres 1899 erreichte er New York. Die Stadt befand sich in einem Taumel. In den Kirchen, die Johann Kaspar besuchte, um sich zu wärmen, priesen die Pfarrer das neue Jahrhundert. Auf den Straßen krachten die Schüsse, von den Dächern stiegen die Raketen und warfen über die Stadt paradiesische Feuer. In das Geheul der Schiffssirenen vom Hudson her mischte sich das Geläut der Glocken. In den Restaurants, den Kneipen umarmten sich fremde Menschen und tanzten miteinander, es grölten die Betrunkenen, es wirbelten die Trommeln der Heilsarmee, und aus den Bekehrungslokalen drang das Reuegewinsel geretteter Gauner. Johann Kaspar hatte sich mit seinem Koffer in ein kleines Hotel durchgeschlagen. Er bestellte sich Kaffee, eine hohe Kanne für die Nacht, dann legte er auf den Tisch das kleine Reißbrett, die Tabellen, die alten Pläne, Lineal und Zirkel. Er hörte nicht das Poltern auf den Stiegen, er hörte nicht das Fluchen der Betrunkenen, nicht das Flüstern der Pärchen in den Zimmern — er arbeitete. Acht Tage und acht Nächte saß er über den Plänen. Kaffee und Brot nährten ihn. Kaum ein Wort kam über seine Lippen.
Als er das Hotel verließ, kaufte er eine Zeitung. Er las sie im Stehen. Auf der vordersten Seite prangte ein Inserat.
Thompsons Eismaschinen überwinden die Natur! Es lebe das zwanzigste Jahrhundert! Bäuerle schmiss die Zeitung weg. Er lachte. In seiner Tasche trug er den Plan einer Anlage, die jener, welche Thompson ihm abgeschwindelt hatte, an Kapazität fünffach überlegen war. Dann ging er zu Larousse.
Johann Kaspar traf Herrn Larousse beim Morgengebet. Er stand im Kreise seiner Angestellten in dem kleinen Kontor und las aus der Bibel einen Psalm. Auf den Schreibtischen lagen die Formulare für Zahlungsbefehle und Zinsberechnungen, die Briefe mit den Klageandrohungen und die rechtskräftigen Urteile.
Unbemerkt stand Bäuerle hinter Larousse. Als die Andacht beendet war, verschwand der alte Mann, ohne sich umzusehen, hinter einer Tür, auf der Privatkontor zu lesen war. Bäuerle gab einem Boten das Kreuz der Ehrenlegion. Er bäte Herrn Larousse um ein Gespräch. Die Tür sprang auf, und der alte Mann mit dem grauen Krätzchen auf dem Kopf breitete die Arme aus.
„Sohn meiner Erde!" rief er und zog Johann Kaspar emphatisch an die Brust. Im Privatbüro sagte Bäuerle,
wer er sei. Larousse biss sich auf die Lippen. „Ich konnte Ihren Onkel nicht halten — die Weizenpreise sind entsetzlich gefallen, und einmal musste ich mein Geld sehen."
Johann Kaspar sagte, er verstehe das. Dann legte er die Pläne auf den Tisch. Er erzählte von Thompson. Larousse läutete und befahl, ihn für eine Stunde nicht zu stören. Aus dieser einen Stunde wurde ein Vormittag. Gegen Abend trafen sich Larousse und Bäuerle in einem Restaurant in einer stillen Gegend. Mit Larousse kam ein Mann, der sich als Ingenieur vorstellte. Er prüfte lange die Pläne. Nach Mitternacht trennten sie sich.
Am nächsten Morgen war die Firma Larousse und Bäuerle, Eisfabriken und Herstellung wärmetechnischer Apparate, gegründet. Bäuerle reiste nach Baltimore. Er kaufte zwei leerstehende Hallen. Nach einem Monat begann der Betrieb zu arbeiten. Im Mai rollten die ersten Eiswagen durch die Stadt. Bäuerle erfand witterungssichere Waggons. Bereits im Herbst beschäftigte er vierhundert Arbeiter. Bäuerle lebte einfach wie zuvor. Er sparte jeden Cent. Nach dem Vertrag, den er mit Larousse geschlossen hatte, konnte er ihn zwei Jahre später mit der dreifachen Summe, die Larousse eingeschossen hatte, auslösen. Im Juni 1902 war Johann Kaspar Bäuerle Alleinbesitzer der Fabrik. Larousse ging nach Frankreich zurück. In der Nähe von Orleans kaufte er sich eine Ferme. Als er starb, hinterließ er der Kirche zweihundertfünfzigtausend Goldfrancs.
Bäuerle wurde reich. 1905 kaufte er die Fabriken von
Thompson auf. Er ließ den alten Namen bestehen, er begnügte sich mit den Dollars. Als sein Vermögen die Million überschritten hatte, ging er zum ersten Mal in die Ferien. Er fuhr nach Mexiko. Er war jung und voller Energien. Jede Konkurrenz brach er nieder. Er scheute kein Mittel. Im Kampf um den Dollar unterlag, wer sich Skrupel machte.
Er hatte in all diesen Jahren nicht an Deutschland gedacht. Manchmal nur, wenn er bei amtlichen Anfragen ein Formular ausfüllen musste, fiel ihm ein, dass er in Siebenwasser geboren sei. Das erheiterte ihn jedesmal. Mein Gott, diese engen Gassen und diese rückständigen Leute.
Damals, als er nach Mexiko fuhr, saß er gelangweilt im Zug. Der Arzt hatte ihm jede Beschäftigung mit geschäftlichen Dingen auf vier Wochen untersagt und ihm geraten, sich mit irgendwelchen Liebhabereien abzugeben, oder, wenn er diese nicht habe, einfach vor sich hinzuleben und alles der Laune zu überlassen. Bäuerle hatte sich zuerst gesträubt, aber die leichten Herzanfälle nachts zwangen ihn zum Nachgeben. Sie sind das in vierzehn Tagen bei Ihrer Gesundheit los, wenn Sie einmal nichts tun, hatte der Medizinmann gesagt, und Bäuerle war nach Mexiko gefahren. Das war 1908, dachte der Mann auf der „Braunschweig".
Nach einer Fahrt durch den Golf war Johann Kaspar Bäuerle gegen Abend in Vera Cruz an Land gegangen. Es war eine jener gewaltigen Sommernächte, in denen das Gewölbe des Himmels überstreut ist von Sternen, und die Bäume und Sträucher erstarren unter der Ruhe des Lichts. Johann Kaspar saß auf der Terrasse des Hotels. Er hatte nichts zu tun. Er hatte nichts zu denken. Leicht war der Wein, den er trank, und der Lärm, der von der Stadt kam, verlor sich zwischen den Palmen. Bäuerle wollte am nächsten Morgen in das Innere des Landes reisen. Einer seiner Agenten hatte ihm eine Hazienda empfohlen, die unweit der Stadt Mexiko lag und zahlende Gäste aufnahm. Johann Kaspar schwankte, ob er fahren sollte. Er wäre am liebsten nach Baltimore zurückgegangen, das hätte jedoch dem widersprochen, was er sich vorgenommen hatte. Aber er könnte ja die Route ändern. Er könnte ja zum Beispiel hier bleiben und jeden Abend auf der Terrasse sitzen. Es war doch gleichgültig, wo er seine Zeit vergeudete. Er lehnte sich zurück. Er betrachtete den Himmel. Er sah das Kreuz des Südens. Er war allein auf der Terrasse.
Es war wohl gegen neun Uhr, dachte Bäuerle, als ich damals aufstand und hinunter nach dem Hafen gehen wollte. In meinem Zimmer holte ich mir den Mantel, denn es war kühl, und als ich die Treppe hinunterging, fiel mir ein, dass ich mein Zigarrenetui auf der Terrasse vergessen hatte. Es war die einzige Erinnerung an meinen Vater. Ein einfaches Ding aus Juchten, keinen halben Dollar mehr wert. Aber ich trug es, weil es das Monogramm meines Vaters enthielt und ein Geschenk meiner Mutter zu ihrer Verlobung war. Ich war gewiss nicht sentimental. Besonders damals nicht, wo ich wusste, wie hinderlich das sein kann. Aber ich ging zurück.
Der Mann auf der „Braunschweig" lächelte. Er sah den jungen Johann Kaspar Bäuerle ärgerlich durch die Halle des Hotels in Vera Cruz gehen, er sah ihn die Stufen zur Terrasse hinauf eilen, den Tisch suchen und stocken. Der Tisch war besetzt. Er wollte schon umkehren, als er das Etui sah. An dem Tisch saß ein Mann von unverfälschtem mexikanischem Typus und neben ihm eine junge Frau. Sie hielt das Etui in der Hand. Sie hatte es aufgeschlagen. Sie las dem Mann etwas vor. Siebenwasser... Meinem Bräutigam... hörte er. Es war ein entzückendes Radebrechen. Aber Bäuerle spürte in diesem Augenblick mehr als den Reiz einer zufälligen Begegnung. Das Wort Siebenwasser hatte sich mit der Stimme des Mädchens vermählt. Wie sie das aussprach! Welch ein Klang! In dem Blitz einer Sekunde sah Johann Kaspar das Haus seines Vaters, die dunkle Werkstatt, den Dachboden mit den Spinneweben und der Uniform, er sah die Mutter in der Waschküche, die Nussbäume über dem Hof, und er sah den Fluss und die Bastion und den Wald an den Hügeln, das Karussell auf dem Marktplatz, den Kirchturm und an Pfingsten die Birken vor den offenen Türen, er sah die Wiesen, die vielen grünen Wiesen und dahinter die Weinberge. Stotternd stand er vor dem Tisch. Sein Blut sauste in den Ohren. Er verbeugte sich. Juana hielt das Etui in der Hand.
Der Mann auf der „Braunschweig" saß starr. Kein Nerv rührte sich in ihm. Fest hielt er das Bild. Er durchdrang es mit all dem Licht, das sein Auge in sich trug. Da saß Juana, verwirrt und schön wie die
Nacht des Sommers in Vera Cruz, da saß der Vater, lächelnd und höflich reserviert, und da stand er, stammelnd, ein Verrückter. Und der Vater erhob sich. Er sprach ein sorgsames Englisch. Und Juana hob das Etui. Und der Vater sagte, er solle doch Platz nehmen, ihn interessiere die Stadt mit dem Namen Siebenwasser. Und Johann Kaspar nahm Platz.
Der Mann auf der „Braunschweig" füllte sein Glas. Unverwandt sah er vor sich hin. Wie der Johann Kaspar da auf einmal erzählen konnte. Von Siebenwasser und Württemberg, von seinem Vater und den Preußen, von der Auswanderung und den Jahren auf der Farm, von dem Tod der Mutter während der Wäscheausgabe im Hotel, von dem Walzwerk und dem Boss, von der Isolation und den ersten Maschinen, und welch ein Gauner Thompson war, und wie der Larousse alles hinschmiss und nach Frankreich heimging und für die kleine Ferme bei Orleans ihm alle Chancen überließ, wie er die Fabrik aufgebaut hatte und dass er jetzt in Mexiko sei und nicht wisse, was er tun wolle — ei, das war eine Suada, so gar nicht in der Art der Bäuerles, die sich gern jedes Wort abkaufen ließen, aber Juana sah ihn an, und er musste reden, sonst wäre er zerplatzt. Dann sind wir nach der Stadt Mexiko gefahren am andern Tag, und der Vater Juanas, ein Professor für Geologie, hat mich mitgenommen auf eine Studienfahrt. Auch Juana war dabei. Vierzehn Tage haben wir uns kaum angesehen und wenig miteinander gesprochen, aber das Etui hab ich ihr geschenkt und jetzt hat es Irene.
Der Mann auf der „Braunschweig" saß still vor dem Wein. Das Schiff verlangsamte die Fahrt. „Damals erst begann mein Leben", dachte Johann Kaspar Bäuerle.
Sie hatten im Frühjahr geheiratet. Bäuerle war den Winter über in Baltimore geblieben. Die Fabrik ging gut. Er kümmerte sich nur um das Notwendigste. Ein großer Teil des Tages war mit Briefen an Juana erfüllt oder mit der Erwartung ihrer Antworten. Es war, als seien alle Schleusen geöffnet. Johann Kaspar verzehrte sich nach dem Mädchen. Er hasste Baltimore, weil Juana nicht da war. Er ging kaum aus dem Zimmer, wo ihr Bild hing, vor dem er oft Stunden verbrachte. Und Juana schrieb, und ihre Schrift war so zierlich wie ihre Wimpern. Sie liebe ihn, schrieb sie, und nichts ersehne sie mehr, als ihm zu gehören.
Die Hochzeit war in Mexiko. Als sie vor dem Altar knieten und der helle Gesang der Kinder erklang, hatte Johann Kaspar Juana noch nicht geküsst. Der reiche Mann beugte sich den Gesetzen einer Konvention mit der Demut eines Jünglings. Er empfing Juana aus den Händen des Priesters und den Händen ihrer Eltern in der taubenhaften Reinheit einer Braut. Dann schlug der Rausch über ihnen zusammen. Sechs Wochen lebten sie auf einer Hazienda im Innern. Wie öffnete sich das Land! Johann Kaspar spürte bald die Leere seines Lebens vor diesem Geschöpf Juana. Er hatte Dollars gejagt und seine Beute an den Gütern der Erde reichlich eingebracht, aber unter der Stimme Juanas wandelte sich die Welt.
Das tiefe, dunkle Auge der Frau weckte Ströme des Lebens in ihm, die er in dem flachen Optimismus seiner amerikanischen Erfolge noch nie gespürt hatte. Er sah in das Leben der Indios, Juana führte ihn in die Ruinen einer zerschmetterten Kultur, sie zeigte ihm die Spuren der brutalen Eroberer, und das Gras, das über den Tempeln wuchs, wurde bald für den Mann zum Gleichnis aller menschlichen Schuld und Ohnmacht vor der Sünde. Sie liebten sich, aber es war Schmerz in ihrer Liebe. Aus jeder Umarmung Juanas sprach die Trauer um das Vergängliche, um das Ewig-Unfertige des Menschen, wie sie es nannte. Sie weinte stets, wenn die Verzückung über sie kam. Sie zogen nach Baltimore. Johann Kaspar baute ein Haus.
Alles wurde gemeinsam. Sie gaben sich hin mit jedem Wort. Johann Kaspar begann zu denken. Er vergaß die Dollars, die von selbst einliefen. Er durchforschte mit Juana die Bibliotheken. Die ewige Welt des Geistes blühte vor ihm auf. Juana hatte durch ihren Vater eine Erziehung genossen, die in vorsichtiger Abwägung des gedanklichen und des sinnlichen Eindrucks bestand. Sie führte den Geliebten durch die Räume der Kulturen, und sie zeigte ihm das Land, das über den Dollars lag. Johann Kaspar war ein eifriger Schüler. Er wuchs an Juana. Der Mann auf der „Braunschweig" bewegte sich nicht. Erbarmungslos zogen die Bilder über ihn weg. Offenen Auges, gebannt in den empirischen Raum, sah er sein Leben. Und er sah jenen Mittag, da Juana im Garten zusammenbrach, dort, wo die japanischen Zwergbäumchen standen, die sie über alles liebte — er sah ihr weißes geschlossenes Gesicht und das Blut zwischen den Schenkeln auf die Erde sickern. Er sah den Wagen, der die Schwangere fortfuhr, er sah sich im Auto hinterdrein, er sah die Gänge der Klinik, die nickenden Hauben der Schwestern, die Nummern an den Türen und das brutale Weiß des Operationssaals. Und er sah den Arzt herbeirennen, und er sah sich auf der Bank in dem Wartezimmer, sinnlos ein Glas Wässer nach dem andern trinkend. Als sie ihn holten, schwiegen sie. Er ging allein in das Zimmer, wo Juana lag. Er küsste den geliebten Mund. Er küsste den Schweiß der letzten Stunde von der Stirn. Er tat das alles sehr mechanisch. Niemand störte ihn, als er Juanas Brust entblößte und über die Kühle der Wölbung mit den Händen fuhr. Niemand störte ihn, als er den gebrochenen Mund der Toten zu öffnen suchte und seinen Atem hineinpresste in das geliebte Fleisch.
Als sie ihn holten, kniete er stumm neben der Toten. Er hielt ihren Arm und streichelte ihn. Mit sanfter Mühe zogen sie ihn hinweg. Er habe ein Kind, sagten sie, ein Mädchen.
Da blieb er stehen und schüttelte den Kopf.
„Das Leben ist gestorben", antwortete er und ging.
Der Mann auf der „Braunschweig" hob sein Glas. Salute, Freund Baker! Ohne dich hätte ich damals nicht weitergelebt. Du hast mir das Kind nachgebracht, ins Haus bist du zu mir gekommen. In der schwersten Nacht meines Lebens bist du keinen Schritt von mir gegangen. Und dann am Morgen hast du mir das Kind gezeigt, und du hast mir gesagt, es sei die
Pflicht der Männer, das Leben gegen den Tod zu ertrotzen. Salute, Freund Baker! Mit der zärtlichen Trauer eines Menschen, dem viel gegönnt, wenig erspart war, dachte er an jene Monate und Jahre, da Irene aufwuchs und er, der Vater, wie ihm schien, erst wahrhaft zum Manne wurde. Juana hatte er geliebt, und aus dieser Liebe war Irene geworden. Fern jedem Überschwang wuchs sein Gefühl für das Kind, das immer mehr Juana ähnelte, zu einer breiten, stillen Bejahung menschlicher Dinge. Er sah über die Fackel des Todes, die ihn beinahe mitverbrannt hätte, in dem Kind das unablässige Gesetz der ewigen Veränderung, und er glaubte, dass vor ihm jeder Schmerz unziemend sei. Ernst ging er seinen Geschäften nach. Er tat das, was ihm aufgetragen war, und er tat es mit Anstand. Er las viele Bücher in diesen Jahren, und er fand, dass seine Klage gering sei vor der strengen Würde des Schicksals, mit der die Menschen seit Jahrtausenden das Unfassbare zu tragen bereit sind.
1914 kam der Krieg, und die Welt stand plötzlich unter einem anderen Licht. Der einzelne versank in diesem Sturm. An seine Stelle traten die Völker. Nie wie damals hatte sich Johann Kaspar so stark als Deutscher gefühlt. Da standen sie wieder vor ihm, der Vater und die Mutter und die Häuser von Siebenwasser. Da brach aus der Schale seines Lebens der Kern seiner Jugend. Aus dem Erbe seines väterlichen Bluts schoss der Hass gegen Preußen und die grenzenlose Liebe zu seiner Heimat. Württemberg und Siebenwasser — lag nicht die festeste Wurzel, die er je geschlagen hatte, in diesem Land?
Und in jener Nacht, als das Kind durchnässt nach Haus kam, bis ins Innere bleich, da hatte er ihm von seiner Jugend in Deutschland erzählt, und er hatte ihm gesagt, auch er wolle zurück, jetzt, da sein Volk sich gereinigt habe von dem Gift des vergangenen Jahrhunderts, jetzt, da es sich die freieste Verfassung der Welt gegeben habe, ernst und groß in ihrer Würde und Zucht. Er hatte das kleine Büchlein der Verfassung lange studiert, und es war ihm, als erfülle sich der Traum jener Männer, die gestorben und verdorben waren auf den Wegen der Verfolgung und der Emigration, es war, als seien sie wieder auferstanden, die Toten von Rastatt, die wahren Patrioten des neu geeinigten Volkes. Johann Kaspar Bäuerle saß in der „Braunschweig". Es war ein gutes Schiff. Vor ihm stand der Wein, und die Trunkenheit, die in sanfter Überredung zu ihm kam, vergoldete seine Sinne. Gleichmütig lag der Mond über dem Meer. Fröhlich und heiter war Johann Kaspar. Schon sah er die Nussbäume von Siebenwasser. Und die Weinberge. Und die Wiesen ...
Einen Monat nach dem Tod des Oberbürgermeisters Prätorius erlebte die Stadt Siebenwasser einen Skandal. Der Anlass ergab sich aus der Eröffnung des Stadttheaters. Intendant Bringolf hatte mit den Vorstellungen einige Wochen früher als üblich begonnen. Das anhaltend gute Wetter der Sommermonate hatte seiner Tournee durch die Badeorte sehr geschadet. Da er persönlich für die aufgelaufenen Gagen und Steuerrückstände haften musste, zog er es bei den ersten Anzeichen eines Defizits vor, die Tournee abzubrechen und nach Siebenwasser zurückzukehren. Immerhin waren seine Verpflichtungen hoch genug, dass er gezwungen war, sich nach einer Kompensation umzusehen. Er besprach sich lange mit Kalahne. Kalahne und Bringolf hatten gemeinsam in Tübingen studiert. Sie stammten aus dem gleichen Dorf der Rauen Alb. Sie waren Spiel- und Schulkameraden gewesen. Schon damals hatte der Sohn des kleinen Bauern Kalahne seine geistige Überlegenheit über den jungen Lehrerssohn Bringolf dazu benutzt, ihn zu einem dienenden Freund zu machen. Mit Hilfe des starken Knaben vermochte sich der kleine rothaarige, schwächliche Kalahne gegenüber den Dorfbuben, die ihn wegen eines Fußleidens hänselten, durchzusetzen. Allgemein im Dorf galt er als Sonderling, ja, böse Weiber tuschelten, er sei ein Kuckucksei, das ein durchreisender Händler dem alten Kalahne ins Nest gelegt habe. Trotz mehrerer Klagen, die der kleine Bauer angestrengt hatte, wollte das Gerücht nicht verstummen.
Sie waren tüchtig, die Kalahnes, das mussten ihnen selbst die größten Neider lassen, sie arbeiteten vom frühen Morgen bis tief in die Nacht. Dem steinigen, kargen Boden ihrer Äcker rangen sie in unablässiger Arbeit einen Ertrag ab, den die anderen Bauern selten erzielten. Sie lebten ein Dasein von aufreizender Einfachheit. Jeden Überschuss an Geld benutzten sie zur Meliorisierung ihrer Felder. Sie kauften die neuesten Maschinen, sie stärkten ihren Viehstand, sie errichteten eine Hühnerfarm, deren Produktion der älteste Sohn einmal wöchentlich mit einem kleinen Opelwagen nach Tübingen fuhr. Sie hatten das Auto aus einem Verschrottungslager für wenige Mark erstanden. Als sie es zu dritt den Berg hinauf nach dem Dorf zu schoben, fand der Witz der Bauern keine Grenzen. Sie lachten über die verrückten Probier, aber ihre Laune schlug um in Groll, als nach drei Nächten, während deren sie dauernd das Hämmern aus der Scheune Kalahnes hörten, der Wagen lief und der älteste Sohn mit einer quietschenden Hupe den Berg hinabfuhr.
Dr. Kalahne war das siebte Kind seiner Eltern. Er ähnelte in nichts seinen Geschwistern. Sie zeigten einen derben, gesund-bäuerlichen Schlag, wasserblaue Augen, in denen kaum ein Glanz war, es waren großknochige Burschen mit langen Schädeln, wortkarg und arbeitsverbissen. Schweigend standen sie auf ihren Äckern, wortlos saßen sie abends in der Küche vor dem langen Tisch und zermahlten die Kartoffeln zwischen ihren starken Kiefern. Frühmorgens kurz nach dem Aufgang der Sonne stiegen sie aus ihren Betten und wuschen sich an der Pumpe im Hof. Sie sangen nie und mieden jeden Verkehr mit den Burschen des Dorfs. Die beiden Schwestern unterschieden sich kaum von den Brüdern. Sie waren hässlich, und wenn sie nicht schliefen, dann arbeiteten sie. Farblos waren ihre Kleider, ohne Bänder und Schmuck. Beim Kirchgang in die Nachbargemeinde, wo sich die einzige katholische Kirche der Umgebung befand, sprachen sie kein Wort mit den Frauen, die ihnen begegneten, und wenn ihnen ein paar Burschen etwas zuriefen, hoben sie nicht den Blick von dem Boden.
Schon früh sonderte sich der jüngste Kalahne von seinen Geschwistern ab. Er beteiligte sich nie an ihrer Arbeit, er mied den Stall und das Feld. Er saß in einem Schuppen hinter dem Garten und las. Da er kein Geld hatte, war er auf die schmale Bibliothek des Lehrers Bringolf angewiesen. Dort fanden sich neben ein paar Lehrbüchern und einer kleinen Sammlung von Anleitungen für Bienenzüchter nur die Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab. Das Buch wurde dem jungen Kalahne zum Evangelium. Heldische Menschen, die Götter verwundeten, dass ihr Geschrei die Sphären erschütterte, heldische Menschen, die dennoch keine List scheuten, um in den süßen Genuss der Macht zu kommen, weißglänzend im silbernen Schein ihrer Rüstungen standen sie vor ihm, lebendige Denkmale eines unbekümmerten, totalen Lebens. Hier herrschte nicht die Muffigkeit des Elternhauses, das ewige Schuften und das sinnlose Wühlen im Boden, hier verbog einem kein Pfarrer die Sinne, keine Religion machte die Erde zur Mitleidsanstalt, hier lebte der Mensch, ein starkes, gesundes Tier, kraft seiner List und Schläue allen anderen Tieren überlegen, selbst die Götter zwang er in den berauschenden Kreis seines Lebens zwischen Macht und Tod. Kalahne stand völlig unter der Magie dieses Buches. Kein Abend verging, da er nicht dem jungen Bringolf von den Taten der Helden berichtete. Kein Traum erhob sich in seinem Innern, in dem nicht die Stimme der erregenden Gesänge erklang. Er verachtete die Arbeit seiner Eltern als etwas Kümmerliches. Er hasste das Dorf und den simplen Sinn seiner Mitschüler, aber er verbarg diesen Hass hinter einem eisigen Schweigen. Schwach von Gestalt, durch ein Fußleiden, das er seit seiner Geburt an sich trug und das ihn zum Spott der Bauernburschen machte, in seinen Bewegungen gehemmt, schwor er sich, in seinem späteren Leben dennoch jene Macht über Menschen zu erlangen, nach der es ihn dürstete.
Mit der einem Krüppel eignen Selbsterkenntnis besann er sich sofort auf seine einzige Waffe, auf die List, auf den Intellekt und auf die Verlockung durch den Traum. Das Feuer, das in ihm brannte, wuchs von Tag zu Tag, es höhlte seine Wangen aus, es machte seine Haut fiebrig, und sein Atem ward heiß, wenn er über den Büchern saß. Der junge Bringolf, ein starker Bub, gutgläubig und mit einer tanzenden Phantasie begabt, geriet völlig unter Kalahnes Einfluss. Er schützte den Schwachen vor den Hänseleien der Dorfjugend, dafür erschütterte dieser sein junges Herz mit Lebensträumen von ungeahnter Gewalt. Sie schwuren sich eine Freundschaft, die nur der Tod lösen könne, tagelang lagen sie während der Ferien in den Büschen und berauschten sich an den Werken der Helden, aber es war bei Kalahne mehr als ein knabenhaftes romantisches Spiel. Die innere Erregung durchfraß jedes seiner Worte, und die Glut, die von seinen Worten ausging, faszinierte den jungen Bringolf bis zur völligen Dienstbarkeit. Zum ersten Mal schmeckte Kalahne die Macht über einen Menschen, wenn der kleine Bringolf für ihn Obst stahl und es ihm wie einem Häuptling zu Füßen legte.
Es kam der Krieg, und die Herzen der Knaben schlugen in wilder Erwartung des Anbruchs des heldischen Jahrhunderts. Es kamen der Tod und die Not, die Verwelkung des Volkes, die Unlust der Bauern, zuletzt die Niederlage und dann die Revolution. Kalahne war sechzehn Jahre und besuchte mit Bringolf das Gymnasium in Tübingen. Am Waffenstillstandstag schloss er sich in sein Zimmer ein, zeigte sich zwei Tage und zwei Nächte nicht. Als er wieder in der Schule erschien, war sein Gesicht eine Maske. Die Lehrer hatten Scheu vor der seltenen Intelligenz des Knaben. Der faszinierende Einfluss, den er auf seine Kameraden ausübte, war ihrem Durchschnittsgefühl unbegreiflich. Sie wussten, dass sich um Kalahne ein Bund gebildet hatte, eine Schar entschlossener Knaben, die dem von Gestalt kleinen Krüppel mit einer Verehrung anhingen, die ans Mystische grenzte. Die Devise dieses Bundes hieß: „Lieber tot als Sklav!"
Da der Junge als Bauer völlig ungeeignet war, ließ ihn der alte Kalahne studieren. Aber sein bäuerlicher Sinn war noch so weit in Ordnung, dass er als Studium die Jurisprudenz vorschrieb und sich jede Beschäftigung mit politischem Firlefanz verbat. Der Junge erkannte die Chance und griff zu. Kraft seiner Intelligenz war es ihm ein leichtes, das juristische Studium ohne großen Zeitverlust zu absolvieren. Die Freizeit benutzte er, sich in der Beherrschung der Menschen zu üben. Es war in diesen Jahren der geistigen Desolation nicht schwer, um sich einen Bund verzweifelter junger Menschen zu bilden. Das bürgerliche Weltbild hatte durch den Krieg und den latenten Nachkrieg in Deutschland innerlich längst den entscheidenden Stoß erhalten. Seit langem waren die Konventionen labil. Nur der Staat merkte es nicht.
Kalahnes Bund jedoch unterschied sich von anderen Bünden vor allem durch die Eigenart seines Leiters. Alle seine Freunde verpflichtete er, nach dem heldischen Gesetz zu leben. Was heldisch war, entschied er selbst. Er untersagte ihnen jede Diskussion mit den neuen Strömungen, die nach der Revolution durchs Land gingen. Er verbot jede romantische Schwärmerei, die sich etwa darin ausdrücke, dass man keinen Beruf ausüben wollte, sondern lieber als Landsknecht ins Baltikum, nach Oberschlesien oder in den Ruhr- und Separatistenkampf ging. Jedes Mitglied war verpflichtet, den ihm erreichbaren Posten im Staat oder in der Wirtschaft zu besetzen und danach zu trachten, ihn durch einen einflussreicheren abzulösen.
So kam es, dass Kalahne nach Absolvierung seiner Studien und der Erlangung des Doktorgrades ein Angebot der Stadt Siebenwasser, als Pressereferent und persönlicher Sekretär des Oberbürgermeisters in ihre Dienste zu treten, sofort annahm. Nachdem er erkannt hatte, dass es zweckmäßig sei, ließ er sich auch als Mitglied in die Sozialdemokratische Partei eintragen.
Als Kalahne nach Siebenwasser kam, hatte sich seine Art gewandelt. Mit beobachtender Bescheidenheit passte er sich dem Wesen seiner Vorgesetzten an. Prätorius' instinktive Abneigung gegen den blassen Hinkefuß mit den brennenden Augen hatte sich bald in eine Hochachtung für die Arbeitskraft seines Sekretärs gewandelt. Niemand verstand es so gut wie Kalahne, zwischen den Fraktionen und ihren Wünschen zu vermitteln, niemand wusste die Verlautbarungen des Magistrats, die Protokolle der Sitzungen so schmackhaft herzurichten wie der merkwürdige Bauernjunge aus der Rauen Alb. Sechs Monate nach seinem Eintritt in die Dienste der Stadt Siebenwasser wurde Kalahne als ständiger Referent in die Theaterkommission berufen und dort mit der Vertretung des Magistrats betraut. Drei Monate später wurde auf Kalahnes Vorschlag Bringolf, der es nur auf zwei Semester Jura in Tübingen gebracht hatte und dann als jugendlicher Liebhaber an eine der damals aufblühenden Wanderbühnen gelangt war, von welcher Basis aus er sich schließlich zu einem kleinen Regisseur an einem niederrheinischen Theater hinauf gespielt hatte, als Intendant an das Stadttheater Siebenwasser berufen. Vor seiner Verpflichtung durch den Magistrat hatte er Kalahne gelobt, keine Handlung ohne dessen Willen zu unternehmen. Er schwur auf das Gesetz des Bundes, das, wie Kalahne versprach, in wenigen Jahren in Erfüllung gehen werde.
Die Intendanz Bringolfs stand unter einem guten Stern. Durch Kalahnes Einfluss wurde ihm ein höherer Zuschuss als seinem Vorgänger bewilligt. Bringolf gründete auf Kalahnes Rat sofort eine Vereinigung der Freunde des Stadttheaters Siebenwasser. Die Frauen und Töchter der akademischen Bürokratie, der Industriellen, hatten bei den alle vierzehn Tage sich ergebenden Zusammenkünften endlich die Möglichkeit, ihr Scherflein zu der deutschen Kultur beizutragen, und, was das Wichtigste für Bringolf war, die Theaterreferenten der drei Zeitungen in Siebenwasser konnten aus eigenen Werken lesen und die längst verschimmelten Manuskripte aus den Schubladen holen. Und welch eine Freude war es, wenn die Mitglieder der Vereinigung endlich die Möglichkeit fanden, in Referaten über Shaw, Kaiser, Brecht und Bronnen ihre Meinung öffentlich vorzutragen und am nächsten Tag eine lobende Besprechung in der lokalen Zeitung zu lesen. Bringolf stellte auf Kalahnes Rat diese Versammlungen unter das Motto:
„Praktische Mitarbeit am Aufbau der deutschen Kultur." Die Folge war, dass jede unabhängige Kritik an seinen Aufführungen im Stadttheater zunichte wurde, weil kaum ein Mensch, der sich um diese Aufführungen kümmerte, nicht Mitglied der Vereinigung der Freunde des Stadttheaters Siebenwasser war. Kalahne hatte Bringolf jenen Satz aufgeschrieben, den der Intendant vor jeder Versammlung auswendig hersagte: „Wir sind eine große geistige Gemeinde. Es ist unser Schicksal, das dort auf unserer Bühne abgehandelt wird. Wir wollen demütig sein vor dem Leben und stille weiterschaffen als Diener im Tempel der Kunst."
Mit der Beherrschung des Stadttheaters hatte sich Kalahne in der Gesellschaft Siebenwassers eine starke Position geschaffen. Überall wurde er als der Initiator des Theaters gelobt und verehrt. Kalahne beherrschte das geistige Denken der Stadt. Als mit dem Tod des alten Redakteurs der Posten am Feuilleton des „Generalanzeigers für Siebenwasser und Umgebung" frei wurde, war es Kalahne ein leichtes, die Stellung Schickedanz zu verschaffen, der gerade in Heidelberg promoviert hatte und einer der ergebensten Anhänger des Bundes war. Kalahne verpflichtete ihn auf das Ziel, jede List anzuwenden, um das selbstsichere Gefühl der herrschenden Gesellschaft zu zerstören, Zweifel zu säen, wo nur Zweifel möglich waren, und vor allem sich Mitarbeiter aus der Jugend zu holen. Schickedanz war noch keine drei Wochen in Siebenwasser, als er in seiner Zeitung eine Beilage schuf, die sich Sprechsaal der Jugend nannte und allen jungen Menschen für Glossen und Beschwerden offenstand. Da die Auflage erheblich stieg, war der Verleger, ein steinreicher Druckereibesitzer, mit mancher Ausschreitung der Gedanken einverstanden. Öffentlich musste Schickedanz jeden Verkehr mit Kalahne, soweit er über die kollegiale Form ging, meiden. Er erhielt seine Weisungen durch ein anderes Mitglied des Bundes.
Dieses verbot ihm vorläufig jede Polemik gegen die Sozialdemokratie. „... es ist Wert darauf zu legen, dass Du heute und für die nächsten Jahre in allem, was Du schreibst, immer vom Menschen sprichst und nie von politischen Parteien. Du musst so tun, als gäbe es sie nicht. Umso rascher werden sie verschwinden. Betone immer, dass das Leben einmalig ist und dass sein höchstes Moment in dem Gefühl der Macht beruht. Proklamiere das nicht, aber zeige es durch Erzählungen, die Du Dir beschaffst. Es gilt nicht die Vernunft, sondern den Instinkt zu erregen. Eine glücklich bestandene Löwenjagd ist mehr wert als ein gewonnener Prozess."
Bald wurde Schickedanz' Feuilleton die beliebteste Lektüre der Jugend von Siebenwasser.
Bringolf war sofort nach dem Abbruch der Tournee zu Kalahne gegangen. In der Webergasse, im Oberstock eines alten Hauses lag das Zimmer. Bringolf, im neuen englischen Sommeranzug, braun gebrannt von der Sonne, die sein Defizit verschuldet hatte, stieg die schmale Treppe hoch. Es roch nach Zwiebeln und gewärmtem Kaffee.
Er hat es doch nicht nötig, dachte Bringolf, in solch einer Spelunke zu wohnen. Sonntag nehme ich ihn im Auto mit, dann hat er wenigstens einmal Waldgeruch.
Er stand vor der Tür. Er klopfte. „Ja", hörte er eine Stimme.
Bringolf trat ein. Vor einem Spiegel stand Kalahne und rasierte sich.
„Ich weiß schon", sagte er, „setz dich!" Dann schabte er weiter.
Bringolf setzte sich. Merkwürdige Bude, dachte er. Nichts befand sich in dem Raum als ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl und eine Waschgelegenheit.
„Wie hoch ist das Defizit?" begann Kalahne und fing an, sich zum zweiten Mal einzupinseln. „Woher weißt du das schon?" fragte Bringolf. „Wie hoch das Defizit ist, habe ich gefragt." „Dreitausend — aber mir genügt's", brummte Bringolf.
„Du kannst in zwei Tagen hier anfangen zu spielen." Bringolf stand auf. „Das verstehe ich nicht", sagte er.
„Einen Monat auf eigne Regie, bis zur offiziellen Eröffnung der Spielzeit." „Ja, aber..."
„Wenn du ein Stück hast, das zieht, kannst du das Doppelte des Defizits in vierzehn Tagen herausholen. Hast du ein Stück?" „Nein."
„Ich habe eins."
Bringolf sah den schmalen Körper vor sich stehen, die engen Schultern, und darüber den Kopf, übermächtig im Verhältnis zum Körper. Der ganze Körper schien nur eine Prothese dieses Kopfes. Kalahne wusch sein Gesicht. Wahrend er sich abtrocknete, sagte er: „Der ,Fröhliche Weinberg' wird einen Skandal machen."
„Du bist verrückt", sagte Bringolf, „wie kann ich in einer klerikalen Stadt einen Skandal riskieren?" „Du kannst", grinste Kalahne, „die Sozialdemokraten werden das Stück als Anlass zur Verteidigung der Geistesfreiheit benutzen. Sie brauchen endlich wieder eine Parole. Das Bürgertum wird aus Sensation hineinlaufen, und das Zentrum wird so laut protestieren, dass sich noch mehr Leute die ,Schande' ansehen werden. Der Skandal wird kaum über den formellen Protest gehen. Denn unsere beiden stärksten Fraktionen — Zentrum und Sozialdemokratie — haben wieder einmal einen Handel auszumachen. Dein Defizit wird gedeckt werden, und du verpflichtest dich, zwei Drittel des Überschusses an den Bund abzuführen." „Gern", sagte Bringolf.
„Ich habe Schickedanz informieren lassen, er wird nach der zweiten Vorstellung mit dem Skandal beginnen."
„Es ist gut", sagte Bringolf, „ich werde heute noch den Antrag auf Eröffnung unter eigner Regie für einen Monat stellen."
„Das ist schon geschehen." Kalahne setzte sich und rieb seine wunde Backe an dem Frottiertuch. „Du hast...?" rief Bringolf.
„Ja, ich habe mir erlaubt, deinen Namen unter das Gesuch zu setzen", sagte Kalahne. Er stand auf, ging
nach dem Primuskocher und begann Wasser zu sieden.
„Ich danke dir", sagte Bringolf. „Es ist alles organisiert — auch der Skandal." Kalahne legte seine großen Zähne frei. Bringolf ging zur Tür.
„Willst du nicht Tee trinken?"
„Danke, aber sag, warum wohnst du so schlecht?"
„Ich muss arm sein", antwortete Kalahne.
Als der Intendant Bringolf seine Kanzlei betrat, überreichte ihm der Sekretär ein Paket. „Die Rollenbücher für das neue Stück", sagte er. Bringolf riss den Umschlag herunter. Es war „Der fröhliche Weinberg".
Bringolf ging sofort ins Cafe Adelmann. Er begann das Stück zu lesen. Nach dem ersten Akt hatte er bereits zwei Mokka getrunken. Dann ging er zu Kognak über. Federleicht war das alles zu inszenieren. Das sprach ja und spielte sich von selbst. Aber fast hinter jedem Wort wuchs der Skandal. Unmöglich, dass sich das die Kirche gefallen ließ. Und die Beamten! Bringolf freute sich, das war Theater. Das sollte man vor den Bauern in den Dörfern spielen. Verdammt...!
Als Bringolf gegen fünf Uhr in die Kanzlei zurückkam, lag ein Brief des Magistrats auf seinem Tisch, in dem stand: „In Genehmigung Ihres Gesuchs vom 16. August 1927 übergeben wir Ihnen das Stadttheater in eigene Regie auf die Dauer eines Monats. Als Haftung bitten wir um die Hinterlegung von RM 2000.—. Dieselben sind durch einen Scheck auf die örtliche Volksbank bei uns eingegangen und von uns zu treuen Händen bei der städtischen Sparkasse deponiert worden. Wir bitten um eine Gegenbestätigung."
Bringolf diktierte die Gegenbestätigung, unterschrieb den Vertrag mit dem Bühnenvertrieb und setzte auf den Probenzettel: „Erstaufführung Der fröhliche Weinberg, Stellprobe Dienstag 10 Uhr. Der Intendant."
Als er am Abend Kalahne im Cafe Adelmann traf, fragte er: „Wohin soll ich die zweitausend Mark Kaution zurückschicken, wenn alles gut abgeht?" „An den Bund", antwortete Kalahne.
Die Premiere des „Fröhlichen Weinbergs" fand am 5. September 1927 im Stadttheater Siebenwasser statt. Bringolf hatte vorsorglich den Verein der Freunde des Stadttheaters mobilisiert und dort von Rektor Allwohn, mit dem er eine Nacht vorher durchgesoffen hatte, einen Vortrag über das „Derbe in der deutschen Volksdichtung" halten lassen.
Er hatte dem Rektor dafür ein geheimes Honorar von achtzig Mark gezahlt und ihm die Uraufführung seines Dramas „Attila" in Aussicht gestellt. Die Rede wurde in den drei Zeitungen von Siebenwasser veröffentlicht — nur Schickedanz schrieb eine Randglosse dazu, in der zu lesen war, dass das Derbe keinerlei Entschuldigung bedürfe, wenn es nur der deutschen Art, derb zu sein, entspräche, und nicht einer jüdischen Spekulation über das „Derbe", was einer Verfälschung der Instinkte gleichkäme. Schickedanz bezieht Posten, dachte Bringolf, und er überredete noch am gleichen Abend den Redakteur des Volksrechts zu einer Polemik gegen die Einführung des Rassegedankens in der Kunst. Am Abend der Premiere war das Haus ausverkauft. Die Vereinigung der Freunde des Stadttheaters war ohne Ausnahme erschienen. Im Parkett trafen sich die Vertreter der intellektuellen Berufe, Anwälte und Ärzte, mit der höheren Bürokratie und den Spitzen der Kaufmannschaft. Auch die Ränge waren voll besetzt. Hier hatte das theaterbegeisterte Publikum der kleinen Leute seinen Platz, Angestellte, junge Arbeiter des Volksbildungsvereins, Gymnasiasten der letzten Klassen.
Schickedanz war wenige Minuten vor Beginn nach seinem Platz in der zweiten Reihe des Parketts gegangen. Er setzte sich und tat so, als studiere er das Programm. Aus den Gruppen, die noch zwischen den Sesseln standen, hörte er oft seinen Namen. Eine starke Spannung hielt das Haus gefangen. Bringolf hatte die Säulen im Parkett und in den Rängen mit frischem Weinlaub umwickeln lassen. Im Foyer war ein großes Fass aufgebaut. Frau von Berg, als Winzermädchen gekleidet, goss dort den neuen Most aus, der schon leicht gärte. Lachen und laute Reden füllten die Gänge. Schickedanz starrte auf das Programm und rührte sich nicht. Als sich der Raum verdunkelte und nach dem zweiten Gongschlag der Vorhang sich hob, atmete Schickedanz auf. Das Halbdunkel beruhigte ihn. Schon nach den ersten Szenen begann der Applaus. Er setzte auf den Rängen ein und griff über in das
Parkett. Wie leicht die Leute zu haben sind, dachte Schickedanz. Er gab sich Mühe, seine Umgebung, die sich bereits in dem Zustand eines unterdrückten Kicherns befand, zu vergessen. Er sah auf die Bühne. Nichts dagegen zu sagen, Bringolf ließ da eine flotte Sache sehr flott herunterspielen. Nach dem zweiten Akt dachte Schickedanz: ein ganz netter Schwank. Und als der Vorhang sich wieder hob, sagte sich Schickedanz, dass es eigentlich lächerlich sei, aus einer heiteren Mücke einen schweren Elefanten zu machen. Das Stück hatte Humor, das war nicht zu leugnen. Und die Szenen saßen. Das hatte zwar nichts mit jener Kunst zu tun, die Schickedanz als einzige anerkannte, die Strenge und Exklusivität Georges, sein heroisches Element, sein Widerstand gegen eine schwache und weibische Epoche — aber es wäre sinnlos gewesen, hier den Volkswitz zu übersehen, die Lust am Derben und an der komischen Situation. Nein, das hatte nichts mit Jüdisch-Spekulativ zu tun, das war echt. Die ganze Polemik, die er auf Anraten Kalahnes angefacht hatte, stand auf schwachen Füßen. Allerdings, es galt, Bringolf zu helfen, und der brauchte etwas Stunk, damit das Haus voll werde. Das war geschehen, aber wie konnte man sich aus einer Affäre herausziehen, die bei Gott nicht angetan war, zu weltanschaulichen Kämpfen herauszufordern? Hatte er sich nicht eben selbst bei einem Lacher ertappt? Das Stück besaß Verve. Und wie das über die Rampe griff. Das ganze Haus befand sich schon im Zustand einer leicht angeheiterten Familie.
Als schließlich der Assessor auf dem Misthaufen lag, kannte auch das Parkett kein Halten mehr. Der Beifall steigerte sich zur Ovation. In ihrer angestammten Loge stand Frau von Berg in hellblauer Schürze und weißem Häubchen. „Nieder mit den Muckern!" rief sie, „nieder mit den Muckern!" Und das Haus stimmte ein.
Gerade als es Schickedanz gelungen war, durch die klatschenden Gruppen sich nach dem Ausgang zu kämpfen, erschien Bringolf auf der Bühne. Jubelnde Zurufe empfingen ihn. Frau von Berg riss ihr Häubchen vom Kopf und warf es ihm mit einer Blume auf die Bühne. Bringolf hob den Arm. Mühsam trat Stille ein.
„Meine Damen und Herren, Bürger von Siebenwasser", rief der Intendant, „dieser Abend beweist es mir aufs neue und in so überwältigender Art, wie ich es nie geahnt hätte: in Siebenwasser hat die Kunst trotz aller Versuche einer hinterwäldlerischen Moral eine uneinnehmbare Hochburg gefunden. Ich bin glücklich, diese Stunde zu erleben." Minutenlang raste der Beifall. Alle hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Lächelnd verbeugte sich Bringolf. Das Defizit ist gedeckt, dachte er.
Schickedanz hatte unauffällig das Theater verlassen. Rasch ging er durch die Rudel der fröhlichen Heimkehrer. Eine Atmosphäre unbefangener Ausgelassenheit lag über den Straßen. Die Weinstuben füllten sich. Schickedanz war wütend. Eine schöne Sache hatte Kalahne ihm da eingebrockt.
Auf seinem Buckel sollte das Defizit Bringolfs ausgetragen werden, und er hatte den Spott davon! Was sollte er gegen das Stück sagen? Es war handfestes Theater. Dass es unsittlich sei? Alles in ihm sträubte sich, in die Gesellschaft von Sittenschnüfflern oder Moraltanten zu kommen. Das Theater ist kein Internat, und er, Alfred Schickedanz, ist kein Reaktionär. Der donnernde Applaus galt auch ihm — wie hatte er das gespürt! Gelacht hatte man hinter ihm, als er hinausging. Sollte er morgen das Stück und die fröhlichen Leute öffentlich vor der bürgerlichen Moral denunzieren? Und er selbst? Hasste er doch nichts mehr als eben diese bürgerliche Moral! Schickedanz fror. Sein Zorn auf Kalahne war gewaltig.
Nach zwanzig Minuten Marsch hatte er die letzten Häuser von Siebenwasser hinter sich gelassen. Er ging auf einer dunklen Landstraße. Im Gelände verstreut schimmerten ein paar Bauernhäuser. Frau von Berg hatte das Ensemble und einige Freunde nach der Premiere auf ihr Gut eingeladen. Auf der Terrasse und in den Gärten hatte sie ein Winzerfest arrangiert. Sie hatte kleine Trinklauben errichten lassen. Auf der Tenne der mittleren Scheune wurde getanzt.
In drei großen Leiterwagen, mit schweren Gäulen bespannt, fuhr das Ensemble auf das Gut. Kalahne und Bringolf trafen sich mit Frau von Berg im Cafe Adelmann. Bringolf bestellte echten französischen Kognak.
„Hättest du das erwartet?" lachte er Kalahne an. „Ein seltener Erfolg", sagte Kalahne.
„Eine Sensation für unser kleines Siebenwasser!" rief Frau von Berg und schüttelte Bringolf am Ärmel.
Glücklich wie ein Kind bestellte Bringolf zwei Eier im Glas und, nachdem er sie ausgelöffelt hatte, erklärte er, jetzt sei sein schlimmster Hunger gestillt. Jetzt könnten sie fahren.
Der Arme, dachte Frau von Berg, seit drei Tagen hat er nichts Richtiges gegessen, und das alles wegen der Proben.
Sie öffnete den kleinen Buick, und die Männer stiegen ein. Als der Wagen die Stadt hinter sich hatte und Frau von Berg gerade den Motor auf Touren kommen ließ, riss sie plötzlich das Steuer mit solcher Gewalt zur Seite, dass die Männer im Fond mit den Schultern hart wider einander stießen. Sie bremste stark ab, gab aber sofort wieder Gas und fuhr in rasch sich steigernder Geschwindigkeit weiter. „Ein Hindernis?" fragte Kalahne. „Nein, irgend so ein Kerl, der statt auf der rechten natürlich auf der linken Seite spazierte." Frau von Berg fluchte.
„Diese blöden Fußgänger", sagte Bringolf.
Schickedanz war vor dem scharf dahinfahrenden Wagen auf die rechte Straßenseite geflüchtet. In der grellen Breite der Scheinwerfer sah er plötzlich das Haus, das er suchte. Fast hätte ihn der Kotflügel gestreift. Der Dreck spritzte ihm die Hosen hinauf bis an die Knie. „Bande!" sagte er, als der Wagen in der Kurve verschwand. Dann läutete er. Gerhard Träger öffnete.
„Sie sind etwas früh", sagte Träger, als sie die Stube betraten, „Dr. Kalahne hat sich erst kurz nach zwölf Uhr angesagt."
„Ich dachte, sofort nach der Premiere..."
„Aber das macht nichts", Gerhard Träger schob einen Stuhl hin, „wir werden eben versuchen, uns vorher ein wenig zu unterhalten."
Schickedanz setzte sich und betrachtete die Stube.
Sie war schmucklos. In der Mitte stand ein langer, blank gescheuerter Holztisch. Die verschalten Wände waren mit keinem Bild behangen. Nur über dem aus rohen Backsteinen gefertigten Kamin sah er einen Degen und einen Stahlhelm mit den Insignien
der Oberschlesien- und Baltikumkämpfer.
„Trinken Sie?" fragte Gerhard Träger.
„Bitte", antwortete Schickedanz.
Träger goss zwei Kirsch ein.
„Danke", sagte Schickedanz.
Es fiel ihm schwer, Gerhard Träger in die Augen zu sehen. In ihrem mausgrauen Schimmer lag die Pupille als ein stechender Punkt. Sie war klein, diese Pupille, und es fehlte ihr jede Unruhe. Aber auch jede Wärme. Es war, als spieße sie die Gegenstände auf, die sie betrachtete. Der kalte Ausdruck dieser Augen wurde noch verstärkt durch einen schmalen Kopf, über dessen rostbrauner Stirn sich die weißblonden Haare zu einem trockenen Scheitel legten. Gerhard Träger war groß, obwohl sein Oberkörper eher zierlich wirkte. Zwei Drittel seiner Figur machten die Beine aus. Es waren hohe, schmale Schenkel, durch die Breeches in ihrer Linie über betont, und es schien, als sei der Oberkörper und besonders der Kopf nur ein Bewusstwerden der in den Beinen ruhenden, federnden Kraft. Zum ersten Mal saß Schickedanz Gerhard Träger so nahe gegenüber.
Er hatte es überhaupt erst vor zwei Monaten erfahren, dass Gerhard Träger in der Nähe von Siebenwasser wohnte. Niemals wäre er darauf gekommen, dass der Dichter jener strengen Erzählung „Zucht vor dem Tod" die weiche Luft Württembergs atmen könnte. Er hatte immer geglaubt, dieser Mann müsse in der herrischen Abgeschlossenheit einer nordischen Landschaft leben. Auf den Schären. Oder in der schweigsamen Ebene Pommerns. Zum ersten Mal hatte man in Siebenwasser von Gerhard Träger gehört, als der neue Sport- und Wehrverein gegründet wurde. Träger hatte den Vorsitz oder, wie es in den Ankündigungen des Vereins hieß, die Führung. Mitglied konnte nur werden, wer kein Jude und nicht über dreißig Jahre alt war. Kaum mehr als vierzig junge Männer versammelten sich um Gerhard Träger. Man lächelte über sie, weil sie eine Art Uniform trugen, olivgrüne Hemden mit Schulterriemen, und weil sie jede Gelegenheit benutzten, in geschlossenem Zug durch die Stadt zu marschieren. „Soldatenspielerei", schimpften die Bürger von Siebenwasser. Denn sie konnten es nicht fassen, dass man sich freiwillig und ohne staatliche Aufforderung einem Zwang hingab, der verdammt nach Militär aussah. Ihrer süddeutschen Lebensart widersprach der nummerierte Ernst, mit dem die Olivgrünen daherkamen.
Es waren nur junge Leute, die Gerhard Träger anhingen, Gymnasiasten und Söhne von Handwerkern. Ihre Eltern schimpften auf den verrückten Offizier, der da draußen auf seiner kleinen Kate saß und ihre Söhne durch seine blöde Soldatenspielerei von der Schule und der Arbeit ablenkte. Gegen die Kommunisten gab es die Polizei, und von einem Krieg gegen die Franzosen hatte man übergenug. Wozu also die Flausen? Wegen der paar Juden? Lächerlich!
Schickedanz war neugierig. Er hätte zu gerne gewusst, wieso sich ein junger Offizier und ein Schriftsteller vom Range Gerhard Trägers gerade in Siebenwasser ansiedelte und mit halbwüchsigen Knaben Geländeübungen veranstaltete, die ihn unangenehm an die Jugendwehr während des Krieges erinnerten. Er versuchte mit Gerhard Träger zu sprechen, aber dieser schob ihm eine Zeitung hin und nahm selbst ein Buch.
„Einführung in die Bienenzucht" las Schickedanz auf dem abgegriffenen Deckel. Sie saßen sich lange gegenüber. Schickedanz lauerte auf ein Wort. Aber Gerhard Träger schwieg. „Herr Oberleutnant", begann schließlich Schickedanz, „ich habe vor Jahren Ihr Buch gelesen, ich war noch auf der Universität, es war eine Offenbarung für uns."
Gerhard Träger antwortete nicht. „In einer Zeit, die offensichtlich an Knochenerweichung leidet", fuhr Schickedanz fort, „war es für uns durch seine Bejahung des Heldischen
eine neue Hoffnung. Sie haben viele Menschen in der neuen Jugend, die Ihnen anhängen, Gerhard Träger."
„Waren Sie im Krieg?" antwortete Gerhard Träger. „Nein", sagte Schickedanz, „ich gehöre zum Jahrgang 1902. Wir kamen gerade so dran vorbei." „Eine verlorene Generation." Gerhard Träger legte das Buch zur Seite. Lächelnd sah er Schickedanz an. Der Bursche gefiel ihm nicht. Sein Gesicht war weich, und er trug eine Brille. Außerdem hatte er kurze Beine und kugelrunde Augen. Dabei redete er literarischen Sums daher wie irgend so ein Nebbich von einem Ullsteinblatt. Offenbarung und Bejahung des Heldischen. Feuilletonphrasen. Bei solchen Herren muss man vorsichtig sein. Die haben es gern mit dem Heldentum und der Aufopferung, doch wenn es hoch kommt, schreiben sie einen Essay darüber.
Der Mann war nur taktisch wichtig, das sah Gerhard Träger. Wahrscheinlich war er ehrgeizig und sentimental. Ein bürgerlicher Meckerer. Nicht durch Geld, doch durch Lob zu bestechen. „Es ist eine große Verantwortung, die auf Ihnen ruht, Herr Schickedanz."
Gerhard Träger lehnte sich mit beiden Armen auf den Tisch und sah Schickedanz an. Schickedanz fror ein wenig unter diesem Blick, aber er fühlte sich durch die Worte erhoben. „Ich weiß", sagte er, „ich bin mir dessen bewusst." „Sie müssen denken, Sie seien im Feld, und Sie hätten einen Abschnitt zu halten. Der Krieg ist nämlich noch nicht vorbei."
„Ich halte den Abschnitt", antwortete Schickedanz, „und was ich tun kann, den falschen Geist dieser letzten Jahre auszurotten, werde ich tun." „Nicht umsonst ziehen wir Sie ins Vertrauen." Schickedanz wurde rot.
„Wir wissen, wer Sie sind, und wir hoffen, dass Sie uns nicht enttäuschen."
Schickedanz sagte: „Sie können sich auf mich verlassen."
Wie der Bursche auf Redensarten hereinfällt, dachte Gerhard Träger. Er goss zwei Kirsch ein. Sie tranken. Das Glas in Schickedanz' Hand zitterte.
Draußen begann es leise zur regnen. In dem Kamin kohlte das Holz. Leichte Schauer jagten über Schickedanz' Rücken. Man brauchte ihn also. Er kann eintreten in den Bund der Leute um Träger. Er hatte das Vertrauen dieses Mannes, den er verehrte. Eine Kraft stand hinter ihm, die ihn stützte. Und allem, was er tat, verlieh sie einen Sinn. Es klopfte. Kalahne trat ein.
Er begrüßte Gerhard Träger und gab Schickedanz die Hand.
Sie setzten sich.
Kalahne trocknete die Regentropfen an seiner Stirn. „Ich erkläre diese Zusammenkunft für geheim." Gerhard Träger sah Kalahne an. Er nickte. Auch Schickedanz nickte.
„Ich verpflichte uns alle durch mein Ehrenwort zu unverbrüchlichem Schweigen." Sie legten die Hände ineinander. Schickedanz fror vor Erregung.
„Ich verteile die Aufträge."
Gerhard Träger zog ein Papier aus der Tasche und las. „Zwischen Herrn Dr. Kalahne, Pressereferent der Stadt Siebenwasser, und dem Unterfertigten, Oberleutnant Gerhard Träger, Gruppenführer der SA. in Siebenwasser und Umgebung, wurde heute folgendes Übereinkommen erzielt: Herr Dr. Kalahne übergibt die Leitung des Bundes, der sich um ihn gruppiert, der Kontrolle des Gruppenführers der SA. Herr Dr. Kalahne bleibt Leiter des Bundes innerhalb der NSDAP. Herr Dr. Kalahne unterwirft sich in allen Entscheidungen dem Gericht der Partei. Dafür verpflichtet sich die Partei, seine Tarnung als Stütze des Weimarer Systems so lange zu fördern, bis sich die Möglichkeit zur Übernahme der Macht ergibt. Mit Herrn Dr. Kalahne verpflichtet sich Herr Alfred Schickedanz, Redakteur des Generalanzeigers für Siebenwasser und Umgebung', den Befehlen der Parteileitung unbedingten Gehorsam entgegenzubringen und in jedem Fall nach den Parolen der Partei zu handeln. Es ist seine Aufgabe, innerhalb seines Bezirkes das bürgerliche Bewusstsein auszuhöhlen, wo er nur kann. Auch er lebt in der Tarnung und untersteht direkt Dr. Kalahne. Siebenwasser, im September..." „Sie sind bereit?" Gerhard Träger legte das Schriftstück vor Kalahne. Kalahne unterschrieb. In Schickedanz flogen die Gedanken. Wozu hatte man ihn da verlockt? Er sollte sich einem Gericht unterwerfen, dessen Besetzung er nicht einmal kannte. Alles, was er tat, unterstand einer Kontrolle. Er sah Gerhard Träger an.
„Wenn Sie schwanken", hörte er ihn, „dann hindert Sie niemand, die Unterschrift zu verweigern. Aber Sie wissen, dass Sie dann auch außerhalb des Bundes von Dr. Kalahne stehen."
Jetzt begriff Schickedanz. Kalahne hatte ihn einfach mitgebracht wie eine Braut das Heiratsgut. Der Bund wurde in die Partei überführt. Gerhard Träger war der Führer jener Bewegung, über die die Bürger von Siebenwasser als eine Wichtigtuerei von Lausbuben und Wirrköpfen spotteten. Aber man blieb getarnt. Man konnte weiterleben wie bisher. Und man hatte ein Ziel. Vernichtung dieses Staats! Das Ende dieser lächerlichen Republik. Und vor einem lag die Hoffnung auf den Sieg. Auf das Abenteuerliche eines versteckten Kampfes. Man brauchte nicht mehr in seiner Redaktion zu sitzen und zu überlegen, wohin man gehöre. Gerhard Träger dachte für einen, und alles geschah nur, um endlich frei zu werden von der Trostlosigkeit eines schlecht bezahlten Privatlebens. Schickedanz unterschrieb. Gerhard Träger verwahrte den Bogen in seiner Rocktasche.
„Für alle kulturellen Fragen ist Dr. Kalahne in Zukunft entscheidend. Herr Schickedanz wird sich völlig nach den Maßnahmen Dr. Kalahnes richten." Schickedanz sah Kalahne an. Beherrscht war sein Gesicht. Die abstehenden Ohren waren blutleer. Gerhard Träger erhob sich. „Wir sind fertig", sagte er.
Kalahne und Schickedanz gingen auf die Straße. Es war stockfinster. Sie tasteten sich die Gartenmauer entlang. Sie sprachen kein Wort. Von dem Hügel her, wo das Gut der Frau von Berg lag, wehten die Schleier des Tangos.
Als sie den Marktplatz erreichten, gab Kalahne Schickedanz ein Kuvert. „Hier ist die Kritik", sagte er. „Welche Kritik?" fragte Schickedanz. „Uber den ,Fröhlichen Weinberg'. Du bringst sie morgen. Dann gibt es abends einen Skandal." „Aber ich habe sie ja gar nicht gelesen." „Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Deine Privatmeinung über das Stück ist höchst uninteressant. Wir brauchen den Skandal. Das wird dir genügen, und als Sicherheit kann ich dir sagen, dass dir wegen deines mannhaften Eintretens für die Moral nichts passieren wird."
Kalahne lachte. Schickedanz hielt das Manuskript in der Hand.
Kalahne ging nach links. „Gute Nacht!" rief er. Schickedanz stand unter einer Laterne. Um den Lichtkegel sprühte der Regen.
Vorsichtig lupfte er das Papier. Da stand die Überschrift: „Kulturbolschewismus in Siebenwasser." Schickedanz steckte das Manuskript in die Tasche. Er schlug den Kragen hoch. Eine Frechheit von Kalahne, dachte er. Er will mit allen Mitteln den Skandal. Die Bürger hatten über das Stück gelacht, und morgen würden sie lesen, dass das Kulturbolschewismus sei. Sie würden es sicher glauben, wenn es gedruckt war. Denn wer von diesen Kerlen hatte schon eine eigene Meinung? Morgen waren die Witze, über die sie heute Abend so behaglich gegrinst hatten, plötzlich Zoten. Und aus dem Tempel der Kunst wurde über Nacht ein Schweinestall. Schickedanz stapfte im Regen auf und ab. Sollte er den leisen Befehl Kalahnes durchbrechen? Und seine Meinung sagen? Das Stück war nicht schlecht. Es war derb, aber der Autor hatte szenischen Griff. Aber was lag an dem Stück? Hier schien es um andere Dinge zu gehen. Krach sollte entstehen. Zu welchem Ende, das sah Schickedanz nicht.
Und wenn er rebellierte? Und morgen zu seinem Verleger ging und ihm den Sachverhalt erzählte? Und die Verschwörung publizierte? Niemand würde ihm glauben. Kalahne war im Vertrauen der sozialdemokratischen Stadtverordneten, Gerhard Träger würde dementieren. Er selbst war erledigt, wenn er gegen Kalahne anging. Nur durch ihn hatte er diesen Posten bekommen, und verschuldet, wie er war, wäre Aufrichtigkeit Selbstmord gewesen. Kalahne hätte ihn sicher aus der Stellung geboxt. Und dann säße er da, ohne Geld, die Mutter könnte auch nicht mehr den Zuschuss bekommen, und alle Chancen wären, heidi, dahin.
Schickedanz entschloss sich zur Tat. Um sieben Uhr wird er das Referat in Satz geben, was lag schon an dem Stück? Es galt die bürgerliche Gesellschaft auszuhöhlen, wie Gerhard Träger gesagt hatte. Was hatte er schließlich auch von ihr? Dreihundert Mark verdiente er im Monat, und dafür war er ein Kulturträger. Eine feine Kultur! Vierzig Mark Rente bekam die Mutter für den gefallenen Vater, und für seine Schwester, die Agnes, musste er auch noch sorgen. Die Krawatte, die er trug, war gewendet — aber neulich in Heidelberg bei den Festspielen hat so ein Star im Hotel Viktoria allein für das Souper zwanzig Mark ausgegeben.
Schickedanz spürte den Kirsch. Er war ein Trinker. Das Leben gefiel ihm nicht. Diese blöde Redaktion. Der Inseratenchef war mächtiger als er. Jeder Dreckfilm musste gut besprochen werden. Nur das Referat über den Roman war vogelfrei, weil die Verleger nicht inserierten. Dort konnte man Unabhängigkeit mimen. Aber wen interessierte das? Ein elendes Leben, dachte Schickedanz, zu Haus die Bude ist kalt, um sieben Uhr muss ich in der Setzerei sein, wo kann ich noch hingehen?
Da fiel ihm Maria ein. Er kramte in den Taschen. Zehn Mark hatte er bei sich. Und wenn der Artikel erschien, war Kalahne sicher wieder zugänglich für einen Pump.
Schickedanz sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach zwei. Der Regen ließ nach. Von den Nussbäumen am Rande des Platzes fielen die Blätter. Langsam ging Schickedanz nach der Altstadt zu. Die Laternen waren gelöscht. Schickedanz taumelte etwas. Ich bin betrunken, dachte er, aber das ist egal. Er orientierte sich, indem er nach den spitzen Giebeln sah, die das Licht der Sterne bestrahlte. Er erreichte das Haus, ein schmales, engbrüstiges Gebäude in der Fleischergasse. Er tastete nach der Klingel. Er fand den hölzernen Knopf und läutete. Einmal kurz, zweimal lang. Das war sein Zeichen. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Tür öffnete. Schickedanz stand im Schatten. „Alfred?" fragte eine Stimme.
„Ja", flüsterte Schickedanz. „Hast du Geld?" „Zehn Eier." Er trat ein.
Sie setzten sich ins Zimmer, das nach dem Hof zu ging, auf das geblümte Kanapee. Vor ihnen stand der Pfefferminzschnaps, und neben der Flasche standen jene sechs Gläser, die Marias Vater vor dreißig Jahren auf dem Schützenfest in Heilbronn ausgeschossen hatte. Es war einfach geschliffenes Glas, jedes mit dem Emblem einer bunten Scheibe bedruckt. Es war der Rest von Marias Heimat.
„Wo kommst du her?" fragte Maria. „Ich habe gearbeitet." „Warst du auch im Theater?" „Ja."
„Das ist merkwürdig mit dem Theater heute Abend", lachte Maria, „vorhin hatte ich Besuch, der war auch vorher im Theater, und kaum war er weg, da kam wieder einer, der war auch vorher im Theater, und jetzt kommst du und warst auch vorher im Theater." Schickedanz trank den zweiten Schnaps. Wie die blöden Gedanken wegflogen. Großartig! Er betrachtete Maria. Allein diese Stimme! Und diese nussbraune Haut. Und der Mund mit dem leichten Flaum blauschwarzer Haare... Das ist nur eine simple Hur, dachte er, und der Schnaps zog in grünen Wolken durch seinen Schädel, aber dafür geb ich zehn höhere Töchter. Er stand auf und zog den Rock aus. Maria löschte das Licht.
Es war Morgen. Schickedanz stand vor dem Spiegel und band sich die Krawatte. Er musste sich beeilen. Durch die Ritzen der Läden drang die erste Sonne, und im Hinterhof lärmten die Spatzen. Schickedanz sprach kein Wort. Zehn Mark waren weg, und heute war erst der fünfundzwanzigste. Maria klopfte die Kissen aus.
Ob sie das Maul halten wird? Aber er wusste, dass Maria schwieg. Ihre Konzession als Masseuse hing von dem Wohlwollen einiger Stadträte ab, und diese hatten ihr beigebracht, dass Schweigen ihre beste Chance sei.
Und Maria schwieg und empfing nur die Eingeweihten. Sonst war sie eine Heilgehilfin. Dreitausendfünfhundert Mark hatte sie auf der Bank, aber viertausend fehlten noch für die Pacht des Wirtshauses in Wimpfen, und ihr Bräutigam, ein Staubsaugervertreter in Eßlingen, „meine Jugendliebe", wie Maria ihn nannte, hatte nichts, um beizusteuern. Verrückte Welt, dachte Schickedanz und rieb sich mit dem Handtuch Marias Rot von den Lippen. Da vernahm er ihre Stimme.
„Du, hör mal, das muss aber ein tolles Stück sein, in dem ihr heute Abend wart..." Schickedanz wandte sich um.
Auf dem Kanapee im verblichenen Kimono saß Maria. Vor ihr lagen die Blätter des Referats. „Was geht das dich an?" brüllte Schickedanz. „Aber das lag doch so auf dem Tisch, und da hab ich es gelesen." „Leg es weg!"
Schickedanz warf seinen Rock über, raffte die Blätter zusammen und steckte sie in die linke Seitentasche.
„Ist das Stück wirklich so unsittlich, wie du da schreibst?" fragte Maria.
„Es ist ein Skandal!" rief Schickedanz.
„Aber warum schreist du? Ich kann doch nichts dafür."
Beleidigt stand Maria auf, zog den Kimono enger und ging zum Spiegel.
„Aber so seid ihr Männer... Wenn ihr es hinter euch habt, werdet ihr unausstehlich." „Ist schon gut", brummte Schickedanz, warf die zehn Mark auf den Tisch und ging zur Tür. „Wie roh du heute bist. Einem das Geld so hinzuschmeißen..."
„Tu nicht so", murmelte Schickedanz. Die Frau war ihm plötzlich zuwider. Alles war ihm zuwider. Die Stadt, der Kalahne, das Referat und das Stück und vor allem sein Beruf. Heimgehen und baden, dachte er. Er ging auf den Flur. Hinter ihm stand Maria mit einer Taschenlampe. Widerlich süß hing der Geruch des Pfefferminzschnapses zwischen seinen Zähnen. Auf seiner Lippe spürte er ein abgebissenes Haar. Er spie es aus.
Maria öffnete das Tor. Vorsichtig prüfte sie, ob die Straße frei sei. Als sie nickte, ging Schickedanz hinaus. Er prallte fast zurück vor der strengen Klarheit des Lichts.
„Alfred", flüsterte Maria, „morgen schau ich mir das Stück an. Eine schöne Hetz muss das sein. Aber sag, was ist das eigentlich, Kulturbolschewismus?"
Ohne Antwort ging Schickedanz weg. Hell und kühl war die Luft. Auf den Schieferdächern der Altstadt glänzte der Tau. Überwirklich, im Licht des Morgens, stand die Front des Rathauses. Schickedanz fror. Er lief über den menschenleeren Platz.
In seiner Tasche fühlte er das Manuskript.
Dass die Weiber niemals schweigen können, wenn
sie nicht mehr wichtig sind, dachte er.
Er ging in die Setzerei.
Der Generalanzeiger für Siebenwasser und Umgebung erschien um die Mittagsstunde. Es war die Zeit, da die Schulen schlossen, die Handwerker ihre Werkstätten verließen, die Arbeiter in die Kantinen gingen und die unverheirateten Beamten und Angestellten sich über die Gastwirtschaften verteilten. Kalahne saß im Cafe Adelmann. Er hasste den Dunst und Geruch der Restaurants, die unangenehme Eile, mit der die Angestellten ihre Suppe hinunter löffelten, wobei sie die Zeitung lasen. Er verachtete das Berufsgeschwätz an den Tischen, die Speisen, welche man zu sich nahm, die Redensarten, die man von sich gab, die Witze, die man belachte. Seine Weigerung, den üblichen Tageslauf eines Beamten zu absolvieren, ging so weit, dass er dem Freitagstisch der Assessoren in der Krone fernblieb und sich auch an keinem der häufigen Trinkgelage beteiligte. Während seiner Studentenzeit war Kalahne niemals aktiv gewesen. Er verurteilte die Verbindungen als Brutstätten des Standesdünkels, und er bekannte sich zu dieser Auffassung mit aller Schärfe.
Absichtlich isolierte er sich von der Akademikerschaft der Stadt. Sein Verkehr beschränkte sich auf die Einladungen der Frau von Berg, auf die Abende, die Fabrikant Weber alle zwei Monate gab, und auf seine Zusammenkünfte mit Bringolf. Er betonte sein Außenseitertum, wo er nur konnte, und nichts war ihm lieber als der schlechte Ruf, den er unter der Beamtenschaft genoss. Das stärkste Argument, das man gegen diesen Bauernsohn aus der Rauen Alb vorbrachte, war seine Arbeitsmethode. Sie widersprach allerdings dem Mechanismus des bürgerlichen Tages. Während alle Beamten pünktlich ihre Zeit abdienten und den Tag peinlich in Dienststunden und Privatleben trennten, kannte Kalahne diesen Unterschied nicht. Er wäre erstickt, hätte man ihn gezwungen, nach der Regel zu leben. Oft verließ er sein Büro, ging ins Cafe oder in die Stadtbibliothek. Zwar sagte er stets zu seinem Aktuar, wo er zu erreichen sei, und er war immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte, aber diese laxe Auffassung von Beamtendisziplin hatte innerhalb seiner Kollegen bald eine solche Empörung entfacht, dass sie nach zwei Monaten in eine offene Beschwerde ausartete. Prätorius hatte Kalahne gedeckt. Er hatte ihn zu seinem persönlichen Sekretär ernannt und ihn aus der üblichen Stellung eines Kommunalbeamten herausgenommen. Trotz seiner persönlichen Abneigung gegen den jungen Mann musste er sich eingestehen, dass er seit Jahren keinen tüchtigeren Mitarbeiter gekannt hatte. Es war nicht nur die ungewöhnliche Intelligenz Kalahnes, die ihn anzog, es war der Fanatismus, mit dem er eine Arbeit angriff und in Prätorius das Gefühl weckte, er habe hier einen Menschen vor sich, der nicht nach der Regel zu beurteilen sei. Es gab keine Aufgabe, der sich Kalahne nicht gewachsen zeigte. Zu jeder Stunde konnte man ihn rufen und ihn arbeiten lassen. Er machte keinen Unterschied zwischen seinem Privatleben und seinem Dienst. Er arbeitete nicht seine Zeit ab, sondern er war immer mit den Fragen, die die Stadt angingen, beschäftigt. Am liebsten arbeitete Kalahne nachts. Seit zwei Jahren war kein Gutachten, keine städtische Erklärung, keine Denkschrift hinausgegangen, ohne von Kalahne stilisiert zu sein. Es war erstaunlich, wie dieser junge Mensch die Sprache beherrschte. Er schrieb ein wendiges, prägnantes Deutsch, und Stadtrat Schrader, der nach dem Tode von Prätorius die Stelle des Oberbürgermeisters provisorisch versah, erinnerte sich noch mit Bewunderung jener Denkschrift über das Kanalprojekt für die Regierung in Stuttgart. Kalahne hatte den umfangreichen Akt von sechsunddreißig Seiten in einer Nacht fertiggestellt. Von Stuttgart kam neben dem sachlich günstigen Entscheid noch die Anfrage, wer der Verfasser dieser vorzüglichen Denkschrift sei. Prätorius hatte damals Schrader angegeben, was formal richtig war, denn die Sache fiel in dessen Respiziat. Seit diesem Tag erfreute sich Stadtrat Schrader der besonderen Gunst des Innenministers. Kalahne hatte auf dem roten Sofa unter dem falschen venezianischen Spiegel Platz genommen. Margrit brachte den Kaffee, die Pastete und die Eier im Glas. Kalahne las die „Frankfurter Zeitung". Das Cafe war leer. Margrit setzte sich hinter die Theke und betrachtete die Traubentörtchen und die Sahnenbaisers.
Die „Frankfurter Zeitung" spielte im Leben Kalahnes eine große Rolle. Seit seiner Studienzeit las er sie täglich. Er hasste ihren Geist. Aber er verehrte ihren Stil und die vornehme Besonnenheit ihrer Sprache. Hier atmete das Bürgertum in seiner weltmännischen Form, klug, gebildet, skeptisch, ernst und absolut unheroisch.
Kalahne las den Leitartikel des Tages. In einem umständlichen, aber exzellenten Deutsch wurde hier wieder jenes gefährliche Ziel herausgearbeitet, das die Republik auf ihre farblose Fahne geschrieben hatte: den Wohlstand, die Ruhe und die Ausgeglichenheit der Verhältnisse. Hier stand der Gegner in seiner besten Form. Mit den Mitteln eines seriösen Journalismus wurde hier täglich das Land urbanisiert und jener Denkart angeglichen, die Kalahne als westlich bezeichnete.
Er hasste sie, aber er war sich ihrer Stärke bewusst. Als er den Bund gründete, hatte er den ersten Schritt auf dem Weg seines Kampfes unternommen. Achtzig junge Männer in allen Teilen des Reichs lebten bedingungslos nach seinen Parolen. Als er sich in einer geheimen Abmachung der überall verlachten Partei unterwarf, tat er den zweiten Schritt. Er wusste, dass kleine, esoterische Verschwörerbünde militanter oder geistiger Natur niemals die Breite der Wirkung erfahren könnten, die nötig war, um das Denken des Volkes umzuwerten. Bei aller Verachtung des parteilichen Apparats glaubte er, dass man sich dieses von der Demokratie gelieferten
Hilfsmittels bedienen müsse, um das Volk zum Aufstand zu sammeln.
Dazu war jedes Mittel recht. Denn in diesem Kampf ging es, so glaubte Kalahne, um die Weltmachtstellung der Nation.
Man musste sich tarnen. Man musste Wissen aufhäufen und eindringen in die innersten Gemächer des Staates. Der Gegner war nicht schwach. Wohl war es die Republik in ihrer Struktur und in ihren Methoden. Aber es galt ja nicht, eine Staatsform zu besiegen, sondern es galt, das Volk von Grund auf umzuformen. Man musste es entbürgerlichen. Das hieß nicht nur die Republik, sondern auch die Reaktion besiegen. Der Kampf ging nach zwei Fronten. Gegen vorgestern und heute. Man war noch verflucht allein. Wenige ahnten das Ziel. Schickedanz war ein Schwächling und Bringolf kaum mehr als gutmütiger Durchschnitt. Es wäre falsch, vorzeitig loszuprellen. Unruhe musste man säen, vorläufig nichts als Unruhe.
Über den Rathausplatz, an dessen linker Flanke das Café Adelmann liegt, ging Bringolf. Er trug seinen hellen Anzug aus englischem Leinen und in der linken Hand ein Zeitungsblatt, das er beim Gehen heftig schwang. Sein aschblondes Haar hing in einer Tolle über die gerötete Stirn. Kalahne begann die Pasteten zu essen. Bringolf schritt auf das Cafe Adelmann zu. Margrit erhob sich hinter der Theke. „Einen doppelten Hennessy!" schrie Bringolf, als er eintrat.
Wie martialisch er wieder tut, dachte Kalahne, er muss sehr unsicher sein.
Margrit hatte den Kognak auf ein Tablett gestellt und wollte ihn gerade nach dem Tisch Kalahnes bringen, als ihr Bringolf das Glas wegnahm und es stehend in einem Zug leerte. Er schmatzte und seufzte. Dann ging er auf das rote Sofa zu. „Ich versteh dich nicht mehr", sagte er und hielt Kalahne das Zeitungsblatt hin. Kalahne nahm den „Generalanzeiger für Siebenwasser und Umgebung". Auf der zweiten Seite unter dem Strich las er: „Kulturbolschewismus in Siebenwasser."
„Das hat ein Verrückter geschrieben", sagte Bringolf, „wenn ich den Schickedanz sehe, haue ich ihm eine in die Fresse."
Kalahne lächelte. Bringolf gefiel ihm in seiner Wut und in seiner Ahnungslosigkeit. Warum schöne Männer immer so dumm sind? Bringolf legte sich breit über den Tisch. „Du, im Ernst, was habt ihr da angestellt?" „Ich habe dafür gesorgt, dass dein Defizit gedeckt wird", antwortete Kalahne. Bringolf lachte.
„Das nennst du Deckung? Heute Abend hauen sie mir die Bude zusammen." Kalahne schüttelte den Kopf.
„Aber so lies doch!" Bringolf faltete hastig die Zeitung auseinander, fuhr mit dem Finger die Zeilen ab, murmelte zuerst, dann las er: „... die nationalen und christlichen Kreise dieser ehrwürdigen Stadt können es sich nicht gefallen lassen, wie hier von einem virtuosen, hemmungslosen Talent alle Werte der Moral, der Erziehung und des guten Geschmacks in den Staub gezogen werden. Es ist wahr, wir haben keine Zensur. Aber wir haben die Stimme des Volkes. Wir rufen sie auf, Bürger von Siebenwasser, und du vor allem, Jugend von Siebenwasser, erhebt eure Stimmen und befreit die Stadt von dem Sudelwerk eines kraftmeiernden Literaten." Bringolf hob den Kopf.
„Wenn das kein Aufruf zum Theaterskandal ist, fresse ich einen Besen."
Kalahne musste über Bringolfs Eifer lachen. Merkwürdig, wie alle Menschen seines Berufs nur von der Impression des Augenblicks abhingen. Es wäre sinnlos, ihm den Plan, den Kalahne verfolgte, zu erklären. Das Beste ist, man kommt ihm mit Autorität. Für labile Naturen gibt es kein anderes Mittel. Die Hauptsache ist, er gehorcht. „Ich habe dir gesagt, dass bei diesem Stück mit einem Skandal zu rechnen ist, und ich habe dir gesagt, dass es kein besseres Mittel gibt, das Theater zu füllen. Das sollte dir genügen. Denn deine Interessen sind gedeckt. Nachteile hast du bei der Affäre nicht, man wird dich im Gegenteil als mutigen, fortschrittlichen Intendanten rühmen, und dein Name wird als Vorkämpfer der künstlerischen Freiheit durch alle Blätter gehen. Wozu also die Aufregung?" Bringolf wiegte den Kopf hin und her. „Da steckt mehr dahinter", sagte er. Die ganze Sache war ihm unangenehm. Weiß der Teufel, was Kalahne wieder im Schild führte. Seit
Monaten verstand er diesen Menschen nicht mehr. „Was sonst noch dahinter steckt, kann dir doch gleichgültig sein", antwortete Kalahne. „Aber ich möchte wissen, wozu man mich benutzt!" Kalahne lehnte sich zurück. Er sah Bringolf voll ins Gesicht. Zum ersten Mal seit den Jahren, da sie noch gemeinsam im Grasgarten hinter dem Schulhaus die Sagen des klassischen Altertums lasen, hatte Bringolf widersprochen. Kalahne verbiss den Zorn. Es war seine stärkste Waffe, sich niemals erregt zu zeigen. „Du fühlst dich also benutzt?" fragte er leise. Bringolf nickte. Es war ihm einerlei, was jetzt geschah. Einmal musste er es aussprechen. Das mit dem Bund war doch nur eine romantische Angelegenheit von der Universität her, eine Schwärmerei für erhabene und dunkle Worte, die der Realität nicht standhielten. Ein heroisches Leben führen, wer konnte das heute noch? Höchstens die Flieger.
Kalahne betrachtete den jungen Intendanten. Das offene, gesunde Gesicht Bringolfs reizte ihn. Aus diesen Augen sprach nichts als eitler Ehrgeiz und etwas Leichtsinn. Bald wird er Fett ansetzen, dachte Kalahne.
„Du hast also ganz vergessen, wofür wir kämpfen, und bist ein Bürger geworden?" Bei dem Wort Bürger zuckte Bringolf, denn dieses Wort war gleichermaßen im Bund wie auch beim Theater ein verächtliches.
„Ich will nur wissen, was gespielt wird", lenkte Bringolf ein.
„Das wirst du erfahren, wenn ich es für nötig halte", schlug Kalahne zurück.
Bringolf schwieg. Da war es wieder, wogegen er sich aufbäumte. Diese unwürdige Bevormundung, dieser autoritäre Dünkel Kalahnes, dieses Gefühl, eine Schachfigur in einem dunklen Spiel zu sein. Alle Welt wusste, dass Kalahne es war, der ihn nach Siebenwasser geholt hatte. Und er selbst wusste nur zu gut, dass es eines Wortes von Kalahne bedurfte und sein Vertrag würde für die nächste Saison nicht verlängert.
„Hältst du mich denn für so minderwertig, dass du mir überhaupt nicht mehr sagst, was du vorhast? Ich stehe doch immer zu deiner Verfügung, aber ich muss wissen, was geschieht. Früher warst du anders zu mir."
Kalahne verzog keine Miene. Mit der linken Hand strich er eine tote Fliege vom Tisch. „Der Skandal wird nach dem zweiten Akt ausbrechen", sagte er. „Die Polizei ist informiert. Der übliche Posten ist verdreifacht. Man wird den Skandal unterdrücken. Du wirst das Stück zu Ende spielen und für die ganze Woche auf dem Spielplan halten. Genügt dir das?"
Bringolf saß mit offenem Munde da. Eine solche Sprache war er nicht gewohnt. Er knüllte das Zeitungsblatt zusammen und stand auf. „Das genügt mir", sagte er und verließ, ohne Kalahne anzusehen, das Cafe. Kalahne grinste und aß die Pastete zu Ende.
Eine Viertelstunde vor Eröffnung der Vorstellung stand Maria an der Kasse des Stadttheaters. Eine dichte Schlange wartender Menschen zog sich von der Straße über die Anfahrt zu dem kleinen Schalter hin. Das ist ja wie im Krieg, dachte Maria. Sie trug ihr pfirsichfarbenes Kleid mit einer künstlichen Marschall-Niel-Rose an der linken Schulter und darüber den dunklen Mantel mit der Boa. Ihr Haar war gewellt, ihre Achseln waren mit Eau de Cologne ausgewaschen. Die Eidechsschuhe, die sie zuletzt bei der Hochzeit ihrer Schwester getragen hatte, schmerzten und drückten die Ballen und die Zehen. Lange war Maria nicht mehr im Theater gewesen. Vor acht Jahren, als sie in Darmstadt in Stellung war, da hatte sie einmal den „Fidelio" gesehen. Das Billett hatte ihr ein Freund geschenkt, der war Friseur hinter der Bühne.
Wie hatte Maria damals gebebt, als das Licht erlosch und das Orchester begann. Eine feierliche Furcht war über sie gesunken. Und als der Vorhang sich hob, da war alles weg, was draußen lag, der Herr Architekt, welcher ihr Brotherr war, und das Geld, das sie vor zwei Tagen aus der Tasche der gnädigen Frau genommen hatte, weil die alte "Wernecke unbedingt eine Anzahlung brauchte, sonst würde sie ihr nicht das Malheur beseitigen. Alles war weg, die merkwürdigen Blicke von der Gnädigen heute Abend, das Klopfen und der Druck im Leib und die Unruhe wegen des Zwanzigmarkscheins, den sie im Koffer zwischen den Taschentüchern versteckt hatte. Vor ihr war die Bühne, ein Gefängnis. Ein edler Mann lag in Ketten und sang. Maria war ergriffen von soviel Würde und soviel Schmerz. Die Musik riss sie hin. Wie schön das war, so zu leiden und so
geliebt zu werden. Freiheit! lockten die Violinen. Gerechtigkeit! dröhnte der Bass. Maria hasste den Gouverneur. Ihr Herz hüpfte und tanzte zwischen den Disharmonien des Hasses und den Akkorden der Liebe. Sie konnte nichts mehr sehen. Sie hörte nur noch diese Musik. Und als der Chor anschwoll und die Tür des Gefängnisses zerbrach, als das Licht in greller Neigung über die Bühne fiel und das geschundene Herz unter dem Kuss der Freiheit aufblätterte zu einem gewaltigen Hymnus der Liebe, hatte Maria nicht zu klatschen vermocht, sondern nur leise grüßend mit ihrem Taschentuch nach der Bühne gewinkt. Taumelnd verließ sie das Theater, und sie achtete nicht der Tränen, die sie verschleierten vor den Menschen.
In ihrer Stube stand die Gnädige. Der Koffer war geöffnet. Die Gnädige hielt den Zwanzigmarkschein in ihrer dürren Hand.
„Es ist ja nur wegen der Wernecke", hatte Maria gestottert.
„Hinaus!" hatte die Gnädige geschrien. Und Maria war hinausgegangen. Sie trug den Koffer. Im Schlafanzug stand der Architekt an der Tür. „Wir geben es nicht an die Polizei", lispelte er. Er roch nach Bier wie damals, als er nachts zu ihr gekommen war.
Im Wartesaal schrieb Maria an ihre Mutter. „Liebste Mutter", schrieb sie, „man hat mir ein Kind gemacht. Und weil ich nicht wollte, dass es in dieses Jammertal kommt, und weil die Wernecke in der Stiftstraße dafür zwanzig Mark haben wollte, habe ich gestohlen. Die Gnädige hat es gemerkt und mich hinausgeworfen. Ich bin ein armes Luder und doch so heiß. Das passt nicht für arme Leute. Wolle Gott, dass der Gouverneur bald stirbt. Dann wollen wir uns alle an den Händen fassen und singen. Deine treue Maria."
Sie fuhr nach Frankfurt. Am nächsten Abend traf sie einen Herrn. Es genügte für die Anzahlung auf das möblierte Zimmer.
Als Maria an den Schalter kam, schob der Kassier einen Blechriegel vor die Rubrik Sperrsitz. Die Plätze waren ausverkauft. Maria war beleidigt. Sie hatte sich so auf den Sperrsitz gefreut. Damals in Darmstadt hatte sie auch Sperrsitz gehabt und neben den besseren Damen gesessen. „Nur noch zweiter Rang", sagte der Kassier. Betrübt zahlte Maria eine Mark achtzig, und indem sie mit der linken Hand das Ende ihres seidenen Rockes ein wenig hob, schritt sie die steinernen Treppen hinauf.
Der Platz war nicht ungünstig. Er lag in der ersten Reihe. Man konnte von der Brüstung aus sehr gut das Parkett und die Bühne übersehen. Das Theater war voll besetzt. Maria nahm ihr perlmutternes Opernglas aus dem mit roter Seide gefütterten Lederfutteral und sah nach dem Parkett. Gedämpft durch die Kuppeln des Raums klangen die Stimmen herauf. Zwischen den Reihen der Klappstühle standen dichte Gruppen. Maria erkannte Herrn Stadtrat Schrader, der zusammen mit Kommerzienrat Aschaffenburg in einer Loge saß. Dem sein Geld möchte ich haben, dachte Maria, dann wäre ich sündenfrei.
Träumend saß Maria auf ihrem Platz. Das Licht der Kristallleuchter funkelte um die Säulen. Gedämpft sprachen die Menschen. An den Logen hingen die roten Troddeln, und auf den Vorhang war ein Zug griechischer Schäfer gemalt, die, Flöte spielend, einer silbernen Wolke entgegen tanzten. Als ich zuletzt im Theater war, dachte Maria, vor acht Jahren, da hat sich mein Leben verändert. Da haben sie mich hinausgeworfen aus der Anständigkeit wegen der lumpigen zwanzig Mark. Was dann begann, darüber denkt man nicht nach, wenn man noch ein bisschen Scham vor sich selber hat. Das können sie einem doch nicht nehmen, auch wenn sie einen auf die Straße schmeißen. Und die Resi können sie mir auch nicht nehmen, das kleine Kind. Sieben Jahre wird sie jetzt im Oktober. Da wird Maria Urlaub machen und nach dem Spessart fahren, wo die Resi bei der Mutter wohnt. Schöne Wiesen gibt es dort und kleine Bäche zum Drüberspringen. Früh bei Sonnenaufgang würden sie aufstehen und mit irdenen Töpfen in den Wald gehen und Heidelbeeren pflücken. Und am Sonntag führen sie nach Hanau, dort dürfte die Resi Eis essen und im Wartesaal an dem Automaten ziehen. Leichte Schauer flossen durch Maria, als sie an das Kind dachte. Wie gut war es, dass sie damals nicht zur Wernecke gegangen war. Ob der Architekt wohl noch lebt? Die Resi sah ihm gar nicht ähnlich. Und wie gescheit sie war. Alle vierzehn Tage schrieb sie einen Brief mit Tintenblei, sogar schon mit Kommas und schönen Grund- und Haarstrichen.
Es klingelte. Maria schrak auf. Vor ihr lag das Parkett des Theaters. Vor ihr strahlten die Kronleuchter. Maria atmete den Duft ihres seidenen Kleides. Maria vergaß, was draußen war. Überwältigt von der Magie des Raums starrte sie auf die schweren Falten des Vorhangs, die sich leise bewegten. Dahinter lag eine andere, bessere Welt. Es war Maria in ihrer Einfalt entgangen, dass die Stimmung innerhalb des Theaters sehr erregt war. Sechs Schupos unter der Führung eines Offiziers hatten nach dem zweiten Klingelzeichen die Seitengänge betreten. In der dritten Reihe des Rangs saßen etwa zwölf junge Männer mit dem Abzeichen des Sport- und Wehrvereins. In ihrer Mitte befand sich ein Mann, der ein braunes Hemd trug und schwarze Hosen. Die jungen Männer sprachen kein Wort. Nur als beim dritten Klingelzeichen auch der Rang von sechs Schupos besetzt wurde, sahen sie sich lächelnd an.
Das Licht erlosch. Zweimal schlug der Gong. Langsam hob sich der Vorhang. Maria atmete kaum. Sie erwartete die Musik.
Auf der Bühne war helles Licht. Männer und Frauen saßen und gingen dort hin und her, und sie redeten in einer Sprache, als seien sie nicht im Theater, sondern auf der Straße oder zu Hause bei sich. Sie lachten laut, machten sogar Witze und taten überhaupt so, als ginge sie das Publikum nichts an. Maria lehnte sich zurück. Sie steckte das Opernglas in das Futteral. Sie fühlte sich betrogen. Das ist doch kein richtiges Theater, dachte sie. Vor acht Jahren, da hab ich gezittert und gebebt, da wurde mir heiß und kalt, und da hab ich geweint. Was ist denn nur los? Wo bleibt nur die Musik? Was die sich da erzählten, das konnte sie zu Haus in ihrem Dorf auf jeder Kirmes erleben. Deshalb brauchte man doch nicht ins Theater zu gehen und das seidene Kleid und die Eidechsschuhe anzuziehen! Maria ärgerte sich. Das schöne Gefühl, welches sie beim Eintritt in das Theater gehabt hatte, war weg. Und jetzt fingen die unten im Parkett auch noch an zu lachen. Man lacht doch nicht im Theater. „Pst! Pst!" wollte Maria machen, aber da brachen wieder die Lachsalven hoch, und die Menschen auf der Bühne redeten immer weiter in einer ganz gewöhnlichen Sprache.
Maria zerknüllte das Programm zwischen den Fingern. Steif saß sie da. Manchmal stieg ihr ein Lachen hoch, aber sie schluckte es mit zusammengebissenen Lippen herunter. Das war alles so gewöhnlich, genau wie draußen, aber war sie deshalb hierhergekommen, um sich etwas anzusehen, was sie auch zu Hause haben konnte?
Als der erste Akt zu Ende ging, rechnete sich Maria aus, dass sie für die eine Mark achtzig der Resi ein paar gute Strümpfe hätte kaufen können. Der Zwischenakt dauerte kaum eine Minute. Verdrossen und gelangweilt schob sich Maria aus ihrer mit Lavendel getränkten Tasche ein Bonbon in den Mund. Unten im Parkett hörte sie laute und lustige Stimmen. Das wollen gebildete Menschen sein, dachte Maria.
Hinter sich hörte sie eine Stimme. Die klang gedämpft.
„Achtung, wenn ich sage Schluss, beginnt ihr zu..."
Der Gongschlag vor dem zweiten Akt verschlang das Wort.
Beleidigt schaute Maria auf die Bühne. Und wieder kam keine richtige Musik. Unten die Leute gingen daher, angezogen wie am Werktag, und sie redeten, als ob sie in einer Wirtschaft wären. Marias Ärger steigerte sich in Wut. Warum das ganze Zeug? Dass es so ein Bursch aus dem Volk besser mit der Liebe versteht als so ein pappdeckliger Beamter, das wusste Maria schon lange. Und wie überhaupt? So etwas öffentlich auf die Bühne zu bringen? Ihr machte man die größten Schwierigkeiten, und hier lachten dieselben Leute, die sonst auf sie herabsahen, unten im Parkett sich beinahe bucklig. Maria hatte genug von diesen Dingen. Sie war froh, wenn sie einmal von dem ewigen Männerkram nichts zu hören brauchte. Wenn sie ins Theater ging, wollte sie erhoben werden, hinweg von dieser Welt. Ach, die da unten im Parkett hatten gut lachen und kichern. Für die war das Gebalz neu. Maria war froh, wenn sie einmal davon verschont wurde. Und so etwas auf das Theater zu bringen, das war einfach eine Schweinerei! Das nächste Mal gehe ich in die Kirche, dachte Maria, da sind doch wenigstens schöne Bilder und Fenster und der Herrgott, vor dem man knien kann. Im Parkett prasselte der Beifall.
Was die nur dabei finden? Wenn ihr Dienstmädchen einmal nachts einen Burschen mit hinaufnimmt, dann fliegt es unweigerlich hinaus. Aber im Theater da freuen sie sich darüber und tun so, als sei es eine fröhliche Sache für alle Welt. Da fiel ihr Schickedanz ein, den sie über der Aufregung und der Magie des
Raums vergessen hatte. Ja, Alfred hatte recht. So etwas sollte man verbieten.
„Schluss!" schrie jemand hinter ihr. Maria erschrak.
Sie wandte sich um. Im Dämmerlicht sah sie eine Reihe junger Leute stehen. „Schluss!" riefen sie im Chor. Im Parkett verstärkte sich das Klatschen. Aus den Logen brüllte jemand „Ruhe!".
„Schluss! Schluss! Schluss!"
Immer stärker wurden die Rufe.
Um Gottes willen, wir sind doch im Theater, dachte Maria.
Da begannen Trillerpfiffe hinter ihr, und ein Chor hob an zu rufen: „Fort mit dem Judendreck! Fort mit dem Judendreck!"
Maria fasste nach ihrer Marschall-Niel-Rose. Wenn nur nichts passiert. Ich bin im seidenen Kleid. Das Licht ging an. Hell lag der Zuschauerraum. Im Parkett standen die Menschen mit dem Gesicht nach dem Rang. In der Mitte der Rufenden, wenige Meter hinter Maria, sah sie den Mann in dem braunen Hemd. Er war jung und lachte lautlos durch seine breiten Zähne, so dass Maria in ihrer Seele erschrak. Wie blond er ist, dachte Maria. In seiner Loge stand Stadtrat Schrader. Sein Kopf war puterrot.
„Ruhe!" schrie er. „Was sind das für Methoden?" „Fort mit dem Judendreck!" antwortete der Chor. „Lausbuben!" klang es vereinzelt aus dem Parkett. Auch in den Rängen begann es zu klatschen. Der Mann in dem braunen Hemd ging nach rechts. An der Brüstung stand der junge Frey. Frey klatschte. „Bravo!" rief er und sah sich dabei fröhlich um. Der
Mann in dem braunen Hemd war bei Frey angekommen. Er sagte etwas zu ihm. Frey klatschte weiter. Hör doch auf! wollte Maria rufen, aber da packte ihn schon der Braune am Arm. Er holte zum Schlag aus, Frey knickte zusammen und klatschte nicht mehr. Aufgerissenen Auges sah Maria die Polizei anlaufen. Die Schupos hatten die Gummiknüppel gelöst. Ein Signalpfiff erklang. Es war Totenstille. Alles starrte nach dem Rang.
„Fort mit dem Judendreck!" brüllten die jungen Männer.
Die Schupos drangen nach der Brüstung vor. Dort stand der Braune. Er hatte die Hände zu einem Trichter geformt und brüllte in das schweigsame Parkett: „Das Theater ist kein Puff, und Deutschland ist kein Absteigequartier!" „Bravo!" entfuhr es Maria. Sie errötete. „Lausbuben! Abführen!" antwortete es aus dem Parkett.
„Verdorbenes Bürgerpack!" brüllte noch der junge Mann, aber schon hatten ihn die Schupos im Griff, und einer hielt ihm den Mund zu. „Es lebe die Demokratie", grölten die jungen Uniformierten.
Die Schupos, die Gesichter weiß und verschwitzt, führten den Braunen an Maria vorbei. Sie sah sein Gesicht. Es war schmal und sehr selbstbewusst. Wie die Augen glühten! Maria zitterte. Werden sie ihn verhaften? Ach Gott. Sie bemerkte es nicht, wie die Gummiknüppel der Polizisten ihr seidenes Kleid streiften und wie ihre Füße die künstliche Marschall-Niel-Rose auf dem Boden zertraten.
Maria stand wie gelähmt. Die jungen Männer hinter ihr hatten sich an den Händen gefasst und sangen. „Hakenkreuz am Stahlhelm" sangen sie. Im Gänsemarsch zogen sie ins Foyer. Dort stand der Braune vor dem Schupooffizier. Im Parkett prasselte erneut der Beifall hoch. Bringolf stand auf der Bühne. Ovationen empfingen ihn.
Und während sein Name das Theater erfüllte und die Schauspieler aus den Kulissen traten und sich lachend hinter dem Intendanten verbeugten, riss sich plötzlich der Braune aus den Händen der Schupos, stieß den einen Beamten vor die Brust, dass er stolperte, und rannte zur Brüstung. Er stand neben Maria. Sie fühlte seinen Atem. Sie sah die angespannten Adern seiner Schläfen. Und wieder formte er die Hände zum Trichter. Weit über die Brüstung klang sein Ruf: „Deutschland erwache! Deutschland erwache!"
Ein brüllendes Gelächter des Parketts war die Antwort.
Der Braune hob den rechten Arm. Wie trotzig er dastand. Maria zitterte vor Erregung. Endlich ein Held!
„Deutschland..."
Zwei wohlgezielte Gummiknüppelschläge über die Schulter ließen den Mann stolpern. Die Schupos nahmen ihn an den Armen und schleiften ihn weg.
Maria schrie auf. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie rannte hin und her. Am liebsten wäre sie auf die Beamten gestürzt. Ihr Täschchen fiel zu Boden.
Im Parkett dröhnte der Beifall. Und während die Wolke der Ovation immer höher stieg, stand Maria allein an der Brüstung und trommelte mit beiden Fäusten auf den staubigen Plüsch. „Schweinerei!" rief sie, „Schweinerei!"
Maria hatte sofort nach dem Skandal das Theater verlassen. In ihrer Erregung vergaß sie sogar, die künstliche Marschall-Niel-Rose, die am Boden lag, aufzuheben. Sie lief die Treppe hinab, kämpfte sich durch das überfüllte Foyer und gelangte endlich durch den Kassenraum nach der Auffahrt. Eine Kette Schupos riegelte sie ab. Maria sah einen Wagen, eine Art Lastwagen ohne Verdeck mit durchlaufenden Bänken auf beiden Seiten. Maria drängte sich vor. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Er stand neben einem Offizier, der sich Notizen machte. Sie erkannte ihn an dem braunen Hemd. Hinter ihm waren die anderen jungen Leute. Er drehte Maria den Rücken zu. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Der Wagen war von einer großen Menge umlagert. Es waren junge Männer darunter, die nicht zu den Theaterbesuchern gehörten. Sie kamen auf Fahrrädern angefahren, zufällig wohl, denn manche zauderten, ob sie überhaupt stehenbleiben sollten, doch dann stiegen sie ab und vergrößerten den Schwarm der zuschauenden Menge.
Der Polizeioffizier gab einen Befehl. Zwei Schupos ließen die Wagenklappe herab. Der Braune und die jungen Leute um ihn rührten sich nicht. Sie hatten die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schauten nach dem Himmel. Der Polizeioffizier wiederholte den Befehl. Die jungen Leute begannen leise vor sich hin zu pfeifen. Da griffen die Schupos nach ihren Armen. Die jungen Leute, der Braune an ihrer Spitze, ließen sich auf den Boden fallen. „Bravo!" rief es aus der Menge. Alle drängten sich vor, um die Liegenden zu sehen.
„Zurück!" schrie der Offizier, ein bleiches Gesicht über einem steifen Kragen. Und schon wurden die Liegenden gefasst und einzeln, wie Säcke, auf den Wagen getragen. Als letzter kam der Braune. Maria sah sein Gesicht. Er lachte vergnügt. Schon hatte der Offizier das Zeichen zur Abfahrt gegeben, als der Braune im Wagen plötzlich hochsprang und weit über die Rampe geneigt grell über den Platz schrie: „So werden Deutsche von Deutschen behandelt. Und das alles wegen der Juden!" Ein Beamter riss ihn zurück. Ein anderer hielt ihm den Mund zu. Doch aus der Menge antwortete es im Chor: „Juda verrecke! Herr mach uns frei!" Der Wagen fuhr in rasendem Tempo über den Platz. Aus dem Theater klang das Klingelzeichen zum dritten Akt. Es war halb zehn. Maria hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Am liebsten wäre sie dem Wagen nachgelaufen. Ob die wohl gleich ins Gefängnis kommen oder erst auf die Wache? Maria kannte die Wache. Sie war dort schon oft zur Vernehmung gewesen, besonders während ihrer ersten Jahre in Siebenwasser. Der Hauptmann Wendel, der dort amtiert, ist gar nicht übel. Er lässt einen ausreden, und das ist viel wert bei der Polizei. Maria war auf den Marktplatz gekommen. Sie sah das Rathaus und das grün beleuchtete Schild der Wache. Der Wagen stand leer vor der Tür. Maria setzte sich auf eine Bank, links in den Anlagen. Sie zog den Mantel enger. Ein kühler Wind strich durch die Bäume. Die Nacht war sternenklar. Maria sah den Fluss, dessen Wasser vom Licht des Himmels gefleckt war. Weiche Nebelbänke lagen über den Wiesen. Doch wo die Weinberge begannen, war die Luft von einer beispiellosen Reinheit, und die Häuser, die Bäume, sogar die Reben waren zum Greifen deutlich. Maria sah auf der linken Seite des Platzes die Terrasse des Cafe Adelmann. Bunte Lämpchen standen auf den Tischen. Sie hörte die Musik. Man spielte einen amerikanischen Schlager mit viel Geplärr und Saxophon. Zwei Jahre hatte Maria einen Musiker gekannt. Jede Woche war er zu ihr gekommen. Er wusste genau, wer Maria war. Er aß bei ihr, auch Geld hat er genommen. Und als er einen Sommer lang stellungslos war, da hat er auch bei ihr gewohnt. Maria hatte das gerne getan, denn sie liebte den jungen Burschen. Sie war auch gar nicht böse, wenn er einmal irgendein Bürgermädchen verführte. Da sie ihn für einen Künstler hielt, glaubte sie, so etwas gehöre zu seinem Beruf.
Zu Weihnachten noch hatte sie ihm einen Smoking geschenkt, und damit hatte die Trennung begonnen. Fünfundachtzig Mark hatte Maria für das Ding bezahlt, und der Verkäufer von der Herrenabteilung im Warenhaus Aschaffenburg hatte noch extra betont, es sei das teuerste Stück, das sie auf Lager hätten. Herr Willibald Pfeifer jedoch hatte geschmollt, weil es keine Maßarbeit war. Ein Smoking aus der Konfektion ströme einen Armeleutegeruch aus. Dafür hatte Maria ihm einfach ein paar heruntergehauen, denn das ging selbst für ihre Verliebtheit zu weit. Und was macht das Schwein? Klaut sich aus ihrer Wäschetruhe obendrein noch hundert Mark, fährt damit nach Frankfurt, kommt dort im Kristallpalast unter, geigt sich nach einem Vierteljahr an die erste Stelle, bildet sich eine eigne Truppe, und eines Tages, siehe da, liest Maria im „Generalanzeiger", dass ihn das Cafe Adelmann mit seiner Kapelle engagiert hat. Viermal sind sie sich begegnet auf der Straße, und Maria muss heute noch lachen, wenn sie daran denkt. Immer verschwand Herr Willibald in einem Geschäft, und einmal sogar ist er, da gerade kein anderer Laden in der Nähe war, in die Kalasiris gelaufen. Und er hatte sich auch ein Schnurrbärtchen wachsen lassen, als ob er sich damit vor Maria verkleiden wollte. So eine Reihe von Mückenschissen unter der Nase... Maria lachte. Vom Café Adelmann wimmerte das Saxophon. Sicher saß dem Metzger Beraller seine Tochter unten an einem Tisch und ließ das Eis vor lauter Bewunderung für ihren eleganten, künstlerischen Bräutigam verlaufen. Mag er mit dem Geld der kleinen Buckligen glücklich werden. Ich steh ihm nicht im Weg. Aber nie mehr in meinem Leben einen Musiker! Feiges Pack! Die Töne des Saxophons trudelten über den Platz, der frische Glanz der Septembernacht lag über den
Dächern der abwärts geneigten Stadt, von den Talwiesen her stieg der Nebel in gutmütigen Schwaden, behaglich leuchteten die Lämpchen von der Terrasse des Cafes — doch Maria erschrak. Aus der Tür der Polizeiwache traten einige Burschen. An der Gleichart ihres Aussehens erkannte Maria, dass es die Demonstranten aus dem Theater waren. Maria zitterte. Das unregelmäßige Licht unter den Bäumen ließ sie niemanden in der Gruppe unterscheiden. War der Braune dabei? Sie stand auf. Bin ich verrückt, dachte sie. Was hab ich nur? Aber schon ging sie auf die Burschen zu. Sie standen vor der Rathaustreppe unter dem Licht der großen Kandelaber.
Maria überquerte die Straße, die den Platz zur Rechten flankierte. Sie fand es ganz in Ordnung, dass sie zu den Leuten ging, die sie nicht kannte. Wie sie näher kam, bemerkte sie, dass der Braune fehlte. Ohne Zögern fragte sie: „Ist der Braune nicht da?" „Wird noch verhört", war die Antwort. „Und ihr?"
„Nach Feststellung der Personalien entlassen." Die jungen Männer wandten sich zum Gehen. Maria sagte: „Werden sie ihn verhaften?" Da rief einer, als sie schon mehrere Meter von Maria entfernt waren: „Was geht das dich an, du Sau?" Wankend stand Maria unter dem Licht der Kandelaber. Die Schritte der Burschen verhallten über dem Platz. Maria hielt sich an dem Geländer der Treppe. „Ach", sagte sie, weiter nichts als „Ach". Langsam ging sie zur Bank zurück. Vom Café her zogen die weichen Wellen eines Tango.
Vom Rathausturm schlug es zehn Uhr. Maria stand auf. Sie sah nach der Polizeiwache. Hinter den blind gestrichenen Scheiben hing kahles Licht. Langsam ging sie zwischen den Anlagen zurück. Sie senkte den Kopf. Es war das erste Mal, dass sie in Siebenwasser auf der Straße beschimpft worden war. Sie kannte die jungen Leute gar nicht, aber sie hatte sie bewundert, wie sie im Theater aufgestanden waren, und wie sie nachher auf dem Lastwagen gerufen hatten: Juda verrecke! Das hatte Maria sehr gut gefallen. Und als sie den Braunen gesehen hatte, da hatte ihr gegen die Liebe abgehärtetes Herz wieder jene unsichtbaren Stöße gespürt, von denen sie seit langem verschont gewesen war. Und jetzt war es wieder da, dieses Zittern, dieses Frösteln im Kreuz und diese Blutwellen unter der Stirn. Wie hilflos ein Weib ist, dachte Maria. Sie stand gegenüber dem Cafe Adelmann. Sie betrat die Terrasse. Bunt leuchteten die Lämpchen auf den festlichen Tischen.
Gaston Willibald Pfeifer hatte gerade den Bogen zu seinem abendlichen Solo von Santa Lucia angesetzt, als seine Augen, die schon in der Selbstgefälligkeit des zu erwartenden Beifalls schwammen, an einem Tisch auf der rechten Terrassenseite Maria bemerkten. Er verspürte einen leichten Stich in der Hüftgegend und in den Handflächen etwas Schweiß. Das Solo begann.
Das Aas kann spielen, dachte Maria, und leicht schloss sie die Augen.
Längst war die Serenade verklungen, und Gaston
Willibald hatte nach seinem Bravourstück die übliche Pause eingelegt, die er am Tisch seiner Braut verbrachte, als Maria, durch ein lautes Gelächter geweckt, die Augen öffnete. Zwei Tische von ihrem Platz entfernt sah sie den Intendanten in einer Gruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen. Sie hatten Bringolf in die Höhe gehoben, und während von der Kapelle her ein Tusch erklang, rief Körner, der Charakterspieler, der auch im Zivilleben nicht über die Pose hinauskam: „Unserem edlen Geistesritter und Herzog — Heil! Heil! Heil!" Jäh fiel der Chor ein, und Bringolf, die Arme um den Nacken zweier Schauspielerinnen, sank auf den Boden zurück. Sie rückten drei Tische zusammen. Herr Adelmann kam selbst und nahm die Bestellung entgegen.
Maria betrachtete die Frauen. Sie hatten die Haare wie junge Burschen geschnitten und hielten die Zigaretten zwischen den Zähnen. "Wiewohl sich Maria ihres sündhaften Lebens bewusst war und wiewohl sie fühlte, dass keine Beichte ihr helfen würde, so weit hätte sie sich doch nie erniedrigt, dass sie ihr schweres dunkles Haar einfach so herunter geschnitten hätte. Sie war eine Frau, wenn auch eine sündige, und wie oft hatte sie die Tränen, die manchmal an schwermütigen Sommerabenden über sie kamen, mit ihren Haaren getrocknet, die sie gerne lang und offen trug, wenn sie allein zu Hause war und im Zimmer saß und an die Resi dachte. Es war ungeheuer tröstlich, in das Haar zu weinen. Sicherlich hatte Gott den Frauen diesen Schutz gegen das Leid gegeben, und diese da schnitten es einfach ab!
Maria fröstelte. Sie rief die Kellnerin. Sie bestellte einen Glühwein. Wie laut die lachten! Wie ungeniert die sich an die Schultern der Männer legten. Und wie die angaben mit ihrer Stimme, als wären sie allein da, und alle hörten ihnen zu. Still saß Maria in ihrer Ecke. Sie dachte an den Braunen. Sie zitterte. Die Kapelle begann. Kühl strich der Herbstwind über den Platz. Als Maria zum zweiten Mal nach der Kellnerin rief, sah sie Gaston Willibald Pfeifer mit Herrn Adelmann vor dem Büfett stehen. Sie blickten nach ihrem Tisch. Willibald sprach auf Herrn Adelmann ein. Bei den Schauspielern wurde Sekt aufgetragen. Sie nahmen die Gläser, und Körner rief: „Nieder mit den Muckern! Es lebe die Freiheit der Kunst!" Es klangen die Gläser, und alle drängten sich um Bringolf. Aus dem Cafe kamen Leute gelaufen, die Biergläser in der Hand, sie hoben sie, und als Bringolf mit einem Zug das Sektglas leerte und es dann krachend auf die Erde warf, wo es zersplitterte, da klatschten alle.
Das nennen die Freiheit, dachte Maria in ihrem einfältigen sündigen Herzen, das nennen die Freiheit, wenn ein Staatsbeamter auf dem Misthaufen liegt und auf der Bühne ge... wird. Vor ihr stand die Kellnerin. Statt des Glühweins brachte sie einen Zettel auf einem Nickeltablett. Sie stellte es wortlos auf den Tisch. Dann ging sie. Maria las: „Wir bitten Sie, möglichst unauffällig und rasch unser Lokal zu verlassen. Der Besitzer." Aus Marias Kopf schoss alles Blut. Schwer stand sie auf. Sie ging. Niemand sah ihr nach.
Sie begegneten sich unter dem großen Kandelaber, der die Linksfront des Rathauses erhellte. Jürgen Winkler überlegte, ob er sich links oder rechts halten müsse, um die Straße zu finden, die zu Gerhard Trägers Haus führte. Er war erst zehn Stunden in der Stadt und eigentlich so mitten in diese großartige Sache hineingeschneit. Am Technikum in Freienwörth, das er gestern wegen Relegation verlassen hatte — in dem Nest war sonst nichts zu holen —, hatte ihm der Zellenleiter Gerhard Trägers Adresse gegeben. Kaum hatte er sich dort gemeldet, gab es schon einen Auftrag. Die Sache hatte großartig geklappt. Das soll ein liberal und marxistisch verseuchtes Nest sein, dieses Siebenwasser. Na, wir werden schon Zunder anlegen. Auf der Polizeiwache hatte er gleich gemerkt, dass die gar nicht so sind, wie sie öffentlich tun. Der Hauptmann zum Beispiel, mit dem konnte man reden. Was hatte er gesagt, als Jürgen von der großen Freiheitsbewegung sprach? Sie sind ein Idealist, hatte er gesagt und ihn dabei gar nicht unfreundlich angeschaut. Gut, gut, so reden alle, die bald reif sind... Jürgen zündete sich eine von den Zigaretten an, die ihm der Hauptmann geschenkt hatte. Die Herren haben es gut. Dritte Sorte kann der verschenken... Er zog den Rauch ein und dachte: Jetzt noch ein Bier, das wäre großartig. Er besaß noch fünfzig Pfennige.
Maria hatte lange hinter dem Braunen gestanden, ohne dass er sie bemerkte. Sie hatte seine Bewegungen betrachtet, und alles, was dieser Abend ihr an Demütigungen und Schande gebracht hatte, war versunken vor der Freude, endlich in der Nähe
dieses Mannes zu sein.
„Sie sind frei?" sagte Maria.
Der Braune drehte sich um. Sie sah ein trotziges Gesicht, darüber das hellblonde Haar, sie sah den sonnengebräunten Hals und die starke Nase über dem offenen Mund.
„Ach so", sagte der Braune, „das sind Sie! Ich hab Sie im Theater gesehen. Das war brav von Ihnen." Er ging zu Maria und gab ihr die Hand. Maria zitterte.
Die beiden Menschen sahen sich an. Jürgen überlegte: ein Weib, hübsches Gesicht, gar nicht übel... Maria dachte: wenn er nur nicht auf Wiedersehen sagt, wenn er nur nicht weggeht... Da sagte der Braune: „Wie wär's mit einem Gläschen Bier nach den Aufregungen des Tags?" Er trat nahe zu Maria. Sie spürte seinen Atem. Er war jung. „Ich habe Bier zu Hause", antwortete Maria, aber schon wollte sie die Worte zurückholen. Sie errötete. Der Braune stutzte. „Wo wohnst du denn?" „Zehn Minuten von hier", stotterte Maria. „Aber, weißt du, zahlen kann ich nichts." Da brachen aus Maria die Tränen, sie versuchte zu lachen, aber über das Lachen lief ein unbändiges Schluchzen. Nichts gelang ihr mehr. Keine Miene. Keine Haltung. Sie weinte.
Jürgen hasste nichts mehr als Weibertränen. Das waren unlautere Waffen, gegen die ein Mann nur schwer ankam. Als in den letzten Semesterferien die Mutter ihn zusammen mit dem Pfarrer beschwor, doch die Hände von der gefährlichen Politik zu lassen und endlich das Studium fertigzumachen, da hatte sie auch geweint, und das gerade hatte ihn bockig gemacht. Ohne ein Wort war er von zu Hause weggegangen, und den Rest der Ferien hatte er als Knecht auf einem Hof im oberen Schwarzwald verbracht.
Aber die Frau da vor ihm, die weinte ganz anders. Er kannte sie gar nicht, aber vielleicht gerade deshalb empfand er ihre Tränen reiner und schmerzlicher. Galten sie ihm, seiner dummdreisten Rede? Oder heulte da ein Mensch vor sich hin, weil er einfach nicht mehr wusste, was er tun sollte? Jürgen war zwanzig Jahre alt. Er war viel herumgekommen im Volk. Er kannte sich aus in dem, was wirklicher Schmerz oder nur so ein Theater oder gar eine Erpressung ist.
„Komm", sagte er, „so war's nicht gemeint." Er nahm Maria unter den Arm. Er führte sie über die Straße. Sie gingen durch die Anlagen. Vom Café her plärrte das Saxophon. Durch die dünnen Zweige der Linden glänzte der Himmel. Als sie in die schmale Gasse, die nach der Altstadt führte, einbogen, sagte Maria: „Ich habe wirklich nur an das Bier gedacht." „Na also", antwortete Jürgen, „ich auch..." Die Gasse war mit schlechtem Kopfpflaster besetzt. Kleine Treppen durchbrachen den Bürgersteig. Den Rinnstein entlang flossen schmale Bäche. Das waren die sieben Wasser der Stadt, die, in enge Kanäle gefasst, kleinen Adern gleich, sich nach dem Tal ergossen.
Maria schwieg. Still ging sie am Arm des Mannes. Die Tränen waren auf ihren Backen getrocknet. Ach, dachte sie, nur bis an die nächste Straßenkreuzung soll er noch bei mir bleiben. Nur bis an die übernächste Ecke. Ach, nur das Bier soll er noch trinken bei mir...
Und als fürchte sie, ihr Schweigen könne ihn vertreiben, begann sie plötzlich zu reden. „Wissen Sie, was ihr da gerufen habt, gegen die Juden, das hat mir besonders gut gefallen. Hier in Siebenwasser sind sie arg frech. Bei uns zu Haus im Spessart, da hat mein Vater immer einen großen Bogen gemacht, wenn er einen Viehjuden sah, und in der Spinnstube, hat die alte Barthel erzählt, als sie noch jung war, da hätte plötzlich ein kleines Kind aus der Gemeinde gefehlt, und sie hätten es gesucht mit Hunden und Gendarmen und es nicht gefunden. Ein Mann aber sei damals in die Aschaffenburger Synagoge geschlichen, es sei bei den jüdischen Ostern gewesen, und dort habe er eine Schüssel gesehen, die sei bis obenhin voll gewesen mit Menschenblut. Es ist aber nichts herausgekommen, weil die Juden den Zeitungen und auch den Richtern viel Geld gegeben haben. Und auch der König hat von ihnen genommen. Sie kaufen überhaupt die ganze Welt. Aber in unserer Gemeinde, da sind die Bauern helle, und wenn sie einen Jud nur von weitem sehen, dann machen sie die Hofreiten zu. Wenn nur endlich einer käme, der sie hinausjagt aus Deutschland. Das wäre fein."
„Adolf Hitler!" sagte da der Mann neben Maria. „Wer ist das?" fragte Maria.
„Der Retter", antwortete Jürgen. Sie traten ins Haus.
Zum Glück habe ich aufgeräumt, dachte Maria, als sie die Tür ihrer Wohnung aufschloss. Sie standen im dunklen Flur. Jürgen zündete ein Streichholz an. „Gleich", sagte Maria. Sie lief in die Küche und kam mit einer Kerze zurück. Dann ging sie in das Zimmer voraus. Sie stieg auf einen Stuhl und steckte die Gaslampe an. Die Flamme pfiff und warf unruhige Schatten an die getünchten Wände.
Maria schob einen Stuhl vor den Tisch, auf dem ein Wachstuch lag. Sie rieb den Stuhl mit einem Lümpchen ab, dann sah sie Jürgen an. Er setzte sich. Maria ging in die Küche. Er hörte sie draußen hantieren. Als sie zurückkam, trug sie auf einem Tablett drei Flaschen Bier. Sie stellte sie vor Jürgen hin und lief sofort wieder in die Küche. Jürgen trank.
Das ist großartig, dachte er und strich sich den Schaum des Bieres von der Lippe, was das Mädel nur an mir gefressen hat? Und wieder stand Maria vor ihm. Wurst und Käse stellte sie auf den Tisch und dazu ein Glas feiner Gürkchen. Sie setzte sich und strich ihm das Brot. Sie schnitt die Wurst auf und mischte ihm den Käse mit Pfeffer, Salz und Zwiebeln. Jürgen aß. Vor ihm saß Maria und lächelte. Sie war glücklich, wenn er in die Brote biss. Als Jürgen fertiggegessen hatte, sah er auf die Uhr. „In einer Stunde muss ich weg." Maria erschrak.
„Aber das dauert nur zwanzig Minuten, dann komm ich wieder. Kann ich bei dir wohnen?"
„Ja", stotterte Maria, und das Blut kehrte in ihre Backen zurück, „oben hab ich ein Zimmer, da kannst du wohnen, solange du willst."
Sie stand auf und räumte den Tisch ab.
„Kaffee?" fragte sie.
„Nein, lieber Bier", antwortete Jürgen, und Maria öffnete die zweite Flasche. Sie goss Jürgen ein. Dann ging sie zur Kommode und kramte aus der oberen Schublade Zigaretten.
„Warum musst du eigentlich noch einmal fort?" fragte sie, „es ist doch schon spät in der Nacht." „Dienst", sagte Jürgen, und er machte ein Gesicht, dass Maria nicht weiter zu fragen wagte. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und sah ihn an. Jürgen rauchte.
„Also, das mit dem Zimmer ist perfekt?" fragte er. „Solange du willst, kannst du dort wohnen." Maria lächelte. Welch ein Glück, dass sie ihm helfen konnte. „Ich habe nämlich kein Obdach und nur noch fünfzig Pfennige."
„Ach", sagte Maria. Sie sprang auf, holte ihre Tasche und schob verlegen einen Zehnmarkschein auf den Tisch. Jürgen tat, als sähe er die Note nicht. „Die haben mich nämlich vom Technikum gejagt, weil ich für die Partei arbeite. Bei der letzten Wahl haben wir ein paar Marxisten und ein paar Juden, die in der Wirtschaft frech geworden waren, verhauen, und dann gab es ein Mordshinundher, und sie haben von mir verlangt, dass ich einen Revers unterschreibe wegen Wohlverhalten und so. Das hab ich natürlich
nicht getan. Meine Herren, hab ich gesagt, Sie mögen mich zehnmal maßregeln — aber von Adolf Hitler lass ich nicht, und es wird eher keine Ruhe geben, bis dieser ganze Saustaat zusammengehauen ist und kein Jud hier noch etwas zu sagen hat, sondern nur das deutsche Volk. Da sind sie natürlich hochgegangen, und ich hab geschrien, ich würd lieber hungern und krepieren, wenn es um die deutsche Freiheit geht, als ein fetter Bürger werden, und ich gehorche meinem Führer, und die Professoren, die könnten mich... Da haben sie mich hinausgeschmissen, und ich bin hierhergekommen, und ich muss schon sagen, das heute Abend, das war eine saubere Sache." Jürgen schwieg. Sein Gesicht war ernst, und seine Augen waren ohne Bewegung. „Du bist ein Held", sagte Maria leise, „aber weißt du, ich versteh gar nichts von Politik..." „Das ist keine Politik", Jürgen sah sie an, „das hat mit dem ganzen Kram da in den Rathäusern und an den Stammtischen nichts zu tun. Das ist einfach frische Luft, verstehst du, wir wollen einfach nicht mehr so leben wie bisher, verstehst du, wir wollen wieder ein großes Volk werden, nicht so ein Winselstaat, der überallhin betteln gehen muss. Wer frisst uns denn die Butter von den Tellern? Die Juden. Wer quält denn den Bauern und holt ihm das Vieh aus dem Stall? Die Juden! Wer sitzt denn oben in der Regierung, he? Juden, nichts als Juden! Und wer hetzt das Volk gegeneinander? Die Juden! Die Juden! Nichts als die Juden!"
Er schlug auf den Tisch. Maria zitterte. Wie er sprach und wie seine Augen leuchteten!
„Ich hab dich lieb", sagte sie.
Jürgen schaute auf. Das Haar war ihm in die Stirn gefallen. Er schob es zurück. „Wie heißt du?" fragte er. „Maria."
„Gut, und was treibst du sonst?" „Ich bin Masseuse, aber das reicht nicht mit dem Verdienst, und da muss ich oft eben herhalten, weißt du. Spaß macht es mir nicht. Aber ich kann leben." Sie sagte das ohne Scheu. Sie lächelte Jürgen an. „Es ist gut", sagte er. „Ich bin kein Bürger und heuchle dir nicht so was wie Moral vor. Die Schweinehunde in ihren Fünfzimmerwohnungen, mit dem vielen Dreck hinter den weißen Westen, können mich gern haben."
Er stand auf. Er ging zu Maria. Er streichelte ihr Haar.
„Das macht mir Spaß", sagte er, „dass du so einfach erzählst, was du bist. Und kein sentimentales Geschwätz dazu fabrizierst. Du gefällst mir. Ich hab nichts zu fressen und kein Dach über dem Schädel. Feine Jugend, was? Und du gibst mir ein Dach. Und du sagst, du hättest mich lieb. Und ich sag dir, ich mag dich auch und ich bleib bei dir, wenn du willst, und ich schmeiß den Laden hier in Siebenwasser, und es wird nicht lange dauern, dann kracht der ganze Schwindel zusammen, und wir fangen das richtige Leben an."
„Das richtige Leben?" Maria hielt seine Hand und presste sie an den Mund.
„Adolf Hitler hat es uns versprochen, und Adolf Hitler hält, was er verspricht. Glaub mir, Gott hat ihn geschickt. Ich war auf dem letzten Parteitag an seiner Seite. Das ist kein Mensch mehr. Wirklich, Maria, das ist viel mehr!"
„Und was wird er tun?" Maria legte ihren Kopf auf den Tisch und sah zu Jürgen hoch. „Die Not aus dem Land wird er treiben, Maria, wirklich, alle Not und allen Gestank und allen Schwindel. Und wir können wieder daheim sein und herumgehen und friedliche Arbeit tun." Jürgen beugte sich nieder und küsste Maria. „Ach", stammelte sie, „ich glaube dir. Aber du sollst bei mir bleiben."
Er löschte das Licht. „Ich heiße Jürgen", sagte er.
Maria lag im Dunkel. Das dünne Licht einer Straßenlaterne drang durch die Gardinen. Es fleckte den Tisch und den Boden. Stumm lag sein Schein auf den Möbeln. Maria zählte. Jetzt war sie schon auf neunhundertvierzig und Jürgen war immer noch weg. Mein Gott, welch ein Mann! Aber das hab ich ja gewusst, als ich ihn sah, wie er dem Juden eine 'runterhieb und wie er der Polizei getrotzt hat. Ob er wohl wiederkommt? Was macht er nur in der Nacht? Wie er das Brot und die Wurst aß — und wie er sprach! Wie heißt er noch? Adolf... Ich komm auf den Namen nicht. Ist auch egal. Irgend so etwas mit i... Aber das hat mir gut gefallen, was er da über die Bürger mit dem Dreck hinter den weißen Westen sagte. Schöne Bagage. Hat einen Tripper und läuft in die Kirche. Und kniet vor der Madonna. Ich werd den Jungen hier behalten. Kann oben wohnen. Kann unten essen. Werd ihm sagen, dass ich manchmal Besuch haben muss. Wird er schon einsehen. Weiß ja Bescheid. Macht sich ja keine Flausen vor. Kennt den Schwindel. Ist süß, ach. Maria bewegte sich nicht. Sie lag unter dem Licht und dachte, wenn er nur wiederkommt. Das mit der Frau Franzke, die oben wohnt und der das Haus gehört, deichsle ich schon. Das arme alte Luder sitzt ja den ganzen Tag in der guten Stube und starrt das Bild von dem Sohn an, der gefallen ist. Spinnt wohl ein bisschen. Stellt dem Bild Essen hin. Jeden Tag. Und sonntags Wein. Ach Gott, da soll man nicht lachen: Ist halt eine Mutter... Krach? — was war das? Komisch, mitten in der Nacht. Krach! — das sind doch Fensterscheiben. Mein Gott, jetzt wieder... Krach! — ich bleib liegen. Das geht mich gar nichts an. Das sind Besoffene. Ich möcht nur wissen, ob der Junge wiederkommt. Da hab ich ein Haar von ihm im Mund. Fein, wie ihm das Brot geschmeckt hat. Und wie er dann geredet hat. Großartig. Der glaubt wirklich, was er sagt... Krach! aber was ist denn das nur? Morgen muss ich Fleisch kaufen. Schnitzel, ja, und dazu mach ich Kartoffelbrei. Nachher mach ich ein Glas mit Kirschen auf. Ist doch gut, dass ich eingekocht habe. Muss ihm viel zu essen geben. Umso feiner wird er. Nein, nicht so. Soll leben, wie er will. Aber bei mir sein, bei mir... Jesus Maria, was ist nur, ich bin verrückt... Ein paar kurze Schritte. Dann das Geräusch im Türschloss. Er kommt. Er ist da. Er steht im Zimmer. Er zündet ein Streichholz an. „Jürgen!" ruft Maria. Das Zündholz brennt ab, erlischt. Er sitzt neben ihr am Bett. „Jürgen!"
„Das hat großartig geklappt", sagt der Junge, „vier Erkerscheiben vom Warenhaus Aschaffenburg sind hops."
Er lacht und lehnt sich an Maria.
„Ach, dass du da bist", ruft sie, „du sollst immer da sein."
Jürgen fällt in die Umarmung. Es wird langsam hell.
Die „Braunschweig" näherte sich Bremerhaven. Nach dem ersten Frühstück war Irene in die Kabine gegangen, um die Koffer zu ordnen. Sie hatte den Vater unten im Rauchsalon verlassen, wie er vor der großen Landkarte Deutschlands stand und mit dem rechten Zeigefinger die Flussläufe nachfuhr und die Namen der Städte halblaut vor sich hinsagte. Sein Auge lag auf dem Tal des Neckars, und Irene hörte ihn lesen. „Heidelberg... Neckarsteinach... Hirschhorn... Wimpfen... Siebenwasser..." Er sprach die Namen aus wie ein Kind, fast buchstabierend und mit einem ernsthaften Eifer in der Stimme.
Still war Irene von dem Vater gegangen. Es schien ihr gut und richtig, ihn in dieser Stunde allein zu lassen. Als sie über das Deck zu den Kabinen schritt, passierte die „Braunschweig" das erste Feuerschiff. Irene saß auf dem Bett. Die Koffer waren geschlossen. Durch das offene Fenster sah sie am Horizont einen dünnen bräunlichen Streifen. Frisch ging die Brise über das Schiff. Weich und glatt
war die See. Fast lautlos schob sich die „Braunschweig" über die spiegelnde Fläche. Es war drei Uhr nachmittags, und über dem Meer und dem langsam ergrünenden Ufer des Festlands lag die reife Sonne des September.
Irene verließ die Kabine. Ein Träger holte das Gepäck. Die Passagiere versammelten sich im Mittelschiff. Die „Braunschweig" verlangsamte die Fahrt. Immer näher schob sich das Land. Da standen die spitzen Kirchtürme in der Patina des Kupfers, und der Wind von der See her bog die Weiden landeinwärts.
Ein Gong erklang. Schon war die harte Kaimauer sichtbar. Irene ging in den Rauchsalon. Dort stand der Vater. Zärtlich fasste sie ihn an der Schulter. „Wir sind da", sagte sie.
Sie gingen nach oben. Sie überschritten die Brücke. Als sie an Land waren, umarmte Johann Kaspar sein Kind.
Das Friedrich-Carl-Gymnasium zu Siebenwasser war ein roter, unfreundlicher Bau aus den sechziger Jahren. Es stand unterhalb der Bastion auf einem kleinen Plateau.
Seine Schüler rekrutierten sich in der Mehrzahl aus den Söhnen der höheren und mittleren Beamtenschaft und jenen Bauernjungen der umliegenden Dörfer, die für das Studium der Theologie vorgesehen waren. Der Charakter der Anstalt war äußerst exklusiv, trotz der Bonhomie ihres Leiters, des weinfröhlichen Direktors Holzapfel. Aber es war Tradition in Siebenwasser, dass ein Schüler der Friedrich-Carl-Anstalt sich im Verkehr mit der Bevölkerung größter Zurückhaltung befleißigen musste, indem er durch diesen Abstand zu erkennen gab, dass sein Leben anderen Zielen geweiht war als dem der gewerbetreibenden Bürger. Hier war eine Pflanzstätte des konservativen Beamtentums, wie es sich nach den Napoleonischen Kriegen in den deutschen Kleinstaaten herausgebildet hatte, aufgeklärt im Sinne des Humanismus, doch voller Abneigung gegen jede Popularisierung seines Bildungsideals und gegen jede Vermengung seines Lebens mit dem Volk. Wohl war diese Tradition oft durchlöchert worden — die Woge der Wilhelminischen Ära hatte viel davon weggeschwemmt und eine gefährliche Halbbildung in den Schulbetrieb einziehen lassen — aber immer wieder war es gelungen, den Lehrkörper zu säubern und die Anstalt zu dem Palladium süddeutsch-konservativen Geistes zurückzuführen. Die hohe Bürokratie in Stuttgart, die zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem Gymnasium von Siebenwasser hervorgegangen war, hatte kurz vor dem Krieg die Errichtung einer Oberrealschule durchgesetzt. Dort konnten die Kinder der Kaufleute, der Angestellten und des übrigen Volks sich die Matura für das Studium erwerben. Das Gymnasium blieb rein vom Geist einer fortschrittlichen Halbbildung, und die alte Tradition, die einen bestimmten Charaktertypus schaffen wollte und nicht irgendeinen technischen Fachmann, lief keine Gefahr mehr, verwässert zu werden. Hier herrschte Plato und nicht der Physiksaal oder die Logarithmentafel. Lebende Sprachen kann jeder Oberkellner lernen, doch das kalon k'agathon im Sinne des Humanismus war nur durch eine strenge, exklusive Schule zu erlangen. Hohe Beamte der Bürokratie in Stuttgart wachten über den Geist der Anstalt. Sie waren froh, wenn man sie als rückständig verschrie. Denn sie glaubten nicht, dass der Motoren bauende Mensch dieser Epoche den Geist ersetzen könne, ohne den es keine Ordnung, kein Maß und keine Harmonie gäbe. Es war ein konservativer Platonismus, der sich hier der zivilisatorischen Anarchie entgegenstemmte.
Als Dr. Voß das Klassenzimmer betrat, erhob sich die Prima. Er ging zum Katheder, setzte sich und sah in die Gesichter der vor ihm stehenden Jungen. Er betrachtete jeden einzeln, das tat er immer, vor jeder Stunde. Und die buschigen Augen auf die achtzehn jungen Menschen gerichtet, sagte er: „Wir kommen heute zur deutschen Reichsverfassung aus dem Jahre 1919. Es ist die sogenannte Weimarer Verfassung. Sie wissen, dass Sie im kommenden März beim Abitur in den wichtigsten Bestimmungen dieser Verfassung geprüft werden. Laut einer Verordnung der Regierung ist Staatsbürgerkunde Pflichtfach. Es ist meine Dienstpflicht, Sie darin zu unterrichten. Ich muss Sie aber bitten, die Ansichten, die ich hier vortrage, nicht als die meinen zu betrachten. Es handelt sich um ein Werk, das ich sowohl seiner Entstehung wie auch seinem Sinn nach auf Grund meiner Weltanschauung und meiner Vergangenheit ablehnen muss. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Das hat mit unserem Pensum nichts zu tun. Setzen!"
Achtzehn Knaben setzten sich und sahen nach ihrem Lehrer.
Voß begann zu lesen. Seine Stimme war klanglos und entbehrte der gewohnten Schärfe. Es war ein Kommentar über die Entstehung der Verfassung, aus dem er las. Ein langweiliges, mit Daten und Hinweisen gespicktes Elaborat. Zehn Minuten waren vergangen. Keiner der Knaben hörte mehr hin. Einige hatten aus ihren Mappen die Bände herausgezogen, die sie sich am Morgen aus der Schülerbibliothek ausgeliehen hatten, und begannen zu lesen. Andere arbeiteten an ihren Lektionen für die nächste Stunde, und bald geschah es, dass manche ihre Plätze verließen und sich zu ihren Freunden setzten.
Voß sah nicht hoch. Durch den Raum ging das Summen der Stimmen. Oft ein kaum verdecktes Lachen. Schließlich erhob sich einer und fragte, ob es erlaubt sei, die Toilette aufzusuchen. Dr. Voß hob den Blick.
„Sie wissen, meine Herren, dass Sie in dem, was ich hier lese, geprüft werden. Wenn aber Ihr Gesundheitszustand beim Anhören dieser Paragraphen merkwürdige Veränderungen zeigt, kann ich Sie nicht hindern, dem nachzukommen." Da lachte die Prima hell auf. Das war wieder echt Voß. Dieser blendende Sarkasmus zeichnete auch seine Aufsätze aus, die er über geschichtliche Themen in den „Preußischen Jahrbüchern" veröffentlichte. Nach und nach verließen die Knaben den Saal. Sie hatten für solche Gelegenheiten einen Turnus. In Dreiergruppen gingen sie hinaus, und während die eine Gruppe auf dem Häuschen im Hof Zigaretten rauchte, wartete die andere zehn Minuten, um sie dann abzulösen.
Hans Diefenbach saß in der letzten Bank. Er machte den Exodus nicht mit. Er fand diese ganze Art zu demonstrieren albern. Nicht dass er die Weimarer Verfassung verteidigen wollte. Aber so unter Duldung, ja unter Aufmunterung eines Vorgesetzten sein Mütchen kühlen, das entsprach nicht seinen Ansichten vom ehrlichen Kampf. Vor drei Tagen, das war eine andere Sache gewesen! Da waren die besten Leute vom Sturm ins Theater gegangen und hatten gegen das Gewicht einer Mehrheit demonstriert, hatten sich nicht gefürchtet vor der Polizei, hatten sich abführen lassen — für ihre Idee vom neuen Deutschland. Aber hier, diese Kameraden, naseweise Beamtensöhne, die jeden Oberrealschüler über die Achsel ansahen, die hatten kein Recht... die nicht!
Hans sah vor sich hin. In achtzehn Minuten würde es schellen. Auf dem Katheder näselte Herr Dr. Voß seinen Sermon herunter. Mit absichtlich müder Stimme erklärte er, was ein Misstrauensvotum sei. Hans dachte an den Neuen, der da plötzlich bei dem Theaterkrach mit dabei war. Wie hieß er noch. Jürgen Winkler. Gestern hatte er ihn bei Gerhard Träger getroffen, als sie den Plan für die Nachtübung besprachen. Der hatte ihm gefallen. Was hatte er gesagt? Man müsse die Arbeiter gewinnen. Man müsse sozialistisch sein. Man müsse Schluss machen mit dem Liebäugeln mit der alten verkalkten Reaktion. Und Gerhard Träger hatte ihm zugestimmt und ihn beauftragt, in Siebenwasser zu bleiben und für den deutschen Sozialismus zu kämpfen. Und Jürgen hatte geantwortet, außer seinem Hass gegen die Juden empfände er nur noch einen Hass, den gegen die Reaktion. Das waren Worte, die Hans schon lange gedacht hatte. Hatte nicht auch Vater unter diesen Schichten gelitten, die Jürgen Reaktion nannte? Wie hatten sie es dem aktiven Hauptmann schwer gemacht, weil er eine Handwerkerstochter heiratete. Verrat hatten sie ihm vorgeworfen. Als ob es Verrat sei, wenn einer ins Volk geht. Nun, Vater lag tot vor Verdun, und Mutter zehrte von der schmalen Pension, die kaum mehr als ein Almosen war. Was war Hans gegen die Jungens hier in der Klasse? Die hatten Verwandte, die in Ministerien saßen oder in großen Fabriken. Die redeten und lebten ja nur unter ihresgleichen. Was wussten die vom Volk?
Lange Jahre hatte sich der Sohn des Hauptmanns Diefenbach im Gymnasium gefürchtet, nicht weil er arm war, wie sehr ihm das auch die ängstliche Zärtlichkeit seiner Mutter zu verheimlichen suchte. Aber er sah den Weg vor sich, der ihm drohte. Nach dem Abitur würde man ihn mit Hilfe irgendwelcher Verbindungen in ein Korps pressen, er wird den Alten Herren, die die Stellen vergeben, gefällig zu Ohr reden müssen, und man wird ihn dann, wenn er geschickt und demütig war, in der höheren Verwaltungslaufbahn oder in der Industrie unterbringen. So wenigstens sprach sein Vormund, der Oberstleutnant Diefenbach, jetzt Kurdirektor in Wernigerode am Harz. Immer hatte es Hans vor diesem
Gedanken geschaudert. Was war das für ein Leben? Lag dafür der Vater mit den Hunderttausenden vor Verdun?
Hans schlug sein Scharbüchlein auf. Da standen sie, die Sätze, die ihm Gerhard Träger auf die erste Seite geschrieben hatte an jenem Abend, da er sich ihm anvertraute. Sie waren aus der Turnhalle, wo für das Verbandstreffen trainiert wurde, zusammen ein Stück Wegs gegangen. Es war im Winter. Sie stapften durch den Schnee. „Was ist mit dir?" hatte ihn Träger gefragt. Hans war erschrocken. Er hatte dummes Zeug gestammelt. Aber Träger ließ nicht locker. Und als sie dann ins Reden kamen, da hatte Hans ihm gesagt, dass er so nicht leben wolle und könne. Und Träger hatte genickt. Sie waren in das kleine Bauernhaus gegangen, wo Träger wohnte. Hans war es etwas unheimlich, denn in der Schule wurden schlechte Witze über den Offizier erzählt, und auch die Mutter hatte schon gesagt, Knaben sollten sich vor seinem Umgang hüten. Das war aber alles nur eine Finte, um Träger zu isolieren. So machen es die Bürger immer. Wenn ihnen einer unbequem ist, verdächtigen sie seine Moral.
Diese Begegnung war für Hans entscheidend geworden. In wenigen Sätzen, wie es seine Art war, hatte ihm Gerhard Träger die neue Idee erklärt. Die Jugend und der unbekannte Soldat des Weltkriegs sind berufen, das neue Reich zu gründen. Es ist das große Erwachen des Volkes nach tausendjährigem Schlaf. Das heilige Reich der Gemeinschaft. Und er hatte ihm die Feinde gezeigt. Und er hatte ihn gefragt, ob er ein Soldat dieses neuen Reichs werden wolle. Und Hans, erschüttert von der gewaltigen Vision eines durch keinen Dünkel und keinen Hass mehr getrennten Volkes, hatte ja gesagt. Denn dafür waren sie gestorben, draußen vor Verdun, nicht für den Kaiser, nicht für die Generale, nicht für die Industrie — sondern dafür! Und hier standen sie, die Sätze Gerhard Trägers, die Hans immer und immer wieder las, wenn er sein Leben bedachte: „Die Lage unseres Volkes macht es notwendig, dass sich Männer zu einem heiligen Eid zusammenfinden, die um des Neuen willen auf jeden bürgerlichen Vorteil verzichten und denen der Tod für das kommende Reich mehr gilt als ein Leben im behaglichen Winkel."
Hans sah auf. Immer noch näselte Voß. In zehn Minuten musste es schellen.
Hans begann gerade seine Sachen zusammenzupacken, als es klopfte. Dr. Voß schritt zur Tür. „Diefenbach, zum Direktor!"
Hans erhob sich. Alle sahen ihn an. Er ging durch die Reihen der Bänke auf den Flur. Dort stand der Pedell.
„Dicke Luft!" flüsterte Rübsam. Sie schritten die Treppe hinab.
Direktor Holzapfel hatte gerade über der neuen Plautusbearbeitung gesessen, die er für einen Verlag auf philologische Korrektheit prüfte, als sich Polizeileutnant Schnebel melden ließ. Holzapfel war trotz seiner konservativen Grundeinstellung ein Verächter der Polizei. Sie war für ihn die Degeneration des Begriffes Krieger, den er getreu seiner platonischen Anschauung zwar als notwendig, aber als lästig empfand. Und nun kommt ein Mestize dieser Kaste und stört ihn am Plautus. „Der Herr Leutnant möge gefälligst warten." Rübsam war zurückgekommen. Der Herr Leutnant könne nicht warten. Es handle sich um einen dringenden Auftrag des Herrn Polizeipräsidenten. Da war Holzapfel aufgestanden. Alles Blut schoss ihm zu Kopf.
Was der Herr Polizeipräsident wohl in einem humanistischen Gymnasium zu suchen habe? Aber Rübsam, der die Launen seines Direktors kannte, schaffte ein Fait accompli und ließ Polizeileutnant Schnebel ein.
Als Holzapfel die Uniform sah und den glänzenden Tschako und an dem Gurt den Revolver, schlug er mit der Faust auf den Plautus und rief: „Herr Polizist, legen Sie augenblicklich die Waffe weg! Der Geist dieser Anstalt verträgt keine Revolver!" Polizeileutnant Schnebel, der den Holzapfel von der Weinstube, wo er seine Abende verbrachte, wenn er nicht am Plautus arbeitete, kannte, verbeugte sich und sagte: „Herr Direktor, nie hätte ich es gewagt, den Geist dieser Anstalt zu verletzen, wenn sich von hier aus nicht ein Attentat gegen die öffentliche Ordnung und gegen die Sicherheit des Staates vorbereitet hätte."
„Sie sind der ulkigste Kerl, der jemals einen Tschako getragen hat!" brüllte Holzapfel. Ohne eine Antwort zog der Leutnant aus dem Ärmel ein Papier, legte es vor den Direktor und sagte: „Ich muss Sie bitten, sofort den Oberprimaner Hans
Diefenbach zu rufen. Sollten Sie sich weigern, bin ich gezwungen, selbst einzugreifen. Befehl des Polizeipräsidenten."
Holzapfel starrte auf das Papier. Plötzlich ward ihm der Kragen zu eng. Er schellte. Rübsam kam. „Diefenbach", knurrte der Direktor. Dann stellte er sich vor die Bibliothek und betrachtete die Einbandrücken des Plutarch.
Als Hans das Konferenzzimmer betrat, sah er zuerst den Leutnant. Er wusste sofort, was vorlag. Seit Tagen hatte er damit gerechnet. Dennoch wurde er blass. Lange hing das Schweigen im Raum. Holzapfel rührte sich nicht vor der Bibliothek. Schnebel räusperte sich. Ohne Erfolg. Er schnipste mit den Fingern. Der alte Mann vor den Büchern drehte sich nicht um. Da ging Polizeileutnant Schnebel zu Holzapfel und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Der Gesuchte ist da", sagte er sehr höflich. Mit einem Ruck schoss Holzapfel herum. „Rühren Sie mich nicht an!" brüllte er. Lächelnd deutete Schnebel auf Hans. Holzapfel atmete tief. Dreimal hob und senkte er die gewaltigen Schultern, der alte Mann. Dann ging er zu Hans. Er fasste ihn am Arm.
„Sagen Sie, Diefenbach, haben Sie wirklich durch Ihr Verhalten an einem mir unbekannten Ort..." „Im Theater", fiel Schnebel ein. „Aber jetzt hören Sie gefälligst auf! Ich habe das Hausrecht hier!" brüllte Holzapfel, um dann fast zärtlich fortzufahren:
„Haben Sie wirklich durch Ihr Verhalten an einem mir unbekannten Ort diesen bewaffneten Prätorianern die Berechtigung gegeben, in unser Gymnasium einzudringen? Nicht wahr, Diefenbach, das muss doch ein Irrtum sein!"
Liebevoll sah er den Knaben an. Mein bester Hexameterleser, dachte Holzapfel.
Hans sah die klaren gütigen Augen des Direktors. So leuchteten sie immer, wenn er die Verse von der Insel der Phäaken las oder wenn er die platonischen Dialoge übersetzte.
„Es ist kein Irrtum", antwortete Hans, dann fror ihn. Holzapfel trat zurück. „Diefenbach", sagte er, weiter nichts als „Diefenbach". Er schritt nach der Bibliothek zurück, als suche er einen Schutz. „Es liegt das Delikt des Landfriedensbruchs vor", Polizeileutnant Schnebel zog das Papier, „anlässlich der zweiten Aufführung des Schauspiels ,Der fröhliche Weinberg' hat sich der Schüler Diefenbach aus Siebenwasser mit anderen Konsorten im vollbesetzten Haus zu Ruhe und Ordnung störenden Handlungen hinreißen lassen und durch Aufforderungen zur Gewalttätigkeit den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllt."
„Schweigen Sie!" schrie Holzapfel. Er schlug die Hände ineinander. „Das ist unmöglich. Das macht kein Humanist!"
Er rannte durch das Zimmer.
Schnebel sah Diefenbach an.
„Ich habe es getan, Herr Direktor", sagte Hans.
Mit einem Ruck blieb Holzapfel stehen.
„Dann sind Sie unwürdig!"
Bleich war das Gesicht des alten Mannes. Schweigend standen sie da.
„Ich habe es für Deutschland getan, Herr Direktor." Holzapfel entspannte sich. Leicht ging er zu dem Jungen.
„Für Deutschland?" sagte er, „das ist immer die Ausrede von Wirrköpfen, mein Lieber. Sie haben das Gesetz verletzt. Sie haben aber noch mehr, Sie haben den geistigen Anstand verletzt, Sie haben gebrüllt, wo Sie hätten überzeugen sollen, Sie haben Platon verletzt, indem Sie auf den Marktplatz gingen. Sie haben alles, was ich euch gepredigt habe, besudelt und sich in Dinge gemischt, die den Pöbel angehen. Das haben Sie getan. Diese Schule haben Sie verraten! Ja!"
Der alte Mann setzte sich. Hans spürte sein Herz. Schnebel trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Schließlich fasste er sich. „Herr Direktor, es liegt nicht im Sinn des Polizeipräsidenten, aus diesem Dummenjungenstreich eine Staatsaffäre zu machen. Wir wissen, dass die Jugend durch gewisse Drahtzieher gelenkt wird, und wir wollen endlich einmal in diesem Fall die Hintermänner öffentlich feststellen, damit Ruhe kommt nach Siebenwasser. Wenn also der Schüler Diefenbach uns jetzt hier seinen Auftraggeber nennt, wird der Akt niedergeschlagen, und wir überlassen es Ihnen, Herr Direktor, die Sache durch einen Verweis aus der Welt zu schaffen." Schnebel nahm den Tschako ab. Es sah aus wie ein Friedensangebot, aber vielleicht schwitzte er nur. Alles straffte sich in Hans. Jetzt war die Stunde da.
Jetzt musste er sich bewähren. Jetzt versuchten sie ihn.
„Was ich getan habe, habe ich aus eigenem Ermessen getan. Ich hatte keinen Auftraggeber. Wir demonstrierten gegen das Gift in unserem Volk. Wir demonstrierten gegen den jüdischen Geist. Wir demonstrierten gegen die bürgerliche Schlappheit. Wir glauben an das Neue Reich." „Angelernte Sprüche", näselte Schnebel. Holzapfel erhob sich. Er sah alt aus. Er ging langsam auf Diefenbach zu. „Hans", sagte er — lange hatte er ihn nicht mehr beim Vornamen genannt—, „Hans, Sie sind einer meiner besten Schüler. Ich kenne Ihren Stolz. Jetzt nehmen Sie eine Schuld auf sich, um jemanden zu decken. Das ist löblich, Hans, aber Sie opfern sich an einem falschen Ort. Sie leiden nicht für den Geist. Glauben Sie mir, das Stück im Theater war zwar kein Klassiker, aber was ihr getan habt, das greift an die Grundlagen jeder Gesittung — und diese Grundlagen werden hier in diesem Haus von mir verteidigt. Hans, das ist ja unser Leben, dass wir diese Grundlagen nicht verlieren, das ist ja das A und O jeder Gemeinschaft, Hans, wenn wir das nicht halten, dann kommt eines Tages der Pöbel über uns, und alles, was wir gebaut haben, war umsonst!"
Er hielt den Knaben an den Schultern und schüttelte ihn. Hans sah starr geradeaus. Wie sie mich versuchen! dachte er. Und als der alte Mann mit den verzweifelten Augen da vor ihm wieder zu sprechen anhob, da schüttelte sich Hans frei, eine heiße Welle der Entschlossenheit durchzog ihn, er stellte sich offen vor den Direktor, und während sein Gesicht in einer hektischen Röte erglühte, sagte er: „Sie verstehen uns nicht, Herr Direktor. Sie verstehen nicht die deutsche Revolution. Sie sind zu alt, Herr Direktor."
Das Wort stand im Raum. Alle schwiegen. Hans zitterte.
Als erster sprach Schnebel. „Frechheit!" zischte er. Doch Holzapfel winkte ab. Es war ein tiefes Lächeln in seinem Gesicht, als er auf Hans zuging und seine Backe streichelte.
„Armer Junge", sagte er, „armer Junge, so steht es also mit dir... Wir sind zu alt... Alles, was da so ist" — er deutete auf die Bibliothek —, „ist zu alt. Der Platon und der Seneca, der Augustinus und der heilige Franz, es ist zu alt, nicht wahr, es ist tot, sag es nur, es war umsonst, so ist es." Schrecklich war das Lächeln auf Holzapfels Gesicht. Da stand sie vor ihm, diese gespenstische Jugend, diese von Sport und Technik taub gewordenen Seelen, diese maßlose, den Körper vergottende Generation, die seit Jahren vor ihm aufwuchs, ohne geistige Zucht, ohne Demut, ohne Willen zur Weisheit und zur Klärung ins Menschliche. Schön waren diese Körper, kluge Tiere. Und wie er Hans dastehen sah, ein wenig bleich, aber mit festen Augen und in gerader Haltung, wie er dieses offene Gesicht sah ohne Fehl und Hinterlist, da überkam ihn der Jammer vor soviel jungem gesundem Blut, da schrie es in ihm auf, wie so oft schon, wenn er diese herrlichen Knaben abtorkeln sah auf die Straße der Finsternis und des blinden Hochmuts, und der Zorn über soviel Verführung, über soviel abgefeimte Verderbnis jugendlicher Seelen übermannte den alter Mann, und alle immer geübte Zucht zerbrach in dem Schrei: „Damals war es wenigstens Alkibiades der den Göttern die Köpfe abschlug und euch verführte, wenigstens Alkibiades, ein Grieche. Ein Abtrünniger, aber wenigstens ein Abtrünniger! Heute aber", die Gestalt des alten Mannes straffte sich, jäh stand er da, sein Haar flog und seine Augen standen voll Tränen, „heute aber hat euch der Barbar, der stumpfe Gewaltanbeter, der Hexenmeister, der Rattenfänger in seinen Klauen..." Hans wusste selbst nicht, wie es gekommen war, „der Führer", hatte er gedacht, weiter nichts als „der Führer" ... und schon schlug es aus ihm heraus mitten in das Gesicht des Direktors Holzapfel. Eine Brille zersplitterte am Boden. Hans wankte Er fühlte sich gepackt. Drei Stöße in seinen Rücken Als er die Augen öffnete, bemerkte er, dass Schnebel seine Arme hielt. Vor ihm durch den Raum tastete sich hilflos mit ausgestreckten Händen ein alter Mann.
„Ich werde sofort das Nötige veranlassen", hörte er Schnebel.
„Aber nein", flüsterte Holzapfel und lächelte, „keine Weiterungen, wenn ich bitten darf! Aber hier auf dem Tisch muss eine Glocke stehen. Ich finde sie nicht. Bitte läuten Sie!"
Hans fühlte sich losgelassen. Eine dünne Schelle ertönte. Die Tür ging auf.
„Rübsam, meinen Ersatzzwicker", sagte der alte Mann. Rübsam brachte den Zwicker. Umständlich, den Fuß auf einen Stuhl gestützt, putzte Holzapfel die Gläser.
Schnebel fasste wieder nach Hans. „Aber nein", lächelte der Direktor, „wir sind hier doch nicht auf der Polizei."
Da ließ ihn Schnebel los. Hans hielt den Kopf gesenkt. Das wollte ich nicht, dachte er. Und wieder hörte er die Stimme seines Lehrers. Sie war von einer wunderbaren Milde und Weichheit. „Sehen Sie, Hans, was Sie eben getan haben, was ich Ihnen verzeihe und worüber ich nie mehr ein Wort hören will", sagte Holzapfel und sah Schnebel bittend an, „sehen Sie, Hans, das ist das Verhängnis. Sie haben völlig richtig gehandelt. So muss es kommen. So müsst ihr alle werden. Dagegen hilft keine Polizei, Herr Leutnant, kein Gericht. Das ist ein fürchterliches Schicksal, wenn man statt der Vernunft nur Blut im Kopfe hat."
Holzapfel setzte den Zwicker auf. Niemand spürte seine Erregung. Seine Stimme war von einer schweren Trauer umflort. Er sah Hans liebevoll an. „Hans, ihr alle seid gute Jungens. Ihr alle glaubt Deutschland verraten. Ihr wollt es retten. Ihr werdet es zu Tode retten!"
Draußen schellte es. Hans hörte die Schüler die Treppen hinunterrennen. Holzapfel sprach lange kein Wort. Sein Blick ruhte auf der Büste der Pallas Athene.
Längst war der Lärm verklungen, als Holzapfel wieder zu reden begann. „Mein lieber Hans, Sie wissen, was ich euch lehrte. Duldet nie, dass der Pöbel regiere. Wie er auch sei, und was er auch rede. Aber
Sie verstehen mich schon nicht mehr. Sie sind schon kein einzelner Mensch mehr, Hans. Ihre Hand wird schon geführt. Heute krachte nur ein Zwicker, morgen kracht vielleicht ein Schädel und übermorgen kracht vielleicht das ganze Haus. So war das immer, wenn man nur Blut im Kopfe hat, Hans." Holzapfel ging zu seinem Schreibtisch. Er schob das Plautusmanuskript hinweg. Er setzte sich mit dem Rücken zur Tür. Er schrieb mit einer knirschenden Feder.
„Sie werden sich selbst sagen, lieber Diefenbach, dass Sie natürlich nicht länger in der Anstalt bleiben können. So weit ist das Verhängnis noch nicht. Vielleicht kommen Sie in ein paar Jahren und prügeln mich samt meinem Seneca aus dem Tempel hinaus. Aber vergessen Sie nicht, Alkibiades starb in der Verbannung, und sein schöner Leib ward nicht mehr gefunden. Selbstverständlich werden wir jedes Aufsehen vermeiden, schon Ihrer Mutter wegen. Sie bekommen ein reguläres Abgangszeugnis, und ich kann Ihnen heute schon sagen, dass Sie mein bester griechischer Schüler waren. Leider nur in der Grammatik, Hans. Sie können dann ja irgendwohin ins Preußische gehen. Dort ist ja die Grammatik die Hauptsache, und Sie werden Ihr Abitur bald haben." Holzapfel drehte sich um. „Heben Sie den Kopf, Diefenbach!" sagte er, „Leuten wie Ihnen kann in dieser Zeit nichts geschehen. Haben Sie keine Angst! Aber um eines bitte ich Sie: Werfen Sie nach dem Abiturium Ihren Platon ins Feuer und auch die Bibel, dieses schlappe Buch, werfen Sie hinten nach!" „Sie aber, Herr Polizist", fuhr Holzapfel fort und stand auf, „sagen Sie Ihrem Häuptling, der Fall sei durch mich geregelt, und wir hätten den Drahtzieher. Es ist der Krieg!" Holzapfel deutete nach der Tür. „Ich danke, meine Herren." Hans ging, von Schnebel gefolgt. Lange horchte Holzapfel auf ihre Schritte. Als sie verklangen, sank sein Gesicht auf den Schreibtisch. Wieder einer..., dachte er, und er weinte, der alte Mann.
Sie waren gegen zehn Uhr in Heidelberg angekommen. Irene hatte sofort den Wagen in eine Garage gefahren und den Vater bestürmt, doch den Tag über in der Stadt zu bleiben. Aber Bäuerle war unerbittlich. Eine Stunde nur gestand er zu. Das Mittagessen sollte im „Schwarzen Bären" in Siebenwasser stattfinden. Er hatte es telegraphisch bestellt. Forellen.
Widerwillig fügte sich Irene. Der Vater war überhaupt auf der ganzen Fahrt merkwürdig gewesen. Nirgends wollte er bleiben, sie musste ihm die Umwege ablisten. Sie hatte es wenigstens erreicht, dass sie von der Weser zum Rhein hinübergelangten, bei Koblenz ins Moseltal fuhren, dann zurück und über den Fluss nach der Lahn bis nach Wetzlar und wieder zurück und den Rhein entlang bis nach Mainz. Dort aber hatte Vater gestreikt. „Ich will erst nach Hause", hatte er gesagt, „später kannst du fahren, wohin du willst."
Irene war berauscht. Nie hätte sie gedacht, dass Deutschland so schön sei. Am Rhein waren sie in
die Weinernte gekommen, da hatte selbst Vater vierzehn Tage zugegeben. Wie hieß dieses Städtchen noch, wo sie wohnten? Oppenheim, ja und die Kirche mit den Fenstern, die das Licht verzauberten, und daneben das Beinhaus mit den vielen tausend Schwedenschädeln, und darüber wuchs der Wein.
Sie wohnten in einem kleinen, einfachen Hotel, und jeden Morgen sind sie mit dem Wagen hinein ins Land gefahren, wo in den Mulden die Dörfer liegen und die Wächter auf den Hügeln mit alten krachenden Schießprügeln die Stare von den Reben verjagen.
Abends, wenn die Kühle kam, saßen sie in den niedrigen Stuben der Bauernkneipen, und Vater ließ sich erzählen, wie es im Krieg war und in den bösen Jahren der Inflation. Es waren gesprächige Menschen in dieser Gegend, und die Mädchen, mit denen Irene oft in der Küche saß, waren nicht zimperlich, wenn sie von den Burschen redeten. Oft war Irene mitgegangen zum Tanzen, während der Vater vor dem Wein saß, der leicht im Glase schaukelte, und den Bauern von Amerika erzählte, von dem rücksichtslosen Leben der Städte und der weiten Dehnung der Farmen. Es kamen viele Bauern aus der Nachbarschaft, um dem Amerikaner zuzuhören. Sie saßen im Kreis um den Tisch. In der Mitte stand der irdene Krug mit Wein. Langsam sogen die Männer an ihren Pfeifen, und erst, wenn die Nacht hochreif über den Weinbergen stand, gingen sie in ihre Häuser zurück. Es waren rheinhessische Bauern, und es gefiel ihnen, was der Amerikaner sagte, wenn er von der falschen
Unruhe in der Welt sprach, von dem bösen Dämon der Unrast, der immer jene Völker befalle, die schlechtes Land besäßen. Und sie nickten, wenn Bäuerle auf den Tisch hieb und sagte: „Wisst ihr, deshalb sind die Preußen heute immer noch so. Das schlechte Land steckt ihnen im Blut. Das vererbt sich wie ein Gift, und das lässt die Menschen niemals los. Das möcht ich schwören, wenn einmal in Kottbus Reben wachsen, dann ist Ruhe..." Die Bauern verstanden den Mann. Viele von ihnen hatten noch ein Bild in der Stube hängen von dem Franzosenkaiser, der die Preußen schlug. Das blieb dort trotz Krieg und Besatzung. Und als die Separatisten kamen, da wären manche beinahe zu ihnen gestoßen, hätten die Burschen kein Gesindel bewaffnet und sich nicht von Negern schützen lassen. Nicht wenige Bauern gingen damals mit sich zu Rat, ob es nicht besser sei für die Ruhe und den Wuchs der Kinder, wenn sie ihr Gesicht abwendeten von dem Osten, aus dem der Krieg gekommen war und der große Betrug der Inflation. Es hätte damals nicht viel gefehlt, und sie wären aufgestanden aus dem dumpfen Gefühl, in Berlin herrscht der Teufel. Aber der Franzose stand im Land — das genügte, um zu schweigen. Nein, Verräter waren sie nicht. Aber ihr Hass war geblieben. „In Berlin herrschen die Marxisten", sagten sie, und als Bäuerle fragte, was das sei, da antworteten sie: „Die wollen den Bauer zum Taglöhner machen, genau wie die Junker." Irene war in diesen Tagen durch die Weinberge gegangen, getragen von dem Gefühl, als habe sie schon einmal in diesem Lande gelebt. Das schien ihr alles nicht fremd, die Hügel, die Dörfer, die Pappelchausseen, die kleinen Städte am Fluss und die Weiden am Ufer. Oft dachte sie, hier bin ich schon gewesen, vor diesen Kirchen habe ich gespielt, vor diesen Madonnen habe ich gebetet. Und immer wieder gelang es ihr, dem Vater noch einen Tag abzuschmeicheln. Bäuerle war glücklich über das Kind. „Jetzt habe ich keine Angst mehr, dass sie leiden muss." Sie waren an einem Samstag in ein Dorf gegangen. Es ruhte tief im Land, in der Nähe von Alzey. Es war Mittag. Eine milde Sonne lag über den Dächern. Sie fanden das Pfarrhaus, ein von Efeu überwachsenes Gebäude nahe der Kirche. Sie läuteten, und eine behäbige Dame machte auf. Ob sie wohl Hochwürden sprechen könnten. Was sie denn wollten? Sie kämen aus Amerika, sagte Johann Kaspar, und es klang wie im Spaß. Die behäbige Dame deutete nach dem Keller. Dort unten sei Hochwürden. Damit schloss sie die Tür. Johann Kaspar ging nach dem Keller. Da standen zwei Männer und schwefelten Fässer aus. Wer denn der Pfarrer sei, fragte Bäuerle. „Ich", antwortete der Ältere und ging ein paar Stufen die Treppe empor. Ob sie ihn störten? Was es denn gäbe? Der Mann wischte sich die Hände an einem grünen Schurz. „Ja", sagte Bäuerle, „wir kommen nämlich aus Amerika, und wir möchten uns nach einer Familie Schmittchen erkundigen."
„Schmittchen I oder Schmittchen II?" fragte der Pfarrer.
„Das wissen wir nicht", sagte Bäuerle, „auf jeden Fall Schmittchen."
Der Pfarrer kam nach oben, und sie folgten ihm durch den Grasgarten. Vor dem Haus warteten sie ein wenig, dann kam Hochwürden in der Soutane heraus. Als sie in der Sakristei waren, sagte Hochwürden, weit reichten die Kirchenbücher nicht. Der letzte Brand sei 1814 gewesen, und man hätte nur wenig retten können.
Sie standen in der Sakristei. Der Pfarrer schlug die Folianten auf.
„Schmittchen, Pauline, wenn ich nicht irre", sagte Johann Kaspar.
Hochwürden blätterte. Vorsichtig schlug er die Seiten um, auf denen in sorgfältiger Schrift Leben und Tod der Menschen vermerkt war. Vor jedem Blatt feuchtete er den Finger.
„Schmittchen, Pauline Anna Josefa, Tochter des Schmittchen, Baptiste, und seiner Ehefrau Anna, geborene Weilchen. Getauft am 15. Oktober 1849. Empfing die erste heilige Kommunion am 9. April 1861. Ehelichte am 23. Juni 1868 den Amadeus Bäuerle aus Siebenwasser im Württembergischen, weiland auf der Wanderschaft durch unseren Gau." Der Pfarrer schlug das Buch zu. „Das ist meine Mutter", sagte Johann Kaspar, und er ging durch die Sakristei in die Kirche und sah den Altar und die Bauernblumen darauf. „Gibt es noch Schmittchen im Dorf?" fragte er, als er zurückkam.
„Schmittchen II ja, aber Schmittchen I nicht mehr", antwortete der Pfarrer.
„Wir sind wohl Schmittchen I?" fragte Bäuerle. Der Pfarrer nickte. „Es waren arme Bauern", sagte er, „sie zogen in die Stadt, und man hat nichts mehr von ihnen gehört."
Still war Johann Kaspar mit seinem Kind durch das Dorf Erlenbach gegangen. Fünf Dollar hatte er dem Pfarrer geschenkt. „Für die armen Bauern", hatte er gesagt, und Hochwürden war ins Haus gelaufen und hatte Wein und Brot geholt, und sie hatten getrunken und gegessen, aber wenig gesprochen. Und dann gingen sie an der inneren Friedhofsmauer entlang. Da standen die verwitterten Steine. Manche waren eingestürzt, und das Gras wucherte zwischen den Gräbern. „Sie zogen in die Stadt, und man hat nichts mehr von ihnen gehört..." So war es der Mutter gegangen, so war es dem Vater gegangen, und so war es auch ihm, Johann Kaspar, ergangen. Das Land, aus dem sie kamen, hatte sie vergessen. Verweht war die Spur des Geschlechts. Aber er war noch da. Er kehrte zurück. Und Irene sollte wieder ein Anfang sein. Schweigend stiegen sie in den Wagen, der draußen einige hundert Meter unterhalb des Dorfs unter einem trächtigen Apfelbaum stand. Langsam führ Bäuerle durch die Kurven zu Tal. Irene lehnte sich zurück. „Vater", sagte sie still, „jetzt weiß ich, warum es mir hier so gut gefällt."
Vor ihnen glänzte der Fluss, und hinter ihnen stand das Dorf im Lichte des Mittags.
Die Witwe des Hauptmanns Diefenbach bewohnte in einem Haus an der Uferstraße drei Zimmer. Nach dem Tod ihres Mannes war sie in Siebenwasser geblieben. Die schmale Pension gestattete keinen Umzug, und wohin sollte sie auch ziehen? Ihre Verwandten von der Mutter her waren Bauern in der Kasseler Gegend, die fast steif waren vor Geiz, und das kleine Haus in Celle, das ihr Vater, der Küfer Hartwig, bewohnte, war zu trostlos für sie und ihr Kind. Seit Mutters Tod trank der Mann und prügelte, wenn er mit schwerer Schlagseite nach Hause kam, dieses schreckliche Weib durch, das ihm den Haushalt führte, eine ehemalige Kellnerin aus Stettin. Als Mutter noch lebte, hatte er schon ein Verhältnis mit ihr gehabt. In Hannover hatte er sie eingemietet, dorthin floss das Geld, und sie zu Haus mussten darben und schweigen. Es war eine Erlösung, als damals der junge Offizier kam. Zuerst war es nur eine kleine Liebelei, wie sie zwischen den Bürgertöchtern und den Militärs häufig vorkam, aber bald hatte Herta in dem Offizier die große Chance ihres Lebens gewittert. Kurz vor den Herbstmanövern war Herr Hartwig, ein kräftiger Mann mit einem rötlichen Hambacher Bart, in die Wohnung des Herrn Hauptmann gegangen und hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, entweder er heirate seine Tochter oder er zeige die Schande, die er über sein Haus gebracht, rücksichtslos an. Diefenbach war ein weicher Mensch. Er nahm die Strafversetzung nach Siebenwasser in Kauf und heiratete Herta. Sechs Monate nach der Hochzeit wurde Hans geboren. Die Familie des Hauptmanns löste jede Verbindung, aber auch das ertrug der Offizier, denn Herta war eine zärtliche Frau, und das Kind gedieh gut unter dem süddeutschen Himmel. Der Hauptmann war beliebt. Er galt als liberal. Er ging oft in Zivil. Als der Krieg begann, war er einer der wenigen Männer in der Stadt, die im Taumel der Begeisterung ihren Ernst und ihre Nachdenklichkeit bewahrten. Still war er mit seiner Kompanie Jäger zum Bahnhof gezogen, und als das Regiment unter dem Jubel der Bevölkerung nach Lothringen fuhr, hatte er mit bleichem Gesicht am Fenster gestanden und sein Kind betrachtet, das auf dem Arm der Mutter lachend nach den Blumen griff, die er am Helme trug. An der Aisne wurde der Hauptmann verwundet. Sechs Wochen lag er in Kreuznach im Lazarett. Er sprach nicht vom Krieg. Er war ein stiller Mann, und wenn man ihn fragte, wann der Krieg zu Ende sei, dann antwortete er: „Der wird ewig dauern. Das ist nie mehr gut zu machen." Die letzte Erinnerung, die Hans an den Vater hatte, war ein Morgen in Münster am Stein. Das vierjährige Kind hatte sich aus Sand und Steinen von einer Ordonnanz des Lazaretts eine Stadt bauen lassen, die es Paris nannte. Von einer kleinen Böschung aus warf es mit Steinen danach, und es freute sich, wenn unter seinem Bombardement die kleinen Gebäude zusammenkrachten und die Ordnung der Straßen zerstört wurde. Da stand plötzlich der Vater vor ihm, er ging noch am Stock, er humpelte auf das Kind zu, riss ihm die Steine aus den Händen und schlug es. Zum ersten Mal hatte es der Vater geschlagen. Am Abend war er jedoch zu ihm ans Bett gekommen und hatte ihm erzählt, einmal, da seien sie in eine Stadt gekommen, die sei ganz zerschossen gewesen. Und sie hätten sich in die Keller der eingestürzten Häuser gelegt, denn sie seien schrecklich müde gewesen. In der Nacht aber sei er aufgewacht, und er hätte ein Wimmern gehört. Sie hätten den Schutt weggeräumt, und da hätten sie auf dem Boden einer Küche ein Kind gefunden, ein Bübchen so alt wie er, das blutete an der Brust und an den Beinen. Mit seinen Armen aber hätte er seine kleine Schwester gehalten. Die war tot und konnte nicht mehr sprechen. Und auf dem Flur, da hätten sie die Mutter gefunden, der war von einem Balken der Kopf zerschmettert. Ob das wohl etwas sei, das man spiele? Hans hatte den Kopf unter die Decke gesteckt. Die ganze Nacht noch sah er das tote Schwesterchen. Vierzehn Tage später fuhr der Vater zurück in den Krieg, und es war kaum ein Monat vergangen, als die Mutter in der Küche umfiel, über dem Telegramm, das auf dem Boden lag. Frau Hauptmann Diefenbach trug schwer an ihrer Trauer. Oft saß sie die Nacht hindurch vor dem Bild des Mannes, das mit Flor und Lorbeer drapiert über ihrem kleinen Schreibtisch hing. Sie wusste, was dieser Mann für sie geopfert hatte. Eine Karriere, denn er war ein guter Offizier. Reichtum — damals in Celle war er Gast auf allen Gütern. Und als sie zuletzt zusammen waren, in Münster am Stein, da hatte sie es ihm in der Nacht gesagt, und sie hatte geweint, weil er so gut zu ihr war und alles ableugnen wollte. Jetzt war er tot — durch sie. Denn ohne die Heirat wäre er nie in dieses Pechregiment gekommen, wäre er längst Major bei einem Stab, und er läge jetzt nicht in der Kalkgrube, die weichen, guten Hände im Dreck.
Nach den Monaten einer dumpfen Trauer war die Frau entschlossen, ihre vermeintliche Schuld durch das Kind zu sühnen. Hans war wie der Vater. Er sollte ihn erfüllen.
Es kam der Zusammenbruch und nach ihm die Inflation. Das kleine Vermögen, das sie von zu Hause noch hatte, zerschmolz. Der neue Staat gab eine Rente für den toten Mann, die kaum für die Miete und das Essen reichte. Das Kind wuchs heran mit allen Forderungen seines jungen Lebens. Herta Diefenbach begann zu nähen. Zuerst für sich und das Kind, dann für ein paar Bekannte, bald für ein Weißzeuggeschäft. Stunde um Stunde saß sie vor dem Linnen, die Seide der Brautausstattungen rann durch ihre Hände, der neue Reichtum des Nachkriegs mit seiner hektischen Üppigkeit ließ sich gern von der armen Frau Hauptmann die Monogramme auf seine Gewänder sticken. Tat Herr Kommerzienrat Aschaffenburg nicht ein gutes Werk, wenn er die Wäscheausstattung seiner Tochter Beatrice dieser vom Schicksal geschlagenen Frau anvertraute, obwohl es Schneider & Co. in Stuttgart in der Hälfte der Zeit gemacht hätte? Und war es nicht nett von Frau Fabrikant Weber, ihre Leibwäsche bei der Diefenbach arbeiten zu lassen, obwohl es immer Anstände gab und die Person gar keine Ahnung von dem letzten Schick besaß?
Herta nähte, und wenn ihr die Augen zuzufallen drohten, da trat sie an das Bett, wo das Kind im rötlichen Schlummer lag, und dann wieder in die Küche zu dem Leinen und der Seide. So ging das Leben, Stich für Stich. Und das Mitleid war schwerer zu ertragen als die Not.
Lange Jahre hatte Herta Diefenbach in den Andachten des Pfarrers Möller Trost und Stärkung gefunden. Zweimal in der Woche ging sie in den kleinen Saal des Gemeindehauses. Da saßen auf harten Stühlen alte Fräuleins, greise Töchter ehemals hoher Beamter und hoher Offiziere, die sich jetzt vom Vermieten ihrer Zimmer und dem langsamen Verkauf ihrer Möbel ernährten, Rentner und frühere Hausbesitzer, die heute in Dachkammern wohnten und von der öffentlichen Fürsorge erhalten wurden, alte Handwerker, die ihr Geschäft in der Hoffnung auf einen ruhigen Lebensabend verkauft hatten und jetzt ihren Söhnen zur Last fielen — es war eine traurige Gemeinde, die mit Pfarrer Möller betete, und oft schien es Herta, ihr Hass gegen die Menschen sei stärker als ihre Liebe zu Gott. Das alte Fräulein von Klassen, die Tochter eines Generalmajors, hatte Herta einmal mit zu den Andachten genommen, und wiewohl alle in der Gemeinde viel älter waren als Herta, waren ihr diese Menschen und die Worte des Pfarrers Möller bald zu einem Bedürfnis geworden. Wo noch in dieser Welt schien Gerechtigkeit als bei Gott? Zwar seine Wege waren wunderbar, und er ließ lange warten mit seiner Rache, aber niemand von diesen Opfern der Inflation zweifelte daran, dass durch göttlichen Eingriff einmal wieder das Unrecht gutgemacht werde, das sie um die Sicherheit und Ruhe und um ihre Stellung in der Gesellschaft gebracht hatte. Wie rachsüchtige Mumien saßen sie auf den Stühlen. Ihre Gebete waren heimliche Flüche, und wenn sie die knochigen Hände falteten, dann schien es, als würgten sie einen unsichtbaren Feind. Hass sprang aus
ihren Augen, Hass verbarg sich hinter ihren Worten, hassend erwachten sie, hassend löschten sie am Abend das Licht.
Oft erschrak Herta über die Worte, die sie hier gegen den Staat vernahm. Besonders die alten Fräuleins, die noch gekleidet waren wie in ihrer Jugend und die sich heute noch zierliche Löckchen über die vergilbten Stirnen legten, überboten sich in der Erfindung immer neuer Qualen. Die Minister, die Bankiers und die Juden, sie sollten nicht nur an die Wand gestellt werden, nein, vorher müsse man sie peitschen, halbtot prügeln und ihnen das Blut abzapfen, genau so, wie sie es mit dem Volk getan hätten. Mit gespenstischer Wollust verschlangen sie die alttestamentarischen Flüche der Propheten. Nach Jesu verlangten sie nicht. Nur die Austreibung der Händler aus dem Tempel ließen sie gelten. Lange Jahre hatte Herta die Last ihres Lebens in diese Andachten getragen. Hier verstand man ihr Schicksal. Hier brauchte sie keine Almosen anzunehmen. Hier war sie unter Gleichen. Oft traf sie sich mit Fräulein von Klassen, die in ihrer alten Villa die Mansarde bewohnte, während die zwei Etagen und der Garten an Rechtsanwalt Baer vermietet waren. Das Zimmer mit den schiefen Wänden war vollgestopft mit Möbeln aus den achtziger Jahren, mit Militärbildern und Vasen, in denen künstliche Blumen staken. Hier in der staubigen Luft lernte Herta den Hass. Hier las sie die Protokolle der Weisen von Zion, hier erfuhr sie, welch einer gemeinen Verschwörung das deutsche Volk zum Opfer gefallen sei. Oft kam auch Pfarrer Möller herauf in die Mansarde. Er beteiligte sich voll Eifer an den Gesprächen, indem er nachwies, dass viele Worte des Heilands nachträglich von römischen Priestern als echt in die Bibel geschmuggelt wurden, um das Volk zu verwirren und lammfromm zu machen. Doch Pfarrer Möller mahnte zur Geduld. Gottes Wille richte sich nicht nach den Wünschen der Menschen. Worauf Fräulein von Klassen einmal heftig die Bibel zuklappte und dem Pfarrer ins Gesicht schrie: „Nun gut, dann müssen wir uns eben selber helfen!" Pfarrer Möller ging, und das Fräulein mied fortan die Gebetstunden. Sie baute sich in dem Winkel der Mansarde einen kleinen Altar. Dort stand vor dem Kruzifix das Bild eines Mannes, den Herta noch nie gesehen hatte. Es überlief sie, wenn sie die Augen betrachtete. Sie waren starr und bohrten sich in sie hinein, als suchten sie etwas in ihr. Sechsunddreißig Jahre war Herta alt. Unter den Augen dieses Mannes spürte sie nach vielen Jahren wieder ihr Blut.
Verzückt kniete das Fräulein vor dem Altar. Mit ihren Händen hielt sie das Bild umschlungen. Ihr greisenhafter Mund küsste das Glas. Doch über ihr Gesicht strömte die Röte eines neuen Lebens. Herta wollte vorsichtig das Zimmer verlassen, als ihr das Fräulein winkte. Herta trat an den Altar, da zog sie das Fräulein an beiden Händen. „Knien Sie", flüsterte das Fräulein, „knien Sie, meine Liebe. Gott hat ihn geschickt."
Es war in diesem Herbst, als Herta zum ersten Mal von der Familie ihres Mannes etwas vernahm. Seit ihrer Hochzeit hatte ihr Mann nie mehr von seinen Verwandten gesprochen. Als das Kind geboren wurde, als Herbert fiel und das Elend begann — kein Wort war von den Diefenbachs zu Herta gedrungen. Sie wusste nur, dass sie auf großen Gütern in Niederschlesien saßen und dass ihr Mann auf jeden Erbanspruch verzichtet hatte. Fromm und böse hatte Herbert einmal seine Familie genannt, und das stand in einem Brief, wenige Tage vor seinem Tod. Nun geschah es, dass es an einem Mittag an ihrer Tür schellte. Hans war gerade aus der Schule gekommen. Er öffnete, und als er zurückkam, sagte er: Draußen stände ein Mann, der behaupte, Diefenbach zu heißen. In hellem Schreck war Herta aufgefahren. Gedanken, die sie schon längst begraben hatte, schossen jäh in ihr hoch. Kommt er zurück? Vor zwei Jahren kam einer in Heilbronn zurück. Sieben Jahre war er verschollen. Ihre Knie wurden kalt. Sie hielt sich am Küchentisch. Eine Blutwelle schoss ihr zum Herzen.
Es war Herbert, der eintrat. Herta stürzte zu Boden. Als sie erwachte, lag sie im Wohnzimmer auf der Chaiselongue. Hans rieb ihr Essig auf die Stirn. Der Mann hatte ihren Puls gefasst. Er beugte sich zu ihr nieder. Herta schloss geblendet die Augen. „Es war ein Fehler von mir, dass ich mich nicht vorher angemeldet habe", hörte sie plötzlich die Stimme des Mannes, „die Ähnlichkeit mit meinem Bruder ist allerdings frappant. Schon als Kinder wurden wir immer verwechselt."
Er gab ihren Puls frei und legte ihr die Hand auf die geöffnete Brust. Hans trug die Essigflasche in die Küche.
„Ein prächtiger Junge", sagte der Mann, „seinetwegen komme ich her."
Herta ging in ihr Zimmer. Ohne ein Wort. Lange lag sie über dem Bett und weinte. Es war ihr, als sei ihr Mann zum zweitemal gestorben. Als sie in das Wohnzimmer zurückkam, saßen das Kind und der Onkel schweigend am Tisch. Sie spielten Schach.
Die Familie Diefenbach war übereingekommen, vorausgesetzt, dass der Eindruck des Jungen und der Mutter gut ausfiel, monatlich fünfundsiebzig Mark für die Ausbildung von Hans beizusteuern. Heinrich Diefenbach, Oberstleutnant a.D. und Kurdirektor, war mit der Rekognoszierung beauftragt worden. Im Falle günstigen Befunds solle er die beiden mit auf den Familientag bringen, der diesmal in München stattfand.
Zwei Tage nach dem Besuch des Onkels bestieg Herta mit ihrem Kind ein schweres Auto, das ein livrierter Chauffeur lenkte, und Hans durfte vorne neben ihm sitzen. Noch am Abend, als sie in München ankamen, wurde Hans von den Tanten und Onkels besichtigt. Um Herta kümmerte man sich wenig. Man gab ihr Geld und riet ihr, sich die Stadt anzusehen. Schweigend ertrug sie es, dass ihr Kind morgens im Wagen vom Hotel abgeholt wurde und erst spät am Abend zurückkam. Sie lief gelangweilt durch die Museen, betrachtete im Englischen Garten den Fall der Blätter und aß in den Bräus, empört und erregt durch die Blicke der Männer. Abends, wenn sie auf Hans wartete, nähte sie.
Es war an einem Nachmittag. Der Wind strich schon kühl durch die Ludwigstraße. Zwischen den Springbrunnen vor der Universität spielte das Laub. Und auf den Fronten der Häuser, nach der Feldherrnhalle zu, lag das Licht des beginnenden Abends, violett und karmin.
Herta kam aus einer der Seitenstraßen, die wie kleine Kanäle nach dem englischen Garten zu liefen. Sie stand, etwas geängstigt durch den Verkehr, an einer Litfaßsäule. Vor ihr fuhren die blauen Trams, und die Autos sausten laut und lärmend vorüber. Am Morgen schon hatten sie den Jungen geholt, zu einem Ausflug nach den Schlössern. Es würde spät in der Nacht werden, bis er nach Hause kam. Drei Tage ging das jetzt so — die Diefenbachs verschleppten ihr Kind. Sie führten es in teure Lokale, sie nahmen es mit ins Theater, sie taten, als gehöre der Junge ihnen und sie, die Mutter, sei kaum mehr als seine Amme gewesen. Herta hatte zu dieser Methode geschwiegen, denn sie gönnte Hans die Exkursionen, das gute Essen und den Glanz der Kristalllüster. Allzu lange hatte der Knabe im Grau ihrer Armut gelebt.
Herta wollte gerade den Weg ins Hotel einschlagen, um dort im freudlosen Zimmer auf Hans zu warten, als sie vor der Litfaßsäule eine Ansammlung von Menschen gewahrte. Sie trat näher, und ihre Augen sahen ein Plakat in der Farbe geronnenen Bluts. Und mitten auf diesem Plakat, da war es wieder, das Gesicht vom Altar des Fräuleins von Klassen, da brannten sie wieder auf sie zu, diese Augen, vor denen damals ihr Blut erwacht war, und sie las, dass dieser Mann heute Abend sprechen werde in einem großen Saal, hier in München, über den Verrat am deutschen Volk.
Die Kuppelhalle des Zirkus war überfüllt, obwohl Herta zwanzig Minuten vor acht Uhr eingetroffen war. Bis hinauf in die Galerien standen die Menschen. Und immer neue Massen schoben sich durch den Gang. Eine Musikkapelle spielte. Fahnen hingen von den Wänden, und auf den Transparenten, die in roter Farbe quer durch die Halle gespannt waren, leuchtete in weißer Schrift: „Deutschland erwache! Herr, mach uns frei!" Es war Herta gelungen, nahe ans Podium heranzukommen. Dort standen in dichtem Spalier Männer und Frauen. Herta stellte sich in die Reihen. Ihre Schwäche war plötzlich verschwunden. Sie fühlte sich gar nicht allein. Sie fühlte sich stark in dem gewaltigen Menschenkörper, der um sie war und zu dem sie gehörte. Jäh brach die Musik ab. Ein Hornsignal erklang. Herta fühlte, wie sich die Menschen erhoben. Es war, als stände ein Riese auf in der Halle. Kein Wort war vernehmbar. Tausende von Augen sahen nach der kleinen Pforte am rechten Ausgang. Da ging es auch schon wie ein elektrischer Schlag durch das Spalier, in dem Herta stand. Weich über den Sand, der auf die Bohlen gestreut war, kam ein Schritt. Herta hörte den leisen Aufschlag der Sohlen. Sie sah die lackschwarzen Schäfte der Stiefel. Sie sah die starken Schenkel und das breite Becken. Sie hob den Blick. Sie sah eine untersetzte Figur, prall in einem braunen Hemd, sie sah aufgesteppte Taschen, einen Schulterriemen, ein weiches Kinn, einen gestrafften Mund, und dann die Augen. Da ging er an ihr vorüber. Da traf sie für eine Sekunde sein Blick. Und wieder war es wie damals vor dem Altar. Er aber schritt vorbei, lächelnd und bleich, in der Hand eine Peitsche. Alles, was nachher kam, war Herta wie ein Traum. Sie hörte ein Brausen der Stimmen um sich. Dann war Ruhe, und dann kam seine Stimme. Dies ging über ihre Kraft. Sie lehnte an einem Pfeiler und zitterte unter jedem Wort, das er sprach. Es griff nicht in ihr Denken, es ergriff ihren Körper. Die Worte schwangen durch sie hindurch, sie bebte wie eine Membrane. „Das Volk ist verraten! Juden beuten es aus! Umsonst liegen sie draußen in den Gräbern vor Verdun. Verbrecher regieren uns! Landfremde verfressen unser Geld. In ihren ergaunerten Lackschuhen tanzen sie mit den Huren des Mammons. Wir aber sind erwacht! Wir kennen keine Gnade! Wir versammeln uns zum Gericht. Wir verlangen Rechenschaft für unser gestohlenes Leben, für den Fleiß unserer Väter, für den Tod unserer Männer und Söhne." Da ging ein Schrei durch die Halle, dass Herta glaubte, die Säule hinter ihr stürze ein. „Wenn aber die Wölfe in den schwarzen Kutten zu euch kommen und euch vorlispeln, das Leid sei Gott wohlgefällig, dann glaubt ihnen nicht. Sie lügen! Und wenn sie sagen, diese Erde sei ein Tränental, dann antwortet ihnen, ja, ein Tal, in dem die Armen die Tränen vergießen. Wir wollen aber nicht mehr! Wir machen jetzt Schluss mit der verdammten Demut! Wir sind erwacht!"
Es war Herta, als schlüge ein gewaltiger Hammer wider die Kuppel, so metallisch war der Schrei der Menge. Sie schloss die Augen. Sie gab sich der Stimme hin. So hatte sie noch kein Mann besessen. „Und wenn sie euch sagen, man dürfe nicht wettern gegen den Staat, dann antwortet ihnen: das ist kein Staat, der uns Almosen gibt, statt Gerechtigkeit. Und wenn sie euch sagen, seid Untertan der Obrigkeit, dann antwortet ihr, das ist keine Obrigkeit, die uns das sauer ersparte Geld aus den Taschen gestohlen hat. Und wenn sie euch sagen, du sollst nicht hassen, dann lacht ihr und antwortet ihnen: Hass macht stark! Nur der Hass erhält uns am Leben! Nur der Hass auf euch lässt uns hoffen! Nur durch euren Tod werden wir auferstehen!" Ein Scheinwerfer flammte auf. Dort, wenige Meter vor Herta, stand der Mann und hob die Hand zum Gruß. Und vor ihm da standen die Tausende, gehetzte, enttäuschte Menschen, in der abgewetzten Kleidung früheren Wohlstands, und sie hoben die Hände, und es war ein Wald erhobener Hände, und sie sangen, ja manche gingen nieder in die Knie, und der Choral dröhnte unter der Kuppel, und Herta sang ihn mit: „Verzage nicht, du Häuflein klein..." Unbeweglich stand der Mann auf dem Podium. Sein Arm ragte wie im Schwur in die Luft. Ganz allein stand er da. Wie ein Prophet auf der Höhe des Bergs. Taumelnd erreichte Herta den Ausgang. Verzückt sprachen die Menschen um sie. Und als er draußen das Auto bestieg, da sah Herta alte Frauen sich verneigen und Männer sich ihrer Tränen nicht schämen. Sie erreichte das Hotel gegen elf Uhr. Hans saß halb ausgezogen auf dem Bett. Sie umarmte ihr Kind. Und als der Junge erzählte, die Diefenbachs hätten ihm gesagt, sie, seine Mutter, habe seinen Vater überlistet und er, der Hans, solle auf ihre Güter kommen und weggehen von der Mutter, da stieg Herta herunter zum Portier, zahlte das Zimmer und fuhr am nächsten Morgen nach Siebenwasser zurück. Herta ging heim zu ihrer Arbeit. Sie nähte Tage und halbe Nächte. Aber alles war ihr jetzt verklärt. Die Not war nicht mehr aussichtslos. Sie brauchte nicht mehr auf die himmlische Gerechtigkeit des Pfarrers Möller zu warten. Sie saß in der Küche und las die Worte des Mannes von München. Was war dagegen die Verheißung der Bibel? Dieser wollte das Glück auf die Erde zwingen. Dieser versprach das Jüngste Gericht nicht droben in den Wolken, nicht zwischen Himmel und Hölle, sondern hier in Deutschland, in Siebenwasser, in der Uferstraße. Und Herta räumte die schönste Ecke ihres "Wohnzimmers aus, stellte eine Kommode hinein, überdeckte sie mit weißem Linnen, streute Blumen darüber, stellte das Kruzifix mit dem falschen Marmorsockel mitten darauf, und vor den leidenden Gott hing sie das Bild des Mannes, der die Gerechtigkeit auf Erden versprach. Oft, wenn ihr Sinn klein wurde in den Nöten des Tags, holte sie sich neue Kraft aus den Augen des Bildes, und wenn sie in ihren einsamen Nächten die Sehnsucht nach Liebe überkam, träumte sie von der heiligen Sekunde, da er sie angesehen, im Zirkus zu München. Sie mied die Andachten. Selten ging sie in die Kirche. Sie las die Reden des Führers, und sie blühte auf in dem Gedanken der nahen Rache und des gewaltigen Gerichts. Als jedoch Pfarrer Möller ihr liebevolle Vorhaltungen machte, warum sie die Gebete versäume, lächelte sie und sagte: „Er wandelt wieder auf Erden, Herr Pastor."
Hans war rasch nach Hause gegangen. Er war gelaufen, denn es war spät, und um drei Uhr sollte er bei Gerhard Träger zur Besprechung sein. Die Geländeübung sollte in eine feierliche Verpflichtung der SA. ausklingen, die mit diesem Tag in Siebenwasser offen hervortrat. Der Wehr- und Sportverein, diese langweilige Tarnung, wurde abgestreift, ab morgen waren sie alle Soldaten der Bewegung. Als Hans in die Uferstraße einbog und das Haus sah, wo seine Mutter wohnte, überkam ihn ein Schrecken. Für ihn war alles klar — er hatte für Adolf Hitler gelitten, und es gab kein schöneres Leid. Aber ob Mutter ihn verstand? So kurz vor dem Abitur flog er auf die Straße, und es war aus mit der Universität. Zwar, sie liebte den Führer, sie war Mitglied der kleinen Ortsgruppe, und sie war bereit zu hungern, wenn es der Bewegung galt, ob sie aber seine Tat verstand? Konnte das eine Frau verstehen? Konnte überhaupt eine Frau fühlen, was es bedeutet, sich für den Führer zu opfern? Er ging durch den Hof. Er roch die Zwiebelsauce aus der Küche. Er stieg die Treppe hoch und sah das Licht in den albernen Fensterbemalungen. Er kam auf den Flur. Er sah die Mutter. Sie nähte in der Küche. Er trat ein. Da warteten die Kartoffeln auf dem Herd. Da sah ihn die Mutter an. „Sie haben mich aus der Schule gejagt", sagte Hans. Die Frau stand auf.
„Es ist aus mit dem Abitur." Die Frau ging zu dem Jungen.
„Er hat den Führer beleidigt, und ich musste einfach schlagen, ich weiß nicht, wie es kam, aber es kam aus mir so ganz von selbst..." Da fasste die Mutter ihr Kind.
„Du hast recht getan", sagte sie. Sie streichelte sein Haar. Es war weich und blond. Lange sprachen sie nichts.
Hans aß die Kartoffeln mit der Zwiebelsauce. Herta nähte.
Und während das Kind sich an der schmalen Speise stärkte, dachte die Witwe Diefenbach: Welch ein Glück, wir dürfen leiden für ihn.
Irene hatte kurz hinter Heidelberg dem Vater das Steuer überlassen. Eine Stunde waren sie in der Stadt geblieben, dann litt es Johann Kaspar nicht mehr. „Was gibt's hier eigentlich zu sehen?" rief er, als Irene noch eine Besichtigung des Schlosses verlangte, „wir wollen doch heim..."
Und jetzt fuhren sie die Windungen des Flusses entlang. Die Straße lag weich zwischen den Wiesen. In den Weinbergen sangen sie, und von den Villen flatterten die Fahnen.
Irene betrachtete den Vater, sie betrachtete das Tachometer. 70, 80, 85, 90... Der Wind schnitt schrill über sie hinweg, und die Bäume rasten nach hinten. Johann Kaspar hielt das Steuer. Das war ein Leben! Wie der Wagen fuhr! Nach Hause — heim!
Vor fünfundvierzig Jahren bin ich diese Strecke zu Fuß gegangen, zusammen mit der Mutter, wenn wir den Onkel besuchten, der hatte in Heidelberg einen Bootsverleih. Und die Mutter, die hatte kalte Pfannkuchen in der Markttasche und die aßen wir dann auf der Bank da, und ich durfte flache Steine über den Neckar hüpfen lassen... Fein war das... Und wenn die Gesangvereine auf den Schiffen vorbeifuhren und so herzinnig sangen, da hab ich immer dazwischengegröhlt und „wuppdich" gerufen, damit sie aus der Tonlage fielen.
Neckargemünd, oh, du meine Stadt Athen... Da muss ich halten. Und wenn das Essen in Siebenwasser verbrozzelt... Er stoppte den Wagen. Er schritt die weißen Treppen der Weinstube hinauf. Irene kam zögernd nach. Über der Terrasse blühte die Sonne. Unten lag der Fluss. Und die Wälder der Hügel glänzten in der Bronze des Herbstes. „Weißt du", sagte Johann Kaspar zu seinem Kind, „als mein Vater einmal ganz traurig war, denn wir hatten gar kein Geld, da hat er gesagt, wenn ich einmal glücklich werde, dann gehe ich in die Stadt Athen und trinke Lacrimae Christi." Der Kellner brachte die Flasche. Es war ein süßer, schwerer Wein, süß wie der Traum eines armen Mannes.
Hans hatte das Haus gegen zwei Uhr verlassen. Die Mutter hatte ihm noch zwei Brote geschmiert mit Schmalz, er hatte sie in den Beutel gesteckt, der über seiner Schulter an einem Leinengurt hing. Dann war er ein kleines Stück die Uferstraße entlang gegangen, hatte den Viadukt durchquert, und jetzt ging er auf der rechten Seite des Flusses nach dem Dorf Erlenbach zu. Der Wind kämmte die Wellen des Neckars, und über dem Schilf standen die Schwärme der Schnaken.
Die Straße zog einen Bogen um einen waldigen Hügel, der sich tief in das Tal vorschob und die Stadt Siebenwasser gegen die Sicht von Westen her verdeckte. Hans setzte sich auf die Steinbank, die am hoch gemauerten Ufer stand und seit vielen Jahrzehnten als Ruheplatz für die Bauersfrauen diente, die frühmorgens in hohen Kiepen das Gemüse zur Stadt brachten. Es war die Hälfte des Wegs zwischen Erlenbach und Siebenwasser und die Grenze der Stadthoheit.
Hans machte es sich nicht leicht. Er wusste, dass dieser Tag seinem Leben die entscheidende Richtung gab. Zwar, es war gut, dass auch Mutter seine Tat gebilligt und sich neben ihn gestellt hatte wie ein Kämpfer und Kamerad, aber der achtzehnjährige junge Mensch besaß so viel Klugheit, dass er wusste, alles, was jetzt komme, habe er allein zu verantworten. Er, Hans Diefenbach, war mündig geworden mit diesem Tag. Er hatte sich unter die Männer gesellt. Mit dem Schlag seiner Hand in das Gesicht des Direktors war das Haus seiner Kindheit zerbrochen.
Ja, da war die Partei, da war die SA., auf die sie heute Abend vereidigt würden, und da war vor allem der Führer, dieser einzige Mensch, der es fertiggebracht hatte, dem Leben so vieler, die nicht mehr glaubten, wieder einen Sinn und eine Richtung zu geben. Er war das neue Leben, um ihn scharte sich der Glaube der Jugend — nein, man war nicht mehr allein.
Schweigend zog Hans mit seinem Stecken Figuren in den Sand. Wie dumm war das von Holzapfel, ihm mit Platon zu kommen. Hatten die nur noch Tote gegen Lebende einzusetzen? Und dennoch reute ihn der Schlag. Das war ja das Schlimme, dass er ihn reute, dass er immer wieder den kurzsichtigen Direktor durch das Zimmer tapsen sah — das musste er erst niederringen in sich, dieses Gefühl der Scham, bevor er zu Gerhard Träger ging. Hatte er immer noch zu viel Platon in sich, immer noch zu viel Humanitätsduselei? Ach, die Bauernburschen und die Handwerkersöhne in der SA., die hatten gut reden. Keiner von ihnen war bei Holzapfel in die Schule gegangen und hatte sie erlebt, diese Stunden, da der alte Mann beglückt aus dem „Gastmahl" las und seine Stimme zurück blühte in die Jahrtausende, in die ewige Gegenwart des Griechentums, wie er es nannte. Da hilft mir keiner, dachte Hans, das muss ich allein ausmachen mit mir.
Der Sohn des Hauptmanns Diefenbach saß auf der Bank. Der Vater war tot, und der Führer war weit. Wenige Meter unter ihm zog der Fluss in einer großartigen Kurve um den Berg. Zu Hause saß die Mutter, arm wie je, aber nicht mehr verbittert und grau, sondern fröhlich in der Hoffnung auf den kommenden Kampf. Ja, dies alles hatte der Führer vollbracht, die Mutter trug wieder helle Kleider, und um das Bild des Vaters hing statt des Flors ein Blumenkranz. Es war hell geworden in ihrem Haus.
Die Not, einst ein schleichendes Gespenst, war vergoldet von dem Strahl der Gerechtigkeit, die der Führer versprach. Und der Hunger hatte endlich einen Sinn, und die Armut war keine Schande mehr, sondern ein Adel.
Dennoch, Hans hätte lügen müssen, wollte er sagen, er sei einverstanden mit sich. Er zweifelte an seiner Tat. Er spürte, dass er mit ihr etwas verloren hatte. Er konnte sich nicht sagen, was es war. Aber die Unruhe in ihm wuchs, und die Gedanken an seinen Vater wurden unsicher und ängstlich. Hans bewegte sich nicht. Starr sah er auf den Wald am andern Ufer. Dort schwebte ein Raubvogel fast regungslos über den Bäumen.
„Das ist Erlenbach!" rief Johann Kaspar Irene zu, als er mit kaum geminderter Geschwindigkeit in das Dorf einbog. Es war Mittag, und die Straße war leer. Da stand dem alten Adam sein Haus, windschief wie vor fünfundvierzig Jahren. Da war die Kirche mit der Blutbuche und dem Kriegerdenkmal, und daneben stand jetzt ein zweites, eine Säule mit einem Stahlhelm darauf, alles aus weißem Kunststein, da war der Dorfteich, grün von Algen, umschnattert von Gänsen. Bäuerle zog die Sirene am Auspuff. Mit einem Aufheulen schoss der Wagen auf die freie Landstraße. Johann Kaspar legte sich zurück. Er kannte die Strecke. Da standen sie, die Apfelbäume, und da waren sie, die Wiesen mit den Erlenbüschen, da war der Viadukt aus rotem Sandstein, und da stand er, der Berg, hinter dem Siebenwasser lag. Für eine Sekunde schloss der Mann die
Augen. Für eine Sekunde sah er Feuersalamander, Schlüsselblumen, Hagebutten und Hirschkäfer. Und er sah den Jockel, wie er das Ohr auf den waldigen Boden presste, um das Herannahen der Feinde zu belauschen. Und er sah den verwundeten Eichelhäher im Gebüsch und sich selbst, wie er dem Tier mit einem Knüppel den Kopf einschlug wegen der schönen Federn für seinen Hut. Aber er sah auch die Wiese, wo sie die bunten Eier warfen zu Ostern, und die Lapinshöhlen und die Hamsterbauten und die Kressen im Bach, die sah er auch. Johann Kaspar öffnete die Augen. Noch wenige Minuten, und er umfuhr den Berg, und seine Augen ruhten auf Siebenwasser. Noch wenige Minuten, und er war daheim.
Mit einem Krach trat er in die Bremse. Der Wagen schleuderte zur Seite. In den Kotflügeln klirrte der Schotter. Der Wagen stand quer über dem Radfahrweg.
Wenige Meter vor ihnen zog ein Bauernfuhrwerk über die Chaussee auf den gegenüberliegenden Acker. Der Bauer sah sich nicht um. Er rauchte die Pfeife, und die Kuh schritt ruhig im Gleichmaß ihrer Geduld.
Johann Kaspar lachte. „Das geschieht uns recht", sagte er.
Er versuchte den Wagen rückwärts in die alte Bahn zu steuern.
Der Wagen stand. Vorwärts, der Wagen bewegte sich nicht.
„Blockiert", sagte Irene.
Sie stiegen aus, Bäuerle kroch unter das Chassis.
„Aus", rief er, „wir hängen!"
Sie setzten sich an den Rain. Vor ihnen stand der Lassalle, und nach Siebenwasser waren es noch vier Kilometer.
„Kommt davon", murmelte Bäuerle, „waren zu hochmütig. Mit so einem Stück da nach Hause kommen und den dicken Mann spielen. Geschieht mir recht. Alles in Ordnung."
Er legte sich ins Gras. Wolkenlos war der Himmel. Und wie er so durch die Augenwimpern blinzelte, da saß neben ihm das Mädchen, und über seiner Stirn, deren Weiß wie aus Seide gespannt war, lag das Haar, schwarz wie dunkler Achat.
Hans hatte die Bank verlassen und war weiter die Straße nach "Westen gegangen. Sein Herz war unruhig. Die kalte Stärke, die ihn kurz nach der Tat erfüllt und ihn sicher durch die Straßen bis zur Mutter getragen hatte, war einer lähmenden Ungewissheit über sich selbst gewichen. Zwar, es hatte sich nichts geändert in seinem Denken. Das große Vorbild des Führers, das heilige Ziel der Bewegung, die sichere Hoffnung auf die Wandlung des Volkes — sie standen alle noch über ihm, unverrückbar wie die Sterne des Himmels. Aber es war doch nicht wie früher. Etwas Fremdes hatte sich zwischen ihn und das Firmament seines Glaubens geschoben, eine atmosphärische Störung, ein luftleerer Raum. Die Ideen, denen er diente, sie waren noch sichtbar, aber zwischen ihn und sie hatte sich die Tat gestellt. Die Welt war anders geworden, ernster, dunkler. Hans war kein furchtsamer Mensch. Bei Gerhard
Träger hatte er den Hohnpfiff auf jede Art Gefühlsduselei gelernt. Er wusste, nur der Starke kommt durch dieses Leben, und der Schwache verdient keine Träne. Das war es ja, was sie einte, dieses Recht aus der Kraft, diese Ablehnung jedes Mitleids und diese Hoffnung auf den zukünftigen Staat männlichen Bundes. Oh, er wusste, dass man das, was fallen will, noch stoßen muss. Dies jedoch war kaum tiefer als in seine Gedanken gedrungen. Er konnte reden aus diesem Bewusstsein. Heute aber hatte er gehandelt. Heute war aus dem Denken "Wirklichkeit geworden. Und es geschah, dass sein Herz ihr nicht standhielt. „Und morgen würde ich es wieder tun", sagte Hans, während er mit dem Stecken ins Gras hieb. Er ging rasch, aber so rasch er auch ging, immer war es ihm, als ginge Holzapfel neben ihm her. Er trug keinen Zwicker. Kurzsichtig tapste er zwischen den Bäumen. Er sagte gar nichts. Er sah nur Hans an. Und wenn Hans lief, dann lief er auch.
Irene saß auf der Wiese. Neben ihr im Gras schlief der Vater. Sein Gesicht lag gegen die Sonne. Kein Laut trübte die Luft. Nur der Wind, der durch die Gräser ging, sirrte. Lächelnd sah Irene auf den schlafenden Mann. Wie ein alter Bub lag er da, eingeschlafen auf der Wiese. Hinter ihm stand das gestrandete Auto, und von der Heimat trennte ihn nur noch ein Hügel.
Wie gut Vater aussah! Die Falten in dem glattrasierten Gesicht waren energisch. Braun war die Stirn, und das aschblonde Haar wirkte gesund, weder schütter noch fett. Wie gleichmäßig er atmete. Und
der Mund, er war jung, die Freude und das Staunen, sie kamen noch über diese Lippen, und der Traum konnte sich immer noch wie ein Falter setzen auf dieses Gesicht.
Irene sah auf die Wiese. Das Gras stand im zweiten Wuchs. Ein dünner Schwarm Insekten zog sich über die spärlichen Blüten. Sie sah den Hügel. Dahinter lag Siebenwasser. Dort hinter diesen Bäumen stand das neue Leben.
Sie lächelte. Vater träumte. Er lachte und hielt die Augen geschlossen. Die Muskeln seines Gesichts spielten. Nur mit Mühe hielt der Mund. Die Hände krampften sich im Gras. Die Nase legte sich in possierliche Falten. Schon hob sich der Rücken. Die Beine bewegten sich. Die Knie standen nach oben. Die Ohren liefen rot an.
Und plötzlich brach es heraus aus dem Alten, ein jähes, unbändiges Lachen, er warf sich zur Seite, er ruderte mit den Händen, er schlug mit den Beinen. Und dann lag er da, die Augen nach dem Kind, und das Lachen spielte noch immer um seinen Mund, und er sagte zu Irene: „Den Doktor Baker, den hab ich gesehen, und er hat sein saures Gesicht gemacht, und dann hat er mir gesagt, das gäbe es nicht mehr, Siebenwasser, das wäre ins Meer versunken wie Vineta."
Er sprang auf. Er rannte zu dem Auto: „Lass die Karre stehen", rief er, „wir gehen zu Fuß." Irene deutete auf die Koffer, die hinten am Wagen angebracht waren.
„Aber wir können doch hier nicht sitzen, bis dem Wagen Flügel wachsen", lachte Bäuerle.
Irene sah sich um. Die Straße war leer. Nirgends ein Haus.
„Dann musst du vorausgehen." Irene sah den Vater an. Bäuerle machte sich wieder an der Bremse zu schaffen. Er ließ den Motor auf hohe Touren laufen. Er schaltete Gang für Gang ein. Das Auto bewegte sich nicht.
„Also geh", sagte Irene, „und schick rasch jemand von der nächsten Reparaturwerkstatt her. Ich warte."
Sie setzte sich in den Fond. Bäuerle stieg aus.
„Eine Stunde wirst du warten müssen." Irene hob ein Buch.
Johann Kaspar nickte und ging. Nach wenigen Schritten drehte er sich um und rief: „Ich kürze ab. Da über den Berg geht ein Weg. Das weiß ich noch —" und schon begann er zu pfeifen und drauflos zu marschieren.
Lange sah Irene dem Vater nach. Sie sah ihn an einer Hecke Halt machen und sich einen Stock abschneiden, mit dem er dann in die Apfelbäume schlug, dass die Früchte zur Erde prasselten. Sie sah den Vater sich bücken und sich die Taschen vollstecken, und sie sah ihn dann in den Wald laufen, der über den Berg hinabwuchs. Lächelnd saß sie im Wagen. Sie wartete.
Hans hatte zuerst an ein Unglück geglaubt, als er das Auto über dem Weg stehen sah. Er ging näher und bemerkte Irene. Sie saß im Fond und las. Hans trat an den Wagen heran.
Irene hob den Kopf.
„Ist etwas passiert?" fragte Hans.
„Die Bremse...", antwortete Irene.
„Darf ich helfen?" fragte Hans.
„Wenn Sie glauben, dass Sie es können!"
Irene stieg aus dem Wagen. Der leichte Staubmantel aus Seide lag weich um ihre Gestalt.
„Sie warten schon lange?"
„Mein Vater ist unterwegs nach Siebenwasser, um jemand zu holen."
„Entschuldigen Sie..." Hans kroch unter den Wagen. Er kroch wieder hervor. Wortlos warf er den Führersitz hoch, kramte im Werkzeugkasten, dann verschwand er unter dem Chassis. Irene hörte ihn hämmern und klopfen. Schweigend stand sie neben dem Motor. Wer ist das? dachte sie.
„Kein Wunder", rief Hans, „die Handbremse hat sich festgefressen."
Er hämmerte, dann kam er wieder zum Vorschein. „Bitte, versuchen Sie es jetzt", sagte er. Und Irene stieg in den Wagen, startete, schaltete — das Auto bewegte sich.
„Vorsicht!" hörte sie, „die Fußbremse ist durchgetreten."
Sie fuhr langsam zurück, schaltete um und stellte
den Wagen gerade. Dann stieg sie aus.
Da stand er vor ihr und lachte, und er hielt den
Hammer und den englischen Schlüssel in der Hand.
Und an seinem Ärmel klebte das Öl.
Irene gab ihm die Hand.
„Danke", sagte sie.
Er aber meinte, so könne sie nicht fahren, allein mit der Handbremse. Es kämen viele Kurven bis Siebenwasser und in der Stadt unten sei immer ein starker Verkehr.
„Ich warte", antwortete Irene. Hans legte das Werkzeug in den Kasten und schob die Sitze zu Recht. Ob er aus Siebenwasser sei? Ja, und sie?
Aus Baltimore, aber sie bliebe in Siebenwasser. Was sie dort wolle? „Leben", sagte Irene.
Da sah sie Hans an, und es schien ihr, dass er maßlos verwundert sei. Er riss etwas Gras aus und wischte sich das Öl von den Händen. Irene betrachtete ihn. Sie sah, dass er gehen wollte. Sie sann auf eine List. Im Fond lag die Bilderzeitung. Irene holte sie. Ob er noch ein wenig Zeit habe? „Wenig", knurrte Hans. Er setzte sich neben Irene auf das Trittbrett.
Hastig überflogen ihre Augen das Rätsel. „Ich suche nämlich schon zwei Tage einen griechischen Philosophen, und ich finde ihn nicht." Sie schob die Zeitung über ihre Knie. „Vielleicht Heraklit", sagte Hans. Irene suchte die Silben ab. „Nein, der ist es nicht", antwortete sie. „Oder Archimedes?" „Nein, nein", sagte sie, und sie freute sich, dass er weiter riet. Er lehnte sich nahe an ihre Schulter. Obwohl sie ihn nicht ansah, erblickte sie sein Gesicht. Er war es, der Schlafende unter dem Märchenbaum, der Jüngling unter dem wirren Geäst an der Quelle. Er war herausgetreten aus dem Bild. Er saß neben ihr. Jetzt wusste sie, warum sie so zitterte.
„Etwas mit O ist es bestimmt..." „Vielleicht Solon", antwortete Hans. „Nein", jubelte Irene.
„Mit O... mit O...", Hans echote vor sich hin, „griechischer Philosoph mit O..." Er nahm das Blatt und prüfte die Silben. Irene gab ihm den Bleistift. Eng aneinander saßen die Kinder. Radfahrer und Lastwagen fuhren an ihnen vorüber. Die Schatten der Bäume wuchsen. Schweigend sahen sie auf das Papier, dessen alberner Scherz sie einte.
Plötzlich schrie Hans: „Ich hab's!" Er strich hastig zwei Silben aus. Irene nahm das Blatt. „Platon", las sie leise.
Lachend sah sie hoch. Doch ihr Lachen erschrak. „Was ist Ihnen?" rief sie.
„Nichts", stotterte Hans. Alles Blut war aus seinem Gesicht.
Der Wirt „Zum blauen Bären" hatte am Morgen ein Telegramm erhalten. Lange hatte er über dem Inhalt gegrübelt.
Sechs mittelgroße Forellen stop zwei Flaschen Siebenwasser Herdenweg stop Spätzle wie gewöhnlich stop Dessert Kartäuserklöße mit Weinsauce stop ankommen 2 Uhr stop Bäuerle Baltimore.
Verrückt, dachte Henri Jockel. Aber er ließ das Telegramm nicht aus der Hand. Es war aus Mainz. Zweimal ging er zum Bach, der durch den Garten floss, lüpfte den Deckel zum Fischkasten und zählte die Mittelgroßen. Dann schlug er wieder den Deckel zu voller Wut. Das mit dem Telegramm war doch sicher nur eine Fopperei von irgendeinem Saufbruder, der gerade auf Urlaub war. Henri Jockel ging zu seiner Frau. Er verlas das Telegramm. Minchen, die seit beinahe dreißig Jahren gewohnt war, die Stimmung ihres Mannes an seiner Stirnader abzulesen, betrachtete dieses natürliche Barometer, ehe sie in ihrem hanseatischen Platt sich zu äußern getraute: „Ech glaube, do steckt etwas dahinter." „I auch!" brüllte Henri Jockel und schmiss die Tür zu. „Weiberweisheit, dreigedrehte..." Er schritt in das Kontor, verleibte sich zwei Kirsch ein, dann nahm er das Adressbuch und sah die Bäuerles durch. Da lagen sie in den Linien wie Sand am Meer. In Siebenwasser waren die Bäuerles so billig wie Brombeeren. Es war sozusagen die Urbevölkerung der Stadt. Henri Jockel schmiss das Adressbuch in die Ecke. Sechs mittelgroße Forellen... zwei Flaschen Herdenweg... Kartäuserklöße... Bäuerle — Baltimore. Ihn würden sie nicht hereinlegen mit so einem Jux. Er war helle.
Er nahm noch einen Kirsch.
Und noch einen. Die Laus auf der Leber wollte nicht weg.
Es klopfte. Die Küchenmamsell stand in der Tür. Scheu fragte sie nach dem Tagesmenü. „Deutsches Beefsteak mit Kartoffelgemüse", brüllte Henri Jockel, dann ging er wieder in den Garten, dort, wo der Fischkasten stand.
Johann Kaspar hatte nur wenige Minuten auf der Kuppe des Hügels verweilt. Seine Augen sahen Siebenwasser. Da standen die Türme von Sankt Andreas, da lag die Bastion und das Schiefergrau der alten Stadt. Doch unten im Tal und an den Lehnen der Berge entlang wuchsen neue Gevierte. Sie ist groß geworden, dachte Johann Kaspar. Er spürte keine Verwunderung, keine aufregende Freude. Zu lange hatte er diese Stunde ersehnt. Jetzt war ihm alles selbstverständlich. Er hatte Hunger. Und er hatte Glück. Gleich unter dem Hügel lag eine Garage. Er sprach mit dem Tankwärter. Er schilderte die Lage seines Wagens. „Zum blauen Bären", sagte er, als das Abschleppauto losfuhr. Dann ging er den Weg, der durch die Gärten führte. Von der Bastion wehte die schwarzrote Fahne, und über die Straßen, die Bäuerle erreichte, waren Girlanden gespannt. Als er vor dem Rathaus stand, sah er ein Schild: Fünfzig Jahre Odenwaldverein — Ehre der Heimat. Johann Kaspar nickte.
Zehnmal hatte Henri Jockel den Fischkasten geöffnet und dann wieder zugeschlagen, das Telegramm ließ ihn nicht los. Er ging über das Gras. Er trat es absichtlich nieder. Am liebsten wäre er über die Rabatten gelaufen, wo die Gurken lagen. Aber da kam Minchen. Natürlich Minchen, die muss immer kommen, wenn ihn die Wut hat. Und jetzt läuft sie auch noch auf ihn zu. „Hennrieh!" schrecklich, dreißig Jahre, und sie hat immer noch nicht seinen Vornamen gelernt.
Er sah sie an, da stand sie schon. „Hascht wider ebbes?" schrie er. „Och", sagte Minchen, „do ös in Mann im Weinrestaurant und seggt, mit dainem deutschen Beefsteak, döswegen köm er nich von Baltimore dahör." „Ha?" Henri hielt Minchen gepackt. „Wo isch err?"
Aber bevor sie etwas sagte, schlich er zum Kontor. Er linste durch den Spalt, durch den er sonst die Kellner überwachte.
Da saß ein Mann am Tisch, glattrasiert und braun gebrannt. Er rauchte eine Pfeife. „Der isch echt!" rief Henri Jockel. „Den Wein kalt stelle, stellt doch den Wein kalt, is er immer noch nicht kalt... he?" brüllte er in die Küche, dann rannte er hinaus in den Garten, klappte den Fischkasten hoch, nahm das Netz. „Minche, Minche, dös Messer!" und Minchen kam mit dem Messer gelaufen, und da stach der Jockel in die zappelnden Fische, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs... und das Minchen hielt sich die Ohren zu, obwohl sie stumm starben, die mittelgroßen Forellen.
So hatte Kilian Kern das ganze Jahr noch nicht geflucht wie an diesem Tag. Waren da fünfzehn Pakete angekommen, fünfzehn hohe verschnürte Kartons, und alle an die Adresse des Oberleutnants Träger, eines Mannes, der eine Viertelstunde außerhalb des Dorfes wohnte und dazu noch einen guten Stich den Hügel hinauf. Das hieß also mit dem kleinen Karren viermal zu dem Herrn Oberleutnant fahren und ihm das Zeug abliefern. Kilian Kern schmiss die Kartons in den gelben Karren. Er stempelte die Paketkarten ab. „Zeugmeisterei München" stand auf den Abschnitten. Kilian Kern setzte sich. Das war deutlich. Das war überhaupt einwandfrei. Und er, der Kriegsinvalide mit dem humpelnden Bein, das er Verdun verdankte samt seinem Nervenschock, der immer wieder kam, wenn er drei Gläser Wein getrunken hatte, er, der Posthalter des Dorfes Erlenbach, Angestellter der Republik, sollte auf Grund der ordentlich gestempelten Zettelchen dem Oberleutnant die Pakete ausliefern, von denen er genau wusste, dass sie für den Staat nichts Gutes enthielten?
Bei der grauen Madonna der Schützengräben! Ich muss wissen, was in den Pappschachteln ist. Viele Minuten schlich Kilian Kern um die Pakete herum. Aufschneiden? Das bedeutete die Entlassung. Aufdröseln und spionieren? Das wäre eine elende Schnüffelei. Also aufladen. Und er lud die Pakete auf. Er schob den Karren durch die Dorfstraße. Das Vieh kam heim von den Wiesen. Schon senkte sich die Sonne. Die Flüche der Bauern auf den Äckern verstummten.
Kilian Kern war ein Mann von vierzig Jahren. Sein Vater, Landarbeiter in Erlenbach, hatte fünf Kinder gezeugt, davon war er der Älteste. Zwei Brüder waren gefallen, und ihn hatte es bei Verdun erwischt mit dem Bein. Die Schwestern waren verheiratet, die Marie in Heidelberg mit einem Lageristen, der auf Hitler schwor und sonntags als Gauredner durch die Dörfer zog, die Annie in Bochum mit einem alten, verwitweten Pensionär, dem sie schon als Haushälterin das Bett hatte wärmen müssen. Er, Kilian Kern, war humpelnd ins Dorf zurückgekehrt. Da hockte der Vater immer noch in der alten zugigen Hütte, die Gelenke von Gicht und Arbeit verbogen, und außer einem Tannenholzbett, einem Schrank, einem Tisch und zwei Stühlen, einer Geiß und zwei Maltern Kartoffel im Keller war nichts mehr da. Die Mutter lag auf dem Kirchhof, drei Schritte von der Blutbuche, und wenn die Annie aus Bochum nicht jeden Monat eine Mark an den Friedhofswärter geschickt hätte, wäre das Gras längst über das Grab gewuchert, und niemand hätte mehr die Stelle gewusst, wo die Mutter schlief. Der Vater war
kindisch und flennte in einem fort. Nachts schlich er hinter der Hütte auf der Wiese herum und grub nach einem Schatz aus dem Dreißigjährigen Krieg. Drei Monate lang war Kilian Kern Soldatenrat in Wetzlar gewesen. Er hatte an die Revolution und an das Recht der armen Leute geglaubt. Dabei war er ein armer Teufel geblieben, während sich viele reich machten an der Verschiebung von Heeresmaterial und durch die Ausstellung von Scheinen zur vorzeitigen Entlassung. Der Unteroffizier Kilian Kern war vom Lazarett aus in die Freiheit gehumpelt, trunken hatte er auf die Worte der Revolutionäre in den Versammlungen gehört, jeden Morgen, an dem er erwachte, hoffte er, es begänne die so oft versprochene Abrechnung mit den Generälen und den Fabrikherren. Der Traum von der großen deutschen Revolution lebte in diesen Menschen wie ein lang ersehntes Ostern. In seinem Blut spukte noch der wilde Trotz fränkischer Bauernhaufen gegen die Grundherren und Fürsten. Nach drei Monaten war Kilian in sein Dorf zurückgehumpelt. Er glaubte nicht mehr an die Revolution. Das Volk war zu feig.
Der Staat schenkte Kilian eine Prothese und eine kleine Rente. Acht Monate hauste Kilian mit dem Vater in der Hütte, dann gelang es ihm, die Posthalterstelle zu bekommen. Er zog aus der Hütte ins Gemeindehaus, dort wurde ihm eine Stube mit einer Küche angewiesen, ein Jahr später heiratete er. Keines der Dorfmädchen mochte den Invaliden, der obendrein noch arm war. Aber hinter dem Berg, in Hofen, wohnte die Tochter des alten
Lämmle. Beim Tanz und in der Kirche saß sie allein. Keiner der jungen Männer sah nach ihr hin. Auch die Frauen mieden sie, und der alte Bauer schalt sie den ganzen Tag wie ein krankes Stück Vieh. Regina hatte ein Kind, einen Jungen von drei Jahren. Sein Vater war ein kriegsgefangener Franzose, der längst wieder in die Provence zu seiner Frau heimgekehrt war. Nur einmal noch hatte er geschrieben, ein Paket hatte er geschickt mit Wein und Datteln und Schokolade, aber das hatte der Zoll in Siebenwasser Regina weggenommen. Seitdem lebte sie als Magd im Hof ihres Vaters, geduldet und geplagt, verhöhnt von dem Spott des Dorfes. Kilian war Regina 1920 in der Wirtschaft „Zum wilden Esel", die oben im Wald liegt, begegnet. Sie hatte Käse abgeliefert und saß auf der Bank vor der Küche, um auf das Geld zu warten. Sie sah auf den Boden und hielt ihr Kind fest an der Hand. Erst vor zwei Tagen hatten es die Buben mit Steinwürfen durchs Dorf gejagt. „Franzosenbankert" hatten sie gerufen, und wäre der Herr Pfarrer nicht dazwischengetreten, sie hätten es in den Ententeich gehetzt.
Lange hatte Kilian an diesem Abend mit Regina gesprochen, er war ein Stück neben ihr durch den Wald gehumpelt. Zum ersten Mal sprach ein Mann
wieder mit ihr, als sei sie ein Mensch. Und wie hatte er gesprochen! Seine schwere Stimme hüllte sie ein, und sie hatte keinen anderen Gedanken als den, dass er noch bleiben möge und neben ihr hergehen. Kilian hatte vom Krieg erzählt, von seinem Bein, das bei Verdun lag, von den Offizieren, die 1918 geschlottert hätten, von dem Gejammer der Feldwebel und den Gaunereien der Zahlmeister. Und er hatte gelacht und gesagt, das Volk sei dumm. Und besonders die Bauern. Alles hätten sie vergessen, und sie liefen wieder zu den Regimentstagen, und sie marschierten wieder an den Generälen vorbei, als sei gar nichts gewesen. Er aber habe das nie vergessen. Für ihn sei der Zauber erledigt. Still waren sie voneinander gegangen. Am Sonntag drauf aber war Kilian bei dem armen Lämmle erschienen. Da brauchte es keiner langen Rede. Der alte Bauer war glücklich, dass ihm einer die Schande von seinem Hof wegheiraten wollte, und er ließ es auch zu, dass Kilian die Nacht dablieb, damit er nicht die Katz im Sack kaufe. Soviel Liebe wie in dieser Nacht hatte Kilian noch nie umschlungen, und als er am nächsten Morgen hinunter nach Erlenbach humpelte, um rechtzeitig zum Dienst zu sein, sagte er dem alten Lämmle beim Abschiedstrunk, für so ein Weib gäbe er zehn tugendsame, und seine Mutter habe immer gesagt, es seien die schlechtesten Früchte nicht, an denen die Wespen nagen. Der alte Bauer nickte und begleitete Kilian bis ans Ende der Gemarkung. Als sie voneinander gingen, sagte er: „Ich weiß, es ist ein strammes Weibsbild und den Bankert hätt ich schon auf mich genommen, aber dass sie's mit einem Franzos trieb, das kann ich nicht rund kriegen."
Da hatte Kilian gelacht und war schweigend davon gehumpelt. So ein Stockfischbauer! Bildet sich eine Schande ein, wo weiter nichts war als ein Weib mit seiner Freude und seiner Lust. Sie heirateten im Sommer. Regina zog in die Posthalterei. Das Kind brachte sie mit. Kilian gab ihm seinen Namen, und wenn einer im Dorfkrug nur den Mund aufmachte und ein Wort über seine Frau fallen ließ, hob der Posthalter seinen Stecken.
Kilian Kern hatte den Dorfausgang erreicht. Er hielt ein und wischte den Schweiß von der Stirn. Seit er hier im Dorf die Posthalterstelle verwaltete, hatte er sich nie mehr um Politik gekümmert. Sie dünkte ihm Geschwätz um eine verlorene Sache. Das war ein Beruf, von dem er nichts verstand. Er ging zu keiner Wahl. Er besuchte keine Versammlung. Mochten die dort reden, soviel sie wollten, geändert wurde ja doch nichts.
Wenn er abends nach den Postgängen seine Prothese abschnallte und seinen Siebkäs mit Quellkartoffeln aß, wenn er dann zu Regina ins Bett kroch, weil sie Licht sparen mussten, denn ein Kind war unterwegs, drehte er oft das Wort Vaterland in seinen Gedanken hin und her, und er meinte zu Regina, mit nichts würde soviel Schwindel getrieben wie mit diesem Wort. Vier Jahre lang habe er dafür im Dreck gelegen, und sein Bein ist dabei draufgegangen. Warum nur die Leute immer von einer Sache schwärmten, die einen verdammt viel kostet? Und was man schon von dem Vaterland habe? Siebkäs und Kartoffeln und, wenn es hoch kommt, zum Sonntag ein bisschen Fleisch. Immer, wenn ihr Mann so sprach, hatte Regina sich an ihn gelegt und ihm den Mund zugehalten. Das waren lästerliche Gedanken, die aus seinem Herzen
kamen. Das gehörte sich nicht für einen Posthalter. Das konnte ihn die Stellung kosten. Schwanger lag sie neben ihm, dicht gewebt hing die Dunkelheit im Zimmer, und das Herz des Kindes klopfte in ihrem Leib. Sonntags gingen sie immer in den Wald. Sie rasteten in einer Grasmulde, und Kilian holte den Atlas hervor, den er in einem französischen Schloss in der Champagne erbeutet hatte. Es war ein dickes Buch mit bunten Tafeln. Alle Länder waren darin und viele Bilder von Städten und fremden Flüssen. Und immer wieder deutete Kilian auf das Bild der Stadt Stockholm mit dem Schloss, das aussah wie ein großer Juwelenkasten, und auf das blaue Meer mit den Schiffen und den Flößen. Und dann schlug er ein paar Seiten um, und die Spitzen vieler Kirchen stachen in einen kobaltblauen Himmel, und Moskau stand in einer Schleife über dem Ganzen. Und er schlug weiter die Blätter um. Turm an Turm stand da, und die Türme waren Häuser, und vor ihnen glänzte der Ozean, und schwere Schiffe lagen am Kai. Das war New York.
Sie saßen in der Grasmulde. Hinter ihnen wuchsen die Buchen in gestufter Ordnung, die Weihe kreisten still über dem Wald, das Schaumkraut blühte, und alles war nah und wohlbekannt. Kilian hielt den Atlas.
„Warum ist der Mensch arm?" fragte er und deutete auf Stockholm, auf Moskau und auf New York. „Warum kann ich nicht dorthin gehen und sehen, wie es bei den anderen ist? Warum müssen wir sterben und kennen kaum mehr als Erlenbach?" Immer wieder versuchte Regina ihren Mann von dem Atlas zu befreien. Aber er hütete ihn besser als die Bibel. Oft rief er nachts im Traum nach den Männern von New York.
So lebte der Posthalter Kilian Kern. Dem Vaterland hatte er sein Bein gegeben. Er glaubte, das genüge für ein Leben. Heimlich träumte er von der Welt. Aber sie war weit, denn Kilian war arm. Es war in der Nacht, als das Kind kam. Regina schrie schon zwei Stunden. Kilian saß in der Küche und trank Schnaps. Da waren sie wieder, die Schreie, wie im Trichterfeld. Und man saß da und musste es über sich ergehen lassen. Der unsichtbare Feind schoss, und die Frau wälzte sich unter seinen Treffern. Und wie er so voller Angst ins Schnapsglas blickte und nebenan im Zimmer die Regina kreißte, da kam es plötzlich über die Straße: rumbum, rumbum, eine Trommel, und dann Gesang und Marschtritt. Er war aufgesprungen und ans Fenster gelaufen, und vor ihm, im Licht des Mondes, standen sie in der Runde des Platzes, vierzig Mann in Uniform, ausgerichtet wie im Etappenlager, und er hörte das „Rührt euch!", und er vernahm die Stimme des Offiziers: „Alle mal herhören! Nächsten Samstag Gepäckmarsch, Antreten sechs Uhr früh. Dass keiner mit faulen Ausreden kommt! Kneifen gilt nicht. Sieg Heil! Sieg Heil! Wegtreten!"
Kilian war mit einem Sprung vom Fenster zurück. Ein fürchterlicher Schrei hatte aus dem Nebenzimmer geantwortet. Er riss die Tür auf. Da lag die Regina im Blut, und die Hebamme schwang das Kindchen durch die Luft.
Er war zum Bett gestürzt. Zitternd stand die Amme
vor der Frau. Das Blut schoss über die Linnen. In polternden Sprüngen war Kilian auf der Straße. Er rannte wie damals bei Cambrai, als die Engländer durchbrachen. Er holte den Doktor Fritz aus dem Dorfkrug. Und während der alte Mann mit der Goldbrille dann oben im Zimmer stand und den blutenden Leib der ohnmächtigen Frau tamponierte, hörte Kilian Kern durch das offene Fenster weit hinter den Bäumen, am Rande der Nacht: „Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen..." Neben dem Spankorb, in dem das Kind lag, kniete die Amme. An ihren Händen hing Blut, doch ihr Gesicht lächelte über dem Knaben.
Nie hatte Kilian Kern diese Nacht vergessen. In der Küche hatte er lange mit dem Doktor Fritz gesprochen. Wie elend das Leben sei. Einen Liter Kirsch hatten sie getrunken. Geflüstert hatten sie. Der alte Landarzt hatte noch ein Fläschchen mit Herztropfen aus der Tasche gezogen, dann wollte er gehen. Aber Kilian hatte ihn gehalten. Warum die Menschen immer alles vergäßen? Da hatte der Doktor Fritz gelacht und gesagt, damit müsse man sich entweder abfinden oder sich aufhängen.
Das lehre die Praxis. Kilian aber war aufgestanden, hatte das Kind mit dem Spankörbchen geholt, da stand es in der Küche, und das rötliche Wesen schlief den ersten Schlaf in der Welt — ob er es gehört habe vorhin? „Natürlich", sagte der Doktor Fritz. Und ob er glaube, dass mit solchem Singen aus den Menschen etwas würde. „Nein", lächelte der Doktor Fritz, „immer wieder fängt es von vorne an." Da stellte Kilian das Spankörbchen wieder ins Zimmer, schnallte seine Prothese ab und legte sie auf den Tisch. „Einmal vor vielen Jahren, das war bei Bapaume, da lagen wir im Graben, und es war Weihnachten. Und der Leutnant, der in meinem Unterstand lag, spuckte Blut, schaumiges Blut, Herr Doktor. Die Nacht war so ruhig wie hier meine Hand, und die Leute sangen in den Löchern, und von den Franzosen kam kein Schuss. Zwei Kameraden und ich trugen den Leutnant auf einer Zeltbahn nach hinten. Wir konnten aufrecht gehen, obwohl der Mond schien. Überall sang es aus den Löchern, als hätten die Ratten Feiertag. Und wie wir so gingen und an das erste Lazarett kamen und dort den ersten Lichterbaum sahen, da trugen wir den Leutnant hinein in die Halle. Und immer noch war Schaum, rötlicher Schaum vor seinem Mund. Wir haben ihn niedergelegt, und ein Arzt kam, und er nickte uns zu, und wir trugen den Leutnant in ein Zimmer. Das war das Zimmer des Arztes. Dort lag der Leutnant im Bett. Unten spielte einer auf einem Klavier, so ein Lied vom Frieden. Da hat sich der Leutnant plötzlich ganz hoch gesetzt, und er hat meine Hand genommen, und er hat geflüstert: ,Du, wenn du nach Haus kommst, sag es ihnen, sag's, es muss alles ganz anders werden...' Dann starb er. Sehen Sie, er legte sich einfach um und wurde weiß im Gesicht."
Kern trank. Doktor Fritz trank auch. Dann sagte Kern: „Es ist aber nicht anders geworden." Leise kam die Amme aus dem Zimmer. Sie ging an den Herd und kochte Kaffee.
Gerhard Träger hatte sich den Bericht Hans Diefenbachs angehört. Sie saßen in der großen Stube des Bauernhauses. Auf dem Tisch lagen Karten ausgebreitet, das Deutsche Reich in seiner Schmälerung durch den Versailler Vertrag. Jenseits der Landesgrenzen waren jene Gebiete rötlich schraffiert, in denen Deutsche als Minderheiten wohnten. Gerhard Träger wollte an diesem Abend, bevor die Nachtübung stattfand, die erste staatspolitische Stunde eröffnen. Man musste den Jungens, die sich seit einem halben Jahr um ihn versammelten, eine Vision ihrer Aufgabe geben, und diese war für Gerhard Träger und für alle, die wie er sich der Bewegung angeschlossen hatten: die Einigung aller Deutschen in einem großen geschlossenen Reich. Hans hatte ohne Umschweife erzählt. Knapp hatte er gesagt, was in der Schule vorgefallen war. Er hatte nichts verheimlicht, auch seine Furcht nicht und seine Skrupel.
Der dreißigjährige Offizier betrachtete den Jungen. Der offene Ernst seiner Rede gefiel ihm. Diese Bereitschaft sich zu opfern, ohne Anspruch auf Lob und Lohn, dieser Glaube an die Erneuerung des Menschen von Grund auf und an die Wiedererstehung des Reichs in all seiner Herrlichkeit ruhten in den Augen des Jünglings so hell und aufrichtig, dass Gerhard Träger eine wehe Erschütterung empfand, wenn er gegenüber diesem Gesicht an die Visagen all der rachsüchtigen Kleinbürger dachte, die als Wahlhaufen immer mehr zur Bewegung stießen. Für eine Sekunde spürte er, dass sich die Gefahr eines widerlichen und fluchwürdigen Verrats zusammenziehe, eines Verrats an Glauben und Arglosigkeit, aber kaum hatte der Gedanke ihn wie ein Schatten berührt, schüttelte er ihn schon ab. Er trat zum Tisch. Hans hatte sich erhoben. Lange sah er den Jungen an. Das waren die gleichen Augen wie damals 1914 in Flandern, als sie bei Ypern zum Sturm antraten gegen das britische Feuer. Die gleiche Todesliebe sprach aus diesem Blick. Die Flamme brannte weiter. Die Niederlage hatte sie nicht gelöscht.
„Es ist eine schwere Stunde für dich", sagte der Oberleutnant, „du weißt, was du aufgibst?" Hans nickte. Klar lag sein Auge in dem Blick des Offiziers.
„Du weißt, dass dich nichts als Kampf erwartet, Hans, nichts als Kampf, denn es ist kein Frieden." „Ich gehorche dem Führer", antwortete Hans. Sie schwiegen. Die Hand des Jungen lag in der Hand des Offiziers. Regungslos.
Kilian Kern hatte den Karren weit vor das Dorf geschoben. Hinter dem ersten Meilenstein zog sich der Weg die Wiese hinauf. Die Sonne stach, und über dem Wald schoben sich blauschwarze Wolken. Kilian kochte vor Wut. Er hasste die Pakete dort vor ihm im Karren. Kaum zehn Jahre war der Krieg zu Ende, und schon wieder schnarrten die alten Kommandos abends über die Wiesen. Im Dorf war es aus mit der Ruhe. Die jungen Bauern übten sich im Kleinkaliberschießen. Noch ein paar Jahre so weiter, und alles war vergessen. Umsonst die Gebete im Schlamm, umsonst das Schreien der Weiber zu
Gott... im Namen des Vaterlandes besoffen sie sich wieder, die Jungen, das ganze Dorf war verrückt. Neulich, da war eine Versammlung gewesen, in der Turnhalle hatten die Bauern gestanden, zweihundert Männer und Weiber. Der Mann, dem sie zuhörten, war aus Siebenwasser, ein Postsekretär. Alle Schuld für die Sorgen und die Not im Dorf trügen die Marxisten und die Juden. Dann aber kam der Satz, den Kilian Kern sich genau gemerkt hatte: „Knüppeln wir den inneren Feind nieder, damit wir stark werden. Jagt den Jud und die Bonzen aus dem Land, dann sind wir unüberwindlich. Dann kann uns keiner das Recht streitig machen, das wir als Herrenvolk beanspruchen und das wir uns holen werden." Aha, hatte Kilian Kern gedacht, so läuft der Hase. Erst die Juden und die Marxisten und dann los auf die anderen Völker.
Die Prothese knarrte. Ihn werden sie nie herumkriegen mit solchen Flausen. Und wenn er hundert gesunde Beine hätte, würde er nicht mehr marschieren.
Es waren etwa hundert Meter vor dem Haus Gerhard Trägers, als der Karren in der ausgefahrenen Furche kippte. Die Pakete rollten auf den rötlichen Boden. Mit einem Fluch blieb Kilian Kern stehen. Da lagen sie, vier an der Zahl, und eines von ihnen war offen.
Vor den Augen des Invaliden zeigten sich ein braunes Hemd, ein Schulterriemen, ein Koppel, eine schwarze Hose und ein Paar feste Stulpenstiefel. Grinsend stand Kilian Kern vor der Konfektion. Das also waren die Uniformen, von denen die
Bauernburschen schon seit Tagen im Dorfkrug herumschwatzten. Dafür war also Geld da, aber für ein abgeschossenes Bein oder für ein zerfetztes Gesicht, da fehlte es an allen Ecken und Enden. Das Blut schoss ihm in die Augen. Er nahm einen Stein und schmiss nach dem Hemd. Er spuckte auf die Stiefel.
„Affentheater!" brüllte er, „Affentheater!"
Da brach der Regen los, und ein scharfer Blitz ging nieder hinter dem Wald.
Schickedanz saß bei Mutter Döring unten am Hafen. Er war allein in der Weinstube. Um elf Uhr war er gekommen, und jetzt war es vier. Durch die in Blei gefassten Scheiben sah er den Fluss. In dem künstlichen Seitenarm, der sich Hafen nannte, lag ein voll beladener Kohlenkahn. Seit einer Stunde fiel ein dünner, zäher Regen. Die Berge waren verhängt. Schickedanz starrte auf das Wasser. Vor ihm stand das dritte Viertel Wein. Schickedanz wartete auf Kalahne.
Um fünf Uhr wollte er hier sein. Dann würden sie die Erklärung aufsetzen, die der Verleger verlangte. Dieses verfluchte Stück! Kopf und Kragen hatte es ihn gekostet. Als er am Morgen nach dem Theaterskandal auf die Redaktion gekommen war, wurde er sofort zu Herrn Breitwieser zitiert. So hatte er den Alten noch nie erlebt. Dieser Zeitungsplantagenbesitzer, für den der redaktionelle Teil nur eine Beilage zu den Inseraten war, machte plötzlich in Überzeugung. Weiß der Teufel, wer ihm diese Worte eingeblasen hatte, aber das hagelte nur so von Geistesfreiheit, Tempel der Kunst, Sonderrecht des Dichters und ähnlichen Scherzworten aus der Vorkriegszeit. Kurz, man machte sein Referat für die Ausschreitungen verantwortlich, und man kündigte ihm fristlos, weil er sich zum Sprecher der Straße gemacht hätte.
Mein Referat..., hatte Schickedanz gedacht, doch er war schweigend in sein Zimmer gegangen, hatte sich sein Stück Seife und sein Handtuch aus dem Spind geholt und war dann ohne jedes Aufsehen aus dem Zeitungshaus verschwunden. Bei Mutter Döring hatte er den Leiter der Expeditionsabteilung getroffen, der hatte ihm erzählt, dass beinahe dreihundert Abbestellungen nach Schickedanz' Kritik eingelaufen seien, worauf es Schickedanz klar wurde, was es mit der Geistesfreiheit des Herrn Breitwieser auf sich hatte. Knüppelvoll hatte er sich getrunken, dann war er zu Kalahne gegangen. Kalahne hatte ihn hinausgeworfen. Er solle am nächsten Tag wiederkommen, wenn er nüchtern sei. Knurrend war Schickedanz gegangen. Bis um drei Uhr in der Früh hatte er bei Mutter Döring gesessen, dann hatte er bei Maria geklopft, aber die hatte Besuch.
In dieser Nacht hatte ihn ein unbändiger Hass gegen Kalahne gepackt. Dieser ehrgeizige Teufel hatte ihn in der ganzen Affäre zum Prügelknaben gemacht. Jetzt saß er auf der Straße, und der Mutter konnte er auch nichts mehr schicken. Wäre es wenigstens noch eine politische Tat gewesen, ein klarer Hieb gegen diesen langweiligen Weimarer Staat — so aber war er nur innerhalb einer Intrige, deren Zweck er nicht kannte, auf der Strecke geblieben, ja, noch schlimmer, er war lächerlich geworden, man nannte ihn einen Mucker, einen Finsterling, einen Reaktionär. Schickedanz war fest entschlossen gewesen, mit Kalahne zu brechen und am nächsten Tag im „Volksrecht" alles zu enthüllen, als er gestern Abend die Wohnung des kleinen Doktors betrat. Bevor er jedoch zum Sprechen kam, legte ihm Kalahne die Kopie eines Briefs vor, den die Redakteure sämtlicher in Siebenwasser erscheinenden Zeitungen heute an seinen Verleger abgeschickt hatten. Das Schreiben begann mit einer sachlichen Ablehnung seines Referats, um dann jedoch zu betonen, dass es dem Geist wie dem Buchstaben der Verfassung widerspreche, einen Menschen wegen seiner Gesinnung zu maßregeln. Man lebe in einem Rechtsstaat, der die Freiheit der Kritik garantiere, und die Standesvertretung der Journalisten von Siebenwasser müsste sich aus prinzipiellen Gründen hinter ihren gemaßregelten Kollegen stellen, wenn sie auch sachlich sein Referat ablehne. Es handle sich hier um das Grundgesetz der Demokratie, um das Recht der freien Meinungsäußerung, und dieses sei unantastbar. Sie verlangten die Aufhebung der Kündigung, andernfalls übergäben sie die Sache ihrem Vorstand in Berlin und dem Ministerium in Stuttgart. Unterzeichnet war der Brief von allen Redakteuren, auch von denen des „Volksrecht".
Schickedanz hatte sich an den Kopf gefasst. „Sind die verrückt?" hatte er Kalahne gefragt.
Ein Grinsen war die Antwort.
„Also im Namen der Demokratie, die wir bekämpfen und die du mit deinem, Pardon, ich mit meinem Referat verhöhnt habe, im Namen dieser jüdischen Geistesfreiheit, die aus Deutschland einen Saustall gemacht hat, im Namen dieser Verfassung, die wir... die Kerle sind total verrückt. Das heißt ja sich selbst entmannen. Das ist ja kein Kampf mehr, das ist einfach..."
„... legal", hatte Kalahne geantwortet, und als er das verdutzte Gesicht des Schickedanz sah, da hatte er ihn wieder angegrinst und gesagt, er solle sich endlich die romantischen Flausen von Putsch, Barrikaden und so aus dem Kopf schlagen. Die Taktik habe sich gewandelt. Man werde die Demokratie durch die Demokratie schlagen. Und als Schickedanz immer noch taub und verständnislos dreinschaute, da war dieses Wort gefallen, über das er seit Tagen nachgrübelte und das ihm den Wein sauer machte: „Mir scheint, deine Menschenverachtung reicht für diesen Gedanken noch nicht aus." Schickedanz sah auf den Fluss. In dünnen Schleiern hing der Regen über dem Ufer. Er wehte durch die Bäume und an den Fenstern vorüber. Er sprühte auf den Dächern, und der Rauch der Kamine zog in gequälten Spiralen. Schickedanz trank. Um ihn lag die weiche Hülle des Rauschs. Der Kohlenkahn war ein gestrandeter Walfisch, und der Hafen da und die Häuser, das war eine norwegische Stadt.
Es war kurz vor fünf Uhr, als Kalahne in seiner Wohnung von Stadtrat Schrader angerufen wurde. Er möge sofort ins Büro kommen, es sei eine eilige Sache. Kalahne ging. Er war verärgert. Die ganze Einleitung des Samstagnachmittags war durch diesen Anruf umgeworfen. Bei Mutter Döring wartete Schickedanz. Der Brief, den der Verleger Breitwieser für die Beilegung des Konflikts verlangte, in dem Schickedanz nichts weiter zu erklären brauchte, als dass er die terroristischen Methoden der Straße ablehne und sie auch in Zukunft verurteilen werde (wie billig war diese Demokratie), der Brief sollte heute Abend geschrieben werden, bevor neue Komplikationen eintreten konnten. Schickedanz musste unbedingt in die Zeitung zurück. Märtyrer waren vorläufig überflüssig. Wichtiger war es, durch ergebene Leute den bürgerlichen Apparat zu durchsetzen! Überhaupt diese Revolutionstümelei! Diese blaue Blume der Barrikaden. In seinen „Richtlinien zur Eroberung der Macht", die er vor wenigen Tagen nach München geschickt hatte, stand der Satz: „Die Strategie unserer Revolution darf sich nie nach den pathetischen Vorbildern des neunzehnten Jahrhunderts richten. Siehe das naive Bild der Barrikaden von Delacroix. Wir müssen dem Staat das Blut nehmen, indem wir ihm durch eine ameisenhafte Emsigkeit die Menschen entfremden. Dazu brauchen wir die Mittel der Demokratie und nicht den Aufstand. Eines Tags muss das Volk außerhalb des Staates stehen. Das ist die Revolution!" Kalahne ging durch die Anlagen nach dem Rathaus zu. Der Regen nässte seine Stirn.
Stadtrat Schrader saß in seinem Amtszimmer über der Berechnung des Etats, der in wenigen Wochen den Stadtverordneten vorgelegt werden sollte. Es war eine prekäre Situation, in der er sich befand. Zur Annahme des Etats bedurfte es einer sicheren Mehrheit. Bisher hatten Sozialdemokraten und Zentrum eng zusammengearbeitet, und alles, was der Magistrat projektierte, stand auf dieser Basis. Aber da war vor wenigen Wochen dieses unglückselige Stück über die Bühne gegangen, und seitdem war der Teufel in Siebenwasser los. Zum Glück hatten die jungen Burschen einen Skandal verursacht, der weit über das Stück hinausgriff und sich sehr rasch als eine Attacke gegen die herrschende Ordnung entpuppte. Das hatte wenigstens die schlimmsten Weiterungen erspart, denn das Zentrum, das ursprünglich die Premiere als einen Casus belli auffasste, war vor öffentlichen Erklärungen zurückgeschreckt und hatte seine Proteste in die Kulisse verlegt. Verbissen war der Kampf der Fraktionen. Die Sozialdemokratie kam immer wieder mit ihrer Geistesfreiheit, doch das Zentrum drohte die Koalition zu kündigen, wenn nicht endlich mit solchen Theatereskapaden Schluss gemacht werde. Das waren heiße Verhandlungen. Alles schien wegen dieser Theatersache auseinander zu fallen. Vier Tage hatte Stadtrat Schrader auf die Sozialdemokratie eingeredet, sie sollten dem Zentrum für seinen Verzicht auf einen Protest ein Äquivalent geben. Am fünften Tag hatte er endlich den Preis. Das Zentrum bekam den Schulratsposten im Außenbezirk. Geistesfreiheit und Koalition waren gerettet. Der Etat lief keine Gefahr. Die Verhandlungen waren streng vertraulich gewesen. Außer den Fraktionsführern waren nur er und Dr. Kalahne zugegen. Befriedigt war man auseinandergegangen. Die Vernunft hatte gesiegt. Drei Tage später wurde ein Flugblatt in Tausenden von Exemplaren auf den Straßen verteilt, überschrieben: „Der Schacher der Parteien." Im Ton maßlos, aber in der Sache nicht unrichtig, wurde darin die Verhandlung um den Schulratsposten enthüllt. Unterschrieben war es von dem Postsekretär Dern, der sich Gauleiter der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei nannte. Der maßlose Ton erlaubte ein formelles Dementi, dazu kam, dass Dern wegen seines herrischen Auftretens bei den Bürgern sehr unbeliebt war, aber es blieb doch der furchtbare Rest eines bitteren Verdachts. Wer hatte Dern informiert? Eine Nacht lang hatte Stadtrat Schrader alle möglichen Kombinationen in seinem Kopfe gewälzt. Er kam zu keinem Ende. Alle Beteiligten hatten Schweigen gelobt. Ob Doktor Kalahne? Ein wahnwitziger Gedanke, wenn man wusste, dass dieser tüchtige Mensch für eine Kreatur wie Dern nur Spott übrig hatte. Hatte er ihn nicht erst kürzlich im Salon der Frau von Berg den Wotan von Siebenwasser genannt? Verkehrte er nicht bei Kommerzienrat Aschaffenburg, einem Juden? Allerdings sagte man ihm nach, er ginge auch in dem Haus dieses Oberleutnants Träger ein und aus, aber daraus machte er selbst keinen Hehl. Dieser Träger war ein verwirrter, verbitterter Offizier, aber die literarische Bedeutung, die er mit seinem Kriegsbuch nicht zuletzt mit Hilfe der großen liberalen Presse erlangt hatte, war nicht abzustreiten. Niemand konnte es Kalahne verübeln, dass er sich auf dem Boden der
Kunst auch mit politischen Gegnern traf. Man lebte schließlich in einer Demokratie und nicht unter einem Zaren.
Schrader seufzte. Sein Verdacht ging in einer quälenden Richtung. Es musste Schnüffler und Horcher unter seinen Beamten geben. Schon seit einigen Wochen hatte er bemerkt, dass zwei Stadtsekretäre den „Schwäbischen Adler" in den Frühstückspausen lasen. Er hatte darüber hinweggesehen. Was ging ihn die Privatlektüre seiner Beamten an? Aber seit diesem Flugblatt fühlte er sich unsicher. Der Boden schien ihm unterwühlt. Er schloss alle Papiere weg. Welch eine Atmosphäre! Beamte als Spitzel und Schnüffler. Das bedeutet die Erwürgung jeglichen Vertrauens.
Stadtrat Schrader war ein konzilianter Mensch. Für ihn war das Kompromiss im Leben der widerstreitenden Kräfte die einzig würdige Lösung. Er liebte die offene Aussprache. Und er hasste nichts mehr als Dunkelmännerei.
Besorgt saß er vor seinem Schreibtisch. Wenn es nur ein Mittel gäbe, diese vergiftete Atmosphäre zu bereinigen. Wie unwürdig war dieses Getuschel in den Wirtshäusern, wie ekelhaft war für den freien Geist der Stadt Siebenwasser diese Schlange von Verdächtigungen und Verleumdungen, die durch die Häuser kroch.
Der Amtsdiener brachte eine Karte. Schrader las:
Henri Jockel
Eigentümer und Restamateur
in einer lebenswichtigen Sache für das Gemeinwohl.
Schrader runzelte die Stirn. Was mochte das wohl wieder sein? Henri Jockel, ein ausgezeichneter Hotelier, berühmt wegen seiner Küche und seines Kellers, hatte einen peinlichen Fehler. Er war ein unverbesserlicher Projektemacher. Kaum ein Monat verging, dass er nicht mit einem Plänchen kam. In seiner Jugend hatte er sich ernsthaft damit beschäftigt, den Neckar nach Norden umzuleiten und ihn mit dem Main zu verbinden. Er nannte den Plan gigantisch. Kein Mensch wusste, was er damit bezweckte. Aber gigantisch, das war sein zweites Wort. Als sein erstes Kind kam, hatte seine Frau eine gigantisch schwere Geburt. Wenn einer seiner Gäste einen kleinen Schwips hatte, dann sagte Henri Jockel: „Der ist gigantisch blau." War das Wetter ansprechend und gut, so war es für ihn gigantisch schön, goss es wie aus Kübeln, so war das ebenso gigantisch. Nichts war harmlos genug, um nicht gigantisch zu sein. In Siebenwasser hieß Henri Jockel allgemein der Giganz. Stadtrat Schrader überlegte, aber bevor er dem Amtsdiener einen Bescheid geben konnte, war Jockel schon im Zimmer. Aufgeregt polterte er auf Schrader ein. Der Bäuerle sei zurückgekommen, der Johann Kaspar. Vor fünfundzwanzig Jahren sei er mit ihm auf der Schule gewesen, da habe er kaum drei Knöpfe an der Hose gehabt, so gigantisch arm sei er gewesen. Aber heute sei er bei ihm abgestiegen, in einem „Lassaich", wie seine Frau das gigantische Auto nannte, und eine Tochter habe er bei sich, so eine gigantische Schönheit gäbe es überhaupt nicht mehr. Und sie hätten natürlich ein Gläschen getrunken, und dabei hätte ihm der Bäuerle anvertraut, er besitze große Fabriken in Amerika, aber er wolle in Siebenwasser bleiben und sein Geld in der Heimat verzehren.
In Stadtrat Schrader wuchs ein Gedanke. Wenn der Jockel nicht phantasierte, dann hatte er hier die nötige Ablenkung für die Stimmung in der Stadt, nach der er seit Tagen suchte.
Kalahne betrat das Rathaus durch einen Nebeneingang. Es war Samstagnachmittag. Die Flurtüren standen weit offen. Er roch den süßlichen Dunst der Akten, und er hörte das Geschlurf der Scheuerfrauen zwischen den breitgesessenen Stühlen der Bürokratie.
Als er Schraders Zimmer betrat, ging der Stadtrat ganz gegen seine Gewohnheit auf und ab. Hinter ihm stand Henri Jockel und rief: „Ein Gut will er sich kaufen mit Weinberg und Wald, und wie es mit dem Museum stehe, hat er gefragt, und mit dem Theater und mit dem Altersheim, gigantisch, sag ich Ihnen!" Schrader blieb stehen. Er winkte Kalahne. Dann sagte er: „Jetzt wollen wir uns einmal setzen, und dann sind Sie so nett, lieber Jockel, und erzählen uns alles nochmals von vorne. Aber ruhig und ohne gigantisch."
Sie setzten sich. Henri Jockel stemmte die Hände auf die Knie. Tief holte er Atem. Er starrte auf den Teppich. Und er begann: „Vor fünfunddreißig Jahren, als ich noch ein Knabe war..."
In der Küche des Bauernhauses, das Gerhard Träger bewohnte, standen fünfzehn Pakete. Durch das enge
Fenster fiel träg das Licht. Zwei Männer standen im Halbdunkel. Ihre Oberkörper schimmerten nackt. Auf dem Tisch und über dem Herd lagen die Uniformen. Fünfzehn Paar Schuhe glänzten ausgerichtet an der Wand. Hell schimmerte die Haut des Knaben. Schweigend betrachtete ihn der Offizier. Hans hob die Hemden in die Höhe und maß sie an den Armen. Er lachte und prüfte das Kernleder der Koppel. Er streichelte die Sturmriemen. „Wirklich?" rief er, „wirklich?" „Ja, Hans", hörte er den Offizier, „nimm. Du verdienst es."
Da setzte sich Hans auf einen Stuhl, Stiefel und Hose flogen zu Boden, das alte, geflickte Hemd zog er herunter, nackt stand er in der Küche, Gerhard Träger trat auf ihn zu.
Verlegen lachte der Knabe. Er spürte die Hand des Offiziers an seiner Schulter.
„Warum fürchtest du dich?" hörte er weit eine Stimme.
„Ich fürchte mich nicht..."
Johann Kaspar Bäuerle lag auf dem Bett im Zimmer Nr. 1 des Hotels „Zum blauen Bären". Blinzelnd sah er zum Fenster. Die Türme von Sankt Andreas schimmerten graublau im Regen. Über den Dächern kroch der Rauch der Kamine. Die Traufen summten.
Johann Kaspar fühlte sich frisch. Der kleine Rausch des Weins war vorüber. Er hatte geschlafen. Erdig roch die Luft, die durchs Fenster drang. Bäuerle sprang auf. Er klopfte an die Wand, hinter der Irene wohnte.
Keine Antwort. Bäuerle wiederholte das Klopfen. Nichts. Rasch zog er sich an. Als er vor Irenes Tür stand, war sie verschlossen. Bäuerle ging ins Vestibül. Dort saß Irene.
Sie erhob sich, als der Vater kam. Neben ihr sah Bäuerle einen Mann, der sich korrekt verbeugte. „Das ist Doktor Kalahne, Papa, er kommt vom Magistrat, und er lädt uns ein, heute Abend an dem Festessen des Odenwaldvereins teilzunehmen. Nachher ist Tanz."
Bäuerle betrachtete den Doktor. Ein Pfaffengesicht, dachte er.
Kalahne wiederholte die Einladung.
„Ihr tut wirklich, als sei ich der Onkel aus Amerika",
lachte Bäuerle und schüttelte Kalahne die Hand, der
nur mit Mühe den Schmerz verbiss. „Was meinst du,
Irene?"
„Aber natürlich, wir kommen."
Kalahne verbeugte sich und ging.
„Der sieht gar nicht wie ein Deutscher aus", flüsterte
Irene.
Dann lief sie hinauf in ihr Zimmer. Als sie vor dem Spiegel stand und das weiche Licht der Lampe ihre Haut bedeckte, schloss sie für Sekunden die Augen. Sie sah die Straße nach Erlenbach. Sie sah das Auto. Und sie sah die Hand, die Hans ihr gegeben hatte, als er weitergegangen war, bleich und ohne ein Wort.
Frau von Berg hatte mit Bringolf zusammen das Manuskript durchgearbeitet, das der Intendant zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Odenwaldvereins inszenieren sollte. Stunden hatten sie gebraucht, bis sie sich von der Lektüre erholt hatten. Es war ein Weihespiel in zehn lebenden Bildern mit Sprechrollen und Musik. So hatte es Rektor Allwohn genannt. Er saß seit Jahren im Vorstand des Vereins, ein wackerer Wanderer. Fünf goldene Plaketten zierten seinen Stock.
Siebzig Jahre alt war der Mann. Er gehörte mit zu den Gründern des Vereins. Es gab keinen Gipfel des Gebirges, den er nicht bestiegen, keinen Weg, den er nicht gegangen war. Er hatte die Markierungen ausgearbeitet, nach denen sich die Städter bei ihren Touren richten konnten. Das Klubhaus am Katzenbuckel war sein Werk, und die Sagen und Volkslieder aus den Spinnstuben hatte er in einem Bändchen gesammelt, das vor dem Krieg in der „Wiesbadener Volksbücherei" erschienen war. Dort standen die Sagen, aufgeschrieben in der einfachen Sprache des Volkes, dort standen die Lieder, und in ihren Melodien schwangen Liebe und Tod, Sehnsucht und Grausamkeit. Es war ein halbes Jahr vor dem Jubiläum, als Vater Allwohn, wie der bärtige Mann allenthalben genannt wurde, in der Vorstandssitzung des Vereins ein dickes Manuskript hervorzog. Dies sei ein Weihespiel, das er in langen einsamen Nächten sich abgerungen habe. Es sei das Vermächtnis seines Lebens. Er schenke es dem Verein und bäte um nichts anderes, als um die Aufführung am Tage des fünfzigjährigen Bestehens. Gerührt von der Geste des alten Mannes hatte der Vorstand das Weihespiel ungelesen angenommen und den Intendanten mit seiner Inszenierung beauftragt. Bringolf hatte das Manuskript lange in seiner Schublade
liegenlassen. Erst wenige Wochen vor dem Jubiläum hatte er es gelesen.
Er war sofort zu Stadtrat Schrader gegangen, der auch dem Vorstand angehörte. Der wilde Rodensteiner, so hieß das Stück, war ein lauter und lärmender Aufruf gegen die Juden, gegen die Franzosen, die hier die Welschen genannt wurden, gegen die Katholiken, die die Schwarzen genannt wurden, und am Ende, da begann ein großes Gemetzel unter den Schwarzen, den Juden und den Welschen. Der Rodensteiner hieb sie zu Tod, und Deutschland, die Wiege des Guten, war wieder frei. Es war unmöglich, dem alten, eigensinnigen Mann das Manuskript zurückzugeben. Es war aber auch unmöglich, es zu spielen. So blieb nichts anderes, als mit Vater Allwohn zu verhandeln. Fünf Tage lang hatte sich Bringolf dieser Prozedur unterzogen. Wenn er abends zu Frau von Berg kam und das veränderte Manuskript, das er dem hartgesottenen Alten abgerungen hatte, mitbrachte, war des Gelächters kein Ende. Es war Bringolf gelungen, dem Vater Allwohn die Schwarzen und die Welschen durch Allegorien zu ersetzen. Das sei künstlerischer, hatte er gesagt. So stand für die Schwarzen ein Kohlenbrenner, der die blonden Kinder verlockte, und für die Welschen ein Zigeuner, der Hühner stahl. Nur mit den Juden war es schwer. Da war Vater Allwohn zu keinem Kompromiss bereit. Das seien Volksverderber, und die Bauern wüssten davon ein Lied zu singen. Als aber Bringolf darauf hinwies, dass Herr Kommerzienrat Aschaffenburg sicherlich den jährlichen Zuschuss zu dem Klubhaus am Katzenbuckel sperren würde, opferte sich Allwohn unter Flüchen und Seufzern. Sie tauften den Juden in den Fremden um, aber das leicht jüdelnde Idiom der Rolle ließ sich Vater Allwohn nicht abhandeln. In fünf Tagen war das Weihespiel umgedichtet. Frau von Berg hatte tüchtig dabei geholfen. Aus Volksliedern hatten sie zusammen ein Singspiel gemacht, und nur die Heimkehr des wilden Rodensteiners war geblieben.
Bringolf stand hinter dem Vorhang. Er hatte sechs Beleuchtungsproben hinter sich, denn die Beleuchtung war die Hauptsache an dem Spiel. Die Bühne im Kasino war klein. Eine Garderobe gab es nicht. Die Schauspieler schminkten sich auf einem zugigen Gang. Frau von Berg spielte mit. Sie war das Vaterland.
Unten im Saal waren die Tische gedeckt. Um acht Uhr begann das Festessen. Dann gab es Reden. Um halb zehn sollte der Gong erklingen. Um zehn Uhr fünfzehn musste Vater Allwohn auf der Bühne stehen. Die Blumen waren bestellt. Auch ein Gabenkorb mit recht viel Kognak für den alten Herrn. Stadtrat Schrader stand oben an der Spitze der Tafel. Hell glänzte der Saal. Ihm zur Rechten saß Vater Allwohn. Der Alte war böse. Monatelang hatte er sich auf diesen Abend vorbereitet, einen neuen Gehrock hatte er bestellt, und die Rede, die er in der Tasche trug, hatte er wohl zehnmal umgeschrieben. Und jetzt saß er da, und alle Augen starrten auf den Mann, der links von Stadtrat Schrader, saß, Bäuerle hieß er, und vor fünfundvierzig Jahren war er sein Schüler gewesen, ein übler Patron. Vater Allwohn hörte die Worte des Stadtrats, er hörte seinen Namen, und er vernahm den Dank des Vorstands und der Stadt. Und er erhob sich und sprach. Und als er geendet hatte, da überbrachte ihm ein Diener ein großes Trinkhorn mit silbernen Beschlägen. Er füllte es mit Wein. Vater Allwohn setzte es an den Mund und trank es unter fröhlichem Beifall in einem Zug leer.
Aber schon klopfte der Stadtrat wieder an sein Glas, und Vater Allwohn spürte, wie alle Blicke hinweggingen von ihm.
Traurig sank sein Kopf vornüber. Er tat, als schliefe er.
„Bürger von Siebenwasser! Dieser Tag, den wir feiern in der Liebe zur Heimat und in Verehrung eines Mannes, der uns diese Heimat immer näher gebracht hat in einem siebzigjährigen Leben voller Pflichttreue, dieser Tag erhält noch einen besonderen Glanz."
Vater Allwohn öffnete leicht die Augen. Wie sie alle auf den anderen starrten! Sein Vater hatte kein rechtes Hemd anzuziehen, und seine Mutter musste waschen gehen.
„Es ist, so fügt sich das alles fast zu einem Wunder, ihr Bürger von Siebenwasser, es ist ein neues, großes Beispiel der Liebe zur Heimat, das heute Abend vor uns steht. Und es scheint, als sei der Tag gesegnet durch diese Liebe für unser Land, für unsere Stadt. Ein Mensch, der Siebenwasser als Kind verließ, der nach Amerika ging und dort allen Gewalten zum Trotz sich als Deutscher erhielt, er ist zurückgekommen an die Quelle seines Lebens. Er hat sie überstanden, die Kämpfe um das Leben, wie ein Mann. Das Glück, er hat es bezwungen. Aber er ist nicht satt geworden im Gold der Fremde. Sein Leben neigt sich dem Alter zu. Er will bei uns sein. Er hat sein Kind mitgebracht. Wir verneigen uns vor so viel Treue. Hier sitzt er neben mir, Johann Kaspar Bäuerle aus Baltimore. Wir heißen dich willkommen. Du bist wieder bei uns. Die Heimat hat dich wieder!" Schrader hob sein Glas. Alle standen auf. „Und so grüßen wir dich, der du uns die Treue bewahrt hast. Wir grüßen dich als Blut von unserem Blut. Als Sohn unserer Erde. Nimm teil an unserem Leben. Im Glück und im Leid. Prosit!" Alle hoben die Gläser. Eine große Stille lag über dem Saal. Und als sie die Gläser niedersetzten, war es, als seien alle ein wenig verlegen. Doch schon begann die Musik. „Es steht ein Baum im Odenwald..." Oben an der Tafel winkte der Mann Johann Kaspar Bäuerle, Tränen liefen über sein Gesicht, und er sang das Lied, das er vor fünfundvierzig Jahren in der Schule gelernt hatte.
Kilian Kern saß in der Küche und aß. Regina goss aus einem Schöpflöffel die Zwiebelsoße über die Kartoffeln. Schweigend zerdrückte sie Kilian mit der Gabel. Der kleine Otto lag im Spankorb und schlief. Draußen trieb der Wind eilig die Wolken über den Mond.
Kilian Kern erhob sich. Er ging zur Tür, zog seine alte Militärjacke an, setzte die Mütze auf und nahm den Stock.
„Ich gehe eben mal weg", und schon war er aus der Tür. Er knarrte die Stiege hinunter, Regina sah ihn nach dem Wirtshaus gehen. Sie räumte den Tisch ab, wischte das Wachstuch rein, dann ging sie zum Schrank und holte den Atlas. Vorsichtig schlug sie die Seiten um. Da war es, Paris. Das Glück der Welt hatte er es genannt. Nachts, als sie zu ihm schlich in den Verschlag neben der Scheune, da hatte er sie in seinen Arm genommen, und sie konnte nicht genug bekommen, wenn er erzählte. Paris... Regina starrte auf das Bild, und ihre Finger tasteten die Schleifen der Seine nach.
Kilian Kern ging in den Dorfkrug. Er trank zwei Gläschen Kirsch. Am Tisch der Großbauern schimpften sie auf den Staat. „Er hat schon recht", brüllte der Adameck, „wenn er sagt, schmeißt die Juden 'raus." „Es ist keine Zucht mehr im Land." — „Drei Jahre Militär, und die Burschen haben wieder Mumm in den Knochen."
„Und dann einen Krieg, und wir sind alle wieder zufrieden", brüllte Kilian Kern. Er zahlte und humpelte ohne Gruß hinaus. Fest hielt er den Stecken.
„Alle mal herhören!" Gerhard Träger stand vor der Front seines Sturms. Fünfundvierzig Männer waren zur Nachtübung gekommen. Die Uniformen waren verteilt. Drei Monate hatten sie gespart und gesammelt, bis das Geld nach München abgehen konnte. Jetzt waren sie endlich tipptopp. Das war ein Festtag, und sie musterten sich alle gegenseitig voller kindlichem Stolz.
„Parteigenossen, bevor wir zur Nachtübung ausrücken, eine kurze Erklärung. Ihr werdet euch alle schon gewundert haben, dass ich als einziger hier heute Abend nicht das Ehrenkleid der SA. trage. Ich will euch den Grund sagen. Unter uns steht ein junger Mensch, der allein nicht das Geld aufbrachte, das nötig ist, für das Kleid eines Soldaten Adolf Hitlers. Er ist arm. Wir alle sind arm. Aber er hat gar nichts. Was er aber hat, ist Opfermut und grenzenlose Liebe zum Führer. Diese hat er heute bewiesen. Er hat alles aufs Spiel gesetzt für die Idee, für die Bewegung. Deshalb habe ich ihm das braune Hemd, das für mich bestimmt war, gegeben. Ich grüße ihn im Namen des Führers. Ich grüße den SA.-Mann Hans Diefenbach. Heil!"
Brausend klang der Ruf durch die Nacht. Dann rückten sie aus.
Als sie in den Wald einbogen, löste sich der Invalide Kilian Kern aus dem Schatten eines Baums. Humpelnd folgte er ihnen.
Der Sturm hatte sich nach den Anordnungen Gerhard Trägers im Wald verteilt. Die Aufgabe war einfach. Das Wirtshaus „Zum wilden Esel", das in der Mitte der Schonung lag, sollte zerniert werden. Kein Mann, der dort war, durfte das Haus verlassen, ohne von der SA. gesichtet zu werden. Die Annahme bestand darin, dass marxistische Elemente in der Wirtschaft eine geheime Zusammenkunft abhielten und dass es gelingen musste, jeden Kurier abzufangen.
Hans Diefenbach kauerte mit Jürgen in einer Fichtenschonung. Seit dem Theaterskandal sahen sie sich zum ersten mal wieder. Sie knieten im feuchten Laub. Jürgen rauchte eine Zigarette. „Ja, da staunst du, ich wohne wirklich bei einer Hur, da gibt's keine Flausen. Eine feine Person. Verdient ihr Geld mit der Liebe. Meinetwegen. Aber die steht grade zu dem, was sie denkt. Die ist kein Bürger. Mensch, wie die für mich sorgt. Wie bei Muttern."
Hans lag ohne Bewegung. Die Uniform hemmte ihn. Weich stieg der Nebel über die Wiesen. „Du musst überhaupt nicht glauben, dass wir von den Bürgern etwas zu erwarten haben. Das ist feiges Pack. Das hat Angst vor jeder Revolution. Aber bei Maria, da hab ich Kommunisten getroffen, mein Lieber, das sind die richtigen, wenn wir sie erst haben! Drei Abende habe ich schon mit ihnen diskutiert. Dabei wird einem wohl. Die wollen wenigstens etwas. Weißt du, die wollen auch eine andere Welt."
„Was ist das, die andere Welt?" fragte Hans. „Das ist der Sozialismus", sagte Jürgen, „aber den können nur wir machen. Das sehen die Burschen noch nicht ein."
„Will der Führer den Sozialismus?" fragte Hans in das Dunkel. Jürgen lachte.
„Wenn er den nicht wollte, kein Aas liefe ihm nach. Er wird den richtigen Staat machen. Soldaten und Arbeiter und Bauern. Das ist das Neue, was wir brauchen."
„Und die andern?" fragte Hans. „Die sterben aus..."
Ein Pfiff. Sie sprangen hoch. Sie schoben sich über die Wiese.
Gruppe zwei. Der Sohn des Bauern Adameck und der Teifinger.
„Da liegen wir also herum", sagte der Adameck. „Lernst etwas", sagte der Teifinger. „Wenn's nur mal losging, im Ernst, mit diesen Saukommunisten..."
„Wart ab. Der Führer hat's versprochen." „Eine verdammte Geduld hat der. Soll endlich Schluss machen mit dem Marxismus. Der hängt einem jeden Verdienst ab. Muss wieder anders werden. Ich hau drein, dass es nur so kracht, wenn's losgeht..."
Ein Pfiff. Sie sprangen hoch. Dreihundert Meter liefen sie.
Dann verbargen sie sich im Schilf.
„Keine Sau bleibt leben, wenn es soweit ist", keuchte der Teifinger, „kein Jud und kein Soz."
Gruppe drei. Herr Blank aus Siebenwasser hatte doppelte Strümpfe angezogen für die Nachtübung. Es war Herbst, und mit den Erkältungen war nicht zu spaßen. Neben ihm lag Hungrich, ein Geometer.
„Du, wie lang, glaubst du noch, bis es losgeht?" „Wann es der Führer befiehlt." „Quatsch, das weiß ich auch. Aber wann geht es wirklich los?"
„Ich weiß nicht, aber ich freu mich."
„Du, das wird fein. Dann werden wir es den Herrn
Akademikern zeigen, diesen krackeligen Intellektuellen."
„Und den Warenhäusern und den Konsumvereinen..."
„Überhaupt der ganzen Sauerei."
Ein Pfiff. Sie sprangen in eine Schonung und warfen ihre Bäuche auf den federnden Boden der Nadeln.
Gruppe vier. Kilian Kern saß auf einem Anstand. Er war die Leiter hochgeklettert. Wie schön die Wiese da vor ihm lag. Und die braunen Burschen hupften darüber. Mein Gott, das wollten Soldaten sein. Wie das lief. Als hätte es Schwänze. Kilian steckte sich seine Pfeife an. Er blies den Rauch gemächlich von sich. Drunten pfiffen sie. Jammerbuben. Sollten mal mit mir gehen nach Verdun. Da gibt's nur den Tod und Männer. Und wer dort war, der will nichts mehr wissen von diesem Pfeifen und über die Wiese laufen. Der will sein Leben still vor sich hintun, anständig und unauffällig, und das Blut, das man verloren hat, das sollte genügen für die Ruhe der Kinder — ein Leben lang. Was hatte der Einjährige damals gesagt, er war ein Student, und er sprach immer so klug. „Kameraden", hatte er gesagt, „was wir hier tun, das ist eine Bluttransfusion für zwei Generationen." Und als sie ihn gefragt hatten, was eine Transfusion sei, da hat er gemeint, Blut opfern für das Leben der Kommenden. Das hatte ihnen eingeleuchtet, und als er dalag mit dem Kopfschuss, waren sie stumm um ihn gestanden, und der Älteste von ihnen hatte ein paar Worte vor dem Granatloch gesprochen, in das sie ihn einbuddelten. In seinem Tornister aber fanden sie einen Brief an seinen Vater. Da lasen sie: „Lieber Vater, das Blut, das hier fließt, reicht aus für hundert Jahre. Davon können sie leben, die hinter uns wachsen." Stumm hatten sie vor dem Brief gestanden. Da war es, das Wort, mit dem sie sich täglich zu rechtfertigen suchten, wenn sie töteten und getötet wurden. Das Leben, dachte Kilian Kern, ist in die Hände von Lausbuben geraten.
Er humpelte die Leiter hinunter. Dreimal schlug er mit seinem Stock in die Dunkelheit.
Hans Diefenbach und Jürgen lagen im Gebüsch. Scharf beobachteten sie die Schneise, die nach der Wirtschaft „Zum wilden Esel" führte. Sie hatten die Aufgabe, den Zugang zu bewachen und jeden, der sich der Wirtschaft näherte oder sie verließ, durch Alarmpfiffe zu melden.
Hans sprach kein Wort. Die Erlebnisse des Tags waren wie ein Wirbel über ihn gestürzt. Noch sah er kein Ufer, an das er sich retten konnte. Er versuchte wegzudenken, indem er scharf das Wirtshaus im Mondlicht fixierte, aber das gab kaum mehr als eine Minute Ruhe, dann waren sie wieder da, Holzapfel, das Mädchen auf der Landstraße und Gerhard Träger, dieser Mann.
Hans fror. Was hatte er getan? Was war mit ihm geschehen? Er wusste es nicht. Wie grausam aufwühlend das Leben sein konnte. Wie aus der Unruhe immer ein Taumel wurde und dann aus dem Taumel diese fürchterliche Verlassenheit. Wem sollte er sich eröffnen? Konnte er Gerhard sagen, dass er, als die Versuchung über sie gekommen war, an das Mädchen gedacht hatte? Und, dass Gerhards Küsse ihre Küsse waren? War das nicht alles eine furchtbare Sünde? Ein Verrat?
Hans spürte das braune Hemd auf seiner Haut, er spürte den Schulterriemen. Zärtlich tastete er ihn ab. Dies war das große Glück des Tages. Er war ein Soldat des Führers geworden. Jetzt galt nichts mehr als sein Befehl. Aber warum hatte Gerhard ihn angefleht, er solle immer sein Freund bleiben? Warum versprach er ihm, an den Führer zu schreiben, damit Hans das Lob erhalte für seine Tat? Warum diese merkwürdigen Worte: „Wir sind ein Bund von Männern, Hans. Niemand kann uns messen mit der Elle des großen Haufens. Auch du gehörst zu den wenigen."
Es wollte ihn nicht loslassen. Konnte es eine Liebe geben wie die? War das nicht Sünde? „Es gibt keine Sünde", hatte Gerhard Träger gerufen, „es gibt nur Leidenschaft und Macht."
Hans schaute hoch. Neben ihm saß Jürgen und rauchte.
„... zuerst wollten sie mir mit so einem Quatsch kommen. Es ginge nicht, dass ich bei einer Hure wohne und so weiter mit Moral. Da bin ich zur Gauleitung gegangen und hab strikte erklärt, ob es auf die Sache oder auf die bürgerliche Moral ankomme. Das Mädchen hielte mich über Wasser. Wer denn von den Herrn das sonst könne..."
Jürgen lachte. „Man soll sich überhaupt nicht nach der Moral richten. Alle Revolutionen, die es mit der Moral hatten, misslangen. Sind wir ein christlicher Verein junger Männer? He, du — mit Händchenfalten und artig sein ist's jetzt vorbei. Die SA. ist kein Kriegerverein, hab ich gesagt. Soldaten sind wir. Da waren sie ruhig. Und als ich ihnen drei Aufnahmeerklärungen von ehemaligen Kommunisten, die ich durch Maria kennengelernt hatte, auf den Tisch legte, da steckten sie die Köpfe zusammen und meinten am Ende, ich solle es nur nicht zu auffällig treiben. Da kam ich ihnen aber 'ran. Mögen die Sozis in ihren Blättchen schreiben, ich sei ein unmoralischer Mensch, damit ist gar nichts gesagt, und das kümmert nur ein paar alte Klatschweiber. Ich stehe zu meinem Führer, und ich bringe ihm die Seelen der Arbeiter, das hab ich geantwortet. Und da waren sie still." Jürgen spuckte ins Gras.
„Das wäre noch schöner, dass wir eine Revolution machen, um den Bürgern ihre Moral zu retten. Im Gegenteil, wir schaffen sie ab." Jürgen spähte über die Wiese. In kleinen Abständen flammten Lichtsignale auf. „,Der wilde Esel' ist eingekreist", sagte er.
Schweigend lag Hans auf dem Boden. Er roch den Stoff seiner Uniform. Achtzehn Jahre war er alt, und schon ging das Leben mitten durch ihn hindurch.
Dort, wo die Schneise auf die Staatsstraße mündet, ist eine Brücke. Ein kleiner Entwässerungsgraben fließt unter ihr her.
Kilian Kern saß auf dem Steingeländer. Uber ihm war der Himmel hell, und der Wald stand gestuft in weichem Licht der Nacht.
Kilian Kern lachte. Durch den Wald gingen immer noch diese albernen Pfiffe. Einmal war sogar eine Rakete hochgestiegen, ein schöner Anblick über der mondglänzenden Wiese.
Kilian Kern hielt den Stecken. Heute hatte er genug mit der Indianerspielerei. Das ganze Dorf war durcheinander, das war kein Frieden mehr. Er, Kilian Kern, wird sie stellen heute Nacht, und er wird nicht ruhen, ehe er Bescheid weiß über das, was sie da machen. Und er wird auf sie zutreten und ihnen sagen, hütet euch vor dem Feuer, dumm bleibt am Ende immer nur das Volk. Auf sein Bein wird er deuten, und rufen wird er: das bleibt von der großen Zeit. Kilian Kern wollte sich gerade seine Pfeife anstecken, als ein Ruf auf ihn zusprang. Er sah auf. Vor ihm standen zwei Männer. Sie hatten ähnliche Mützen auf wie die Österreicher im Krieg. „Guten Abend", sagte Kilian Kern. Die Männer antworteten nicht.
Schweigend standen sie auf der andern Seite der Straße.
„Na, denn nicht", Kilian Kern zuckte die Schultern. „Was machen Sie hier?" Kilian Kern rief: „Rauchen!" Die Männer kamen herüber.
„Ei", rief Kilian Kern, „Herr Geometer Hungrich, was machen Sie denn hier, und wie sehen Sie denn aus?"
„Warum spionieren Sie hier herum?"
Kilian Kern stand auf. „Man wird doch noch im Gemeindewald Spazierengehen dürfen." Er humpelte auf den Geometer zu. „Und Sie?" fragte er, „und Sie, Sie schauen sich hier wohl den Mond an, weil Sie ihn von zu Hause nicht sehen können? Wie?"
„Halten Sie die Schnauze und machen Sie, dass Sie weiterkommen!"
„Zu Befehl, Herr Zahlmeister!" brüllte Kilian Kern, und hieb mit seinem Stecken Herrn Hungrich, der als Zahlmeister den Krieg in der belgischen Etappe gut überdauert hatte, einen Schlag über das breite Gesäß, dass es klatschte.
Hungrich sprang hoch. Kilian schwang den Stecken. Er hieb auf die Männer ein. „Indianer", brüllte er, „Indianer!" In kurzen Sprüngen waren Hungrich und der andere Indianer im Gebüsch.
„So", rief Kilian, „wie im Krieg. Weglaufen, wenn's ernst wird."
Dreimal schrillte ein Pfiff durch den Wald. Von allen Seiten antworteten die Signale. Kilian setzte sich auf den Stein. Auf der Wiese stand mitten im Mondlicht der Geometer Hungrich und schrie: „Überfall! Überfall!" Hans und Jürgen waren bei dem ersten Signal hochgesprungen.
Sie erreichten den hüpfenden Hungrich. Er deutete nach der Brücke. „Marxisten im Anzug!"
„Los!" schrie Jürgen. Hans lief neben ihm her. Sie lösten die Schulterriemen.
Sie erreichten die Straße. Sie sahen die Brücke. Dort saß ein Mann. Sie sprangen auf ihn los. Kilian Kern aber hatte gemächlich seine Prothese abgeschnallt, den Stumpf auf die Mauer gestützt, und so stand er im Mondlicht. „Indianer", brüllte er, „Indianer!" Jürgen sprang auf ihn los. Ein harter Schlag traf ihn ans Kinn. Funken sprangen vor seinen Augen. Er sackte nieder. Hinter sich hörte er den Anlauf der anderen. Während er stürzte, war Hans von der Seite Kilian Kern bedrohlich geworden. Seine Ohren brausten. Sein Herz war voll Glück. Der Kampf löste die schwere Not des Tags. Mit dem Schulterriemen hieb er nach dem Mann. Er traf ihn zweimal auf die Brust. Er war nahe an ihn heran. Da aber, wie er ausholte zum Schlag gegen das Kinn, wurde er von einer starken Faust am Haarschopf gepackt, hin- und hergerissen, er wehrte sich mit den Händen, er krallte sich in den Anzug des Mannes — und er sah noch das Licht des Monds in dem Bächlein unter der Brücke, da brach der Schlag hernieder, die Prothese, das Ersatzbein des Frontsoldaten Kern traf mit blinder Wut auf das Haupt des Knaben, der das Bewusstsein verlor.
Gerhard Träger war als letzter auf dem Kampfplatz erschienen.
Vor ihm an der Brücke lag Hans, und Jürgen hockte auf dem Boden. Der Mann aber, der an der Mauer stand, schwang ein Bein durch die Luft. Er verteidigte sich mit seinen eigenen Gliedern. „Halt!" rief Träger. Alle wichen zurück. Langsam ging Träger zu Kilian heran.
„Was ist hier los?"
„Fragen Sie Ihren Indianergeometer!" schrie Kern, „dieses Etappenschwein. Aber kommen Sie mir nicht zu nahe!"
Er schwang das Bein.
Und er lachte und deutete auf Hungrich, der in der hintersten Gruppe stand: „Mit so was wollt Ihr Revolution machen? Pfui Teufel, Herr Oberleutnant!" Träger befahl Ruhe. Er ging zu dem Invaliden. „Volksgenosse", sagte er.
„Ich bin euer Volksgenosse nicht, ich will das nicht sein. Der Schwindel fängt wieder von vorne an. Und wenn wir schließlich im Dreck liegen, dann wart ihr es wieder nicht gewesen."
Hoch hob er sein Bein. Träger schwieg. Er senkte ein wenig den Kopf. Er wusste es. Hier stand er vor ihm, der wahre Mann aus den Gräben. Genau so hatten sie gemault, 1917 und 1918, und dennoch ihre Pflicht getan.
Gerhard Träger winkte zwei Leuten. Sie kamen, fassten Hans und legten ihn seitlich ins Gras. Der Offizier kniete neben dem Jungen. Er öffnete das Hemd. Das Herz schlug ruhig. Er tastete den Kopf ab. Träger erhob sich. „Bringt ihn nach Hause, zu mir."
Sie breiteten eine Zeltbahn. Vier Mann trugen den Jungen. Der Oberleutnant stand neben dem Invaliden. „Sturm 43 marschiert ins Dorf zurück. Ich bitte mir eiserne Disziplin aus. Jeder Zwischenfall schädigt die Bewegung. Scharführer Winkler übernimmt das Kommando. SA.-Mann Hungrich hat sich nachher bei mir zu melden."
Und schon marschierten sie. Hell stand der Mond über den Männern.
An der Spitze des Zugs schwankte der Körper des Knaben in der graubraunen Zeltbahn.
Gerhard Träger saß neben Kern auf der Mauer. Der Invalide schnallte seine Prothese an und wollte gehen.
„Auf ein Wort, Herr Kern."
Kilian blieb stehen.
„Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich diesen Zwischenfall außerordentlich bedauere und dass es mir sehr leid tut, dass Sie als alter Frontkämpfer gegen uns stehen. In Wahrheit gehören Sie zu uns, Kern. Menschen wie Sie gehören zu Adolf Hitler. Euch sucht er ja, euch aus dem Volk." So sprach der Offizier auf der Mauer. Kilian Kern jedoch antwortete:
„Bei mir zieht das nicht, Herr Träger, ich bin alt genug, dass ich selbständig denken kann. Und mein Verstand sagt mir, was ihr da treibt, das führt ins Verderben. Schließlich kann man nicht sein Leben lang so im Wald herum hopsen, ohne dass das explodiert. Dann sind wir wieder so weit, und keiner will's gewesen sein. Ich kümmere mich nicht um Politik, ich kümmere mich nur um mein Leben. Ihr mögt recht haben mit dem oder jenem, aber was ihr aus den Menschen macht, das ist das Schlimmste. Sie kennen doch den Schlamassel, und Sie wissen doch, wie das in Wirklichkeit war. Zum zweiten Mal hält das kein Volk aus, Herr Oberleutnant, zum zweiten Mal geht's vor die Hunde, jawohl, das spür ich, dann blutet's einfach aus. Und ihr seid schuld daran, schütteln Sie nicht den Kopf, ihr bringt die Unruhe in die Häuser hinein, ihr redet von beleidigter Ehre, ihr hetzt die Jugend durcheinander. Ich aber sage euch: Lasst die Hände weg vom Volk! Es braucht Ruhe."
So hatte Kilian Kern zum Oberleutnant Träger gesprochen, im Wald zu Erlenbach, dann war er gegangen, grußlos humpelnd, zwischen den Stämmen hindurch, auf das Dorf zu, wo die Hunde bellten und das Licht des Mondes wie weicher Tau über den Dächern lag und über den Wiesen.
Wenige Kilometer von Siebenwasser erhebt sich auf einem Hügel, den der Fluss in einer sanften Schleife umzieht, ein heller Bau aus dem Empire. Dem Licht des Südens geöffnet, steht die Front der hohen Fenster in der Sonne des Morgens. Uber den gestuften Weinbergen hängt ein weicher Dunst. Die Erde ist noch feucht vom Tau, und das Gras riecht nach der Kühle der Nacht. Kumuluswölkchen treiben am Himmel. Der Rücken der Wälder glänzt in der Bräune des Herbstes.
Johann Kaspar Bäuerle hatte das Hotel kurz nach dem Frühstück verlassen. Er ging flussaufwärts. Die Straße stieg an, und das Tal wurde enger. Am Fuß des Hügels machte Bäuerle halt. Er setzte sich auf einen Steinhaufen. Er zog einen Zettel aus der Tasche. Er las: „Gut Weißenfels, 300 Morgen, davon 18 Morgen Rebe und 25 Morgen Wald. Hofreite, Stallungen, Wirtschaftsgebäude, Herrenhaus. Eigentümer Fräulein Ursel Fabricius." Vor zwei Tagen hatte er sich diesen Auszug aus dem Grundbuch besorgt. Es war bei Stadtrat Schrader gewesen, an jenem Abend, da Bäuerle sich mit einigen Männern der Stadt über die Möglichkeit einer Betätigung besprach. Damals erfuhr er die Geschichte des Fräuleins Fabricius. Als der Stadtrat zu Ende war, hatte der Direktor Holzapfel gemeint: „Sehen Sie, Bäuerle, wenn es Ihnen gelingt, das Fräulein zum Verkauf zu bewegen und das völlig verlotterte Gut wieder hochzubringen, dann haben Sie nicht nur eine große, erfrischende Arbeit vor sich, sondern Sie retten auch noch eine Perle unseres Landes vor dem völligen Zerfall."
Und alle hatten sie Holzapfel beigestimmt, und der Kommerzienrat Aschaffenburg hatte noch gesagt, die Rettung dieses Guts aus den Händen einer Verrückten sei eine volkspolitische Tat. Lange hatten sie noch beim Wein gesessen und mit Bäuerle zusammen Pläne ausgeheckt, was alles mit dem Gut geschehen könne, falls es die Ursel Fabricius verkaufe. Sie hatten gerechnet. Auf großen, weißen Zetteln ließen sie Zahlenkolonnen aufmarschieren, und Bäuerle war es gewesen, der am meisten von allen Pläne machte. Ein Mustergut solle das werden. Kein Geld wolle er scheuen. Seine Backen glühten. Er kam ins Phantasieren. Alle berauschten sich mit ihm an dem Gedanken, Weißenfels werde sein Eigentum. Dies war das richtige. Die Erde bestellen, auf der man steht. Mit den Jahreszeiten leben, aufbauen aus den Kräften der Natur und ernten, so schien es allen würdig zu sein für einen Mann, der, wie Bäuerle, nach Hause gekommen war. Welch schönere Arbeit konnte ihm die Heimat geben?
Bäuerle steckte den Zettel ein, überquerte die Straße und stieg die Stufen hinauf, die nach dem Gut Weißenfels führten. Langsam und ruhig waren die Schritte des Mannes, und wer ihn vom Tal aus sah, konnte denken, ein Bauer schreite sein Feld ab.
Kurz nach dem Siebzigerkrieg hatte der alte Fabricius Weißenfels gekauft. Nach seiner Verwundung bei Sedan war er nach Stuttgart ins Lazarett gekommen. Der tapfere Offizier entzückte sehr bald das Herz seiner Pflegerin, deren Vater eine große Mühle besaß. Das junge Mädchen, fast zwanzig Jahre jünger als Fabricius, sah in ihm die Verkörperung des heldischen Mannes, und niemals war sie glücklicher als an jenem Januartag, da die Glocken den Frieden und ihre Hochzeit einläuteten. Nach fünf Jahren quittierte Fabricius den Dienst, beerbte seinen Schwiegervater und verwirklichte den Traum seiner Jugend. Er kaufte ein Gut. Von diesem Tag an versandete seine Ehe. Kind und Frau überließ er sich selbst — früh am Morgen stand er schon auf dem Hof, trieb sich zwischen den Bauern herum, arbeitete wie sein eigener Knecht auf den Äckern und Wiesen, und wenn in den Weinbergen die Ernte begann, war er mitten zwischen den Winzern, eine Kiep auf dem Buckel, eine Pfeife im Mund, und schleppte die Beeren hinauf in den Hof, wo die Bottiche standen. Abends soff er mit den Bauern von Weißenfels in der Kneipe. Wenn er nach Hause kam, hatte sein Essen in seinem Zimmer zu stehen. Er verschlang es, ließ noch zwei Bierflaschen knallen, dann rollte er sich ins Bett. Nur sonntags aß er mit seiner Frau und dem Kind. Er hasste diese Sonntage.
Man konnte nicht über die Äcker stapfen. Aus einem unbegreiflichen Grund musste man die Kleider schonen. Dann fing auch das liebe Weibchen noch an, auf dem Flügel zu spielen, und wenn er dabei aus Herzenslust einen fahren ließ, dann rannte sie in ihr Zimmer, schloss sich ein und weinte. Was wusste dieses feine Wesen von den Freuden der Erde? Bücher lesen und Klavier spielen! Sogar schmatzen durfte man nicht, wenn einem die Sauce des Hasenbratens über die Backen lief.
Als Ursel, die Tochter, acht Jahre alt war, kam ihre Mutter von einer Badereise nicht mehr zurück. Der Vater bemerkte es erst, als man ihn darauf aufmerksam machte. Er überließ die Angelegenheit seinem Rechtsanwalt und importierte dafür ein rotbackiges Fräulein aus Westfalen, die Haushälterin Banse. Sie war tüchtig und fromm, roch ein wenig nach Schweiß, gemischt mit Lavendel, und wenn Ursel nach ihrer Mutter fragte, antwortete das Fräulein Banse: „Davon spricht man nicht!"
Einmal kam der Vater hinzu. Er lachte und sagte, Ursels Mutter sei halt eine Feine gewesen, so eine mit viel Seele, das passe nicht für das landwirtschaftliche Leben.
Bald war das Bild der Mutter für Ursel mit dem Glanz einer fernen zärtlichen Welt umgeben. Wenn der Vater abends von der Kneipe nach Hause kam und zu Fräulein Banse ins Zimmer ging und die lachenden Flüche des Alten sich bald mit den frommen Sprüchen des Fräuleins in einem deftigen Liebesduett mischten, huschte das Kind mit nackten Füßen über den Flur nach dem Salon, wo das Bild der Mutter hing. Niemand störte es bei diesem Kult. Der Alte hatte ausdrücklich befohlen, dass Ursel, was die Mutter angehe, in nichts behindert werde. Doch während er mit fröhlichem Ingrimm seine Knochen am westfälischen Fleische wärmte, lag Ursel in ihrem Bett und fror, wenn sie an das Leben dachte.
„Kennen Sie Wilhelm Raabe", hatte Stadtrat Schrader während seiner Erzählung Johann Kaspar gefragt, und als dieser bejahte, da sagte der Stadtrat: Und wenn Sie sein schönstes Werk kennen, die ,Leute aus dem Walde', dann werden Sie das Schicksal der Ursel Fabricius verstehen. Es könnte von Raabe geschrieben sein." Schrader hatte gelächelt. Und das Bild des Schicksals der Ursel Fabricius wuchs weiter in seiner Erzählung.
Es war eine Zeit, tot und verweht schien sie Bäuerle. Nie hatte sie ihn berührt. Er hatte sich durchgebissen durch sein Leben drüben in den Staaten, und er verstand das alles nicht, was Stadtrat Schrader berichtete. Er verstand es nicht, aber in ihm rührte sich ein verwandtes Gefühl des Schmerzes und der Trauer. Ursel Fabricius wurde ihm zum Symbol für jenes untergegangene Deutschland, das er gehasst hatte mit dem vom Vater ererbten Hass. Aber zu lachen gab es da nichts, über Menschliches gibt es nichts zu lachen. Und so hatte er denn erfahren, dass Ursel ein scheues, sehr schönes Mädchen geworden war, hingegeben den Träumen am Flügel und den Gedichten. Dass es seinen Vater gehasst hatte und vor seinem Poltern immer in die Jasminlaube geflüchtet war. Aus dem Pensionat sei es zurückgekehrt, mit dem Bild eines Geliebten in der silbernen Kassette, und später sei auch tatsächlich ein Offizier auf Weißenfels erschienen, von den blauen Dragonern ein Leutnant, und der Alte habe nicht lange gefackelt und ja gesagt, weil er die Ursel los sein wollte. Acht Wochen war Ursel Braut, ein träumender Vogel. Der Alte behauptete, jetzt sei die Welt in Ordnung. Das Gut war schuldenfrei, Ursel unter der Haube, auf der Bank lagen dreihunderttausend Mark in Staatspapieren. Der Wein schmeckte ausgezeichnet, und Fräulein Banse war weich wie ein Heuhaufen im Manöver.
An einem Septembertag, mitten im Weinberg, fiel der Alte um. Sie trugen ihn ins Herrenhaus. Ursel floh in ihr Zimmer, Fräulein Banse brachte Essig und scharfe Essenzen. Da lag er in der Halle, der alte Fabricius, und die Erde seines Gutes klebte ihm an Stiefel und Wams. Er öffnete noch einmal die Augen, und als er Fräulein Banse sah, ging ein breites Lächeln über sein Gesicht.
Er hob die Hand, und während sich die Dienerschaft verängstigt im Hintergrund hielt, hieb er dem Fräulein zweimal kräftig auf den Hintern. „Komm bald nach!" sagte er noch, dann verfärbte sich sein Gesicht, der Atem ging in ein Röcheln über. Morgens, als die Sonne aufging, starb er.
Als Stadtrat Schrader an diese Stelle seiner Erzählung gekommen war, bot er neuen Wein an, und die Herren tranken schweigend. Dann fuhr er fort: „Das Fleisch hatte sich noch nicht von den Knochen des alten Fabricius gelöst, als der blaue Dragoner
plötzlich seinen Dienst quittierte, auf dem Gut erschien, Ursel seine Spielschulden gestand und so lange mit allen Mitteln der Zerknirschung um sie warb, bis sie ihm einen Scheck über fünfzigtausend Mark gab und sich selbst. Drei Wochen vergingen für das Mädchen in einer einzigen Verzückung. Nach dem Trauerjahr sollte die Hochzeit sein. Der Offizier behob den Scheck, reiste nach Baden-Baden, um die Spielschulden zu bezahlen. Ursel zählte die Stunden bis zu seiner Wiederkehr. Der blaue Dragoner kam nicht mehr nach Weißenfels. Die Jasminlaube verblühte. Der Wind des Novembers strich über die Äcker. Seit Monaten hatte Ursel ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Dann kam der Brief mit den merkwürdigen Marken. Ein Diener trug ihn in das Zimmer des Fräuleins. Lange saß Ursel über dem Papier. Ein englischer Captain schrieb da in knappen Worten, er habe den Auftrag, Ursel Fabricius von dem Tod des Leutnants Dovivat in Kenntnis zu setzen, der für Ihrer Majestät Fahne im Burenkrieg gefallen sei, und dessen letzte Bitte er hiermit erfülle, indem er die Lady bitte, sie möge um Christi willen verzeihen.
Es war zwei Tage nach diesem Abend. Ursel Fabricius befahl, in dem großen Jagdzimmer den Kamin anzuzünden. Als die Scheite brannten und alle Lichter im Saal hoch aufleuchteten, kam das Fräulein im weißen Taftkleid die Stiegen hinab. Stapel von Büchern lagen auf seinem Arm. Es schickte die Mägde weg. Allein blieb es in dem Jagdsaal vor dem Kamin. Neben ihm lagen die Bücher, Gedichtbände aus zartem Leder, mit Goldschnitt und gepressten Veilchen zwischen den Seiten, Romane mit kostbaren Vignetten und seltenen Exlibris, Alben mit handgeschriebenen Versen und eingeklebten Bildern. Einen Band nach dem andern warf Ursel Fabricius in den Kamin. Schweigend sah sie die Poesie ihrer Jugend zu Asche zerfallen. Einen Monat später verpachtete sie das Gut auf das erste Angebot hin. Sie fuhr über Straßburg nach Paris."
Bäuerle hatte den ersten Weinberg erreicht. Angefault hingen die Trauben an den Stöcken. Hoch stand das Gras zwischen den Reben. Parasitenpflanzen hatte die Stämme umwuchert. Bäuerle setzte sich. Er sah das Herrenhaus. Er sah das Tal, die schmerzliche Milde der Landschaft, und er sah wieder Schrader vor sich in dem weichen Stuhl, am Weinglas spielend, die ruhigen, geduldigen Augen auf die Hände gerichtet.
„Es mag sein, dass man damals solche Schicksale aus Mangel an sogenannten großen Ereignissen zu ernst und zu wichtig genommen hat. Das Interesse für das Einzel-Menschliche war noch durch keinen Weltkrieg ertötet. Aber auch Ursel Fabricius wurde vergessen. Niemand, außer der Darmstädter Bank, dachte mehr an sie. Dort lief ihr Name auf einem stattlichen Konto. Alle drei Monate kamen Anweisungen aus vielen Hauptstädten und sehr weiten Ländern. Sie wurden pünktlich befolgt. Dann kam die große Zeit. Man hörte nichts mehr von Ursel Fabricius. Pünktlich nur lief die Pacht ein. Das Konto des Fräuleins wuchs, es war gespenstisch zu sehen, wie die Zahlen hochkletterten, und von dem Menschen war keine Spur da. Damals habe ich zum ersten Mal den Unsinn des Geldes verspürt. Losgelöst von dem Menschen, führte es sein eigenes Leben. Ich arbeitete nach meiner Verwundung kurze Zeit auf der Bank und hatte das Konto zu führen. Oft war es mir, wenn ich die sich vermehrenden Zahlen besah, als wüchsen einem Leichnam Haare und Nägel. Mein Gott, man war damals besonders empfänglich für das Unheimliche. Es war ja nichts Festes mehr da, woran man sich halten konnte." Da war Holzapfel aufgestanden, im Zimmer war er hin- und hergegangen, einen Kognak hatte er gekippt. „Immer, wenn ich die Geschichte von der Ursel Fabricius höre, friert es mich", hatte er gesagt. „Mich auch", hatte Schrader geantwortet, „ich vergesse ihn nie, den Septembertag 1923, ich war gerade auf der Bank, um etwas zu erledigen, als eine ältere Dame erschien. Ich entsinne mich noch genau. Sie trug einen silbergrauen Mantel, und ihr Haar war in der Form einer Pagenfrisur geschnitten. Das fiel mir besonders auf, weil es so stark abstach von dem verwüsteten Gesicht. Neben der Frau stand ein junger Mensch, Gigolotyp, man sah so etwas oft während der Inflation. Ich ordnete gerade meine Belege neben dem Schalter, als die Dame sich auswies. Man war ja viel gewohnt in diesen Jahren, aber als die Ursel Fabricius neben mir stand, dieses zarte Mädchen aus den neunziger Jahren, da wurde mir doch ein wenig schwindlig vor dem, was das Leben so aus uns macht. Der Beamte kam zurück und bat die Ursel zum Direktor. Mit schweren Füßen ging sie durch die Halle auf die gepolsterte Tür zu. Hinter ihr der Gigolo. Ich nahm meine Papiere und setzte mich in einen Sessel. Ich wartete auf die Ursel. Als Kinder hatten wir Fastnacht einmal ein Menuett getanzt. Sie als Porzellanpüppchen, ich als Prinz.
Es dauerte keine zehn Minuten, als wir plötzlich einen heiseren Schrei vernahmen. Hinter den Angestellten stürzte ich ins Chefzimmer. Da lag unser guter Direktor Megerle im Sessel, der Gigolo hielt ihm die Arme, und die Ursel hatte ihre Finger um seinen Hals gekrallt.
,Dieb!' schrie die Ursel, ihre kurzen struppigen Haare sträubten sich in wilder Erregung. Auf dem Tisch lagen viele Zettel und Kontoauszüge. ,Dieb!' Wir sprangen natürlich hinzu. Mit ein paar Griffen war Megerle frei. Bei der Einvernahme ergab sich, dass das Vermögen der Ursel Fabricius gerade noch ausreichte, um die Logisrechnung im ,Blauen Bären' zu begleichen. Ich leitete damals bereits das Polizeirespiziat, und es war mir ein leichtes, die Sache aus der amtlichen Verfolgung zu ziehen. Megerle legte auch keinen Wert auf ein Verfahren. Drei Stunden hab ich damals auf die Ursel Fabricius eingesprochen. Sie hat mir keine Antwort gegeben. Sie hat mir nicht gesagt, wo sie gelebt hat die vielen Jahre hindurch. Sie hat überhaupt nichts mehr gesagt. Zu Fuß ging sie nach Weißenfels. Ein Bub zog die Koffer in einem Karren hinter ihr her. Niemals mehr hat ein Bewohner von Siebenwasser die Ursel wieder gesehen. Seit fünf Jahren hat sie Weißenfels nicht mehr verlassen. Das Gut verfällt. Es wird nicht
mehr gesät und nicht mehr geerntet, nur ein paar Morgen lässt sie bestellen. Von dem Pachtgeld lebt sie und davon, dass sie den Wald rücksichtslos abholzen lässt. Eine alte Magd sitzt bei dem Fräulein. Manchmal kommt sie in die Stadt, um Kognak zu holen für die Ursel, und wenn man sie fragt, wie es dem Fräulein gehe, dann lacht sie nur und deutet nach der Stirn. Wir haben alles versucht, auch von der Behörde aus; einmal war es dem Pfarrer von Weißenfels gelungen, zu ihr zu dringen. Als er ihr Vorhaltungen machte, warum der Hof verlottere, die Äcker steinig würden und die Ställe faul seien, da soll sie geschrien haben: ,Recht so! Ich will ja, dass alles zerfällt!'"
Bäuerle erhob sich. Der Stein war kalt, auf dem er saß. In langsamem Schritt erreichte er das Gut. Das Tor, das die Hofreite von der Anfahrtsstraße trennte, war eingestürzt. In den Umfassungsmauern hatte sich der Speis gelöst. Die Steine waren durcheinander gerutscht. Bäuerle betrat den Hof. Rechts lagen die Stallungen. Faules Stroh hing in den Ritzen. Leer standen die Tröge. Ein paar magere Katzen saßen auf dem Gebälk. Ein kleiner Weiher, gegenüber den Ställen, früher wohl die Viehtränke, war ausgetrocknet. Uber den harten Schlamm zogen sich giftgrüne Schuppen. Ein verrosteter Pflug lehnte neben einem eingesackten Brunnen. Kein Laut eines Tieres oder eines Menschen belebte die Stille. Nur auf dem Boden raschelten ein paar Blätter im Wind. Bäuerle ging auf das Haus zu. Man hatte ihm gesagt, es sei immer verschlossen. Während er überlegte, was er dann tun solle, hörte er, wie sich ein Schlüssel in der Pforte bewegte. Rasch sprang er in einen offenen Stall. Durch eine Luke in der Wand sah er aus der Tür des Herrenhauses eine dicke, alte Frau die Treppe hinabsteigen, ein Körbchen im Arm, und nach dem Nutzgarten gehen. Bäuerle sah genau, sie steckte den Schlüssel ins Schloss und zog ihn nicht ab. Sie ließ den Schlüssel stecken.
Als die Frau hinter dem Gatter des Nutzgartens war, verließ Bäuerle die Stallung und lief nach dem Haus. Er erreichte die Tür. Er trat ein. Der Geruch einer muffigen Feuchtigkeit schlug ihm entgegen. Bäuerle gewahrte eine Treppe. Er stieg hinauf. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen. „Hallo!" rief Bäuerle. Niemand antwortete. Plötzlich jedoch hörte er einen Schrei. Unten an der Treppe stand die Magd und starrte ihn an.
Da lief Bäuerle die Treppe empor, er kam an eine Tür, sie war verschlossen, zweimal wippte er mit dem Körper dagegen, die Tür gab nach, Bäuerle stand in einem verdunkelten Raum. Hinter ihm schrie und weinte die Magd.
„Fräulein Fabricius!" rief Bäuerle, und als keine Antwort kam, ging er zu den Fenstern und öffnete die Läden. Hell brach das Licht in das Zimmer. Johann Kaspar erschrak. Vor ihm, in der pathetischen Haltung einer Tragödin, stand ein Wesen, halb Vogel, halb Mensch. Uber dem Sperbergesicht lag unordentlich eine Perücke, unter der wie Putzwolle der Rest echten Haares hervor sah. Ein graugrünes Gewand, eine Art Schlafrock, über und über mit Spitzen bedeckt, hing von den Schultern herab. Die knochigen Hände, über welche die Adern wie Schlangen züngelten, hielten zitternd die Lehne eines Damastsessels umkrallt. Aus den rot unterlaufenen Augen starrten Angst und Wut eines gestellten Tiers auf den Mann.
„Fräulein Fabricius", rief Bäuerle, „man muss einbrechen bei Ihnen, wenn man Sie sprechen will!" Ursel Fabricius bewegte sich nicht. Die Magd stand in der Ecke und weinte. Bäuerle lehnte sich an den Tisch. Er war entschlossen, nicht eher zu weichen, bis er das Fräulein zum Reden gebracht hatte. Und er begann.
„Liebes Fräulein Fabricius, wie Sie mich hier so sehen, ganz frech an Ihrem Tisch, ein Einbrecher, der Ihre Tür aufgesprengt hat, ein böser Mensch von draußen, da müssen Sie natürlich denken, ich gehöre auch zu der sauberen Gesellschaft, die Sie damals beschwindelt und betrogen hat. Ich muss Ihnen aber sagen, dass ich erst vor zehn Tagen in dieses schöne Land gekommen bin, nach fünfundvierzig Jahren, liebes Fräulein, aus der Fremde, aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ich bin nämlich auch einmal von Siebenwasser weggegangen, mit einem furchtbaren Hass auf das, was man die Heimat nennt, und ich habe drüben in meinem anderen Leben gar nicht mehr daran denken wollen, was sie mir angetan haben, die lieben Deutschen. Mein Vater ist an ihnen gestorben, und meine Mutter ist ihm gefolgt in die fremde Erde, nur weil sie das Leben in der Heimat nicht mehr aushielten, und weil sie die Verrücktheiten ihrer Landsleute als Verrücktheiten ansahen. Nicht wahr, Sie verstehen mich, sie wollten in erster Linie Menschen sein. Aber das ging damals nicht. Wer nicht mit hineinblies ins große Horn, der galt nichts, und wer gar glaubte, man könne auch ohne Hurra leben, dem warfen sie Knüppel zwischen die Füße. Es half da wenig einem einzelnen einfachen Mann, andere Gedanken von dem Leben der Menschen zu haben. Wer nicht parierte, der hatte kein Vaterland."
Ursel Fabricius bewegte sich. Sie ließ die Lehne des Sessels los. Sie setzte sich an den Tisch. Sie sah den Mann an, der gar nicht aussah wie ein Deutscher. „Fünfundvierzig Jahre war ich traurig, wenn ich an Deutschland dachte", fuhr Bäuerle fort, „fünfundvierzig Jahre schämte ich mich meiner Heimat, ja, als der Krieg kam, da habe ich heimlich den Herrgott gebeten, er möge den Deutschen den Sieg verweigern, wirklich, ich konnte nicht anders, wenn ich an mein Land dachte und an den bösen Übermut seiner Führer. Und es kam so, wie es kommen musste. Bis auf den Grund mussten sie den Becher leeren. Geheult habe ich, wenn ich an das Elend dachte, das jetzt über das Volk kam. Liebes Fräulein, das war schlimmer, als von seinem besten Freund betrogen zu werden."
Ursel Fabricius winkte der Magd. Die Magd ging zu einem Wandschrank, holte eine Flasche Kognak heraus und stellte ein Wasserglas daneben auf den Tisch. Das Fräulein füllte das Glas und reichte es Bäuerle. Johann Kaspar trank. Der Verschnitt ätzte seine Kehle.
„Ich weiß genau", fuhr Bäuerle fort, „wie man das deutsche Volk betrogen hat. Erst Jahrzehnte hindurch, indem man ihm sagte, es sei das reinste und beste von allen Völkern. Dann in dem furchtbaren Krieg, wo man ihm sagte, er sei eine heilige Sache, und nach ihm komme das heilige Reich der Deutschen, und dann, als die Niederlage kam, da hat man es allein gelassen, da hat man es seinen Traum auch noch bezahlen lassen mit Gut und Blut und dem letzten, was es besaß. Und sehen Sie, Fräulein, immer wurde hier von Ehre und Treue geredet, wenn es aber darauf ankam, da wurde die Treue gebrochen, und ein fürchterlicher Betrug wurde verübt. Betrug und Verrat, das ist es gewesen, was hier meistens von der Treue übrigblieb. Ich weiß das, Fräulein, und Sie wissen das auch, und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen."
Die Augen der Ursel Fabricius waren starr auf den Mann gerichtet. Schweigend, mit zusammengefalteten Händen, stand die Magd an der Tür. „Sie sehen, liebes Fräulein, ich stehe ganz ohne falsche Gedanken vor Ihnen. Ich will Ihnen nichts einreden. Ich will aber Ihr Gut kaufen."
Bäuerle verließ den Tisch und setzte sich neben die Ursel. Leicht hob sie das Kognakglas und trank ihm zu. Bäuerle nickte.
„Ich verstehe Sie so gut", sagte er, „und nichts begreife ich besser als Ihren Hass. Aber sehen Sie, wie ich so nach dem Krieg auf Deutschland sah und glaubte, dass es untergehen müsse an dem Maß seiner Sünden, an seiner Vergiftung des Lebens durch die Gewalt und durch den Verrat, da las ich plötzlich seine Verfassung. Gewiss, eine Frau weiß wenig vom Staat, und die wenigsten wussten, dass der Geist des alten Staates sündhaft war, jawohl, das war er... aber jetzt, da sah ich plötzlich aus unserem Land Gedanken aufsteigen, so klar und menschlich, da las ich Sätze von einer guten Vernunft, da war der giftige Nebel plötzlich weg, die Preußen sind abmarschiert, dachte ich, und ich kam heim! Und jetzt darf ich Ihnen sagen, sie sind wirklich abmarschiert. Der letzte Betrug, das war die Inflation, das war die letzte Hölle, und über der haben Sie den Glauben verloren. Aber liebes Fräulein, es ist vorbei! Sie haben in den fünf Jahren Deutschland nicht erlebt. Die ganze Welt neigt sich ihm zu. Man ist ihm gut. Man glaubt an seinen friedlichen Genius, so wie man früher seinen kriegerischen Dämon gefürchtet hat. Ja, ich bin glücklich, diese Wandlung zu sehen. Statt Kasernen wachsen Häuser am Rand der Städte. Und alles arbeitet, um die bösen Wunden der letzten fünfzig Jahre zu heilen. Sehen Sie, Fräulein, das haben Sie hier oben verschlafen. Gehen Sie durch das Land. Welch ein Frieden! Welch eine Genesung!"
Bäuerle schwieg. Er sah Ursel Fabricius an. Er sah diese menschliche Ruine. Und plötzlich sah er sie lachen. Es war kein gutes Lachen. Und nach dem Lachen kam ihre Stimme. Es war keine gute Stimme. „Nein, nein", kicherte das Fräulein, „ich glaube den Deutschen nicht. Sie werden weiter betrügen. Sie werden weiter den Frieden hassen. Sie werden jeden verraten, der gut zu ihnen ist." Da erhob sich Bäuerle. „Das wäre das Ende der Welt", schrie er. „Das hielte kein Mensch aus und kein Gott, das würde fürchterlich enden!" „Es wird fürchterlich enden", antwortete das Fräulein, „gehen Sie wieder in die Staaten zurück. Was wollen Sie mit dem Gut. Es soll zerfallen. Alles soll zerfallen."
„Nein!" sagte Bäuerle, „es soll nicht zerfallen. Ich kaufe es Ihnen ab."
Da stand das Fräulein vom Tische auf, humpelte zu einem Sekretär, kramte lange in einer Schublade und brachte ein Papier.
„Ich verkaufe das Gut", sagte das Fräulein, „ich gestatte, dass es wieder lebt — unter dieser Bedingung!"
Sie schob Bäuerle das Blatt zu, und Johann Kaspar las:
„Meine Bedingungen! Wir verlangen, dass der Oberbürgermeister und der Direktor der Bank zu uns kommen und sich entschuldigen für den Betrug. Wir werden großmütig sein, wenn sie demütig sind. Wir werden das Gut hergeben, wenn sie es eingestehen, dass sie uns bestohlen haben. Wenn sie nicht zu uns kommen, lassen wir das Haus verfallen. Wenn sie aber Abbitte leisten, sind wir bereit, Deutschland und ihnen zu verzeihen." Bäuerle erhob sich.
„Ich werde es den Herren ausrichten", sagte er. Schweigend schritt er zur Tür. Die Magd begleitete ihn bis zum Tor. Langsam ging Johann Kaspar durch die brachen Äcker nach Siebenwasser zurück. Welch ein Hass! dachte er.
Noch am Abend traf er sich mit Stadtrat Schrader. Die beiden Männer sprachen lange miteinander.
Schließlich riefen sie Direktor Megerle an. Megerle kam. Nach einer Stunde erklärte er: „Wenn die Sache ehrenwörtlich unter uns bleibt, bin ich bereit, mitzumachen." Sie verabredeten sich auf den Dienstag kommender Woche.
Am nächsten Morgen war Bäuerle zu dem Notar Ebbinghaus gegangen, der die Angelegenheiten der Ursel Fabricius verwaltete. Ein Kaufvertrag wurde aufgesetzt, und hier erfuhr Johann Kaspar eine neue Bedingung. Die Summe war zur Hälfte in Gold, deponiert bei der Bank von England, die zweite Hälfte in Schweizer Franken auszubezahlen. Mit zwei Kabeltelegrammen kaufte Bäuerle das Gold, die Schweizer Franken deponierte er bei dem Notar. Es war bei Anbruch der Nacht, als drei Männer in einem Auto Siebenwasser verließen. Sie fuhren flussaufwärts. Kurz vor dem Dorf Weißenfels stellten sie den Wagen in eine Schneise. Dann stiegen sie wortlos durch die Rebhänge hoch. Über ihnen glänzte das Gutshaus. Alle Fenster waren beleuchtet. Die Männer stolperten über die zerbrochenen Steine. Sie erreichten den Hof. Sie gingen an den zerfallenen Ställen vorbei. Die Nacht war mondlos und stürmisch. Bäuerle tastete sich die Freitreppe hinauf. Er pochte an die Tür. Die Magd öffnete. Sie trug eine weiße Schürze und ein Häubchen über dem fahlen Gesicht.
Die Männer traten in den Jagdsaal, unten im ersten Stock. Eine große Tafel war gedeckt. Kostbare Teller und Platten standen auf dem Tisch. Wein- und Champagnergläser funkelten im Licht der kristallenen Lüster.
An der Spitze der Tafel jedoch stand Ursel Fabricius. Sie trug ein helles Taftkleid mit gepluderten Ärmeln. Von einer seidengrauen Perücke rollten zierliche Löckchen über ihre gepuderte Stirn. Schweigend verbeugten sich die Herren. Das Fräulein nickte und setzte sich. Bäuerle, Schrader und Megerle nahmen Platz. Zwischen ihnen und dem Fräulein war ein Abstand. Sie saßen unten für sich, während Ursel den Platz an der Spitze des Tisches einnahm.
Das Fräulein fasste den Stiel eines Glöckchens und läutete.
Die Magd trat ein. Auf ihren Armen ruhten zwei schwere Platten. Die eine der Platten war mit Kartoffeln belegt, die andere mit vier Klecksen Siebkäse. Leise reichte die Magd die Platten. Schweigend nahmen die Herren die Kartoffeln und den Siebkäse.
„Bon appetit, Messieurs", sagte das Fräulein. Und es hob sein Glas und winkte der Magd. Die Magd trat zu den Gläsern und füllte sie aus einer Champagnerflasche. „Mumm — drapeau americain", rief das Fräulein, und es hob sein Glas und lächelte die Männer an. Schrader, Megerle und Bäuerle standen auf. Nacheinander traten sie zu dem Fräulein, verbeugten sich und stießen mit ihm an. Dann tranken sie das Wasser. „A votre santé, Messieurs!"
Die Augen des Fräulein Fabricius leuchteten in einem verzehrenden Feuer. Sie bohrte sich mit ihren Blicken in die drei Männer hinein. Die weiße Glut eines furchtbaren Hasses sprang aus ihren Augen.
„Den Herren sind meine Bedingungen bekannt?" „Wir sind bereit, sie zu erfüllen", antwortete Stadtrat Schrader und sah auf den Teller. Das Fräulein erhob sich. „Ohne Widerspruch?" fragte es. „Ohne Widerspruch", antwortete Megerle. Auch die Männer waren aufgestanden. Die Magd verließ den Saal. Hell glänzte das Licht in den Kronleuchtern. An den Wänden hingen Geweihe, schwere Sechsender, dazwischen waren Stahlstiche mit reitenden Herren in roten Fräcken. In dem Kamin schwelte das Feuer.
Die Magd kehrte zurück. Sie brachte eine lederne Mappe. Das Fräulein öffnete sie und entnahm ihr einen weißen Bogen Papier. Es entfaltete ihn. Es reckte sich hoch. Das Lächeln eines grausamen, lange erträumten Sieges lag auf seinem Vogelgesicht. Schrill klang die Stimme des Fräuleins:
Im Namen der Stadt Siebenwasser, im Namen der Darmstädter Bank, erklären wir uns schuldig des Betrugs, der Untreue und des Verrats an Ursel Fabricius. Wir haben Ursel Fabricius um ihr Hab und Gut geprellt. Wir haben einem Staat gehorcht, der alle menschlichen und christlichen Grundsätze mit Füßen trat, der sich dem Teufel verschrieb. Wir erklären vor Gott und vor allen Geprellten, dass wir das Volk betrogen haben und dass wir uns dessen bewusst waren. Dies bekräftigen wir durch unser lautes vernehmliches Ja. Das Fräulein senkte das Blatt. Triumphierend blickte es auf die Männer. Sie hielten die Köpfe gesenkt. Bäuerle hielt den Atem an. Um ihn tanzte der Raum.
Da trat langsam Stadtrat Schrader vor. Er ging zu dem Fräulein und verbeugte sich. „Ja", sagte er.
Und hinter ihm kam Megerle. Er verneigte sich. „Ja", sagte er.
Zitternd hielt sich Ursel Fabricius am Tisch. Alles Blut war aus ihren Lippen gewichen. Sie hob die Hand. Sie deutete auf Bäuerle: „Und du bist Zeuge", rief sie, ihre Stimme überschlug sich, ein heiseres Krächzen brach aus ihrem Mund. „Du hast es gesehen, wie sie sich erniedrigten. Das tun sie immer, wenn ihnen das Wasser am Halse steht. Kein Volk kann aufdringlicher und eitler leiden als diese Deutschen. Traue ihnen nicht, wenn sie bereuen. Der Verrat steckt ihnen im Blut. Ja, ihr hohen Herren von Siebenwasser, es ist ja nicht allein das Gut, um das ihr uns geprellt habt, es ist der Glaube an das Wort, an das Gesetz, an Gottes Gebot, das ihr immer verlacht, wenn ihr nur die Macht dazu habt."
Ursel Fabricius hielt ein. Alles zitterte an ihr. Die Magd sprang herbei und stützte sie.
Das Fräulein fasste sich. Leise sprach es zu Bäuerle, und ein Schimmer von Zärtlichkeit lag über seinem Gesicht.
„Hier ist der Kaufvertrag. Morgen bin ich bei dem Notar. Morgen verlasse ich euch. Morgen hast du sie, meine Heimat. Nimm sie und befreie die Äcker wieder aus ihrer Unfruchtbarkeit. Es ist gutes Land hier. Nimm es nur. Halte es fest. Aber bleib wach, wirklich du, bleib wach!"
Sie legte den Vertrag auf den Tisch. Bäuerle ging auf sie zu und gab ihr die Hand. Ursel", sagte er, und seine Stimme war weich, „Ursel, ich habe dich gekannt, als wir noch klein waren. Da bist du oft mit dem Gig über den Marktplatz gefahren. Das weiß ich noch ganz genau. Du hattest ein Samtkleid an mit einem weißen Spitzenkragen."
Starr stand das Fräulein vor Johann Kaspar. Kein Muskel seines Gesichts bewegte sich. In seinen Augen erlosch das Licht.
„Adieu", sagte Ursel Fabricius, „adieu."
Hart
lag der Winter über Siebenwasser. Es war wenig Schnee gefallen in diesem Jahr. Doch die Luft klirrte vor Frost.
Uber die kahlen Felder strich ein eisiger Wind. Er biss sich durch die Ritzen der Häuser und trieb die Wärme in die Öfen zurück.
Zu Hunderten kamen die Tiere aus den Wäldern in die Nähe der Dörfer. Viele starben, bevor sie die Futterplätze erreichten. Die Erde riss unter der Kälte. Zwischen der oberen und der unteren Brücke hatte sich das Eis gestaut. Block schob sich über Block, und die vom Nordwind gehärteten Spitzen der Schollen stießen hoch bis ans Geländer. Eisiger Staub wirbelte durch die Straßen. Die Büros und Fabriken arbeiteten verkürzt, die Schulen waren geschlossen, denn das Feuer war machtlos gegen die Kälte. Da brach in einer Nacht unter gewaltigem Getöse das Eis. In der Mittagsstunde war der Wind umgeschlagen. Ein trockener, warmer Föhn jaulte durch das Tal. Er schlug in die Kamine und trieb den ätzenden Rauch in die Stuben. Er schmiss die Ziegel
von den Dächern, und als der Abend kam, steigerte er sich zum Sturm. Das Licht erlosch fast stündlich in Siebenwasser. Telefonmasten stürzten quer über die Landstraßen. Eine breite Schneise der Vernichtung riss der Sturm durch den Wald. Der Bruch des Eises war begleitet von einem tiefen Grollen. Es begann unterhalb des Hügels, auf dem das Gut Weißenfels liegt. Unter dumpfen Schlägen setzten sich die Schollen in Bewegung. Donnernd krachten zwei Holzbrücken ein, ein gefrorener Kohlenkahn zersplitterte in Fetzen, dann schoss es hinunter in wütendem Gefäll nach der Brücke in Siebenwasser. Hier staute sich das Eis zu einer gewaltigen Barriere. Es riss das Gelände hinweg. Immer dumpfer wurde das Grollen. Darüber pfiff der Föhn in hellem Diskant.
Vier Stunden dauerte der Kampf. Da, als der Morgen in dünnem, vorsichtigem Licht über die Berge kam, erschütterte ein gewaltiger Schlag die Luft. Krachend schoss das Eis in die Höhe, dann stürzte es über die Brücke und zwischen den Pfeilern hindurch in die rasenden Fluten.
Die Menschen von Siebenwasser hatten an ein Erdbeben geglaubt. Sie waren aus den Häusern gestürzt. Erregend klangen die Signale der Feuerwehr durch den beginnenden Morgen. Doch die Brücke stand. Ein wütender Sturm schüttelte das Land.
Gerhard Träger saß in seiner kleinen Küche. Die Schindeln klapperten, als trommle der Tod auf das Dach. Drei Tage ging das schon so. Gestern war ihm der Schornstein eingestürzt. Jetzt schlug der Wind bis hinab in den Herd. Im Zimmer war es überhaupt nicht auszuhalten. Dort brach der Föhn durch den offenen Kamin und schmiss die Scheite von der Brandstätte. Seit drei Tagen lebte Gerhard Träger in der Küche. Er hatte das Feldbett hereingezogen. Den Tisch hatte er neben den Herd gestellt. Auch die Lichtleitung war futsch. Der eingestürzte Schornstein hatte die Drähte mitgerissen. Die Petroleumlampe schwitzte. Bei jedem Windstoß duckte sich das Flämmchen.
Träger hatte sich den alten Waffenrock angezogen. Der hielt wärmer als das SA.-Hemd. Im Dorf wütete die Grippe. Man musste Kognak trinken, Kognak. Das ölt das Herz.
Er goss sich ein Wasserglas voll. Der Föhn hatte das Haus gepackt. Die Türen bebten. In der Küchenlade klapperte das Geschirr. Äste flogen wider die Fenster. Im Keller rumorten die alten Kisten. Gerhard Träger schlug die Decke enger um die Beine, zog die Lampe nahe an den Schreibblock heran, goss das Glas Kognak in den fröstelnden Körper, dann begann er: „Mein lieber Hans! Ich habe mich in die Küche verkrochen, um Dir endlich auf die Briefe zu antworten, die ich Undankbarer so lange ohne Antwort ließ. Aber jetzt habe ich die richtige Stimmung, der Föhn heult ums Haus, das dröhnt und tobt und jachtert. So das richtige Wetter für einen Frontsoldaten. Bin nur froh, dass unser Herrgott auch kein Pazifist ist. — Um aber gleich auf Deine Frage zu kommen, so will ich Dir sagen, dass ich das alles gut verstehe. Das Leben ist keine Einbahnstraße, und nur die Dummköpfe kennen den Zweifel nicht.
Du brauchst Dich also gar nicht zu entschuldigen, wenn Dich plötzlich Gedanken quälen. Das ist gut so, man darf nur nicht drin steckenbleiben in den Zweifeln, sonst wird man einer von jenen Intellektuellen, die aus den Zweifeln ihrer Jugend ein Geschäft für das Mannesalter machen. Du weißt, wie der Führer über diese graugewordenen Pubertätsfratzen denkt. Taube Nüsse, die noch den Anspruch erheben, dass man sie knacken soll... Was Dich quält, ist natürlich eine echt deutsche Sache. Und Du kannst mir glauben, dass wir alle in der Bewegung nicht nur Verständnis haben für Deine Skrupel, sondern dass wir Dir helfen werden, wo wir nur können. Und Du sollst froh sein, dass die Bewegung und der Führer da sind, denn ohne sie würdest Du, Dir allein überlassen, bei Deiner Intelligenz und Wahrhaftigkeit vielleicht dort enden, wo viele prächtige deutsche Jungens der Vorkriegszeit gelandet sind: in der Anarchie, im Zynismus oder in einem frühreifen, fruchtlosen Weltschmerz. Das ist ja das Große, das Adolf Hitler geschaffen hat: diesen Auffang all der Verzweiflung, die durchs Volk geht, diesen festen Halt für eine Jugend, die nicht weiß wohin, und die es ablehnt, bürgerlich fett zu werden. Aber davon später.
Du fragst: Wie steht es mit der Gerechtigkeit? Und Du gehst dann ganz konkret auf das Ziel los, indem Du sagst: ,Bis vor wenigen Monaten glaubte ich, dass alles richtig und gut sei, was die Partei tut und sagt. Als ich aber jetzt das Wort vom Köpferollen las, ergriff mich ein Schrecken, und ich konnte es gar nicht verstehen, wie hier die Kameraden auf dem Gymnasium in Hanau sich freuen konnten über dieses Wort. Ich habe lange nachgedacht, aber ich kam zu keinem Ende. Nun traf es sich, dass ich hier in der Klasse einen Juden kennenlernte, einen unerhört stillen und feinen Menschen. Ich bin oft bei ihm auf der Bude. Er hat eine ausgesuchte Bibliothek, und ich kann Dir sagen, so zärtlich wie den habe ich noch niemand über unsere Dichter sprechen hören. Ist das nun ein schlechter Mensch? Er ist bei der sozialistischen Arbeiterjugend organisiert, die hier in Hanau sehr stark ist. Einmal hat er mich mitgenommen zu einem Nestabend. Ich muss Dir sagen, die Jungen und Mädels dort, Gerhard, die haben mir einfach gefallen. Auch sie wollen von diesem Staat nichts wissen. Aber sie wollen einen anderen Sozialismus als wir, den wissenschaftlichen, wie sie ihn nennen. Wie ist das nun? Müssen die alle zugrunde gehen, wenn wir siegen? Ich bin ganz hilflos...'" Gerhard Träger überlas die Zeilen. Da war nichts von dem dumpfen Trotz der Bauernburschen aus dem Dorf, die aus Lust am Soldatenspielen und aus Zorn über die falsche Bauernpolitik der Regierung zur SA. kamen, nichts von der verhärteten Grausamkeit jener Kleinbürger, die wie Hungrich zur Partei gestoßen waren, um sich für ihr kleines, geducktes Beamtendasein zu rächen — hier mischten sich reiner Glaube und reiner Zweifel ohne Spekulation zu einem menschlichen Anstand, für den manche Kreise in der Partei nur das Wort liberalistisch übrig hatten.
Der Offizier dachte nach. Er liebte Hans. Was sollte er ihm sagen? Der Junge schrie nach Gerechtigkeit.
Er stand vor dem Zwiespalt der Welt. Klar erkannte der Offizier, dass der Kollektivhass, den der Nationalsozialismus systematisch erzeugte, jene fürchterliche Klippe war, an der man nur mit zusammengebissenen Zähnen, geschlossenen Augen und einer völligen Niederknüppelung persönlicher Gedanken oder sonst überhaupt nicht vorüberkam. Hier war die große Wasserscheide zwischen gestern und morgen. Mit dem untrüglichen Instinkt seiner Jahre hatte sie der Junge aufgespürt. Es galt ihn zu retten.
„Mein lieber Hans, ich habe mir Deine Sätze hin und her überlegt. Der Konflikt, in dem Du stehst, ist mir nicht unbekannt. Ich war in Deinem Alter, als ich in den Krieg zog. Mein Lieber, damals dachte ich ähnlich, nur waren es nicht die Juden und die Marxisten in diesen Tagen, sondern die Franzosen und die Engländer, gegen die ich jetzt schießen sollte. Auch ich habe nach der Gerechtigkeit für den einzelnen gefragt. Mein Vater, der Professor, hatte Freunde gerade in diesen Ländern, herrliche Menschen. Aber was half das? Was gilt der einzelne Mensch, wenn es sich um die Nation handelt! Und als ich den feldgrauen Rock anhatte und um mich die großartige Kraft des Vaterlandes spürte, da gab es für mich kein Denken mehr. Da dachte ich nicht mehr an die Gerechtigkeit. Da war es vorbei, und ich war einfach Soldat. Und so ist es auch heute, lieber Hans, auch wir sind Soldaten. Der Feind steht im Land. Das ist kein Frieden. Das ist ein verlorener Krieg! Das ist kein Staat. Das ist eine lächerliche Versicherungsgesellschaft. Mag der einzelne sein, wie er will, es geht nicht um ihn, es geht um Deutschland. Das zu denken haben wir in den Schützengräben gelernt. Es geht immer noch um Deutschland wie damals. Heute mehr denn je. Einmal muss das Reich erstehen, und wir sind seine Soldaten, wir haben nichts zu denken als: Deutschland!" Der Offizier überlas die Zeilen. Sie kamen ihm ein wenig pathetisch vor. Aber es galt ja nur, die große Linie hinzumalen.
„Und was die Juden angeht, so bitte ich Dich, jeden Gedanken an eine Gerechtigkeit zu vergessen. Sie gehören nicht zu uns. Sie sind nicht von unserem Blut. Und nur das Blut bindet. Das ist die große Idee unseres Jahrhunderts, aufgestanden aus den Schützengräben. Lass die Juden aus dem Spiel. Der große Traum von Deutschland kann nur ohne sie verwirklicht werden. Mensch ist nicht gleich Mensch. Vergiss das nicht!"
Der Offizier hielt inne. Draußen heulte der Sturm. Die Lampe flackerte.
„Lieber Hans, vielleicht wirst Du sagen, all diese Worte hülfen Dir nichts. Es seien eben Worte, und Dein Gefühl sei preisgegeben der Wirklichkeit. Aber Du siehst es ja, es ist kein Kindergarten, in dem wir spielen und Blümchen pflücken. Es ist eine verdammt ernste Zeit. Lass Dein Herz kalt werden und schnalle den Sturmriemen fester. All das, was wir in uns niederknüppeln, wird einst belohnt werden. Es geht nur darum, Deutschland zu befreien, es groß und stark zu machen. Schau nicht hin, was auf der Strecke bleibt. Das Ziel ist größer als das Unrecht, das wir tun müssen!"
Gerhard Träger überlegte. Dieser Brief durfte keine Philippika werden. Er hatte es immer als falsch empfunden, die Leute sozusagen positiv abzukanzeln, wie es manche Führer so gern taten. Auch Hitler ist nicht frei davon. Das macht hektisch, und diese Farbe hatte die Bewegung in den letzten Wochen etwas zu sehr abgekriegt. Vorsichtig strich er sich über den Kopf, als wolle er die schweren Worte hinweg scheuchen und ein wenig Platz machen für die leichtere Rede.
„Aber das Beste ist, Du setzt Dich jetzt auf die Hosen und machst Dein Abitur. Du hast schon viel gegeben für unsere Sache. Es ist Zeit, dass Du von der Penne wegkommst. Lieber Junge, schicke gleich ein Telegramm, wenn Du es hinter Dir hast. Ich hole Dich dann ab mit dem Wagen. Da staunst Du? Ja, der Sturm hat jetzt einen richtigen ausgewachsenen Wagen. Ein bissel klapprig in der Karosserie, aber er fährt! Der Fabrikant Weber hat ihn uns geschenkt. Sicher hat er gedacht, gut ist gut und besser ist besser. Schlimmer als die Roten werden die nicht sein. Also rechtzeitig vorbeugen. "Wir haben ihn natürlich genommen. Aber gelacht haben wir doch. Der wird Augen machen bei unserer Revolution. Wir sind doch keine Sozialdemokraten. Apropos, hier in Erlenbach haben wir jetzt auch eine Reichsbannergruppe. Reichsjammer nennt sie Dr. K. Der ist überhaupt großartig in der Propaganda. Vorläufig tarnt er sich noch. Er gibt uns glänzende Tipps, und ein Material über die Rathausbonzen in Siebenwasser, toll! Du wirst Dich überhaupt wundern, wenn Du hierherkommst. Wir haben herrlichen Zulauf, Jungbauern hauptsächlich, aber auch viele Pennäler, und denk Dir, sechs Arbeiter. Die hat der Pg. Winkler besorgt. Du erinnerst Dich. Er hat damals den Skandal bei dem Zuckmayerstück gemacht und ist nachher zu dieser Person gezogen, wie sich die Bürger ausdrücken. Nun, diese Person hat sich als ein brauchbares Wesen entpuppt. Zweimal in der Woche hat der Jürgen seine Diskussionsabende mit Marxisten. Die Person hat ihn mit einem kommunistischen Funktionär bekannt gemacht. Die diskutieren nun so in den Kneipen herum, dass es eine Lust ist. Oft setzt's Prügel, aber vom Sturm sind immer genügend Leute da.
Hungrich hat sich ganz auf den Antisemitismus geworfen. Das Diskutieren mit den Kommunisten ist ihm zu gefährlich. Er tritt nur in bürgerlichen Versammlungen auf. Die Leute lachen ihn aus, aber es bleibt doch immer etwas hängen. Wir machen vorläufig nur kleine Versammlungen bei den Bauern und manchmal in Orten mit gemischter Bevölkerung. Der Sturm auf die Bürger wird erst losgehen, wenn in München die Richtlinien ausgearbeitet sind. Kalahne war dort. Er hat das Köpfchen für solche Sachen. Ich bin etwas skeptisch. Es geht den Leuten noch zu gut. Überhaupt geht es in Siebenwasser gut. Die Handwerker schmunzeln bis hinter die Ohren. Schrader ist Oberbürgermeister geworden, die weiche Seele. Aber er hat einen tollen Dusel entwickelt. Denk Dir, da kommt vor ein paar Monaten, gerade als Du nach Hanau gingst, ein Amerikaner in die Stadt, entpuppt sich als alter Siebenwasserianer und hat eine volle Geldkatze. Das Gut Weißenfels hat er gekauft. Der Stadt hat er eine Anleihe besorgt. Beteiligt ist er an der Schlachthausgesellschaft, an der Theater-AG., und die Handwerker, die verdienen an ihm, dass es nur so eine Art hat. Das ganze Gut hat er umgemodelt. In fünf Vereinen ist er Ehrenmitglied. Ich habe mir den Geldindianer einmal angesehen. Frau von Berg machte einen ihrer großen Abende, wo alle Richtungen vertreten waren. Die verwechseln uns immer noch mit einer Richtung! Es war sehr komisch, wie sie alle um den Amerikaner herumgeschwänzelt sind. Dabei ist der Mann gar nicht uneben. Sieht ausgezeichnet aus, denkt klar, aber alles in ihm ist durch einen furchtbaren Hass auf die Preußen bestimmt. So etwas gibt es noch! Ich kam mit ihm ins Gespräch. Alles staunte natürlich, dass er sich mit mir einließ. Die Frau von Berg war geschwollen vor Stolz, dass sich in ihrem Haus so die Gegensätze vereinten. Kalahne, machte ein eisiges Gesicht, denn der Amerikaner kann ihn nicht leiden. Nun, wir sprachen also ganz ruhig und sachlich. Und ich muss schon sagen, alle Achtung vor dieser Weitläufigkeit. Der Mann kennt sich aus in den Staaten, großartig. Aber von Deutschland hat er keine Ahnung. Er glaubt an unsere Demokratie. Er sagte wörtlich, Deutschland sei berufen, jetzt nach dem Zusammenbruch des preußischen Nationalismus seine große Weltsendung wieder aufzunehmen. Diese große geistige Mission der Deutschen beginne, wenn sie als erstes Volk den Nationalismus in sich überwänden und in edlem Wettstreit mit den Nachbarn ein Europa zu errichten trachteten, das endlich wieder die seit dem
Dreißigjährigen Krieg verlorene Einheit des Abendlandes aus der Kraft und den Tugenden eines neuen, großen und friedlichen Zeitalters entwickeln werde. Ich habe mich lange mit dem Utopisten gebissen. Ich habe ihm gesagt, gerade das, was uns im Dreißigjährigen Krieg zerschlagen worden sei, nämlich die Schaffung einer Nation, das müsse jetzt nachgeholt werden. Darauf wurde er furchtbar böse. Wieder einmal würden die Deutschen ihr Schicksal falsch verstehen. Die Welt hielte das Zwangsjackett der Nationen überhaupt nicht mehr aus, und wenn wir es auch noch versteiften, dann ersticke sie."
Gerhard Träger legte die Feder zur Seite. Der Wind pfiff elend durch den Spalt unter der Tür. Der Offizier goss sich ein neues Glas Kognak ein. In knappen Schlücken trank er es aus. Er musste lachen, wenn er an Bäuerle dachte.
„Siehst Du, lieber Hans, so ist diese internationale Bürgerwelt. Ein geistreiches Durcheinandergerede. Sie wissen nicht, was sie wollen, und deshalb wissen sie auch nicht, was sie tun. Wir sind ärmer als sie. Wir haben auch nicht so kluge Gedanken. Wir kennen auch nicht die Welt, wie sie von sich so strahlend erzählen. Aber wir kennen unser Volk. Und nicht wahr, nur auf das kommt es an. Höher wollen wir ja gar nicht hinaus. Wir sind ja so demütig. Wir wollen ja gar nicht mehr als Deutschland. Was geht uns die Welt an. Gibt es das überhaupt, die Welt? Ich zweifle daran... Und deshalb stehe ich so blindlings zum Führer, weil er dieses Phantom Welt zerschlagen hat. Weil er uns mit der Nase auf den Boden stößt und uns in die Ohren schreit: Hier gehörst du hin! Hier, nach Deutschland!" Gerhard Träger atmete tief. Die Worte, die er geschrieben hatte, erregten ihn. Er sah Hans vor sich, das knabengläubige Gesicht, er spürte den Jungen ganz nahe vor seinem Atem, er musste ihn retten. „Und deshalb sage ich Dir, nicht nur als Pg. und als Dein Sturmführer, auch als Freund und als Mann, der in seinem Leben nichts anderes getan hat, als seine Haut für das kommende Deutschland hinzuhalten, der es gern auf sich nahm, in das Gefängnis dieser Republik zu gehen, weil er einen Verräter niederlegte, der es gern auf sich nimmt, kein Geld zu haben und hier in dieser Bauernbude kleine Organisationsarbeit zu tun, der sich nicht herangedrängt hat an die Fettnäpfe dieses Staates, Hans, glaube mir, es gibt nichts als blinden Gehorsam. Wir waren Kinder, und dann wurden wir Soldaten. Das sind wir geblieben. Wir haben kein Privatleben mehr. Und auch Deine Generation zieht von der Kindheit in den Krieg. Grüble nicht, gehorche! Ein einziger Mann denkt für uns. Wir haben nur die Pflicht, aufzustehen, wenn er uns ruft."
Der Offizier schlug die Decke enger. Mit mächtigem Griff hatte der Sturm das Haus gepackt. Ruß schlug in die Küche. Vor dem Fenster ächzten die Bäume. Gerhard Träger wollte den Brief überlesen. Er war sich klar, dass das, was er geschrieben hatte, eine merkwürdige Mischung aus Wille und Gefühl war. Jetzt, da er allein war, sollte er es sich verschweigen, dass er ähnlich dachte wie Hans? Waren nicht seine Worte Narkotika, die er brauchte, um auch sich zu beruhigen? Aber was half das: das Wissen um sich selbst? Es kam darauf an, gerade zu stehen. Es kam darauf an, einen Angriff vorzubereiten, einen Sieg zu erringen, einen Gegner zu schlagen, und besonders den in der eigenen Brust. Nur nicht grübeln über sich selbst, das verwirrt das Gemeinsame. Wachs in den Ohren, den Leib an den Mastbaum geschnallt, so segeln wir durch die Zeit.
So vergnügt wie in diesem Jahr hatten die Geschäftsleute der Stadt Siebenwasser schon lange nicht mehr in die Sonne geblinzelt. Besonders die kleinen Unternehmer und die Handwerker spürten wieder goldenen Boden unter den Füßen. Der Umbau des Gutes Weißenfels hatte den einheimischen Markt weit über den Reichsdurchschnitt belebt. Bäuerle hatte moderne Stallungen errichten lassen. Zwei Brunnen wurden gebohrt, ein Pumpwerk gebaut, und das Herrenhaus wurde völlig erneuert. Neben den Ställen stand eine neue Molkerei, rechter Hand am Eingang zum Hof eine Garage mit einer Tankstelle, dahinter die Maschinenhalle mit der Werkstatt, und in der Kuppe des Berges arbeitete man noch an den Gewölben der Weinkeller. Ende April waren die Handwerker abgezogen. In den Ställen stand das Vieh. Die Maschinen waren angeliefert, der Umbau des Wohnhauses war vollendet. Bei der Übersiedlung hatte sich Bäuerle jede Feier verbeten. Er konnte es jedoch nicht verhindern, dass Fräulein Degerloch, die Wirtschafterin, den Flur und die Pforte mit Girlanden schmückte und das Töchterlein des Dorflehrers beim Einzug ein Gedicht herunterstotterte. Nach der Begrüßung war Johann Kaspar sofort in das Haus gegangen und hatte sich mit Henrici in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Der Verwalter war ein Mann nach seinem Geschmack. Ruhig, sachlich, überlegt und gemessen in der Rede. Von seinem Privatleben sprach er nie. Bäuerle hatte ihn auf Schraders Empfehlung hin engagiert und dabei nur erfahren, dass Henrici vor dem Krieg als Farmer in Kanada gelebt hatte. Nach der Enteignung der Farm war er nach Siebenwasser zu seinem Bruder gekommen und hatte dort als kleiner Versicherungsagent ein bescheidenes Leben geführt.
Kurz nach dem Essen hatten die beiden Männer mit dem Rundgang über die Felder begonnen. Da lag noch vieles im argen. Die Äcker waren voller Steine und seit Jahren ohne Dung. Die Weinberge waren verwildert. Schlinggewächse hielten die Rebstöcke umklammert. Kaninchen hatten den Boden unterminiert. Ein Teil der Wiesen war versumpft. Im Wald hatten die Bauern wahllos Holz geschlagen. Die Kulturen waren vernichtet, die Umfriedung der Pflanzgärten war eingestürzt, und aus den Baumschulen waren die kleinen Tannen gestohlen. Von Wild zeigte sich keine Spur. Alles hatten die Bauern niedergeknallt oder in Schlingen gefangen. „Wir müssen ganz von vorne anfangen", hatte Henrici gesagt, und Bäuerle hatte ihm in einer stillen Begeisterung zugenickt.
Bis zur Dämmerung schritten sie über die Felder.
Henrici nahm Ackerproben mit, die er später untersuchen wollte, um die Kapazität des Bodens festzustellen. Wo sie einen Sumpf fanden, steckten sie einen Stab in die Erde und banden ein rotes Tuch daran. Sie wateten durch den Morast. Es war Mai, und die Sonne besaß schon zeugende Kraft. In der Woche darauf wurden fünfunddreißig Tagelöhner in Dienst gestellt. Sie entsteinten die Äcker, sie entwässerten die Wiesen, sie begannen, den Wald aufzuforsten. Jeden Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, erhob sich Bäuerle. Er ging mit Henrici nach dem Vorwerk hinaus, wo eine große Wiese trockengelegt wurde, sie prüften das Gefäll der kleinen Kanäle, dann gingen sie in den Wald, der völlig verwildert war. Sie ordneten die Sprengung alter Wurzeln an, sie ließen Wege durch das Gestrüpp schlagen und Futterplätze für die Tiere bauen, die im kommenden Monat ausgesetzt werden sollten. Am liebsten jedoch half Bäuerle bei der Rettung der Reben. Hier war zwar die Verwüstung auch nicht gering, aber die Stöcke hatten doch in der Mehrzahl dem Verfall getrotzt. Man konnte sogar auf einen mittleren Weinherbst hoffen, wenn es rechtzeitig gelang, der zahllosen Schädlinge Herr zu werden. Johann Kaspar war in den Rheingau gefahren und hatte neue Schösslinge gekauft. Er pflanzte sie am südlichen Hang, wo der Hügel der Sonne besonders zugeneigt und der Boden mit Schiefer durchwachsen war. Das Rebstück nannte er Irene. „Frieden", hatte Henrici gelächelt, und als Johann Kaspar, über des Verwalters griechische Kenntnisse erstaunt, ihn fragte, warum er lächle und den Kopf schüttle, da hatte Henrici geantwortet, er glaube nicht an dieses Wort.
Allein war Johann Kaspar zwischen den Reben stehengeblieben, betroffen über die Sprache des Verwalters. Lange hatte er in die Sonne geblinzelt. Rötliche Schatten flimmerten vor seinem Auge. Der Satz, hingeworfen wie ein nebensächlicher Gedanke, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Aber dann hatte er sich gebückt, hatte die Harke zur Seite gelegt und begonnen, mit den Händen die Erde zu häufeln.
Weit über Siebenwasser hinaus wurde der Aufbau des Guts durch Johann Kaspar als eine Tat gepriesen. Aus Stuttgart und Heidelberg schickten die Zeitungen Reporter, aber Bäuerle verweigerte jedes Interview. Er verwies sie an Henrici. Was sie dort erfuhren, waren nüchterne Zahlen über den Stand des Gutes, ein paar sarkastische Sätze über die Agrarpolitik der Regierung und am Schluss einen ironischen Abschied. Die Reporter gingen in die Stadt und horchten dort in den Kneipen die Handwerker über den Amerikaner aus. Hier fanden sie den Stoff, der dem Geschmack ihrer Leser entsprach. Die Legende hatte sich in Siebenwasser bereits Johann Kaspars bemächtigt. Die Ziffern, die man sich über sein Vermögen zuflüsterte, hatten die Fünfmillionengrenze längst überschritten. Die Fabriken, die er in Baltimore besaß, machten ganze Stadtviertel aus. Die Anleihe, um die sich Siebenwasser schon seit Monaten bei einem New Yorker Bankhaus bewarb, war durch ein Telegramm Bäuerles an den Präsidenten im Handumdrehen erledigt worden.
Seine Tochter stamme mütterlicherseits aus einem alten spanischen Fürstengeschlecht, das in Mexiko riesige Ländereien besäße. Während des Krieges habe Johann Kaspar in einem Konzentrationslager für seine deutsche Gesinnung geschmachtet. Aber nach Friedensschluss habe sich der Präsident der Vereinigten Staaten persönlich bei ihm entschuldigt. Es habe ihn jedoch seitdem nicht mehr in Amerika gelitten. Er sei nach Hause zurückgekommen mit der Absicht, sein gewaltiges Vermögen dem deutschen Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen, ja, man spreche davon, dass er seine Fabriken nach Siebenwasser legen wolle. Er sei ein richtiger Volksheld, ein großer deutscher Pionier, ein Vorbild für die Jugend. Dieses und ähnliches war in den Zeitungen angedeutet, oft aber auch plump und breit wiedergegeben. Bäuerle hatte dafür nur ein Lächeln. Als ihm jedoch eines Morgens Irene ein Zeitungsblatt auf den Tisch legte, in dem zu lesen war, dass sein Vater, ein urwüchsiger Schwabe, nach den Staaten gegangen sei, um dort deutsche Tüchtigkeit, deutsche Gesittung und deutschen Werkfleiß zu verbreiten, ja, dass er als geachteter und vermögender Mann, stolz auf die Erfüllung seiner deutschen Pflicht, in New York gestorben sei — da hatte den Johann Kaspar doch die Wut gepackt, und er hatte sich hingesetzt und der Redaktion einen Brief geschrieben: „Sehr geehrte Herren", hatte er geschrieben, „Sie können ja über mich zusammenfaseln, was sie nur wollen. Das schiert mich nicht. Wenn Sie aber den Tod meines Vaters patriotisch auszuschlachten versuchen, dann habe ich Ihnen folgendes zu erklären: Mein Vater ist in den USA. elend gestorben. Er hatte seine Heimat verlassen, weil er den preußischen Geist, der sich ihrer bemächtigt hatte, nicht mehr ertrug. Er hasste ihn mehr als die Pest, und er hat recht gehabt damit, denn es hat sich gezeigt, dass dieser Geist noch größere Opfer verschlang als zehn Pestilenzen. Ich bin zurückgekommen, weil ich glaube, dass diesem Geist inzwischen der Garaus gemacht wurde. Hochachtungsvoll! J. K. B."
Wenn Irene an Baltimore dachte, stand immer wieder das grässliche Erlebnis jener Nacht vor ihren Augen. Alles andere war wie hinter einem Schleier, die Kindheit, die Schule, das Leben im Haus des Vaters, die Reisen durch das Land, die Freundinnen und die Tennisspiele am Nachmittag. Nur dies eine stand in grässlicher Deutlichkeit immer wieder vor ihr auf. Niemals war zwischen ihr und dem Vater noch ein Wort über jene Nacht gefallen, aber es schien Irene, sie habe damals schon die Heimat verlassen, als sie durch den Regen nach Hause ging. Der Schuss, mit dem sie sich der Griffe des Jungen erwehrt hatte, war mehr gewesen als der letzte Versuch, sich zu retten. Unter ihm war nicht nur die Schutzscheibe des Wagens zersplittert. Sie hatte damit auch die selbstsichere Ruhe ihrer Kindheit in Scherben geschossen.
Von diesem Tag an war alles für sie anders geworden. Nicht nur, dass sie die Heimat verlassen und hier in dieses geheimnisvolle Deutschland gekommen war, auch ihre Art, die Menschen zu fühlen, ihre Worte zu wägen, ihr Schweigen zu deuten, hatte sich gewandelt. Wo früher manchmal ein kühles Erstaunen war oder höchstens ein Schreck, da wuchs jetzt eine leidenschaftliche Freude, eine quälende Neugier, eine beklemmende Ungeduld nach den Erscheinungen dieser Welt. Es war Irene, als sei sie plötzlich in Bewegung geraten, und sie wisse nicht, wohin das alles ziele. Sie konnte nicht mehr wie früher, still und einfach über die Arbeit des Tages gebeugt, den Abend erwarten. Die Bäume, die sie sah, die Menschen, die sie vernahm, der Wind, der sie berührte, die Tiere, die sie erblickte, die Sonne, der Regen, die Nacht — alles besaß plötzlich einen neuen Klang, einen anderen Duft, einen näheren Atem. Auch der Vater hatte sich verwandelt. Wenn er in Baltimore abends von der Fabrik nach Hause kam, war er von einer distanzierten Ruhe erfüllt. Er sprach nie von Geschäften, nie von jener Welt, in der er sich den Tag über bewegte. Jetzt aber sah sie ihn an der Arbeit, ja, sie wurde dieser Arbeit teilhaftig.
Ein fremdes Land mit all seinen Rätseln lag um sie. Neue Menschen drangen mit Fragen, Bitten und Wünschen auf sie ein. Sie trug die Verantwortung für das Leben im Haus. Es gab keine Stunde ohne Veränderung. Alles gedieh durch den Wechsel. Irene bewunderte den Vater. Wie unverdrossen sein Eifer war, mit dem er den Aufbau des Gutes betrieb. Bis tief in die Nächte saß er mit Henrici zusammen. Vor ihnen auf dem Tisch lagen Tabellen, Zeitschriften, Getreideproben, Obstsorten, chemische Pulver und Erde. Nie hatte Irene geglaubt, dass der Gewinn der menschlichen Nahrung mit soviel Überlegungen und
Anstrengungen verbunden sei. Erstaunt hörte sie auf die Gespräche der Männer. Sie vernahm ihre Berechnungen über die Arbeitskraft eines Tagelöhners, eines Knechts und einer Magd. Sie erfuhr die Entwicklung des Korns von der Aussaat bis zur Ernte. Sie lernte die merkwürdigen Verbrennungsprozesse innerhalb der Erdkrume kennen. Henrici und Bäuerle arbeiteten nach einem Plan. Lange hatten sie den Markt studiert. Sie waren beide zu der Auffassung gekommen, dass sich der getreideproduzierende Bauer in Deutschland unmöglich halten könne, es müsse denn sein, die Regierung griffe zu Zwangsmaßnahmen und würge jede ausländische Konkurrenz rücksichtslos ab. Da dies jedoch ohne eine katastrophale Erschütterung des gesamten Weltmarkts nicht zu erreichen wäre, was für Deutschland als Exportland unübersehbare Folgen nach sich ziehen müsse, hatte Henrici Bäuerle vorgeschlagen, sich völlig umzustellen. Aus Weißenfels sollte ein Obst- und Gemüsegut werden. Bei intensiver Bewirtschaftung habe man in zwei Jahren den rentablen Anfang erreicht.
So kam es, dass die Arbeiten plötzlich in anderen Bahnen verliefen. Ein Drittel der Äcker wurde für den Gemüsebau angelegt. Ausgedehnte Spargelkulturen entstanden. Eine große Obstplantage wurde geschaffen. Die Weinberge wurden vergrößert. In langen, unübersehbaren Reihen standen die Himbeerstöcke über dem Feld. Kleine Wälder von Johannisbeersträuchern wuchsen aus dem Boden. Eine Berieselungsanlage wurde gebaut. Rechts hinter dem Hof zimmerten sie eine Geflügelfarm. Gurken, Kürbisse und Tomaten, Rüben, Bohnen und Salate zogen sich in breiten Flächen bis nach dem Wald zu. Bäuerle verdoppelte die Herde, Bäuerle erweiterte die Molkerei. Morgens ging er als erster über den Hof und weckte die Knechte. Er sprühte von Gesundheit und Eifer. Die Erde klebte an seinen Sohlen. Doch seine Füße wurden nicht schwer.
Hans Diefenbach hatte das Abitur bestanden. Von der mündlichen Prüfung war er befreit, trotz seiner mangelhaften Leistungen in Mathematik. Es waren aufregende Wochen gewesen, denn die Kommission hatte lange geschwankt, ob sie Hans überhaupt zulassen solle. Es gab da Bestimmungen über den Wechsel in die preußischen Schulen, die es eigentlich verlangten, dass Hans noch ein Semester länger in Hanau bleibe. Aber durch eine Eingabe des Lehrerkollegiums war die Sache günstig erledigt worden. Hans war in der Schule beliebt. Der Glanz eines Märtyrers umgab den sympathischen Jungen. Zwar wusste man nicht genau, was vorgefallen war, aber die schweigsame Abneigung der Lehrerschaft gegen den Staat und diese schwache Republik genügte, um Hans jede Unterstützung zu sichern. Das Gros der Lehrer war monarchistisch. Das zeigte sich auch in den Aufsatzthemen, die sie zum Abitur zur Auswahl vorlegten. „Der Konflikt des Prinzen von Homburg" — „Friedrich der Große und der kategorische Imperativ" — „Der Sturm auf Langemarck" oder „Der heilige Opfergang einer Generation."
Hans hatte sich für den Sturm auf Langemarck entschieden. Wie sich hier blinder Gehorsam hinaufhob in die sittliche Sphäre des freiwilligen Opfers, wie sich hier Tausende junger Menschen in den sicheren Tod warfen, um jenseits des militärischen Nutzens zu einem Symbol für jene zu werden, die nach ihnen kamen, wie hier zum ersten mal der Glaube an das kommende, heilige Reich der Deutschen aufbrach, aus Blut und Leid... das alles hatte Hans hingerissen und befeuert. Alle Skrupel, alle quälenden Gedanken, alle Zweifel an dem Führer und der Bewegung, die ihn seit seinem Hanauer Aufenthalt bedrängten, sie versanken vor dem gewaltigen Tod von Langemarck. Eine Stelle jedoch befand sich in dem Hymnus des Knaben, ein schmaler, plötzlich aufleuchtender Gedanke, bei dem der Ordinarius stockte „... so ist es doch merkwürdig, zu sehen, dass sich erst vor dem Tod die ganze sittliche Größe des deutschen Menschen erweist. Dies hat, trotz des beispiellos heroischen Vorgangs, recht eigentlich etwas Unnatürliches an sich. Wenn es uns einmal gelänge, so zu leben, wie wir zu sterben verstehen, dann erst, so scheint es mir, haben wir wahre sittliche Größe. Und der gefährliche Gedanke drängt sich auf, dass der Dämon des Sichopferns, der unser Wesen beherrscht, nur eine entsetzliche Umkehrung des Mangels ist: unser Leben nach den Gesetzen der Vernunft und der allgemeinen Ordnung zu gestalten." Hans Diefenbach hatte eine halbe Stunde über diesen Sätzen gesessen. Sie waren ihm unter die Feder gekommen, ganz im Gegensatz zu dem, was er vorher geschrieben hatte und was er noch plante zu schreiben. Er hatte gezögert, sie stehenzulassen.
Zum ersten Mal spürte er deutlich, dass etwas durch ihn hindurch dachte, eine fremde, ihm bisher unbekannte Macht, ein geheimer, quälender Zweifel. Aber zugleich erlebte er die Lust am eigenen Gedanken, die Freude am Protest gegen das Übliche, den Rausch am ersten selbständigen Schritt. Er hatte die Sätze nicht weggestrichen. Ein wenig furchtsam, aber dennoch getragen von dem Bewusstsein einer besonderen Überlegung war er zu dem Katheder gegangen und hatte die Arbeit abgeliefert. In der Spannung der nächsten Tage hatte er sie vergessen. Das Gefühl, endlich aus der Umklammerung der Schule herauszukommen, verschlang jede Nachdenklichkeit.
Erst auf der Exkneipe, draußen in einem kleinen Bauerngasthof am Main, waren sie ihm wieder lebendig geworden. Während des Gesangs und der übermütigen Späße hatte sich der Ordinarius zu ihm gesetzt und ihn leise an die Sätze erinnert. „Diefenbach", hatte er gesagt, „nicht soviel nachgrübeln. Frisch drauflos! Das ist heute die Parole." Mit diesem Satz hatte Hans die Schule verlassen. Er war von Hanau zunächst in ein Dorf im Odenwald gefahren, wo ein früheres Dienstmädchen seiner Mutter verheiratet war. Dort in der Ruhe und Pflege der dörflichen Einfalt wollte er sich klar darüber werden, was er zu tun gedenke in seinem Leben. Die Briefe der Mutter waren in den letzten drei Monaten immer einsilbiger und nüchterner geworden, kaum noch, dass Hans aus diesen flüchtig hingekritzelten Briefen ein Gefühl der Sorge und Liebe entgegenschlug. Er hatte sich zunächst um die Wandlung in der Art der Mutter kaum gekümmert. Die Vorbereitungen zum Abitur, der aufregende Briefwechsel mit Gerhard Träger, die Zweifel an sich selbst und an der absoluten Richtigkeit der Mission des Führers hatten die Beziehungen zur Mutter zurücktreten lassen.
Erst hier, in der Abgeschiedenheit des Dorfes, im Besitz einer Freiheit, die ihn unruhig machte, begann er sich wieder der Mutter zu nähern. Er hatte ihr geschrieben, dass er das Examen bestanden habe, und er hatte sie gefragt, was jetzt werden solle mit ihm.
Fünf Tage hatte er auf Antwort gewartet. Dann war der Brief gekommen. Zwei mit Bleistift überkritzelte Bogen.
Frau Diefenbach schrieb, Hans müsse sich klar darüber sein, dass es mit der Universität nichts werde. Sein Aufenthalt in Hanau habe sie so tief in Schulden gestürzt, dass sie fast ein Jahr daran zu tragen habe. Er könne natürlich nach Hause kommen. Aber vielleicht wäre es besser, er bemühe sich sofort um eine Elevenstelle auf einem Gut. In ihrem Leben habe sich so viel geändert, was sicher für Hans schwer zu begreifen sei. Es wäre besser, sie sähen sich eine Zeitlang nicht. Später ergäbe sich schon eine Aussprache, die alles kläre. „Sorge Dich nicht um mich, mein Leben ist in guter Hand. Ich arbeite täglich mit Pg. Dern für die herrliche Bewegung und finde mein Glück. Wie Schuppen ist es mir in diesen Monaten von den Augen gefallen. Was waren wir für Narren, jahrelang in die Kirche zu laufen, wo doch der Mensch lebt, der uns erlöst. Heil Hitler! Deine
Mutter... PS. Es ist wirklich besser, Du bleibst eine Weile in dem Dorf. Etwas Geld und Wäsche schicke ich Dir."
Eine halbe Stunde nach Empfang des Briefes war Hans fest entschlossen gewesen, sofort nach Siebenwasser zu fahren. Beim Packen der Koffer jedoch war er zusammengebrochen. Die Bäuerin Berta, das frühere Dienstmädchen, legte ihn aufs Bett. Sie kochte ihm Tee, und ihr Mann holte Schnaps aus dem Wirtshaus. Einen Tag und eine Nacht hatte Hans ohne ein Wort verbracht, dann hatte er sich erhoben und an Gerhard Träger geschrieben. Der Offizier war sofort mit dem Wagen gekommen. Sie gingen durch die Wiesen. Es war ein klarer Tag. Das Gras duftete, und am Himmel stand keine Wolke.
Sie erreichten den Rand des Waldes. In der Mulde lag das Dorf. Schmal und weiß stieg der Rauch aus den Kaminen. Von der Kirche schlug es eins. Sonst war es still, nur der Schrei eines Hähers warf sich zweimal kurz über das Tal.
Der Offizier hatte den Arm um die Schulter des Knaben gelegt.
„Was ich von dir verlange, ist unbedingte Disziplin." „Hätte ich dich sonst gerufen?" antwortete Hans. „Gut", sagte Gerhard Träger, „ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Es ist nicht möglich, dass du nach Hause fährst. Ein Kompromiss würde nur schaden und die Atmosphäre noch mehr vergiften. Du bist doch auch für klare Lösungen?" „Zuerst muss ich wissen, was geschehen ist", sagte Hans. „Red doch endlich offen!" schrie er und warf den Arm des Offiziers von seiner Schulter. Unbeherrscht sah er Gerhard Träger an. Mit seinen Händen riss er an einem Ginsterbusch und zerfetzte die Blüten.
Der Offizier bewegte sich nicht. Hart war der Ernst seines Gesichts. „Der Tatbestand ist einfach, Hans", sagte er, „aber damit allein können wir wenig anfangen. Deine Mutter befindet sich seit Wochen in dem Zustand der Schwärmerei. Aber es ist eine sehr irdische Schwärmerei. Sie ist hörig, verstehst du mich. Sie ist einem Mann vollkommen hörig, und dieser Mann ist der Pg. Dern." „Es wäre ja nichts Besonderes", fuhr Träger fort, „wenn sie den Mann einfach liebte. Nicht wahr, das ließe sich ertragen, aber was mit ihr vorging, reicht viel tiefer. Das geht bis zur radikalen Verleugnung ihres früheren Lebens. Ich sage es dir schonungslos: deine Mutter hat jede Erinnerung an deinen Vater radikal ausgetilgt. Sie behauptet, seit sie Dern kennt, hätte sie erst zu leben begonnen. Sie ist ihm völlig verfallen, und alles, was sie an früher erinnert, stößt sie von sich. Auch dich, Hans." Gerhard Träger schwieg. Der Junge antwortete nicht. „Wie das alles im Einzelnen kam", sagte der Offizier nach einer Weile, „vermag ich nicht zu ergründen. Aber zu der ganzen Verwirrung, die jetzt in dein Leben kommt, tritt noch eine Perfidie. Wir müssen beide versuchen, sie zu überwinden. Deshalb bin ich hier, Hans. Ich werde dich nicht allein lassen." Das Gesicht des Offiziers war blass geworden, seine Lippen schmal. In gebändigter Erregung betrachtete er den Jungen.
„Du weißt", sagte er, „welche Rolle der Pg. Dern in der Partei spielt. Er war einer der ersten, die sich hinter den Führer stellten. Daran ist nicht zu rütteln. Das genügt, um ihn gegen jeden Angriff zu sichern. Aber wir wollen ganz offen reden. Ich halte diesen Postsekretär für ein von Hass und Größenwahn besessenes Geschöpf. Die Parteidisziplin verbietet mir, das offen zu sagen. Wenn ich sie vor dir breche, so widerspricht das eigentlich meinem Gelöbnis, aber ich kann nicht anders, Hans. Ich muss zu dir stehen, gerade weil dein Fall kein privater mehr ist, sondern bereits eine Angelegenheit der Partei. Doch davon später. Man muss Dern verstehen. Im Krieg war er Feldwebelleutnant, hatte das zweifelhafte Glück, in der Etappe zu sitzen, wo das Offizierskorps noch sehr exklusiv war. Man ließ diesen Postsekretär, den sein Pech zu einem feudalen Regiment verschlagen hatte, bei jeder Gelegenheit spüren, dass man ihn nicht für voll nehme. Im Kasino saß er unten am Tisch mit einem Zahlmeister zusammen. Er hat es mir selbst einmal erzählt, wie sie ihn gehänselt haben, die Herren. Ich kenne den Spuk leider zu genau. Bei der Revolution erlebte er dann, wie diese Herren es zum größten Teil vorzogen, Zivil anzuziehen. Damals, als es an Männern fehlte, die sich aufrafften, roch er seine große Chance. Auf dem Umweg über die Freikorps kam er nach München. Er war wirklich einer der ersten, die zum Führer stießen. Er prügelte sich in Versammlungen herum, sein berserkerhafter Mut machte ihn bald gefürchtet, im November 23 marschierte er mit. Allein ihm ist es zu verdanken, dass die Partei sich hier in unserem
Gau so rasch wieder erholte. Er verzichtete auf Beförderung, er ließ sich verlachen — aber er gab nicht nach. Das ist ja das Fürchterliche, Hans, er ist ein Säufer, ein rachsüchtiger, ungebildeter Mensch, ein größenwahnsinniger Gauch, aber an dem Führer hängt er wie ein Hund. Er ließe sich in Stücke hauen für ihn. Aber es gibt da noch etwas anderes, was ihn toll, aber auch fast unangreifbar macht. Du weißt, wie er über die Juden spricht. Das ist schon kein Antisemitismus mehr, wie wir ihn pflegen müssen, das ist glatter Verfolgungswahn. Wenn er einen Juden sieht, fängt er tatsächlich an zu schäumen. Er nennt diese Rasse die Seelenpest. Er behauptet von ihr, dass sie systematisch das Volk und besonders die Frauen vergifte. Er glaubt an den Ritualmord. Und seit einigen Wochen predigt er, die Schmach des November 1918 sei weiter nichts gewesen als ein Lustmord des Juden am deutschen Volk. Nun kann man ja im Kampf um die Macht jedes Mittel benutzen, auch den Juden als geilen Satan. Das wirkt auf die Frauen. Und der Jude als Nachtmahr, das wirkt auf das ungebändigte Grauen in ihnen. Es ist tatsächlich so, was vor dreihundert Jahren die Hexen waren, das ist heute der Jude bei Pg. Dern. Wenn er in den Dörfern spricht, sind am Ende die Versammlungen wie eine Gemeinde Verzückter. Mit Politik hat das gar nichts mehr zu tun. Die Leute fallen einfach in sich zusammen, besonders die Frauen. Und so ist es auch deiner Mutter ergangen."
Der Offizier schwieg. Er zitterte vor Erregung. Er wandte Hans den Rücken.
„Wie dieser Postsekretär privat lebt, will ich dir nicht sagen. Er ist ein Schwein. Das weiß man auch in München. Aber man kennt dort seinen Einfluss auf bestimmte Kreise. Man ist dort nicht zimperlich. Denn wir brauchen die Massen, selbst wenn sie ein Schwein hypnotisiert. Ich würde auch nie etwas über Dern gesagt haben, wenn er nicht in dein Leben, Hans, eingegriffen hätte. Unser Führer hat allerhand Kostgänger, und nur er allein weiß, was nötig ist. Wir haben nur zu gehorchen. Siehst du, Hans, das wollte ich dir sagen. Du musst über dein privates Schicksal hinaus immer nur nach dem Führer sehen. Du darfst nicht irre werden, Hans, wenn ein Dern deine Mutter versklavt, wenn deine Mutter alles aus sich herausreißt, deinen Vater, dich... Hans! Hans!" — der Offizier flehte — „dass du mir nicht irre wirst! Nie!"
Er hielt den Jungen an den Schultern. Hans sah ihn an.
„Schlägt er auch die Mutter, so wie er andere Frauen
geschlagen hat?" frug er den Offizier.
„Das weiß ich nicht. Sie ist Wachs in seiner Hand",
antwortete Gerhard Träger.
„Spricht sie noch von meinem Vater?"
„Ja..." Gerhard Träger stockte.
„Was spricht sie von meinem Vater?"
„Ich weiß es nicht genau..."
„Ich will wissen, was sie von meinem Vater spricht!" Hans hatte den Offizier am Arm gepackt. Blutleer war sein Gesicht. Seine Augen quollen. „Sag mir die Wahrheit!" schrie er, „du sollst mir die Wahrheit sagen!"
„Es ist nicht die Wahrheit", antwortete Gerhard Träger, „es ist eine furchtbare Vergiftung, eine Lüge, die sie spricht. Es ist ein verruchtes Mittel, sich innerlich auch von dir zu lösen. Dern hat es ihr gegeben. Sie sagt, in der Familie deines Vaters sei jüdisches Blut, und nur dein Tod für die Bewegung könne die Schande..."
Mit einem Schrei hatte Hans den Arm des Offiziers losgelassen. Er raste den Abhang hinab. Wirr rannte er durch die Wiesen. Hinter ihm lief der Offizier. Er schwang einen Zettel. „Es stimmt ja nicht", schrie er, „ich habe doch... das Rassenamt... Hans..."
Aber Hans hörte ihn nicht. Er lief und lief. Er stürzte. Er kam wieder hoch. Er rannte nach der Mühle.
Der Offizier sah das Wehr. Mit eisiger Ruhe maß er die Distanz zwischen sich und dem Fliehenden. Er übersprang eine Hecke. In jähem Lauf schlug er einen Bogen. Er erreichte die Kreisstraße. Blitzschnell ließ er sich am Geländer der Brücke hinab. Bis zur Brust stieg ihm das Wasser. Er packte den Jungen, der ihm wütend in die Finger biss. Er riss ihn ans Ufer. Sie rangen in keuchendem Schweigen. Endlich hob er die Faust und schlug ihn zu Boden.
Lange hatte der Offizier neben dem Knaben gesessen. Er hielt seinen Kopf und strich ihm das Heu aus den Haaren.
Doch die Tränen wagte er nicht zu berühren.
war Sommer geworden. Ein heißer, brennender Juli lag über dem Land. Seit Wochen war kein Regen gefallen. Die Erde riss, und der Staub der Dürre trieb über die Felder.
Irene stand im Dachzimmer des Verwalterhauses. Das Fenster war offen. Eine trockene Hitze brütete in der Stube. Unten im Garten schwangen unablässig die Wasserzerstäuber.
Jenseits der Mauer sah sie Henrici durch die Gemüsekulturen gehen. Schwärme von Frauen und Kindern schleppten aus angefahrenen Trögen das Wasser zwischen die Beete.
Irene hatte das Bett ausgelegt und begann es zu überziehen. Die Stube war gescheuert, der Schrank entlüftet, und in den Fächern lag frisches Papier.
Irene beeilte sich. In wenigen Minuten musste Frau von Berg kommen. Sie wollten zusammen zu den Heidelberger Festspielen fahren. Vorher musste sie noch das Zimmer für den jungen Eleven einrichten. Vor vierzehn Tagen hatte ihn Vater engagiert, bevor er auf seine landwirtschaftliche Studienreise nach Holland gegangen war.
Irene glättete die Kissen. Sie ordnete das Geschirr auf dem Waschtisch. Recht kahl war die Stube. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Schrank. Ich werde ein paar Blumen hineinstellen, dachte Irene. Sie verließ das Zimmer. Im Garten schnitt sie von einer Wickenhecke einen Strauß Blüten. Der kleine Wagen der Frau von Berg rollte über den Hof. Irene erkannte die Hupe, ein heller Ton, fast wie ein Schrei.
„Annemarie", rief Irene. Sie packte den Strauß und lief zu dem Wagen.
„Natürlich noch nicht fertig", lächelte Frau von Berg, „um sechs Uhr sollen wir bei dem Intendanten zum Tee sein, und du spielst immer noch die Bauerndeern!"
Sie gingen die Freitreppe hinauf. „Herrliche Wicken hast du da", sagte Frau von Berg. „Die hab ich selbst gepflanzt", lachte Irene, „sie gefallen mir, weil sie so lustig wachsen." Sie legte den Strauß auf den Tisch in der Halle. Dann gingen sie nach oben in das Zimmer Irenes. Frau von Berg setzte sich aufs Bett. Irene entkleidete sich, zwang die Gummihaube über das Haar und lief nebenan ins Bad unter die Dusche. Durch die offene Tür sagte Frau von Berg: „Du kannst mir gratulieren, Irene, ich habe gestern mit Bringolf endgültig Schluss gemacht." „Bravo!" klang es aus dem Bad. „Er kämpfte zwar mit der unwürdigen Waffe der Tränen, aber ich war die Albernheit satt. Man soll
die Finger von schönen Männern lassen. So etwas Ödes!"
Gelangweilt nahm Frau von Berg ein Buch von dem Nachttisch.
Glanz und Elend der Kurtisanen, las sie auf dem goldgepressten Rücken.
„Wie findest du das", rief sie, „einfach groß, nicht wahr?"
Und bevor Irene antworten konnte, setzte sie hinzu: „Das waren noch Leidenschaften! Man sollte den Männern heute das Bändchen links und rechts um die Ohren hauen."
Durch den rauschenden Schleier des Wassers hörte sie Irene:
„Aber mir gefällt das gar nicht... ich meine, sich so völlig aufzugeben, das ist doch keine Liebe. Das ist doch einfach verrückt... Und dann noch sterben, nur weil so ein Junge am Geld und an anderen Frauen kaputt geht, das ist doch ungesund. Das ist ja eine Krankheit, Annemarie." Sie schüttelte sich. Hundertfach sprühten die Wasserperlen von der Bronze ihrer Haut. „Ich könnte das nie", lachte das Mädchen und warf das Frottiercape um, „puh, so einfach dahinsterben an einem Mann..."
Die beiden Frauen gingen durch die Kühle des Flurs. Unten in der Halle stand Fräulein Degerloch. Sie winkte geheimnisvoll.
„Was ist?" fragte Irene. Ein wenig pfiffig huschte das Fräulein die Treppe hinauf. „Der Eleve ist da", flüsterte es.
„Sonst nichts?" lachte Irene. Mit sicheren Schritten ging sie die Stufen hinab.
„Beeil dich", rief Frau von Berg, „ich tanke inzwischen."
Als Irene die Halle betrat, war niemand zu sehen. Auch der Jagdsaal war leer.
Sie ging nach der Garderobe zurück, wo die Degerloch sich mit dem Putzen der Messingstangen beschäftigte.
„Ich finde ihn nicht", sagte sie, „wohin haben Sie ihn denn versteckt, Ihren Eleven?" „In der Küche ist er", tuschelte das Fräulein, „seine Stiefel waren so schmutzig."
Sie stiegen klappernd die Metallstiegen nach dem Souterrain hinab. Eine mit Fettdunst gemischte Wärme schlug Irene entgegen. „Da ist also der junge Herr", sagte die Mamsell und öffnete die Tür.
In dem hellen, gekachelten Raum saß Hans. Vor seinen Füßen lag ein Rucksack aus grünem Segeltuch. Der Junge erhob sich. Er machte einige Schritte, dann stockte er.
„Fräulein Degerloch", rief Irene, „zeigen Sie dem Herrn Eleven sein Zimmer. Es ist alles gerichtet." Sie rannte die Wendeltreppe hoch. Sie kam in die Halle. „Nein, nein", schrie es in ihr, „das ist ja..." Da sah sie die Blumen.
Blau und rosa lagen die Wicken auf dem Tisch. Irene fasste den Strauß. Sie begann zu laufen. Sie rannte durch den westlichen Ausgang. Sie erreichte das Verwalterhaus.
„Hallo!" rief Frau von Berg an der Tankstelle.
Aber Irene hörte sie nicht. Sie polterte die Treppe hinauf. Sie riss den Rock bis ans Knie.
Mein Gott, dachte sie, bin ich verrückt?
Aber schon hatte sie die Tür aufgestoßen, das Glas auf dem Nachttisch gefasst und die Blumen in seine Rundung gezwängt.
Vom Hof drang die Hupe.
Irene sprang die Treppe hinunter.
Sie erreichte den Wagen. Sie warf sich aufs Polster.
„Was ist denn?" fragte Frau von Berg.
„Ach", seufzte Irene und schwieg.
Johann Kaspar war von seiner Reise in besonders glücklicher Stimmung zurückgekommen. Allein war er mit dem Wagen bis nach Amsterdam gefahren. Die drei Wochen in Holland waren ein erfreuliches Studium gewesen. Bepackt mit Plänen und neuen Kenntnissen traf er in Siebenwasser ein. „Der Ackerbau ist der Frieden", sagte er zu Schrader, „nicht vorzustellen, was wir aus unserem Land machen können, wenn wir einmal hundert Jahre Ruhe haben."
Der Oberbürgermeister hatte genickt. „Hundert Jahre Ruhe", hatte er gesagt, „welch ein Traum für die Deutschen."
Und er hatte Bäuerle sein neues Siedlungsprojekt vorgelegt. Nichts Geringeres sollte geschehen als der Abbruch jener muffigen Häuser, die sich im Schatten der alten Mauer befanden; Arbeiter und kleine Angestellte wohnten dort. Die engen Zimmer waren überfüllt. In die Höfe fiel keine Sonne. Die Keller waren vermodert. Überall wucherte der Schwamm.
Schrader wollte das ganze romantische Viertel niederreißen lassen, die Mauer schleifen und bis zur Bastion in eine Anlage verwandeln. Die Familien, die dort wohnten, sollten in eine moderne Siedlung ziehen, unten im Tal.
Es war ein alter Plan des Oberbürgermeisters, aber erst die amerikanische Anleihe brachte ihn der Verwirklichung nahe. Zunächst hatte er sich der Zustimmung des Magistrats vergewissert. Dann war er nach Frankfurt gefahren. Er beauftragte einen Architekten aus der Schule des Stadtrats May mit der Ausarbeitung der Modelle. Ende Juli wurden sie in der Halle des Rathauses ausgestellt. Unter dem Patronat von Schrader bildete sich ein Verein: Das neue Siebenwasser. Kalahne wurde Sekretär. Als die Handwerker die Modelle sahen, schüttelten sie die Köpfe. Da standen in Blocks weiße, würfelförmige Häuser, die Fronten aus durchlaufenden Fenstern, die Dächer flach. Kein Giebel, kein Erker, nicht einmal eine Wetterfahne war zu sehen. Aber sie schluckten ihre Bedenken, als sie die Höhe der Aufträge, die die Stadt zu vergeben hatte, vernahmen. Der Bau der Siedlung sollte noch in diesem Sommer beginnen, der erste Block bis zum Winter unter Dach sein.
Da erhob sich der erste Widerstand. Er kam vom Heimatverein, dessen Vorsitzender Rektor Allwohn war. In einem geharnischten Protestschreiben wurde dem Magistrat erklärt, dass die Niederlegung der ehrwürdigen Häuser an der Mauer einen Schlag in das Gesicht der heimatliebenden Bevölkerung bedeute. Eine Woche später griff in der Stadtverordnetenversammlung der Postsekretär Dern den Magistrat mit der Behauptung an, er wolle in Siebenwasser ein Denkmal der Negerkunst errichten. Kein deutscher Mann könne es mit seiner völkischen Würde vereinbaren, unter einem flachen Dach zu leben. Das sei jüdische Gleichmacherei, das sei eine marxistische Bauweise, Glaskästen für Untermenschen.
Ruhig hatte Schrader geantwortet. Die Modelle seien nach dem Plan entstanden, Licht und Sonne, Reinlichkeit und praktische Einteilung mit einem erschwinglichen Preis zu verbinden. Wenn das afrikanisch sei, dann sei er gern ein Neger, und wenn sich die völkische Würde nur unter einem Giebeldach erhalte, auch wenn der Schwamm das Haus verseuche, dann verzichte er auf diese Würde. Dern Heß nicht locker. Er rief eine Versammlung ein unter dem Titel: Das flache Dach — eine deutsche Kulturschande. Die Versammlung war überfüllt. Der Widerstand wuchs.
Die Billigung des Projekts hing von den Stadtverordneten ab. Zentrum und Sozialdemokraten hatten sich hinter Schrader gestellt, aber zur Mehrheitsbildung bedurfte es der Wirtschaftspartei, deren Vorsitzender der Bäckermeister Stählin war.
Hans war an jenem Abend früh in sein Zimmer gegangen. Henrici hatte ihm vorher noch rasch die Stallungen gezeigt, die Molkerei und das Pumpwerk, dann hatte er ihn mit dem Bescheid entlassen, er solle sich am nächsten Morgen wieder bei ihm melden. Lange hatte Hans auf dem Bett gelegen und zu schlafen versucht. Aber sobald sich sein Bewusstsein den Schatten zuzuneigen begann, riss ihn der Gedanke an Irene wieder ins Wache. Ruhig und gefestigt war er auf den Hof gekommen. Nach der Katastrophe im Odenwald hatte er viele Wochen bei Gerhard Träger gelebt. Unter der Obhut des Offiziers war langsam die schreckliche Lähmung, die ihn innerlich befallen hatte, gewichen. Die Abkehr der Mutter von ihm, der boshafte Verdacht Derns, das Attentat auf die Ehre seines Vaters hatten ihn, nach dem ersten Aufschrei, zunächst in ein untätiges Schweigen gestürzt. Aber in den späteren Wochen einer scharfen Selbstprüfung, eines rücksichtslosen Abschieds von allem, was sich mit dem Wort Kindheit verband, in den dunklen Stunden, wenn er noch wach lag und der ruhige Atem des Offiziers neben ihm die Nacht leise senkte und hob, in den Minuten jäh aufflammender Empörung über den Schimpf gegen seinen Vater, in der traurigen Verwirrung über die Anfälligkeit menschlicher Herzen zum Bösen und zum Gemeinen — in diesen Tagen wuchs in ihm mit unbeugsamer Schärfe der Gedanke, dass es sich nicht zieme, unter der Wucht eines privaten Schicksals zusammenzubrechen. Es ging um etwas Höheres in diesen Zeitläuften, in die er hineingeboren war, als um persönliches Glück, um persönliche Lebensgestaltung, um die Persönlichkeit überhaupt. Man durfte nicht, wie es Generationen vor ihm getan, die Welt aus dem Guckloch des Individuums betrachten, alle ihre Färbungen und Reizungen nur nach dem Widerschein auf der eigenen Haut bemessen, nein, man musste endlich aus diesem Käfig heraus, aus der Zwangsjacke des Individuellen, und vom Allgemeinen her das Einzelne, von der Gemeinschaft das Persönliche beurteilen. Was war aber dieses Allgemeine, diese Gemeinschaft? Es war das Volk, dem er angehörte durch Sprache und Blut. Vor ihm, vor seinem Gesetz, seiner Not, seinem Schicksal zerschmolz die private Sphäre zu einem schäbigen Rinnsal. Was bedeutete sein Leid vor dem Kalvarienberg, den dieses Volk seit tausend Jahren durchschritt? Was galt der Verlust seiner Kindheit vor den maßlosen Opfern, die dieses Volk seinem Traum vom Reich schon gebracht, diesem glückhaft-unseligen Traum, der, neu und alles überschattend, aus den Schützengräben gestiegen, gerade heute wieder die Jugend in seine berauschenden Kreise riss? Nächtelang hatte Hans mit dem Offizier über den Karten gesessen. Aus dem Gewirr der europäischen Staaten hatten sie den lebendigen Leib des deutschen Volkes herausgeschält. Neunzig Millionen Herzen schlugen in diesem Leib, gebunden und gefesselt lag er zwischen den Staaten, verblutet an den übermütigen Träumen der Staufer, zusammengestürzt in der Volkspest des Dreißigjährigen Krieges. Knapp und einfach waren die Worte des Offiziers. Er erzählte, wie schon vor dem Krieg in der Jugendbewegung die Sehnsucht nach dem heiligen Reich mächtig aufgelodert sei, wie sich diese Sehnsucht in den offenen Särgen der Gräben von Flandern gehärtet habe, und wie sie dann nach der Niederlage, nach dem Verrat, nach der Knebelung, nach der Unehre zu einer Flamme gewachsen sei, vor der jeder private Wunsch und Wille verlösche. Das Reich — das war die Gemeinschaft aller Deutschen, der große Tempel vom Südfuß der Alpen bis zum nördlichen Meer; das Reich, das war mehr als ein Staat, mehr als äußere Macht — es war die Erfüllung eines tausendjährigen Traums. Und dieser Traum von der endlichen Herrlichkeit brannte auch in den Augen des Offiziers. Er härtete die Blässe seines Gesichts. Er traf den Knaben mit der Gewalt einer überpersönlichen Botschaft. Bis zum frühen Morgen saß er über den Büchern. Er las mit dem Offizier die Predigten des Meisters Eckehart, er las Fichte, Lagarde, Möller van den Bruck und die Reden des Führers. Er erglühte in der Gewissheit, dass es seiner Generation vorbehalten sei, das kommende Reich zu bauen, den Schutt und Aberwitz der Geschichte abzutragen und Deutschland aus dem Verhängnis der inneren Fremdherrschaft zu lösen. Der Glaube des Knaben war echt. Er war die Rettung seiner Seele vor der Verfinsterung. Er war die Flucht in jenen Mythos, der Deutschland seit tausend Jahren durchzieht, eine zärtlich-jünglinghafte Melodie, der immer der Tod den Takt schlug, von der Suche nach dem Gral bis zum Tag von Langemarck.
Der Offizier nährte diesen Traum durch seine Liebe. Es waren verzauberte Tage. Gemeinsam fuhren sie in die Dörfer und organisierten die Jungstürme. Gemeinsam mit Jürgen Winkler entwarfen sie den Operationsplan für den Winter. Endlich sollte der Kampf in die Stadt getragen werden. Das flache Land war restlos erfasst. Der Offizier, nüchtern und sachlich in der Arbeit, ergab sich in den Stunden, die er mit Hans allein war, dennoch der Schwärmerei. Im verschwebenden Blau des Abends gingen sie oft hinauf nach der Fichtenschonung, von wo sich der Blick über das Land wölbte, weithin bis zum Schleier der Ebene. Ihre Worte waren von einer keuschen Gläubigkeit, wenn sie von Deutschland sprachen, von dem kommenden Reich der Ehre, der Güte und Würde, von jenen unseligen tausend Jahren, die aufgeräumt werden mussten, ausgestrichen, weggedacht. Und während die Verzückung noch ihre Augen bewegte, brach ein furchtbarer Hass in ihre Stimmen, gedachten sie ihrer Gegner. Das waren keine Gegner, das waren Reptilien. Siegfrieds Kampf gegen den Mammon — dafür stand heute der Liberalismus. Siegfrieds Kampf gegen den Drachen — dafür stand heute Frankreich. Siegfrieds Kampf gegen Alb und Troll — dafür stand der Marxismus, das Reich der Unterwelt, des Dunkels, der Verkrüppelten, der Schlechtweggekommenen, der neidischen Seelen.
Diese Abende, erfüllt von träumerischer Güte und bewusstem Hass, hatten Hans immer mehr von allen Zweifeln gelöst. Es war eine Erleuchtung, wie er glaubte, ein österlicher Strahl, der ihn durchdrang. Deutschland war alles, es gab nichts ohne es. Der Offizier jedoch, erschüttert von dem Aufbruch des Glaubens, vergaß nicht die Realität. Immer wieder zwang er Hans zu dem Gedanken, dass nur durch Kleinarbeit, nur durch eiserne, blinde Disziplin, nur durch völlige Unterwerfung unter den Willen des Führers die gewaltige Aufgabe gelänge. Dabei verhehlte er nicht, dass die Bauern mehr an die Beseitigung der Steuern dachten als an das tausendjährige Reich, dass in der Bewegung eine breite Schicht rachsüchtiger Kleinbürger sich eingefilzt hatte und dass hinter dem Kampf um Ehre und Würde sich gar oft die Hoffnung der Unternehmer auf die Zerschlagung der Tarifverträge verstecke. Man war kein Narr. Man war auch nicht mehr achtzehn Jahre alt. Man wusste, diese Generation von 1880 bis 1900 musste abgehalftert werden. Sie musste sich im Kampf erschöpfen. Ihre Instinkte reichten nicht aus für das Neue, höchstens bis zur Eroberung der Macht. Und diese galt es mit allen Mitteln zu erringen, durch Kampf jeder Art, durch Tücke, durch Verrat, durch jedes Gift, das nur greifbar war. Denn ohne die Macht blieb das Reich nur ein Traum. Ohne die Macht war es ein schaler Traum, der nicht stand hielt. Mit der Macht aber war es ein Traum, den niemand mehr hindern konnte, dass er Wirklichkeit werde. Und er sollte Wirklichkeit werden. Diese Jugend sollte ihn von den Himmeln herunterreißen auf die kampfmüde Erde. Und derweil die Alten sich ihre Wunden wuschen, sollte sie einziehen mit Gesang in das neue Reich. Frei vom paulinischen Gift, prachtvoll irdisch, ein unverwüstliches Ja auf den Lippen, heiter in ihrer Stärke, grausam gegen das Schwache, ohne den Staub einer Elendsmoral, unvergiftet durch die Wunden des Juden am Kreuz. Hellas in Deutschland! So sah er Hans. So sah er sie alle, die Scharen von Knaben. Ein Frühlingsgewitter über der verlotterten Welt.
Es war Ende Juni gewesen, als Gerhard Träger nach München gerufen wurde. Als er zurückkam, strahlte sein Gesicht. „Ganz Westfalen soll ich organisieren", rief er. Aber als er Hans' Blässe bemerkte, hielt eiserne Freude zurück. „Ich fahre nicht ab, bevor ich weiß, wo du bist", hatte er gesagt. Doch Hans war unruhig neben ihm hergegangen. „Es ist ja nicht das", hatte er geantwortet, „es ist ja nur, dass du dann nicht mehr da bist." Am Abend noch waren Jürgen Winkler, Hungrich und Dern gekommen. Hans empfand, als er Dem sah, keinen Hass und keine Trauer. Alles, was ihn persönlich berührte, war vergangen, gründlich erledigt. Für ihn war Dem ein Pg., ein Soldat für das kommende Deutschland wie er. Nur Gerhard stand über diesen Gedanken. Ihn liebte er über Deutschland hinaus. Er war Mentor seines Lebens, Hüter seines Wegs, Vater und Freund und Geliebter zugleich. Die Leitung der SA. wurde Hungrich übergeben. Der Offizier tat das ohne Freude. Er kannte den sauren Hass dieses halbgebildeten Geometers, und mochte er hundertmal „Deutschland erwache" brüllen, er meinte ja doch nur sich selbst. Aber er war einer der ersten in der Partei, und Dem stützte ihn. Dennoch verlangte der Offizier, dass Jürgen die Leitung des Siebenwassersturms erhalte und dass ihm niemand in seinen Kampf und in seine Diskussion mit den Arbeitern hineinzureden habe. Drei Tage dauerte die Übergabe. Dann war Kalahne gekommen. Lange saßen sie zusammen, der Offizier und der Doktor. Sie sprachen über Dem und Hungrich, über die Versammlungswelle für den Winter und über den Zeitpunkt, wann sich Kalahne öffentlich bekennen solle. Der Doktor setzte den Termin für den Sommer des nächsten Jahres fest. „Wir stehen vor großen Erschütterungen", sagte er, „das Eis kracht. Der ganze Konjunkturschwindel ist bedenklich im Schwanken. Dann geht es los auf die Bürger. Dann bin ich da." Und zwei Tage später war er wiedergekommen und hatte die Stelle für Hans auf dem Gut. Frau von Berg hatte sich bei dem merkwürdigen Amerikaner verwendet. Ohne Hans zu sehen, hatte er sein Einverständnis gegeben. So war auch diese Frage gelöst. Dann war der Abschied gekommen. Eine Nacht voll ängstlicher Zärtlichkeit, ein zitterndes Leib-an-Leib und die flüsternde Stimme des Offiziers: „Bub... Bub..., dass du mir nur nicht irre wirst..." Und Hans hatte diese hagere Hand genommen, und er hatte seine Backen an diese schmalen Schläfen gelegt. „Nie", hatte er geantwortet, als der Morgen kam. Und der Offizier war gegangen. Uber den Bahnsteig war er gegangen, und Hans trug das Köfferchen neben ihm her. Und er hatte hinter dem Fenster gesessen, und Hans hatte wortlos davor gestanden, und der Offizier hatte ihn schweigend betrachtet, und seine Lippen waren ganz schmal. Doch als die Bremsen sich lösten und die Wagen in leise Bewegung gerieten, da hatte er gegrüßt mit seiner schmalen Hand, ernst und gut, der Offizier zu dem Knaben, der die Tränen zerbiss.
Hans sprang auf. Das Zimmer war erfüllt von dem dünnen, schleichenden Licht des Mondes. Er trat zum Fenster. Hochreif war die Nacht. Uber den Ställen glänzte das Dach. Vom Wald her wehte der Wind. Der Junge atmete tief. Da war sie wieder, die
Unruhe, dieses nagende Geräusch unter dem Herzen, der Wurm der Angst. Was war nur geschehen? Das Mädchen... Was ging ihn das Mädchen an? Deutschland ging ihn etwas an und nicht das Mädchen. Wie sie mit dem Fuß gestockt hatte auf der letzten Stiege. Hatte sie ihn erkannt? Wie sie weggelaufen war... Aber diese Sekunde ihrer Augen... das war geblieben trotz ihrer schnellen Füße... Hans ging zu seinem Koffer. In der linken Ecke stand eine kleine Kassette. Sie hatte Vater gehört. Die Mutter hatte sie ihm mit der Wäsche geschickt. Er stellte die Zahl auf das Stichwort ein. Platon hieß es. Wie war er nur darauf gekommen? Immer lief das Wort hinter ihm her. Der Deckel schlug hoch, und Hans nahm die Briefe. Es war einfaches Papier, kleingeschnittene Aktenbogen, auf denen Gerhard ihm stets geschrieben hatte. Wie schmucklos und ohne Schnörkel die Schrift war. Achtzehn Briefe waren es. Alle bis auf einen aus seiner Hanauer Zeit. Und dieser eine war heute gekommen. Das Fräulein Degerloch hatte ihn beim Nachtessen neben seinen Teller gelegt. „Aus Münster", hatte sie gesagt, und dort habe sie eine Tante in einem Stift. Mit nacktem Oberkörper kniete Hans vor dem Koffer. Er hielt den Brief in das weiche Licht. Deutlich hoben sich die Buchstaben von dem gelben Papier. Das dünne Geäder der Worte spannte sich vor seinem Auge. Leise ging er ans Fenster. Er stellte sich auf die Bank. Spitz fiel sein Schatten über das Dach.
„Ich schreibe Dir in einer abgesparten Minute. Dies ist ein schwieriger Gau. Die Macht der Pfaffen ist von einer unheimlichen Stärke. Sie hocken in den Seelen... aber davon ein anderes Mal. Heute will ich Dir nur sagen: Mache Dir keine Gedanken um den christlichen Gott Deiner Jugend. Es ist mir unterwegs eingefallen, dass Dich das vielleicht einmal in Konflikte bringt, und ich bin nicht da. Nun, dieser Gott ist bei Verdun gefallen. Versteh das, dort wurden alle seine Gebote in Fetzen geschossen. Er hat sich ja immer nur an den einzelnen gewandt, und der ist damals gestorben. Radikal, sag ich Dir. Aber aus den Schützengräben, aus den grauenvollen Stahlgewittern, da das Ich erstarb, aus der Vernichtung alles Persönlichen ist eine neue Religion entstanden. Der heilige Glaube an die Rasse und an die Suprematie der Gemeinschaft. Ihm dienen wir. Lass die Toten ihre toten Götter begraben!" Hans hob den Kopf. Seine Hand strich vorsichtig über das Papier. Dann las er weiter: „... und noch etwas. Du sollst Dir keine Skrupel über die Männerliebe machen. In allen starken Zeiten war sie das Vorrecht der Besten. Ich kann mir denken, dass Dich das quält, was zwischen uns ist. Es gibt auch in der Partei Einfaltspinsel, die darüber moralisch aufstoßen. Sie verstehen uns nicht. Kümmere Dich nicht um sie. Denn unsere Liebe beruht nicht wie die Liebe zum Weib auf dem Instinkt zur Erhaltung der Art — was sicher notwendig ist —, sie wächst aus der freien geistigen Gemeinschaft zwischen Jüngling und Mann, aus der Auswahl, aus der Überwindung der natürlichen Polarität. Verstehe das, ich will nicht das Weib schmähen, aber so notwendig es auch ist, es bleibt zweckgebunden, und das ist das Beleidigende. Unsere Liebe ist, gerade in ihrer Zwecklosigkeit gegenüber der Natur, frei von deren dumpfen Gesetzen. Sie ziemt jenen wenigen, die sich nicht in der Zeugung, sondern in der Herrschaft vollenden."
Hier brach der Brief ab. „Muss fort...", stand darunter. Und dann wie zum Scherz quer an die Seite gekritzelt: „Dass Du mir nicht nach Mädchen riechst, wenn ich zurückkomme!"
Hans hielt das Papier. Lange saß er ohne Gedanken. Die Nachtluft kühlte seine Haut. Er hob die Beine auf den Stuhl und umfasste sie mit den Händen.
Pünktlich um fünf Uhr hatte sich Hans bei Henrici gemeldet. Es war ein Morgen von einer stahlblauen Frische. An dem Brunnen, wo die Knechte das Wasser für die Tiere holten, klirrten die Eimer. Aus den Ställen drang der Dunst des überwundenen Schlafs. Schlohweiß stieg der Rauch aus den Kaminen. Henrici saß an einem langen, hölzernen Tisch neben dem Stall. Aus breiten, buchtigen Kannen gossen die Mägde Kaffee in die Tassen. Auf einem Teller, der in der Mitte stand, lag Brot. „Nehmen Sie", sagte Henrici und tauchte das Messer in einen Napf mit weißem Fett. Hans aß. Die heiße Kaffeebrühe vertrieb die Kühle aus den Gliedern. Das Brot war schrotig und fest. „Schmeckt's?" fragte Henrici. Hans nickte. Und während schon die Pferde an die Wagen geschirrt wurden, die Knechte die Mähmaschine aus der Halle schoben, die Mägde die Blechtassen von dem Tische räumten, bohrte sich in das Gestampf der Tiere, das Gerassel der Geräte und das Lachen und Fluchen der Menschen ein heller spitzer Ton. Durch das weitgeöffnete Tor rollte ein Auto. Wenige Meter von dem Tisch hielt es an. Henrici war aufgesprungen und zu dem Wagen gegangen, aber bevor er noch zur Rede kam, war die Tür zum Herrenhaus aufgeflogen, und mit wehender Schürze und flatterndem Häubchen war Fräulein Degerloch die Freitreppe herunter gesaust. Kreischend war ihre Stimme, die Tauben vor dem Stall flogen hoch, und die Tiere wurden unruhig vor den Wagen. „Irene, Fräulein Irene", schrie sie und breitete die Arme aus, als wolle sie fliegen, „ach, Fräulein Irene..." Das Mädchen hatte den Wagen verlassen und ließ es geschehen, dass sich das Fräulein um seinen Hals warf.
Lächelnd stand Frau von Berg neben der Gruppe. „Aber was ist denn nur? Aber was haben Sie denn?" fragte sie und zupfte Fräulein Degerloch am Arm. Ein Schluchzen war die Antwort. Henrici winkte den Mägden. „Auf!" rief er, und der neugierige Schwarm bestieg die Wagen. Und während die Gespanne das Tor erreichten und die Pferde ihre Eisen in den taufeuchten Basaltschotter schlugen, während über dem Wald die Sonne den violetten Schleier des Morgens durchbrach und das Licht jetzt mit Wärme und funkelnder Fülle sich über den Hof ergoss und die Gräser und Sträucher im Garten, die zackigen Blätter der Platanen neben dem Tor und die hellweiße Front des Hauses zu leuchten begannen und vom Tal her, von den Hügeln, von den Äckern und Wiesen, von den Weinbergen und sogar aus dem Wald die ersten Takte menschlicher Arbeit erklangen — hob das Fräulein sein verweintes Gesicht und sagte, schmerzlich lächelnd das Haar des Mädchens berührend: „Ich hatte so Angst um Sie. Wo waren Sie denn die ganze Nacht?" „Im Sommernachtstraum", hatte Hans noch gehört, aber da hatte ihn der Verwalter schon angeschuppst. „Was starren Sie so? Los!" und sie waren hinter den Wagen her hinausgegangen auf das Feld, wo die Arbeit sie aufnahm.
Bis zum Mittag hatte Hans auf den Tomatenäckern gestanden. Ein Schwarm von Frauen und Taglöhnern wimmelte zwischen den Sträuchern. Sie sammelten die Früchte in breite Körbe, sie stapelten sie auf den Wagen. Zusammen mit einem Knecht fuhr sie Hans auf den Hof. Dort wurden sie gewogen und die Körbe mit Nummern versehen. Hans trug die Gewichte in ein blaues Buch, dann zottelte er mit dem kleinen Gaul wieder nach den Äckern zurück. Und wenn so der Wagen zwischen den Furchen dahin schaukelte und der Knecht blöd in die Hitze döste, da war immer dieser Gedanke in ihm: „So ein Theater dauert doch nicht bis morgens um fünf. Das ist doch unmöglich, so lange..." Er zwang sich zu einem Gespräch mit dem Knecht. Aber der fing auch gleich mit Irene an. „Die von Berg hat's hinter den Ohren", grinste er, „brauchst nur zu schütteln, und die Quetsch fällt herunter. Vorsehen soll sich das Fräulein. Ist kein Umgang für ein jung Blut."
„Was geht das mich an", lachte Hans, ganz laut lachte er, schallend und lang, bis der Knecht meinte, was es denn so Lustiges gäbe.
Wenige Minuten vor zwölf traf Hans den Verwalter im Stall. Er war in Begleitung eines Mannes, der einen weißen Kittel trug. Hans erkannte den Tierarzt Brettl, ein altes Mitglied der Partei. Hans hob die Hand zum Gruß, aber der Tierarzt bemühte sich um eine Kuh und sah nicht hin. Als sie den Stall verließen, sagte er zu Henrici: „In drei Tagen wahrscheinlich... man wird ja sehen." Er setzte sich in seinen kleinen Opel und fuhr davon, ohne Hans zu grüßen. Henrici nahm das Buch und prüfte die Eintragungen. „Ganz ordentlich", sagte er, „aber hören Sie, warum heben Sie den Arm hoch, wenn Sie einen Tierarzt sehen?" Und dann setzte er bissig hinzu: „Solche Indianermätzchen müssen Sie sich hier oben abgewöhnen. Sie haben es hier mit ernsten, ausgewachsenen Männern zu tun. Und so, jetzt gehen Sie sich waschen. Fräulein Irene erwartet uns in zehn Minuten zum Essen."
Der Tisch war in der Halle gedeckt. Als Hans eintrat, hatten Irene und der Verwalter schon Platz genommen. Hans verbeugte sich. „Also, das ist der Eleve", sagte Henrici.
Irene sah ihn an. Ruhig und gleichmäßig war ihr Auge. „Ich glaube, wir kennen uns", sagte sie und gab ihm die Hand. „Hier ist Ihr Platz."
Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Hans setzte sich. Es wurde eine kalte Obstsuppe aufgetragen.
Henrici fragte: „Und nach dem Theater, da ging alles in den ,Europäischen Hof?"
„Ja", antwortete Irene, „es war herrlich, nach diesem berauschenden Spiel im Freien zu tanzen. Und alle die vielen Menschen, die ich noch nicht kannte. Ach, ich habe die Namen vergessen. Aber bis aus Berlin waren sie gekommen. Frau von Berg kennt so viele Leute. Von den Zeitungen und vom Theater. Zuerst kam ich mir schrecklich dumm vor bei so viel Gescheitheit. Aber nachher beim Tanzen da wurde mir leicht..."
„Das arme Fräulein Degerloch", lachte der Verwalter, „dreimal in der Nacht hat sie mich geweckt und gefragt, ob man nicht lieber bei der Polizei anrufen solle."
„Ach", antwortete Irene, „ich wollte ja um zwölf Uhr schon heim, aber da haben mich alle festgehalten und gerufen, das gäbe es nicht. Und nachher war ich auch froh, dass ich blieb. Frau von Berg hat mir nämlich einen jungen Schriftsteller vorgestellt. Er schreibt Novellen und Romane, und alle sagen, er hätte eine ganz große Zukunft. Und denken Sie, Henrici, bis zum Morgen hat er mit mir auf der Terrasse gesessen und hat mir erzählt vom Krieg hier in Europa. Schrecklich war das, was er von den Kindern sagte, wie sie aufwuchsen ohne Väter, und alle Gesetze seien durcheinander gewesen, besonders die inneren. Und der Tod, der sei durchs Volk gegangen, und man hätte an nichts anderes mehr gedacht, als am Leben zu bleiben... Ich konnte gar nicht aufhören zu fragen, so erschütternd war das, so traurig, so sinnlos. Und am Schluss, denken Sie, als ich ihn fragte, was man denn machen müsse, dass so etwas nicht wieder käme, da hat er mitten auf der schönen Terrasse geantwortet, das einzige Mittel sei der Kommunismus, und als ich erschrak und ihn fragte, wie er so etwas Schlimmes sagen könne, da meinte er, solange nicht in der ganzen Welt eine neue Ordnung sei, gäbe es keine Ruhe unter den Völkern. Dabei hat er gar nicht geschimpft, sondern sehr höflich gesprochen, als wäre das eine Wissenschaft, die er da triebe. Er kommt vielleicht her. Frau von Berg hat ihn eingeladen." Schweigend hatte Hans über seinem Teller gesessen. Er hatte sich bemüht, kein Wort zu verstehen. „Was geht mich das an", hatte er innerlich vor sich her gesagt. Aber er verstand jedes Wort nur zu genau. Und jetzt spürte er, wie Henrici ihn ansah, und er hörte ihn sagen: „Feine Bekanntschaften machen Sie, Fräulein Irene. So, so, Kommunist ist er, und er meint, das ginge nicht mehr so weiter in der Welt, und es ginge dem Ende zu, wenn es so weiter ginge. Das war ein gefährlicher Sommernachtstraum, muss ich sagen. Und heraufkommen will er. Soll sich aber vorsehen... ist verdammt mulmig hier oben." Da hatte Irene gelacht. „Aber was denken Sie denn?" „Unser junger Freund da", hatte der Verwalter geantwortet, „wird dann sofort zum Gewehrschrank stürzen und Ihren Untermenschen abschießen. Bums... Pardauz... da liegt er." Hans sah auf. Henrici grinste ihm ins Gesicht. Spöttisch sah ihn Irene an. Hans wollte aufstehen und wegrennen, allzu deutlich war des Verwalters Provokation. Aber er hielt sich zurück, um nicht feige zu scheinen. Er zwang seine Stimme zur Ruhe und sagte: „Der Herr Verwalter hat einen Scherz gemacht." „Der Herr Verwalter hat keinen Scherz gemacht", brüllte plötzlich Henrici, und alles Lachen war von seinem Gesicht, „oder wollen Sie vielleicht leugnen, dass ihr jeden Gegner als Untermenschen verschreit und ihn erledigt, wo ihr nur könnt?" „Aber was haben Sie denn?" rief Irene. „Und dass euer Vegetarianer da in München, der ein verkappter Menschenfresser ist, nur auf den Tag wartet, wo er das Hackbeil schwingen kann? He? Und wenn's Judenblut vom Messer spritzt und 's Kommunistenhirn an den Kellermauern klebt, geht's noch einmal so gut... Wie?"
Hans war aufgesprungen. Das Blut hämmerte in seinem Kopf. Er biss sich auf die Zunge. Ruhe! dachte er, Ruhe!
„Aber was ist nur? Ich verstehe das nicht..." Irene saß starr auf dem Stuhl. Vergeblich suchten ihre Augen nach einem Halt.
„Na, da bleibt Ihnen die Sprache weg, Sie Indianer!" Henrici stand vor Hans. Hochrot war sein Gesicht. „Seien Sie doch ehrlich!" schrie er und trommelte auf die Tischplatte.
Vor Hans flimmerte der Raum. Schließlich fing sich sein Bewusstsein.
„Sie zwingen mich durch Ihr rabiates Benehmen zu einer Erklärung, die mit meinem Aufenthalt hier nichts zu tun hat. Mögen Sie es denn hören." Hans hielt einen Atemzug inne, dann fuhr er fort: „Ein Mensch, der sich zum Kommunismus bekennt, steht für uns außerhalb des Gesetzes. Jawohl! Wer das Vaterland so mit Füßen tritt, wer sich damit brüstet, dass er keines habe, der richtet sich selbst. Der ist tot, bevor er stirbt."
Er hatte das mit jeder nur möglichen Ruhe gesagt. Aber da schrie der Verwalter schon wieder auf ihn ein.
„Das Vaterland... Wem gehört denn das Vaterland?" schrie er.
„Den Deutschen", antwortete Hans ruhig und ohne Zögern.
Da lachte der Verwalter los. Es war ein hartes, schallendes Lachen. „Ach Sie", lachte er, „Sie Kindskopf, Sie... Sie Meerwunder", und er trommelte mit beiden Händen auf den Tisch.
Irene war aufgestanden. Sie ging zu Hans. Leise sagte sie: „Bitte, seien Sie ruhig", und zu Henrici gewandt: „Warum sind Sie denn so hässlich zu ihm?" Der Verwalter hatte sich gesetzt. Er wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. „Ich weiß nicht", sagte er, „aber wenn ich einen von diesen Burschen sehe, wird mir immer rot vor den Augen." Mit einem scharfen Schluck trank er sein Weinglas leer. Wortlos stand Irene vor Hans. Im Hof läutete die Glocke zur Arbeit. Aus der Küche kam Fräulein Degerloch mit einer Kanne duftenden Kaffees. „So", sagte sie und stellte das Tablett schmunzelnd auf den Tisch, „jetzt beginnen die schönsten fünf Minuten." Dann aber, als alle schwiegen und von ihr wegsahen, stemmte sie die kurzen rötlichen Arme in die weichgepolsterten Hüften und sagte zu Hans: „Junger Mann", sagte sie, „Sie machen ja ein Gesicht, als wollten Sie die Pfalz vergiften..."
Auf seinem Zimmer begann Hans sofort die Koffer zu packen. Es war ihm klar, dass er keinen Tag länger auf dem Gut bleiben konnte. Dieser Henrici war ein übler Provokateur, und Irene ließ sich von einem Buchschreiber imponieren, der sich noch dazu brüstete, ein Kommunist zu sein. Natürlich, das ist was Besonderes. Aber für Deutschland zu kämpfen, nur an Deutschland zu denken, das ist unfein! Und die Schmach dieses Schandfriedens auslöschen, wenn es sein muss durch Blut, und dann das Reich bauen — das klingt gar nicht modern. Moskau, das ist modern. Wütend warf er die Wäsche in die Koffer. Er riss die Wicken aus dem Glas und schmiss sie in die Dachrinne. Nur fort! Einerlei wohin. Er zählte sein Geld. Achtzehn Mark. Sollte er zu Jürgen gehen? Zu Kalahne? Oder gar zur Mutter? Er setzte sich. Wenn ich nur schon fort wäre, dachte er. Unten im Hof wurde sein Name gerufen. Er ging ans Fenster. Da stand, breit in der Sonne, Henrici. „Machen Sie keine Faxen", rief er, „kommen Sie 'runter!" Hans schmiss das Fenster zu. „Also komm ich 'rauf", hörte er den Verwalter. Und schon tapsten seine Schritte die enge Stiege hoch. Hans warf die Koffer zu. Er stellte sich mit dem Rücken zur Tür. Henrici stand im Zimmer. „So... also man packt schon... läuft weg wie eine Jungfer, der der Herr einmal unter den Rock gegriffen hat. Allerhand Mut nenn ich das." Er ging zu Hans und packte ihn an der Schulter. „He, Sie junger, deutscher Mann, machen Sie keine Dummheiten. Sie können natürlich sofort gehen... lasse Ihnen noch die Koffer abfahren, aber machen Sie keine Dummheiten... verstanden?" Er hieb sich mit einer Gerte auf die Gamaschen. Dann schritt er im Zimmer auf und ab. „Aber, Mensch, ich weiß doch Bescheid über Sie. Meinen wohl, ich lasse mir da einen Eleven vorbinden wie ein weißes Tuch? He? Aber das ist alles nicht so tragisch... verstanden? Habe die Nacht über kaum geschlafen wegen dieser blöden, gestopften Gans, der Degerloch, alle Stunde kam sie heulend zu mir und jammerte nach dem Fräulein... und da hab ich mir halt mal den Kirsch hergenommen, nach einer halben Flasche hört man so ein Weib nicht mehr... also, das ist doch menschlich, nicht wahr? Sie Indianer!" Er blieb vor Hans stehen, der ihm den Rücken zeigte.
„Ich kann halt nix dafür, wenn ich mich immer aufrege, hebt einer so das Händchen. Gewöhnlich schluck ich's herunter, aber heute ist mir einmal der Papierkragen geplatzt. Also, damit Sie es wissen, ich gehe leicht hoch, wenn ich etwas aus dieser Windrichtung merke, von dem vegetarischen Heiland in München... sachte, sachte, Junge, nicht gleich schlagen! Ich will ja Frieden machen mit dir... glaub, was du willst, meinetwegen an all die braunen Indianer. Aber lass das Händchen schön unten, auch wenn du einen Tierarzt siehst. Ich lauf ja auch nicht über den Hof und brüll Heil Moskau! vor jedem Ochsenschwanz, obwohl mir das vernünftiger klingt, weil ich mir dabei wenigstens etwas denken kann. Aber das geht Sie nichts an, wenn mir der Fünfjahresplan besser gefällt als euer Indianertum. Bin halt in der Welt gewesen und kenn das Elend. Heil Indien, Heil Kanada — das hilft gar nichts, mein Lieber. Deswegen hüpft kein Fisch freiwillig aus dem Wasser. Mit so einem Vaterlandsrummel lässt sich
gar nichts ändern, das bläst eine Weile durch die Straßen, tschinderada bumm, dann ist's aus, und die Menschen glotzen sich an."
Mit einem scharfen Griff zwang er Hans auf den Stuhl.
„So, jetzt sehen Sie mich einmal an. Jetzt lassen Sie einmal einen Untermenschen etwas sagen. Also, Vater tot — Mutter futsch — Freund weg. Stimmt's? Gut, aber was nun? Auf und davon? Ins Vaterland? Ist schon mancher krepiert daran! Leben muss der Knabe. Hübsch ist er auch. Also muss er doppelt leben. Will er das? Oder ist ihm das zu materialistisch, zu untermenschlich? He? Wenn er das will, bleibt er hier... lässt das Händchen fein säuberlich in der Tasche... tut seine Arbeit... und der böse Henrici lässt ihm dafür seinen Vegetarianer in Ruh. Gemacht?"
Hans sah hoch. Der Verwalter lächelte ihn an. Er wippte sich in den Knien und sang:
„Vater, Mutter, Elternhaus,
Dreimal guckt der Tod heraus,
Eia, du armselig Kind..."
„Das ist ein Schwarzwälder Lied, Junge. Hab's oft gesungen, im Konzentrationslager auf der Insel Man und nachher im teuren Vaterland, ha, Vaterland, wo sie mir das letzte Stücklein noch abnahmen in der heiligen Inflation, das gute Vaterland, die teure Heimaterde, eia, du armselig Kind..." Er spuckte aus. Er lachte nicht mehr. „Hab's oft gesungen, so über Land, drunten im Rheingau, wo der heilige Schwerenot sich Häuschen baute, der Herr Generaldirektor, weißt du, der den Ruhrkrieg gewann. Hab's oft gesungen, im Regen, auf dem Rad:
Nasse Strümpf der Bettelmann,
Sieh dir aber den Krupp mal an,
Eia, du glücklich Kind...
Und so kam es denn, husch, husch, in meine Seele, das böse Gift.
Dort ist des Mannes Vaterland,
Wo er wirken kann mit freier Hand.
Dort ist des Mannes Qual,
Wo ihn betrügt das Kapital..."
„Sind Sie betrunken?" fragte Hans. „Wahrscheinlich", lachte Henrici, „das kommt bei mir alle drei Monate einmal vor, und diesmal hatten Sie das Pech!" Er knickte in die Knie und hatte ein gutes Gesicht. „Also bleib da", sagte er zu dem Knaben, „das Fräulein Irene will's auch, und ich soll's Ihnen sagen."
Hans zuckte die Schulter. „Na ja", sagte Henrici, „wer wird denn so sein." Dann strich er Hans über die Haare, ging zur Tür und säuselte vor sich hin:
„Vater, Mutter, Elternhaus,
Dreimal guckt der Tod heraus.
Hitler, Krupp ist einerlei,
Und die Kirch' ist auch dabei.
Eia, du armselig Kind..."
Hans stand starr im Zimmer. Der Verwalter war offensichtlich betrunken. Ein armer Teufel, gewiss, dem das Schicksal alles aus der Hand geschlagen hatte. Aber was war das für eine Generation! Wütete gegen das Vaterland, weil ihre Bankkonten in der Notzeit eingeschmolzen waren. Aber war es nicht herrlich, das Vaterland zu lieben, gerade weil man nichts mehr hatte? Weil das Vaterland der einzige Besitz noch war? Ja, aus der Armut kommt das Reich, aus dem Nichtshaben kommt der Glauben. Hunger macht stark, wenn er weiß, was er will. Erst müssen unsere Herzen satt sein, dachte Hans, was liegt an dem Magen? Ein Ruf schreckte ihn auf. „Herr Diefenbach", rief es von unten. Er beugte sich aus dem Fenster. „Sie Gallenschnut", lachte Fräulein Degerloch, „dalli, dalli, unser Fräulein wartet auf Sie." „Wo?" rief Hans.
„Im Garte, hinnerm Gewächshaus, wo's Brunnekresse hat... Sie chaiber Kerle, würde mein Schwager sage, der wo in Zürich e Delikateßgeschäft hat." Sie wandte sich um. Hans lief über den Hof und verschwand im Garten.
„Damit ihr es wisset", sagte Fräulein Degerloch zu den pickenden Hühnern, „der hat sei Sach noch wie vor dem Krieg. Der is en Vernünftiger, mei Schwager, neutral is er, ihr Hinkel, ihr blödsinnigen Sakramenter."
Unter dem hellen Dach der Bäume war Hans nach dem Gewächshaus gelaufen. Es lag weit hinten im
Garten, von allen Seiten dem Licht preisgegeben. In der Glasfront fing sich die Sonne zu einem grellen Signal. Weiß und blendend schnitt der eingefangene und verstärkte Strahl durch die Hecken und das reglose Laub.
Hans blieb vor der Tür des Gewächshauses stehen. Ein paar Stufen aus festgetretenem Lehm führten nach unten. Ein trockener Geruch aus Erde, Blütenstaub und verdunstetem Wasser schlug ihm entgegen. Hans bewegte sich nicht. Wenige Meter vor ihm, an einem kleinen eisernen Tisch, stand Irene. Sie hatte die Arme gehoben, um von einem Regal ein grünes, merkwürdig geformtes Gewächs herunterzunehmen. Es stak in einem Topf, eine bizarre, fleischige Wucherung mit spitzen, aufragenden Dornen. Hans hatte sich nie um Blumen gekümmert. Das war ein Weiberspaß, eine kleine, freundliche Närrischkeit unernster Stunden. Jetzt aber, hier im eingefangenen Licht der Sonne, sah er das Mädchen sich vorsichtig über das traumartige Gewächs beugen und durch die gewölbten Hände eine scharlachrote Blüte mit dem Atem berühren. Er stand vor diesem Bild, schweigend, ohne Bewegung. Fünf Schritte trennten ihn nur von Irene, aber dieser Abstand dünkte ihm von einer gefährlichen Tiefe. Er vergaß Henrici. Er vergaß seinen trotzigen Entschluss, das Gut zu verlassen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er sah nur diese Blüte und das Mädchen vor ihr. Er sah nur diese braunglänzenden Arme, den weichen Ansatz des Nackens, die dunkle Wucht des Haares über der mattweißen Stirn. Er wusste, dass sie ihn spürte. Sie drehte sich um. Jetzt blickte sie ihn an. Hinter ihr sprühte das Licht in den Fenstern. Ihre linke Hand hielt die Blüte umfasst, als wollte sie sie schützen. Groß und dunkel waren ihre Augen, suchend und mit der Furcht der Schönheit begnadet. Jetzt musste er sprechen. Aber seine Zunge war trocken und hart, und sein Atem riss sich am Gaumen. Jetzt, das fühlte er, war wieder das Staunen zwischen ihnen wie damals auf der Straße nach Erlenbach. Er senkte den Kopf. Er wollte sie nicht sehen. Wie oft hatte er dieses Gesicht weggezwungen aus seinen Gedanken, wie oft hatte ihn der Traum übermannt, die Lust nach diesen Lippen, nach diesen Haaren, nach dieser Hand, die jetzt schützend die Blüte umspannte. Und wie er auf den Boden starrte, da sah er sie doch. Und wie er durch das Fenster hindurch auf die sich nach Süden hin stufenden Reben sah, da stand sie mitten im Wingert. Er riss den Kopf zurück. Er sah sie an. Er wusste, jetzt war er verloren. Irene hatte die Hand von der Blüte gezogen. Sie hielt sich am Tisch, auf dem braun und feucht die Erde schimmerte. Ihr Kopf neigte sich, als sie sprach. Ganz weit klangen die Worte. Als kämen sie von jenseits der Mauer, aus einem Traum, weit hinter dem Licht.
„Ich wollte Sie um Entschuldigung bitten. Ich wusste nicht, dass Sie das verletzen könnte, was ich heute Mittag erzählte. Ich wollte Ihnen nicht weh tun. Nein, wirklich nicht."
Vor Hans schwankte der Raum. Nur die Blüte sah er dort. Rot und flammend wie ein Herz.
„Es ist ja so schrecklich, wenn die Menschen sich quälen. Oft wissen sie es gar nicht. Ich wusste es auch nicht. Was soll ich tun, damit Sie mir glauben? Ach..."
Und da war sie vor ihm, einen halben Schritt nur von seinem Leib, und er spürte ihren Atem, und er roch diese Haut, und aus der Blüte schlug plötzlich ein loderndes Feuer.
„Ach", rief das Mädchen, „Sie sollen dableiben! Bitte, bleiben Sie da..."
Er sah nicht, wie sie sich umwandte und ihre Augen mit dem Arm bedeckte. Er spürte nur, dass sie an ihm vorüberging, hinaus in den Garten, wo ihr Schritt immer leiser wurde auf dem gelben, unruhigen Sand zwischen den Beeten.
D er Bäckermeister Stählin war an diesem Freitag vorzeitig zum Frühschoppen in den „Blauen Bären" gegangen. In der Nacht hatten sie Elfriede geholt. Er war mit ins Krankenhaus gefahren. Um neun Uhr wurde die Frau operiert. Dann wollte der Dr. Wachtel hier in den „Blauen Bären" kommen und ihm alles haargenau erzählen. Stählin wusste, dass es nicht mehr lange gehen konnte mit der Friedel. Seit einem halben Jahr nahm sie ab, ganz lose und unlustig hing ihr das Fleisch um die Knochen, und nichts weiter tat sie noch als nörgeln und schelten. Was er in der Politik zu schaffen habe? Er sei doch ein Bäckermeister. Und sie brauchten kein Auto, und dass die Doris in der Schweiz in einem Pensionat säße, das sei die Höhe, und überhaupt, wofür sie das neue Haus hätten, mit dem Schnickschnack von Zentralheizung und zwei Badezimmern und einem Kamin in der Diele. Und wenn er ihr klarmachen wollte, das gehöre zur Repräsentation, und er sei ein Politiker, da hat sie immer geflennt und gerufen, er sei ein fauler Bäckermeister, und sie wolle ins alte Haus zurück, wo es so gut nach der Backstube roch, und wenn sie auch jeden Morgen die alten Öfen anstecken müsste, man sei doch wenigstens daheim. Stählin saß in der Weinstube und sah übermüdet auf die Karaffe mit Rotwein, in der sich die Frühsonne fing. Es war ein weicher Herbst in diesem Jahr. Voller Sonne.
Ob wohl die Friedel sterben muss? Fünfzig zu fünfzig hatte Dr. Wachtel gesagt. Schade, wenn man jetzt auseinander müsste. Siebenundzwanzig Jahre sind es jetzt her, dass er als Geselle in die Bäckerei eingeheiratet hat. Damals war die Friedel ein molliges Mädchen, so ein rechtes gepolstertes Glück. Mein Gott, wenn man sie kitzelte im Bett, wie die lachen konnte, und auch so... Und als der Schwiegervater noch lebte, da hat er oft nachts an die Zimmertür gepocht.
„Treibt's nicht zu toll", hatte er gesagt, der Alte draußen vor der Tür, aber sie hatten gar nicht hingehört, nur gelacht hatten sie und einander nicht losgelassen. Stählin trank. Wie ihm das jetzt so einfiel. Ein schlimmes Zeichen. Und wie welk hatte sie auf der Bahre im Auto gelegen, so geht das dahin mit dem Fleisch, und dabei war ihm, als sei das alles gestern gewesen, das Lachen in der Nacht und der schlürfende Alte vor der Tür.
Er rief nach einem Kirsch. Henri Jockel brachte selbst die Flasche. „Nur Mut", sagte er und setzte sich zu Stählin. Sie tranken jeder zwei Gläschen, wischten sich den Mund und horchten auf den Lärm draußen auf dem Markt. „Wie alt ist sie eigentlich?" fragte Jockel.
„Neunundvierzig."
„Und die Kinder, hast du telegraphiert?" „Ach, so schnell wird's wohl nicht gehen. So auf einmal, wupp und davon."
Henri Jockel schwieg. Er hatte noch am Morgen in dem dicken Buch von Bilz, „Die Neue Heilmethode", über den Unterleibskrebs nachgelesen. „Das kann Jahre dauern", log er freundlich dem Stählin ins Gesicht.
„Und wenn's halt sein muss, muss es halt sein", räsonierte der. „Ich werf mich dann ganz auf die Politik. Sie wollt es ja nie haben. War eigentlich ein Hemmschuh. Aber was versteht so ein Weib von großen Sachen."
Er sah überlegen drein. Er stemmte die Faust auf den Tisch.
„Wir müssen uns zusammenschließen, wir vom Mittelstand", sagte er.
Henri Jockel nickte. „Gegen diese verdammten Steuern", antwortete er. „Und gegen die Roten", sagte Stählin. Henri Jockel seufzte. „Wenn das Bürgertum nur einig wär", flötete er.
„Wird schon werden", lachte Stählin, „bei der nächsten Wahl kandidier ich für den Landtag. Neulich hat mich der Schrader mit seinen flachen Dächern noch herumgekriegt, aber wenn ich erst einmal in Stuttgart bin, setzt's Saures."
„Herumgekriegt... herumgekriegt", lächelte Henri Jockel, „du hattest ja auch verdammt Glück, dass deine zwei Gärten mitten ins Baugelände fielen." Böse sahen sie sich an. „Hätten natürlich auch wo anders bauen können", lenkte Henri Jockel ein. Stählin schwieg. „Fünfzehntausend hast du doch sicher dabei gut gemacht." Henri Jockel goss die Kirschgläser voll. „Ein schöner Batzen. Glück hast du, lieber Barthel..."
„Keine sieben hab ich gelöst", brüllte Stählin, „und die Gärten waren mindestens das Doppelte wert!" Henri Jockel schaukelte den Kopf. „Ich nehm dir's ja nicht übel. Ich bin ja dafür, dass man aus den Brüdern da oben herausholt, was man nur kann. Die haben uns in der Inflation genug beschissen." „Die Systembonzen", brummte Stählin. „Gesundheit", antwortete Henri Jockel und hob sein Glas.
Sie tranken noch eine halbe Stunde, dann ging Henri Jockel in sein Kontor. Als er dem Stählin die Hand gab, dachte er: Sieben, du alter Gauner, es waren vierzehn, denn der eine Garten ging schlauerweise pro forma über deinen Schwager — aber er sagte: „Wolle Gott, dass sich alles zum besten wende mit der Friedel, armer Barthel."
Vor Stählin stand der zweite Liter Wein. Die durchwachte Nacht hatte ihn durstig gemacht. Und dieser Jockel mit seinen Anspielungen. Er konnte doch seine Gärten verkaufen, an wen er wollte. Und wenn er auch für den Schrader gestimmt hatte, das nächste Mal, wenn's um Weltanschauung geht, bei der Theaterdebatte, da wird er's den Herren zeigen, wo der Pfeffer wächst. Wütend zog er ein Blatt Papier aus der Tasche. Er nahm einen Bleistift. Er malte Zahlen auf das Papier. Langsam glättete sich das Gesicht des dicken, schwerfälligen Mannes. Ja,
ein Glanz von Glück lag um seinen Mund, wie er da schrieb: 15 LG. Farben, 100 Tubize, 75 Bemberg, Snia Viscosa, 40 Salz Detfurt, 30 Fuchs "Waggonfabrik. Zu einer großen Kolonne formten sich die Aktien. Eine einzige Schlachtreihe des Glücks. Die Sonne stand jetzt breit im Fenster, und der Lärm des Marktes begann. Seit einem Jahr war der Bäckermeister Stählin nicht mehr ein Mann von Auskommen, von bürgerlicher Solidität und Bescheidung. Seit einem Jahr war er auf dem Weg zum Reichtum. Man brauchte nichts anderes zu tun, als Mut zu haben. Er hatte es rasch herausgehabt, damals, als er bei der Gründung der Wirtschaftspartei die Leitung übernahm und in die Stadtverordnetenversammlung delegiert wurde. Aus Berlin war ein Syndikus gekommen, ein sehr gescheiter junger Mann, der hatte ihm bei einem Glas Wein die Augen geöffnet. Das Land schwamm in Geld. Kredite waren billig wie Brombeeren.
Es war dem Bäckermeister ein leichtes gewesen, auf der Bank einen Kredit zu bekommen. Er zahlte zunächst 20 000 ein, alles was er aus der Inflation gerettet hatte, 50 000 wurden kreditiert. Dafür kaufte er Aktien und legte sie ins Depot. Die Aktien stiegen. Er verkaufte, gewann. Kaufte neu. Der Kredit ging auf 75 000. Er verkaufte, gewann, der Kredit ging auf 100 000. Und so stand er jetzt. Dagegen lagen Aktien im Depot... Ei, du feiner Heiland. Stählin rechnete zusammen. 80, 105, 160, 220 ... wenn ich heute verkaufen würde — 237 000 bare Mark. Es schwindelte ihn gar nicht. Das war eine herrliche Wirklichkeit. Das Haus im guten Viertel war aus dieser Wirklichkeit entstanden, die Doris in der Schweiz lebte aus dieser Wirklichkeit, der Wilhelm in Berlin bei der feudalen Verbindung, das Auto, ein herrlicher Amerikaner, der Flügel, ein Steinway, kein Steinweg, bitte — und auch die Badereisen der Friedel, und jetzt die Operation und das idyllische Erbbegräbnis unter der Blutbuche auf dem Friedhof —, das alles lebte aus dieser Wirklichkeit. Die Bäckerei, ach du lieber Gott, das machten die Gesellen, und das reichte gerade für den Haushalt. Aber der Reichtum, der Überfluss, das neue Leben, diese offene Welt, immer noch herrlich genug für einen vierundfünfzigjährigen Mann, das kam von der Börse, aus dem Depot. Und der Aufstieg in die Politik, der Traum von dem Reichstagsmandat, die Einladungen zu Ministern, zu Generaldirektoren, hach, wie könnte er das ohne die Börse!
Mit freudetränenden Augen saß Stählin über dem Papier. Immer, wenn er erregt war, beruhigte er sich an der Realität dieser Zahlen. Direktor Megerle riet zwar seit einigen Tagen, vorsichtig zu verkaufen, aber das hatte er vor einem Jahr auch getan, und dann war die Hausse in der Kunstseide gekommen. Die Welt war doch sicher. Kein Krieg drohte. Überall wurde gebaut. Die Wirtschaften waren voll. Und statt der vielen Arbeiter hatte man jetzt Maschinen. Umso besser und billiger ließ sich produzieren.
Stählin hatte Friedel vergessen. Schon sah er sich in Berlin in den Wandelgängen des Reichstags. Und abends in die Scala.
Er schreckte hoch. Ein fester Schritt kam die Stiege herunter.
„Ach, Herr Doktor", lächelte Stählin und erhob sich verlegen.
Dr. Wachtel war ein Mann von wenig mehr als dreißig. Er genoss als Chirurg weit über Siebenwasser hinaus einen Ruf.
Aber wie sein Messer beliebt war, so war seine Zunge gefürchtet. Er kannte keine andere Autorität als den Tod, und es machte ihm Spaß, den Menschen rückhaltlos und ohne persönliche Rührung die Wahrheit zu sagen. Es war zwar nur eine medizinische, aber Dr. Wachtel legte keinen Wert auf andere Erkenntnisse.
Er setzte sich an Stählins Tisch. Stählin rief aufgeregt nach einem Glas. Der Kellner kam, und Stählin goss ein. Dr. Wachtel trank, rieb sich den Mund mit dem Handrücken ab und sah den Bäckermeister an. Dieser steckte verlegen sein Papier mit den Zahlen in die Tasche.
„Sagen Sie, Herr Stählin, wo waren Sie eigentlich während des Krieges?"
Stählin schluckte. Was war das? Was hatte das mit dem Unterleib zu tun?
„Zuerst bei dem Vormarsch bis Maubeuge", stotterte er.
„Und dann?" fragte der Doktor. „In Brüssel bei dem Generalkommando." „Soso... in Brüssel." Dr. Wachtel nickte erfreut. „Und dort sind Sie natürlich abends oft ausgegangen?"
„Ja, manchmal, wenn ich Stadturlaub hatte."
Was will der nur? Ob der von den verschobenen Waggons mit Dörrgemüse was weiß? Blödsinn. „Also manchmal, und nicht immer allein..." „Aber ich versteh nicht... Herr Doktor... natürlich oft mit Kameraden..."
Der Wachtel hatte ganz eisige Augen hinter der Brille.
„Und da trank man eins und dann trank man noch eins, nicht wahr, und dann ging's ins Bordell." „Aber ich muss Sie doch bitten, Herr Doktor, ich verstehe Sie gar nicht."
„Ob Sie einen Tripper hatten, will ich wissen!" Der Bäckermeister sprang auf. „Setzen Sie sich", sagte sehr ruhig der Doktor, „das hatten auch Generäle."
Stählin setzte sich. Er starrte in sein Glas. Er sah das Estaminet. Wie hieß es noch? Frou-Frou... ja, und die Yvette... so ein Mädchen... das gab's in Siebenwasser nicht... Er öffnete die Lippen.
„Ich glaube, dass es schön war", sagte der Arzt, „wie
lange wurden Sie behandelt?"
„Drei Wochen", stotterte Stählin.
„Dachte ich mir", grinste der Arzt, „und zu Hause
alles verschwiegen... keine Kur mehr gemacht...
keinen Schutz gebraucht für die Frau. Feig war man... nicht wahr?"
Stählin schwieg. Der andere saß vor ihm und las ihm mit seinen bissigen Augen alles vom Gesicht herunter. Ach, war der Bauch nur zugeblieben, dachte Stählin.
„Ich bin kein Moralist, lieber Herr Stadtverordneter", hörte er plötzlich den Doktor Wachtel, „und ich glaube Ihnen, dass so ein Beischlaf in Brüssel gegen ähnliche Vorgänge in Deutschland seine Reize hatte. Aber ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Frau im Begriff ist, etwas verspätet auf dem Felde der Ehre zu sterben."
Stählin sprang auf. Er taumelte auf den Doktor zu. Er hielt sich am Stuhl fest. Er starrte diesen Teufel an. „Eine Operation wäre sinnlos gewesen. Es ist alles zerstört, Herr Stählin. Heulen hilft nichts. Stellen Sie jetzt dem Tod ihren Mann, wie Sie es vor Jahren der Liebe in Brüssel getan haben. Bis zum Abend ist es vorbei."
„Ich bitte Sie", schrie Stählin und grub die Hände in seinen Arm.
„Ich bin nicht der liebe Gott", sagte der Arzt, „Sie können Ihrer Frau nichts Besseres wünschen als eine rasche, schmerzlose Reise aus dieser merkwürdigen Welt."
Leise erhob er sich.
„Die Schwester ist orientiert. Ihre Frau leidet nicht. Sie können Sie besuchen. Bringen Sie ihr ein paar Blumen mit. Das freut sie vielleicht, wenn sie die Augen zumacht."
Der Arzt verließ die Weinstube. Ohne Bewegung stand Stählin unter der Uhr. Es schlug zwölf, und die Apostel traten hervor.
Henri Jockel hatte das Kontor verlassen, um zur Bank zu gehen. Es war Markttag. Die Straßen waren überfüllt. Bis weit aus dem Gebirge waren die Bauern gekommen. Fünftausend Mark trug Henri Jockel in seinem Portefeuille. Ein guter Überschuss aus dem vergangenen Sommer. Seit acht Tagen hatte er das Geld zusammen, aber er zögerte, es aus dem Kassenschrank zu nehmen. Minchen, das liebe Hamburger Schnütchen, quälte ihn seit langem, er solle es doch auch einmal mit dem Spekulieren versuchen, das ginge doch wie der Wind, und alle von den Stammgästen machten es so. Henri Jockel war ein bedächtiger Mann. Er hatte hundertvierzigtausend an Kriegsanleihe verloren, den Rest in der Inflation, und jetzt sollte plötzlich der Herrgott ein Einsehen haben mit den Deutschen! Ne, Henri Jockel traute dem Herrgott nicht. Er traute den Aktien nicht. Und mochten sich der Stählin und der Megerle und all die Geschäftsleute über den Kursen überschlagen. Er machte nicht mit. Zwar hatte er neulich den Amerikaner gefragt, aber der gute Bäuerle war zu keinem Urteil zu bewegen gewesen. „Ich bin ein Landwirt", hatte er gesagt. „Ich bin froh, dass ich von der Börse nichts höre." Der hatte es gut. Geld wie Heu, einen Hof, den er aufpäppeln konnte wie ein Kind. Zusehen konnte der. Der hatte Zeit. Der war nicht krank vor Ungeduld wie die meisten Deutschen. Henri Jockel befühlte sein Portefeuille durch den Stoff. Siebenundzwanzigtausend Mark hatte er jetzt auf der Bank. Die andern rechneten alle mit einer Null mehr. Verrückt, diese Papiere. Aber war das nicht auch Papier, was er da bei sich trug? Die ganze Welt ist aus Papier seit dem Krieg. Wenn das einmal brennt. Ach, du lieber Gott...
Als er die Bank betrat, war der Schalterraum dicht voller Menschen. Die Beamten rannten mit käsigen
Gesichtern hinter den Drahtgittern auf und ab. Aus dem Direktionszimmer hörte er Megerles Stimme. Ein Gebrüll. Henri Jockel sah sich um. Da waren viele Kunden vor ihm. Der May, der Haberland, der Fehrenbach, und das war der Herr Kommerzienrat Aschaffenburg, der eben zu Megerle ins Zimmer trat. Zum Teufel, die sahen ja aus, als seien sie krank. Der May schlotterte richtig mit den Händen. Und der Fehrenbach, aber du Vaterland, der warf sich plötzlich auf einen Stuhl und schrie: „Aus!" Henri Jockel näherte sich dem Schalter. „Ich möchte das einzahlen."
Der Beamte sah ihn entgeistert an. „Einzahlen?" „Na, warum, was ist los?"
Da kam der Haberland auf ihn zu. „Henri", sagte er, „so was von einer Pleite!"
Henri Jockel hielt sein abgezähltes Geld fest in der Hand. „Wer ist pleite?" fragte er.
„Die Börse, und die Bank darf nichts auszahlen...",schluchzte der Haberland.
„Ja, und?"
„Aber wir haben doch alle Papiere, du weißt doch. Futsch! Henri, futsch. Nur die Schulden bleiben." Da packte der Henri Jockel sein Geld, steckte es rasch wieder in die Brusttasche und grinste den Haberland an: „Also wieder einmal futsch!" Auf dem Sofa saß der May und lachte, um die Tränen zu verbergen. Der Fehrenbach war aufgestanden und brüllte: „Denen geb ich's... denen geb ich's!" Dann rannte er aus der Tür. „Für Hunderttausend Kunstseide", murmelte Haberland hinter ihm her.
Da lachte Henri Jockel. Da zog er sich voll Stolz die Krawatte zurecht. „Hab ich's nicht immer gesagt?" grinste er.
Und während die Telefone surrten, die Angestellten hinter den Schaltern wie die Offiziere einer flüchtenden Armee hin und her rannten, während die Sonne schön friedlich auf einem Südseeplakat ruhte und der Ventilator sich drehte, während drinnen Megerle schrie und Henri Jockel lachte, sagte Haberland, der Fuhrunternehmer, sehr leise und traurig in den Raum: „Aber Henri, es war doch wieder einmal eine Hoffnung gewesen!"
Henri Jockel ließ ihn reden. Plötzlich fiel ihm Stählin ein. In dem Bilz hatte nur gestanden, dass Unterleibskrebs unbedingt tödlich sei. Das ließ sich zur Not ertragen. Das war halt Gottes Wille. Aber hier, hach, jetzt hatte auch noch der Teufel den Stählin am Ohr. Er rannte auf die Straße. Er war ja gerettet. Ihm ging es gut. In Wein wird er sie anlegen, die Fünftausend. Aber der Stählin? Heilige Snia Viscosa, erbarme dich seiner.
Stählin war zuerst in dumpfes Brüten gefallen. Die Weinstube füllte sich mit Marktleuten und Bauern. Sie kannten ihn und tranken ihm zu. Als er aber sagte, seine Frau, die Friedel liege im Sterben, da wandten sie die Blicke von ihm und schwiegen. Er trank nur noch Kirsch. Schon längst war in seinem Kopf kaum mehr als ein blaues Wölkchen. Darauf schaukelten die Gedanken. Yvette und der Arzt, der Alte vor der Tür, die Doris und der Montblanc, der Wilhelm und der schicke Durchzieher, das Auto und der Reichstag. Aber seine Hand hielt das Papier.
Er legte es vor sich auf den Tisch. Er sah sie an, die lachenden Zahlen. Adieu, Friedel, dachte er. Blumen, ja ich bring sie, du reist ab, ich bleibe da, ein Schwein war ich, aber das konnte auch Generälen passieren, ich wollte ja nichts Böses, was hat er gesagt, der Hund von einem Wachtel, auf dem Feld der Ehre stürbst du, so redet ein Bolschewik, nichts ist ihnen heilig, ja, aber ich hab's getan, das ist doch unmöglich, so eine Vergeltung für eine durchsoffene Nacht, das ist doch keine Weltordnung mehr, dafür gibt es einen Gott, dafür, dass wir leiden? Er saß jetzt ganz still. Er sah auf die Uhr und zählte bis sechzig. Er freute sich wie ein Kind, wenn der Zeiger pünktlich sprang. Dann lachte er seine Aktien an. Dann beschloss er, sie zu Geld zu machen. Jetzt, da er allein war, und das Schimpfen der Friedel auf einmal aufhören sollte, war alles fürchterlich leer um ihn. Aber das Geld blieb. Ein neues Leben. Ein neues Leben ...
Er erhob sich, zahlte und ging, ein wenig schwankend, zum Ausgang. Die Bauern legten schweigend die Finger an die Mützen. In der Helle der Straße musste er tief atmen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dann sah er die Blumen. Sie leuchteten in den Ständen auf dem Markt. Stähling ging zwischen die Buden und kaufte. Rosen und Nelken, Dahlien und frühe Astern, alles wahllos durcheinander. Der mächtige Arm des schweren Mannes hielt die Blumen umfasst. Er drückte sie an seine Brust. Und dann ging er, von allen mitleidig beobachtet, denn man wusste bereits sein Unglück, in eine Konditorei. Dort kaufte er zwei Stangen Nougat.
Das hatte die Friedel als Braut so gern gegessen. „Für mein Leben gern", hatte sie immer gesagt, wenn sie hineinbiss.
Stählin hatte gerade den Markt überquert, als ihn jemand an der Schulter berührte. Henri Jockel stand hinter ihm.
„Komm mit in mein Kontor", sagte er ernst und feierlich.
Stählin erschrak. „Ist sie tot?" flüsterte er. „Nein", sagte Jockel, „etwas viel Schlimmeres!" Es waren nur wenige Minuten zum „Blauen Bären". Stählin folgte dem Henri Jockel, aber die Blumen hielt er fest.
Als sie das Büro betraten, riegelte Jockel hinter sich ab. Umständlich nahm er einen französischen Kognak aus dem Schränkchen, goss zwei Gläschen voll, dann sagte er: „Du bist nämlich arm, lieber Stählin..."
Es war zwei Uhr nachmittags, als durch die Allee nach dem Krankenhaus ein Mietauto fuhr. Man sah in dem offenen Wagen den Restaurateur Henri Jockel und den Bäckermeister Stählin. Die Straße war menschenleer. Der Portier ließ die beiden Männer ein. Sie wurden in ein Wartezimmer geführt. Die Oberschwester kam nach wenigen Minuten. „Es ist fraglich, ob sie Sie noch erkennt", sagte sie zu Stählin. Er folgte ihr durch den weißen Gang. Er trug nur noch eine einzige Nelke. Sie fuhren im Aufzug nach oben. In dem Zimmer roch es widerlich süß. Dr. Wachtel stand neben dem Bett. Stählin trat näher. Da lag das Gesicht. Da lag sie. Da lag alles.
„Friedel", flüsterte er. Die Kranke bewegte sich nicht. Ihre Augen waren geschlossen. „Ihr Mann ist da", rief Dr. Wachtel. „Ihr Gatte", sagte die Schwester. „Ich bin's", hauchte Stählin. Die Sterbende öffnete die Augen. Sie sah die Menschen an. Starr sah sie über sie hinweg. Dann sah sie die Blume. Stählin stand ganz nahe mit der Nelke am Bett. Die Kranke versuchte sich zu erheben. Die Schwester stützte sie.
„Das da", flüsterte Elfriede Stählin und fasste die Blume.
„Mutter!" schrie der Bäckermeister Stählin und stürzte auf die Knie.
Hans war gleich nach dem Essen in den Wald gefahren. Er war froh, dass ihm Henrici die Arbeit in der Tannenschonung zugewiesen hatte. Es gab dort viel für den Winter zu richten, vor allem mussten die Gatter erneuert werden, damit bei Beginn der Jagd die flüchtenden Tiere nicht in die Baumschulen brachen. Seit Tagen schon arbeitete Hans dort oben, allein, was ihm angenehm war. Er hatte die Hacke übergeschultert und ging neben dem Karren her. In den Weinbergen hatte der Herbst begonnen. Klar war der Himmel, und der Gesang der Mädchen schwebte weithin über das Tal. Hans führte das Pferd, denn der Anstieg war schwer. Der Karren lag voll Erde und Dung. Bald hatten sie die Kuppe erreicht. Von hier aus zog sich der Weg eine Lehne entlang. Sie fuhren durch eine Wiese, wo das Grummet roch, am Waldsaum vorüber, nach Süden zu.
Die Schonung lag unweit jener sieben Bäche, die der Stadt den Namen gegeben haben. Hier hörte man die Quellen. Es war ein leises zärtliches Rieseln ins Tal hinab, wo der Fluss in leichten hellen Schleifen sich um die dunklen waldigen Hügel zog. Hans schirrte das Pferd ab. Er führte es auf einen Wiesenfleck zwischen den Bäumen. Dann hob er die Seitenwände des Karrens. Dung und Erde rollten zu Boden. Hans fasste die Schippe und streute in weitem Schwung die schwarzbraunen Krumen über die Hegung. Es war warm. Die Sonne stand schwer und voll über der Lichtung. Hans zog die Jacke aus. Er pfiff. Nachdem er den Boden der Baumschule mit dem nährenden Dung bestreut hatte, ging er in den Holzschuppen, der den Waldarbeitern als Geräteraum diente und als Schutz bei den Wettern. Hans holte Hammer und Nägel, und er begann, auf einem Schemel hockend, das Gatter zu erneuern. Vor drei Tagen hatte er sich dünne trockene Stämmchen besorgt, er hatte sie gefirnisst und gespitzt. Jetzt pflockte er sie ein und verband sie mit Stacheldraht untereinander. Laut und in eifrigem Takt scholl sein Gehämmer durch den Wald. Auf dem Wiesenfleck stand braun und unbeweglich das Pferd. In dem kleinen Stück Himmel, das hell auf Hans herniedersah, kreiste ein Weih.
Kurz nach drei Uhr am Nachmittag betrat der Bäckermeister Stählin das alte Haus in der Topfengasse. Es stand dort seit über zweihundert Jahren, ein hoher engbrüstiger Bau mit einem spitzen schiefergrauen Giebel. Drei gusseiserne Wetterfahnen,
Teufelsfratzen, drehten sich, wenn es stürmte, auf seinem Dach. Stählin ließ den ersten Gesellen rufen, der seit drei Jahren die Bäckerei führte. Sie gingen zusammen in die braune Kontorstube hinter dem Laden. Stählin hörte draußen die Klingel scheppern, er roch den Sauerteig und das Brot aus den Backstuben, er sah die ovalen Bilder seiner toten Schwiegereltern an der Wand, er sah den nussbraunen Sekretär mit der kleinen Geheimschublade, in der früher das Gold lag, und er sah den gestickten Fußschemel, den die Friedel so gern benutzt hatte, wenn sie die Rechnungen schrieb.
Der Geselle, durch Stählins derangiertes Aussehen verwirrt, fragte, was der Meister denn wünsche. „Schnaps", antwortete Stählin, „Kirsch... einen Block Papier und drei Kuverts..." Der Geselle schickte einen Lehrbuben über die Straße, öffnete eine Schublade des Sekretärs, stellte das Tintenfass mit dem Federkiel neben das Papier und dahinter die gelochte Büchse mit dem weißen Sand. Es kam der Kirsch. Sie tranken. Dann begann Stählin zu schreiben. Er schrieb in gotischer Schrift. Dreimal unterstrich er das Wort Schuld auf einer Seite. Beim letzten Wort Schuld machte er ein übergroßes Fragezeichen. „So", sagte Stählin zu dem Gesellen, „die Briefe bringen Sie heute noch an die Bank und zum Pfarrer." Dann zog er seine goldene Uhr aus der Westentasche und gab sie dem Gesellen. „Wollte Ihnen schon lange was schenken", murmelte er. Der Geselle erschrak. Stählin ließ ihn stehen. Er stieg die Treppe hinauf. Er tapste durchs Haus. Sein Schritt klang dumpf und hohl. Lange hörte der Geseile den Meister in den gebalkten Stuben. Dann sah er ihn plötzlich im Hof stehen, vor der grüngestrichenen Laube, wo sie früher die Maibowle getrunken hatten. Er sah, wie Stählin seinen Hut auf den alten zerrissenen Tisch legte, und dann war er gegangen. Durch den Hinterausgang, wo man sonst klingelte, wenn Ladenschluss war.
Stählin ging die Topfengasse hoch. Er sah die Schule, in der er vor fünfzig Jahren in den Pausen gespielt hatte, er sah das kleine bucklige Haus des Bäckermeisters Trostvogel, wo er in der Lehre war, er sah das Rathaus und in ihm den staubigen Raum des Standesamts, und er sah die Kirche des St. Andreas, wo sie getraut worden waren. Und wie er so ging, merkte er, dass die Leute ihn grüßten. Es war, wie hinter einem Schleier. Bald hatte er die Bastion erreicht. Unten sah er den Fluss, die Eisenbahn, die Weinberge, all das Zeug, dachte er. Auf einer Wiese setzte er sich nieder. Dort floss einer der sieben Bäche. Keine Wolke störte den Himmel. Stählin nahm seine Brieftasche aus dem Rock. Seine Hände zerrissen die alten Quittungen, die Briefe und auch den Pass. Er warf die Fetzen in den Bach, und schon waren sie weg. Wie rasch das vergeht... Er sah mit leeren Augen auf die Stadt. Die Häuser schwankten ein wenig, und die Kirchtürme waren verbogen. Jetzt läuteten sie. Gut. Mögen sie läuten. Gott hört es doch nicht, und wenn die Welt eine einzige klagende Glocke wäre... „Der ist taub", dachte Stählin. Es war sein letzter Gedanke. Stählin erhob sich. Er begann zu laufen. Wie ein Tier lief er in den Wald.
Oberhalb der sieben Bäche liegt ein kleines Plateau. Von ihm aus überblickt man das Tal bis zur Ebene des Rheins. Ein hölzerner Pavillon des Odenwaldvereins lädt dort zur Rast und zum Vespern aus dem Rucksack.
Stählin betrat den Pavillon. Er setzte sich an den Tisch. Aufmerksam betrachtete er die Decke. Dort lief ein guter fester Querbalken. Stählin nickte. Langsam und umständlich legte er Rock und Weste ab. Auch die Schuhe zog er aus. Dann schlich er auf den Socken an eine eingepflockte Bank und riss sie mit einem einzigen Ruck aus dem festgetretenen Boden. Er stellte sie auf den Tisch. Er kletterte auf die Bank, die unter seinem Gewicht schwankte, legte seine Hosenträger ab und knotete sie zu einer Schlinge um den Querbalken herum. Stählin steckte den Kopf in die Schlinge. Er grinste und blinzelte hinunter nach der Stadt. Weithin bis in die Ebene des Rheins blinzelte er.
Dann sagte er: „Quatsch", trat die Bank um, und ein Krachen sprengte sein Bewusstsein.
Zwei Stunden hatte Hans an dem Gatter gearbeitet. Jetzt stand er auf, trug die Geräte zusammen und verstaute sie in der Hütte. Der Wind hatte sich gedreht. Ganz nah klangen von Siebenwasser die Glocken. Hans sah auf die Uhr. Es war fünf. Er lief zu dem Pferd und schirrte es ein. Dann ging er zurück. Ob sie pünktlich ist, dachte er. In der Hütte öffnete er den Deckel einer Kiste. Vorsichtig entnahm er ihr einen großen viereckigen Behälter aus Glas. Er trug ihn ins Freie. Der Boden des Behälters war mit weißem Sand bedeckt. Auf ihm waren kleine Kunststeine zu Terrassen, Treppen, Brücken und Gewölben geschichtet. Uber dem Sand bewegten sich grüne fleischige Pflanzen, Algen und Muscheln.
Vor vierzehn Tagen hatte Irene bei Tisch von ihrem Aquarium in Baltimore erzählt, das sie dort habe zurücklassen müssen. Sie vermisse es sehr, denn nichts gefalle ihr besser als die lautlose Bewegung der Fische. Als Bäuerle sagte, er werde eines aus Heidelberg besorgen, hatte Irene den Vater gebeten, dies nicht zu tun. Solche Dinge dürfe man nicht fix und fertig kaufen. Die müsse man selbst anlegen, wie alles hier oben auf dem Gut. Hans hatte sich sofort erboten, Irene zu helfen. Er war rot geworden, als er das sagte. Und alle hatten gelacht, weil er sich genierte. Nur Irene nicht. Hans beobachtete die Pflanzen, die er vor drei Tagen hier aus den Bächen und Teichen gehoben hatte. Sie waren angewachsen und bewegten sich in der kaum sichtbaren Unruhe des Aquariums wie Träume. Wenn Irene kommt, dachte Hans, holen wir neue Pflanzen aus den Bächen, und wenn ich Glück habe, erwische ich einen Feuersalamander. Und wie er so kniete und die Lichtspiegelung und die Pflanzen in dem schwankenden Wasser besah, traf ihn plötzlich ein kleiner Tannenzapfen am Kopf. Am Gattertürchen stand Irene. Sie hatte eine Fischbüchse umgehängt. „Die hab ich mitgenommen", rief sie, „und auch ein Schippchen und ein Döschen mit Futter..."
Hans hob das Aquarium über das Gatter. Irene
nahm es und trug es zum Wagen. Hans folgte ihr mit dem Netz. Sie banden das Pferd fest, dann gingen sie durch den Buchenwald zu den sieben Bächen. Wortlos schritten sie nebeneinander her. Da der Weg holprig war, berührten sich oft ihre Arme. Hans spürte, dass Irene ihn ansah. Seit jenem Mittag im Gewächshaus war es das erste Mal, dass sie allein waren.
„Warum haben Sie eigentlich damals gesagt, ich solle
bleiben?" sagte Hans.
„War es nicht besser, dass Sie blieben?"
Sie schwiegen. Sie gingen sehr schnell. Schon fiel das Laub. Als sie den ersten Bach erreichten, kniete Hans nieder. Er schob die Ärmel in die Höhe. „Hier hat's schöne Pflanzen", sagte er, „solche, die unter Wasser blühen."
Irene kniete neben ihm. Sie sahen in das klare Gefäll. „War das ein Fisch?" rief Irene. „Nein, ein Stück Holz", brummte Hans. Er bückte sich so tief, dass sein Gesicht fast das Wasser berührte. Bis zum Grund griffen seine Arme in den Bach. „Geben Sie mir die Schippe!" Irene gab ihm die Schippe. Hans hatte eine Pflanze gefasst und grub nun im Kreis das Erdreich frei. Irene hielt ihn an der Schulter gefasst. Er spürte die Wärme ihrer Hand durch das Hemd. Er löste die Pflanze. Er hielt sie in die Höhe. Das Wasser fiel in Perlen von der fleischgrünen Verästelung. „Hier in die Büchse, und Wasser und Erde darauf..."
Hans kratzte Erde zusammen, und Irene schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Bach.
Sie erhoben sich und gingen weiter. Der Wald wurde lichter. Durch die Stämme schimmerte die Ebene. Plötzlich blieb Hans stehen. Er legte den Finger auf den Mund. Irene stand auf den Fußspitzen. Auf einem glatten Stein saß ein kleines Tier, halb Eidechse, halb Molch. Es war von tintenschwarzer Farbe. Auf seinem Rücken glänzten goldene Kringel wie kleine Monde.
Hans tat einen Sprung, und schon hatte er den Feuersalamander gepackt. Er hielt das schöne furchtsame Tier in der Hand, und Irene zählte ganz langsam die goldenen Kreise auf seiner zitternden Haut. Vorsichtig legten sie es zu den Wasserpflanzen in die Büchse. „Was Sie plötzlich für Augen hatten...", sagte Irene. Dann gingen sie weiter. Aufmerksam schritten sie die Bäche ab. Sie zogen das Netz durchs Wasser. Sie fingen kleine kuriose Fische mit Bärten und mit Stacheln auf dem Rücken. Sie jagten eine merkwürdig getupfte Spinne, die über das Wasser lief, ohne zu schwimmen. Und in dem letzten der sieben Bäche gelang es Hans, mit der Hand unter einem Stein eine Forelle zu fassen. Er hieb sie ins Gras und tötete sie mit dem Messer. Auf der Bastion setzten sie sich auf die Stufen des Pavillons. Vor ihnen im Tal lag die schiefergraue Stadt, von einer emsigen Unruhe erfüllt. Die beiden jungen Menschen schwiegen. Zwischen ihnen lagen ihre Hände wie Schwerter.
So sprach Irenens Herz: „Ich habe geträumt, Hans, dass du mir gut bist. Damals schon, als ich dich sah auf der Straße, an dem Auto, und wir zusammen
das Silbenrätsel lösten, da träumte ich es. Und noch viel früher, in Baltimore, vor dem Bild des Knaben im Märchenwald, da träumte ich es auch schon. Und als du zu uns kamst und ich dich floh und ich dich bat und ich glücklich war, dass du bliebst, da wusste ich es, dass du es bist, der Jüngling aus dem Märchenwald. Ich weiß nicht, sie sagen heute, es sei dumm zu träumen, und es sei eine moderne Zeit, sagen sie, und die Liebe, Hans, das käme und ginge wie das Wetter. Ach, es kommt und geht nicht wie das Wetter. Und es ist ja einerlei, wie die Zeit ist, und ich will ja nichts weiter, als es dir sagen, dass ich dich lieb habe. Und das Aquarium, das war auch nur so eine Erfindung von mir. Was liegt mir an den Fischen! Und auch an den Heidelberger Festspielen liegt mir nichts, und auch an dem Gut liegt mir nichts, und an Deutschland und an der Welt, das ist mir ganz einerlei, Hans, da liegt mir gar nichts daran. Aber an dir... das ist es. An dir, an deinen Augen, deinen Händen, deinem Kopf und an deinen Beinen, an deinem Lachen, an deinem Gehen und Wiederkommen, und wo du hinsiehst und wo du wegsiehst, und wann du redest und wann du schweigst... alles, was an dir ist, das hat mich, und sie mögen lachen und es albern schelten. Ich will albern sein. Aber du sollst bei mir bleiben..."
Und so antwortete das Herz von Hans: „Ich will ja gar nicht das, was ich tue. Ich will ja gar nicht weg, und ich will ja gar nicht sterben für Deutschland. Und ich liebe ihn ja nicht, und ich werde ja nur so immer dahingeweht. Und ich bin ja gar nicht so stark, und ich will ja gar kein Held sein, sondern bei dir... Und wenn ich dich sehe, da will ich alles haben. Alles, was du bist, will ich haben. Sonst nichts. Da hört ja die Welt auf. Und meine Mutter, das ist ja nichts, und der Führer, ach Irene. Und das Vaterland, ach Irene. Und der Ruhm und die Ehre, ach Irene. Das ist alles in dir. Was die andern sagen, es kümmert mich ja nicht. Ich hör ja nur dich. Mögen sie lachen. Ich hör ja nur dich... Und die Autos und der Zeppelin, und die Flieger und der Sieg, und er und seine Schwüre, ach Irene, ich seh ja nur dich... Und ich seh auch die Häuser nicht da vorne, die Türme nicht, und auch den Fluss seh ich nicht, das sind ja alles nur Schatten, das ist ja alles nur eine Flucht, ein Weglaufen mit dem Auge vor dir, mit dem Verstand vor dir, mit der Angst vor dir, Irene, so ist es..."
„Ob der Feuersalamander noch da ist?" fragte Irene. Hans bückte sich und schob die Pflanzen in dem Gefäß zur Seite. „Hier sitzt er!" Dicht an ihn gedrängt betrachtete Irene das Tier. „Ob er wohl Angst hat?"
„Sicher, es ist keine Kleinigkeit, unter die Menschen zu geraten..."
Da schrie Irene auf. Ihre Hand zeigte nach vorn. Ihr Kopf warf sich zurück. Sie riss Hans an der Schulter. „Dort", schrie sie, „sieh doch, dort!" Hans sah. An der Decke des Pavillons hing ein Mann. Er schwebte am Querbalken grinsend wie ein Clown. Hans warf die Büchse auf den Boden, das Wasser floss aus, die Pflanzen lagen zerstreut auf der Erde, der Feuersalamander watschelte rasch davon. Hans rannte zum Pavillon.
Irene folgte ihm. Es war ihr, als sei er in großer Gefahr.
Als sie den Pavillon betrat, sah sie Hans auf dem Tisch stehen und den schwebenden Mann mit den Armen umschlingen. „Hans", schrie sie.
„So fass doch an", antwortete er, „hier an den Beinen!"
Sie fasste an, aber sie sah nichts. Sie fühlte nur etwas Schweres herniedersinken, dann legte es sich. Ihre Hände streiften die Erde.
„Nimm diesen Arm!" Sie nahm einen Arm. „Los, wie ich sage..." Und schon zählte er. „Eins, zwei drei... eins, zwei drei..." Mechanisch bewegte sie den Arm.
„Hans", flüsterte sie, „ach du..."
„Eins, zwei, drei... eins, zwei, drei... Lass..."
Sie öffnete die Augen. Es war auf einmal still. „Der ist hin", sagte Hans. „Das war der Bäckermeister Stählin."
Irene sah die Leiche. Über die Zunge war das Gebiss gerutscht. Die Adern des Halses waren gedunsen, und das Hemd über der Brust war gesprengt. Da war plötzlich eine furchtbare Angst in ihr, ein wortloses Aufschreien riss sie hoch, sie sprang über den Toten, sie fasste Hans um die Schulter, zitternd tasteten ihre Hände an ihm herunter, den Rücken hinab und wieder hinauf bis zum Nacken, waren das Küsse, waren das Tränen, sie wusste es selbst nicht... sie spürte nur, dass er sie festhielt. Lange standen sie so, bis sie sich lösten. Der Tote lag im Schein der westlichen Sonne. Von Siebenwasser her läutete es zu Abend. Über das Tal spann sich in weichen Streifen der erste Nebel.
Lange hatten sie überlegt, was sie tun sollten. Erst plante Hans, nach Siebenwaser zu laufen und die Polizei zu holen. Aber das wäre ein Abmarsch von einer Stunde gewesen. Und die Leiche einfach so hier liegen lassen, das ging nicht an. So beschlossen sie, den toten Stählin auf das Gut zu bringen. Kaum zehn Minuten waren es zum Wagen. Sie empfanden keine Scheu, die Leiche zu heben. Sie trugen sie durch den Wald. Es dunkelte schon, als sie den Wagen erreichten. Sie legten den Toten auf Erde, die Hans mit der Schippe von einem Beet herunternahm. Dann warfen sie eine Zeltbahn über ihn, die sie im Schuppen fanden.
Hans nahm die Leine, und das Pferdchen trabte. Hell stieg der Mond über die Wiese. Sternschnuppen fielen im Osten. Das Grummet duftete, und der Nebel quoll aus dem Tal.
Als sie in Weißenfels einfuhren, sahen sie zwei Gendarmen, die gekommen waren, um den Wald abzusuchen. Sie trugen die Leiche in die Maschinenhalle. Bäuerle und Schrader bahrten sie auf. Hinter ihnen stand der Bankdirektor Megerle. Er hielt einen Brief. „Offener Selbstmord", sagte er, „er hat ihn mir vorher genau avisiert." Die Gendarmen verfassten ein Protokoll. Hans unterschrieb es mit Irene zusammen.
Dann gingen sie ins Haus.
Niemand sah. dass sie sich an den Händen führten. So groß war die Nacht.
Es ist ein Samstag im März. Am Morgen ist das Wetter umgeschlagen. Trocken und warm treibt der Wind vom Westen her über das Feld. Die schwarzen Bänder der Äcker beginnen sich zu wölben. Weicher Dunst zieht kniehoch zwischen den Furchen. In den Wiesen sammelt sich blaugrün das Wasser. Kleine Bäche zirpen durch das Gras. In den schattigen Mulden verblüht der letzte Schnee. Hans geht den Weg nach Siebenwasser hinab. Über dem braunen Hemd trägt er einen alten, gewendeten Zivilmantel. Es widerspricht zwar der Vorschrift, so zu gehen, ja, es gehört sich einfach nicht, aber Irene hatte so inständig gebeten, er solle sich gegen die Märzluft schützen, dass er schließlich gehorchte. Oh, er gehorcht gern, wenn Irene ihn bittet. Ihre Worte werden dann ganz weich, und sie sieht dabei auf den Boden, als läge ein Geheimnis in der Erde. Hans macht große Schritte. Um fünf Uhr ist die Führerbesprechung, und zum Abendessen will er wieder zurück sein, denn er muss Irene heute noch Revanche geben für die Schachpartie, die sie gestern verlor. Hans freut sich darauf. Irene ist so schön, wenn sie ratlos wird und den dummen König mit dem letzten Pferdchen zu schützen versucht. Gestern war sogar eine Träne in seinem Auge gewesen, als er Matt sagte.
Wie anders alles geworden ist, denkt Hans, ich siege, und es tut mir leid.
Johann Kaspar ist auf den Balkon hinausgetreten. Die dünne Märzsonne trifft in schrägen Strahlen die gelbe Front des Hauses. Bäuerle sieht in den Garten. Zwischen den gedeckten Beeten schlüpfen die ersten Blumen aus dem Gras. Die Luft ist von einer übermütigen Unruhe erfüllt. Schlohweiß steigt der Rauch aus den Kaminen. Bäuerle reckt sich. Bis in den letzten Muskel seines Körpers spürt er die Jugend dieses Tags. Und plötzlich beginnt er zu pfeifen. Unten zwischen den Schleifen der Äcker, im großen Plan des Feldes, läuft Hans, klein wie ein Spielzeugmännchen. Bäuerle lacht. Er sieht dem Jungen nach, der die Kreisstraße erreicht und hinter einem Waldstreifen verschwindet.
Man hatte den Winter auf Weißenfels in stiller Arbeit verbracht. Die Ereignisse in Siebenwasser — zehn Konkurse seit Stählins Tod, der Bankrott der kleinen Konservenfabrik im Tal, die Arbeiterentlassungen bei Weber — hatten Johann Kaspar nicht der allgemeinen Nervosität verfallen lassen. Zwar wusste er, wie es um viele Bürger stand. Ihr Vermögen hatte sich in Schulden verwandelt, denn die Mehrzahl von ihnen hatte auf Kredit spekuliert. Jetzt waren ihre Häuser gepfändet. Ihre Außenstände, ihre Warenlager, ja sogar oft ihre Arbeitskraft gehörten der Bank. An Stelle des heiteren Reigens der sich aufwärts schwingenden Aktien war der Albtraum der sich wanzenhaft vermehrenden Zinsen getreten. Die Kredite wurden gestoppt, der Staat senkte die Löhne und die Gehälter, die Bautätigkeit erlahmte, doch schlimmer noch als der Verlust der Güter war der Zusammenbruch des Vertrauens. Dennoch schien es Bäuerle, man übertreibe. Besonders Schrader war von einer heillosen Sorge erfüllt. Von diesem Schock wird sich der Bürger kaum mehr erholen, sagte er. Die Inflation hätte er noch hingenommen als den letzten Akt der Kriegstragödie. Jetzt aber sei es zu viel. Der Absturz aus der Hoffnung sei zu tief. Da hatte Bäuerle nur gelacht. Natürlich sei es peinlich, aus dem Traum eines wachsenden Wohlstandes splitternackt auf die Straße der Wirklichkeit zu fallen, zumal dieser Wohlstand zuletzt alles andere als gediegene Formen angenommen hätte. Und es sei auch empörend, dass bei Verschiebungen innerhalb des Kapitalismus immer der kleine Mann die Zeche zu zahlen habe, aber deshalb brauche man doch nicht zu verzweifeln, das Land sei doch sonst prächtig in Ordnung. Schließlich habe man den Krieg verloren. Daran lasse sich nicht rütteln, auch wenn man alles täte, um es zu vergessen.
„Sie sehen die Dinge von außen, lieber Bäuerle", hatte Schrader geantwortet. „Sie wissen nicht, dass die Deutschen in diesen letzten Jahren geglaubt haben, sie hätten den Frieden gewonnen", und er hatte Johann Kaspar nach Siebenwasser geführt, in Derns Versammlung.
Zuerst hatte Bäuerle gelacht. Er kam sich vor wie in einer der Bekehrungshallen mittelwestlerischer Sektierer. Der ganze Aufzug, Musik, Lieder, Uniformen, die fiebrigen Augen der Frauen, das theatralische Beschwören der Leidenschaften von der Bühne herab, die Luft, die nach Erlösungswut roch — das alles überraschte ihn nicht. Nur dass hier nicht von Gott, sondern von der Rasse gesprochen wurde. Und aus dem Teufel war der Jude geworden. Obwohl der Saalbau überfüllt war, hielt er alles lange für einen Unfug, den politisches Sektierertum aufführte. Dann jedoch wurde er nachdenklich. Hinter dem Zauber vernahm er plötzlich einen Ton, der ihn seit seiner Jugend verfolgt hatte. Die Drohungen gegen den Staat, gegen die Juden, die Franzosen und die Marxisten — das gehörte dazu. Aber da war durch das Sperrfeuer der Demagogie plötzlich ein Satz wie eine Lohe gebrochen: „Seit 1918 habt ihr an diese Welt geglaubt, an dieses Europa. Ihr habt den schimpflichen Vertrag unterschrieben. Ihr habt eure Ehre hingeschmissen im Vertrauen auf die Anständigkeit dieser Welt. Jetzt nimmt man euch noch das letzte Hemd, ihr Narren! Der Jude, der in allen Regierungen hockt, hat euch an der Kehle. Man hat euch eingelullt mit Pazifismus, Humanität, und wie diese undeutschen Worte noch heißen. So pfeift doch endlich darauf! So pfeift doch endlich auf diese Welt! Wir haben nie an ihre Anständigkeit geglaubt. Zehn Jahre hat man uns ausgelacht. Aber ich sage euch, ich schreie es in euer Gesicht: Deutschland muss stark werden, es muss sein Schwert wieder haben. Erst dann wird man es achten. Denn Macht und Furcht regieren die Völker."
Maßlos war der Beifall, der durch die Halle donnerte. Still waren Schrader und Bäuerle auf die Straße gegangen. Erst bei Henri Jockel kamen sie wieder ins Gespräch.
„Wie die tanzenden Derwische", sagte Johann Kaspar.
Der Oberbürgermeister nickte. „So ist das immer in Deutschland", sagte er, „mit dem Griff an die ökonomische Existenz wird auch die geistige erschüttert. Sie hätten das sehen sollen, lieber Freund, wie dieselben Bürger, die heute der Gewalt nachlaufen, 1918 um Frieden gewinselt haben. Es fehlt ihnen jede moralische Substanz." Lange saßen die Männer an diesem Abend bei Henri Jockel. Bäuerle spürte, wie sich in ihm der alte Hass des Vaters erhob. Er wehrte sich dagegen. Und als Holzapfel sagte, er habe es aufgegeben, über Politik, besonders über die deutsche, nachzudenken, das sei immer eine schmutzige Angelegenheit, das wahre Deutschland läge jenseits dieser Dinge, da brach es in Bäuerle los. Er sei hierhergekommen, weil er dieses Volk liebe, ganz verrückt liebe er es, und er wolle sich nicht in ein Studierkämmerlein setzen und die Läden schließen, nein, er wolle voll Freude aus dem Fenster sehen auf dieses Land, auf diese Hügel hier, die seine Heimat seien. Und was dieser Postsekretär da von Rasse erzähle, so sei das weiter nichts als ein teuflischer Trick der Preußen, das Volk wieder unter ihren Einfluss zu bekommen. Dahinter stecke nichts als der nackte Wille zur Macht. Ob die Herren diese kleinen Krämer gesehen hätten, wie sie sich spreizten, wie sie sich aufblähten als nordische Menschen. Das sei weiter nichts als geistiger Kasernenhofdrill, und Gotteslästerung sei es auch, ja, lieber Holzapfel, so sehe ich die Sache. Lächelnd betrachteten die Männer die Erregung des Amerikaners. Und als er von den Preußen als von wendischen Bastarden sprach, die nur von der Rasse schrien, weil sie keine hätten, da nickte Holzapfel und trank ihm zu.
Bald jedoch beruhigte sich Bäuerle. Das Gut und seine Forderungen nahmen ihn auf. In diesem Sommer erwarteten sie die erste große Ernte, Weißenfels' Auferstehung aus Ursels fürchterlichem Fluch. Oft, wenn Bäuerle über die winterlich verwehten Äcker sah, dachte er, dass unter der toten Fläche Samen lag, kleine, weiße Kerne, die er in die Erde gesenkt hatte. Und er sah sie zwischen den Krumen sich öffnen, und er sah kleine, weiche Triebe aus ihnen wachsen, das ganze Land vor ihm war erfüllt von diesen lautlosen Trieben. Ruhe ergriff sein Herz. Er vergaß den Tumult der Menschen. Selten ging er nach Siebenwasser hinunter. Dennoch kamen Stunden, da es ihn immer wieder packte. Dann rannte er zu seinen Büchern und suchte nach einem Sinn. Vielleicht hatte dieser Dern recht? Vielleicht war das Deutschland des Maßes und der Güte nur ein Phantom? Aber, was er auch las, es war seine Gesinnung, die ihm begegnete. Goethe, Hölderlin, Lessing und Herder, das unbewusste Erbe, das er in sich trug, es stand mit ihm gegen die Gewalt und für die Erhöhung des Menschen über das Blut. Aus diesen Stunden kam er immer gestärkt zurück. Es wird nicht geschehen, dachte er, so tief können sie sich nicht verraten. Aber da war noch ein zweites, das ihn bewegte. Er sah die Verwandlung Irenes. Seit jenem Abend, da die Kinder Stählins Leiche ins Haus gebracht hatten, lag eine merkwürdige Unruhe über dem Mädchen. Irene war nachdenklicher und schöner geworden. Die naive Rundung ihrer Augen wurde plötzlich durch ein Staunen belebt. Bäuerle spürte die zärtliche Unrast ihrer Stimme, wenn der Junge nicht auf dem Gut war. Er merkte das Abgleiten ihrer Bewegungen ins Sorghafte, wenn Hans länger in Siebenwasser blieb, als sie berechnet hatte. Er sah die Wöge von Licht, die in ihr aufstieg, wenn der Eleve zurückkam.
Lange hatte Johann Kaspar geschwankt, ob er durch ein Wort in das zarte Gewebe greifen sollte. Zu jung waren die Kinder, und der Bursche hing obendrein noch den Teufeleien von Dern an. Er hatte sich bei Henrici und auch bei Holzapfel über den Jungen erkundigt. Und da stand er plötzlich vor der schrecklichen Heimatlosigkeit dieser Zwanzigjährigen, die nichts wussten von der Würde des Jahrhunderts, dem Bäuerle entstammte. Bäuerle sah den Krieg. Er hatte sich durchgefressen bis in diese Seelen. Wer trug die Schuld? Wer hatte das Lied von der Gewalt vier Jahre lang als gottgefälligen Choral gesungen? Seine Generation, wider ihr eigenes Gesetz. In jedem Land. Da lag die Schuld. Wir haben unsere Grundsätze verraten, dachte Bäuerle. Jetzt haben wir die Quittung. Und dann kam dieses Versailles!
Das ist die Antwort, düsterer Clemenceau. Eine bessere Waffe hättest du den Preußen nicht geben können als diese Jugend.
So saß Bäuerle in der Zange der Fragen. Schuld und Unschuld mischten sich quälend. Er konnte Hans nicht zürnen. Er sah die stille Dankbarkeit des Jungen für jede Geste des Wohlwollens, er sah Irenes Glück, wenn er gut zu Hans war — er schickte ihn auf die landwirtschaftliche Winterschule, er ließ ihn die Autoprüfung ablegen, er bot ihm die Chance der Arbeit. Denn nichts hasste Bäuerle mehr als Gesinnungszwang, die Quelle alles Unredlichen in der Welt.
Und dann war ein Abend gekommen. Irene sagte ihm gute Nacht. Sie küsste ihn wie immer auf die linke Schläfe. Es waren zarte, vorsichtige Lippen. Johann Kaspar spürte, wie der Bannkreis der Liebe für den Vater unüberschreitbar war. Doch da, als sie ging und wie zum Abschied eine Sekunde noch in der Tür stand, war es geschehen. Er sah Juana. Juana, die unter den Zwergbäumchen schlief auf dem Friedhof in Baltimore. Juana, den einzigen Traum, den er mitnehmen wird aus dieser Welt. Da war es wieder, das Licht um den geliebten Scheitel. Es war nicht verweht. Es erstand in den Augen des Kindes, in der Scheu seiner Formen, in der verwirrten Zärtlichkeit seiner Stimme, im absinkenden Glanz seiner Wimpern.
Bäuerle vergaß die Zeit. Oft, wenn die Kinder im warmen Schimmer der Abende Schach spielten und der schöne Ernst ihrer Köpfe den Gesetzen der Figuren nachhing, traf sich sein Blick wie von weit her mit Irene, und aus der blutroten Sekunde stieg Juanas Atem und Leib.
„Das Privatleben hört auf! Ich meine damit, wer vor unserer Aufgabe eine Furcht empfindet, der soll rechtzeitig gehen. Der Führer verlangt blinden Gehorsam. Eine ganze Generation begibt sich freiwillig ihrer Individualität, um Deutschland durch eine gewaltige kollektive Anstrengung zu retten." Kalahne senkt die Stimme. „Hierin liegt unsere Tragik und unser Glück."
Ernst sitzen die Männer um den Tisch. Keiner von ihnen bewegt sich. Hans sieht das Gesicht des Doktors. Es ist blass, und die Augen glühen. Er ist der einzige, der Zivil trägt in diesem Raum. Alle hören auf ihn.
Wie Dern plötzlich so schweigsam ist, der laute, polternde Dern. Selbst die Reitpeitsche hat er heute nicht mitgebracht. Und Hungrich? Seine spitzen Rattenzähne gehen bis zur Unterlippe. Auch er sieht Kalahne nicht an. Beide wissen, dass von diesem Tag an der Gau dem kleinen Doktor untersteht. Er ist von München mit besonderen Vollmachten zurückgekommen, und er ist keinem verantwortlich, nur dem Führer.
Kalahne legt ein Papier auf den Tisch. „Die Merksätze für die verschiedenen Organisationen habe ich hier schlagwortartig zusammengestellt. Sie werden in den nächsten Tagen verteilt. Ich greife hier nur kurz heraus, um was es geht. Die Bewegung ist zu einer entscheidenden Aktion bereit. Die Situation ist reif. Der Bürger ist in Bewegung geraten, die letzten Ereignisse haben seine Mittelstandsideale erschüttert. Es gilt, diese Millionenmassen zu gewinnen. Wir sind entschlossen, den Kampf um die Macht auf der legalen Basis des Wahlkampfs zu beginnen. Mit Putschromantik ist es vorbei. Ich untersage jedes Liebäugeln mit illegalen Plänen. Wer es dennoch tut, fliegt aus der Partei."
Knapp klangen die Sätze. Hans war es, als würde ein Diktat heruntergelesen.
„Die Versammlungswelle, die jetzt schlagartig einsetzt, gilt vor allem den kleinbürgerlichen Massen. Die Enttäuschung über das Versagen der Wirtschaft ist dort so groß, dass wir ruhig von einer antikapitalistischen Sehnsucht sprechen können. Diese Sehnsucht ist auszunutzen, und zwar mit allen Mitteln. Es besteht die Gefahr, dass diese Massen zu den Kommunisten überlaufen, wenn nicht rechtzeitig ein Auffang geschaffen wird. Dieser Auffang ist erstens der Antisemitismus, zweitens die nationale Schmach, zu der jetzt eine Verschwörung der ausländischen kapitalistischen Kreise hinzugekommen ist, drittens der Kampf gegen die Parteien, die als korrupt und verbonzt hinzustellen sind. Es muss eine Atmosphäre geschaffen werden, in der sich der kleine Mann als verkauft und verraten vorkommt. Wir werden ihn das Gruseln lehren. Er muss so lange hypnotisiert werden, bis er wie ein Huhn umsinkt. Das beste Mittel dafür ist der Skandal. Denn der Kleinbürger ist rachsüchtig. Nutzen wir seine Rachsucht aus, verstärken wir dazu seine Angst, zwingen wir ihm unsern Willen auf, dann ist die erste und die entscheidende Bresche geschlagen."
Kalahne schweigt. Lächelnd sieht er auf Jürgen Winkler.
„Es scheint einen Parteigenossen zu geben, dem diese Taktik nicht behagt?"
„Ja", sagt Jürgen, „sie behagt mir nicht. Ich hasse den Bürger. Ich bin zu dem Führer gekommen aus dem Hass gegen diesen Meltau, der über Deutschland liegt, und jetzt wollt ihr euch mit ihm gemein machen. Das geht nicht."
Kalahne sieht Jürgen an. „Du bist zu ehrlich", sagt er, „das geht nicht!"
Seine Stimme ist scharf. „Niemand weiß besser als ich, dass wir nie den heroischen Menschen aus diesem Meltau, wie du sagst, bilden werden. Ich weiß, es ist eine elende Luft, die uns aus diesen Seelen entgegenschlägt. Aber ich sage dir, und damit beende ich jede Diskussion, der Weg zur Macht führt durch den geistigen Sud dieser kleinen Leute. Jede Revolution hat ihre Drecklinie. Aber sind wir Ästheten? Oder wollen wir die Macht?" Seine Stimme klingt plötzlich hoch. Ein hartes Lachen maskiert sein Gesicht. Er legt seine langen, knochigen Finger ineinander, dass die Gelenke knacken.
„Oder glaubt jemand ernstlich daran, wir würden diese bürgerlichen Haufen, wenn wir die Macht haben, nicht en canaille behandeln? Die Revolution beginnt nach dem Sieg, lieber Pg. Winkler." Jürgen schweigt. Kalahne wendet sich zu seinen Papieren. Mit verbissenem Zorn schauen Dern und Hungrich auf den Sturmführer Winkler. „Ich habe", fährt Kalahne fort, „hier ein kleines
Dokument, das für unseren Kampf in Siebenwasser von unschätzbarer Bedeutung ist. Der Weg, auf dem es in meine Hände gelangte, war nicht ganz sauber. Aber wir sind ja keine Moralisten. Ihr wisst, dass bei der Vergebung der Arbeiten für die städtische Siedlung das Kaufhaus Hansa, alias Herr Aschaffenburg, den Auftrag für Sechsundsechzig Badezimmer bekam. Nun gut."
Er hebt den Zettel und liest: „Kaufhaus Hansa. Abteilung Pelze. Von Frau Oberbürgermeister Schrader 215 Mark — in Worten: zweihundertfünfzehn — für Lieferung eines Okkasion-Herrenpelzmantels Nerz mit Biber erhalten zu haben, bescheinigt, Siebenwasser, den 18. Dezember 1929, Kaufhaus Hansa, gez. Arnheim."
Zuerst ist Stille. Dann haut mit einem harten Schlag Derns Faust auf den Tisch. Puterrot ist sein Gesicht. Sein Mund steht offen. „Her damit", schreit er, „her damit!"
Kalahne steckt die Rechnung in seine Mappe. „Über die Verwertung entscheide ich", sagt er. Doch Dern ist nicht zu halten. Er reißt dem schwachen Doktor die Mappe aus der Hand, da hat er den Zettel, er steht auf, von rollendem Lachen unterbrochen, liest er ihn zum zweiten Mal vor. „Jetzt hab ich den Jud. Jetzt hab ich den Jud..."
Er geht um den Tisch, er öffnet die Tür. „Mutter Döring!" brüllt er, „drei Liter Wein!"
Hans und Jürgen gehen den Fluss entlang. Schiefergrau wächst die Dämmerung über der Stadt. Hans spürt den Wein. Dern hatte ihn gezwungen zu trinken. „Ach Junge", hatte er gesagt, „es war ein Missverständnis damals von mir. Handelt sich um andere Diefenbachs. Kann vorkommen, so etwas, bei der Rassenversauung im heiligen jüdischen Reich deutscher Nation." Und er hatte ihm die Hand gegeben und dann das Glas vor ihn gestellt. Es lief über. Tropfen, wie falsche Tränen, fielen auf den Tisch. „Besuch uns doch mal", hatte Dern noch gesagt. Aber Hans hatte weggesehen. Wenn jetzt der Vater hinter ihm gestanden wäre, mit der flachen Klinge hätte er diesem wulstigen Kahlkopf eine über den feixenden Schädel gerissen. Das da und Rasse, höhnt es in Hans. Dieser unedle, breitgeöffnete Mund, dieses auf kurzen Beinen schaukelnde Fleisch. Und so etwas hat die Mutter und träumt vom Blut der weißen Pferde.
„Warum schüttelst du dich?" fragt Jürgen. Er hat
Hans untergehakt. Sie gehen über die Brücke.
„Ich dachte an Dern", antwortete Hans.
Jürgen ist still. Die Disziplin verbietet ihm die Rede.
„Hast du von Gerhard etwas gehört?" fragt er stattdessen.
„Nein", antwortet Hans. „Seit Monaten nichts mehr."
„Er ist jetzt beim Stab in München", sagt Jürgen, „von dort wird alles neu organisiert. Pass auf, mit Hungrich dauert's auch nicht mehr lang. Dern ist zu populär."
Hans lacht. „Was liegt mir daran", sagt er. Jürgen bleibt stehen. „Was hast du nur?" fragt er, „seit Wochen merke ich das schon."
Da nimmt Hans seine Hand. Er ist sehr blass. „Ich bin krank", antwortet er, „ich kann nicht mehr hassen."
Oberbürgermeister Schrader hat den Bericht der Finanzkommission geprüft. Er sitzt in seinem Zimmer. Der Morgen ist hellblau.
Achtzehn Prozent Rückgang seit dem ersten Januar bei den städtischen Steuern. Gas und Elektrizität zweiundzwanzig Prozent. Müllabfuhr gar sechsunddreißig Prozent. Daneben steht: viele Bürger legen mit dem Müll jetzt Komposthaufen an oder, wo der Garten fehlt, tragen sie den Abfall in der Dunkelheit heimlich an den Fluss oder nach den Kiesgruben bei der oberen Stadt. — Städtische Trambahnen vierundvierzig Prozent. Man geht zu Fuß in Siebenwasser. Städtisches Schwimmbad neunzehn Prozent. Und jetzt kommt das Schlimmste für Schrader. Er mag gar nicht hinsehen. Rückgang der Mieten in der neuen Siedlung: achtundsechzig Prozent. Vor zwei Monaten hatte er sie eingeweiht. Damals schon war nur knapp über die Hälfte der Wohnungen besetzt. Und jetzt, nach den neuen Entlassungen bei Weber, der zweite Rückschlag.
Schrader denkt nach. Was ist das für eine Zeit. Man baut, man holt die Menschen aus den alten, muffigen Häusern, gibt ihnen Wohnungen, wo sie Platz haben und Luft und Sonne für die Kinder, und plötzlich schlägt die Wohltat für sie in eine Plage um. Sie verfluchen das Licht, und sie ziehen zurück in das Dunkel der alten Höfe. Schrader addiert. Neun Parteien wegen der Miete gepfändet. Er wird nicht vollstrecken lassen. Er stemmt sich gegen die Teufelei. Was empfiehlt die Finanzkommission? Abbau der Gehälter und Löhne. Einführung einer neuen Steuer auf den Kopf der Bevölkerung. Das sind zweihundert neue Anhänger für Dern, denkt Schrader. Man senkt die Einkünfte der Massen, man wirft sie in die Wohlfahrt, oh, es herrscht gleiches Recht. Der Fabrikant Weber wird den gleichen Prozentsatz Bürgersteuer zahlen wie sein Arbeiter Krumm. Herr Weber wird zu Hause in seiner Villa bleiben. Schrader schüttelt den Kopf. Auf was für Abwege man kommt in diesen lausigen Zeiten. Eigentlich sollte man oben anfangen. Alle Einkommen über zehntausend Mark kassieren. Aber das verstößt gegen die Verfassung. Es ist merkwürdig mit unserer Freiheit, denkt Schrader, sie setzt Wohlstand voraus. Er schiebt den Akt zur Seite. Er denkt an Bäuerle. Wie der jetzt im Glück schwelgt. Die Kirschen- und Mandelbäume blühen auf Weißenfels. Die Gemüsefelder sind ein einziges Grün. Schrader öffnet das Fenster. Da liegt die geliebte Stadt im Flimmer. Die Kastanienbäume haben schon Kerzen aufgesetzt, und weithin über den Fluss ziehen die hellen, fröhlichen Wolken. Ich werde morgen nach Weißenfels fahren, denkt Schrader, mag der Teufel die Akten und die Finanzkommission holen. Da sieht er einen Mann über den Platz laufen. Der Alarm! Der Alarm! schreit er. Natürlich hat er ein braunes Hemd an. Wird wohl Derns großangekündigte Zeitung sein. Merkwürdig, wie die Leute dort unten die Papierfetzen kaufen. Wie Extrablätter. Gibt's wieder Krieg? denkt Schrader.
Er geht zurück und klingelt dem Diener. „Holen Sie mal so ein Blatt herauf!" „Sehr wohl", sagt Kremmelbein. Er geht. Schrader zündet sich eine Zigarre an. Man muss gewappnet sein.
Frau Nelly Schrader hatte den Morgen mit Besorgungen verbracht. Sie war über den Markt gegangen, es war ein fröhliches Schlendern zwischen den Blumen und den ersten Gemüsen. Schrecklich, dass ihr Garten hinter dem alten Patrizierhaus so schattig war. Nur Taxus gedieh dort und Efeu. Aber Alfred war nicht aus dem Haus zu bringen. Die Fabrikantenfrauen hatten alle schöne Villen nach der Sonnenseite und terrassenförmige Gärten mit Reben und Spalierobst. Sie dagegen wohnten in einem alten, garstigen Palast mit weiten, steinernen Stiegen und prunkvoller Schmiedekunst an den Geländern. Puh, denkt Nelly Schrader, ein kleines, nettes Haus mit Blumen wäre mir lieber. Alfred ist doch immer so für das Moderne, aber uns lässt er in dem ehrwürdigen Grab. Aber so machen's die Männer. Träumen von weiten Zielen und sehen das nächste nicht. Nelly Schrader verlässt den Markt. Hinter ihr geht die gute Kathinka. Sie trägt die Blumen und das Gemüse.
Beim Metzger Hofmann liegen schöne Schweinszungen aus. Das mit frischen Erbsen, denkt Nelly, und sie geht hinein. Sie kauft zwei Stück. Merkwürdig, Herr Hofmann ist so verlegen. Da geht er plötzlich hinaus, und der Gehilfe bedient sie. Na, wird Rheuma haben, der alte Trinker, bei dem Frühling. Der zwickt die Sünder.
Sie gehen in die untere Stadt. Ah, da kommt Bringolf. Schick sieht er aus. Der ganze Mann ist englisches Tuch. Wenn doch Alfred auch einmal zu so etwas zu bewegen wäre. Wie? Er dreht sich plötzlich um. Geht in einen Zigarrenladen. Ungehörig ist das. Er hat sie doch gesehen. Schauspielergrößenwahn!
Nelly und Kathinka gehen über den Bahnhofplatz. Dort, in dem appetitlichen Laden von Fischer, gibt's herrliche ungarische Salami. Für ihr Leben gern isst Nelly ungarische Salami. Schadet zwar dem Teint. Aber so zweimal im Monat... ha, fein... Sie kommt ins Trippeln. Was das nur ist. Es sind so viel Menschen da auf dem Platz, morgens um elf Uhr. Es geht doch kein Zug jetzt. Und Zeitungen haben sie in der Hand. Sie lesen, sie lesen, sie schauen gar nicht auf. Ein Unglück?
Kathinka, was ruft er da? Der Braune dort? Schrecklich, diese jungen Leute! Geben keine Ruh... Wie? Der Alarm? ... Brennt es? Da ist sie schon bei dem Braunen. Nettes Jungengesicht. Kostet? Sie nimmt einen Fünfziger aus der Tasche. Was? „Ihnen schenk ich's", brüllt der Braune. Nelly hat das Zeitungsblatt. Nelly schreit auf, ganz leise wie ein Vogel. „Aber gnädige Frau", ruft Kathinka. Da rennt Nelly schon weg. Wie verrückt läuft sie nach den Taxis. Sie hält das Zeitungsblatt vor das Gesicht. Alle Taxis haben die Verdecke heruntergeklappt. Denn es ist Frühling, und die Spatzen pfeifen es von den Dächern.
Ein Taxi fährt an. Die Leute auf dem Platz lachen. Mitten durch Siebenwasser fährt Nelly Schrader, die Zeitung vor dem Gesicht, vermummt, durch die bösen, leuchtenden Straßen.
Der Oberbürgermeister hat keine Lust mehr zu arbeiten. Wie ein Schulbub möchte er schwänzen bei diesem Wetter. Auch Kremmelbein kommt nicht. Hockt der Kerl vielleicht unten in der Kantine und gurgelt sich eins? Mag er. Es ist ein herrlicher Tag. Heute wird die Schule geschwänzt. Vergessen sind die unregelmäßigen Verben des Lebens. Der Oberbürgermeister lächelt. Er freut sich an seinem Leichtsinn. Er zündet die zweite Zigarre an und legt sich mit langausgestreckten Beinen in den Stuhl, als sei er auf einer Wiese, und der Herrgott schaue ganz jung und fröhlich auf ihn herab.
„Nicht mehr zu kriegen", sagt Kremmelbein, „alles schon weg." Und gleich will er wieder aus der Tür. „Halt!" ruft Schrader, „waren Sie auch an dem Kiosk?"
„Ausverkauft", murmelt Kremmelbein. „Warum sind Sie so blass?" fragt Schrader. Aber da ist der Kremmelbein schon hinaus. Merkwürdig, der Kerl zitterte ja.
Lausiger Frühling. Kippt die Männer um. O du geliebte, dreimal verfluchte Arbeit. Schrader nimmt wieder den Akt zur Hand. Von Sankt Andreas läutet es zu Mittag.
Schrader hebt den Hörer. „Doktor Kalahne", sagt er ins Telefon, „zum Referat." Wie, was wispert die da? „Lauter!" schreit Schrader. Dr. Kalahne sei verreist. Vor einer Stunde. „Und das melden Sie jetzt... Sie hat wohl der Frühling an den Haaren, Sie stöpselnde Jungfrau?"
„Ach", antwortet es dünn. Dann ist die Verbindung unterbrochen.
Schrader haut die Zigarre in den Becher. Sind denn
alle verrückt? Er nimmt eine neue Verbindung. „Die
Wohnung von Dr. Kalahne!" schreit er. Ein Sausen,
dann kommt die Stimme:
„Achtung, Sie werden verlangt!"
„Hier Dr. Wachtel."
„Ja?"
„Kommen Sie sofort! Ihre Frau..." „Was?" brüllt der Oberbürgermeister. „Salzsäure", klingt es zurück.
Noch am Abend traten Magistrat und Stadtverordnete von Siebenwasser zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Vor ihnen stand ein gebrochener Mann.
„Ich wusste von alledem nichts", sagte der Oberbürgermeister Alfred Schrader, „ich gab dem Kaufhaus Hansa den Auftrag, weil es das vorteilhafteste Angebot machte. Dass meine Frau diesen Pelz erwarb, geschah aus Leichtsinn und Ahnungslosigkeit. Sie wollte mir eine Freude machen, wir haben kein Vermögen, aber sie spart regelmäßig vom Haushaltungsgeld. Sie sah den Pelz in der Abteilung des Kaufhauses. Er war jedermann angeboten und mit zweihundertfünfzehn Mark als eine Okkasion ausgezeichnet. Die Pelzabteilung hat ihn mit vierzig Prozent Gewinn verkauft. Hier sind die Belege. Er wurde für die Summe von einhundertdreißig Mark aus dem Nachlass des Bäckermeisters Stählin gesteigert."
Magistrat und Stadtverordnete sprachen dem Oberbürgermeister gegen die eine Stimme des Postsekretärs Dern ihr Vertrauen aus. Dennoch beharrte Schrader auf seiner Demission. Es dauerte bis tief in die Nacht, als er schließlich nachgab. Nelly war siech für ihr Leben. Es blieb nur die Pflicht. Von diesem Tag an schritt bei Beginn der Dämmerung bis kurz nach Mitternacht vor Schraders Haus ein Mann auf und ab. Er trug einen nach außen gewendeten Pelz. Manchmal tanzte er unter dem Bogenlicht.
Der Sommer brach mit starker Glut über das Land. Wochen hindurch fiel kein Regen. Dumpf, wie ferne Schlachten, verhallten die Gewitter in der Ebene. Sirrend lag die Dürre über den Äckern. Der Boden riss. Nach Mariapein, der kleinen Kirche oberhalb Erlenbachs, stieg in lautem Gebet eine Prozession.
Auf Weißenfels versuchten sie es ohne Gott. Morgens, bevor die Sonne über den Wald kam, stand Hans mit den Knechten auf dem Feld. Sie zogen kleine Bewässerungsgräben durch die Gemüsekulturen. Sie stellten Zerstäuber auf. Sie legten lange Schläuche vom Pumpwerk bis in die berstende Flur. Dennoch blieb die Arbeit ein eitles Bemühen. Die Sonne war von einer tödlichen Gewalt. Die Beete welkten. Die Wiesen wurden grau. Schon fiel das Korn aus den Halmen.
Bäuerle war erschüttert. Der größte Teil der Ernte war verloren. Die Arbeit eines Jahres war umsonst. Zusammen mit Henrici verbiss er sich in einen absurden Plan. In einem Bericht über die Materialschlachten des Weltkrieges hatte er einmal gelesen, dass eine Beeinflussung der Atmosphäre durch Kanonade möglich sei. Das Wetter entsteht durch Störungen, sagte er zu Henrici. Sie montierten eine Art Böller, ähnlich jenen kleinen Geschützen, mit denen die Weinbauern den Hagel bekämpfen, nur größer und von steiler Wucht. Sobald sich eine Wolke näherte, die, von einem Gewitter abgesprengt, über die Berge zog, schossen sie. Es war ein sinnloses Unterfangen. Eine Art Goldmacherei am Himmel. Sie wussten es bald, doch rasch hatte sie die Spiellust ergriffen, so dass sie immer wieder schossen. Wenn der brütende Mittag plötzlich durch einen harten Knall durchbrochen wurde und die weiße Pulverwolke zum Himmel zog, sagten die Bauern in Erlenbach: „Der Amerikaner droht Gott", und sie bekreuzigten sich. Kilian Kern zuckte immer zusammen, wenn er in der Hitze die Hänge hochhumpelte — das klang ihm verdammt nach bekannten Geräuschen. Nicht nur das Wetter, die ganze Menschheit schien plötzlich wieder verrückt. Gehaltsabbau, die Renten gekürzt, die Steuern erhöht, und zu Hause saß die Frau und erwartete das zweite Kind. Bumm! da knallte es wieder. Wollen das Wetter vom Himmel schießen, die Narren. Kilian Kern lacht. Er hält nichts mehr vom Himmel. Den hat er zusammen mit seinem Bein bei Verdun verloren. Der Tag ist heiß. Kilian tritt in den Hof des Anheggerbauern. Er zieht ein Kuvert aus der Tasche. Portopflichtige Dienstsache steht darauf. Der Anhegger muss den Empfangsschein unterschreiben. Er reißt den Umschlag auf. Da hat er das Urteil. Wenn er bis zum Fünfzehnten nicht zahlt, wird der Hof versteigert. Blaurot läuft der Anhegger an. Er reißt den Wisch mitten hindurch, knüllt ihn und wirft ihn dem Kilian ins Gesicht. „Sag den Bankherren", schreit er, „sie sollen nur kommen. Das Gewehr ist geputzt." Er lässt den Briefträger stehen und geht in den Keller, wo das Fässchen mit dem Kirschschnaps liegt. Kilian humpelt weiter. In seiner Tasche trägt er noch zwei andere Briefe, auf denen „portopflichtige Dienstsache" steht.
Irene ist nach dem Essen von Weißenfels weggegangen. Die Hitze ist so stark, dass niemand arbeiten kann. Vater schläft, Henrici liegt im Grasgarten, Fräulein Degerloch sitzt in der Küche und schlürft ihren Kaffee — wie diese ulkige Person das aushält? Lange Ärmel, Stehbundbluse, den wollenen Unterrock, und in all das noch den heißen Kaffee... Irene lacht. Sie trägt lange, weite Hosen, eine Polobluse und den Badeanzug darunter. Auch aus dem Wald ist jede Kühle gewichen. Das Laub beginnt schon zu bleichen. Der Humusboden ist trocken wie Stroh. Irene geht durch die Stämme. Es sind helle Buchen von schlankem, weiblichem Wuchs. Rechts von der Schonung biegt der Pfad ab. Er führt durch Heckengestrüpp eine Böschung hinauf. Irene schlägt die Brombeerzweige zurück. Sie springt den kleinen Damm nach oben. Vor ihr liegt in stiller Rundung der See.
Langsam geht das Mädchen an den Fichten vorüber. In einer kleinen Bucht ist Sand aufgeschüttet. Ein hölzerner Steg, an dessen Ende ein Sprungbrett schwebt, ragt weit in das Wasser. Irene steht in der Bucht. Sie wirft die Kleider ab. Sie schwimmt in die Mitte des Sees, packt das Floß, schwingt sich hoch und legt sich auf die Bretter.
Irene wusste nicht, wie lange sie lag. Sie hatte von Onkel Baker geträumt. Vom Tennisplatz in Baltimore. Dort spielte sie mit Frau von Berg, und Dr. Kalahne war Ballbub. Eine weiße Jockeymütze trug er und kurze, weiße Kniehosen, und in den Pausen musste er Icecream holen und Grapefruits, und jedesmal, wenn er an den Stuhl kam, sagte Frau von Berg: Wie ruft der kleine Mann? Da stemmte Kalahne beide Arme in die Hüften und schrie: Nieder! Nieder! Nieder! Da lachten alle laut und vergnügt, und über ihrem eigenen Lachen war Irene erwacht. Es war ihr rot vor den Augen, und die Zunge klebte ein wenig am Gaumen. Sie legte den Kopf auf die Arme und betrachtete eine Wasserspinne. Ob er wohl kommt, denkt sie. Ich habe es ihm gesagt. Er ist so scheu die letzten Tage. Immer sucht er sich als Ausrede eine Arbeit. Jetzt sitzt er im Keller und hämmert die Apfelbetten zurecht. Zwei Stunden war sie am Morgen bei ihm gewesen, kaum ein Wort hat er gesprochen, nur als sie sich küssten, da haben sich plötzlich alle seine Muskeln gespannt, und es war eine Sekunde, als wollte er sie zerbrechen.
Irene schließt die Augen. Das Wasser gluckst unter dem Floß. Ihre Brust härtet sich. Irene denkt nichts.
Bis drei Uhr hatte Hans an den Apfelbetten gezimmert. Immer neue Latten nagelte er zusammen. Mit lauten Schlägen trieb er die Nägel in das Holz. „Wenn der bis drei drinnen ist, geh ich..." Eins! Zwei! Drei! Der Kopf des Nagels schaut noch einen halben Zentimeter heraus. Hans atmet auf. Er wird also bleiben.
Doch sein Herz beginnt von neuem das Spiel. Eins, zwei, drei... Der Nagel sitzt. Hans wirft die Latten zusammen, steht eine Minute ruhig, dann nimmt er wieder den Hammer, und die Schläge gellen durch den Keller.
Ich werd es ihr einfach sagen, rund heraus, ohne Umschweife, dann mag sie mich wegjagen. Eins, zwei, drei... Ob sie das überhaupt begreift? Ich selbst begreife es ja auch nicht mehr, wie das mit Gerhard möglich war. Aber ich muss es ihr sagen. Manche behaupten, so etwas sei eine Krankheit. Er schlägt auf die Latte ein. Das Holz reißt. Nach zehn Minuten verlässt Hans den Hof. Er ist entschlossen. Nein, feig ist er nicht.
Irene spürt einen Stoß. Das Floß schwankt. Es biegt sich zur Seite. Es kippt. Lachend vor Schrecken rollt sie ins Wasser. Sie taucht, und als sie nach oben kommt, schwimmt Hans neben ihr. Sein Haar ist nass und hängt ihm bis in die Augen. Er schnaubt wie ein Seelöwe. Sie spritzt ihn an, da geht er nach unten, er packt sie an den Beinen und zieht sie nach.
Sekunden schwimmen sie unter der kobaltblauen Fläche, schweigend, wie spielende Tiere. Irene geht zuerst hoch. Sie schnappt Luft, dann krault sie nach dem Ufer. Nach zehn Stößen hat sie Hans eingeholt. Er packt sie und zieht sie wieder nach unten. Es ist ein wortloser Kampf. Irene spürt, dass es kein Spiel mehr ist. Sie merkt seinen Leib ganz nahe dem ihren, und während sie mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem unter Wasser treiben, spürt sie, wie er sie immer und immer wieder umfängt. Manchmal stoßen sie hinauf in die Sphäre der Menschen, um nach kurzem Atemholen gleich wieder abzusinken in den amphibischen Liebestanz. Erschöpft kommen sie schließlich ans Ufer. Sie sprechen kein Wort. Sie legen sich in die Sonne. Keuchend lassen sie sich trocknen.
Lange liegen sie so, bis sich Hans plötzlich mit einem Ruck hochsetzt. Er sieht auf das Wasser, er nimmt kleine Steine und wirft sie über den See; ein paar Wasserhühner, die zwischen dem Schilf ziehen, verjagt er mit einem Ast. Irene spürt ihr Herz. Es klopft hart und schnell. Sie sieht nach dem Himmel, wo ein Weih steht. Die Zeit gerinnt zu einer unendlichen, schmerzenden Sekunde. „Ich muss dir die Wahrheit sagen." Er ist ganz heiser. „Dann kannst du tun mit mir, was du willst." Wie rau er das spricht, und wie schön ist dieser Gedanke.
„Ich bin nicht mehr rein. Ich bin sogar noch schlimmer. Ich habe mit einem Mann... Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll..."
Jetzt hat er sich ganz umgedreht. Sie spürt es, obwohl sie nur den Himmel sieht. O Gott, wenn er
nur dableibt und nicht wegrennt...
„Jetzt weißt du es. Jetzt kannst du mich verachten."
Ach, er bewegt sich. Er steht auf. Sie schließt die Augen. Sie will das nicht sehen. Ach, halt ihn doch fest, lieber Gott, halt ihn doch fest!
Sie kann sich nicht rühren. Alles in ihr will zu ihm.
Aber sie kann sich nicht rühren.
„Siehst du", sagt er, „das begreifst du nicht. Ich begreife es heute auch nicht mehr. Aber es war so."
Jetzt geht er hinunter zum See. Sie hört es. Sie sieht es durch die geschlossenen Lider. Da steht er. Da will
er fort. Mit aller Kraft richtet sich Irene hoch. Sie krallt die Hände rückwärts in die Erde. Sie zittert.
Sie friert fürchterlich.
„Hans", ruft sie, „Hans... ich wusste es ja..." Er kommt zurück. Sie sieht ihn, sie sieht seine harten, hohen Beine, und sie sitzt da und zittert. „Du wusstest es?" Er ruft aus einer schrecklichen Entfernung, obwohl er vor ihr steht. „Ja, Annemarie von Berg hat es mir erzählt. Sie will nicht, dass ich dich will. Aber ich, ich will dich doch... das andere ist mir egal... Ja... Ja!" schreit sie und hämmert mit den Händen auf den Boden. Sie starren sich an. Ist das Glas zwischen ihnen? Oder sind es nur Tränen? Da bricht er hindurch. Da fällt der Himmel über sie. Sie spürt, jetzt müsste ich sterben. Sie umklammert Hans. Sie hält ihn fest. „Du", schreit sie, „du... Lieber... Ja?"
Der Bauer Anhegger hat am Morgen seine Frau und die Kinder zu Verwandten am unteren Ende des
Dorfes geschickt. Dann hat er das Tor verrammelt, alle Fensterläden geschlossen und sich auf den Boden hinter die Dachluke gesetzt. Auf einem kleinen Brett lag die Munition, hundert saubere Schuss. Der Karabiner stand griffnahe in der Ecke. Die Parabellumpistole war auf weite Distanz gestellt. In der Blechkanne schaukelte der Kirsch. So wartete der Bauer. Es war gegen elf Uhr, als der Gerichtsvollzieher Schnabel in das Dorf kam. Kein Mensch ist auf der Straße. Überall sind die Fensterläden geschlossen. Ja, die Hitze, denkt Schnabel. Es ist ihm nicht wohl zu Mut. Er spürt ihn schon, den Hass, der ihn empfangen wird. Ha, vor dem Krieg, da war das ein schöner Beruf. Als er nach zwölf Jahren Dienstzeit vom Militär kam, hatte er ihn gerne ergriffen. Es war ein moralischer Beruf. Man bestrafte die Taugenichtse, die böswilligen Schuldner, überhaupt das Unsolide. Man war ein Finger der Gerechtigkeit. Heute? Schnabel lüftet den Strohhut. Denken macht krank, seufzt er leise vor sich hin und geht in die Bürgermeisterei.
Die Tür zum Amtszimmer ist verschlossen. Niemand regt sich im Hause. „Halli-Hallo", ruft Schnabel, und klopft mit dem harten Rand des Strohhuts wider die holzverschalte Wand. Keine Antwort. Er geht in den Hof. Alles ruhig. In einer halben Stunde soll die Versteigerung beginnen, und der Bürgermeister ist verreist. So etwas ist Schnabel noch niemals passiert. Er hat zwar viel erlebt in diesem letzten Jahr, oh, er könnte erzählen — aber, dass sich ein Bürgermeister einfach seiner Pflicht entzieht, das begreift er nicht. Was hatte man denn auf dieser trostlosen Erde noch anderes als seine Pflicht? Sie allein hielt einen hoch. Sie gab dem Leben überhaupt den richtigen Wert, alles andere war Tand, eitler Flitter, Spitzbüberei...
Schnabel horcht. Geht da oben nicht eine Tür? Natürlich, da war doch ein Schritt. „Hallo", ruft Schnabel, „ich bin's!"
Wieder ein Schritt. Schwer klingt es auf den Stufen. Oben, im Helldunkel der Treppe gewahrt Schnabel den Bürgermeister.
„Halli-Hallo... guten Morgen." Der Gerichtsvollzieher schwingt den Hut. Der Bauer lehnt sich über das Geländer. Gemächlich schaut er auf das Lüster-röckchen da unten. Schmal ist sein Mund. Als er ihn öffnet, zeigen sich nur noch wenige Zähne. „Nö", sagt er, „ich mache nicht mit!" Schnabel ist starr. So früh am Morgen und schon blau, denkt er.
„Im Dorf macht überhaupt keiner mit. Und wenn ein Fremder steigert, dann..." Der Bürgermeister spuckt in die Hände und haut mit einer unsichtbaren Peitsche durch die Luft. „Ja aber", ruft Schnabel, „was Sie da tun, ist ja Amtsverweigerung!"
„Weiß ich", lacht der Bürgermeister, „aber dieser Staat kann mich..." Sagt's und geht, haut die Tür ins Schloss, leise rieselt der Kalk von den Wänden. Wortlos steht der Schnabel im Gang. Es wird ihm plötzlich kalt. Mitten im Juli.
Wie ein Raubvogel sitzt der Anhegger hinter der Luke unter dem Dach. Er hat den Feind durch das
Dorf gehen sehen. Zum Bürgermeister ist er gegangen. Der Anhegger lacht. Keiner wird kommen. Keiner von den ganzen Leuten hier im Dorf. Kein Katholik und kein Protestant. In diesem Fall sind sie alle ein Herz und eine Seele. Und hier in das Haus kommt auch kein Fremder herein. Seit zweihundert Jahren sitzen die Anheggers darinnen, seit sie aus Tirol wegen ihres Glaubens ausgewandert waren. Und ihn soll's treffen? Nur weil er seit anderthalb Jahren diese Zinsen nicht mehr zahlt? Er nimmt den Karabiner. Liebevoll schaut er durch den gezogenen Lauf. „Nein", lächelt er, „so haben wir nicht miteinander gerechnet, lieber Herrgott!" Er ist sehr ruhig, der Anhegger. Er weiß, was er tut. Wer die Hand an den Hof legt, kriegt die Kugel. Und wenn es der Kaiser von China wäre. Der Bauer sieht in den gleißenden Mittag. Er lächelt. Wie gut die Frau zu ihm war, noch in dieser Nacht. Sie wusste, um was es ging. Ganz weich hat sie an ihm gelegen und ihn gestreichelt, den harten, holzigen Mann.
Jetzt schlägt es halb zwölf. Jetzt muss er ja kommen, der Herr Staat, und er soll es einmal versuchen, ihm den Hof abzunehmen. Anhegger äugt scharf über die Straße. Tatsächlich, da kommt er angewalzt. Ein Lüsterröckchen trägt er, einen harten Strohhut hat er auf dem schwitzenden Kopf, und ein Bäuchlein schiebt er vor sich her.
Der Anhegger lacht. Er setzt die Flasche mit dem Kirsch an den Mund. Das wird lustig werde, denkt er. Schnabel geht direkt auf den Hof zu. Er muss den Tatbestand feststellen. Dann wird er nach Siebenwasser an seine vorgesetzte Behörde telefonieren. Es ist ihm gar nicht wohl bei der Sache. Aber die Pflicht verbietet jedes Privatgefühl. Hier ist der Auftrag, hier ist der Schnabel, das und das hat er zu tun. Damit basta. Jetzt steht er vor dem Tor. Natürlich verrammelt. Keine Klingel da? Nein. Zunächst, denkt Schnabel, muss ich ordnungsgemäß Einlass begehren. Er klopft also. Mit der Faust klopft er. Es klingt nicht sehr laut, aber es müsste hörbar sein für die Bewohner. Entweder sind sie nicht anwesend oder sie hören absichtlich nicht. In beiden Fällen ist der Tatbestand der Behinderung bei einer Amtshandlung erfüllt. Schnabel nimmt die Akten aus der Tasche und notiert. Die Mappe zwischen die Beine geklemmt, steht der Gerichtsvollzieher im grellen Sonnenlicht vor dem geschlossenen Haus.
Kilian Kern hat Schnabel mit Siebenwasser verbunden. Was redet der da? Polizei... Wahrung der Staatsautorität... Dummes Zeug. Sollen dem Anhegger seinen Hof lassen. Haben doch Geld genug, die Banken. Was die und die Krankenkassen für Paläste bauen. Da ginge dem Anhegger sein Haus zehnmal hinein. Der Herr Gerichtsvollzieher sieht ganz nett aus. Gar nicht böse und eisern, wie ich mir so etwas immer vorgestellt habe. Plötzlich schnuppert er. Er fragt, ob es hier Kaninchen gäbe. „Aber natürlich", lacht Kilian, „ich hab drei hohe Ställe hinter dem Haus." Da fängt der Mann an zu strahlen. „Ach", sagt er, „würden Sie mir die einmal zeigen? Ich hab sie so gern. Zu Hause hab ich zwei Albinos und zwei tüchtige Belgier."
Sie gehen hinaus. Sie stehen vor den Ställen. Schnabel nimmt ein Junges aus dem wimmelnden Nest. Er legt es auf den Arm. Er streichelt vorsichtig das mattblaue Fell, und während das kleine Tier die Ohren wohlig bewegt und Schnabels Armbanduhr zu belecken beginnt, ruft der Gerichtsvollzieher: „Ach, sehen Sie doch, wie unschuldig das ist..."
Nach einer halben Stunde betreten das Dorf Siebenwasser drei Landgendarmen. Der Wachtmeister Dorband trifft sich mit Schnabel auf der Post. Sie beschließen, zu Anheggers Hof zu gehen, und wenn sich auf ihr Rufen und Pochen niemand dort melde, dann müsse das Tor eben gesprengt werden. Drei uniformierte Männer, begleitet von einem Mann, der einen Strohhut trägt, gehen durch die leeren Dorfstraßen. Manchmal ist es Schnabel, als sähe er hinter den Ritzen der Läden Augen aufblitzen, aber das ist sicher das Flimmern der Hitze. Er ist nicht furchtsam, der Gerichtsvollzieher Schnabel, aber heute, das will ihm nicht aus den Knien.
Poch! Poch! Dorband schlägt an das Tor. „Polizei, öffnen!" Still liegt der Hof. Wie ausgestorben ist das Dorf. Nur ein paar Enten treiben über den Mühlbach.
Die Gendarmen sehen sich an. Alle drei, wie sie hier stehen, waren sie einmal Bauernbuben gewesen, bevor sie zum Militär kamen und später zur Gendarmerie. Sie kennen den Eigensinn der Bauern, aber hier, das ist mehr. Ein Mensch, der nicht öffnet, wenn die Polizei es verlangt, ist entweder verrückt oder ein Verbrecher. Die Gendarmen werden wütend. Sie haben die Dienstuniform an, und der Kerl macht nicht auf!
„Öffnen", befiehlt Dorband. Sie versuchen sich zuerst am Schloss, aber das ist quer mit Holzkeilen zugetrieben. Vor einem Schuppen entdeckt einer eine Axt. Dorband lässt sie holen. Er prüft ihren Stiel. Er fährt mit dem Finger über die Schneide. Da hebt er sie schon. Ein gewaltiger Schlag fegt wider das Tor. Erschrocken springt Schnabel zur Seite. „Wie in Feindesland", denkt er. Dorband beißt sich auf die Lippen und haut wieder. Der linke Flügel des Tores neigt sich langsam zur Seite. Zum drittenmal hebt der Wachtmeister die Axt. Die Schneide funkelt im Sonnenlicht. Schnabel zittert an Händen und Füßen. In gleißendem Hieb fährt das Eisen durch die Luft. Krach, peng! ein Knall, ein Schlag. Vornüber stürzt Dorband. Die Axt frisst sich ins Tor. Davor liegt der Wachtmeister und steht nicht mehr auf.
Blitzschnell waren die Gendarmen hinter den Schuppen gerannt! Peng! Peng! peitscht es hinter ihnen her. Sie schießen zurück, scharf an Schnabel vorbei, der wie verblödet auf Dorband starrt. „Deckung", hört er sie rufen. „Wie bitte?" fragt der kleine, dicke Mann. Er hält den Strohhut in der Hand. Um ihn pfeifen die Kugeln. Plötzlich macht der Gerichtsvollzieher einen Satz. „Aufhören!" schreit er, er hält sich die Ohren zu und rennt nach dem Mühlbach. Peng, peng. Klatsch, klatsch... Bis zum Nabel steht der Gerichtsvollzieher im Wasser. Hoch hebt er die Mappe mit den Akten. Kreischend fliegen die Gänse davon. „Ach du lieber Gott", schreit Schnabel, „ach du lieber Gott..."
Die Schüsse verstummen. Er sieht die Gendarmen über die Straße laufen. Pudelnass klettert er das Ufer empor. Er rennt den Gendarmen nach. „Judenknechte", brüllt es aus Anheggers Haus. Dann ist es still, und der Himmel und die Wiesen sind lieblich wie zuvor.
Anhegger hatte mit dem Schuss bis zum dritten Schlag des Wachtmeisters gewartet. Dann löste er den Karabiner. Er sah Dorband fallen. Genau in die linke Schläfe hatte er gezielt. Den Fliehenden hatte er mit der Pistole noch ein paar Schüsse nachgejagt, dann waren sie hinter der Böschung verschwunden. Schade. Aber gelacht hatte der Anhegger, als er den Staat im Mühlbach stehen sah. Dieser Jammer mit der Aktentasche im hellgrauen Lüsterrock. Er hatte sich überlegt, ob er ihm nicht eine ins Gesäß knallen solle, aber er musste so lachen über den Kerl, dass er kaum zum Schießen kam.
Jetzt sitzt der Anhegger auf seiner Bank hinter der Luke. Der Karabiner liegt auf seinen Knien. Er nimmt die Blechkanne und trinkt einen Kirsch. Er denkt gar nichts. Er wartet.
Das Überfallkommando war nach zwanzig Minuten vor der Post vorgefahren. Ein bleicher Offizier sprang ab. Fünfundzwanzig Mann sammelten sich auf dem Hof. Mit fliegendem Atem erstatteten die Gendarmen Bericht. Dann wurde Schnabel geholt. Es war zwei Uhr, als der Anhegger in den umliegenden Gärten eine Unruhe bemerkte. Von allen Seiten zog sich eine Kette grüner Uniformen um das
Haus. Mochten sie nur. Über die Stiege kam ihm keiner. Die hatte der Anhegger unter dem Gewehr. Plötzlich hört er seinen Namen. Er sieht den Mann nicht, der ihn ruft. Das muss rechts im Garten sein, hinter der Blutbuche.
„Anhegger", ruft es, „Anhegger, hör zu. Dein Haus ist umstellt. Man fragt, ob du bereit bist, dich freiwillig zu ergeben. Das kann dich vielleicht noch retten, Anhegger, lässt man dir sagen. Überleg dir's genau."
Der Anhegger lacht. Verhandeln? Ich habe genug geschwätzt, und es hat nichts genutzt. Und er jagt einen Schuss nach der Blutbuche. Sofort löst sich eine Salve gegen das Dach. Die Ziegel splittern. Späne fliegen zu Boden. Aber, wo der Bauer sitzt, schlägt keine Kugel durch. Vor einem Jahr hat er hier ausmauern lassen, eine Wurstkammer für den Winter. Jetzt schweigen sie wieder. Beratschlagen wohl. Er hört, wie sie abziehen.
Dann hört er plötzlich ein Brummen. Er richtet sich auf. Da steht auf der Dorfstraße ein komisches Möbel. Ein Panzerwagen, denkt der Unteroffizier Anhegger vom 83. Infanterieregiment. Er ist gar nicht erregt. Nur neugierig ist er. Und wieder ruft es seinen Namen. „Josef... Josef!" Er rennt zur Luke. Im Garten steht der Pfarrer. Er hat beide Hände erhoben, als beschwöre er das Haus. Anhegger schiebt den Karabiner über das Fensterbrett. Das ist bestimmt eine List. Das machen sie immer so. Erst den Pfarrer und dann... „Schieß, wenn du willst", klingt es aus dem Garten. Der Bauer hebt langsam den Kopf.
„Josef, um fünf Uhr wollen sie stürmen. Bis dahin hast du noch Zeit. Denk an deine Frau und an deine Kinder. Josef, denk an Gott!"
Da legt sich der Bauer über die Brüstung. „Ich will mein Recht!" schreit er, „euer Recht ist kein Recht mehr. Erde ist mehr als Geld. So denkt Gott. Ja, so denkt er."
„Du hast gemordet", sagt leise der Pfarrer, „Josef, du darfst nicht mehr von Gott reden." „Und ihr wollt stehlen!" schreit der Bauer, „ihr dürft nicht mehr von Recht reden." „Denk an Gottes Gebot. Sei Untertan der Obrigkeit. Denk an deine Seele, Mann!" Traurig sieht der Pfarrer in des Bauern Gesicht. „In meinem Haus ist meine Seele", sagt der Anhegger plötzlich ganz ruhig, „und das wollen sie mir wegnehmen."
Dann schlägt er mit einem Krach das Fenster zu. Er fällt auf den Stuhl. Hemmungslos stürzen die Tränen über sein Gesicht. Doch seine Hand hält den Karabiner.
Blass geht der Pfarrer durch den Garten. In den Ställen brüllt das Vieh unter dem Druck seiner Euter.
Der Zeiger auf der Uhr am Kirchturm nähert sich fünf. Der Major hat den Panzerwagen auf der Dorfstraße bereit gestellt. In zwanzig Minuten wird er stürmen. Gegen Mörder hilft nur Gewalt. Kein Mann darf mehr gefährdet werden. Der Major wird das Dach in Brand schießen lassen. Mag der Wahnsinnige verkohlen.
Anhegger äugt scharf auf den Garten. Er sieht die Uhr vorrücken. Bald werden sie kommen. Anhegger denkt nicht mehr an seine Frau und an den Hansli. Er ist in einer anderen Welt. Er steht allein in seiner Luke, wunderbar allein, gegen Gewehre und Granaten, so muss ein Mann sein, aufrecht und einsam. Es denkt in ihm herum. Hätte er nur nicht der ältesten Tochter, die diesen Stadtfratz von Studienrat heiratete, so viel Aussteuer und Bargeld mitgegeben, dann hätte er die Bankschuld nicht gebraucht. Aber die Liesel, die wollte immer hoch hinaus. Fünfzehntausend Mark hat er hingelegt, das war es, das ist an allem schuld. Und jetzt soll er auch noch den Hof hergeben für diesen windigen Studienrat, der in zwei Jahren das Geld verspekuliert hat. Deshalb soll der Anhegger dran glauben. Was ist das? Die Straße ist leer. Der Panzerwagen ist weg. Der Bauer zählt die Munition. Fünfundsiebzig Schuss. Ein teuerer Boden wird das für die Herren. Einen hat er schon geschluckt, und der Anhegger wird scharf zielen, bis er sich die letzte Kugel ins Hirn jagt, dort, wo das Licht ist. Es sind noch fünfzehn Minuten bis fünf. Der Anhegger hört das Vieh. Wie das brüllt! Seit dem Morgen haben sie kein Futter. Die Kühe sind nicht gemolken. Sie schreien. Ihre Euter brennen. Der Bauer hält sich die Ohren zu, aber er hört sie doch, die Tiere. Dass ich das vergaß..., dass ich das Wichtigste vergaß. „Ruhe!" brüllt er sich an. Er starrt durch das Fenster. Niemand kommt. Das Dorf schläft. Vielleicht sind sie weggefahren. Oh, sie sind wohl weggefahren. Wie das Vieh schreit. Josef Anhegger vergisst die Menschen. Er starrt durch die Luke. Da liegt der Stall. Hoch ragen die Rücken der Kühe zwischen den Boxen. Sie reißen an den Stricken. Sie schlagen mit den Hufen. Das böse Feuer saust ihnen durch den Leib.
„Gott im Himmel, hab Erbarmen!" schreit der Bauer, „hab Erbarmen... hab Erbarmen!" Schon ist er die halbe Stiege hinunter. Er sieht nichts mehr. Er vergisst den Pfarrer, den Panzerwagen und den Major. Er hört nur das Gebrüll, den Jammer, das hilflose Betteln der Kreatur. Muuh... Muuuaah... Muuuaaaaah. Anhegger torkelt durch das Haus. Die Pistole hat er in der Hand. Er rennt in den Stall. Wie sie brüllen, als sie ihn sehen. Da kniet er schon auf dem Mist.
Seine Finger fassen die brandigen Euter. Weiß fließt die Milch, ein befreiter Bach, durch das Stroh. Von Tier zu Tier rennt der Mann. Er weint und lacht. Die Kühe lecken sein Haar, und der Saft ihres Leibes schäumt hell über die Hände des Bauern. Langsam schob sich der Panzerwagen über den weichen Grund nach dem Haus. Zwischen den Glocken des Kirchturms stand der Major und beobachtete die Aktion. Es fiel kein Schuss, als sie in die Hofreite drangen. Sie gingen durch alle Zimmer. Oben unter dem Dach stand der Karabiner am Fensterbord. Sie nahmen ihn mit. Sie suchten im Keller, in der Scheune, im Garten, unter dem Dach. Als sie den Stall betraten, fanden sie ihn. Er lag, die Pistole in der Hand, in einem See von Milch, befleckt mit Blut und Kot, als wäre er eben geboren.
In Siebenwasser, Topfengasse 11, ist die Wirtschaft „Zur neuen Welt". An die kleine Bierstube schließt sich ein mittelgroßer Saal mit einer Bühne. Vor dem Krieg gab es kaum einen Abend, an dem der Saal nicht vermietet war. Die sozialdemokratischen Organisationen, Freie Turner, Freie Sänger, Freie Radfahrer, der Verein für Feuerbestattung, die Mitglieder des Konsumvereins versammelten sich hier, und Herr Petermann, der Wirt, konnte zufrieden sein. Er selbst war seit seiner Lehrzeit begeisterter Sozialdemokrat, was ihn jedoch nicht hinderte, sein steigendes Bankkonto an jedem Monatsende mit Schmunzeln zu verfolgen. Er ließ seinen Sohn studieren, und als der Krieg mit dem Zusammenbruch der Monarchie endete und die Genossen einen Teil der Macht übernahmen, hatten Petermanns plötzlich einen Landrat in der Familie. Dieses Glück jedoch wurde durch einen Schlag, der tief in die Kasse Petermanns ging, sehr bald aufgehoben. Die Gewerkschaften bauten kurz nach der Inflation das Volkshaus, und die Organisationen verlegten ihre Abende in die neuen Räume. Der alte Petermann rannte zwar vom Gewerkschaftssekretär zum Parteisekretär, aber er erreichte nicht mehr als ein paar Theateraufführungen der Radfahrer und Feuerbestatter im Winter. Langsam sank das Lokal wieder zur Kneipe hinab. Über der Theke hing noch das Bild des alten Bebel mit der eigenhändigen Unterschrift, und im Saal stand hinter der Bühne eine Jungfrauenfigur aus Gips, einen Palmzweig in der Hand und das Wort „Freiheit" am Sockel. Einmal, als Frau Petermann dort putzte, war das Posamentierprodukt umgestürzt. Frau Petermann kehrte die staubigen Stücke zusammen, und während sie die Reste der Göttin in die Mülltonne schüttete, sagte sie: „Na, den Wilhelm hast du ja auch nicht lange überlebt."
Vor einem Jahr war Jürgen Winkler zum ersten Mal in die „Neue Welt" gekommen. Sie lag wenige Schritte von Marias Haus, und Maria trank sonntags hier gern ein Glas Bier. Zuerst hatte Petermann über diesen uniformierten Burschen gelacht, der es mit so einer Person hielt, aber eines Abends sagte er doch zu seiner Frau: „Emmi, ich glaube, es kommt wieder Leben in die Bude." Tatsächlich füllte sich jeden Samstagabend das Lokal. Zuerst waren es fünf, dann wurden es zwölf, und jetzt waren es gar manchmal zwanzig Arbeiter, mit denen der Braune sich da immer herumstritt. Sie tranken zwar nicht viel, auf zwei Mann kam gewöhnlich ein Glas Bier, sie waren erwerbslos, die Mehrzahl von ihnen gehörte zur Kommunistischen Partei. Das schnitt dem alten Petermann zwar ins Herz, dass diese Moskowiter in seinem Lokal sich breit machten, aber zehn Glas Bier und zwanzig Zigaretten am Abend mehr verkauft, das bedeutete schon etwas in dieser Zeit. Den Braunen verstand Petermann schon gar nicht. Nur wenn er auf die Bonzen schimpfte, tat es dem alten Budiker heimlich gut. Ach, wenn man die Reden hörte und die Gesichter sah von den Sekretären und Abgeordneten, da war nichts mehr vom alten Kampfesmut darin, und statt wie früher Feuer in die Herzen zu gießen, zogen sie heute Statistiken aus den Taschen und lasen sie vor. Oft sah Petermann nach dem Bebelbild. „Was die aus deiner Sach gemacht haben, August... Büros... lauter Büros", seufzte er, und er dachte voll Trauer an den Stolz und den Trotz der Maifeiern in den neunziger Jahren.
Es ist Abend. Maria steht vor dem Wandspiegel und kämmt sich. Eigentlich ist es gar nicht nötig. Sie tut es aus Langeweile. Jürgen ist fort. Und wenn Jürgen fort ist, langweilt sich Maria.
Draußen im Hof verstummen langsam die Spiele der Kinder. Durch das offene Fenster zieht in weichen Wellen der Abendwind. Er bringt Holunderduft mit und den späten Schmelz der Rosen aus den städtischen Anlagen. Maria atmet tief die Luft ein. Wie sich das alles gewandelt hat, denkt sie, früher hab ich das nie gerochen. Früher? Das war das Leben vor jenem Abend, da sie Jürgen getroffen hatte. Das war das Leben im Grau, im Einerlei. Heute? Maria nimmt ein kleines Parfümfläschchen und betupft sich ihr Haar. So weich ist alles in ihr, in dieser warmen Augustnacht. Sie glättet das Bett. Heute wird sie Jürgen gehören. Heute lässt sie keinen andern herein.
Maria sitzt auf dem Bett. Gefaltet liegen ihre Hände über dem Schoß. Das war ein langer Weg zu diesem Glück. Zwar ihr Beruf war noch der alte. Und die Leute regten sich auf. Sie halte ihn aus. Natürlich hält sie ihn aus. Wir müssen doch leben. Und er muss kämpfen und siegen. Das ist doch logisch, wie? Aber das verstehen die Bürger nicht. Die meinen immer, dass das Richtige aus ihren Gehirnen komme. Oh, es kommt ganz woanders her, das Neue, aus dem Dunkeln kommt es, Maria spürt es, es ist ein geheimnisvolles Warten in der Luft, unter dem Boden und in den Worten der Menschen. Sie weiß nicht, was es ist. Sie liebt. Viele Männer sind ihr begegnet, und keinen hat sie geliebt. Das ist das Wunder, das Maria erlebt. Hunderte können uns berühren, und wir erheben uns, als wäre nichts gewesen. Und dann kommt dieser eine, und du vergehst in seinem Arm.
Kaum noch, dass Maria an die kleine Resi denkt und überhaupt nicht mehr an ihren Bräutigam. Dem Kind schickt sie süße Paketchen, und dem Jakob hat sie abgeschrieben. Nicht grob, nein, Maria konnte nicht mehr grob sein, sie hat ihm nur gesagt, er solle sich eine andere Braut suchen. So lange könne er gar nicht warten, bis sie heiraten würden. Er hatte nicht geantwortet. Das war gut so.
Maria hört einen Schritt. Hinten im Hof. Wird die alte Brumshagen sein. Die spioniert immer herum. Was ist das? Es klopft? Tatsächlich, zweimal hat es geklopft. Vielleicht ein Gymnasiast. Maria macht
Licht. Sie geht durch den Gang.
„Wer ist da?" fragt Maria.
„Ich bin's. Mach auf, bitte, mach auf."
„Wer ist das, ich?" fragt Maria.
„Der Jakob aus Eßlingen, der ist es."
Maria spürt einen Schwindel. Sie steht im Gang, und die Wände schieben sich auf sie zu.
„Ich bin nämlich arbeitslos. Ich hab nichts zu fressen."
Wie dünn seine Stimme ist, wie abgemagert. Blitzschnell rasen die Gedanken durch Maria. Was soll sie tun? Wenn Jürgen ihn findet, soll sie sagen, das ist mein Bräutigam oder ein Kunde? Oder überhaupt nicht aufmachen? Er schweigt da draußen. Er steht in der Nacht. Er hat Hunger. In der Küche ist Brot und Speck.
Sie öffnet. Gewaltsam presst sie ihre Stimme. „Grüß dich Gott, Jakob." Er tritt ein. Sie sitzen in der Küche. Jakob hat drei Tassen Kaffee getrunken und vier Schmalzbrote gegessen. Jetzt kann er erzählen. „Ja", sagt Maria nach jedem Satz, „ja... ja..."
Wie abgerissen er aussieht. Was war das für ein schicker Sportsmann vor einem Jahr. Vom Fuß bis zur Mütze aus Leder.
„... und als du mir damals schriebst, dass es mit der Heirat und mit der Wirtschaft in Wimpfen nichts wäre und dass wir uns nicht wiedersehen wollten, es ginge nicht, es ginge wirklich nicht, da hab ich mir gar nichts daraus gemacht, Maria. Ich hatte nämlich eine feine Stellung. So etwas Wunderbares hatte
ich noch nie gehabt. Eine Staubsaugervertretung, Bezirk Franken."
Jetzt lacht er wie ein Junge.
„Und denk dir, ein Auto hab ich gehabt. Mit dem gondelte ich im Land herum. Jeden Tag woanders. Und dabei feste Provision, Vertrauensspesen. Und es waren nur bessere Leute, die ich besuchte." Er leckte sich den Schmalzrest von der Oberlippe und schielte nach dem Eierschränkchen. Maria gab ihm ein Ei. Er schlürfte es aus. Und dann noch ein zweites.
„Mit den Staubsaugern ist das nämlich so. Das kann nicht jeder. Da muss man Fachkenntnisse haben. Und vor allem gute Manieren. Ein Glück, sag ich dir, dass ich auf der Oberrealschule war, schon wegen der vielen Fremdwörter."
Er sieht Maria überlegen an, denn Maria war nicht auf der Oberrealschule. Und sie hat auch immer konzentrierte Milch gesagt statt kondensierte. „Das war ein Leben, Maria. Einmal da, einmal dort, und Geld wie Heu." Er wölbt die Hände.
„Und wo ist jetzt das Geld, ich meine, was hast du damit gemacht?" sagt Maria.
Erstaunt guckt sie der Jakob an. „Ausgegeben...
Was sonst?" Er schüttelt den Kopf. Gedanken haben die Weiber...
„Und dann?" fragt Maria.
„Und dann war es plötzlich aus."
Lange schweigen sie. Wenn er nur ginge, denkt
Maria. Jürgen darf ihn nicht sehen. Nein, das darf
Jürgen nicht. Jetzt greift er auch noch nach ihrer
Hand. Jetzt streichelt er sie. Jetzt kommt er ganz nahe an sie heran.
„Wir waren uns doch gut... nicht wahr... wir hatten's doch miteinander... nicht wahr... wir wollten doch zusammen einen Gasthof pachten, nicht wahr... Und wie mir so elend wurde, da spürte ich auf einmal wieder das Gefühl zu dir, Maria, und da hab ich mir gedacht, du gehst einmal zu deiner alten Braut, die hat doch etwas gespart, und wenn's auch nicht für den Gasthof langt — für einen kleinen Zigarrenladen wird's immer noch langen." Sie sieht ihn an. Da hockt er, der Jakob, er reißt sich an den Fingern, er zieht die Schultern zusammen, er zwinkert mit den Augen, und er grinst und flüstert: „Du weißt doch, ich drück alle Augen zu. Solange die Herren zahlen, soll's mir recht sein... ich verkauf Zigarren und du..." „Hör auf!" schreit Maria. Sie steht vor ihm. Sie hat ihn an der Schulter gepackt. Sie schüttelt ihn. „Du sollst den Mund halten!" brüllt sie ihn an. Der Staubsaugerjakob bekommt große Augen. Was hat denn das Weib? Ist sie verrückt geworden? Die weint ja plötzlich. Vielleicht auch arbeitslos, wie?
Langsam fallen die Minuten zwischen den beiden Menschen. Keiner sieht den andern an. Auf Marias Gesicht trocknen die Tränen. Jakob schiebt sich Brotstücke in den Mund.
Plötzlich steht die Frau auf. Sie geht in das Zimmer und holt ihre Tasche. Wie von fern sieht sie den Mann an. „Du kannst nicht hierbleiben", sagt Maria. „Ich habe einen reichen Liebhaber. Er ist eifersüchtig", sagt Maria. „Da... mehr kann ich dir nicht geben."
Jakob sieht den Fünfzigmarkschein. Er nimmt ihn mechanisch. „Soso", sagt er, „aber wo soll ich nur hingehen?" Er steht vor ihr, in der abgewetzten Eleganz seines Anzugs, und betrachtet den Riss in dem Oberleder seines Schuhs.
„Hast du denn keine Mutter mehr?" fragt Maria, und sie spürt, wie er ihr leid tut. Da lächelt der Mann, als erinnere er sich plötzlich an etwas Gutes. Er schüttelt den Kopf. „Nein... keine mehr", antwortet der Staubsaugerjakob.
Lange sitzt Maria allein in der Küche. Drei Äpfel hatte sie ihm noch geschenkt, als er ging. Und sie war auch noch in Jürgens Zimmer gelaufen und hatte Zigaretten geholt. Jetzt ist er weg. Wie ein Gespenst ging er durch die Tür. Ob er ihr schreiben dürfe? Oh, er würde die fünfzig Mark bestimmt zurückschicken, wenn er etwas fände. „Bei meiner Bildung und bei meinen Manieren", hatte er noch gesagt. Das sollte ein Hieb für Maria sein. Ach, wie ärmlich war er in seinem Trotz.
Sie überlegt, ob sie essen soll. Jürgen wird lange bleiben. Die ganze SA. ist alarmiert. Es geht etwas vor. Seit dieser Dr. Kalahne offen für die Bewegung eintritt, ist Schwung in der Bude. Einfälle hat der! Das mit dem Mantel vor Schraders Wohnung war toll. Der Oberbürgermeister ist bald verrückt geworden darüber. Geschieht ihm recht. Wer vom Juden frisst, stirbt daran. Maria lacht. Damals in
Darmstadt, ihre Herrschaft, das waren auch Juden. Seht ihr, denkt Maria, so geht es. Sie hat Jakob vergessen. Sie rührt sich zwei Eier in die Pfanne. Sie hat Hunger. Sie freut sich auf Jürgen, während sie isst. Es wird neun, es wird zehn. Maria sitzt allein in der Küche. Manchmal klopft es am Laden, aber Maria macht nicht auf. Heute ist Samstag. Sie wird mit Jürgen in Petermanns Lokal gehen. Sie wird Bier trinken und still zuhören, wie die Männer sich streiten. Ha, gegen Jürgen kommt keiner auf. Wenn der redet, dann blitzt's. Neulich hat einer von den Arbeitern ein Buch mitgebracht, das sei die Wahrheit, hat er gesagt, aber als er draus vorlas, da waren es nur Fremdworte und Sätze, manchmal so lang wie ein Bandwurm.
Fünf Minuten hatte sich Jürgen das angehört. Dann hat er gelacht. „Kinder", hat er gerufen, „was lauft ihr dem krummgescheiten Juden nach, den kein Aas versteht? Der wahre Sozialismus, der steht doch nicht in Büchern. Der sitzt im Herzen!" Da haben sie geguckt. Ganz kleinlaut sind sie geworden. Und einer hat sein Mitgliedsbuch herausgezogen und es dem Jürgen gegeben. Wie glücklich der ist, wenn ein Arbeiter herüberkommt. „Nur ihr könnt das Reich bauen", ruft er den Leuten ins Gesicht, „nur ihr und die Bauern. Der Bürger ist alt." In solchen Stunden liebt ihn Maria am meisten. Er glüht vor Begeisterung. Er ist so mutig. Vor keinem Menschen fürchtet er sich.
Maria horcht. Auf der Straße sind Schritte. Feste, genagelte Schritte. Jetzt hört sie die Stimmen. Ja... ja... er ist's... Unten schlägt schon die Tür. Er
rennt die Stiege hinauf. Er singt. Wahrhaftig, er singt. Deutsche Sozialisten — mutig Hand in Hand... „Maria!" ruft er. „Maria!" Sie springt auf. Sie läuft auf den Gang. Da steht er groß unter der Ampel. Er lacht. Er strahlt.
„Er kommt!" ruft er, „er kommt! In zwei Tagen ist er da!"
„Wer?" fragt Maria.
„Adolf Hitler!" jubelt Jürgen, und sie spürt, wie er sie hält.
Johann Kaspar hatte in diesen Wochen das Gut nicht verlassen. Spät war der Regen gefallen. Die Wiesen hatten sich erholt. Die Getreideernte gab einen mittleren Ertrag. Zwei Drittel der Gemüsekulturen waren verdorrt. Doch die Reben hingen voll praller Trauben.
Sie waren Bäuerles Hoffnung. Endlich musste doch etwas gedeihen nach diesem elenden Sommer. Es war wie verhext. Jetzt hatte auch noch die Siedlungs-AG. Pleite gemacht. Mit achtzigtausend Mark hing Johann Kaspar in der Affäre. Er konnte die Summe getrost in den Rauchfang schreiben. Es ärgerte ihn, aber es traf ihn nicht empfindlich. Schlimmer war schon die Sache mit Schrader. Der Skandal war zwar äußerlich abgewehrt, aber es war der Schwamm des Misstrauens, des Neids und der latenten Verdächtigung hängengeblieben. Das war ja auch wohl der Zweck der Intrige. Ich hätte die Kerle anders angepackt. Aber dieser Schrader gibt diesem Kalahne auch noch den regulären Abschied, anstatt ihn kopfüber die Treppe hinunterzuwerfen.
Dabei war es offensichtlich, dass alle Fäden bei ihm zusammenliefen. Schiebt diesen Schickedanz vor, der so lange das zweite Dienstmädchen von Schrader umgirrte, bis sie ihm die Quittung stahl. Wütend geht Johann Kaspar durch die Weinberge. Er berührt eine Traube. Sie ist warm von Sonne. Wenigstens etwas Echtes, denkt der Amerikaner, und zerdrückt sie zwischen den Fingern. Er mag überhaupt nicht mehr nachdenken über den Wirrwarr. Was dieser Kalahne in seinem „Alarm" täglich schreibt, geht schon über die Hutschnur. Sozialismus sei eine Frage der Gesinnung. Er sei übermateriell und nicht zweckgebunden. Soso. Hab Sozialismus im Herzen... es ist zum Verzweifeln. Johann Kaspar ist kein Sozialist. Aber er weiß, was es mit dieser Sache auf sich hat. Es geht dabei um verdammt praktische Dinge. Um die planmäßige Bewirtschaftung der Erde. Um Kohle und Eisen, um Elektrizität und Kreditwesen, um Fabriken und Schiffe — um lauter praktische Dinge geht es. Da muss man anpacken, wenn man Sozialismus machen will. Das ist eine Frage des Hirns und der Fäuste. Aber mit dem Herzen... Bäuerle flucht. Diese Begriffsverwirrung erregt ihn. Dieses unreine Denken, dabei überheblich und anmaßend wie jedes unreine Denken. Wie diese Preußen es verstehen, ihre wahren Absichten zu vernebeln. Ein A biegen die zu einem O. Jetzt haben sie den Sozialismus an den Haaren. Jetzt machen sie das neunzehnte Jahrhundert verächtlich. Haha, meine Herren, das ist euch gefährlich. Damals wurde noch klar gedacht. Er ist sehr böse, der Johann Kaspar. Da steht er nun in seiner geliebten Heimat, mitten in seinem Weinberg, kräftig, gesund, gutwillig... und wieder muss er es erleben, wie die Deutschen sich heillos verwirren. Ja, man hatte sie schlecht angepackt, viele Jahre hindurch nach dem Krieg, sie haben lange in einer Unterwertigkeit gelebt — aber dann war doch die große Wandlung geschehen. Und waren nicht gerade sie dazu berufen, diesen Nationalitätenwahn, der seit hundertfünfzig Jahren Europa ruiniert, zu überwinden, gerade weil sie so sehr an ihm gelitten hatten? Bäuerle ist traurig. Er liebt sein Volk. Deshalb ist er traurig.
Vom Gut läutet es Mittag. Langsam stapft Bäuerle den Weinberg hinauf. Seine Augen weiden sich am Glanz der Trauben, und das herrliche, reine Gotteslicht über den Hügeln umflutet auch den unruhig eifernden Mann.
Hammelbraten mit Teltower Rübchen, dazu den leicht säuerlichen Landwein. Bäuerle vergisst. Er dehnt sich wohlig am Tisch. Er streckt die Füße mit den schweren Stiefeln weit von sich weg. Und während der Dampf des Fleisches in nahrhaften Ringen über den Tellern schwebt und der Wein in den Bechern in sanfte Schwingung gerät, während unten der Fluss durch die Rebgärten treibt und weit hinten am Horizont das Silber der Ebene erglänzt, hebt Bäuerle die Arme, er faltet sie hinter dem Kopf, und er ruft: „Ach, Kinder, wie gut und wie herrlich könnte das alles sein!"
Still sitzen Irene und Hans an dem Tisch. Sie sehen den Vater. Sie nicken ihm zu. Dann verlieren sich wieder ihre Augen ineinander. Irene schält Hans eine Birne. Sie schneidet das weiche Fleisch in vier gleiche Teile, der Saft läuft über ihre Hände, und die schwarzen Kerne schimmern dunkel auf ihrer Haut.
„Warum redet ihr denn nichts?" fragt Bäuerle nach einer Weile.
Erstaunt hebt Irene den Kopf. „Warum sollen wir reden?" antwortet sie, und ihre Augen werden ganz rund.
Schweigend nimmt Bäuerle eine Nuss und zerschlägt sie mit der flachen Hand.
Am Nachmittag fährt er nach Siebenwasser. Er hat auf der Bank zu tun. Weißenfels ist ein teurer Traum. Die Baltimorer Fabriken werfen nur noch wenig ab. Bäuerle muss vorsichtig sein. Bei Henri Jockel vespert er. Die halbe Flasche Macon stimmt ihn froh. Die Weinstube ist leer. Frau Minchen kommt für eine Weile an den Tisch. „Der Henri ist mal snell nach Frankfurt ges—pritzt. Dort s—pricht der Herr Hitler." „Lassen Sie mich mit dem Zeug in Ruh", ruft Bäuerle, „gibt's denn sonst gar nichts mehr in diesem Land?" „Öh", sagt Frau Minchen, „dös ist momentan die größte Attraktion. Denken Sie, der Herr Hitler, der will alles anders machen." „Und dann?" fragt Bäuerle.
„No... und dann", antwortet Frau Minchen, „dann wird's eben besser." Bäuerle trinkt.
„Ich hab's ja immer dem Henri gesagt. Du mit deiner Demokratie, hab ich gesagt, das gibt nur S—treit. Jeder zieht an einem andern S—trick.
Aber er hat immer gleich gebrüllt. Davon ver-s—tände ich nichts. Das wär eben Freiheit. Denken Sie, Freiheit. Das passt doch nicht für uns Deutsche, wo drei immer gleich einen Verein machen. Nöch? Einer muss da sein und kommandieren. Das ist doch logisch, nöch?"
Frau Minchen ist im Zug. Schon lange hat sie heimlich die Zeitung aus München gelesen. Am Bahnhof hat sie sie gekauft, und einen Umweg über das Feld hat sie gemacht, und wenn sie die Zeitung fertig hatte, da hat sie sie auf einen Acker geworfen, damit nur der Henri nichts merkt. Denn er konnte fuchsteufelswild werden, der liebe Demokrat. Auch der Bäuerle ist so einer von dieser Sorte. Freiheit, denkt Minchen, was haben wir schon von dieser merkwürdigen Freiheit? Geschäftsrückgang. Nichts als Sorgen.
Und sie legt Bäuerle eine Zeitung auf den Tisch. Sie will ihn foppen. Sie kann ihn so gut leiden. „Der Herr Hitler kommt auch hierher. Sehen Sie, da steht's. Am Freitag. Das müssen Sie sich aber ansehen!"
Bäuerle brummt. Die Person flötet so nett Hamburger Deutsch. Mag sie reden, was sie will. „Und was hier Herr Dern geschrieben hat! Ich mag ihn ja nicht so recht, und das mit den Juden ist wohl auch übertrieben. Wie ich im Pensionat war, kannte ich ein Fräulein Goldschmidt, das war ein herziges Püppchen. Pfft... aber was da Herr Dern schreibt..."
Sie liest aus dem „Alarm".
„Wir sind keine Partei. Wir sind keine Interessengruppe. Wir reißen das Rad der deutschen Geschichte herum. Der nordische Mensch..." „Hören Sie auf!" schreit Bäuerle, „wenn ich an diesem Dern seine Visage denke..." „Ach", sagt Frau Minchen, „der ist nur ein bisken ostisch überlagert."
Da steht Bäuerle auf. Er nimmt seinen Hut. Er läuft hinaus. Sogar zu zahlen hat er vergessen.
In Petermanns Lokal geht es hoch her. Spät, gegen elf Uhr erst, ist der Braune gekommen. Und hinter ihm mindestens zehn Mann in der gleichen Uniform.
Nanu, denkt Petermann, den kenn ich doch, der da neben dem Winkler steht. Der war doch vorige Woche noch in Zivil. Und der dort auch. Das waren doch wilde Kommunisten. Und jetzt? Petermann kratzt sich hinter dem Ohr. Er weiß überhaupt nicht mehr recht, was er denken soll. Der Sozialismus ist wie ein Vexierbild für ihn. Früher war alles klar. Da gab es nur die Partei. Aber seit sie in der Regierung sitzt und Volkshäuser baut, ist der Sozialismus anscheinend auf Wanderschaft gegangen. Da sagen die Braunen, sie hätten ihn, da rufen die ganz Roten, sie hätten ihn, und die Sozialdemokraten, die sagen schon gar nichts mehr. Wo so viel Köche sind, denkt Petermann, steht's schlimm um den Brei. Außer den Uniformierten ist niemand in der Bierstube. Doch, hinten in der Ecke sitzt ein Mann. Seit zwei Stunden sitzt er schon da. Sechs Biere und sechs Schnäpse hat er getrunken. Wenn der nur auch zahlt. Vater Petermann füllt die Biere, streicht den Schaum von den Gläsern und bringt die Runde an den Tisch, wo die Braunen sitzen.
„Na", sagt er, „heute abend keine Diskussion? Alles gleicher Meinung?"
Sie lachen und nicken. „Komisch", sagt Petermann, „gibt es denn so etwas überhaupt?" Er stellt die Biere auf die Filze.
„Das ist ja das Wunder", hört er den Winkler sagen, „das kann man nicht begreifen. Das musst du erleben."
Wie feierlich die sind, denkt Petermann. Und er schlurft nach der Theke zurück. Es war Jürgen auch wirklich feierlich zu Mute. Bald wird er den Führer sehen, er wird ihm die jungen Proleten vorstellen, die er aus dem materialistischen Sumpf gerettet hat, feste, harte Burschen, nicht leicht umzubiegen, aber jeder einzelne mehr wert als zehn rückenmarkweiche Bürger. Stolz sieht Jürgen auf die neuen Uniformen. Diese zehn Mann werden vor der Front mit ihm stehen, wenn der Führer am Morgen nach der Versammlung die Standarte weiht, draußen auf der Erlenbacher Höhe. Lange hat er mit Hungrich darum gekämpft, mit diesem Arbeiterfresser, der am liebsten aus der SA. einen bewaffneten Bürgerverein machen würde. Jürgen hat gesiegt. Kalahne hat sich auf seine Seite gestellt. So verschlagen dieser Doktor ist, er weiß, dass es um den Sozialismus geht, um nichts anderes. Sie wechseln wenig Worte, wie sie da an dem Tisch sitzen. Sie trinken Bier, das Maria gestiftet hat. Die Diskussionen sind vorüber. Jetzt sind sie Soldaten. Jetzt denkt nur noch einer für sie.
Jürgen betrachtet Maria. Adrett sieht sie aus in der weißen Bluse und in dem blauen Rock. Aber was hat sie nur heute Abend? Rutscht auf dem Stuhl herum wie 'ne hitzige Jungfrau. Jürgen ist keiner, der lange zuwartet, besonders nicht, wenn es Maria angeht. „Also jetzt sag, warum zitterst du?" „Ach", antwortet sie, „das geht vorüber." Jürgen folgt ihrem Blick. Wirklich unverschämt, wie der Kerl in der Ecke herüber grinst. Dem werd ich mal! Er steht auf. Maria hält ihn fest. „Nein", sagt sie, „lass ihn gehen..."
„Was ist denn los?" fragen zwei SA.-Männer. Jetzt nur nicht sentimental werden, denkt Maria, so etwas verstehen die nicht. Sie stützt die hellen Arme auf den Tisch. Sie zieht den Mund kraus und hebt ein wenig die Nase.
„Kinder", sagt sie, „wisst ihr, was eine Vergangenheitsleiche ist? Dort sitzt mein abgelegter Bräutigam." Die SA.-Leute lachen. So muss Maria sein, frech und zackig, das gefällt ihnen. „Wollte wohl seine vergessene Badehose holen?" ruft einer, und alle grinsen den Jakob an. Der kippt gerade den vierten doppelten Kirsch. Er tut, als hätte er nichts gehört, und feixt weiter. „Schauen Sie gefälligst in Ihr Schnapsglas oder auf Ihre Fingernägel!" schreit Jürgen. Der ganze Kerl ist ihm unsympathisch. Als ihm Maria vorhin das mit dem Zigarrenladen erzählt hat, wusste Jürgen sofort Bescheid.
„Ich kann hinschauen, wohin ich will." Der Jakob formt beide Hände zu Röhren und setzt sie wie ein Fernglas an die Augen.
„Das ist also der reiche Liebhaber, Mariechen?" Er kichert. „Mit solchem Indianer vertust du dein Geld... und deine alten Freunde jagst du mit einem Fünfziger weg. Na, schön... Huren und Rowdies gehören ja immer zusammen." „Lass ihn!" schreit Maria, „er ist betrunken!" Sie hält Jürgen am Ärmel, aber er reißt sich los und steht schon an Jakobs Tisch. Die SA.-Leute sind aufgesprungen, sie lockern die Ledergürtel, ihre Gesichter werden ganz ernst wie bei einer Zeremonie. Jürgen hat Jakob an der Schulter gefasst und deutet wortlos nach der Tür.
„Einen doppelten Kirsch!" ruft Jakob nach der Theke, dann dreht er Jürgen den Rücken zu, verschränkt die Arme und sagt: „Ich bin ein gebildeter Mensch. Mit Ihnen unterhalte ich mich gar nicht." Ein Schlag ins Genick wirft ihn über den Tisch. Doch er kommt wieder hoch. Er packt einen Stuhl. Er hebt ihn in die Luft. „Du Sparkassenbuchjäger!" schreit er, „du Hurengeneral!" Da springen sie ihn an. Mit lautem Krach schlägt der Stuhl auf den Boden, Jakob fühlt sich gepackt, er stürzt, Fußtritte und Schläge prasseln auf seinen Bauch, an Armen und Beinen halten sie ihn fest, er kann sich nicht wehren. Aber schreien kann er. Bis es ihm schwarz vor den Augen wird. Feige Hunde! Feige Hunde! Feige Hun...
Als er erwacht, kniet Petermann neben ihm. Er hat Kognak in einer Tasse. „Um Gottes willen", sagt der Wirt, „Mann, geben Sie Ruhe. Alle sind weg. So etwas... so etwas..." Er geht zur Theke, um einen neuen Kognak zu holen. Jakob richtet sich hoch. Er kniet. Er tastet sich die Rippen ab. Das Kreuz tut ihm verdammt weh. Solch ein Lügenweib, hält den Kerl aus und tut, als sei er der Schah von Persien.
Kniend klopft er sich den Staub von dem Rock, und während er traurig der verblichenen Schönheit seines Anzugs gedenkt und dabei leise vor sich hinflucht, sieht er plötzlich neben dem Tischbein auf dem Boden ein schwarzblaues Ding. Er nimmt es, zögert ein paar Sekunden, dann steckt er blitzschnell den Browning in die Tasche und steht auf. An der Theke trinkt er noch drei Bier und drei Schnäpse. Er lädt Petermann ein. Den hat der Schrecken durstig gemacht. Ängstlich fleht er Jakob an, nichts der Polizei zu melden. Jakob ist in großer Fahrt. Der Schnaps steigt in glasigen Wölkchen bis in die letzte Windung seines Hirns. „Ich und Polizei!" sagt er verächtlich, „ein Mann in meiner Stellung verteidigt seine Ehre selbst."
Er wirft den Fünfzigmarkschein auf den Tisch, Petermann wechselt erschrocken, der Herr sieht ja ziemlich heruntergekommen aus, aber wer weiß, was dahinter steckt, die Zeiten sind verdammt undurchsichtig. Da setzt der Jakob seinen Hut auf, wankt ein paar Schritte, und als er schließlich die Tür erreicht und die warme Nachtluft von der Straße her die Wirtsstube durchflutet, brüllt er Petermann an: „In Zukunft werde ich nur in standesgemäßen Lokalen verkehren, verstanden?" und geht.
Der Sturm hatte sich außerhalb Siebenwassers in einer verlassenen Kiesgrube versammelt. Ab zehn
Uhr morgens rückten die Abteilungen heran. Bald war die Kiesgrube und das abgeerntete Feld ringsum mit Gruppen von SA.-Männern bedeckt. Weit über Land kamen sie anmarschiert, aus den Höhendörfern, den kleinen Städten am Fluss, aus den Weilern und den Marktflecken. Bald waren es über tausend Mann, die sich vor Siebenwasser zusammenzogen. Stolz steht Hungrich an der Böschung. Wie ein Feldherr steht er da. Was war in diesen Monaten aus der kleinen SA. des Oberleutnants Träger geworden? Hungrich muss lachen, wenn er noch an die Späße vom vorigen Jahr denkt. Jetzt sind sie eine Macht. Mag auch die Polizei mit einer Hundertschaft drüben am Rain stehen — diese Männer hier werden den Tag erleben, da Deutschland ihnen gehört. Jürgen kommt und meldet elfhundertachtzig Mann. Das ist Standartenstärke, denkt Hungrich. Bald werde ich Standartenführer sein. Er geht zu den Gruppen und begrüßt die Männer. Oft läuft er Gefahr, in den Feldwebelton seiner Militärzeit zu fallen. Kalahne und Winkler hatten ihm nachzuweisen versucht, dass es sich bei der SA. nicht um den alten Kommiss handle, sondern um eine revolutionäre Truppe, die nicht blindlings gehorche wie eine militärische Einheit. Hungrich richtete sich nach dieser, wie er sagte, nationalbolschewistischen Mode. Innerlich lehnte er sie aufs schärfste ab. Alles Proletarische war ihm zuwider. Wie hasste er die Mietskasernen, in denen er aufgewachsen war, mit ihrem Mief, ihrem Stunk und ihrem Weibergekläff. Sein Vater, ein einfacher Schlosser in einer Möbelfabrik, hatte alles getan, damit sein Sohn etwas Besseres werde. Er rauchte und trank nicht, und die Mutter war waschen gegangen, damit der Sohn aus dem geduckten Leben herauskomme. Es hatte zwar nur zum Geometer gereicht, und während des Krieges hatten sie ihn nicht zum Leutnant gemacht, obwohl er sich wie ein Teufel herumschlug, später war er zu den Freikorps gegangen und hatte im Baltikum, an der Ruhr und in Mitteldeutschland gekämpft. Hungrich war fest davon überzeugt, dass es keinen größeren Genuss als den der Macht gäbe, und dass diese Macht nur in den Händen weniger vereinigt sein dürfe. Seine geheime Genusssucht entsprach seinem kleinbürgerlichen Cäsarismus. Er hasste alles, was bestand, alles, was ihm nicht gehörte. Der Neid war seine einzige Eigenschaft. Aber er war schlau. Er verstand es zu warten. Er wusste, dass der Tag kommen wird, wo das ermattete Bürgertum sich ihnen ergibt, mit all seinem angehäuften Reichtum, mit seinen Villen, mit seinen Frauen und mit seinem schlechten Gewissen. Hungrich kannte den Preis genau, der dafür zu zahlen sein wird: die Abwürgung der proletarischen Revolution. Ein Spottpreis, dachte Hungrich. Wir vertreiben den Pöbel und erobern dafür den Staat. Langsam und lächelnd ging er zwischen den Gruppen hindurch. Dieser Winkler mit seinem proletarischen Getue muss weg. Tut sich da auf als Hurenbeschwörer, als Kommunistenmissionar, stößt die Bürger vor den Kopf, wo er nur kann, — dabei ist es doch ihr Staat, den wir haben wollen, und nicht den Hokuspokus, mit dem der Winkler den Proleten die Köpfe verdreht. Der Kerl ist in München gut angeschrieben. Die ganze nationalbolschewistische Clique steht hinter ihm. Ich werde lächeln, wenn ich ihn sehe, dachte Hungrich. Man muss lächeln, wenn man die Messer schleift. Am Rande der Kiesgrube stellte ihm Jürgen die zehn Kommunisten vor, von denen er sagte, er habe sie in die Volksgemeinschaft zurückgeführt. Hungrich wurde verlegen. Da standen sie vor ihm mit typisch proletarischen Gesichtern, hager, ein wenig spöttisch und merkwürdig selbstbewusst. Gummigaloschen hatten sie an, Manchesterhosen und darüber das braune Hemd. „Hören Sie, Pg. Winkler, Sie hätten die Leute wirklich ein wenig besser einkleiden können." Was ist das? Wie starren die ihn an? Der Winkler kriegt einen puterroten Kopf. Was sagt er? „Das sind keine Leute, das sind Parteigenossen, wie du und ich. Und einkleiden konnte ich sie auch nicht, sondern sie haben sich jeder das braune Hemd von ihrer Erwerbslosenunterstützung abgespart. Ich glaube, dass das mehr wert ist als eine tipptoppe Ausrüstung." Hungrich spürt, wie die Blicke der Proleten seine schönen weichen Gamaschenstiefel streifen, es wird ihm nicht wohl in den elegant geschnittenen Breeches — er stottert etwas von Missverständnis und Bewunderung, dann geht er weiter.
Hans hatte sich bald von den Gruppen getrennt und sich oberhalb der Kiesgrube auf die Wiese gelegt. Hier war es ruhig, man brauchte nicht zu reden, man war allein. Als er gestern Abend den Sturmbefehl bekam, hatte er pflichtgemäß seine Sachen geordnet, dann hatte er nicht mehr daran gedacht bis zum Morgen. Den Abend über hatte er mit Irene Schach gespielt. Es war merkwürdig gewesen, wie immer einer dem andern eine Chance bot, damit er gewann. Und nach dem Spiel waren sie noch im Garten gewesen. Irene wollte sehen, ob die Wasserrosen nachts ihre Kelche schließen, und siehe, sie taten es auch. Das war eine Stunde wie aus einem einzigen Hauch. Lautlos standen sie unter den Bäumen. Sie sprachen nichts. Oh, wieviel sprachen sie da... Später, als sie zurückkamen und Bäuerle fragte, wo sie gewesen seien, da antwortete Irene, Leuchtkäfern seien sie nachgeeilt und schließlich nach vieler Mühe hätten sie einen gefangen, aber wo vorher das schöne Licht war, da sei plötzlich ein garstiger Wurm gewesen. Da hatte sie Johann Kaspar lange angeschaut und hatte zu ihnen gesagt, sie sollten das mit dem Licht und dem garstigen Wurm nie vergessen. Sie begriffen nicht, was er meinte. Als Hans auf dem Flur dann Irene gute Nacht sagte, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, dass Vater morgen wegen der Versammlung in Siebenwasser über Nacht bleibe. Rasch war sie weggelaufen. Er hatte sie verstanden.
Hans liegt auf dem Rücken. Er spricht auf sich ein. Was ist nur mit dir? Wer bist du denn überhaupt? Hans Diefenbach, das war wohl einmal, das ist jetzt ein Toter? Hast du alles vergessen? Holzapfel, Gerhard, die Kameraden? Und jetzt kommt der Führer, und du liegst hier im Gras und schaust nach dem Himmel. Du freust dich nicht einmal, du gehst nicht auf und ab vor lauter Erwartung. Nein, eine Hummel betrachtest du, ein kleines, lächerliches, dummes Tier, wie es da in der Blüte wühlt und sich staubig macht. Und heute morgen wärst du am liebsten gar nicht weggegangen von Weißenfels, weil die Nüsse reif sind und Irene schon ganz gelbe Hände hat von den Schalen und weil du heute wieder auf den Baum steigen wolltest, hoch hinauf, wo er schwankt. Hans, ein Abtrünniger bist du, ein Weiberknecht, ein Verlorener.
Er liegt da und zieht einen Grashalm durch die Lippen. Er sieht die kleinen weißen Wolken am Horizont und oben auf dem Hügel die blendende Front des Guts. Sprich nur weiter, denkt er, sprich nur weiter. Aber es sprach nicht weiter. Es war plötzlich ganz ruhig. Hans schließt die Augen. Er hört die Hummel. Ameisen laufen über seine Hände. Der warme Wind bewegt seine Haare. Der Duft der Wiese, aus tausend Blumen zusammengeweht, streicht über ihn hin. Hans streckt sich. Er atmet tief. Lächelnd schläft er ein.
Die tausend Männer in der Kiesgrube sahen den Engel nicht. Hans aber sah ihn. Lange schon hatte er die Buchfinken gehört, wie sie ihm sirrend entgegenflogen, und die Hummeln und die Ameisen, alle hatten sie sich aufgemacht, die Libellen und die Grasmücken, die Falter und die goldgrünen Käfer, die Eidechsen, die Frösche und die Molche, und ganz zuletzt kamen im scharfen Schnitt eines blauen Halbmonds die Schwalben geflogen. Hans betrachtete den Engel. Sein Panzer war aus dem harten Stahl der Nacht, doch seine Beine schiente das Licht. Auf der linken Hand trug er Rebe und Hügel, auf der rechten nisteten die Buchfinken und die Meisen. Sie sangen und pfiffen, sie trillerten und putzten sich die Schnäbel an der Brust, und während zu seinen Füßen die Ameisen die Steine und Äste wegtrugen, schwebten hinter seinem Rücken die Libellen und webten ihm einen grünen Mantel aus Glas.
„Oh, seht doch!" rief Hans, „oh, seht doch den Engel!" Doch die Männer in der Kiesgrube sahen ihn nicht.
Jetzt sah Hans des Engels Gesicht. Es war von einer schmerzlichen Schönheit. Hans fürchtete sich nicht. „Wer bist du?" fragte er den Engel. „Ich weiß es nicht", antwortete der Engel. Er kniete nieder, und alle Blumen auf der Wiese wuchsen plötzlich um seinen Leib, damit der Engel nicht friere. Und wie die Blumen um ihn wuchsen, da kamen aus dem Wald Schwärme von Bienen, und sie gaben den Honig zurück, damit der Engel nicht hungre. Und als die Bienen den Honig zurückgaben, da begannen die goldgrünen Käfer die Flügel zu drehen, und es gab ein wunderbar zärtliches Licht, damit der Engel nicht strauchle. Und als die goldgrünen Käfer die Flügel drehten, da begannen die Falter über seinem Haar zu tanzen, und die Frösche hüpften und hopsten im Gras, damit der Engel nicht traurig werde. Und als die Falter über seinem Haupte tanzten, und die Frösche vor seinen Füßen hüpften, und die goldgrünen Käfer die Flügel drehten, und die Bienen den Honig zurückgaben, und die Blumen um seinen Panzer sich schlangen, da weinte der Engel doch. „Warum weinst du?" fragte Hans.
„Horch", antwortete der Engel. Und alle Tiere verstummten. Da bohrte sich durch die Luft ein Ton, ein Brausen war es, als käme ein schwarzer Wind. Der Himmel verfinsterte sich, die Wolken sanken ganz tief, und der Engel erblasste. „Halt!" schrie Hans, „halt!" Er wollte auf, aber er war gelähmt. Und er sah auf den Wolken in dichten Scharen Menschen, die weißen Leiber in Tücher gehüllt, sie rannten gegeneinander, sie hieben sich, sie würgten sich noch im Fallen, sie bissen sich in die Brüste, und ihr Blut floss in hellen Bächen zur Erde. „Halt!" schrie Hans, „seht doch den Engel!" Aber sie hörten ihn nicht. Und plötzlich sah Hans, wie die Falter zu Boden sanken, wie die Frösche die Libellen fraßen, wie die Bienen den Honig zurückschlürften und wie die Ameisen sich bekämpften. Unermesslich war das Geschrei zwischen Himmel und Erde. Da erlosch der Engel.
„Halt!" schrie Hans. „Haltet den Engel!" Er wurde gepackt. Sie rissen ihn hoch.
„Mensch!" schrie Jürgen Wach auf!" Hans öffnete die Augen. Die Kiesgrube war leer. Nach Abteilungen geordnet standen die Männer an der Straße. „Marsch! Marsch!" rief Jürgen. Als sie die Chaussee erreichten, erklang von Erlenbach her die dunkle Hupe des Autos.
Frau Dern steht in der Küche. Sie schüttelt den Kopf. Sie sagt gar nichts mehr. Seit drei Tagen ist das Haus in Aufregung. Das kommt und geht, vom Morgen bis tief in die Nacht. Otto ist überhaupt nicht mehr zu sprechen. Am vernünftigsten ist noch der Doktor.
Der hat ihr wenigstens verraten, was sie kochen soll. Eierkuchen mit Apfelbrei. Zuerst war Frau Dern sprachlos. Sie hatte sich schon ein feines Menü ausgedacht, wie damals bei ihrer Hochzeit. Ochsenschwanzsuppe, Bodenseefelchen, ein Entrecote mit diversen Gemüsen. Dann Eis und Käse. Und Mosel zum Fisch, roten Pfälzer zum Fleisch und am Schluss einen deftigen Kaffee mit Kirsch. Frau Dern rührt den Eierkuchen an. Sie streut eine Messerspitze Vanillezucker über die Masse, dann stellt sie die Schüssel zur Seite und geht auf den Flur. Sie geht ins Gastzimmer. Sie hat es selbst geputzt, und das Bett hat sie selbst gerichtet. Zwei hohe Kissen schichten sich am Kopf. Von der Großmutter stammen die noch. Mit Eiderdaunen sind sie gefüllt, auch das Unterbett. Das waren noch solide Zeiten, denkt Frau Dern. Sie probiert die Nachttischlampe. Wie schön die roten Glasperlen leuchten und die grünen. Am Abend wird sie noch einen Apfel hinstellen und einen kleinen Kognak mit einem Stück Zucker dazu, so einen echten französischen. Den hat sie noch von der silbernen Hochzeit gerettet und vor Otto im Wäscheschrank versteckt. Aber da wird sie traurig. Auch Kognak darf sie nicht anbieten, ach, das Beste, was sie hat. Mutter Dern möchte so gern etwas Gutes tun. Nachdenklich streicht sie über das Federbett. Da fällt ein erlösendes Lächeln über ihr Gesicht. „Wenn er auch nur Eierkuchen isst, dann soll er wenigstens weich schlafen", sagte sie leise und mild.
Als sie in die Küche zurückkommt, ist Herta Diefenbach da. Freundlich sagt Mutter Dern guten Tag.
O nein, sie ist nicht mehr eifersüchtig auf die Seelenfreundin, wie Otto die Frau Hauptmann nennt. Sie begreift Otto sehr gut. Achtundvierzig Jahre ist Mutter Dern, drei Kinder und zwei Fehlgeburten, und mit der Bildung ist es auch nicht weit her — das soll man einem Mann wie Otto verübeln? Ja, solange Otto noch bei der Post war und abends verärgert vom Dienst nach Hause kam, da war sie die richtige Frau. Aber jetzt steht Ottos Name in der Zeitung, viele Menschen jubeln ihm zu, viele hassen ihn, aber die wird Otto schon besiegen. Zertreten, sagt er immer. Und lacht grimmig dabei. Mutter Dern kann da nicht mit. Sie hat den Otto liebgehabt, vor vielen Jahren, und jetzt ist er halt über sie hinausgewachsen. Sie ist in der Küche geblieben. Dort sitzt sie am liebsten und denkt an die Zeit, da Otto ein lustiger Bursch war und so ergreifend das Waldhorn blies. Eins jedoch nagt an Mutter Dern. Oh, sie sagt es niemand. Sie wird sich hüten. Otto glaubt nicht mehr an Gott. Unsern Herrn Jesus nennt er einen Juden und die Apostel Tagediebe. Dafür redet er immer von der Sonne, als sei sie der liebe Gott. Wie die Wilden, denkt Mutter Dern, und sie geht oft heimlich zur Messe und betet für die Seele von Otto. „Sie kommen", ruft Herta Diefenbach, „eben hat's von Erlenbach telefoniert." Wie die zittert! Trockene Lippen hat sie und Augen wie glühende Kugeln.
„Gut", antwortet Mutter Dern, „da werd ich eben mal schnell die Eierkuchen..." Aber da ist die Diefenbach schon weg. Sie rennt in den Garten. In der Stadt ist plötzlich ein Geschrei. Heil! Heil! Polizei reitet vor dem Haus. Heil! Wie das wächst. Schon hört man keine Stimme mehr. Ein Brausen ist das. Jetzt ist es auf dem Marktplatz. Jetzt wälzt es sich durch die Altstadt. Jetzt ist es da. Der Wind hört auf. Die Sonne steht still. Heeeiiil!!! Kopfschüttelnd setzt Mutter Dern die Pfanne aufs Feuer. Lautlos zischt das Fett. Als die Männer das Haus betreten, ist der erste Eierkuchen goldgelb.
Bäuerle sitzt in der tobenden Halle. Er hat den Kopf auf den Knauf seines Stockes gestützt. Er sieht nicht nach links, er sieht nicht nach rechts — er sieht auf den Boden. Mit allen Mitteln seines Verstands sucht er sich klarzumachen, was geschieht. Es gelingt ihm nicht. Dieser Mann auf der Bühne braucht nur ein Wort zu sprechen, und schon toben die Leute. Da, jetzt... Ein Brausen geht über die Galerie, es erfasst den Saal, schon ist die Woge über alle Köpfe hinweg. Wer soll da standhalten! Bäuerle hört genau hin. Eine barbarische Stimme. Raffiniert, wie er moduliert. Wie er Suggestivfragen stellt. Wie er die Pausen dehnt und dann die Spannung überrennt. Noch nie hat Bäuerle einen Menschen so sprechen gehört. Das bricht wie ein Gewitter über einen. Der Mann ist... Hahaha... Ha... Heil!... eine böse Naturkraft. Ich werde... Aufhängen! Auf hängen!... Jetzt spricht er plötzlich wie ein Kind. Wie? Deutschland... Vaterland... Volk... Liebe... Da schluchzt eine Frau... ganz laut... hemmungslos... unsere Toten... wofür? wofür? ... welch ein Schrei! ... der Saal ist zum Zerreißen gespannt. Für diesen Staat! Für diese Juden! Für diesen Kapitalismus!! Bäuerle
zittert. So gewaltig ist das Echo. Aus tausend Kehlen dröhnt die Antwort, brüllt die Verzweiflung vor diesem einen Mann. Da ist es, Stählins Blut, da ist es, Anheggers Blut, er hat es in den Händen, er gießt es über die Köpfe, heillos züngeln die Flammen empor. Bäuerle beißt in den Elfenbeingriff seines Stocks. Er spürt den zuckenden Leib der Massen, fassungslos sitzt er vor dieser ungeheuerlichen Beschwörung. Und plötzlich beginnt es wie Schläge auf den zuckenden Leib zu prasseln. Uns gehört die Macht! Uns gebührt die Macht! Uns! Und sie springen auf, und sie jubeln, und sie werfen die Hände, und sein Wille reißt sie zu sich heran, bis sie nichts mehr sehen, bis sie nichts mehr denken, bis sie sind, wie er sie haben will. Inmitten des Aufruhrs, der Raserei, des Tumults der Begeisterung prüft Bäuerle kalten Auges den Mann. Er sieht seine Bewegungen, dieses Außersichsein der Hände, dieses Toben der Faust, diese herrische Geste des nach unten weisenden Daumens. Und er sieht, wie die Menschen diesen hypnotisierenden Gesten folgen, wie sie sich beugen, sich erheben, wie sie hassen und sich verneigen und wie sie außer sich werden, wenn er ihre Wunden berührt. Das ist es, jetzt begreift es Bäuerle. Hier steht ein Mann, der rücksichtslos auf die Wunden weist. Ja, er ätzt sie noch, er legt sie hemmungslos frei. Wie sie brüllen, wie sie aufspringen und toben. Was sagt er da? Wir sind arm. Wir haben nichts mehr. Du und du und das ganze ehrliche deutsche Volk... ja, ja, ja... schreien sie zurück. Das Wundfieber hat sie gepackt. Alles, was schmerzt, hier können sie es herausschreien, zu Hause nicht, im Geschäft nicht, vor den Behörden nicht, aber vor diesem Mann! Scharfäugig sitzt der Amerikaner auf dem Stuhl. Er spürt das Grausen, das aufsteigt. Die Insassen eines Millionenlazaretts sind aufgesprungen, sie zeigen ihre Schwären, sie brauchen nicht mehr zu lächeln wie bei den Visiten der amtlichen Ärzte. Hier steht der neue. Schonungslos deutet er auf das Blut und den Eiter. Gebt mir das Messer, ruft er, gebt mir die Macht!
Die Menge ist aufgesprungen. Ein Heil aus tausend Kehlen dröhnt wider die Kuppel. Wortlos geht der Mann von der Bühne nach unten. Sie bilden Spalier. Sie reißen sich an den Kleidern, sie springen auf die Stühle, fliegende Haare, fliegende Hände, ein Kreißsaal von Männern und Frauen. Und während er so durch die Reihen schreitet und seine Augen in starrer Ruhe die Schritte abmessen und die jungen Männer vor ihm den Weg bahnen, erhebt sich auf der Galerie der Dr. Kalahne. Hell klingt seine Stimme. „Volksgenossen", ruft er, „die andern Nationen haben den Unbekannten Soldaten begraben. In Deutschland ist er auferstanden! Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!"
Bis zum Nachmittag hatte der Staubsaugerjakob im Bahnhofshotel geschlafen. Mit verklebten Augen, wehen Gliedern und einem gärigen Magen war er erwacht. Blinzelnd gewahrt er, dass die Teile seines Anzugs verstreut auf dem Boden liegen. Er steht auf, spült sich am Waschtisch den Mund, lässt sich Wasser über die Haare laufen, säubert die Schuhe mit der Diwandecke, dann geht er zum Fenster und gähnt. Der Blick aus der Höhe des Stocks macht ihn schwindlig. Er geht zurück, zieht die Hosen an und hebt den Rock vom Boden. In der Seitentasche klimpert Geld. Jakob greift hinein und legt die Münzen auf den Tisch. Zweiundvierzig Mark. Blöd starrt er die Geldstücke an. Er holt die Brieftasche aus dem Sakko. Richtig, da waren sie noch, die zwei Zwanzigerscheine von der Arbeitslosenunterstützung. Er legt sie neben das Silber. Verdammt, wo kommt nur das andere Geld her? Er denkt und denkt. Aber auf der Landkarte seiner Erinnerung ist plötzlich ein weißer Fleck, groß und rund, wie die Wüste Sahara. Er klingelt und bestellt eine Flasche Fachinger. Und wie er so trinkt, da hört er plötzlich auf der Straße ein Gelaufe, Musik und genagelte Stiefel. Er zwingt sich zum Fenster, in der Herzgrube sticht es erbärmlich. Ach Gott! denkt er, immer diese Nazis. Radau, nichts als Radau. Doch wie er dasteht und den vorbeiziehenden Kolonnen nachschaut, da wird die Wüste Sahara immer kleiner, vor seinen Augen steigt ein Sparkassenbuch auf, ein Mann stürzt zu Boden, fünfzig Mark... er geht zurück, auf dem Nachttisch liegt ein Bierdeckel. „Rache" hatte der Jakob daraufgeschrieben, und daneben liegt der Browning. Rasch packt Jakob den Koffer. Als er auf die Straße tritt, ist es sechs Uhr am Nachmittag.
Zunächst geht der Jakob in ein Restaurant. Er isst eine illustrierte Gurke und trinkt zwei Glas Bamberger Rauchbier. Danach steigt er die Bahnhofstraße hoch und biegt in eine Seitengasse. Dort liegt der Laden. Jakob kauft eine große Schachtel Königin von Saba. Der Besitzer äugt ihn an. „Na, haben Sie sich entschlossen?" Jakob brummt etwas, kauft noch eine Schachtel, dazu Scherls Magazin und geht in die Anlagen. Schicke Weiber sind in dem Heft. So etwas hat der Jakob gern. Halbnackte Weiber auf Tigerfellen oder vor einer Orchidee stehend. Verdammt, denkt er, so einen Laden und noch hinter der Theke einen kleinen Handel mit unanständigen Bildern, natürlich saftiger als die hier, das ernährt seinen Mann. Er hat eine böse Wut im Bauch. Dieser Nazi sitzt ihm vor der Nase und hat das Sparkassenbuch an der Angel. Um sich zu beruhigen, geht er in eine Weinstube. Überall reden die Leute von den Kerlen. Jakob kann sie schon lange nicht leiden. Als er noch ein anständiger Mensch war und in Staubsaugern reiste, hat er mal in Rothenburg bei einem Tierarzt vorgesprochen. Der war auch von der braunen Sorte. Vierzehn Tage hat er ihm den Staubsauger zur Probe gelassen, und als er ihn abholen wollte, war der Staubsauger kaputt. Das sei Bruch, hat der Tierarzt geschrien. „Meine Staubsauger Bruch?" hat der Jakob höflich geantwortet, „mein Herr, Sie vergreifen sich an einer Weltmarke." „Ich scheiße auf Ihre Welt...", hatte der Braune geschrien, und plötzlich stand der Jakob vor der Tür und neben ihm der Staubsauger. Das hat der Jakob nie vergessen, dass ein Akademiker sich so benehmen kann, aber das kommt von der Bräune. Frisst alle Politur weg. Futsch sind die guten Manieren.
Der Jakob trinkt. Der Wein ist sauer. Wie das Volk hier. Nach dem dritten Viertel fängt der Jakob an, mit sich selbst zu maulen. „Ich Dussel", sagt er laut.
Er rechnet vor sich hin. Also um acht spricht ihr Oberdada im Saalbau, das dauert sicher bis neun. Na, und heimgehen tun die nach so einem Klamauk bestimmt nicht so rasch. Die werden noch saufen und gebildete Menschen verprügeln. Das kann bis Mitternacht dauern. Und sie, na, wenn die heut daheim bleibt, fress ich 'nen Besen. Was wär auch dabei, mit der werd ich fertig. Also um halb neun bin ich dort. Den Schlüssel hat sie ja immer unter der Matte liegen. Im Wohnzimmer steht der Sekretär. Linkes Fach oben. Das weiß der Jakob von früher her noch genau. Er lässt sich einen Fahrplan geben. Halt, verdammt, wann lös ich das Sparbüchlein ein. Vor morgens um neun ist's nicht möglich. Blöd! Aber wenn die heut Nacht so spät nach Hause kommen, haben die anderes zu tun als in die Schubkasten zu gucken. Und bis die dann aufwachen, hab ich schon längst das Geld und sitz um zehn Uhr im Kölner Schnellzug. Der Jakob trinkt Kognak, Wein, Wermut — alles durcheinander. Auf die Tischdecke malt er mit Bleistift Amsterdam, daneben eine Tulpe. Oh, er weiß Bescheid mit den Ländern. Dreitausendsechshundert — damit kann er bestimmt etwas anfangen. Und wenn er auch nichts findet. Dann wird drauflos gelebt, jawohl, gelebt, bis es alle ist. Besser kurz, aber oho! Verfluchtes Deutschland, Elendsland. Kannst mich...
Der Jakob winkt dem Kellner. „Haben Sie vielleicht einen Draht?" „Einen Draht?"
„Ja, einen dünnen Draht, mir ist nämlich der Koffer zugeschnappt und ich hab die Schlüssel verloren."
Fünf Minuten später hat der Jakob seinen Draht. Wozu hat er Schlosser gelernt! Kurz vor halb neun verlässt er die Weinstube und geht nach der Topfengasse.
Über Jürgen ist an diesem Tag das Glück zusammengeschlagen. Schon am Nachmittag hat er den Führer gesprochen. Und jetzt nach der Versammlung steht er wieder vor ihm. Dern und Hungrich sind schon neidisch, dass er sich so lange mit ihm unterhält. Aber Gerhard Träger lächelt und greift immer ein, wenn Jürgen stockt. Da wird es Jürgen ganz leicht ums Herz. Er erzählt, er verschweigt nichts, er sagt, wie der Kampf hier ist, er schimpft auf die Bürger, er spricht von Maria und dem Geld, das sie geopfert hat, und die Arbeiter hier, da hinter ihm, das ist sein Werk, die hat er gerettet für den deutschen Sozialismus. Tief blickt ihm der Führer in die Augen. Er sagt, morgen wird die Standarte geweiht, und Jürgen soll sie tragen, wenn er sie mit der Blutfahne berührt. Und jetzt ist Jürgen auf der Straße, jetzt geht er zu Petermanns Lokal, dort sitzen die Besten vom Sturm und Maria, sie wartet. Jürgen pfeift. Jetzt singt er. Deutsche Sozialisten / einig Hand in Hand / zum letzten Kampf wir rüsten... Er biegt in die Topfengasse ein. Er steht vor Marias Haus. Er überlegt, soll ich ihr den Schal holen? Es wird spät werden heute Abend. Nein, sie soll nicht frieren. Er geht hinein.
Als Jakob in den Hof gekommen war, stand das Fenster zur Küche offen. Kein Licht brannte in den
Zimmern. Glück muss der Mensch haben, dachte Jakob und stieg ein. Rasch hatte er sich orientiert. Oh, er kennt die Wohnung von früher her ganz genau. Ohne Licht findet er den Sekretär. Verdammt, die Schublade ist zu. Na warte. Jakob holt den Draht aus der Tasche. Er bohrt. Wie das standhält. Kann doch kein Geheimfach sein. Huren haben keine Geheimfächer. Er reißt an dem Draht. Der Sekretär wackelt. Doch das Schloss ist zäh. Jakob arbeitet. Nach zehn Atemlängen horcht er. Manchmal hallt ein Schritt über die Straße. Da hält er ein. Dann reißt er wieder am Schloss. Da wird ihm heiß. Jetzt packt ihn die Wut. Hau doch die Lade ein! Aber das sehen sie, wenn sie heimkommen. Wenn ich nur Licht hätte. Er tastet sich vor. Er findet einen Kerzenstummel. Er steckt ihn an. Er ist rasend vor Eifer. Amsterdam, Amsterdam, Amsterdam... Als Jürgen den Flur betritt, sieht er unter der Türritze den Schein. Zuerst denkt er, es sei das Spiel der Laternen von draußen. Aber vor dem Haus sind gar keine Laternen.
Krach, macht es im Zimmer. Er hört etwas fallen. Dann ein Rascheln. Ein Lachen. Er reißt die Tür auf.
„Ach so", schreit er noch. Er springt auf den Burschen zu. Er packt ihn am Hals. Er tritt ihm wider den Bauch. Ein Schlag wider den Kopf. Peng! Ein Schuss zerreißt seine Brust. Es wird hell. Es wird ja furchtbar hell. Es wird ja entsetzlich hell. Alles in ihm fängt an zu brennen. Wo will das hin, ei, das Helle, wo will denn das hin... Das Haus brennt. Funken... Funken... Er stürzt auf die Straße.
„Maria!" schreit er, „ach, Maria, halte mich fest!", dann fällt er um.
Hans rennt den Weg nach Weißenfels hinauf. Es ist eine stockfinstere Nacht. Er stürzt über Wurzeln, er schrammt sich an den Steinen, aber er spürt es nicht. Allzu groß ist der Schreck dieses Abends. „Das ist doch alles vorbei", ruft er, „das ist doch alles vorüber!" Nein... nein... das darf nicht mehr sein... Er nimmt einen Stein und wirft ihn in die Schlucht. Ein leises Echo antwortet. Hans starrt in die Nacht. Der unsichtbare Wind rollt zwischen den Bäumen. Die Sträucher knarren. Über den Boden schleicht's. Wer schreit da? Ein Tier? Ein Mensch? Wie ein Kind war das, wie ein Kind... ist ja nur das Wasser, das schwätzt. Hans rennt weiter. Immer tiefer in den dunklen Vorhang, immer tiefer. Als er die Wiese erreicht, bleibt er stehen. Er sieht das Licht. Ganz allein hängt es in der Nacht und wartet auf ihn. Er läuft auf die Lampe zu. Er wirft Steine hinter sich. „Geh weg!" schreit er, „geh weg!"
Am Tor fasst er sich. Er holt Atem. Er trocknet den Schweiß von der Stirn. Nein, er wird es Irene nicht sagen, dass Gerhard Träger in Siebenwasser ist.
Lange hatte das Mädchen in die Nacht gehorcht. Da war nur immer das Sägen und Knarren in den Bäumen gewesen, ein unheimliches Wehen über dem Feld. Irene hatte die Nachttischlampe mit blauem Papier in der Form eines Trichters umwickelt und Signale zu werfen versucht. Es war ein zärtliches
Winken. Aber sein Schritt kam nicht aus der Dunkelheit.
Eine Stunde verschlang die andere. Die Hände um die Knie geschlungen, wartete das Mädchen hinter dem Licht. Und der dunkle Wind wehte über den Wald. Immerfort... immerfort... Jetzt ist sie aufgestanden. Jetzt hört sie den Schritt. Er kommt über den Kies. Sie bewegt die Lampe. Da steht er unter dem Fenster. Sie sieht ihn nicht. Sie spürt ihn.
Irene löscht das Licht. Sie hört die Tür gehen. Im Dunkeln umarmen sie sich.
Die Bluttransfusion ist beendet. Schwester Marianne sieht nach dem Chef. Jetzt hat er wieder diese harten Augen, immer, wenn er den Tod sieht, hat er sie. Sie kennen sich gut, die beiden. „Kampfer", sagt Wachtel. Er führt die Nadel ein. Der Kranke wird unruhig. Er bewegt den Mund. „Maria", flüstert er. Er lächelt, seine Augen glänzen. Schweiß tritt auf seine Stirn. Jetzt spricht er laut. „Morgen... Maria... die Stan... darte..." Dann singt er leise. „Die Straße frei... den braunen Bataillonen..." Rötlicher Schaum tritt auf seinen Mund.
„Verloren", sagt Wachtel, „Euphorie." Er steht auf. „Sind Verwandte da?" fragt er Schwester Marianne. „Nein, nur diese Person..." „Unmöglich", sagt Wachtel.
„Ich möchte aufstehen... Ich bin doch gesund." Jürgen richtet sich hoch. Er lacht Wachtel an. „Was wollen Sie eigentlich von mir?"
„Ein bisschen Ruhe, mein Lieber, so schnell geht's doch nicht. Morgen, vielleicht, nach dem Essen, im Garten..." Wachtel drückt ihn sanft zurück. Da wird Jürgen sehr aufgeregt. „Das geht nicht, Herr Doktor, das geht auf keinen Fall... Morgen wird doch die Standarte... unsere Standarte... der Führer... Was denken Sie? ... Nach dem Mittagessen... Sie sind wohl verrückt?" Er schlägt die Decke zurück und will aus dem Bett. „Sehen Sie doch, sehen Sie doch, ich kann ja stehen, ich kann ja laufen..."
Er fällt ins Kissen zurück. Bleich liegt er im Linnen. Er röchelt. Immer größer wird das Weiß seiner Augen.
Wachtel gibt ihm eine neue Spritze. Bald haben ihn die Schatten eingeholt, denkt er. Da leuchtet die kleine Birne am Telefon. Wachtel nimmt den Hörer auf. „Bitte", sagt er, „wenn den Herren meine Anwesenheit nicht unangenehm ist..." Er beugt sich über Jürgen. „Sie bekommen Besuch", sagt er, „hohen Besuch." Jürgen lächelt. Wächsern sind seine Lippen. „Ich wusste es", flüstert er. Und er legt die Hände vorsichtig auf die Decke. Als sie das Zimmer betreten, blickt Kalahne den Dr. Wachtel fragend an. Wachtel nickt. Sie treten zum Bett. In Jürgens Augen kämpft das Licht.
„Mut", sagt Kalahnes Begleiter. „Mut, Standartenführer Winkler!"
Da geht ein Zucken über das Gesicht des Sterbenden. Wie die letzten Lichter des Lebens rinnen die Tränen über sein Gesicht.
„Kalahne", flüstert der Sterbende, er versucht zu winken, „Kalah..."
Kalahne beugt sein Ohr hinab zu Jürgens Mund. Dann hebt er den Kopf. Ungeduldig laufen die Finger des Sterbenden auf der Bettdecke hin und her. „Er will etwas sagen", spricht Kalahne. Der Sterbende nickt, furchtbar hastig nickt er. Ja... ja... Schnell... Sie stützen ihn hoch. Sein Atem fliegt. Seine Hände fassen den Kragen Adolf Hitlers, der sich zu ihm herab neigt. Sein Schweiß nässt des Lebenden Stirn.
„Du", sagt mit versinkender Stimme der Standartenführer Jürgen Winkler, „du... mach... den Sozialismus..."
Als sie ihn betteten, lächelte er wie im Traum.
Ein Jahr ist vergangen. Ein Jahr der Unruhe, der ansteigenden Krise, der wachsenden Ratlosigkeit. In Siebenwasser liegen viele Fabriken still. Nur bei Weber wird noch gearbeitet. Drei Tage in der Woche. In den Büros der Banken, der Rechtsanwälte und der kaufmännischen Betriebe ist die Zahl der Angestellten bis zur Hälfte gekürzt. Wer nicht bereit ist, bei vermindertem Gehalt zehn oder mehr Stunden zu arbeiten, kann gehen. Hunderte warten auf des einen Platz. Es war anders als in der Inflation. Nicht das Geld, sondern der Mensch wurde entwertet.
Nach der Septemberwahl lebte Kalahne in dem Zustand eines kalten Triumphs. Der Durchbruch der neuen Bewegung war mit einer Vehemenz geschehen, die bis in die höchsten Parteikreise überrascht hatte. Seine These von der Eroberung der Macht auf legalem Weg war glänzend gerechtfertigt. Kalahne hatte sich in jener Nacht, als noch das Brausen des Siegs über der Stadt lag, sofort in seine Wohnung zurückgezogen und sie erst drei Tage später verlassen.
Allein, ohne Dern und Hungrich, die als Sieger des Tags bejubelt in Mutter Dörings Weinstube saßen, hatte er den Plan für den weiteren Vormarsch ausgearbeitet. Der „Alarm" erschien ab 1. Oktober täglich. In einem Kasten neben dem Titel stand als Motto: Gegen den jüdischen Kapitalismus! Für den deutschen Sozialismus! Das Bild Jürgen Winklers, den sie ohne Geistlichen beerdigt hatten, befand sich auf der ersten Seite. „Er starb für dich, deutscher Arbeiter." Kalahne hatte einige Geschichten geschrieben, die in naiver Form Jürgens Leben erzählten. Raubeinige Legenden mit rührseligen Untertönen. Nach langem Grübeln war ihm ein Wort eingefallen, das als Vermächtnis des Toten gelten konnte: „Arbeiten und sein Vaterland lieben, das ist deutscher Sozialismus!" Zum Glück war es ihm gelungen, diese suspekte Maria aus Siebenwasser wegzuschaffen. Sie hatte zwar geheult, sie wolle bei Jürgen bleiben, der doch so allein auf dem Friedhof liege, aber Kalahne verstand keinen Spaß. Dreimal schon war sie von der Staatsanwaltschaft vernommen worden, und sie hatte das eisige Misstrauen gespürt, das man ihr entgegenbrachte. Kalahne hatte sie aus dem Verfahren gegen den Staubsaugerjakob herausgehalten. Jetzt verlangte der Doktor den Preis. Maria verschwand ohne Aufsehen aus Siebenwasser, kaufte sich mit Hilfe ihres Sparkassenbuchs einen Zigarrenladen in einem Städtchen am Main, ließ Jürgens Bild vergrößern und hängte es so in der Stube auf, dass sie immer die geliebten Augen sah, beim Einschlafen und beim Erwachen.
Die Propagandawelle, die Kalahne sofort nach der Wahl entfachte, beschränkte sich nicht nur auf Versammlungen. Er schuf das System der Blockwarte, dergestalt, dass er in jedem Häuserblock einen zuverlässigen Parteigenossen ausfindig machte und alle zusammen in einer Organisation vereinigte, die völlig nach seinen Parolen zu arbeiten hatte. Neben der positiven Propaganda in Gesprächen, durch Verteilen von Schriften, durch Gründung von Zellen, oblag ihr auch die Überwachung der einzelnen Familien, die Verbreitung von Gerüchten, die dem Staat und den herrschenden Parteien schädlich waren, und vor allem die Kontrolle politischer Gegner bis in ihr Privatleben hinein. Portiersinstinkte und Abenteuerlust vereinigten sich zu einer unsichtbaren Waffe, mit deren Hilfe Kalahne immer mehr das gesellschaftliche Leben der Stadt zu beherrschen begann, vorläufig noch unsichtbar, aber er knüpfte das Netz von Tag zu Tag enger. Dieser Verächter und Hasser des bürgerlichen Individualismus pries den Septembersieg als die Tat eines einzigen Mannes. Mit hymnischen Worten stellte er das Bild Adolf Hitlers gegen die anonyme Vielfalt der Parteien, die Einzelpersönlichkeit gegen den mechanischen bürokratischen Apparat. Er wusste, dass der Mensch in Zeiten der Not den Retter sehen will. Fleisch und Blut musste er haben, greifbar musste er sein — keine Institution, kein Gremium nachdenklicher Köpfe, sondern ein Mann, aufgerichtet vor allem Volk. Das tat Kalahne. Damit trieb er die Bewegung vorwärts, durch dieses einzige Wort: „Glaubt an ihn!" In vielen Variationen, oft schon ins Mythische gesteigert, bot Kalahne den Massen das Bild. Zuerst war es der
Unbekannte Soldat, der in Deutschland auferstanden war, dann verschmolz er mit Sankt Georg, der auszieht, den Drachen zu töten, während die alten Ratsherren berieten, ob es nicht besser sei, mit dem Drachen zu verhandeln. Aus dem Ritter wuchs Christopherus, der das arme Kind Deutschland durch das Blutmeer der Not trägt. Aus Christopherus stieg ernst und gütig Meister Eckehart, endlich erlöst aus den Sagen und Märchen — Eckehart, der Getreue, der Retter des Volks. Der christlich-germanische Mythos wurde aufgerufen, und seine Kraft erwies sich stärker als zwanzig Parteiprogramme.
„Wir fangen die Geschichte wieder von vorne an!" schrieb Kalahne im „Alarm", „seit der Stauferzeit ist das deutsche Volk auf einem Irrweg. Das Blut der Besten floss umsonst. Jetzt schreit dieses Blut durch die Jahrhunderte hindurch: Baue das Reich! Rette dein Volk!"
Ein dunkler Hauch traf die Seelen. Grab um Grab riss Kalahne auf. Heinrich der Löwe, Meister Eckehart, Thomas Münzer, Ulrich von Hutten — in jedem Grab lag ein verratener deutscher Held. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Kapitalismus, Börsenkrach — alles schob sich ins Mythische, wurde uralte Verschwörung. Fenriswolf wurde der Jude. Der Papst hieß die babylonische Hure. Und Frankreich. Hort des Marxismus und der Freimaurerei, war nicht mehr wie einst bei den Alldeutschen der über das Grab hinaus hassende Richelieu — es leuchtete in allen Farben eines afrikanischen Götzenbildes, und wie es das nordische Blut der Hugenotten ehemals verraten hatte, so holte es jetzt zum letzten Schlag aus, um die germanische Rasse in Europa zu brechen.
Obwohl Kalahne bewusst den Rausch beschwor, verlor er nicht die klare Linie seiner Methode. Das Predigen des Judenhasses überließ er Dern. Er selbst schuf das Bild von Sankt Georg, das Mal des Drachentöters. Er hielt die Fackel, während der Postsekretär die Geißel schwang. So mischten sie brodelndes Dunkel und gleißendes Licht zu einer Ekstase, vor der die verstandesgebundenen Argumente ihrer Gegner notwendigerweise versagten. Als in einer Versammlung ein sozialdemokratischer Stadtverordneter den Doktor ironisch fragte, ob er ihm die merkwürdigen Widersprüche des Parteiprogramms begreiflich machen könne, da hatte Kalahne mit flammenden Augen gerufen: „Der neue Mensch stirbt nicht für ein Programm, das er begreift. Er stirbt für einen Glauben, den er liebt." Der Stadtrat hatte laut gelacht. Aber Kalahne kannte die Deutschen besser. Er wusste, dass der Mythos in diesem Land immer den Verstand besiegt hatte, und sein Wort, herausfordernd für jeden Intellektuellen, für jeden Menschen des bon sens, brannte sich in die Herzen der Jugend. Denn es schien dieser arbeitslosen Generation besser, zu glauben und zu sterben, als zu leben und zu verzweifeln. So war im Lauf eines einzigen Jahres die Atmosphäre in Siebenwasser durchsetzt von Rausch, Traum und Hass. Die Realitäten zerfielen. Die Wirtschaftskrise wurde apokalyptisch überschattet. Sie erweiterte sich zur Existenzkrise des deutschen Menschen, wie ihn fünf Jahrhunderte geformt. Das Unheimliche, ja, das Erstaunliche jedoch war, dass sich die Leiter dieser Bewegung nicht im Rausch verloren. Dass die Schwarmgeister es verstanden, politisch kalt und scharfäugig zu bleiben. Dass sie bei aller Trunkenheit eine eisige Nüchternheit bewahrten. Besessene mit der Kühle von Ingenieuren... oder machtkalte Preußen, die wie Derwische tanzen, bis nicht sie, sondern das Volk umfällt? fragte sich Bäuerle.
Er war nach dem politischen Vulkanausbruch im September nach Nauheim gefahren, um die Bäder zu gebrauchen. Vier Wochen hatte er jenseits der Ereignisse gelebt. Als er nach Weißenfels zurückkam, schwieg er. Seine Gefühle, seine Vorstellungen, seine Liebe zu Deutschland waren in ein schmerzliches Schwanken geraten. Mit traurigem Lächeln hörte er Schraders Beschwichtigungsversuche. Er winkte nur ab, wenn er das Wort Vernunft hörte. Wie hohl das plötzlich in Deutschland klang. Als riefe einer in einem Labyrinth: Ausgang vorne! Nein, es war besser, man schwieg. Es war besser, man blieb allein. Als jedoch Schrader als letztes Argument anführte, das Ausland werde die Regierung dieses Mannes niemals dulden, da war Bäuerle aufgesprungen. Gebrüllt hatte er, dass der Wein in den Gläsern schaukelte und Irene herbeilief.
„So", hatte er geschrien, „so... das Ausland... Und ihr? Habt ihr denn gar nichts Eignes mehr, ihr Freiheitshelden, ihr?"
Lange, nachdem Schrader gegangen war, saß er noch bleich auf dem Stuhl. Es wurde ihm schmerzlich deutlich, dass dieses Deutschland der Demokratie ein Verlegenheitsprodukt aus den Friedensverträgen war, und nicht, wie er geträumt hatte, die Erfüllung einer geschichtlichen Sendung. Sie wollen nicht, denkt Bäuerle, wenn er den „Alarm" liest, den Gesang der SA. hört und das wachsende Rauschen der Bewegung durch die Dörfer und Städte vernimmt. Sie wollen einfach nicht. Bäuerle war Amerikaner genug, um nüchtern zu denken. Die Widerstände, die sich in den Zeitungen, bei den Intellektuellen, ja auch in den Versammlungen der Arbeiter erhoben, täuschten ihn nicht. Wie schwunglos war das alles im Grunde. Wie zerspalten in Interessen, durch Rücksichten gelähmt, nur durch die Abwehr mühsam zusammengehalten. Nein, das trug alles den Schimmel der Verlegenheit. Selbst in den Propagandamethoden hinkten sie diesem genialischen Kalahne nach. Dieser schmale, blasse Mann, kaum über Dreißig, vernachlässigt durch die Natur, brannte in einer Leidenschaft, die nicht gespielt sein konnte. Hier war der absolute Wille zur Macht. Was half es den Sozialisten, wenn sie Marx zitierten, Widersprüche festnagelten, mit der Logik operierten. Vor Sankt Georg, vor Meister Eckehart versank dieser gescheite Marx zu Asche. Gegen einen Traum hilft keine Logik ... Nein, ich bin doch nicht blind. Und wenn diese Jugend, dieser Aufstand gegen meine Welt, diese blonde, blauäugige Lästerung meiner Gesetze auch über mich hinwegschreitet, soll ich dann sagen, sie sei keine Realität, das ginge vorüber, das Ausland dulde so etwas nicht? Johann Kaspar rast gegen dieses Wort vom Ausland. Das ist also eure
Demokratie, eine Präambel von Versailles. Ein Angstzustand des geschlagenen Bürgers. Angeekelt sitzt er auf Weißenfels. Bitter schmeckt das Brot, und der Wein im Becher wird schal.
Irene war die Veränderung des Vaters nach der Nauheimer Reise nicht entgangen. Es schien ihr, als sei er jäh aus einem Traum aufgewacht und grüble immer noch über ihn nach. Er arbeitete bis spät in den Abend, und wenn es Nacht wurde, hörte sie ihn oft durch das Haus gehen, als suche er etwas. Nur noch undeutlich entsann sie sich seines Gesichts während des Krieges in Baltimore. Aber ähnlich musste es wohl gewesen sein in jenen Tagen. Viele Bücher fand sie auf seinem Schreibtisch. Bücher mit Hakenkreuzen, Bücher mit Sichel und Hammer, ein Schlachtfeld von Büchern. Als sie eines Morgens den „Mythos des 20. Jahrhunderts" halb verkohlt im Kamin fand und ihn später in ihrem Zimmer, so gut es ging, reinigte, entdeckte sie auf der ersten Seite einen Satz in Vaters Schrift. „Nein", stand dort, „nein, und nochmals nein!"
Sie schwieg, aber sie erschrak dennoch, als sie am gleichen Tag an der dunkel getäfelten Wand im Esszimmer, wo die Familienbilder hingen, unter der verblassten Photographie, die den Urgroßvater darstellte, ein Schild entdeckte: „Friedrich Konrad Bäuerle, in Rastatt erschossen, 1848, von den Preußen — sein Opfer war umsonst." Besorgt hatte sie Hans gefragt, wer das eigentlich sei, die Preußen. Hans hatte gelacht. „Sie wohnen im Norden, wo kein Wein wächst. Manchmal ziehen sie nach Süden, um Wein zu holen. Dann gibt es Krieg." Zornig war Irene von der Wiese gegangen, wo Hans gerade im Heu saß und vesperte. Der foppte sie auch noch. Aber sie sagte nicht, was sie bedrückte.
Drei Tage später räumte sie Bäuerles Papierkorb aus. Sie fand viele zerrissene Bogen im Strohgeflecht. Begonnene Briefe waren es, Briefe an Freund Baker in Baltimore. Mit der Geduld ihrer weiblichen Neugierde setzte sie die Fetzen zusammen. Die Bogen waren kaum zur Hälfte beschrieben, aber immer wieder konnte Irene den Satz lesen: „... und so frage ich mich oft, lieber Baker, gehöre ich noch zu diesem Volk oder bin ich wieder heimatlos geworden?" Irene hatte die Zettel verbrannt. Aber immer, wenn sie den Vater über das Feld gehen sah, war es ihr, als hinke diese Frage neben ihm her.
Hans steht im Garten. Er gräbt. Scharf sticht der Spaten in den schweren Grund. Es ist gesunder, schwarzer Boden, den das Eisen umwirft. Hans ist froh. Die Arbeit eilt nicht, und er hat so richtig Zeit, vor sich hinzudenken. Langsam setzt er Scholle neben Scholle. Wie glatt der Spaten in die Erde greift! Vor zwei Jahren noch konnte er kein Gartenbeet umlegen, ohne blutige Schwielen an die Handflächen zu bekommen. Heute geht das aus den Armen, als wäre das Werkzeug ein Stück von ihm selbst. Ja, er war sicher. Es war alles ruhig und ordentlich in ihm. Irene, das ist schon kein Traum mehr. Das webt in ihm. Das bewegt sich in ihm. Das ist wie das Blut. Das lebt. Davon redet man nicht.
Hans lacht. Er denkt an die Angst in jener Nacht, als er vor Gerhard zu Irene floh. Er kann es gar nicht mehr begreifen, dass er so zittern konnte, jetzt, da er hier steht, auf seinen hohen, harten Beinen, und gräbt.
Nach Jürgens Beerdigung hatte er Gerhard getroffen. Sie waren flussaufwärts gegangen, bis zur Schleuse, wo der Weg nach Weißenfels abbiegt. Dort hatten sie sich in einem roten Steinbruch auf eine alte Kipplore gesetzt, neben einem Wellblechhäuschen, das eingestürzt war. Sie hatten geraucht und auf den Fluss gesehen, und zuerst schien es, als würde dieses Ende endlos sein.
Aber dann hatte Hans die Wahrheit gesagt, ganz einfach die Wahrheit, und es waren nicht viele Worte gewesen, weil es die Wahrheit war. Der Offizier hatte geschwiegen, und als Hans ihn fragte, ob er ihn für einen Verräter halte, da hat er den Kopf geschüttelt und gar nicht gesprochen. Später waren sie nach Weißenfels hinaufgestiegen, zwischen den Reben hindurch, da standen überall die Bottiche mit Trauben, und Hans hatte gemeint, ob es so schlimm wäre, wenn er ein Mädchen liebe und ein Bauer geworden sei. Jawohl, ein ganz simpler Bauer. Und wenn Gerhard ihn verdamme, so habe er ihn halt überschätzt. Er sei nur ein einfacher Mensch. Das habe er jetzt endlich heraus. Der Offizier war gut und freundlich gewesen. Er hatte von dem siegreichen Aufstieg der Bewegung erzählt, und wie herrlich der Führer sei, aber immer wieder hatte Hans von den Äckern begonnen, wie schwer das alles sei mit den Steinen, mit dem Unkraut, und wie das alles zerfallen hier war, sogar der Wald und die Rebberge. Nein, er war nicht davon losgekommen. Das war in ihm drinnen, dieses Gut Weißenfels mit seinen Sorgen und Ernten. Und er war kein Kämpfer mehr, er freute sich viel zu viel an dem, was wuchs und gedieh, schrecklich war das, aber es war die Wahrheit.
Und plötzlich hatte Gerhard gelacht. Sie sind ins Dorf gegangen. In der Wirtschaft haben sie Wein getrunken, und Brot und Käse haben sie gegessen, und es war ein goldbrauner Abend gewesen, im Herbst, mit einem bisschen Dunst am Waldrand. Als sie nach Siebenwasser zurückgingen, hatten sie zweistimmig gepfiffen, und Gerhard, der eine schwarze Uniform trug, hatte mit dem Fuß Steine vor sich hergeschnickt — so froh waren sie. Woher das kam? Ei, das kam nur von der Wahrheit. Auf dem Bahnsteig jedoch war der Offizier ernst geworden. Er hatte Hans unter den Arm gefasst. Wie früher gingen sie daher unter dem Licht und zwischen den vielen Leuten. Gerhard sprach kein Wort. Nur den Arm hielt er ihm fest, als wolle er ihn nie mehr loslassen. Dann aber war der Zug gekommen, der Offizier war eingestiegen, aus dem Fenster hat er lange auf Hans gesehen, und als die Waggons anrollten, da hatte er sich tief heruntergebückt. „Ich beneide dich", hat er leise gerufen, und dann war nur noch weißer Rauch da und in ihm ein rotes schwankendes Licht.
So war es vorübergegangen, ein wenig traurig und dunkel, aber jetzt grabe ich, denkt Hans. Was soll ich sonst tun als graben und stille sein? Nein, er ist
kein Verräter. Gerhard hat es gesagt. Er ist nur ein einfacher Mensch, doch das hat er früher nicht gewusst. Da wollte er immer über sich hinaus. Da wollte er immer verbrennen. Aber jetzt lebt er in Irene. Jetzt brennt er nicht mehr. Nein, das ist kein Feuer — jetzt ist Wärme in ihm. Rasch wirft Hans die Erde um. Er sticht eine Furche grade. Er durchhaut eine Wurzel. Das Eisen trifft einen Stein und knirscht.
Ich beneide dich... Ich beneide dich... Das geht ihm nicht aus dem Ohr. Seit einem Jahr hört er es, wenn er bei Irene ist, wenn er neben den schwankenden Erntewagen hergeht, wenn die Kartoffeln in die Keller rollen und die Milch süß im Glas steht. Und wenn sie die Traubenpresse füllen und der Saft grün in die hölzernen Bottiche fließt, dann hört er es auch.
Hans gräbt und gräbt. Und während er die Schollen wendet und der Geruch des satten Lehms ihm in die Nase steigt, während vom Dorf her die Vesperglocke tönt und durch das breite Tor ein hoher Wagen mit Grummet schwankt, fällt ihm jenes Wort Gerhard Trägers ein, das er ihm vor zwei Jahren nach Hanau geschrieben hatte: „Wir waren Kinder, und dann wurden wir Soldaten." Das ist es, denkt Hans, ihr habt nie wirklich gelebt! Er stößt den Spaten in den Boden. Schweiß läuft ihm über die Augen. Über den Hof kommt Irene und trägt eine dunkle, schwere Traube in der Hand.
Es ist ein wunderbar weicher und milder Herbst in diesem Jahr. Längst ist die Weinlese zu Ende, schon gärt der Most und zischt bleigrau im Fass, aber immer noch liegt die Sonne schwer und warm über den Wäldern.
Johann Kaspar hatte das Fest auf den fünfzehnten Oktober angesetzt. Auf der Wiese ließ er ein großes Zelt bauen mit einem Bretterpodium für den Tanz. Tische und Bänke wurden in den Boden gepflockt. Zwei Halbstückfässer Wein lagen stichfertig auf einem Wagen. Und die Bratstelle für den Ochsen war nach altem Brauch ordentlich hergerichtet. In der Bäckerei schichteten sich die Brote zu kleinen, braunen Bergen. Körbe voll Tellern, Gläsern und Bestecken kamen aus Siebenwasser herauf. Das klapperte und schwirrte durch das Tal, als wolle der liebe Gott Hochzeit halten.
Zusammen mit Henrici ging Johann Kaspar über die Wiese. Sie zählten die Tische und die Stühle. Sie berechneten die notwendige Menge des Geschirrs. Sie besprachen sich mit den Zapfmeistern und ließen die Musikkapelle am Tage vorher eine Stunde lang zur Probe spielen.
Was war mit Bäuerle geschehen? Niemand sah den Grund für diesen plötzlichen Ausbruch von Freude. Über Nacht war der Mann wie ausgewechselt. Auch Irene begriff den Wechsel der Stimmung nicht. Dass Weißenfels zum ersten mal seit der Ursel Fabricius wieder eine richtige Weinernte hatte, erklärte nicht diesen Aufwand an Arbeit und Geld. Auch Henrici brummte. „Dreitausend kostet uns mindestens der Spaß", brummte er und schüttelte den Kopf. Bäuerle jedoch antwortete nur: „Und wenn er fünftausend kostet", dann fuhr er mit Hans an den Waldrand
und holte kleine Birkenstämme, die sie zwischen die Tische und vor das Tor in den Boden steckten. Hell und klar kam der Tag. Um die Fenster und Giebel hängen die Girlanden. Über dem taubenweißen Zelt flattert die schwarzrote Fahne. Im Stall fällt der Ochse, und die Kinder des Dorfs tollen schon auf dem Spielplatz neben der Wiese. Still sieht Bäuerle in das weiche Licht. Durch den fernen Staub der Straße blitzen die Instrumente der anfahrenden Musikanten. In den Kellern rumort der Wein, und der Duft frischgebackenen Brotes erfüllt Zimmer und Hof. Johann Kaspar atmet tief. Ganz nah ist sie ihm jetzt, die Heimat, er hat sie gerufen, für diesen einen Tag will er alles vergessen, nur dieses Licht will er sehen, diesen Wein will er schmecken, und er will, dass alle, die um ihn sind, teilnehmen an der Freude, die er erzwingt. Ja, er erzwingt sie. Er hat das Zelt gebaut, er hat die Musik bestellt, er hat den Ochsen geopfert, er hat die Menschen aus Siebenwasser gerufen und die Bauern von Weißenfels. Sie sollen tanzen und trinken, die Nacht hindurch. Ohne Hass. Ohne Not. Zwölf Stunden lang. Bäuerle lächelt. Er weiß, dass das eine Utopie ist, eine Marotte, eine amerikanische. Und die dreitausend Mark wehen morgen durch den Kamin, pfff, wie ein Strohfeuer. Aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, dieses Fest. Er will diesen Salut, bevor der Winter kommt. Es wird ein langer Winter werden. Langsam geht er die Stiegen hinab. Er freut sich an den Girlanden, an den wehenden Fahnen, an der Schönheit des herbstlichen Augenblicks. Tschimmbumm... Tschimmbumm... Ich... schieß
... den Hirsch... im wilden... Forst... im... hm.. hm... hm... das Reh... tatü... tata... tata... tatü... tata... tatü... tataaa... und dennoch... hab ich haarter Maaann... die Liebe auch gespüürt... Rummschrumm... so siehste aus... Rummschrumm... so siehste aus... Rummschrumm...
Im Hof steht die Musik. Wie Gewehre setzen die
Bläser die Instrumente ab.
„Kaffee!" ruft Fräulein Degerloch, „Kaffee!"
Da laufen schon die Mägde mit den Kannen herbei, und die Männer gehen lachend in die ausgeräumte Scheune.
Es ist fünf Uhr. Auf der Wiese vor dem Zelt drängen sich die ersten Besucher aus Siebenwasser. In geschlossener Ordnung ist der Odenwaldverein heraufmarschiert. Er besetzt die linke Seite des Zelts. Die Männer tragen Touristenstöcke aus Eichenholz und an dem linken Revers eine Plakette. Ihre Damen, wie sie ihre Frauen nennen, haben für alle Fälle Beutel voll belegter Brote mitgebracht. Man weiß ja nie, wie es klappt mit der Organisation auf so einem Fest. Da jachtern zwei Erntewagen heran. Bauernburschen vom Dorf Weißenfels mit ihren Mädchen. Bänder flattern im Wind, rote und grüne. Dumpf klingen die Hupen der Autos, mit denen Schrader und die Spitzen der städtischen Behörden die Serpentinen hochfahren. Hinter ihnen her kommt Kommerzienrat Aschaffenburg in seinem Steyrkabriolett. Und über die Hänge der Hügel, da kommen sie in Scharen. Bauern aus den nahen Dörfern. Arbeiter aus Siebenwasser, Beamte, Angestellte.
„Guck doch", sagt Kilian Kern oben am Waldrand zu seiner Frau, „wir brauchen uns gar nicht zu genieren. Es sind viele Menschen da." Als sie das Zelt betreten, werden die Stückfässer angeschlagen, und der Duft des bratenden Ochsen vermischt sich mit der herbstlichen Luft. Vom Herrenhaus zieht mit klingendem Spiel die Musik ein, hinter ihr wiegen sich, zu Ketten eingehakt, in bunten, hellen Trachten, die Mädchen. In hohen, schwarzen Stiefeln, Lederhosen, dunkelblauen Joppen mit goldenen Knöpfen und steifen Hüten kommen die Knechte, und zwischen ihnen, im Arbeitsanzug, ein rot und gelb gemustertes Taschentuch um den Hals, marschiert Johann Kaspar Bäuerle, lachend und singend, ein fröhlicher Mann. Unter lauten Zurufen erreicht der Zug das Tanzpodium, und während der Wein in hölzernen Krügen über die Tische verteilt wird, steht Johann Kaspar unter den bunten Tüchern und den goldbraunen Girlanden auf der Bühne und nimmt aus der Hand der jüngsten Magd den mit Weinlaub bekränzten Humpen. Ein Tusch. Mit fester Hand hebt Johann Kaspar den großen Pokal. Die Sonne trifft das hellgeschliffene Glas. „Gott zum Dank! Den Menschen zur Freude! Und den Reben ein ewiges Leben!" Groß und breit steht der Mann vor dem sinkenden Tag. Mit beiden Händen setzt er den Pokal an den Mund, und während er trinkt, erhebt sich das ganze Zelt, und das Blut der Hügel fließt in die Kehlen.
Es ist Nacht geworden. Eine blaue, wolkenlose Nacht. Von der Wiese her schmettert die Musik. Das
Lachen der Tanzenden, das Gegröl der ersten Betrunkenen, das Aufkreischen der Weiber und dazwischen die weiche Melodie eines Walzers — der Wind trägt es über das Feld und verweht es in den schweigenden, unendlichen Raum. Hans und Irene gehen den Weg hinter dem Pumpwerk empor. Es ist ihnen gleichgültig, wohin sie gehen. Sie wollen nur weg aus dem Lärm, aus dem immer dicker werdenden Dunst des Festes. Sie brauchen nicht zu tanzen, um die Einheit ihrer Herzen zu spüren. Irene ist es schwindlig geworden, vorhin bei dem Walzer. Sie ist den Wein nicht gewohnt und die vielen lustigen Menschen. Warum Vater auch nur dieses Fest gab?
Jetzt sitzt er mitten zwischen den Bauern und trinkt und würfelt mit ihnen. Dann springt er wieder auf und tanzt mit einem Mädchen, ganz außer Atem ist er, und er lacht, als wäre er eingeladen von den vielen Leuten, die gekommen sind. Irene bleibt stehen. Sie hat den Kopf an Hans gelegt, und sie spürt seinen Atem warm über ihrem Haar.
Lange stehen sie so. Kein Gedanke engt sie ein. Mit dem endlosen Blick der Liebenden sehen sie in die blau verschwebende Nacht, deren Sterne sich neigen bis auf den Rücken des Waldes. Wortlos gehen sie weiter. Weit hinter ihnen auf der Wiese lacht und johlt das Zelt. Ihre Schritte berühren gleichmäßig den Boden, und der Junge führt Irene, damit sie nicht stolpere.
Schweigen, nichts als Schweigen, weich und zart wie der Nebel dort zwischen den Stämmen. Sie setzen sich auf eine Bank. Tiere huschen davon. Manchmal fällt ein Blatt hart auf den Boden. Hans bewegt sich nicht. Er spürt Irene neben sich atmen, und seine Hand, die streichelt sie plötzlich, und jetzt küsst sie ihn ganz zart auf den Puls. „Du?" fragt er, „ist es auch wahr?" Sie antwortet nicht. Sie dehnt sich nur. Ihr warmer Mund berührt sein Ohr. Er merkt, wie sie nickt. Und wieder ist das Schweigen um sie. Mag die Musik in dem Zelt so laut plärren, wie sie will. Jetzt halten sie sich an den Händen. Ganz fest haben sie die Finger ineinandergelegt. Genau so saßen sie gestern, als Irene zum ersten Mal davon sprach. „Wann?" sagt Hans, und es ist ihm, als frage er nicht Irene, sondern gerade hinaus, dort in das Land, das er nicht sieht.
„Im April", antwortet das Mädchen, „aber vielleicht auch schon im März." Sonst sprechen sie nichts mehr. Vor ihnen in der Dunkelheit weht der Wind, und auf den Wellen der Zeit treiben die Monate wie kleine, fliehende Lichter.
Es ist zwölf Uhr in der Nacht. Laut und dröhnend bricht der Gesang aus dem Zelt. Der Wein nässt den Boden. Der Ochse ist verzehrt. Jetzt dampfen Würste in großen Schüsseln, und Brotlaibe werden wie Bälle über die Tische geworfen. Der Odenwaldverein ist kollektiv betrunken. Immer wieder singt er seine Vereinshymne, die Vater Allwohn gedichtet hat.
Ei, wie grün sind deine Berge,
Ei, wie lieblich ist das Tal,
In dem Land der guten Zwerge
Möcht ich wandern allzumal...
Die Bauern brüllen dazwischen. Sie wissen, was es mit den grünen Bergen und dem lieblichen Tal auf sich hat. Aber da kam das Bier, blondes, schäumendes Würzburger Bier in irdenen Krügen. Der Gesang ging unter in dem allgemeinen Jubel, hell sprang die Musik dazwischen: „Heut gehn wir gar net mehr, gar net mehr heim..."
Bäuerle saß an Schraders Tisch. Er spürte den Wein, und die laute Freude der Menschen im Zelt stimmte ihn froh. Schrader hatte zwar wieder einen seiner Anfälle von Traurigkeit. Es war eine höfliche, unaggressive Trauer, aber dafür kicherte der Kommerzienrat Aschaffenburg immer so ulkig vor sich hin, dass ihm das rötliche Fleisch an den Bäckchen wackelte. „So ein Volksfest", sagte er zu Bäuerle fast zärtlich, „so ein Volksfest ist doch das Lustigste auf der Welt." Da werden durch ein Ziegengespann zwei neue Bierfässer angefahren, und oben auf der Bühne ist plötzlich Gott Gambrinus zu sehen, Rettiche und Rüben umkränzen seinen Kopf, und er hebt den Hopfenstab und ruft: „Mir gehört jetzt die Stunde!" Ein Brausen, ein riesenhaftes Lachen ist die Antwort, und die Männer hängen sich Wurstpaare um die Ohren und tanzen so zwischen den Tischen und auf dem Podium herum, jauchzend, als begänne jetzt erst das richtige Fest. Kommerzienrat Aschaffenburg ist hingerissen, Bier trinkt er zwar nicht, aber Wein, Wein, drei Gläser, denken Sie. Und der Vater Allwohn, der trinkt ihm zu, und als der Kommerzienrat „Stimmung!" sagt, da lacht der Alte und ruft: „Na, du armes Jüdchen..." Es ist herrlich. Seit Jahren ist der Kommerzienrat wieder einmal so recht unter dem Volk. Und er hat gar keine Angst. Nein, wo der Bäuerle sitzt, da gibt's keinen Hass. Er trinkt, und er denkt, so drei Gläschen, und wupp sind die Sorgen vorbei. Morgen wird er seinen Buchhalter beauftragen, Wein zu bestellen. Denn der Kommerzienrat hat nur Blutorangenlikör zu Hause im Wandschrank, für den Fall, dass jemand einmal etwas Scharfes will.
„Trink! Trink! Brüderlein trink! Lass doch die Sorgen zu Haus..."
„Ja, ja!" ruft Aschaffenburg da dem Bäuerle ins Ohr, „weg mit den Sorgen, weg mit der Tristesse!" Und er wiegt seinen schweren Oberkörper in dem Takt der Musik, und der Wein vor ihm im Glas, der schaukelt mit.
Bäuerle sieht über den Tisch. Was ist das nur? Das Zelt wird immer voller. Seh ich doppelt? Aber da kommen immer mehr Leute. In Gruppen. Ledergamaschen haben sie an. Wie? Tanzen nicht, singen nicht, drücken sich da an der Zeltwand herum. „Henrici, he!" Der kommt und macht ein saures Gesicht. „Mulmig", sagt er. Johann Kaspar betrachtet genau den Saal. Es wird getanzt, getrunken, gelacht und gegrölt wie vorher. Aber plötzlich ist da etwas anderes. Das lauert wie der Frost hinter dem Nebel. Bäuerle sieht sich um. Da steht der Vater Allwohn auf dem Tisch, hat seinen Spazierstock über den linken, gebogenen Arm gelegt und fiedelt sich eins. Da liegt der Aschaffenburg im Stuhl. Halb geschlossen sind seine Augen. Er singt. Was singt er? „... lass doch die Sorgen zu Haus..." „Weg mit den Gespenstern", sagt Bäuerle, und er gießt Henrici ein Glas voll. Der Verwalter trinkt, die Paare schieben sich durch das Zelt, hemdsärmelig sitzt die Musik auf dem Podium und bläst drauflos.
Da, was ist das? Sie verlassen die Tanzmelodie, sie gehen über in ein anderes Lied. Deutscher, deutscher, deutscher Rhein, du sollst immer meine Freude sein. Und dann kam ein Paukenschlag, die Paare stocken. Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall... Bäuerle springt auf. Wie eine Mauer stehen die Menschen im Zelt. Sie singen das Lied. Und was ist das? Sie heben die Hände.
Der erste Vers ist verklungen, als plötzlich Vater Allwohn auf den Tisch springt. Die Arme hat er gehoben wie ein Prophet. „Und ich dulde das nicht!" brüllt er, „wir feiern hier ein deutsches Fest, und ein Jud sitzt am Tisch. Ein Jud!"
Er deutet auf Aschaffenburg, der fassungslos in die veränderte Welt starrt.
„Sind Sie verrückt?" schreit Johann Kaspar und fasst den Vater Allwohn am Bein. Der aber legt die Hände zu einem Trichter. „Juden rrauss!" schreit er. „Juden rraauussss!"
Und sein Ruf fängt sich im Zelt. Er wächst zum Orkan. „Juden raus!" Bäuerle ist auf die Bühne gesprungen. „Ruhe!" schreit er. Aber die schreiende Masse hört nicht auf ihn. Wie ein antiker Chor setzt der Odenwaldverein einen Fuß vor und ruft: „Juden raus!" Mitten zwischen den Tischen stehen die jungen Leute. „Deutschland erwache!" schreien sie. Bäuerle wird es für eine Sekunde dunkel vor den Augen. Er hört Henrici hinter sich etwas von abgekarteter Demonstration reden. Dann wird er plötzlich ganz nüchtern. Er sieht Schrader und Aschaffenburg nach dem Ausgang gehen. „Sie bleiben hier!" ruft Johann Kaspar. Aber schon sind sie in der Nacht. Ein Gelächter folgt ihnen. Mitten im Zelt steht Dern. Um ihn sind die jungen Leute. „Wer tut Ihnen denn etwas?" ruft der Postsekretär zu Bäuerle, „warum regen Sie sich denn so auf?" Aber Johann Kaspar antwortet ihm nicht. Er geht zur Musik. „Einpacken!" sagt er. Dann tritt er an die Rampe. „Schluss!" ruft er, „Schluss mit dem Fest!"
Da lacht Dern. Es ist ein starkes, lautes Lachen. Und die SA.-Leute um ihn lachen mit, und bald ist es das ganze Zelt, das lacht. Dern springt auf die Bühne. Ja, Schluss, lieber Bäuerle, der geigt dir etwas. Da steht er, und alle sehen an ihm empor, als hätte er Manna in den Händen.
„Wer macht den Mittelstand kaputt?" ruft Dern. „Die Juden!" antwortet's im Chor. „Wer bestiehlt den Bauern?" „Die Juden!"
„Wer nimmt dem Arbeiter sein Vaterland?" „Die Juden!"
„Wer verdirbt unsere Rasse?" „Der Jude!"
Gewaltig ist der Schrei. Allein steht Bäuerle neben Dern. Er hat seine Fingernägel ins Tannengeländer gepresst. Das genügt ihnen also, denkt er, davon können die leben? Und plötzlich bricht er los, der Gesang. Die Musik fällt ein. Ja, die Musik spielt mit. Alle im Zelt heben die Hände. Und aus vierhundert Kehlen dringt es herauf: „Die Straße frei den braunen Bataillonen, SA. marschiert in sichrem, festem Schritt..."
Still verlässt Johann Kaspar die Bühne. Mitten durch den Gesang geht er hindurch, wie durch ein Meer. Er sieht die fiebernden Gesichter. Und es ist ihm, als schlage eine Blutwelle hoch hinauf bis zu den Streben des Zeltdachs.
Auf der Treppe des Gutshauses steht Fräulein Degerloch. Sie hat die Hände über den Leib gefaltet. „Ach wie ergreifend", sagt sie zu Bäuerle, der, von Henrici gefolgt, wortlos die Halle betritt. In den Sesseln sitzen Schrader und Aschaffenburg. Der Kommerzienrat stürzt auf Bäuerle zu. „So etwas", ruft er, „dieser Vater Allwohn. Vor fünf Jahren noch hab ich ihm Geld gegeben, damit er seine Odenwaldsagen drucken lassen kann. Und jetzt..." Der Mann weint. Er hält sich an Bäuerle fest. „Entschuldigen Sie", ruft er, „entschuldigen Sie die Störung durch meine Person." Johann Kaspar geht schweigsam auf und ab. Was liegt ihm an Allwohn. An Deutschland liegt ihm. An dieser Barbarei dort im Zelt. An dem Verrat, den sie dort begingen. An dem Wahnsinn, unter dem sie aufblühen wie Arsenikfresser. „Nein!" schreit er plötzlich und stampft mit dem Fuß auf, als wolle er die Toten zu Hilfe rufen, „nein!" Dann horcht er.
„Siegreich woli'n wir Frankreich schlagen...", dröhnt es aus dem Zelt. Da erhebt sich der Verwalter. Er geht zum Pumpwerk und löscht das Licht auf Weißenfels.
„Es ist dunkel", sagte Irene, „hast du den Mond ausgeblasen?" Hans war aufgesprungen. Der Gesang, den er gehört hatte, brach ab. Und dann kam Geschrei, Fluchen, Kommandos und plötzlich wieder Musik. Das blies durch die Nacht. Das schmetterte durch den Mondschein. Und jetzt stand es vor dem Hof, und dahinter war es schwarz von Menschen. Hans und Irene liefen bergab. Als sie in die Menge kamen, sahen sie Dern auf einem Wagen stehen. Er hatte den Mantel abgeworfen. Offen stand er da in seiner Uniform.
„Volksgenossen!" rief er, „ja, es war eine abgekartete Demonstration. Ja, auch die Musik wusste Bescheid, und der Parteigenosse Allwohn hat es über sich gebracht, so lange mit dem Juden am Tisch zu sitzen, bis wir das Zeichen gaben. Nennt das unhöflich, nennt das taktlos. Wir lachen nur. Wir sind zu allem bereit, wenn es Deutschland gilt. Und wir dulden kein Fest mehr in diesem Land, das nicht auch Kampf ist. Kampf der jüdischen Pest! Kampf dem jüdischen Staat! Kampf bis aufs Messer!" Hans hielt Irene fest. Sie zitterte nicht. „Wo ist Vater", flüsterte sie dauernd, „wo ist Vater?" Da geschah es, dass sich das Tor des Herrenhauses öffnete, dass das Licht plötzlich wieder aufflammte und alle sich sahen. Johann Kaspar ging über den Hof. Ruhig sah er den Menschen entgegen. Er stieg auf keinen Wagen, er brauchte keine Erhöhung. Allein stand er da, und seine Stimme war ohne jede Erregung, als er sagte: „Ich verlange von dem Postsekretär Dern, dass er sofort Weißenfels verlässt. Wenn er den Hass predigen will, so gibt es in Siebenwasser Säle genug. Auf meinem Boden ist kein Platz für diese Sprache!"
So einfach die Worte waren, sie wirkten. Ruhig, fast höflich, stand Bäuerle unter dem Portal. Traurig blickte er auf die Menschen. Da flatterten noch die Bänder der Mädchen im Nachtwind, und auf den Gesichtern, die sich ihm zuwandten, leuchtete noch ein Rest der Freude.
Ob ihn der Herr Postsekretär verstanden habe? „Ja", schrie Dern, „ich habe Sie verstanden. Aber dieser Boden, auf dem wir hier stehen, ist nicht Ihr Boden. Dieser Boden ist Deutschland!" Da ging Bäuerle einige Schritte vor. Ja, dieser Boden sei Deutschland. Und er habe auch gar nicht die Absicht, ihn aufzufressen. Wenn aber der Herr Postsekretär glaube, er könne bestimmen, was Deutschland sei, so müsse er leider die Unhöflichkeit besitzen und ihn einen gefährlichen Narren nennen. Einen Augenblick war Stille. Dann sprang Dern vom Wagen herab. Er wirkte plötzlich klein, wie er auf Johann Kaspar zuging. Er schlug sich, wie zur Ermunterung, mit der Reitpeitsche auf die Gamaschen. In seinem roten Gesicht waren weiße Flecken. Einige Meter entfernt standen sich die Männer gegenüber. Es war, als scheue jeder des anderen Geruch. Sie maßen sich mit den Blicken. „Judenknecht!" zischte Dern. „Sonst fällt Ihnen nichts ein?" antwortete
Bäuerle höflich, mit einer leichten Verbeugung. „Blutsverräter!"
Der Postsekretär schrie es in die Nacht, die sich immer stärker bewölkte. Und hinter ihm antwortete es im Chor. „Judenknecht! Volksverräter!" Johann Kaspar betrachtete die Menschen aus Siebenwasser, er betrachtete die Bauern und vor allem die jungen Burschen, deren Mäuler auf- und zuklappten wie Automaten. Deswegen war er also nach Deutschland gekommen, deshalb hatte er die Heimat gesucht, damit ihn der Bluthass anschrie, das scharlachrote Tier des Untergangs? Da stand Dern und brüllte ihm „Volksverräter" ins Gesicht, weil er sich weigerte, dem Hass zu verfallen. Da stießen sie ihn aus, aus ihrer Gemeinschaft, weil er ein anderes Deutschland im Herzen trug als den Tanz um das völkische Kalb. Aber es waren nicht Zorn, nicht Wut, nicht Empörung über den Abfall, die ihn erfüllten, es war Trauer, eine riesengroße, alles überschattende Trauer, die sich über ihn senkte. Still hob er die Hand. Da stand er im Mondlicht, der Johann Kaspar, und die Wolken schossen wie Dämonen über den Himmel, und vor ihm waren diese Gesichter, von Hass und Besessenheit gefleckt. „So sei ich denn ein Verräter", sagte Bäuerle, und seine Stimme war ohne Groll, „werft nur alles hinweg, was den Menschen erhöht! Reißt nur die Liebe aus eurem Herzen! Verschreibt euch nur dem Blut! Aber ich sage euch: wer sich dem Blut verschreibt, geht darin unter. Ja..." Jetzt hob sich seine Stimme. Jetzt wurde sie hart, drohend — ein beschwörender Ruf. „Ja, es ist ein ganz besonderer Saft. Mit dem
Teufel unterschreibt man Verträge mit Blut. Oh, ihr Männer und Frauen, spürt ihr's denn nicht, wie er euch an den Haaren hat? Wie er euch Stärke, Kraft, Reichtum und alle Schätze der Welt vorgaukelt, wenn ihr die menschliche Würde verratet? Oh, ich kenne ihn! Er ist schlauer und teuflischer als in euren Märchen. Ich..."
„Schluss!" schrie da Dern, „Schluss mit der Altweiberpredigt!"
Er trat auf Bäuerle zu. „Dummer Pfaff", lachte er. Er hob die Peitsche.
Da aber sprang aus der Menge ein Schrei. Mitten über den Hof humpelte Kilian Kern. Dumpf klang das Holzbein auf dem Boden. Dumpf brüllte er auf, als er den Stecken hob. Pfeifend traf der Schlag mitten in Derns Gesicht.
Hans wusste nicht, wie er plötzlich in die tobende Menge geraten war. Er sah Irene über den Hof laufen. Er sah, wie sie den Vater umarmte. Dann war er plötzlich mitten drinnen in der Körperwoge, in dem rasenden Wirbel der Glieder. Er hieb um sich. Er hörte Henrici neben sich. Sie rissen die Körper wie Säcke aus dem kämpfenden Klumpen. Da lag er, unten im wütenden Gekreiß. Er kroch, er schnappte nach Luft, er blutete. Hans packte ihn, er schleifte ihn über den Boden, er riss ihn hoch, er warf ihn über die Schulter, und während die Knechte rasselnd das Tor schlossen und das Geschrei der Menge durch die Nacht tobte, trug er Kilian Kern hinauf in die Stube, neben das Bad, wo die Verbandwatte war und das Kuvert mit dem Leukoplast.
Es ist November geworden. Aus dem Tal steigt in schweren Säulen der Nebel. Mit Geschrei und Geknall ziehen die Treibjagden über das Feld. Auf den Wegen modert das Laub, und der Wald hallt wider von den Axtschlägen der Holz fällenden Knechte. Ätzend ist die Luft, gärig, voller Tod. Hans ist zum Mittagessen aus dem Wald heruntergekommen. Seit drei Tagen arbeiten sie oben, ein paar hundert Meter hinter den Sieben Bächen. Sie säubern den Wald von Stämmen, die, krank oder vom Blitz zerrissen, den Forst belasten. Hundertfünfzigjährige Eichen sind darunter, mit zerbrochenen Kronen, Opfer der Stürme und der hell dröhnenden Gewitter im Mai.
Hans steht in der Futterküche und reinigt die Stiefel mit einer Spachtel. Der Lehm fällt klatschend auf den Boden, draußen im Hof rieselt der Regen, und hinter dem vergitterten Fenster des Herrenhauses kreischt die Degerloch seinen Namen. Hans lacht. Sechsmal muss sie kreischen, ehe er antworten wird. Er ist der Person nicht grün seit der Affäre mit
Kilian Kern. Absichtlich hat sie damals die Tücher in zu heißes Wasser getaucht, als sie den Briefträger wuschen. Der hatte aufgeschrien und dann gewinselt wie ein Kind. Aber die Degerloch, das scheinheilige Tier, hatte beteuert, sie habe sich nur zufällig am Kranen vergriffen. Dabei findet die Person jedes Salzfass mit geschlossenen Augen. In seiner Wut hatte ihr Hans einen Stoß versetzt, dass sie die halbe Stiege hinab taumelte. Oh, er wusste Bescheid, was in diesem Jungfernhirn vorging. Einem politischen Gegner helfen? Wie? Nicht umsonst rannte die Degerloch seit September in jede Versammlung und schlürfte dort die Worte Kalahnes über die gottverfluchte Humanität. „Herr Diefenbach... Herr Diefenbach... Herrrr Diiiiefenbach!" Hans streckt den Kopf aus dem Fenster, der Regen kitzelt ihn im Genick, da sieht er das kreischende Gesicht der Degerloch hinter dem Gitter, rotblau ist es vor lauter Keifen. Wo er denn stecke? Wo er denn bleibe? Es sei etwas Wichtiges gekommen. Hans macht ein dummes Gesicht. Was wird das schon sein. Aber die Degerloch ist fast außer sich. „Ein Brief", schreit sie, „ein Brief von der Partei!" Gemächlich schließt Hans das Fenster. Das bringt die Degerloch völlig in Rage. Ein Kurier habe den Brief gebracht, hört er sie schreien. Es sei dringend, es sei enorm wichtig. So, denkt Hans, wenn die jetzt glaubt, ich schösse wie ein geölter Blitz aus der Küche, dann ist die schief gewickelt. Ruhig dreht er das warme Wasser auf und beginnt sich die Hände zu waschen mit grauem Sand.
Also von der Partei? Seit Wochen hat er nichts mehr
von der Partei gehört. Zwei Tage nach der Demonstration, die Bäuerles Fest gesprengt hatte, war er schriftlich vom SA.-Dienst dispensiert worden. Er hatte es erwartet. Und es war ihm nur angenehm gewesen — um so mehr Zeit hatte er für Irene und das Gut. Bäuerle war seit dem Zusammenstoß mit Dern kaum noch zu gebrauchen. Stundenlang schloss er sich in seine Bibliothek ein, ließ niemanden zu sich und grübelte. Wie eine schwere, dunkle Wölke stand die Trauer dieses Mannes über Weißenfels. Selbst Irene, die glückliche, litt. Henrici war auch voller Unruhe. Er hatte in Russland eine Stelle als Agronom bekommen, an einem Institut im Süden. Anfang Dezember reiste er ab. Da war es gut, dass Hans auf dem Hof war. Er sorgte dafür, dass die Arbeit vorwärtsging und dass das Notwendigste getan wurde. So eng fühlte er sich schon mit Weißenfels verwachsen, dass es ihm nicht absonderlich vorkam, wenn er, ohne Bäuerle zu fragen, selbständig Anweisungen gab, Verkäufe tätigte, Stall, Küche und Keller kontrollierte und in allem so tat, als verwalte er sein Eigentum. Er begriff die Erregung um ihn nur wie ein fernes Gewitter. Er selbst war sicher in sich. Er liebte und arbeitete.
Zwar wusste er, dass das Parteiverfahren gegen ihn lief, er gab sich wegen des Ausgangs keinen Zweifeln hin, mochten sie ihn ausschließen, immer wieder würde er so handeln wie damals, als Kilian unter dem wütenden Haufen lag. Lange hatte er sich überlegt, ob er Gerhard Träger schreiben solle, und schließlich hatte er es getan, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Aber Gerhard sollte wenigstens die
Wahrheit hören, bevor sie Dern verfälschte. Lange hatte er über den Brief nachgedacht — wenn er im Keller arbeitete, wo der Wein wie toll in den Fässern rumorte, oder wenn er droben im Wald stand zwischen den Nebelschwaden und mit den Knechten die Wurzeln sprengte —, immer war diese Zwiesprache mit Gerhard in ihm, ohne Groll, ohne Erregung, so wie es sich ziemt für ernste Gedanken. Dann hatte er sich hingesetzt nach einem Abend, da er sehr glücklich war mit Irene. Unter dem weißen Licht seines Zimmers hatte er an Gerhard geschrieben, draußen fiel der Regen, und aus den Ställen dampfte der Schlaf.
„... was er jedoch an Bäuerle und besonders an diesem Briefträger tat, indem er ihn von einer zwanzigfachen Übermacht zu Boden trampeln ließ, verletzt mein Gefühl von der Würde derart, dass ich gern die höchste Strafe für diese meine Humanitätsduselei in Kauf nehme. Kalahne hat einmal das Wort von der Drecklinie, durch die jede Revolution hindurch müsse, geprägt. Nie jedoch kann ein Ziel so erhaben sein, dass man sich, um es zu erreichen, der Feigheit und der Unritterlichkeit bedienen darf. Und wenn Du mir sagst, man dürfe in diesen Zeiten nicht an sich denken, nicht an seine persönliche Auffassung von Recht und Unrecht — so frage ich Dich, wonach, bei Gott, soll sich denn der Mensch noch richten, wenn nicht nach dem, was er für gut und anständig hält?"
Hans geht über den Hof. Der Regen nieselt. Die Traufen summen. Als er die Halle betritt, keucht die Degerloch die Wendeltreppe hoch und wirft ihm den
Brief wortlos auf das Tischchen in der Garderobe. Neugierig zieht sie sich zurück. Hans tut ihr nicht den Gefallen, das Schreiben zu öffnen, solange sie ihn sieht. Er benimmt sich, als gewahre er es nicht. Später erst, als er sich die Haare gebürstet hat, öffnet er den Umschlag.
Sie haben sich zwecks Entgegennahme einer Erklärung heute Nachmittag Punkt vier Uhr in der Wohnung des Pg. Dr. Kalahne einzufinden.
Heil Hitler!
Hungrich, Standartenführer.
Hans geht zu Tisch. Eine Stunde später verlässt er Weißenfels. Irene wollte ihn gern mit dem Wagen hinunterfahren, aber Hans meinte, das, was ihm bevorstehe, erledige sich besser zu Fuß. Es ist zwei Uhr, als er den Rathausplatz erreicht. Um den Brunnen der Marktgerechtigkeit werden die Stände abgeschlagen. Es riecht nach Astern und Flussfischen. Blutbeflecktes Papier treibt am Boden, zwischen zertretenen Rüben und Lauch. Seit Monaten war Hans nicht mehr in Siebenwasser gewesen. Das Gut hat mich aufgefressen, denkt er, während er den Markt verlässt und nach dem Cafe Adelmann geht. Über seiner SA.-Uniform trägt er einen von Bäuerles englischen Regenmänteln. Sein Kopf ist frei. Wenn es auch gegen das Reglement ist - er kann diese braunen Segeltuchmützen nicht mehr leiden, seitdem er es gewohnt ist, mit bloßem Haupt auf dem Felde zu arbeiten. Eigentlich verrückt — jetzt steh ich vor dem Cafe
Adelmann und linse durch die Scheiben wie früher, wenn ich hinter einem Theaterhasen her war. Dennoch geht er auf die Terrasse. Stühle und Tische sind weggeräumt, der Regen tropft von den Lampen, und auf den roten Steinplatten sammeln sich Pfützen. Das Cafe ist leer. Er sieht den roten Plüsch und die vergoldeten Spiegel, die grünen und gelben Schnapsflaschen auf dem Bord hinter dem Büfett und das weiße Zuckerzeug in den Schalen aus Nickel. Hans erschrickt. Er hat sich bei einem Gedanken ertappt. Wenn ich jetzt Kalahne träfe, der doch hier Stammgast ist? Vielleicht, wenn ich vorher mit ihm spräche? Sofort verlässt er die Terrasse und geht vom Platz aus die breiten Stufen hinunter, die nach der Neustadt führen. Angst? A, bah, ich hab doch keine Angst! Er öffnet den Mantel. Der Regen lässt nach. Hinter den Türmen von Sankt Andreas glänzt der Himmel in einem kleinen, metallhellen Streif. Hans biegt in die Bahnhofstraße. Fast abwesend betrachtet er die Geschäfte. Radioapparate oder ein Auto mit geöffneter Motorhaube, Papierfäden gehen von den einzelnen Teilen nach einer Tafel, auf der die Erklärung steht, aber bald fällt das Auge auf die Wurstberge hinter den Fenstern der Metzger, in die Postkartenflora der Papierhandlungen, in das Reklametalmi der Zigarettengeschäfte. Das öde Einmaleins des mittleren Lebens beherrscht die Straße, von der Okkasionstasse zu fünfundvierzig Pfennig bis zum Volkssmoking des Warenhauses Hansa im Werte von siebenundfünfzig Mark. Hans ist verärgert. Es war eine Dummheit, so früh nach Siebenwasser zu gehen. Zwei Stunden hat er noch Zeit, das ist für einen Bauer, wie er es jetzt ist, eine Ewigkeit. Ja, er spürt es genau, dass er ein Bauer geworden ist. Wie er die Gegenstände dort in den Läden ansieht, daran merkt er es. Wofür das viele Zeug, denkt er. Sind wir Neger? Am Bahnhofsplatz bleibt er stehen. Es beginnt wieder zu regnen, und die Leute, die an ihm vorbeigehen, stoßen mit den Schirmen aneinander. Hans sieht auf die Uhr. Noch eine Stunde und vierzig Minuten. Ich muss doch verdammt aufgeregt gewesen sein, dass ich so früh herunterlief. Er überlegt, was er tun soll. Das Beste ist, er setzt sich zu Mutter Döring und malt ein paar Männerchen auf ein Papier. Blöde Sache! Oben im Wald gibt es Wurzeln zu sprengen, und er trödelt hier herum... War das nicht der Kellenberger, der eben vorbeiging? Natürlich... tut gerade, als kenne er mich nicht. Dabei habe ich ihn in die SA. gebracht, vor zwei Jahren, kurz nach dem Abitur. „Hallo! Heinrich!"
Der Kellenberger geht weiter, direkt auf den Bahnhof zu, schick sieht er aus in der Uniform, aber im Gelände, da bekommt er oft Herzweh. „Heinrich!"
Hans macht ein paar Schritte hinter dem Kellenberger drein und ruft nochmals. Der SA.-Mann geht schneller, man sieht es ordentlich, wie er sich eilt. Das wäre doch noch schöner... grüßt seinen Kameraden und Scharführer nicht, und jetzt tut er, als habe er Blei in den Ohren.
Hans läuft. Quer über den Bahnhofsplatz läuft er. Da, auf der Freitreppe holt er ihn ein.
„Heil Hitler!" sagt Hans und hält den Kellenberger am Arm. Der dreht sich kaum um und will weiter. Es gelingt ihm auch ein paar Stufen, dann aber ist Hans vor ihn getreten, dass er nicht mehr weiter kann. „Du bist wohl blind und taub?" sagt Hans, doch schon spürt er, dass sein Hals trocken ist und dass er mehr weiß, als er denkt.
Der Kellenberger hat ein blasses Gesicht und rötliche Haare. Die Augen hinter seiner Goldbrille sind wässerig.
„Kennst mich wohl gar nicht mehr? Wie?" Hans lacht, aber der Kellenberger bekommt plötzlich ein ganz unglückliches Gesicht. „Du", haucht er, „lass mich doch gehen... wenn es einer sieht... es tut mir ja leid... aber..."
„Wenn wer was sieht?" ruft Hans, sie sind von der Treppe unter den Bogen gelangt, der Kellenberger schaut sich scheu um. „Dass ich mit dir spreche", flüstert er im Halbdunkel der Fahrkartenschalter. Hans muss furchtbar blass geworden sein, denn jetzt hält ihn der Kellenberger am Arm. „Ich kann doch wirklich nichts dafür, Hans, und ich vergess es auch nicht, dass du in der Penne gut zu mir warst... und als Scharführer... aber das ist ja alles egal, was wir persönlich denken! Und wenn ich dir auch sage, dass viele von den Kameraden auf deiner Seite sind... das hilft dir ja gar nichts. Du... davon kannst du nicht leben... es ist halt vorbei mit dir... keiner von uns darf dich mehr kennen... gestern Abend beim Appell hat es Hungrich vorgelesen. Wer mit dir gesehen wird, du, der fliegt hinaus."
Der Kellenberger mit der Doubleebrille und den rötlichen Haaren, Sohn eines Rechtsanwalts und Student der Jurisprudenz an der Alma Mater in Heidelberg, erschrickt nicht, als Hans plötzlich vor ihm ausspuckt, gerade vor die Füße auf den Terrazzoboden, nein, er ist gar nicht empört darüber, o bewahre, er ist nur froh, dass Hans von ihm weggeht, heilfroh ist er, mein Gott, mag der Arme auch stolz tun. Nur nicht auffallen, denkt Kellenberger. Und er atmet erleichtert auf, als Hans hinter der Tür des Wartesaals verschwindet.
Kalahne geht den Kai entlang. Der Regen treibt quer über den Fluss, und die Kuppen der Hügel versinken hinter den Schleiern des Wetters. Von den Türmen des Sankt Andreas schlägt es drei. Zwei Stunden hatte der Doktor bei Fabrikant Weber verbracht. Aus der Umgegend waren zehn Industrielle gekommen, um sich Kalahnes Vortrag anzuhören. „Vertraulich und im engsten Kreis", hatte es auf den Einladungskarten geheißen. Es war eine Art Konzilium, das Kalahne veranstaltete. Weber hatte alles arrangiert. Seit der Septemberwahl war der Fabrikant Weber Mitglied der Partei, wenn er es auch nach außen hin nicht zeigte. Oh, es war nicht schwer gewesen, mit den Herren fertig zu werden. Zuerst hatten sie sich zwar lebhaft nach der Brechung der Zinsknechtschaft erkundigt und besonders, was es mit der Nationalisierung auf sich habe, die doch im Programm stehe. Als ihnen Kalahne aber erklärte, dass diese Schlagworte nur Auffanghürden für die Rudel der Kleinbürger darstellten, da waren sie plötzlich sehr aufmerksam geworden und waren seinen Sätzen gefolgt. Klipp und klar hatte ihnen der Doktor erklärt, dass er als Nationalsozialist überhaupt kein Gefühl mehr habe für Worte wie Kapitalismus, Proletariat, Mehrwert und Profit, ja, dass er lachen müsse über solche Gespenster einer erledigten Welt. Die Wirtschaft, dieser Popanz, habe lange genug die erste Rolle im Staate gespielt. Die Herren sollten es ihm nicht verübeln, wenn sich die neue Bewegung so weit wie möglich von der Wirtschaft abwende. Für sie gehe es nicht um materielle Dinge, sondern um eine geistige Umwandlung des deutschen Menschen. An Stelle des wirtschaftlichen Typs des letzten Jahrhunderts trete der soldatische Mensch, geformt nach den Gesetzen der Ehre und des Bluts, und nicht nach der Schablone des Besitzes. Mit aller Macht werde man den Deutschen den materialistischen Geist austreiben. Soziale Experimente lehne die Bewegung ab, sie fordere nichts weiter, als dass jeder seine Pflicht tue, ob Unternehmer oder Arbeiter. Die große Volksgemeinschaft, die sie schaffen werde, beruhe auf den Gesetzen des Soldatentums, auf den preußischen Tugenden der Ehre und des Gehorsams, und wenn die Herren bereit wären, ihre Kräfte in den Dienst des heranwachsenden Reichs zu stellen, so könne er ihnen versichern, dass die Bewegung sich dessen am Tag der Machtübernahme sehr wohl erinnern werde.
Zehntausend Mark beträgt der Scheck, den die Industriellen, wie Weber so sinnig bemerkte, auf dem Altar der deutschen Zukunft niedergelegt hatten.
Kalahne hat ihn in der Brieftasche. Es war wirklich höchste Zeit, dass etwas geschah. Von der letzten Wahlkampagne standen noch achttausend Mark Schulden zu Buch, und die Druckerei drohte mit der Klage. Kalahne lacht. Was kümmert es ihn, wenn die Herren jetzt bei Mokka und Schnäpsen sich in dem Gedanken wiegen, sie hätten die Bewegung durch diesen Geldwisch sich verpflichtet. Aus ihrer Angst vor dem Kommunismus hatten sie gezahlt. Oh, das war eine ausgezeichnete Geldquelle, dieser deutsche Kommunismus. Ein Glück, dass die Burschen in ihren Versammlungen den Mund so voll nahmen, ein Glück, dass sie bei den Wahlen stiegen. Jede Stimme für sie verdreifachte die Bedeutung der Partei, und die Fabrikanten zahlten, wie es früher die Stadtbürger zu tun pflegten, wenn sie Truppen zum Schutz ihrer Häuser warben. Mögen sie... oh, man soll sie noch bestärken in diesen Gedanken! Auf der Angst der Bürger lässt sich gut ruhen, und wenn sie glauben, ihre Batzen seien in Sicherheit, dann geben sie auch den Staat noch hin, die politische Macht, mit der sie nichts anzufangen wissen. „Keine sozialen Experimente! Keinen Eingriff in die Privatwirtschaft." „Gut, meine Herren, das können Sie haben — aber alles andere gehört dann uns, die staatliche Macht, die Exekutive, die Schule, ja, vor allem die Jugend." Kalahne bleibt stehen. Uber die Brücke scheppert eine Tram. Der Wagenführer nickt dem Doktor unauffällig zu. Einer von den geheimen Obleuten aus dem städtischen Depot. Kalahne geht hinüber in die alte Stadt. Er vergisst die Gesichter der Fabrikanten. Etwas anderes bedrängt ihn. In vierzig Minuten wird sich der Fall Diefenbach entscheiden. Schade um den Jungen, denkt Kalahne. Er erreicht sein Haus. Zwölfmal sei angerufen worden, sagt die Wirtin und schiebt ihm den Zettel mit den Namen auf den Tisch. Kalahne überfliegt die Notizen. Tagesarbeit, nichts Erschütterndes, notwendiger Kleinkram. Er legt den Mantel ab, setzt sich an den Tisch und holt das Aktenstück aus der Lade.
Unangenehme Geschichte. Lieber zehn Marxistenversammlungen sprengen, lieber zwei Stunden lang Fabrikanten beruhigen, als diese Affäre. Hätte man sie doch im Sand verlaufen lassen und dem Jungen schlicht den Abschied gegeben. Er gehört ja sowieso nicht mehr zur Bewegung. Das Mädchen hat ihn aufgefressen. Sollte er ruhig verschwinden im Geschichtslosen. Aber nein, Dern verlangte das Haupt auf der Schüssel. Und diese Mutter, dreimal war sie bei Kalahne gewesen. Gewütet hat sie gegen ihr eigenes Blut. Eine kleinbürgerliche Medea. Zum Speien war es, aber was sollte Kalahne tun? Er konnte den Jungen nicht retten. Allzusehr war Derns Prestige gefährdet, und für die Masse war Dern die Partei. So war der Fall nach München gegangen, und jetzt lag der Bescheid da. Wie zu erwarten, schimpflicher Ausschluss. Kalahne wendet die Blätter, er spürt kein Mitleid mit Diefenbach, es ist ihm auch gleichgültig, was aus dem Jungen wird. Die Partei ist keine psychologisch-therapeutische Anstalt, und der menschliche Hintergrund der Affäre ist für die Bewegung völlig uninteressant. Dennoch hatte Kalahne die Tage immer noch gehofft, dass die Entscheidung weniger hart ausfalle. Eine merkwürdige Stimme war das in ihm, er fühlte sich manchmal, wenn er ganz ruhig nachdachte, mit diesem Pg. Diefenbach solidarisch. Natürlich, humanitäre Restbestände aus der Studentenzeit. Er trat auf diesen Gedanken herum wie auf lästigen Mücken. Aber immer wieder quälten sie ihn, und gerade jetzt, da er wieder die harte Sprache des Parteigerichtes las und dann diesen Brief, den ihm Gerhard Träger geschrieben, bedrängte ihn die Vorstellung, dass es notwendig sei, den Jungen zu opfern. Hatte er nicht aus einem anständigen Gefühl gehandelt? Nein, schreit sich Kalahne an, er hat die Partei geschädigt, also hat er unanständig gehandelt. Schluss, dummes Zeug, humanitärer Quatsch! Er greift zu dem Brief des Offiziers. Da steht es, schmerzlich und tragisch, aber es ist das richtige Denken. „Glauben Sie mir, dass ich lange daran gedacht habe, für Hans Diefenbach zu intervenieren, aber ich habe es im Interesse unseres Ziels unterlassen. Die Zusammenschweißung des Volkes zu einem Block verträgt nicht den geringsten Riss. An jeder Krümmung der preußischen Geschichte liegen die Leichen von Hunderten solcher Knaben. Aber, Kalahne, der Feldwebel ist wichtiger. Ohne den Feldwebel gibt es keinen Sieg. Es ist abscheulich, und Sie können mir glauben, dass ich erschüttert bin von diesem Gesetz." Kalahne legte den Brief fort. Ich werde ihn vernichten. Er ist eine private Spur. Wir haben kein Recht mehr auf private Spuren. Denn der heroische Mensch erwürgt sein Herz, damit sein Arm stark werde und sein Hirn eisklar und nüchtern.
Hans war durch den Wartesaal gegangen. Vor Wut und Ekel war er bis auf den Bahnsteig gelaufen, dann war er durch die Unterführung hindurch auf die linke Stadtseite gelangt. Immer noch sah er des Kellenbergers Gesicht. Das ließ ihn nicht los. In Mutter Dörings Weinstube hatte er einen Schnaps verlangt, der Kellner hatte die Bestellung entgegengenommen, aber dann war er nicht mehr gekommen. Nach zehn Minuten hatte Hans das Lokal verlassen. Er begriff. Am Hafen hatte er sich auf eine Bank gesetzt, der Wind schmiss den Regen um sein Gesicht, es war kalt, und alles war entsetzlich böse. Hans war allein, ganz allein saß er da auf der eisernen Bank, er dachte nicht an Irene, weit, weit weg waren die Äcker von Weißenfels, er sah nur auf die Fähre, wie sie dort grau durch den Dunst zog, ein Totenschiff. Und mit ihr kam die Angst. Es war eine fürchterliche Angst. Eigentlich ganz gegenstandslos. Was konnten sie ihm schon tun? Er hatte Arbeit, er wurde geliebt, und Bäuerle war gut zu ihm. Aber das half ja alles nicht. Es genügt ja nicht, zu arbeiten und zu lieben. Man bleibt ja doch nur ein einzelner Mann. Die andern aber, täglich werden es mehr, die sind nicht mehr allein mit sich, die haben alle ein riesiges Dach über sich, die singen die Lieder, und wenn sie marschieren, dann ist das wie ein großer Leib.
„Du gehörst nicht mehr dazu... du bist tot für uns... aus ist's mit dir..." Da steht er wieder vor ihm, der Kellenberger, ach, es ist ja nicht der Kellenberger, es sind sie ja alle, und wenn es morgen das Volk ist? Hans zuckt. Mit dem Absatz haut er sich wider das Schienbein. Er spürt den Schmerz wie eine Wohltat, und er möchte weinen, wenn er nur könnte. Sein Hirn lacht. Lass die doch reden, was sie wollen, lacht es, es geht dir doch gut. Ja, gut... und jetzt sieht er Irene, und er spürt, dass bei ihr die Heimat ist, und sie wäre überall, wo Irene ist. Aber dann bäumt es sich wieder auf in ihm, das andere, lange hat es in ihm geschlafen, er hatte gedacht, es sei tot, doch jetzt steht es auf. Da sind sie plötzlich, die Lieder, die Fahnen, die Schwüre und der bittersüße Traum, den er geträumt hat, mit den Kameraden, mit Gerhard, ach, ich zerbreche... Er vergisst den Schmutz, er vergisst Dern, auch den Kilian sieht er nicht mehr, nur die Fahne ist da und der Wind und das große Licht in der Ferne, auf das sie alle marschieren. Hans hat die Augen geschlossen. Er spürt den Regen nicht, der sein Gesicht beschlägt. Mitten in einer Kolonne ist er, vorne geht Jürgen, und Tausende sind um ihn, und es fragt keiner nach ihm, er gehört einfach dazu, und wenn sie sich bewegen, dann bewegt er sich mit. Das ist es, das nehmen sie ihm, aus der Front stoßen sie ihn, nebenan im Kot steht er, und er hört, wie sie lautlos an ihm vorübermarschieren, als sei er gar nicht mehr da. Er springt auf. Er läuft über die Brücke. Er rennt durch die Straßen, und als er Kalahnes Haus betritt und die muffige Stiege hinaufeilt, ist es ihm, als habe er sie alle doch noch eingeholt.
Die Wirtin hatte den Auftrag, den jungen Diefenbach in die Küche zu setzen und ihn erst auf Kalahnes Zeichen in das Zimmer zu lassen. Als sie die
Schritte hörte, war sie auf den Vorplatz geeilt, sie hatte mit der Hand nach der Küche gewiesen, aber der junge Herr war an ihr vorübergestürzt, geradezu nach der Tür, hinter der sich die Führer befanden. Wie ein Irrer, wollte sie noch rufen, aber dann war plötzlich drinnen der Aufschrei geschehen, und sie war rasch in die Küche gelaufen. Hinter der halboffenen Tür saß sie, ihre Halsmuskeln schwollen, doch plötzlich war Ruhe.
Dann klang scharf die Stimme des Doktors. Wenn nur kein Unglück geschieht, dachte die Wirtin, so ein junges Blut, wäre doch schade drum, o Gott, was für Zeiten!
Hans Diefenbach war, als er die Tür aufriss, mit einem Schrei zurückgeprallt. Vor ihm, am Tisch zwischen Kalahne und Dem, saß die Mutter. Sie hatte sich erhoben, wachsbleich war ihr Gesicht, alles andere, was sonst noch im Raum war, verflimmerte. „Ich bin da", hatte Hans geschrien, und er hatte einen Schritt nach dem Tisch zu gemacht. „Und ich bin gekommen, um die Schande deines Lebens zu sehen." Langsam war Herta Diefenbach hinter dem Tisch hervorgegangen, war das nicht Vater Allwohn, der sie stützte, jetzt stand sie vor ihm, das waren die Augen noch wie vor vielen Jahren, aber grau waren sie, eisgrau, und der Mund, in dem war kein Blut.
Was jetzt geschah, war wie ein Taumel. Die Mutter, auf Allwohn gestützt, trat zur Seite, da war plötzlich ein großer brauner Boden, und er bewegte sich, als wäre ein Meer unter ihm, und hinter dem Meer, dort, wo es fest wurde, dort stand der Doktor, und
er las etwas vor, und als er vorgelesen hatte, da lief über das Meer ein Mann, wie eine Ratte sah er aus, einen Zwicker hatte er auf der Nase, und die Zähne, die ragten ihm über die Lippen. Jetzt sprang sie ihn an, o Gott, warum schickst du die Ratte? Jetzt griff sie nach ihm... der Hals... der Hals... Ritsch... ratsch... ritsch... sie reißt mir die Haut ab... Ritsch... ratsch... nein! Ritsch... nein!... nein! ... Ihr Schufte! ... Ihr... Schuf... Donnernd flog die Tür hinter ihm zu. Das Haus bebte, und die Treppe zerrann in einem Abgrund. Er stürzte hinein. Es war ihm, als fliege er. Oben in dem Zimmer legte der Standartenführer Hungrich die Abzeichen des Scharführers Diefenbach auf den Tisch, dann knallte er die Absätze zusammen und sagte zu der reglosen Frau: „Parteigenossin, ich bewundere Ihre spartanische Haltung." Es war fünf Uhr, als Henri Jockel nach Weißenfels telefonierte. Man solle sofort den Wagen schicken. Er habe den Jungen hier im Kontor. Er antworte auf keine Frage. Selbst Kognak schlage er aus. Als Johann Kaspar den „Blauen Bären" betrat, schwieg er. Er nahm Hans an der Hand, er führte ihn hinaus in den Regen — als sie in die erste Kurve einbogen, zerriss das Gewölk, und über Weißenfels stand der Himmel offen wie eine purpurne Schale. Eine Stunde hatte Irene im Regen gestanden. Sie hatte gewartet. Die Minuten hatte sie gezählt. Und oft hatte sie zu sich gesagt: Wenn jetzt dieser Nebelstreif auf der Wiese dort nach rechts zieht, dann kommen sie. Es waren aber viele Nebelstreifen nach rechts gezogen, und immer noch stand Irene vor dem Tor, und die Unruhe in ihr, die schwankte auf und ab wie ein weißes ängstliches Licht. Es hatte ihr wenig geholfen, dass sie gearbeitet hatte, in der Bügelstube zwei Stunden lang und später mit der Degerloch in der Meierei — immer war es ihr gewesen, als bereite sich hinter dem Nebel da draußen ein garstiges Schicksal. Oh, sie hatte sich gescholten, albern hatte sie sich genannt, sie wiederholte sich die Worte von Hans, als er am Mittag lachend nach Siebenwasser ging, eine Formalität sei das bei Kalahne, natürlich, was denn auch sonst, sie glaubte es ja... wie sollte sie denn zweifeln, wenn Hans etwas sagte... nein, nein, sie war dumm, eine richtige Frauenangst hatte sie gepackt, oder kam das nur daher, weil sie allein war?
Lange hatte sie dieser Gedanke getröstet. Sie beruhigte sich, dass es nur die Entfernung des Geliebten sei, die sie unstet und zaghaft mache, ja, sie war sogar glücklich über diesen neuen Beweis ihrer Verbundenheit — aber dann war es immer merkwürdiger geworden in ihr, sie konnte nicht im Zimmer bleiben, die Luft wurde so eng, und manchmal wurde ihr schwindlig.
Sie war zum Vater gegangen, die kleine Treppe hoch nach der Bibliothek, und sie hatte sich nahe zu ihm gesetzt und ihn gefragt, was das denn sei, sie fürchte sich so. Und dann hatte sie erzählt, wie sehr sie Hans liebe, das kam einfach aus ihr heraus, ohne Bedenken, ja wie eine Befreiung war das, nichts verschwieg sie, der Vater war gut zu ihr, und als sie sagte, dass sie ein Kind in sich wachsen spüre, da hat er sie geküsst. Was hatte sie alles geredet, keine Stunde des Glücks ließ sie aus, er sollte es wissen, jetzt, da ihr so elend war. Er antwortete ihr ruhig und vorsichtig, wie es seine Art war, aber auch ohne Umschweife und mit praktischem Sinn. Als er ihr vorschlug, sie solle, wenn das Kind da sei, mit Hans zusammen von Weißenfels weggehen, in eine Stadt, wo Hans studieren könne, da hatte sie gelacht und gerufen: „Nein, nein, er will ja nichts als ein Bauer sein", und als der Vater begriff, da war sie zu ihm gegangen und hatte ihn gefragt, ob er zürne, weil Hans und sie so einfältig seien. Er hatte ihr keine Antwort gegeben, aber sie wusste, dass er sie verstand. Sie begann zu schwelgen, ja, glücklich sei sie, und sie wolle nichts weiter als lieben und arbeiten, und auch Hans wolle das, und er mache jetzt Schluss unten in Siebenwasser mit Kalahne, und wenn er zurück wäre, dann sei alles gut. Gelächelt hatte der Vater. Du bist wie Juana, hatte er gesagt, und er war mit ihr vor das Bild der Mutter gegangen, das im Esszimmer hing an der dunkel getäfelten Wand. Und um die Mutter herum, da hingen die Bäuerles, harte, scharfe Gesichter, Männer mit ernsten Augen und einem unbeugsamen Mund, und der Vater erzählte von ihnen, und er sagte, nie hätte ein Bäuerle wider sein Gewissen gehandelt, das sei ihr Vermächtnis, und Irene solle es pflegen und danach leben. Und während sie vor den Bildern standen und Irene den Arm des Vaters um ihre Schulter spürte, da kam plötzlich die Degerloch gerannt. Am Telefon sei Herr Jockel, und es drehe sich um Hans. Sie waren hinuntergelaufen, zitternd hatte sie neben dem Vater gesessen, da war es, jetzt kam es aus dem Hörer gekrochen — „Lebt er? lebt er?" hatte sie geschrien. Der Vater hatte genickt. Sie hatte es noch gehört, wie er mit dem Wagen nach Siebenwasser fuhr, dann wurde ihr schwach. Kalte Wellen zogen durch ihren Leib. Sie lief in ihr Zimmer, und dort auf dem Bett, wo sie lag, hatte sie zum ersten Mal ihr Kind gespürt, wie ein Herz, das sich zusammenzieht.
Irene denkt: Später ging ich hinunter, elend und grün sah ich aus. Ob ich Tee wolle, fragte die Degerloch, aber das war alles wie hinter einem Schleier, die Menschen, das Haus, der Hof und die Ställe. Und den Regen am Tor, den hab ich auch nicht gespürt. Ich stand nur da. Eine Stunde vielleicht. Ach, viel länger. Eine ewige Minute.
Sie sind gekommen, und ich bin zur Seite getreten. Ich habe nur Hans gesehen. Kalkweiß war er, und mit der Hand verdeckte er seinen Hals. Schweigend gingen wir über den Hof, und ich bin zweimal gestolpert, so schwer war mein Fuß. Als wir oben waren, da haben wir lange auf den Stühlen gesessen. Draußen ist es dunkel geworden, aber der Nebel, der blieb weiß.
So haben wir gewartet, bis er sprach. Und als er sprach — er flüsterte und seine Stimme war ganz trocken —, da fror uns das Blut. Ich habe nur auf ihn gesehen, aber ich weiß noch, wie der Vater plötzlich aufschrie, durch das Zimmer rannte und weiter nichts sagte als: „O Gott!" Der Hans jedoch, der saß auf seinem Stuhl und riss sich an den Fingern, als wolle er sich zerstückeln. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten, da bin ich einfach zu ihm gelaufen, da hab ich ihn festgehalten, und gerufen hab ich, ach, ich weiß es nicht mehr was, aber ich glaube: „Du..." Lange war es, als ob er mich gar nicht bemerkte, so kalt war alles in ihm. Aber auf einmal, da war es wie ein Wunder, ich spürte, wie seine Hand über meine Haut ging, wie zum ersten Mal war das... ja, und endlich sah er mich an. Oh, so glücklich wie in diesem Schmerz war ich noch nie, und als wir dann gingen und der Vater uns die Tür öffnete und wir oben waren in meinem Zimmer, da hab ich immer nur rufen können: „Ich bin bei dir... du... Ich bin bei dir!"
Irene liegt wach. Wie eine Glocke hat sich die Dunkelheit über das Zimmer gesenkt. Irene hört den Regen nicht, auch den Wind nicht über dem Wald und die klatschenden Schläge des Nussbaums wider das Dach. Der Atem des Schlafenden, der neben ihr ruht, ist das einzige Geräusch, das sie empfängt. Unten jedoch in seinem Zimmer steht Johann Kaspar. Jetzt löscht er die Lampen. Er geht hinaus in den Hof. Es ist eine dumpfe, gestirnlose Nacht. Eine pfeifende Dunkelheit jagt über den Berg. Es ist gut so. Denn ein Mann, der um sein Volk weint, meidet das Licht.
Der Postsekretär Dern dröhnt durch das Zimmer. Mit der Reitpeitsche schlägt er auf den Tisch, auf die Stühle, auf das Büfett, sogar auf die Topfpalme neben dem Sofa. Jetzt bleibt er stehen. Regungslos steht er da. Ein Gebirge aus Muskeln und Fleisch. Seine wasserblauen Augen starren auf den Tisch. Da liegt der Brief. Aus München. Ein Freund hat ihn geschrieben, einer, der ganz nah beim Führer ist und Bescheid weiß.
„Ich kann's nicht hindern. Der Träger kommt im Januar zu Euch. Offizielle Kontrolle. Ist ein verdammter Reinlichkeitsapostel. Habt Ihr Dreck am Stecken, dann putzt schnell blank!" Dern sieht weg. Es wird ihm rot vor den Augen. Der schwere, massige Mann ringt nach Atem. „Dir werd ich's", keucht er, „dir werd ich's..." Aber wieder drängt es ihn zu dem verfluchten Papier dort auf dem Tisch. Was steht da noch? Was?
„Postskriptum: Muss Euch einer verpfiffen haben in Siebenwasser."
„Der Doktor", brüllt Dern, „der Hinkepoot... der Krüppel... der bucklige Hund..." Die Reitpeitsche klatscht auf den Stuhl, sie fegt wider die Wand, mit einem Hieb fliegt die grünliche Glasbowle von dem Büfett und zerspringt mit lautem Knall auf dem Boden.
Erleichtert atmet der Postsekretär auf. Er horcht. Niemand kommt. Er hat sie hinausgejagt aus dem Haus, Frau, Sohn, auch die Herta darf ihm nicht unter die Augen. Nein, das macht er allein durch. Nur mit Hungrich wird er sprechen, denn den geht's auch an, weiß Gott.
Und wieder stapft er durch das Zimmer. Die Scherben der Bowle knirschen unter seinem Schritt. Kontrolle... Kontrolle... Ja, damit ihr's wisst, zwölftausendsechshundert Mark fehlen in der Kasse, zwölftausendsechshundert, über die ich keine Belege hab. Er hat es ganz laut gesagt. Und schon brüllt er: „Bin ich ein Koofmich? Bin ich ein Buchhalter? Ein Soldat bin ich! Dein Soldat!" Er steht vor dem Bild des Führers. Er sieht die handschriftliche Widmung. Er sieht die Augen, und plötzlich muss er lachen, fürchterlich lachen muss er. Was dieser Doktor sich einbildet. Stänkert da in München herum. Der da ist treu, ja, treu ist er. Dreizehn Jahre dien ich dir wie ein Hund, und jetzt glaubt da so ein Hinkepoot, der noch nicht mal ein Weib fertigmachen kann, du würdest mich wegen der lumpigen Kröten...
Dern ist fröhlich. Ein Blick in die Augen des Führers, und alle Sorgen schwinden.
Er genehmigt sich einen Kognak. Es ist das achte
Gläschen an diesem Nachmittag. Aber was vorher der Zorn und die Wut verschlang, das fällt jetzt wie Öl auf die Seele.
Hungrich findet den Postsekretär in einem glücklichen Rausch. Er sitzt am Tisch, die Kognakflasche neben sich und malt auf einem Papier. „Zwölftausendsechshundert lumpige Mark Defizit, demgegenüber stehen allein in Siebenwasser elftausenddreihundertundsiebenundneunzig Seelen", liest Hungrich auf dem Schreibblock. Was das bedeute? fragt Hungrich. Lächelnd gibt ihm Dern den Brief. Aber sein Lächeln erstirbt, als er Hungrichs Gesicht sieht. Grünlich ist es angelaufen, alles Blut ist aus den Lippen gewichen. „Was ist dir?" schreit Dern und gießt rasch einen Kognak ein. Hungrich lehnt ab. „Der Krüppel", zischt er, „das hat der Krüppel getan!" Dern lacht. Vergnügt lehnt er im Sessel. „Was der sich einbildet", lacht er, „morgen fahr ich nach München!" „Sinnlos", antwortet Hungrich, „du wirst nicht vorgelassen."
Jetzt ist Dern aufgesprungen. „Ich nicht vorgelassen?" brüllt er, „ich... bei meiner Vergangenheit?" „Nützt dir gar nichts. Die haben jetzt andere Sorgen."
„Mein Führer ist immer für mich da!" Stolz steht Dern vor dem Tisch.
„In drei Wochen vielleicht... aber gerade jetzt? Du weißt doch, die verhandeln eben!" „Verhandeln? Ein Adolf Hitler verhandelt nicht!" Der Gauleiter wendet sich ab und schreitet ernst und feierlich durch das Zimmer.
Hungrich putzt sich den Zwicker. „Du bist ein Kind", sagt er, „glaubst nur, was da in den Parteiblättchen steht. Aber ich sag dir: sie verhandeln. Und damit du's genau weißt, erstens, weil dieser verdammte Schleicher uns fast zwei Millionen Stimmen abgenommen hat, zweitens, weil kein Geld mehr da ist. Logisch, nicht wahr? Und es ist richtig, dass sie verhandeln. Denn du weißt es ja selbst — es muss etwas geschehen, und zwar rasch. Wir können die Leute nicht von Halbjahr zu Halbjahr vertrösten, und wie es um einen Putsch bestellt ist, solange der olle Hindenburg noch oben ist, das weißt du auch. Also verhandeln... mit den Kapitalisten, mit der Reaktion, mit den Junkern, meinetwegen, wenn es nur klappt. Denn die Sache ist verdammt eilig. Noch so eine Schleicherwahl, und wir sind die SPD. von rechts. Aus ist der Traum."
Regungslos steht der Gauleiter im Zimmer. Er starrt Hungrich an. Hinter den Fenstern neigt sich der Tag. Schiefergrau senkt sich die Dämmerung über die Stadt.
„Ja, ja, lieber Otto, jetzt denk einmal ganz scharf mit und lass den Kognak beiseite. Also, nicht wahr, wenn sie eben verhandeln, dann brauchen sie doch die Leute in der Partei, die Beziehungen zu den andern haben, also, ich meine zur Reichswehr, zur Industrie, zu den Kohlköppen dort im Osten... etcetera... etcetera... Das ist doch logisch, nicht? Und jetzt denk mal wieder ganz scharf mit, nur einen Moment, und dann wird dir ein Licht aufgehen. Der Träger, nicht wahr, der gehört doch zu diesen Leuten, der hat doch höllisch viel Fäden laufen nach der Armee, und hinter dem Träger, da steht eine ganze Clique in der Partei, und diese Clique, Otto, die ist Leuten wie uns nicht grün. Für die sind wir halt immer noch die Feldwebel von früher, und es hat gar keinen Wert, dass du herumtobst, das ist einmal so."
Die beiden Männer sehen sich kaum. Das Zimmer liegt im Dunkel. Nur der unruhige Schein der Straßenlaternen fleckt die Wände.
„Das weiß der Kalahne genau. Das Aas kalkuliert gar nicht schlecht. Seit Wochen gehen geheime Berichte über uns nach München. Uber unsern Lebenswandel, wie oft du besoffen bist, Otto... braus nur nicht auf... wie hoch deine Rechnungen sind beim Schneider, im ,Blauen Bären', bei Mutter Döring... und dass du dir einen Flügel angeschafft hast, und den kleinen Opel, und dass die Herta Diefenbach sich hat Goldkronen einbauen lassen, und mit dem Grab deiner Mutter, weißt du, das neue Denkmal mit der ergreifenden Figur aus Marmor... vor nichts schreckt der Bursche zurück, nicht einmal vor der kleinen Jagd, die ich mir geleistet hab..." „Kleine Jagd?" tönt es da aus dem Dunkeln, „klein nennst du die? Und die Gewehre und das Motorrad und der neue Gasbadeofen und das Hakenkreuz aus Vergissmeinnicht im Garten und nur noch Pilsner?" „Ich gönn dir ja auch deine Erholung." Sie schweigen. Ihre Blicke suchen sich im Dunkel. Ohne dass es der eine vom anderen weiß, haben beide die Arme verschränkt.
Es dauert lange, bis sich der Postsekretär bewegt. „Und du meinst also, der Träger kommt her?"
„Leider ja." „Und dann?"
„Feierlicher Rüffel, alle Parteigelder gehen an Kalahne, dann hat er uns in der Hand." „Du meinst also... wir... sind... dann... wieder..."
„Feldwebel wie früher", lacht Hungrich. „Und wenn es losgeht?"
„Dann wird der Krüppel bestimmen, ob du vielleicht nach dreizehn Jahren Kampf Postdirektor wirst."
Drei Schritte durch die Dunkelheit. Hungrich fühlt sich an der Schulter gepackt. „Du", schreit Dern, „der Träger muss weg. Schaff mir den Träger weg." Er fällt in den Sessel zurück. „Postdirektor", murmelt er, „ihr seid wohl wahnsinnig... Postdirektor, weiter nichts als Postdirektor?"
Müde ist Schickedanz von der Redaktion nach Hause gekommen. Bis zum Abend hatte er an Vater Allwohns Aufsatz „Der nordische Mensch und die Vivisektion" herumredigiert — es war ein abscheuliches Gemisch aus Tierliebe und Judenhass, aber Kalahne bestand darauf, dass die Arbeit erschien. Man war in den letzten Wochen sehr zahm geworden in der politischen Redaktion des „Alarm". Die herrlichen Attacken, die Kalahne noch im Sommer gegen diesen Herrn von Papen ritt, waren verstummt — der großartige Kampfruf gegen die Junker und gegen die Schwerindustrie wurde über Nacht abgeblasen. Oh, damals war Schickedanz mit dem Herzen dabei. Es war eine Lust zu leben, als Kalahne in jeder Nummer die Reaktion zu Paaren trieb, und niemals hatte die Partei so revolutionäre Tage erlebt wie in jenem Juli, als sie aufzustehen schien gegen die alten Mächte des Besitzes und des Kapitals. Millionen waren zu ihr gestoßen, Millionen von kleinen Bauern, Arbeitern und vor allem die Jugend. Ja, sie stand da, bereit aufzubrechen gegen die Burgen im Land und sie niederzulegen, wie ihre Vorfahren, die Bauern vom Bundschuh es taten, bevor sie verraten wurden. Aber dann, im November, war der furchtbare Abfall geschehen. Ein General war aufgestanden gegen die Welle, und die Bürger waren in Scharen zu ihm gelaufen, aus Angst vor der antikapitalistischen Sturmflut. Und plötzlich schwieg Kalahne, plötzlich war nichts mehr zu lesen von der hauchdünnen Oberschicht, die das Volk ausbeute — plötzlich war es wieder die jüdische, die marxistische, die bolschewistische Gefahr, die man brandrot auf die Seiten malte.
Schickedanz hatte geschwiegen. Er verstand nichts von Politik, und außerdem hatte er Schulden. Schweigend gab er die Leitartikel in Satz — diese geschickten Verbeugungen vor dem deutschen Unternehmerfleiß, vor dem preußischen Schwertadel, vor dem Gutsbesitzer von Neudeck. Er dachte nicht nach, er biss sich auf die Zunge, er soff, und er war glücklich über jede fünf Mark, die ihm Kalahne über sein Gehalt hinaus bewilligte. Ach, undurchsichtig war der Doktor, undurchsichtig wie das neue Jahr, das langsam emporstieg, undurchsichtig wie der Nebel dort vor dem Fenster.
Schickedanz nimmt das kochende Wasser vom Primuskocher, er übergießt den Tee, ein Achtel Schinken hat er sich heute geleistet, trotz der drei Monate Mietrückstand und der langen Latte bei Mutter Döring.
Er schlürft den Tee und beginnt zu essen. Mit kauendem Mund geht er zum Sofa. Er fasst unter den orientalischen Behang und holt die Flasche mit dem Rumverschnitt. Das wärmt. Die alte Naumann hat natürlich wieder nicht geheizt wegen der restlichen hundertfünfundvierzig Mark. Und die Bücher dort sind gepfändet, und der Koffer und der Fotoapparat und die kleine Empireuhr, die noch von der Großmutter stammt, sind es auch. Schickedanz hüllt sich in eine Decke und liest. Jeden Abend nimmt er sich von der Redaktion einen Pack Zeitungen mit: die „Frankfurter", die „Voß", das „Berliner Tageblatt" und den „Völkischen Beobachter". Das Wortgeklingel tut ihm wohl. Wie die Herren da auf ihren Pferdchen traben — die „Frankfurter" kommt immer auf dem weißen Zelter der Vernunft. Zum Lachen, wenn die zum Beispiel die Jugend apostrophieren... Eine Persönlichkeit werden, nach der Verantwortung leben... Schickedanz überlegt, ob er die zweite Scheibe Schinken essen oder für morgen aufheben soll, dann rechnet er nach. 1914 war ich zwölf Jahre alt, da kam der Krieg. 1918 war ich sechzehn Jahre alt, dann kam die Niederlage, Kaiser futsch, die Franzosen rücken in Rheinhessen ein. 1920 Inflation, Schieberei, Schmuggel von Kaffee und Seife ins unbesetzte Gebiet... achtzehn Jahre. 1923 Ruhrkampf, Billionen in der Hand, Hunger auf der Universität... einundzwanzig Jahre. 1924/25 aus mit den Billionen, Hunger geblieben... dreiundzwanzig Jahre. 1926/27 Doktor gemacht über das Drama der Roswitha von Gandersheim, Kalahne kennengelernt, stellungslos. 1928 nach Siebenwasser, „Fröhlicher Weinberg", vierhundert Mark im Monat, davon zweihundert für Schuldenabzahlung an die Winzerbank wegen des Studiumdarlehens... 1929 weg von der Zeitung, freier Schriftsteller, eije... 1930 Krise... 1931 Krrrrise... 1932 Krrrrrise... „Alarm", hundertzwanzig im Monat, Schulden... gepfändet... dreißig Jahre alt. Schickedanz trinkt. Er wirft die „Frankfurter Zeitung" auf den Boden. So, also eine Persönlichkeit sollst du werden, Verantwortung sollst du haben. Meine Herren! Wir haben ja bis heute überhaupt noch nicht gelebt! Eine Zeitung nach der andern fliegt zu Boden. Ein fürchterlicher Hass sitzt in dem dreißigjährigen Mann. Da lag seine Jugend, ein Hin- und Hertaumeln zwischen unbezahlten Rechnungen, Gerichtsvollziehern, ungeheizten Zimmern und hochtrabenden Zeitungsartikeln. Eine Persönlichkeit? Oh, er war zu anständig gewesen, in Phrasen zu leben und das Stroh einer abgelebten Welt zu dreschen. Er soff lieber, er log lieber, er gehorchte Kalahne, obwohl er ihn hasste, er wollte von sich nichts mehr wissen, er war nicht im Krieg, er war nicht im Frieden, er stolperte durch geistiges Niemandsland. Nur einmal hatte er geglaubt. Das war in diesem Sommer gewesen, als Kalahne gegen die Junker und die Kapitalisten vom Leder zog. Da hatte es in seinem Blut rumort, und oft sah er, wenn er träumte, das Land brennen und die Bauern und die Arbeiter
unter der schwarzen Fahne marschieren. Aber das war vorbei. Das Schiff trieb woanders hin. So dumm bin ich ja nicht, dass ich das nicht merke. Fünfhunderttausend tote Juden machen noch keinen deutschen Sommer... Und gegen die Pfaffen allein, das geht auch nicht. Er nimmt den „Alarm" hoch, es ist die Nummer von morgen. Morgen ist Sonntag. „Die deutsche Wandlung" steht da. Er liest, zum zehnten Mal liest er das heute: „Die Wandlung des deutschen Menschen lässt die Jahrhunderte tanzen. Das römisch-jüdische Christentum in Deutschland war eine Pseudomorphose des germanischen Geistes, eine schreckliche, aber sie verbrennt wie Zunder auf der stählernen Haut der jungen, erwachten Generation. Dies ist das Wunder von Versailles. Die Niederlage hat uns bis zu den Wurzeln gestoßen. Ein ganzes Volk kehrt zu seinem Urgrund zurück." „Lieber Kalahne", brüllt da der Schickedanz, „mit Herrn von Papen zu den Wurzeln zurück. Viel Vergnügen, du Lump!"
Schon aber duckt er sich, greift nach der Flasche und trinkt.
Es schellt.
Die Wirtin, ein siebzigjähriges Geheimratstöchterlein, das sich zäh gegen den Tod verteidigt, weil unser Herr Hitler die Juden und die Roten noch nicht besiegt hat, öffnet. Der Pg. Hungrich sei da — und als sie hinausgeht, flüstert sie: „So, Schinken können Sie sich leisten, ei, wie interessant, ei, ei..." Bevor ihr Schickedanz, der nur rasch den Rum unter das Sofa verstecken konnte, antwortet, ist Hungrich schon im Zimmer.
Was ist denn nur? Der schaut sich ja um wie ein Bürger im Absteigequartier. „Halten die dicht?" fragt er und klopft an die Wände. Schickedanz lacht. „Die Alte draußen ist fast taub", sagt er, „die hört erst wieder, wenn die Glocken läuten und der Adolf
„Du bist wohl angenockt, he?" grinst der Hungrich. „Jawoll, ich sauf!"
Er holt den Rum. Jetzt trinken sie ihn pur. Nach einer halben Stunde nickt Schickedanz. Hinter der glasigen Wand seiner Betrunkenheit sitzt Hungrich und starrt ihn an. Ratte, verdammte. „Also, du kennst den Jungen, ich meine, so, dass er nichts wittert?"
„Natürlich, er war oft bei Jürgen, netter Kerl." „Und von den Briefen hat er erzählt?" „Ja, du Halunke!" „Danke... also du wirst?"
„Wie viel?" Schickedanz springt auf, er haut auf den Tisch:
„Erst will ich wissen, wie viel, du Schuft?" „Zweihundert."
„Nee... meine Seele ist mehr wert." „Pathetischer Hammel... hundert sofort und hundertfünfzig beim Abliefern."
„Her mit den hundert!" Der Schein flattert auf den Tisch.
Fünfzig Flaschen Verschnitt, denkt Schickedanz, und viertausend Jahre Fegfeuer. Er nimmt das Geld. „Ich bin ein Schwein", sagt er laut, „eine Sau bin ich..." Aber dann lacht er los. Der Alkohol hat ihn am Kragen; Hirn, Seele und Herz fliegen
ihm durcheinander. Ein höllischer Brei. „Der Träger, das geschieht dem Träger recht... Haha... der verrät, du verrätst, alle verraten... um was geht's denn überhaupt, sag, Ratte, um was?" „Um die Sauberkeit der Moral", antwortet Hungrich, „damit du es weißt!"
Sie trinken und sie lachen, und Hungrich holt plötzlich eine Flasche Kognak aus der Tasche... wie das läuft, wie das brennt... 'raus mit der Seele aus dem armseligen Leib. Es ist spät in der Nacht, als sie nach unten gehen. Schickedanz schwankt. „Ich hab so runde Füße", lallt er, „kugelrund, sag ich dir, das macht glücklich, weißt du, glücklich macht das..." Hungrich jedoch antwortet nicht. Er fasst Schickedanz am Genick, zweimal stößt er ihm den Kopf wider die Mauer, nicht fest und nicht leicht. „Du weißt, was dir passiert, wenn du nicht dichthältst?" „Natürlich", antwortet Schickedanz, „ich kenne dich doch", aber plötzlich, da wird es ihm kalt in der Brust. „Du", fragt er den Privatgeometer, „sag, warum kommt ihr eigentlich immer zu mir, wenn ihr einen Halunken..."
Er steht allein im Regen. Kalt und grau ist die Nacht. „He?" ruft der Schickedanz noch, dann rennt er nach oben. Auf dem Tisch liegt der Hunderter. Braun steht der Kognak in der Flasche. Er gießt sich ein Wasserglas voll. Dann löscht er das Licht. Er zieht sich im Dunkeln aus. Denn es ekelt ihn vor seinen Knochen.
Weit über den Hügeln des württembergischen Landes liegt der Schnee. Das Märchen des Rauhreifs verzaubert den Wald. Die Äcker schlafen. Nur die Spuren des Wildes unterbrechen manchmal das endlose Weiß.
Hans ist früh am Morgen in die Werkstatt gegangen. Er hat die Fenster verhängt und die Tür verschlossen. Dann hat er die Farbtöpfe auf die Drehbank gestellt, Violett und Karmin und ein zartes Orange. Das wird der Himmel werden, denkt er, ja, ich mache den Himmel aus Violett und Karmin. Er setzt die Farben an. Dann beginnt er das Holz zusammenzufügen. Es waren vier Teile, zwei seitliche und eines für den Kopf und eines für die Füße. Die seitlichen Teile waren flache Bretter. An ihren Enden hatte er Zähne angebracht, indem er das Holz auskerbte. Sie griffen in den Kopf- und in den Fußteil, die geschwungen waren wie eine Lyra, aber nicht ganz so, eher wie ein Blumenkelch, der sich nach unten verdickt. Wo er sich aber verdickt, da fassten ihn geschwungene Kufen, so dass man das Ganze, wenn es stand, auf dem Boden hin und her bewegen konnte, bis es von selbst zu schaukeln begann.
Lächelnd beugte sich Hans über die Wiege. Nackt und strähnig war das Holz. Er nahm den Hobel und begann es zu glätten. Eine Stunde stand er so. Die zarten Späne flogen über seine Finger. Draußen, hinter dem Fenster, fiel der Schnee in leichtem Aufschlag vom Dach in den Hof.
Nachdem Hans die Wiege geglättet hatte, begann er sie zu beizen. Dreimal musste er das Holz mit nussbraunem Firnis bestreichen. Bis zum Abend wird es trocken sein. Dann kann er die Bilder darauf malen
— den Himmel aus Violett und Karmin, und später die Gottesmutter aus zartem Orange. Er setzt die Wiege zu Boden. Er stellt sie in die Nähe des Ofens. Dann geht er zur Werkbank, wo die Farben stehen. Ob das Karminrot wohl reicht? Er hebt den Topf. Er wird nach dem Essen mit den Skiern nach Siebenwasser fahren und frische Farben besorgen.
Nach Siebenwasser? Seit jenem furchtbaren Nachmittag hat er die Stadt nicht mehr betreten. Er denkt nach. Er kann sich kaum noch erinnern. Hinter einem Schleier liegt das alles, was mit ihm geschah. Er wendet den Kopf. Er mag nicht hinsehen. Er will diese Wochen vergessen. Er schämt sich vor ihnen.
Er war am Morgen, als er neben Irene erwacht war, still und ruhig zur Arbeit gegangen. Er hatte das Futter für das Vieh gerichtet. Er hatte in der Meierei die Zentrifuge repariert und im Keller ein viertel Stück Wein in Flaschen gefüllt. Niemand störte ihn mit Fragen. Es wäre ihm auch gleichgültig gewesen. Er hätte doch nicht geantwortet. In der Nacht jedoch, als er allein war und die Lichter im Haus erloschen, da hatte er das alte SA.-Hemd aus dem Schrank genommen, er hatte es angezogen — vor ihm auf den Knien lag das zerknitterte Liederbuch—, und er sang. Ja, er hatte gesungen. Alle Lieder, in deren Takt er marschiert war, abends durch die Wälder, über die Wiesen und am Tag durch die Stadt. Und es war ein Zucken in seine Füße gekommen, er war aufgestanden, im Zimmer war er hin und her geschritten, die Hand hatte er gehoben, und neben sich, vor ihm, hinter ihm lebte plötzlich der Atem der Kameraden. Da war es über ihn gekommen. Er stürzte aufs Bett, dort lag er und weinte. „Was hab ich getan?" rief er, „ach, ich habe mein Leben verloren." Und es geschah, dass er die Schande vergaß, die sie ihm angetan. Es geschah, dass er Hungrichs Hand nicht mehr sah, nicht mehr die bleiche Kälte der Mutter — nur den Gesang hörte er, die Fahnen im Wind und das große Rufen unter dem blauen Zelt, das Deutschland hieß. In seiner Verstörung flüchtete er zu den Briefen des Offiziers. Er holte die Kassette aus ihrer Verbannung im untersten Fach des Schranks. Und plötzlich hatten ihn wieder die Worte gepackt, und er zerbrach unter ihrer Gewalt.
„Mitleid ist die Religion der Schwachen", da stand es und lohte ihn an. „Lasse Dein Herz kalt werden und schnalle den Sturmriemen fester. All das, was wir in uns niederknüppeln, wird einst belohnt werden. Schau nicht hin, was auf der Strecke bleibt, denn das Ziel ist größer als das Unrecht, das wir tun müssen. Wir haben kein Privatleben mehr. Es gibt nur blinden Gehorsam. Hans, Wachs in den Ohren, den Leib an den Mastbaum geschnallt — so segeln wir durch die Zeit..." Wie hatte er da aufgeschrien, als er diese Sätze wieder las. Ach, Gerhard, das ist es ja, ich habe furchtbar geirrt... ich wollte ein einzelner Mensch werden!
Und es war geschehen, dass er in seiner Verwirrung Briefe an den Offizier schrieb, in denen er ihn anflehte, sie sollten ihn doch wieder zurücklassen. Die niedrigste Arbeit wollte er tun. Ja, er wolle lieber ein Verbrecher werden, als Deutschland verlieren. Und wenn dann die Briefe im Feuer verbrannten, da wäre er am liebsten hinterher gestürzt. Nächtelang lag er wach. Er dachte nicht an Irene. Er verbarg alles vor ihr. Aber wenn er allein war, da öffnete er sich hemmungslos. Seine Sicherheit, seine Bescheidung in ein bäuerliches Leben — sie waren dahin, und nichts war geblieben als die fürchterliche Angst, ausgestoßen zu sein und im Dunkel zu sterben. Viele Tage und Nächte wütete er gegen sich selbst. Wie ein Hund, der die Koppel sucht, winselte er. Er empfand keine Scham mehr, und sein Stolz war niedergebrannt bis auf den letzten Stumpf. Dann aber war jener Morgen gekommen, da Irene in der Halle zusammenbrach. Kreideweiß saß sie im Stuhl, und sie krümmte sich, als stieße der Schmerz mit tausend Dolchen auf sie ein. Sie hatten sie hinaufgetragen in ihr Zimmer. Sie hatten sie entkleidet, und dann lag sie im Bett, bleich wie eine Tote. Bäuerle war keuchend und fassungslos auf Hans gestürzt. Seinen Kopf hatte er gepackt. Hin und her hatte er ihn gerissen, und geschrien hat er: „Was hast du meinem Kind getan... was hast du meinem Kind getan?" Da hatte sich Irene im Bett hochgerichtet — oh, der Schmerz zersägte fast ihr Gesicht — aber sie antwortete: „Geliebt hat er mich... wie kein anderer Mensch." Dann war sie zurückgesunken. Ruhig lag ihr Kopf im Dunkel des Haars. Ja, sie versuchte zu lächeln, und sie streckte die Hand aus. „Hans", sagte sie, „Hans, bleibe bei mir..." Und er war bei ihr geblieben. Und er hatte ihre Hand gehalten. Und als sie schlief, da wagte er nicht, sich zu bewegen. In dieser Stunde war es geschehen, dass er wieder Mut in sich spürte. Es war nicht die frühere, drängende Kraft seiner Jugend — es war eine stille, lautlose Erhöhung seiner Seele. Es war die Geburt des Mannes in ihm. Als Bäuerle mit Dr. Wachtel das Krankenzimmer betrat, wunderte er sich über die ernste Ruhe des Jungen. Er ging zu ihm und gab ihm die Hand. Vierzehn Tage nach diesem Anfall wurde Irene nach Heidelberg gebracht. Dr. Wachtel erklärte sie außerhalb jeder Gefahr. Aber er riet zu einer Beobachtung in einer Klinik. Mit Nierenattacken sei nicht zu spaßen. Es sei besser, man beuge rechtzeitig vor. Ruhig und voller Sicherheit hatten sich Hans und Irene getrennt. Er war bis zur ersten Brücke mitgefahren. „Hab keine Angst um uns", hatte Irene gesagt, dann hatte sie ihn geküsst, und er war still die verschneiten Hügel hinaufgegangen, zu seiner Arbeit auf dem Gut.
Weihnachten war vorüber. Ein neues Jahr begann. Irene war immer noch in Heidelberg. Täglich fuhr Bäuerle in die Klinik. Er dachte an nichts mehr als an sein Kind. Er bestürmte die Ärzte, aber er konnte kaum mehr erfahren, als dass keine akute Gefahr bestehe, nur Vorsicht müsse man üben und Geduld. Wenn er abends mit Hans zusammensaß, sprach er nur von Irene. Er sprach auch von Juana. Aber das war dasselbe. „Wenn ich sie noch einmal verlieren müsste", sagte er, „das würde ich nicht ertragen." Hans nickte. Auch er würde es nicht ertragen. Das wusste er. So lebten die beiden Männer im Stillen Einverständnis vor der Gefahr. Die Bedrohung Irenens war die einzige Wirklichkeit, die sie noch kannten.
Nach dem Mittagessen hatte sich Hans auf den Weg gemacht. Er hatte die Skier angeschnallt und fuhr den Serpentinenweg hinab. Die Sonne hatte die Wolken durchstoßen. Ein eisiger Wind trieb über den grellen Schnee. Hans erreichte den Fluss nach wenigen Minuten. Beim Stauwerk stellte er die Skier ein, dann ging er zu Fuß. Nach der ersten Schleife sah er die Stadt. Im weichen Pelz des Schnees, unter einem strahlenden Himmel stuften sich die Dächer; und die taubengrauen Dächer von Sankt Andreas ragten stark und ernst hinauf in das Licht. Als Hans die Drogerie betrat, war sie leer. Er blieb vor dem Farbenkasten stehen. Das kreisrunde Gehäuse war in viele Gefächer geteilt, in der Form von Dreiecken, deren Spitzen sich im Mittelpunkt des Kastens trafen. Es war drehbar, und wenn es in Bewegung geriet, verschmolzen die Farben zu einer phantastischen Fläche. Langsam begann Hans, seine Farben auszusuchen. Er betrachtete die Pulver wie geheimnisvolle Elixiere; auf eine rätselhafte Art schienen sie ihm dem Menschen verbunden, wie Beschwörungen gegen den Tod. Nach einer Viertelstunde hatte er zehn neue Farben ausgewählt, vom tiefsten Schwarz bis zum hellsten Weiß, und er sieht es schon, wie er unter den Himmel die Erde malen wird und auf sie die Jahreszeiten, ja, das ganze menschliche Leben.
Hans hatte sich nicht umgedreht, als die Ladentür ging. Er war so in den Anblick der Farben vertieft, dass er auch das Lachen des Verkäufers nicht sah.
„Wie hoch ist die Latte, die ich noch bei euch stehen hab?"
„Elf Mark fünfundsiebzig."
„Also hier — das wäre erledigt!"
Geld springt auf den Tisch. Dicht vor Hans klirren die Stücke.
Der Verkäufer streicht verwundert in seinem Kassenbuch herum.
„Ich könnte noch links auf die Seitenwand einen kleinen Garten malen und darinnen einen Baum, an dem furchtbar viel zu essen hängt, und die Mutter steht davor und pflückt es den Kindern ab... Ob das Grün da wohl giftig ist? Aber ich könnte die Wiese auch ockergelb malen — das wäre vielleicht lustig."
„... und jetzt also, lieber Rehbein, holen Sie einmal einen Korb. Nein... zwei Körbe... und packen Sie mir fünfundzwanzig Flaschen Rumverschnitt und zehn Flaschen Kognak ein. Deutschen natürlich!" Auf der Theke landet im Gleitflug ein Hunderter. Der Verkäufer hält ihn fest. „Geerbt?" fragt er und bleckt die Zähne. „Ja... vom ollen Rothschild!" Jetzt lachen sie schallend. Hans dreht die Scheibe mit den Farben. Der Rehbein klappt die Bodentür auf und steigt pustend in den Keller. Plötzlich spürt Hans sich leicht am Arm gefasst. Er wendet sich um. Schickedanz. In Uniform. Schickedanz streckt ihm die Hand entgegen. „Kannst schon einschlagen. Rasch, eh der Rehbein kommt.
Pah! Im Übrigen, ich mach mir gar nichts draus. Erkläre das klipp und klar überall, wenn du willst." „Danke", sagt Hans, „es ist wirklich nicht nötig. Ich lebe auch so."
Er packt die Farben zusammen. Der Rehbein keucht die Treppe herauf. Hans zahlt, und wie er die Münze in die Tasche steckt, spürt er, wie eine Hand sich an ihn tastet und einen Zettel zwischen seinen Fingern zurücklässt. Rasch geht er aus dem Laden. „Guten Tag", sagt er, und er hört den Schickedanz „Servus!" rufen. Zweihundert Meter weiter zieht er den Zettel aus der Tasche. „Erwarte Dich gleich in dringender Angelegenheit in Petermanns Lokal." Hans bleibt stehen. Er überlegt kurz. Dann geht er in die innere Stadt.
Schickedanz kam eine halbe Stunde später in Zivil. Auf seinem dicken, gedunsenen Kopf trug er einen Kalabreser, unter dem Kragen eine Turnvater-Jahn-Krawatte. „So", meint er, „hier können wir uns endlich richtig guten Tag sagen. Die Bude ist dicht. Der olle Petermann hält die Schnauze. Nicht wahr?" ruft er, worauf sich Petermann hinter dem Büfett verbeugt und meint, das sei immer das Beste für einen deutschen Mann.
Schickedanz sitzt neben Hans und betrachtet ihn. „Etwas blass", sagt er, „aber du, mach dir nix draus." Was es denn gebe, fragt Hans. Schickedanz verschränkt die Arme und stemmt sie auf den Tisch. „Du musst nämlich wissen, dass du noch viele Freunde hast." „Ei..." „Und dass diese Freunde deinetwegen in München vorstellig geworden sind, weil sie es nicht dulden, dass ein so feiner Kerl wie du einfach von dem Postsekretär zerstampft wird..." „So?" „... und diese Freunde haben klipp und klar alles Gerhard Träger vortragen lassen, und er lässt dir ausrichten, du solltest nicht schlapp machen. Es bereiten sich große Veränderungen vor, riesengroße, weißt du, in ganz Deutschland... und wenn es soweit sei, sorge er dafür, dass dein Fall kassiert wird."
Hans schweigt. Er möchte am liebsten wegrennen. Aber dann sagt er: „Was du da erzählst, ist mir wirklich ganz egal."
Schickedanz legt seinen Kopf auf die verschränkten Arme. „Das glaube ich nicht, dass dir das gleichgültig sein kann."
Lange reden sie kein Wort. Sie haben Grog vor sich stehen. Sie betrachten den Zucker, der langsam im Glas zerfällt.
„Und was hast du mir sonst noch zu sagen?" fragt Hans nach einer Weile. Seine Stimme ist abweisend und hart.
„Nichts", antwortet Schickedanz, „nur dass ich gern öfters mit dir zusammen wär."
„Du kannst mich ja einmal besuchen", sagt Hans, und das klingt nicht ohne Hohn.
„Mach ich gern", nickt der Schickedanz, „ich bin nämlich nicht wie die andern."
Sie trinken den Grog leer. Dann trennen sie sich.
Als Hans eine halbe Stunde später am Stauwerk die Skier anschnallte und in ruhigem Gang den Hügel
hinaufstieg, überholte ihn bei der dritten Kurve Johann Kaspar mit dem Wagen. Er stoppte.
„Du", rief er, und seine Stimme klang hell in der glasigen Januarluft, „in zehn Tagen darf sie nach Haus!"
Es ist Nachmittag. Der Firnis ist trocken. Hans hat die Wiege auf die Drehbank gestellt. Unter die Kufen hat er Klötzchen geschoben. Jetzt kann sie nicht schaukeln, wenn er malt. Er nimmt einen Stift und beginnt ein Schema zu zeichnen. Aber die Wolken, die er schuf, wurden schwer und dick wie ein Gewitter. „Nein", sagt er, „ich werde nichts tun, was uns ängstlich macht." Und schon beginnt er kleine leichte Wölkchen zu zeichnen, lustige Himmelsschäfchen, auf denen die Gottesmutter steht wie eine Blume im Mai.
Jetzt legt er die Farben an. Das Violett tupft die Wiege, und der Himmel blüht auf zu einem Traum. In schweren Bögen untermalt Hans Karmin. Es ist die Grenze zwischen Himmel und Erde. Ein ernstes Rot. Wesen um Wesen wächst auf der Wiege. Hier ist der Garten, ein schwarzer Baum auf einer ockergelben Wiese. Dort ist eine Blume, in deren Kelch ein Kindergesicht schläft. Hier zieht ein Flieger über das Meer, und auf seiner Tragfläche steht: Der Mut. Hier wogt ein Kornfeld, dort fließt zwischen Wiesen der Neckar, ein Zug verschwindet im Tunnel, Häuser stehen am Ufer mit roten Dächern und dunkelblauen Balkonen, und auf den Hügeln ringsum flattern kleine Fahnen, und aus der gelben Sonne schwingt sich ein Band. Darauf steht: Die Heimat. Und neben ihr, da stuft sich ein Weinberg hoch, und aus einem kleinen Stück Himmel sieht der liebe Gott, und darunter steht: Ich freue mich.
Viele Stunden malte Hans. Längst war der Ofen erloschen, und die Kälte kroch durch die Ritzen, als er die Gottesmutter betrachtete. Sie trug keine Krone. Sie trug kein Kind auf dem Arm. Es war eine schwangere Frau.
Über der Stadt Siebenwasser ruht die eisige Stille des Januar. Kobaltblau wölbt sich der Himmel, und das Land unter ihm ist bedeckt mit einem königlichen Weiß.
Schickedanz hat den Fußweg benutzt. Bis über die Knie bricht er oft in die Wächten. Ein elender Weg. Schickedanz seufzt. Er nimmt den Kalabreser vom Kopf. Das reflektierte Licht der Schneemassen blendet ihn. Er kommt sich sehr lächerlich vor inmitten des leuchtenden Schweigens mit seinem verschabten Ulster und der Aktentasche unter dem Arm. Vor ihm, auf der Kuppe des Hügels, glänzt das Gut. Schickedanz zieht seine Reiseflasche mit Kognak aus der Tasche und trinkt. Dann stapft er weiter. Verfluchte Sauerei! denkt er. Gestern Abend war Hungrich wieder da. „Na und?" hat er gefragt. Ob der Schickedanz vielleicht glaube, das mit dem Hunderter sei ein Bierulk gewesen? Ach, ich konnte der Ratte sagen, was ich wollte. Es ständen doch jetzt wirklich andere Sachen vorm Klappen, sagte ich. Und den Hunderter wolle ich in monatlichen Raten zurückzahlen. Da kam ich schön an. Um halb sechs stände ein Motorradfahrer bei der Wirtschaft „Zum grünen Baum" in Weißenfels. Dem habe ich die Briefe zu übergeben. Er führe mich zum Bahnhof, und dort habe ich in den Abendzug nach Frankfurt einzusteigen. Näheres erführe ich am nächsten Morgen in Frankfurt bei der Dienststelle 1. Wenn ich jedoch nicht pariere, dann bartab, mein Lieber. Da hab ich ihn angebrüllt. Er solle mich in Ruhe lassen, und wenn er so weiter quatsche, dann melde ich einfach die Chose. Aber da hat er mich am Handgelenk genommen, ganz nahe kam sein Gesicht: „Wer glaubt denn dir, du Säufer?" hat er gesagt, und weg war er.
Schnaufend bleibt Schickedanz stehen. Vor ihm breiten sich die Schneefelder. Ach, denkt er, sich einmal da drauf schmeißen und sich so lange herumwälzen, bis der ganze Dreck herunter ist. Seufzend greift er zum Kognak.
Lange hat sich Hans gefragt, wer das sei, der den Berg hochkomme. Ein Bauer ist das unmöglich. Denn so geht kein Bauer. Er muss lachen über die ulkige Figur. Vielleicht ist's ein Gerichtsvollzieher oder jemand, der sammelt für die Innere Mission. Er holt Bäuerles Feldstecher aus dem Gewehrschrank und erkennt Schickedanz.
Nach zwanzig Minuten steht Schickedanz im Hof. Er schaut sich um und macht ein freundliches Gesicht. Was der nur von mir will? Ob der auf Veränderungen spekuliert wegen Gerhard und so? Gestern hat Bäuerle erzählt, Schleicher sei gestürzt, und jetzt käme wohl Hitler. Das ließ mich ganz kalt. Und als Bäuerle sehr ernst im Zimmer hin und her ging und fragte, was denn jetzt aus Deutschland werden solle, da hab ich geantwortet: „Ich weiß es nicht." Ich weiß es auch nicht. Ich seh gar nicht mehr hin. Ich kann einfach nicht mehr. Aber Irene soll leben.
Freundlich geht er Schickedanz entgegen. Er führt ihn in die Garderobe. Da sitzt er jetzt, und der Schnee schmilzt von den Galoschen. „Mensch, du hast keine Ahnung, wie gut du es hast. Diese Ruhe hier. Unten in Siebenwasser, na, ich kann dir sagen, wie in einem Irrenhaus. Der Vater Allwohn zum Beispiel isst seit zwei Tagen nichts mehr, nur weil er wartet, wie das in Berlin ausgeht. Und bei der Mutter Döring, da sitzen sie am Radio bis zwei Uhr in der Nacht, und die SA. hat höchste Alarmstufe, und der Hungrich" — Schickedanz beugt sich vor — „teilt schon Revolver aus."
„Willst du lieber Wein oder Schnaps?" fragt Hans. „Wenn du vielleicht Mosel..." Sie gehen in den Keller. Lange bleibt Schickedanz vor den Weinspinden stehen. „O Gott", sagt er, „wenn ich das hier so sehe, kann mir der ganze Schwindel gestohlen bleiben." Zärtlich liest er die Namen. Er streicht voller Ehrfurcht über den Staub. Er horcht an den großen Fässern. Er hebt die irdenen Krüge. „Unsereiner säuft Verschnitt — na, ich bin auch danach!"
Später sitzen sie in der Halle und trinken. Schon liegen blaue Schatten draußen über dem Schnee. „Hast du einmal darüber nachgedacht, wegen Gerhard... Du weißt ja?" fragt Schickedanz. Hans schüttelt den Kopf. „Ich habe nicht darüber nachgedacht."
„Du willst also gar nichts mehr davon wissen...
überhaupt nichts mehr?"
„Überhaupt nichts mehr", antwortet Hans.
„Und wenn es jetzt losgeht?"
„Auch dann nicht."
„Versteh schon. Dir haben sie ja auch verdammt übel mitgespielt."
Schickedanz trinkt. Er kaut den Wein auf der Zunge. Dann trinkt er wieder. Lautlos fällt Minute um Minute.
„Was macht denn das Mädel?" „Wen meinst du?" fragt Hans. „Na, wie heißt sie doch... Irene." „Irene bekommt ein Kind."
„He?" Der Schickedanz vergisst den Mund zu schließen. Seine großen, gelben Zähne klaffen sprachlos auseinander. Schließlich gelingt es ihm „Mensch!" zu sagen, worauf er hastig sein volles Glas leer trinkt.
„Weißt du jetzt genug von mir?" lächelt Hans. „Du meinst wohl, ich wär ein Spion?" Schickedanz haut auf den Tisch. „Weißt du, was ich bin?" schreit er plötzlich, „ein ganz armes Luder, jawoll... ein ganz armes, elendes Schwein." Er sieht zu Boden und hält den Kopf in den Händen. Seine Schultern zucken. Hinter dem Hügel versinkt die Sonne. Und der Schnee auf dem Feld wird grau wie Blei.
„Ach, Schickedanz", sagt Hans, „ich weiß, dass du kein Spion bist. Du bist nur ein schwacher Mensch... genau so wie ich... wie die meisten." Schickedanz hebt den Kopf. Sein Haar hängt in die Stirn. „Du weißt gar nichts", antwortet er, „die Schweinerei ist viel zu groß."
Es war in der Dämmerung, als sie in den Hof gingen und die Ställe besichtigten. Hans zeigte Schickedanz das Vieh. Sie halfen bei der Fütterung. Dann gingen sie in die Meierei, in das Pumpwerk und zur Dreschmaschine. Schickedanz konnte nicht genug sehen. Sie durchstöberten das Gut. Sie stiegen auf die Hängeböden der Scheunen, wo das Getreide lag, und sie ließen die trockenen Körner durch ihre Finger gleiten. Sie liefen durch die Keller, zapften Wein aus den Fässern und aßen Käse dazu, und am Schluss führte Hans den Schickedanz vor die Wiege. „Das hast du alles gemalt?" Hans nickte.
„Den Himmel dort und das Meer und den Baum und die Kinder und da den Rebhügel mit dem Herrgott, der sich freut?"
„Das hab ich alles auf einmal gekonnt", sagte Hans. Da umarmte ihn der Schickedanz. „Du bist ein glücklicher Mensch!" rief er. „Du hast recht, dass du nicht mehr dabei bist."
Während des Aufräumens hatte Hans die Kassette auf den Tisch gestellt. „Was ist denn da drin?" fragte der Schickedanz.
„Ach", antwortete Hans, „die letzten Briefe meines Vaters und auch die von Gerhard." Er öffnete die Kassette und entnahm ihr ein Bild seines Vaters. „Ein gütiger Mann", sagte der Schickedanz, „wie alt war er, als er fiel?"
„Achtunddreißig." Lange sahen sie auf das Bild. Dann ging Hans hinunter, um das Vesper zu holen.
Als er zurückkam, ist der Schickedanz im Zimmer auf und ab gegangen und pfiff sich eins. Hans verschloss die Kassette und stellte sie zurück in den Schrank. Dann setzten sie sich an den Tisch und aßen und tranken. Der kleine Ofen brummte. Draußen wurde es Nacht.
Der Schickedanz wurde plötzlich sehr redselig. „Wenn das der Jürgen wüsste", rief er, „aus dem Grab würde er springen. Jetzt sitzen sie in Berlin und verhandeln mit der Reaktion und der Großindustrie. Ach, Hans, das wird ein großer Beschiss werden. Wenn die erst alle mal ihre Posten haben, dann ade, arme Seele. Und der Kalahne, das sag ich dir, der wird noch Minister. Weißt du, was der kann? Der lügt, ohne die Unwahrheit zu sagen!" Schickedanz sah auf. „Weißt du", sagte er, „das ist nämlich so: Wenn ich da ein Stück Holz habe, nicht wahr, und ich leuchte es grün an, dann kann ich sagen, es sei grün. Und wenn ich es später blau anleuchte, dann ist es blau. Aber in Wirklichkeit ist es grau. Und so wird es mit Deutschland. Haargenau wird es so."
Hans lächelte. Er merkte, dass der Schickedanz betrunken war. Und er spürte, dass der Schickedanz reden musste, einfach so, ohne Vorsicht und Disziplin. Deshalb ist er wohl zu mir gekommen? Deshalb...
„Hau ab!" brüllte plötzlich der Schickedanz, „hau ab aus diesem Ländchen! Der Bäuerle hat doch Fabriken drüben in Amerika. Was willst du hier? Erst lassen sie uns ein bisschen am Sozialismus riechen, die Jugend, weißt du, damit wir aufstehen... aber am Schluss, da tritt uns doch der alte Feldwebel in den Arsch! Und wenn der Jürgen in zwei Jahren aus seinem Grab aufstehen würde und das alles hier sähe, ich sage dir, ich geb dir das schriftlich — im selben Moment hüpft er freiwillig wieder zurück." Schickedanz trank. Er trank maßlos. Starr und rötlich wurden seine Augen. Käsig sein Gesicht. „Ich sag überhaupt nichts mehr", murmelte er, „ich sauf nur noch... und dann sterb ich..." Hans ging, um einen Kaffee zu holen. Als er zurückkam, lag der Schickedanz mit dem Kopf auf dem Tisch und schlief.
Hans gab ihm einen Schubs. Schickedanz sah hoch. „Hast du geheult?" fragte Hans. Schickedanz stierte in die Tasse. „Das kommt manchmal so über mich... weißt du, das ganze Elend." Er schlürfte die Tasse leer. „Wie spät ist es denn?" „Zehn vor halb sechs."
Schickedanz stand auf. „Ich muss gehen, ich hab nämlich Nachtdienst."
Hans half ihm in den Mantel. Er tat ihm leid, der Schickedanz, weil er so verzweifelt war. In der Tür blieb der Schickedanz stehen. „Du", sagte er, „darf ich noch mal die Wiege betrachten?"
Hans holte die Wiege. Er stellte sie auf den Tisch. Lange sah der Schickedanz auf die Bäume, auf die Kinder, auf den Fluss und die Reben und auf den lachenden Herrgott. Dann trat er näher. Er hob die Hand. Mit dem kleinen Finger begann er die Wiege zu schaukeln.
„Der hat's gut, der da hineinkommt", sagte er, als er ging, „der kann nämlich von vorne anfangen."
Drei Stunden später vermochte der Redakteur Faulstroh vom sozialdemokratischen Volksrecht endlich den Beweis zu erbringen, wie nützlich seine Querverbindungen, die er zu gewissen Kreisen der SA. unterhielt, sich auswirkten. Vor den Augen seiner erstaunten Kollegen warf er einen Pack Briefe auf den Tisch. „So!" rief er, „jetzt sind die Kerle wenigstens moralisch erledigt!"
Hans ist am Vormittag nach Siebenwasser hinuntergegangen. Er sitzt im „Blauen Bären" und wartet auf das Essen. Um zwölf Uhr dreißig wird er nach Heidelberg fahren. Bäuerle hatte angerufen, er solle Decken und Pelze mitbringen und auch einen Fußsack für Irene. Hans ist froh. Morgen wird er neben Irene im Auto sitzen, und er wird ihr erzählen, von Weißenfels wird er erzählen und von der Wiege, die er gebaut hat.
Hans sieht hoch. Hinter dem Fenster brütet ein grauer Tag. Uber der Straße nieselt der Regen. Es taut, und der Schnee schlägt in nassen Klumpen vom Dach. Es läutet zwölf. Immer, wenn Hans die Glocken von Sankt Andreas hört, fühlt er eine merkwürdige Trauer in sich. Damals, als das Telegramm kam und die Mutter umfiel in der Küche und Hans wusste, dass der Vater tot war, da hatte auch plötzlich die Glocke geklungen. Ernst und schwer war ihr Ton über die Dächer gezogen, und das Kind neben der ohnmächtigen Mutter hatte sich gebeugt unter dem dröhnenden Geläut. Und später, als sie ihn aufnahmen in die Christenheit, da hatte sie auch geläutet, und ihr Klang war es gewesen, der ihn begleitet hatte über all die Stufen seines Lebens. Und heute ist sie ganz nah über ihm. Dort auf dem Platz ragt der Turm, der sie hält. Und wenn er hinaufblickt, sieht Hans den schweren, schwingenden Klöppel.
Die Glocke schweigt. Aus der unteren Stadt dringt Gesang und Musik. In harten, festen Takten zieht es näher heran. Die alten Lieder, von hundert Stimmen getragen, wachsen zwischen den Häusern empor. Auf der Straße ballen sich die Menschen. Da, vor dem Fenster, ist das nicht Henri Jockel, und seine Frau, das Minchen? Sie tragen kleine Papierwimpel mit dem Hakenkreuz, und viele, die um sie sind, haben Fähnchen und lachen. Hans sieht weg. Allein sitzt er in dem trüben Restaurant, immer näher kommt die Musik, oh, er kennt den Marsch — der Fahne gilt er, der Fahne. Und plötzlich ist sie ganz nahe, er spürt es, denn ein brausendes Heil dröhnt die Hausfront entlang, er wendet den Kopf, er sieht die Standarte, und als sie vor ihm mitten im Fenster steht, da erhebt er sich doch. Stumm blickt er auf die tobende Straße. Er sieht die Wimpel flattern und die Arme in starrer Schräge in die neblige Luft stechen, und er sieht Hungrich vor der Standarte marschieren, den Sturmriemen unter dem blassen Kinn. Hinter dem Sturm trabt berittene Polizei.
Hans sieht auf die Uhr. Wo nur das Essen bleibt. Rindfleisch hat er sich bestellt, und der Kellner sagte, es sei in wenigen Minuten serviert. Hans steht auf. Das Büfett ist leer. Auch die Küche ist leer. Alle sind sie auf der Straße. Das Herdfeuer glimmt und droht zu zerfallen.
Hans friert. Allein sitzt er wieder am Tisch. Schal schmeckt der Rotwein. Wenn Henrici nur da wäre oder gar Bäuerle. Und ob sie die Standarte jetzt wohl in Derns Wohnung tragen, und die Mutter wird an der Tür stehen und wird sich vor der Standarte verbeugen? Und dann werden sie warten, warten, bis das Zeichen kommt... und sie werden singen und jubeln, und sie werden rufen, Deutschland gehöre jetzt ihnen.
Er schreckt auf. Was ist das nur? Auf der Straße ballen sich Gruppen. Direkt vor dem Fenster steht Henri Jockel. Er hat ein Zeitungsblatt. Viele Köpfe sind um ihn. Er liest. Was liest er nur? Wie böse plötzlich die Augen sind, ganz dick sind sie... Ist er am Ende doch nicht Reichskanzler? Was hat der Kellner nur? Er stößt den Henri Jockel an. Er flüstert ihm etwas zu. Und plötzlich starrt der Henri Jockel hier in mein Fenster. Ganz weiß ist er im Gesicht. Wie? jetzt winkt er.
Was? Ich soll... versteh ich nicht, nach dem Boden zu winkt er... verrückt, das heißt doch: ducken... der ist wohl betrunken? Ich schüttle den Kopf. „Was haben Sie denn nur, Herr? Sie laufen ja blaurot an? Sie sind wohl..." Jetzt greift er nach den Holzläden, direkt vor meinem Fenster, nach den grünen Läden greift er... Krach! jetzt schmeißt er sie zu... und ich sitze im Duster, als ob Sommer wär...
Hans fasst nach seinem Glas. Er will trinken. Seine Hand zittert. Da fühlt er sich gepackt. Am Arm hat ihn der Henri Jockel. „Kommen Sie", flüstert er, „kommen Sie! Rasch! Rasch!" Und er zieht ihn zwischen den weißen Tischen hindurch über den Gang hinein in sein Kontor. Dort riegelt er ab. Dann fällt er auf einen Stuhl. „Mein Herz", seufzt er, „ach, mein Herz." Hans will zu ihm und ihm behilflich sein, da aber springt der Henri Jockel auf, er stößt den Jungen wider die Wand. „Rühren Sie sich nicht!" brüllt er, „oder ich vergesse, was ich tue!" Und noch bevor Hans zu antworten oder zu fragen vermag, steht der Henri Jockel ganz nahe vor ihm. Er flüstert, er zischt. „Das sage ich Ihnen, wenn nicht der Bäuerle sozusagen mein Jugendfreund wär und noch dazu ein guter Kunde, dann hätt ich Sie schon längst aus dem Haus geprügelt, Sie Dreckhund, Sie!"
Mit zwei Griffen hat Hans den Mann gepackt. Er zwingt ihn auf den Boden. „Was wollen Sie von mir?" keucht er, und die Zunge bricht ihm bald vor Trockenheit. Der Restaurateur windet sich unter dem Griff, doch er kommt nicht hoch. Nach einer Minute schweigenden Kampfes scheint er sich zu beruhigen. Er sieht Hans an. „Hören Sie", sagt er, „in Erinnerung an die alten Zeiten, wo Sie noch ein anständiger Bursche waren, geb ich Ihnen einen guten Rat: verschwinden Sie heut noch aus Siebenwasser, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Ein Glück, dass nur ich Sie hinter dem Fenster gesehen habe, sonst wäre hier längst alles kurz und klein geschlagen. Verstehen Sie mich jetzt?"
Hans sieht auf den schwitzenden Mann. „Nein", sagt er, „ich verstehe Sie nicht." „Sie verstehen mich nicht?" Grell lacht der Henri Jockel auf. „Spielen den Unschuldigen, wie?" Und plötzlich nickt er mit dem Kopf nach dem Tisch. „Da... da... da liegt es doch! Da gucken Sie doch hin... da steht es doch schwarz auf weiß!" Mit einem Sprung ist Hans an dem Tisch. Er faltet die nasse Zeitung auseinander:
Aus dem braunen Sumpf
Das wahre Gesicht der Volkserneuerer
„Dass du mir nicht nach Mädchen riechst..."
Tatsachenbericht.
Nie in seinem Leben hatte Henri Jockel einen solchen Schrei gehört wie in dieser Minute. Es war ein Aufheulen, so schrill und unwirklich, als habe man einem Menschen mit einem Griff die Haut heruntergerissen. Dann schlug die Tür zu, und es wurde plötzlich fürchterlich still. Als Minchen in das Kontor gestürzt kam, saß ihr Mann auf dem Boden. Er hielt sich die Ohren zu, und seine Lippen waren weiß.
Laufen... laufen... ach, immer noch Häuser... und immer noch Stimmen... laufen... und jetzt ein Stein... mitten ins Kreuz... weiter... weiter... er stolpert... er stürzt... das war ein Prügel... er ist wieder hoch... er rennt... er rennt... dort öffnet sich die Straße... Schnee... weißer Schnee... und über ihm der Wald.
Hinter dem letzten Haus spürt er, dass ihm niemand mehr folgt. Er hört einen Signalpfiff. Dann hört er eine Stimme: Verreck an dir selbst! Und nochmals: Verreck an dir selbst!
Er läuft den Fußweg hinauf. Sein Atem dampft. In seinem Kopf rollt eine feurige Kugel. Als er den Pavillon erreicht, schlägt es eins. Er lacht. Er lacht ganz unbändig. „Schickedanz", lacht er, „du armseliger Schuft!" Jetzt steht er still. Maßlos ist der Ekel auf seiner Zunge. Unten im Tal pfeift ein Zug. „Irene", ruft Hans. Er stürzt auf den Boden und schreit.
Als er sich erhebt, fährt der Zug in den ersten Tunnel. Lange noch steht der Rauch über dem Land. Dann vergeht er in den Falten der Hügel. Hans horcht. Kein Laut regt sich im Wald. Nur der Schnee fällt leise von den Zweigen. Und die Wolken sinken immer tiefer ins Tal.
Hans beginnt zu gehen. Wie ein Kind setzt er die Schritte. Es ist, als habe er das Gehen verlernt, während der Jagd durch die Stadt und den Hügel hinauf. Vorsichtig hält er sich an den Stämmen. Die glühende Kugel im Kopf ist weg, aber jetzt ist eine helle, lichte Leere da, so leicht macht sie ihn, dass er sich festhalten muss, um nicht zu schweben. Als er zu den sieben Bächen kommt, bleibt er stehen. Er hört das Wasser unter der Schneedecke fließen, das Blut der sieben Ritter, die hier starben im Kampf gegen die Hunnen. Hans bückt sich. Er stößt den Arm durch die Schneedecke hindurch, bis er das Rieseln fühlt. Und während das Wasser durch seine Finger spielt, weiß er, dass Irene gesund bleiben wird. Er weiß das einfach. Ganz genau weiß er das. Und das Kind sieht er auch.
„Das genügt", sagt er und steht auf. Es ist wenig mehr zu tun.
Fünfhundert Schritte sind noch zu gehen, dann ist er in Weißenfels. Er geht sie, ruhig und ernst, als käme er von der Arbeit zurück. Als er den Hof betritt, hört er das Vieh. Er lächelt. Welch eine Gnade, denkt er, die haben keine Seele. In seinem Zimmer öffnet er den Schrank. Die Kassette ist leer. Nur das Bild des Vaters ist noch darin. Hans nimmt es an sich. Dann holt er die Wiege. Er stellt sie neben sich und schaukelt sie.
Lange sitzt er so und bewegt leise die Wiege. Dann erhebt er sich. Die Waffe, Gerhards Geschenk, liegt in der oberen Lade des Waschtischs. Er steckt sie ein. Er schreibt einen Brief. Dann schiebt er den Sessel zum Fenster. Er spricht mit dem Vater. „Ich weiß nicht, wo du bist", sagt er leise, „aber es ist dein Herz, das ich habe. Es ist ein einfältig Herz... ja, und es genügt nicht, dass es gut ist... siehst du, es genügt... heute nicht mehr..." Und plötzlich nimmt er das Bild. Er zerreißt die Fotografie. „Ich könnte ja noch leben", sagt er laut, „aber mich ekelt." Jetzt hebt er die Waffe. Auf dem Hof ist ein Geschrei. Die Degerloch rennt durch die Pfützen. Was schreit sie nur? Ach so... Reichskanzler ist er geworden... jetzt läuten die Glocken, Sankt Andreas... Sankt Andreas! Oh, Sankt Andreas... du kommst noch einmal... ja, und die anderen auch, alle, vom Dorf... von den Hügeln... aus dem Tal... danke... danke...
Aufrecht setzt er sich hin. „Adieu, Irene", sagt er leise, zweimal sagt er es, dann drückt er ab Das Geläut der Glocken aber klang so gewaltig, dass niemand den Schuss hörte. Dröhnend erhob sich das Erz über das Land. Und es war, als rolle die Erde in ehernem Schwung in eine andere Sphäre
Johann Kaspar fährt durch die Nacht. Der Himmel ist klar, und die Sterne flecken den Fluss. Ruhig sieht der Mann in das weiße Licht der Scheinwerfer. Die Bäume fliegen vorüber, und der tauige Schnee klatscht bis aufs Dach. In den Dörfern, die der Wagen durchjagt, wehen die Fahnen, und die Wirtschaften bersten fast vor Jubel und Gesang. Bäuerle sieht nicht hin. Er sieht nur Irene, wie sie über dem Bett lag, und das Weinen war über sie gekommen, ein leises, fast lautloses Weinen, als erlösche das Licht. Vier Stunden hatte sie gewartet. Vier Stunden hatte sie nach der Gartenpforte gesehen. Aber Hans war nicht gekommen, und Weißenfels schwieg. Ja, Weißenfels schwieg. Es gab keine Antwort. Das Telefon summte und summte, aber keine Stimme meldete sich.
Ob sie jetzt schläft? denkt Bäuerle. Ob die Spritze gewirkt hat? Oder weint sie noch immer, vielleicht auch im Schlaf? Wie blass der Arzt war, als er mit ihm sprach. Im Chefzimmer der Klinik war es gewesen. Draußen auf den Straßen wirbelten die Trommeln, und die Schalmeien klangen zwischen den Häusern. „Wir müssen mit allem rechnen", hatte der Arzt gesagt. Wen meinte er, Deutschland oder Irene?
Als Bäuerle die Klinik verließ, erstickte er fast in dem Taumel, der ihn umfing. Wie ein Schiffbrüchiger trieb er in den Menschenwogen. Er sah den bunten Jubel der Studenten, er sah verzückte Frauen, und er hörte Männer vor sich hinrufen, immer das gleiche: Heil... Heil... Heil... Doch plötzlich sangen sie alle. Sie sangen nur noch, und es war keine Stimme und keine Bewegung, die den einen vom andern unterschied. Ja, ein Taumel war das. Ein rasender Taumel, durch den er hindurch musste. Einfach hindurch. Mehr dachte er nicht. Als er kurz hinter Erlenbach den Hügel umfährt, sieht er die Stadt. Sie glänzt im Licht. Mitten durch ihren Leib frisst sich ein Fackelzug. Bäuerle jagt mit dem Wagen hinab in das Gewühl. Er möchte es durchbohren. Er möchte es durchstoßen, damit er sieht, was hinter dem Brausen ist. Kurz vor dem inneren Tor wird sein Wagen gestoppt. Polizei hält ihn an. Blasse, kreischende Gesichter, Diener eines Staates, der verbrennt wie ein Strohwisch. Und plötzlich tobt es um ihn. Da kommen die andern. Musik, gellende Hörner, Fanfaren und immer wieder die Trommeln. Tausende ziehen dahinter her. Verzückte, die die Hoffnung trägt, Jugend, die gehorcht, blindlings gehorcht, diesem einen Mann, dessen Namen sie rufen, als hätte er alle Manna der Erde in seinen Händen. Bäuerle steigt aus. Er wird mitgerissen. Schon treibt er im Strom zwischen den Häusern. Prasselnd steigt der Gesang in die Nacht. Die Fackeln lodern. Geschrei, Jubel, und dazwischen die harten Schritte der Kolonnen. Über dem Marktplatz liegt ein Brausen. Kopf an Kopf, Leib an Leib steht die Menge, und Bäuerle sieht es, das Volk, dem er entstammt, da singt es und jubelt, da wirft es sie hin, die Freiheit; da opfert jeder seinen eigenen Willen, da tauchen sie zurück, und sie sind glücklich dabei. Und plötzlich huscht es über die Köpfe. Ein Scheinwerfer leuchtet auf. Es schweigen die Hörner. Es schweigen die Fanfaren. Nur eine Trommel wirbelt, und schon steigt er die Stufen von St. Andreas hinauf, umglänzt von Licht, von Fahnen umrauscht, der Postsekretär Dern. Bäuerle erschrickt. Fürchterlich erschrickt er in dieser Sekunde. Er will losspringen, er will auf dieses unedle Gesicht dort vor den Bögen der Heiligen deuten. Er will schreien: „Nein! Nein! Nein!" Da aber hat Dern schon die Fahne erhoben. Er schwingt sie über der Menge. Im Nachtwind knattert das Tuch. Die Fackeln lodern. Die Schatten schwanken. Und ein einziger riesenhafter Ruf bricht über den Platz: „Deutschland ist unser!"
Auf Weißenfels brannte kein Licht. Dunkel lagen Stallungen und Haus. Nur der Mond schob sich in weichen Strahlen über Garten und Dach. Bäuerle geht über den Hof. Er geht zum Gesindehaus. Er schlägt mit der Faust wider die Tür. Hohl antwortet das Echo des Ganges. Bäuerle öffnet. Er geht die Stiegen hinauf. Die Kammern sind leer. Bierflaschen stehen auf dem Tisch, und die Reste des
Essens kleben in den Tellern. Doch mitten in diese Ruhe dringt ein Röcheln. Es kommt aus einem Verschlag. Bäuerle öffnet die Lattentür. Zwischen Milcheimern und Säcken hockt der alte Brandeis und schläft. Bäuerle schüttelt ihn wach. „Wo sind die andern?" schreit er. Der Brandeis, taumelnd von Schlaf und Schnaps, beginnt zu jammern. Er könne bestimmt nichts dafür. Um sechs sei ein Radfahrer gekommen. Der habe gerufen, in Siebenwasser gäbe es eine Siegesfeier, und da sind sie alle weggelaufen, alle, auch die Degerloch.
„Alle?" fragt Bäuerle. Er zieht den Alten unter das Licht. Der beginnt zu zittern, und der Speichel fällt ihm aus dem Mund. Bäuerle sagt kein Wort. Er wartet nur. Und plötzlich beginnt der Brandeis zu flüstern. Er deutet nach dem Licht. „Ausmachen", flüstert er, und Bäuerle löscht die Lampe. Im Dunkeln spürt er, wie der andere ihn an der Hand nimmt, er lässt sich führen, und er antwortet nichts, als der andere sagt: „Es spukt nämlich, Herr..." Bäuerle steht am Fenster. Neben ihm der Knecht. Schattenlos wachsen draußen die Mauern. „Sehen Sie dort?" Bäuerle sieht.
Im ersten Stock des Anbaus, hinter dem Fenster, ruht ein Kopf. Er liegt auf der Fensterbank, als schlafe er. Die Strahlen des Mondes gleiten weich über sein Haar. Es glänzt. Die Augen sind offen. Sie glänzen auch.
„Fünf Stunden liegt er schon so ... ich hab gerufen, er hat immer so dagelegen und bewegt hat er sich nicht..."
Bäuerle schweigt. Lange schweigt Bäuerle. Vor ihm wandert die Nacht. Er sieht die Schatten wachsen. Mauer um Mauer vergeht. Nur der Kopf leuchtet noch, bis auch ihn der Schatten erreicht. Dann gehen sie hinauf. Sie finden die Wiege und das Zeitungsblatt. Als sie den Toten hochheben wollen, um ihn zu betten, merken sie, dass die linke Backe auf dem Fensterbrett festgefroren ist. Da knieten sie nieder, die Männer, und sie versuchten, mit ihrem Hauch das Eis zu lösen.
I
rene jedoch hatte Hans gesehen. Hinter Erlenbach war es. Da stieg er den Hang hinauf, und es war gar kein Winter mehr, das Gras blühte. Er sah sich nicht um. Sie konnte rufen, so laut sie wollte. Er hörte sie nicht. Da fing sie an zu laufen. Sie winkte hinter ihm her. Er aber stieg immer höher und höher. Bald wird er dort sein, wo der Wald beginnt. Da begann sie zu schreien, geh nicht in den Wald! und sie rannte bergauf. Ah, furchtbar schwer wurde ihr das. Sie fiel in das Gras, und ihr Leib wurde nass. Er aber ging immer weiter, direkt auf den Wald zu, und das war kein gewöhnlicher Wald, das waren schwarze Bäume, die reichten bis zum Himmel, und knotige Gewächse hingen an ihren Ästen, und an den Dornen der Büsche hing Blut. Oh, wie sie da zu rufen begann. Und neben ihr, da war plötzlich der Kilian Kern. Der schnallte sein Bein ab und hieb damit auf eine Glocke, die trug seine Frau. Und auch der Vater war da und Freund Baker aus Baltimore, und beide riefen mit ihr, aber Hans hörte sie nicht. Da war es über sie gekommen. Sie musste ihn retten. Festhalten musste sie ihn. Aber das Kind in ihrem Leib, das war so schwer. Das zog sie immer herunter nach der Erde, aber sie litt es nicht länger, nein, sie konnte es nicht länger ertragen, wie er immer näher den blutigen Dornen kam, und als der Kilian Kern jetzt noch schrie: „Geh nicht in den Wald... geh nicht in den Wald..." und Hans aber doch weiterging, da hatte sie mit ihren Händen in ihren Leib gegriffen. Da hatte sie das Kind herausgezerrt... oh, Blut war da, soviel Blut... und Feuer, welch ein Feuer... und tausend Messer, die stachen auf sie ein, immer drauflos, immer drauflos... aber sie konnte jetzt laufen, viel schneller, sie konnte fliegen, sie holte ihn ein. „Ich habe...", keuchte sie, „alles weggeworfen", und sie will ihn umarmen. Doch wie sie ihn umarmt, da ist es ein Baum, und der Baum schlingt die Äste um sie, und plötzlich, da ist sie mitten im Wald, oben in den Kronen der Bäume. Dort hängt sie, und unten, da sieht sie ihn. Er geht durch das weiche Gras, und er trägt keine Schuhe. Und dort, ja, das sind die Sieben Bäche, das Wasser glänzt, und er, er legt sich nieder, und schon fällt die Quelle hell und strahlend auf seine weiße Brust.
Glühend war das Verlangen, das Irene überkam. Sie wand sich unter den Griffen und versuchte nach unten zu springen. Aber die Griffe waren fest und es gelang ihr nicht, sich zu lösen. „Hans...", schrie sie, „ich kann ja nicht los..." Er aber hörte sie nicht. Er dehnte sich im Schatten. Lächelnd streckte er seine Glieder, und die Glieder, die wurden hell und immer heller, und plötzlich verwandelten sie sich.
Sie wurden zu Wasser, und es begannen auf einmal viele Bächlein zu fließen. Und bald war nichts mehr da als ein Netz von silbernen Adern zwischen dem grünen Gras. Da aber verdunkelte sich für eine Sekunde der Himmel, und es kamen viele Vögel geflogen, und sie netzten ihre flaumigen Kehlen in dem Wasser, und es wuchsen viele Blumen an den Rändern, und ihre Kelche füllten sich mit Perlen.
Oben aber im Geäst der Bäume schrie Irene. Sie wand sich, doch die Äste ließen sie nicht los. Ach, sie konnte nicht hinab zu dem Wasser. Sie wurde ja festgehalten. Sie durfte nicht vergehen. Das Bett im Kreißsaal dampfte. Blut und Kot klebten auf dem Linnen. Die Bandagen pressten die Gelenke der Gebärenden, die sich immer noch bäumte und schrie. Zwei Ärzte sahen auf sie hinab. Nebenan in der Ecke schwang die Schwester ein Kind. Es war drei Uhr in der Nacht, und die Träume begannen, die Masken der Menschen zu heben.
Sie hatten Hans auf dem Dorffriedhof begraben. Es war ein heller Februartag gewesen, und die Erde leuchtete gelb auf den Gräbern. Zu dritt waren sie dem Sarg gefolgt. Holzapfel, Kilian Kern und Bäuerle. Kalt wehte der Staub über die Mauer, und die Bänder der alten Frauen, die durch das Gitter des Friedhofs starrten, flatterten im Wind. Lange hatten die Männer vor dem Grab gestanden. Unten in Siebenwasser bliesen die Trompeten und die Fanfaren eines Aufmarschs. Und dann waren die Männer gegangen. Ohne ein Wort, einer neben dem andern, und sie waren zu Bäuerle ins Haus gegangen, und dort hatten sie schweigend getrunken, bis es Abend wurde.
Der Mann auf der „Braunschweig" bewegt sich nicht. Er starrt auf das Wasser, das sich bleigrau wellt. Und jetzt starrt er auf die Küste, die immer schmäler wird, ein dünner Streifen Rauchs. Oh, wie war dieser Abend gewesen. Kilian Kern hatte das Lied vom Guten Kameraden gesungen, und auch Holzapfel hatte sich der Tränen nicht geschämt. Und nach diesem Abend, da waren die Wochen gekommen, die vielen endlosen Wochen, da Irene mit dem Tod Zwiesprache hielt. Gesungen hatte sie und gelacht, und das Fieber hatte scharlachrot auf ihren Backen geblüht. Und ihr Kissen hatte sie genommen und es an sich gedrückt, und sie hatte es Hans genannt. Doch, wenn die Musik durch die Straßen zog, da fragte sie immer, ob sie ihn brächten. Sie hätten ihn ihr gestohlen, aber am Schluss sei er ihnen doch entwischt. In den Märchenwald sei er geflohen. Und jetzt suchten sie ihn, überall — denn sie könnten ohne seine Seele nicht leben. Die „Braunschweig" passiert das erste Feuerschiff. Bäuerle steht am Bug. Längst ist die Küste verdämmert, aber die Augen des Mannes sehen still und unbewegt nach der abendlichen Rundung des Horizonts, dorthin, wo einmal das Land war. Und er sieht das Vestibül der Klinik, und er sieht sich dort sitzen auf dem Rohrstuhl und warten, ob es Irene gelinge, den Tod zu besiegen. Und dann sieht er sich wieder, wie er durch die Straßen geht, in Heidelberg, in Siebenwasser, und überall war Jubel, und er verstand sie nicht mehr, die Sprache, die um ihn war. Nein, er begriff diese Worte nicht. Er war plötzlich in ein fremdes Volk geraten. War Deutschland mit Hans ins Grab gesunken, so fragte er sich oft, und er bejahte. Oh, er hatte es gesehen, wie sie in Siebenwasser das Rathaus stürmten, wie sie Schrader auf die Straße schleppten, ihm einen Schafpelz anzogen und eine Narrenkappe mit Glöckchen über die Ohren. Und er war dem Zug gefolgt und hatte sich furchtbar geschämt, aber die Scham war so groß, dass er schwieg und litt, wie Schrader auch. Und dann war es geschehen, dass sie von Schrader verlangten, er solle tanzen, öffentlich auf einem Platz, und obwohl Hungrich selbst das Tamburin schwang und die jungen SA.-Leute mit Fäusten Schrader vorwärtsstießen, war der Oberbürgermeister doch stehengeblieben, und er hatte nichts als gelächelt. Er lächelte die Deutschen an, wie ein Kind lächelte er, als kenne er sie nicht mehr. Und als Hungrich ihm die Brille entzweischlug, da lächelte Schrader immer noch, kurzsichtig, die Backen voll Blut. Und die Bürger um ihn, die hielten sich die Bäuche und sie lachten, weil Schrader so hilflos war. Das war es, ja das war es — dieses Lachen der Menschen vor dem hilflosen Mann. Das vergisst Bäuerle nie. Damit hatten sie Deutschland ermordet... Es ist Nacht über der Nordsee. Bäuerle hört die Musik nicht, die aus hell beleuchteten Speisesälen kommt. Immer noch sieht er über die spiegelglatte See dort hinüber, wo einmal das Land war. Und er sieht hinter den Wolken, die sich wie riesengroße Wale über das Meer legen, jenen rötlichen Abend, da er Irene nach Hause geholt. Es war Mai, und die ersten Blumen standen im Garten. Nie hatte er mit Irene in den ersten Wochen der Genesung von Hans gesprochen. Nur manchmal hatte sie ihn angesehen, eine Minute vielleicht, dann merkte er, dass sie weinte. Aber bevor er noch zu sprechen vermochte, beugte sie sich über ihr Kind. Es war ein Knabe. Sie hielt ihn fest in den Armen. Sie trug ihn nach Weißenfels. Und dann, als das Kind schlief, waren sie aus dem Hof gegangen. Sie gingen hinüber, wortlos, zum Friedhof, und dort kniete die Frau vor dem Grab, bis die Nacht kam und mit ihr die Sterne. Spät war es gewesen, als sie zur Wegkreuzung kamen. Dort unter der Blutbuche war Irene stehengeblieben. „Wann reisen wir ab?" hatte sie den Vater gefragt, und sie hatte seine Hand genommen, und sie waren still und ohne Rede zurückgegangen nach dem Hof.
Zwischen Schiffstauen und Eisenketten steht Johann Kaspar Bäuerle und sieht auf das Wasser. Er sieht die Wogen, und er spürt die große Ruhe der Veränderung. Er hat die Heimat verloren, zum zweiten Mal in seinem Leben hat er sie verloren. In jener Nacht, da er Hans gefunden, hatte er Deutschland verloren. Eingesargt lag es in der Erde von Weißenfels, ein Jüngling mit großen, fragenden Augen.
Über Deutschland hinweg marschierten die Kolonnen der Knaben und Jünglinge. Sie kannten nicht mehr die Anmut des Zweifels. Sie marschierten und sangen. Ja, die Nation war erwacht, aber der Mensch verging.
Du aber, Johann Kaspar, der du ein Mann bist, groß und gequält in deiner Liebe zur Heimat, lass deine Trauer nicht in Hass ertrinken. Verbeiße den Fluch! Schweige, schweige, wie es die Würde der Liebenden verlangt!
Vorsichtig löst sich der Mann aus den Schatten. Um ihn ist Himmel und Meer. Langsam steigt er die Eisentreppe hinab. Als er Irenens Kabine betritt, sieht er das Kind. Nackt und rosig liegt es auf den Linnen.
„Was ist das?" fragt Johann Kaspar Bäuerle und deutet auf ein kleines Säckchen, das um den Hals des Knaben hängt wie ein Amulett. „Erde", lächelt Irene, „ein bisschen Erde von daheim."