Fjodor Gladkow - Zement (1925)
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I. Das verödete Werk

Vor dem leeren Nest

Wie vor drei Jahren wogte auch an diesem frühen Morgen Anfang März hinter den Dächern der Mietskasernen und den Arkaden der Fabrik das Meer; in der Sonne glitzernd, lag zwischen den Bergen am Ausgang der Bucht der gleiche leuchtende Glanz in der Luft, rot wie Wein. Die bläulichen Schlote, die Werkgebäude aus Eisenbeton, die Arbeiterhäuschen der „Gemütlichen Kolonie" und die kupferrot leuchtenden Berggrate hatten in der Sonne ihre Konturen eingebüßt und waren durchsichtig wie Eis.
Nichts hatte sich in diesen drei Jahren verändert. Das dunstige Gebirge mit seinen Spalten, Klüften, Steinbrüchen und Felsen war dasselbe wie in der Kindheit. Von weitem schon sah man die altbekannten Abbaustellen an den Bergwänden, sah die Bremsberge zwischen Geröll und Gestrüpp und in engen Schluchten die Brücken und Aufzüge. Auch das Werk unten war dasselbe geblieben — eine ganze Stadt aus Kuppeln, Türmen, Tonnendächern —, und über alledem, am Bergabhang, die „Gemütliche Kolonie" mit ihren verkümmerten Akazien und den fünf Quadratmetern Hof vor jedem Häuschen.
Ging man durch das Loch in der Betonmauer, die Fabrikgelände und Vorstadt voneinander trennte (ehedem war das Loch eine Pforte gewesen), so gelangte man zu Glebs Wohnung in der zweiten Mietskaserne.
Gleich wird sie herauskommen, seine Frau Dascha mit dem Töchterchen Njurka; aufschreien wird sie und an
seine Brust sinken, erschüttert vor Glück. Sie erwartet ihn nicht, ebenso wenig weiß er, was sie ohne ihn in diesen drei Jahren durchgemacht hat. Es gibt im ganzen Lande weder Weg noch Steg, auf dem nicht Menschenblut geflossen wäre. Ist hier der Tod nur durch die Straße gezogen, ohne die Siedlungen der Arbeiter zu berühren? Oder ist auch Glebs Heim von Feuer und Wirbelsturm zerstört?
Auf dem unbebauten Gelände hinter der Mauer spielten schmutzige Kinder. Dickbäuchige Ziegen mit Schlangenaugen streunten umher und nagten an den Akaziensträuchern, Hähne streckten Gleb aufgeschreckt die roten Köpfe entgegen und schrieen ihn böse an: „Was ist denn das für einer?"
Im Herzen vernahm Gleb das unterirdische Grollen, das immer in den Bergen mit ihren Steinbrücken war, aber auch in den Schloten und in der Arbeitersiedlung.
Von der Höhe sah man die riesigen H-förmigen Betonpfeiler der Seilbahn herabsteigen und zwischen den steinernen Werkgebäuden hindurch wie Triumphbögen zu den Landungsbrücken am Meer hinunterlaufen. Die Drahtseile waren straffgespannt wie Saiten, unter den im Fluge erstarrten Loren zog sich das rostige Gewebe des Sicherheitsnetzes hin. Am Ende der Anlegestelle erhob sich der durchbrochene Turm des elektrischen Hebekrans mit seinen ausgebreiteten Schwingen.
Herrlich! Wieder Maschinen und Arbeit — eine neue, befreite Arbeit, erkämpft in heißen, blutigen Schlachten. Herrlich!
Zusammen mit den Kindern lachten und lärmten die Ziegen. Es stank nach Schweinestall — ein fäulnisartiger Salmiakgeruch. Überall wucherte Unkraut, die Gassen waren voller Hühnermist.
Was hatten hier nur all die Ziegen, Schweine und Hühner zu suchen? So etwas hätte die Direktion früher streng verboten!
Von der „Gemütlichen Kolonie" kamen im Gänsemarsch
drei Frauen auf Gleb zu, eine alte und zwei junge, die irgendwelche Lumpen auf dem Arm trugen. Die alte, die voranging, sah aus wie eine Hexe. Von den jüngeren war die eine mollig und vollbusig, die andere hatte das Kopftuch tief ins Gesicht gezogen, ihre Augen und Lider waren gerötet.
In der Alten erkannte Gleb die Frau des Schlossers Loschak, in der Vollbusigen die des Schlossers Gromada. Die dritte war ihm fremd.
In freudiger Erregung hob er die Hand an die Mütze. „Guten Morgen, Genossinnen!"
Sie warfen ihm einen argwöhnischen Blick zu und schlugen einen Bogen um ihn. Nur die Gromada fuhr ihn keck an: „Mach, dass du weiterkommst! Wenn man jeden grüßen wollte."
„Was ist los mit euch Weibern? Erkennt ihr mich denn nicht?"
Loschaks Alte blieb stehen und sagte mit ihrer Bassstimme mehr zu sich als zu ihm: „Das ist doch — Gleb! Großer Gott! Kommt aus dem Jenseits." Dann ging sie ruhig weiter, mürrisch wie zuvor.
Die Gromada lachte nur auf und sagte nichts. Erst als sie schon die Mauer erreicht hatte, wandte sie sich um und schnatterte los: „Lauf schon, Gleb Iwanowitsch, lauf! Spiel mit deiner Dascha Verstecken. Wenn du sie gefunden hast, könnt ihr noch mal Hochzeit machen."
Gleb starrte den Frauen nach und erkannte die freundlichen Nachbarinnen von einst nicht wieder. Das Leben musste ihnen übel mitgespielt haben!
Da war er, der niedrige Zaun um die fünf Quadratmeter Hof, da war das Aborthäuschen gleich an der Straße! Nur hatten die Jahre und winterlicher Nordost den Zaun verbogen, und eine graue Kruste bedeckte die Bretter.
Gleich wird mit einem Aufschrei Dascha herausstürzen. Wie wird sie ihn empfangen, den aus Feuer und Tod Heimgekehrten? Vielleicht hält sie ihn für gefallen ... Oder sie
wartet noch tagtäglich auf ihn — von der Stunde an, da er in jener finsteren Nacht sie und Njurka in dieser Bruchbude allein gelassen hat.
Er warf seine Tasche zu Boden und den Soldatenmantel auf den Zaun, stand da und wischte sich mit dem Ärmel der Feldbluse den Schweiß vom Gesicht.
Und gerade, als er den Fuß auf die Treppe setzen wollte, sprang die Haustür auf.
Eine Frau in rotem Kopftuch, sonnenverbrannt, mit dichten Brauen und in einem Männerhemd, stand im dunklen Viereck des Eingangs und blickte Gleb verdutzt an. Als sie Glebs Lächeln gewahr wurde, spiegelte sich in ihren Augen Bestürzung und Freude.
Das zitternde Kinn, die mädchenhaft schwellenden Wangen, die Stupsnase, der bei gespanntem Schauen schräg geneigte Kopf, die eigensinnigen Brauen — ja, das war Dascha. Alles andere aber (was, das ließ sich nicht gleich bestimmen) war fremd und neu. „Daschalein! Frauchen! Liebe!"
Er stürzte auf sie zu, atemlos vor Erregung.
Aber Dascha blieb auf der obersten Treppenstufe wie gebannt stehen und wehrte Gleb fassungslos ab, als sei er ein Gespenst. Über und über rot, stammelte sie schließlich: „Bist - du - das? Oh, Gleb ... Liebster!"
In ihren Augen aber, in ihrer schwarzen Tiefe, flackerte unbewusste Angst.
Und als Gleb sie umschlang und sich an ihren Lippen festsog, schwanden ihr fast die Sinne. „Na, gesund und munter, Liebes?"
Sie konnte sich nicht von ihm losreißen und stotterte wie ein Kind.
„Oh, Gleb! Bist du's auch wirklich? Ich hatte keine Ahnung. Wo kommst du denn her? Und so ... plötzlich!"
Sie lachte und barg den Kopf an seiner Brust. Er presste sie an sich und fühlte, wie ihr das Herz klopfte und sie am ganzen Leib bebte.
Sie rissen sich voneinander los, starrten sich trunken ins Gesicht, in die Augen, lachten und umschlangen sich wieder ungestüm.
Gleb nahm sie auf den Arm wie ein kleines Mädchen und wollte sie ins Zimmer tragen wie in den ersten Tagen ihrer Ehe. Dascha jedoch entwand sich ihm und begann mit ein wenig spöttischem Lächeln ihr Kleid glatt zu streichen.
„Ach, du Hitzkopf! Und ich — wie eine Verrückte ..." Sie fuhr sich mit dem Kamm übers Haar, atmete tief auf und wich vor ihm zurück. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie rief erschrocken: „Ach herrje, ich komm zu spät! Ich muss ja weg, Gleb!"
Ernsthaft, wenn auch immer noch erregt, sagte sie: „Geh beim Gewerkschaftskomitee vorbei und trag dich wegen der Zuteilung ein. Ich hab's furchtbar eilig. Ach, Gleb ... Es ist nicht zu fassen... du bist ganz verändert... bekannt und fremd zugleich."
„Was ist los, Daschalein!... Ich begreif kein Wort..." Dascha stand bereits an der Pforte und lächelte ihm zu.
„Ich esse in der Stadt, in der Kantine der ,Volksspeisung', das Brot bekomme ich im Parteikomitee! Du musst erst zum Gewerkschaftskomitee und dich anmelden wegen der Brotkarten. Ich bin zwei Tage nicht da — muss dringend aufs Land fahren. Ruh dich inzwischen von der Reise aus. Ich muss weg, das Fuhrwerk wartet schon. Da kann man nichts machen."
„So warte doch, Daschalein! Was soll denn das? Kaum hab ich die Nase hereingesteckt, machst du dich aus dem Staube."
Er stürzte zu ihr und riss sie an sich. Doch mit zärtlichem Nachdruck machte sie sich wieder frei.
„Sag mir bloß, Daschalein, was soll das alles."
„Ich bin doch im Frauenausschuss, Gleb."
„Wieso im Frauenausschuss? Und Njurka? Wo ist Njurka?"
„Njurka ist im Kinderheim. Geh, ruh dich aus. Ich darf keine Minute mehr trödeln. Wir sprechen uns nachher. Du weißt doch selbst: Parteidisziplin."
Sie rannte los. Sein Blick folgte dem roten Kopftuch bis zur Mauer — es lockte und verhöhnte ihn.
Aber dann, am Durchbruch, sah Dascha sich um und winkte ihm zu, ihre Zähne blitzten.
Gleb lief an den Zaun und rief: „Daschalein! Wie geht es Njurka? Sie muss doch schon groß sein ... Ich will vorbeigehen. Wo ist es?"
„Nein, nein, untersteh dich! Wir gehen zusammen hin. Ruh dich derweilen aus."
Gleb stand wie vom Schlag gerührt und sah der entschwindenden Dascha nach. Er konnte einfach nicht begreifen, was geschah.
Drei Jahre hatte er im Wirbel des Bürgerkrieges zugebracht, hatte im Feuer schrecklicher Ereignisse gestanden... Wie aber hatte Dascha diese Jahre verlebt?
Da war er zurückgekehrt in sein Heim, von dem er damals fortgegangen war in die einsame Nacht hinaus. Da lag das Werk, das ihn schon als kleinen Wicht mit Qualm und Öl durchtränkt hatte. Das Heim aber war leer, und Dascha hatte ihn nicht so empfangen, wie er es geträumt.
Er setzte sich auf eine Stufe der Vortreppe und spürte mit einemmal, dass er tief erschöpft war. Und nicht etwa erschöpft von dem vier Werst langen Weg vom Bahnhof — sondern erschöpft von den drei letzten Jahren und diesem sonderbaren Wiedersehen mit Dascha.
Warum diese ungewöhnliche Stille ringsum? Wo kam dieses Zirpen in der Luft her? Und was hatte das Hühnergeflatter in der „Gemütlichen Kolonie" zu bedeuten?
Das dort waren keine Häuserblocks, sondern schmelzende Eisschollen, die Schlote schimmerten bläulich wie Glaszylinder. An den oberen Enden war schon längst kein Ruß mehr, weggeblasen hatten ihn die Bergwinde. Von einem Schornstein war der Blitzableiter abgerissen. Vom Sturm? Von Menschenhand?
Hier hatte es nie nach Dung gerochen, jetzt aber mischte sich in den Duft der Grasblüte, der von den Bergen kam, faulig die scharfe „Blume" des Viehverschlages.
In jenem Gebäude dort unten am Berge war die Schlosserei gewesen. Damals funkelten zu dieser Tageszeit die unzähligen kleinen Scheiben im blendenden Widerschein der Sonne. Und heute? Hinter zerbrochenen Scheiben schwarze Leere!
Und die Stadt auf der Anhöhe jenseits der Bucht hatte sich genauso verändert: Grau geworden, verschimmelt und verstaubt, hob sie sich kaum noch vom Berghang ab. Das war keine Stadt mehr, sondern ein verwahrloster Steinbruch.
Hier die von Dascha offengelassene Tür in ein menschenleeres Zimmer, unten, im Tal, die erloschene, vergessene Fabrik...
Der Hahn kam zum Zaun stolziert, legte den Kopf in den Nacken und sah Gleb aus einem Auge an, böse und abweisend. „Was ist denn das für einer?"

Düsternis

Gegenüber, auf der anderen Seite des Gässchens, in dem kleinen Steinhaus mit den offenen Fenstern, krakeelte der betrunkene Böttcher Sawtschuk. Seine Frau Motja kreischte hysterisch.
Gleb horchte auf und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Er erhob sich und ging zu den Sawtschuks hinüber. Das Zimmer war voller Schmutz und Mief. Auf dem Fußboden lagen Schemel und Kleider umher, dazwischen eine heruntergeworfene Teekanne aus Blech. Und überall war Mehl verstreut. Motja hatte sich über einen Sack mit Kartoffeln geworfen, den sie fest umklammert hielt. Sawtschuk, in zerrissenem Hemd, zerzaust, bearbeitete Motja schimpfend mit den Fäusten und den nackten Füßen.
Gleb packte ihn von hinten an den Schultern und zerrte ihn zurück.
„Sawtschuk! Bist du verrückt geworden? Du zottliger Teufel! Nun verpuste mal etwas."
Sawtschuk sah um sich wie ein Irrer und riss sich los.
Motja stützte sich mit einer Hand auf, zog mit der anderen den Rock über die nackten Beine und flennte winselnd.
Sawtschuk stierte Gleb an, ohne ihn zu erkennen. „Was ist denn das wieder für 'ne Ketzerseele? Hau bloß ab, du, eh ich dir's Genick breche ..."
Gleb lachte ihm ins Gesicht.
„Sawtschuk, alter Junge! Ich komme dich besuchen — und dann empfängst du mich so, Bruderherz!"
In Sawtschuks halbirre Augen kehrte Besinnung zurück. Er klatschte mit dem schmutzigen Fuß auf den Boden und breitete die Arme aus. „Ha, Ketzerseele! Gleb! Bruderherz! Tschumalow! Welcher Satan führt dich aus dem Jenseits her, du Hundesohn?"
Mit voller Wucht fiel er Gleb um den Hals, drückte ihm seinen besabberten Bart auf die Wange und röchelte ihm Fuselgestank ins Gesicht. Dann torkelte er zurück, stieß Motja mit dem Fuß und brach in Lachen aus.
„Steh auf, Motja! Verschieben wir's auf ein andermal. Jetzt setz ich mich erst mal hin mit ihm, dieser Ketzerseele, dem Gleb, und er kriegt die Ohren voll gejammert. Steh auf! Gib dem Herzensgenossen Gleb einen Kuss! Das andere auf ein andermal."
Motja blieb auf dem Sack sitzen und heulte.
Gleb trat zu ihr und streckte ihr die Hand hin. „Na, Motja, du Mordsweib! Fein kämpfst du für deine Rechte! Tag, meine Liebe!"
„Verschwinde gefälligst!" antwortete sie bissig. „Eure Sorte kennt man, ihr wollt bloß faulenzen, und wir sollen schuften."
„Ich bleibe aber, Motja! Was hast du mir zu bieten: Braten, Tee mit Zucker — du alter Hamstersack."
Gleb lachte und neckte sie, haschte nach ihren Händen und ließ sie willig draufklopfen.
„Warum jagst du mich fort, Motja? Bin so schon drei Jahre weggewesen, an der Front. Statt dich nun zu freuen, behandelst du mich wie einen Feind. Weißt du noch, was für ein strammes Mädel du gewesen bist? Ich war drauf und dran, dich zu heiraten, aber da kam mir Sawtschuk in die Quere, dieser verdammte Böttcher."
Erschrocken fuhr Motja auf; sie schien Gleb erst jetzt zu bemerken.
„Ja, du meine... Das ist doch... Das bist du doch — Gleb Iwanowitsch!" Sawtschuk lachte trunken.
„Das ist kein Weib, Gleb, eine Kröte ist das. Wenn du mein Freund bist — nimm dein Maschinengewehr und schieß sie tot." Plötzlich stöhnte er verzweifelt auf. „Das ist kein Leben mehr, was ich führe, Gleb. Und sie hat sich im Hamstersack begraben. Sie haben uns das Leben gestohlen, Gleb!"
Motja stand auf und lehnte sich erschöpft gegen die Wand.
„Ich habe doch Kinder gehabt, eine reiche Mutter bin ich gewesen. Wo sind sie geblieben, Gleb Iwanowitsch? Wozu lebe ich denn noch?"
Sie sah Gleb aus tränentrüben Augen an, strich mit zitternden Händen ihren Rock über den Knien glatt und nestelte an der Bluse.
Ach ja, auch Motja war nicht mehr die alte, nicht mehr das sanfte, freundliche, heitere Geschöpf von früher. Gleb sah sie noch vor sich inmitten ihrer lärmenden Kinderschar — die immer geschäftige, zärtlich besorgte Glucke.
Sawtschuk setzte sich auf einen Schemel und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Weit haben wir's gebracht, Bruderherz!... Mir ist angst,
mein Junge. Nicht den Tod fürcht ich, der will von mir nichts wissen. Vor der Düsternis ist mir angst und der Ödnis. Sieh sie dir an — das ist keine Fabrik — das ist die reinste Müllgrube, ein Ziegenstall... Es gibt keine Fabrik mehr ... Und wenn die hin ist, wo bleibe ich dann, Gleb?"
Motja starrte ihn mit blicklosen Augen an. Plötzlich lächelte sie verlegen. „Zieh dich an, du Büffel! Da hast du dein Hemd. Läufst herum wie ein Landstreicher."
Gleb lachte auf. „Komisch seid ihr, Kinder!" „Motja, Frau!" Sawtschuk ging zu ihr, hob sie wie ein kleines Mädchen hoch und hielt sie Gleb hin. „Da hast du meine Motja — knutscht euch ab, ihr Ketzerseelen!"
Ü ber dem Berggipfel schimmerten die rauchlosen Schlotspitzen, durchsichtig wie leere Gläser.
Auf dem von wucherndem Kreuzdorn- und Thujagestrüpp zottigen Hügel und dem rostigen Bremsberg lagen umgekippte Loren wie tote Schildkröten herum.
„Die Fabrik... was ist sie gewesen, und wie sieht sie jetzt aus, mein Freund Gleb! Weißt du noch, wie in der Fassbinderei die Sägen gesungen haben? Das war Musik — einfach herrlich! Ach, lieber Genosse! Ich bin doch hier aus dem Ei gekrochen."
Sawtschuk sehnte sich zurück nach der alten Fabrik, trauerte seiner früheren Arbeit nach. Tränen traten ihm in die Augen, und wie er so dastand in seinem Leid — ein jammervolles Lächeln um die Lippen, den Kopf hoch erhoben —, glich er einem Blinden.
Motja stand neben ihm — ebenso blind und jammervoll. „Ich gehör ins Haus — bin nur fürs Nest, für Kinder geschaffen. Warum zerstörst du auch das Letzte?"
„Motja, soll ich's machen wie die anderen? Feuerzeuge basteln? Fässer flicken für die Bauern? Das überlasse ich dir, du herrenloser Hund. Lieber krepiere ich, aber ich verkaufe meine Seele nicht dem Teufel."
Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch und knirschte mit den Zähnen.
Motja aber stand da und faselte wie im Schlaf: „Hatten ein volles Nest, Gleb Iwanowitsch — wir hatten's —, wo ist es geblieben? Umgekommen, verreckt sind unsere Kinder. Wo soll ich jetzt hin, sag selbst? Wozu bin ich noch nutze? Kann man denn so weiterleben? Totgeweint habe ich mich. Ich kann nicht, kann nicht mehr, Sawtschuk! Ich geh auf die Straße und hol mir ein paar elternlose Kinder."
Gleb war bewegt. Er umarmte Sawtschuk. „Du bist doch mein alter Kamerad, Sawtschuk. Schon als Jungs sind wir zusammen arbeiten gegangen. Und war Motja nicht unsere Freundin? Während du hier gehockt und geunkt hast, habe ich gegen den Feind gekämpft. Jetzt kehre ich heim, und vom Heim ist nichts mehr da — von der Fabrik auch nichts. Motja ist ein gutes Weib. Wir werden die Kräfte zusammenlegen, Sawtschuk. Wir sind geschlagen, doch wir haben auch schlagen gelernt, sehr gut gelernt, Sawtschuk, glaub mir!"
Sawtschuk sah ihn verdutzt an und schüttelte den Kopf.
Motja lehnte sich an Gleb und umfasste seine Schulter. „Gleb, Freund... Sawtschuk ist ein guter ... bei Gott, ein sehr guter Mensch. Ach, Gleb, ich brauche ja nichts ... nur wieder die Brust voll Milch. Was für ein Leben!"
„Motja, schmus nicht mit ihm wie eine Braut — noch ist er nicht dein Kavalier!"
Gleb drückte Motja die Hand und lachte. „Komisch seid ihr, Kinder!"

Die Maschinen

Um von der „Gemütlichen Kolonie" zum Betriebsgewerkschaftskomitee zu kommen, gab es zwei Möglichkeiten: entweder die Chaussee an den Fabrikgebäuden entlang oder einen verschlungenen Weg über die Schutthalden in
den Vorbergen, der durch Gestrüpp, über Geröll und stillgelegte Abbaustellen führte.
Von dort war das Werk in seinem ganzen verwickelten Durcheinander zu überblicken: Türme, Bogen, Viadukte; Kolosse aus Beton und Stein — bald schwerelos und schwebend wie gigantische Ballons, bald kubisch streng in ihrer Einfachheit und architektonischen Schwere. Sie türmten sich, fest miteinander verschmolzen, oder wuchsen als Monolithe in verschiedener Höhe aus dem Berg hervor. In den Schluchten aber, auf den zerstörten Bremsbergen voller Steine, verlassener, rostiger Loren und Gestrüpp, unter und über den Felshängen, auf den Schutthalden — überall sprangen einzeln, planlos, unvermutet kleine Häuschen aus dem blauen Zementgrund. Die Steinbrüche bildeten Terrassen, die, in allen Regenbogenfarben schillernd, in die Schluchten hinabstiegen und im wilden Dickicht des jungen Waldes verschwanden. Wie eine Fata Morgana flimmerte hinter dem Werk zwischen den Landspitzen das Meer. Von der Stadt, auf der anderen Seite der Bucht, und vom Werk zog sich je eine Mole wie eine straffgespannte Bogensehne ins Meer hinaus, mit einem hohen Leuchtturm am Ende. In weiten Halbkreisen rollten Wellen auf das Werk und auf die Anlegestellen zu und brachen sich schaumsprühend am Ufer.
Die Aussicht war dieselbe wie vor drei Jahren. Nur hatten damals Werk und Berg vor innerer Glut gebebt, waren die Gebäude, Schlote und Anlegestellen vom verborgenen Maschinengrollen und Motorengeheul voller Leben und kraftgeladen gewesen in vulkanischer Spannung.
Gleb ging den Weg entlang, blickte hinunter auf das Werk, horchte in die Stille des Tales, die vom Murmeln der Bäche noch vertieft wurde, und fühlte, dass auch er schwerfällig geworden war, dass sich auch auf ihm der Steinstaub ablagerte.
War das wirklich dieselbe Fabrik, die er von Kind auf kannte? Waren das dieselben Wege und Pfade, auf denen er morgens zur Arbeit und abends nach Hause gegangen war? Und war das wirklich er, Gleb Tschumalow, der Arbeiter in blauer Bluse aus der Schlosserei, der jetzt den verwilderten Weg entlangging, kummervolles Fragen und Staunen in den Augen?
Früher, als er noch einen hochgezwirbelten Schnurrbart trug und sein Gesicht voll Ruß und Eisenstaub war, wirkte er brünett. Jetzt war er glatt rasiert; Backenknochen und Nase, von Wind und Wetter gegerbt, waren blaugrau und schälten sich. Er roch nicht mehr nach Rauch und Öl, sein Rücken war nicht mehr von der Arbeit krumm. Nichts als ein Rotarmist war er jetzt — den grünen Stoffhelm mit rotem Stern auf dem Kopf, den Rotbannerorden an der Brust.
Gleb ging weiter, sah hinunter auf das Werk, auf die Steinbrüche und die Schlote, blieb von Zeit zu Zeit stehen. Wut packte ihn.
Weit haben es diese Schufte gebracht! Erschießen wäre zu wenig für das Lumpenpack. Das ist ja keine Fabrik mehr, ein Sarg ist das.
Er stieg zum Werk hinab, kam auf einen leeren Platz, der schwarz war von Kohlenstaub und wie verschimmelt vom Gras, das am Boden hinkroch. Einst hatten sich hier hohe Anthrazitpyramiden getürmt, und ihre Kristalle hatten gefunkelt wie Diamanten aus Pech. Über den Platz hing eine Felswand aus gelben und braunen Gesteinsschichten. Geröllmassen waren heruntergerutscht und hatten nach und nach die Überreste menschlicher Arbeit verschluckt. Ein Halbkreis verzweigter Gleise schloss sich an. Ganz vorn, vor der Brüstung, schoss jäh ein Schlot aus dem Abgrund, ein blauer Obelisk, hundert Meter hoch. Dahinter lag breit und gewichtig das Gebäude des Kraftwerkes.
Das ganze Werk schien eine erloschene Welt zu sein. Nordostwinde hatten die eisklaren Fensterscheiben zernagt, Gießbäche die eisernen Rippen der Betonmauern bloßgelegt, und der Abfallstaub auf den Gesimsen hatte sich wieder zu Stein verwandelt.
Der Wächter Kljopka kam vorbei. Er trug ein knielanges Hemd, aus einem Sack genäht, ohne Gürtel, und an den nackten Füßen zerfetzte Schuhe, die wie Zementklumpen aussahen.
„He, du! Alter Knacker! Was schleichst du hier rum wie ein verdammtes Gespenst? Prima gewacht hast du, alter Satan!"
Gleichmütig leierte Kljopka seinen gewohnten Spruch her: „Unbefugten ist der Zutritt streng verboten!"
„Sei still, du Zottelbart! Du hast doch wahrscheinlich alle Schlüssel zu diesem Trümmerhaufen hier verloren."
„Schlüssel - die braucht jetzt niemand: alle Schlösser sind hin. Kannst mit dem Zugwind ein- und ausgehen. Ziegen sind in der Fabrik. Ratten. Aber kein Mensch. Die sind weg."
„Bist selbst eine alte Ratte! Habt euch wie Krebse in eure Löcher verkrochen, ihr Tagediebe."
Kljopka sah Gleb griesgrämig an und mahlte mit seinen zahnlosen Kiefern. „Du Trichterhaube, du. Hier kannst du mit deinem Helm keinen aufspießen." Und er schlurfte weiter.
Ein hoher Viadukt auf steinernen Pfeilern führte vom Kohlenplatz zum Hauptgebäude. In den Betonwänden klafften Schießscharten für Maschinengewehre. Das Werk hatte den Weißgardisten als Festung gedient. Sie hatten darin Pferdeställe und Verschläge für Kriegsgefangene eingerichtet. In den Tagen der Intervention waren aus diesen Verschlägen grauenhafte Folterkammern geworden.
Gleb betrat das Werk. Überall hingen Spinnennetze, von Zementstaub überzogen. Unter den hohen, dämmerigen Decken hervor quoll der Geruch von Schimmel und abgelagertem Staub. Da war der riesenhafte Schlot mit herausgerissener Rauchklappe. Die Luft brauste wie ein Wasserfall in dem verdieckten Trichter, bildete quirlende Strudel und riss alles, was ihr zu nahe kam, in den röhrenden Schlund hinauf. Früher hatte eine Gusseisenplatte diesen unheimlichen Rachen verschlossen, und der Schlot hatte dröhnend funkensprühende Luftmassen aus den Zylindern der rotierenden Öfen gesogen. Einst hatten diese Öfen, von Flammenschein übergossen, ihre glühenden Riesenleiber um die eigene Achse gedreht, und dazwischen hatten Menschen gewimmelt wie Ameisen. Dicke Rohrleitungen liefen kreuz und quer, sie glichen eisernen Bogen und Riesenkakteen.
Ach, diese Schufte! Was haben sie daraus gemacht. Was haben sie nur daraus gemacht, die Schweinehunde!
Durch lange Tunnel gelangte Gleb in die Maschinenhalle, einen strengen Tempel, in blaues Tageslicht getaucht. Der Fußboden war mit bunten Fliesen ausgelegt. In Reih und Glied standen die schwarzen Dieselmotoren, golden und silbern glänzend wie Götzenbilder, fest und sicher auf ihren Plätzen, zur Arbeit bereit: ein Handgriff -und sie würden wieder tanzen und ihre spiegelblanken Metallglieder im Sonnenlicht schillern lassen.
Gleb kam es vor, als ströme ihm die Luft in heißen Wellen entgegen. Die stillstehenden Schwungräder schienen herumzuwirbeln. Wie eh und je war hier alles ordentlich und sauber, und jedes Maschinenteilchen zeugte von liebevoller menschlicher Pflege. Der Fußboden glänzte wie früher, der Staub war von den Fenstern gewischt, jede der vielen Scheiben blitzte — das Licht brach sich darin und fiel in blauen und bernsteinfarbenen Strahlen ein. Ein Mensch hatte hier hartnäckig weitergelebt, und durch ihn waren auch die Maschinen am Leben erhalten worden und lebten in erwartungsvoller Spannung!
Dieser Mensch kam in blauer Bluse und Schirmmütze aus einem Gang zwischen den Dieselmotoren herausgelaufen und wischte sich die Hände mit Werg ab. Gleb sah das Weiß seiner Zähne und Augäpfel blinken; der ganze Mann bestand aus Zähigkeit, Widerspruchsgeist und Aufgewecktsein.
„Haha, alter Freund! Bist du das, du wackerer Heerführer? Das ist aber eine Freude!"
Brynsa war hier geboren (sein Vater war auch Mechaniker gewesen), zwischen den Maschinen groß geworden, und die Maschinenhalle bedeutete für ihn die ganze Welt. Er und Gleb waren zusammen aufgewachsen und zu gleicher Zeit in die Fabrik gegangen.
„Lass dich anschauen, du Krieger! Helm ... Stern ... und die Nase länger denn je ..."
Gleb umarmte seinen alten Freund.
„Brynsa! Alter Junge! Du bist noch hier? Ach, der Teufel soll dich holen! Bei dir sieht's ja aus, als seien alle Maschinen im Gang."
Brynsa packte Gleb am Arm und schleifte ihn in einen schmalen Gang zwischen den Dieselmotoren.
„Guck sie dir an, mein Lieber, diese Teufelskerle — blitzsauber, wie junge Mädchen. Braucht nur einer zu sagen: ,Brynsa, anfangen!' — und diese ganze lustige Gesellschaft hier kommt in Schwung und trommelt wieder ihren eisernen Marsch ... Die Maschinen verlangen die gleiche Disziplin wie deine Armee..."
„Hast du auch Ziegen, Brynsa? Fabrizierst du auch Feuerzeuge?"
Brynsa lachte auf und entgegnete mit bissigem Humor: „Ha, diese Ziegenhirten haben mich gefressen ... Und die Feuerzeugmänner schmeiße ich regelmäßig in hohem Bogen raus... Diebe, Halunken! Für alle Fälle halte ich das Ding dort bereit. Da! Siehst du?" Er zeigte mit der Hand, in der er das Werg hielt, auf ein Gewehr in der Ecke. „Gegen Banditen, die auf Messing und Kupfer aus sind..."
Gleb streichelte zärtlich die glänzenden Maschinenteile und betrachtete Brynsa mit neugierig verwunderten, hoffnungsvollen Augen.
„Was für ein Leben steckt doch in deinem Reich, mein Freund, man möchte gar nicht wieder fort! Und wie scheußlich ist dagegen jetzt die Fabrik, und die Leute — wie ekelhaft sind sie geworden! ... Wozu treibst du dich hier noch rum, zum Teufel? Die Fabrik ist doch nur noch eine leere Bude, die Arbeiter strolchen umher, denken nur an die eigene Haut."
Brynsa war finster geworden. Gleb kam es vor, als schlösse er sich feindselig gegen ihn ab. Doch der Mechaniker ging erregt neben einem Dieselmotor auf und ab und sagte streng: „Das Werk muss wieder arbeiten, Gleb. Das Werk darf nicht kaputtgehen ... Sonst — wozu hätten wir dann Revolution gemacht? Was sollten wir dann noch? Wozu trägst du dann deinen Orden?"
Plötzlich wurde er traurig, und es klang wie eine Klage, als er leise fortfuhr: „Du weißt nicht, wie Maschinen leben, du weißt es nicht. Man kann verrückt werden, wenn man das sieht und fühlt."
Als die Dieselmotoren eines Tages verstummt waren und die Menschen in Scharen aus dem Werk zogen — in die Revolution, in den Bürgerkrieg, in Hunger und Elend —, da war Brynsa geblieben, ganz allein, im Schweigen der Maschinenhallen. Er war ebenso einsam gewesen wie die strengen, blanken Maschinen. Er hatte ihnen bis zum Ende die Treue bewahrt.
„Das Werk muss wieder arbeiten, Gleb. Die Maschinen sind da, und wenn Maschinen da sind, Freund, müssen sie einfach arbeiten; sie tun es, auch wenn sie stillstehen. Ach, wenn du das nur begreifen könntest! Aber ob du das Gefühl dafür hast oder nicht — du musst alles daransetzen, um das erste Flämmchen zu entzünden, auf mich kannst du jederzeit bauen."
Gleb blickte die glänzenden Leiber der Dieselmotoren an — blickte Brynsa an, lauschte auf die dumpfe Stille zwischen den Wänden, fühlte, wie ohnmächtig er war, und wusste nicht, was er dem Freund sagen sollte: dieser Friedhof hatte ihn verwirrt und verstört. Er war fremd hier, alles kam ihm unbekannt und unheimlich vor, als wäre er an eine Stätte der Verwüstung geraten. Was hätte er Brynsa jetzt antworten können? Besaß er selbst doch nicht einmal einen warmen Winkel mehr, sogar seine Frau hatte ihn allein gelassen, gerade in dem Augenblick, da man sonst alles andere vergisst, da die Nähe des geliebten Menschen allein genügt. Hätte sie ihre Reise nicht seinetwegen aufschieben können?

Die Kumpels

Im Kellergeschoß des ehemaligen Verwaltungsgebäudes drängten sich die Arbeiter in einem engen, dämmrigen Korridor. Im Raum hing schmutziger Tabaksqualm, und die Menschen, selbst schmutzig vom schwarzgrauen Staub der Steinbrüche und Wege, sahen alle gleich aus, wie abendliche Schatten.
Sie fluchten unflätig und schrieen alle durcheinander. Es ging um Tagesrationen und um den Kantinenfraß, um Petroleum, Sonderzuteilungen, Feuerzeuge und Ziegen.
Die Tür zum Betriebsgewerkschaftskomitee stand offen. Auch dort schmutziger Qualm und Gedränge. Niemand erkannte Gleb, als er sich durch den Menschenschwarm hindurchwand; man schielte nur kurz nach seinem Helm mit dem Stern und nach dem Rotbannerorden und hatte ihn im nächsten Augenblick wieder vergessen.
An der Tür produzierte sich ein Bursche mit einer weißen Nachthaube auf dem Kopf, einem Korsett über der Jacke und einer Schnurrbartbinde vor der rasierten Oberlippe. Von der Menge eingezwängt, ruderte er mit den Ellenbogen, kreischte mit Weiberstimme und gebärdete sich wie ein affektierter Narr.
„Ach, gestatten, dass ich mich vorstelle... Par voeux brusque rescape!" plapperte er in phantastischem Französisch und sang dann:
„Ei, du Äpfelchen, wohin rollst du bloß,
kommst du zum Gewerkschaftskomitee, wirst du alles los ..."
Die Leute gafften, ermunterten ihn und lachten.
Ein brünetter, schwindsüchtiger Mann, dem der Husten in der Kehle saß, ging gegen den Possenreißer wütend vor. Es war der Schlosser Gromada. Gleb war entsetzt: Wie hatten die letzten drei Jahre diesen Mann mitgenommen! „Hör auf zu diskutieren, Mitrej! Das ist eine Schande und eine Schmach und so weiter ..."
Doch Mitja unterbrach ihn: „Ach, Genosse Gewerkschaftskomitee, entschuldigen Sie, wickeln Sie Ihre Nerven in ein Bündelchen und stecken Sie es sich mit einer Nadel an den Nabel... Gestorben! Krepiert! Gerührt und erschüttert! ... Leg mein Korsett aufs Parkett, das Häubchen als Wagen, als Zügel den Kragen — und wenn die Fuhre fährt, kutschiere ich in voller Parade zur Demonstration ... Prrr!..."
Wieder verrenkte er sich affektiert und arbeitete sich mit dem Ellenbogen zum Ausgang durch. Voller Entzücken über das Schauspiel drängte ihm die Menge nach.
Gleb ging ins Zimmer und stellte sich hinter den Arbeitern an die Wand. Am Tisch saß der bucklige Schlosser Loschak, schwarz und verrostet wie immer, schwerfällig und so unberührt, als wäre er taub.
„Verfluchte Bande!" schrie eine Frau aus voller Kehle. „Ihr habt uns noch gefehlt, ihr Hunde! Seht euch bloß diese vollgefressenen Schnauzen an! Mein Alter krabbelt zu Hause der Ziege den Bauch, und ich muss mich hier mit diesen Dickwänsten rumschlagen."
Die Arbeiter pufften sie in den Rücken und verschluckten sich vor Lachen.
„Feste, Tante Awdotja, feste! Immer mit dem Bauch voran, der Hintern wird's schon aushalten ..."
„Schnauze, ihr Idioten! Wozu hat man uns diese Gewerkschaftskerle aufgehalst? Das nennt ihr Schuhe? Darin soll man laufen?"
Mit jähem Schwung warf sie das Bein in die Höhe und schlug mit dem Schuh auf den Tisch. Der Rock rutschte hoch und entblößte ihr Bein bis zum blaugeäderten Oberschenkel.
Loschak saß unbewegt da, als wäre er taub. Gromada aber sprang wutschnaubend auf.
„Bürgerin! Genossin! Du bist doch eine Arbeiterin. Das Gewerkschaftskomitee tut seine Pflicht... und so weiter... Du musst doch verstehen."
„Mach ihn fertig, Tante Awdotja! Sprich für uns alle hier im Raum!"
„Ruhe, ihr Trottel! Was ist aus meinen Schuhen geworden, die ich als Zuteilung bekommen habe?... Wie lange haben sie gehalten? Einmal ins Dorf, dreimal in die Kantine, Graupensuppe für die Schweine holen — und nun seht euch die Sohlen an!"
Sie zog einen Schuh aus und schleuderte ihn auf den Tisch. Mit seinem weit aufgerissenen Rachen stieß der Schuh Loschak vor die Brust.
Er nahm ihn seelenruhig in die Hand und betrachtete ihn interessiert von allen Seiten. „So, Tante, nun mal ruhig weiter im Text. Wir hören."
Aber Gromada hielt es nicht länger aus, er sprang auf und fuchtelte mit den Armen.
„Ich kann das nicht dulden, Genosse Loschak. Der Bürgerin fehlt's an Bewusstsein und so weiter ... Das ist eine Schande und eine Schmach."
„Ruhig Blut, Gromada! Ein tüchtiges Schwitzbad tut immer gut. Gleich werden wir uns mit ihr unterhalten. So, du armes, gekränktes Waisenkind, nun sag mal, für welche Arbeit hast du diese Schuhe bekommen?"
„Red mir keinen Knoten in den Kopf, du buckliger Gauner. Gearbeitet oder nicht, ein Paar Schuhe stehen mir zu."
„Ich frage dich: Für welche Leistung verlangst du denn mit Milch und Honig gepäppelt zu werden? Na? Gib auch den andern Schuh her. Sie sind dir aus Versehen zugeteilt ... Und deine Schweine werden requiriert wegen der Kantinensuppe, die dazu da ist, dass du dir den eigenen Wanst vollschlägst."
Awdotja bedrängte die Arbeiter und machte sie rebellisch.
„Verdammtes Weib!" schrieen die Arbeiter. „Passt auf, Jungs, dass eure Fassade ganz bleibt."
Mit derselben finsteren Ruhe nahm Loschak wieder den Schuh und hielt ihn über den Tisch.
„Da, nimm ... Lass ihn dir von deinem Alten reparieren und trag ihn weiter, zum Spaßen aber komm ein andermal her."
Awdotja riss ihm den Schuh aus der Hand, setzte sich auf den Fußboden und zog ihn hastig über ihren dicken Fuß.
Alles lachte.
Loschak ächzte, stemmte die Hände auf den Tisch und erhob sich. Lange ließ er seinen schweren Blick auf der Menge ruhen und ächzte dann noch einmal.
„Hört zu, Freunde: Ihr habt wohl nicht kapiert, wie die Sowjetmacht sich die ganze Sache denkt? Dem Bauern hat sie das Getreide weggenommen für den Krieg mit den Bourgeois, dem Bourgeois die Fabriken, wie zum Beispiel unsere. Aber Arbeit ist keine da. Den Bourgeois hat sie allen möglichen Krempel weggenommen und sagt: Da, ihr Arbeiter, teilt es unter euch auf, damit nichts verloren geht. Macht mit dem Zeug, was ihr wollt... Ich möchte damit nur sagen: Wenn wir die Fabrik erst wieder in Gang haben, dann wird alles anders."
Er setzte sich schwerfällig und finster.
Gleb hatte sich zum Tisch durchgeschlagen und salutierte. „Tag, Genossen! Bitte mich freundlich wiederaufzunehmen. Bin zu meiner Werkbank zurückgekehrt."
Gromada schrie auf, breitete die Arme aus und stürzte auf Gleb zu. „Loschak, Freund, siehst du denn nicht? Gleb Tschumalow! Unser Gleb! Tot und lebendig. Sieh doch, Loschak!"
Loschak blickte Gleb ebenso gleichgültig an wie die Arbeiter, die sich täglich von früh bis spät im Gewerkschaftskomitee herumdrückten. „Sehe schon. Ein neuer Trumpf in unserer Farbe! Die Schlosserei ist hin, Gleb, da werden jetzt Feuerzeuge fabriziert. Eine scheußliche Bude!"
Er zog mit Mühe seinen langen Arm unter dem Tisch hervor und streckte Gleb zögernd die schwere Hand hin.
Arbeiter aus verschiedenen Abteilungen umdrängten Gleb, staunten ihn verstört an wie einen von den Toten Auferstandenen, tauschten Blicke untereinander, murmelten und suchten seine Hände zu fassen. „Ja, Genosse Tschumalow. So sieht das nun bei uns aus. Die Herren sind jetzt wir, ja. Die alten Herren haben wir alle fortgejagt. Und nun — Scheibenkleister. Alles geht zum Teufel! Der eine klaut Daubenholz, der andere montiert das Messing von den Maschinen, der dritte schneidet die Treibriemen ab. Feine Herren sind wir!"
Gleb aber sah sie der Reihe nach an und nickte ihnen freudig zu. „Aah, Böttcher, Schmiede, Elektriker, Schlosser, Kumpels!"
Gromada zwängte sich mit einem Stuhl in den Händen durch die Menschentraube und stellte ihn voll Dienstbeflissenheit neben Gleb.
„Tretet zurück, Genossen! Macht dem Genossen Tschumalow Platz! Er hat für uns in der Roten Armee gekämpft. Und da er ein Arbeiter unserer großartigen Fabrik ist, müssen wir ihn überall mit der Hand an der Mütze grüßen. Hätte der Genosse Tschumalow nicht faktisch gelitten, wäre er nicht über die ,Grünen' zur Roten Armee gegangen und so weiter, dann hätten vielleicht viele nicht den Schritt getan, in die Reihen der KPR einzutreten. Jetzt wisst ihr's, Genossen, was der Genosse Tschumalow für uns bedeutet."
Erneutes Stimmengewirr, Zurufe von allen Seiten. „Noch mal heil davongekommen, Freundchen? Gut so. Hier kannst du dich jetzt erholen. Willst dich doch erholen, nicht? Ist ja sowieso alles flötengegangen."
Gromada aber schwang seine knochigen Arme und schrie mit überschnappender, krächzender Stimme: „Genossen, wir alle, die Arbeiterklasse, wir kämpfen darum, die Produktion zu meistern, aber Schmach und Schande, Genossen, was für Panikmacher wir sind. Wir haben an den Fronten gesiegt und alles liquidiert, und da sollen wir nicht die Kraft haben, wieder eine richtige Arbeit anzupacken?"
Gleb schwieg, er sah in die von Typhus gezeichneten Gesichter der Arbeiter, sah auf den ausgemergelten Gromada (russ.: Riese, Ungetüm), den kleinen Mann mit dem großen Namen, der eben so große Worte von sich gab, und auf den buckligen Loschak und empfand wieder schmerzlich, dass er auch hier nicht die Wärme und Herzlichkeit fand, von der er unterwegs die ganze Zeit geträumt hatte. Seine Ankunft war wohl für alle eine Überraschung, aber hinter ihrem Lächeln und Zurufen fühlte er Kälte und Entfremdung. Die Menschen schienen restlos ausgeglüht, ein für allemal erkaltet. Selbst in Gromadas Ausbrüchen lag etwas Gequältes, bis zur Lächerlichkeit Überspanntes, als bemühe er sich, um jeden Preis leidenschaftlich zu sein. In gewisser Weise ähnelten alle diese Leute Brynsa und Dascha. Aber vielleicht kam ihm das nur so vor, weil das eigentümliche Wiedersehen mit Dascha ihn so verstimmt hatte?
„Ja, Freunde, ihr habt hier keine Fabrik, sondern einen Schutthaufen. Was habt ihr bloß gemacht, Kumpels? Unsereins hat immerhin so etwas wie gekämpft, und ihr — was habt ihr vollbracht? Ist euch nichts Gescheiteres eingefallen als Ziegen und Feuerzeuge?"
In den hinteren Reihen lachte jemand heiser auf. „Wenn wir uns hier nicht drangehalten hätten, hol's der Geier, dann wären wir längst alle wie die Fliegen krepiert. So wichtig ist die Fabrik nun auch wieder nicht!"
Dieses Lachen und diese nüchternen Worte schmetterten Gleb nieder: sie enthielten jene Alltagswahrheit, die jeden Träumer umwerfen kann. War dies nicht auch der Grund, warum der Fanatiker Gromada mit seinem Enthusiasmus sich so lächerlich und gottserbärmlich ausnahm inmitten dieser groben, hungrigen Leute? Das bösartige Lachen, die Missachtung gegenüber ihrer Fabrik, gegenüber sich selbst und ihrer Pflicht als Arbeiter machten Gleb rasend. Er suchte sich zu beherrschen, musterte die Arbeiter, und das Blut stieg ihm zu Kopf.
„Na und? Dann wärt ihr eben krepiert, aber das Werk hättet ihr in Ordnung halten müssen. Man kann doch nicht sein eigenes Gut zerstören und sich selbst ausplündern."
„Hoho, das Lied kennen wir, damit haben uns schon ganz andere in den Ohren gelegen!"
Loschak schlug gleichmütig nach einer Fliege, die sich auf seine Stirn setzen wollte, und sagte mit seinem tiefen Bass:
„Gut, dass du wieder im Werk bist, Tschumalow. Wird sich auch für dich Arbeit finden. Werden das Kind schon schaukeln."
Gromada stierte Gleb mit brennenden Augen ins Gesicht und setzte immer wieder zum Sprechen an. Große Worte lagen ihm auf der Zunge, Worte, die er jedoch nicht bewältigen konnte.
Gleb nahm den Helm ab, legte ihn auf den Tisch und lächelte verlegen. In seinen Augen aber glomm noch die Wut.
„Da bin ich nun nach Hause gekommen, aber meine Frau hat nicht einmal ein liebes Wort für mich. Heutzutage erkennt man die eigene Frau nicht wieder. Alles ist zum Teufel. Trag mich wegen der Karten ein, Loschak, für Kantinenessen und Brot."
Die Arbeiter kamen in Bewegung, ihre Mienen hellten sich auf.
„Siehst du! Predigen kann jeder, aber der Bauch will essen. So ist's recht — bist unser Mann. Damit hättest du gleich anfangen sollen. Wer unter die Wölfe fällt, muss mit den Wölfen heulen. Der Bauch will eben essen."
Gromada redete hitzig auf die Arbeiter ein: „Genossen, Tschumalow ist doch einer von uns, gehört doch zu uns. Er hat an der Front gekämpft und so weiter ..." „Das ist ja auch unsere Rede. Der Bauch will essen."
Gleb stand auf und überflog die staubgraue Menge mit ruhigem Blick. Diese fast hölzerne Ruhe hatte etwas Verzweifeltes und gleichzeitig Bedrohliches.
„Genossen! Was wollt ihr mir eigentlich beweisen? Der Bauch hat gar nichts damit zu tun. Den Bauch soll der Teufel holen. Einen Kopf muss man auf den Schultern haben. Ihr aber habt euren Kopf verloren, denkt nur noch an euer bisschen Leben — ihr seid ja keine Arbeiter mehr! Mich kriegt ihr so schnell nicht unter. Bitte schön, schreit, soviel ihr wollt, schimpft mich einen Bauch oder sonst was — mich trifft das nicht. Ich habe euch noch nichts weggegessen. Aber ich schäme mich für euch. Eine solche Zersetzung ist schlimmer als Verrat. Ihr seid ja verrückt geworden, Genossen. Gut, ich bin gerade erst zurückgekommen ... Aber wohin bin ich denn gekommen? Nach Hause doch! Glaubt ihr, ich werde jetzt herumfaulenzen wie ihr? Nein, Herrschaften — ich werde kämpfen, was meine Kräfte hergeben. Ihr habt gedacht, ich sei verreckt? Irrtum — ich habe gekämpft und werde weiter kämpfen. Die Partei und die Armee haben mir befohlen: Geh zurück in dein Werk und schlage dich dort für den Sozialismus, wie du es an der Front getan hast."
Die Arbeiter blinzelten verwirrt und traten von einem Fuß auf den anderen.
„Bring Schwung in die Sache, Gleb, ganz meine Meinung. Recht hast du. Und mein Buckel wird's schon aushalten. Sehr recht!"
Gromada lachte, lief vor dem Tisch auf und ab und glühte wie im Fieber.
Durchs Fenster sah man einen würdigen alten Herrn mit silbergrauem Bart den zementierten Pfad heraufkommen, er ging vornübergebeugt und stützte sich schwer auf seinen Stock. Ingenieur Kleist! Wieder kreuzte er Glebs Weg — wie damals, in den Tagen des weißen Terrors. Hinauslaufen und vor ihn hintreten, Auge in Auge — das müsste jetzt gut tun. Der Alte wäre sicher zu Tode erschrocken.

 

II. Das rote Kopftuch

Der erloschene Herd

Tagsüber blieb Gleb zu Hause. Das verwahrloste Zimmer mit dem staubigen Fenster (selbst die Fliegen mieden es) und dem ungescheuerten Fußboden stieß ihn ab und beengte ihm die Brust. Gegen Abend schienen die Wände noch näher zusammenzurücken, und die Luft wurde noch stickiger.
Gleb irrte auf dem Werkgelände umher, stieg zu den Steinbrüchen voller Gestrüpp und Unkraut hinauf und fühlte sich hinterher immer wie zerschlagen.
Erst in der Nacht kehrte er heim. Dascha empfing ihn nicht wie in früheren Jahren.
Damals war das Zimmer freundlich und behaglich gewesen. An den Scheiben hatten sich die Mullgardinen gebauscht, und auf dem Fensterbrett leuchteten bunte Topfblumen.
Der gestrichene Fußboden hatte wie ein Spiegel geglänzt, das weißbezogene Bett sich weich gewölbt, ein duftiges Tischtuch zärtlich zum Bleiben eingeladen. Der Samowar hatte gesummt und das Teegeschirr leise geklirrt. Hier hatte einst Dascha gelebt, hatte gesungen, geseufzt, gelacht, von morgen geredet und mit der kleinen Njurka gespielt.
Der Gedanke tat weh, dass es dies alles einmal gegeben hatte. Jetzt verursachte der Anblick desselben Heimes voll Dreck und Schimmel Übelkeit.
Wie gewöhnlich kam Dascha erst nach Mitternacht.
Trübe brannte die blakende Petroleumlampe, und die Milchglasglocke am rußgeschwärzten Draht schwebte wie eine erfrorene Blume in der Luft.
Gleb lag auf dem Bett und beobachtete Dascha unter den Wimpern hervor.
Nein, das war nicht die Dascha von früher — jene Dascha war tot. Vor ihm stand eine ganz andere Frau, mit braungebranntem Gesicht und eigenwilligem Kinn. Das rote Tuch umloderte den Kopf und ließ ihn größer erscheinen.
Sie zog sich am Tisch aus, kaute an einer Brotrinde und sah nicht einmal zu ihm hin. Ihr Gesicht war müde und verschlossen.
Als Dascha von ihrer Dienstreise zurückkehrte, war sie sofort nach Hause geeilt, hatte Gleb jedoch nicht angetroffen: er hatte gerade die Bremsberge besichtigt. In der Nacht hatte sie ihn dann geschäftig umsorgt, hatte ein paar schneeweiße Süßstofftabletten auf eine Untertasse geschüttet, Mohrrübentee gebrüht und ihm mit schalkhaftem Blick ein Stück Butter zugeschoben — alles Dinge, die sie im Bezirksparteikomitee für ihn erstanden hatte. Beim Teetrinken hatte sie angeregt von ihrer Arbeit im Frauenausschuss erzählt und ihn dann gefragt, wie er die letzten drei Jahre verbracht und an welchen Fronten er gekämpft habe.
Dann hatten sie von Njurka gesprochen: Sie sei ein artiges kleines Mädchen und habe sich gut im Kinderheim eingelebt. Ihre Spielkameraden mochte sie gar nicht mehr missen. Als Dascha sie einmal an einem Feiertag nach Hause holte, habe sie die ganze Zeit ins Heim zurück gewollt. Dabei ließen die Kinderheime noch viel zu wünschen übrig, die Verpflegung sei mäßig — es gebe wenig Milch, keinen Zucker, und von Fleisch hätten die Kinder überhaupt keine Vorstellung. Das Personal sei unzuverlässig — jedem müsse man ständig auf die Finger sehen. Aber mit der Zeit werde schon alles werden, werde alles sich einrenken. Doch was habe er, Gleb, denn vor?
Er hatte gar nicht hingehört und lauter unpassende Antworten gegeben. Hatte sie nur angesehen und sich bemüht, sie zu begreifen, sich in sie einzufühlen, die frühere stillschweigende Ergebenheit in ihr wieder zu finden. Umschlungen hatte er sie, hatte sie dann auf die Arme genommen, war ungestüm geworden. Auch sie hatte ihn umarmt, in ihren Küssen jedoch war vorsichtige Zurückhaltung, und ihre ängstlich aufgerissenen Augen hatten streng geblickt. Da war er, rasend vor Leidenschaft, über sie hergefallen, sie aber hatte unfreundlich-nüchtern verlangt: „Aber warte doch! Halt mal! Einen Augenblick!"
Wie Ohrfeigen hatten ihn diese kalten Worte getroffen und zurückgeschleudert. Dascha aber war verletzt gewesen und hatte ihn mit Vorwürfen überhäuft: „Du erkennst mich nicht als Menschen an, Gleb. Warum siehst du in mir nicht den Kameraden? Ich habe manches Gute und Neue kennen gelernt, Gleb. Ich bin nicht nur Frau — nicht mehr. Versteh das doch. Während du weg warst, habe ich den Menschen in mir entdeckt und seinen Wert erkannt. War nicht ganz einfach. Hat mich viel gekostet, dieser Stolz. Dafür aber kann niemand ihn mehr brechen, auch du nicht, Gleb."
Er war wütend geworden und hatte sie rüde unterbrochen: „Ein Weib ist mir jetzt wichtiger als ein Mensch ... Bin ich verheiratet oder nicht? Habe ich ein Recht auf meine Frau, oder bin ich ein Trottel geworden? Was sollen mir deine Redensarten, verflucht noch mal!"
„Was ist das für Liebe, Gleb, wenn du mich nicht verstehst? Ich kann das nicht ertragen. Ich will nicht mehr so leben wie früher, bloß in den Tag hinein. Und mich einfach unterordnen wie die meisten Frauen, das liegt mir nicht."
Fremd und unnahbar, hatte sie ihn stehen lassen.
Die Entfremdung hatte seitdem mit jedem Tag zugenommen. Dascha war immer verschlossener geworden, und Gleb hatte wohl gesehen, dass sie sich quälte. Auch er hatte gelitten — an der ihm zugefügten Kränkung und an seinem Zorn darüber. Er war zu dem Schluss gekommen, dass jemand zwischen ihnen stehen müsse, dass Dascha in diesen Jahren wahrscheinlich einen anderen Mann gefunden habe und ihre Liebe nun nicht zwischen ihm und seinem unbekannten Nebenbuhler teilen wolle. Wie hätte er sich sonst ihre Unnachgiebigkeit erklären sollen? Hat sie in diesen drei Jahren den Mann entbehren müssen, dann kann es doch einfach nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn sie sich ihm nach seiner Rückkehr nicht ohne Besinnung hingibt. Wie dumm, nachts, unter seinen heißen Umarmungen Vorträge über den Menschen im Weibe zu halten! Dabei hatte er sehr wohl gemerkt, dass auch sie ihre Erregung nur schwer beherrschen konnte, dass ihr Herz stürmisch unter seiner Hand klopfte.
Da stand sie nun vor ihm — ferner noch als in den ersten Tagen. Wie lange sollte denn dieses Getue noch weitergehen, verdammt noch mal?
„Sag selbst, was soll ich davon halten, Dascha. Ich bin Soldat gewesen, ich habe keine freie Minute für mich gehabt. Nun bin ich nach Hause gekommen, und es steht mir bis zum Halse. Nächtelang liege ich wach und warte auf dich. Eine ganze Woche bin ich nun schon da, und du hast in dieser Zeit nur dreimal daheim geschlafen. Wir haben uns doch drei Jahre lang nicht gesehen."
Sie seufzte und lächelte weich. „Ja, drei Jahre, Gleb."
„Du kannst mich totschlagen, aber ich verstehe nichts. Erinnerst du dich noch an die Nacht, als wir uns getrennt haben? Weißt du noch, wie du mich in der Dachkammer bemuttert hast? Wie hast du geweint, als ich dann gehen musste! Wie oft habe ich daran gedacht. Dascha, was ist geschehen?"
„Ach, Gleb, es hat sich so vieles geändert!"
„Eben. Das meine ich ja."
„Sieh mal, Gleb, ich war damals ein dummes Ding. Ich schäme mich richtig, wenn ich daran denke."
„So. Dann bin ich also vergebens zurückgekommen, Dascha. Alles, was früher war, ist zum Teufel?"
Dascha blickte ihn aufmerksam an und wandte sich dann nachdenklich zum nachtdunklen Fenster um.
„Was willst du eigentlich, Gleb? Was hast du die ganzen Jahre gedacht? Du hast mich damals meinem Schicksal überlassen, und ich habe mich allein durchgebissen. Ich habe sogar gelernt, mich im Winter im ungeheizten Zimmer wohl zu fühlen — wir stecken doch in einer Brennstoffkrise —, ich habe mich daran gewöhnt, in der Kantine zu Mittag zu essen." Sie lächelte und fügte scherzhaft hinzu: „Du siehst, auch ich bin eine freie Sowjetbürgerin."
Gleb setzte sich im Bett auf, und seine Augen, die Tod und Blut gesehen hatten, weiteten sich erschrocken.
„Und Njurka? Soll dir als der freien Frau am Ende auch deine Tochter gestohlen bleiben?"
„Was für ein Blödsinn, Gleb!"
Sie nahm ihr Kopftuch ab und warf es auf den Tisch. Ihr kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar lockerte sich, ein paar Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Man hätte sie für einen Jungen halten können. Sie betrachtete Gleb ein wenig von oben herab, mit überlegener Nachsicht, und lächelte.
Draußen, in der Schlucht, seufzte ein einsamer Nachtvogel, unter dem Fußboden wühlten hungrige Ratten in Erde und Schotter.
„Na schön. Aber wenn ich nun morgen ins Kinderheim gehe und Njurka nach Hause hole? Was würdest du dazu sagen?"
„Bitte, Gleb. Du bist der Vater. Ich habe keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Aber wenn du Kindermädchen spielen willst — nur zu. Ich würde mich sehr freuen."
„Aber du bist doch die Mutter. Seit wann hast du dich in einen Kuckuck verwandelt? Steckst dein Kind weiß der Teufel wohin und jagst mit hängender Zunge durch die Gegend."
„Ich bin in der Partei, Gleb. Vergiss das nicht!"
Gleb erhob sich und ging zur Tür. Wieder glaubte er ersticken zu müssen. Die Wände erdrückten ihn, der Fußboden bebte und knarrte unter seinen Stiefeln.
Dascha nahm Kissen und Decke vom Bett, holte ein Laken aus der Kommode und bereitete sich auf dem Fußboden ein Nachtlager.
Dann machte sie rasch das Bett für Gleb zurecht.
Er musste endlich Klarheit gewinnen: Liebte sie ihn wie früher, oder war ihre Liebe gestorben und mit der Liebe auch die alte Dascha?
Wem hatten in diesen drei Jahren ihre Liebkosungen und ihr warmer Körper gehört? Hätte denn auch eine gesunde, kräftige Frau als taube Blüte leben können?
„Ja, Bürgerin, so ist das nun. Beim Abschied flossen die Tränen, beim Wiedersehen weiß man nicht, was sich sagen."
„Warum denn, Gleb? Ich möchte gern mit dir sprechen. Ich möchte dir viele gute Worte sagen. Aber du denkst immer nur an das eine."
Er hörte nicht auf sie und brummte: „Drei Jahre lang hab ich gedacht: Zu Hause wartet meine Frau auf mich. Und dergleichen mehr ... Nun bin ich heimgekommen — und bin Witwer geworden. Als ob ich nur im Traum verheiratet gewesen wäre! Du hast natürlich einen Mann gehabt — nur nicht mich."
Dascha drehte sich verblüfft zu ihm um, und ihre Augen blitzten zornig.
„Du hast wohl an der Front keine Mädchen gehabt? Sei ehrlich! Ich weiß ja nicht einmal, ob du gesund geblieben bist oder vergiftetes Blut mitgebracht hast."
Sie sagte das geringschätzig durch die Zähne, dabei aber sehr bestimmt. Gleb sah sich durchschaut, und das machte ihn verlegen.
„Na ja, an der Front passiert so manches. Man kann doch aber Mann und Frau nicht über einen Kamm scheren. Was der Mann darf, darf die Frau noch lange nicht."
Dascha hatte sich ausgezogen, ging aber nicht zu Bett; sie lehnte ungeniert an der Wand. Mit wissendem Blick maß sie Gleb von Kopf bis Fuß und murmelte wieder geringschätzig durch die Zähne: „Das ist ja reizend! Bei der Frau liegt die Sache anders. Ein beneidenswertes Los ist ihr zugefallen — Sklave hat sie zu sein ohne eigenen Willen, nicht Leitpferd, sondern Beipferd. Nach welchem Abc hat man dir den Kommunismus beigebracht, Genosse Gleb?"
Er erkannte sie nicht wieder; eine ganz neue Kraft ging von ihr aus. Ihre unerschrockene Offenheit brachte ihn außer Fassung. Hätte sie es früher gewagt, in so selbständigem Ton mit ihm zu sprechen? Sie hatte einst gedacht, was er dachte, und sich ihm rückhaltlos untergeordnet. Woher nahm sie heute diesen Mut und dieses Selbstbewusstsein?
Er trat auf sie zu und sah ihr ins Gesicht. „Also ist es wahr? Ja?"
Draußen vor dem Fenster, im Sternenschein, lag dumpfe Stille, trotz Gezirp und nächtlichem Klingen. Hinter dem Werk, bei den Anlegestellen, seufzte das Meer in phosphoreszierendem Dunst das Klagelied der Brandung.
„Ich frage dich nicht nach deinen Frontliebchen, Gleb, was gehen dich meine Liebsten an?"
„Lass dir gesagt sein, Dascha — ich kriege es raus. Ich komme dir auf die Schliche. Merk dir das!"
Sie löste sich von der Wand, ihre Augen funkelten. „Vorsicht, Gleb. Auf Stirnrunzeln verstehe ich mich nicht schlechter als du."
Wo nahm sie diese Frechheit her? Wo hat sie gelernt, den Kopf so stolz zurückzuwerfen und einen Schlag mit dem Blick zu parieren?
Nicht die Kriegsereignisse, nicht der Hamstersack auf dem Buckel, nicht die üblichen Weibersorgen hatten Dascha zu sich selbst finden lassen und ihren Charakter gestählt, sondern der Gemeinschaftsgeist, die Hochglut der letzten Jahre, die harten Prüfungen und das schwere Frauenlos.
Der Boden wankte ihm unter den Füßen. Er fühlte, dass er lächerlich dastand. Seine Ohnmacht machte ihn rasend; er fasste ihre Hände und presste sie zusammen, dass die Gelenke knackten. Sie verriet mit keiner Miene, wie weh es ihr tat.
„Hände weg, Gleb! Hörst du! Lass los!" Er packte sie um den Leib und warf sie aufs Bett. Sie nahm alle Kraft zusammen, um sich loszureißen, ihr entblößter Körper wand sich ohne alle Scham in seinen Armen. Schließlich stieß sie Gleb mit einem geschickten Fußtritt zu Boden und sprang rasch vom Bett auf. Blass, keuchend, strich sie ihr Hemd glatt und sagte voller Verachtung: „So lasse ich nicht mit mir umspringen, Gleb. Du kennst mich noch nicht von dieser Seite? Lern mich kennen, es kann nicht schaden. Ein feiner Bolschewik bist du! Ein tüchtiger Kämpfer! Nicht einmal zu Verstand bist du im Krieg gekommen."
Er saß bezähmt auf dem Fußboden und knirschte mit den Zähnen.
„Mach das Licht aus, Gleb, und leg dich hin! Kühl dich ab. Jetzt bist du nicht fähig, zu denken. Wir kommen heute sowieso zu keinem Ergebnis."
„Ich begreife nichts, Dascha. In meiner Brust brennt es wie Feuer."
„Leg dich hin und beruhige dich, Gleb. Ich bin todmüde. Morgen muss ich wieder aufs Land. Immer wieder Banditen, Überfälle."
Sie ging selbst zum Tisch und löschte die Lampe. Er hörte, wie sie sich niederlegte und mit dem Bettzeug raschelte, dann wurde es still. Gleb war elend zumute — vor Kränkung und Scham. Am liebsten hätte er sich auf sie geworfen, sie geschlagen, ihr weh getan und — geweint, unter Tränen um Zärtlichkeit gebettelt. Lange lagen sie schweigend und unbeweglich. Er erwartete, erhoffte immer noch, dass sie aufstehe, zu ihm komme und sich, ohne ein Wort zu sagen, zärtlich an ihn schmiege. Aber sie rührte sich nicht, und er hörte nicht einmal ihren Atem.
„Dascha, Liebste! Quäl mich doch nicht. Warum bist du so spröde?" Sie griff nach seiner Hand und legte sie an ihre Brust.
„Lieber, nimm dich zusammen, beruhige dich. Versuchen wir uns doch ein wenig zu verstehen. Hab Geduld, Lieber. Mir fällt das alles auch nicht leicht. Aber es gibt da manches, das man durchdenken muss. Ich habe mich nur nach dir gesehnt, die ganzen drei Jahre."
Der Himmel war voller Sterne. Fernes Donnergrollen kam aus den Bergen. Es war das Lied des Waldes, den der nächtliche Nordost in den Schluchten zauste.

Das Kinderheim

In der Frühe merkte Gleb, noch halb schlafend, dass das Zimmer von Sonne überflutet war. Zwischen Tür und Fenster zogen Frühlingslüfte hin und her. Dascha stand am Tisch und band sich ihr feuerrotes Tuch um den Kopf.
Sie sah zu ihm hinüber und lächelte. „Inzwischen habe ich schon einen Bericht über die Kinderkrippen ausgearbeitet, Gleb. Auch der Kostenanschlag ist fertig — nur Geld ist keins da. Was sind wir doch für arme Schlucker! Man müsste die Bourgeoisie mal ein bisschen ausquetschen. Aber halt mal! Du warst ja noch gar nicht bei Njurka. Wollen wir zusammen ins Kinderheim gehen? Es ist nicht weit von hier!" „Du, Dascha, komm doch mal her!"
Dascha trat zu ihm, eine ironische Frage in den morgenfrischen Augen. „Da bin ich. Nun?" „Gib mir deine Hand! So."
Beide schwiegen, lächelten sich an, schienen einander ins Herz sehen zu wollen. „Der Teufel soll schlau aus dir werden: Du wirkst wie die alte und bist doch wieder neu. Vielleicht bin ich auch kein Schlosser mehr? Schön, man lernt immer dazu. Jetzt scheint sogar die Sonne anders als früher."
„Ja, Gleb, vielleicht tut sie es wirklich. Alles hat sich verändert — das stimmt. Auch du bist anders geworden — jünger oder auch älter, ich weiß es nicht. Bei mir jedenfalls hat sich das Unterste zuoberst gekehrt. Siehst du, auf mich hast du Wut und bist doch nur selber schuld. Noch kein einziges Mal hast du dich erkundigt, wie ich gelebt habe, durch welches Feuer ich gegangen bin. Wenn du dich nur ein bisschen in mich einfühlen würdest, dann wärst du bestimmt nicht so grob zu mir. Ach, du bist mir schon ein Held!"
Sie lachte auf und rannte hinaus auf die Treppe. „Los, mach dich fertig! Ich warte."
Auf dem Weg zum Kinderheim lief Dascha die ganze Zeit voraus. Die Sträucher und Hecken, die den Pfad säumten, verbargen sie manchmal: das rote Kopftuch erlosch und loderte wieder auf.
Das Kinderheim „Krupskaja" lag in einer Talsenke zwischen Obstbäumen. Die wuchtigen Mauern waren aus rohen Felsbrocken gebaut und mit Zementmörtel zusammengefügt. Die hohen Fenster standen weit offen; aus der dunklen Leere dahinter drang vielstimmiges Gezwitscher. Eine massive Freitreppe, mit Zementvasen auf Sockeln, führte zum ersten Stock hinauf. Wie reife Melonen glänzten auf der Veranda die Kinderköpfchen im Sonnenschein. Die kleinen Gesichter sahen von weitem leichenhaft eingefallen aus. Waren es Jungen oder Mädchen? Es ließ sich nicht unterscheiden; alle trugen lange graue Hemden. Auch die Pflegerinnen waren in Grau, hatten nur weiße Kopftücher um und vergingen unter der sengenden Sonne.
Zur Rechten aber, zwischen und über den Gebäuden, glitzerte das Meer in blendendem Azur.
Wie ein schwarzer Wasserkäfer lief von der Anlegestelle ein Hafenkutter aus. Die Stadt und das Gebirge waren scharf umrissen und in greifbare Nähe gerückt.
Berge, Meer, Werk, Stadt, alle Weiten hinter dem Horizont — ganz Russland —, das sind wir. All dieses Riesige — die Berge, das Werk, die Weite —, alles singt im Innern von gewaltiger Arbeit. Erbeben unsere Hände nicht im Vorgefühl harten, beharrlichen Zupackens? Schlägt das Herz nicht Sturm unter den Stößen des Blutes? Das ist das Russland der Arbeiter, das sind wir, das ist der neue Planet, von dem die Menschheit jahrhundertelang geträumt hat.
Dascha war an der Treppe stehen geblieben und lächelte ihm entgegen.
„Was für eine herrliche Luft, Gleb, so herrlich wie das Meer! Frühling! Njurka wohnt im ersten Stock."
Wieder war sie ihm um einige Stufen voraus. Man merkte ihr an, dass sie sich hier wie zu Hause fühlte.
Von der Veranda aus beobachtete Gleb eine Schar ausgemergelter Kinder, die zwischen den Büschen und den spärlichen Obstbäumen umherflitzten. Sie warfen sich auf die Erde, wühlten mit gieriger Hast und diebischen Seitenblicken. Sie wühlten und rissen einander die Beute aus den Händen. Einige stöberten im Misthaufen am Zaun.
Gleb war erschüttert; er wies mit dem Kopf auf die Kinder und sah Dascha starr ins Gesicht. „Sie verhungern euch hier noch alle, Dascha. Erschossen müsstet ihr werden für eure Arbeit."
Dascha hob verwundert die Brauen, sah hinunter und lächelte. „Ach, du meinst die Wühlerei? Nicht halb so gefährlich, es gibt Schlimmeres. Wenn wir nicht so aufpassten, wären sie uns längst alle wie die Fliegen gestorben. Als wir die Heime aufmachten, hat es überhaupt nichts zu essen gegeben. Und wenn man dem Personal nicht auf die Finger sähe, wäre es den Kindern schon an die Kehle gegangen. Das heißt, es gibt auch Anständige darunter, schon unsere Schule."
„Und Njurka? Wühlt sie auch so in der Erde und im Mist wie diese hungrigen Ferkel da?"
„Ist Njurka denn etwas Besseres als die anderen? Ihr ist es auch oft dreckig gegangen. Ohne unsere Frauen wären die Kinder vor Läusen und Seuchen umgekommen."
Während Gleb und Dascha den Berg heruntergekommen waren, hatten sie noch Kinder auf der Veranda gesehen. Nun aber waren alle verschwunden, auch die Pflegerinnen. Sie waren wohl fortgelaufen, um die Ankunft von Gästen zu melden.
In dem Saal stand prall die Sonne, die Luft war drückend heiß. Auf den Betten, die in zwei Reihen aufgestellt waren, lagen weiße und rosa Decken voller Löcher und Flicken. Die Kinder hatten graue Kittelhemden an, die wie Säcke aussahen. An den Wänden hingen selbstgemalte Bildchen aus den Arbeitsgemeinschaften der Kleinen.
Einige Pflegerinnen blieben ehrerbietig stehen. „Guten Tag, Genossin Tschumalowa, die Leiterin kommt gleich." Dascha war hier in ihrem Reich. „Njurka, da bin ich, Njurka!"
Eines der Mädchen in grauem Kittel, das kleinste von allen, lief Dascha kreischend und lachend entgegen. Die anderen Kinder kamen genauso kreischend hinterher gerannt. „Tante Dascha ist da! Tante Dascha ist da!"
Njurka! Wie hatte sie sich verändert, der kleine Racker, nicht wieder zu erkennen! Ganz fremd mutete sie ihn an, und doch wieder vertraut.
Sie flog auf die Mutter zu und vergrub sich in ihrem Rock. „Mama! Meine Mama!"
Dascha schloss sie lachend in die Arme, drehte sich mit ihr im Kreise und küsste sie ab.
Das war wieder die alte Dascha, die Dascha, die ihn einst jeden Abend mit der Kleinen erwartet hatte. Die gleiche Zärtlichkeit, die gleichen feuchtschimmernden Augen, die gleiche singende, nervös vibrierende Stimme.
„Sieh mal, Njurkalein, das ist dein Papa. Sieh doch! Erinnerst du dich noch an deinen Papa?"
Njurka sah Gleb mit ihren blauen Augen scheu an und zog ein finsteres Gesicht.
Gleb lachte, streckte ihr die Hand hin und fühlte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte.
„Gib mir einen Kuss, Njurkalein. Wie groß du bist! Bald so groß wie die Mama."
Das Kind wich vor ihm zurück und sah wieder forschend die Mutter an.
„Das ist Papa, Njurka."
„Nein, das ist nicht Papa. Das ist ein Rotarmist."
„Aber ich bin doch beides — dein Papa und Rotarmist."
„Nein, das ist nicht mein Papa." Dascha lächelte unter Tränen.
„Na schön, fürs erste bin ich eben nicht dein Papa. Aber mein Töchterchen bist du trotzdem. Wir wollen Freunde sein, wir beide. Das nächste Mal bringe ich dir Zucker mit. Ganz bestimmt, und wenn ich den Berg danach umgraben müsste. Ist denn die Mama besser als ich? Du bist hier — sie aber ist dort."
„Mama ist hier. Am Tage ist sie hier, und auch wenn es nicht Tag ist. Aber Papa ist fort. Ich weiß nicht, wo Papa ist. Papa schlägt sich mit den Burschos."
„Oh, das hast du aber fein gesagt! Komm, dafür kriegst du einen Kuss."
Die Kinder starrten Gleb neugierig an, lachten und warteten sehnsüchtig darauf, dass Tante Dascha sich auch mit ihnen beschäftige. Die Mädchen, kahl geschoren wie Jungen, hielten Veilchensträußchen in den Händen und streckten sie ihr um die Wette hin; jede wollte ihr als erste die Blumen in die Hand drücken.
„Tante Dascha! Tante Dascha!"
In einem abgelegenen Zimmer trommelte jemand auf dem Klavier, und ein Kinderchor sang in allen Stimmlagen:
Wacht auf, ihr Kinder neuer Ordnung, befreite Jugend aller Welt...
Dascha lachte, streichelte den Kindern die Köpfchen, und man merkte, dass die Kleinen es gewöhnt waren, von ihr geliebkost zu werden, und darauf warteten wie auf das tägliche Brot.
„So, ihr Rangen, was habt ihr heute gegessen, was habt ihr getrunken, wessen Bäuchlein ist voll, wessen leer? Erzählt mal!"
Sie schrieen durcheinander, kratzten sich den Bauch und den Kopf. Ein schmuddliges kleines Kerlchen zog die Nase hoch, schluckte den Schleim hinunter und scheuerte sich ächzend die Brust, die Augen weit aufgerissen. Gleb trat zu ihm und hob sein Hemd hoch. Der Kleine brüllte los, rannte in eine Ecke und drückte sich hinter die Betten. Man sah nur noch seinen Kopf und die weitaufgerissenen Augen.
„Trat-ta-ta-ta! Was für ein grimmiger Held — immer gleich rauf auf die Barrikaden!"
Alles lachte. Und durch die offenen, türgroßen Fenster lachte die Sonne herein.
Dascha nahm Njurka bei der Hand und ging voraus. Gleb empfand schmerzlich, dass er auch hier fremd war. Njurka an der Hand, mitten unter den Kindern, ließ Dascha ihre Stimme ertönen wie ein Glöckchen. Er aber war einsam und kinderlos, hier nicht minder als zu Hause.
Ja, auch hier wollte das Leben zurückerobert werden ... Sie gingen durch alle Stockwerke. Im Speisesaal — Essgeschirr und Kinder; in der Küche — Dampf, Graupendunst und auch wieder Kinder; dann der Klubraum — ohne Möbel, die Wände voller Schimmel und selbstgepinselten Bildchen. Hier umdrängte der Kinderchor ein junges Mädchen mit kurz geschnittenem Haar und einem braunen Muttermal über die ganze Wange und sang durcheinander:
Wacht auf, ihr Kinder neuer Ordnung, Erbauer der geeinten Welt...
Auch die beiden Nachbarinnen, die Domacha und Lisaweta, arbeiteten im Kinderheim mit. Sie muteten Gleb ebenfalls wie etwas Neues, noch nie Gesehenes an. Die Domacha war in der Küche und half beim Kochen. Erhitzt, mit aufgekrempelten Ärmeln wirtschaftete sie herum, als sei sie hier zu Hause. Sie empfing Dascha mit Küssen.
„Aha, unsere Atamanin ist gekommen. Du musst dir dieses ekelhafte Volksbildungskommissariat mal vorknöpfen. Sie sollen was tun und nicht nur in die Rotzlappen schnauben! Aber erst die vom Versorgungskomitee, die müsste man mit dem Schädel an die Wand hauen. Wo gibt's denn so was, dass man Kinder mit Würmern und Mäusedreck füttert? Was, der Herr Gemahl ist wieder da? Schaff ihn dir vom Halse! Meiner ist nicht zurückgekommen — um so besser! Hol's der Teufel! Mach mir nicht bange mit deiner Trichterhaube! Aber ins Versorgungskomitee gehe ich selbst und trete ihnen mit dem Stiefel in die Fresse."
Dascha klopfte ihr auf den breiten Rücken und lachte. „Na, du schnatterst ja mal wieder was zusammen. Ein tolles Weibsstück bist du, Domacha, uff!"
„Der ganzen Bande dort müsste man die Zähne einschlagen. Solche Höllenhunde, denken nur immer an den eigenen Wanst. Ich werde ihnen allen den Hintern versohlen." Gleb lachte.
Lisaweta fanden sie in der Speisekammer bei der Wirtschaftsleiterin. Beide waren hochgewachsene, stolze Frauen, waren sauber gekleidet und sahen wie Krankenschwestern aus. Die Wirtschaftsleiterin war dunkel, mit einem kleinen armenischen Schnurrbärtchen, Lisaweta weißblond und füllig (trotz Hungersnot und Verfall!). Sie prüften Lebensmittel auf ihr Gewicht hin und machten sich Notizen.
Lisaweta behielt auch bei Daschas Erscheinen ihre stolze Haltung bei, nur in ihren Augen blitzte kurz ein Lächeln auf.
„Guck mal in die Kleiderkammer, Dascha. Bei der letzten Wäsche hat sich alles in Fetzen aufgelöst. Die Kinder haben nichts zum Wechseln. Sie gehen in die Berge Holz sammeln, aber die Arbeiter haben schon alles aufgelesen. Wir wissen nicht, wie wir unsere Graupen kochen sollen. Wem muss man nun eins auf den Deckel geben?"
Dascha notierte sich Domachas und Lisawetas Auskünfte, eine Kummerfalte auf der Stirn.
„Genossin Lisaweta, du wirst alle Heime inspizieren und dem Frauenausschuss darüber berichten. In der Erde wühlen — schön, ohne das geht's noch nicht. ,Auf den Deckel geben' aber — ohne das geht's auch nicht."
Einmal hatte Lisaweta auch einen Blick auf Gleb geworfen, ihn dann aber nicht weiter beachtet.
Wieder begegneten ihnen auf Schritt und Tritt Frauen mit und auch ohne Kopftuch. Alle lächelten Dascha ehrerbietig und einschmeichelnd zu, während sie Gleb argwöhnisch von der Seite musterten. Wer war das? Doch nicht etwa einer von diesen aufdringlichen Revisoren, die man genau beäugen musste, um ihre schwachen Seiten herauszufinden?
Gleb haschte nach Njurkas Hand und bat: „Gib mir doch das Händchen, Njurkalein! Der Mama gibst du's, warum denn mir nicht?"
Sie versteckte ängstlich ihre Hände. Doch als er die Kleine dann wie zufällig auf den Arm nahm und küsste, gab sie den Widerstand plötzlich auf und sah ihm zum ersten Mal aufmerksam und bedachtsam ins Gesicht. „Ihre Njurka ist ein prächtiges Mädchen."
Die Heimleiterin hatte es gesagt, eine wendige, nicht zu fassende flinke Maus mit funkelnden Augen und Goldzähnen.
Dascha sah an ihr vorbei, ihr Gesicht wurde wieder streng und hart.
„Was heißt hier — meine Njurka. Hier sind alle gleich. Alle sollen prächtig sein ..."
„Ja, gewiss, gewiss! Wir tun ja alles für die Proletarierkinder. Die Proletarierkinder müssen wir jetzt in den Mittelpunkt unserer Sorge stellen. Der Sowjetmacht ist so sehr daran gelegen."
Gleb knirschte mit den Zähnen. Dummes Geschwätz! Man sollte mal untersuchen, was für ein Element das ist!
Und dann kamen Klagen, Klagen, Klagen.
Auch auf die Klagen antwortete Dascha streng und unfreundlich, solche Sprache hatte Gleb früher nie von ihr gehört.
„Ich bitte Sie, jammern Sie nicht, Genossin Heimleiterin! Weisen Sie Tatsachen vor, aber jammern Sie nicht. Auf Gejammer kommt es hier nicht an." „Aber nein doch, nein doch, Genossin Tschumalowa, gewiss nicht! Mit Ihnen ist so schön, so angenehm zu arbeiten!"
Dascha schaute in alle Ecken, steckte ihre Nase überallhin, hörte nicht auf zu fragen. Schließlich riss ihr die Geduld, und sie drang auch in die Räume des Personals ein.
„Ach, so-o ist das also! Wie kommen denn Sessel, Lehnstühle und Sofas hier in diese Zimmer? Und Blumen sind auch da und Bilder und Plastiken, und was noch alles! Ich habe doch gesagt: man darf den Kindern nichts entziehen. Das ist eine Gemeinheit! Glauben Sie, die Kinder würden sich nicht auch gern auf Sofas und Teppichen herumwälzen? So geht das nicht!"
„Ja, sehen Sie, Genossin Tschumalowa... Sie haben natürlich recht. Aber die pädagogische Praxis ... Das ist doch schädlich, erzieht zur Faulheit. Und dann der Staub und die Ansteckungsgefahr."
Aus den Augen der Heimleiterin zuckten nadelspitze Blitze, Dascha aber sah sie gar nicht an und sprach mit unveränderter Stimme weiter, auf ihren Wangen brannten rote Flecke.
„Ich pfeife auf Ihre Praxis! Unsere Kinder haben wie die Schweine gelebt. Doch jetzt sollen sie Licht haben und Luft und weiche Möbel und Bilder. Alles müssen wir ihnen geben, alles, was wir nur können. Den Klubraum einrichten und ausschmücken. Sie sollen essen, spielen, sich der Natur freuen. Für uns nichts, für sie — alles! Und wenn wir's uns aus den Rippen schneiden, her muss es! Damit das Personal nicht faulenzt, stecken wir es am besten in elende Kammern. Streuen Sie mir gefälligst keinen Sand in die Augen, Genossin Heimleiterin. Ihre Praxis ist mir klar, und manches andere auch."
Die flinke, wendige Maus ließ die Goldzähne funkeln und lachte verzückt, doch in ihren Augen blitzten Nadelspitzen.
„Aber wer zweifelt denn daran, Genossin Tschumalowa? Ihr Scharfsinn und Ihre Aufmerksamkeit sind selten für eine Frau. Unter Ihrer Leitung wird alles gut, alles ausgezeichnet gehen."
Beim Abschied überschüttete Dascha Njurka von neuem mit Liebkosungen, und die anderen Kinder schrieen wieder durcheinander und umringten sie.
Njurka betrachtete Gleb mit einem langen, nachdenklichen Blick. „Möchtest du nach Hause, Njurkalein? Spielen wie früher und bei Papa und Mama bleiben."
„Meine Mama ist hier. Da ist sie. Aber mein Papa ist nicht da. Mein Bett steht dort drüben. Wir haben gerade Milch getrunken und spazieren gleich los, mit Musik."
Zum ersten Mal umarmte sie Gleb, anschmiegsam und scheu. In ihren Augen, den Augen ihrer Mutter, glommen die Funken einer unbeantworteten Frage.
Bis zur Chaussee sprach Dascha kein Wort. Auf ihrem Gesicht lag noch ein Abglanz warmer Zärtlichkeit. An der Landstraße sagte sie dann bedauernd: „So, ich muss jetzt zum Bezirkskomitee. Wir haben viel zu tun, ich komme erst spät nach Hause. Für uns im Frauenausschuss reichen vierundzwanzig Stunden am Tag nicht mehr aus. Mit den Kindern kommen wir zurecht, aber die verfluchten Weiber müssen wir bearbeiten. Wenn man nicht überall seine Augen hätte, die raubten alles bis zur letzten Krume... eigenhändig! Wahre Knechtsseelen! Ja! Überall Feinde. Mein Gott, wie viele Feinde! Die Bande mit den Goldzähnen, von der ist nichts anderes zu erwarten, aber unsere eigenen Leute, unsere eigenen, Gleb! Die reinsten Knechtsseelen! Na, was meinst du denn dazu, wenn man ein bisschen bei den Bourgeois requirierte?"
Gleb hielt es kaum noch aus: Das war eine fremde, neue, nie gesehene Frau.
Mürrisch, fast feindselig, sagte er: „Werde es mir überlegen. Das ist nicht so einfach zu entscheiden. — Kommt ganz darauf an, was das Gouvernementskomitee dazu sagt."
Dascha runzelte die Stirn, lächelte, und ihr Kinn zitterte leicht. Sie sah ihn an, prüfend — mit Antwort heischendem Blick, er aber schaute finster zur Seite.

 

III. Das Bezirkskomitee der Partei

Genosse Shuk, der Quengler

Der Palast der Arbeit, eine klobige, einstöckige Backsteinkaserne, stand am Kai dicht bei dem langen, durchsichtigen Steg, der mit seinen schwarzen Pfählen weit in die Bucht hinausreichte. Eine Betonmauer ging wie ein durchbrochenes Band an beiden Seiten von der Fassade ab und trennte den Kai vom Eisenbahngelände. Durch die Breschen und Spalten der Mauer sah man die rostigen ausgefahrenen Gleise wie eiserne Nervenstränge sich hinziehen und verzweigen. Lagerschuppen schoben sich bis zum Bahnhof, und in der Ferne schauten wie altertümliche Türme von den Abhängen der Vorberge die moosbewachsenen Aufbauten des Getreidespeichers herunter. Sein wuchtiger Unterbau am Fuß des Gebirges glich einem gigantischen Tempel.
Auf der Fahrstraße längs der Mauer polterten Fuhrwerke. Die grauen Anlegekais mit den zyklopischen Ringen zum Vertäuen der Frachter, mit den unter Schrott und Wagenskeletten glitzernd hervorschimmernden Schienenwegen sowie die verödeten Landzungen und Molen teilten die Bucht in verschiedene Becken. Weiter draußen aber spielten im Frühlingsnebel regenbogenfarbene Schleier über dem Hafen, und die weißen Segel von Fischerbooten blitzten wie Möwen. Delphine furchten das Wasser mit ihrem Stiernacken, und eine Meeräsche tummelte sich silbersprühend in der Sonne.
Verlassener Hafen, verlassenes Meer. Auf welchen Ge-
wässern, vor wessen Küsten kreuzen unsere einstigen Schiffe jetzt?
Vor dem Palast der Arbeit mit seiner Pyramide von Stufen vor dem Portal waren einst Blumenrabatten und große Kastanien gewesen. Jetzt gab es keine Blumen mehr, die Einfriedung war zerstört, und die Kastanien hatte man umgehauen und verheizt.
Auf dem wehenden Rot der Fahne hoch über dem Dach leuchteten immer von neuem wie weiße Kamillen die Buchstaben RSFSR auf und erloschen wieder.
Gleb betrat den Korridor. Geradeaus, im Sitzungssaal, waren Fahnen und Transparente zu sehen. Ein anderer Korridor — dunkel und staubig — kreuzte den ersten; rechts war das Bezirkskomitee, links das Gewerkschaftskomitee untergebracht.
Die Luft war mit Tabaksqualm verpestet. Die Wände waren dreckig, voller Flecken, und an manchen Stellen war der Putz abgebröckelt. Überall lungerten Arbeiter mit verhungerten Gesichtern herum, verbittert oder demütig, und dazwischen flitzten sehr beschäftigte Leute hin und her.
Von nebenan und von weiter her, aus allen Räumen, drangen Stimmengewirr und Gelächter, Schreibmaschinen klapperten, Gewehrschlösser knackten — letzteres wahrscheinlich bei der Abteilung zur besonderen Verwendung.
Gleb bog rechts ein.
Hinter der Glastür zum Bezirkskomitee standen zwei Männer. Auf den quadratischen Milchglasscheiben zeichneten sich die Umrisse ihrer Gesichter scharf ab. Der eine war glatzköpfig und hatte eine türkische Nase. Seine Oberlippe war kurz, der Mund in einem Lächeln halb geöffnet. Der andere war stupsnasig mit niedriger Stirn und dickem Kinn.
„Schimpf und Schande, liebe Genossen! Schimpf und Schande, eine Schmach!"
Das sagte der Stupsnasige in anklagendem Ton.
„Der Amtsschimmel hat uns aufgefressen, der Bürokratismus."
„Sie irren sich, Genosse Shuk. Nicht das ist wichtig, durchaus nicht das. Wir haben viele Feinde, Genosse Shuk. Erbarmungsloser Terror ist nötig, sonst schwebt die Republik zwischen Leben und Tod. Das ist es, was man bedenken sollte. Ich verstehe Sie, Genosse Shuk, aber die Sowjetmacht braucht einen stabilen, bewährten Apparat, meinetwegen einen bürokratischen Apparat... aber er muss verlässlich arbeiten!"
„Auch du ... Alle durch die Bank — alle neigt ihr dahin. Und wo bleibt die Arbeiterklasse? Ach, lieber Genosse Serjosha! Es tut einem in der Seele weh."
„Jetzt gibt's nur eins, Genosse Shuk: die Arbeit unter den Massen, Arbeit, Arbeit. Die Massen müssen unverzüglich den ganzen Apparat der Republik durchdringen, bis in die oberste Spitze. Das geflügelte Wort des Genossen Lenin von der Köchin, die den Staat lenken soll, muss zu einer alltäglichen Tatsache werden. Darauf kommt es an — nur darauf. Und Sie haben unrecht."
„Ach, Serjosha! Bist ein der Sache ergebener Kommunist, wie man so sagt, aber ein blinder. Man muss mehr Herz haben für die Arbeiterklasse, und was die Feinde angeht — hol sie der Teufel —, haben wir sie verdroschen, werden wir sie weiter verdreschen."
Gleb erkannte in dem stupsnasigen Quengler seinen alten Freund, den Dreher Shuk aus dem Werk „Schiffsstahl". Der hatte sich also nicht verändert, zeterte und beschwerte sich wie vor drei Jahren.
Gleb trat ins Zimmer und schlug Shuk auf die Schulter. „Grüß dich, Freund! Keifst du? Entlarvst du? Immer noch die alte Leier? Wann hörst du endlich damit auf? Kommandieren muss man, und du — du flennst, du Stupsnase."
Shuk quollen vor Verblüffung die Augen aus den Höhlen. Pfeifend zog er die Luft ein und stieß sie wieder aus.
„Lieber Genosse ... Gleb! Verdammter Kerl! Alter Haudegen! Verflucht und zugenäht!" Er warf sich auf Gleb und umarmte ihn.
„Ja, bist du das wirklich? Freund! Na, jetzt werden wir zwei es allen zeigen! Werden jeden an seinen Platz stellen. Von welchem Planeten bist du denn runtergefallen, he? Serjosha, sieh ihn dir an — das ist mein allerbester Freund, mein Bluts- und Leidensbruder."
Gleb und Sergej reichten sich flüchtig die Hand, schoben zögernd ihre Finger ineinander, wie Menschen, die sich fremd sind. Sergejs Händedruck verriet Weichheit und mädchenhafte Scheu. Um seine Glatze kräuselten sich rotblonde Locken, und aus seinen Augen strahlte ein Lächeln. Man wusste nicht recht, war es spöttisch oder verlegen.
„Ich kenne Sie schon, Genosse Tschumalow. Als Sie sich neulich registrieren ließen, habe ich Sie gesehen. Im Bezirkskomitee wurde von Ihnen gesprochen. Sie kommen wie gerufen. Gehen Sie zum Sekretär, Genosse Tschumalow. Dort findet zwar eine Sitzung statt, aber der Sekretär hat angeordnet, Sie unverzüglich herzubestellen. Gehen Sie. Er heißt Shidki."
„Bring ihn doch hin, Serjosha, auf so was verstehst du dich. Ich komme auch mit — will sehen, wie sie mit ihm fertig werden."
„Ich habe keine Zeit, Genosse Shuk. Gleich haben wir Besprechung in der Agitprop, dann ist Sitzung in der Abteilung Volksbildung, und dann muss ich noch ein Referat halten."
„Ach, Serjosha! Bist ein gebildeter Mensch, aber schlimmer als ein Mönch — vor lauter Demut und Gehorsam."
Am Tisch direkt vorm Fenster saß die Genossin Mechowa, Vorsitzende des Frauenausschusses, den Bleistift in der Hand. Sie trug ein blaues Russenhemd. Unter ihrem roten Kopftuch guckte lockiges Haar hervor und schimmerte in der Sonne. Über der Oberlippe war wie bei einem jungen Mann leichter Flaum, ihre Brauen glänzten und die Augen sprühten Fünkchen. Sie richtete die großen, langbewimperten Augen auf Gleb, und ihre Brauen zuckten in einem Lächeln.
Neben ihr am Tisch stand Dascha und sprach lebhaft und laut. Sie warf Gleb nur einen kurzen Blick zu. Frauen standen um sie gedrängt. Sie hörten sich Daschas Bericht an.
Shuk lachte auf und packte Gleb am Ärmel. „Heißer Boden, Freund Gleb — die Frauenfront: Das Weibszeug beißt und kratzt. Nimm dich in acht!"
Sergej lächelte verlegen.
Dascha warf den Kopf zurück, hörte auf zu sprechen und verschränkte die Arme auf der Brust, in Erwartung, dass die Männer weggingen.
Genossin Mechowa machte eine abwehrende Handbewegung, lächelte und kommandierte dann ärgerlich: „Geht, Genossen, stört uns nicht. Red weiter, Dascha."
Gleich darauf aber unterbrach sie Dascha: „Genosse Tschumalow, kommen Sie auf dem Rückweg bei mir vorbei. Ich möchte mit Ihnen sprechen."
Gleb hob die Hand an den Helm und antwortete forsch: „Zu Befehl!"
Dascha berichtete über die Kinderkrippen in der Stadt.

Ein konkreter Vorschlag

Als Gleb die Tür zu Shidkis Zimmer öffnete, schlug ihm stickige Luft und Tabaksqualm entgegen. Grünliche Rauchschwaden flimmerten in der Sonne. Stäubchen stiebten wie feiner Regen.
Shidki war frisch rasiert und hatte seine Lederjacke über den Schultern hängen. Ihm gegenüber saß zurückgelehnt der Tschekavorsitzende Tschibis, ebenfalls glattrasiert. Shidkis Wangen waren von vertikalen Falten durchfurcht, er hatte eine asiatische Nase mit weiten Nasenlöchern.
Auf dem Fensterbrett, die Füße gegen den Fensterpfosten gestemmt, saß ein junger Mann mit dunkelbraunem Gesicht; er war sehr mager und trug ein schwarzes Hemd. Das war Luchawa, der Vorsitzende des Gewerkschaftskomitees. Das Kinn auf die Knie gestützt, hörte er schweigend zu.
Gleb legte die Hand an den Helm, Shidki jedoch beachtete ihn nicht. Es kamen zu viele Genossen zu ihm — er hatte keine Zeit, jeden zu begrüßen.
„Holzschläge hätten wir, schön! Eine Kreisforstverwaltung auch, schön! Holzplätze auch! Und weiter?"
Er klopfte nach jedem Satz mit dem Bleistift auf den Tisch.
„Und weiter? Es dreht sich doch darum, das Holz heranzuschaffen. Es liegt hinterm Pass, es liegt längs der Küste. Mit der Gespannpflicht kommen wir nicht weiter. Wir müssen ein sicheres, rasches Verfahren finden, um das Holz vor dem Winter heranzukriegen. Zum Teufel mit der Handwerkelei und dem Flickwerk: man muss den Stier bei den Hörnern packen, und zwar gründlich. Das erfordert ein gewaltiges Maß an Anspannung, dazu müssen alle Kräfte aufgeboten werden. Die Kreisforstverwaltung hat ihre Aufgaben nicht erfüllt, dort hat sich alles mögliche Gesindel eingenistet — Hamsterer, Aasgeier, die man erschießen sollte. Die Holzfäller werden bald meutern, weil sie vor Hunger krepieren. Sorgt für Holz, sonst müssen wir noch statt Holz die Leichen unserer Arbeiterkinder stapeln. Eine Sackgasse, Freunde. In einer Woche tagt der Wirtschaftsrat: wir müssen vorbereitet sein. Sprich, Luchawa!"
Tschibis sah niemanden an, und es ließ sich nicht erkennen, ob er nachdachte oder sich gelangweilt ausruhte.
Luchawa drückte die Knie mit den Händen an die Brust und betrachtete Shidki mit selbstbewusst spöttischem Lächeln. „Es gibt keine Sackgassen, Shidki, darf keine geben. Es gibt bloß Aufgaben. Du hast den Kopf verloren, mein Lieber."
Shidkis Nasenflügel blähten sich, es sah aus, als lache er. „Wir müssen die maschinelle Kraft des Werkes ausnutzen."
Sergej hob den Arm und bat ums Wort. „Ich möchte dazu ... zu dem Vorschlag von Luchawa ..."
Die Falten in Shidkis Wangen bebten unter einem Lächeln; Gleb sah, dass es voll herablassendem, gönnerhaftem Spott war.
„Serjosha hat einen konkreten Vorschlag zu machen, Genossen. Sag ihn."
„Ich möchte im Zusammenhang mit dem Vorschlag des Genossen Luchawa auf den Genossen Tschumalow hinweisen. Wir kämen in dieser Frage rascher zum Schluss, wenn Genosse Tschumalow, als Arbeiter des Werkes, seine Meinung sagte. Ich muss aber jetzt..."
Shidki schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Halt, halt! Serjosha deklamiert wie immer mit Gefühl, und seine Glatze glüht."
„Ich muss zu einer Besprechung in die Agitprop, dann ins Volksbildungsamt, und dann..."
Tschibis grinste, sah Sergej durchdringend an und sagte träge: „Der typische Intellektuelle ... Dieses ,dann' klingt in seinem Munde wie ein Gebet. Und die verfluchten Probleme lassen ihn nachts nicht schlafen... Intellektuelle fühlen sich immer bedrückt und schuldig."
Sergej wurde tiefrot und verlor die Fassung. „Aber Sie sind doch auch ein Intellektueller, Genosse Tschibis." „Ja, ich bin auch ein Intellektueller."
Shidki rief Gleb an den Tisch heran: „Na, Genosse Tschumalow, nun komm mal näher. Musst allerdings stehen — Stühle haben wir keine."
Gleb trat zum Tisch und nahm Haltung an. „Demobilisiert als qualifizierter Arbeiter. Stehe dem Bezirkskomitee zur Verfügung."
Ohne den Blick von Glebs Gesicht zu wenden, reichte Shidki ihm die Hand. „Genosse Tschumalow, du wirst hiermit zum Sekretär eurer Betriebsparteizelle ernannt. Sie ist desorganisiert. Lauter Hamsterer und Spekulanten. Sind verrückt nach Ziegen und Feuerzeugen. Das Werk wird am helllichten Tage ausgeplündert. Du weißt wahrscheinlich schon Bescheid. Greif auf militärische Art durch."
„Werde mir Mühe geben. Aber jede Disziplin braucht eine Basis, Genosse Shidki." „Sehr richtig; schaff sie, diese Basis!"
Luchawa stützte wieder das Kinn auf die Knie, zog an der Zigarette, die ihm im Mundwinkel hing, und fixierte Gleb mit eingekniffenen Augen. Sie funkelten wie Kohlen, herausfordernd und unverblümt forschend.
Als Antwort auf Glebs Worte bemerkte er nachlässig zu Shidki: „Schickt den Genossen in die Abteilung Organisation und Instruktion. Wir können die Sitzung nicht wegen nebensächlicher Kleinigkeiten unterbrechen."
Gleb fing Luchawas Blick auf, sagte aber nichts.
Tschibis betrachtete ihn durch die Wimpern. „Du bist ein qualifizierter Arbeiter. Und warst Kommissar. Warum hast du dich demobilisieren lassen, wo das Werk doch auf Jahre hinaus stilliegt?"
Gleb lächelte und musterte Tschibis aufmerksam. „Stilliegt? — Viel schlimmer, verdammt noch mal! Zur Sau gemacht ist es, 'ne Müllgrube, 'n Viehhof. Sprechen wir offen, Genossen! Ihr wollt die Arbeiter am Schlafittchen nehmen und die Ziegen davonjagen — aber wo bleibt die Produktion? Ihr verlangt eine straffe Organisation — aber wo habt ihr die Voraussetzungen dazu? Gebt die Losung aus, dass das Werk in Betrieb gesetzt wird, und alles wird in Butter sein. Bis dahin sind die Arbeiter keine Arbeiter, sondern Schweinehirten."
Luchawa prustete verächtlich.
„Die Helden des Roten Banners — ihre Tapferkeit in Ehren — sollten die Dinge realistisch sehen lernen."
Tschibis saß, im Stuhl zurückgelehnt, kühl und verschlossen dabei, und hinter der Staubschicht auf seinem Gesicht war nicht zu erkennen, ob er dem Gespräch folgte oder gelangweilt vor sich hin döste.
Shidki lächelte, die Falten in seinen Wangen zuckten. „Also fahren wir fort mit der Beratung der Brennstofffrage."
Luchawas Worte, ebenso herausfordernd wie sein Grinsen, hatten Gleb bis zum äußersten gereizt, er konnte sich kaum noch beherrschen. Nun fiel Shidki über ihn her: „Genosse Tschumalow, wir besitzen kein einziges Scheit Holz. Wir krepieren vor Hunger. In den Heimen sterben uns die Kinder. Die Arbeiter sind desorganisiert. Was soll uns jetzt das Werk, zum Teufel? Schwatz doch nicht solchen Unsinn! Es geht jetzt um ganz andere Dinge. Wie lässt sich deiner Meinung nach das Holz von den Holzschlägen ranschaffen? Kann man das Werk dafür nutzen?" „Ohne Brennstoff, ohne Maschinen und Elektrizität ist da nichts zu machen — so viel steht fest."
„Dann sag uns, wie man die Sache praktisch anpacken soll."
Gleb schwieg eine Weile, sah in Gedanken versunken zum Fenster hinaus. „Ich denke, es geht nur so: Wir müssen einen Bremsberg bis zum Gipfel bauen. Die Gewerkschaft sollte dazu Sonntagseinsätze organisieren. Rund zwei Wochen werden wir dazu brauchen. Sind die Loren erst einmal in Betrieb, können wir Holz heranschaffen, soviel wir wollen."
Shuk umklammerte Glebs Schultern und bleckte die Zähne vor Freude. „Ihr sitzt da, ihr Holzköpfe, quasselt und quasselt. Und er — er trifft's auf den ersten Hieb, nach Arbeiterart."
Keiner beachtete ihn, man war an ihn gewöhnt, er gehörte zum Alltag und ging darin unter. Man hatte ihn immer vor Augen, sah ihn aber nicht, und sein Geschrei rauschte an den Ohren vorbei.
Shidki zog mit dem Bleistift gerade und krumme Linien auf ein Blatt Papier und teilte sie durch Querstriche. Sein Gesicht war zur Ruhe gekommen und hatte einen gelangweilten Ausdruck angenommen, dadurch wirkte es plötzlich gealtert und verfallen.
„Dasselbe, glaub ich, hast du sagen wollen, Luchawa?" Luchawa sprang vom Fensterbrett, lief an Gleb vorbei und kehrte wieder zum Fenster zurück.
„Genosse Tschumalow kommt meinem Gedanken sehr nahe. Er hat ihn nur besser formuliert als ich. Nehmen wir seinen Vorschlag ohne Diskussion an, und beauftragen wir ihn, dem Wirtschaftsrat darüber zu berichten!"
Shidki stand auf und warf den Bleistift auf den Tisch. Der Bleistift rollte in Glebs Richtung und fiel ihm vor die Füße.
„Utopie, Genosse Tschumalow. Verlier kein Wort weiter über das Werk, das Werk ist ein steinerner Sarg. Uns interessiert nicht das Werk, sondern Holz. Es gibt kein Werk, nur einen verlassenen Steinbruch. Das Werk ist für uns Vergangenheit oder Zukunft. Wir wollen von der Gegenwart sprechen — wie wir Holz beschaffen."
„Ich weiß nicht, was Sie Utopie nennen, Genosse Shidki. ,Werk' lautet das erste Wort — wenn Sie es nicht aussprechen, werden es die Arbeiter tun. Was reden Sie da? Das Werk ist Zukunft oder Vergangenheit? Sind Sie im Werk gewesen? Wissen Sie, was die Arbeiter brauchen? Warum sie das Werk ausplündern? Warum Regen und Wind an Beton und Eisen nagen? Warum alles verfällt und zu einem Schutthaufen wird? Der Arbeiter hat keine Lust, sich mit unnützen Dingen abzugeben. Er pfeift auf den Krempel, der ohne Ziel und Zweck herumliegt. Ihr hier redet ihm ein, das Werk sei kein Werk, sondern ein verlassener Steinbruch. Was soll er also machen? Tut er nicht sogar gut daran, wenn er die Maschinen abbaut, da sowieso alles zum Teufel geht? Ihr selbst treibt ihn ja dazu. Weshalb soll er denn das Werk schützen? Welche begeisternde Idee hat
er denn von euch bekommen, damit er nicht mehr an die eigene Haut denkt, sondern zum klassenbewussten Proletarier wird?"
Shidki hörte Gleb mit lebhaftem Interesse zu und blähte spöttisch die Nasenflügel.
„Du machst das Werk zu deinem Götzen, Genosse Tschumalow. Was, zum Teufel, soll uns das Werk, wenn Banditentum und Hunger herrschen und es in den Sowjetbehörden von Verrätern und Verschwörern wimmelt? Wer braucht denn jetzt Zement und die ganzen Werkhallen? Um Massengräber zu bauen? Ihr agitiert, die Arbeiter sollen die Industrie meistern lernen, und die Bauern fallen wie Tatarenhorden in die Städte ein."
„Genosse Shidki, ich sehe das ebenso gut wie Sie. Man kann nicht ohne konkretes Ziel an die Arbeit gehen und nicht mit bloßen Menschen aufbauen wollen. Zum Teufel mit eurer Kleinigkeitskrämerei! Jetzt muss man für den Wiederaufbau der Wirtschaft kämpfen. Die Kanonen schweigen endlich. Die Leute gehen nach Hause und an die Arbeit. Die Gewerkschaften und die Neue Ökonomische Politik — darüber kommt die Diskussion immer mehr in Gang. Diese Frage muss man ernsthaft behandeln. Es will überlegt sein, von welcher Seite die Sache anzupacken ist und wie die Vorarbeiten organisiert werden. Kronstadt haben wir hinter uns gebracht. Aber die Machno-Banden? Und die Konterrevolution der Kosaken?! Die Weißen haben nur den einen Wunsch, uns Schlappschwänze zu überrumpeln."
Tschibis erhob sich und ging zur Tür. Dort blieb er stehen und sagte bedeutungsvoll: „Unsere Abteilung zur besonderen Verwendung taugt nichts. Wenn man vom Wiederaufbau des Werkes spricht, warum sollte man da nicht auch die Kasernierungsfrage auf die Tagesordnung setzen?"
Er öffnete die Tür und ging ohne Eile hinaus. Shidki sah ihm nach und lächelte verständnisvoll.
„Wir wollen nicht streiten, Genosse Tschumalow. Hauptsache ist die Idee und die Organisierung der Massen. Das stimmt."
Er drückte Gleb fest die Hand.
„Bring übrigens auch Shuk Vernunft bei, Genosse Tschumalow, er sieht ja aus wie eine gierige Ratte."
Gleb fasste Shuk unter und ging mit ihm zur Tür. „Lieber Genosse! Gleb! Jawohl, wir beide, Freund, wir versetzen Berge, wir lassen alle Minen springen. Tatsache!"
Shidki rief ihm freundschaftlich nach: „Genosse Tschumalow, es kann nicht schaden, wenn du mit Badjin, dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees, ein Wörtchen sprichst."
An der Tür presste Luchawa Glebs Ellenbogen. „Dascha hat mir von Ihnen erzählt. Ihren Plan werden wir gemeinsam beraten und ihn zur Grundlage unserer Arbeit machen. Nicht auf Worte kommt es an, sondern auf Tatsachen. Die Zukunft ist im Hirn — Gegenwart wird sie in den Muskeln."
Sie sahen einander in die Augen und gingen auseinander.
Dascha. Luchawa. Warum sollte nicht Luchawa die dritte Person in seinem Drama sein? Könnte das nicht möglich sein? Nein, das wäre zu dumm.

Die Frau mit den Locken

Gleb ging zur Mechowa. Versehentlich stieß er einen Stuhl um, der im Wege stand. Sie verbiss sich, das Lachen und musterte wohlgefällig Glebs Gestalt.
„Mäßigen Sie Ihre Angriffslust, Genosse Tschumalow. Wir arbeiten hier unter Friedensverhältnissen."
„Verzeihung! Ich hab mich noch nicht an Ihre Maßstäbe gewöhnt."
„Werden Sie müssen. Hier setzt man Sie bald an einen Schreibtisch, damit Sie wie alle hübsch brav die Verwaltungsmühle treten. Pulvergeruch und Heldenromantik werden Sie sehr rasch vergessen. Sie werden bald schlaff und blass werden, werter Genosse. Man hat Sie, glaub ich, zum Sekretär der Betriebszelle ernannt. Na, wollen mal sehen, wie Sie mit Ihrer Horde fertig werden. Die Frauen dort riechen nach Schweinen, Ziegen und Mist. In jedem Haus finden Sie eine Hehlerbude und ein Lager von Diebesgut. Noch ein halbes Jahr, und vom Werk ist nichts übrig als Schutt und Trümmer. Und von was für einem Werk!"
„Ich habe gerade lang und breit von Bremsbergen, flüssigem Brennstoff und Elektrizität geredet. Komische Leute, sprechen von nichts anderem als vom Holztransport mittels maschineller Kraft und kommen gar nicht darauf, dass dies ja der erste Schritt ist, das Werk in Gang zu setzen. Einen Bremsberg bauen oder die Maschinen anlassen — das ist ein und dasselbe."
„Ihr drescht alle die gleichen Phrasen. Mit dem Mund seid ihr Helden, aber in Wirklichkeit seht ihr nur zu, wie ihr euch am wärmsten betten und in Sowjetbourgeois verwandeln könnt. Der Alltag hier ist sehr langweilig, Genosse Tschumalow. Bei der Armee ist es schöner. Ich wollte hin, aber man hat mich nicht fortgelassen. Nur Ihre Frau da merkt nichts von Alltag und findet in jeder Kleinigkeit etwas Großes."
Dascha stand an der Wand und lächelte spöttisch. Sie wehrte ungeduldig ab.
„Dieser Held ruht sich jetzt auf der faulen Bärenhaut aus, Genossin Mechowa. Freut sich über jede Gelegenheit, wo er den Schnabel aufreißen kann. Schmeiß ihn hier achtkantig raus! Man darf ihn nicht noch verwöhnen."
„Sehen Sie? Eine sachliche und strenge Frau."
„Stimmt. Fragen Sie sie mal, wie sie ihren Mann behandelt. Einfach nicht zum Aushalten. Ich weiß nicht, wie ihr beizukommen ist."
„Erfüllt sie ihre ehelichen Pflichten nicht? Was für ein Jammer! Die Revolution hat das Weib verdorben!"
Nun lachte auch Dascha, aber es war nicht mehr das liebe, mädchenhafte Lachen von früher.
Die Frauen stießen Shuk mit den Fäusten aus dem Zimmer und schrieen ihm nach: „Mit eurer Macht ist es vorbei, ihr rasierten Böcke! Die Bärte hat man euch abgeschnitten, und nun seht ihr aus wie Weiber."
Erneut musterte die Mechowa aufmerksam Glebs Gestalt, und es kam ihm vor, als beschnuppere sie ihn gierig.
„Sie haben sich noch nicht recht akklimatisiert bei uns, Genosse Tschumalow. Sie sehen noch ganz nach Armee und Krieg aus. Man hat das Gefühl, Sie dampfen schon morgen wieder zu Ihrem Regiment ab. Erzählen Sie mir von Ihren Heldentaten. Wann haben Sie den Rotbannerorden bekommen? Wenn Sie wüssten, wie ich die Armee liebe! Ich habe ja auch eine Zeitlang im Schützengraben gelegen ... bei Manytsch ..."
Sie lächelte vor sich hin. In ihren Augen glitzerten Funken verstohlener Freude.
„Herrlich ist es gewesen! Unvergessliche Tage! Wie die Moskauer Oktobertage. Fürs ganze Leben. Das war Heldentum!"
„Alles richtig, Genossin Mechowa. Aber hier, an der Front der Arbeit, ist Heldentum ebenso nötig. Es ist schwer hier — Verwüstung, Durcheinander, Dreck, Hunger. Da heißt es alle Kräfte anspannen, sich nicht schonen! Der Berg ist umgekippt — richte ihn wieder auf. Unmöglich? Das ist es eben. Heldentum ist das scheinbar Unmögliche."
„Ja, ja! Mit Ihnen möchte ich mich unterhalten, Genosse Tschumalow. Ich meine: Heldentum bedeutet — mit vereinten Kräften an einem Strang ziehen, dann gibt es nichts Unmögliches." Sie lachte, und die Fünkchen in Brauen und Augen leuchteten auf. „Ja, Sie haben recht. Kämpfen, siegen. Darin liegt alles. Besuchen Sie mich einmal, Genosse Tschumalow. Ich wohne im Hause der Sowjets."
Dascha lächelte und blickte forschend von der Mechowa zu Gleb. Dann trat sie zu ihm, nahm ihn bei der Schulter, drehte ihn um und schob ihn zur Tür. „Na, nun geh, verschwinde, du Krieger! Hier hast du nichts verloren. Marsch! Wir haben auch ohne dich eine Masse dringender Arbeit."
Er wandte sich schnell um und hob sie hoch. Die Frauen lachten schallend, auch die Mechowa. Überrumpelt von seiner Zärtlichkeit vor aller Augen, schrie Dascha auf und klammerte sich mit beiden Armen an ihm fest. Für einen Augenblick spürte Gleb, dass ihr Herz noch für ihn schlug, und hörte ihr vertrautes Lachen.
„Genosse Tschumalow, wissen Sie überhaupt, wer Ihre Dascha ist? Hat sie Ihnen von ihren Abenteuern erzählt? Hier haben sich Dinge abgespielt, so was haben vielleicht nicht einmal Sie erlebt."
Dascha zuckte zusammen und befreite sich aus Glebs Armen.
„Ich bitte dich, Genossin Mechowa, lass mich aus dem Spiel! Ist alles längst vorbei. Ich werde mich nicht vor ihm brüsten, und dass andere davon schwatzen, verbitte ich mir. Das gilt sogar für dich."
Die Mechowa wurde verlegen und errötete. „Ach so? Ich habe nicht gewusst, dass das ein Geheimnis ist."

Warum war sie erschrocken und verbot der Mechowa den Mund? Warum kannten alle ihre Strohwitwenjahre, und ihm erzählte sie kein Wort davon?
Auf dem Korridor holte ihn die Mechowa ein.
„Warten Sie mal, Genosse Tschumalow. Sie haben mir nicht gesagt, was Sie bei Shidki ausgeheckt haben. Ich will auf dem laufenden sein. In diesem Loch verschimmelt man, und der Alltagskram macht einen zum Maulwurf.
Der Revolution ist das nicht zuträglich. Wenn Sie vorhaben, unseren Sowjet- und Parteialltag umzukrempeln, müssen Sie feste Zähne haben. Ich stehe zu Ihnen, Genosse Tschumalow. Was Sie auch tun, ich stehe zu Ihnen. Ich fühle es, Sie können nicht im Alltag versinken: Sie kommen von der Armee. Noch etwas: Lassen Sie Dascha vorläufig in Ruhe. Ich habe mich vorhin dumm benommen. Sie kommt von selbst zu Ihnen. Sie werden sehen. — Sagen Sie mir, was haben Sie beschlossen?"
„Alles zu tun, damit das Werk wieder läuft, und wenn wir uns dabei die Knochen brechen."
„Dann können Sie gehen — mehr brauche ich nicht. Ich stehe zu Ihnen, Genosse Tschumalow."
Sie lächelte bedauernd und froh zugleich und ging zurück.
Auf der Straße empfing ihn Shuk und schwenkte den Arm. „Na, wie viel Trümpfe haben wir in der Hand? Pass auf, Bruder! Die nehme ich mir jetzt alle vor. In allen Ecken und Winkeln wird der böse Geist aufgestöbert und ausgetrieben. Die sollen mich noch kennen lernen, die Holzköpfe, ich suche sie jeden Tag heim, ich mache ihnen die Hölle heiß, Ehrenwort. Jetzt heben wir beide die ganze Bürokratie aus den Fugen."

 

IV. Der Arbeiterklub „Komintern"

KPR-Zelle

Der Arbeiterklub „Komintern" befand sich im Hause des ehemaligen Direktors, in einem soliden einstöckigen Gebäude aus dreifarbigem rohem Stein, gelbem, blauem und grünem. Wie ein Felsblock lag es auf einer mit Kreuzdorn-und Thujahecken bedeckten Berghöhe; in der Architektur streng und puritanisch schlicht wie eine Kirche, war es trotzdem reich und verschwenderisch mit offenen Veranden und Baikonen ausgestattet, und von Nebengebäuden (ebenso solide und sauber gemauert), von Blumenrabatten und Spielplätzen umgeben. Im Haus gab es eine Unmenge Zimmer, dämmrige, verzweigte Gänge und Treppen mit Eichensäulen und bunten Ampeln. Jedes Zimmer hatte Stofftapeten, kunstvollen Wandschmuck, Gemälde erster Meister, riesige Spiegel und schwere Möbel.
Vor der Vorderfront lag am Hang ein Obstgarten — von Ziegen abgeweidet, mit verwilderten Pfaden, umfriedet von eisernen Gittern auf steinernen Sockeln. Rechts, hinter der Hügellinie, gigantische blaue Schlote, links wieder Schlote und hoch oben Steinbrüche und zerstörte Bremsberge.
Hier hatte einmal ein geheimnisvoller alter Mann gelebt, den die Arbeiter nur von weitem sahen und dessen Stimme sie nie hörten.
Erstaunlich, wie er allein, dieser greisenhaft gewichtige Direktor, die dreißig Zimmer des Palastes hatte bewohnen können, ohne dass er Angst vor der Leere, Alpdruck und Grauen bekam vor Armut, Schmutz und Gestank, vor dem ganzen viehischen Zustand der Arbeiterbuden und Mietskasernen !
Dann war der Krieg gekommen, die Revolution, die große Katastrophe... Er hatte sich aus dem Zusammenbruch gerettet, der Direktor, und war geflüchtet, hilflos und armselig. Mit ihm waren die Ingenieure, die Techniker und die Chemiker geflüchtet. Nur einer war geblieben — Ingenieur Kleist, der älteste Mitbegründer des Werkes; er hatte sein Arbeitszimmer im Hauptgebäude der Verwaltung unten an der Chaussee vergraben, dem Palast seiner letzten Schöpfung genau gegenüber.
An einem Frühlingstage, als Wolken, Meer und Berge gleißten und die Luft mit Sonnennadeln in die Augen stach, waren die Arbeiter des Werkes in der Schlosserei versammelt. Mitten im Gedränge, im Gebrüll und Tabaksqualm hatte der Schlosser Gromada den Antrag gestellt: „Der wunderbare Palast, in dem der Blutsauger von Direktor gewohnt hat, soll ein Arbeiterklub werden und Komintern' heißen." Im Erdgeschoß wurden der Klub, die Partei- und Komsomolzellen untergebracht, im ersten Stock die Bibliothek und die Abteilung zur besonderen Verwendung.
Wo früher völlige Ruhe geherrscht hatte, wo die Arbeiter die zementierten Wege, die am Palast vorbeiführten, nicht hatten betreten dürfen (die Direktion hatte es streng verboten) — dort schmetterten jetzt, wenn abends die Spiegelscheiben im feuerroten Widerschein der untergehenden Sonne lohten, die Trompeten der Klubkapelle, von Trommelwirbel begleitet.
Aus den Häusern der geflüchteten Ingenieure waren alle Bücher in die Klubbibliothek gebracht und in die Schränke gestellt worden. Die Bücher blinkten golden, gehörten aber einer unverständlichen und fremden Welt an: auf den farbigen Rücken leuchteten Titel in deutscher Schrift.
Die Arbeiter hausten nach wie vor in ihren Höhlen und Kasernen. Die Häuser der Ingenieure standen leer und flößten Schrecken ein mit ihren Zimmerfluchten.
In der Schlosserei wurden weiter Feuerzeuge hergestellt, und abends suchten die Arbeiter ihre Ziegen in den Bergen. Das Weibervolk ging in die Stanizen und Dörfer hamstern.
Wie Stiere brüllten im oberen Stockwerk die Trompeten, und dröhnend explodierte die Pauke.
Im Arbeiterklub „Komintern" eröffnete Gleb eine außerordentliche Parteizellensitzung. Das Zimmer war geräumig und hatte hohe Paneele aus karelischer Birke; aus karelischer Birke waren auch die Möbel. Von der Abendsonne beleuchtet, glänzten Wände und Möbel wie Gold. Man holte noch roh gezimmerte Bänke aus dem Theatersaal.
Gleb saß am Tisch und überblickte die Versammelten. Alle Gesichter sahen sich ähnlich. Zwar schienen sie verschieden, doch etwas Gemeinsames in ihnen ließ sie zu einem einzigen Gesicht verschmelzen.
Lange quälte sich Gleb mit der Frage, was das sei. Warum war ihm das früher nicht aufgefallen? Warum beunruhigten ihn diese Gesichter erst jetzt?
Endlich begriff er: Das war der Hunger.
Viele sahen Gleb zum ersten Mal wieder, begrüßten ihn aber so gleichmütig, als wäre er nie fort gewesen. Das letzte Mal hatten sie ihn an jenem glutroten Abend gesehen, als die Offiziere auch ihn aus den Reihen der vor dem Werktor angetretenen Arbeiter herausgriffen und zusammenschlugen.
Manche schüttelten ihm kräftig die Hand, verzogen das Gesicht mühsam zu einem Lächeln und wussten nicht, was sie sagen sollten, sie räusperten sich und riefen: „Na? Was ist, Kumpel? Wie steht's denn mit uns, he?"
Dann gingen sie, ohne sich umzuschauen, auf ihre Plätze. Beim Hinsetzen aber schenkten sie ihm ein warmes, nicht zu unterdrückendes Lächeln.
Dann kam der kleine Gromada mit dem großen Namen, lachte los und schrie mit seiner schwindsüchtigen Stimme: „Der ist aus anderem Holz geschnitzt, der Genosse Tschumalow, Ehrenwort. Heiz uns ein, dass wir, als Kommunisten, uns an Ziegen und Feuerzeugen verzettelt haben! Und keine Diskussion darüber... Stoß ihnen Bescheid, und damit basta!"
Er drehte sich zu den Arbeitern um und verschluckte sich vor lauter Begeisterung.
„Da habt ihr's, ihr verdammten Faulpelze! Durch den Tod ist er gegangen und so weiter... Ich erkläre: ich werde zur Tagesordnung nicht das Wort ergreifen, ich möchte aber gleich im voraus gesagt haben, dass er, der Genosse Tschumalow, meine ganze Seele umgekrempelt hat, dass ich durch ihn in die Reihen der KPR eingetreten bin."
Man hörte Gromada zu und griente — zu Gromada passten solche Worte nicht. Selbst Tschumalow lächelte ihn an wie einen kleinen Jungen. Die Arbeiter waren in Rauch gehüllt und husteten.
Loschak saß in einem entfernten Winkel. Saß da und schwieg, kleiner als alle anderen, doch nicht zu übersehen, mit seiner finsteren, unausgesprochenen Frage in den Augen.
Die Frauen kicherten und schwatzten. Dascha, ihre Wortführerin, stand an der Wand. Ab und zu trat sie zu ihnen, dann drängten sich alle auf einen Haufen, tuschelten miteinander und erstickten vor Lachen.
Man wartete auf Luchawa; er musste jeden Augenblick kommen, um sein Referat „Kampf dem Verfall und der Brennstoffkrise" zu halten.
Doch nicht Luchawa kam, sondern der zottige Sawtschuk wankte herein, barfuss, mit verquollenem Gesicht.
Schwerfällig ließ er sich neben der Tür auf den Fußboden sacken, die klapperdürren Knie voller Schrammen und Blutergüssen knackten. In seinen Alkoholikeraugen glomm trübe Schwermut.
Dascha trat ans Fenster und riss die beiden Flügel auf, die schwer waren wie Türen.
Auseinandergelaufen waren sie alle in ihre Wohnlöcher — vergessen war die Fabrik mit ihrem Lärm, Staub und
Maschinengestank. Anderer Staub — der Staub der Bergstürme — bedeckte sie, die Werkleute gemeinsamer Arbeit, die mit Säcken auf dem Buckel über die Hügel schwärmten. Über Bergpfade und Steppenwege ging's — wie zur Zeit des Austauschs von Naturalien — auf die Gehöfte und in die Stanizen, getrieben von Hunger und primitiver Gier. Werkleute, die einst am Morgen nicht Hahnenschrei, sondern das eherne Heulen der Sirenen geweckt hatte, erfuhren in diesen Jahren die Wonne der Ziegen- und Schweinebuchten und die Freude der warmen Hühnernester. Maschinenarbeiter lernten, mit Schweinen und Hühnern um die Wette zu schreien — wegen der Schweine, wegen der Hühner, wegen der Ziegen, wegen eines Schlags Suppe aus der Volksspeisung, die ein fremdes Ferkel aufgefressen hatte. Erloschen war die Elektrizität in Werk und Kasernen, im Staube erstickt waren die Sirenen — Ruhe und Müßiggang hatten eine gackernde, grunzende Dorfidylle ausgebrütet, und mürrisch schlossen sich der vorsichtige Hausvater und sein geiziges Weib im häuslichen Käfig ab.
Und hier nun im Klub „Komintern" wischten sich die Kommunisten den Schlaf aus den Augen. Die ungewaschenen Hände und Kleider stanken nach Hühnermist und dem Salmiakgeruch der Schweine- und Ziegenställe. Einträchtig saßen sie Schulter an Schulter, und das Getöse der Trompeten und die nicht alltäglichen Worte riefen das andere, vergessene Leben der Vergangenheit wach. Und Gleb kam ebenfalls aus der Vergangenheit (es schien erst gestern gewesen zu sein), und von ihm ging der Geruch von Maschinenöl, von glühendem Eisen und der Schwefeldunst erkaltender Schlacke aus. Und wieder das Werk, Produktion, Bremsberge, Werkhallen.
Sergej Iwagin trat ein und beugte sich über Tschumalows Schulter. Gleb stand auf und überflog die Genossen mit strengem Blick.
„Genossen, an Luchawas Stelle ist Genosse Iwagin gekommen. Genosse Luchawa ist bei den Schauerleuten: Sie
meutern, wahrscheinlich wegen der Rationen. Wir eröffnen die Versammlung. So haltet doch endlich den Mund, ihr Dösköpfe! Ich wollte euch noch sagen: Ich habe gehört
— auch das Radio spricht davon —, dass das Ausland, die Entente, mit uns Handel zu treiben wünscht. Schaut sich die Augen aus nach Konzessionen und chartert schon Schiffe. Ich denke, wir werden darüber nicht sehr böse sein
— bitte schön! Sehr erfreut! Wir haben auch einiges dazugelernt: Uns kann keiner mehr für dumm verkaufen."
Gromada stand auf und legte los: „Genossen, wir sind Arbeiter eines berühmten Werkes, aber wir haben uns Ziegen aufgehalst und so weiter... Schmach und Schande, Jungs! Ich schlage demzufolge vor, alles Überflüssige zu liquidieren zum Nutzen unseres Kinderheimes ... und da wir die Arbeiterklasse sind."
Aufregung, Geschrei, fuchtelnde Arme.
„So siehst du aus! Der hat's aber eilig. Unsere Schweine. Hast du sie gemästet? Blutiger Schweiß klebt an ihnen."
„Und wer hat sie aus Gehöften und Stanizen geklaut?"
„Scher nicht alle über einen Kamm! Deine Alte, Gromada, hat ja selber auf den Gehöften die Röcke abgewetzt..."
„Liquidieren! Zum Teufel noch mal! Setz einen Beschluss auf, Tschumalow, im Namen der Parteizelle."
„He, Kumpels! Wir haben doch nichts zu fressen, he! Warum macht ihr unnütz Stunk, Kumpels?" Gleb läutete und gebot Ruhe.
„Schluss jetzt, Genossen! Vorläufig werden Ziegen und Schweine noch nicht angetastet. Spielt damit, soviel ihr wollt. Wenn's soweit ist, werden wir nach Proletarierart rasch damit fertig werden wie mit der Bourgeoisie ... Aber augenblicklich — bitte schön —, wenn ihr wollt, könnt ihr aus lauter Liebe mit ihnen schlafen. Ich schlage vor, das Präsidium zu wählen."
Er hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, als die Frauen die Arme zu schwenken begannen und sich gegenseitig überschrieen: „Dascha! Dascha Tschumalowa!"
„Gromada! Tschumalow! Sawtschuk!" forderten ebenso hartnäckig die Männer.
Gromada lief zum Tisch und hob ungeduldig beide Arme.
„Genossen! Wegen der Weiber — von mir aus nichts einzuwenden. Nur sind die Weiber man eben erst gleichberechtigte Geschöpfe und so weiter, und die jungen Frauenzimmer ... damit sie als Führer... Die sollen vom Mann erst ein wenig lernen. Hier braucht's einen Bart im Vorsitz."
„Wo hat denn Tschumalow einen Bart? Und bei dir, da hat die Katze die Haare weggeleckt."
Die Frauen wurden bereits böse. „Dascha Tschumalowa! Dascha!"
Gleb schwang die Glocke.
„Ich lasse abstimmen, Genossen. Dascha Tschumalowa steht als erste auf der Liste. Sie ist zwar meine Frau, aber ich habe trotzdem nichts gegen das Weiberkommando. Wer ist dafür?"
Kaum hatte er Daschas Namen genannt, als die Weiber wieder losschrieen: „Dascha. Warum gebt ihr den Weibern keine Chance, ihr Ekel?"
Gleb hob als erster die Hand, gleichzeitig mit den Frauen und Sergej. Widerwillig, schnaufend und hustend, hoben die Arbeiter einer nach dem anderen die Hand.
„Jag bloß die Weiber nach Hause!" kläffte Sawtschuk aus seiner Ecke, ohne die Hand zu heben. „Ich kann das nicht ausstehen!"
Gleb schwang die Glocke und unterbrach das Geschrei. „Gromada kommt zur Abstimmung. Einstimmig. Wer ist für Loschak? Dann steht noch mein Name auf der Liste. Nehmt eure Plätze ein, Genossen!"
Ins Präsidium waren Dascha, Gromada und Gleb gewählt worden. Die Leitung übernahm Dascha.
„Genossen, ich bitte um Ruhe. Gib mir die Tagesordnung, Genosse Tschumalow. Das Wort hat Genosse Iwagin
zu seinem Referat. Nicht länger als eine halbe Stunde, Genosse!" Sergej breitete verdutzt lächelnd die Arme aus.
„Eine allzu knappe Redezeit, Genossin Tschumalowa."
„Fassen Sie sich eben einmal kurz, sprechen Sie nur zur Sache."
„Die geht aufs Ganze. Ich hab gleich gesagt, lieber kein Weib."
„Genosse Sawtschuk, sei still! Halte Disziplin. Du bist nicht auf der Straße, sondern in einer Parteiversammlung."
Dascha hatte recht. Man musste sich kurz fassen. Was konnte man dem Arbeiter schon in einem Referat sagen? Er wusste besser, was ihm jetzt Not tat. Und die kalten Buchphrasen waren den Leuten fremd und unverständlich, fern und blutleer, genau wie er selbst, Sergej, in seinen Worten und seinem Wesen für sie unverständlich und fremd war.
„Genossen! Ein ungeheuerlicher Verfall... Eine harte Probe für die Arbeiterklasse ... Eine noch nie dagewesene Krise ... Liquidierung der Kriegsfronten. Alle unsere Kraft an die Wirtschaftsfront! Der Zehnte Parteitag verspricht eine neue Wendung in der ökonomischen Politik. Das Proletariat ist die einzige Kraft... Wiederaufbau der Produktion der Republik ... Konzessionen und Weltmärkte ... Das proletarische Vaterland bewachen mit verzehnfachten Kräften und eisern geschlossenen Reihen. Wir haben die Blockade durchbrochen. Die Arbeiterklasse und die Kommunistische Partei... — Brennstofflieferung ... Die Maschinenkraft des Werkes..."
Sergej sprach lange, suchte nach einfachen Worten, aber sie wollten ihm, wie zum Trotz, nicht einfallen. Er spürte, dass seine Rede bei diesen missmutigen Leuten nicht ankam. Sie langweilten sich, fühlten sich bedrückt und konnten es kaum erwarten, dass er Schluss mache. Dascha suchte schon zum zweiten Mal mit strengem Blick seine Augen
und runzelte missbilligend die Brauen. Als er schließlich, verschwitzt und erschöpft, schwieg und sich auf seinen Hocker setzte, atmete alles erleichtert auf.
„Genossen, gibt es Fragen an den Referenten? Offenbar nicht."
Alle sahen Gleb erwartungsvoll an. Er stand auf, räusperte sich und betrachtete einige Zeit die Gesichter der Arbeiter.
Viele von diesen Gesichtern waren stumpf ergeben und gleichgültig, viele aber auch bewegt von Erwartung und Hoffnung. Scheinbar saßen alle diese Leute teilnahmslos da, saßen nur pflichtgemäß die Zeit ab, die nun einmal der Partei gehörte. Doch Gleb kannte sie besser: Keinem einzigen schönen Wort, keinem einzigen tönenden Versprechen schenkten sie Glauben. So war es auch jetzt bei Sergejs buchgelehrtem Referat gewesen: sie hatten alles an ihren Ohren vorbeirauschen lassen. Doch brauchte man ihnen nur kurz und bündig zu sagen: „Freunde, morgen geht's an die Arbeit!" — und jeder würde von seinem Platz aufspringen und mit überschnappender Stimme schreien: „Genosse Tschumalow, darauf warten wir längst, lieber heute als morgen. Der Verfall bringt uns um."
Als Gleb Dascha anblickte und das einfache, liebe Gesicht von früher wieder fand mit einem aufmunternden Lächeln in den Augen — da dämmerte es ihm, dass er ihr gegenüber schuldig, dass er ihrer unwürdig war. Andererseits konnte er ein Gefühl der Feindseligkeit nicht unterdrücken, als er jetzt wieder ihre selbstsichere Ausgeglichenheit spürte, den neuen, vollen Klang ihrer Stimme hörte. Ihm kam das alles gespielt und unecht vor. Unwillkürlich legte er die Hand auf ihre Schulter und streichelte sie. Ihr sanfter Gegendruck sagte ihm, dass ihr diese zärtliche Geste nicht unangenehm war, dass sie ihm seine brutalen Angriffe verziehen habe. Und seine Empfindlichkeit und der ganze Zank erschienen ihm jetzt so nichtig und erniedrigend, dass er vor Scham die Augen schloss. Wenn die Leute
wüssten, was für ein eifersüchtiger Esel er war ... Sie glaubte an ihn, erwartete bedeutsame, entscheidende Worte von ihm und zweifelte keinen Augenblick daran, dass nur er, ihr Gleb, die Herzen der Genossen entflammen konnte, die sich nach Arbeit sehnten.
„Genossen, wir wollen nicht viel Worte machen. Wir haben in diesen Jahren schon viel zuviel geschwatzt vor lauter Müßigkeit. Das muss aufhören, Genossen. Wir haben unsere revolutionären Pflichten vergessen. Das Werk ist kein Werk mehr, sondern ein Viehhof. Staatseigentum plündern wir für unsere persönlichen Bedürfnisse. Ist das etwa richtig, Genossen? Der Mensch hat zwei Wege, Freunde, entweder er geht dem Teufel ums Maul, oder er haut ihm aufs Maul. Unsere Hände sind nicht für Ziegen und Schweine, unsere Hände sind für anderes bestimmt. Wir Bolschewiki sind ein ganz besonderer Schlag. Wie die Seele — so die Hand, so der Kopf. Genosse Iwagin hat gesagt: Neue Ökonomische Politik. Was heißt das — Neue Ökonomische Politik? Das heißt: Haut dem Teufel aufs Maul mit dem Wiederaufbau der Wirtschaft. Wir produzieren Zement, Zement aber ist ein zähes Bindemittel. Zement — das sind wir, Genossen, die Arbeiterklasse. Das müssen wir wissen und fühlen... Schluss mit der Faulenzerei und der Ziegenwirtschaft. Es wird Zeit, dass wir an unsere eigentliche Arbeit gehen — an die Produktion von Zement für den Aufbau des Sozialismus."
Glebs letzte Worte brachten die Arbeiter in Wallung. Viele sprangen von ihren Plätzen und verlangten das Wort. Gleb hob die Hand und bat nochmals um Gehör. Dascha läutete.
„Also, Genossen! Ich komme zur Sache. Ich fange mit dem Wichtigsten an — mit dem Brennmaterial. Brennmaterial haben weder Werk noch Arbeiter. Für das Werk bekommen wir Treibstoff von den staatlichen Stellen. Aber für die Stadt? Für die Arbeiter? Für die Kinder — die Kinderheime? Mit der Gespannpflicht dürfen wir nicht rechnen;
der Bauer fährt uns kein Holz an. Wir müssen selbst aus der Situation herauskommen. Nur wir allein können diese Frage lösen. Am Pass ist ein neuer Bremsberg zu bauen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir den ersten Dieselmotor anlassen, den Dynamo anlassen, dass wir Licht in die Arbeiterwohnungen bringen. Uns stehen bestimmte Mengen an Öl und Benzin zu. Der Bremsberg — das ist unser erster Schlag. Über das Gewerkschaftskomitee werden wir Sonntagseinsätze organisieren. Zur technischen Anleitung werden wir die Ingenieure mobilisieren. Für den Anfang lasst eure Ziegen und Ferkel herumspazieren. Später aber... in einem Jahr werden wir uns totlachen über uns, Jungs."
Die Arbeiter klatschten einmütig. Sawtschuk drängte sich nach vorn und schlug, schwer atmend, mit der Faust auf den Tisch.
„Ich verlange, dass die Böttcherei sofort wieder in Betrieb genommen wird."
Dascha stand auf und verwarnte ihn streng: „Genosse Sawtschuk, keine Krakeelerei. Wann lernst du es endlich, dich zu beherrschen!"
„Ich verlange es. Lauter Feuerzeugmacher und Schweinehirten ..."
„Genosse Sawtschuk, zum letzten Mal..."
„Gleb, Genosse, hau deinem Gespons eine runter, ist nicht meines. Und ihr, ihr Teufelsfratzen, ihr Ziegenhirten! Habt eure Seelen gegen Feuerzeuge getauscht. Und Gleb, du hast da eben etwas von Ingenieuren gesagt. Wie kann denn Ingenieur Kleist dein Freund sein, der dich dem Tod ausgeliefert hat?"
„Richtig! Ein Spezi! Hockt wie eine Ratte in seinem Loch. Schleicht geduckt herum wie ein Dieb. Worauf wartet die Tscheka?"
Ingenieur Kleist. Dieser Mensch hatte einst Glebs Leben in der Hand gehabt und es den Henkern hingeworfen.

Ingenieur Kleist. War denn Glebs Leben nicht ebensoviel wert wie das Leben des Ingenieurs Kleist?
Loschak hob still die Hand. „Genosse Loschak hat das Wort."
Alle wandten den Kopf zu dem buckligen Schlosser. „Genossen, es heißt doch, man soll das Pferd nicht beim Schwanze aufzäumen. Mit Ingenieur Kleist ist das so eine Sache, die Assel ist kein Amboss. Ich will damit sagen: Stimmt, Ingenieur Kleist hat Gleb mächtig reingeritten. Aber wie hat er Dascha behandelt? Wer hat sie damals vor dem Tode bewahrt? Er, Kleist. Das sollte man bedenken. Und wegen des Bremsberges, da stimme ich Tschumalows Vorschlag zu. Ich meine nur, dass wir nicht mehr als nötig fällen sollten."
Dascha war unruhig geworden und unterbrach Loschak: „Genosse Loschak, von mir ist hier nicht die Rede. Halt dich ans Referat. Was haben Kleist und ich damit zu tun? Jetzt geht es um den Bremsberg und um Brennstoff." Ihre Zähne blitzten. „Du sagst doch selbst, man soll das Pferd nicht beim Schwanz aufzäumen."
Loschak winkte ab und setzte sich auf seinen Platz.
Wieder Dascha. Wieder ein Geheimnis, das die Seele beunruhigte.
Gleb überlegte und kämpfte mit sich. „Genossen, mit dem Ingenieur werde ich selbst abrechnen. Lassen wir diese Frage jetzt. Wir sind vom Thema abgekommen."
Die Diskussion ging rasch vonstatten und verlief reibungslos bis zur Annahme der Resolution. Es wurde beschlossen, unverzüglich mit dem Bau des Bremsberges zu beginnen und am nächsten Tage bereits in den einzelnen Werkhallen an die Arbeit zu gehen — den Müll wegzuräumen, kleinere Ausbesserungen vorzunehmen, alles in Ordnung zu bringen.
Dascha hob den Zettel, auf dem die Tagesordnung stand, an die Augen und sah dann die Arbeiter an.
„Genossen, gehen wir an die nächste Frage mit aller Strenge und Aufmerksamkeit heran: Wir müssen unbedingt einige Parteizellenmitglieder zur Arbeit auf den Dörfern abkommandieren."
Undurchdringliches Schweigen folgte diesen Worten. Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Dann holten sie tief Luft und schrieen wütend durcheinander: „Mord ist das und keine Abkommandierung. Wir sind kein Vieh — wir lassen uns nicht zur Schlachtbank treiben."
„Was soll das? Ihr wollt uns wohl den Banditen zum Fraß vorwerfen?"
„Genossen, ihr seid doch Kommunisten und keine Memmen! Ich bin eine Frau, aber ich sage euch: Niemals, keine einzige Stunde habe ich um das eigene Schicksal gezittert. Das wisst ihr alle genau."
„Na, dann fahr doch selber, wenn du Lust hast." Gleb kam hinter dem Tisch hervor, ging bis zur Mitte des Zimmers und sah alle schweigend an. Eine Drohung lag in seinem Blick. Dann sagte er finster und verächtlich: „Schickt mich hin, Genossen Kommunisten. Beauftragt mich und meine Frau. Sie hat euch ein Wort an den Kopf geworfen: Memmen! Ich sage euch dasselbe: Memmen seid ihr, keine Proletarier. Wie ihr wisst, habe ich drei Jahre lang gekämpft."
„Gekämpft schon, aber heil davongekommen. Gekämpft haben viele. Wer hat in diesen Jahren kein Blut gerochen?"
„So? Und warum bin ich davongekommen? Weil ich mit dem Tod Brüderschaft getrunken hab wie mit meinesgleichen. Und wenn ihr Blut gerochen habt, dann werdet ihr ja wohl wissen, was für Zähne der Tod hat. Diese Zähne sind schärfer als ein Zahnrad. Ich kann's euch zeigen, ich bin nicht zimperlich."
Er riss sich die Feldbluse und das Unterhemd vom Leib und warf sie auf den Boden. Sein Körper überzog sich mit Gänsehaut vom Hals bis zum Bauch. Auf der Brust schimmerte goldgelbe Wolle. Und als sein nackter Körper zusammenschauerte und unter der Haut die Muskeln spielten, war er für alle plötzlich zu einem lebendigen, vertrauten Menschen geworden. „Wer will, kann herkommen und fühlen."
Auf der Brust, auf dem linken Arm, unter der Schulter und der Hüfte waren flammendrote und blasse Knoten und Narben zu sehen.
„Wollt ihr, dass ich auch die Hosen runterlasse? Bitte. Ach, nicht nötig? Dort habe ich auch solche Orden. Ihr möchtet gern, dass andere für euch arbeiten gehen, damit ihr in euren Ziegenlöchern ruhig schlafen könnt? Gut! Ich gehe!"
Niemand trat zu Gleb. Er sah, wie die Augen feucht und heiß wurden, sah, wie die Menschen auf einmal verstummten und erstarrten. Sie schauten auf seinen nackten Körper und blickten dann sogleich verwirrt zur Seite.
„Genossen! Das ist doch eine Schmach und Schande! Wie weit soll es denn noch kommen, Genossen, mit unserem inneren Verfall? Genossen!"
Gromada wand sich hinter dem Tisch und konnte seine Entrüstung nicht mit Worten ausdrücken.
Einer der bärtigen Arbeiter stand von der Bank auf und schlug sich mit Wucht vor die Brust. Sein Kopf zitterte. „Schreib mich auf! Ich gehe! Ich bin nicht so ein ausgespiener Dreckskerl. Na ja, drei Ziegen, eine Sau mit Ferkeln hab ich, und Säcke hab ich auch gebuckelt. Was wollen wir noch reden: wir haben uns selbst zugrunde gerichtet, Genossen."
Nach ihm streckten sich noch einige schwere Hände hoch. Dascha aber (sie sah Gleb tiefbewegt an) schwenkte den Arm. „Genossen, ist unsere Parteizelle etwa schlechter als andere? Nein, wir haben gute Arbeiter und gute Kommunisten."
Und sie begann als erste zu klatschen.

August Bebel und Motja Sawtschuk

Die dunkelviolette Ferne hinter dem Werk, über Meer und Vorstadt, war dunstig und öde; voll gespenstischer Funken und nebelhafter Schatten. Vom Leuchtturm verzitterte ein feuriger Strang auf der Bucht zum Werk hin. Sterntropfen hingen hoch oben über dem Meer. Der Himmel aber hinter den fernen zerklüfteten Bergrücken war so bunt wie eine Pfauenfeder.
Im Gebirge, hinter der Stadt, flammten rätselhafte Lichter auf, kreisten, erloschen und erglühten neu.
Dascha berührte Glebs Hand.
„Siehst du sie? Die Lichter dort? Das sind die ,Weißgrünen'. Sie signalisieren. Es wird noch große Kämpfe mit ihnen geben, wird uns noch viel Blut kosten ..."
Was für ein Leben hatte Dascha ohne ihn geführt? Welche Macht hatte ihre Seele von seiner gelöst? Diese Macht hatte die frühere Dascha ausgelöscht, und eine andere, größere Dascha war erstanden. Mit dem Verstand begriff Gleb diese Macht, sein Herz jedoch konnte sich durchaus nicht mit ihr aussöhnen.
„Daschalein, was war das mit dir und dem Ingenieur Kleist? Was hat Loschak da ausgeplaudert? Was ist los? Einmal schickt Kleist in den Tod, das andere Mal bewahrt er vor dem Tode. Erzähl doch!"
Dascha schwieg eine Weile, dann antwortete sie widerstrebend: „Er hat die Geschichte mit der Spionageabwehr gemeint." „Was?" Er blieb stehen und packte ihren Arm.
Dascha lächelte, doch Gleb beachtete dieses Lächeln nicht.
„Na ja, die Spionageabwehr hatte mich verhaftet. Motja hatte sich bei Kleist für mich eingesetzt. Er hatte dann für mich gebürgt. Ich war wegen der ,Grünen'..."
„Warte doch, warte! Lass mich überlegen. Aber du hättest doch dabei umkommen können. Na, und weiter?"
„Das ist eine lange Geschichte. Bei Gelegenheit erzähle ich dir alles der Reihe nach. Aber jetzt fällt's mir schwer. Ich möchte mich nicht aufregen."
Sie schritt rasch aus und ließ ihn zurück. An ihren hastigen Bewegungen merkte er ihre Erregung. Er erinnerte sich: Auf dem Wege zum Kinderheim hatte sie sich ebenso benommen.
„Dascha, da stimmt etwas nicht! Dahinter steckt doch etwas. Steht vielleicht einer zwischen uns? Sag's geradeheraus! Du wirst immer so unruhig, wenn man von dir spricht."
„Wenn du mir nicht traust, wie soll ich mich da zu dir verhalten? Dann kannst du mich doch nicht verstehen."
Er folgte ihr schweigend in die klingende Abendstille, die Seele voll Leid und Verwirrung.
Heimgekommen, setzte sie sich sogleich an den Tisch und packte die Bücher aus, die in eine Zeitung gewickelt waren. Sie suchte sich eins aus, rückte die Lampe heran und stützte den Kopf in die Hände. „Was liest du da, Dascha?"
Er hatte weich und zärtlich fragen wollen, merkte aber selbst, dass es unaufrichtig und dumm klang.
Ohne vom Buch aufzusehen, sagte sie zwischen den Zähnen: „August Bebel ,Die Frau und der Sozialismus'." „Und das da? Was sind das für Bücher?" „Das — vom Genossen Lenin ,Staat und Revolution'. Nimm's, wenn du willst."
Mücken flogen zum offenen Fenster herein, kreisten um die Flamme, versengten sich am Zylinder und bedeckten den Tisch wie Hirsekörner. Vögel zwitscherten im Gebüsch auf den Hängen „Ja — nein? Ja — nein?". Vom offenen Fenster der Sawtschuks schimmerte einladend trübes Licht herüber.
Gleb stand auf und ging aus dem Zimmer.
Die Sawtschuks waren im Begriff, schlafen zu gehen. Der
Tisch war voller Speisereste. Motja, ohne Bluse, nur im Mieder, hantierte am Herd. Sawtschuk lag barfüßig und zerzaust auf dem Bett. Motja zog verschämt Mieder und Hemd über die Brust.
„Du bist ja kein Fremder, Gleb. Ich hatte mich schon für die Nacht..."
„Genier dich nicht, Motja. Ich weiß auch so, dass du ein strammes Frauenzimmer bist. Erzähle mir lieber, wie du Sawtschuk kirre machst."
„Sawtschuk? Wieso? Er ist jetzt ganz friedlich."
„Schwindle nur nicht, wem habe ich gestern erst die Knochen geknetet? Vergessen, was?"
Motjas Augen blitzten. „Ach du, Zottelkopf. Na, dann denk mal nach — wem habe ich die Schnauze poliert?" Gleb lachte — lustige Leutchen, die Sawtschuks!
„Na, was ist, Sawtschuk, Genosse? Es wird dir streng verboten, dich mit Motja herumzuschlagen. Halt dir die Hände für andere Arbeit frei." Motja stieß einen Freudenschrei aus und lief zu Gleb.
„Ja, ja, Gleb, Lieber! Was ist das Leben ohne Arbeit — nur Unglück und Tränen. Als Arbeit da war, war auch Familie da. Und als die Kinder da waren, wurzelte ich in der Erde wie ein Baum. Jetzt komme ich mir entwurzelt vor, um mich herum sind nur Dreck und Steine."
Mit Tränen in den Augen ging sie wieder zum Tisch. Sawtschuk aber setzte sich in drohender Haltung auf den Bettrand und stemmte seine schwieligen Füße mit den verkrüppelten Zehen gegen den Fußboden.
„Pass auf, Gleb! Wenn diese Hände in ein leeres Loch greifen, bist du ein toter Mann! Morgen gehe ich in die Böttcherei, mal hören, was für ein Lied meine Sägen singen. Dein Gespons ist ein Teufelsweib; hat die ganze Parteizelle um den Finger gewickelt."
Motja drehte sich zu Gleb um und sah ihm forschend ins Gesicht. Sie wollte etwas sagen, konnte sich aber nicht entscheiden und begann den Tisch abzuräumen.
„Na, was ist denn? Red schon, Motja", sagte Gleb lächelnd. „Was fürchtest du denn?"
„Vor dir hab ich jedenfalls keine Angst, Gleb, denk das bitte nicht! Warum nur hat Dascha ihre Njurka in fremde Hände gegeben, als wär's ein junger Hund? Weib ohne Kinder — Weib ohne Zucht! Sie wollte mich auch in ihre Herde locken, aber ich bin ja noch zu retten."
Sawtschuk schlug sich mit der Faust aufs Knie. „Na, das ist ein Weib, dein Gespons! Hol's der Teufel, hat die Parteizelle einfach um den Finger gewickelt, hoho!"
Gleb aber hing gierig an Motjas Lippen. „Los doch, Motja! Erzähl mir von Dascha! Was sie hier für Heldentaten ohne mich vollbracht hat."
Durchschaute ihn Motja? Wusste sie, was für ein Leben Dascha und er in der letzten Zeit führten? Sie betrachtete ihn voll verschmitzter Neugier und schien ihn zum besten zu halten.
„Was ist denn, Gleb Iwanowitsch? Hast du dir die Finger verbrannt?"
„Ganz recht; Dascha ist nicht wieder zu erkennen. Verstehst du, sie will sich mir nicht anvertrauen, ist zu stolz dazu!"
Motja kniff spöttisch die Augen ein und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Mach keine Winkelzüge, Gleb Iwanowitsch! Ich merke deine Schliche. Sieh einer den Schlauberger an! Du hast sie allein gelassen. Aber das Weibchen war nicht unterzukriegen — sie hat durchgehalten. Eine andere wäre draufgegangen. Versuch ihr jetzt mal mit bloßen Händen nahe zu kommen! Gib's zu: du bist ihr auf die Pelle gerückt, ja? Na, und da hat sie dich abfahren lassen. Stimmt doch. Ich sage dir aber nichts. Nun gerade nicht. Dass du's weißt."
Gleb lachte, um seine Verlegenheit zu bemänteln.
„Hast du aber einen Riecher, Motja! Dich kann man nicht auf den Leim führen. Hast recht, selbständig ist sie
geworden. Aber ich verstehe nicht, warum sie den Mund nicht aufkriegt. Könnte sich doch ein bisschen dicke tun. Vielleicht steckt aber etwas anderes dahinter? Vielleicht ist sie mal gestrauchelt als Frau? Dann soll sie es sagen, ich bin doch kein Unmensch."
Auch diesmal durchschaute Motja seine geheime Absicht.
„Ach, Gleb Iwanowitsch! Schämst du dich denn nicht, dich so zu verstellen? Geh nach Hause und leg dich schlafen. Wetz nicht unnütz den Schnabel. Ich hab deine Dascha sehr gern, Gleb Iwanowitsch! Hätte sie Njurka bloß nicht ins Waisenhaus gesteckt! Njurka ist doch bei mir gewesen. Sie hätte auch weiter bei mir bleiben können. Wie kann eine Frau leben ohne Kinder und ohne Mann? Na, es ist nicht ihre Schuld allein. Denk mal über dich selber nach. Du hast auch vieles wiedergutzumachen, Gleb Iwanowitsch."
Doch im Hausflur, als sie Gleb hinausbrachte, drückte Motja seine Hand und lachte verschämt auf.
„Ach, Gleb, Lieber! Du bist doch unser Freund. Du weißt gar nicht, wie froh ich bin. Du weißt es nicht! Es ist wieder soweit, Gleb! Jawohl! Ich werde wieder Mutter, wie damals, Gleb! Wieder!"
Sie öffnete die Tür und seufzte.
„Was für ein Unglück, Gleb! Ihr beide, Dascha und du, könnt nicht mehr wie früher zusammen leben. Nein! Jetzt lässt sie sich nicht mehr binden. Geschieht euch Schuften ganz recht: verdammt eure Weiber nicht zu einem Hundeleben."
Gleb fand Dascha in der gleichen Haltung wieder: über das Buch gebeugt, den Kopf auf die Hände gestützt. Ihr Gesicht war streng und besorgt.
Sie drehte sich rasch zu ihm um und stemmte den Ellenbogen auf das Buch. „Nun, was hast du bei den Sawtschuks erfahren?"
Gleb umarmte sie zärtlich und sagte mit ganz anderer
Stimme als sonst: „Mir ist so elend zumute, Dascha. Du behandelst mich wie einen Fremden, als hieltest du ein Messer am Busen versteckt."
Sie sagte nichts, schmiegte sich aber an ihn und wurde wieder ein schwaches, liebendes Weib. Es schien ihm sogar, dass der frühere Geruch nach Milch von ihr ausgehe.
„Na, und wenn auch was gewesen ist — das ist doch gar nicht wichtig. In einer schwachen Stunde kann das allen passieren."
Sie riss sich von ihm los und seufzte. Dann sah sie ihm wie Motja in die Augen und sagte leise, mit schmerzlich gebrochener Stimme. „Ja, allen, allen, Gleb."
Gleb war, als schleudere ihn eine Riesenhand von Dascha fort und presse ihm die Kehle zusammen. Sein Herz stockte. Blass stand er da, brachte kein Wort hervor. Dann murmelte er heiser: „So! Davon hättest du schon längst anfangen sollen. Aha, rumgetrieben hast du dich, mit geilen Kötern."
Sie sprang auf, umklammerte die Stuhllehne und warf den Kopf zurück. „Komm zu dir, Gleb! Was redest du da?"
Sie verstummte mit hochgezogenen Brauen.
Er atmete schwer und starrte sie mit der sinnlosen Wut eines Menschen an, den ein unerwarteter Schlag getroffen hat. Er begriff noch nicht, was ihm widerfahren war, fühlte aber, dass etwas Furchtbares und nicht Wiedergutzumachendes geschehen war, dass sein Ausfall gegen Dascha ihn selbst erniedrigt hatte. Verwirrt wich er zurück, seine Lippen zitterten.
Dascha schwieg, musterte ihn von Kopf bis Fuß und sagte dann mit tiefer, etwas heiserer Stimme: „Ich hab dich auf die Probe gestellt, Gleb. Siehst du, du kannst mir noch nicht zuhören. Ich habe das nur gesagt, damit du Farbe bekennst. Ich weiß sehr wohl, wie es um dich steht. Du bist ein guter Soldat, aber im Leben bist du — ein schlechter Kommunist."

 

V. Der „innere" Emigrant

Das Versteck

Das Fenster mit seinem Rahmen aus massiver Eiche wurde nie geöffnet; durch die Lüftungsklappe und die Ritzen war der Staub aus den Steinbrüchen gedrungen und hatte sich samtweich zwischen das Doppelfenster gelegt. Wenn morgens die Berge in fliederfarbenem Licht erglänzten und sich Sonnenspritzer seitlich durch die Fensterkreuze stahlen, tanzten regenbogenfarbene Kristalle zwischen den Scheiben. Der Technische Leiter, Ingenieur Kleist, stand stundenlang am Fenster; er beobachtete diese schwebenden Welten, Zeugen vergangener geologischer Perioden, und spürte die dichte Stille des Zimmers.
Und weil sein Arbeitsraum in der Tiefe des Korridors lag, wo tags dämmriges Schweigen und nachts in schwarzer Leere zottige Schatten krochen, fand Kleist ihn erfreulich unzugänglich und ebenso entlegen wie etwa den von Heckenrosen und Kreuzdorn überwucherten Steinbruch dort in der Schlucht.
Jetzt, wo das Werk verfiel, die Abbaustellen in den Bergen brachlagen und die zusammengestürzten Bremsberge verrosteten, jetzt löste sich das Leben in seine Grundelemente auf: in Chaos und Ruhe. Warum denn nicht Technischer Leiter in einer toten Fabrik bleiben, da dies zu nichts verpflichtete?
Hauptsache war: im Zimmer die Fenster nie öffnen und den gewaltigen Sinn der Bautätigkeit der Spinnen zwischen den Scheiben erfassen! Seit einem bestimmten Zeitpunkt
zwischen Vergangenheit und Gegenwart hatte Kleist plötzlich die Schönheit der Spinnennetzarchitektur zwischen den Doppelfenstern erkannt. Stundenlang stand er nun am Fenster, der Mann mit der silbrigen Haarbürste, gebückt, langbeinig—stand und betrachtete das Perlengewebe der Spinnennetze, die vielen durchsichtigen Flächen mit verschiedenen Winkeln und Schnittlinien, die zahllosen Treppen, Kreuzungen und Verkettungen, jede mit anderem Radius und alle voll immenser Spannkraft.
In sein Arbeitszimmer kam niemand: Wer brauchte einen Technischen Leiter, wenn das Werk erstorben lag wie ein Friedhof und der Zement sich in den feuchten Schuppen längst in eisenharte Klötze verwandelt hatte? Wer brauchte ihn, wenn die Drahtseile gerissen waren und die Loren auf den Abhängen herumlagen und von Unkraut überwuchert wurden? Wer brauchte einen Technischen Leiter, wenn qualifizierte Arbeiter müßig auf der Chaussee, auf dem Werkgelände, in den leeren Gebäuden und Höfen umherschlichen, wenn sie Daubenholz zum Heizen, Messing für Feuerzeuge und die Riemen von den Transmissionen stahlen?...
Dort unten im Kellergeschoß, in den halbdunklen unbewohnbaren Löchern, lärmte, trampelte und johlte tagtäglich das Gewerkschaftskomitee — in Kleists Vorstellung war das eine Art Spelunke, ein Unterschlupf für Aufwiegler und Räuber. Durchs Fenster, durch die staubigen trüben Scheiben sah er Arbeiter die Betonstufen des Kellereingangs hinuntereilen mit finsteren, von Hunger und Elend abgezehrten Gesichtern. Sie waren mit sich selbst beschäftigt — mit ihrem grauenvollen unverständlichen Spiel — und kümmerten sich nicht um ihn. Alles gestaltete sich zu seinem Vorteil, dank der klugen Voraussicht und Geschicklichkeit, mit der er die einfache mathematische Aufgabe gestellt hatte. Aus seinem Schlupfwinkel beobachtete er sie mit spöttischer Verachtung und beängstigendem Hass. All diese von Hunger und Untätigkeit entkräfteten Ge-
schöpfe waren schuld an der Zerstörung und der großen Tragödie — der Revolution. Sie hatten ihm die Zukunft vernichtet, hatten die Welt wie einen Fetzen Werg verbrannt und nur Bruchteile der Vergangenheit in diesem Versteck vergessen.
Der Beton des Treppenabsatzes und der Kellerstufen vor dem Fenster flimmerte in der Sonne. Es sah aus, als wäre er bis zur Weißglut erhitzt und müsste jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Der blasige und brüchige Zement krachte und knirschte unter den Stiefeln der Arbeiter, die wie Ameisenkolonnen hin und her hasteten.
Wozu brauchte man heute ein Betriebsgewerkschaftskomitee, da es doch früher keins gegeben und das Werk trotzdem die ganze Welt erschüttert hatte? Was hatten die Arbeiter dort zu tun, sie waren doch zur Untätigkeit verurteilt inmitten der Reste vergangener, genial organisierter Arbeit? Wozu diese geschäftige Emsigkeit, wenn der morgige Tag genau wie der gestrige war und ihm eine Reihe ebenso sinnloser Tage folgen würde — wie sich endlos wiederholende Spiegelbilder?
Jeden Tag Punkt eins trat der Bürodiener Jakob ins Zimmer, ein kleines Messingtablett in der Hand. Er kam schweigend herein, mit strengem Gesicht und in ein wenig vornübergebeugter Haltung. Sein grauer Schnurrbart und die grauen Borsten auf dem roten Schädel waren merkwürdig durchsichtig wie Glas. Er stellte ein Glas Tee auf den Tisch und legte eine kleine Papiertüte mit winzigen Süßstofftabletten daneben. Dann trat er zwei Schritte zurück, bückte sich, nahm mit zwei Fingern behutsam ein paar Staubflöckchen vom Boden auf und tat sie sorgfältig in den Drahtkorb unter dem Tisch. Die Zimmerwände waren fleckenlos weiß, und die Gebäudepläne in Eichenholzrahmen hoben sich ebenso scharf davon ab wie in vergangenen Tagen. „Schon eins, Jakob?" „Punkt eins, Hermann Hermannowitsch."
„Sehr gut. Du kannst gehen. Lass niemand zu mir herein."
„Zu Befehl!"
Kleist stand am Fenster, mit dem Rücken zu Jakob. Seine Silberborsten glitzerten grimmig, sein altes Jackett stand ab wie ein Schwanz.
Von weitem drangen einzelne Stimmen aus den noch halbleeren Büroräumen herüber, und wie Kücken schiepten die Rechenschieber. Dort saßen schon neue Leute, die der Volkswirtschaftsrat hergeschickt hatte. Wer sie waren und was sie dort trieben — das wusste Ingenieur Kleist nicht und wollte es auch nicht wissen. Ihm war sein von allen vergessenes Arbeitszimmer geblieben, das von Jakob bewacht wurde und in dem einzig die Vergangenheit lebte. Die Gegenwart aber stürmte auf der Chaussee dahin mit Autos, Leiterwagen und Passanten, drängte vorwärts mit Scharen von Arbeitern, die sich von der Kette losgerissen und sinnlos schreien und schimpfen gelernt hatten (was früher von der Direktion strengstens untersagt war).
Er blickte auf den steilen, von Gesteinsschichten durchfurchten Abhang mit den krausen Wacholderbüschen. Auf dem Gipfel ragte mit seinen Arkaden und Türmen der massive Palast aus unbehauenem Stein.
„Was haben sie jetzt dort, Jakob?"
„Arbeiterklub und Parteizelle, Hermann Hermannowitsch."
„Sie haben eine neue, unverständliche Sprache mitgebracht. Bitte lass niemand in dieses Zimmer, und mach unter keinen Umständen das Fenster auf. Du kannst gehen."
Ihm war, als sähe er zum ersten Mal das Haus des Direktors (Parteizelle!); er bewunderte seine kolossale Wucht und überwältigende Erhabenheit. Und er, Kleist, hatte dieses Haus gebaut.
Links hinter dem Berggrat stiegen zwischen einzelnen grünen Flecken und Gestein die Fabrikschlote aus Eisenbeton und die Drahtseilbahn in die Höhe, hinter der Seilbahn ragten unterhalb der Schlote die Kuppeln und Bogen der Werkgebäude empor. Auch sie hatte er, Ingenieur Kleist, gebaut. Er konnte nicht ins Ausland fliehen, bevor er seine Bauten nicht zerstört hatte. Seine Schöpfungen standen ihm im Wege, unverrückbarer als die Berge, unabwendbarer als die Zeit; er war ihr Gefangener.
Dieses Zimmer mit dem blankgebohnerten Fußboden atmete noch die einstige sachliche Atmosphäre. Zeichnungen hingen an den Wänden, lagen auf dem massiven Eichenschreibtisch, die geschnitzten schweren Möbel hatten ihre vornehme Gewichtigkeit bewahrt. Hier war die Zeit stehen geblieben, und das vergangene Leben hatte sich bis zur körperlichen Tastbarkeit verdichtet.

Die Gegner

War Kleist bei seinen logischen Schlüssen ein Fehler unterlaufen/oder hatte das Leben an einem gewissen Zeitpunkt aufgehört, sich den Gesetzen der menschlichen Vernunft zu fügen — der Kreis seiner isolierten Welt war jedenfalls unwiderruflich zersprungen und fiel auseinander wie durchgerosteter Draht.
Noch vor einer Stunde, als ihm Jakob durch sein gewohntes Erscheinen die Unverändertheit des gewohnten Zeitablaufs bestätigt hatte, fand seine Vorstellung vom Leben ihren klaren Ausdruck in einem strengen graphischen Schema — in Kreis und Tangente. In Augenblicken seliger Ruhe, sicher geborgen hinter vielen Wänden, hatte er an seinem Schreibtisch gesessen und im Einklang mit der traditionellen Würde seines Arbeitszimmers unbewusst immer ein und dieselbe Zeichnung mit Bleistift in ein englisches Skizzenbuch gemalt: Kreis und Tangente — ein Axiom, das unter allen Umständen richtig war.
Und mit einemmal fiel alles in Scherben. Das Axiom erwies sich plötzlich als Unsinn: die Tangente verwandelte sich in Stein und zerschmetterte das Gebilde. Und weil das alles ganz einfach und ohne Lärm geschah, drückte tödliches Entsetzen Ingenieur Kleist das Herz ab.
Er war auf die Toilette gegangen und dort etwas länger geblieben, infolge der minderwertigen Ernährung litt er oft an Darmbeschwerden. Auf dem Rückweg hatte er schon von weitem gesehen, dass die Tür seines Zimmers offen stand. Das hätte weder er noch Jakob je zugelassen!
Gleich als Jakob gegangen war, hatten Arbeiter vor der Kellertreppe gestanden und zu den Steinbrüchen und dann auf sein Fenster gestarrt. Schon in diesem Moment hatte er einen leichten elektrischen Schlag gespürt, eine Unruhe, die jedoch in der nächsten Minute vergessen war. Nun, beim Anblick der offen stehenden Tür, fühlte er den gleichen elektrischen Schlag und eine Unruhe, die Übelkeit erregte.
Kühle Würde und den gewohnten Gleichmut herauskehrend, betrat Kleist mit festem Schritt das Zimmer. Er blieb auf der Schwelle stehen und konnte nicht gleich fassen, was geschehen war. Das Fenster stand weit offen, Staub wirbelte auf Tisch und Fensterbrett. Durch das offene Fenster sah man die Berghänge machtvoll in die Luft steigen, frühlingsgrün, von Steinhalden grau gescheckt; auf der obersten Terrasse der Abbaustellen zeichnete sich deutlich trotz der weiten Entfernung ein kleines Häuschen mit zwei Fenstern ab. Tabaksrauch und zerfetzte Spinnweben vermengten sich zu einem schwebenden durchsichtigen Schleier.
Am Fenster stand, mit Pfeife im Mund, ein glattrasierter Mann in Feldbluse und blauen Wickelgamaschen. Er hatte kräftige, rechteckige Kiefer, seine Wangen waren eingefallen.
„Ach, wie viel Jahre ist es her!" begrüßte er Kleist mit heiterer Ungezwungenheit. „Habe die Ehre! Sie haben sich hier so sicher verbarrikadiert, dass man kaum zu Ihnen durchdringt."
Er fegte mit dem Helm die Spinnweben aus dem Fensterrahmen und schlug nach den Spinnen, die in panischem Schrecken umherliefen.
„Ein schöner Schlupfwinkel, Genosse Technischer Leiter -eine richtige Sackgasse! Und alles mit Schutzfarbe. Keine schlechte Erfindung."
Mit schleppenden Schritten ging Kleist zum Tisch. Es hatte einmal eine Stunde gegeben, da dieser Mensch, zerschlagen und zermartert, den sicheren Tod vor Augen, ihn aus blutiger Maske angegrinst hatte. Und nun stand er plötzlich wieder vor ihm und war so merkwürdig, so unheimlich ruhig.
„Ja, ich öffne nie das Fenster."
„Recht so, Genosse Technischer Leiter. Hier bei uns weht ein giftiger Zugwind. Die Bolschewiki — zur Hölle mit ihnen! — haben alles auf ganz teuflische Art und Weise kurz und klein geschlagen. Eine verfluchte Bande! Da kann einer schon den Kopf verlieren. Ich verstehe Sie!"
„Warum hat Jakob Sie nicht angemeldet?"
„Ihren Jakob schicken wir zum Holzsägen in die Böttcherei: Lakaien passen nicht in unsere Lebensordnung. — Sie müssten sich an mich erinnern, Genosse Technischer Leiter."
„Ja, ich erinnere mich an Sie. Aber wie dem auch sei, was folgt daraus?"
„Ja, wie soll ich sagen ... Ich gehe durch das Werk, wissen Sie, durch alle Ecken und Winkel. Auf den Spuren der verflossenen Herrlichkeit. Und finde nichts als Trümmer und gräuliche Verwüstung. Die Bremsberge sind verfallen, die Drahtseile zerrissen, überall Bruch ... Und die Spezialisten haben sich wie Ratten in ihre Löcher verkrochen. Warum ist alles voller Spinnweben? Sie und das Werk — alles voller Spinnweben? Das frage ich Sie."
„Nehmen wir an, ich hätte diese Frage bereits beantwortet. Was wünschen Sie noch von mir?"
„Ja, wissen Sie, ich bin da plötzlich auf Ihre Barrikade gestoßen. Los, denke ich, das Ding wird genommen. Das ist so eine verdammte Angewohnheit von mir, Genosse Technischer Leiter."
„Ich führe nie müßige Gespräche. Was Sie da reden, verstehe ich nicht und will es nicht verstehen. Seien Sie so liebenswürdig und lassen Sie mich in Ruhe."
Gleb ging zum Tisch und grinste. Dann nahm er die Pfeife aus dem Mund und sah Kleist scharf an. Spiegelten sich in seinen Augen Spinnen, oder umschwebten ihn grausige Gespenster — Kleists Gesicht wurde staubfahl.
„Bürger Kleist, erinnern Sie sich noch an jenen schönen Abend, als Sie mich auf so unvergessliche Weise ausgezeichnet haben? Man hat mir damals ordentlich das Fell gegerbt, auch die Därme gründlich mit Blut ausgespült. Ihr ,Dampfbad' hatte es in sich. Aber so ein Bad hat sein Gutes — wenn es die Teufel nicht überheizen. So, und nun komme ich Sie besuchen, um über die vergangene Zeit zu schwatzen. Ich treffe mich gern mit alten Freunden, Genosse Technischer Leiter!" Er steckte die Pfeife in den Mundwinkel und lachte auf.
„Gestatten Sie, dass ich Sie mit einem Rätsel aufheitere, Genosse Technischer Leiter. Keine Bange, das Rätsel ist kinderleicht, aber sehr amüsant. Es waren einmal im Frühling vier Freunde. Die verfluchten Weißen kamen den vier Dummköpfen auf die Schliche und schleiften sie in dieses Zimmer hier. Und ihre Gesichter sahen aus wie zerrissene Latschen. Warum wurden die zerfetzten Latschen hier reingeschleift, und wie haben sich vier tote Dummköpfe in einen lebenden verwandeln können? Na, ist das nicht komisch? Weshalb sind Sie so finster?" Er lachte wieder vergnügt.
„Lange haben wir beide uns nicht gesehen, Genosse Technischer Leiter. Werde meinen alten Freund mal besuchen, hab ich gedacht. Und Sie freuen sich nicht mal. Wie sich die Leute verändern! Früher liefen Sie wie ein Held umher,
und nun lassen Sie den Kopf hängen. Das ist nicht gut, Genosse Technischer Leiter. Man muss sich zusammenreißen!"
Die Stimmen der Arbeiter vor dem Fenster klangen ungewöhnlich, laut und nahe. Gleb fixierte Kleist mit einem leichten Grinsen, als erwartete er, dass dieser einen Laut von sich gebe. Kleist aber blieb stumm und starr wie ein Leichnam.
„Entschuldigen Sie den Scherz, Genosse Technischer Leiter. Keine Bange, 's gibt Schlimmeres. Ich habe nun mal so einen spaßhaften Charakter. Dagegen lässt sich nichts machen! Auf Wiedersehen, Genosse Technischer Leiter!"
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging rasch aus dem Zimmer. Erschöpft von dieser Begegnung, saß Kleist lange da und stierte erschüttert vor sich hin. Mit ehrerbietiger Würde trat Jakob wieder ein und blieb mitten im Zimmer stehen. Er war fassungslos, sein Kopf wackelte. Kleist sah ihn mit fiebrigen Augen an und fragte sehr leise und streng: „Nun, Jakob? Willst du mir nicht sagen, wie das geschehen ist?"
„Meine Schuld ist es nicht, Hermann Hermannowitsch. Bei denen gibt es weder verboten noch verschlossen — nirgends und nie. Sie haben die Macht, Hermann Hermannowitsch, und sie haben das Recht."
Jakobs Gegenwart tat wohl. Seine kalte Ergebenheit wirkte beruhigend.
„Ist das nun die Parteizelle, Jakob?"
„Das war Tschumalow... ein Schlosser... Ist aus dem Krieg gekommen und macht jetzt den Häuptling. Kann denn vor denen jetzt etwas standhalten? Die rennen einen über den Haufen, Hermann Hermannowitsch."
„Du hast auch nicht standgehalten, Jakob?"
„Ich auch nicht, Hermann Hermannowitsch. Zu meinem Leidwesen ist er auch in Ihr Reich eingebrochen."
Kleist schwieg, als hätte er Jakobs letzte Worte nicht gehört. Ruhig und sachlich steckte er sich eine Zigarette an.
„Du entsinnst dich, Jakob — es waren vier. Sie wurden doch in jener Nacht erschossen? Ich weiß genau, dass sie erledigt wurden."
„Sie wurden damals geschlagen, Hermann Hermannowitsch; totgeprügelt."
„Ja, Jakob, ein grässliches Ereignis, das man nie vergisst. Hierzu muss ich bemerken: Ich habe damals ganz bewusst gehandelt, ohne jeden äußeren Zwang. Angst? Rache? Das war es nicht. Es gibt nur eine einzige Macht, das ist die Zeit, die Zeit aber setzt sich aus den Ereignissen zusammen. Ebenso bewusst habe ich alles Menschenmögliche getan, um die Frau dieses Arbeiters zu retten."
Die Zigarette rutschte zwischen Zeige- und Mittelfinger auf und ab und konnte nicht die richtige Stelle finden.
„Bleib bei mir, Jakob, ich fühle mich nicht ganz wohl."
„Sie sollten nach Hause gehen, Hermann Hermannowitsch, Sie brauchen Ruhe."
„Wo bin ich zu Hause, Jakob? Im Ausland? Glaubst du auch, Alter, dass wir beide jetzt vielleicht unsere letzten Stunden verleben?"
„Wie kann man nur so etwas denken, Hermann Hermannowitsch! Unsere Arbeiter sind zwar große Schreihälse, aber sie sind friedlich und nicht imstande, einen Menschen umzubringen. Seien Sie unbesorgt, Hermann Hermannowitsch."
Jakobs Kopf zitterte.
Kaum hatte Jakob die letzten Worte ausgesprochen, als sich Kleist im Sessel zurücklehnte und sein Gesicht wieder fahl wurde.
„Du entsinnst dich, Jakob? Diesen Menschen habe ich dem Tod ausgeliefert, doch der Tod prallt auf mich zurück. Begleite mich, Jakob."
Er stand auf und ging an Jakob vorbei, Entsetzen in den Augen. Mit greisenhafter Geschäftigkeit nahm Jakob Kleists Hut und Stock und trippelte ihm nach in die nächtliche Finsternis des Korridors.

Die Abrechnung

Auf einem mit Schotter bedeckten Pfad, der durch Kornelkirschen-, Thuja- und Wacholdergesträuch führte, ging Kleist den Berg hinauf. Aus der Schlucht stieg nächtliche Finsternis. In den Gärten und am Berghang verschwammen in der Dämmerung Eschen und Hainbuchen, dazwischen ragten, riesigen schwarzen Fackeln gleich, Pappeln in die Höhe.
Unmittelbar am Fuße des steilen Berges lagen die Gebäude des Werkes. Hinter Türmen und Dächern schimmerte matt das Meer.
Alles war entrückt und fremd. Verständlich und nahe waren nur die Giganten aus Beton, die er, Ingenieur Kleist, errichtet hatte. In dieser schrecklichen Zeit, da das erloschene Werk in drohendem Schweigen lag, ein Friedhof erstarrter Maschinen, irrte Kleist einsam, auf seinen Stock gestützt, über Schienenstränge und Treppen hinweg durch das Werkgelände mit den hohen Brücken und düsteren Türmen.
In diesen verödeten Bauwerken sah er nur eins: den grandiosen Tod der Vergangenheit. Sein graphisches Schema erwies sich als richtig, das Rad der Ereignisse rollte unaufhaltsam seine vorgezeichnete Bahn.
Der seltsame Zusammenstoß mit Gleb Tschumalow hatte Kleist gezeigt, dass diese Bahn sich vollendete und seine Lebensuhr abgelaufen war.
Er hätte seinerzeit das Werk sprengen und mit ihm untergehen sollen. Das wäre eine gute Antwort gewesen — ganz nach dem Gesetz von Druck und Gegendruck.
Wenn man ihm jetzt entgegentreten würde — er wäre durchaus bereit. Was jetzt noch zu tun blieb, war im Grunde das unbedeutendste — ihn an die Wand zu stellen und ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Die Kultur welcher Welt brachte der Arbeiter Tschumalow mit sich? Auferstanden aus Blut, war er unüberwindlich und furchtlos, und in seinen Augen lag unerbittliche Kraft.
Ein eigensinniges, unheimliches Gesicht mit einem eigensinnigen unheimlichen Helm!
Dieser Helm bestärkte noch die furchtbare Gegenwart. Und außer dem Helm und dem Gesicht Gleb Tschumalows existierte nichts.
Am besten sollte man ihn, Kleist, hier, inmitten der Fabrikgebäude, erschlagen, nicht zu Hause. Ihn erschlagen hieße mit ihm auch alle diese Tempel seines Lebens zerstören.
Ü ber den fernen Bergen hinter der Stadt erlosch der Himmel wie erkaltender Stahl, und die zackige Gebirgssilhouette hob sich schwarz von den Dächern des gewaltigen Werkes ab. Ein Flaschenzug kreischte irgendwo unter müden Händen. Erschrocken schrieen die Lokomotiven auf dem Bahnhof; irgendwo dort fiel Eisen mit zitterndem Klirren.
Gleb stand auf der aus Stahlbändern geflochtenen Plattform eines Förderturms. Hier waren einst die Kohlenloren für die Maschinenhalle abgefertigt worden. Sie wurden mit dem Fahrstuhl in den schwarzen Schlund des Schachtes hinuntergelassen und liefen dann auf Schienen durch Tunnel zur Maschinenhalle. Nun war die Plattform leer, und hinter dem Geländer gähnte in bodenloser Finsternis der Rachen des Abgrundes.
Gleb umklammerte die Eisenstange des Geländers, dass ihn die Finger schmerzten; er betrachtete die Betonbauten, die Schlote, die zu den Sternen strebten, die wie Saiten straffgespannten Drahtseile mit den still stehenden Loren.
Einst hatte machtvolles Leben das Werk erfüllt. Es war eine richtige Stadt gewesen, mit Zehntausenden Arbeitern bevölkert. Nachts hatten die Fenster der Werkhallen in blendendem Licht gestrahlt und überall elektrische Lampen gleich Monden und Sternen geleuchtet. Dort in der Bucht hatten an den Pieren Ozeandampfer gelegen und
Millionen Tonnen frischen Zement geschluckt. Vom Werk zu den Pieren, von den Pieren zum Werk waren Laufkörbe in langen Reihen durch die Luft geschwebt.
Das war früher gewesen. Jetzt lag alles still und öde. Gras wucherte auf Bremsbergen und Zufahrtsstraßen. Rost bedeckte wie Grind das Metall, und die Mauern der Gebäude hatten Risswunden und waren stellenweise von Sturzbächen unterspült.
Kleist ging langsam, blieb oft stehen und betrachtete die vielstöckigen Gebäudeblocks, wie Grabmäler einer vergangenen Epoche. Schaute und sann. Ging weiter, blieb stehen und sann.
Gleb beugte sich über das Geländer und bohrte seinen Blick in den verschwommenen Schatten Kleists.
Da war er, der Mensch, den er voller Genuss bei erstbester Gelegenheit hätte umbringen können. Kleist war es gewesen, der ihn einst mit rachsüchtiger Bosheit der Offiziersmeute ausgeliefert hatte. Der Folter und dem Tod. Und diesen Tag würde Gleb niemals, in alle Ewigkeit nicht, vergessen können.
Man hatte die Arbeiter des Werkes auf der Chaussee vor dem Verwaltungsgebäude antreten lassen (es waren nicht mehr viele gewesen: manche hatten sich versteckt, andere waren mit der Roten Armee gegangen). Er und noch drei Genossen waren bei den Straßenkämpfen aufgehalten worden und hatten nicht mehr fliehen können. Die Nagaika in der Hand, hatte einer der Offiziere von einem Zettel die Namen verlesen. Mit seiner Nagaika hatte er jeden der Aufgerufenen geschlagen, ehe er ihn den anderen Offizieren übergab. Die hatten ebenfalls geschlagen — mit Nagaikas und Pistolenkolben. Völlig benommen, hatte Gleb die Arbeiter, die noch in der Reihe standen, hysterisch schreien hören. Durch Blut und Tränen hatte er sie nach allen Seiten auseinander laufen und die Offiziere hinter ihnen herjagen sehen. Und als er und die drei anderen mit blutigem Gesicht dann in Kleists Arbeitszimmer geschleift
worden waren, hatte der Ingenieur sie angestarrt, blass, mit bebendem Kiefer. Die Offiziere hatten ihn etwas gefragt, er aber, innerlich bebend, hatte gespielt gleichgültig geschwiegen. Er hatte Gleb angeblickt und geschwiegen, und in seinen Augen hatte Gleb angewidertes Mitleid gesehen. Dann hatte Kleist leise und heiser gesagt: „Ja, das ist er. Und die da ... ja, ja ... das sind sie." „Haben Sie sonst nichts zu sagen, Herr Kleist?" „Der weitere Verlauf der Dinge entzieht sich meinem Einfluss, meine Herren. Das ist schon Sache Ihres Gutdünkens."
Sie waren in einen leeren Schuppen geworfen und bis spät in die Nacht hinein geprügelt worden. In klaren Augenblicken hatte Gleb die Schläge gespürt — leichte, ferne Schläge, die nicht einmal schmerzten, oder wuchtige, schüttelnde Hiebe. Doch auch sie waren schmerzlos gewesen und seltsam überflüssig: als hätte er eingemauert in einem Fass gesessen und jemand sinnlos und mutwillig mit dem Fuß dagegengestoßen.
Als er in der Dunkelheit zu sich gekommen war, hatte er lange nicht begreifen können, wo er sich befand. Er war im Schuppen umhergekrochen und hatte nach dem Ausgang gesucht; er war auf schlaffe, kalte Körper gestoßen und hatte sich entkräftet neben sie gelegt. Dann war er an den Wänden entlanggekrochen, bis er auf einen verschütteten Durchbruch stieß. Im Schutze der Nacht und der Sträucher war er nach Hause gewankt, und seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen. So etwas konnte man niemals, in alle Ewigkeit nicht, vergessen.
Gleb hatte auch heute daran gedacht, als er in Kleists Zimmer stand, und er dachte jetzt daran, als er Kleist auf dem weiten Gelände umherirren sah. „Guten Abend, Genosse Technischer Leiter!"
Kleist blieb wie angewurzelt stehen, fing sich aber rasch wieder und sah nicht zu Gleb hin, sondern zu den schwarzen Fensterhöhlen der Maschinenhalle.
Dieser Mensch war allgegenwärtig. Er verfolgte ihn nicht, stand nur überall im Wege und quälte ihn wie ein Alptraum. Unmöglich, ihm zu entrinnen. In früheren Tagen war dieser Arbeiter in der Masse der blauen Blusen untergegangen, hatte weder Gesicht noch Stimme gehabt und unbemerkt wie alle anderen auch die ihm aufgetragene Arbeit getan — ein winziges Teilchen in dem immensen, komplizierten Produktionsprozess. Wie kam es, dass er, der einst so mächtige und starke Kleist, der rohen Gewalt dieses Menschen nichts mehr entgegenzustellen hatte? Wo lag der Ausgangspunkt dieser Verschiebung? War es der Moment gewesen, als er Tschumalow der Vernichtung preisgab, oder heute, da er diesen Arbeiter wiederauferstanden aus der Vergangenheit in seinem Zimmer erblickt hatte?
„Kommen Sie herauf, Genosse Technischer Leiter, von oben ist das Grab noch tiefer. Sie schleichen hier rum, und ich schleiche rum, tagtäglich. Wozu das alles?"
Die Logik der Ereignisse kennt nur eins: erbarmungsloses Ende und unerbittlichen Anfang. Zufälle gibt es nicht, Zufälle sind Illusion. Kleist fügte sich der Stimme dieses unversehens wieder aufgetauchten Menschen und kletterte langsam, mit gewohnter Gelassenheit und Würde die Treppe hinauf.
„Geben Sie Obacht, Genosse Technischer Leiter, bei einem unvorsichtigen Schritt kann man hier in den Tartarus purzeln. Verdammte Löcher haben Sie gebaut."
Kleist entgegnete kalt und selbstbewusst: „Wir haben für Jahrhunderte gebaut — dauerhaft und vernünftig."
„Ja, Genosse Technischer Leiter, eine uneinnehmbare Burg haben Sie aufgetürmt, aber sie hat nicht standgehalten und ist zusammengekracht. Ihr Verstand ist keinen roten Heller wert. Was ist denn nun daraus geworden, aus Ihren Jahrhunderten?"
Gleb rauchte seine Pfeife, und durch seinen gutmütigen Spott klang Strenge. Kleist stand wie gelähmt und stützte sich auf das Geländer. Ganz zur Unzeit zitterte sein Kopf, wie er entsetzt feststellte, aber er kam nicht dagegen an. Ebenso albern zuckte ein zerquältes Lächeln um seine Lippen. „Ein Grab, ein Massengrab, ein dreimal verfluchtes!"
Was suchte dieser knochige Ingenieur hier? Warum schwieg er so verschlossen und schicksalsergeben? Man sollte ihn kopfüber in den bodenlosen Abgrund werfen. Zwei Drahtseile spannten sich bis unter das Turmdach und verschwanden in den Räderkränzen.
Merkwürdig: Gleb blickte Kleist an und spürte keinen quälenden Schmerz mehr. Vielleicht war er schon bei der ersten Wiederbegegnung erloschen oder erst jetzt, da er den alten Mann so einsam und ohnmächtig vor sich stehen sah.
„So ist das nun, Genosse Technischer Leiter. Gewaltige Anstrengungen haben Sie gemacht, um Denkmäler zu bauen. Wenn Sie sterben, steht schon das Grab für Sie bereit. Sehen Sie das Loch hier? Wir lassen Sie in einer Lore hinunter und verscharren Sie unter dem allerhöchsten Schlot."
Kleist richtete sich auf und riss sich vom Geländer los. Er streckte die Hand gegen Gleb aus und stammelte voller Zorn: „Sie... Sie... Tschumalow ... um Gottes willen ... tun Sie rascher, was Sie tun müssen ... und bitte nicht... bitte ohne Quälerei."
Gleb trat auf ihn zu und lachte. „Genosse Technischer Leiter. Wovon reden Sie? Schlagen Sie sich diesen Unsinn aus dem Kopf! Ich bin doch kein wildes Tier. Alles ist ausgestanden, und wir haben gelernt, uns über jede unserer Handlungen Rechenschaft abzulegen. Also: Was war, das soll der Teufel holen! Jetzt sind andere Zeiten. Ich hätte Sie mir längst kaufen und mit Ihnen abrechnen können, wenn ich gewollt hätte, glauben Sie nicht auch? Ich brauche Sie lebend und nicht tot."
Kleist sah ihn stumpfsinnig an und zitterte wie im Schüttelfrost.
„Warum, warum spotten Sie über mich, Tschumalow? Ich verstehe nicht, und ich will nicht, dass Sie ... in dieser Minute ... in dieser schrecklichen Minute ..."
„Eine gute Minute, Genosse Technischer Leiter! Sie regen sich unnütz auf. Natürlich, ich begreife: Sie haben erwartet, dass dieser Leichnam sich unbedingt für die Vergangenheit rächen wird. Es fehlt ihm schließlich nicht an Erinnerungen. Ja, es fehlt mir nicht an Erinnerungen... Die drei Jahre Krieg zum Beispiel. Die Revolution ist die beste Schule. Doch im Kampf kommen auch Verbrechen und Fehler vor. Aber manchmal sieht man ein, dass der Tollkopf noch ziemlich fest und zäh in einem sitzt. Und wenn man das einsieht: kann man den Tollkopf in sich leichter bändigen. Einstweilen weiß ich nur eins, Genosse Technischer Leiter: Es beginnt ein gewaltiger Kampf. Er wird schwerer sein als die blutigen Schlachten. Das ist kein Kinderspiel — die Wirtschaftsfront. Sehen Sie sich alle diese Riesen an, die Geschöpfe Ihres Talents und Ihrer Hände. Dieser Friedhof muss zum Leben erweckt, mit Licht erfüllt werden, Genosse Technischer Leiter. Vor uns liegt eine ganze Welt, die schon erobert ist. Lassen Sie einige Jahre vergehen, und sie wird von Palästen und nie gesehenen Maschinen erstrahlen. Der Mensch wird nicht mehr Sklave sein, sondern Herrscher, denn die Grundlage seines Lebens wird die freie Arbeit sein, die er liebt."
Er lachte aufgeregt und fasste Kleist unter. „Manchmal hat man Lust, ein wenig zu träumen, Genosse Technischer Leiter. Das schadet ja auch nichts: Träumen beflügelt das Denken. Also denn: Gehen Sie an die Arbeit, Hermann Hermannowitsch. Der erste Schritt ist der Bau eines Bremsberges am Pass, für die Holzbeschaffung. Die Elektrostation wird in Ordnung gebracht. Die Dieselmotoren sind betriebsbereit: Brynsa hat die Maschinen gut in Schuss gehalten. Dann werden die Gebäude repariert. Die Steinbrüche werden wieder arbeiten, die Loren wieder kreischen, die Öfen wieder rotieren."
Kleist murmelte heiser und dumpf: „Was zerstört ist, was gestorben ist, das kann nicht auferstehen. Nein!"
„Hermann Hermannowitsch, wollen wir denn das Alte und Zerstörte wieder aufrichten? Im Gegenteil. Sie haben natürlich recht. Die kapitalistische Welt ist zerschlagen, vernichtet, und sie wird nicht wieder auferstehen. Das stimmt. Aber Sie leben schon in einer neuen Welt. Sie kommen mit großen Kenntnissen und Erfahrungen zu uns — und dieses Rüstzeug braucht die neue Gesellschaft. Sie gehören nicht mehr sich selbst, Genosse Technischer Leiter. Ihr Kopf, Ihre Kraft — die sind bereits in guten, sicheren Händen. Und bei Arbeit und Aufbau werden Sie tausendmal mehr Freude haben als früher, wo Sie dem Kapital dienten. Früher waren Sie Tagelöhner, heute aber sind Sie freier Schöpfer. Ans Werk, Hermann Hermannowitsch! Alles wird wunderbar."
Und mit treuherziger Vertraulichkeit rüttelte er Kleist an den Schultern. Kleist fiel der Hut vom Kopf und segelte wie ein Nachtvogel hinunter in die Dunkelheit.
Im letzten, zermürbenden Kampf um das Leben hatten ihn diese schrecklichen, todgesättigten Hände fest ans Leben genagelt. Soviel begriff Kleist. Außerstande, den Sinn dieses erschütternden Ereignisses zu ermessen, stand er fassungslos und verloren da und weinte Tränen des Glücks.

 

VI. Vorsitzende

Gordischer Knoten

Auf einem Stuhl neben der Tür zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees saß als Ordonnanz ein bärtiger Alter in Feldbluse, mit einer grauen Soldatenmütze aus der Zeit des imperialistischen Krieges. Finster blickte er unter seinen grauen Augenbrauen hervor Gleb an. Seine behaarte Hand umklammerte gewohnheitsmäßig die Messingklinke. So bewachte er jeden Tag von zehn bis fünf die Tür zum Arbeitszimmer des Vorsitzenden, selbst wenn dieser dienstlich unterwegs war. Ob nun Leute mit gewichtigen Aktentaschen kamen oder namenlose Bittsteller, die schüchtern die Hälse reckten — der stumme Wächter war jedem gegenüber gleich unzugänglich, und jedermann wartete unterwürfig, bis die Reihe an ihm war, es sei denn, er konnte sich durch Vermittlung des Sekretärs vordrängen.
Leute in Uniformröcken, Leute mit Aktentasche und ohne Aktentasche, mit Schreiben und ohne Schreiben, geduldige und wütende standen Schlange, alle wussten: wegen dieses bösen Onkelchens durften sie nicht ins Zimmer.
Hinter den Türen ratterten metallisch die Schreibmaschinen, und eine raue Stimme schrie: „Schmach und Schande, Genossen! Bürokratismus und Schlendrian haben uns aufgefressen. Zum Teufel müsste man euch alle jagen, zusammenknallen wie die Schakale." „Na los, Zottelbart, nimm mal die Hand da weg!"
Die Leute meuterten und murrten über Gleb. Ob er denn besser als andere sei, um sich als erster zur Tür zu drängeln? Wenn sie geduldig warteten, warum sollte er nicht ihr Los teilen?
Aus dem Arbeitszimmer kam kein Laut. Einige Zettel klebten an der Tür: „Zutritt nur nach Anmeldung": darunter: „Der Vorsitzende empfängt nur in streng dienstlichen Angelegenheiten"; noch tiefer: „In Sonderfällen bevorzugte Abfertigung nur über den Sekretär des Exekutivkomitees".
Teufelsmaschinerie! Um sie zum Arbeiten zu bringen, muss man sie zerschlagen.
Gleb ging ins Sekretariat. Auch dort wieder anstehen! Junge Mädchen saßen, über Papiere gebeugt, an klapprigen Tischchen und kauten an schwarzem Rationsbrot. Sie waren an das Menschengewimmel gewöhnt — es ließ sie kalt.
Sah vielleicht deshalb der Sekretär Peplo — ein Jünglingsantlitz unter grauen Locken — mit so verklärtem Lächeln auf die griesgrämigen Gesichter? Er lächelte unaufhörlich, er strahlte vor Lächeln; auf seinen gleichmäßigen, zuckerweißen Zähnen glitzerten Speichelbläschen.
Peplo kannte einen jeden, horchte auf den Spektakel und rauchte — er hatte es nicht eilig: ein Fall war wie der andere, alle waren alltäglich.
Nur eine raue Stimme übertönte den Lärm bald aus der einen, bald aus der anderen Ecke des Zimmers: „Rausprügeln müsste man euch, ihr Teufelsbande, ihr Fliegenfänger. Habt den Arbeitsmenschen ohne Kumt vor zwanzig Berge gespannt. Einen Schädel mit Hörnern braucht man, um eure Bürokratie einzurennen. Ich schlag euch kurz und klein. Ihr werdet mir die Arbeiterklasse nicht zuschanden reiten."
Sekretär Peplo lächelte verklärt. Er war wohl an solche Skandale gewöhnt. Die Maschine lief auf vollen Touren, und der Aufruhr der Bürger war das beste Schmieröl für den Motor.
Der aufgebrachte Shuk, flammenden Zorn in den Augen, fegte durch die Kanzlei und rempelte wie ein Blinder die Leute an.
Gleb schob ihm die Mütze ins Genick.
„Bitte etwas freundlicher, Shuk!"
„Ach, Gleb, alter Junge, lieber Genosse, es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, wie man die Arbeiterklasse knebelt! Ich mache ihnen die Hölle heiß, solange ich noch in diesem Jammertal herumlaufe... Im Volkswirtschaftsrat bin ich gewesen — Schlamperei. Im Versorgungskomitee — Schlamperei. Überall — Schlamperei. Und hier auch, gottverdammich, Schlamperei. So renne ich also herum und schimpfe wie ein Rohrspatz."
„Die Zunge ist ein Holzschwert, Shuk. Kämpfe mit Taten und Tatsachen!"
„Ich? Wozu? Ich bringe alles ans Licht. An die Wand stelle ich alle."
„Du musst Arbeit bekommen, Shuk, sonst schießt du immer nur mit Knallerbsen."
„Nein, Bruder Gleb, lieber Genosse, die kennen mich noch nicht. Ich werde ihnen schon ein zweites Jahr achtzehn bereiten."
Drohend hob er die Faust zur Decke und ging hinaus. Gleb schob sich an der Schlange vorbei und trat zum Sekretär Peplo.
„Bitte melden Sie mich dem Vorsitzenden." Peplo sah ihn mit verklärtem Lächeln an.
„Stellen Sie sich an, seien Sie so freundlich."
„Ich sage Ihnen doch deutlich: melden Sie mich dem Vorsitzenden. Die Sache ist dringend — sie duldet keinen Aufschub. Verstanden?"
Peplo tat erstaunt und warf einen spöttischen Blick auf Gleb.
„Wichtig? Worum handelt es sich denn?" Aus der Menge schrieen wütende Stimmen: „Meine Sache ist ebenso dringend, äußerst dringend. Was ist das für eine Schweinerei!"
Der Sekretär hatte sich bereits von ihm abgewandt und hörte den anderen zu. Gleb reckte sich, und seine Augen bekamen den gleichen Ausdruck wie die Shuks. Auf dem Korridor stieß er den zottigen Onkel beiseite und betrat das Arbeitszimmer des Vorsitzenden. Durch die Strahlenbündel der Sonne hindurch sah er breite blutrote Transparente, und die frischgestrichenen Wände glänzten hell.
„In welcher Angelegenheit, Genosse? Ich bin beschäftigt. Kein Empfang."
Die Sonne blendete derart, dass Gleb nicht gleich erkennen konnte, wer mit derart schallender Stimme sprach. Er hörte jedoch sofort die Herrschsucht und Machtvollkommenheit des Mannes heraus. Gleb trat einige Schritte vor und erblickte am Schreibtisch einen brünetten untersetzten Mann in schwarzer Lederjacke, mit glattgeschorenem Schädel und zusammengezogenen Brauen. Ein anderer Bursche, in dunklem Tscherkessenrock, Dolch und Pistole im Gürtel, stand daneben und stützte die Hand auf die Stuhllehne. Er sah nach einem der Mordskerle von der „Teufelshundertschaft" aus, die im Kriege Wunder vollbracht hatten und auf deren Säbeln das Blut nie getrocknet war.
Gleb hob militärisch die Hand an den Helm und setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch, dem Vorsitzenden gegenüber. Beide sahen einander nicht gerade freundschaftlich an. Über den Augen des Vorsitzenden wölbte sich eine breite Stirn. Er sprach, die Stimme dämpfend, auf den Tisch hinab, auf seine großen Hände mit den schwarzen Härchen auf den Fingern.
„Also. Schreib dir das hinter die Ohren, Borstschi: Wenn du im Laufe eines Monats die Kampagne für zusätzliche Einzugsquoten zum Ablieferungssoll nicht durchgeführt hast und die Septemberrate der Saatanleihe nicht voll einläuft, dann kannst du etwas erleben. Ich verliere kein unnützes Wort. Das weißt du ja. Als Vorsitzender des Gebietsexekutivkomitees bist du mir für alle verantwortlich. Denk daran!"
Borstschi, stramm und schlank, rollte die Augen und lächelte dreist.
„Genosse Badjin! Auch ich bin Kommunist. Und mich kann man so leicht nicht einschüchtern."
Der Vorsitzende des Exekutivkomitees unterbrach ihn mit drohender Kälte. „Als Kommunisten lasse ich dich auch aufs Korn nehmen, wenn du deinen Auftrag nicht erfüllst. In deinem Kreis wird zuviel gestänkert und den Kulaken nachgegeben."
„Genosse Badjin!" Borstschis helle Stimme bebte. „Du willst mich aufs Korn nehmen, aber ich habe nicht für 'nen Sechser Angst. Du kennst mich. Versteh doch, dass man die Saatanleihe bis zum nächsten Jahr stunden muss. Und Zwangsgetreidelieferungen wurden seit dem Herbst schon viermal eingetrieben. Die Bauern krepieren bald vor Hunger. Mit solchen Maßnahmen züchten wir uns ja selbst grün-weiße Banden heran. Man wird uns alle bis zum letzten Mann abschlachten, in Stücke wird man uns hacken."
„Schön. Soll man euch in Stücke hacken, aber dein Auftrag ist auszuführen, und zwar exakt und pünktlich."
„Genosse Badjin, setzen Sie bitte meinen Bericht auf die Tagesordnung. Ich werde dem Plenum des Exekutivkomitees beweisen..."
Badjin richtete sich auf; die Falten seiner Lederjacke funkelten. „Borstschi!" Er stand auf und wandte sein Gesicht langsam dem Kosaken zu. „Vorsitzender des Gebietsexekutivkomitees Borstschi!" Er lächelte, und in diesem Lächeln lag mehr Drohung als in seinem Ausruf.
Borstschi trat einen Schritt zurück und nahm Haltung an. In seinen Augen blitzten stechende Funken auf.
„Genosse Badjin! Kampagnen werden durchgeführt, werde alles tun. Aber das gibt ein Blutbad, Genosse Badjin."
„Heul nicht! Du bekommst Saltanow zu Hilfe, den Chef der Bezirksmiliz."
Er wandte sich von Borstschi ab und setzte sich wieder. Borstschi, der Haudegen von der „Teufelshundertschaft", stand zerknirscht da, wollte etwas herausschreien, winkte dann aber resigniert ab und verließ das Zimmer eilig. Badjin starrte wieder auf seine behaarten Hände. „Worum handelt es sich, Genosse? Fassen Sie sich kurz." „Zu Ihnen durchzukommen, Genosse Vorsitzender, ist für einen Arbeiter ebenso schwierig, wie Perekop einzunehmen." „Kommen Sie zur Sache."
Die kalte Unbeweglichkeit des Vorsitzenden bedrückte Gleb. Er fuhr jedoch hartnäckig und wie zum Trotz langsam fort: „Das nächste Mal schmeiße ich Ihren Götzen da draußen zum Fenster raus. Solche Generalsmanieren stehen uns schlecht zu Gesicht."
Badjin sah Gleb in die Augen und sagte teilnahmslos: „Ich werde Sie gleich in Arrest setzen. Wer sind Sie eigentlich?"
Er stand auf, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und sah zur Tür hinüber. Gleb schob polternd seinen Stuhl zurück und brüllte: „Genosse Vorsitzender, mit Ihnen spricht ein Arbeiter des Werkes! Haben Sie die Güte, sich hinzusetzen! Sie haben kein Recht, Arbeiter aus Ihrem Büro zu jagen."
Badjins Wangen zuckten, er lächelte, zwischen seinen dicken Lippen blitzten die Zähne auf. Dann setzte er sich, nahm ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, steckte sich eine an und schob Gleb das Päckchen zu.
„Ich höre. Sagen Sie kurz und bündig, was Sie wollen. Wie heißen Sie?"
Auch Gleb setzte sich. Er holte seine Rotarmistenpfeife hervor und begann sie zu stopfen.
„In der Parteizelle und auf der allgemeinen Arbeiterversammlung haben wir beschlossen, Holz über den Pass heranzuschaffen, und zwar mit Hilfe eines Bremsberges. Das Bezirkskomitee und das Gewerkschaftskomitee haben bereits zugestimmt. Zwei, drei Sonntagseinsätze der Gewerkschaften — und wir lassen ganze Berge Holz zu den Waggons rollen. Von den Bauern haben wir nichts zu erwarten — das ist Unsinn, die laufen uns alle auseinander und stellen immer neue Banden auf. Und mit den Lastkähnen können wir auch nichts anfangen, die sind verfault und von den Wellen leckgeschlagen. So sieht's aus. Ich heiße Tschumalow, Schlosser in unserem Werk, Regimentskommissar."
Badjin streckte ihm die Hand hin; seine Wangen zuckten wieder, und seine Zähne blitzten in einem Lächeln.
„Ja, das ist wirklich eine ernste Sache, ein erstrangiges Problem. Dascha Tschumalowa — ist das Ihre Frau?"
Badjins letzte Worte überhörte Gleb, er war mit seiner Pfeife beschäftigt.
„Diese Frage ist nur Teil einer großen Frage, Genosse Vorsitzender. Ich habe auch noch anderes im Auge. Was halten Sie zum Beispiel davon, das Werk wieder in Betrieb zu setzen — falls dies in nächster Zeit notwendig werden sollte?"
Badjin sah Gleb starr an. Er lehnte sich zurück und studierte aufmerksam Gesicht und Bewegungen dieses so unvermutet aufgetauchten Mannes.
Gleb Tschumalow, der vermisste Ehemann. Dascha, die keiner anderen Frau glich — Dascha, nach der er eines Tages die Hand ausgestreckt hatte. Es gab kein Weib, das sich ihm nicht ergeben und bereitwillig gefügt hätte, hier aber war er auf eine Stahlfeder gestoßen. Und weil diese Frau, die Führerin der städtischen Proletarierinnen, ihren Platz selbst unter den Männern zu behaupten wusste, war er, der Vorsitzende des Exekutivkomitees, nicht imstande, sich ihr zu nähern wie sonst den Frauen. Tag für Tag grübelte er, von welcher Seite er Dascha beikommen und wie er ihren Starrsinn brechen könnte.
„Vom Werk wollen wir vorläufig nicht reden, Genosse Tschumalow. Es wieder in Betrieb zu setzen steht nicht in unserer Macht. Aber den Bau des Bremsberges werde ich schon auf der nächsten Sitzung des Wirtschaftsrates zur Sprache bringen."
Gleb ließ verdutzt die Pfeife sinken, sein Blick begegnete dem des Vorsitzenden. Immer stärker empfand er unbegründeten Hass gegen Badjin. Schon in den ersten Minuten hatte er diesen Hass verspürt.
„Wieso — nicht in unserer Macht? Ist es denn nicht eine Schande, dass das Werk nicht einmal in der Lage ist, seine eigenen Winkel zu beleuchten, von den Arbeiterwohnungen ganz zu schweigen? Überall Bruch: keine Türen, keine Fenster, und wenn Türen da sind, dann hängen statt Schlösser Bindfäden oder Draht daran. Was wollen Sie tun, dass man das Werk nicht ausplündert? Wer züchtet denn diesen Verfall: Sie oder die Arbeiter? Das Werk erhält Zuteilungen an flüssigem Brennstoff. Wo bleiben diese Zuteilungen? Nehmen wir das Zermahlen des Klinkers. Ein unermesslicher Reichtum an auszubeutenden Rohstoffen. Aber die Schuppen stehen leer, und die Dauben häufen sich zu Bergen. Ihr schreit immerzu über Drückeberger und Faulenzer und erzieht selbst Schmarotzer und Tagediebe. Ein Revolutionstribunal taugt nichts, wenn es Misswirtschaft und Sabotage nicht bestraft. So stelle ich die Frage, Genosse Vorsitzender."
„Genosse Tschumalow, Fragen stellen können wir ebenso gut wie Sie. Man muss von der konkreten Lage ausgehen. Wir dürfen nicht über den Kopf des Staatlichen Plankomitees hinweg Fragen von allgemein staatlicher Bedeutung entscheiden."
„Von der allgemein staatlichen Bedeutung spreche ich ja gerade, Genosse Vorsitzender."
„Zu gegebener Zeit werden wir auch an diese Frage herangehen, Genosse Tschumalow. Das hängt von den Perspektiven der Neuen Ökonomischen Politik ab. Dieser Augenblick ist nicht mehr fern."
„Meine Meinung ist die, Genosse Vorsitzender: Wir als
Kommunisten dürfen nicht nur gewissenhafte Vollstrecker von Direktiven und Anordnungen sein, sondern wir müssen auch — und das ist die Hauptsache — Initiative zeigen und schöpferisch arbeiten."
Badjin kurbelte am Telefon.
„Folgendes, Schramm: Komm doch gleich mal auf einen Augenblick zu mir."
Er kniff ein Auge zusammen und sah mit kühlem, spöttischem Lächeln auf Glebs Pfeife. Auch Gleb kniff ein Auge ein, und beiden wurde klar, dass sie niemals Freunde werden konnten.
„Jeder Wirtschaftsfunktionär, Genosse Tschumalow, ist um so wertvoller, je fester und unbeirrbarer er die Sache anpackt, die ihm auf den Nägeln brennt. Die Regel lautet: nicht alles auf einmal, sondern ein Teil; kein Märchen, sondern ein Stück Brot. Sie wissen doch, dass uns Banditen bedrohen. Wie Wölfe haben sie uns eingekreist. Der Kampf gegen sie bindet die Kräfte, die für den Wiederaufbau der Wirtschaft nötig sind. Wir brauchen eine neue Kampfmethode, eine neue Strategie. Ihr Projekt, das Werk unverzüglich in Betrieb zu setzen, ist unsinnig; Sie berücksichtigen die Konjunktur nicht. Doch wenn Sie es fertig bringen, die Stadt in kurzer Zeit mit Holz zu versorgen, haben Sie eine wirkliche Heldentat vollbracht."
Gleb starrte Badjin an. Zweifellos war dieser schwarze Kerl klug und kannte genauso gut wie Gleb die Forderung des Tages, aber er spielte entweder hohe Diplomatie oder war ein Opportunist und prinzipienloser Praktiker, der sich nicht über die Tagesfragen erheben wollte.
„Sie jagen mit dem Hammer Flöhe, Genosse Vorsitzender. Die Rote Armee hat die ganze Entente verprügelt, im Namen der großen Idee, die Sozialismus heißt. Allein die Idee hielt uns am Leben, an ihr wuchsen wir, sie hat uns immer wieder aufs neue gestählt. Aber ihr mit eurer kleinlichen Wirtschafterei züchtet nur Schmarotzer. Was habt ihr konkret für den Wiederaufbau der Produktion getan?
Nichts. Wie habt ihr das Volk begeistert? Überhaupt nicht. Und dabei waren wir schon so nahe daran."
„Auch das weiß ich ebenso gut wie Sie, Genosse Tschumalow. Wir haben auf jeder Parteikonferenz, auf allen Kongressen der Sowjets und Gewerkschaften darüber gesprochen. Produktivkräfte, wirtschaftlicher Aufstieg der Republik, Elektrifizierung, Genossenschaften und so weiter. Aber wo haben wir reale Möglichkeiten?"
„Eine solche Frage, Genosse Badjin, kann ein unpolitischer Spezialist stellen — Sie dürfen es nicht. In den Kriegsjahren haben wir alle Felder zertrampelt, jetzt aber müssen wir sie pflügen. Solange die Schlote nicht rauchen, bleibt der Bauer ein Bandit und der Arbeiter ein Landstreicher." Badjin grinste gelangweilt, und seine Augen wurden kalt.
„Warten Sie ab, Genosse Tschumalow, was der Zehnte Parteitag beschließt."
Dieser Arbeiter war in Badjins Augen ebenso halsstarrig wie naiv und kurzsichtig. Demagogen seiner Art störten den normalen Ablauf der komplizierten Arbeit, die man Staatslenkung nannte. Solche besessenen Träumer brauten aus Zukunftsbildern eine hochtrabende Romantik der Gegenwart, die von der Verwüstung zerfressen war.
Ein hochgewachsener Mann mit Aktentasche trat ein, ganz in gelbem Leder, von der Mütze bis zu den Stiefeln. Er hatte ein wabbliges Kastratengesicht und trug einen Zwicker auf der weibischen Nase. Ohne zu grüßen, setzte er sich Gleb gegenüber an den Tisch und erstarrte in einer Pose gesammelter Ruhe. Er glich einer Wachsfigur aus dem Panoptikum: ganz auf lebend zurechtgemacht, und doch nur eine Puppe.
„Hör zu, Schramm: Was kann der Volkswirtschaftsrat unternehmen, wenn in den nächsten Tagen die Frage aufgeworfen wird, das Werk teilweise in Betrieb zu setzen?"
Langsam, gleichgültig und völlig ausdruckslos antwortete Schramm wie ein Automat: „Der Volkswirtschaftsrat
hat das gesamte Staatseigentum erfasst und in seine Obhut genommen — von komplizierten Maschinen bis zum alten Hufeisen. Ohne die entsprechenden Anordnungen können wir nichts unternehmen. Unser Apparat muss kostbare Zeit vergeuden und sich mit allen möglichen Projekten und Vorschlägen herumschlagen, die von verschiedenen Betrieben und Privatpersonen ausgehen. Die Leute begreifen nicht, dass der Volkswirtschaftsrat kein Bestattungsinstitut
ist."
„Einverstanden, Schramm, aber dem Volkswirtschaftsrat steht eine Stoßarbeit bevor. Er muss sich aus einem Bestattungsinstitut in einen geschäftstüchtigen Unternehmer verwandeln."
Badjins Worte machten auf Schramm nicht den geringsten Eindruck.
„Der Volkswirtschaftsrat erhält alle Aufträge und Pläne nur vom Industriebüro."
Badjin lehnte sich zurück, musterte Schramm verächtlich lächelnd, und seine lärmende Stimme wurde noch lauter.
„Du versteckst dich hinter dem Rücken des Industriebüros, um den Volkswirtschaftsrat zu kastrieren. Aus deinen schriftlichen Berichten geht hervor, dass du nichts weiter tust als erfassen und nochmals erfassen. Du hast eine Unmenge Abteilungen, fast zweihundert Mitarbeiter, aber von schöpferischer Arbeit keine Spur. Welche Vorschläge hält der Volkswirtschaftsrat für die nächste Zukunft in Bezug auf Werkstätten, Fabriken und Unternehmen
bereit?"
Schramm antwortete mechanisch wie zuvor: „Der Volkswirtschaftsrat steht auf dem Standpunkt, dass
man vor allen Dingen das Volkseigentum schützen muss
und keinerlei zweifelhafte Unternehmen zulassen darf." „Wie arbeitet die Forstverwaltung deines Kreises?" „Ich habe damit nichts oder, genauer gesagt, nur indirekt
zu tun. Sie verfügen dort über einen eigenen Apparat, der
lediglich unter meiner Kontrolle steht."

„Was für Angaben hast du über die Arbeit der Forstverwaltung?"
„Es wird planmäßig Holz gefällt und gestapelt."
„Und die Zustellung des Brennholzes?"
„Das geht den Volkswirtschaftsrat nichts an. Das ist Sache des Gebietskomitees für Brennstofffragen."
„Nun aber folgendes, Schramm. Die Stadt und die Vororte müssen bis zum Winter in ausreichendem Maße mit Brennstoff versorgt sein. Das Kraftwerk des Werkes ist unverzüglich in Betrieb zu setzen und am Pass ein Bremsberg zu errichten."
„Das ist nicht meine Sache, sondern Sache des Industriebüros. Gibt das Industriebüro den Auftrag dazu, schreiten wir zur Ausführung!"
„Das ist unsere Sache und nicht Sache des Industriebüros, und wir erledigen sie ohne seine Sanktion."
Zum ersten Mal lief, wie ein leichter Schatten, krampfhaftes Zucken über Schramms Gesicht, seine Augen jedoch blieben glasig wie zuvor.
„Wie viel flüssiger Brennstoff steht unserem Werk zu?"
„Die Zuteilungen erfolgen unregelmäßig. Nach statistischen Angaben beträgt der Schwund bis zu dreißig Prozent. Die Raffinerie muss einen Teil der für das Werk bestimmten Vorräte mit Genehmigung des Industriebüros als Sonderzuteilung an die Dampfmühlen abgeben. Was die Stromanlage des Werkes und die Errichtung des Bremsberges betrifft, so steht das alles nicht auf dem diesjährigen vom Industriebüro bestätigten Plan. Das Projekt muss zuerst der staatlichen Bauverwaltung und dem Industriebüro unterbreitet werden, damit diese den Kostenanschlag ausarbeiten."
Badjin legte die geballten Fäuste auf den Tisch.
„Bei der nächsten Sitzung des Wirtschaftsrates wirst du Bericht erstatten, Schramm. Du wirst einen Plan vorlegen, der folgendes enthält: Maßnahmen zur Wiederinbetriebsetzung des Werkes und zur Holzbeschaffung."
Schramm fuhr zusammen, blieb aber nach wie vor undurchdringlich.
„Ich muss mich mit dem Industriebüro in Verbindung setzen und die Direktiven abwarten."
Badjin lächelte ihn an wie vorhin Borstschi. „Wir werden dich auch ohne die wundertätige Einmischung des Industriebüros zum Leben erwecken, Genosse Schramm. Mach dich darauf gefasst."
Schramms Augen blitzten wütend, wortlos stieß er mit dem Finger gegen den Kneifer. Gleb klopfte über dem Aschenbecher seine Pfeife aus, stand auf und tauschte mit Badjin einen Blick. In dieser Sekunde waren sie einander plötzlich nahe. Sie lächelten sich zu. Dann übermannte Gleb die Wut auf Schramm, und er rannte mehrere Male im Zimmer hin und her, ehe er aufgebracht rief: „Ihr Industriebüro soll von mir aus der Teufel holen. Verschlampt und verschimmelt ist dort alles bei Ihnen. Das Werk haben Sie zugrunde gerichtet! Ein solches Werk! Die Arbeiter zu Dieben gemacht, sie systematisch zersetzt."
Schramm sah Gleb mit bestürztem Staunen an. Dieser Soldat attackierte seine Autorität, ziemlich hitzig und ohne jede Berechtigung. Was wollte er? Was konnte er für Ansprüche an den Volkswirtschaftsrat haben? Vorlauten Phantasten und Demagogen begegnete Schramm jeden Tag, er war es gewohnt, sie in die Schranken des Anstandes zu weisen. Wäre es denkbar, dass dieser Neuling, der offensichtlich von sehr weit herkam, irgendwelche Trümpfe in der Hand hatte, die er gegen den Volkswirtschaftsrat ausspielen konnte?
Bemüht, seine Undurchdringlichkeit beizubehalten, unterbrach er Gleb trocken: „Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen, und bitte, sich nicht in die Angelegenheiten des Amtes einzumischen, das ich leite."
Gleb lachte auf.
„Sie sind Kommunist, Genosse Schramm, aber Sie treiben keine Arbeiterpolitik. Sie haben weder Pulver noch Arbeiterschweiß gerochen. Ich pfeife auf Ihre Amtsmaschinerie! Sie haben dort ganze Regimenter Ratten. Die haben die Zähne tüchtig in Sowjetbrot gegraben. Aber verlassen Sie sich darauf, gefangen und gehangen werden sie von uns, diese Nagetierchen! Und auch Sie werden nichts zu lachen haben."
Schramm stand auf und nahm eine hoheitsvolle Pose an. „Genosse Badjin, ich verlange, dass dieser Genosse zur Ordnung gerufen wird."
Doch Gleb hatte zu Badjin hinüber salutiert und ging rasch zur Tür.
Zu Tschibis! Niemanden brauchte er jetzt so wie den Genossen Tschibis.

Augen, die im Dunkel sehen

In einem kleinen Arbeitszimmer, dessen Fenster offen stand, hatte sich Gleb Tschibis gegenüber an den Tisch gesetzt. Tschibis' Gesicht war blass, jedoch jugendlich frisch. Er war sorgfältig rasiert.
„Wenn die Sache eilt, Genosse Tschumalow, schieß los, wenn nicht, lass dir Zeit. Ich habe gerade eine freie Minute. Na, wie steht's mit deinem Werk?"
„Vorläufig wird noch überlegt; bis zur Arbeit ist's noch weit."
Tschibis blinzelte in die Sonne.
„Ich sehe mir gerade das Meer an. Von hier aus wirkt es wie Luft, und diese Farben, kannst du sehen? Man möchte baden oder am Strand entlanglaufen, einfach so hinausstürmen und Steinchen ins Wasser werfen. Im Walde wäre es ebenso schön. Das Meer! Siehst du, wie es wogt und lebt? Das riecht ein wenig nach Psychologie. Was hältst du von Psychologie?"
„Schon seit Tagen, Genosse Tschibis, erlebe ich hier Psychologie, der Teufel soll sie holen. Mit Psychologie allein kann man den Feind nicht bezwingen—dazu braucht es gute Muskeln und einen festen Griff. Wenn du baden willst, können wir zusammen gehen. Was ist denn eigentlich los?"
Tschibis blinzelte und lächelte, und dann sah er Gleb mit klaren Kinderaugen an.
Doch in der Tiefe der Pupillen glitzerten heiße Fünkchen. Solche Augen schlafen in der Nacht nicht, sie sehen durch Wände.
„Ich hole dich im Werk ab; dann gehen wir baden, direkt von der Mole. Ich mag tiefes Wasser. Wellen mag ich. Und du? Sagen dir Wellen nichts?"
„Ich nähme mir mit dem größten Vergnügen den einen oder den anderen von unseren Wirtschaftsmenschen vor, zum Beispiel den Vorsitzenden des Volkswirtschaftsrates. Das ist eine Type, dieser Schramm! Ich habe ihn vorhin im Exekutivkomitee fertiggemacht. Aber er hat nicht einmal gezuckt. Stur wie ein Götze! Ich heize ihm ein, und er brummt nur in seinen Bart: Industriebüro, Industriebüro. Sogar Badjin wurde es peinlich."
„Sogar Badjin. Du hast einen geschulten Blick, Tschumalow. Diesem Nest — dem Volkswirtschaftsrat — ist mit bloßen Händen nicht beizukommen. Bürokratismus als System — das ist ein fester Bunker und in der Hand des Feindes eine sehr raffinierte Waffe, gegen die man oft machtlos ist. Er triumphiert über die Massen, über das lebendige Leben, er tötet den schöpferischen Gedanken ab. Wir greifen uns zwar einzelne Saboteure und Verschwörer, auch ganze Gruppen, aber das genügt nicht. Wir müssen diese Festung nehmen und die Mauern schleifen."
Tschibis sah hinaus auf das Meer, auf die Berge, auf die Wolken, die wie Schneehaufen über dem Meer schwebten, und sein Gesicht war plötzlich alt vor Übermüdung.
„Wen schlägst du vor, wer soll den Volkswirtschaftsrat zur Strecke bringen? Bedenke, dass die gescheitesten und
tatkräftigsten Arbeiter Schafsköpfe sind. Sie können wohl sehen und zufassen..."
Tschibis lächelte wieder und verbarg die Augen hinter den Wimpern.
„Schramm ist ein mechanistischer Kommunist, für seinen Apparat lässt er sich in Stücke hacken, wie ein Holzklotz. Die Schafsköpfe aber verstehen es, klares Wasser zu trüben ... Weißt du, was Notwendigkeit heißt, Tschumalow? Sie fühlen, ist eins, um sie wissen, etwas anderes. Das Wissen um die Notwendigkeit, verbunden mit dem Gefühl für die Notwendigkeit — das ist Freiheit. Du musst es verstehen, die Notwendigkeit in einen eigenen Gedanken umzuformen, und die Nacht wird dich nicht mit Gespenstern schrecken."
Gleb sah Tschibis mit einer unbestimmten Unruhe an; es kam ihm vor, als wachse Tschibis' Kopf, als ginge er aus den Fugen, als berste er unter dem Druck des Gehirns.
„Genosse Tschibis, was hättest du gegen Shuk einzuwenden? Er faulenzt. Man muss ihn in eine Arbeit einspannen. Ich finde, er wäre der geeignetste Schafskopf. Das Parteikomitee soll ihn in die Kreisforstverwaltung abkommandieren."
„Gut. Schick ihn morgen zu mir. Lass dir einen Dauerpassierschein ausstellen!" An der Tür drehte sich Gleb um.
„Genosse Tschibis, hast du Lenin gesehen?"
„Ja, na und? Was folgt denn daraus? Und wenn ich ihn nun nicht gesehen hätte?" Tschibis wandte sich ärgerlich ab.
„Ich habe ihn nicht gesehen, Genosse Tschibis, und mir ist, als hätte ich die Hauptsache noch nicht erlebt. Könnte ich ihn sehen und hören — ich würde mich selbst neu begreifen. Ich kann das nicht so ausdrücken, ich bin arm an Worten. Aber dann würden sogar meine Worte anders."
„Wie denn — anders?" fragte Tschibis streng und spöttisch.
„Groß und tief, Genosse Tschibis."
„Handle lieber, statt zu reden! Kämpfe, schone deine Kräfte nicht! Organisiere die Arbeit! Erfülle im Kampf die Aufgaben, wie es die Partei verlangt! Hörst du? Dann wirst du auch Lenin vor dir sehen. Geh! Vergiss nicht, dir den Dauerpassierschein zu holen. Ich rufe gleich an."

 

VII. Das Vaterhaus

Der Bücherwurm

Über den drei verwitterten Säulen war in das graue Gesims das Wort „Volkshaus" gemeißelt. Hinter den Säulen klebte an der gewaltigen, rissigen Eichentür ein viereckiges weißes Blatt Papier. Sergej stieg die abgetretenen Stufen hinauf und brachte seine kurzsichtigen Augen nahe an das engbeschriebene Papier. Die Handschrift des Vaters. Etwas Greisenhaftes und sehr Überstürztes lächelte ihm aus dem Buchstabengewirr entgegen. Eine schwermütige Melodie zog wie eine Welle über sein Herz — das Lied der Kindheit. Der schneeweiß blühende Mandelbaum im Garten unter dem Fenster, die blasse, schweigsame Mutter, die den Kleinen küsst und ihm ein neues Hemdchen anprobiert. Wie ein nebelhaftes Traumgebilde erschien ihm das alles. Wie lange hatte er den Vater nicht gesehen? — Seit dem Tage, als er das Elternhaus für immer verließ.
Die Bibliothekarin Werotschka, seine ehemalige Schülerin, eine ewig erstaunte, ewig zerstreute Person, hatte ihn in der Stadt ausfindig gemacht (nur sie allein brachte das fertig). Sie war nicht imstande, sich mit ihm zu unterhalten, immer zitterte sie nervös. Als sie ihn sah, stammelte sie: „Sergej Iwanowitsch... ich... ich war gerade auf der Suche. Ich komme von Iwan Arsenjitsch. Ich bin so froh, Sie wieder zu sehen..."
In ihren Händen zitterte ein Zettel.
„Na, wie geht's ihm denn, Werotschka?"
„Iwan Arsenjitsch? Ach, wenn Sie wüssten! Ich sehe Sie, und ich bin froh."
Sie lächelte und starrte ihn mit ihren runden, strahlenden Augen unverwandt an.
„Sind Sie noch immer in der Bibliothek, Werotschka? Haben Sie meinen alten Herrn noch nicht satt mit seinem Geschwätz über allen möglichen tiefsinnigen Kram?"
Er faltete den Zettel auseinander und merkte nicht, wie Werotschka verschwand.
Mit seiner greisenhaft-kindlichen Handschrift schrieb der Vater: „Mein Sohn, wenn einer daran glaubt, dass das Sein vom Bewusstsein bestimmt wird, so ist das ein großer Sieg meines unsterblichen Gedankens über die Launen des Werdens. Doch wenn der Mensch das Primat des Seins vor dem Bewusstsein fühlt, dann ist er nichtig in all seiner Hoffart. Warum das so ist, erfährst Du, wenn Du Manns genug bist, zu mir in meine Bücherklause zu kommen: ich möchte Dich aus nichtigen und daher unheimlichen Gründen sehen (das Nichtige ist immer unheimlich). Ich sitze in meinem Götzentempel, zwischen den Büchern (sie regen sich wie Schaben), lächle und lese Marc Aurel. Ein Bücherwurm und durch den Willen des Zufalls Dein Vater."
Als Sergej diesen Zettel las, musste er selbst lächeln.
Voller Unruhe und dumpfer Vorahnung ging er zur Bibliothek. Er sah Vaters Kopf vor sich, ebenso kahl wie seiner, mit wallendem aschblondem Haarkranz, sah seinen Bart, der im rechten Winkel vom Kinn abstand. Dieser Kopf hatte etwas Kindliches, zugleich aber etwas Welkes und Ruheloses.
Durch einen kühlen, dämmerigen Vorraum, der beklemmend nach Mäusen stank, gelangte Sergej in einen riesigen Saal mit langen Bücherregalen.
Dieser Saal war einst ein Kino gewesen, und der Fußboden war etwas abschüssig. Die schmalen Fenster gaben nur wenig Licht, aber der Raum wirkte wie ein Mittelding zwischen Scheune und Tempel. Auch die Stille war tempelartig, antiquiert, fäulnisdurchsättigt. Es gab keine Wände, nur Bücher, vom Boden bis zur Decke, in parallellaufenden Reihen. Wozu die vielen Bücher? Konnte denn ein Mensch in der kurzen Spanne seines bewussten Lebens sie alle lesen? Waren sie nicht deshalb auf ihren Regalen so eng zusammengepresst, weil der Mensch eingeschüchtert war vor ihrer Masse, die sein sonnegieriges Leben zu verschlingen drohte?
Werotschka lugte hinter einem Bücherhaufen auf einem Pult hervor und lächelte in verzücktem Staunen.
„Sergej Iwanowitsch. Sofort werd ich ... Iwan Arsenjitsch! Ach, wie schön!"
Mitten im Saal ragte wie ein Ikonenaltar ein vielstöckiges Regal empor, und von dort blickte ihm sein grauhaariger Vater in langem Leinenkittel entgegen. Als Sergej ein wenig vorsichtig, um auf dem abschüssigen Boden nicht auszurutschen, auf ihn zuging, bemerkte er, dass der Vater barfuss war und dass seine Füße mit Staub und Schorf bedeckt waren.
„Du liebst, du liebst — ich sehe es. Komm zu mir, an meinen Altar, und setz dich. Solche Augen hattest du schon als Kind — die Augen eines nachdenklichen Knaben." Er sprach schnell und lachte verlegen.
„Weißt du auch, was Stoizismus ist, Serjosha? Das ist eine nie versiegende Neugier auf das Leben. Solche Leute leiden darunter, dass es eine traurige Notwendigkeit auf Erden gibt: den Schlaf."
Sergej lächelte bei den freundschaftlichen Worten des Vaters, fühlte sich wie bei jeder Zusammenkunft mit ihm beschwingt und empfand ihn als riesengroß und rätselhaft nah. Der Vater lachte leise und sah Sergej besorgt fragend an, mit der Neugier eines Menschen, der die Probe auf eine gelöste Aufgabe macht. Er zupfte mit zitternden Fingern an seinem Bart und lächelte zärtlich-spöttisch. Sergej fühlte, dass er ihm etwas Wichtiges und Schmerzvolles mitteilen wollte.
„Graulst du dich nicht in dieser Gruft, Papa?"
„Das ist das Los aller Bücher, Gefängnis des Gedankens zu sein. Jedes Buch ist eine Schlinge für die menschliche Freiheit. All diese Regale hier gemahnen doch an Eisengitter, nicht wahr? Nach Unsterblichkeit strebend, schafft sich der menschliche Verstand das Buch — seinen Grabstein. Der Fluch des Schicksals, Serjosha: der Mensch — das ist permanente Meuterei, das ist der Sprung aus einem Gefängnis ins andere: aus dem Mutterschoß in den Schoß der Gesellschaft, in die Fesseln der verbindlichen Spielregeln, und von dort — ins Grab. Marc Aurel war gar kein dummer Kerl. Er verstand es, mit den Ketten zu rasseln und sich frei zu fühlen, und er besaß die Weisheit, durch die Kerkerwände zu sehen."
„Und ich denke so, Papa: Wahre Freiheit gibt es nur, wenn der eigene Wille schöpferisch mit der Dialektik der Notwendigkeit verschmilzt. Der Mensch ist allein in der Entwicklung des schöpferischen Gedankens unsterblich."
Der Vater sah ihn aufmerksam an, mit dem strengen Lächeln eines alten Skeptikers.
„Aber warum erkundigst du dich nicht nach deiner Mutter? Wie wäre dir zumute, wenn sie heute stürbe?"
Sergejs Gesicht zuckte, schweigend sah er dem Vater in die Augen.
„Geht es ihr sehr schlecht? Ich möchte sie wenigstens auf eine Minute sehen."
„Sie stirbt aus Kummer um ihre geliebten Kinder... Sie stirbt, Serjosha..."
Seine Brauen zuckten, während er lächelte, und in diesem Lächeln war Gram.
„Aber ich sterbe nicht, nein — keine Angst. Das wahre Leben, mein Sohn, ruht in der Freiheit, denn die Welt ist nur Relativität, das wahre Glück liegt in der Auflösung, im Augenblick. Nicht nur Marc Aurel, selbst Lucretius Carus hätte mich zu seinem Freund machen können." Sergej fühlte sich wohl — ihm war friedlich und still ums
Herz. In diesen angespannten Tagen, die seine Nächte mit Schlaflosigkeit vergifteten — wie gut müsste es da tun, sich hier beim Schweigen der Bücher selig in Nichtdenken aufzulösen oder in seinen Gedanken wenigstens für eine Stunde unerreichbar — einsam zu bleiben. Seine Nächte in dem kleinen Zimmer im Hause der Sowjets waren beklemmend und ein dauernder Kopfschmerz, denn man kannte dort keinen Schlaf, nur vierundzwanzig Stunden lang Unruhe, Alarmbereitschaft und Telefonklingeln. Es gab weder Tage noch Nächte im Haus der Sowjets — es gab ein kleines Zimmer, in dem man qualvoll seine Übermüdung und die herbe Freude der Pflichterfüllung empfand.
„Mein lieber Serjosha, deine Mutter ist sehr krank. Geh zu ihr! Doch, doch! Wenn du ihr auch nichts sagst, so sieh sie wenigstens an, wie du es als Kind getan hast. Du wirst sie sehr glücklich machen."
So war es schon immer gewesen: nie hatte Sergej die Seele seines Vaters auch nur gestreift, in der Kindheit nicht, in der Jugend nicht. Der Vater glich einem Säugling. Er verbrachte seine Tage in der vormorgendlichen Dämmerung der Bibliothek, betrachtete verwundert und verlegen das Geld, das er für seine Arbeit erhielt, benahm sich zu Hause wie ein Fremder, fand keinen Platz für sich, lachte konfus, wenn die Mutter zu ihm sprach, und hatte es immer eilig. Das ganze Haus, von Küche bis Schlafzimmer, war erfüllt von der Mutter, und selbst nachts flimmerte ihr sorgenmüdes Gesicht in den Wellen der Träume.
„Gehen wir, Papa! Ich möchte bei ihr sein, ganz nahe. Ja, die Mutter! Für sie wäre der Tod wirklich das beste."
„Ja, ja, Serjosha! Du machst mir eine große Freude, eine sehr große. Aber was wird, wenn du mit deinem Bruder Dmitri zusammentriffst? Vergiss, dass er dein Feind ist, vergiss es am Bett der Mutter. Dein Bruder, dein Bruder... Frag mich nicht nach ihm, ich habe mehr Furcht vor ihm als vor dir. Übrigens habe ich vor niemandem und nichts Furcht, weil ich voller Neugier bin, mein Lieber, und das ist, wie du wohl weißt, nichts anderes als Weisheit. Das Grauenhafte, Serjosha, liegt nicht in der Tiefe, sondern nur in den einfachen, elementaren Bewegungen — einem flüchtigen Blick, einer Geste, einem Schrei. Das, mein Freund, ist das Kreuz des Menschen, das ist sein Fluch."

Am Bett der Mutter

Der Obstgarten hinter dem Zaun war schon frühlingsmäßig mit Grün gesprenkelt, das Ast- und Zweigwerk jedoch noch zu durchsichtigen Kugeln verflochten. Nur der Mandelbaum stand schon im beunruhigenden Glanz seiner Blüten. Diesen Garten hatten der Vater und er, Serge], als er noch ein Knabe war, mit eigenen Händen gepflanzt. Am Zaun entlanggehend, spähte er durch die Ritzen und sah die wohlbekannten Bäume, die vernachlässigten Wege und die von rötlichen Strähnen wilden Weins umrankte Laube, die er als Gymnasiast zusammengezimmert hatte. Und das Steinhaus mit seiner Mansarde war etwas traurig Fernes, wie die Erinnerung an die Kindheit.
„Ist es denn schon so lange her, dass du hier gelebt hast und aufgewachsen bist, Serjosha? Entsinnst du dich noch an deine Dachkammer?"
Der Alte lachte, trippelte mit seinen bloßen, zerschundenen Füßen neben ihm, und Sergej sah ihm an, dass er sich über das Wiedersehen freute, dass er gerührt war und sich seiner Freude schämte. Ganz plötzlich und zum ersten Male bemerkte er auch, wie schmuddlig und heruntergekommen der Vater und wie abgründig leer sein Blick war.
„Eure Revolution ist eine der lustigsten Revolutionen der Geschichte, Serjosha, eine der tragischsten und daher eine der erfrischendsten." Der Garten flimmerte wie ein Spinnennetz in der Sonne,
und der gärende Malzgeruch der Frühlingserde, der Duft der aufgesprungenen Knospen und der flatternden Mandelblüten berauschte.
Die Balkontür zum Mansardenzimmer stand offen; dort drinnen hatte Sergej seine Kindheit und die Schuljahre verbracht.
Am Ende des Weges, der mit vorjährigem Laub bedeckt war, unter dem schneeigen Schaum des Mandelbaumes (von weitem schillerte er regenbogenfarbig), stand ein hochgewachsener, einarmiger Mann mit glattrasiertem Schädel, in weißem Hemd und Kosakenhosen. Scharf wie ein Schnabel sprang seine lange Nase über der kurzen Oberlippe vor.
„Ich habe das Gefühl, Papa, dass die Begegnung mit Dmitri uns nichts Gutes bringt. Wir haben uns seinerzeit als Freunde getrennt, aber wiederbegegnen werden wir uns jetzt wohl als Feinde."
Der Einarmige musterte sie von weitem, hob grüßend den rechten, einzigen Arm und rief mit der singenden Stimme des Kavalleristen: „Ah, der Ritter von der roten Gestalt unter dem friedlichen Dach des Elternhauses — er sei gegrüßt mit Herz und Seele! Haha, Serjosha! Haha, lieber Freund!"
Sergej winkte zurück und stieg nervös erschauernd die Treppe hinauf.
In dem kleinen Zimmer der Mutter waren wie immer die Jalousien heruntergelassen; der Raum wirkte finster und voll gestopft mit Kleidern, Kommoden, Kästen. Wie in vergangenen Tagen roch es hier dumpf und schwül nach langjähriger Behaglichkeit. Diesen Geruch verspürte Sergej immer, wenn er an seine Mutter dachte, er spürte ihn bis zur Unerträglichkeit, bis zur Zwangsvorstellung.
Wäre aber dieser häusliche Geruch nicht gewesen, so hätte auch nicht jene Stille zwischen den uralten Wänden gelegen, die die Geschichte seines Lebens aufgesogen hatten. Neu war nur, dass in den Ecken Möbelstücke und
Hausrat aufgehäuft lagen — eine Folge der neuerlichen Wohnraumbeschränkung.
Aus weißen Daunenkissen starrte ein pergamentener Schädel Sergej an, schwarze Zöpfe klebten an den hohlen Wangen. Er trat auf Zehenspitzen ans Bett, blickte lange in dieses fremd gewordene, dieses nie gesehene Gesicht der Mutter, nahm ihre Hand und fühlte ihre Finger geisterhaft erbeben.
Diese Hand, dieser Schädel mit den schwarzen Zöpfen — fremd waren sie ihm und doch bis zu Tränen vertraut. Sergej atmete den Geruch seines einstigen Heimes ein und wusste nicht, was anfangen mit sich und mit dieser erlöschenden Hand.
Die Mutter sah ihn stumm und aufmerksam aus der trüben Tiefe ihrer sterbenden Augen an.
Er aber schwieg und wartete auf ein Flüstern von ihr. Nicht auf ihre Stimme, nicht auf einen Schrei, sondern nur auf ein Flüstern. Doch er vernahm kein Flüstern, sah nur ihre Augen mit den feuchten Wimpern.
Sergej fühlte, dass Dmitri neben ihn getreten war. Er wandte den Kopf und begegnete einem herausforderndspöttischen Blick. Der wackere Oberst mit dem leeren Ärmel strotzte vor Lebenskraft; breit gebaut, war er mit seinen schwungvoll gebogenen Brauen und der knorpeligen Hakennase von raubtierhafter Schönheit.
Die Hand der Mutter fiel auf die Bettdecke.
Der Vater lächelte, sein klarer Blick trübte sich nicht. „Wie seltsam, dass ihr beide meine Kinder seid! Und wie seltsam, dass ihr beide fremd seid... einander fremd und mir!"
Dmitri lachte auf und sagte: „Siehst du, Serjosha, Vater reißt noch immer Witze, wie der alte Diogenes in seinem Fass. Er ernährt sich nur von Fliegen und seinen eigenen Sprüchen. Er ist ohne Sünde, wie ein Spatz, und ich hab ihn sehr lieb."
Sergej hielt dem Blick des Bruders stand und fragte
streng: „Wo warst du die ganze Zeit? Man hat all die Jahre nichts von dir gehört."
„Das verrate ich nicht. Sowieso würde ich dich anschwindeln oder nicht das sagen, was du hören willst. Ich bin Oberst an der deutschen Front gewesen, bin Invalide und zur Zeit Bürger ohne feste Beschäftigung."
Dmitri nahm rasch die Hand der Mutter und küsste sie, und dieser Kuss erschütterte die Kranke wie ein Schlag. Mit stummem Entsetzen sah sie zu ihm auf, als wolle sie um Hilfe rufen.
Dmitri lachte wieder und fasste Sergej am Ellenbogen. „Ich hab dich lange nicht gesehen, Serjosha, seit unserer Jugend nicht. Komm, umarmen wir uns."
Sergej wandte sich mit einer unklaren Unruhe von ihm ab und trat zum Vater.
Dmitri machte eine Linkswendung und ging hinaus; sein rasierter Hinterkopf glänzte.
Auf der breiten Stirn des Vaters standen zwei tiefe Falten. Mit zitternder Hand zupfte er an seinem Bart und versuchte, ihn in den Mund zu stecken, doch er glitt immer wieder heraus.
Bleich, mit kläglichem Lächeln, sank er gegen die Wand. „Was ist mit dir, Papa?"
„Werde stoisch hart, Serjosha. Mehr Ruhe und Weisheit. Manchmal allerdings wird auch ein Stoiker Sklave seiner Gefühle. Lerne es, die Leute hinter einem Schild hervor zu studieren, hinter einem Schild hervor, Serjosha!"
Das Bewusstsein vom nahen Tode getrübt, stützte sich die Mutter auf den Ellenbogen und fiel wieder zurück — verschmolz mit den Kissen. In ihren Augen lag Demut und Entsetzen.
„Serjosha ... lieber ... einziger... mir ist gut... den Vater... Vater... lieben."
Erschüttert küsste Sergej die Mutter. Diese Augen — das fühlte er — hatten seiner Seele eine unheilbare Wunde beigebracht.
Langsam verließ er das Zimmer und trat auf die Treppe hinaus. Dann beschleunigte er den Schritt und ging durch die Allee zur Pforte.
Draußen vor dem Zaun stieß er auf Dmitri. Der Bruder hatte die Hand in der Hosentasche und blickte mit zusammengekniffenen Augen Sergej an.
„Habe die Ehre, Serjosha! Wir sehen uns schon noch wieder. Nicht wahr? Wir sehen uns bald wieder, in einer anderen Umgebung sehen wir uns wieder, Serjosha. Und dann unterhalten wir uns nach Herzenslust. Habe die Ehre!"
Er verbeugte sich steif und bleckte die Zähne. Aber sein Blick lächelte nicht: aus den schmalen Schlitzen traf er Sergej wie ein Blitz.

 

VIII. Heiße Tage

Arbeiterblut

Die Tage — sonnendurchglühte, brennend heiße Tage — waren angefüllt mit Sorgen, mit rastloser Geschäftigkeit, und dass es auch Nächte gab, merkte man kaum. Schweißtriefend rannte Gleb in das Gewerkschaftskomitee, in das Bezirksparteikomitee (sofort eine allgemeine Parteiversammlung einberufen!), in die Eisenbahnergewerkschaft (Genossen, mehr Tempo beim Transport der Kanister in die Ölraffinerie!), in die Werkverwaltung, in die Maschinenhallen — dort wartete Brynsa, dort warteten die Dieselmotoren, betriebsbereit.
Luchawa traf er im Gewerkschaftskomitee gewöhnlich nicht an: den hielt es nicht in den vier Wänden seines Arbeitszimmers. Jeden Tag, von früh bis spät, war er unterwegs, jagte von einer Gewerkschaftsgruppe zur anderen, von Betrieb zu Betrieb und nahm sich an Ort und Stelle all der kleinen Nöte in der Produktion und im Leben der Arbeiter an. Er hielt Sondersitzungen ab, schlichtete Konflikte, putzte mit saftigen Kraftausdrücken die Bummelanten herunter und vermerkte die Helden der Arbeit am roten Brett. Er stürmte in die Behörden, die Wirtschaftsorgane, wirbelte Papiere auf wie Bettfedern, befahl, forderte, feuerte an, rief Stürme der Begeisterung hervor. Und war nie erschöpft, kannte keine Übermüdung — nur in seinen Augen flackerten unauslöschliche, fiebrige Flämmchen.
Auf diese Art gewann er die Herzen der Arbeiter!
Shidki empfing Gleb immer voll Freude, und seine asiatischen Nasenflügel bebten vor Erregung. Gleb aber, den Helm im Nacken, schrie wütend: „Wann rücken wir endlich diesen Ratten vom Volkswirtschaftsrat auf den Leib, Genosse Shidki? Auf Schritt und Tritt wird dort sabotiert, für jeden Dreck verliert man nicht nur Stunden, sondern Tage und Wochen. Zur Abschreckung sollte die Tscheka einen von diesen Halunken am Schlafittchen kriegen. Lass dir den Schramm kommen und zieh ihm sein gelbes Fell ab."
Shidki kam hinter dem Tisch vor und fasste Gleb freundschaftlich unter.
„Wie du schäumst, du Himmelsstürmer! Wozu soviel Feuer? Du verbrennst noch, klappst zusammen. Hast du denn so rasch vergessen, wie du in der Armee gearbeitet hast? Man muss zu führen verstehen — organisieren und seine Leute einteilen. Nimm dir ein Beispiel an Badjin."
„Nimm dir selbst ein Beispiel an Badjin, wenn du neidisch auf ihn bist."
„Ich will nicht."
„Und ich habe größte Lust, all diese Schramms und Badjins aus ihren Arbeitszimmern zu jagen und in die lebendige Arbeit einzuspannen. Überleg mal, Genosse Shidki, was für ein Mechanismus das ist: Die Werkverwaltung ist an den Volkswirtschaftsrat geschmiedet, der Volkswirtschaftsrat schiebt alles auf die Werkverwaltung ab, die Werkverwaltung auf den Volkswirtschaftsrat, der Volkswirtschaftsrat aufs Industriebüro und die Hauptverwaltung Zement... Kein Aas findet sich in diesem Durcheinander zurecht. Und da soll einen nicht die Wut packen, da soll man nicht schäumen? Mit welchem Genuss würde ich diese Asseln zertrampeln!"
„Lass nur, Freund, die kommen auch noch dran."
„Aber wie viel Kräfte werden umsonst verpulvert — Kräfte und Zeit. Und dabei ist das so ein kostbares Material!" Shidki lachte und nahm Gleb bei den Schultern.
„Mein Lieber, ich schäume ja selbst, in mir brennt's ja auch. Vielleicht hab ich dich deshalb so lieb, du Satan. Aber darum geht's ja gar nicht, Verehrtester: man darf sich nicht verzetteln. Vergiss nicht, dass wir Kommunisten sind: wir vollenden die Revolution, wir bauen den Sozialismus auf. Und das ist ein gewaltiger, furchtbarer Kampf. Auf unserem Weg stehen Millionen Hindernisse: offene und verborgene Feinde und alle möglichen Überbleibsel. Außerdem noch die Zerrüttung und der Hunger. Alles muss von vorn angefangen und auf neue Art angefasst werden. Das ist kein einfacher Wiederaufbau — nein, wir verwirklichen die Lebensordnung, von der die Menschheit jahrhundertelang geträumt hat."
„Darum schäume ich ja auch und werde weiterhin schäumen, Genosse Shidki. Anders geht's nicht."
Shidki lachte. „Du wärst bereit, die ganze Welt aus den Angeln zu heben."
„Streit ich nicht ab. Tun wir, und dabei bleibt's!"
„Hol's der Teufel, Tschumalow! Was für ein Glück, in unserer Zeit zu leben und zu kämpfen! Verkörpern wir doch die Zukunft in der Gegenwart! Wir tragen diese Zukunft in uns. Und wie gut zu wissen, dass überall Lenin mit uns ist, dass wir seine Zeitgenossen sind, dass wir ständig seinen Atem spüren."
„... und, Genosse Shidki, dass wir deshalb verantwortlich sind für jeden unserer Schritte und für jede Minute. Denn Glück ohne Verantwortung gibt es nicht."
Gleb verließ Shidki jedes Mal in gehobener Stimmung und fühlte sich erfrischt und gestärkt.
Im Werk hatten die Elektromonteure damit begonnen, die Stromanlage instand zu setzen. In den Arbeiterwohnungen wurden wieder Glühbirnen (aus Werkbeständen) eingeschraubt, und in ihren glänzenden Kugeln spiegelten sich freundlich die Fenster. Bewegt lächelten ihnen die Frauen und die Kinder zu, und freudiges Vorgefühl löschte das Hungergrau von den Gesichtern der Arbeiter.
In der Schlosserei wurden keine Feuerzeuge mehr fabriziert. Dort gab es andere Arbeit: Unter einem Wirbel metallischen Knirschens, Pfeifens, Zischens und Klirrens erwachten die Maschinenteile zu neuem Leben. Über den Hof — aus der Schlosserei in die Maschinenhallen und wieder zurück — gingen Arbeiter in blauen, kupfrig schillernden Blusen. Nur Loschak und Gromada waren nicht dabei: sie hatten ihre besonderen Sorgen — die Betriebsgewerkschaftsleitung. Auch dort, im Kellergeschoß des Verwaltungsgebäudes, in den Zimmern voller Zementstaub und Machorkaqualm („Rauchst du Dübek, rennt der Teufel weg") herrschte Andrang. Die Leute kamen und gingen, die Tür stand nicht still. Man bemühte sich um höhere Rationen, die Arbeitskräfte wurden verteilt. Der Bremsberg war in aller Munde. Täglich wurden die Zuweisungen an flüssigem Brennstoff erwartet.
Gleb lief von einer Werkhalle in die andere, packte mit an, schnitt, sägte und bohrte, als wollte er sich selbst überholen.
Sooft er zu Brynsa hineinsah, empfing der ihn mit Gebrüll.
„Hoho, Heerführer! Die Sache läuft. Brennstoff, Brennstoff, Heerführer! Nur Brennstoff, sonst nichts! Wenn du ihn in den nächsten zwei Tagen nicht herangeschafft hast, jage ich mich mitsamt meinen Dieselmotoren in die Luft." Zwischen den Maschinen hantierten lärmend seine Hilfskräfte, die ihm alle ähnlich sahen. Er zwinkerte ihnen zu, nickte zu ihnen hinüber und bleckte vergnügt die Zähne.
„Siehst du? Die Jungs arbeiten mit Feuereifer. Das ganze sinnlose Geschwätz und der Müßiggang der letzten Jahre sind vergessen, Freund. Das ist eben die Macht der Maschinen. Solange die Maschinen leben, kann man nirgendwohin vor ihnen fliehen. Die Sehnsucht nach der Maschine ist stärker als die Sehnsucht nach der Liebsten."
Dann brüllte er wieder durch das ganze Gebäude:
„Brennstoff, Brennstoff, mein lieber Freund! Zehn Tankwagen! Das genügt fürs erste. Zehn Tankwagen!"
Zusammen mit Kleist, den Technikern und den Steinbrucharbeitern besichtigte Gleb die Schlucht und die überwucherten Abbauplätze. Gewichtig, schweigsam, mit tiefliegenden Augen untersuchte Kleist die alten Bremsberge.
Zwei Techniker vom früheren Stamm folgten ihm gewohnheitsmäßig mit zwei Schritt Abstand und stürzten auf den leisesten Wink von ihm mit sklavischem Diensteifer vor. Er sah Gleb nicht an und schien ihn überhaupt nicht zu bemerken, doch Gleb fühlte, dass nur er für Kleist existierte. Und wenn Kleist mit den Technikern sprach, wusste Gleb, dass jedes Wort ihm galt.
Der Beschluss lautete: Der Haupttransportweg ist instand zu setzen, ein Bremsberg zwischen der höchsten Abbaustelle und dem achthundert Meter hohen Pass zu errichten.
Als Kleist eines Tages, über Pläne und Kostenanschläge gebeugt, in seinem Arbeitszimmer saß (das Fenster war längst geöffnet), sagte er, sich müde zurücklehnend: „Wenn Sie dafür garantieren, Tschumalow, dass die Voranschläge vollständig realisiert werden und uns die Arbeitskräfte sicher sind, dann können wir es in einem Monat schaffen."
Gleb lachte.
„Da gehen unsere Meinungen aber auseinander, Hermann Hermannowitsch. Was heißt hier — ein Monat! Höchstens zehn Arbeitstage! Fünftausend Arbeiter stehen zu Ihrer Verfügung. Material bekommen Sie durch die Werkverwaltung, sobald Sie es anfordern. Kein Monat, nur zehn Tage, Genosse Technischer Leiter."
Kleist sah ihn nachdenklich an und lächelte zum ersten Mal.

Die Böttcherei war ein nutzloser Schuppen; ihr Glasdach war von Steinen durchlöchert, auf dem Rahmenwerk und den unbeschädigten Scheiben lagen Stäbe, Dauben, Bruchstücke von Fassreifen und sonstiger Unrat umher. Die Hobelbänke, die Transmissionen und die zähnefletschenden Kreissägeblätter ruhten unter einer Rostkruste und waren bereift — mit dem Staub vom Gebirge und von der Chaussee. Alles war wie in Nebel getaucht, deshalb sahen wohl Hobelbänke, Sägen und halbfertige Fässer blaugrau aus und durchsichtig wie Eis.
Im Vorbeigehen tat Gleb auch einmal einen Blick in die Böttcherei. Früher hatten hier Hobelspäne golden geleuchtet und die Böttcher zwischen Spänen und sprühendem Sägemehl sich um die Wette an ihren Hobelbänken zu schaffen gemacht.
Gleb ging nicht weiter. Öde und Leere mochte er nicht. Eines Tages würde es auch hier wieder soweit sein: Hobelspäne leuchten auf, sprühendes Sägemehl wirbelt, und die Sägen haben sich wieder auf ihre jungen Lieder besonnen.
Er wollte schon umkehren, da entdeckte er plötzlich Sawtschuk. Mit dem Rücken zu Gleb saß der Böttcher vor seiner alten Hobelbank, betrachtete sie von allen Seiten, schlug mit der Faust darauf, um ihre Haltbarkeit zu prüfen; die Hobelbank knarrte und hustete wie ein gebrechlicher Greis. „So, so, Alte! Noch nicht vergessen? Spürst noch?"
Er ging zu den Sägen, strich mit seiner breiten Pranke über die eisgrauen Sägeblätter, und sie antworteten ihm, wie aus dem Schlaf heraus, mit fernen Seufzern.
„Na, Mädels. Lasst hören, wie euer Lied gehn wird. Wartet nur, bald kommen die Mannsbilder — werden Fässer mit euch machen — aber nicht für die Weiber zum Kohleinsalzen, sondern für alle Länder der Erde. Sie enthalten keinen Kohl, sondern Zement zum Bauen. Na, na, ihr Jungfern, nun weint mal nicht!"
Als Gleb die Böttcherei lautlos verließ, lächelte er und warf einen zärtlichen Blick zurück auf die Tür.
Eines Tages, als Steine und Schienen in der Sonne zergingen und die verödeten Hallen im Staub schwiegen, schob eine Lokomotive, Dampfwolken gegen den Himmel stoßend, eine lange Reihe schmutziger Tankwagen mit Benzin und Öl vor sich her.
Aus dem Tor kamen ihr in langen Blusen, schreiend und mit den Händen winkend, die Arbeiter entgegen.

Sprung über den Tod

Ins Exekutivkomitee war per Telefon die dringende Nachricht durchgegeben worden: der Vorsitzende des Gebietsexekutivkomitees, Borstschi, habe den Chef der Bezirksmiliz, Saltanow, der ihm beim Zwangseintreiben der Lebensmittel helfen sollte, mit der Nagaika verprügelt, und Saltanow habe auf Borstschi geschossen.
Dem Bericht nach hatte Saltanow mit einem Trupp Rotarmisten Razzien auf Kosaken und Städter durchgeführt, die Kornkammern geplündert und das letzte Vieh aus den Ställen getrieben.
Als die vollbeladenen Wagen dann unter dem Geleit der Rotarmisten zum Exekutivkomitee fuhren, hatte die Militärkapelle einen Marsch geblasen. Und die Bauernweiber waren hinterhergegangen, hatten ihre Köpfe gegen die Wagen geschlagen und mit den brüllenden Kühen und blökenden Schafen um die Wette geheult. Unter dieser Musik war es dann im Gebietsexekutivkomitee zum Krach zwischen Borstschi und Saltanow gekommen.
Badjin las die Nachricht mit der ihm eigenen Ruhe, und der Sekretär Peplo, der auf Befehle wartend neben dem Tisch stand, lächelte verklärt.
„Diese Idioten! Da sind Teufel und Beelzebub zusammengestoßen. Lassen Sie mir sofort einen Wagen schicken, Genosse Peplo. Ich fahre selbst hin und untersuche die Sache."
„Jawohl."
„Ach, rufen Sie doch im Bezirksparteikomitee an, Genossin Tschumalowa möchte gleich herkommen. Sie will in dieselbe Staniza fahren — ich werde sie hinbringen."
„Jawohl. Soll ich sagen, dass Sie und Genossin Tschumalowa zusammen fahren werden?"
Der Sekretär Peplo sah Badjin mit zuckenden Lidern an und lächelte.
Der Vorsitzende blickte hoch, und der Sekretär trat zurück.
Sobald Peplo das Zimmer verlassen hatte, stand Badjin auf, reckte die Arme und ging ein paar Mal hin und her. Seine sonstige Schwerfälligkeit und die furchtgebietende Starrheit waren wie weggewischt, er war schlank und kräftig, hatte elastische Muskeln und trug den Kopf trotzig erhoben.
Im Frauenausschuss lief die Mechowa auf dem Korridor Dascha nach, hakte sich bei ihr ein und begleitete sie zum Ausgang.
„Hör mal, Dascha, wollen wir an deiner Stelle nicht lieber eine der Delegierten hinschicken? Du bist jede Woche unterwegs, und sie sitzen immer zu Hause rum. Auf den Landstraßen häufen sich die Überfälle. Sooft du wegfährst, habe ich Angst um dich."
„Red keinen Unsinn, Genossin Mechowa. Was, zum Teufel, wären wir für Funktionäre, wenn uns bei der geringsten Gefahr gleich das Herz in die Hosen fiele?"
Besorgt sah Polja sie an und blieb stehen. Dascha schüttelte ihr herzlich die Hand und ging rasch über die Straße, ihre selbstgemachte Aktentasche schwingend (darin steckte alles, was sie brauchte — Papier und Brot).
Vor dem Eingang zum Exekutivkomitee wartete eine schwarzlackierte Droschke; der bärtige Kutscher auf dem Bock rauchte aus lauter Langeweile und putzte sich mit dem breiten Rockschoß die Nase.
Auf dem Boulevard, inmitten von Kehrichthaufen, wälzten sich zwei kleine Jungen im Staub. Sie hatten zerrissene Kittelchen an, ihre Gesichter waren geschwollen. Staubwolken stiegen über ihnen auf und verteilten sich in den graubraunen Akazienzweigen.
Dascha blieb an der Droschke stehen, blickte auf den Boulevard, dann zum offenen Fenster von Badjins Zimmer und dann wieder auf den Boulevard.
Wessen Kinder sind das? Was haben sie hier zu suchen? Sie sehen ja ganz verwahrlost aus. Warum greift die Miliz nicht ein? Wo hat die Jugendfürsorge ihre Augen und Hände? Oder ist diese Stelle selber verwahrlost wie diese armen Kinder?
Sie trat an den Zaun zum Boulevard und sah der Balgerei der kleinen Schmutzfinken zu.
„Na, Kinder, kommt mal her! Da, nehmt. Ganz frisches Brot. Ihr habt doch sicher Hunger, ihr Knirpse!"
Die Jungen spitzten die Ohren und sprangen rasch auf. Die Tante lächelte so freundlich und vertrauenerweckend, sie sah gar nicht schrecklich aus. Und vor allem — sie hielt ein großes Stück Brot in der Hand. Das Kopftuch jagte Angst ein (man kannte sich längst aus, welche Macht in so einem roten Tuch steckte), aber das Brot war frisch und betäubte einen schon von weitem mit seinem süßen Geruch.
„Ja, ja. Kommt her! Und dann steckst du uns ins Heim. Kennen wir. Schöner Köder!"
Der eine Junge schüttelte sich in seinen Lumpen und wollte davonlaufen. Dascha lachte und brach das Brot in zwei Hälften.
„Na, kommt schon, ihr Ferkelchen! Warum soll ich euch ins Heim stecken? Nehmt das Brot und haut ab."
Die Tante war so lustig und freundlich (wenn bloß das rote Tuch nicht gewesen wäre!), und das Brot war goldgelb wie Honig. Die Kinder hatten Vertrauen und hatten es auch wieder nicht.
Sie sahen einander an, gingen furchtsam auf Dascha zu und streckten ihr von weitem die Hände entgegen. Sie gab jedem ein Stück Brot und wollte ihnen über den Wollkopf streichen, doch die beiden nahmen Reißaus.
Njurka — sie wohnte im Kinderheim, aber war sie besser dran als diese halbnackten Jungen? Einmal hatte Dascha gesehen, wie Njurka mit anderen Kindern auf dem Hof hinter der Volksküche in einem Abfallhaufen wühlte. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, Njurka sei bereits gestorben, sie, Dascha, sei keine Mutter mehr, denn durch ihre, Daschas, Schuld habe Njurka hungern und leiden müssen. Ihre gelegentlichen Liebkosungen im Kinderheim hatte sie nicht mehr als mütterliche Zärtlichkeiten empfunden, sondern als leere Gesten. Sie hatte Njurka auf den Armen vom Abfallhaufen ins Kinderheim getragen, und ihr Herz war fast zersprungen vor Weh. Badjin stand auf dem Bürgersteig.
„Steig ein, Genossin Tschumalowa — wir fahren." Ohne auf sie zu warten, sprang er in die Droschke, die unter seinem Gewicht federte. Dascha setzte sich neben ihn und spürte den elastischen Druck seiner kräftigen Hüfte.
Badjin sah sie nicht an — er war verschlossen, kalt und abweisend wie gewöhnlich.
„Mit dem Auto käme man da nicht durch. In den Bergen werden wir auch mit diesem Klapperkasten nur im Schneckentempo vorankommen. Du hast doch keine Angst vor Banditen? Ich habe nichts bei mir außer meiner Pistole. Sollen wir nicht lieber ein paar berittene Rotarmisten mitnehmen?''
Dascha warf einen Blick auf ihn — hatte er selbst Angst? Aber sein Gesicht war ruhig und unangenehm selbstbewusst.
„Ich weiß nicht, wie du es hältst, Genosse Badjin, aber ich fahre gewöhnlich ohne Geleit."
„Los, Genosse Jegorow!"
Genosse Jegorow aber sah den Vorsitzenden erschrocken an, wollte etwas sagen, traute sich jedoch nicht. Er hüstelte und gab den Pferden die Zügel.
Solange sie durch die Stadt fuhren, schwiegen sie. Dascha fühlte sich ungewöhnlich wohl, es machte ihr Freude, sich von der weichen Federung schaukeln zu lassen.
Vom Bürgersteig nickte Sergej ihnen zu und lächelte freundschaftlich. Shuk kam daher; als er die beiden sah, blieb er verdutzt stehen.
Badjin verzog angewidert die dicken Lippen.
„Ich kann diesen Kerl nicht ausstehen."
„Hochmut, Genosse Badjin. Genosse Shuk ist ein guter Dreher und ein zuverlässiger Kommunist."
„Genosse Shuk ist einfach ein Tagedieb und Meckerer. Solche Brüder sollte man unnachsichtig aus der Partei stoßen."
„Nein, Genosse Badjin: Shuk ist ein guter Genosse, er sagt offen die Wahrheit. Aber weil er euch den Spiegel vors Gesicht hält, seid ihr wütend auf ihn. Ist das etwa richtig? Und stimmt es denn nicht, dass ihr verantwortlichen Funktionäre die Arbeiterklasse nur von eurem Schreibtisch aus seht?"
„Du irrst dich. Der Schreibtisch eines verantwortlichen Funktionärs ist der Arbeiterklasse näher als so ein Ränkeschmied wie zum Beispiel dein guter Genosse Shuk. Denn alles geht über seinen Schreibtisch, von komplizierten staatspolitischen Fragen bis zum alltäglichen Kleinkram. Am Schreibtisch des verantwortlichen Funktionärs habe ich auch deinen Mann kennen gelernt."
Die Stadt lag bereits hinter ihnen. Sie fuhren durch ein Tal: links lagen Weinberge, rechts ein Wald, noch kahl, jedoch schon von grünem Schimmer überhaucht. Die Baumstämme waren in ständiger Bewegung: die vorderen liefen rückwärts, die hinteren glitten, einander überholend, mit dem Wagen vorwärts, und es war, als drehe sich der Wald, als sei er erregt, als lebe er sein eigenes, dunkles Leben.
„Nun, wie steht's jetzt bei dir in punkto Familienglück? Auf der einen Seite — eheliche Pflichten: Bettgemeinschaft und schmutzige Wäsche; auf der anderen — Parteiarbeit.
Ihr habt doch auch, glaub ich, Nachwuchs? Da wirst du wählen müssen: entweder häusliche Sorgen oder Frauenausschuss. Dein Mann fordert gewiss noch Sonderrechte. Ein Mensch mit Prinzipien wie er."
Dascha rückte in die Ecke.
„Mein Mann lebt sein Leben und ich meins, Genosse Badjin. In erster Linie sind wir Kommunisten."
Badjin lachte und legte ihr die Hand aufs Knie. „Du redest wie alle Kommunisten, nur klingt es bei dir etwas glaubhafter: bei dir kommt es wirklich von innen. Ich weiß schon längst, wie schwer es ist, eine gemeinsame Sprache mit dir zu finden."
Dascha stieß seine Hand von ihrem Knie und rutschte bis ans äußerste Ende des Sitzes.
„Kommunisten, Genosse Badjin, sollten immer eine gemeinsame Sprache sprechen." -
Badjin zog sich wieder in sich zurück und sackte zusammen. Er rückte von Dascha ab.
Bis zur Schlucht, die mit ihren murmelnden Bächen und bunten Geröllhaufen, von Felsen und Gestrüpp beschattet, wie in Morgendämmerung dalag, schwiegen beide und schauten nach verschiedenen Seiten. Doch Dascha spürte, wie erregt Badjin war; sie wusste, dass er mit sich rang, sich nicht entschließen konnte, in Gegenwart Jegorows über sie herzufallen. Sie selbst bebte in banger Erwartung. Käme es jetzt dazu — sie könnte sich seiner toll gewordenen Muskeln nicht erwehren: die auf der holprigen Straße schwankende, schlingernde Droschke entzog ihrem Körper den sicheren Halt.
Die Schlucht zog sich über drei Werst hin, dann führte eine ausgefahrene Straße durch ein breites Tal zu der in Gärten versunkenen Staniza.
Felsen und Steilhänge türmten sich bis in den Himmel. Überall lagen in gewundenen Gebirgsfalten heruntergerutschte Erdmassen, Stein- und Geröllhaufen; die Bergrippen glühten wie flüssiges Metall. Unten, über dem Wald und dem struppigen Strauchwerk aber zitterte und wallte nebliger Dunst. Der Himmel über Wald und Bergen sah wie ein blauer Fluss aus, und die Wolken glichen weißen Eisschollen.
Die Straße wand sich zwischen Felsen und Steinblöcken bald nach rechts, bald nach links, bald nach oben, bald nach unten. Vor ihnen lag ein dichter Wald mit einer Wirrnis von Lianensträngen, von Efeu und Gestrüpp, doch kaum fuhren sie in sein Unterholz hinein, da wichen der Wald, die bemoosten Steine und die von Tränen unterirdischer Gewässer benetzten Felsblöcke nach rechts und links aus, stürzten hinab und krochen die Felswände hinauf. Oh, was für eine schreckliche Höhe! Dascha schloss die Augen, und der Atem stockte ihr, wenn es steil abwärts
ging.
Genosse Jegorow beugte sich auf seinem Bock zurück und reckte den Bart.
„Genosse Vorsitzender, wir hätten doch lieber Reiter mitnehmen sollen. Hier werden sogar die Hamsterer jeden Tag überfallen, erst recht aber ... Das war ein Fehler, Genosse Vorsitzender."
Zugeknöpft saß Badjin ruhig in den Polstern der Droschke. Die Schwere seines Körpers bedrückte und peinigte Dascha, und zugleich war es ihr ganz angenehm, zu wissen, dass sie an diesem Mann im Augenblick der Gefahr einen sicheren Halt hatte.
Badjin grinste und bohrte seinen Blick in Jegorows Bart. „Feigheit ist noch gefährlicher als Banditen, Genosse Jegorow. Nimm die Zügel fester in die Hand und mach deine Sache. Die Straße ist gar nicht so schlecht."
Jegorow duckte sich ängstlich. Er schnalzte den Pferden nicht mehr zu, zerrte nur an den Zügeln, drehte den Kopf nach rechts und links und verschluckte sich an seinem Speichel.
Sie fuhren noch eine Werst. Dascha spürte, wie Badjins Muskeln zuckten, wie angestrengt er gegen seine Erregung
und die schwelende Begierde ankämpfte. Er holte tief Luft und umfasste Daschas Schultern.
Dascha krümmte sich, um sich aus seinem Arm zu befreien, Badjin jedoch presste sie fest an sich, und für einen Augenblick sah sie seinen riesigen Kopf und das furchterregende Gesicht vor sich.
Da wurden sie nach vorn geschleudert, die Droschke machte einen Satz, der Wald krachte und schien aufzulodern.
Dascha sah, wie Jegorow auf dem Bock hin und her schwankte und dann kopfüber zur Seite fiel, auf das Vorderrad. Im gleichen Moment ließ Badjin Dascha fahren, sprang nach vorn und riss die Zügel an sich. Die Pferde stampften aufgeregt und zerrten an der Deichsel. „Halt! Hände hoch! Haben wir euch Schweinehunde!"
Hinter dem Felsen hervor und aus der schwarzen Leere des Dickichts kletterten mit Gewehren in den Händen Männer in Tscherkessenröcken und zottigen Pelzmützen.
Dascha starrte nur die Pelzmützen und Wolfsaugen an. Dicht an ihr vorbei lief stolpernd ein weißblonder, barhäuptiger Kosak auf die Pferde zu, geiferte und heulte vor Lachen.
Dascha vermochte noch in einem knappen Atemzug zu rufen: „Badjin, fahr zu!" Dann warf sie sich auf den Kosaken und rollte mit ihm über den Schotter in den Straßengraben.
Im nächsten Augenblick wurde sie von einer unerträglichen Last niedergedrückt, als wälze sich eine Riesenmenge über sie hinweg, tanze mit den Absätzen auf ihr herum und quetsche sie in einen schmalen Spalt. Ob sie geschlagen worden war, ob es eine Schießerei und Verfolgungen gegeben hatte — sie erinnerte sich an nichts mehr. Als sie zu sich kam, stand sie an einem Felsen, und eine ganze Horde hüllte sie in den stickigen Dunst nasser Wolle. Man zerrte sie hin und her, drehte ihr die Handgelenke um und riss sie an den Haaren.
„Ein Weib! Nur ein Weib ist uns in die Finger geraten. Man schämt sich direkt, sich an so was die Hände dreckig zu machen, hol sie der Teufel."
Die Droschke war nicht mehr da, und nur fern aus der Schlucht drang ein Geräusch herüber, als wenn Steine den Abhang eines Steinbruchs hinunterrollten. Kaum hörte Dascha diesen fernen Lärm, war sie sofort bei vollem Bewusstsein. Das musste Genosse Badjin sein, weit weg auf der Straße. Genosse Badjin war unversehrt.
Jenseits der Straße, Dascha gegenüber, lag Jegorow, in seinen Kutscherrock verwickelt, mit dem einen Bein auf einem Stein, der nackte Fuß steckte in einem zerfetzten Schuh; seine Mütze war mitten auf die Straße gerollt und zertrampelt. Die Haare, ein Ohr und ein Büschel Bart waren blutverkrustet.
Hinter einem Felsen schnaubte und stampfte ein Pferd, klirrte Zaumzeug. Mit verzerrten Gesichtern kamen von dort einzelne Kosaken oder rannten dorthin.
„Herführen! Zum Teufel, wollen mich die Leute zum Narren halten?"
Ein schnurrbärtiger Kerl blieb vor dem Felsen stehen und nahm, die Hand an der Pelzmütze, den Ellenbogen gewinkelt, Haltung an.
„Ein Weib, Herr Oberst. Am besten hängt man sie an die nächste Esche — und fertig. Das Luder hat Lymarenko beinahe die Rippen gebrochen. Mit Verlaub, Herr Oberst."
„Herführen, Maul halten! Rindvieh! Statt ihrer werde ich euch alle aufknüpfen lassen, Scheißkerle. Nur auf Weiber versteht ihr euch, Halunken!"
Mit den umgehängten Gewehren einander stoßend, schleifte die Meute sie über Schotter, Gräben und Gras und stellte sie vor einen Gaul, der wütend schnaubte und die Augen rollte. Dascha roch den feuchten, heißen Pferdeschweiß.
Sie stand hochaufgerichtet und sah den Oberst an, und
der Oberst, der Ähnlichkeit mit einem Kalmüken hatte, sah sie ebenfalls an. Er trug einen Tsdierkessenrock mit silbernem Gürtel und silbernen Schulterstücken, dazu eine Kosakenmütze aus Lammfell. Sein Gesicht war schmutzig und seit Tagen nicht rasiert. Der lange schwarze Schnauzbart verdeckte Lippen und Kinn. „Loslassen! Zwei Schritt zurück!"
Dascha fühlte sich leicht und frei. Der Gestank nach nasser Wolle war mit einem Male verschwunden, und es wurde ihr klar, dass sie zwischen diesem Offizier zu Pferd und seiner Horde ganz allein war. Das Kopftuch war ihr im Getümmel heruntergerissen und zertrampelt worden. Bleich, mit stockendem Herzen stand sie da, von unbezwingbaren Schauern überlaufen. „Bubikopf ... Kommunistin?" Dascha sah ihn an und schwieg. „Wer ist in der Droschke mit dir gefahren?" „Genosse Badjin, der Vorsitzende des Exekutivkomitees." „Exekutivkomitee? Was ist das für eine Sprache?" „Russisch, was denn sonst?"
„Du lügst. Russisch klingt anders. Das ist euer Jargon — halb jiddisch, halb gaunerrotwelsch." „Bei uns in Sowjetrussland gedeihen keine Gauner." „Das ist mir neu. Wieso denn nicht?" „Wir erschießen sie, ohne mit der Wimper zu zucken." Hinter ihr brach einmütiges Gelächter los. „Gib's ihr! So ein Satansweib! Schwatzt wie 'ne Elster, verdammt noch mal!"
Der Oberst wandte keinen Blick von Dascha und grinste. „Sind alle bei euch solche Kommunisten wie dieser Gouverneur? Gehört es sich denn, seine Kameraden im Augenblick der Gefahr im Stich zu lassen?" „Stimmt nicht. Das hat er nicht getan, ich selber ..." Die Backenknochen des Offiziers zuckten, sein Schnurrbart geriet in Bewegung. Er schmunzelte. „Ach so! Du hast auf unsere Dummheit spekuliert?"
„Ihre Sache, wie Sie's auslegen. Ich hab's getan — und basta!"
Der Oberst hieb mit der Nagaika durch die Luft und betrachtete Dascha mit dem Lächeln eines kalmükischen Götzen.
Dascha aber empfand in der ganzen Zeit eine ungewöhnliche Leichtigkeit. Ihre Brust atmete gleichmäßig und ruhig, sie hatte einen freien Kopf — ohne jeden Gedanken, ohne Mitleid mit sich selbst, ohne Angst. Nie hatte sie sich wohl freier und jünger gefühlt als in diesem Augenblick. Doch merkwürdig: warum zog es sie mit solcher Macht zu jener einsamen Fichte oben auf dem Felsen (oh, wie hoch!), ganz dicht unterm Gipfel? Warum sah sie zum ersten Male, dass die Luft über den Berghängen so dicht war und in lila Schattierungen spielte? Aber nicht die Fichte war die Hauptsache, auch nicht die Luft, sondern etwas anderes, Vertrautes, Beflügeltes, dem sie keinen Namen geben konnte.
„Du redest kühn daher, Bubikopf. Bist auch recht guter Dinge. So einen Fall erlebe ich zum ersten Mal. Eure Leute winden sich wie die Würmer, wenn sie mir in die Hände fallen. Vielleicht rechnest du damit, dass ich dich laufen lasse, weil du eine Frau bist. Aber da irrst du dich — ich lass dich sofort hängen."
„Mir doch ganz gleich, damit habe ich auch gerechnet." Die Wangen des Obersten schwollen an und bebten, und die kleinen Augen sprühten vor Lachen.
„Ich bin euer unversöhnlicher Feind und vernichte jeden Kommunisten ohne Erbarmen. Aber du hast dich bis jetzt nicht übel gehalten. Ich bin neugierig, wie du unter den Strick gehst."
Ohne sie aus den Augen zu lassen, hob er die Nagaika über den Kopf.
„Baistrjuk!"
Aus der Menge löste sich ein bärtiger Kosak in einer schwarzen, zottigen Pelzmütze. Er war ganz Ergebenheit, Stummheit und Massigkeit.
Er fasste Dascha an der Schulter; auch seine Hand war schwer und schwammig. Statt von ihr geschoben zu werden, schleppte Dascha diese Hand, und sie erschien ihr ungeheuerlich. Immer noch kann Dascha den Blick nicht von der kleinen Fichte losreißen, die da (oh, wie hoch!) in der Feuerluft schwebt. Es riecht so gut, so berauschend nach Frühling, und die aufspringenden Knospen an den Bäumen leuchten wie Glühwürmchen und schimmern in allen Regenbogenfarben. Ein Bächlein murmelt zwischen den Steinen, und es klingt wie Kinderplappern. Doch die schwere Hand des Kosaken zieht unnachgiebig nach unten. Daschas Kopf ist so klar, kein Gedanke ist darin, nur lila schillernde Luft. Sie möchte sich gern auf etwas besinnen, aber weil die fremde Hand so schwer ist, kann sie es nicht. Dabei muss sie sich doch darauf besinnen, es ist etwas sehr Wichtiges, Unaufschiebbares, etwas außergewöhnlich Sinnvolles. Was für eine herrliche Luft — Frühling! Und die kleine Fichte ist am Davonfliegen — hat sich über den Abgrund geneigt und die Flügel ausgebreitet (oh, wie hoch!). Ja, ja, das ist das Wichtigste. Genosse Badjin lebt. Sie aber, Dascha, ist ein Grashalm: sie war — und ist nicht mehr.
Neben ihr schnaufte und schnaubte der zottige Kosak, doch sie sah ihn nicht, sah nur Luft und dichte lila Tiefen.
Da raschelte irgendwo, weit weg, hinter ihrem Hals der Strick, doch sie achtete nicht darauf, merkte nicht einmal, wie der Kosak ihr einen Stoß versetzte.
Doch, doch, Gleb. Aber das war ja so lange her! Lieber, dummer Gleb! So groß und vertraut — und so dumm. Da ist er vorbeigehuscht — und es tut ihr nicht leid. Ach, so weit! Lila Tiefen, und die Fichte, und der glühende Tropfenfall in den Frühlingsbäumen.
Wieder knisterte irgendwo der Strick, und wieder legte sich die schwere Hand auf ihre Schulter.
Sie ging zurück. Vor ihr hing der Felsblock, dahinter dampfte das Dickicht des Waldes, und hinter dem Wald, tief im Luftraume, ragte zum Himmel ein grüner Berg.
Der Oberst blickte Dascha starr und mürrisch entgegen, nur die Bartspitzen zuckten. Außer ihr und diesem Menschen auf dem Pferd war niemand da.
„Alle Achtung, Bubikopf! Das ist dir nicht übel gelungen. Besonders stark, da du eine Frau bist. Kannst gehen. Kein Hund wird dich anrühren."
Er holte mit seiner Nagaika aus und schlug voller Wucht auf das Pferd. Ein dumpfes Gefühl im Magen — das Pferd verschwand mit zwei Sätzen im Gebüsch.

Ein flaumig' Küchlein

Dascha wusste später nicht, wie sie aus der Schlucht herausgekommen war. Es blieb ihr nur eine einzige deutliche und freundliche Erinnerung an den Weg: die grauen, kleinen Vögel mit ihren Häubchen. Sie flatterten ein Stückchen vor und badeten dann im Staube. Hoben ihr die Häubchen entgegen, pickten und flatterten wieder auf.
Sobald sich jedoch die Weite der Vorberge mit ihren flachen Hügeln und Tälern vor ihr auftat, überkam sie die Angst. Einsam, schutzlos inmitten dieser Einöde, fühlte sie erst jetzt jenes blinde Entsetzen, das einem die Besinnung raubt, so dass man kopflos davonstürzen möchte in der verzweifelten Hoffnung auf Rettung. Sich irgendwo ins Gebüsch verkriechen, sich in eine von Unkraut überwucherte Grube fallen lassen, um dort auf friedfertige Menschen zu warten, die doch einmal vorbeigehen oder vorbeifahren müssten. Doch alles ringsum war wüst und tot. Sie glaubte, Hufgetrappel hinter sich zu hören — eine Unzahl Hufe —, und sie lief, was ihre Kräfte hergaben, keuchend vor Angst. Sie blickte sich fortwährend um, doch der Weg war menschenleer. Und sobald sie, schwach vor Erschöpfung, stehen blieb, verstummte das Hufgetrappel jedes Mal, und klingende Stille umfing sie.
In mehreren Linien türmten sich hinter ihr die Berge mit ihren Steilwänden, Felsen und grünen Hängen; wie breite Spalte gähnten zottig bewaldete Schluchten. Fern, im flimmernden Dunst, lag jenseits der Hügelwellen die Staniza, überragt von der weißen Kirchturmsäule mit einem schwarzen Auge unter ihrer Spitze. Hinter der Staniza und den Vorbergen tauchten die nebelhaften Umrisse einer zackigen Gebirgskette auf.
Dascha erklomm mühsam einen Hügel. Der Ort sah von weitem unbewohnt und finster aus.
Dann stolperte sie über einen Stein und fiel in den Straßenstaub. Schmerzen im Knie brachten sie wieder zu sich. Hinkend ging sie an den Rand und setzte sich neben dem Acker ins Gras.
Hoch oben — über ihrem Kopf — blauer Himmel und Wolken; rings — dunstige Hügel im Schweigen unendlicher Weiten.
Rechts und links grünte junges, durchsichtig zartes, goldbestäubtes Gras, leuchteten gelbe Löwenzahnblüten — wie kleine eben ausgeschlüpfte Kücken sahen sie aus. Sie bewegten sich und lachten und waren so hübsch und anheimelnd.
Als Dascha die Blüten erblickte, schrie sie auf und brach in Tränen aus. Gleich darauf beruhigte sie sich wieder. Sie wurde still, konnte jedoch nicht aufstehen: die Kräfte versagten ihr. Sie blieb eine Weile liegen, erhob sich dann und ging hinkend weiter, aber nicht auf der Straße, sondern daneben im Gras.
Da vernahm sie zum ersten Mal den Gesang einer Lerche. Sie sah zu den durchsichtigen Federwolken auf, holte tief Luft und lächelte.
In dröhnendem Galopp sprengten hinter dem nächsten Hügel Rotarmisten hervor, das Gewehr über dem Rücken. Allen voran jagte ein Dunkelgesichtiger in schwarzem Leder.
Die Rotarmisten schrieen und schwenkten die Arme.
Auch Dascha schrie und lief Badjin entgegen.
Badjin zügelte das Pferd und sprang, noch ehe es stehen geblieben war, aus dem Sattel. „Dascha!"
Mit beiden Händen fasste sie Badjins Rechte, lachte und weinte. Die Rotarmisten umringten sie und schrieen alle durcheinander, und keiner verstand sein eigenes Wort.
Einer von ihnen, ein Bursche mit breiten Backenknochen, großem Mund, mit Augen, die tief unter der Stirn lagen, sah Dascha lange an; dann stieg er schweigend vom Pferd und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Genossin! Da hast du ein Pferd. Steig auf. Komm, ich helfe dir."
Dascha brach wieder in Lachen aus, griff nach der Hand des Rotarmisten und drückte sie ebenso fest wie Badjins Hand.
„Ich danke euch, Genossen! Ich habe gar nicht gewusst... Wie gut ihr doch seid! Meinetwegen ein ganzes Regiment loszujagen."
Die Rotarmisten, bemüht, ihre Pferde im Zaum zu halten, sahen Dascha mit lachenden Augen an. Der mit dem großen Mund hob sie in den Sattel, zog einem anderen Rotarmisten den Steigbügel vom Fuß und schwang sich zu ihm auf die Kruppe des Pferdes.
Badjin ritt neben Dascha; den ganzen Weg über stützte er sie besorgt bei steilen Anstiegen, beobachtete mit prüfendem Blick Sattelgurt, Zaum und Zügel. Dascha sah seine Fürsorge und lächelte ihm freundlich zu. „Nun, was ist mit dir gewesen? Erzähle!" „Ach, nichts, Genosse Badjin. Die haben sich ein bisschen aufgespielt und mich dann laufen lassen. Was sollen sie sich auch groß mit Weibern abgeben? Gezaust haben sie mich ein wenig — das ist alles."
Badjin aber sah sie mit wissendem Blick prüfend an und lächelte weich (ein solches Lächeln hatte noch niemand an dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees gesehen). Bis zur
Staniza ritt er ganz dicht neben ihr und griff immer wieder nach ihrem Sattel — besorgt, ob Dascha auch richtig sitze.
Auf dem Kirchplatz vor dem Gebietsexekutivkomitee stand eine ganze Wagenburg. Die Pferde schlugen mit den Schweifen, die Kühe drehten ihre gehörnten Köpfe hin und her. Wie auf dem Markt drängten und brüllten die Kosaken, heulten und schrieen die Weiber. Kleine Jungen mit und ohne Pelzmützen spielten Reiter und machten Bockspringen. Ganz in der Nähe — auf dem Hof des Komitees oder auch in der Menge — grölte eine betrunkene, heisere Stimme:
„Ein flau-mig' Küch-lein ohn' Strumpf und Schüch-lein ..."
Die Stimme krächzte und keuchte, sang aber weiter, stieß immer wieder dieselben Worte aus.
An einem Tisch saß Borstschi, im Tscherkessenrock, mit einem Dolch im Gürtel, und kratzte geschäftig mit der Feder auf einem Blatt Papier. Er sah Dascha etwas frech entgegen und lachte.
„Aha, Schwein gehabt, der Tod war gerade nicht bei Laune..."
Badjin trat jugendlich forsch an den Tisch und setzte sich. „Genosse Borstschi, laß Saltanow rufen."
Borstschi lief elastisch, mit weiblicher Grazie zur Tür. „Genosse Saltanow, der Vorsitzende des Exekutivkomitees will dich sprechen."
Dann kehrte er mit derselben Grazie an seinen Platz zurück.
Saltanow trat ein und blieb vor dem Tisch stehen. Badjin sah ihn finster und durchdringend an und sagte kalt durch die Zähne: „Genosse Saltanow, du bist von deinem Auftrag entbunden und verhaftet. Morgen fährst du mit Borstschi in die Stadt. Ich übergebe die Sache dem Revolutionstribunal."
Saltanow hob die Hand an die Mütze, stand stramm und starrte Badjin aus weit aufgerissenen Augen an. „Ich habe doch alle Direktiven streng befolgt."
Badjin wandte sich ab und sah schweigend auf Borstschis Mütze.
„Genosse Borstschi, bring die Musik da draußen zum Schweigen. Sieh zu, dass wir den Zwischenfall zu unseren Gunsten ausnützen. Die Feindseligkeit gegen uns muss mit der Wurzel ausgemerzt werden. Gehen wir auf den Platz."
Als sie zu dritt — Badjin, Borstschi und Dascha — zu den Wagen gingen, starrten ihnen die Kosaken in ihren Pelzmützen, die Bauern und Bäuerinnen aus tiefeingesunkenen Augen entgegen. Die Wagen standen schon ganze vierundzwanzig Stunden hier, und ebenso lange hatten sich die Bauern um sie herumgedrängt, nachts wie die Zigeuner an Lagerfeuern hockend.
Badjin sprang auf einen Wagen und überblickte die Menge. „Bürger Kosaken und Bauern!"
Neben ihren Wagen begannen die Weiber zu schreien und zu kreischen und übertönten seine Worte.
Auch Borstschi sprang auf den Wagen, fuhr mit dem Arm durch die Luft und rief mit lauter Soldatenstimme: „Ruhe, ihr Satansweiber! Hört zu, was der Vorsitzende des obersten Exekutivkomitees euch zu sagen hat. Still, Bürger, ihr seid doch nicht besoffen."
Borstschis Anschnauzer (Borstschi, der war ja einer der Ihren, ein Kosak aus ihrer Staniza!) beschwichtigte die Menge.
„Bürger Kosaken! Für sein gesetzwidriges Vorgehen habe ich den Chef der Bezirksmiliz verhaftet. Spannt eure Pferde ein und fahrt mit eurem Hab und Gut nach Hause. Die Zusatzlieferung, die die Regierung von euch für die Rote Armee verlangt hat — für eure eigenen Söhne also, die gegen die Pans und Generale kämpfen —, diese Lieferung wird euch erlassen. Ich will offen mit euch reden. Nicht
der Krieg ist jetzt unsere Sorge... Wir wollen nicht, dass die Felder mit Blut getränkt werden. Unsere Sorge ist die Volkswirtschaft. Es ist nicht unsere Schuld, es ist unser Unglück, dass uns die Pans und Generale keine Stunde zu Atem kommen lassen. Es geht uns nicht darum, dass Blut vergossen wird, es geht uns um das Land. Nicht um Männer für die Schlacht, sondern um Feldarbeiter, um Vieh, um friedliche Arbeit... Keine Ablieferungspflicht mehr — die wird abgeschafft, die wird es nicht mehr geben, ihr werdet nichts mehr davon hören! —, sondern volle Kornspeicher, alle eure Felder unterm Pflug. Waren für die Stanizen und Dörfer. Freier Handel. Recht auf Arbeit und Erholung."
Badjin sprach von der Naturalsteuer, von Genossenschaften, von der Demobilisierung der Roten Armee, von Eisen, Manufakturwaren und Rohstoffen. Erwähnte den Genossen Lenin, der sein ganzes Leben dem Arbeiter und Bauern geweiht habe.
Er hob die Hand und wollte weitersprechen, aber die Menge war in Bewegung geraten, schrie und jubelte. Die Leute kletterten mit freudigen Gesichtern auf die Wagen und drängten zum Vorsitzenden.
Als alle sich beruhigt hatten und zurückgewichen waren, als die Wagen zu knarren begannen, sagte Borstschi treuherzig zu Badjin:
„Und jetzt bitte ich Sie, Genosse Badjin, lassen Sie den Genossen Saltanow frei. Ein wenig herumgetobt haben wir — und damit basta. Wir haben uns beide nichts vorzuwerfen."
Badjin entgegnete kalt: „Genosse Borstschi, jeder Streit zwischen verantwortlichen Funktionären und jeder ihrer Fehlgriffe muss nicht nur ihnen selbst, sondern auch den anderen Genossen zur Lehre dienen. Es bleibt bei meiner Anordnung. Übergib die Geschäfte einem zuverlässigen Genossen! Morgen fährst du mit mir in die Stadt."
Neben ihnen schwankte auf krummen Beinen ein kleiner betrunkener Kosak, fuchtelte mit der Mütze und schrie aus vollem Halse wie ein Irrer:
„Ein flaumig' Küchlein ohn' Strumpf und Schüchlein spaziert' am Kai, bis eine Kräh' es dort visierte und arretierte."
Am Abend sprach Dascha bei den Frauen. Auch Badjin war da. An diesem Freudentag waren viele Frauen gekommen. Dascha erfüllte ihren Auftrag mit Erfolg. Uff — mit dem Frauenvolk in den Stanizen zu Rande zu kommen, das war schon ein verflucht schweres Stück Arbeit!
Dascha hatte Badjin noch nie so gesehen wie an diesem Abend. Sooft sie seinem Blick begegnete, flammten in ihrem Gedächtnis die goldenen Butterblumen am Straßenrand auf. Und sie las in seinen Augen stumme Begeisterung und unauslöschliche, feurige Liebe zu ihr. Er wich keinen Schritt von ihrer Seite, blieb bei ihr, bis sie einschlief — beharrlich in fürsorglicher Zärtlichkeit, ergeben, zahm und sanftmütig. Dascha kam es etwas komisch vor, dass Badjin sich so verausgabt haben, dass seine ganze Kraft auf sie übergegangen sein sollte. Sie brauchte nur zu befehlen, Badjin würde gehorsam alles tun, was sie von ihm verlangte.

 

IX. Der Bremsberg

Die Massen

Vor und hinter sich empfand Gleb nicht den und jenen Menschen, sondern nur die ganze Menschenlawine. Schweißgebadet brach er mit der Hacke Zementschiefer und Feldspat heraus. Wie Ameisenscharen bedeckten Tausende, ihre Hacken schwingend, den ganzen Abhang — von den Schloten, den Werkgebäuden und den Steinhalden bis zu den obeliskenhaften Masten der elektrischen Förderbahn.
Ü ber dem Meer zogen Wolkenballen dahin, die ersten Frühlingsblumen flatterten in Schwärmen über das Grün der Berge. Wie opalfarbener Rauch schimmerten Sträucher zwischen den Steinblöcken und in den Felsenrissen. Zur Rechten und zur Linken erhoben sich hier abschüssige Berge, tief unten breitete sich das himmelblaue, grenzenlose Meer. Und zwischen Bergen und Meer — tiefer Luftraum.
Ingenieur Kleist leitete persönlich die Arbeiten, unterstützt von gesetzten Technikern und flinken Gruppenführern, die sich diensteifrig in seiner Nähe hielten. Leicht gebeugt, auf seinen dicken Stock gestützt, traf er ruhig und kühl, mit kaum erhobener Stimme seine Anordnungen.
Ingenieur Kleist ist ein der Sowjetrepublik ergebener Spezialist. Der Arbeiter Gleb Tschumalow kann jetzt Freund des Ingenieurs Kleist sein... War das etwa kein Sieg?
In sich gekehrt, blieb Kleist unweit von Gleb stehen, überblickte den Schwung der Arbeit auf den Bergen, und Gleb sah in seinen Augen Stolz und Erregung aufleuchten.
Er schob seinen Helm in den Nacken, wischte sich die Schweißtropfen vom Gesicht und lächelte fröhlich.
„Na, Hermann Hermannowitsch, erinnern Sie sich noch? Sie haben gesagt, wir brauchten für diese Geschichte einen Monat; sehen Sie sich an, was die Leute fertig bringen, wenn Enthusiasmus sie beseelt. Zum dritten Mal sind sie heute angetreten, und die Arbeiten sind schon beinahe beendet."
Kleist lächelte; seine Würde beibehaltend, sagte er trocken:
„Ja, ja. Mit solchem Arbeiterschwung lassen sich Wunder vollbringen. Trotzdem ist es ein unökonomischer Kräfteverschleiß. Hier fehlt die Planung und organisierte Arbeitsteilung. Enthusiasmus ist wie ein Wolkenbruch: nicht anhaltend und schädlich."
„Wenn alles in Trümmern liegt, kann man nur so anfangen, Hermann Hermannowitsch. Haben wir einmal ein festes Fundament gelegt und alles in Ordnung gebracht, werden wir die Produktion auch planmäßig bewältigen lernen. Übrigens — Enthusiasmus ist kein Wolkenbruch, sondern Feuerbrand, ein Feuerbrand der Seele, der niemals in uns erlischt."
Auf seinen Stock gestützt, ging Kleist den Berg hinauf zu den wie Flammen aufsteigenden Obelisken der Förderbahn. Dann blieb er stehen und sann.
Wer weiß, vielleicht ist das wirklich ein neuer Tag. Vielleicht fängt ein anderes Leben an, ein noch nie geschautes, glückliches Leben.
Es roch unerträglich nach glühenden Steinen und versengtem Gras. Der Staub brannte in Mund und Augen.
In den Bergen läuteten Glocken.
Schön ist's. Alles gewaltig und unermesslich. Die Sonne voller Leben wie der Mensch. Sie speist jede Zelle seines Körpers mit Blut, beseelt ihn mit Wünschen und Glauben an die Zukunft.
Die geraden Linien der Gleise liefen auf den Rippen der Schwellen in die Schlucht, zu den Ausbeutungsstellen hinab und nach oben in den Kiefer der Kopfstation. Noch eine Stunde, und die stählernen Saiten der Drahtseile werden sich spannen, sich wie glühende Fäden durch die Luft ziehen, und mit ehernem Klang werden die Loren anlaufen — hinauf und herab — hinauf und herab.
Polja Mechowa, der Lockenkopf, kletterte müde den Berg hinauf, sich auf ihren Spaten stützend. Sie stolperte oft, schrie dann jedes Mal auf und lachte.
Auf einem Felsen zwischen den Obelisken stand Luchawa in schwarzer Bluse ohne Gürtel, die Brust entblößt; er signalisierte mit beiden Armen Befehle.
„Ach, bin ich müde, Tschumalow! Stütz mich schwaches
Weib."
Polja legte Gleb die Hand auf die Schulter. Er fasste sie unter und setzte sie auf einen steinernen Vorsprung.
Mit geschultertem Spaten kam Dascha vorbei, gefolgt von einer Schar Frauen, ebenfalls mit Spaten. Sie stiegen zur Kopfstation hinauf, um die Wege auszubessern. „Sieh da, meine Dascha, die Anführerin! War mal ein nettes Frauchen."
Er umarmte sie, als sie vorüberging, und drückte sie an sich.
Dascha lachte, riss ihm mutwillig den Helm vom Kopf und warf ihn bergab. Dann befreite sie sich aus seiner Umarmung und lief lachend weiter. Er wollte ihr folgen, überlegte es sich aber und sah ihr nur nach. Ein Weilchen stand er noch, dann kletterte er auf den Steinplatten langsam hinunter und hob seinen Helm auf.
Polja schmunzelte listig, seufzte und sagte neidisch: „Dascha ist eine richtige Bolschewikin, und ich habe Riesenrespekt vor ihr. Aber in dich ist sie verliebt wie eine Braut, Tschumalow."
„Du träumst wohl, Genossin Mechowa?" „Was! Sag bloß, du merkst nichts davon!" „Bisher habe ich nur das Gegenteil bemerkt", erwiderte Gleb bissig. „Sie ist mit mir umgesprungen, wie man mit Ehemännern nicht umgeht."
„Nicht möglich!" rief Polja lachend. „Glaub ich dir nicht, Tschumalow. Hast wohl als eifersüchtiger Gatte den Despoten herausgekehrt, wie?"
Er hielt ihren spöttischen Blick nicht aus und wandte sich verlegen ab.
„Ach, ihr Männer, ihr Männer! Wie patriarchalisch ihr noch seid! Ihr traut euch noch nicht, die Frau zu achten."
„Entschuldige, auf mich trifft das nicht zu." „Gerade auf dich, werter Genosse."
An jenem Abend hatte Dascha nicht mehr so mit ihm gesprochen wie noch die Woche zuvor. Mit unbeholfenen, kargen Worten hatte sie ihm von ihrem Abenteuer in der Schlucht erzählt. Im Schein der elektrischen Lampe hatte sie ausgesehen wie ein junges Mädchen: ganz strahlendes Staunen, ihre weitgeöffneten Augen blickten ihn vertrauensvoll und mit zärtlichem Lächeln an. Als sie dann erzählte, wie sie von der Droschke gesprungen war und wie sie der bärtige Kerl zur Schlinge geführt hatte, da war Gleb erregt im Zimmer auf und ab gelaufen. Nicht Angst um Dascha, nicht Wut auf Badjin war es gewesen, was ihn erschütterte, sondern ihr hoher Mut. Und das eine hatte er tief und endgültig gefühlt: Nie wieder würde er ihr ein grobes Wort sagen, nie wieder eine kränkende Frage stellen oder sich ihr mit aufdringlicher Zärtlichkeit nähern. Er hatte ihr zugehört, zitternd und ohne die Augen von ihrem Gesicht abwenden zu können.
„Dascha! Aber das ist doch der sichere Tod gewesen! Ich begreife nicht, welches Wunder dich gerettet hat. Du hast recht, Liebste: Nicht nur einander — uns selber kennen wir wahrscheinlich nicht einmal."
Und als sie dann im Dunkeln lagen — er im Bett, sie auf dem Fußboden —, hatte Dascha ihn zärtlich gerufen. „Gleb, schläfst du?"
„Liebste, Daschalein! Kann ich denn jetzt schlafen?" Dascha hatte liebevoll gelacht und dann nach einigem Schweigen listig gefragt: „Nun, und wenn ich damals mit Badjin geschlafen hätte? Nehmen wir's einmal an. Was würdest du dazu sagen?"
Gleb hatte sich gewundert. Dascha hatte ihn mit diesem grausamen Scherz nicht verletzt. Sie hatte ihn prüfen wollen — prüfen in einem Augenblick, da Heuchelei unmöglich war, da er sich entweder als Mensch oder als Tier erweisen musste. Er hatte in dieser Sekunde nur eins gefühlt: Dascha war ihm teurer, ihm mehr geworden als Frau. In seinem Herzen war eine Zärtlichkeit zu ihr aufgestiegen wie zu einem neuen Freunde, wie er ihn noch nie besessen. Er hätte vor Liebe zu ihr weinen und ihr um jeden Preis beweisen mögen, dass ihr Glück ihm über alles ging.
„Wozu sagst du mir das, Liebste? Mag gewesen sein, was will, du bist mir jetzt das Teuerste." Dascha hatte aufgeatmet.
„Weiß nicht, aber etwas Neues ist in mein Leben getreten. Irgendwie neu, besser ... sehe ich mich und dich auch."
Sie war eine Weile still gewesen, hatte dann zu seufzen angefangen und sich auf ihrem Lager hin und her geworfen; schließlich war sie aufgesprungen und leise an sein Bett getreten. Behutsam und zart hatte er sie in die Arme genommen, geküsst und neben sich gelegt.
Sawtschuk arbeitete jetzt als Vormann einer Gleisbauabteilung; er nagelte Schienen an die Schwellen und schwang seinen Hammer mit der Raserei eines Arbeitstrunkenen.
Gleb schulterte seine Hacke und kletterte den Berghang hinauf, wo Eisenbahner gerade die Sträucher abschlugen, sie bahnten der zweiten Arbeitskolonne den Weg.
„Hau zu, Sawtschuk, immer drauf! Damit in deiner Böttcherei recht bald die Sägen singen." „Machen wir, verdammt noch eins! Wir hauen uns schon durch zu unseren Mädels."
Die letzten Schienen wurden an den Schwellen befestigt. Die Trossen liefen wie Schlangen durch die Flaschen und krochen nach unten, wo sie im Menschengewühle verschwanden.
Rotarmisten standen, auf ihre Gewehre gestützt, an der Sohle des Passes und hielten Wache. Über ihnen und neben ihnen grünten dichte Büsche und Lebensbäume.
Zerschlagen, mit zitternden Gliedern, wankte Sergej aus der Reihe. Er ging zur Mechowa und ließ sich neben ihr auf die Steine fallen.
„Na, werter Intelligenzler? Nicht wahr, die Wurzeln der kommunistischen Arbeit sind nicht immer süß?"
Sie strich ihm zärtlich übers Haar, und er lächelte verwirrt und schuldbewusst. Schweißtropfen rollten ihm über Nase und Kinn. „Ich bin ganz aufgewühlt, Polja. Solche Tage sind selten im Leben. Wie groß das alles ist, welcher Schwung, welche Kraft! Das lässt den Menschen wachsen und macht ihn unbezwingbar. Sitzen wir ein Weilchen, Polja, und träumen."

Blutiger Einsatz

Die ersten Schüsse waren im Arbeitslärm nicht zu hören. Die Rotarmisten am Pass liefen hin und her: sie gingen hinter Steinhaufen in Deckung, stürmten einzeln vor und schossen hastig durcheinander.
Luchawa schwenkte die Arme. Mit überschnappender Stimme schrie er: „Genossen! Ruhe! Alle bleiben auf ihrem Platz! Die Arbeit geht weiter! Keine Panik, Genossen!"
Doch Tausende von Menschen rannten bereits nach allen Seiten — bergab, nach rechts, nach links, stürzten hin, rannten weiter. An verschiedenen Stellen versuchten manche den Strom aufzuhalten — hoben die Arme, drohten mit Spaten und Hacken.
Gleb kletterte auf einen Felsblock und kommandierte: „Genossen Kommunisten, zu mir!"
Der Spitzentrupp der Baugewerkschaft stürzte zu Gleb, andere folgten einzeln oder in Gruppen. „Haaalt! Haaalt!"
Die Leute wälzten sich unaufhaltsam hinunter, liefen auseinander und verschwanden zwischen Sträuchern und Felsen.
„So ein Gesindel. Haben den Kopf verloren." „Rollen und rennen... wie die Ratten... Ist das ein Volk!"
„Gibt eben allerlei Volk; das eine stürmt, das andere türmt."
Gleb traf unverdrossen seine Anordnungen. „Lauft runter, Genossen! Sawtschuk! Dascha! Beruhigt die Leute. Sorgt dafür, dass sie umkehren."
Sawtschuk, Dascha und noch einige Arbeiter fassten sich bei den Händen, um einander Halt zu geben, und liefen in einer Kette den Berg hinunter.
Gleb winkte die Arbeiter zu sich heran und rief: „Genossen, zu mir! Holt Gewehre! Auf zur Förderbahn!"
Rasch ging er über die Schwellen nach oben zu den Obelisken. Ein Trupp Arbeiter stürzte ihm nach.
Die Metallarbeiter und Elektroinstallateure aber arbeiteten ruhig und schweigend weiter, doch in ihren Augen flackerte die Unruhe.
Luchawa und Sergej verteilten Gewehre und Patronen, und alle, die ein Gewehr bekamen, konnten ein erfreutes Lächeln nicht unterdrücken. Jeder einzelne empfand die Feierlichkeit und die Bedeutung des Augenblicks; mit strengen Gesichtern setzten sie die Patronenstreifen ein und traten schweigend zur Seite. Der Hauer Mitka, der Harmonikaspieler mit dem rasierten bläulichen Schädel, drängte sich gewaltsam zu Gleb vor und brüllte: „Los, lasst mich durch, Jungs! Nicht wegstoßen, bitte! Ich weiß genau, wo mein Platz ist. Ich habe auf diesen Tag vielleicht sehnsüchtiger gewartet als auf meine Geburt."
Er streckte schon von weitem die Hände aus, versuchte gierig, ein Gewehr zu erwischen, und ärgerte sich, wenn er beiseite gedrängt wurde.
Einige Minuten später schwärmte der Trupp aus und eilte zum Pass hinauf.
Polja kletterte dicht neben Gleb über die Steine. Er spürte ihre weiche Schulter und hörte ihr schnelles Atmen.
„Willst du also unbedingt mit, Genossin Mechowa? Wozu denn?"
„Warum soll ich denn nicht mit? Warum kannst du dabeisein und ich nicht?"
„Bei mir liegt die Sache doch etwas anders, aber dir ist ein Rock an die Beine gewachsen."
Polja wurde wütend und prustete verächtlich.
An manchen Stellen wechselten Rotarmisten und Arbeiter vorn die Stellung, machten halt und schossen kniend. Weit entfernt — auf dem Meer oder hinter den Bergen — heulten Sirenen.
„Das sind doch Kugeln, Gleb! Ich hab schon so ewig keine mehr gehört."
Gleb ging, das Gewehr schussbereit. An seiner Seite hielt auch Polja das Gewehr im Anschlag. Ihre langen Locken glänzten in der Sonne.
Glebs Plan war einfach und klar. Sein Trupp sollte den Banditen in den Rücken fallen, sie aus dem Wäldchen jagen und auf dem kahlen Berghang vor die Gewehre der Rotarmisten treiben. Die Rotarmisten sollten sie dann vernichten. Gleb selbst wollte von der Höhe aus den Kampf leiten.
„Hörst du, Gleb, sie sind nahe, schießen vom Gipfel aus. Sicherlich wollten sie Panik stiften und dann den Bremsberg zerstören."
Gleb antwortete nicht. Er kletterte den Steilhang hinauf, blieb oft stehen und sah sich nach dem Bremsberg um. Polja hielt mit ihm Schritt.
Tief unten drängte sich eine dichte Menschenmasse zusammen; aus diesem Gewühl lösten sich ganze Gruppen und einzelne Gestalten und krochen auf den Bahnschwellen in langer Reihe bergan.
Der Gipfel glich einer grünen Kuppel. Ein eisernes Stativ, ein Zeichen von Feldmessern, leuchtete rostrot in der Sonne.
Sie krochen auf den Berggrat. Von hier aus eröffnete sich ihnen ein weiter Ausblick: Haine und Gehölz, Täler und Hügel. In der Ferne blauten andere, noch höhere Bergketten, und darüber schimmerten einzelne Gipfel, mit rosa Schnee bedeckt.
Tschumalow und Polja legten sich auf das feinkörnige Geröll. Es roch nach versengtem Gras und dem Schwefeldunst des erhitzten Zementschiefers. „Ich sehe nichts, Gleb. Wo sind sie?" Polja erhob sich auf die Knie und streckte die Hand aus. Gleb zog Polja am Rock. Ein weiches Knacken, und ein Häkchen, der Seitenverschluss riss. Polja lachte auf und setzte sich neben Gleb. „Einen Haken hast du mir abgerissen, du Bär! Was soll
ich jetzt machen?"
Sie holte eine Nadel heraus und steckte den Rock zusammen.
Rechts vom Gipfel türmte sich eine Felswand auf, die der Ruine einer uralten Festung glich und mit einem Dickicht aus Lebensbäumen, Kornelkirschen und Heckenrosen bewachsen war. Zwischen den Felsen schlich, von Sträuchern gedeckt, raubtierhaft ein sonnenverbrannter Kosak ohne Pelzmütze, das Gewehr im Anschlag. Er hockte sich nieder,
drückte sich an die Steine, verschwand und tauchte dann wieder auf.
„Ich schieß ihn gleich nieder, Gleb. Ich halt's nicht aus." Das Gewehr zitterte in Poljas Händen, ihre Augen funkelten.
„Liegenbleiben, sag ich dir! Sonst schmeiß ich dich den Abgrund runter."
Gleb riss drohend die Augen auf.
Er lief rasch bergab in Richtung des Kosaken und entschwand aus Poljas Blickfeld. Dann tauchte er für einen Moment, zur Erde geduckt, zwischen den Ruinen auf.
Der Kosak blieb stehen, warf erschreckt den Kopf hoch und legte an.
Polja schlug das Herz so laut, dass ihr der Atem stockte, und es schien ihr, als krachten die Schüsse im Walde tief unten.
War es Gleb gelungen, sich zu verbergen, oder hatte der Kosak ihn entdeckt?
Aufspringen, hinlaufen. Nein, sie schafft es nicht mehr...
Sie legte rasch an und drückte auf den Abzug, hörte jedoch den Schuss nicht, spürte nur einen Stoß gegen die Schulter und in den Ohren den Luftdruck.
Sie sprang auf und rannte zu den Felsen — dorthin, wo Gleb war. Geröll und Staub wirbelten von den Steinplatten auf und brannten ihr auf Wangen und Stirn.
Vor einem Felsblock rangen Gleb und der Kosak in den Büschen, die von ihrer Last niederbrachen. Unter Poljas Füßen klirrte Glebs weggeworfenes Gewehr.
Wahnsinn in den Augen, mit Schaum und Speichel beschmiert, keuchend, röchelnd wand sich der Kosak in Glebs Armen und zerrte ihn mit sich zum Rande der Schlucht.
In demselben Augenblick, als Polja mit dem Gewehrkolben auf den Kopf des Kosaken ausholte, umklammerte Gleb mit einem Arm dessen Hals, packte mit dem anderen sein Handgelenk und brach ihm den Arm. Der Kosak
knirschte mit den Zähnen und heulte auf. Gleb presste seinen Hals zusammen, bis er selbst am ganzen Körper zitterte. Polja sah, dass beide im nächsten Augenblick in den Abgrund stürzen mussten, und versetzte dem Kosaken mit dem Kolben einen furchtbaren Hieb in die Seite. Der Mann wurde schlaff, brüllte dumpf auf, und seine Knie knickten
ein.
„Ich kann nicht mehr! Aus!"
Glebs Hand glitt vom Halse des Kosaken und hielt ihm den anderen Arm fest. Der Kosak sah Gleb mit den Augen eines gefangenen Tieres an, und sein heißer Atem ging pfeifend. Aus Nase und Mund rann ihm eine schleimigblutige Brühe. Der sonnverbrannte Schädel zuckte, er verschluckte sich an Speichel und Blut und brüllte wieder dumpf: „Lass mich! Ich kann nicht mehr! Ich gebe auf!"
Polja krallte sich in Glebs Schulter und zerrte ihn zurück. „Schnell fort von hier, Gleb! Siehst du denn nicht — eine Falle!" Gleb blickte sie verständnislos an und ließ den Kosaken los.
Auch er keuchte und röchelte und riss sich die Fetzen des Hemdes vom Leibe. Dann griff er nach der Revolvertasche, doch sie war leer.
Vom Kampf erschöpft, sah der Kosak umher, fuhr zusammen, fletschte die blutigen Zähne und sprang hastig
zum Abgrund.
„Haa, Schufte, verdammte, niederträchtige! Wollt einem Kosaken an den Hals? Fangt den Kosaken im Flug!" Er kreischte auf, nahm Anlauf und flog kopfüber in den
Abgrund.
Gleb lief zum Rande der Schlucht und sah, wie der Körper des Kosaken tief unten über die Steine kobolzte, gegen Felsvorsprünge prallte, sich in der Luft überschlug und bald hierhin, bald dahin purzelte.
Poljas Hand zog ihn vom Abgrund zurück.
Aus dem Wäldchen liefen die Banditen in zerstreutem Haufen, stolperten, schossen, überschlugen sich. Schüsse ballerten, und hinter dem Gipfel, wo die Rotarmisten in Deckung lagen, stieg Staub auf. Polja lag auf dem Bauch und feuerte ebenfalls. Der Kolben schlug ihr schmerzhaft gegen die Schulter; doch in wilder Begeisterung zog sie knackend durch, zielte und schoss auf die in der Ferne hüpfenden Gestalten.

Der Hebel schaltet

Wie Geigen sangen die Scheiben der Seilbahn, und ihre in verschiedenen Neigungen und vielfachen Überschneidungen schwingenden eisernen Speichen schwirrten wie schwarze Flügel. Die Stahltrossen rollten wie Spinnfäden in den Felgenrinnen auf und wickelten sich wieder ab. Die Monteure, Arbeiter und Komsomolzen, mit Luchawa und Kleist an der Spitze, beobachteten das Spiel des elektrischen Triebwerks und lauschten der wiedererwachten Maschinenmusik.
Die Menschenmassen, die wie eine Lawine bergab fluteten, brodelten vor Erregung. Von der Kopfstation bis zum Fuße des Berges, wo sich Steinhaufen zu Pyramiden türmten, zogen die Menschen in zwei Strömen hinab, zwischen denen die vier Saiten liefen.
Von der Sohle kroch, an ein Drahtseil geklammert, eine unten abgestumpfte Schildkröte herauf.
Ü ber die in Stufen liegenden Felsplatten stieg in ungeordnetem Haufen der bewaffnete Arbeitertrupp vom Pass herab, während die Rotarmisten wieder an ihre alten Plätze gingen. An der Spitze des Arbeitertrupps gingen Gleb und die Mechowa. Hinter ihnen wurde, auf Gewehren gebettet, die Leiche eines Genossen getragen.
Der Trupp stieg bis zum Maschinenhaus und legte die
Waffen ab. Die Gesichter der Arbeiter waren mit Schmutz bedeckt. Der Leichnam, der an Stelle des Kopfes einen blutigen Fleischklumpen hatte, wurde auf die betonierte Plattform gelegt. Sich stoßend und drängend, strömten die Leute herbei.
Stumm, mit strengen, schmerzerfüllten Gesichtern standen die Arbeiter Schulter an Schulter und starrten auf den jungen Burschen, der da tot zu ihren Füßen lag. Der blutüberströmte Kopf ließ nicht mehr den Harmonikaspieler Mitka erkennen. Mitten im Gedränge verbanden Komsomolzinnen verwundete Genossen.
Eine junge Stimme überschlug sich vor Erregung. „Ach, hat's dich erwischt, Bruder ... Mitka! Was soll man da sagen. Und warst so ein lustiger Bursche!"
Neue Scharen drängten sich heran, blieben reglos vor dem Leichnam stehen und stöhnten vor Schmerz auf.
Kleist trat auf Gleb zu und drückte ihm schweigend die Hand.
Dascha ging vorbei und sah ihn mit feuchten Augen an, in denen aber eine neue Freude und Verwunderung leuchteten.
Und hat sie nicht recht? Die Hauptsache bleiben die Massen, die Arbeit, das beflügelte Spiel der Räder und dass nachts das Werk seine elektrischen Mondaugen öffnet und in den Arbeiterwohnungen die Fäden in den erloschenen eisklaren Glühbirnen wieder aufleuchten.
Dann werden sich aus den Kratern der Schlote bald wieder schwarze Rauchwolken wälzen und schwebende Schildkröten zu den Pieren fliegen und von da zu den Höhen und in den Steinbrüchen den Schiefer verschlingen.
Luchawa stand neben den Maschinen, rief etwas nach unten und schwang die Arme.
Die Räder bebten und blieben stehen.
Gleb lief die Stufen hinab, die unter die Maschinen führten, in gleicher Höhe mit der Plattform stand eine breite, flache Lore, mit dem Silberstaub der Verwesung bedeckt.
Gleb lief wieder hinauf und schrie den Menschen zu: „Genossen, hebt den Toten auf, legt ihn auf die Lore! Wir wollen ihn mit aller Feierlichkeit hinunterlassen. Er soll seinen Weg durch die Massen nehmen. Alle sollen ihn sehen und ihm die letzte Ehre erweisen."
Schweigend hoben die Arbeiter den Toten auf und legten ihn vorsichtig auf die Lore.
Jemand bat in weichem, traurigem Ton: „Genossen! Seine Hacke. Sein Gewehr. Legt sie doch neben ihn, Genossen!"
Gleb stellte sich zwischen die blauen Obelisken und machte eine weitausladende Armbewegung. „Abfahrt! Sputet euch!"
Unter Stimmengebraus glitt die Lore auf den Schienen bergab, schwebte wie ein Vogel in der Luft.
Gleb legte die Hände als Trichter an den Mund und rief:
„Genossen, das ist ein Opfer der Arbeit und des Kampfes. Weint nicht! Schluchzt nicht! Freut euch der lebendigen Siege. Bald wird die Fabrik dröhnen von Feuer und Maschinen. Wir gehen zusammen an den großen Aufbau des Sozialismus. Ja, Blut wurde vergossen, viel Leiden, viel Schwierigkeiten waren auf unserem Wege und werden noch sein. Aber dieser Weg des Kampfes führt zum Glück, zum endgültigen Sieg über die Welt der Gewalt. Mit eigener Hand schaffen wir uns unsere Welt. Mit dem Namen Lenins auf den Lippen, mit dem Glauben an das grenzenlose Glück verzehnfachen wir unsere Kräfte im Kampf um die Zukunft."
Die Lore mit dem Leichnam des gefallenen Jungen, des lustigen Harmonikaspielers, glitt abwärts, durch die Menschenmassen hindurch, und alle empfingen und begleiteten diesen Katafalk mit entblößtem Haupt, und die Gesichter waren traurig und streng.

 

X. Seelenschichten

Ruhige Minuten

Dascha und Gleb kamen aus der Werkkantine. Sie gingen die Chaussee hinunter und bogen dann ins Gebüsch ab, das von wildem Wein und immergrünen Efeugirlanden durchrankt war. Sie waren gerade in einem noch frühlingshaft grauen und durchsichtigen jungen Eichen- und Hainbuchengehölz untergetaucht, als Polja sie einholte.
„Genossen, ich begleite euch ein Stückchen. Ich möchte mich zusammen mit euch etwas erholen, in dieser Stille." Dascha fasste Polja am Ellenbogen.
„Genossin Mechowa, du bist noch nie bei uns gewesen. Komm mit, besuch uns. Wir sehen uns freilich jeden Tag bei der Arbeit und haben uns wohl auch aneinander gewöhnt, aber wie wir zu Hause sind und was wir auf dem Herzen haben — das wissen wir nicht."
Polja schüttelte ihre Locken und blieb damit an einem dornigen Zweig hängen. Sie lachte, brach den Zweig ab und roch daran.
„Wie schön ihr's hier habt! Ich habe lange keinen Wald mehr gesehen. Es riecht nach Erde und Harz. Wie lange das schon her ist, wohl beinahe seit der Kindheit. Hier unter diesen Büschen sieht man tiefer in sich hinein, kommt man sich durchsichtiger vor. Dort, in den Bergen, war mir nicht traurig zumute, aber jetzt bin ich richtig rührselig geworden — wegen dieser kleinen Eichen und des Frühlingsduftes. Ich hake mich bei deinem Mann ein, Dascha. Wir sind doch schwache Weiber."
So schwatzte sie, spielte mit den Zweigen, lachte und zappelte vor Aufregung. Sie lief zu Gleb, hakte sich bei ihm ein und sah über ihn hinweg Dascha an. „Bist du nicht eifersüchtig?"
Dascha erwiderte lächelnd Poljas Blick. „So schwach bin ich nun doch nicht, um eifersüchtig zu sein."
Gleb fühlte, wie Polja seinen Arm an ihre warme Brust drückte.
Die Sonne war bereits im Niederbrennen, sie erlosch allmählich hinter den fernen Bergrücken. Der Himmel war tiefblau und stand über der Sonne in Feuer. Das Gebirge schien ganz nahe gerückt und glich erkalteten Eisen- und Kupferströmen. Zur Rechten konnte man den Bremsberg sehen, seine gelbe aufgewühlte Furche durchschnitt den schroffen Berggrat.
Vom Grund der Schlucht herauf schwammen violette Abendschatten in die kraterähnlichen Vertiefungen. Die sonnigen Streifen und Flecke auf Bergrücken und Hängen strahlten indessen noch Hitze aus. Hier unten auf dem grasbewachsenen Pfad, zwischen den graublauen, wie Spinnweben verstrickten Büschen, atmete die vorabendliche Stille den berauschenden Duft von Frühlingserde und schwellenden Knospen.
Dascha ging etwas voraus und brach dürre Zweige ab. „Was für eine gute Luft, Genossen. Wie Honig! Bald wird alles grün sein und blühen."
„Das hast du vorhin treffend gesagt, Dascha. Wir sind einander nur bei der Arbeit nahe, aber privat sind wir uns fremd. Das ist einer unserer schweren Widersprüche. Wir haben vor nichts so Angst wie vor unseren Gefühlen. Man braucht unseren Leuten nur in die Augen zu sehen, und das Grauen kommt einen an. Sie sind wie mit Stahl gepanzert. Wir sind immer hinter Schloss und Riegel. Am Tage sperren wir uns selber ab und in der Nacht unsere Zimmer."
Dascha blieb stehen und bemerkte mit milder Strenge:
„Die Menschen können warten, liebe Polja, aber die Sache nicht, sie verlangt ständige Wachsamkeit. Vergiss nicht, dass unsere Arbeit mit Gefahren und Opfern verbunden ist. Du hast heute auch ein Gewehr in den Händen gehalten, nicht nur den Spaten."
„Das beweist noch gar nichts, Dascha", ereiferte sich Polja, „du vereinfachst die Frage. Es gibt viele, die unter ihrer seelischen Einsamkeit leiden, sie geben es nur nicht zu, weil sie Spott oder Heuchelei fürchten oder Vorwürfe wegen mangelnder ideologischer Festigkeit. Was hat aber ideologische Festigkeit damit zu tun?"
Dascha entfernte sich immer mehr von ihnen und brach Zweigspitzen ab. Gleb fuhr freundschaftlich durch Poljas zerzauste Locken.
„Du singst ihr vergeblich deine Serenaden, Genossin Mechowa. Ihr kommst du nicht bei. Ich habe ihr noch ganz andere Lieder gesungen, habe ihrem Herzen noch ganz anders zugesetzt und wurde trotz allem geschlagen ..." Daschas Zähne blitzten von weitem.
„Gleb ist dir ähnlich, Polja, er liebt herzbewegende Gespräche ... und Wühlerei in fremden Seelen."
Dunstig und rot senkte sich die Sonne auf die fernen Gipfel, die sich in sie hineinnagten wie in eine feurige Plinse. Die geraden vom Hafen heraufführenden Straßen zerteilten die Stadt am Fuße der Berge, die mit ihren Häusern in die Schlucht hinabglitt. Zwischen den Anlegestellen und Molen schillerte das Meer wie Perlmutt. Hallen und Kuppeln des Werkes türmten sich in tiefem Schweigen wie ewiges Eis.
„Mir setzen in letzter Zeit quälende Fragen zu, Genossen. Neue Ökonomische Politik. Wir treten in eine Periode schwerer Widersprüche ein, aber alle tun so, als merkten sie es nicht. Ich bin die ganze Zeit in Unruhe und erwarte etwas Fürchterliches."
„Was ist mit dir, Genossin Mechowa?" fragte Dascha verwundert. „Warum bist du nervös? Widersprüche — gut, schwere Widersprüche — sehr gut: wir werden noch zäher kämpfen. Komm mit, ich gebe dir heißes Wasser mit Süßstoff zu trinken."
Polja sah Dascha erschrocken an und ging rasch auf den Mauerdurchbruch zu.
Dascha blickte ihr lange nach, und in ihrem Gesicht zuckte ein liebevoll spöttisches Lächeln. „Ein gutes Mädel, gescheit, aber mit sich zerfallen." „Weißt du was, Daschalein. Steigen wir auf den Berg, setzen wir uns ein Weilchen hin. Ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen."
„Meinetwegen, gehen wir. Ich bin zwar müde, aber ich habe auch keine Lust, im Zimmer zu hocken. Der Abend ist so schön."
Gleb war gerührt. Dascha nahm seine Hand und ging schweigend neben ihm her. Gleb fühlte, dass sie erregt war. Er merkte, dass sie mit sich kämpfte: sie wollte ihm etwas sagen — ihr Eigenstes, Innerstes, Wesentlichstes enthüllen, aber sie konnte sich nicht entschließen. Nicht ohne Grund war sie so bereitwillig mit ihm auf den Berg gegangen, nicht ohne Grund hatte sie Polja gehen lassen. Was mochte das bedeuten?
Sie gingen an Gärtchen und Häuschen vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Genauso in sich gekehrt kletterten sie über die Steinplatten zum Wasserreservoir hinauf. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, stützte sie und drückte sie an sich, und sie litt es gerne. Das Reservoir lag hoch über der „Gemütlichen Kolonie", von hier aus wurde das Wasser durch ein Rohrsystem in die Arbeitersiedlung und weiter in die verschiedenen Dienststellen, Laboratorien, Werkhallen und sonstigen Gebäude geleitet.
Sie gingen um eine Steinhalde herum und an einem Stollen mit verrosteter Eisentür vorbei, an der ein Schloss hing. Dann stiegen sie eine Steintreppe hinauf und erreichten einen breiten betonierten Platz. Er war eben und dröhnte unter ihren Schritten wie eine Kirchenglocke.
Unten, am Fuße des Berges, stuften sich die roten Dächer der Kasernen bis zur Höhe der Schlote empor, jenseits der Kasernen standen die Gebäude und Türme des Werkes, und noch weiter unten folgte die violette Bucht mit den ans Ufer rollenden Wellenspiralen. Hinter den Molen lag ruhig das Meer, grenzenlos, höher als die Schlote und die fernen Bergkämme.
Vom Werk zur „Gemütlichen Kolonie" gingen Arbeiter, in Gruppen und einzeln. Weit hinter der Mauer aber, auf dem braunen Berghang, lief ein kleines Mädchen einen schmalen, fahlen Pfad entlang und schwang die Arme.
„Dort geht Polja, siehst du sie? Eigenartiges Geschöpf, diese Polja: mal ist sie nicht kleinzukriegen, und dann wieder zittert sie wie eine Weidenrute. Ich habe Angst, dass mit ihr etwas passiert. Du gefällst ihr allzu gut... Sie wird sich doch nicht verliebt haben?"
Gleb, der sich neben ihr ausgestreckt hatte, war verblüfft; er konnte aber auf ihrem Gesicht nichts als ein verstecktes Lächeln erkennen. Was war los mit ihr? War sie etwa eifersüchtig? Er wusste nicht, was er ihr antworten, wusste nicht, ob er sich ärgern oder lachen sollte.
„Na, Daschalein, du magst zwar die Leute nicht leiden, die in fremden Seelen wühlen, aber selbst bist du auch jederzeit bereit, in eine fremde Seele zu tauchen — so tief es nur geht." Dascha drehte sich rasch zu ihm und lächelte.
„Bist du aber ein komischer Kauz! Sind denn Mechowa und ich nicht gleichberechtigte Frauen? Sie möchte sich aber auf irgendeinen Helden stützen."
„Ich möchte mich selbst stützen... aber nur auf dich ..."
„Nun, sich zu stützen, muss man verstehen. Das ist nicht so einfach. Ich möchte am liebsten ... auch ich möchte gern eine Stütze haben. Aber in diesen drei Jahren hat sich alles um und um gekehrt. Auch wir beide, Gleb, sind anders geworden. Ich habe viel erlebt, viel durchgemacht, und ich habe gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen und selbständig zu denken. Einem geliebten Wesen, Gleb, soll man sich behutsam nähern und mit viel Achtung."
Ihre Worte gingen ihm nahe; ihr Wissen machte sie so neu und stark und unwiderlegbar, dass er nicht mehr wie früher mit ihr sprechen konnte. In jener unvergesslichen Nacht (verfluchte Schlucht!) hatte er zum ersten Mal gefühlt, dass auch er ein anderer geworden — nicht mehr der gleiche war wie gestern, in dessen Innern alles ausgebrannt schien. Er hatte entdeckt, dass er Dascha auf eine neue, bislang nie gekannte Art liebte — nicht nur als Weib, sondern als den Menschen, der ihm näher stand als alle anderen. Was wäre aus ihm geworden, wenn sie umgekommen wäre an jenem Tage, da er nicht an sie dachte, da er nur für das Werk, die Maschinen, die Werkhallen da war?
Unter dem Betonplatz rauschte in der Tiefe das Wasser, und ein gewaltiges, lebendes Wesen seufzte im Leeren. Es hörte sich an, als kämen die Seufzer aus dem Walde und von seinen Wipfeln, als entstiegen sie der Dämmerung des Tales.
Alles löste sich auf, wurde tief und unmessbar: Die Berge waren keine Berge mehr mit Zacken, Steinen und Felsen, sondern eine Gewitterwolke, das Meer in seiner aufgebäumten Uferlosigkeit war kein Meer, sondern eine azurne Untiefe, und sie beide hier auf dem Hügel über dem Werk und das Werk selbst befanden sich auf einem Planetensplitter, der lautlos in die Unendlichkeit flog.
Gleb legte den Kopf auf Daschas Knie und sah über sich ihr Gesicht mit Feuertupfen auf den Wangen und ihre Augen, groß, voller Erregung und Liebe.
„Hier unterm Himmel fühlt man sich als anderer Mensch, Dascha. Da liege ich nun auf deinen Knien. Wie lange ist das her? Noch nie, glaube ich, habe ich etwas Ähnliches erlebt. Ich weiß nur eins — deine Liebe war größer und tiefer als meine, und ich bin deiner unwürdig. Ich habe nicht den hundertsten Teil durchgemacht von dem, was du
durchgemacht hast. Erzähl mir doch von der furchtbaren Zeit. Vielleicht kenne ich mich dann selber besser."
Der Himmel gleißte plötzlich auf. Überall flammten kleine und große Sterne. Erregung überkam Gleb, er richtete sich auf.
„Schau, Dascha, Liebste! Ist es nicht schön, zu kämpfen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen! Das alles — das gehört doch uns ... das sind wir! Unsere Kraft und unsere Arbeit. Als ob man tief Luft holt, vor dem ersten Schlag ... wenn man weit ausholen will."
Dascha legte die Hände auf seine Brust. Auch sie war ergriffen, und Gleb hörte, wie in dumpfen Schlägen ihr Herz klopfte.
„Ja, Lieber, es ist schön, für sein Schicksal zu kämpfen. Was sind Qualen, was Tod. Gewiss ist das schrecklich, und nicht jeder kann durchhalten. Ich habe damals nur durchgehalten, weil die Liebe zu dir stärker war als die Angst. Dann hatte ich auch noch anderes begriffen, anderes liebengelernt ... vielleicht mehr noch als dich."
„Sprich, Dascha, was es auch sei — sag es. Ich habe schon gelernt, nicht nur zuzuhören, sondern auch ... gegen mich anzukämpfen."

Die Geburt der Kraft

An diesem violetten Abend erzählte sie Gleb von ihren Abenteuern, erzählte ihm, wie sie kämpfen gelernt, wie sie ihren Weg zum Glück gefunden hatte.
Auf dem Speicher, zwischen Mäusen und Spinnen, hatte Gleb seine Wunden heilen lassen, und eines Nachts war er dann fortgegangen in die Berge, wo in Schluchten und Wäldern die Rot-Grünen saßen.
Dascha hatte gewusst, dass Gleb sie vielleicht für immer verließ, und Abschied von ihm genommen wie von einem Toten. Sie hatte lautlos an seiner Brust geschluchzt und lange nicht von ihm lassen können. Als er dann in die Nacht hinausgegangen war, hatte sie kein Licht angezündet; mit Njurka auf den Armen war sie im Zimmer auf und ab gelaufen, bis die Morgendämmerung das Fenster erhellte. Von da an war jeder Tag und jede Nacht voller Grauen gewesen wie ein Alptraum.
Sie sollte aus diesem Halbleben ebenso plötzlich aufschrecken, wie sie in ihm erstarrt war.
Polternd und johlend, Gewehre und Pistolen im Anschlag, drangen eines Tages Offiziere und Soldaten bei ihr ein, umringten sie, und mehrere Stimmen fragten gleichzeitig: „Wo ist dein Mann?"
Zum ersten Mal begann sie zu zittern, zum ersten Mal lähmte sie Entsetzen. Njurka brüllte und wand sich in ihren Armen, doch sie war wie taub, sie hörte das Schreien nicht.
„Sag uns, wo dein Mann ist. Wir wissen, dass er hier war. Mach gefälligst keine Unschuldsaugen und markier nicht die Zierpuppe..."
„Woher soll ich denn wissen, wo mein Mann ist? Sie wissen das am besten. Sie haben ihn ja weggeschleppt."
Dascha weinte nicht, nur ganz bleich wurde sie, und ihre Augen glänzten durchsichtig wie Glas.
Einer der Offiziere, ein halber Knabe noch, mit spitzem, erbostem Gesicht, der immerzu aufstand und sich wieder setzte, ununterbrochen rauchte und sie unverwandt ansah, brüllte: „Du, lüg nicht so frech! Du weißt es! Du weißt es sehr gut! Du kommst mir nicht davon."
Er brach plötzlich ab und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Du wirst sofort verhaftet und an Stelle deines Mannes erschossen. Rede, aber mach uns keinen blauen Dunst vor!"
Doch sie stand wie erstarrt und bewegte kaum die Lippen.
„Ja, woher soll ich's denn wissen? Sie haben die Macht — töten Sie mich. Sie sehen doch, ich bin allein. Wozu quälen Sie mich?"
Der Offizier schwieg und beobachtete sie wieder scharf. Sah er die Qual in ihren Augen, hörte er einen Vorwurf in Njurkas Schreien? Er stand rasch vom Stuhl auf.
„Gründliche Haussuchung vornehmen! Jede Kleinigkeit genau beachten."
Er setzte sie zwischen zwei bärtige Soldaten, und die anderen Soldaten durchstöberten bis zum Morgen alle Winkel und Ritzen und Fetzen. „Hat sich zur rechten Zeit dünngemacht, das Aas." Am Morgen schleiften die von der nutzlosen Arbeit verschwitzten und mitgenommenen Soldaten Dascha und Njurka hinter das Werk zu den Villen. Und dort saß sie scheu zwischen einem Haufen fremder, verstörter, von Todesangst gepeinigter Menschen bis zum Mittag in einem Keller. Jemand sprach sie an, und dann noch andere — aber was sie sprachen, davon behielt sie kein Wort.
Mittags holte man sie aus dem Keller, und derselbe Offizier sah sie mit zusammengekniffenen Augen scharf an.
„Na, wo ist denn nun dein Mann, junge Frau? Keine faulen Ausreden — wir lassen dich sowieso nicht frei, ehe du's nicht sagst. Wenn er in Sicherheit ist, warum hast du da solche Angst? Lass das Leugnen. Das hat doch keinen Zweck, zum Teufel."
Sie aber, zum Umfallen müde, vor Erschöpfung und Gram, stammelte: „Wie kann ich wissen, wo er ist? Sagen Sie mir doch, wo Sie ihn hingetan haben."
Im Hintergrund murmelte jemand angewidert: „So schick sie doch zum Teufel, Oberst! Siehst du denn nicht, dass sie vor Angst von Sinnen ist?"
Der Oberst klopfte eine Zigarette gegen das Etui und lächelte plötzlich. „Ich werde dich für deine Halsstarrigkeit erschießen las-
sen. Das geht bei uns fix. Es wird dir nicht gelingen, die Dumme zu spielen." „Na, schießen Sie doch, na wennschon ... wennschon."
Zum ersten Mal weinte sie laut und winselnd auf. „Sie selber haben ihn doch totgeschunden! Sie selber doch! Schinden Sie auch mich tot. Mich und Njurka, mich und Njurka, wo Sie schon dabei sind."
Sie kam erst auf der Straße in der Sonne wieder zu sich. Sie ging auf der lichtüberfluteten Chaussee. Vor ihr lag das Werk, weiter hinten, auf der Anhöhe, die Arbeitersiedlung, und sie sah von fern das rote Dach, unter dem sich ihr verlassenes Zimmer befand.
Und wieder lebte sie allein dahin. Sie freundete sich mit Motja Sawtschuk an und verbrachte ganze Tage mit ihr.
Oft saß sie vor ihrer Haustür auf der Treppe, lauschte dem Plätschern der Bäche in der Schlucht und dachte an Gleb. Wo war er? Lebte er? Würde der Verschollene einmal zu ihr zurückkehren?
Eines Tages, als die Berge sich im Dunst auflösten, saß Dascha wieder auf der Vortreppe und stopfte zerlumptes Zeug; Njurka spielte neben ihr auf dem zementierten Platz des kleinen Hofes mit einem Kätzchen — Zikaden zirpten, und hinter den Arkaden des Werkes, draußen über dem Meer, schossen Möwen aufleuchtend durch die Luft.
Ein schnurrbärtiger Soldat in Wickelgamaschen ging vorbei (als ob wenig Soldaten an ihrem Haus vorbeigingen). Er trat zum Zaun und lehnte sich auf einen Pfosten.
„Dascha, bleib sitzen, erschrick nicht. Nachrichten von Gleb. Heb den Zettel sofort auf ... da! Erwarte mich heute abend."
Er ging. Ihr war nur eins aufgefallen: Der Schnurrbart sah wie Werg aus, die Augenbrauen auch.
Sie wollte zum Zaun laufen, doch der Soldat drehte sich um, und die Wergbrauen runzelten sich über den Augen. Sie verstand — sie musste so lange warten, bis er mit seinen schweren Schritten hinter dem Berg verschwunden war.
In zärtlichem Ton bat sie Njurka: „Komm her, komm zur Mama, mein Kleines! Schnell, schnell! Heb das Zettelchen dort auf und bringe es der Mama, Ja, so. Komm auf Mamas Schoß mit dem Zettel. Schnell, schnell!"
Njurka watschelte zum Zettel, grapschte ihn mit ihrem Fäustchen und lief zufrieden zur Mutter. „Da, Mama! Da!"
Dascha blickte sich nach allen Seiten um, entfaltete den Zettel und las (das konnte nur Glebs Schrift sein).
„Liebste, ich bin gesund und munter. Gib acht auf Dich und das Kind. Verbrenne das sofort, Jefim erzählt Dir alles, was nötig ist."
Gleb, lieber, einziger! Wenn du nur lebst und gesund bist und es dir gut geht! Um sie brauchte er sich nicht zu sorgen, sie war dann auch froh und guten Mutes.
In der Nacht kam Jefim, der nach Wald und Bergen roch, und Dascha bildete sich ein, er rieche nicht nach Wald, sondern —nach Gleb. Im dunklen Zimmer saßen sie nebeneinander am Fenster (nur am Himmel tropften Sterne), und Dascha zitterte vor Freude und vor Liebe zu Gleb. Jefim aber, die Pistole in der Hand, kam sofort zur Sache; er flüsterte mit seiner von Machorkarauch heiseren Stimme: „Du musst uns helfen, Dascha. Ich sag dir offen: Gleb schlägt sich durch die Weißen durch zur Roten Armee. Keine Angst, er schafft's bestimmt. Doch es geht jetzt nicht um ihn."
Dascha zitterte und murmelte stotternd: „Vielleicht... sag, Genosse Jefim! Wenn er nun umkommt, wenn er in eine Falle gerät? Er ist doch ganz allein und rundherum lauter Bestien."
„Es geht jetzt nicht um ihn, sag ich dir noch einmal. Gleb lässt dir ausrichten: Sei stark und hilf uns. Eine stürmische Zeit ist das jetzt. Ich bleib immer in deiner Nähe. Du wirst also unsere Grüne sein. Pass auf. Du wirst Aufträge für die ganze grüne Gruppe erledigen. Also auch für Gleb. Unsere Jungs sollen dir eine Zeitlang deinen Mann ersetzen. Denk daran. Organisiere aus allen grünen Witwen einen tüchtigen Trupp. Du selber fang im Werkkonsum zu arbeiten an. Wir werden die Sache im Nu hinbiegen."
„Ja, aber... aber meine Tochter? Was soll aus Njurka werden?"
„Gib sie einer guten Frau in Pflege. Njurka ist kein Spatz, sie fliegt dir nicht davon. Sag, was du noch auf dem Herzen hast."
Dascha zitterte so, dass sie nur mit Mühe das Nötigste herausbrachte.
„Genosse Jefim, vielleicht geht Gleb jetzt allein durch die Nacht, allein unter Bestien, und auf Schritt und Tritt lauert der Tod auf ihn ... wenn Gleb diesen Weg gewählt hat, dann will ich auch — dann gehe ich auch denselben Weg mit ihm."
Jefim lachte im Dunkeln auf und strich ihr sanft übers Knie.
„Bist ein braves Weib, das weiß ich. Ich sage dir im voraus: Die Sache ist gefährlich. Aber du bist nicht allein, du gehörst zu uns. Und wir haben auch starke Arme."
Er verschwand ebenso unhörbar, wie er gekommen war.
Njurka kam zu Motja in Pflege gegen Daschas Ration. Motja nahm die Kleine gern zu sich. Sie war eine gute Frau und eine gute Freundin, und Njurka hatte es bei ihr wie bei der Mutter.
Dascha arbeitete nun in der Konsumbäckerei. Oft erschienen Steinbrucharbeiter bei ihr mit einem Zettel und holten für „die Kumpel beim Bergbau" Brot ab.
Tag für Tag suchte sie die „grünen Witwen" auf. Die Hälfte von ihnen hamsterte. Manch eine verfluchte ihren geflohenen Mann, tat sich mit einem anderen zusammen und vergaß bald den ersten. Andere ernährten sich durch Wäschewaschen für die Offiziere. Dascha scharte sie um sich und gab ihnen Aufträge: Sie schickte sie in die Berge, um den Grünen Kleidung, Schuhwerk und, wenn nötig, Papiere verschiedener wichtiger Personen zu überbringen.
Besonders eng freundete sich Dascha mit drei Frauen an. Die jüngste war Fimka (ein Mädchen in heiratsfähigem Alter, dessen Bruder Petro bei den Grünen war). Sie sah so zart aus wie ein gnädiges Fräulein. Die älteste war Domacha — knochig, rothaarig, Mutter von drei ewig heulenden Gören. Lisaweta aber war eine kinderlose junge Frau, hochbusig und rotwangig. Fimka war nachgiebig und zärtlich: nie ließ sie sich von einem Mann vergebens um Liebesdinge bitten, nie von einer Frau vergebens um etwas zu essen. Domacha war zänkisch und machte alle Welt für ihre Not verantwortlich, Lisaweta wiederum war hochmütig, schweigsam und unnahbar. Diese drei hatte also Dascha unter ihre Fuchtel genommen. Nur mit ihnen verbrachte sie ihre freien Stunden.
In dunklen Nächten kam Jefim, klopfte sich mit dem Revolver aufs Knie und erklärte:
„Merkt euch, Genossen Weibsleute, die einzig wahre Regel: Schweige, töte alles Gedächtnis in dir ab. Nimm die Zunge zwischen die Zähne. Die Zunge ist das allerverfluchteste Stück Fleisch — der Teufelsschwanz des Menschen. Hat man dich zum Beispiel ertappt und gepackt — beiß die Zunge ab und spuck sie aus. Kapiert? Die Zunge hat noch keinen Berg versetzt, kann aber eine ganze Festung weglecken/'
Das war ihr erster Lehrer und Freund. So verging fast ein Jahr. Und in diesem Jahr wurde Dascha gleichsam neu geboren. Ihr früheres Leben am häuslichen Herd erschien ihr bereits nichtig und erniedrigend; nie mehr wollte sie wieder dahin zurück. Durch die Arbeit mit den Frauen und die Beziehungen zu den Grünen gewann sie Erfahrungen und neue Gedanken.
Als Dascha eines Tages hinter dem Verkaufstisch stand — es war ein frischer, sonnenklarer Morgen —, stießen Offiziere die Menge mit Gewehren auseinander und drangen in die Bäckerei ein. Erschrocken liefen die Leute nach allen Richtungen davon. Dascha aber wurde auf einen Last-
wagen zwischen die Meute von Offizieren gesetzt; man fuhr sie zu der Villa, wo sie damals mit Njurka gewesen war, und warf sie in denselben Keller. Wieder lagen und saßen dort viele Menschen, wieder waren ihr alle fremd, alle von Todesangst gepeinigt und halb irre.
Sie grübelte, wie sie sich verhalten sollte — was sie tun müsste, um nicht schwach zu werden. Alles könnte sie ertragen, Qualen, vielleicht auch den Tod — aber sich über Njurka hinwegsetzen, Njurka aus ihrem Herzen reißen, das könnte sie nicht.
Im trüben Halbdunkel erblickte sie einen Schnurrbart und ein Paar Augenbrauen, die wie Werg aussahen. Jefim kannte sie nicht, und sie begriff: Sie durfte mit keiner Miene verraten, dass sie ihn kannte. In einem Menschenhaufen, nicht weit von ihr, schluchzte Fimka, neben Fimka saß ihr jüngerer Bruder Petro, ein Bursche mit flaumigen Kinderwangen. Er streichelte ihr das Haar, den Rücken und flüsterte ihr etwas zu. Sein Gesicht sah aus, als hätte er Gift geschluckt.
Hier erlebte Dascha zum ersten Mal das Grauen menschlicher Qual.
Zuerst wurde Jefim hinausgeschleift und dann sie. Derselbe junge Oberst erwartete sie — und erkannte sie sofort. „Ah, beehrst du uns wieder mit deinem Besuch? Na, diesmal kommst du hier nicht wieder fort. Erzähl mal, wie du die Grünen mit Brot versorgt hast. Warum hast du uns denn vorgelogen, du wüsstest nicht, wo dein Mann sei?"
Dascha stellte sich dumm.
„Woher soll ich wissen, wo mein Mann ist? Sie haben ihn selbst beiseite geschafft, und nun hängen Sie mir auch noch die Grünen an."
„Das werden wir gleich nachprüfen. Führt sie in die Küche und gebt ihr ordentlich zu futtern!"
Man schleppte sie in einen anderen, kleineren Keller. Auf dem Fußboden stand eine schmutzige Pfütze, und es
stank nach Leichen. Ein nackter, blutüberströmter Mann lag auf der Erde.
Zwei stämmige Kosaken bearbeiteten ihn keuchend und knurrend mit Ladestöcken.
Sie verspürte einen brennenden Schlag im Rücken. „Eins, zwei! Da, du Luder! Zeig diesem Aas mal den schönen Mann dort."
Ihr wurde übel, und sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Auf unbegreifliche Weise bekam sie sich wieder in die Gewalt und stöhnte: „Wozu quält ihr mich? Wofür?"
Erneut hieben sie mit ihren Ladestöcken auf Jefim ein, aber er lag flach auf dem Bauch, drehte den Kopf hin und her und schwieg. Und dieses Schweigen ließ Dascha die Größe seiner Kraft und seiner Qual ahnen. Erst jetzt ging ihr auf, was Standhaftigkeit bedeutete und dass Schweigen ihre Pflicht und Schuldigkeit war. Dort wurde Jefim geschunden — aber keine Folter konnte ihm das große Geheimnis entlocken, das seine Herzenssache, die Revolution, schützte und aus ihm selbst einen unbeugsamen Kämpfer machte.
„Los, du Himmelsziege, gesteh, was für Techtelmechtel hast du mit diesem Lumpen gehabt? Sagst du's, dann rühren wir ihn nicht mehr an, und du bist frei."
„Ich weiß von nichts. Ich habe selbst genug am Halse. Warum verhöhnt ihr mich, ihr Tiere?"
Und wieder fuhr ihr das unerträgliche Brennen durch und durch. Ihr Herz drohte zu zerspringen, und sie schrie gellend: „Was hab ich euch denn getan? Wofür schlagt ihr mich?"
„Rede! Oder es geht dir wie dem. Du hast die Wahl!"
Und mit einemmal wurde ihr klar, dass man nichts über sie wusste, keine Beweise gegen sie hatte. Sie war nur auf Verdacht oder auf Denunziation hin festgenommen worden. Weder Domacha noch Lisaweta waren hier. Fimka? Das war etwas anderes — Fimka war ihres Bruders wegen
hier. Wahrscheinlich hatte man ihn in ihrem Zimmer entdeckt — er kam ja oft nachts zu ihr geschlichen.
„Ich habe nichts zu sagen. Was soll ich denn gestehen? Ich lebe allein und behellige niemanden."
„Gib dem Onkel noch eine Portion, so, ja! Schlag zu! Feste! Bis er zu grunzen anfängt, bis ihm die Suppe hochkommt."
Jefims Körper lag schon leblos im Schmutz und zuckte nur noch im Todeskrampf. Die Kosaken hieben erschöpft auf das blutige Fleisch ein, und von den Ladestöcken flogen klebrige Spritzer.
Kopfüber flog Fimkas Bruder Petro an Dascha vorbei. Tierische Angst in den Augen, sprang er auf, glitt aus, fiel hin, sprang wieder auf und lief durch den blutigen Schlamm, der unter seinen nackten Füßen aufquatschte. Zwei Kosaken mit Ladestöcken stürzten ihm nach. Petro stieß einen furchtbaren Schrei aus und prallte mit voller Wucht gegen die Wand.
Mit irren Augen stierte Dascha auf die Folterung ihrer Genossen und konnte, wie erstarrt, den Blick nicht von ihnen wenden. Sie sah nichts als Blut.
Sie kam wieder zu sich in jenem hellen Zimmer, in dem der Oberst saß und qualmte; er blinzelte sie durch den Rauch an.
„Na, junge Frau, hat dir unsere Küche gefallen? So, und jetzt wollen wir uns mal unterhalten."
„Ich weiß nichts. Quälen Sie mich doch nicht sinnlos."
„Du kennst wohl auch nicht den Lümmel und das Mädel?"
„Fimka kenne ich, auch Petro. Ich habe sie schon als kleine Kinder..."
Zwei Offiziere flüsterten ihm etwas ins Ohr. Er runzelte zuerst die Stirn, dann zog er die Mundwinkel breit.
„Ü berlass sie uns, Oberst." Und sie kamen mit verzerrten Gesichtern auf Dascha zu.
Sie flüchtete in die Ecke und streckte abwehrend beide
Arme aus. „Nicht! Nicht! Eher sterben. Lieber schlagt mich gleich tot."
Der Oberst hob die Hand und lachte. „Na schön. Dir soll nichts geschehen, wenn du die Wahrheit sagst. Komm her und erzähle." „Ich weiß nichts, gar nichts! Dass Sie sich nicht schämen!"
Der Oberst lehnte sich zurück und kniff hämisch die Augen zusammen.
Die beiden Offiziere packten Dascha unter den Achseln und schleiften sie ins Nebenzimmer.
Bis Mitternacht lag sie mit nackten Beinen und Brüsten halbtot im Keller. Wie man sie hingeworfen hatte, so war sie liegen geblieben. Fimka kroch zu ihr, stöhnte, sank mit der Stirn auf ihre Brust und kroch wieder fort. Zweimal sah sie Njurka vor sich: Sie hüpfte auf ihren kleinen Füßchen und kreischte voller Freude.
Dascha streckte die Hände nach ihr aus und schrie auf vor Angst und Widerwillen. „Nicht! Ach, nicht doch, Njurkalein, nicht!"
Dann dachte sie nicht mehr an Njurka. Njurkas Bild verschwand aus ihrem Gedächtnis wie ein verloschenes Traumbild.
Nach Mitternacht — auch daran erinnerte sie sich wie an einen Traum — erwachte sie vom Rattern eines Lastautos. Sie saß auf dem Boden des hölzernen Kastens, und neben ihr lagen oder saßen stumme Gestalten. Sie erkannte Fimka, Petro und Jefim. Rings standen Kosaken, das Gewehr im Anschlag.
Nur eins blieb ihr klar in Erinnerung: die farbigen Funken der Sterne und dass die Sterne ganz nahe waren — zum Greifen nahe. Sie wusste, das war der Tod. Gleich wird das Auto halten, man wird sie auf die Erde werfen, zum Meer, an den Strand führen, und dann werden Kugeln ihr die Brust zerreißen. Sie wusste es, und das Herz drohte ihr zu schmelzen wie ein Stück Eis. Aber es war kein Entsetzen. Es war alles so unwirklich, wie ein Traum, an den man nicht glaubt, wenn man ihn träumt, und von dem man weiß, dass seine Bilder bald verlöschen. Und wieder erschien ihr Njurka — sie rannte mit ausgebreiteten Ärmchen auf sie zu und kreischte einmal kurz auf: „Ei!"
Wie Leichen wurden die liegenden Genossen hin und her geschüttelt: Jefim, Fimka und Petro. Und niemand tat ihr leid, weil sie kein Herz in der Brust hatte, sondern ein Stück Eis.
Als der Wagen hielt, stieß man sie hinunter. Neben ihr stand Fimka. Sie flog vor Schüttelfrost, fasste Dascha am Kleid und drängte sich an sie wie ein Kind. Jefim lag unbeweglich zu ihren Füßen. Petro, mehr tot als lebendig, trat auf der Stelle, drehte den Kopf nach allen Seiten (sein Gesicht war schwarz von Blut), lallte und spuckte.
Hastig und böse, als sei es nicht sie, sondern eine Wildfremde, flüsterte Dascha ihrer Freundin ins Ohr: „Schweig, schweig ... schweig, schweig ... blind und stumm ... schweig."
Dann war es ihr, als stürze sich ein großer Haufen auf sie und schiebe sie beiseite.
Es waren vier Kosaken: sie stießen mit den Gewehren Fimka und Petro vor sich her.
Als sie sich ein Stück entfernt hatten, schrie Fimka plötzlich auf und schlug um sich wie ein Vogel. Sie warf die Arme hoch und wollte umkehren.
„Dascha, meine liebe Dascha! Was machen sie mit mir, Dascha!"
Die Kosaken stießen sie vorwärts und fluchten unflätig, sie kreischte, zappelte und fiel in den Sand. Man riss sie an den Armen hoch und stellte sie wieder auf die Beine. Sie ging schweigend ein paar Schritte, blieb dann wieder stehen und rief besorgt: „Ach! Was habe ich getan? Ich habe ja meinen Schal auf dem Auto vergessen."
Man fasste sie unter und schleifte sie in die Dunkelheit.
Vorn auf der sandigen Nehrung, wo das Meer sich wie ein schwarzer Acker in der Finsternis verlor, sah Dascha
dann nur verschwommene Schatten, und diese Schatten schienen wie betrunken auf der Stelle zu tanzen.
Und wieder hallte Fimkas schrilles Kreischen herüber: „Ich will nicht, nicht verbinden! Mit eigenen Augen will ich meinem jungen Tod ins Gesicht sehen."
Bis die Salve krachte, hörte das Kreischen nicht auf. „... mit eigenen Augen will ich ..."
Als dann die Schüsse verhallt waren, schien es Dascha, als flattere Fimkas Kreischen noch immer über dem Meer.
Geschmeidig näherte sich Dascha ein Schatten. „Zum letzten Mal: Sag, wer mit den Grünen zusammenarbeitet. Ich gebe dir mein Wort, wir lassen dich unverzüglich nach Hause. Oder ... hast du gesehen? So wird es auch dir ergehen."
Wie früher antwortete Dascha stumpfsinnig: „Ich weiß nichts." „Gut, Schafft diesen Gänserich weg!"
Jefim wurde fortgeschleift, und Dascha hörte diesmal keine Salve, sondern nur einen einzelnen Schuss.
Wieder erschien der geschmeidige Offizier. „Ich gebe dir eine halbe Minute." „Schießt schon ... schießt... nur quält mich nicht."
Sie fühlte: noch einen Augenblick, und sie fällt wie Fimka hin und schlägt um sich.
Sie wurde gepackt und irgendwo hinaufgeworfen. Ihr Kopf prallte schmerzhaft gegen Eisen.
Wieder ratterte das Auto, wieder zitterten ganz nah, zum Greifen nah, die goldenen Tropfen der Sterne, und der Himmel über den Bergen erglühte in feurigem Dunst.
Später führte man sie wieder in jenes Vernehmungszimmer, und ohne sie anzusehen, sagte derselbe Oberst träge und deutlich: „Ingenieur Kleist hat für dich gebürgt. Wir glauben nicht dir, sondern Ingenieur Kleist. Du kannst gehen. Aber merk dir: erwischen wir dich noch einmal, kommst du nie wieder nach Hause. Und merk dir noch was: hier ist dir nichts geschehen. Deine Augen haben
nichts gesehen. Wenn deine Zunge dir früher oder später mal ausrutschen sollte, ergeht es dir ebenso wie jenen Hunden. Nun scher dich weg — marsch!"
Dascha erzählte niemandem etwas, aber sie lernte es, sachlich und zur rechten Zeit zu reden. Daheim war sie nur nachts. Das Zimmer verdreckte, in den Ecken sammelten sich Spinnweben und Staub. Die Blumen auf dem Fensterbrett welkten und verdorrten. Daschas Gesicht verlor die Farbe, ihre Augen wurden kalt und durchdringend. Sie verbrachte ganze Tage bei Motja, der guten Freundin und sorglichen Hausfrau. Sie freundete sich mit Sawtschuk an, mit Gromada, saß stundenlang mit dem buckligen Loschak zusammen. Unauffällig traf man Vorbereitungen zum Empfang der Roten Armee. Sie warb sowohl Loschak als auch Gromada und Sawtschuk für ihre geheime Sache. Früher hatten sie nachts geschlafen und tagsüber auf die Berge geblickt. Jetzt litten sie nachts an Schlaflosigkeit und stellten sich am Tage blind.
Mit einer stummen Frage in den Augen kamen Soldaten bei ihr vorüber. Von außen betrachtet, kamen sie, um Unfug zu treiben, um mit der jungen Witwe zu schäkern, kamen ein-, zweimal und verschwanden dann, und an ihrer Stelle kamen neue. Wo die vorigen geblieben waren — das konnten Daschas klare Augen niemandem verraten.
Im Hafen lagen englische Schiffe; sie nahmen unzählige Scharen reicher und vornehmer Flüchtlinge aus dem Norden auf.
Aus der Ferne, hinter den Bergen, drang ein dumpfes, unterirdisches Grollen und erschütterte den Boden, und in der Nacht tropften vor diesem unermesslichen Grollen die Sterne wie Feuer vom Himmel herunter.
Und dann, an einem heißen Frühlingsmorgen, als man das Meer nicht vom Himmel unterscheiden konnte und die Luft nicht von den blühenden Bäumen, ging Dascha über stinkenden Unrat, vorbei an Pferdekadavern und Leichen, durch das Grauen eines panischen Todes, ging mit dem
roten Kopftuch in die Stadt, um die Kommunisten zu suchen. Ging allein, als Bürger und Arbeiter, noch ganz betäubt, sich nicht aus ihren Höhlen hinauswagten. Dascha ging, und ihre Augen und ihr Kopftuch brannten vor Glück und Stolz.
Rotarmisten mit roten Bändchen an den Feldblusen ritten ihr entgegen, und die Bändchen leuchteten von weitem wie Mohnblüten. Sie sah die Soldaten an und lachte, und sie winkten ihr mit den Armen, lachten auch und riefen: „Hurra, das rote Kopftuch! Die rote Frau, hurra!"

Erschüttert lag Gleb reglos auf Daschas Schoß und konnte lange kein Wort herausbringen. Das war sie also, seine Dascha. Saß hier bei ihm wie sein vertrautes Weib: dieselbe Stimme, dasselbe Gesicht, genauso wie früher schlug ihr Herz. Und war doch nicht die Dascha, die vor drei Jahren gelebt hatte — jene Dascha hatte ihn für immer verlassen.
Eine Welle unsäglicher Liebe zu ihr überflutete ihn. Mit zitternden Händen umarmte er sie, kämpfte gegen die Tränen an und stöhnte vor Wut, Hilflosigkeit und Liebe.
„Dascha, Liebste! Wäre ich nur hier gewesen in diesen Tagen! Wenn ich das gewusst hätte! Das Herz zerspringt mir, Dascha. Wozu hast du mir das gesagt? Was soll ich mit mir anfangen? Jetzt bin ich wie verwundet, Dascha. Wie kann ich das alles überleben? Ich und du ... und die Offiziere ... Dascha! Zwischen uns hat der Tod gestanden. Aber du bist am Leben geblieben. Du bist allein durchgekommen, und du hast deinen eigenen Weg des Kampfes hinter dir. Aber ich... ich werde verrückt. Hilf mir, das alles zu begreifen, Dascha." „Gleb, wie gut du bist! Wie lieb ich dich habe!"
Sie saßen bis in die Nacht hinein, so wie in den ersten Tagen nach ihrer Hochzeit.

 

XI. Die Bourgeoisie wird geschröpft

In neue Hände

Gleb ging bis zum Morgengrauen in der Stadt umher und kontrollierte persönlich die Arbeit des Trupps. Auf den Straßen standen mit dem Gewehr über der Schulter stumme, wachsame Arbeiter. Hin und wieder gingen Patrouillen vorbei. Der Himmel war mit Sternen besät, und sie zitterten wie Tautropfen.
Auch Shuk stand auf Wache. Er war nicht mehr der untätige Zuhörer, nicht mehr der Schreihals und Quengler — er war ein disziplinierter Soldat. Als Gleb zu ihm trat, hielt er sein Gewehr fest in der Hand. Durch die offene Tür einer Villa drangen hysterische Frauenschreie.
„Wer arbeitet hier, Shuk?"
„Deine Frau zusammen mit Sawtschuk, dem Genossen Iwagin und zwei Tschekaleuten. Geh rein, sieh dir an, wie die Bourgeoisie hochgenommen wird. Eine Stoßarbeit!"
„Wie steht's eigentlich mit deinen Erfolgen im Volkswirtschaftsrat, Shuk?"
„Oho, Freundchen! Besuch doch mal Tschibis. Ich würde sie alle lieber heute als morgen an die Wand stellen. Alle durch die Bank Hundesöhne und Schinderknechte! Und diesen Schramm kriege ich auch noch klein — oder ich will nicht Shuk heißen."
Die Diele war fast ganz aus Glas, im aufdämmernden Frühlicht stand ein bewaffneter Rotarmist, und durch die offene Tür sah man, wie sich eine zerzauste Frau auf dem Sofa krümmte und schluchzend die Hände rang.
Gleb ging nach Soldatenart mit festem Schritt hinein. Mit prüfendem Blick überflog er Wände, Dinge und Menschen im Raum: Hatte sich auch keiner zu Grobheiten gegen die Hausbewohner hinreißen lassen? Hatten die Jungs auch nichts Wichtiges in diesem verdächtigen reichen Hause übersehen? „Nun, Genossen, keine Ausschreitungen vorgefallen? Verfahrt so, dass die Herrschaften sich über euer Benehmen nicht beklagen können."
Entsetzt starrte die Frau im Morgenrock die Männer mit den Gewehren und die Leute an, die Kommoden, Schränke und Truhen aufrissen. Ein langbeiniges kleines Mädchen schmiegte sich an die Knie der Mutter und betrachtete neugierig die fremden Onkel, die da so plötzlich und so geräuschvoll aus der Nacht hereingeschneit waren.
Ein Mann in Pantoffeln und mit Hosenträgern, einen goldenen Zwicker auf der Nase, mit langem gekräuseltem Bart, stand verloren, doch mit der Würde des Einsamen vor dem großen Schreibtisch und zuckte krampfhaft lächelnd die Schultern.
Dascha suchte mit den geschickten Händen einer Hausfrau die brauchbaren Sachen heraus und legte sie auf ausgebreitete Laken und in Reisekörbe.
„Für die Kinderheime, für die Kleinen, für die Mütterheime. Sieh doch, Gleb, wie viel Stoff! Hundert Kinder kann man damit einkleiden."
Sawtschuk räumte Schränke und Kommoden aus und brummte: „Was die alles zusammengescharrt haben, die Heidenhunde! Unsere Kerls haben Feuerzeuge gebastelt und sich an Säcken wund gebuckelt, und andere Leute sind in solchen Gemächern hier fett geworden wie die Truthähne. Oho, das ist aber ein Ding — keine Balalaika, ein wahrer Lastkahn ist das!" Er rückte aus unerfindlichem Grunde den Flügel beiseite.
Sergej stand mit seinem Gewehr dabei und wusste nicht, was er machen sollte. Er hatte als junger Mann in diesem Hause verkehrt. Sein Vater war früher mit Rechtsanwalt
Tschirski, dem Sozialisten, dem Mitglied der Reichsduma, befreundet gewesen.
Sergej sah ihn nicht an: er hatte Angst, Tschirski könne plötzlich auf ihn zutreten und ihn wie einen guten Bekannten ansprechen. Sergej tat, als erkenne er ihn nicht, biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte, und bemühte sich, hart zu sein — wie die anderen Genossen. Doch er spürte, wie ihm die Beine im Vorgefühl eines unvermeidlichen Skandals zitterten.
Aber was ihm als etwas so Schreckliches und nicht Wiedergutzumachendes vorkam, geschah dann ganz einfach und unauffällig: Tschirski fixierte ihn und verzog den Mund zu einem angewiderten Lächeln.
„Sergej Iwanowitsch, in meiner und in Ihrer Sprache hat man so etwas früher Raub genannt. Von hier aus werden Sie wahrscheinlich zu Ihrem Vater Iwan Arsenjitsch gehen, um dort eine ähnliche Operation vorzunehmen. Aber bei Ihrem alten Herrn werden Sie wohl ein wenig mehr übriglassen als hier. Uns reißen Sie ja die letzten Unterhosen vom Leibe. Wie wär's, wenn Sie aus alter Freundschaft auch bei mir etwas Nachsicht übten?"
Die Frau streckte die Arme nach ihm aus, und über ihre schlaffen Wangen krochen funkelnde Tränen.
„Sergej Iwanowitsch, Teuerster! Sie waren doch einmal unser Freund. Was tun Sie? Sind Sie das wirklich, Sergej Iwanowitsch?"
Bemüht, ungerührt und streng zu erscheinen, presste Sergej das Gewehr in den Händen, bis die Gelenke knackten; er blickte an Tschirski vorbei, und die eigenen Worte dröhnten ihm im Schädel, als er schroff entgegnete: „Ja, meinen Vater erwartet das gleiche Los. Er wird wie Sie ausquartiert und darf nie mehr in sein Haus zurück."
Als er diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm plötzlich leicht ums Herz, und der Mann, der da am Schreibtisch stand, erschien ihm lächerlich in seinem überlebten Hochmut und seiner Wichtigtuerei.
„Soso. Sie haben gelernt, grausam zu sein. Gratuliere!"
Dascha hatte eine große, dicke Puppe mit Eulenaugen und gelber Wolle auf dem Kopf gefunden; sie lächelte und ging auf das kleine Mädchen zu.
„Ach, was für eine wunderschöne Puppe! Sieh mal, Kleine, sie läuft zu dir, sie hat Sehnsucht nach dir gehabt. Wie artig ihr beide seid!"
Sie stellte die Puppe auf den Fußboden und führte sie wie ein Kind zu dem Mädchen. Die Kleine freute sich und nahm ihre Puppe in die Arme.
Die Frau schrie wütend: „Nina! Untersteh dich! Du siehst, sie schämen sich nicht, dir dein letztes Hemd wegzunehmen. Lass ihnen diesen Dreck!"
Das Mädchen aber drückte die Puppe fest an sich, warf sich auf das Sofa und bedeckte sie mit ihrem kleinen Körper. „Meine Puppe, meine! Ich gebe sie nicht her!"
Dascha runzelte die Brauen: „Schämen Sie sich, Madame!"
Sawtschuk schnaufte und brummte. Er wischte sich den Schweiß ab und schielte wie ein Wolf auf Menschen und Dinge.
„Solche Heidenhunde — was die sich alles zusammengeklaubt haben! Das ist 'ne schlimmere Arbeit als Fässer machen. Verflucht noch mal, da ist mir die Arbeit am Bremsberg lieber."
Dascha trat zu Gleb und berichtete sachlich: „Alles wird registriert, Gleb. Wir haben genommen, was wir brauchen. Jeder behält zwei Garnituren Wäsche und zweimal Kleidung zum Wechseln. Bilder und Bücher werde ich beschlagnahmen (die vielen Bücher - wie Ziegel auf dem Dach!). Die Bücher werden morgen von der Abteilung Volksbildung erfasst und abgestempelt."
„Gut. Alles andere bleibt an Ort und Stelle. Zwei Mann Bewachung. Macht Schluss!" „Wir sind ja schon fertig. Wir warten auf die Wagen."
Dascha ging mit dem Gesicht einer gestrengen Hausfrau.
Gleb nahm Sergej beiseite.
„Wo ist das Haus deines Alten? Ich will ihn mal besuchen."
Sergej wusste nicht, ob Gleb scherzte oder über ihn spottete. Verlegen hängte er sich das Gewehr über die Schulter. „Ich werde mitkommen, Genosse Tschumalow: es ist nicht weit."
„Nein, das geht nicht, Genosse Iwagin. Das wird zu schwer für den Alten."
Sergej drückte Gleb fest die Hand und wandte sich ab.
Noch waren die Sterne in der Dämmerung nicht verblichen, und die Häuser erschienen blau. Von den Bergen wälzte sich der Nebel in Lawinen herab, und über der Bucht braute violetter Dunst. Sperlinge schilpten bereits. Und durch die stahlgraue Dunkelheit der Berge geisterten, bald weit entfernt und bald ganz nahe, geheimnisvolle Fackeln, erloschen und flammten wieder auf.
Auf der Straße oben zogen in gleichmäßigem Schritt, in Marschordnung, mit aufgepflanztem Bajonett, dichte Reihen Rotarmisten. Es waren wohl viele Kolonnen: ein unbestimmbares dumpfes Brausen lag über allem — über der Stadt wie zwischen den Häuserreihen—, und auf dem Steinpflaster rasselten Wagen mit kristallenem Klirren. Die Rote Armee! Märsche! Kampfesmühe!
Wie nahe lag das noch! Geliebte Kolonnen! Glebs Helm war noch warm von Feuer und Märschen. Bajonette klirrten im Takt. Warum stand er, der Regimentskommissar, hier, wenn doch sein Platz in den Reihen dort war?
Mit großen Schritten, keuchend vor Aufregung, hastete er den bajonettblitzenden Reihen nach, um noch einmal mit diesem fließenden, wohlgeordneten Strom in Berührung zu kommen und ihm den Gruß eines roten Soldaten zu entbieten. Doch der Strom riss ab und versiegte hinter der nächsten Ecke; nur zwei Rotarmisten liefen gewehrschwenkend nacheinander an Gleb vorbei, um ihre Kameraden einzuholen.

Der Mensch auf der Weide

Als Gleb durch die offene Gartenpforte trat, bot sich ihm ein Bild, wie er es noch in keinem anderen Haus gesehen hatte. Die Mechowa stand lächelnd vor einem Haufen Kleider und Lumpen. Gromada und Loschak liefen umschichtig ins Haus und kamen mit Sachen und Büchern beladen wieder heraus. Am offenen Fenster stand ein fröhlicher Alter und redete ihnen lebhaft zu.
„Alles, alles! Ich bitte euch sehr, Freunde! All dieses Gerümpel rafft der Mensch doch nur zusammen, um einem Punkt im Leben zuzustreben. Dieses Zusammenraffen hält denn auch an bis zu dem Moment, da der Tod eintritt, das heißt jener Zustand, der alle drei Dimensionen negiert. Dies eben ist das Ideal, das mit der absoluten Norm, der Null, ausgedrückt wird. Nicht wahr, meine Freunde, das ist doch sehr interessant, sehr unterhaltsam und lustig?"
Die Mechowa starrte Gleb von weitem mit merkwürdig großen Augen an. „Sieh dir diesen komischen Kauz an, Gleb! Das ist der Vater von unserem Sergej. Ein Mensch, der mehr zu sagen hat als andere Leute. Du hättest sehen sollen, mit welcher Begeisterung er uns empfing!"
Dabei zitterte sie in der Morgenkühle und liebkoste Gleb herausfordernd mit den Augen.
An Gleb ging in soldatischer Haltung ein einarmiger Mann mit Adlernase und unverhältnismäßig kurzer Oberlippe vorbei. Ohne anzuhalten, musterte er ihn und ging zur Pforte. „Bürger, kommen Sie zurück."
Der Einarmige drehte sich rasch um. „Wer sind Sie?"
Der Einarmige stand sprungbereit vor Gleb. „Dmitri Iwagin, ehemaliger Oberst, nunmehr aber Bürger der Sowjetrepublik. Der älteste Sohn dieses Greises und der einzige Bruder des KPR-Mitgliedes Sergej Iwagin. Wollen Sie meine Papiere sehen?"
„Behalten Sie Ihre Papiere. Ihr Zimmer wird durchsucht. Bitte, bleiben Sie hier."
„Ich habe nur einen Winkel in der väterlichen Wohnung. Dort ist schon alles leergefegt. Aber meine Taschen sind unberührt geblieben. Wollen Sie nachsehen?"
In seinen kalten Augen funkelte feiner Spott. „Sie können gehen."
Gleb sah ihm beunruhigt nach, bis er an der Pforte war; zweimal wollte er ihn zurückrufen, unterließ es aber — er wusste selbst nicht, warum.
Der Alte, dessen Bart im rechten Winkel vom Kinn abstand, trippelte behände im Zimmer umher und glühte vor Begeisterung.
„Die wahre Freiheit, meine Freunde, besteht in der absoluten Verneinung der geometrischen Figuren und ihrer dringlichen Verkörperungen. Macht und Weisheit der Kommunisten beruhen darin, dass sie die ganze Euklidische Geometrie umgeworfen haben. Ich erkenne sie an, und ich liebe sie wegen ihrer fröhlichen Revolution gegen die Starrheit aller fetischisierten Formen. Lasst nichts zurück, meine Freunde: das wäre inkonsequent und für mich grässlich. Auch nur mit einem Stückchen verfaulten Fadens an die Wände des Kubus, des Prismas und des Dreiecks gebunden sein wäre ebenso furchtbar, wie unter Bergen von Gerümpel begraben liegen."
Loschak hastete hin und her und ließ sich nicht in seiner Arbeit stören. Er glotzte den Alten an und grübelte finster. Dann trat er zu ihm und sagte gutmütig: „Geht in Ordnung, Alter! Wir treiben dich auf die Weide ... und lassen dich frei." Er lächelte trübe und tippte dem Alten unbeholfen mit dem Finger gegen die Brust. „Dort kannst du dann auch ... das alles wiederkäuen."
Der Alte lachte und fuchtelte entzückt mit den Armen.
„Ja, ja! Eure Grausamkeit, meine Freunde, ist unbewusste
Menschlichkeit. Ein Mensch auf der Weide. Was kann es
Vollkommeneres geben als diesen Zustand! Erde, Himmel,
Unendlichkeit. Ja! Ja! Aber warum, meine Freunde, ist mein Sohn Sergej nicht mit euch gekommen? Ich hätte ihn so gern in der Rolle meines feierlichen Liktors gesehen."
Gromada holte aus Schränken, Truhen und Ecken Bücher und Teppiche und schüttelte den Kopf; er hatte es über, das Geschwätz des Alten zu hören.
„Papachen, diskutirieren Sie nicht und so weiter... Schlage vor, Sie reihen sich in die Front der Arbeit ein, und durch Ihre vielen Mobilien da müssen wir uns eben durchfressen, Loschak und ich."
So war nun einmal Gromada, der kleine Mann mit dem großen Namen und den großen Worten.
Gleb trat zu dem Alten und streckte ihm die Hand hin.
„Na, Iwan Arsenjitsch, hat man Sie tüchtig gerupft? Ihr Sohn kommandiert in der gleichen Richtung."
„Gut! Sehr gut! Schade, dass Sergej nicht mitgekommen ist, schade. Ich hätte ihn gern dabei gesehen, gar zu gerne."
„Seien Sie unbesorgt, Iwan Arsenjitsch, wir nehmen Ihnen nichts weg. Sie gehören ja zu unseren Kulturschaffenden."
Der Alte sah Gleb erschrocken an und zupfte nervös an seinem Bart.
„Nein, nein! Alles, alles! Das ist sehr gut, das ist prachtvoll!"
Gromada schüttelte den Kopf und blickte mit verächtlichem Mitleid auf diesen quecksilbrigen, verzückten Weisen.
„Man wird ganz verrückt von seiner Ideologie, Genosse Tschumalow. Papachen diskutiert völlig umsonst... und so weiter..." Gleb musterte den Alten verwundert und neugierig.
„Gut, Iwan Arsenjitsch: Sie können leben, wie es Ihnen beliebt. Ich wusste gar nicht, dass Sergej einen so interessanten alten Herrn hat. Lasst alles hier, Jungs, und zieht ab." Er drückte Iwan Arsenjitsch noch einmal die Hand und ging rasch zur Tür.
Hinaus in die Vorstadt
Auf der anderen Seite der Bucht, oberhalb des Werkes, wurden die Berge graubraun, und schwarz gähnten die Schluchten. Der Himmel war im Zenit blau und hoch und über den Bergen feuerrot; ihre Zacken hoben sich als blendende Linie scharf ab. Nur in den Sätteln der Gebirgspässe ballten sich Nebel wie von Wasserfällen und wälzten sich gleich Schneelawinen über die Gipfel.
Das Werk unten an der Bucht glich einem Märchenschloss. Die schlanken Schlote strebten anmutig den herabkriechenden Dunstschwaden entgegen. Das Meer am Fuß der Berge war blau wie der Himmel, und auf seiner Oberfläche tanzten helle und dunkle Flecke.
Auf der Hauptstraße, die in der ganzen Breite mit Kopfsteinen gepflastert war, brodelte zwischen den Häuserblocks eine dichtgedrängte Menge. Frauen kreischten und weinten hysterisch. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen Männer schwieg finster oder lächelte blass und verwirrt. Frauen mit Bündeln und Schachteln, Kinder an der Hand, ganz kleine auf den Armen, standen herum oder saßen verlorenen Blicks auf ihren Habseligkeiten. Manche wanden sich in Krämpfen, und die Leute beugten sich besorgt über sie.
Tschirski stand barhäuptig, in Unterhemd, Hosenträgern und Pantoffeln in einer der ersten Reihen und betrachtete zerstreut die Häuser, als sähe er sie zum ersten Mal. Seine Frau saß halb angezogen mit zerrauftem Haar auf einem Bündel und starrte vor sich hin. Das kleine Mädchen tanzte zwischen Vater und Mutter hin und her, stieß im Takt zu ihren Bewegungen kleine Schreie aus und drückte mit beiden Händen die große Puppe an sich.
Fuhrwerke, hoch mit weißen Bündeln beladen, krochen nach vorn; sie sammelten sich an der Stelle, wo die Straße anzusteigen begann, um später dann in langer Reihe hinaufzuschwanken.
Auf einer Fuhre saß ein Komsomolze mit entblößter Brust und borstigem Kopf und spielte aus Leibeskräften eine Polka auf der Gitarre. Ganz weit vorn winselte eine Harmonika.
Gewehr bei Fuß standen auf den Bürgersteigen, in Abständen von zwei Metern, die Genossen der Partei. Übermüdet von der schlaflosen Nacht und der schweren Arbeit, schauten sie finster auf die Menschen, ohne sie zu sehen. In den Nebenstraßen stampfte und lärmte ein anderer Haufen — Spießer, herbeigerannt, um sich das ungewöhnliche Schauspiel zu betrachten.
Spießerinnen sind nicht auf fremdes Lachen erpicht: Spießerinnen haben ein empfindsames Herz — es zieht sie zu Begräbnissen und Tränen, und bei einer Hochzeit lockt sie nicht der Tanz, sondern das Trauern und Weinen der Braut. So sind sie nun einmal, die Spießerinnen: fremde Tränen sind ihnen verständlicher und willkommener als Lachen.
Sie hatten denn auch hier gewittert, dass Tränen reichlich fließen würden, und waren aus ihren armseligen Häuschen und ihren Wohnungen in den verstaatlichten Häusern herbeigelaufen, um sich angesichts des Stöhnens und Jammerns angesehener, ehrbarer Familien genießerisch der Wehmut hinzugeben. Gierig schauten sie mit dunkel gewordenen Augen nach schluchzenden Frauen aus und lösten sich in Tränen auf.
Aus der Ferne kam ein Kommando. Die Begleitmannschaft schulterte die Gewehre. Die Leute fuhren erschrocken auf, ein Wogen ging durch die Menge.
Die Fuhren vorn ratterten los, und der Menschenstrom begann sich auf die Straße zu wälzen.
Sergej ging hinter Dascha, dahinter Shuk. Auf der anderen Straßenseite (sie konnten sich durch die Menge hindurch sehen) schritten der kleine Gromada, Loschak und die Mechowa.
Ein dumpfer Schmerz bohrte in Sergejs Brust. Was hier vorging, war abscheulich und roh. Das konnte die Partei nicht gutheißen. Was sollte diese Herde Menschen? Was sollte das widerliche Gewinsel? Die Partei konnte das nicht gutheißen, und für ihn jedenfalls war es eine gar zu harte Prüfung.
Da — das kleine Mädchen mit der Puppe: es klammerte sich an die Hand der Mutter und hielt selbst die Puppe an der Hand.
Mit hocherhobenem Kopf ging Tschirski, ruhig, mit der Würde des Märtyrers. Eine uralte Frau in Häubchen und Pelerine stützte sich schwer auf ihren Stock, und es sah aus, als ginge sie in einer Prozession. Ein junges Mädchen, ganz in Weiß, führte sie am Arm. Sie weinten nicht und hatten beide Gesichter wie Nonnen.
Etwas weiter vorn erblickte Sergej seinen Vater. Er ging allein, betrachtete die Menge und lächelte. Er ging auffällig; bald trippelte er eilig und überholte die anderen, bald blieb er stehen, bald wieder wandelte er ganz langsam dahin, tief in Gedanken versunken. Als er Sergej entdeckte, hob er erfreut die Hand und kam auf ihn zu.
„Du bist mein Wachmann, Serjosha, und ich bin ein Weiser, der in die Verbannung geht. Das ist doch interessant, nicht wahr? Dir geziemt es nicht, mit mir Umgang zu pflegen, solange ich dein Gefangener bin. Lass dir nur sagen, die Waffe, mit der du die Festung eurer revolutionären Diktatur beschützen sollst, ist lächerlich und albern: wie eine Rohrpfeife tanzt sie auf den Schultern eines so grimmigen Bolschewiken, wie du einer bist. Mich aber beneide: mir kommt in diesem Augenblick die Welt so unendlich vor wie nicht einmal dem Spinoza, wenngleich Marc Aurel in nächtlichen Visionen bereits ähnliches erlebt hat."
Seit Sergej ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war der Vater noch mehr heruntergekommen: der Tod der Mutter hatte ihm den letzten Schlag versetzt. In seinen Lumpen wirkte er wie ein Bettler: er war schmutzig und ungekämmt, die Füße bluteten und eiterten. Er tat Sergej bis zu Tränen leid.
„Du weißt nicht, wohin, Papa. Komm bitte zu mir, wir werden zusammen wohnen. Lass das doch, Vater. Wohin willst du denn? Du richtest dich zugrunde, verstehst du das denn nicht?"
Der Alte hob verwundert die Brauen und lachte wie ein Kind.
„O nein, Serjosha! Ich kenne den Wert meiner Freiheit zu gut. Ich bin ein Mensch, und ein Mensch hat nirgends Platz für sich, denn kein Raum kann das Menschenhirn fassen. Erleben ist immer unser bester Lehrmeister: sieh doch, wie unerträglich den Sklaven die Freiheit ist, welch Fluch für die Hühner ihre Flügel sind!"
Lautlos trat Werotschka an Sergej heran. Sie hatte sich unter den Neugierigen auf dem Bürgersteig befunden. Das gewohnte Staunen in den Augen, am ganzen Körper zitternd, stammelte sie Sergej unverständliche Worte ins Ohr, er hörte in ihrer Stimme nur die Tränen und das flehentliche Bitten.
Der Vater lachte und gestikulierte, und in seinen Augen blitzte Freude.
„Ah, ah. Werotschka! Unversiegbarer Quell der Liebe! Was fühlst du angesichts meines Golgatha, Mädchen? Na, komm, komm her!"
„Iwan Arsenjitsch! Iwan Arsenjitsch! Ich bin so froh! Sergej Iwanowitsch! Ich bin so froh!"
Sie lief leichtfüßig zu dem Alten, fasste ihn unter und ging mit tränenblankem Gesicht wie eine Tochter neben ihm her.
„Papa!"
Sergej wollte seinem Vater noch etwas sagen (was, hatte er vergessen) und streckte die Hand nach ihm aus. Sie griff jedoch ins Leere und fiel herab. Der Vater und Werotschka entfernten sich, um sich wieder unter die Menge zu mischen.
Der Alte wandte sich noch einmal um; wie ein Fremder sah er Sergej an, eine Querfurche auf der Stirn. „Schau, Serjosha, wie wenig originell die Geschichte ist: ein blinder Ödipus und seine Antigone."
Er lachte; er war schon ganz in der anderen, fernen, für Sergej unbegreiflichen Welt. Sergej schob sein Gewehr auf der Schulter zurecht und biss schmerzhaft die Zähne aufeinander. Im Innern riss eine letzte Saite.
Auf einem unbebauten Platz voll grauem Unkraut, unweit vom Kai, saß die Menge wieder auf Bündeln oder Grasbüscheln. Die Fuhren waren bereits verschwunden — sie waren zu den Lagerräumen des Exekutivkomitees gefahren.
Auch der Kai wimmelte von Menschen: die Spießerinnen, die dem Zug nachgelaufen waren.
Kein hysterisches Gekreisch, kein Schluchzen, kein lautes Stimmengewirr mehr. War denn nicht einerlei, was noch geschehen sollte? Die Kinder schrieen, sprangen umher und konnten einfach nicht anders als miteinander spielen. Es war ja so schön, durch das grüne Gras zu laufen, die Sonne im Morgendunst hinter den Bergen hervorsteigen und das blaue Meer sich bis zum Horizont golden färben zu sehen. Nur Hunger hatten sie ...
Der Hafen war nahe, aber es fehlten die Schiffe. Auf den Landungsbrücken wucherte Gras. Die Sehnsucht der erschöpften Menschen war wie ein Hoffen: Gleich mussten rauchende Schiffsessen über den glitzernden Wellen auftauchen, Winden kreischen, und es würde Leben in die Menschen kommen, geschäftig werden sie am Kai auf und ab laufen, trunken von der Atmosphäre der Abreise.
Gleb sah missmutig bald auf das Meer, bald in die Richtung, aus der Luchawas Trupp und die Fuhren mit den Arbeiterfamilien und ihren Habseligkeiten kommen mussten.
Nacht für Nacht verwandelten sich die Berge in glühende Girlanden aus zahllosen Lichtern, die wie brennende Vögel hin und her flogen. Vor wenigen Stunden erst war ein Regiment Rotarmisten in laut widerhallendem Gleichschritt durch die Straßen marschiert — in die Berge hinauf, den Unheil verkündenden feindlichen Fackeln entgegen.
Dieser Haufen Menschen war im Augenblick völlig überflüssig. Erst die schlaflose Nacht und dann dieses blöde Durcheinander. Lohnte es sich denn, Kräfte zu vergeuden, um dieser Bande wieder einmal Angst einzujagen und sie wie Abfall auf den Hinterhof zu werfen? Wozu hatte man das unnötige Kindergeschrei und diese ganze irrsinnige Panik der lebenden Leichname heraufbeschworen? Dieser Haufen stank nach Schlafzimmerschweiß, und ihre dumpfe Angst war zum Erbrechen ekelerregend. Man hätte ihre Nester auf andere Art ausheben müssen. Die Kinder hier werden die heutige Angst in die Zukunft mitnehmen, denn Angst vergessen Kinder nie.
Das Regiment hatte Glebs begeisterten Schwung mitgenommen. Und diese Nacht — dieser Hexensabbat von Unterhosen, Unterröcken und stinkender Bettwäsche — erfüllte ihn mit Wut und Bitterkeit.
Das war ja alles so nebensächlich. Es ging doch um etwas ganz anderes: Das Werk musste um jeden Preis wiederauferstehen. Schiffe mussten die Piere beleben und Tausende von Arbeitern in den Werkhallen, am Hafen und auf den Bremsbergen schaffen. Statt dessen standen Kolonnen in den Bergen und hinter den Bergen, und Rotarmisten entsicherten in Schützengräben ihre Gewehre. Auf dem flachen Land — wüste Felder, Räuberhorden, Hunger und nackte Menschen, die auf der zu Unfruchtbarkeit verdammten Schwarzerde starben.
Mit geschultertem Gewehr trat die Mechowa zu Sergej. Obwohl sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, leuchteten ihre Augen morgendlich hell.
„Wie lange schon habe ich nicht so aufregende Minuten erlebt, Sergej! Genau wie im Krieg oder in den Oktobertagen. Schön ist das, wundervoll! Na, und du? Warum bist du so griesgrämig?"
Ihre Worte, in denen freudige Erregung mitschwang, kamen von weit her: er hörte sie und hörte sie auch nicht.
Undeutlich, wie im Traum antwortete er: „Ich habe Kopfschmerzen."
„Was ist mit dir los? Wie kann man jetzt Kopfschmerzen haben, wo das Blut siedet und schäumt? Gleich morgen jagen wir dieses ganze Geschmeiß zur Zwangsarbeit. Hörst du, Sergej?" „Ich weiß nicht." „Was heißt das — du weißt nicht? Was redest du da?"
Sergej stand da, mit dem Gewehr in der Hand, und schaute fremd und verschlossen in die Menge.
Die Mechowa ließ ihn stehen und hastete stolpernd durch das Unkraut. War das alles Wirklichkeit? Hat Polja mit ihm gesprochen oder sonst wer? Vielleicht ist auch niemand dagewesen — vielleicht ist es ihm nur so vorgekommen ...
Fuhren polterten über die Chaussee. Hausrat, auf dem Hausrat Kinder und neben den Wagen Arbeiter und ihre Frauen. Luchawa mähte mit Riesenschritten das Unkraut nieder, und seine Haare flatterten vom schnellen Gehen.
Polja lief mit glühendem Gesicht zu Gleb.
Er hob den Arm. „Genossen! Antreten!"
Die Kommunisten rannten, einander überholend, zu Gleb.
„Und ihr, Bürger, nehmt eure Siebensachen! Geht in eure neuen Wohnungen! Ihr habt in Palästen gelebt — nun haust auch mal in Hütten. Dort in der Vorstadt wird man euch zeigen, wo Türen offen stehen."
Die Leute saßen entkräftet im Gras und auf ihren Bündeln und waren schlaff, blind und taub. Iwan Arsenjitsch löste sich als erster aus der Menge. Er und Werotschka schritten Seite an Seite gemächlich über das Gras, als machten sie ihren gewohnten Morgenspaziergang. Der Alte lächelte, gestikulierte und unterhielt sich angeregt und gutgelaunt mit Werotschka. Nach ihm erhoben sich noch einige Leute und machten sich mit Bündeln und Körben auf den Weg, ihnen folgten immer mehr ... Plötzlich hatten es alle sehr eilig, fortzukommen, und liefen in alle Richtungen auseinander: die Chaussee hinauf, über den Platz voller Unkraut und zurück in die Stadt.
Luchawa rannte, keuchend vor Übermüdung, auf Gleb zu und stieß wütend hervor: „Sofort mit dem ganzen Trupp zum Parteikomitee! Heute nacht verhängen wir den Ausnahmezustand. Hinter den Bergen wird gekämpft. Die vereinigten Kräfte der Weiß-Grünen. Die Stadt ist bedroht. Der Bremsberg ist zerstört. Die letzten Arbeiter sind aus dem Wald geflohen. Bei den Rotarmisten am Bremsberg hat es Verluste gegeben."
„Was redest du da, zum Teufel? Bremsberg? Der von uns?"
„Jawohl, der von euch. Beeil dich! Sammelplatz vorm Bezirkskomitee."
Gleb starrte ihn erschrocken an, wehrte einen plötzlich aufsteigenden Gedanken ab und lief zu seinem Trupp.

 

XII. Signalfeuer

Auf Wacht

Tags, beim Exerzieren, hörte man fern im Gebirge Geschützdonner rollen; dort, hinter den dunstigen Gipfeln, wurde gekämpft.
Ein eben aufgestellter Sondertrupp bereitete sich darauf vor, zum Einsatz auszurücken. Nachts bezogen alle Mann Wachtposten in der Stadt.
Am Tage brütete Schweigen über den leeren Straßen, und nachts lagen sie in Todesstarre. Im Werk brannte kein elektrisches Licht mehr, und die Wohnungsfenster waren dicht verrammelt und verhängt. Wenn die Spießer einander in Behörden und auf der Straße begegneten, zwinkerten sie sich bedeutsam zu. Gerüchte und Klatschereien wirbelten mit den Staubwolken durch die Stadt, und der Wind trug unachtsame Reden in die Berge und Schluchten, wo unter jedem Strauch und hinter jedem Stein der unsichtbare Feind lauerte.
Ein Teil der Frauenorganisation war unter Daschas Leitung mit der Sanitätsabteilung in Stellung gegangen, der andere Teil, von Polja befehligt, betreute die Kommunisten in den Kasernen und traf emsig Vorbereitungen für den Fall, dass die Familien der Arbeiter evakuiert werden mussten.
Mehrmals täglich begegnete Gleb Polja. Sie lief unermüdlich von Gewerkschaft zu Gewerkschaft, von Betrieb zu Betrieb, von Behörde zu Behörde, setzte ihre Frauen an allen Ecken und Enden als Verbindungsleute ein, um die Sache in Fluss zu halten und bei entsprechendem Befehl mehrere tausend Frauen und Kinder evakuieren zu können.
Jeden Augenblick zur Abfahrt bereit, standen Züge vor dem Werk, am Kai und in den Vororten unter Dampf, und das Zischen der Lokomotiven verschmolz mit dem fernen Grollen der Geschütze.
Polja hatte schon zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen, ihre Augen glänzten fiebrig, und auf ihren Wangen brannte hektische Röte.
Heute hatte sie eine freie Minute benutzt, um zu Gleb in die Kaserne zu laufen.
Sie lachte mit trockenen Lippen.
„Endlich richtige Arbeit, Gleb! Was war das auch für ein Leben bisher — Thesen über Gewerkschaften und Neue Ökonomische Politik haben wir gepaukt, haben uns im grauen Karussell des Alltags gedreht, sind auf Sitzungen blind und taub geworden, haben Bürokratismus gezüchtet. Verknöchert sind wir, nach und nach Berufsbeamte geworden. Neue Ökonomische Politik. Einmal habe ich einen Taucher sagen hören: ,Diese Neue Ökonomische Politik ist schlau erdacht: Wein- und Bierausschank zum Trinken in der Kneipe oder auch über die Straße. Das befürworte ich, dafür gebe ich mit tausend Freuden meine Stimme.' Nein, Gleb, das wird nicht geschehen. Nein!" Gleb lachte. Poljas Art gefiel ihm.
„Nicht so hitzig, Genossin Mechowa. Noch ehe ein halbes Jahr um ist, kurbeln wir diese berühmte Neue Ökonomische Politik an. Und deinen Taucher stecken wir in die Kommunalwirtschaft. Dort mag er Kneipen aufziehen und Geld aus ihnen herausholen."
Polja fuhr entsetzt auf, und ihre Brauen zuckten vor Zorn.
„Das wird nie geschehen! Die Partei kann diese Frage nicht so behandeln, wie ihr es tut. Wir dürfen die Revolution nicht verraten — das wäre fürchterlicher als der Tod.
Die Intervention ist gescheitert, damit wird die Blockade ein sinnloses Unternehmen. Unsere Revolution hat die ganze Welt entzündet. In allen Ländern ist das Proletariat auf unserer Seite, die Reaktion ist machtlos. Aber wäre denn die Neue Ökonomische Politik nicht Reaktion, nicht Rückkehr zum Kapitalismus? Niemals! Das ist Unsinn, Gleb."
„Alle Wetter! Wieso denn Rückkehr, wenn sie doch ein Bündnis zwischen Arbeiter und Bauer ist."
„Wieso? Weil es wieder Märkte geben soll, wieder Bourgeoisie. Willst du denn, dass die Kapitalisten eine Konzession für unser Werk bekommen? Davon hat man heute im Exekutivkomitee gesprochen. Schramm hat wahrscheinlich einen Bericht an die Hauptverwaltung Zement geschickt. Dich freut das, ja? Wäre Reaktion nach deinem Geschmack?"
Ihr Gesicht war blass geworden, auf den Backenknochen brannten rote Flecke, und auf Stirn und Oberlippe glitzerten Schweißtröpfchen.
Glebs Gesicht wurde fahl, verstört beugte er sich zu Polja.
„Was denn, was denn, Genossin Mechowa? Eine Konzession? Was für eine Konzession? Heißt das, dass die Arbeiter ihr Werk an die Bourgeoisie weggeben sollen? Teufel noch mal! Ich werde der Aasbande zeigen, was eine Konzession ist."
„Aha, das hat gesessen! Da hast du deine Neue Ökonomische Politik. Nun kurble sie nur an! Konzessionen, Kneipen, Märkte. Kulaken, Spekulanten. Vielleicht kannst du etwas Tröstliches über Arbeiterkonsumgenossenschaften sagen ... über Naturalsteuer, über Konsumgenossenschaften. Vielleicht ist das alles notwendig. Aber nur keinen Rückzug, Gleb, nur das nicht, nur das nicht! Den Weltenbrand entfachen und schüren, die erkämpften Stellungen nicht aufgeben, sondern neue erobern! Das ist heute unsere Aufgabe!"
Polja lief fort, ihre Augen glühten. Gleb blieb fassungslos zurück und dachte aufgeregt über Poljas Worte nach.
In der Nacht stand Gleb mit seinem Trupp im Tal vor der Stadt. Seine Leute bildeten eine Kette von der Chaussee bis zu den Abhängen der Vorberge. Patrouillen streiften durch die Vororte und scheuchten dabei die Hunde auf, und am Gebell war festzustellen, wo die Patrouillen sich gerade befanden.
Gleb und Sergej standen am Waldrand und beobachteten die Signalfackeln in den Bergen.
Wie ein rotgefiederter Vogel flatterte an einer Stelle eine Flamme hoch und schwang sich empor. Der ausgestreckte Arm und die Schultern eines Menschen leuchteten auf.
Ziemlich fern in der Schlucht flog genauso eine flackernde Fackel hoch und fuhr wie eine Sternschnuppe durch die Dunkelheit. Weiter oben schoss eine dritte hoch und überschlug sich, ihr folgte noch eine und immer wieder eine.
Hinter ihnen war Wald, aber er war mit der Dunkelheit verschmolzen.
Nur die nahen Chausseebäume regten sich wie zottige Schatten.
Auch in dieser Nacht vergingen die Menschen genau wie gestern aus Entsetzen vor dem Tod, der von den Bergen stieg.
Ü ber der Stadt lag ein Schweigen voll Grauen. Sie fürchteten sich nachts vor ihrem eigenen Flüstern und hatten sich in die Keller verkrochen. Auch im Wald wuchs das Schweigen. Es wälzte sich aus dem Dickicht und roch nach Moor und Malz. Und eine ferne märchenhafte Kapelle erfüllte alles mit ihrem läutenden Hummelsummen.
Sergej erschien alles gespenstisch, fließend und grenzenlos. Als Kulturmensch kannte er die Nacht nur bei elektrischem Licht, und Berge und Sternenhimmel waren ihm vertraut und verständlich vorgekommen wie Steinhäuser, Boulevards und weite Plätze. Am Tage war das Gewehr leicht gewesen, jetzt aber zog es immer schwerer zur Erde.
Ein Flammenvogel fiel flatternd ins Gebüsch, ein Funkenfächer sprühte auf und erlosch. Fern und nah schwirrten Fackeln in Bergen und Schluchten.
Gleb setzte sich ins Gras und sah gleichmütig zu der Stelle hin, an der die Fackel erloschen war.
„Wir müssen ihn kriegen, den Schuft. Er verlangt geradezu nach einer Kugel. Setz dich, Serjosha!"
„Er muss doch ganz in der Nähe sein, Tschumalow. Er brennt englisches Pulver ab. Zweifellos weiß er, dass wir hier sind, weiß es und schert sich nicht darum. Jedenfalls sind wir zu spät gekommen. Gleb Iwanowitsch, er hat seine Aufgabe erfüllt. Du siehst — das Ding ist erloschen. Er wird nicht riskieren..."
Gleb steckte sich ruhig seine Pfeife an und sah auf die Irrlichter in den Bergen.
„Wenn er uns beide nicht für Dummköpfe und Feiglinge hielte, wäre er nicht hier vor unserer Nase herumgetanzt. Dieser Telegrafist wird uns noch ein Weilchen Spaß machen."
Sergej blickte die Chaussee hinunter. Sie war in aschgrauen Dunst gehüllt und löste sich im Dunkel auf. Dort, wo die Straße nicht mehr zu unterscheiden war, erhob sich wie eine schwarze zerklüftete Wolke ein riesiger Baum. Und Sergej kam es vor, als versuche jemand in den Ästen ein Streichholz anzuzünden, das nicht brennen wollte.
„Ü berall Feinde, Gleb Iwanowitsch. Kein Wunder, wenn sie auch hier unter uns wären."
Hinter dem Walde lag der Bahnhof. Aber auch dort war es still, und nur die Nacht schnaufte wie ein schläfriges, wiederkäuendes Tier.
Weit vorn auf der Chaussee knarrte ein Wagen, klirrten Räder.
Das alles sind nur unvermeidliche Episoden im Kampf. Auch in Zukunft wird sich noch manches ereignen: die Feinde werden noch lange im Lande ihr Unwesen treiben - immer neu maskiert als Freunde der Arbeiterklasse und der Partei. Der Kampf gegen sie wird hart sein und lange währen. Jetzt ist es schmerzlich, dass die mit soviel Kraftanspannung und Begeisterung begonnene Arbeit unterbrochen ist. Der Bremsberg ist zerstört, die Loren liegen von neuem zwischen Steinen und Sträuchern umher wie in den Tagen, da Gleb voll Grauen über den rostigen Schutt stieg. Wieder stehen die Dieselmotoren still, und die Werkhallen sind leer und kalt. Wieder hat man das Gewehr in der Hand. Vielleicht stehen ihm wieder Schützengraben und Marschieren bevor und rußiger Pulverrauch statt rauchender Schlote.
Hat er die Kräfte, um weiterzukämpfen und die Front der Arbeit zu organisieren, da doch alles, von den Maschinen bis zum Nagel, zerstört, geplündert, verrostet ist? Da es keinen Brennstoff gibt, kein Brot und keine Transportmittel? Da die Eisenbahnwagen sich wie Gräberberge auf den Schienen türmen und an rauchende Schiffe im Hafen noch lange nicht zu denken ist? Hat Badjin ihn nicht mit vollem Recht als Dummkopf angesehen, der selbst nicht weiß, was er auf sich nimmt? Naseweis, Tölpel, Phrasendrescher! Noch sind die Leute nicht imstande, das Geringste fest in der Hand zu behalten, noch bedroht der Feind die Arbeitermacht in ihrer bloßen Existenz — wie kann man da Pläne schmieden zur Wiederbelebung des Werkes? Darf man überhaupt an so etwas denken, wenn die Arbeiterklasse zu Hungerrationen verurteilt ist und, entkräftet, die Anstrengungen des Arbeitstages gar nicht aushalten könnte? Für wen produzieren, wenn das Wirtschaftsleben der Republik auf Jahre hinaus gelähmt ist und das Land vor Hunger ausstirbt?
Wieder flammte eine Fackel auf, diesmal aber weiter weg und höher. Die Sträucher glühten und traten wie lebendig aus dem Dunkel. Feurige Fledermäuse flatterten in den Bergen auf. Am neblig trüben Himmel hinter der Stadt begann es zu wetterleuchten, zuckten elektrische Entladungen. „Ich hab's dir ja gesagt, Serjosha. Schau!"
„Das ist großartig. Eine solche Illumination habe ich noch nie gesehen. Wir sitzen also in einem Kessel, wie es scheint."
„In einem Sack, lieber Freund. Spring in den Himmel!"
„In solchen Nachtstunden muss ich an die Zukunft denken, Gleb Iwanowitsch. Im Bewusstsein unserer Kinder werden wir als große Helden dastehen, und sie werden Legenden über uns dichten. Sogar unseren Alltag, unseren Hunger, unseren erzwungenen Müßiggang, auch unsere Nachtwache heute werden sie, wie die Mathematiker sagen, potenzieren. Alles das wird in ihrer Vorstellung zu einer Epoche heroischer Taten und titanischen Geschehens werden. Und wir beide, wir winzigen Staubkörnchen in einer großen Masse, wir werden ihnen gigantisch groß erscheinen. Vergangenes wird stets verallgemeinert und potenziert. Die Nachkommen werden nicht an unsere Fehler, Grausamkeiten, Unzulänglichkeiten und Schwächen denken, nicht an unsere einfachen menschlichen Leiden und verfluchten Probleme. Sie werden behaupten: Das sind Menschen gewesen, die vor Kraft strotzten und keine Hindernisse kannten. Menschen, denen es bestimmt war, die ganze Welt zu erobern. Sie werden zu unseren Gräbern pilgern wie zu Fanalen, die nie erlöschen. Und wenn ich mir das vorstelle, schäme und freue ich mich der Verantwortung, die wir der Menschheit gegenüber tragen ... Die Zukunft bedrückt mich, Tschumalow: Unsere Unsterblichkeit ist eine zu schwere Bürde."
„Die Geschichte tut, was sie zu tun hat, Sergej Iwanowitsch. Für mich ist jetzt das Wichtigste — die Arbeit organisieren. Na also, hatte ich gedacht, das Werk hätten wir bald in Gang — und nun kommen uns diese Banditenstückchen in die Quere. Sie hindern uns, die Lumpen. Das ist das Ekelhafte."
„Du denkst zu einfach, Tschumalow: Deine Gedanken schichten sich wie Ziegel in einer Mauer. Meine Gedanken dagegen sind wie Vögel im Bauer."
Die Nacht war abgrundtief, und aus der Dunkelheit brachen Unheil verkündende Lichter. Diese wie aufgescheuchte Eulen flatternden Feuer und die elektrischen Entladungen in den Wolken waren geheimnisvoll und schauerlich. Die große Stunde rückte heran. Dort, hinter den Bergen, wo die Fackeln wie feurige Messer hin und her sausten, dort nistete in engen Schluchten die noch nicht zur Strecke gebrachte Bestie. Unsichtbar kam sie aus den Kosakendörfern geschlichen; bärtige alte Familienväter erhoben sich, um in Horden mit lautem Feldgeschrei loszustürmen, die blutigen Säbel schwingend.
Die Stanizen spieen ganze Heuschreckenschwärme aus, und die Aufstände der reichen Kosaken überzogen die Felder und das Ried, die Hügel und die Steppe mit Rauch und Blut.
Berge und Wälder wimmelten von Menschen, die zu Bestien geworden waren. Am Tage verbargen sie sich im dunklen Dickicht und in Höhlen oder spazierten durch die Stadt, als Freunde der Revolution maskiert. Sie steckten überall: in den Reihen der Kämpfer, in den Büros der Sowjetbehörden, in den Häusern harmloser, friedlicher Bürger. Wer vermochte mit Fingern auf sie zu zeigen, sie bei Namen zu nennen und sie zu zertreten wie Geschmeiß? Brach aber die Nacht herein, dann krochen sie hervor und machten sich, in der Dunkelheit zerstreut, an ihr verräterisches Werk. Da zündeten sie ihre Signalfeuer an, und ihr Licht flog zu den Feldern der anderen Heuschrecken, rief, lockte und lachte.
Ein Wagen rasselte auf der Chaussee bergab. Deutlich hörte man die Hufschläge des müden Pferdes.
Gleb und Sergej gingen dem Wagen entgegen. Alles — Erde und Wald — war in Finsternis getaucht, und weil den Augen ein fester Anhaltspunkt fehlte, erschien Sergej alles geisterhaft-unkörperlich, und Himmel und Erde waren gleich nahe und bodenlos, als befände er sich im Leeren. Bei jedem Schritt schrak das Herz zusammen: vielleicht
trat man im nächsten Augenblick statt auf die festgewalzte Straße in den Sumpf oder den schwarzen Abgrund.
Das Pferd wurde sichtbar. Sein Kopf schimmerte matt im Schein des Wetterleuchtens und der Lichter in den Bergen. Auf dem Wagen hockten schwarze Schatten. Es waren ihrer sehr viele, der Wagen erschien riesig und aufgeplustert.
„Halt! Wer da?" Gleb trat in die Mitte der Straße und stellte sich mit schussbereitem Gewehr dicht vor das Pferd.
„Verwundete."
„Parole?"
„Zum Teufel mit deiner Parole! Siehst du nicht die verbundenen Schädel?"
„Wie steht unsere Sache, Genossen?"
„Geh selbst hin, Kleiner, dann wirst du's sehen. Die Ratten sitzen in ihren Löchern, und wir geben ihnen Zunder. Uns segnen sie mit Schrapnellen. Tolle Sache, so ein halbes Hundert Offiziere haben wir fertiggemacht."
„Und wie ist's mit Verstärkung? Wartet ihr darauf?"
„Wozu denn? Wir kriegen sie auch so klein. Unsere Verluste an Toten sind nicht der Rede wert. Und Verwundete — da, wir sind die ersten. Die anderen stecken in den Schützengräben. Wir sitzen oben — sie unten, eingeklemmt... können nicht hin und nicht her, die reinste Zwickmühle — geschieht ihnen recht, den Schweinehunden!"
„Ihr seid in Ordnung, Jungs! Fahrt weiter!"

Der einarmige Gefangene

Die Berge waren ein Garten mit Flammenblüten. Über dem Meer zuckte Wetterleuchten.
Sergej und Gleb, die Gewehre in der Hand, stiegen wie stumme Schatten durch die Sträucher den Hang hinauf. Funkensprühende Feuerflocken wirbelten, erloschen und schwangen sich wieder auf wie brennende Vögel.
Sie gingen am Schlachthof vorbei. Der Zaun fehlte — er war zerstört. Wer weiß — vielleicht hockten auch dort Feinde und nahmen einen gerade aufs Korn? „Geh weiter, Serjosha, streif nicht die Büsche, pack das Gewehr fester. Wir schnappen ihn lebend."
Gleb spannte sich, straffte sich wie eine Saite und schlich mit der Gewandtheit eines Hundes voran. Von einer ihm selbst unverständlichen Freude war Sergej wie trunken. Er wandte den Blick nicht von dem Licht und lächelte unbewusst. Seine Hände und Beine zitterten, ihm war, als flöge er mit ausgebreiteten Schwingen in den Raum. Klebrige Spinnweben legten sich über sein Gesicht und zerrissen hinter den Ohren. Auf den Wimpern glitzerten Perlmutttröpfchen. Warmer Malzbrodem stieg aus den Sträuchern — der Atem der erkalteten Steine und die Ausdünstung der jungen Birken- und Kornelkirschblätter.
Die Nacht war trügerisch und ließ Nahes oft fern erscheinen und Fernes nah; aber der Mann im Fackelschein war deutlich zu erkennen. Er lief über den Hang, schlug Haken, drehte sich im Kreise, schwenkte den rechten Arm über den Kopf und beugte sich zur Seite. Feldbluse und Mütze schienen von einem Strahlensaum umgeben. Der linke Ärmel baumelte wie ein Fetzen. „Unbedingt lebend, Tschumalow, um jeden Preis."
Es gab so viele Einarmige, man begegnete ihnen jetzt auf Schritt und Tritt. Ihr Anblick weckte in Sergej immer Unruhe, jeder leere Ärmel war eine Drohung für ihn und ein versteckter Schlag. Auch sein Bruder hatte einen leeren Ärmel. Auch er strich auf geheimen Pfaden umher wie ein Gespenst.
Der Einarmige blieb stehen und horchte angespannt. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, und man sah sein Gesicht nur im Profil. In diesem Profil glaubte Sergej den bekannten Raubvogelschnabel zu erkennen.
Eine Flammenschlange schoss empor und flog ins Gebüsch. Die Dunkelheit wurde dickflüssig und klebrig wie
Morast. Schritte setzten aus, knirschten wieder. Die Sträucher raschelten, als habe ein Windstoß sie bewegt.
„Zum Teufel, du entwischst uns nicht! Vorwärts, Serjosha! Ohne Rücksicht auf Verluste! Den müssen wir kriegen!"
Gleb sprang ins Gebüsch, die Finsternis verschluckte ihn. Steine und Schotter knirschten unter seinen Füßen und spritzten wie Glasscherben auseinander. Sergej rannte hinterher; wieder meinte er, er sei leicht wie Luft und fliege wie ein Vogel auf das zuckende Wetterleuchten und die Bergfeuer zu.
„Halt! Ich schieße dich nieder, Halunke! Halt!" Sergej hörte weder das Stampfen noch die Rufe und Schüsse. Er lief leicht, schwerelos dahin; der Wind pfiff ihm um die Ohren — er merkte es nicht, Kreuzdorngeäst zerkratzte sein Gesicht — er fühlte keinen Schmerz.
Ein wild gewordenes Pferd galoppierte an ihm vorbei, schlug aus, schnaubte und verschwand in der Dunkelheit.
Sergej blieb stehen und lauschte. Das Hufgetrappel entfernte sich; man hörte Steine splittern; Glebs Rufen war verstummt.
Das Wetterleuchten zuckte, der Nebel phosphoreszierte. Man konnte Meer und Himmel nicht voneinander unterscheiden.
Sergej sah sich um — hinter ihm irrlichterten die Fackeln. Auf der anderen Seite waren die Berge noch höher; Zacken, Pässe, Gipfel und auch wieder solche flatternden Sternbilder. Sie loderten auf, erloschen, entzündeten sich abermals, brannten lichterloh, und ihr Schein flutete in glühenden Strömen von den Gipfeln herab, ergoss sich über Bergrücken und Schluchten.
Unten in der Talmulde keuchten und murmelten Menschen; vielleicht waren es auch Hunde, die um eine Beute
rauften. Von den beiden Gegnern musste einer unterliegen ...
Es gab so viele Einarmige. Warum sollte der da, den die Finsternis verschluckt hatte, Sergej beunruhigen? Er sprang den Abhang hinunter.
Irgendwo in der Nähe rang Gleb knurrend mit dem Gegner.
Unvermutet stieß Sergej auf ihn; Gleb kniete auf der Brust eines Mannes, der ausgestreckt dalag, und umkrallte mit beiden Händen dessen Hals.
„Nein, du Gauner, du kommst mir nicht davon! Mit dir ist's aus, Schurke! Hilf mir, Serjosha! Durchsuch ihn, den Hund! Kehr seine Taschen um. Fix!"
Mit zitternden Händen und fieberhafter Eile durchstöberte Sergej Hosen- und Rocktaschen. Er fand nur eine Tabakschachtel, Streichhölzer und eine Brotrinde. Als er den Stumpf des linken Armes berührte, stockte ihm das Blut in den Adern.
„Ich hab's gewusst, Tschumalow. Das ist mein Bruder... mein Bruder! Ich schlag ihn tot. Ich schieß ihn nieder, Tschumalow!"
„Spiel nicht verrückt! Heb sein Gewehr auf, es liegt unter meinem Fuß. So, Freundchen, nun bring dich wieder ein bisschen in Ordnung! Stell dich neben ihn, Serjosha, und halt das Gewehr schussbereit. Übrigens, wenn er dein Bruder ist, sollte man ihn vielleicht freilassen — dir zuliebe. Nun? Was könntest du zu seiner Verteidigung sagen?"
Sergej empfand es als schmerzlich, dass Feindseligkeit in diesem Spott lag.
„Lass die Scherze, Tschumalow! Entweder du führst ihn schleunigst ab, oder ich bringe ihn auf der Stelle um. Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen." „Na, na, sei nicht gleich so böse!" Sergej zitterten Hände und Füße.
Dmitri stand auf, wollte sich abklopfen, doch Glebs Finger hielten seinen Arm mit eisernem Griff umschlossen.
„Wieder mal ein ungewöhnliches Zusammentreffen, Serjosha. Trotzdem bist du nicht den kleinen Finger dieses
braven Haudegens hier wert. Regimentskommissar Gleb Tschumalow! Ich hatte die Ehre, Ihnen im Hause meines lustigen Vaters zu begegnen, zu der Stunde, als Sie bei ihm plünderten. Ich bedaure, dass mein Bruder Sergej damals nicht dabei war. Ich hätte ihm eine Kugel durch den Schädel gejagt. Meine Hand kann noch Wunder verrichten."
Gleb sah dem Einarmigen ins Gesicht. „Ja, eine unerwartete Begegnung, mein Heldenoberst. Im Garten, bei dem Alten, habe ich eine große Dummheit gemacht. Ich hätte Sie mir damals gleich angeln sollen — Sie saßen ja schon am Haken. Los, gehen wir! Solchen Besuch liebt Genosse Tschibis."
Dmitri wollte etwas sagen, war jedoch zu erregt. Er kämpfte mit sich und versuchte zu scherzen: „Wie schmeichelhaft für mich, dass ich mitgehen darf, Freunde. Besonders mit Ihnen, tapferer Regimentskommissar. Meinen Arm können Sie aber ruhig loslassen: ich bin kein Kind und keine junge Dame, ich brauche keine so rührende Fürsorge. Der besiegte Feind wird ebenso stolz und fest gehen wie ihr, die Sieger. Halten Sie mir nur meinen leiblichen Bruder Serjosha ein wenig vom Leibe; ich glaube nämlich, er leidet im Moment an einer sehr bösartigen weibischen Hysterie. Beruhige dich, Serjosha; du regst dich zu sehr auf, mein Freund."
Sergej kostete es übermenschliche Anstrengung, nicht aufzuschreien und sich in einem Wutanfall auf seinen Bruder zu stürzen.
Dmitri aber stichelte weiter: „So einen vergnüglichen Spaziergang wie heute haben wir beide noch nie zusammen gemacht, nicht wahr, Serjosha? Solche Augenblicke muss man zu schätzen wissen, um so mehr, als es die letzten im Leben sind. Du widerst mich an mit deiner braven Kämpfermiene. Man muss so etwas leichter nehmen. Du bist ja ein so armseliger Sklave deiner Partei, dass du in der Stunde eures blöden Erfolgs gar nicht frei über dich verfügen kannst."
Sie stiegen aus der Mulde und gingen die Bergstraße entlang.
Weit in der Ferne flackerte das Wetterleuchten am trüben Himmel über den Bergen.
„Trotz allem steht es dreckig um eure Sache, und ihr seid elende Pfuscher. Schon morgen wird euer Hirn das Straßenpflaster bekleckern. Schade, dass ich es nicht mehr sehen werde. Dich, Serjosha, hätte ich vor versammeltem Volk am Tor unseres Hauses aufgehängt."
Sergej lachte auf und stutzte im selben Moment: Wie konnte er in einem solchen Augenblick lachen?
„Ja, Dmitri, hättest du je gedacht, dass ich dich in den Tod führe? Und nun ist es doch so gekommen. Wie man dich erschießt, werde ich nicht sehen. Aber dass man dich gefangen hat, mit meiner Hilfe gefangen hat, das allein schon gibt mir Befriedigung. Mein Gewehr hält dich in Schach."
Dmitri lachte ironisch. „Ich kann nicht mehr, Serjosha. Du bist ein unvergleichlicher Komiker, bei Gott."
Gleb ließ Dmitri los und klemmte sich das Gewehr unter den Arm.
„Nun, Oberst? Unser Spaziergang passt gut zu dieser Höllennacht. Wenn uns die Leute so sähen, würden sie bestimmt sagen: ,Guckt euch mal die Jungs an! Wie einträchtig sie zusammen gehen!'"
Dmitri lachte, aber seine Stimme klang wie geborsten. Er lacht ja gar nicht, dachte Sergej, er zittert vor Verzweiflung und möchte etwas sagen, was Worte nicht ausdrücken können.
„Ja, ja, das ist sehr lustig! Es tut mir leid, Serjosha, dass du bei dem ergötzlichen Spiel, Erschießung genannt, nicht mitspielen wirst. Ich sähe es gern, sehr gern, Serjosha. Wir könnten Kindheitserinnerungen austauschen. Erinnerst du dich noch an unsere Kinderzeit? Ich hätte mir gewünscht, dass du selbst die Gewehrmündung auf mich richtest, wenn es soweit ist. Aber vielleicht tust du es jetzt gleich? Eure Folterkammern sind schlimmer als stockfinstere Nächte,
vor denen ich als kleines Kind solche Angst hatte. Ich möchte nicht, dass man mir dort die Seele entweiht. Geh mit mir, Serjosha, bis zum Ende. Das wäre sehr schön, wie? Lockt dich das nicht? Ist das nicht romantisch?"
Eine Stadtpatrouille, die Gewehre schussbereit unterm Arm, kam ihnen entgegen.

 

XIII. Langsame Fahrt

Am Wendepunkt

Es kamen wieder ruhige Tage voller Geschäftigkeit, Tage gewohnter beharrlicher Arbeit in Behörden und Organisationen und im Werk.
Es waren genau solche Tage wie vor dem Aufstand der Kosaken und der Weiß-Grünen: wieder Papiergeraschel in den Büros, wieder Sitzungen in stickigem Tabaksqualm, mit Zigarettenstummeln auf dem Fußboden und mit endlosen Diskussionen, Resolutionen und Plänen im Exekutivkomitee, im Gewerkschaftskomitee und im Wirtschaftsrat. Nachts sah man keine alarmierenden Fackeln mehr in den Bergen geistern. Jeden Sonnabend überschwemmten Bauernfuhren mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen — Kartoffeln, Mehl, Gemüse, Eiern und Kleinvieh — den Marktplatz in der Vorstadt, und die Luft roch nach Pferdeschweiß und Ackerboden. Durch die Bergschluchten, die früher kein Fußgänger und kein Reiter unbeschadet passieren konnte, führten jetzt friedliche Waldwege, auf denen Wagen knarrten und der Landmann schläfrig sein Lied sang.
Die Bürger und all die geschäftstüchtigen Leute in Feldblusen, Waffenröcken und Lederzeug, mit und ohne Aktentaschen, krochen aus ihren muffigen Wohnungen wieder auf die Straße hinaus, und keiner dachte mehr an Evakuierung, Kanonendonner und die durchlebten nächtlichen Schreckensstunden.
Das Meer zwischen den bergigen Ufern war blau wie der
Himmel. Von der Reede hinter den Molen bis zum Horizont leuchteten die spitzen weißen Flügel der Fischerboote. Des Morgens tauchten — niemand wusste, woher — türkische Feluken vor den Pieren auf und zeichneten mit ihren schlanken Mastspindeln feine Muster in die Luft. Die Spießer zwinkerten sich nicht mehr zu, tuschelten auch nicht mehr an den Straßenkreuzungen, über den Zaun und auf dem Bürgersteig, sondern sprachen laut und sachlich über die Neue Ökonomische Politik, über Valuta und Schmuggel.
Auf der Hauptstraße, vor den Läden, die früher verschiedenen Wirtschaftsorganisationen als Lagerräume gedient hatten, ratterten Wagen, Pferde wieherten und bissen sich, und Transportarbeiter brüllten von früh bis spät und ächzten unter der Last von Ballen, Kisten und Säcken. Die Hauptstraße briet in der Sonne, roch nach Frühlingshimmel, putzte sich wie eine Henne und wiegte sich in neuen Hoffnungen. Einst hatte sie im Schmuck der Auslagen geprangt, in Wohlgerüchen geschwelgt, und die Röcke der promenierenden Modedamen hatten gerauscht; nachts hatte sie im Schein elektrischer Lichtreklamen gewogt. Nun lächelte die Zukunft wieder rosarot: Der Tag schien nahe, da es keine Rationen mehr gab, keine Wohnraumbeschränkung, keine Registrierung und Umregistrierung, keine Zwangsmaßnahmen, keine Lebensmittelkarten und keine Arbeitspflicht.
Mit über die Knie geschürzten Röcken standen junge Frauen und Mädchen auf Fensterbrettern und Leitern, wuschen die Scheiben und rieben sie blank, und der jahrealte Schmutz floss in rötlichen Strömen auf den Bürgersteig.
Aus den dunklen Bäuchen der Geschäfte wehten Schimmelgeruch und abgestandene, kalte Kellerluft. Vor den offenen Türen und Fenstern stauten sich Passanten und sahen mit unruhiger Neugier lange in das Ladeninnere, auf die nassen Fenster und die nackten Frauenwaden. Dort,
wo im Innern Hämmer klopften und Hobel kreischten, während noch schwarze Leere hinter den Scheiben gähnte, klebten blendendweiße Inschriften an Türen und Hauswänden :
HIER WIRD IN KÜRZE EINE VERKAUFSSTELLE DER ARBEITERKONSUMGENOSSENSCHAFT ERÖFFNET
KAUFHAUS DER VKG
HIER WIRD EIN CAFE ERÖFFNET
HANDELSGENOSSENSCHAFT MANUFAKTUR
An den glatten Wänden des Stadthauses (Kommunalwirtschaft) aber stand in ellengroßen Buchstaben folgendes zu lesen:
WER NICHT ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN
AUF DEN RUINEN DER KAPITALISTISCHEN WELT ERRICHTEN
WIR DAS GROSSE GEBÄUDE DES KOMMUNISMUS
WIR HABEN NUR KETTEN VERLOREN, GEWINNEN ABER EINE
GANZE WELT
Auf dem Marktplatz wurden neue Verkaufsstände und -zelte aufgeschlagen. Dort schmatzten die Beile, sprühten goldene Späne, und in allen Straßen der Stadt roch es nach Kienharz und Ölfarbe.
Vor der Abteilung Volksbildung drängten sich vom frühen Morgen bis vier Uhr nachmittags die Schullehrer mit grauen Gesichtern. In Gruppen standen und saßen sie auf dem Bürgersteig, verzweifelt und ergeben wie Blinde. Tag für Tag belagerten sie so das Gebäude, den ganzen Winter und das ganze Frühjahr hindurch. Die Schulräume waren von Behörden belegt, die Bücher und das Anschauungsmaterial waren von den Weißen geraubt, die Pulte waren verheizt, und die Abteilung Volksbildung hatte kein Geld. Warum sollte man also nicht herumsitzen und auf sein Gehalt warten, das längst fällig war?
Wenn Sergej nach einer Kollegiumssitzung auf die Straße trat, sank ihm sofort der Mut angesichts dieser Bettlerschar mit den grauen Gesichtern und trüben Augen, die voll kläglichen Flehens waren und voller Demut. „Sergej Iwanowitsch! Bester Sergej Iwanowitsch! Sie sind doch selbst Lehrer. Sie müssen doch wissen... Das geht doch nicht, Sergej Iwanowitsch."
Sergej aber zwängte sich durch die muffige Menge und sah niemanden an; er schlug die Augen nieder und lächelte verlegen. Lächelte und hatte ein quälendes, verworrenes Schuldgefühl gegenüber diesen verhärmten Menschen.
„Ich kann nichts tun, Genossen. Ich fordere, ich mühe mich ab, aber was kann ich schon ausrichten? Ich weiß alles, Genossen. Aber ich kann nichts tun."
Er beeilte sich, fortzukommen, konnte sich aber nicht losreißen von der Menge, konnte diesen demütigen Augen nicht entfliehen.
Wieder war Sonntagseinsatz gewesen. Wieder hatten am Bremsberg Tausende von Arbeitern wie die Ameisen gewimmelt und Hämmer, Hacken und Spaten geschwungen. Würdevoll auf seinen Stock gestützt, hatte Kleist wieder persönlich die Arbeit geleitet. Gegen Abend surrten bereits die Räder der Förderbahn. Und in der Nacht blitzten im Werk die elektrischen Sterne wieder auf.
Die Waldarbeiter verstopften die Straße vor dem Gebäude des Volkswirtschaftsrats. Zerlumpt, ungekämmt und schmutzig, als wären sie eben von der Arbeit gekommen, mit der Axt im Gürtel, drängten sie sich vor dem Portal, rollten die Augen und brüllten wie auf einer Massenkundgebung.
Die Eingänge zum Volkswirtschaftsrat waren verschlossen, und die Menge drückte gegen Tür und Pfeiler.
„Her mit dem Volkswirtschaftsrat! Her mit der Forstverwaltung, an den Galgen damit! Her mit den Dieben und Räubern! Wo bleibt die Tscheka? Warum hat die Tscheka ihre Augen auf dem Hintern statt im Gesicht? Die Kommunisten sollen rauskommen! Wozu sitzen Kommunisten dort drin?"
Auf dem Bürgersteig hockten, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, andere Arbeiter und kauten ihr Rationsbrot. Von der mit Asphaltgeruch und glühendem Staub gesättigten Hitze benommen, schlurften sie nun an die Ecke, zum Tor des Volkswirtschaftsrates und bahnten sich einen Weg mit Ellenbogen und Schultern.
Da erschien auf den Eingangsstufen Shuk und ruderte mit den Armen. „Genossen, herhören!"
Er nahm die Mütze ab und sah mit stummer Drohung auf die Menge.
„Genossen, ich kenne dieses Hundepack sehr gut. Ich hab ihnen schon ordentlich auf den Schwanz getreten." Er stampfte auf und fletschte die Zähne. „Ich hab ihnen allen die Maske vom Gesicht gerissen und bin ihnen allen erstklassig übers Maul gefahren. Wir, die Arbeiterklasse, wir wissen, wie man sie am Schlips packen muss. Sie haben das ganze Gold in ihre Zähne gesteckt. Und der Arbeiterklasse ziehen sie das Fell über die Ohren, wollen unsereins ins Joch spannen. Führen wieder die alte Ausbeutung ein. Sabotieren, wollen uns aushungern, damit die Zarenzeit leichter wiederkommen kann."
Er verstummte und verschwand plötzlich, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. An seiner Stelle erblickte die Menge den Vorsitzenden des Exekutivkomitees, Badjin. Sein Gesicht war starr und hart.
Die ersten Worte sprach er so ruhig und leise, als säße er in seinem Arbeitszimmer, doch mit klarer und durchdringender Stimme.
„Genossen, in unserer Stadt gibt es zwanzigtausend organisierte Arbeiter. Von diesen zwanzigtausend seid ihr, dieses kleine Häuflein, wie eine Horde Jahrmarktbummler hierhergekommen und desorganisiert in schändlicher Weise die festen Reihen der revolutionären Arbeiter. Das ist eine Schmach und ein Verbrechen, Genossen! Was ist los? Was wollt ihr? Habt ihr denn keine Gewerkschaft, wo
ihr alle Fragen behandeln und auf dem schnellsten Wege lösen könnt?"
Die Menge geriet in Aufruhr und überschrie Badjins Worte: „Her mit den Räubern! Her mit den Dieben von der Forstverwaltung! Wir gehen nicht zur Arbeit. Wir sind keine Zuchthäusler."
Badjin hob die Hand. Sein Gesicht veränderte sich nicht; es blieb eisern, unbeweglich und hart. „Ich bin nicht hergekommen, um mit euch zu streiten, Genossen. Alle eure Forderungen, die ihr durch eure Vertreter, durch eure Organe vorbringen lasst, werden erfüllt. Geht diszipliniert wieder an eure Arbeitsplätze. Lasst euch gesagt sein, dass jede vertrödelte Stunde in diesen für die Republik so schweren Tagen einen Verlust an der Front der Arbeit bedeutet, einen nicht wieder wettzumachenden Verlust. Schuld daran werdet ihr allein sein. Ihr werdet den Schandfleck nie wieder abwaschen können, mit dem ihr unser Proletariat beschmutzt. Es hat viele Heldentaten vollbracht, solche Schmach kann es nicht ertragen. Ihr habt diesen erniedrigenden Schritt nicht von selbst getan. Das ist das Werk einzelner Aufwiegler. Ich kenne diese Unruhestifter. Einer von ihnen hat vor mir hier gesprochen — Shuk. Ich werde Befehl geben, ihn zu verhaften."
Badjin hatte noch nicht geendet, als Shuk, blass und völlig zerzaust, neben Badjin auftauchte, hin und her sprang und schrie: „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Genossen, das ist eine Lüge! Das lasse ich mir nicht gefallen, Genossen!"
Ein ohrenbetäubendes Brüllen unterbrach Shuks Geschrei. Die Menge schwankte, fuchtelte mit den Armen, und es hatte den Anschein, als sollte sich im nächsten Augenblick an Mauer und Tür ein wüstes Lynchgericht vollziehen.
„Schlagt sie tot! Her mit ihnen! Unser Shuk! Shuk an die Spitze! Shuk! Shuk!..."
Badjin stand noch immer auf der obersten Treppenstufe
und sah unbewegt auf die brüllende Menge. Ohne mit der Wimper zu zucken, wartete er — noch einige Sekunden, und die Leute werden ermüdet aufgeben und sich beruhigen ...
Aber es kam anders. Luchawa griff ein, rannte die Treppe hinauf, schüttelte seine schwarze Mähne und hob beschwichtigend die Hand. „Genossen, herhören! Seid still und hört zu!"
Die Menge verstummte und wich zurück. „Luchawa! Der wird denen das Fell abziehen. Leg los!"
Luchawa sprach schlicht, wie es seine Art war, und mit der üblichen Leidenschaft.
„Zum Teufel, was macht ihr hier für einen Unsinn, Genossen? Axt im Gürtel, Sack auf der Schulter — Kleider und Schuhe wachsen wohl auf den Bäumen? Dummes Zeug, Genossen! Aber die Sache ist die: In einer Stunde ziehen wir los. Sammelpunkt vor dem Gewerkschaftskomitee. Die Produkte werden auf Wagen verladen. Das Parteikomitee hat den Genossen Shuk für die Verteilung verantwortlich gemacht. Jeder bekommt einen Arbeitsanzug. Die Forstverwaltung ist mit Mann und Maus zur Hölle gefahren! In Reihen antreten! Shuk, übernimm das Kommando!"
Die Menge vor der Treppe tobte, Luchawa flog in die Luft und zappelte mit Armen und Beinen.
Als alle sich beruhigt hatten und in Reih und Glied standen, gab Luchawa mit der Hand das Zeichen. Der ganze Schwarm marschierte ab zum Kai.
Badjin und Luchawa standen vor dem Volkswirtschaftsrat und plauderten wie Busenfreunde. Aber ihre Augen funkelten einander voller Hass an.
„Ich habe seinerzeit schon eure Eselei mit der Enteignung an maßgeblicher Stelle gemeldet. Solche Dummenjungenstreiche müssen ein Ende nehmen, liebe Genossen. Wer hat euch bevollmächtigt, den Apparat der Kreisforstverwaltung ohne Anweisung des Exekutivkomitees zu zerschlagen? Darüber wird ebenfalls den Gebietsorganen berichtet
werden. Ich werde euch alle auf den Platz verweisen, wo ihr hingehört."
Luchawa kniff lächelnd die Lider zusammen und warf ihm einen stechenden Blick zu: „Bürokrat!"

Mit festem Schritt

Durch das Fenster der Werkverwaltung sah man vor dem „Komintern"-Klub Komsomolzen und Komsomolzinnen in Turnanzügen, mit nackten Armen und Beinen Gymnastikübungen machen. In luftiger Ferne aber stiegen die Schienenstränge des Bremsberges vom unsichtbaren Grund eines kraterartigen Trichters den achthundert Meter hohen Berg hinauf. Zwei Loren krochen sich entgegen, die eine auf-, die andere abwärts, fuhren aneinander vorbei und entfernten sich wieder voneinander. Von weitem sahen sie aus wie kleine Schildkröten. Sie glitten langsam und mühelos über die Schienen: fünf Minuten aufwärts, fünf Minuten abwärts. Ungefähr alle Viertelstunden begegneten sie sich. Die nach oben fuhr, war leer, die nach unten fuhr, mit Holz beladen. Man konnte erkennen, wie sich die Antriebsräder der Förderbahn drehten. Zwischen Pass und Förderbahn, auf dem abschüssigen, festgewalzten Wege quer über den Berg, fuhren Lastautos und Pferdewagen hin und her.
Gleb verbrachte ganze Tage in der Werkverwaltung. Die Spezialisten vom Volkswirtschaftsrat, die schon seit einer Ewigkeit dort saßen, waren dem komplizierten Betriebssystem noch immer nicht auf den Grund gekommen. Alle waren sie gestriegelt und blass vor lauter Sauberkeit, alle waren nach englischer Manier glattrasiert. Was sie aber wirklich an ihren Eichenschreibtischen trieben, warum sie nur mit gedämpfter Stimme und halb flüsternd sprachen — das ließ sich schwer erraten. Sie musterten Gleb (so
musterte man ihn auch im Volkswirtschaftsrat) und gaben auf seine Fragen durch Zigarettenrauch hindurch seltsame Antworten. Gleb verstand sie nicht, hörte nur klar und deutlich immer das eine Wort, das er schon seit langem hasste — „Industriebüro".
Auf seine Meldung hin beschloss die Parteizelle, von der Werkverwaltung einen ausführlichen Bericht vor versammelter Belegschaft zu verlangen. Gleb selbst studierte bis zur Erschöpfung die Lage der Dinge, nahm freiwillig die Sträflingsarbeit auf sich, all die Zahlen, Anweisungen und Pläne zu enträtseln. In den ersten Tagen verlor er fast den Verstand dabei, und die ganze Arbeit war vergebens — er fand sich einfach nicht zurecht in diesem Wust von Zahlen und Tabellen. Die glattrasierten Spezialisten gaben ihm auf seine Fragen höflich Auskunft und verbargen Spott und Verachtung geschickt hinter halbgeschlossenen Lidern. Vor diesen glattrasierten Spezialisten gab Gleb sich ebenfalls höflich, sprach selbst mit gedämpfter Stimme und halb flüsternd und stellte alberne Fragen, die sie mit einem Lächeln quittierten; er stellte aber auch andere Fragen, über die er nächtelang gegrübelt hatte, und dann wurden die Spezialisten nervös, gerieten in Verlegenheit und antworteten nur das eine: „Industriebüro. Hauptverwaltung Zement. Rat für Arbeit und Landesverteidigung."
Gleb beobachtete durch das Fenster die Arbeit des Bremsberges, studierte Betriebsfragen, über die eigentlich nur die Spezialisten Bescheid wissen konnten, und rechnete aus, wie viel Holz bis Neujahr herbeigeschafft sein werde.
Jede halbe Stunde 2,5 Kubikmeter macht bei zwei Schichten täglich 60 Kubikmeter. Macht im Monat 1500 und bis Jahresende 12 000. Viel zuwenig: das behebt die Krise nicht. Der Bremsberg muss auch im Winter arbeiten.
Das Holz wurde vom Grunde des Trichters mit einem anderen Bremsberg weiter befördert. Von den Bergen ins Werk und vom Werk in die Berge krochen die eisernen Loren eine hinter der anderen, in der einen Richtung mit
Holz beladen, in der anderen leer. Am unteren Ende der elektrischen Förderbahn wurden sie vom Drahtseil abgehakt und auf die Plattform des Gitterturms gerollt; von dort aus sausten sie dann im Förderkorb in die Unterwelt. Auf der Schachtsohle wurden sie wieder an Seile gehängt und verschwanden in der Dunkelheit, von wo ihnen leere Loren entgegenkrochen.
Wenn Gleb durch die Förderbahnanlage schritt, erregte ihn das elektrische Surren der Räder, die ganze frische Arbeitsatmosphäre. Er warf Akten und Tabellen auf den Boden und stürzte sich in den Arbeitsstrudel. Die Gesichter der Arbeiter hatten sich sichtlich verändert: keine typhöse Röte mehr, sondern Schweiß und gesunde Bräune.
Nachts wartete er nicht mehr auf Dascha wie früher; er ließ die Tür unverschlossen und legte sich beizeiten schlafen. Er wusste gar nicht, wann sie nach Hause kam. Erwachte er manchmal für einen Augenblick, so sah er sie am Tisch sitzen: sie hatte den Kopf aufgestützt und las mit Ausdauer und großer Aufmerksamkeit. In der Frühe, wenn er zur Arbeit ging, begleitete ihn ihr junges, freundliches Lächeln bis zur Tür.

Unruhe

Er musste einmal selbst nachsehen, was das Industriebüro — dieser kugelsichere Schild des Volkswirtschaftsrates und der Werkverwaltung — eigentlich darstellte. Dieser schwere Brocken lag ihm im Wege, alle seine Anfragen prallten daran ab und blieben ohne Antwort. Gleb beschloss, unverzüglich hinzufahren und diese Institution unter die Lupe zu nehmen. Scheiterte auch das, führte man ihn auch dort an der Nase herum, dann würde er — das hatte er sich geschworen — nach Moskau fahren und zu Lenin gehen, zum Obersten Volkswirtschaftsrat und zum Rat für Arbeit
und Verteidigung. Dort würde er die ganze Geschichte aufdecken; würde Lärm schlagen und alles auf die Beine bringen, bis er sein Ziel erreicht hätte. Das Werk musste in Betrieb gesetzt werden — koste es, was es wolle.
Die Werkverwaltung versumpfte in Misswirtschaft, Untätigkeit und hartnäckiger Schädlingsarbeit. Die Sabotage, die im Volkswirtschaftsrat immer mehr um sich griff, bestand in Sitzungsfimmel und Papierkrieg. Die einfachsten Fragen wurden zu einem unentwirrbaren Knäuel verfilzt. Schramm hielt langatmige, streng logisch fundierte Vorträge, die Genossen aber und die Funktionäre in untergeordneten Wirtschaftsorganen kritisierten ihn in Grund und Boden und nannten seine Dienststelle mit bitterer Ironie „Volkswirtschaftssarg". Gleb war es klar, dass im Volkswirtschaftsrat unsichtbare Feinde am Werk waren. Die zweistöckige Villa wimmelte täglich von verdächtigen Subjekten, die zu einer Tür hinein- und zur anderen heraushuschten, und auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude defilierten Tag für Tag von zehn bis vier Uhr ungewöhnlich redselige Leute, die früher die Kaffeehäuser und die Börse bevölkert hatten. Still war es in der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen und in der Abteilung Volksbildung, während wiederum in den Abteilungen für Landwirtschaft, Kommunalwirtschaft und Außenhandel reger Betrieb herrschte.
Vor seiner Abreise ging Gleb oft ins Exekutivkomitee, in den Volkswirtschaftsrat und ins Parteikomitee — er sammelte Unterlagen, Informationen, Pläne und Anordnungen. Badjin gab ihm einen Brief an einen Freund mit, der dem Büro des Gebietskomitees angehörte, Shidki an einen Freund in der Gebietskontrollkommission.
Eines Tages schlenderte Gleb die Straße hinunter zum Kai, wo ein werkseigenes Motorboot auf ihn wartete. Er ließ sich Zeit, er wollte sich etwas verschnaufen nach all der Hetzerei durch die Dienststellen. Unterwegs staunte er: die Straße war nicht wieder zu erkennen. Früher hatten
die Läden mit den Scheiben doch leer gestanden oder allen möglichen Institutionen als Lagerräume gedient, und die Fenster waren verstaubt und verschmutzt gewesen. Jetzt, gewiss, es gab auch noch Lagerräume, dazwischen aber —
IN KÜRZE WIRD EIN DELIKATESSENGESCHÄFT ... CAFE MIT STÄNDIGER KAPELLE ... HANDELSGENOSSENSCHAFT ...
GENOSSEN, STÄRKT DAS BÜNDNIS ZWISCHEN STADT UND LAND!
IN KÜRZE ...
WER NICHT ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN
In dieser Losung, die mit ellenlangen Buchstaben an die Wand des Stadthauses gemalt war, hatte eine mutwillige Hand das erste NICHT verschmiert; die Vorübergehenden konnten sich an dieser neuen Wortkombination nicht satt sehen und lachten.
WER ... ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN
Gleb blieb betroffen stehen. Ja, die Neue Ökonomische Politik — Märkte, Naturalsteuer, Genossenschaften.
Cafe mit ständiger Kapelle. Und das halbe Pfund Brotration? Und die Sonderzuteilung der Gewerkschaft — dreiviertel Meter Stoff pro Person, Schnurrbartbinden und Damenstrumpfhalter? Warum konnten sich die Auslagen so rasch füllen? Und warum war es einem so schwer ums Herz?
Vor dem Fenster eines Kaffeehauses auf der anderen Straßenseite entdeckte er Polja. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, sah zum Fenster hinein und konnte sich nicht losreißen. Ein Mann in neuer Uniform und mit Aktentasche (wer trug jetzt keine Aktentasche!) lief eilig hinter ihr vorbei, rempelte sie mit der Schulter an und stieß sie vom Fenster fort. Sie bemerkte das gar nicht und trat an ihren alten Platz.
Gleb überquerte den Fahrdamm und stellte sich neben
sie. Sie bemerkte auch ihn nicht. Dort, in der verqualmten dämmrigen Tiefe, saßen an kleinen Tischen paarweise und in Gruppen aus der Vergangenheit auferstandene Schatten. Durch das Fenster drangen geisterhaft-ferne Geigenklänge.
Hinter ihrem Rücken, auf dem Bürgersteig, wurden Stimmen laut.
„... feste Währung ... nur in fester Währung..." „Ganz frische ausländische Ware, soeben eingetroffen... franko ... Feluken ... Prozent Reingewinn ..." „In Kommission nehmen — so verdient man am besten." „Es wird ein Posten Tabak angeboten, aus Suchum." „Am vorteilhaftesten manipuliert man mit Mehl. Sie verstehen doch — Hunger..."
Gleb sah sich um und erblickte den Rechtsanwalt Tschirski und zwei Subjekte in Panamahüten: der eine war ein seinerzeit an der ganzen Küste bekannter Weingroßhändler, der andere ein ehemaliger Zigarettenfabrikant.
Verflucht! Im Werk riecht es noch nach Oktober, der Kopf ist noch benommen vom Bürgerkrieg. Sobald man aber in die Stadt kommt, scheint alles sich ganz merkwürdig zu verschieben und die Welt ein anderes Gesicht anzunehmen...
Gleb zog scherzend Polja die Aktentasche unterm Arm weg. Sie zuckte zusammen und erwachte. Erschrocken blickte sie zu ihm auf, und in ihren Augen sah Gleb einen unterdrückten Schrei.
„Sag mir bloß, Gleb ... verstehst du das alles? Ich laufe hier auf der Straße rum und gucke mir wie dumm die Fenster an. Was ist nur mit mir los? Ich gucke und gucke, bis mir der Kopf schmerzt, bis mir die Zähne knirschen, und ich verstehe nichts, nichts verstehe ich, Gleb."
„Geh in deinen Frauenausschuss. Überlass das Gucken den Dummköpfen und den Lumpen."
Er nahm ihren Arm und führte sie die Straße entlang, sie aber schaute verstört nach allen Seiten, sah in Türen
und Fenster der Geschäfte, und ihr Blick flatterte unsicher wie Tropfen im Winde.
„Ich geh heute nicht in den Frauenausschuss. Dascha ist dort. Deine Frau ist ein seltener Mensch. Sie bringt es noch weit, du wirst sehen. Freilich, was kann man schon über andere sagen, wenn man sich selbst nicht mal kennt. Gestern war ich so, heute bin ich anders."
„Schäm dich, Genossin Vorsitzende des Frauenausschusses, wie kann man nur so in Panik geraten. Kämpfen muss man, nicht weinen und sich rumdrücken."
Er sprach barsch, presste aber zärtlich und bewegt ihren Arm.
„Was geht in mir vor, Gleb? Vielleicht bist nur du imstande, dich in diesem Durcheinander zurechtzufinden? Ich bin wie betäubt. Ich fühle, wie der Boden unter mir schwankt. Dabei bin ich an der Front gewesen, habe wirkliches Grauen erlebt. Zweimal habe ich gedacht, es sei mit mir aus, und habe alle Todesängste ausgestanden. Ich habe an den Moskauer Kämpfen teilgenommen. Aber wie jetzt war mir noch nie zumute. Als ob mich jemand verhöhnt und ich mich schäme, weil ich mich nicht verteidigen kann. Muss das so sein? Ist das unvermeidlich? Ist dies das notwendige Ergebnis unserer Leiden und Opfer? Ist es wirklich so, Gleb? Vielleicht hast auch du den Kopf verloren? Sag es mir aufrichtig, Gleb: Tust du nicht nur aus alter Gewohnheit so zuversichtlich?"
Sie langten beim Haus der Sowjets an, und Polja blieb stehen, machte sich jedoch von Gleb nicht los. Es war ihr anzumerken, dass es ihr schwer wurde, allein zu bleiben oder unter fremde Menschen zu gehen. Gleb war erregt. Was erregte ihn nun mehr: Poljas aufwühlende Worte oder dass sie ihn anzog, diese Frau, die erst durch Dascha zu ihm gekommen war?
Das Werk in Konzession geben. Gleb ist damals vor diesem neuen, Unheil verkündenden Wort zurückgeschreckt. Niemand hat gewusst, wer dieses Wort in den Wind geworfen hatte, und er hat damals nicht klug daraus werden können. Es ist ein vages Gerücht gewesen, das sich aber bald wieder in Nebel aufgelöst hat. Nun aber liegen die Dinge anders: die schreienden Auslagen in den Straßen, das geschäftige Hin und Her der Schieber und Krämer — das sind schon drohende Anzeichen. Kein Rauch ohne Feuer! Das Gerücht von der Konzession hat unweigerlich entstehen müssen. Zweifellos wird im Volkswirtschaftsrat schon einer Aktiengesellschaft, mit den früheren Eigentümern als Teilhabern, der Boden bereitet.
Polja... Da stand sie neben ihm, ganz nahe, aus ihren Worten hatte so viel herzliche Freundschaft geklungen, und sie brauchte jetzt so notwendig seine Kraft. Er fühlte, wie verwirrt sie war, vermochte es aber nicht, zart und behutsam auf sie einzugehen. Er hätte ihr doch so gern ein liebes Wort sagen, ihr gleichsam einen Mantel umlegen wollen, um sie vor Kälte zu schützen. „Ich gehe nicht in den Frauenausschuss, Gleb. Komm lieber mit zu mir hinauf und bleib ein wenig bei mir. Wenn du da bist, werde ich mich besser fühlen. Du kannst bald wieder gehen — nur dass ich jetzt nicht allein bin. Vielleicht sagst du mir auch ein nüchternes Wort, und ich sehe dann alles mit anderen Augen." Sie schob ihn sanft zu der spiegelnden Glastür des Haupteinganges.
Den ganzen Weg zu ihrem Zimmer — auf der Marmortreppe, im engen Korridor — ließ sie seinen Arm nicht los und wiederholte: „Es muss wohl so sein, ja? Muss so sein?" Ihr Zimmerchen war hell und fast leer. An der Wand ein Eisenbett; auf dem Bett eine graue Decke und ein weißes Kissen. Über dem Bett Lenin. Vor dem Fenster ein Tischchen, darauf ein Wust Bücher und Papiere.
Wenn Gleb zufällig in dieses Zimmer gekommen wäre, ohne zu wissen, dass Polja hier wohnte — er hätte es an dem Duft erraten.
Sie warf die Aktentasche auf den Tisch, setzte sich aber nicht, sondern lehnte sich neben dem Tisch an die Wand.
Gleb ging im Zimmer auf und ab und blieb vor der Tür in der linken Wand stehen.
„Wer wohnt dort?"
„Das ist Sergejs Zimmer."
Er schlug mit der Faust an die Tür. Das Echo erstarb in der Leere dahinter. Er ging zur Tür in der rechten Wand.
„Und hier?"
„Vor dieser Tür habe ich Angst. Dort wohnt Badjin. Ich mag ihn nicht, er hat so etwas Schweres an sich, und ich habe immer das Gefühl: Jetzt geht die Tür auf — und es geschieht etwas, vielleicht etwas Grässliches."
„Er ist ein Schürzenjäger, dieser Badjin."
„Warum? Wie kommst du darauf?" Polja lachte, ihr Blick jedoch kehrte sich nach innen, als lausche sie dem Schmerz in ihrem Herzen.
„Er ist ein Schürzenjäger. Ich werde bei Gelegenheit noch mit ihm zu tun kriegen."
„Was bist du noch für ein Sklave, Gleb! Wir müssten doch endlich einmal auch in uns Revolution machen. In uns selber einen unerbittlichen Bürgerkrieg führen. Es gibt nichts Festeres und Zäheres als unsere Gewohnheiten, Gefühle und Vorurteile. In dir rumort die Eifersucht — ich weiß es ... Das ist schlimmer als Despotismus. Das ist eine Art der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, das ist Menschenfresserei. Ich sage dir eins, Gleb: Bei Dascha erreichst du damit nichts — das gibt eine Niederlage."
„Die habe ich sowieso schon eingesteckt."
„Na also. Recht geschieht dir. Hast es nicht besser verdient."
„Sicherlich. Die Liebe hat stets einen Haken. Man muss diese Nuss mit Verstand aufknacken. Ich kann mich damit nicht abfinden. Hier drinnen sitzt es wie ein Geschwür. Es will nicht klappen mit Dascha und mir. Sie zieht an ihrem Strang und ich an meinem. Ich kann nicht vergessen, was
mit ihr gewesen ist. Ich sehe sie an, und ich fühle — es geht über meine Kräfte, sie so hinzunehmen, wie sie ist. Sie hat etwas, das nur ihr allein gehört, und das macht mich zum Tier. Manchmal denke ich an sie — und es überkommt mich eine solche Wut, dass ich sie zum Krüppel schlagen möchte. Eifersucht — ja! Ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Und sie fühlt das, und so liegt gewissermaßen ein blankes Messer zwischen uns. Einmal muss diese verfluchte Nuss geknackt werden."
Polja blickte wieder nervös und zerstreut um sich. Sie grub die Hände in ihre Locken und verzog das Gesicht, als habe sie Kopfschmerzen.
„Ja, Gleb, eine harte Nuss. Aber man muss sie knacken ... Der Kern drin — glaube ich — ist bitter. Hol ihn der Teufel. Man muss eben ... Wir haben uns mit Blut vergiftet, aber im Blut fanden wir auch das Gegengift. Doch wo ist das Gegengift gegen den Alltag, der aus der verfluchten Vergangenheit herüberkommt? Das ist das Schreckliche. Mit sich selber kämpfen ist immer am schwersten, denn im Alltag ist die Seele immer zur Einsamkeit verdammt."
Sie stand vor Gleb so schlicht und offen, so verloren in ihrer Verwirrung, so vertrauensvoll und nahe, dass er glaubte, er kenne sie bereits seit langem, sie sei immer schon so gewesen — so ruhelos und rebellisch. Er brauche sie nur zu umfassen, sie in die Arme zu nehmen, und sie werde sich wie ein Kind an ihn anschmiegen und ihm ganz vertrauen und unter seinen Liebkosungen sich beruhigen und wieder lachen können wie früher.
In stiller Zärtlichkeit zog er sie an sich und streichelte mit der Wange ihre Locken. Sie erschrak zuerst und duckte sich in seinen Armen. Dann legte sie bebend die Arme um seinen Hals und sah ihn durch Tränen an.
„Gleb! Lieber! Wenn du wüsstest, wie schwer mir ums Herz ist! Versteh mich, Gleb, und verachte mich nicht. Du bist mir der nächste Mensch, und ich hab dich sehr lieb. Lass mich dich fühlen, Lieber, ganz."
Er schwieg und presste seine Wange in ihre Locken. Als er sie vor dem Bett auf die Arme nahm, trommelte jemand an die Tür. „Genossin Mechowa, darf ich?"
Und die Tür quietschte. Es war Dascha. Ihr rotes Kopftuch loderte, und ihr Gesicht war wie immer — klar, mit unbefangenen Augen und jungem, zähneblitzendem Lächeln.
„Donnerwetter! Auch du hier, Gleb? Bist du aber ein unsteter Geist!"
Sie lachte fröhlich. „Na schön. Ich bleibe ein paar Minuten."
Lediglich im ersten Moment war Schreck in ihren Augen aufgezuckt und noch etwas, das wie ein Schleier hinter den Wimpern vorüberhuschte. Vielleicht war es Gleb auch nur so vorgekommen, weil er selbst erschrocken war und sich nicht gleich fassen konnte.
Polja trat zu ihr und legte den Arm um sie. „Bist du eifersüchtig, Dascha? Dein Gleb ist ein großes Kind. Ein prächtiger Kerl zwar, aber über alle Maßen dumm... Man weiß nie bei ihm, wo der Wilde aufhört und der Mann mit Vernunft anfängt."
Gleb stellte sich zwischen die Frauen und legte jeder eine Hand auf die Schulter.
„Hol's der Teufel! Diese Nuss muss geknackt werden. Und wenn ich mir die Zähne dabei ausbeiße. Für Dascha ist die härteste Nuss, was ein Floh für den Hundezahn ist, alles ist ihr ein Kinderspiel."
Dascha schmunzelte und ging zum Tisch. „Auch ich habe verschiedene Nüsse knacken müssen und mir manchen Zahn dabei ausgebissen." Sie begann eifrig in ihrer Aktentasche zu kramen. „Ich komme vom Bezirkskomitee, Genossin Mechowa. Die Frauenkonferenz steht doch vor der Tür. Hast du auch nicht vergessen? Heute um fünf Uhr ist Sitzung im Gewerkschaftskomitee. Du musst berichten."
„Ich weiß, Dascha. Aber besser wäre es, du würdest den Bericht geben, ich bin heute ganz durcheinander."
„In Ordnung, Genossin Mechowa, mache ich." Sie sah Polja forschend an und sagte mit milder Strenge: „Nicht doch, Polja. Nicht weich werden! Weinen ist nicht schwer. Du musst lernen, das Herz an die Kandare zu nehmen und scharfe Augen zu behalten."
Spöttisch musterte sie Gleb. „Du kannst deine Unterhaltung mit Polja fortsetzen, mein Guter. Ich gehe."
Polja sah zum Fenster hinaus und lachte krankhaft. „Nein, danke. Löst eure Probleme nur selbst, ich verschwinde. Keine Zeit." Und Gleb ging, rot vor Verlegenheit. Auf dem Korridor traf er Tschibis. Der reichte ihm wie gewöhnlich weder die Hand, noch begrüßte er ihn. Er hatte einen elastischen, wenn auch etwas harten Gang und sah Gleb wie einen Fremden an.
„Also, hör mal zu. Die Forstverwaltung hatte sich, wie du weißt, in ein gemütliches Loch verkrochen. Dort hatte sie sich gleich mit Staub bedeckt. Wolkenweise ist er in allen Abteilungen aufgewirbelt, die nun einem Irrenhaus gleichen. Shuk hat sich als kein übler Dummkopf erwiesen. Ich habe heute nicht geschlafen. Nachts schlafe ich nie, nur morgens und nachmittags. Ich werde mich jetzt für eine halbe Stunde hinlegen. Ach, dieser Einarmige, weißt du, ist ein prachtvolles Menschenexemplar. Es ist ein wahres Vergnügen, sich mit ihm nächtelang zu unterhalten. Die Bourgeoisie hat es verstanden, ihrer Jugend eine hohe Kultur zu vermitteln. Wir müssen noch sehr viel und sehr vieles lernen. Wer sich die Kultur aneignen will, muss sie auch zu nutzen wissen, und das ist nicht so einfach, mein Lieber."
„Ich habe mich schon gewundert, dass Shuk seit ein paar Tagen nicht mehr durch die Gegend läuft und Brandreden hält."
„Er ist gar kein schlechter Spürhund. Er muss nur in festen Händen sein. Von den zwei Dutzend werden wir gut die Hälfte erschießen. Ich übergebe die Sache dem Revolutionstribunal. Aber wegen unserer Enteignungstour damals werden wir doch noch eins aufs Dach kriegen. Unbesonnenheit. Und das während des Parteitages. Wo Unbesonnenheit herrscht, da gedeihen auch Intrigen. Was glaubst du, wer frisst wen?"
„Ich glaube, dass Badjin mit bloßen Händen nicht zu packen sein wird. Er ist ein guter Arbeiter, aber ein Bürokrat und ... ein Schürzenjäger."
„Tja. Was ist der Alltag? Nur Zank und Intrige! Intrige aber ist der Heroismus des Spießbürgers. Meine schönste Zeit ist die Nacht. Komm zu mir, wir werden die Zeit sehr unterhaltsam verbringen. Nachts sieht man mehr als am Tage."
„Genosse Tschibis, ich habe gehört, dass auch Lenin nachts nicht schläft."
„Ich weiß nicht."
„Nun sag mal, Genosse Tschibis, wie ist das möglich, was draußen vorgeht... Cafes mit ständiger Kapelle? Stinkt's wieder vom Hinterhof?"
„Das macht dir angst? Fahr zurück zur Armee, lass dich noch ein bisschen schleifen und lerne das politische Abc. Mich beunruhigt das absolut nicht. Ob Sonnenschein, ob Blut — alles muss man sehen können, ohne mit der Wimper zu zucken. Man darf nicht fürchten, die Sonne mache blind und Blut vergifte die Seele."
Er zog die Wimpern hoch und lächelte spöttisch. Gleb bemerkte die kindliche Klarheit seiner Augen und den strahlenden Lichtfleck, der voll ewiger Unrast darin zuckte. Tschibis ging weiter, den Korridor hinunter, und ließ schwer die rechte Schulter hängen — Gleb begriff zum ersten Mal, dass der Mann zu Tode erschöpft war, dass er in seiner Übermüdung das Schlafen längst verlernt hatte und keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht kannte.

 

XIV. Empfang der Büßer

Über Golgatha nach Canossa

An einem sonnigen Tage erlebte Polja wieder so erhebende, aufrüttelnde Stunden wie bei der nächtlichen Enteignung und in den Tagen des Kampfes mit den Weiß-Grünen. Wieder glühte sie vor Begeisterung und Freude, und ihr Gesicht verriet nichts von Grübelei, Gram oder Verwirrung.
Sie setzte sich mit Shidki, Tschibis, Gleb und Sergej ins Motorboot.
Tschibis hob die Hand und kommandierte: „Los geht's, Freunde! Haltet euch fest! Mit Volldampf voraus, Matrose!"
Und er ließ seine Hand auf die Schulter des Matrosen fallen, der ein schmutziges, verunstaltetes und zerschrammtes Gesicht hatte und ein Knäuel Werg in den Fingern hielt.
Fern an der Reede, in heißem Sonnendunst, lag ein Dampfer, aus dem Wasser wachsend wie eine riesige Klippe. Das war der erste Dampfer mit „Büßern" an Bord.
Das Spiegelbild der Landungsbrücke auf dem grünen Wellengekräusel zerfiel in Stücke, die unter der schimmernden Ölschicht verschwanden. Am Bug brachen sich Sturzwellen mit kristallenem Klirren. Am Heck, hinter Glebs Rücken, schäumte eine hohe Woge, die erstarrt zu sein schien. An den Molen spielten zwei Delphine und rollten wie eiserne Räder übereinander. Funken spritzten
von ihren runden Rücken und stachen schmerzhaft in die Augen.
Am Kai und auf den massiven Landungsbrücken wimmelte eine unübersehbare Menschenmenge. Man hatte seit langer Zeit kein Schiff mehr gesehen. Die letzten waren mit den Weißen verschwunden. Man war ausgehungert nach dem Anblick von Schiffen und empfand deshalb die Ankunft dieses Dampfers als ein Ereignis.
Sergej sah auf die schwarze Silhouette des Dampfers und kaute am Nagel seines kleinen Fingers. Gleb schlug ihm auf die Hand, aber er konnte es nicht lassen. „Da haben wir's. Über Golgatha nach Canossa. Das ist der Weg der Konterrevolution."
Shidki schielte zu Sergej hinüber, und seine Nasenflügel blähten sich.
„Lass das, Serjosha! Das sind Intellektuellenphantasien. So reden nur Feinde des Sozialismus."
Sergej jedoch redete mit sich selbst — vielleicht aber auch zu allen: „Auf diesem Schiff befinden sich dreihundert Mann und vierzehn Offiziere. Als man sie in Tuapse zurückwies, haben sie gesagt: ,Das Schiff fährt nicht zurück. Man soll uns irgendwohin schicken.' Herrlich! Sie bringen uns schrecklich viel Energie mit. Die müssen wir ausnützen. Ausnützen und umformen."
Shidki stierte Sergej an.
„Und wie viel haben sie uns genommen? Wie viel Blut und Kraft — hast du das ausgerechnet? Man wird schwindlig, wenn man nur daran denkt." „Na und?"
Polja warf Sergej einen Blick zu und lachte auf. Sie war aufgeblüht in frühlingshafter Freude, und ihre Wimpern und Brauen sprühten in der Sonne.
„Ach, Serjosha! Unsere wackeren Genossinnen würden dich schön zerpflücken, wenn sie deine Weisheiten hörten!"
Gleb beobachtete die Delphine. Es drehten sich da zwei große Schwungräder, eins hinter dem anderen — tauchten
auf und versanken. Mit ihren säbelscharfen Rücken durchschnitten sie das Wasser. Verschwanden sie in der Tiefe, so schloss sich das Wasser über ihnen, ohne Wellen zu schlagen und ohne Spritzer. Ebenso gewaltig und beschwingt sausen die Räder der Dieselmotoren im Werk und laden die Atmosphäre mit elektrischer Spannung. Einst sind es viele gewesen, jetzt sind es nur zwei. Ihr Leben verkörpert sich jetzt dort, in dem kraterförmigen Bergeinschnitt: dort kriechen zwei Schildkröten, zwei Loren — die eine hangaufwärts, die andere hangabwärts, und hinter ihnen in langer Kette viele andere. Diese Delphinräder aber, mit tierischem Blut geladen, tauchen die kostbare Sonnenenergie verschwenderisch in die Meerestiefen.
Die Landungsbrücken lagen schon weit zurück. Die zackigen, kupfern schimmernden Berge, in violetten Dunst gehüllt, wiegten sich, schwammen ins Meer. Das Motorboot hüpfte auf den Wellen, und das Schiff hob und senkte sich und verdeckte wie ein Wolkenkratzer den halben Himmel. Tschibis, Shidki, Polja — sie alle waren scharf umrissen und schienen winzig klein wie in einem konvexen Spiegel. Auch er, Gleb, war klein, und nur sein Herz war groß — größer als er selbst.
Sergej sah mit feuchten Augen wie gebannt auf den Dampfer und knabberte an seinem kleinen Finger.
Aus dem Innern des Dampfers hallte ehernes Dröhnen.
Oben, an Deck, stand eine aschgesichtige Menschenmenge, starrte hinunter, winkte mit Tausenden von Händen und heulte. Hoch oben, hinter dem Gewirr von Tauen und Winden, wirbelte taubengrauer Rauch. Unten, auf den öligen Wellen, plätscherte, knatterte wie ein Maschinengewehr das kleine Motorboot mit der roten Fahne am Heck — ein drohendes Fünkchen der RSFSR.
Ein betresster Engländer — wahrscheinlich der Kapitän — stand, auf die Reling gestützt, am Fallreep und sah teilnahmslos herab auf das in den Wellen fliegende Motorboot.
Das ferne Ufer flammte und glühte wie ein blühendes Mohnfeld.
Im Innern des Dampfers dröhnte es eisern wie dumpfes Donnergrollen.

Zahnlose Wölfe

Die grauen Menschen standen zu einem verschwitzten, stinkenden Haufen geballt. Auferstandene Leichen, wie mit Schimmel überzogen. Man konnte nicht unterscheiden, wer Offizier und wer Soldat war.
Shidki sprach mit dem betressten Engländer und sah selbst wie ein Engländer aus.
Tschibis, in gelbem Leder, sagte kalt und deutlich: „Offiziere vortreten! Die anderen zurück!"
Die Menge gab ein Stück Deck frei. Der Platz wirkte wie eine Richtstätte.
Hastig drängten sich zerlumpte Gestalten durch die Menge, die Gesichter schmutzig und vor Hunger geschwollen.
Polja lachte übermütig. „Sieh nur, Gleb, wie Gehenkte sehen sie aus. Und sie haben den Damen die Händchen geküsst. Voller Fäulnis wie Aaskäfer."
Tschibis' Stimme war ruhig und klanglos. „Ihr seid unsere Feinde. Ihr hasst uns. Ihr habt Tausende von uns vernichtet — Arbeiter und Bauern. Ihr seid hergekommen und habt gehofft, hier nicht den Tod, sondern das Leben zu finden. In welcher Absicht seid ihr nach Sowjetrussland gekommen?"
Ein alter Mann mit silbrigen Borsten um den Mund trat vor.
„Wir fürchten uns nicht vor der Antwort, o nein! Wir sind nur todmüde. Ein geschlagener Feind ist kein Feind mehr. Haben wir denn weniger durchgemacht als ihr? Außer der
Heimat haben wir nichts, und außerhalb der Heimat gibt es für uns nichts. Das ist unser Fluch, und dieser Fluch ist unsere Sühne. Mag die Heimat Qual und Tod von uns fordern. Wir sind bereit, wir ergeben uns in alles. Diese Freude werdet ihr uns nicht rauben."
Während er sprach, blickte er Tschibis nicht an, sondern hob den Kopf feierlich zur Sonne.
Tschibis schwieg und musterte ihn scharf durch die Wimpern.
Alle schwiegen, und in diesem Schweigen lag eine unerträgliche Spannung.
Ein kleiner blutjunger Offizier schrie hysterisch auf. „Man hat mich betrogen. Ich war verblendet. Ich bin ein Mörder, ja. Lasst mich mein Leben rechtfertigen. Wenn ich auch sterben soll — aber ich will mich rechtfertigen."
Tschibis machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ausgezeichnet. Aber wie wollen Sie beweisen, dass Sie die Wahrheit sprechen?"
Der kleine Offizier lief auf ihn zu und riss sich den Hemdkragen auf. „Erschießen Sie mich auf der Stelle! Erschießen Sie mich!"
Tschibis winkte wieder kalt ab. „Gehen Sie auf Ihren Platz! Sie können zurückfahren, ohne an Land zu gehen."
Der Offizier warf die Arme hoch. Die Hemdärmel rutschten ihm bis zu den Schultern zurück.
„Sie können mich nicht töten! Sie können nicht. Ich will leben ... leben!"
Man fasste ihn unter die Arme und führte ihn zur Seite. Dort schrie er mit überschnappender Stimme immer daselbe. „... leben!... leben!"
Polja verzog das Gesicht und lächelte, und ihre Augen waren groß und rund vor Freude.
„Was für schwache Nerven diese Aaskäfer haben! Warum haben sie sich uns ergeben, Gleb? Rede du mit ihnen, Serjosha. Mich verstehen sie nicht."
Sergej starrte auf Tschibis' Hinterkopf und sagte empört:
„Haben Sie doch den Mut, Tschibis, und reden Sie, wie es unserer würdig ist. Nehmen Sie die schwere Rolle auf sich — mit Feinden wie mit Menschen zu sprechen."
Tschibis wandte sich gemächlich um und murmelte zwischen den Zähnen: „Ich schicke Sie gleich an Land, Genosse Iwagin. Was fällt Ihnen ein?"
Die Menge stierte Tschibis flehentlich an, duckte sich fröstelnd zusammen und schwieg.
Zerlumpte Soldaten waren auf die Lüftungsrohre geklettert und begafften unentwegt die Leute, aus denen sie nicht klug werden konnten.
Gleb sah auf den stinkenden Haufen, auf die verschwitzten, verklebten Gesichter — niemand tat ihm leid, er fand es nur interessant und komisch.
Wölfe. Da stehen sie nun, die Wölfe! Mit blutunterlaufenen Augen sind sie durch die Weiten der Republik gerast. Drei Jahre voll Flammen und unendlicher Leiden! Im Kampfe hat er diese Menschen hassen gelernt, denn der Tod hat über ihm getobt in Sturm und Wetter, die Nächte sind im Krieg rot gewesen von Feuersbrünsten und die Tage vergiftet von Blut und Rauch. Und nun — nun stehen sie vor ihm, die Wölfe. Ihre Augen sind erloschen und ihre Kiefer zahnlos geworden. Er hörte Tschibis zu und feixte. Gut so! Nur zu wenig: Es muss weher tun, noch weher.
Aus dem Offiziershaufen trat ein Mann mit breiten Backenknochen. Sein Kopf zuckte, nervöse Zuckungen verzerrten auch das Gesicht.
„Sie ... Sie mit Ihrem Hohn. Sie glauben, Sie hätten uns kleingekriegt und... eck..." (sein Kopf zuckte) „und wären uns überlegen? Ihr seid — Säuglinge... eck... Wir sind doch schon längst abgestumpft und fühlen nichts mehr. Ihr wisst nicht, wie schrecklich das ist, wenn der Mensch zerfällt... eck... Ich bin fertig."
Er wandte sich müde ab.
Tschibis grinste und sah dem Offizier gespannt nach.
Die Kühnheit und der herausfordernde Ton des Mannes hatten sein Interesse geweckt.
„Sie haben recht. Aber Sie spielen sich hier vergebens auf. Sie wissen nur zu gut, wie hart unsere Schläge waren. Nicht wahr? Ungerechtigkeit und Leichtfertigkeit kann man uns nicht vorwerfen."
Der Mann, zerrüttet, wie er war, ging, ohne sich umzusehen.
Die Offiziere schwiegen, ihre Gesichter waren leichengrau.
Tschibis sah nach der Sonne, lächelte plötzlich und hob den Arm.
„Im Namen der Werktätigen rufen wir euch auf, eure Kraft der Sowjetrepublik zur Verfügung zu stellen."
Weiter war nichts mehr zu verstehen. Ein heilloses Durcheinander brach aus. Menschen mit irren Gesichtern stürzten auf Tschibis zu. Er schrie, die Mechowa schrie, Sergej schrie. Auch Gleb schrie; was er schrie — davon behielt er kein Wort. Ein Soldat mit nackter Schulter lag bäuchlings auf dem Deck und schluchzte laut. Ein anderer fluchte heiser und erstickte fast vor Glück.
Sergej zitterte an Armen und Beinen. Um sich zu beruhigen, ging er zur Seite.
Die Maste schwankten wie Halme in der Luft. Die Antenne zwischen den Masten tönte wie eine Harfe. Die Winden drehten sich in tollem Frühlingsreigen. Meer und Himmel waren voll leuchtender Wellen. Und Sergej hielt das Leben für unsterblich, und die Vögel im wirbelnden Flug ihrer schlagenden Schwingen wirkten auf ihn wie Blüten der Luft.
Shidki sprach mit dem betressten Engländer. Die Pfeife im Munde des Kapitäns zitterte aufgeregt. Er nahm all seine Willenskraft zusammen, um sich ruhig und würdevoll zu geben. Mit einem Ruck hob er die flache Hand wie ein Automat an den Mützenschirm und schritt wie ein Kamel mit wackelndem dickem Hintern zur Kommandokabine. Shidki sah ihm nach und lachte. Als er Sergej erblickte, zwinkerte er ihm zu und blähte seine asiatischen Nasenflügel.

Die rote Fahne

Gleb stand in einem Schwarm Kosaken — Frontsoldaten aus Don- und Kubanstanizen.
Ein bärtiger, barfüßiger Kosak in zerlumptem Beschmet (Anm.: Orientalisches Kleidungsstück: halblanger gesteppter, mantelartiger Überrock.) hielt einen roten Tuchfetzen in der Hand. Die Leute stanken nach Schweiß und Schmutz und drängten sich von allen Seiten an Gleb heran. Ihre Kleidung war bunt zusammengewürfelt: Tscherkessenröcke, zerrissene Russenhemden, eigenartige Kittel. Auch türkische Feze sah man hier und dort.
„Diese Fahne hier ist rot. Sie ist zwar nur ein Lappen, und dein Blick, Genosse, ist an rote Luft gewöhnt. Du musst mit dem Herzen schauen, Kamerad. Ich sag's dir ganz offen, Genosse: Unser Schicksal, unser Blut ist diese Fahne. Ich bin ein Kosak, Soldat, das sind auch alles Soldaten, vom Kuban und vom Don, alte Soldaten. Aber alle sind wir den gleichen Leidensweg gegangen. Stimmt's,
Jungs? Habe ich recht, Freunde?"
Ein einziges Aufseufzen ging durch die Menge. „Rrrecht
hast du, Kosak! So ist es!"
Der Kosak knüllte den roten Fetzen zusammen und breitete ihn dann wieder vor Gleb aus. Im Sonnenlicht waren
Klumpen und Krusten darauf zu sehen.
Gleb nahm das Tuch und befühlte die Blutflecke. „Warte mal, Bruder! Das ist doch... Zum Teufel — das
ist doch ein Hemd! Von einem Gefallenen, wie? Warum
ist es so blutig?"
„Na ja doch ... Kosakenblut. So kehren wir zurück — mit dem eigenen Blut."
Heiß brannten die Augen des Kosaken. Seltsamerweise wirkte er dadurch rothaarig.
„In Gallipoli haben wir gesagt: Genug, Jungs! Nach Hause! Und der Kosak Gubaty, der war unser Kopf. Man hat ihn und uns eingefangen. Und man hat uns wie Hammel zur Schlachtbank getrieben. Mit Ladestöcken hat man uns geprügelt. Mich und alle hier. Uns bis aufs Blut und ihn, den Gubaty, bis auf die Knochen. Er ist draufgegangen, wir haben uns wieder erholt. Gubaty hat gesagt: ,Zieht mir das Hemd aus!' Wir haben es ihm ausgezogen. ,Reißt es mittendurch', hat er gesagt. ,Das soll eure Blutfahne sein, Jungs. Das ist mein Blut und euer Blut. Ich krepiere. Nehmt die Fahne mit meinem Blut. Das wird eure Fahne sein, das wird der Weg zur Freiheit sein, zum bolschewistischen Bruder.' Das hat der Kosak Gubaty gesagt, unser Vater. Und diese Fahne bleibt bei uns bis zum Tod. Ich habe sie an meiner Brust getragen, um sie vor frechen Blicken zu schützen."
Gleb nahm den Helm ab und sah ohne Helm genauso aus wie alle.
„Eine gute Fahne, wirklich. Das ist kostbares Blut. Ihr habt sie noch nicht vergessen, die Höllentage? Fürs Leben bleiben sie einem im Gedächtnis. Wie Narben von Wunden. Wir haben Denikin verdroschen und Wrangel. Und was haben wir für eine Fahne? Genauso eine wie ihr, voller Blut. Aber schaut mal! Seht, was für ein Werk, ein Riese ist das! Es ist noch kalt. Über den toten Punkt haben wir es schon gebracht, aber es ist noch blind. Wer wird es mit seinem Blut wieder zum Leben erwecken? Nur wir Arbeitsleute. Und uns kann keiner besiegen."
„Na ja doch! Wir alle sind für Arbeit. Und für diese Schinder, für die ausländischen und unsere, ist Arbeiterblut reines Gift!"

Das Mädchen an der Reling

Ein Mädchen stand an der Reling und schaute zur Stadt hinüber. Von hinten sah es aus wie ein Backfisch; sein Haar war schwarz mit strahlenden Lichtern.
Sergej war es, als hätte er sie schon in der Menge gesehen. Die Augen waren ihm bekannt vorgekommen.
Als er sie jetzt wieder an der Reling sah, trat er neben sie. Er sagte nichts. Sie schauten zusammen zur Stadt hinüber. Nichts weiter. Im Schweigen liegen oft unvergessliche Augenblicke innerer Verbundenheit.
Wie ein rotes Mohnfeld wogte der Kai. Der Mohn verträgt es nicht, wenn Wind über ihn streicht. Spielt der Wind wie eine Katze mit den Blütenblättern, fürchten sie das Kitzeln. Schmerzlos lösen sie sich vom Stengel und lachen sterbend mit dem Wind. So war der Kai verblasst und leer geworden. Die Leute hatten sich satt gesehen und gingen nun nach Hause. Die Stadt und die Berge atmeten in steinerner Glut. Die Straßen waren blassgrau wie Asche, und aus Wellen durchsichtigen Grüns strebten die Schlote des Werkes zu den Bergen auf. Animalisches Leben entströmte dem smaragdenen Meeresgekräusel. Die Häuser flossen wie zergehend hinein. Berge, Stadt und Meer flimmerten in opalisierendem Licht und rauchigem Dunst. Empfand es das Mädchen an der Reling?
Sergej empfand es und fragte mit den Augen das Mädchen danach. Wo hatte er sie früher schon gesehen? Nirgends. Oder vielleicht im Traum. Sie sah ihn an und lächelte.
Dann sagte sie — mehr zu sich selbst als zu ihm: „Ja, ich habe es erwartet, den ganzen Weg erwartet. Und nun ... nun habe ich alles erlebt. Wie ihr es versteht, zu quälen. Zu quälen und durch Freude zu erschüttern. Das ist es eben — beides zugleich. Ihr seid schreckliche Menschen, ihr Kommunisten."
Sergej antwortete, ohne sie anzusehen: „Warum denn?
Das ist viel einfacher und tiefer: Wir sind Menschen der rückhaltlosen Tat, und unsere Gedanken und Gefühle sind das, was man geschichtliche Notwendigkeit und Wahrheit nennt. Wir sind allzu einfache und aufrichtige Menschen — weiter nichts. Deshalb hasst ihr uns auch."
„O nein! Ich glaube, das Tierhafte und die Erhabenheit des Schaffens sind hier eins. Warum? Unter euch gibt es so viele selbstlose Streiter, aber auch viele furchtbare Menschen, die den Schrecken einer Bluttat gar nicht mehr fühlen."
„Sei's drum. Aber wir werden in die Geschichte eingehen. Vergessen wird man, dass wir furchtbar waren, aber nicht vergessen wird man uns als Schöpfer und Helden."
Sie schwiegen. Das Mädchen sah auf die Wellen. Dann sagte sie leise: „Ich habe zu viel durchgemacht. Ich habe gelernt, man soll alles verzeihen — sogar rechtfertigen."
„Wir verzeihen auch. Sie haben es an sich selbst erfahren. Wir verzeihen so rückhaltlos, wie wir kämpfen."
Verwirrung, Angst, Begeisterung regten sich in der Tiefe ihrer Augen. Sie streckte Sergej ihre Hand hin. Die Hand war klein und zitterte.
„Helfen Sie mir, dass ich euch verstehen- und liebenlerne. Sie werden doch einen Briefwechsel mit mir nicht ablehnen? Nein?"
Sergej rückte befremdet und kalt von ihr ab. „Es gibt nichts, womit ich Ihnen helfen könnte: helfen kann Ihnen nur beharrliche Arbeit. Sie müssen sich auf eine neue Stromart umschalten und alles tun, um zur Welt ein neues Verhältnis zu finden. Sie gehen jetzt an Land, und vielleicht werden Sie eine Wiedergeburt erleben."
Niedergeschmettert von seinen Worten, klammerte sie sich an die Reling.
„Ach, zum zweiten Mal geboren werden ist ebenso furchtbar wie sterben."
Er antwortete nicht, wandte sich ab und ging der Menge entgegen.
Seiner Majestät Schiff in Gefangenschaft
Polja ging an der Spitze der Menge. Ihr folgten Matrosen, den Matrosen eine Rotte Kosaken und Soldaten.
Es war schwül. Das Deck glühte in der Sonne und roch brandig. Es drohte jeden Augenblick in Flammen und Rauch aufzugehen. Shidki und Gleb wurden von der Menge hochgeworfen und fielen auf dichte Bündel ausgestreckter Arme.
Der betresste Engländer sprach mit strengem Gesicht auf Tschibis ein. Die Pfeife in seiner Hand hüpfte, Tschibis aber stand vor ihm und blickte teilnahmslos aufs Meer.
Die Bolschewiki — Herren auf dem Schiff Seiner Majestät! Diese Vagabundenhorde, von Läusen und Hunger zerfressen, ist eine drohende Gewalt, im nächsten Augenblick kann sie das Schiff in die Luft sprengen und seine eiserne Disziplin verschlingen ...
Polja sprang auf eine Kiste und riss sich das rote Tuch vom Kopf. Ihr goldschimmerndes Haar flatterte. Sie schwang die Arme wie Flügel. „Es lebe die proletarische Weltrevolution!" „Hurra!... rra!"
Der blutjunge kleine Offizier schrie aus vollem Halse und klatschte in die Hände.
Der Kapitän bebte wie im Schüttelfrost und zog schnorchelnd Luft durch die erloschene Pfeife.
Tschibis schwenkte die Mütze und schritt auf die Reling zu.
„Genossen, zum Fallreep!"
Die Menge wurde mit einem Schlag still und erschlaffte unter der Last einer bangen Frage. Nur der rote Fetzen mit den dunklen Blutkrusten loderte über den Köpfen.
Das Mädchen sah Sergej durch Tränen lächelnd an. Sergej winkte ihr mit schwermütiger Freude zu.
Im Bauch des Schiffes dröhnte und klirrte Eisen, und das Deck glühte vor Hitze.

 

XV. Kesselstein

Alltag

Den ganzen Sommer gab es keinen Regen. Der Himmel über der Bucht war rostig, und hinter den Molen hingen über dem Meer irisierende Luftspiegelungen, in denen Segelboote, Feluken und ferne Sandbänke miteinander verschmolzen. An den Ufern war das Meer grün und durchsichtig. Leichte Wellen kräuselten seine Fläche, auf der Ölflecke in allen Regenbogenfarben schimmerten und unter der Medusen schwebten und sich Wasserpflanzen wanden. Eine schwache, nach Schwefelwasserstoff und Mollusken riechende Brise wehte auf die Stadt zu. Es gab keinen Horizont mehr: See und Himmel verschmolzen zu einem einzigen Luftozean. Die Berge dampften vor Hitze und glänzten im Grün der Waldschluchten. Grat und Hang waren in flimmernden, fliederfarbenen Dunst gehüllt und spiegelten sich nicht mehr im Meere. Der halbkreisförmige Strand wimmelte tagsüber von Menschen: sie tummelten sich im Wasser, krochen auf den Steinen, Kieseln und Muscheln umher.
In der Stadt herrschte eine unerträgliche Glut, die von Steinen und Metall, vom Pflaster der Straßen und Staub der Plätze ausströmte. Die Leute erstickten von der Schwüle und wurden vom Geflimmer der Bürgersteige, der Mauern und der erhitzten Luft geblendet. Selbst auf den schattigen Boulevards war einem der Mund wie ausgetrocknet, heißer Wind verbrannte einem das Gesicht, und die Blätter der Akazien rochen nach schwelendem Moder. Die Straßen
waren ausgestorben und vibrierten in spiegelnder Ferne. Die Menschen schienen vor dieser Höllenglut geflohen und das Leben mit seiner Geschäftigkeit und seinem Müßiggang stehen geblieben zu sein. Nur hier und da schlichen, Aktentaschen unterm Arm, halbnackte, sonnenverbrannte Schatten dahin, die erschöpft gegen die Schwere ihrer Beine ankämpften.
Die Geschäfte prunkten mit eleganten Auslagen. Aus den weitgeöffneten Türen der Cafes drang dumpfes Stimmengewirr, man vernahm das Geräusch rollender Würfel, den Gesang geisterhafter Geigen und das Seufzen des Klaviers.
Der Speisesaal der Volksküche im Hause der Sowjets roch in diesen Tagen zum ersten Mal wieder nach Borstsch mit Fleisch, nach Tomatensoße und Gemüse. Doch der abgestandene Geruch nach Graupen haftete immer noch trostlos und ekelerregend an Tischen, Wänden und Geschirr und vergiftete den Duft des Fleisches und der Bratkartoffeln mit Zwiebeln.
Um die Mittagsstunde versammelten sich dort im Speisesaal des Hauses der Sowjets alle leitenden Funktionäre der Stadt. Essengeruch, lebhafte Unterhaltung und das Geklapper von Tellern und Bestecken füllten den Raum. Durch die offenen Fenster brannte die Sonne, und die Luft innen war dunstig blau von Staub und Tabakrauch.
Badjin speiste immer an einem Tisch mit Schramm und dem Leiter der Abteilung Gesundheitswesen, dem dicken Doktor Suksin (hinter seinem Rücken wurde er „sukinsyn" — Hundesohn — genannt), einem schweigsamen Mann, immer schüchtern und verängstigt, geistesabwesend und zerstreut. Schmerbäuchig, unrasiert, mit borstigem Rosshaar auf dem Schädel, sah er Badjin verwirrt in die Augen und verstand nie, wovon der Vorsitzende des Exekutivkomitees oder die anderen Tischgenossen sprachen; beflissen pflichtete er allen bei, und seine Stimme schien nicht aus der Kehle, sondern aus dem Bauch zu kommen.
„Joo ... jo-joo."
Das Sprechen fiel ihm schwer, weil seine Zunge viel zu groß war: sie hatte keinen Platz im Munde und kroch bei jedem Wort wie eine Schnecke heraus.
Oft setzte sich der Kommissar für Versorgung Chapko an ihren Tisch, der einem Dorfkulaken ähnlich sah — rundlich, flink und aufgeweckt wie ein Spatz. Er aß lange, länger als die anderen, denn er fand einfach nicht Zeit dazu: dauernd warf er strenge, misstrauische Blicke um sich, beobachtete alle, passte auf, wie jeder aß, fuhr oft vom Tisch hoch und steckte überall seine Nase hinein, mal in die Küche, mal in den Spülraum, lief zu den Nachbarn, die unsauber gegessen hatten, oder zu den „sowjetischen Fräulein", die ihre Kavaliere mit Brotkrumen bewarfen.
Seine Stimme hatte einen Sprung; wie ein Messer auf dem Schleifstein kreischte er in der Küche: „He, ihr! Warum sind die Portionen so klein? Ihr klaut wohl zuviel! Gesindel! Ich mache kurzen Prozess mit euch! Immer feste! Gleich morgen schicke ich euch die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion auf den Hals."
Oder er kreischte vor den Tischen im Saal: „Immer feste, Genossen! Ihr meint wohl, das Versorgungskomitee ist dazu da, damit ihr das Brot auf Tisch und Fußboden werfen könnt? Bitte, meine Dämchen! Das ist hier kein Tingeltangel, und Separees haben wir auch nicht."
Sooft Chapko im Speisesaal erschien, gab es Zank und lärmende Skandalszenen wie auf dem Markt.
Zum Abendessen gingen einige nicht in den Speisesaal: da versammelten sie sich in Schramms Zimmer (einem Raum mit Teppichen, Fellen und weichen Polstermöbeln). Oft saßen sie bis zur Morgendämmerung zusammen; was sie aber in Schramms Zimmer trieben, erfuhr niemand. Morgens fanden die Putzfrauen vom Haus der Sowjets Flaschen unter dem Tisch, fegten Wurstpellen und Konservenbüchsen aus, und die Luft im Zimmer stank nach Zigarettenstummeln und Bier.
Da geschah es, dass einige Abende hintereinander sich ein Mann von kaukasischem Aussehen, mit vorquellenden rotgeäderten Augen und einer Hakennase vor Schramms Tür postierte. Das war Zcheladse. Er hatte einst tapfer bei den Partisanen mitgekämpft, und seine Abteilung war als erste in die Stadt eingerückt. Jetzt aber versauerte er in einem Büro des Versorgungskomitees. Barfuss, in seiner zerschlissenen Feldbluse, die noch aus der Partisanenzeit stammte, stand er stundenlang geduldig und schweigsam vor der Tür und lauschte den Stimmen dahinter. Wurden hinter der Wand Schritte laut, kehrte Zcheladse die krummen Schultern der Tür zu und trat beiseite. Wenn sich die Tür auftat und einer von den vieren mit verquollenen Augen zur Toilette ging, spähte Zcheladse durch den Spalt ins Zimmer und suchte gierig etwas von dem Geheimnis zu erhaschen, das Schramms behagliches Nest barg. Man beachtete ihn nicht, ging an ihm vorbei und machte sich keine Gedanken darüber, warum wohl Abend für Abend dieser Georgier hier stehen mochte. Es liefen ja so viele Menschen durch die Flure des Hauses der Sowjets; unterschied sich etwa Zcheladse in irgend etwas von all den anderen Leuten, die sich dort drängten?
Eines Abends jedoch wurde er vom Kommissar für Versorgung Chapko ertappt und zur Rede gestellt.
Zcheladse hatte nicht rasch genug zur Seite treten können (Chapko hatte einen Gang wie ein Spatz), und sie waren fast mit den Nasen zusammengestoßen. „Immer feste! Was machst du hier, du Affengesicht? Spionieren?"
Zcheladse begehrte auf, aus seinen Augen sprühte Hass. „Whas heißt — immer feste? Whas mhachst du hir?... Whas für Polietiek threibst?... Bitte sag ..."
Chapko krallte sich in Zcheladses Feldbluse und holte mit der Faust aus. Zcheladse verhedderte sich in der eigenen Hose, taumelte zur Seite und schlug mit dem Kopf an die Wand.
„He, du! Das ist hier kein Zarenregime, verfluchter Lump! Für diese Mätzchen schmeiß ich dich gleich morgen aus der Partei!"
Zcheladse klebte an der Wand, betäubt, mit ausgebreiteten Armen, und starrte voll ohnmächtiger Wut Chapko an. Badjin kam heraus.
„Was ist los?"
„Er spioniert, das Mistvieh! Denkst wohl, du Affengesicht, die Sowjetmacht sei dazu da, damit du ihre leitenden Funktionäre bespitzeln kannst? Nimm ihm sein Parteibuch ab, Vorsitzender! Ist doch nicht zu glauben!" Badjin sah Zcheladse aus übernächtigen Augen fest an.
„Ich kenne dich, Zcheladse. Chapko lügt. Na ja, wir haben eine kleine Sauferei gehabt. Er hat zuviel Schnaps getrunken und ist nicht mehr klar im Kopf."
Chapko quiekte verblüfft auf, verschluckte sich und klatschte sich mit der Hand auf den Hinterkopf.
„Immer feste, Vorsitzender! Bist du verrückt geworden?"
„Sprich, Zcheladse. Ich weiß im voraus, was du sagen wirst. Also sprich, offen, ehrlich und geradezu!"
Zcheladses Lippen zitterten, er schwitzte vor Anstrengung und Qual.
„Ja, ich rhumghangen... rhumghangen und gehorcht, ja!... Rhumghangen, ghucken, wie du threiben Arbheiterpolietiek... Whas mhachst du? Wharum der Lhump bei dir? Wie verstehst du Arbheiter? Whas khennst du Vherfall? Hunger khennst du? Blut khennst? Wharum du nicht schämst? Ach, Ghenosse!"
Badjin stand vor Zcheladse und hörte ihm aufmerksam und streng zu. Chapko lachte trunken.
Badjin legte Zcheladse die Hand auf die Schulter. „Geh nach Hause, Genosse Zcheladse. Morgen erhältst du eine Einweisung ins Sanatorium, du musst ein wenig zu Kräften kommen. Du siehst, ich mache kein Geheimnis aus dem, was ich tue, du brauchst die Genossen nicht zu beobachten.
Auf diesem Gebiet ist bei uns alles tadellos organisiert, und es braucht da keiner hineinzupfuschen. Geh! Du siehst, ich verheimliche es dir nicht: Wir haben wirklich gesündigt."
Er wandte sich ab und ging in Schramms Zimmer. Chapko musterte Zcheladse noch einmal finster von Kopf bis Fuß und steckte, Badjin nachahmend, die Hände in die Jackentaschen — dadurch sah er noch kleiner und runder aus.
„Gemach, Freundchen, dich werde ich mir schon kaufen." Erschöpft taumelte Zcheladse wie ein Kranker durch den Korridor und streifte mit der Schulter die Wände. Vor Shidkis Tür stockte er. Er wusste selbst nicht — hatte er die Tür aufgemacht oder war sie schon offen gewesen, er fühlte nur, wie eine Hand ihn am Arm nahm und ins Zimmer zog. Er blieb an der Schwelle stehen und sah einen verschwommenen Schatten, der die Glühbirne über dem Tisch verdeckte. Der Schatten ging schweigend vorbei, und die Glühbirne flammte wieder auf und beleuchtete ein schmutziges leeres Hotelzimmerchen mit Schimmelflecken an den Wänden.
„Na komm, setz dich, Zcheladse. Erzähl' mir, was da passiert ist."
Shidki fasste ihn wieder unter, führte ihn zum Tisch und drückte ihn auf einen Hocker nieder; er selbst setzte sich nicht, sondern blieb vor Zcheladse stehen, ein wenig erstaunt, seine Nasenflügel waren bleich, und seine Brauen zuckten vor unterdrücktem Lachen. Zcheladse blickte mit flehenden, wütenden Augen zu ihm auf. Er schlug sich mit der Faust aufs Knie, sprang auf, sah Shidki durch Tränen an und setzte sich wieder.
„Ghenosse Shidki! Schießen mhuß du... alles schießen, Ghenosse Shidki. Mhich schießen, dhich schießen. Sag mhir, whas ist Rhichtung jetzt in Lheben? Sag mhir, wie mhuß man Arbheitersache machen? Blut habe vergossen, zehn Whunden gehabt. Und whozu mein Blut? Whozu Hunger? Whozu — alles kaputt? Whozu ist Partei, Ghenosse Shidki? Khann nicht sehen so ein Schmutz und Ghemeinheit... khann nicht sehen."
Shidki ging schweigend vor Zcheladse auf und ab, erregt, mit eingefallenem Gesicht, müden Augen. Alle paar Sekunden fuhr er sich durch die Haare. Dann trat er zu Zcheladse und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er hätte ihn so gern durch seine stumme Anteilnahme beruhigt, aber er konnte sein Gefühl nicht ausdrücken; seine ungewohnte Zärtlichkeit machte ihn verlegen, und er lachte schüchtern und verschämt auf.
„Bist ein ulkiger Kauz, Zcheladse! Warum stimmst du wegen jeder Kleinigkeit ein Geheul an? Hol sie doch der Teufel! Tu deine Pflicht und denk daran, dass du der Republik mehr wert bist als sie alle zusammen. Pfeif darauf, wenn du sie nicht selbst beim Kragen nehmen kannst, oder schlag sie auf Parteiebene, ohne deine Kräfte dabei zu schonen."
Zcheladse hatte Shidki flehend und verzweifelt angestarrt, nun winkte er ab und stützte den Kopf auf die Hände.
Shidki aber ging im Zimmer auf und ab und sah Zcheladse nicht mehr an. Grübelnd kaute er an seinen Fingernägeln, bald an der einen, bald an der anderen Hand.
„Hier geht's um anderes, Zcheladse: nicht um dich. Du bist dabei belanglos. Wir sind hier in einen furchtbaren Strudel geraten. Es naht eine noch schrecklichere Heimsuchung als Bürgerkrieg, Zerrüttung, Hunger und Blockade. Ein verborgener Feind steht uns jetzt gegenüber, der nicht mit dem Gewehr gegen uns angeht, sondern mit allen Reizen und Verlockungen des kapitalistischen Krämertums. In unseren Händen befindet sich das ganze System der Volkswirtschaft. Das ist viel. Aber aus den Tiefen kriecht der Spießer wieder hervor, setzt wieder Fett an und tritt in verschiedener Gestalt auf. Auch in unseren eigenen Reihen baut er sich schon sein Nest und verschanzt sich fest und sicher hinter revolutionärer Phrase und allen möglichen Attributen des bolschewistischen Heldentums. Markt, Cafes, Schaufenster, Delikatessen, Gemütlichkeit, Alkohol.
Der Druck der Kriegsverhältnisse ist gewichen, und die Menschen sind drauf und dran, die Fesseln abzustreifen. Da kann schon Panik entstehen, Kurzschluss, Aufruhr. Und nicht etwa, weil man die Revolution satt hat — nein, aus gesundem revolutionärem Protest, stark entwickeltem Klasseninstinkt, Kampfesromantik. Aber gerade hier taugen die alten Kampfmethoden nicht mehr. Der Feind ist niederträchtig, verschlagen, ungreifbar. Es müssen neue Waffen geschmiedet werden für eine neue Strategie. Mit bloßer Empörung und Rebellion lässt sich hier nichts ausrichten — die gelten schon als Reaktion und Hysterie. Wir müssen uns völlig umkrempeln, müssen uns umschmelzen, den Bolschewiken in uns umschmieden und uns auf einen lang währenden Belagerungszustand einrichten. Die Romantik der stürmischen Frontzeit ist tot. Jetzt brauchen wir keine Romantik, jetzt brauchen wir nur besonnene, kühle, hartnäckige Menschen mit kräftigen Zähnen, Stiermuskeln und gesunden Nerven. Man muss Bolschewik sein bis zur letzten Konsequenz, Zcheladse. Beruhige dich, Genosse, lass uns gemeinsam über die eine oder andere Frage nachdenken, die eine angestrengte Gehirnarbeit erfordert."
Zcheladse hörte angespannt zu, seine niedrige Stirn unter den herabgerutschten Strähnen war tief gefurcht. Er gab sich alle Mühe, Shidkis Worte zu fassen und zu verdauen.
Schließlich raufte er sich wütend die schweißnassen Haare und schüttelte den Kopf.
„... N-nichts verstheh. Whas schwafelst? Mheine Sheele einfach und mheine Whorte einfach. Sag: wharum du Kopf verdrehst? Whas antwhortest du?... Ich ghelitten, ja? Ghrüner Partisan gewesen, ja? Wheiße gheschlagen, ja? Hab Arbheitersprache, Arbheiterblut, ja? Und who Blut,
he?... Hunde ghefressen. Sag — ist nicht so, ja? Ganz ghemeiner Mhensch gekhommen, Schuft. Du verstehst? Nichts mehr da... Ghenug!"
Er stand auf und ging rasch aus dem Zimmer. Shidki horchte noch lange Zcheladses Schritten nach, dann begann er wieder auf und ab zu gehen und an den Fingernägeln zu kauen, bald an der einen, bald an der anderen Hand.
Er konnte nicht verwinden, was geschehen war. Dabei hatte es sich, besah man den äußeren Ablauf der Dinge, um etwas gehandelt, was auch früher gang und gäbe gewesen war. Auch früher waren unangemeldet Genossen aus dem Büro des Gebietskomitees des ZK gekommen und hatten die Arbeit des Bezirkskomitees scharf kritisiert. Das war natürlich und notwendig gewesen. Genau wie früher hatten die leitenden Funktionäre den offiziell-kühlen Genossen aus dem Gebietskomitee mit konzentriertem Schweigen und achtungsvoller Aufmerksamkeit empfangen; und genauso unpersönlich hatte auch das Ritual der Sitzungen begonnen. „Werte Genossen!"
Doch dann hatte sich neulich unter der abgegriffenen Maske sachlichen Anstandes etwas abgespielt, was ganz unverhofft gekommen war und weh getan hatte.
Die berüchtigte Enteignungsgeschichte ... davon war am wenigsten die Rede gewesen. Jede Sitzung in Anwesenheit des weißblonden Intellektuellen vom Büro des Gebietskomitees hatte in einer Kette explosionsartiger Zusammenstöße zwischen ihm, Shidki (Luchawa griff auch ein) und Badjin bestanden. Vernichtende Kritik des weißblonden Genossen an der Arbeit des Bezirkskomitees, Gebietskontrollkommission, Anspielungen auf Versetzung in untergeordnete Organe.
Waren das Intrigen, oder bekämpften sich hier zwei entgegengesetzte Kräfte? Der Genosse vom ZK nannte es Intrige, und alle anderen nannten es ebenso. Das war ja
am einfachsten! Jedermann hockte in seinem Winkel und lauerte auf den Ausgang des Kampfes. Man klatschte. Man spaltete sich in feindliche Lager.
Als Besiegter aus diesem Kampf hervorgehen und sich dabei im Recht wissen — das wäre gar zu schmerzlich, dazu durfte es nicht kommen, das wäre das Ende. Wer versagt, wird zermalmt. Kampf bis zum Ende — unermüdlicher, verbissener, angespannter Kampf, bei dem jede Waffe recht sein, jeder Fehler und jede schwache Seite des Gegners ausgenutzt werden musste.
Badjin focht geschickt: virtuos führte er seinen bürokratischen Apparat ins Feld, seine administrative Erfahrung und sein Fingerspitzengefühl. Man musste ihm von einer anderen Seite beikommen. Wer sich auf die breiten Massen stützt, ist nicht immer stark. Die Massen sind ein zweischneidiges Schwert: Man kann Führer der Massen sein, kann aber auch ihr Opfer werden, ein Sklave der Masse und Demagoge. Er, Shidki, stand den Massen nahe. Badjin aber stand darüber, war losgerissen von den Massen. Dennoch war ihm vom Genossen des ZK Badjin als Vorbild hingestellt worden. Shidki wird die Worte nie vergessen.
„Sie sind noch ein verhältnismäßig junges Mitglied der Partei: Ihnen fehlt es noch an der nötigen Ausdauer, an klarer Einsicht in die jeweilige Forderung des Tages und an einer durchdachten Arbeitsmethode; und deshalb machen Sie oft Dummheiten. Genosse Badjin hat die Hohe Schule der Partei- und Sowjetarbeit durchlaufen, Sie könnten viel bei ihm lernen. Warum haben Sie es nicht verstanden, Ihre Handlungen aufeinander abzustimmen und die objektive Lage richtig zu analysieren? Warum haben Sie statt dessen die Geschehnisse forciert, die eigentlich in einer anderen Richtung und einer anderen Form hätten vor sich gehen müssen? Ich sage Ihnen das alles, weil das ZK Sie trotzdem als befähigten Mitarbeiter schätzt und Ihre Treue zur Partei kennt."
Trotzdem. Dieser weißblonde Intellektuelle nahm sich
eine zu verantwortungsvolle Rolle heraus, wenn er im Namen der Partei sein Mentor sein wollte. Alle diese Eintagshelden waren weniger bedeutend und nicht so gefährlich, wie es bisweilen schien.
Klar war aber eins: Romantik gab es nicht mehr. Die Romantik war gestorben und gehörte der Vergangenheit an. Die feierlichen Taten der Revolution waren Geschichte geworden, die aufrüttelnden Hymnen verklungen. Nicht Taten — sondern Tätigkeit! Man musste sich auf eine andere Stromstärke umschalten, um aus jeder Tatsache eine gefügige, verlässliche Waffe für den alltäglichen Kampf machen zu können.
Shidki wusste, was in Schramms Zimmer vorging, wusste, warum Schramms Zimmer voller Teppiche und Polstermöbel war, wusste, dass Schramm den Gaunereien in der Kreisforstverwaltung gegenüber die Augen zugedrückt hatte, Shidki wusste das, aber er schlug keinen Alarm, um die Parteiarbeit nicht zu desorganisieren. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit zu einem raschen, treffsicheren Schlag. Romantik gab es nicht, Romantik — das war gestern. Heute wurde kalt berechnet.
Aber warum eigentlich nicht heute schon den ganzen Dreck des Spießeralltags hervorkehren, der sich hinter Schramms Zimmertür verbarg? Warum nicht all die Anweisungen auf Wurst, Schinken, Konserven und Sprit, der der Abteilung Gesundheitswesen gehörte, ausgraben? Warum Schramm, diesen Feind, nicht an der Gurgel packen? Und mit ihm ...
Shidki trat auf den Korridor und ging nägelkauend auf den Lichtschein zu, der aus dem offenen Zimmer des Genossen Tschibis leuchtete.

Ein schwieriger Übergang

Gleb hatte es durchgesetzt, dass der Wirtschaftsrat ein Referat über die teilweise Inbetriebsetzung des Werkes in die Tagesordnung der Versammlung aufnahm. Die Lager standen leer. Der Vorrat an Daubenholz reichte mindestens für hunderttausend Fässer. Man konnte sofort mit dem Vermahlen des Klinkers beginnen und in einem der Öfen Zement brennen. Rohmaterial lag zu Tausenden von Quadern in den Steinbrüchen. Man brauchte nur eine zweite Bremsbergstrecke zu legen. Die erste sollte auch weiterhin dem Holztransport dienen.
Gleb hielt das Referat; Ingenieur Kleist war als Experte geladen.
Schramm widersprach kalt und tonlos, redete wieder von Produktionsplan, von festem Verwaltungsapparat, vom Industriebüro und von der Hauptverwaltung Zement. Badjin saß in gewohnter Positur da. Auf den Tisch gestützt, betrachtete er unter den Brauen hervor Gleb, Schramm und Kleist. Es ließ sich nicht erkennen, wie er zu dieser Frage stand: ob er für Gleb oder für Schramm war. Shidki und Luchawa sprachen kurz und entschieden für die Annahme des Antrags und schlugen eine Resolution vor: „Unverzüglich mit den Vorarbeiten zur Wiederaufnahme der Produktion beginnen."
Badjin lehnte sich im Sessel zurück, lächelte und warf Gleb zum ersten Mal einen kurzen, freundschaftlichen Blick zu.
„Andere Vorschläge sind nicht eingegangen. Über den Antrag des Genossen Luchawa brauchen wir nicht abzustimmen, da keine Einwände bestehen."
Schramm saß steif wie eine Wachsfigur und quarrte eigensinnig mit dumpfer Bauchrednerstimme: „Ich bleibe bei meiner kategorischen Ablehnung." „Der Antrag ist angenommen. Genosse Schramm hat nichts Wesentliches eingewendet."
Badjin sah an Schramm vorbei und sprach kühl und sachlich weiter: „Es hat sich zu erweisen, wie unter den Bedingungen der Neuen Ökonomischen Politik die Produktivkräfte unserer Republik wiedererstehen und wachsen. Die Inbetriebnahme des Werkes ist eine aktuelle Frage geworden. Es gilt jetzt, alle Kräfte für den wirtschaftlichen Wiederaufbau anzuspannen. Die Produktion unseres Werkes könnte selbst beim heutigen Stand der Produktivkräfte die bautechnischen Bedürfnisse der Großstädte und der Industriebezirke befriedigen. Die Frage ist entschieden. Erforderlich ist nur noch die Ausarbeitung der Details. Du willst etwas sagen, Genosse Tschibis?"
Tschibis saß in einem dunklen Winkel am Tisch. Gegen Schläfrigkeit und Langeweile ankämpfend, sah er durch halbgeschlossene Lider auf Schramm.
„Ja. Ich meine auch, Schramm hat nichts einzuwenden. Schramm kann gar keine Einwände machen; auch wenn's euch so scheint, als täte er's, glaubt euren Ohren nicht! Einen Schramm gibt's nicht mehr: Schramm, das ist ein Anachronismus."
Er erstarrte wieder in blinder Langeweile und Müdigkeit.
Gleb sah, wie Schramms wabbeliges Weibergesicht zuckte und plötzlich alt wurde und seine Augen sich trübten.
Luchawa brachte einen Antrag ein: „Genosse Tschumalow soll beauftragt werden, zum Industriebüro zu fahren; er soll dort auf schnellste Bestätigung unseres heutigen Beschlusses dringen und erwirken, dass unser Betrieb bevorzugt mit dem notwendigen Material beliefert wird."
Gleb trat zu Ingenieur Kleist, nahm seinen Arm und lachte. „Ich fahre — das ist so sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Und einen Krach werde ich dort schlagen, im Industriebüro! Kommen Sie, Hermann Hermannowitsch! Genossen, das ist kein Ingenieur, sondern pures Gold. Ein hervorragender Spezialist unserer sozialistischen Sowjetrepublik. Tja, man muss es nur verstehen, die richtigen Leute zu finden!"
Am nächsten Tage fuhr Gleb ab; er hatte versprochen, in einer Woche wieder zurück zu sein.
Im Werk wurden Gebäude, Gleisanlagen, Maschinen und technische Einrichtungen verschiedener Hallen instand gesetzt. Vom frühen Morgen bis vier Uhr nachmittags war die glühende, mit Staub und Zikadengezirp gesättigte Luft zwischen Werk und Gebirge erfüllt vom Dröhnen des Metalls, vom Surren der Drehbänke, vom Kreischen der auf und ab sausenden Loren und vom Brummen, das aus den Fenstern des Kraftwerkes drang.
Auf dem Bremsberg kreisten nach wie vor tagaus, tagein die Loren, und die Stahlseile pfiffen über die Winden. Am Kai rollten Züge. Rangierloks schrieen, Holzklötze fielen wie Schüsse krachend in leere Waggons.
Im glitzernden Hafen lagen einsame, trübselige Dampfer und wussten wohl selbst nicht, worauf sie warteten.
Dascha verbrachte ihre Tage im Frauenausschuss, auf Sitzungen und Dienstreisen. Lisaweta versammelte einmal wöchentlich die Frauen im Theatersaal des Klubs, und dort diskutierten sie dann bei offenen Fenstern bis in die Nacht hinein, und das vielstimmige Geschrei störte die andachtsvolle Stille der bewaldeten Schluchten.
Wenn sie im Dunkeln nach Hause gingen, schrieen sie weiter aufeinander ein, und es hörte sich an, als zankten sie sich immer noch wie früher um Hühner, Eier und anderen häuslichen Kram.
„Lisaweta hat unrecht... unrecht hat sie, wenn ich's euch sage."
„Red keinen Blödsinn, Malaschka. Lisaweta hat recht. Wir Weiber sind alle dämlich."
„Na, wenn das so ist, ich will nicht dämlich sein ... Ich schneide mir die Haare kurz. Zöpfe, meine Lieben, sind für uns Weiber Stricke, sie sind nur dazu da, dass die Kerls uns damit festbinden wie das liebe Vieh."
„Hast du dir gedacht... Wir tun uns zusammen und organisieren uns, und dann werden wir's ihnen schon eintränken. Dann sind wir nämlich auch stark. Seht euch Dascha an — an der können wir uns alle ein Beispiel nehmen." „Schon! Aber schaut doch mal, was aus den Burschen geworden ist, und aus den Mädels erst — ich sage nur: Komsomol! ... Früher, da hatte man Angst vor der Sünde und vor den Menschen, und heutzutage — Komsomol!"
„Ja, ja, das sind Zeiten, meine Lieben! Man braucht nur vor die Tür zu gehen, da erlebt man schon sein blaues Wunder. Sie machen jetzt alles auf neue Art: Komsomol, Partei, Frauenausschuss. Man kommt gar nicht mehr mit." Mit Hilfe der Partei und des Klubs wurden zwei Gruppen zur Liquidierung des Analphabetentums auf die Beine gebracht, und als der Unterricht begann, saßen nur Frauen an den Tischen. Daschas Ansprache ging ihnen zu Herzen. Sie wies darauf hin, dass die Frauen, mit den Männern verglichen, die aktiveren Kämpfer für die Volksbildung seien und damit ihr proletarisches Bewusstsein bewiesen hätten. Es ging nicht allein darum, lesen und schreiben zu lernen; dies sei vielmehr erst der Beginn einer großen Selbsterziehungsarbeit, öffne ihnen nur die Tür, um für die Gesellschaft tätig zu sein. Das Wissen sei eine große Macht: ohne Wissen könne man das Land nicht regieren. Die Frauen klatschten Beifall und fühlten sich größer und besser als in ihren vier Wänden zu Hause, klüger und reicher als bei den Kindern und in der Küche.
Jeden Morgen und Abend besuchte Dascha im Krupskaja-Kinderheim ihre kleine Njurka; das Mädchen schmolz dahin wie eine Kerze. Ihr Gesichtchen war gelb und runzlig geworden wie bei einer alten Frau. Sie guckte die Mutter mit traurigen, abgrundtiefen Augen an, und Dascha hatte das Gefühl, diese Augen hätten etwas Gewaltiges und Unaussprechliches geschaut. Njurka schwieg jetzt meist, Gesichtchen und Augen waren nachdenklich, und wenn Dascha Abschied von ihr nahm, blieb sie gleichgültig.
Und zum ersten Mal in diesem Jahr drückte ein unerträglicher Schmerz Dascha das Herz ab; doch sie vergrub diesen Schmerz tief in der Brust. Niemand ahnte etwas davon, nur Polja musterte sie einmal mit einem langen, aufmerksamen Blick und fragte besorgt: „Was ist mit dir, Dascha? Dich quält doch etwas?" „Du siehst mehr als nötig, Polja."
Polja schwieg und sah sie wieder prüfend an. Und Dascha entdeckte in ihren Augen etwas, das dem traurigen Blick der kleinen Njurka ähnelte.
„Ich habe gar nicht gewusst, Dascha, dass du dich verstellen und lügen kannst."
„Na schön, mich quält etwas. Wozu musst du wissen, was? Das geht niemanden etwas an."
„Ja, das ist es eben, Dascha. Wir sind gut organisiert und fest zusammengeschweißt, aber im persönlichen Leben sind wir einander schrecklich fremd. Keiner kümmert sich um die Freuden und Leiden des anderen. Das ist das Entsetzliche. Aber Schluss, du hast es ja nicht gern, wenn man darüber spricht."
Njurka schmolz dahin wie eine Kerze — das einzige, geliebte Kind, und keiner konnte sagen, warum. Wozu waren die Ärzte da, wenn sie nicht fähig waren, einen klaren Spruch zu fällen, nicht imstande waren, das Übel auszumerzen, das an dem Kinde zehrte? Doch an den Ärzten lag es ja gar nicht. Dascha wusste besser als alle Ärzte der Welt, warum Njurka wie ein Sternlein am Morgenhimmel erlosch. Ein Kind braucht nicht nur Muttermilch: es braucht auch Herz und Zärtlichkeit der Mutter. Ein Kind verkümmert, wenn es nicht den Atem der Mutter über seinem Köpfchen spürt, wenn ihr Blut es nicht wärmt, ihre Seele, ihr Duft nicht sein Bettchen umwehen.
Die Schuld trug nur sie, Dascha, und diese Schuld würde ewig auf ihr lasten. Und doch — die Wurzeln dieser Schuld lagen nicht in ihr, sondern in der äußeren Notwendigkeit, in jener Macht, die über sie selbst Gewalt hatte, jener Macht, die den Tod verleugnete und sie, Dascha, durch Leiden und Kampf zum Leben erweckt hatte.
Das war die eine Seite: Njurka ging aus wie ein kleines Fünkchen. Njurka wird es nicht mehr geben. Einst hat sie auf Daschas Armen und an Daschas Brust mit den Beinchen gestrampelt, ist umhergekrabbelt, hat laufen gelernt und die ersten Worte gestammelt. Und ist gewachsen. Als Dascha dann zum ersten Mal die Todesangst kennen lernte, hatte eins ihre Qual unerträglich gemacht: sie hatte nicht die Kraft gehabt, Njurka zu opfern, sich über Njurka hinwegzusetzen. Die Mutter wäre bereit gewesen, die Revolutionärin zu verraten. Erst die Qualen der Genossen und Fimkas furchtbares und zugleich doch schönes Sterben hatten das Bild der Tochter in ihr ausgelöscht. Da erst hatte sie begriffen — nicht mit dem Verstand, sondern mit ihrem ganzen Wesen —, es gibt noch eine andere, viel stärkere Liebe als die der Mutter zum Kind, und diese Liebe offenbart sich dem Menschen in der Todesstunde.
Und jetzt sah sie Njurka mit dem welken Greisengesichtchen und den abgrundtiefen, todtraurigen Augen vor sich — und wieder, wie damals, konnte sie sich nicht über Njurka hinwegsetzen. Ja, Njurka, das war das Opfer ihres Lebens, und dieses Opfer war für sie ein tödlicher Vorwurf. An einem Morgen hatte sie folgendes Gespräch mit Njurka: „Njurkalein, tut dir etwas weh, Kleines, ja?"
Njurka schüttelte den Kopf. „Was möchtest du denn haben? Sag doch." „Nichts."
„Möchtest du vielleicht deinen Papa sehen?" „Ich möcht Weintrauben haben, Mama." „Es ist noch zu früh, Liebling, die Weintrauben sind noch nicht reif."
„Ich möcht bei dir sein... und dass du nie wieder weggehst, dass du da bist... und Weintrauben. Dich und Weintrauben möcht ich."
Sie saß auf Daschas Knien, warm, nahe, ein Teil von ihr.
Als Dascha sie dann ins Bettchen gelegt hatte, sah Njurka sie lange mit ihren tiefen Augen an und flüsterte traurig: „Mama! Meine Mama!"
„Was ist denn, mein Kleines?"
„Nur so, Mama! Geh nicht weg, Mama!" Dascha war vom Kinderheim nicht wie sonst in die Chaussee eingebogen, sondern in den dichten Büschen untergetaucht, wo es einsam war und still, wo es nach Erde und frischem Grün roch und Sonnenkringel den Boden streichelten; sie hatte sich ins Gras geworfen, mit den Nägeln die Erde aufgekratzt und lange geschluchzt.
Eines Nachts, während Gleb verreist war, fuhr Badjin im Auto bei Dascha vor. Sie hörte den Motor fauchen und ging hinaus. Auf der Schwelle prallte sie mit Badjin zusammen. Er wollte sie sogleich in die Arme nehmen, doch sie stieß ihn brüsk von sich.
„Genosse Badjin, du hast hier nichts zu suchen. Gib diese Taktik auf!"
Badjin ließ die Arme sinken und wurde schwer und schlaff. „Dascha! Ich habe gehofft, du empfängst mich etwas wärmer."
„Genosse Badjin, fahr sofort weiter. Hörst du, Genosse Badjin? Sonst wende ich mich an die Partei."
Sie schlug die Tür zu und schob den Riegel vor.

Alpdruck

Den Weg frühmorgens zum Frauenausschuss und den Heimweg nach vier Uhr suchte Polja in quälender Ungeduld so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Menschen kamen ihr entgegen, gingen vor ihr her, aber sie spiegelten sich in Poljas Augen nur als verwaschene Schatten; Polja sah keine Gesichter, sie sah nur Beine — in Stiefeln und ohne Stiefel, in Wickelgamaschen, Hosen und Röcken, in Sandalen und umgelegten Frauensöckchen — viele staubige Beine und Füße, die unermüdlich das Pflaster traten, hin und her eilten. Polja brachte es nicht über sich, die Augen aufzuschlagen und fest und ruhig die Schaufenster zu betrachten, die offenen Türen und die Passanten, die sich so verändert hatten. Die Frauen sahen anders aus als noch vor kurzem, im Frühjahr. Es wurde wieder Toilette gemacht — Hüte mit Blumensträußen, durchsichtiger Batist, moderne französische Stöckelschuhe. Die Männer trugen Chemisettes, Krawatten und Chevreauschuhe. Wieder wehte Parfüm durch die Straßen, und die Stimmen klangen voll und fröhlich. In den dämmrigen Cafes, im blaugrauen Tabaksdunst drängten sich Gespenster. Durch das dumpfe, ferne Stimmengetöse drang das Klirren von Geschirr, das Klappern der Würfel beim Glücksspiel, und aus der unergründlichen Tiefe des rauchigen Lokals flossen, kaum wahrnehmbar, die Klänge der Kapelle.
Wo kam das alles her? Und wie konnte es so rasch kommen und so unverschämt? Warum diese Beklemmung und Trauer im Herzen und diese Wirrnis im Kopf?
Ihr war, als sei sie in ein fremdes Land geraten und als habe ihre Seele etwas Kostbares, Unwiederbringliches verloren, ohne das man nicht leben könne. Sie empfand Scham und unklare Angst. Sie fürchtete, einer von den Arbeitern oder von jenen zerlumpten Hungersgestalten mit eitrigen Augen könnte an sie herantreten und sie auf den Kopf zu fragen: „Nun? Das also war es? Das also habt ihr gewollt? Schlagt sie nieder, die Schufte und Betrüger!"
Diese ständige Angst betäubte ihr Hirn bis zu Wahnvorstellungen.
Einmal, Ende August, erblickte sie eine große Ansammlung zerlumpter, zottiger Menschen am Ufer — auf den Schienen und im Kohlenstaub des Hafendamms. Sie lagen und saßen und wimmelten durcheinander: Männer, Frauen und Kinder. Säuglinge wimmerten, brüllten sich heiser, jemand stöhnte dumpf. Die Frauen lausten sich gegenseitig, die Männer suchten ihre Hemden und Hosengurte ab. Alle hatten wassersüchtige Gesichter.
Vorübergehende — vielbeschäftigte Leute — blieben neugierig und missbilligend stehen und schnupperten. „Was sind das für Hungerleider?"
Aus der staubigen, stinkenden Menge brüllte es dumpf: „Kohldampf, liebe Brüder! Gott hat uns vertrieben. Große Not haben wir gelitten. Vielleicht finden wir hier was, geb's Gott, vielleicht hilft man uns. Von der Wolga sind wir ... aus dem Hungerland."
Bis zum Bezirkskomitee war Polja diese zitternde, heisere Stimme, die in Stöhnen überging und sich in der Masse stinkender Leiber verlor, war sie das klägliche Säuglingsgewimmer nicht losgeworden. „Kohldampf..."
Bald sah man täglich diese verhungerten, schafgesichtigen Bauern durch die Straßen der Stadt irren, einzeln und familienweise, in grobgewebten Kleidern und Bastschuhen, Kinder auf den Armen. Sie winselten mit schwachen Stimmen: „Helft uns! Wir verhungern! Wir sterben!"
Nachts hatte Polja Alpträume, Schlaflosigkeit quälte sie; sie lag stundenlang wach und hörte in diesen Stunden das gleiche wie am Tage — klar, aufdringlich, peinigend: eine Kapelle spielte lockend in der Ferne. Würfel klapperten, und auf der Straße winselten kraftlose Stimmen kläglich: „Helft uns! Brüder! Kohldampf!"
Sie sprang aus dem Bett, wankte wild klopfenden Herzens, einen bohrenden Schmerz im Kopf, mit nackten Füßen zum Fenster und sah in die Nacht hinaus. Stille, leeres Dunkel, keine Menschenseele. Sie lauschte und kehrte wieder auf das dumpfe Lager zurück. Schlief ein. Von eigentümlichen, schüttelnden Stößen wachte sie wieder auf. Und hörte aufs neue ferne Geigen, klappernde Würfel, Gelächter, heiseres Flehen und das Wimmern von Säuglingen.
In einer dieser schwülen, schlaflosen Nächte geschah schließlich das, was sie schon längst als etwas Unvermeidliches erwartet hatte.
Eine Tür ging auf, gleichzeitig wurden Stimmen und Gelächter laut, und diese Stimmen rollten durch den Korridor, hallten weithin und verschmolzen zu einem unverständlichen Gerufe.
Dann zergingen Stimmen und Schritte schließlich in der nächtlichen Stille. In weiter Ferne fielen klingend Tropfen, und aus dem Dunkel flossen gespenstische Geigenklänge. Sie begriff: Es waren Telefondrähte vor dem Fenster, die ihr wehmütiges Lied sangen. „Liebe Brüder! Helft uns! Kohldampf!"
Sie konnte nicht einschlafen.
Singende Arbeitermassen, strudelnde, strömende Menschenmengen, rote Gesichter, rote Fahnen. Die Rote Garde im Funkenregen der Bajonette. Genosse Lenin auf dem Roten Platz. Von weitem sieht man, wie seine Zähne blitzen, wie er das Kinn vorreckt, wie er die Hand mit gespreizten Fingern vorstößt und wie sich unter den Ohrenklappen die Haut auf Wangen und Backenknochen runzelt, als lache er.
Nichts weiter blieb in ihrem Gedächtnis als diese aufrufende Hand, die blitzenden weißen Zähne, die Falten an den Wangen. Wie fern! Als wäre es ein Traum, als wären es Erinnerungen aus früher Kindheit. Der Nordost fegt auf den Straßen den Staub zusammen. Staub und Asche. Warum hat es früher keinen Staub gegeben? Warum ersticken jetzt die schwülen Tage und Nächte in Asche? In Sergejs Zimmer ist es still, aber in der Stille raschelt Papier. Hin und wieder sind nachdenkliche Schritte zu hören. Lieber Sergej — auch er schläft nicht. Seine Schlaflosigkeit misst er an gelesenen Seiten.
Es klopfte leise — an welcher Tür, war nicht zu unterscheiden. „Ja? Wer ist da?"
Badjins Stimme brummelte freundlich — man hörte ihr
an, dass er lächelte. „Poljalein, schläfst du? Zieh was über und komm für 'n Moment raus — wichtige Sache." „Ich kann nicht, Badjin. Morgen." „Unmöglich, Mädchen. Steh auf und komm raus."
Die Klinke schnappte, und die Tür ging auf. Trübes Licht fiel aus dem leeren Korridor herein. Warum hatte sie gerade in dieser Nacht vergessen, die Tür abzuschließen? Flüchtig sah sie, dass Badjin einen ungewohnten Anblick bot: halb weiß, halb schwarz. „Na also, um so besser. Du bist gar zu schwer beweglich."
Er schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Die Wände tauchten wieder ins Dunkel, und das Dunkel wurde bodenlos. Und mit der Dunkelheit, die Dunkelheit verdichtend, selbst dunkel, unerträglich schwer und wuchtig, kam er, der unvermeidlich hatte kommen müssen.
Atemlos vor Angst, streckte sie die Arme gegen die Dunkelheit aus und flüsterte: „Was willst du, Badjin? Was willst du?"
Sie hatte die Arme noch nicht fallen lassen, da stürzte er sich mit seinem ganzen furchtbaren Gewicht aufs Bett und presste sie ins Kissen. „Sei still, Poljalein ... still, still!"
Sie kämpfte nicht, erdrückt von der Dunkelheit — sie konnte nicht kämpfen; wozu auch, wenn dies doch unvermeidlich und unabwendbar war.
Bodenlose Finsternis ballte sich knisternd. In unergründlicher Ferne rauschte eine Menschenmenge, und weithin verhallte Donnerrollen. Ach so, das ist der Nordost. Kein Regen und kein Gewitter, das ist — der Nordost. Der Himmel war jetzt trocken und durchsichtig, und die Sterne blinkten hell und klar, und ihr Licht vereinigte sich zu blendenden Strahlenbündeln aus allen Regenbogenfarben. Ist Badjin dagewesen oder nicht? Vielleicht war das nur einer der gewohnten Alpträume? Alpträume wirken ja immer real. Sind sie nicht deshalb gerade so grässlich und aufwühlend? Ist Badjin dagewesen oder nicht?
Sie lag bewegungslos. Das Hemd war zu einem nassen Klumpen zusammengeknüllt. Lange fühlte sie ihren Körper nicht. Nur der Kopf schien vorhanden, aber kein Körper. Ringsum Leere und Unendlichkeit: schwarzer Abgrund. Sie existierte nicht, nur ihr Kopf existierte, und der Kopf wirbelte schwerelos in diesem bodenlosen Strudel. Aber dort im Dunkel und hinter dem Dunkel — dort war Gewitter und Sturmgeheul. Alles ist gut, es ist so ruhig, nichts existiert — auch die Zeit nicht.
Sergejs Schritte näherten sich ihrer Tür und hielten inne. Warum kam Sergej an ihre Tür? Polja hörte diese Schritte, und ihr Herz zog sich zusammen. Ihr Körper begann zu zittern und bäumte sich auf vor Entsetzen. Badjin... Ach ja, seine Tür ist an der anderen Seite, am Kopfende ihres Bettes. Er ist dagewesen und gegangen.
Im Herzen innen bohrte und stach es — Trauer, schrecklich wie Todesahnung. Was war das? Warum dieser unerträgliche Schmerz? „Ach! Ach!"
Sie krümmte sich im Bett, kroch auf den Boden und verstummte plötzlich vor Angst. Wieder verdichtete sich die Dunkelheit und stürzte auf sie nieder, entsetzlich schwer.
Barfuss, nur im Hemd lief sie auf den Flur hinaus, packte die Klinke von Sergejs Tür und rüttelte wie besessen daran, Rettung suchend vor einem unabwendbaren Unheil. „Sergej! Sergej!! Schnell... bitte! Serjosha!"
Sie kratzte an der Tür, stieß dagegen und fühlte wie im Traum, dass die Tür unter ihrem Druck stöhnte und sich nicht auftun konnte. Und als sie sich öffnete, fiel Polja Sergej um den Hals und schluchzte erstickt — klein, hilflos, schmächtig wie ein Kind.
Sergej war erschüttert, seine Hände zitterten, und sein Herz hämmerte. Er brachte sie zu Bett, deckte sie zu und
goss ein Glas Wasser ein. Ihre Zähne klapperten am Glas, und das Wasser floss ihr am Kinn herunter.
„Es ist ekelhaft, Sergej, ist entsetzlich. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber es ist etwas geschehen, was nicht wiedergutzumachen ist, Sergej."
Er setzte sich neben sie auf einen Stuhl, richtete ihr behutsam und schüchtern Kissen und Decke und streichelte ihre Hände, ihr Haar, ihre Wangen.
„Nicht doch. Beruhige dich, Polja. Ich weiß ja. Wenn du geschrieen hättest, ich hätte die Tür eingeschlagen und ihn erwürgt."
„Du weißt es nicht, Sergej ... du weißt es nicht. Mit ihm kann man nicht kämpfen, vor ihm gibt es keine Rettung."
„Sprechen wir nicht mehr darüber, Polja, trink noch einen Schluck Wasser und schlaf. Ich bleibe bei dir sitzen, und du schlaf: du musst unbedingt ausschlafen. Wir haben Nordost. Es hat lange schon kein Nordost geweht. Morgen wird es frisch und kühl sein."
„Sergej! Serjosha, du bist mir so nahe und vertraut! Ich habe gewusst, dass das kommen wird, Sergej... und habe nicht gekonnt... Ich weiß nicht, was werden soll, Sergej." Er saß neben ihr und zitterte noch immer. Das Zittern hatte begonnen, als er Badjins Stimme vorhin hörte. Der Boden unter ihm war ins Schwanken geraten, und beim ersten Stoß des Nordost schienen alle Sachen im Zimmer ihren Platz zu verlassen und umherzukreisen wie Vögel.
„Ich hab's gewusst, Serjosha, dass uns das nicht so durchgehen wird ... Hast du die Gesichter gesehen, die Stimmen gehört?... ,Brüder, helft uns! Kohldampf!' Und die Würfel und die Geigen in den Cafes, und die Schaufenster. Die in Schacher umgeschlagene Revolution. Und das hier ... Das gehört alles zusammen, Serjosha."
„Ja, Polja. Wir müssen diese schwere Zeit überstehen. Wir müssen sie überstehen, meine liebe Polja. Um jeden Preis. Kämpfend überstehen."
Sie schlief ein, ohne seine Hand loszulassen, er aber saß bis zum Morgengrauen über sie geneigt, rührte sich nicht und sah sie unverwandt voll trauriger Liebe an.

Die Arbeit stockt

Im Werk wurde nach Glebs Abreise mit Hochdruck an der Instandsetzung gearbeitet. Fenster und Dächer waren noch entzwei; in den Betonwänden klafften noch schwarze Löcher, aus denen verrostete Drähte hingen; doch in den dämmrigen Hallen pfiffen und trommelten unter den Sternen der Glühbirnen die Hämmer und Bohrer, kreischte, klirrte, ächzte Metall.
Eingesetzt waren alle verfügbaren Arbeitskräfte — zweihundert Mann. Die Reparatur des rotierenden Ofens erforderte besondere Sorgfalt. Die Stahlverkleidung musste aufgenietet und die feuerfeste Innenschicht erneuert werden. Kleinere Ersatzteile aus Metall für den Steinbrecher und die Mühle, für Hebel und komplizierte Transmissionen mussten gegossen werden. Stark beschädigt waren auch die Behälter für die Zementmasse; neue rotierende Rührhölzer waren anzubringen und das ganze System von Rohren, bizarren zylindrischen Sieben und allen möglichen ineinander greifenden und zu eigenartigen Mustern verwobenen Vorrichtungen aus Holz und Stahl auszutauschen. Am wenigsten gab es im Kraftwerk und in der Maschinenhalle zu tun. Dort war Brynsa. Solange Brynsa lebte, lebten auch die Maschinen.
Menschen, bläulich vom Staub, arbeiteten emsig, krochen vor den Öfen umher, sprangen über Rahmen, Querbalken, Stufen und Geländer, schraubten, schnitten, sägten Eisen und Kupfer, verhedderten sich in Leitungsdrähten, brüllten und schnappten nach Luft vor Staub, Hitze und plötzlich ausbrechender Arbeitswut.
Auf der zweiten Förderstrecke ging die Arbeit ruhiger und stiller vor sich. An verschiedenen Stellen wurden Schienen ausgewechselt, Viadukte repariert und die Gleise von Steinen und Schutt gesäubert.
Das Werk lag nach wie vor verstaubt und verlottert da, doch spürte man überall schon sein Atmen und das erste
Beben der Maschinen. Im Kraftwerk fauchten und knurrten Tag und Nacht die Dieselmotoren.
Tag für Tag machte Ingenieur Kleist, ganz in Weiß gekleidet, streng und gewichtig seine Runde — zum ersten Mal wieder zuckte in seinem Gesicht ein verhaltenes Lächeln, das seine innere Erregung verriet. Die alten Techniker und Vorarbeiter scharwenzelten wie früher um ihn herum, wie früher gab ihnen Kleist nachlässig Befehle, und sein Kopf zuckte im Takt seiner Worte. Den Arbeitern gegenüber war er weiterhin wortkarg und kurz angebunden und ging gleichgültig, fremd und blind an ihnen vorbei.
Gleb hatte für eine Woche verreisen wollen, blieb aber einen ganzen Monat weg. Schon nach der zweiten Woche seiner Abwesenheit traten Unterbrechungen in der Arbeit ein, und schließlich ruhte sie ganz. Die Werkverwaltung richtete sich nicht mehr nach dem bestätigten Plan und kümmerte sich nicht darum, das veranschlagte Material zu beschaffen; beim Volkswirtschaftsrat ließ sich nichts ausrichten, dort tönte wieder die alte Leier, Industriebüro, Hauptverwaltung Zement, Staatsplan.
In der Werkverwaltung nahmen die geschniegelten und gebügelten Spezialisten Kleist gegenüber kein Blatt vor den Mund: „Machen Sie keine Geschichten, Hermann Hermannowitsch. Das Werk kann nicht in Betrieb genommen werden. Verstehen Sie denn das nicht? Wozu brauchen die Leute überhaupt das Werk? Das ist doch lächerlich, Hermann Hermannowitsch. Angenommen, das Werk wäre in Betrieb und die Lager gefüllt. Und was dann? Auf den Markt damit? Aber den gibt's ja nicht. Unser Zement ist früher meist nach dem Ausland gegangen. Und jetzt? Aufbau? Aber den gibt's ja auch nicht und kann es gar nicht geben, weil weder Kapital noch Produktivkräfte vorhanden sind. Einen tüchtigen Anlauf haben die Leute freilich genommen — das muss man ihnen lassen. Aber es hapert eben an Kräften, an Erfahrungen, an Mitteln zur produktiven Arbeit. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn
Kapital und Privatinitiative ausgeschaltet sind. Auf nationalisiertem Gaul kommt man nicht weit. Nolens volens wird man sich wieder an die Waräger im Ausland wenden müssen."
Kleist hörte sich die Spezialisten kalt und gewichtig an, rauchte seine Zigarette, ließ sich in keine Erörterungen ein, sondern bemerkte nur kurz und nachdrücklich: „Ich bin nicht hergekommen, um Fragen der politischen Ökonomie und der russischen Staatswirtschaft im besonderen zu lösen. Ich habe eine ganz bescheidene Absicht — und zwar: von der Werkverwaltung die alsbaldige Erfüllung des Produktionsplanes zu fordern. Die Reparaturarbeiten mussten durch Schuld der Werkverwaltung eingestellt werden."
Die Spezialisten betrachteten ihre Hände und verbargen ihr Lächeln hinter höflicher Zuvorkommenheit.
„Die Werkverwaltung hat damit nichts zu tun, Hermann Hermannowitsch, sie erhält ihre Instruktionen vom Volkswirtschaftsrat. Wenden Sie sich unmittelbar dorthin."
Der Volkswirtschaftsrat hatte zwar neue Menschen eingesetzt, aber sie hatten nur das Mäntelchen der Loyalität umgehängt, drinnen wurzelte noch fest und zäh die Vergangenheit. Auch er, Kleist, trug noch diese Vergangenheit in sich, aber sie war fremd und tot, das Feuer der Gegenwart hatte sie verbrannt und nur verkohlte Reste übriggelassen.
Zwischen ihm und jenen gab es keine Verständigung mehr. Er sah, dass ihre Augen sich bei seinen unerwarteten Worten verschleierten und dass sich hinter ihrem Lächeln Spott, Misstrauen und Feigheit verbarg: Dieser sonderbare Kauz sei entweder raffiniert oder er habe aus Angst vor den Bolschewiki den Verstand verloren.
Kleist ging zum Volkswirtschaftsrat. Auch dort empfing man ihn ehrerbietig und liebenswürdig, als empfange man einen Gleichgesinnten; wie in der Werkverwaltung lächelte man ihm mit goldenen Zähnen vieldeutig und verständnisinnig zu.
Wieder erklärte er kalt und gewichtig den Zweck seines Besuches, und wieder gab man ihm hinter dem Schleier unterdrückten Spottes höflich unverbindliche Antworten. „Ja, die Verwirklichung Ihrer Voranschläge hat sich verzögert, Hermann Hermannowitsch, wahrscheinlich wird man sie noch einmal überprüfen. Sehen Sie, wir können nicht gegen die Verfügungen des Industriebüros und der Hauptverwaltung Zement an ... Und vorläufig fehlen noch notwendige Grundlagen ... Der Vorsitzende des Volkswirtschaftsrats, ein sachkundiger und umsichtiger Mann (die Augen des Sprechers lächelten spöttisch), verfolgt eine feste Linie. Er lässt nicht mit sich spaßen. Man hat alles zu sehr überstürzt. Was die Hauptverwaltung Zement dazu sagt... Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass diese ganze Angelegenheit mit dem Werk beim Industriebüro und vor allem bei der Hauptverwaltung keine Gegenliebe finden wird. Aber wir erwarten noch maßgebliche Weisungen."
Nun ging Kleist allein, ohne Techniker und Vorarbeiter, durch die Werkhallen und über die Gleisanlagen, sah lange auf die verödeten Arbeitsplätze, auf die Baustellen, die zerlegten Maschinen und auf den nicht weggeräumten Schutt und schlug mit seinem Stock ingrimmig nach Steinen, Scherben und liegen gebliebenem Baumaterial. Der einzige Mensch, dem er bei diesen schweigsamen Spaziergängen begegnete, war der Wächter Kljopka, dessen Brauen und Bart wie Zementflocken aussahen.

Schmutzig und abgespannt, den Helm in den Nacken geschoben, doch mit Augen, die durchsichtig und wie blank gewaschen wirkten, kehrte Gleb von seiner Reise zurück. Er ging nicht nach Hause, sondern eilte schnurstracks ins Werk, hielt sich dort kaum auf, sondern lief, bleich vor Wut, mit großen Schritten zum Bremsberg. Überall Leere, Dreck und Bruch, genau wie damals, als er von der Front nach Hause gekommen war.
Keuchend vor Wut, raste er zur Werkverwaltung.
Die blitzsauberen Spezialisten, betäubt von der prasselnden Schimpfkanonade, rissen Mund und Nase auf und erstarrten fassungslos auf ihren Plätzen. Wer gerade ging, blieb stehen, wer saß, stand auf, wer schrieb, hob den Kopf nicht vom Papier. Schon an der Schwelle legte Gleb aus voller Lunge los: „Ich möchte nur wissen, welches Dreckvieh uns diese Sauerei eingebrockt hat! Ich schlage allen die Fresse ein für diesen Verrat. Wo ist der Direktor? Ich werde euch Lumpenhunde alle sofort zur Tscheka befördern — wegen Sabotage und Konterrevolution. Ihr habt gedacht, wenn ich nicht da bin, könnt ihr euren dreckigen Streich landen? Verfluchte Blase, an den Galgen bringe ich euch alle!"
Er rannte von Zimmer zu Zimmer, suchte nach jemandem, sah niemanden, warf Stühle um, fegte Papiere von den Tischen, rempelte Leute an, die ihm im Wege standen. Die puppenhaft zierlichen Maschinenschreiberinnen duckten sich erschrocken auf ihren Stühlen und versteckten ihre Frisuren hinter den Tasten. Alle saßen oder standen sprachlos vor Schreck, und wenn Gleb vorbeigesaust war, wechselten sie verängstigte Blicke und hielten sich die Hände oder Papiere vor den Mund.
Als sein Wutanfall sich ein wenig gelegt hatte, warf Gleb in einem Zimmer Mantel und Tasche hin und brach in das Kabinett des Direktors ein. Direktor Müller — ein Mann mit silbrigen Borsten auf dem Schädel, einem silbrigen, gestutzten Schnurrbärtchen und einem goldenen Zwicker — empfing ihn innerlich ebenso beunruhigt und verdutzt wie die anderen, gab sich aber Mühe, ruhig zu bleiben. Er stand auf und streckte Gleb über den Tisch die Hand entgegen.
„Was machen Sie denn für einen Lärm, Genosse Tschumalow? Sie schimpfen ja, dass die Scheiben springen."
Gleb setzte sich nicht und übersah auch Müllers Hand. Er stellte sich neben den Tisch und fragte drohend: „Wer hat angeordnet, die Arbeiten im Werk einzustellen?"
Müller breitete hilflos, untertänig die Arme aus. „Spielen Sie nicht den Dummen, sondern sagen Sie geradeheraus : Welcher Lump hat die Arbeiten, die in vollem Gange waren, lahm gelegt?"
Müller zuckte zusammen, die Zwickergläser blitzten, und sein Gesicht wurde welk und rostig.
„Zunächst möchte ich Sie ersuchen, Genosse Tschumalow, Ihre Ausdrücke zu mäßigen. Die Werkverwaltung hat damit nichts zu schaffen. Wir haben die Arbeit eingestellt, weil es der Volkswirtschaftsrat bei dem Mangel an notwendigen Mitteln und ohne Sanktion höherer Wirtschaftsorgane für unmöglich hielt, die Reparaturen fortzusetzen." „Zeigen Sie mir die Anordnung des Volkswirtschaftsrates. Die ganze Korrespondenz ... auf der Stelle! Habt euch gesucht und gefunden, ihr und das Gesindel vom Volkswirtschaftsrat! Habt wohl gedacht, ihr könnt hinter meinem Rücken die Karten zinken? Habt euch wohl eingebildet, das Industriebüro stellt mich kalt und ihr könnt dann ungestört im trüben fischen? Irrtum, meine Lieben, ihr werdet mir noch gehörig schwitzen."
„Mit welcher Begründung erheben Sie so schwere Anschuldigungen gegen uns, Genosse Tschumalow? Ich protestiere ganz kategorisch: Sie sagen unbedacht beleidigende Dinge. Wir sind doch keine kleinen Kinder, wir können uns über die Instruktionen und Vorschriften von oben nicht hinwegsetzen. Wir waren in dieser Sache auch ganz ausgeschaltet: Alle Lager wurden vom Volkswirtschaftsrat versiegelt, und der Bevollmächtigte des Volkswirtschaftsrates hat sämtliche Unterlagen aus den Akten genommen. Seien Sie so liebenswürdig und machen Sie nicht uns, sondern dem Volkswirtschaftsrat Szenen."
Gleb ging auf Müller zu und hieb mit der Faust auf den
Tisch.
„Erzählen Sie mir bitte keine Märchen. Ich kenne alle Ihre Schliche ausgezeichnet. Ihr habt die Geschichte mit der Forstverwaltung vergessen, Freundchen. Ihr werdet am
eigenen Leibe erfahren, wie Halunken abgeknallt werden. Mich für einen Idioten halten und mich an der Nase herumführen! Aber ich werde euch Genick und Rippen brechen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ab morgen wieder gearbeitet wird. Die Reparaturen müssen in zwei Monaten beendet sein, und zum Herbst läuft das Werk auf vollen Touren, verstanden?"
Müller zuckte die Achseln, lächelte verlegen und wollte etwas sagen, verschluckte sich aber an seiner trockenen Zunge.
Draußen vor dem Betriebsgewerkschaftskomitee drängten sich die Arbeiter, standen müßig und gelangweilt, mit hängenden Schultern, in kleinen Gruppen zusammen, saßen im Schatten der Wand auf der Erde, gingen durch die Tür ein und aus. Rauchten, schwatzten laut und lachten. Gromada stand auf der obersten Stufe vor der offenen Bürotür, schwang die knochigen Fäuste und schrie erregt mit heiserer, schwindsüchtiger Stimme: „Das ist nur vorübergehend, Genossen! Wir als Arbeiterklasse haben die Pflicht, voller Bewusstsein dieser Sache gegenüber und so weiter... Wir haben auf der Parteiversammlung schon eine Resolution gefasst, und da Gewerkschaftskomitee und die Baugewerkschaft unsere eigenen Organisationen sind, werden wir somit unsere Interessen verteidigen können und die Sache an das Revolutionstribunal übergeben... und alles Dreckzeug und alle Hundesöhne an die Wand nageln..."
Die Menge war erregt, schrie und klatschte.
Sawtschuk in seinem zerfetzten Hemd schob sich durch die Masse, fuchtelte mit den Armen und brüllte wie am Spieß: „Totschlagen muss man sie, die Ketzerseelen! Warum seid ihr so zimperlich? Ich kann das nicht ausstehen."
Gleb kam die breite Betontreppe herabgelaufen und versank im nächsten Augenblick in der Masse der staubigen, verschwitzten Gesichter, in Geschrei und Durcheinander. „Da ist er ja, der Tschumalow! Ach, du Scheusal von
einem Hundesohn! Jetzt können die Brüder was erleben! Oho, dich hatte der Teufel zur unrechten Zeit auf Reisen geschickt."
Unter diese freudigen Ausrufe mischten sich auch andere, mürrische Stimmen: „Was soll denn nun werden, Genosse Tschumalow? Was ist los? Wenn wir so weitermachen wollen, können wir lieber gleich dem Teufel in den Hintern kriechen..."
„Jetzt hat der Spaß ein Ende. Wir wissen schon, wessen Streiche das sind."
„Ha, diese alten Halsabschneider träumen vom Zaren, wenn sie schlafen."
„Warten auf ihre Herrschaften, die Schweine." „Was sollen wir da lange fackeln? Wie Flöhe zerknacken — und fertig."
Es stank nach Machorka und Schweiß, das Gedränge und die Ausdünstungen der Leute benahmen Gleb den Atem. Er stieß die Menge auseinander und stieg die Treppe hinauf zu Gromada.
„Genossen, die Arbeit geht mit Hochdruck weiter. Wenn morgen die Sirene heult, begibt sich jeder an seinen Platz. Allen diesen Machenschaften werden wir im Nu auf den Grund kommen, und es soll uns nicht schwer fallen, den einen oder den anderen an die Wand zu stellen. Ich fahre zum Volkswirtschaftsrat. Wir werden schonungslose Abrechnung mit der Konterrevolution verlangen, Genossen. Im Industriebüro habe ich alles erreicht, was ich wollte. Ich habe Brennstoff mitgebracht. Wir werden ein paar Mann nach Daubenholz schicken. Als erstes bringen wir den Steinbrecher in Gang und fangen mit dem Vermahlen des Klinkers an."
Die Arbeiter stürmten zu Gleb, umarmten ihn, drückten ihn ab und brüllten ohrenbetäubend. Jemand packte ihn an den Beinen, ein anderer fasste ihn um den Leib, und plötzlich schleuderte ihn eine Unzahl schwieliger Hände in die Luft.
„Feste, Kumpels! Hoch mit ihm! Hopp! Höher! Hopp!"
„Hört doch auf, verflixte Bande! Aufhören, ihr Affen!" Gleb lachte, zappelte mit Armen und Beinen über den Köpfen der Arbeiter; doch man merkte ihm an, dass er sich freute und diese stürmische Huldigung für ganz natürlich und unumgänglich hielt.
Schließlich stand er wieder auf festem Boden, umdrängt von den erschöpften Genossen, und sogleich legte Sawtschuk los.
„Gleb! Alte Ketzerseele, du! Lass die Böttcherei endlich losgehen. Ich halt's nicht mehr aus. Ich schlage alles kurz und klein!"
Gleb zwinkerte einem Arbeiter zu und drohte jemand mit der Faust.
„Gromada! Wo steckt Gromada? Lasst ihn doch mal zu mir durch, Jungs. Fahren wir, Gromada!"
Gleb fuhr nicht zum Volkswirtschaftsrat, sondern stieg vor der Tür des Exekutivkomitees aus. Die Treppe zum ersten Stock hinauf musste er Gromada beinahe tragen. Gromada röchelte und keuchte und riss die Augen auf vor Erschöpfung.
„Bist aber ein krankes Huhn, Gromada! Altes Reff! Für einen Feldzug noch ebenso brauchbar wie ein kaputter Stiefel. Na, nun hol mal Luft für den Kampf."
„Du weißt doch, was mit mir los ist, wenn mir der Atem ausgeht, aber jedem Spezialisten geb ich immer noch vierzig Punkte vor."
„Jawohl, Berge werden wir versetzen! Hast recht!" Kaum hatte der zottige Türhüter Gleb entdeckt, da öffnete er schon die Tür und rückte samt seinem Stuhl zur Seite.
Badjin war nicht allein, bei ihm saßen Schramm, Tschibis und Dascha.
Dascha sah zu Gleb auf, ihre Augen wurden rund vor Überraschung, eine Flut von Kummer, zugleich aber auch Freude spiegelte sich in ihnen. Doch Gleb sah nicht die
Freude in ihnen, sondern etwas anderes, ganz Neues, das tief war wie ein Seufzer.
Badjin warf ihm einen zerstreuten, finsteren Blick zu und sah dann wieder auf die Papiere, in denen er mit seinen behaarten Fingern wühlte: er hörte Schramm zu.
Tschibis saß wie immer: halb gelangweilt und sich ausruhend, halb in eigene Gedanken versunken, die er nie und vor niemanden laut aussprechen würde.
Wieso ist Dascha hier? Dascha bei Badjin! Sollten ihre scherzhaften Anspielungen auf das gemeinsame Bett in der Staniza am Ende doch — Wahrheit sein? Ja oder nein? Warum sind ihre Augen verschleiert? Sie sind trocken, rund und glühen wie im Fieber. Wieder gleicht ihre Seele einem tiefen Brunnen, und wie das Wasser in einem tiefen Brunnen ist sie ihm fern und unerreichbar. Er musste an Motjas Worte denken, dass sie nie mehr so wie früher zusammenleben und kein gemeinsames Heim mehr haben würden.
Er trat nicht zu ihr, und sie blieb in ihrer Ecke sitzen, ohne ihn noch einmal anzusehen, wie eine Fremde.
Schramm sprach mit dumpfer Stimme: „Es ist auch nicht meine Schuld, dass in der Kreisforstverwaltung Korruption geherrscht hat. Ich habe die Instruktionen der leitenden Organe strikt befolgt. Warum hat die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion damals nichts Unnormales entdeckt, während sie heute ganze Berge von Kriminalakten auftürmt? Der Apparat unseres Volkswirtschaftsrates war bisher mustergültig, und die Arbeit lief wie am Schnürchen. Und nun soll alles plötzlich keine Arbeit gewesen sein, sondern ein einziges Kriminalverbrechen? Ich verstehe das nicht, und ich fordere eine unvoreingenommene Untersuchung." Badjin sah ihn kalt an und grinste.
„Du verstehst das nicht. Klar, warum du das nicht verstehst. Der Apparat des Volkswirtschaftsrates war mustergültig, das Schema funktionierte glänzend. Und weil dieser Apparat mustergültig war, bot er Verbrechern die beste Deckung. Du hast die ganze Arbeit fremden, uns feindlichen Elementen überlassen. Dank deinem mustergültigen Apparat vermochtest du nicht zu sehen, dass in der Forstverwaltung ununterbrochen gestohlen wurde, dass die Arbeiter kein Brot, keine Kleidung, keine Werkzeuge bekamen, dass Agenten auf Kosten des Staates ganz offen geschoben haben. Du verstehst nicht, weshalb vor deiner Nase alle möglichen Gaunereien gemacht werden zu dem Zweck, sich des Volksvermögens zu bemächtigen — wie, sagen wir, die kürzlich erfolgte Verpachtung der Lederfabrik an den früheren Besitzer. Du verstehst nicht, dass in einer deiner Abteilungen ein ganzer Plan über Konzessionen ausgearbeitet wurde, um das Zementwerk den Händen des Staates zu entreißen und den früheren Aktionären wiederzugeben. Du verstehst das nicht, aber ich sehe darin schwerste ökonomische Konterrevolution."
Schramm verharrte in seiner übermenschlich gespannten Haltung. Nur seine Augen trübten sich. Seine Stimme war heiser und brüchig vor Erschöpfung.
„Im letzten Fall habe ich mich nur dem Standpunkt der Sachverständigen anschließen können, die an Hand von Zahlen nachwiesen, dass in den nächsten Jahrzehnten die Inbetriebnahme des Werkes unmöglich sei. Alle Unterlagen zu dieser Frage sind in die Zentrale abgegangen: Ich war nicht berechtigt, ihre Lösung den hiesigen Organen zu überlassen. Die Sache mit der Lederfabrik wurde im positiven Sinne vom Exekutivkomitee geregelt."
Badjins breites Gebiss blitzte, und er wechselte einen Blick mit Tschibis.
„Ich weiß, wie das Exekutivkomitee darüber entschieden hat. Man hatte dort keine Ahnung, dass die Zahlen in deinem Bericht falsch und die genannten Personen Strohmänner waren. Darüber sprechen wir noch woanders."
Er nahm ein Blatt Papier vom Tisch und überflog es rasch.
„Da, Genossin Tschumalowa. Geh sofort zur Kommunalen Wirtschaft: man soll gleich heute die Räumung der vorgesehenen Häuser veranlassen und sie schleunigst als Kinderkrippen einrichten."
Dascha trat zum Tisch, sie sah weder Badjin noch Gleb an. Dieser aber bemerkte, wie Badjins Augen für eine Sekunde trunken aufleuchteten. Er biss die Zähne zusammen, dass ihm die Kiefer schmerzten und es in den Ohren knackte.
„Genosse Badjin!"
„Ah, endlich! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, zum Teufel? Na, berichte, berichte bitte! Sieh an, was für einen knallroten Kopf ... Man hat dir wohl tüchtig eingeheizt dort."
Er lächelte Gleb freundschaftlich zu. Finster und abweisend stand Gleb neben Gromada vor Badjin und schmetterte los: „Genosse Badjin, das Mitglied des Betriebsgewerkschaftskomitees Gromada und ich sind hergekommen/um folgendes zu erfahren: Auf wessen Weisung und aus welchem Grund sind die Arbeiten im Werk abgebrochen worden? Es herrschen dort völlige Desorganisation und Auflösung. Eine derartige Schweinerei kann man nicht auf sich beruhen lassen. Ich möchte gern wissen, welcher Schuft da Sabotage und Konterrevolution getrieben hat. Die Arbeiter murren. So eine böswillige Misswirtschaft ist schlimmer als ein Banditenüberfall. Hier sitzt Genosse Schramm. Er soll sagen, wie der Volkswirtschaftsrat ein solches Verbrechen zulassen konnte."
Badjins Zähne blitzten wieder, er lächelte freundschaftlich und merkwürdig heiter.
„Darüber weiß ich Bescheid. Die Hauptverwaltung Zement hat dem Volkswirtschaftsrat telegrafiert, die Arbeit einzustellen, bis sich erwiesen habe, ob es zweckmäßig sei, das Werk in Betrieb zu setzen."
„Ich kann mir schon denken, wer dahintersteckt, Genosse Badjin. Jedenfalls hat der Volkswirtschaftsrat vom Industriebüro die strenge Weisung erhalten, sofort alle Maß-
nahmen zur Organisierung der Arbeit zu treffen. Man hat dort über diese Frage beraten, und ich habe alle Dokumente in der Hand."
Schramms Stimme klang fremd und heiser. „Es gibt ein Industriebüro, es gibt aber auch eine Hauptverwaltung Zement."
Gleb rannte wutschnaubend vor dem Tisch auf und ab. Seine Wange zuckte krampfhaft.
„Genosse Vorsitzender, ich stelle mit aller Schärfe fest: so darf man nicht arbeiten. Und wenn Schramm den Teufel gefressen hätte, für solche Geschichten muss man ihm gehörig den Kopf waschen. Damit ist nicht zu spaßen, Genossen. Aber über diesen Piratenstreich werden wir uns noch unterhalten. Schramm passt nicht in unsere Ordnung. Das ist so sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Wir werden dem Bezirkskomitee darüber berichten. Wir haben es hier mit einer direkten Bedrohung unserer gesamten Volkswirtschaft zu tun, Genossen. Genosse Badjin hat das richtige Wort gefunden: ökonomische Konterrevolution ... jawohl! Damit muss Schluss gemacht werden. Die Sache mit der Forstverwaltung ist nur eine faule Stelle gewesen. Hier handelt es sich um Zersetzung. Man muss allen, die in Frage kommen, an den Kragen, Genossen, In jeder Behörde muss ausgefegt werden. Lange genug haben wir diese ganze Weißgardistenbande mit Samthandschuhen angefasst: es wird Zeit, dass wir erbarmungslos zupacken. Ich muss noch berichten, Genosse Badjin: Alle unsere Resolutionen und Materialforderungen sind bestätigt und bewilligt. Morgen gehen die Arbeiter wieder ans Werk. Die versiegelten Materiallager werden geöffnet und das Inventar aufgenommen. Und noch eins, Genosse Badjin: Wir fordern die sofortige Umbesetzung der Werkverwaltung. Wir bringen auch Moskau auf die Beine, wenn's darauf ankommt."
Er zog einen Packen Papiere heraus und warf sie auf den Tisch. „Da habt ihr alle Unterlagen. Man hat uns mit dem Industriebüro geschlagen, nun schlagen wir mit demselben Industriebüro zurück."
Schramms Gesicht war totenblass geworden, und seine trüben Augen wirkten wie die eines Leichnams.
Tschibis erhob sich rasch und ging festen Schrittes, gar nicht mehr schwerfällig, hinaus.
Badjin sah Schramm unter gesenkter Stirn hervor an, und seine Augen lächelten wieder und funkelten fröhlich. „Na, Schramm? Da wird wohl der Volkswirtschaftsrat mit der Forstverwaltung auf dieselbe Anklagebank zu sitzen kommen, wie? Eine reizvolle Aussicht in Anbetracht der scharfen Wendung, die die Sache anscheinend nimmt."
Im Korridor stieß Gleb auf Dascha. Sie musste auf ihn gewartet haben. In ihren flackernden Augen zitterte ein qualvoller Schrei. Aber sie stand ruhig vor ihm wie immer und sagte leise mit gebrochener Stimme: „Du bist nun wieder da, Gleb, aber Njurka ist gestorben ... Sie ist schon begraben, du bist zu spät gekommen. Wir haben keine Njurka mehr, Gleb ... Mein Lieber ..."
Im ersten Augenblick war es für Gleb ein furchtbarer Stoß vor die Brust, dann wurde es um ihn still, als wäre er auf einmal taub geworden. Er versteinerte, nur die Beine schmolzen weg wie bei einem Sturz aus der Höhe. Er stierte Dascha an und konnte lange kein Wort hervorbringen.
„Wie? Das kann doch nicht sein! Wie? Njurka? Aber das kann doch nicht sein! Dascha! Was redest du da?"
Dascha stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und Gleb sah, dass sie lautlos weinte; sie rang nach Atem und schluckte an den Tränen, die ihr über die Wangen auf das zitternde Kinn liefen und auf die Brust fielen. Sie wischte sie nicht weg und schien zu lächeln vor Hilflosigkeit und Ergebenheit. Neben ihr lehnte Gromada an der Wand und hustete keuchend und heiser.

 

XVI. Spreu

„Wir müssen ein Herz von Stein haben"

Es wurde bekannt gegeben, dass die Überprüfung der Betriebsparteizelle in einer Woche, am sechzehnten Oktober, stattfinden werde. Sergej sah diesem Tag mit seinem üblichen versonnenen Lächeln entgegen, ohne sich aufzuregen und zu beunruhigen oder auch nur an die Fragen zu denken, die ihn gewöhnlich nachts quälten. Allein über eins musste er sich selber wundern: Wie kam es bloß, dass er keinen Augenblick diesen sechzehnten Oktober vergaß, selbst im Schlaf nicht? Er wusste, dass er bedroht war, dass dieser Tag einen Wendepunkt in seinem Leben bedeutete, und doch blieb er taub gegen alles, was damit zusammenhing. Wird man ihn aus der Partei ausschließen oder nicht? Diese Frage strich wie eine leichte Welle durch sein Hirn und verflog...
Das Hirn aber verrichtete nach wie vor seine gewohnte Tagesarbeit und quälte sich nachts mit den Eindrücken des Tages und mit plötzlich auftauchenden Erinnerungen aus der Vergangenheit. Doch die Erinnerungen waren wie verworrene Traumbilder: Berge und Meer im Sonnenschein, Vögel und ferne Segelboote, Kindergeschrei, die sterbende Mutter, der Vater, der pfiffig lächelt und etwas von Stoizismus murmelt.
Wie immer sah man Sergej, mit schütterem gelocktem Haar und ein wenig schwitzend, die Aktentasche prall gefüllt, bedächtig seiner Wege gehen. Er war dauernd beschäftigt und erfüllte stets pünktlich die Aufgaben des
Tages. Doch es gab keinen Augenblick, da er nicht an den sechzehnten Oktober gedacht hätte.
Eines Tages, nachdem er einen Vortrag über politische Erziehung gehalten hatte, sah Shidki ihn wohlwollend spöttisch an und legte ihm die Hand auf die Finger. „Angst, Serjosha? Ja, ja, man wird dir einheizen — behalt den Kopf oben."
„Warum denn? Wofür? Ich empfinde nichts, was nach Angst aussähe. Als wenn mich die ganze Sache nichts anginge."
„Lass gut sein, hab keine Angst — wir werden dich schon in Schutz nehmen. Es wird nichts so heiß gegessen, wie's gekocht wird."
Luchawa, der wie gewöhnlich auf dem Fensterbrett saß, das Kinn auf die Knie gestützt, hob den Kopf.
„Du schwindelst ja, Shidki, du hast selbst Angst vor der Überprüfung. Mir geht's genauso. Vor nichts habe ich Angst, aber davor doch. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sergej ausgeschlossen wird. Wo willst du die Macht hernehmen, es zu verhindern?"
Shidki reckte sich gereizt.
„Er wird nicht ausgeschlossen. Warum nicht du oder ich, sondern gerade er? Nach welchen Gesichtspunkten? Intellektueller? Unsinn. Das ist kein Grund. Wir haben die Möglichkeit, zu protestieren, wenn dies geschehen sollte. Die Kommission arbeitet unter aller Würde — die nichtigsten Gründe genügen ihr für einen Ausschluss. In dieser Woche sind schon an die vierzig Prozent aller leitenden Funktionäre und fast ebenso viele einfache Mitglieder avisgeschlossen worden. Da ist zum Beispiel Shuk, ein Arbeiter. Und der Grund: Scharfmacher und deklassiertes Element."
„Shuk? Er ist ausgeschlossen?"
Sergej beugte sich zu Shidki, doch schien dies eine unwillkürliche Bewegung zu sein, denn Shidkis Worte berührten ihn nicht, kamen ihm fern liegend und bedeutungslos vor.
Luchawa sagte ungewöhnlich ruhig und fest, in offiziell-nachlässigem Ton: „Die Kommission ist nicht verpflichtet, die Gründe mitzuteilen, und du hast nicht das Recht, dich in ihre Arbeit einzumischen und ihre Methoden zu kritisieren. Für Ausgeschlossene gibt es nur einen Weg: die Berufung."
„Meinetwegen. Aber ich werde handeln und vor nichts Halt machen. Ich gehe bis zur Zentralen Kontrollkommission. Der Mann, der die Überprüfung vornimmt, versteht nichts von seiner Arbeit. So etwas führt nur zur Zerrüttung der Organisation. Wir haben Grund zum Protest. Ich lasse diese Angelegenheit nicht auf sich beruhen." „Esel! Dafür wird man dich selbst ausschließen oder, wenn du Glück hast, versetzen."
„Sei so gut und mach mir keine Angst. Das Bezirkskomitee kann in dieser Sache nicht den passiven Zuschauer spielen. Wenn wir die Augen verschließen, dann jagt man uns mit Recht zum Teufel!"
Polja saß im Frauenausschuss, abgemagert, Qual in den Augen. Ihre Hände zitterten, ihr Gesicht zuckte, und sie konnte nichts dagegen tun. Dascha saß abseits an ihrem Tisch und schrieb. Sie sah weder zu Sergej noch zu Polja hin — was ging es sie an, worüber die beiden sprachen und sich aufregten? In den letzten Tagen hatte Polja sie oft verweint gesehen.
Polja hatte Sergej herangewinkt und auf den Stuhl ihr gegenüber gedeutet.
Sie wandte den Kopf ab und seufzte. „Sergej, kannst du mir nicht helfen, mich in alledem zurechtzufinden, was jetzt vorgeht? Ich habe ganz und gar den Verstand verloren. Dascha versteht mich überhaupt nicht mehr: sie ist sehr barsch geworden und spricht nicht mehr so mit mir wie früher. Ich fühle es, dass ich aus der Partei ausgeschlossen werde, Sergej."
Dascha schwieg. Sie hatte nicht zugehört.
Sergej schwieg auch; er wusste nicht, was er erwidern sollte. Er hätte sie gern getröstet, fand aber nicht die passenden Worte. Er hätte auch gern von sich gesprochen, etwas Einfaches und sehr Wichtiges gesagt, aber auch dazu fehlten ihm die richtigen Worte.
„Ich werde dort sagen, was ich sehe und fühle. Verstehst du? Und man wird mich ausschließen. Was sich jetzt abspielt ... was mir und der Revolution die Beine wegschlägt ... ich kann nicht lügen ..." Dascha hörte auf zu schreiben und hob den Kopf. „Was spielt sich denn ab, Genossin Mechowa? Ich komme da nicht ganz mit. Die Arbeit im Frauenausschuss geht besser, wir haben gelernt, gemeinsam zu handeln, und stehen den Männern darin nicht nach. Was ist eigentlich geschehen, Genossin Mechowa?"
Polja zuckte zusammen, als sie Daschas Stimme hörte, und sprang auf. „Wie wagst du nur zu fragen? Du weißt nicht, was geschehen ist, nein? Du weißt nicht, dass das Blut der Arbeiter und Rotarmisten... ein Meer von Blut... hörst du? Ein Meer von Blut lediglich dafür vergossen worden ist, um die Plätze, noch ehe das Blut trocken ist, für Märkte und Bumscafes zu räumen? Um alles zu einem dreckigen Haufen zu vermanschen? Du weißt das nicht, nein?"
Noch nie hatte Sergej sie so erregt gesehen. Ihr Gesicht glich dem einer Epileptikerin: es war bleich geworden, Schweiß bedeckte Stirn und Oberlippe mit klebrigen Tropfen, und die Augen waren trocken und starr.
Dascha beugte sich wieder über ihre Papiere und lächelte verständnisvoll und herablassend.
„Und ich dachte, dass ... Glaubst du vielleicht, Genossin Mechowa, dass alle außer dir Dummköpfe und Schlafmützen sind?"
„Ja, ja! Dummköpfe! Verräter! Feiglinge!" Dann wurde sie plötzlich still, lächelte Sergej kläglich an, hob beide Hände vor die Augen und weinte. „Warum bin ich damals nicht gestorben? Damals ... auf
den Straßen von Moskau... oder in der Armee? Warum muss ich diese qualvolle, schändliche Zeit noch erleben, liebe Genossen?"
Auf Sergejs Gesicht zuckte ein Lächeln, das er nicht zurückhalten konnte, und es gelang ihm nicht, die in seinen Lungen stockende Luft auszuatmen. Seine Lippen zitterten und bewegten sich von selbst. Vor seinen Augen zerschmolz alles zu einem zähen Brei — Polja, das Fenster, die Wände. Wahrscheinlich war er müde. Wahrscheinlich konnte er andere nicht weinen sehen. Wahrscheinlich hatte Polja ihm die letzten Kräfte genommen in jener Nacht, als sie, halbtot vor Angst, in sein Zimmer gestürzt war.
Dascha stand neben Polja und umarmte sie. „Polja! Schämst du dich nicht, Liebe? Mit Tränen und Anfällen willst du deine Stärke beweisen? Du bist doch kein bürgerliches Fräulein, du bist eine Kommunistin. Wir müssen ein Herz von Stein haben und keinen Badeschwamm. Du hast dich verrannt, liebe Polja. Geh nach Hause und beruhige dich. Auf mich kannst du bauen: meine Kräfte reichen noch für lange Zeit."
Sie ging an ihren Platz zurück und kratzte wieder mit der Feder übers Papier.
Polja sah mit einem langen, verlorenen Blick zuerst Dascha, dann Sergej an und setzte sich schweigend auf ihren Stuhl.
„Ich bleibe hier", sagte sie ungewöhnlich ruhig durch die Zähne. „Ich bin gekommen, um zu arbeiten, und ich werde weitermachen bis zum Schluss."
„Na also. Ich kenne dich doch, Polja: wir arbeiten ja nicht den ersten Tag zusammen."
Dascha schrieb, ohne den Kopf zu heben, und lächelte.

Die Überprüfung

Polja und Sergej wurden in der Werkparteizelle überprüft— Sergej, weil er ihr „angegliedert" war, Polja, weil sie krankheitshalber die Überprüfung in der eigenen Parteizelle versäumt hatte.
Die Versammlung fand im Theatersaal des Klubs statt; sie war stark besucht — eine Menge Parteiloser hatte sich eingefunden. Die Kommunisten drängten sich in den ersten Reihen, die Parteilosen hinten. Weil die Wände des Saales mit Spiegeln bedeckt waren und jede Wand die gegenüberliegende und die dazwischen wogende Menge spiegelte, schienen Tausende von Menschen im Saal zu sein. Es waren aber nur etwa hundertfünfzig.
Gleb saß als vierter Angehöriger der Kommission am Tisch vor der Bühne. Der Kronleuchter glitzerte im Schein seiner fünfzig Glühbirnen.
Die übrigen drei Angehörigen der Kommission waren Fremde. Zwei trugen Soldatenmäntel und Schirmmützen. Der dritte, ein Hafenarbeiter und ehemaliger Partisan, sah aus wie ein Tatar. Der eine Soldat hatte breite Backenknochen und ein braunes, fast schwarzes Gesicht. Der andere war knochig, mit aschfahlem Gesicht und einem Bart wie ein Besen. Er knetete ihn ständig mit drei Fingern. Wenn er die Lider hob, war von den Augen nichts zu sehen — so farblos waren sie. Sprach er mit einem aufgerufenen Kommunisten, sah er an ihm vorbei und redete scheinbar nicht mit ihm, sondern mit einem anderen. Auch die Parteibücher schien er nicht anzusehen — er knautschte sie nur zusammen in seinen dürren, starren Fingern.
Sergej hörte hinter sich flüstern: „Der reinste Ausklopf er, dieser Ölgötze! Der macht einen mürbe, bei Gott..."
Und da in dem Moment der Knochige Gromada aufrief, wusste Sergej nicht, ob dieser die Worte herausgepresst hatte oder ein Nachbar von ihm.
„Genosse Gromada. Ihr Lebenslauf?"
„Mein Lebenslauf ist folgender, Genosse ... Bei einem Proleten, der von Kind auf gearbeitet hat, und da uns die Kapitalisten so großartig ausgepowert haben, gibt es hier nichts zu diskutieren."
Hinten wieder Geflüster: „Ha, der versteht's. Fein, Gromada!"
„Wann bist du in die Partei eingetreten?"
„Unter der Sowjetmacht, das genaue Datum war — vor einem Jahr."
„Warum nicht schon früher?"
„Welcher Stift wird gleich Meister? Waren Sie nicht erst Stift in der Fabrik, Genosse? So ein Stift muss erst mal ordentlich geschliffen werden und so weiter... da lernt er..."
„Ich frage: warum bist du so spät in die Partei eingetreten?"
„Das beweise ich doch gerade: weil unser Feind das mangelnde Bewusstsein ist... und so weiter... Aber in die KPR bin ich kurzfristig eingetreten ... ich habe nicht unnütz diskutiert."
„Bei den Rot-Grünen gewesen?"
„Eigentlich nicht, Genosse, aber ich hab mit den Bergen zu tun gehabt. Hinter den Bergen war ich nicht, aber in den Bergen, dort hab ich die weißen Soldaten traktiert... und so weiter... Dascha und ich haben Schrauben gedreht ..."
„Also nicht bei den Rot-Grünen gewesen. Vorgezogen, zu Hause zu sitzen und auf gutes Wetter zu warten."
Gromada witterte Gefahr in den Fragen des Knochigen. Jedes seiner Worte barg Feindseligkeit und versetzte unbemerkt einen schmerzhaften Stich. Als Gromada dies spürte, bekam er hohle Wangen, und in seinen Augen begann ein Funken Hass zu glimmen. Vielleicht bemerkte das der Dürre, vielleicht hatte er es auch über, sich mit Gromada abzuplagen — er kritzelte mit dem Bleistift etwas auf ein Stück Papier und winkte ab.
„Sie können gehen. Hat noch jemand etwas vorzubringen hinsichtlich des Genossen Gromada?"
„Gromada ist doch unser As! Schont sich nicht. Ist bald am Krepieren, aber immer aktiv und auf Draht."
„Der nächste. Genosse Sawtschuk!"
Die Menge wurde unruhig, begann zu wispern, spitzte die Ohren. Sawtschuk, zottig, in einem langen, ungegürteten Leinenhemd und zerrissenen Hosen, schob sich nach vorn; seine nackten Füße klatschten über den Boden, er stieß die Leute mit Armen und Hüften an, man blickte ihm grinsend nach und zupfte ihn am Hemd.
„He, Fassbinder, bleib fest!"
Sawtschuk stellte sich finster vor den Tisch und wusste nicht, wo er seine langen Arme lassen sollte.
„Mit meinem Leben lass mich aber in Ruhe, Genosse Überprüfer."
„Wieso denn? Das ist doch notwendig: darauf beruht die
ganze Überprüfung."
„Lass mein erbärmliches Leben in Ruhe. Was geht's dich an, wenn ich es selber dem Teufel in den Rachen geschmissen habe? Schluss damit! Ich bin Böttcher und mache Fässer. Sonst... Jetzt mache ich keine. Die Böttcherei ist noch nicht dran. Aber singen die Sägen — dann gibt's auch zu tun für neue Böttcher."
„Sie schreiben hier unter anderem, Sie hätten verschiedenen Leuten eins auf den Kopf gegeben und werden das auch weiterhin tun. Wem haben Sie eins auf den Kopf gegeben, von welchen Köpfen reden Sie?"
Alles hielt gespannt den Atem an: gleich würde Sawtschuk eine Bombe platzen lassen, ohne die Wirkung zu berechnen, und es würde ein Gaudium geben und einen Skandal. Auf Stirn und Hals schwollen ihm die Adern an, seine Augen funkelten wutentbrannt und lachten zugleich.
„Ich hab sie verdroschen, diese Ketzerseelen, und ich werd sie verdreschen, diese Saukerle. Dort sitzen Schlosser
auf den Bänken — die haben's auch gekriegt. Die haben die Nase voll von mir, die Feuerzeugmacher. Der Teufel ist immer der alte. Das ist Jacke wie Hose. Früher, beim alten Regime, da hat man mit Automobilern angegeben, und heute schröpfen sie unsereins auf ganz genau solche Tour."
„Wer schröpft? Etwa die Genossen in Partei und Sowjet? Sprechen Sie konkret."
Aus den ersten Reihen kam eine hustenerstickte Stimme: „So schmeißt ihn doch raus! Was tutet er uns hier die Ohren voll."
Der Saal schnaufte und murrte.
„Drücken Sie sich genauer aus, Genosse Sawtschuk. Es gibt verschiedene Köpfe: den einen muss man eins draufgeben, die anderen mehr als den eigenen hüten."
Sawtschuk brummte verstockt: „Habe verdroschen und werde verdreschen. Und Sie brauchen mich nicht zu belehren. Chefs gibt's noch reichlich, und mit denen, die Anweisungen geben, kann man die Straße pflastern..."
Gleb unterbrach ihn mit fremder Stimme: „Hör auf zu randalieren, Freund. Du streitest dich hier nicht mit deiner Motja."
Sawtschuk sah Gleb mit blutunterlaufenen Augen an. „Halt 's Maul, Gleb! Ich bin nicht irgendein hergelaufener Strolch. Ich kusche nicht. Ich kann mich sehen lassen."
Aus den hinteren Reihen schrie plötzlich eine Frau über die Köpfe hinweg: „Aber wie er Selbstgebrannten gesoffen und seine Motja tagtäglich bis auf die Knochen durchgewalkt hat, davon sagt Sawtschuk nichts."
„So sind sie alle, die verdammten Kerls, uns Weiber hetzen sie nur immer rum — koch Essen, schlepp Säcke, deck den Tisch, hat 's Maul, zieh Kinder auf."
Motja sprang von ihrem Platz auf und kam durch den Gang gelaufen.
„Stimmt nicht, stimmt nicht, stimmt nicht! Wenn Sawtschuk mich verprügelt hat, hab ich ihn auch verprügelt."
(Gelächter.) „Sawtschuks Schuhsohlen sind mehr wert als ihr alle zusammen."
Die Leute verstummten verwirrt und verlegen. „Wo hat denn Sawtschuk seine Schuhsohlen, Motja? Er läuft ja barfuss — schau hin."
Motja schimpfte aufgebracht nach rechts und nach links. „Lasst Sawtschuk in Ruh! Er ist besser als ihr alle — jawohl! Lass dir nichts gefallen, Sawtschuk. Hab keine Angst, Sawtschuk!"
Die Kommissionsmitglieder lächelten; auch der Knochige lächelte überraschend heiter.
Polja zitterte und kroch in sich zusammen, als habe sie Schüttelfrost. Sie saß neben Sergej und starrte nach dem Tisch hin. Wie verzaubert sah sie den Knochigen an und lächelte nur mit den Lippen. Ihr Gesicht war voller dunkler Flecke wie bei einer Kranken.
Auch Sergej war erregt — aber ihn erfüllte eine unbestimmte Freude. War es nicht gleich, ob diese Freude aus ihm selbst kam oder ihm aus dem Innern dieser lichtübergossenen Menge zuströmte? Sie sang, sie lachte wie ein kleines Kind in jeder Zelle seines Körpers, und alles — die Leute, das Kichern und Flüstern hinter ihm, der Kronleuchter mit seinen glitzernden Kristalltrauben —, alles war ungewöhnlich neu, voll tiefen Sinns, voller Bedeutung. Bewusst erfasste er nur einzelne Laute und Gesten oder auch die Welle eines allgemeinen Aufseufzens, aber alles war so klar und einfach. Herausgerissene Augenblicke waren das, aber diese Augenblicke strotzten von Leben. Warum ist aber das Zusammenspiel der Augenblicke in ihrer Ganzheit ein so gewaltiger und komplizierter Prozess? Der komplizierte Prozess des Menschenschicksals? Und dieses Schicksal ist eine Tragödie. Der Vater denkt anders. Doch vielleicht enthält jeder einzelne Augenblick die ganze Geschichte? Vielleicht ist nicht die Geschichte das Wichtigste, sondern der Augenblick, nicht die Menschheit, sondern der Mensch? Warum sollte Poljas Gesicht nichts bedeuten? Es ist zart
wie eine Blüte. Wenn sie atmet, beben ihre Nasenflügel und werden blass an den Rändern. In jedem Tropfen Blut, der durch die Adern rinnt, ist Schmerz und Qual. Und in diesen Blutstropfen liegt der ganze Sinn des menschlichen Lebens, die Lösung seines Rätsels, seine ganze Freude und sein Wesen.
„Genosse Sergej Iwagin!"
Er stand auf. Ein Schritt, zwei, drei... Er blieb stehen. Wie einfach und erregend!
Die Worte kamen von selbst. Er hörte seine Stimme und sah eine fremde Nase, hart wie ein Schnabel.
„Sagen Sie, jener Oberst, der kürzlich erschossen wurde, war Ihr Bruder? Haben Sie ihn vor seiner Erschießung oft gesehen?"
„Zweimal: am Sterbebett meiner Mutter und dann, als Genosse Tschumalow und ich ihn beim Signalisieren festnahmen."
„Warum haben Sie nichts getan, um ihn schon nach der ersten Zusammenkunft verhaften zu lassen?"
„Offensichtlich lag dazu kein Grund vor."
„Warum haben Sie im Jahre achtzehn nicht mit der Roten Armee die Stadt verlassen, sondern sind bei den Weißen geblieben? Waren Sie so sicher, nicht erschossen zu werden?"
„Nein, wie sollte ich? Ich hielt die Flucht für ziemlich sinnlos. Man konnte ja auch hier arbeiten."
„So, Sie waren doch damals noch nicht Kommunist? Nun, dann ist alles klar."
„Was ist klar? Was meinen Sie mit Ihrem ,klar'?"
„Genosse, ich bin nicht verpflichtet, auf Fragen zu antworten. Wir veranstalten keine Diskussion. Sie können gehen."
Sergej setzte sich nicht wieder auf seinen Platz, sondern ging zwischen den Reihen der Arbeiter durch nach hinten; mit ihm gingen noch andere Sergejs, die ihn mit weit aufgerissenen Augen aus roten, geschwollenen Lidern anstarrten. Ihm war, als ginge er nicht auf dem Fußboden, sondern auf einem schwankenden, schmalen Brett hinab — immer abwärts, abwärts. Er konnte seine Beine nicht zum Stehen bringen. Die Beine schienen ihn auch gar nicht zu tragen, sondern das Brett, das unter ihm fortglitt und dem er kaum folgen konnte. Hunderte, unzählige Gesichter, borstige Köpfe schwammen in Rauch und feurigem Nebel an ihm vorbei, umdrängten ihn von allen Seiten.
Und dann verschwand plötzlich alles wie ein Spuk. Der Korridor war leer. Nur in der Ferne tönten junge Stimmen.
Ü berprüfungskommission. Der Knochige mit seinem ruhigen Gesicht und seinen ruhigen Bewegungen, mit undurchdringlichen Gedanken, ohne Lächeln, ohne Schmerz (er hat wohl nicht einmal Falten im Gesicht). Alle sind in seine Macht gegeben: Gromada, Sawtschuk und er, Sergej, aber auch Polja, Gleb und Dascha — alle.
Hinter der Tür tönten Stimmen, und es dröhnte sein Kopf.
Als er die Tür öffnete, war er wie geblendet von den roten Fahnen und Transparenten. Die Wände glühten, Inschriften flatterten wie weiße Vögel. Überall, auf den Fensterbrettern, in den Ecken, standen Sträuße von Bergblumen.
Und Jugend in Turnsachen, mit nackten Armen und Beinen. Die Mädchen erkannte man an dem roten Kopftuch und der gewölbten Brust.
Reihen, Figuren, rhythmische Bewegungen ... „Eins — zwei — drei — vier..." Schlingen, Pirouetten, komplizierte Ketten.
„Eins — zwei — drei — vier..." Sergej betrachtete diese Musik der Bewegungen, und sein Herz pochte. „Eins — zwei — drei — vier ..."
Sergej ging zurück in den Theatersaal. Er blieb an der Tür stehen, lehnte sich gegen den Pfosten. Er konnte nicht weiter. Der kleine Tisch hinter den unzähligen Köpfen und Schultern und die vier Köpfe über dem Tisch erschienen unerreichbar fern; und all die Köpfe in den Spiegeln und die vervielfachten Kronleuchter waren unerträglich grell und unheimlich.
Polja stand vor dem Tisch, klein wie ein Schulmädchen, ohne das gewohnte Kopftuch. Ihre Stimme überschlug sich, zitterte und schrie vor Schmerz:
„... ich kann nicht darüber hinwegkommen, weil ich das nicht verstehe, weil ich keine Rechtfertigung dafür finde. Wir haben gekämpft, wir haben gelitten. Ein Meer von Blut, Hunger ... Und auf einmal... ist das auferstanden und nimmt den Mund wieder voll. Ich weiß nicht, was ist eigentlich der Alpdruck: die Jahre des Kampfes, der Leiden, des Bluts und der Opfer oder diese Orgie protzender Auslagen und Saufrestaurants? Wozu dann Berge von Leichen? Doch nicht dazu, dass Gauner und Schmeißfliegen sich wieder an allen Gütern des Lebens ergötzen — dass sie fressen, rauben und jubeln können? Damit kann ich mich nicht abfinden, so kann ich nicht leben. Wir haben uns geopfert, haben unser Leben hingegeben, um uns nun selber schmählich ans Kreuz zu nageln. Wofür?"
„Finden Sie nicht, Genossin, dass Ihre lyrischen Ergüsse jener linken Kinderei ähnlich sehen, von der Genosse Lenin kürzlich gesprochen hat?"
Die Stimme des Knochigen war unbewegt, streng und tonlos, und Poljas Aufschreie hörten sich daneben wie Schluchzen an. Die Menge gekrümmter Rücken und staubiger Nacken schob sich ächzend und erregt vor.
„Sie sind Vorsitzende des Frauenausschusses, Sie leiten die Frauenorganisation und reden vor Arbeitern und diesen Ihren Frauen so ungereimte Dinge. Das ist nicht gut, Genossin."
Man sah von weitem, dass Poljas Lippen zitterten und Tränen in ihren Augen glänzten. Als sie dann wie betrunken durch die Reihen taumelte, sahen die Leute, gebannt von ihrem Anblick, sie düster an und begleiteten sie lange mit den Augen.
„Wer hat etwas über die Genossin Mechowa zu sagen?"
Da stöhnte die Menge plötzlich auf, alles schrie durcheinander und fuchtelte mit den Armen: „Wozu, zum Teufel! Was denn noch? Sie hat recht!"
„Und ich möchte betonen, Genossen Kommission, dass der Lockenkopf ein Grünschnabel ist... und da wir alle noch nicht ausgewachsen sind in Bezug auf Kommunismus ... muss man vor allem das Weibsvolk davonjagen ... und Fräuleins auch."
Als der Lärm abgeflaut war und die Rücken und Nacken ihre frühere Haltung angenommen hatten, erblickte Sergej Gleb, der hinter dem Tisch stand und den Knochigen anstarrte. Er bemühte sich, etwas zu sagen, bewegte Lippen und Kinnlade, doch der andere hob nicht den Kopf und saß unbeweglich.
Dascha stand vor dem Tisch und sah Polja mit gespanntem, aufmerksamem, gequältem Blick nach. Dann streckte sie Gleb die Hand hin und begegnete seinem hilfesuchenden Blick. „Genossen — ein Wort. So geht das nicht."
Sergej folgte Polja in den Korridor und hörte nicht, was Dascha sagte. Polja ging mit raschen, unsicheren Schritten auf den Ausgang zu; ihr zurückgeworfener Kopf schwankte auf den Schultern wie bei einer Blinden. Er rief sie schüchtern an, seine Stimme hallte dumpf in der nächtlichen Leere des Ganges. Sie sah sich nicht um und warf sich mit Wucht gegen die schwere Tür.
Als Sergej wieder in den Saal trat, hörte er den Knochigen zum ersten Male laut, mit junger Stimme rufen: „Das lasse ich mir gefallen! Das ist ein Parteimitglied! Das ist eine Funktionärin, wie sie sein soll. Unsere Partei kann stolz auf solche Genossen sein. Gehen Sie, Genossin Tschumalowa. Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Und Sergej sah, wie der Knochige sich vom Stuhl erhob und Dascha die Hand schüttelte.
Ein geringfügiges Element der Allgemeinheit
In seinem Zimmerchen im Haus der Sowjets saß Sergej und las vor seinem Lämpchen Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus". Sorgfältig strich er ganze Absätze an und machte unleserliche Randbemerkungen. Hin und wieder stand er auf und ging, tief in Gedanken versponnen, im Zimmer umher: vom Tisch über einen abgetretenen, verstaubten Läufer in die Ecke zum Waschständer. Er dachte nach und konnte seinen Gedanken keine Form geben. Das Herz brannte ihm vor qualvollem Schmerz. Der Kopf aber war kühl, als streiften ihn fremde Gedanken nur von der Seite her.
Das Prinzip der Energetik widerspricht dem dialektischen Materialismus durchaus nicht, denn Materie und Energie sind verschiedene Formen desselben kosmischen Werdeprozesses. In der Methode liegt alles — nicht in den Worten. Die Dialektik ist energetisch. Die Formen der Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Weltmaterie sind gesetzmäßig und unendlich. In der Formel „Materie und Energie" ist nur das Wörtchen „und" Streitobjekt. Die Formel ist statisch und verlangt eine dialektische Umsetzung. Übrigens, man muss darüber nachdenken, muss sich zurechtfinden... Welch ein Wirrwarr.
Er setzte sich wieder, nahm das Buch und fuhr fort, Absätze anzustreichen und unleserliche Randbemerkungen zu machen.
Im Nebenzimmer, bei Polja, war alles ruhig. Polja war zu Hause. Als er vorhin durch den Korridor kam, war die Milchglasscheibe in ihrer Tür von innen erleuchtet gewesen und hatte wie Raureif geglitzert, und er hatte einen Augenblick lang einen lockenköpfigen, verschwommenen Schatten gesehen. Schon hatte er die Hand auf der Klinke, da war der Schatten ins Wanken geraten, von der Scheibe gerutscht und verschwunden. Er war nicht zu ihr gegangen. Wenn sie ihn braucht, wird sie an seine Tür klopfen oder zu ihm kommen, wie schon so oft.
Mit dem Buch in der Hand näherte er sich auf Zehenspitzen der Tür und lauschte. Stille — keine Schritte, kein Rascheln. Wahrscheinlich liegt sie im Bett, mit Augen, wie sie sie beim Verlassen der Versammlung gehabt hat; vielleicht schläft sie auch, erschöpft von den Aufregungen der letzten Tage. Wenn sie schliefe — das wäre gut; dann könnte sie morgen wieder fest auf den Beinen stehen. Sie ist nur etwas müde geworden (es gibt so viele müde Menschen jetzt); sie braucht nur ein wenig Ruhe. Sie hat den Krieg mitgemacht — und ist glücklich gewesen, hat dort laut lachen gelernt. Sie hat im Frauenausschuss gearbeitet, angestrengt gearbeitet — und hat auch da gelacht. Nun hat ein neuer Abschnitt begonnen, hat einen Rückschlag gebracht — und unter dessen Wucht ist sie plötzlich zusammengesackt. Sie muss nur ein wenig ausruhen und verstehen lernen. Er wird noch nicht schlafen gehen: sie muss ihn zu sich rufen können, wenn sie ihn braucht.
Die Überprüfung. Das alles liegt so fern. Das alles ist so nichtig: Kann denn diese winzige Episode von irgendwelcher Bedeutung sein im allgemeinen Werdeprozess?
Zum offenen Fenster flogen goldene und silberne Nachtfalter in flauschigen Pelzchen herein, flatterten um die Lampe, flogen in die Tiefe des Zimmers und brummten wie eine schwachgespannte Saite. Das Zimmer wirkte dadurch riesengroß, und Sergej musste daran denken, dass er allein war und dass viele ungeahnte Veränderungen in der Zukunft auf ihn warteten. Er ging zum Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus. Trotz des Oktobers war es warm, doch spürte man in dieser warmen, dunklen Nacht schon die süßlichen, eigenartigen Gerüche herbstlichen Verwesens; es roch nach Sumpf und nach abgefallenen Blättern. Auch in der steinernen Finsternis der Stadt (es gab noch keine Straßenlaternen) herrschte Stille; nur fern auf dem Bahnhof schrillten Lokomotivpfeifen, rasselten Waggons.
Jenseits der Bucht, unterhalb der Berge, leuchteten verworrene Girlanden elektrischer Sterne. Das war das wiedererwachende Werk. Einzelne Lichttropfen zitterten im Hafen, auf den Landungsbrücken und den Dampfern und warfen ihre feurigen Strahlen auf die Bucht.
Sergej döste für einen Augenblick ein; der Vater tauchte vor ihm auf, trippelte mit bloßen Füßen umher und lachte fröhlich. Er hielt einen Stuhl in den Händen, trat von einem Fuß auf den anderen und sprudelte wirres Zeug hervor. Und weil er nichts von diesem komischen Geschwätz verstehen konnte, packte Sergej das Grauen. Er saß wie gelähmt, wollte aufstehen und konnte es nicht. Der Vater drohte ihm mit dem Finger, zupfte an seinem Bart und lachte fröhlich.
Ein Traum. Das Herz schlug dumpf und langsam. Hinter der Tür, in Poljas Zimmer, brummte die Bassstimme Badjins. Das Eisenbett knarrte und ächzte. Poljas Stimme klang abgerissen — es war nicht zu unterscheiden, ob sie weinte oder lachte.
Das Herz schlug dumpf und langsam. Geduckt, die Adern auf Glatze und Schläfen geschwollen, ging Sergej zur Tür. Stand und lauschte mit erhobener, schlagbereiter Faust. Ein Krampf verzerrte sein Gesicht, die Faust sank langsam herab und löste sich schlaff. Zitternd vor Schüttelfrost, schleppte er sich zum Bett. Blieb stehen und horchte wieder. Dann entkleidete er sich langsam, löschte das Licht und zog sich die Decke über den Kopf.

Wo gehobelt wird, fallen Späne

Am nächsten Morgen wachte Sergej zur gewohnten Stunde auf und sprang rasch aus dem Bett. Er ging sofort zum Waschständer und wusch sich — nicht lange, aber gründlich. Dann stellte er sich mit dem Handtuch vors Fenster (es hatte die ganze Nacht offen gestanden). Im Zimmer war es kalt, und er fühlte sich frisch und elastisch.
Der Himmel war hoch wie im Sommer, die Luft klar und in der Ferne golden. Auf den Bürgersteigen unten brannte die Sonne, die taufeuchten Dächer glänzten und spiegelten das Blau des Himmels. Der Schnee, der wie Wolkenballen auf dem Gipfel über dem Werk lag, leuchtete blendend hell. Ganz fern, in einer Mulde, kroch über Steinhalden und durch junges Waldgestrüpp ein Güterzug wie eine rote Raupe den Hang hinauf; deutlich sah man die kleinen Wagen mit den schwarzen Türvierecken, sah das Spiel der Radspeichen. In feurigen Klumpen flog der Dampf aus dem Schornstein, verbreitete sich in rosa Wolken und leuchtete noch lange. Der Herbstgeruch — dieser süßliche, kühle, metallische Geruch nach Gärung und Verwesung — strömte in würzigen Wellen zum Fenster herein.
Die Überprüfung. Die vielfach widergespiegelten Menschenmassen und Kronleuchter. Seine verlegenen, naiven Antworten. Ach, das lag so weit zurück und war so nichtig! Sein Körper strotzte vor Gesundheit und lechzte nach schwerer Muskelarbeit. Er stand am Fenster und reckte die Arme, die nach Bewegung verlangten — hoch, zur Seite: eins — zwei — drei — vier ... Polja. Ein dumpfer Schmerz zog durch seine Brust. Sie ist nicht zu ihm gekommen, sie hat seine Freundschaft nicht gebraucht. Was in der Nacht geschehen ist, will sie diesmal für sich behalten. Sein Schmerz gehört nur ihm. Ihr Schmerz aber bringt sie ihm noch näher. Er sagt ihr nichts von seinem Schmerz, und sie wird nie etwas davon erfahren. Sie ist stark, sie versteht zu lachen, sie wird ihm, dem Freund, heute mit einem guten Lächeln begegnen. Liebe, liebe Polja!
Er nahm seine Aktentasche und ging auf den Korridor. Poljas Tür war fest verschlossen, aus ihrem Zimmer drang kein Laut. Sie schlief. Sollte sie ruhig schlafen: sie musste ausruhen und sich beruhigen.
Im Parteikomitee ging er in das Zimmer der Überprüfungskommission.
Trotz der frühen Stunde stank das dunkle Zimmer mit dem vergitterten Fenster schon stark nach Machorka. Mehrere Männer standen vor dem Tisch, ihre Gesichter waren zerknittert wie nach schwerer Krankheit. Zwei Angestellte der Abteilung Volksbildung rannten Sergej fast um, schlichen dann schweigend mit dem Lächeln von Geprügelten wie Blinde an ihm vorbei und stießen in der Tür zusammen. Sergej hörte nur, wie Shuk zänkisch schrie: „Prügeln muss man euch, über den Haufen knallen, liebe Genossen. Euch selbst mit Knüppeln aus der KPR rausjagen ... Was versteht ihr vom Arbeiter? Ihr pflegt nur euren Bauch und euer Fell, und die Arbeiterklasse ist euch scheißegal. Wie kannst du mich überprüfen, du Galgenvogel, wenn meine Fresse für dich ein Buch mit sieben Siegeln ist? Hast du mit mir aus einer Schüssel gelöffelt, wie? Mir willst du was vormachen, wo du doch selbst nur ein alter Stinkstiefel bist."
Der Knochige saß taub und verschlossen am Tisch und blätterte teilnahmslos in einem dicken Aktendeckel voll beschriebener Papiere. Als Shuk die letzten Worte herausgeschrieen hatte, hob er den Kopf und sah ihn an.
„Genosse, wenn Sie ein Kommunist sind, wie Sie sich einbilden, warum fehlt Ihnen dann die nötige Selbstbeherrschung? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ..."
Shuk stürzte mit verzerrtem Gesicht auf ihn zu und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Wenn du mich zur Sau machst, du elendes Gerippe, dann soll ich wohl noch danke schön sagen, was? Wartet nur! Ich werde euch schon zeigen, was eine Harke ist."
Der Knochige sagte nachlässig zu dem Kommissionsmitglied mit den breiten Backenknochen und dem dunklen Gesicht: „Genosse Natschkassow, such die Akte Shuk heraus und leg sie für die heutige Kommissionssitzung zurecht."
Dann warf er einen gleichgültigen Blick auf Shuk. „Sie haben sich jetzt endgültig jeden Weg zur Wiederaufnahme in die Partei vermauert, Genosse Shuk. Sie haben zur Genüge bewiesen, dass Sie ein schädliches, zersetzendes Element sind. Ich werde beantragen, Sie unwiderruflich auszuschließen. Und wenn Sie jetzt nicht aufhören zu krakeelen, lasse ich Sie vom Diensthabenden der Tscheka mit Gewalt hinausführen. Verlassen Sie das Zimmer!"
Er fuhr fort, teilnahmslos in der Akte zu blättern.
Shuk knirschte mit den Zähnen, erblickte Sergej und trat aufgeregt zu ihm, als suche er Schutz.
„Siehst du, was hier vorgeht, Serjosha, lieber Genosse! Stellen wir uns her, damit wir lernen, wie man's machen muss." Er winkte ab und ging vernichtet beiseite.
An der Wand gegenüber dem Tisch stand Zcheladse. Er rollte seine großen, blutunterlaufenen Augen und blickte starr auf einen Punkt zwischen den Papieren. Sergej hatte ihn immer nur stumm gesehen; bei der Arbeit fiel er nie auf, und doch hatte er einst eine Gruppe roter Partisanen kommandiert und war mit ihr in die Stadt eingedrungen. Zcheladses Augen stießen auf etwas, er zuckte zusammen und schritt auf den Knochigen zu.
„Ghenosse... Wharum du mhachst Spaß? Lass sehen mit meine Augen! Wharum Worte — lass sehen!"
Die Augen des Knochigen hellten sich vor Verwunderung auf.
„Ich habe Ihnen schon gesagt, Genosse: Sie sind ausgeschlossen wegen Intrigantentums. Ich habe keine Zeit zum Scherzen. Legen Sie Berufung ein!"
Zcheladse erstarrte in seiner früheren Pose, und seine Kiefer arbeiteten wieder.
„Ha, so macht man's also, Serjosha, lieber Genosse! Schau hin, lerne!"
Sergej trat zum Tisch und erkundigte sich nach dem Beschluss der Kommission. Schon gestern war ihm klar geworden, dass er ausgeschlossen war. Er wusste nicht, wo-
für, und hätte er sich nach den Gründen gefragt, wäre ihm keine Antwort eingefallen; trotzdem war er fest überzeugt, dass er ausgeschlossen war.
„Ja, Sie sind ausgeschlossen."
„Die Gründe?"
„Ich kann Ihnen jetzt nicht das Protokoll vorlesen. Sie erhalten zur gegebenen Zeit einen Auszug und erfahren daraus alles. Wenn Sie nicht einverstanden sind, können Sie Berufung einlegen." Er sah Sergej nicht ein einziges Mal an. Sergej stockte das Herz, als er diese Worte hörte.
„Aber das ist doch politischer Tod für mich. Sind Sie sich darüber im klaren, Genosse?"
„Ja, ich bin mir darüber im klaren. Das ist Ihr politischer Tod."
„Aber wofür denn das?"
„Es haben wohl ernste Gründe vorgelegen." Sergej wollte gehen, konnte sich aber nicht vom Tisch fortbewegen — die Beine gehorchten ihm nicht, sie waren um vieles schwerer als er selbst. Vor dem Fenster war kein Sonnenschein, sondern der rote Schein einer Feuersbrunst. Sergej dachte nur, wie es wohl komme, dass die Sonne so durch schwülen Dunst scheine — dann sah er blauen Himmel und in der Nähe die riesigen, grauen Bahnspeicher. Wie er vom Tisch weggekommen ist, wusste er nicht mehr, wusste auch nicht, warum er überhaupt in diesem Zimmer stand. Shuk drückte ihm die Hand und lachte mit etwas heiserer Kehle.
„Das nenne ich eine großartige Arbeit, Serjosha. Hoch die Bürokratie! Aus eurer Parteizelle Sawtschuk rausgeschmissen, die Mechowa rausgeschmissen, du rausgeschmissen. Jetzt blüht ihr Weizen. Jetzt können sie schalten und walten. Na warte nur, ich werd ihnen schon die Flötentöne beibringen."
Zcheladse fuhr plötzlich zusammen und spreizte die Finger wie einen Fächer.
„Ghenosse ... Wharum du Spaß mhachst? Wharum leere Worte du sprichst, sag bitte! Lass sehen mit meine Augen, whas du hast geschrieben."
Wieder hellten sich die Augen des Knochigen erstaunt auf. Er beugte sich kurzsichtig über die Papiere und sagte müde durch die Zähne: „Genosse Natschkassow, zeig Zcheladse den Beschluss."
Zcheladse torkelte wie betrunken zu Natschkassow. Der Angehörige der Kommission mit dem dunklen Gesicht reichte ihm ein engbeschriebenes Blatt und tippte mit dem Finger auf die Mitte.
Außer sich vor Wut, ein irrsinniges Flackern in den Augen, kreischte Zcheladse: „Rraus, Schuft, Hundesohn!" Er sah das Papier nicht an, holte weit aus und schlug sich mit der Faust hinters Ohr.
„Du mhich überprüft... ihr mhich überprüft. Ich euch auch überprüft... Da!"
Ein Schuss krachte, das Zimmer füllte sich mit Rauch. Zcheladse lag auf dem Boden. Aus dem zerschmetterten Schädel sickerte eine blutige Brühe.
Der Knochige war blass geworden; er sprang vom Stuhl auf und sah mit blicklosen Augen erschrocken auf den toten Zcheladse.
Sergej erinnerte sich nicht, wie er aus dem Zimmer gelangt war. Als er zu sich kam, sah er Shidki neben sich stehen; der stieß ihm ein Glas Wasser zwischen die Zähne und brüllte: „Trink, hol dich der Teufel! Heul nicht wie ein Weib! Begreife doch: die Dinge werden nicht hier entschieden. Es gibt auch noch höhere Instanzen. Und wenn man mich rausschmeißt — solche Schweinereien nehme ich nicht stillschweigend hin."
Sergej saß auf dem Stuhl und schluchzte.

 

XVII. Vorstoß in die Zukunft

Weiter geht's!

Die Inbetriebnahme des Werkes wurde auf den Jahrestag der Oktoberrevolution gelegt. Die Festversammlung des Stadtsowjets sollte im Klubhaus „Komintern" stattfinden, um die Feier des Roten Oktobers mit der Feier des ersten großen Sieges auf dem Felde der Arbeit zu verbinden.
Die Parteiüberprüfung war abgeschlossen; aber die Korridore im Palast der Arbeit waren noch immer voller Menschen, voll feuchten, braunen Qualms, taumeliger Verwirrung, krampfhafter und demütiger Erwartung. Die Menschen standen in Gruppen, sprachen gedämpft aufeinander ein, und doch war jeder für sich allein, und alle glichen sie Kranken.
Beim Volkswirtschaftsrat und bei der Werkverwaltung wurde schon seit mehreren Tagen von der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion unauffällig und in aller Ruhe Revision vorgenommen.
Schramm saß wie seit eh und je in seinem Arbeitszimmer hinter fest verschlossenen Türen und empfing von elf bis zwei. Dort, hinter der Tür, herrschte strenge Ruhe. Der Apparat arbeitete ebenso kompliziert, machtvoll und geräuschlos wie in früheren Tagen. Auch der Aufwand an Menschen war nicht geringer geworden. Nur die geschniegelten Spezialisten waren etwas blass, hatten trübe Augen und einen unruhigen, gespannten Blick. Bei den Angestellten aber, die über ihre Bücher und Akten gebeugt saßen, sah man weder Aufregung noch Angst — als wäre gar keine
Arbeiter-und-Bauern-Inspektion in der Nähe, als wüsste man nicht, was sie bedeute und was eine Revision sei.
Gleb pendelte zwischen Werkverwaltung und Werk hin und her. Er raste von Gebäude zu Gebäude, von Halle zu Halle, versank im Staub und zwischen Bergen von Material und konnte einfach nicht anders, als selbst nach dem Werkzeug zu greifen und sich an die Arbeit zu machen. In der Schlosserei hatte er Krach mit dem Schlosser Saweljew. Dieser alte Arbeiter war ein verdrossener, ungeselliger, schweigsamer Mann. Er unterbrach seine Arbeit oft, keuchte vor Husten und spie dicken schwarzen Schleim aus. In einem solchen Augenblick riss Gleb ihm einmal das Werkzeug aus der Hand und schnauzte ihn an: „Was trödelst du hier! Arbeitest wohl für fremde Herrschaften, wie?" Saweljew glotzte ihn verblüfft an und hustete keuchend. „Du hast hier nicht zu spucken und mit den Augen zu klappern, sondern zu arbeiten. Jede Minute ist kostbarer für uns als das Leben."
Gleb klapperte mit Eisenstücken, spielte mit dem Schraubstock und fieberte am ganzen Körper.
Saweljew schubste ihn mit der Schulter und schüttelte seinen Bart.
„Was weißt du denn? Wie viel Jahre arbeite ich schon — als Dreher, als Schlosser, als weiß der Henker was. Du hast noch nicht mal an Mutters Zitzen gelutscht, da hatte ich schon die Brust voll Stahlspäne. Kehr hier bloß nicht den Befehlshaber raus, du ..."
„Auf deinen Bart pfeif ich! Solche wie dich gibt's viele, die Löcher in die Luft gucken und dabei auf ihre Erfahrungen pochen. Dir ist nur deine Haut wichtig, aber die allgemeine Arbeitersache und die Produktion sind für dich ein Katzendreck."
Die anderen lachten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, und johlten vor Vergnügen.
„Los, Tschumalow! Immer feste! Bekehr den alten Knaster zum rechten Glauben."
Gleb kam zu sich, warf das Werkzeug hin und lachte. „Pfui Teufel noch mal! Was bin ich doch für ein Rindvieh! Nicht böse sein, Freund. Mir jucken bloß die Hände, darum werd ich so tollwütig ... vor Neid, Saweljew. Entschuldige, Bruderherz, wenn ich dich gekränkt habe."
Und er lief in die nächste Abteilung.
Die Reparatur des Ofens und des Steinbrechers ging ihrem Ende zu. Der Bremsberg war schon in Betrieb, mehrmals täglich drehten sich munter die Räder der elektrischen Förderbahn, und die Rollen ratterten wie ferne Schmiedehämmer. Nur die Schwebebahn zum Hafen mit den im Fluge erstarrten Laufkörben schwieg noch immer, und das Sicherungsnetz war stumpf vom roten Rost. Die Turmuhr mit dem riesigen weißen Zifferblatt, die drei Jahre stillgestanden hatte, bewegte ihre Zeiger; von Bogenlampen angestrahlt, zeigte sie nachts bis auf eine Werst Entfernung die Zeit an.
Auch die Böttcherei wurde wieder flott gemacht. Man richtete die Werkbänke, entfernte Schutt und Schmutz und fuhr auf Loren Daubenholz heran. Sawtschuk, von Kopf bis Fuß verschwitzt und staubig, grölte, fluchte wunder wie saftig (die Böttcher waren die besten Sänger und konnten am saftigsten fluchen) und watete mit den anderen durch Haufen von Müll und Hobelspänen, stolperte über Daubenholz und Reifenbündel.
Jeden Tag besuchte Gleb die Maschinenhalle, wo er sich wie ein anderer Mensch fühlte. Hier war sattes blaues Licht. Hier strahlte alles vor Sauberkeit: die Fensterscheiben, die Fliesen, die schwarzglänzenden Dieselmotoren mit ihren Nickel- und Messingbeschlägen. Hier klingelten zart und melodisch Hebel, Hämmerchen und Kolbenrohre. Diese strenge und jugendfrische Metallmusik rückte einem behutsam und unwiderstehlich das Herz auf den rechten Fleck. Und auch in der Brust schien dieses zarte Klingeln zu schwingen und zu singen. Gleb stand lange am Messinggeländer und sah dem schwebenden Gleiten der gigantischen Schwungräder und den geschmeidigen rotbraunen Treibriemen zu, die eilig hinter den Schwungrädern herflogen, bebend und zuckend wie Lebewesen. Er fühlte sich nicht mehr einsam. Von den Schwungrädern, deren schnelle Umdrehung kaum wahrzunehmen war und durch ihre Lautlosigkeit beunruhigend wirkte, strömten ihm feuchte heiße Wellen ins Gesicht, gegen Hände und Brust und bannten ihn mit ihrem elementaren Atem. Verzaubert löste er sich in dem ehernen Wirbel, in den heißen Luftwellen und stand da ohne Gedanken, ohne Schwere, ohne Raumgefühl.
Meist war es Brynsa, der ihn wieder zur Besinnung brachte. Er nahm ihn beim Arm und führte ihn wortlos zur Glaswand, hinter der zwischen fernen, dunstigen Bergrücken die endlose Weite von Luft und Meer blaute.
Brynsa war nicht mehr derselbe, der Gleb im Frühjahr empfangen hatte. Die speckige, fladenähnliche Mütze über der Nase war wohl die alte geblieben, auch die schmutzigen, scharfen Backenknochen, das Kinn und der graubraune Schnurrbart hatten sich nicht verändert. Doch seine Augen waren kalt und starr geworden und schimmerten golden und silbrig wie die Dieselmotoren. Er schrie nicht mehr und regte sich nicht auf, sondern lauschte aufmerksam auf den Klang und das Wispern der Maschinen. Ihr Gespräch fing häufig so an:
„Na, Heerführer?"
„Na, lieber Freund?"
„Weiter?"
„Weiter geht's, Brynsa!"
„Brechen wir uns nicht das Genick?"
„Was fällt dir ein? Verrückt geworden? In die Partei musst du eintreten, mein Lieber, damit du etwas mehr siehst als nur deine Dieselmotoren."
„Nee, Heerführer, damit bleib mir bloß vom Leibe. Was soll mir die Partei, wenn für mich nur die Maschinen existieren? Es gibt die Partei, und es gibt Maschinen. Was
die Partei ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, wie Maschinen leben. Sind Maschinen einmal da, so müssen sie auch arbeiten. Schwätzer mag ich nicht."
Er brach unvermittelt ab und ging, ein wenig gebückt, mit festen Schritten davon, tauchte in einem der dämmerigen Gänge zwischen den Maschinen unter.
Eines Tages, als Gleb wieder die Reparaturarbeiten in den von Zementstaub grauen Fabrikräumen inspizierte, begegnete er — inmitten lärmender, hastender, schreiender Arbeiter — Ingenieur Kleist. Über dessen erwartungsvollen Blick hatte Gleb sich schon oft gewundert. Kleists müde Augen brannten vor Erregung, und eine besorgte Frage flackerte in ihnen. Er fasste Gleb sacht unter, und sie gingen schweigend zum Viadukt. Schulter an Schulter stiegen sie auf die Plattform des Förderturms, wo sie einander an jenem unvergesslichen Abend begegnet waren. Rechts unten schmatzten die Dieselmotoren, brummten wie Basssaiten die in der Tiefe verborgenen Dynamos. Auf den Dächern krochen puppenhaft winzige gebückte Gestalten umher. Die Sägeblätter kreischten wie ein Dohlenschwarm, dumpf trommelten die Hämmer. Die Fenster waren keine schwarz gähnenden Löcher mehr mit herausgerissenen Rahmen und zerbrochenen Scheiben: sie leuchteten in sattem Himmelblau, schimmerten matt oder waren voller Spiegelbilder.
Die Luft war herbstlich klar und klingend, wie im Sommer durchsonnt und grün durchwoben; über der glitzernden Bucht flatterten Möwen wie weiße Flocken. Und alles — die Luft, der Boden unter den Füßen, das Gestein — dröhnte von einem unbestimmten unterirdischen Grollen. In nächster Nähe kreischte durchdringend eine verrostete Winde.
„Nun, Hermann Hermannowitsch! Was meinen Sie? Wenn ein Narr sagt ,Ich bin die Kraft', so ist er kein Narr mehr. Wir Kommunisten träumen gar nicht übel, Genosse Technischer Leiter. Am Jahrestag der Oktoberrevolution
werden wir — Sie und wir alle — diese ganze Maschinerie in Gang setzen. Lassen Sie sich als frischgebackenen Werkdirektor beglückwünschen. Gestern nacht wurde Ihre Kandidatur bestätigt und die Zentrale telegraphisch benachrichtigt."
Kleist lächelte mit zuckendem Gesicht. Ohne seine würdevolle Haltung aufzugeben, drückte er Gleb fest die Hand.
„Gleb Iwanowitsch, ich bitte Sie, vergessen Sie das schwere Verbrechen, das ich an Ihnen und an den anderen Arbeitern begangen habe. Das Bewusstsein, an den Qualen und am Tod von Menschen schuld zu sein, lässt mir keine Ruhe. Ich glaube, ich kann diese entsetzliche Last nicht mehr tragen."
Kleist sah Gleb hoffnungsvoll ins Gesicht und konnte das Zittern seiner Hände nicht unterdrücken.
Glebs Wangen fielen ein, sein Gesicht wurde hart und furchterregend. Aber nur für einen Augenblick.
„Hermann Hermannowitsch, was gewesen ist, ist gewesen. Damals sprang eben jeder jedem an die Gurgel. Vergessen Sie etwas anderes nicht: Wenn Sie meine Frau nicht gerettet hätten, wären nicht einmal die Knochen von ihr übrig geblieben. Nun sind Sie unser Mitarbeiter, unser klügster Kopf, ein Mann mit goldenen Händen. Ohne Sie hätten wir das alles nicht geschafft. Sehen Sie sich doch an, was wir unter Ihrer Leitung alles zustande gebracht haben."
„Lieber Gleb Iwanowitsch, ich werde all mein Wissen, all meine Erfahrung, mein ganzes Leben in den Dienst unseres Landes stellen. Ich kenne kein anderes Leben mehr, ich kenne nichts als den Kampf um unsere Zukunft." Zum ersten Mal sah Gleb Tränen in Kleists Augen. Er drückte ihm die Hand und lachte. „Na also, Hermann Hermannowitsch, werden wir Freunde."
„Ja, werden wir Freunde, Gleb Iwanowitsch." Auf seinen Stock gestützt, ging Kleist mit festem Schritt davon.

Die Brandstätte

Kurz nach der Parteiüberprüfung siedelte Dascha ins Haus der Sowjets über. Sie zog zu Polja, denn sie hatte folgenden Brief von ihr bekommen.
„Ich fühle mich sehr krank, Dascha, obwohl ich herumlaufe, esse und rede und überhaupt sich äußerlich nichts verändert hat. Aber ich sehe nichts mehr, empfinde nichts. Am Tage bin ich ein gehetztes Tier, und die Nächte sind ein einziger Alpdruck. Noch ein einziger solcher Tag, und ich halte es, glaube ich, nicht mehr aus. Ich bin zweifellos krank. Nur Du kannst mich stützen und aufrichten. Ich bitte Dich als Freundin, komm zu mir, wohne bei mir, hilf mir, mich wieder zusammenzuflicken und auf die Beine zu kommen. Ich sitze jetzt bei Sergej (Mitternacht) — ich sitze jede Nacht bei ihm. Er ist sehr müde, aber wie immer guten Mutes, sanft und zart, und er umsorgt mich, als wäre ich ein kleines Kind. Er wäre bereit, meinetwegen die ganze Nacht wach zu bleiben. Ich fürchte, er übernimmt sich noch und bricht zusammen. In meiner Seele bereitet sich eine Umwälzung vor. Was für eine, weiß ich nicht; aber eins weiß ich: Du brauchst nur ein paar Tage bei mir zu sein, und alles wird wieder gut, alles rückt wieder auf den rechten Platz."
Am selben Abend noch machte sich Dascha mit einem Bündel unter dem Arm in die Stadt auf, eiligen Schrittes, wie sie gewöhnlich ging, wenn sie in Sachen des Frauenausschusses unterwegs war. Nach Hause ging sie nur, um ihr Bettzeug zu holen. „So, Gleb, wirtschafte ein Weilchen allein ..."
Gleb stand verdutzt vom Hocker auf. „Was soll denn das nun? Schon wieder was Neues? Sag mir wenigstens, wohin du fährst. Eine Dienstreise?"
„Wenn du mal in der Stadt bist, komm bei Polja vorbei. Sie bittet mich, eine Zeitlang bei ihr zu wohnen. Sie fühlt sich sehr schlecht."
„Und wie lange willst du an ihr rumdoktern?" „Weiß nicht. Man muss alles tun, um sie wieder in die Partei zu bekommen."
„Ja, das ist richtig. Bei dieser Überprüfung ist das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden."
„So, ich geh jetzt! Allzu bald solltest du mich aber nicht zurückerwarten, Lieber. Ich weiß nicht, wie alles werden wird. Vielleicht ist es auch für uns beide besser so."
Sie schwieg verlegen, und in ihrem Lächeln zitterten unausgesprochene Worte.
„So ... ich gehe. Auf Wiedersehen einstweilen." „Meinetwegen, geh nur, wenn's sein muss." Er begleitete sie bis zur Pforte und nahm dort ihre Hand. Dascha reckte sich zu ihm. Er umarmte und küsste sie. Er fühlte, dass dies für Dascha kein gewöhnlicher Abschied war wie etwa vor dem täglichen Weg zur Arbeit oder vor einer Dienstreise: diesmal nahm sie alle vergangenen Jahre mit sich. Vielleicht würde sie nie zurückkehren, vielleicht lag in ihrem Abschiedsblick ein Bedauern des Vergangenen und ein Freuen auf den neuen Weg.
Er konnte kein Machtwort mehr sprechen — etwa: Ich verbiete dir, von zu Hause fortzugehen. Ich habe es satt! Bist du meine Frau oder eine Herumtreiberin? Ich habe ein Recht auf dich. Warum ziehst du die Mechowa mir vor? Überhaupt halst du dir viel zuviel auf. Deine Freiheit ist nicht unbegrenzt; du hast Pflichten deinem Mann gegenüber. Es genügt schon, dass du Njurka geopfert hast. Deine Vergangenheit steht wie ein Fluch zwischen uns, und alle diese Badjins und wie sie sonst noch heißen, die kann ich nicht ertragen, die sind meine Feinde. Lass es nicht zum Skandal kommen. Du kannst auch im Werk Arbeit finden.
Er hatte keine Macht mehr, ihr solche Worte zu sagen, denn diese Macht hatte Dascha ihm längst genommen. Vor ihm stand nicht nur sein Weib, sondern ein Mensch, der ihm an Stärke ebenbürtig war, der all die Mühsal der letzten Jahre auf eigene Schultern genommen hatte. Sie war nicht nur sein Weib, sondern ein unabhängiger Mensch. Sie ging jetzt, sie würde vielleicht nie zurückkehren und ihm ebenso fremd werden wie alle anderen Frauen. Wennschon!
Sie hatten bisher in einem Zimmer zusammen gewohnt, hatten zuerst getrennt geschlafen und dann in ein und demselben Bett. Doch keinen Augenblick hatte Gleb das Wichtigste vergessen können: Die Dascha von früher war nicht mehr, eine neue Dascha war an ihren Platz getreten, eine, die jederzeit für immer fortgehen konnte.
Das letzte Band ihrer Ehe war gerissen — Njurka. Das Töchterchen war tot. Es hatte Tage gegeben, da brachte das gemeinsame Leid sie einander nahe. Dann war die Parteiüberprüfung, waren Tage voll schwerer Sorgen gekommen: für ihn im Werk, für sie im Frauenausschuss. Wenn sie sich nachts in ihrem Zimmer trafen, fühlten beide, dass der Traum vom persönlichen Glück Illusion war. Nach der Überprüfung erkrankte die Mechowa, und Dascha wurde vorübergehend die Leitung des Frauenausschusses übertragen.
Im Parteikomitee meinte jeder, der ihr begegnete: „Na also. Jetzt ist Dascha am richtigen Platz. Als wenn sie schon immer den Frauenausschuss geleitet hätte."
Ihr und allen anderen wurde klar, dass sie sich aus einer „i. V." bald in eine richtige „Leiterin" verwandeln werde.
Zum Abschied wollte Gleb ihr noch etwas ganz Wichtiges sagen, aus tiefster Seele, brachte es aber nicht fertig; er fand keine Worte, und doch musste es gesagt werden! Geschah es jetzt nicht, würde es nie mehr geschehen. Dascha verstand, ihm zuzuhören, war taktvoll und aufmerksam, aber sie mochte ihn nicht so hinnehmen, wie er war, er hatte noch zu viel vom alten Ehemann an sich: übermäßiges Zärtlichkeitsbedürfnis, verzehrende Eifersucht und das hartnäckige Verlangen, sie an den häuslichen Herd zu binden.
„Nun, Dascha... Aus unserem Eheleben werd einer schlau. Es ist wie verhext. Ich habe mich völlig aufgerieben."
Dascha sah auf ihre Füße und bemühte sich, mit dem Absatz ein glattes Steinchen zu zerdrücken, das ihr jedes Mal, wenn sie zutrat, entglitt.
„Ich weiß nicht, wer sich mehr aufgerieben hat, Gleb. Wie ich früher war, kann ich nicht mehr sein. Und zu einer Frau nur fürs Bett tauge ich nicht. Warum sich unnütz quälen? Lass uns ein wenig ausruhen voneinander... ein wenig nachdenken."
„Sag's doch einfach, Dascha: du liebst mich nicht mehr, kannst dich nicht mehr an mich gewöhnen. Ohne Mann lebt sich's angenehmer."
Dascha sah Gleb an und wurde dunkelrot. „Und wenn das so wäre, Gleb?" Gleb begriff, dass er sie verletzt hatte. „Dann find ich's auch an der Zeit, Schluss zu machen. Dann kann uns niemand und nichts mehr helfen."
„Ja. Jedes Band ist gerissen, alles hat sich verwirrt. Man müsste an die Liebe ganz anders herangehen. Wie, weiß ich selbst noch nicht. Ich muss darüber nachdenken. Denken wir beide nach, und dann sprechen wir uns aus. Eins ist vor allem wichtig: Man muss sich gegenseitig achten und darf dem anderen keine Ketten anlegen. Doch wir haben die Fesseln an, Gleb. Ich liebe dich, aber du musst dich erst mal selber überwinden ... dann kommt alles wieder." Sie seufzte und lächelte dann wieder verlegen. „So gehe ich jetzt."
Gleb wurde blass, stöhnte auf und presste sich die Faust gegen die Stirn. Und sein Herz brannte vor Sehnsucht.
Kaum hatte Dascha ein paar Schritte getan, da war Motja aus ihrer Pforte getreten.
Sie watschelte wie eine Ente, mit riesigem Bauch und prallen Brüsten, hatte braune Flecken im Gesicht und blaue Ringe unter den Augen — demütigen, vor Müdigkeit strengen Augen. Schon von weitem winkte sie und lächelte.
„Sieh an! Wie sie rennt, die Junggesellin. Ach du, am liebsten würde ich dir die Ohren lang ziehen! Ein Weib hat Kinder zu kriegen, und sie rennt rum wie angestochen. Brennt ihrem Mann durch mit ihren Siebensachen. Wenn's nach mir ginge, würde ich all dieses Weibsgelichter mit Stricken ans Ehebett binden und ihnen befehlen: Bring Kinder zur Welt, verdammte Zicke! Was brauchst du denn weiter zu tun auf der Welt als mit deinem Mann zu schlafen und Kinder zu kriegen? Da, guckt euch meinen Bauch an. Jetzt gibt's bei mir jedes Jahr eins — damit ihr's wisst. Ich werde Mutter sein, und ihr — ihr seid elende Krähen."
Dascha trat zu ihr, legte den freien Arm um sie und lachte. „Uff, bist du ein Satansweib, Motja! Wenn man dich so ansieht, kann einen der Neid packen: das ganze Weib nichts als Bauch."
Sie klopfte ihr mit der flachen Hand sacht auf den Leib. „Aha, siehst du wohl! Ich komm noch mal in deinen verfluchten Frauenausschuss, zieh mich splitternackt aus, stell mich in die Mitte und brülle: Ran, ihr Weiber, verneigt euch, küsst mich — ich bin die Mutter Gottes!"
Beide Frauen lachten; auch Gleb lachte.
Dascha ging weiter; ihr Bettzeug unterm Arm, ging sie auf den Mauerdurchbruch zu. Gleb hoffte, sie werde sich umdrehen und ihm zuwinken. Zweimal leuchtete ihr rotes Kopftuch im Durchbruch auf und erlosch dann hinter der Betonmauer.
Jeden Tag war Dascha diesen Weg gegangen. Jeden Tag erst spät am Abend heimgekommen. War oft auf Dienstreisen gewesen und tage- und nächtelang weggeblieben. In den Kosakendörfern gärte es noch, Räuberbanden strichen in den Bergen und im Schilfdickicht der Schluchten umher; so hatte er immer beklommenen Herzens auf Daschas Rückkehr gewartet. Nun aber war mit einem Schlage alles kahl, öde und fremd geworden — das Zimmer, die
Gasse mit ihren Vorgärten und diese Betonmauer, die ihn stets von Dascha getrennt hatte. Was sollte er jetzt mit dem leeren Zimmer, dem Gärtchen und den fünf Quadratmetern Hof? Sie hatte eine sonderbare, fremde Sprache mit ihm gesprochen. Jetzt war sie von ihm gegangen und würde vielleicht nicht wiederkommen. Njurka war tot. Dascha nicht da, Njurka nicht da - allein geblieben. Verfluchtes Leben! Wie eine Dampfwalze zermalmte es alles — Schicksal, Gewohnheiten, Liebe.
Motja sah ihn von der Seite an, und in ihren Augen, die schon voll sorgender Mütterlichkeit waren, zitterten Tränen.
„Ach, Gleb! Wie leid ihr mir beide tut! Was habt ihr für ein unglückliches Los! Euer Töchterchen Njurka ist zugrunde gegangen. Du bist wie ein herrenloser Köter... ohne Familie, ohne einen warmen Winkel. Aber du darfst dich nicht beklagen, Gleb. Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt selbst darin. Auch eure kleine Njurka ist wie ein Stäubchen zwischen euch verbrannt. Ihr macht einen ganz traurig, Gleb!" Er wandte sich ab und stopfte sich die Pfeife.
„Lass nur, Motja. Durchs Feuer ist kein schlechter Weg. Wenn man weiß, wohin die Beine gehen und die Augen schauen, kann man da Angst haben vor großen und kleinen Verbrennungen? Wir stehen im Kampf und bauen ein neues Leben. Alles ist gut, Motja — weine nicht! So schön werden wir alles aufbauen, dass wir selbst über unser Werk staunen werden!"
„Ach, Gleb! Ach, Gleb! Dein eigenes Heim hast du aber zuschanden gewirtschaftet."
„Macht nichts, Motja, wir bauen uns ein neues. Was ist schon dabei? Wahrscheinlich hat das alte nichts getaugt. Na, wie steht's denn? Ist es bei dir bald soweit?"
Motja lachte nur mit den Augen; ihr Gesicht zitterte vor Glück.
„Ja doch! In einem Monat, Gleb. Du bist Pate, das steht fest."
„Einverstanden, Motja. Nur eine Bedingung: Wenn ich einen Popen entdecke, setze ich ihn in eine Lore und lass ihn den Bremsberg runter zum Holzlager sausen. Ach, Motja, eine Feier werde ich dir hinlegen, dass sich die Balken biegen!"
Motja lachte froh. Gleb ging nicht nach Hause, sondern die Gasse hinunter zu den Werkgebäuden.

Nordost

Ende Oktober jagte ein Ereignis das andere.
In der Nacht zum achtundzwanzigsten wurde Schramm festgenommen und in die Gebietsstadt geschafft. In der gleichen Nacht wurden auch unter den Spezialisten des Volkswirtschaftsrates und der Werkverwaltung Verhaftungen vorgenommen. Am dreißigsten gab es große Aufregung unter den Parteifunktionären: Shidki wurde ins Gebietssekretariat des ZK abberufen. Badjin wurde zum Vorsitzenden des Gebietsvolkswirtschaftsrates ernannt und der Tschekavorsitzende Tschibis weit ins Innere Sibiriens versetzt.
Man hatte diese Ereignisse schon längst vorausgesehen, hatte in vertraulichen Gesprächen davon geredet, obskure Gerüchte weitergetragen und sich aufgeregt. Jeder Tag war mit unbestimmter Erwartung geladen gewesen. Trotzdem waren nun alle erschüttert, weil diese Ereignisse so plötzlich und weil sie überhaupt eingetreten waren.
Täglich zur gewohnten Stunde ging Sergej mit seiner abgeschabten Aktentasche ins Bezirkskomitee — bedächtigen Schritts, leicht gebückt, eine nie verlöschende Frage in den Augen. Täglich führte er exakt und pünktlich die Parteiaufträge aus, arbeitete im Agitprop bei der Politischen Erziehung, versäumte keine Sitzung, auch wenn er nicht zur Teilnahme verpflichtet war, und sprach mit keinem
Menschen über sein eigenes Geschick — über die Parteiüberprüfung, über seinen Ausschluss, über seine Bemühungen wieder aufgenommen zu werden, als wäre dies alles ganz unwichtig, als wäre nur seine Arbeit, die nach vorgezeichnetem Plan erledigt werden musste, wichtig und unaufschiebbar.
Er ließ sich nie wieder bei der Überprüfungskommission blicken, bat keinen leitenden Genossen um Hilfe, regte sich nicht auf und klagte nicht. Nur sein Kopf mit den langen Locken schien größer und schwerer geworden, nur seine fieberhaft brennenden Augen verrieten das nicht verwundene Leid.
Er erhielt einen kurzen Auszug aus dem Protokoll der Kommission, den er ebenso aufmerksam durchlas wie jedes andere Papier.
Ü berprüft:
Iwagin, Sergej Iwanowitsch
Mitglied der KPR seit 1920
Ausweis-Nr...
Intellektueller.
Beschluss:
Ausschließen, da typischer Intellektueller mit zersetzender Wirkung auf die Parteiorganisation.
Den Auszug hatte Dascha gebracht. Er hatte an seinem Tisch im Agitprop gesessen und sorgfältig Leitsätze zu Vorträgen ausgearbeitet, die er in den Parteizellen über die Arbeiterkonsumgenossenschaft halten sollte.
Dascha sah ihn an und wunderte sich: Warum war er so ruhig und unbekümmert? Warum schwieg er und dachte an ganz andere, fern liegende Dinge?
„Genosse Iwagin, du musst gegen den Kommissionsbeschluss schleunigst Berufung einlegen. Lass die Taktik des Achselzuckens."
Er lächelte ihr mit feuchten Augen zu und holte ein eng beschriebenes Blatt aus seiner Aktentasche.
„Schon geschehen, Genossin Tschumalowa. Das hier ist
eine Abschrift, die hebe ich mir zum Andenken auf. Das Original habe ich Shidki gegeben. Das Parteikomitee bemüht sich seinerseits."
„Wenn du eine Beurteilung brauchst, ich schreibe sie dir sofort, Genosse Iwagin. Das war eine Fehlentscheidung, dich hätte man nicht ausschließen dürfen."
„Wenn du es für nötig hältst, Genossin Tschumalowa, setz eine auf und gib sie Shidki."
Er erhob sich und reichte Dascha, verschämt lächelnd, die Hand.
„Aber ich vergesse keinen Augenblick, Genossin Tschumalowa, dass ich Kommunist bin, Mitglied der Partei, das seine Arbeit ohne Unterbrechung fortzusetzen hat."
„Gewiss, Genosse Iwagin, aber du musst Krach machen und nicht auf deinem Stuhl hocken."
„Vorläufig ist das noch nicht notwendig. Wenn's darauf ankommt, steh ich schon auf und geh überallhin, wo es sein muss."
Dascha sah ihn wieder aufmerksam an, und ihre Brauen zuckten vor Verwunderung. Sie lächelte und ging rasch aus dem Zimmer.
Vor wenigen Tagen hatte man Polja ins Sanatorium geschickt. Seit Dascha bei ihr wohnte, war Sergej nicht mehr zu ihr gekommen. Sie hatte ihn nicht mehr gerufen und die Verbindungstür nicht mehr geöffnet. Sie hatte ihn vergessen, und seine schlaflosen Nächte waren aus ihrem Gedächtnis fortgewischt. Er hörte oft ihr altes Lachen und ihre klingende Stimme, die sich mit Daschas Stimme verflocht. Einsam schritt er von einer Ecke zur anderen, und es stimmte ihn traurig, allein zu sein, und doch zitterte er vor Freude, weil in Poljas Zimmer wieder die Glöckchen klangen.
Notwendig waren also einzig und allein die Partei und die Arbeit für die Partei. Nichts Persönliches. Was bedeutete schon seine Liebe, die in unabsehbaren Tiefen verborgen war? Was bedeuteten die Fragen und Gedanken,
die sein Hirn zermarterten? Das alles waren Überbleibsel der verfluchten Vergangenheit. Väterliches Erbe, Rückstände aus den Jugendjahren, Reste der intellektuellen Romantik. Das alles musste mit der Wurzel ausgemerzt werden. All diese kranken Zellen des Gehirns musste man abtöten. Es gab nur eins — die Partei. Ob er wieder aufgenommen wurde oder nicht — das änderte nichts an der Sache: einen Sergej Iwagin als Einzelpersönlichkeit gab es nicht. Es gab nur die Partei, und er — er war nur ein winziges Teilchen in ihrem gewaltigen Organismus.
Und dann sollte er an diesem Tage noch einmal die alten Schmerzen durchleiden.
In Shidkis Zimmer war es ungewöhnlich still und schwül. Dort saßen Badjin, Gleb, Dascha, Luchawa und Tschibis.
Shidki sprach beherrscht.
„Hat jemand Einwände gegen den Plan? Also angenommen. Der endgültige Plan der Feier ist demnach folgender: Am Morgen sammeln sich die Demonstranten in ihren Stadtbezirken..."
Luchawa unterbrach ihn grob: „Hör auf! Das kennen wir alle schon auswendig. Weiter."
Gleb stand auf und streckte den Arm gegen Shidki aus. „Lass das, Tschumalow. Die Frage ist erledigt. Es gibt da nichts mehr zu sagen. Schluss!"
„Was heißt Schluss? Ich protestiere trotzdem gegen den Punkt ,Ehrung der Helden der Arbeit'. Der muss gestrichen werden. Was für Helden der Arbeit? Was für Taten haben wir denn vollbracht, um zu Helden der Arbeit ernannt zu werden? Unsinn! Ich spreche nicht nur von mir. Ich bitte, meine Sondermeinung ins Protokoll aufzunehmen."
Er lief aufgeregt im Zimmer hin und her.
„Tschumalow, Sondermeinungen gibt's nicht. Was redest du da für Blödsinn? Alter Dussel!"
Tschibis saß wie immer dabei. Man wusste nicht: döste
er, ruhte er sich gelangweilt aus oder hing er Gedanken nach, die er niemals und niemandem verriet.
Badjin hatte die Brust gegen den Tischrand gestemmt und schwieg, dumpf und lastend. Stieße man ihn an — er schwankte nicht, schlüge man ihn — er verspürte den Schlag nicht. Dascha aber lächelte, und ihr Gesicht glühte.
Badjin, dessen glänzende Jacke in den Falten knisterte, tastete Gleb mit den Augen ab und lehnte sich dann im Stuhl zurück.
„Und was ist das hier?" Er tippte mit dem Finger auf Glebs Rotbannerorden. „Das ist... das habe ich ..."
„Na, nun spiel mal nicht den strengen Spartaner. Wenn du, sagen wir, Sergej Iwagin wärst, ein verschämter Intellektueller, dann wäre das einleuchtend und glaubhaft. Aber zu dir passt es überhaupt nicht."
Gleb stieg das Blut zu Kopf, seine Augen wurden feucht. Er trat von Badjin zurück und steckte beide Hände tief in die Taschen.
„Ich bitte gefälligst, Genosse Vorsitzender, mach mir keine Vorschriften. Ich widerspreche dem Vorschlag des Genossen Badjin, und ich bleibe dabei. Wenn es sein muss, dekoriert ihn selbst als Helden der Arbeit: soll er dann in diesem neuen Schmuck rumfahren und weiterkommandieren."
Shidki klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch und blähte die Nasenflügel, als müsse er sich das Lachen verbeißen. „Schluss jetzt, Genossen! Erledigt!" Luchawa sah Gleb und Badjin mit funkelnden Augen scharf an und lachte vergnügt.
Und zum ersten Mal bemerkte Gleb den tödlichen Hass in Badjins Augen. Auch damals, im Frühjahr, hatte so eine trübe, schwere Welle dessen Augen überflutet, doch das war etwas anderes gewesen. Argwohn, Neugier und noch etwas, das Gleb nicht verstehen konnte. Doch heute wie
damals stieg Gleb das Blut zu Kopf, mit einer Gewalt, dass es in den Ohren brauste. „Gleb! Komm zu dir! Bist du verrückt geworden?"
Dascha blickte ihn streng an, ihre Lider zitterten. Und als Gleb diese Augen sah und das blasse Gesicht, zog sich sein Herz vor Schmerz und Wut zusammen. Dascha... Badjin ... Dascha, seine Frau. Sie ist damals mit Badjin in der Staniza gewesen. Nachts ... ein Zimmer ... ein Bett. Daschas Worte damals waren kein Scherz.
Shidki klopfte wieder mit dem Bleistift auf den Tisch und schrie: „Schluss damit! Hol euch der Teufel! Beruhige dich, Tschumalow! Alles ist entschieden und erledigt."
Tschibis kniff die Augen ein.
„Setz dich, Tschumalow! Bist ein erprobtes Mitglied der Partei und treibst Unfug. Setz dich!"
Badjin stierte nach wie vor mit trüben Augen Gleb an und saß regungslos und klobig auf seinem Stuhl. „Was ist los, Genosse Tschumalow?"
Gleb keuchte. Sein Herz schlug bis zum Hals. Er hatte keine Gewalt mehr über sich, und so schwang er die Faust und brüllte mit Genuss aus voller Kehle: „Schürzenjäger! Lausiger Hengst!" „Gleb! Du bist wahnsinnig, Gleb!"
Alle waren plötzlich ganz klein, verwirrt, betäubt. Nur Tschibis saß da wie früher, teilnahmslos, ein verstohlenes Lächeln hinter den Wimpern.
Badjin sagte ruhig und kalt, als wäre er in seinem Arbeitszimmer: „Ach, das war's nur? Schade, dass nicht auch du mir nachspioniert hast wie der selige Zcheladse. Dann wüsstest du nämlich einiges. Sogar Sergej Iwagin weiß mehr als du. Da ist Sergej Iwagin: er kann interessante Dinge erzählen. Aber aus Schamhaftigkeit bringt er's nicht über sich, einen Skandal zu machen. Du siehst, Eifersucht ist immer kurzsichtig."
Sergej starrte wie gebannt auf Badjin, erschüttert und geschlagen; wollte schneidende, unwiderlegbare Worte herausschreien. Er machte einen Schritt auf Badjin zu, stürzte aber im nächsten Augenblick zu Shidki hin. Seine Lippen bebten, er winkte ab und lief aus dem Zimmer.
Von den Bergen blies der Nordost, und die Luft zwischen Bergen und Meer war sehr durchsichtig, voll Himmelsblau und Sonnengold. Über der Bucht wälzten sich riesige, zottige Wolken, zerrissen über der Stadt zu Fetzen und schwammen in ungeordneten Haufen zum fernen Gebirge. Die Hänge oberhalb der Stadt lagen in dichtem Herbstnebel. Nur einzelne Lichtflecke glitten über die Matten, flogen den Grat entlang, erloschen in den Schluchten und flammten an den steilen Kalkwänden wieder auf. Das Meer dampfte wie im Schneegestöber, lag ohne Wellenschlag, wie ein uferloser Fluss; zwischen Molen und Landungsbrücken und am Kai schimmerte die Luft in allen Regenbogenfarben.
Sergej ging, barhaupt wie immer, die Uferstraße entlang; seine Locken flatterten und schlugen ihm ins Gesicht. Der Wind trieb ihn heulend und pfeifend der Stadt zu, es ging sich leicht, mühelos, ohne Schwere in den Beinen. Vereinzelte Gestalten schlichen ihm entgegen, gegen den Ansturm gebückt, und er sah kein Gesicht, sondern nur zerknitterte Mützen und mit warmen Tüchern fest umwickelte Frauenköpfe.
An den steinernen Kaimauern schaukelten türkische Feluken und Fischerboote und zeichneten mit ihren Mastpindeln feine Muster in die Luft.
Wozu war er ins Parteikomitee gegangen? Nur um Badjin furchtbare Worte ins Gesicht zu schleudern, die er dann noch nicht herausbrachte? Was brauchte es schließlich seiner Worte?
Was hätte er nach Tschumalow zu Badjin überhaupt noch sagen können? Hatte ihn das aus der Stadt ins Hafenviertel getrieben, in den Kampf mit dem Nordost? Nein, er dachte an seinen Vater. In den letzten Tagen hatte er ihn überall voller Angst gesucht. In der Bibliothek war der Alte
nicht mehr, und wo er wohnte, wusste er auch nicht. Unlängst hatte Werotschka Sergej ausfindig gemacht. Als sie mit ihm sprach, hatte sie gezittert und den Blick nicht von ihm gewandt; ihre Augen waren voll Tränen gewesen.
„Sergej Iwanowitsch! Wenn Sie wüssten! Ich kann nicht... Er ist ein so wunderbarer Mensch! Er ist krank, Sergej Iwanowitsch, sehr krank. Er liegt auf dem blanken Fußboden. Ich habe ihm ein Bett besorgt... aber er will nicht."
Ist es nicht ganz gleich, was aus dem Vater wird? Das Leben trifft eine unfehlbare Auswahl, und der Prozess dieser Auswahl ist unabwendbar. Wo ist sein, Sergejs, Platz bei dieser großen Arbeit der Geschichte? Vielleicht wird er zermalmt? Vielleicht wird auch seine Seele wie die Badjins? Die Schläge dieser Jahre sind so schwer, jeder Tag ist so erbarmungslos grausam, dass die alten Wunden nicht verheilen können und jede Stunde neue schlägt. Ist es nicht gleich, was aus ihm wird, da doch jeder Augenblick ihn ganz, restlos braucht? Arbeiten — nur arbeiten. Grauer Alltag — gut, sei's drum; ist doch dieser Alltag der in beharrliche Pflichterfüllung umgesetzte Traum. Ob man ihn wieder in die Partei aufnimmt oder nicht — das ist unwichtig: das ändert nichts an seiner Bestimmung. Er muss arbeiten — nur arbeiten. Unlösbare Bande verknüpfen ihn mit der ganzen Welt, der ganzen Menschheit.
Das Mädchen an der Reling ist durch seine Seele gegangen und für immer in seinem Herzen geblieben. Wo ist sie? Auch das ist gleich. Polja Mechowa? Sie ist in ihn hineingewachsen mit ihrer Frische und ihrer Erregbarkeit, mit jenen nächtlichen Stunden, da er schlaflos an ihrem Bett gesessen hatte. Wenn auch Shidki, Tschibis, Badjin nicht mehr neben ihm gehen werden — auch einmal Luchawa und Dascha nicht mehr —, Gleb wird als Vollstrecker der Geschichte, als Sieger in die Zukunft schreiten. Doch auch er, Sergej, ist eine Kraft, auch er ist ein unentbehrliches Glied in der Kette der großen Ereignisse.
Unten an der Steinmauer plätscherten und schwappten
die Wellen und schossen hoch auf wie lärmende grüne Fontänen. Dort unten war eine hochgelegene Anlegestelle für Motorboote, und die anprallenden Wellen wuschen und schliffen den Beton. Auf der Anlegestelle, unmittelbar an der Wand aufgehäuft, lagen Wasserpflanzen, Schutt, Muscheln und Medusen. An einem Steg, wo Staubwirbel im Winde kreisten, blickte Sergej hinunter und blieb stehen.
Am Fuße der Wand, von Abfall und Wasserpflanzen überspült, lag die Leiche eines Säuglings. Um das Köpfchen war ein weißes Taschentuch gebunden, die Beinchen steckten in Strümpfen, die Ärmchen waren nicht zu sehen: sie waren fürsorglich mit eingewickelt in weißes Leinentuch. Das Kind war noch nicht lange tot, sein wachsbleiches Gesichtchen war glatt, wie lebendig, wie im Schlaf. Hier zwischen den Anlegestellen war es still, die Wellen brachen sich, vom Sturm zurückgeschlagen, aneinander. Warum war die Leiche so sorgsam auf Wasserpflanzen gebettet? Wessen Kind war es? Die warme Mutterhand war noch zu spüren: am Kopftuch, den eingewickelten Ärmchen, den winzigen Strümpfchen, die stramm über die prallen Beinchen gezogen waren. Sergej konnte den Blick nicht von der Leiche wenden. Ihm schien, das Kind müsste in der nächsten Sekunde die Augen aufschlagen, ihn anschauen und ihm zulächeln. Woher kam dieses Kind, dieses so erbarmungswürdige geopferte Menschlein? Von einem zerschellten Schiff? Oder hatte es eine wahnsinnige Mutter ins Meer geworfen?
Sergej beugte sich zu der Leiche hinab und konnte sich nicht losreißen. Vorübergehende traten neugierig hinzu, sahen auf das Kind hinunter und gingen sogleich weiter. Sie murmelten etwas, fragten, doch Sergej sah und hörte nichts. Er stand und sah gedankenlos hinunter, Schmerz, Staunen, Trauer in den Augen. Er hörte selbst nicht, wie er vor sich hin sprach: „So muss es auch sein. Tragödie des Kampfes. Um von neuem geboren zu werden, muss man sterben."

Wellen

Außer Gleb standen auf dem offenen Gerüst Shidki und Badjin, die Mitglieder des Betriebsgewerkschaftskomitees und Direktor Kleist. Aber Gleb fühlte sich allein, weil überall, so weit das Auge reichte, Menschenmassen wogten und brodelten und wie Sonnenblumenfelder leuchteten.
Wie Flammen flackerten rechts und links um den Fuß des Gerüsts rote Fahnen. Auch das Gerüst selbst loderte in rotem Stoff. Die Fahne der Parteizelle wehte in schweren Falten von der Brüstung auf die Menge herab, während von der anderen Seite, auf der Badjin und Shidki standen, die Fahne der Bauarbeitergewerkschaft herabfloss. Unterhalb der Brüstung zog sich ein breites hochrotes Tuch wie ein mächtiger Strom um den Turm herum, und riesige weiße Buchstaben leuchteten darauf wie Frühlingsblumen. „Wir haben an den Fronten des Bürgerkriegs gesiegt,
wir werden auch an der Wirtschaftsfront siegen."
Die Massen brodelten und wogten, rote Kopftücher flammten auf, dazwischen sonngebräunte und bleiche Gesichter, dann wieder Schirmmützen und Käppis, und überall winkten wie rote Schwingen Transparente, hinter denen die Menschen nicht zu sehen waren; aber etwas weiter war sie dann wieder da, die wallende, sich bewegende Menge. Direkt über dem Abhang, auf dem Felsen, genau solche Massen. Sie schoben sich schwankend den Hang des Berges immer höher hinauf; und auch dort oben leuchteten Fahnen und Transparente wie im Mohnfeld. Von unten aber, aus der Schlucht strömten ohne Ende neue Massen herauf. Dort in der Ferne spielte eine Kapelle einen Marsch, während hier gewaltige Bewegung und unermessliches Getöse vorherrschten.
Es war ein strahlend klarer Tag, herbstlich frisch und würzig, die Luft voll herber Kraft und die flimmernde Ferne zum Greifen nahe. Gleb blickte zu den Bergen und
zum Himmel hinauf: Dort oben zog, von hier aus nicht sichtbar, mit singendem Propeller ein Flugzeug seine Bahn; seidige Spinnwebfäden tanzten in der Bläue und blitzten wie Perlenstaub.
Glebs Hände umkrallten die Eisenstange des Geländers, die Beine zitterten ihm vor Schwäche. Wo kam diese ungeheure Menge her? Etwa zwanzigtausend waren es schon, und immer war noch kein Ende der Kolonnen abzusehen. Mindestens eine halbe Werst breit strömte es über den braunen Abhang, über Geröll und Sträucher, mündete in das allgemeine Menschenmeer und kroch immer höher und höher.
Rechts hinter dem Gerüst stand Gewehr bei Fuß ein Regiment Rotarmisten. So hat auch er, Gleb, einmal gestanden. Ist das schon lange her? Jetzt aber steht er hier: wieder als Arbeiter des Werks. Ja, des Werks! Wie viel Kraft hat es geschluckt, und wie viel Kampf hat es gekostet! Da ist es nun, das Werk: ein Mordsding und ein Schmuckstück! Vor noch gar nicht langer Zeit ein Leichnam, ein Müllhaufen, eine Ruine, ein Schlupfwinkel für Ratten, und jetzt singen die Dieselmotoren, summen die elektrischen Leitungen, spielen auf den Bremsbergen die Trossen in den Flaschen, donnern die Loren hinauf und herab. Und morgen wird die erste riesenhafte Drehofentrommel aufkreischen und sich in ihren Achsen zu drehen beginnen, und aus jenem imposanten Schornstein dort werden graue Wolken von Staub und Dampf aufsteigen.
Ist das etwa nicht Grund genug, dass diese unübersehbaren Volksmassen herkommen, um sich an dem allgemeinen Sieg zu freuen?
Was ist denn er, Gleb, in diesem Meer von Menschen? Nein, kein Meer ist es, ein lebender Berg! Was ist das für eine ungeheure Kraft! Da sind sie, die mit Spaten, Hacken und Hämmern die Berge für den Bau des Bremsberges durchstoßen haben, im Frühling, an einem ebenso klaren Sonnentag wie heute. Damals ist Blut vergossen worden.
Jetzt ist die Stadt mit Holz versorgt, und hier ist alles bereit, um das Werk in Betrieb zu setzen. Wie viel Blut fließt in dieser gewaltigen Arbeiterarmee! Das reicht auf lange Zeit hinaus. Der Verkehr funktioniert. Und bald wird auch das Werk Schiffsstahl die Arbeit aufnehmen. Die Dampfmühlen werden zischen. Und sind nicht genügend Gebirgsflüsse da, um auch Turbinen zu treiben?
Es hat einmal todbringende Nächte und Tage des Kampfes gegeben und eine Zeit, da er um sein Leben gezittert und an Dascha gedacht hat. Wie lange ist das alles her, wie fern und unwichtig! Dascha ist nicht da: sie ist in der Masse versunken, unauffindbar. Es gibt nur noch die festlich erregte Menge. Und mit seinem Herzen fühlt er Tausende von Herzen... die Arbeiterklasse, die Republik, den großen Aufbau des Lebens. Zum Teufel, ja, wir verstehen zu leiden, aber wir verstehen auch, uns zu freuen. „Tschumalow!"
Kleist stand neben Gleb, blass, streng, mit trockenen Augen. „Hermann Hermannowitsch! Lieber Freund!"
Kleist wendete sich ab und ging mit zuckenden Schultern zum anderen Ende der Plattform.
Fahnen und Transparente wehten, sich bauschend, im Winde. Lieder und Stimmengebraus erschütterten die Luft, und der Bretterboden unter Glebs Füßen schwankte. Sprechgesang tönte, und wo zum Takt klatschender Hände getanzt wurde, sah man Steine und Geröll den Hang hinabrieseln.
Loschak mit seinem Buckel, seinem rußigen Gesicht und dem ölig-speckigen Käppi war die Verkörperung des Schlossers. Gromada, der unter Schüttelfrösten litt, krümmte sich gerade in einem Anfall. Er hatte ein gelbes, fiebriges Gesicht mit scharf hervortretenden Backenknochen. Er zog Rücken und Schultern bis zu den Ohren herauf und bäumte sich vor Husten. Loschak drückte sein Käppi tief ins Gesicht und schlug Gleb mit der Hand auf den Rücken.
„Wir schaffen's, Junge ... bestimmt! Das Ding haben wir sauber hingekriegt."
Und Gromada nahm, völlig außer Atem, alle Kraft zusammen, um laut und sehr nachdrücklich zu schreien: „Also, Genossen! Wie haben wir diese einzigartige Leistung hingelegt, mich haut es fast um. Genosse Tschumalow ... ja, wenn ... na ja! Genossen ... nun — alles und überall... na, und so weiter."
Gleb konnte nicht mehr still stehen. Es zog ihn hinunter in dieses Meer von Köpfen, es drängte ihn, aus voller Kehle zu schreien — was, war gleich! War das noch auszuhalten? Dafür hatte er in all diesen Monaten gelebt. Hier war es, zusammengefasst in einer einzigen Kraft.
Er trat zu Badjin und Shidki und fragte: „Na, sollen wir anfangen, Jungs?"
Badjin streifte Gleb mit einem kalten Blick und wandte sich ab.
„Ja, wir müssen anfangen, Tschumalow. Ich werde gleich loslegen... eine Viertelstunde lang, und dann bist du dran ... irgend etwas, was besonders einschlägt... und dann gib gleich das Zeichen."
Shidki packte Gleb an den Schultern. „Ach, Tschumalow! Freund! Schade, dass wir uns trennen müssen."
„Hör auf davon — es ist schon schwer genug. Wie gut haben wir uns verstanden! Und was haben wir alles geschafft! Ich kann dich unmöglich fortlassen, Shidki, unter gar keinen Umständen. Ich fahre noch mal hin und lege ein Wort ein."
Badjin ging mit verschlossenem und kaltem Gesicht auf die Brüstung zu, und Gleb spürte wieder schmerzhaft deutlich, dass er sein unversöhnlicher Feind war.
Unten auf der Chaussee marschierten noch immer dichte Kolonnen mit Fahnen, und hinter ihnen dröhnten die Orchester, Stampfen und Lieder erschütterten die Luft.
Da stand der Mensch, mit dem er nicht auf demselben Fleck Erde zusammen leben konnte! Badjin stützte sich mit den Händen auf das Geländer. Dabei schoben sich seine Schultern bis über den Nacken hinauf. Er blickte aufmerksam auf die Massen hinab, und aus seinen Muskeln, aus jeder Kopfbewegung und aus seinem geringschätzigen Sichabsondern sprach deutlich das Bewusstsein seiner Kraft und der besonderen Bedeutung, die er sich beimaß. „Karrierist!" Gleb biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte.
Bis jetzt hatte er sich noch nicht beruhigen können über das, was im Hause der Sowjets geschehen war.
Bald nachdem Dascha von ihm fortgegangen war, hatte er eines Abends mal sehen wollen, wie es Polja und ihr ging. Der Korridor war leer und in schläfriges Halbdunkel getaucht (die Uhr auf der Treppe über der Tür zeigte elf Uhr nachts). Gedämpft drangen Stimmen aus dem Innern der Zimmer. Irgendwo klirrte Teegeschirr, und Spirituskocher summten ihr monotones Lied.
Am Ende des Korridors leuchtete matt ein helles Viereck. Das war die weit geöffnete Zimmertür von Tschibis.
In Poljas Zimmer war es still. Gleb hatte noch nicht angeklopft, als schon schnelle erschrockene Schritte auf die Tür zuschlürften (wahrscheinlich war Polja barfuss). „Hallo, wer ist da?"
Die Tür wurde mit voller Wucht weit aufgestoßen und schlug ihm schmerzhaft gegen die Schulter.
„Mensch, so was Ungeschicktes! Du kannst einen ja zum Krüppel machen. Na, guten Tag, Polja!"
Polja stand blass und außer sich vor Angst auf der Schwelle. „Gleb!"
„Was hast du denn, Mädchen? Ich will dich besuchen, und du siehst mich an wie ein wildes Tier. Nun, wie geht's? Hab dich lange nicht gesehen. Wo ist denn Dascha?"
Er trat auf sie zu und streckte die Hand aus, um sie zärtlich zu umarmen. Sie fiel zusammen, lehnte sich an den Türpfosten und lächelte kläglich.
Gleb! Ich habe mich so erschrocken! Dascha kommt gleich. Nach dem, was ich durchgemacht habe, Gleb, bin ich wirklich ... Ich habe mich ganz verloren. Es wäre besser gewesen, du wärst nicht gekommen. Weshalb hast du mir nicht früher geholfen? Warum hat alles so sinnlos und schrecklich kommen müssen? Ich bin krank, Gleb. Komm nicht mehr hierher, es quält mich. Ach, wäre ich bei einer Katastrophe dabei gewesen und die Trümmer hätten mich erdrückt."
Gleb sah sie bestürzt an und wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte weder die alte Zärtlichkeit noch Anteilnahme für sie; sie war zu hilflos. Von der früheren Lebensfreude des Lockenkopfes war nichts mehr zu spüren.
„Ich muss fort von hier, Gleb — muss ausruhen und Kräfte sammeln. Männer haben so viel Schreckliches, Gleb. Mir kommt es jetzt vor, als sei jeder von euch ein Badjin. Bitte, Gleb, geh. Jetzt nicht, später. In einer anderen Umgebung. Warum hast du mir damals nicht gegeben, was ich wollte? Vielleicht wäre mir dann das nicht passiert."
Sie lächelte verloren, erschrocken, und in ihren Augen glänzten Tränen. „Da ist Dascha! Da ist sie ja! Bitte, Dascha, nimm ihn und bring ihn möglichst weit fort."
Dascha fasste Gleb an den Schultern und zog ihn von der Tür, die sie dann gleich sorgfältig hinter Polja schloss.
„Na, du alter Krieger, komm! Lass uns ein wenig Spazierengehen und schwatzen. Es ist nett, dass du vorbeigekommen bist."
Im stillen fühlte er sich bitter gekränkt, konnte aber die Freude, in Daschas Nähe zu sein, nicht verbergen. Er presste ihre Finger und lächelte.
„Na, wann kommst du nach Hause, Dascha? Sonst brenn ich noch meine Bude ab und siedele hierher über."
Sie antwortete nicht sofort, und an diesem kurzen Schweigen merkte Gleb, dass ein schwerer Kampf und Aufruhr in ihrem Innern tobte. „Sprich vorläufig noch nicht davon, Gleb."
Sein Herz zog sich schmerzlich zusammen, und er konnte ein Stöhnen kaum zurückhalten.
„So. Das habe ich schon geahnt. Ihr habt mich bloß vertröstet und zum Narren gehalten. Und Badjin ist ein Schuft und ein Bandit. Den werde ich schon noch stellen bei passender Gelegenheit. Er hat dich und die Mechowa kaputt gemacht."
„Gleb, begreif doch endlich, dass wir so nicht weitermachen können. Weshalb sollen wir uns unser Leben vergiften? Denk doch daran: durch dich sind alle unsere Nächte zur Qual geworden. Aber ich kann so nicht. Ich möchte auf neue Art leben. Nimm mich so, wie ich bin. Nur so eine Liebe kann ich brauchen. Du bist mir lieb als der, den ich kenne, und ich pfeife auf das, was du ohne mich erlebt hast. Aber du achtest mich nicht, du trittst auf mir herum. Ich kann so nicht. Und Badjin lass aus dem Spiel, er hat damit nichts zu tun."
„Dascha, ich bin jetzt wie ein herrenloser Hund. Meine ganze Seele habe ich in das Werk gelegt. Ich werde in die Armee gehen."
Dascha streichelte zärtlich lächelnd seine Brust.
„Na, Gleb, wir werden eben noch ein wenig leiden und uns ein bisschen quälen müssen. Was können wir tun, da alles so gekommen ist? Einmal wird es eine Zeit geben, in der wir uns ein neues Leben aufbauen werden. Alles wird in Ordnung kommen, inzwischen werden wir darüber nachdenken, wie wir zueinander stehen und wie wir neue Beziehungen zueinander anknüpfen können. Wir gehen ja nicht auseinander, Gleb. Wir behalten einander im Auge ... und werden zusammen sein ..."
Rasend vor Sehnsucht, stieß er ihre Hand von sich und ging auf den Ausgang zu. Dabei prallte er fast auf Badjin, der in seiner Zimmertür stand und Gleb ansah. In seiner glänzenden Lederjacke, die Hände tief in den Taschen vergraben, stand er da.
„Komm rein, Tschumalow! Du bist noch nicht ein einziges Mal bei mir gewesen. Ich hätte Lust, mal ganz offen mit dir zu sprechen."
Gleb blieb vor ihm stehen und starrte ihn an. Seine Finger glitten nervös und fahrig über das Koppel, über die Hüfte, über die Revolvertasche und konnten nirgends einen Halt finden.
„Du suchst am unrechten Ort. Der Revolver ist an seinem Platz. Du brauchst dich nicht zu beunruhigen, die Revolvertasche ist gut verschlossen."
In dem letzten Blick, den Gleb von Badjin auffing, sah er einen Funken von unauslöschlichem Hass. Badjin drehte sich langsam um und ging mit schweren Schritten in sein Zimmer. Auf seinem ausrasierten Nacken bewegten sich bei jedem Schritt geschmeidig dicke Muskelstränge.
Da hatte Dascha Gleb sanft am Arm genommen und ihn den Korridor entlanggeführt.
„Geh, Gleb, geh, Lieber. Ich komme zu dir ... ich komme bestimmt... morgen komme ich. Geh, beruhige dich."

Und auch jetzt spürte Gleb in dem glattrasierten Genick Badjins unter der flachen Pelzmütze eine Herausforderung. Dieses Genick schrie geradezu nach einer Kugel.
Shidki stand vor Gleb und blähte die Nasenflügel vor verhaltenem Lachen. „Was ist mit dir? Hat's dir die Sprache verschlagen?"
Er zog ihn zur Brüstung.
Es dauerte lange, bis sich die Massen geordnet hatten und bis das wie in Wellen versiegende Stimmengewirr völlig verebbt war. Auch Gesang und Musik verstummten.
Dann sprach Badjin, kalt, prägnant und routiniert.
Lässt sich überhaupt wiedergeben, was Badjin sagte? Er erwähnte alles, was zu einem Feiertag gehört: die Sowjetmacht und die Neue Ökonomische Politik, den sozialistischen Aufbau und den Genossen Lenin, die Kommunistische Partei Russlands und die Arbeiterklasse. Und dann kam er zum Wichtigsten. Etwa folgendermaßen:
„... Und einer unserer Siege ist der Sieg an der Wirtschaftsfront, ein gewaltiger, übermenschlicher Sieg ist die Inbetriebnahme unseres Werkes, dieses Giganten der Republik. Ihr wisst, Genossen, wie wir unseren Kampf begonnen haben. Im Frühjahr sind wir in organisierter Kraft zum ersten Mal mit Hacken und Hämmern dem Berg hier zu Leibe gegangen. Dieser unser erster Schlag brachte uns den Bremsberg und Brennmaterial. Die Arbeiter der Baugewerkschaft haben dann den Hammer nicht mehr aus der Hand gelegt, und so haben sie, Schlag für Schlag, unser Leben und das ganze komplizierte System dieser kolossalen Anlage geschmiedet. Am heutigen Tag, dem vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, feiern wir einen neuen Sieg an der Front der proletarischen Revolution. Im Kampf bringt die Arbeiterklasse ihre Organisatoren und Helden hervor. Können unsere Arbeitermassen jemals den Namen des Kämpfers, des roten Soldaten, der sein Leben selbstlos der Revolution widmete, den Namen des Genossen Tschumalow vergessen? Auch hier, an der Front der Arbeit, ist er der gleiche aufopfernde Held, der er auf den Schlachtfeldern gewesen..."
Mehr war nicht zu verstehen, alles andere ging im Getöse unter. Der Berg schien sich von seinem Platz zu bewegen und mit schrecklichem Gepolter auf Gleb niederzustürzen. Brüllen, Heulen und gewaltiges Getöse, dass die Erde bebte.
Das Gerüst zitterte und schwankte, als wäre es aus Draht. An verschiedenen Stellen dröhnten die Blechorchester.
Gleb stammelte, blass und erschüttert, zusammenhanglose Worte, geriet außer Atem, fuchtelte mit den Händen und musste unaufhaltsam lachen. „Los, sprich. Du hast das Wort, Tschumalow!"
Wozu sollte er reden, da doch alles auch ohne Worte klar war? Er brauchte nichts. Was lag an seinem Leben, das doch nur ein Wasserstäubchen in diesem Meer von menschlichem Leben war? Wozu denn sprechen, da doch seine Zunge und seine Stimme hier gar nicht vonnöten waren? Er hatte keine Worte, hatte kein eigenes Leben außerhalb dieser Massen. Er wusste nicht, was er sprach, Seine Stimme kam ihm schwach, verkrampft und klanglos vor, aber in Wirklichkeit wurden seine Worte, vom Echo verstärkt, laut hallend über den ganzen Berghang getragen.
„Es bedarf keiner Anerkennung, Genossen, dass wir uns mit dem Aufbau unserer proletarischen Wirtschaft herumschlagen. Das ist unser Wille ... unser Kampf. Darin sind wir ... sind wir alle ... uns einig. Wenn ich ein Held bin, dann sind wir alle Helden. Und wenn wir unsere Kräfte nicht bis zum Heldentum steigern, dann gehören wir alle am Glockenturm aufgehängt. Aber eins will ich sagen, Genossen: Wir werden alles tun und schaffen, weil uns die Partei und unser Lenin dazu aufgerufen haben. Und wenn wir noch ein paar mehr solcher technischen Leiter hätten wie unseren Ingenieur Kleist und von einigem anderen noch ein bisschen mehr, dann würden wir wahre Weltwunder schaffen. Wir haben uns mit unserem Blut eingesetzt und mit unserem Blut die ganze Erdkugel entflammt. Nachdem wir nun im Feuer gestählt sind, müssen wir uns der Arbeit zuwenden. Unsere Hirne und Hände zittern. Aber nicht vor Anstrengung, sondern weil sie nach neuer Arbeit dürsten. Wir bauen den Sozialismus, Genossen, und unsere proletarische Kultur. Vorwärts zum Sieg, Genossen!"
Gleb ergriff eine rote Fahne und schwenkte sie über der Menge. Und zugleich seufzte es in den Bergen auf, und die Luft füllte sich blitzschnell mit metallischem Brüllen. Sirenen sangen — eine, zwei, drei. Gleichzeitig und einander übertönend, rissen sie am Trommelfell. Und nicht die Sirenen, sondern die Berge, die Felsen, die Menschen, die Gebäude und die Schlote des Werkes schienen zu singen.
1922—1924