Giovanni Germanetto - Genosse Kupferbart (1930)
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Ich hin zum Leben erwacht — dies ist die erste Erinnerung an meine nun weit zurückliegende Kindheit — unter dem scharfen Stachel körperlichen Schmerzes. Man hatte mich an meinem gelähmten linken Bein operiert. Um mein Bettchen herum standen die Mutter, der Vater, einige Verwandte und der Arzt.
Diese Erinnerung lebt noch immer in meinem Geist. Die sorglose Kindheit anderer Jungen habe ich nicht gekannt. Ich konnte nicht laufen und springen. Ich musste mich damit begnügen, dem Spiel der anderen Kinder zuzuschauen. Hierunter litt ich mehr als unter dem körperlichen Schmerz. Ich dachte viel nach. Mein Bruder und meine Schwestern — niemand in unserem Hause war krank — waren daran gewöhnt worden, mir Hilfe zu leisten. Dies alles rührte mich zwar, machte mich aber nervös und reizbar. Ich fühlte mich so stark, so voller Willenskraft, und das alles demütigte mich.
Ich entsinne mich der endlosen Auseinandersetzungen zwischen meinem Vater und meiner Mutter in Bezug auf mein Leiden. Mein Vater, der Mechaniker und Atheist war, arbeitete stets mehr als elf Stunden täglich, um Geld zu sparen und mich ärztlich behandeln zu lassen. Sein Traum war, mich in das hochberühmte Mauritius-Krankenhaus in Turin zu schicken. Meine fromme Mutter dagegen wollte mich immer — und sie tat es wirklich — in Wallfahrtsorte bringen, die ihrer Ansicht nach noch berühmter waren, weil die Heiligen hier den Gläubigen so viele Gnaden erwiesen hatten. Jeden Tag entdeckte sie einen neuen Wallfahrtsort.
Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen war, dass ich einer elektrischen Behandlung unterzogen wurde, die mein Vater in der Hoffnung, mich eines Tages in das Mauritius-Krankenhaus schaffen zu können, mit dem Lohn für seine Überstunden bezahlte, und mit meiner Mutter alle Madonnen und Heiligen in der Umgebung der Stadt und in den umliegenden Dörfern aufsuchte. Meine Mutter betete, und ich betrachtete die Wand- und Deckenmalereien, wobei ich mich ziemlich langweilte.
Seltsamer Eintritt ins Leben!
Ich war sechs Jahre alt. Eines Tages holte eine alte Tante mich ab, die Tante Rosa. Oft schon hatte ich ihren Namen gehört. Sie spielte eine große Rolle in einer der zahlreichen frommen Sekten eines Nachbardorfs. Sie hatte einen neuen Wallfahrtsort entdeckt, die Kapelle von Mondovi. Das war ein großes Gebäude, das einer von den Savoyern, Emanuele Filiberto, für eine gewonnene Schlacht zu Ehren der Heiligen Jungfrau erbauen ließ. Die Tante, meine Mutter und ich brachen auf, während mein Vater brummte, das sei eine überflüssige Anstrengung für mich. Ich war es zufrieden, sollte ich doch eine Eisenbahnfahrt und im Anschluss daran eine Wagenfahrt machen.
Auf der Hinfahrt ging alles gut. Es war eine sehr große Kapelle, und viele Leute waren da. Da gab es eine große Madonna, es brannten viele Kerzen, und ein Priester predigte im roten Ornat — die anderen Priester waren schwarz gekleidet. Es dauerte ziemlich lange. Mir taten alle Glieder weh, weil ich so lange knien musste, aber ich erhob keinen Einspruch, weil man mir Schokolade versprochen hatte. Endlich machten wir uns auf die Rückreise. Von der Kapelle in Mondovi — später habe ich dort einige Jahre gelebt — musste man im Wagen fahren, das heißt in einer alten, von zwei Pferden gezogenen Postkutsche. Plötzlich wurde eines der Pferde scheu, und das Ergebnis war, dass wir alle im Straßengraben landeten. Die anderen und ich kamen mit ein paar Schrammen davon, meine Tante aber, die alle Heiligen und alle Madonnen kannte, brach sich ein Bein und verlor die drei oder vier Zahne, die sie noch hatte!
Ein andermal kamen wir bis auf die Haut durchnässt nach Hause. Die Madonna — ich weiß nicht mehr, welche es war — kurierte mich zwar nicht, schickte mich aber frisch und munter wie einen begossenen Pudel nach Hause.

Mein Vater arbeitete damals in der Maschinenfabrik von Savigliano.
Ich erinnere mich noch, wie zum ersten Mal über den achtstündigen Arbeitstag gesprochen wurde. Zu Hause spielte sich fast eine Tragödie ab. Mein Vater, der, um uns alle zu ernähren, in elfstündiger und oft genug zwölf- und vierzehnstündiger Arbeit mühsam sein Geld verdiente, kam eines Abends trauriger als gewöhnlich nach Hause. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, und wir glaubten, er sei erkrankt. Meine Mutter fragte ihn:
„Was ist passiert?"
Düster antwortete mein Vater:
„Von morgen an arbeiten wir nur acht Stunden täglich."
Später kamen zwei andere Arbeiter, Nachbarsleute von uns. Sie waren ganz verzweifelt. Der eine hatte acht kleine Kinder, der andere fünf und dazu die alten Eltern.
Meine Mutter sagte:
„Wir werden sparen müssen, irgendein Heiliger wird uns schon helfen. Der liebe Gott wird uns einen Ausweg zeigen ..."
Meine Geschwister spielten am erloschenen Ofen. Ich hörte zu.
Ich verstand nicht, warum sie so verzweifelt waren. Oft genug hatte ich meinen Vater und die anderen über die lange Arbeitszeit klagen hören. Ich fragte meinen Vater.
„Wir werden weniger Geld verdienen, mein Kleiner", erwiderte mir einer seiner Freunde.
Ich dachte an alle die Heiligen und an die Madonnen meiner Mutter und meiner Tante, die seit jener berühmten Reise an Krücken ging ...
Mein Gehirn begann zu arbeiten. Nach einigen Monaten wurde nur noch vier Stunden täglich gearbeitet. Die Arbeiter holten sich das Brennholz für den nahenden Winter vom Felde. Eines Abends kam ein Freund meines Vaters mit einem Handwagen voll Holz nach Hause. Am Tage danach erschienen zwei Carabinieri und führten ihn mit Handfesseln ab. Mein Vater war tief niedergeschlagen. Am Abend fand im Hause des Fabrikbesitzers ein großes Fest statt. Mein Vater zeigte mir den strahlend erleuchteten Palast. Er ballte die Fäuste. Wir gingen früh zu Bett, um Kerzen zu sparen!
Später hörte ich von dem Krieg in Afrika sprechen.
Einmal sah ich viele Soldaten ins Feld ziehen. Viele Frauen weinten. Man sprach von zahlreichen Toten. Während man auf den Zug wartete, wurden zwei Eimer Wein für die Soldaten gebracht. Der Offizier verbot die Verteilung. Es gab Proteste und Pfiffe.
Ich hörte Bemerkungen wie: „Arme Kerle! Sie gehen zur Schlachtbank!" Und dann: „Dogari, Makalle, Abba-Garima, Menelik, Taitu, Baratieri ..."
Der Zug fuhr ab.

Noch ein anderes Ereignis hat sich meinem Gedächtnis eingeprägt — ein Streik der Keramikarbeiter in Mondovi, wohin wir übergesiedelt waren.
Mein Vater arbeitete in einer großen Tonwarenfabrik — dort wohnten wir auch — als Maschinenwärter. Ich trieb mich immer unter den Arbeitern umher. Alle arbeiteten sie elf Stunden täglich, die Männer, die Kinder und die Frauen. Es war eine schwere Arbeit, und der durchschnittliche Stundenlohn betrug für die Männer fünfzehn Centesimi und für die Frauen zehn Centesimi, während die Kinder vierzig, fünfzig oder sechzig Centesimi täglich erhielten. Die Verhältnisse in dieser Fabrik waren trostlos. Der Besitzer misshandelte die Arbeiter. Einmal zum Beispiel sah ich, wie er nach einer Flut von Beschimpfungen eine alte Arbeiterin entließ, weil sie einen Napf zerbrochen hatte.
Die Wirtschaftskrise lastete schwer auf Italien. Es war die Zeit des Krieges in Eritrea, der italienische Imperialismus machte in Afrika die ersten Schritte. Von Mondovi waren die Alpenjäger nach Afrika abgegangen, und man wusste, dass viele gefallen waren. Die Nachricht von Volkskundgebungen in den großen Städten — mein Vater las abends laut die Zeitung — drang auch zu mir.
In der Fabrik hörte ich die Arbeiter häufig fluchen über die Regierung, über die Reichen, über den Chef ... Besonders gern hörte ich einem Graveur zu. Er war „Ausländer" — so nennt man bei uns Leute aus anderen Städten, auch in derselben Provinz —, sprach ein reines Italienisch, was in Piemont selten vorkommt, und wusste seine Zunge zu gebrauchen. Er war Toscaner. Ich hielt mich immer in der Nähe seines Arbeitsplatzes auf. Die Arbeiter hatten mich gern, und der Toscaner sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen. Keiner von ihnen befürchtete, dass ich mit den Angestellten sprechen würde, die, wie die Arbeiter behaupteten, alle „Spione des Chefs" waren, auch dann nicht, als sie, ohne auch nur die Spur von einer Organisation zu besitzen, den Streik vorbereiteten. Der Toscaner erklärte mir, wie sich die Arbeiter in anderen Städten in Berufsverbänden zusammengeschlossen hätten, und stets fügte er hinzu: „Hier in Mondovi beschäftigen die Sozialisten sich nur mit Wahlen und führen den politischen Kampf im Cafe; bei uns dagegen, mein lieber Junge ..." Es folgte eine Sturzflut von Flüchen.
Eines Morgens hatte es längst zum ersten Mal geläutet, aber am Gittertor erschien kein Arbeiter. Hier und da verzehrte ein Lehrling sein Stück trockenes Brot in Erwartung des zweiten Glockenzeichens.
Der Besitzer und die Angestellten verhielten sich abwartend, aber an der Nervosität des Cavaliere — des Besitzers — war zu erkennen, dass der Streik ihn überrascht hatte. Mit lauter Stimme verkündete er: „Wenn Sie in einer Stunde nicht auf Ihren Posten sind, schließe ich die Fabrik. Ich habe Geld genug, ich habe für Sie gearbeitet, um Ihren Familien zu helfen, und das ist nun der Lohn dafür." Aufgeregt zog er an seinem Schnurbart. Nach einer Stunde erschienen etwa zwanzig Carabinieri, die an den verschiedenen Fabrikeingängen auf Posten zogen.
Ich wusste von dem ganzen Unternehmen, und so erschien mir der Streik fast selbstverständlich. Ich hatte an Überfälle und Unruhen gedacht, aber die Arbeiter waren zu Hause geblieben. Am Abend — die Fabrik lag etwas vom Orte entfernt — wurde das Gebäude des Arbeitervereins von Carabinieri bewacht, und durch die Straßen zogen bewaffnete Streifen. Später wurde bekannt, dass die Arbeiter sich unter freiem Himmel versammelt hatten und eine Erhöhung des Tagelohns um fünfzig Centesimi für alle forderten.
Am nächsten Tage verbreitete sich das Gerücht, dass in der Nacht Dutzende von Arbeitern ins Gefängnis gebracht worden waren. Zwei Tage danach erschien eine Kommission am Fabriktor. Der Pförtner erklärte, er habe Anweisung, nicht zu öffnen. Die Carabinieri näherten sich, und auch der Besitzer erschien und begann nach seiner Gewohnheit, alle zu beschimpfen. Die Arbeiter erwiderten die Beleidigungen nicht. Sie baten, als Vertretung der achthundert Arbeiter der Fabrik empfangen zu werden.
„Betrachtet euch als entlassen. Meine Antwort ist: Ich lasse euch alle verhungern, wenn ihr nicht in einer Stunde zurück seid."
Die Stunde war seine fixe Idee. Die Mitglieder der Kommission entfernten sich langsam, als erwarteten sie, vom Chef zurückgerufen zu werden. Ich fühlte mich unbehaglich bei diesem Auftritt. Am Abend erschien mir mein Vater — die Streikenden hatten ihn ermächtigt, als Maschinenwärter weiterzuarbeiten — sehr niedergeschlagen.
Es kam zu weiteren Verhaftungen. Gegen den Wagen des Chefs waren Steine geworfen worden, und man sprach von Versuchen, die Fabrik in Brand zu stecken. Eines Tages, als wieder ein Arbeiter verhaftet wurde, warfen einige Arbeiter (der Toscaner war auch dabei) den einen der Carabinieri in einen Kanal, während der andere sich aus dem Staube machte.
Die Arbeiter kehrten mit gesenkten Köpfen an die Arbeit zurück und mussten eine Kürzung des Tagelohns um fünfzehn Centesimi, die Entlassungen und die Verurteilung einiger Arbeiter zu Gefängnisstrafen schlucken. Die Niederlage gab der Organisation neuen Auftrieb, und viele Arbeiter traten in die Ortsgruppe Mondovi der Sozialistischen Partei ein. Mondovi war die Heimat Giolittis, des Mannes, der das politische Leben Italiens mehr als zwanzig Jahre lang beherrschen sollte. Eine Wochenschrift erschien, und der Kampf wurde wieder aufgenommen.

Ich begann, Zeitungen und Bücher zu lesen. Besser gesagt, ich verschlang Bücher und Zeitungen aller Art, von der Bibel bis zum „Kapital". Dieses erklärte mir ein Anarchist, ein gewisser Bisagni, der für viele Jahre ins Zuchthaus wanderte. Dieser Anarchist hatte einen großartigen Plan: Er wollte in die Armee eintreten und sie durch Propaganda im Innern unterminieren. Er meldete sich als Freiwilliger und wurde in kurzer Zeit zum allgemeinen Erstaunen Unter offizier. Aber nach wenigen Monaten las ich in den Zeitungen, dass er wegen umstürzlerischer Propaganda in der Armee zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.
Mein Vater hatte den Gedanken, mich von den Ärzten des Mauritius-Krankenhauses kurieren zu lassen, aufgegeben, arbeitete aber trotzdem durchschnittlich fünfzehn Stunden täglich. Er wollte mich studieren lassen. Ich sollte aus irgendeinem Grunde Volksschullehrer werden. Aber das ging über seine Kräfte, und so wurde ich schließlich Friseur!
„Ich habe es nicht erreichen können, dass er mit seinem Kopf arbeitet, also soll er sich an den Köpfen anderer betätigen!" Zu diesem Schluss gelangte mein Vater in den seltenen Augenblicken guter Laune.
Ich landete also in einem Friseurgeschäft. Beim Einseifen hörte ich den Gesprächen zu. Ich war in einen Laden geraten, in dem vom Morgen bis zum Abend diskutiert wurde. Dorthin kamen Kunden aller politischen Richtungen: Liberale, Klerikale, Sozialisten, Demokraten. Zwei von den Kunden wurden später Abgeordnete, und einer — der Klerikale Bertone — wurde Minister. Mein Chef war Demokrat, ich schloss mich sofort — natürlich ohne darüber zu sprechen — den Sozialisten an.
Manchmal vergaß ich über meinem Interesse für die Diskussion, dass ich beim Einseifen war, und dann geriet die Seife meinen Kunden ins Auge oder in den Mund.
Ich trat in die Abendschule und in die Ortsgruppe der Internationalen Antimilitaristischen Allianz ein, die damals gegründet worden war. Es war die Zeit Herves. Dann ging ich zur Sozialistischen Jugend über und war ein häufiger Gast im Sozialistischen Verein. Weder mein Vater noch meine Mutter wussten davon. Als ich wegen einer Antwort, die mein Lehrer als umstürzlerisch betrachtete, von der Abendschule verwiesen wurde, kam es zur Katastrophe. Zu Hause gab es einen regelrechten Aufstand. Mein Vater war als guter Liberaler gegen die Freiheit der Meinungsäußerung, und meine Mutter flehte die Heiligen und die Madonna an, mich wieder auf den rechten Weg zu führen. Auch mein Großvater griff ein, und die Entscheidung war eindeutig: „Entweder hörst du auf, den Sozialisten zu spielen, oder du gehst deine eigenen Wege."
Erschwert wurde meine Lage durch ein anderes Ereignis. Ich hatte — es was das erste Mal, dass ich meine Prosa gedruckt sah — einen kleinen Artikel für die Rekruten geschrieben, die in diesen Tagen zur Musterung gingen. Die Unterschrift lautete „Eine Mutter". Der Staatsanwalt hatte in meinen Auslassungen eine maßlose Verhöhnung der Armee gesehen, und bei einer Haussuchung war der Artikel nebst einem Begleitschreiben gefunden worden.
Bei der Voruntersuchung wurde ich freigesprochen, aber die gerichtliche Vorladung wurde meiner Mutter ausgehändigt. Man kann sich also die Tragödie vorstellen!
Ich hatte aber auch für eine zweimal monatlich erscheinende sozialistische Frauenzeitschrift — „La Donna" — in Zusammenarbeit mit einer jungen Genossin, für die ich — dies sage ich im Vertrauen — eine „Schwäche" hatte, einen kleinen Artikel unter dem Titel „Die vielfältige Versklavung der Frau" geschrieben. Es war eine Zusammenarbeit besonderer Art, denn sie unterzeichnete, und ich schrieb den Artikel. Ich hatte entschieden kein Glück mit weiblichen Namen, denn auch die Genossin erlebte Scherereien mit der Polizei und Vorwürfe zu Hause. Sie freute sich zwar sehr, ihren Namen gedruckt zu sehen, sagte aber doch, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, die Wahrheit. Außer den Strafpredigten zu Hause musste ich nun auch noch einen Wutanfall ihrer erbosten Eltern über mich ergehen lassen.
Es war ein Wunder, dass ich nicht auch von den wütenden Eltern der Genossin eine Tracht Prügel bezog!
Zu all dem kam die komische Note. Ein Messdiener sagte eines Tages, während ich ihm die Haare schnitt: „Sei doch so gut und schneide mir eine Tonsur." Ich hatte das noch nie gemacht.
„Ja, ja, ich mache sie dir", erwiderte ich, und obendrein machte ich sie ihm schlecht.
Als der Pfarrer diese Tonsur zu Gesicht bekam, erschien er im Laden, ging zu meinen Eltern und machte entsetzlichen Krach. Er erklärte, ich hätte eine Gotteslästerung begangen, denn eine Tonsur dürfe nicht ohne die Erlaubnis der Kirchenbehörde geschnitten werden! Infolgedessen wurde ich vom Chef gerüffelt und musste außerdem eine Strafpredigt meiner Mutter über mich ergehen lassen, die, wie schon gesagt, sehr fromm war.
Eine Predigt folgte der anderen! Jeden Tag gab es eine neue ... Während ich auf den vom Gericht für die Verhandlung festgesetzten Termin wartete, wurde ich eines Sonntags bei einer Versammlung auf freiem Felde mit einem anderen Genossen ins Gefängnis geworfen. Ich verbrachte die Nacht auf der Pritsche mit einem Hühnerdieb, einem Hausierer, der Almosenbüchsen ausgeplündert hatte, die an der Tür jeder Kirche angebracht sind, und einem Betrunkenen.
Nach meinem Arbeitstag im Laden — sonntags war um vier Uhr Arbeitsschluss — war ich mit einem anderen Genossen im Auftrage der sozialistischen Ortsgruppe zu einer Propagandaveranstaltung aufgebrochen. Der andere Genosse war ein Erwachsener, ich gehörte noch zu den „Jugendlichen". Seit einiger Zeit konnte ich Rad fahren.
Das Fahrrad leistete mir gute Dienste und war mir oft von Nutzen. Diesmal beförderte es mich ins Gefängnis.
Das hing auch mit dem Zaren von Russland zusammen. Der „Avanti" hatte eine große Kampagne gegen den Besuch des Zaren in Italien veranstaltet. Die Parole lautete: „Der Zar wird ausgepfiffen!"
Tatsächlich gelangte Nikolaus II., für den ein umfangreiches Besucherprogramm in ganz Italien vorgesehen war, nur bis Racconigi in der Provinz Cuneo, weniger als hundert Kilometer von der französischen Grenze. Man kann sagen, dass es von der Grenze bis Racconigi von Soldaten und Polizei wimmelte. Die Häuser an der Eisenbahn waren geräumt, die Bahnübergänge waren gesperrt. Der Kaiser von Russland bekam in Italien nur Bajonette zu sehen.
Es war streng verboten, den Wohnort zu verlassen. Die wenigen Genossen im Ort waren verhaftet.
Es war bekannt, dass Morgari nach Racconigi kommen sollte. Da er Abgeordneter war, konnte man ihn nicht daran hindern.
Der Genosse und ich brachen mit dem Rad nach Racconigi auf, ohne Pfeife. Alle, die eine Pfeife hatten, wurden verhaftet, auch die Kinder. Wir aber konnten mit den Fingern pfeifen.
Wir landeten jedoch gleich nach unserer Ankunft mit unseren Rädern im Gefängnis. Morgari pfiff einmal und wurde weggebracht. Dem demokratischen Prinzip des Staates war Genüge getan und der Ehre der Sozialistischen Partei Italiens, die die Parole ausgegeben hatte, ebenfalls. Die russischen Proletarier aber und die bolschewistische Partei begnügten sich nicht damit, Nikolaus auszupfeifen!

Eine Versammlung auf freiem Felde ist interessant, vor allem im oberen Piemont, wo die Priester und die Giolittianer das Heft in der Hand hatten. Im allgemeinen wurde, wenn es irgend möglich war, nach dem Gottesdienst gesprochen.
Diesmal hatte der Pfarrer gut vorgearbeitet. Die Klebezettel, die unsere Veranstaltung ausdrücklich als von der Ortsgruppe der Partei ausgehend ankündigten, waren verschwunden, und während der Predigt hatte der Priester den Gläubigen Höllenstrafen angedroht.
Als wir nach einem Marsch durch die staubigen Straßen (es war im August) auf dem Kirchplatz anlangten, war keine lebende Seele zu sehen. Alle waren in die Kirche gegangen, auch die drei Carabinieri, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung aus der Kaserne gekommen waren. Wir hörten die letzten Worte des Priesters: „Geht nach Hause, hört nicht auf die Feinde des Vaterlandes, der Familie und der Religion!"
Aber ausgerechnet die Bauern — in dieser Gegend überwogen die Kleinbauern, die sich im Winter im allgemeinen anderswo nach Arbeit umsehen mussten — konnten sich nicht entschließen, den Platz zu räumen. Die Propaganda des Priesters hatte sie neugierig gemacht.
Ich muss hier gleich bemerken, dass diese Veranstaltung mein Debüt sein sollte. Ich hatte noch niemals öffentlich gesprochen, und gerade ich sollte als erster sprechen. Der andere Genosse sollte dann die eigentliche Rede halten. Ich war ein wenig aufgeregt. Ein alter Schuhmacher, derselbe, der die Zettel mit der Ankündigung der Versammlung angeklebt hatte und wegen der Vereinbarungen auf der Ortsgruppe gewesen war, lieferte uns auch die Tribüne: einen stabilen Tisch.
In seiner Jugend war er in Amerika gewesen, er stand im Rufe großer Gelehrsamkeit und sprach auch „amerikanisch". Er war ein guter Kerl, arbeitete viel und verdiente wenig, er las den „Asino" und unsere Wochenzeitung.
„Seid ihr die Redner?" fragte er und reichte uns die Hand. „Kommt, hier ist die Tribüne."
Die Bauern näherten sich, die Carabinieri auch. Der Priester beobachtete seine ungehorsame Herde von der Schwelle aus.
Ich kletterte auf den Tisch. Als ich den Mund öffnete und sprechen wollte, setzte ein derartiger Lärm ein, dass ich mich überrascht umwandte.
Was ging da vor sich?
Etwa zwanzig Jungen waren auf dem Kirchplatz erschienen und schlugen aus Leibeskräften mit Stöcken auf Benzinkanister ein. Es entstand ein solches Getöse, dass es unmöglich war, sich Gehör zu verschaffen. Die Carabinieri hörten sich diese neuartige Musik mit an, und der Pfarrer sah aus wie ein General, der die Manöver leitete.
Auf dem Tisch stehend, wartete ich, dass die Musik aufhören sollte.
Die Kanister waren schon ganz verbeult, und die Arme erlahmten. Die Musik hatte nicht mehr den Schwung wie im Anfang, sie ließ nach und erstarb. Hier und da wurde im Publikum gelacht, andere protestierten, und die Nächststehenden sagten: „Lasst ihn sprechen!" Endlich hörte die Musik auf, aber gleich danach begannen die Kirchenglocken anhaltend zu läuten! Der Plan des Pfarrers wurde methodisch durchgeführt, und der arme Küster denkt wohl noch heute an dies lange Geläut. Endlich erlahmte auch er, und ich konnte beginnen. Meine Aufregung war vorüber. Ich empfand die Notwendigkeit, zunächst an die musikalische Kundgebung anzuknüpfen, aber schon stand am Tisch der Postenkommandant mit seinen beiden mit Flinten bewaffneten Leuten.
„Haben Sie die Erlaubnis, öffentlich zu sprechen?"
„Ich brauche keine Erlaubnis", antwortete ich sicher. (Ich kannte die gesetzlichen Vorschriften in Bezug auf die öffentliche Sicherheit.) „Erforderlich ist nur die Voranmeldung bei der Behörde, und die ist erfolgt, darauf können Sie sich verlassen."
„Ich bin selbst beim Bürgermeister gewesen", erklärte der Schuhmacher.
„Zeigen Sie mir die Empfangsbestätigung!" erwiderte der Maresciallo.
„Ich habe keine bekommen."
„Dann dürfen Sie nicht sprechen, werter Herr... Die Versammlung ist aufgelöst."
„Aber das ist doch Amtsmissbrauch!" sagte ich.
„Amtsmissbrauch? Sie sind verhaftet. Ich lasse die wohllöbliche Gendarmerie nicht beleidigen."
Damit zog er mich vom Tisch.
Die Bauern, die trotz der Predigt und während der Musik auf dem Platz geblieben waren, entfernten sich auf die Aufforderung hin sofort. Man brachte uns trotz der Proteste meines Genossen ins Gefängnis.
Im Büro sagte der Maresciallo zu mir: „Sie bleiben also bei dem Wort, das Sie auf dem Platz gebraucht haben?" Er blätterte in seinem Notizbuch. „Sie bleiben bei dem Amtsmissbrauch? Dann unterschreiben Sie hier ..."
Ich unterschrieb.
„Ich werde denen zeigen, was Amtsmissbrauch ist, die bilden sich wohl ein, ich verstehe das nicht. In die Zelle mit ihnen!"
Dort verbrachten wir die Nacht. Wer weiß, was der arme Wachtmeister sich bei dem Wort „Amtsmissbrauch" gedacht hat. Er wollte wohl einen Prozess veranlassen, vor dem Schwurgericht seine Aussage machen und befördert werden. Am nächsten Morgen wurden wir freigelassen, aber die Nachricht war schon allgemein bekannt. Zu Hause erlebte ich einen sehr üblen Empfang. Der Großvater war auch dabei. „Keiner, keiner von unserem ganzen Geschlecht hat im Gefängnis gesessen. Du hast uns entehrt, du bist unwürdig ..." So ging es fort. Wenn die eine Predigt zu Ende war, begann die nächste. Meine alte Tante, die sich auf der Rückreise von dem Wallfahrtsort das Bein gebrochen hatte, erklärte in echter christlicher Nächstenliebe:
„Der liebe Gott hat gewusst, dass er ein schlechter Mensch werden würde. Er hat ihn rechtzeitig bestraft." Das genügte mir. Ich suchte mir Arbeit in Turin.
In Turin machte ich mich sogleich ans Werk und begann das Leben, von dem ich solange geträumt hatte. Arbeit, Volkshochschule, Gewerkschaftshaus.
Ich litt ein wenig unter der Trennung von der Familie, aber das neue Leben füllte mich völlig aus. Ich arbeitete in einem großen Geschäft. Die Arbeitszeit war sehr lang, von acht Uhr morgens bis neun Uhr abends, sonnabends bis Mitternacht, sonntags bis zehn. Ich verdiente 10,50 Lire in der Woche.
Ich schlief mit einem anderen Arbeiter, einem Mechaniker, in einer Dachkammer. Abends musste man eine halbe Stunde lang die Treppe hinaufklettern. Da oben konnte man ohne Instrumente Astronomie betreiben. Mein Stubenkamerad las Liebesromane und Räubergeschichten. Er war ein finsterer und mürrischer Mensch und ertrank schließlich im Po.
Meine Kollegen? In keiner anderen Berufsgruppe (ich habe immer inmitten der Arbeiterklasse gelebt) habe ich so viel niedrige und knechtische Gesinnung kennen gelernt wie unter den Friseuren. Ihr Ideal war das Trinkgeld. Um zwei Soldi Trinkgeld zu bekommen — vier waren ein seltener Glücksfall —, demütigten sie sich in der schändlichsten Weise. Sie schmeichelten den Kunden, erforschten ihre Ansichten, um sich als Monarchisten oder Republikaner, als Atheisten oder Gläubige, als sittenstreng oder als Schürzenjäger auszugeben, heuchelten Interesse für den abgeschmacktesten Blödsinn und hörten sich ungenießbare Witze an. Der durch Rossini unsterblich gewordene „Barbier von Sevilla" ist keineswegs eine Übertreibung. Ich habe Friseurgehilfen gekannt, die die Adressen aller Absteigequartiere und aller Bordelle in der Stadt mit den jeweiligen Preisen wussten. Alles für das Trinkgeld. Es gibt natürlich auch gute Elemente, aber das sind Ausnahmen. Die Lotterie, die Pferde- und Radrennen, das Fußballspiel oder das Pelota-Spiel (ein Spiel spanischen Ursprungs) waren die beliebtesten Gesprächsthemen. Einmal arbeitete ich bei einem Vorstadtfriseur, dessen Ladenschild die Aufschrift „Friseur aus Menschenliebe" trug. Er rasierte seine Kunden für wenige Soldi und wusste um alle Geheimnisse des Lotteriespiels. Man erzählte meinem Kollegen, was man in der Nacht geträumt hatte, und er verriet die „Glückszahlen" in der Lotterie. Dafür bekam er sein Trinkgeld!
Hatte man zum Beispiel, weil man seinen Salat schlecht verdaut hatte, geträumt, man sei wegen Mordes verhaftet worden, so bedachte sich mein Kollege einen Augenblick und verkündete dann: „Die Carabinieri bedeuten die 11, der Tote bedeutet die 47, der Mord die 90. Sie müssen also die 11, die 47 und die 90 spielen. Die 11 ist seit drei Monaten, die 47 seit mehr als sechs Monaten und die 90 seit drei Wochen nicht herausgekommen. Sie haben also große Aussicht auf Gewinn!" Er selbst aber gewann niemals.
Ein anderer kannte den ganzen Stammbaum der berühmtesten Rennpferde. Er gab den Kunden, die auf der Rennbahn wetteten, Ratschläge, rühmte sich der Freundschaft mit allen möglichen Jockeis und Pferdepflegern und verspielte alles, was er verdiente. Er verlor immer.
„Das und das Pferd? Taugt nichts. Das andere da ist gut und außerdem ,in Form'. Sein Vater, ein Sohn des und des Pferdes, das in dem und dem Jahre den ,Grand Prix' von Longchamps gewonnen hat, hat dort und dort gewonnen und den Preis ,Amedeo di Savoia' nur um eine Nasenlänge verloren. Die Mutter ist ein reines Rassepferd. Ich befürchte allerdings, dass es nicht platziert wird. Der Jockei ist nämlich zu leicht, er muss noch zunehmen. Wetten Sie jedenfalls auf Sieg und setzen Sie reichlich auf Platz!"
Am Tage nach den Rennen bat er seine Kollegen um Zigaretten und borgte sich Geld für das Frühstück ...
Andere diskutierten über die „Roten" und die „Blauen". So nannte man die Mitglieder der beiden gegnerischen Mannschaften beim Fußballspiel. Auch hier gab es zahllose Ratschläge, wurde endlos diskutiert über die Fähigkeit irgendeines „Roten" oder „Blauen". Was die Radrennen betraf, so gab es Kollegen, die nach der Arbeitszeit „trainierten", in der Hoffnung, einmal Meister zu werden.
Vervollständigt wurde das Bild durch die ewigen Streitigkeiten zwischen den in Turin sehr zahlreichen Südländern und den anderen. Die Südländer, Neapolitaner und Sizilianer, rühmten sich, die besten „Künstler" zu sein (so pflegten die Friseure sich untereinander zu nennen). Natürlich behaupteten die anderen das Gegenteil, und manchmal kam es zu Beleidigungen und Handgreiflichkeiten. Ich neckte sie mit der Behauptung, der beste Künstler sei der Chef, der uns alle rupfe. Manche stimmten mir zu. Wenn ich ihnen aber sagte, sie sollten sich im Verband organisieren, sahen sie mich schief an und erklärten: „Der Chef wird uns auf die Straße setzen!"
Einmal stritt ein Pisaner mit einem Sizilianer. Dieser erzählte, er habe dem Marquis Rudini, der Vorsitzender des Ministerrats gewesen war, den Bart gewichst. Der Pisaner sah ihn hochmütig an und erklärte: „Ich habe in Pisa in einem Geschäft gearbeitet, in dem das Königshaus bedient wurde." Dann sah er sich um, um die Wirkung auf die Kollegen festzustellen.
Nun wollte ich ihnen meine Meinung sagen und erklärte im Scherz: „Du wirst die Hunde des Königs geschoren haben!" Hätte ich es doch nie gesagt! Der Pisaner wurde wütend und beruhigte sich erst, als ich ihm einen Kunden abtrat, der Trinkgeld gab.

In diesem Milieu begann ich mit wenigen anderen, organisatorische Versuche zu machen. Es gelang uns auch, eine Organisation zu schaffen, aber wir mussten schwer dafür büßen. In einem Geschäft mit höchstens fünf oder sechs Angestellten — mehr waren es selten — war es leicht, uns als „Umstürzler" zu erkennen. Wir wurden entlassen. Auf dem Vermittlungsbüro waren wir bald alle bekannt.
Wir wurden schlecht behandelt und schlecht bezahlt. Die Kunden behandelten uns als minderwertige Wesen. „Rasieren! Haare schneiden! Schnurrbart wichsen!" Dann musste der Friseur antworten: „Jawohl, mein Herr! Jawohl, Signor Commendatore! Jawohl, Signor Cavaliere!" und so weiter. In den von Arbeitern und Bauern besuchten Vorstadtläden war es erträglicher.
Einmal arbeitete ich in der Nähe einer großen Kaserne auf dem Corso Vittorio Emanuele. Der Laden wurde von höheren Offizieren aufgesucht, und nur selten verirrte sich ein einfacher Soldat dorthin. Die Bücklinge und Komplimente des Chefs und der Gehilfen musste man sehen! Wenn die Gestalt des Obersten erschien, war das ein welterschütterndes Ereignis. Der Chef riss die Tür mit einem „Ihr Diener Herr Oberst" auf, das wie „Stillgestanden!" klang. Die Gehilfen waren alle eifrig damit beschäftigt, ihm den Säbel, den Mantel, den Hut und die Handschuhe abzunehmen, während die anderen Kunden mit eingeseiftem Gesicht zu warten hatten.
An einem Sonntagmorgen erschien der Oberst, als der Laden voller Kunden war. Offiziere, ein paar Soldaten, Angestellte, einige bessere Herren und ein höherer Geistlicher füllten ihn. Es wiederholte sich der übliche Auftritt. Der Oberst hatte es eilig. Im Kommandoton erklärte er:
„Ich muss sofort bedient werden."
Er wurde außer der Reihe bedient. Ich war als erster mit meinem Kunden fertig, und so traf mich die Ehre, den Herrn Oberst zu bedienen.
Wie üblich, sagte ich:
„Der Nächste bitte!"
Der Oberst schritt auf den Sessel, an dem ich arbeitete, zu:
„Rasiere mich anständig und rasch!"
„Setz dich!" erwiderte ich.
Was in diesem Augenblick im Laden geschah, ist schwer zu beschreiben. Eine so hochgestellte Persönlichkeit hatte ich geduzt! Der Skandal war so unerhört, dass sämtliche Gespräche abgebrochen wurden. Am liebsten hätte der Oberst mich erwürgt, aber er hatte es eilig und setzte sich. Die anderen wussten nicht, was sie sagen sollten. Der Chef warf mir einen vernichtenden Blick zu. Nur die Soldaten lächelten beifällig und ein wenig spöttisch.
Ich bediente den Herrn Oberst.
Als er wieder das Wort an mich richtete, sagte er zuerst „Ihr" und dann „Sie". Das übliche Trinkgeld bekam ich nicht. Der Chef entschuldigte sich bei dem Obersten.
Kaum war der Oberst gegangen, als der Chef mir erklärte:
„Sie sind entlassen. Heute Abend bekommen Sie Ihren Wochenlohn."
„So jagt man Diebe fort", erwiderte ich. „Von wem haben Sie eigentlich Ihr Benehmen gelernt?" brüllte der Chef.
„Von dem Herrn Oberst", antwortete ich. Am Abend nahm ich mein Werkzeug, bekam ein bisschen Geld und zog ab.
Es folgten trübe Tage. Ich schlug mich mühselig durch. Wenn ich keine Arbeit hatte, war es besonders schlimm. Ich kannte einen Genossen, der als Geschirrwäscher in einem großen Restaurant arbeitete. Er half mir gelegentlich mit einer Scheibe Salami oder Fleisch, die die Kunden in seinem Restaurant übriggelassen hatten.
Der Verband wurde inzwischen stärker, und eines Tages streikten wir. Die Friseure, im Laden Kaninchen, traten im Gewerkschaftshaus wie Löwen auf. Wir erklärten, wir würden die Chefs verprügeln und in den Läden alles kurz und klein schlagen. Der Streik dauerte nicht lange. Es wurden einige Verbesserungen erreicht. Eine kleine Zulage und ein paar freie Stunden am Montag. Die Trinkgeldfrage wurde nur in der Agitation angeschnitten.
Ich arbeitete noch in Savona und Alessandria. Dann kehrte ich nach Mondovi zurück. Mein Vater war erkrankt. Die ungesunde Arbeit — als Maschinenwärter arbeitete er meistens im Kellergeschoß — und die unmögliche Arbeitszeit hatten ihn zugrunde gerichtet. Ich nahm meine Stellung zu Hause wieder ein. Niemand widersetzte sich mehr meinen Ideen. Ich lernte, schrieb und arbeitete.
Mein Vater starb. Es war ein schwerer Schlag für mich.
Mit zwanzig Jahren hatte ich den Vater verloren und stand mit der kranken Mutter und drei kleinen Geschwistern — einem Bruder und zwei Schwestern — allein da. Außerdem hatte ich keine Arbeit, weil ich dem Vorstand des Friseurverbandes angehörte und für die Zeitung schrieb. Ein Onkel besorgte mir eine Stellung in Fossano, wo ich dann viele Jahre gelebt habe.
Der neue Chef, ein Katholik, richtete, ehe er mich einstellte, folgende Ansprache an mich: „Ich habe mich genau über Sie informiert. Ich weiß, dass Sie ein tüchtiger Arbeiter sind und an Ihrer Familie hängen. Man hat mir gesagt, dass Sie intelligent sind, aber ich weiß, dass sie sich mit Politik abgeben. In meinem Geschäft wird nicht politisiert. Merken Sie sich das gut! Außerhalb der Arbeitszeit können Sie tun, was Sie für richtig halten. Im Geschäft gibt es das nicht!"
„Wenn mich aber ein Kunde zum Diskutieren provoziert?"
„In meinem Geschäft spricht niemand über Politik, es sind alles seriöse Leute", erklärte mein zukünftiger Chef.
Wir zogen um.

Da war ich also in meinem neuen Wohnort. Es war eine kleine alte Stadt mit wenig Industrie und vielen Kasernen. Eine Festung gab es dort, viele Adlige, zwei Zuchthäuser und viele, viele Priester. Außerdem ein Regiment Infanterie, eine Schwadron Kavallerie und eine Batterie Artillerie. Rings um die Stadt wohnten Kleinbauern. Insgesamt hatte sie 18000 Einwohner. Es war eine Handelsstadt. Kein Arbeiterverein mit Bibliothek oder Lesesaal! Es bestand zwar ein
Arbeiterunterstützungsverein, aber keine Ortsgruppe der Sozialistischen Partei. Nichts.
Immerhin lebten dort einige Genossen. Einer fabrizierte Mineralwasser und arbeitete seit Jahren an einer Flugmaschine, die er „Schraubenflugzeug" nannte und deren Mechanismus den Vogelflug nachahmen sollte.
Wie viele Vögel hat der Mann geopfert, um die Flügel zu studieren und nachzuahmen! Hunderte und Tausende. Alle Jungen des Ortes brachten ihm die Vögel, die ihnen in die Hände fielen.
Ein anderer war Ziegelbrenner. Dann gab es noch zwei Brüder, die Maurer waren, und einen Hufschmied.
Im Laden wusste man schon vor meiner Ankunft ein wenig von mir. Die Kundschaft bestand aus Priestern, Offizieren, Unteroffizieren, Geschäftsleuten, Gefängniswärtern, Arbeitern und Bauern. Der Chef arbeitete mit zwei Gehilfen und einem Lehrling. Die Arbeit war nicht, wie in den großen Städten, durchgehend. Viel arbeiteten wir am Sonnabend, am Sonntag und am Mittwoch, dem Markttag. Der Chef hatte, ohne es zu wollen, ein wenig „Reklame" für mich gemacht. Die Folge war, dass ich von Anfang an von den Konservativen angegriffen wurde, die alle Tage in den Laden kamen, wie man ins Cafe geht, um sich die Zeit zu vertreiben. Natürlich blieb ich die Antwort nicht schuldig.
Nach wenigen Wochen ging es im Laden hoch her. Das Amüsanteste war, dass der Chef, der nie in seinem Leben diskutiert hatte, schließlich immer die Diskussion eröffnete. Am Morgen, wenn die Zeitung kam, las er sie in aller Ruhe und ging dann zum Angriff über, auch wenn keine Kunden da waren. Ab und zu erinnerte ich ihn an unser erstes Gespräch.
Er zuckte die Achseln und setzte die Diskussion fort. Dieser Chef hat es mir zu verdanken, wenn er Stadtverordneter und Magistratsmitglied geworden ist. Er war richtig in Feuer geraten. „Der Sozialismus ist eine Gefahr, die bekämpft werden muss!" Dann erzählte er schauerliche Geschichten ... Die Bauern hörten zu, und ich erwiderte ihm. So ging es die ganze Woche.
Inzwischen hatte ich mit den Sozialisten am Ort Kontakt aufgenommen. Mit einigen anderen Arbeitern gründeten wir eine Ortsgruppe der Sozialistischen Partei und bestimmten den Berichterstatter für den „Avanti" und für die „Lotte Nuove", die in Mondovi erscheinende Wochenzeitung für die Provinz.
Wir fanden auch einen kleinen Raum für die Versammlungen der Ortsgruppe, in dem auch wöchentliche Konferenzen und Besprechungen von Arbeitern stattfanden.
Als mein Chef dies erfuhr, wurde er nicht etwa wütend, sondern begann mit der Propaganda für die Gründung einer Ortsgruppe der Christlich-Demokratischen Partei.
Die ersten Berichte im „Avanti" und in den „Lotte Nuove" riefen helle Aufregung hervor. Die drei Wochenblätter—das eine gab sich parteilos und enthielt nur Skandalgeschichten und Glückwünsche für neue Titelverleihungen, das andere war klerikal, das dritte schlug sich bis zu den Wahlen durch, um sich an die am besten zahlende Partei zu verkaufen — fielen wütend über uns her. Die „Gefahr" musste sofort bekämpft werden. Es wurde eine Kampagne inszeniert. Besondere Rubriken berichteten über die Missetaten der Sozialisten, wandten sich gegen ihre unheilvollen Absichten und richteten persönliche Angriffe gegen die alten Sozialisten des Ortes, die sich von dem Zugezogenen, dem „Ausländer" „aufhetzen" ließen.
Mein Chef gab mir im Gegensatz zu vielen anderen nicht den Laufpass, weil er im Grunde durch diese Polemik Kunden gewann und infolgedessen Geld verdiente. Die Freunde und Sympathisierenden kamen, um einige Worte zu wechseln, die Gegner wollten die Gefahr bekämpfen und aus der Nähe kennen lernen.

In einer kleinen Stadt gewinnen kleine Dinge große Bedeutung. In Fossano (Fons sana, Heilquellen) lebten vor allem Kaufleute, Priester, Pensionäre und Adlige. In solchen Klatschnestern sind alle Bürger einer erbarmungslosen Kritik ausgesetzt. Alle waren sie gläubig, von Bava Beccaris (einem General, der dadurch zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, dass er im Jahre 1898 auf demonstrierende Arbeiter mit Kanonen schießen ließ), dem erlauchtesten Bürger der Stadt, bis zum letzten Gastwirt. Sprösslinge erlauchter Familien des alten Adels von Fossano, Würdenträger, die die Wahlen für Giolitti machten, Domherren, Spekulanten und Geschäftsleute, Offiziere aller Waffengattungen - diese Gesellschaft war maßgebend im öffentlichen Leben und bestimmte über gutes oder schlechtes Wetter.
Das „Caffe Grande" war der Ort, wo diese ganze „Elite" über Politik, über schöne Frauen, über das Spiel sprach und lästerte. Man nannte sie den „Klub der bösen Zungen". Die wenigen Sozialisten unterschieden sich nicht sehr von den übrigen. Wenn Wahlen stattfanden, machten sie sich bemerkbar und erwischten, ohne klares Programm, ein paar Stimmen und einen Posten im Gemeinderat. Auch viele Katholiken stimmten für die Sozialisten. „Wir brauchen eine Minderheit", meinten sie. Nach den Wahlen bestand keine Verbindung mehr zwischen den Gewählten und den Wählern. Im allgemeinen argumentierte man: „Der und der ist ein braver Mann, er muss Stadtverordneter werden. Er hat ein gutes Einkommen, also kann er sich dem öffentlichen Leben widmen und braucht nicht zu stehlen. Geben wir ihm unsere Stimme."
Im Laden gingen die Auseinandersetzungen weiter. Zwei neue Faktoren hatten der Diskussion Nahrung gegeben. In einer öffentlichen Versammlung hatten ich und ein anderer Genosse gesprochen, um auf der Grundlage des Programms der Sozialistischen Partei und nicht, wie bisher, in Koalition mit den Radikalen die Kandidatur von drei Genossen zu unterstützen. Hierüber wurde eine Woche lang diskutiert. Das andere Ereignis hatte ein sehr weites Echo hervorgerufen. Mein Chef, der die Priester bediente, die in einem benachbarten Wallfahrtsort einige Wochen in „stillem Gebet" zubringen wollten, gab mir einmal den Auftrag, einen Bischof zu rasieren.
„Denken Sie daran, dass Sie ihn mit Exzellenz anreden und ihm die Hand küssen müssen."
Tatsächlich hielt der Bischof, den ich mit „Guten Tag" begrüßte, mir die Hand hin. Ich ergriff seine Hand und drückte sie, wie ich sie jedem anderen gedrückt hätte! Der Adel und die Priester waren empört. Nie wieder erhielt ich den Auftrag, höhere Geistliche zu rasieren.
Die Nachricht wurde im ganzen Ort mit Entrüstung besprochen. Mein Chef war sehr unzufrieden und erklärte mir:
„Sie werden mir noch die Kundschaft verjagen. Sie hätten sich wirklich die Mühe machen können, dem Bischof die Hand zu küssen." Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Dieser wird bestimmt einmal Kardinal. Man sagt, er sei intim, sehr intim"— er blinzelte vielsagend —„mit einer königlichen Prinzessin befreundet!"
Er empfahl mir Verschwiegenheit, würdigte mich aber niemals wieder einer solchen Vertraulichkeit. Einige Tage war er furchtbar aufgeregt.
Er befürchtete, ich würde darüber in der Zeitung schreiben.

Besonderen Eindruck machte es auf die guten Leute, dass, unsere Ortsgruppe auch ohne Wahlen Propaganda machte. Jeden Sonntag wurde ein Dorf besucht. Beim ersten Besuch verlief der Empfang fast immer in der bereits geschilderten Weise.
Wir erlebten auch manche unangenehme Viertelstunde, weil die Priester kein Bedenken trugen, sogar Steine auf uns werfen zu lassen. Wir kamen aber wieder, und dann gelang es uns stets, irgendeine Verbindung herzustellen und Stützpunkte für die Verteilung der Presse zu schaffen. Auf diese Weise lernte ich Bartolomeo Vanzetti kennen, der später mit Sacco in Amerika hingerichtet wurde.
Wir sollten eine Propagandaversammlung in Villafalletto, etwa zehn Kilometer von Fossano entfernt, organisieren. In Villafalletto hatten wir niemand, dem wir das Kleben von Zetteln hätten anvertrauen können. Wie immer in solchen Fällen, fragte ich im Laden einen Bauern aus dem Ort, ob es dort Sozialisten gebe.
Der Bauer dachte ein wenig nach und sagte dann: „Ja, da ist einer in Villafalletto, ein gewisser Bartolomeo Vanzetti, aber er ist kein Sozialist, er gehört zu denen, die die Könige umbringen wollen. Er spricht mit niemand, und niemand spricht mit ihm."
Ich ließ mir die Adresse geben und fuhr eines Tages mit dem Rad nach Villafalletto, einem Nest von etwa zweitausend Einwohnern. Vanzetti fand ich leicht. Er betrachtete mich misstrauisch.
„Ich bin der und der, Sekretär der Ortsgruppe Fossano, und möchte dich bitten, mir zu helfen."
„Sind die Wahlen in Sicht?" unterbrach Vanzetti mich spöttisch.
„Ich glaube nicht", erwiderte ich. „Wir wollen eine Propagandaveranstaltung durchführen."
„Was könnt ihr in diesem Nest schon machen! Hier regiert der Priester. Es sind alles Dummköpfe. Ich gebe mich nie mit solchen Sachen ab, ich habe nichts gemein mit den Sozialisten."
„Ich glaube, in diesem Falle haben wir etwas gemeinsam. Ich mache dir"— ich duzte ihn — „einen einfachen Vorschlag: Ich führe die Veranstaltung durch, und du machst den Gegenreferenten. Wir werden die Gesellschaft ein bisschen aufmöbeln, wir werden den Priester zum Eingreifen provozieren und ihn angreifen. Damit wirst du einverstanden sein."
Vanzetti schüttelte den Kopf. Auf dem Heimweg gab er mir das Geleit. Wir sprachen lange, das heißt, fast immer sprach er. Er redete langsam, im Dialekt. Man merkte, dass er sehr belesen war. Ich konnte ihn nicht überzeugen.
„Ich kann höchstens die Plakate ankleben und am Sonnabend die Voranmeldung beim Bürgermeister machen."
Wir verabschiedeten uns. Am Sonntag wurden wir mit der üblichen Musik, mit Gebrüll und mit anhaltendem Glockengeläut empfangen und landeten mit unseren Rädern in der Kaserne. Der Wachtmeister schrieb in seinem Bericht, er habe uns in die Kaserne gebracht, um uns vor der Volkswut zu schützen!
Oft habe ich darüber nachgedacht, wie aus einem solchen Nest ein Anarchist hervorgehen konnte. Nie hätte ich damals gedacht, dass ich noch einmal nach Villafalletto zurückkehren sollte, um eine Versammlung wegen des Todesurteils gegen Vanzetti vorzubereiten.
Tatsächlich kam ich im Jahre 1926 wieder nach Villafalletto. Wir waren drei Redner: ein Kommunist, ein Anarchist und ein Reformist, Chiaramello. Wir wurden alle drei von einem Schwarm von Polizisten, die aus Cuneo und aus Turin gekommen waren, vom Platz geschafft. Diesmal kamen wir ohne Gefängnis davon.
Damals lernte ich Vanzettis Vater und eine seiner Schwestern kennen, diejenige, die dann die Reise nach Boston machte. Sie beschworen mich, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Sie behaupteten, wenn wir eingriffen, würden der Bischof und der Abgeordnete sich nicht mehr für den Fall interessieren. In Wirklichkeit standen sie unter dem Druck der Faschisten. Die Behörden und die Faschisten bedrängten Vanzettis Angehörige und erpressten seinem Vater die Erklärung, mit der das Verbot der Versammlung gefordert wurde.
Ich habe diese Einzelheit durch einen Brief Vanzettis erfahren, den er aus dem Gefängnis in Boston an die italienische Zeitung in New York schrieb, nachdem in unseren Zeitungen in Italien ein von mir verfasster und mit dem Namen Barbadirame (Anm.: Kupferbart) gezeichneter Artikel erschienen war, in dem ich den Abgeordneten und die Behörden beschuldigte, sie hätten die Versammlung nicht zulassen wollen. Vanzetti berichtigte mich mit der Erklärung, die Schuld trage sein Vater. Dieser Brief ist ein höchst interessantes Dokument. Vor allem beweist er Vanzettis Kaltblütigkeit, und außerdem wirft er Licht auf die schmutzigen politischen Machenschaften der Klerikalen und der Liberalen, die schon damals bereit waren, die Befehle der wenigen Faschisten am Ort entgegenzunehmen. Der erste übrigens, der den Faschisten Beistand leistete, war bekanntlich Giolitti, der damals der Geburtshelfer der Faschisten genannt wurde.
Der reaktionäre Abgeordnete Falletti, auf den Vanzetti in seinem Brief anspielt, erklärte mir, als ich bei ihm erschien, um die Versammlung anzumelden: „Die Versammlung ist nicht nötig. Ich habe mich bereits mit der Sache befasst, obwohl Vanzetti mein Interesse nicht verdient. Wer Verbrechen begeht, muss dafür büßen. Er hat sein Heimatdorf entehrt, aber mir tun seine Angehörigen leid. Sacco kenne ich nicht."
Zur besseren Kennzeichnung des Abgeordneten und Grafen Falletti gebe ich Vanzettis Brief hier wieder.

„9. Juli 1926
Liebe Freunde vom ,Lavoratore',
ich habe jetzt den Bericht von Barbadirame über seinen kurzen Besuch in meinem Heimatdorf gelesen, der im ,Lavoratore' vom 3. d. Mts. unter dem Titel ,Sacco und Vanzetti dürfen nicht sterben' erschienen ist. Dem Verfasser sind einige Irrtümer und Ungenauigkeiten unterlaufen, durch die Unschuldige belastet werden und die den Leser zu falschen und ungerechten Anklagen veranlassen könnten. Deshalb habe ich mich zu dieser Klarstellung entschlossen, um deren Veröffentlichung ich Euch bitte.
In dem Bericht heißt es unter anderem, der Abgeordnete Falletti und der giolittianische Präfekt von Cuneo, Frutteri di Costigliole, ein klerikaler Adliger, hätten die Versammlung verboten und die Redner seien davongekommen, ohne in der Kaserne der Carabinieri zu landen.
Barbadirame schreibt zweifellos in gutem Glauben, aber er ist im Irrtum. Weder der Abgeordnete Falletti noch der Graf Frutteri haben die Versammlung verboten, sondern mein Vater trägt die Schuld daran. Meine Schwestern haben mir darüber geschrieben. Als die Faschisten im Dorf erfuhren, dass die Versammlung stattfinden sollte, suchten sie unverzüglich meine Familie auf und erklärten entrüstet, sie, die Faschisten, genügten, um uns Gerechtigkeit zu verschaffen, die ,Roten gehe die Sache nichts an. Mein Vater solle sie vor die Tür setzen, wenn sie bei ihm erschienen, und sie in ihrer Ortszeitung zurechtweisen. Mein Vater, der ein Konservativer, aber kein Faschist ist, erwiderte den Herren, er achte die ,Roten und sei ihnen dankbar für alles, was sie für seinen Sohn getan hätten. Er habe keinen Grund, sie zurechtzuweisen .
Später hat der Bürgermeister meinen Vater gefragt, ob er die Versammlung wünsche oder nicht, und ich muss leider sagen, 'dass er sie abgelehnt hat Die Redner sind über diese Einzelheiten von den feindseligen Ortsbehörden, die die öffentliche Kundgebung verboten haben, zweifellos nicht unterrichtet worden. Daher der Irrtum Barbadirames und meine Richtigstellung.
Im übrigen enthält der Bericht von Barbadirame eine wunderbar realistische Schilderung meines reaktionären Heimatdorfes. Die reaktionäre Mentalität erklärt die Haltung meines Vaters und die Äußerungen des Abgeordneten Falletti. Weder der Herr Abgeordnete noch sonst jemand kann behaupten, ich hätte verbrecherische Neigungen gehabt. Ich habe von Kindheit an im Schweiße meines Angesichts mein Brot verdient. Ich bin ein verurteilter Anarchist und daher für den Abgeordneten Falletti ein todeswürdiger Verbrecher.
Die Haltung meines Vaters hat die bösen Zungen gerechtfertigt. Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ich mit meinen Schwestern, meinem Bruder, meinen Verwandten und meinen alten Freunden auf gutem Fuße stehe.
Keiner von ihnen schämt sich meiner. Meine Schwestern würden sich freuen, Barbadirame, Chiaramello und den anderen Redner als geehrte Gäste zu empfangen. Ich lasse sie grüßen und danke ihnen auch im Namen meiner Schwestern. Mit herzlichen Grüßen
Bartolomeo Vanzetti

PS: Für den Abgeordneten Falletti ist mein Fall ein ganz gewöhnlicher Fall, in dem die Schuld der Angeklagten nicht einmal von der Verteidigung bestritten wird, wenn auch niemand ein Interesse daran hat, dass sie zum Tode verurteilt und dann hingerichtet werden. Er hat um Begnadigung, das heißt lebenslängliches Zuchthaus, gebeten. Ich danke recht sehr, Herr Abgeordneter. Was die faschistische Regierung betrifft, so wäre nichts leichter für sie, als uns Gerechtigkeit zu verschaffen, doch deutet alles darauf hin, dass sie den Henkersknecht spielen will."


Vanzetti hat mir noch einen anderen Brief aus dem Gefängnis geschrieben, wenige Monate vor seiner Hinrichtung. Er adressierte ihn nach meiner Landesverweisung durch die Faschisten an die Zeitung. Ich habe das später erfahren, den Brief aber niemals erhalten.
Als Vanzettis Asche in Villafalletto eintraf, befand sich der kleine Ort im Belagerungszustand. Nur die nächsten Angehörigen durften unter der Bewachung von zahllosen Polizisten, Carabinieri und faschistischer Milizen an der Beisetzung teilnehmen.

Die Arbeit der kleinen Ortsgruppe trug ihre Früchte. Wir schufen ein Gewerkschaftshaus. Sehr schwierig war es, Räumlichkeiten zu finden. Wir hatten bereits drei kleine Gewerkschaften: für die Bauarbeiter, die Metallarbeiter und die Textilarbeiter. Die Ortsgruppe funktionierte. Von der Kaffeehauspolitik waren wir zur konkreten Organisationsarbeit übergegangen. Bei den Wahlen hatten wir auch einen eigenen Kandidaten: Enrico Ferri, der später Faschist geworden ist.
Wenige Monate danach fanden wir die notwendigen Räumlichkeiten. Es entstanden andere Verbände, für die Schuhmacher und die Papierarbeiter. Ich muss gestehen, dass ich die erforderliche Mindestzahl von zehn Mitgliedern für die Gründung eines Friseurverbandes nie habe auftreiben können. Um diese Zahl zu erreichen, hätte ich neunzig Prozent der gesamten Bartscherer im Orte organisieren müssen — eine schwierige Aufgabe, wenn man bedenkt, dass das Klassenbewusstsein hier noch geringer war als unter den oben geschilderten Verhältnissen in Turin.
Die Versammlungen der Ausschüsse fanden in der ersten Zeit in der Dachkammer statt, in der die Ortsgruppe der Sozialistischen Partei ihren Sitz hatte. Für die Vollversammlungen stellte sich irgendein Gastwirt zur Verfügung, dem mehr an dem Wein lag, der zur Abgeltung der Lokalmiete verzehrt wurde, als an den sozialistischen Ideen.
In den neuen Räumlichkeiten kamen wir ganz gut zurecht. Sie bestanden aus einem Saal und zwei oder drei kleinen Zimmern. Es entstand ein Klub, eine kleine Bibliothek und ein Büro für ärztliche und juristische Beratung.
Damals waren wir sehr aktiv. Jede Woche fanden Konferenzen und Versammlungen statt. Die Sekretäre und Propagandisten der verschiedenen Berufsverbände, denen unsere Verbände angeschlossen waren, erschienen nacheinander, um Kontakt aufzunehmen, Direktiven zu geben und Informationen einzuholen. Nach der Vorbereitungszeit hatten wir auch einen Verbandssekretär angestellt. Zahlreiche Aktionen und einige siegreiche Streiks gaben der Bewegung den nötigen Auftrieb.
Im Laden nahmen die Auseinandersetzungen kolossale Ausmaße an. Ich meine das in Bezug auf die Diskussionen. Die Adligen, die Priester, die kleinen Geschäftsleute, die Industriellen fingen, wenn ich abwesend war, mit meinem Chef Streit an. „Es braucht nur ein ,Ausländer' zu kommen", meinten sie, „damit alle ihm nachlaufen. Man weiß nicht einmal, wer er ist!" Der „Ausländer" war ich, und man arbeitete auf meine Entlassung hin.
Einmal griff ein Major von der Infanterie mich im Geschäft an. „Ich höre, dass Sie mit meinen Soldaten gesehen worden sind. Seien Sie vorsichtig, das ist ein gefährliches Spiel. Ich verbiete Ihnen, die Soldaten anzuhalten, sonst..." „Was sonst?" unterbrach ich ihn. „Ich gehe spazieren, mit wem es mir passt, und pfeife auf Ihre Drohungen. Sie glauben wohl, Sie haben es mit einem Rekruten zu tun? Ich verbiete Ihnen, mich noch einmal zu belästigen."
Der Offizier, an den Umgang mit den Soldaten gewöhnt, die niemals widersprechen dürfen, war fassungslos über die Antwort und den Ton und trat sofort den Rückzug an.
Der Gendarmeriewachtmeister und der Kommissar von der Sicherheitspolizei schienen sich die Arbeit zu teilen. Bald der eine, bald der andere ließ mich am Sonntag oder am Markttag holen, um mir etwas mitzuteilen oder Vorhaltungen zu machen. Offenbar wollte man den Chef mürbe machen. Sonderbarerweise blieb er fest. Von morgens bis abends stritt er mit mir heftig, aber er entließ mich nicht.

Es war da auch ein Domherr, der überall verkündete: „Man muss alle Meinungen respektieren."
Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich nach Lourdes, dem berühmten Wallfahrtsort in den Pyrenäen, zu bringen und dort mein gelähmtes Bein kurieren zu lassen.
Er ging methodisch vor. Er brachte mir alle Berichte über die Geheilten und die Wunder, und zweimal in der Woche musste ich einen Bericht über die Taten der wundertätigen Jungfrau über mich ergehen lassen. Ich hörte die ganze Geschichte der Bernadette in den verschiedensten Varianten. Er brachte mir die entsprechenden Bücher. Im Grunde leistete der brave Mann mir nützliche Dienste. Indirekt arbeitete er an der antireligiösen Rubrik mit, die ich in der Wochenzeitung „Lotte Nuove" schrieb, deren ständiger Mitarbeiter ich geworden war.
Als er glaubte, das Eisen richtig geschmiedet zu haben, ging er zu konkreten Vorschlägen über.

Es war an einem Sommernachmittag, zu der Zeit, in der in den Provinzstädten nicht gearbeitet wird. Ich sah ihn kommen. Es war außerhalb der Arbeitszeit. Das wunderte mich sehr, denn er war pünktlich und methodisch.
„Die Sache steht gut", sagte er beim Eintreten und begrüßte mich. „Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen."
„Nehmen Sie Platz und sprechen Sie!"
Ich glaubte, es handle sich um ein ganz ungewöhnliches Wunder.
Der Domherr setzte sich, nahm eine tüchtige Prise Tabak und begann dann ernst und feierlich, wie es sich für einen Diener Gottes schickt:
„Ich weiß, dass Sie Sozialist sind, dass Sie kein Gläubiger sind. Ich bin ein Knecht Gottes, ein unwürdiger Knecht Gottes, aber ich bemühe mich, ihm zu dienen."
Ich sah ihn an und wusste nicht, worauf er hinauswollte. Nach einer neuen Prise Tabak fuhr er fort:
„Sie wissen, wie sehr ich die Heilige Jungfrau von Lourdes verehre."
„Aha", dachte ich.
„Nun also, ich bin überzeugt, dass die Jungfrau von Lourdes Ihr Bein heilen wird. Die Genesung wird Sie bewahren vor dem falschen Wege, der ins Verderben führt, denn nur ein Wunder kann Sie überzeugen. Die Jungfrau, zu der ich seit Monaten für Sie bete, wird dies Wunder tun. Ich habe einen konkreten Vorschlag. Was auch Ihre Gegner heimlich sagen mögen — ich glaube, dass Sie arm sind. Sie werden daher die Kosten für eine Beteiligung an der Pilgerfahrt, die nächste Woche nach Lourdes abgeht, nicht tragen können. Ich habe Ersparnisse. Ich stelle Sie Ihnen für die Reise- und Aufenthaltskosten zur Verfügung. Sie werden genesen und sich so überzeugen müssen, dass Gott allmächtig ist. Sie sind intelligent, ehrlich und anständig. Sie werden ein vorzüglicher Missionar werden. Das wird ein Sieg des Glaubens sein."
Der Domherr war in Eifer geraten und schwitzte, aus der Nase tropfte ihm Tabaksaft. Es war interessant.
„Und wenn ich nicht gesund werde?"
„Das ist ausgeschlossen. Wenn Sie nicht gesund werden, sollen Sie das Recht haben, alles zu schreiben, was Sie wollen ..."
„Dieses Recht habe ich jetzt schon."
Der Priester wischte sich den Schweiß ab, der in dicken Tropfen auf seiner Stirn stand. Er fing noch einmal an und redete lange. Sein Vortrag und die Hitze machten mich ein wenig schläfrig, und ich gab mir die größte Mühe, dagegen anzukämpfen.
„Antworten Sie mir: Ja oder nein!"
„Ich bin einverstanden", sagte ich halb im Schlaf.
Der Domherr strahlte.
„Ich mache sofort einen Platz in der zweiten Klasse fest. Morgen — ich muss mich ja auch rasieren lassen — komme ich mit der Fahrkarte und dem Ausweis wieder."
Er verabschiedete sich und verschwand mit unglaublicher Geschwindigkeit.
Ich bediente wieder die Kunden und vergaß den mit Schnupftabak besudelten Domherrn rasch.
Am nächsten Tage ging die Stunde, in der der Domherr zu erscheinen pflegte, vorüber. Beim nächsten Mal war es ebenso. Eines Tages erhielt der Chef einen Brief. Der Domherr schrieb ihm: „Ich kann mich bei Ihnen nicht mehr bedienen lassen. Die Gründe teile ich Ihnen mündlich mit. Den Abonnementsbetrag füge ich bei und empfehle mich Ihnen." Der Chef sagte zu mir:
„Der kommt nicht mehr, weil Sie ihn beleidigt haben." „Nicht einmal im Traum ... Er wollte mich nach Lourdes schicken, und ich habe angenommen. Was will er mehr?" Das Gesicht meines Chefs war ein einziges Fragezeichen. „Sie gehen nach Lourdes?"
„Ich bin bereit dazu. Sie wissen, wie lange der Domherr mich schon dazu bewegen will. Neulich hat er mir angeboten, mich auf seine Kosten nach Lourdes zu schicken. Er hat die Fahrkarte kaufen wollen und ist nicht mehr wiedergekommen. Er wird seinen schlaueren Kollegen erzählt haben, dass er mich bekehrt hat, und dadurch haben Sie einen Kunden verloren." Die Geschichte machte die Runde im Ort. Ich habe den Domherrn nicht wieder gesehen. Ihm war ein Licht aufgegangen.

Mussolini! Der Herausgeber des „Avanti" ist in der Sozialistischen Partei Italiens immer der eigentliche Führer der Partei gewesen. Die Herausgeber des „Avanti" haben jedoch alle ein schlimmes Ende genommen. Der erste, Bissolati, wurde schließlich Interventionist und Minister für nationale Propaganda während des Krieges. Dem Abgeordnetenhaus drohte er mit der Erschießung der Sozialisten. Enrico Ferri war der größte Hanswurst, den die italienische Politik kennt. Oddino Morgari ist heute Reformist, Treves ebenfalls. Serrati ist im Jahre 1924, nachdem er die Internationale lange bekämpft hatte, zur Kommunistischen Partei zurückgekehrt und hat seine Fehler eingesehen.
Mussolini? Der Henker des italienischen Proletariats war vielleicht einer der populärsten Herausgeber des Organs der Sozialistischen Partei Italiens. Unter seiner Leitung war die Zeitung nicht mehr, wie unter Bissolati, Treves und Ferri, voll von endlos langen Artikeln und maskierten oder offenen Empfehlungen der Klassenzusammenarbeit, die einem schwer im Magen lagen, wie unter der Leitung Morgaris, sondern sie wurde ein richtiges Kampfblatt. Wenn ich die verstaubten Nummern des armen „Avanti" heute wieder lese, denke ich an den Misserfolg der Fabrikbesetzungen und an die Niederlage des italienischen Proletariats.
Mussolini begeisterte die Parteimitglieder mit seiner Demagogie. Die Zeitung war voll von ... Mussolini. In den sechsspaltigen Titeln stand der Name Mussolini, wie jetzt im „Popolo d'Italia".
Der Prozess von Roccagorga, der der Prozess gegen die Sozialistische Partei sein sollte, wurde zur Apotheose des künftigen Henkers des italienischen Proletariats.
Seine Artikel waren unserer romanischen Mentalität angepasst. Worte, schwülstige Worte. Auch sein letztes Dokument, das Manifest gegen den Krieg, ist von dieser Art. Übrigens waren wir an diese Art von Propaganda gewöhnt. Der Sozialismus? Gerechtigkeit, Freiheit ... Wie war er zu verwirklichen? Durch Zusammenarbeit mit den fortgeschritteneren Schichten der Bourgeoisie und durch begeisternde und begeisterte Reden. Wie macht man Revolution? Die meisten Ortsgruppen blühten in der Zeit vor den Wahlen und starben am Tage danach. Mussolini hatte alle anderen mit seiner Demagogie überboten.
Ich lernte ihn persönlich kennen in Mailand, dem Erscheinungsort des „Avanti", in einer kleinen Versammlung von Berichterstattern der Zeitung. Er erschien mir anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und dieser Eindruck verstärkte sich, als ich ihn hörte. Ich war enttäuscht! Er sprach immer nur von sich, von seinen Vorschlägen, von seinen Artikeln ... Es war kurz vor dem Kriege in Libyen. Er gab uns Direktiven, wie wir unsere Berichte schreiben sollten. Er sprach lange ...
Gleichgültig unterzeichnete er die Berichterstatterausweise, die mir mit mehreren seiner Briefe bei den Haussuchungen abgenommen wurden.
Man spürte den Genossen nicht. Zwischen den anderen Redakteuren und ihm stimmte etwas nicht. Bei den Wahlen in Turin begegnete ich ihm wieder. Sein Ehrgeiz ging dahin, Kandidat der Turiner Arbeitermassen zu sein. Aber die Turiner Arbeiter hatten alle intellektuellen Kandidaten abgelehnt. Und es waren viele, die gern die ... Bürde der Macht auf sich genommen hätten. Zu ihnen gehörte Mussolini. Er verzichtete „freiwillig" auf seine Kandidatur, als er erfuhr, dass der Arbeiter Bonetto gegen den Anhänger des Krieges in Libyen, den Nationalisten Bevione, als Kandidat aufgestellt worden war.
Er kam nach Turin, um die Kandidatur Bonettos zu unterstützen. Er hatte große Angst, vor dieser Wählerschaft zu sprechen. Die Nationalisten waren sehr kampflustig. Mussolini hatte nicht seinetwegen Angst, er sorgte sich um den Herausgeber des „Avanti".
Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, wie die faschistischen Studenten in Bologna den Genossen Ettore Croce, der Abgeordneter und Universitätsprofessor war, überfielen. Wie gewöhnlich, stürzten sich die faschistischen Studenten zwanzig gegen einen auf den Genossen Croce. Sie erklärten ihm: „Wir verprügeln nicht den Professor Croce, vor dem wir große Achtung empfinden. Wir verprügeln den Kommunisten Croce." Dann schlugen sie blind drauflos! Nicht umsonst studierten sie an der Universität.
Mussolini fürchtete Ausschreitungen dieser Art. Aber in Turin war das damals nicht möglich. Trotzdem hatte Napoleon Sorgen.
Ich dachte an seine Artikel! Als er aber auf der Tribüne den allgemeinen Beifall hörte, wurde er ein anderer Mensch. Er wirkte wie ein Löwe. Er war nicht wieder zu erkennen.
Ich habe ihn erst auf Photographien in Polizeiämtern und in Gerichtszimmern wieder gesehen.
Damals lernte ich auch Serrati persönlich kennen. Welcher Unterschied! In Serrati spürte man den Freund, den Genossen. Er flößte Vertrauen ein, gab Ratschläge, sammelte Eindrücke. Streng und unerbittlich bei der Arbeit, war er verspielt wie ein Junge, wenn er mit der Arbeit fertig war. Ich habe an vielen Kongressen und Konferenzen mit ihm teilgenommen, habe gemeinsam mit ihm in der Sowjetunion gelebt, habe in Italien mit ihm gearbeitet vom Januar 1925 bis zu seinem Tode am 10. Mai 1926. Wir haben ihn bekämpft, und er ist fröhlich und unbefangen zu uns zurückgekehrt. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, ein guter Genosse und Freund.
Sein bewegtes Leben, die Kämpfe, das Gefängnis, die schwierige Arbeit unter den Emigranten in Amerika, in Frankreich, in der Schweiz hatten seinem Kampfwillen und der Heiterkeit seines Gemüts nichts anhaben können. Er war ein naives Kind geblieben, immer bereit, dem ersten besten Genossen, der es benötigte, sein letztes Hemd zu geben. Mussolini wusste das aus langer Erfahrung. Aber ich komme hierauf noch zurück.
Serrati hatte Verständnis für unsere schwierige, langwierige und geduldige Arbeit in den Grundorganisationen.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bauarbeiter waren trostlos, und den Ziegelbrennern ging es nicht besser. Die Propaganda, die Agitation und die günstigen Bedingungen führten zu einem Streik. Dies erschien unerhört in der Heimat Bava Beccaris'.
Die Diskussionen im Laden nahmen sehr heftige Formen an. Das Ende der Welt schien gekommen.
Wie konnte man den Mut haben, meinten die Geschäftsleute, in der schönen Jahreszeit, wo Geld zu verdienen war, die Arbeit einzustellen! Wie konnte man sich von den Umstürzlern den Kopf verdrehen lassen! zeterten die anderen.
Sie haben schon so viele Arbeitstage verloren, dass zum Ausgleich dieses Verlustes eine Lohnerhöhung für ein ganzes Jahr nicht mehr genügt, falls sie sie durchsetzen, verkündeten die Schlauköpfe.
Jetzt müsse gehandelt werden, ein halbes Dutzend Rädelsführer müsse man einsperren und der Sache ein Ende machen, meinten die Praktiker.
Allgemein war man der Ansicht, dass so etwas in unserer Stadt noch niemals vorgekommen sei.
Natürlich wurde ich mit faulen Witzen, mit Fragen und mit dunklen Drohungen bombardiert.
Der Streik der Maurer endete mit einer Lohnerhöhung und mit einigen Errungenschaften moralischer Art.
Die Ziegelbrenner setzten den Kampf fort. Der Unternehmer hatte erklärt, er werde der Organisation das Rückgrat brechen, und sah sich nach Streikbrechern um. Er fand sie. Ich machte die Anschrift einer Kolonne ausfindig, die an die Stelle der Streikenden treten sollte. Die Leute wohnten fast alle in einem Dorf der Provinz Novara. Ich schrieb ihnen einen Brief, in dem ich die Tatsachen schilderte — den heldenhaften Kampf ihrer Kollegen, die alle Familienväter seien und nicht genug verdienten, um ihre Kinder satt zu machen, die Erbitterung dieser Arbeiter, unsere Bemühungen, um ihnen zu helfen. Ich versuchte, sie zu überzeugen.
Einige Tage nach der Absendung dieses Briefes wurde ich von den Carabinieri abgeholt. Man schaffte mich ins Gefängnis. Der Polizeikommissar, der mich verhörte, war ein unverbesserlicher Trunkenbold.
„Diesmal haben Sie eine Dummheit gemacht", erklärte er mir. „Dieser Brief genügt, um Sie auf einige Jahre ins Zuchthaus zu bringen. Das ist ein Anschlag auf die Arbeitsfreiheit. Durchsuchen und einsperren!"
Am nächsten Tage wurde ich entlassen. Offenbar hatte der weinselige Kommissar, nachdem sein Rausch verflogen war, begriffen, dass hier nur ein Anschlag auf meine eigene Freiheit begangen worden war.
Es erschienen nur sehr wenige Streikbrecher. Die meisten hatten Angst oder schämten sich. Auch die Ziegelbrenner siegten.

Einer dieser Streiks war besonders charakteristisch und originell.
In Fossano gibt es zwei Zuchthäuser, Santa Caterina und das Kastell. Das erste ist ein neues Gebäude, das zweite ein altes Kastell, das mit seinen vier Türmen wie ein umgekehrter Tisch aussieht und gegen Ende des 15. Jahrhunderts von einem Fürsten von Acaia erbaut worden ist. Mehr als tausend Häftlinge und hundert Wärter bevölkerten die beiden düsteren Gebäude. In den beiden Zuchthäusern gab es Werkstätten für Schuhmacher, Weber und Korbmacher. Die Zuchthäusler arbeiteten vom frühen Morgen bis zum späten Abend für vierzig Centesimi. Dieser Lohn ging in drei Teile: einen erhielt die Direktion, einer wurde den Häftlingen gutgeschrieben und bei der Entlassung ausgezahlt, der Rest wurde in der Gefängniskneipe ausgegeben.
Ich habe Häftlinge kennen gelernt, die nach fünfzehnjähriger Haft hundert Lire zusammengekratzt hatten!
Ausgebeutet wurden diese Unglücklichen von einem ortsansässigen Unternehmer, der ein Kunde meines Chefs und natürlich einer der wildesten Sozialistenfresser war. Seit dem Tage, an dem er das Unternehmen im Gefängnis übernommen hatte, herrschte in unserem Schuhmacherverband eine schwere Krise. Seit mehr als einem Jahr war die Arbeitslosigkeit auffallend groß. Allgemein war dies so in den kleinen Städten, in denen sich Zuchthäuser mit Schuhmacher Werkstätten befanden, weil das Ministerium beschlossen hatte, die Gefängniswerkstätten an private Unternehmer zu verpachten. Die Ledefarbeitergewerkschaft hatte eine Konferenz beschlossen, um die Frage zu prüfen. Als Konferenzort wurde Fossano gewählt. Das Ergebnis der Konferenz war eine umfassende Agitation, durch die die Regierung veranlasst werden sollte, für die freien Arbeiter und die Zuchthäusler gleiche Bedingungen zu schaffen. Die Agitation hatte unerwartete Ergebnisse. Entschieden wurde der Ausgang des Kampfes durch einen eigenartigen Umstand. Von Gefängniswärtern, die ich im Laden rasierte, wussten wir, dass unter den Häftlingen dumpfe Unzufriedenheit herrschte wegen der Bezahlung, die sie von dem Unternehmer erhielten. Es war nicht schwierig, ihnen dann und wann einen Zettel zustecken zu lassen.
„Eure Arbeitskollegen sind in Bewegung. Durch die Arbeit unter so demütigenden Bedingungen bereichert ihr nicht nur das Unternehmen und richtet euch zugrunde, sondern ihr nehmt auch zahlreichen Arbeitern und ihren Familien das Brot fort. Wir haben eine Agitation eingeleitet, um die unerhörte Ausbeutung anzuprangern, der ihr ausgesetzt seid. Rührt euch und verweigert die Arbeit!"
In der Zeitung schlugen wir inzwischen Lärm über die unerhörte Ausbeutung der Gefangenen und ihre Folgen.
Der eigenartige Umstand, der den Kampf entschied, War der Streik der Häftlinge!
Eines Morgens — es war ein böser Tag für den Unternehmer — lehnten die Häftlinge die Arbeit ab. Da sie sich nicht weigern konnten, ihre Zellen zu verlassen, gingen sie in die Werkstätten, setzten sich an die Arbeitstische und begannen einmütig einen Sitzstreik.
Man kann sich den Eindruck in der Stadt vorstellen. Das Zuchthaus Santa Caterina wurde von Soldaten umstellt. (In Italien tragen die Gefängnisse und Polizeiämter immer die Namen von Heiligen: Das Turiner Polizeipräsidium heißt San Carlo, das Polizeipräsidium in Mailand San Fedele, das Zuchthaus in Rom heißt Regina Coeli, das in Mailand San Vittore, das in Bologna San Giovanni.) Die Häftlinge waren alle mit Schuhmachermessern ausgerüstet, machten aber sonderbarerweise nicht einmal angesichts der Provokationen — man provozierte sie, um Gewaltakte zu rechtfertigen — von ihrer furchtbaren Waffe Gebrauch. Dabei waren es alles Menschen, die zu Gewalttätigkeiten neigten. Es kam zu Verhandlungen, bei denen die Häftlinge sich ruhig und diszipliniert verhielten. Das Ergebnis war, dass das Unternehmen unverzüglich einen Tagelohn von 1,40 Lire anbot, also eine Lohnerhöhung von einer Lira. Bei der besonderen Lage der Verurteilten bedeutete dies, dass die unfreiwillige Konkurrenz, die sie den freien Arbeitern gemacht hatten, unmöglich wurde.
Der Unternehmer schäumte vor Wut. Im Laden zeterte man laut über die Umstürzler, die auch im Zuchthaus Verbindungen haben mussten. Wie immer in solchen Fällen, wurden einige Wärter versetzt und einige Häftlinge in strengen Arrest gesteckt. Trotzdem erhielt ich manchen mit Bleistift oder Streichhölzern geschriebenen Zettel, durch den man uns den Dank für unsere Aktion aussprach. Einer dieser Zettel war sogar mit Blut geschrieben.
Mehrere von uns wurden aufs Polizeiamt bestellt. Man verhörte uns, bekam aber nichts heraus.
Der Gefängniskaplan, ein alter Priester, erzählte mir mehrmals, dass die Häftlinge immer wieder von mir und den Sozialisten sprächen.
„Das sind keine schlechten Menschen", schloss er, „es sind Unglückliche."

Anstatt nach Lourdes zu gehen, wohin mich der ewig mit Schnupftabak beschmierte Domherr hatte schicken wollen, musste ich mich damals am Bein operieren lassen.
Es war eine ziemlich schwierige Operation, da es sich um eine fortschreitende Verkrümmung handelte. Der Doktor erklärte mir: „Wenn es gut geht, machen wir den Fuß ein wenig gerader, wenn es schief geht, amputieren wir ihn, und Sie bekommen ein Gummibein."
„Wie Sie wollen", erwiderte ich ... Was hätte ich auch sonst sagen können?
Ich bat um Urlaub, der mir — das muss ich sagen — mit den besten Wünschen gewährt wurde. Mein Chef war auch großzügig. In den drei Monaten meiner Abwesenheit ließ er mir zwanzig Lire zukommen!
Zu Hause, wo ich anfangs Vaterstelle für meine Geschwister vertreten hatte, arbeiteten jetzt alle.
Ich kam ins Krankenhaus. Es war nicht das Mauritius-Krankenhaus, wohin mein armer Vater mich hatte schicken wollen, sondern das San-Giovanni-Krankenhaus in Turin, im Volksmund das „Große Schlachthaus" genannt.
Im „Großen Schlachthaus" fielen sofort die Schwestern über mich her. Die meiner Abteilung zugeteilte Nonne erklärte mir: „Übermorgen werden Sie operiert. Morgen gehen Sie zum Abendmahl und zur Beichte. Man muss immer bereit sein, vor dem Gericht Gottes zu erscheinen. Ist Ihnen Don Gaudenzio oder Don Giovanni lieber?"
„Vielen Dank", erwiderte ich. „Bemühen Sie sich nicht, Schwester, und bemühen Sie auch Don Gaudenzio oder Don Giovanni nicht. Ich habe nichts zu beichten."
Die Schwester sah mich entsetzt an und sagte dann:
„Die Hausordnung schreibt die kirchlichen Gebräuche vor. Sie sind doch Christ? Nummer 99, Ihr Nachbar, hat gebeichtet."
„Lassen Sie mich in Ruhe, Schwester!"
Sie ging.
Bald danach erschien ein Priester. Auch er sprach zu mir von der Hausordnung, von Gott und seiner Barmherzigkeit und zog mit langer Nase ab.
Gegen Abend erschien noch einer. Meine Bettnachbarn sagten zu mir:
„He, 98" — das war die Nummer meines Bettes —, „Seine Hochwürden kommt. Vielleicht kommt er auch zu dir."
Tatsächlich blieb Seine Hochwürden an meinem Bette stehen.
„Guten Abend, Bruder", sagte er, „Sie sind der Neue?"
„Ja, der bin ich. Wollen Sie mir auch die Geschichte von der Hausordnung erzählen? Ich weiß schon Bescheid."
Seine Hochwürden war klüger als seine Untergebenen.
„Nein, beunruhigen Sie sich nicht, ich achte alle Ansichten und möchte mich nur ein bisschen mit Ihnen unterhalten, wenn ich nicht störe."
Ich gab keine Antwort, aber Seine Hochwürden nahm keine Notiz von der Missachtung seiner bischöflichen Würde. Er hatte ein bestimmtes Ziel.
„Wie fühlen Sie sich hier? Gut? Schlecht?" „Wie man sich eben fühlt, wenn man operiert werden soll", erwiderte ich.
Das war keine sehr ermutigende Antwort. Seine Hochwürden suchte ein Gesprächsthema um jeden Preis.
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Professor Isnardi ist weltberühmt. Er ist ein Chirurg, um den sich die Kliniken im Ausland reißen. Die Wissenschaft ist sehr fortgeschritten. Hier kommen kaum Todesfälle bei Operationen vor. Nicht einmal ein Prozent. Natürlich ist es immer gefährlich. Ein Versehen, eine Infektion ... Das Leben hängt an einem Faden. Jenseits des Lebens ist das Paradies, ist Gott, an den Sie nicht glauben. Manche träumen von den Huris (Anm.: Die Jungfrauen des Paradieses der Moslems). Jedenfalls muss man zum Sterben bereit sein. Fast immer ist der Tod uns nahe, und daran sollten wir denken, wenn wir vor einer Operation stehen!"
So ging es weiter. Seine Hochwürden bemühte sich, wie man sieht, in echt christlicher Weise, Zweifel zu säen. Ich hörte ihm zu. Mein Schweigen ermutigte ihn. Er glaubte, einen Weg zu meinem Herzen gefunden zu haben...
„Der heilige Ignatius von Loyola von der Gesellschaft Jesu hat Schule gemacht, nicht wahr, Hochwürden?" sagte ich spöttisch.
Der Priester verstummte. Er erhob sich.
„Ist das Ihre christliche Nächstenliebe?"
Im Fortgehen sagte Seine Hochwürden:
„Ich werde für Sie beten."
„Danke, bemühen Sie sich nicht!"
Der Patient im Bett Nummer 99 meinte lächelnd:
„Der kommt nicht wieder."
Es war ein Arbeiter, der aus seinen Bergen nach Turin gegangen war.
„Du hast doch aber gebeichtet und das Abendmahl empfangen. Bist du gläubig?"
„Heilige Madonna", erwiderte er und richtete sich mühsam auf, „wie kann ich gläubig sein? Seit wer weiß wie vielen Monaten wandere ich von einem Krankenhaus ins andere! Wenige Tage nach der Ankunft aus meinem Heimatdorf traf ich eines Abends — ich hatte von dem Leben in den großen Städten noch keine Ahnung — eine Frau. Sie war schön wie das Madonnenbild in der Kirche Santa Anna in meinem Dorf. Sie fragte mich nach dem Weg. Ihre Stimme war wie Musik, und sie hatte wunderschöne Augen. Ihr Blick regte mich richtig auf ... Ich antwortete, dass ich die Stadt nicht kenne. Sie bot mir ihre Begleitung an. Wie schön sie war! Ich hatte Geld und lud sie zum Abendessen ein. Sie kam mit und blieb die ganze Nacht bei mir ... Ich glaubte zu träumen! Am nächsten Morgen, sagte sie, müsse sie früh aufstehen und zur Arbeit gehen ...
Als ich erwachte, war sie nicht mehr da! Ich dachte, die Ärmste habe mich nicht wecken wollen, und phantasierte weiter. Ich sollte erst nach einigen Tagen zu arbeiten beginnen. Als ich feststellen wollte, wie spät es war, war meine Uhr nicht mehr da. In der Westentasche suchte ich sie vergebens. Wo konnte sie nur sein? Ich hatte das Gefühl, dass ich sie, wie immer, auf den Nachttisch gelegt hatte. Ich stand auf. Es war ein böses Erwachen. Auch meine Brieftasche war fort. Ich ging zur Polizei und erstattete Meldung. Der Kommissar sah mich lächelnd an und sagte: ,Machen Sie sich keine Sorgen, das ist unsere Sache.'
Das ist noch nicht alles, mein Lieber. Sie hat mir auch ein Andenken hinterlassen. Vierzig Tage war ich bei Salsotto." Salsotto war ein berühmter Arzt, Direktor des Lazarus-Krankenhauses für Geschlechtskrankheiten. „Und als ich, noch recht schwach, wieder herauskam, glitt ich aus und brach mir ein Bein! Aber auch das ist noch nicht alles. Wenige Tage vor deiner Ankunft bekam ich furchtbare Zahnschmerzen. Der zuständige Arzt sagte, der Zahn müsse gezogen werden. ,Ziehen Sie ihn!' sagte ich. Er zog mir den Zahn, aber statt des kranken hat der Idiot einen gesunden gezogen ... Und gestern kam das letzte Unglück. Der Doktor sagte mir, ich müsse wegen meines linken Auges in die Augenklinik."
„Und du hast gebeichtet, um deinem Gott zu danken?" „Aber nicht doch! Ich habe gebeichtet, weil sie mir keine Ruhe gelassen und mir gesagt haben, dass man besser behandelt wird, wenn man beichtet."
Die eiligen Schritte von Krankenwärtern und unterdrücktes Stöhnen kündigten die Ankunft eines Verletzten an. Man legte ihn in das Bett Nummer 97. Es war ein Mann von etwa dreißig Jahren.
„Der ist verloren", sagte ein Krankenwärter. „Er ist von einer Straßenbahn überfahren worden. In zwei Stunden ist er tot."
Kaum lag er im Bett, als die Schwester erschien.
„Wollen Sie beichten, Bruder?" sagte sie.
„Himmel Herrgott, verschwinden Sie schleunigst und lassen Sie mich in Frieden sterben!"
Der Arzt kam und gab ihm zwei Spritzen. Dann entfernten sich alle.
Als der arme Teufel — ein Toscaner — nicht mehr fluchte und nur noch röchelte, kam der Priester allein, um ihm die letzte Ölung zu geben.
Später erschien die Familie. Um sie zu trösten, sagte der Priester:
„Er ist wie ein Kind gestorben."
Meine Operation verlief auch ohne die Gebete Seiner Hochwürden erfolgreich. Schwester Rosa, die Nonne, sagte zu mir:
„Ich habe für Sie gebetet, und Gott hat Ihnen geholfen."
„Ein sonderbarer Kauz ist Ihr Gott, dass er Atheisten hilft!"
Entsetzt trat sie den Rückzug an.

Durch die zahlreichen Aktionen, die Streiks, einige Verurteilungen und das Ausscheiden einiger Kollegen war unsere Zahl etwas geringer geworden, so dass die Kampfkraft unserer Gewerkschaft nachließ. Es ist dies eine normale Erscheinung in Italien. Wir arbeiteten nunmehr auf die Gründung einer Gewerkschaftszentrale für die Provinz hin. Ein Provinzialverband der Sozialistischen Partei bestand bereits.
Die Provinz Cuneo ist vorwiegend agrarisch. Die Höfe sind so klein, dass es in einigen Dörfern, vor allem nach dem Gebirge hin, Kleinbauern gibt, die nur sechs Monate im Jahr von ihrem Boden leben können. Im hügeligen Teil wird viel Wein gebaut, und auch hier ist das Land in kleine Parzellen zersplittert. Die Seidenraupenzucht ist sehr verbreitet, und es gibt daher viele Seidenspinnereien und Seidenwebereien. Andere Industriezweige sind wenig entwickelt. Es gibt nur wenig Eisenindustrie und chemische Industrie, einige Tonwarenfabriken und Gerbereien. Die Arbeitsverhältnisse waren sehr schwierig. Die kleinen Geschäfte und die Handwerksbetriebe lagen weit verstreut. Auch unmittelbar nach dem Kriege gab es niemals viele organisierte Arbeiter, 12 000 in der ganzen Provinz.
Die Zusammenfassung der Ortsverbände entsprach nicht nur der allgemeinen Direktive, sondern war auch deshalb notwendig, weil mehrere Firmen in verschiedenen Städten der Provinz Niederlassungen unterhielten.
Wir veranstalteten daher Kreis- und Bezirkskonferenzen, um einen Provinzialkongress vorzubereiten.
Oft war ich genötigt, auch sonntags dem Geschäft fernzubleiben. Das war der wunde Punkt. Mein Chef hatte zwar den Stürmen, die ich in seinem friedlichen Laden entfesselt hatte, standgehalten und keinem Druck nachgegeben, als sich aber mein Fernbleiben von der Arbeit, das immer mit seiner Genehmigung geschah, auf seine Kasse auswirkte, wurde er unzufrieden mit mir. Er sagte mir das auch.
Eines Tages machte ich gemeinsam mit einem anderen Friseur, der in Paris gearbeitet hatte, einen kleinen Laden auf. Jeder von uns steuerte ein Kapital von 165 Lire bei.
Als ich meinem Chef diesen Entschluss mitteilte, bekam er beinahe einen Schlaganfall. Im Grunde war er mir wohlgesinnt, und auch meinem Fernbleiben von der Arbeit hatte er schließlich immer zugestimmt.
„Aber Sie sind ja verrückt! Wer wird denn in Ihren Laden kommen? Wenn man Sozialist ist, kann man in unserer Gegend nicht vorankommen. Haben Sie Gagna gekannt? Er ist nach Amerika gegangen, und viele andere sind arbeitslos. Auch der Fuseri" — das war der Mineralwasserfabrikant und Erfinder des Schraubenflugzeuges, das niemals flog—„kommt mit seiner Maschine nicht mehr weiter. Wenn Sie einen Laden aufmachen, wird man Sie boykottieren. Außerdem hat der Laden da niemals Kunden gehabt."
Auch von meinem Kompagnon redete er schlecht.
In der ersten Woche nahmen wir jeder vierzehn Lire ein! Wir waren, offen gesagt, ein wenig enttäuscht.
Allmählich aber vermehrten sich die Kunden. Hier und da tauchte ein neues Gesicht auf. Es waren Genossen, Sympathisierende, einige Priester und mehrere Beamte, die meinen alten Chef im Stich gelassen hatten. Bald hatten wir genügend Arbeit, um leben zu können, und unsere Diskussionsfreiheit war unbeschränkt.
Mein Kollege fand sich damit ab, dass er mehr arbeiten musste, wenn ich zu Versammlungen oder zu Besprechungen gerufen wurde. Diese Arbeit betrachtete er als Beitrag zur Propaganda.
Es war eine Zeit intensiver Arbeit. Ich betätigte mich als Propagandist, verfasste Flugblätter und Aufrufe, war Kandidat und Zettelankleber, Journalist und Zeitungsverkäufer. Abends schrieb ich in der Gewerkschaftszentrale Gesuche und füllte Formulare aus für diejenigen, die einen Arbeitsunfall gehabt hatten. Ich war Berichterstatter des gerichtsärztlichen Büros, das geschaffen worden war, um die verunglückten Arbeiter den Klauen der Advokaten zu entreißen.

Durch diese Arbeit wurde ich auch in einen Prozess verwickelt. Ich wurde zwar freigesprochen, erhielt aber eine Anklage wegen unberechtigter Titelführung.
Was war geschehen? Eines Tages kam ein Bettler zu mir in den Laden. Er war fast blind und stark wie ein Stier. Ich fragte ihn aus. Er erzählte mir, er sei bei der Explosion einer Mine im Bergwerk von Colle di Tenda verwundet worden.
„Hat die Firma Ihnen keinen Schadenersatz gezahlt?"
„Nein, ich habe ein paar hundert Lire bekommen."
Er hatte einige Papiere.
„Wenn es Ihnen recht ist, werde ich unseren Anwalt zu Rate ziehen, obwohl die Frist überschritten ist."
Er hinterließ mir eine Adresse und die Papiere. Ich erhielt die Antwort, dass eine Entschädigung sowie eine Nachzahlung möglich sei, und teilte ihm dies sofort mit.
Als die Sache bei der Firma bekannt wurde, geriet der Direktor in helle Wut, ließ sich den Blinden kommen und wollte wissen, wer es ihm in den Kopf gesetzt habe, dass er eine so hohe Entschädigung bekommen könne.
„Ein Anwalt in Fossano", antwortete der Bettler, nannte meinen Namen und gab ihm auch meine Adresse.
Ich bin nie in meinem Leben Rechtsanwalt gewesen und habe auch aus meiner Abneigung gegen Anwälte nie ein Hehl gemacht. Und jetzt sollte ich wegen einer solchen Anklage vor Gericht geschleppt werden!
Die Firma unterrichtete ihren Anwalt über den Fall, und der Anwalt schrieb an mich und an die Polizei. Ich wurde vernommen. Ich leugnete nicht, dass ich mich grundsätzlich solcher Fälle annahm, und stellte alle Einzelheiten über den Fall des Bettlers zur Verfügung.
Zur Verhandlung waren mehrere von mir unterstützte Verunglückte sowie unser Rechtsanwalt vorgeladen worden. Die Verunglückten sagten auf Befragen aus, dass sie nie einen Pfennig bezahlt hatten, und der Anwalt erklärte, dass ich die Unterlagen sammelte und er die Fälle praktisch bearbeitete.
Die Sensation, die einige von dieser Ausbeutung lebende Winkeladvokaten aufgezogen hatten, brach zusammen.

Die italienische Bourgeoisie rüstete zum Kriege in Afrika. Mit den Millionen der Bank von Rom suchte die Regierung Giolitti die öffentliche Meinung für die Eroberung der Kolonie zu gewinnen. Die Nationalisten schlugen mächtig auf die Pauke. Tripolitanien wurde in ihren Artikeln zum gelobten Land, zur Kornkammer Italiens.
„Tripoli, bel suol d'amore ..."(Anm.: Tripolis, Land unserer Liebe.) erklang es auf den Plätzen Italiens. Die Studenten stellten die Demonstrationen für Trient und Triest ein und demonstrierten nun für Tripolis. „Ein militärischer Spaziergang", sagten die Patrioten. Die öffentliche Meinung wurde gut „gemacht". Wehe dem, der nicht an den Weizen von Tripolis, an die Dattelpalmen, an die Bananen, an die Liebe der Tripolitaner zu Italien geglaubt hätte. Die Araber standen alle am Strande des „Goldenen Afrikas", wie es im Liede hieß, und warteten auf die italienischen Schiffe und Soldaten. Der patriotische Rummel war komplett. Auch auf die Sozialistische Partei Italiens wirkte er sich aus: es kam zu mehreren Ausschlüssen. Die Leidtragenden waren die wenigen in Italien lebenden Türken und die Sozialisten; denn in vielen Städten war es beim Abtransport der Soldaten nach Tripolitanien zu Demonstrationen gekommen. Besonders stark waren die Demonstrationen in Toskana. Eisenbahngeleise wurden ausgerissen; Frauen mit Kindern auf dem Arm stürmten die Bahnhöfe und legten sich quer über die Schienen, um die Abfahrt der Züge zu verhindern. Schuld daran waren natürlich die Sozialisten und die Türken. Die Häuser und Läden der Türken wurden demoliert, die Sozialisten wurden vor Gericht gestellt und eingekerkert.
Mehrere Jahrgänge wurden einberufen. Überall Musik und Reden. Krieg, Krieg!
Und Unzufriedenheit. Niemand wagte zu sprechen. Uns Sozialisten nannte man die „Türken" Italiens, wie wir später als „Österreicher" und als „Deutsche" bezeichnet wurden. In unserer Ortsgruppe bekannte sich der Erfinder des Schraubenflugzeugs zum Interventionismus. Auch uns wollte er überzeugen, konnte aber seine Propaganda nur in den nationalistischen Zeitungen unterbringen. So trat er aus der Partei aus.
Mussolini war gegen den Krieg und kam ebenfalls vor Gericht.
Gerade in diesen Tagen hatten wir den Kongress für die Gründung des Provinzialverbandes der Gewerkschaft einberufen. In der Reihenfolge, wie unsere Genossen aus den verschiedenen Gegenden am Tagungsort eintrafen, wurden sie verhaftet. Ich entging der Verhaftung, weil ich mit dem Rad fuhr. Daher konnte ich Vorsorge treffen für die Verteidigung der Genossen, die alle wegen ihrer angeblichen Absicht, eine umstürzlerische Versammlung abzuhalten, zu einigen Tagen Gefängnis verurteilt wurden.
In meinem Ort gab es zahlreiche Einberufungen. An einem Sonntagmorgen veranstalteten die Einberufenen eine Kundgebung, die auf die Einwohnerschaft und die Behörden starken Eindruck machte. Auf Grund einer von irgend jemand — nicht von uns — ausgegebenen Parole versammelten sie sich alle auf dem Marktplatz. Es waren einige Hundert Menschen. Keiner sprach, keiner lärmte. Die stumme, geschlossene Masse wirkte tatsächlich eindrucksvoll.
Einige anwesende Offiziere begannen unter den Soldaten umherzugehen.
„Was macht ihr hier?" „Nichts, wir schnappen Luft..." „Weitergehen, weitergehen!"
Aber niemand rührte sich. Das dauerte einige Minuten. Als ich eintraf und sprechen wollte, waren nur noch einige Dutzend Soldaten und viele Carabinieri da.
Am nächsten Tage — es war ein Montag, der Ruhetag für die Friseure — wurde ich von den Carabinieri abgeholt. Der Kommissar erklärte mir:
„Wir wissen alles. Leugnen ist zwecklos. Wir kennen auch Ihre Komplicen, die schon ausgesagt haben. Am besten ist es, Sie gestehen."
„Gestehen? Was soll ich gestehen?" sagte ich. Ich begriff natürlich, worum es sich handelte, aber diesmal war ich unschuldig.
„Stellen Sie sich nicht blöde! Wer hat die gestrige Kundgebung vorbereitet? Wir wissen, dass viele Soldaten zu Ihnen kommen. Zwei haben wir schon. Wollen Sie leugnen, dass Sie mit dem Korporal Comei und mit dem Oberkorporal Bibolotti in Verbindung stehen? Nun, die haben ,gesungen'."
„Sie werden wohl singen können, ich kann es nicht!"
„Machen Sie keine Witze! Besser ist es, Sie gestehen."
Ich gestand nichts. Ich wurde durchsucht und in eine Zelle gesperrt.
„Sieh da, der Friseur!" sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. „Was führt Sie her?"
Es war einer meiner Kunden.
„Ich habe mir gestern Abend einen Rausch angetrunken und einen der Polizisten einen Esel genannt. Er hat sich beleidigt gefühlt und mich hierher geschafft."
Ich wurde zweimal verhört und dann nach Hause geschickt. Meine beiden Genossen und angeblichen Komplicen — Comei war ein Anarchist aus Apulien und Bibolotti ein Sozialist aus Toscana — ließen sich mehrere Tage nicht sehen. Früher waren sie alle Tage in den Laden gekommen, um den „Avanti" zu lesen.
Endlich erhielt ich einen Zettel mit einer Verabredung. Sie waren beide da. Sie erzählten mir, dass sie im Gefängnis gewesen und von dem Major des Regiments verhört worden waren. Dieser hatte ihnen gesagt, ich hätte „gesungen". Die beiden hatten sich weder durch Drohungen noch durch Schmeicheleien mürbe machen lassen. Der Major hatte gesagt: „Ich weiß, dass ihr beide vernünftige Jungen seid. Schuld ist dieser Lump von Friseur. Wir wollen ihn fertigmachen. Ihr seid gute Italiener und müsst uns helfen. Ihr sollt aufpassen, was er treibt. Geht weiter zu ihm und achtet darauf, was er den Soldaten sagt."
Der wackere Major, ein hundertprozentiger Italiener, hatte dem Gendarmeriekommando folgende Anweisung zugehen lassen:
„Der bekannte sozialistische Friseur ...." — es folgte mein Name — „ist sorgfältig zu überwachen. Er steht in dem Ruf, kein guter Italiener zu sein, und verdirbt die Soldaten. Er ist am Sonntag bei der Kundgebung auf dem Marktplatz gesehen worden. Es besteht starker Verdacht."
Die Araber wehrten sich inzwischen. Die Zeitungen sprachen immer nur von „Siegen", und der im Jahre 1911 begonnene „militärische Spaziergang" dauert heute noch an! „Die Rebellen", schreibt die faschistische Presse heute, „sind endgültig erledigt." Das liest man Jahr für Jahr und unter jeder Regierung. Immer nur Siege, niemals Niederlagen und Tote! Nur die Telegramme an die Bürgermeister mit den Todesnachrichten trafen in aller Stille ein und versetzten die Familien in tiefe Trauer.
Die Nachrichten aus Libyen waren immer zensiert, und die Anzeigen bei den Gerichten wegen unserer Zeitungsartikel gegen den imperialistischen Krieg häuften sich. Die Reaktion war stark. Eines Abends war ich in einem kleinen Theater. Eine miserable Operntruppe misshandelte in übler Weise Bellinis „Norma", als die Zeitung mit dem Bericht über irgendeinen Sieg unserer Truppen in Afrika eintraf. Ein Schauspieler trat an die Rampe, um das Telegramm vorzulesen.
Die Musik intonierte die Nationalhymne, und alle Anwesenden sprangen auf — nur ich nicht.
Ungeheurer Skandal! Ein Offizier beschimpfte mich:
„Türke! Türke!"
Ich erwiderte:
„Idiot, geh nach Afrika, wenn du den Helden spielen willst!"
Die Carabinieri erschienen und brachten mich in die Kaserne. Nun brauchte ich nicht mehr den miserablen Sängern zuzuhören, die sich den Tod Bellinis zunutze gemacht hatten, um seine „Norma" zu misshandeln. Dafür bekam ich eine lange Rede des Postenkommandanten zu hören.
„Mit Ihnen nimmt es ein schlechtes Ende. Das sage ich Ihnen, denn ich verstehe mich darauf. Sie täten besser daran, sich als Friseur zu betätigen, statt sich mit Politik abzugeben. Dafür haben wir die Advokaten. Sie haben doch eine Familie zu unterhalten. Es ist nicht zu glauben, immer wieder muss ich Ihnen das sagen. Dabei gelten Sie allgemein als ziemlich intelligent. Sie wollen nicht begreifen. Eines Tages werde ich es satt..."
„Dann halten Sie mir keine Vorträge mehr, nicht wahr, Maresciallo? Schön wird das sein ..."
„Es ist wirklich zwecklos, mit Ihnen zu reden! Ich muss Sie jetzt einsperren lassen. Viel Freude macht mir das nicht..."
„Nun, dann schicken Sie mich nach Hause."
In diesem Augenblick klopfte es. Der Offizier, der mich hatte festnehmen lassen, trat ein.
„Schicken Sie ihn nach Hause", sagte er zu dem Maresciallo.
Der Maresciallo war zufrieden. Das waren noch andere Zeiten als heute! Ich aber erklärte:
„Ich möchte von Ihnen wissen, mein Herr" — es war ein Artillerieleutnant — „wie Sie sich das mit mir heute Abend denken. Ich habe nicht die Absicht, die Sache so einfach hingehen zu lassen. Sie haben sich der Freiheitsberaubung schuldig gemacht, als Sie mich durch zwei Carabinieri festnehmen ließen."
„Sie müssen das verstehen. Ich bin begeisterter Italiener und habe Anstoß genommen an Ihrem Verhalten. Nun ist das vorbei, ich bedaure es."
Er war ein junger Mensch, und man sah ihm deutlich an, dass er sich vor Weiterungen fürchtete.
„Warum wollen Sie als begeisterter Italiener nicht nach Afrika?"
„Meine Mutter würde sterben vor Kummer", platzte der Leutnant heraus.
„Ach so, die anderen Soldaten, die nicht Karriere machen wie Sie, haben natürlich keine Mutter ..."
Der Maresciallo wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
„Jedenfalls werden wir sehen, Herr Leutnant, wie die Geschichte enden wird."
Damit ging ich.
Am nächsten Tag erschien ein Veterinärleutnant in Begleitung eines mit mir befreundeten Photographen. Er wollte mich im Namen des Artillerieleutnants bitten, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Dahinter steckte die Mutter.
„Mein Bericht an den ,Avanti' und an die ,Lotte Nuove' ist schon abgegangen. Der Herr Leutnant muss logisch sein. Nicht hier, mit den jungen Damen in den Säulengängen, kann man sich mit Ruhm bedecken, sondern bei Sciara-Sciat gegen die Araber."
Die Sache wurde in der Öffentlichkeit bekannt, und der kleine Leutnant — verspottet von seinen Kameraden, denen das Garnisonleben mit Flirt, Poker und Bakkarat lieber war als der Krieg — musste gute Miene zum bösen Spiel machen und um seine Entsendung an die Front bitten.
Er kam zu mir. Ich wünschte ihm einen Heimatschuss, damit er sich noch lange an den Krieg erinnern könne.
Dies alles hatte großen Eindruck auf die Soldaten gemacht. Sehr viele erschienen aus Neugier im Laden, andere wollten diskutieren, einige baten mich schüchtern, die sozialistische Zeitung aus ihrem Ort zu bestellen, die sie in der Kaserne nicht bekommen konnten. Es kamen auch Offiziere. Offensichtlich wollten sie die Soldaten bespitzeln.
Eines Tages fiel es mir auf, dass nicht nur die Soldaten, die Gelegenheitskunden waren, sondern auch die Abonnenten nicht mehr kamen. Was war geschehen? Die Sache war sehr einfach. Der Garnisonskommandant hatte in allen Kasernen bekannt machen lassen, dass die Soldaten davor gewarnt würden, zu dem „antiitalienischen und sozialistischen Friseur" zu gehen, der seinen Laden in der Via Roma Nr. 46 habe. Natürlich wurde mit Arrest und für die Folge mit Gefängnishaft gedroht. Man versuchte mich zu treffen, wo man konnte. Das dauerte aber nicht sehr lange, denn die Soldaten erschienen wieder im Laden, um die Zeitungen zu lesen, auch wenn dann und wann jemand für einige Tage ins Gefängnis wanderte.
Andere Angriffe richteten sich gegen das Gewerkschaftshaus. Man wollte uns ausquartieren und versuchte dies auf die verschiedenste Weise. Die Hausnachbarn beschwerten sich bei der Polizei über angebliche Störungen durch das Klavierspiel. Der Hauswirt wurde von der Polizei unter Druck gesetzt. Zunächst nahm er die Gelegenheit wahr, unsere Miete zu erhöhen; dann entschloss er sich und kündigte uns, weil er Angst hatte und man ihm viele Angebote gemacht hatte. Unter den Arbeitern gab es einen Aufstand. Am festgesetzten Tage, nachdem wir uns vergeblich bemüht hatten, ein anderes Quartier ausfindig zu machen, wurden unsere wenigen Möbel und die Fahnen auf die Straße geworfen. Wir hielten nun unsere Versammlungen wieder in Wirtshäusern und in der schönen Jahreszeit auf freiem Felde ab. Die Ausschüsse traten bei mir im Laden nach der Arbeit zusammen.
Die Priester beschränkten sich nicht darauf, alle auf unsere Exmittierung abzielenden Machenschaften zu unterstützen, sondern eröffneten gegen den „sozialistischen Friseur" eine sehr lebhafte Kampagne. So etwas ist nur in Kleinstädten und in Cuneo möglich. Warum gerade in Cuneo? Darüber gibt es eine Legende, über die ich berichten werde. Jetzt schildere ich zunächst die Kampagne.
Um diese Zeit kam der so genannte Bubikopf in Mode. In dem kleinen Ort, in dem ich lebte, wurde diese Mode zuerst von den Freudenmädchen und von der Halbwelt aufgegriffen. Meine Kollegen, die nicht in großen Städten oder, wie mein Geschäftsteilhaber, im Ausland gearbeitet hatten, verstanden sich nicht auf diesen Haarschnitt. Wir besaßen das Monopol.
Die Priester sind immer gegen Neuerungen gewesen, und als sie in unserem Schaufenster ein Plakat mit der Aufschrift „Haarschnitte für Damen" entdeckten, eröffneten sie (ausgerechnet sie!) in der Presse und von der Kanzel die Kampagne gegen die angeblichen Schänder des weiblichen Schönheitsempfindens.
Die Pfarrer bemerkten aber zu spät, dass sie kostenlos Reklame für uns machten, und stellten die Kampagne ein. Frauen sind eben Frauen, und unsere Kundschaft vergrößerte sich.
Ich glaube, heute lassen sich auch die „Haushälterinnen" der hochwürdigen Pfarrer in meiner Provinz einen Bubikopf schneiden, und viele Pfarrer besorgen ihnen das ebenso, wie die Haushälterinnen ihnen die Tonsur schneiden ... Nun zur Legende von Cuneo.
Sie ist beinahe weltberühmt. Ein Bürgermeister von Cuneo hat ein Buch über sie geschrieben, und auch Edmondo. De Amicis erwähnt sie in einem seiner Bücher.
In Cuneo wurde die neue elektrische Anlage um die Mittagszeit ausprobiert, und ein Versuch mit Feuerwerkskörpern wurde am Morgen gemacht.
Als die Regierung von Turin — Italien zerfiel damals noch in viele Kleinstaaten — die Stadtverwaltung von Cuneo um einen Stadtplan ersuchte, schickten die Stadtverordneten die schönste Ulme von der Engelsallee nach Turin. (Anm.: Wortspiel mit ital. „pianta", was „Plan" und „Pflanze" bedeuten kann.)
Es wird auch erzählt, dass die Stadtverwaltung von Cuneo aus Ersparnisgründen beschloss, den Henker und seine Gehilfen zu entlassen und nötigenfalls den Turiner Henker hinzuzuziehen. Als nun zum ersten Mal ein Verurteilter hingerichtet werden sollte, knüpfte man Verhandlungen mit Turin an. Die Turiner Stadtverwaltung verlangte für die Hinrichtung die ungeheure Summe von siebenhundert Lire.
Die Stadtverordneten waren tief bestürzt. Einer von ihnen aber rettete die Situation und schlug vor: „Da unsere Gemeinde die siebenhundert Lire nicht ausgeben kann, beantrage ich, dem Verurteilten zweihundert Lire auszuhändigen mit der Maßgabe, dass er sich aufhängen lässt, wo es ihm passt." Der Vorschlag wurde von den Stadtverordneten einstimmig angenommen. Die Legende berichtet, dass auch der Verurteilte ihn annahm.
So geht es weiter. Die Legende muss, wie alle Legenden, ihre Grundlagen haben, denn es existiert in Cuneo noch ein Glockenturm mit der, Inschrift: „Dieser Glockenturm ist ,hier' im Jahre ... erbaut worden."
Nicht selten hat es wegen dieser Legende Schlägereien gegeben. Einmal soll ein Hauptmann zu einem Rekruten aus Cuneo, der niemals das Exerzierreglement begriff, gesagt haben: „Sind Sie eigentlich aus Cuneo?" Der Erbprinz, der damals Sergeant in dieser Kompanie war, bemerkte daraufhin: „Ich bin auch aus Cuneo, Herr Hauptmann." Das war dem Hauptmann sehr unangenehm. Dies schließt nicht aus, dass der Sohn des großen Briefmarken- und Münzensammlers, der die Geschicke Italiens leitet und Mussolinis Dekrete unterzeichnet, der Legende nicht würdig wäre. Er ist nämlich in Racconigi in der Provinz Cuneo geboren, wo Morgari den Zaren von Russland ausgepfiffen hat.
Noch ein anderer erschwerender Umstand ist geeignet, die Legende zu bestätigen. Viktor Emanuel II., der „Vater des Vaterlandes" genannt wurde, der Großvater des jetzigen Königs, ging in der Provinz Cuneo immer auf die Jagd, und zwar nicht nur auf die Rebhuhn-, Hasen- und Gämsenjagd ... Die alten Leute pflegen halblaut in ihrem Dialekt zu erzählen: „Wisst ihr, warum Viktor ,Vater des Vaterlandes' genannt wurde? Weil es in der Provinz Cuneo von seinen Bastarden wimmelt, und der Staat bezahlt es!"
Tatsächlich gibt es viele Leute, die auf ihre Ähnlichkeit mit Viktor stolz sind, und viele alte Frauen erinnern sich noch des verstorbenen „Vaters des Vaterlandes" und seiner Leutseligkeit.
Das sind Legenden, und in der Provinz Cuneo, die als besonders katholisch gilt, gibt es nicht nur besonders viele Legenden, sondern auch viele sonderbare Gewohnheiten.
Diese Dummheiten haben aber immer die Regierenden gemacht, nicht das Volk...

Damals wollte ich heiraten. Ich hatte eine Arbeiterin kennen gelernt, die mir gefiel, und ich sagte es ihr. Ich bin nie imstande gewesen, etwas in die Länge zu ziehen. Sie sagte nicht nein. Die Frauen sind wie die Berufsdiplomaten: wenn sie nicht nein sagen, meinen sie ja.
Die Sache hatte aber einen Haken. In dieser Gegend war es für einen Sozialisten schwierig, eine Frau zu finden, die bereit war, sich mit der Zivilehe einverstanden zu erklären.
„Gibst du deine Ideen auf, wenn du mich heiratest?" fragte sie.
„Ich denke nicht daran", antwortete ich.
Wir trafen uns weiter — wir waren Nachbarn — und trieben es weiter wie alle Verliebten. Aber ich wollte sie durchaus überzeugen.
Ich erklärte rund heraus, ich würde meine Ideen nicht aufgeben und mich auch nicht kirchlich trauen lassen. Sie war verstimmt. Sie schmollte ein wenig, wurde dann aber wieder freundlich.
„Ich lasse dir die größte Freiheit", sagte ich zu ihr. „Du kannst versuchen, mich zu überzeugen. Einverstanden?"
Sie sagte nicht ja, hatte aber auch nicht den Mut, nein zu sagen. Ich hatte Verständnis für ihr Zögern. Niemand in dem Ort hatte jemals eine Zivilehe geschlossen.
Die jungen Damen des Ortes, die ewig unter den Bogengängen spazierten, mit den Offizieren der verschiedenen Waffengattungen äugelten, sich in die Wohnungen der Junggesellen schlichen oder unter den Platanen des Exerzierplatzes ihre Liebesspiele trieben, ohne vorher zum Bürgermeister oder zum Pfarrer zu gehen, hätten sich auf eine Zivilehe niemals eingelassen. Das war unmoralisch und hätte Anstoß erregt.
Einmal erzählte man meiner Mutter, ich hätte die Absicht, eine Jüdin zu heiraten.
„Ist es wahr", fragte mich meine Mutter, „dass du eine Jüdin heiraten willst?"
Ich lachte.
„Aber wie wollt ihr denn heiraten? Geht ihr in die Kirche oder in die Synagoge?"
Sie konnte sich eine so komplizierte Heirat nicht vorstellen.
„Wenn ich eine Jüdin oder eine Mohammedanerin oder eine Protestantin heiraten wollte, liebe Mutter", erwiderte ich, „würde ich weder in die Kirche noch in die Synagoge noch anderswohin gehen ... Auch auf den Bürgermeister würde ich dann verzichten ..."
Verzweifelt hob meine Mutter die Hände zum Himmel.
Die Angehörigen meiner Verlobten waren fromme Katholiken. Sie war es auch. Endlich entschloss sie sich: „Gut, wir werden heiraten, wie du es willst. Ich bitte dich nur, dass wir die Zivilehe nicht hier im Ort schließen. Du bist Turiner, wir wollen es also in Turin machen... Das ist meine einzige Bitte."
Ich war gern damit einverstanden.
Ich begann, regelmäßige Ratenzahlungen an eine Gesellschaft zu leisten, die sich als „gemeinnützig" bezeichnete, in Wirklichkeit aber den armen Teufeln, die die Möbel nicht bar bezahlen konnten, das Fell über die Ohren zog.
Wenige Wochen vor dem festgesetzten Tage erklärte mir meine Verlobte: „Ich habe mich erkundigt und mir die Sache überlegt. Ich möchte meinen Angehörigen und auch deiner Mutter keinen Kummer machen. Wenn du mich gern hast, musst du mir das Opfer bringen, mich in der Kirche zu heiraten. So machen es alle, so hat man es immer gemacht."
Ich war recht niedergeschlagen.
Ich hatte meine Verlobte gern. Später erfuhr ich, dass ihre weiblichen Angehörigen und alle Betschwestern aus der Nachbarschaft ihre Nase in die Sache gesteckt hatten. Ich dachte lange nach und fasste dann meinen Entschluss. Kurze Zeit danach wurden die Verhandlungen abgebrochen. Ich litt darunter, aber was hätte ich tun können? Ich konnte unmöglich nachgeben.
Bei unserer letzten Unterredung erinnerte ich sie an ihre Versprechungen.
Da die Betschwestern und ihre Angehörigen nicht dabei waren, hatte sie Verständnis für mich. Sie war bewegt, schwankte, konnte sich nicht entscheiden. Ich merkte, dass es nicht nur um die Formalität ging. Ich muss gestehen, dass auch ich mit mir kämpfte. Ich legte der Sache keine große Bedeutung bei, aber ich überlegte. Ich wollte mit dieser Tradition brechen und nahm mich zusammen. An einem nebligen Abend hatten wir in Turin in der Valentinsallee unsere letzte Unterredung. Ich bemühte mich, sie zu überzeugen. Ich flehte sie sogar an.
„Alle machen es so", antwortete sie. Weiter wusste sie nichts zu sagen.
„Du warst doch schon überzeugt, und ich habe niemals ein Hehl gemacht aus meiner eigenen Überzeugung", wandte ich ein.
„Ich weiß, ich weiß, du hast recht. Ich bin schwach. Ich habe das Gefühl, dass ich dir wie mir weh tue, aber ich habe keinen Mut ... Verzeih mir."
Sie weinte.
Der Po, durch einen dichten Nebelvorhang unseren Blicken verborgen, rauschte geheimnisvoll an der Ufermauer. Selten nur kam jemand vorbei. Die Laternen sahen aus wie winzige Lichtpünktchen.
„Dein Entschluss ist endgültig?" fragte ich.
„Und du?"
Wir sahen uns an. Ich hatte das Gefühl, am Boden festgenagelt zu sein. Auch sie rührte sich nicht.
Ich gab mir einen Ruck.
Wir verabschiedeten uns. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Die „gemeinnützige" Gesellschaft behielt die Raten, die ich schon für die Möbel bezahlt hatte. Sie wollte mich sogar verklagen, weil ich nicht, wie der Kontrakt es vorschrieb, weiterzahlte.
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
Der Krieg und unsere Aktionen nahmen mich ganz in Anspruch. Allmählich schwand die Erinnerung, wie sie an jenem Abend verschwunden war, vom Nebel verschluckt.

Das Problem unseres Büros war noch immer ungelöst. Einige von uns waren in die verschiedenen Tanzvereine eingetreten, die es in der Stadt gab, in der Hoffnung, einen von ihnen in die Hand zu bekommen. Ich sollte einen großen Schlag versuchen. Im Zentrum der Stadt, in einem sehr schönen Gebäude, sollte ein Klub eröffnet werden. Ich trat als einziger von uns ein. Es waren fast alles kleine Gewerbetreibende und Kaufleute. Jemand bemerkte: „Der sozialistische Friseur will Bürger werden!" Die Genossen ließen sie reden. Sie arbeiteten in den anderen Vereinen.
Ich wurde in den Verwaltungsrat gewählt und auf der ersten Versammlung zum Sekretär ernannt. Hier musste ein bisschen gearbeitet werden. Die anderen bevorzugten die Ehrenämter und die Tanzvergnügen ...
Ich hatte ein schönes Büro und einen sehr intelligenten Bürodiener. Er überbrachte auch die Benachrichtigungen für die Mitglieder in der Ortsgruppe der Sozialistischen Partei und drückte ein Auge zu, wenn ich dann und wann eine Sonderversammlung abhielt. Die Mitglieder waren übrigens zu stark in den Ballsälen beschäftigt, und der Bibliothekssaal mit seinen vielen schönen Büchern war immer leer.
Ich stellte den Antrag, Mitglieder mit einem bescheidenerem Beitrag nur für die Bibliothek aufzunehmen. Das Betreten des Ballsaales sollte ihnen verboten sein. Die Krämer waren einverstanden, und wir machten die Sache bekannt. In aller Stille traten nach und nach die weniger bekannten Genossen ein. Allmählich wurden wir als Bürger anerkannt. Als ich einige Jahre später auf dem Balkon im Zentrum der Stadt zum ersten Male sprach, gingen den Krämern die Augen auf. Vielleicht hatten sie es auch schon gemerkt. Aber es war eine langwierige und mühselige Arbeit. Es war ja mitten im Weltkrieg.
Inzwischen war es vor dem Ausbruch des Weltkrieges uns und anderen sympathisierenden Vereinsmitgliedern gelungen, dann und wann unsere Redner und Vortragsthemen einzuschmuggeln.

Ganz allmählich wurde der Verein umgeformt. Es gab auch Widerstand, aber im Grunde konnten wir uns fast immer durchsetzen, vor allem dank der Gleichgültigkeit aller der Kleinbürger, die diesem „Familienverein" angehörten. Auch als die Schüsse in Sarajewo — der so genannte Funke, der den Kriegsbrand entfachte — krachten, hörten die Vereinsmitglieder sich mit Vergnügen einen Vortrag gegen den Krieg an, den ein sozialistischer Abgeordneter hielt.
Viele von ihnen wurden, da sie vom Kriegsdienst befreit waren und als Lieferanten anderer Heereslieferanten zu Hause bleiben durften, „Durchhalter" und wilde Sozialistenfresser.
Ursprünglich fanatische Giolittianer, wurden sie später zu Bewunderern Bissolatis, der im Parlament damit drohte, die Sozialisten erschießen zu lassen. Giolitti wurde von ihnen in die Rumpelkammer verwiesen.

Die Zeit vom August 1914 bis zum 23. Mai 1915 war eine der bewegtesten Zeiten (ich denke bei diesem Ausdruck an den dauernden plötzlichen Meinungsumschwung hei Personen und Parteien, hei den Regierungen und hei der Monarchie), die man sich in der Geschichte des „Gartens Europas" vorstellen kann.
So erlebten wir es, dass die „Idea Nazionale", das Organ der Nationalisten, mit lauter Stimme die Notwendigkeit der Intervention auf der Seite Deutschlands und Österreichs verkündete, die mit Italien den „Dreibund" bildeten, um wenige Monate später zu erklären, wir müssten unbedingt auf der Seite Frankreichs, Englands und Russlands in den Krieg eintreten.
Dreihundert Abgeordnete, die Mehrheit des Parlaments, stimmten der Neutralitätspolitik Giolittis zu, und wenige Tage danach erklärte das Parlament sich für den Kriegs eintritt.
Mussolini verfasste im Auftrage der Sozialistischen Partei Italiens das Manifest gegen den Krieg und wurde wenige Monate später zum Kriegshetzer.
Wer weiß, was in der Sozialistischen Partei Italiens geschehen wäre, wenn wir nicht noch neun Monate — vom August 1914 bis zum Mai 1915 — Zeit zum Überlegen gehabt hätten, sondern eines schönen Tages im Kriege erwacht wären und obendrein mit Mussolini und Turati in der Partei! Der erste wollte die Partei im Sinne der Vandervelde und Herve führen, der zweite predigte nach Caporetto die Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung. Die Losung Lazzaris „Weder mitmachen noch sabotieren", mit der die Sozialistische Partei zum Kriege Stellung nahm, konnte uns am wenigsten imponieren.
Die Monarchie ging vom Dreibund zur Entente über, und der König war nicht mehr König, nicht einmal dem Namen nach. Zum Generalstatthalter des Königs wurde der Herzog von Genua, ein kindischer Tropf, und zum Oberkommandierenden der Armee der frömmlerische und reaktionäre General Cadorna ernannt, ein berüchtigter Soldatenschinder, von den Faschisten verachtet und später zum Marschall von Italien ernannt. Sein Hauptratgeber war der Vatikan, der sich seines Beichtvaters und der Feldgeistlichen bediente. Die interventionistischen Priester an der Front und die Neutralisten in den ländlichen Kirchspielen bildeten die Clique, der Cadorna gehorchte.
Die Sozialistische Partei Italiens rief die Massen zum Protest gegen den Krieg auf. Zahlreiche Demonstrationen fanden statt. Wenn Mussolini gelegentlich den Mut hatte, sich bei öffentlichen Versammlungen sehen zu lassen, wurde er ausgepfiffen. Aber auf die Halbinsel wurde ein ganzes Heer von Propagandisten losgelassen. Sozialistische Versammlungen wurden verboten, und viele Sozialisten wurden ins Gefängnis geworfen.
Bei dieser Gelegenheit lernte ich Cesare Battisti, den sozialistischen Abgeordneten für Trient, kennen, der Interventionist geworden war. Er reiste durch Italien und veranstaltete Kundgebungen für die Befreiung von Trient und Triest. Er geriet später in österreichische Gefangenschaft und wurde erhängt. Im Theater von Cuneo wurde er eine Viertelstunde lang ausgepfiffen. Ich war ihm im Zuge begegnet mit einem demokratischen Rechtsanwalt, einem Millionär, der ihm erklärte: „Sie werden sehen, Herr Abgeordneter, wie das patriotische Cuneo Sie empfangen wird." Battisti hörte zerstreut zu. Er schien müde und niedergeschlagen. Vielleicht hatte er begriffen, wohin sein Idealismus geführt hatte, vielleicht sah er im Geiste schon die Bande, die ihn umringte. Dann meinte er: „In Brescia und Bologna bin ich ausgepfiffen worden!" Der Empfang in Cuneo war nicht anders.

Mussolini, der nach einer Sitzung des Parteivorstandes aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen worden war, hatte mit ganzen fünf Lire eine Zeitung gegründet! Nach seiner Darstellung war er mit fünf Lire in der Tasche aus dem „Avanti" ausgeschieden. Die Millionen der Bank von Frankreich ermöglichten ihm das Wunder. Er eröffnete eine wilde Kampagne gegen Serrati, der die Leitung des „Avanti" übernommen hatte. Er verbreitete Lügen über Serratis Kämpferleben in Amerika und klagte ihn des Mordes an.
Serrati, dessen ereignisreiches politisches Leben mit der Gefängnishaft in Oneglia begonnen hatte, der die Deportation und die Emigration in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten kennen gelernt hatte, der Journalist, Dienstmann, Schiffsjunge, Propagandist gewesen war, der Zeitungen und Organisationen gegründet und die Kerker der verschiedensten Länder erlebt hatte, überall im Kampf gegen die Bourgeoisie, dieser ehrliche, gute, beharrliche und unermüdliche Kämpfer, wurde heimtückisch von demjenigen angegriffen, den er in Lausanne vor dem Hungertode gerettet, den er brüderlich und selbstlos unterstützt hatte, von Mussolini.
Auch Bacci und Lazzari, die mit Serrati für das Parteiorgan verantwortlich zeichneten, wurden von dem Renegaten in der heftigsten Form angegriffen.
Der „Popolo d'Italia", der sich im Untertitel eine „Sozialistische Tageszeitung" nannte, wurde natürlich zur Tribüne des interventionistischen Antisozialismus. Später wurde der Untertitel in „Tageszeitung der Schaffenden und der Frontkämpfer" geändert. Dann verschwand auch dieser Untertitel!
Im August 1914 rollten in der Provinz Cuneo nach den alten Festungen an der französischen Grenze jeden Tag Züge mit Geschützen, Munition und Truppen. Einige Monate danach wurden die Festungen geräumt! Die Geschütze mit der Munition und den Truppen wurden nach Venezien dirigiert. Am 23. Mai 1915 trat Italien in den Krieg ein.

Musik, Fahnen, Reden ... Krieg! Jeden Tag gingen neue Truppen an die Front, wurden neue Jahrgänge einberufen. Jeden Tag musste ein Genosse einrücken. Die Organisationen lösten sich auf. Zu Hause blieben die Invaliden und die Frauen. Unsere Ortsgruppe zählte nur noch wenige Mitglieder. Die Freigestellten — Arbeiter von Fabriken, die für das Kriegsministerium arbeiteten — riskierten aus Furcht, an die Front geschickt zu werden, kein Wort mehr.
Die hitzigsten Interventionisten bezogen fast alle Druckposten. Facharbeiter gingen an die Front; Rechtsanwälte, Apotheker, Priester wurden unabkömmlich.
Arbeiter und Bauern mussten ihr Heim verlassen. Immer wieder trugen die Einberufungsbefehle Trauer in die Familien. Die Not wurde täglich größer, das Brot wurde immer dunkler. Alle Tage gab es Musik, Fahnen und Berichte, die von neuen Niederlagen des Erzfeindes sprachen! Immer nur Siege, Siege und geringe Verluste.
Zensur, Konzentrationslager, Internierungen, Sondergesetze, Verhaftungen, Verurteilungen ... Züge mit jungen Menschen gingen jeden Tag ab, und jeden Tag trafen Lazarettzüge mit Tragbahren und Krüppeln ein, gingen lange Reihen von Gefesselten an die Front ab — die Deserteure!
In den Zügen, in den Cafes, auf der Straße, auf dem Lande, überall wurden die Papiere verlangt, und jeden Tag wurde ein neuer Jahrgang einberufen.
Während des Krieges wurde ich sechsmal zur Musterung befohlen. Man wollte mich um jeden Preis haben.
Trotz ihrer Beschränktheit und trotz unserer Knebelung war unsere Tätigkeit gefährlich. Unsere Zeitungen erschienen mit großen weißen Flecken.
Ich war Sekretär des Gewerkschaftsverbandes geworden, der stark zusammengeschrumpft war. Die Postzensur erschwerte den brieflichen Verkehr. Gute Dienste leistete mir mein Fahrrad, aber oft wurde ich unterwegs angehalten und zurückgeschickt. Nach den entfernteren Ortschaften musste ich die Eisenbahn benutzen. Das war sehr schwierig. Wenn ich durchkam, erwischten sie mich am Ort, und ich erhielt nach einigen Tagen Gefängnis im günstigsten Falle einen Zwangspaß (Anm.: Pass mit vorgeschriebener Reiseroute. ), und dies bedeutete eine endlose Strafpredigt seitens des Kommissars. Wenn ich dagegen auf einen schlechtgelaunten Postenkommandanten stieß, wurde ich in der üblichen Weise zurückbefördert. Dann konnte es vorkommen, dass ich, von zwei Carabinieri begleitet, drei Tage für die Rückkehr brauchte. Manchmal war ich von meinem Wohnort vierzig bis fünfzig Kilometer entfernt, und ich musste die Strecke auf Nebenlinien in Etappen zurücklegen, so dass ich tagelang auf Anschluss warten musste.
Den seltenen Tagungen des Exekutivausschusses wurden alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt. Der durch die Zensur bedingte Mangel an Nachrichten isolierte uns völlig. Den Soldaten war es unter Androhung von Arrest und Gefängnis oder Abschiebung an die Front verboten, meinen Laden zu betreten, wie es schon während des Krieges in Libyen der Fall gewesen war. Die Anordnung war in allen Kasernen angeschlagen. Die Soldaten kamen trotzdem, sehr oft, um ihren Beitrag für die Zeitung zu entrichten, dann wieder, um sie zu lesen und mich über alle Vorgänge in der Kaserne zu informieren. Trotz aller Bemühungen der Spitzel blieb ich weiter in Verbindung mit den Soldaten. Die Rundschreiben des Verbandes und die Parteimitteilungen wurden sogar von unseren Genossen mit den Schreibmaschinen des Militärkommandos angefertigt.
Anfänglich waren unsere bekanntesten Genossen direkt an die Front geschickt worden, dann aber bekam man Angst vor ihnen und schickte sie zu den Stäben, um sie besser überwachen zu können. So erhielten sie Vertrauensposten bei den Stäben, und ich konnte über gute Maschinenschreiber und hervorragende Nachrichtenlieferanten verfügen.
Im Anfang des Krieges erlebte ich eine Forderung zum Duell! Eines Abends war ich auf dem Wege nach Hause, als ich drei oder vier Soldaten begegnete. Sie sollten an die Front abgehen. Sie waren ein wenig angeheitert und sangen ein piemontesisches Volkslied. Der Refrain, den ein einzelner sang, hatte aber mit dem Liede nichts zu tun, er stammte aus einem boshaften Spottlied von den Drückebergern.
„Wir werden uns bewaffnen und ihr—fahrt an die Front!"
Dann sangen alle im Chor: „Es lebe der Bürgerstand!"
Sie wollten wieder Zivilisten werden.
Sie erkannten und umringten mich: „Hoch der Sozialismus! Es lebe der Bürgerstand! Vielleicht müssen wir auf die Schlachtbank, wie die Ziegen. Wir können ja nichts dagegen tun, verdammt noch mal! Die Österreicher sollen wir totschlagen! Weiß Gott, ich würde gern die Italiener totschlagen. Nicht Sie..." — an mich gewandt. „Ich weiß schon, wen ich gern totschlagen würde ... Ich muss meine schwangere Frau verlassen. Wahrhaftig, 65 Centesimi täglich soll sie kriegen... Verfluchter Geiz! Verdammt noch mal! Wir werden uns bewaffnen und ihr — fahrt an die Front!"
Die anderen erwiderten: „Es lebe der Bürgerstand!"
„Ihr müsst also fort?" sagte ich.
„Wir sind schon dabei, und Sie bleiben zu Hause. Lieber möchte ich ein Bein haben wie Sie ... Entschuldigen Sie, ich weiß nicht mehr, was ich rede. Es freut mich, dass Sie zu Hause bleiben. Sie haben den Krieg nicht gewollt. Wir werden uns bewaffnen und ihr — fahrt an die Front!"
In diesem Augenblick kam ein kriegsbegeisterter Offizier vorbei, der einen Druckposten bei einem Militärgericht hatte. Ich kannte ihn und glaubte, der Held werde sich einmischen. Er ging aber weiter. Die Soldaten verabschiedeten sich lärmend von mir und fingen wieder an zu singen:
„Der General Cadorna schrieb an die Königin: Triest möchtest du sehen? Ich schick' dir's auf der Karte hin! Bum, bum, bum — So geht es ringsherum."
Dann kam wieder:
„Wir werden uns bewaffnen und ihr—fahrt an die Front!"

Am nächsten Morgen war ich im Laden damit beschäftigt, die Spiegel zu putzen und mit einigen Müßiggängern zu plaudern, von denen es in der kleinen Stadt wimmelte, als zwei Offiziere in der Tür erschienen. Beide waren in großer Uniform mit weißen Handschuhen. Einer war aus dem Ort und als Interventionist in einer Fabrik untergebracht, der andere gehörte zur Garnison.
„Guten Tag", sagte ich. „Bitte sehr, ich stehe zur Verfügung."
Natürlich dachte ich dabei an mein Handwerk. „Sie wissen, worum es sich handelt", sagte einer von ihnen. „Ich denke rasieren oder die Haare schneiden oder alles beides", erwiderte ich.
„Machen Sie keine Witze", antwortete der, der bereits gesprochen hatte. „Sie wissen, worum es sich handelt. Wir kommen im Auftrage des Herrn Leutnants, den Sie gestern abend beleidigt haben, und verlangen Genugtuung von Ihnen. Wenn sie widerrufen, ist es gut, andernfalls verlangt unser Mandant eine Entscheidung mit den Waffen."
Das alles sagte er in einem Atemzuge und starrte mir dabei ins Gesicht. Seine eine Hand lag am Degenknauf, mit der anderen presste er eine Rolle Papier an sich.
Der Auftritt war hochinteressant. Auf der einen Seite stocksteif die beiden Helden, ihrer Mission als Sekundanten tief bewusst, auf der anderen ich mit dem Wischlappen in der Hand, verdutzt und mir nur mit Mühe das Lachen verbeißend, weil ich zu begreifen begann. Die beiden waren von dem Offizier geschickt worden, der am Abend vorher das „Wir werden uns bewaffnen und ihr — fahrt an die Front!" gehört hatte und die Beleidigung mit Blut abwaschen wollte!
„Hier ist eine Widerrufungserklärung." Mit diesen Worten reichte er mir die Rolle Papier. Da ich wieder angefangen hatte, den Spiegel zu putzen, erklärte der Offizier, ohne die Rolle Papier zurückzuziehen:
„Wenn Sie vor dem Duell Angst haben, unterzeichnen Sie die Widerrufungserklärung!"
„Lassen Sie sich sagen, meine Herren, dass ich nicht unterzeichne und mich auch nicht duelliere. Ich habe anderes zu tun. Ihr Freund — es ist mir jetzt klar, dass er gestern abend Angst gehabt hat — hätte besser daran getan, stehenzubleiben und die Beleidigung sofort mit Blut abzuwaschen. Dies zu Ihrer Bemerkung über meine Angst. Ich glaube, der Vers von gestern abend hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Natürlich ist es bequemer, sich mit mir zu duellieren, als an die Front zu gehen. Hier ist das Kriegführen einfacher als im Karst."
Die beiden waren fassungslos. Bei ihrer Ehrauffassung konnten sie es nicht verstehen, dass jemand ein Duell ablehnte. Sie waren auch noch sehr jung und gehörten zu den Offizieren, die, wie man damals sagte, en gros fabriziert wurden. Meine Beleidigungen bemerkten sie gar nicht.
„Ist das Ihr letztes Wort?" fragten sie.
„Gewiss, und sagen Sie Ihrem Mandanten, dass er an die Front gehen soll."
„Vielleicht haben Sie die beleidigenden Äußerungen gestern abend nicht getan? Vielleicht hat einer von den betrunkenen Soldaten ..."
„Diese Soldaten gehen schon an die Front und brauchen keine weiteren Empfehlungen ... Was die so genannten beleidigenden Äußerungen betrifft, so stellen sie nur eine Tatsache fest. Weiter habe ich nichts zu bemerken."
Die Müßiggänger und einige andere Kunden, die inzwischen gekommen waren, lachten.
Wieder die beiden Sekundanten noch den ersten Offizier, der nicht einmal den Mut hatte, die Angelegenheit, wie es bei Ehrenhändeln üblich ist, öffentlich bekannt zu geben, habe ich, wenigstens in meinem Laden, jemals wieder gesehen.

Es war sehr schwierig, Nachrichten zu erhalten, nicht nur über die Vorgänge an den Fronten überhaupt, sondern vor allem über die italienische Front. Die Berichte des Oberkommandos schilderten den Verlauf der Kämpfe aus der Sicht von Mailand oder Rom, sprachen von der Barbarei der Österreicher und der Deutschen und von der lateinischen Kultur. Die Skandale bei den Kriegslieferungen wurden nicht aufgedeckt. Man munkelte von Lieferungen an die Regierungen der Mittelmächte über die Schweiz oder durch Vermittlung Spaniens. Überall sprach man auch von Massenerschießungen kriegsmüder Soldaten, und es war auch bekannt, dass die Zahl der Deserteure sehr erheblich war, so dass in Süditalien angeblich ganze bewaffnete Banden ihr Wesen trieben. Und die Not wurde immer größer. Mehr als ein Jahr war vergangen. Wer vom Frieden sprach, war ein „Defätist", und die Mindeststrafe für Defätisten betrug drei Jahre Zuchthaus.
Wann wird das ein Ende nehmen? Es muss ein Ende gemacht werden ...
Die Interventionisten in den Cafes nahmen heute Gorizia, morgen Triest oder die Höhe 140, fanden aber niemals den Weg an die Front. Jeden Abend sah man sie vor einer Karte des Kriegsschauplatzes damit beschäftigt, Truppenverschiebungen vorzunehmen. Sie operierten mit Armeekorps und ganzen Armeen, als wären sie Cadorna in Person.
Wehe denen, die von Frieden sprachen. Sie wurden als Deutsche, Österreicher, Verräter, Feiglinge, Sozialisten und Pazifisten beschimpft. Geschäftsleute, die sich früher gerade durchgeschlagen hatten, sprachen von Tausendlirescheinen, als ob es sich um Lirascheine gehandelt hätte.
Man brauchte nur Tausendlirescheine, um den Zucker, die Butter und das Weißbrot, die auf Karten nicht zu haben waren, in Hülle und Fülle zu bekommen.
Auch Mussolini musste ins Kampfgebiet. Sein Abgang an die Front wurde laut ausposaunt, aber er kehrte bald zurück, um an der „inneren Front" zu kämpfen. Man erzählte sich, er sei in der Etappe verwundet worden. Nach seiner Wiederherstellung ließ er es nicht noch einmal darauf ankommen. Es kämpfte sich bequemer in Mailand, in der Redaktion des „Popolo d'Italia", oder auf eleganten Gesellschaften gegen die Sozialistische Partei Italiens, gegen einen Feind, der niedergeworfen, gefesselt und mundtot gemacht worden war.
Der „Avanti" schien erledigt zu sein, aber er war begehrt, wurde gelesen und kommentiert. Die Reformisten im Allgemeinen Gewerkschaftsbund saßen in den Ausschüssen zur wirtschaftlichen Mobilisierung, in denen die Interessen der Arbeiterklasse so verteidigt wurden, wie es bei dieser Art von Zusammenarbeit immer der Fall ist. Die Löhne hatten durch die enorme Steigerung der Lebenshaltungskosten immer mehr an Kaufkraft verloren, und die freigestellten Arbeiter wagten es aus Furcht, an die Front geschickt zu werden, nicht, sich zu beklagen.
Ich erinnere mich, dass ein sehr befähigter Facharbeiter aus der Metallindustrie es eines Tages ablehnte, die Zahl der Stücke, die er anfertigte, zu erhöhen. Er wurde in das Büro des Kontrolloffiziers gerufen.
„Sie sind der Arbeiter soundso?" fragte der Leutnant. „Hier ist der Befehl, dass Sie sich morgen auf dem Bezirkskommando zu melden haben."
„Aber ich bin doch freigestellt."
,;Die Firma braucht zuverlässige Arbeiter und nicht solche widerspenstigen Burschen wie Sie. Wir müssen den Krieg gewinnen. Jeder muss Opfer bringen, aber Sie sind anscheinend nicht zufrieden mit Ihrer bevorzugten Stellung."
Der Arbeiter ging mit dem Einberufungsbefehl in der Hand. Am nächsten Tage war er schon eingekleidet. Er ging an die Front und kehrte nicht zurück.
Gegen Mitte September 1915 traf der „Avanti" einige Tage nicht ein, nicht einmal zensiert. Sicherlich steckte etwas Ernstes dahinter. Ich erfuhr es bald. Eines Morgens kam ein Eisenbahner zu mir. Als er mit mir im Laden allein war, sagte er: „Ich bin Genosse, ich komme aus Turin und habe dir ein Paket zu übergeben." Er zeigte mir ein Papier und übergab mir das Paket.
Es waren Flugblätter. Ich las. Es war der Aufruf der Konferenz von Zimmerwald. Ich machte einen Freudensprung. Es wurde also gearbeitet. Die Kontakte waren wiederhergestellt. Der Verrat der sozialistischen Führer hatte den Geist der Solidarität nicht ersticken können.
Ich war glücklich.
„Du musst sie an alle Ortsgruppen verteilen. Wenn du kannst, schicke sie vorsichtig mit der Post auch an die Front. Ein paar werden schon ankommen."
Ich schwang mich auf mein Rad und war ziemlich lange unterwegs. Es gelang mir, mich nicht erwischen zu lassen.
Innerhalb weniger Tage verteilte ich mit Hilfe der Genossen aus anderen Orten nicht nur die wenigen Flugblätter, die ich vom Parteivorstand erhalten hatte, sondern auch eine Neuauflage. Mit Hilfe der Schreibmaschinen des Militärkommandos fertigten wir auf dünnem Papier einige hundert Exemplare an, um sie mit der Post an die Front zu schicken.
Nach vollbrachter Arbeit erschienen die Polizeispitzel, um meinen Laden und meine Wohnung zu durchwühlen. Natürlich fanden sie nichts.
Das Manifest machte gewaltigen Eindruck. Die Arbeiter lasen es heimlich, die Soldaten auch, und es ging von Hand zu Hand. Dann und wann landete einer im Gefängnis. Ich wurde natürlich „sistiert".
Die „Sistierung" ist eine besonders lustige Erfindung der Polizei. Der „Sistierte" hat keinerlei Rechte. Die „Sistierung" wird immer aus Gründen der öffentlichen Sicherheit angeordnet. Man kann ziemlich lange auf der Wache sitzen, ohne verhört und angeklagt zu werden. Dann wird man ohne Erklärungen nach Hause geschickt.
Für mich wurde die „Sistierung" zum ersten Mal bei dieser Gelegenheit angeordnet. Später wurde ich verhört. Der Kommissar war wütend. Er beschimpfte mich als Türken. „Sie wollen nicht aufhören. Ich werde dafür sorgen, dass Sie sich die Sonne eine Weile durch Gitter betrachten können."
Ich wartete auf das Ende seiner Predigt.
„Sie werden mich noch dahin bringen, dass ich bestraft werde!" Dann fuhr er in verändertem Ton fort: „Man muss es zugeben, ihr seid zu schlau. Jetzt ist es einmal passiert, Sie können nicht mehr verurteilt werden und brauchen sich keine Sorgen zu machen. Aber sagen Sie mir doch, woher diese verdammten Flugblätter gekommen sind."
„Mich fragen Sie das? Ich habe sie nicht einmal gesehen ..."
„Stellen Sie sich nicht dumm!"
Er wurde wieder wütend:
„Sie werden noch erleben, dass Sie interniert werden, das sage ich Ihnen."
Damit schickte er mich nach Hause.

Sie waren zu wiederholten Malen eingetroffen: abgerissen, müde und ausgehungert. Als ich zufällig einmal einen langen Transport ankommen sah, hatte ich den Eindruck, es sei ein Viehtransport. Es war aber ein Zug mit Gefangenen! Sie waren in Viehwagen — acht Pferde und vierzig Mann — eingesperrt und fuhren seit Tagen von der Front in die abgelegensten Dörfer der Halbinsel.
Niemals habe ich trotz der giftigen Propaganda einen Arbeiter oder eine Frau gesehen, die die „feindlichen" Soldaten beschimpft hätten — niemals! Gebeugt und müde zogen sie durch die Straßen der Stadt, Neben ihnen gingen, mit Bajonetten bewaffnet, einige wenige Landsturmleute, die an der Front nicht zu gebrauchen waren. Die „Sieger" und die „Besiegten" hatten dieselbe Gangart, dieselbe erschöpfte Miene, dieselben zerrissenen Kleider und Schuhe, den gleichen Hunger und den gleichen leeren Blick.
Nach Fossano kamen einige Tausend. Untergebracht wurden sie in einer ehemaligen Pulverfabrik, in der das Regiment berittener Artillerie einquartiert gewesen war. Sie wohnten in Holzbaracken. Für ihre Arbeit erhielten sie ein bisschen Schwarzbrot und eine dünne Suppe.
Wir konnten nur wenig für sie tun. Die italienischen Soldaten wurden streng bestraft, wenn sie dabei überrascht wurden, dass sie mit den „Feinden" sprachen oder ihnen halfen. Dazu kam die Sprachenfrage, denn es waren Österreicher, Ungarn, Kroaten und Bulgaren. Einmal veröffentlichte ich einen Nachruf auf einen kroatischen Soldaten, der in Fossano gestorben war. Mussolini schrieb im „Popolo d'Italia" — das Blatt bestand zu vier Fünfteln aus Polemik gegen die Sozialisten — einen wilden Artikel gegen den Nachruf, der in unserer Wochenzeitung erschienen war, und natürlich wurde dieser Artikel von allen interventionistischen Organen übernommen. Unter diesen Umständen war es sehr schwierig, mit den Unglücklichen Verbindung aufzunehmen.
Es gelang uns trotzdem, und wir fanden auch ein Mittel, um die Sprachenfrage zu lösen. Für die deutschsprachigen Gefangenen benutzten wir einen Übersetzer und eine Schreibmaschine, für die anderen einen Übersetzer und einen Abziehapparat.
Der Garnisonskommandant und die Regimentskommandeure waren eingefleischte Reaktionäre. Da Cadorna sie an der Front nicht gebrauchen konnte, hatte man sie den Ersatzregimentern zugeteilt. Der Kommandeur des Artillerieregiments war ein richtiger Tyrann. Wegen der geringsten
Kleinigkeit ließ er die Leute prügeln. Als ich Berichte über einige seiner Ungeheuerlichkeiten veröffentlichte, die die Zensur — bestimmt aus Versehen — durchgehen ließ, geriet er geradezu in Raserei. Einmal ließ er einen Soldaten, der sich seiner Meinung nach seit vielen Tagen krank stellte, strafexerzieren, und der Soldat starb dabei. Ein andermal verlangte er trotz nebligen Wetters, dass ein Soldat an der Zielscheibe die Treffer markierte. Der Mann wurde von einer Kugel getroffen.
Er wollte, dass ich ihn aufsuchte, und schickte mir einen schriftlichen Befehl. Diesen wagte ich zu veröffentlichen. Daraufhin verlangte er eine Widerrufungserklärung. Als er die Flugblätter in deutscher Sprache und in anderen Sprachen entdeckte, geriet er in Wut und ärgerte sich furchtbar über mich. Er ahnte nicht einmal, dass die „Arbeit" in seinen Büros geleistet wurde!
Ich wurde aufs Kommissariat bestellt, und man zeigte mir einige mit der Schreibmaschine und dem Abziehapparat hergestellte Flugblätter.
„Sie wissen doch davon, nicht wahr?"
Ich nahm die Blätter und betrachtete sie.
„Wer kann denn das verstehen? Was ist das für eine Sprache?" erwiderte ich.
„Wir wissen alles, es hat keinen Zweck, Theater zu spielen. Sie schreiben das, und irgend jemand übersetzt es."
Tiefes Schweigen. Ich sagte weder Ja noch Nein. Ich wartete ab.
„Wenn Sie im Kampfgebiet wären, würde dies für sechs Kugeln ins Genick genügen. Hier werden Sie mit einigen Jahren Zuchthaus davonkommen."
„Das ist ja ganz schön, aber wer beweist Ihnen, dass ich ein Verbrechen begangen habe, auf das Erschießung oder Zuchthaus steht?"
„Wir wissen alles, Sie fühlen sich zu sicher. Die andern reden, und Sie werden dafür büßen."
Schließlich aber, da der Trick nicht zog, schickte man mich nach Hause.
Die armen Gefangenen verkauften alles, was sie hatten, um sich ein bisschen Brot zu kaufen, nämlich ihre Kriegskreuze und Tapferkeitsmedaillen. Es waren mehrere Tausend. Wir konnten ihnen nicht helfen. Wir prangerten die Rechtsbrüche und die Misshandlungen an, wir machten ihnen Mut mit unseren Flugblättern. Mit einigen von ihnen hatten wir mehrfach Gespräche. Dieser und jener sprach schon ein bisschen Italienisch. Viele starben.
Die zur Überwachung der Unglücklichen bestimmten italienischen Soldaten verbrüderten sich mit ihnen und halfen ihnen trotz der Drohungen der Vorgesetzen. Einmal wohnte ich einem sehr bezeichnenden Auftritt bei. Ein italienischer Soldat, der natürlich ein Gewehr trug, begleitete einen Gefangenen, der mit einem schweren Bündel beladen war. Der Gefangene, ein schon älterer Mensch, gab sich sichtlich Mühe, seine Last zu schleppen. Der andere, ein jüngerer Soldat, sah, wie er sich quälte, und bot ihm seine Hilfe an. Ich bemerkte den dankbaren Blick des abgerissenen und abgezehrten Österreichers. Aber zu zweit war es noch schwieriger. Da blieb der italienische Soldat stehen und sagte: „Trage du mein Gewehr, ich nehme das Bündel, für mich allein ist es weniger anstrengend als für uns beide zusammen."
Nun schritt also der italienische Soldat unter der Last
gebeugt dahin, und der bewaffnete Feind ging neben ihm. Ich sah mir das lange an. Es war der bösartigen Propaganda der Offiziere und der Presse nicht gelungen, die Sieger gegen die Besiegten aufzuhetzen. Ein andermal wurde einem italienischen Soldaten, der zwei Österreicher bei der Arbeit beaufsichtigte, übel, und er brach totenbleich zusammen. Die beiden Österreicher eilten zu ihm und schafften ihn dann, als ihre Bemühungen sich als zwecklos erwiesen, in die Kaserne. Einer der Gefangenen, der zur Arbeit aufs Land geschickt worden war, heiratete zur größten Entrüstung der hundertprozentigen Patrioten eine Italienerin!

Frieden! Frieden! Das war die Hoffnung aller, der „Sieger" und der „Besiegten". Dieses Wort war so verdächtig, dass es eines Abends zu einem Vorfall kam, den die Behörden für sehr bedenklich hielten und der mich natürlich auf die Polizei brachte.
Manchmal ging ich in das Kino eines Bekannten, und um mich nicht zu sehr zu langweilen, bediente ich das Pianola. Nach einem patriotischen Vorfilm lief einer der üblichen Liebesfilme. Zwei Männer waren in eine Frau verliebt, und es drohte eine Tragödie zwischen den beiden, als sie durch einen glücklichen Zufall erfuhren, dass die Frau sich nicht mit den Beziehungen zu ihnen begnügte, sondern noch einen dritten Liebhaber hatte! Bevor die beiden sich im letzten Bild in die Arme sanken, erschien auf der Leinwand, wie vor jeder Szene, der übliche erklärende Text. Diesmal lautete er: „Der Friede ist geschlossen!" Gemeint war natürlich der Friedensschluss zwischen den beiden Rivalen. Ich bediente das mechanische Klavier, ohne allzu sehr auf den Film zu achten. Was nun in dem Saal geschah, kann ich nicht erklären. Alle schienen verrückt geworden zu sein. Das Publikum, das zum größten Teil aus Soldaten bestand, brach einstimmig in den Ruf aus:
„Es lebe der Friede! Wir wollen Frieden!"
Niemand achtete mehr auf den Film. Der Vorführer stellte seine Tätigkeit ein und machte Licht. Die auf den Bänken des dritten Platzes stehenden Soldaten brüllten wie besessen. Die Zuschauer auf dem ersten Platz waren überrascht und machten sich heimlich davon. Die beiden diensttuenden Polizisten wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten, und hatten sich entfernt.
Natürlich wurde eine Untersuchung eingeleitet. Die Soldaten bekamen am nächsten Abend Kasernenarrest. Die Sache musste geklärt werden, und das ging sehr schnell. Schuld an dieser plötzlichen Demonstration im Anschluss an den fatalen Text konnte nur ich sein, als man erfuhr, dass ich das Pianola bedient hatte! Es ist unglaublich, aber wahr: Man begnügte sich nicht damit, mich zur Rechtfertigung auf die Polizei zu bestellen, sondern man drohte auch dem Kinobesitzer mit der Entziehung seiner Lizenz, wenn er mir nicht verbieten würde, noch einmal das Pianola zu bedienen.
Gerade in diesen Tagen erhielt ich eine Vorladung zur Musterung. Es war schon die dritte oder vierte.
Ich verfügte mich in das Divisionslazarett. Der große Raum stank nach Karbolsäure und Unrat. Im Hintergrund saß die internationale militärärztliche Kommission, bestehend aus einem italienischen Oberstabsarzt, einem französischen Offizier und einem englischen Sanitätsoffizier.
Welch trostloser Anblick! Bucklige, Krüppel, Bruchkranke, Idioten und Rachitiker, die früher schon gemustert und für untauglich erklärt worden waren, wurden für tauglich erklärt. Man brauchte kein Arzt zu sein, um sie alle nach Hause zu schicken.
Als ich an die Reihe kam, legte man mich auf einen mit Wachstuch bedeckten Tisch, maß die Länge meiner Beine und meinen Brustumfang und untersuchte meine Zähne ... Der französische Arzt, ein Major, beobachtete die peinlich genaue Untersuchung, die der Italiener an mir vornahm.
„Mir scheint", sagte er auf französisch, „er kann unbedenklich für untauglich erklärt werden."
Der Italiener antwortete in schlechtem Französisch:
„Das weiß ich auch, aber es liegen besondere Anweisungen vor. Ich will keinen Ärger haben."
Der Engländer hatte sich entfernt.
„Was für Anweisungen?" fragte ich auf französisch, nicht etwa in der Hoffnung, eine Antwort zu bekommen, sondern nur, um zu sehen, was für ein Gesicht der Oberstabsarzt machen würde. Er warf mir einen vernichtenden Blick zu und sagte: „Halten Sie den Mund!"
Schließlich erklärte er resigniert:
„Ich bin für untauglich."
„Einverstanden", antwortete der Franzose.
„All right!" sagte der Engländer.
Der Oberstabsarzt wandte sich um und begann zu diktieren :
„Untauglich wegen Lähmung des linken Beines und Klumpfußes."
Während mein Papier ausgefertigt wurde und ich mich anzog, trat der französische Offizier zu mir.
„Sie sind Sozialist?"
„Ja", antwortete ich, „warum?"
„Nichts, ich habe es mir gedacht. Ich bin auch Sozialist."
„Welche Richtung?" fiel ich ihm ins Wort.
„Wann fahren Sie?" fragte er mich, ohne auf meine Frage zu antworten.
„Heute abend um acht."
„Dann können wir zusammen essen."
„Warum nicht?" erwiderte ich. Es war um die Mittagszeit.
„Raus hier!" brüllte ein Unteroffizier. „Die Papiere werden ab drei Uhr verteilt. Schert euch schleunigst raus, ihr Murmeltiere!"
Die zukünftigen Vaterlandsverteidiger wurden hinausgestoßen, manche halb angezogen, manche mit den Schuhen in der Hand.
Ich verließ den Raum zusammen mit dem französischen Offizier. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit Spitzbart und Brille. Er rauchte viel, auch beim Essen.
„Sie sind also Sozialist?" sagte ich, während der Kellner uns die Suppe brachte.
„Ja", antwortete der Offizier, „eingeschriebenes Mitglied, und zwar seit vielen Jahren. Sie auch?"
„Ich bin seit 1902 Mitglied, zuerst in der AIA (Anm.: Internationale Antimilitaristische Allianz. ) und jetzt in der PSI (Anm.: Sozialistische Partei Italiens. ). Aber", fügte ich mit deutlicher Ironie hinzu, „Sie sind natürlich für die Verteidigung des Vaterlandes?"
Ich sprach schlecht Französisch. Ich konnte zwar Französisch lesen, hatte aber keine Übung im Sprechen.
„Selbstverständlich", sagte der französische „Sozialist", „ist es denn anders möglich? Unsere Lage ist ganz ungewöhnlich. Wir und die Belgier sind die Angegriffenen ... Die Haltung der deutschen Sozialisten rechtfertigt uns ..."
„Karl Liebknecht...", unterbrach ich ihn.
„Der ist ein Held", erwiderte er mir, „aber die deutsche Sozialdemokratie hat die Internationale verraten ..."
„Wie ihr französischen Sozialisten, nicht mehr und nicht weniger", unterbrach ich ihn nochmals.
„Und ihr italienischen Sozialisten?" forschte er, ohne meine Unterbrechung zu beachten.
„Unsere Haltung ist anders als Ihre. Wir haben Mussolini verjagt, statt ihm zu folgen. Ihr habt alle Sozialpatrioten in euren Reihen, ihr habt der Bourgeoisie Minister gestellt. Stimmt das oder nicht?"
„Es stimmt, aber ihr habt Zeit gehabt zum Nachdenken."
„Das ist richtig."
Es wurde ein langes Gespräch, aber der Franzose ging nicht von seiner Haltung ab:
„Wir müssen den Militarismus besiegen, um für den Sozialismus arbeiten zu können."
„Utopien, mein Herr, Utopien! Wir werden alle geschlagen, mit Ausnahme der Bourgeoisie aller Länder."
Wir verabschiedeten uns kühl.
Ich ging ins Lazarett zurück. Um mein Papier zu bekommen, schloss ich mich der langen Reihe der Männer an, die ich am Morgen in dem großen Zimmer nackt gesehen hätte.
„Jetzt werde ich auch Soldat, nie hätte ich das geglaubt! Achtundvierzig Jahre bin ich. Meine beiden Söhne sind Soldaten, und einer von ihnen liegt im Lazarett, und ich habe einen Bruch, der mir schwer zu schaffen macht."
„Sie werden dich operieren und dann an die Front schicken", sagte ein kleiner Buckliger mit lebhaften und spöttischen Augen.
„Meinst du?" erwiderte der andere erschrocken. „Ich habe mich absichtlich nicht operieren lassen, um nicht Soldat zu werden."
Der Bucklige lachte.
„Es ist gar nicht so schlecht an der Front", sagte einer, der an Krücken ging. „Ich habe Mussolinis Tagebuch gelesen."
Zwei oder drei unterbrachen ihn:
„Dann geh doch in den Krieg!"
„Du redest so, weil du keine Angst zu haben brauchst!"
„Wenn es nach mir ginge", sagte einer, der eine Brille mit unwahrscheinlich dicken Gläsern trug und dürr wie ein Besenstiel war, „müssten alle in den Krieg, die ihn gewollt haben, und auch alle, die sich einbilden, dass es gar nicht so schlimm ist, auch wenn sie an Krücken gehen."
„Damit bist du gemeint!" sagte der Bucklige zu dem Lahmen.
„Dann wäre der Krieg bald zu Ende", kreischte ein Zwerg, der mit seinem kleinen Jungen an der Hand zur Musterung gekommen war.
„Ihr seid alle Defätisten!" brüllte der Mann mit den Krücken. „Ich würde gehen, wenn ich könnte ... Wenn wir nicht gewinnen, versinken wir alle wieder in Barbarei. Habt ihr gelesen, dass die Österreicher auf die Lazarette vom Roten Kreuz schießen?"
„Und weißt du, dass unser Oberkommando in den Lazaretten vom Roten Kreuz Munition lagern lässt?" erwiderte ihm ein Bauer mit einem Kropf, der größer war als sein Kopf.
„Das sind Lügen! Das sagen die Defätisten. Du kannst Gott danken, dass hier keine Carabinieri sind."
„Du würdest einen guten Spitzel abgeben! Gleich werde ich dir die Birne einschlagen!"
Damit ging er auf den Lahmen los. Der war erschrocken.
„Aber ich meine dich doch nicht. Du bist betrogen worden."
„Angst hast du, du Hundesohn. Vielleicht machst du gute Geschäfte im Krieg."
„Oh, nicht doch!" erwiderte der andere beleidigt.
„Dann bist du ein Idiot", erklärte der mit dem Kropf unter allgemeinem Gelächter.
Der Unteroffizier hatte mit der Verteilung der Untauglichkeitserklärungen begonnen.
„Was willst du für das Papierchen haben?" sagte der mit dem Bruch, der für hilfsdienstfähig erklärt worden war, zu dem für untauglich erklärten Zwerg. Er meinte dessen Untauglichkeitserklärung.
Der andere lächelte. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und sagte leise:
„Du machst Spaß, denn du weißt, dass dies Papier nicht übertragbar ist. Aber", fügte er noch leiser hinzu, „ich zeige dir, wie du dich in Sicherheit bringen kannst."
„Sprichst du im Ernst?" fragte der mit dem Bruch.
„Ehrenwort! Aber warte mal, von wo bist du? Ich fahre viertel neun nach Alba."
„Ich fahre um dieselbe Zeit, nach Cavallermaggiore. Wir haben dieselbe Strecke und können also alles besprechen."
Erfreut rieb er sich die Hände.
Der Zwerg war einverstanden. Er putzte gerade seinem Jungen, einem aufgeweckten und intelligenten Kind, die Nase.
„Wann wirst du eingekleidet, Papa?" fragte der Kleine.
„Ich werde nicht Soldat", antwortete sein Vater. „Sei ruhig, störe uns nicht."
Aber der Kleine gab keine Ruhe. Er dachte nach und meinte plötzlich:
„Papa, jetzt weiß ich es, du wirst Soldat, wenn du größer bist."
Der Einfall des Kleinen heiterte die menschlichen Ruinen, die dem Vaterland geeignet erschienen, die Uniform anzuziehen, ein wenig auf.
Nun kam ich an die Reihe. Ich nannte meinen Namen.
Der Unteroffizier las:
„Der und der, untauglich wegen ,Plumpfuß'."
„Entschuldigen Sie, Herr Unteroffizier", sagte ich, „der Oberstabsarzt hat heute morgen ,Klumpfuß' gesagt."
„Was verstehen Sie davon? Halten Sie den Mund, ich weiß, was ich tue, Sie Esel!"
„Ich denke nicht daran, den Mund zu halten, und verbitte mir diese Ausdrücke. Ein Esel sind höchstens Sie, wenn es einer von uns beiden sein muss."
„Ich sage Ihnen nochmals, seien Sie still, sonst lasse ich Sie einsperren. Ich bin Ihr Vorgesetzter."
„Ich habe keine Vorgesetzten", antwortete ich.
In diesem Augenblick erschien ein Hauptmann. Er sah aus wie ein wandelndes Fass, er wog mindestens hundertzwanzig Kilo und schnaufte wie eine Lokomotive bei der Abfahrt.
„Was ist hier los?" sagte er vergnügt.
„Der Kerl hier will mich belehren. Er behauptet, ich habe mich verschrieben."
Er zeigte ihm meine Untauglichkeitserklärung.
Der Hauptmann las, lächelte flüchtig und reichte mir das Papier mit den Worten: „Das kommt auf dasselbe hinaus." Dann schlug er dem Unteroffizier auf die Schulter.
Fröhlich zog ich mit meinem „Plumpfuß" ab. Ich machte einen Rundgang durch das Städtchen und sah einige meiner Kameraden von der Musterung wieder. Ein paar von ihnen standen auf dem Markt um einen Mann herum, der Lotteriebücher verkaufte.
Sie waren alle etwas angeheitert, die Untauglichen aus Freude darüber, dass sie nicht Soldat zu werden brauchten, die anderen, um sich zu betäuben. In Piemont trinkt man viel und gern. Das liegt an dem guten Wein.
Dann fingen sie an, ein altes Lied zu singen. Sie sangen laut und falsch, es hörte sich wirklich nicht schön an. Sie boten einen peinlichen Anblick, diese Männer um die vierzig, diese Familienväter, deren eigene Kinder teilweise Soldaten waren, die alle mit irgendeinem Gebrechen behaftet waren und in der Aussicht auf den Heldentod hier ihre Lieder sangen, um sich zu betäuben.
Ich schlug den Weg zum Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig waren viele Soldaten angetreten, alle neu eingekleidet. Um sie herum wimmelte es von so genannten Damen aus dem Bürgerschaftsausschuss, die ihnen Zigaretten und Süßigkeitten anboten. Einer von den Soldaten sah sich die Zigaretten an und meinte dann: „Es sind ganz billige, nicht einmal jetzt, wo sie uns auf die Schlachtbank schicken, können sie uns anständige anbieten." Er wies die Zigaretten zurück.
Als der Militärzug abfuhr, begannen die Soldaten zu singen:

„Den Offizieren Wein und Braten!
Für uns den Salzfisch und die trockenen Kastanien!
Bum, bum, bum —
So geht es ringsherum!"

Ich begab mich zu meinem Zug. In dem schlecht erleuchteten, kalten und halbleeren Abteil traf ich den Zwerg und den Mann mit dem Bruch. Sie waren beide angeheitert. Der Junge des Zwerges schlief, in den Mantel seines Vaters eingewickelt. Sie begrüßten mich mit lauter Stimme:
„Setz dich zu uns, wir sind alle Rekruten, aber du bist ja untauglich!" sagte der mit dem Bruch und seufzte.
„Dem Unteroffizier hast du es heute gut gegeben. Du bist gegen den Krieg, du bist Sozialist, nicht wahr?"
„Ja, ich bin gegen den Krieg, und ich bin Sozialist."
„In Monforte", sagte der Zwerg, „da ist einer, der kann gut reden. Er soll ein Sozialist sein. Der ist nicht auf den Kopf gefallen und wird auch mit dem Pfarrer fertig. Er hat immer was zu sagen. Er schreibt für die Zeitungen und kann drei Stunden hintereinander reden. Kennst du ihn?"
„Ja, ich kenne ihn."
Der Zug setzte sich in Bewegung. Es erschienen der Kontrolleur und dann die Carabinieri und verlangten die Papiere. Der Zwerg fing wieder an zu schwatzen. Der mit dem Bruch erinnerte ihn daran, dass sie über die bewusste Sache sprechen wollten, und blinzelte ihm zu. Das Abteil war fast leer. Ich erhob mich.
„Warum gehst du fort?" fragte mich der Zwerg.
„Ihr habt miteinander zu reden."
„Nein, du kannst bleiben, du gehörst zu uns. Wir müssen dem Freund hier helfen."
„Du willst also freigestellt werden?" wandte er sich an den anderen. „Hast du Geld? Ich will keinen Pfennig vor dir. Komm am Dienstag nach Cuneo auf den Markt, ich mache dich dann bekannt mit dem Mann, der das Ding dreht. Wenn du zweitausend Lire zur Verfügung hast, kannst du die Entlassung haben. Sie machen ihre Sache gut! Sie begründen das ausgezeichnet. Urlaub wegen Krankheit in der schlechten Jahreszeit und wegen Landarbeit im Sommer kostet dich jedes Mal fünfhundert Lire. Die Bescheinigung ist tadellos. Wenn du kannst, ist die erste Lösung besser ... Alle zwei Monate muss der Urlaub verlängert werden, das ist immer eine unangenehme Geschichte."
Der Mann mit dem Bruch dachte nach.
„Gut", sagte er schließlich, „die zweitausend Lire treibe ich auf, aber beschwindle mich nicht!"
„Ich schwöre es bei dem Haupte dieses unschuldigen Kindes!" erklärte der Zwerg feierlich und legte seinem Jungen die Hand auf den Kopf.
Als der Zug plötzlich anruckte, wäre er in seinem angetrunkenen Zustande beinahe umgefallen.
„Die Unterschrift des Oberstabsarztes auf den Entlassungsscheinen ist tadellos. Er selbst würde sie für echt halten. Wenn du die Summe nicht zahlen kannst, kriegst du wenigstens Urlaub für zwei Monate."
„Wenn die Sache klappt, zahle ich dir ein großartiges Mittagessen und die Reisekosten nach Cuneo", sagte der mit dem Bruch vergnügt.
„Sei um neun auf dem Kastanienmarkt neben dem Zeitungskiosk an der Ecke. Ich erwarte dich dort mit dem Mann."
„Abgemacht. Und jetzt wollen wir mal trinken."
Er zog eine Kürbisflasche aus der Innentasche seines Mantels, und wir tranken. Ich habe die beiden nie wieder gesehen.

Die Versammlungen wurden immer zahlreicher. Trotz der Furcht, an die Front geschickt zu werden, rührten sich die Arbeiter. In der Stadt, in der ich lebte, hatten sich die Metallarbeiter schon mehrere Male versammelt. Natürlich nahm ich an den Versammlungen, die im geheimen stattfanden, teil. Es war kein Spaß! Man konnte vor das Kriegsgericht kommen, und trotz der großen Not überlegten die Arbeiter sich die Sache zweimal.
Ihre wirtschaftliche Lage war so schwierig, dass sogar das Mobilmachungskomitee ihnen Recht gab, als sie ihre Forderungen vortrugen. Die Zahl der Sympathisierenden wuchs auf jeder Versammlung. Um das Recht zu haben, sich zu versammeln, brachten sie die Sache in eine gesetzliche Form, das heißt, sie wandten sich an den Militärkontrolleur. Man versuchte, sie einzuschüchtern. Dann verlangte man von ihnen, sie sollten mich von ihren Versammlungen ausschließen. Darauf erwiderten sie, ich sei ihr Sekretär.
Wir brauchten Räume. Der „Familienklub " war bei Kriegs -ausbrach geschlossen worden. Die Miete wurde aus dem Vereinsvermögen bezahlt. Ich wagte einen Vorstoß. Im Einverständnis mit den Genossen vom Metallarbeiterverband machte ich den wenigen Mitgliedern der Vereinsleitung, die zu Hause geblieben waren, den Vorschlag, uns — natürlich gegen Bezahlung der Miete — Versammlungen nicht politischer, sondern wirtschaftlicher Art abhalten zu lassen. Da sie das Vereinsvermögen von Monat zu Monat zusammenschmelzen sahen, nahmen sie meinen Vorschlag an, und so brachten wir den ersten Verband unter. Endlich hatten wir ein Dach über dem Kopf! Natürlich war unsere Tätigkeit sehr begrenzt.
Eines Tages wurde die Arbeiterkommission zum Komitee für wirtschaftliche Mobilmachung bestellt und erhielt eine kleine Lohnaufbesserung bewilligt. Dann kamen die Chemiearbeiter an die Reihe (auch dieser Industriezweig unterstand dem Komitee). Auch in anderen Städten veranstaltete ich kleine politische Versammlungen, und zwar nachts in den Wohnungen von Genossen. Es war wie bei einer Verschwörung.
Wegen der Nähe der französischen Grenze konnte ich mir mit Hilfe von Genossen unter den Eisenbahnern französische Zeitungen verschaffen. Unser piemontesischer Dialekt ist mit dem Französischen verwandt. Bei einiger Bemühung — ich hatte an den Werktagen viel Zeit — konnte ich mir viele Nachrichten verschaffen, die aus der italienischen Presse nicht zu entnehmen waren, darunter viele, die nicht einmal das Zentralorgan unserer Partei, der „Avanti", brachte. Ich konnte daher aus diesen Informationen und aus einem Teil des Materials, das ich von der Partei erhielt, Berichte zusammenstellen.
Damals beschloss ich auch, Romain Rollands „Au-dessus de la melee" zu übersetzen. So manche Nacht habe ich daran gearbeitet, in meinen Mantel gewickelt und ein Gefäß mit heißem Wasser unter den Füßen, um Holz zu sparen, und dann musste ich es erleben, dass meine Arbeit zensiert wurde!
Durch das Abziehen einer großen Zahl von Korrekturbogen der zensierten Artikel, die wir mit der Post versandten, gelang es uns jedoch, eine gewisse Verbindung mit den Genossen herzustellen und sie auf dem laufenden zu halten.
Inzwischen häufte sich auf dem Kommissariat das Material in meiner „Sache". Meine Post wurde ausnahmslos zensiert, ebenso die der mir näher stehenden Genossen. Eines Tages kam der Maresciallo zu mir. „Morgen früh müssen Sie nach Cuneo. Ich habe diesen Befehl hier vom Präfekten bekommen. Ich fordere Sie auf, ihm nachzukommen. Falls Sie sich weigern, bin ich gezwungen, Sie zwangsweise dorthin bringen zu lassen. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es so kommen würde ..." Er schüttelte den Kopf.
Ich machte mich auf den Weg. Das war eine gute Gelegenheit, eine Versammlung abzuhalten.
Der Präfekt von Cuneo, der Graf von Costigliole, war ein alter Giolittianer, bigott und reaktionär, aber ein Neutralist. Als ich ihm vorgeführt wurde, glaubte ich, einen Bischof in bürgerlicher Kleidung zu sehen. Neben ihm saß sein Sekretär.
„Sie wollen also nicht aufhören mit Ihrer umstürzlerischen Propaganda. Für Sie hat sich, wie es scheint, in Italien seit dem 23. Mai nichts geändert. Kein guter Italiener diskutiert jetzt, Parteifragen dürfen jetzt keine Rolle spielen, wir haben nur an den Sieg zu denken. An der Front wird gestorben."
Er sprach wie ein Offizialverteidiger, ohne Überzeugung, ohne Schwung. Ich fixierte ihn. Er sah mich nicht an. Ich schwieg.
„Haben Sie verstanden?" sagte er.
„Durchaus. Ich warte auf Ihre Entscheidung."
„Sie haben also nichts zu sagen?"
„Ich hätte vieles zu sagen, aber Sie behaupten ja, dass man nicht diskutieren darf, und deshalb weiß ich nicht recht, wie ich Sie überzeugen soll, Herr Präfekt. Also warte ich."
„Nun, wenn Sie nicht aufhören, lasse ich Sie internieren. Wenn Sie aufhören wollen, unterschreiben Sie hier!"
Damit reichte er mir ein Papier.
Ich sollte mich verpflichten, keine sozialistische Propaganda mehr zu treiben, die Stadt, in der ich lebte, nicht zu verlassen und nicht mehr für die Zeitungen zu schreiben. Das war beinahe dasselbe wie eine Internierung. Ich unterschrieb nicht.
Der Präfekt nahm das Papier wieder an sich.
„Gut", sagte er, „denken Sie darüber nach. Das Dekret ist fertig. Ich schicke Sie nach Sardinien, nach Iglesias."
Damit war ich entlassen. Er schickte auch den Sekretär hinaus. Als ich die Tür öffnete, um hinauszugehen, rief der Präfekt mich zurück. Wir waren nun allein.
„Hören Sie", sagte er zu mir, „Ihre Unterschriftsverweigerung bedeutet, dass Sie interniert werden. Sie werden die Stadt, Ihre Geschäfte und Ihre Angehörigen verlassen müssen. Das Opfer lohnt nicht. Wenn es wenigstens dazu beitrüge, dass der Krieg aufhört ..."
Der alte Patrizier sah sich um, gleichsam über seine eigenen Worte erschrocken.
„Ja", fuhr er fort, „dass der Krieg aufhört. Denn ich bin auch gegen den Krieg."
„Gegen welchen Krieg?" erwiderte ich. „Wenn Italien in den Krieg gegen Frankreich eingetreten wäre, wären Sie Interventionist gewesen, Herr Präfekt. Die Giolittianer haben ihre Hände in Italien und in Libyen mit Proletarierblut befleckt, nicht mehr und nicht weniger als die anderen bürgerlichen Parteien."
„Bleiben wir bei der Sache. Sie werden interniert. Ich kann nichts dabei tun. Ich habe schon zu lange gezögert. Sie sagen, ich bin ein Reaktionär, aber ich bewundere Menschen, die eine Überzeugung haben. Ich schicke Sie nicht gern nach Sardinien."
„Wenn die Rollen vertauscht wären, würde es mir nichts ausmachen, Sie nach Sardinien oder zu ... Ihrem lieben Gott zu schicken."
Der Präfekt war so verblüfft über meine Sprache, dass er nicht einmal mehr Worte fand, um mir Schweigen zu gebieten.
„Schon gut, Sie argumentieren sehr logisch. Sie haben recht."
Ich ging.
Wenige Tage später erhielt ich ein Dekret, das die Internierung an meinem Wohnort anordnete. Der Präfekt hatte die angedrohte Maßregel, Sardinien, vermieden, aber Vorsorge getroffen hatte er doch. Die Internierung in meinem Wohnort war auch insofern sehr unangenehm, als ich mich nicht mehr als Verbandssekretär betätigen oder wenigstens sehr viel leichter kontrolliert werden konnte.
Die Maßregel war auch auf meine journalistische Tätigkeit zurückzuführen. Ich gehörte der Redaktion der Wochenzeitung „Lotte Nuove" an. Die Lage in der Redaktion war merkwürdig. Der Chefredakteur war für den Sieg der Entente, während ein anderer Genosse, vielleicht nur aus Widerspruchsgeist, behauptete, der Sieg der Mittelmächte werde dem technischen Fortschritt einen starken Antrieb geben. Natürlich behaupteten sie beide, Sozialisten und daher gegen den Krieg zu sein. Mein Standpunkt war unerschütterlich: „Ich bin gegen den Krieg, weil der Krieg, ob wir ihn gewinnen oder nicht, unter allen Umständen eine Niederlage für die Arbeiter bedeuten wird."
Diese Meinungsverschiedenheiten wirkten sich auch auf die Zeitung aus. Der Chefredakteur hatte mir klipp und klar gesagt: „Ich bin mit dir nicht einverstanden. Weil ich aber den Genossen das Recht zuerkenne, ihre Meinung zu äußern, und weil du auch Redakteur bist, wirst du die Verantwortung übernehmen und deine Artikel zeichnen." Das tat ich, und die Folge war, dass die Reaktion mich ganz besonders aufs Korn nahm, wie übrigens auch die Zensur. Ich hatte mir einen so guten Namen bei den Zensoren gemacht, dass meine Unterschrift genügte, damit meine Artikel rücksichtslos zusammengestrichen wurden. Manchmal erschienen nur der Titel und die Unterschrift. Sonst, wenn wir mehr Material hatten, blieben der Titel nebst dem Vermerk, dass 76 oder 210 Zeilen gestrichen worden seien, und die Unterschrift stehen. Einmal spielte ich dem Zensor einen Streich.

Ich nahm einen Artikel aus Mussolinis „Popolo dTtalia", setzte eine andere Überschrift darüber und schrieb meinen Namen darunter. Von dem Artikel blieben nur die Unterschrift und der Titel übrig. Nun wählte ich die verschiedensten Decknamen und zwang dadurch den Zensor, die Sachen zu lesen. Das Ergebnis war das gleiche.
So hatte sich das Material angesammelt, das zu meiner Internierung führen sollte. Die Internierung wurde gegenüber Ausländern und Sozialisten angewandt. Viele Genossen wurden davon betroffen. Manche wurden nach Sardinien, auf die kleinen Inseln oder in die Berge verbannt. Ein unserer Partei angehörender Lehrer zum Beispiel wurde aus der Romagna nach Kalabrien verschickt. Mit Handschellen gefesselt, musste er viele Kilometer über Gebirgspfade zu Fuß gehen und dann lange Zeit in einem kleinen Dorfe leben, völlig abgeschlossen von der Welt.

Die Reaktion wurde jeden Tag schlimmer. Die Verhaftungen und Verurteilungen nahmen kein Ende. Die Soldaten, die auf Urlaub kamen, erzählten von den Schrecken des Krieges und beobachteten empört, wie andere Leute sich bereicherten und sich amüsierten. Die Bourgeoisie kannte kein Maß mehr. Die Neureichen hatten nur Hohn und Spott für das Massenelend. Man versuchte, die Bauern gegen die Arbeiter in den Städten aufzuhetzen. „Ihr geht an die Front, und die Arbeiter sind in den Fabriken freigestellt." Oder umgekehrt: „Ihr habt nicht einmal Schwarzbrot, und die Bauern essen Weißbrot."
Die interventionistische Presse heulte: „Räumt auf mit den Barbaren! Bauern, schützt euer Land! Arbeiter, verteidigt die Fabriken! Vorwärts, vorwärts!" Alles mögliche wurde versprochen, Land für die Bauern, Arbeiterkontrolle in den Fabriken, Demokratie und Freiheit.
Die Lieferanten stellten Schuhe aus Pappe her und gaben Baumwollkleidung als Wollkleidung aus. Die Soldaten starben nicht nur durch feindliche Kugeln, sondern erfroren auch in den mit Wasser gefüllten Gräben oder gingen an dem schlechten Essen zugrunde.

In dieser Atmosphäre kam es in mehreren Städten zu Aufständen. Der größte Aufstand brach in Turin aus. Kennzeichnend für ihn war seine Spontaneität. Er war heldenhaft, hatte aber keine Führung. Dabei war die Lage furchtbar, und es wurden die dümmsten politischen Ränke gesponnen.
Die Sozialistische Partei Italiens hatte eine andere Haltung eingenommen als die meisten Parteien der II. Internationale. Sie hatte es abgelehnt, den Krieg zu unterstützen, sich dem Block der Vaterlandsverteidiger anzuschließen und sich an der Verantwortung für den Krieg zu beteiligen. Der Verrat Mussolinis, der doch der Führer der Partei war, hatte nicht zu einer Krise geführt. Die Interventionisten waren ohne Spaltung ausgeschieden. Die Massen hatten sich sogar noch fester um die Partei zusammengeschlossen.
Die Haltung der Partei war klar: Ablehnung des Krieges. Aber diese rein negative Haltung war nicht kämpferisch. „Nicht mitmachen und nicht sabotieren", sagte die Parteiführung, und dadurch wurden wir in den unteren Einheiten praktisch lahm gelegt. „Nicht mitmachen" — das war schon recht, und keiner von uns machte mit, mit Ausnahme der Reformisten, die in den Mobilmachungskomitees mitarbeiteten. Was das „Sabotieren" betraf, so war die Sache weniger klar. „Nicht mitmachen" bedeutete bereits „sabotieren".
„Neutral", „über dem Getümmel" bleiben, das war nicht möglich, das wird niemals möglich sein. Die in ihrer passiven Negation erstarrte Partei sah nicht die tatsächliche Zusammenarbeit der Reformisten, die die noch bestehenden Gewerkschaften beherrschten, mit den Industriellen. Sie sah auch nicht die Empörung, die unter den von der Kriegsmaschine zermalmten Massen heranreifte.

Die Tragödie Italiens hieß Caporetto. Die Armee brach zusammen, die herrschenden Klassen und der Staatsapparat gerieten in Verwirrung und standen vor dem Nichts, in der gesamten werktätigen Bevölkerung herrschte ungeheure Unzufriedenheit. Und die Partei der Arbeiterklasse, die Sozialistische Partei Italiens, war gefesselt durch ihre Formel, den Krieg, diesen größten Unterdrückungspakt der Bourgeoisie gegen das Proletariat, „nicht mitzumachen und nicht zu sabotieren".
Hier liegen die objektiven Ursachen für die spätere Niederlage des italienischen Proletariats.
Der Turiner Aufstand im August 1917 kam für die Partei völlig überraschend. Er verlief ohne Führung und wurde trotz des Heldenmutes der Arbeiter im Blut erstickt. Turin hat in Bezug auf Kämpfe und Massenstreiks eine revolutionäre Tradition. Während die Führung der Sozialistischen Partei sich nicht imstande fühlte, zu Beginn des Krieges den Generalstreik auszurufen, war der Generalstreik in Turin ausgebrochen und hatte heftige Formen angenommen. Im Frühjahr 1917 kündigten sich in den großen Industriestädten bedrohliche Ereignisse an. In Mailand kam es zu Unruhen.
Ü berall herrschte tiefe Unzufriedenheit, besonders in den der militärischen Disziplin unterstehenden Metallfabriken. Aus nichtigen Anlässen wurden zum Beispiel in den Turiner Fabriken — ich begab mich sehr oft nach Turin, um mit den Genossen in Verbindung zu bleiben — nicht nur Arbeiter, sondern auch Frauen und Kinder eingesperrt, in die Arrestzellen des 6. Artillerieregiments oder ins Zuchthaus. Arbeitsunfälle wurden nicht anerkannt. Für die Gewerkschaften, deren Führer — Colombino, Buozzi, Guarnieri und andere — in den Komitees für wirtschaftliche Mobilmachung saßen, gab es nur die Zusammenarbeit mit den Unternehmern. Die Turiner Ortsgruppe der Sozialistischen Partei war gegen die Beteiligung an den Komitees gewesen, aber die Frage war im Landesmaßstabe anders entschieden worden, und die reformistischen Gewerkschaftsvertreter arbeiteten mit den Industriellen zusammen.
Hier und dort brachen Streiks aus. Es kam zu eindrucksvollen Kundgebungen gegen den Krieg, als die Arbeiter sich in Massen an der Beisetzung einiger Arbeiter beteiligten, die bei der Explosion in einer Pulverfabrik in Borgo San Paolo ums Leben gekommen waren. Wer in den unter militärischer Kontrolle stehenden Fabriken die Arbeit einstellte, wurde entlassen und vor ein Kriegsgericht gestellt.
Als Goldenberg und Smirnow als Delegierte der Provisorischen Regierung Russlands in Turin eintrafen, brach ebenfalls ungeheure Begeisterung aus, und es kam zu großartigen Demonstrationen. Die Delegierten mussten vom Balkon aus sprechen, da die Räume des Gewerkschaftshauses die ungeheuren Arbeitermassen nicht fassen konnten. Es war die erste Versammlung seit dem Ausbruch des Krieges. Goldenberg und Smirnow erlebten jedoch die Überraschung, dass die Arbeitermassen Lenin und die Bolschewiki hochleben ließen.
Gegen Ende Juli 1917 wurde das Brot in Turin knapp. Das Brot war zwar schwarz und unverdaulich, da es aus minderwertigem Mehl hergestellt war, doch bildete es das Hauptnahrungsmittel der Arbeitermassen, und daher machte sich der Brotmangel sehr unangenehm bemerkbar. Seit mehreren Tagen wurden auch die knappen Rationen nicht mehr ausgegeben. Nach stundenlangem Anstehen sah man an den Bäckereien das Plakat mit der Aufschrift „Brot ausverkauft" erscheinen. Rufe der Empörung und der Wut wurden laut. Die Arbeiterfrauen, die nach zehn- bis zwölfstündiger Arbeit zwei oder drei Stunden angestanden hatten, mussten ohne Brot nach Hause gehen.
Man kann sich die Stimmung der Massen in den Tagen vor dem Aufstand, der in der heftigsten Form ausbrach, leicht vorstellen. Auf der einen Seite verlangten die Massen nach Brot und Frieden, auf der anderen Seite wollten die Kapitalisten, die Lieferanten, die wohlgenährten Reklamierten unter dem Schutz der reaktionären bewaffneten Kräfte des Staates — der Armeeoffiziere, der Gendarmerie und der Polizei — den Krieg bis zum Siege.
Eines Tages, am 22. August, ging das Brot gänzlich aus. In mehreren Fabriken kamen die Arbeiter nach dem Frühstück nicht zurück.
„Warum kommt ihr nicht zur Arbeit?" fragte ein Unternehmer seine Arbeiter.
„Weil wir nichts zu essen haben!"
„Ich werde einen Lastwagen mit Kommissbrot holen lassen."
„Nieder mit dem Krieg!" schrieen die Arbeiter.
Um fünf Uhr hatten alle Arbeiter die Fabriken verlassen. Die Reklamierten warfen ihre dreifarbigen Armbinden fort und schlossen sich den Streikenden an. Der Sekretär des Gewerkschaftshauses wurde verhaftet. Die Reformisten wollten ein Flugblatt verbreiten, um sich von der Aktion zu distanzieren. Es gelang jedoch, die Verbreitung zu verhindern. Es wurde eine Delegation an die Parteileitung und an die Gewerkschaftsleitung in Mailand geschickt, um die Ausdehnung der Aktion zu verlangen. Sie wurde abgewiesen.
Der spontane Aufstand der Massen aber entwickelte sich und wuchs trotz der Führungslosigkeit. Eine Abordnung von Frauen begab sich zum Präfekten. Es wurden Versprechungen gemacht. Auf der Straße tobte die Menge. Von einem in der Menge befindlichen Luxusauto glaubte man den Ruf zu vernehmen:
„So viel Lärm um ein bisschen Brot! Sollen sie doch Kuchen essen!"
„Und wir werden Kuchen essen!"
Die Konditoreien wurden gestürmt und geplündert.
„Kuchen und nicht mehr Schwarzbrot!"
Die Plünderungen wurden, nachdem sie einmal begonnen hatten, immer häufiger und griffen vom Zentrum auf die Peripherie der Stadt über. Es entstanden die ersten Barrikaden, schlecht gebaut und leicht zu bezwingen. Es kam zu den ersten Zusammenstößen mit der Polizei. Es gab Tote. Die Arbeiter plünderten die Waffengeschäfte. Es entstanden Barrikaden aus Baumstämmen und Straßenbahnwagen.
Da griffen neben der Polizei die bewaffneten Kräfte des Staates ein. Da die Zentren des Aufruhrs die Vorstadt San Paolo und die Gegend am Mailänder Tor an den beiden entgegengesetzten Enden von Turin waren, wurde die Stadt vom Militär in zwei Teile zerschnitten. Die Soldaten waren bleich und unsicher, die Offiziere wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Die Frauen brachten den Soldaten Essen und riefen ihnen zu: „Schießt nicht, wir sind eure Brüder!" Eine Abteilung von Gebirgsjägern erhielt den Befehl zum Schießen, übergab aber nach kurzem Zögern die Gewehre den Arbeitern. Dieser Zwischenfall löste ungeheure Begeisterung aus.
Keine Partei aber ließ etwas von sich hören. Die Menge rief ihre Losungen. Anfänglich hörte man die Parole: „Wir wollen Brot! Nieder mit dem Krieg!" Dann hieß es: „Wir wollen Frieden! Die Waffen nieder! Heraus aus den Gräben!"
Es wurde gesungen:

„Nimm dein Gewehr und wirf es auf die Erde!
Wir wollen Frieden, Frieden wollen wir,
Wir wollen Frieden, nieder mit dem Krieg!"

Ein Kommissariat der Sicherheitspolizei wurde gestürmt, die Menge strömte ins Zentrum nach der Präfektur, dem Polizeipräsidium und den Kasernen. Die aufrührerische Menge — ohne jede Führung — spürte trotz der dunklen Machenschaften, dass sie siegen konnte. In diesem Augenblick erschienen Panzerautos. Die Maschinengewehre eröffneten das Feuer. Alsbald türmten sich in den Straßen die Leichen.
In den Vororten wurde überall noch geschossen.
Ich habe diese Tage noch gut in der Erinnerung—die halbdunkle Stadt, das unheimliche Knattern der Gewehre, die feuernden Maschinengewehre.
Der Heroismus des Proletariats war großartig. Während die schweren Panzerwagen auf der Fahrt in die Vororte waren, stürzten plötzlich Frauen aus den Häusern, durchbrachen die Absperrungen und verlegten den Panzerwagen den Weg, indem sie sich an sie anklammerten. Der Befehl, unter Maschinengewehrfeuer weiterzufahren, wurde nicht befolgt. Die Soldaten, bleich, mit schweißbedeckten und tränenüberströmten Gesichtern, schossen nicht.
Aber der Widerstand konnte nicht lange dauern. Die widersprechendsten Gerüchte liefen um. Es hieß, die Führung der Sozialistischen Partei habe die Wiederaufnahme der Arbeit empfohlen. Nach wenigen Tagen war der Aufruhr erstickt.
Die Zahl der Toten? Nach amtlichen Angaben waren es zweiundvierzig, nach unseren Berechnungen fünfhundert, wozu Tausende von Verwundeten kamen. Der Zutritt zu den Toten war verboten. Sie wurden ohne Identifizierung begraben.
Einen ganzen Monat gingen die Verhaftungen weiter. Auch Serrati wurde in Mailand verhaftet. Vor Gericht verteidigten die Verhafteten die Haltung der Sozialistischen Partei zum Kriege, keiner aber verteidigte die Haltung und den heroischen Aufstand des Turiner Proletariats. Keiner brachte den Mut auf, den heldenhaften Defätismus der Aufständischen zu preisen.
Die Amnestie vom 22. Februar 1919 gab später allen die Freiheit wieder. Das Echo der Turiner Ereignisse drang überallhin. Die Arbeiter, die Bauern, die Soldaten, die Gewerbetreibenden waren tief beeindruckt. Die Zeitungen aber schwiegen. Selbst der „Avanti" beschränkte sich auf eine kurze Erwähnung in den kleinen Nachrichten und wagte nicht einmal eine sachliche Darstellung der Tatsachen.
In meinem Wohnort stellten wir mit der Schreibmaschine ein Flugblatt her und übersetzten es auch für die Gefangenen. Im Laden wurde von nichts anderem gesprochen, zumal ich an einem der ersten Tage des Aufstandes in Turin gewesen war.
Cadornas Heeresberichte und die Artikel der Sonderkorrespondenten sprachen immer nur von Siegen. Bald danach aber ging die italienische Armee in völliger Auflösung bis an den Piave zurück.
Als es nicht mehr möglich war, die Niederlage bei Caporetto geheimzuhalten, nannte die ganze Bande der Kriegsgewinnler, die über den Turiner Aufstand tiefstes Schweigen bewahrt hatte, unter den Ursachen der Niederlage in erster Linie eben diesen Aufstand.
Die gleichen Zeitungen, die das Heldentum des italienischen Soldaten gepriesen hatten, beschimpften ihn nun aufs gemeinste. So machten es alle, von Cadorna, der dadurch die Verantwortung von sich abwälzen wollte, bis zum letzten Interventionisten. Nicht einmal jetzt, wo ihr Vaterland sich in Gefahr befand, konnten die reklamierten Lieferanten sich zu der schönen Geste der freiwilligen Meldung entschließen. Sie, die doch, um Millionen zu erraffen, die Soldaten zum Hungertode verurteilt, ihnen Baumwollkleidung statt Wollkleidung und Pappschuhe statt Lederschuhe geliefert hatten, verlangten mit lauter Stimme, statt an die Front zu gehen, Erschießungen, Verhaftungen, Verurteilungen.
Nähere Einzelheiten über den katastrophalen Rückzug von Gaporetto erfuhr ich von einem Offizier, der in unsere Gegend kam. Er erzählte furchtbare Dinge: die Straßen waren versperrt von fliehenden Soldaten, von Versprengten, die sich unter die entsetzte Bevölkerung gemischt hatten, Frauen hatten mit ihren wenigen Habseligkeiten und ihren kleinen Kindern die Häuser verlassen, und um die verwundeten Soldaten am Straßenrand kümmerte sich kein Mensch. Brücken brachen zusammen, ehe die versprengten Truppen und die fliehende Bevölkerung sie überschritten hatten. Es spielten sich grauenhafte Szenen ab. Die in Auflösung befindliche Armee und die Bevölkerung wurden nicht nur von der feindlichen, sondern auch von der italienischen Artillerie beschossen, um den Strom der Flüchtenden aufzuhalten. Vergeblich versuchten die Offiziere, die alles mit sich fortreißende Lawine zum Stillstand zu bringen. Bis über den Piave hinaus wälzte sich diese Lawine, und die flüchtenden Familien ergossen sich fast über ganz Italien.
Damals versprach die Bourgeoisie den arbeitenden Klassen den Himmel auf Erden, um die Armee reorganisieren und die Lawine aufhalten zu können.
Die mageren Rationen wurden noch kleiner, und die Kerker füllten sich. Die Jagd auf die Soldaten, die Deserteure, die Defätisten verschärfte sich. Im Kampfgebiet fanden Massenerschießungen statt, und lange Reihen von Gefesselten zogen an die Front. Die Militärgefängnisse waren überfüllt. Der Name des Generals Graziani, der zahllose Erschießungen vornehmen ließ, wurde mit Abscheu genannt; er wurde allgemein als Henker bezeichnet.
Der Zusammenbruch des Staates und der Armee war vollständig. Die Arbeiterklasse aber war nicht gerüstet, sich auf ihren Klassenfeind zu stürzen und ihm den Rest zu geben.
Die Soldaten, die die Front verließen, warfen auf dem Wege ins Landesinnere ihre Gewehre weg, statt sie gegen ihre Unterdrücker zu gebrauchen. Die Bauern zogen plündernd durchs Land, statt die Güter zu besetzen, und die Arbeiter besetzten die Fabriken nicht. Warum?
Warum ertönte aus dieser Masse der seit Jahren vom Krieg gequälten Menschen, aus dieser zusammenbrechenden Armee keine Stimme, die das werktätige Volk gegen die Unternehmer, die Schergen, den König, die Großgrundbesitzer, die Priester, gegen den Klassenfeind aufgerufen hätte?
Weil die politische Organisation des Proletariats vor ihrer Aufgabe versagte. Die Sozialistische Partei Italiens rührte sich nicht. Turati verkündete aber laut: „Das Vaterland ist am Grappa!" Seine Rede wurde von der reaktionären Presse begeistert begrüßt.
„Das Vaterland ist am Grappa!" Das Vaterland, das Turati retten wollte, war das Vaterland der Bourgeoisie.
Während die Verteidigung an der Piave-Front reorganisiert wurde, während die italienische Bourgeoisie die Regimenter mit Versprechungen und Erschießungen wieder in Stellung brachte und Cadorna den Abschied gab, berief die Sozialistische Partei einen außerordentlichen Parteitag nach Rom ein. Er wurde von Orlando verboten. Langsam erholte sich die italienische Bourgeoisie.

Die Sozialistische Partei Italiens befand sich während des Krieges praktisch in der Illegalität. Aber die illegale Arbeit der Partei war den Schergen Giolittis und Orlandos gewachsen. Lasst euch erzählen.
Nach der Niederlage von Caporetto, nach der Rede Turatis über die Verteidigung des Vaterlandes — Orlando, damals Vorsitzender des Ministerrates, ließ diese Rede unter den Truppen verteilen, um ihnen einzureden, die Führung der Partei sei für die Verteidigung des vom Feinde besetzten Gebietes — berief der Parteivorstand einen außerordentlichen Parteitag nach Rom ein. Die Zensur hatte eine Entgegnung der Partei auf die Rede Turatis in der Kammer verboten. Ein Parteitag war notwendig, um zu bekunden, dass Turati nicht im Namen der Partei gesprochen hatte, dass die Masse der Partei für den Frieden und gegen den Krieg war. Orlando verbot den Parteitag. Der rechte Flügel der Partei hüllte sich in Schweigen. Die konsequent revolutionäre Mehrheit indessen berief einen Parteitag ein.
Der Parteitag wurde illegal nach Florenz einberufen. Das Einberufungsschreiben war mit größter Vorsicht abgefasst. Ich versammelte die Bezirksleitung und las das Schreiben vor. Die alten Genossen in der Bezirksleitung waren bestürzt. Eine illegale Versammlung? Das erklärten sie für Irrsinn. „Wir haben den Parteitag einberufen, Orlando verbietet ihn, nach dem Kriege werden wir zeigen, was die Demokratie vermag, heute ist nichts zu machen." Ich gab nicht nach und drängte: „Wir haben einmütig für die orthodoxe Richtung gestimmt, und jetzt gilt es zu handeln." Da stellte einer der Genossen den Antrag, mich als Delegierten des Bezirksverbandes zum Parteitag von Florenz zu entsenden. Die anderen waren begeistert. (Hier muss ich bemerken, dass niemand von diesem Bezirksverband zur Kommunistischen Partei übergetreten ist.)
Wenige Tage später erhielt ich die offizielle Einladung.
Während ich den Kopf eines Kunden bearbeitete, überlegte ich mir, wie ich trotz des Verbotes am besten die Stadt verlassen könnte, als in der Tür die imposante Gestalt des Maresciallo erschien. Ich war an die Besuche der Carabinieri gewöhnt, aber der Anblick des örtlichen Postenkommandanten überraschte mich doch. Es musste sich um eine wichtige Angelegenheit handeln.
„Ich muss mit Ihnen sprechen", sagte der Maresciallo sehr liebenswürdig.
„Sagen Sie mir lieber gleich", erwiderte ich, weil ich diese Art von Aufforderungen kannte, „ob ich Wäsche und ein paar Bücher mitnehmen soll."
„Aber nicht doch, ich bitte Sie, es ist eine Sache von wenigen Minuten."
„Dann komme ich, wenn ich meinen Kunden bedient habe."
Unsere Kunden waren an derartige Unterbrechungen gewöhnt. Einmal musste ich einen im Stich lassen, den ich erst halb rasiert hatte. Auch damals sollte ich gleich wiederkommen und kam erst nach zwei Wochen zurück.
Diesmal aber erwies der Maresciallo sich als Ehrenmann. Ich kam mit einer Viertelstunde davon. In seinem Büro musste ich ihm gegenüber Platz nehmen. Auf seinem Tisch lag ein Papier. Er setzte sich die Brille auf, zog ein wenig an seinem Schnurrbart und hüstelte zwei- oder dreimal, wie man es zu tun pflegt, wenn man nicht weiß, wie man anfangen soll. Mein Maresciallo war kein Redner. Er brauchte einige Zeit, um sich vorzubereiten, und diese Zeit genügte mir, um — natürlich verkehrt — das vor ihm liegende Schreiben zu lesen. Dies Schreiben von Orlando war sehr interessant. Es lautete:

Betrifft: Illegaler Parteitag der PSI in Florenz.
Dem hiesigen Ministerium wird gemeldet, dass der bekannte sozialistische Friseur (es folgte mein Vor- und Zuname) an dem Parteitag teilnehmen soll. Er ist streng zu überwachen, und seine Abreise nach Florenz ist mit gesetzlichen Mitteln zu verhindern. Dies alles muss unauffällig erledigt werden. Über die getroffenen Maßnahmen ist zu berichten usw.
gez. Der Minister

In einer Ecke stand: „Streng geheim."
„Sie sollen also zum Parteitag?" begann der Maresciallo.
„Zu welchem Parteitag?" erwiderte ich. „Sie wissen sehr gut, dass Orlando den Parteitag in Rom verboten hat."
Diese Entgegnung musste wohl nicht im Programm stehen, denn der Maresciallo versank wieder in Nachdenken und begann seine Brille zu putzen, während ich das Schreiben nochmals las.
„Es handelt sich doch nicht um den Parteitag in Rom, sondern um den illegalen in Florenz ..."
„Davon weiß ich nichts", sagte ich. „Es wird ein Irrtum sein."
„Der Minister irrt sich nicht. Vielleicht erhalten Sie die Benachrichtigung später."
„Was wollen Sie eigentlich von mir, Signor Maresciallo?"
„Also, da Sie bestimmt zu dem Parteitag eingeladen werden, habe ich Anweisung, dafür zu sorgen, dass Sie sich ungehindert bewegen können, und die Polizei in Florenz zu benachrichtigen, damit die Nationalisten Sie nicht belästigen."
Der Maresciallo war ein sehr gewandter Diplomat.
„Aber das ist doch ganz einfach", sagte ich. „Wenn Sie mir versichern, dass Sie mir keinen Streich spielen, werde ich, wenn ich das Einladungsschreiben erhalte, zu Ihnen kommen und Ihnen mitteilen, wann ich abreise."
„Gut, sehr gut. Vernünftige Menschen verstehen sich immer. Wir sind also einig."
Ich verabschiedete mich und ging wieder in meinen Laden. Zwei Stunden später fuhr ich mit dem Rade nach dem Bahnhof eines Nachbarortes, um den Schnellzug nach Florenz zu nehmen.

Die Sozialistische Partei war also, was die Vorbereitung illegaler Parteitage betraf, der Gendarmerie und den Behörden in der Provinz durchaus gewachsen; denn wir trafen alle in Florenz ein, auch aus den entferntesten Orten, und zwar alle rechtzeitig.
Der Parteitag hätte stattfinden können, wenn das Organisationskomitee, das noch an diese Art von illegaler Arbeit glaubte, nicht die glänzende Idee gehabt hätte, die vorbereitende Sitzung in den bekannten Räumlichkeiten des Provinzialverbandes der Partei, in der Via dell'Agnolo, abzuhalten. Außer uns — wir waren etwa vierzig Personen — erschienen also auch etwa hundert Polizisten und ebenso viele Carabinieri, die das Gebäude umstellten und dann nach dem üblichen „Aufmachen im Namen des Gesetzes!" die Veranstalter des Parteitages zum Präfekten bestellten.
Das Ergebnis der Unterredung war, dass der Parteitag in Florenz und in der Provinz verboten wurde. Interessant dabei war, dass Orlando oder vielmehr der Präfekt von Florenz uns darauf aufmerksam machte, dass der Parteitag nach Mitternacht dieses Tages aufgelöst werden würde. Dies bedeutete, dass wir bis Mitternacht diskutieren konnten.
Auf dem Parteitag waren außer den Vertretern der verschiedenen Provinzialverbände auch Lazzari, Serrati, Fortichiari, Gramsci, Caroti und Bordiga anwesend.
An diesem Abend hörte ich zum ersten Mal, dass in konkreterer Weise gesprochen wurde, und dies machte gewaltigen Eindruck auf mich. Nach diesen Reden am Sitz des Provinzialverbandes Florenz, während wir jeden Augenblick das Eindringen der Polizei erwarteten, erschien mir der Sozialismus als etwas Realeres. Ich war gewöhnt an die Vorträge und Artikel großer Redner und großer Schriftsteller, die niemals aus den wolkigen Höhen der Theorie hinabstiegen, an Prampolinis oder De Amicis' „Freiheit, Gerechtigkeit, alle Menschen sind Brüder", an die wuchtigen Anklagen, die Lazzari in seinem lombardischen Italienisch dem Kapitalismus ins Gesicht schleuderte, an die elegante Polemik Turatis und Modiglianis, an die wie Peitschenhiebe wirkenden Erklärungen Mussolinis, die mit der praktischen Arbeit wenig zu tun hatten. Was sollten wir tun, um den Sozialismus zu verwirklichen? Eine klare Antwort hierauf hatten die Reformisten gegeben. Sie wollten mit dem einsichtigeren Teil der Bourgeoisie zusammenarbeiten.
Die Reden eröffneten mir neue Perspektiven und ließen mich die Ereignisse in Russland besser verstehen.
Gramsci analysierte die Situation in Italien. „Wir haben die Niederlage, der italienische Staat ist desorganisiert. Der Zeitpunkt zum Handeln ist da. Die Proletarier in Stadt und Land sind bewaffnet, ihre Geduld ist zu Ende. Jetzt muss gehandelt werden."
Serrati und Lazzari, wie übrigens die Mehrheit auf dieser Versammlung, blieben bei Lazzaris Formel „Nicht mitmachen und nicht sabotieren", die in der Diskussion präzisiert wurde. „Die Niederlage ist, wie der Sieg, immer noch der Krieg. Das Proletariat gewinnt nichts dabei. Die Partei braucht ihre Haltung nicht zu ändern."
Orlando aber war anderer Ansicht. Er fürchtete eine Änderung. Diese Versammlung von vierzig Personen machte ihm Sorgen. Plötzlich entstand lauter Lärm an der Tür. Wir hörten Kolbenstöße und die Aufforderung: „Im Namen des Gesetzes — auseinander gehen!" Es war Mitternacht. Wir konnten gerade noch für eine Stunde danach eine Zusammenkunft bei dem Rechtsanwalt Trozzi verabreden. Er ist später Reformist geworden, und heute sympathisiert er, glaube ich, mit den Faschisten.
Wir verließen das Gebäude. Auf dem Platz wimmelte es von Militär und Polizei. Wir eilten in unsere Hotels. Jeder von uns wurde beschattet. Ich ging mit Gramsci und Terrini, der später der Zusammenarbeit mit der Turiner Polizei beschuldigt wurde, und zwei Polizisten hefteten sich an unsere Fersen. Wir betraten unser Hotel in der Via Calzaioli. Lazzari, den wir dort trafen, war nicht von der Polizei verfolgt worden. In der Verwirrung war es ihm gelungen, sich unbeobachtet davonzumachen.
Wir standen im Dunkeln am Fenster und beobachteten die Straße. Unten gingen die beiden Polizisten auf und ab. Dann wechselten sie einige Worte und verschwanden in der Finsternis. Was tun? Die Stunde der Verabredung näherte sich. Es war klar, dass die beiden Polizisten angewiesen waren, die ganze Nacht dort zu stehen.
Wir hielten einen Kriegsrat ab. Zwei von uns mussten geopfert werden. Wir beschlossen, dass Terrini und ich das Haus verlassen und uns in entgegengesetzten Richtungen entfernen sollten. Die beiden Polizisten würden uns sicherlich folgen, so dass Lazzari und Gramsci ungehindert zu der Verabredung gehen konnten.
So kam es auch. Ich begann meine nächtliche Wanderung durch die halbdunklen und menschenleeren Straßen von Florenz. Es gelang mir nicht, ein Auto oder eine Droschke aufzutreiben. Ich wollte auch zu der Zusammenkunft gehen, falls es mir gelang, den Polizisten abzuschütteln. Eine Streife hielt mich an und verlangte meine Papiere. (Diese Streifen bestanden aus Soldaten und Carabinieri. Sie suchten nach den Deserteuren, die es zu Zehntausenden in ganz Italien gab.) Mein Polizist trat auf uns zu und sprach ein paar Worte zu dem Führer der Streife. Man ließ mich gehen. Offenbar wollte der Polizist feststellen, wohin ich ging. Endlich fand ich ein Auto und stieg ein. Der Polizist war enttäuscht. Mit lauter Stimme gab ich die Adresse meines Hotels an. Der Polizist notierte sich die Nummer des Wagens. Wir fuhren ab. Dann nannte ich eine andere Adresse, in der Nähe des Versammlungsortes. Wenige Minuten später war ich bei den anderen.
Die Versammlung war kurz. Es wurde ein Antrag angenommen, und jeder von uns erhielt ein Exemplar zur Vervielfältigung und Verteilung in den Ortsgruppen.
Wir kehrten ins Hotel zurück. Am nächsten Tage — ein Schnellzug ging erst am Abend — besichtigten wir unter dem
„Ehrengeleit" der beiden Polizisten die „Blumenstadt". Der Präfekt glaubte, dass wir noch eine Versammlung abhalten wollten.
Auch auf den Hauptstrecken verkehrten nur wenige Züge, in der Mehrzahl Militärzüge. Wir fuhren ab. Ich befand mich mit Gramsci in einem leeren Abteil. Gramsci knüpfte an die kurze Diskussion in Florenz an und sprach ausführlich über die große Arbeit, die wir zu leisten hatten. Er sprach über den „Avanti", der später die Turiner Ausgabe des Parteiorgans werden sollte. Begeistert erzählte er mir von einer Zeitung für Arbeiterbildung. Diese Zeitung, „La cittÄfutura", erschien dann nur ein einziges Mal, und Gramsci legte darin seine Ansichten dar.
Seine klaren Vorstellungen über unsere zukünftige Arbeit waren für mich eine Offenbarung. Während der Zug durch die Felder Toscanas rollte, sprach Gramsci ausführlich über die Betriebsräte. Die Betriebsräte bildeten seiner Ansicht nach die Kader des Arbeiterstaates und in den Zeiten heftiger Kämpfe die Kader der revolutionären Armee. Ich spürte, dass Gramsci mich von abstrakten Theorien auf das Gebiet der konkreten Arbeit führte.
„Die Arbeiter", erklärte er, während er sich die soundsovielte Zigarette ansteckte und sich mit der für ihn charakteristischen Geste die Nase rieb, „müssen es lernen, die Betriebe zu leiten. Die Rechte und Pflichten des Produzenten sind nichts Abstraktes. Das Problem der Leitung der Produktion ist das Problem der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse."
Einen großen Teil der Nacht verbrachte ich damit, ihm zuzuhören.
„Die Sozialistische Partei in ihrem jetzigen Zustand wird in den nahenden Kämpfen niemals eine Rolle spielen. Die Ereignisse in Russland weisen uns den Weg. Auch wenn der ,Avanti' die Revolution preist, ist diese Revolution etwas ganz anderes als das, was unsere Führer sich darunter vorstellen ..."
Die Carabinieri erschienen und verlangten unsere Papiere. Wir waren beide ausgemustert.
„Was hältst du von einer Zeitschrift, die die Frage der Betriebsräte behandeln würde?" fragte er mich.
„Das halte ich für eine großartige Idee", antwortete ich.
Auf einem Bahnhof stiegen wir aus, um uns die Beine zu vertreten und etwas Warmes zu trinken. In den Zügen war es bitterkalt. Der Bahnhofsausschank war mit Fahnen geschmückt, aber der Kaffee war sehr teuer und eine dünne Brühe.
Wir tranken unseren Kaffee im Stehen. Als wir wieder gehen wollten, wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Ein Soldat schwang sein Gewehr wie eine Keule, brüllte wie ein Besessener und zerschlug wütend die Fensterscheiben, die Spiegel und die Marmortische. Tassen, Gläser, Flaschen und Teller gingen in Trümmer. Der Wirt verschanzte sich hinter dem Ladentisch und brüllte. Der Soldat schlug weiter um sich. Niemand wagte es, sich dem Rasenden zu nähern. Erst zwei Carabinieri und drei oder vier Eisenbahnern gelang es, ihn zu entwaffnen und unschädlich zu machen.
„Er ist wahnsinnig", sagte ein Carabinieri, „wir müssen gleich im Krankenhaus anrufen."
Der Soldat wurde mit einem Strick gefesselt. Er schien ganz ruhig. Er sah die Leute an und lachte.
„Ihr glaubt, ich bin verrückt. Nein, ich bin nicht verrückt. Ich will nicht in den Krieg. Schickt den da in den Krieg!" Er wies auf den Wirt. „Geh du in den Krieg, statt hier die Leute zu vergiften und dadurch Geld zu machen. Ein paar Kunden wie ich, und dir vergeht die Lust, hier Fahnen auszuhängen!"
Er wurde abgeführt. Man hielt ihn allgemein für verrückt. Mir aber schien er wie ein Gesunder argumentiert zu haben. Wir stiegen wieder ein. In Genua trennten wir uns. Es wäre unvorsichtig gewesen, zusammen auszusteigen.
Waffen, Munition, Verwundete, Musik. Während ich auf den Zug nach Piemont wartete, sah ich mir Genua an. Ich gehörte zu den 39 Millionen oder drei Vierteln der Italiener, die Italien nicht kennen ... Ich schlenderte umher und geriet in die Straße des 20. Septembers, als gerade ein schottisches Regiment mit einer Musikkapelle an der Spitze vorüberzog. Es gab einen großen Auflauf. Kriegsbegeisterte Studenten zogen singend nebenher und blieben zuweilen stehen, um die Schließung der Geschäfte zu verlangen. Der Inhaber eines Geschäfts für Koffer, Schirme und ähnliche Artikel räumte eilig seine Ware ein. Die Geschäftsleute wussten aus Erfahrung, dass diese eigenartigen Patrioten die Sachen einfach zu stehlen pflegten. Trotz der Schnelligkeit, mit der der Schirmhändler seinen Laden zu schließen suchte, hatten die Studenten den Eindruck, dass der Unglückliche nicht genügend Begeisterung bekundete für die Befreiung von Trient und Triest und für den Sieg der Entente. Der gröhlende Haufen blieb stehen. Plötzlich brüllte ein Student: „Er ist ein Defätist!" Nach wenigen Minuten war von den Waren des Unglücklichen einschließlich des Schaufensters nur noch ein Trümmerhäufen übrig. Zu seinem Glück konnte der Schirmhändler eine Apotheke aufsuchen!
Die Begeisterung hatte sich kaum gelegt, als die Polizei an dem Ort erschien, wo das italienische Nationalbewusstsein sich Luft gemacht hatte. Man trat mir auf die Füße, ich wurde wie ein Halm in einem Sturzbach hin und her gerissen, und es gelang mir nicht, mich davonzumachen. Ich zappelte in dem Netz, das die Polizisten um den tobenden Haufen gespannt hatten, und wurde gegen meinen Willen zum Polizeikommissariat getrieben. Wir waren etwa fünfzig Personen, alles ganz junge Studenten. Außer mir war nur ein älterer Mann darunter.
Die Studenten sangen:

„Triest muss unser sein,
Italiens Fahnen müssen dort wehen!"

Ich bedachte meine sonderbare Lage.
Als der Kommissar erschien, wurde er mit dem Ruf: „Es lebe der Kommissar!" begrüßt.
„Ich verstehe Ihre Begeisterung ..." begann der Kommissar.
„Es lebe der Kommissar!"
„... aber Sie sind die Hoffnung Italiens und dürfen sich nicht auf Kundgebungen beschränken. Sie haben andere Pflichten. Die giolittianischen und sozialistischen Defätisten arbeiten im Dunklen. Sie müssen wachsam sein, müssen sie ans Licht zerren, wenn Sie wollen, dass Italien siegt..."
„Es lebe Italien! Nieder mit den Sozialisten! Schlagt sie tot!"
Meine Lage war recht unangenehm. Ich gab keinen Laut
von mir.
Bestimmt hatte der Kommissar noch nie so viel Beifall erhalten wie an diesem Tage. Das nahm kein Ende. Vielleicht kam ich aus diesem Grunde davon. Noch einmal gab es brausenden Beifall, und dann wurden wir entlassen ...
Ich ging noch einmal zu dem Laden des Schirmhändlers. Mit verbundenem Kopf betrachtete der arme Kerl melancholisch die Reste seines Ladens und seiner Waren. Er wagte nicht einmal zu schimpfen.
„Machen Sie es wie ich", sagte jemand zu ihm. „Ich stelle meine Waren nicht mehr auf die Straße. Beim ersten Anzeichen einer Demonstration lasse ich das Gitter herunter, stecke die Fahne heraus, die ich immer zur Hand habe, und gehe nach Hause, um ein Glas guten Weins zu trinken."
Ich fuhr weiter nach Turin. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof traten zwei Herren auf mich zu.
„Wollen Sie bitte mitkommen!"
„Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?"
Sie zeigten mir einen Ausweis.
Das Polizeipräsidium von Turin liegt nicht weit entfernt vom Bahnhof Porta Nuova. Ich wurde dem Vizepräsidenten vorgeführt, einem gewissen Donvito. Er durchsuchte mich persönlich, fand aber unsere Resolution nicht.
„Geben Sie das Ding schon her, Gramsci hat es gleich abgeliefert, also machen Sie es ebenso, wenn Sie nicht ins Zuchthaus wollen", fuhr er mich an.
„Welche Resolution?"
„Ja, ja, wir wissen alles. Wir wissen, dass Sie trotz des Verbots die Versammlung abgehalten und über eine Resolution abgestimmt haben ..."
In Wirklichkeit war es ihnen trotz der angeblich zuverlässigen Informationen nicht gelungen, in den Besitz der Resolution zu gelangen. Diese wurde erst erheblich später bei der Genossin Maierotti in Bari beschlagnahmt. Daraufhin wurde Lazzari, der Sekretär der Partei, verhaftet.
Ich wurde entlassen und suchte Gramsci auf. Ihm hatte man auch gesagt, ich hätte die Resolution ausgeliefert.
Ich traf wieder in Fossano ein. Nach einigen Stunden holten die Carabinieri mich ab. Sie brachten mich in die Kaserne zu dem Maresciallo,der auf meine Abmeldung gewartet hatte. Er schäumte vor Wut.
„Wo sind Sie gewesen? Sie wissen doch, dass Sie ohne meine Genehmigung den Ort nicht verlassen dürfen! Sie werden es noch dahin bringen, dass ich versetzt werde, und mir meine Laufbahn verderben. Ich Dummkopf habe an Ihr Wort geglaubt, und Sie sind einfach abgefahren, ohne mich zu benachrichtigen!"
„Es war zu spät, als ich erfuhr, dass ich abfahren musste, und ich wollte Sie nicht stören, Signor Maresciallo."
Er wurde noch wütender.
Ich fuhr fort:
„Glauben Sie denn, Signor Maresciallo, dass ich so dumm bin, hierher zu kommen und Ihnen zu sagen, dass ich zum Parteitag fahre, damit Sie mich einsperren lassen?"
„Gut, ich sperre Sie jetzt ein, weil Sie ohne Erlaubnis abgereist sind. Außerdem wissen wir, dass Sie mit den österreichischen Gefangenen und auch mit dem Defätisten Gramsci in Verbindung stehen, der für den ,Avanti' schreibt. Sie sind auch mit den Gefangenen gesehen worden, und man hat mir berichtet, dass Sie österreichisch sprechen ..."
Nervös ging er auf und ab.
Die „österreichische" Sprache wurde mir an diesem Tage zum Verhängnis. Ich lachte laut auf.
„Durchsuchen!" brüllte der Maresciallo. „Genau durchsuchen und einsperren! Er wird es schon noch lernen."
Wenige Minuten später saß ich in der Zelle. Dort fand ich mehrere Soldaten, die an die Front abgehen sollten, und einen Betrunkenen. Dieser sang:

„Der General Cadorna hat sich was geleistet.
Ins Rote Kreuz hat lauter Huren er geschleust.
Bum, bum, bum —
So geht es ringsherum ..."

Ich war in guter Gesellschaft...

Die Resolution von Florenz, die der Vizepräsident Donvito bei mir nicht gefunden hatte, wurde in der üblichen Weise vervielfältigt und gelangte ordnungsgemäß zu den Ortsgruppen, zu den Genossen und auch — nach der Meinung des Maresciallo ins Österreichische übersetzt — zu den Kriegsgefangenen in meinem Wohnort.
Die Lawine von Caporetto kam zum Stillstand. Der Minister Boselli — der alte Trottel, der Orlando abgelöst hatte — ließ noch einmal Knaben und Greise einziehen.
Bald nach meiner Rückkehr aus Florenz musste ich nochmals zur Untersuchung, diesmal beim Armeekorps. Hier waren die Ärzte alle Generale mit den üblichen Streifen an der Mütze. Natürlich waren auch ausländische Ärzte dabei. Es war die übliche internationale Kommission.
Diesmal glaubte ich für tauglich erklärt zu werden.
Niemand in Italien wollte an Caporetto schuld sein. Man wies auf den Mann von Dronero (Anm.: Geburtsort Giolittis, so wurde Giolitti genannt) und auf Treves' Bemerkung: „Diesen Winter nicht mehr im Graben." Ich glaube aber, dass Treves selber über seine Bemerkung erschrocken gewesen ist. Sein falscher Zungenschlag wurde durch Turatis „Das Vaterland ist am Grappa!" aufgewogen.
Selbst der Papst wurde wegen seiner Bemerkung vom „sinnlosen Gemetzel" — obwohl er doch zahllose Kapläne zu Propagandazwecken unter dem Kommando eines Bischofs, der Cadorna nicht von der Seite wich, an die Front geschickt hatte — als Defätist verdächtigt.
„Es muss Schluss gemacht werden", flüsterte man überall.
Im Laden, wenn niemand es hören konnte, sagten die Soldaten zu mir: „Wir müssen es machen wie die Russen!"
Ich konnte fast nichts mehr unternehmen, auch nicht in der Stadt. Ich hatte das Gefühl, in einem Netz zu sitzen. Meine Korrespondenz wurde sämtlich geöffnet. Wegen eines nicht verstandenen Satzes wurde ich langen Verhören unterzogen. Mein Abstecher nach Florenz hatte die Polizei im Ort in wilde Wut versetzt. Der Maresciallo und der Kommissar mussten einen mächtigen Rüffel bekommen haben.
Der Winter wurde furchtbar. Das „spanische" Fieber raffte zahllose Opfer dahin. Die durchschnittliche Sterblichkeit stieg in Turin, wo sie sonst etwa fünfundzwanzig betrug, auf mehr als hundertzwanzig am Tage.
Die Frauen, die in langen Reihen vor den Geschäften standen, schimpften laut auf den Krieg. In den Läden riefen sie laut: „Die Damen sind beim Anstehen nicht zu sehen!"
„Ja, es gibt ja auch Leute, die ihnen die Hühner und das weiße Mehl ins Haus bringen ... Verfluchter Krieg!"
„Wir müssen es machen wie in Russland!"
„Eine Revolution brauchen wir!"
„Auch hierher wird Lenin kommen!"
Lenin! Lenin! Dieser Name wurde immer wieder genannt wie eine Hoffnung, er klang wie eine Drohung.
Eines Abends, als ich aus dem Turiner „Avanti" kam, wurde ich von einer Streife angehalten.
„Ihre Papiere!" sagte der Führer der Streife.
Ich gab ihm meine Untauglichkeitsbescheinigung.
„Wo wohnen Sie? Ihre genaue Adresse?"
„Ich wohne in Fossano, Cavour-Platz 11."
„Was tun Sie hier? Sie sind ein Umstürzler. Sie kommen aus dem ,Avanti'. Kommen Sie mit!"
Sie stießen mich vorwärts und brachten mich zum Polizeipräsidium. Der Kommissar vom Dienst war beschäftigt. Ich wurde auf der Wache eingesperrt.
Trotz aller Gewöhnung fühlt man sich beim Betreten eines Wachtlokals immer angewidert. Es herrschte ein entsetzlicher Gestank, der dreckige Raum war halbdunkel und mit Menschen voll gestopft. Es waren Betrunkene, Rauschgiftsüchtige, Diebe und Raufbolde. Auch Soldaten waren dabei.
Man konnte kaum atmen. Auf der Pritsche stand ein Halbbetrunkener und redete. Bei meinem Eintritt wandten die Häftlinge sich um. Kaum war die Tür wieder geschlossen, als der Redner fortfuhr:
„Ich habe also gesagt, meine Herren, es gibt keine Gerechtigkeit! Ich werde das beweisen ..."
„Leg dich schlafen, du Affe ..."
„Hör auf, Idiot ..."
Die andern amüsierten sich königlich.
„Ich bin in Amerika gewesen. Als ich gehört hatte, dass Krieg gegen die Deutschen war, bin ich gleich abgefahren. In Genua haben sie mich sofort angeworben. Nach einem Monat war ich schon an der Front. Gut zwei Wochen bin ich da geblieben! Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und habe gebeten, mich zurückzuschicken. Es war ein Hundeleben! Da kann man doch nicht bleiben. Sie wollten mich aber nicht zurückschicken."
„Was du dir einbildest!" sagte einer von den Zuhörern. „Du hast dich freiwillig gemeldet und solltest dich schämen, so zu reden."
„Da bin ich ausgerückt. Seit längerer Zeit arbeite ich in einer Fabrik unter falschem Namen. Heute abend war ich ein bisschen angetrunken, und da haben sie mich erwischt... Es gibt keine Gerechtigkeit! Ich kann es eben an der Front nicht aushalten und habe in der Fabrik geschafft. Damit habe ich dem Vaterland auch gedient!"
„Du feiger Hund!" brüllte einer von den Soldaten. „Du Feigling hast in den Krieg gewollt und willst die andern in den Krieg schicken ... Halt dein Maul oder ich hol dich runter. Hör auf oder ich zerschlage dir die Schnauze!"
Der Redner stand schon unten.
„Ich", fuhr der Soldat fort, „ich habe den Krieg niemals gewollt, ich habe sogar gekämpft, um ihn zu verhindern, und ich bin zwanzig Monate an der Front gewesen. Obwohl meine Vorgesetzten sich die größte Mühe gegeben haben, bin ich nicht tot, noch nicht einmal verwundet. Was für ein Hundeleben! Immer nur der Schützengraben und der Unterstand.
Immer nur Tote, Dreck, Erschießungen, Hunger, Kälte. Wie viele Kameraden habe ich neben mir fallen sehen! Wie oft habe ich mir einen Kopfschuss gewünscht, um dieser Hölle zu entrinnen! Endlich habe ich Urlaub bekommen, zwanzig Tage. Ich bin in die Heimat gefahren. Während unsereiner ein Hundeleben führt, wird in der Heimat spekuliert. Ich habe laut gesagt, was ich dachte. Am zweiten Urlaubstag haben sie mich verhaftet. Und nun muss ich zurück in die Hölle! Und der Affe da ist aus Amerika gekommen!"
Eine Weile herrschte Schweigen. Ich sah den Soldaten an.
„Warum bist du denn hier?" fragte er mich.
„Ich bin untauglich, ich bin Sozialist ..."
„Sieh mal!" sagte er und wies auf die Wand.
Ich sah hin. Undeutlich las man dort, wegen der Dunkelheit in dem Raum, in etwa dreißig Zentimeter großen Buchstaben: „Es lebe Lenin!"
„Wer hat das geschrieben?" fragte ich.
„Ich", antwortete der Soldat.
„Wie hast du das gemacht?"
„Ganz einfach, mit Kopierstift und Wasser."
„Bist du Sozialist?" fragte ein gutgekleideter Mann, der sich abseits hielt.
„Ja, ich bin Sozialist", erwiderte der Soldat. „Und was bist du? Du siehst aus wie ein Polizeispitzel."
„Ü berlege dir, was du sprichst ... Ich bin ein anständiger Mensch!"
„Und dann bist du hier?" fiel der Soldat ihm spöttisch ins Wort.
„Euer Sozialismus ist nicht zu verwirklichen", entgegnete der andere, ohne auf die Ironie einzugehen.
„Warum?" fragte der Soldat.
„Es können nicht alle Menschen gleich sein."
„Sehr richtig, es gibt intelligente Menschen und Esel, wie du einer bist", ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund,
„Wer beleidigt hier die Leute und versteckt sich? Komm hervor, wenn du Mut hast!" sagte der gutgekleidete Mann.
Plötzlich stand der Sprecher vor ihm. Es war auch ein Soldat, ein Gebirgsjäger, mindestens 1,80 Meter groß ... Der Mann, der ihn herausgefordert hatte, war fassungslos.
„Also, hier bin ich ... Du hast wohl den Faden verloren?" fragte der Soldat spöttisch.
„Nicht doch, es ist besser, wenn man sich beim Diskutieren ins Gesicht sieht ..."
„Schon gut, ich verstehe ... Du willst zum Rückzug blasen ... Übrigens, wenn wir uns ins Gesicht sehen wollen, wer bist du eigentlich? Ich bin ein Deserteur. Ich gehöre zu denen, die die Front und ihr Regiment im Stich gelassen haben ... Und du?"
Der andere schwieg.
„Raus mit der Sprache!" drängte der Soldat.
„Ich...ich bin das Opfer eines Polizeiirrtums", stammelte er.
Das brausende Gelächter wurde von dem vertrauten Klirren der Riegel unterbrochen. Die Tür öffnete sich, und noch ein „Mieter" wurde hineingestoßen. Auch er war gut gekleidet. Er sah sich um, stürzte sich wortlos auf das Opfer des Polizeiirrtums, packte den Kerl am Kragen und schrie: „Du Aas! Du Spion!" Dann schlug er blindlings auf ihn ein. Der andere wehrte sich. Sie stürzten zusammen zu Boden. Niemand griff ein.
Nach einer Weile warf der Gebirgsjäger sich dazwischen und trennte sie mit ein paar Ohrfeigen. Die beiden musterten sich grimmig, mit zerrissenen Kleidern, geröteten Gesichtern und keuchendem Atem.
Der Neue sagte:
„Dieser Herr ist ein Polizeispitzel! Seid vorsichtig ... Er sitzt hier, um sein Gewerbe auszuüben. Er hat sich in unsern Verein eingeschlichen. Lauter junge Leute aus guter Familie. Herrliche Abende haben wir verbracht. Ein verschwiegenes Lokal, schöne Frauen, Champagner, ein Spielchen, gutes Essen und wohl auch eine Prise Kokain. Heute abend ist die Polizei bei uns eingedrungen und hat uns alle verhaftet. Die andern sitzen in den anderen Wachtlokalen, manche sind noch beim Kommissar. Bei mir haben sie achttausend Lire beschlagnahmt... Und alles durch diesen Lumpen da, durch dieses Aas ..."
Er ging wieder auf ihn los, wurde aber zurückgehalten.
Das Opfer des Polizeiterrors zeterte:
„Du bist ein Aas! Söhne aus guter Familie! Alles Drückeberger! Ich bin durch Zufall dahin geraten. Bordellbesitzer ist er, dieser Sohn aus guter Familie, und freigestellt ist er ... und unabkömmlich, damit er die Unglücklichen ausbeuten kann, die sich verkaufen!"
„Du Feigling, du schickst deine Frau auf die Straße und machst den Spitzel. Berto hat dich gestern an der Porta Palazzo mit einem bekannten Polizeispitzel gesehen und hat keine Zeit gehabt, uns zu warnen. Aber wir sehen uns wieder ..."
„Für dieses Lumpenpack schlagen wir uns", bemerkte der Gebirgsjäger. „Ihr seid einander würdig!" Er schlug sie zusammen wie zwei Puppen.
„Und jetzt in die Klappe, sonst schlage ich euch den Wanst ein!"
Er zeigte ihnen seine Fäuste.
Einer der beiden brummte etwas vor sich hin und bezog einen Fausthieb, der ihn kopfüber auf die Pritsche warf. Er schrie wie ein Besessener. Die Tür ging auf, und drei neue „Mieter" traten ein.
„Guten Abend die Gesellschaft!" rief einer von ihnen. „Darf ich vorstellen? Dies ist Tonio, genannt der Riesenaffe, der da ist Mario, genannt der Schöne, und ich bin Bastiano, genannt der Lange. Wir sind alle vom Balun" — ein Vorort von Turin. „Sie haben uns alle gegriffen und wollen uns an die Front schicken. Aber morgen, wenn sie in den Akten stöbern, entdecken sie bestimmt, dass wir noch etwas mit den Gerichten abzumachen haben, und dann ist unsere Haut gerettet. Das ist die Hauptsache. Wir sind feine Kerle und ziehen nicht in den Krieg!"
Die ganze Nacht hindurch kamen immer neue Häftlinge an. Die Luft wurde immer dicker. Ich hatte entsetzliche Kopfschmerzen. Im Morgengrauen schlief ich erschöpft auf dem Fußboden ein.
Bei Tageslicht konnte ich die ganze Gesellschaft besser erkennen. Die moralisch Einwandfreien, wie etwa die wenigen Soldaten, konnte man an den Fingern herzählen.
Die Tür wurde geöffnet, und mehrere wurden aufgerufen. Manche wurden eingesperrt, manche an die Front geschickt, manche entlassen und manche unter Bedeckung abtransportiert.
Meinen Namen hörte ich nicht. Plötzlich entdeckte der Oberaufseher die Inschrift „Es lebe Lenin!"
„Wer hat das geschrieben?"
Keine Antwort.
„Es ist zwecklos, ihr sagt es ja doch nicht. Ihr seid alle Schweine. Der Anstreicher soll kommen!"
Der Anstreicher erschien und übermalte die Inschrift. Es waren noch andere da, meistens Schweinereien oder allerhand Mitteilungen, wie etwa: „Beppe lässt Nando grüßen. Lebe wohl, ich gehe nach Pallanza ... Beppe weiß, dass Nando hier vorbeikommt ... Giacomo hat vier Monate bekommen ... Martino teilt Carlo mit, dass er fünfzehn Monate bekommen hat." Und so weiter. Diese Inschriften blieben. „Es lebe Lenin!" aber war wieder zu lesen, als die Farbe trocknete. Der Maurer musste kommen. Unter seinem Meißel verschwand die Farbe, aber „Es lebe Lenin!" war trotzdem zu lesen, diesmal eingemeißelt. Die ausgemeißelten Stellen mussten mit frischem Kalk zugedeckt werden, aber die Schrift war noch immer zu lesen.
Als ich nach vier Tagen ohne jegliches Verhör mit dem obligatorischen Reisepass entlassen wurde, war es noch immer nicht gelungen, „Es lebe Lenin!" auszulöschen.
„So leicht ist Lenin nicht aus der Welt zu schaffen", meinte der Gebirgsjäger, der noch immer auf seinen Transport wartete.

Ich fuhr nach Fossano und war auf die übliche Predigt gefasst. Im Zuge traf ich einen alten Bauern, einen entfernten Verwandten meines Vaters.
„Guten Tag, guten Tag!" rief er.
„Wir haben uns lange nicht gesehen", begrüßte ich ihn. „Was ist denn passiert?"
„Es ist nicht meine Schuld, wenn ich nicht mehr in den Laden komme. Weißt du, der neue Pfarrer, ein feiner Mann, der hat mir gesagt, ich soll nicht mehr zu dir gehen. Weil du ... ich habe das Wort vergessen ... weil du zu denen gehörst, die alles teilen wollen. Ich glaube ja nicht daran, aber um keinen Ärger zu haben, komme ich nicht mehr so oft."
„Schöne Geschichten erzählen euch eure Pfarrer, was, Onkel? Teilen wollen wir schon etwas, das stimmt, zum Beispiel das große Gut bei euch, damit alle Bauern etwas bekommen, die das ganze Jahr über wie Lasttiere arbeiten und dann noch Schulden zu bezahlen haben."
„Das wäre richtig! Der Pfarrer hat mir aber gesagt, dass ihr denen, die zwei Mutterschweine haben, eines wegnehmt und die Hälfte von den Hühnern und Kaninchen und so weiter."
„Wie viele Hühner und wie viele Würste kostet euch der Priester im Jahr?" fragte ich.
„Aber du weißt doch, die Kirche ist so arm ... Man muss sich das Paradies verdienen."
„Indem man den Pfarrer mästet."
„Hör mal, lassen wir das. Man hat mir gesagt, du schreibst für die Zeitungen und kannst reden wir der Pfarrer. Du könntest mir einen Gefallen tun oder vielmehr zwei ..."
„Wenn es möglich ist, sehr gern."
„Also erstens mal. Ich habe vom Kommando einen Brief bekommen, in dem sie mir mitteilen, dass mein Sohn Luigi mit Gottes Hilfe in Gefangenschaft geraten ist bei den ..."
Mein Onkel kratzte sich den Kopf ...
„Bei den Österreichern."
„Richtig, ich möchte ihm schreiben oder eigentlich nicht ich, denn die Kuh hat mir das Papier aufgefressen, und so wird Marietta schreiben. Bloß die Adresse ist sehr schwer. Du schreibst sie mir auf, nicht wahr?"
Ich versprach es ihm.
„Zweitens bitte ich dich um einen Rat. Unsere Kirche muss ausgebessert werden, und dazu brauchen wir Geld. Der Pfarrer hat eine Bank gefunden, die ein Darlehen gewähren will, aber dazu sind zwei Unterschriften notwendig. Der Pfarrer, der viel von mir hält, hat an mich und an meinen Nachbarn Matteo gedacht. Die Unterschrift kann ich schon geben, das kann ich ruhig sagen, aber ich verstehe die Geschichte mit den Wechseln nicht richtig. Wie ist das?"
„Wer die Wechsel unterschreibt", antwortete ich, „muss dafür geradestehen, und falls der Pfarrer nicht zahlt, müssen die Unterzeichner zahlen."
Mein Onkel dachte nach.
„Ich verstehe, aber sprich mit niemand darüber. Ich möchte nicht, dass der Pfarrer davon hört, sonst sieht es so aus, als ob ich so einem heiligen Mann nicht traue. Was würdest du mir raten?"

„Ich rate Euch, die Wechsel nicht zu unterschreiben. Jetzt verstehe ich, warum der Pfarrer nicht will, dass Ihr in meinen Laden kommt! Euer Pfarrer hat nicht davor Angst, dass ich Euch die Kuh wegnehme. Er hat Angst, dass ich Euch die Augen öffne."
Mein Onkel machte sich wirklich Sorgen.
„Es wird noch so kommen, dass Ihr unterschreibt und dann ... zahlt. Das weiß ich schon, und dann kommt Ihr zu mir und sagt: ,Ach, wenn ich doch auf dich gehört hätte!' Bringt mir die Adresse von Luigi, ich schreibe dann fünf oder sechs Kuverts, und Ihr reicht eine Weile damit aus."
Wir verabschiedeten uns.
Als der Polizeikommissar mir den Zwangspaß abnahm, erklärte er: „Wenn Sie noch einmal ohne meine Erlaubnis fahren, lasse ich Sie drei Monate einsperren. Das muss aufhören mit Ihnen. Was haben Sie in Turin zu suchen?"
„Ich kaufe Seife und andere Artikel für meinen Laden."
„Wir wissen aber, dass Sie mit den schlimmsten Feinden Italiens verkehren, mit Leuten, die gegen den Krieg sind. Wo sind Sie in diesen fünf Tagen gewesen?"
„Sie haben recht, ich bin mit den schlimmsten Halunken zusammen gewesen. Vier Tage und vier Nächte habe ich auf dem Präsidium im Wachtlokal gesessen mit reklamierten Bordellbesitzern und Dieben, mit Kokainhändlern und Leuten, die falsches Geld verbreiten, mit allerhand Gesindel, das nie an der Front gewesen ist ..."
Er schickte mich nach Hause.

Die Nachrichten aus Russland wurden jeden Tag klarer. Die russischen Arbeiter und Bauern kämpften nur noch gegen die Bourgeoisie ihres Landes und gegen die Reaktion. Der russische Koloss, auf den man so große Hoffnungen gesetzt hatte, war zusammengebrochen. Die russischen Arbeiter und Bauern hatten sich mit den Soldaten verbrüdert. Die Bankiers waren in Panikstimmung. Die unwahrscheinlichsten Gerüchte liefen um.
„Die Bolschewisten stehen im Solde der Mittelmächte!" „Die Bolschewisten sind Räuber und Banditen! Sie wollen keinen Krieg mehr!"
Ja, eben den Frieden wollten die Arbeiter, gerade das, was die ganze Bande der Lieferanten und der hohen Offiziere nicht wollte.
Die internationale Bourgeoisie, die sich so viel von dem „gesunden Verstand" der russischen Arbeiter versprochen und so bemüht hatte, denen zu helfen, die den Krieg bis zum Endsieg fortsetzen wollten, damit Russland seinen Verpflichtungen treu bleibe, musste, nachdem ihre Zeitungen von der Begeisterung der russischen Arbeiter zuerst für den Zaren und dann für die provisorische Regierung berichtet hatten, ihren Irrtum einsehen. Sie änderte ihre Taktik, und es kam die Intervention gegen das Russland der Arbeiter und Bauern.
Doch die russische Revolution hatte die Sympathie der Massen.
In den riesengroßen Fabriken von Turin mit ihren Arbeitermassen griff die Unzufriedenheit immer mehr um sich. Trotz der eisernen Gesetze des Krieges verliehen die modernen Sklaven ihrer Unzufriedenheit Ausdruck. In Turin, wo der Kapitalismus unerschütterlicher schien als anderswo, wo die beste Anwendung des Gesetzes vom geringsten Aufwand und vom größten Profit durch eine vorzügliche Organisation und durch die Kriegsverhältnisse ermöglicht wurde, traten die Arbeitermassen natürlich besonders geschlossen und kämpferisch auf. Gerade die Fließarbeit veranlasste die Arbeiter, einig und solidarisch aufzutreten. Hier handelte es sich nicht mehr um verhältnismäßig selbständige Arbeit, sondern um Kollektivarbeit, bei der die Maschine durch die Anwendung eines stillschweigenden, aber sehr realen Taylorismus ganze Reihen von Menschen an sich fesselte. Eine stillstehende Maschine bedeutete, dass ein ganzes System von Maschinen zum Stillstand kam, die von der ersten das Metall, das Teilstück, das Schmiedestück erhielten oder es an sie weitergaben. Das bedeutete den Ausfall des trotz der gewaltigen Produktion ohnehin unzulänglichen Verdienstes.
Die aus Russland eintreffenden Nachrichten, die Informationen über die neuen Einrichtungen und der Beginn der Diskussion über die Betriebsräte interessierten die Arbeitermassen brennend. Die Arbeiter spürten, dass dem traditionellen Sozialismus etwas fehlte. Die Betriebsrätebewegung reifte heran. Die Reformisten wandten sich natürlich gegen die neue Strömung. Sie — ich meine die reformistischen Funktionäre — ahnten, dass sie dann die Arbeiter in der Fabrik nicht mehr in der Hand behalten könnten.
Der angebliche Verrat der Bolschewisten in Brest-Litowsk wurde von der Presse als ein Verbrechen dargestellt. Aber die Arbeiter verstanden ihn als einen entscheidenden Schritt zum Frieden.
Ü berall las man die Parole: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!"
Die russische Revolution war, wie überhaupt alles, was von den Bolschewisten kam, in Italien außerordentlich populär. Besonders populär war Lenin. Wilson, nach dem so viele Plätze und Straßen benannt worden waren, hatte mit seinen 14 Punkten zwar einen Augenblick auch auf den „Avanti" Eindruck machen können, aber die Arbeitermassen überzeugte er nicht.
Auf dem Parteitag der PSI im September 1918 fanden diese gärenden neuen Ideen jedoch keinen Widerhall. Es war ein armseliger Parteitag, ohne Ideen und ohne kämpferische Auseinandersetzungen. Er bewegte sich zwischen der Selbstverteidigung Turatis und der Demagogie Bombaccis, der nach jeder Rede in Ohnmacht zu fallen schien, während Laz-zari, Vella und Serrati —der Sekretär und der stellvertretende Sekretär der Partei und der Chefredakteur des „Avanti" — im Gefängnis saßen, der eine in Rom, der andere in Sizilien und Serrati in Turin.
Um zum Parteitag zu fahren, musste ich wieder einmal mit der Polizei meines Wohnortes anbinden.
„Diesmal", erklärten mir der Kommissar und der Postenkommandant, „entwischen Sie uns nicht."
„Aber ich fahre ja gar nicht, auch wenn Sie mir kein Hindernis in den Weg legen", sagte ich.
„Wieso?"
„Weil ich nicht unbedingt zu jedem Parteitag delegiert werden muss."
Ich hatte den Delegiertenausweis schon in der Tasche.
„Das kennen wir. Übrigens können Sie ja die Genehmigung beantragen."
Das Ministerium hatte der Partei die Genehmigung erteilt, bemühte sich aber im geheimen unter allen möglichen Vorwänden, dem Parteitag jegliche Bedeutung zu nehmen und die Zahl der Delegierten zu beschränken. Ich war mir völlig darüber klar, dass ich zu denen gehörte, die nicht fahren sollten. Daher war ich sehr vorsichtig in diesen Tagen.
Der Plan war klar. Drei oder vier Tage vor dem Parteitag wollte man mich unter einem Vorwand, vielleicht durch eine Anklage wegen Defätismus, außer Gefecht setzen.
Es war noch eine Woche bis zum Parteitag. Was konnte ich tun? Ständig war mir ein Polizist auf den Fersen. Ich fand ihn morgens an der Haustür, und den ganzen Tag ließ er mich nicht aus den Augen. Eines Morgens, nachdem ich alles geregelt hatte, verließ ich meinen Laden mit dem Fahrrad, in weißer Jacke (der Arbeitskleidung des Friseurs) und ohne Hut. Solche Fahrten rund um den Exerzierplatz hatte ich Öfter gemacht und war dann nach einer kleinen halben Stunde in den Laden zurückgekehrt. Mein „Schutzengel" stand an der Ecke. Er sah mich, doch fiel ihm nichts auf. Nach zwanzig Minuten kam ich langsam zurück, wie jemand, der die warme Herbstsonne genießen will, und fuhr in der Nähe des Ladens umher. Es war ein Werktag, und wir hatten wenig zu tun.
Dann entfernte ich mich vorsichtig ... Nach dreiviertelstündiger Fahrt über Landwege war ich in einem Dorfe jenseits des Flusses bei einem Freund. Dort hatte ich meinen Rock, meinen Hut und alles übrige. Auf einem kleinen Wagen fuhr er mich zum Bahnhof an einer Nebenstrecke. Ich fuhr nicht über Turin und auch nicht über die tyrrhenische Strecke. Ich nahm die Adriastrecke bis Castellammare.
Unterwegs wimmelte es von Soldaten, und man schimpfte schon ganz unbedenklich über den Krieg. Das Hauptgesprächsthema war der Frieden.
Ein Soldat schilderte einigen Mitreisenden seine Erlebnisse. Er schimpfte mit lauter Stimme: „Ich gehe nicht mehr, auch nicht, wenn sie mich hinschleppen. Sollen doch die gehen, die den Krieg wollen!" Er war abgezehrt, schlecht gekleidet und verschmutzt. Niemand wagte ihm zu widersprechen.
Auf einem Bahnhof kreuzten wir einen Militärzug. Kein Lied war zu hören, es herrschte eine bedrückende Stille. Ein junger Mensch, ein Nationalist, stieg während des Aufenthalts auf eine Kiste und versuchte, eine Ansprache zu halten: „Soldaten, der Sieg ist nahe! Wir müssen die letzte Anstrengung machen, um die Teutonen zu schlagen ... Unsere tapferen Soldaten ..."
„Hör schon auf, du Quatschkopf, komm hierher zu uns ..." „Hört ...", versuchte der Redner es wieder. Er kam aber nicht weiter, denn schallendes Gelächter übertönte seine Stimme.
„Komm her zu uns, wenn du den Helden spielen willst..." Dann hagelte es Schimpfwörter, Brotrinden, Apfelsinenschalen und Zigarettenstummel. Der Redner verzog sich.

In Rom versammelten wir uns im Volkshaus, in der Via Capo d' Africa. Niemals habe ich einem so farblosen Parteitag beigewohnt wie dem von 1918.
In Rom schienen jeden Tag Feste gefeiert zu werden. An jeder Ecke stieß man auf Musikkapellen. Stunde für Stunde erschienen Zeitungen mit riesigen Schlagzeilen. Die Delegierten beschäftigten sich mehr mit den Denkmälern als mit dem Parteitag. Mit mir war noch einer aus Piemont gekommen mit zwei riesigen Koffern voller Lebensmittel.
„Das Leben ist teuer in Rom", erklärte er mir, „darum habe ich mir Lebensmittel und ein paar gute Flaschen mitgenommen."
Einer der Koffer wurde ihm gestohlen. Er war bestürzt.
„Was für schöne Frauen es hier in Rom gibt und was für schöne Denkmäler!" rief er immer wieder.
Ich kehrte über Florenz nach Piemont zurück. In Empoli traf ich auf einen Zug mit Kriegskrüppeln. Blinde wurden von Soldaten an der Hand geführt, manche hatten beide Beine oder beide Arme verloren, viele waren grässlich verstümmelt. Die Damen vom Bürgerschaftskomitee wagten es nicht mehr, sich mit ihren billigen Konfektschachteln und schlechten Zigaretten sehen zu lassen. In den Wartesälen schliefen Soldaten, die auf ihren Zug warteten. Ich näherte mich meinem Wohnort, das heißt der üblichen Sistierung und der üblichen Predigt.
In Turin wurden auf dem Bahnhof Broschüren gegen die russische Revolution und ihren Verrat an den Alliierten verteilt. Später, während der Fabrikbesetzung, wurden viele Tausende dieser Schriften in den Geldschränken der FIAT entdeckt.
In Fossano wurde ich zu meiner Überraschung weder sistiert noch heruntergemacht. Bald danach, am 4. November abends, meldete der Heeresbericht des Generals Diaz, der Cadorna abgelöst hatte, den Friedensschluss.

Sieg! Nach Caporetto — Vittorio Veneto, nach der Niederlage — der glänzende Sieg! Die Leute auf der Straße schienen verrückt geworden zu sein. Nur die Lieferanten und die anderen Kriegsgewinnler machten finstere Gesichter. Der Frieden verdarb ihnen das Geschäft. Mit den profitablen Lieferungen war es vorbei.
Es musste auch mit den Überlebenden abgerechnet werden, und das war ein beängstigendes Problem.
Die Soldaten wurden sehr langsam entlassen und kamen mit ihrem Entlassungszeug nach Hause. Die Kriegsbeute war mager für eine siegreiche Armee! Sie bestand aus Stoff für einen Anzug und ein paar anderen Dingen, das Ganze in ein großes Tuch gewickelt, das mit einer Karte von Italien bedruckt war. Es war aber die neue Karte von Italien, mit Trient und Triest. Es war das Italien von Vittorio Veneto. Welch grausame Ironie! Mit diesem Entlassungszeug betrogen die Lieferanten noch einmal die siegreichen Truppen und den Staat.
Die Sieger kamen, und die Besiegten — die Kriegsgefangenen — zogen in langen Reihen ab. Sie hatten alle die gleiche Gangart und die gleichen Lumpen ... Die einen wie die anderen wurden in Viehwagen befördert. Der einzige Unterschied war das Entlassungszeug. Achtzig Lire und die Aussicht auf Arbeitslosigkeit! Die Schulden müssen auch bezahlt werden. Die Krüppel, die Witwen, Kinder und Eltern der Vermissten waren zu unterhalten ... Und 500 000 Tote! Ganz abgesehen von den an Unterernährung gestorbenen Kindern und den Opfern der Grippe.
Das Entlassungszeug und Versprechungen! Die Presse der Kapitalisten erklärte: „Es muss Disziplin herrschen, sonst hat der Sieg keinen Wert." Das sollte bedeuten: „Wir brauchen Kriegsgesetze, um weiter prassen zu können."
Aber die dem Gemetzel Entgangenen begannen zu rebellieren. Es galt zu kämpfen, um das Koalitionsrecht wiederzuerlangen. Noch im Jahre 1919 erschienen die Zeitungen stark zensiert.

Unser Gewerkschaftsverband und die Ortsgruppe der Partei hatten sich offiziell in den Räumen des „Familienklubs" niedergelassen. Die Kleinbürger, die der friedlichen Besetzung beigewohnt hatten, wagten nicht, den Mund aufzumachen.
Die Entlassenen waren im Kampf geübt.
Den Hass der Unternehmer und Krämer, der Priester und Adligen gegen den Gewerkschaftsverband und die Ortsgruppe der Partei brauche ich nicht zu schildern. Sie tobten auch, weil wir ihnen mit der Besetzung der Räumlichkeiten einen Streich gespielt hatten. Es begann ein erbitterter, aber versteckter Kampf.
Der Metallarbeiterverband hatte beschlossen, den Kampf für einen Mindestlohn und für den Achtstundentag zu eröffnen. Die Unternehmer, die mich in meiner Eigenschaft als Verbandssekretär niemals hatten empfangen wollen, mussten während einer Aktion für den Achtstundentag gute Miene zum bösen Spiel machen. Der Besitzer der großen Spinnerei musste mich empfangen.
Ich weiß noch, wie ich durch das Fabriktor ging. Die Kommission erwartete mich im Hof. Alle Fenster der Fabrik, die wie ein Gefängnis aussah, waren von Arbeitern besetzt. Als wir die Büroräume betraten, ertönte lauter Beifall. Der Besitzer — er war natürlich Ritter der Krone — sah aus wie ein Lebensmittelhändler, dem die Ware verdirbt.
Die Versammlung war kurz: „Ich bin ein moderner Unternehmer. Ich bin nie gegen die Organisation gewesen. Ich wünsche aber ein ehrliches Abkommen. Die Betriebskommission erkenne ich an und werde gern verhandeln. Und da die anderen Unternehmer den Achtstundentag bewilligt haben, bewillige ich ihn auch."
Ü ber den Mindestlohn wurde keine Einigung erzielt. Aber die Arbeiterinnen in der Kommission waren außer sich vor Freude über den Achtstundentag. Der Unternehmer hatte „nachgegeben", wie reiche Leute, die im Sterben liegen, sich von ihren Reichtümern trennen. Die Chemiearbeiter und die Metallarbeiter hatten damals den Achtstundentag bereits durchgesetzt. Auf diese Weise hofften die Unternehmer den Schwung der Arbeitermassen dämpfen zu können.
Am Abend fand eine große Versammlung in dem ehemaligen „Familienklub" statt, der jetzt unser Gewerkschaftshaus war. Die Räume konnten die ungeheure Zahl der Arbeiter nicht fassen. Ich musste vom Balkon aus zu der Masse sprechen, die sich in dem großen Hof des Gebäudes drängte. In den Fenstern sah man Gesichter von erschrockenen Kleinbürgern.

Der Parteitag von Bologna — Turati nannte ihn den Parteitag der Kandidaten, weil die Wahlen bevorstanden — billigte begeistert die Erklärung des Parteivorstandes über den Anschluss an die III. Internationale. Auch die Reformisten waren dafür. Es herrschte allgemeine Begeisterung. Das Statut von Genua wurde abgeändert.
In ganz Italien kam es zu Aktionen und Streiks. Sogar die Angestellten, die Lehrer und die Richter organisierten sich und forderten, mitgerissen von dem Schwung der Arbeitermassen, einen besseren Lebensstandard. Der Lebensstandard der Arbeiterklasse war aber immer noch niedriger als vor dem Kriege. Es herrschte große Arbeitslosigkeit.
Beim Generalstreik gab es Tote und Verwundete. Nitti erließ eine Amnestie und rief die „Königliche Garde" ins Leben.
Nach Turin, wo die Bewegung in den Betrieben sich in eindrucksvoller Weise entwickelte, entsandte die Regierung eine sardische Infanteriebrigade. Die Soldaten verbrüderten sich alsbald mit den Arbeitern.
Es kam zu Unruhen wegen der Verteuerung der Lebensmittel, und diese spontane und ungeordnete Bewegung breitete sich fast überall aus. Die Parteiführung befand sich im Schlepptau der Massen.
Damals gelangten zu uns Nachrichten über Überfälle auf Geschäfte in den großen Städten. Die Arbeitermassen in den kleineren Städten lebten in fieberhafter Erwartung. Wäre in diesem Augenblick die richtige Parole ausgegeben worden, so wäre der schwelende Brand zum Ausbruch gekommen. Die wichtigsten Bedarfsgüter waren unerschwinglich teuer. Wenn die Behörden Höchstpreise anordneten, verschwanden die Waren. Im Gewerkschaftshaus diskutierten die Arbeiter über die erforderlichen Maßnahmen.
„Was macht die Sozialistische Partei?"
„Wie lauten die Direktiven?"
Die Parteipresse wühlte im Schmutz des Krieges. Sie entlarvte den Patriotismus der Lieferanten und erbrachte Beweise für die Brutalität der als Henker verschrienen Generale. Dies alles war notwendig, aber jetzt galt es, die Situation zu meistern.
Und die Situation verschlimmerte sich mehr und mehr. Die Gemeindeverwaltung war ohnmächtig. Jeden Tag kamen neue Höchstpreise, und das Ergebnis war immer dasselbe. Eines Tages berief der Bürgermeister eine außerordentliche Sitzung ein. Außergewöhnlich war diese Sitzung in zweierlei Hinsicht. Erstens handelte es sich nicht um eine ordentliche Sitzung des Gemeinderates, und zweitens war die Zusammensetzung der Teilnehmer sehr mannigfaltig. Außer dem Gemeinderat wurden die Vorsitzenden einiger Unterstützungsvereine, der Sparkasse, des Sportvereins und des Schützenvereins, die Geschäftsleute und die Gewerbetreibenden, die Industriellen, die Pfarrer der verschiedenen Kirchspiele, der Kommissar der Sicherheitspolizei, der Postenkommandant, der Richter, der Direktor der beiden Zuchthäuser und die Gewerkschaften eingeladen.
Sehr interessant verlief unsere am Abend einberufene Versammlung. Wir waren in heller Aufregung. Gleich nach Erhalt des Einladungsschreibens traten wir zusammen. Wie lauteten die Parolen der Sozialistischen Partei? Das war schwer zu sagen, und wir wussten nicht recht, was wir tun sollten. Der einzige Tagesordnungspunkt lautete „Maßnahmen, um der Krise zu begegnen". Vor und nach der Tagesordnung wurde in zwei schwungvollen Ansprachen viel vom Vaterland und vom Siege, vom Fortschritt und von der Demokratie, von Gott und der Monarchie geredet...
Nach langer Diskussion — es wurden zahlreiche Anträge gestellt, ich erinnere mich noch, dass ein alter Genosse zum Beispiel vorschlug, auf der Sitzung die Plünderung der Geschäfte zu billigen — einigten wir uns über folgende Punkte:
1. Bestandsaufnahme über alle in den Geschäften vorhandenen Waren;
2. Beschlagnahme der unentbehrlichen Lebensmittel;
3. Eröffnung von Verkaufsstellen unter der Kontrolle der Arbeiterorganisationen;
4. Aufstellung einer bewaffneten Miliz auf Kosten der Gemeinde.
Die Kommission bestand aus gewählten Vertretern der verschiedenen Betriebe der Stadt.
Am festgesetzten Abend waren im Rathaus die Gemeindediener mit Angströhren, die Feldhüter und die Feuerwehr aufmarschiert.
Die Versammlung fand im Sitzungssaal des Gemeinderates statt. Der Bürgermeister, ein millionenschwerer Würdenträger, Großgrundbesitzer, Jude und Klerikaler, machte die Honneurs. In seinem Blättchen hatte er mich oft als Defätisten und Deutschenfreund beschimpft. An diesem Abend begrüßte er mich mit einer tiefen Verbeugung. Wahrscheinlich erwartete er Hilfe von mir und den Genossen.
Die Sitzung wurde eröffnet. Unter allgemeinem Schweigen begann der Bürgermeister:
„Meine Herren und Damen!" Die Spinnerei, die Weberei und die Papierfabrik hatten Genossinnen als Delegierte entsandt. „Dank dem Heroismus seiner Söhne, mit Hilfe Gottes und unter der Führung Seiner Majestät des Königs, unseres geliebten Herrn, hat das Vaterland seine natürlichen Grenzen erobert und unsere Brüder in Trient und Triest von dem hundertjährigen Joch unseres Feindes Österreich-Ungarn, das heute durch den Sieg der Demokratie auseinandergefallen ist, befreit ..."
Er wischte sich den Schweiß ab, der ihm von der Stirn auf den leuchtenden Ausschnitt des gestärkten Hemdes tropfte. Der hohe Herr hoffte auf Beifall, aber der Beifall kam nicht.
„Durch seinen Sieg ist Italien unter die Großmächte aufgerückt. Wir müssen stolz sein darauf ..."
„Zur Sache!" fiel ich ihm ins Wort. „Das wissen wir alles schon auswendig."
Sonderbarerweise dachte niemand in der Versammlung daran, mich zurechtzuweisen. Der Bürgermeister hörte sofort auf. Ohne meinen Zwischenruf hätte er vielleicht noch lange in diesem Ton weitergesprochen.
„Wer wünscht das Wort?" sagte er fassungslos.
„Ich", erwiderte ich.
„Ich spreche im Namen der Gewerkschaften." Ich legte Wert auf die Feststellung, dass die verhassten Gewerkschaften jetzt Bürgerrecht besaßen. „Wir alle kennen die Lage, die nicht vom Proletariat geschaffen worden ist. Wir haben ernsthafte, konkrete Vorschläge erwartet und hören stattdessen ein langes Gerede über das Vaterland, die Monarchie und den Sieg ..."
Diesmal unterbrachen mich verschiedene Vertreter der Ordnung.
„Respektieren Sie unsere Ansichten, das Vaterland ..."
„Seien Sie ganz still!" rief eine Weberin. „Wir haben die Nase voll vom Vaterland! Wir wollen Brot ..."
„Sehr richtig, wir wollen Brot", fügte Gisleno, ein einäugiger Arbeiter aus der Papierfabrik, hinzu, „und keine großen Vorträge ..."
„Also los, Vorschläge und keine Zeitverschwendung!" schloss ich.
Der Bürgermeister war sehr verlegen und wusste nicht, was er sagen sollte. Einer der Anwesenden hatte das Wort verlangt. Es war der Vorsitzende der Versicherungskasse, ein Gemeindebeamter.
„Es ist eine Schande", sagte er, „dass der Magistrat zu einer Sitzung wie dieser ohne konkrete Vorschläge erscheint, und das vor Gegnern wie den Sozialisten. Ich bin ein alter Frontkämpfer, ein Mann der Ordnung, aber ich fühle, dass Sie im Unrecht sind, und ich sage es Ihnen ..."
„Vergessen Sie nicht, dass ich der Bürgermeister bin und Sie mich zu respektieren haben!"
„Glauben Sie, dass Sie mir so den Mund verbieten können? Sie irren sich, Herr Bürgermeister!"
Niemand sprach. Die Stadträte waren noch verlegener als der Bürgermeister. Da ergriff der Kommissar das Wort.
„Also", sagte er, „ich schlage vor, dass jeder seine Meinung sagt: Ich für meine Person erkläre, dass den Gewerbetreibenden empfohlen werden muss, bei Strafe der Verhaftung entsprechend den geltenden Gesetzen die Preise nicht mehr zu erhöhen."
„Gerade das wollte ich sagen", erklärte der Bürgermeister, der nach jedem Strohhalm griff.
„Da haben wir's", meinte der Vorsitzende der Versicherungskasse. „Nun stehen wir schön da vor den Sozialisten!"
Ein Geschäftsmann, der im Kriege reich geworden war, sagte:
„Die Großhändler müssten ihre Gewinne beschränken. Wir haben die Folgen ihrer Habsucht zu tragen ..."
Da erhob sich der Besitzer der Gießerei und mehrerer anderer Fabriken in anderen Orten der Provinz und erklärte:
„Meine Herren! Die Krise ist allgemein, und wir müssen alle zusammen die Folgen tragen. Die Rückkehr zur Friedenswirtschaft wirkt sich störend auf den Markt aus. Die Wiederherstellung normaler Verhältnisse erfordert große Anstrengungen. Die Geldbesitzer zögern, ihr Kapital in der Industrie anzulegen, weil das Geld infolge der Störung des Gleichgewichts durch die Forderungen der Arbeiter und die Unruhen nichts mehr einbringt ..."
„Schöner Patriotismus!" rief einer der Genossen der Kommission und fluchte, dass die Scheiben klirrten.
„Daher", schloss der Gießereibesitzer, „müssen wir uns bemühen, die Krise gemeinsam zu überwinden."
Er setzte sich.
„Nun?" fragte spöttisch der Vorsitzende der Versicherungskasse. „Was soll also werden?"
Höhnisch sah er den Bürgermeister an. Dieser erhob sich und erklärte melodramatisch:
„Da ich nicht respektiert werde, trete ich zurück. Von diesem Augenblick an bin ich nicht mehr Ihr Bürgermeister."
Die einzige Folge dieses unangebrachten Wutausbruchs war, dass einer der Gießereiarbeiter bemerkte:
„Jetzt, wo er im Druck ist, kneift er. Es war natürlich leichter, Reden zu halten, als alle anderen den Mund halten mussten. Und da schämt der Mensch sich nicht, sich so zu drücken?"
„Ich reiche meine Demission ein, und ich reiche sie den Arbeitern ein, nicht den andern, die mich in dieser Situation im Stich lassen. Ihnen", wandte er sich an mich, „reiche ich meine Demission ein ..."
Ich sah mir die ganze verlegene Gesellschaft an.

„Avanti o popolo alla riscossa!
Bandiera rossa, bandiera rossa
Trionfera ..."

Der vielhundertstimmige Gesang erhob sich erst schwach, dann immer lauter, bis man ihn deutlich vom Platz her hörte. Ich sehe die Gesichter der Versammelten noch vor mir. Es waren bleiche und verkrampfte Gesichter, auf denen ein verzerrtes Lächeln stand.
„Ich beantrage, dass der Magistrat sich einen Augenblick im Zimmer des Bürgermeisters versammelt und mit konkreten Vorschlägen wiederkommt", sagte der Vorsteher der Versicherungskasse.
Der Bürgermeister und die Stadträte stimmten zu. Der Bürgermeister hatte schon die Hosen voll.
Bald danach kamen sie wieder. Sie beantragten eine fünfzigprozentige Senkung der Höchstpreise und gewerkschaftliche Kontrolle über die Durchführung.

„Avanti popolo, tuona il cannone
Rivoluzione, rivoluzione,
Rivoluzione, vogliamo far!"

Immer wieder ertönten die Rufe: „Es lebe Lenin! Nieder mit dem König!"
Nicht einmal die Ladenbesitzer waren gegen die vom Bürgermeister verlesenen Anträge des Magistrats.
Ich bat um das Wort.
„Wir sind einverstanden", sagte ich, während die ganze Gesellschaft in tiefem Schweigen angstvoll lauschte, „wenn Sie folgende Vorschläge annehmen ..."
Ich verlas die vier Anträge der Gewerkschaften.
„Sie sind also nicht einverstanden?" sagte der Bürgermeister. „Die Anträge der Gewerkschaften kommen einer Ablehnung gleich ..."
„Ihre Anträge sind nichts als der übliche Schwindel, wenn wir nicht die in unseren Vorschlägen enthaltenen Garantien bekommen."
„Ist das Ihr letztes Wort?" fragte der Bürgermeister totenbleich.
„Ja, denn ohne die Verwirklichung unserer Vorschläge sind Ihre Höchstpreise bedeutungslos. Außerdem ist Ihre Idee, auf den Markt - falls die Bauern morgen überhaupt mit Waren erscheinen — und in die Geschäfte, die die Inhaber noch vor dem Morgengrauen ausräumen werden, ohne jede Vollmacht zu gehen, einfach kindisch. Wir würden uns nur lächerlich machen. Gehen Sie uns doch mit Ihren Höchstpreisen!"
„Wir stimmen widerspruchslos einer so starken Preissenkung zu", winselte ein Ladenbesitzer, „und Sie sind nie zufrieden."
Vom Platz hört man Pfiffe und Geschrei ... Der Bürgermeister beratschlagte mit dem Kommissar und mit einigen anderen und sagte dann:
„Wir müssen zu einer Entscheidung kommen. Wer für die Anträge des Magistrats ist, den bitte ich um das Handzeichen."
Alle Hände erhoben sich, mit Ausnahme unserer Kommission.
„Wir teilen nun unsere Beschlüsse der Bürgerschaft mit."
Die Diener öffneten den Balkon ... Der Bürgermeister, kreideweiß, trat in Begleitung der Stadträte vor. Allgemeines Geschrei und durchdringende Pfiffe empfingen den Magistrat. „Abtreten! Wir wollen Brot!" Der Lärm war unbeschreiblich.
„Bürger!" die Stimme des Bürgermeisters zitterte. „Von morgen an werden die letzten Höchstpreise im Einvernehmen mit allen hiesigen Geschäftsleuten und den angesehensten Bürgern der Stadt um fünfzig Prozent herabgesetzt."
„Scher dich zum Teufel! Wir kennen deine Höchstpreise!"
Auf dem Platz wurde gepfiffen und geschrieen.
„Die Arbeiterkommission soll sprechen! Der Gewerkschaftssekretär soll sprechen!"
Als wir auf dem Balkon des Rathauses erschienen, empfing uns allgemeiner Beifall. Dann erklang feierlich die „Internationale".
Neuer Beifall.
„Wir haben eure Anträge vorgebracht. Sie sind nicht angenommen worden. Man kommt euch wieder mit Höchstpreisen, und das Ergebnis wird das übliche sein. Das ist eine Provokation. Jeder hat seine Verantwortung zu tragen. Die Bourgeoisie, die den Krieg gewollt hat, möchte jetzt dem Volk die Kosten aufbürden. Es naht die Zeit, wo abgerechnet wird. Haltet euch diszipliniert bereit für die Anordnungen der Sozialistischen Partei und des Gewerkschaftsverbandes! Wir werden siegen ..."
Als ich aus dem Hintergrund des Pla,tzes in geschlossener Linie Soldaten anrücken sah, fügte ich mit lauterer Stimme, damit auch sie mich hören konnten, hinzu:
„Die Soldaten kommen. Sie sind Proletarier wie wir und Söhne von Proletariern. Sie werden nicht schießen. Geht jetzt nach Hause. Es lebe das proletarische Russland! Es lebe der Sozialismus!"
Brausende Hochrufe ertönten, und dann erklang die „Internationale" ...
Am nächsten Tage prangte überall in Riesenbuchstaben die Bekanntmachung über die neuen Höchstpreise, und die Schaufenster waren leer.
Was tun? Es kam keine Anweisung.
Die Regierung verlegte ihre Truppen — im allgemeinen die Garderegimenter, weil die Linientruppen wenig zuverlässig waren — in die Orte, wo die Lage besonders ernst war, und erstickte die Aufstände im Blut.
Im Gewerkschaftshaus tagten die Leitungen der Gewerkschaften und der Ortsgruppe der Partei. Wir diskutierten und agitierten unter den Massen, immer in der Erwartung, dass die Partei sich für koordinierte Aktionen entschließen sollte, die Aussicht auf Erfolg hatten.
In allen Fabriken hatten wir Betriebskommissionen und Abteilungsdelegierte. Auf dem Markt veranstalteten wir fast jeden Abend ohne vorherige Anmeldung bei den Behörden unsere Versammlungen, um die Massen über das Geschehen in Italien und im Ausland zu unterrichten.
Aber die Bewegung der Massen erlosch langsam, zusammengeschossen von der Reaktion und fast gänzlich unbeachtet von der Parteiführung.

Mein Pseudonym Barbadirame hat einen merkwürdigen Ursprung. Er geht auf das Jahr 1919 zurück. Die „legale" Besetzung der Räumlichkeiten des ehemaligen „Familienklubs", die nun unser Gewerkschaftshaus bildeten, hatte, wie schon erwähnt, die lokale Presse in wilde Wut versetzt.
Im Zentrum der Stadt, in einem sehr schönen Gebäude, war auf Grund eines noch zwei Jahre laufenden Kontraktes durch die Schwäche gewisser Elemente und durch die Verschlagenheit der Sozialisten ein Herd der Revolte entstanden. Was taten die Behörden?
Die drei Zeitungen — die eine vertrat die Richtung der christlich-demokratischen Volkspartei, die andere war das Organ des Bischofs, die dritte war liberal-demokratisch — schmiedeten das Eisen. Ein Gewaltstreich war aber nicht so einfach. Die Arbeiter hätten sich das damals nicht gefallen lassen. Da eröffneten die Priester eine Verleumdungskampagne gegen mich. Man muss, sagten sie sich, Zweifel und Misstrauen verbreiten gegen diesen verfluchten Friseur und die wenigen Genossen, die ihm nahe stehen. Sie begannen also, einen in Fortsetzungen erscheinenden Roman mit dem Titel „Die Sonnenstadt" zu veröffentlichen.
In dieser Art von Verleumdung sind die Priester, glaube ich, nicht zu übertreffen.
Unsere Ortsgruppe bestand nur aus Arbeitern, was in der italienischen sozialistischen Bewegung eine Seltenheit war, besonders damals, als alle zu uns kommen wollten. Nach der Arbeitszeit arbeiteten wir für die verschiedenen Verbände und für die Zeitung und konnten auf Rechtsverdreher verzichten. Der einzige Intellektuelle in der Ortsgruppe war ein Arzt, der im Kriege Offizier gewesen war. So unglaublich es klingt: wir hatten nicht einmal einen Rechtsanwalt in der Ortsgruppe.
Der Roman begann mit einer Schilderung des Milieus. Die „Sonnenstadt" war Fossano.
Als die Personen auftraten, erschien als erster Barbadirame (die Farbe meines Bartes war die der Küchengeräte in Fossano kurz vor dem Fest des Schutzheiligen; dann nämlich polierten alle Hausfrauen ihre Kasserollen, putzten die Fenster, wuschen den Kindern das Gesicht und das Hinterteil und machten Jagd auf die Spinnen und anderes Hausgetier). Ich erschien in dem Roman als käufliches Subjekt, und die Genossen waren Marionetten, die ich an der Strippe zog. Einige Szenen aber sind geeignet, die Kunst der Priester besonders gut zu illustrieren. Im folgenden einige Auszüge aus der Geschichte.

„Barbadirames Arbeitszimmer. Ein großer Tisch ist mit Papieren bedeckt. Auf den Regalen stehen Bücher von Marx und anderen Autoren dieser Art. An den Wänden hängen Bilder von Marx, Engels, Turati und anderen Säulenheiligen des Sozialismus. Prachtvolle Tapeten aus rotem Atlas. Telefon. Vergoldeter Lehnstuhl, Teppiche, schwere Türvorhänge.
Barbadirame sitzt im Lehnstuhl und raucht eine duftende dicke Zigarre. Träumerisch blickt er dem Zigarrenrauch nach. Er ist prächtig gekleidet, er trägt eine dicke goldene Kette und goldene Ringe ... Er ist hochgewachsen, mager, hat dunkle Augen, schwarze Haare und einen kupferfarbenen Bart. Beim Gehen stützt er sich auf einen kunstvollen Stock mit vergoldetem Griff.
Barbadirame lächelt. Liebliche Gedanken müssen ihm im Halbdunkel dieses behaglichen Winkels durch den Kopf gehen.
Plötzlich klopft es. ,Herein!' ruft Barbadirame. Ins Zimmer tritt ein magerer kleiner Mann.
,Genosse', sagt der Kleine, ,da ist eine Arbeiterkommission. Soll ich sie hereinlassen?'
,Hast du sie gefragt, was sie wollen? Nein? Du bist und bleibst ein Dummkopf ... Ich habe es dir doch schon so oft gesagt. Ich habe keine Zeit für Geschwätz. Lass sie eintreten. Sage ihnen, dass sie sich vorher die Schuhe säubern, und mache sie auf das Plakat aufmerksam, dass Ausspucken verboten ist. Diese Schweine haben immer einen Stummel im Mund!'
Die Kommission tritt ein. Es sind fünf Arbeiter. Ihre Kleidung ist zerrissen und verschmutzt. Sie sind abgezehrt. Welcher Gegensatz zwischen Barbadirame und den fünf Arbeitern!
,Was wollt ihr?' fragt Barbadirame sie, ohne auch nur ihren Gruß zu beantworten und ihnen einen Stuhl anzubieten.
Die fünf Arbeiter, mit dem Hut in der Hand, wissen nicht, wie sie anfangen sollen.
,Macht rasch, ich habe viel zu tun.'
,Also', beginnt einer von ihnen, ,wir sind Genossen. Wir werden schlecht bezahlt in unserm Betrieb. Wir brauchen Ihre Hilfe, setzen Sie uns eine Eingabe auf ...'
,Ich verstehe schon. Wie viele seid ihr?'
,Wir sind 560, und es geht uns wirklich schlecht. Wenn Sie uns helfen
,Es geht euch schlecht, weil ihr Schafsköpfe seid! Gebt mir zehntausend Lire, dann will ich euch eine Eingabe machen und eine Rede halten und euch beistehen. Natürlich müsst ihr mir auch eure Stimmen geben
,Das ist ganz gut, aber woher sollen wir zehntausend Lire nehmen?' sagen die Arbeiter bestürzt.
,Ihr müsst euch eine Steuer auflegen! Das ist doch eine Kleinigkeit ... Bei guter Vorbereitung ist es kinderleicht, drei Lire Zulage zu bekommen. Dreimal 560 macht 1680 Lire täglich. In 300 Arbeitstagen habt ihr also eine Zulage von mehr als einer halben Million Lire, genau 504000 Lire. Ich habe nicht viel verlangt. Schluss jetzt. Ja oder nein?'
Barbadirame spielt mit einem in Gold gefassten Federmesser aus Perlmutter.
,Wir sind einverstanden', antworten die Arbeiter. ,Am Sonntag bringen wir eine Anzahlung.'
Sie verabschieden sich und gehen hinaus.
Barbadirame reibt sich die Hände. Mit einem kleinen silbernen Hammer schlägt er vergnügt an eine kunstvolle Glocke und schreibt zwei Zeilen auf hochfeines Papier. Der kleine Mann erscheint.
,Trage diesen Brief zum Adressaten!'

Es ist Nacht. Die Straßen sind verlassen. Langsam und zögernd stapft ein Mann über den feinen Kies der Ringallee. An einer dunkleren Stelle bleibt er stehen. Misstrauisch blickt er sich um und steckt dann den Schlüssel in das Schloss einer kleinen Tür, die sich geräuschlos öffnet. Dann verschluckt ihn die Finsternis. Er steigt ins erste Stockwerk hinauf und öffnet eine zweite Tür. Er macht Licht. Er nimmt das Tuch ab, das die Hälfte seines Gesichts verbirgt. Es ist Barbadirame! Er entkleidet sich und zieht einen Pyjama aus geblümter Seide an. Er setzt sich. Das Zimmer ist entzückend ausgestattet mit einem Alkoven, einem Sofa, Ruhebetten und Wandspiegeln, kunstvollen kleinen Statuen und weichen Teppichen. Eine verschleierte Lampe taucht den Raum in geheimnisvolles und zauberhaftes Licht. In der Luft liegt ein berauschender starker Duft. Ungeduldig betrachtet Barbadirame die luxuriöse Pendeluhr und spitzt beim geringsten Geräusch die Ohren.
Die Zeit vergeht. Barbadirame wirft nervös schon die zweite kaum angerauchte Zigarre fort. Plötzlich fährt er zusammen. Er hat ein bekanntes Geräusch vernommen, eilt zur Tür und öffnet sie. Eine in einen Pelz gehüllte Frau tritt ein.
,Guten Abend, Liebste!'
Er will sie umarmen.
,Lass mich in Ruhe, ich habe Migräne', sagt sie und stößt ihn zurück. Dann wirft sie den Mantel ab und sinkt auf einen Diwan.
,Gib mir eine Zigarette und ein Glas Portwein!'
Barbadirame führt ihren Befehl aufmerksam aus.
,Weißt du', sagt sie, ,was ich heute in Turin gesehen habe? Übrigens, du schickst mich nach Turin, damit ich mich ein bisschen amüsiere, mit lumpigen fünfhundert Lire! Ich habe einen prachtvollen Pelz gesehen. Er kostet kaum fünfzehntausend Lire! Den will ich mir kaufen. Du gibst mir das Geld, nicht wahr? Wenn du es mir nicht gibst, macht es nichts, ich kaufe ihn mir trotzdem ...'
,Und wie willst du ihn kaufen?' fragt Barbadirame erschrocken.
,Darüber rede ich nicht. Wenn ich dich nicht so gern hätte, würde ich den Pelz schon tragen. Du kaufst ihn mir, nicht wahr? Du wirst stolz sein auf deine Nini...'
Sie hängt an seinem Halse.
,Kaufst du ihn mir?' drängt die Frau.
,Ja, Liebling ...'
Die Beleuchtung wird diskreter. Man hört Seufzer und das Geräusch von Küssen ... Schweigen ..."
Der Roman geht weiter:
„,Arbeiter! Während ihr zehn Stunden am Tage für ein Stück Brot schuftet, prasst die Bourgeoisie und wühlt im Golde. Ihr habt keine Schuhe für eure Kinder, aber die Bourgeois hüllen ihre Frauen in Gold und Pelze ...
Bauern! Ihr schwitzt in der Hitze auf den Feldern beim Einbringen der Ernte. Mit den Reichtümern, die ihr der Erde entreißt, gehen eure Herren nach Monte Carlo, geben dort prunkvolle Feste und vergeuden die Früchte eurer Arbeit!
Nur einmal haben die Herren sich mit euch beschäftigt, Arbeiter und Bauern, als sie euch in den Krieg geschickt haben!
Jagt eure Ausbeuter davon! Es lebe die Revolution!'
,Bravo! — Sehr richtig!' braust der Beifall auf.
Lächelnd verlässt Barbadirame die Tribüne. Hochrufe begleiten ihn."

In dieser Tonart erschien der Roman mehrere Wochen hintereinander.
Alle waren sich über die Absicht des Verfassers klar, mich und die anderen aktiven Genossen in Verruf zu bringen. Ich zog Erkundigungen ein, ob ich eine Klage wegen übler Nachrede einreichen könnte. Nicht etwa, weil ich Vertrauen zur Justiz gehabt hätte, sondern weil eine Verurteilung wegen übler Nachrede immer die Verurteilung zum Schadenersatz zur Folge hat, und das bedeutet Geld. Wir standen kurz vor den Wahlen und hatten, wie immer, kein Geld!
Es war nicht möglich.
Daraufhin richtete ich an den Vorsitzenden der Volkspartei, dem die Zeitung gehörte, folgenden offenen Brief:

„An den Vorsitzenden der Volkspartei.
Hier.
Aus der Veröffentlichung des Romans ,Die Sonnenstadt' geht deutlich die Absicht hervor, den Unterzeichneten und unsere Bewegung in Verruf zu bringen.
Ich sehe nur zwei Möglichkeiten. Entweder verfügen Sie über konkrete Tatsachen und veröffentlichen diese unter Übernahme der Verantwortung, oder sie verfügen nicht über solche Tatsachen und bekämpfen uns auf geistigem Gebiet.
Im ersten Falle verspreche ich Ihnen öffentlich, dass ich Sie verklagen und den Beweis antreten werde.
Wenn Sie — was meiner moralischen Verurteilung gleichkäme — freigesprochen werden, haben Sie einen Schurken entlarvt.
Wenn Sie — was meinen Sieg bedeuten würde — verurteilt werden, verspreche ich, jede beliebige Erklärung zu unterzeichnen, damit Sie nicht ins Zuchthaus kommen.
Ich erwarte Ihre Antwort."

In dieser Woche wurde die Fortsetzung des Romans „wegen Raummangels" auf die nächste Nummer verschoben, doch kam keine Antwort von dem ehrenwerten Vorsitzenden. In der folgenden Woche erschien der Roman wieder, doch war der Ton verändert.
Ich richtete einen neuen offenen Brief an den Vorsitzenden der Volkspartei:

„An den Vorsitzenden der Volkspartei. Auf meinen Brief habe ich keine Antwort erhalten. Sie können sich nicht mit Unkenntnis entschuldigen, denn ich habe Ihnen ein eingeschriebenes Exemplar mit Empfangsbescheinigung zugehen lassen.
Wenn Sie nicht binnen zehn Tagen, wie ich es Ihnen in meinem Schreiben nahe gelegt habe, die Verantwortung übernehmen, bin ich zu dem Glauben berechtigt, dass Sie ein Gauner, ein Lump und ein gewöhnlicher Ehrabschneider sind.
Zu Ihrer Kenntnis."

Der ehrenwerte Vorsitzende erwies sich nicht als streitbarer Katholik, sondern steckte die obigen Beleidigungen ein und antwortete nie. Der Roman erschien nicht mehr, obwohl in der vorhergehenden Nummer eine Fortsetzung angekündigt worden war.
Zu dem gewaltsamen Ende des Romans steuerte ich eine lebhafte „Unterredung" mit seinem Verfasser bei. Das Pseudonym blieb an mir haften, und ich verwendete es noch lange. In den Akten des Prozesses in Rom vom Jahre 1928 erscheint es neben meinem Familiennamen.
Meine Genossen aber hatten es abgekürzt, weil es ihnen zu lang war. Sie nannten mich „Barba", was im Piemontesischen „Onkel" bedeutet.
Auch zu Hause wurde ich dann manchmal so genannt.

Die italienische Bourgeoisie überwand auch die Schwierigkeiten der Nachkriegszeit.
Ü berall setzten sich die Arbeiter zur Wehr. In Genua kam es zu Aktionen gegen die Teuerung. Mussolini schrieb dazu im „Popolo d'Italia": „Gegen diese Haifische müssen Erschießungskommandos eingesetzt werden!"
In Spezia und Livorno brachen Unruhen aus. In Bergamo stürmten die Arbeiter die Geschäfte. In der Romagna kam es zu Aufständen. Es folgten Aktionen der Metallarbeiter, der Eisenbahner, der Post- und Telegrafenarbeiter und der Angestellten. Sogar die Lehrer rührten sich.
Häufig brachen die Unruhen ohne Mitwirkung der zentralen Stellen aus. In Dalmine besetzten die Faschisten die Gregorini-Werke, und Mussolini kam nach Dalmine, um gegen die „Haifische" zu sprechen! Er erklärte: „Demokratie und Sparsamkeit — das ist unsere Devise! Wir wünschen eine verfassunggebende Versammlung, und auf die Frage ,Monarchie oder Republik?' antworten wir: ,Republik!'" Mussolini schwamm mit dem Strom und suchte sich an die Spitze der Bewegung zu stellen.
Nach der Rede des Reformisten Filippo Turati schrieb er: „Sehr selten hat das italienische Parlament das Glück gehabt, ein so ernsthaftes und durchdachtes Regierungsprogramm wie das von F. Turati zu hören." Nach der Spaltung in Livorno erklärte er: „Die Sozialistische Partei Italiens hat sich in Genua im Jahre 1892 der Anarchisten entledigt, heute entledigt sie sich der Kommunisten." Der Mann, der die Sozialistische Partei Italiens hatte in den Krieg zerren wollen, suchte nun wieder Anschluss bei den „vernünftigeren" Sozialisten a la Turati.
Unsere Ortsgruppe vergrößerte sich. Die Wochenschrift „Lotte Nuove" gab eine Sondernummer mit unserer Chronik heraus. Nach wie vor suchte man uns auszuquartieren. Alle möglichen Druckmittel wurden angewandt, obwohl man wusste, dass wir nach Ablauf des Vertrages im September auf die Straße gesetzt werden würden. Wir waren alle unterwegs, um eine Unterkunft für das Gewerkschaftsbüro ausfindig zu machen. Es war unmöglich!
Auf diese Weise wollte man uns erledigen. Wenn diese verdammten Sozialisten, sagte man sich, kein Dach mehr über dem Kopf haben, werden sie sich auflösen. Unser grimmigster Feind war der Kommissar, der seine Autorität von Tag zu Tag schwinden sah. Er tobte, aber nichts wollte ihm glücken.
Der Kommissar der Sicherheitspolizei war, wie schon gesagt, sehr „intelligent" und sehr genau. Einmal meldete ich ihm eine Demonstration und eine Versammlung an. Vierundzwanzig Stunden danach erschien ein Polizist in meinem Laden mit der Aufforderung, mich aufs Kommissariat zu begeben. Der Kommissar D'Avanzo reichte mir ein Papier und sagte:
„Lesen Sie das und unterschreiben Sie, wenn Sie einverstanden sind."
Ich setzte mich und las:

„Kommissariat der Sicherheitspolizei von Fossano
Betrifft: Anmeldung einer Demonstration und einer öffentlichen Versammlung
Herrn ..., Friseur Via Roma, 46
Hier.
Das Kommissariat der Sicherheitspolizei von Fossano bestätigt die Anmeldung einer Versammlung und einer Demonstration seitens des Sekretärs der Gewerkschaften und der Ortsgruppe der Sozialistischen Partei. Es erklärt sich einverstanden mit dem Wege der Demonstration und mit dem Zeitpunkt der Versammlung. Es beauftragt das Carabinieri-Kommando mit dem Ordnungsdienst und macht den oben Genannten darauf aufmerksam, dass, falls während der Versammlung und der Demonstration die Arbeiterhymne gesungen wird, der Refrain in der von Filippo Turati stammenden Fassung zu singen ist, also :

,Wir leben von der Arbeit
Oder sterben im Kampf!'

und nicht:

,Wir leben von der Arbeit
Ohne Papst und ohne König!'

Der Überbringer der Anmeldung ist sich darüber klar, dass ein Verstoß gegen diese Anordnung die Auflösung der Versammlung und der Demonstration sowie die Verhaftung der Singenden und des Unterzeichners der Anmeldung zur Folge haben wird.
Der Kommissar der Sicherheitspolizei D’Avanzo"

Ich lachte und unterschrieb. Der Kommissar D'Avanzo, der eine blumige Sprache liebte (er legte Wert auf die Feststellung, dass er D'Annunzio las), sagte zu mir:
„Was bedeutet dieses sardonische Lachen, welches aus dem Gewirr von Haaren hervorkommt, das Ihr Gesicht umrahmt? Vergessen Sie nicht, dass ich das Gesetz vertrete!"
„Nichts, Herr Kommissar", erwiderte ich, „ich vergesse das Gesetz nicht. Ich denke an den armen Turati."
Der dichterische Kommissar merkte die Ironie nicht und nahm das Papier wieder an sich. Ich verlangte eine Abschrift.
Dies Dokument war so originell, dass es erhalten bleiben musste. Armer Turati! Nun war es so weit gekommen, dass ein Kommissar der Sicherheitspolizei auf seine Hymne aufpassen musste! Der Kommissar hatte übrigens recht. Die Arbeiter sangen nur selten die Arbeiterhymne, die „Internationale" war ihnen sympathischer, und wenn sie die Hymne sangen, veränderten sie sie immer.
Ich informierte die Genossen, und der arme D'Avanzo musste den ganzen Tag über immer wieder die Arbeiterhymne in der „korrekten" Fassung hören und dann in unserer Presse sein Papier lesen. Er tobte. Er war ein Musterexemplar jener Polizisten, die zu allem fähig sind, um nur befördert oder belohnt zu werden, anmaßend gegen die Schwachen und katzbuckelnd vor den Vorgesetzten. In den ersten Jahren nach dem Kriege hat es sich gezeigt, wie groß ihre Feigheit ist. Mehr als einmal habe ich sie vor einer Arbeiterkommission vor Angst zittern sehen. Einmal sagte D'Avanzo zu mir:
„Die sozialistische Regierung wird doch auch eine Polizei brauchen, nicht wahr?"
Es war in der Zeit der Teuerungsunruhen. Die Arbeiter stürmten die Geschäfte ... D'Avanzo dachte an die Zukunft! „Natürlich", erwiderte ich. „Eine Polizei werden wir brauchen, aber sie muss intelligenter sein als Nittis Polizei."
„Glauben Sie, dass es in Italien keine intelligenten Beamten gibt? Glauben Sie, dass sie alle Nitti oder Giolitti treu sind? Man tut seine Pflicht, um sich durchzuschlagen."
Wie oft habe ich damals diese Argumente und diese Anbiederungsversuche gehört! Einmal kam der Postenkommandant in meinen Laden und erklärte mir:
„Kurz und gut, das ist nicht mehr auszuhalten! Von wem soll ich eigentlich Befehle annehmen? Von der Präfektur bekommen wir keine. Ich weiß nicht, was ich machen soll, und dabei werden so viele Verbrechen begangen! Jeder macht, was er will. Hoffentlich kommt die Revolution bald, so kann es nicht weitergehen."

Die allgemeinen Wahlen näherten sich. Gewählt wurde nach dem Verhältniswahlsystem auf Grund von Provinzlisten. Die Provinz Cuneo hatte einen harten Kampf zu bestehen. Sie war überwiegend bäuerlich und klerikal und obendrein für Giolitti. Dieser war Neutralist gewesen. Die Bauern wussten das. Obwohl er sich später auf den Boden der Tatsachen gestellt und die Toten von Libyen auf dem Gewissen hatte, machte er sich diese Lage stillschweigend zunutze.
Damals arbeitete ich mehr für den Provinzialverband als für die Kunden in meinem Laden. Ich war in allen Ecken der Provinz. Die Begeisterung war unbeschreiblich. Die klerikale und kleinbürgerliche Provinz Giolittis erwachte, und diese Begeisterung trug mir hübsche Erfolge ein.
Einmal musste ich in Crava, einem kleinen Dorf, zu den Bauern sprechen. Im allgemeinen sprach man im Freien, aber an diesem Tage regnete und schneite es, und dazu kam ein sehr unangenehmer Wind. Die Eisenbahn ist sehr sparsam, nicht weil die Fahrkarte wenig kostete, sondern weil sie mit drei Kilometer Geschwindigkeit durchs Land fuhr. (Über diese Strecke gibt es eine Anekdote. Ein Bauer war unterwegs, als der Zug langsam an ihm vorüberrumpelte. Der Lokomotivführer fragte den Bauern, ob er einsteigen wolle. Der Bauer soll erwidert haben: „Nein, danke, ich habe es eilig!") Nach der Spazierfahrt begaben wir uns vom Bahnhof zum Dorfplatz. Dort erwarteten uns viele Bauern, die in den Haustoren und in den Gasthäusern Schutz gesucht hatten.
„Was sollen wir tun, wir können doch bei solchem Wetter nicht im Freien bleiben?" fragten viele von ihnen.
Ein älterer Bauer warf ein:
„Warum bemüht man sich nicht um die Brüderschaftskirche?" Das war eine kleine Kirche, die nur zu den großen Festen geöffnet wurde. „Der Volkspartei ist sie bewilligt worden!"
Der Vorschlag gefiel den Bauern. Mit den Führern der Ortsgruppe und den Veteranen begaben wir uns zum Gemeindehaus. Es war an einem Feiertag. Der Gemeindevorsteher empfing uns, denn wir hatten eine sozialistische Minderheit im Gemeinderat.
„Was wünschen Sie?" fragte er liebenswürdig.
„Wir haben, wie Sie wissen, eine Versammlung einberufen. Auf dem Platz kann man aber nicht sprechen. Könnten Sie uns nicht einen Saal bewilligen?" sagte der Sekretär der Ortsgruppe, ein Maurer.
„Wir haben keine Räume frei. Die Schulen sind besetzt", antwortete der Gemeindevorsteher.
„Dann geben Sie uns doch die Brüderschaftskirche!"
„Was soll denn das heißen? Sie als Sozialisten wollen in der Kirche sprechen?"
„Entschuldigen Sie", erwiderte der Sekretär, „Sie haben die Kirche einer anderen politischen Partei, der Volkspartei, zur Verfügung gestellt. Stimmt das oder nicht?"
„Das stimmt, aber mit denen ist es eine andere Sache, die sind doch eine katholische Partei. Ihnen gebe ich die Brüderschaftskirche nie."
Wir diskutierten eine Weile, aber er ließ sich nicht umstimmen. Zunächst gab es ein großes Geschrei, dann beruhigten sich die Bauern allmählich und entfernten sich. Drei oder vier von uns diskutierten mit dem Gemeindevorsteher weiter, aber der blieb bei seiner Entscheidung.
Schließlich sagte der Sekretär zu mir:
„Komm, gehen wir, es ist nichts zu machen."
Ich war ein wenig überrascht über seinen bereitwilligen Verzicht.
„Wir wollen uns beeilen, denn die Kirche ist schon voll von Leuten, die uns erwarten", meinte er lachend.
Was war geschehen? Während wir diskutierten, hatte ein alter Genosse von der Darlehnskasse die allerbeste Lösung gefunden. Er ging zum Küster und sagte ihm: „Gib mir den Schlüssel zur Kirche, Befehl des Gemeindevorstehers." Der Küster dachte auch nicht einen Augenblick an einen Schwindel und gab ihm den Schlüssel. Die Kirche wurde geöffnet und füllte sich im Handumdrehen mit Bauern.

Ich begann sofort mit meiner Rede. Als der Gemeindevorsteher die Sache erfuhr, wurde er wütend und ließ alsbald die Carabinieri aus dem Nachbarort kommen. Alle verfügbaren Kräfte — fünf an der Zahl — rückten an. Als der Maresciallo mit seinen Leuten erschien und mich auf dem Platz des Priesters sah, schlug er entsetzt die Arme über dem Kopf zusammen. Aber was konnte der arme Maresciallo — noch dazu im Jahre 1919 — mit vier Carabinieri gegen einige Hundert Bauern ausrichten?
Er zog ab.
Die Sache erregte ungeheueres Aufsehen.
Die Kirche wurde von den kirchlichen Behörden für sechs Monate geschlossen, dann kam der Bischof persönlich, um sie von neuem zu weihen. Der Küster erhielt eine strenge Rüge und ich ein Strafmandat, weil ich an einem anderen Ort als dem in der Anmeldung angegebenen gesprochen
hatte.
Einmal war ich in einem Ort in der Turiner Ebene. Es waren viele begeisterte Sympathisierende da, zum größten Teil Kriegsteilnehmer. Sie empfingen mich in den ersten Häusern des Ortes mit Musik. Und mit was für einer Musik! Mit einer Posaune, zwei Mandolinen und einer Trommel! Auf diese Weise wollten die Bauern mir und den mich begleitenden Genossen ihre Freude bekunden. Ich dachte an die Musik mit den Benzinkanistern. Es fand ein Umzug und eine Versammlung statt, eine Genossenschaft wurde eingeweiht und eine sozialistische Ortsgruppe gegründet, und dann gab es ein Bankett. Schließlich wurden wir in das Haus eines alten Bauern eingeladen; er war der Vater des Sympathisierenden, der die Festlichkeit organisiert hatte und der zum Sekretär der an diesem Tage gegründeten Ortsgruppe gewählt
wurde.
Sie zeigten mir ihr Häuschen, den Garten und den Gemüsegarten und führten mich auch in den Stall. Im Gegensatz zu den meisten Bauern, die auf Hygiene nichts gaben, war der Stall Bartolomeos des „Dicken" ein Muster an Sauberkeit. Ich sagte es ihm. Der Alte strahlte.
„Das hier ist die Rosa", sagte er zu mir und legte einer Kuh die Hand auf den Hals, „sie gibt prachtvolle Milch."
„Dies hier ist der Blonde und der daMartino." Er wies auf zwei Ochsen mit glänzendem Fell. „Bei der Arbeit sind sie Gold wert."
Dann war da noch ein Kalb und im Hintergrund des Stalles ein riesiger Stier.
„Der da ist ...", begann der Bauer und stockte, „der ist der Stier."
„Wie heißt er denn?" fragte ich, weil ich sein Zögern bemerkt hatte.
Der Bauer wollte ablenken. „Sag es ihm doch!" sagte sein Sohn.
„Sie werden sich doch nicht beleidigt fühlen?" fragte der Bauer mich, noch immer verlegen.
„Warum sollte ich mich beleidigt fühlen?" „Nun, ich habe dem Stier ... Ihren Namen gegeben. Er heißt ... wie Sie."
Der Stier war rot wie ein gekochter Krebs ... Wir verbrachten einen Abend unter den Bauern und sprachen über die Ereignisse in Russland, über die russische Revolution, über Lenin.
Mir war die Ehre zugefallen, mich speziell der Propaganda in der Domäne Giolittis zu widmen, des Mannes der Römischen Bank, des Krieges in Tripolitanien, des Mannes, der die Mörder unter den Carabinieri dekoriert hatte und bald danach den ersten Faschisten die Waffen liefern und im Einvernehmen mit Leuten wie D'Aragona die Bewegung zur Besetzung der Betriebe zerschlagen sollte.
Die Provinz Cuneo — sie grenzt an die Provinzen Turin und Alessandria, an Ligurien und an Frankreich — ist sehr gebirgig und war praktisch seit etwa dreißig Jahren die Domäne Giolittis. Im gebirgigen Teil der Provinz aber war eine Gegend Giolitti ganz besonders ergeben, die Gegend von Dronero. Die Familie Giolitti stammt aus Dronero. Dronero ist die Stadt der Ritter und der Komture. Wenn man unterwegs einen Hirten oder einen Fuhrmann trifft und ihn mit „Ritter" anredet, irrt man sich selten. Ein kinderreicher Staatsbeamter soll sich einmal wegen einer Sonderunterstützung an Giolitti gewandt haben, und Giolitti, an ganz andere Gesuche gewöhnt, soll darauf geschrieben haben: „Er erhält das Ritterkreuz der Krone von Italien."
Die Täler in diesem Winkel der Provinz weisen alle Bequemlichkeiten auf: Eisenbahnen, Postkutschen, Autoverbindungen und Brücken.
Es ist also schwierig, in dieser Gegend zu arbeiten. Außerdem hatten wir nicht nur den Vorsitzenden des Ministerrates gegen uns, sondern auch drei Minister, die beiden Giolittianer Soleri und Peano sowie Bertone von der Volkspartei.
Ich brach mit einem Genossen auf, der in der Gegend zu Hause war. In der ersten Ortschaft, in die ich geriet, kam ich nicht zu Wort. Die üblichen Benzinkanister wurden hier nicht von Jungen, sondern von Männern mit handfesten Stöcken bearbeitet.
„Ein schlechter Anfang", sagte ich zu dem Genossen.
In dem zweiten Ort — die Genossen aus den Nachbarorten bereiteten die Versammlungen für uns vor — traf ich eine imposante Zuhörerschaft an. Ich stieg auf den Tisch. Niemand pfiff, keine Spur von Benzinkanistern ... und keine Spur von Beifall. Ich erläuterte in meiner Rede das Programm der Sozialistischen Partei. Ich wurde niemals unterbrochen, aber auch am Schluss gab es weder Pfiffe noch Beifall.
Als ich zu Ende gesprochen hatte, trat ein alter Mann mit sehr energischem Gesichtsausdruck an den Tisch, drückte mir die Hand und sagte:
„Ich spreche im Namen der hier versammelten Familienoberhäupter. Wir Gebirgsbewohner pflegen wenig zu reden, aber unsere Versprechen zu halten. Wir werden für die Sozialistische Partei stimmen. Das haben wir auf einer Versammlung beschlossen. Aber wenn ihr Sozialisten es macht wie die andern — er wies nach dem Fluss hin —, werfen wir euch dort hinein. Gestern hat Exzellenz Soleri, der Minister, über die Felder flüchten müssen, und dabei ist er es gewöhnt, im Auto zu reisen. Wir haben unsere besten Männer im Kriege verloren. Dies hier bleibt uns — er wies auf einen Stein mit einer langen Reihe von Namen —, wir haben genug davon ..."
Wir gingen mit ihnen in den Verein, in dem später die Ortsgruppe der Partei tagte.

Ich reiste mit den verschiedensten Beförderungsmitteln, im Wagen, mit dem Rad, zu Pferde, im Flachland auch mit den üblichen Verkehrsmitteln. In einem Ort weihte ich unter anderem einen Gedenkstein für die im Kriege Gefallenen ein. Die Feierlichkeiten spielten sich in den Hauptstraßen ab. Es existierte bereits ein Gedenkstein für die „Herren", wie die Kriegsteilnehmer ihn nannten.
„Den da", sagte ein stämmiger ehemaliger Gebirgsjäger zu mir, „haben die Reichen und die Reklamierten gestiftet, und eingeweiht haben ihn der Präfekt, der Pfarrer und die Reichen. Es steht da viel vom Vaterland und solchen Geschichten ... Unseren Stein soll nur das Volk einweihen ... Wir wollten das schon an dem Tage machen, als die ,Herren' ihren eingeweiht haben, aber um keinen Ärger zu bekommen, haben wir es verschoben. Unsere Gefallenen sollen geehrt und nicht beschimpft werden."
Keine patriotische Redensart stand auf dem Stein. Er war einfach, rau und massig wie die Berge und wie die Gefallenen.
Dann musste ich ein graues Eselchen besteigen und den Aufstieg nach der letzten Gemeinde des Bezirks beginnen. Dort oben erwarteten mich etwa hundert Veteranen. Mit dem Esel, der langsam und vorsichtig ging, brauchte ich mehr als vier Stunden für den Aufstieg. Oben fand ich Schneemassen vor und die Veteranen und auch unsere Zeitungen. Die Veteranen begrüßten uns wie alte Freunde.
„Ich kenne deinen Namen", sagte einer von ihnen zu mir. „Wir beziehen hier, oder vielmehr einer von uns bezieht die sozialistische Zeitung ,Lotte Nuove'. Sie ist immer rasch gelesen" — das war eine Anspielung auf die Zensur — „aber wir verstehen trotzdem alles. Ihr habt es nicht leicht."
„Sind schon Redner von anderen Parteien hier oben gewesen?" fragte ich.
„Nein, und sie werden auch nicht kommen, dessen bin ich sicher. Sie trauen sich nicht, auch wenn es Giolittianer sind."
Die Versammlung nahm einen sehr interessanten Verlauf. Das Echo der Kämpfe in Italien und in der Welt drang nur abgeschwächt hierher. Es wurden zahllose Fragen gestellt, und im Mittelpunkt stand auch hier die russische Revolution.
Bis tief in die Nacht hinein sprach ich mit den wackeren Genossen. Ich schlief in einer „Baita", einer halb in den Fels gegrabenen armseligen Behausung, die der Schuhmacher des Ortes, ein erbitterter Antiklerikaler, bewohnte. Er hatte den ganzen Raum mit Illustrationen aus dem „Asino" tapeziert und erzählte mir lachend, dass die Magd des Priesters, wenn sie ihm die Schuhe des Pfarrers brachte, um sie benageln zu lassen, sich immer bekreuzigte.
„Ü brigens", betonte er, „ist der Pfarrer kein schlechter Mensch. Er ist ein armer Teufel wie wir alle ... Ich weiß nicht, warum wir uns so an diese Felsen klammern. Ich bin in Amerika gewesen und habe dort immer nur an diese Zacken, Schluchten und Gletscher gedacht. Ich bin der einzige aus dem Ort, der nicht zurückgekommen ist, um in den Krieg zu ziehen."
Den Rückweg machte ich ebenfalls auf dem Eselchen. Wenn sich unterwegs eine Gelegenheit bot und ich auf den Märkten einem Redner begegnete, antwortete ich ihm. Manchmal musste ich gegen Pfarrer diskutieren. Selbstverständlich wimmelte es von Giolittianern und Würdenträgern.
Dann bereiste ich eine andere Talebene. Hier habe ich ein paar ergötzliche Geschichten erlebt, von denen ich eine erzählen will.
Ein Telegramm vom Verband unterrichtet mich, dass ich in einem nicht weit entfernten Ort erwartet wurde. Er war im Programm nicht vorgesehen. Ein klappriger Wagen, der von einem Maultier gezogen wurde, das dem Fahrzeug alle hundert Meter einen Fußtritt versetzte, brachte uns dorthin. Als wir ankamen, war die Demonstration schon im Gange. Eine Ortsgruppe der Partei gab es nicht. Mehrere Bauern kamen mir entgegen. Wir strebten der Spitze des Zuges zu.
Hochrufe, Hüteschwenken, Händeklatschen. Ich sah mir die Fahnen an. Sie waren alle mehr oder weniger rot. Die erste trug die Aufschrift „Brüderschaft der Heiligen Anna", auf einer anderen las ich „Erster Preis beim Wettrennen". Ich war verblüfft. Wohin war ich eigentlich geraten? Die Genossen, die mich begleiteten, sahen mich verständnislos an...
„Ich achte nicht auf die Inschriften der Fahnen", sagte plötzlich ein uns begleitender Bauer, „ich achte nur auf die Farbe. Wir haben keine Zeit gehabt, uns die Fahnen der Veteranen-Konsumgenossenschaft und des Bauernverbandes zu besorgen, und darum haben wir die genommen, die wir hatten. Ein so großartiges Fest ohne ein bisschen Rot wäre kein Fest gewesen."
Wir hatten die Spitze des Zuges erreicht. Vier Musikanten spielten die Arbeiterhymne so, dass Turati oder der Kommissar in meinem Ort sie bestimmt nicht erkannt hätten. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Auf dem Gemeindeplatz fand die Versammlung statt. Der Ortsvorsteher — er spielte den Liberalen — stellte uns als Tribüne den kleinen Balkon des Gemeindehauses zur Verfügung. Begeisterung, Reden, Bankett. Die beiden Carabinieri, die für Ordnung sorgen sollten, wurden am Abend von allen Seiten zum Trinken aufgefordert und tanzten vergnügt mit schiefen Hüten und glänzenden Augen.
Als ich zum Provinzialverband nach Cuneo zurückkehrte, stellten die Genossen erstaunt fest, dass ich nicht einmal eine Beule aufzuweisen hatte. Und dabei hatte ich auch in Giolittis Hochburg Dronero im Theater gesprochen. Man hatte gepfiffen, ein Rechtsanwalt hatte gegen mich geredet, aber ich hatte sprechen können. Giolitti war natürlich nicht da, nicht etwa, weil er sich vom Wahlkampf fernhielt, sondern aus einem ganz anderen Grunde. Er war auf einer Rundreise durch die größeren Städte, wo er die von ihm selbst geschaffenen Ritter um sich versammelte, Händedrücke austeilte und trotz seines Alters wie ein Neger arbeitete. Er spürte, dass seine Stellung nicht so unerschütterlich war wie vor dem Kriege.

In den größeren Städten der Provinz war der Kampf auf dem Höhepunkt angelangt, und im übrigen Italien war es nicht anders. Der Vatikan unterstützte trotz seiner feindseligen Haltung gegenüber der italienischen Regierung (die für ihn der Usurpator Roms war) die Volkspartei und die konservativen Parteien. In der ganzen Provinz waren wir vielleicht zehn Genossen, die es in öffentlichen Diskussionen mit den Gegnern aufnehmen konnten, denen vier umherreisende Minister nebst den „Organisationen" der Ordensträger und der Pfarrer sowie Geld und Autos zur Verfügung standen. Unsere Beförderungsmittel waren Motorräder mit Beiwagen, Fahrräder, Postkutschen und Straßenbahnen.
Um mich als Gegenreferenten zu einer Versammlung zu bringen, beförderten die Straßenbahner mich einmal, da der letzte Wagen schon abgefahren war, mit einem Sonderwagen. So konnte ich gegen den Minister von der Volkspartei sprechen, einen der Kunden, denen ich in dem Laden, in dem meine Laufbahn als Friseur begonnen hatte, den Bart einseifte.
Einmal gelang es uns, eine Versammlung ausfindig zu machen, auf der Giolitti sprechen sollte. Es war in Savigliano, dem Zentrum der Metallindustrie in der Provinz. Mit einer Gruppe von Arbeitern begab ich mich an den Versammlungsort. Es war eine Schule. An der Tür stand ein Schwarm von Polizisten und Carabinieri.
„Es handelt sich um eine geschlossene Versammlung", erklärte mir der Kommissar der Sicherheitspolizei, der mich kannte. „Sie dürfen nicht hinein." Der Eintritt war nur mit einer Karte möglich, die wir nicht hatten. Daraufhin improvisierten wir eine Versammlung vor der Schule, aber der Mann der Römischen Bank und Held von Libyen kam nicht heraus, sondern sprach nur zu seinen Würdenträgern.
In Vinadio, hoch im Gebirge, bestand meine Zuhörerschaft aus Gebirgsjägern. Ich sprach vor der Kaserne. Die Soldaten beteiligten sich von innen — sie hatten Kasernenarrest — an der Kundgebung der Gebirgsbewohner...
Der Abgeordnete Cassin, ein giolittianischer Bankier, der den Veteranen in Entraque ein Essen gegeben hatte, um zu ihnen sprechen zu können, erlebte einen „glänzenden" Empfang. Die Veteranen erwiesen dem Essen alle Ehre, aber als der Bankier sprechen wollte, erhob sich einer von ihnen und sagte:
„Genossen! Draußen wird in wenigen Minuten ein sozialistischer Redner sprechen. Ich fordere alle auf, sich ihn anzuhören, auch den Abgeordneten Cassin. Dort kann er dann seine Rede halten, wenn er will."
Lauter Beifall brauste auf, und die Veteranen verließen die Schule in geschlossenem Zuge. Sie sangen „Bandiera rossa" und ließen den giolittianischen Bankier mit dem Pfarrer, dem Bürgermeister, dem Postenkommandanten, dem Notar und der ... Rechnung zurück. Sie marschierten auf den Platz. Der Abgeordnete Cassin kam natürlich nicht und fuhr schwer verärgert ab.
In Valdieri — damals hatte der König dort einen Sommersitz — glaubten wir, dass wir nur die „Königlichen Garden" zu sehen bekommen würden. Das kleine Dorf, in einem wundervollen Winkel der Alpen versteckt, war im Belagerungszustand! Aber die Veteranen erschienen trotzdem, während die Versammlung, die die Liberalen zur gleichen Stunde im Rathaus einberufen hatten, verlassen wurde. Im folgenden Jahr eroberten wir diese Gemeinde für die Sozialistische Partei. In einer der ersten Sitzungen des Gemeinderats wurde der Antrag angenommen, den König mit einer jährlichen Steuer von achttausend Lire für seine Villa zu belasten. Man kann sich den Skandal vorstellen.
Durch die Wahlen gelangten 156 sozialistische Abgeordnete bei einer Gesamtzahl von 508 Sitzen ins Parlament. Ich war als Kandidat aufgestellt, und viele meiner Kunden konnten es nicht fassen, dass ihr Friseur das „Risiko" auf sich nahm, Abgeordneter zu werden. Ich fiel aber durch, und nicht nur diesmal. Ich kann eine beträchtliche Zahl von Misserfolgen auf mein Konto buchen!
In unserer Provinz bekamen wir vier sozialistische Abgeordnete. Die Giolittianer gingen von zwölf auf drei zurück, die Volkspartei erhielt vier Sitze, und die Anhänger Nittis mussten sich mit einem Abgeordneten begnügen. Es war also ein großartiger Erfolg. Als aber die sozialistischen Abgeordneten in Rom eintrafen, wurden sie von den Faschisten überfallen und misshandelt.
Als meine Mutter das erfuhr, meinte sie:
„Welch ein Glück, dass du durchgefallen bist!"
Als ich, auch ohne Abgeordneter zu sein, misshandelt wurde, war sie völlig fassungslos.

Die Bewegung des „Ordine Nuovo" setzte sich besonders in Turin durch, und dies hatte sehr natürliche Gründe. Der riesenhafte industrielle Apparat der Fiat-Werke, die fast einen Staat im Staate darstellten, benötigte ungeheure Arbeitermassen. Diesem Apparat gegenüber hatte die alte Sozialdemokratie versagt. Es ergaben sich neue Forderungen der Volksmassen, neue Notwendigkeiten. Der „Ordine Nuovo" verlieh mit Hilfe seiner lebendigen politischen Erfahrungen ihren Ideen Ausdruck, wobei er sich an die Realitäten dieses stürmischen Umwandlungsprozesses hielt, und gewann die Arbeiter für sich. Gramsci, Togliatti und Terracini lebten in engem Kontakt mit den Massen in den Betrieben. Anfangs nahm der „Ordine Nuovo" eine unentschiedene Haltung ein. Dann wurde das zentrale Problem aufgeworfen: die Betriebsräte.
Gegen diese Richtung wandten sich natürlich die reformistische Gewerkschaftsbürokratie und der parlamentarische und genossenschaftliche Kleinbürgersozialismus. Trotz des Widerstandes der Reformisten und der konservativen Elemente aber ging der Kampf der Turiner Arbeiter um den „Ordine Nuovo" und in den Betrieben weiter.
Im März 1920 fanden in Turin große Demonstrationen statt. In Mailand demonstrierten hunderttausend Menschen zum Amphitheater. Auch die Lehrer traten den Gewerkschaften bei. In Biella wurde in den großen Wollfabriken gestreikt. In Parma und Neapel brach der Generalstreik aus. Vierzigtausend Arbeiter der öffentlichen Dienste waren im Ausstand. Vierzigtausend Landarbeiter streikten in der Provinz Brescia. In der Kammer sangen die Abgeordneten „Bandiera rossa".
Am 6. April riefen die Arbeiter der Papierfabriken den Generalstreik aus. Die Zeitungen waren fast ohne Papier. Die einzige Papierfabrik, die noch arbeitete, war die von Verzuolo in der Provinz Cuneo. Wir waren an Ort und Stelle und veranstalteten bei jedem Schichtwechsel (es wurde durchgehend in drei Schichten gearbeitet) eine Versammlung. Jedes Mal konnten wir eine beträchtliche Zahl von Arbeitern bewegen, dem Betrieb fernzubleiben. Der Ingenieur Burgo, ein ultrareaktionärer Großindustrieller, entschloss sich, die Arbeiter im Betrieb zu beköstigen und unterzubringen.
Seine Belegschaft war auf fünfzig Prozent zusammengeschmolzen. Viele wurden verhaftet und durch Carabinieri abtransportiert, darunter der Sekretär des Papierarbeiterverbandes. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund ließ, wie üblich, auch bei diesem so bedeutsamen Streik nichts von sich hören.
Am 14. April brach in Turin der Generalstreik aus. Im Bezirk Lomellina streikten die Landarbeiter. Der Turiner „Avanti" veröffentlichte Bilder von bewaffneten Arbeitern, die vor den Fabriken Wache standen, und der Parteivorstand, der die Parteivertretung nach Turin einberufen hatte, verlegte die Sitzung nach Mailand, weil in Turin Generalstreik war! Die Eisenbahner, die Post- und Telegraphenarbeiter und die Kommunalbeamten von Oberitalien schlossen sich der Bewegung an. Ein Aktionsausschuss übernahm die Leitung.
In dieser gespannten Atmosphäre tagte die Parteivertretung der Sozialistischen Partei. Um nach Mailand zu gelangen, musste ich mich wieder einmal, wie üblich, mit dem Fahrrad auf den Weg machen. Diesmal musste ich 63 Kilometer bis Turin radeln, um dann mit anderen Genossen im Auto nach Mailand zu fahren. Der Zugverkehr war unterbrochen. In Mailand wimmelte es von Polizisten und Faschisten. Serrati wurde auf der Straße von einem Faschistenführer schwer am Kopf verletzt.
Die Turiner Vertreter beantragten die Ausdehnung der Bewegung. Der Antrag wurde beinahe als Irrsinn betrachtet. Turati, D'Aragona und viele andere sprachen dagegen. Man warf den Turiner Genossen vor, sie sähen nur ihre Bewegung, und was in Italien sonst geschehe, habe keine Bedeutung für sie. Auch Serrati war dagegen.
Inzwischen streikten in Mailand viele Gruppen der Arbeiterschaft, und die Gärung war sehr stark, aber schließlich lehnte die Parteivertretung die Anträge der Turiner Vertreter ab. Die Turiner Arbeiter waren enttäuscht darüber, dass die Tagung der Parteivertretung nicht in Turin stattgefunden hatte. Sie betrachteten das als eine Flucht.
In Turin erschienen die letzten Mitteilungen des Aktionsausschusses. Auch diese Bewegung erlosch, wie so viele andere Massenbewegungen.

Die Tagung der Parteivertretung der Sozialistischen Partei endete früher als der Generalstreik in Oberitalien. Die Eisenbahner waren im Ausstand, und wir mussten aufbrechen. Ich sollte den Vertreter der Kommunistischen Partei Frankreichs zu der Tagung begleiten, den Genossen Loriot, dem ich an der französischen Grenze bei Tenda als Dolmetscher beigestanden hatte. Wir mussten im Auto fahren. Trotz des Streiks der Kraftwagenführer standen der Partei genügend Wagen zur Verfügung. Durch Vermittlung des sozialistischen Bürgermeisters erhielten wir vom Polizeipräsidium die Ausreiseerlaubnis.
Wir brachen auf — Loriot, ein anderer Genosse, der uns in Pavia verließ, der Chauffeur, der auch Genosse war, und ich. Hinter Pavia kamen wir in das Gebiet, in dem der Streik der Landarbeiter schon mehr als fünfzig Tage andauerte. Bei der Einfahrt in ein Dorf — ich glaube, es war Mede Lomellina — wurden wir von einer Gruppe von Streikenden angehalten.
„Die Herren fahren also im Auto?" sagte einer von ihnen, der eine Armbinde trug. „Und wir sollen ein Auge zudrücken, damit die Reichen weiter Profite machen können!"
Die Stimme des Mannes klang sarkastisch und drohend.
„Wir sind Genossen", erwiderte ich.
„Heute sind alle Genossen! Was für Angst sie alle haben!" bemerkte er noch sarkastischer.
Die anderen Landarbeiter hatten den Wagen umringt. Loriot, der den lombardisch-piemontesischen Dialekt der Streikenden nicht verstand, sah sich den Auftritt mit an.
„Steigen Sie aus, der Wagen ist beschlagnahmt!" sagte der Arbeiter grob.
„Lieber Genosse", antwortete ich, „du hast, ehe du einen solchen Befehl gibst, unsere Papiere anzusehen."
Damit reichte ich ihm den Parteiausweis und den Ausweis der Parteivertretung.
Beim bloßen Anblick des Ausweises, noch ehe er ihn las, hatte sich das raue und von der Sonne gebräunte Gesicht des Mannes, auf dem tiefer Groll geschrieben stand, aufgehellt.
Er gab mir die Hand und sagte: „Entschuldige, Genosse, du hast recht." Dann fügte er, nachdem er sich über Loriot informiert hatte, mit lauter Stimme hinzu: „Es sind Genossen, der eine ist ein französischer Delegierter, der andere ist Mitglied der Parteivertretung unserer Partei."
Beifall und Hochrufe. Wir machten uns auf den Weg ins Dorf. Loriot strahlte.
„Wir streiken seit fünfzig Tagen. Niemand hilft uns. Seit vielen Tagen erwarten wir jeden Morgen, und immer vergeblich, einen Sekretär des Landarbeiterverbandes. Niemand kommt. Heute haben wir eine iVersammlung. Die Arbeiter sind müde und misstrauisch. Die Felder sind verlassen ... Die verfluchten Gutsherren! Sie bestellen sich Carabinieri und Sturmabteilungen ... Wir lieben diese Erde, die unsere Freude und unsere Qual ist, auf der wir unser elendes Dasein fristen."
Andere Landarbeiter schlossen sich uns an. Wir gingen schweigend:
„Aber", nahm der Genosse energisch wieder das Wort, „das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Wir haben gekämpft und werden weiter kämpfen. Du wirst heute auf der Versammlung sprechen. Auch der französische Genosse soll sprechen."
Auf dem Dorfplatz wimmelte es von Arbeitern. Nicht ein Carabinieri war zu sehen.
Ich hatte nicht den Mut, diesen Arbeitern zu sagen, dass die Partei den Generalstreik nicht wünschte. Schweigend umringten die Arbeiter die übliche Tribüne, einen Tisch. Als der Genosse mit der roten Binde uns vorgestellt hatte, brach die schweigende Menge der sonnenverbrannten Landarbeiter in tosenden Beifall aus und stimmte die „Internationale" an. Loriot wischte sich zwei dicke Tränen ab, die ihm langsam über das Gesicht liefen.
Zuerst sprach er, dann sprach ich, und dann brachen wir auf. Wir hatten noch einen langen Weg vor uns.
In dem ganzen Gebiet bis Asti, wo die Hügel und die Weinberge beginnen und nicht gestreikt wurde, wurden wir am Eingang jedes Ortes angehalten. Zunächst behandelte man uns als Feinde, dann wurden wir jubelnd begrüßt.
Loriot meinte: „Aber das ist doch die Revolution, man muss unverzüglich handeln!"

Um Mitternacht hielten die Zollbeamten von Cuneo uns zu der üblichen Durchsuchung an. Hundert Meter weiter wurden wir von einer Schar von Polizisten und Carabinieri umringt, die von einem Kommissar mit einer gewaltigen dreifarbigen Schärpe befehligt wurden, und aufs Polizeipräsidium gebracht.
Die ganze Aufmerksamkeit galt dem französischen Genossen. Ich war ja ein alter Bekannter.
„Wir haben erfahren, dass Sie Mailand heimlich verlassen haben ..."
„Heimlich?" erwiderte ich lachend. „Wir haben eine ausdrückliche schriftliche Erlaubnis vom Polizeipräsidenten Gasti" — später war er faschistischer Senator —, „also war es kein Kunststück, das festzustellen!"
„Schweigen Sie!" sagte der Kommissar. Dann wandte er sich an Loriot:
„Wie heißen Sie? Ihre Nationalität?"
Loriot, der kein Wort Italienisch verstand, wandte sich fragend an mich:
„Que dit ce monsieur?"
„Il demande ..."
„Schweigen Sie!" unterbrach uns der Kommissar. „Sie wollen Ihre Antworten verabreden. Ich bin doch nicht blöde."
Ich sagte nichts mehr. Der Kommissar verstand kein Wort Französisch. Nun stelle man sich die Polizisten vor! Es begann das drolligste Gespräch, das ich in meinem Leben je gehört habe. Der Kommissar fragte, und Loriot antwortete unentwegt: „Je comprends pas."
„Dieser Herr", meinte der Kommissar und deutete auf Loriot, „ist Russe, nicht wahr?"
„Als er von Mailand abfuhr, war er Franzose. Wenn Sie glauben, dass er jetzt Russe geworden ist, soll es mir recht sein."
„Machen Sie keine Witze! Ich sage Ihnen, er ist Russe. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber ich weiß es."
„Warum fragen Sie mich dann?" erwiderte ich. „Er wird ja Papiere bei sich haben."
„Eure Papiere kennen wir!" entgegnete der Kommissar sarkastisch.
Schließlich kam ein Dolmetscher, und die Sache wurde geklärt. Es dauerte aber ziemlich lange, bis der Kommissar überzeugt war, dass Loriot französischer Staatsbürger war.
Man schickte uns nach Hause. Am nächsten Tage brach Loriot unter Bedeckung nach der Grenze auf. Er wünschte
sich nichts Besseres. In meinem Ort wurde ich mehrmals auf dem Kommissariat verhört. Man wollte wissen, wo ich den Russen gelassen hatte, der mit mir von Mailand abgefahren war.

Die Krämer in meinem Ort lebten in panischer Furcht. Immer wieder trafen Nachrichten über Plünderungen und Unruhen ein. Eines Tages erschien ein Geschäftsmann bei mir. Ich war gerade bei der Arbeit.
„Mein Herr", sagte er zu mir, „Sie sind der Gewerkschaftssekretär, und deshalb übergebe ich Ihnen die Schlüssel meines Geschäfts. Ich will keine Verantwortung mehr haben."
Verdutzt stand ich da mit dem erhobenen Rasiermesser, während mein Kunde den Mann ebenfalls überrascht betrachtete.
„Ich bin nicht der einzige, der so denkt. Verschiedene andere sind derselben Meinung ... So kann es nicht weitergehen! Nehmen Sie sich die Läden, gründen Sie Genossenschaften, wir wollen dann Angestellte sein, aber bringen Sie ein bisschen Ordnung hinein. So geht es nicht weiter ..."
„Hören Sie mal", sagte ich, „Sie haben Ihren Laden ausgeräumt, wir wissen, wo Sie die Ware versteckt haben." Ich wusste gar nichts. „Und dann kommen Sie hierher und bieten uns die Schlüssel an ..."
„Das ist nicht wahr!" stammelte der Mann erschrocken.
Ich hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, es war wirklich so.
Unsere wenigen Sachen waren aus dem „Familienverein" fortgeschafft worden. Wir besaßen ein paar Bänke, eine kleine Registratur und viel Glauben, aber niemand wollte uns zwei Zimmer vermieten. Wir machten uns auf die Suche. Man bot uns einen Lagerraum an. Dort brachten wir unsere Sachen provisorisch unter. Der Raum lag zu ebener Erde. Es war eine alte Kirche, die Trümmer des Altars waren noch zu sehen. Das Gewölbe war nicht hoch, weil man ein Stockwerk für Wohnzwecke eingerichtet hatte, das von einem rohen Pfeiler gestützt wurde. Der Raum war aber groß genug. Als wir einzogen, ergriff ein Heer von Mäusen und Käfern die Flucht.
Zunächst waren wir unentschlossen, dann aber beschlossen wir, uns dort niederzulassen. Es hätte uns sowieso niemand sonst aufnehmen wollen. Nach zwei Wochen war aus dem Lagerraum ein prächtiger Saal geworden. Solche Wunder können nur Arbeiter vollbringen. Ohne Geld vollbrachten die Maurer, die Tapezierer und die Tischler von der Gewerkschaft das Wunder. Alle strahlten. Wir hatten wieder ein Dach über dem Kopf. Und einen langen Vertrag. Der Hausbesitzer erkannte seinen elenden Lagerraum nicht wieder und dachte schon daran, die Miete zu erhöhen.
Bald danach hatten wir auch unsere Parteiwochenschrift, den „Lavoro".
Bei den Kommunalwahlen, bei denen wir zum ersten Mal mit einem Klassenprogramm auftraten, brachten wir eine Minderheit von sieben Genossen in den Gemeinderat. Die Bürger aller Schattierungen hatten sich gewaltig anstrengen müssen, um zu verhindern, dass wir die Mehrheit errangen. Es war ihnen nur knapp gelungen.

Am 20. August 1920 begann die Besetzung aller größeren Betriebe Italiens.
Am 5. September wehte über den Turiner Metallfabriken die rote Fahne. Die Aktionen griffen auf viele Gegenden Italiens über. In vielen Orten besetzten die Bauern unter roten Fahnen die Ländereien.
Die Besetzung der Turiner Fabriken war erfolgt, nachdem die Unternehmer mit der Aussperrung gedroht hatten. In den ersten Tagen waren die Arbeiter noch unentschlossen, da auch ein großer Teil der Techniker und der Angestellten die Betriebe verlassen hatte. Aber das dauerte nicht lange. Bald trat der Betriebsrat in Funktion. Betriebsratsvorsitzender der Fiat-Werke, des größten Turiner Industriebetriebs, war der Metallarbeiter Giovanni Parodi, der einige Jahre in Russland war und jetzt in Portolongone eine Zuchthausstrafe von 21 Jahren verbüßt. Er war ein prächtiger Revolutionär. Seine erste Sorge galt der Produktion und der Leitung des Betriebs, dann widmete er sich den Verteidigungsmaßnahmen.
Die Unternehmer waren wütend auf die Regierung, weil diese nichts gegen die Betriebsbesetzungen unternahm. Giolitti, der alte Fuchs, ließ die Dinge treiben. Offenbar rechnete er auf Unterstützung seitens der Führer des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes, die denn auch nicht ausblieb. D'Aragona hat sich mehrmals gerühmt, die Revolution in Italien verhindert zu haben. Gewaltsamer Widerstand gegen die Besetzungen, dachte der alte Fuchs von der Römischen Bank, hätte zu einer schweren Krise und zur Revolution in Italien geführt.
Hierzu erzählt man sich eine Anekdote. Man sagt, eine Kommission von erbosten Turiner Unternehmern habe sich nach Bardonecchia begeben, wo Giolitti seinen Urlaub zu verbringen pflegte. Sie fragten Giolitti, was er gegen die Besetzungen zu tun gedenke.
„Lassen Sie die Dinge laufen, nachher werden wir sehen!"
„Es muss verhindert werden, dass die Arbeiter sich in den Fabriken festsetzen. Sie müssen mit Gewalt vertrieben werden, dazu ist die Regierung verpflichtet", sagte einer der Unternehmer, „nötigenfalls mit Geschützen."
„Schon gut", soll der Ministerpräsident seelenruhig geantwortet haben, „geben Sie mir die Anschrift Ihres Betriebs, wir werden ihn zusammenschießen."
So erzählt man, und es scheint, die Unternehmer haben den Wink verstanden.

In meiner Provinz wurde nur eine Fabrik besetzt, die Maschinenfabrik in Savigliano. Die anderen waren nur klein. Die Besetzung ging im allgemeinen folgendermaßen vor sich. Eine bereits besetzte Fabrik brauchte bestimmte Rohstoffe und Fertigwaren für ihre Produktion. Daraufhin wurde die Fabrik besetzt, die diese Produkte liefern konnte. Das ging ohne besondere Schwierigkeiten vor sich, weil das Militär und die Polizei nicht eingriffen.
Während der Besetzung veranstaltete ich mehrere Versammlungen in dem Betrieb in Savigliano. Er beschäftigte 1200 Arbeiter. Sie waren begeistert. Viele Techniker und Angestellte — es waren die meisten — arbeiteten weiter. Während der Besichtigung des Betriebes, vor dem Beginn der Versammlung, die im Fabrikhof stattfinden sollte, sagte ein Ingenieur zu mir:
„Die Produktion ist normal, sie scheint sogar zu steigen. Niemals habe ich die Arbeiter so diszipliniert gesehen. Und dabei arbeiten sie mehr als früher ... Sie verstehen ..." Das war eine Anspielung auf die Verteidigungsvorbereitungen. „Dann stehen sie noch Wache. Ich halte es für meine Pflicht, im Betrieb zu bleiben und weiterzuarbeiten, und das tue ich."
Bei meiner ersten Besichtigung, während ich über einen der halb dunklen Höfe ging, wurde ich von jemand angerufen:
„Wer da? Stehen bleiben!"
Ich blieb stehen.
„Wer bist du? Wo willst du hin? Hast du einen Passierschein?"
Noch ehe ich antworten konnte, hatte der Arbeiter, der mit einer Blendlaterne versehen war, mich erkannt.
„Warum lässt du dich nicht begleiten? Sieh mal her!" Er trug eine sehr originelle Waffe. An einer Stange war eine einen halben Meter lange Stahlspitze befestigt. Damit konnte er einen Menschen wie einen Vogel aufspießen.
„Du hast Glück gehabt", meinte er lächelnd.
Als ich wiederkam, hatten die Wachen ein Gewehr umgehängt, und ihre Patronentaschen waren gut gefüllt.
Ü berall in Italien wehten rote Fahnen. Die Begeisterung der Arbeiter war groß. Man wartete ab und trieb inzwischen eifrige Vorbereitungen. Die Unternehmer waren sehr aktiv. Die führenden Funktionäre hatten sich in Erwartung einer Entscheidung über die Turiner Bewegung nach Mailand begeben. Dann machten sie Vorschläge, und die Regierung übernahm die feierliche Verpflichtung, die Arbeiterkontrolle in den Fabriken zu genehmigen.
D'Aragona, Colombino und ihre Freunde — heute sind die meisten zu den Faschisten übergegangen — erschienen auf dem Schauplatz, um Zweifel zu säen und die Versprechungen der Unternehmer und der Regierung anzupreisen.
In Turin, wo der linke Flügel der Sozialistischen Partei die Bewegung leitete, wo der „Ordine Nuovo" und der „Avanti" die Betriebsrätebewegung popularisiert hatten, war die Sache schwieriger. Aber der Zweifel, die Unentschlossenheit, die Müdigkeit vom ewigen Warten hatten ihr Werk schon getan. Die Bewegung erlosch. Im Turiner „Avanti" war das Leben im Betrieb das Hauptthema aller Diskussionen. « Gramsci war immer von diskutierenden Arbeitern umringt.
Die Rückgabe der Betriebe erfolgte bald danach.
Giolitti hatte nicht mit Unrecht auf die Mitarbeit der Reformisten gerechnet. Damals erzählte man sich, ein Unternehmer habe beim Anblick D'Aragonas einen Kollegen auf ihn aufmerksam gemacht mit den Worten: „Sieh mal, der dort hat Italien gerettet!"
Giolitti ließ alsbald einen Gesetzentwurf über die Einführung der Kontrolle in den Betrieben veröffentlichen. Während die Diskussion einsetzte und die Unternehmer ihre Betriebe wieder in Besitz nahmen, verstärkte und organisierte sich die Reaktion. Trotz der von den Reformisten gepriesenen Versprechungen der Regierung fanden zahlreiche Verhaftungen von Arbeitern, die in der Zeit der Fabrikbesetzungen besonders aktiv gewesen waren, statt.
Im Bewusstsein der üb erstandenen Gefahr rüsteten die Unternehmer energisch zum Angriff gegen die Arbeiterklasse, zu einem Angriff in großem Stil. Sie griffen tief in die Tasche, und überall tauchten die gut ausgerüsteten und bewaffneten Faschistenbanden auf. Es begann die Zeit des brutalen Angriff s gegen die Arbeiter- und Bauernorganisationen, und die Sache endete mit dem Machtantritt Benito Mussolinis, des Führers der Schwarzhemden.
Nicht alle Waffen, die die Arbeiter sich während der Fabrikbesetzungen beschafft hatten, konnten beschlagnahmt werden. Sie wurden an allen möglichen Orten in Sicherheit gebracht. Auch zu uns gelangten welche.
Die Reaktion stürzte sich auf die Gewerkschaften, die Zeitungen, die Genossenschaften und die Aktivisten der Revolution. Jeden Tag kam es zu Brandstiftungen und Morden, während die heldenhaften Arbeiter, die die Fabriken in der Hand gehabt hatten, und die Bauern, die die Güter besetzt hatten, ihr Urteil in den Zuchthäusern Italiens erwarteten.
Der „Avanti" wurde von faschistischen Banden überfallen, das Gewerkschaftshaus in Turin wurde in Brand gesteckt.
Der Allgemeine Gewerkschaftsbund diskutierte den Gesetzentwurf über die Betriebskontrolle, der als einer der größten Siege des italienischen Proletariats bezeichnet wurde. Heute, nach Jahren, erkennt man, was es mit der großen Errungenschaft auf sich hatte, die die italienischen „Bolschewisten" — so nannten die Reformisten den linken Flügel der Sozialistischen Partei — schon damals als Verrat bezeichnet hatten.

Nach dem Zwischenspiel der Fabrikbesetzungen wurde die Diskussion zwischen dem linken Flügel, dem Zentrum und dem rechten Flügel der Sozialistischen Partei noch lebhafter. Die Fabrikbesetzungen wurden von den Reformisten nicht nur als Beweis für die Unfähigkeit der „Bolschewisten" zur Leitung der Produktion ausgenutzt. Die Polemik war außerordentlich erbittert. In den letzten Tagen des Jahres griff Lenin polemisch in die Debatte mit Serrati ein.
Die Reformisten bestritten die Möglichkeit einer Aktion in Italien. Serrati bestritt sogar in der Polemik mit Lenin, dass die Vorfälle in Ancona (Revolten unter den für Albanien bestimmten Truppen), die Besetzung der Fabriken und der Ländereien, die Teuerungsunruhen und die Turiner Ereignisse Beweise für eine revolutionäre Situation seien, die die von den Reformisten beherrschte Partei nicht auszunützen verstanden und sich selbst überlassen habe. Lenin hatte kein Verständnis für den von Serrati (der später seinen Irrtum einsah) geführten italienischen Zentrismus und lehnte die weitere Mitarbeit im „Comunismo", dem theoretischen Organ der Sozialistischen Partei, ab.
In meiner Provinz war der Kampf sehr heftig. Der Sieg war uns fast sicher. Wir erhielten nicht sehr viel mehr Stimmen, aber doch die Mehrheit. Insgesamt wurden für die Kommunisten 1356, für die Maximalisten (Serrati) 958 und für die Reformisten 36 Stimmen abgegeben.
In Livorno war die Atmosphäre geladen. Auf den Straßen kam es häufig zu Zusammenstößen mit den Faschisten. Auch im Teatro Goldoni, wo die Sitzungen des Parteitages stattfanden, waren die Auseinandersetzungen sehr heftig. Der Genosse Kabaktschijeff, der als Vertreter der Kommunistischen Internationale sprach, wurde im Laufe seiner Rede immer wieder wütend unterbrochen. Die Reformisten machten sich in Ermangelung anderer Argumente sogar über den Namen des Vertreters der Kommunistischen Internationale und über seine äußere Erscheinung lustig. Die Mehrheit erhielten bekanntlich die Maximalisten (Serrati), aber der eigentliche Sieger war, wie sich später zeigte, Turati.
Zuweilen kam es auf dem Parteitag zu wilden Szenen. Die Maximalisten stimmten „Bandiera rossa" an, wir sangen die „Internationale", die Reformisten sangen die Arbeiterhymne. Dieses musikalische Zwischenspiel — wir sind doch wohl ein Volk von Musikern? — vermochte uns zwar nicht zu versöhnen, aber es erschöpfte uns wenigstens, so dass wieder verhältnismäßige Ruhe eintrat.
Als wir Kommunisten nach der Abstimmung unter dem Gesang der „Internationale" uns in geschlossenem Zuge in das San-Marco-Theater zum Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Italiens als Sektion der Kommunistischen Internationale begaben, war es, als ob die Seele des Parteitags mit uns ging.
Die Zurückgebliebenen waren schweigsam. Das Theater war nicht nur physisch leer.
Als ich als einer der letzten den Raum verließ, sah ich in einer Ecke Serrati, der uns totenbleich nachblickte. Ich erinnere mich noch an die Worte des Genossen Marabini kurz vor dem Auszug, am Schluss seiner Rede:
„Du bist ein Revolutionär, Serrati, du kommst noch zu uns zurück."
Anselmo Marabini war ein Prophet.

Nach dem Turiner Parteitag wurde der Kampf für die Kommunisten sehr schwer. Auf der einen Seite wurde die Reaktion immer stärker, auf der anderen kämpften wir gegen die Sozialisten, von denen wir uns getrennt hatten.
Auf dem I. Provinzialkongress der Kommunistischen Partei wurde ich zum Bezirkssekretär gewählt. Von den sieben Wochenschriften in der Provinz waren uns vier geblieben. Sie sollten zu einem Provinzorgan zusammengefasst werden. So entstand aus den vier Blättern — dem „Lavoro", der „Riscossa", dem „Sole dell'Avvenire" und der „Falce"— die„Ris-cossa" als Organ des Bezirksverbandes Cuneo. Es war ein erster Schritt. In der Sozialistischen Partei hatten wir dieses Problem niemals lösen können. Immer waren die Genossen dagegen gewesen, die auf ihre Zeitung nicht verzichten wollten. Mit den sieben kleinen Blättern im Provinzialverband der Sozialistischen Partei hatten wir sehr schlechte Musik gemacht ...
Ich erhielt den Auftrag, die vier Wochenschriften zu leiten und ihre Zusammenlegung vorzubereiten. Auf dem Provinzialkongress der Gewerkschaften erhielt die kommunistische Richtung gegenüber den Sozialisten die Mehrheit. Wenige Tage darauf erhielt ich einen von Bordiga unterzeichneten Brief des Exekutivkomitees der Partei, in dem mir der Posten des Gewerkschaftssekretärs angeboten wurde. Ich wies darauf hin, dass ich schon Bezirkssekretär war ... Man erwiderte mir, ich hätte zwischen meinem Friseurladen und der ... Partei zu wählen. Ich wählte sofort die Partei und wurde Berufsrevolutionär.
Es war im März 1921, in der Zeit, als der offene Kampf der Reaktion gegen die italienische Arbeiterbewegung begann. Ich sollte nach Cuneo übersiedeln. Einige Jahre vorher wäre das für die verschiedenen Reaktionäre des Städtchens eine gewisse Genugtuung gewesen. Jetzt hatten sie andere Dinge im Kopf, und außerdem besaßen wir eine starke kommunistisch gebliebene Ortsgruppe — abgesehen von zwei Leuten, die nicht einmal eine Gruppe der Sozialistischen Partei ins Leben zu rufen versuchten —, eine starke Gewerkschaftsgruppe, eine Gruppe im Gemeinderat und Betriebsgruppen.
Die Faschisten erwiesen unserem Gewerkschaftshaus die Ehre des ersten Überfalls in der Provinz. Zum zweiten Mal aber versuchten sie es erst nach dem Marsch auf Rom, das heißt, als sie — unsere Genossen waren eingekerkert — ungestört alles in Brand stecken konnten.
Warum kamen sie nach dem ersten Versuch nicht mehr wieder? Die Soldaten des 34. Infanterieregiments, die die Wache stellten, und zwar ohne Offiziere, weil man hoffte, sie würden sich zerstreuen, hatten das Haus mit der Waffe verteidigt. Es waren alles Rekruten aus Toscana, die die Greuel des Faschismus in ihren Dörfern mit eigenen Augen gesehen hatten, und es war allgemein bekannt, dass die Faschisten sich beim geringsten Widerstand aus dem Staube machten, um mit überlegenen Kräften zurückzukehren. Johlend zogen sie durch die Stadt und beschimpften, verprügelten und bespieen die wehrlosen Bürger. Als sie genug Heldentaten vollbracht zu haben glaubten, zogen sie mit zwei Lastkraftwagen ab, wie sie gekommen waren.
Nicht weit von dem Ort entfernt wurden sie von Gewehrfeuer empfangen. Als der Führer der Bande rief: „Faschisten zu uns!" antwortete niemand. Es war Nacht. Sie riefen den Chauffeuren zu, sie sollten schneller fahren, um die Verwundeten — es waren nicht wenige — ins Krankenhaus zu schaffen.
Am nächsten Tage wurden alle bekannten Kommunisten verhaftet. Ich war in meiner Eigenschaft als Gewerkschaftssekretär unterwegs. Auf die Nachricht hin kehrte ich sofort zurück, um festzustellen, worum es sich handelte. Ich begab mich auf das Kommissariat, um mich zu erkundigen. Ich wurde von dem Kommissar und von einem Carabinierileutnant empfangen, der zur Untersuchung erschienen war.
„Wir haben hier keine Rechtsanwälte", sagte ich, „ich bitte daher um Aufklärung, warum meine Genossen verhaftet worden sind."
Der Leutnant erwiderte sarkastisch:
„Sie haben den Mut, hier zu erscheinen, und besitzen die Frechheit, sich zu erkundigen, was den verhafteten Kommunisten vorgeworfen wird ... Sie wissen sehr gut, dass sie auf die Wagen der faschistischen Ausflügler geschossen haben."
„Es geht hier nicht um Frechheit oder Mut, es geht um das Recht."
„Sie als der Hauptverantwortliche", sagte der Leutnant, „müssten auch verhaftet sein."
„Warum verhaften Sie mich nicht?" fragte ich.
„Die Regierung möchte nicht durch eine Verhaftung in diesem Augenblick dazu beitragen, dass Sie zum Abgeordneten gewählt werden", sagte der Leutnant.
„Das alles geht mich nichts an. Ich bin hierher gekommen, um für die gesetzliche Verteidigung meiner verhafteten Genossen zu sorgen. Die andern machen die Überfälle, und die Kommunisten kommen ins Gefängnis. Ob ich schuldig bin oder nicht, jedenfalls bitte ich um präzise Angaben."
„Die verhafteten Kommunisten werden beschuldigt, auf zwei Lastwagen mit faschistischen Ausflüglern geschossen zu haben, die die Stadt besichtigen wollten. Sie haben etwa zehn Verwundete, darunter einen Schwerverwundeten. Es liegen ernste Verdachtsgründe gegen die Kommunisten vor", schloss er.
Ich hatte schon begriffen. Sie waren verhaftet, weil sie Kommunisten waren, aber Beweise gab es nicht. Es wurden alle möglichen Häuser von Nachbarn, Verwandten, Freunden, Verlobten der Verhafteten durchsucht, aber Gewehre wurden nicht gefunden. Trotzdem hatte man die Patronenhülsen eingesammelt, und die Verwundeten stöhnten im Krankenhaus. Die Genossen wurden wegen Mangels an Beweisen nach Ablauf der gesetzlichen Frist entlassen.
Deshalb also kamen die Faschisten nicht wieder, um — wie der Leutnant gesagt hatte — einen Ausflug zu machen und die Stadt zu besichtigen.
In Cuneo hielt ich mich nur ein paar Tage in der Woche auf. Ich war immer unterwegs, von einer Ortsgruppe zur anderen, auf Gewerkschaftsversammlungen und politischen Versammlungen, um unsere kommunistischen Genossen in den Gemeindeverwaltungen zu beraten. Die Zeitung machte ich unterwegs oder während des Wartens auf Anschluss. Das Handwerkszeug des perfekten Journalisten — Schere, Klebstoff, Papier und Schreibfedern — hatte ich immer bei mir.
Die Reaktion wurde stärker. Nach Cuneo, das nicht weit von der französischen Grenze entfernt liegt, kamen Hunderte von Flüchtlingen aus Toscana, Lomellina und Emilia, die sich vor den Faschisten und der Polizei im Ausland in Sicherheit bringen wollten und uns um Unterstützung baten. Jeden Tag erschienen sie im Gewerkschaftshaus, mussten dann aber Verabredungen an anderen Orten in der Stadt treffen, weil die Polizei wachsam war.
Eines Tages erschien bei mir einer, der wie ein Arbeiter aussah. „Guten Tag", sagte er, „bist du der Gewerkschaftssekretär?"
„Wer bist du denn?" fragte ich.
„Ich bin Genosse, der Gewerkschaftssekretär von Pavia schickt mich, um ..."
„Zeige mir deine Papiere!" unterbrach ich ihn.
Sein Gesicht gefiel mir nicht.
„Siehst du", erwiderte er, „sie haben mir keine Papiere gegeben, der Sekretär war nicht im Büro. Es liegt ein Haftbefehl gegen mich vor. Du musst mir sofort über die Grenze helfen."
„Gut", sägte ich, „komm heute abend um neun auf den Exerzierplatz, wo die Landstraße vorbeiführt."
Er ging. Auf einen Wink von mir folgte ihm ein Genosse. Der gute Mann ahnte nichts und ging schnurstracks zum Polizeipräsidium. Ich hatte mich nicht getäuscht.
Am Abend erschien er pünktlich zur Verabredung. Statt der Unterstützung für den Grenzübergang erhielt er eine Tracht Prügel.
Eines Tages wurde ich vor Gericht geladen.
„Es liegen schwere Beschuldigungen gegen Sie vor", sagte mir der Richter, „wegen Begünstigung der illegalen Auswanderung."
Er sah mich über seine Brille hinweg an. Ich wartete ab.
„Haben Sie nichts zu sagen?"
„Nichts, ich bin ganz Ohr", erwiderte ich.
„Sie schaffen viele Arbeiter an die Grenze, wir haben Beweise."
„Ich schaffe Arbeiter an die Grenze? Ich verstehe nicht..."
„Ja, wir haben mehrere Briefe von Ihnen an Arbeiter beschlagnahmt, die illegal über die Grenze gehen wollen, und es handelt sich fast immer um Personen, die von der Polizei gesucht werden."
„Was steht denn in meinen Briefen?"
„Es sind Empfehlungen, um Arbeit zu finden", antwortete der Richter.
„Das gehört zu meinem Beruf."
„Aber warum schicken Sie sie alle nach Tenda?" fragte er sarkastisch.
„Sagen Sie mir doch, wo in der Provinz sonst Arbeit zu finden ist ... In Tenda ist das Elektrizitätswerk und das Bergwerk, und dann sind dort die Ausschachtungsarbeiten für die Strecke Cuneo—Nizza ..."
Das stimmte. Andere Arbeitsmöglichkeiten gab es in der Provinz nicht. Man hatte aber viele Briefe an Arbeiter beschlagnahmt, in denen ich sie beim Bergarbeiterverband in Tenda empfahl. Jemand behauptete, diese Briefe bedeuteten, dass man sie nach Frankreich schaffen solle. Nochmals wurde ich unterbrochen. Man stellte mich einem Verhafteten gegenüber, aber es kam nichts dabei heraus. Der Richter sah sich gezwungen, entgegen seiner Absicht das Verfahren wegen Mangels an Beweisen einstellen zu lassen.

„Ordine Nuovo". Aus der theoretischen Zeitschrift war eine Tageszeitung geworden. Wir standen mitten im Kampf. Gramsci schrieb seine kurzen Artikel, die von der Masse gelesen und verstanden wurden, und seine ätzenden Glossen. Der Gegner war ins Herz getroffen. Die Schlagzeilen waren Schlachtrufe. Auch der Angriffsplan der faschistischen Banden wurde für die Massen studiert und analysiert. Der Angriff in Turin musste jeden Augenblick kommen. Die Bourgeoisie wollte die Revanche. Sie wollte das Proletariat vernichten.
Wenn ich einen freien Abend hatte, fuhr ich nach Turin. Um neun brach ich auf und war um Mitternacht beim „Ordine Nuovo". Halb fünf Uhr morgens fuhr ich wieder ab und war um acht in meinem Büro. Eine schlaflose Nacht in der Redaktion war meine Erholung. Mit Gramsci vergingen die Stunden im Nu.
Um zum „Ordine Nuovo" zu gelangen, musste man zwei Absperrungen passieren. Die erste bildete die Königliche Garde, die sich in der langen Zufahrtstraße zum Hof von der Via Arcivescovado aus, im Herzen von Turin, drängte, die zweite bildeten junge Rotgardisten. Es war nicht so einfach, durch die Absperrungslinie aus Stacheldraht und Verschanzungen hindurchzukommen, die in Erwartung der Faschisten angelegt worden war. Die Königlichen Garden machten keine Schwierigkeiten. Sie waren als Dekoration dort und vertraten würdig die Regierung. Dann wurde es schwieriger, denn nun kamen die Jungkommunisten. Manche von ihnen trugen ihre Arbeitskleidung. Sie waren unzugänglich, wenn jemand ihnen „neu" erschien, aber fröhlich und herzlich, wenn sie einen Genossen zu Gesicht bekamen.
Damals wagten es nur die alten Genossen, sich beim „Ordine Nuovo" sehen zu lassen. Man sprach von einem Überfall, den die Faschisten planten. Man wusste: Wenn die Faschisten mit ihren Vorbereitungen fertig waren, werden die Königlichen Garden und auch die Carabinieri verschwinden, die in der Straße patrouillierten.
Ich gehe hinein. Die Wachen kennen mich schon. Auf dem Hof steht ein junger Genosse auf Wache. Er geleitet mich durch das klug angelegte Netz von Hindernissen. Ich stoße auf andere Rotgardisten. Ich gehe hinauf. Überall wird eifrig gearbeitet. Da ist Amoretti — er sitzt jetzt im Zuchthaus — und stellt die Tagesnachrichten zusammen. Dieser Genosse muss wohl als Journalist geboren sein. Er ist noch sehr jung und gehört schon zu unseren alten Kämpfern. Da ist der immer satirische Togliatti. Da ist Pastore, heute Emigrant. Da ist Gramsci, das heißt ein unwahrscheinlicher Haufen von Zeitungen und eine Haarmähne wie Absalom. Beim Geräusch meiner Schritte hebt Gramsci den Kopf. Nun sind die Augen zu sehen und ein Stückchen Nase. Es sind sehr lebendige, gute und kluge Augen.
Auch er ist jetzt im Zuchthaus. Zwanzig Jahre soll er verbüßen in einer Strafanstalt im glühend heißen Apulien. Bis zum letzten Augenblick ist er auf dem Posten geblieben. Sie haben ihn verhaftet, während er seine Rede über die Ausnahmegesetze schrieb, auf Grund derer er eingekerkert wurde, noch ehe sie angenommen waren. Er ist in Sardinien geboren, lebt aber schon lange in Turin.
Piero Gobetti, ein liberaler Antifaschist, als Flüchtling gestorben, zeichnet in seiner Schilderung der Turiner Bewegung ein sehr interessantes Bild von Gramsci. Ich zitiere aus der „Rivoluzione liberale". Gobetti untersucht zunächst die Lage in Turin.
„Der Bildungsgang und die geistige Physiognomie Antonio Gramscis dagegen waren sehr verschieden von diesen Traditionen schon in den Jahren, als er an der Universität Turin studierte und der Sozialistischen Partei beigetreten war, wahrscheinlich aus humanitären Gründen, die aus dem Pessimismus des sich vereinsamt fühlenden sardischen Emigranten erwachsen waren.
Er scheint aus seiner ländlichen Heimat gekommen zu sein, um seine Traditionen zu vergessen, um das schlimme Erbe der sardischen Rückständigkeit durch ein stummes und unerbittliches Streben nach der Modernität des Städters zu ersetzen. In seiner äußeren Erscheinung prägt sich die Absage an das ländliche Leben aus und das fast gewaltsam erzwungene Übergewicht eines wohldurchdachten Programms, das seine Kraft aus der Verzweiflung gewinnt, aus der geistigen Not eines Menschen, der die angeborene Unschuld von sich gewiesen und verleugnet hat. Antonio Gramsci hat den Kopf eines Revolutionärs, sein Charakter scheint das Werk seines Willens zu sein, schicksalhaft geformt durch eine zwingende Notwendigkeit. Das Gehirn hat den Körper überwältigt.
Der die gebrechlichen Glieder beherrschende Kopf scheint nach den für einen sozialen Plan notwendigen logischen Beziehungen gebaut zu sein und wahrt angestrengt einen undurchdringlichen Ernst. Nur die beweglichen und naiven, aber durch die Bitterkeit in Schranken gehaltenen Blicke durchbrechen zuweilen mit der Güte des Pessimisten die Festigkeit seiner Rationalität. Die Stimme ist schneidend wie die auflösende Kritik, die Ironie wird zu giftigem Sarkasmus, die mit tyrannischer Logik vorgelebten Prinzipien schließen die Tröstungen des Humors aus."
Der Generalstaatsanwalt beim faschistischen Sondergericht schreibt zur Zurückverweisung des Urteils gegen die Mitglieder des ZK der Kommunistischen Partei Italiens an das Gericht über Gramsci:
„Bei der Prüfung der Verantwortlichkeit im einzelnen fällt sofort die Person Antonio Gramscis auf. Er ist es, der die Partei im Jahre 1926 mit sicherer Hand führt. Gramsci ist die Seele der ganzen Bewegung, und er weist der ganzen Partei den Weg. Er spielte eine hervorragende Rolle zur Zeit der Fabrikbesetzungen in Piemont. Er handelt wie ein echter Parteiführer."
Gramsci begrüßt mich.
„Hast du gesehen?" sagt er. „Arme Kerle! Sie arbeiten den ganzen Tag, und abends kommen sie hierher und arbeiten weiter ... Dann schlafen sie auf den Papierhaufen. Wie treu sie sind ... Heute abend haben wir eine Versammlung. Bleibst du hier?"
„Selbstverständlich!" erwidere ich.
„Was gibt es Neues in Cuneo?" Gramscis Stimme klingt ein wenig ironisch. Es machte ihm immer sehr viel Spaß, sich von mir die Schnurren über Cuneo erzählen zu lassen.
„Seit dem Überfall auf unsere Zweigstelle in Fossano nichts ... Man sagt, sie wollen das Rathaus in Bra überfallen."

„Wie ist die Sitzung des Gemeinderats in deinem Ort verlaufen? Mir scheint, ich habe etwas in den Lokalnachrichten gelesen ..."
„Ohne ernste Zwischenfälle", antworte ich. „Die Volksparteiler haben den glücklichen Gedanken gehabt, den Geburtstag ihres Mitbürgers General Bava-Beccaris festlich zu begehen. Es ist der, der in Mailand die Ordnung mit Kanonen wiederhergestellt hat und von den Frömmlern bei uns vergöttert wird. Ich habe das Wort verlangt im Namen der Minderheit, und ich habe im Namen der Arbeiter der Opfer des Generals gedacht. Es hat eine kleine Schlägerei gegeben. Die paar Faschisten, die zur Unterstützung der Volksparteiler unter dem Publikum waren, haben sich eingemischt. Es hat ein paar Faustschläge und blaue Augen gegeben. Das war alles."
Gramsci lächelte. Allmählich trafen die Arbeiter ein. Es waren Delegierte aus den Abteilungen der Turiner Großbetriebe.
Die Versammlung wird eröffnet. Die Delegierten erstatten genauen und ins einzelne gehenden Bericht. Es sind Arbeiter, die gekämpft haben und noch immer kämpfen. Sie analysieren die Lage und entwerfen Pläne. Das ist nicht mehr das leere Gerede eines großen sozialistischen Abgeordneten. Hier studiert die organisierte und disziplinierte Masse ihre Probleme.
Dann spricht Gramsci. Er ist kein Redner, er ist ein Denker. Die Arbeiter verstehen ihn, sie fühlen, dass er ihr Führer ist, sie hören zu und stellen Fragen.
Der „Ordine Nuovo" ist von der Reaktion demoliert worden.
Die Reaktion hat gesiegt.
Aber die Wurzeln sind geblieben. Die Arbeiterklasse, die ihre Probleme ins Auge gefasst hat und weiß, wie sie gelöst werden müssen, muss siegen.

Der Kongress des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes hatte den Anschluss an die Rote Gewerkschaftsinternationale bestätigt, aber D'Aragona und die Reformisten hintertrieben die Durchführung des Beschlusses. Wir kommunistischen Gewerkschaftssekretäre lagen uns mit den Führern des Bundes immer in den Haaren. Man wollte uns aus dem Wege räumen. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund wollte, wie die Regierung, in allen Verbänden seine „Präfekten" einsetzen. Gegen die Reaktion wollte er nicht kämpfen, wohl aber gegen die Kommunisten.
Hat nicht in Turin der damalige Sekretär des Metallarbeiterverbandes, Buozzi, die Reaktion und die Ermordung des Genossen Ferrero, des Sekretärs der Ortsgruppe Turin, durch einen Faschisten dazu benutzt, die Führung der Ortsgruppe, die in ihrer großen Mehrheit immer für die Kommunisten gewesen war, an sich zu reißen?
Trotz der Reaktion ließ die Arbeit auch in meiner Provinz nicht nach. Als ich einmal unterwegs war, um eine Versammlung von streikenden Textilarbeiterinnen zu leiten, wurde ich im Zuge von Faschisten überfallen. Wortlos schlug einer von ihnen mir mit einem Knüppel über den Kopf. Mein Kopf dröhnte entsetzlich, dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem mir unbekannten Zimmer. Um mich herum standen Leute. Ich konnte mich nicht rühren. Ein scharfer Schmerz wühlte im Kopf, im rechten Schienbein und in den Schultern. An den ersten Schlag erinnerte ich mich noch, an die anderen nicht mehr. Offenbar hatten die Helden im schwarzen Hemd mich verprügelt, als ich ohnmächtig am Boden lag. Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte mich um. Ein Postenkommandant hatte das Wort ergriffen. Er sagte:
„Sie haben Glück gehabt, das kann ich Ihnen sagen."
Ich war nicht allzu überzeugt, aber wenn die Obrigkeit spricht ...
„Ganz bestimmt", fuhr er fort, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. „Wenn Sie nicht bewusstlos geworden wären, hätten Sie noch viel mehr abbekommen. Auch untereinander haben sie sich geschlagen." „Wo bin ich hier?" fragte ich. „Seien Sie unbesorgt", erwiderte ein anderer Unbekannter, „Sie sind bei anständigen Leuten."
Auf dem ersten Bahnhof hatte man mich aus dem Zuge getragen, und ich befand mich im Hause eines Bäckers, dessen Backstube in der Nähe der Haltestelle lag.
Ich wandte mich wieder an den Carabiniere und sagte: „Meinen Sie im Ernst, dass ich Glück gehabt habe?" „Gewiss, verhältnismäßig natürlich. Der Doktor wird gleich kommen. Inzwischen können Sie die Anzeige an die Behörden schreiben."
„Entschuldigen Sie, Sie haben doch wohl den Auftritt mit
angesehen ..."
„Das schon", sagte der Carabiniere ein wenig verlegen, „aber ich war im anderen Wagen ..."
„Da hätten Sie", fuhr ich fort, „einen von meinen Angreifern am Kragen packen können, und die Anzeige war fertig."
Der Maresciallo schwieg. Dann meinte er: „Schreiben Sie doch die Anzeige." Er holte Papier und Bleistift hervor. „Bemühen Sie sich nicht, Maresciallo. Mir genügt der Schaden, auf den Spott kann ich verzichten. Sie haben Anweisung, die Augen zuzudrücken. Wir wissen das. Wir helfen uns schon selbst, wenn es möglich ist. Lassen wir das Thema."
Der Carabiniere entgegnete nichts. Meine Glieder waren heil geblieben, abgesehen vom Kopf. Aber der ist hart wie die Felsen der Alpen und war bald wieder in Ordnung. Nur das Bein machte mir noch einige Zeit zu schaffen.

Wir näherten uns den neuen Wahlen. Giolitti wollte, während er die faschistischen Banden unterstützte, die Spaltung der Arbeiterschaft für Neuwahlen benutzen. Diesmal stand er auf einer Liste mit dem Faschisten De Vecchi, dem Mörder Ferreros, Berrutis und Dutzender von anderen Turiner Arbeitern.
Wir hatten es besonders schwer. Die Massen verstanden die Spaltung noch nicht. Wenige Tage vor den Wahlen (man suchte nach den Waffen, die während der Fabrikbesetzung in Sicherheit gebracht worden waren) wurde das Gewerkschaftshaus in Fossano (der ehemalige Lagerraum), das vor den Faschisten bewahrt geblieben war, zur Hälfte von der Polizei demoliert. Man vermutete darin die Waffen, fand aber auch diesmal nichts. Sie kamen immer zu spät.
Unsere Partei hatte die Kampagne für die Einheit des Proletariats, für die bewaffnete Verteidigung der Organisationen und für den Kampf eröffnet, während die Sozialistische Partei am 5. August mit der faschistischen Partei den schändlichen Versöhnungspakt unterzeichnete, der praktisch die Entwaffnung der Proletarier bedeutete und ein blutiger Hohn auf das Proletariat war, das der Sozialistischen Partei folgte. Der Pakt wurde unterzeichnet von dem Räuberhauptmann Mussolini, von De Vecchi, der wenige Monate zuvor in Turin gemordet und gebrandschatzt hatte, von Cesarino Rossi und mehreren anderen, von Bacci und Zannerini für die Sozialistische Partei, von Morgari und Musatti für die Parlamentsfraktion der Sozialistischen Partei, von Baldesi, Galli und Caporali für den Allgemeinen Gewerkschaftsbund und vom Präsidenten der Kammer.
Wir stürzten uns verzweifelt in die Propaganda für eine Aktion der Arbeiterschaft. Eine einmütige, tatkräftige bewaffnete Aktion hätte den Erdrutsch aufhalten können. Unsere Aktion konkretisierte sich in dem Vorschlag zur Bildung einer Einheitsfront. Die Reformisten waren dagegen. Dann erklärten sie sich eines Tages plötzlich bereit, der vom Allgemeinen Gewerkschaftsbund, der Syndikalistischen Union und der Eisenbahnergewerkschaft gebildeten „Alleanza del Lavoro" beizutreten. Jetzt hatten sie es anscheinend eilig. Ohne angemessene Vorbereitung wurde der Generalstreik ausgerufen. Ein Geheimkomitee war ernannt worden.
Obwohl nicht die geringsten Vorbereitungen getroffen worden waren, verlief der erste Streiktag erfolgreich. In meiner Provinz war der Ausstand fast allgemein. Azzario bereiste im Auftrage der Partei andere Provinzen. Ich suchte auf einem Motorrad mit Beiwagen, während die Polizei in allen Ecken nach mir forschte, die größeren Städte der Provinz auf. Mit einem guten, zuverlässigen und mutigen Genossen als Chauffeur war ich unterwegs, um den Genossen Mut zu machen und ihnen die Flugblätter oder die Nachrichten, die ich aus Turin erhielt, zu überbringen.
Ü berall war der Streik gelungen, und überall sagte man mir: „Die Carabinieri suchen dich." Die Verhaftungen waren bereits zahlreich und gingen weiter. Ich setzte meine Fahrt fort und aß in den Dorfgasthäusern, wo ich mich vor Carabinieri und Polizisten sicher fühlen konnte. Während des ganzen Streiks erwischten sie mich nicht. In Saluzzo, wo unsere Zeitung „La Riscossa" gedruckt wurde, arbeiteten nur unsere Drucker. Unterwegs versah ich sie mit Material. Dort erwarteten mich die Carabinieri mit offenen Armen auf der Gebirgsseite. Ich kam aber von der anderen Seite und konnte mit den Genossen sprechen. Der Unterpräfekt wollte mich sprechen. Ich rief auf der Präfektur an. Der Unterpräfekt erklärte mir persönlich:
„Kommen Sie sofort auf die Präfektur, ich muss Sie dringend sprechen."
„Tut mir leid, aber ich bin nicht betrunken. Was wünschen Sie?"
„Hören Sie, Sie wollen ein Flugblatt veröffentlichen. Ich bin bereit, es zu genehmigen, wenn Sie die Gasarbeiter zur Arbeit schicken", sagte der Kreisvorsteher.
„Hören Sie, Herr Unterpräfekt, das Flugblatt ist entweder zulässig oder nicht, eins von beiden. Wenn es nicht zulässig ist, kann es auch nicht zulässig werden, wenn ich, wie Sie vorschlagen, die Gasarbeiter zur Arbeit schicke, und umgekehrt."
Ich hängte auf und reiste sofort ab.
Ich musste nach Cuneo zurück. Dort war die Sache schwieriger wegen der Torsteuer. Ich versuchte es gegen Mitternacht. Mit der großen Brille und der großen Mütze sah ich ganz verwandelt aus. Ein schlaftrunkener Zollbeamter kam, um zu sehen, ob wir Waren bei uns hatten. Wir fuhren in die Stadt. Trotz der späten Stunde herrschte noch reges Leben. Wir begaben uns nach dem Hause eines Genossen von der Provinzorganisation. Seine Frau sagte uns, es sei die Nachricht eingetroffen, dass der Generalstreik abgebrochen sei, und ihr Mann sei im Gewerkschaftshaus.
In der Umgebung des Gewerkschaftshauses wimmelte es von Menschen. Ich gelangte ohne Schwierigkeiten in den Saal, in dem der sozialistische Abgeordnete der Provinz sprach. Ich erzähle diese Episode, um zu zeigen, welcher Geist die italienischen Arbeiter trotz ihrer vielen Niederlagen beseelte. Der Abgeordnete also erklärte:
„Genossen! Die italienischen Arbeiter haben trotz der brutalen Reaktion, die sich auf ihre Organisationen stürzt, einen wunderbaren Schwung bewiesen, als sie geschlossen dem Appell des Geheimkomitees der Alleanza del Lavoro folgten. Unsere Gegner wissen jetzt, dass wir da sind. Ihr müsst nun die Arbeit wieder aufnehmen ..."
Missfälliges Gemurmel und Unruhe im Saal ...
„Diese Anweisung kommt vom Komitee der Alleanza del Lavoro. Vor einer Viertelstunde hat der Präfekt persönlich mir das mitgeteilt. Der Präfekt kann keine falschen Nachrichten in die Welt setzen ..."
„Ich bitte ums Wort!" rief ich aus dem Hintergrund des Saales.
Allgemeine Überraschung. Dann wurde ich von den Genossen, die dicht gedrängt den Saal füllten, herzlich begrüßt.
Ich ging auf die Tribüne. Obwohl auf alles gefasst, war ich doch erstaunt über die Nachricht und glaubte, da ich die Naivität des sozialistischen Abgeordneten kannte, noch immer, sie sei ein Querschuss der Regierung.
„Der Genosse Abgeordnete weiß sehr gut, dass die Anweisung zur Einstellung des Streiks durch ein vereinbartes Telegramm an das Ortskomitee und nicht von den Polizeipräfekten der Regierung kommen muss. Sich auf den Präfekten als Garanten für die Glaubwürdigkeit zu berufen, das ist mindestens naiv. Ich jedenfalls als Sekretär des Provinzkomitees fordere die Genossen auf, weiter zu streiken. Wenn die Anweisung zum Streikabbruch richtig ist — ich trage kein Bedenken, diese Maßnahme schon jetzt als schändlichen Verrat zu bezeichnen —, dann muss sie mir von den Genossen des Geheimkomitees zugehen und nicht als Mitteilung des Polizeichefs der Provinz. Genossen, streikt weiter!"
Lebhafter, langanhaltender Beifall antwortete meinen wenigen Worten. Draußen gaben andere Genossen meine Worte weiter. Natürlich verbrachte ich die Nacht im Gefängnis, weil die Polizisten mich nicht mehr entwischen ließen. Der Polizeipräsident war wütend.
„Wo sind Sie gewesen? Ein schönes Benehmen, die Leute in den Streik zu hetzen und dann im Stich zu lassen..."
Unglaublich, aber wahr — dieser würdige Polizist behandelt mich wie einen Verräter an der Arbeiterklasse, um sich dafür schadlos zu halten, dass es ihm nicht gelungen war, mich rechtzeitig zu verhaften.
Am Morgen traf das verabredete Telegramm über die Einstellung des Streiks ein. Der Kommissar rächte sich für seine Niederlage dadurch, dass er mich festhielt, während er die anderen entließ.
Die Banden, die während des Streiks verschwunden waren, gingen nun mit noch größerer Brutalität gegen die Arbeiter und Bauern vor.

In diesen Tagen — ich war gerade erst aus dem Gefängnis gekommen — erhielt ich vom Exekutivkomitee der Partei die Mitteilung, dass ich als Delegierter am IV. Kongress der Kommunistischen Internationale und am II. Kongress der Gewerkschaftsinternationale teilnehmen sollte ... Meine Aufregung war unbeschreiblich. Ich sollte versuchen, einen Pass zu bekommen. Ich begab mich auf die Präfektur. Im allgemeinen ist es in Italien sehr umständlich, einen Pass zu bekommen. Ich beantragte ihn rechtzeitig, weil ich damit rechnete, dass es mindestens einen Monat dauern würde. Der Kommissar war überrascht:
„Wie? Sie wollen ins Ausland? Im Grunde halte ich das für richtig", sagte er. „Sie wollen doch dort bleiben, nicht
wahr?"
„Ja, ja", erwiderte ich. Das Gesicht des Beamten drückte Genugtuung aus. Einer weniger, dachte er wohl.
„Dauert es lange, bis ich den Pass bekomme?" fragte ich. „Nein, nein, kommen Sie in drei Tagen wieder." Nach drei Tagen kam ich wieder und erhielt — unglaublich, aber wahr — den Pass. Der Beamte hatte es eilig, mich loszuwerden. Er war auch höflich und wünschte mir eine glückliche Reise.
„Ihre Kollegen an der Grenze werden mir doch keinen Streich spielen?" fragte ich. „Aber ich bitte Sie!" Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, er beherrschte
sich aber.
Damals suchte man unerwünschte Elemente ins Ausland abzuschieben. Heute ist das anders.
Die Tage bis zu meiner Abreise nach Russland waren für mich eine Qual. Ständig fürchtete ich, ein Zwischenfall oder eine Verhaftung könnten meine Abreise verhindern.
Eines Morgens sagten mir die Polizisten, die am Gewerkschaftshaus Wache hielten: „Der Kommissar will Sie sofort sprechen." Das Herz schlug mir bis in den Hals. Da haben wir die Bescherung, dachte ich.
Zu den Verbrechen, die ich in meinem Journalistenleben begangen habe, gehört auch eine Majestätsbeleidigung. Ich habe den Mut gehabt, Viktor Emanuel von Savoyen zu beleidigen. Diesem Umstand verdankte ich die Vorladung seitens des Kommissars zwecks Einleitung einer Untersuchung.
Es war gegen Ende August 1922. Die regierungsamtliche Agentur „Stefani" hatte eine sehr ausführliche Meldung veröffentlicht, in der es hieß: „Seine Majestät, unser geliebter Herrscher, hat ungeachtet der Gefahr, der er sich aussetzte, bei einem Brande, der in Valdieri im Hause eines einfachen Gebirgsbewohners ausgebrochen ist, bei der Löschung des Feuers Hilfe geleistet." Die Nachricht wurde in ganz Italien wie ein großes Ereignis verbreitet. Ich hatte, nachdem ich bei unserem Korrespondenten in Valdieri Informationen eingezogen hatte, eine Glosse mit der Unterschrift Barbadirame verfasst, in der ich erklärte: „Viktor hat nicht einmal einen Eimer Wasser ins Feuer gegossen, aber auch wenn er es getan hätte, wäre er, wie mir scheint, mit sechzehn Millionen Goldlire Gehalt gut bezahlt." Viele Feuerwehrleute, fügte ich hinzu, hätten ihr Leben gelassen durch Sturz von den Leitern oder durch Erstickung. Ihre Familien hätten ein paar Tausend Lire erhalten, ohne dass die „Stefani" auch nur ein Wort darüber verloren habe. Daran hatte der König, wie es scheint, Anstoß genommen.
Der Kommissar verlangte, ich sollte mich als Verfasser der Glosse bekennen.
„Ich unterschreibe nichts", sagte ich.
„Wir wissen, dass Sie Barbadirame sind."
„Ich unterschreibe nicht. Sie wissen nichts."
Ich dachte an die russische Revolution, an Lenin, an den Kongress.
„Sie haben also nicht den Mut, für das einzustehen, was Sie schreiben", meinte der Beamte.
„Den Trick kenne ich, einen bei der Ehre packen und so weiter, bei mir zieht das nicht", erwiderte ich. „Sagen Sie mir lieber, Herr Kommissar, ob Sie den Artikel gelesen haben und ob darin etwas steht, was nicht der Wahrheit entspricht. Ich bin bereit, dem ,Beleidigten' gegenüber den Gegenbeweis anzutreten."
„Ich verbiete Ihnen, so von Seiner Majestät, dem König von Italien, zu sprechen!" brüllte der Kommissar. Dann ließ er mich gehen.
Auf der Straße atmete ich auf. Zwei Tage später fuhr ich ab.
Es war das erste Mal, dass ich legal die Grenze des „Vaterlandes" überschritt. Ich fühlte mich irgendwie unsicher...
Ein andermal, als ich nach Paris fahren sollte, um in dem Prozess gegen Loriot, Monmousseau, Souvarine und Monatte als Zeuge auszusagen, war ich von den italienischen Behörden in Bardonecchia verhaftet worden, und statt vor Gericht auszusagen, verbrachte ich einige Tage im Gefängnis und wurde dann mit einem Zwangspaß in meine Heimat befördert. Ich habe daher kein allzu großes Vertrauen zu den Pässen, die die italienische Regierung ausstellt. Sie haben mir niemals Glück gebracht. Diesmal kam ich durch, weil man hoffte, ich würde nicht zurückkehren.
Nach zehn Tagen umarmten wir drei oder vier Delegierten an einem kalten Morgen Anfang Oktober den ersten russischen Wachposten, auf den wir vor dem Bahnhof von Sebesh stießen, aßen wir den ersten „Borschtsch", spürten wir zum ersten Mal die grimmige Kälte des russischen Winters. Wir waren auf dem Boden der siegreichen Oktoberrevolution, auf dem Wege nach Moskau, der roten Hochburg, die vom Proletariat so geliebt und von der Bourgeoisie so gehasst wird.

Lenin! Kein Mensch ist in der ganzen Welt je so in aller Munde gewesen wie Lenin. In Italien war er in den entlegensten Dörfern und unter den Massen der großen Städte, in den über die Steilhänge der Alpen verstreuten Hütten und in den Kasernen bekannt. Greise und Kinder wussten, dass er unser großer Genosse war. Überall habe ich seinen Namen gesehen, in den großen Betrieben, an den Eisenbahnzügen, an den Wänden der Dorfkirchen und in den Gefängnissen, in den Kasernen und in den Katakomben von Rom. Tausende von Kindern tragen seinen Namen. Zahllose Zentner Metall sind verarbeitet worden, um Abzeichen mit seinem Bilde herzustellen. Nun sollte ich ihn sehen und ihn sprechen hören.
Auf dem Bahnhof in Moskau Musik und Fahnen. In Leningrad — damals noch Petrograd — ein Meer von Arbeitern und ein Wald von Fahnen. Die Empfänge in den Fabriken, in den Klubs, in den Kasernen. So großartig hatten wir uns das nicht vorgestellt.
Und dann der Vorbeimarsch der Arbeiter vor unserer Tribüne auf dem Roten Platz. Stundenlang zogen die Massen vorüber und grüßten die Vertreter der Bruderparteien der Kommunistischen Internationale. Keiner von uns spürte noch die Kälte, obwohl unsere Mäntel für dieses Klima wenig geeignet waren, das sich so sehr von dem in Neapel oder Rom, in Genua oder Florenz, in Turin oder Mailand unterschied.
Im Kreml wurde dann die „Internationale" im Gleichklang gesungen in mehr als fünfzig verschiedenen Sprachen.
An dem Tage, an dem Lenin seine Rede hielt, waren wir alle ungeduldig, ihn zu sehen, ihn zu begrüßen, ihm unsere Begeisterung auszudrücken.
Ich sah ihn in den Gängen des Kremls, mit seiner Mütze. So vieles wollte ich ihm sagen, brachte aber nur: „Bonjour, camarade Lenine!" hervor.
„Bonjour", antwortete er mir. „Bist du Franzose?"
„Nein, ich bin Italiener."
„Ich spreche ein bisschen Italienisch ..."
Sogleich war er von Kongressteilnehmern umringt.
Ein Genosse von unserer Delegation, ein Arbeiter aus Neapel, der Lenin die Grüße der Genossen seines Betriebes überbringen sollte, blieb bei seinem Anblick stocksteif stehen und konnte kein Wort hervorbringen. Dann ergriff er Lenins Hand und küsste sie.
Als Lenin die Tribüne betrat, empfing ihn stürmischer Beifall. Alle Anwesenden erhoben sich und klatschten. Dann sangen wir die „Internationale".
Immer sehe ich seine Augen vor mir. Sein Blick hat sich mir unvergesslich eingeprägt. Nach den Sitzungen habe ich ihn noch einmal im Kreml gesehen. Er sprach langsam und einfach. Ich war ungeduldig, denn diesmal sprach er deutsch, so dass ich nichts verstand, und ich musste auf die französische Übersetzung warten.

Der IV. Kongress der Kommunistischen Internationale gewann für unsere Partei besondere Bedeutung. Er leitete die Trennung der Mehrheit der italienischen Delegation von Bordiga ein. Die italienische Frage wurde in der Kommission ausführlich erörtert. Ich entsinne mich noch der langen Nachtsitzungen, der Auseinandersetzungen, der Zweifel der Delegierten und schließlich der Abstimmung, bei der Bordiga in der Minderheit blieb. Es war im Thronsaal des Kremls. Ich hatte den Vorsitz. Es war sehr schwierig, in einer so wichtigen Sitzung von Italienern die Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten.
Dann begann für unsere neue Parteiführung die sehr schwierige Arbeit, die Partei völlig auf die Plattform der Internationale zu bringen. Seitdem sind fast sieben Jahre vergangen. Unsere Partei, geboren in einer Zeit stürmischer Kämpfe, ist im Kampf gegen den Faschismus gestählt worden. Viele haben ihr Leben gelassen, aber die Partei ist auf dem Posten geblieben. Sie ist die einzige Partei, die nicht nur den Sturm überstanden, sondern gekämpft hat und weiter gegen den Faschismus kämpft. Es ist klar, dass die Erfahrungen und die Anleitung der Kommunistischen Internationale uns dazu befähigt haben, dem Faschismus Widerstand zu leisten und zu kämpfen.
Der Genosse Lenin wirkte, wie stets, auch auf dem IV. Kongress an der Lösung der italienischen Frage mit.
Die Nachricht von dem faschistischen Marsch auf Rom — er erfolgte in Sonderzügen, die von der Eisenbahndirektion zur Verfügung gestellt wurden — erreichte uns während des Kongresses in Moskau. Die Meldungen waren unklar und widersprachen sich. Die Einzelheiten über die Aktion, blutige Einzelheiten, wie die Ermordung Ferreros, Berrutis und zahlloser anderer tapferer Kämpfer, die Zerstörungen, die Gesetzesverletzungen, die unerhörten Gewalttätigkeiten gegen die Arbeiterklasse und die Bauern, wurden uns in Berlin bekannt.
Die Rückkehr der Delegation ins „Vaterland" musste illegal erfolgen. Nur ein einziger Delegierter lehnte die Rückkehr nach Italien ab. Heute ist er aus der Partei ausgeschlossen und sitzt nicht im Zuchthaus. (Anm.: Es handelt sich um Bombacci.)
Die Einreise musste im Dezember erfolgen, während in den Alpen Schneestürme tobten. Ich fuhr — bei meinem Zustande ging es nicht anders — mit zwei Genossinnen und elf Koffern, den Koffern der Genossen, mit der Bahn. Wir trafen als letzte ein, als die andern schon über die Grenze waren.
Ein Schwarm von Polizisten und Faschisten umringte uns und stürzte sich auf unsere Koffer. Der Grenzkommissar — er kam jedes Jahr in die Provinz Cuneo, um den Sicherheitsdienst während des Aufenthaltes des Königs in Valdieri zu leiten — kannte mich persönlich. ,
Wir mussten uns bis auf die Haut ausziehen und wurden durchsucht, wie ich nie in meinem Leben durchsucht worden bin. Die Leibesvisitation dauerte ziemlich lange. Dann begann die Durchsuchung der Koffer, die die ganze Nacht in Anspruch nahm ... Beschlagnahmt wurden ein paar unbedeutende Kleinigkeiten, die später im Prozess eine Rolle spielten. Schließlich entließ man uns.
Wir waren noch ganz erfüllt von dem kurzen Besuch im revolutionären Russland, von dem Kongress der Kommunistischen Internationale und der Gewerkschaftsinternationale, von den Besichtigungen der Moskauer und Leningrader Betriebe, von den Empfängen der russischen Arbeiter.
Die Grenzpolizei beförderte uns nach Mailand. Die Polizei in Mailand gab mir einen Zwangspaß nach meiner Geburtsstadt Turin. In Turin wollte man mich nicht haben. Ich bekam einen neuen Zwangspaß für Cuneo, wo mein letzter Wohnsitz gewesen war. In Cuneo erklärte mir die Polizei, ich hätte kein Recht, mich dort aufzuhalten.
„Aber hier ist mein Wohnsitz."
„Sie hätten besser getan, wenn Sie nicht zurückgekehrt wären", sagte der Kommissar, der mir in der Hoffnung, dass ich nicht zurückkehren würde, so bereitwillig den Pass ausgestellt hatte. „Wenn wir Ihnen einen Zwangspaß geben, erweisen wir Ihnen einen Dienst, denn wenn die Faschisten erfahren, dass Sie hier sind, werden Sie eine böse Viertelstunde erleben."
„Das bezweifle ich durchaus nicht", sagte ich, „aber ich glaube, Sie werden Ärger bekommen, wenn Sie mir den Pass ausstellen ... Nicht einmal in der Stadt, in der ich geboren bin, will man mich haben!"
„Ich gebe Ihnen einen Pass für Fossano."
Begleitet von den Carabinieri, reiste ich also nach dem Städtchen ab. In Fossano wurde ich gründlich durchsucht, und man beschlagnahmte die 7,5 Millionen Rubel in kleinen Scheinen (es war im Jahre 1922), die ich mitgebracht hatte, um sie als Andenken an Russland an die Genossen zu verteilen. Man kann sich den Aufruhr auf dem Polizeikommissariat vorstellen, auf dem auch die Faschisten waren, als ich seelenruhig eine ordentliche Quittung über die „Millionen" und noch dazu eine genaue Liste der Scheine mit entsprechenden Angaben über die Nummer und die Reihe verlangte. Der Polizeikommissar frohlockte: „Das ist russisches Geld!" Verlangend betrachtete er alle die Millionen. Ich wurde entlassen und erhielt die Anweisung, mein Haus nicht zu verlassen und mit niemand zu verkehren. Wahrscheinlich warteten sie auf Anweisungen.
Die Faschisten versammelten sich eiligst, um zu beratschlagen, was mit mir geschehen sollte. Zwei von ihnen lauerten Tag und Nacht mit dem Gewehr vor dem Hause, in dem ich wohnte. Alle, die den Hausflur betraten, wurden verhört und zurückgewiesen, wenn sie nicht in dem Gebäudeteil wohnten, in dem meine Familie lebte. Inzwischen diskutierten die anderen Faschisten in ihrem Parteihaus.
Da die Faschisten so laut brüllten, dass es bis auf die Straße zu hören war, erfuhr ich später, dass die Sitzung sehr stürmisch verlaufen und es dabei zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Drei Richtungen standen sich gegenüber. Die einen wollten, man sollte mich scheinbar ignorieren und dabei sorgfältig überwachen, um den Eindruck zu erwecken, dass es zu einem Kompromiss gekommen sei. Die anderen waren für Prügel, Rizinusöl und anschließende Ausweisung. Die dritte Richtung, die sich durchsetzte, war für die schlichte Ausweisung aus der ganzen Provinz.
Die Nachricht von meiner Ankunft hatte sich inzwischen rasch verbreitet. „Barbadirame ist aus Russland zurück!" Die Oktoberrevolution hat das italienische Proletariat immer fasziniert. Man kann sich also vorstellen, wie sehr es die Genossen des Städtchens (die Ortsgruppe bestand aus drei oder vier in der Entstehung begriffenen Zellen) verlangte, aus dem Munde eines bekannten Genossen, der Lenin gesehen und gehört hatte, etwas über die Sowjetrepublik und über den Kongress der Kommunistischen Internationale zu erfahren. Aber durch die Haustür kam niemand.
Es war im Januar. Auf der verlassenen Straße sah ich vom Fenster aus die beiden Schwarzhemden mit ihren Gewehren, die auf und ab gingen, um sich zu erwärmen. Gegen zehn Uhr abends, als ich mit meinen Angehörigen am Kamin plauderte, klopfte es.
„Da haben wir's", dachte ich, „wahrscheinlich kommen Sie mich verhaften."
Ich öffnete. Es war ein Genosse.
„Wie bist du hereingekommen?" fragte ich erfreut.
„Die andern kommen auch alle", lautete die Antwort.
Tatsächlich trafen sie einer nach dem andern leise und vergnügt ein. Sie waren über das Dach eines Nachbarhauses zu mir gelangt, dessen Eingang in einer Parallelstraße lag. Wir veranstalteten sofort eine Sitzung zur Berichterstattung. Bei gelöschtem Licht beobachteten wir von dem Fenster an der Straßenseite aus abwechselnd die beiden treuen Wächter.
Um drei Uhr morgens sprach ich noch immer. Die Fragen der Genossen nahmen kein Ende. Ich erzählte ihnen von dem Kongress, von Lenin, von den Besuchen in den Betrieben, in den Genossenschaften, in den Kasernen, in den Klubs. Ihr Interesse und ihre Freude waren grenzenlos. Und grenzenlos war ihr Vertrauen zu der Arbeiterklasse, die den Zarismus gestürzt hatte, und zu dem Genossen Lenin.
Wir trennten uns nach drei, da die Genossen ein wenig ruhen mussten, ehe sie wieder zur Arbeit gingen. Unten auf der Straße wachten noch immer die beiden Faschisten an der verschlossenen Haustür.
Später erschienen mehrere von ihnen in meiner Wohnung. Sie händigten mir den Ausweisungsbefehl aus. (Die Ausweisung bestand in dem Verbot des Aufenthalts in einer Stadt, einer Provinz oder einem Gebiet.) Auch der Kommissar und ziemlich viele Carabinieri waren dabei. Man brachte mich aufs Kommissariat, wo mir das „russische Geld" ausgehändigt wurde. Der Kommissar, der vom Wechselkurs und von der Inflation wenig verstand, machte ein verdrießliches Gesicht. Vielleicht hatte er sich durch die Beschlagnahme einer so ungeheuren Summe „russischen Geldes" eine Beförderung erhofft, aber ...
Noch heute denke ich an die beiden Faschisten, die, während ich den Genossen in jener nebligen Januarnacht des Jahres 1925 Bericht erstattete, in meinem Städtchen unten auf der Straße mit dem Gewehr auf der Schulter so gut Wache hielten.
Vor meiner Abreise hatte ich eine merkwürdige Begegnung. Auf der Straße traf ich den General Capello. Er war bei seinen Verwandten in Fossano zu Besuch. Er kannte mich und erklärte mir bei der Begrüßung, die Verfolgungen seien eine Ehre für diejenigen, die sie träfen. Damals ahnte der General Capello, der im Kriege eine Armee geführt hatte, noch nicht, dass er im Zuchthaus enden sollte, von der faschistischen Justiz als Mitschuldiger Zanibonis beim ersten Attentat zu dreißig Jahren verurteilt.
Jetzt sitzt der General Capello, ein Freimaurer und Antifaschist, in San Stefano, in dem gleichen Gefängnis wie der Genosse Terracini. Es ist eines der furchtbarsten Gefängnisse. Passanante und Bresci, die ein Attentat auf den König von Italien verübt haben, und der berühmte Räuber Musolino aus Kalabrien (nicht zu verwechseln mit dem anderen Räuber, der heute Italien regiert!) sind dort verrückt geworden.

Die Polizei von Fossano erhielt also den Auftrag, den Ausweisungsbefehl der Faschisten gegen mich zu vollstrecken. Zur festgesetzten Stunde erschienen Faschisten und Carabinieri in meiner Wohnung. Ich hatte beschlossen, mich zu fügen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte eine Weigerung zur Folge gehabt, dass meine Mutter den Gewalttätigkeiten der Faschisten, die schon einen großen Teil meiner Bücher- und Zeitungensammlung verbrannt hatten, hätte beiwohnen müssen, und zweitens wollte ich die vorauszusehende — und später auch wirklich erfolgte — Verhaftung vermeiden, um illegal für die Partei weiterarbeiten zu können.
Es war ein großer Jammer für meine alte Mutter und für meine Schwester. Die Bande — es war nicht einmal ein Faschist aus dem Ort dabei, sie waren alle aus anderen Orten gekommen — drängte mich zum Aufbruch. Sie waren alle bewaffnet. Ich umarmte die Meinen. Niemand sprach ein Wort. Eine sechsjährige Nichte von mir — sie war wenige Monate später, nachdem der Mann meiner Schwester in den Krieg gezogen war, geboren worden — wohnte dem Auftritt bei, und plötzlich, ohne dass jemand ein Wort zu ihr gesagt hätte, schrie sie die Faschisten an: „Ihr seid alle gemein und schlecht!" Dann brach sie in Schluchzen aus.
Die Banditen im Schwarzhemd zuckten bei dieser Beschimpfung überrascht zusammen.
Auf dem Bahnhof sah ich viele Genossen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, winkten sie mir zu. Es war mir nicht möglich, mit einem von ihnen zu sprechen. Später erfuhr ich, dass mehrere von ihnen verhaftet und misshandelt wurden, weil sie zu meiner Verabschiedung gekommen waren. Zwei Faschisten und zwei Polizisten fuhren mit mir und brachten mich auf das Polizeikommissariat im Turiner Hauptbahnhof. Ich glaubte, die Ausweisung sei inzwischen in Verhaftung umgewandelt worden, aber es erwartete mich eine Überraschung. Ich wurde dem Kommissar vorgeführt, einem Giolittianer, den ich in Cuneo gekannt hatte.
„Was gibt es?" fragte er einen der beiden Polizisten.
„Wir haben den hier gebracht", sagte er und wies auf mich, „er ist aus Cuneo und aus der Provinz ausgewiesen."
Der Kommissar sprang auf.
„Sie gehen sofort hinaus!" sagte er zu den beiden Schwarzhemden.
Dann wandte er sich an die beiden Polizisten:
„Wer hat Ihnen den Befehl dazu gegeben?"
„Der Kommissar von Fossano, Herr D'Avanzo, hat es uns mündlich befohlen."
„Und so einen Befehl nehmen Sie entgegen? Steht die italienische Polizei unter dem Befehl einer Räuberbande? Es ist eine Schande. Der Herr Kommissar in Fossano hat sich geschämt, Ihnen einen schriftlichen Befehl zu geben ... Das alles ist beleidigend ..."
„Und Sie", wandte er sich an mich, „können gehen. Einstweilen jedenfalls denke ich nicht daran, die Befehle der Faschisten auszuführen. Es gibt noch Gesetze!"
Ich ging. Ich hatte achtzig Lire in der Tasche und keine Arbeit. Die Verbindungen mit den Genossen waren abgebrochen. Sehr viele von ihnen saßen im Gefängnis. Unsere Zeitung war erledigt. Das Gewerkschaftshaus war halb niedergebrannt und von der Polizei besetzt. Ich suchte Zuflucht bei einem Verwandten, der in einem kleinen Cafe arbeitete. Er verließ die Wohnung um fünf und kam um Mitternacht nach Hause. Ich schrieb Artikel über Russland für den „Lavoratore" in Triest. Ich schrieb im Bett, weil der Winter sehr streng und in der Wohnung kein Ofen war. Wenige Tage später erfuhr ich von der Verhaftung Bordigas und Azzarios. Dann wurden Grieco, Berti und viele Hundert andere verhaftet. Eines Abends sagte die Pförtnerfrau zu mir:
„Es sind zwei Herren gekommen und haben nach Ihnen gefragt." Dann sah sie sich vorsichtig um und fügte hinzu: „Es waren zwei Polizisten."
Die Sache war klar. Ich musste die Wohnung wechseln. Zu den Genossen zu gehen, war gefährlich. Eines Abends traf ich einen alten Freund, den ich längst aus den Augen verloren hatte. Er wusste von meinen Erlebnissen.
„Komm zu mir, da bist du in Sicherheit."
Ich willigte ein. Er brachte mich in eine Vorstadt von Turin, in ein Haus von nicht sehr vertrauenerweckendem Aussehen.
„Was machst du jetzt?" fragte ich, als wir zu Tisch gingen.
„Ich schlage mich durch. Anständig kann man ja nicht mehr leben. Du darfst dich nicht wundern. Mit dir kann ich offen reden. Ich kaufe und verkaufe Waren ... unbekannter Herkunft."
Da saß ich nun also. In diesem Hause drohte mir vielleicht nicht die Verhaftung durch die politische Polizei, wohl aber die durch die Gewerbe- oder die Sittenpolizei. Die ganze Nacht ging es hier ein und aus. Erst gegen Morgen hörte die Unruhe auf. Dann war die Arbeit zu Ende, und am Vormittag bis zum Mittag herrschte Ruhe. Die ehrbarsten Bewohner dieses Hauses waren, wie ich später erfuhr, die Taschendiebe und die Prostituierten. Die anderen waren Diebe und Einbrecher. Ich kam ohne Zwischenfall davon, weil ich nach vierundzwanzig Stunden unter einem Vorwand auszog.
Ich suchte Arbeit. Ich fand sie außerhalb der Stadt in einem kleinen Laden, in dem außer mir nur der Chef arbeitete, und wartete ab, was kommen würde. Der Chef gab seinen Angestellten Wohnung und Kost. Er war ein braver Mann und ernährte seine Frau und seine vier Kinder.
Ich griff wieder zum Rasiermesser und zur Schere. Ich war froh, dass ich Arbeit hatte. In den Laden kamen Fuhrleute, Sandverkäufer (der Laden lag nahe am Po) und Gärtner, alles schweigsame Menschen.
Die Verhaftungen gingen weiter. Die Bevölkerung wurde von den faschistischen Banden terrorisiert, die johlend durch die Stadt zogen.

Ich arbeitete seit einer Woche, als an einem Sonntagabend, als wir nach zwölfstündiger Arbeit den Laden schließen wollten, noch ein Kunde eintrat. Ehe ich ihm einen Wink geben konnte, fiel er mir um den Hals. Es war ein Genosse, der sich ebenfalls der Verhaftung entzogen hatte.
„Guten Tag, wie geht es dir? Ich habe gehört, dass du auf dem Kongress in Moskau gewesen und zurückgekehrt bist. Hast du Lenin gesehen?"
In einem Atemzuge stellte er noch viele andere Fragen, bis er endlich einen Wink von mir begriff. Aber da war es schon zu spät. Als er abgefertigt war, sagte er beim Abschied, er werde wiederkommen. „Ich halte dicht", erklärte er.
Wir gingen in die Wohnung hinauf. Auf dem Tisch dampfte das Nationalgericht: Spaghetti mit Tomatensoße. Der Chef war in Gedanken versunken. Ich spielte mit den Kindern, die mich gern hatten. Dann plauderten wir ein wenig. Als Maria, die Frau des Chefs, den Kaffee aufgetragen hatte und in das andere immer Zimmer gegangen war, sagte der Chef zu mir:
„Ich habe alles gehört, was Ihr Freund gesagt hat. Ich weiß auch, wie Sie heißen. Ich habe oft Ihre Artikel im ,Ordine Nuovo' gelesen, aber persönlich habe ich Sie nicht gekannt. Ich habe nicht geahnt, dass ich einen Genossen hier hatte ..."
Ich hörte zu, und mir ging ein Licht auf ...
„Ich bin ein Sympathisierender. Ich habe immer nach meinen bescheidenen Kräften gespendet und Propaganda gemacht, so gut ich es verstand."
Er stand auf, kramte in einer Schublade und zeigte mir einige Ausschnitte aus unserer Zeitung, in denen er als Spender genannt war.
„Was ich Ihnen jetzt sagen muss, zerreißt mir das Herz, aber es geht nicht anders. Ich habe Familie, und wenn die Faschisten erfahren, dass Sie hier arbeiten, schlagen sie mir alles kurz und klein. Sie verstehen mich." „Ich verstehe vollkommen", antwortete ich. „Ich zahle Ihnen zwei Wochen statt einer ..." Der wackere Mann war wirklich bekümmert. Ich ging und war wieder einmal obdachlos. Jeden Tag las ich die Schauergeschichten, die die römischen Zeitungen über die Kommunisten verbreiteten. Jeden Tag fanden Verhaftungen statt. Ich schlief bald hier, bald dort. In ein Hotel konnte ich aus zwei Gründen nicht gehen: erstens war ich knapp bei Kasse, und zweitens würde ich fast mit Sicherheit verhaftet werden. Mehrere Tage fand ich Zuflucht in einer Arbeiterfamilie. Das waren schöne Tage. Abends erzählte ich der am Ofen versammelten Familie — Vater, Mutter und fünf Söhne, die alle Arbeiter waren — von meiner Russlandreise.
Eines Morgens wurde ich verhaftet. In San Carlo wurde ich dem General Zamboni, dem ersten faschistischen Polizeipräsidenten von Turin, vorgeführt.
„Wo sind Sie bis jetzt gewesen?"
„In Turin."
„Wo haben Sie gewohnt?"
„Ich verweigere die Aussage."
„Gut, schafft ihn in den Neubau."
„Warum werde ich verhaftet?" fragte ich.
„Sie wissen es genau und besitzen die Frechheit, danach zu fragen?"
„Es ist mein gutes Recht, den offiziellen Grund zu erfahren."
„Schafft ihn fort!"
Man stieß mich hinaus.
Wenige Stunden danach begann die Rundfahrt durch Turin im Zellenwagen. Es mussten alle Kommissariate abgefahren werden, um die Gefangenen zu sammeln, die ins Gefängnis gebracht werden sollten. Der Wagen war in lauter kleine Zellen für je eine Person eingeteilt, aber in jeder dieser kleinen Zellen waren wir zu zweit. Vom Polizeipräsidium fuhren wir zum Neubau. Drei Viertel elf trafen wir dort ein.
In der Zelle mir gegenüber saßen zwei Frauen, eine weinende Prostituierte und eine alte Kartenlegerin, die auf der Straße arbeitete. Die Prostituierte fragte unter Tränen:
„Was werden sie mit mir machen? Werden sie mich lange festhalten?"
Die Kartenlegerin tröstete sie:
„Wenn es nicht so dunkel wäre, würde ich dir die Karten legen und könnte dir gleich alles sagen."
„Werden sie uns zusammenlegen?"
„Wenn sie uns zusammenlegen, lege ich dir die Karten. Aber auch ohne Karten kann ich die Zukunft voraussagen. Ich lese aus der Hand. Hast du Geld?"
„Ja, aber das haben die Carabinieri."
Dann waren wir an dem großen Tor des Neubaus. Nach Erledigung der Aufnahmeformalitäten und der unvermeidlichen Durchsuchung trat ich, ohne Hosenträger, ohne Schuhbänder und ohne Krawatte — man wollte mir auch den Stock fortnehmen, obwohl ich mich ohne Stütze nicht rühren kann! — in Begleitung des Wärters den Weg zum „Rundbau" an, um durch meinen „Flügel" in die Zelle Nr. 13 geführt zu werden.
Das Sonnenlicht fällt durch die Gitter und das Glasdach ein. Der so genannte Neubau — das Turiner Zellengefängnis — macht beinahe einen freundlichen Eindruck. In den langen Gängen hatten die Kalfaktoren mit dem Kessel voll der üblichen Brühe, die großartig als „Suppe" bezeichnet wird, in Anwesenheit des Wärters bereits die Portionen verteilt.
„Ein Neuer! "verkündete einer der Kalfaktoren und winkte mir zu. „Der kriegt heute kein Essen mehr", bemerkte der Wärter.
Das war kein Unglück; man brauchte nur den Duft zu riechen, den der Kessel ringsum hinterlassen hatte.
Ich grüßte die Kalfaktoren und trat in die Zelle, deren Tür sich klirrend hinter mir schloss. An dieses Geräusch habe ich mich längst gewöhnt, aber jedes Mal ruft es ein eigenartiges Gefühl in mir hervor, das ich nicht gleich überwinden kann. Es dauert aber nur einen Augenblick.
Die Zelle Nr. 13 war eine der üblichen Zellen, klein, finster und feucht. Obwohl sie nur für eine Person bestimmt war, befanden sich schon zwei andere Häftlinge darin. Wir begrüßten uns.
Als ich mich in einer bestimmten Weise nach der Ecke umsah, in der ich meine Sachen unterbringen wollte, sagte einer von ihnen sofort: „Man sieht, dass du kein Rekrut bist!" Er lachte über seinen Einfall.
Er verzehrte sein Essen auf dem einzigen vorhandenen Sitz, einem in die Wand eingelassenen Brett. Der andere lag auf dem Strohsack mit dem Napf neben sich. Er schlief aber nicht und aß auch nicht.
„Ja", antwortete ich, „ich bin ein alter Kunde."
„Bist du ein Krimineller?" fragte er mit vollem Munde weiter.
„Nein", erwiderte ich, „ich bin ein Politischer."
Der andere Häftling betrachtete mich von seinem Strohsack aus aufmerksam, während der erste mich halb mitleidig, halb bewundernd ansah.
„Ihr seid komische Kerle, ihr Politischen. Was so besonders schön daran ist, hierher zu kommen, ohne ,gearbeitet' oder sich mit den Carabinieri herumgeschlagen zu haben, kann ich nicht begreifen ... Der da", fügte er hinzu, als er merkte, dass ich unseren ausgestreckten Mitbewohner beobachtete, „ist ein Bettler. Er ist stumm wie ein Maulwurf und wimmelt von Lausen. Gestern habe ich gedacht, er spielt Theater, aber er hört nicht einmal einen Kanonenschuss. Du kannst ungeniert reden."
„Was möchtest du hören?" begann ich.
„Ihr habt es gut", fiel er mir ins Wort, „ihr macht euch keine Sorgen. Wir dagegen haben immer Pläne im Kopf. Man muss immer auf der Hut sein."
„Gewiss, gewiss", meinte ich.
Aber der andere war in Schwung gekommen.
„Mit dir kann ich reden. Ihr Politischen seid keine Schweine. Diesmal habe ich Pech gehabt, sie haben mich auf frischer Tat ertappt."
Er sprach rasch und mit gedämpfter Stimme, als freute er sich, einmal auspacken zu können.
Er war ein kräftiger Kerl, der einen Ochsen mit einem Fausthieb hätte niederstrecken können.
„Ich bin Spezialist", erklärte er mir, „ich arbeite an den Denkmälern."
Als er merkte, dass ich nichts begriff, erklärte er sich deutlicher.
„Ich bin Spezialist für Denkmalsdiebstähle. Ich füge niemand Schaden zu. Was ist dabei, wenn am Cavour-Denkmal eine Bronzeplatte fehlt, wenn am Denkmal Viktor Emanuels II., der auch ,Vater des Vaterlandes' genannt wird, weil er so viele Geliebte und so viele Kinder gehabt hat, ein Stück fehlt, wenn an einem anderen der vielen Denkmäler in Turin ein Meter von der Kette am Sockel fehlt? Ich lebe, weil Bronze gesucht ist und gut bezahlt wird. Ist ein Bronzering an einer Mühlspindel oder irgendwo anders in einer Fabrik nicht nützlicher als eine Kette um das Denkmal Karls des Glücklichen oder Emanuele Filibertos, die keiner von uns gekannt hat?" Er beobachtete die Wirkung seiner Gelehrsamkeit auf mich, bat mich um eine Zigarre und fuhr fort:
„Ich hatte meinen Beutel voll mit wunderschönen massiven, tadellosen Ketten, als ich Schritte hinter mir hörte. Ich drehte mich um: die Polente. Verfluchtes Pech! Ich wollte türmen, aber es war zu spät. Sie haben mich gepackt ... und nun bin ich hier. Der Untersuchungsrichter hat mich ordentlich gezwiebelt, aber Pustekuchen, ich verrate keinen ..." Er sah sich um und erzählte weiter:
„Ich habe einen falschen Namen angegeben. Da sie mich auf frischer Tat ertappt haben, werden sie mir ohne lange Untersuchung den Prozess machen. Mit meinem richtigen Namen würde ich wegen Rückfälligkeit im allgemeinen und im besonderen verurteilt werden, jetzt komme ich mit bedingter Verurteilung davon. Warum? Weil ich — hier senkte er nochmals die Stimme — den Namen eines lieben Freundes von mir angegeben habe, eines guten Kerls von Arbeiter, dem ich in Frankreich die Papiere gestohlen habe. Man kann nie wissen ... Bei solchen Gelegenheiten präge ich mir auch immer ganz genau alle Personalien ein. Man muss immer vorsorglich sein im Leben. Morgen beim Prozess werden sie mich unter diesem Namen zur Mindeststrafe mit bedingter Strafaussetzung verurteilen ..." Zufrieden rieb er sich die Hände.

Die Riegel rasselten. Zwei Wärter traten mit dem Oberwärter ein. Die Eisengitter wurden geprüft.
„Wer ist der Neue?" fragte der Oberwärter.
„Ich", antwortete ich.
Er musterte mich von oben herab.
„Sie sind Kommunist? Ich werde Ihnen den Kommunismus abgewöhnen ..."
Damit ging er.
Am Morgen wurde der Spezialist abgeholt. Zufrieden folgte er den Carabinieri.
„Ich komme bald zurück und hole meine Sachen. Dann gibst du mir deine Adresse, und ich benachrichtige deine Leute. Wir müssen uns doch helfen untereinander."
Der Tag verging langsam. Man wanderte auf und ab und rauchte. Eine Stunde durfte man an die Luft...
Die Suppe, die Kontrolle durch die Wärter — immer dasselbe, immer zur gleichen Stunde.
Der Bettler aß und schlief oder machte Jagd auf die Läuse in seinem dichten Bart und auf dem Kopf. Er zerquetschte sie auf dem Fußboden mit dem Daumennagel, ich hörte das Knacken immer wieder...
Gegen Abend öffnete sich plötzlich die Tür. Es war der Spezialist. Er schien zur Bestie geworden und grüßte niemand. Gereizt und nervös ging er auf und ab: „Verlass dich auf deine Freunde! So ein Schuft, so ein Lump, so ein Gauner!" Mit langen Schritten durchmaß er die Zelle, ohne sich um mich und den erschrockenen Bettler zu kümmern.
Ich begriff nichts. Vielleicht hatten sie seinen richtigen Namen entdeckt? Vielleicht glaubte er, ich sei das Schwein
gewesen?
„Was hast du?" fragte ich ihn. „Hat dich einer verraten?
Hast du mich im Verdacht?"
„Nicht doch!" erwiderte er und blieb stehen. „Verlas dich auf deine Freunde, auch auf die besten! Erinnerst du dich an den Lumpen, an den Gauner, an den Schuft, von dem ich dir gestern erzählt und den ich für einen Ehrenmann gehalten habe? Nun, er ist vorbestraft ... Der Schuft, der Lump ... Die Höchststrafe habe ich bekommen."
Er warf sich auf den Strohsack.
Tiefes Schweigen. In dem finsteren Gebäude waren nur der gleichmäßige Schritt der Wärter und die Rufe der Posten
zu hören ...
Es begannen die vorgeschriebenen zwölf Stunden Bettruhe ...
Am nächsten Tage wurde ich aus der Zelle Nr. 13 in Einzelhaft verlegt. Verhört wurde ich nicht, nach Hause durfte ich nicht schreiben. Dann brachte man mich in einen großen Durchgangsraum. Das bedeutete, dass ich bald abtransportiert werden sollte. Wohin? Wahrscheinlich nach Rom, zum
Prozess.
Aber warum wurde ich nicht verhört? Ich hatte keine Ahnung von den Vorgängen in der Außenwelt. Einige unbestimmte Nachrichten erhielt ich, als ich in dem Durchgangsraum war. Ein alter Zuchthäusler, der am Abend eingetroffen war, erzählte mir, dass viele Leute verhaftet würden, meistens Arbeiter. Er erzählte von niedergebrannten Genossenschaften, Misshandlungen und Morden.
„Die verfluchten Hunde!" schloss er seinen Bericht. Er war ein sympathischer und sauberer alter Mann.
„Haben Sie keine Angst, so zu reden? Sie können doch mal auf einen faschistischen Wärter stoßen!" warnte ich ihn.
„Das ist schon möglich", erwiderte er.
„Müssen Sie noch lange sitzen?"
„Ich habe nur drei Tage abzumachen", antwortete er. Als er sah, dass ich nichts begriff, fügte er hinzu:
„Die drei Tage bedeuten: heute, morgen und immer. Ich habe lebenslänglich Zuchthaus. Sechsundvierzig Jahre habe ich schon hinter mir! Ich habe einen umgebracht und büße dafür. Ein bisschen teuer ... andere morden und stehlen heute, wie ich es getan habe, und brauchen nicht zu büßen. Aber ich bin ja nun ein alter Mann."
Zu den schlimmsten Qualen für die Häftlinge gehört die ordnungsgemäße Überführung, das heißt die Fahrt im Zellenwagen. Ich glaube, diesen Wagen hat Giolitti erfunden, den Zellenwagen und das übrige. Ich habe diese vergnüglichen Reisen mehrmals gemacht.
Ich kenne ziemlich viele Leute im Ausland, die, wenn sie von den Schönheiten Italiens, von Venedig, von Rom, von Capri, von der Riviera sprechen, nicht einmal ahnen, dass von den 40 Millionen Italienern 39 3/4Millionen Italien überhaupt nicht kennen oder höchstens in den Zellenwagen beziehungsweise in den Viehwagen während des Krieges ein bisschen herumgekommen sind.
Während des Krieges bin ich mehrmals ordnungsgemäß überführt worden, einmal zum Beispiel von Garessio nach Fossano. Die beiden kleinen Städte liegen in derselben Provinz und sind nur etwa sechzig Kilometer voneinander entfernt. Ich habe, einschließlich der Aufenthalte, drei Tage für diese Reise gebraucht.
Ob man auf diese Weise überführt wird, bestimmt die Polizei. Für umstürzlerische Elemente wird die Maßnahme fast immer angeordnet, für gewöhnliche Verbrechen dagegen nur ausnahmsweise. Aber ich will ein Beispiel geben.
Rom ist von Turin etwa 660 Kilometer entfernt. Der Abendschnellzug, der von Turin um 20 Uhr 15 abgeht, trifft in Rom am nächsten Morgen um 7 Uhr 50 ein, braucht also weniger als zwölf Stunden. Mit dem Omnibus dauert die Fahrt achtzehn Stunden. Ich habe diese Reise folgendermaßen gemacht:
Ich lag in tiefem Schlaf auf dem Strohsack, trotz der Tierchen, die uns plagten, weil man sich ja im Leben an alles gewöhnt, als ich barsch geweckt wurde. Vor mir stand ein Gefängniswärter mit Laterne und Schlüsselbund.
„Ziehen Sie sich sofort an, Sie kommen weg. Die Carabinieri warten schon."
Ich zog mich an.
„Wie spät ist es?" fragte ich.
„Es ist zwei. Wir müssen uns beeilen, denn der Zug geht 7 Uhr 15 ab."
„Teufel nochmal!" sagte ich. „Mehr als fünf Stunden brauchen wir bis zum Bahnhof?" Vom Gefängnis bis zum Bahnhof an der Porta Nuova fährt man mit der Straßenbahn fünfzehn Minuten.
„Wir müssen die Kommissariate abfahren, um andere Häftlinge abzuholen."
Der Wärter war eine guter Kerl und unterhielt sich gern mit uns Politischen. Er half mir bei der Sachenabgabe im Magazin und brachte mich dann ins Aufnahmebüro. In dem großen Zimmer standen schon etwa zwanzig Häftlinge. Einige trugen numerierte Zuchthauskleider, andere Zivilkleidung. Alle Altersstufen waren vertreten. Manche waren abgerissen, andere gut gekleidet. Junge und Alte waren darunter. Während die Entlassungsformalitäten (Aushändigung des Geldes und der Sachen, Unterschrift, Fingerabdrücke und so weiter) erledigt wurden, wurde ein Häftling nach dem andern den Carabinieri übergeben und mit Handschellen gefesselt. Diese Handschellen haben mit den alten Ketten nichts gemein. Es handelt sich um eine Art von Armbändern, die wie ein großes E geformt sind und dann durch einen Eisenstab mit drei Löchern, in die die drei Spitzen des E sich einfügen, geschlossen werden. Das Schließen erfolgt mit einer durch ein Vorlegeschloß gesicherten Schraube. Die Eisenstäbe drücken furchtbar auf die Handgelenke. Die geringste Bewegung verursacht große Schmerzen. Dann werden die Häftlinge durch eine lange Kette miteinander verbunden.
Als ich an die Reihe kam und nach Erledigung der Formalitäten gefesselt werden sollte, weigerte ich mich und wies darauf hin, dass ich ohne Stock nicht gehen könne.
Der Transportführer wollte mich ohne Handschellen nicht übernehmen. Der Beamte erklärte ihm, dass ich auch ungefesselt nicht würde flüchten können.
Der andere gab nicht nach, ich auch nicht.
„Lassen Sie mich untersuchen!"
„Der Arzt schläft."
„Macht nicht so viele Umstände und legt ihm Handfesseln an", sagte der Transportführer. „Die Vorschrift verlangt es. Wenn er nicht gehen kann, soll er dafür sorgen, dass er nicht ins Gefängnis kommt. Wer ein Verbrechen begeht, muss auch büßen."
Man fesselte mich.
Ich war der letzte an der Kette. Nach und nach rollte die Kette sich auf, und ich musste mich in Bewegung setzen. Ohne Stock und mit den Handschellen nebst einem Bündel Wäsche konnte ich mich aber nicht bewegen. Ich rührte mich nicht. Mein Kettennachbar, ein alter Zuchthäusler mit seinem Bündel und einem Käfig, in dem ein Fink saß, blieb stehen. Auch die anderen blieben stehen, trotz des Gebrülls und der Flüche des Transportführers.
Es herrschte eine unglaubliche Solidarität unter den Zuchthäuslern. Kein Geschrei, keine Stöße, keine Beschimpfungen brachten die lange Reihe der Nummernträger in Bewegung.
Der Transportführer erklärte:
„Die Vorschrift besagt, dass alle Häftlinge Handschellen tragen müssen. Verstanden?"
„Natürlich habe ich verstanden", antwortete ich. „Wenden Sie nur die Vorschrift an! Sie können mir ja Handschellen anlegen und mich dann auf einer Bahre tragen lassen. Dann sind das Vaterland und die Vorschrift gerettet."

„Ich befehle Ihnen, sich in Bewegung zu setzen!" brüllte der Transportführer.
„Ich kann nicht."
„Das werde ich Ihnen zeigen!"
Er rollte die Augen und ließ meine rechte Hand entfesseln, so dass ich nur noch mit einer Hand an die Kette gebunden war. Durch die langen halbdunklen und öden Gänge trat der Zug rasselnd seinen Weg an. Ich weiß nicht, wie viele Türen hinter meinem Rücken geschlossen wurden. Schließlich langten wir in der einsamen Straße an, wo uns ein ungefüger, mit zwei Pferden bespannter Wagen erwartete.
„Wie viele Häftlinge haben Sie, Unteroffizier?" fragte der Kutscher.
„Zwanzig", antwortete der Unteroffizier. „Jesus, wo bringe ich die unter? Ich habe nur sechzehn Plätze, und wir sind im ganzen dreiundzwanzig ..."
Da wir so gefesselt waren, genügten drei Carabinieri, um uns alle zu überwachen.
„Wir müssen noch neun andere bei verschiedenen Kommissariaten abholen. Wir werden sie ein bisschen zusammenpressen, sie haben es bequem genug", spottete der Unteroffizier.
Ihm antwortete ein dumpfes Protestgemurmel. „Wer hat etwas dagegen? Los, ihr Schufte!" brüllte der Transportleiter. Tiefes Schweigen.
Eng aneinandergepresst in dem unbequemen Wagen fuhren wir los. Auf dem Bahnhof kamen wir halb sieben an, nachdem wir ungefähr drei Stunden lang durch die stillen Straßen gerumpelt waren. Bei jedem Halt wurde wieder einer in den Wagen gestoßen. Wir saßen einer auf dem anderen. Man konnte nicht atmen. Die Handgelenke schmerzten furchtbar. Bei jedem Rütteln des Wagens ertönten Flüche und Schmerzensschreie.
Der alte Zuchthäusler jammerte: „Sie werden mein armes Vögelchen ersticken."
Ein anderer sorgte sich um seine weiße Maus. Fast alle alten Häftlinge halten sich irgendein Tierchen, um das sie rührend besorgt sind. In Ancona habe ich einen Häftling wie ein Kind weinen sehen, weil seine Amsel sich eine Pfote gebrochen hatte. Er pflegte sie sorgsam. Aus zwei kleinen Zweigen und etwas Garn stellte er einen provisorischen Verband her, und das Vögelchen genas.
Schließlich trafen wir auf dem Bahnhof ein. In Reih und Glied warteten wir, bis der Zug zusammengestellt war, und stiegen dann in den finsteren Waggon.
So ein Waggon erinnert an eine Schachtel. Die wenigen Luftlöcher werden durch den Qualm der Lokomotive verstopft, hinter der sich der Waggon fast immer befindet. Von einem Ende des Waggons zum andern führt ein Mittelgang, und zu beiden Seiten dieses Ganges liegen viele winzig kleine Zellen. In eine dieser Zellen wurde ich eingeschlossen. Man kann sich nicht aufrichten. Auf den dunklen Gang führt eine winzige vergitterte Öffnung. Auf der Außenseite ist nichts zu sehen. Das Licht soll von oben kommen. Tatsächlich befindet sich in der Decke der Zelle ein sehr dickes und fest eingefügtes Stück Glas mit einem Durchmesser von zehn oder zwölf Zentimetern. Aber der Staub und der Regen haben es so verschmiert, dass man nichts sehen kann.
Der Zug fuhr ab. Einen Augenblick danach wurde die Zelle geöffnet, und der Transportführer trat ein.
„Jetzt können Sie sich nicht mehr damit entschuldigen, dass Sie nicht gehen können", sagte er und ließ mich fesseln. Dann wurde Essen ausgegeben.
Unterwegs gab es nichts außer einer doppelten Brotration.
Die Handschellen wurden uns nicht einmal abgenommen, wenn wir essen oder ein Bedürfnis verrichten mussten.
Die Züge, an die die Zellenwagen angehängt werden, sind immer aus Personen- und Güterwagen zusammengesetzt. Auf jedem Bahnhof gibt es einen langen Aufenthalt. Es wird rangiert, und Güter werden aus- und eingeladen.
Von Turin bis Alessandria — dies war unsere erste Etappe — sind es rund sechzig Kilometer. Wir brauchten dazu etwa zehn Stunden.
Wir wurden ausgeladen, mussten einen Zellenwagen besteigen und fuhren zum Gefängnis. Hier wurden wir durchsucht, wobei wir uns nackt ausziehen mussten. Dann kamen die Aufnahmeformalitäten und die Fingerabdrücke, und schließlich, nach stundenlanger Wanderung durch Büros und Magazine, wurden wir in einem großen Raum untergebracht. Es war der so genannte Durchgangsraum. Wenn die Zellen im allgemeinen schmutzig sind, so sind diese Räume richtige Mistgruben. Da die Häftlinge hier nur vorübergehend sind, nehmen sie nicht die geringste Rücksicht. „Es geht ja sowieso gleich weiter", sagen alle ...
Die Fenster hatten keine Scheiben, es war im Februar. Alessandria ist eine neblige Stadt. Es herrschte eine feuchte Kälte. Wir schliefen auf durchlöcherten und schmutzigen Strohsäcken, die auf der Erde lagen. Die Decken wimmelten von Läusen.
Unter diesen Verhältnissen warteten wir drei Tage auf den nächsten Zellenwaggon. Dann wurden wir wieder um zwei Uhr nachts geweckt und brachen erst um acht auf, nachdem wir das Aufnahmebüro, die Unterschriften, die Fingerabdrücke, die Handschellen und langwierige Verhandlungen hinter uns gebracht hatten.
In Reih und Glied standen wir schließlich auf dem Bahnsteig, umringt von Carabinieri und Neugierigen, als ein Gefängniswärter atemlos angerannt kam.
„Herr Unteroffizier, wissen Sie, was diese Hunde gemacht haben?" Mit den Hunden waren natürlich wir gemeint. „Sie haben mir alle Fensterscheiben im Durchgangsraum zerschlagen."
Einmütiger Protest.
„Als wir angekommen sind, ist überhaupt keine Fensterscheibe dagewesen", sagte ich.
„Halten Sie den Mund!" sagte der Unteroffizier. Dann wandte er sich an den Wärter:
„Was kostet das Einsetzen von neuen Scheiben?"
„Mindestens fünfzig Lire."
Trotz unserer Proteste zahlte der Unteroffizier. Mit unserem Gelde natürlich, das er in Verwahrung hatte. Unterwegs teilte er dann den Betrag entsprechend dem Geldbesitz der einzelnen unter uns auf.
Ich erwähne diesen Zwischenfall, weil ich im Jahre 1926, als ich im Polizeipräsidium von Mailand saß, im Gespräch mit einem anderen Häftling erfuhr, dass auch er die zerschlagenen Fensterscheiben des Durchgangsraums im Gefängnis von Alessandria bezahlt hatte.
Die nächste Etappe war Piacenza. Hier dauerte es vier Tage. Durchsuchung, Aufnahmeformalitäten, Fingerabdrücke bei der Ankunft und bei der Weiterfahrt, Handschellen. Ein grauenhafter Durchgangsraum. Hier traf ich mehrere Politische. Sie waren alle wegen der Bildung von bewaffneten Gruppen verurteilt. Es waren Bauern und Arbeiter.
In dem schmutzigen Raum, beim trüben Schimmer einer stinkenden Ölfunzel, erzählte ich jede Nacht stundenlang von der russischen Revolution. Alle Häftlinge, auch die kriminellen, hörten mir, um meinen Strohsack gedrängt, schweigend zu. Sie stellten die verschiedensten Fragen.
„Gibt es auch Diebe in Russland?"
„Sind die Kirchen geöffnet?"
„Hast du Lenin gesehen?"
„Hast du die Bolschewisten gesehen?"
„Hast du keine Angst gehabt? Hast du zu essen bekommen?"
Bei den taktmäßigen Schritten der Wärter, die die Fenstergitter revidieren kamen, was in der Nacht alle drei Stunden geschah, verdrückten sich meine Zuhörer ...
Am Morgen der Abreise von Piacenza (nachdem die Unterschriften, die Durchsuchungen, die Aushändigung der Sachen und die Fingerabdrücke erledigt waren) wurden wir, da der Zug sich um drei Stunden verspätete, was sehr häufig vorkam, einstweilen ins Bahnhofsrestaurant geführt. Die Carabinieri gestatteten uns, kleine Einkäufe zu machen.
Bis zur Ankunft des Zuges unterhielten wir uns. Mein Kettennachbar, der alte Zuchthäusler mit dem Vogelbauer, säuberte den Käfig, so gut es ging, und fütterte seinen Fink. Da ich nur an einer Hand gefesselt war, half ich ihm dabei. Übrigens half ich auch den anderen, sich eine Zigarre anzustecken oder das Brot zu brechen. Der Transportführer, ein hochgewachsener blonder Maresciallo, ließ es geschehen. Er ging umher und fragte alle, woher sie kämen, wohin sie gebracht werden sollten, wie viele Jahre sie abzumachen hätten und so weiter. Fast alle behaupteten, sie seien das Opfer eines Justizirrtums oder eines Racheaktes oder viel zu hoch bestraft worden.
Als er zu mir kam, fragte er:
„Und was haben Sie gemacht?"
„Ich habe ein sehr schweres Verbrechen begangen", antwortete ich. „Ich bin wegen eines Anschlages gegen die Sicherheit des Staates angeklagt."
„Aha, Sie sind Kommunist, vielleicht einer von denen, die nach der Rückkehr aus Russland verhaftet worden sind? Erzählen Sie uns doch etwas", fügte er hinzu, als ich bejahend genickt hatte.
Ich begann zu erzählen, und ich erzählte lange. Die Häftlinge umdrängten mich im Kreise. Auch die Carabinieri hörten zu. Es war ein sehr aufmerksames Publikum.
Der Maresciallo hörte auch sehr aufmerksam zu. Einer der Häftlinge — er war wegen schweren Raubes verurteilt — unterbrach mich mit den Worten: „Die Bolschewisten haben furchtbare Sachen gemacht. Die ganze zivilisierte Welt ist gegen diese Barbaren."
Ein anderer fiel ihm ins Wort: „Was weißt du denn davon? Glaubst du alles, was gedruckt wird? Sei still, schließlich ist er in Russland gewesen."
„Genug für heute", beendete der Maresciallo das Gespräch.
Wir gingen wieder auf den Bahnhof zwischen zwei Reihen von Neugierigen, von denen uns manche betrachteten, als wären wir wilde Tiere, während andere sichtlich Mitleid mit uns hatten. Am Abend wurden wir in Bologna in das berüchtigte Gefängnis San Giovanni in Monte gebracht.
Einen Durchgangsraum wie den in Bologna hatte ich noch nicht gesehen. Wir waren etwa siebzig Häftlinge, und ich muss zugeben, dass es nicht einmal zu eng war, da die jüngeren Leute spielen und umherlaufen konnten. Es war ein großer, aber sehr niedriger Raum. Einige Säulen stützten das feuchte, tropfende Gewölbe. Es war ein Kellerraum. Das Licht fiel durch Löcher ein, wie es in Kellern üblich ist.
Als wir ankamen, wurden wir nach den üblichen Formalitäten mit Begrüßungsrufen empfangen. Von allen Seiten fragte man uns: „Von wo bist du? Woher kommst du? Bist du ein Krimineller? Wie viel Jahre musst du absitzen?"
Die elenden Betten waren alle besetzt. Für uns blieb nur der übliche Strohsack auf dem Boden. Ich richtete mich in einer Ecke ein, neben dem Bett eines jungen Mannes, der in einem Räuberschmöker las. Als er mich erblickte, erhob er sich sogleich.
„Nimm mein Bett. Es soll nie einer sagen, dass der Rotkopf einen Kranken auf der Erde schlafen lässt. Komm hierher, ich bin noch jung. Du bist zwar nicht alt, aber du hast ein krankes Bein."
Es war nichts zu machen. Er nahm meinen Strohsack, und ich musste sein Bett nehmen. Dann erzählte er mir, dass er acht Jahre wegen Totschlages abzumachen hatte.
„Ich habe einen in Notwehr erschlagen, und sie haben mich so hereingelegt, weil ich kein Geld hatte, um mir einen guten Rechtsanwalt zu nehmen. Die Armen haben immer unrecht. Mir tut nur meine arme Mutter leid."
Dann las er weiter.
Neben mir unterhielten sich zwei junge Leute. Der eine sagte:
„Ich bin schwach gewesen. Der Junge tat mir leid. Er war gerade von der Universität gekommen. Ich solle mich von ihm verteidigen lassen, sagte er, er werde mich hervorragend verteidigen. Was willst du? Ich bin im Grunde gutmütig. Die Bettelei des armseligen Anfängers rührte mich, und ich ließ mich verteidigen. Hätte ich es doch nie getan! Er verhaspelte sich vor den Richtern, verwechselte die Paragraphen, bat um mildernde Umstände, statt auf meiner Unschuld zu bestehen, und schließlich bekam ich die Höchststrafe. Man soll nie Gutes tun ..."
„Was mich betrifft", sagte der andere, „so lasse ich mich durch diese Lehrlinge nie mehr beeindrucken. Einmal hat einer von ihnen mir hundert Lire geboten, damit ich mich von ihm verteidigen ließ. Stell dir das vor! Mit meinem Namen und meiner Vergangenheit!"
Auf einem anderen Bett erzählte ein Häftling, von zahlreichen Zuhörern umgeben, wie er eine Bank ausgeraubt habe. „Und jetzt sitze ich hier", schloss er.
Zwei Häftlinge spielten auf der Erde Dame. Das Brett war mit Kreide auf den Fußboden gemalt. Der Einsatz war ein Knopf für jede Partie.
In der gegenüberliegenden Ecke deklamierte ein gut gekleideter Mann Carducci. Einige gingen auf und ab. Andere starrten ins Leere und hingen ihren Gedanken nach.
„Und was ist mir dir, Vollbart?" Die Frage kam von dem jungen Mann, der so viel Mitleid mit dem strebsamen jungen Rechtsanwalt gehabt hatte. „Ich betrachte dich schon eine ganze Weile und kann nicht dahinter kommen, wo ich dich unterbringen soll."
„?"
„Ja, wie ein Einbrecher siehst du nicht aus, wie ein Taschendieb auch nicht, und wie ein Räuber schon gar nicht. Vielleicht hast du deine Geliebte umgebracht? Oder hast du dich in den Büchern deines Chefs verrechnet?"
„Was bist du für ein Dummkopf!" sagte sein Freund. „Hast du nicht gemerkt, dass er ein Politischer ist? Stimmt's?" wandte er sich an mich.
Ich nickte bestätigend.
Ein anderer junger Mann, ein sympathischer Herkules, der ein Stück Zeitung las, kam an mein Bett gestürzt.
„Bist du Anarchist oder Sozialist oder Kommunist?"
„Ich bin Kommunist."
Er fiel mir um den Hals. Ich glaubte, er wolle mich ersticken.
„Ich bin auch Kommunist. Aus Massa bin ich. Ich kenne Bibolotti." Er nannte noch andere Genossen. „Kennst du sie auch?"
„Aber ja, ich kenne sie gut."
Strahlend setzte er sich zu mir.
Er war ein Riese mit Kinderaugen. Als er hörte, dass ich in dem Prozess in Rom angeklagt war, bestürmte er mich mit Fragen. Er wollte alles mögliche wissen. Seine Fragen waren nicht die üblichen. Man spürte den guten und zuverlässigen Genossen.
Er hörte zu, während ich von Russland und von Lenin sprach, von den Betrieben und den Sowjets, von den Empfängen und von der Roten Armee. Vor allem hierüber wollte er Genaueres wissen.
Dann begann er selbst zu erzählen.
„Ich kann nicht reden, aber das ist nicht so wichtig. Ich kenne meine Pflicht und werde sie weiter erfüllen. Frage Bibolotti!"
Bibolotti, der jetzt eine Zuchthausstrafe von zwanzig Jahren verbüßt, war Sekretär des Provinzialverbandes Massa-Carrara der Kommunistischen Partei.
„Armer Bibolotti! Ich habe ihn mit seiner Frau und seinem kleinen Jungen auf der Straße gesehen, während sein Haus in Flammen stand. Die Dreckhemden hatten es angesteckt. Er war verwundet. Der kleine Junge weinte. In dieser Nacht habe ich viele zusammengeschlagen! Sie fielen beim ersten Hieb mit dem Knüppel, und als der an einem besonders harten Kopf zerbrach, habe ich mit denen hier" — er zeigte seine furchtbaren Fäuste — „nachgeholfen. Dann musste ich mich in Sicherheit bringen ..."
Er hielt inne, um Atem zu holen. (Später habe ich über diesen Genossen mit Bibolotti gesprochen, und er hat mir alles bestätigt, was dieser mir in jener Nacht im Keller von San Giovanni in Monte erzählte.)
Die Häftlinge betrachteten ihn bewundernd.
„Ich musste durchs Land irren wie ein räudiger Hund. Ich war immer auf den Versammlungen mit Bibolotti. Der war ein Redner! Er sagte ganz einfache Sachen, die auch ich begriff, aber ich verstand es nicht, sie unter die Leute zu bringen. Einmal, als er in einem Landstädtchen sprach, war ich unter den Zuhörern. Ein paar Faschisten krakeelten. Ich habe zwei am Kragen gepackt und sie ein bisschen zurechtgestaucht." Zur Verdeutlichung packte er zwei neben ihm stehende Häftlinge. „Sie haben gleich Ruhe gegeben. Nach der Schreckensnacht in Massa bin ich noch einmal in meinem Ort gewesen, um mich von meiner Mutter zu verabschieden — arme Mutter! — und mir ein paar Hemden und Kleidungsstücke zu holen. Die Faschisten hörten davon. Haufenweise umringten sie mein Haus. Damit meine arme Mutter nicht vor Schreck starb, sprang ich aus dem Fenster in den Garten und schoss auf die ersten Faschisten, die mir in den Weg kamen. Zwei brachen röchelnd zusammen. Ich flüchtete in die Felder. Sie verfolgten mich und schossen immer wieder auf mich, ohne mich zu treffen ... Ich bin ihnen entkommen."
Die Häftlinge, die allerlei gewöhnt waren, waren tief beeindruckt durch die Erzählung des Genossen.
Auf dem Gang ertönten Schritte, Schlüssel klirrten, Riegel rasselten. Es waren die Gefängniswärter.
„Da kommen die Menschenfleischhändler", meinte spöttisch ein alter Zuchthäusler, der Tabak schnupfte.
„Das wissen wir auch, dass sie kommen, altes Schwein!" erwiderte ihm ein junger Mann, der sich rühmte, in Neapel in der Zelle der Margherita Pusteria gewesen zu sein. „Du wärest hier nicht eingesperrt, wenn du keine Minderjährigen vergewaltigt, sondern dich an Frauen gehalten hättest, wie andere es tun."
In den Augen des alten Zuchthäuslers blitzte es auf.
Die Wärter traten ein. Es waren ziemlich viele. Einer schlug mit einer Stahlstange an die Fenstergitter. Sie pflegten darin zu wetteifern, in musikalischem Rhythmus an die Gitter zu schlagen.
Andere Wärter stöberten zwischen den Strohsäcken herum. Der Oberwärter zählte uns alle, nachdem wir in Reih und Glied angetreten waren, wie man Kartoffelsäcke zählt. „Es fehlt einer! He, Wachhabender, ein Häftling fehlt!"
Große Aufregung und nochmaliges Abzählen.
Es fehlten zwei. Die Wärter waren fassungslos.
„Sind die Eisenstangen in gutem Zustand?"
„Jawohl", antwortete in strammer Haltung der Wärter, der vorhin Musik gemacht hatte.
Wir wurden noch einmal gezählt, und diesmal fehlte niemand. Die Wärter atmeten erleichtert auf.
Zwei von den Häftlingen lächelten. Später, als die Wärter hinausgegangen waren, erzählten sie, sie hätten sich versteckt, zuerst der eine, dann der andere ...
Schon standen die Häftlinge wieder um unser Bett herum.
„Erzähle doch, Tiburzi, wie deine Flucht ausgegangen ist."
„Hier hat sie geendet", erwiderte finster der riesige Tiburzi.
Dann lächelte er.
„Du weißt nicht", sagte er zu mir, „dass mich die Faschisten, die mich durch Toscana hetzten, nach diesem Vorfall Tiburzi genannt haben, wie den berühmten Räuber. Natürlich bin ich ein Räuber, und sie sind die Edelleute. Ich habe das in der Zeitung gelesen und dann erfahren, dass sie mir das Haus angesteckt und meinen Vater mit meinen beiden Brüdern verhaftet haben, die noch jünger sind als ich, noch Kinder ... Meine Mutter ist gestorben ..."
Er hielt inne. In dem Kellergewölbe herrschte Grabesstille.
„Unser Tag wird kommen, nicht wahr?" sagte er und packte mich an den Armen. Seine Augen leuchteten. „Er wird kommen, das ist sicher. Ich habe mich ihren Nachforschungen entziehen können. Die Bauern, die Genossen halfen mir und schafften mich von einer Ortsgruppe zur andern an die Grenze. Ich war schon in Triest und wollte Italien verlassen.
Ich hatte einen Faschisten umgebracht in jener höllischen Nacht und mehrere verwundet. Auf meine Ergreifung hatten sie einen Preis ausgesetzt, wie bei Tiburzi ..."
Er lächelte, trank einen Schluck Wasser und erzählte weiter:
„Eines Abends aß ich eine Kleinigkeit in einem Restaurant in San Giacomo. Wie üblich, stritten sich Faschisten und Antifaschisten. Ich mischte mich nicht ein, das hatte man mir eingeschärft. Oft hatte ich, um der Versuchung aus dem Wege zu gehen, eilig gegessen und war dann hinausgegangen, um am Strand spazierenzugehen. Die frische Nachtluft hatte mich immer beruhigt. Auch an diesem Abend wollte ich es so machen. Aber ... passt auf. Das Restaurant war fast leer. Einige Arbeiter verzehrten ihr Abendessen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und fünf oder sechs mit Knüppeln bewaffnete Faschisten traten ein.
„Da ist er!" sagten sie und wiesen auf einen Arbeiter, der beim Essen ruhig den ,Lavoratore' las. Gleich stürzten sie über ihn her. Mir wurde schwarz vor den Augen. Mit allem, was mir zwischen die Finger kam, schlug ich dazwischen. Der Arbeiter lag keuchend am Boden. Das Blut lief ihm aus der Nase und aus den Ohren. Zwei oder drei der Angreifer lagen mit zerschlagenem Schädel an der Erde. Revolverschüsse krachten. Ich schoss auch und konnte mich durchschlagen. Ich rannte durch die halbleere und dunkle Straße. Revolverschüsse und schnelle Schritte hinter mir. Ich spürte einen scharfen Schmerz im linken Fuß ... Von Zeit zu Zeit hielt ich sie durch Schüsse in vorsichtiger Entfernung. Es waren zwei. Ich konnte nicht mehr laufen ... ich musste verwundet sein. Da beschloss ich, ihnen entgegenzutreten ..."
Ein gellender Schrei unterbrach seine Erzählung. Ein Häftling wand sich in epileptischen Krämpfen. Mehrere andere hatten Mühe, ihn auf dem Bett festzuhalten.
Allgemeine Aufregung.
Der Wärter erschien mit zwei Kalfaktoren. Sie trugen ihn fort. Der Schaum stand ihm vor dem Munde.
Tiburzi erzählte weiter:
„Als ich stehen blieb und mich umsah, wichen die beiden zurück. ,Kommt heran, ihr Hunde, wenn ihr Mut habt!' Die beiden aber wichen weiter zurück. Sie waren ja nur zwei. Die anderen waren auf der Strecke geblieben. Sie feuerten einige Schüsse ab, offenbar wollten sie die Leute aufmerksam machen. Meine Lage war kritisch. Die wenigen geöffneten Fenster hatten sich geschlossen. Plötzlich hörte ich Schritte... Zwei Carabinieri erschienen, vielleicht angelockt durch die Schüsse. Es war aus. Ich stellte mich gegen die Wand, fest entschlossen, meine Haut teuer zu verkaufen. Die beiden Faschisten fassten Mut. Sie fingen wieder an zu schießen und schrieen dabei: ,Hier schießt ein Kommunist! Nehmt ihn fest!' Ich erwiderte die Schüsse und streckte einen Faschisten nieder. Um mich herum hörte ich die Kugeln pfeifen. Dann waren sie über mir und schlugen auf mich ein. Ich habe mich gewehrt, das kann ich euch versichern ... Schließlich kamen noch mehr Carabinieri, ich wurde ins Gefängnis gebracht, und nun sitze ich hier." Langes Schweigen.
„Einer von den Faschisten starb, die andern wurden alle mehr oder weniger übel zugerichtet. Jetzt komme ich zum Prozess nach Massa", fuhr Tiburzi fort, „dann werden sie mir in Triest den Prozess machen. Ihr Urteil kümmert mich nicht. Für mich gibt es nur das der Genossen, der Arbeiter, und die werden mich freisprechen, das weiß ich."
Dann rief er, so laut er konnte:
„Es lebe die Kommunistische Partei! Es lebe die Revolution!"
Der Wärter erschien am Guckloch.
„Wer schreit hier so laut? Ist hier noch ein Epileptiker? Wenn ihr nicht ins Loch kommen wollt, hört auf damit!"
Er entfernte sich wieder.
Nach der Erzählung Tiburzis wurde es nicht mehr laut. Alle waren tief bewegt an diesem Abend und sprachen nur halblaut.
Tiburzi verließ seinen Platz und kam zu mir. Wir sprachen noch lange miteinander.
Dann kam die Runde. Die Stille wurde von dem bald geräuschvollen, bald gedämpften Schnarchen eines Häftlings unterbrochen. Um seinen Strohsack herum lagen fast alle Schuhe der Kameraden, die sie nach ihm geworfen hatten, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er schnarchte aber unbeirrt weiter.

Einige Tage später wurde ich nach Ancona weiterbefördert. Tiburzi fuhr die Strecke Parma—Spezia. Wir umarmten uns.
Wieder das Aufnahmebüro, die Fingerabdrücke, die Unterschriften, die Durchsuchungen — die Reihe der an die Kette Gefesselten wurde immer länger ...
Ein Häftling in meiner Nähe hatte ein Bündel umgehängt, das wie ein Mantel aussah und das er vorher nicht gehabt hatte.
„Ich habe ihnen einen Streich gespielt", meinte er lächelnd und blinzelnd. „Ich habe die schönste Decke aus dem Schlafsaal in Bologna gestohlen. Sie haben es anscheinend nicht
gemerkt."
„Was hast du von der Decke?" sagte ich. „Im Zuchthaus
kriegst du bestimmt eine."
„Natürlich. Aus dieser mache ich Pantoffeln für die Häftlinge, die vielleicht Zigaretten oder ein Glas Wein heranschaffen können. Sieben Jahre sind eine lange Zeit, mein Lieber!" Er lachte zufrieden.
Wir wurden in unsere Zellen gesteckt. Es war sechs Uhr morgens. Abends um acht kamen wir an. Für die Strecke braucht man sonst zwei Stunden. Unterwegs gab es ein Stück Brot und einen Schluck Wasser. Die Handschellen schnitten in die schmerzenden Gelenke.
Halb neun trafen wir im Gefängnis ein. Die Aufnahmeformalitäten zogen sich bis Mitternacht hin. Dann ging es hinunter in den großen Raum, in dem wir wie die Heringe im Fraß zusammengepfercht waren. Es herrschte ein entsetzlicher Gestank, es wimmelte von Ungeziefer. Der Raum starrte von Schmutz und Unrat.
Mit zerschlagenen Gliedern, schmerzenden Handgelenken und leerem Magen warfen wir uns auf die Strohsäcke.
Zuweilen fragte einer etwas, dann herrschte wieder Stille, die nur durch das Schnarchen eines Häftlings oder durch die monotone Stimme eines Betenden unterbrochen wurde. „Ave Maria gratia plena, dominus tecum ..." „Wenn du nicht aufhörst, stoße ich dich mit dem Kopf in den Kübel", sagte eine zornige Stimme. (Dieser hölzerne Kübel hatte die Ehre, uns als WC zu dienen.)
„Warum darf ich nicht beten? Du solltest auch beten. Du würdest Trost finden im Gebet. Wir sind allzumal Sünder", flennte der mit dem „Ave Maria".
„Du bist vielleicht ein Sünder, ich bin ein Dieb, und ich sage das ungeniert. Wer viel besitzt, den bestehle ich. Solange es Leute gibt, die nicht arbeiten und Geld haben und Autos und schöne Häuser und in die Berge und ans Meer fahren, arbeite ich nicht. Ich stehle und pfeife auf dich und deine selige Jungfrau. Wenn es gut geht, wohne ich in großen Hotels, habe ich schöne Frauen, führe ich ein lustiges Leben. Wenn es schief geht, esse ich Brei und Kartoffeln und sitze im Loch. Du bist seit zwei Tagen hier und hast noch nicht den Mut gehabt, uns zu sagen, was du angestellt hast. Du betest nur immer, du Hundesohn ..."
„Ich bereue meine Vergehen und büße schweigend ..."
„Wenn du wenigstens imstande wärest, schweigend zu büßen, statt uns mit deiner Beterei auf die Nerven zu fallen!" sagte der Einbrecher. „Willst du nun sagen oder nicht, was du ausgefressen hast? Ich wette, dass du ein Schwein bist!"
„Richtig! Sehr richtig!" ertönte es von mehreren Seiten.
Durch das Gespräch waren einige wach geworden.
Der andere schwieg.
„Fang schon an, altes Schwein!" schrie der Einbrecher.
„Ich bin nie ein Schwein gewesen, fragt Gigetto den Schieler. Wir sind zwei Jahre in Saluzzo gewesen. Ein Schwein bin ich nie gewesen."
„Das stimmt, meine Herren", sagte Gigetto der Schieler.
„Dann steckst du mit ihm unter einer Decke", meinte der Einbrecher. „Was Soll das heißen? Wie kann man zwei Jahre zusammen leben, ohne zu wissen, mit wem man es zu tun hat?"
„Pardon", erwiderte Gigetto, „ich weiß, worum es sich handelt, aber ich habe versprochen, den Mund zuhalten. Der Kerl hat mir leid getan. Aber da ich ein Mann von Ehre bin und die Gebräuche unter uns Edelleuten kenne, werde ich es sagen, wenn Pasquale" — das war der Betbruder — „es nicht sagt."
„Ich habe dir doch zwei Schachteln Zigaretten gekauft!" winselte der Alte.
„Gigetto hat sich schon ehrlich gemacht. Rede jetzt, Alter, oder Gigetto hat das Wort!"
Alle waren gespannt.
Der Alte schwieg. Da erhob sich Gigetto der Schieler und sagte:
„Pasquale, die Ehre gebietet mir, zu reden. Dieser Mensch — er wies mit dem Arm in die dunkle Ecke, in der Pasquale lag — hat ein besonders ruchloses Verbrechen begangen. Er hat seine achtjährige Enkelin vergewaltigt."
„Sie hat es gewollt", protestierte Pasquale.
Ein Hagel von Beschimpfungen und Flüchen brachte ihn zum Schweigen.
„Also darum hast du nicht reden wollen, du altes Schwein! Und hast noch den Mut zu beten! Ich bitte die verehrten Anwesenden, diesen Menschen für ehrlos zu erklären. Wer dagegen ist, melde sich!"
Kein Laut.
„Und wenn du dich jetzt noch einmal bemerkbar machst, du altes Schwein, kriegst du von mir eine Tracht Prügel. Du wagst es noch, deine Götter und dein armes Opfer zu beleidigen?"
Am Morgen sah ich mir Pasquale an. Er sah wirklich widerlich aus.
Beim Spaziergang erlebte ich eine Überraschung.
Ich ging neben einem Spezialisten für Eisenbahndiebstähle, als ich plötzlich den Namen Barbadirame hörte.
Ich sah hin. Es war ein Gefängniswärter.
Ich erkannte ihn sogleich. Er hatte in Fossano zu meinen Kunden gehört.
„Was macht mein Friseur hier?" sagte er, erfreut über das Wiedersehen.
„Ich gehe spazieren", antwortete ich.
„Sie sind hier wohl auf der Durchreise? Natürlich hängt das wieder mit der Politik zusammen ..."
Ich nickte. Er trat an das Gitter. Auch beim Spaziergang waren wir hinter Gittern.
„Sind Sie gestern abend gekommen? Um vier werde ich abgelöst und benachrichtige sofort den vom Hilfskomitee für die politischen Häftlinge" — damals war so etwas noch möglich —, „dass Sie hier sind. Wo wollen Sie hin?" Er sagte das alles in einem Atem.
„Nach Rom", antwortete ich.
„Ausgezeichnet! In Regina Coeli habe ich einen Freund. Ich gebe Ihnen eine Empfehlung mit. Er ist ein guter Freund, Sie werden sehen. Wenn Sie Abgeordneter sind, werden Sie mir dann eine Empfehlung geben." Er lachte über seinen Einfall.
Am nächsten Tage — es waren noch andere Zeiten — erhielt ich ein Mittagessen und ein Schreiben, in dem ich im Namen der Ortsgruppe der Kommunistischen Partei begrüßt wurde. Ich erhielt gedämpfte Makkaroni, Fleisch, Gemüse, Obst, Wein und Zigaretten. Nach so langer Trennung von den Genossen rührte mich dies Schreiben. Stumm stand ich vor dem Korb. Die grobe Stimme des Wärters rief mich in die Wirklichkeit zurück.
„Kontrollieren und unterschreiben!"
Ich unterschrieb.
Ich aß weniger als sonst. Ich teilte die Mahlzeit mit meinen strahlenden Gefährten. Einer bekam ein Stück Fleisch, ein anderer ein Viertel von einem Apfel, der nächste eine Zigarette, und so fort, bis der Korb leer war.
Wenige Tage danach ging es weiter. Wir hockten in einem großen offenen Wagen, wie üblich gefesselt. Sonderbarerweise bemerkte ich, als wir durch ein Arbeiterviertel fuhren, ziemlich viele Arbeiter, die uns mit der Hand oder mit dem Hut zuwinkten. Ich fragte meine Reisegefährten, ob sie in Ancona Bekannte hätten. Sie verneinten.
„Vielleicht winken sie den Carabinieri zu", meinte einer.
„Nein, nein", sagte der uns begleitende Maresciallo. „Das gilt euch. Sie wissen, dass in Ancona viele politische Häftlinge sind, und zur Sicherheit grüßen sie alle Wagen, die sie durchfahren sehen."
Ich machte noch in Giulianova, in Castellammare Adriatico und in Sulmona Station, und am Abend des achtunddreißigsten Tages seit meiner Abfahrt aus Turin langte ich völlig erschöpft in der Ewigen Stadt und in dem großen Gefängnis Regina Coeli an.
Trotz meiner Müdigkeit und Erschöpfung war ich beinahe froh. Hinter diesen Mauern saßen alle meine „Mitschuldigen", Grieco, D'Onofrio, Gnudi und andere, und außerdem hatte die Qual ein Ende, wenigstens für den Augenblick.
Um elf Uhr abends betrat ich meine Zelle.
Es waren schon zwei darin, ein Kokainist und ein Ungar, der aus Eifersucht seine Geliebte umgebracht hatte. Der Ungar war ein finsterer Geselle. Der andere, ein hochgewachsener und blondhaariger schöner Mann, begann, während ich meine Sachen unterbrachte, ein Gespräch.
„Von wo kommst du?"
Seine Aussprache klang fremdartig. Ich konnte nicht feststellen, aus welcher Gegend Italiens er stammte, was doch leicht ist für jemand, der ein wenig herumgekommen ist.
„Ich komme aus Turin", antwortete ich.
„Eine schöne Stadt, schöne Frauen, guter Wein ..."
Dann: „Was hast du gemacht?"
„Ich bin ein Politischer", sagte ich, hatte aber nicht viel Lust zum Plaudern. Ich war sehr müde.
Er ging auf und ab. Plötzlich blieb er stehen.
„Ich auch", sagte er.
Ich war überrascht. Ein Genosse?
„Von welcher Partei bist du? Woher bist du? Ich bin Kommunist", erwiderte ich.
„Ich bin Russe, aber ich bin kein Kommunist ... Ich gehöre zu denen, die ihr Kommunisten Weiße nennt."
Eine gewisse Ironie klang aus seiner Stimme.
„Du bist ein Weißer und bist im faschistischen Italien im Gefängnis und erzählst mir, dass du ein Politischer bist ... Die Weißen leben in Italien gut, weil sie gegen die Bolschewisten schreiben, und kommen nicht ins Gefängnis."
„Ja doch! Ich möchte dich in meiner Lage sehen! Eines schönen Morgens wache ich auf und erfahre, dass eine Bande von Schurken alles in meinem Lande auf den Kopf gestellt hat und dass ich kein Geld mehr habe und keine Desjatine Land mehr besitze. Die Hunde! So das mächtige große Russland zu zerstören! Und was für scheußliche Sachen sie gemacht haben ..."
„Ja, sie haben dir deine Einkünfte entzogen und haben dich gezwungen, dein Brot zu verdienen, und das ist wirklich barbarisch", sagte ich ironisch.
Der Russe gab keine Antwort.
Nun brach der Ungar sein Schweigen und sagte in schlechtem Italienisch:
„Wir haben auch Revolution gemacht. Es ist schief gegangen. Ich verstehe nichts von Politik. Im Kriege bin ich desertiert und habe hier in Rom das Biest kennen gelernt, das mir den Kopf verdreht hat. Amalia. Sieh mal, wie schön sie war. Ich habe das Bild durchschmuggeln können."
Er zeigte mir die kleine Photographie einer Frau, betrachtete sie eine Weile und schleuderte sie dann an die Wand.
„Ich habe nicht nach Ungarn gehen wollen, solange dort geschossen wurde. Ich habe abgewartet. Hätte die Revolution gesiegt, so hätte ich zurückgehen und vielleicht besser leben können. Das ist schief gegangen. Schade ... Ich bin hier geblieben und habe Amalia kennen gelernt. Sie hat mir den Kopf verdreht...und ich habe sie umgebracht."
Er machte sich daran, auf allen vieren das Bild unter dem Bett zu suchen.
„Du bist mit den Bolschewisten nicht einverstanden", wandte er sich an den Russen, „und sitzt hier? In Italien braucht man nur auf Lenin und die Sowjetregierung zu schimpfen, um zu Geld zu kommen. Dein Verbrechen ist wohl alles andere als politisch."
Der Russe blieb stehen und sagte zu mir:
„Glaubst du vielleicht, ich bin zum Arbeiten geboren? Ich bin von Adel. Verflucht sollen alle Bolschewisten sein und ihre Gönner. Aber die Herrlichkeit wird ein Ende nehmen ..."
„Mir scheint, die Herrlichkeit hat für dich ein Ende genommen", sagte ich.
Der Ungar, der noch immer Amalias Bild suchte, lachte laut.
„Gut gesagt, gut gesagt!" Und dann: „Gib mir eine Zigarette."
Er saß auf der Erde und betrachtete Amalias Bild und putzte es, denn es war in den Schmutz gefallen, und am Gesicht klebte ein Stück Makkaroni.
Der Russe sagte nichts mehr. Er legte sich auf das einzige vorhandene Bett. Nach wenigen Minuten schnarchte er laut.
„Er hat Schulden bis über die Ohren", flüsterte mir der Ungar zu, der seine Amalia endlich gesäubert hatte. „Er stiehlt Kokain, verkauft es und nimmt es auch selbst. In den ersten Tagen hat er noch welches gehabt. Jetzt hat er alles verbraucht. Er nutzt auch die Frauen aus. Er ist ein tüchtiger Kerl. So muss man es machen mit den Frauen, mein Gott!"
Mit seiner Amalia in der Hand warf er sich auf den Strohsack.
Die Runde kam schon, als ich halbtot vor Müdigkeit auf den Strohsack sank.
Am nächsten Vormittag beim Spaziergang hörte ich meinen Namen rufen. Es waren zwei von meinen „Mitschuldigen", die mich erkannt hatten.
Meine Freude war von kurzer Dauer. Nach dem Spaziergang holten die Carabinieri mich ab und brachten mich wieder zum Bahnhof. Ich protestierte. Ich konnte es nicht begreifen. „Sie kommen nach Teramo, der Untersuchungsrichter braucht Sie da."
Ich war vier Tage unterwegs, um in drei Etappen etwas mehr als hundert Kilometer zurückzulegen.

Teramo. Endlich bin ich an Ort und Stelle. Das Gefängnis ist ein altes Kloster.
Nach den üblichen Formalitäten brachte man mich in einen Schlafsaal. Es war in der Nacht. Meine Zellengenossen lagen alle schon im Bett. Ich begrüßte sie, zog mich aus und schlief ein. Am Morgen schloss ich Bekanntschaft mit ihnen. Sie waren alle oder fast alle üble Burschen.
Ich ordnete meine Sachen, als einer von ihnen auf mich zutrat und sagte:
„Der Stubenälteste möchte mit dir sprechen."
„Was ist das für ein Stubenältester? Ich verstehe das nicht", antwortete ich.
„Der Stubenälteste wird von uns gewählt. Er ist unser Chef. Wir schulden ihm blinden Gehorsam."
Da mein Gesicht ein einziges Fragezeichen war, fuhr der andere, der die finstere Miene eines Kirchendieners hatte, fort:
„Wenn du zum Beispiel Geld in deinem Buch stehen hast, bist du verpflichtet, für den Stubenältesten anzuweisen, was er von dir verlangt. Wenn du an der Reihe bist, musst du seinen Platz sauber machen, sonst ..."
„Sonst?" fiel ich dem Burschen ins Wort und sah ihm in die Augen.
Der Mann mit dem Küstergesicht blickte zu der Gruppe der anderen Häftlinge hinüber, die mit gespielter Gleichgültigkeit auf das Ergebnis unserer Unterredung warteten. Er war aus der Fassung gebracht.
„Sonst?" drängte ich.
„Das ist Gesetz unter uns", erwiderte er und machte ein geheimnisvolles Zeichen.
„Ich habe begriffen, was ihr wollt. Eure Zeichen verstehe ich nicht. Ich möchte wissen, was für eine Strafe darauf steht, wenn man euren Befehlen nicht gehorcht."
Der Küster schwieg. Ich wandte mich also direkt an die Gruppe.
„Hört mal, Jungens, ihr habt einen schlechten Gesandten geschickt. Wer ist der Stubenälteste?"
Fünf oder sechs wiesen auf einen schmächtigen Häftling. Er hatte ein Mardergesicht, kleine, lebhafte Augen und spitze Schnauze. Er war klein von Wuchs.
„Hören Sie mal", wandte ich mich an ihn, „Sie haben sich geirrt. Ich bin ein politischer Gefangener, habe also mit Ihrer ehrenwerten Gesellschaft nichts zu tun. Ich habe keine bösen Absichten, aber ich will in Ruhe gelassen werden. Ich bin weder ein Schwein noch ein Idiot."
Der Stubenälteste erhob sich, kam auf mich zu und sagte:
„Meister, wir begrüßen Sie mit den Ehren, die den Opfern dieser ungerechten Gesellschaft zukommen. Seien Sie willkommen. Betrachten Sie die Worte des Idioten, der vorhin mit Ihnen gesprochen hat, als nicht gesagt. Er ist ein Schwachkopf, der nicht weiß, was sich gehört. Ich küsse Ihnen die Hand und stelle Ihnen meine Leute zur Verfügung."
Mit einigem Widerwillen drückte ich ein Dutzend und mehr Hände und verschenkte alle Zigaretten, die ich bei mir hatte. Dadurch stieg ich in der Achtung der Gesellschaft. Zum ersten Mal empfand ich im Gefängnis, abgesehen von allem anderen, starken Abscheu.
Diese Leute hatten versucht, mich gleich im ersten Augenblick auf Grund ihrer Überzahl zu ihrem Sklaven zu machen, um sich mir gleich darauf alle zur Verfügung zu stellen. Sie sahen einem niemals ins Gesicht und sprachen immer mit gedämpfter Stimme. Sie waren nicht normal. Es war eine Sammlung von Köpfen, für die sich Lombroso (Anm.: Italienischer Psychiater und Kriminalanthropologe, 1835—1909.) hätte interessieren können. Es war eine unangenehme Gesellschaft, und ich fühlte mich vereinsamt.
Gegen Mittag kam der Oberwärter.
„Sie sind der Neue?"
Ich bejahte.
„Sie sind hier nur vorläufig untergebracht. Heute abend oder spätestens morgen früh kommen Sie in Nummer 14."
„In Ordnung", sagte ich.
Er ging langsam zur Tür und wandte sich dann plötzlich um.
„Nehmen Sie Ihre Sachen", sagte er zu mir. „He, hilf ihm das Bett auf Nummer 14 tragen."
Draußen auf dem Gang sagte der Oberwärter:
„Mein lieber Junge, da waren Sie in eine schöne Gesellschaft geraten. Die sind alle nicht normal. Sie haben widerliche Sachen gemacht und machen sie auch hier im Gefängnis, trotz strengster Überwachung."
„Warum lässt man sie denn zusammen?" fragte ich.
Der Oberwärter, ein älterer und umgänglicher Mensch, zuckte die Achseln und entfernte sich.
Als die Zelle Nummer 14 geöffnet wurde, standen alle ihre Bewohner an der Tür. Es waren etwa zwanzig. In dem eintönigen Gefängnisleben erregt ein Neuer, ein Mensch, der vor kurzem erst die Welt verlassen hat, von der die Häftlinge schon so lange abgeschnitten sind, sofort Interesse. Von dem Wärter, der das Essen ausgab, hatten sie schon erfahren, dass ein Politischer eingetroffen war, der in Russland gewesen war.
Während alle anderen mich begrüßten, kam einer der Häftlinge mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
„Ich bin Genosse, aus der Ortsgruppe Penne, Provinz Teramo, und habe drei Jahre abzumachen wegen einer Revolte in dem Ort, in dem ich Magistratsmitglied gewesen bin."
Es war ein sympathischer Junge.
„Ich weiß schon, wie du heißt", sagte er. „Hier wirst du dich, den Umständen entsprechend, bestimmt wohler fühlen als in Nummer 11, wohin sie dich gestern gesteckt haben."
Das hatte ich sofort gemerkt.
„Ich bin hier der einzige Politische, aber sie sind alle nicht so wie in Nummer 11, mit ganz wenigen Ausnahmen. Üble Burschen sind nicht darunter. Der hier ist der Stubenälteste", sagte er lächelnd, „Vincenzo."
Vincenzo gab mir die Hand.
„Ich bin Stubenältester, aber nicht zu verwechseln mit dem von Nummer 11. Jetzt findet eine Neuwahl statt. Ich werde alle meine Wähler bitten, für Sie zu stimmen, und ich werde es auch tun."
Er lächelte.
Zwei oder drei von den Häftlingen machten schon mein Bett zurecht, das inzwischen gebracht worden war. Andere kümmerten sich um meine Sachen.
Den Abend über, bis zum Schlafengehen, sprachen wir über Russland. Sie waren alle um mich versammelt.
Mein Bettnachbar hatte zwei Waldhüter umgebracht. Ein anderer hatte seine Frau und einen Priester, ihren Onkel und Liebhaber, getötet. Ein dritter hatte den Verführer seiner Schwester erschlagen. Insgesamt befanden sich unter den dreiundzwanzig Häftlingen von Nummer 14 zwei Politische, siebzehn Gewaltverbrecher und vier Diebe.
In Oberitalien, in Piemont, der Lombardei und Ligurien, wo ich gelebt und den Charakter der Verbrechen untersucht habe, sind die Verhältnisse umgekehrt. In Turin befanden sich unter den fünfunddreißig Bewohnern eines Raumes sechs Gewaltverbrecher, und neunundzwanzig waren wegen Diebstahls, Vergewaltigung Minderjähriger, Rauschgiftsucht und dergleichen verhaftet.
Jeder erzählte mir seine Geschichte. Der eine wartete seit zwanzig Monaten, ein anderer seit zwei Jahren und wieder ein anderer seit fünfunddreißig Monaten auf seinen Prozess...
„Sie sind doch Journalist", sagten sie zu mir, „also schreiben Sie über diese Dinge, das muss doch möglich sein."
„Ich will es tun, wenn ich kann."
„Ich bat um eine Unterredung mit dem Gefängnisdirektor. Ich war nun schon mehrere Monate in Haft und kannte offiziell noch immer nicht den Grund meiner Verhaftung.
Man brachte mich zu ihm. Er empfing mich recht liebenswürdig. Er stotterte entsetzlich.
„Sie werden nicht lange hier sein, ich verstehe mich darauf ... Soweit es von mir abhängt, werde ich alles tun, um Ihnen die Haft zu erleichtern. Was wünschen Sie?"
„Ich wünsche eine Unterredung mit dem Untersuchungsrichter."
„Das geht, schreiben Sie ein Gesuch."
Ich schrieb das Gesuch und ging.
Ich hatte mich gerade ein wenig eingelebt, als ich in eine Einzelzelle verlegt wurde. Hier verbrachte ich etwa einen Monat. Der Grund war mir unerfindlich. Niemand verhörte mich. Die Tage schlichen dahin. Ich las die Bibel, ein Traumbuch, ein Kochbuch, die „Schöne Magellone", die „Katholischen Missionen im Kongo", die Reden Crispis, den „Grafen von Monte Christo", „Bertoldo Bertoldino und Cacasenno" und ähnliche Bücher. Ich rauchte. Beim Spaziergang war ich allein.
Tag für Tag bat ich schriftlich um mein Verhör.
Keine Antwort.
Ich bat um eine russische Grammatik. Sie wurde mir unglaublicherweise verweigert, und man bot mir eine deutsche an.
Ich bat, mir den Bart schneiden lassen zu dürfen. Abgelehnt. Schließlich wandte ich mich an den Generalstaatsanwalt. Ich wurde abschlägig beschieden mit der Begründung, dass ich als Angeschuldigter nicht das Recht hätte, mein Äußeres zu verändern. Wegen der Grammatik erhielt ich überhaupt keine Antwort.
Ich schrieb an den Justizminister. 'Keine Antwort. Ich tat alles, um auf meine Existenz hinzuweisen. Ich wollte verhört
werden.
Eines Tages verlor ich die Geduld und zerschlug die Fensterscheiben und die ganze Zelleneinrichtung.
Es erschienen der Wärter, der Oberwärter und sein Stellvertreter. Auf ihre Vorhaltungen reagierte ich grob und landete in einer Strafzelle.
Die Strafzelle ist ein richtiges Loch, im allgemeinen im Kellergeschoß, feucht, ungesund und ohne Fenster. Nur in der Tür ist das übliche Guckloch. Das Bett ist eine elende Pritsche. Die Nahrung besteht aus Wasser und Brot. Man darf nicht rauchen und kommt nur alle zwei Tage an die Luft. Bücher gibt es nicht.
Am zweiten Tag meldete ich mich krank. Der Doktor kam und schickte mich sofort ins Lazarett. Hier erschien der Direktor. Er verlor kein Wort über meine Bestrafung, sondern teilte mir mit, dass ich bald verhört werden würde. Für die zerschlagenen Sachen hatte ich 28 Lire zu zahlen.
Nach zwei Tagen Lazarett bestellte mich der Untersuchungsrichter zu sich. Ich wurde hingebracht. In einem beinahe anständigen Raum befanden sich drei Herren, die mich freundlich begrüßten.
„Sie sind der und der? Nehmen Sie Platz." Ich setzte mich. Der eine war der Generalstaatsanwalt, der andere der Untersuchungsrichter und der dritte der Gerichtsschreiber.
„Vor allem muss ich Ihnen mitteilen, dass zwei Haftbefehle gegen Sie vorliegen, einer vom Staatsanwalt beim Appellationsgericht in Mailand und der zweite vom Generalstaatsanwalt beim Gericht in Teramo."
„Welches Datum tragen die Haftbefehle?" fragte ich.
„Der erste ist vom 6. Januar und der zweite vom 7. Januar dieses Jahres datiert."
„Ich mache die Herren darauf aufmerksam, dass wir Anfang April haben, und protestiere natürlich."
„Dazu haben Sie kein Recht. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich nicht einmal gewusst habe, dass Sie in Teramo im Gefängnis waren. Ich hatte beim Turiner Gericht Ihr Verhör beantragt und nicht die Überführung."
„Das wird ja immer schöner", erwiderte ich.
„Ihre Personalien!"
Ich gab die entsprechende Auskunft.
„Ich muss Sie zweimal verhören", begann der Richter. „Sie sind wegen Aufreizung zum Klassenhass und wegen Aufruhrs gegen den Staat angeklagt, und dafür werden Sie sich vor dem Schwurgericht in Mailand zu verantworten haben. Außerdem sind Sie wegen Anstiftung zum Verbrechen und wegen Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates angeklagt, und dafür werden Sie sich entweder in Teramo, wie wir hoffen, oder in Rom zu verantworten haben."
„Das ist dasselbe", sagte ich.
„Erster Prozess. Haben Sie das Manifest über die Vereinigung mit der Sozialistischen Partei unterschrieben? Sind Sie in Russland auf dem Kongress der Kommunistischen Internationale gewesen?"
„Ich habe das Manifest unterschrieben und bin in Russland gewesen. Aber entschuldigen Sie, was hat das alles mit Aufruhr zu tun?"
„Sie geben es also zu?" fragten die beiden mit erhobener Stimme.
„Gewiss gebe ich es zu, aber ich möchte, dass die Herren meine Frage beantworten."
„Sekretär, schreiben Sie!" Dann zu mir: „Wiederholen Sie, bitte."
Ich wiederholte.
„Sie bekennen sich also zu dem Inhalt des Manifestes und den Direktiven der Kommunistischen Internationale?" fragte der Generalstaatsanwalt.
„Selbstverständlich", erwiderte ich.
Die beiden sahen sich verdutzt an. Sie hatten vielleicht geglaubt, sich sehr bemühen zu müssen, und nun hatten sie beide mein Geständnis.
„Ich mache die Herren darauf aufmerksam, dass es Ihnen vielleicht nicht bekannt ist, dass die Zustimmung zu den Direktiven der Kommunistischen Internationale vor mehr als zwei Jahren erfolgt ist, als wir die Kommunistische Partei Italiens gegründet haben."
Wieder sahen die beiden sich an.
„Wissen Sie eigentlich, was die Unterzeichnung des Manifestes und die Befolgung der Direktiven der Kommunistischen Internationale bedeutet?" fragte mich der Staatsanwalt.
„Ich glaube ja."
„Das ist sehr belastend."
„Wieso?" fragte ich.
„Mehr brauchen wir nicht ... Das erste Verhör ist erledigt. Lesen Sie vor, Sekretär!"
Der Gerichtsschreiber las vor, und ich unterschrieb.
„Nun zum zweiten Punkt. Sie sind Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens?"
„Man kann nicht zum Kongress der Kommunistischen Internationale delegiert werden, wenn man nicht Mitglied der entsprechenden Landespartei ist. Ich gehöre der Kommunistischen Partei Italiens seit ihrer Gründung an."
„Wir müssen Ihnen nun einige Dokumente vorlegen, die bei Ihrem Genossen Presutti beschlagnahmt worden sind..."
„Ich könnte darauf erwidern, dass ich vom formalen Standpunkt aus nicht verpflichtet bin, die Verantwortung für Material zu übernehmen, das bei anderen Personen beschlagnahmt worden ist. Aber machen Sie nur weiter."
Die beiden waren ein wenig aus der Fassung gebracht.
„Kennen Sie dieses Dokument und erklären Sie sich dafür verantwortlich?" Er blätterte in dem Programm der Kommunistischen Partei Italiens.
„Ich übernehme durchaus die Verantwortung dafür, mache Sie aber darauf aufmerksam, dass es schon vor fast einem Jahr in der Presse veröffentlicht worden ist, ohne dass jemand von uns verhaftet worden wäre. Um die Sache kurz zu machen: wenn es den Herren recht ist, bin ich bereit, die Verantwortung für die bei meinem Genossen beschlagnahmten Dokumente en bloc zu übernehmen. Es ist schon drei Viertel nach elf. Sie werden meinetwegen Ihr Mittagessen versäumen, und ich werde die Suppe, die um elf ausgegeben wird, kalt essen müssen."
Nie in meinem Leben habe ich drei so überraschte Gesichter gesehen wie die der drei Beamten.
Ich unterschrieb das zweite Protokoll.
„Ihr Kommunisten seid komische Kerle", meinte der Richter.
„Wenn Sie etwas brauchen ..." fügte der Staatsanwalt hinzu.
„Ich möchte recht bald wieder auf meinem Posten im Kampf sein."
Man brachte mich ins Lazarett. Nach zwei Stunden wurde ich wieder auf Nummer 14 gebracht und dort von meinen alten Freunden jubelnd begrüßt.
Der Genosse überreichte mir ein Schreiben mit zahlreichen Unterschriften. Es war eine Grußbotschaft von den Genossen der Ortsgruppe.
„Meister", sagte mein Bettnachbar zu mir (in den Abruzzen und überhaupt in Süditalien ist dies eine respektvolle Form der Anrede), „Sie können doch für die Zeitung schreiben. Erinnern Sie sich Ihres Versprechens?"
„Selbstverständlich, aber wie sollen wir das machen?"

„Wir haben heute alles Notwendige bekommen."
Er winkte den Genossen herbei.
„Ja, wir haben, was wir brauchen. Es ist alles geordnet. Ein Wärter wird die Briefe an die Zeitung hinausbefördern und dann die Zeitung hereinbringen. Wir haben viel auf dem Herzen, worüber du schreiben musst", schloss er.
„Ich bin bereit."
Sie zeigten mir das Tintenfass. Es war eine Eierschale mit etwas Tinte. An einem zu diesem Zweck hergerichteten Holzlöffel war eine Stahlfeder befestigt. Auch Papier war da.
Ich schrieb den ersten Bericht an den Triester „Lavoratore", die einzige noch erscheinende kommunistische Tageszeitung.
In der Mitte des Zimmers stand ein Pfeiler. Hinter diesem Pfeiler saß ich, von vielen meiner Mithäftlinge, die fast alle Analphabeten waren, umringt, und schrieb. Sie wachten abwechselnd an der Tür, um mir im Falle der Gefahr einen Wink zu geben. Eine kleinere Gruppe unterhielt sich wie üblich.
Am Abend ging der Brief ab.
Wenige Tage darauf traf die Zeitung mit dem ersten Bericht ein. Es wurde ein regelmäßiger Dienst eingerichtet. Ich erhielt die Nachrichten, die Ortszeitungen, informierte mich und schrieb. Das war nicht nur nützlich für die wenigen Genossen draußen, sondern auch ein Trost für mich.
Ich hatte das Gefühl, dem Leben von früher wieder näher gekommen zu sein. Eines Tages ließ der Untersuchungsrichter mich kommen. Diesmal war er allein. Er teilte mir mit, dass die Staatsanwaltschaft in Mailand sich für nicht zuständig erklärt hatte. Der Prozess vor dem Schwurgericht war damit erledigt.
„Ich hätte Ihnen dies Dokument durch den Gerichtsdiener aushändigen lassen können", erklärte mir der Richter. „Ich habe Sie aber lieber rufen lassen, weil ich ein bisschen reden möchte mit Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben."
Ich gab keine Antwort. Er fuhr fort:
„Sagen Sie mal, haben Sie Lenin gesehen?"
Diese Frage überraschte mich durchaus nicht. Ich hatte sie tausendmal in Italien gehört.
„Ja, ich habe Lenin gesehen, ich habe ihn gehört und habe eines Abends in seiner Wohnung mit ihm gesprochen", erwiderte ich.
Der Richter schien verblüfft über das, was er zu hören bekam.
„Lenin ist ein großer Mann", sagte er. „Und man kann ganz einfach mit ihm reden? In welcher Sprache hat er mit Ihnen gesprochen?"
„Französisch. Er kann auch Italienisch und Deutsch und versteht Englisch."
Dann folgte eine Frage auf die andere.
„Wie viele Sprachen kennen sie?" fragte er mich.
„Mehrere", antwortete ich unbestimmt, um sein Gesicht zu beobachten. „Ich habe sie so nebenbei gelernt, zwischen Rasieren und Haarschneiden."
Ich hätte am liebsten gelacht.
„Wissen Sie, dass in diesen Tagen über Ihren Prozess entschieden wird? Es finden heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Appellationsgericht in Aquila, zu dem wir gehören, und dem in Rom statt. Die Richter in Rom möchten den Prozess haben. Es ist ja eine große Sache. Viele Anwälte werden dabei sein, und die Rivalität ist verständlich ..."
In diesem Augenblick klopfte es.
„Herein!" rief der Richter nicht sehr freundlich.
In der Tür erschien der Generalstaatsanwalt. Das Bild änderte sich. Der ein wenig aus der Fassung gebrachte Richter wurde dienstlich.
„Ah, Herr Staatsanwalt! Ich habe den Beschuldigten gerade über einige Punkte informiert."
Er war verlegen. Dann wandte er sich wieder an mich, als ob er das Verhör fortsetzte:
„Kennen Sie die Artikel des Strafgesetzbuches, die sich auf Ihre Anklage beziehen?"
„Ja, es sind dieselben, die vor einigen Jahren den gegenwärtigen Vorsitzenden des Ministerrats, Herrn Mussolini, vor das Schwurgericht gebracht haben."
„Seine Exzellenz Mussolini gehört nicht hierher."
„Ich habe ihn nur als Beispiel erwähnt, um zu zeigen, dass ich die Artikel kenne, die gegen mich geltend gemacht werden."
Der Staatsanwalt schwieg.
„Haben Sie die Begründung des Urteils gelesen", sagte der Richter, „durch das der Prozess in Mailand für die Angeklagten hinfällig wird, Herr Staatsanwalt? Was sagen Sie dazu?"
„Dass ich nicht in der Haut des Richters stecken möchte, der es abgefasst hat."
Damit ging der Staatsanwalt hinaus.
Seine Antwort war das Programm dieses „würdigen" Beamten gegenüber den Kommunisten. Sie war klar und unzweideutig.
Ein Schweigen trat ein.
„Ü brigens verstehe ich nicht", bemerkte ich, „warum diese Untersuchungskomödie fortgesetzt wird."
„Welche Komödie?" entgegnete der Richter, der mich unter dem Eindruck der Antwort des Staatsanwalts nicht verstehen konnte. Er steckte sich eine Zigarette an und fragte noch einmal:
„Welche Komödie?"
„Die Untersuchungskomödie in unserem Prozess."
Ich zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche und las:
„,In innerpolitischen Fragen gibt es keine Diskussion. Was geschieht, geschieht auf meinen ausdrücklichen Wunsch und auf Grund meiner genauen Anweisungen, für die ich die Verantwortung übernehme ... Es ist unwichtig, ob eine Verschwörung festgestellt wird oder nicht...' Das hat Mussolini in der Kammer zu unserer Verhaftung bemerkt, und er hat hinzugefügt: ,Sie bleiben eine Weile im Gefängnis, und dann schicke ich sie nach Russland.' Das bedeutet, Herr Richter", schloss ich, „dass die Richter wenig zu sagen haben in unserm Fall."
Der Richter antwortete nicht.
„Ich habe also gesagt", fing er wieder an, „dass eine Rivalität zwischen Rom und Teramo besteht. Diese Verschwörung habe ich aufgedeckt. Ich habe auch die ersten Verhöre durchgeführt und die Verhaftungen angeordnet ..."
„Vielen Dank, Sie haben also die Haftbefehle unterschrieben. Es existiert ein Rundschreiben von De Bono in dieser Sache. De Bono als Polizeichef schreibt klar und deutlich, dass kein verhafteter Kommunist ohne Anweisung des Innenministeriums, also Mussolinis, freigelassen werden darf. Das ist völlig klar. Die Gerichte erhalten ihre Anweisungen von der Polizei. Ich bin durchaus nicht überrascht darüber. Ich stelle es nur fest. Sie müssen mich festhalten, auch wenn in meiner Wohnung oder meinem Büro nichts beschlagnahmt worden ist. Sie haben mir Material vorgelegt, das bei einem meiner Genossen beschlagnahmt worden ist ..."
„Schon gut, es liegen politische Gründe vor. Aber bleiben wir bei der Sache. Ich habe die Untersuchung zu führen. Ich habe schlaflose Nächte verbracht. Ich habe Ihre Notizbücher durchgeblättert — es ist zwecklos, dass Sie die Frage auf ein anderes Gebiet zu verschieben suchen — und habe mich überzeugt, dass das Verbrechen vorliegt. Ich habe schon mehrere Berichte geliefert. Es ist alles Material, das meinen Bemühungen zu verdanken ist und das andere jetzt ausnutzen möchten, weil die Kommunistische Partei ihren Sitz in Rom gehabt hat."
Er war wirklich interessant, dieser Mensch, der jede Zurückhaltung vergaß und sich über seine „Herzensangelegenheiten" vor mir aussprach, ausgerechnet vor mir, der ihm mit den anderen Genossen als Rohstoff für seinen Ruhm dienen sollte.
„Die Schlacht ist noch nicht verloren. Aber wenn ich sie verliere, entlasse ich Sie. Sie werden es sehen, ich lasse die Termine ablaufen, ohne die Verlängerung Ihrer Haft zu beantragen", schloss er. Sein Gesicht war gerötet.
„Viel Glück!" sagte ich. „Aber auch wenn Sie die Schlacht verlieren, kommen wir nicht frei. Sie werden sich erinnern, dass ich und meine ,Mitschuldigen', die hier in Teramo im Gefängnis sitzen, erbitterte Feinde der Klasse sind, der Sie angehören."
„Wir werden sehen."
Damit entließ er mich, und ich kehrte in unsere Gemeinschaftszelle zurück.

Der Gefängniskaplan war ein unbedeutender Pfaffe. Jedes Gefängnis in Italien hat seinen Kaplan, der sonntags die Messe zelebriert. Er verwaltet auch die Bibliothek, nimmt den Sterbenden die Beichte ab, gibt denen, die ihn hören wollen, Ratschläge und betätigt sich als Spitzel. Er verteidigt auch die Häftlinge, wenn diese sich eines Vergehens schuldig machen und vor das Disziplinargericht des Gefängnisses kommen.
Mich konnte er nicht leiden. Das hatte er mir mehrmals bei geringfügigen Anlässen bewiesen. Ich küsste ihm niemals die Hand, wie die armen Bauern es taten, die in die Netze der Justiz geraten waren, und ich ging auch nicht zur Messe.
Einmal — es war das erste Mal, dass er in unseren Raum kam (ich kannte ihn aber schon lange aus der Bibliothek) — erhoben sich alle, während ich sitzen blieb.
„Warum stehen Sie nicht auf? Wissen Sie nicht, wie Sie sich vor Ihren Vorgesetzten zu benehmen haben?" fuhr er mich an.
„Das verstehe ich nicht", antwortete ich.
„Wenn ein Vorgesetzer eine Zelle oder einen Raum betritt, haben sich alle Häftlinge — ich zitiere aus der Gefängnisordnung — zu erheben."
„Es wird so sein, wenn Sie es sagen", erwiderte ich, „aber ich habe die Gefängnisordnung nie gesehen."
Ich blieb sitzen. Am nächsten Tage kam die Gefängnisordnung.
Zur größten Empörung des Kaplans blieben an einem hohen kirchlichen Feiertage, während die Insassen der anderen Zellen fast alle zur Beichte gegangen waren, in der Zelle Nummer 14 22 von den 25 Häftlingen der Beichte fern.
Der Pfaffe tobte.
„Sie haben schuld daran", erklärte er mir.
„Wieso?" fragte ich.
„Sie treiben hier antireligiöse Propaganda."
„Ich? Wenn das wahr ist, muss der Glaube meiner Zellengenossen aber sehr lau sein", bemerkte ich.
„Ich bin doch neugierig, was für Argumente Sie haben. Fangen Sie mal an!"
„Ich würde gern mit Ihnen diskutieren, wenn ich nicht offensichtlich der Unterlegene wäre. Sie sind nach der Gefängnisordnung mein Vorgesetzter, und unter diesen Umständen ist natürlich keine Diskussion möglich."
Wir waren auf dem Spaziergang. Auch ein Beamter und der Oberwärter waren dabei.
„Hier können Sie diskutieren. Tun Sie sich keinen Zwang an", erwiderte der Priester.
Wir fingen an, und die Häftlinge hörten zu.
Der arme Kaplan, der nur über wenige, sehr wenige Argumente verfügte und sie obendrein nicht einmal gut vorzutragen wusste, verlor an Boden. Wir begannen mit der Erschaffung der Welt und endeten — oder vielmehr ich endete —beim Disziplinargericht. Warum? Auf eine sehr ironische Bemerkung meinerseits erwiderte der ehrenwürdige Diener Gottes:
„Cave a signatis." (Anm.: „Cave a signatis" bedeutet ungefähr „Hüte dich vor den Gezeichneten" und sollte eine beleidigende Anspielung auf mein körperliches Gebrechen sein. Das war wirklich christliche Barmherzigkeit!)
Ich habe nicht lateinisch gelernt, kenne aber viele dieser Kernsprüche.
„Ü bersetzen Sie mir das doch ins Italienische oder in den Abruzzendialekt, ehrwürdiger Diener Gottes!" sagte ich.
Der Priester, der nicht geglaubt hatte, dass ich Latein verstünde, konnte seinen Ärger nicht verbergen und schwieg.
„Nun also", wandte ich mich an die Häftlinge, „dieser Lump" — ich wies auf den Geistlichen — „weiß nicht mehr weiter und beleidigt mich daher ..."
„Genug jetzt, halten Sie den Mund! Vergessen Sie nicht, wer ich bin!" schrie der Priester.
„Sie sind ein Lump!" wiederholte ich.
Der Beamte drückte sich. Der Oberwärter wartete auf Befehle. Die Häftlinge wussten nicht, woran sie sich halten sollten.
„Ich bin Ihr Vorgesetzter!"
„Ein Lump sind Sie und sollten sich schämen. Dabei haben Sie freie Diskussion versprochen."
„In die Strafzelle mit ihm!" lautete die Antwort.
Ich kam wieder einmal ins Loch. Dort blieb ich mehrere Tage. Dann wurde ich vor das Disziplinargericht gestellt.
Es bestand aus dem Direktor, dem Oberwärter und dem Gefängnissekretär. Auch der Priester war da, der nach der Gefängnisordnung mein Verteidiger war.
„Sie haben den Herrn Kaplan beleidigt. Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?"
„Vor allem lehne ich einen solchen Verteidiger ab, und außerdem habe ich zu sagen, dass ich beleidigt worden bin. Der Ausdruck ,Lump', den ich nicht abstreite, war nur eine Vergeltung. Zu meiner Rechtfertigung habe ich zu sagen, dass dieser Herr ein Lump ist."
Ich wurde wieder in die Strafzelle gesteckt, und man drohte mir mit einer Anzeige beim Gericht. Mehrere Tage verbrachte ich hier bei Wasser und Brot. Ich beantragte eine ärztliche Untersuchung, doch wurde sie im Gegensatz zum ersten Mal nicht genehmigt. Spazierengehen durfte ich nicht. Ich hockte und grübelte. So ein Leben ist furchtbar. Man glaubt, verrückt zu werden.

Eines Tages wurde ich ganz unerwartet aus diesem Loch befreit. Auf dem Gang begegnete ich dem Direktor. Er begrüßte mich:
„Was da geschehen ist, tut mir leid, aber Sie haben es ein bisschen wild getrieben."
Er lachte.
„Das hat nichts zu sagen, beim Prozess wird es sich zeigen", erwiderte ich.
„Der wird gar nicht stattfinden, glaube ich", sagte der Direktor und fügte dann hinzu: „Sagen Sie mal, was ist eigentlich los ? Unten im Sprechzimmer ist ein Abgeordneter, der Sie sprechen möchte. Seinen Namen habe ich vergessen. Haben Sie ihn bestellt? Haben Sie vielleicht Beschwerden?"
„Ich habe keinen Abgeordneten bestellt, und meine Beschwerden bringe ich schon selber vor. Sie haben ihn doch gesehen, wer ist es denn? Bin ich deswegen aus der Strafzelle herausgeholt worden?"
„Sie kommen wieder auf Nummer 14", sagte der Direktor. „Kommen Sie mit, ich bringe Sie ins Sprechzimmer."
Er war etwas aufgeregt, der Herr Direktor. Im Sprechzimmerfand ich einen sozialistischen Abgeordneten vor, einen Schulfreund, einen Arbeiter, der bei den Maximalisten geblieben war.
„Was führt dich her?" fragte ich meinen vornehmen Besuch nach der Begrüßung.
„Ich bin auf der Durchreise und habe dir guten Tag sagen wollen."
Der Direktor stand in respektvoller Haltung dabei. „Störe ich?" fragte er.
„Nein, nein", sagte ich. „Darf ich Ihnen den Herrn Abgeordneten Paolino vorstellen ..."
„Herr ... Herr Abgeordneter ..." Er stotterte noch mehr als sonst.
Wir unterhielten uns lange. Dann ging ich wieder auf Nummer 14, wo man mich jubelnd begrüßte. Man wusste schon, dass ich die Strafzelle hinter mir hatte und dass der Abgeordnete gekommen war. Alle umringten mich.
„Meister, sagen Sie doch dem Abgeordneten, er soll sich mit unserem Prozess befassen", sagten diejenigen, die seit Jahren auf ihr Urteil warteten.
Andere baten mich, sie dem Abgeordneten zu empfehlen.
„Der Abgeordnete müsste erfahren, dass wir hier schlechtes Brot und schmutziges Wasser als Suppe bekommen."
In diesen Gegenden ist der Abgeordnete so etwas wie der Vater im Himmel. Er gibt Empfehlungen, hilft beim Abschluss von Verträgen, ist der Diener der Wähler, begleitet sie, wenn sie Rom besuchen, übernimmt die Erledigung von Aufträgen. Er leistet Dienste jeder Art, vor allem, wenn die Wahlen nahen.
Ich nahm meine Berichterstattung für die Zeitung wieder auf. Eines Tages fragte man mich, ob ich die Stellung des Briefschreibers für die Analphabeten unter den Häftlingen übernehmen wolle. Mehr als achtzig Prozent der Häftlinge konnten nicht schreiben.
„Sie werden Hilfsschreiber sein und vorerst keinen Lohn bekommen. Wenn Sie sich bewähren, können Sie auch Hauptschreiber werden. Der jetzige ist schon recht alt", erzählte mir der Wärter von der Verwaltung, „und wird nicht mehr lange machen. Dann erhalten Sie vierzig Centesimi täglich, brutto."
Mir eröffnete sich eine glänzende Laufbahn. Ich nahm an.
Vier Stunden täglich saß ich nun in einem Zimmer und schrieb Briefe für die Häftlinge, Briefe, in denen von Jammer und Leid die Rede war. Die Unglücklichen erzählten mir ihre Angelegenheiten, als ob ich ihr Beichtvater wäre. Sie sagten mir, was ich ihrer Frau, ihrer Mutter, ihren Kindern schreiben sollte, und wenn ich ihnen den Brief vorlas, den ich mich genau nach ihren Angaben zu schreiben bemühte, hörten sie mit angehaltenem Atem zu. Manche konnten die Tränen nicht zurückhalten. Die Diebe und Einbrecher konnten fast alle schreiben. Die Analphabeten waren die anderen, die Affekttäter. Ich schrieb Briefe, Anfragen, Gesuche, Erklärungen.
Weil ich schreiben konnte, erschien ich diesen Unglücklichen — mehrere waren zu lebenslänglichem Zuchthaus, andere zu dreißig Jahren verurteilt — als ein höherer Mensch.
„Meister", sagten sie zu mir, „Sie sind unser Wohltäter! Was können wir nur für Sie tun?"
Einmal bewies es mir einer von ihnen. Es war eine fünfköpfige Bande verhaftet worden. Die Burschen waren, alle mit großen Faschistenabzeichen im Knopfloch, durch die Abruzzen gezogen und hatten im Auftrage eines angeblichen Komitees Geld gesammelt, um dem Dichter D'Annunzio eine goldene Plakette zu verehren. Sie hielten Reden in den Theatern und wurden von Bürgermeistern und Präfekten unterstützt. D'Annunzio stammt aus den Abruzzen, daher scheffelten die Burschen das Geld und amüsierten sich in den großen Hotels. Eines Tages stellte man fest, dass das Komitee überhaupt nicht existierte und dass es sich um fünf Schwindler handelte, die zwar Faschisten waren, aber auf eigene Faust arbeiteten. Sie hatten auf diese Weise etwa siebentausend Lire ergaunert. Sie wurden verhaftet. Während man sich wahrscheinlich bemühte, sie auf anständige Weise wieder in Freiheit zu setzen (ich glaube, auf Grund des von ihnen bewiesenen Unternehmungsgeistes sind sie jetzt alle mindestens Bürgermeister), landete einer von ihnen in Nummer 14.
Er war ein gut aussehender junger Mann von vielleicht 24 Jahren, hochgewachsen und blond, und trug noch das Faschistenabzeichen. Er tat sehr wichtig und erzählte den Häftlingen, er sei ein Opfer der Politik. Er war angekommen, während ich im Büro Briefe für die Analphabeten schrieb. Als ich zurückkam, sagte man mir, es sei ein Faschist eingetroffen. Ich war überrascht beim Anblick des Faschistenabzeichens. Aber der Bursche sprach nicht mit mir. Man hatte ihm gesagt, ich sei Kommunist. Die Häftlinge hätten gern eine Diskussion gehört und sprachen diesen Wunsch aus.
„Ich bin bereit", antwortete ich.
„Mit Kommunisten diskutiere ich nicht, mit denen rede ich nur mit dem Knüppel."
„Und wenn ihr zwanzig gegen einen seid", bemerkte ich.
Er warf mir einen bösen Blick zu.
Im Gefängnis hatte ich gelernt, kleine Gegenstände aus weichem Brot herzustellen. Die Häftlinge kneten richtige kleine Kunstwerke daraus. Ich war noch ein Anfänger. Ich hatte mir schon ein paar Knöpfe gemacht und arbeitete unter der Anleitung des Stubenältesten Vincenzo an einer Nadelbüchse, die ich meiner Mutter schenken wollte. Ich stellte ein Abzeichen her und malte darauf mit roter Tinte, die ich im Büro hatte, Sichel und Hammer. Ich zeigte mein Meisterwerk meinen Stubengenossen. Sie fanden es sehr schön. Am Abend hatten sie alle ein solches Abzeichen, wenn auch ohne Tinte, und steckten es an.
Als am Morgen der Oberwärter und zwei Wärter zur Visite kamen, standen wir, wie üblich, neben unseren Betten.
Beim Anblick meines Abzeichens — man darf nicht vergessen, dass es im Jahre 1923 war — sagte der Oberwärter zu mir:
„Sie sehen aber fein aus heute!"
Als er dann aber das gleiche Abzeichen bei den anderen sah, sagte er:
„Ach so! Herunter mit den Abzeichen!"
Er begann, sie einzusammeln, und hatte bald beinahe seine Mütze voll. Als er zu dem Faschisten kam, fragte dieser ihn:
„Mir wollen Sie auch das Abzeichen wegnehmen?"
„Ihnen wie allen anderen! Sie können es tragen, wenn Sie wieder draußen sind."
Als die Wärter hinausgegangen waren, kam der Faschist auf mich zu und sagte:
„Ich habe vollkommen verstanden."
„Das war nicht schwer zu verstehen, glaube ich", erwiderte ich.
Am liebsten hätte er mich erwürgt.
Da trat einer von denen auf ihn zu, die mich einmal gefragt hatten, was sie wohl für mich tun könnten, ein Mann aus den Bergen, der wegen Doppelmordes angeklagt war, und sagte zu ihm: „Wenn du mit ihm sprichst" — dabei wies er auf mich —, „nimmst du die Mütze ab." Damit schlug er sie ihm vom Kopf.
Der Faschist wurde rot vor Zorn, hob seine Mütze auf und setzte sie sich wieder auf den Kopf. Diesmal war es nicht nur um die Mütze geschehen. Ein harter Faustschlag an den Kopf schleuderte ihn unter das Bett. Er raffte sich wieder auf und griff nach einem der Tontöpfe, die den Gefangenen als Trinkgefäße dienen, aber ein neuer Faustschlag streckte ihn kopfüber hin. Er blutete und blieb totenblass liegen. Keiner von den Häftlingen hatte sich gerührt. Sie taten alle, als hätten sie nichts gesehen. Der Mann aus den Bergen wollte sich noch einmal auf ihn stürzen, aber ich hielt ihn zurück.
„Meister", sagte er, „ich bin kein Feigling. Wir kämpfen mit gleichen Waffen. Ich habe zwei Arme, und er auch. Diese Schufte dagegen fallen immer in bewaffneten Haufen über einen einzelnen her, der keine Waffen hat." Dann wandte er sich an den Faschisten: „Jetzt kannst du die Wärter rufen und erzählen, dass ich dich verprügelt habe. Merke dir, dass Schweine, auch wenn sie in eine andere Zelle kommen, so behandelt werden, wie sie es verdienen, Hoffe nicht auf Mitleid. Wir haben unsere Gesetze hier.
Der am Boden liegende Faschist schwieg und wischte sich das Blut ab. Ich glaubte, er würde um Hilfe rufen, aber er wusch sich nur die Wunde und warf sich dann auf seinen Strohsack.

Mehrere Anklagepunkte waren hinfällig geworden. Die offizielle Entscheidung des römischen Kassationshofes bezüglich des Gerichts, das unseren Fall verhandeln sollte, war mir mitgeteilt worden. Wir wurden an die XIII. Kammer des Gerichts in Rom überwiesen.
Ich wartete auf den Richter. Der musste eine Wut im Leibe haben! Alle seine Träume waren zerronnen.
Ich hatte mit der Lektüre der Prozessakten begonnen. Es war hochinteressant. Sämtliche Aussagen stammten von Kommissaren und Agenten der Sicherheitspolizei. Ich zitiere aus den offiziellen Akten, die sorgfältig in 78 Bänden zusammengefasst waren. Auf der Liste der bei den verschiedenen verhafteten Genossen beschlagnahmten Bücher standen das Invalidengesetz, ein Buch über die Mailänder Scala, eine Novellensammlung, ein Buch über Dalmatien und Italien, ein Buch über die Eroberung der Gemeindevertretungen, ein im Staatsverlag erschienenes Buch über die Besteuerung der Spritfabrikation, ein Unterrichtsprogramm für die Ausbildung von Berichterstattern und die Statuten eines unpolitischen Vergnügungsvereins. Diese Bücher dienten als Beweisstücke in unserem Prozess.
Ein Genosse war verhaftet worden, weil er die Thesen und Statuten der Kommunistischen Internationale im Hause hatte, die im Jahre 1919 im Verlag „Avanti" erschienen und allgemein bekannt waren. Bei einer Genossin hatte man vier Photographien beschlagnahmt, die nun in den Akten prangten, ein Bild von ihr selbst, eines von Lenin, eines von Bombacci und eines von Malatesta. Bei mir hatte man das Textbuch zu Verdis Oper „Ein Maskenball" beschlagnahmt. Bei der Suche nach Dokumenten und bei der Auswertung verabredeter Briefe war die Sicherheitspolizei sehr weit gegangen. Hier der Bericht eines Agenten:
„Auf dem Abort sah ich im Loch ein Stück Seidenpapier. Ich nahm es an mich und stellte fest, dass es mit der Schreibmaschine geschrieben war und die fingierte Unterschrift ,Loris' trug. Es musste erst vor kurzem fortgeworfen worden sein, denn es war noch ganz nass. In der Hoffnung, noch andere Dokumente zu finden, ließ ich die Kloake öffnen, konnte aber, weil diese voll war, nichts finden."
Welche Horizonte eröffneten sich der italienischen Sicherheitspolizei!
Um zu zeigen, wie die verabredeten Briefe ausgewertet wurden, zitiere ich aus dem Bericht eines anderen Agenten:
„Die Bemerkungen über die Beseitigung eines Schweines beziehen sich auf einen Stoß von umstürzlerischen Broschüren."
Die Intelligenz der Sicherheitspolizei offenbart sich auch im Zusammenhang mit einem Bündel, das ein Genosse auf der Flucht in einen Kanal geworfen hatte. Ein Kommissar berichtet: „Ich habe den Kanal auf der Strecke zwischen der San-Faustino-Kirche und der Casa-Leone-Brücke ergebnislos absuchen lassen. Dann habe ich den Kanal trockenlegen lassen, aber wiederum ohne Erfolg."
So ging es weiter. Sehr lückenhaft waren die Berichte über die Beschlagnahme von Geld bei den Angeklagten. Es war nichts mehr da.
Der Prozess rückte näher. Damals erhielt ich ungewöhnlich viele Briefe von Anwälten. Alle boten sich in selbstloser Weise als Verteidiger an. „Ich bin kein Kommunist", schrieb mir einer von ihnen, „aber ich bin für die Gerechtigkeit. Ich verlange kein Geld von Ihnen ..." So lauteten sie fast alle. Ich musste an den Kerkergenossen denken, der sich von einem Anfänger hatte erweichen lassen. Einer erschien an einem Besuchstage im Sprechzimmer. Es war ein junger Mensch. Er hatte Zeitungsausschnitte mit Prozessberichten bei sich, in denen er als Verteidiger genannt wurde.
„Bemühen Sie sich nicht, wir verteidigen uns nötigenfalls selber. Im übrigen kümmert sich die Partei um unsere Verteidigung."
„Gewiss, das weiß ich, aber ein parteiloser Verteidiger ist besser. Ein Parteimann muss die Frage politisch stellen, während ich sie juristisch stellen kann. Ich kenne den Prozess."
„Es tut mir leid." Damit ging ich.
Eines schönen Morgens — es war wirklich ein schöner Morgen — kam ein Wärter in das Zimmer, in dem ich Briefe für Häftlinge schrieb, und flüsterte mir ins Ohr: „Sie kommen frei. Sprechen Sie nicht darüber, denn der Direktor will es Ihnen selbst sagen." Er machte sich aus dem Staube. Bald danach erzählte mir der Stellvertreter des Oberwärters dasselbe, dann der Oberwärter, und dann der Sekretär. Als der Direktor es mir offiziell mitteilte, waren die Genossen der Ortsgruppe Teramo bereits informiert.
Ich packte meine Sachen. Die Häftlinge in Nummer 14 waren fassungslos. Unser Abschied war sehr herzlich. Im Aufnahmebüro traf ich meine lächelnden „Mitschuldigen" Presutti und Leone. Auf dem Gang begegnete mir der Richter.
„Siehst du?" sagte er mit der Miene eines Menschen, der sein Wort gehalten hat.
Zum Prozess erschienen wir auf freiem Fuß. Vorher aber wurde ich noch einmal wegen der Majestätsbeleidigung verhaftet. Man hielt mich einige Wochen fest und erklärte sich dann für nicht zuständig, weil das Vergehen unter die Amnestie fiel. Ich wurde gerade zur rechten Zeit freigelassen, um mich nach Rom begeben zu können ...
Der Prozess erregte großes Auf sehen. Die Zeitungen brachten lange Berichte. Der Saal war immer voll von Menschen. Der Prozess dauerte zehn Tage. Damals war die Justiz noch nicht faschistisch. Zweimal am Tage wurden die Polizisten auf ihren Sonderplätzen ausgewechselt. Sie waren von allen Polizeipräsidien des Königreichs gekommen, um uns persönlich kennen zu lernen.
Wir hatten zu kämpfen, um die Zahl unserer Verteidiger von über dreißig auf neun zu verringern. Ich fungierte als Vertreter der Angeklagten bei dem „Ausscheidungswettbewerb" der Anwälte, die uns um jeden Preis verteidigen wollten.
Einer der Angeklagten durfte anderthalb Stunden sprechen, während wir anderen uns auf einfache Erklärungen beschränkten. Seine Rede machte gewaltigen Eindruck. Hier sprach nicht ein Angeklagter, sondern ein Ankläger. Gramsci und Terracini waren flüchtig.
Ich gebe aus dem stenographischen Prozessbericht meine Erklärung wieder:
„Ich gehöre der Kommunistischen Partei seit ihrer Gründung an. Ich habe fast zehn Jahre der Sozialistischen Partei angehört und übernehme daher in vollem Bewusstsein die auf mich fallende Verantwortung. Ich habe die kommunistische Provinzzeitschrift ,La Riscossa' geleitet und bin Sekretär der Provinzorganisation der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaft gewesen. Ich bin Mitglied der italienischen Delegation auf dem IV. Kongress der Kommunistischen Internationale und auf dem II. Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale gewesen. In Moskau habe ich das Manifest unterzeichnet."
Der Präsident: „Sie haben viele Ämter gehabt ..."
„Ich schließe mich daher den Ausführungen meines Genossen an und bin mir dabei über meine Verantwortung völlig klar."
Ebenso äußerten sich die anderen Genossen. Wir waren auf eine Verurteilung gefasst, wurden aber freigesprochen. Der Carabinieri-Oberleutnant hatte seine Mühe, das übermäßige Interesse seiner Leute für den Fall zu dämpfen.
Als der Präsident das Urteil verlas, brauste lauter Beifall auf. Alle wurden freigelassen, sogar ein Genosse, der noch einen anderen Prozess hatte. Mussolini, der bei der Freisprechung Serratis vor dem Mailänder Schwurgericht erklärt hatte: „Wenn ich von dem Freispruch erfahren hätte, hätte ich eine Sturmabteilung ans Gefängnistor geschickt", muss nicht sehr erfreut gewesen sein über seine Richter. Das beweist die Tatsache, dass er sie bald auswechselte, um ein geeigneteres Instrument für derartige Dienste zu erhalten, und zwar das Sondergericht.
Ich fuhr nicht nach Hause. In Turin hatte ich die Nachricht erhalten, dass die Polizei mich suchte, und außerdem hatte die Partei beschlossen, mich als Vertreter unserer Minderheit im Allgemeinen Gewerkschaftsbund zur Roten Gewerkschaftsinternationale zu schicken.
Ich ging über die Alpen, diesmal ohne Zwischenfall, weil die Regierung mir den Pass entzogen hatte.

Meine Freude darüber, wieder in der Sowjetunion zu sein, wurde wenige Tage nach meiner Ankunft durch den Tod Lenins getrübt. Mit tiefem Schmerz sah ich ihn, den ich vor noch nicht langer Zeit im Kreml gehört hatte, im Hause der Gewerkschaften aufgebahrt, während die Menge der Arbeiter schweigend an der Bahre vorbeizog. Das Proletariat hatte seinen Führer verloren. Ich erinnere mich an den Anblick Moskaus in jenen Tagen. Alles schien erstarrt zu sein in stummer und schmerzlicher Betroffenheit über den schweren Verlust.
Ich begann meine Arbeit. In Moskau traf ich Serrati wieder. Wir waren Wohnungsnachbarn. Er war zu uns zurückgekehrt. Marabini hatte es prophezeit.
Auch Terracini traf ich in Moskau, den ich seit dem Parteitag in Livorno nicht gesehen hatte. Der Kerker und die mehr oder weniger illegale Arbeit hatten uns getrennt und trennten uns wieder für lange Jahre.
Serrati und ich arbeiteten in der Roten Gewerkschaftsinternationale zusammen. Abends sprachen wir manchmal von unseren Kämpfen. Er freute sich, dass er wieder bei uns war. Er erzählte von seinem abenteuerlichen Leben in Amerika, in Frankreich, in der Schweiz, von Verbannung, Gefängnis und Not.
„Wie hast du Mussolini kennen gelernt?" fragte ich ihn eines Abends.
„In der Schweiz und dann in Italien. Er war immer finster und schweigsam. Er posierte. Er hatte keine Lust zur Arbeit. Auch in Gesellschaft isolierte er sich. Er machte auf mich eher den Eindruck eines Anarchisten als eines Sozialisten. Er war ein völliger Bohemien. Er lebte mehr auf Kosten der anderen als von seiner Arbeit. Er war immer bei mir zu Hause. Ich reiste in der ganzen Republik umher. Es gab viel zu tun. In der Emigration ist die Arbeit sehr schwierig. Dazu gehört Entschlossenheit und Opfermut. Ich habe mich immer bemüht, beides zu beweisen. In der Emigration wimmelt es von Elementen, die jedes Unternehmen verderben. Sie halten sich für Revolutionäre, weil sie in den Kneipen lauter schreien als andere. Viele nennen sich Anarchisten, um nichts tun zu müssen. Ich trieb Mussolini zur Arbeit an. Er zuckte die Achseln, die schwere und geduldige Arbeit des Organisators behagte ihm nicht. Er liebte die großen Versammlungen. Dort wurde er lebendig. In Italien war er noch oft bei mir, in Mailand und bei meinen Angehörigen in Oneglia. Er war auf der Suche nach einer Zeitung, er wünschte sich eine bedeutende Wirkungsstätte. Einmal erfuhr er, dass mir die Leitung einer Zeitung angeboten worden war und ich abgelehnt hatte, weil ich eine andere Parteiarbeit nicht im Stich lassen konnte. Er suchte meine Angehörigen auf, kam zu mir, bat mich um eine Empfehlung und erklärte mir, er werde sich auch mit einem geringeren Gehalt begnügen."
Serrati sprach leidenschaftslos von Mussolini und rauchte seine Zigarre dabei.
„Er wollte eine Zeitung, und er hat sie bekommen. Er hat versucht, sie den Feinden des Proletariats in die Hände zu spielen. Das ist ihm nicht gelungen. Er hat sie zugrunde gerichtet."
Bei diesem Gedanken verfinsterte sich seine Stirn.
„Leider hat es mit allen Chefredakteuren des ,Avanti' ein schlimmes Ende genommen, mit Bissolati, mit Ferri, mit Morgari... Der erste wollte uns alle erschießen lassen, weißt du noch? Und Ferri? Dieser Hanswurst! Morgari wird bestimmt einmal mit der Bourgeoisie zusammen arbeiten. Mussolini — sprechen wir nicht von ihm ... Ich ..."
Hier hielt er inne.
„Ich", fuhr er fort, als ob er zu sich selber spräche, „ich habe der Partei geschadet, aber ich habe es rechtzeitig bemerkt. Noch habe ich einige Jahre vor mir. Ich werde es wieder gutmachen."
Er hatte sich erhoben und ging im Zimmer auf und ab. „Es kommen noch schlimmere Zeiten für unsere Bewegung, aber wir werden kämpfen, nicht wahr, Barbadirame?" Seine Stimmung besserte sich.
„Bald stehe ich wieder in der ersten Linie, wie damals in Amerika, als ich aus dem Englischen übersetzte, ohne Englisch zu können, als ich die Zeitung machte, ohne den Drucker bezahlen zu können, als ich ohne Geld Reisen machte, Konferenzen und Diskussionen veranstaltete, bei den bewegten amerikanischen Volksversammlungen Boxkämpfe organisierte und selbst boxte."
Ich hatte ihm schweigend zugehört.
„Erzähl mit etwas von Cuneo", sagte er munter und legte mir eine Hand auf die Schulter. „In dieser Provinz hat mein politisches Leben begonnen. In Mondovi, wo ich studiert habe, in einer Versammlung für Trient und Triest... stell dir das vor! Erinnerst du dich an die Diskussion, die du einmal in deinen Bergen mit mir gehabt hast?"
„Und ob ich mich erinnere!" erwiderte ich. „Wenn mein Rad nicht eine Panne gehabt hätte, hätte ich mich nicht aufgehalten."
„Und ich", sagte Serrati lachend, „ich hätte meine Prosa, die zweifellos voller Widersprüche war, nicht noch einmal zu hören bekommen. Du Lump hattest vorausgeschickt, dass du ein Schüler von mir warst und meine Artikel oft zitiert und abgeschrieben hattest, und das hast du auch damals getan."
Er lachte. Bald darauf ging er wieder nach Italien, in die vorderste Linie.
Wir arbeiteten noch fast zwei Jahre in der Gewerkschaftsbewegung zusammen ... Auf illegalen Versammlungen, in der Presse, auf den Blitzversammlungen vor den Fabriken, wenn die Arbeiter herauskamen.

Während meines Aufenthaltes in der Sowjetunion bin ich einmal totgesagt worden.
Die Geschichte meines am 17. August 1924 erfolgten Todes ist sehr spaßig. Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder erlebten jedoch zwei wenig erfreuliche Wochen. Folgendes war geschehen.
Eines schönen oder vielmehr schlimmen Tages wurde meinem Bruder, der als Mechaniker in Fossano arbeitete, wo meine Angehörigen heute wohnen, folgendes Telegramm zugestellt :
„Dein Bruder gestorben. Ida."
Mein Bruder — meine Schwägerin hat es mir später erzählt — wurde fast ohnmächtig vor Schreck. Das Telegramm kam aus Turin. Ein Zweifel war nicht möglich. Die Adresse stimmte genau, und wir sind nur zwei Brüder. Was tun? Er beriet sich mit meiner Schwester, die in Ohnmacht fiel. Wir hatten uns immer sehr gut vertragen. Die Unterschrift hatte angesichts der Bedingungen, unter denen die Partei nach dem Marsch auf Rom lebte, nicht viel zu bedeuten.
Als sie vom ersten lähmenden Schrecken wieder zu sich gekommen waren, telegraphierten meine Geschwister an die „Unita". Dies war das einzige Mittel, um sich mit einem führenden Funktionär unserer Partei in Verbindung zu setzen. Meine Mutter wusste noch nichts. Von der Zeitung kam die Antwort:
„Haben keine Nachrichten — werden uns informieren."
Ich war fern von Moskau. Meinen Urlaubsmonat verbrachte ich nicht in einem Erholungsheim, sondern machte eine Reise, um die Sowjetunion kennen zu lernen. Ich war an der Wolga, in Nishni-Nowgorod, in Simbirsk, in Samara, in Stalingrad, in Astrachan und schrieb zahlreiche Berichte für unsere Presse in Italien. Das Telegramm erschien um so echter, als meine Briefe — ich schrieb regelmäßig einmal in der Woche an meine Mutter — gerade damals, weil ich von Moskau weit entfernt war, auszubleiben begannen. Die Nachricht war bekannt geworden. Um zu vermeiden, dass unsere Mutter sie von anderen erfuhr, mussten meine Geschwister ihr das Telegramm zeigen. Obwohl meine Geschwister unsere arme Mutter seit einigen Tagen durch die in solchen Fällen übliche Mitteilung, ich sei erkrankt, vorbereitet hatten, brach sie zusammen und war tagelang krank.
Die lokale Presse veröffentlichte die Nachricht. Freunde, Genossen und Bekannte erschienen in unserer Wohnung. Der Bürgermeister erbot sich, an die russische Botschaft in Rom zu telegraphieren. Er war ein Volksparteiler und damals noch Antifaschist. Die Antwort auf das Telegramm war sehr dazu angetan, meinen Tod glaubhaft zu machen. Die Botschaft wandte sich an die Sowjetregierung und diese an die Organisation der politischen Emigranten. Man suchte mich in der Kommunistischen Internationale und in der Gewerkschaftsinternationale, wo ich arbeitete. Hier antwortete man, ich sei verreist. Natürlich konnten in einem Telegramm nicht alle Einzelheiten erwähnt werden, und dadurch wurde die Tatsache meines Verschwindens bestätigt. Die Zeitungen in meinem Ort meldeten, ich sei in dem geheimnisvollen Russland — man schrieb das nicht direkt, deutete es aber an — gestorben, vielleicht verhungert oder auf irgendeine andere Weise ums Leben gekommen. Dann veröffentlichten einige Blätter einen Nachruf auf mich. Ich habe ihn später gelesen. Es kommt sehr selten vor, dass man seinen eigenen Nachruf liest, und man hat seinen Spaß dabei. In diesem Nachruf erschien ich als ein anständiger Gegner, der für seine Ideen gekämpft hatte und ins Zuchthaus, in die Verbannung gegangen war und so weiter. Das Rathaus — ich gehörte dem Gemeinderat an — setzte zum Zeichen der Trauer die Fahne auf halbmast.
Eines Tages traf ein Brief von mir ein. Er trug das Datum eines Tages nach meinem Tode. Man kann sich vorstellen, wie es in meiner Familie zuging. Dann kamen die Briefe wieder regelmäßig.
Die Nachricht von meinem Tode erfuhr ich bei der Rückkehr nach Moskau von einem indochinesischen Genossen (Anm.: Es war der Genosse Ho Chi Minh, von uns Ai-Quoic genannt.), den ich auf der Hoteltreppe traf. „Du bist nicht gestorben?" — „Nein, wie du siehst."
Als ich dann die Briefe und die Zeitungen las, die sich in dem Monat meiner Abwesenheit angesammelt hatten, begriff ich, was für eine Tragödie sich in meiner Familie abgespielt hatte. Meine Schwester weinte noch, als sie mir die Geschichte erzählte, und die Genossen und Freunde, die ich bei einem kurzen Besuch in meinem Ort traf, begrüßten mich wie einen vom Tode Auferstandenen.
Was war geschehen?
Mein Bruder hatte einen Schwager, der mit seiner Frau, deren Familie in Venetien lebte, in Turin wohnte. Dieser Schwager war einige Tage bei meinem Bruder gewesen. Während dieses Aufenthalts starb ein Bruder von ihm. Die Familie telegraphierte an ihn nach Turin. Seine Frau schrieb das Telegramm törichterweise ab und sandte es ohne jede Erläuterung an die Adresse meines Bruders. In Fossano kam das Telegramm zwei Stunden nach der Abreise des Schwagers nach Turin an. So kam ich durch eine Unachtsamkeit, ein bisschen Kopflosigkeit und einige Zufälle vor der Zeit in den Himmel.

Einige Monate nach meinem „Tode" kehrte ich in die Heimat zurück. Die Faschisten behaupten, Italien sei der Garten Europas, aber für uns Kommunisten ist der Zutritt zu diesem Garten eine umständliche Sache. Der „Gärtner" — besser gesagt: der Kerkermeister —, der die Beete des Gartens mit Proletarierblut begossen hat, passt genau auf. Man kommt aber trotzdem hinein, und manchmal auf komische Weise. Ich sollte also aus der Sowjetunion nach Italien zurückkehren. Wie war das zu machen?
In den Grenzorten wird gewöhnlich Aufenthaltserlaubnis im benachbarten Lande für vierundzwanzig Stunden erteilt. Falls man nicht bekannt ist, genügt in den meisten Fällen unbefangenes Auftreten, gute Kleidung und ein Benehmen, das keinen Verdacht erregt. Ich kleidete mich also sehr anständig, mietete ein Auto, steckte mir eine dicke Zigarre an und begab mich mit der Miene eines wohlhabenden Mannes aufs Zollamt. Der Wagen, die Zigarre, ein dicker gelber Ring, der mit einem Brillanten aus reinem Glas geschmückt war und den ich prahlerisch zur Schau trug, sowie die dicke Zigarre, die ich dem Zollbeamten spendierte, verschafften mir den Erlaubnisschein. Mit diesem bewaffnet, stieg ich wieder in den Wagen. Nach wenigen Sekunden war ich am Grenzposten meines „Vaterlandes".
Ich zeigte dem mürrischen Zollkommandanten mein Papier und sprach dabei französisch. Er stempelte es ab und bemerkte dazu: „Va bono."
Der Zollbeamte, ein Südländer, sah den Schein nicht einmal an. Was verstand er schon davon? Der Stempel war ja da...
Ich wollte gerade aufbrechen, als ein schwarzgekleideter Herr aus einem zweiten Zimmer des Grenzpostens herauskam.
„Wohin fahren Sie?" fragte er mich liebenswürdig in einem Französisch, das nur ich verstehen konnte.
„Ich fahre bis X." Dabei dachte ich sofort an Komplikationen, denn trotz seiner Liebenswürdigkeit erregten seine Kleidung und vor allem der Ort Verdacht.
„Ich bin der Grenzkommissar", fügte er hinzu, „und ich möchte Sie bitten, mich nach Y. zu bringen, wenn es Ihnen nichts ausmacht." Es fiel dem Herrn Kommissar sehr schwer, sich in der Sprache Victor Hugos auszudrücken.
„Aber ich bitte Sie, es ist mir ein Vergnügen, nehmen Sie Platz, Herr Kommissar."
Der Herr Kommissar nahm Platz. Ich holte die Schachtel mit den dicken Zigarren hervor und bedachte meine sonderbare Lage. Wir begannen ein Gespräch.
„Wissen Sie", sagte er, „ich spreche sehr schlecht französisch. Ich habe es als Junge gelernt, bin aber seit vielen Jahren aus der Übung."
„Aber nicht doch, Sie sprechen sehr gut, Ihnen fehlt nur Übung."
Zum Teufel auch! Die Sprache meines Herrn Kommissars war zu drei Vierteln kein Französisch, sondern ein südlicher Dialekt, der mit Wörtern aus dem römischen Dialekt und mit toscanischen Flüchen durchsetzt war. Ein richtiger Franzose hätte nichts verstanden. Im Knopfloch trug er das Faschisten abzeichen.
„Was für eine herrliche Gegend!" bemerkte ich von Zeit zu Zeit. Meine Begeisterung war echt. Die Gegend war wirklich bezaubernd schön. Der Herr Kommissar strahlte.
„Nachher wird es noch schöner."
Am Eingang eines größeren Dorfes war der Weg durch eine Menschenansammlung versperrt. Carabinieri und faschistische Miliz schleppten mit Gewalt drei oder vier Personen fort. Der Führer der Faschisten hob den Stock und gebot dem Chauffeur barsch, er solle anhalten und aussteigen. Als er aber bei einem Blick in den Wagen den Herrn Kommissar sah, änderte er sein Benehmen plötzlich, erwies uns den römischen Gruß und befahl, uns Platz zu machen.
Unter respektvollen Grüßen fuhren wir weiter.
Ü berall — es war an einem Sonntag — wurden wir von den Freunden des Herrn Kommissars von der Sicherheitspolizei begrüßt, der natürlich auch Gelegenheit nahm, sich über Mussolini und die Kommunisten zu äußern. Endlich kamen wir in Y. an. Beim Abschied fragte mich der Kommissar:
„Wann kommen Sie zurück?"
„Ich fahre bis X., frühstücke dort, mache einen Spaziergang, um mir ein bisschen die Beine zu vertreten und diesen wundervollen Winkel Ihres wundervollen Vaterlandes zu bewundern, und fahre dann wieder nach Hause. Gegen Abend komme ich hier wieder vorbei."
„Wenn Sie mich wieder an die Grenze bringen könnten", meinte er, „wäre ich Ihnen sehr dankbar."
„Aber bitte sehr, es wird mir eine Ehre sein."
Wir trafen eine Verabredung. Ich notierte mir das Restaurant, die Adresse und den Namen des Kommissars sowie die Stunde und verabschiedete mich von ihm.
„Merci, merci bien", erwiderte der Kommissar, während er mir den römischen Gruß erwies. „Ich erwarte Sie, wir nehmen dann den Aperitif. Merci, merci."
Ich habe nie erfahren, ob der Herr Kommissar von der Sicherheitspolizei in dem Restaurant in Y. lange auf meine Rückkehr gewartet hat. Zu meinem Glück habe ich ihn nicht wiedergesehen.

Ich musste meine Funktion im Kommunistischen Gewerkschaftskomitee antreten. Das war damals eine legale Tätigkeit, wie die des Journalisten und des Abgeordneten, während die Partei im übrigen bereits illegal arbeitete.
Die Zeit des Matteotti-Mordes, der eine ungeheure Welle der Empörung im Volke ausgelöst hatte, war vorüber. Der unter den Schwarzhemden entstandene Schrecken war überwunden.
Unmittelbar nach dem Morde verließen die Arbeiter die Betriebe, die Faschisten waren sichtlich verwirrt, man sah ringsum keine Abzeichen mehr. Dem Mobilisierungsbefehl des Generalstabs der faschistischen Miliz wurde vielfach nicht Folge geleistet. Die Kommunistische Partei hatte die Sozialisten und die Reformisten zur Ausrufung des Generalstreiks aufgefordert. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund, sein Generalsekretär, D'Aragona, hatte die Arbeitermassen in einem Kommunique aufgefordert, Ruhe zu bewahren und sich vor Provokateuren (gemeint waren die Kommunisten) zu hüten. Die Reformisten, die Partei des ermordeten Matteotti, waren offen gegen den Generalstreik. Die Sozialisten schwankten. Die Aventinische Opposition — eine Koalition der Sozialisten, Reformisten, Republikaner und Volksparteiler, die mit den Kommunisten das Parlament verlassen hatten — traf ihre Vorkehrungen und wandte sich offen gegen die Kommunisten, die aufgefordert wurden, zwischen der demokratischen Methode und der direkten Aktion der Massen zu wählen. Die Kommunisten stellten in einer Erklärung fest, dass die Aventinische Opposition durch die Ablehnung der Aktion die Massen verraten hatte.
Die Arbeitermassen gerieten in Bewegung. Trotz der Maßnahmen der Aventinischen Opposition, aus der die Kommunisten ausgetreten waren, nahm die Erregung zu. Mussolini sah sich gezwungen, mehrere seiner Komplicen — darunter den Verwaltungssekretär der faschistischen Partei, Marinelli — verhaften zu lassen, um die Bevölkerung möglichst zu beruhigen. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Partei rief die Massen zu einer Kundgebung für Matteotti auf. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund wandte sich gegen die „Unbedachten und Entarteten" (gemeint waren wieder die Kommunisten) und empfahl den Arbeitern, sich auf eine Arbeitseinstellung von zehn Minuten zu beschränken. Der Gipfel der Schande war es, dass sich der von D'Aragona veranlassten Kundgebung auch der Unternehmerverband und die faschistischen Korporationen anschlossen. Der 27. Juni, der Tag der Gedächtniskundgebung, wurde ein blutiger Tag. Es fanden Kavallerieattacken statt, es gab Tote und Verwundete und zahlreiche Verhaftungen.
Die Reformisten stellten, statt die Arbeitermassen, wie unsere Partei vorschlug, zum Kampf aufzurufen, die „moralische Frage". Eine moralische Frage? Kaum bemerkte Mussolini, der in diesen Tagen zitterte, seine Komplicen im Stich ließ und einkerkerte, dass die Frage moralisch gestellt wurde, als ihm wieder der Kamm schwoll. In den ersten Tagen nach dem Morde hatte er, der den Mord befohlen hatte, sich in der Kammer den Beileidskundgebungen angeschlossen. Kaum aber hatte der Sturm sich ein wenig gelegt, als er erklärte, er übernehme die Verantwortung für das Geschehene, und entfesselte einen neuen Angriff.
Die Kommunisten schlugen bei der Wiedereröffnung des Parlaments nochmals eine Aktion vor, wobei sie sich auf die noch immer unter den Massen herrschende Erregung stützten. Die Kommunistische Partei Italiens sah eine revolutionäre Situation heranreifen. Die Aventinische Opposition lehnte den Vorschlag unserer Genossen einmütig ab.
Daraufhin kehrten unsere Abgeordneten ins Parlament zurück. Einer unserer Abgeordneten — heute ist er deportiert — hielt eine flammende Anklagerede gegen den Faschismus, wütend unterbrochen von den Faschisten. So lagen die Dinge, als ich in mein „Vaterland" zurückkehrte.
Einige Monate konnte ich unerkannt arbeiten und sogar in den Räumlichkeiten des Gewerkschaftskomitees verkehren, die von der Polizei ständig beobachtet wurden. Unsere „legale" Arbeit, das heißt, wie schon gesagt, die organisatorische Arbeit sowie die Tätigkeit der Abgeordneten und der Journalisten, war jedoch sehr schwierig. Wir mussten in Verbindung bleiben mit den Massen und mit unseren illegal arbeitenden Genossen. Daher waren unsere Arbeitsstätte und unser Wohnsitz der Polizei bekannt, die uns ständig auf den Fersen war, um die anderen aufzuspüren.
Eines Tages wollte man mich auf besonders schlaue Weise fangen. In unserem Büro erschien ein Mann und fragte nach mir.
„Komm sofort nach der Piazza Missori, da ist jemand, der dir einen Pass aushändigen soll."
„Ich habe keinen Pass beantragt."
Er entfernte sich. Bald darauf kamen mehrere. Einer zeigte mir den Ausweis der Geheimpolizei. Er hielt mir den Revolver vor die Nase und befahl: „Hände hoch!" Dann durchsuchte er mich und fragte: „Wo ist Ihr Pass?"
„Ich habe keinen Pass."
„Kommen Sie mit!"
Man brachte mich nach San Fedele. Dort sollte ich den Pass abliefern, mit dessen Hilfe ich wieder ins Land gekommen sei.
„Sie waren doch in Russland. Wie sind Sie denn wieder nach Italien gekommen?"
„Ich bin ohne Pass hineingekommen", erwiderte ich.
„Von wo?"
„Von der Grenze", sagte ich und fügte hinzu: „Sparen Sie sich Ihre Bemühungen. Ich werde Ihnen niemals sagen, wie ich durchgekommen bin."
Ich musste eine schriftliche Erklärung abgeben und wurde dann entlassen.

Von diesem Tage an ließ man mich durch einen Agenten der politischen Polizei beschatten. Es war ein furchtbares Leben. Ständig war er hinter mir her. Wenn faschistische Feiertage bevorstanden oder der Duce — er hatte häufig „persönliche" Gründe dazu — beziehungsweise der König oder sein Sohn nach Mailand kommen sollten, musste ich zwei Tage vorher die Wohnung wechseln, um einer „Sistierung" zu entgehen. Ich nahm an Gewerkschaftsversammlungen teil, die schon seit 1925 auch in Mailand illegal stattfinden mussten, weil die Reformisten, die dort die Gewerkschaften in der Hand hatten, uns die Abhaltung von Fraktionssitzungen unmöglich machten. Mit einem Polizisten auf den Fersen war das nicht einfach.
Langsam näherten wir uns dem Augenblick, in dem auch der letzte Schein gewerkschaftlicher Freiheit beseitigt wurde. Die kommunistische Minderheit im Allgemeinen Gewerkschaftsbund hatte mehrmals vorgeschlagen, die organisatorische Basis des Bundes in die Betriebe zu verlegen. Dieser Vorschlag war von den Reformisten und den Maximalisten immer zurückgewiesen worden, weil sie Angst davor hatten.
Bewiesen wurde die Notwendigkeit dieser Maßnahme durch den Metallarbeiterstreik im März 1925. Die Faschisten hatten unter dem Druck der Massen einen Metallarbeiterstreik in Brescia ausgerufen. Der Metallarbeiterverband rief seine Mitglieder zum Streik auf. Der Streik erfasste die Lombardei, Piemont, Venezia Giulia und einen Teil von Ligurien, also die größeren Industriestädte Italiens. Die Faschisten waren erschrocken. Um die Arbeiter zu desorganisieren, ließ die Regierung das Gewerkschaftshaus und unser Komitee besetzen und verbot das Erscheinen des sozialistischen „Avanti", der kommunistischen „Unita" und der reformistischen „Giustizia". Wir wurden eifrig gesucht. Buozzi, der Sekretär des Metallarbeiterverbandes, verlor alle Verbindungen mit der Masse, wie übrigens auch das Exekutivkomitee im Gewerkschaftshaus. Bei uns war das anders. Wir hielten unsere Verbindungen aufrecht. Damals hatten wir Besprechungen mit den reformistischen Führern. Sie hatten völlig den Kopf verloren. In ihrer Isolierung wussten sie nicht einmal, wie sie ein Flugblatt mit einem Aufruf zum Kampf herstellen und verteilen sollten. Mit Hilfe unseres Apparates konnten die Reformisten einen Aufruf des Metallarbeiterverbandes an die Arbeiter drucken und verteilen. Als sich die Aktion aber fast zu einem Generalstreik auswuchs, verstanden es die Reformisten trotz ihres Mangels an Verbindungen, den Streik abzuwürgen. Ein Kommunique des Metallarbeiterverbandes, das die Wiederaufnahme der Arbeit befahl, wurde von sämtlichen faschistischen Zeitungen veröffentlicht. Allerdings gab das Kommunique zu, dass die Massen geschlossen reagiert und vorbildliche Disziplin bewiesen hatten.
Die Mitarbeiter, Redakteure und Drucker der Zeitung wurden häufig verhaftet, untersucht und misshandelt ...
Girolamo Li Causi, Redakteur der „Unita", der jetzt eine Zuchthausstrafe von zwanzig Jahren verbüßt, wurde zweimal blutiggeschlagen. Sirletti, dem Leiter der Setzerei, wurde ein Arm gebrochen. Die Räume der Redaktion wurden mehrmals demoliert. Alles natürlich unter den Augen der Sicherheitspolizei. Bibolotti, der jetzt im Zuchthaus sitzt, wurde mehrmals verwundet. Terracini wurde auf dem Domplatz verprügelt und dann ins Gefängnis geworfen.
In dem Gewerkschaftsbüro der Kommunistischen Partei nahmen die Haussuchungen, Verhaftungen und Demolierungen kein Ende. Ich wurde auf dem Gemüsemarkt von den Faschisten überfallen und verprügelt und entging dem Gefängnis nur, weil die Faschisten nur zu zweit waren und Passanten eingriffen. Ich konnte im Wagen entkommen. Der Genosse Roveda — jetzt sitzt er auch im Zuchthaus — war alle Augenblicke im Gefängnis. In einem einzigen Zimmer hausten Serrati, Caretto — jetzt ist er ebenfalls im Zuchthaus —, gelegentlich Terracini, die Maschinenschreiberin und ich mit Lupo, einem sibirischen Hund. Die Genossen Abgeordneten, Molinelli, Borin und Picelli, die jetzt alle im Zuchthaus sind, waren auf Reisen. Versammlungen waren in dem Büro nicht möglich. Die Genossen wagten nicht mehr zu kommen, weil ständig Verhaftungen stattfanden.

Wir arbeiteten, so gut es ging. Beim ersten Alarmzeichen verschwand alles, was wichtig und geheim war, unter der Bluse der Maschinenschreiberin, die man nicht gut durchsuchen konnte. Das Zimmer war voll von Verstecken.
Serrati, der Sekretär der Angestelltengewerkschaft, saß in einer Ecke über der Schreibmaschine und stellte Material für den „SindacatoRosso" her, unser Gewerkschaftsblatt, das als erstes verboten wurde. Roveda, der Sekretär des Holzarbeiterverbandes, arbeitete, wie immer, unverdrossen. (Heute schreibt er aus dem Zuchthaus lebensprühende Briefe und macht den anderen Mut.)
Die Maschinenschreiberin hämmerte den ganzen Tag auf ihrer Underwood. Aus Sparsamkeitsgründen aßen wir zu Mittag eine Kleinigkeit im Büro. Sie bereitete uns den Tee auf russische Art ... Trotz allem waren wir guter Laune, auch in den letzten Tagen des Monats. Gelegentliche Sistierungen, Haussuchungen und Misshandlungen konnten uns nicht mehr aus der Fassung bringen.
Terracini, ewig in Bewegung, richtete, wo er ging und stand, sein „fliegendes Büro" ein und begann zu schreiben. Trotz seines zierlichen und schmächtigen Aussehens war er ein unermüdlicher Arbeiter. Seine vielseitige Tätigkeit trug ihm rücksichtslose Verfolgung und den ersten Platz unter den vom Sondergericht in dem Prozess gegen die Kommunistische Partei Verurteilten ein. Die Polizei ließ ihn keinen Augenblick in Ruhe, aber er verstand es, nötigenfalls spurlos zu verschwinden. Als Journalist, Redner und Organisator hat er unermüdlich für die Partei gearbeitet. In der Anklageschrift des Staatsanwalts beim Sondergericht heißt es über ihn: „Seine Tätigkeit beweist, dass er zu den bewährtesten Führern der Kommunistischen Partei gehört."
Die Polizei suchte nach „Zellen", auch im Gewerkschaftskomitee. Die Polizisten waren verzweifelt. Die Parole in den Polizeipräsidien des Königreichs Italien lautete damals: „Jagd nach kommunistischen Zellen!" Sie waren wie besessen! Der Polizeipräsident von Mailand hatte alle seine Agenten zum Rapport versammelt und die Losung ausgegeben: „Die kommunistischen Zellen müssen ausfindig gemacht werden." Würdig und gemessen hatte er versucht, seinen Untergebenen klarzumachen, was eigentlich eine Zelle sei, aber in Wirklichkeit wussten die armen Kerle nach der donnernden Rede ihres Chefs, die mit den üblichen Hochrufen auf den Duce endete, noch weniger als vorher. Das Schlimme war, dass der Polizeipräsident selber nicht viel von der Sache verstand. Man kann sich also vorstellen, wie die armen Polizisten sich abgequält haben.
Es waren arme Teufel, die Mussolini zur Verteidigung des Regimes gedungen hatte. Arbeitslose, Deklassierte, zum größten Teil Südländer, die aus irgendeinem Dorf im glühendheißen Kalabrien oder Apulien nach Mailand verschlagen worden waren. Sie fühlten sich in der Großstadt verloren, wichen ängstlich den Autos aus, starrten geblendet in die Lichterpracht der Schaufenster, wollten für ihr Leben gern gratis ins Theater oder ins Kino gehen und sich die mehr oder weniger entblößten Busen der Damen ein bisschen aus der Nähe ansehen. Kurz, sie wollten leben, um dann nach der Heimkehr vor ihren Landsleuten mit ihren Erlebnissen zu prahlen. Diese Bauernjungen waren die Stützen des Regimes, und im Kopf gingen ihnen die „Zellen" und die hochtönenden Reden ihres Chefs De Sanctis, des Polizeipräsidenten von Mailand, herum.
Was sie für Fehler machten! Ständig gab es Haussuchungen, Sistierungen, Bespitzelungen, Verhöre, stunden und tagelang mussten sie herumstehen, um den Zellen auf die Spur zu kommen. Jeder verhaftete Genosse musste lange Verhöre über sich ergehen lassen. Die Polizei wurde nicht klug aus der Sache. Einen von vielen Vorfällen dieser Art will ich hier erzählen.
Eines Tages arbeitete ich in aller Ruhe mit dem Genossen Terracini zusammen, als eine Bande von Polizisten „streng gesetzmäßig" in das Büro eindrang. Die Maschinenschreiberin bekam einen Schreck, und Lupo begann wütend zu bellen.
„Hände hoch!" Dann zeigte man uns einen Haussuchungsbefehl und durchsuchte uns. Papiere, Bücher, Zeitungen — alles wurde durcheinander gebracht. Überall steckten die Polizisten ihre Nase hinein und brachten alles dem Maresciallo, der — ich habe nie begreifen können, nach welchen Gesichtspunkten — die zu beschlagnahmenden Papiere prüfte und auswählte.
Terracini arbeitete seelenruhig weiter, und die Maschinenschreiberin bemühte sich, die durchgesehenen Papiere wieder einzuordnen. Ich und der Hund, der noch immer knurrte, warteten ab. Plötzlich entdeckte einer der Polizisten hinten in einem Schrank zwei Koffer aus gelbem Kunstleder. Die Haussuchung war zu Ende. Die Polizisten triumphierten.
„Kommen Sie mit!" befahl der Maresciallo mir und Terracini.
Von der ganzen Schar umringt, brachen wir mit den Koffern auf. Die Polizisten strahlten. Der Maresciallo wandte sich an den Genossen Terracini:
„Herr Rechtsanwalt, diesmal haben Sie die Partie verloren. Wir haben sie entdeckt ..."
Terracini putzte ruhig seine Brille und erwiderte:
„Was haben Sie entdeckt?"
Der Maresciallo wies auf die beiden Koffer.
„Ich weiß, ich weiß", fuhr er fort und strich sich den Bart, „Sie stellen sich dumm, aber in San Fedele werden wir ja sehen ..."
„Ich bin auch neugierig, was in diesen Koffern ist", sagte Terracini zu mir.
Ich gab keine Antwort, da ich mir das Lachen verbeißen musste.
„Ich sage Ihnen, Herr Rechtsanwalt", erklärte der Maresciallo siegesgewiss, „in den Koffern sind die Zellen!"
Dann hüllte er sich in finsteres Schweigen.
Ich weiß noch, was für einen Blick der Genosse Terracini mir zuwarf und was für ein wütendes Gesicht der Polizeipräsident machte, als er den Inhalt der Koffer erblickte.
Wenige Stunden später kehrten wir in unser Büro zurück. Die Genossen Picelli und Borin, beide Abgeordnete, der erste ein Arbeiter aus Parma, der zweite ein Hafenarbeiter aus Venedig, suchten ihre Koffer, in denen sie bei ihren häufigen Propagandareisen ihre Socken, Taschentücher und Hemden unterzubringen pflegten. Die Koffer wurden später zurückgebracht. Den Maresciallo, der die beiden Koffer mit „Zellen" beschlagnahmt hatte, habe ich nicht wiedergesehen.

Die Zensur und die ständige Überwachung erschwerten unsere Arbeit und machten es den Genossen fast unmöglich, uns im Büro aufzusuchen, ohne festgenommen, durchsucht und sehr häufig von den Polizisten oder auf dem Präsidium misshandelt zu werden. Die Polizei wusste, dass wir illegale Zeitungen herausgaben, in denen alles stand, was die„Unitä" nicht drucken konnte. Sie suchte nach den Zellen und den illegalen Druckereien und nahm alle Leute fest, die sie in der Nähe unserer Büros mit Paketen oder Bündeln zu Gesicht bekam. Sie nahm willkürliche Verhaftungen vor und belästigte die Arbeiter in den Betrieben.
Einmal fand man bei einem festgenommenen Arbeiter einen Zettel folgenden Inhalts: „Sei morgen früh pünktlich um zehn an der üblichen Stelle. Dort wird ein Genosse dich erwarten. Als Erkennungszeichen halte die ,Sportzeitung' zusammengefaltet in der Hand." Die „Sportzeitung" war auf hellrotem Papier gedruckt. An diesem Sonntag wurden alle, die man mit dieser Zeitung auf der Straße traf (sie wird in Mailand sehr viel gelesen), aufs Polizeipräsidium gebracht. Es waren Hunderte. Die Versammlung aber fand ohne Störung statt.
Als wir die Kampagne für die Entsendung einer Arbeiterdelegation nach der Sowjetunion eröffneten, wurde ich festgenommen und aufs Polizeipräsidium gebracht. (Das kam häufig vor, und manchmal behielten sie mich auch da, Oft geschah es zweimal in einer Woche.)
„Sie gehen nach Russland, nicht wahr?" fragte mich der Polizeipräsident. „Sie sollen die Arbeiterdelegation begleiten?"
„Ich weiß nichts von der Delegation", antwortete ich.
„Erzählen Sie keine Märchen! Übrigens bin ich überzeugt, dass die Regierung die Ausreise nicht verbieten wird", fügte er hinzu.
„Meinen Sie?" fragte ich.
„Selbstverständlich, denn wenn auch parteilose Arbeiter und Reformisten dabei sind, werden sie nach ihrer Rückkehr schöne Geschichten über Russland erzählen."
„Ja", sagte ich, „das kann ich mir denken."
„Sagen Sie also dem Komitee, sie sollen Pässe beantragen und nicht, wie üblich, eine Festnahme an der Grenze riskieren", fuhr er fort.
„Was Sie wissen, weiß ich auch. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Es besteht doch ein Komitee ..."
Vor ihm auf dem Tisch lagen die „Unita" und einige illegale Zeitungen. Er erreichte nichts. Die Folge war, dass meine Überwachung verschärft wurde. Wenn ich mir einen Wagen nahm, nahmen meine Verfolger auch einen. Als ich einmal das einzige Auto an einer Haltestelle nahm, stieg ein Polizist mit ein und setzte sich neben den Chauffeur. Ich musste verzichten.
Wie oft ich während meiner zweijährigen Arbeit das möblierte Zimmer gewechselt habe, ist kaum zu sagen. An vielen Stellen habe ich nur einen Monat gewohnt. Einmal, als ich ein möbliertes Zimmer entdeckt hatte, ging ich am Morgen hin und mietete es. Am Abend erschien ich mit meinem Koffer. Die Wirtin machte einen verstörten Eindruck.
„Hören Sie", sagte sie zu mir, „Sie sind sicher ein anständiger Mensch, aber als Sie heute morgen fortgegangen sind, ist einer von der Polizei zu mir gekommen und hat sich Ihr Zimmer zeigen lassen. Er hat mir gesagt, dass Sie Kommunist sind. Ich weiß nicht, was das eigentlich ist, aber ich möchte nicht, dass die Polizei in meine Wohnung kommt. Ich muss Ihnen kündigen. Bleiben Sie die vierzehn Tage und suchen Sie sich inzwischen ein anderes Zimmer."
In den vierzehn Tagen schlief ich nicht mehr als vier-oder fünfmal in dem Zimmer. Die übrigen Nächte verbrachte ich auf der Wache.
In der letzten Zeit hatte ich mehr Glück. Ich geriet an einen ehemaligen Gerichtsschreiber, einen Volksparteiler, der sich als wütender Antifaschist gebärdete, wenn er sicher war, mit wem er es zu tun hatte. Er war gesetzkundig, und niemals ist einer meiner Wirte so darauf versessen gewesen, mich vor den Übergriffen der Polizei zu bewahren, wie er. Er war ein guter Kerl.
„Früher", pflegte er zu sagen, „kamen Verbrecher und Halunken vor Gericht. Heute laufen die Halunken frei herum. Wer ein dreckiges Hemd trägt, kann sich alles erlauben, kann andere Leute verhaften und belästigen. Warum werden die Komplicen von dem Pettine nicht verhaftet?" Das war ein siebzehnjähriger Faschist, der seine Mutter umgebracht hatte. „Weil sie die Faschistenführer von Mailand sind!"
Einmal, als ich im Gefängnis war, hatten mich meine Wächter aus den Augen verloren und suchten verzweifelt nach mir. Erschrocken liefen sie die Treppen auf und ab.
Trotz aller Überwachung konnte ich aber an sämtlichen Versammlungen teilnehmen. Der Polizeipräsident behauptete, ich sei ein ganz geriebener Bursche und besteche die Agenten. In Wirklichkeit waren die Polizisten ziemlich dumm. Dafür waren sie sehr bösartig. Die Furcht vor Strafe und die langen ergebnislosen Jagden versetzten sie in Wut. Sie entschädigten sich dadurch, dass sie auf der Wache alle verprügelten, die ihnen in die Finger gerieten.
Diese halblegale Arbeit war mit großen Unannehmlichkeiten verbunden. Vor allem war man auch den faschistischen Banden bekannt. Man musste den faschistischen Kalender genau kennen, um zu vermeiden, dass man am Abend vor den Feiertagen oder in den Tagen, in denen die Feste sich drängten, in seiner Wohnung erwischt wurde. Für die Genossen, die illegal arbeiteten, war das Leben in dieser Beziehung weniger gefährlich. Sie riskierten gleichzeitig mehr und weniger. Ich gedenke der Genossen, die im „Schatten" gelebt und dabei Jahr für Jahr intensiv gearbeitet haben.
Es entstanden merkwürdige Situationen. Ein Genosse, der illegal lebte und gesucht wurde, hatte zwei Kinder (das eine war schon ziemlich groß), die nach den Gesetzen nicht existierten! Sie waren auf dem Standesamt nicht gemeldet. Arme Kinderchen! Man konnte sie nicht einmal mit anderen Kindern spielen lassen, weil man befürchten musste, dass sie ihren Vater in aller Unschuld in Gefahr brachten. Von Zeit zu Zeit mussten sie sich immer wieder einen anderen Familiennamen einprägen.
„Weißt du, ich heiße jetzt nicht mehr Madi, ich heiße ... Papa, wie heißen wir jetzt?"
Eines Tages spielte eines der Kinder mit viereckigen Papierstückchen und malte mit dem Bleistift Zeichen darauf.
„Was machst du da, Kleiner?" fragte ich.
„Ich mache eine Geheimschrift."
Der Vater war gezwungen, den ganzen Tag im Hause zu arbeiten, und musste nach beendetem Tagewerk dem Kleinen Unterricht erteilen, weil man sie nicht mit falschen Papieren in die Schule schicken konnte. So viel List war notwendig, damit man arbeiten konnte!

Einmal wollte ich zum Zentralkomitee der Partei und schloss mich, um nicht erwischt zu werden, einem Pilgerzug an, der nach Rom ging. Es war im Jahre der Feier zum siebenhundertsten Todestag für den heiligen Franz von Assisi. Um sich beim Vatikan und bei der Geistlichkeit beliebt zu machen, legte der Faschismus großes Gewicht auf diese Feier. Die Pilger, die sich nach Rom begaben, erhielten verbilligte Eisenbahnfahrkarten und andere Vergünstigungen. Ich besorgte mir einen Pilgerausweis und machte mich mit einer Gesellschaft von Betschwestern und Priestern auf den Weg.
Es war eine sehr interessante Reise. Die ganze Nacht Gebete und Psalmen! Einzigartig war die Reise insofern, als ich mir wegen der Polizei keine Sorgen zu machen brauchte.
Von Mailand bis Rom bekam ich weder den Zweispitz eines Carabiniere noch die schwarze Quaste eines Mitgliedes der faschistischen Miliz zu sehen. Ich war in einem Abteil mit mehreren interessanten Typen.
„Sehen Sie", meinte einer von ihnen, „der Faschismus muss mit unserer Kraft rechnen. Wir Katholiken sind die ungeheure Mehrzahl ..."
„Ja, ja", meinte ein anderer, „mir haben sie den Kopf zerschlagen, weil ich an ihren Umzügen nicht teilnehmen wollte."
„Ein guter Katholik", erklärte der erste, „soll sich dem Stärkeren niemals widersetzen. Hindernisse muss man umgehen."
„Mir sind die Faschisten, die Kommunisten und die Katholikerl gleichgültig", sagte ein gut gekleideter Mann. „Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, mir ohne große Kosten Rom anzusehen, weiter nichts."
„Wie kann man so reden!" unterbrach ihn eine nicht mehr junge Frau.
„Seien Sie nur ruhig, Schwester Angela, Sie machen es ja auch so. Tun Sie nicht so fromm!" sagte der Mann.
„Schon gut, aber man darf doch nicht so reden, glauben muss man schon ..."
„Ich will mir Rom ansehen", sagte ein anderer. „Es soll eine sehr schöne Stadt sein, und außerdem will ich den Abgeordneten aus meiner Gegend aufsuchen. Können Sie mir sagen, warum man so viel Wesen von diesem heiligen Franz macht? Der muss eine sehr angesehene Persönlichkeit gewesen sein. Ich möchte nur wissen, wenn die Faschisten den heiligen Franz so großartig feiern, warum in meiner Gegend eine
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Genossenschaft, die ausgerechnet, Katholische Genossenschaft der Söhne des heiligen Franz' hieß, kurz und klein geschlagen worden ist."
Mir gegenüber las die Schwester Angela in den „Blümlein des heiligen Franz", während ihr Nachbar ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie lächelte.
In den Gängen des Zuges wimmelte es von Menschen. Es waren fast alles Paare, die ein zerknirschtes Gesicht machten, wenn ein Priester erschien, aber, nach ihrem Benehmen zu urteilen, bestimmt nicht vom heiligen Franz sprachen.
„Ich muss ins Innenministerium", sagte einer, „wegen der Pacht der Gefängnisarbeiten in meinem Bezirk."
„Hast du Empfehlungen?" fragte ein anderer.
„Ich habe einen Brief, aber ich glaube, der ist mehr wert als jede Empfehlung." Er schlug sich auf die Brieftasche.
„Gott sei gelobt!" grüßte ein hochgewachsener hagerer Priester.
„Gelobt sei sein heiliger Name!" antworteten die beiden einstimmig und verneigten sich vor dem Priester. Dann fügten sie mit gedämpfter Stimme hinzu: „Alter Quatschkopf!"
Ich saß in meiner Ecke und grübelte, bis ich einschlief. Geweckt wurde ich von einem noch sehr jungen Priester. Er fragte mich:
„Aus welchem Kirchspiel sind Sie?"
Ich tat verschlafen, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Daran hatte ich nicht gedacht. Dann fiel mir der Name einer Kirche in der Nahe unseres Büros ein:
„Ich bin von San Babila."
„In diesem Wagen sind alle von Santa Radegonda. Wie kommen Sie hierher?"
„Das weiß ich nicht. Ich habe nicht gewusst, dass wir in Abteilungen eingeteilt würden."
„Das macht nichts", sagte der Priester, „Sie werden auf dem Bahnhof mit den Pilgern von Santa Radegonda aussteigen. Draußen auf dem Platz stellen Sie sich dann hinter die Fahne Ihres Kirchspiels. Ordnung muss sein. Gott sei gelobt!"
„Sind wir schon in Rom?" fragte ich.
„Ja, in wenigen Minuten sind wir in der Hauptstadt der katholischen Welt, zu den Füßen Seiner Heiligkeit Pius XI."
„Vielen Dank", erwiderte ich.
Wir verließen den Bahnhof in geschlossenem Zuge. Die Priester liefen geschäftig von der Spitze bis zum Ende des Zuges. Sie erinnerten an Schäferhunde, die immer um die Herde kreisen. Ich hatte beschlossen, den Zug rechtzeitig im Stich zu lassen. Die Römer betrachteten uns mit mitleidigem Lächeln. Der Zug schmolz immer mehr zusammen. Auch ich machte mich aus dem Staube.

Wenn die Versammlungsberichte und die Resolutionen veröffentlicht wurden, war es immer besonders schlimm, und auszubaden hatten es immer wir „Legale". Jeder, der den wütenden Polizisten nach der Strafpredigt des Polizeichefs in die Hände lief, wurde aufs Polizeipräsidium gebracht.
Einmal, als ich im Vorzimmer wartete, bis ich an die Reihe kam, hörte ich eine dieser Predigten mit an. „Ihr seid Schlafmützen! Ihr erwischt immer nur diejenigen, die gerade im Bett liegen. Die Kommunisten machen Versammlungen, halten Sitzungen ihres Zentralkomitees ab, veranstalten Blitzversammlungen vor den Betrieben, und ihr kommt immer zu spät.
Es ist eine Schande. Idioten seid ihr!" Daraufhin enteilten die Idioten, um möglichst viele Leute beim Schopf zu packen.
Nach der Rückkehr vom Zentralkomitee wurde ich festgenommen und aufs Polizeipräsidium gebracht.
„Sie sind auf einer Sitzung des Zentralkomitees gewesen", erklärte mir der Polizeipräsident, als ich vor ihm stand.
„Ich? Nicht einmal im Traum! Ich bin ein einfacher Gewerkschaftsarbeiter. "
Er unterbrach mich wütend.
„Glauben Sie, dass ich ein solcher Idiot bin wie die Polizisten, die Sie entwischen lassen? Da irren Sie sich sehr. Ich lasse Sie verhaften, wenn es mir passt. Haben Sie verstanden?" brüllte er.
„Ich weiß, Herr Polizeipräsident, dass Sie mich jederzeit verhaften lassen, können. Ich habe es erlebt. Aber nehmen wir einmal an, dass es mir gelungen ist, mich davonzumachen und an der Sitzung des ZK der Kommunistischen Partei teilzunehmen — dann können Sie mich also nicht jederzeit verhaften lassen!" erwiderte ich.
„Ja, weil diese Idioten schlafen. Aber das herrliche Leben wird bald ein Ende haben ... Gehen Sie jetzt!"
Ein herrliches Leben nannte er das!
Auch der Aufenthalt in den Restaurants war mit Schwierigkeiten verbunden, weil sich immer ein Polizist bei dem Inhaber erkundigte, ob wir Kontakt mit dem Personal hätten, ob wir unsere Post dorthin kommen ließen und so weiter. Nach zwei oder drei Mahlzeiten musste man das Restaurant wechseln, weil nicht nur der Inhaber uns schief ansah, sondern auch provozierende Faschisten erschienen. Einmal wollten sie uns sogar verprügeln.
„Wo sind die Kommunisten?" fragten sie den Inhaber von oben herab.
„Bei mir verkehren keine Kommunisten."
„Wir haben aber erfahren, dass sie hier essen", sagte der Führer der Bande.
Offenbar kannten sie uns nicht.
„Nehmen Sie sich in acht, wenn Sie keinen Ärger haben wollen!" drohte er beim Fortgehen.

Die Polizisten gaben die Hinweise, und die faschistischen Banden besorgten das übrige.
Einmal ging ich in ein Restaurant an der Porta Ludovica, nicht weit vom Stadtzentrum (ich weiß nicht, das wievielte es war), als die Faschisten erschienen. Sie suchten aber nicht uns, sondern fielen über zwei oder drei junge Leute her.
Was war geschehen?
Nach dem Attentat Zanibonis auf den Duce waren die Häuserwände der Stadt mit Hilfe einer Schablone mit Bildern von Mussolini geschmückt worden. Darunter stand: „Nicht berühren! Lebensgefährlich! "Überall verunzierten diese Bilder die Wände. Niemand wagte es, sie anzurühren. Nach zwei oder drei Tagen waren einige der Bilder mit Hörnern geschmückt. An jenem Abend nun verprügelten die Faschisten die jungen Leute, weil sie dem Duce die Hörner aufgesetzt haben sollten. Trotzdem tauchten jeden Tag neue Duce-Bilder mit Hörnern auf, nicht nur am Stadtrand, sondern auch im Zentrum. Wenige Tage danach verschwanden die Bilder, und zwar auf Veranlassung der Faschisten, die sie hatten anbringen lassen.
Eines Tages hielt mich ein Polizist an, der mir gefolgt war. Er entschuldigte sich und sagte dann: „Ich bin entlassen worden!" Er hatte ein Leichenbittergesicht. „Acht Monate haben mir noch gefehlt für die Mindestpension. Ich bin vom Kriege her tuberkulös. Jetzt haben sie mich entlassen. Eine Gemeinheit ist das! Das haben sie doch vorher gewusst, dass ich tuberkulös bin. Was soll ich jetzt machen?"
„Es lohnt sich also nicht", sagte ich, „Arbeiter zu misshandeln, um Karriere zu machen. Sie werden auf die Straße gesetzt, damit man Sie nicht zu pensionieren braucht. Nun wissen Sie, wie es zugeht im Leben."
Er schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten. Darf ich? Ich möchte nämlich, dass Sie mir eine Empfehlung für den Abgeordneten Lo Sardo geben, einen kommunistischen Abgeordneten aus Sizilien" — heute sitzt er ebenfalls im Zuchthaus —, „der aus meiner Stadt ist, damit er beim Ministerium gegen diese Ungerechtigkeit protestiert."
„Sie wollen wohl nicht nur entlassen werden, sondern sich auch noch die Knochen brechen lassen? Wenn ein kommunistischer Abgeordneter sich wirklich für Sie verwenden würde, würde er das Gegenteil erreichen."
„Aber er ist doch Abgeordneter, und Abgeordnete werden respektiert."
„Ja, aber nicht die kommunistischen ... Sie sehen ja, wie es Ihnen ergeht. Bisher haben Sie das Interesse der Unternehmer, der Reichen gegen die Arbeiter vertreten, und jetzt werden Sie als kranker Mann auf die Straße gesetzt und müssen sich Arbeit suchen. Lernen Sie wenigstens daraus!"
Ich ließ ihn mit seiner Verzweiflung stehen.
Ich bekam einen anderen Verfolger. In den ersten Tagen war er sehr eifrig. Als er dann merkte, dass ich, wenigstens damals, ziemlich regelmäßige Gewohnheiten hatte, erklärte er mir eines Tages: „Hören Sie, es ist recht langweilig für mich, immer hinter Ihnen her zu sein, und für Sie ist das sicher auch lästig. Morgen nehme ich mir Urlaub."
Er war ein wunderlicher Kauz. Aber er war mir nur kurze Zeit zugeteilt, denn auch die Leibwächter wurden kontrolliert.
Einmal aß ich in einem toscanischen Restaurant. Der Inhaber stammte aus Neapel, die Kellner waren aus Mailand, der Wein war unbekannter Herkunft. Eines Tages nahm an meinem Tische ein Mann Platz, der wie ein Notariatsschreiber aussah. Er trug eine Brille, sein abgetragener Anzug glänzte, sein Hut war von ehrwürdigem Alter. Er hatte einen Haufen Zeitungen aller Richtungen bei sich. Ich warf einen Blick auf das Streifband einer Zeitung und las: „Für den Herrn Polizeipräsidenten von Mailand." Es ist immer gut, wenn man Bescheid weiß.
Der Mann war sehr gesprächig.
„Sie beschäftigen sich nicht mit Politik?"
Ich verneinte.
„Es ist sicher schwer, sich bei den vielen Parteien heute zu orientieren, aber ich habe Übung darin. Da ist zum Beispiel die Polemik zwischen Sozialisten, Kommunisten und Reformisten, die sehr interessant ist. Die Kommunisten sind im Grunde die Sozialisten aus der Zeit vor zwanzig Jahren, also eine revolutionäre Partei. Die andern arbeiten legal. Ich verfolge diese Polemik mit größtem Interesse, wie übrigens auch die Diskussion für den Parteitag der Kommunisten. Ich glaube aber nicht, dass die Regierung ihn erlauben wird."
„Davon verstehe ich nichts."
„Wenn man nicht sämtliche Zeitungen verfolgt, findet man sich bestimmt nicht zurecht. Ich lese dreißig bis vierzig Zeitungen täglich und bin immer auf dem laufenden."
In diesem Ton ging es weiter ... Mehrere Tage hintereinander wurde ich auf diese Weise von dem Schreiberling des Polizeipräsidenten, der sich wichtig machen wollte, informiert.

Unsere Versammlungen fanden an den verschiedensten Orten statt, auf Kirchhöfen, auf Booten, auf Heuböden. Ein Provinzialkongress tagte einmal in einer verlassenen Mühle und ein andermal in einem verfallenen Schloss. Dort blieben wir mehrere Tage. Abends legten wir uns immer sehr früh auf die Säcke mit trockenem Laub, die die Genossen in der Gegend uns beschafft hatten, um kein Licht brennen zu müssen und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Es regnete, das Wetter war scheußlich, alles war sehr unbequem — und doch waren wir guter Dinge.
Im Winter 1925 tagte das ZK einmal im Hochgebirge. Sieben Stunden war ich unterwegs, bis ich da oben anlangte.
Mit den Carabinieri konnte ich niemals ohne Stock gehen, wohl aber brachte ich es fertig, auf den Berg hinaufzuklettern, auf dem eine Hütte für die Bergsteiger stand. Hier oben waren wir außer Gefahr. Einen Grenzposten gab es hier nicht, und Bergsteiger kamen nur sonntags. Wir konnten in Ruhe diskutieren. Unsere Wachposten, die Jungkommunisten, konnten alle Täler übersehen. Als die Tagung beendet war, ertönte inmitten der schweigenden Berge in dieser Hütte, die uns als Versammlungsraum, als Schlafzimmer und als Küche gedient hatte, ernst und feierlich die „Internationale".
Andächtig und tief bewegt sangen die Männer, die an den Kerker und an täglichen Kampf gewöhnt waren, die Hymne der Revolution. Dann rasteten wir wenige Stunden, um uns mit frischem Schwung in den Kampf zu stürzen.

Als die Diskussion für den Parteitag begann, wurde die Lage für uns „Legale" sehr schwierig. Die Überwachung wurde verschärft. Ich konnte keinen Schritt mehr tun. Jeder Versuch war zwecklos. Und doch musste ich zum Parteitag. Ich hatte noch nie gefehlt. Allerdings war die Polizei in Mailand besser ausgerüstet als die in Fossano, und der Polizeipräsident De Sanctis verfügte über weit stärkere Mittel und Kräfte als Herr D'Avanzo in Fossano. Wenn ich nachts nach Hause kam, wurde der Polizist, der mir den ganzen Tag gefolgt war, abgelöst. Aus dem Fenster sah ich unten auf der Straße meinen Freund auf und ab gehen.
Eines Morgens, als ich zu einer Versammlung gehen wollte, versuchte ich eine neue Methode. Der Polizist postierte sich immer gegenüber der Tür meines Hauses auf der anderen Straßenseite. So konnte er die Lage besser übersehen, weil auf der Straßenseite, auf der mein Haus lag, der Verkehr zu stark war. Manchmal war es mir gelungen, hinter seinem Rücken zu entwischen. Wenige Schritte vor meinem Haustor war eine Straßenbahnhaltestelle.
Ich hatte einen einfachen Plan und setzte ihn in die Tat um. Vom Fenster aus sah ich den Polizisten an seinem gewohnten Platz. Ich ging hinunter. Als ich unten war, wartete ich, bis die Straßenbahn, die langsam anzufahren pflegte, das Haustor versperrte. Die Straßenbahnen fahren immer mit Anhänger. Es bereitete mir keine Schwierigkeiten, das Haustor zu verlassen und neben der Straßenbahn her zu gehen, die mich dem Polizisten verbarg. Dann verschwand ich in einer Bar.
Während mein Kaffee zurechtgemacht wurde, beobachtete ich meinen Wächter. Er starrte noch immer auf das Haustor. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken hatte, wartete ich eine andere Straßenbahn ab, um ein Stück nebenher zu gehen und dann in einem Zigarrenladen zu verschwinden. Mit Hilfe von vier Straßenbahnen gelang es mir, ihn hinters Licht zu führen. Es war die einzig mögliche Methode. Autos hatten keinen Zweck mehr. Auf fahrende Straßenbahnen konnte ich nicht aufspringen. Mein Haus hatte nur einen Ausgang, und durch das Fenster konnte ich nicht, weil ich im fünften Stock wohnte.
Diese Methode, die ich nur in Ausnahmefällen anwandte, um nicht aufzufallen, ermöglichte mir die Teilnahme am Parteitag. Es war ganz einfach.
Aber damit waren noch nicht alle Hindernisse überwunden. Ich musste ins Ausland. Ich war fast sicher, dass es gut gehen würde. Es war ja immer gut gegangen. Ungestört kam ich hin und wieder zurück. Wir waren Gäste unserer „großen lateinischen Schwester", wie die nationalistischen und faschistischen Zeitungen sich gelegentlich ausdrücken, weil wir dort inkognito waren.
Der III. Parteitag der Kommunistischen Partei Italiens ist besonders wichtig gewesen. Auf diesem Parteitag wurde über alle Fragen mit den „linken" Anhängern Bordigas gründlich diskutiert. Er begann am 21. Januar 1926, zwei Jahre nach dem Tode Lenins und fünf Jahre nach der Gründung der Partei. Die Internationale und die Bruderparteien waren durch Abordnungen vertreten. Die Rückkehr nach Mailand verlief ohne Störungen. Ich reiste mit Gramsci zusammen. Kaum bekamen die Polizisten mich zu Gesicht, als sie mich zu ihrem Vorgesetzten, dem Polizeipräsidenten, brachten. Nie habe ich ihn so wütend gesehen.
„Wo sind Sie in den letzten vierzehn Tagen gewesen?" „Ich mache darauf aufmerksam", antwortete ich, „dass ich nicht unter Polizeiaufsicht stehe und dorthin gehe, wo es mir passt."
„Mäßigen Sie sich!" tobte der Polizeipräsident, rot vor Wut. „Sonst lasse ich Sie einsperren. Sie wissen, mit mir ist nicht zu spaßen. Aber die Herrlichkeit wird bald ein Ende haben. Sie sind auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei gewesen, das wissen wir. Auch Serrati, Gramsci und Togliatti waren da ... Wollen Sie das bestreiten?"
„Ich bin italienischer Bürger", erwiderte ich, „ich habe gesagt, dass ich nicht unter Polizeiaufsicht stehe. In Wirklichkeit allerdings bin ich noch schlimmer daran, weil ich vom Morgen bis zum Abend beobachtet werde. Jedenfalls kann ich gehen, wohin es mir passt. Was meine Teilnahme am Parteitag betrifft, so bin ich zu keiner Auskunft verpflichtet." „Sie sind wunderliche Käuze", sagte der Polizeipräsident schon ruhiger. „Warum diskutieren Sie nicht, wie die anderen Parteien, in aller Öffentlichkeit?"
„Ü ber die Vorbereitung des Parteitages ist in unserer Zeitung ausführlich geschrieben worden."
„Schön, aber über den Parteitag nicht. Haben Sie Angst? Ich weiß, dass er vielleicht genehmigt worden wäre, wenn Sie darum gebeten hätten."
„Vielleicht", antwortete ich. „Wir haben unsere Erfahrungen. Wir wissen zum Beispiel, dass sich nicht einmal fünf Genossen versammeln dürfen."
„Sie waren also auf dem Parteitag? Sagen Sie es doch!" „Ich habe bereits gesagt, dass ich darauf nicht antworte, auch wenn Sie mich einsperren lassen."
„Hören Sie, ich muss unbedingt wissen, wo der Parteitag stattgefunden hat. In der gleichen Lage wie ich sind die 72 Polizeipräsidenten der verschiedenen Provinzen. Ich frage Sie also, ob der Parteitag der Kommunistischen Partei Italiens in der Provinz Mailand stattgefunden hat. Ja oder nein? Weiter will ich nichts wissen, dann können Sie gehen."
Das also war die große Sorge des Herrn Polizeipräsidenten. Mussolini musste wohl getobt haben. Wahrscheinlich hatte er der Sicherheitspolizei gründlich den Kopf gewaschen und dem armen Polizeipräsidenten, der das Pech gehabt hatte, unserem Parteitag Gastfreundschaft zu gewähren, furchtbare Strafen angedroht.
Der Polizeipräsident hing an meinen Lippen. Ich bin überzeugt, dass er mich vor lauter Freude nach Hause geschickt hätte, wenn ich geantwortet hätte. „Ich weiß von nichts."
Sein Gesicht zuckte nervös. Er erhob sich und schien über mich herfallen zu wollen. Ich erhob mich ebenfalls.
„Warum geben Sie mir keine klare Antwort?" fragte er schließlich beherrscht.
„Weil ich nicht dazu verpflichtet bin."
„Ich weiß, ihr Kommunisten habt dicke Köpfe, aber wir kriegen euch klein. Es sind Gesetze in Vorbereitung ..." Er hielt inne.
„Das wissen wir, und wir werden uns wehren."

Am 7. April 1926 schoss der Engländer Gibson auf Mussolini. Daraufhin wurden unsere Räumlichkeiten überfallen, wurden die Arbeiter terrorisiert, fanden neue Verhaftungen statt.
Bald darauf traten die Verbandsgesetze in Kraft .Wir mussten unsere Mitgliederlisten einreichen. Ich wurde aufs Polizeipräsidium bestellt.
„Sie müssen die Mitgliederliste des Provinzialverbandes Mailand Ihrer Partei abliefern", erklärte mir der Polizeipräsident.
„Wenden Sie sich an den Sekretär des Provinzialverbandes Mailand."
„Wer ist das?" fragte der Polizeipräsident.
Die Partei hatte angeordnet, dass die Sekretäre der Provinzialverbände Abgeordnete sein sollten, weil diese damals nicht verhaftet werden konnten.
„Der Sekretär des Provinzialverbandes ist der Abgeordnete Bendini."
„Immer die Abgeordneten! Aber die kommen auch noch an die Reihe!"
Damals verloren wir Serrati. Wir waren zu einer Versammlung in den Bergen aufgebrochen. Serrati freute sich doppelt, einmal auf die Arbeit für die Partei, außerdem auf die Bergtour.
Ein Stück des Weges legten wir zusammen zurück. Dann trennten wir uns, um uns am Versammlungsort wieder zu treffen. Ich habe ihn erst im Krematorium wiedergesehen.
Es war ein schwerer Schlag für uns.
Die Polizei war in heller Aufregung. Man befürchtete eine Demonstration. Die sterbliche Hülle Serratis — er war in der Nähe von Asso in der Provinz Como ums Leben gekommen — wurde bei Nacht nach Mailand überführt und auf dem Friedhof von Mailand in einem unterirdischen Gewölbe beigesetzt. Wir erhielten die Erlaubnis, die bereits geschlossene Gruft zu besichtigen. Die Nachricht machte gewaltigen Eindruck, nicht nur in Mailand, sondern in ganz Italien.
Die Leiche war unerwartet eingetroffen. Ich war der erste, der an der Gruft Wache hielt. Sogleich strömten Menschen herbei. Ich hatte ein Heft für die Unterschriften der Besucher auf die Gruft gelegt. Angestellte, Arbeiter, Bauern, Jugendliche, Frauen und Soldaten zeichneten sich ein. Nach kurzer Zeit war die Gruft mit roten Blumen bedeckt, und das Heft war mit Unterschriften gefüllt. Da traf unter der Führung eines Kommissars die Polizei ein.
„Wer sind Sie? Fort mit den Blumen hier! Wo ist das Verzeichnis mit den Unterschriften?" fragte er noch außer Atem.
„Ich bin ein Freund des Toten und vertrete die Familie. Die Blumen entferne ich nicht. Das Verzeichnis ist hier", antwortete ich.
Er nahm das Heft und schlug es auf. Alle Seiten waren leer. Die beschriebenen Blätter waren bereits verschwunden, auch aus meinen Taschen.
„Wo sind die beschriebenen Blätter?" drängte der Beamte.
Ich zuckte die Achseln.
„Fort mit den Blumen hier!"
„Ich sage Ihnen nochmals, dass ich die Blumen nicht entferne. Welches Gesetz verbietet Blumenspenden zu Ehren eines Verstorbenen? Habt ihr auch vor den Toten Angst?"
„Wir haben vor niemand Angst. Lassen Sie den Ort räumen", befahl er den Polizisten, „und schaffen Sie die Blumen fort!"
Die Polizisten begannen, die protestierenden Besucher brutal auseinander zutreiben.
Ich beauftragte einen Genossen, die Besucher darauf hinzuweisen, dass sie die Blumen beim Eintritt verstecken sollten. Sämtliche Blumen wurden auf den Kehrichthaufen geworfen.
Der Kommissar entfernte sich. Es kamen immer mehr Leute, besonders gegen Abend. Es waren sehr viele Arbeiter darunter. Fast alle zogen rote Nelken — die Männer unter der Jacke, die Frauen aus der Handtasche — hervor und legten sie auf der Gruft nieder. Viele neigten sich, um den Sarg zu küssen. Ein Soldat brach in Tränen aus, und wir mussten ihn fortschaffen, ehe die Polizisten eingriffen. Unter den Augen der Polizisten hatte die Gruft sich wieder mit Blumen bedeckt. Am Abend kam der Kommissar und erklärte, er habe Befehl, die Gruft schließen zu lassen.
Wir erreichten, dass wir die Gruft photographieren lassen durften. Wir gingen mit drei riesigen Kränzen hin. Der eine war von der Kommunistischen Internationale, der andere von der Kommunistischen Partei Italiens und der dritte vom Provinzialverband Mailand. Mehrere Polizisten waren dabei. Einer erzählte mir, dass er Serrati gekannt habe. Auch ein Abgeordneter aus Mailand (er ist jetzt im Gefängnis) war dabei. Während der Photograph seine Vorbereitungen traf, verwickelten wir die Polizisten in ein Gespräch. Sie konnten es nicht fassen, dass sie die Ehre hatten, mit einem Abgeordneten zu sprechen. So bemerkten sie es nicht gleich, dass die Kränze große rote Bänder trugen mit der Aufschrift „Die Kommunistische Internationale", „Die Kommunistische Partei Italiens" und „Der Provinzialverband Mailand der Kommunistischen Partei". Als sie es bemerkten, war die Aufnahme schon gemacht. Während sie sich die Platte — eine war schon verschwunden — aushändigen ließen, brachten die Genossen die Bänder in Sicherheit.
„Wer hat die Bänder?" fragte der erboste Maresciallo.
„Ich", sagte eine der anwesenden Genossinnen.
„Heraus damit!" Er wollte sie durchsuchen.
„Hände weg!" schrie sie.
Die Polizisten zogen ab mit der Platte und der Genossin, die später nach einer Strafpredigt wieder entlassen wurde. Bald danach entfernten auch wir uns mit der wohlerhaltenen Platte und den Bändern ...
Am Tage der Trauerfeier erschien eine ungeheure Menge an der Grabstätte, obwohl dies aus „Gründen der öffentlichen Ordnung" verboten worden war. Selbst die Faschisten gaben zu, dass es mindestens zehntausend Menschen waren. Viele standen weit entfernt von dem geschlossenen Gitter. Der Eintritt wurde nicht einmal dem Sohn und dem Bruder gestattet. Es gab Verhaftungen und Verletzungen.
Einige Tage danach durften die Familie und die Partei — insgesamt vierzehn Personen, außerdem mehr als fünfzig Polizisten, Carabinieri und Beamte des Polizeipräsidiums — der Feuerbestattung des armen Serrati beiwohnen. In einer kleinen Urne ruht nun die Asche eines der besten italienischen Revolutionäre, der sein ganzes Leben der Sache des Proletariats geweiht hat.
Ich erinnere mich noch seiner Worte auf dem Parteitag von Lyon im Januar 1926: „Jetzt, wo ich wieder bei euch bin, fühle ich neuen Mut. Mein einziger Wunsch ist, der Kommunistischen Internationale zu dienen."
In Serratis Wohnung traf ich Lazzari.
„Wenn wenigstens ich gestorben wäre", sagte er bei der Begrüßung. „Er hätte noch viel Arbeit für das Proletariat leisten können. Ich bin ein alter Mann. Was habt ihr Kommunisten dem Proletariat mit der Spaltung für Schaden zugefügt!"
„Mein lieber Constantino", erwiderte ich ihm, „du klagst uns an, wir hätten dem Proletariat Schaden zugefügt, und sagst dann, dass Serrati, der doch Kommunist war, für das Proletariat hätte arbeiten können."
Schluchzend sagte er: „Ich verstehe nichts mehr."
Ich trat an Serratis Stelle als Sekretär des Verbandes der Angestellten. Erst vor wenigen Monaten hatten wir auf einer Provinzialkonferenz die Führung des Verbandes erobert.
Man spürte, dass Unheil in der Luft lag. Am 11. September kam das Attentat Lucettis auf den Duce. Es folgten die üblichen Demolierungen, Verhaftungen und Misshandlungen. Auch Tote gab es. Gleich danach wurden die geringen Bewegungsmöglichkeiten neuerlich eingeschränkt. Terracini und Bibolotti wurden am 12. September verhaftet und nicht wieder freigelassen. Die Verhaftung erfolgte auf Grund von Material, das bei einem Kurier beschlagnahmt worden war. Ich wurde gesucht, konnte aber, nachdem dieser Sturm vorübergebraust war, die Arbeit wieder aufnehmen. Verhaftet wurde ich auch, doch fand man trotz eifrigen Bemühens kein Mittel, mich in den Prozess hineinzuziehen, wie es später geschah, und nach dem Verhör wurde ich entlassen.
Man konnte sich nicht mehr rühren. Wir fühlten, dass die Maschen des Netzes sich jeden Tag enger zusammenzogen. Die Partei verstärkte ihre illegale Tätigkeit immer mehr. Es kam vor, dass die „Unitä" viermal in der Woche beschlagnahmt wurde. Langsam wurde der Schlag vorbereitet, der unsere Partei endgültig in die Illegalität treiben und die anderen, die die Möglichkeit einer so brutalen Reaktion nicht vorausgesehen hatten, vernichten sollte.
Die Faschisten hatten beschlossen, den Jahrestag des Marsches auf Rom feierlich zu begehen. Infolgedessen begannen die Verhaftungen der Antifaschisten — zahlenmäßig an der Spitze standen immer die Kommunisten — nicht erst einen oder zwei, sondern schon fünf oder sechs Tage vor dem 28. Oktober. Ich wurde am 21. Oktober um fünf Uhr morgens verhaftet.
Auf der Wache des Stadtbezirkskommissariats waren von den achtzehn Verhafteten elf Kommunisten, zwei Anarchisten, ein Reformist, ein Republikaner und drei gewöhnliche Verbrecher. Nach der üblichen Rundfahrt durch die Kommissariate wurden wir nach San Fedele und dann nach San Vittore gebracht. In dem Wagen waren wir zusammengepfercht wie Warenballen. In San Vittore saßen in den kleinen, für einen Häftling bestimmten Zellen je fünf Personen. Viele Häftlinge waren in den Gängen untergebracht, und jeden Tag trafen neue ein.
Ich bekam gleich einen Kassiber, das heißt einen Zettel von Terracini, und wir richteten einen regelmäßigen Schriftverkehr ein. Wir waren fünf Genossen. Zwei von ihnen sitzen jetzt im Zuchthaus und zwei sind deportiert. Wir dachten an die übliche „Sistierung" wegen der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Marsches auf Rom. In der Tat begannen am 30. Oktober die Entlassungen und dauerten bis zum nächsten Tag. Die Einstellung der Entlassungen am Mittag des 31. Oktober beunruhigte uns nicht. Die „Menschenfleischhändler" hatten, vor allem nach der anstrengenden Arbeit dieser Woche, auch ein Recht auf Sonntagsruhe.
Am Montag erzählte mir der Kalfaktor: „Gestern um elf ist in Bologna ein Attentat auf Mussolini verübt worden."
„Da haben wir's", sagte ich zu den anderen, „jetzt wird die Entlassung verschoben."
Im Laufe des Tages fanden keine Entlassungen statt, vielmehr trafen am Abend bis nach Mitternacht immer neue Häftlinge ein.
Wir lagen alle schon im Bett, als wir rufen hörten: „Benito Mussolini — eja, eja, alala!" Die Antwort war ein Chor von Flüchen. Gleich danach rief jemand: „Es lebe Lenin!" Brausender Beifall folgte, und dann ertönte die „Internationale". Hierauf klirrten Riegel und man hörte Schmerzensschreie. Das waren die Gefängniswärter, die die Zellen öffneten und nach rechts und links um sich schlugen. Niederrufe folgten. Mehrere wurden in die Strafzelle gesteckt, und die Stille der Nacht wurde von ihren Schreien zerrissen. Wir konnten nur laut protestieren.
Am nächsten Morgen ging niemand zum Spaziergang. Die neuen Häftlinge, von denen viele verwundet waren, erzählten von Gewalttätigkeiten und Demolierungen. Man konnte sich nicht mehr auf der Straße sehen lassen. Dann erfuhr ich, dass die Genossen von der „Unita" mit verbundenen Köpfen eingetroffen waren.
Schließlich lasen wir in den eingeschmuggelten Zeitungen von Ausnahmegesetzen, von Zwangsaufenthalt, Todesstrafe, Auflösung der Parteien, Verbot aller antifaschistischen Zeitungen ... Wir hatten das schon hinter uns. Wir dachten daran, uns Kleidung schicken zu lassen. Im günstigsten Falle erwartete uns die Deportation.
Einige Tage später sah ich beim Spaziergang einige unserer Abgeordneten. Jetzt brauchten wir uns keine Illusionen mehr zu machen.
Inzwischen folgte eine Messe der anderen. Am Tage des Marsches auf Rom fand ein Hochamt statt, am 31. Oktober die übliche Sonntagsmesse, am 1. November eine Messe mit „Te Deum" für die Errettung des Duce, am 4. November eine Messe anlässlich des Jahrestages des Sieges, dann wieder eine Sonntagsmesse und am 11. November eine Messe zum Geburtstag des Königs.
Ich hatte meiner Zimmerwirtin geschrieben und sie gebeten, einen kleinen Koffer mit Wäsche für mich zurechtzumachen. Die Deportationskommission arbeitete bereits und fällte ohne jegliches Verhör ein Urteil nach dem anderen.
Eines Morgens aber hieß es: „Sachen raus!"
Sachen raus — das bedeutete, dass es weiter ging, womit jedoch nicht immer gesagt war, dass es in die Freiheit ging. In unserem Falle erschien dies ausgeschlossen. Da ich aus Gründen der öffentlichen Sicherheit im Auftrage des Stadtbezirkskommissars verhaftet worden war, würde man mich zur Feststellung aufs Polizeipräsidium bringen. Von dort würde ich bis zur Abfahrt wieder ins Gefängnis kommen. Es würde die übliche Quälerei werden, den ganzen Tag würden wir von einem Kommissariat zum andern fahren.
Unten im Rundbau traf ich Berti und zahlreiche andere Genossen, von denen jetzt mehrere als Emigranten in der Sowjetunion oder in anderen Ländern leben. Sie waren alle guten Mutes, während ich nach wie vor pessimistisch dachte. Berti war derselben Ansicht, hatte aber trotzdem guten Appetit. Er hockte in einer Ecke des Aufnahmebüros und aß, während er darauf wartete, aufgerufen zu werden. Von Zeit zu Zeit wurde eine Gruppe abgeführt ...
Gegen Mittag kamen die Carabinieri mit einem Sack voll Handschellen und begannen mit der Fesselung. Der als Transportführer fungierende Maresciallo rief dem Wachposten im Aufnahmebüro zu:
„Wie viele kriege ich noch?"
„Fünfzig", antwortete der andere.
„Jesus!" sagte der Maresciallo. „Die sind mein letzter Transport heute. Dann muss ich andere hierher bringen. Im Wagen haben allenfalls dreißig Platz, wenn sie nicht zu dick sind."
„Was soll ich mit den anderen machen?" fragte der Wachposten, ganz erschrocken bei dem Gedanken, noch einmal mit den Aufnahmeformalitäten anfangen zu müssen.
„Sieh zu, wie du es machst. Ich komme heute nicht mehr. Ich komme morgen oder in einem Monat. Das ist ja dasselbe. Sperre sie wieder ein, sie müssen sowieso wieder hierher."
Die Häftlinge drängten sich zur Fesselung, um ihren Platz nicht zu verlieren. Wir hatten es nicht so eilig. Es war ja dasselbe, der Maresciallo hatte recht.
Das war unsere Rettung. Der Wachposten war verzweifelt.
„Lassen Sie uns doch gehen", redeten wir ihm zu, „wir sollen ja doch entlassen werden. Die Entlassungsbefehle liegen vor Ihnen."
„Das ist richtig", antwortete der Wachposten.
„Rufen Sie beim Polizeipräsidium an!"
„Richtig, das will ich tun." Er nahm den Hörer ab.
„Hallo ... Ich möchte das Polizeipräsidium ... Hier spricht das Gefängnis San Vittore. Aufnahmebüro. Es handelt sich um folgendes. Ich habe hier siebzehn Häftlinge, die alle entlassen werden sollen ... Wir haben keine Transportmittel hier ..."
„Ja, ja, es ist alles in Ordnung. Die Anweisungen sind kontrolliert."
Er nahm die Antwort entgegen.
Wir verhielten uns schweigend.
„Sehr schön, guten Tag, empfehle mich", sagte der Wachposten und legte den Hörer auf.
Er rieb sich die Hände.
„Sie können gehen", sagte er.
Die wenigen Minuten, die wir noch im Gefängnis waren, erschienen mir wie eine Ewigkeit. Jeden Augenblick erwartete ich einen telefonischen Gegenbefehl. Aber damals herrschte allgemeine Kopflosigkeit.
Nun stand ich auf der Straße.
„Ich gehe nach Hause und lasse mir gleich wunderbare Nudeln machen", sagte Tettamanti, ein guter und treuer alter Genosse. „Kommt doch mit!"
„Du bist verrückt, wenn du nach Hause gehst. Begreifst du nicht, dass sie uns aus reinem Zufall entlassen haben?" sagte ich.
Wir trennten uns. Ich machte einen Sprung nach Hause, weil ich damit rechnete, dass man auf dem Polizeipräsidium einige Zeit brauchen würde, um den Irrtum zu bemerken.
In meiner Abwesenheit hatten die Faschisten mein Zimmer demoliert und alles fortgeschleppt, was sie gebrauchen konnten.
Dann machte ich mich unsichtbar. Die andern machten es ebenso. Berti, Tettamanti und mehrere andere dagegen wurden am Tage darauf wieder festgenommen, weil sie nach Hause gegangen waren. Die Lage war furchtbar. Am Abend wurden ganze Straßen abgesperrt, und nur einer nach dem andern durfte passieren. Auf diese Weise verloren wir damals viele unserer Besten, darunter Scoccimarro und Hunderte andere. Es gab viele Verwundete und Tote.
Wir wurden eifrig gesucht. Die Polizei versuchte, uns mit „List" zu fangen. Man schickte Zettel in unsere Wohnungen, in denen wir gebeten wurden, einen Augenblick ins Polizeipräsidium zu kommen, um in das Dekret über die Auflösung unseres Gewerkschaftskomitees Einsicht zu nehmen oder über dies und jenes Auskunft zu geben. Man wollte den Eindruck erwecken, dass wir uns frei bewegen konnten.
Wir kannten aber schon die Liste der Deportationen. Mir waren fünf Jahre zugedacht. Später kam unser Fall vor das Sondergericht. Allein gegen die siebzehn Mitglieder des Zentralkomitees — darunter Gramsci, Terracini, Maffi, Roveda und Borin —, die alle oder fast alle noch vor den Ausnahmegesetzen verhaftet worden waren, wurden Zuchthausurteile in der Gesamthöhe von rund dreihundert Jahren gefällt. Die Anklageschrift ist der deutlichste Beweis für die Aktivität unserer Partei.
Die Anklage des Staatsanwalts beim Sondergericht gegen mich betrachtete ich als eine Ehre. Sie lautete:
„Giovanni Germanetto, bekannt unter dem Pseudonym Barbadirame, ist ebenfalls Mitglied des Zentralkomitees, dem er im Jahre 1926 angehört hat. Der Bericht des Polizeipräsidiums Turin vom 6. März 1927 und der des Polizeipräsidiums Mailand vom 26. März 1927 kennzeichnen ihn als bekannten und aktiven Propagandisten mit speziellen anti-militaristischen Tendenzen. Im Jahre 1922 wurde er von der Kommunistischen Partei nach Russland geschickt. Im Jahre 1923 kehrte er zurück, und im Jahre 1924 wurde gegen ihn ein Verfahren eröffnet wegen Verbrechens nach Artikel 118, Absatz 3. In demselben Jahre ging er nochmals nach Russland, wo er sich als Propagandist und als Berichterstatter für die Zeitung „Unitä" betätigte. Seine Artikel zeichnete er mit dem Pseudonym Barbadirame. Im Jahre 1926 wurde er neben seiner Eigenschaft als Mitglied des Zentralkomitees auch Mitglied des Gewerkschaftskomitees der Kommunistischen Partei. Außerdem gehörte er dem Verwaltungsrat der Verlagsgesellschaft ,Unita' in Mailand an. Der Kommissar Luciano sagt in Band 48, Blatt 178, über Germanetto: ,Er bekleidete gleichzeitig verschiedene Parteiämter. Als erfahrener Organisator und alter Gewerkschaftssekretär wurde er — er stammt aus Piemont und ist ein treuer Freund Terracinis und Gramscis — Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Mitglied des Gewerkschaftskomitees der Partei und Redakteur der Zeitung „Unita". Seine langjährige organisatorische Praxis macht ihn zu einem wertvollen Mitarbeiter Gramscis bei der Reorganisation der Partei, und seine genaue Kenntnis der Massen macht ihn besonders geeignet zur Leitung des Gewerkschaftskomitees. Die Ämter, die er bekleidet hat, und seine Fähigkeiten erweisen ihn als einen der Hauptverantwortlichen für die Aktion, die die Partei im Jahre 1926 durchführen sollte. Er war für die Deportation vorgesehen, hat sich ihr aber entzogen und hält sich noch immer verborgen.'"
Darin ist vieles ungenau und übertrieben, aber es wird dadurch bewiesen, dass ich meine Pflicht erfüllt habe.
Ich blieb noch mehr als einen Monat in Mailand. Ich sollte ins Ausland gehen. Es fanden noch mehrere Versammlungen statt. Die Umstellung unserer Arbeit auf völlige Illegalität bedurfte keiner großen Anstrengungen.
Ein Genosse, der Betriebsarbeiter war, sagte mir damals:
„An diese Arbeit sind wir schon lange gewöhnt. Heute haben wir den Aufruf der Partei verteilt. Er hat den besten Eindruck gemacht. Viele von uns sind verhaftet worden, aber wir werden weiter arbeiten."
Damals beantragten wir auch beim Allgemeinen Gewerkschaftsbund, der noch ein Büro geöffnet hatte, nochmals die Umwandlung der organisatorischen Basis und des Aktionsprogramms. Man wollte uns nicht einmal anhören. Wenige Tage danach, am 4. Januar, beschlossen die sieben in Mailand anwesenden Mitglieder des Bundesausschusses die Auflösung der alten Organisation.
Am 20. Februar 1927 bildeten revolutionäre Arbeiter (Kommunisten, Sozialisten, Reformisten und Parteilose) als Vertreter der wichtigsten Berufsgruppen und Gewerkschaften auf einer Konferenz in Mailand einen provisorischen Bundesausschuss und begannen mit der illegalen Arbeit. Während ein Teil des Bundesausschusses zum Faschismus überging (Rigola, Reina und Maglione) und die übrigen (Buozzi und Sardelli) jegliche Arbeit in Italien für unmöglich erklärten, bewiesen und beweisen die Arbeiter trotz Zuchthaus und Reaktion, dass man kämpfen kann.
Der Kampf geht weiter. Tausende sind gefallen, eingekerkert, geflüchtet und werden in den Zuchthäusern Italiens gemartert. Die Inseln sind voll von Deportierten. Das Sondergericht hat bereits fünf tausend Jahre Zuchthaus verhängt. Vor den Hyänen, die die Urteile fällen, wie bei den Folterungen in den Zellen des Palazzo Ducale, der Zitadelle in Brescia und des Zuchthauses in Perugia rufen unsere Genossen mit erhobenem Haupt: „Nieder mit dem Faschismus!"