Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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DIE SCHULE

1. Kapitel

Unser Arsamas war eine stille kleine Stadt mit vielen Gärten, die von windschiefen Zäunen umschlossen waren. In diesen Gärten wuchsen viele Kirschen und Äpfel, blühten Schlehdorn und rote Pfingstrosen.
Teiche zogen sich durch die Stadt hindurch und an den Gärten vorbei. Schleimige Gründlinge und schlüpfrige Frösche lebten in ihrem stillen, modrigen Wasser, die besseren Fische waren längst schon gestorben. Ein kümmerliches Flüsschen, die Tescha, floss an den Hügeln entlang.
Die ganze Stadt glich einem großen Kloster. Sie zählte an die dreißig Kirchen und hatte vier Behausungen für Mönche. Auch viele wundertätige Heiligenbilder gab es bei uns, aber richtige Wunder waren nur selten. Das kam vielleicht daher, dass 60 Kilometer von Arsamas entfernt die berühmte Einsiedelei von Sarow lag. Die zog alle Wunder an sich.
In Sarow war schon einmal ein Blinder sehend und ein Buckliger gerade geworden, ein andermal hatte ein Lahmer gehen gelernt; so erzählten sich die Leute immer wieder. Nur vor unseren Heiligenbildern geschah nichts dieser Art.

*

Still und altväterlich war unsere kleine Stadt. Wenn an den Feiertagen, besonders aber während des Osterfestes, die Glocken aller dreißig Kirchen zu läuten begannen, dann ging ein Klingen von der Stadt aus, das bis zu zwanzig Kilometer weit ringsum in den Dörfern gut zu hören war.
Ich stieg immer gern auf die Glockentürme, aber das war uns Jungen nur zu Ostern erlaubt. Lange ging es auf schmaler, düsterer Stiege nach oben. In den Mauerlöchern gurrten die Tauben. Von den vielen Windungen der Treppe drehte sich mir am Ende alles im Kopfe.
Von oben war unsere ganze Stadt zu sehen und unterhalb der Stadt die Tescha mit der Ziegeninsel, die alte Mühle, das Wäldchen – und weit hinten in der Ferne tiefe Schluchten und der blaue Saum des Stadtwaldes.
Mein Vater war Soldat im 12. Sibirischen Schützenregiment. Es lag an der Front bei Riga.
Ich selbst ging damals in die zweite Klasse der Realschule. Meine Mutter war Krankenschwester und hatte immer viel zu tun. So war ich ganz auf mich allein gestellt. Doch einmal in der Woche musste ich ihr die Schulhefte mit den Zensuren vorzeigen. Die unterschrieb sie. Eilig schaute sich meine Mutter die Hefte an. Sah sie dann eine Vier im Zeichnen oder im Schönschreiben, wurde sie ärgerlich und schüttelte den Kopf: “Was soll das heißen?”
“Ich kann doch nichts dafür, Mutter. Was soll ich denn machen, wenn ich nun mal nicht zeichnen kann! Neulich, da hab ich ein Pferd gemalt, sagt der Lehrer: ‚Das ist kein Pferd, das sieht ja aus wie ein Schwein.‘ Das nächste Mal hab ich ihm dasselbe Bild gezeigt und hab gesagt: ‚Das ist ein Schwein.‘ Und da wird er ganz böse und sagt, das wär kein Schwein und auch kein Pferd. Der Teufel wüsste, was es sein sollte. Weißt du, Mutter, Maler werd ich bestimmt nicht.”
“Ja, aber die Vier im Schönschreiben…? Gib mal dein Heft her…! Junge, wie sieht das aus! Auf jeder Seite ein Klecks! Und hier hast du eine Schabe zwischen den Seiten platt gedrückt, ekelhaft!”
“Die Kleckse, die waren auf einmal da, die sind ganz von selbst gekommen, und wegen der Schabe, dafür kann ich überhaupt nichts. Ich versteh gar nicht, warum du so böse bist. Hab ich denn die Schabe reingesetzt? Die ist selbst reingekrochen, und nun soll ich schuld sein! Und Schönschreiben, was ist das schon? Ich will doch kein Schreiber werden.”
“So, und was möchtest du werden?” fuhr meine Mutter mit ärgerlichem Gesicht fort und unterschrieb meine Zensuren. “Am liebsten überhaupt nicht arbeiten, wie? Und hier lese ich schon wieder, du bist über die Feuerleiter aufs Schuldach gestiegen. Wozu soll das denn gut sein? Oder willst du Schornsteinfeger werden?”
“Nein, ich will kein Maler werden und kein Schreiber, auch kein Schornsteinfeger… Ich werde Matrose.”
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
“Was du nicht alles sagst! Kommst du mir noch mal mit ‘ner Vier nach Hause, kriegt der Matrose was hinten drauf.”

 

2. Kapitel

Eines Tages ging‘s wieder einmal im Laufschritt zur Schule, nachdem ich hastig meinen Tee getrunken und meine Bücher unter den Arm genommen hatte. Unterwegs traf ich Timka Schtukin, einen kleinen, linken Jungen aus meiner Klasse.
Dieser Timka Schtukin war ein schüchternes Kerlchen, der niemandem etwas zuleide tat. Ungestraft konnte man ihm eine runterhauen, er schlug nicht zurück. Er aß immer gern die Butterbrote auf, die seine Schulkameraden liegenließen, und holte ihnen dafür im Laden nebenan frische Brötchen. Kam aber unser Klassenlehrer, brachte Timka vor Schreck kein Wort heraus, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war.
Timka hatte eine ganz große Leidenschaft – die Vögel. Die Stube seines Vaters, des Küsters der Friedhofskirche, war ganz mit Käfigen vollgestellt, in denen lauter Vögel saßen. Timka kaufte und verkaufte Vögel, tauschte sie gegen andere ein oder fing sie mit Schlingen oder Fallen auf dem Friedhof.
Eines Tages aber bekam er es mit seinem Vater zu tun. Als der Kaufmann Sinjugin das Grab seiner Großmutter besuchte, sah er, dass dort jemand Hanfsamen ausgestreut hatte, um Vögel anzulocken. Auf der steinernen Grabplatte war eine Falle aufgestellt, ein Klappbügel mit einem Netz daran. Sinjugin beschwerte sich, und Timka bekam von seinem Vater eine gehörige Tracht Prügel. Vater Gennadi aber, unser Religionslehrer, erklärte in der Religionsstunde entrüstet: “Die Grabsteine sind zum Andenken an unsere lieben Entschlafenen da, nicht aber zu anderen Zwecken; und so gehört es sich nicht, auf diesen Steinen Fallen und andere unpassende Dinge aufzubauen. So etwas ist eine Sünde, ist eine Lästerung Gottes.”
Und dann erzählte er uns von einigen Fällen aus der Geschichte, da die himmlischen Mächte solche Übeltaten hart bestraft hatten.
Man musste es Vater Gennadi lassen: Von solchen Beispielen wusste er stets eine große Menge. Mir scheint, hätte er gewusst, dass ich eine Woche vorher ohne Erlaubnis im Kino war, ihm wäre gewiss eine Begebenheit eingefallen, da jemand für das gleiche Vergehen noch in diesem Leben die verdiente Strafe Gottes erhalten hatte…
Also, Timka kam die Straße entlang und pfiff dabei wie eine Drossel. Als er mich sah, blinzelte er mir freundlich zu, schaute mich dennoch etwas misstrauisch an, als wolle er feststellen, ob ich nicht irgend etwas im Schilde führte.
“Du, Timka, es ist höchste Zeit”, rief ich ihm zu, “wir kommen zu spät zur Andacht – vielleicht gerade noch zum Unterricht.”
“Ob die das merken?” fragte er erschrocken, und die Angst stand ihm im Gesicht.
“Klar merken die das! Na ja, Mittagessen kriegen wir keins, aber das ist auch alles…” Ich sagte das absichtlich, weil ich wusste, dass er große Angst vor jedem Tadel hatte.
Furchtsam zuckte er zusammen und rannte noch schneller.
“Was kann ich denn dafür? Mein Vater war weg und hat die Kirche aufgeschlossen. Ich sollte einen Augenblick zu Hause bleiben, hat er gesagt. Und dann ist er weggeblieben, ganz lange. Und alles wegen dem Gebet. Die Mutter von Walka Spagin war gekommen, die wollte für ihn beten.”
“Für Walka?” Ich riss vor Staunen den Mund auf. “Wieso? Ist der denn gestorben?”
“Nein, aber den suchen sie doch.”
“Wie? Suchen?” Meine Stimme zitterte. “Das ist doch Unsinn, Timka. Du, ich hau dir eine… ich weiß von gar nichts, war doch gestern nicht in der Schule, weil ich Fieber…”
Timka pfiff wie eine Meise. Er war richtig froh, dass ich die Geschichte noch nicht wusste, und hüpfte auf einem Bein herum – “Stimmt ja, du warst ja gestern nicht da. Junge, Junge, da war was los, gestern…”
“Was war denn los?”
“Ja, das war so. Wir hatten zuerst Französisch. Die alte Hexe hatte uns die Verben mit ‚être‘ aufgegeben… aller, arriver, entrer, rester, tomber usw. Der Rajewski musste an die Tafel kommen und fing gerade an zu schreiben: ‚rester, tomber‘…, da ging auf einmal die Tür auf, und der Inspektor kam rein.” Timka kniff die Augen zusammen, schaute mich vielsagend an und fuhr fort: “…und der Direktor und auch noch unser Klassenlehrer. Als wir uns wieder hingesetzt hatten, da sagte der Direktor: ‚Meine Herren, ein Unglück ist geschehen. Ein Schüler Ihrer Klasse, der Spagin, ist von zu Hause weggelaufen. Er hat einen Zettel hinterlassen. Darauf steht, er wäre zur deutschen Front unterwegs. Ich glaube nicht, meine Herren, dass er das getan hat, ohne seine Klassenkameraden einzuweihen. Bestimmt wussten viele von Ihnen schon vorher davon, aber Sie haben es nicht für notwendig gehalten, es mir zu melden. Meine Herren, ich werde…‘ Und so ging das immer weiter, eine halbe Stunde lang.”
Mir stockte der Atem. Das war ja ein tolle Neuigkeit, und ausgerechnet ich hatte zu Hause gesessen, als ob ich krank wäre, und von nichts gewusst.

*

In den nächsten Tagen gab es nur ein Thema: die kühne Flucht Walka Spagins.
Doch der Direktor irrte sich, wenn er annahm, viele von uns wären in die Fluchtpläne Spagins eingeweiht gewesen. Tatsächlich hatte niemand etwas gewusst. Es war auch keiner auf den Gedanken gekommen, Walka Spagin könne weglaufen. Er war so ein Stiller, prügelte sich nie mit den anderen, war nie dabei, wenn wir in fremden Gärten Äpfel gestohlen hatten. Ständig rutschte ihm die Hose, mit einem Wort, ein Waschlappen, wie er im Buche stand. Und nun auf einmal solche Geschichten!
Wir fragten uns, ob nicht jemand irgendwelche Vorbereitungen bemerkt hätte. Es konnte doch nicht einer von uns so mir nichts, dir nichts die Mütze aufsetzen und an die Front abhauen.
Fedka Baschmakow erinnerte sich, bei Walka eine Eisenbahnkarte gesehen zu haben; Dubilow, der schon das zweite Jahr in unserer Klasse saß, erzählte, Walka habe sich in einem Laden eine Batterie für seine Taschenlampe gekauft.
Doch soviel wir auch darüber nachdachten, keiner von uns hatte irgend etwas bemerkt, das auf Vorbereitungen zur Flucht hätte schließen lassen.
Wir alle waren sehr erregt und in gehobener Stimmung, gaben im Unterricht falsche Antworten, und die Zahl derer, die zur Strafe kein Mittagessen bekamen, war doppelt so groß wie sonst. Einige Tage verstrichen, und schon gab es wieder eine große Neuigkeit: Diesmal war Mitka Tupikow aus der ersten Klasse abgerückt.
Die Schulleitung war ernsthaft beunruhigt.
Fedka teilte mir im Vertrauen mit: “Heute soll in der Religionsstunde darüber geredet werden. Ich hab die Hefte ins Lehrerzimmer getragen, und da hab ich gehört, wie sie darüber sprachen.”
Unser Religionslehrer, Vater Gennadi, war an die siebzig Jahre alt. Er hatte einen so großen Bart und so dichte Augenbrauen, dass von seinem Gesicht kaum etwas zu sehen war. Wollte er den Kopf nach hinten wenden, musste er den ganzen Körper mitdrehen, so dick war er. Sein Hals war überhaupt nicht zu sehen.
Wir mochten ihn alle gern. In seinem Unterricht konnte man machen, was man wollte: Karten spielen, zeichnen, man konnte anstatt des Alten Testaments ein verbotenes Buch von Pinkerton oder eins über Sherlock Holmes vor sich liegen haben, weil Vater Gennadi so kurzsichtig war.
Vater Gennadi kam zur Klasse herein, segnete mit erhobener Hand alle Anwesenden, und sofort brüllte unser Klassenältester los: “Himmlischer Herrscher, du unser Trost, du bist die Wahrheit…”
Vater Gennadi holte sehr weit aus. Zuerst erzählte er uns das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Soviel ich verstanden hatte, ging dieser Sohn aus dem Hause seines Vaters und irrte in der Weit umher, als er aber dabei auf den Hund gekommen war, kehrte er nach Hause zurück.
Dann erzählte er uns das Gleichnis von den Talenten: wie ein reicher Mann seinen Sklaven Geld gab, das damals Talente hieß, und wie einige Sklaven mit diesem Geld Handel trieben und viel dabei verdienten. Die anderen aber versteckten ihr Geld und bekamen so gar nichts hinzu.
“Und was sagen uns diese Gleichnisse?” fuhr Vater Gennadi fort. “Das erste Gleichnis erzählt von einem ungehorsamen Sohne. Dieser Sohn verließ seinen Vater, trieb sich lange in der Fremde umher und kehrte dennoch unter seines Vaters Dach zurück. Wie viel schlimmer aber ist es mit euren Kameraden, die noch unerfahren sind in den Fährnissen des Lebens und heimlich ihr Vaterhaus verlassen haben; ihnen wird es schlecht ergehen auf dem Pfade des Unheils, den sie beschritten haben. Noch einmal ermahne ich euch: Wenn einer von euch weiß, wo sie sind, der soll ihnen schreiben, dass sie keine Angst zu haben brauchen, und heimkehren sollen unter ihr väterliches Dach, solange es noch Zeit ist. Denkt daran, wie der verlorene Sohn heimkehrte, wie ihn sein Vater aber nicht tadelte, sondern ihm die schönsten Kleider anzog und ein gemästetes Kalb schlachten ließ, wie an einem Festtage. So werden auch die Eltern dieser beiden verlorenen Söhne ihnen alles verzeihen und sie mit offenen Armen aufnehmen.”
Das wollte mir zwar nicht so ganz einleuchten. Wie Tupikows Eltern ihren Sohn empfangen würden, wusste ich nicht, eins aber stand für mich fest: Der Bäckermeister Spagin würde wegen der Rückkehr seines Sohnes bestimmt kein gemästetes Kalb schlachten, sondern den Riemen abschnallen und seinem Sohn den Hintern versohlen.
“Und das Gleichnis von den Talenten”, fuhr Vater Gennadi fort, “erzählt uns, dass man sein Wissen nicht in der Erde vergraben soll. Ihr studiert hier alle möglichen Wissenschaften. Und wenn ihr die Schule beendet habt, dann wählt sich ein jeder von euch einen Beruf nach seinen Fähigkeiten, nach seinen inneren Neigungen und nach seinem Stande. Der eine von euch wird, sagen wir mal … ein geachteter Kaufmann, ein anderer Arzt und ein dritter Beamter. Jedermann wird euch achten und bei sich denken: Ja, das ist ein tüchtiger Mensch, der hat seine Talente nicht im Boden vergraben, der hat sie genutzt und genießt jetzt mit Recht alles Schöne im Leben. Aber”, Vater Gennadi hob beide Hände bekümmert zum Himmel empor, “aber, so frage ich euch, was kommt nun bei solcher Flucht heraus, wo die Schüler alle ihnen gebotenen Möglichkeiten missachten, wo sie von zu Hause fortlaufen und Abenteuer suchen, Schaden nehmen an Leib und Seele? Ihr wachst hier heran wie die zarten Blüten im Treibhaus eines treusorgenden Gärtners, ihr kennt weder Wind noch Sturm, in Ruhe und Frieden könnt ihr euch entfalten zur Freude eurer Lehrer und Erzieher. Sie aber … und sollten sie auch allem Unheil widerstehen, sie wachsen wild heran wie Disteln und Dornen, vom Winde zerzaust und bedeckt vom Staub der Straße.”
Vater Gennadi schritt aus der Klasse hinaus, erhaben und voll inneren Feuers wie ein Prophet, und bewegte sich langsam auf das Lehrerzimmer zu. Ich aber seufzte tief auf und sagte nachdenklich: “Fedka!”
“Ja?”
“Was hältst du von der Geschichte mit den Talenten?”
“Gar nichts. Und du?”
“Ich?”
Ich stockte und fuhr dann leise fort: “Ich glaub, ich würde auch meine Talente vergraben. Was ist das schon? Kaufmann oder Beamter?”
“Ich glaub, ich auch”, gestand Fedka etwas unsicher. “Was soll das schon sein, wie eine Blume im Treibhaus heranwachsen? Wenn du draufspuckst, geht sie kaputt. Dornen und Disteln. ja, das ist schon was anderes, denen macht kein Regen was aus und keine Hitze.”

 

3. Kapitel

In jeder Woche, am Mittwoch, wurde in der Aula unserer Schule vor Beginn des Unterrichts ein feierliches Gebet für den Sieg unserer Waffen gesprochen.
Nach dem Gebet wandten wir uns alle zur linken Seite, wo die Bilder des Zaren und der Zarin hingen.
Dann begann der Chor die Hymne “Gott erhalte den Zaren”, und alle stimmten mit ein. Ich sang aus voller Kehle mit, hatte zwar keine besonders schöne Stimme, gab mir aber solche Mühe, dass der aufsichthabende Lehrer einmal zu mir sagte: “Etwas leiser, Gorikow, Sie meinen es allzu gut!”
Ich ärgerte mich. Was sollte das heißen: “Allzu gut.”
Hatte ich auch kein Talent zum Singen, sollte ich dann etwa den Mund halten und nur die anderen für den Sieg beten lassen?
Zu Hause klagte ich Mutter mein Leid.
Doch zu meinem großen Kummer nahm sie das nicht recht ernst und meinte nur: “Du bist noch zu jung, wenn du erst älter wirst, dann … Ja, sie führen Krieg, und so geht das immer weiter. Aber was hast du damit zu tun?”
“Versteh ich nicht, Mammi. Warum soll ich denn nichts damit zu tun haben? Die Deutschen wollen doch unser Land erobern. Und grausam sind sie, das hab ich selbst gelesen. Warum sind die Deutschen solche Barbaren, die mit niemandem Mitleid haben, mit den alten Leuten nicht und auch nicht mit den Kindern? Aber unser Zar, der ist doch so gut zu allen Menschen.”
“Hör schon auf damit!” Meine Mutter wurde richtig ärgerlich. “Alle Menschen sind gut… aber nun sind sie verrückt geworden, die Deutschen sind nicht schlechter als andere, und wir sind genauso.”
Dann ging sie hinaus, und ich blieb mit meinen Fragen allein. Wieso sollten die Deutschen nicht schlechter sein als wir? Wieso eigentlich? Sie waren doch wirklich schlechter. Erst neulich wurde im Kino gezeigt, wie die Deutschen ohne Gnade und Barmherzigkeit niemanden verschonten, wie sie alles in Brand steckten, wie sie die Kathedrale von Reims zerstörten und andere Gotteshäuser schändeten. Unsere Soldaten aber waren ganz anders. Im selben Kino sah ich mit eigenen Augen, wie ein russischer Offizier ein deutsches Kind aus den Flammen rettete.

*

Ich ging zu Fedka. Er war ganz meiner Meinung.
“Klar, das sind Bestien. Die haben den Dampfer Lusitania versenkt mit all seinen friedlichen Passagieren, aber wir, wir haben nichts versenkt. Unser Zar und der englische Zar sind vornehme, edle Menschen. Und der französische Präsident auch. Ihr Wilhelm aber, das ist ein ganz gemeiner Hund!”
“Du, Fedka”, fragte ich, “warum heißt denn der französische Zar ‚Präsident‘?”
Fedka dachte nach.
‚Weiß ich nicht”, entgegnete er. “Ihr Präsident ist überhaupt kein Zar, hab ich gehört… das ist eben so.”
“Warum ist das so?”
“Mein Gott, das kann ich auch nicht sagen. Ich hab mal so‘n Buch gelesen, weißt du, von Dumas. Das ist spannend, lauter Abenteuer. Und in diesem Buch steht, die Franzosen hätten ihren Zaren umgebracht. Seitdem haben sie keinen Zaren mehr, sondern einen Präsidenten.”
“Wie können sie denn ihren Zaren umgebracht haben?” Ich war empört. “Du lügst, Fedka, oder du bringst was durcheinander.”
“Lieber Gott, doch, sie haben ihn umgebracht und seine Frau dazu. Sie haben sie vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.”
‚Jetzt hast du aber ganz bestimmt gelogen! Wie kann man denn einen Zaren vor Gericht stellen? Der Richter bei uns, der Iwan Fjodorowitsch zum Beispiel, der kann Diebe verurteilen. Oder da hat neulich einer bei der Pluschtschicha den Zaun kaputtgemacht – den hat er auch verurteilt. Und als Mitka, der Landstreicher, bei den Mönchen einen Kasten mit den Heiligen Hostien geklaut hat – da hat er auch den verurteilt. Aber den Zaren verurteilen, das darf er ja gar nicht. Der Zar, der steht doch über uns allen.”
Fedka ärgerte sich und erwiderte: “Du brauchst es ja nicht zu glauben … Der Saschka Goloweschkin liest gerade das Buch; wenn er es aus hat, kannst du es kriegen. Bei den Franzosen war das ja auch ein ganz anderes Gericht als bei Iwan Fjodorowitsch. Da hat sich das ganze Volk versammelt, und das Volk hat dann den Zaren verurteilt und hingerichtet…” Fedka war in Erregung geraten. “Ich weiß auch, wie sie das gemacht haben. Sie haben ihn nicht aufgehängt, sie haben da so eine Maschine. Guillotine heißt die. Die wird hochgezogen, und dann – zack – ist der Kopf ab.”
…Und dem Zaren haben sie auch den Kopf abgehauen?”
“Ja, dem Zaren und der Zarin und noch einigen anderen. Soll ich dir das Buch mitbringen? Das ist spannend, sag ich dir … Da kommt ein Mönch drin vor … so ein ganz schlauer, dicker Mönch, der tut so, als wär er fromm, aber in Wirklichkeit ist er ganz anders. Tränen hab ich gelacht, als ich das las.”

*

Eines Tages hieß es, am Bahnhof wären österreichische Kriegsgefangene angekommen. Gleich nach der Schule liefen Fedka und ich dorthin. Der Bahnhof lag weit draußen vor der Stadt. Unser Weg ging am Kirchhof vorbei, führte durch ein Wäldchen, bog dann auf die Landstraße hinaus und lief schließlich noch durch eine lange, gewundene Schlucht hindurch.
“Was meinst du, Fedka”, fragte ich, “ob sie die Gefangenen wohl gefesselt haben?”
“Weiß ich nicht, vielleicht sind sie gefesselt. Sonst könnten sie ja weglaufen. Aber gefesselt kommen sie nicht weit. Du weißt doch, wenn die Gefangenen ins Gefängnis gehen, kriegen sie kaum die Füße hoch.”
“Ja, aber die hat man auch richtig verhaftet, das sind ja Diebe; aber die Kriegsgefangenen haben doch nichts gestohlen.”
Fedka runzelte die Stirn.
“Glaubst du denn, ins Gefängnis kommt nur, wer gestohlen oder einen totgeschlagen hat? Da sitzen Leute drin aus allen möglichen Gründen.”
“Aus was für Gründen denn sonst noch?”
“Na, zum Beispiel, wenn einer … Weshalb haben sie wohl den Lehrer aus der Gewerbeschule eingesperrt? Das weißt du nicht? Dann halt auch lieber den Mund.”
Es ärgerte mich immer, dass Fedka stets mehr wusste als ich. Wonach man ihn auch fragte – nur nicht nach den Schularbeiten –, etwas wusste er immer. Ganz bestimmt hatte er das von seinem Vater. Der war Briefträger, und wenn so ein Briefträger von Haus zu Haus geht, erfährt er immer etwas Neues.
Den Gewerbeschullehrer – bei uns Schülern hieß er “Dohle” – mochten alle Kinder gern. Zu Beginn des Krieges war er in unsere Stadt gekommen und hatte außerhalb eine kleine Wohnung gemietet. Ich war schon mehrere Male bei ihm gewesen. Er hatte Kinder auch sehr gern und zeigte ihnen auf seiner Hobelbank, wie man Vogelkäfige, Kästchen und Fallen baut. Im Sommer zog er mit einer Gruppe Kinder in den Wald oder zum Fischfang. Er war ein schwarzhaariger, magerer Mensch und wippte beim Gehen wie ein Vogel.
Ganz unerwartet wurde er verhaftet. Warum? Das wussten wir nicht. Die einen erzählten, er wäre ein Spion und habe den Deutschen durchs Telefon alle Geheimnisse über unsere Truppenverschiebungen durchgegeben. Es fanden sich auch solche, die behaupteten, der Lehrer sei früher ein Räuber gewesen und habe auf den Landstraßen die Leute ausgeplündert, und das sei jetzt erst herausgekommen.
Aber ich konnte das alles nicht glauben. Einmal ging von hier aus überhaupt keine Telefonleitung bis zur Grenze, und was für militärische Geheimnisse oder welche Angaben über Truppenbewegungen hätte er schon aus Arsamas melden können? Bei uns gab es überhaupt nur sehr wenige Soldaten: ein Kommando von sieben Mann mit einem Offiziersburschen und dann noch auf dem Bahnhof vier Bäcker von der Truppenverpflegungsstelle. Sie waren nur dem Namen nach Soldaten, in Wirklichkeit aber ganz gewöhnliche Brötchenbäcker. Eine Truppenverschiebung hatte es in Arsamas nur ein einziges Mal gegeben; das war, als ein Offizier namens Balaguschin aus seiner Wohnung im Hause von Pyrjatin in das Haus von Basjugin umzog. Sonst war so etwas bei uns nie vorgekommen.

*

Inzwischen waren Fedka und ich an der Schlucht angekommen. Ich konnte es vor Neugierde nicht länger aushalten und fragte Fedka: “Du, sag mal, Fed, warum haben sie den Lehrer denn nun wirklich verhaftet? Das mit dem Spion und mit dem Räuber, das stimmt doch nicht, wie?”
“Nein, das stimmt auch nicht”, antwortete er. Er ging etwas langsamer und sah sich vorsichtig um, als wären wir nicht auf freiem Feld, sondern unter vielen Menschen. “Den haben sie wegen Politik verhaftet.”
Ich konnte Fedka nicht genauer fragen, was für Politik es war, wegen der man den Lehrer verhaftet hatte, denn hinter der Wegbiegung hörte man schon den schweren Tritt einer Marschkolonne, die auf uns zu kam.
Es waren an die hundert Gefangene.
Sie gingen nicht in Fesseln und wurden auch nur von sechs Soldaten begleitet.
Die müden, düsteren Gesichter der Österreicher verschmolzen mit ihren grauen Mänteln und zerdrückten Mützen. Sie marschierten im Gleichschritt, schweigend, in dicht aufgeschlossenen Gliedern.
So sehen sie also aus, dachten wir und ließen die Kolonne an uns vorbeimarschieren. Das waren sie, diese Österreicher und Deutschen, vor deren Gräueltaten die ganze Welt sich fürchtete. Sie machten alle ein finsteres Gesicht. Es gefiel ihnen wohl nicht in der Gefangenschaft. Ja, das kommt davon!
Als die Kolonne vorbei war, drohte Fedka mit der Faust hinterher: “Das Giftgas habt ihr auch erfunden, ihr verfluchten Deutschen!”
Etwas bedrückt kehrten wir nach Hause zurück. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht, weil die müden, grauen Gefangenen auf uns nicht den Eindruck machten, den wir erwartet hatten. Ohne ihre Uniformmäntel hätte man sie für Flüchtlinge halten können. Die gleichen hageren, erschöpften Gesichter, die gleiche Müdigkeit und jene stumpfe Teilnahmslosigkeit an allem, was um sie herum vorging.

 

4. Kapitel

Die Sommerferien hatten begonnen. Fedka und ich schmiedeten alle möglichen Pläne. Es gab viel zu tun.
Zuallererst musste ein Floss gebaut werden. Das wollten wir auf dem Teich hinter unserem Garten schwimmen lassen, wollten uns dann zum Herrn der Meere erklären und schließlich gegen die vereinigte Flotte von Pantjuschkin und Simakow, die die Zugänge zu ihren Gärten auf dem anderen Ufer beschützte, eine Seeschlacht führen.
Unsere Flotte war bis jetzt noch klein und bestand nur aus einem Gartentor, das wir ins Wasser gelassen hatten. Auch an Kampfstärke kam sie längst nicht an den Gegner heran. Der hatte aus dem Flügel eines alten Hoftores einen schweren Kreuzer gemacht und einen hölzernen Viehtrog zum Torpedoboot umgebaut. So ungleich waren die Kräfte verteilt. Wir beschlossen daher, ein Riesenschlachtschiff nach dem neuesten Stand der Technik zu bauen.
Als Baumaterial wollten wir die Balken unseres verfallenen Badehauses benutzen. Damit meine Mutter nicht schimpfte, versprach ich ihr, unser Schlachtschiff so zu bauen, dass sie jederzeit ihre Wäsche darin spülen könnte.
Der Feind auf dem anderen Ufer hatte bemerkt, dass wir unsere Flotte vergrößern wollten. Das beunruhigte ihn, und so machte er sich auch an die Arbeit. Aber unsere Kundschafter meldeten, dass er uns nichts Ernsthaftes entgegenstellen könnte, da es ihm an Baumaterial fehlte. Er hatte zwar versucht, vom Hof einige Bretter zu stehlen, mit denen die Scheunenwand verschalt werden sollte; doch der Familienrat hatte die Verwendung der Bretter für diesen Zweck nicht gutgeheißen, und so bekamen die feindlichen Admirale Senka Pantjuschkin und Grischka Simakow von ihren Vätern eine mächtige Tracht Prügel.
Einige Tage lang plagten wir uns mit den dicken Balken herum. Ein Kriegsschiff zu bauen ist gar nicht so einfach. Dazu gehört viel Zeit und auch Geld, aber gerade damals befanden wir uns in größeren finanziellen Schwierigkeiten. Allein für die Nägel ging über ein halber Rubel drauf, und dann brauchten wir noch Leine für den Anker und Stoff für die Flagge.
Am Ende waren wir gezwungen, insgeheim eine Anleihe von 70 Kopeken aufzunehmen. Dafür verpfändeten wir zwei Lehrbücher für den Religionsunterricht, die “Deutsche Grammatik von Gläser und Petzold” und ein Buch mit Auszügen aus der russischen Literatur.
Unser Schiff war ein Prachtstück geworden. Schon gegen Abend ließen wir es zu Wasser. Timka Schtukin und Jaschka Zuckerstein halfen uns dabei. Die Kinder des Schusters kamen und sahen zu, auch meine kleine Schwester und Wolfi, unser Hündchen. Es hatte viele Namen: Purzel, Struppi… jeder nannte es, wie er wollte.
Das Floss krachte und knarrte und plumpste schwer ins Wasser. Im selben Augenblick erklang ein lautes “Hurra”, ein Salut aus unseren Spielzeugpistolen, und über dem Schlachtschiff stieg die Flagge empor.
Fedka und ich waren an Bord unseres Schiffes. In respektvollem Abstand zog unser kleines Gartentor hinter uns her. Es sollte als Verbindungsschiff dienen.
Im Vollgefühl seiner Stärke schwamm unser Geschwader langsam auf die Mitte des Teiches hinaus und zog an den fremden Ufern entlang. Vergebens forderten wir den Gegner durch Sprachrohr und Signale heraus – er wollte den Kampf nicht aufnehmen und hielt sich in seiner Bucht unter einer morschen Weide verborgen. Seine Küstenartillerie eröffnete in ohnmächtigem Zorn das Feuer auf unsere Schiffe, wir aber gingen sofort aus dem Bereich seiner Geschütze heraus und konnten ohne jeden Schaden wieder zu unserem Hafen zurückkehren. Nur Jaschka Zuckerstein hatte am Rücken einen leichten Streifschuss abbekommen. Eine Kartoffel hatte ihn getroffen.
“Hallooo!” hatten wir noch hinübergerufen, als wir zurückdampften, “ihr traut euch wohl nicht?”
“Nur die Ruhe! Wir werden schon kommen, freut euch nur nicht zu früh! Vor euch haben wir keine Angst!”
“Das sehen wir ja, ihr feigen Hunde!”
Wohlbehalten gelangten wir wieder in unseren Hafen. Wir warfen Anker, machten unsere Flöße mit einer Kette fest und sprangen an Land.
Am selben Abend hätte ich mich beinahe noch mit Fedka gezankt. Ich schlug vor, Fedka solle das Kommando über das Begleitschiff übernehmen, er aber spuckte nur verächtlich aus. Darauf machte ich ihm den Vorschlag, außerdem könne er Hafenkommandant werden, Chef der Küstenartillerie und… der Luftwaffe, sobald wir eine hätten. Jedoch auch die Luftstreitkräfte lockten Fedka nicht. Hartnäckig bestand er darauf, er wolle Admiral sein, sonst gehe er zum Feind über.
Meinen tüchtigen Gehilfen mochte ich allerdings nicht verlieren, und so bot ich ihm an, wir sollten umschichtig Admiral sein, an einem Tag er und am anderen ich.
So wurde es beschlossen.
Am nächsten Tag bastelten wir uns zwei Bogen, nahmen ein Dutzend Pfeile und zogen damit in unser Wäldchen.
Das Wäldchen stieß an den verwilderten, dichtbewachsenen Friedhof. In seinen vielen Löchern und Gräben stand das Wasser. Gelbe Teichrosen blühten darin, und an den lichteren Stellen im Gehölz wuchsen Farn und Hahnenfuß.
Schließlich hatten wir genug gespielt. Wir kletterten über eine Mauer und standen nun in dem abgelegensten und verlassensten Teil des Friedhofs.
“Sieh mal”, sagte ich zu Fedka, “… Soldatengräber. In der vorigen Woche haben sie hier den Semjon Koshewnikow aus dem Lazarett beerdigt. Er ist oft zu meinem Vater gekommen, schon lange vor dem Krieg. Ich war damals noch ganz klein. Einmal hat er mir ein Stück Gummiband für eine Schleuder geschenkt; die war gut! Bloß meine Mutter hat sie in den Ofen geschmissen, weil ich damit beim Basjugin ein Fenster eingeworfen haben sollte.”
“Hast du es denn nicht getan?”
“Doch, das schon… aber das konnte mir keiner nachweisen. Es hat nämlich niemand gesehen … nur so auf den Verdacht hin… das ist ungerecht, weißt du. – Und wenn ich es nun wirklich nicht gewesen wäre, was dann? Dann hätten sie trotzdem gesagt, ich wäre es gewesen, bestimmt!”
Fedka gab mir recht: “Ja, die hätten sowieso gesagt, du wärst es gewesen. Aber weißt du, die Mütter sind alle so. Bei den Mädchen sagen sie gar nichts, wenn sie aber bei uns Jungen ein Spielzeug sehen, gleich fliegt‘s zum Fenster hinaus. Meine Mutter hat mir mal zwei Pfeile kaputtgebrochen, die hatten vorn an der Spitze einen Nagel, und eine Ratte hat sie mir aus dem Käfig rausgelassen. Und einmal – das war noch schlimmer – da hatte ich eine hohle Kugel abgemacht, weißt du, wie sie auf den Bettpfosten drauf sind. Meine Mutter war gerade in die Kirche gegangen. Da hab ich mir Salpeter und Kohle besorgt und gedacht: Jetzt füllst du die Kugel mit Pulver, und dann machst du im Wäldchen eine Explosion. Ich war so beschäftigt, dass ich nicht merkte, wie meine Mutter zurückkam. ‚Warum hast du die Kugel vom Bett abgeschraubt? Du Taugenichts! Und ich hab mich schon gewundert, wo die Kugeln geblieben sind?‘ Und schon hat sie mir eine geknallt. Ein Glück nur, dass mein Vater dabei war. ‚Was willst du denn mit der Kugel?‘ fragte er. ‚Du siehst doch, ich wollte mir eine Bombe machen.‘ Da hat er mich nur so angeblinzelt und hat gesagt: ‚Lass das lieber sein! Mit solchen Dingen spielt man nicht. Du bist ja ein richtiger Terrorist, sieh mal einer an!‘ Doch dabei lachte er und strich mir mit der Hand über den Kopf.”
“Fedka”, entgegnete ich ruhig, “ich weiß, was ein Terrorist ist. Die Terroristen werfen Bomben auf die Polizei und sind auch gegen die reichen Leute. Aber wir, wozu gehören wir eigentlich, zu den Armen oder zu den Reichen, was meinst du, Fedka?”
Er überlegte und sagte dann: “Wir stehen wohl in der Mitte. Ganz arm sind wir nicht, das kann man nicht sagen. Jetzt, wo der Vater Arbeit hat, gibt es jeden Tag Mittagessen, und sonntags macht meine Mutter Piroggen, manchmal kriegen wir auch Kompott. Das ess ich gern, du auch?”
“Ich auch, aber Apfelmus hab ich noch lieber”, erwiderte ich und fuhr dann fort: “Ja, ich glaub auch, wir stehen in der Mitte. Aber die Bebeschins, die haben eine Fabrik. Ich hab vor ein paar Monaten mal den Wasja besucht, da war ich in ihrem Haus. Mensch, haben die viele Diener und Lakaien! Und dem Wasja hat sein Vater ein richtiges Pferd geschenkt, ein Pony!”
“Ich weiß, die haben alles”, stimmte mir Fedka bei, “und viel Geld haben sie auch. Der Kaufmann Sinjugin, der hat sich einen Turm auf sein Haus gebaut mit einem Fernrohr drauf. Ein Riesenrohr! Wenn es dem Sinjugin unten zu langweilig wird, steigt er auf seinen Turm; dann bringen sie ihm zu essen rauf, lauter leckere Sachen, und eine Flasche noch dazu… Und dann sitzt er die ganze Nacht da oben und besieht sich die Sterne. Neulich hat er mal mit seinen Freunden auf dem Turm gesessen. Da haben sie viel getrunken und auch durchs Fernrohr geschaut. Dabei soll irgend so‘n Glas darin zerbrochen sein, jetzt können sie nicht mehr durchsehen.”
“Aber wie kommt es eigentlich, dass sich so ein Sinjugin die Sterne ansehen kann und auch sonst alles hat, was er will… und andere, die haben gar nichts? Der Sigow zum Beispiel, der arbeitet bei Sinjugin in der Fabrik. Der macht das aber nicht, um sich die Sterne anzusehen, der will nur was zu essen haben. Gestern war er beim Schuster und borgte sich einen halben Rubel.”
“Warum? Woher soll ich das wissen? Frag doch mal den Lehrer oder den Popen!”
Fedka schwieg.
Als wir weitergingen, brach er einen duftenden Zweig vom wilden Jasmin und fuhr dann ganz leise fort: “Mein Vater hat gesagt, bald wird alles anders.”
“Wieso alles anders?”
“Alles wird anders, alles, Borka. Ich hab das auch noch nicht ganz verstanden. Neulich sprach mein Vater mit dem Wächter von der Fabrik. Ich tat so, als ob ich schliefe. Es soll wieder gestreikt werden, sagten sie – wie 1905. Weißt du, was damals los war?”
“Ich weiß, aber so ganz genau weiß ich es nicht”, antwortete ich und wurde rot dabei.
“Damals war Revolution. Sie ist nur nicht gelungen. Man hätte die Gutsbesitzer totschlagen und alles Land den Bauern geben sollen, und den Reichen hätte man alles nehmen und es den Armen geben müssen. Weißt du, das haben sie sich an dem Abend neulich bei uns erzählt; ich habe alles gehört.”
Fedka schwieg. Es ärgerte mich, dass er wieder mehr wusste als ich. Aber woher hätte ich es auch wissen sollen? In meinen Büchern stand nichts darüber, und niemand sprach mit mir über solche Dinge.
Zu Hause, als sich Mutter nach dem Essen hinlegte, setzte ich mich zu ihr aufs Bett und begann: “Mammi, was war eigentlich 1905 los? Erzähl doch mal! Warum wissen das nur die anderen? Fedka weiß immer die interessantesten Dinge, nur ich weiß nie was.”
Mit einem Ruck drehte sich Mutter zu mir um; sie runzelte die Stirn, wollte wohl schimpfen. Aber dann überlegte sie es sich anders und sah mich so erstaunt an, als sähe sie mich zum ersten Mal.
“Von 1905? Was denn?”
“Das weißt du doch selbst. Du warst damals schon erwachsen, ich war aber erst ein Jahr alt und kann mich an gar nichts mehr erinnern.”
“Ja, was soll ich dir schon erzählen? Vater müsstest du fragen, der weiß Bescheid. Aber ich habe vom Jahr 1905 nicht viel gesehen. Das lag an dir, so ein wilder Kerl warst du… ein schrecklicher Schreihals, weiß Gott! Hast mir keinen Augenblick Ruhe gelassen. Die ganze Nacht hindurch hast du gebrüllt … ich kam nicht einmal dazu, an mich selbst zu denken.”
“Aber warum habe ich denn so geschrieen, Mammi?” fragte ich etwas beleidigt. “Vielleicht weil ich Angst hatte? Damals soll doch viel geschossen worden sein, und die Kosaken waren auch da. Vielleicht hab ich da Angst gekriegt, wie?”
“Das hatte damit nichts zu tun. Du warst eben ein Dickkopf und brülltest, wenn du Lust hattest. Eines Nachts kam die Polizei und hielt Haussuchung bei uns; was sie suchten, weiß ich nicht. Bei vielen Leuten war damals Haussuchung, eine nach der anderen. Die ganze Wohnung haben sie durchwühlt, aber nichts gefunden. Der Offizier, das war so ein ganz Höflicher. Gekitzelt hat er dich, und du hast gelacht. ‚Einen prächtigen Jungen haben Sie da‘, sagte er. Und wie im Scherz nahm er dich auf den Arm und blinzelte dabei einem seiner Gendarmen zu. Darauf fing der an und suchte in deiner Wiege herum. Auf einmal tropfte es von dir herab und dem Offizier direkt auf die Uniform. ‚Um Gottes willen, was machst du denn da?‘ rief ich, nahm dich dem Offizier ab und gab ihm einen Lappen. Stell dir mal vor: eine ganz neue Uniform, durch und durch nass, auch seine Hose und die Mütze, von oben bis unten war er nass, dieser Kerl!”
Mutter musste lachen, als sie so sprach.
“Du erzählst mir ja etwas ganz anderes, Mammi”, unterbrach ich sie enttäuscht. “Ich wollte doch von der Revolution hören, und du erzählst mir sowas.”
“Ach, was willst du denn? Lass mich jetzt in Ruh…” Mutter winkte ab.
Aber als sie mein betrübtes Gesicht sah, überlegte sie einen Augenblick, holte ein Schlüsselbund und sagte: “Was soll ich dir viel erzählen? Komm, schließ mal die Kammer auf… In der großen Kiste liegt oben so allerhand Plunder, darunter müssen noch Bücher von Vater sein, eine ganze Menge. Da musst du mal nachsehen… wenn er nicht alle verschenkt hat, findest du da auch was über 1905.”
Rasch nahm ich die Schlüssel und stand schon vor der Tür.
“Machst du aber ein Glas Marmelade auf anstatt der Bücherkiste oder gehst wieder an die Sahne wie beim letzten Mal, dann kriegst du eine Revolution, dass dir Hören und Sehen vergeht”, rief sie hinter mir her.
Die nächsten Tage hindurch hatte ich genug zu lesen. Ich weiß noch, von einem der ersten beiden Bücher las ich nur drei Seiten. Es war mir zufällig in die Hand gekommen und hieß “Die Philosophie des Elends”. Ich begriff kein Wort davon, es war viel zu schwer für mich. Dafür verstand ich aber ein anderes Buch sehr gut. Das las ich in einem Zuge aus und dann gleich noch mal. Es waren die Erzählungen von Stepnjak-Krawtschinski. Darin stand genau das Gegenteil. Die Menschen, die von der Polizei verhaftet wurden, sie waren diesmal die Helden. Die Polizisten aber waren unsympathisch, man konnte sie nur verachten. Von Revolutionären war die Rede. Sie hatten ihre geheimen Organisationen, ihre Druckereien, und sie bereiteten den Aufstand vor gegen die Gutsbesitzer, gegen die reichen Kaufleute und gegen die Generale. Die Polizei bekämpfte diese Revolutionäre und verhaftete sie. Die Revolutionäre gingen in den Kerker oder wurden hingerichtet. Wer aber am Leben blieb, setzte ihr Werk fort.
Dieses Buch packte mich, weil ich damals noch nichts von Revolutionären wusste. Und ich ärgerte mich, dass unser Arsamas eine so elende Stadt war, in der man nichts von Revolutionären hörte. Dafür aber hatten wir Einbrecher; bei Tuschkows zum Beispiel war die gesamte Wäsche vom Boden gestohlen worden. Dann gab es noch Zigeuner bei uns, sie waren Pferdediebe. Einen richtigen Räuber hatten wir sogar, er hieß Wanka Seljodkin und hatte den Steuerkontrolleur totgeschlagen. Doch Revolutionäre, die gab es bei uns nicht.

 

5. Kapitel

Selten kam mal ein Brief von Vater. Er schrieb wenig und immer nur das gleiche: “Bin gesund und munter. Wir hocken im Schützengraben, und keiner weiß, wann das alles mal vorbei ist.”
Ich war enttäuscht von seinen Briefen. Was stand eigentlich darin? Ein Soldat an der Front könnte doch von interessanten Dingen berichten, von einem Gefecht, einem Angriff oder von irgendwelchen Heldentaten. Las man aber Vaters Briefe, dann glaubte man, an der Front wäre die Langweile noch schlimmer als an den trüben Herbsttagen bei uns in Arsamas.
Warum schrieben nur die anderen von Schlachten und Heldentaten?
Da war zum Beispiel der Fähnrich Tupikow, ein Bruder von Mitka. Er schrieb jede Woche einen Brief und schickte auch Fotos mit. Auf einem Bild stand er neben einem Geschütz, auf einem anderen neben einem Maschinengewehr, oder er saß zu Pferde mit dem blanken Säbel in der Hand. Auf einem Bild schaute er aus einem Flugzeug heraus. Mein Vater aber ließ sich nicht einmal im Graben, geschweige denn im Flugzeug fotografieren.

*

Eines Tages, gegen Abend, klopfte es an unsere Wohnungstür. Draußen stand ein Soldat und fragte nach meiner Mutter. Er hatte ein Holzbein und ging auf Krücken. Mutter war nicht zu Hause, musste aber bald zurückkommen. Der Soldat sagte, er sei ein Kamerad von Vater aus demselben Regiment. Er stamme aus einem Dorf bei uns im Kreise und gehe jetzt für immer nach Hause … Vater ließe uns grüßen und habe ihm auch einen Brief mitgegeben.
Er setzte sich auf einen Stuhl und lehnte die Krücken an den Ofen. Dann holte er aus seiner Brusttasche einen Brief hervor. Der war voller Fettflecken.
Ich wunderte mich, wie dick der Brief war. Noch nie hatte Vater so einen dicken Brief geschickt. Wahrscheinlich waren diesmal Fotografien darin.
“Sie sind mit ihm im selben Regiment gewesen?” fragte ich und schaute neugierig dem Soldaten in sein hageres und – wie mir schien – finsteres Gesicht, auf seinen grauen, zerdrückten Mantel mit dem Georgskreuz und auf den groben Stelzfuß an seinem linken Bein.
“Im selben Regiment, in derselben Kompanie und im selben Zug, auch im Graben waren wir immer zusammen, Seite an Seite… Du bist wohl sein Junge, was?”
“Ja.”
“Aha, der Boris also. Ich weiß. Hab ich von deinem Vater gehört. Hier ist auch ein Paket für dich. Aber dein Vater hat gesagt, du musst es verstecken, darfst nicht drangehen, bis er wiederkommt.”
Der Soldat griff in seine lederne Tasche – sie war aus einem Stiefelschaft gemacht. Bei jeder seiner Bewegungen verbreitete sich im Zimmer eine Wolke starken Jodoformgeruchs.
Er nahm ein Päckchen heraus und gab es mir. Es war in einen Lappen gewickelt und fest verschnürt, ein kleines Päckchen nur, aber schwer. Ich wollte es schon aufmachen, doch da meinte er: “Warte nur! Nicht so eilig, siehst es noch früh genug.”
“Na, wie geht‘s denn so bei euch an der Front? Was machen die Kämpfe, und wie ist die Stimmung bei unseren Soldaten?” fragte ich gelassen und wie selbstverständlich.
Der Soldat sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Unter seinem etwas spöttischen Blick verlor ich meine Ruhe, meine Frage erschien mir irgendwie geschwollen und unehrlich.
“Sieh mal an!” Der Soldat lächelte. “Wie die Stimmung ist? Das kannst du dir doch denken, mein Lieber, wie im Schützengraben die Stimmung ist… gedrückt ist sie, miserabel.”
Er zog seinen Tabaksbeutel heraus und drehte sich schweigend eine Zigarette. Dann blies er eine Wolke beißenden Machorkarauchs ins Zimmer und schaute an mir vorbei auf das Fenster, das rot war von der untergehenden Sonne.
“Es hängt uns alles längst zum Hals heraus, und kein Mensch weiß, wie lang das noch dauert”, fügte er hinzu.
Die Mutter kam. Als sie den Soldaten sah, blieb sie stehen und hielt sich am Türgriff fest.
“Ist was … passiert?” fragte sie leise. Ihre Lippen waren ganz bleich. “Was ist mit Alexej?”
“Vater hat einen Brief geschickt!” rief ich laut. “Einen ganz dicken … da sind bestimmt Fotos drin. Und für mich hat er auch ein Geschenk mitgegeben.”
“Lebt er, ist er gesund?” fragte Mutter und warf ihr Tuch ab. “Als ich reinkam und den grauen Mantel sah, kriegte ich Herzklopfen. Da ist bestimmt mit Vater was passiert – dachte ich.”
“Bis jetzt nicht”, antwortete der Soldat. “Er lässt vielmals grüßen … und ich soll das Päckchen abgeben. Er wollte es nicht mit der Post schicken … auf die Post kann man sich heute nicht verlassen.”
Meine Mutter riss den Umschlag auf. Bilder waren nicht drin, nur fettige, voll geschriebene Blätter.
An einem klebte ein wenig Erde mit einem vertrockneten Grashalm.
Ich öffnete das Päckchen – eine Mauserpistole war darin mit einem Reservemagazin.
“Was hat er sich nur dabei gedacht!” Mutter war ärgerlich. “Das ist doch kein Spielzeug!”
“Ist das denn schlimm?” antwortete der Soldat. “Dein Junge ist doch nicht dumm, wie? Er ist bald so groß wie ich. Jetzt soll er sie noch verstecken. Eine gute Pistole ist das. Alexej hat sie in einem deutschen Graben gefunden. So was kann man immer mal brauchen.”
Ich berührte den kalten Griff der Waffe, wickelte sie vorsichtig ein und legte sie in einen Kasten.
Der Soldat trank mit uns Tee; sieben Glas trank er aus und erzählte die ganze Zeit von Vater und vom Krieg. Ich trank nur ein halbes Glas, Mutter aber rührte ihre Tasse nicht einmal an. Zwischen ihren Arzneisachen fand sie ein Fläschchen mit Alkohol und schenkte dem Soldaten davon ein. Er blinzelte nur und goss etwas Wasser hinzu. Langsam trank er aus, seufzte und schüttelte sich.
“Hat ja alles keinen Sinn mehr”, sagte er und schob das Glas zur Seite. “Zu Hause die Wirtschaft ist ruiniert, schreiben sie. Aber wie hätte ich helfen sollen? Haben selbst schon monatelang nichts zu fressen. Und Heimweh haben wir, was glaubst du wohl…? Wenn doch nur Schluss wäre! Sind ja alle am Ende, die Leute! Manchmal, da kommt‘s einem hoch wie das rostige Wasser im Kessel. Ach, wenn man nur könnte, dann wäre einem alles egal, und man würde einfach nach Hause laufen. Soll doch Krieg führen, wer will! Ich hab dem Deutschen nichts genommen, und er mir auch nicht!
Das Gesicht des Soldaten war ganz rot geworden, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und stärker und immer stärker roch es im Zimmer nach Jodoform. Ich machte das Fenster auf, und mit einem Male war die Frische des Abends im Zimmer und der Duft von Heu und überreifen Kirschen.
Ich saß auf der Fensterbank, malte mit dem Finger auf der Scheibe herum und hörte dem Soldaten zu. Seine Worte drangen in mich ein wie beißender, trockener Staub. Und dieser Staub legte sich als dicke Schicht auf all meine so klaren Vorstellungen vom Krieg, von seinen Helden und seinen hehren Zielen. Beinahe Hasste ich den Soldaten.
Er schnallte sein Koppel ab und knöpfte den schweißnassen Kragen des Hemdes auf. Er schien betrunken und fuhr fort: “Sterben, das ist natürlich schlecht. Aber nicht das Sterben hat den Krieg schlecht gemacht. Der Krieg ist eine Schande. Aber der Tod ist keine Schande. Früher oder später muss der Mensch sterben, das ist ein Gesetz. Aber wer hat ein Gesetz erfunden, dass der Mensch Krieg führen muss? Ich hab es nicht erfunden, du hast es nicht erfunden, er auch nicht, aber wer war‘s denn?
Der Soldat schwieg, zog die Augenbrauen zusammen und sah meine Mutter finster an. Sie hatte unverwandt auf die Tischdecke geschaut und kein Wort gesagt. Er stand auf, langte nach dem Teller mit dem Hering und sagte begütigend und mit einem leisen Vorwurf: “Was hast du denn…? Ja, von so was haben wir draußen gesprochen. Lauter dummes Zeug. … Kommt Zeit, kommt Rat, auch der Krieg geht mal zu Ende. Aber … vielleicht ist noch was in der Flasche, wie?”
Mutter hob nicht einmal den Blick, als sie ihm die letzten Tropfen des warmen, duftenden Alkohols ins Glas goss.
Die ganze Nacht hindurch hörte ich sie hinter der Wand weinen, hörte das Papier rascheln, als sie Vaters Briefe las. Dann leuchtete durch eine Ritze das trübe grüne Licht des Lämpchens vor dem Heiligenbild. Ich wusste, jetzt betete meine Mutter.
Vaters Briefe hat sie mir nie gezeigt. Was er geschrieben hatte und warum sie weinte in jener Nacht, ich hätte es damals sowieso nicht verstanden.
Am anderen Morgen verließ uns der Soldat.
Als er ging, klopfte er mir auf die Schulter und sagte, so als hätte ich ihn nach etwas gefragt: “Nimm‘s nicht so schwer, Junge … Du bist noch jung. Ach, warte noch ein bisschen, und du siehst alles klarer als wir!”

 

6. Kapitel

Der Sommer ging zu Ende. Fedka musste seine Prüfung noch einmal wiederholen und arbeitete fleißig, Jaschka Zuckerstein hatte Fieber bekommen, und so war ich auf einmal ganz allein.
Ich lag auf dem Bett und las in Vaters Büchern und Zeitungen.
Vom Ende des Krieges war nichts zu hören. Die Deutschen rückten immer weiter vor und hatten schon über die Hälfte Polens besetzt. Sehr viele Flüchtlinge trafen jetzt in unserer Stadt ein. Die reicheren von ihnen mieteten sich Wohnungen, aber davon gab es nicht viele. Unsere wohlhabenden Kaufleute, die Mönche und die Geistlichkeit waren sehr fromme Leute und nahmen nicht gern Flüchtlinge auf, da das meist arme, kinderreiche Juden waren. So wohnten diese Flüchtlinge vor allem in Baracken am Wäldchen vor der Stadt.
Um diese Zeit wurden aus den Dörfern die gesamte Jugend und alle gesunden Männer an die Front getrieben. Viele Bauernwirtschaften brachen zusammen – es war niemand mehr da, der auf den Feldern arbeiten konnte: die Älteren, die Frauen und die Kinder zogen in die Stadt und bettelten.
Ging man früher durch die Straßen unserer Stadt, traf man den ganzen Tag keinen einzigen Fremden. Kannte man auch nicht jeden mit Namen, so war man ihm doch schon irgendwo begegnet. Jetzt aber sah man auf Schritt und Tritt unbekannte Gesichter: Juden, Rumänen, Polen, kriegsgefangene Österreicher und verwundete Soldaten aus dem Lazarett des Roten Kreuzes.
Die Lebensmittel waren knapp. Butter, Eier und Milch wurden schon frühmorgens zu teuren Preisen auf dem Markt weggekauft. Vor den Bäckereien standen die Menschen Schlange, Weißbrot gab es nicht mehr, selbst Schwarzbrot reichte nicht für alle. Rücksichtslos erhöhten die Kaufleute die Preise für alle Waren, nicht nur für Lebensmittel.
Die Leute erzählten sich, Bebeschin habe allein im vergangenen Jahr soviel verdient wie in den fünf vorhergehenden Jahren zusammen. Sinjugin gar wurde so reich, dass er sechstausend Rubel für die Kirche stiftete. Sein Aussichtsturm mit dem Teleskop war ihm langweilig geworden. Er hatte sich aus Moskau ein richtiges, lebendes Krokodil kommen lassen, das in einem großen Becken herumschwamm.

*

Zwei Tage später begann wieder die Schule. Die Klassenzimmer hallten wider vom Lärm und Stimmengewirr. Jeder berichtete, was er im Sommer gemacht, Wie viel Fische, Krebse, Eidechsen und Igel er gefangen hatte. Der eine prahlte mit seinem erlegten Habicht, der andere erzählte von Pilzen und Erdbeeren, der dritte schwor, er habe eine lebendige Schlange gefangen. Einige von uns waren im Sommer zur Erholung auf die Krim und in den Kaukasus gefahren. Aber das waren nicht viele. Sie blieben unter sich, sie sprachen nicht von Igeln und Erdbeeren, sondern redeten wie selbstverständlich von Palmen, vom Baden und von Reitpferden.
Zum ersten Mal erklärte man uns in diesem Jahr, wegen der Teuerung habe der Kurator erlaubt, anstatt der Tuchuniform eine Schülerkleidung aus billigerem Material zu tragen.
Meine Mutter nähte mir eine Bluse und Hosen aus irgendeinem Material, das Teufelshaut genannt wurde.
Es gab aber noch etwas Neues bei uns. Ein Offizier wurde an die Schule abkommandiert, wir erhielten hölzerne Gewehre, die wie richtige aussahen, und man begann mit uns zu exerzieren.

*

Nach dem Brief, den uns der Soldat mit dem Holzbein gebracht hatte, bekamen wir keine Post mehr von Vater. Jedes Mal, wenn Fedkas Vater mit seiner Tasche über die Straße ging, streckte meine kleine Schwester, die lange schon auf ihn gewartet hatte, den Kopf zum Fenster hinaus und rief mit ihrem dünnen Stimmchen: ‚Onkel Sergej, hast du was von Pappi für uns?”
Seine Antwort war immer die gleiche: ‚Nein, Kindchen, heute nicht! Aber morgen bestimmt!”
Doch am nächsten Tag hatte er wieder nichts für uns.

 

7. Kapitel

Eines Tages, es war schon im Monat September, saß Fedka bis zum Abend bei mir zu Hause. Wir machten gemeinsam unsere Schularbeiten.
Wir waren gerade fertig geworden, und Fedka packte schon seine Bücher und Hefte zusammen und wollte nach Hause gehen. Da prasselte auf einmal ein mächtiger Platzregen herab. Ich sprang auf und wollte rasch das Fenster zum Garten schließen. Der Wind pfiff und wirbelte mit jedem Stoß ganze Haufen verwelkten Laubs vom Boden auf; einige dicke Regentropfen schlugen mir ins Gesicht.
Nur mit Mühe konnte ich einen Fensterflügel zumachen. Als ich mich hinauslehnte, um auch den anderen heranzuziehen, flog plötzlich ein dicker Lehmbrocken auf das Fensterbrett.
Ein ganz schöner Wind! dachte ich. Der kann ja Bäume ausreißen.
Ich trat wieder ins Zimmer zu Fedka zurück.
“Ein richtiger Sturm! Und da willst du jetzt nach Hause gehen? Es gießt nur so. Sieh mal den Klumpen Lehm hier, der ist gerade ans Fenster geflogen!”
Fedka schaute ihn sich ungläubig an.
“Den Brocken da soll der Wind reingeworfen haben? Du kohlst ja.”
“Was denn sonst?” Ich ärgerte mich. “Ist schon so, wie ich gesagt habe. Ich wollte gerade das Fenster zumachen, da knallte es auf die Fensterbank.”
Ich schaute mir den Lehmklumpen etwas genauer an… Sollte ihn doch jemand absichtlich geworfen haben? Doch das konnte ja nicht sein, und so fuhr ich fort: “Blödsinn! Da war doch niemand. Wer soll schon bei dem Wetter im Garten gewesen sein? Das war der Wind, klar!”
Mutter saß im Zimmer nebenan und nähte. Mein Schwesterchen schlief schon. Fedka blieb noch eine halbe Stunde da. Schließlich klärte sich der Himmel auf, und durch die regennassen Scheiben schaute der Mond ins Zimmer. Der Wind hatte nachgelassen.
“Ich geh jetzt”, sagte Fedka.
“Ist gut, ich schließ nicht hinter dir ab, mach die Tür fest zu! Das Schloss schnappt dann von selbst ein.”
Fedka zog seine Mütze in die Stirn, steckte die Bücher unter die Jacke, damit sie nicht nass würden, und ging. Ich hörte noch, wie die Tür laut hinter ihm zufiel.
Ich zog die Schuhe aus und wollte schlafen gehen. Da sah ich auf dem Boden ein Heft liegen, das Fedka vergessen hatte. Es war sein Heft mit den Aufgaben, die wir gelöst hatten.
So ein Dussel! dachte ich. Morgen in der ersten Stunde haben wir Algebra… na, ich nehme es ihm mit.
Ich zog mich aus und kroch unter die Decke, hatte mich aber noch nicht einmal umgedreht, als es im Flur leise und vorsichtig läutete.
“Wer kommt denn da noch?” fragte Mutter erstaunt. “Doch wohl kein Telegramm von Vater…? Nein, der Briefträger rüttelt immer so stark an der Klinke. Mach mal auf!”
“Ich bin schon ausgezogen. Das ist bestimmt der Fedka, er hat sein Heft liegenlassen, und das hat er wohl unterwegs gemerkt.”
“Ausgerechnet der!” Sie war ärgerlich. “Konnte er denn nicht morgen früh vorbeikommen? Wo ist denn sein Heft?”
Sie nahm das Heft, zog die Pantoffeln über die nackten Füße und ging hinaus.
Ihre Pantoffeln schlurften über die Treppenstufen, dann knackte das Türschloss. Im selben Augenblick hörte ich einen unterdrückten Schrei. Ich sprang aus dem Bett. Im ersten Augenblick glaubte ich, Einbrecher hätten meine Mutter überfallen, und griff schon nach dem Kerzenleuchter auf dem Tisch. Damit wollte ich das Fenster einschlagen und auf die Straße hinaus um Hilfe rufen. Aber da klang es von unten her wie ein Lachen, wie Küsse… ich hörte lebhaftes, leises Sprechen, dann ein Scharren von Füßen auf der Treppe.
Die Tür flog auf – ich stand wie gebannt vor meinem Bett, nackt und den Leuchter in der Hand.
Tränen noch in den Augen, stand Mutter in der Tür, glücklich und mit lachendem Gesicht, und neben ihr – unrasiert und schmutzig, nass bis auf die Haut – ein Soldat, der liebste von allen, mein Vater.
Ein Satz, und schon hatten mich seine starken, harten Hände gepackt.
Hinter der Wand rührte sich mein Schwesterchen im Schlaf. Die Geräusche machten sie unruhig. Schon wollte ich zu ihr hineinstürzen und sie wecken, als mich Vater festhielt und mir zuflüsterte: “Lass sein, Boris…weck sie nicht auf… und macht auch nicht solchen Krach!”
Dann schaute er Mutter an: “Warjuscha, wenn die Kleine wach wird, sag ihr nicht, dass ich da bin. Lass sie jetzt schlafen. Kannst du sie für drei Tage irgendwohin bringen?”
Mutter antwortete: “Wir können sie morgen in aller Frühe nach Iwanowskoje bringen. Sie will schon so lange zur Großmutter. Und der Himmel ist wieder klar, scheint es. Boris kann sie ja morgen früh mitnehmen. Aber jetzt brauchst du nicht so leise zu sein, Aljoscha, sie hat einen festen Schlaf. Oft kommen nachts Leute und holen mich ins Krankenhaus, sie ist daran gewöhnt.”
Ich stand da mit offenem Mund und konnte das alles gar nicht fassen.
Wieso? Unsere kleine Tanjuschka wollen sie in aller Herrgottsfrühe zur Großmutter bringen, bloß damit sie nicht merkt, dass Vater gekommen ist? Was soll das bedeuten…? Wozu das alles?
“Borja!” sagte Mutter zu mir. “Du schläfst in meinem Zimmer, und morgen früh um sechs nimmst du Tanjuschka und bringst sie zur Großmutter… erzählst aber niemandem, dass der Vater gekommen ist.”
Ich schaute meinen Vater an. Er schloss mich fest in seine Arme, er wollte etwas sagen, zog mich aber nur um so fester an sich und schwieg.
Ich legte mich in Mutters Bett. Vater und Mutter blieben im Esszimmer und schlossen die Tür. Lange fand ich keinen Schlaf. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, versuchte bis fünfzig zu zählen, bis hundert – ich konnte nicht einschlafen.
Mir war ganz wirr im Kopf. Dachte ich an das, was geschehen war, stieß ich auf lauter Widersprüche, es war alles so seltsam… An den Schläfen spürte ich einen leichten Druck, als wäre ich lange Karussell gefahren.
Erst spät in der Nacht fiel ich in einen leichten Schlaf, wurde aber gleich wieder wach, als leise die Dielen knarrten. Vater war mit einer brennenden Kerze ins Zimmer getreten. Die Stiefel hatte er ausgezogen und nur noch Socken an den Füßen. Er trat an Tanjuschkas Bett und hielt das Licht tiefer.
So stand er eine Weile und betrachtete sein kleines schlafendes Kind mit dem hellen Haar und den roten Wangen. Er beugte sich über sie – zwei Gefühle in ihm kämpften miteinander, der Wunsch, sie nur einmal anzufassen, sie zu küssen, und die Furcht, sie könne dadurch wach werden. Diese Furcht aber war stärker. Rasch richtete er sich auf, wandte sich ab und ging hinaus.
Noch einmal knarrte die Tür – es war wieder dunkel im Zimmer.
… Die Uhr schlug sieben, da wurde ich wach. Durch die gelben Blätter der Birke vor dem Fenster schien hell die Sonne. Rasch zog ich mich an und blickte ins Zimmer nebenan. Dort schliefen sie noch. Ich machte die Tür wieder zu und weckte mein Schwesterchen.
“Wo ist die Mammi?” fragte sie, rieb sich die Augen und schaute auf das leere Bett.
“Mammi haben sie ins Krankenhaus gerufen. Sie hat mir gesagt, ich soll dich zur Großmutter bringen.”
Mein Schwesterchen lachte und drohte schelmisch mit dem Finger.
“Das ist ja gar nicht wahr, Borka! Großmutter hat doch erst gestern gesagt, ich soll kommen, aber Mammi hat es nicht gewollt.”
“Ja, gestern, aber jetzt hat sie es sich anders überlegt. Zieh dich schnell an… Sieh mal, wie schön es heute ist. Da nimmt dich Großmutter bestimmt mit in den Wald.”
Schließlich glaubte sie, dass es kein Scherz war, und richtete sich rasch auf. Während ich ihr beim Anziehen half, plauderte sie unentwegt: “Hat es sich Mammi doch anders überlegt? Das ist aber fein. Und unsere Katze, die Lissi, die nehmen wir auch mit, ja, Borka?… Wenn du die nicht willst, dann aber den Purzel. Der macht noch mehr Spaß… Gestern hat er mich im Gesicht geleckt, aber Mammi hat geschimpft. Sie hat das nicht gern, wenn man sie im Gesicht leckt. Einmal, da lag sie im Garten, und da hat sie der Purzel geleckt, und da hat er was mit dem Stock gekriegt.”
Sie sprang aus dem Bett und lief zur Tür.
“Borka, mach doch mal auf. Mein Tuch, das liegt da noch in der Ecke, da ist auch mein Wagen.”
Ich zog sie von der Tür fort und setzte sie wieder aufs Bett. “Da darfst du jetzt nicht rein, Tanjuschka, da schläft ein fremder Onkel, der ist gestern gekommen.”
“Was für‘n Onkel?” fragte sie. “Der vom letzten Mal?”
“Ja, ja, der vom letzten Mal.”
Der Weg nach Iwanowskoje führte an der Tescha entlang. Mein Schwesterchen lief voraus. Alle Augenblicke blieb sie stehen, hob ein Stöckchen auf, schaute den Gänsen zu, die im Wasser plantschten, oder hatte sonst irgendwas. Ich ging langsam hinterher. Die Frische des Morgens, die gelbgrüne Weite der herbstlichen Felder, das eintönige Glockengebimmel der weidenden Herde – das alles machte mich wieder ruhig.
Ein Gedanke, der sich mir aufgedrängt und mich die ganze Nacht gequält hatte, er nahm jetzt Gestalt an; ich versuchte schon nicht mehr, ihn loszuwerden.
Immer wieder musste ich an den Klumpen Erde denken, der auf das Fensterbrett geflogen war.
Natürlich war es nicht der Wind gewesen. Wie hätte auch der Wind einen solchen Brocken, mit Wurzeln drin, aus dem Boden reißen können? Das hatte Vater getan, er wollte sich bemerkbar machen. Bei Sturm und Regen hatte er sich im Garten versteckt, hatte gewartet, dass Fedka nach Hause ging. Tanjuschka sollte ihn nicht sehen. Sie war noch zu klein und hätte sich verplappern können. Wenn aber ein Soldat auf Urlaub kam, brauchte er sich vor niemandem zu verstecken…
Ich zweifelte nicht mehr daran, mein Vater war ein Deserteur.

*

Auf dem Rückweg lief ich ausgerechnet unserem Schulinspektor in den Weg.
“Gorikow”, sagte er streng, “was soll das heißen…? Warum sind Sie während des Unterrichts nicht in der Schule?”
“Ich bin krank”, erwiderte ich gedankenlos und ahnte nicht, wie dumm meine Antwort war.
“Krank?” fragte er weiter. “Was reden Sie da für Unsinn? Wer krank ist, liegt zu Hause im Bett und marschiert nicht auf der Straße herum.”
“Ich bin aber doch krank”, wiederholte ich hartnäckig, “ich habe Temperatur…”
“Temperatur hat jeder Mensch”, entgegnete er aufgebracht. “Reden Sie keinen Unsinn, und marsch in die Schule!”
Das hat mir noch gefehlt! dachte ich und schritt hinter ihm her. – Warum habe ich nur gesagt, ich wäre krank? Hätte mir denn nichts Besseres einfallen können, etwas, was der Wahrheit näher gewesen wäre?
Unser Schularzt, ein altes Männchen, brauchte gar nicht erst meine Temperatur zu messen – er legte mir bloß die Hand auf die Stirn und stellte gleich laut und vernehmlich die Diagnose: “Hat einen starken Anfall von Faulfieber. Anstelle von Medizin empfehle ich eine Fünf in Betragen und zwei Stunden Nachsitzen, ohne Mittagessen.”
Mit der Miene eines erfahrenen Apothekers billigte der Inspektor dieses Rezept.
Er rief Semjon, den Schuldiener, und befahl, mich in meine Klasse zu bringen.
“Wie kann man nur seine Bücher und Hefte vergessen?” entrüstete sich die Deutschlehrer,
Elsa Franziskowna entlud ihren ganzen Zorn in einem ellenlangen deutschen Satz, von dem ich gerade noch soviel verstehen konnte, dass Faulheit und Lügen bestraft werden müssen. Aber eines war mir völlig klar: dass ich um die dritte Stunde Nachsitzen nicht herumkam.
In der Pause fragte mich Fedka: “Warum kommst du denn ohne Bücher, und warum hat dich der Semjon in die Klasse gebracht?”
Ich log ihm irgend etwas vor. In der nächsten und letzten Stunde, in Geographie, war ich wie im Halbschlaf. Was der Lehrer sagte, was die Schüler antworteten – alles ging an meinem Bewusstsein vorüber. Ich kam erst wieder zu mir, als es klingelte.
Unser Klassenältester hatte das Gebet gesprochen. Die Schüler klapperten mit den Bankdeckeln und rannten einer nach dem anderen zur Tür hinaus. Dann war die Klasse leer und ich allein.
Mein Gott, dachte ich wehmütig, noch drei Stunden, geschlagene drei Stunden, und zu Hause sitzt jetzt mein Vater. Wie seltsam das alles ist!
Ich ging nach unten. Neben dem Lehrerzimmer stand eine lange, schmale Bank, ganz von Taschenmessern zerschnitten. Dort saßen schon drei. Einer war aus der ersten Klasse. Er musste eine Stunde nachsitzen, weil er einen Kameraden mit Kügelchen aus zerkautem Papier beworfen hatte. Ein anderer saß da, weil er sich geprügelt, und ein dritter, weil er versucht hatte, vom dritten Stock aus einem anderen Schüler, der unten vorbeiging, auf den Kopf zu spucken.
Ich setzte mich auf die Bank und dachte nach. Der Schuldiener Semjon ging vorüber. Laut klirrte sein Schlüsselbund.
Der aufsichthabende Lehrer ging hinaus. Von Zeit zu Zeit hatte er nach uns geschaut und verschwand nun mit einem trägen Gähnen.
Vorsichtig stand ich auf und sah durch die Tür des Lehrerzimmers nach der Uhr. Was? Es war erst eine halbe Stunde vergangen? Und ich glaubte, ich säße hier schon mindestens eine Stunde.
Plötzlich kam mir ein verwegener Gedanke: Was ist überhaupt geschehen? Ich habe nichts gestohlen und bin auch nicht verhaftet. Aber zu Hause sitzt jetzt mein Vater, der zwei Jahre lang nicht daheim war und den ich jetzt unter so eigenartigen und rätselhaften Umständen wieder gesehen habe. Ich stand auf, war aber gleich wieder unschlüssig. Auf eigene Faust weggehen, wenn man nachsitzen muss – das war eines der schwersten Vergehen an unserer Schule.
Nein, ich warte, entschied ich und setzte mich wieder auf die Bank.
Aber mit einem Male packte mich eine unbegreifliche Wut. Ganz egal, dachte ich, der Vater ist von der Front weggelaufen – ich lächelte boshaft –‚ und ich sitze hier und habe Angst.
Ich lief zu den Kleiderhaken, warf mir den Mantel über, knallte die Tür zu und eilte auf die Straße.

*

Vieles wollte mir mein Vater an jenem Abend erklären; er gab sich alle Mühe mit mir.
“Aber Vater”, so fragte ich, “bevor du von der Front wegliefst, da warst du doch ein tapferer Soldat. Du bist doch nicht aus Angst weggelaufen?”
“Ich bin auch jetzt kein Feigling.” Er sagte das ganz ruhig.
In diesem Augenblick schaute ich unwillkürlich zum Fenster hinaus und erschrak heftig: Von der anderen Straßenseite her kam ein Polizist gerade auf unser Haus zu. Bedächtigen Schritts ging er bis zur Mitte der Straße und dann auf dem Fahrdamm nach rechts weiter zum Marktplatz.
“Der… kommt … nicht … zu uns.” Nach jedem Wort holte ich tief Luft.
Am nächsten Abend sagte mein Vater zu mir: “Borka, jeden Tag können sie kommen, verstehst du? Und das Spielzeug, das ich dir geschickt habe, versteck es auch weiter gut. Du musst tapfer sein! Bist ja kein kleiner Junge mehr. Und wenn du in der Schule Ärger hast wegen mir, mach dir nichts draus! Hab keine Angst, hörst du, vor nichts! Aber pass gut auf, was ringsum geschieht, dann verstehst du auch, was ich dir erzählt habe.”
“Wir sehen uns doch wieder, Vater?”
“Wir sehen uns wieder. Ich werde manchmal hier in der Gegend sein, aber zu euch kann ich nicht kommen.”
“Aber wo wirst du denn sein?”
“Das erfährst du, wenn es soweit ist.”
Es war schon dunkel, aber der Schuster von nebenan saß immer noch auf dem Bänkchen am Hoftor und spielte auf seiner Ziehharmonika, um sich herum einen Schwarm Mädchen und Jungen.
“Es wird Zeit für mich”, sagte mein Vater, und man merkte ihm die Erregung an. “Ich darf nicht zu spät kommen.”
“Die bleiben sicher bis spät in die Nacht da sitzen, wir haben ja Sonnabend heute.”
Vater runzelte die Stirn.
“Ausgerechnet! Sag mal, Boris, kommt man nicht irgendwo durch den Zaun oder durch einen anderen Garten? Du musst das doch wissen.”
“Nein”, erwiderte ich, “durch andere Gärten geht es nicht. Links, bei den Aglakows, ist der Zaun zu hoch, und Nägel sind drin. Rechts ginge es schon, aber da haben sie so 'nen scharfen Hund, der ist wie ein Wolf… Aber ich weiß was. Wenn du willst, gehen wir zum Teich runter, da hab ich ein Floss. Damit bring ich dich hinter den Gärten vorbei bis an die Schlucht. Jetzt ist es dunkel, und das ist eine ganz abgelegene Gegend, da sieht dich kein Mensch.”
Unter dem Gewicht meines Vaters wäre unser Floss beinahe untergegangen, das Wasser drang schon in die Stiefel. Vater stand und rührte sich nicht. Lautlos glitt das Floss über das schwarze Wasser. Manchmal blieb unsere Stange im zähen Schlamm des Bodens stecken. Nur mit Mühe konnte ich sie wieder herausziehen.
Zweimal versuchte ich, am Ufer zu landen, aber vergebens – der Boden der Schlucht lag sehr tief und war nass. Ich hielt mehr nach rechts und legte am letzten Garten an.
Es war ein verwilderter Garten, sein Zaun halb zerfallen, niemand kümmerte sich mehr darum.
Ich brachte Vater noch bis zu einem großen Loch im Zaun. Von dort aus kam er gleich in die Schlucht. Wir nahmen Abschied voneinander.
Noch eine Weile blieb ich stehen. Die Zweige knackten unter Vaters schwerem Schritt. Dann wurde das Geräusch leiser und immer leiser…

 

8. Kapitel

Drei Tage darauf wurde Mutter zur Polizei bestellt. Dort teilte man ihr mit, ihr Mann sei aus seiner Einheit desertiert. Sie musste unterschreiben, dass ihr der derzeitige Aufenthalt unbekannt und sie verpflichtet sei, den Behörden sofort Mitteilung zu machen, wenn sie etwas erfahre.
Durch den Sohn des Polizeichefs wurde es am nächsten Tag in der Schule bekannt, dass mein Vater ein Deserteur war.
Vater Gennadi hielt im Religionsunterricht eine kleine Predigt über die Treue zu Zar und Vaterland und über die Heiligkeit des Fahneneides. Bei der Gelegenheit erzählte er, wie in der Zeit des Krieges gegen Japan einmal ein Soldat vom Schlachtfeld geflohen war, um sein Leben zu retten, dabei aber den Tod unter den Zähnen eines reißenden Tigers erlitten hatte.
Vater Gennadi sah darin ein untrügliches Zeichen göttlicher Vorsehung; sie hatte den Flüchtigen gebührend gestraft. Jener Tiger hatte nämlich – ganz gegen seine Gewohnheit – den Soldaten nicht gefressen, sondern ihn nur in Stücke gerissen und sich dann davongemacht.
Nach zwei Tagen wurde mir mitgeteilt, der Lehrerrat habe entschieden, mir für mein eigenmächtiges Verlassen der Schule eine Drei in Betragen zu geben.
Eine Drei in Betragen bedeutete im allgemeinen, dass der Schüler bei der nächsten Ermahnung aus der Schule ausgeschlossen würde.
Drei Tage später gab man mir ein Schreiben mit, in dem es hieß, meine Mutter habe unverzüglich mein Schulgeld für das erste Halbjahr in voller Höhe zu entrichten. Bis jetzt brauchte ich als Sohn eines Soldaten nur die Hälfte zu zahlen.

*

Es kam eine schwere Zeit. Den entehrenden Spitznamen “Deserteurssohn” wurde ich nicht mehr los. Viele kündigten mir die Freundschaft. Andere wieder sprachen zwar noch mit mir und wichen mir auch nicht aus, verhielten sich aber so eigenartig, als hätte man mir ein Bein abgenommen oder als läge ein Toter bei uns zu Hause. Mit der Zeit stand ich ganz allein. Ich spielte mit niemandem mehr, war nicht mehr dabei, wenn eine andere Klasse überfallen wurde, und besuchte auch meine Kameraden nicht mehr.
An den langen Herbstabenden saß ich zu Hause oder war bei Timka Schtukin und seinen Vögeln.
In jener Zeit wurden wir gute Freunde. Auch sein Vater war immer freundlich zu mir. Ich verstand nur nicht, warum er mich manchmal unverwandt von der Seite anschaute, mir über den Kopf strich und dann, mit den Schlüsseln klirrend, wortlos hinausging.
Eine unruhige Zeit brach an. Viele Menschen lebten jetzt in der Stadt, doppelt soviel wie früher. Die Schlangen vor den Läden wurden immer länger. An jeder Straßenecke, überall standen die Leute in Gruppen zusammen, und immer wieder zogen Prozessionen mit wundertätigen Bildern durch die Straßen. Alle möglichen unsinnigen Gerüchte lagen in der Luft. So hieß es, an den Seen, oben am Flusse Serjosha, wären die Altgläubigen in die Wälder gezogen. Unten bei den Hügeln hätten die Zigeuner Falschgeld umgesetzt, und nun wäre alles so teuer, weil riesige Mengen dieses falschen Geldes in Umlauf kämen. Einmal entstand ein sehr gefährliches Gerücht: In der Nacht vom Freitag auf den Sonnabend sollten die Juden verprügelt werden, sie wären Spione und Verräter, und deswegen dauere der Krieg so lange.
Immer mehr Landstreicher tauchten auf, keiner wusste, woher sie kamen. Und immer wieder hörte man von erbrochenen Türschlössern, von ausgeplünderten Wohnungen. Eine halbe Hundertschaft Kosaken hatte in der Stadt Quartier bezogen. Dicht aufgeschlossen ritten sie über die Straßen, finstere Kerle mit langwehendem Haar, und sangen ihre Lieder, wilde Lieder. Dann trat Mutter vom Fenster zurück und sagte: “Die hab ich lang nicht gesehen… seit 1905 nicht mehr. Nun sitzen sie wieder im Sattel, wie Adler sehen sie aus, genau wie damals.”
Von Vater hörten wir gar nichts. Ich glaubte ihn in Sormowo bei Nishni Nowgorod. Bevor er ging, hatte er Mutter lange und eingehend nach ihrem Bruder Nikolai gefragt, der dort in einer Waggonfabrik arbeitete. Nur darauf stützte sich meine Vermutung.
Eines Tages im Winter kam Timka Schtukin auf mich zu und winkte mir vorsichtig mit dem Finger. Er tat sehr geheimnisvoll, aber ich nahm das nicht besonders ernst. Ohne mir was dabei zu denken, folgte ich ihm in eine Ecke.
Erst schaute er sich nach allen Seiten um, dann flüsterte er mir zu: “Komm heute Abend mal zu uns. Mein Vater hat gesagt, du musst unbedingt kommen!”
“Was will er denn von mir? Das sagst du bloß so.”
“Das sag ich nicht bloß so. Du musst unbedingt kommen, dann siehst du, weshalb!”
Timka machte dabei ein ernstes, beinahe ängstliches Gesicht. Da wusste ich, dass er keinen Scherz machte.
Am Abend ging ich zum Friedhof. Schnee wirbelte durch die Luft, und das Licht der trüben, verschneiten Laternen vermochte kaum das Dunkel der Straßen zu durchdringen. Der Weg zum Wäldchen und zum Friedhof führte über freies Feld. Wie Nadeln stach der Schnee ins Gesicht. Ich zog den Kopf noch tiefer in den Kragen und stapfte über den vom Schnee verwehten Pfad auf das grüne Lämpchen zu, das am Friedhofstor brannte. Ich stolperte über eine Grabplatte und fiel der Länge nach in den Schnee. Die Tür zum Küsterhäuschen war verschlossen. Ich klopfte, aber man machte nicht sofort auf. Ich klopfte ein zweites Mal, da hörte ich Schritte hinter der Tür.
“Wer ist da?” fragte die bekannte Bassstimme des Küsters. “Ich bin‘s, Onkel Fjodor, mach auf!”
“Borka?”
“Ja,ja… mach doch auf!”
Ich trat ein, drinnen war es gemütlich warm. Auf dem Tisch standen der Samowar und ein Schälchen mit Honig, daneben lag ein rundes Brot. Als ob nichts wäre, bastelte Timka an einem Vogelkäfig herum.
“Schneit wohl mächtig draußen, was?” fragte er, als er mein rotes, nasses Gesicht sah.
“Kann man wohl sagen!” antwortete ich. “Ich glaub, ich hab mir den Fuß aufgeschlagen. Ist ja stockdunkel draußen.”
Timka lachte laut auf. Ich verstand ihn nicht und sah ihn verwundert an. Er lachte noch lauter, aber an seinen Augen sah ich, dass er nicht über mich lachte, sondern über etwas, das hinter mir sein musste. Ich drehte mich um – hinter mir standen Onkel Fjodor und mein Vater.
“Er ist schon zwei Tage bei uns”, sagte Timka, als wir uns zum Tee hingesetzt hatten.
“Zwei Tage… und du hast mir nichts gesagt! Und du willst mein Freund sein, Timka?”
Schuldbewusst blickte Timka bald seinen, bald meinen Vater an, als ob er von dort Hilfe erwartete.
Timkas Vater klopfte seinem Sohn derb auf die Schulter. “Wenn du auch noch so klein bist, aber auf dich kann man sich verlassen.”
Vater trug keine Soldatenuniform mehr. Er war lebhaft und in fröhlicher Stimmung, fragte mich nach der Schule und musste immer wieder lachen. Dann meinte er: “Halb so wild, mach dir nichts draus! Merkst du nicht, dass andere Zeiten kommen, mein Junge?”
“Ja, aber beim ersten Tadel schmeißen sie mich aus der Schule raus… und was dann?”
“Und wenn sie dich rausschmeißen!” Das erschütterte ihn nicht. “Was ist schon dabei! Wirst auch ohne die Schule ein rechter Kerl. Man muss nur wollen und einen klugen Kopf haben!”
“Du bist ja so guter Laune, Vater, und du lachst… wie kommt das? Deinetwegen hat uns der Pope eine Predigt gehalten, alle glauben, du wärst tot, und nun bist du so…
Seit ich um Vaters Geheimnis wusste, redete ich anders mit ihm als früher – wie zu einem älteren, gleichgestellten Kameraden. Und ich sah, das gefiel ihm.
“Ich bin so froh, weil jetzt frohe Zeiten kommen. Wir haben genug geweint, Schluss damit! … Na schön, und jetzt mach dich auf den Heimweg! Wir sehen uns bald wieder.”
Es war spät geworden. Ich verabschiedete mich, zog den Mantel an und war schon draußen vor der Tür. Aber Timkas Vater hatte noch nicht den Riegel vorgeschoben, als mich jemand mit solcher Gewalt zur Seite stieß, dass ich mit dem Kopf in eine Schneewehe flog. Im selben Augenblick hörte ich schwere Stiefel ins Haus poltern… Pfiffe, Kommandos. Ich sprang auf – vor mir stand ein Polizist. Es war Jewgraf Timofejewitsch. Sein Sohn Paschka und ich hatten gemeinsam die Gemeindeschule besucht.
“Bleib hier!” sagte er, als er mich erkannte, und hielt mich am Arm fest. “Wo willst du hin? Die werden da drin auch ohne dich fertig… Wisch dir mal das Gesicht ab, hier an meiner Kapuze. Um Gottes willen, hoffentlich hast du dir nicht den Kopf aufgeschlagen?”
“Nein, das hab ich nicht, Jewgraf Timofejewitsch, aber was ist mit meinem Vater?”
“Mit deinem Vater? Gegen die Gesetze hat er verstoßen, das hat ihm keiner befohlen. Darf man denn gegen die Gesetze verstoßen?”
Sie führten meinen Vater und den Küster aus dem Haus, beide waren gefesselt. Hinter ihnen her taumelte Timka, den Mantel über die Schulter geworfen, keine Mütze auf dem Kopf. Timka weinte nicht, er zitterte nur so seltsam.
“Timka”, sprach sein Vater ernst, “du bleibst heut Nacht beim Paten, und sag ihm, er soll nach dem Haus sehen, damit hier nichts wegkommt bei der Haussuchung.”
Schweigend und mit tief gesenktem Kopf ging mein Vater hinterher. Die Hände hatten sie ihm auf dem Rücken gebunden. Da sah er mich, richtete sich hoch auf und rief mir noch einmal zu: “Macht nichts, mein Junge! Auf Wiedersehen! Gib der Mutter noch einen Kuss und Tanjuschka auch. Kopf hoch, Junge! Bald kommen bessere Zeiten, frohe Zeiten!”

 

FROHE ZEITEN

1. Kapitel

Am 22. Februar des Jahres 1917 verurteilte das Kriegsgericht des VI. Armeekorps den Soldaten Alexej Gorikow vom 12. Sibirischen Schützenregiment wegen Fahnenflucht vor dem Feinde und wegen regierungsfeindlicher Propaganda zum Tode durch Erschießen.
Am 25. Februar wurde das Urteil vollstreckt; am 2. März aber kam die Nachricht aus Petrograd, dass das revolutionäre Volk die Monarchie gestürzt habe.
Der Brand des Gutshauses der Polutins war für mich das erste Flammenzeichen der Revolution. Bis tief in die Nacht hinein saß ich auf dem Dachboden unseres Hauses und sah zu, wie das Feuer im frischen Frühlingswind hoch emporloderte. Die Pistole in meiner Tasche fühlte sich warm an. Sie war das teuerste Andenken an meinen Vater. Noch waren mir die Augen nicht trocken geworden vom vielen Weinen. Aber ich lachte unter Tränen, rührte meine Hand an den Griff der Waffe – die “frohen Zeiten”, nun waren sie angebrochen.
In den ersten Tagen der Februarrevolution glich unsere Schule einem Ameisenhaufen, in den man ein brennendes Stück Holz gestoßen hat. Nach dem Gebet für den Sieg unserer Waffen wollte ein Teil des Schülerchors wie üblich die Zarenhymne anstimmen – Gott erhalte unseren Zaren –‚ aber die anderen begannen zu pfeifen und schrieen “Nieder mit ihm!” Es entstand ein Heidenlärm, die Reihen der Schü1er gerieten durcheinander, und schon flog ein Brötchen nach dem Bild der Zarin. Am meisten freuten sich die aus der ersten Klasse. Nun konnten sie sich einmal ungestraft austoben. Sie waren außer Rand und Band, jaulten wie die Katzen und meckerten wie die Ziegen.
Der Inspektor hatte völlig den Kopf verloren und mühte sich vergebens, den Radau mit seiner Stimme zu übertönen. Der Lärm legte sich erst, als der Schuldiener Semjon die Zarenbilder abnahm. Pfeifend und johlend tobten die aufgeregten Schüler durch die Klassen. Von irgendwoher tauchten plötzlich rote Schleifen auf. Die älteren Schüler steckten demonstrativ die Hose in die Stiefel, was sonst verboten war, versammelten sich neben dem Abort und zündeten sich vor den Augen ihrer Klassenlehrer Zigaretten an. Der Offizier Balaguschin, ihr Turnlehrer, trat hinzu. Sie boten ihm eine Zigarette an, und er lehnte nicht ab. Mit einem lauten Hurra feierten die Schüler diese Verbrüderung zwischen ihnen und den Lehrern. So etwas war noch nie dagewesen.
Zunächst stand aber nur eines fest: Der Zar war abgesetzt, und die Revolution hatte begonnen. Warum man sich über die Revolution freuen sollte und warum es richtig war, den Zaren zu stürzen, vor dessen Bild man noch vor wenigen Tagen so inbrünstig die Hymne gesungen hatte – das verstanden die meisten Schüler nicht, vor allem aber nicht die aus den unteren Klassen.
In den ersten Tagen fand fast gar kein Unterricht statt. Die Schüler der oberen Klassen hatten sich zur Miliz gemeldet. Sie erhielten Gewehre und trugen rote Armbinden. Stolz schritten sie die Straßen auf und ab und sorgten für Ordnung. Zwar dachte niemand daran, diese Ordnung zu stören. Von den Türmen der dreißig Kirchen läuteten die Glocken wie in den Ostertagen. In prunkvollen Messgewändern nahmen die Priester den Eid auf die Provisorische Regierung entgegen.
Männer in roten Hemden tauchten auf, der Sohn des Popen Jona, der Seminarist Archangelski, zwei Dorfschullehrer und noch drei andere, die ich nicht kannte. Sie nannten sich Sozialrevolutionäre. Dann kamen wieder andere, die trugen schwarze Hemden. Es waren meist Zöglinge aus den oberen Klassen der Lehrer- und Priesterseminare. Sie nannten sich Anarchisten.
Die meisten Bürger der Stadt schlossen sich sofort den Sozialrevolutionären an. Nach einem feierlichen Bittgottesdienst für die Provisorische Regierung hatte Vater Pawel, ein Priester der Kathedrale, vor allem Volk gepredigt, auch Jesus Christus sei Sozialist und Revolutionär gewesen. Nun lebten in unserer Stadt viele gottesfürchtige Menschen, vor allem Kaufleute, Handwerker, Mönche und fromme Pilger. Als sie diese interessante Mär von Jesus Christus hörten, schlug ihr Herz sofort für die Sozialrevolutionäre, da sich diese auch wenig über die Religion ausließen, dafür aber um so mehr von der Freiheit redeten und dazu aufriefen, den Krieg mit erneuter Kraft weiterzuführen. Die Anarchisten hatten zwar die gleiche Ansicht vom Kriege, von Gott aber wollten sie nichts wissen. So erklärte der Seminarist Welikanow vor allem Volk, es gebe keinen Gott. Sollte es aber doch einen geben, dann könne er ja diese Herausforderung annehmen und seine Allmacht beweisen. Dabei schaute Welikanow nach oben und spuckte gegen den Himmel.
Wie ein Stöhnen ging es da durch das Volk. Gleich würde sich der Himmel auftun und ein Donnerschlag den Frevler zu Boden strecken. Da sich aber im Himmel droben nichts rührte und regte, erhoben sich Stimmen aus der Menge, man solle gar nicht erst auf die Strafe von oben warten, sondern am besten dem Seminaristen gleich eins aufs Maul geben. Welikanow verschwand wie der Blitz von der Tribüne und ließ sich wohlweislich nicht mehr blicken. Von der boshaften Alten Maremjana Sergejewna bekam er jedoch eins übergezogen. Sie handelte mit dem heilkräftigen 01 aus dem Lämpchen der Muttergottes von Sarow und verkaufte auch von dem Zwieback, womit einst der heilige Serafim aus Sarow die wilden Bären und Wölfe gefüttert hatte.
Ich war sehr erstaunt, wie viele Revolutionäre es in Arsamas gab. Tatsächlich, lauter Revolutionäre. Sogar der ehemalige Landeshauptmann Sacharow hatte sich eine riesige rote Schleife angesteckt. Sie war aus Seide. In Petrograd und Moskau hatte man gekämpft, hatte die Polizei von den Dächern auf das Volk geschossen. Bei uns aber hatten die Polizisten freiwillig die Waffen abgeliefert und gingen jetzt in Zivil friedlich auf der Straße spazieren.
Einst traf ich auf einer Versammlung den Polizisten Jewgraf Timofejewitsch, der dabei war, als sie meinen Vater verhafteten.
Aus seinem Korb schauten eine Flasche voll 01 und ein Kohlkopf. Er stand mitten in der Menge und hörte sich an, was die Sozialisten redeten. Als er mich sah, legte er die Hand an die Mütze und grüßte freundlich.
“Na, wie geht‘s, wie steht‘s?” fragte er. “Hören Sie sich auch so was an? Passen Sie nur gut auf! Sie sind noch jung. Aber auch für uns Alte ist das noch interessant… Ja, ja, so ändern sich die Zeiten…”
Ich entgegnete: “Wissen Sie noch, Jewgraf Timofejewitsch, wie Sie damals kamen und meinen Vater verhafteten? An dem Abend sagten Sie, man darf nicht gegen die Gesetze verstoßen. Und wo sind jetzt Ihre Gesetze? Sie sind abgeschafft, die Polizisten kommen alle vors Gericht.”
Er lächelte nachsichtig.
“Früher hatten wir Gesetze, und jetzt kriegen wir auch wieder welche. Ohne Gesetze geht es nicht, junger Mann. Und dass man uns vor Gericht stellen will – sollen sie nur kommen! Werden schon nicht jeden aufhängen. Unsere Oberen auch nicht… Selbst der Zar hat nur Hausarrest bekommen, was wollen sie dann noch von uns…? Haben Sie gehört, was der Redner hier gesagt hat? Es wird keine Rache geben, hat er gesagt, die Menschen sollen Brüder sein, jetzt, im freien Russland, wird es keine Gefängnisse mehr geben, wird auch niemand mehr aufgehängt. Und dann kommen wir auch nicht ins Gefängnis und werden auch nicht aufgehängt.”
Damit ging er ruhig seines Wegs.
Ich schaute ihm nach und dachte: Wieso? Mit einem Mal soll das jetzt alles anders sein…? Wenn Vater aus dem Gefängnis herausgekommen wäre, hätte er es bestimmt nicht zugelassen, dass sein Gefängnisaufseher ruhig herumspazieren könnte, hätte ihn auch nicht laufen lassen, weil jetzt alle Menschen Brüder sein sollen.
Ich sprach mit Fedka darüber, der neben mir stand.
“Was soll denn dein Vater damit zu tun haben? Der war doch ein Deserteur, das wäre er nie losgeworden. Deserteure werden auch jetzt noch verhaftet. Ein Deserteur ist doch kein Revolutionär, er läuft doch nur weg, weil er sein Vaterland nicht verteidigen will.”
“Mein Vater war aber kein Feigling!” Ich war blass geworden. “Was du sagst, das stimmt nicht, Fedka! Meinen Vater haben sie erschossen, weil er geflohen ist und weil er Propaganda gemacht hat. Das Urteil haben wir zu Hause.”
Fedka wurde verlegen, er wollte mich beschwichtigen und antwortete: “Ja, meinst du denn, das hätte ich mir selbst ausgedacht? Das steht doch in allen Zeitungen. Lies mal im ‚Russischen Wort‘ die Rede von Kerenski. Die ist gut, sag ich dir … Als sie die auf dem Mädchengymnasium vorgelesen haben, da hat der halbe Saal geweint. Vom Krieg hat er gesagt, der Kerenski, dass wir jetzt mit aller Kraft weiterkämpfen müssen, und die Deserteure, die seien eine Schande für die ganze Armee. Und dann hat er noch gesagt: Auf den Gräbern der im Kampf gegen die Deutschen Gefallenen wird das freie Russland ein Denkmal ihres unsterblichen Ruhmes errichten! Ja – unsterblich –, das steht da drin, und da redest du noch so‘n Zeug zusammen!”
Ein Redner nach dem anderen trat auf die Tribüne. Alle sprachen sie über den Sozialismus und redeten sich heiser dabei. Man konnte gleich in die Partei eintreten und sich auch freiwillig an die Front melden. Einige redeten so lange, bis man sie von der Tribüne herunterzog, dafür wurden andere hinaufgeschoben.
Ich hörte mir das alles an. Mir war, als würde davon mein Kopf immer dicker, wie eine leere Ochsenblase, die man aufbläst. Die vielen Reden schwirrten mir im Kopf herum, ich wusste überhaupt nicht, worin sich ein Sozialrevolutionär von einem Kadetten unterschied, ein Kadett von einem Volkssozialisten, die Trudowiki von den Anarchisten. Nur ein Wort hatte sich mir eingeprägt:
“Freiheit… Freiheit…”‚ immer wieder “Freiheit”.
“Gorikow”, hörte ich eine Stimme, eine Hand legte sich auf meine Schulter.
Hinter mir stand Dohle, der Gewerbeschullehrer.
“Wo kommen Sie denn her?” fragte ich hocherfreut.
“Aus Nishni Nowgorod, aus dem Gefängnis. Komm mit zu mir, mein Guter, komm. Ich habe hier ganz in der Nähe ein Zimmer gemietet. Da können wir Tee trinken, und Weißbrot und Honig habe ich auch. Ich freu mich so, dass ich dich wieder sehe! Ich bin gestern erst angekommen und wollte sowieso heute zu euch.”
Er nahm mich bei der Hand, und wir beide schoben uns durch die lärmende Menge.
An einem anderen Platz stießen wir wieder auf eine große Menschenmenge. Um einige lodernde Feuer herum hatten sich viel Neugierige angesammelt.
“Was ist denn hier los?”
“Ach, dummes Zeug”, sagte Dohle und lächelte. “Die Anarchisten verbrennen hier Zarenfahnen. Sie hätten den Stoff lieber verteilen sollen, die Leute schimpfen schon. Du weißt ja selbst, jeder Lappen kostet jetzt Geld.”
Dohle hatte lange, schmale Hände. Schnell sprudelten seine Worte hervor, als er den Tee aufbrühte. Er lächelte dabei.
“Dein Vater hat früh sterben müssen. Wir waren zusammen in einer Zelle, bis sie ihn vors Kriegsgericht holten.”
“Semjon Iwanowitsch”, begann ich nach dem Tee, “Sie haben gesagt, Sie wären Genossen gewesen, in der Partei … war denn mein Vater in einer Partei? Das hat er mir nie erzählt.”
“Er durfte es nicht erzählen, darum.”
“Und Sie haben es auch nicht gesagt. Als Sie verhaftet wurden, erzählte Petka Solotuchin, Sie wären ein Spion.”
Dohle lachte.
“Ein Spion, hahaha. Petka Solotuchin? Ach, der! Dem darf man das nicht übel nehmen, das ist ein dummer Junge. Wenn aber jetzt die größten Dummköpfe behaupten, wir seien Spione, dann ist das noch viel lächerlicher.”
“Wer soll ein Spion sein, Semjon Iwanowitsch? Sie?”
“Nein, wir alle, die Bolschewiki.”
Ich schaute ihn von der Seite an.
“Dann seid ihr also Bolschewiki? Ich wollte sagen, dann war auch mein Vater ein Bolschewik?”
“Ja, er auch.”
“Aber warum denn ausgerechnet auch das noch?” fragte ich niedergeschlagen und nachdenklich.
“Wieso ‚auch das noch‘?”
“Na ja – ich meine, Soldaten sind Soldaten, und Revolutionäre sind eben Revolutionäre… und keiner kann ihnen was nachsagen. Aber mein Vater… zuerst war er ein Deserteur, und jetzt ist er auf einmal auch noch ein Bolschewik. Warum denn nur Bolschewik und nicht richtiger Revolutionär, meinetwegen auch nur Sozialrevolutionär oder Anarchist? Ausgerechnet Bolschewik! Ja, wenn ich sagen könnte, sie hätten meinen Vater erschossen, weil er ein Revolutionär war, dann hielten sie alle den Mund, und es könnte keiner mit dem Finger auf mich zeigen. Wenn ich aber sage, sie hätten ihn erschossen, weil er ein Bolschewik war, dann sagt jeder, das wäre richtig so. Es steht doch in allen Zeitungen drin, die Bolschewiken würden von den Deutschen bezahlt, und ihr Lenin, der stände in Diensten von Wilhelm.”
“Wer ist denn dieser ‚jeder‘, der so was erzählt?” fragte Dohle. Er schaute mich spöttisch lächelnd an bei meinen erbitterten Worten.
“Das sagen sie alle – die Leute aus der Nachbarschaft und die Popen in der Predigt, und auch die Redner hier sagen das…”
“Die Leute aus der Nachbarschaft…! Die Redner…!” unterbrach mich Dohle. “Du bist wirklich noch dumm! Dein Vater war ein zehnmal besserer Revolutionär als alle diese Redner und Leute aus der Nachbarschaft. Was sind das für Leute? Pfaffen, Mehlhändler, Krämer, alte Betschwestern, Fleischer vom Markt und alles mögliche andere Volk. Leider gibt es unter deinen Nachbarn nur ganz selten mal einen Menschen, der was wert ist. Mit diesem Volk wollen wir gar nichts zu tun haben, wir wollen sie auch nicht gewinnen. Sollen doch die Rothemden, diese Schwätzer, bei denen ihre Weisheit loswerden! Wir können uns hier nicht lange aufhalten; sie sind nicht unsere Verbündeten, diese Mönche und Mehlhändler. Warte nur ab, bis ich dich mal mitnehme zu einer Versammlung von uns – in die Baracken, wo die Verwundeten liegen, in die Kasernen zu den Soldaten, auf den Bahnhof, auf die Dörfer. Da musst du gut zuhören! Aber dieses Pack hier…!”
Dohle lachte verächtlich.

*

…Timkas Vater war in den ersten Tagen der Revolution aus dem Gefängnis entlassen worden; seine frühere Stelle bekam er aber nicht wieder, und der Kirchenälteste Sinjugin befahl ihm, sofort sein Häuschen für den neuernannten Küster zu räumen.
Keiner von den Kaufleuten wollte ihm Arbeit geben. Er lief von einem zum anderen: “Brauchen Sie einen Heizer oder einen Hausknecht?” Aber er hatte kein Glück.
Sinjugin erklärte ihm geradeheraus: “Ich unterstütze die russische Armee. Ich habe tausend Rubel für das Rote Kreuz gespendet, über zweihundert Fähnchen und Bilder von Alexander Fjodorowitsch Kerenski für die Lazarette gegeben, und du, du bringst noch einen Deserteur bei dir unter. Bei mir gibt‘s keine Arbeit für dich!”
Der Küster konnte nicht an sich halten: “Ich danke Ihnen sehr für diese Worte. Aber merken Sie sich, wenn Sie sich einmal zu verantworten haben … mit Ihren Fähnchen und Bildern können Sie sich dann nicht loskaufen!” Mit einem Male packte Onkel Fjodor die Wut: “Red mir nicht so dummes Zeug daher! Einen dicken Bauch hast du dir angefressen, hast dir ein Teleskop gekauft und gibst deinem Krokodil Fleisch zu fressen… Jetzt glaubst du, du wärst der Zar, oder Gott. Wart nur! Hör dir mal an, was die Leute in deinen Fabriken erzählen. Ich sage dir, bis jetzt war alles noch ziemlich friedlich, aber glaubst du denn, das bleibt?”
Sinjugin war außer sich.
“Ich … ich… lass dich rausschmeißen! Das ist ja wirklich! Anzeigen werde ich dich… Mein Betrieb arbeitet für die Armee. Ich bin auch bei unserer neuen Obrigkeit ein geachteter Mann… aber du… mach, dass du rauskommst!”
Der Küster setzte die Mütze auf und ging.
“Da haben sie nun Revolution gemacht… Und dieses Pack sitzt immer noch am alten Ort. Kann mich ins Gefängnis bringen, der Kerl, sitzt mit dem Kommandanten zusammen im Stadtrat. Zerreißen müsste man sie. Und so was nennt sich Patriot…”, murmelte er vor sich hin, als er die Straße entlang ging. “An seinen miserablen Stiefeln hat er Tausende verdient. Sein Sohn braucht nicht Soldat zu sein, den hat er freigekauft. Dem Arzt beim Militär hat er dreihundert zugesteckt und dem vom Krankenhaus noch mal fünfhundert. Hat er selbst erzählt, als er besoffen war. Die Brüder können alle gut mit fremden Händen kämpfen. Und Bilder von Alexander Fjodorowitsch hat er gekauft … am nächsten Baum müsste man ihn aufhängen, samt seinem Kerenski. Auf die Freiheit haben wir gewartet … Na, dann frohes Fest allerseits!”
Sie waren alle rein wie verrückt – man hörte nur noch einen Namen: Kerenski.
In jeder Nummer der Zeitung war sein Bild abgedruckt. “Kerenski spricht” – “Bevölkerung streut Kerenski Blumen auf den Weg” – “Begeisterte Frauen tragen Kerenski auf Händen”. Ein Mitglied des Stadtrats von Arsamas namens Feofanow war geschäftlich in Moskau gewesen und hatte selbst mit Kerenski gesprochen; in Scharen drängte man sich um Feofanow.
“Sie haben wirklich mit ihm gesprochen?”
“Jawohl, ich habe mit ihm gesprochen”, antwortete Feofanow stolz.
“Er hat Ihnen auch die Hand gegeben?”
“Jawohl, die rechte Hand hat er mir geschüttelt.”
“Donnerwetter!” flüsterte man sich zu und war ganz aufgeregt. “Der Zar hätte nie einem die Hand gegeben, aber Kerenski macht das. Tausende kommen jeden Tag zu ihm, und jedem gibt er die Hand; früher, da…”
“Ja, früher, da hatten wir den Zarismus.”
“Richtig… und heute haben wir die Freiheit.”
“Hurra! Es lebe die Freiheit…! Es lebe Kerenski…! Wir schicken ihm ein Grußtelegramm.”
Jedes zehnte Telegramm, das die Post beförderte, war ein Grußtelegramm an Kerenski. Solche Telegramme kamen von öffentlichen Versammlungen, von Schulveranstaltungen, von Sitzungen des Kirchenrats, aus dem Stadtrat, von der Vereinigung der Kirchenfahnenträger – tatsächlich von überallher. Wo auch immer einige Menschen versammelt waren, es wurden Grußtelegramme abgesandt.

 

2. Kapitel

Seit dem Tage, da ich Dohle getroffen hatte, waren einige Monate vergangen.
In der Salnikowstraße, neben dem riesigen Bau des Priesterseminars, stand in einem Garten ein kleines Haus. Wolken von Machorkarauch umhüllten die Menschen hinter seinen offenen Fenstern. Wer vorüberging, eilte, dass er weiterkam, aber an der nächsten Straßenecke spuckte er aus und schimpfte: “Da sitzen sie wieder, die Provokateure!”
Hier war der Klub der Bolschewiki. Sie waren nur zwanzig in der ganzen Stadt, aber ihr Häuschen war stets brechendvoll. Jedermann hatte Zutritt, doch seine ständigen Besucher waren Soldaten aus dem Lazarett, österreichische Kriegsgefangene und die Arbeiter aus den Lederwaren- und Filzstiefelfabriken.
Auch ich verbrachte fast alle meine freien Stunden dort. Zuerst war ich nur aus Neugierde mit Dohle hingegangen, dann aus Gewohnheit, schließlich aber zog es mich dorthin; mein ganzes Inneres war aufgewühlt. Wie Kartoffelschalen unter einem scharfen Messer, so fiel alles von mir ab, was man mir bisher eingepaukt hatte.
Die Bolschewiki beteiligten sich nicht an religiösen Streitereien und an Kundgebungen des Krämervolks; sie hatten ihre Versammlungen bei den Baracken draußen vor der Stadt und in den Dörfern, die unter dem Krieg schwer gelitten hatten.
Ein Meeting werde ich nie vergessen; es war draußen in Kamenka.
“Da müssen wir unbedingt hin! Da ist was los! Der Kruglikow von den Sozialrevolutionären wird selbst sprechen. Wenn der erst anfängt zu tönen, kann man sich gar nicht satt hören”, meinte Dohle zu mir. “In Iwanowskoje hätten uns die Bauern nach seiner Rede beinahe verprügelt, so waren sie aus dem Häuschen.”
“Da müssen wir hin!” Ich war gleich Feuer und Flamme. “Aber sagen Sie mal, Semjon Iwanowitsch, haben Sie eigentlich nie Ihren Revolver bei sich? Der ist immer verschwunden: mal liegt er in der Tabaksdose, und gestern, da sah ich ihn im Brotkasten. Meine Pistole habe ich immer bei mir, und wenn ich schlafe, liegt sie unter meinem Kopfkissen.”
Dohle lachte laut auf, dass sein Bart, voller Machorkakrümel, nur so zitterte.
“Ich will dir was sagen, mein Junge”, meinte er, “wenn wir jetzt mal Pech haben, und es kommt zu einer Prügelei, versuch nur nicht, den Revolver zu ziehen, sonst kannst du nachher deine Knochen einzeln zusammensuchen! Es kommt die Zeit, da brauchen wir einen Revolver, aber bis jetzt ist immer noch das Wort unsere beste Waffe. Von uns spricht heute Baskakow.”
“Wie? Baskakow? Aber der kann doch gar nicht reden. Der kriegt ja kaum einen Satz zusammen. Bei dem kann man zwischen zwei Worten zu Mittag essen.
“Du kennst ihn nur von hier. Aber du musst ihn mal hören, wenn er auf einer Versammlung spricht!”
Der Weg nach Kamenka führte über eine alte, morsche Brücke, vorbei an überschwemmten Wiesen, auf denen noch das Gras stand, und an niedrigen, dicht mit hohem Schilf bewachsenen Gräben. Ein paar Bauernwagen fuhren die Straße entlang; sie kamen aus der Stadt. Barfüßige Bauernweiber kehrten mit ihren leeren Milchkrügen vom Markt nach Hause zurück. Wir hatten es nicht eilig, beschleunigten aber unsere Schritte, als uns ein Wagen voller Sozialrevolutionäre überholte.
Von allen Seiten kamen die Bauern aus den umliegenden Dörfern und zogen in dichten Scharen auf den breiten Straßen zum Versammlungsplatz. Das Meeting hatte noch nicht begonnen, aber schon von weitem war der Lärm vieler Stimmen zu hören.
In dem Menschengewühl traf ich Fedka. Er ging hin und her und verteilte irgendwelche Flugblätter. Als er mich sah, kam er gleich angelaufen.
“Hallo! Du bist ja auch da… heute ist was los! Da, hast du auch ‘nen Packen, kannst mir helfen beim Austeilen.”
Ich steckte mir ein Dutzend dieser Zettel in die Tasche. Einen faltete ich auseinander: Es war ein Flugblatt der Sozialrevolutionäre für den Krieg und gegen das Desertieren. Ich gab Fedka seine Zettel zurück.
“Nein, Fedka, die verteil ich nicht, das kannst du selber machen, wenn du willst.”
Fedka spuckte vor mir aus.
“Du Idiot… bist wohl für die da?” Er deutete mit dem Kopf auf Dohle und Baskakow. “Nicht schlecht … muss ich schon sagen. Aber auf dich hatte ich fest gerechnet!”
Geringschätzig zuckte er die Schultern und verschwand in der Menge.
“Auf mich hat er gerechnet!” sagte ich lachend. “Er meint wohl, ich wüsste nicht, was los ist.”
“Bis zum Siege…”, hörte ich auf einmal eine leise Stimme. Ich wandte mich um und sah hinter mir einen Bauern mit blatternarbigem Gesicht stehen. Er hatte keine Mütze auf dem Kopf und war barfuss. In der einen Hand hielt er ein Flugblatt, in der anderen ein zerrissenes Halfter. Er hatte es wohl gerade wieder zusammenflicken wollen und war nun aus seinem Hause getreten, um zu hören, was es draußen gebe.
“Bis zum Siege … sieh mal einer an!” wiederholte er verwundert und ließ den Blick erstaunt über die Menge gleiten.
Er schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Erhöhung an seinem Hause und schrie dem schwerhörigen Alten, der neben ihm saß, ins Ohr: “Schon wieder bis zum Siege … Seit dem Jahre vierzehn, immer nur bis zum Siege. Wie soll das mal enden, Vater Prochor?”
Inzwischen hatte man einen Wagen bis zur Mitte des Platzes geschoben. Ein von irgendwem gewählter Versammlungsleiter, ein kleiner, wendiger Mensch, kletterte hinauf und begann:
“Mitbürger! Ich erkläre das Meeting für eröffnet. Das Wort hat der Sozialrevolutionär Genosse Kruglikow. Er spricht zu uns über die Provisorische Regierung, über den Krieg und über die allgemeine politische Lage.”
Dann verschwand er vom Wagen, und für einen Augenblick war die Tribüne leer. Plötzlich sprang Kruglikow hinauf, richtete sich hoch empor und hob die Hand. Das Stimmengewirr verstummte.
“Bürger des großen und freien Russlands! Im Namen der Partei der Sozialrevolutionäre entbiete ich Ihnen allen die herzlichsten Grüße!”
Dann begann Kruglikow zu reden. Ich hörte angespannt zu, in Wort sollte mir entgehen.
Er erzählte von den schwierigen Verhältnissen, unter denen die Provisorische Regierung arbeiten müsste. Der Druck der Deutschen an der Front würde immer stärker, und dunkle Kräfte – deutsche Spione und Bolschewiki – arbeiteten insgeheim für Wilhelm.
“Früher hatten wir einen Zaren, der hieß Nikolai, und diesmal soll es der Wilhelm werden. Wollt ihr wieder einen Zaren?” fragte er.
“Nein, nie wieder, wir haben genug davon!” scholl es hundertfach aus der Menge.
“Wir haben den Krieg satt”, sprach Kruglikow weiter. “Hängt er uns nicht zum Halse heraus, dieser Krieg? Ist es nicht Zeit, Schluss zu machen?”
“Höchste Zeit!” kam es wie aus einem Munde.
“Was ist denn das für‘n komisches Programm?” flüsterte ich Dohle empört zu. “Sind die denn auch für Beendigung des Krieges?”
Er stieß mich leicht in die Seite: “Sei still und hör lieber zu!”
“Höchste Zeit! Jawohl, das ist euer aller Meinung”, fuhr der Sozialrevolutionär fort. “Aber die Bolschewiken lassen es nicht zu, sie wollen nicht, dass wir den Krieg bald siegreich beenden. Sie zersetzen die Kampfkraft unserer Armee. Hätten wir nur eine schlagkräftige Armee, wir würden den Feind mit einem entscheidenden Stoß vernichten und Frieden schließen. Aber jetzt können wir keinen Frieden schließen. Und wer ist schuld daran? Wer ist schuld, dass eure Söhne, eure Brüder, eure Männer und eure Väter im Schützengraben verrecken, anstatt zu friedlicher Arbeit zurückzukehren? Wer rückt den Sieg in weite Ferne und verlängert den Krieg? Wir, die Sozialrevolutionäre, erklären in aller Öffentlichkeit: Es lebe der letzte, entscheidende Schlag gegen den Feind, es lebe der Sieg der revolutionären Armee über die Armeen der Deutschen! – Und dann, dann: Nieder mit dem Krieg, es lebe der Frieden!”
Schwer ging der Atem der Menge, dichte Wolken von Machorkarauch standen über den Köpfen, einzelne zustimmende Rufe wurden laut.
Kruglikow sprach von der Konstituierenden Versammlung; sie allein habe die Gewalt über das Land, und es könne nicht geduldet werden, sich den Boden der Gutsbesitzer auf eigene Faust anzueignen. Er sprach weiter von der Notwendigkeit, Ordnung zu halten und den Anweisungen der Provisorischen Regierung Folge zu leisten. Er hüllte seine Zuhörer in ein feines, kunstvolles Wortgespinst ein.
Zuerst zog er die Bauern auf seine Seite, als er von ihren Nöten sprach. Die Menge ging mit: “Richtig!”, “Der hat recht!”, “Schlimmer kann‘s nicht mehr werden!” Doch langsam drehte Kruglikow das Steuer herum. Eben noch war die Menge mit ihm einig gewesen, ohne eigenen Boden gebe es für den Bauern keine Freiheit; dann wurde ihr plötzlich klar: In einem freien Lande dürfe man nicht den Gutsbesitzern den Grund und Boden wegnehmen.
Nach ein und einer halben Stunde schloss er seine Rede unter lautem Beifallsgebrüll seiner Zuhörer und mit wüsten Drohungen gegen die Spione und Bolschewiki.
Na, dachte ich, wie will Baskakow jetzt noch mit Kruglikow fertig werden?
Zu meinem größten Erstaunen stand Baskakow ruhig neben mir und zog an seiner Pfeife; er verriet auch nicht die geringste Absicht, auf die Tribüne zu steigen.
Dicht um den Wagen gedrängt standen die Sozialrevolutionäre; sie wussten nicht recht, was sie von den Bolschewiki halten sollten. Nach kurzer Beratung kamen sie zu dem Schluss, die Bolschewiki warteten wohl noch auf jemanden. Ein weiterer Sprecher trat auf. Er war nicht so ein guter Redner wie Kruglikow, sprach stockend, leise, und – was das Dümmste war – er wiederholte noch einmal das schon Gesagte. Als er vom Wagen hinunterstieg, war der Beifall schon geringer.
Baskakow aber stand immer noch da und rauchte. Seine schmalen Augen hielt er halbgeschlossen, und auf seinem Gesicht lag so ein gutmütig-einfältiger Ausdruck, als wolle er sagen: Sollen sie doch reden! Mich geht das nichts an! Ich rauche meine Pfeife und stehe niemandem im Wege.
Der dritte Sprecher war nicht besser als der zweite, und als er hinabstieg, begannen die meisten zu pfeifen und zu johlen.
“He! Vorsitzender, was soll das?”
“Wir wollen andere Redner hören! Verdammt noch mal!”
“Sollen doch mal diese… Bolschewiki sprechen! Die lässt du wohl nicht ran, was?”
Der Versammlungsleiter erklärte entrüstet, er erteile jedem das Wort, der es wünsche; die Bolschewiki wollten aber nicht. Sie hätten wohl Angst, und er könne sie schließlich nicht zum Reden zwingen.
“Aber wir können das!”
“Die sind doch hier, die verkriechen sich bloß!”
“Schleif sie doch ran an den Wagen! Sollen mal auspacken, was sie haben!”
Die Wut der Menge ängstigte mich. Ich schaute auf Dohle. Er war blass geworden, aber er lächelte.
“Baskakow”, sagte er, “es ist genug jetzt, sonst nimmt‘s ein böses Ende!”
Baskakow räusperte sich, als zerspringe ihm etwas im Halse, steckte seine Pfeife in die Tasche und ging mit großen Schritten auf den Wagen zu. Die erregte Menge machte ihm Platz.
Aber er fing nicht gleich an. Gleichmütig blickte er auf die Sozialrevolutionäre, die sich um den Wagen drängten, und wischte sich mit der Hand über die Stirn; sein Blick ging weit über das Volk. Dann ballte er seine schwere Hand zur Faust, hielt sie so, dass sie jeder sehen konnte, und fragte höhnisch mit ruhiger, weithin vernehmbarer Stimme: “Das habt ihr wohl nicht gesehen?”
Mich ärgerte dieser ungewöhnliche Anfang seiner Rede. Auch die Bauern wussten nicht, was sie davon halten sollten. Schon wurden empörte Stimmen laut:
“Was soll das?”
“Du willst uns wohl drohen?”
“He du, mach doch den Mund auf! Sonst hauen wir dir die Hucke voll!”
“Habt ihr das wirklich nicht gesehen?” fing Baskakow von neuem an. “Die da…”, er deutete mit dem Kopf nach den Sozialrevolutionären, “die da werden euch noch ganz was anderes sehen lassen. Denkt doch mal naaach!” Er dehnte das Wort in die Länge, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. “Denkt doch mal naaach…! Die Ohren gespitzt habt ihr, Bürger des freien Russlands, als die Revolution kam – aber seid doch mal ehrlich, Bürger, welchen Nutzen habt ihr jetzt von der Revolution? Vorher war Krieg, und jetzt ist immer noch Krieg. Früher hattet ihr kein Land, und jetzt habt ihr immer noch keins. Früher saß der Gutsbesitzer im Dorf, jawohl. Und heute? Heute sitzt er immer noch dort. Ist ihm was geschehen? Nein! Ihr müsst das Maul halten. Die Regierung tut ihm nichts zuleide. Fragt mal die Bauern aus Wodowatowskoje. Die wollten ans Gutsbesitzerland ran, aber da lagen schon Soldaten. Da standen sie nun… hatten sich soviel Mühe gegeben, ein guter Boden, jawohl, aber sie kriegten nichts ab davon. Dreihundert Jahre lang habt ihr ausgehalten, sagt ihr, aber das ist noch zuwenig, wollt noch weiter aushalten, wie? Na schön, dann haltet weiter aus. Selig sind die Sanftmütigen. Wartet nur, bis der Gutsherr selbst zu euch kommt und eine Verbeugung macht: ‚Braucht ihr keinen Boden? Nehmt ihn euch doch, um Christi willen.‘ Ach, darauf wartet ihr nur? Habt ihr schon gehört: Wenn die Konstituierende Versammlung zusammentritt, da wollen sie beraten, wie man den Bauern den Boden geben soll, ob sie ihn umsonst kriegen oder ob sie ihn kaufen müssen. Gut, wenn ihr jetzt nach Hause kommt, dann zählt mal eure paar Kröten nach, ob ihr euch dafür Land kaufen könnt! Ihr glaubt also, die Revolution sei gekommen, damit ihr von den Gutsbesitzern Land kaufen könnt? Aber verflucht noch mal, ich frage euch, wozu brauchten wir denn da eine Revolution? Dafür brauchtet ihr doch keine Revolution, um denen für euer Geld Land abzukaufen.”
“Was sollen wir abkaufen?” kamen zornige Stimmen aus der Menge.
“Hier steht‘s schwarz auf weiß…” Mit diesen Worten zog Baskakow ein zerdrücktes Blatt Papier aus der Tasche und las vor:
“‚Die Gerechtigkeit verlangt, dass die Grundbesitzer für ihren Boden, der in die Hände der Bauern übergeht, eine Entschädigung erhalten.‘ Jawohl, das steht hier. Das schreibt die Partei der Kadetten, und die wird auch an der Sitzung teilnehmen und ihre Forderungen stellen. Aber wir Bolschewiki, wir sagen ganz einfach: Wir warten nicht auf die Konstituierende, wir wollen den Boden sofort haben, ohne langes Gerede; wir dulden keinen Aufschub mehr und wollen das Land auch nicht kaufen! Uns langt‘s… wir haben lange genug dafür bezahlt.”
“Richtig, lange genug!” klang es wie ein Stöhnen aus Hunderten von Kehlen.
“Was soll denn da noch diskutiert werden? Dann wird ja wieder nichts draus.”
“Haltet doch mal die Schnauze…! Jetzt redet der Bolschewik. Vielleicht weiß er noch mehr.”
Ich stand mit offenem Mund neben Dohle. Ich war mit einem Mal so froh, richtig stolz war ich auf Baskakow.
“Semjon Iwanowitsch!” rief ich und packte Dohle am Ärmel. “Ich hab gedacht… Mensch, wie der mit denen redet… der hält überhaupt keine Rede, der spricht ganz einfach mit ihnen.”
Junge, Junge, ist das ein tüchtiger Kerl, und klug ist er, der Baskakow, dachte ich bei mir, als ich hörte, wie seine Worte, ruhig und schwer, den erregten Menschen durch und durch gingen.
“Frieden erst nach dem Sieg?” erklärte Baskakow. “Das ist großartig. Erobern wir doch gleich Konstantinopel dazu! Hat uns doch noch gefehlt, dieses Konstantinopel! Auch Berlin brauchen wir! Ich frage dich” – bei diesen Worten zeigte Baskakow mit dem Finger auf den pockennarbigen Bauern, der immer noch das Halfter in der Hand hielt und sich jetzt bis an den Wagen herangeschoben hatte – “ich frage dich, was schuldet dir der Deutsche oder der Türke? Haben die dir was weggenommen und wollen es jetzt nicht wiedergeben? Wirklich, sei so gut und sag mir doch, lieber Mann, was hast du in Konstantinopel zu suchen? Willst du dort deine Kartoffeln auf dem Basar verkaufen? Warum antwortest du nicht?”
Der Pockennarbige wurde rot im Gesicht, blinzelte, breitete die Arme aus und antwortete empört: “Da hab ich überhaupt nichts zu suchen…”
“Du hast da nichts verloren, ich auch nicht, niemand von uns braucht diese Länder! Aber die reichen Kaufleute, die brauchen sie; da können sie Geschäfte machen, das bringt was ein. Wenn sie aber diese Länder brauchen, dann sollen sie sie auch selbst erobern. Was hat der Bauer damit zu tun? Warum haben sie bei euch das halbe Dorf an die Front geschickt? Damit die Händler dran verdienen! Narren seid ihr, jawohl, Narren! Seid große Kerle, und einen Bart habt ihr auch; aber jeder kann euch um den kleinen Finger wickeln.”
“Gott ja, recht hast du!” flüsterte der pockennarbige Bauer und schlug die Hände zusammen. “Recht hat er, weiß Gott!” Er seufzte tief auf und ließ den Kopf hängen.
“Wir Bolschewiki, wir sagen euch”, schloss Baskakow, “wir wollen keinen Frieden nach dem Sieg, auch nicht erst am nächsten Donnerstag, wenn der Regen aufhört, und auch nicht, nachdem noch vorher Tausende von Arbeitern und Bauern zu Krüppeln geschossen wurden – nein, wir Bolschewiki wollen sofort Frieden haben, wir brauchen keine Siege dazu! Wir haben ja im eigenen Land noch nicht einmal den Gutsbesitzer besiegt. Hab ich recht, meine Brüder, oder nicht? Und wenn jetzt einer nicht einverstanden ist, dann soll er hier herkommen und soll sagen, ich hätte gelogen, ich hätte nicht die Wahrheit gesagt – mehr habe ich euch nicht zu sagen, das ist alles!”
Ich weiß noch, wie die Menge tobte, wie sie aufstöhnte. Bleich im Gesicht, sprang Kruglikow auf den Wagen, fuchtelte mit den Armen in der Luft und wollte etwas sagen; sie stießen ihn hinunter. Baskakow stand daneben und rauchte seine Pfeife. Der pockennarbige Bauer, den Baskakow gefragt hatte, wozu er Konstantinopel brauche, zog ihn am Ärmel und lud ihn in sein Haus ein, mit ihm Tee zu trinken.
“Mit Honig!” sagte er; es klang wie eine Bitte. “Es ist noch was da! Das dürfen Sie mir nicht abschlagen, Genosse! Und die da, Ihre Freunde, die können auch mitkommen.”
Wir tranken heißen Tee, aus getrockneten Himbeeren aufgebrüht. Im ganzen Hause duftete es nach Honigwaben.
Auf der staubigen Straße vor unserem Fenster fuhr der Wagen mit den Sozialrevolutionären vorbei … Ein trockener, heißer Abend brach an. In der Ferne läuteten die Glocken der Stadt. In dreißig Kirchen beteten die schwarzen Mönche, dass wieder Ruhe werde in dem aufrührerischen Land.

 

3. Kapitel

Ich ging zum Friedhof hinaus, wollte Abschied nehmen von Timka Schtukin. Er fuhr mit seinem Vater in die Ukraine zu einem Onkel, der irgendwo bei Shitomir einen kleinen Hof besaß.
Ihre Sachen waren schon gepackt, sein Vater war nach einem Wagen unterwegs. Timka schien sich zu freuen. Es hielt ihn nicht auf seinem Platz, er lief von einem Winkel zum anderen, als wolle er sich noch einmal das kleine Haus ansehen, in dem er groß geworden war.
Aber ich fühlte, Timka war nicht froh, er musste an sich halten, um nicht loszuheulen. Seine Vögel hatte er alle freigelassen.
“Alle… sie sind alle weg, fortgeflogen”, sagte er, “mein Rotkehlchen und die Meisen, die Stieglitze und der Zeisig auch… alle. Weißt du, Borka, den Zeisig hatte ich am liebsten von allen. Er war ganz zahm, als ich jetzt seinen Käfig aufmachte, wollte er gar nicht raus. Da hab ich ihn mit einem Stöckchen aufgescheucht, und da ist er auf die Pappel geflogen und hat gesungen und gesungen… Seinen Käfig, den hatte ich an einen Zweig gehängt, und dann hab ich mich unter den Baum gesetzt und noch mal über alles nachgedacht: wie wir hier gewohnt haben. An die Vögel hab ich gedacht, an den Friedhof, an unsere Schule und dass das nun alles vorbei ist und wir von hier fort müssen. Ich hab lang so gesessen, und als ich aufstand und den Käfig mitnehmen wollte, da saß mein Zeisig obendrauf und wollte nicht wieder weg. Da bin ich auf einmal so traurig geworden, Borka, dass ich… dass ich beinahe geweint hätte.”
“Ich glaub, Timka, du hast wirklich geweint!” Auch mich hatte es gepackt.
“Das hab ich auch”, bekannte Timka mit zitternder Stimme. “Ich hab mich hier so an alles gewöhnt und bin nun so traurig, dass wir raus müssen! Weißt du, ich bin sogar beim Starosten, bei Sinjugin, gewesen und hab ihm gesagt, er möchte uns doch hier lassen! Vater weiß nicht, dass ich dort war. Aber das macht der Sinjugin ja nicht.” Timka seufzte tief auf und wandte sich ab. “Es geht nicht! Dem ist das ja egal, der hat ja sein Haus, und was für eins!”
Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern; rasch lief er ins Zimmer nebenan. Als ich einen Augenblick später zu ihm trat, hatte er das Gesicht in ein Kissen gepresst und weinte bitterlich.

*

Auf dem Bahnhof herrschte starkes Gedränge, alles stürzte sich auf den einlaufenden Zug. Timka und sein Vater waren verschwunden.
Sie werden Timka zerquetschen, dachte ich besorgt. Wo wollen die nur alle hin?
Der Bahnsteig war brechendvoll. Soldaten, Offiziere, Matrosen. Die sind daran gewöhnt, dachte ich, das ist ihr Dienst, aber wo wollen nur die anderen alle hin? Die Menschen hatten sich zwischen Bergen von Körben und Koffern niedergelassen. Ganze Familien waren unterwegs. Die Männer machten ein zorniges Gesicht; vom vielen Herumlaufen und von der Aufregung stand ihnen der Schweiß auf der Stirn. Frauen waren da, mit feinen Zügen, ihren Augen sah man die Müdigkeit an. Alte Muttchen liefen herum mit komischen Hüten auf dem Kopf, eigensinnig, verwirrt durch das Gewühl.
Auf einem riesigen Koffer, links von mir, saß eine alte Frau; mit der einen Hand klammerte sie sich an ein Bett, das mit Riemen zusammengebunden war, in der anderen hielt sie einen Käfig mit einem Papagei. Sie glich den alten hochwohlgeborenen Gräfinnen, wie man sie im Kino sah.
Sie rief einem jungen Marineoffizier etwas zu, der sich mühte, einen schweren, eisenbeschlagenen Koffer vom Bahnsteig hinunterzuzerren.
“Lassen Sie doch!” antwortete er. “Wo soll denn hier ein Gepäckträger herkommen? Verdammt noch mal…! Hallo!” rief er einem vorbeigehenden Soldaten zu und setzte den Koffer ab. “He, du… ! Los, hilf mir mal die Sachen in den Wagen tragen!”
Der so unerwartet angesprochene Soldat gehorchte dem befehlenden Ton, stand stramm und legte die Hände an die Hosennaht. Doch als schäme er sich seiner allzu großen Dienstbeflissenheit, nahm er unter den spöttischen Blicken seiner Kameraden wieder seine gewöhnliche Haltung ein. Langsam schob er eine Hand hinter den Riemen und schaute mit leicht zusammengekniffenen Augen den Offizier verschmitzt an.
“Ich rede mit dir!” schrie ihn der Offizier an. “Bist wohl taub, wie?”
“Gar nicht, ich bin nicht taub, Herr Leutnant, aber Ihre Sachen brauch ich nicht zu schleppen!”
Dann drehte er sich um und schritt ohne Eile den Zug entlang.
“Grégoire…!” schrie die Alte und verdrehte die farblosen Augen. “Grégoire, geh und hol einen Gendarm, der soll diesen Flegel festnehmen und vors Gericht bringen!”
Der Offizier winkte hoffnungslos ab. Dann packte ihn die Wut, und er entgegnete in scharfem Ton: “Wollen Sie noch etwas? Sie haben ja keine Ahnung! Einen Gendarm! Vielleicht fällt einer vom Himmel? Bleiben Sie lieber sitzen, und seien Sie still!”
Plötzlich schaute Timka aus einem Abteilfenster heraus. “He! Borka, wir sind hier!”
“Wie seid ihr untergekommen?”
“Och… ganz gut. Vater sitzt auf unseren Sachen, und mich hat ein Matrose auf seine Pritsche raufgelassen. Ich lieg bei ihm am Fußende. ‚Bleib nur ruhig liegen‘, hat er gesagt, ‚sonst schmeiß ich dich wieder runter!‘”
Aufgeschreckt durch das zweite Signal, lärmte die Menge noch stärker. Es herrschte ein wildes Durcheinander: Hier wurde wüst geflucht, nebenan französisch gesprochen, es duftete nach Parfüm und stank nach Schweiß, die Klänge einer Ziehharmonika verschmolzen mit lautem Weinen – eins ging ins andere über… Plötzlich war über allem der Pfiff der Lokomotive.
“Leb wohl, Timka!”
“Leb wohl, Borka!” rief er zurück, schaute noch einmal heraus und winkte.
Der Zug verschwand und mit ihm das ganze bunt zusammengewürfelte Volk aus allen Himmelsrichtungen. Der Bahnhof aber, so schien es, war nicht leerer geworden.
“Puh! Was ist das für‘n Gedränge!” hörte ich eine Stimme neben mir. “Alles will in den Süden, nur nach Süden. Nach Rostow, an den Don. Nach Norden, da fahren nur Soldaten hin und Dienstbotenvolk, aber nach Süden, dahin drängen sich die besseren Herren.”
“Die fahren wohl zur Kur?”
“Natürlich, zur Kur…”, antwortete er, und seine Stimme war voller Hohn. “Die wollen sich von der Angst kurieren lassen, die Herren leiden heute alle an der Angst!”
Ich ging zum Ausgang, vorbei an Kisten, Kästen und Säcken, an Menschen, die ihren Tee tranken und Sonnenblumenkerne kauten, an schlafenden, lachenden und schimpfenden Menschen ging ich vorbei.
Auf einmal tauchte Semjon Jakowlewitsch auf, der lahme Zeitungsverkäufer. Mit einer für sein Holzbein erstaunlichen Geschwindigkeit stelzte er durch die Menge und schrie mit seiner dünnen, kreischenden Stimme:
“Neue Zeitungen…! ‚Das russische Wort‘…! Sensationelle Nachrichten über das Auftreten der Bolschewiki! Regierung jagt bolschewistische Demonstration auseinander! Tote und Verwundete! Vergebliche Suche nach dem Bolschewikenführer Lenin…!”
Man riss ihm die Zeitungen aus der Hand und ließ sich gar nicht erst das Wechselgeld herausgeben.
Auf dem Heimweg hielt ich mich rechts von der Landstraße und schlug einen Pfad ein, der mitten durch ein Feld mit reifem Roggen führte.
Als ich in die Schlucht hinunterstieg, sah ich vom anderen Hang her einen Mann mir entgegenkommen, der unter einer schweren Last gebückt ging. Ich erkannte ihn sofort: es war Dohle.
“Boris”, rief er mir zu, “was machst du denn hier? Kommst du vom Bahnhof?”
“Ja, vom Bahnhof. Und wo wollen Sie hin? Doch nicht auch wegfahren? Dann kommen Sie zu spät, Semjon Iwanowitsch, der Zug ist gerade weg.”
Der Lehrer blieb stehen, ließ die schwere Last ins Gras fallen und legte sich daneben. Er machte ein betrübtes Gesicht und sprach: “Auch das noch! Was machen wir jetzt hiermit?” Er stieß mit dem Fuß an den dickverschnürten Packen.
“Was ist denn da drin?” wollte ich wissen.
“Alles Mögliche…Literatur…und sonst noch was.”
“Na, dann geben Sie‘s mal her! Zurück helfe ich Ihnen tragen. Sie lassen das Zeug im Klub und können morgen fahren.”
Dohle schüttelte seinen schwarzen Bart, der wie immer voller Machorkakrümel hing.
“Mit dem Klub, das geht nicht, mein Junge. Es ist aus mit dem Klub, wir haben keinen mehr.”
“Was? Wir haben keinen Klub mehr?” Fast wäre ich aufgesprungen. “Ist er abgebrannt, wie? Ich bin doch noch heute morgen dran vorbeigegangen…
“Nein, abgebrannt ist er nicht, mein Lieber, geschlossen haben sie ihn. Nur gut, dass uns unsere Leute rechtzeitig warnen konnten. Da machen sie jetzt Haussuchung.”
Ich konnte es nicht fassen.
“Semjon Iwanowitsch, das versteh ich nicht. Wer kann denn einfach unseren Klub zumachen? Haben wir denn schon wieder das alte Regime…? Jetzt haben wir doch die Freiheit. Die Sozialrevolutionäre haben einen Klub und die Menschewiki und die Kadetten und die Anarchisten auch. Die sind immer besoffen und haben die Fenster mit Brettern zugenagelt, aber denen tut keiner was. Bei uns aber ist immer alles ruhig, und jetzt haben sie uns den Klub auf einmal zugemacht!”
“Freiheit!” Dohle lächelte. “Freiheit für wen, Junge, und für wen nicht? Doch was soll ich nur mit dem Zeug hier anfangen? Wir müssen es bis morgen verstecken. Zurück damit in die Stadt, das geht nicht, am Ende nehmen sie‘s mir noch ab.”
“Wir verstecken es, Semjon Iwanowitsch! Ich weiß ‘ne Stelle, hier ganz in der Nähe. Wenn wir ein Stückchen in der Schlucht weitergehen, kommen wir an einen Teich. Daneben ist eine Grube, da haben sie früher Lehm gestochen für Ziegel. In den Wänden sind lauter Löcher; darin kann man nicht nur so ‘nen Packen verstecken, da gehen Pferd und Wagen rein. Bloß Schlangen soll‘s da geben, und ich bin barfuss. Aber Sie mit Ihren Stiefeln können ruhig rein. Und wenn sie mal beißen, das ist nicht so schlimm, davon stirbt man nicht, da wird‘s einem nur schwindlig.”
Meine letzte Bemerkung gefiel Dohle nicht besonders gut, und er fragte, ob es nicht in der Nähe noch ein anderes Versteck gebe, ohne Schlangen.
“Nein, ein anderes gibt es nicht. Hier laufen auch überall Leute rum: Hirten ziehen durch mit ihrer Herde, die Leute arbeiten auf ihrem Kartoffelacker, und in den Gärten, da strolchen immer die Jungens herum.”
Dohle nahm den Packen auf den Rücken, und wir schritten den Bach entlang.
Wir versteckten das Bündel an einer sicheren Stelle.
“Und jetzt lauf in die Stadt”, sagte Dohle. “Ich hol die Sachen morgen selbst ab. Wenn du einen vom Komitee siehst, dann sag ihm, ich wäre noch nicht weggefahren. Halt! Noch eins…” Er hielt mich an und schaute mir in die Augen. “Noch eins! Junge! Nicht drüber reden…” Und er legte mir den Finger auf den Mund.
“Aber was glauben Sie denn, Semjon Iwanowitsch!” antwortete ich und verzog verächtlich das Gesicht. “Was denken Sie denn von mir! Meinen Sie, ich würde auch nur das geringste… irgendwann? Das habe ich schon in der Schule nicht getan, nicht mal beim Spielen, aber jetzt ist es doch Ernst, und da sagen Sie noch…”
Dohle ließ mich nicht zu Ende reden, klopfte mir mit seiner mageren Hand auf die Schulter und sagte lächelnd: “Schon gut…nun geh…! Verschwörer du!”

 

4. Kapitel

Im Laufe des Sommers war Fedka größer und männlicher geworden. Er ließ sich die Haare lang wachsen, trug meist ein schwarzes Hemd nach russischer Art und hatte stets eine Mappe mit Zeitungen unter dem Arm. In dieser Aufmachung lief er von Meeting zu Meeting, von Versammlung zu Versammlung.
Fedka war inzwischen Vorsitzender des Klassenkomitees und Verbindungsmann vom Realgymnasium zum Mädchengymnasium geworden. Auch zu den Elternversammlungen wurde er delegiert. Er hörte sich gern reden – ein zweiter Kruglikow. Bei Diskussionen stand er auf der Bank: “Dürfen die Schüler sitzen bleiben, wenn sie vom Lehrer gefragt werden, oder müssen sie aufstehen?”, “Ist es zulässig, dass in einem freien Lande während des Religionsunterrichts Karten gespielt wird?” Einen Fuß vorgestellt, die Hand im Gürtel, begann er: “Bürger, wir rufen dazu auf… Die Umstände zwingen uns… Wir tragen die Verantwortung für die Revolution…” Und so ging es weiter und immer weiter.
Zwischen Fedka und mir stimmte etwas nicht. Zu offenem Streit war es noch nicht gekommen, aber unsere Beziehungen verschlechterten sich mit jedem Tage.
Und wieder wurde ich von allen gemieden.
Kaum begann Gras über die Geschichte mit meinem Vater zu wachsen, kaum fing das Eis zwischen mir und einigen meiner alten Kameraden an aufzutauen, als auf einmal aus Moskau ein anderer Wind wehte. Die Menschen in unserer Stadt machten Front gegen die Bolschewiki – unser Klub wurde geschlossen. Die Miliz verhaftete Baskakow, und von neuem stand meine ganze Klasse gegen mich auf: warum ich mich mit den Bolschewiki eingelassen, warum ich am 1. Mai auf dem Dach des Klubs die rote Fahne gehisst und warum ich Fedka auf dem Meeting nicht geholfen hätte, Flugblätter für den “Krieg bis zum siegreichen Ende” zu verteilen.
Alle verteilten jetzt Flugblätter. Manch einer nahm solche Zettel von den Kadetten, den Anarchisten, den Christlichen Sozialisten, den Bolschewiki – was ihm gerade in die Hände fiel – und steckte sie den Leuten auf der Straße in die Tasche. Niemand dachte sich etwas dabei; es war, als ob es so sein müsste.
Wie hätte ich aber Fedka die Flugblätter der Sozialrevolutionäre abnehmen können, wo mir doch gerade erst Baskakow einen ganzen Stapel seiner eigenen Blätter gegeben hatte? Ich konnte doch nicht beide verteilen. Sie waren zwar gleich groß, aber auf den einen stand “Es lebe der Sieg über die Deutschen!”, auf den anderen “Nieder mit dem räuberischen Krieg!”, auf den einen “Unterstützt die Provisorische Regierung!”, auf den anderen “Fort mit den zehn Kapitalisten-Ministern!” Was sollte ich mit beiden Packen anfangen, wo doch ein Flugblatt das andere auffraß?
Der Schulunterricht war schlecht in jener Zeit. Die Lehrer hatten ständig Sitzungen in den Klubs; wer von ihnen sich zur Monarchie bekannte, nahm seinen Abschied. Die halbe Schule war vom Roten Kreuz belegt.
“Ich geh nicht mehr in die Schule, Mutter”, sagte ich manchmal. “Richtigen Unterricht gibt‘s sowieso nicht mehr, und mit allen hab ich Krach. Gestern zum Beispiel, da lief der Korenjew mit einer Büchse rum und sammelte für die Verwundeten; ich hatte zwanzig Kopeken, die warf ich ihm rein; aber da sah er mich nur von der Seite an und sagte: ‚Von solchen Abenteurern braucht unser Vaterland nichts!‘ Ich musste mich auf die Lippen beißen. Und alle anderen standen dabei! Ich hab ihm gesagt: ‚Jawohl, ich bin der Sohn eines Deserteurs, aber du bist der Sohn eines Diebes. Dein Vater liefert für die Armee und bestiehlt sie dabei; und du willst jetzt wahrscheinlich an den Sammlungen für die Verwundeten verdienen.‘ Beinahe hätten wir uns geschlagen. In den nächsten Tagen ist das Kameradengericht, aber ich pfeif darauf. Was sind das schon für Richter!”

*

Von Vaters Pistole konnte ich mich nicht trennen. Sie war klein und handlich und steckte in einer Ledertasche. Ich trug sie nicht, um mich zu verteidigen, es wollte mich ja niemand überfallen. Aber ich hing an der Waffe; sie war ein Andenken an Vater, ein Geschenk von ihm, das einzig Wertvolle, was ich besaß. Wenn ich die Waffe in meiner Tasche spürte, empfand ich stets so etwas wie Freude und Stolz. Schließlich war ich damals fünfzehn Jahre alt, und welcher Junge von fünfzehn Jahren hätte nicht gern eine richtige Pistole? Nur Fedka wusste davon. Ich hatte sie ihm einmal gezeigt, als wir noch gute Freunde waren. Voller Neid hatte er damals das Geschenk meines Vaters betrachtet.
Am Tage nach der Geschichte mit Korenjew betrat ich wie gewöhnlich unsere Klasse, ohne jemanden zu begrüßen oder mich um jemanden zu kümmern – so war es immer in der letzten Zeit.
In der ersten Stunde hatten wir Geographie. Unser Lehrer erzählte uns zunächst einiges über das westliche China und kam dann auf die letzten Zeitungsnachrichten zu sprechen. Auf einmal sah ich, wie Fedka Zettelchen schrieb und herumreichen ließ. Ich schaute meinem Nachbarn über die Schulter und konnte oben auf so einem Zettel meinen Namen lesen. Das machte mich stutzig.
Als es klingelte, stand ich auf. Meine Umgebung scharf im Auge behaltend, ging ich auf die Tür zu, bemerkte aber sofort, wie einige der Stärksten aus der Klasse mir den Weg zur Tür versperrten. Sie stellten sich im Halbkreis um mich herum, aus ihrer Mitte trat Fedka auf mich zu.
“Was willst du?” fragte ich.
“Gib deine Pistole heraus”, erklärte er frech. “Das Klassenkomitee hat angeordnet, du sollst die Pistole bei der Miliz abgeben. Du gibst sie jetzt sofort an das Komitee heraus und kriegst morgen von der Miliz eine Quittung darüber.”
“Was für eine Pistole?” Bei diesen Worten wich ich ans Fenster zurück, gab mir alle Mühe, ruhig zu bleiben.
“Na, nun tu bloß nicht so! Du hast immer eine Mauser bei dir, das weiß ich. In der rechten Tasche steckt sie. Gib sie lieber freiwillig heraus, sonst rufen wir die Miliz. Los, her damit!” Und er streckte die Hand aus.
“Die Mauser willst du?”
“Jawohl!”
“Das willst du wohl?!” schrie ich ihn an und hielt ihm die Faust vor die Nase. “Hast du sie mir denn gegeben? Nein? Dann hau ab, oder du kriegst die Schnauze voll!”
Blitzschnell schaute ich mich um und sah, wie hinter mir vier Mann standen, bereit, mich von hinten zu packen. Ich machte einen Satz nach vorn, um an die Tür zu kommen, aber Fedka riss mich an der Schulter zurück. Ich schlug mit der Faust zu, aber im gleichen Augenblick wurde ich von hinten gepackt und festgehalten. Jemand versuchte, mir die Hand aus der Tasche zu ziehen. Es gelang nicht… Um so fester spannte sich meine Hand um den Griff der Pistole.
Die wollen mir meine Pistole abnehmen… meine Pistole…! durchzuckte es mich.
Wie ein wildes Tier im Fangeisen heulte ich auf, riss die Waffe heraus, entsicherte mit dem Zeigefinger und zog ab.
Vier Paar Fäuste ließen blitzschnell los. Mit einem Satz war ich auf der Fensterbank… Unter mir sah ich ihre Gesichter, wie Watte so weiß, sah auf dem Boden die gelbe Fliese, die das Geschoß durchschlagen hatte. Wie zur Salzsäule erstarrt, stand Vater Gennadi in der Tür. Ohne zu überlegen, sprang ich vom ersten Stockwerk hinunter in ein Beet mit leuchtendroten Georginen.

*

Spät am Abend kletterte ich vom Garten her am Abflussrohr bis ans Fenster unserer Wohnung hoch. Ich bewegte mich ganz leise, um die Leute im Hause nicht zu erschrecken. Meine Mutter aber hatte das Geräusch gehört. Sie trat ans Fenster und fragte leise: “Wer ist dort? Bist du‘s, Boris?”
“Ja, Mutter.”
“Klettere nicht am Rohr hoch, du kannst runterfallen. Komm, ich mach dir die Türe auf.”
“Lass nur, Mutter… Ich komm auch so rein.”
Ich sprang vom Fensterbrett und blieb stehen; jetzt würde sie schimpfen und jammern.
“Willst du was essen?” fragte Mutter, immer noch leise. “Setz dich hin, ich hab Suppe für dich, sie ist noch warm.
Mutter schien also nichts zu wissen. Ich gab ihr einen Kuss und setzte mich hin… Wie sollte ich ihr das alles erklären?
Während ich zerstreut meine Suppe löffelte, die zu lange gekocht hatte, spürte ich, wie mich meine Mutter unverwandt von der Seite anblickte. Mir wurde unbehaglich, und ich legte den Löffel auf den Rand des Tellers.
“Der Inspektor war hier”, begann Mutter, “er hat gesagt, du würdest aus der Schule ausgeschlossen, und wenn du nicht bis morgen Mittag um zwölf deine Pistole bei der Miliz abgegeben hättest, dann würden sie es melden und die Miliz würde sie dir mit Gewalt abnehmen. Gib sie ab, Boris!”
“Ich geb sie nicht ab”, entgegnete ich eigensinnig, ohne sie anzuschauen. “Die hab ich von Vater.”
“Und wenn auch von Vater! Was willst du denn damit? Später besorgst du dir eine neue. Du bist überhaupt in der letzten Zeit so außer Rand und Band, ganz abgesehen von der Pistole. Du wirst noch einen totschießen! Bring sie weg morgen und gib sie ab!”
“Nein!” antwortete ich und schob den Teller zur Seite. “Eine andere will ich nicht, ich will nur die! Sie ist von Vater. Ich bin nicht außer Rand und Band, ich tue niemandem was. Sie gehen aber alle auf mich los. Dass sie mich ausschließen, ist mir ganz egal, ich wär sonst von selbst gegangen. Ich versteck die Pistole und geb sie nicht her.”
“Um Gottes willen!” Meine Mutter wurde böse. “Gut, dann werden sie dich so lange einsperren, bis du sie abgibst!”
“Sollen sie mich doch einsperren!” entgegnete ich wütend. “Den Baskakow haben sie auch eingesperrt… Dann sitz ich eben und geb sie trotzdem nicht raus… Ich geb sie nicht raus!” wiederholte ich so laut, dass Mutter zurückwich.
“Na, na, dann gibst du sie eben nicht raus!” sagte Mutter schon sanfter. “Was geht es mich schließlich an?” Sie schwieg und schien über etwas nachzusinnen. Dann stand sie auf, ging zur Tür hinaus und fügte voller Bitterkeit hinzu: “Ihr bringt mich noch auf den Friedhof!”
Ich wunderte mich, wie nachgiebig Mutter auf einmal war. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie mischte sich selten in meine Angelegenheiten; aber wenn sie es tat, dann gab sie sich nicht eher zufrieden, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte.
In jener Nacht schlief ich sehr fest und hatte einen Traum: Timka kam zu mir und brachte mir einen Kuckuck als Geschenk. “Was soll ich denn mit dem Kuckuck, Timka?” Timka schwieg. “Kuckuck, Kuckuck, Wie viel Jahre bin ich alt?” Der Kuckuck antwortete siebzehnmal. “Stimmt nicht”, sagte ich, “ich bin erst fünfzehn.” “Nein”, Timka schüttelte den Kopf. “Deine Mutter hat dich belogen.” “Warum soll mich meine Mutter belogen haben?”
Da sah ich, dass es gar nicht Timka, sondern Fedka war. Er stand da und lachte mich aus.
Ich wachte auf, sprang aus dem Bett und schaute ins Zimmer nebenan – fünf Minuten vor sieben. Meine Mutter war nicht da. Es war höchste Zeit, meine Pistole im Garten zu verstecken.
Ich zog mein Hemd über, riss die Hose vom Stuhl – da überlief es mich plötzlich eiskalt: sie war verdächtig leicht. Vorsichtig, als fürchtete ich, mich zu verbrennen, fuhr ich mit der Hand in die Tasche. Es war so – die Pistole war nicht mehr drin; während ich schlief, hatte Mutter sie herausgenommen. – So sieht das also aus! Auch sie ist gegen mich. Und gestern habe ich ihr noch geglaubt. Deswegen hat sie sich auch keine Mühe gegeben, mich zu überreden… Bestimmt hat sie sie zur Miliz gebracht.
Schon wollte ich ihr nachrennen… da schlug die Uhr.
“Halt… ! Halt…! Halt…!” rief sie mir zu. Ich blickte aufs Zifferblatt… es war erst sieben Uhr. Wo konnte Mutter nur sein? Der große geflochtene Korb, der sonst immer in der Ecke stand, war nicht da; dann musste sie wohl zum Markt gegangen sein.
Aber wenn Mutter zum Markt gegangen war, konnte sie doch die Pistole nicht mitgenommen haben, dann war sie bestimmt irgendwo im Hause versteckt, aber wo? Mir kam ein Gedanke: Im Schrank, in der oberen Schublade, der einzigen, die sich abschließen ließ – da musste sie sein.
Vor langer Zeit hatte Mutter einmal in der Apotheke rosa Sublimatkugeln gekauft und vorsichtshalber in dieser Schublade eingeschlossen. Fedka und ich wollten damals den roten Kater von Simakows vergiften, weil die Simakows einmal unserem Hund die Pfote aufgeschlagen hatten. Zwischen allerlei Eisenzeug hatten wir schließlich den Schlüssel gefunden, ein Kügelchen aus der Schublade herausgenommen und den Schlüssel wieder an seinen alten Ort gebracht.
Ich ging in unsere Rumpelkammer und zog die schwere Kiste vor. Allerlei überflüssigen Plunder, eiserne Muttern und Schrauben warf ich hinaus und suchte nach dem Schlüssel.
Dabei schnitt ich mir noch die Hand an einem Stück Blech auf, fand dafür aber gleich drei rostige Schlüssel… Einer von ihnen würde wohl passen…
Ich trat an den Schrank; der Schlüssel passte gerade so hinein… Krach! sprang das Schloss auf. Ich zog die Schublade heraus… da lag meine Pistole, die Tasche daneben. Ich nahm beides heraus, schloss die Schublade zu, warf den Schlüssel durch das Fenster in den Garten und lief auf die Straße. Als ich mich nach allen Seiten umblickte, sah ich meine Mutter vom Markt zurückkommen. Rasch verschwand ich um die Ecke und lief in Richtung auf den Friedhof davon.
Am Rand des Wäldchens blieb ich stehen, um zu verschnaufen. Schweratmend ließ ich mich auf einen Haufen trockenen Laubs fallen; ständig schaute ich mich um, weil ich fürchtete, man werde mich verfolgen. Neben mir floss still ein kleiner Bach. Sein Wasser war klar, aber lauwarm und roch nach Wasserpflanzen. Ohne mich aufzurichten, schöpfte ich eine Handvoll Wasser und trank; dann legte ich die Hände unter den Kopf und überlegte.
Was sollte ich jetzt anfangen? Nach Hause konnte ich nicht zurück, in die Schule auch nicht. Das heißt, nach Hause hätte ich schon gekonnt… Vielleicht versteckte ich die Mauser und ginge zurück. Mutter würde sich ärgern, aber das hörte ja auch mal wieder auf. Sie war selbst schuld – warum hatte sie die Pistole auch heimlich herausgenommen? Aber dann käme die Miliz. Sie würden mir nicht glauben, dass ich die Pistole verloren hätte: Und wenn ich sagte, sie gehöre einem anderen, würde man fragen, wem? Auf jeden Fall aber würden sie mich einsperren! Du Schuft, Fedka… du Schuft!
Durch die lichten Stämme des Wäldchens war der Bahnhof zu sehen.
Von dorther klang das ferne Tuten einer Lokomotive. Über dem Bahndamm stand eine Wolke aus weißem Dampf, und wie ein schwarzer Käfer kam eine Lokomotive langsam um die Biegung gekrochen.
Wieder heulte sie auf, und ihr Signal war wie ein Gruß an den freundschaftlich ausgestreckten Arm der Signalstange.
Und wenn ich nun…
Ich richtete mich vorsichtig auf und überlegte.
Ich fahre nach Nishni, sagte ich mir. Dort treffe ich Dohle. Er ist jetzt in Sormowo. Der freut sich und bringt mich bei sich unter; wie es dann weitergeht, wird man ja sehen. Wenn sich alles wieder beruhigt hat, kehre ich zurück. Vielleicht aber – so sagte mir eine innere Stimme – komme ich nie mehr wieder.
So wird‘s gemacht, entschied ich mit einer mir selbst unerwarteten Entschlossenheit. Ich war mir im klaren, dass ich eine wichtige Entscheidung getroffen hatte, und stand vom Boden auf. Ich fühlte mich groß und stark.

 

5. Kapitel

In der Nacht kam mein Zug in Nishni Nowgorod an. Als ich aus dem Bahnhof trat, stand ich auf einem großen Platz. Im Schein seiner Laternen funkelten Schulterstücke, blitzten Bajonette auf nagelneuen Gewehren.
Auf einer Tribüne stand ein Mann mit rotem Bart und hielt vor den Soldaten eine Rede. Die Verteidigung des Vaterlandes sei ihre Pflicht, sagte er und versuchte sie davon zu überzeugen, dass die “verfluchten deutschen Imperialisten” unvermeidlich den Krieg bald verlieren würden.
Alle Augenblicke wandte er sich an einen alten, grauhaarigen Oberst neben ihm, der jedes Mal zustimmend mit seinem runden Kahlkopf nickte, als wolle er die Worte des rothaarigen Sprechers bestätigen.
Der Sprecher machte einen völlig erschöpften Eindruck. Er schlug sich mit gespreizten Fingern an die Brust und fuchtelte bald mit einem Arm, bald mit beiden in der Luft herum. Er appellierte an das Bewusstsein der Soldaten, an ihr Gewissen. Als ihm schien, er habe nun durch die Gewalt seiner Rede die graue Masse bis ins Innerste aufgewühlt, holte er noch einmal mit der Hand aus und hätte dabei ums Haar dem erschreckt zurückweichenden Obersten an den Hals geschlagen. Dann stimmte er laut die Marseillaise an. Ein paar Dutzend Stimmen fielen ein, die Kolonnen der Soldaten aber schwiegen.
Da brach der Rothaarige mitten im Liede ab, warf seine Mütze auf den Boden und ging von der Tribüne hinunter.
Der alte Oberst aber stand noch eine Weile oben, er machte eine hilflose Handbewegung und stieg dann – die Hand am Geländer – gesenkten Hauptes vorsichtig hinab.
Das Marschbataillon sollte an die deutsche Front abrücken.
Singend zogen die Soldaten zum Bahnhof, man warf ihnen Blumen und Geschenke zu, und es war alles in bester Ordnung. Auf dem Bahnhof stellte sich aber heraus, dass nicht genügend heißes Wasser zum Teekochen da war, und in einigen Waggons fehlten die hölzernen Schlafpritschen. Daraufhin riefen die Soldaten sofort ein Meeting zusammen.
Mit einem Male waren Redner da, die die Bataillonsführung nicht bestellt hatte; mit dem fehlenden Teewasser ging es los und endete unerwartet mit der Entschließung: “Es ist genug! Wir standen an der Front, und zu Hause ging unser Hof vor die Hunde, das Gutsbesitzerland ist immer noch nicht aufgeteilt, wir wollen nicht mehr an die Front!”
Feuer loderten auf, es roch nach dem Harz zersplitternder Bretter, nach Machorka und getrocknetem Fisch, der in Stapeln am Ufer lag, und nach dem frischen Wind, der von der Wolga kam.
Vorbei an den Feuern, den Gewehren, den aufgeregten Soldaten, an laut schreienden Rednern, an wütenden Offizieren, die völlig den Kopf verloren hatten, schritt ich, aufgewühlt und voller Freude, in das nächtliche Dunkel der Straßen am Bahnhof.
Der erste, den ich nach dem Weg nach Sormowo fragte, gab mir erstaunt zur Antwort: “Nach Sormowo führt kein Weg von hier, mein Lieber. Da musst du mit dem Dampfer fahren. Zahlst einen halben Rubel und steigst ein; aber vor morgen früh fährt kein Dampfer mehr.”
Ich strich noch eine Weile in den Straßen umher und kroch dann in eine leere Kiste, wie sie in ganzen Stapeln an einem Zaun herumlagen. Hier wollte ich warten, bis es hell würde; bald war ich eingeschlafen.
Durch ein Lied wurde ich wach: Arbeiter waren es, die mit vereinten Kräften irgendeine schwere Last hochwuchteten.
“Hallo, Kinder: zu-u-gleich!”
Ein Vorsänger führte sie mit einem etwas heiseren, aber angenehmen Tenor.
Plötzlich fielen die übrigen mit schneidenden und ebenso heiseren Stimmen ein: “Noch mal, Kinder: zu-u-gleich!”
Irgend etwas geriet in Bewegung, krachte und kreischte.
“Den Anfang haben wir gemacht,          
nur das Pack nicht umgebracht.”
Ich steckte den Kopf aus meiner Kiste. Wie Ameisen um ein Stück Roggenbrot, so drängten sich von allen Seiten die Hafenarbeiter um eine rostige Winde und schoben sie über schräge Schienen auf eine Rampe. Und wieder begann der unsichtbare Vorsänger:
“Zu-u-gleich… verjagt ist nun der Nikolai,             
zu-u-gleich… man sagt, dass das zuwenig sei!”
Und wieder kreischte es.
“Schlägt das Volk noch einmal zu,         
hat es auch vor Saschka Ruh!”
Es rasselte und krachte. Die Rampe ächzte, als die Winde schwer aufsetzte. Das Lied brach ab, ich hörte, wie die Arbeiter sprachen und fluchten.
Das war ein Lied! dachte ich. Wer mag dieser Saschka sein? Bestimmt der Kerenski…! Für so ein Lied würde man bei uns in Arsamas bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen, hier aber stand einer von der Miliz dabei und tat so, als hätte er nichts gehört.
Ein kleiner schmutziger Dampfer hatte schon lange am Ufer angelegt. Einen halben Rubel besaß ich nicht, und neben der schmalen Schiffstreppe standen ein rothaariger Kontrolleur und ein Matrose mit einem Gewehr.
Ich kaute an meinen Nägeln und betrachtete verzagt das ölige Wasser, das gurgelnd zwischen der Ufermauer und der Bordwand des Schiffes hindurchfloss. Melonenschalen, Holzspäne, zerrissene Zeitungen und anderer Kram trieben auf dem Wasser umher.
Vielleicht gehe ich zum Kontrolleur, überlegte ich. Ich lüg ihm irgendwas vor: Ich wär ein Waisenkind und wollte jetzt zu meiner kranken Großmutter. Lassen Sie mich doch bitte mitfahren!
In dem trüben Wasser spiegelten sich mein braungebranntes Gesicht, mein Kopf mit dem kurz geschnittenen Haar und die Schülerbluse mit ihren glänzenden Knöpfen.
Seufzend entschloss ich mich, die Geschichte mit dem Waisenkind gar nicht erst anzubringen, da Waisenkinder mit solch gesundem Aussehen wenig überzeugen können.
In Büchern hatte ich gelesen, dass sich junge Leute, denen wie mir das Geld für die Fahrkarte fehlte, auf einem Dampfer als Schiffsjunge anstellen ließen. Aber das konnte ich hier nicht machen; ich wollte ja nur aufs andere Ufer hinüber.
“Was stehst du hier rum? Geh mal weg!” hörte ich eine dreiste Stimme und sah einen kleinen, pockennarbigen Burschen neben mir stehen.
Der Junge warf nachlässig einen Packen irgendwelcher Flugblätter auf eine Kiste und holte blitzschnell einen dicken Zigarettenstummel unter meinen Füßen hervor.
“Bist ja schön blöd!” sagte er herablassend zu mir. “So ‘ne Kippe hast du nicht gesehen!”
Ich antwortete, auf Kippen sei ich nicht scharf, weil ich nicht rauchte, und fragte ihn, was er hier suche.
“Wer? Ich?” Dabei spuckte er so geschickt aus, dass er mitten auf ein Holzscheit traf, das gerade vorbeischwamm. “Ich verteile Flugblätter von unserem Komitee.”
“Von welchem Komitee?”
“Na… vom Arbeiterkomitee natürlich. Du kannst mir dabei helfen, wenn du willst.”
“Ja, aber ich muss mit dem Dampfer nach Sormowo rüber, hab bloß keine Fahrkarte”, antwortete ich.
“Was willst du denn in Sormowo?”
“Ich will zu meinem Onkel, der arbeitet da in der Fabrik.”
Vorwurfsvoll fragte er: “Wie kannst du denn zu deinem Onkel wollen, wenn du nicht mal ‘nen halben Rubel hast?”
“‚Halben Rubel‘ ist gut, aber ich bin doch von zu Hause weggelaufen”, brach es ehrlich aus mir heraus.
“Weggelaufen?” Misstrauisch glitten seine Blicke an mir hinab.
Er zog die Nase kraus und meinte mitfühlend: “Und wenn du nach Hause kommst, haut dir dein Vater die Jacke voll.”
“Ich geh nicht mehr nach Hause, und einen Vater hab ich auch nicht mehr. Den haben sie unterm Zaren umgebracht. Mein Vater war Bolschewik.”
“Meiner ist auch Bolschewik”, antwortete er hastig, “bloß der lebt noch. Mein Vater, der ist der Erste von ganz Sormowo, so ‘n Mann ist das! Du brauchst nur einen zu fragen: ‚Wo wohnt hier Pawel Kortschagin?‘, dann sagt dir jeder: ‚Der ist im Komitee… In Waricha, in der Fabrik von Ter-Akopow.‘ Ja, so‘n Mann ist mein Vater!”
Dann warf er seinen Zigarettenstummel weg, zog die Hose hoch, die ihm hinuntergerutscht war, und tauchte irgendwo in der Menge unter. Die Flugblätter hatte er neben mir liegenlassen.
Ich nahm eins und las.
Darauf stand, Kerenski sei ein Verräter und wolle mit dem konterrevolutionären General Kornilow verhandeln. Das Flugblatt forderte offen dazu auf, die Provisorische Regierung zu stürzen und die Sowjetmacht zu errichten.
Der scharfe Ton des Flugblatts machte auf mich einen noch stärkeren Eindruck als das freche Lied der Arbeiter. Atemlos kam der Junge zwischen den Heringsfässern hervor und rief mir noch im Laufen zu: “Ich hab keinen gekriegt!”
“Was hast du nicht?” Ich hatte ihn nicht verstanden. “Ich hab keinen halben Rubel gekriegt. Simon Kotylkin von uns, der arbeitet hier, aber der hat auch keinen, hat er gesagt.”
“Aber was willst du denn mit dem Geld?”
“Das wollte ich dir geben!” Er sah mich ganz erstaunt an. “Damit du dir ‘ne Fahrkarte kaufen kannst. In Sormowo kriegst du‘s von deinem Onkel, und dann kannst du‘s mir zurückgeben; ich bin nämlich auch aus Sormowo.”
Er drehte sich um und war schon wieder im Gewühl verschwunden, kehrte aber gleich zurück.
“Alles in Ordnung! Hier hast du meine Flugblätter, und damit gehst du einfach auf den Dampfer. Siehst du da den Matrosen mit dem Gewehr? Das ist Paschka Surkow. Wenn du über den Steg gehst, dann sagst du ihm: ‚Flugblätter vom Komitee‘, aber sprich nicht mit dem Kontrolleur. Geh einfach durch. Der Matrose hilft dir, wenn was passiert.”
“Ja, und du?”
“Ach, ich komm schon rauf, bin ja nicht fremd hier.”
Der altersschwache kleine Dampfer, auf dem lauter Apfelschalen und zertretene Äpfel herumlagen, hatte schon lange das Ufer verlassen, von meinem Kameraden war aber immer noch nichts zu sehen.

*

Ich hatte mich auf einem Haufen rostiger Ankerketten niedergelassen und atmete tief die kühle Luft ein, die nach Äpfeln, 01 und Fischen roch. Neugierig betrachtete ich die anderen Passagiere. Neben mir saß einer, der sah halb wie ein Diakon, halb wie ein Mönch aus. Er sprach kein Wort und wollte wohl so wenig wie möglich auffallen. Verstohlen blickte er sich nach allen Seiten um und kaute an einem Stück Melone, wobei er die Kerne sorgfältig in die Hand spuckte.
Außer diesem Mönch und einigen Frauen mit Milchkannen fuhren noch zwei Offiziere mit, etwas abseits standen vier Milizionäre neben einem Mann in Zivil mit roter Armbinde. Alle anderen waren Arbeiter. Sie saßen und standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich laut, stritten miteinander und fluchten, lachten oder lasen laut aus der Zeitung vor. Es sah aus, als seien sie alle miteinander bekannt, weil sie sich ohne große Umstände in die Streitigkeiten anderer einmischten; Bemerkungen und Scherzworte flogen hinüber und herüber.
Vor uns erschien Sormowo. Es war ein windstiller Morgen. Der Rauch der Fabriken hatte sich zu dichten Wolken zusammengeballt; vom Schiff sah es aus, als streckten die riesigen Schornsteine weithin ihre schwarzen Fühler aus.
“He, du!” vernahm ich hinter mir die bekannte Stimme des pockennarbigen Jungen.
Ich war froh, dass er wieder da war, denn ich wusste nicht, was ich mit den Flugblättern anfangen sollte.
Er setzte sich neben mich auf ein zusammengerolltes Tau, zog einen Apfel aus der Tasche und hielt ihn mir hin.
“Da hast du ‘nen Apfel. Die Arbeiter am Ufer haben mir ‘ne ganze Mütze voll gegeben, weil ich ihnen immer die neuesten Flugblätter und Zeitungen bringe. Gestern haben sie mir ein ganzes Bündel Fische geschenkt, Rotaugen. Macht denen gar nichts aus! Sie brauchen bloß in einen Sack zu greifen, das ist alles. Drei hab ich selbst gegessen und zwei mit nach Hause genommen, einen für Anka und einen für Manka. Das sind meine Schwestern”, erklärte er und fügte herablassend hinzu: “Die sind noch dumm… wollen nur was zu fressen haben.
Mit einem Schlage verstummte das lebhafte Sprechen – der Zivilist mit der roten Armbinde, von den Milizionären begleitet, begann unerwartet die Ausweise zu prüfen. Schweigend zeigten die Arbeiter ihre zerknitterten, schmierigen Papiere vor und machten dann feindselig-frostige Bemerkungen.
“Wen mögen die wohl suchen?”
“Weiß der Teufel!”
“Die sollten mal zu uns nach Sormowo kommen, da könnten sie aber suchen!”
Den Milizionären schien das Ganze nicht zu gefallen; man sah, wie unangenehm es ihnen war, dass sie von vielen nur mit Verachtung angesehen wurden.
Den Zivilisten rührte diese allgemeine abweisende Zurückhaltung nicht. Herausfordernd runzelte er die Stirn und schritt auf den Mönch zu. Dieser wurde noch kleiner und deutete mit einer traurigen Handbewegung auf eine Sammelbüchse, die er am Bauch hängen hatte. Darauf stand: “Übt christliche Barmherzigkeit und spendet für den Wiederaufbau der von den Deutschen zerstörten Kirchen.” Mit einem widerlichen Grinsen wandte sich der Zivilist von dem Mönch ab und packte ohne viel Umstände den Jungen neben mir an der Schulter.
“Ausweis?”
“Den krieg ich erst, wenn ich älter bin”, antwortete der wütend.
Als er sich losreißen wollte, verlor er das Gleichgewicht und ließ seine Flugblätter fallen.
Der Zivilist hob eins auf, überflog es hastig und sagte in leisem, aber gefährlichem Ton: “Für einen Ausweis noch zu jung, aber für dieses Zeug scheint er alt genug zu sein. Los, festnehmen!”
Doch der Mann mit der Armbinde war nicht der einzige, der so ein Flugblatt gelesen hatte. Vom Wind emporgerissen, flatterten sie weithin über das ganze Verdeck; die trägen, verlegenen Milizionäre waren noch nicht bis zu dem Jungen vorgedrungen, als sich ein Murren an Bord erhob. Stimmen wurden laut:
“Die sollten lieber den Kornilow suchen!”
“Wenn so‘n Mönch da keinen Ausweis hat, dann macht das nichts, aber über den Jungen fällt er her!”
“Hier seid ihr nicht in der Stadt, hier seid ihr in Sormowo!”
“Na, na, na, Ruhe da!” knurrte der Mann in Zivil und schaute sich verwirrt nach seinen Milizionären um.
‚Nichts von wegen ‚na, na‘! Tu nur nicht so! Du bist ja auch ein Gendarm, hast dich nur anders angezogen! Habt ihr gesehen, wie er über die Flugblätter her war? Wie die Geier sind sie da!”
Schon flog ein Stück Gurke dem Zivilisten an der Mütze vorbei.
Von allen Seiten von den Passagieren bedrängt, schauten sich die Milizionäre hilflos um und redeten ängstlich auf die Menge ein: “Nun drängt doch nicht so, drängt doch nicht alle. Seid ruhig, Bürger!”
Plötzlich heulte die Schiffssirene; von der Kommandobrücke kam der verzweifelte Ruf: “Weg von der linken Seite… von der linken Seite weg… das Schiff kippt um!”
Über das schrägliegende Deck stürzte die Menge auf die andere Seite des Schiffes. In dem allgemeinen Durcheinander brüllte der Mann in Zivil die Milizionäre noch einmal wütend an und drängte sich dann zu den beiden Offizieren vor, die bleich und aufgeregt am Fuß der Treppe zur Kommandobrücke standen.
Der Dampfer legte an; die Arbeiter hasteten ans Ufer. Der Junge mit den Pockennarben war schon wieder an meiner Seite. Seine Augen glänzten, mit weitgeöffneten Händen hielt er die Flugblätter umklammert, die er wieder aufgehoben hatte.
“Komm mal zu uns!” rief er mir zu. ‚Direkt nach Waricha! Brauchst bloß nach Waska Kortschagin zu fragen, dann sagt dir jeder Bescheid.”

 

6. Kapitel

Staunend und voller Neugierde betrachtete ich die vom vielen Ruß grau gewordenen Häuschen und die hohen steinernen Mauern der Fabriken; durch ihre schwarzen Fenster leuchteten blendend hell die Feuer, vernahm ich das dumpfe Dröhnen der dort eingesperrten Maschinen.
Es war gerade Mittagspause. Quer über die Straße fuhr eine Lokomotive an mir vorbei und scheuchte mit ihrem Dampf die umherstreifenden Hunde auseinander. Die Maschine zog einige offene, mit Rädern beladene Wagen hinter sich her. Sirenen heulten in allen Tönen, und Massen von Arbeitern strömten müde und schweißgebadet aus dem Tor ins Freie.
Schwärme von barfüßigen, frechen Kindern kamen ihnen entgegen. Am Arm trugen sie Bündel mit Schüsseln und Tellern – es roch nach Zwiebeln und Sauerkohl.
Durch winklige, schmale Straßen gelangte ich schließlich in die Gasse, wo Dohle wohnte.
An einem kleinen Holzhaus klopfte ich ans Fenster. Eine hagere, grauhaarige Alte richtete sich von ihrem Waschtrog auf und schaute mit vom Dampf gerötetem Gesicht heraus. Was ich wolle, fragte sie ärgerlich.
Ich sagte es ihr.
“Der wohnt nicht hier, hat mal hier gewohnt – ist schon lange her”, gab sie zur Antwort und schlug das Fenster zu.
Das war ein schwerer Schlag für mich. An der nächsten Ecke, neben einem Haufen Feldsteine, blieb ich stehen; ich merkte jetzt erst, wie müde und hungrig ich war und wie gern ich geschlafen hätte.
Außer Dohle wohnte in Sormowo noch mein Onkel Nikolai, ein Bruder meiner Mutter. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo er wohnte, wo er arbeitete und wie er mich aufnehmen würde.
Stundenlang strich ich durch die Straßen und blickte allen Arbeitern ins Gesicht. Doch meinen Onkel fand ich nicht.
Ich war verzweifelt und fühlte mich einsam und verlassen – so richtig überflüssig kam ich mir vor. Auf einem kleinen, kümmerlichen Wiesenstück setzte ich mich hin. Fischhäute und Mörtelbrocken, gelb vom Regen, lagen hier herum. Die Augen hatte ich geschlossen und dachte über mein bitteres Los nach: Alles war schiefgegangen.
Je länger ich darüber nachdachte, desto schwerer wurde mir ums Herz, desto sinnloser kam mir meine Flucht von zu Hause vor.
Aber auch jetzt verscheuchte ich jeden Gedanken an eine Heimkehr nach Arsamas. Dort wäre ich noch verlassener als hier; man würde über mich lachen, mich verachten wie damals den Tupikow. Meine Mutter würde nichts sagen und sich quälen, ja sogar in die Schule gehen und beim Direktor ein Wort für mich einlegen.
Aber ich hatte immer schon meinen Kopf durchsetzen wollen. In Arsamas sah ich oft, wie mit den funkensprühenden, hellerleuchteten Eisenbahnzügen das richtige, große Leben an mir vorbeiflog. Mir war dann immer, als brauchte ich nur auf das Trittbrett eines dahinrasenden Wagens zu springen – gerade noch auf die äußerste Kante – und nicht mehr loszulassen; dann könnte mich nichts mehr zurückbringen.
Ein alter Mann ging am Zaun entlang. Er trug Eimer und Pinsel in der Hand und hatte eine Rolle Plakate unter dem Arm. Dick schmierte er den Kleister auf die Bretter und klebte ein Plakat an, schaute nach, ob es keine Falten geworfen hatte, und stellte dann seinen Eimer auf den Boden. Da erblickte er mich und rief: “Du, Junge, hol mir doch mal die Streichhölzer aus meiner Tasche, ich hab die Hände voll Kleister.” Er bedankte sich, als ich ein Streichholz angezündet und ihm an seine erloschene Pfeife gehalten hatte.
Ächzend nahm er den schmutzigen Eimer wieder auf und meinte gutmütig: “Ach ja, es macht keinen Spaß mehr, wenn man alt ist! Früher, da nahm ich einen pudschweren Hammer, das machte mir gar nichts aus, aber jetzt, da stirbt mir schon die Hand ab, wenn ich bloß einen Eimer trage.”
“Gib nur her, Großvater, den trag ich”, antwortete ich bereitwillig. “Mir schläft sie nicht ein, ich bin stark genug.”
Schon zog ich den Eimer zu mir herüber, aus Furcht, er wäre nicht einverstanden.
“Schön, kannst ihn tragen”, der Alte hatte nichts dagegen. “Zu zweit sind wir bald fertig.”
Wir gingen immer an den Zäunen entlang und kamen so durch manche Straße.
Wenn wir Halt machten, blieben hinter uns die Leute stehen. Sie wollten wissen, was wir anklebten. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich meinen Kummer ganz vergessen hatte. Auf den Plakaten standen allerlei Losungen: “Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Erholung”. Diese Losung war mir – offen gesagt – zu langweilig, zu wenig verlockend. Viel besser gefiel mir ein großes blaues Plakat mit dicken roten Buchstaben: “Nur mit der Waffe in der Hand erobert das Proletariat die lichten Höhen des Sozialismus.”
Durch ihre rätselhafte, noch nie gesehene Schönheit lockten mich diese “lichten Höhen des Sozialismus” viel stärker, als einen begeisterten Schuljungen die fernen exotischen Länder in den Büchern von Reed anziehen könnten. Wie weit auch diese Länder entfernt sein mochten, sie waren alle schön erforscht, aufgeteilt und auf langweiligen Schulkarten eingetragen. Doch die “lichten Höhen”, von denen das Plakat sprach, sie waren noch von niemandem erobert. Keines Menschen Fuß hatte je dieses herrliche, unbekannte Land betreten.
“Wenn du müde bist, Junge?” fragte der Alte und blieb stehen, “dann geh nach Hause, ich werd jetzt allein fertig.”
“Ich bin nicht müde”, entgegnete ich und dachte traurig daran, dass ich bald wieder allein wäre.
“Na gut”, meinte der Alte, “bloß, dass sie nicht mit dir schimpfen zu Hause.”
“Ich hab hier kein Zuhause”, erwiderte ich mit einer plötzlichen Offenheit. “Mein Zuhause ist weit weg von hier.”
Ich war froh, einmal all meinen Kummer einem anderen Menschen anvertrauen zu können, und erzählte dem Alten meine ganze Geschichte.
Er hörte aufmerksam zu und schaute mir dabei unverwandt – und ein klein wenig spöttisch – in mein verwirrtes Gesicht.
“Die Geschichte muss man in Ordnung bringen”, meinte er bedächtig. “Sormowo ist groß, aber schließlich ist ein Mensch ja keine Stecknadel. Schlosser ist dein Onkel, sagst du?”
“Ja, er war Schlosser.” Ich hatte wieder Mut gefasst. “Nikolai heißt er, Nikolai Jegorowitsch Dubrjakow. Ich glaub, er ist auch in der Partei, wie mein Vater. Vielleicht kennen sie ihn im Komitee?”
“Ich kenn so einen nicht. Aber jetzt sind wir fertig mit unseren Plakaten, und du kommst mit zu mir. Ich will mal einen von uns fragen.”
Aus irgendeinem Grunde machte er ein nachdenkliches Gesicht und paffte schweigend seine Pfeife. Er ging weiter.
“Dann haben sie deinen Vater also erschossen?” fragte er plötzlich.
“Ja, sie haben ihn erschossen.”
Der Alte wischte sich die Hände an seiner schmierigen, geflickten Hose ab, klopfte mir auf die Schulter und sagte: “Jetzt gehst du mit zu mir. Es gibt Kartoffeln mit Zwiebeln, und dazu machen wir uns Wasser warm. Wirst wohl großen Hunger haben, wie?”
Der Eimer kam mir jetzt leicht vor. Und meine Flucht aus Arsamas erschien mir wieder notwendig und sinnvoll.

*

Mein Onkel wurde gefunden. Er war allerdings nicht Schlosser, sondern Meister in der Kesselschmiede.
Kurz und bündig erklärte er mir, ich solle vernünftig sein und wieder nach Hause fahren.
“Bei mir kannst du nicht bleiben… Aus einem Menschen wird erst dann was, wenn er weiß, wo er hingehört”, sagte er mit mürrischem Gesicht bereits am ersten Tage nach dem Mittagessen und wischte sich mit einem Handtuch seinen roten, fettigen Schnurrbart ab. “Ich weiß, wo ich hingehöre… Ich war zuerst Handlanger, dann Schlosser, und jetzt bin ich Meister. Warum bin ich wohl Meister geworden und nicht ein anderer? Weil der andere nichts taugt. Arbeiten, siehst du, das will er nicht, und neidisch ist er auf den Ingenieur.
Du hattest wohl kein Sitzfleisch in der Schule, wie? Hättest anständig lernen sollen, dann wärst du vielleicht ein Doktor oder ein Techniker geworden. Aber das hast du ja nicht gewollt. Kommt alles von der Faulheit… Wenn man sich aber schon mal für was entschlossen hat, dann muss man auch sehen, dass man weiterkommt, meine ich. Vorsichtig und immer mit der Ruhe, und auf einmal ist man was geworden.”
“Wie meinst du das, Onkel Nikolai?” fragte ich ruhig. Ich fühlte mich gekränkt. “Nehmen wir doch meinen Vater. Er war Soldat. Wenn es nach dir ginge, dann hätte er eine Schule für Leutnante besuchen sollen, dann wäre er Offizier geworden, vielleicht hätte er‘s bis zum Hauptmann gebracht. Aber was hat er getan? Er ist in die illegale Arbeit gegangen. War das denn nicht auch notwendig?”
Mein Onkel runzelte die Stirn.
“Ich will nichts Schlechtes über deinen Vater sagen; aber was er getan hat, darin kann ich wenig Vernünftiges finden. Ja, er war etwas wirr im Kopf, war ein unruhiger Mensch, hätte mir bald auch noch den Kopf verdreht. Auf dem Kontor wollten sie mich gerade zum Meister machen, da sagen sie mir auf einmal: ‚So einen Verwandten haben Sie? Und jetzt hat er Sie sogar besucht!‘ – Hab das noch so eben wieder geradebiegen können.”
Mit diesen Worten langte er sich einen fetten Brocken aus der Schüssel, bestrich ihn dick mit Senf und schüttete viel Salz darauf. Seine starken gelben Zähne bissen in das Fleisch. Als meine Tante, eine hochgewachsene, hübsche Frau, ihm nach dem Essen seinen buntbemalten Krug mit hausgemachtem Kwaß hinstellte, sagte er zu ihr: “Ich leg mich jetzt noch was hin, weck mich so in einer Stunde. Ich muss noch rasch einen Brief an meine Schwester Warwara schreiben. Den nimmt Boris mit, wenn er fährt.”
“Wann fährt er denn?”
“Na, wann schon? Morgen fährt er.”
Es klopfte ans Fenster. “Onkel Nikolai”, hörte ich eine Stimme von der Straße, “kommst du zum Meeting?”
“Wohin?”
“Zum Meeting, hab ich gesagt, ist schon ‘ne Masse Leute auf dem Platz versammelt.”
“Lass sie doch”, winkte mein Onkel ab, “hab keine Lust.”
Sobald mein Onkel eingeschlafen war, schlich ich mich leise auf die Straße.
Das ist ein ganz Schlauer, mein Onkel! dachte ich, denkt, er wäre ein großes Tier: Meister! Und ich hab geglaubt, er wäre in der Partei. Soll ich nun wirklich nach Arsamas zurückkehren?
An die zwei- bis dreitausend Menschen hatten sich um eine aus Brettern aufgeschlagene Tribüne versammelt und hörten zu. Aus dem Gewühl tauchte das bekannte pockennarbige, pfiffige Gesicht Waska Kortschagins auf. Ich rief, er hörte mich aber nicht.
Ich versuchte, an ihn heranzukommen … zweimal noch sah ich seinen Kopf mit den krausen Haaren in der Menge, dann war er endgültig verschwunden. Ich stand jetzt nicht weit von der Tribüne.
Noch näher heranzukommen war schwierig. So blieb ich stehen und hörte zu. Es kamen immer wieder andere Sprecher zu Wort. Ich entsinne mich heute noch an einen von ihnen. Unansehnlich und schlecht gekleidet, sah er aus wie jeder andere Arbeiter auch; so wie er liefen sie zu Hunderten auf den Straßen von Sormowo herum und fielen nicht weiter auf. Mit einer linkischen Handbewegung nahm er seine Mütze ab, die platt war wie ein Pfannkuchen, räusperte sich und begann mit heiserer und, wie mir schien, zornig erregter Stimme:
“Die Genossen von den Lokomotivwerken und vom Waggonbau, die kennen mich alle, auch die vom Öllager. Die wissen auch, dass ich acht Jahre Zwangsarbeit gehabt habe, als Politischer. Ja, aber ich war noch nicht ganz wieder zu Hause, hatte noch nicht richtig Luft geholt, da haben sie mich schon wieder zwei Monate eingesperrt! Und wer war das? Diesmal nicht die Polizei vom alten Regime, diesmal haben mich die Mitläufer vom neuen Regime eingesperrt. Beim Zaren war es keine Schande, wenn einer von uns sitzen musste, da waren unsere Genossen immer im Gefängnis. Aber wenn uns heute so‘n Mitläufer einsperrt, dann ist das eine Beleidigung. Die Generale und Offiziere haben sich rote Schleifen angesteckt, als ob sie Freunde der Revolution wären. Unsere Brüder aber, die sperren sie gleich ein. Sie hetzen und jagen uns, wo sie können. Ich spreche nicht, weil ich beleidigt bin, Genossen, nicht, weil sie mich noch mal zwei Monate eingesperrt haben. Ich spreche, weil sie uns Arbeiter beleidigen.”
Er musste husten, rang nach Luft. Aber kaum wollte er weitersprechen, hatte er wieder einen Hustenanfall. Ein Zittern überlief ihn, er musste sich am Geländer festhalten; er schüttelte den Kopf – er konnte nicht mehr und stieg hinunter.
“Den haben sie fertiggemacht!” hörte ich eine laute, zornige Stimme.
Der Himmel war grau und hatte sich zugezogen, es fiel der erste Schnee. Ein kalter, trockener Wind riss die letzten, schwarz gewordenen Blätter von den Zweigen. Die Füße wurden mir kalt, und ich versuchte, aus dem Gedränge herauszukommen, wollte beim Gehen wieder warm werden. Ich drängelte mich vorwärts und schaute nicht mehr nach den Sprechern, als mich plötzlich eine vertraute, helle Stimme aufhorchen ließ. Schneeflocken flogen mir in die Augen, von der Seite wurde ich gestoßen, ein anderer trat mir heftig auf den Fuß. Ich stellte mich auf die Zehen – da sah ich vor mir auf der Tribüne das bekannte bärtige Gesicht von Dohle.
Mit den Ellenbogen arbeitete ich mich durch das dichte Gewühl nach vorn. Ich fürchtete, Dohle würde aufhören zu sprechen, in der Menge untertauchen und mein Rufen nicht hören. Dann hätte ich ihn von neuem verloren. Ich schwenkte die Mütze, um ihn aufmerksam zu machen, ich winkte mit der Hand, aber er bemerkte mich nicht.
Schon streckte er den Arm aus, schon hob er die Stimme… jeden Augenblick konnte er aufhören, da rief ich laut über den Platz hin: “Semjon Iwanowitsch…! Semjon Iwaaanowitsch!”
Neben mir zischte man, jemand stieß mich in den Rücken, ich aber brüllte noch einmal verzweifelt: “Semjon Iwaaanowitsch!”
Dohle schien verwundert, machte eine ratlose Bewegung mit der Hand, seine letzten Worte waren nur noch halb zu verstehen; dann eilte er die Treppe hinunter.
Einer der empörten Zuhörer packte mich am Arm und zog mich auf die Seite.
Ich aber kümmerte mich nicht um Schimpfen und Püffe, ich lachte laut auf, als habe ich den Verstand verloren.
“Was bist du nur für‘n Flegel?” fragte der Arbeiter, der mich am Arm gepackt hatte und schüttelte.
“Ich bin kein Flegel!” Ich vertrat mir die kalten Füße und musste immer wieder lachen, so glücklich war ich. “Ich hab doch Dohle wieder gefunden … den Semjon Iwanowitsch hab ich…”
Wahrscheinlich machte ich dabei so ein komisches Gesicht, dass selbst der erzürnte Arbeiter lachen musste und, schon nicht mehr ganz so ärgerlich, fragte: “Was für ‘ne Dohle?”
“Keine richtige … Ich meine Semjon Iwanowitsch … Da kommt er ja selbst.”
Dann stand er vor mir, packte mich an der Schulter.
“Wo kommst du denn her?”
Die Menge wurde immer erregter. Unruhig summte es über den Platz. Ringsum nur zornige, aufgeregte, drohende Gesichter.
“Semjon Iwanowitsch”, fragte ich im Gehen, “was ist denn los? Warum sind alle so aufgeregt?” Seine Frage hatte ich überhört.
“Ein Telegramm ist angekommen… gerade eben”, erklärte er mir hastig. “Kerenski verrät die Revolution! Der General Kornilow… ruft die Kosaken auf.” – – –

*

Wie die Lichter unbekannter Bahnstationen an den Schnellzügen vorüberfliegen, so eilten die kurzen Herbsttage dahin. Mit einem Mal hatte ich eine richtige Aufgabe. Man brauchte mich wieder, ich war mit einbezogen in den Kreislauf sich überstürzender Ereignisse.
An einem jener unruhigen Tage rief Dohle mir aufgeregt zu: “Lauf sofort ins Komitee, Boris, und sag, aus Waricha hätte man dringend einen Agitator angefordert und ich wär gleich hingegangen. Du musst Jerschow finden, er soll für mich in die Druckerei gehen. Wenn du Jerschow aber nicht findest, dann … Gib mal rasch ‘nen Bleistift her… Hier, bring diesen Zettel selbst in die Druckerei. Aber nicht aufs Kontor, gib ihn am besten gleich dem Setzer! Weißt du, der war mal bei Kortschagin, so‘n Schwarzer, mit ‘ner Brille. Wenn du das alles gemacht hast, kommst du zu mir nach Waricha. Und wenn sie im Komitee neue Flugblätter haben, die bringst du gleich mit. Sagst Pawel, ich hätte drum gebeten … Halt! Warte mal!” rief er besorgt hinter mir her. “Es ist kalt. Ziehst am besten meinen alten Mantel an.”
Doch in meiner Begeisterung war ich schon draußen, wie ein Kavalleriepferd im Galopp sauste ich los und nahm im Sprung die Pfützen und Löcher auf der schmutzigen Straße.
Beim Parteikomitee herrschte ein Betrieb wie auf dem Bahnhof vor Abfahrt des Zuges. Gleich an der Tür rannte ich gegen Kortschagin. Wäre es ein anderer gewesen, kleiner und schwächer als Kortschagin, ich hätte ihn umgerannt. So aber flog ich wie gegen einen Telegrafenmast.
“Du hast aber ‘n Tempo!” sagte er. “Was ist denn los mit dir? Bist wohl vom Kirchturm gefallen?”
“Nein, nicht vom Kirchturm…”, antwortete ich außer Atem und rieb mir verwirrt den Kopf. “Semjon Iwanowitsch hat mich geschickt, und ich soll sagen, er wäre nach Waricha…”
“Ich weiß, sie haben schon angerufen.”
“Und dann braucht er noch Flugblätter.”
“Sind schon unterwegs. Sonst noch was?”
“Ja, und zu Jerschow muss ich noch. Er soll in die Druckerei gehen. Hier hab ich einen Zettel für ihn.”
“Was ist mit der Druckerei? Gib mal her den Zettel”, mischte sich ein Arbeiter ein, den ich nicht kannte. Er war bewaffnet, über seiner alten Jacke hatte er einen Mantel umhängen. “Spinnt ein bisschen, der Semjon”, wandte er sich an Kortschagin, nachdem er den Zettel gelesen hatte. “Warum hat er Angst um die Druckerei? Ich hab schon nach dem Essen einen Posten rausgeschickt.”
Immer mehr Menschen strömten zum Komitee. Trotz der Kälte standen die Türen sperrangelweit offen; Mäntel, Blusen, abgeschabte Lederjacken tauchten auf und verschwanden wieder. Auf dem Korridor schlugen zwei Männer mit Hämmern eine Kiste auf. Darin lagen, in Stroh verpackt, funkelnagelneue, dick eingefettete Drillingsgewehre. Einige andere Kisten waren schon leer und lagen neben dem Eingang im Schmutz herum.
Da tauchte Kortschagin wieder auf. Im Vorbeigehen rief er drei bewaffneten Arbeitern zu: “Macht rasch, dass ihr hinkommt, und bleibt dann selbst draußen. Ihr lasst keinen ohne Ausweis vom Komitee hinein! Und schickt jemanden hierher, der uns sagen soll, wie es dort aussieht.”
“Aber wen sollen wir schicken?”
“Na, einen von unseren Leuten, den ihr gerade seht.”
“Das kann ich machen!” rief ich, bemüht, hinter den anderen an Begeisterung und gutem Willen nicht zurückzustehen.
“Na, dann nehmt doch ihn! Schnell laufen kann er.”
Ich hatte gesehen, dass fast jeder, der das Haus verließ, aus der geöffneten Kiste ein Gewehr mitnahm.
“Genosse Kortschagin”, sagte ich, “alle nehmen hier ein Gewehr mit – ich nehme mir auch eins.”
“Was willst du?” fragte er unwirsch und unterbrach sein Gespräch mit einem über und über tätowierten Matrosen.
“Ein Gewehr will ich haben! Bin ich denn schlechter als die anderen?”
In diesem Augenblick rief man aus dem Zimmer nebenan laut nach Kortschagin, er winkte nur mit der Hand und ging rasch hinein. Vielleicht wollte er damit bloß sagen, ich solle ihn in Ruhe lassen, aber ich verstand daraus, dass ich mir auch ein Gewehr nehmen dürfte. Ich nahm also auch ein Gewehr aus der Kiste, umklammerte es fest und verließ hinter den Posten das Haus.
Ich lief über den Hof und hörte gerade noch die soeben eingetroffene Nachricht: In Petrograd Sowjetmacht ausgerufen. Kerenski geflohen. In Moskau Kämpfe zwischen Arbeitern und Junkern.

 

DIE FRONT

1. Kapitel

Ein halbes Jahr war vergangen.
An einem sonnenhellen Apriltag warf ich auf dem Bahnhof einen Brief an Mutter in den Kasten.
“Liebe Mutter!
Lebe wohl! Ich fahre jetzt zur Armee des berühmten Genossen Siwers, er kämpft gegen die weißen Truppen von Kornilow und Kaledin. Wir sind zu dritt. Von der Arbeiterwehr in Sormowo haben wir unsere Papiere bekommen. Ich war da mit Dohle zusammen. Mir wollten sie lange keine geben, ich wäre noch zu jung. Aber da habe ich Dohle gefragt, und er hat das dann erledigt. Er wäre auch selbst gern gefahren, doch er ist sehr schwach und hat einen schlimmen Husten.
Ich habe einen ganz heißen Kopf vor Freude. Alles, was früher einmal war, ist gar nicht wichtig, und das richtige Leben fängt nun erst an. Deshalb bin ich auch so froh…”
Am dritten Tage hatten wir auf einer kleinen Station sechs Stunden Aufenthalt. Wir erfuhren, dass es in der Gegend unruhig war. Kleinere Einheiten von Banditen seien aufgetaucht, und an einigen Stellen hätte es Schießereien zwischen den Kulaken und unseren Verpflegungskolonnen gegeben.
Erst spät in der Nacht erhielt unser Zug eine Lokomotive. Ich lag mit meinen Genossen Seite an Seite auf der oberen Pritsche eines Güterwagens und lauschte dem gleichmäßigen Stoßen der Räder und dem Quietschen des schaukelnden Wagens. Schließlich zog ich meinen dicken Tuchmantel über den Kopf und wollte schlafen.
Aus dem Dunkel klang Schnarchen und Husten; ich hörte, wie sich die Leute kratzten. Wer sich bis auf die Pritsche vorgedrängt hatte, schlief. Wem das aber nicht gelungen war, hatte sich unten zwischen den Säcken schlecht und recht eingerichtet und fand keinen Schlaf. Ein ständiges Gemurmel war von dort zu hören, man schimpfte und knuffte seinen Nachbarn in die Seite, wenn er zu nahe heranrückte.
“Drängel doch nicht so!” brummte leise eine Bassstimme. “Wirfst mich ja von meinem Sack runter! Gleich kriegst du eine!”
“Pass doch auf, verflucht noch mal!” jammerte eine erzürnte Frauenstimme. “Warum trittst du mir eigentlich immer mit den Stiefeln ins Gesicht? Aach, so‘ne verdammte Schweinerei, oje, oje!”
Ein Streichholz flammte auf, warf sein trübes Licht auf das unruhige Durcheinander von Stiefeln, Säcken, Körben, Mützen, Armen und Beinen und erlosch wieder. Noch dunkler schien es jetzt zu sein. In einer Ecke erzählte jemand mit knarrender, eintöniger Stimme seinen müden Zuhörern die endlose, langweilige Geschichte seines elenden Lebens. Unser Wagen zitterte und zuckte wie ein Pferd, das die Bremsen beißen, und rollte mit ungleichen Stößen über die Schienen.
Ich wurde wach… einer meiner Reisegefährten hatte mich am Arm gezogen. Ich hob den Kopf und fühlte, wie mir durch das offene Fenster ein kühler Luftstrom angenehm in mein schlaftrunkenes Gesicht wehte. Der Zug fuhr langsam, es ging eine Steigung hinan. Über dem Horizont stand weithin ein brandroter Schein. Wie versengt von seiner Glut, waren die Sterne am Himmel verblichen, hatte der fahle Mond sein Licht verloren.
“Das ganze Land ist in Aufruhr”, klang eine ruhige Stimme aus dem Dunkel.
“Es hat die Peitsche haben wollen, und nun ist es in Aufruhr”, kam es leise und gereizt aus einer anderen Ecke.
Ein heftiges Krachen ließ die Gespräche jäh verstummen. Der Wagen schlingerte und ruckte, ich flog von meiner Pritsche hinunter und fiel denen, die unten lagen, auf den Kopf. Alles geriet durcheinander, jammernd drängten sich die Menschen aus dem schwarzen Inneren des Wagens durch die offene Tür ins Freie.
Der Zug war entgleist.
Ich flog unsanft in einen Graben neben dem Bahndamm, kam aber gerade noch rechtzeitig hoch, um nicht von den abspringenden Leuten zertreten zu werden. Zweimal fiel ein Schuss. Neben mir stand einer mit zitternden Händen und sprach hastig.
“Halb so wild… halb so wild… Nur nicht wegrennen, sonst schießen sie. Das sind keine Weißen, das sind von hier welche aus den Stanizen. Sie nehmen uns alles weg, aber dann lassen sie uns laufen.”
Zwei Mann mit Gewehren rannten auf unseren Wagen zu und brüllten: “Alles rein…! Alles wieder rein…! Warum seid ihr rausgesprungen?”
Die Menge rannte zu den Wagen zurück. Ich bekam einen heftigen Stoß, flog nach hinten und fiel in einen nassen Graben. Da machte ich mich ganz flach und kroch flink wie eine Eidechse bis ans Ende des Zuges. Unser Wagen war der vorletzte gewesen, so war ich schon einen Augenblick später neben dem trübe scheinenden Signallicht am Ende des Zuges. Hier stand einer aus dem Dorf mit einem Gewehr. Ich wollte kehrtmachen, doch da lief er auf die andere Seite des Bahndammes; wahrscheinlich hatte er dort jemanden gesehen. Ein Sprung – und ich rollte einen glitschigen, lehmigen Hang hinab. Unten zog ich mich an einem Strauch hoch; nur mit Mühe und Not bekam ich meine Beine wieder frei, so tief steckte ich im Lehm.

*

Wie unter einem feinen Schleier stand der Wald im ersten Grün. Allmählich wurde es lebendig. Irgendwo in der Ferne krähten streitlustig die Hähne. Von einer nahe gelegenen Waldwiese klang das Quaken der Frösche herüber. Sie waren hervorgekommen, um sich zu wärmen. An einigen schattigen Stellen lagen noch Reste grau gewordenen Schnees, aber wo die Sonne hinschien, war das harte Gras vom letzten Jahr schon trocken. Ich setzte mich und kratzte mir mit einem Stück Birkenrinde den dicken Lehm von den Schuhen. Dann nahm ich ein Büschel Gras, tauchte es ins Wasser und rieb mir mein schmutzstarrendes Gesicht ab.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Wie sollte ich zur nächsten Bahnstation kommen? Irgendwo bellten Hunde, es musste wohl ein Dorf in der Nähe sein. Wenn ich nun einfach hinginge und fragte? Aber dabei könnte ich den Kosaken in die Hände fallen. Sie würden mich aushorchen nach woher und wohin und wer ich sei. Und ich hatte doch einen Ausweis bei mir und dazu noch die Pistole. Den Ausweis könnte ich ja im Stiefel verstecken, aber meine Pistole? Sollte ich sie wegwerfen?
Ich zog sie heraus und drehte sie hin und her. Mir wurde traurig ums Herz dabei. Die kleine Waffe, sie lag so fest in meiner Hand, so ruhig glänzte der dunkle Stahl des Laufs, dass ich mich meines Gedankens schämte. Ich strich zärtlich darüberhin und schob sie wieder vorn in meine Bluse, wo ich innen im Futter eine geheime Tasche hatte.
Es war ein strahlendheller Morgen, Summen und Zwitschern rings um mich her.
Ich mochte gar nicht an eine Gefahr glauben.
“Zi-zi-trrr!” klang neben mir ein bekanntes Zwitschern. Eine Blaumeise saß über mir auf einem Zweig und schaute mich mit schräggehaltenem Kopf neugierig an.
“Zi-zi-trrr … ich begrüße dich!” pfiff sie und hüpfte hin und her.
Unwillkürlich musste ich lachen und dachte an Timka Schtukin. Narrenschwänzchen nannte er die Meisen. War‘s denn schon so lange her…? Die Meisen, der Friedhof, unsere Spiele … Ich runzelte die Stirn. Was sollte ich jetzt anfangen?
Ganz in der Nähe knallte eine Peitsche, Kühe brüllten – eine Herde. Da würde ich hingehen und den Hirten nach dem Weg fragen. Was sollte mir der Hirte schon tun? Ich würde einfach hingehen und ihn fragen – und dann nichts wie weg! Eine kleine Herde Kühe zog gemächlich am Rande des Waldes entlang. Träge und unlustig rupften die Tiere die Büschel des alten Grases ab. Ein uralter Hirte ging nebenher, einen langen, dicken Stock in der Hand. Ohne Hast, so ruhig wie einer, der spazierengeht, kam ich von der Seite her auf ihn zu: “Einen guten Tag wünsch ich, Großvater!”
“Guten Tag!” Er zögerte, blieb stehen und schaute mich misstrauisch an.
“Zur Bahnstation, ist das noch weit?”
“Zur Station? Zu welcher denn?”
Ich stockte, wusste nicht einmal, zu welcher Station ich wollte, aber da half mir der Alte selbst aus der Klemme.
“Wohl nach Alexandrowka, wie?”
“Ja, ja”, stimmte ich ihm bei, “das meine ich. Hab mich nämlich ein bisschen verlaufen.”
“Wo kommst du denn her?”
Wieder stockte ich.
“Von da drüben”, erwiderte ich so gelassen wie möglich, und machte eine unbestimmte Handbewegung nach der Richtung, wo am Horizont ein kleines Dorf zu sehen war.
“Hm… von da drüben… von Demjonowo, wie?”
“Jawohl, direkt aus Demjonowo.”
Hinter mir knurrte ein Hund, ich hörte Schritte und drehte mich um. Ein stämmiger junger Bursche kam auf den Alten zu, sicherlich ein junger Hirte.
“Was ist denn hier los, Onkel Alexander?” fragte er und kaute weiter an seinem Stück Roggenbrot.
“Der hier, der will wissen, wie er nach Alexandrowka kommt. Er sagt, er kommt aus Demjonowo.”
Der Bursche hörte auf zu kauen, schaute mich groß an und sagte verständnislos: “Versteh ich nicht!”
“Versteh ich auch nicht, wo doch Demjonowo direkt am Bahnhof liegt. Alexandrowka und Demjonowo – das ist doch dasselbe. Und wie ist er denn hier hergekommen?”
“Den müssen wir ins Dorf bringen”, schlug der Bursche in aller Ruhe dem Alten vor. “Auf der Wache werden sie schon wissen, was sie mit ihm anfangen. Der lügt ja ganz schön!”
Ich hatte keine Ahnung, was für eine Wache das sein sollte, wo man wüsste, was mit mir anzufangen wäre. Doch ich wollte nicht in das Dorf mitgehen, weil die Dörfer in dieser Gegend reich und unsicher waren. Ich wartete also nicht länger, machte einen mächtigen Satz und rannte in den Wald hinein.
Der Bursche blieb bald hinter mir zurück, nur der verdammte Köter biss mich zweimal ins Bein. Aber ich spürte den Schmerz gar nicht, fühlte auch nicht, dass mir die Zweige wie mit gespreizten Fingern ins Gesicht schlugen, und auch die Baumstümpfe auf dem unebenen Boden bemerkte ich nicht.
So irrte ich bis zum Abend durch den Wald. Überall ragten die Stümpfe gefällter Bäume aus dem Boden hervor, es musste also ein Dorf in der Nähe sein.
Je tiefer ich in den Wald eindrang, desto weiter standen die Bäume auseinander, um so häufiger stieß ich auf lichte Stellen mit Spuren von Pferdehufen und Pferdemist.
Die Nacht brach herein. Ich war hungrig und müde. Und ganz zerkratzt. Höchste Zeit, mich nach einer Stelle umzusehen, wo ich schlafen könnte. Unter einem Busch fand ich ein trockenes Fleckchen. Todmüde legte ich mich nieder, ein Stück Holz unter dem Kopf. Meine Wangen glühten, und es schmerzten die Stellen, wo mich der Hund gebissen hatte.
Ich schlafe jetzt, entschied ich. Es ist Nacht, und hier findet mich niemand. Ich bin so müde… ich will schlafen, morgen früh wird mir schon etwas einfallen.
Beim Einschlafen dachte ich an Arsamas, an den Teich, an unseren Krieg auf den Flößen und an mein Bett mit der alten, warmen Decke. Ich dachte daran, wie Fedka und ich Tauben gefangen und in Fedkas Pfanne gebraten hatten. Sie hatten so gut geschmeckt …
Durch die Wipfel der Bäume pfiff der Wind. Einsam und unheimlich war es im Wald. Warm und duftend, wie ein Stück Kuchen am Feiertag, stand das alte Arsamas vor meinen Augen.
Ich zog mir den Kragen über den Kopf und fühlte, wie mir eine Träne über die Wange lief. Doch ich weinte nicht.
Steif vor Kälte sprang ich in der Nacht von meinem Lager auf. Um warm zu werden, lief ich hin und her, versuchte auf eine Birke zu klettern, sogar zu tanzen begann ich. Dann legte ich mich wieder hin. Nach einer Weile, als der Nebel im Wald mich mit seiner Kälte durchdrang, sprang ich wieder auf und lief auf der Lichtung umher.

 

2. Kapitel

Die Sonne ging auf, es wurde warm, die Vögel zwitscherten, und vom hohen Himmel herab klang wie ein Gruß der fröhliche Ruf ziehender Kraniche. Ich lachte und war froh, dass die Nacht vorüber war mit ihren düsteren Gedanken, außer einem vielleicht: Wo sollte ich etwas zu essen bekommen?
Noch war ich keine zweihundert Schritte gegangen, da hörte ich Gänse schnattern und Schweine grunzen und sah durch die Bäume hindurch das grüne Dach eines Bauernhauses.
Ich schleich mich vorsichtig ran, beschloss ich. Wenn ich nichts Verdächtiges sehe, frage ich dort nach dem Weg und lasse mir auch etwas zu essen geben.
Ich stand hinter einem Holunderbusch. Alles war ruhig und niemand zu sehen; aus dem Schornstein stieg leichter Rauch. Ein paar Gänse kamen herangewatschelt. Da knackte es leise neben mir in den Zweigen. Schon wollte ich weglaufen – rasch blickte ich mich um; aber was ich da entdeckte, brauchte ich nicht zu fürchten, ich war nur erstaunt. In dem Gebüsch hatte sich jemand versteckt und starrte mich unverwandt an. Der Bauer von dem Hof konnte es nicht sein, da er sich ja selbst nicht sehen ließ und von seinem Versteck her den Hof aufmerksam beobachtete. Gespannt und argwöhnisch schaute einer den anderen an, wie zwei wilde Tiere, die auf ein und dieselbe Beute aus sind. Dann wichen wir wie auf Vereinbarung etwas weiter in das Gehölz zurück und gingen langsam aufeinander zu.
Er war so groß wie ich und mochte siebzehn Jahre alt sein. Eine schwarze Tuchjacke umspannte eng seine kräftige, muskulöse Gestalt; es war kein einziger Knopf mehr an der Jacke, doch sie schienen nicht zufällig abgerissen, sondern absichtlich abgeschnitten zu sein. An seiner derben Hose, die in lehmbeschmierten Stiefeln steckte, hingen noch ein paar vertrocknete Disteln.
Sein Gesicht war bleich und zerkratzt, dunkle Schatten lagen unter den Augen – er musste wohl auch im Wald geschlafen haben.
“Willst du dahin?” fragte er leise und deutete mit dem Kopf nach dem Gehöft hinüber.
“Das wollte ich”, erwiderte ich. “Und du?”
“Da kriegst du nichts”, fuhr er fort. “Ich hab schon gesehen, da sind drei starke Kerle auf dem Hof. Weiß der Teufel, was einem da passieren kann!”
“Ja, aber… wir müssen doch was zu essen haben!”
“Ja, das müssen wir”, meinte auch er. “Aus lauter Nächstenliebe gibt dir heute keiner was. Wer bist du überhaupt?” fragte er dann; aber ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: “Na, gut… dann besorgen wir uns selbst was. In den Büschen dahinten laufen Gänse rum – und was für Gänse!”
“Die gehören aber zu dem Hof!”
Er schaute mich an, als wundere er sich über meine dumme Bemerkung, und fügte halblaut hinzu: “Jetzt gehört alles allen gemeinsam. Geh du jetzt in den Wald und treib die Gänse vorsichtig auf mich zu, ich versteck mich hier hinter dem Busch.”
Ich sah, wie sich eine dicke graue Gans etwas von den anderen abgesondert hatte, und versperrte ihr den Weg. Die Gans machte kehrt und watschelte ruhig in der anderen Richtung weiter, ein paar Mal blieb sie stehen und wühlte mit dem Schnabel auf dem Boden herum. Ganz langsam ging ich hinterher und trieb sie in den Hinterhalt. Sie war schon beinahe an dem Busch angelangt, als sie sich plötzlich misstrauisch nach mir umblickte; es schien ihr wohl doch nicht ganz geheuer, dass ich ständig hinter ihr her war. Einen Augenblick blieb sie stehen, dann lief sie entschlossen zurück. Doch da sprang schon der Unbekannte hinter dem Busch hervor – flink, wie sich der Kater auf einen Sperling stürzt – und packte mit starker Hand die Gans am Halse. Das Tier tat kaum noch einen Schrei, dafür aber schnatterte mit einem Male die gesamte Herde los, während der Unbekannte mit der zitternden Gans im Gehölz verschwand – und ich hinterher.
Noch lange schlug die Gans mit den Flügeln und zuckte mit den Füßen. Es war erst aus mit ihr, als wir in einer abgelegenen Schlucht angekommen waren.
Der Unbekannte warf die Gans auf den Boden, holte Tabak hervor und sagte, schwer atmend: “Das genügt, hier können wir bleiben.”
Mein neuer Kamerad nahm sein Taschenmesser und begann schweigend, die Gans auszunehmen, wobei er ab und zu zu mir herüberblickte.
Ich hatte inzwischen einen ganzen Berg Reisig zusammengetragen und fragte: “Hast du Streichhölzer?”
“Hier, nimm”, vorsichtig hielt er mir mit seinen blutigen Fingern eine Schachtel hin. “Aber verbrauch nicht so viele.”
Jetzt erst konnte ich ihn mir richtig ansehen. Der Staub auf seiner Haut vermochte nicht die ebenmäßige weiße Farbe seines lebhaften Gesichts zu verbergen. Sein rechter Mundwinkel zuckte, wenn er sprach, das rechte Auge kniff er dabei zusammen. Er mochte ein bis zwei Jahre älter sein als ich und sah auch kräftiger aus. Wir lagen im Grase; unsere gestohlene Gans briet an einem Spieß aus Holz und verbreitete einen aufreizend appetitlichen Geruch.
“Willst du rauchen?” fragte der Fremde.
“Nein, ich rauche nicht.”
“Du hast im Wald geschlafen, ja…? Es war kalt heute Nacht”, fügte er hinzu, ohne meine Antwort abzuwarten. “Und wie kommst du hierher? Auch von dahinten?” Er deutete mit der Hand in die Richtung, wo ein Stück vom Bahndamm zu sehen war.
“Ja, ich bin von dem Zug weggelaufen, als sie ihn angehalten hatten.”
“Wurden da die Papiere kontrolliert?”
“Nein”, antwortete ich erstaunt. “Was für Papiere denn? Banditen haben doch den Zug überfallen.”
“Aha…” Schweigend zog er an seiner Zigarette.
“Und wo willst du hin?” fragte er nach längerem Schweigen.
“An den Don…”, begann ich und sagte nichts weiter.
“An den Don?!” Er stand auf. “An den Don… willst du?”
Ein kurzes, ungläubiges Lächeln lief über seine schmalen, aufgesprungenen Lippen, seine halbgeschlossenen Augen öffneten sich weit, verloren aber sofort wieder allen Glanz. Als interessiere es ihn gar nicht, fragte er wie nebenbei: “Hast wohl Verwandte da unten?”
“Ja, ich hab da Verwandte…”, antwortete ich zurückhaltend. Ich fühlte, wie er mich aushorchen wollte, sich selbst aber dabei im Schatten hielt.
Schweigend drehte er die Gans auf die andere Seite, zischend tropfte das Fett in die Flamme. Er erklärte ruhig: “Ich bin auch auf dem Wege dorthin, aber nicht zu Verwandten, ich will zu Siwers in die Armee.”
Er erzählte mir, dass er in Pensa zur Schule ginge und jetzt seinen Onkel besucht habe, der nicht weit von hier Lehrer wäre. Aber dann hätten dort die Kulaken einen Aufstand gemacht, und er wäre nur mit knapper Not noch fortgekommen.
Wie gute Freunde saßen wir nebeneinander und verschlangen gierig Stücke von unserer Gans. Sie war angebrannt und roch nach Rauch.
Ich war glücklich, dass ich einen Kameraden gefunden hatte, und schöpfte neuen Mut; zu zweien würde es uns nicht schwer fallen, aus der Falle herauszukommen, in die wir beide geraten waren.
“Wir wollen uns schlafen legen, solange noch die Sonne scheint”, riet mein neuer Gefährte. “Wir schlafen uns jetzt aus, in der Nacht kriegen wir vor Kälte wieder kein Auge zu.
Auf einer Wiese im Wald streckten wir uns aus, und ich fiel bald in einen leichten Schlummer. Wahrscheinlich wäre ich fest eingeschlafen, wäre mir nicht eine Ameise in die Nase gekrochen. Ich richtete mich auf und nieste. Mein Kamerad schlief schon. Er hatte den Kragen seiner Bluse aufgeknöpft; auf dem leinenen Innenfutter waren in schwarzer Farbe die Buchstaben “Gr. A.K.K.” aufgedruckt.
Was für eine Schule mag das sein? dachte ich. Bei mir zum Beispiel standen auf dem Koppelschloss die Buchstaben – das hieß: Real-Schule Arsamas. Ich riet hin und her, kam aber zu keinem Ergebnis. Wenn er wach wird, frage ich ihn, beschloss ich.
Nach dem fetten Essen hatte ich Durst bekommen. In der Nähe war kein Wasser; deshalb wollte ich in die Schlucht hinuntersteigen, wo meiner Ansicht nach ein Bach fließen musste. Den Bach fand ich auch, doch sein Ufer war sehr sumpfig, und man konnte nur schwer ans Wasser herankommen. Ich ging ein Stückchen den Bach hinunter, um eine trockene Stelle zu finden. Auf dem Grund der Schlucht lief ein schmaler Pfad neben dem Bach her. In dem feuchten Lehm entdeckte ich frischen Pferdemist und Abdrücke von Pferdehufen. Es sah aus, als habe man am Morgen hier Pferde durchgetrieben.
Ich bückte mich, um ein Stöckchen aufzuheben, das mir aus der Hand gefallen war; da bemerkte ich auf dem Weg einen glänzenden Gegenstand, der in den Schmutz getreten war. Ich hob ihn auf und wischte ihn ab. Es war ein roter Stern aus Blech, der sich von seinem Haken losgerissen hatte, einer jener einfachen, roh gearbeiteten Sterne, wie sie im Jahre 1918 die Rotarmisten an ihrer Pelzmütze, die Arbeiter und Bolschewiki am Kittel trugen.
Wie kommt das denn hierher? dachte ich und schaute mir aufmerksam den Weg an. Ich bückte mich noch einmal und fand eine leere Patronenhülse.
Aller Durst war vergessen, ich eilte zu meinem Kameraden zurück. Er schlief auch nicht mehr, sondern stand neben einem Busch und schaute sich nach allen Seiten um, als suchte er mich.
“Die Roten sind hier!” rief ich laut und lief auf ihn zu.
Er sprang zur Seite und duckte sich, als sei hinter ihm ein Schuss gefallen, dann drehte er sich mit angstverzerrtem Gesicht zu mir um.
Doch als er sah, dass ich allein war, richtete er sich wieder auf und fuhr mich an.
“Mensch… brüllt der mir direkt ins Ohr…” – als ob nur das ihn so erschreckt hätte.
“Die Roten”, wiederholte ich stolz.
“Wo sind die Roten? Von wo kommen sie?”
“Heute morgen sind sie hier durchgekommen. Auf dem ganzen Weg sind lauter Hufspuren, und der Pferdemist ist noch ganz frisch… Auch eine leere Patronenhülse hab ich gefunden… und das hier auch.” Ich zeigte ihm den roten Stern.
Mein Kamerad atmete erleichtert auf und sagte noch einmal, wie um sich zu rechtfertigen: “Und da brüllt der so… Dachte schon wunder, was los wär.”
“Los, wir wollen jetzt gehen… wir nehmen denselben Weg. Vielleicht machen sie eine Rast im nächsten Dorf, und wir kriegen sie noch. Schnell, wir müssen weg”, drängte ich, “was überlegst du noch?”
“Ja, wir gehen jetzt”, war er einverstanden, allerdings schien er zuerst zu schwanken. “Natürlich, wir gehen sofort los.”
Er wischte sich mit der Hand über den Hals, und wieder las ich auf dem Leinenfutter die Buchstaben Gr. A.K.K.
“Du, hör mal”, fragte ich ihn, “was bedeuten eigentlich diese Buchstaben bei dir?”
“Was für Buchstaben?” fragte er unwillig und knöpfte seine Bluse fest zu.
“Na, die auf deinem Kragen.”
“Keine Ahnung, die Bluse ist nicht von mir. Die hab ich mal alt gekauft.”
“Ach… hätt ich nie geglaubt, dass du die zufällig…”, erwiderte ich und schritt frohgemut neben ihm her. “Die sitzt dir ja wie angegossen. Meine Mutter hatte mir mal eine Hose gekauft; die rutschte mir immer wieder runter.”
Je näher wir an das Dorf kamen, desto öfter blieb mein Gefährte stehen.
“Wir brauchen uns gar nicht so zu eilen”, redete er auf mich ein. “Heute Abend, wenn es dunkel wird, kommen wir viel besser hin. Wenn dann die Abteilung schon weg ist, hat uns keiner gesehen. In so ‘ner Gegend, die man nicht kennt, ist es jetzt für einen Fremden gefährlich.”
Ich gab ihm recht, im Halbdunkel das Dorf auszukundschaften war weniger gefährlich; aber ich war so ungeduldig, schnell zu den Unsrigen zu kommen, dass ich immer rascher ging.
Vor dem Dorf blieb mein Gefährte in einem mit Gebüsch überwacbsenen Hohlweg stehen und schlug vor, jetzt lieber vom Weg abzugehen und zu überlegen, was weiter zu tun sei.
Er sagte: “Ich glaube, alle beide auf einmal, das geht nicht gut. Einer von uns muss hier bleiben, und der andere schleicht sich durch die Gärten und siebt nach, was los ist. Ich weiß nicht recht… es ist so still, und die Hunde bellen auch nicht… Vielleicht sind die Roten überhaupt nicht da, dafür aber die Kulaken mit ihren Gewehren.”
“Dann geben wir doch lieber alle beide los.”
“Zu zweit… das ist doch nicht gut. Verstehst du das denn nicht?” Er schlug mir auf die Schulter. “Bleib du nur hier, ich komm schon irgendwie durch; warum willst du auch noch den Kopf riskieren? Du bleibst hier und wartest auf mich.”
Feiner Kerl! dachte ich, als er weg war. Ein bisschen seltsam, aber ein feiner Kerl! Ein anderer hätte mich vorgeschickt oder auslosen lassen; er aber ist freiwillig losgegangen.
Nach einer Stunde kam er zurück, früher, als ich erwartet hatte. In der Hand hielt er einen dicken Knüppel; es sah aus, als hätte er ihn gerade erst abgeschnitten und glatt gemacht.
“Das ging aber schnell”, rief ich, “und was ist los?” “Nichts los.”
Schon von weitem schüttelte er den Kopf. “Die Roten waren überhaupt nicht da! Sind wahrscheinlich einen anderen Weg gegangen, nach Suglinki, das ist nicht weit von hier.”
“Weißt du das auch ganz genau?” fragte ich enttäuscht. “Vielleicht stimmt das gar nicht?”
“Doch, es stimmt genau. Das hat mir eine alte Frau erzählt, die wohnt im ersten Haus, und dann war da noch so‘n kleiner Junge im Garten, der hat es auch gesagt. Bleibt uns nichts anderes übrig, als hier zu übernachten, morgen suchen wir weiter.”
Ich legte mich ins Gras und überlegte. Zweifel stiegen in mir hoch, zum ersten Mal. Hatte mein Gefährte wirklich die Wahrheit gesagt? Und was wollte er mit dem Knüppel? Er war aus schwerem Eichenholz und hatte ein dickes Ende – wie eine Keule sah er aus. Mein Gefährte hatte ihn gerade erst abgeschnitten, das konnte man sehen. Bis zum Dorf war es etwa eine Stunde zu gehen. Wenn sich einer heimlich heranschleichen wollte, in einem Haus nachfragte und zurückkehrte, dann kam er kaum vor zwei Stunden zurück. Er aber war noch nicht einmal eine Stunde unterwegs und hatte in dieser Zeit sogar noch den Eichenknüppel abgeschnitten und zurechtgeschnitzt. Das allein musste schon mindestens eine halbe Stunde gedauert haben, da er ja nur sein Taschenmesser dazu benutzen konnte. Sollte er Angst gehabt, überhaupt nichts ausgekundschaftet und die ganze Zeit im dichten Gebüsch gesessen haben? Nein, das konnte nicht sein, er war ja aus freien Stücken gegangen. Er sah auch nicht nach einem Feigling aus. Natürlich war es ein gefährlicher Gang gewesen, und er hatte sich irgendwie durchschlagen müssen.
Wir machten uns ein Lager aus trockenen Blättern und legten uns nebeneinander zum Schlafen hin. Mit meinem Mantel deckten wir uns zu. So lagen wir eine halbe Stunde lang. ohne ein Wort zu sagen. Vom Boden her kam es kalt herauf. – Wir haben zuwenig Laub, dachte ich und stand wieder auf.
“Was willst du?” fragte mein Gefährte verschlafen. “Kannst du nicht einschlafen?”
“Es ist so kalt… Bleib nur liegen, ich hol noch mehr Laub.”
Rings um unser Lager hatten wir das Laub schon aufgesammelt, ich entfernte mich etwas weiter und kam bis dicht an den Weg heran. Der Mond war gerade erst aufgegangen, und es war schwer, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Dünne Zweige und Äste schlugen mir gegen die Hände. Vom Wege her kam ein rumpelndes Geräusch, jemand ging oder fuhr dort vorbei. Ich warf meinen Armvoll Laub hin und bewegte mich auf den Weg zu, ängstlich bemüht, keine Äste zu berühren.
Langsam und beinahe geräuschlos fuhr ein Bauernwagen über den nassen, weichen Boden. Zwei Männer sprachen halblaut miteinander.
“Es ist schon so”, sagte der eine, “vielleicht hat er recht gehabt.”
“Der Kompaniechef?” fragte der andere. “Natürlich, er kann ja recht gehabt haben. Ja, wenn sie für immer hier blieben! Aber so kommen sie… halten Reden – und ziehen wieder weiter. Ja, und dann kommen wieder unsere Oberen und sagen: ‚Du bist auch einer von denen, du hast die Kulaken angezeigt, das sollst du büßen!‘ Die Roten aber, die sind nur kurz hier, und dann müssen wir wieder für sie fahren; unsere Oberen aber, die haben wir immer auf dem Hals. Ja, ja, duck dich, Bauer!”
“Wagen wollen sie haben?”
“Was denn sonst? Heute Abend hat der Fjodor angeklopft, das ist einer von ihren Soldaten – um zwölf Uhr braucht er einen Wagen.”
Die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Ich stand da und wusste nicht, was ich denken sollte. Die Roten waren also doch im Dorf, und mein Gefährte hatte mich belogen. Wenn die Roten einmal wieder weg sind, kann man sie von neuem suchen. Rasch musste jetzt alles gehen. Aber warum hatte er mich belogen?
Mein erster Gedanke war, mich allein aufzumachen und den Weg entlang ins Dorf zu laufen. Doch da fiel mir ein, dass mein Mantel noch auf der Wiese im Wald lag. – Ich muss zurückgehen, dachte ich, aber ich komme trotzdem noch rechtzeitig an. Und dem da muss ich Bescheid sagen; wenn er auch Angst hat, so gehört er doch zu uns.
Da hörte ich neben mir ein Geräusch und sah, wie mein Kamerad aus den Büschen heraustrat. Ohne Zweifel war er mir nachgegangen, hatte sich versteckt gehalten und dabei wohl auch das Gespräch der vorbeifahrenden Bauern mit angehört. “Ach, du bist das?” sprach ich ihn an, verächtlich und ärgerlich.
“Los! Wir gehen!” erwiderte er erregt statt einer Antwort.
Ich machte einen Schritt auf den Weg zu, er war hinter mir.
Ein wuchtiger Hieb mit dem Knüppel warf mich zu Boden, wurde aber durch meine Pelzmütze abgeschwächt. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, wie mein Gefährte auf der Erde hockte und beim Mondlicht hastig meinen Ausweis durchlas, den er mir aus der Hosentasche gezogen hatte.
Das also wollte er haben, begriff ich. Er war kein Feigling, er wusste, dass die Roten im Dorf lagen, und hatte es mir absichtlich nicht gesagt; ich sollte einschlafen, dann wollte er mir meinen Ausweis stehlen. Er war keiner von den aufständischen Kulaken; vor denen hatte er ja auch Angst – er war ein richtiger Weißer.
Ich versuchte mich etwas aufzurichten, um in das Gebüsch zu kriechen. Der Unbekannte hatte es bemerkt, steckte meinen Ausweis in seine Ledertasche und kam schon wieder auf mich zu.
“Du bist noch nicht kaputt?” fragte er kalt. “Du Hund hast in mir den richtigen Genossen gefunden! Ich gehe auch an den Don, aber nicht zu deinem Siwers, dem Lumpenhund, ich gehe zu General Krasnow.”
Er stand zwei Schritt von mir entfernt und hob den schweren Knüppel.
Mein Herz klopfte laut, klopfte gegen Hartes. Ich lag auf der Seite, die rechte Hand auf der Brust, und fühlte, wie meine Finger vorsichtig, gegen meinen Willen, in die geheime Tasche griffen, wo ich meine Pistole versteckt hatte.
Hätte der Unbekannte die Handbewegung bemerkt, wäre es ihm doch nicht weiter aufgefallen, da er ja nichts von der Waffe wusste. Fest umklammerte ich den warmen Griff der Pistole und entsicherte sie. In diesem Augenblick trat mein Feind drei Schritt zurück. Entweder um mich besser sehen zu können oder um mir mit einem Anlauf noch einmal über den Schädel zu hauen. Ich presste die zitternden Lippen zusammen, streckte meinen geschwollenen Arm, zog die Pistole heraus und richtete sie auf meinen Gegner, der gerade zum Sprung ansetzte.
Ich sah noch, wie sich plötzlich sein Gesicht verzog, hörte, wie er mit einem Schrei auf mich zustürzte; dann zog ich ab – eher mechanisch als meinem Willen gehorchend.
Er lag zwei Schritt von mir entfernt, die geballten Fäuste nach mir hin ausgestreckt. Der Knüppel lag daneben.
Erschossen! Soviel hatte ich begriffen und vergrub mein Gesicht im Gras. In meinem Schädel summte es wie in den Telegrafendrähten, wenn der Wind hindurchgeht.
So lag ich lange Zeit halb bewusstlos. Allmählich ließ die Glut in meinem Kopf nach. Blut floss mir über das Gesicht, mit einem Male fror ich, meine Zähne klapperten. Ich stand auf, sah die nach mir ausgestreckten Hände – ich hatte Angst. Nun war es Ernst! Alles, was vorher in meinem Leben gewesen, war im Grunde genommen nur Spiel. Die Flucht von zu Hause, die Übungen in der Kampfgruppe mit den prächtigen Genossen aus Sormowo, der Marsch durch den Wald am gestrigen Tage, alles war nur Spiel – aber diesmal war es Ernst. Mir war unheimlich zumute in dem finsteren Wald, mir, einem Jungen von fünfzehn Jahren, vor dessen Füßen ein Mensch lag, den er getötet hatte… Mein Kopf dröhnte nicht mehr, der kalte Schweiß trat mir auf die Stirn.
Von Angst getrieben, stand ich auf, stahl mich auf Zehenspitzen zu dem Toten, nahm seine Tasche vom Boden auf, in der £nein Ausweis steckte; langsam ging ich rückwärts in das Gebüsch, den Blick starr auf den am Boden Liegenden gerichtet.
Dann drehte ich mich um und rannte immer geradeaus, durch den Wald hindurch auf den Weg zu, zum Dorf hin, zu Menschen. Nur nicht mehr allein sein.

 

3. Kapitel

Beim ersten Haus wurde ich angerufen: “Wer kommt denn da an, verflucht noch mal? Heda, Bursche! Stehen bleiben, du Hornochse!”
Aus dem Schatten am Hause trat eine Gestalt mit einem Gewehr heraus und kam auf mich zu.
“Wohin? Wo kommst du her?” fragte der Posten und drehte mich um, dass mir das Mondlicht ins Gesicht fiel.
“Ich will zu euch…”‚ antwortete ich schwer atmend. “Ihr seid doch Genossen…
Er unterbrach mich: “Wir sind Genossen, aber was bist du?”
“Ich auch…”, begann ich stockend und reichte ihm wortlos meine Tasche hin, da ich keine Luft mehr bekam und nicht weitersprechen konnte.
“Du auch?” fragte der Posten schon etwas zugänglicher, aber immer noch misstrauisch. “Komm mit zum Kommandeur, wenn du auch einer bist!”
Trotz der späten Stunde schlief das Dorf noch nicht. Pferde wieherten, Tore kreischten in ihren Angeln, Bauernwagen fuhren hinaus, und dazwischen brüllte jemand: “Do-ku-kin…! Wo bist du denn, verdammt noch mal?”
“Was machst du nur für‘n Krach, Waska?” fragte mein Begleiter streng, als wir dorthin kamen.
“Ich such den Mischka”, erwiderte der Angesprochene wütend. “Er hat den Zucker für mich mitempfangen, und jetzt sagen sie, er soll mit einem Posten zu unserem Transportzug vorausgeschickt werden.”
“Dann gibt er dir‘n eben morgen.
“Gibt ihn morgen! Da kann ich lange warten. Morgen früh trinkt er seinen Tee und wirft den ganzen Zucker auf einmal rein, ist doch verrückt auf Süßes!”
Jetzt erst hatte er mich erblickt und fragte neugierig in ganz anderem Ton: “Wen hast du denn da geschnappt, Tschubuk? Bringst ihn zum Stab, ja? Na, dann man zu! Da werden sie ihm schon was zeigen. Lumpenpack…”‚ brüllte er mich plötzlich an und machte eine Bewegung, als wolle er mit dem Kolben auf mich loshauen.
Mein Begleiter jedoch stieß ihn zurück und sagte ärgerlich: “Hau bloß ab … Das geht dich gar nichts an. Man soll einen Menschen nicht zu früh anbellen. Bist wie ein richtiger Dorfköter, weiß Gott!”
Neben uns hörte ich Sporen klirren. Ein Mann mit schwarzer Papacha, Sporen an den Stiefeln, den blitzenden Reitersäbel an der Seite, die Pistole im hölzernen Futteral und die Nagaika über den Arm gehängt, führte ein Pferd aus dem Tor heraus.
Neben ihm her schritt ein Trompeter.
“Antreten!” befahl der Mann mit der Papacha und setzte einen Fuß schon in den Bügel.
Weich und zärtlich klang die Trompete.
“Schebalow”, rief mein Begleiter, “einen Augenblick! Hier bringe ich dir jemanden.”
“Wozu?” fragte er und nahm den Fuß nicht aus dem Bügel. “Was ist das für ein Mann?”
“Der gehört zu uns, sagt er, und Papiere hat er auch.”
“Hab keine Zeit”, antwortete der Kommandeur und schwang sich in den Sattel. “Du kannst doch auch lesen, Tschubuk, prüf das mal nach… Wenn er zu uns gehört, dann lass ihn in Gottes Namen laufen.”
“Ich geh nicht mehr weg”, fiel ich ein, da ich fürchtete, schon wieder allein zu bleiben. “Ich bin zwei Tage lang allein durch den Wald gelaufen. Ich wollte zu euch, und bei euch will ich auch bleiben.”
“Bei uns?” fragte erstaunt der Mann mit der schwarzen Papacha. “Vielleicht können wir dich überhaupt nicht brauchen!”
“Ihr könnt mich brauchen”, erklärte ich dickköpfig. “Wo soll ich denn allein hin?”
“Da hat er recht! Wenn das stimmt, was er sagt, wo soll er denn allein hin?” mischte sich mein Begleiter ein. “Wer jetzt hier allein rumläuft, der geht vor die Hunde. Schebalow, stoß ihn nicht vor den Kopf, hilf ihm lieber. Hat er gelogen, dann werden wir ja sehen; sagt er aber die Wahrheit und gehört wirklich zu uns, dann kannst du ihn nicht zurückstoßen. Komm, sitz ab von deinem Gaul, kommst schon noch zur rechten Zeit.”
“Tschubuk!” fuhr ihn der Kommandeur an. “Wie redest du denn? Bin ich Kommandeur oder nicht? Bin ich Kommandeur, habe ich gefragt?”
“Das bist du!” gab Tschubuk ruhig zu.
“Dann brauchst du mir auch nicht zu sagen, ich soll absitzen.
Er sprang vom Pferd, warf die Zügel über den Zaun und ging säbelklirrend ins Haus.
Dort erst, beim Schein des Talglichts, konnte ich ihn mir richtig ansehen. Er trug keinen Bart, Pockennarben bedeckten sein hageres Gesicht. Seine weißblonden Augenbrauen wuchsen an der Nasenwurzel zusammen, darunter blickte mich ein Paar gutmütiger Augen an, die er ständig zusammenkniff, wohl um seinem Gesicht die gebührende Strenge zu verleihen. An der Art, wie er lange meinen Ausweis studierte und dabei die Lippen bewegte, erkannte ich, dass er nicht besonders gut lesen konnte. Als er fertig war, reichte er Tschubuk das Papier hin und sagte zweifelnd: “Wenn das hier nicht gefälscht ist, dann ist es echt. Was meinst du, Tschubuk?”
“Stimmt!” meinte der gelassen und stopfte sich seine krumme Pfeife mit Machorka.
“Und wie bist du hier hergekommen?” fragte der Kommandeur.
Ich fing an zu erzählen, hitzig und aufgeregt, weil ich fürchtete, sie würden mir nicht glauben. Aber anscheinend glaubten sie mir doch, denn als ich geendet hatte, machte der Kommandeur nicht mehr so ein strenges Gesicht, sondern sagte gutmütig zu Tschubuk: “Ja, wenn das nicht gelogen ist, dann hat unser Kerlchen die Wahrheit gesagt! Was meinst du dazu, Tschubuk?”
“Jawohl!” bestätigte Tschubuk und klopfte die Asche seiner Pfeife an der Stiefelsohle ab.
“Na, und was wollen wir mit ihm machen?”
“Er kommt in die erste Kompanie; der Sucharew soll ihm das Gewehr von Paschka geben, der gefallen ist”, empfahl Tschubuk.
Der Kommandeur überlegte, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und befahl ernsten Gesichts: “Bring ihn in die erste Kompanie, Tschubuk, und sag dem Sucharew, er soll ihm ein Gewehr geben, das Gewehr von Paschka, der gefallen ist, und auch Patronen, soviel ihm zustehen. Dann soll er diesen Mann in die Liste unserer revolutionären Abteilung eintragen.”
Und wieder klirrten Sporen und Säbel, der Kommandeur riss die Tür auf und trat langsam zu seinem Pferde.
“Komm mit”, sagte Tschubuk und klopfte mir plötzlich auf die Schulter.
Wieder klang die Trompete in weichen Tönen, lauter wieherten die Pferde, stärker knarrten die Wagen. Ich war außer mir vor Glück und lachte vor Freude, als ich hinüberging zu meinen neuen Genossen.
Wir waren die ganze Nacht unterwegs. Gegen Morgen wurden wir auf irgendeiner kleinen Bahnstation in einen Militärzug verladen, und gegen Abend wurde eine verwahrlost aussehende Lokomotive vorgespannt. Dann rollten wir nach Süden, den Einheiten der Roten Armee und den Arbeiterwehren zu helfen, die im Kampf standen mit den Haidamaken und Krasnow-Truppen und mit den Deutschen, die den Donbass erobert hatten.
Unsere Abteilung trug den stolzen Namen “Sondereinheit des revolutionären Proletariats”. Sie war nicht groß, hatte nur an die einhundertfünfzig Mann. Wir waren Infanteristen, mit einem berittenen Aufklärungszug von fünfzehn Mann unter dem Kommando von Fedja Syrzow. Kommandeur unserer gesamten Abteilung war Schebalow, ein ehemaliger Schuster. Seine Finger waren vom Pechdraht zerschnitten, und von seinen Händen hatte er die schwarze Farbe noch nicht runterbekommen. Er hatte so seine Eigenarten. Die Soldaten achteten ihn, lächelten aber über manche seiner Schwächen. Eine davon war seine Vorliebe für ein eindrucksvolles Äußeres. Sein Pferd hatte er mit roten Bändern geschmückt, seine gebogenen Sporen waren über die Maßen lang und endeten in einem spitzen Dorn. So etwas hatte ich nur auf alten Ritterbildern gesehen; vielleicht hatte er sie sogar in einem Museum entdeckt. Sein langer vernickelter Säbel reichte bis zur Erde hinab, und in das hölzerne Futteral seiner Pistole war ein Kupferplättchen eingelassen. Darauf standen eingraviert die Worte: “Ich sterbe, aber du, Satan, stirbst mit mir!” Man erzählte sich, er habe zu Hause eine Frau und drei Kinder. Sein Ältester arbeitete schon. Nach dem Februar war er von der Front desertiert und hatte zu Hause wieder Schuhe geflickt. Als die Junker anfingen, den Kreml zu beschießen, hatte er seinen besten Anzug angezogen, dazu fremde, eben erst auf Bestellung angefertigte Lederstiefel, hatte sich auf dem Arbat bei der Arbeiterwehr ein Gewehr besorgt und sich dann, wie er sagte, “für ewige Zeiten in die Revolution gestürzt”.

 

4. Kapitel

Am dritten Tage wurden wir kurz vor der Station Schachtnaja in aller Eile ausgeladen.
Ein Kavallerist, ein junger Kerl noch, kam angelaufen, steckte Schebalow ein Papier zu und sagte lachend, als hätte er irgendeine angenehme Neuigkeit: “Gestern haben die Deutschen eine Masse von uns bei Krajuschkowo umgelegt. Eine tolle Schweinerei, da war was los!”
Unsere Einheit sollte die auf den Dörfern verstreut liegenden Truppen des Gegners umgehen und mit den Einheiten der Bergarbeiter Begitschews Verbindung aufnehmen.
“Aber wie sollen wir denn Verbindung aufnehmen?” fragte Schebalow ärgerlich und tippte mit dem Finger auf die Karte. “Wo soll ich sie denn suchen? Schreiben einfach drauf: zwischen Oleschkino und Sosnowka! Den genauen Ort will ich wissen, aber nicht so was wie ‚Verbindung aufnehmen‘ und ‚zwischen‘…”
Schebalow schimpfte auf die Stabschefs; sie verstünden nichts von der Sache und schrieben nur kluge Befehle. Dann ließ er die Kompanieführer rufen. Doch trotz seiner Schimpferei über die Stabschefs war Schebalow froh, dass er eine selbständige Aufgabe erhalten hatte und nicht einer anderen, stärkeren Einheit unterstellt worden war.
Die drei Kompanieführer erschienen. Es waren der glattrasierte Tscheche Halda, ein ruhiger Mensch, der finstere ehemalige Unteroffizier Sucharew und der dreiundzwanzigjährige Fedja Syrzow, ein Harmonikaspieler und guter Tänzer. Der stets zu lustigen Streichen aufgelegte Fedja war früher einmal Hirte gewesen.
Sie ließen sich im Grase um die Karten nieder, um sie herum standen dicht geschart die Soldaten.
“Also”, begann Schebalow und hob den Befehl hoch, “nach dem Befehl, den ich bekommen habe, sollen wir ins Hinterland des Feindes vorrücken, damit wir in der Nähe der Einheit von Begitschew kämpfen können. Heute Nacht geht‘s los, mit dem Gegner dürfen wir nicht in Berührung kommen. Alles klar?”
“Wieso? Warum sollen wir mit dem Gegner nicht in Berührung kommen? Versteh ich nicht!” fragte Fedja Syrzow mit verschmitztem Gesicht.
“Wir sollen eben nicht mit ihnen in Berührung kommen”, Schebalow drehte sich langsam um und drohte Fedja mit der Faust. “Ich kenne dich, du… Ich werd dir was, von wegen Feindberührung! Du machst mir keine Dummheiten…! Also heute Nacht rücken wir ab”, fuhr er fort, “ohne Fahrzeuge; Maschinengewehre und Munition werden getragen, es darf nichts zu hören sein. Dörfer werden vorsichtig umgangen, nicht einfach hinein, wie hungrige Hunde auf ein verrecktes Stück Vieh! Gilt ganz besonders für dich, Fjodor… Du hast da so einige, wenn die einen Hof nur von weitem sehen, dann ist ihnen alles egal – und nichts wie drauf!”
“Das machen meine Leute auch”, gestand der Tscheche Halda. “Neulich hat ein Spähtrupp von mir einen ganzen Trog mit frischem Teig angeschleppt. Ich hab sie gefragt: ‚Was wollt ihr denn damit?‘, und da sagten sie, sie wollten ihn auf dem Feuer backen…”
Alle lachten laut auf, sogar Schebalow schmunzelte.
“Das war bei Debalzewo”, sagte lachend neben mir Waska Schmakow. “Er meint uns damit. Wir waren unterwegs, auf Erkundung, und da stießen wir auf einen Kosaken, einen reichen Kosaken. Vom Hof her haben sie auf uns geschossen, nun, und da sind wir hin. Als wir ankamen, waren sie schon alle weg. Der Ofen war angeheizt, der Backtrog stand auf dem Tisch. Den Hof haben wir angesteckt, aber den Trog mitgenommen. Ja, und abends haben wir gebacken. Das hat geschmeckt! Da waren Milch und Eier drin… wie‘n richtiger Osterkuchen.”
“Den Hof habt ihr angesteckt?” fragte ich. “Wie kann man denn einen Hof einfach anstecken?”
“Ganz runtergebrannt ist er”, antwortete Waska kaltblütig. “Warum sollten wir ihn denn nicht abbrennen, wo die doch zuerst auf uns geschossen haben? Das waren doch Kosaken, ganz dreckige Kosaken. War ein reicher Kerl, der Bauer, was macht das dem schon aus, baut sich einfach einen neuen.”
“Aber wenn er nun noch wütender wird und die Roten dafür noch mehr Hasst, was dann?”
“Uns noch mehr hassen? Kann er ja gar nicht”, erwiderte Waska ernst. “Wer reich ist, der kann überhaupt nicht noch mehr hassen. Von uns haben sie mal den Petka Kokschin erwischt… erst haben sie ihn drei Tage lang durchgepeitscht und dann umgebracht. Und da redest du von ‚noch mehr hassen‘… Wie kann man denn noch mehr hassen?”
Vor dem Aufbruch zum nächtlichen Marsch kochten sich die Soldaten Brei mit Speck, brieten Kartoffeln auf Kohlenfeuern, lagen im Grase, reinigten ihre Gewehre oder ruhten sich aus. Auf dem Wagen des Kompanieführers Sucharew entdeckte ich einen überzähligen alten Militärmantel. Unten hatte er Brandflecken, aber sonst war er noch gut. Ich ging zu Sucharew und bat ihn um den Mantel.
“Wozu brauchst du den denn?” fragte er grob. “Du hast doch einen Mantel, einen aus Tuch sogar, den Mantel brauch ich selbst. Da lass ich mir eine Hose draus machen.”
“Die kannst du dir ja aus meinem machen lassen”, schlug ich vor, “wirklich… alle haben sie richtige Militärmäntel, bloß ich hab so ‘nen schwarzen, wie eine Krähe seh ich aus.”
“Na, na!” Sucharew schaute mich verwundert an. Über sein derbes Bauerngesicht lief ein ungläubiges Lächeln. “Wollen wir tauschen? Klar!” Er war auf einmal bereit. “Hast ja auch recht, was bist du schon für‘n Soldat in so‘nem Zivilmantel? Siehst nach gar nichts aus. Mein Mantel ist zwar ein bisschen verbrannt, aber man kann ja ein Stück abschneiden. Kriegst von mir noch ‘ne graue Papacha dazu, ich hab eine zuviel.”
Wir tauschten und waren beide zufrieden mit unserem Geschäft. Als ich von ihm wegging, in der Uniform eines richtigen Rotarmisten und mit umgehängtem Gewehr, sagte er zu Waska, der gerade vorbeikam: “Den Mantel schick ich auf jeden Fall meiner Frau. Was soll er auch damit? Trifft ihn ‘ne Kugel, ist der Mantel sowieso hin, und meine Alte zu Hause, die wird sich freuen!”
In der Nacht trieb Fedja Syrzow auf dem ersten Bauernhof, an dem wir vorbeikamen, zwei wegekundige Führer auf. Er nahm gleich zwei, damit wir nicht auf einen falschen Weg gerieten und dem Feind in die Arme liefen. Die beiden Führer waren voneinander getrennt, und wenn an einem Kreuzweg der eine nach links wollte, fragten wir auch den anderen; und nur dann, wenn beide denselben Weg gehen wollten, schlugen wir diese Richtung ein.
Am Anfang marschierten wir durch den Wald zu zweien nebeneinander, alle Augenblicke stießen wir gegen unseren Vordermann. Fedja Syrzow hatte gleich beim Aufbruch befohlen, die Hufe der Pferde mit Lappen zu umwickeln. Als der Morgen dämmerte, schwenkten wir vom Wege in den Wald ab. Auf einer kleinen Lichtung wurde Rast gemacht. Bei Hellem weiterzumarschieren war gefährlich. In einem Himbeergebüsch an der Straße ließen wir einen Posten zurück. Um die Mittagszeit trug der Wind vom Westen her den Donner eines heftigen Artillerieduells herüber.
Schebalow ging an uns vorbei, er schien beunruhigt. Neben ihm her schritt Fedja mit federnden, kräftigen Schritten und redete hastig auf den Kommandeur ein. Bei Sucharew blieben sie stehen. Ich verstand, was sie sagten: “Aufklärung durch die Schlucht.”
“Beritten?”
“Nein, nicht beritten, das fällt zu sehr auf. Nimm drei von deinen Leuten, Sucharew.”
“Tschubuk”, sagte Schebalow leise, wie fragend, “du führst, nimm Schmakow dazu und noch einen anderen zuverlässigen Mann.”
“Nimm mich mit”, bat ich leise, “auf mich kannst du dich verlassen.”
“Nimm Simka Gortschkow”, schlug Sucharew vor.
“Mich, Tschubuk”, flüsterte ich ihm zu, “nimm mich doch mit… Auf mich kannst du dich bestimmt verlassen.”
“Na, schön”, sagte Tschubuk und nickte.
Beinahe hätte ich laut aufgejubelt, konnte es nicht fassen, dass man mich zu einer so wichtigen Sache mitnahm. Meinen Rucksack auf dem Rücken und das Gewehr umgehängt, stand ich da; ich war verwirrt, da mich Sucharew unverwandt und ungläubig anstarrte.
“Warum willst du den denn mitnehmen?” fragte er Tschubuk. “Der kann dir alles verderben – nimm doch Simka mit.”
“Simka?” fragte Tschubuk nachdenklich, zündete ein Streichholz an und rauchte.
“Der Idiot!” flüsterte ich, blass vor Zorn und Hass auf Sucharew. Wie kann der nur vor allen anderen so über mich reden? Wenn ich nicht mit darf, dann gehe ich auf eigene Faust… bis an das Dorf ran, da werde ich alles genau beobachten, und dann kehr ich zurück. Und wenn Sucharew auch platzt vor Wut!
Tschubuk rauchte, öffnete das Schloss seines Gewehrs, schob vier Patronen ins Magazin und eine in den Lauf. Dann sicherte er und sagte gleichgültig und gelassen, nicht ahnend, was seine Entscheidung für mich bedeutete.
“Simka? Ja, ich kann auch Simka mitnehmen”, meinte er und rückte seine Patronentasche zurecht. Als er aber sah, wie ich blass geworden war, lächelte er und sprach dann grob: “Warum denn Simka…? Er… aber der hier, der will doch so gern mit… wenn er unbedingt will. Komm, Junge!”
Ich stürzte gleich auf den Waldrand los.
“Stehen bleiben!” Hart fuhr Tschubuk mich an. “Spring nur nicht so los, wird für dich kein Spaziergang werden. Hast du ne Handgranate mit? Nein? Hier, nimm eine von mir. Nu warte doch, steck sie nicht mit dem Griff in die Tasche, wenn du sie rausziehst, reißt du am Abzugsring. Steck sie rein mit dem Kopf nach unten. Ja, so ist‘s richtig. Ach, du bist noch so n richtiger Hitzkopf!” fügte er, schon milder, hinzu.

 

5. Kapitel

“Du gehst rechts auf dem Hang vor”, befahl Tschubuk. “Schmakow hält sich links, und ich bleib unten in der Mitte. Sobald ihr was merkt, gebt ihr ein Zeichen.”
Langsam bewegten wir uns vorwärts. Erst nach einer halben Stunde sah ich Schmakow etwas hinter mir auf dem linken Hang. Er ging gebückt, den Kopf vorgestreckt. Sein sonst so gutmütiges, etwas verschmitztes Gesicht war jetzt ernst.
An einer Biegung verlor ich Schmakow und Tschubuk aus den Augen. Ich wusste, sie waren irgendwo nicht weit von mir und gingen wie ich im Schutze der Büsche vorwärts. Das Bewusstsein, trotz scheinbarer Trennung durch eine gemeinsame Aufgabe und gemeinsame Gefahr fest miteinander verbunden zu sein, machte mich stark. Die Schlucht wurde breiter, das Gehölz ringsum immer dichter. Noch eine Biegung, und ich warf mich flach auf den Boden.
Auf dem breiten, mit Steinen gepflasterten Wege, kaum hundert Schritt vom rechten Hang entfernt, ritt eine starke Kavallerieeinheit.
Die wohlgenährten Rappen griffen mächtig unter ihren Reitern aus; an der Spitze ritten drei oder vier Offiziere. Gerade mir gegenüber hielt die Abteilung an. Der Kommandeur zog eine Karte heraus und blickte hinein.
Ich zog mich zurück und hielt Ausschau nach Tschubuk, um ihm das verabredete Zeichen zu geben.
Mir war unheimlich zumute; aber trotzdem war ich stolz, dass ich nicht umsonst mitgegangen war und nicht ein anderer, sondern ich als erster den Gegner entdeckt hatte.
Wo ist nur Tschubuk? dachte ich beunruhigt und schaute mich nach allen Seiten um. – Wo steckt er denn nur? – Ich wollte ihn schon suchen, als ich bemerkte, wie sich in dem Gebüsch auf dem linken Abhang etwas bewegte.
Es war Waska Schmakow, der vorsichtig aus dem Gebüsch hervorschaute. Er deutete mit der Hand nach unten, gab mir Zeichen, die ich nicht verstand, schien mich zu warnen.
Zuerst glaubte ich, ich solle hinuntergehen; aber als ich in die Richtung seiner ausgestreckten Hand blickte, zog ich gleich den Kopf ein.
Auf dem dicht bewachsenen Grunde der Schlucht schritt ein weißer Soldat und führte ein Pferd am Zügel. Entweder suchte er dort eine Wasserstelle, oder er gehörte zur Seitensicherung der marschierenden Kolonne – jedenfalls war er ein Feind, der unserem Auftrag im Wege stand. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Reiter war jetzt im Gebüsch verschwunden. Aber Waska musste wohl von drüben her noch etwas anderes sehen, was mir bisher verborgen geblieben war.
Er hatte sich auf ein Knie niedergelassen und den Kolben auf den Boden gestützt. Mit ausgestreckter Hand deutete er in meine Richtung und gab mir ein Zeichen, ich solle mich ja nicht rühren. Dabei schaute er nach unten, als wolle er hinunterspringen.
Von rechts klangen Huftritte herüber, ich schaute mich um. Die Kavallerieabteilung war auf den Weg eingeschwenkt und ritt nun im Trabe. In diesem Augenblick winkte mir Waska, mit der Hand weit ausholend, und sprang mit einem mächtigen Satz mitten durch das Strauchwerk nach unten. Ich ihm nach. Ich rollte bis auf den Grund hinunter, brach nach rechts durch und sah, wie sich dort, eng ineinander verschlungen, zwei Mann auf dem Boden wälzten. In dem einen erkannte ich Tschubuk, in dem anderen den feindlichen Soldaten. Ich weiß nicht mehr, wie ich dorthin gekommen bin. Tschubuk lag auf dem Rücken und hatte den Weißen, der seinen Revolver zu ziehen versuchte, am Arm gepackt. Anstatt ihm eins mit dem Kolben über den Kopf zu hauen, warf ich in meiner Verwirrung das Gewehr fort und wollte ihn an den Beinen von Tschubuk wegzerren; er war mir aber zu schwer und stieß mich zurück. Ich schlug rücklings hin, konnte ihn aber noch an der Hand packen und biss ihm in den Finger. Der Weiße brüllte auf und riss die Hand los. In diesem Augenblick brach es krachend aus dem Gebüsch hervor – Waska. Nass bis an den Gürtel, stürzte er herbei und streckte mit einem sauber gezielten Schlag, wie er es gelernt hatte, den Soldaten mit dem Gewehrkolben nieder.
Hustend und spuckend stand Tschubuk auf.
“Waska!” sprach er, heiser und abgerissen, und deutete mit der Hand auf das Pferd, das immer noch dastand und an Grasbüscheln rupfte.
“In Ordnung!” antwortete Waska, griff nach den am Boden schleifenden Zügeln und zog das Pferd zu sich heran.
“Mitnehmen!” sprach Tschubuk und zeigte auf den betäubt daliegenden Haidamaken.
“Arme binden!”
Tschubuk hob mein Gewehr auf, schnitt mit dem Bajonett den Gewehrriemen ab und band damit dem Soldaten, der noch nicht wieder zur Besinnung gekommen war, die Ellbogen zusammen.
“Nimm ihn an den Beinen!” rief er mir zu. “Schneller, Menschenskind!” brüllte er mich an, als er sah, wie verwirrt ich war.
Wir legten unseren Gefangenen quer über das Pferd. Waska sagte kein Wort, sprang in den Sattel, zog dem Pferd eins mit der Nagaika über und jagte über den holprigen Grund der Schlucht zurück.
Tschubuk griff meine Hand.
“Hierher!” sprach er mit röchelnder Stimme, blutrot im Gesicht und schweißbedeckt. “Komm mit!”
Er hielt sich an den Ästen der Büsche fest und kletterte nach oben.
“Halt”, rief er, als wir schon fast oben waren, “runter!”
Mit knapper Not gelang es uns noch, im Gebüsch zu verschwinden, als unten plötzlich fünf Berittene auftauchten. Anscheinend waren sie der Kern der Seitensicherung. Die fünf hielten und schauten sich um, sie suchten ihren Kameraden. Ihr lautes Fluchen drang bis zu uns herüber. Sie nahmen den Karabiner von der Schulter, einer sprang vom Pferd und hob etwas vom Boden auf. Es war die Mütze des Soldaten, die wir in der Eile liegengelassen hatten. Die Kavalleristen waren beunruhigt und sprachen aufgeregt miteinander. Einer von ihnen, wohl ihr Wachtmeister, deutete mit der Hand geradeaus.
Die holen Waska ein, dachte ich, mit seiner schweren Last auf dem Pferd. Sie sind zu fünft, er ist allein.
“Schmeiß deine Handgranate runter!” befahl Tschubuk. Im selben Augenblick sah ich, wie in seiner Hand etwas aufglänzte und hinunterflog.
Ein dumpfes Krachen betäubte meine Ohren.
“Nu wirf doch!” schrie Tschubuk, riss mir die Handgranate aus den Fingern, entsicherte sie und warf sie hinunter.
“Idiot!” brüllte er mich an. Durch die laute Detonation und die plötzliche höchste Gefahr war ich wie von Sinnen. “So‘n Idiot! Reißt den Ring runter und wollte die Sicherung drinlassen!”
Wir rannten über frisch gepflügtes Land, der zähe Lehm blieb an unseren Stiefeln hängen. Die Weißen aber waren anscheinend mit ihren Pferden nicht durch das dichte Gestrüpp nach oben gekommen und hatten sich schleunigst aus dem Staube gemacht. Im Laufen erreichten wir eine andere Schlucht, bogen seitwärts ein, rannten wieder über einen Acker, kamen in ein Wäldchen und von da aus in ein dichtes Gehölz. Hinter uns in der Ferne hörten wir Schüsse.
“Die haben doch den Waska nicht gekriegt?” fragte ich mit zitternder, fremd klingender Stimme.
“Nein”, antwortete Tschubuk und lauschte, “die schießen vor lauter Wut. Jetzt aber los, Junge! Und einen Schritt zulegen. Die finden unsre Spur nicht mehr!”
Schweigend schritten wir weiter. Mir war, als habe sich Tschubuk über mich geärgert und verachte mich, weil ich vor Schreck mein Gewehr hingeworfen und wie ein kleiner Junge den Soldaten in den Finger gebissen hatte, weil meine Hände zitterten, als wir unseren Gefangenen auf das Pferd hoben. Hauptsächlich aber deshalb, weil ich vor lauter Aufregung noch nicht mal richtig eine Handgranate werfen konnte. Am peinlichsten und schmerzlichsten aber war mir der Gedanke, Tschubuk werde in unserer Abteilung davon erzählen. Dann würde Sucharew kommen und sagen: “Ich hab dir ja gesagt, gibt dich nicht mit ihm ab; hättest Simka nehmen sollen oder sonst jemanden!” Mir war das Weinen nahe; ich schämte mich, ärgerte mich über mich selbst und über meine Feigheit.
Tschubuk blieb stehen und zog seinen Beutel mit Machorka heraus; als er die Pfeife stopfte, bemerkte ich, dass auch seine Finger ganz leicht zitterten. Er machte ein paar Züge und zog den Rauch so gierig ein, als trinke er kaltes Wasser. Dann steckte er den Tabaksbeutel in die Tasche, klopfte mir auf die Schulter und sagte in seiner einfachen Art: “Na… haben wir ja noch mal Glück gehabt, mein Junge, wie? Halb so wild, Boriska, bist ein ordentlicher Kerl. Wie du den so mit den Zähnen an der Hand gepackt hast, Donnerwetter!” Und Tschubuk lachte gutmütig. “Wie so‘n richtiger Wolf hast du ihn gebissen. Klar, manchmal geht‘s auch ohne Gewehr, im Krieg darf man auch die Zähne nehmen!”
“Aber die Handgranate…”, sagte ich schuldbewusst, “wie konnte ich die nur mit der Sicherung…?”
“Die Handgranate?” Tschubuk lächelte. “Da bist du nicht der einzige, mein Junge. Fast alle, die es nicht gewohnt sind, werfen sie so: entweder noch gesichert oder ohne Sprengkapsel. Als ich anfing, hab ich das auch so gemacht. Dann sind sie alle wie vor den Kopf geschlagen, vergessen nicht nur, dass die Granate noch gesichert ist, sie ziehen auch den Ring nicht ab. Sie werfen sie einfach weg – wie einen Kieselstein –‚ und fertig ist der Laden. Nun komm… wir haben es noch weit!”
Der Weg zurück fiel uns nicht mehr schwer. Ich war ruhig und in gehobener Stimmung, wie nach einer bestandenen Prüfung… Niemals mehr würde Sucharew mich beleidigen können.

*

Bei der Abteilung angekommen, brachte Waska seinen noch besinnungslosen Gefangenen zum Kommandeur. Als es hell wurde, kam der Weiße wieder zu sich. Beim Verhör sagte er aus, die Eisenbahnlinie, die wir zu überschreiten hatten, würde durch einen Panzerzug gesichert, auf der Bahnstation läge ein deutsches Bataillon und in Gluchowka eine weißgardistische Einheit unter Führung des Hauptmanns Shicharew.
Es duftete das frische Grün des Waldes – der Faulbaum stand in voller Blüte. Unsere Jungen hatten sich ausgeruht, waren voller Tatendrang, sorglos und unbekümmert. Fedja Syrzow kehrte mit seinen tollen Reitern vom Spähtrupp zurück und meldete, vor uns wäre niemand und die Bauern im nächsten Dorf stünden auf Seiten der Roten; vor drei Tagen sei nämlich der Gutsbesitzer, der Anfang Oktober ausgerissen war, ins Dorf zurückgekehrt und habe in Begleitung von Soldaten alle Häuser nach seinem Eigentum durchsucht. Alle, bei denen Sachen aus dem Besitz des Herrn gefunden wurden, hätte man auf dem Platz vor der Kirche durchgepeitscht. Es wäre schlimmer gewesen als in den Zeiten der Leibeigenschaft, und deshalb wären die Bauern nur froh, wenn die Roten kämen.
Nachdem ich meinen Durst gestillt und ein Stück Speck gegessen hatte, stand ich auf. Ein Haufen Rotarmisten drängte sich um unseren Gefangenen; dort ging ich auch hin.
“Hallo!” begrüßte mich Waska Schmakow und wischte sich mit dem Ärmel über sein von Wasser triefendes Gesicht. Er hatte gerade einen halben Teekessel Wasser leer getrunken. “Das warst du doch gestern mit dem Gewehr, wie?”
“Was ist mit gestern?”
“Na, du hast doch dein Gewehr hingeschmissen.”
“Ja, und du, du bist noch vor mir runtergesprungen, aber erst ganz am Schluss bist du gekommen und hast uns geholfen!” entgegnete ich bissig.
“Ja, zuerst, da bin ich in den Sumpf reingeraten, hab kaum die Beine wieder rausgekriegt, deswegen kam ich erst hinterher. Ja, und dann hab ich die Handgranaten gehört … und da hab ich gedacht: Jetzt ist es aus mit den beiden, ja, das hab ich gedacht. Dann bin ich zurückgeritten zu unseren Leuten und hab gerufen: ‚Sie haben Pech gehabt, die beiden, die kommen allein nicht raus.‘ Und dann hab ich noch gedacht: Das hat er nun davon, mir wollte er seine Tasche nicht geben, aber die Weißen, die kriegen sie jetzt umsonst von ihm. Deine Tasche, die ist was wert.”
Er strich mit der Hand über die Tasche, die ich mir umgehängt hatte. Sie stammte von dem Unbekannten, den ich niedergeschossen hatte.
“Aber ich pfeif auf deine Tasche, wenn du sie nun mal nicht geben willst”, setzte er hinzu. “Ich hatte im vergangenen Monat eine, die war noch viel besser als deine, aber ich hab sie verkauft, und du meinst wunder was für ‘ne Tasche du hast!” Verächtlich zog er die Nase kraus.
Ich schaute Waska an und wunderte mich: Er hatte ein so dümmliches, rotes Gesicht, seine Bewegungen waren so unbeholfen; man sollte es nicht glauben, dass es derselbe Waska war, der gestern so gewandt durch die Büsche schlich, der die Weißen aufspürte und so wütend auf das Pferd losschlug, als er mit dem Gefangenen über dem Sattel davongaloppierte.
Die Rotarmisten waren mit dem Frühstück fertig. Sie knöpften ihre Blusen zu und wickelten sich Fußlappen um die ausgeruhten Füße. Bald sollte es weitergehen.
Ich war schon abmarschbereit und wollte noch einmal zum Waldrand hinübergehen, wo der Faulbaum blühte.
Da hörte ich Schritte neben mir und sah, wie Tschubuk und drei andere von uns den gefangenen Haidamaken vorbeiführten. Wo wollen die denn hin? dachte ich und betrachtete den finsteren, abgerissen aussehenden Gefangenen.
“Halt!” kommandierte Tschubuk. Alle blieben stehen.
Ich schaute auf den Weißen und schaute auf Tschubuk – da wusste ich, warum sie den Gefangenen hier hergeführt hatten. Ich ging auf die Seite; meine Füße waren schwer. Bei einer Birke blieb ich stehen und hielt mich fest. Meine Hände klammerten sich um den Baum.
Die Salve war wie ein harter Peitschenschlag.
“Junge”, sagte Tschubuk zu mir, streng und zugleich mit einem Anflug des Mitleids, “wenn du glaubst, der Krieg sei so etwas wie ein Spiel oder wie ein Spaziergang durch schöne Gegenden, dann geh lieber nach Hause! Ein Weißer ist ein Weißer, und zwischen uns und ihnen gibt es keine Brücken. Sie schießen uns nieder, und wir schonen sie auch nicht!”
Mit geröteten Augen blickte ich zu ihm auf und sagte leise, aber fest: “Ich gehe nicht nach Hause, Tschubuk, das… kam mir bloß so unerwartet. Ich bin ein Roter, ich bin von selbst zu euch in die Armee gekommen…” Ich stockte und fuhr dann fort, leise, als wollte ich mich entschuldigen: “… für die lichten Höhen des Sozialismus.”

 

6. Kapitel

Schon lange war der Frieden zwischen Russland und Deutschland unterzeichnet. Trotzdem überfluteten die Deutschen mit ihren Armeen die Ukraine, drangen in den Donbass ein und halfen den Weißen bei der Aufstellung militärischer Einheiten. Nach Brand und Rauch rochen die Frühlingswinde.
Unsere Abteilung kämpfte, wie Dutzende anderer Partisaneneinheiten, beinahe selbständig auf Gedeih und Verderb im Rücken des Feindes. Am Tage versteckten wir uns auf den Feldern und in Schluchten oder machten Rast an irgendeinem abgelegenen Bauernhof. In der Nacht griffen wir kleinere Bahnstationen an, wo wenig Truppen waren. An den Landstraßen lagen wir im Hinterhalt, überfielen feindliche Trosse, fingen militärische Befehle ab und jagten die Furiere auseinander.
Dass wir größeren Einheiten des Gegners aus dem Wege gingen und ständig einem offenen Kampf auswichen, erschien mir zunächst als eine Schande. Nun war ich schon ein und einen halben Monat bei meiner Abteilung und hatte noch kein einziges richtiges Gefecht mitgemacht. Schießereien waren schon gewesen, Überfälle auf schlafende oder zurückgehende Weiße hatte es gegeben, und Wie viel Nachrichtenkabel wir schon durchschnitten, Wie viel Telegrafenmasten wir schon abgesägt hatten – das ließ sich alles gar nicht zählen. Doch ein richtiges Gefecht hatte ich noch nicht erlebt.
“Dafür sind wir Partisanen”, erklärte mir Tschubuk seelenruhig, als ich ihm einmal gesagt hatte, ich fände es nicht schön, wie wir uns verhielten. “Du stellst dir das wie im Kino vor, mein Junge: In Sturmkolonne antreten, mit gefälltem Bajonett, und dann nichts wie drauf! Seht mal, was für Kerle wir sind! – Aber Spaß beiseite, Wie viel Maschinengewehre haben wir? Eins, und dazu nur drei Gurt Munition. Aber der Shicharew, der hat vier ‚Maxim‘ und noch zwei Geschütze dazu. Willst du den offen angreifen? Wir müssen das anders machen. Wir sind Partisanen, weißt du, wie die Wespen sind wir, klein, aber wir können stechen. Wir greifen an, stechen und sind wieder weg. Was nützt uns da der ganze Schneid? Das wär kein Heldentum, Dummheit wär das!”
Inzwischen war ich mit vielen von uns bekannt geworden. Nachts auf Posten, abends am Feuer oder in der Mittagshitze, wenn wir unter den Kirschbäumen lagen und die Gärten nach Honig dufteten, dann erzählten meine Genossen manchmal aus ihrem Leben.
Da war der finstere, stets mürrische Malygin, der bei einer Explosion in der Grube ein Auge verloren hatte. Er erzählte: “Von meinem Leben ist nicht viel zu berichten, war ein schweres Leben. Die letzten zwanzig Jahre hatte jeder Tag bei mir drei gleiche Teile. Um sechs morgens aufstehen. Der Schädel brummt noch von gestern. Die alten Lumpen anziehen, und dann runter in den Schacht. Da unten Sprenglöcher bohren, Dynamit rein und schießen. Und dann sprengst du und sprengst, taub auf den Ohren, bis du halb blödsinnig wirst – und dann hin zum Fahrstuhl. Er spuckt dich oben wieder aus, nass und dreckig. Das ist der erste Teil des Tages.
Und dann gehst du in die Schnapsbude und holst dir ‘ne Flasche – Geld wollen sie von dir nicht haben: das Kontor bezahlt ja. Dann in den Betriebsladen. Da zeigst du deine Flasche vor und kriegst gleich zwei Salzgurken, ein Stück Brot und ‘nen Hering dazu. Das gehört zu der Flasche! Lass es dir gut schmecken, das Kontor zieht‘s ja vom Lohn ab! Das ist der zweite Teil des Tages.
Und im dritten Teil, da liegst du da und schläfst. Ich hab sehr fest geschlafen, nach dem Wodka schlief ich gut, hab dann immer so schön geträumt. Weiß bis heute noch nicht, was so‘n Traum überhaupt ist.
Einmal, da hab ich geträumt, der Steiger ruft mich und sagt: ‚Geh ins Kontor, Malygin, und hol dir deine Abrechnung.‘ – ‚Warum soll ich die Abrechnung holen, Herr Steiger?‘ – ‚Weil du die Tochter vom Direktor heiraten willst, darum!‘ sagt er. – ‚Aber, Herr Steiger, hat man denn schon mal gehört, dass ein Bergmann die Tochter vom Direktor heiratet? Mich nimmt nicht mal jedes einfache Mädchen, ich hab doch ein Auge verloren.‘ Aber auf einmal ist alles ganz anders, der Steiger ist plötzlich kein Steiger mehr, er ist ein Hengst und vor den Wagen des Direktors gespannt; und aus dem Wagen steigt der Direktor selbst aus, macht eine höfliche Verbeugung und spricht: ‚Hier hast du meine Tochter, Malygin, und eine Mitgift von zehntausend Rubel, und nimm auch noch den Steiger dazu, den Hengst, wollte ich sagen.‘ Ich komm fast um vor Freude und will gerade auf die Tochter zugehen, da schlägt der Direktor mit einem Rohrstock auf mich los, und noch mal und noch mal, und der Steiger tritt mich mit seinen Hufen und wiehert: ‚Das hast du ja gewollt!‘ und trampelt mit den Hufen auf mir herum. Das tut so weh, dass ich im Traum durch die ganze Baracke schreie. Und schon haut mich einer in die Seite, ich sollte nicht so brüllen und die Leute in der Nacht verrückt machen.”
“War ja ‘n ganz doller Traum!” Fedja Syrzow lachte laut. “Ist doch klar, Mensch, hast immer Stielaugen nach dem Dämchen gemacht, und dann hast du davon geträumt. Ist bei mir auch immer so: Wo ich abends dran denke, da träume ich nachts von. Vor drei Tagen, da wollte ich einem toten Deutschen die Stiefel ausziehen, war‘n gute Stiefel, aus weichem Leder. Hab sie aber nicht runtergekriegt; und nun träume ich jede Nacht davon!”
“Stiefel…! Bist selber so‘n Stiefel!” antwortete Malygin ärgerlich. “Die Tochter vom Direktor hab ich vorher nur einmal gesehen, ein Jahr vorher, als ich besoffen im Graben lag. Da kommt sie zu Fuß mit ihrer Mama den Weg entlangspaziert, hinter den Gärten, die Pferde laufen nebenher. Die Mama, so ‘ne ganze Feine mit grauem Haar, kommt auf mich zu und fragt: ‚Schämen Sie sich nicht, so zu trinken? Sind Sie denn kein Mensch mehr? Sollten lieber an unseren Herrgott denken.‘ – ‚Entschuldigen Sie schon‘, sage ich, ‚aber ein Mensch bin ich wirklich nicht mehr, darum trinke ich auch so viel.‘
Da kriegt Mamachen Mitleid mit mir, steckt mir zehn Kopeken in die Hand und predigt: ‚Sehen Sie doch mal, guter Mann, wie herrlich die Natur ringsum ist, die Sonne scheint, die kleinen Vögelein singen, und Sie – Sie betrinken sich. Gehen Sie jetzt und kaufen sich eine Flasche Sprudelwasser, dann werden Sie wieder nüchtern.‘ Da packt mich die Wut. – ‚Ich, ich bin nicht Ihr guter Mann, ich bin ein Arbeiter aus Ihrem Schacht. Die Natur kann von mir aus herrlich sein, und Sie können auch herrlich sein, solange es Ihnen Spaß macht, aber mir ist nicht herrlich zumute. Sprudelwasser hab ich Zeit meines Lebens noch nicht getrunken, aber wenn Sie mir was Gutes tun wollen, dann legen Sie noch zehn Kopeken dazu. Das langt gerade für ‘ne halbe Pulle, damit kann ich mir dann aus lauter Dankbarkeit, dass ich Sie getroffen habe, meinen Kummer runterspülen.‘
‚Sie Flegel!‘ sagt da die gnädige Frau, ‚ein Flegel sind Sie! Morgen sage ich‘s meinem Mann, dass man Sie hier aus der Grube entfernt!‘ Dann setzt sie sich mit ihrem Töchterchen in die Kutsche und fährt los… Das war alles. Die Tochter hat überhaupt nicht hingeschaut, als wir gesprochen haben; und da sagst du, Stielaugen hätt ich gemacht.”
“Im Traum mein ich doch!” erwiderte Fedja Syrzow schmunzelnd. “Soll ich euch mal den Traum von mir und der Gräfin erzählen? Weiß Gott, durch diesen Traum, kann man sagen, bin ich zur Revolution gekommen. Wenn ich euch den erzähle, schlackert ihr mit den Ohren.”
Fedja schüttelte seinen struppigen Kopf und kniff die Augen zusammen wie ein Kater, der aus der herrschaftlichen Speisekammer kommt.
“Lügst du uns jetzt was vor, Fedja?” fragte Waska Schmakow neugierig und ungläubig zugleich und rückte näher.
“Brauchst es ja nicht zu glauben… kannst du halten, wie du willst, kannst‘s ja doch nicht beweisen.”
Fedja reckte sich, wiegte den Kopf hin und her, als überlege er, ob er es nun erzählen solle oder nicht. Schließlich schnalzte er mit der Zunge und fing entschlossen an: “Vor drei Jahren ist es gewesen. Ich war damals ein hübscher Bursche, mehr noch als heute, das steht fest. Na, und wie es so das Schicksal will: Ich nahm Arbeit an als Hirte auf ‘nem gräflichen Gut. Ja, der Graf hatte eine Frau, die hieß Emilie, und eine Gouvernante, die hieß Anna, Jeannette haben sie die genannt.
Eines schönen Tages – ich sitze gerade neben meiner Herde am Teich –‚ da kommen die beiden an, mit Sonnenschirmen in der Hand, zum Schutze gegen die Sonne. Der von der Gräfin ist weiß und der von Jeannette rot.
Die Jeannette sah immer aus wie ein vertrockneter Fisch, spindeldürr und eine Brille auf der Nase. Wenn die durchs Dorf ging, dann hielt sie sich mit ihrem Taschentuch die Nase zu, von dem Mistgeruch kriegte sie Kopfschmerzen.
Ich hab noch vergessen: In meiner Herde hatten wir einen Bullen, einen echten Simmentaler, ‘nen Riesenkerl. Als der den roten Sonnenschirm sieht, geht er gleich im Galopp auf Jeannette los! Ich spring hoch und werfe mich dazwischen. Die Dämchen schreien laut auf, und die Gräfin läuft in die Büsche; Jeannette weiß nicht, wo sie hin soll, und springt vor lauter Angst ins Wasser, mein Simmentaler hinterher. Und sie in ihrer Blödheit versteckt sich vor dem Bullen hinter dem Schirm, anstatt ihn wegzuwerfen – dann wär ihr nichts mehr passiert – und schreit dabei irgendwas auf deutsch oder französisch – wer kann das schon verstehen! Kurz und gut – ich also auch rein ins Wasser, reiß ihr den Schirm weg und knall ihn dem Bullen auf die Schnauze. Jetzt wird der erst richtig wütend und geht auf mich los. Ich schwimm bis in den Teich hinein und schmeiß den Schirm weg, am anderen Ufer kletter ich raus und hau mich in die Büsche. Jetzt kommen die anderen Hirten angelaufen, schreien und machen Krach und jagen den Bullen fort. Die Jeannette ziehen sie aus dem Schlamm raus ans Ufer, und da ist sie in Ohnmacht gefallen.”
Fedja atmete schwer, als wäre die Geschichte mit dem Bullen eben erst passiert. Er schnalzte mit der Zunge und wollte schon weitererzählen, da rief jemand vom Hof herüber: “Fjodor… Syrzow! Zum Kommandeur!”
“Jaaa, sofort”, Fedja machte eine ärgerliche Handbewegung, lachte und fuhr dann fort: “Also, als Jeannette fortgegangen ist, kommt die Gräfin auf mich zu, ganz weiß im Gesicht, mit Tränen in den Augen und schrecklich aufgeregt. ‚Junge‘, spricht sie, ‚wer bist du?‘ ‚Ich, ich bin einer von den Hirten, Euer Gnaden, Fjodor heiß ich, Fjodor Syrzow.‘ Die Gräfin seufzt und sagt zu mir: ‚Theodor, komm doch mal her.”‘
Was weiter die Gräfin zu Fedja gesagt hatte und wie es kam, dass Fedja darauf zu den Roten ging, das konnte ich nicht mehr erfahren, weil plötzlich hinter mir Sporen klirrten und der wütende Schebalow neben uns stand.
“Fjodor”, fragte er barsch und stützte sich auf seinen Säbel, “ich habe dich gerufen, hast du nicht gehört?”
“Hab schon gehört”, brummte Fedja und richtete sich ein wenig auf. “Was ist denn los?”
“Was los ist? Sollst du nicht kommen, wenn der Kommandeur es verlangt?”
“Zu Befehl! Euer Gnaden wünschen?” fragte Fedja frech und spöttisch statt einer Antwort.
Schebalow, ein geduldiger und gutmütiger Mensch, hatte diesmal die Geduld verloren und erwiderte mit ernstem Gesicht: “Ich bin nicht ‚Euer Gnaden‘, und du bist nicht von niederem Range. Aber ich bin der Kommandeur der Abteilung und muss verlangen, dass mir gehorcht wird. Eben sind die Bauern vom Hof Temljukow zu mir gekommen.”
“Na und?” Fedjas schwarze Augen blickten zur Seite, schuldbewusst und doch frech.
“Beschwert haben sie sich. Haben gesagt: ‚Da ist ‘ne Streife von euch gekommen, und wir hatten uns schon gefreut – sind doch unsere Genossen. Der Anführer von ihnen, so‘n Schwarzer, hat ‘ne Versammlung gemacht, vom Boden und von den Gutsbesitzern hat er gesprochen. Und als wir so zugehört und eine Resolution gefasst haben, da sind seine Leute in die Keller gegangen, haben nach Sahne gesucht und Hühner gestohlen.‘ Stimmt das, Fjodor, wie? Hast dich wohl geirrt bei uns, wärst besser zu den Haidamaken gegangen. Bei denen ist das so üblich, aber bei mir gibt‘s so ‘ne Schweinerei nicht!”
Fedja schaute verächtlich zu Boden und schlug mit seiner Nagaika gegen die Stiefelsohlen.
“Ich sag dir das jetzt zum letzten Mal, Fjodor”, fuhr Schebalow fort und spielte mit der roten Quaste seines blitzenden Säbels. “Ich bin nicht Euer Gnaden, ich bin ein Schuster, ein einfacher Mensch; aber da sie mich nun mal zum Kommandeur ernannt haben, verlange ich auch Gehorsam. Und zum letzten Mal sage ich dir, vor allen anderen, wenn du dich weiter so benimmst, dann schmeiß ich dich raus, ganz egal, ob du ein guter Soldat oder Genosse bist!”
Fedja blickte Schebalow herausfordernd an; dann sah er sich um im Kreise der Rotarmisten, die hinzugetreten waren, fand aber bei niemandem Unterstützung, nur drei seiner Reiter lachten ihm aufmunternd zu. Das alles machte ihn noch wütender, und mit schlecht verhohlener Wut antwortete er Schebalow: “Gib nur acht, Schebalow, spring nicht zu sehr mit den Leuten rum, die sind jetzt nicht billig zu haben!”
“Dich schmeiß ich noch raus!” erwiderte Schebalow ruhig. Mit gesenktem Kopf schritt er langsam auf das Haus zu.
Der Wortwechsel zwischen Schebalow und Syrzow hinterließ in mir ein unangenehmes Gefühl. Ich wusste, Schebalow hatte recht, aber trotzdem war ich auf Seiten Syrzows. “Sagen konnte er‘s ihm ja, er durfte aber nicht drohen”, war meine Ansicht.
Fedja war einer unserer Besten, immer guter Dinge, keck und übermütig. War irgend etwas auszukundschaften, sollte ein Troß überfallen werden oder ein Gutshof, auf dem die Weißen lagen, dann war Fedja dran. Durch Schluchten und Gräben hindurch fand er stets den richtigen Weg.
Er verstand es, sich heimlich und leise an den Gegner heranzuschleichen, ohne Hufgetrappel und Sporenklirren. Wenn ein Pferd wieherte, bekam es eins mit der Faust auf die Schnauze, seine Reiter spürten schon die Peitsche auf dem Rücken, wenn sie auch nur leise miteinander flüsterten. Daher wieherten Fedjas Pferde nicht, darum sprachen auch seine Reiter nicht, die wie angewachsen im Sattel saßen. Fedja selbst war immer ganz vorn; wie er so gebeugt über die zottige Mähne seines Paßgängers im Sattel saß, glich er einer Eidechse, wie sie sich durch Risse und Sprünge im Boden an die dicke Fliege im Grase heranschleicht.
Doch war dann die feindliche Postenstellung erreicht und kamen die völlig überraschten Weißen kaum noch dazu, Alarm zu schlagen oder die Hosen anzuziehen, wusste der schlaftrunkene Schütze am Maschinengewehr nicht, wie er den Gurt einführen sollte – dann preschte die kleine, wendige Schar mit lautem Gebrüll und schrillem Pfeifen heran, dass dem Gegner Hören und Sehen verging, dann krachten ihre Gewehre und Handgranaten, dann konnte es auch Fedja nicht laut genug sein.
Mochten auch die Kugeln am Ziel vorbeigehen und die Handgranaten umsonst im Grase krepieren, dass die verstörten Hühner und fetten Gänseriche bis zum Schornstein hinaufflatterten! Je größer der Radau, desto größer der Schrecken! Dann glaubte der verwirrte Gegner, die Roten wären in riesiger Zahl ins Dorf eingebrochen, dann zitterten seine Hände beim Laden des Gewehrs, dann konnten die Maschinengewehre nicht schießen, weil sich bei all dem Durcheinander der Gurt verheddert hatte, dann stürzten die Soldaten ins Freie, geblendet und halb noch im Schlaf, warfen die Gewehre weg, hielten sich am Zaun fest und brüllten ohne Sinn und Verstand: “Wir sind umzingelt! Die Roten haben uns umzingelt!”
Und dann, die Handgranate hinter das Koppel gesteckt und das Gewehr auf dem Rücken, machten sich die Reiter Fedja Syrzows an die Arbeit. Schweigend verrichtete der kalte Stahl ihrer haarscharfen Säbel sein blutiges Werk. So ein Kerl war unser Fedja Syrzow!
Kann man denn um ein paar Hühner und saurer Sahne willen so einen Soldaten aus der Abteilung hinauswerfen? dachte ich bei mir.

*

Die Auseinandersetzung zwischen Fedja und Schebalow wollte mir nicht aus dem Kopf…
Plötzlich rief Tschubuk, der vom Dach des Hauses aus die Gegend beobachtete, eine starke Infanteriekolonne sei im Anmarsch auf den Hof.
Unsere Rotarmisten liefen aufgeregt durcheinander; es schien, kein Kommandeur könne in diesen wilden Haufen wieder Ordnung bringen. Aber niemand wartete auf einen Befehl, jeder wusste, was er zu tun hatte. Von allen Seiten kamen die Leute aus Haldas Kompanie herbei, überprüften im Laufen, ob sie Patronen im Magazin hatten, schlangen hastig die Reste des Frühstücks hinunter und rannten einzeln, tief gebückt, bis an den Rand des Gehöfts. Hier warfen sie sich hin und bildeten eine Schützenkette, die immer dichter wurde. Unsere Aufklärer zogen den Sattelgurt an, zäumten die Pferde auf, lösten ihnen die Beinfesseln oder schlugen sie einfach mit der Säbelklinge durch. Die Maschinengewehr… schützen rissen das Maschinengewehr und die Gurte vom Wagen. Mit rotem, schweißbedecktem Gesicht rannte Sucharew an der Spitze seiner zweiten Kompanie auf dem Weg zum Waldrand hinüber. Schon kam Schebalow die Treppe herunter und rief im Laufen Fedja einen Befehl zu. Fedja nickte nur mit dem Kopf: “Gut, wird gemacht!”
Die Fensterläden wurden zugeschlagen, und der Bauer verschwand mit Frau und Kindern in einem Erdloch neben dem Haus.
Da sah mich Schebalow und rief mir zu: “Halt! Du bleibst hier, gehst zu Tschubuk aufs Dach! Meldest mir, was er beobachtet! Ich bin am Waldrand. Ja, und er soll auch nach rechts rüber sehen, was auf der Straße nach Chamurskoje los ist!”
Träge schnatterten die Enten in der warmen Sonne; auf dem Zaun saß der rote Hahn und krähte unbekümmert, sein mit Wagenschmiere verklebter Schwanz stand steil in die Höhe. Er schwieg, schlug noch einmal schwer mit den Flügeln und flatterte hinunter in die staubigen Kletten. Jetzt war es totenstill auf dem Hof, so still, dass man auf einmal die Lerche singen hörte und das eintönige Stimmen der Bienen, die den warmen Seim aus den Blumen holten.
“Was ist?” fragte Tschubuk, ohne sich umzudrehen, als ich zu ihm auf das Strohdach kletterte.
“Schebalow hat mich geschickt.”
“Gut, bleib da sitzen, aber Kopf runter!”
“Du sollst auch nach rechts rüber sehen, Tschubuk, was auf der Straße von Chamurskoje los ist!”
“Bleib ruhig sitzen”, antwortete er kurz, nahm die Mütze ab und streckte vorsichtig seinen dicken Kopf neben dem Schornstein hervor.
Die feindliche Abteilung war nicht mehr zu sehen. Sie musste jetzt in der Talsenke sein, konnte aber jeden Augenblick wieder hervorkommen. Das Stroh auf dem Dach war glatt; vorsichtig, ohne meinen Körper zu bewegen, bohrte ich mit der Stiefelspitze ein Loch hinein, in dem ich mich halten könnte. Tschubuk war mit dem Kopf ganz dicht an mein Gesicht herangekommen, da sah ich zum ersten Mal, dass durch seine schwarzen Haare an einigen Stellen graue Fäden hindurchschimmerten. – Das kann doch nicht sein, ist denn der schon so alt? wunderte ich mich.
Dass Tschubuk schon ein alter Mann war, mit grauem Haar und mit Falten um die Augen, dass er neben mir auf dem Dach lag und vorsichtig die Beine bewegte, damit er nicht hinunterfalle, dass er jetzt seinen großen struppigen Kopf hinter dem Schornstein hervorstreckte – all das kam mir plötzlich so seltsam vor.
“Tschubuk!” flüsterte ich.
“Was hast du?”
“Tschubuk… du bist ja schon ein alter Mann”, sagte ich, ohne zu wissen, warum.
“Dummes Zeug…”, ärgerlich drehte Tschubuk sich um. “Was quatschst du da?”
Im gleichen Augenblick zog Tschubuk den Kopf zurück und glitt ein Stück nach unten. Aus der Talsenke kam die Abteilung herauf. Ich fühlte, wie Tschubuk unruhig wurde. Er atmete erregt, rutschte hin und her.
“Boris, sieh mal da unten!”
“Ja, ich sehe.”
“Los, runter! Sag Schebalow, sie kommen jetzt, aber sag ihm auch, da stimmt was nicht. Zuerst, da waren sie in Marschkolonne, aber in dem Loch da unten, da haben sie sich in Züge aufgeteilt. Ich weiß, warum. Vielleicht wissen sie schon, dass wir hier sind. Jetzt rasch weg und dann zurück!”
Ich zog meine Stiefelspitze aus dem Loch im Strohdach, rutschte hinunter und fiel genau auf ein dickes Schwein, das quietschend davonlief. Dann suchte ich Schebalow. Er stand hinter einem Baum und schaute durch sein Fernglas. Ich meldete, was Tschubuk mir gesagt hatte.
“Das weiß ich”, antwortete Schebalow in einem Ton, als hätte er sich über mich geärgert, “hab ich schon selbst gesehen.”
Mir war, als verwirre ihn das unerwartete Manöver des Gegners.
“Nun lauf zurück, aber komm nicht wieder runter, und schaut mehr zur Seite rüber, auf die Straße von Chamurskoje.”
Ich lief über den leeren Hof und kletterte auf den klapprigen Zaun, um von da wieder auf das Dach hinaufzusteigen.
Unsere in Schützenlinie ausgeschwärmte Abteilung verhielt sich ruhig und erwiderte das Feuer nicht.
Plötzlich lösten sich vom Gegner fünf Reiter auf schwarzen tänzelnden Pferden und ritten, ohne Rücksicht auf die Gefahr, im leichten Trab auf uns zu. Dreihundert Meter vor uns machten sie halt, und einer von ihnen suchte unser Gehöft mit einem Fernglas ab. Ich sah, wie sein Glas am Rande des Gartens entlangglitt und sich langsam das Dach hinaufbewegte bis zu dem Schornstein, hinter dem Tschubuk und ich uns verborgen hielten.
Die Züge der Weißen hatten wieder aufgeschlossen und schwärmten jetzt in Schützenketten nach rechts und links aus. Der letzte der fünf Reiter war noch nicht wieder auf der Höhe angekommen, wo die Weißen lagen, als er vom Pferd hinunter auf den Weg stürzte. Nachdem der Wind die Staubwolke vertrieben hatte, sah ich, wie er, tief gebückt, zu seinen Leuten zurückhinkte. Sein Pferd war liegen geblieben.
Ein Geschoß schlug gegen den Schornstein, dass uns die Mörtelbrocken um die Ohren flogen. Der Schornstein war ein gutes Ziel, und wir zogen den Kopf ein. Gewiss konnten wir dahinter nicht getroffen werden, wir durften uns aber nicht rühren und konnten auch nicht den Kopf hervorstrecken. Hätte nicht Schebalow befohlen, den Weg nach Chamurskoje zu beobachten, wir wären hinuntergesprungen.
Die wilde Schießerei war in ein richtiges Feuergefecht übergegangen. Als das Schützenfeuer der Weißen abbrach, ratterten ihre Maschinengewehre los. Unter ihrem Feuerschutz stürmte die Schützenkette vor und warf sich wieder hin. Jetzt schwiegen die Maschinengewehre, und das Schützenfeuer begann von neuem. Langsam, aber sicher kamen die Weißen immer näher und näher. Ihr Verhalten verriet Disziplin und eine gute Ausbildung.
“Die können was, die verdammten Hunde!” brummte Tschubuk. “Wie auf dem Schachbrett gehen sie vor. Das sieht mir nicht nach Shicharews Leuten aus; ob das Deutsche sind?”
“Tschubuk!” schrie ich ihn an. “Schau mal dahinten, nach Chamurskoje, am Waldrand, da bewegt sich was.”
“Wo?”
“Nein, da nicht… etwas weiter nach rechts, direkt über den Teich weg… da!” rief ich und sah, wie es am Waldrand aufblitzte, als fiele ein Sonnenstrahl auf eine Glasscherbe.
Ein seltsamer Laut war in der Luft: wie das Röcheln eines Pferdes, das einen Schuss durch die Kehle bekommen hat. Das Röcheln wurde zum Heulen. Die Luft dröhnte wie eine gesprungene Kirchenglocke; krachend schlug es neben uns in die Erde.
Im ersten Augenblick war mir, als bräche ganz in meiner Nähe ein brauner Blitz aus einer Wolke von Rauch und schwarzem Staub hervor. Die Luft dröhnte, und wie von einer Welle warmen Wassers erhielt ich einen federnden Stoß in den Rücken. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich, wie im Garten nebenan das trockene Strohdach der zusammengestürzten Scheune im hellen Sonnenschein mit bleicher, fast unsichtbarer Flamme aufloderte. Das zweite Geschoß schlug mitten im Garten ein.
“Jetzt aber runter!” rief Tschubuk, aschgrau im Gesicht. “Nichts wie weg, die gehen aber ran; das sind nicht die von Shicharew, das sind die Deutschen. Auf der Straße nach Chamurskoje steht ihre Batterie.”
Den ersten, den ich am Waldrand fand, war ein junger Rotarmist; Wiesel nannten wir ihn.
Er saß auf dem Boden im Gras und trennte mit einem österreichischen Bajonett einen Ärmel von seiner blutbeschmierten Bluse ab. Sein Gewehr lag mit offenem Schloss daneben. Die abgeschossene Hülse steckte noch in der Kammer.
“Deutsche!” schrie er, achtete nicht auf unsere Frage. “Wir müssen abhauen!”
Ich gab ihm meinen Blechbecher, dass er sich Wasser holen konnte, und rannte weiter.
Sein blutiger Ärmel und der Ruf: “Deutsche!” waren das letzte, was ich nachher von meinem ersten Gefecht noch in der richtigen Reihenfolge behalten hatte. Alles, was dann kam, wusste ich nur noch von dem Augenblick an, als unten im Grund Waska Schmakow auf mich zugelaufen kam und meinen Becher haben wollte, um daraus zu trinken.
“Was hast du denn da in der Hand?” fragte er.
Ich bekam einen roten Kopf; in der Linken hielt ich fest umklammert einen großen grauen Stein. Wie ich dazu gekommen war, wusste ich nicht.
“Warum hast du denn einen Helm auf, Waska?” fragte ich.
“Den hab ich einem Deutschen weggenommen. Gib mal deinen Becher her.”
“Meinen Becher hat Wiesel.”
“Der Wiesel?” Waska pfiff durch die Zähne. “Na, mein Junge, den bist du los.”
“Den bin ich los? Er soll sich doch bloß Wasser holen.”
“Dein Becher ist weg”, entgegnete Waska und grinste; er ging zum Bach und schöpfte Wasser mit dem Stahlhelm. “Den Becher siehst du nicht mehr wieder und den Wiesel auch nicht.”
“Ist er tot?”
“Jawohl”, antwortete Waska und lachte wieder, ich wusste nicht, warum. “Gefallen zum Ruhme der roten Waffen!”
“Was lachst du denn, Waska?” Ich war empört. “Tut dir das denn gar nicht leid?”
“Mir?” Waska zog die Luft durch die Nase ein und wischte sich mit seiner schmutzigen Hand über die feuchten Lippen. “Um Wiesel tut‘s mir leid, mein Lieber, jawohl! Und um Nikischin, um Serjoga – und auch um mich selbst. Die Hand haben sie mir kaputtgeschossen, die verdammten Hunde.”
Er zuckte mit den Schultern, ich sah, seine linke Hand war mit einem schmutzigen Lappen verbunden.
“Bloß ‘ne Fleischwunde… das geht vorbei”, erklärte er. “Brennt nur ‘n bisschen.” Wieder zog er die Luft durch die Nase hoch. Er schnalzte mit der Zunge, wurde auf einmal heftig: “Was gibt‘s denn da zu reden von leid tun und so? Hat uns doch niemand hier hergetrieben, haben doch selbst gewusst, wohin wir gegangen sind. Da gibt‘s nichts zu bedauern!”
Fedja wurde das Pferd unter dem Leib erschossen.
“Der Fedka heult”, sagte Tschubuk. “So‘n Idiot, steckt den Kopf ins Gras und heult. Ich bin hingegangen, hab ihm gesagt: ‚Mach doch keinen Kohl, kannst doch nicht hier vor allen Leuten heulen!‘ Da dreht er sich um und zieht die Pistole. ‚Hau ab‘, brüllt er, ‚sonst leg ich dich um.‘ Und Augen macht er dabei! Da hab ich ausgespuckt und bin weggegangen. Was soll man noch lange reden mit so ‘nem Verrückten?! Ist sowieso nicht viel los mit ihm”, fuhr Tschubuk fort und steckte sich seine Pfeife an. “Ich trau diesem Burschen nicht über‘n Weg.”
“Wie, du traust ihm nicht?” warf ich ein. “Das ist doch ein Draufgänger, so einen gibt es nur einmal.”
“Aber was nützt das alles, wenn er keine Disziplin hat? Ordnung, die mag er nicht, Parteibeschlüsse erkennt er nicht an. ‚Mein Programm‘, sagt er immer, ‚heißt: schlag die Weißen, bis sie krepieren, und was dann kommt, werden wir ja sehen.‘ Das gefällt mir nicht, so‘n Programm. Das ist so was Verschwommenes, aber kein Programm, lauter Wind ist das, weiter nichts!”

*

Zehn Mann von uns waren gefallen, vierzehn verwundet, davon starben noch sechs. Hätten wir ein Lazarett gehabt, Ärzte, Medikamente – dann wären nicht so viele gestorben.
Unser Lazarett: eine Wiese im Wald; unser Arzt: der Sanitätssoldat Kalugin, der den Krieg gegen die Deutschen mitgemacht hatte; an Medikamenten hatten wir nur Jod, einen ganzen Petroleumkanister voll. Mit Jod wurde bei uns nicht gespart. Ich habe selbst gesehen, wie Kalugin einmal dem Lukojanow einen großen Holzlöffel voll in seine breite, klaffende Wunde hineingoss.
“Ist nicht schlimm”, beruhigte er ihn. “Das musst du aushalten… Jod ist gut. Ohne Jod wär‘s aus mit dir. So aber, siehst du, kommst du vielleicht noch mal davon.”

*

Wir sollten abrücken, nach Norden, wo lauter reguläre Einheiten der Roten Armee standen. Unsere Patronen waren schon knapp geworden. Nur die Verwundeten banden uns noch an diesen Ort. Fünf von ihnen konnten gehen, drei aber konnten nicht leben und nicht sterben. Zu ihnen gehörte Jaschka, das Zigeunerchen. Dieser Jaschka war ganz plötzlich bei uns aufgetaucht.
Eines Tages, wir wollten gerade von dem Hof Archipowka abrücken, war unsere Einheit an der Straße angetreten.
Beim Abzählen rief der linke Flügelmann, unser Wiesel, der jetzt gefallen war: “Hundertsiebenundvierzig!”
Bis jetzt war er immer der hundertsechsundvierzigste gewesen. Schon brüllte Schebalow: “Blödsinn! Noch mal abzählen!”
Wir zählten wieder ab, und wieder war unser Wiesel der einhundertsiebenundvierzigste.
“Verflucht noch mal!” Schebalow wurde ärgerlich. “Wer zählt denn da immer falsch, Sucharew?”
“Da zählt keiner falsch”, antwortete aus dem Glied Tschubuk, “hier ist bloß einer dazugekommen.”
Wir schauten uns um – richtig: zwischen Tschubuk und Nikischin stand ein Neuer. Er mochte achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein. So ein dunkler war es, mit krausem Haar.
“Wo kommst du denn her?” fragte ihn Schebalow verwundert.
Der Bursche schwieg.
“Der stand auf einmal neben mir”, erklärte Tschubuk. “Ich dachte, du hättest einen Neuen aufgenommen. Mit einem Gewehr ist er angekommen und hier eingetreten.”
“Ja, aber verflucht noch mal, wer bist du denn überhaupt?” fragte Schebalow ärgerlich.
“Ich… Zigeuner… roter Zigeuner”, antwortete der Neue.
“Ein ro-o-o-ter Zigeu-eu-ner?” fragte Schebalow und riss erstaunt die Augen auf, dann aber setzte er lachend hinzu: “Ein Zigeuner willst du sein? Bist ja nur ein Zigeunerchen!”
So blieb er bei uns in der Abteilung, und den Spitznamen Zigeunerchen wurde er nicht mehr los.
Nun lag er da, ein Geschoß hatte seine Brust durchschlagen. Fahle Blässe schimmerte durch die Haut seines braunen Gesichts, und über seine trockenen Lippen kamen immer wieder Worte in einer fremden, unverständlichen Sprache.
“Nun bin ich schon so lange Soldat… hab den halben Krieg gegen die Deutschen mitgemacht und bin auch jetzt wieder dabei”, meinte Waska Schmakow, “aber einen Zigeuner hab ich noch nie bei den Soldaten gesehen. Tataren ja, Mordwinen und Tschuwaschen, die hab ich gesehen, aber keine Zigeuner. Ist doch ein unnützes Volk, sie säen kein Korn, sie haben kein Handwerk gelernt, nur Pferde stehlen, das können sie gut, und ihre Weiber, die verdrehen den Leuten den Kopf. Ich versteh überhaupt nicht, warum der zu uns gekommen ist. Wegen der Freiheit? Davon haben sie selbst genug! Unser Land zu verteidigen? Das ist doch nicht ihre Sache. Auch mit den Arbeitern haben sie nichts zu tun. Was haben sie überhaupt davon, wenn sie bei uns mitmachen? Vielleicht springt doch was dabei heraus, wir merken‘s nur nicht!”
“Aber vielleicht ist auch er für die Revolution; woher soll man das wissen?”
“Das will mir nicht in den Kopf, ein Zigeuner – und für die Revolution! Vor dem Umsturz hat man sie bestraft, wenn sie Pferde geklaut hatten, und jetzt wird das genauso sein!”
“Vielleicht stehlen sie aber nach der Revolution nicht mehr?”
Waska lächelte ungläubig: “Das ist noch nicht raus. Bei uns zu Hause im Dorf, da haben wir sie mit dem Knüppel verhauen, hat aber nichts geholfen, sie sind nicht anders geworden. Und da soll jetzt die Revolution was ändern?”
“Bist schon ein großer Dummkopf, Waska”, begann Tschubuk, der bis jetzt nichts gesagt hatte. “Du kennst nur deine Bude und deinen alten Gaul, aber sonst gar nichts. Du glaubst, wenn du ein Stück vom Herrenland kriegst und noch ein Dutzend Stämme aus dem Herrenwald dazu, das wär dann die ganze Revolution. Der Starost im Dorf verschwindet, dafür kriegt ihr einen Vorsitzenden, und dann geht das Leben so weiter, wie es immer gewesen ist, meinst du!

 

7. Kapitel

Nach zwei Tagen wurde es besser mit Zigeunerchen. Als ich ihn am Abend besuchte, lag er auf einem Haufen trockenen Laubs, schaute zum schwarzen Sternenhimmel hinauf und sang leise vor sich hin.
“Zigeunerchen”, schlug ich ihm vor, “ich will ein Feuer anmachen, hier gleich neben dir, dann können wir uns Tee kochen; ich hab noch Milch in der Feldflasche. Willst du, ja?”
Ich lief und holte Wasser. Dann steckte ich zwei Bajonette über dem Feuer in die Erde, legte einen Reinigungsstock darüber und hängte das Kochgeschirr daran. Ich setzte mich zu dem Verwundeten und fragte: “Was war das für ein Lied, das du eben gesungen hast, Zigeunerchen?”
Nach einer Weile antwortete er: “Das ist so‘n ganz altes Lied, wie wir Zigeuner es singen: ‚Die Zigeuner haben kein Vaterland, ihr Vaterland ist überall dort, wo man gut zu ihnen ist.‘ Und dann heißt es in dem Lied: ‚Aber wo ist man gut zu dir, Zigeuner?‘ Und dann antwortet der Zigeuner, er ist durch viele Länder gezogen, bei den Ungarn war er, bei den Bulgaren und bei den Türken, durch viele Länder ist er mit seinem Stamm gewandert, aber ein Land, wo man gut zu ihm ist, das hat er noch nie gefunden.”
“Aber, Zigeunerchen”, fragte ich ihn, “und warum bist du nun zu uns gekommen? Ihr braucht doch gar nicht Soldat zu werden.”
Wie ein heller Schimmer ging es über sein Gesicht, er stützte sich auf den Ellenbogen und antwortete: “Ich bin von selbst gekommen, mich brauchen sie nicht zu holen. Ich wollte nicht mehr im Zigeunerlager sein. Mein Vater, der kann nur Pferde stehlen, und meine Mutter ist eine Wahrsagerin. Mein Großvater hat auch Pferde gestohlen, und meine Großmutter hat auch den Leuten gewahrsagt. Aber keiner von ihnen hat sich das Glück gestohlen, und keiner hat sich ein gutes Los wahrsagen können. Das muss man ganz anders anfangen…”
Er war lebhaft geworden, richtete sich auf, aber da spürte er seine Wunde und sank mit zusammengebissenen Zähnen ächzend wieder auf sein Blätterlager zurück.
In diesem Augenblick kochte die Milch über und lief in die Flamme, dass das Feuer erlosch.
Rasch wollte ich zugreifen und das Kesselchen vom Feuer ziehen, da war es schon zu spät. Zigeunerchen aber lachte plötzlich auf.
“Was hast du denn?”
“Ich hab gedacht, alle Menschen sind doch so, die Russen und die Juden, die Grusinier und die Tataren – sie alle haben ein trauriges Leben gehabt, lange Zeit haben sie es ausgehalten, aber dann sind sie wie die Milch hier im Kessel übergekocht und haben sich ins Feuer gestürzt. Auch ich hab dagesessen und lange gewartet, dann hab ich es auf einmal nicht mehr ausgehalten, hab ein Gewehr genommen und bin weggelaufen, hab das schöne Leben suchen wollen.”
“Und glaubst du, du wirst es finden?”
“Allein nicht… aber alle zusammen müssen es doch finden… weil, weil sie es doch alle so gern wollen.”
Da trat Tschubuk hinzu.
“Komm, setz dich und trink einen Schluck Tee mit uns”, schlug ich ihm vor.
“Keine Zeit”, sagte er. “Willst du mit mir kommen, Boris?”
“Klar, ich komm mit”, antwortete ich sofort, ohne zu fragen wohin.
‚Dann trink rasch deinen Becher aus, der Wagen wartet schon auf uns.”
“Was für‘n Wagen, Tschubuk?”
Er nahm mich beiseite und erklärte mir, wenn es hell würde, werde unsere Abteilung abrücken, wir würden uns nicht weit von hier den Kumpeln von Begitschew anschließen und mit ihnen gemeinsam zu den Unsrigen durchbrechen. Aber die drei Schwerverwundeten müssten zurückbleiben, da wir zwischen den Weißen und den Deutschen hindurch müssten.
Er fuhr fort: “Nicht weit von hier wohnt ein Imker. Eine ganz abgelegene Ecke ist das. Dieser Imker gehört zu uns, bei ihm können die Verwundeten bleiben, bis sie wieder gesund sind. Von dem Mann hab ich einen Wagen geholt, und jetzt wollen wir die Verwundeten hinbringen, solange es noch dunkel ist.”
“Wer geht sonst noch mit?”
“Sonst niemand. Nur wir zwei. Ich würd auch allein hinkommen, aber mein Pferd ist so störrisch. Einer muss es am Zügel führen, und der andere kann sich um die Verwundeten kümmern. Du gehst also mit, ja?”
“Ich geh mit, Tschubuk, ist doch klar. Mit dir geh ich immer mit, geh ich überall hin. Und wann kommen wir von da zurück?”
“Wir kommen nicht mehr zurück. Von da gehen wir an einer Furt durch den Fluss, da treffen wir unsere Leute wieder. Also, gehen wir los!”
Tschubuk trat an sein Pferd. Aus dem Dunkel hörte ich seine Stimme: “Pass auf, dass mein Gewehr nicht rausfällt.”
Mit einem leichten Ruck zog der Wagen an. Wenn die Räder einen Strauch berührten, sprühten mir die Tautropfen ins Gesicht. Der Weg machte eine Biegung; die niedergebrannten Feuer, die unsere Soldaten beim Aufbruch auseinandergezerrt hatten, waren im Dunkel verschwunden.
Der holprige Weg war voller Schlaglöcher, Wurzeln ragten aus dem Boden hervor. Weder Tschubuk noch das Pferd konnte ich sehen, so dunkel war es. Unsere Verwundeten hatten wir im Wagen auf frischem Heu gebettet. Sie rührten sich nicht und schwiegen.
Ich ging hinten. In der einen Hand hatte ich mein Gewehr, mit der anderen hielt ich mich am Wagen fest. Es war ganz still. Hätten nicht über uns am nächtlichen Himmel die Kiebitze geschrieen, hätte man glauben können, die dunkle Nacht wäre ohne alles Leben. Keiner von uns sprach ein Wort. Nur wenn die Räder durch ein Loch fuhren oder gegen eine Wurzel stießen, stöhnte Timoschkin leise auf.
Das lichte, halb abgeholzte Wäldchen schien in der Dunkelheit undurchdringlich, riesengroß und wild. Der Himmel hatte sich mit Wolken überzogen und hing wie eine schwarze Decke über dem Weg. Es war schwül, und mir schien es, als tasteten wir uns durch einen langen, gewundenen Gang hindurch – ohne Ende und ohne Ziel.
Es war schon lange her, drei Jahre vielleicht, da kam ich einmal nachts mit meinem Vater vom Bahnhof zurück. Wir gingen den kürzesten Weg durch ein Wäldchen. Es war eine warme Nacht, so wie heute, und so wie heute schrieen die Kiebitze über uns am dunklen Himmel, und es roch ebenso stark nach Pilzen und reifen Himbeeren. Daran musste ich jetzt denken – ich wusste nicht, warum.
Mein Vater hatte auf dem Bahnhof von seinem Bruder Pjotr Abschied genommen und mit ihm ein paar Glas Wodka getrunken. Vielleicht war er deshalb so erregt und gesprächig, vielleicht aber lag es nur daran, dass die Himbeeren allzu süß dufteten. Er erzählte mir von seiner Jugend, von seinem Studium auf dem Seminar, und wie sie in der Schule noch mit Ruten geprügelt wurden. Darüber lachte ich und wollte nicht glauben, dass man einen so großen und starken Menschen wie meinen Vater einmal hatte verprügeln können.
“Das hast du irgendwo gelesen”, wandte ich ein. “Es gibt ein Buch, das heißt ‚Skizzen aus der Burse‘. Aber das war alles in früheren Zeiten, Gott weiß, wann das war!”
“Und du glaubst, es sei noch nicht lange her, dass ich zur Schule ging? Es ist wirklich schon lange her.”
“Vater, du hast doch mal in Sibirien gelebt… Aber das muss ja schrecklich gewesen sein, da leben doch diese – Zuchthäus1er. Petka hat mir erzählt, dort kann man einen totschlagen, und es kräht kein Hahn danach.”
Mein Vater lachte nur und versuchte mir das alles zu erklären. Aber ich verstand ihn damals noch nicht. Was er erzählte, war alles so seltsam: Die Zuchthäusler wären überhaupt keine Verbrecher, er hätte sogar gute Bekannte unter ihnen gehabt. In Sibirien lebten viele gute Menschen, viel mehr als in Arsamas.
Aber das alles ging damals an meinen Ohren vorbei, wie auch so manches andere, was mir mein Vater erzählte, dessen Sinn ich erst jetzt zu begreifen beginne.
Nein… niemals, niemals wäre ich früher daraufgekommen, dass mein Vater ein Revolutionär sei. Wenn ich aber jetzt bei den Roten war und ein Gewehr umhängen hatte, so lag das nicht daran, dass mein Vater ein Revolutionär und ich sein Sohn war. Das alles war ganz von selbst gekommen. Ich selbst war ganz allein daraufgekommen, dachte ich. Und dieser Gedanke machte mich stolz. Es stimmte doch, ich hatte mir aus all den vielen Parteien, die es gab, die richtige, die revolutionäre Partei ausgesucht.
Ich wollte mit Tschubuk darüber sprechen, da war mir mit einem Male, als schritte niemand mehr neben dem Pferdekopf her, als zöge das Pferd den Wagen schon lange einen unbekannten Weg entlang.
“Tschubuk!” rief ich erschrocken.
“Ja?” hörte ich seine rauhe Stimme. “Was brüllst du so?”
“Tschubuk”, sagte ich verwirrt, “haben wir noch weit?”
“Na, es geht”, antwortete er und blieb stehen. “Komm mal her und halt mir mal den Mantel hin, ich will meine Pfeife anstecken.”
Wie ein Glühwürmchen flimmerte die brennende Pfeife neben dem Kopf unseres Pferdes. Der Weg war besser geworden, der Wald trat zurück, und wir konnten nebeneinanderher gehen.
Ich erzählte Tschubuk, worüber ich die ganze Zeit nachgedacht hatte. Sicherlich würde er meine Klugheit loben, die mich zu den Bolschewiki geführt hatte. Tschubuk antwortete nicht sofort, er rauchte erst noch die halbe Pfeife aus; dann sprach er ernst: “Gewiss, so was gibt es. Es kommt vor, dass ein Mensch allein durch seinen Verstand daraufkommt… Lenin zum Beispiel. Aber du, mein Junge, du hast doch kaum…”
“Wieso, Tschubuk?” fragte ich beleidigt. “Ich bin doch wirklich von selbst daraufgekommen.”
“Von selbst…? Das scheint dir nur so. Das Leben hat dich zu uns gebracht; aber du sagst, du bist von selbst daraufgekommen. Zuerst haben sie deinen Vater erschossen; dann hast du alle deine Schulkameraden gegen dich gehabt, und schließlich hat man dich aus der Schule rausgeschmissen. Wenn das alles nicht gewesen wäre, dann hättest du vielleicht von selbst draufkommen können. Darfst drum nicht böse sein”, setzte er hinzu, als er bemerkte, wie sehr mich das kränkte, “mehr verlangt ja kein Mensch von dir.”
“Das heißt, Tschubuk, es war alles umsonst, und ich bin überhaupt kein Roter?” fragte ich mit zitternder Stimme. “Es ist also alles nicht wahr… dann bin ich auch nicht mit dir auf Aufklärung gewesen, bin nicht an die Front gegangen, zur Verteidigung unserer… das willst du doch damit sagen.”
“Bist du aber dumm! So ist es doch nicht gemeint. Ich hab nur gesagt, die Umstände waren es, die dich… aber du sagst immer, das hättest du alles von selbst schon gewusst und beschlossen. Wenn sie dich nämlich ins Kadettenkorps gesteckt hätten, dann wärst du jetzt ein Junker bei Kaledin.”
“Und wenn sie dich reingesteckt hätten?”
“Mich?” Tschubuk lachte laut auf. “Ich hab zwanzig Jahre in der Grube gearbeitet, mein Junge. Das kriegst du durch keine Junkerschule mehr raus!”
Das hatte mich schwer getroffen. Ich war tief gekränkt und wollte schon nichts mehr sagen. Aber ich konnte nicht schweigen.
Ich wusste, Tschubuk hatte mich gern; aber spürte auch er in diesem Augenblick, wie sehr ich ihn liebte, viel mehr als irgendeinen anderen? Ein guter Mensch ist er, dachte ich, ein Kommunist, hat zwanzig Jahre im Schacht gearbeitet, hat schon graue Haare, und doch ist er immer bei mir… nur bei mir. Ich muss es wohl wert sein; und ich werde es noch mehr verdienen! Beim nächsten Gefecht werde ich mich nicht bücken und ducken; und wenn sie mich totschießen, ist mir das auch egal. Dann schreiben sie meiner Mutter einen Brief: “Euer Sohn war ein Kommunist und starb für die große Sache der Revolution.” Meine Mutter wird weinen und mein Bild neben Vaters Bild an die Wand hängen; und das neue, strahlende Leben geht seinen Gang, geht auch an dieser Wand vorbei.
Schade, dass die Popen lügen, dachte ich bei mir, schade, dass der Mensch keine Seele hat. Denn wenn er eine Seele hätte. könnte sie ja hineinschauen in die Zukunft, könnte sehen, wie das Leben einmal werden wird. Ein schönes und interessantes Leben muss das sein.
Der Wagen hielt. Tschubuk griff hastig in die Tasche und sagte mit leiser Stimme: “Da vor uns, da trampelt doch was rum. Gib mal das Gewehr.”
Wir führten den Wagen in das Gebüsch. Ich blieb zurück, und Tschubuk verschwand. Er war bald wieder da.
“Keinen Laut mehr… da vorn kommen vier Kosaken angeritten. Gib mal den Sack her… will dem Pferd die Schnauze zubinden, damit es nicht ausgerechnet jetzt loswiehert.”
Die Hufschläge kamen näher. Nicht weit vor uns fielen die Kosaken vom Trab in Schritt. Aus einem Loch in den Wolken schaute ein Zipfel des Mondes hervor und beleuchtete den Weg. Von meinem Versteck im Gebüsch aus sah ich vier Papachas. Ein Offizier war auch dabei – seine goldenen Schulterstücke blitzten auf und verschwanden wieder im Dunkeln. Wir warteten, bis das Pferdegetrappel nicht mehr zu hören war, dann fuhren wir weiter.
Es dämmerte schon, als wir bei einem kleinen Bauernhof ankamen. Auf das Rollen unseres Wagens hin kam der Imker zum Tor heraus, schlaftrunken, ein lang aufgeschossener, rothaariger Mensch mit eingefallener Brust und mageren Schultern, die unter seinem offenen Baumwollhemd spitz hervortraten. Er führte das Pferd über den Hof und öffnete ein Tor, von dem ein kaum sichtbarer grasüberwachsener Pfad weiterführte.
“Hier müssen wir raus… Im Wald dahinten, am Sumpf, da steht ‘ne Scheune. Da haben sie‘s ruhiger.”
In der kleinen Scheune duftete es nach frischem Heu. Ganz still war es hier draußen. In einer Ecke waren einige grobe Decken ausgebreitet. Zwei sorgfältig zusammengelegte Schaffelle bildeten ein Kopfkissen. Neben dem Lager standen ein Eimer Wasser und ein Birkenholzkrug mit Kwaß.
Wir trugen die Verwundeten hinein.
“Vielleicht wollt ihr was essen?” fragte der Imker. “Am Kopfende liegt Brot und Salz. Meine Frau melkt die Kühe und bringt euch Milch.”
Wir mussten weiter, um die Unsrigen an der Furt nicht zu verfehlen. Für die Verwundeten hatten wir getan, was wir konnten; dennoch war uns nicht wohl zumute, als wir vor ihnen standen. Wir ließen sie allein, ohne Hilfe allein im fremden, feindlichen Land.
Timoschkin musste das wohl empfunden haben.
“Na, dann geht mit Gott!” sagte er mit blassen, aufgesprungenen Lippen. “Ich dank dir, Tschubuk, und dir auch, Junge. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns doch mal wieder.”
Samarin schlug die Augen auf und nickte uns noch einmal zu; er war stärker mitgenommen als die anderen. Zigeunerchen sagte gar nichts, stützte sich auf und blickte uns ernst an. Ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen.
“Na denn, Jungens, macht‘s gut”, sprach Tschubuk, “und werdet wieder ganz gesund. Der Bauer hier ist ein zuverlässiger Mann, der lässt euch nicht im Stich. Also nochmals, macht‘s gut…”
An der Scheunentür drehte sich Tschubuk noch einmal um. Er hustete laut, dann trat er gesenkten Kopfes ins Freie und klopfte noch im Hinausgehen am Gewehrkolben seine Pfeife aus.
“Viel Glück, Genossen!” rief Zigeunerchen laut hinter uns her. Wir blieben noch einmal stehen und drehten uns um. “Und schlagt die Weißen, alle Weißen auf der Welt!” fügte er mit klarer Stimme hinzu. Langsam sank sein schwarzer Kopf auf das weiche Schaffell.

 

8. Kapitel

Rot war der Sand unten am Fluss; ganz allmählich ging das Ufer ins Wasser über. Funkelnd im Sonnenlicht kräuselten sich die Wellen. An der Furt war niemand von unseren Leuten zu sehen.
“Aber die müssen hier vorbeigekommen sein”, meinte Tschubuk. “Doch egal… nicht weit von hier soll eine verlassene Hütte stehen, daneben wollen sie Rast machen.”
“Hier können wir doch baden, Tschubuk”, schlug ich vor. “Das geht ganz rasch! Sieh mal, wie warm das Wasser ist.”
“Hier baden, nein, das geht nicht. Die Stelle ist viel zu offen.”
“Na, und wennschon?”
“Was heißt: und wennschon? Ein nackter Mensch ist kein Soldat. Wenn du nackt bist, kann dich jeder kriegen, auch wenn er nur nen Knüppel hat. Was willst du machen, wenn ein Kosak kommt und dir das Gewehr wegnimmt. Der macht mit dir, was er will. Bei Choper ist mal so‘n Ding passiert. Da sind nämlich nicht bloß zwei baden gegangen, sondern ein ganzer Zug, so an die vierzig Mann. Ja, und auf einmal waren fünf Kosaken da und haben den Fluss runter geschossen. Da war was los…! Ein paar Mann sind gefallen, die anderen haben noch das jenseitige Ufer erreicht. Splitternackt sind sie im Wald rumgelaufen. Und in der Gegend nur reiche Dörfer… lauter Kulaken. Wohin sollten sie gehen? Jeder wusste ja sofort, so‘n nackter Kerl konnte nur ‘n Bolschewik sein!”
Aber ich überredete ihn trotzdem. Wo die Büsche dichter standen, etwas weiter weg von der Furt, sprangen wir rasch ins Wasser und badeten. Dann ging‘s durch den Fluss hindurch zum anderen Ufer; unsere Hosen und Stiefel, mit einem Riemen zusammengebunden, trugen wir an der Spitze der Bajonette über das Wasser. Nach dem Baden war das Gewehr leichter, drückte die Patronentasche nicht mehr so sehr.
Am Rande des Gehölzes schritten wir munter aus und kamen bald an eine Hütte. Sie war von ihren Bewohnern verlassen, die Fensterscheiben waren herausgenommen, sogar den Kessel hatte man aus der Herdplatte herausgebrochen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatten die Leute mitgenommen.
Vorsichtig, mit zusammengekniffenen Augen, ging Tschubuk um die Hütte herum; dann steckte er zwei Finger in den Mund und stieß einen langen Pfiff aus. Das Echo wanderte im Wald umher, verschwand und war wieder da, irrte hin und her und hörte schließlich ganz auf. Nur das eintönige Rauschen der Blätter blieb. Es kam keine Antwort.
“Wir können doch nicht schon vor ihnen dasein? Na gut, warten wir ab!”
Im Schatten unter einem Strauch am Wege suchten wir uns einen Platz zum Ausruhen. Es war heiß. Meinen Mantel rollte ich zusammen und legte ihn unter den Kopf. Die lederne Tasche nahm ich ab, da sie mich störte. Ihr Leder war zerkratzt und verblichen. Nachts und auf unseren Märschen hatte sie oft auf der feuchten Erde gelegen.
In der Tasche waren ein Messer, ein Stück Seife, eine Nadel mit einem Knäuel Bindfaden und der mittlere Teil des Konversationslexikons von Pawlenkow, den ich irgendwo gefunden hatte.
So ein Lexikon kann man immer wieder lesen. Man lernt es nie auswendig, und gerade deswegen hatte ich es mitgenommen. Wenn wir eine Rast machten oder irgendwo längere Zeit in einem Hohlweg oder im Walde liegen mussten, nahm ich die zerknitterten Seiten zur Hand und las hintereinander alles, was mir vor die Augen kam; Lebensgeschichten von Mönchen, Generalen und Königen, ein Verfahren zur Herstellung von Lack, philosophische Ausdrücke, die Geschichte von Kriegen längst vergangener Zeiten und eine Abhandlung über das Fürstentum Monaco, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Gleich daneben stand, wie aus Tierknochen Dünger gemacht wird. Auf diese Weise lernte ich allerlei Wichtiges und Unwichtiges, angefangen vom Buchstaben D bis zum Buchstaben R – dort hörte mein Lexikon auf.
Vor ein paar Tagen war ich auf Posten gezogen und hatte mir noch rasch ein Stück Schwarzbrot in meine Ledertasche gesteckt. Jetzt sah ich, dass das vergessene Stück Brot zerkrümelt war und die Blätter des Lexikons mit Brotteig verklebt hatte. Ich schüttete den Inhalt meiner Tasche ins Gras und wollte sie mit der Hand von innen auswischen. Dabei blieb ich mit dem Finger in einem Riss des ledernen Futters hängen.
Ich hielt die Tasche ins Licht, schaute hinein und sah, dass hinter dem abstehenden Lederfutter ein Stück weißen Papiers steckte.
Neugierig geworden, riss ich das Futter weiter auf und zog ein Bündel Papiere heraus. Einen Bogen faltete ich auseinander. In der Mitte war der goldene doppelköpfige Adler zu sehen, darunter stand in Goldbuchstaben “Zeugnis”.
Es war das Zeugnis des Kadetten Juri Waald aus der 2. Kompanie des “Graf-Araktschejewschen Kadettenkorps”. Ihm wurde bescheinigt, dass er das Lehrjahr mit Erfolg beendet, sich ausgezeichnet geführt und fleißig gelernt hatte und in die nächsthöhere Klasse versetzt worden war.
Das war es also! Nun wusste ich, wer der Unbekannte war, den ich im Wald erschossen hatte, jener Unbekannte in der schwarzen Bluse mit den abgeschnittenen Knöpfen, auf deren Kragenfutter die Buchstaben Gr. A. K. K. aufgedruckt standen.
Das zweite Papier war ein Brief jüngeren Datums in französischer Sprache. War auch seit meiner Schulzeit von dieser Sprache nur noch sehr wenig in meinem Gedächtnis übrig geblieben, so hatte ich doch nach einer halben Stunde aus einzelnen Worten, wobei ich das Fehlende erraten musste, so viel verstanden, dass es ein Empfehlungsschreiben an einen gewissen Oberst Korenkow war. Er wurde gebeten, sich um den Kadetten Juri Waald zu kümmern.
Gerade wollte ich Tschubuk diese interessanten Papiere zeigen, da sah ich, dass er eingeschlafen war. Wecken mochte ich ihn nicht, .hatte er doch seit gestern morgen keine Ruhe gefunden. So steckte ich die Papiere wieder in die Tasche und schlug mein Lexikon auf.
Etwa eine Stunde mochte vergangen sein, da vernahm ich durch das Rauschen des Windes und das Zwitschern der Vögel hindurch auf einmal ein seltsames Geräusch. Es kam von weit her. Ich stand auf und hielt lauschend die Hand ans Ohr. Immer deutlicher hörte ich jetzt schon Hufschlag und menschliche Stimmen.
“Tschubuk!” Ich packte ihn. “Steh auf, sie kommen!”
“Sie kommen!” wiederholte Tschubuk mechanisch, stand auf und rieb sich die Augen.
“Ja… sie sind schon bald hier. Los, komm schon!”
“Ja, bin ich denn eingeschlafen?” wunderte sich Tschubuk. “Ich hab mich bloß hingelegt – und da war ich auch schon weg.”
Verschlafen blinzelte er in die Sonne und griff nach dem Gewehr.
Schon hörte ich Stimmen, beinahe neben unserer Hütte. Rasch sprang ich hinaus, warf meine Mütze in die Luft und schrie laut, um unsere Genossen zu begrüßen.
Wo die Mütze hinfiel, sah ich nicht mehr. Ich war plötzlich wie gelähmt, einen schrecklichen Fehler hatte ich begangen.
“Zurück!” brüllte Tschubuk hinter mir mit heiserer Stimme.
Fast gleichzeitig fielen drei Schüsse aus den ersten Reihen einer heranmarschierenden Kolonne. Von unsichtbarer Gewalt wurde mir der Kolben so heftig aus der Hand gerissen, dass ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Aber dieser heftige Stoß brachte mich zur Besinnung. Die Weißen – durchzuckte es mich, als ich auf Tschubuk zustürzte. Tschubuk schoss zurück.
Die Weißen waren nach allen Seiten ausgeschwärmt und jagten eine geschlagene Stunde hinter uns her. Trotzdem konnten wir entkommen. Aber als wir die Stimmen unserer Verfolger schon nicht mehr hörten, irrten wir noch lange durch den Wald; wir waren nass bis auf die Haut, der Kopf glühte. Gierig sogen unsere ausgetrockneten Kehlen die frische Waldluft ein, unsere schmerzenden Füße stolperten über Wurzeln und Unebenheiten des Bodens.
“Jetzt langt‘s”, sagte Tschubuk und ließ sich schwer ins Gras fallen. “Wir wollen uns ausruhen. Da sind wir aber schön reingefallen, Boriska! Und ich bin schuld… bin eingeschlafen, und da hast du auf einmal gerufen: ‚Da sind sie, sie kommen!‘ Ich war noch gar nicht richtig wach und hab gedacht, du hättest sie schon gesehen…”
In diesem Augenblick schaute ich auf mein Gewehr. Der Schaft war zersplittert, das Magazingehäuse verbogen.
Ich reichte Tschubuk das Gewehr. Er besah es sich von allen Seiten, dann warf er es ins Gras.
“Ist nur noch‘n Knüppel, dein Gewehr”, sagte er verächtlich, “damit kannst du höchstens noch Schweine vor den Kopf schlagen. Na, schön! Hauptsache, du bist heil geblieben. Wo hast du denn deinen Mantel? Der ist weg? Ich hab meinen auch weggeschmissen. Junge, Junge, war das ‘n Ding!”
Am liebsten wäre ich liegen geblieben, einfach regungslos liegen geblieben, hätte die Stiefel ausgezogen und den Hemdkragen aufgeknöpft; aber schlimmer als alle Müdigkeit war der Durst – doch Wasser weit und breit nicht zu sehen.
Wir standen auf und gingen langsam weiter. Dabei kamen wir auf einen Acker; unten im Grund drängten sich die Häuschen eines kleinen Dorfes dicht zusammen, die weißen Lehmhütten mit den braunen Strohdächern sahen aus wie dicke Birkenpilze. Wir wollten aber nicht hinuntergehen, sondern schritten über das Feld hinweg und kamen wieder in dichten Wald.
“Ein Haus”, flüsterte ich, blieb stehen und deutete mit dem Finger geradeaus, ‚wo ein Stück eines roten Blechdaches zu sehen war.
Wir fürchteten in einen Hinterhalt zu geraten und schlichen uns vorsichtig bis an den hohen Lattenzaun heran. Das Tor zum Hof war fest verschlossen. Es bellten keine Hunde, es gackerten keine Hühner, und es stampften auch keine Kühe im Stall – es war so totenstill, als hätte sich alles Leben vor uns verborgen. Wir gingen um das ganze Gehöft herum – nirgends ein Eingang.
“Komm, steig mir auf den Rücken”, sagte Tschubuk, “dann schaust du über den Zaun und siehst, was da los ist.”
Über den Zaun hinweg sah ich in einen leeren, mit Gras bewachsenen Hof; auf seinen niedergetrampelten Beeten standen noch einige geknickte Georginen, wuchsen dunkelblaue Stiefmütterchen.
“Nun?” fragte Tschubuk ungeduldig. “Komm runter, bin doch nicht aus Stein.”
“Niemand zu sehen”, antwortete ich und sprang hinab. “Vorn haben sie die Fenster mit Brettern zugenagelt, und an der Seite sind überhaupt keine Rahmen mehr drin. Hab gleich gesehen, das Haus steht leer. Aber auf dem Hof ist ein Brunnen.”
Wir schoben ein loses Brett im Zaun zur Seite und krochen durch das Loch in den Hof. Schimmelpilze wuchsen im Brunnenschacht, unten in der Tiefe glänzte tintenschwarzes Wasser, aber wir hatten nichts, womit wir Wasser hätten schöpfen können. Unter einem Schuppendach fand Tschubuk zwischen allerlei Gerümpel einen alten, verrosteten Eimer. Als wir ihn heraufgezogen hatten, war alles Wasser schon wieder ausgelaufen. Wir stopften eine Handvoll Gras in das Loch und holten den Eimer ein zweites Mal herauf. Das Wasser war klar und eiskalt, ließ sich nur in kleinen Schlucken trinken. Nachdem wir unsere verschwitzten, staubigen Gesichter gewaschen hatten, gingen wir auf das Haus zu. An der Seite zur Veranda hin stand eine Tür weit offen. Schief hing sie auf ihrer unteren Angel.
Wir traten vorsichtig auf die knarrenden Dielen und kamen in ein Zimmer.
Stroh, Papierfetzen und Lappen lagen auf dem Boden herum, in der Ecke standen ein paar leere Kisten, ein zerbrochener Stuhl und ein Geschirrschrank; seine Türen waren mit einem stumpfen, schweren Gegenstand eingeschlagen worden.
“Das waren die Bauern, die haben hier geplündert”, flüsterte Tschubuk, “haben alles mitgenommen, was sie gebrauchen konnten, und den Rest weggeschmissen.”
Im Zimmer nebenan fanden wir einen Haufen staubbedeckter Bücher; eine Bastmatte, mit Kalk bespritzt, war darüber ausgebreitet. Darauf lag das zerrissene Bild eines dicken Herren; mit holprigen Buchstaben hatte ein tintenbeschmierter Finger auf seine hochmütige, weiße Stirn ein unanständiges Wort geschrieben.
Uns war ganz eigenartig zumute, wie wir so durch die einzelnen Zimmer dieses verlassenen Hauses hindurchgingen. Ein zerschlagener Blumentopf, eine vergessene Fotografie, ein blinkender Knopf in einem Müllhaufen, zertretene Schachfiguren, eine Spielkarte Pique König, die aus einem Kartenspiel herausgefallen sein mochte und nun verlassen zwischen den Scherben einer japanischen Vase lag – lauter kleine Dinge erinnerten an jene Menschen, die einst Herren auf diesem Gutshof waren, sorgenfreie Menschen in einer Zeit, die so ganz anders war als unsere.
Hinter der Wand war auf einmal ein leises, tappendes Geräusch. Es kam so unerwartet in der Grabesstille dieser verwüsteten Zimmer, dass es einem kalt über den Rücken lief.
“Wer ist da?” Jäh zerriss Tschubuks Stimme das Schweigen; er hob sein Gewehr.
Lauernd kam ein großer roter Kater angeschlichen. Zwei Schritt vor uns machte er halt, miaute boshaft und hungrig. Kalt starrte er uns aus seinen grünen Augen an. Ich wollte ihn streicheln, aber da wich er zurück, sprang, ohne das Fensterbrett zu berühren, mit einem großen Satz auf das von Unkraut überwucherte Beet und verschwand im Grase.
“Dass der noch nicht krepiert ist?”
“Wie soll der krepieren? Der frisst doch Mäuse, und die hat er hier mehr als genug, das riecht man doch.”
In diesem Augenblick quietschte irgendwo im Haus eine Tür; es klang so unheimlich, dass uns das Blut in den Adern erstarrte. Dann folgte ein langsames Schlurfen, als wische jemand mit einem trockenen Lappen über den Fußboden. Wir blickten uns an – das waren Schritte eines Menschen.
“Verflucht noch mal, wer kommt denn da?” sprach Tschubuk leise. Lautlos entsicherte er sein Gewehr und zog mich zur Wand zwischen die Fenster.
Jemand hustete leicht. Ein Knäuel Papier rollte raschelnd zur Seite, als die Tür aufging und ein kleiner, schlecht rasierter alter Mann ins Zimmer trat. Er trug einen verschlissenen Schlafrock von blauer Farbe und hatte Pantoffeln an den nackten Füßen.
Erstaunt, aber ohne Furcht blickte uns der Alte an, verneigte sich höflich und sprach seelenruhig: “Ich habe gehört… da unten ist doch jemand. Vielleicht sind die Bauern gekommen, hab ich gedacht, aber diesmal waren sie‘s nicht. Ich hab zum Fenster rausgeschaut, aber einen Wagen hab ich nicht gesehen.”
“Wer bist du denn überhaupt?” fragte Tschubuk neugierig und nahm das Gewehr wieder über die Schulter.
“Gestatten Sie, dass ich zunächst frage, wer Sie sind?” verbesserte ihn, ebenso leise und gelassen, der alte Mann. “Wenn Sie es für richtig halten, mir einen Besuch zu machen, dann seien Sie auch so nett und stellen sich dem Hausherrn vor. Übrigens…”, er neigte ein wenig den Kopf und blickte Tschubuk mit seinen trüben grauen Augen schräg an, “aber da brauche ich ja wohl nicht zu fragen. Sie sind doch – Rote?”
Seine Unterlippe zuckte, als habe ihn jemand daran gezogen. Für einen Augenblick blitzte ein Goldzahn auf, hoben sich die müden Lider über seinen trüben Augen, und mit der großen Geste des gastfreundlichen Gutsherrn lud uns der Alte ein: “Darf ich bitten?”
Verwundert blickten wir uns an; an ausgeplünderten und verwüsteten Zimmern vorbei kamen wir zu einer schmalen Holztreppe, die nach oben führte.
“Ja, sehen Sie, ich muss meine Gäste oben empfangen”, sprach der Hausherr, und es klang wie eine Entschuldigung. “Wissen Sie, unten ist alles so unordentlich, nicht aufgeräumt… ich habe auch keinen, der das tun könnte, alle sind sie verschwunden, irgendwohin verschwunden; es kommt niemand mehr, wenn ich rufe. Bitte, hier hinein.”
Wir traten in ein kleines, helles Zimmer. An der Wand stand ein altes, wackliges Sofa, bei dem schon die Füllung herauskam. Eine Matte aus Lindenbast war das Laken, ein schöner, an mehreren Stellen verbrannter Teppich diente als Bettdecke. Der Schreibtisch daneben hatte nur noch drei Beine, über dem Tisch hing ein Käfig mit einem Kanarienvogel, der wohl schon lange gestorben war und mit den Füßen nach oben in seinem Futternapf lag. Einige verstaubte Fotografien blickten von der Wand herab. Irgend jemand musste wohl dem Herrn dieses Hauses geholfen haben, die traurigen Überreste der zerschlagenen Möbel zusammenzutragen und damit dieses Zimmer auszustatten.
“Nehmen Sie doch bitte Platz”, sagte der Alte und deutete mit der Hand auf das Sofa. “Wissen Sie, ich hause hier ganz allein und habe schon sehr lange keine Gäste mehr gesehen. Manchmal kommen die Bauern angefahren und bringen mir was zu essen, aber so richtige ehrenwerte Leute habe ich schon lange nicht gesehen. Rittmeister Schwarz hat mich einmal besucht, Sie kennen ihn vielleicht…? Ach, entschuldigen Sie, Sie sind ja Rote.”
Ohne weiter zu fragen, griff er in den Schrank und nahm zwei angeschlagene Teller und zwei Gabeln heraus, eine einfache Küchengabel mit hölzernem Griff und eine kunstvoll gebogene Kuchengabel, die aber nur noch eine Zinke hatte. Dann tischte er uns einen Laib Schwarzbrot und einen halben Ring ukrainischer Wurst auf.
Nachdem er einen dick mit Ruß verschmierten Teekessel auf einem verbogenen Petroleumkocher aufgesetzt hatte, wischte er sich an einem Handtuch die Hände ab, das schon Gott weiß wie lange nicht mehr gewaschen worden war, und nahm eine wunderlich aussehende Pfeife von der Wand herunter. Der Pfeifenkopf war wie ein Ziegenbock geschnitzt, der uns mit seinem zahnlosen Maul angrinste. Dann stopfte der Alte seine Pfeife mit Machorka und ließ sich in einem verschlissenen Sessel nieder, dessen hervorstehende Sprungfedern einen summenden Ton von sich gaben. Wir saßen währenddessen auf dem Sofa und sprachen kein Wort.
Tschubuk schmunzelte, stieß mich vorsichtig an und tippte heimlich mit dem Finger an die Stirn.
Ich wusste, was er sagen wollte, und lächelte auch.
“Rote habe ich schon sehr lange nicht mehr gesehen”, sagte der Herr des Hauses und fragte im gleichen Atemzug interessiert: “Wie geht‘s denn Lenin?”
“Danke, dem geht‘s gut”, antwortete Tschubuk ernst.
“Hm, ihm geht‘s also gut…”
Der Alte stocherte mit einem Draht in seiner verstopften Pfeife herum und tat einen tiefen Seufzer.
“Warum sollte es ihm auch nicht gut gehen?” Er schwieg. Nach einer Weile begann er wieder, als hätten wir ihn danach gefragt: “Aber ich, ich bin nicht so ganz auf dem Posten, kann nicht schlafen in der Nacht, wissen Sie. Ich habe meine innere Ruhe verloren. Manchmal stehe ich auf und gehe durch alle Zimmer – es ist so still, nur die Mäuse hört man nagen.”
“Haben Sie das alles geschrieben?” fragte ich. Ich hatte auf dem Tisch einen dicken Stoß Blätter gesehen, die mit einer zierlichen Handschrift beschrieben waren.
“Ja, das hab ich geschrieben”, entgegnete er. “Das sind meine Gedanken über all das, was jetzt so passiert. Ich will nämlich einen Plan machen, wie man die Welt umgestalten soll. Ich bin Philosoph, wissen Sie, und schaue den Dingen, wie sie entstehen und vergehen, mit größter Ruhe zu. Ich klage auch nicht… nein, über gar nichts beklage ich mich.”
Mit diesen Worten stand der alte Mann auf, tat einen kurzen Blick aus dem Fenster und setzte sich wieder.
“Das laute Leben geht vorüber, aber die Wahrheit, die bleibt. Ja, sie bleibt”, wiederholte er, irgendwie erregt. “Auch früher hat es Rebellionen gegeben, den Aufstand Pugatschows und den vom Jahre fünf; da hat man auch die Gutshöfe zerstört und niedergebrannt. Aber die Zeiten gingen vorüber, und wie der Phönix aus der Asche entstand das Zerstörte aufs neue; es fand sich wieder zusammen, was getrennt worden war.”
“Ja, und was wollen Sie damit sagen? Dass alles wieder so wird wie früher, meinen Sie das?” fragte Tschubuk barsch. Er hatte aufmerksam zugehört.
Auf diese direkte Frage hin zuckte der Alte zusammen, lächelte unterwürfig und erwiderte: “Nein… aber was glauben Sie denn! Das habe ich nicht gemeint. Rittmeister Schwarz, der will so was, ich aber nicht. Er hat mir vorgeschlagen, die Bauern sollten mir alles zurückgeben, was sie von mir… geborgt haben, aber ich habe es nicht gewollt. Ich sage mir, was soll ich damit? Die Zeiten sind nicht danach, dass die Bauern etwas zurückgeben. Sie sollen mir lieber mein Leben lang etwas zu essen bringen und können dann meinetwegen mit meinem Besitz machen, was sie wollen!”
Hier erhob sich der Alte wieder und trat einen Augenblick ans Fenster. Plötzlich wandte er sich um und blickte auf den Tisch.
“Ich bin aber auch ein… und der Teekessel kocht schon über. Ich bitte Sie zu Tisch.”
Wir ließen uns nicht lange bitten, und schon krachten die Brotkrusten unter unseren Zähnen, und der Duft der guten Knoblauchwurst stieg uns angenehm in die Nase.
Der Hausherr ging ins Zimmer nebenan; wir hörten, wie er dort herumhantierte und irgendwelche Kisten schob.
“Ein komischer Kerl, dieser Alte”, bemerkte ich leise.
“Ja, ein komischer Kerl”, wiederholte Tschubuk, “nur was will er bloß dauernd am Fenster?”
Tschubuk schaute sich aufmerksam im ganzen Zimmer um. Dabei fiel sein Blick auf eine alte Bastmatte, die in der Ecke ausgebreitet war. Nachdenklich trat er ans Fenster.
Der Hausherr kam zurück. In der Hand hielt er eine Flasche; mit den Schößen seines Schlafrocks wischte er den dicken Staub davon ab.
“So”, sagte er und trat an den Tisch. “Darf ich bitten. Rittmeister Schwarz hat noch was in der Flasche dringelassen. Sie nehmen doch etwas Kognak zum Tee, denke ich. Ich mag das auch sehr gern, aber für meine Gäste … meine Gäste…” Damit zog er den Papierpfropfen aus der Flasche und goss uns das Getränk in die Gläser. Schon wollte ich zugreifen, da trat Tschubuk hastig vom Fenster zurück und fuhr mich an: “Was machst du denn? Siehst du nicht, dass hier zuwenig Gläser sind? Und mach dich nicht so breit, du nimmst ja dem alten Herrn den Platz weg. Du kommst hinterher dran. Setzen Sie sich, Väterchen, wir beide wollen miteinander anstoßen.”
Ich warf einen erstaunten Blick auf Tschubuk, wunderte mich über seinen groben Ton.
“Aber nicht doch, nein!” Der Alte schob das Glas von sich weg. “Ich trinke hinterher… Sie sind meine Gäste…”
“Trinken Sie schon, Väterchen”, wiederholte Tschubuk und schob dem Hausherrn das Glas energisch wieder zu.
“Nein, nein, bemühen Sie sich‘ nicht”, lehnte der Alte hartnäckig ab und schob das Glas so zur Seite, dass es umfiel.
Ich saß wieder auf meinem alten Platz; der Alte trat noch einmal ans Fenster und zog den schmutzigen Kattunvorhang vor.
“Warum ziehen Sie den Vorhang zu?” fragte Tschubuk.
“Die Mücken”, antwortete der Hausherr. “Die Mücken fressen mich noch auf. Wir liegen hier so tief… und die verdammten Biester vermehren sich ja so rasch.”
“Du wohnst doch allein hier, wie?” fragte Tschubuk unerwartet. “Aber wem gehört denn das zweite Bett da in der Ecke?”, und er zeigte auf die Matte am Boden.
Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Tschubuk, zog den Vorhang beiseite und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Darauf stand ich auch auf.
Vom Fenster aus ging der Blick weit über Hügel und kleine Wälder. Der Weg verschwand, tauchte wieder auf und verlor sich schließlich in der Ferne; ganz hinten am Horizont bewegten sich vier Pünktchen, hüpften auf und nieder; deutlich hoben sie sich vor dem roten Abendhimmel ab.
“Da kommen die Mücken!” brüllte Tschubuk den Alten an und blickte verächtlich auf die gekrümmte Gestalt: “Du bist selbst so‘ne Mücke, wie ich sehe. Wir wollen gehen, Boris!”
Unten an der Treppe blieb Tschubuk stehen, nahm eine Streichholzschachtel heraus, zündete ein Streichholz an und warf es zwischen das Gerümpel. Ein großes Knäuel trockenen Papiers flammte auf, und schon hatte die Flamme das Stroh am Boden ergriffen. Noch einen Augenblick, und das ganze Zimmer mit all seinem Plunder hätte in hellen Flammen gestanden. Aber rasch entschlossen trat Tschubuk das Feuer wieder aus und riss mich zum Ausgang mit.
“Ist ja Unsinn”, sagte er, als wolle er sich entschuldigen, “gehört uns ja sowieso.”
Ein paar Minuten darauf jagten vier Berittene an dem Gebüsch vorüber, wo wir uns versteckt hatten.
“Die reiten zu dem Hof”, sagte Tschubuk. “Als ich die Matte in der Ecke liegen sah, wusste ich, dass der Alte nicht allein dort wohnt, es muss noch einer bei ihm sein. Hast du gesehen, wie er immer ans Fenster trat? Als wir unten durch die Zimmer gegangen sind, da hat er jemand nach den Weißen geschickt. Auch mit dem Tee, das war faul. Ich hab seinem Kognak nicht getraut, vielleicht hat er Rattengift reingetan. Mir gefällt das nicht, wenn so‘n ausgeplünderter Gutsbesitzer so gastfreundlich ist, ich trau ihm nicht! Wenn er auch noch so schöntut, für mich ist er zuerst mal ein Feind.”
Die Nacht über blieben wir in einer Hütte, wie sie die Schnitter sich bauen. Ein Sturm tobte, und es goss in Strömen. Uns machte das nichts aus. Die Hütte ließ kein Wasser durch, und bei so einem Unwetter konnte man sich wieder einmal richtig ausschlafen. Als es kaum dämmerte, weckte mich Tschubuk.
“Jetzt muss der eine beim anderen wachen”, sagte er. “Ich hab schon lang neben dir gesessen, will mich jetzt ein bisschen hinlegen, und du musst aufpassen. Es kann ja mal einer vorbeikommen. Und schlaf mir nur nicht ein!”
“Nein, Tschubuk, ich schlaf nicht ein.”
Ich kroch aus der Hütte heraus. Vom Flüsschen unten stieg der Nebel hoch. Gestern waren wir bis an den Gürtel in einem schmutzigen Sumpfloch eingesunken, in der Nacht war der Schlamm an unseren Kleidern getrocknet und bedeckte nun als dicke Kruste unseren ganzen Körper.
Jetzt baden, das wäre schön! dachte ich. Das Wasser ist nicht weit, ich brauche bloß den Hang hinunterzulaufen.
Eine halbe Stunde lang saß ich neben Tschubuk und hielt Wache. Schließlich konnte ich dem Wunsch nicht länger widerstehen, hinunterzulaufen und zu baden. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, dachte ich, wer soll auch schon so früh am Morgen hier vorbeikommen? Und einen Weg seh ich hier überhaupt nicht. Tschubuk hat sich noch nicht auf die andere Seite gedreht, dann bin ich schon wieder hier.
Die Versuchung war zu groß, der trocken gewordene Schlamm juckte mich am ganzen Körper. Rasch schnallte ich die Patronentasche ab, mit der ich sowieso nichts anfangen konnte, und rannte den Hang hinunter zum Wasser.
Doch bis zum Fluss war es weiter, als ich geglaubt hatte; es dauerte bestimmt zehn Minuten, bis ich am Ufer stand. Rasch zog ich meine schwarze Schülerbluse aus, dieselbe, in der ich von zu Hause fortgelaufen war, legte Stiefel, Hose und Ledertasche ab und warf mich ins Wasser. Zuerst war mir, als wolle das Herz stehen bleiben. Aber ich strampelte heftig und wurde gleich wieder warm. War das wunderbar! Langsam schwamm ich bis auf die Mitte des Wassers hinaus, wo ein Busch auf einer Sandbank stand. An seinen Wurzeln musste irgend etwas hängen geblieben sein, ein Lappen oder ein Hemd, das die Frauen beim Waschen hatten liegenlassen. Ich hob die Zweige zur Seite und schrak zurück. Ein Mensch lag dort im Wasser, mit dem Gesicht nach unten, seine Hose war an einem hervorstehenden Ast hängen geblieben. Das Hemd war zerrissen, auf dem Rücken klaffte eine breite dunkle Wunde. Mit raschen Stößen schwamm ich zurück, mir war, als sei ein Verfolger hart hinter mir her.
Während ich mich wieder anzog, wandte ich mich schaudernd ab, um nicht hinschauen zu müssen, wo in leuchtendem Grün die Büsche auf der Sandbank standen. Doch sei es, dass eine Welle den Toten emporgehoben oder dass ich ihn selbst abgerissen hatte, als ich die Zweige auseinanderbog – auf einmal lag er frei im Wasser, wurde von der Strömung herumgerissen und trieb gerade auf mich zu.
Hastig zog ich die Hose an – nur fort von dieser Stelle! Aber als ich meine Bluse überstreifte und den Kopf zum Kragen hinausstreckte, trieb die Leiche schon neben mir, schwamm fast vor meinen Füßen.
Wie wahnsinnig schrie ich auf, tat unwillkürlich einen Schritt zum Wasser hin, glitt aus und wäre beinahe in den Fluss gefallen. Ich hatte den Toten erkannt. Es war einer unserer drei Verwundeten, die wir bei dem Imker zurückgelassen hatten – unser Zigeunerchen.
“Hallo, Bursche!” hörte ich es hinter mir rufen. “Komm mal her!”
Drei Unbekannte kamen auf mich zu. Zwei von ihnen trugen Gewehre. Weglaufen konnte ich nicht – vor mir waren diese Leute und hinter mir der Fluss.
“Na, wer bist du denn?” fragte mich ein hochgewachsener Bauer mit schwarzem Bart.
Ich schwieg, wusste ich doch nicht, wer diese Männer waren, Rote oder Weiße.
“Na? Ich hab dich was gefragt!” Er wurde schon energischer und packte mich am Arm.
“Was sollen wir hier lange mit ihm reden!” meinte ein anderer. “Wir bringen ihn ins Dorf, da werden sie schon mit ihm fertig werden!”
Zwei Wagen kamen angefahren.
“Gib mal die Peitsche her!” schrie der Mann mit dem schwarzen Bart einem der Fuhrleute zu.
“Wozu denn das?” fragte der andere unwillig. “Was soll die Peitsche? Bring ihn zum Dorf, da werden sie‘s schon rauskriegen.”
“Ich will ihn doch nicht schlagen, ich bind ihm nur die Hände fest, sonst haut er uns noch ab.”
Mit geschicktem Griff banden sie mir die Ellbogen auf dem Rücken zusammen und schoben mich an den Wagen heran: “Los, setz dich drauf!”
Die wohlgenährten Pferde zogen an und brachten uns in schnellem Trab in ein großes Dorf; hell leuchteten seine weißen Schornsteine aus dem Grün heraus.
Wie ich so auf dem Wagen saß, hoffte ich immer noch, meine Begleiter seien Partisanen aus einer der roten Abteilungen, an Ort und Stelle werde sich alles aufklären, und sie würden mich sofort wieder freilassen.
In einem Gehölz nicht weit vor dem Dorf rief uns ein Posten an: “Halt, wer da?”
“Wir sind‘s… der Starost”‘ antwortete der Mann mit dem schwarzen Bart.
“Aha…! Und wo kommst du her?”
“Ich hab die Wagen vom Hof draußen geholt.”
Die Pferde trabten an, rasch ging es an dem Posten vorbei. Seine Kleidung konnte ich nicht sehen, auch nicht sein Gesicht, da ich gespannt nur auf seine Schultern geschaut hatte – er trug Schulterstücke.

 

9. Kapitel

Soldaten waren auf der Straße nicht zu sehen. Sie schliefen wohl noch. Einige zweirädrige Karren und ein verdeckter Planwagen mit dem roten Kreuz standen vor der Kirche. Neben der Feldküche hackten ein paar verschlafene Köche Holz zum Feueranmachen.
“Soll ich ihn zum Stab bringen?” fragte der Fuhrmann den Starosten.
“Ja, kannst ihn auch zum Stab bringen. Aber Seine Gnaden schlafen wohl noch, bringst ihn am besten ins Arresthaus.”
Der Wagen hielt vor einem niedrigen Steinhaus mit vergitterten Fenstern. Ich wurde zur Tür hineingestoßen. Der Starost tastete mich in aller Eile ab. Meine Ledertasche nahm er mir weg. Dann schlug die Tür zu. Die Feder im Schloss knackte.
Zuerst tat die Angst weh, war wie ein stechender Schmerz. Ich glaubte mich verloren, endgültig und hoffnungslos verloren. Damit hatte ich mich schon abgefunden. Die Sonne würde aufgehen, “Seine Gnaden”, von denen der Starost gesprochen hatte, würden wach werden und mich holen lassen. Und dann wäre alles zu Ende.
Ich setzte mich auf die Bank, mein Kopf sank auf das Fensterbrett. Ich war wie betäubt, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Blut hämmerte gegen die Schläfen. Wie eine beschädigte Grammophonplatte immer nur ein und dasselbe Wort herunterleiert, so wiederholte sich in meinem Kopf auch nur der eine Gedanke: vorbei – vorbei – vorbei …
Doch mit einem Male, als ich schon fast das Bewusstsein verloren hatte, erhielt mein Denken einen Stoß und glitt – wie die Nadel eines Grammophons wieder in die richtige Rille der Platte hineingerät – in die richtige Windung meines Gehirns. In rasender Eile jagten mir die Gedanken durch den Kopf.
Ich muss doch noch zu retten sein? Wie dumm bin ich gewesen! Vielleicht kann ich fliehen? Nein, das geht nicht. Aber vielleicht kommen die Unsrigen und nehmen das Dorf? Aber wenn sie nicht kommen? Oder wenn sie kommen, und es ist schon zu spät? Vielleicht… Nein, es hat alles keinen Sinn.
An meinem Fenster wurde eine Herde vorbeigetrieben. Eng aneinandergedrängt zogen die Schafe vorüber, die Ziegen meckerten, ihre Glöckchen am Hals läuteten. Der Hirte knallte mit der Peitsche. Ein Kälbchen sprang herum und versuchte unbeholfen, im Laufen an das Euter der Kuh heranzukommen – ein friedliches dörfliches Bild. Es ließ mich den Ernst meiner Lage noch stärker empfinden; ein Gefühl der Bitterkeit kam in mir auf, drängte meine Angst zurück. Wie schön war diese Morgenstunde! Alle durften sie sich ihres Lebens freuen, sogar die Schafe und Ziegen. Überall war Leben… ich allein sollte sterben.
Doch – wie es so oft vorkommt – aus dem Gewirr meiner unklaren Gedanken, meiner unsinnigen und unmöglichen Pläne schälte sich eine ganz einfache und klare Überlegung heraus. Sie war so selbstverständlich, dass sie mir eigentlich gleich zu Anfang hätte kommen müssen.
Dass ich Rotarmist war, Soldat einer proletarischen Abteilung, war mir inzwischen etwas ganz Selbstverständliches geworden und brauchte nicht bewiesen zu werden. Es zu beweisen oder zu leugnen, erschien mir ebenso unnütz, als wollte ich jemandem klarmachen, dass ich helles und nicht dunkles Haar hatte.
Ich hab‘s! sagte ich mir und griff froh nach der rettenden Idee. Ich weiß, ich bin ein Roter. Aber wissen das diese Leute hier auch? Sieht man mir an, dass ich ein Roter bin? –
Nach einigem Überlegen war ich sicher, sie würden es mir nicht ansehen. Einen Ausweis der Roten Armee besaß ich nicht. Meine graue Pelzmütze mit dem Stern war verloren gegangen, als ich von der Hütte im Wald weglief. Dabei hatte ich auch meinen Mantel fortgeworfen. Mein Gewehr lag zerschlagen irgendwo im Wald, und die Patronentasche hatte ich in der Hütte gelassen, als ich zum Baden ging. Meine Bluse war schwarz, eine Schülerbluse. Schließlich war ich auch noch nicht in dem Alter, da man Soldat wird. Was blieb also noch übrig?
Ach ja! Da war noch die Pistole, die ich an der Brust verborgen trug. Noch etwas? Ja, ich musste mir eine Geschichte ausdenken, musste ihnen erzählen, was ich an dem Flussufer gewollt hatte. Die Pistole brauchte ich nur unter den Ofen zu stecken, aber die Geschichte… die Geschichte musste ich mir noch ausdenken.
Dabei durfte ich mir keinen falschen Namen zulegen, kein falsches Alter und keinen falschen Geburtsort erfinden – ich hätte mich sonst zu leicht versprechen können. Also musste ich Boris Gorikow bleiben, Schüler der fünften Klasse der Realschule von Arsamas, der mit seinem Onkel (der Name eines richtigen Onkels fiel mir ein zu Verwandten nach Charkow fahren wollte. Mein Onkel kannte ihre Adresse. Unterwegs hatte ich ihn aus den Augen verloren, und damit waren mein Passierschein und mein Ausweis auch weg. Bei einer Kontrolle hatte man mich deshalb aus dem Zug geschmissen. Kurz entschlossen war ich am Bahndamm weitergegangen, um am nächsten Bahnhof wieder in einen Zug zu steigen. Gerade an dieser Stelle hörte das Gebiet der Roten auf, und das der Weißen begann.
Sollten sie mich fragen, wovon ich gelebt hätte, würde ich sagen, unterwegs hätten mir die Leute in den Dörfern etwas zu essen gegeben. Wenn sie fragten, was ich in Charkow wollte, ohne die Adresse meiner Verwandten zu wissen, würde ich antworten, das könnte ich ja auf dem Einwohnermeldeamt erfahren. Würden sie dann sagen: “Wo gibt‘s denn heute noch ein Einwohnermeldeamt?” müsste ich ganz verwundert tun und erklären, dass es sogar in dem kleinen Arsamas noch eins gegeben hätte. Auf ihre Frage: “Wie hat sich das denn dein Onkel eigentlich vorgestellt, aus dem roten Russland in das weiße Charkow zu kommen?” könnte ich entgegnen, mein Onkel, der wäre so raffiniert, dass er sich nicht nur bis Charkow, sondern auch bis ins Ausland durchschlagen könnte. Ich selbst… nein, ich wäre gar nicht so gerissen und brächte so was auch nicht fertig. An dieser Stelle müsste ich dann anfangen zu weinen, nicht gerade bitterlich zu weinen, aber doch so, dass man sehen könnte, wie traurig ich wäre … Alles übrige käme dann schon von selbst.
Ich zog meine Pistole hervor und wollte sie schon unter den Ofen schieben, doch da überlegte ich es mir anders. Auch wenn man mich laufenließe, bekäme ich sie hier nicht wieder heraus. Das Zimmer hatte zwei Fenster. Eins ging auf die Straße hinaus, das andere auf eine Gasse, durch die zwischen hohen Brennnesselbüschen ein schmaler Pfad getreten war. Kurzentschlossen hob ich ein Stück Papier vom Boden auf, wickelte die Pistole hinein und warf sie mitten in die dichtesten Nesseln. Gleich darauf hörte ich Schritte am Eingang. Es wurden noch drei Mann hereingebracht, zwei Bauern, die ihre Pferde versteckt hatten, als man bei ihnen Wagen requirieren wollte, und ein Bürschchen, das eine Schlossfeder vom Maschinengewehrkarren gestohlen hatte, warum, weiß ich nicht. Sie hatten den Jungen verprügelt, aber er jammerte und stöhnte nicht. Nur sein Atem ging schwer, als wäre man lange hinter ihm hergewesen.
Inzwischen war es auf der Dorfstraße lebendig geworden. Soldaten gingen vorbei. Pferde wieherten, neben der Feldküche klapperten die Essgeschirre. Geführt von einem Unteroffizier mit wichtiger Miene, kam in tadellosem Schritt ein Soldat anmarschiert, vielleicht sollte er den Posten vor dem Haus ablösen.
Wieder knackte das Schloss, der Soldat steckte den Kopf hinein. Auf der Schwelle blieb er stehen, zog ein zerdrücktes Papier aus der Tasche, blickte darauf und rief mit lauter Stimme: “Wer ist hier der Waald? Rauskommen!”
Ich schaute auf die anderen, sie blickten auf mich, niemand aber rührte sich.
“Waald… na, wer ist das denn?”
Waald Juri…! Ich erschrak. Die Papiere fielen mir ein, die ich in der ledernen Tasche gefunden, aber in der Aufregung der letzten Zeit vergessen hatte. Mir blieb nichts anderes übrig: Ich stand auf und schritt unsicher auf die Tür zu.
Natürlich, so musste es ja kommen! Jetzt war mir alles klar – sie haben meine Papiere gefunden und halten mich für jenen…, den ich erschossen habe. Lieber Gott, das ist ja furchtbar! Wie gut und einfach war doch mein erster Plan, aber wie leicht kann ich mich jetzt verraten. Dass die Papiere nicht von mir seien, kann ich auch nicht behaupten. Sofort entsteht dann der Verdacht, wo und warum ich diese Dokumente an mich genommen hätte. Die ganze, so haargenau ausgedachte Geschichte mit der Reise zu Verwandten und mit meinem raffinierten Onkel hatte keinen Sinn mehr… Etwas Neues musste ich erfinden, aber was? Sicherlich wird es mir noch früh genug einfallen. Ich stand also auf, versuchte sogar zu lächeln; doch wie schwer ist es, unbekümmert aussehen zu wollen, wie verkrampfen sich die Lippen und wie zittern sie, wenn man gewaltsam lächeln will!
Von der Treppe des Hauses, in dem der Stab lag, schritt ein hochgewachsener, älterer Offizier herunter. Er trug die Schulterstücke eines Hauptmanns. Neben ihm ging der Starost. Wie ein geprügelter Hund sah er aus. Als er mich erblickte, beteuerte er händeringend: “Entschuldigen Sie bitte.”
Der Offizier fuhr ihn scharf an; der Starost aber neigte unterwürfig den Kopf und eilte die Straße hinab.
“Guten Tag, Herr Kriegsgefangener”, sprach mich der Hauptmann an; ein wenig spöttisch klang das, aber nicht zornig.
“Guten Tag, Herr Hauptmann!” antwortete ich. So hatten wir es auf der Realschule im Militärunterricht gelernt.
“Du kannst gehen.” Mit diesen Worten entließ der Offizier den Soldaten, der mich begleitet hatte, und reichte mir die Hand. “Und wie kommst du hierher?” fragte er mit listigem Lächeln und holte eine Zigarette hervor. “Willst das Vaterland verteidigen, wie? Ich habe den Brief an Oberst Korenkow gelesen, aber er nützt dir jetzt nichts mehr, der Oberst ist schon vor einem Monat gefallen.”
Ein Glück, dass er gefallen ist! dachte ich.
“Gehen wir zu mir rein! Nun sag mal, mein Guter, warum hast du denn dem Starosten nicht gesagt, wer du bist? Ist doch klar, dass sie dich einsperren mussten. Junge, Junge, kommt zu seinen Kameraden und landet gleich im Bau.”
“Ich konnte ja nicht wissen, was das für einer war. Schulterstücke hatte er nicht, und ein Bauer sieht aus wie der andere. Ich hab gedacht, er wär ein Roter. Die sollen doch hier in der Nähe sein, erzählt man sich”, kam es aus mir heraus. Im stillen dachte ich, der Offizier sei im Grunde gar nicht so übel, hatte wohl auch kein allzu wachsames Auge, sonst hätte er schon aus meinem merkwürdigen Äußeren schließen können, dass ich nicht der sei, für den er mich hielt.
“Ich habe deinen Vater noch gekannt”, sprach der Hauptmann weiter. “Es ist schon lange her, 1907; bei den Manövern in Oserke, da war ich bei euch im Hause. Du warst damals noch ganz klein, und nur eine schwache Ähnlichkeit ist geblieben. Kennst du mich noch?”
“Nein”, sagte ich, und es klang so, als wollte ich mich entschuldigen, “ich kenne Sie nicht mehr, damals waren ja so viele Offiziere bei uns.”
Hätte jedoch der Hauptmann bei mir nicht jene “schwache Ähnlichkeit” festgestellt und auch nur den leisesten Verdacht geschöpft, er hätte mich mit zwei Fragen – nach meinem Vater und nach dem Kadettenkorps – entlarven können.
Aber er war nicht im geringsten misstrauisch. Dass ich dem Starosten nicht gesagt hatte, wer ich war, verstand er sehr wohl; außerdem strömten ja jetzt aus ganz Russland die Zöglinge des Kadettenkorps scharenweise an den Don.
“Du hast bestimmt Hunger und willst was essen, nicht wahr? Pachomow!” rief er einem Soldaten zu, der gerade den Samowar angeblasen hatte. “Was kannst du uns anbieten?”
“Ein Hühnchen, Euer Gnaden. Der Samowar kocht auch gleich … und die Frau vom Popen hat eben den Teig aus dem Ofen genommen. Die Pfannkuchen sind bald soweit.”
“Ein Hühnchen! Was sollen wir zwei mit einem Hühnchen? Da muss noch was dazu.”
“Ich hab noch Schmalz mit Grieben, Euer Gnaden, das kann man mit den Pasteten von gestern warm machen.”
“Also dann Pasteten und Hühnchen, aber ein bisschen rasch!”
In diesem Augenblick schrillte im Zimmer nebenan das Telefon.
“Euer Gnaden, Rittmeister Schwarz bittet Sie ans Telefon.”
Mit seiner selbstbewussten, ruhigen, tiefen Stimme gab der Hauptmann dem Rittmeister Schwarz seine Anweisungen.
Als er den Hörer aufgelegt hatte, fragte ihn ein anderer Offizier: “Hat Schwarz etwas Neues von Begitschew gehört?”
“Bis jetzt nicht. Gestern sind zwei Rote auf dem Gutshof von Kustarewskaja gewesen, man hat sie aber nicht gekriegt. Doch – was ich noch sagen wollte… Schreiben Sie eine Meldung, Viktor Iljitsch: Die Abteilung Schebalow will versuchen, an Oberst Shicharew vorbei in das Hauptoperationsgebiet der Roten vorzustoßen. Schwarz hat das von seinen Agenten erfahren. Wir müssen das verhindern, Schebalow darf sich nicht mit Begitschew vereinigen… So, junger Mann, jetzt gehen wir frühstücken. Essen Sie und ruhen Sie sich aus; dann werden wir sehen, wie und wo wir Sie unterbringen.”
Wir hatten kaum Platz genommen, als uns der Bursche schon eine Schüssel mit dampfenden Pastetchen und dem Huhn dazu auftischte. Das Huhn war fast so groß wie ein ausgewachsener Hahn. Daneben stellte er eine Pfanne mit brutzelnden Grieben. Schon griff meine Hand nach dem hölzernen Löffel – wie gut meinte es doch das Schicksal mit mir! –‚ da klang vom Tor her Stimmengewirr und lautes Schimpfen.
“Euer Gnaden, da bringen sie einen Roten mit einem Gewehr”, sagte der Bursche, als er zurückkam. “Den haben sie in den Wiesen von Sabeljonoje geschnappt. Zwei von unseren MG-Schützen wollten Heu machen, dabei haben sie ihn gefunden; er schlief und hatte das Gewehr und eine Handgranate neben sich liegen. Na, und da sind sie drauf und haben ihn gefesselt. Befehlen Euer Gnaden, dass er hier hergebracht wird?”
“Sollen ihn bringen … aber nicht hier rein. Sollen nebenan warten, bis ich gefrühstückt habe.”
Der Boden dröhnte von schweren Schritten, Gewehrkolben schlugen rasselnd auf.
“Hierher!” brüllte eine Stimme hinter der Wand. “Setz dich auf die Bank da und nimm die Mütze ab, siehst wohl nicht, hier hängen doch Heiligenbilder!”
“Mach mir mal erst die Hände los, dann kannst du brüllen, soviel du willst!”
Ich saß da mit offenem Mund, der Bissen fiel in die Schüssel zurück. Ich hatte den Gefangenen an der Stimme erkannt – es war Tschubuk.
“Was ist los, hast du dich verbrannt?” fragte der Hauptmann. “Brauchst dich nicht so zu eilen. Iß nur in Ruhe.”
Wie mir zumute war, welche Qual ich litt und wie aufgeregt ich wurde, das kann mir keiner nachfühlen. Aber ich durfte nicht auffallen, musste heiter und gelassen erscheinen. Wie ein Lehmklumpen lag mir das Pastetchen im Mund. Es kostete mich größte Mühe, auch nur ein Stückchen davon hinunterzuschlingen. Der Hauptmann aber war fest überzeugt, dass ich sehr hungrig war. Schließlich hatte ich es ihm vor dem Frühstück ja selbst erzählt. So musste ich wider meinen Willen weiteressen. Schwerfällig mahlten meine Kiefer, mechanisch spießte ich die fettglänzenden Brocken auf die Gabel; mich peinigte das Gefühl meiner Schuld vor Tschubuk, ich war am Ende meiner Kraft. Gegen seine Warnung war ich baden gegangen. Ich war schuld daran, dass sie ihn gefangen nehmen konnten. Ich war schuld daran, dass mein bester Kamerad, der liebste von allen Menschen, im Schlaf überfallen und zum Stab unserer Feinde geschleppt worden war.
“Na, mein Lieber, du schläfst wohl?” Wie aus weiter Ferne drang die Stimme des Hauptmanns an mein Ohr. “Hält die Gabel im Mund und hat die Augen zu dabei! Geh und leg dich ins Heu, ruh dich aus. Pachomow, bring ihn mal rüber!”
Ich stand auf und ging zur Tür. Jetzt musste ich durch das Zimmer hindurch, wo die Telefonisten saßen, wo Tschubuk gefangen gehalten wurde.
Das war ein schwerer Augenblick.
Durch keine Bewegung, durch keinen Laut durfte Tschubuk mich verraten, und ich musste ihm zu verstehen geben, dass ich alles versuchen würde, ihn zu retten.
Tschubuk saß da mit tief gebeugtem Kopf. Ich hustete. Tschubuk blickte auf und schrak zurück.
Doch sofort hatte er sich wieder in der Gewalt, unterdrückte den Laut, der ihm auf die Lippen trat. Als wollte ich den Husten zurückhalten, legte ich die Hand vor den Mund. Aus der Art, wie Tschubuk die Augen zusammenkniff, seinen Blick von mir abwandte und zu dem Soldaten hinsah, der neben mir ging, erriet ich, dass er nichts begriffen hatte. Wahrscheinlich glaubte er, ich wäre auch gefangen und versuche nun, mich herauszureden. Sein ermutigender Blick sagte mir: “Halb so wild, nur keine Angst! Ich verrate dich nicht!”
“Hierher bitte”, der Offiziersbursche wies auf einen kleinen Heuschuppen neben der Wand des Hauses. “Drin ist Heu, und eine Decke liegt auch da. Machen Sie nur die Tür hinter sich zu, sonst kommen die Ferkel rein.”

 

10. Kapitel

Den Kopf gegen das lederne Kissen gepresst, lag ich da. Was sollte ich anfangen? Wie war Tschubuk zu retten? Wie konnte ich ihm helfen? Ich war an allem schuld, ich musste etwas tun, aber ich saß da und aß Pastetchen. Und Tschubuk sollte für mich bezahlen.
Mir wollte nichts einfallen.
Meine Stirn, meine Wangen glühten, ich fieberte. War ich eigentlich ehrlich? Musste ich nicht hingehen und offen erklären, ich sei auch ein Roter, sei ein Genosse von Tschubuk und wolle sein Schicksal teilen? Dieser Gedanke blendete mich, er war so einfach, so großartig. “Jawohl”, sagte ich mir, “damit wäre meine Schuld gesühnt, die ich ja nicht voraussehen konnte.”
Eine Erzählung aus der Französischen Revolution fiel mir ein, die ich vor langer Zeit einmal gelesen hatte; da war ein Junge, den man auf sein Ehrenwort hin freigelassen hatte, zu dem feindlichen Offizier zurückgekehrt, um sich erschießen zu lassen. Rasch war mein Entschluss gefasst – ich würde aufstehen, hinausgehen und alles sagen. Dann könnten sie, die Soldaten und ihr Hauptmann, mal sehen, wie ein Rotarmist stirbt. Und wenn sie mich dann an die Wand stellten, würde ich rufen: Es lebe die Revolution! Nein… das nicht. So etwas wird ja immer gerufen. Ich würde rufen: Ein Fluch den Henkern! Nein, ich würde ganz einfach sagen…
Mein Entschluss ließ in mir eine düster-feierliche Stimmung aufkommen. Immer mehr begeisterte mich diese Idee – schließlich war ich soweit, dass ich gar nicht mehr wusste, warum ich das eigentlich tun wollte.
Ich war fest entschlossen, wollte schon aufstehen und hinausgehen. Ich richtete mich auf und setzte mich ins Heu. – Doch was sollte ich rufen?
Wie ein glitzerndes, funkelndes Karussell wirbelten mir die Gedanken durch den Kopf, törichte, leere Worte drängten sich auf und verschwanden wieder. Und statt an meine letzten Worte vor dem Tode zu denken, fiel mir plötzlich – ich weiß nicht, warum – jener alte Zigeuner ein, der bei uns in Arsamas auf den Hochzeiten die Flöte blies. Auch an manches andere dachte ich, das aber mit dem, was ich in diesem Augenblick hätte denken müssen, nichts zu tun hatte.
Jetzt stehe ich auf… – sagte ich mir. Aber das Heu und die Decke lagen wie Steine so schwer auf meinen Beinen und ließen mich nicht los.
Auf einmal wurde mir klar, warum ich nicht aufstand: Ich wollte nicht aufstehen, all mein Nachdenken über meine letzten Worte, meine Erinnerung an den Zigeuner – all das war nur ein Vorwand, um den entscheidenden, letzten Augenblick hinauszuschieben. Was ich mir auch einredete, wie erregt ich auch war, am Ende wollte ich doch nicht hinausgehen, wollte doch nicht verraten, wer ich war, wollte mich nicht an die Wand stellen lassen. Als mir das klar wurde, legte ich mich wieder auf mein Kissen. Ich schämte mich und weinte leise vor mich hin, weinte, weil ich so gar nichts taugte, wenn ich an jenen tapferen Jungen aus der weit zurückliegenden Französischen Revolution dachte.
Die hölzerne Wand, an der mein Heulager aufgeschüttet war, erzitterte unter einem dumpfen Schlag. Jemand musste mit einem harten Gegenstand darangestoßen haben, mit einem Gewehrkolben oder mit der Ecke einer Bank. Stimmen wurden dahinter laut.
Flink wie eine Eidechse kroch ich ganz dicht heran, legte das Ohr an die Balken und konnte gerade noch hören, wie der Hauptmann sagte: … deshalb red keinen Unsinn! Du machst es dir nur schwerer dadurch. Wie viel Maschinengewehre habt ihr in eurer Abteilung?”
“Schlimmer kann‘s gar nicht werden, ich bleib dabei, was ich gesagt habe”, hörte ich Tschubuks Stimme.
“Wie viel Maschinengewehre, habe ich gefragt?”
“Drei… Zwei Maxim und ein Kolt-MG.”
Das sagt er absichtlich, dachte ich mir. Wir haben doch überhaupt nur ein Kolt bei uns in der Abteilung.
“So. Wie viel Kommunisten seid ihr?”
“Wir sind alle Kommunisten.”
“Alle seid ihr Kommunisten? Bist du auch Kommunist?”
Schweigen.
“Was soll denn die Frage? Hat meinen Parteiausweis in der Hand und fragt noch.”
“Schweig! Wie ich sehe, bist du einer von den Geschulten. Nimm die Knochen zusammen, wenn ein Offizier mit dir spricht. Warst du auf dem Gutshof?”
“Jawohl.”
“Und wer war noch mit?”
“Ein Genosse… ein junger Jude.”
“Ein Jud? Und wo ist der jetzt?”
“Der ist weggelaufen, irgendwohin, nach der anderen Seite.”
“Nach welcher Seite?”
“Nach der anderen.”
Irgend etwas schlug auf den Boden auf, ein Schemel wurde umgestoßen; dann hörte ich wieder die tiefe Stimme des Hauptmanns, er sprach ganz langsam: “Ich werde dir ‚die andere Seite‘ zeigen! Dich selbst schick ich bald auf die andere Seite!”
“Sie sollten es lieber kurz machen, anstatt mich zu schlagen. Machen Sie doch endlich Schluss!” Die Stimme Tschubuks war leiser geworden. “Wenn wir Euer Gnaden geschnappt hätten, dann hätten wir Ihnen ein paar in die Schnauze gehauen und – Feierabend! Aber Sie, sehen Sie mal hier, Striemen haben Sie mir gehauen, mit der Peitsche, und Sie wollen doch ein gebildeter Mensch sein.”
“Waas…? Was hast du gesagt?” Die Stimme des Hauptmanns überschlug sich.
“Man soll einen Menschen nicht so quälen, hab ich gesagt!”
Die Stimme von vorhin mischte sich ein: “Herr Regimentskommandeur, bitte ans Telefon!”
Eine Weile blieb es still hinter der Wand. Dann hörte ich von der Haustreppe her die Stimme des Burschen Pachomow: “Melder! Mussabekow! Ibragischka!”
“Jaaa?” kam eine träge Stimme von den Himbeersträuchern her.
“Wo bist du denn, verflucht und zugenäht? Sollst den Gaul satteln vom Chef!”
Wieder war hinter der Wand die Baritonstimrne des Hauptmanns: “Viktor Iljitsch, ich muss zum Stab… wahrscheinlich bin ich heute Nacht wieder hier. Rufen Sie Schwarz an, er soll sich sofort mit Shicharew in Verbindung setzen. Shicharew hat gemeldet, Begitschew und Schebalow hätten sich vereinigt, an der Höhe, wissen Sie.”
“Und was machen wir mit dem da?”
“Mit dem da…? Den können Sie erschießen. Oder lieber nicht! Warten Sie, bis ich wieder da bin. Wir müssen noch mit ihm sprechen. Pachomow”, fuhr der Hauptmann lauter fort, “ist mein Pferd fertig? Gib mal das Fernglas her. Ganz recht, ja, und was ich noch sagen wollte, wenn der Junge wach wird, geben Sie ihm anständig zu essen. Für mich braucht ihr nichts aufzuheben. Ich esse beim Stab.”
Hinter einer Ritze in der hölzernen Wand sah ich für einen Augenblick die schwarzen Papachas der Melder auftauchen. Weich klang der Hufschlag ihrer Pferde im Staub der Straße. Durch die Ritze konnte ich auch beobachten, wie Tschubuk in das Haus gebracht wurde, in dem sie mich am Morgen eingesperrt hatten.

*

Der Hauptmann kommt erst spät zurück, überlegte ich mir, sie werden also Tschubuk erst heute Nacht wieder zum Verhör holen.
Eine schwache Hoffnung kam in mir auf, so wie manchmal ein leichter Windhauch uns berührt. Ich bin frei… Niemand hat auch nur den leisesten Verdacht gegen mich. Mehr noch: Ich bin ja der Gast des Hauptmanns. Frei und ungehindert kann ich gehen, wohin ich will. Wenn es dunkel wird heute Abend, gehe ich den schmalen Weg unter dem hinteren Fenster entlang, tue so, als wollte ich noch einen kleinen Spaziergang machen. Dann hebe ich die Pistole vom Boden auf und werfe sie ihm durch das Gitterfenster hinein. Heute Nacht kommen dann die Soldaten und holen Tschubuk. Er geht mit ihnen hinaus, aber sie wissen nicht, dass er eine Waffe bei sich hat. Er schießt sie beide nieder, bevor auch nur einer das Gewehr hochnehmen kann. Die Nächte sind jetzt dunkel. Er braucht bloß zwei Schritt zur Seite zu springen und ist verschwunden. Ich muss ihm nur die Pistole hineinwerfen, aber das ist nicht schwierig. Das Haus ist aus Stein gebaut, seine Fenster sind stark vergittert; deshalb sitzt der Posten am Hauseingang und passt auf die Tür auf. Er weiß ja, dass der Gefangene nicht durch das Fenster fliehen kann. Ab und zu nur steht er auf, geht vor bis zur Hausecke, schaut sich nach allen Seiten um und kehrt wieder zu seinem Platz zurück.
Ich trat aus dem Schuppen heraus. Eine Kelle kalten Wassers goss ich mir über das Gesicht; man durfte die Spuren meiner Tränen nicht sehen. Der Bursche brachte mir einen Krug mit Kwaß und fragte, ob ich zu Mittag essen wolle. Aber ich wollte nicht, ging auf die Straße hinaus und setzte mich auf den Erdsockel des Hauses.
Das vergitterte Fenster, hinter dem Tschubuk gefangen saß, war ein schwarzes Loch und starrte mich von der anderen Seite der breiten Straße her finster an.
Wenn mich Tschubuk nur sehen könnte! dachte ich. Das würde ihm Mut machen. Wüsste er, dass ich hier frei herum laufen kann, dann wäre er auch gewiss, dass ich ihn retten würde. Aber wie machte ich es nur, ihn ans Fenster zu holen? Rufen durfte ich nicht; ihm mit der Hand ein Zeichen geben – das sähe der Posten… Doch da kam mir eine Idee: Ich würde es so machen wie früher, wenn ich Jaschka Zuckerstein in den Garten oder zum Baden herausgerufen hatte.
Ich lief ins Haus, nahm einen kleinen Spiegel von der Wand und kehrte auf meinen Platz zurück. Zunächst betrachtete ich mir im Spiegel einen Pickel auf der Stirn, ließ wie zufällig den Sonnenstrahl auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses gleiten und leitete von da unbemerkt den hellen Lichtfleck in die schwarze Öffnung des Fensters. Der Posten saß an der Haustür und konnte den Lichtstrahl, der durch das Fenster fiel, nicht sehen. Darauf bedeckte ich den Spiegel mit der Hand, zog dann die Hand wieder weg, ohne den Spiegel selbst zu bewegen. Das machte ich mehrere Male.
Wie ich erwartet hatte, fiel dem Gefangenen das immer wieder auf glänzende Licht in dem dunklen Raume auf. Im nächsten Augenblick erschienen im Lichtstrahl meines Spiegels die Umrisse eines Menschen. Noch ein paar Mal ließ ich den Spiegel aufleuchten, damit Tschubuk sehen konnte, woher der Lichtstrahl kam. Dann legte ich den Spiegel weg, richtete mich auf, als wollte ich mich recken und strecken. Dabei hob ich einen Arm. In der Soldatensprache hieß das: “Achtung! Fertigmachen!”
Zwei schlankgewachsene Junker kamen auf das Haus zu. Ihre Mützen waren mit Staub bedeckt, die Karabiner hatten sie über den Rücken gehängt. Sie fragten nach dem Hauptmann. Der jüngere Offizier, der den Hauptmann vertrat, ging zu ihnen hinaus. Die Junker machten eine Ehrenbezeigung, und einer von ihnen überreichte einen Brief: “Von Oberst Shicharew.”
Ich hörte, wie der Telefonapparat summte. Der Offizier verlangte dringend eine Verbindung zum Regimentsstab. Vier Soldaten, von den Kompanien als Melder zum Stab abgestellt, stürzten aus dem Stabsgebäude heraus und rannten in die verschiedenen Teile des Dorfes. Kurz darauf flogen die Hoftore auf, und zehn schwarze Kosaken jagten in offener Ordnung zum Dorf hinaus. Mich überkam ein unangenehmes Gefühl, als ich sah, wie schnell und exakt die Befehle des Stabes ausgeführt wurden.
Die Junker mit ihrer guten militärischen Ausbildung und die so hervorragend disziplinierten Kosaken, aus denen die gemischte Abteilung bestand, waren so gar nicht mit unseren wohl schneidigen, aber frechen und undisziplinierten Jungen zu vergleichen.
Die Sonne wollte erst untergehen, aber ich hatte schon keine Ruhe mehr. Aus all diesen Vorbereitungen und aus den Unterhaltungen der Soldaten schloss ich, dass die Abteilung in der Nacht abrücken würde. Um mir die Zeit bis zum Dunkelwerden abzukürzen und um gleichzeitig die Gegend kennen zu lernen, ging ich vor das Dorf hinaus. Ich kam an einen Teich, wo die Kosaken ihre Pferde wuschen. Die Tiere schnaubten, patschten mit den Hufen in dem zähen, lehmigen Grund. Das aufgewühlte, übel riechende Wasser rann in warmen Bächen an ihrem glänzenden Fell herunter.
Am Ufer stand ein bärtiger Kosak. Er war nackt, am Hals hing ihm ein Kreuz. Mit seinem Säbel schlug er die dichtwachsenden Weidenbüsche ab. Wenn er die Klinge hob, kniff er die Lippen fest zusammen; doch schlug er zu, dann stieß er einen kurzen, ächzenden Laut aus wie die Metzger, die ein ausgeweidetes Tier auseinanderhacken.
Wie Gras fielen die Zweige unter dem scharfen, funkelnden Stahl zu Boden. Käme ihm jetzt der Arm eines Feindes unter den Säbel, der Arm wäre verloren. Wäre es der Kopf eines Rotarmisten, er schlüge ihn ab zwischen Schulter und Hals.
Ich habe gesehen, wie so ein Kosakensäbel arbeitet. Aus dem gestreckten Galopp heraus schlägt die schmale Klinge so ruhig und sicher zu wie das Beil des Henkers auf dem Richtklotz.
Das Glöckchen läutete zur Abendandacht. Da ließ der Kosak den Säbel sinken, wischte mit einem grauen Lappen die warm gewordene Klinge ab und stieß sie in die Scheide. Sein Atem ging schwer, als er sich bekreuzigte.
Auf einem schmalen Pfade, zwischen Kartoffelfeldern hindurch, kam ich zu einem Brunnen. Munter plätscherte sein eiskaltes Wasser in einen alten, moosbewachsenen Trog. Daneben stand ein verwittertes hölzernes Kreuz mit einem verrosteten Heiligenbild. Die Augen des Heiligen waren trübe und ausgeblichen. Unter dem Bild war mit einem Messer eine Inschrift eingeritzt, die ich gerade noch entziffern konnte: “Bilder und Heilige – alles gelogen.”
Es wurde dunkel. Noch eine halbe Stunde, dachte ich, dann kann ich zu dem steinernen Häuschen zurück. Ich wollte bis an das Ende des Dorfes weitergehen, dann die große Straße überqueren und mich von dort auf dem schmalen Pfad bis zu dem vergitterten Fenster schleichen. Ich hatte mir die Stelle, wo die Pistole lag, gut eingeprägt. Das weiße Stück Papier war in den Brennnesseln leicht zu finden. Ohne stehenzubleiben, wollte ich die Waffe mit dem Papier aufheben, sie durch das Gitter stecken und weitergehen, als wäre nichts geschehen.
Ich bog um eine Hausecke und kam auf einen freien Platz. Dort sah ich eine Gruppe Soldaten stehen. Plötzlich stieß ich auf den Hauptmann.
“Was läufst du denn hier herum?” fragte er verwundert. “Oder wolltest du auch zuschauen? Na ja, für dich ist das ja noch etwas Neues.”
“Sind Sie denn schon wieder zurück?” fragte ich tonlos. Ich verstand nicht, was er meinte.
Von der Seite her klang ein Kommandowort – wir drehten uns um. Was ich da sah, ließ mich krampfhaft nach dem Arm des Hauptmanns greifen.
Zwanzig Schritt entfernt standen fünf Soldaten mit geladenem Gewehr vor einem Mann, den sie an die Lehmwand einer verlassenen Hütte gestellt hatten. Der Mann hatte keine Mütze auf dem Kopf; seine Hände waren auf dem Rücken gebunden. Unverwandt schaute er zu uns herüber.
“Tschubuk”, flüsterte ich und schwankte.
Erstaunt drehte sich der Hauptmann um und legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter. In diesem Augenblick richtete sich Tschubuk auf. Er ließ kein Auge von mir, die Soldaten hatten das Gewehr angelegt. Er achtete nicht darauf. Voller Verachtung schüttelte er den Kopf und spuckte aus.
Ein Blitz, ein peitschender Knall – mir war, als hätte man mit meinem Kopf gegen eine große türkische Trommel geschlagen.
Ich wankte und stürzte zu Boden, riss im Fallen dem Hauptmann die Ärmellitzen herunter.
“Kadett”, sprach‘ der Hauptmann streng, als ich wieder zu mir kam, “was soll das heißen? Bist ein altes Weib… ein Waschlappen! Hättest nicht herkommen sollen, wenn du so was nicht sehen kannst. So was gibt‘s nicht bei uns”, fügte er, schon etwas milder, hinzu, “bist doch ein Freiwilliger.”
“Der hat so was noch nicht erlebt”, meinte der Leutnant, der das Kommando gegeben hatte, zündete ein Streichholz an und rauchte. “Nehmen Sie es nicht so ernst. In meiner Kompanie hab ich einen Telefonisten, der ist auch Kadett. In der ersten Zeit hat er nachts immer nach seiner Mutter geschrieen, jetzt aber ist er so‘n richtiger Haudegen. Aber der Mann da”, fuhr der Offizier leise fort, “das war ein Mordskerl! Wie ein Wachtposten stand er da, rührte sich nicht. Und ausgespuckt hat er noch vor uns!”

 

11. Kapitel

In derselben Nacht lief ich bei der ersten kurzen Rast davon. Meine Pistole hatte ich wieder und trug außerdem noch eine Handgranate in der Tasche, die ich auf dem Wagen des Hauptmanns gefunden hatte.
Die ganze Nacht hindurch marschierte ich nach Norden. Ich ruhte und rastete nicht, mied auch nicht die gefährlichen Landstraßen, sondern schritt stur immer geradeaus. Durch finsteres Buschwerk hindurch, durch öde Schluchten und über kleine Brücken hinweg führte mein Weg. Zu anderen Zeiten wäre ich vorsichtig gewesen, hätte einen Hinterhalt gefürchtet und alle gefährlichen Stellen umgangen; diesmal ging ich mitten hindurch. Etwas Schlimmeres als das, was ich in den letzten Stunden durchgemacht hatte, konnte es nicht geben.
An nichts wollte ich denken, mochte mich an nichts erinnern. Ich hatte nur einen Wunsch – so bald wie möglich wieder bei den Unseren zu sein.
Am nächsten Tag lag ich vom Mittag an bis in die tiefe Dämmerung hinein unter dichten Büschen in einem abgelegenen Tal und schlief. Ich war wie betäubt. In der Nacht stand ich auf und wanderte weiter. Beim Stab der Weißen hatte ich erfahren, wo ungefähr ich die Unsrigen zu suchen hatte. Sie konnten nicht mehr weit sein. Aber vergebens lief ich bis zur Mitternacht auf schmalen Pfaden und Feldwegen umher – ich wurde von niemandem angehalten.
Wie ein Vogel zuckt und zittert, so war die Nacht voller Leben, war voll von den vielstimmigen Rufen nächtlicher Vögel, von dem Quaken der Frösche und dem Summen der Mücken. Es rauschten die Blätter, das Riedgras und die Nachtviolen dufteten – wie ein Eulenschrei klang die Stimme dieser sternklaren, heißen Nacht.
Verzweiflung packte mich. Wo sollte ich hin, wo noch suchen? Unten an einem Hügel, auf dem saftiggrüne junge Eichen wuchsen, warf ich mich ermattet auf einem Acker hin, mitten in den duftenden wilden Klee. Lange Zeit lag ich so. Je mehr ich darüber nachdachte, um so klarer wurde mir, welchen Fehler ich begangen hatte. Wie ein Blutegel saugte sich dieser Gedanke an mir fest. Vor mir hatte Tschubuk ausgespuckt, vor mir und nicht vor dem Offizier! Tschubuk wusste von nichts, kannte noch nicht einmal die Papiere des Kadetten; ich hatte vergessen, ihm davon zu erzählen. Zuerst mochte er denken, ich sei auch ein Gefangener. Doch als er mich neben dem Haus sitzen sah, vor allem aber, als mir der Hauptmann die Hand auf die Schulter legte, da musste Tschubuk ja glauben, ich sei zu den Weißen übergelaufen. Nicht anders konnte er sich erklären, wieso dieser weiße Offizier so besorgt um mich war. Dass er in letzter Minute vor mir ausgespuckt hatte, das tat weh, brannte in meiner Brust wie Schwefelsäure. Und noch mehr quälte mich der Gedanke, dass ich es nicht wiedergutmachen, niemandem erklären konnte. Es gab keinen Tschubuk mehr, er würde nicht mehr wiederkommen – heute nicht, morgen nicht, nimmermehr…
Was ich getan hatte, während Tschubuk in der Hütte lag und schlief, das war nicht wiedergutzumachen. Ich war wütend über mich selbst, und diese Wut fraß sich tiefer und tiefer. Weit und breit keiner zu sehen. Niemandem konnte ich mich anvertrauen, mit niemandem konnte ich sprechen. Tiefe Stille herrschte ringsum. Nur die Vögel zwitscherten, und die Frösche quakten. Und zu der Wut über mich selbst kam der Hass auf diese verfluchte Stille, die einem das Herz abdrückte. Ich sprang auf, voller Reue und Schmerz, riss in sinnlosem Zorn die Handgranate aus der Tasche, entsicherte sie und warf sie in hohem Bogen mitten in das grüne Gras, in den dichten Klee und in die Glockenblumen.
Die Granate detonierte mit dumpfem Krachen – so hatte ich es gewollt. Von weither kam das übermütige Echo zurück und zerriss das Schweigen.
Weiter ging mein Weg, immer am Waldrand entlang.
“Hallo, wer da?” hörte ich schon bald darauf eine Stimme aus dem Gebüsch.
“Ich bin‘s”, antwortete ich, ohne stehenzubleiben.
“Wer ist das, ‚ich‘…? Ich schieße!”
“Dann schieß doch!” brüllte ich voller Wut und riss die Pistole heraus.
“Halt! Bist du wahnsinnig geworden?” hörte ich eine zweite Stimme. Ich kannte diese Stimme, sie war an jenen anderen gerichtet, den ich nicht sehen konnte.
“Waska, verflucht noch mal, halt ein! Das ist doch, glaub ich, unser – Boriska.”
So weit hatte ich meine Sinne noch beieinander, dass ich nicht gleich auf einen unserer Genossen, auf den Bergmann Malygin, losknallte.
“Aber wo kommst du denn her? Wir liegen gar nicht weit von hier. Sie haben uns losgeschickt, wir sollten sehen, wer da Handgranaten schmeißt. Das warst du doch nicht?”
“Doch, das war ich.”
“Was machst du denn für‘n Zirkus hier? Wirfst mit Handgranaten um dich und riskierst Kopf und Kragen. Bist wohl besoffen?”

*

Den Genossen erzählte ich alles, was geschehen war: wie ich unter die Weißen geriet, wie ich gefangen genommen wurde und wie unser guter Tschubuk sterben musste. Dass er aber zuletzt noch ausgespuckt hatte vor mir, das verschwieg ich. Nebenbei berichtete ich alles, was ich beim Stab von den Absichten der Weißen und von ihren Befehlen erfahren hatte. Ich erzählte, dass die Abteilungen von Shicharew und Schwarz uns einholen wollten.
“Ja”, meinte Schebalow und stützte sich auf seinen Säbel, der dunkel geworden war und lauter Kratzer bekommen hatte, “ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, das mit Tschubuk ist eine traurige Geschichte. Er war ein guter Rotarmist, war unser bester Soldat und Genosse. Ja… einen schweren Fehler hast du gemacht, Junge… einen schweren Fehler.” Schebalow seufzte. “Wir können einen Toten nicht aufwecken. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Aber du hast es ja nicht mit Absicht getan… und welcher Mensch macht nicht mal schwere Fehler.”
“Ja, das stimmt”, pflichteten ihm einige Stimmen bei.
“Aber für das, was du von Shicharew gehört hast, und dass du gelaufen bist, es uns zu melden – dafür geb ich dir die Hand, dafür dank ich dir!”

*

Wir wichen scharf nach rechts aus und umgingen auf langen Nachtmärschen die Gegend, wo Shicharew uns in eine Falle locken wollte. Wir mieden die großen Dörfer und zerschlugen unterwegs kleinere Trupps der Weißen. Nach einer Woche schließlich stießen die Abteilungen von Schebalow und Begitschew im Raum der Bahnstation Poworino zu den regulären Einheiten der Roten Armee.
In jenen Tagen kam ich zu den berittenen Aufklärern. Während einer Rast trat Fedja Syrzow auf mich zu und schlug mir auf die Schulter. Er hatte eine Hand wie ein Dreschflegel.
“Boris”, fragte er, “hast du schon mal auf einem Pferd gesessen?”
“Klar”, erwiderte ich, “auf dem Dorf bei meinem Onkel, da bin ich geritten, ohne Sattel. Warum fragst du?”
“Wenn du schon mal ohne Sattel geritten bist, dann kannst du im Sattel erst recht reiten. Willst du zu mir kommen, zu den Reitern?”
“Das will ich schon”, antwortete ich und schaute Fedja ungläubig an.
“Gut, du kommst für Burdjukow zu uns, kriegst auch sein Pferd.”
“Und der Grischka, was macht der?”
“Schebalow hat ihn rausgeschmissen”, antwortete Fedja zornig. “Hat ihn ganz aus der Abteilung rausgeschmissen. Wir haben Haussuchung gemacht bei einem Popen, und da hat sich der Grischka einen Ring an den Finger gesteckt… hinterher hat er vergessen, ihn wieder abzunehmen. Ist doch Mist, so‘n Ring, dafür kriegst du im Frieden höchstens ein paar Rubel. Du gehst also jetzt zu Schebalow und sprichst mit ihm! Der Hund hat ihn rausgeschmissen, hat sich auf die Seite vom Popen gestellt.”
Ich hätte Fedja am liebsten widersprochen und ihm gesagt, Schebalow wäre gewiss nicht auf die Seite des Popen getreten, und der Grischka Burdjukow hätte wohl auch nicht zufällig vergessen, den Ring wieder abzuziehen. Aber ich sagte mir, das würde dem Fedja nicht gefallen. Die Hauptsache war: Er wollte mich bei seinen Aufklärern, bei den Reitern haben. Deshalb hielt ich den Mund. Längst schon hatte ich zu seinem Reitertrupp gewollt.
Wir gingen zu Schebalow.
Er wollte mich nur ungern von der 1. Kompanie weglassen. Doch da kam mir unerwartet der finstere Malygin zu Hilfe.
“Lass ihn doch”, meinte er. “Er ist noch jung, der Bursche, und flink ist er auch. Er läuft rum und trauert dem Tschubuk nach. Die beiden waren immer zusammen, aber jetzt hat er niemanden.”
Schebalow ließ mich gehen. Aber halb im Scherz, halb im Ernst sagte er stirnrunzelnd zu Fedja: “Fjodor, ich sag dir eins… verdirb mir den Jungen nicht! Schau mich an dabei, es ist mein Ernst!”
Fedja erwiderte nichts, dafür zwinkerte er mir frech zu, als wollte er sagen: Wir sind ja schließlich keine Kinder mehr.
Nach einem Monat war ich schon ein richtiger Reiter geworden. Wie Fedja ging ich umher, setzte die Füße nach auswärts, blieb nicht mehr in den Sporen hängen und war in jeder freien Minute bei dem mageren Schecken, den ich von Burdjukow übernommen hatte.
Mit Fedja Syrzow wurde ich gut Freund, wenn er auch Tschubuk so gar nicht ähnlich war. Offen gesagt, ich fühlte mich bei Fedja freier als bei Tschubuk. Tschubuk war mehr wie ein Vater zu mir gewesen, nicht wie ein Genosse. Manchmal hatte er etwas an mir auszusetzen gehabt, hatte mich getadelt. Dann war ich wütend vor ihm stehen geblieben, ohne jedoch ein böses Wort über die Lippen zu kriegen. Mit Fedja dagegen, da konnte man schimpfen und sich wieder vertragen, mit ihm war es lustig – selbst in den schwersten Augenblicken. Nur hatte Fedja seine Launen. Hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, dann war er durch nichts davon abzubringen.

 

12. Kapitel

Eines Tages bekam Fedja von Schebalow den Befehl: “Lass satteln, Fjodor, du reitest nach Wysselki; das ist so‘n kleines Nest. Vom zweiten Regiment haben sie angerufen, wir sollten feststellen, ob dort Weiße sind. Unsere Leitung reicht nicht bis zu ihnen hin, wir müssen über Kostyrewo sprechen. Sie wollen aber direkt über Wysselki eine Verbindung herstellen.”
Das passte Fedja gar nicht. Das Wetter war scheußlich, und bis Wysselki ging es acht Kilometer lang nur durch Dreck und Sumpf. Vor Mitternacht konnten wir auf keinen Fall zurück sein.
“Wer wird schon in Wysselki sein?” fragte Fedja ärgerlich. “Was sollen denn die Weißen dort? Wysselki ist doch so abgelegen, und ringsum lauter Sumpf. Wenn die Weißen wollen, brauchen sie doch bloß über die Landstraße vorzurücken, nach Wysselki gehen die bestimmt nicht.”
“Du bist nicht gefragt! Ich habe dir gesagt, du sollst abrücken – und du wirst abrücken!” unterbrach ihn Schebalow schroff.
“Du hast gut reden! Bist imstande und schickst mich los, ich soll dem Teufel seine Großmutter holen. Sollen doch die Leute von der Infanterie gehen! Gerade heute wollte ich die Pferde beschlagen lassen; und der Feldscher hat zwei Eimer Tabak abgekocht, wir müssen die Tiere einreiben, die haben die Krätze… und da sagst du, ich soll nach Wysselki.”
“Fjodor”, erwiderte Schebalow müde, “und wenn du auch in die Luft gehst, von meinem Befehl weiche ich nicht ab.”
Wütend stapfte Fedja durch den Schlamm der Straße, fluchte und spuckte aus. Dann rief er, wir sollten uns fertigmachen. Keiner von uns hatte Lust, bei dem Regen und der Kälte wegen irgendwelcher Telefonleute nach Wysselki zu reiten. Die Soldaten schimpften auf Schebalow, auf die Fernsprecher, die wären Idioten. Widerwillig sattelten sie ihre nassen Pferde, und widerwillig ritten sie zum Dorf hinaus. Es wurde nicht gesungen.
Der zähe, fette Lehm schmatzte unter den Hufen unserer Pferde. Wir konnten nur im Schritt reiten. Nach einer Stunde – wir hatten erst den halben Weg hinter uns – fing es stärker an zu regnen. Schließlich goss es in Strömen. Unsere Mäntel waren schwer von der Nässe, und das Wasser rieselte von unseren Mützen herunter. Der Weg gabelte sich. Rechts von uns, einen halben Kilometer entfernt, lag auf einer sandigen Höhe ein Dörfchen von fünf oder sechs Höfen. Fedja hielt an; er überlegte, dann zog er am rechten Zügel.
“Wir wollen uns erst mal aufwärmen, dann geht‘s weiter”, sagte er. “Nicht mal rauchen kann man bei dem Regen.”
In dem großen, geräumigen Bauernhaus war es warm und sauber. Es duftete herrlich – nach gebratener Gans oder nach Schweinebraten. Fedja zog die Luft durch die Nase ein und meinte mit leiser Stimme: “Donnerwetter! Den Hof hier haben sie noch nicht leer gefressen.”
Der Bauer war gastfreundlich und gab einem kräftigen Mädchen einen Wink mit den Augen. Mit einem kecken Seitenblick auf Fedja stellte sie darauf mit Schwung ein paar hölzerne Schüsseln auf den Tisch, verteilte Löffel und schob einen Schemel heran. Dann sagte sie lachend: “Warum steht ihr denn so herum! Setzt euch doch.”
“Sag mal, Bauer”, fragte Fedja, “bis Wysselki, ist das noch weit von hier?”
“Im Sommer, wenn alles trocken ist”, antwortete der Alte, “können wir direkt durch den Sumpf gehen, da läuft ein Pfad durch. Dann ist es gar nicht weit, nur eine halbe Stunde. Ja, aber jetzt kommt ihr da nicht durch. Da bleibt ihr bald stecken. Und auf der Straße, die ihr gekommen seid, braucht ihr zwei Stunden. Das ist aber auch ein miserabler Weg, besonders bei der kleinen Brücke über den Bach. Zu Pferd, da macht das nichts aus, aber mit dem Wagen geht das sehr schlecht. Mein Schwiegersohn ist jetzt von da zurückgekommen, die Deichsel hat‘s ihm unterwegs zerbrochen.”
“Heute ist der gekommen?” fragte Fedja.
“Ja, heute morgen.”
“Und wie sieht‘s da aus, nichts zu hören von den Weißen?”
“Nein, bis jetzt noch nicht.”
“Den Schebalow soll der Teufel holen! Hab ihm doch gesagt, dass da keiner ist. Wenn heute morgen niemand dort war, sind sie jetzt auch nicht da. Den ganzen Tag regnet es schon, wer wird da nach Wysselki gehen? Los, Jungens, Mäntel aus. Keinen Schritt weiter. Die Pferde brechen sich nur die Beine dabei.”
“Aber ist das denn richtig, Fedja?” fragte ich. “Und Schebalow, was wird der sagen?”
“Was geht mich Schebalow an!” antwortete Fedja und warf entschlossen seinen schweren, lehmbeschmierten Mantel ab. “Dem Schebalow sagen wir, wir sind dagewesen und haben keinen gesehen.”
Nach dem Essen stand mit einem Mal eine Flasche mit selbstgebranntem Schnaps auf dem Tisch. Fedja goss die Tassen voll, mir schenkte er auch ein.
“Los, sauft”, sagte er und stieß an. “Wir trinken auf das Weltproletariat, auf die italienische Revolution! Herr, lass die Revolutionen nicht aufhören, solang wir leben, und lass die Weißen nicht aussterben! Gib ihnen gute Gesundheit, damit wir immer einen haben, dem wir den Kopf abschlagen können; ohne diese Leute wäre das Leben ja langweilig auf der Welt. Na, dann Prost!”
Fedja hatte bemerkt, dass ich meine Tasse nicht hochheben wollte. Er pfiff durch die Zähne.
“Pfui…! Was ist denn mit dir los, Boris, hast wohl noch nie Schnaps getrunken? Ich sehe, du bist kein richtiger Reiter, ein kleines Mädchen bist du.”
“Was heißt ‚nie getrunken‘?” log ich mit rotem Kopf und kippte hastig den Schnaps in den Mund.
Die duftende, scharfe Flüssigkeit betäubte mir die Kehle und brannte mir in der Nase. Mit gesenktem Kopf sog ich gierig den Saft aus einer weichen Salzgurke. Bald aber wurde auch ich lustig. Fedja zog seine Ziehharmonika aus der Lederhülle und spielte… Mit einem Male wurde mir ganz leicht ums Herz. Und dann wurde wieder getrunken: auf die Gesundheit der roten Soldaten, die sich mit den Weißen herumschlagen, auf die Gesundheit unserer Kameraden, der Pferde, die uns in den tödlichen Kampf tragen. Schließlich tranken wir auf unsere Säbel, dass sie nicht stumpf würden, dass sie nicht daneben träfen, sondern den Weißen die Köpfe abschlügen – ohne Gnade und Barmherzigkeit… und noch auf manches andere tranken wir an jenem Abend.
Fedja trank mehr als alle anderen, wurde aber weniger trunken als sie. Auf seiner feuchten Stirn klebten die schwarzen Haarsträhnen. Energisch zog er die Bälge seiner Ziehharmonika auseinander und begann mit seinem weichen Tenor:
“In der Ferne überm Don       
rote Reiter reiten…
Wir sangen nicht schön, aber begeistert fielen wir ein:
“Hei, hei, hei, rote Reiter reiten…”
Von neuem legte Fedja los, er wiegte den Kopf hin und her, und seine feuchten Augen wurden ganz schmal:
“Ich will ihr Genosse sein,      
will mit scharfem Dolch und Schwert     
wie der Teufel streiten…”
Prahlend, sorglos und verwegen wiederholten wir im Sprechgesang:
“wie der Teufel streiten…”
Und dann sangen wir wieder alle zusammen:
“Unser Leben – nicht viel wert,             
kurz ist unser Reiten…”
Fedja sang jetzt so hoch, dass er uns und seine Ziehharmonika übertönte. Er schaute vor sich hin, ganz in Gedanken versunken; plötzlich schüttelte er wild den Kopf, als habe ihn eine Biene in den Hals gestochen. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch und griff wieder nach seiner Tasse.
Als wir aufbrachen, war es schon spät am Abend. Es dauerte lange, bis ich den Fuß im Steigbügel hatte; als ich aber schließlich oben war, schien es mir, als säße ich nicht im Sattel, sondern auf einer Schaukel. Ich war wie benebelt, mir drehte sich alles im Kopf. Ein feiner Regen rieselte herunter, die Pferde gehorchten schlecht, unsere Reihen gerieten durcheinander, und die hinteren Reiter ritten auf die vorderen auf. Lange warf es mich im Sattel hin und her, bis ich schließlich wie leblos über der Mähne hing.
Am nächsten Morgen tat mir der Kopf weh. Ich trat auf den Hof hinaus. Der gestrige Tag widerte mich an. Der Futtersack meines Pferdes war leer. Gestern Abend, nach der Rückkehr, hatte ich in meiner Trunkenheit den Hafer in den Schmutz geschüttet. Doch der Futtersack von Fedjas Hengst war bis obenhin voll. Ich holte ein Eimerchen und nahm für mein Pferd etwas heraus. In der Diele des Hauses traf ich zwei von unseren Leuten; sie waren schlechter Laune, hatten müde und trübe Augen.
Sah ich etwa auch so aus wie sie? Erschrocken ging ich mich waschen. Ich brauchte lange dazu. Dann trat ich auf die Straße hinaus. In der Nacht hatte es gefroren, der erste Schnee fiel in dünnen Flocken auf den hartgefrorenen Lehm der aufgewühlten Straße. Fedja Syrzow kam hinter mir her und brüllte: “Hast du deinem Gaul aus meinem Sack Futter gegeben, du verdammter Hund? Dafür kriegst du eine in die Schnauze!”
“Dann kriegst du eine wieder”, gab ich bissig zurück. “Deinem Gaul soll wohl der Bauch platzen? Wie kommst du überhaupt dazu, dir mehr zu nehmen, als dir zusteht?”
“Das geht dich einen Dreck an!” Der Schaum stand ihm vor dem Munde, als er mich von der Seite anblickte und mit der Peitsche herumfuchtelte.
“Nimm die Peitsche weg, Fedja!” Ich war wütend, wusste, wozu er fähig war. “Ich sage dir, wenn du mich anrührst, knall ich dir eins mit der flachen Klinge über den Kopf!”
“Ach, sieh mal einer an!”
Fedja kochte vor Wut, und ich weiß nicht, wie alles ausgegangen wäre, hätte nicht auf einmal Schebalow dagestanden.
Fedja mochte ihn nicht leiden, hatte Angst vor ihm; in seiner Wut schlug er einen kleinen Hund, der ihm zwischen die Beine lief, mit der Peitsche über den Rücken. Er drohte mir mit der Faust und verschwand.
“Komm mal her”, rief Schebalow mir zu.
“Was habt ihr eigentlich immer miteinander? Mal seid ihr dicke Freunde, dann wieder brüllt ihr euch an. Komm, wir gehen ins Haus.”
Schebalow lehnte die Tür an, setzte sich und fragte: “Warst du mit Fedja in Wysselki?”
“Ja, das war ich”, antwortete ich und wurde ganz verlegen.
“Belüg mich nicht! Keiner von euch war dort. Wo habt ihr euch die ganze Zeit rumgetrieben?”
“In Wysselki”, wiederholte ich stur. Ich wollte nichts zugeben. War ich auch wütend auf Fedka, so mochte ich ihn doch nicht verraten.
Schebalow überlegte eine Weile, seufzte und sagte dann: “Na schön. Gut, dass ihr in Wysselki wart. Weißt du, ich hab das nicht so recht geglaubt. Den Fedka wollte ich schon gar nicht fragen. Er lügt, ich trau ihm nicht. Der hat sich auch die richtigen Kumpane ausgesucht. Vom zweiten Regiment ist ein Anruf gekommen. Geschimpft haben die und gesagt: ‚Wir haben uns auf euch verlassen und Nachrichtenleute nach Wysselki geschickt; aber die haben dort Zunder gekriegt.‘ Ich hab ihnen geantwortet: ‚Dann sind eben die Weißen erst später eingerückt.‘ Aber ich weiß nicht recht … dieser Fedka, weiß der Teufel, ist mir ein bisschen spät zurückgekommen, und nach Schnaps hat er auch gestunken.”
Schebalow schwieg. Hinter dem Fenster fiel der erste Schnee, wie feiner Streusand rieselte er herab. Schebalow lehnte die Stirn gegen die angelaufene Fensterscheibe. So stand er eine Zeitlang und sprach kein Wort.
“Ist schon eine Schweinerei mit diesen Aufklärern”, sagte er dann und drehte sich zu mir um. “Mut haben sie, die Kerle, das muss man ihnen lassen, aber liederlich sind die Burschen! Und der Fedka auch, keine Disziplin hat er im Leib. Wenn ich einen anderen hätte, würde ich ihn rausschmeißen, aber ich hab ja keinen anderen.”
Er schaute mich freundlich an; seine Stirn glättete sich, und in seine grauen Augen, die einen sonst immer so streng anblickten, trat ein ungewohntes, verlegenes Lächeln. Dann sagte er ganz offen zu mir: “Weißt du, so eine Abteilung führen, das ist furchtbar schwer! Ist was anderes als Stiefelsohlen nähen. Ganze Nächte sitze ich da… versuche die Landkarte zu lesen. Manchmal flimmert es mir schon vor den Augen. Ich hab gar keine Bildung, bin nicht in die Schule gegangen, war überhaupt nie Soldat, aber die Weißen, das sind zähe Hunde. Ihre Hauptleute, die haben‘s gut, sie haben ihre Sache gelernt und sind immer schon beim Militär gewesen. Ich aber, ich muss jedes Wort buchstabieren, wenn ich einen Befehl lesen will. Und dann haben wir noch solche Kerle bei uns. Die Weißen, die haben Disziplin. Was befohlen wird, wird gemacht! Aber bei uns, da haben sie sich noch nicht dran gewöhnt. Hinter allem muss man selbst her sein, alles selbst kontrollieren. Unsere anderen Einheiten, die haben wenigstens ihre Kommissare. Ich hab immer wieder darum gebeten, aber nein, da sagen sie mir: ‚Du kommst bis jetzt auch so aus, bist doch selbst ein Kommunist.' Ja, aber was für einer bin ich…?” Bei diesen Worten stockte Schebalow. “Natürlich, ich bin Kommunist, aber ich hab gar keine Bildung.”
Sucharew und der Tscheche Halda kamen hereingestürzt.
“Ich hab Soldaten für die Aufklärer abgestellt, für die Maschinengewehre auch… und für die Küche hab ich Leute abgegeben, er aber überhaupt keinen”, erklärte empört Halda mit der Hakennase und zeigte mit dem Finger auf Sucharew, der vor Zorn ganz rot angelaufen war.
“Ja, für die Küche hat er Leute abgegeben”, brüllte Sucharew, “zum Kartoffelschälen. Ich aber hab den Nachtposten erst am Mittag ablösen können! Für die Maschinengewehre hat er Leute abgestellt; bei mir aber, da haben die Jungens aus dem zweiten Zug vom frühen Morgen an den Artilleristen geholfen, die Brücke zu reparieren. Wie du willst, Schebalow. Soll er Nachrichtenleute abgeben, aber von mir kriegst du keinen!”
Wieder zogen sich die hellblonden Brauen Schebalows zusammen, wieder wurden seine grauen Augen ganz klein; auf dem von Wind und Wetter gezeichneten Gesicht war von dem verlegenen, gutmütigen Lächeln auch nicht die Spur mehr zu sehen.
“Sucharew”, sagte er streng und stützte sich auf seinen Säbel. Seine Sporen klirrten laut. “Red doch keinen Unsinn! Machst hier ein Theater, weil deine Leute mal eine Nacht nicht geschlafen haben. Du weißt doch, dass ich dem Halda Ruhe geben wollte. Er kriegt eine besondere Aufgabe. Heute Nacht marschiert er nach Nowoselowo.”
Sucharew fluchte unverschämt, Halda mit der krummen Nase fuchtelte mit beiden Händen und schmiss russische und tschechische Worte durcheinander… Da ging ich hinaus.
Ich schämte mich, dass ich Schebalow belogen hatte. Schebalow, so dachte ich, ist unser Kommandeur. Er kann des Nachts nicht schlafen, es ist alles so schwer für ihn. Und wir… wie helfen wir ihm? Auch die Nachrichtenleute vom Nachbarregiment haben wir betrogen. Nur gut, dass keiner dabei gefallen ist. Aber das ist doch alles unehrlich, unehrlich vor der Revolution und vor den Genossen.
Ich wollte mich vor mir selbst rechtfertigen, indem ich mir sagte, Fedja sei schließlich mein Vorgesetzter und habe befohlen, die Marschrichtung zu ändern. Aber sogleich fragte ich mich, ob denn der Vorgesetzte auch befohlen habe, Wodka zu trinken und unseren Kommandeur zu betrügen.
Aus dem Fenster schaute der zerzauste Kopf Fedjas hervor. Leise rief er mir zu: “Boriska!”
Ich tat, als hätte ich nichts gehört.
“Borka!” wiederholte Fedja in versöhnlichem Ton. “Nun sei wieder gut. Komm, wir wollen Pfannkuchen essen. Nun komm doch… Ich muss mit dir sprechen… Hier, friss!” sprach er, als sei nichts geschehen, und hielt mir die Bratpfanne zum Fenster hinaus. Unsicher schaute er mir ins Gesicht. “Was hat denn Schebalow von dir gewollt?”
“Wegen Wysselki hat er mich gefragt”, gab ich sofort zu. ‚Ihr seid überhaupt nicht dagewesen‘, hat er gesagt.”
“Und du, was hast du gesagt?”
Fedja wurde so nervös, als habe man anstatt der Pfannkuchen ihn selbst in die heiße Pfanne geworfen.
“Was ich gesagt habe? Die Wahrheit natürlich! Aber dich Idiot hab ich verschont dabei.”
“Na, na… Gib nur nicht so an”, meinte er von oben herab. Doch noch hatte er nicht alles aus mir herausbekommen, und so fragte er halb ängstlich, halb neugierig: “Und was hat er sonst noch gesagt?”
“Dass wir Feiglinge sind und nur an uns denken, das hat er noch gesagt”, log ich und schaute ihm dreist ins Gesicht. “Angst hätten wir gehabt, nach Wysselki sollten wir gehen und hätten uns in irgend so ‘nem Loch verkrochen. ‚Ich seh schon seit langem, dass es mit den Aufklärern bergab geht‘, hat er auch noch gesagt.”
“Du Iügst!” brauste Fedja auf. “So was hat er nicht gesagt.”
“Dann geh und frag ihn doch selbst”, fuhr ich schadenfroh fort. “‚Am besten schicken wir demnächst Infanteristen bei solchen Sachen vor. Unsere Aufklärer kriegen nur heraus, wo ein Keller mit Sahne ist‘, auch das hat er noch gesagt.”
“Du lügst.” Fedja kochte vor Wut. “Dass wir Faulenzer sind und keine Ordnung halten, das mag er wohl gesagt haben, aber dass es mit uns bergab geht, das hat er nicht gesagt.”
“Hat er auch nicht gesagt”, gab ich zu. Ich freute mich, dass ich Fedka in rasende Wut gebracht hatte. “Und wenn er‘s auch nicht gesagt hat, ist denn wirklich alles in Ordnung bei uns? Die Genossen vertrauen auf uns; aber wie benehmen wir uns? Das Nachbarregiment ist deinetwegen betrogen worden. Wie werden uns jetzt die anderen ansehen? Sie werden sagen: ‚Die denken nur an sich, man kann ihnen nicht vertrauen. Sie haben gemeldet, in Wysselki wären keine Weißen, als aber unsere Nachrichtenleute ein Kabel legen wollten, bekamen sie Feuer von dort.‘ So werden sie reden.”
“Wer hat denn von dort geschossen?” wunderte sich Fedja.
“Wer? Die Weißen natürlich.”
Fedja wurde rot. Das mit den Nachrichtenleuten, die seinetwegen ins feindliche Feuer gerannt waren, hatte er nicht gewusst, aber es schien ihm doch nahe zu gehen. Schweigend ging er ins Zimmer nebenan. Dort nahm er seine heisere Ziehharmonika und spielte den traurigen Walzer “Auf den Höhen der Mandschurei”. Da wusste ich, jetzt war er in böser Laune.
Mit einem Male brach er jäh ab, schnallte seinen silberbeschlagenen Kosakensäbel um und verließ das Haus.
Eine Viertelstunde darauf stand er draußen vor dem Fenster.
“Los, an die Pferde!” befahl er mit düsterem Gesicht.
“Wo warst du denn?”
“Bei Schebalow. Nun los, Tempo!”
Kurz darauf trabten wir Aufklärer an unserer Feldwache vorbei; auf dem leicht angefrorenen, holprigen Weg ging es zum Dorf hinaus.

 

13. Kapitel

Am Kreuzweg, wo wir gestern zu dem Hof abgebogen waren, ließ Fedja halten. Er nahm zwei seiner besten Leute beiseite und redete lange auf sie ein, wobei er mit dem Finger in Richtung der Straße zeigte. Damit sich die beiden seinen Befehl besser einprägten, schnauzte er sie noch einmal heftig an. Dann kam er zu uns zurück und befahl, zu dem Gehöft hinüberzureiten.
Dort fragte er den Bauern nach dem kürzesten Weg durch den Sumpf nach Wysselki. Den gestrigen Tag aber erwähnte er mit keinem Wort.
“Da kommt ihr nicht durch, Genossen”, versuchte uns der Bauer zu überzeugen. “Da saufen euch die Pferde ab. Eine ganze Woche lang hat es jetzt geregnet. Nicht mal zu Fuß kommt man durch, zu Pferd erst recht nicht.”
Die beiden Aufklärer, die Fedja vorausgeschickt hatte, kamen zurück und meldeten, Wysselki sei von den Weißen besetzt und an der Straße stehe ein Posten. Fedka hörte sich die mahnenden Worte des Bauern nicht länger an, sondern befahl ihm, sich fertig zu machen. Umsonst rief der Alte alle Heiligen an, umsonst erklärte er, es sei unmöglich, durch das Moor hindurchzukommen. Die Frau fing an zu weinen, und das rotwangige Mädchen, ihre Tochter, die noch gestern Fedja mit so lustigen Augen angeschaut hatte, fuhr ihn böse an, weil seine Stiefel auf dem Fußboden schmutzige Spuren hinterlassen hatten. Aber Fedja war durch nichts zu bewegen und blieb bei seiner Absicht. Ich fragte ihn, was er vorhabe; da sah er mich nur von der Seite an und lachte böse – er schimpfte noch nicht einmal.
Dann verließen wir den Hof. Der Bauer ritt auf einem armseligen Pferdchen vorneweg, neben ihm hielt sich Fedja. Wir bogen in ein Birkenwäldchen ein. Unter den Hufen unserer Pferde quoll aus dem schwellenden, schwankenden Moosboden trübes Wasser hervor. Der Weg wurde immer schlechter. Tief sanken die Pferde ein. Die Wiesen standen unter Wasser, nur hier und da ragten moosbewachsene Baumstümpfe heraus.
Eilig ging‘s weiter. Schließlich kamen wir an den alten Knüppeldamm, von dem der Bauer erzählt hatte. Ein dicker Brei aus faulem Stroh und abgerissenem Holz, das das Wasser hochgespült hatte, zog sich wie ein schmaler Pfad vor uns her. “Hm – ja”, knurrte Fedja und warf einen schrägen Blick auf unsere Genossen, die finster dreinschauten. “Na, das ist ja ein Weg.”
“Hier versaufen wir, Fedka!”
“Ja, das dauert gar nicht mehr lange, dann saufen wir ab”, meinte auch unser Führer. “Der Knüppeldamm taugt nichts mehr, der Belag ist verfault; bei trockenem Wetter, da mag es vielleicht noch gehen, aber bei dem Regen nicht.”
“Die Pferde können hier nicht schwimmen, und eine Furt gibt‘s auch nicht. Das ist eine ganz verdammte Brühe hier.”
Fedja lächelte verkrampft. “Die verdammte Brühe werden wir auslöffeln!”
Er nahm seinen störrischen Hengst am Zügel und drang als erster in den Sumpf ein. Das stinkende, faulige Wasser ging ihm bis ans Knie. Langsam schoben wir uns hinter ihm her, immer zwei Mann nebeneinander. Das Wasser, auf dem seit dem Morgen eine hauchdünne Eisschicht lag, floss uns zu den Stiefelschäften hinein. Der unsichtbare dünne Knüppelbelag schwankte unter unseren Füßen. Es war unheimlich, so ins Ungewisse zu gehen. Mir war, als gäbe es unter meinen Füßen keinen Widerstand mehr, als versinke ich in einer sumpfigen, alles verschlingenden, riesengroßen Grube.
Die Pferde schnaubten, wollten nicht weiter, sie zitterten vor Angst. Von irgendwoher kam aus dem Nebel Fedjas Stimme; sie klang wie ein Ruf aus einer anderen Welt: “Hallo, sind alle ran?”
“Wir sind mittendrin, kommen nicht mehr weiter. Am besten, wir kehren um”, murrte unser rothaariger Trompeter. Seine Zähne klapperten vor Kälte.
Plötzlich tauchte Fedja aus dem Nebel auf.
“Mach mir nur keine Panik, Paschka”, warnte er, leise und boshaft. “Wenn du hier rumjammern willst, dann geh und reit allein zurück. Alter”, wandte er sich an den Bauern, “mein Pferd ist bis zum Bauch drin, haben wir noch weit?”
“Jetzt nicht mehr. Bald wird es trockener. Aber hier vor uns, da ist es am schlimmsten. Wenn wir da durch sind, ist es vorbei, dann kommen wir auch weiter.”
Das Wasser ging uns bis zum Koppel. Der Alte blieb stehen, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich.
“Und jetzt müsst ihr alle hinter mir hergehen, einer hinter dem anderen, sonst seid ihr verloren!”
Die Mütze ins Gesicht gezogen, drang er weiter vor. Er ging ganz langsam, blieb immer wieder stehen und tastete mit einem Stock den Knüppeldamm ab, der unsichtbar unter Wasser lag.
Der eisige Wind ließ unsere Glieder erstarren, kalt drang das Moorwasser von unten herauf, und unsere Kleider waren schwer und nass vom Nebel. So schritten wir einer hinter dem anderen her; in einer Stunde kamen wir kaum hundert Schritt weiter. Meine Hände waren blau vor Kälte, und meine Knie zitterten.
Verdammter Satan, dieser Fedka! dachte ich. Gestern war ihm der Weg zum Reiten zu schmutzig, aber heute jagt er uns in den Sumpf.
Von vorn kam ein leises Wiehern herüber. Der Nebel riss auseinander, vor uns auf dem Hang sahen wir Fedka.
“Leise”, flüsterte er, als wir, zitternd vor Nässe, uns um ihn drängten. “Hinter dem Busch da liegt Wysselki, hundert Meter von hier. Der Weg ist jetzt trocken.”
Durchfroren, wie wir waren, brachen wir mit wildem Geheul und schrillem Pfeifen in das Dorf ein. Vom Sumpf her hatten uns die Weißen nicht erwartet. Nach allen Seiten flogen unsere Handgranaten – so ritten wir in wildem Galopp bis zu der kleinen Kirche vor; daneben lag der Stab der Weißen.
Wir machten zehn Gefangene und erbeuteten ein Maschinengewehr. Als wir müde, aber zufrieden auf der breiten Landstraße zurückritten, lachte Fedja, der sich neben mir hielt, boshaft und meinte: “Jetzt haben wir dem Schebalow gezeigt, was wir können. Der wird sich wundern!”
“Wieso?” Ich verstand ihn nicht. “Freuen wird er sich.”
“Gewiss, aber nicht sehr. Ärgern wird er sich, es ist nicht so gegangen, wie er gewollt hat. Ich hab getan, was ich wollte, und auf einmal so‘n Erfolg!”
“Wieso nicht, wie er gewollt hat, Fedka?” fragte ich und fühlte, dass da etwas nicht stimmte. “Schebalow selbst hat dich doch geschickt.”
“Ja, aber nicht nach Wysselki. Nach Nowoselowo sollten wir reiten und dort auf Halda warten. Aber ich bin nach Wysselki gegangen. Braucht sich nicht mehr über gestern aufzuregen. Ja, jetzt brauchen wir ihm nichts zu verbergen. Jetzt haben wir Gefangene gemacht und bringen auch noch ein Maschinengewehr mit – da muss er die Schnauze halten.”
Ein Erfolg ist das schon, dachte ich, aber hier stimmt was nicht. Nach Nowoselowo sollten wir, aber wir sind nach Wysselki geritten. Ein Glück, dass alles noch so gut ausgegangen ist. Aber wenn wir nicht durch den Sumpf durchgekommen wären? Dann könnten wir uns mit nichts herausreden!
Als wir uns dem Dorf näherten, wo unsere Abteilung lag, sahen wir dort eine ungewöhnliche Bewegung. Rotarmisten liefen am Dorfrand entlang und schwärmten aus. Reiter jagten an den Gärten vorbei.
Plötzlich ratterte vom Dorf her ein Maschinengewehr los, und Paschka, unser rothaariger Trompeter, stürzte getroffen auf die Straße.
“Hierher!” brüllte Fedja, riss sein Pferd herum und suchte Deckung hinter einem Hang.
Wieder ein Feuerstoß – zwei unserer Reiter brachen zusammen. Sie hatten die schützende Deckung nicht mehr erreicht.
Einer blieb mit dem Fuß im Steigbügel hängen, sein Pferd scheute und schleifte den Verwundeten hinter sich her.
Das Blut erstarrte mir in den Adern. “Fedja”, stammelte ich, “was hast du gemacht? Da schießt ja unser eigenes Maschinengewehr. Die im Dorf wissen doch nicht, dass wir es sind. Sie glauben, wir kommen von Nowoselowo.”
“Denen werd ich was schießen!” tobte Fjodor, sprang vom Pferd und warf sich hinter das Maschinengewehr, das wir den Weißen abgenommen hatten.
“Fedka, bist du wahnsinnig?! Willst du auf die Unsrigen schießen? Die wissen nicht, wer wir sind, aber du weißt doch Bescheid!”
Fedka atmete schwer, außer sich vor Wut schlug er mit der Nagaika gegen den Stiefelschaft… Dann stand er auf, sprang in den Sattel und ritt ungedeckt die Höhe hinauf. Ein paar Kugeln pfiffen über seinen Kopf hinweg, Fedka aber stellte sich kaltblütig in die Steigbügel, als ob nichts geschehen wäre, steckte die Mütze auf sein Bajonett und hielt sie hoch über den Kopf.
Noch ein paar Schüsse fielen vom Dorf her, dann war alles wieder still. Unsere Leute hatten gesehen, dass der Reiter, der im Kugelregen auf der Höhe hielt, ihnen Zeichen gab.
Fedka winkte uns zu, wir sollten noch zurückbleiben. Dann gab er seinem Hengst die Sporen und ritt im Galopp auf das Dorf zu. Wir warteten noch einen Augenblick, dann kamen wir auch heraus und ritten hinter ihm her.
Am Dorfrand ging uns Schebalow entgegen, grau und wie versteinert war sein Gesicht. Seine Augen blickten düster, hager erschienen seine Züge, am Säbel klebte der Dreck, es klirrten seine schmutzigen Sporen. Er hielt uns an und ließ in die Quartiere wegtreten. Sein müder Blick glitt über unsere Reihe, dann befahl er mir, abzusitzen und meine Waffen abzugeben. Schweigend, vor der ganzen Abteilung, glitt ich aus dem Sattel, hakte meinen Säbel los und gab ihn samt meinem Karabiner an den krummen Malygin ab, der mit düsterem Gesicht vor mir stand.
Der verwegene, eigenmächtige Aufklärungsritt nach Wysselki war unserer Abteilung teuer zu stehen gekommen. Außer den drei Reitern, die ins Feuer unseres eigenen Maschinengewehrs gerieten, war in Nowoselowo unsere zweite Kompanie aufgerieben worden. Sie hatte Fedja dort nicht gefunden. Halda, der Kompanieführer, war gefallen. Die Soldaten unserer Abteilung waren wütend auf uns und verlangten ein strenges Gericht über Fedja, der im Arrest saß.
“Genossen, jetzt ist aber Schluss!” erklärten sie. “Ohne Disziplin kommen wir nicht weiter; wir bringen uns ja selbst um, und andere gehen auch dabei vor die Hunde. Unsere Kommandeure werden doch nicht ernannt, damit jeder machen kann, was er will!”
In der Nacht kam Schebalow zu mir. Ich erzählte ihm alles, wie es gewesen war. Ich gab zu, dass ich aus Kameradschaft zu Fedja gelogen hatte, als er mich das erste Mal fragte, ob wir in Wysselki gewesen wären oder nicht. Und ich schwor ihm, dass ich diesmal von dem eigenmächtigen Vorgehen Fedjas nichts gewusst hatte, als er uns anstatt nach Nowoselowo nach Wysselki reiten ließ.
“Weißt du, Boris”, entgegnete Schebalow, “du hast mich schon einmal belogen… und wenn ich dir jetzt noch einmal glauben will, wenn ich dich nicht mit Fjodor vor Gericht stelle, dann nur, weil du noch so jung bist. Aber sieh zu, Junge, dass du nicht mehr solche Fehler machst! Durch deine Schuld hat Tschubuk sterben müssen. Durch eure Schuld sind die Fernsprechleute den Weißen ins Feuer gelaufen. Nun reicht es mir! Ich rede gar nicht von Fedka, das ist ein Lump, der mir viel Kummer gemacht hat. Du gehst jetzt wieder in die erste Kompanie zurück, zu Sucharew, an deinen alten Platz gehst du wieder. Ich hätte dich nicht zu Fjodor lassen sollen, das ist meine Schuld, jawohl. Von Tschubuk … ja, von dem konntest du was lernen… aber von Fjodor…? Auf den kann sich keiner verlassen. Und was ich dir schon lange sagen wollte, warum schließt du dich mal dem einen an, dann wieder dem anderen? Mit allen musst du zusammenhalten, fest zusammenhalten. Wenn der Mensch allein ist, verirrt er sich, dann kommt er leicht vom rechten Wege ab.”
Fedja floh noch in derselben Nacht. Er entwich durch das Fenster der Hütte, in der er gefangen saß, griff sich ein Pferd und verschwand, ritt durch den frisch gefallenen Schnee, irgendwohin, durch die Fronten hindurch nach Süden. Vier seiner Kumpane nahm er mit. Sie sollen zu Machno gegangen sein.

 

14. Kapitel

An der ganzen Front gingen die Roten zum Angriff über.
Unsere Abteilung war dem Brigadekommandeur unterstellt und hatte einen schmalen Abschnitt an der linken Flanke des dritten Regiments zugewiesen bekommen.
Zwei Wochen vergingen unter anstrengenden Märschen. Die Kosaken wichen zurück, klammerten sich aber zäh an jedes Dorf, an jeden Hof.
In diesen Tagen bewegte mich nur ein Wunsch: Ich wollte meine Schuld sühnen, wollte mich vor meinen Genossen würdig zeigen, in die Partei aufgenommen zu werden.
Doch vergebens meldete ich mich zu gefährlichen Spähtrupps. Umsonst blieb ich, bleich und mit zusammengebissenen Zähnen, im Feuer aufrecht stehen, während sogar die besten Soldaten im Knien oder im Liegen schossen. Niemand wollte sich durch mich vertreten lassen, wenn ein Spähtrupp hinausging, niemand bewunderte mein zur Schau gestelltes Heldentum.
Sucharew bemerkte einmal nebenbei: “Gorikow, lass diese Kunststückchen, das sieht ganz nach Fedka aus…! Gib nicht so an vor den Leuten … mancher hat mehr Schneid als du, auch wenn er nicht den Kopf im Feuer hochnimmt.”
Schon wieder dieser Fedka mit seinen Kunststückchen, dachte ich bekümmert. Wenn ich doch nur einmal einen gefährlichen Auftrag kriegte und sie mir sagten: Wenn du das machst, ist dir alles verziehen, dann bist du wieder unser Freund und Genosse wie früher.
Tschubuk lebt nicht mehr, Fedka ist bei Machno, aber den brauch ich nicht. Hab nicht besonders an ihm gehangen. Schlimm ist nur, dass sie mir alle aus dem Wege gehen. Früher sprach Malygin immer mit mir, ich musste mit ihm Tee trinken, und er erzählte mir irgendwas – aber auch der will nun nichts mehr von mir wissen.
Eines Tages stand ich hinter der Tür und hörte, wie er mit Schebalow über mich redete: “Der muss irgend so‘nen Kummer haben. Vielleicht trauert er dem Fedka nach? Den Tschubuk damals hatte er bald vergessen, und der war doch durch seine Schuld ums Leben gekommen.”
Glühende Röte stieg mir ins Gesicht.
So war es wirklich: Ich hatte mich irgendwie rasch mit dem Tod Tschubuks abgefunden; aber dass ich dem Fjodor nachtrauerte, das stimmte nicht, im Gegenteil, ich Hasste ihn.
Ich hörte, wie Schebalow auf dem Lehmfußboden auf und ab ging, wie seine Sporen klirrten; erst nach einer Weile antwortete er: “Das stimmt nicht, was du da sagst, Malygin! So ist das nicht… Der Junge ist nicht verdorben. Von ihm kann man noch alle Schuld abwaschen … Du änderst dich nicht mehr, Malygin, du bist vierzig Jahre alt, aber der Junge ist erst sechzehn… Wir beide sind ein paar abgelaufene Schuhe, mit dicken Nägeln in der Sohle, der Junge aber, der ist noch frisches Leder. Der wird einmal so wie der Leisten, über den du ihn schlägst. Sucharew hat mir erzählt, dass er Kunststückchen macht … wie der Fedka, dass er in der Schützenkette aufspringt, dass er Schneid zeigt, wenn‘s nicht nötig ist. Aber ich hab ihm gesagt: ‚Sucharew, du hast schon einen Bart, bist ein erwachsener Mann… aber richtig sehen kannst du immer noch nicht. Der macht dem Fedka nichts nach, der Junge will etwas wiedergutmachen, nur weiß er nicht, wie.
In diesem Augenblick klopfte ein Meldereiter ans Fenster und rief nach Schebalow. Das Gespräch wurde unterbrochen.
Nun wurde mir leichter ums Herz.
Ich war in den Krieg gezogen für die “lichten Höhen des Sozialismus”. Das Ziel lag irgendwo in weiter Ferne, und der Weg war schwer. Viele große Hindernisse mussten überwunden werden.
Das größte Hindernis waren die Weißen. Als ich in die Armee eintrat, konnte ich die Weißen noch nicht so hassen wie der Bergmann Malygin, wie Schebalow und viele andere. Meine Genossen kämpften nicht nur für die Zukunft, sie rechneten auch mit einer schweren Vergangenheit ab.
Doch inzwischen hatte auch ich mich geändert. Rings um mich her erlebte ich nur wilden Hass, ich hörte meine Genossen von jener Zeit erzählen, die mir bis dahin unbekannt war, ich erfuhr von all dem Unrecht, das das Volk seit alters gelitten – und alles das hatte auch mich hassen gelehrt, so wie ein Nagel zu glühen beginnt, der ins Feuer fällt.
Und noch lockender, noch strahlender leuchteten durch diesen Hass hindurch die “lichten Höhen des Sozialismus”.
Am Abend jenes Tages holte ich mir von unserem Furier ein Stück weißes Papier und schrieb ein langes Gesuch um Aufnahme in die Partei.
Mit meinem Blatt ging ich zu Schebalow. Er war gerade beschäftigt. Der Wirtschaftsleiter saß bei ihm und Piskarew, der anstelle des gefallenen Halda zum Kompanieführer ernannt worden war.
Ich setzte mich auf eine Bank und wartete lange, dass sie ihr Dienstgespräch beendeten. Schebalow hob ein paar Mal den Kopf und schaute mich neugierig an, als wolle er erraten, warum ich gekommen sei.
Als der Wirtschaftsleiter und der Kompanieführer gegangen waren, machte Schebalow eine Eintragung in sein Notizbuch und befahl einem Melder, er solle Sucharew holen. Erst dann wandte er sich an mich und fragte: “Nun… was hast du?”
“Genosse Schebalow, ich… ich bin zu Ihnen gekommen, Genosse Schebalow…”, antwortete ich und trat an den Tisch. Ein Frösteln überlief meinen ganzen Körper.
“Das sehe ich, dass du zu mir gekommen bist!” fuhr er fort, schon etwas weniger streng. Wahrscheinlich empfand er, wie aufgeregt ich war. “Nun, berichte! Was hast du auf dem Herzen?”
Aber alles, was ich ihm sagen wollte, war aus meinem Kopf weggeblasen. Ich hatte ihn bitten wollen, für mich Bürge zu sein bei der Aufnahme in die Partei, hatte ihn mit einer langen Erklärung überzeugen wollen, dass ich zwar schuld sei am Tode Tschubuks und ihn mit Fedka belogen habe, dass ich aber doch nicht immer so ein schlechter Mensch gewesen wäre und auch in Zukunft nicht mehr sein würde.
Schweigend überreichte ich ihm das Papier.
Er las mein Gesuch nur bis zur Hälfte, dann schob er das Blatt von sich weg. Das sah nach Ablehnung aus – ich zitterte am ganzen Leibe. Aber auf Schebalows Gesicht las ich nichts von Ablehnung. Dieses Gesicht war ruhig; müde und abgespannt sah es aus. In seinen rauchgrauen Augen spiegelte sich der Rahmen des Fensters.
“Setz dich”, sagte Schebalow.
Ich setzte mich.
“In die Partei willst du also?”
“Jawohl, das will ich”, sagte ich mit leiser, aber fester Stimme.
Mir schien, als frage er nur so, um zu beweisen, dass mein Wunsch unerfüllbar sei.
“Ist das dein fester Wille?”
“Mein fester Wille”, antwortete ich im gleichen Ton und wandte mich ab, schaute hinüber in den Winkel, wo die verstaubten Heiligenbilder hingen. Nun gab es keinen Zweifel mehr – Schebalow machte sich nur lustig über mich.
“Das ist gut so”, fing er wieder an, aber erst jetzt merkte ich am Ton seiner Stimme, dass er nicht über mich lachte, sondern mir wie ein Freund zulächelte.
Er nahm einen Bleistift, der zwischen den Brotkrumen auf dem Tisch lag, nahm mein Gesuch und schrieb seinen Namen und die Nummer seines Parteibuches darauf.
Dann drehte er sich zu mir um, drehte sich um samt Schemel, Sporen und Säbel und sagte mit bewegter Stimme: “So, mein Junge, nun sieh dich in Zukunft besser vor. Ich bin jetzt nicht mehr nur dein Kommandeur, ich bin nun … so eine Art Patenonkel von dir.
Du darfst mich nicht noch mal betrügen…!”
“Nein, Genosse Schebalow, das tu ich auch nicht”, erwiderte ich aufrichtig und nahm schnell das Papier vom Tisch. “Um nichts in der Welt werde ich Sie oder einen anderen Genossen betrügen!”
“Halt mal”, unterbrach er mich. “Du brauchst ja noch eine Unterschrift … Hm, wer könnte denn sonst noch für dich bürgen…? Aha!” rief er froh, als er Sucharew hereinkommen sah. “Du kommst gerade recht.”
Sucharew nahm die Mütze vom Kopf, schüttelte den Schnee von seinem Mantel und wischte unbeholfen seine schweren Stiefel an einem Sack ab. Dann stellte er sein Gewehr an die Wand, hielt die erstarrten Hände an den warmen Ofen und fragte: “Warum hast du mich gerufen?”
“Dienstlich hab ich dich gerufen, wegen der Wache, weißt du … Auf dem Friedhof, da müssen unsere Leute jetzt in die Kirche rein … sie sollen mir nicht frieren … gleich kommt der Pope zu mir, dann werden wir das regeln. Ja, und was ich noch sagen wollte…” Bei diesen Worten lächelte er verschmitzt und deutete mit dem Kopf auf mich: “Wie macht sich jetzt der Junge bei dir?”
“Was heißt, wie macht er sich?” fragte Sucharew vorsichtig und schmunzelte über sein ganzes Gesicht, das rot war von Wetter und Wind.
“Nun … was für‘n Soldat er ist, will ich wissen. Ich frage dich dienstlich.”
“Er ist kein schlechter Soldat”, antwortete Sucharew nach einigem Überlegen. “Im Dienst ist er gut. Hat sich auch nichts zuschulden kommen lassen. Ist nur manchmal ein bisschen verrückt, weißt du. Jetzt, wo der Fedka weg ist, will er mit den anderen nichts zu tun haben. Die Leute haben eine Stinkwut auf Fedka, hätten am liebsten, dass ihn eine Granate zerreißt.”
Sucharew schneuzte sich und wischte die Nase am Mantel ab; das Rot auf seinem Gesicht wurde noch tiefer, und er war ganz zornig, als er fortfuhr: “Die Haidamaken sollen ihm die Rübe abhauen! So einen Kommandeur wie den Halda hat er ums Leben gebracht! Das war ein Kompanieführer! So einen findest du nicht mehr. Der Piskarew … ist das ein Kompanieführer…? Ein Holzklotz ist er, aber kein Kompanieführer … Heute hab ich ihm gesagt: ‚Du bist mit der Streife dran … Ich hab gestern zehn Mann mehr für die Wache abgestellt‘, aber er…”
“Nun mal langsam!” unterbrach ihn Schebalow. “Erzähl mir nur keine Geschichten. Jetzt bist du für den Halda, aber früher, da hast du immer Krach mit ihm gehabt. Was sind denn das für zehn Mann zusätzlich? Brauchst mir keine Brille aufzusetzen, ich seh auch so ganz gut. Na schön, davon später… Aber hör mal… der Junge hier will in die Partei aufgenommen werden. Wollen wir für ihn bürgen? Was schaust du mich so erstaunt an? Hast doch selbst eben gesagt, er ist ein guter Soldat und hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Was aber früher war, na, davon wollen wir nun auch nicht bis in alle Ewigkeit reden!”
“Ach sooo!” sprach Sucharew gedehnt und kratzte sich am Kopf. “Aber den Jungen da, den kennt doch nur der Teufel selbst!”
“Der Teufel kennt überhaupt nichts! Du bist Kompanieführer, und in der Partei bist du auch. Du müsstest besser wissen als der Teufel, ob der Junge in die Partei passt oder nicht.”
“Der Junge ist nicht schlecht”, bestätigte Sucharew noch einmal, “er gibt nur immer so an. Der springt in der Schützenkette auf, wenn es nicht befohlen ist. Aber sonst ist er nicht übel.”
“Ist doch nicht schlimm… Wenn er sich drücken wollte, das wär schlimm! Willst du nun unterschreiben oder nicht?”
“Ich würd ja schon unterschreiben, der Junge ist nicht schlecht”, betonte Sucharew vorsichtig noch einmal. “Aber… wer unterschreibt denn sonst noch?”
“Ich hab schon unterschrieben. Komm, setz dich an den Tisch, hier ist sein Gesuch.”
“Ach so, du hast schon unterschrieben…!” meinte Sucharew, und seine Bärentatze griff nach dem Bleistift. “Dann ist ja alles in Ordnung … Ich sag ja, der Junge ist Gold wert. Hat bloß früher zuwenig Prügel bekommen!”

 

15. Kapitel

Die Kämpfe bei Nowochoper dauerten schon einige Tage. Wir hatten alle Divisionsreserven eingesetzt, aber immer noch verteidigten die Kosaken zäh ihre Stellungen.
Am Morgen des vierten Tages trat Stille ein.
“Mal herhören, Jungens!” rief Schebalow, als er an die Schützenlinie unserer Abteilung herangeritten kam. Wir lagen ausgeschwärmt am Steilhang einer Höhe, von der der Wind den Schnee weggefegt hatte. “Heute Nachmittag wird angegriffen… Mit der ganzen Division hauen wir zu.
Sein Pferd schimmerte silbern vom Raureif und dampfte. Der lange, schwere Säbel funkelte in der Sonne, und wie eine leuchtende Blume blühte mitten in Eis und Schnee der rote Deckel seiner schwarzen Papacha.
“Männer”, rief er uns mit seiner hellen Stimme zu, “heute geht es ums Ganze. Wird ein schwerer Tag für uns. Aber heute hauen wir die Weißen raus, dass sie bis Bogutschar nicht zum Halten kommen. Strengt euch noch einmal an und blamiert mich alten Mann nicht vor der Division!”
“Was heißt hier alter Mann?” schrie mit schriller, krächzender Stimme Malygin, der auch hinzugekommen war. “Ich bin älter als du, aber ich fühl mich noch jung.”
“Ich und du, wir sind ein Paar abgelaufener Schuhe”, wiederholte Schebalow in seiner üblichen Art. “Boriska”, rief er mir freundlich zu, “wie alt bist du eigentlich?”
“Sechzehn, Genosse Schebalow”, antwortete ich stolz, “am 22. bin ich schon sechzehn geworden!”
“Schon!” ahmte Schebalow mir nach. “Schon… das ist gut! Ich bin schon siebenundvierzig. Ach Gott, Malygin, weißt du, was das heißt, sechzehn Jahre alt? Was der noch zu sehen kriegt, das sehen wir beide nicht mehr…”
“Nur noch aus dem Himmel”, krächzte Malygin und machte ein finsteres Gesicht. Fester schlang er seine zerrissene, tressengeschmückte Offizierskapuze um den Hals.
Schebalow gab seinem zitternden Pferd die Sporen und ritt weiter – an unseren Feuern entlang.
“Boriska, komm Tee trinken… Ich hab heißes Wasser, und du hast doch Zucker!” rief Waska Schmakow mir zu und nahm sein verrußtes Kochgeschirr vom Feuer.
“Zucker hab ich auch nicht, Waska.”
“Was hast du denn überhaupt?”
“Brot hab ich, und gefrorene Äpfel kannst du auch kriegen.”
“Na, dann komm her mit deinem Brot, sonst krieg ich überhaupt nichts zu essen! Nur reines Wasser.”
“Gorikow!” rief es von der anderen Seite. ‚Komm doch mal her.”
Ein paar Rotarmisten standen dort beieinander und stritten sich über irgend etwas. Ich ging hin.
“Sag mal”, begann Grischka Tscherkassow, ein dicker, rothaariger Kerl, den wir den Psalmensänger nannten, “passt auf, was der euch erzählt. Du hast doch Erdkunde gehabt…? Dann sag mal, was jetzt von hier am nächsten liegt…”
“In welcher Richtung denn? Nach Süden – da kommt Bogutschar.”
“Und dann?”
“Und dann… dann kommt Rostow. Aber das ist noch nicht alles. Noworossisk, Wladikawkas, Tiflis, ja, und dann, noch weiter, da liegt die Türkei. Und warum willst du das wissen?”
“Ist aber noch‘ne ganze Menge!” meinte Grischka und kratzte sich verlegen hinterm Ohr. “Da müssen wir ja noch das halbe Leben lang Soldat sein… Ich hab gehört, Rostow liegt schon am Meer, und da hab ich gedacht, dann wär Schluss!”
Grischka sah, wie die anderen lachten. Das machte ihn verwirrt, und er meinte: “Kinder, Kinder, da müssen wir aber noch lange Soldat sein!”
Die Gespräche verstummten.
Von hinten her kam auf der Straße ein Reiter angaloppiert. Schebalow ritt ihm im Trab entgegen. Noch zweimal feuerte das Geschütz auf der Flanke…
“Erste Kompanie, zu miiir!” rief Sucharew mit lang gezogener Stimme, hob die Hände und winkte.

*

Stunden vergingen… dann sprangen unsere Soldaten aus ihren Schneelöchern auf und gingen im knietiefen Schnee nach vorn. Gegen die feindlichen Maschinengewehre und Batterien, im Splitterhagel des Kartätschenfeuers rückten unsere gelichteten, ausgebluteten Reihen vor zum letzten, entscheidenden Schlag. Schon drangen die vordersten Teile in die Vorstadt ein, da traf mich eine Kugel in der rechten Seite.
Ich schwankte und fiel in den weichen, zertretenen Schnee. Macht nichts, dachte ich, macht gar nichts. Bin ja noch bei Bewusstsein, bin ja noch nicht tot … und wenn ich nicht tot bin, dann bleibe ich auch am Leben.
Ganz weit vorn liefen unsere Infanteristen. Wie schwarze Pünktchen sahen sie aus.
Macht nichts, dachte ich und griff in einen Strauch. Mein Kopf sank gegen seine Zweige. Bald kommen die Sanitäter und holen mich.
Es war still geworden. Nur irgendwo im Nachbarabschnitt wurde immer noch gekämpft. Dumpf dröhnten die Geschütze, eine einsame Leuchtkugel stieg empor und zog wie ein feuriggelber Komet über den Himmel.
Warmes Blut sickerte durch meine Bluse hindurch. – Wenn nun die Sanitäter nicht kommen und ich sterben muss? dachte ich und machte die Augen zu.
Eine große schwarze Krähe ließ sich auf dem Schnee nieder und hüpfte mit kleinen Schritten auf einen Haufen Pferdemist zu, der nicht weit von mir lag. Plötzlich drehte sie argwöhnisch den Kopf und schaute mich von der Seite an. Dann schlug sie mit den Flügeln und strich ab.
Krähen haben keine Angst vor Toten. Sterbe ich an Blutverlust, dann kommt sie angeflogen und setzt sich neben mich. Sie hat keine Angst.
Der Kopf wurde mir schwach und schaukelte – wie missbilligend – hin und her. Rechts von mir, von den verschneiten Höhen herüber, dröhnten dumpfer und dumpfer die Geschütze, stiegen heller und häufiger Leuchtkugeln empor.
Die Nacht stellte ihre Wachtposten auf – Tausende von Sternen. Ich sollte sie wohl noch einmal sehen.
Ich sann und sann. Einen Tschubuk hat es gegeben, Zigeunerchen hat einmal gelebt, und der Wiesel auch… Nun sind sie alle tot, und bald werde ich auch nicht mehr sein. Mir fiel ein, wie Zigeunerchen einmal gesagt hatte: “Seitdem habe ich das schöne Leben gesucht.” – “Und glaubst du, du wirst es finden?” hatte ich gefragt. Er hatte geantwortet: “Einer bringt das nicht fertig, aber alle zusammen finden es ganz gewiss… Darum ist ihre Sehnsucht so groß.”
Ja, so ist es! Alle zusammen, flüsterte ich und klammerte mich an diesen Gedanken; alle zusammen werden es ganz gewiss finden. – Die Augen fielen mir zu, und ich dachte lange an irgend etwas, was ich jetzt vergessen habe, aber es war etwas sehr, sehr Schönes.