1
Die Träume George Clark Lowells waren stets wohlgeordnet, natürlich und bar jener seltsamen und unmenschlichen Note, die den Träumen so vieler anhaftet; und das war, wie sein guter Freund Dr. Elliott Abbott einmal bemerkte, ein tröstliches Zeichen von Normalität. Man durfte sagen, dass seine Träume höchst selten verbotene Wege gingen. So träumte er zum Beispiel diese Nacht oder vielleicht sehr früh in der Dämmerung, dass er mit einem Mädchen Hand in Hand durch einen leichten Sommerregen wanderte. Wer sie war, wusste er nicht, auch war er sich keiner besonderen Neugier hinsichtlich ihrer Persönlichkeit bewusst. Sie war viel jünger als er, natürlich — er selbst war vierundvierzig -, und sie offenbarte ihre Jugend in ihrem geschmeidigen Schritt und im Schwung ihres Leibes. Wie es so häufig in Träumen der Fall ist, konnte er zu gleicher Zeit sich selbst und das Mädchen aus gewissem Abstand beobachten und Hand in Hand an ihrer Seite gehen. Aber trotz des Vorteils dieses doppelten Standpunktes vermochte er ihr Gesicht nicht zu erkennen; es mag auch sein, dass es ihn gar nicht besonders interessierte, ihr Gesicht deutlich zu sehen.
Sowohl er wie auch das Mädchen trugen jene langen grünen Regenmäntel aus Ölhaut, die vor einer Generation üblich und damals als „Glitscher" bekannt waren. Sie waren barhäuptig, und der feine, dunstige warme Regen legte sich auf ihr Haar, brachte Glanz auf ihre Wangen und wehte wie Dampf in ihre lachenden Münder. Sie gingen auf einem Feldweg, und es war gegen Abend.
So angenehm war dieser Traum und so glaubwürdig, dass er beim Aufwachen verzweifelt einen Weg in ihn zurück suchte. Aber es gab diesen Weg nicht, der Traum umwölkte und ver-
flüchtigte sich, und so nahm er die Tatsache hin, dass er wach war. Er sah nach seiner Uhr auf dem Nachttisch neben sich und stellte fest, dass es früh 6 Uhr 45 war.
Um diese Stunde hing eben der erste graue Schimmer des Tageslichts am Himmel, ein kränkliches Grau, das ihm erlaubte, nach der Uhr zu sehen, seine langen, wohlgeformten Finger zu betrachten und die Einzelheiten des Schlafzimmers zu erkennen, die kremfarbenen Wände, die roten Vorhänge am Fenster, die beiden Landschaften an der Wand gegenüber - im ganzen Hotel Bradly dieselben - und den Spiegel des Toilettentisches aus Ahornholz, der genau jenseits des Fußendes seines Bettes stand. Wenn er den Kopf ein wenig nach rechts gedreht hätte, würde er auf dem Kopfkissen neben dem seinen auch noch einen Schopf schwarzen Haares entdeckt haben, aber das vermied er sorgfältig, hielt sich vielmehr ganz steif und horchte auf das regelmäßige, tiefe Atmen seiner Gefährtin.
Als er so dalag, schoss ihm durch den Kopf, was er einmal über den tiefen und sanften Schlaf der Unschuld gehört oder gelesen hatte, und es kam ihm vor, dass entweder ebenso wenig Wahres daran wäre wie an den meisten Moralpredigten - oder dass das Mädchen, das im zwölften Stock des Hotels Bradly, Ecke 66. Straße und Broadway, die Nacht mit ihm verbracht hatte, eine so fleckenlos reine Seele haben müsste wie ein weißes Bettlaken frisch aus der Wäscherei. Die Abneigung, ein jäher Ekel beinahe, die er zu dieser frühen Morgenstunde gegen sie empfand, war ihm keine unvertraute Zutat; er kroch aus dem Bett, voll tödlicher Angst, sie zu wecken.
Er stand nackt in dem ausgekühlten Zimmer, ein großer, breitschultriger, gutgebauter Mann von vierundvierzig. Für seine Jahre hatte er weniger Fleisch am Leibe als die meisten dieses Alters; er hatte keinen Bauch, vielmehr die einigermaßen wohlerhaltenen Muskeln eines ehemaligen College-Athleten. Seinem Körper nach konnte er für jünger gelten als er war, und sein gutgeformter Kopf mit den braunen Haaren begann auch erst an den Schläfen ein bisschen grau zu werden. Der sorgfältig gepflegte kleine Schnurrbart verlieh ihm einen Hauch von Vornehmheit, und die langen glatten Brauen, die tiefliegenden Augen, die leicht gekrümmte schmale Nase, der breite volle Mund und das fast viereckige Kinn vervollständigten das Bild eines schönen Mannes. Gutes Aussehen hatte er von jeher gekannt und zu schätzen gewusst, und nicht der geringste seiner Vorzüge war, dass er es mit großem Anstand zu tragen verstand.
Jetzt ging er leise um das Bett herum, fischte sein Unterzeug und begab sich ins Badezimmer. Die Furcht, das Mädchen aufzuwecken, ließ ihn auf die Dusche verzichten. Er rasierte sich rasch und geübt, verwandte nur einen Augenblick aufs Haar, das er straff nach hinten kämmte, packte seinen Toilettenkram in ein Etui aus Krokodilleder und ging wieder ins Schlafzimmer zurück, um sich fertig anzuziehen. Als einziges nahm er sich die Zeit, aus einem offenen Koffer ein frisches weißes Hemd herauszusuchen, den grünen Schlips und den braunen Noppenanzug hatte er schon den vergangenen Abend getragen. Das Packen dauerte nur einen Augenblick; er hatte eine Reisetasche aus Kalbsleder und einen Kupeekoffer aus Korduan, die er beide geräuschlos und sorgfältig schloss. Er stellte sie zusammen mit einer Aktentasche dicht neben die Tür, und dann gestattete er sich zum ersten Male einen Blick auf das Mädchen im Bett.
Während er sich angezogen hatte, hatte sie sich vom Bauch auf den Rücken gedreht, und ihr linker Arm war weit über den Teil des Bettes geschwungen, wo er gelegen hatte. Der Schlaf verlieh ihren brüchigen wissenden Zügen eine gewisse Lieblichkeit; er gab ihr das Aussehen der dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre wieder, die ihr Dasein bisher zählte.
George Clark Lowell gestattete sich nur einen flüchtigen Blick. Er verspürte weder Sympathie noch Verlangen in diesem Augenblick; seine Vorstellung von ihr hatte keine bestimmte Form, sie erschien ihm weder als eine Schlampe noch als ein menschliches Wesen überhaupt, noch war sie jemand mit einem
Namen, einem Charakter, einer Vergangenheit oder einer Zukunft.
Er zog seine Geldmappe aus der Brusttasche und legte einen Zwanzigdollarschein auf den Toilettentisch; nach einem Augenblick des Zögerns fügte er noch einen zweiten hinzu. Dann öffnete er behutsam die Tür, nahm sein Gepäck heraus und zog ebenso behutsam die Tür hinter sich zu. Er brachte die Sachen selbst zum Fahrstuhl, und die Fahrstuhlführerin war gleich verschlafen wie uninteressiert. In der Tat, niemand im Bradly kümmerte sich groß um die leichteren oder schwereren Sündenfälle derer, die dort Zimmer mieteten. Die Lage des Hotels, sieben Häuserblöcke jenseits der Grenze des hier im Stadtwesten Begehrenswerten, hatte die modernen fünfzehn Etagen aus rotem Backstein schon längst dem besonderen Gewerbe ausgeliefert, dem es sich widmete.
In der trostlosen Halle hörte sich der Nachtportier an, was George Clark Lowell sagte:
„Ich fahre mit dem Frühzug. Ich gehe jetzt gleich, bezahle aber für den ganzen Tag. Meine Frau wird das Zimmer noch bis heute nachmittag benutzen."
Selbst wenn der Portier seinen richtigen Namen gewusst hätte, würde er ihm nichts bedeutet haben, und zwei Menschen in einem Zimmer waren immer Mann und Frau.
2
Als Lowell auf dem Grand Central seine Koffer aufgegeben und an der Bar eine Tasse Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich einen guten Teil wohler. Sein Schuldbewusstsein, das mit Ekel vor sich selbst gemischt war - stets hinterher und fast nie vorher -, wurde wie gewöhnlich durch die Überzeugung gemildert, dass er wieder frei war, dass eigentlich nichts Besonderes geschehen war, und dass das Ganze, gleichfalls wie gewöhnlich, allmählich in ein Gefühl vollbrachter Leistung übergehen würde.
Der kalte Hauch des unfreundlichen Wintertages erfrischte ihn, und da er bis zur Abfahrt des Zuges noch etwas mehr als drei Stunden vor sich hatte, entschloss er sich, zum Universitätsklub im Zentrum zu gehen, sich durch den Weg Appetit zu machen, vor dem Essen gerade nur einen Whisky mit Zitrone zu trinken und hinterher Lois ein Geschenk zu kaufen. Wenn er an ein Geschenk dachte — wie er unausweichlich zu tun pflegte —, so störte es ihn nicht, dass er auf einen durchaus gewöhnlichen Fehltritt auf durchaus gewöhnliche Weise reagierte. Es war schon lange her, dass er über das Bedürfnis nach bewusster Motivierung hinaus war. Er war ein entwaffnend ruhiger Mensch, und wenn er je darüber nachdachte, so vermochte er sich leichtlich zu überzeugen, dass er keineswegs ein schlechter Mensch war. Diese periodischen Unterbrechungen eines verhältnismäßig geruhigen Lebens waren von geringer Bedeutung.
Er kam mit dem frühesten Strom der täglich zur Arbeit Fahrenden aus dem Grand Central heraus, ging westwärts bis zur 5. Avenue und weiter ins Zentrum hinein. Er liebte solche simplen Dinge wie das Gehen an sich, und als er im Klub anlangte, war die letzte Nacht mehr oder weniger vergessen, um so rascher, da er auf dem Wege noch einmal die Angelegenheit überdacht hatte, die ihn aus der Stadt in Massachusetts, wo er wohnte, nach New York geführt hatte.
3
Leopold und James waren Industrieberater mit Büros im 32. Stock des Empire State Hochhauses. Als Lowell ihr Vorzimmer betreten hatte — um dreiviertel drei vergangenen Nachmittag - hatte er sich ziemlich unbehaglich gefühlt, ein Gemütszustand, der dadurch nicht gebessert wurde, dass die Büros gerade in dem Stil eingerichtet waren, den er am allerwenigsten leiden mochte: eine Art Modernismus des Maschinenzeitalters aus Glasziegeln, schlecht angewandtem gezogenen Chrom, geschmacklosem getriebenen Kupfer und Stahlsesseln mit Sperrholzsitzen. Der mattblaue Teppich auf dem Fußboden war mindestens einen Zoll dick, und auf einem ungeheuren, niedrigen Glastisch lagen Exemplare der Fortune, der United States News und des Wall Street Journal. Er steckte sich eine Zigarette an und hatte sie zur Hälfte aufgeraucht, bevor eine stämmige Frau mittleren Alters in Schuhen mit niedrigen Absätzen ihn in das Zimmer von James geleitete. Hier war das Mattblau auf die Vorhänge ausgedehnt worden und auf die Tapete: ein fotografisches Panorama des Yellowstone-Parks oder eines anderen Teils des Felsengebirges - weiße Berggipfel und Tannenwälder und glitzernde Seen, in blauen Farbtönen gedruckt. James saß an einem grauen Schreibtisch vor einem riesigen Fenster; das Licht der Wintersonne rahmte ihn in eine Aussicht von grenzenloser, wunderbarer Weite, von Himmel und Wolken. Er war ein sehr kleiner, zierlicher Mann und wie ein Vogel in seinen Bewegungen. Er hüpfte um den Schreibtisch herum, schüttelte Lowell die Hand, drückte ihn in einen Sessel und stürzte sich sogleich, im Widerspruch zur Gesamtsumme der bisherigen Eindrücke, geradezu heftig in die Angelegenheit, die sie zusammengeführt hatte. Seine Aussprache verriet einen leichten, kaum bemerkbaren ausländischen Akzent - einen Akzent, den Lowell nicht unterbringen konnte, der sich ihm mit keinem Land, keinem Gebiet verband.
„Ich freue mich, dass Sie selbst hergekommen sind, um mit mir zu sprechen, Herr Lowell", sagte er. „Es sind heikle Dinge, die man heikel behandeln muss. Man muss sie wirksam, aber heikel betreiben. Sie sind notwendig, aber heikel." Jedes Mal, wenn er „heikel" sagte, kratzte seine Stimme wie eine Feile. Lowell, der moralisch so prompt reagierte, fühlte weder Zu- noch Abneigung, sondern eher eine Art von Bestürzung. Späterhin fiel ihm ein, dass er in genau der gleichen Weise reagiert haben würde, wenn ein prächtiger irischer Vorstehhund, der ihm einmal gehört hatte, die Schnauze geöffnet und ihn angeredet hätte. Der Widerwille kam erst hinterdrein; jetzt jedenfalls war er froh, dass während der ganzen Zeit ihres Gesprächs das Gesicht des Mannes im Schatten blieb.
„Sie sind mir sehr empfohlen worden", sagte Lowell.
Der kleine Mann lächelte und nickte; es war das einzige Mal, dass er lächelte.
„Für mich ist es eine neue Situation", sagte Lowell. „Sie erscheint mir ungeheuer kompliziert. Ich nehme an, dass sie für Sie nicht kompliziert ist."
„Ich halte niemals etwas für einfach."
„Ich weiß nicht, wieviel Sie von mir wissen", sagte Lowell. „Ich nehme an, Sie haben sich über mich erkundigt. Sie haben den Ruf, sehr gründlich zu sein."
„Bei unserer Tätigkeit muss man sehr gründlich sein. Wenn man es genau nimmt, ist das unser einziges Aktivum. Es ist keine Kunst, es ist eine Methode."
„Wahrscheinlich", sagte Lowell.
„Methode ist die Grundlage von allem. Sie haben die Fabrik jetzt fünf Jahre?"
„Ungefähr", antwortete Lowell. „Mein Vater starb 1940. Er war ein altmodischer Mensch, er erledigte seine Angelegenheiten selbst. Ich behaupte nicht, ihn durch und durch zu kennen, aber ich glaube nicht, dass er Ihre Hilfe gesucht hätte."
„Sie kamen nicht gut mit ihm aus?" fragte James.
„Ich kam sehr gut mit ihm aus!" antwortete Lowell entschieden. „Aber ich hatte keine Lust an dem Geschäft. Auch jetzt habe ich noch keine. Es war gar nicht nötig, dass ich mich damit abgab. Ich hatte sowieso genug. Meine Frau auch."
„Aber jetzt fühlen Sie sich verpflichtet, ernsthaft verpflichtet Ihrem verstorbenen Vater gegenüber, sagen wir?" Es klang keinerlei Sentimentalität aus der Stimme des kleinen Mannes, er wählte seine Worte, reihte sie mit Sorgfalt aneinander, und die Stimme kratzte wie eine rostige Feile.
„Sagen wir nicht!“ fuhr Lowell auf. „Der Krieg kam, die Sachen wurden gebraucht." Er sagte nicht, dass er selbst nicht gebraucht worden war, dass ihn seine laschen Bemühungen, ins Heer einzutreten, doch bloß an einen Schreibtisch im Kriegsministerium geführt hätten, wie es vielen seiner Freunde mit ihren Bemühungen ergangen war. „Ich trage ein sehr bedeutendes Unternehmen auf meinen Schultern", erklärte Lowell eindringlich, „und ich befinde mich in einer ungewohnten Lage. Ich glaubte, all das hätte man Ihnen schon erklärt. Mein Vater hätte in solch einer Situation ganz genau gewusst, was zu tun wäre, er war so ein Mensch. Ich suchte den Rat anderer, und man verwies mich an Sie."
Der kleine Mann nickte ernsthaft.
„Genau gesagt, ich wünsche, dass meinem Eigentum nichts passiert", fuhr Lowell fort. „Ich will nicht, dass der Streik abgewürgt wird, verstehen Sie ... ?" Er sah James verstohlen an, entdeckte mit Erstaunen, dass er vor ihm Angst hatte, und zwang sich zu einem wohlbedachten, beinahe unverschämten Vorgehen. „Machen Sie bitte das Licht an!" sagte er, indem er zu der Lampe auf James' Schreibtisch nickte. Nach einem reichlich langen Augenblick des Schweigens erhellte der kleine Mann mit einem Knips des Schalters sein Gesicht und wurde ein alltäglicher Mensch mit scharf geschnittenen, gerissenen Zügen. „In den dreißiger Jahren haben Sie Streiks abgewürgt, soweit ich unterrichtet bin", fuhr Lowell sanft fort. „Heute aber sind nicht mehr die Dreißiger."
„Das ist mir bewusst."
Sie mochten einander nicht, das war nun offenbar, und keiner von ihnen würde es vergessen.
„Ich werde Ihnen zwei Leute schicken - zwei sehr tüchtige Leute", sagte James. „Die Polizei wird mit ihnen zusammenarbeiten." Dann fügte er einen wohlüberlegten Nachsatz hinzu: „Ihr Vater ließ aus Anaconda drei Mann kommen, um sie an die Spitze der Polizei zu stellen." Er wusste, dass Lowell dies nicht bekannt war, und vermochte nicht dem Verlangen zu widerstehen, den kleinen Triumph herauszuquetschen. „Das war zweiunddreißig." Sollte Lowell doch herumrätseln, ob sein Vater und dieser Mensch je miteinander zu tun gehabt hatten. „Jack Curzon - er ist doch noch immer Polizeichef?"
„Jawohl", sagte Lowell.
Bald darauf war er mit den restlichen Einzelheiten fertig und verließ das Büro. Er ging in die Astorbar, ein Lokal, das er hasste, trank drei Martinis und wurde davon betrunken. Dort las er auch das schwarzhaarige Mädchen auf. Er ging mit ihr Abendessen, und hernach zog er aus dem St. Regis aus und quartierte sich mit ihr im Bradly ein.
4
Es war viertel vor neun, als er beim Universitätsklub anlangte. Im Fahrstuhl, der zum Speisesaal hinauffuhr, erkannte er Francis Simpson wieder, dem er seit Paris 1934 nicht wieder begegnet war. Es war ein langsames Wiedererkennen, von einem Stock zum andern, da sie niemals besonders gute Freunde gewesen waren, sich nur vom College her kannten und sich später einmal im Ausland getroffen hatten. Simpson sah alt aus und hatte eine tiefe Falte im Fleisch unter dem Kinn -ein Mondgesicht mit Brille. Lowells Reaktion darauf, eine Art Mischung von Mitleid und Verachtung, entsprach der ziemlich starken Reaktion, die er auf dem einen und einzigen Treffen ehemaliger Schüler, dem er vor etwa vier Jahren beigewohnt, empfunden hatte.
Simpson hatte einen großen mageren Mann bei sich, den er Lowell als Herrn Bernstien vorstellte, und darauf luden beide Lowell ein, mit ihnen zu frühstücken. Ihre Aufforderung war nicht ernst gemeint, und Lowell hätte abgelehnt, wenn es ihm nicht so unsympathisch gewesen wäre, allein zu essen. Er setzte sich mit ihnen zu Tisch, bestellte Kaffee und Toast, und in der nächsten Viertelstunde hörte er fast ausschließlich ihrem Gespräche zu. Er ertappte sich dabei, dass er ganz unvernünftigerweise Simpson beneidete, der mit dem OWI (Anm.: Office of War Information — Kriegsinformationsbüro) zwei Jahre lang in Übersee gewesen war und jetzt eine Stellung beim Columbia-Rundfunk hatte. Bernstien, so entnahm Lowell dem Gespräch, war ein ehemaliger Hollywoodliterat, der jetzt für den Rundfunk arbeitete — irgendwelche Radioschriftstellerei, was es genau war, konnte er nicht herausbekommen —; nach ein oder zwei Bemerkungen aber, die nebenbei fielen, war er noch vor einem Jahr Oberst bei der Nachrichtentruppe gewesen. Sie unterhielten sich über ein spezielles Programm, und Lowell, der außer den Nachrichten und gelegentlich etwas Musik fast niemals Radio hörte, fand sich in eine ihm mehr oder weniger fremde Welt versetzt. Er erinnerte sich an ein Buch, das Lois gerade in der vergangenen Woche gelesen und ihm zur gelegentlichen flüchtigen Lektüre gegeben hatte. Er hatte es gelesen, wie er die meisten modernen Romane las: oberflächlich, uninteressiert, mit dem Endergebnis, dass schließlich kaum ein Eindruck haften blieb. Jetzt aber trat ihm einiges daraus wieder ins Gedächtnis, und als Simpson sein Gespräch plötzlich unterbrach und ihn fragte, was er denn täte, sagte er naiv: „Wie? Ich habe nicht zugehört, Francis."
„George ist Rentier", erklärte Simpson seinem Freund. „Er ist Millionär, einer der wenigen wirklichen Millionäre, die ich je gekannt habe."
Bernstien lächelte verlegen, und Lowell spürte ein überwältigendes Verlangen, sich über den Tisch zu lehnen und eine von Simpsons feisten Backen zu ohrfeigen. Er überwand den Impuls, grinste statt dessen Simpson schwächlich an und trauerte dabei dem Whisky sauer nach, den er bestellen wollte, aber ganz vergessen hatte. Er murmelte etwas über die Roten und das OWI und was sonst seiner Meinung nach Simpson erlebt haben musste, und Simpson grinste zurück und sagte zu Bernstien:
„Ich sagte dir ja. Er ist ein in der Wolle gefärbter Reaktionär, ist es immer gewesen."
„Francis ist kein Roter", sagte Bernstien. „Keineswegs. Er ist ein guter Liberaler, mit sehr entschiedenen Ansichten über eine Menge Dinge."
Lowell blieb gerade so lange wie schicklich, unterschrieb dann die Rechnung und ging. Als er auf die Straße kam, zitterte er vor Wut - etwas, das ihm seit langer, langer Zeit nicht passiert war.
5
Zur Abfahrtszeit, als er sich mit einem Buch, Zeitungen, einer Extrapackung Zigaretten und dem Geschenk für Lois im Salonwagen eingerichtet, als er dies alles und sich selbst dazu mit der Aussicht auf die bevorstehende einigermaßen langweilige Fahrt verschmolzen hatte, war sein Zorn verflogen, und er war bereit sich einzugestehen, dass es überall unsympathische Menschen gab und man ihnen unschwer begegnen konnte. Und später noch, wenn er genauer darüber nachdächte -was er bestimmt tun würde -, würde er sogar feststellen, dass diese beiden nicht unsympathischer waren als seine sonstigen Bekannten, und er würde sich fragen, wie er es bereits früher getan, ob er nicht etwa gegenüber allen Menschen seines Bekanntenkreises Abneigung entwickelte. Dieser Zeitpunkt trat ein, während der Zug noch auf seiner Hochbahnkonstruktion durch Harlem rasselte. Er betrachtete die Häuser mit der leeren Neugier der Tausenden, die täglich an ihnen vorüberfuhren; er stellte sich die Frage und beantwortete sie mit der mehr oder weniger objektiven Feststellung, dass Bernstien ein ganz angenehmer, ziemlich harmloser Mensch zu sein schiene und dass Simpson zu jener Sorte Menschen gehörte, die mit den Jahren sichtlich herunterkommen, trotz aller Mühe nichts erreichen und stets von Leuten wie George Clark Lowell umgeben sind — umgeben, doch ohne ein engeres' Verhältnis zu ihnen als das des Neides. Wenn es statt dieser beiden zwei andere gewesen wären, würde er wohl auf ziemlich die gleiche Weise reagiert haben, und er verfiel auf den flüchtigen Trost, dass er über Dinge solcher Art anders denken würde, wenn sein Sohn noch lebte.
Aber er wollte nicht an den Jungen denken; seitdem Elliott Abbott, übrigens mehr in Bezug auf Lois als auf ihn selbst, einmal bemerkt hatte, dass das Grübeln darüber zu einem schlimmeren Laster werden könnte als ein Rauschgift, seitdem versuchte er seine Gedanken sorgsam zu beherrschen. Lois würde sich über das Geschenk freuen, dachte er; es war ein schlangenartiger Schal für den Hals, aus schmiegsamem Goldgewebe, ein sehr schlichtes Stück und nicht zu teuer. Er würde ihn ihr im Auto geben, sie würde ihn heute zum Abendessen tragen und dann wahrscheinlich für mindestens ein halbes Jahr nicht wieder. Und trotzdem würde sie sich darüber freuen.
Der Wagen war fast leer, ein Halbdutzend Leute außer ihm - das Reisen auf der Eisenbahn hatte sich so rasch verändert, seit der Krieg zu Ende war! Als er sich ein- oder zweimal umgesehen hatte und überall dem sonderbar leeren Starren begegnet war, das die Amerikaner in der Eisenbahn und in öffentlichen Fahrstühlen anzunehmen pflegen, verlor er das Interesse ebenso, wie er das Interesse an den Mietshäusern entlang der Bahn verloren hatte. Er öffnete das Buch, das er gekauft hatte: die Kurzgeschichten von Ernest Hemingway in der Ausgabe der Modern Library. Er durchblätterte es und versuchte sich des Titels einer Geschichte zu erinnern, die er vor langer Zeit einmal gelesen hatte: von einem Ehepaar, das nach Afrika auf Löwenjagd gefahren war, und wie die Frau, ein Biest von Weib, ihren eigenen Gatten auf eine besonders scheußliche Weise ums Leben gebracht hatte. Auf welche Weise eigentlich, darauf konnte er sich nicht besinnen, aber er erinnerte sich an einen Satz des Inhalts etwa, dass die amerikanischen Männer im Jünglingsstadium verbleiben, bis sie plötzlich mitten in ihr reifes Alter geraten. Er fand die Geschichte nicht, die er suchte, aber jene Zeile blieb ihm im Kopf, und als er eine der Erzählungen zu lesen begann, waren seine Gedanken anderswo, und drei Seiten Wörter zogen an ihm vorbei, ohne dass er ihren Sinn im geringsten erfasst hätte.
Statt dessen dachte er daran, wie er seinen Sohn zum letzten Male gesehen hatte und wie so durchaus angenehm das Verhältnis zwischen ihnen gewesen war. Nach dem Urlaub zu Hause waren sie zusammen nach New York geflogen, und er hatte dem Jungen gesagt: „Wenn du mit einem Mädchen verabredet bist oder dich mit einem Mädchen verabreden musst oder möchtest, oder wenn du eins besuchen willst oder im Central Park herumlaufen möchtest, bist du eins triffst, das dir gefällt - dann sag es ruhig, ich finde dann schon meinen Weg allein nach Hause... "
Nein, der Junge war wirklich froh gewesen, mit ihm zusammen zu sein, darüber war damals gar kein Irrtum möglich. Sie waren von einer Größe und Figur und sahen mehr wie älterer und jüngerer Bruder aus denn wie Vater und Sohn. Zusammen traten sie aus dem Flughafengebäude heraus, gingen in dem warmen Sommernachmittag die 5. Avenue hinauf und verbrachten vor dem Mittagessen zwei müßige Stunden im Zoo. Und die ganze Zeit über war Lowell so stolz gewesen, an der Seite dieses hübschen jungen Burschen in Uniform zu sein, dass er glühte, als ob er verliebt und mit seinem Mädchen im Sonnenschein unterwegs wäre.
An jenem Nachmittag war sein Stolz ganz offenbar Besitzerstolz gewesen, und er hatte darin geschwelgt. Wenn sich die Leute nach seinem Sohn, nach Clark umdrehten, spürte er, wie es ihm um die Mundwinkel zuckte. Beim Essen bemerkte er ein Mädchen, das sie übers ganze Restaurant hinweg ungeniert anstarrte, und als Clark zu ihm aufsah, trafen sich ihre Blicke im Bewusstsein gemeinsamer Schuld.
Aber da seine Gedanken nun auf diesen Nachmittag geraten waren, versank er in ihnen wie ein erschrockener Flüchtling, der vor seinen Verfolgern ohne Überlegung in einem Sumpfe Zuflucht sucht und sich dort in der Falle sieht. Der Schaffner half ihm auszubrechen, und als seine Fahrkarte gelocht war, fragte Lowell, wo der Speisewagen wäre.
„Drei Wagen weiter vorn", sagte der Schaffner.
Er ließ den Schaffner nicht los: „Ich erinnere mich, dass es vor einem Jahr in den Zügen noch anders aussah."
„Heute ist das Reisen bequem", stimmte ihm der Schaffner bei. „Warten Sie ab, um die Feiertage wird es wieder voller."
Dann war Lowell so weit, dass er aufstehen konnte. Er ging nach vorn in den Speisewagen, fand einen leeren Stuhl und bestellte einen Whisky-Soda; dabei überlegte er, dass diese Speisewagen wenigstens ein unveränderlicher Faktor des Lebens wären, das er kannte, der Gesellschaft, der er angehörte. Sie veränderten sich niemals, die Gesichter darin waren stets dieselben. Er zwang sich dazu, in den inhaltsleeren mittelältlichen Mienen von Geschäftsreisenden, kleinen Angestellten, Rechtsanwälten und Agenten - grauer Noppen und braunes Kammgarn, schlecht oder gar nicht geschminkte Frauen - nach Sicherheit zu suchen. Er zog Beruhigung daraus, und als sein Trunk kam, war er imstande, ein Heft des Life in dem schwarzen Einband der New York, New Haven und Hartford-Eisenbahn zu öffnen, sich die Bilder anzusehen und an seinem Glase zu nippen, genau so normal wie jeder andere im Wagen.
6
In Northampton erwartete ihn Lois mit dem Auto, und Lowell war ehrlich erfreut, sie zu sehen, war sogar begierig auf die fünfundvierzig Meilen Fahrt, die vor ihnen lagen. Der erste Blick auf seine Frau, die neben dem Wagen stand, gab ihm Sicherheit. Sie war nur zwei Jahre jünger als er, hatte aber ihre Figur bewahrt; das Fleisch hatte gehalten, ohne Büstenhalter und Hüftgürtel; und wenn er sie sah - immer beim ersten Anblick, selbst wenn er sie, wie jetzt, erst vor anderthalb Tag zuletzt gesehen hatte -, erschien sie ihm jugendlich, überraschend jugendlich. Sie war eine langgliedrige Frau mit grauen Augen, lichtbraunem Haar und einem sehr guten Teint. Ihr ungewöhnlich breites Gesicht, die lange, gerade Linie ihrer Brauen störten zunächst ein wenig; sie war nicht hübsch im üblichen Sinne, und manchmal erschien sie als geradezu reizlos, aber die Männer sahen sie doch wieder und wieder an - und wenn das ruhevolle, beinahe kuhhafte Gesicht aufleuchtete, sich belebte, dann war sie im vollsten Sinne eine anziehende Frau. An diese zeitweilig erscheinende königliche Eigenart erinnerte sich Lowell von dem ersten Male an, da er sie überhaupt gesehen hatte, und es war diese selbe Eigenart, die nun ein so dringendes Bedürfnis in ihm stillte.
Sie waren schon unterwegs, bevor noch der eine oder andere mehr als ein Wort oder zwei gesprochen hatte. Sie liebte es, den Wagen zu lenken, fuhr schnell ohne zu hetzen und war, nach stillschweigendem Einverständnis beider, ein besserer Fahrer als er. „Fern brauchte den Zweisitzer", sagte sie, um den großen viertürigen Buick zu entschuldigen, aber er war froh darüber, über seine Geräumigkeit und Wärme. „Ich glaubte, es würde schneien", sagte sie. „Es sah dauernd nach Schnee aus. Hat es in New York geschneit?"
„Nein... nein", sagte er, dachte sogleich an das Geschenk und fügte hinzu, dass er ihr etwas mitgebracht hätte. „Willst du es hier oder zu Hause?"
„Hier natürlich." Sie legte ihm abwehrend die Hand auf den Arm und fügte hinzu: „Warte, ich möchte raten."
„Es wird dir nicht gelingen, ich glaube nicht. Ich sah es zufällig und kaufte es sofort. Als ich es sah, dachte ich gleich, dass es dir gefallen müsste."
„Du hast es in der Tasche, also ist es ziemlich klein. Ein Buch ist es nicht. Warum hast du dir die Geschichten Hemingways als Lektüre gekauft, wenn du sie so wenig magst?"
Er holte den Schal hervor und legte ihn ihr übers Knie. Mit raschen, methodischen Blicken sah sie ihn sich an, schätzte seinen Wert ab und protestierte nicht, wie es eine andere wohl getan hätte, weder gegen das Geschenk noch gegen den Preis. „Leg ihn mir um den Hals", sagte sie; er tat es und bemühte sich dabei, sie nicht aus dem Fahrttempo zu bringen.
„Er ist reizend", sagte sie. „Ich danke dir. War die Reise ein Erfolg?"
„Wenn du so etwas Erfolg nennst. Ich traf den Mann, den ich treffen wollte, und habe mit ihm gesprochen."
Mit einem Blick zur Seite sah sie seinen herabgebeugten Kopf, das Aufflammen eines Streichholzes, und der Rang seiner Persönlichkeit wurde ihr bewusst, der Gedanke, dass sie glücklich war, in ihrem Alter noch zu lieben. Der Abend fiel auf die buschige Landschaft von Neu-England. Sie knipste die Scheinwerfer an, schluckte und sagte bedächtig:
„Ich mag das Wort nicht, George, es ist ein abscheuliches, ein schmieriges Wort — und man nennt uns so und zieht damit über uns her; aber waren die Leute, wegen derer du in die Stadt gefahren bist, Streikabwürger?"
„Warum?"
„Warum ich dich frage, George, oder warum mir so etwas einfällt?"
„Ich möchte bloß wissen... "
„Ich denke über mancherlei nach", sagte sie ungeduldig. „Elliott war es nicht, George. Aber seitdem diese Geschichte im Gange ist, frisst sie dich auf. Es ist nichts für uns. So etwas passt nicht zu uns."
„Ich glaube auch, dass es nicht zu mir passt." Er zog mit dem Finger Linien auf der Schutzscheibe. „Zu meinem Vater hätte es gepasst — meinst du das etwa? Aber nicht zu mir!"
„George!"
„Sie sind keine Streikabwürger", sagte er, und ein Klang von Müdigkeit kam in seine Stimme. „Wie kommst du auf solche Gedanken, Lois? Früher hat es so etwas gegeben, glaube ich, aber heutzutage kommen diese Dinge nicht mehr vor. Ich war etwas aus dem Geleise geraten, ganz wie du sagst. Wir sind keine Morgans oder Du Ponts oder Tom Girdlers, und ich habe auch keine besondere Lust, ihnen nachzueifern. Ich fühlte mich unsicher, weiter nichts; im Werk sprach ich mit Tom Wilson darüber, und er meinte, dass ich mich einmal an diese Leute wenden sollte, wenn auch nur der Vorsicht halber - um einige notwendige Schritte im voraus zu tun und späteren Unannehmlichkeiten vorzubeugen."
„Aber was sind das für Leute, mit denen du gesprochen hast?"
Es bedrückte ihn, dass er es selbst nicht genau wusste, dass er als Antwort eine Ausflucht gebrauchen musste. „Industrieberater, was, wie ich glaube, alles umfassen kann. Ich glaube, es umfasst auch alles. Diese Leute sind Spezialisten in Arbeitsfragen. Sie fassen die Probleme, die ein Streik stellt, unter der Kategorie des Schutzes auf, Schutz der Streikenden sowohl wie Schutz des Betriebs. Beides gehört zusammen, musst du wissen. Ich würde sie nicht Streikabwürger nennen, Lois. Sie schicken zwei Mann herauf... "
„Nur zwei Mann?"
„Ja, mehr nicht, keine ganze Armee." Er wandte sich ihr zu, zornig im Moment, wobei ihm bewusst ward, dass er sich schon den ganzen Tag über gewünscht hatte, mit Anstand auf jemand zornig zu sein. „Wofür hältst du mich denn? Du weißt doch genau, wie ich über diese verdammte Fabrik denke! Du weißt, was ich stets davon gehalten habe."
„Ich weiß, George."
„Was immer mein Vater tat, damals war eine andere Zeit, ein anderes Jahrhundert. Als sie das Land hier aufbauten, waren sie nicht wählerisch."
„Ich weiß, George", sagte sie; „es tut mir leid, dass ich überhaupt davon angefangen habe."
Er steckte sich noch eine Zigarette an und sank ins Schweigen zurück. Er konnte bei einem Zwischenfall wie diesem kindisch genug sein sich vorzunehmen, dass er nichts mehr sagen wollte, bis sie zuerst spräche, und die Einsicht, dass sie das durchschaute, erbitterte ihn noch mehr. Es war jetzt ganz dunkel geworden; das Gewoge der Vorberge, die Steinmauern und spärlichen Felder verschwammen in den Abend von Massachusetts; über dem scharfen Lichtkegel der Scheinwerfer zeigte sich ein kläglicher Streifen Rosa, den die sinkende Sonne hinterlassen hatte. In regelmäßiger Folge durchfuhren sie die kleinen Städte, Perlen auf einem Halsband von Beton, folgten der Straße, die sich in die Vorberge hinaufwand, und waren fast zu Hause, bevor Lois sagte:
„George, hatte Clark ein Mädchen?"
Er hatte ein wenig geschlummert; er wurde wach, ohne seinen Kummer noch zu spüren, und versuchte, in dieser neuen Richtung zu denken.
„Ein Mädchen? Ich glaube wohl - ich glaube sogar, eine ganze Menge."
„Ich meine, hatte er eine besonders intime Freundin? Ein Mädchen, von dem wir nichts wussten?" Sie kamen an die Kreuzung, wo sie entweder geradeaus in die Stadt und am Werk vorbei oder rechts einbiegen und ohne Umweg nach Hause fahren konnten. „Du hast nichts dagegen, wenn ich gleich nach Hause fahre?"
„Ich möchte sogar, dass du es tätest", sagte er. „Was ist mit heute abend?"
„Ich habe Elliott und Ruth zum Essen gebeten."
„Wird Fern auch da sein?"
„Sie hatte die Absicht. Ich meinte, ein Mädchen aus der Stadt, George."
„Ich weiß es nicht. Und was könnte sich auch dadurch ändern?"
„Nichts Besonderes, nehme ich an, aber mir selbst würde es doch etwas bedeuten. Ich möchte gern Bescheid darüber wissen. Ich möchte wissen, wer sie war und wie sie aussah. Möchtest du es nicht wissen?"
„Nicht besonders dringend", sagte Lowell.
„Wir hatten Frau Delara bei uns, sie näht ein Kleid für Fern, und sie begann von einem italienischen Mädchen zu erzählen, hier in der Stadt, das mit Clark herumgelaufen sein soll. Es scheint, dass ein Haufen Leute in der Stadt Bescheid darüber wissen, und ich meinte, dass ich das Mädchen einmal sehen und mit ihr sprechen müsste... "
Sie sah ihn immer wieder von der Seite an, und Lowell konnte merken, dass sie sich unsicher fühlte, in Gefühl und Erinnerung schwelgte und in der Vergangenheit nach Dingen suchte, die es in Wirklichkeit gar nicht gegeben hatte.
„Warum nicht, wenn du es möchtest", sagte er.
„Ich habe Frau Delara gebeten, sie für morgen zum Tee zu uns zu bitten."
Sie bogen in die Umfriedung des Hauses ein. Das Licht der Scheinwerfer hob den basaltnen Fahrweg heraus, den Strauchgarten und dann den einen Flügel des großen, weiträumigen Hauses im Kolonialstil, in dem die Lowells schon weit länger als ein halbes Jahrhundert wohnten.
7
Fern, die etwa eine Stunde früher nach Hause gekommen war, begrüßte Lowell, als er ins Haus trat, warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn ab. In der Tat, es war vier Tage her, dass er sie zuletzt gesehen hatte; zu manchen Zeiten kreuzten sich ihre Wege einfach nicht, und dies war eine jener Zeiten, was Lowell daran merkte, wie sorgfältig seine Frau jede Erwähnung der Tochter vermied. Seit dem letzten Frühjahr schon, da die Leute, die das Bennington College leiteten, Lowell zu verstehen gegeben hatten — höchst diplomatisch, doch sehr entschieden —, dass es für alle Beteiligten besser wäre, wenn seine Tochter woanders hinginge, hatte er sich geweigert, die Wirklichkeit des neunzehnjährigen hübschen, schlanken Mädchens anzuerkennen. Er brauchte Fern, und dabei ließ er es bewenden; seit Clarks Tod brauchte er sie mehr denn je, und Lois wusste das ebenso gut wie er selbst. Wenn tatsächlich etwas an ihr auszusetzen war, dann vermochte er es unter Berufung auf die persönliche Beobachtung beiseitezuschieben, dass er nur für das einstehen konnte, was er selbst sah - und er sah nur, was er sehen wollte. Fern war mittelgroß, schlank, hatte eine sehr gute Büste, einen Schopf sehr schwarzen Haares, das sie kurz geschnitten trug, und gute Beine; sie hatte einen Zweisitzer mit Verdeck, den er ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, blaue Augen, die Mitgliedskarte des Revere-Landklubs, eine sanfte Stimme; sie besaß Aktien, Obligationen und verfügbare Mittel im Werte von anderthalb Millionen Dollar, die ihr zufielen, sobald sie einundzwanzig Jahre alt war. Außerdem war sie jemand, an dem George Clark Lowell mit inniger Liebe hing.
Arm in Arm gingen sie die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. „Ich war heute skilaufen", sagte sie, „ob du es glaubst oder nicht. Fünfzig Meilen weiter weg liegt Schnee. Warum bist du nicht mitgekommen, anstatt nach New York zu fahren?"
„Weil ich nicht eingeladen wurde", lächelte er. „Bist du allein gefahren?"
„Ich hatte mir Dave aus dem Klub mitgenommen - und die ganzen hundert Meilen hat er mich begrabbelt, während ich gefahren habe. Scharf, was? So ist die heutige Generation eures Geschlechts."
Er wusste nicht, wer Dave war. Wenn sie so etwas sagte, fand er weder eine Zurechtweisung noch eine Antwort noch überhaupt eine Verbindung mit ihr, und so sagte er bloß: „Zieh dich jetzt an, Fern; Elliotts kommen gleich zum Essen."
„Ich bin hernach noch verabredet", sagte sie. „Warum habt ihr nicht gesagt, dass Elliott kommt?"
8
Genau sieben Minuten nach sechs - vorausgesetzt, dass nicht das Wetter oder eine unvorhergesehene Änderung des Flugplans dazwischenkam - war auf der Hauptstraße von Clarkton das Flugzeug von Boston nach dem Westen zu hören. Zwölf Minuten vor sechs lief der Abendzug von Worcester ein, und vierzehn Minuten nach sechs gewöhnlich klang vom Turm der katholischen Kirche ein kurzes Glockengeläute herab - letzteres die einzige individuelle und besondere Lokalsitte, und dazu noch eine, die auf den Krieg zwischen den Staaten zurückging. Irgendwann innerhalb dieses annähernd gekennzeichneten Zeitraums - volle anderthalb Stunden, bevor die Familie Lowell der gleichen Gewohnheit huldigte — setzten sich die meisten der zweiundzwanzigtausendundsoundsoviel Einwohner Clarktons an ihre Abendmahlzeit, die von den meisten Abendbrot, von einer Minderheit Mittagessen genannt, aber, wie auch immer bezeichnet, von fast allen um dieselbe Zeit eingenommen wurde. An diesem Abend des sechsten Dezembers 1945 waren um diese Zeit die Straßen fast leer: die Hauptstraße, die in das Tal tauchte und es von dem alten Mühlteich an dem einen bis zur großen Eisenbrücke am andern Ende in zwei Teile zerschnitt; die Querstraßen, die der Hauptstraße das waren, was die Gräten dem Rückgrat eines Fisches sind, und die vier weiteren Straßen - oder Avenuen, wie sie genannt wurden -, die parallel zur Hauptstraße verliefen. In einem anfänglichen Versuch, historische Erinnerungen zu pflegen, war die Hauptstraße Concordweg getauft worden, aber mit der großen Fabrik kam der Sinn fürs Praktische auf, und die parallelen Avenuen wurden einfach als Erste, Zweite, Dritte, Vierte Avenue bezeichnet, während die Querstraßen ganz farblos nach Bäumen benannt wurden: Linde, Kastanie, Ahorn und so weiter.
Ein scharfer, kalter Wind von den Berkshires her hatte den drohenden Schnee fortgeblasen, statt dessen aber Kälte herangeführt, die beißende Winterkälte, die die Sterne wie in einen Bühnenhimmel einzufrieren scheint. Die meisten Kaufleute hatten an diesem Abend ihre Läden früh geschlossen, sie wussten, dass es kein Abend zum Einkaufen war noch einer werden würde, und als sie ihre Beleuchtung abstellten, wurde an jenem Ende des Concordweges, wo das Haupttor des Werks war, der Schein der rotglühenden Salamander stärker sichtbar, als lagerten irgendwelche Truppen dort unten im Tal den Mühlteich entlang - in dem prächtigen Rahmen von Sternen und stürzenden Bergen verlieh er der phantasievollen Deutung größere Wirklichkeit.
Joe Santana, dessen Friseurladen an der Ecke Concordweg und Lindenstraße wohl der beste in der ganzen Stadt war - wenn man bedenkt, dass er nur rasierte und Haare schnitt -, hatte bereits die Jalousien vor dem Schaufenster heruntergelassen und die Ladentür abgeschlossen. Ein schmächtiger Bursche mit etwas groben Gesichtszügen saß im Frisierstuhl, und Joe, mit dem Ausrasieren fertig, war gerade bei jenen scheinbar absichtslosen letzten Handgriffen, die das Geheimnis des guten Haarschnitts sind und gewissermaßen die eigentliche Kunst des Friseurs ausmachen. Der Bursche in dem Stuhl trug Uniform mit aufgenähtem Entlassungsabzeichen und genug Übersee-Dienstspangen daran, dass drei Jahre Dienstzeit herauskamen. Es war warm in dem Laden, und aus dem Hinterzimmer, wo die Familie Santana wohnte, drang der angenehme Duft von Kalbsbraten und brutzelnder Tomatensoße herein. Joe sagte etwas — mit manchen Kunden unterhielt er sich stets, mit andern überhaupt nicht —, als ihn der junge Mann unterbrach, vom Essen sprach, den Duft lobte und feststellte, was für eine verflucht kalte Nacht es geben würde.
„Bleib doch zum Essen", sagte Joe. „Nein, ich bin drüben im Midland verabredet." „Johnny", sagte Joe ernst, „du hast Ameisen, du hast Nadeln in den Bauch gekriegt; du hast dich wer weiß wohin verstiegen und kannst nicht wieder herunter."
Der junge Mann zuckte die Achseln.
„Du weißt, was das Wesen dieser Sache ist, der Kern deines Problems", fuhr Joe fort. „Ich habe versucht, es dir zu erklären. Ich habe vielleicht fünfzig Fälle wie den deinen kennen gelernt, direkt hier in der Stadt. Wenn es ein einziger wäre, würde es ein Rätsel sein; bei fünfzig aber lege ich eins zum andern und kann verallgemeinern."
„Und worauf bist du dabei gekommen?"
Joe nahm das Handtuch ab und schüttelte den weiten Umhang aus. „Fertig. Auf Ziellosigkeit bin ich gekommen, auf Apathie und Gleichgültigkeit. Ihr wisst nicht, wo ihr hin sollt, was an sich ganz recht ist - nein, nicht ganz recht, doch eben verständlich. Aber was schlimmer ist, ihr wisst auch nicht, wo ihr gewesen seid. Ihr wart mitten in der größten Prüfung, die die Menschheit je durchgemacht hat; aber was bedeutet sie für euch?"
„Schlechte Träume", grinste der junge Mann.
„Eben... " Es klopfte jemand an die Tür, und Joe sagte: „Eben... einen Augenblick, ich bin gleich fertig. Man sagt so etwas dahin, und dann kann es von großer Bedeutung werden." Er öffnete die Tür. Ein riesenhafter Mann in schwarzem Mantel trat ein. Joe schloss die Tür ab und sagte in einem Atemzuge: „Hallo, Doktor. Hier braucht einer einen Arzt, nicht gerade von deiner Sorte, einen für den Kopf, sagen wir mal. Er hat schlechte Träume und Nadeln im Bauch, aber was er braucht, ist weniger ein Arzt als ein bisschen Verständnis. Habe ich recht?"
„Ich weiß, dass du schon oftmals recht hattest", sagte der Mann. Er maß mindestens sechs Fuß vier Zoll und war entsprechend gebaut, hatte einen großen Kopf, eine vorspringende Nase und eine Mähne eisengrauen Haars. Die Leute sagten von Dr. Elliott Abbott, dass er aussähe wie Winant, der Botschafter am Hofe von St. James, aber das war bloß eine oberflächliche Ähnlichkeit, und seine Frau verglich ihn ein bisschen romantischer mit Ernest aus Hawthornes Erzählung vom alten Mann im Gebirge. Wie es auch sein mochte, er war ein großer und imponierend aussehender Mann, groß in Zügen und Gestalt, mit dunklen Augen, borstigen Brauen, bärenhaft in seinem Gang, aber überraschend sanft von Stimme. Er legte Hut und Tasche ab, hängte Mantel und Rock auf, lockerte den Schlips, kletterte mit einem Seufzer der Erleichterung in den Stuhl, schnüffelte tief und gähnte dann weit.
„Wohin ich auch kommen mag, ganz egal wo, ich kriege nirgends so ein Essen, wie ich es hier rieche. Ich habe es erlebt, dass du recht hattest, Joe."
„Also! Kann ich mir noch einen besseren Zeugen wünschen? Du bleibst zum Essen, Doktor. Johnny, hast du die Literatur gelesen, die ich dir gegeben habe?"
„Ich kann nichts lesen außer dem humoristischen Teil einer Zeitung. Joe, wenn Pater O'Malley mich nicht bekehren kann, wie weit glaubst du denn, dass du kommen wirst?"
„Wir haben verschiedene Standpunkte. Lies nur das Zeug. Das ist alles, Johnny, mehr verlange ich nicht." Er ließ ihn aus dem Laden, schloss die Tür hinter ihm ab und wandte sich an den Arzt.
„Bleibst du zum Essen?"
„Heute abend nicht", sagte Abbott. „Dieser Junge braucht mehr, als du ihm geben kannst, Joe. Er ist krank, körperlich . krank."
„Allerdings. Aber er braucht auch was, woran er sich halten kann, irgendwas." Er legte dem Doktor den Umhang um. „Rasieren?"
„Rasieren, ja. Ich habe fünfzehn Minuten Zeit, bis Ruth mich hier abholt. Was hast du gehört?"
„Andeutungen - nichts als Andeutungen. Es ist ein merkwürdiger Streik, aber nach dem, was ich gelesen habe, sind im ganzen Lande merkwürdige Streiks. Es sieht seltsam aus, als ob es ihnen angenehm wäre, dass die Leute streiken. Sechs Tage Streik, und nichts passiert. Alle sind die Milde selbst. Sogar Lowell ist mild wie ein Hustenbonbon, nach dem, was ich höre."
„Glaubst du, Lowell ist ein Scharfmacher, Joe?"
„Ich weiß es nicht. Ich habe nur eine Einstellung zu einem Unternehmer, Doktor, nur eine einzige. Ich verallgemeinere von einer ganzen Menge. Neulich abends saß ich mit Hannah zusammen, und da haben wir ausgerechnet, dass ich in dreiundvierzig Stellungen gearbeitet habe - in einundzwanzig Staaten. Das macht mich doch zu einer Schatzkammer von Erfahrung, was?"
„Ich beneide dich", sagte der Arzt.
„Klar, aber nimm einmal diesen Fall... " Ein Mädchen von sieben Jahren kam von der Stube herein und wollte wissen:
„Mama fragt, wie lange noch?"
„Zehn Minuten. Sag ihr, der Doktor ist hier." Der Schaum war aufgetragen, er tat die ersten Striche. „Ich weiß nicht, die Füße tun ihr weh. Ich erzähle ihr, sie sollte nicht soviel auf den Füßen sein, aber sie sagt, ich sollte meinen Kopf gebrauchen, dafür seien die Füße doch da. Was ich vorhin meinte, war, dass dies hier eine neue Situation ist. Beispiellos, obgleich ich das Wort nicht leiden kann, es ist ein gefährliches Wort. Aber alles ist anders, und wir irren uns, wenn wir erwarten, dass etwas genau so wäre wie früher."
„Sag ihr, sie soll morgen in die Sprechstunde kommen."
„Ja. Aber beispiellos heißt nicht außerhalb der Regel. Alles ändert sich. Ich begreife es nicht, aber ich werde dahinter kommen. Manchmal glaube ich, schon meinen Finger drauflegen zu können. Doch die Situation ist apathisch. Fünfhundert Streikposten sollten sie an jedem Tor haben, stattdessen haben sie zehn. Es sieht aus wie die reinste Liebe, aber mein Instinkt sagt mir, dass es nach Mord und Totschlag riecht. Liebe und Hass sind Zwillingsgeschwister - hat Dante das nicht gesagt? Ich habe Dante nie gelesen; ich werde es eines Tages tun, und inzwischen zitiere ich ihn - es schmeichelt meinem Stolz auf die nationale Abstammung."
„Wieso zitierst du ihn, wenn du ihn nicht liest?" wollte Abbott wissen.
„Keiner liest ihn, deshalb zitiere ich ihn. Ich gebe ihm gleichviel dichterische Vision und gesunde ökonomische Einsicht. Ich versuche, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn der Volksdichter einer großen Nation etwas nicht gesagt hat, das er hätte sagen sollen — ist es etwa mein Amt, ihn zu verkleinern?"
Seine Frau kam heraus, eine dralle Person von etwa dreißig Jahren mit rundem Gesicht. „Ich konnte euch drinnen hören", sagte sie, „aber nicht des Doktors Standpunkt. Du erlaubst ihm, ja und nein zu sagen, Joe. Das ist ein Zugeständnis. Doktor, Joes Überlegungen stimmen, bis es sich um etwas Praktisches handelt. Er möchte, dass ich meine Füße nicht mehr gebrauche. Er sagt: ,Geh auf deinen Händen, und alle Probleme sind gelöst'."
Das heiße Handtuch lag auf seinem Gesicht, deshalb hörte Abbott nur verschwommenes Gesumme. Grinsend kam er aus dem Stuhl und sagte Hannah Santana, dass ihm ein Uhr, während der Sprechstunde, passen würde, außerordentlich passen würde. Sie hielten große Stücke auf ihn, man sah es an der Art und Weise, wie sie ihm in Rock und Mantel halfen, als die Hupe draußen ertönte.
Als er sich neben seine Frau in den Wagen setzte, stellte er fest, dass ihn das, was im alten Neu-England eine „fertig gekaufte Rasur" genannt wurde, mehr belebte als ein anregender Trunk. Er drängte sich mit seiner gewaltigen Masse an sie, eine sehr zierliche Frau mit hellen Augen, Stupsnase und sommersprossigem Gesicht, bis sie sagte:
„Zerquetsch mich bloß und mach auch noch den Wagen kaputt." „Ich versuche doch, meine Liebe zu zeigen... " „Ich danke dafür, Elliott", sagte sie. „Du wirst dich heute abend in acht nehmen bei dem, was du sagst? Es ist für George ebenso schlimm wie für dich."
9
Indes, sie waren alte Freunde, und dieser Abend spiegelte es wider.
Vor langem, im College - es war Amherst und zu einer Zeit gewesen, die schon wie ein Traum war, eine andere Epoche und eine andere Welt -, hatte einer der Professoren, welcher, konnte Lowell sich nicht erinnern, über Freunde etwa gesagt, dass man sie nicht sammeln könnte. Das war verwirrend für einen jungen Studenten, der mehr Freunde hatte als die meisten andern, und weil es so verwirrend war, blieb ihm der epigrammatische Schluss eines nach seiner damaligen Auffassung alten Mannes lange Zeit im Gedächtnis. Später kam Lowell aus eigener Erfahrung zu der Erkenntnis, dass manche Männer zwei, manche einen, die meisten aber gar keinen Freund haben. Er brauchte viele Jahre, bis er bewusst erfasste, dass seine eigene tiefinnerliche Einsamkeit von fast allen Männern, die er kannte, geteilt wurde, und da er eines absichtlichen Zynismus unfähig war, zog er sich noch weiter in sich zurück. Seine Frau, Lois, wusste das und vermutete auch, dass es aus gewissen Ängsten herrührte, obgleich sie nicht zu sagen vermochte, welcher Art diese Ängste waren. Jedenfalls erkannte sie Elliott Abbott als das an, was er George bedeutete - und ihr auch.
Ihre Freundschaft war in den letzten fünf Jahren zu voller Reife gediehen. Sie waren Kinder in Clarkton gewesen, waren zusammen aufgewachsen und im College gewesen und waren dann getrennte Wege gegangen. Aber vor fünf Jahren, als Lowells Vater gestorben war und er seine Familie nach Clarkton gebracht hatte - zunächst nur für kurze und unbestimmte Zeit -, da war Elliott Abbott dort mit der soliden, anstrengenden Praxis eines Kleinstadtarztes, ein ungeheuer großer grauhaariger Mann, der mild und sarkastisch zugleich das Leben hinnahm, wie es kam. Es war ganz natürlich, dass sie sich häufig trafen. Dadurch wurden sie, ohne dass einer von beiden getrieben hätte, sehr nahe und gute Freunde.
Zum Teil war sie eine Frucht von Lois' Bedürfnis, in Clarkton eine Art Gesellschaftsleben zu führen. Ihr Snobismus stand unter grimmiger Selbstkontrolle, wurde von ihr bekämpft, war aber doch vorhanden und wurde noch genährt durch die Atmosphäre einer Fabrikstadt, deren ganzes Leben um ein einziges Werk kreiste. Die Stadt lebte in verschiedenen Schichten - und hielt sie um so strenger ein, als ihre Bewohner diese Schichtung niemals zugaben. Grob gesehen gab es drei Klassen: die Arbeiter, die die große Mehrheit der Bevölkerung bildeten - geborene Neu-Engländer, Italiener, Polen, Portugiesen, Neger und Juden, schwach durchsetzt von französischen Kanadiern; den Mittelstand -Ladeninhaber, Garagenbesitzer, Versicherungsagenten, Grundstücksmakler, der Sägewerkbesitzer, ein Teil der Werkmeister, Abteilungsleiter, der Ziegeleibesitzer, zwei der fünf Anwälte, alle sechs Ärzte, einschließlich Elliott Abbott, und ein großer Teil der zweiunddreißig Leute, die in der einen oder anderen Eigenschaft im Dienste der neunzehn Kirchen standen; diese und die anderen nicht weiter aufgeführten waren ähnlicher nationaler Herkunft wie die Arbeiter. Und schließlich gab es das, was sich selbst für die Oberklasse Clarktons hielt: die beiden Werkdirektoren, die Bankiers des Ortes - fünf, einschließlich der Vizepräsidenten - , drei der fünf Anwälte, darunter ein Richter, der Präsident der Sparkling-Light, einer kleinen Sodawasserfabrik für diesen Teil von Massachusetts, und dazu ein halbes Dutzend anderer Leute, die aber nicht alle fest eingeordnet, nicht alle für ständig aufgenommen waren.
Das Entzücken dieser Menschen, die jüngeren Lowells wieder in ihrer Mitte zu haben, war allzu deutlich; sie zogen sie an ihr Herz, aber Lois hatte nicht den Wunsch, gezogen zu werden, und Lowell selbst war peinlich berührt und fühlte sich unbehaglich. Er war noch niemals in einer Situation gewesen, wo er gesellschaftliches Entgegenkommen hatte zurückweisen müssen, noch war er sich jemals eines solchen Verlangens wirklich bewusst gewesen. Er überließ es Lois, die gut oder schlecht damit fertig wurde, je nachdem, wie man es ansah. Aber ihr war es eine Notwendigkeit, ebenso sehr wie es eine Notwendigkeit war, sich den einzigen Menschen in der Stadt zu bewahren, mit dem sie sich wohl und behaglich fühlte, Elliott Abbott. Ihrer beider Intimität mit den Abbotts wuchs, wie sich die Kluft zwischen ihnen und der obersten Schicht von Clarkton weitete. Die beiden bedeutenden - und für die Stadt aufregenden - Ereignisse in dem mehr oder weniger regelmäßigen Fluss ihres Lebens während der Kriegszeit, der Tod ihres Sohnes Clark und der Ausschluss ihrer Tochter Fern aus dem Bennington College, hoben sich sozusagen in ihrer Wirkung auf. Nach dem ersten gab es viele formelle Sympathiebezeigungen, aber auf keine schienen die Lowells mehr als oberflächlich zu reagieren; dementsprechend gab es nach dem zweiten ein beträchtliches Maß von Genugtuung wie auch von Klatschereien — vieles davon die reine Bosheit, vieles davon ganz ohne Grundlage irgendwelcher Tatsachen; aber die Schärfe wurde abgestumpft, weil die Lowells in der Lage waren, ihr Leben in genau der gleichen Weise wie vorher fortzusetzen. Immerhin bestand kein Zweifel, dass diese beiden Ereignisse, im Verein mit dem Krieg, im Verein mit der tiefen Freundschaft sowohl zwischen Lowell und Abbott als auch zwischen Lois und Ruth Abbott, dazu beitrugen, dass die Lowells in ihrem großen alten Kolonialhaus, das drei Meilen jenseits des Mühlteiches und des Werks am Concordweg, lag, wohnen blieben.
10
Der erste Schluck seines Martinis setzte in Lowell einen Prozess der Entspannung in Gang; die Wärme tröpfelte in ihn hinein und breitete sich aus. Abbott hob das Glas: „Salud!" „Wenn ich gewusst hätte, dass du kommen würdest, Elliott", sagte Fern, „dann hätte ich mich nicht verabredet. Ich hätte mich nicht von der Stelle gerührt; da hätten sie mit Dynamit kommen müssen." Der Trunk brachte Lowell erst eigentlich nach Hause. Er war sehr müde heute abend. „Je älter ich werde", sagte Lois, „desto mehr wünsche ich mir Schnee. Auf weiße Weihnachten bin ich versessener als ein neunjähriges Mädchen." „Wir haben noch den alten Schlitten", sagte Ruth Abbott, „es fehlen nur die Glocken daran." Müdigkeit und Martini vermischten sich wohlig miteinander. Wenn Lowell einen Martini mixte, nahm er acht Teile Wacholder und einen Teil Wermut. Er fühlte sich jetzt wie ein Mensch in uralten Zeiten, der aus einem Unwetter kommt und in seine Höhle kriecht. „Erinnert ihr euch", sagte Fern, „als ich klein war, habt ihr mich im Schlitten ausgefahren", und Lowell blickte mit einem Gefühl der Bestürzung zu ihr hin; der warme Klang ihrer dünnen Stimme erweckte Zeiten, die in der Rückschau schöner waren als die vier Jahre, die sie in Südfrankreich verbracht hatten. Er trank, und es drängte ihn, seinen Arm um Fern zu legen, behutsam und voll Zärtlichkeit, aber sie war jetzt auf der anderen Seite des Zimmers und hing an den Worten, die Elliott sagte. Er stand seltsam festgewurzelt am Kamin, sah in das hübsche alte Zimmer, auf die beiden echten Audubons an der Wand, die unverwüstlichen Mahagonimöbel, die tiefe Couch. Elliott erzählte Fern vom Winter 1927, der, wenn man ihn hörte, der schlimmste Winter aller Zeiten gewesen sein musste. „Da steht der Mensch gegen seinen schlimmsten Gegner, Ferney", sagte er; „es ist die Kälte des Weltenraums, die von der Eiskappe herunterkriecht, und dahinter sind Millionen Meilen des Nichts, das uns seine Fragen aufgibt." „Irgendeine besondere Frage?" „Unsere Träume sind groß, und wir sind sehr klein." Lowell begegnete den Augen seiner Frau, rüttelte sich wach und begann die Gläser zu füllen. Ruth und Lois sprachen träge über nichts. „Ich hatte einen Ford Modell T", fuhr Elliott fort, „du wirst den Typ nicht kennen, weder aus der Wirklichkeit noch aus der Sage - und beide hatten es in sich, das kannst du mir glauben -, aber der Kern war die Tatsache, dass man bloß eine Handvoll Sand in den Getriebekasten zu werfen brauchte, wenn er seine Nücken hatte." „Das habe ich nie geglaubt", sagte Fern, „und außerdem habe ich doch einen gefahren, vor zwei Jahren auf dem Jahrmarkt. Man kaufte einen Anteilschein und durfte dann den Ford rund um die Arena fahren. Du machst dich nur ein gut Teil älter als du bist."
Zur Essenszeit fühlte sich Lowell zum ersten Mal an diesem Tage entspannt und behaglich. Er erfasste, dass er von dem Augenblick an, da Lois ihm erzählt hatte, dass heute abend die Abbotts bei ihnen sein würden, ein Schuldgefühl verspürt hatte, ein Bedürfnis, den sechs Tage langen Streik zu rechtfertigen, sich von aller Schuld daran freizusprechen und einer Frage Elliotts zuvorzukommen. Die Unterhaltung hatte aber so ungezwungen eine andere Richtung genommen, dass er sich nun ganz nebenbei Elliotts Verständnisses vergewissern konnte. Es war ihre Absicht gewesen, für den Winter in den Süden zu fahren, und sie wollten es immer noch, sobald die Unannehmlichkeit im Werke behoben wäre, und das, meinte er, sollte er Elliott irgendwie mitteilen, indem er ihm am Rande zu verstehen gäbe, wie wenig ihm die Fabrik bedeutete und wie gern er sie jetzt los sein würde, wenn sich die Gelegenheit nur böte. Er hatte zwei große Martinis getrunken, genug, um seine Gedanken zu entfesseln. Das Zimmer war warm, überdies war das Feuer im Kamin die altüberkommene Verkörperung der Wärme. In diesem Augenblick empfand er große Zärtlichkeit für Lois, für Ruth und Elliott Abbott, empfand er Mitgefühl und Verständnis für seine Tochter. Was wussten sie denn von ihr, dass sie es wagten, sie zu verdammen! In der Tat, fragte er sich, welches Recht hatte überhaupt irgendein Mensch, einen anderen zu verdammen? Er stand auf, um den Wein einzuschenken, und setzte sich wieder hin. Er plauderte jetzt frei und flüssig — nichts von großer Bedeutung, aber auch nicht völlig belangloses Zeug, nur eben angenehme gewöhnliche Konversation, wie sie in diesen Tagen so selten war. Erst als er vorgeschlagen hatte, dass sie alle zusammen im nächsten oder im übernächsten Jahr, wenn die Verhältnisse in Europa wieder einigermaßen normal geworden wären, ins Ausland fahren sollten - wenigstens zwei Monate England, Wales und Schottland und anschließend vielleicht vier oder fünf Monate auf dem Kontinent - fiel ihm ein, dass er über Elliotts finanzielle Verhältnisse nichts wusste, nichts darüber wusste, ob er sich eine Fahrt nach Europa leisten könnte oder nicht, und dass er einfach vorausgesetzt hatte, sechs oder sieben Monate von der Arbeit weg würden eine einfache und wünschenswerte Sache für seinen Freund sein.
Aber Elliott lachte nur und nickte, und Ruth sagte: „Das sind Träume, wie ich sie zwanzig Jahre lang jede Nacht geträumt habe."
Als sie mit Essen fertig waren, gingen sie zum Kognak und Kaffee wieder ins Wohnzimmer. Fern kam herein, fertig angezogen, in Biberjacke und Biberkappe, lächelnd und erhitzt; sie bat Elliott, nur eben noch ein Lied zu singen, bevor sie ginge.
„Nur eins, Elliott, ein einziges. Ich kann heute abend nicht bleiben. Wenn ich bleiben könnte, würden wir das Klavier für uns haben und die andern tun lassen, was ihnen Spaß macht."
Elliott war um Fern auf eine Art bemüht, die Lowell verwirrte. Er ließ sich ans Klavier ziehen, setzte sich und klimperte gedankenvoll mit einer Taste. „Welches?" „Eins von den spanischen, La Cinque Brigada", sagte Fern. Er drehte sich um und schaute sie einen Augenblick an, dann sah er über sie hinweg, um dem Blick seiner Frau zu begegnen. Er sang mit tiefer, voller Stimme, ein wenig weich:
„Es lebe die fünfzehnte Brigade... " auf spanisch und machte eine Pause, wenn das Mädchen auf seinen Blick hin mit dem Refrain einfallen sollte: „Rhumba la, rhumba la, rhumba la... "
„Die sich mit Ruhm bedeckt hat... " „Ay Manuela", sang Fern.
„An der Jarama-Front... hatten wir weder Flugzeuge noch Tanks noch Kanonen... und doch kämpften wir gegen die Mauren, gegen die Landsknechte und die Faschisten... wir kämpften... "
„Ay Manuela", sang das Mädchen und wiegte sich in dem raschen kastilischen Takt.
11
„Schachmatt, denke ich", sagte Elliott abbittend. „Du hast es herausgefordert, dein Geist ist nicht bei der Sache."
Lowell schob das Brett beiseite. Sie saßen in der Bibliothek; er hatte einen Vorwand gebraucht, um die Frauen los zu sein, damit Elliott sprechen könnte, wenn er etwas zu sagen wünschte. Aber der Arzt hatte auf eine Schachpartie gedrängt und sich darauf konzentriert. Für Lowell war Schach ein Spiel gewesen, das er vor seiner Übersiedlung nach Clarkton zwei- oder dreimal im Jahr gespielt hatte, aber Abbott liebte Schach, war ein guter Spieler und hatte Lowell eine Menge beigebracht. Seitdem dessen Sohn gestorben war, spielten sie es in stillschweigender Übereinkunft, und manchmal hatte Lowell den Verdacht, dass der Doktor es als wohlbedachtes therapeutisches Mittel anwandte; doch wenn das auch der Fall wäre, hatte er keine Neigung, sich dagegen zu sträuben. Von allen Menschen wusste vielleicht nur Abbott, wie nahe ihm Clarks Tod gegangen war und welch starker Gefühle des Schmerzes sein Gemüt fähig war.
Nur Abbott, nicht Lois noch sonst eine Seele, wusste von der unbegreiflichen und unglaublichen Sache, die er sich fünf Wochen nach dem Eintreffen der Nachricht von Clarks Tod geleistet hatte. Damals war Lowell nach Boston gefahren, hatte einen Spiritisten konsultiert und an einer Sitzung teilgenommen — eine schmutzige Angelegenheit, aus Gaze und Gaukelei zusammengesetzt, eine Welt, mit der er vorher als ein Mann von nur höchst zufälliger und unbestimmter religiöser Überzeugung weder in der Wirklichkeit noch in der Vorstellung in Berührung gekommen war. Und weil er sich davon reinigen oder seinen Verstand verlieren musste, hatte er es Elliott erzählt. „Warum hast du das getan? Warum um Himmels willen, George?" hatte Elliott ihn gefragt. „Weil ich den Jungen nicht aufgeben kann." „Du hast ihn niemals besessen“, hatte Elliott streng geantwortet. „Kannst du es nicht in deinen Kopf kriegen, dass du ihn nie besessen hast? Er lebte sein eigenes Leben. Wer zum Teufel bist du denn, dass du beurteilen kannst, ob er es richtig gelebt hat oder nicht!“ „Das sage ich ja auch nicht." „Doch tust du es. Und jetzt ist er tot. Jesus, was sind wir bloß für Menschen, dass wir dem Tod nicht ins Gesicht sehen können!" Und auf irgendwelche Art war es Lowell besser bekommen als Mitgefühl; aber jetzt, heute abend, brauchte Lowell Mitgefühl und Verständnis, und Elliott Abbott mied das Thema wie die Pest. Und als Lowell ihn schließlich nach dem Spiel direkt fragte, sagte Abbott:
„Das ist deine Sache, George."
„Was bedeutet, dass wir nicht darüber sprechen können - was bedeutet, dass ich plötzlich, sogar für dich, die Karikatur eines Unternehmers aus dem Daily Worker geworden bin, der seinen Arbeitern das Blut aussaugt."
Während er mit den Schachfiguren hantierte und ihre glatte elfenbeinerne Oberfläche mit den Fingern betastete, beobachtete Abbott ihn. „Nein, keineswegs", und dabei fiel ihm ein, dass diese Schachfiguren für das Fingergefühl die Reize chinesischer Spielsteine hätten, die die ganze Welt mit ihren Problemen und Konflikten lächerlicherweise auf einige wenige schwarze und weiße Figuren vereinfachten. „Bloß, dass du es selbst in Ordnung bringen musst", sagte Abbott. „Ich kann dir nicht dabei helfen."
„Du weißt, was mir das Werk bedeutet. Du weißt, dass es mir genau nichts bedeutet, nie etwas bedeutet hat."
„Ich weiß, dass du auch ohne das Werk ein sehr reicher Mann bist. Ich habe stets an dir geschätzt, George, dass du ein reicher Mann und dabei doch ein menschliches Wesen bist. Ich kannte nie genug reiche Leute, um von selbst auf eine solche Möglichkeit zu kommen."
„Ich wollte das Werk nicht. Ich dachte, dass es während des Krieges eine Aufgabe zu erfüllen hätte, mich nützlich machen könnte. Ich wollte von einigem Nutzen sein."
Es war Lowell sehr peinlich, so etwas sagen zu müssen, und Abbott war sich der Tatsache durchaus bewusst. Abbott dachte auch daran, dass die Lowell Company 1944 etwas über zwei Millionen Dollar Reingewinn gehabt hatte und 1945 nicht viel weniger. Lowell wusste es; sie sahen sich an und es blieb unausgesprochen.
„Du hättest mir geraten, die Angelegenheit gleich am ersten Tag zu ordnen", sagte Lowell.
„Oder vor dem ersten Tag. Wie ich sagte, es ist deine Sache. Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle tun würde - ich bin niemals an deiner Stelle gewesen. Meine eigenen Probleme sind ziemlich einfach: festzustellen, ob jemand krank ist und was ihm wehtut. Deine sind komplizierter. Aber ich sehe diese Leute, die für dich arbeiten, eine Lohnerhöhung fordern, und ich höre dich erzählen, dass dir das Werk gleichgültig ist. Ich mag Streiks nicht - ich mag sie ebenso wenig wie du, und ich kriege sie in gewisser Weise auch zu spüren. Eine Menge Leute werden krank und leiden während eines Streiks. Und dann verstehe ich auch nicht, um welches Prinzip es hier geht."
„Sie sind die höchstbezahlten Arbeiter im Staate", aber das kam ohne Überzeugung. Das hatte Lowell nicht gewollt, diese Richtung des Gesprächs, diese Art des Sondierens.
„Und der schlechtestbezahlte Arbeiter in Massachusetts verdient mehr als der bestbezahlte in Indien oder China. Worauf läuft das hinaus? Was hast du denn davon, wenn du diese Sache auskämpfst? Am Ende gewinnen sie doch; sie werden gewinnen, weil sie nichts mehr zu hoffen haben, wenn sie zurückgeschlagen werden. Das ist weniger wichtig als das, was die Sache dir antun wird."
„Mit andern Worten, ich werde... "
„Du wirst überhaupt nichts", seufzte Abbott. „Die Dinge werden dir zugefügt. Du hast dich in einen Strom gestürzt; es ist ein Strom des Verfalls, der Fäulnis. Jemand schlägt dich, und du wehrst dich. Du musst dich wehren."
„Sie könnten ihre Lohnerhöhung haben", sagte Lowell. Er war wieder entspannt, wieder in seinem Gleichgewicht, das ihm Sicherheit und Stärke bot. „Seltsam genug, Elliott, es stimmt, was ich über das Werk sagte. Ich will es gar nicht, ich wollte es niemals, ebenso wenig wie ich dies Haus je wollte. Aber manchmal glaube ich, Elliott, dass du in einer vorgestellten Welt lebst, und in einer vorgestellten Welt funktioniert alles und jedes. Im Leben aber tut es das nicht. Ich verschließe die Türen des Hauses, weil es mir gehört. Auch das Werk gehört mir. Mein Vater hat es gegründet und aufgebaut. Es ist wahr, ich überließ es Wilson zu entscheiden, ob die Lohnerhöhung, die sie forderten, angemessen wäre. Wilson meinte, sie wäre es nicht, aber bei genauer Betrachtung stimme ich ihr zu. Ich will nur nicht, dass man mir vorschreibt, was ich zu tun habe."
Abbott schwieg, und dieses Schweigen war etwas Neues zwischen ihnen, etwas Unfassbares und Lebendiges, das wuchs und sich vermehrte. Schließlich musste es gebrochen werden, und Lowell brach es; er zündete sich eine Zigarette an, lächelte und sagte:
„Lass es mich auf diese Art erklären, Elliott. Wir sind alte Freunde, und wir sollten einander verstehen können."
„Allerdings", sagte Abbott.
„Vor fünf Jahren betrat ich zum ersten Male seit meinem achtzehnten Lebensjahr wieder das Werk. Ich liebte es nicht, als ich achtzehn war, ich hasste es. Und an jenem ersten Tage vor fünf Jahren schlug eine Stanze zurück, und der Arbeiter verlor den Daumen. Wäre er ein bisschen langsamer gewesen, würde er wohl die Hand verloren haben; jedenfalls aber wünschte ich, gleich auf der Stelle, das Werk los zu sein, es zuzumachen und es verrotten zu lassen."
„Ich erinnere mich", sagte Elliott. „Das war Charley Brank."
„Aber ich konnte es nicht zumachen, ich konnte es nicht verrotten lassen. Es existierte unabhängig von mir. Ich konnte nicht eine ganze Stadt zum Tode verurteilen. Es ist mein Betrieb, meine Verantwortung. Seit fünf Jahren habe ich davon weglaufen wollen, aber ich konnte es nicht."
„Aber Charley Brank hast du nie wieder eingestellt", sagte Elliott. „Er wollte das Werk nicht zumachen, er wollte geheilt werden und wieder an die Arbeit gehen."
„Wenn es irgendeine Lösung wäre", sagte Lowell, „könnten sie morgen an die Arbeit zurückkehren. Aber nichts würde dadurch gelöst, ebenso wenig wie durch mein Davonlaufen. Der Betrieb gehört entweder mir oder ihnen."
12
Als sie sich in der Vorhalle verabschiedeten, küsste Elliott Lois und George küsste Ruth, wie es ihre Gewohnheit war; sie küssten sich herzlich, ohne Befangenheit, und dann wartete Lowell noch draußen in der Kälte, um zu sehen, ob Elliott seinen Wagen leicht in Gang brächte. Er winkte, als sie davonfuhren, aber Ruth Abbott hatte Elliott leise fluchen gehört, als er auf den Starter trat, und beobachtete ihren Mann, anstatt zurückzuwinken, wie sie eigentlich gemusst hätte. Sie überlegte, dass viel dazugehörte, ihn aus der Fassung zu bringen, und deshalb wählte sie ihre Worte sehr sorgfältig, als sie nach den Vorgängen in der Bibliothek fragte.
„Wir sprachen über den Streik", sagte Elliott. „Willst du mir nicht eine Zigarette anstecken? Du hättest zu uns hereinkommen sollen. George hatte gar keine Veranlassung, mich so in die Klemme zu bringen."
„Er wollte es doch so gerne", sagte sie, zündete die Zigarette an, schob sie ihm zwischen die Lippen und ließ ihre Finger eben einen Augenblick darauf verweilen.
„Das weiß ich."
„Habt ihr euch gestritten?"
„Nein. Es war überhaupt nichts. Ganz und gar sinnlos." Ohne einen Ton des Bedauerns oder der Missbilligung, sondern sachlich kühl fragte sie: „Wirst du wegen dieser Sache mit ihnen brechen? Ich mag diese Leute."
„Es geschieht von selbst, Ruth. Ich sage nicht ja oder nein. Ich ziehe die Drähte nicht. Ich bin immer wieder erstaunt über die menschliche Fähigkeit, sich zu ändern. Ich weiß, was George passieren wird, aber deswegen ist es mir doch nicht möglich, es zu verhindern."
„Weiß George das?"
Elliott zuckte die Achseln, und von da an fuhren sie schweigend weiter nach Hause. Als sie wenige Minuten später ihr Haus erreichten — ein weißes Schindelhaus Ecke Erste Avenue und Pappelstraße —, waren im Wartezimmer die Lampen an, und der Arzt fand, dass sich seine Gereiztheit durch die Aussicht auf einen späten Krankenbesuch erhöhte. Aber als er seinen Wagen unters „Dach" gebracht hatte - eine Art Vorbau an einer Seitenwand des Hauses, errichtet im letzten Jahrhundert, damit die Leute aus ihrem Wagen steigen könnten, ohne nass zu werden —, war sein Unwille verflogen; und um es Ruth wissen zu lassen, sagte
er:
„Wenn es eine weite Fahrt wird, willst du mich dann fahren?" Sie nickte. Sie waren zwanzig Jahre verheiratet und ohne Kinder. Sie war seine Sprechstundenhilfe und konnte einen Fall von Masern oder Bräune ebenso gut erkennen wie er selbst. Sie war an ihn gewöhnt, war aber auch ohne ihn ausgekommen und wusste, wie das war.
Als sie ins Haus traten, tauchte in Morgenrock und Lockenwickeln Frances Colby auf — Köchin, Zimmermädchen und alles andere in ihrem Heim - und berichtete: „Es ist kein Patient. Danny Ryan ist da mit noch jemand anderm, deshalb setzte ich sie ins Wartezimmer. Kann ich schlafen gehen?"
„Geh ruhig zu Bett", sagte Elliott.
„Wollen Sie ihnen noch Kaffee kochen? Ich habe es nicht getan, denn wenn Danny Kaffee kriegt, bleibt er die ganze Nacht; und ich wusste nicht, ob Sie ihn die ganze Nacht hier behalten wollten."
„Ruth wird den Kaffee kochen. Geh zu Bett."
„Ganz wie Sie wünschen. Es ist Ihr Haus, es ist Ihr Wartezimmer; Ihr Kaffee ist es auch." Sie schlurfte davon, eine starke Frau von fünfzig Jahren mit einem ungeheuren Busen, der neun Kinder gestillt hatte. Mit sechzehn hatte sie angefangen, und jetzt waren die Kinder erwachsen, verheiratet, tot und in alle Welt verstreut; ihre Anhänglichkeit an die Abbotts war ebenso dauernd wie unbegrenzt.
Danny Ryan grinste, als der Arzt und seine Frau in das Wartezimmer traten. Er war ein sehr kleiner Mann, fünf Fuß vier Zoll groß, und es schien ihm ein endloses Vergnügen zu bereiten, sich an Abbott zu messen; allein schon ihre Gegensätzlichkeit amüsierte ihn. Sein Alter lag irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig, er gehörte nämlich zu jener Sorte dürrer Männer, die recht wie Leder zusammenschrumpfen. Er hatte blaue Augen in einem dunklen Gesicht und war seit sechs Jahren Stanzer in dem großen Werk; zwei Finger seiner rechten Hand waren dabei zur Hälfte draufgegangen. Er stellte den Mann vor, den er mitgebracht hatte —jünger als er, mit schwerem Kinn, einer schwarzen Haarmasse und sorgenvoller Miene. „Das ist Mike Sawyer", erzählte er den Abbotts. „Mike ist der neue angestellte Sekretär und arbeitet von Springfield aus. Ich glaube, ihr habt Mike noch nie gesehen, aber er weiß über euch Bescheid."
Elliott und seine Frau drückten Sawyer die Hand, der sagte: „Ich habe dich mal in Spanien getroffen, aber das ist so lange her, dass du es wohl vergessen hast. Ich lag im Süden und bekam sehr schlimm Skorbut, so dass sie mich nach hinten schickten, und da hast du mich untersucht. Ich erinnere mich, dass du davon sprachst, wie man sich fühle, wenn die Zähne wie zu lose aufgezogene Perlen säßen, aber wahrscheinlich hast du es vergessen."
Elliott sagte, dass er sich nicht erinnere, aber er freue sich, Sawyer wieder zu sehen, und er hoffe, dass Massachusetts ihm gefalle.
„Später wird es mir einmal gefallen, aber es ist immer dasselbe, wenn man an einen neuen Ort kommt. Alles passiert dann auf einmal, wie zur Begrüßung."
„Das ist immer so an einem neuen Ort", sagte Danny Ryan.
„Doch das wird in Ordnung kommen, und es ist wirklich eine schöne Gegend hier. Ich habe noch nie in einer so schönen Gegend wie dieser gearbeitet."
Ruth fragte ihn, wo er früher gewesen wäre, und er sagte, beim Militär. Vor fünf Wochen war er entlassen worden, aber wenn sie Leute brauchten, was sollte man da tun?
„Ihnen sagen, dass sie sich wegscheren", sagte Danny Ryan. „Raus - lasst mich zufrieden. Wenn ich vier Jahre lang beim Militär gewesen wäre, ich hätte mich lang gelegt und gesagt: ,Haut ab, stört mich nicht, meine Ruhe will ich haben.' "
Sawyer grinste, und Ruth ging in die Küche, um den Kaffee zu bereiten. Abbott fragte, ob sie eine Zigarre möchten, und Sawyer schüttelte den Kopf, aber Ryan nahm mit großer Förmlichkeit an, einer fülligen, saftigen irischen Sorte Förmlichkeit, die einen kleinen Schimmer Überheblichkeit an sich hatte, eine Note aller feinster Ironie. Dann biss er die Spitze ab, zündete die Zigarre an und tat genießerisch den ersten Zug. Der Doktor kam nun zu der Zigarre, die er sich den ganzen Abend gewünscht hatte; er hatte dem Gelüst widerstanden, weil er wusste, dass Lois den Geruch nicht vertragen konnte. Sie würde es nicht erwähnt haben, aber sie hätte es mit solch stiller Duldermiene ertragen, dass schließlich allen Teilnehmern der Abend verdorben gewesen wäre. Jetzt saßen sie alle in den großen tiefen, zu fest gepolsterten und hässlichen Sesseln des Wartezimmers, sorgsam bemüht, nicht eher vom Thema zu sprechen, bevor Ruth zurückgekommen wäre, und doch so voll davon, dass ihnen ein anderes nicht einfiel. Nach ein oder zwei Minuten ging Ryan zum Radio hinüber und stellte es an; er bewegte sich hurtig und wie ein Vogel, geladen mit einer nervösen Energie, die anderen nicht nur auffiel, sondern sie auch unangenehm erregte. Der Lautsprecher wimmerte:
„Nimm mich in deine Arme, Baby, wiege mich! An deinem Herzen schlaf ich ein. Lass mich bitte nicht allein... "
„Ein paar Minuten noch, dann ist der Kaffee soweit", sagte Ruth, 48
die ins Zimmer zurückkam und es in gewissem Sinne wieder in Ordnung brachte, indem sie mit einem kurzen Blick jeden der drei Männer zurechtrückte, nur Sawyer sah sie länger als die andern an. Sawyer wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Ihre Figur war jugendlich, aber das sommersprossige Gesicht war vertrocknet und auf den ersten Blick nicht hübsch, und sie entsprach zu genau dem Typ, den man in einem Ort wie Clarkton und gerade auch als Gattin eines liebenswürdigen, breiten, schwerfälligen Provinzarztes wie Abbott erwartete. Aber Ryan bedeutete sie noch etwas anderes; Sawyer merkte es an der Art, wie er das Radio abdrehte und zu ihr sagte:
„Es ist schrecklich spät, euch noch zu belästigen, Ruth, aber diese Geschichte ist nun einmal kein Vergnügen, selbst wenn sämtliche Ladenfritzen voller Liebe zu den Streikenden sind und die Polizei wie Seide und Honig ist; ein Haufen Unfug ist das, wenn ihr mich fragt — und hierin stimm' ich gar nicht mit Sawyer überein, der behauptet, dass dieser Streik einen von Grund auf anderen Charakter habe. Zum Teufel hat er einen anderen Charakter!"
Er sah Sawyer an, der etwas verlegen sagte: „Gewiss, denke aber, wir streiten später darüber. Erzähl deine Geschichte."
„Gut. Sawyer kam zur Stadt wegen einer Besprechung heute abend, die übliche Sache eben mit den Gewerkschaftsleuten, und sie hätte auch weiter nichts Besonderes zu werden brauchen, weil alles ordentlich läuft. Aber er ist neu im Bezirk, und es ist gescheit, sich umzutun und mit den Dingen in Berührung zu bleiben. Auch hatten sie in Worcester bei einer öffentlichen Sammlung vier Tonnen Konserven zusammengebracht, und wir mussten einen Weg finden, einen Lastwagen nach dort zu schicken, um das Zeug hierher zu schaffen, und zwar auf eine Art, dass niemand darüber im Zweifel sein konnte, wer das arrangierte -ich meine nämlich, wenn wir nicht wenigstens daraus etwas für uns machen, dann können wir unsere Schnauzen in den Dreck stecken und sie drin lassen. Dann hatten wir heute nachmittag auch eine Sitzung des Streikkomitees, und sie sind so schwindlig von dem Erfolg geworden, wie sie das Werk dicht gemacht haben, dass sie wie auf Wolken wandeln, anstatt auf der Erde zu bleiben. Nach der Sitzung ging ich mit Joey Raye die Streikpostenkette am Tor an der Ersten Avenue kontrollieren... Du kennst ihn, denke ich, Doktor", erklärte er Abbott. „Er ist ein großer, vierschrötiger Neger, der in der Reparaturabteilung arbeitet, und ist ein sehr ordentlicher Bursche. Er hat die ganze Sache mit den Suppenküchen eingerichtet, und er ist einer von der Sorte, die nicht auffallen - spricht nicht allzu gut, aber man kann sich verdammt auf ihn verlassen. Wir stehen also da, als ein Wagen mit einem Durchlassschein ankommt, und der Streikpostenobmann lässt ihn durch, keine Aufregung oder sonst was. Aber nun sitzen da zwei Männer hinten im Wagen, und Joey Raye erkennt den einen von ihnen und sagt mir, das sei Hamilton Gelb. Fängt der Wecker an zu rappeln?"
Sawyer beobachtete Ruth Abbott, und ihm fiel die erstaunliche Veränderung auf, die mit ihr vorging, wenn sie lächelte. Ryan konnte nicht erzählen und zur gleichen Zeit stillsitzen; drei Sätze waren heraus, und schon war er durchs ganze Zimmer gerannt, und darüber begann Ruth Abbott zu lächeln. Sie lachte ihn nicht aus, sie vergnügte sich bloß an der Eigenart des kleinen Mannes, und miteins war sie lebendig und wach — und, seltsam genug, für Sawyer war sie zum ersten Male eine Frau: Brüste und Schoß und Beine, und eine gelassene Heiterkeit dahinter, die nicht zu erschüttern war. Als er von ihr zu ihrem Mann sah, fragte Sawyer sich, wer der Stärkere wäre und worin ihr Verhältnis bestünde.
„Was für ein Wecker?" fragte Ruth.
„Ein hübscher geräuschvoller Wecker. Geh zurück zu sechsunddreißig, siebenunddreißig und achtunddreißig."
„Da war ich in Spanien", sagte sie mit einem Blick auf ihren Mann. „Außerdem habe ich kein gutes Namengedächtnis. Das hält von der Politik ab. Aber er kommt mir bekannt vor, dieser
Name... "
„Schon gut, ich werde dir die Geschichte Bürger Gelbs kurz
erzählen. 1936 würgte er den Streik in den Rahway-Minen ab. Er plante und arrangierte das Commonwealth-Steel-Gemetzel. Er war drauf und dran, aus der Organisation der Autoarbeiter eine gelbe Gewerkschaft zu machen, aber der CIO (Anm.: Congress of Industrial Organisations — Kongreß der Industriegewerkschaften) kam ihm zuvor. Dann ging er nach Kalifornien und führte dort 1938 den großen Streich für die Obstpflanzer aus. Danach erledigte er sechs oder sieben kleinere Sachen, und das alles zusammen erwarb ihm einen großen Ruf. Er ist die wirklich große Nummer. Wo er während des Krieges war, weiß ich nicht. Nicht nur er, auch Stevens und Alec Cornwall und Von Sturmer, alle verschwanden aus dem Gesichtskreis. Aber was zum Teufel tut er hier? Dies ist nicht seine Sorte Arbeit, und es ist auch nicht seine Sorte Industrie."
„Ich glaube, du machst aus einem Maulwurfshügel ein mächtiges Gebirge", sagte der Doktor.
„Manchmal schadet das gar nichts", sagte Ruth. „Der Kaffee dürfte fertig sein. Wollt ihr mit in die Küche kommen?"
Sie gingen in die Küche und setzten sich um den weiß emaillierten Tisch. Eine große Schüssel mit Schinken- und Leberwurstbroten stand da und ein Teller mit Kuchen. Sawyer, hungrig und dankbereit, fragte sich, ob Ruth Abbott die Brote tatsächlich in der kurzen Zeit gemacht hätte, die sie draußen gewesen war. Sie bot an, und er begann zu essen. Als Abbott ihn fragte, wo er wohne, blickte er zu Danny Ryan hin. Ein seltsamer Ausdruck zog über des Doktors Gesicht, und Ruth Abbott erklärte:
„Elliott ist gegen Gastlichkeit, das ist alles. Ich meine Ryans Gastlichkeit. Er wohnt mit fünf kleinen Kindern und einer schwangeren Frau in einem Haus von vier Zimmern. Du bliebst besser hier."
„Als ich mit der Kirche brach", sagte Ryan entschuldigend zu Ruth, „tat ich es gründlich und sauber. Aber so wahr mir Gott und die Mutter Gottes helfe, ich habe mehr Kinder als je ein Ire auf der Welt."
„Das lässt sich verhüten", lachte der Doktor. „Aber ich kann es nicht. Ich besaufe mich und komme nach Hause, und hinterher möcht' ich mich selbst in den Hintern treten."
„Das gehört nicht zur Sache", sagte Ruth. „Über dein psychopathisches Geschlechtsleben können wir ein andermal sprechen, Danny. Was ist mit diesem Gelb? Warum kann sich Joey Raye nicht geirrt haben?"
„Er hat ein Gedächtnis wie eine Kamera. Vor ein paar Jahren war ich mit ihm auf einer Tagung in Boston, und es war, als hätt' ich ein Adressbuch bei mir gehabt. Er irrt sich nicht. Er vergisst niemals einen Namen oder ein Gesicht." „Und was bedeutet es nach seiner Meinung?" „Was es hier bedeutet, ist eine Sache", sagte Ryan mit vollem Munde. „Was es im allgemeinen bedeutet, ist eine andere. Im allgemeinen bedeutet Hamilton Gelb Krawall."
„Ich weiß nicht", sagte Mike Sawyer, „ich sehe das nicht ein. Ich bin bereit, auf Ryans Vorschlag hin hier zu bleiben, aber ich sehe es nicht ein."
„Wir werden auch allein fertig werden", fuhr Ryan plötzlich auf ihn los.
„Halt den Mund, Danny", sagte Ruth ruhig. „Verzeihung. Das Irische."
„Für alles, was du in den letzten zwanzig Jahren getan hast", sagte Ruth, „das dickköpfig, falsch, dumm und einfach ordinär war, hast du dem Zufall Schuld gegeben, der dich als Ire auf die Welt kommen ließ."
„Das stimmt", flüsterte Ryan.
„Zum Teufel stimmt es", sagte Ruth gleichmütig, und nun war Mike Sawyer hilflos und das Frauliche in Ruth Abbott war verschwunden. „Wenn du nachher von hier weggehst, wirst du in der Kneipe von Mc Cormick landen und wirst dich sinnlos besaufen, nur weil dieser Gelb in der Stadt ist und du nicht genug Mumm hast, damit fertig zu werden, nachdem du so lange ein üppiges
Leben geführt hast, und dann wirst du dir einreden, es wäre bloß, weil du Ire bist."
„Nur immer feste", sagte Ryan trübselig, „ich hab' es verdient. Aber ich sag' euch, dies hier ist nicht die Stadt für Krawall, und es ist auch nicht die Zeit für Krawall. Das geht nicht auf mein Konto, das ist eine objektive Tatsache, unglücklicherweise. Alles ist in dieser Stadt zu gut gewesen; fünf Jahre lang ist alles herrlich gewesen. Es wird scheußlich schlimm werden, wenn es hier Krawall gibt. Ich weiß nicht, was die Leute dann tun werden."
13
Elliott Abbott saß auf der Kante ihres Bettes, einen Schuh in der Hand, spielte damit, zog an den Senkeln und versuchte etwas in Worte zu fassen, was er seiner Frau sagen wollte. Schließlich sagte er: „Worauf es hinauskommt, ist immer dieselbe verdammte Geschichte; ich kann es nur noch nicht schlucken. Ich kenne George Lowell. Ich mag ihn gern. Er besitzt eine tiefe menschliche Anständigkeit. Ich kenne seine Fehler und kenne seine Schwächen."
„Sicher kennst du sie", antwortete seine Frau unter den Decken hervor; sie lag auf dem Bauch, das Gesicht im Kissen vergraben, und glitt schon mit jener Leichtigkeit in den Schlaf, die ihn manchmal aufbrachte, zu anderen Zeiten aber mit einer Art neidvollem Staunen erfüllte.
„Warum sagst du nicht, was du denkst?" fragte Abbott.
„Weil ich bis jetzt noch gar nichts denke. Ich möchte nicht eher darüber nachdenken, bevor ich mehr weiß. Ich will schlafen."
„Du weißt ebensoviel wie sie", bestand Abbott.
„Ich weiß, dass Danny Ryan es liebt, die Dinge aufzubauschen. Ich weiß auch, dass niemand ein Gedächtnis wie eine Kamera hat. Eine Kamera ist etwas anderes als ein Gedächtnis. Ich bin müde, und ich werde keineswegs die ganze Nacht wachbleiben und diskutieren, bloß weil da irgend jemand ins Werk gefahren ist."
„Aber glaubst du, dass George fähig wäre... "
„Um Himmels willen, Elliott, was willst du denn von mir hören?"
„Ich weiß nicht", sagte er kläglich.
„Komm schlafen."
Als er endlich ins Bett stieg, schlief sie schon, und der sanfte, gleichmäßige Rhythmus ihres Atems war wie ein Stempel unter allem, was sich ereignet hatte. Er lag auf einem Ellbogen, belauschte sie und sah sie immer deutlicher, je mehr sich seine Augen der Dunkelheit anpassten. In diesem Augenblick fühlte er sich George Clark Lowell eng verbunden; im übrigen war er allein, Arzt in Neu-England, mittleren Alters, der einst in Spanien ein Unvergessliches erlebt hatte.
14
Als die Abbotts fort waren, ging Lowell in die Bibliothek zurück und setzte sich wieder an das Schachbrett -Symbol des einzigen vom Menschen erfundenen Spiels, das versucht, in weißen und schwarzen Quadraten ein Muster und eine Wiederholung des Lebens zu geben, einen wohlgeordneten, durchschaubaren Mikrokosmos. Er starrte auf das Brett und erwog, dass nicht Worte zwischen ihm und Elliott ständen, sondern die vielen unausgesprochenen Dinge, die sich schwer und fordernd vor ihm erhoben. Sein Zorn auf Elliott schwand, und schließlich saß er so verstört da, dass Lois es merken musste, als sie hereinkam, um ihn zu holen. „Lass uns zu Bett gehen, George", sagte sie. Er nickte, stand auf und ging mit ihr hinauf. Vielleicht war es ein Reflex der Spannung oder eine instinktive Reaktion auf diesen neuen Umstand, der auf merkwürdige Weise aufregender als der Tod eines Kindes oder eine eheliche Verfehlung oder eine Szene dieser oder jener Art war: sie begehrte ihn, wie sie ihn seit Monaten nicht begehrt hatte, es ebbte und flutete so in ihr, dass sie seine Kleider betastete, als er sich auszog. Doch nachher, als sie im Bett lagen, war er impotent, so empörend impotent und widerwillig, dass ihm vor sich selbst übel wurde.
1
Jahr für Jahr wurde Jack Curzons Frau ein klein wenig fetter, nicht ordinär fett, nicht unförmig fett, aber sie rundete sich zu voller Reife, bis sie wie ein Akt von Renoir so matronenhaft geworden war, wie eine Frau werden kann, ohne sogleich als korpulent abgetan zu werden. Man kann nicht sagen, dass sich Curzon dieser Veränderung seiner Frau innerhalb der zweiundzwanzig Jahre ihres ehelichen Lebens besonders bewusst geworden wäre, aber er bemerkte doch, dass sie auf irgendwelche Weise anziehender wurde und dass sein Vergnügen an ihr sich nicht verminderte, sondern umgekehrt eher sich steigerte. Unbestreitbar war er in seiner Jugend etwas wie ein Kater gewesen, der überall in der Gegend umherstöberte — eine Praxis, die er ohne sichtbaren Bruch auch nach seiner Heirat fortsetzte, bis er im Alter von vierzig sagen konnte, dass er seiner Meinung nach alles mitgenommen hätte, was des Mitnehmens wert war. In den zehn Jahren zwischen vierzig und fünfzig gewöhnte er sich nach und nach an die monogame Ehe und ließ sie praktisch gelten, teils weil seine Stellung in der Öffentlichkeit es tunlich erscheinen ließ, teils weil er im Alter von siebenundvierzig zum Weinen und Lachen seiner Frau in den Pferch zurückgezwungen wurde, und teils, weil er — wie er es selbst darstellte — des Umherstreunens verdammt müde und überdrüssig geworden war.
Ob es nun deshalb war oder bloß damit zusammentraf, er entdeckte sein Weib aufs neue — eine Wiedergeburt, die Sally Curzon ebenso angenehm wie schmeichelhaft war, nachdem sie im langsamen Verlauf einer Generation ohne Schmerzen erfahren hatte, dass nicht alle ihre frühen Vorstellungen über die Beziehungen von Männern und Frauen richtig waren.
Für Jack Curzon wurde dieses neue Bewusstsein der Möglichkeiten seiner Frau mehr oder weniger rasch Gewohnheit. Er war ein Mensch der Gewohnheit und interessierte sich nicht besonders — außer wenn seine Verdauung gestört war - für sein Innenleben oder das seiner Mitmenschen. Abends sank er in dem warmen Dunst von Fleisch in Schlaf, morgens wachte er darin auf, wie auch an diesem Freitagmorgen. Als er sich beim unruhigen Zurüsten aufs bewusste Leben umdrehte, kam er mit dem Leibe seiner Frau in Berührung; er tastete danach, erkannte ihn, öffnete die Augen und sah das kränklich graue Licht des herandämmernden Tages, fühlte die Kälte der Luft, hörte irgendwo in der Ferne einen Hahn krähen und kroch im Geiste wieder unter die Decken zurück. Er dachte ein paar flüchtige Gedanken und begann mit normalem, unübereiltem Interesse seine Frau zu erforschen — ein Vorgang, der ihr Erwachen angenehm und glücklich stimmte.
Curzon gehörte nicht zu den Männern, die mürrisch aufwachen. Er steckte voll altmodischer Gewohnheiten, trug etwa lange Flanellnachthemden lieber als Pyjamas, rasierte sich mit einem großen Napf voll sorgfältig geschlagenen Schaums und einem geraden Messer, und er hatte es gerne, wenn seine drei Kinder im Badezimmer herein- und hinausrannten, während er sich rasierte. Er liebte den Duft frischen Kaffees und den Geruch des brutzelnden Frühstücks während des Rasierens, und er aß stets ein reichliches Frühstück: Obst, Brei, Eier, Schinken oder Speck, Toast und manchmal auch noch Kuchen. In den seltenen Augenblicken, wo es ihm einfiel, darüber nachzudenken, hielt er sich für einen gutmütigen Menschen, der kraft gewisser besonderer Fähigkeiten so erfolgreich gewesen war, wie man in seinem Beruf eben sein
konnte.
An diesem Morgen kamen anstatt der Eier Pfannkuchen auf den Curzonschen Frühstückstisch, ein besonderer Leckerbissen für alle in der Familie. Sie frühstückten alle zusammen: Sally in einem rosa Hauskleid, das gelbe Haar bereits gekämmt; Curzon bis aufs Oberhemd fertig angezogen, so dass man seine schwere wollene Unterwäsche sah; die drei Kinder, elf, acht und sechs Jahre alt, das älteste ein Mädchen, die beiden jüngeren Knaben -sie alle saßen rund um den Küchentisch. Curzon machte sich seine Pfannkuchen sorgfältig, wissenschaftlich zurecht; er nahm gern einen Stoß von vieren, jeder bekam eine glatte Schicht Butter, dann goss er Honig auf jeden einzelnen, packte die vier zusammen und goss über das ganze Gebäude wieder Honig, wie Glasur über eine Torte. Das war für Frau und Kinder immer von neuem interessant; ihnen ging seine Genauigkeit in kleinen Dingen ab, und sie hörten fast immer selbst zu essen auf, um ihn bei dieser Manipulation und bei seinem ersten Bissen zu beobachten. Wenn dann der erste Bissen herunter war, löste sich ihre Spannung und sie griffen wieder zu, aber niemals blieben sie von seiner ganz besonderen Freude am Essen unbeeinflusst, und sie genossen sie zumindest in der Vorstellung mit.
Als Curzon beim Frühstück saß, klingelte das Telefon. Eines seiner wenigen materiellen Zugeständnisse an den Erfolg bestand darin, dass er drei Telefonanschlüsse im Hause hatte, einen im Flur, einen am Bett und einen in der Küche, so dass er jetzt nur den Arm auszustrecken brauchte und durch eine angenehme Mischung aus Pfannkuchen und Kaffee hindurch „Hallo" rufen konnte.
Tom Wilson war am anderen Ende der Leitung; sein herzliches, geschmeidiges Organ dröhnte laut genug, dass jeder in der Küche es hören konnte:
„Hallo, Jack, störe ich Sie beim Frühstück?"
„Keineswegs" — dies aber in dem unglücklichen Bewusstsein, dass eine Unterbrechung der Nahrungsaufnahme deren köstliche Stetigkeit ruiniert, und etwas von diesem Unwillen ließ er durchklingen. Jack Curzon hasste jede Störung, die ihn vom Tisch holte, bevor er mit der Mahlzeit fertig war.
„Ich werde Sie keine Minute abhalten", sagte Wilson. „Es fiel mir eben ein, dass ich Ihnen doch sagen müsste, dass Harn Gelb in der Stadt ist. Und wenn alles klar ist, wollte ich mit ihm und vielleicht Herrn Lowell gegen zehn oder halb elf zu Ihnen hinüberkommen."
„Na, ich will verdammt sein", sagte Curzon gedankenvoll.
„Harn Gelb!"
„Passt Ihnen die Zeit?"
„Ich erwarte Sie", sagte Curzon. Er legte den Hörer auf und sagte zu seiner Familie, aber zu keinem im besonderen: „Harn Gelb - was sagt ihr dazu?"
2
Lowell und seine Frau waren dabei, ihr Frühstück zu beenden - eine schweigsame Angelegenheit meistens -, als Fern herunterkam. In der Regel nahmen die Lowells ihr Frühstück und sehr oft auch ihren Lunch in einem kleinen Raum neben dem Esszimmer ein, der das „Gewehrzimmer" genannt wurde, aber an Feuerwaffen nichts als eine alte Feuersteinmuskete enthielt, die über dem Kachelofen hing. Lois hatte diesen Raum mit kleingemusterten dunkelgrünen Tapeten ausgestattet und die hohen, schmalen Fenster mit weißen Chintzvorhängen versehen. Die Tischplatte auf Böcken und die Binsenstühle mit Rückenlehnen in Leiterform waren außer einer kleinen Anrichte aus Kiefernholz die einzigen Möbelstücke, und als noch eine Tür zur Speisekammer durchgebrochen war, betrachtete Lois dieses Zimmer als für seinen neuen Zweck wundervoll geeignet. In den fünf Jahren, die sie hier wohnten, hatte sie nicht nur diesen Raum verändert, sondern die ganze Atmosphäre des Hauses; Stück für Stück, langsam, ohne George Anlass zum Protest zu geben, hatte sie die Gegenwart eines Mannes daraus entfernt, der ein halbes Jahrhundert und länger sein Heim darin gehabt hatte. Der ältere George Lowell, ihr Schwiegervater, war nicht leicht zu verdrängen, aber Lois war geduldig. Mit genau der gleichen Geduld, genau der gleichen Gelassenheit hatte sie etwas weniger als zwanzig Jahre auf seinen Tod gewartet, und sie sah keinen Grund, warum ihre Geduld jetzt, da er fort war, weniger ausdauernd sein sollte.
Geduld lag in ihrem Charakter, und sehr oft gebrauchte sie sie in der Art, wie ihre Großmutter eine Lieblingspatentmedizin gebraucht hatte. Wenn sie irgend etwas nicht ganz begriff, dann beschied sie sich zu warten, bis sich das Problem von selbst löste; und weil ihre Kenntnis von Männern begrenzter war, als sie und die meisten ihrer Bekannten glaubten, erachtete sie, dass dieselbe Methode auch für das, was sich gestern abend ereignet hatte, am ratsamsten wäre. Das Ergebnis war ein geruhsames, geradezu schweigsames Frühstück, bis Fern erschien und sagte:
„Ich hatte Bauchschmerzen, Mutter, aber schwanger bin ich nicht, wenn du das etwa denken solltest. Ich habe mich entschlossen, Elliott deswegen zu fragen. Wie lange ist er gestern abend noch hier gewesen?"
„Ich hasse diese Art Gerede", sagte Lois. „Es ist nicht frivol, es ist nicht geistreich. Es ist gemeines Gerede."
Fern küsste ihren Vater und setzte sich neben ihn, und Lowell, der etwas sagen wollte, verschluckte seine Worte.
„Ich kam um halb eins nach Hause", sagte Fern. „Ich dachte, Elliott würde noch da sein."
„Warum war das so wichtig?" fragte Lowell.
Fern, die ihren Orangensaft trank, setzte ihn plötzlich hin und sah ihren Vater nachdenklich an. „Er ist ein herrlicher Mensch", sagte sie. Sie trank ihren Saft aus und begann sich Kaffee einzuschenken.
„Gibt es einen Grund, weshalb wir warten müssen, bis diese abscheuliche Geschichte zu Ende ist, George?" fragte Lois. „Ich hasse den Winter in Massachusetts. Ich habe ihn stets gehasst."
3
Aber dies war kein Wintertag im altüberlieferten Sinne des Wortes, keiner von denen, die vor unterdrückter Wut brüllend von den Berkshires herunterkommen und den verdrießlichen Mount Greylock zu einer Gottheit erheben. Dies war ein Tag, an dem sich die Morgennebel mit der frühesten Dämmerung verflüchtigten, die Sonne über die Hügel um Clarkton flutete, über die rotgepflasterten Straßen und die langen Reihen der rotziegeligen Mietshäuser — diese verblüffende Neu-England-Mischung von Elendsviertel und Ländlichkeit —, die sich entlang der Ersten und Vierten Avenue aufreihten und sich im Schoß der Hügel einnisteten. Es war ein frischer, sonniger Tag, voller Entzücken für die Sinne - und Mike Sawyer war sich dessen sehr stark bewusst, als er auf dem Wege zu Joe Santanas Friseurladen zusammen mit Danny Ryan die Hauptstraße hinunterging.
Sawyer gehörte zu jenen Männern, deren Gesichtshaar einwächst, wenn sie sich nicht regelmäßig von einem Friseur rasieren und nachrasieren lassen. Als er es Ryan sagte, meinte der kleine Mann, das wäre eine gute Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, weil er doch sowieso Joe Santana aufsuchen müsste; sie könnten also gleich hingehen und Mike rasieren lassen und dann vielleicht mit Joe einiges besprechen, bevor sie zum Werk hinausgingen, das Mike Sawyer noch nicht gesehen hatte. Sawyer war damit einverstanden; die Aussicht auf einen Spaziergang an diesem frischen schönen Morgen war verlockend, und er war ungeheuer neugierig auf Neu-England, auf jede Seite des Landes; alles war ihm neu, und jeder Teil davon war ein Teil eines Problems, das er zu lösen hatte, früher oder später. Wie sie so dahinschlenderten, entdeckte er, dass ein Spaziergang mit Ryan eine sehr gute Art war, mit Leuten bekannt zu werden. Auch zeigte Ryan nichts mehr von der Gegnerschaft, die er am Abend vorher bekundet hatte. Er kannte jeden und schien überall beliebt zu sein. Es war gerade Zeit für die Arbeiter, zum Werk hinauszugehen; sie gingen in dem langsamen, verlegenen Schritt von Männern, die seit vielen Jahren zum ersten Male wieder streiken, die großen Schaffellkragen ihrer Windjacken hochgeschlagen, die Jagdmützen mit den roten Ohrenklappen auf den Hinterkopf geschoben. Alle Augenblicke hielt einer von ihnen Ryan fest und überschüttete ihn mit einer langen heftigen Klagerede, und jedem hörte er zu und traf eine rasche, anscheinend treffende Entscheidung.
Sawyer nahm wahr, dass viele der Männer das eine oder andere Uniformstück trugen, und als er eine Bemerkung darüber zu seinem Gefährten machte, sagte Ryan: „Sie sind seit zweiundvierzig zurückgekommen. Dies ist eine Stadt mit nur einer Fabrik, Mike. Wie viele Tankstellen lassen sich in einer Stadt wie Clarkton schon aufmachen!"
Als sie schon fast bei Santanas Laden angelangt waren, wurde Ryan von einem schmächtigen rotköpfigen Mann mittleren Alters angehalten, den er Sawyer als Freddy Butler, einen der Genossen, vorstellte. „Was weißt du Neues, Danny?" fragte Butler, und Ryan antwortete, dass er nicht viel wüsste — es wäre ruhig, zu verdammt ruhig. Butler sagte: „Es wird davon gesprochen, dass wir ein paar ganz große Nummern in die Stadt bekommen hätten". „Das hast du gehört?" grinste Ryan. „Die Zungen flattern wie bei einem Hurrikan. Wer viel herumhorcht, kriegt eine erschreckliche Menge zu hören". „Schön. Aber was soll ich den Jungen sagen?" „Nur mit der Ruhe", sagte Ryan. „Wenn sie was wissen wollen, sag ihnen eben, nur mit der Ruhe."
„Ein ordentlicher Junge?" fragte Sawyer, als sie weitergingen.
„Ganz in Ordnung, bloß schrecklich nervös. Er ist zu viel herumgestoßen worden, glaube ich. Das macht den Menschen nervös."
Joe Santana hatte gerade aufgemacht, als sie bei ihm ankamen; er saß in seinem besten Stuhl und las die New York Times. Er wurde Sawyer vorgestellt und drückte ihm die Hand mit wirklicher Wärme. „Da hast du dir ein Problem aufgeladen", sagte er in Bezug auf Sawyers Bart. „Du hast dich an eine bestimmte Art des Rasierens gewöhnt und musst sie nun durchhalten. Und dazu bist du in einem Lande, wo die meisten Friseure nur Schlächter sind. Ich habe Achtung vor meiner Arbeit — überhaupt vor jeder Arbeit —, aber wie viele Friseure haben das noch? Friseure sind kein guter Typ, unglücklicherweise. Ich weiß es, ich habe überall im Lande für sie gearbeitet. Meistens habe ich andere Arbeit vorgezogen, aber früher oder später musste ich immer wieder zu meiner Haarschneiderei zurück, der paar Dollar wegen, die bitter nötig waren. Dies hier ist was anderes. Hier habe ich mir ein wenig Unabhängigkeit verschafft - soviel ein Mensch unter diesem System haben kann -, und ich habe Leute, mit denen ich reden kann. Und dann habe ich auch eine Quelle des Wissens." Er grinste und deutete mit dem Kopf auf die New York Times, die er sorgfältig zusammengefaltet und auf seinen Zeitungsstapel gelegt
hatte.
Sawyer sagte: „Du musst die Stadt doch sehr gut kennen." „Ja und nein. Es kommt auf den Grad an. Wie gut kennt ein Mann seine eigene Frau? Nur innerhalb gewisser Grenzen. Eine Stadt wie diese ist ein Problem für einen Gesellschaftswissenschaftler mit aufrichtigem Interesse für den Menschen. Ich bin nie in Lowells Haus gewesen - ihm gehört das Werk. Ich bin nie in Gaffertys Haus gewesen — er ist der allmächtige Bankier hier in der Stadt. Ich habe nur begrenzte Beziehungen, und so versuche ich, mit meiner Urteilskraft weiterzukommen. Ein Mann wie du lernt in einer Woche wahrscheinlich mehr als ich in einem Jahr. Aber die Urteilskraft hat auch ihren Rang, ihren rechtmäßigen Rang. Nimm diese Geschichte mit der Atombombe. Die New Tork Times glaubt, dass ein Krieg mit der Sowjetunion kommen wird; ich bin anderer Meinung — nicht aus politischen Gründen, obwohl man zweifellos auch solche Argumente anführen könnte, ein führender Kopf wie du, meine ich -, sondern aus Gründen der Natur des Menschen. Ich versetze mich an die Stelle des durchschnittlichen Mannes, des durchschnittlichen Soldaten. Er will nicht durch eine Atombombe zugrunde gehen. Dir und mir, uns ist es egal. Aber der durchschnittliche Mann mag dieses Ding nicht, es ist unnatürlich. Das ist ein Faktor."
Er hatte Sawyer schon fertig eingeseift und begann nun mit schnellen, kurzen Strichen zu rasieren. Er verstand seine Arbeit, und sein glatter Redefluss erlitt keine Unterbrechung, einerlei, womit er gerade beschäftigt war.
4
Als er den Concordweg hinunter zum Werk fuhr, dachte Lowell über das Verhältnis seiner Tochter zu Elliott Abbott nach, etwas — und dies war er bereit, sich selbst zuzugeben -, was noch vor wenigen Tagen undenkbar gewesen wäre. Sein Groll, sein Gefühl des Versagens vor seiner Frau mussten einen Auslas finden, und sogar die Tatsache, dass er anfing sich zu vergegenwärtigen, wie sehr er sich in den letzten Jahren auf Elliott Abbott verlassen hatte, half mit, seinen Unwillen auf den Arzt zu richten. Doch dahinein, und zu dem verrückten Gedanken, dass seine Tochter Abbott liebte - eine natürliche, verständliche jugendliche Zuneigung, wie er gleichfalls bereit war zuzugeben —, drängte sich ein Gefühl des Neides. An diesem Morgen vermochte er zum ersten Male seine Tochter objektiv zu betrachten, und was er sah, beunruhigte ihn. Er fragte sich, ob er Abbott nahe genug bleiben würde, um mit ihm darüber sprechen zu können, und dann gestand er sich ein, dass selbst, wenn es der Fall wäre, er vermutlich doch keine Worte finden würde.
Er war dicht vor dem Werkstor an der Vierten Avenue und fuhr langsamer, damit er dem Streikpostenobmann seinen Passierschein vorzeigen könnte. Und wieder kam ihm wie an allen anderen Tagen seit Beginn des Streiks der Gedanke, wieviel Kindisches und Widersinniges doch in dem Theater dieser kleinen Gruppe von Männern und Frauen steckte, die eintönig vor dem Tor im Kreise herummarschierten und ihre Plakate trugen, die so ungeschickt Lohnerhöhung, Zusammenarbeit von Schwarzen und Weißen, Einheit und Solidarität forderten — und alle diese andern Dinge, die, so schien es Lowell, nichts weiter als plumpe Schlagwörter waren. Sie selbst waren entweder neu in dieser Sache oder hatten vergessen, wie sie das letzte Mal gestreikt hatten - so lange Jahre war es schon her -, und verrieten es durch ihre Befangenheit, die sie vergebens zu verbergen suchten.
Drei Männer unter den Streikposten, die über das mittlere Alter hinaus waren - wahrscheinlich Meister, nahm Lowell an -, hatten zusammengerollte Regenschirme bei sich, das Unangemessenste von der Welt an diesem sonnenüberfluteten Morgen, und um das Bild der Wohlanständigkeit zu vollenden, trugen die alten Herren lange schwarze Mäntel, Seidenschale und Filzhüte. Obwohl keine besonderen Zuschauer da waren, stimmten sie alle Augenblicke ein zaghaftes Lied an: „... Schwarz und Weiß, vereinigt euch zum Kampfe... ", blieben eine Weile dabei und ließen es dahinwelken. Hierbei konnten die drei alten Herren nicht mitmachen, es waren die klaren Stimmen der jungen Leute, der Mädchen in ihren langen Hosen und billigen Pelzmänteln, der Burschen in ihren bunten Zusammenstellungen von Uniformstücken und Zivilkleidern, die den Gesang trugen. Lowell bemerkte, wie immer ein Halbdutzend Freiwillige herumstanden, die gelegentlich die Streikposten gutmütig hänselten und dafür sorgten, dass das Feuer in den durchlöcherten großen Ölkannen nicht ausging, die von Küste zu Küste als Salamander bekannt waren — wahrscheinlich deshalb, weil sie rot glühten, wenn sie lange genug erhitzt wurden.
Für Lowell war das alles ein Rätsel, und dazu eins, das er besonders unsympathisch fand. Es ärgerte ihn, dass er, obwohl sie doch ihn und seinen Wagen leicht genug erkannten, allein schon durch die kompakte Masse ihrer Leiber gezwungen war zu halten, seinen Passierschein vorzuzeigen und ihn vom Streikpostenobmann abzeichnen zu lassen, bevor er ein Gelände betreten konnte, das sein Eigentum war — und das, wie er erwog, kraft seines Besitzertums ihnen überhaupt erst die Existenz ermöglichte. An diesem Morgen war es noch ärgerlicher als sonst, und als ihm der Portier schließlich das Tor öffnete, riss er an den Gängen des großen Buicks, dass der Wagen geradezu hindurchsprang.
Er parkte an der gewohnten Stelle bei der Verladerampe und ward kaum von dem herzlichen „guten Morgen" besänftigt, das ihm der alte Mack Seelly, einer der Wächter, bot — ein Mann, der im Werk angefangen hatte, kurz nachdem sein Vater es gegründet. Er stakte zum Büroflügel hinüber, und erst als er im eigenbedienten Fahrstuhl auf dem Wege nach oben war, beruhigte er sich soweit, dass er eine Zigarette anstecken konnte. Er dachte, es wäre eigentlich schade, dass er an diesem Morgen nicht Elliott Abbott mitgenommen hatte, damit des Doktors Sentimentalität in Bezug auf den Arbeiter dann vielleicht einen konkreten Anhalt bekommen hätte. Lowell, der nicht leicht seine Neigung vergab, hatte doch ein tiefes Bedürfnis nach der Zuneigung anderer, und schon eine solche Kleinigkeit wie das Lächeln der Büromädchen war ihm eine Bestätigung.
Der Büroflügel der Lowell Company war in den frühen Neunzehnhundertzwanzigern angebaut worden, aber die Büroräume selbst, obwohl geräumig, waren in der dunklen Eiche und dem düsteren Rot von wenigstens zwei Jahrzehnten vorher gehalten. Nichts Leichtsinniges war an ihnen, aber auch kein Versuch, etwas vorzutäuschen, und ebenso sehr aus unbewusster Opposition vielleicht gegen das Vorgehen seiner Frau zu Hause wie aus anderen Gründen ließ sie Lowell völlig unangetastet. Andererseits konnte er nicht die Vorstellung ertragen, in dem riesigen Zimmer zu sitzen, das seinem Vater gehört hatte; er gab es Tom Wilson, dem Betriebsleiter, und nahm Wilsons Büro für sich.
Er saß gerade ein paar Minuten an seinem Schreibtisch, starrte träge und ohne großes Interesse auf den Stapel Post, als Wilson eintrat, das Gesicht von einem breiten Lächeln wie gespalten, die Hand einladend nach der Lowells ausgestreckt, die er kräftig drückte: „Fein, dass Sie wieder hier in der Kampflinie sind, George!" Wilson redete ihn mit dem Vornamen an, was er vor fünf Jahren eingeführt hatte, als Lowell ihm zum ersten Male begegnet war. Damals hatte er gesagt: „Willkommen in der Kampflinie, George!" und seitdem war es mit geringen Abweichungen immer dasselbe gewesen. Immerhin, es kam bei Wilson gut heraus. Er war nicht allzu hoch gewachsen, aber doch groß und füllig, mit breiten Schultern, Ende der Vierziger, und hatte schon einen beträchtlichen Bauch entwickelt. Ein dreifaches Kinn hing ihm über den Kragen, und er sprach mit etwas rauer, dröhnender Stimme; er bewies den Lowellschen Unternehmungen eine gewaltige Zuneigung und hatte eine Zuversicht zu sich selbst, seiner Lebensweise, seiner Lebensaufgabe und seiner Lebensstellung, die Lowell verabscheute und um die er ihn zur selben Zeit beneidete. Lowell mochte ihn nicht; Wilson wusste das und betrachtete es als eine Herausforderung, nahm diese Abneigung aber voller Achtung hin, weil sie von einem Manne vom Typ Lowells kam - ein Typ, den er außerordentlich bewunderte. In gewissem Sinne war er sogar stolz auf die Abneigung und unbeirrbar bestrebt, sie zu besiegen.
Er setzte sich neben Lowells Schreibtisch und berichtete ihm ausführlich, was sich in den letzten beiden Tagen ereignet hatte -eine Reihe von Tatsachen, an denen Lowell nur der Form halber interessiert war. Er unterbrach sich bloß, um das Ende einer Zigarre abzubeißen und sie anzuzünden, und ging dazu über, diese Tatsachen mit der Lage des Landes im ganzen in Zusammenhang zu setzen, mit der großen Streikwelle, den Möglichkeiten eines Krieges mit Russland und den Übergewinnsteuern, die vorsahen, dass die Regierung die Differenz ersetzen würde, wenn im laufenden Jahre die Gewinne des Unternehmens unter die von
1939 fielen.
„Was uns wirtschaftlich eine gesunde Position verschafft", sagte Wilson. „Bloß nach Dollar und Cent gerechnet, würde es sich beinahe lohnen, das Werk geschlossen zu halten. Aber das ist kurzsichtig gedacht, und ich hasse kurzsichtiges Denken und Planen. Sie stimmen darin mit mir überein?"
„Durchaus", sagte Lowell. „Ich habe nicht die Absicht, das Werk geschlossen zu halten". In der Tat war er zu dem Entschluss gelangt, sobald das Werk wieder in Betrieb, der Streik vorüber wäre, die Leitung in Wilsons Hände zu legen und fortzufahren - für den Rest des Winters bestimmt, vielleicht auch für längere Zeit.
„Eins ist sicher", fuhr Wilson fort, „wir haben noch allerhand Unruhe zu erwarten. Nichts kommt den Kommunisten gelegener als ein Streik. Streik, das ist Essen und Trinken für sie."
„Ich glaube, das ist nicht gerade das Hauptproblem", sagte Lowell ungeduldig. Er liebte diese Kommunistenhetze nicht; er fühlte instinktiv, dass in dieser ausschweifenden Sucht, eine kommunistische Gefahr an die Wand zu malen, etwas Unsauberes steckte. Abgesehen von Joe Santana, dem Friseur, der Kommunist war und auch kein Geheimnis daraus machte, konnte er sich nicht erinnern, jemals einen Kommunisten gesehen, gekannt oder mit einem gesprochen zu haben -sofern nicht Elliott Abbott zu diesen Leuten gehörte, eine Vorstellung, die er sofort mit dem Gedanken beiseite schob, dass sein Zorn auf Elliott doch zum mindesten in vernünftigen Grenzen bleiben könnte.
„Ja und nein - unterschätzen Sie diese Burschen nicht", nickte Wilson, und seine Stimme nahm jenen leicht herablassenden Ton an, den sie früher oder später immer bekam, wenn er mit Lowell sprach. „Harn Gelb könnte einiges darüber erzählen. Aber worüber ich nachdenke, das ist der allgemeine Charakter unserer Stellung hier in Clarkton. Bis 1932 hatte Ihr Vater niemals Ärger mit diesen Leuten. Wirklich, er ließ sie fühlen, dass sie alle eine große Familie wären, nicht in zarter Form, verstehen Sie, sondern mit eiserner Faust im Samthandschuh; aber er interessierte sie durch Gewinnbeteiligung und all dieses Zeug, und es gab eben keinen Verdruss, der der Rede wert gewesen wäre. In den dreißiger Jahren gab es allerdings eine ganze Menge Krach, als die Gewerkschaft aufkam, bis der Krieg die normalen Verhältnisse wieder herstellte. Es sind hochbezahlte Facharbeiter, die wir hier haben, und ich ziehe vor, einen Betrieb ohne irgendwelchen Krawall zu leiten. Aber wenn sich dieser Streik zu lange hinzieht, dann werden sie gemein werden. Sie würden sich wundern, wie gemein anständige Leute werden können, George. Das ist eine Seite; die andere Seite betrifft unseren Absatz. Ich möchte die Sache regeln und wieder ins Geschäft kommen." „Wer ist Harn Gelb?" fragte Lowell.
Wilson schien einen Augenblick überrascht zu sein. Er lehnte sich vor und sah Lowell scharf an; dann sog er an seiner Zigarre, beruhigte sich wieder und grinste.
„Das braucht wohl kein Geheimnis zu bleiben", sagte Lowell. „Sie haben ihn doch selbst ausgesucht." „Was heißt das, ich hätte ihn selbst ausgesucht?" Wilson starrte Lowell von neuem an, besann sich und ging zu einem rechtfertigenden und vertraulichen Ton über.
„Ich glaubte, Sie hätten ihn selbst ausgesucht. Er ist der eine der beiden Leute, die Leopold und James uns heraufgeschickt haben. Er ist einer ihrer besten Leute, zudem ein sehr geriebener Bursche. Ich glaubte, Sie hätten ihn sich extra gewünscht. Der andere ist bloß ein junger Laffe namens Frank Norman, aber Gelb wiegt das mehr als auf. Als Gelb herkam, hörte ich auf, mir Sorgen zu machen. Ich möchte, dass Sie mit ihm sprechen."
5
Als Mike Sawyer rasiert war, stellte Joe Santana ihn noch seiner sieben Jahre alten Tochter vor, die zur Schule musste, seinem fünfjährigen Sohn, der sich selbst, sein Kinderzimmer und alles, was er hinter dem Rücken seines Vaters im Friseurladen erreichen konnte, mit den Fingern beschmierte, und schließlich auch Hannah, die ihn überredete, am Abend zu einem echt italienischen Essen zurückzukommen. Dann schlug Danny Ryan vor, das Tal zurück zum Werk hinaufzugehen und auf dem Wege in die beiden größten Suppenküchen hineinzuschauen, damit Sawyer sehen könnte, wie die Geschichte organisiert war und wie gut das System funktionierte.
„Und es ist keine Fahrt ins Heu hier", sagte Ryan. „Es ist hier nicht wie in New York oder Boston oder sogar in einem Ort wie Worcester, wo es eine Öffentlichkeit gibt, die man um Hilfe angehen kann. Wenn wir hier streiken, dann streikt die ganze Stadt, und wir müssen in unsere eigene Tasche greifen."
Sawyer sah das ein und schlug vor zu versuchen, im ganzen westlichen Teil des Staates eine Massenhilfe zu organisieren.
„Etwas haben wir schon bekommen", sagte Ryan, „das, was der Lastwagen heute abholt. Wir brauchen aber mehr."
Die erste Küche, eben um die Ecke der Kiefernstraße, leitete ein Grieche, Sam Saropoles, ein großer brünetter Mann, der nicht nur zwei Söhne im Kriege, sondern auch fast sämtliche seiner Verwandten in der Widerstandsbewegung in seiner alten Heimat drüben verloren hatte. Der Kummer hatte an seinem Gewicht gezehrt und sein Fleisch hing in losen Falten, aber er hatte ein Lächeln für Ryan und einen herzlichen Händedruck für Mike Sawyer übrig. Die Küche war in einem leerstehenden alten Laden untergebracht, der jahrelang nicht benutzt worden war. Eine Gewerkschaftskolonne hatte ihn in Ordnung gebracht, die Wände geweißt, hinten einen Kohlenherd aufgebaut und einen langen Tisch aus ungehobelten Brettern hineingestellt, an dem etwa vierzig Leute auf einmal Platz hatten. Der Raum war warm, zu warm sogar, wenn man aus der Kälte hereinkam, und hing voll Essensdunst.
Ungefähr ein Dutzend Männer und Frauen saßen an dem Tisch und löffelten ein Eintopfgericht aus dampfenden Schüsseln. Eine etwa vier Fuß hohe Bretterschranke trennte den Küchenteil vom Essraum, und hinter ihr rührten drei Frauen und zwei Männer in Töpfen, wuschen Geschirr und putzten Gemüse. Saropoles ließ sie in die provisorische Küche ein und stellte sie der Reihe nach jedem einzelnen der Arbeiter vor. Oberkoch der Tagschicht war Max Levy, der den Beruf beim Militär gelernt hatte und ihnen stolz erzählte, dass am gestrigen Tage diese eine Küche sechshundertzweiundfünfzig Menschen satt gemacht hätte, mit vierhundertzwanzig Portionen Suppe, fünfhundertfünfzehn Portionen fester Nahrung, zweiundsechzig Dutzend Krapfen, fünfunddreißig Dutzend Wickelkuchen, von den eintausenddreihundertneunzehn Tassen Kaffee gar nicht zu reden.
„... was unsere Hauptsorge ist", sagte Levy. „Kaffee. Was den angeht, ist es wie bei den Soldaten. Wenn man Kaffee hat, ist ein Teil des Mutproblems schon gelöst. Ein Lichtblick sind uns die fünfhundert Pfund, die einer meiner Kameraden mir aus Springfield schicken will. Ich rufe ihn an, und er sagt, er sei gar nicht mit mir einverstanden, aber es mache ihm solches Vergnügen, mich wieder hinter einem Herd zu finden, dass er fünfhundert Pfund glatt wegschmeißen wolle. Aber die langen nicht für ewig."
„Max ist ein guter Koch in einer amerikanischen Weise, wie man sie ihnen beim Militär beibringt, wisst ihr, ohne Phantasie", sagte Saropoles, „aber er ist zu modern. Als ob man nicht schon genug Kopfschmerzen hätte, ein Lokal wie dieses zu leiten — er muss auch noch Vitamine und Eiweiß einführen. Wo zum Teufel kriegen wir aber Vitamine und Eiweiß her, wenn diese verfluchte Geschichte sechs Monate dauert? Ich erinnere mich, wie ich während des großen Stahlarbeiterstreiks gleich nach dem letzten Krieg in Ohio arbeitete. Da hatten wir einen Zentner Erbsen und einen Zentner braune Bohnen bekommen, und weiß Gott, wir ernährten tausend Menschen mit diesen beiden Säcken und mit allen möglichen Zutaten, die wir auftreiben konnten... "
6
Curzon erwartete die Leute vom Werk, als sie im Polizeigebäude ankamen. Er schüttelte jedem eifrig die Hand, sagte zu Lowell: „Ich kannte ihren Vater gut, Herr Lowell. Ein feiner Mensch, ein wirklich feiner Mensch, wie man heutzutage nicht viele mehr trifft", und führte sie dann in sein Büro. Als er das Gebäude betrat, fühlte Lowell eine seltsame, etwas ferne Anwandlung von Angst. Eine Weile später wurde ihm bewusst, dass er vor mindestens dreißig Jahren einmal in diesem hässlichen grauen Steinhaufen gewesen war, der seine viktorianisch-gotischen Türmchen neben dem Hotel Morrisana in die Höhe reckte, das gleich alt und gleich hässlich, doch von einem milderen Ocker war. Damals hatten er und Elliott etwas ausgefressen — was es gewesen, konnte er sich ums Leben nicht mehr vorstellen -, und ein Polizist hatte die beiden Jungen hierher gebracht, sie in ein Zimmer gesteckt und zwei Stunden lang allein gelassen, bis es herauskam, dass er Lowells Sohn war, worauf die ganze Geschichte unter großen Entschuldigungen fallen gelassen wurde. Aber er erinnerte sich, dass sein eigener Mut Elliotts Furcht nicht hatte überwinden können und dass genug dieser Ängste auf ihn übergegangen waren, um dieses Gefühl bis jetzt, drei Jahrzehnte später, zurückzubehalten. Als er darüber nachdachte, ward es ihm ganz gewiss, dass dies das einzige Mal gewesen war, dass er je ein Polizeirevier betreten hatte — ein Gedanke, der ihn jetzt lächeln ließ und einen Teil der angenehmen Normalität des Daseins wieder herstellte, die ihm in den letzten paar Tagen abhanden gekommen war. Er beobachtete Gelb, als sie in Curzons Büro, einen großen rechteckigen Raum mit hohen Fenstern, unmodernen grünen Lampen und schwerfälligen Mahagonimöbeln, eintraten, und er entschied, dass Gelb mit seinem eisengrauen Haar, dem makellosen braunen Kammgarnanzug mit dem Taschentuch in der Brusttasche, den breiten Schultern und dem sorgfältig gepflegten Schnurrbart weit mehr nach Autorität aussah als Wilson oder er selbst. Er überlegte, dass Wilson nicht sehr im Unrecht war, als er vorhersagte, dass Gelb es verstünde, Vertrauen einzuflößen.
Gelb sowohl wie Frank Norman waren auf angenehme Weise ganz anders gewesen, als er erwartet hatte. Norman sah wie ein ordentlicher junger Student aus: kurz geschnittenes Haar, gute Haltung, intelligente Redeweise - ein Mensch, den er ohne zu fragen aufgenommen haben würde, wenn ihn Fern mit nach Haus gebracht hätte. Normans Spezialität war der Werkschutz, und sie hatten ihn im Werk gelassen, um die Tätigkeit der Werkschutzleute zu überwachen, Bekanntschaft mit den einzelnen Wächtern zu schließen und das Gefühl für die Atmosphäre des Betriebs zu bekommen. Lowell hatte die echte Bescheidenheit gefallen, mit der er Fragen stellte und Aufklärung annahm.
Als sie sich jetzt in Jack Curzons Büro setzten, fragte Wilson den Polizeichef: „Ist Freddy Butler hier?"
„Ich wusste nicht, dass Sie ihn hier haben wollten." „Sie wussten nicht, dass ich ihn hier haben wollte!" sagte Wilson. „Man hat uns bloß das ganze verdammte Werk stillgelegt, und da wollen wir den Vormittag dazu verwenden, mit ihnen zu plaudern. Wir können uns darüber unterhalten, was für ein reizender sonniger Tag heute für diese Zeit des Winters ist."
Curzon war schon früher von Wilson so angefahren worden, aber vor Gelb und Lowell schätzte er diesen Ton ganz und gar nicht; außerdem hatte er das Gefühl, dass Wilson Gelbs wegen dieses Theater machte. Er kniff die Lippen zusammen, aber während er eben noch die rechte Antwort suchte - etwas, das raffiniert genug war, um sein Ansehen bei den andern wieder herzustellen und doch den Betriebsleiter nicht offen herauszufordern, half ihm Gelb aus der Klemme und sagte:
„Es gibt doch keinen Grund, warum Jack diesen Butler nicht herholen lässt, während wir hier warten? Ich bin überzeugt, dass wir genug zu besprechen haben." Er war noch rascher mit Vornamen bei der Hand als Wilson, und Curzon, der vorbereitet gewesen war, Gelb zu bewundern, liebte ihn nun geradezu.
„Es ist nicht gut, wenn er hierher kommt", sagte Curzon entschuldigend. „Wenn ihn jemand hier hereingehen sieht, muss er einen Vorwand haben."
„Dann geben Sie ihm doch einen Vorwand", sagte Wilson. Curzon nahm den Hörer ab. „Schön. Wenn Sie es so haben wollen, schön."
Sie brauchten nur ein paar Minuten zu warten, bis Butler erschien, denn es stellte sich heraus, dass er dem Mann, den Curzon nach ihm geschickt hatte, nur drei Häuserblöcke weiter in die Arme gelaufen war. Während dieser Zeit sagte Lowell beinahe gar nichts, er saß da und hörte zu, was Gelb und Wilson und Curzon sagten. Der Gedanke, dass Butler in dieser Weise für Wilson arbeitete, war Lowell wenig schmackhaft, aber er nahm die Sache auf die gleiche Art hin, wie er Wilsons Drängen gefolgt war, Schritte zu unternehmen, um sein Eigentum durch Leopold und James zu schützen. Allein die Tatsache, dass außer ihm selbst keiner der Beteiligten irgendein Bewusstsein oder Gefühl verriet, als ob diese Dinge mehr oder weniger über das Alltägliche hinausgingen, überzeugte ihn, dass seine Empfindlichkeit albern wäre, und der Kopfschmerz, der einzusetzen begann, war bloß ein zusätzlicher Beweis, dass er heilfroh gewesen wäre, den Dingen ihren Lauf zu lassen, sofern nur er selbst nicht mitzumachen brauchte. Solche Kopfschmerzen waren vertraute Kennzeichen einer unsympathischen Situation, und er reagierte darauf, indem er sich sagte, dass er schließlich, wenn die Geschichte vorbei wäre, wissen würde, was Wilson beabsichtigte, mochte es ihm nun gefallen oder nicht.
Gelb verbreitete sich darüber, dass die Stadt sehr reizend wäre. „Ein angenehmer Ort, um darin zu leben", sagte er. „Ich liebe Städte dieser Größe. Sie haben eine gesunde Atmosphäre."
„Prächtig geeignet, eine Familie aufzuziehen", sagte Curzon. Er erzählte Gelb, was seine kleine Tochter heute morgen wieder angestellt hatte, und Gelb lachte in dem eben notwendigen Maß von Würdigung, dass Curzon befriedigt war, doch auch mit genügender Zurückhaltung, um sowohl Wilson wie Lowell zu überzeugen, dass er, Gelb, über den Mann Bescheid wüsste. Wahrhaftig, Curzon war nicht schwer abzuschätzen, und deswegen hatte Lowell ein klein wenig Mitleid mit ihm.
„Und die Stadt hat überdies ihre Geschichte", informierte Wilson Gelb. „Wenn Sie es einrichten können, sollten Sie hinausfahren und sich das alte Blockhaus auf dem North Hill ansehen. Als Professor Adams vor zwei Jahren hier war, sprach er im Rotaryklub und betonte ganz besonders, dass seiner Meinung nach das alte Blockhaus das schönste Beispiel einer vorkolonialen Rekonstruktion in ganz Massachusetts wäre. Herrn Lowells Vater hat 1928 das Projekt finanziert. Es stehen zwei Bronzekanonen dort oben, die den ganzen Weg von New Orleans hergebracht worden sind, wo sie zweihundert Jahre lang unter Wasser waren." „Unter Wasser?" fragte Gelb.
„Versenkt. Sie waren die ganze Zeit über versenkt, so dass sie genau aus der richtigen Periode sind. Ich meine, sie waren mit einem Schiff untergegangen. Man musste sie mit einer Taucherglocke herausholen, und es kostete zweitausendzweihundertzwanzig Dollar, einschließlich Fracht."
Lowell atmete auf, als ein Beamter hereinkam, der Butler vor sich herschob. Er war überrascht, wie sehr Butler im Aussehen und Auftreten den Eindruck eines durchaus anständigen Menschen machte. Der rothaarige schmächtige Mann hatte ein abgehärmtes, ängstliches Gesicht, aber seine Nervosität verriet sich einzig darin, dass er beständig seine Mütze zwischen den Händen drehte. Als ihn Curzon neben den Schreibtisch platziert hatte, stand Gelb auf, ging zu ihm hinüber, lehnte sich an den Schreibtisch und lächelte ihn auf eine besonders beruhigende Art an.
„Es ist nichts Besonderes und nichts zum Aufregen, Butler", sagte er sanft. „Ich bin neu in der Stadt und möchte einige Fragen stellen, weiter nichts." Er hatte den Tonfall eines Krankenbesuchers, eine angeborene Gabe, den Menschen Mut zu machen. „Klar, Herr Gelb." „Wir sind uns schon mal begegnet?"
„Ich habe Sie in Youngstown gesehen, aber wahrscheinlich würde ich Sie nicht wieder erkannt haben, wenn ich nicht gewusst hätte, dass Sie in der Stadt wären." „Woher wussten Sie das?" „Es ist in der ganzen Stadt herum", sagte Butler, und Gelb zeigte zum ersten Male, seitdem Lowell ihm begegnet war, die Pranke; er fuhr Wilson an:
„Ich dachte, es sollte geheim bleiben."
„So wahr mir Gott helfe, der einzige, der von ihrem Hiersein wusste, war Herr Lowell selbst. Curzon habe ich es erst vor ein paar Stunden erzählt."
„Das stimmt", sagte Curzon. „Das stimmt, Herr Gelb."
Lowell betrachtete Butler und fragte sich verwundert, was das Kennzeichen eines ehrlosen Menschen wäre. Dieser hier war ein ruhiger, achtbarer Arbeiter, der keinen Krawall machte und deshalb mit den gesetzmäßig bestellten und gewählten Autoritäten zusammenarbeitete — daneben jedoch hatte Lowell nach Gründen zu suchen. Er fragte sich, ob Gelb oder Wilson oder Curzon jemals dieser Gedanke käme.
Gelb ging vom Schreibtisch fort, ließ sich in einen Sessel fallen und fragte Butler weiter aus, wiederum mit sanfter Stimme: „Woher kam das Gerücht?"
„Ich könnte es nicht sagen, Herr Gelb. Vielleicht hat jemand Sie erkannt."
„Mag sein", nickte Gelb. „Reden die Leute darüber?"
„Sie sind neugierig", sagte Butler.
Jack Curzon sagte: „Ich wüsste nicht, wem es weh tut, wenn sie neugierig sind."
Ein wenig lächelnd sagte Gelb leise: „Nehmen Sie mal an, Butler, Sie müssten mir eine Sache, und nur eine einzige Sache aus diesem Streik erzählen, ich meine, etwas, was ich noch nicht weiß; was würde das sein?"
Butler zuckte die Achseln und schaute von Gesicht zu Gesicht.
„Eine einzige Sache."
„Vielleicht würde ich sagen, dass dieser neue DL, Mike Sawyer, gestern in die Stadt hereinschneite."
„DL?" fragte Wilson.
„Distriktsleiter."
„Von der Gewerkschaft?"
„Von der Kommunistischen Partei", sagte Butler ruhig.
Lowell beobachtete Gelb, aber er zeigte keine Reaktion, keine Veränderung in seiner interessierten, beherrschten Haltung. Wenn man ihn sprechen hörte, war es schwer herauszufinden, ob eine Frage wichtiger als eine andere war.
„Sie sagen, er sei ein neuer Mann?"
„Erst ein paar Wochen bei der Arbeit. Vor ihm hatte Byron Rand den Posten. Ich hörte, dass sie ihn hinunter in den Süden geschickt hätten."
„Warum?"
„Es könnte ein Haufen Gründe sein", sagte Butler. „Aber er war ziemlich tüchtig. Es ist schwierig dort unten, deshalb schicken sie ihre besten Leute dahin."
„Und sie gehen, wohin sie geschickt werden?" fragte Wilson.
„Meistens gehen sie, wohin sie geschickt werden."
Gelb steckte sich eine Zigarette an und paffte eine Weile, bevor er sich wieder an Butler wandte: „Was wissen Sie über
Sawyer?"
„Er ist ein ruhiger Bursche, redet nicht viel, hört lieber zu. Ist in diesem Kriege und im Spanienkrieg gewesen."
„Bataillon Lincoln?"
„Richtig.“
„Es gibt noch einen anderen in der Stadt, nicht wahr?"
„Dr. Abbott."
„Vorläufig wollen wir ihn beiseite lassen." Gelb lächelte, wobei er vermied, Lowells Blicken zu begegnen, und Lowell war neugierig, wieviel dieser gutgekleidete, sanft redende Mensch wusste, wieviel er gewusst hatte, bevor er nach Clarkton kam, und wieviel er seither erfahren hatte. Da, fast als ob er Lowells Gedanken gelesen hätte, wandte sich Gelb zu ihm und sagte mit einem Ton aufrichtiger, doch nicht salbungsvoller Bescheidenheit in seiner Stimme:
„Es ist mein Beruf, Herr Lowell, und ich bin lange dabei. Ich bin sicher, dass Sie in Ihrem Beruf ebenso gut Bescheid wissen." Lowell musste wider Willen lächeln. Curzon und Wilson sahen einander an. Gelb fragte Butler:
„Wenn Sie Distriktsleiter sagen, meinen Sie dann den ganzen Distrikt?"
„Zum Distrikt gehören vier Staaten. Sawyers Gebiet ist das westliche Massachusetts. Es wäre wohl richtiger, ihn Bezirksleiter zu nennen. Das ist auch sein wirklicher Titel, aber wir nennen ihn DL."
Gelb straffte sich etwas, ganz wenig nur, eben genug, dass es bemerkbar war, und ließ den schwächsten Schimmer von Härte in seiner Stimme aufklingen, als er fragte:
„Wann traten Sie hier in Clarkton in die Partei ein, Butler?"
„Vor etwas weniger als sechs Monaten."
„Für so kurze Zeit scheinen Sie gut unterrichtet zu sein."
„Ich halte meine Ohren offen", sagte Butler; der Ton der Unverschämtheit in seiner Stimme entsprach genau dem Ton der Härte in Gelbs Stimme. Gelb lächelte ihn an, und seine Stimme wurde wieder einmal höflich und gewinnend.
„Schon früher in der Partei gewesen?"
„Neununddreißig in Ohio."
„Warum?"
„Ich hatte einen Auftrag."
„Von der United?" (Anm.: United States Steel Corporation - größter amerikanischer Stahltrust)
„Nein, von der Regierung. Sie bezahlt einen wie Grind und behandelt einen wie Dreck."
„Ich habe gefunden", sagte Gelb mitfühlend, „dass sie im allgemeinen großen Unfug macht. Verwaltung und Organisation vertragen sich nicht mit Politik. Und vorher?"
„Was vorher?"
„Ich meine, dass Sie schon vorher in der Partei waren."
„Neunzehnzweiunddreißig", sagte Butler.
„Auch in einem Auftrag?"
„Nein", sagte Butler. „Ich war herunter; ich hatte ein Jahr lang nicht gearbeitet und hatte drei Tage nichts mehr gegessen."
„Ich verstehe. Sagen Sie mir, wer hier in Clarkton Leiter der
Partei ist."
„Danny Ryan."
„Angestellt?"
„Nein, er ist Stanzer in der Fabrik. Wir haben keinen angestellten Funktionär in Clarkton, es ist nicht wichtig genug, nicht groß genug. Ryan ist auch zweiter Vorsitzender der Gewerkschaft. Er teilt sich mit Abbotts Frau, Ruth, in die Parteiarbeit; sie ist Organisationssekretärin für sämtliche Arbeiten."
„Wer?" sagte Lowell.
„Ruth Abbott", wiederholte Butler langsam und sah Lowell
ruhig an.
„Das ist eine Lüge", sagte Lowell. „Das ist eine verdammte
Lüge."
Butler wollte etwas entgegnen, aber Gelb schnitt ihm rasch und geschickt das Wort ab und sagte zu Lowell: „Es mag eine Lüge sein, Herr Lowell, es kann aber auch stimmen. Warten wir doch ab, bis ich mit Butler zu Ende gesprochen habe, und dann können Sie ihn nach Beweisen für alle Behauptungen fragen, die Ihrer Meinung nach zweifelhaft sind."
Wie sehr Gelb auch jede Schärfe in seinen Worten vermied, so mochte Lowell keineswegs, dass man in dieser Form mit ihm sprach. Er war es nicht gewöhnt, und er mochte auch nicht die Art und Weise, wie es mit der Erkenntnis zusammentraf, dass Gelb nach noch nicht vierundzwanzig Stunden in Clarkton über manche Dinge in der Stadt mehr wusste, als er in fünf Jahren erfahren hatte. Aber er nickte, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Man stellte etwas auf den Kopf; anfangs war es unglaublich, und dann passte es beinahe augenblicklich genau in die neue Perspektive. Butler, der den Eindruck eines naiven Menschen machte, war nicht naiv; wie ihn Lowell jetzt sah, wurde er ein amoralisches Wesen; er log, weil nichts in ihm die Lüge von der Wahrheit schied. In ihm lebte kein Prinzip, keine Maxime, kein kontrollierender Faktor — nicht mehr als in einem Tier auf dem Felde, einem Fuchs, der gestern gejagt worden war und morgen wieder gehetzt werden würde, nicht mehr als in einem kleinen Kinde oder einem sehr bösen, sehr alten Manne. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Lowell, flüchtig und fragmentarisch, eine Empfindung für das ethische Problem, das sich aus der Situation erhob; zu gleicher Zeit passte sich das kopfgestellte Bild in den Rahmen ein, und er wusste, dass Butler in diesem Falle nicht log.
„Sie wollen mehr über Ruth Abbott hören?" sagte Butler. „Sie spielt hier die Hauptrolle, und sie ist auch im Distriktsvorstand."
„Ryan auch?"
„Der auch", sagte Butler.
„Ich fürchte, Sie können die Abbotts nicht leiden", lächelte Gelb, die Andeutung von Abbitte und Verständnis an Lowell gerichtet. „Ich denke, wir lassen sie für eine Weile aus dem Spiel. Wie stark ist die Partei hier in Clarkton, Butler?"
„Dreiundvierzig Mitglieder." Dann fügte er noch mit einem Ausdruck, der fast einem entwaffnenden Lächeln glich, hinzu: „Einschließlich meiner selbst."
Gelb hielt nun ein kleines Buch in der Hand, trug aber keine Notizen, sondern Ziffern ein. Es war ein dünnes, kostspieliges Notizbuch in blauem Leder mit einem zarten Liniengeflecht von Gold, und es steigerte jenes Gefühl der Verwöhntheit, das Gelb ohne Einbuße seiner Männlichkeit zu bewahren verstand.
„Wie sind sie organisiert?"
„In zwei Gruppen", sagte Butler und bestätigte Lowell eine Klarheit der Auffassung, die dem schäbigen, schüchternen, mehr oder weniger unauffälligen Äußeren durchaus widersprach, so dass Lowell sich staunend fragte, welcher Zufall denn den einen Menschen auf diesen Platz, den andern auf jenen führte. Denn hier stand der Spitzel von Beruf geradezu als Allgemeinbegriff, ein Mensch ohne Vorurteile und ohne Vorlieben, der in der Verborgenheit einer schmutzigen Fabrikstadt Neu-Englands für die zwanzig oder dreißig Dollar die Woche wirkte, die Wilson gewillt war, ihm über seinen Arbeitslohn hinaus zu
zahlen.
„Es gibt eine Betriebs- und eine Wohngruppe", fuhr Butler fort, „ich bin in der Betriebsgruppe, wir haben sechsundzwanzig Mitglieder. Die übrigen sind in der Wohngruppe, Abbotts
Gruppe."
„Arbeiten die Leute aus der Betriebsgruppe alle im Werk?"
Butler nickte.
„Und wer alles ist in der Wohngruppe?"
„Abbott und seine Frau, Joe Santana - das ist der Friseur -und seine Frau. Der alte Professor Revere und sein Sohn, der eine, der Lehrer oben in Williams ist. Goldstein, der Rechtsanwalt, und seine Frau, und Milt Cooper, der gerade vom Militär gekommen ist... "
„Den Rest brauchen Sie nicht aufzuzählen", sagte Gelb; er wandte sich an Wilson: „Sie haben doch eine vollständige Liste,
nicht wahr?"
Wilson nickte. „Wieso kennen Sie die andere Gruppe so genau?" fragte Gelb Butler.
„Die beiden Gruppen halten einmal im Monat eine gemeinsame Versammlung ab. Seitdem der Streik anfing, haben sie fast alle drei Tage eine gemeinsame Versammlung abgehalten — zwei Versammlungen hatten sie schon. Alles, was überhaupt vorkommt, bespricht Ryan mit Ruth Abbott." „Er hält viel von ihr?"
„Ich möchte nicht sagen, wieviel... " grinste Butler und warf einen schnellen Blick auf Lowell, „aber er ist höllisch besessen von ihr. Ich weiß nicht, was in den Betten der Genossen vor sich geht, ich kann nur vermuten... " „Schweigen Sie!" sagte Lowell.
„Man hat mir eine Frage gestellt, ich beantworte sie." „Sprechen wir doch nicht mehr von Ruth Abbott", mischte sich Gelb beruhigend ein. „Wo treffen sich die Gruppen, Butler?" „Die Wohngruppe trifft sich bei den Abbotts - oder in Santanas Wohnung hinter seinem Friseurladen; die Betriebsgruppe an verschiedenen Stellen, bei Ryan oder jemand anderm."
„Wie stellt sich die Betriebsgruppe zu dem Streik?"
„Genau gesagt, hinterhältig. Verstehen Sie mich nicht falsch. Der Streik hätte ohne sie auf keinen Fall in der Art angedreht werden können, wie er angedreht wurde. Aber sie stehen deshalb an der Spitze, um alles für ihre gottverdammte Partei herauszuholen. "
„Wieso?" sagte Gelb, beinahe flüsternd.
„Ryan hält den Genossen große Reden über politische Schulung, damit sie in der Lage sind, die Arbeiter erkennen zu lassen, dass der Streik nicht alles ist, und ihnen beizubringen, dass sie lernen müssen, wie man zur politischen Aktion übergeht. Er sagt, wir müssen uns überlegen, wie wir den Sozialismus an die Arbeiter heranbringen. Sie in die Partei holen! Sie Einigkeit lehren! Sie ihr Klasseninteresse lehren — was bedeutet, dass sie auf einem Buch von Karl Marx in den Himmel reiten werden! Massenstreikposten und all dieser Quatsch, aber Ryan gibt sich keine Blöße. Hände weg von der Gewerkschaft, sagt er, Hände weg von der Gewerkschaft."
„Aber sie tun's nicht", lächelte Gelb.
„Was glauben Sie denn? Drei Genossen sitzen im Streikkomitee. Sie leiten die Suppenküchen, sie melden sich freiwillig als Streikpostenobleute, was kein Vergnügen ist, weil man dabei sein muss, ganz egal, wie das Wetter ist. Es ist ihr eigener verdammter kleiner Streik — doch sie lassen die Hände davon, ganz richtig; sie schaffen bloß tonnenweise Lebensmittel heran und verbreiten ihren Fetzen, den Daily Worker, über den ganzen Ort."
„Ließe sich nicht mit irgendeinem von ihnen verhandeln?"
Um Butlers Augenwinkel erschienen kleine Falten, und er sah Gelb einen langen, kühlen Augenblick an, bevor er antwortete: „Warum versuchen Sie es nicht?"
„Sie sind ein gerissener Bursche, Butler, aber sie sollten nicht zu gerissen sein. Ich kann Menschen nicht leiden, die zu gerissen sind."
„Wenn ich ein gerissener Bursche wäre, brauchte ich nicht bei dieser Schmutzarbeit zu sein."
„Dieser Danny Ryan", sagte Gelb. „Ist es bekannt, dass er ein
Roter ist?"
„Wie meinen Sie, bekannt?" „Gibt er zu, dass er ein Parteibuch hat?" „Er hängt es nicht an die große Glocke. Der einzige in der Stadt, der genug Mumm hat, sich hinzustellen und zu sagen, was er ist, das ist Joe Santana. Früher pflegte er in die Kirche zu gehen, und dann wurde ihm die Partei zur Religion-, direkt in seinem Laden hat er einen Stoß von Büchern des Dekans von Canterbury liegen und dreht sie jedem an, der dumm genug ist, dafür Geld auszugeben." „Ich fragte nach Ryan", sagte Gelb.
„Manche wissen es von Ryan, manche nicht. Als sie in der Gewerkschaftsversammlung beschlossen, über den Streik abstimmen zu lassen, warf Bill Noska, der Vorsitzende, Ryan vor, Kommunist zu sein. Ryan stritt die Beschuldigung keineswegs ab, verlangte bloß dauernd, sie sollten sich seine Vergangenheit ansehen und ihn nach dem beurteilen, was er täte; das ist die Tour, die sie immer reiten. Und dann kam ihm noch Joey Raye zu Hilfe - ein großer Neger, der wie ein Baptistenprediger redet -und riss ihn heraus. Dieser Ryan ist ein ganz gerissener Ire, der keinen Schritt tut, wenn er nicht weiß, wo er seinen Fuß hinstellt. Er hat diese Kampagne für Massenstreikposten angedreht, aber er betreibt sie nie zu stark — er betreibt nie etwas zu stark, wenn er merkt, dass es gegen ihn läuft."
Später hatten die drei, Lowell und Gelb und Wilson, im Werk
ihren Lunch. Geneigt, die Bedeutung der Vorgänge in Curzons Büro
zu verkleinern, sagte Lowell, er sähe nicht ein, dass sechsundzwanzig
Kommunisten in einem Betrieb, der fast fünftausend Männer und
Frauen beschäftigte, viel zu bedeuten hätten, weder so noch so.
„Ein fauler Apfel in einem Fass ist auch nicht viel", sagte Gelb.
„Eine kleine Krebsgeschwulst ebenso wenig, nicht wahr, Herr
Lowell?"
„Noch ist es nicht gegen das Gesetz, Kommunist zu sein", protestierte Lowell.
„Kommt noch, bloß ist das Gesetz so kolossal verdammt langsam. Dies ist eine ruhige Stadt, Herr Lowell. Ihr Vater hat niemals Krach hier gehabt. Aber todsicher bekommen Sie einen Haufen Unordnung, wenn Sie die Sache nicht gleich zu Anfang abdrehen."
Seines Standpunktes unsicher und von der sachlichen Offenheit sowohl Wilsons wie Gelbs bedrängt, suchte Lowell nach Gründen und Tatsachen, die er greifen konnte. Die ganze Zeit, die er mit den Abbotts verlebt hatte, kehrte zurück, aber um sein Leben nicht konnte er Abbott oder dessen Frau in das Bild einpassen, das Gelb entwarf. Mit Kommunisten hatte sich Lowell nie besonders beschäftigt, und wenn er es tat, so war er ein hinreichend gesunder und welterfahrener Mensch, um irrsinnige Wutausbrüche zu unterlassen; er brachte sie in jenem hinteren Schubfach seines Gedächtnisses unter, das auch die Tauchtauf-Baptisten, Technokraten und Sabbat-Adventisten enthielt. Merkwürdigerweise war es nicht Abbott gewesen, mit dem er gesprochen, als er ein einziges Mal den Versuch gemacht hatte, ernsthaft über diese Dinge zu reden, sondern sein Sohn Clark, und zwar im Zusammenhang mit der Roten Armee - zu einer Zeit, da sie sich viel über solche Themen unterhielten; und damals war er von Clarks frischem, wachsamem Hunger nach allem in der Welt mitgelockt worden, was in jenem flammenden Kessel, zu dem das Leben während des Krieges geworden war, erfahrenswert schien.
„Das einzige doch, was Sie jetzt vorweisen können, ist, dass sie Massenstreikposten wollen und dass sie Lebensmittel heranschaffen", sagte er.
„Diese Leute sind am leichtesten in der Welt zu unterschätzen", antwortete Gelb, „und das ist ein Fehler, den ich mit aller Gewalt zu vermeiden suche." Wie er so sein Stück Obstkuchen aß und seinen Kaffee trank, ernsthaft erzählte und Lowell in die Augen sah, war er offensichtlich ein aufrichtiger Mensch, gleich jenem seltenen Typ eines Offiziers, der Disziplin und Intelligenz mit wirklichen menschlichen Eigenschaften zu verbinden weiß. „Ich habe den Ruf, erfolgreich zu sein", fuhr er fort, „und ich glaube nicht, dass ich diesen Ruf haben würde, wenn ich diese Leute unterschätzt hätte." Er aß zwischen seinen Worten; es war eine Genauigkeit an ihm, die jeder Opposition spottete, eine Sachlichkeit, die bessere Erfolge als ein dramatisches Auftreten erzielte. „Wir begehen zwei Irrtümer, Herr Lowell. Wir mögen diese Leute nicht, und wir verstehen sie nicht. Kostspielige Irrtümer, wenn Sie mir glauben wollen. Denn sie sind ein sehr hoher Typ des Menschen, und das ist etwas, was wir anerkennen müssen. Sie sind äußerst geschickt im Organisieren. Der Zweck der Massenstreikposten ist nicht, Sie der Arbeiter bewusst zu machen, sondern die Arbeiter ihrer selbst bewusst zu machen. Das ist eine Vorstellung, die wir schwer begreifen, weil wir nicht wie die Arbeiter denken; aber sie tun es. Wenn Sie sich daran erinnern, zu Ihres Vaters Zeiten ging es mit der Betriebsgewerkschaft ganz glatt — es gab keine Unruhe. Dann trat der CIO auf, und die Leute in der Stadt begannen anders über das Werk zu denken." Er entschuldigte sich: „Nicht, dass ich über die Lage mehr weiß als Sie, Herr Lowell, aber ich kann aus hundert gleichartigen Situationen meine Kenntnis verallgemeinern. Ihr Vater stellte ein Muster patriarchalischer Fürsorge auf, aber als der CIO kam, begannen die Arbeiter zu fordern. Der Appetit war die ganze Zeit dagewesen, aber hier war nun ein Weg, ihn zu befriedigen, und entweder fressen sie Sie auf oder Sie machen ihnen klar, dass Sie in der Lage sind, ihrem Appetit Schranken zu setzen. Warum aber sind die Kommunisten der Schlüssel zu diesen Dingen? Nicht weil sie die Revolution fordern oder die Regierung stürzen wollen, nicht weil sie Familie, Kirche und alles andere zerstören — das sind Altweibermärchen für solche, die sie nutzen wollen, und sie dienen nur dazu, uns zu verwirren -, sondern weil die Kommunisten sehr geschickt die Arbeiter zum Bewusstsein ihrer selbst und zum Bewusstsein dessen bringen, was sie erreichen können, wenn sie sich in Bewegung setzen. Das wäre nicht gut für die Lowell Company, und es wäre nicht gut für Clarkton."
„Es ist gegen unsere Tradition", sagte Wilson. „Es ist gegen alles, was amerikanisch heißt, gegen alles, was uns am Herzen liegt. Es ist jene Art Totalitarismus, der unser Land in einen Kasernenhof verwandeln würde... "
„Was schlagen Sie vor zu tun, Gelb?" unterbrach ihn Lowell. Er war schon müde; es verlangte ihn, wegzukommen und dies hinter sich zu haben.
„Es gibt verschiedene Möglichkeiten vorzugehen", sagte Gelb. „Aber ich denke, wir sollten ihnen etwas zu schlucken geben, das wie ein Katalysator wirkt und den Streik von selbst beendet. Wilson sagt mir, dass es für Sie von außerordentlichem Vorteil wäre, mit der Geschichte rasch fertig zu werden — doch nicht durch einen Zurückzieher. Ich glaube, es wäre falsch, gerade jetzt zurückzuweichen. Es gibt gewisse Dinge, die wir tun können. Zum Beispiel sind eine Anzahl Gewerkschaftsfunktionäre ziemlich antikommunistisch. Hier wäre der Ansatzpunkt für einen Keil, es hängt aber davon ab, wie ehrlich diese Funktionäre sind. Wir werden das in Gang bringen. Aber mehr als das möchte ich dem Massenstreikpostenstehen zuvorkommen. Ich mag Massenstreikposten nicht. Ich möchte ihnen einen Knüppel zwischen die Beine schmeißen. Nun sagt mir Wilson, dass sich das Werksgelände das ganze Stück von den Toren bis zur Birkenstraße hinzieht.
„Das stimmt", sagte Lowell.
„Es wird auch vor dem Betreten gewarnt", sagte Wilson. „Ich sprach mit Burton darüber, und er sagt, Herrn Gelbs Vorschlag hätte eine solide rechtliche Basis."
7
Etwa zwei Stunden zuvor, mit anderen Worten gegen elf Uhr ungefähr, hatte sich bei Lois ein schneidendes Kopfweh zu entwickeln begonnen — eins von denen, die morgens anfangen und stetig schlimmer werden, bis sie in Schmerz und Allgegenwart den ganzen Menschen verzehren. Das traf sich recht unglücklich, denn Lois hatte sich vorgenommen, heute mit Fern über gewisse Gewohnheiten zu sprechen, die ihre Tochter angenommen hatte, und Lois sperrte sich, eine Idee, einen Plan, überhaupt jeden Kurs des Handelns aufzugeben, den sie für nötig hielt und zu dem sie sich entschlossen hatte. Sie war um so entschlossener, als dies keine besonders dringliche Sache war, auf keinen Fall dringlicher, als sie vor acht Tagen gewesen wäre oder nach acht Tagen sein würde. Sie legte sich für eine Stunde hin, aber das half nicht viel, und da fiel ihr ein, ein Glas kalte Milch zu trinken; sie erinnerte sich, dass Elliott es gegen fast jede kleinere Magenstörung verschrieben hatte, und sie erinnerte sich auch, dass er einmal gesagt hatte, Kopfschmerzen hätten ihren Ursprung im Magen. Als sie in die Küche ging, fand sie Fern dort sitzen, Milch trinken und mit Huhn belegte Brote verzehren, so rasch sie Martha, die Köchin, machen konnte. Lois trank ihre Milch und fragte dabei Fern, wo sie hinginge. „Zu Elliotts", sagte Fern. „Warum?"
„Weil ich glaube, dass ich krank bin", sagte Fern ruhig — eine Behauptung, die zu glauben Lois keinen Grund hatte, die sie aber antrieb, ihre Absicht durchzuführen; sie sagte Fern, dass sie gern einmal mit ihr sprechen möchte. „Lange, Mutter? Ich möchte mich nicht gern aufhalten." „Nur ein paar Minuten“, sagte Lois. Sie gingen in die Bibliothek, wo Fern mit den Händen im Schoß dasaß. Sie kannte ihre Mutter, sie ahnte, was kommen würde, und war schon entschlossen, es geduldig über sich ergehen zu lassen. Wie sie so Lois gegenübersaß, sah sie sehr reizend aus: ein junges Mädchen in braunem Kostüm, gelber Bluse und braunen Schuhen mit flachen Absätzen. Sie hatte das freimütige, offene Gesicht von Lois, auch die weitgesetzten Augen, die einen so völlig zu entwaffnen vermochten und denen, wie Lois jetzt erwog, ihr Vater wieder und wieder verfiel. Aber Lois war nicht gewillt, ihre Gedanken ablenken zu lassen, und da sie nicht wusste, wie sie ihre Aussprache einleiten sollte, stürzte sie sich mitten hinein und sagte Fern, dass es so nicht weitergehen könnte.
„Was, Mutter?"
„Soll ich dir alles einzeln aufzählen, Fern? Deine ganze Lebensweise."
„Wie lebe ich denn, Mutter?" fragte Fern.
„Zum Beispiel bloß die Geschichte mit Elliott."
„Welche Geschichte mit Elliott, Mutter?" fragte Fern mit stumpfer und träger Stimme. „Glaubst du, dass ich in Elliott verliebt bin? Bist du in ihn selbst verliebt - geht es darum?"
„Wie gemein, so etwas zu sagen!" Lois' Kopf hämmerte, und deshalb versuchte sie, sich zu beherrschen, um sich nicht von einem Impuls hinreißen zu lassen und ihrer Tochter gewisse Dinge zu sagen, die niemals zurückgenommen oder vergessen werden könnten. Seitdem Clark tot war, war ihr Fern immer schärfer ins Bewusstsein getreten, hatte sich ihr Bedürfnis, Fern zu lieben und von ihr geliebt zu werden, immer mehr gesteigert. Sie war nun in der Defensive, völlig in der Defensive, und Fern nützte es aus.
„Oder sind es die Abende, Mutter? Denkst du an die finsteren und schmutzigen Dinge, die ich nachts tue - das wilde und hoffnungslose Leben, das ich führe? Es muss ein hübsches Bild sein, das du mit dir herumträgst. Ich sollte Mitleid mit dir haben, bloß ich hab's nicht... "
Und durch die Qual in ihrem Kopf, durch die Panik, die sie überwältigte und ihren Wunsch erweckte, aus dem Zimmer zu stürzen, konnte Lois einzig und allein an den Tod ihres Sohnes denken, wie er von dieser herrlichen und leidvollen Erde Abschied nehmen musste - ihr großer, hübscher Sohn, der mit mehreren Hundert seiner Kameraden in einem französischen Walde von den Nazis gefangen genommen, mit den anderen zu einer Herde gesammelt, wieder abgeteilt, zurückgetrieben und dann niedergeschossen worden war, um mit einem Loch in seinem Kopf im Schnee liegenzubleiben. Das war alles, woran Lois denken konnte.
8
Das Lokal der Clarktoner Gewerkschaft war ein baufälliges Fachwerkhaus an der Kreuzung Eichenstraße und Vierte Avenue, am äußersten Rande der Stadt, mit den Bergen dahinter und mit einem murmelnden Bach, der vorbeilief. Weiter unten in der Eichenstraße verwandelte sich das Pflaster in einen alten Schlackenweg, der das Flüsschen auf einer dieser alten überdachten Neu-England-Brücken überquerte. Nach Osten zu stand an der Vierten Avenue eine lange Reihe Arbeiterhäuser, jene merkwürdigen ländlichen Elendsquartiere aus roten Ziegeln, die diesem Teil Amerikas eigentümlich sind und seltsam an die Alte Welt erinnern. Die Seltsamkeit wurde noch dadurch gesteigert, dass jede Wohnung in der Reihe nur vier winzige Zimmer enthielt und keine Zentralheizung, keine Wasserleitung, keine Kanalisation hatte. Je zehn Familien teilten sich in Abort und Pumpe, eine Tatsache, auf die Danny Ryan hinwies, als er mit Mike Sawyer die Vierte Avenue zum Gewerkschaftshaus hinaufging.
„Die Leute hier sind alle französische Kanadier", sagte Ryan. „Sie wurden größtenteils 1929 heruntergeholt, als der alte Lowell sich vornahm, den Streik zu zerschlagen - und es geschafft hat, bei Gott -, aber jetzt sind sie gute Gewerkschafter, nur dass die Kirche nun anfängt sie aufzuhetzen."
„Ihr habt viel Ärger mit der Kirche?" fragte Sawyer.
„Es geht los. Sie haben einen neuen Pfarrer aus Boston hierher bekommen, Pater O'Malley; groß, gut aussehend und mit der richtigen Sorte von Lächeln. Ein sehr gerissener Bursche. Er kommt zu mir in die Wohnung, macht einen großen Stuss mit den Kindern - ich glaube, er hat Kinder tatsächlich gern -, und dann sagt er: ,Ich höre, Sie sind Kommunist, Ryan.' Es wird behauptet, sage ich. Darauf er: ,Wenn jemand seinen Bruder Genosse nennen will, dann ist das ganz mein Fall. Ich habe Kommunisten gern, aber ich verabscheue den Kommunismus.' Von dieser Art Burschen ist er, richtig ausgekocht. Er fing ganz sachte an, aber jetzt macht er ein Affentheater wegen der gottlosen Roten. Nicht wegen des Streiks, dafür ist er zu gerissen."
Sawyer starrte die Brücke an, und Ryan erklärte, dass sie hundertdreiundvierzig Jahre alt wäre. „Vor etwa zehn Jahren wollten sie sie abreißen, aber der alte Lowell wehrte sich mit aller Macht und brachte es wieder in Ordnung."
„Sie ist wunderbar", sagte Sawyer. „Ich habe noch nie eine dieser alten überdachten Brücken gesehen. Ich sah Bilder davon, aber noch nie habe ich bisher eine in Wirklichkeit gesehen. Dies ist eine mächtig hübsche Gegend zum Arbeiten."
Ryan warf einen Blick auf ihn und sagte scharf: „Willst du mich veralbern?"
„Nein — zum Teufel, nein!"
„Ich versteh' dich nicht, Sawyer —Jesus, ich versteh' dich nicht. Vielleicht bist du zu lange aus dem Verkehr gezogen gewesen."
„Was beißt dich?" sagte Sawyer und bemühte sich, seine Gereiztheit zu beherrschen. „Was, zum Teufel, beißt dich, Ryan? Ich versuche hier weiterzukommen. Ich möchte auch mit dir weiterkommen. Wenn ich nicht begreife, dass Harn Gelbs Anwesenheit hier in der Stadt das Schlimmste ist, was je passierte -vorausgesetzt, er ist hier -, dann spielst du verrückt."
„Reg dich nicht auf", sagte Ryan.
„Ich versuche, mich nicht aufzuregen. Ich bemühe mich, mir beizubringen, dass ich mit dir zusammenarbeiten muss."
„Mir ging wieder mal der Hut hoch", sagte Ryan langsam und biss sich auf die Lippen. „Dies ist ein Streik und kein Sonntagsvergnügen."
„Ich weiß, dass es ein Streik ist, Ryan. Ich weiß noch nicht in allem Bescheid, aber ich bemühe mich, mein Handwerk zu lernen. Ich habe sie nicht gebeten, mich in die größte Streikwelle
hineinzuschicken, die jemals über das Land gegangen ist. Aber sie haben es getan, und hier bin ich nun." „In Ordnung - mir ging der Hut hoch." Sawyer sagte: „Dieser Byron Rand, den sie vor mir hier hatten - der war ein fixer Junge?"
„Er war ein höllischer Kerl", antwortete Ryan gelassen. „Warum schreibst du ihnen nicht einen Brief drunten in New York und sagst ihnen, dass es uns überhaupt gibt? Wenn ich meinen Ford auf die Weise führe, wie die ihre Organisation leiten, dann könnte ich ihn als Schrott verkaufen."
„Wenn das deine Meinung ist, na schön", sagte Sawyer. „Ich habe meinen Auftrag, und den möchte ich durchführen. Wenn du meinst, ich mache Murks, dann schreib du ihnen doch einen Brief. Bis dahin aber bleibe ich hier kleben."
Sie waren nun vor dem Gewerkschaftshaus angekommen. Auf dem Bürgersteig davor waren mindestens fünfundzwanzig oder dreißig Männer und Frauen, die in Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten oder bloß an der Mauer lehnten und den warmen Sonnenschein des köstlich unwinterlichen Wetters genossen. Alle kannten sie Ryan, und Sawyer bemerkte wieder, wie geduldig Ryan ihre Beschwerden anhörte und wie bereitwillig sie ihre Klagen vor ihm auskramten. Als er Ryan so beobachtete, wurde ihm bewusst, dass er von dem kleinen Iren eine ganze Menge lernen könnte. Die Mühe würde sich lohnen. Es würde sich lohnen, seinen Spleen hinzunehmen - was er sowieso musste. Er stellte auch fest, dass wenigstens ein Dutzend Leute den Daily Worker lasen, und als er eine Bemerkung zu Ryan darüber machte, sagte der kleine Mann:
„Während des Streiks können wir ihn unter die Leute bringen. Bill Noska hat zwar Zeter und Mordio geschrieen, aber was kann er ihnen weismachen, wenn er das einzige Blatt ist, das ihnen nicht die Hosen runterzieht. Komm mit hinein. Ich möchte dich mit Noska bekannt machen."
Sie traten in einen schmutzigen Hausflur voller Menschen.
Eine Gruppe Arbeiter las die Notizen auf einem Anschlagbrett an der einen Wand. Gegenüber davon war ein Schalterfenster mit der Aufschrift Geschäftszimmer. Auch hier standen sie dichtgedrängt vor einer abgehetzten Frau, die mit fünf Leuten auf einmal zu sprechen versuchte. Hinter ihr arbeiteten zwei eifrige, aber abgespannt aussehende Mädchen an einem Vervielfältigungsapparat. Ein großes handgeschriebenes Plakat über dem Fenster lautete: Schreibt eure Bauchschmerzen auf- bringt sie nicht mündlich vor! Der Ort atmete Bewegung und Handlungsfreude, was Sawyer mit Befriedigung registrierte; er dachte, dass die Zeit, wo die Plackerei anfing, dann kam, wenn eine Streikbewegung versumpfte, und nicht, wenn sie sich beschwerte und ihre Bitterkeit über die ganze Gegend ausspie.
Danny Ryan ging den Flur weiter hinunter, öffnete die Tür zu einem unaufgeräumten kleinen Büro und schob Sawyer hinein. Ein alter Schreibtisch war in dem Zimmer, ein Telefon, eine Schreibmaschine, ein Haufen Streikpostentransparente und auf dem Fußboden ein Teppich von vervielfältigten Blättern und Pappbechern. Hinter dem Schreibtisch rieb sich ein großer blonder Mann nachdenklich seinen zwei Tage alten Bart und kaute zwischen den Worten eines Briefes, den er gerade diktierte, an einer Zigarre. Ein schmächtiges Mädchen mit Ringen unter den Augen nahm das Diktat geduldig auf. Ein athletischer, sehr schwarzer Neger saß an der einen Seite, hatte seinen Stuhl gegen die Wand gekippt, knetete an einem Stück Gummi herum und zählte anscheinend die Risse in der Decke. Als die beiden eintraten, brach der Blonde sein Diktat ab und schwenkte die Zigarre gegen Ryan.
„Hallo, Danny... " und dann zu dem Mädchen: „Ach, zum Teufel! Schreib ihnen einen Brief und sag ihnen, was ich ihnen deiner Meinung nach sagen sollte. Ich bin zu müde zum Denken." Er sagte zu Ryan: „Setz dich hin, Danny. Was gibt es Neues? Joey hier meint, ich sollte mich rasieren lassen und zu meiner Frau nach Hause gehen."
„Klar solltest du das", sagte Ryan. „Alles läuft glatt, warum brauchst du dich abzuquälen? Das hier ist Mike Sawyer." Er drehte sich zu Sawyer um und sagte ihm: „Das ist Bill Noska." Er nickte zum Neger hin: „Das ist Joey Raye. Ich glaube, ihr habt euch schon gestern getroffen."
Der Neger grinste, langsam und gutmütig. Er löste sich aus seinem Stuhl und selbst an seiner Bewegung ließ sich eine grenzenlose Gutmütigkeit erkennen.
„Eine außerordentliche und schöne Person - das ist Sally Dorcet, die den ganzen Kram schmeißt", sagte Ryan und legte einen Arm um die Schulter des Mädchens. Noska lehnte sich über den Tisch und gab Sawyer die Hand. „Freut mich, Sie kennen zu lernen", nickte Sawyer, und Ryan fügte hinzu: „Sawyer ist der neue Parteimensch für diesen Bezirk. Ich dachte mir, du solltest mit ihm zusammenkommen, damit du ihm ins Gesicht sagen könntest, was du auf dem Herzen hast, anstatt auf dem Umweg
ü ber mich."
„Ich meine, ihr solltet die Hände aus dem Spiel lassen", sagte Noska, doch ohne jede Überzeugung. „Die Gewerkschaft veranstaltet dieses Picknick, nicht die Partei."
„Ich habe nicht das geringste dagegen", sagte Sawyer.
„Wenn ich bloß wüsste, wohinter zum Teufel ihr Burschen
eigentlich her seid", beklagte sich Noska, „dann wüsste ich
schon, wie ich mit euch fertig würde, aber ich habe noch nie
einen Kommunisten getroffen, der mir eine klare Antwort geben
konnte."
„Meist sind wir hinter den gleichen Dingen her wie ihr", sagte Sawyer, der die Blicke Ryans und des Negers auf sich
fühlte.
„Ich will achtzehneinhalb Cent mehr die Stunde, aber keine Opiumträume. Und die, meine ich, kriegen wir auch ohne jede Strategie aus Moskau. Haben wir nicht schon Ärger genug, ohne dass uns die gottverdammten Zeitungen noch als Rote verschreien?"
9
Auf ihrer Fahrt durch die Stadt lenkte Fern ihren Zweisitzer mit jener besonderen Mischung von Selbstvergessenheit und Geschicklichkeit, die ihr bereits das Missfallen sogar der Leute eingetragen hatte, die von nichts Höherem und Erstrebenswerterem träumten als von einer Abendgesellschaft bei den Lowells. Das Gefühl wurde erwidert. Fern verabscheute Clarkton und die meisten seiner Einwohner und gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen; und neben anderen Dingen war es stadtbekannt, dass sie mit Vergnügen zwanzig Meilen weit fuhr, bloß um nicht einen Laden am Orte zu beehren. Als die episkopale Kirche Gedächtnisgottesdienste für die Söhne Clarktons abhielt, die im Kriege gefallen waren, erschienen die Lowells pflichtgetreu, aber Fern blieb ostentativ weg. Wie Lowell ihr einmal klarzumachen versucht hatte, war es ohne Sinn und vergrößerte es nur das Gerede - worauf Fern erwidert hatte, dass sie um nichts in der Welt die ohnehin kleinen Freuden dieser Menschen zu schmälern gedächte.
Es war heute fast ein Uhr, als sie bei Dr. Abbott ankam. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihren Gemütszustand nicht gebessert, und als sie sah, dass noch zwei Patienten im Wartezimmer saßen, kuschelte sie sich in eine Ecke der Couch und vergrub die Nase in ein Magazin. Elliott Abbotts Tagessprechstunde war von zwölf bis eins, gewöhnlich aber dauerte sie mindestens eine halbe Stunde länger. Diesmal jedoch ging es fahrplanmäßig. Abbott nickte Fern zu, als er herauskam, und erledigte in den nächsten zehn Minuten die beiden Leute, die noch gewartet hatten. Dann setzte er sich neben Fern auf die Couch und fragte:
„Bist du krank, Ferney - oder will ein schöner Tag vollkommen werden, weil du herüberkamst, um mich zu besuchen?"
„Ich bin krank, glaube ich", sagte sie. „Hast du gestern abend mit Vater eine Auseinandersetzung gehabt?"
„Ich weiß nicht, was dir solche Gedanken in den Kopf setzt. Komm in mein Sprechzimmer und erzähl mir, was dir
fehlt."
Sie fragte ihn, ob es nicht ohne Ruth sein könnte; er sah sie befremdet an, wollte nein sagen, begann nein zu sagen, zuckte dann aber die Achseln und willigte ein. „Na schön, wenn du mich allein sprechen willst."
Er ging ins Sprechzimmer, und Fern hörte ihn sagen: „Ruth, ich werde mit Fern allein sprechen." Sie zitterte, als sie hereinkam, und sie wusste, dass er es bemerkte und es zu anderen Dingen fügte. Sie setzte sich in einen Stuhl neben seinem kastenförmigen, einfachen Eichenschreibtisch, und Abbott setzte sich dahinter und spielte mit einem Federhalter. „Warum denkst du, dass du krank bist, Fern?" fragte er, die schiefergrauen Augen fest und prüfend auf sie geheftet. „Du glaubst nicht, dass ich es bin?" „Natürlich glaube ich dir, wenn du meinst, du seiest krank." „Mutter glaubt nicht, dass ich krank bin. Sie denkt, ich sei verliebt in dich. Sie ist eine keusche Seele, aber ich kann es nicht über mich bringen zu sagen, was sie denkt." Dann fügte Fern hinzu: „Es ist keine Verliebtheit. Ich liebe dich. Das ist so wahnsinnig verrückt, und ich habe hier unten solche Schmerzen, dass ich gar nicht mehr schlafen kann."
Noch immer blickte er sie an und sagte: „Gehen wir hinein und sehen wir uns einmal die Sache an, Fern, und dann wollen wir über die andern Dinge sprechen."
10
„Du glaubst mir nicht", sagte Fern. „Mutter denkt immer nur nach einem Schema, und du denkst auf die gleiche Art. Ich habe mir alles bloß ausgedacht, um mit dir allein zu sein."
„Ich glaube dir. Ich sage dir, der Schmerz ist tatsächlich da. Ich glaube nicht, dass du dir den Schmerz einbildest. Er tut dir weh und er ist da. Aber er ist nicht entstanden, weil organisch etwas mit dir nicht in Ordnung ist. Und ich denke, er wird wieder vergehen."
„Aber warum ist er denn da?"
„Warum kriegt deine Mutter ihre Kopfschmerzen, Fern?"
Das Mädchen sah ihn hoffnungslos an. Er hieß sie ihre Kleider anziehen, und dann ging er ins Sprechzimmer zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte auf einen Kalender. Es war seine Gewohnheit, mit Gegenständen von glatter Oberfläche zu spielen, als ob ihm die Tastempfindung ein Bedürfnis wäre, und so nahm er seinen Federhalter auf, drehte ihn in der Hand und malte dann Kringel auf das Löschblatt vor ihm; und er saß da und tat das, als Fern wieder hereinkam.
„Was ist mit mir nicht in Ordnung, Elliott?"
„Warum sagst du ,nicht in Ordnung', Ferney?" antwortete er ohne aufzusehen. „Ich sagte dir vorher, dass du nicht krank bist."
Sie stand vor seinem Schreibtisch und erzählte ihm mit der tonlosen Stimme, die in diesen Tagen mehr und mehr ein Teil ihrer selbst wurde: „Du bist das einzige gute Erlebnis, das mir je begegnet ist, Elliott, und ich sage dir, dass ich dich liebe; und du siehst mich an, als sei ich ein albernes Gör; und du meinst, ich erfinde Dinge... "
„Ich halte dich nicht für ein albernes Gör, Ferney. Wenn ich eine Tochter hätte, wünschte ich, sie wäre wie du."
„Das ist nicht wahr", sagte Fern. „Aber es ist die reizendste Lüge, die ich je gehört habe. Ich höre überhaupt nichts Nettes mehr."
Er hatte längst aufgehört, seine Mitmenschen zu bedauern, aus einer vollerblühten Erkenntnis der Zwecklosigkeit des Mitleids heraus. Aber die Tochter seines Freundes rührte ihn, wie sie so hilflos und kindlich vor seinem Schreibtisch stand. Es war ihm ein seltsames Gefühl zu denken, dass sie ihn liebte. Er wollte jetzt nicht darauf eingehen, sondern erst mit Ruth darüber sprechen; er wollte Ruth, mit der gelassenen Hinnahme von Tatsachen, die ihrer Beziehung zugrunde lag, sagen, dass diese Liebe in aller Tatsächlichkeit ebenso aufrichtig und wirklich wäre wie alles, was Liebe genannt wurde, in diesen Vereinigten Staaten in diesem Jahr 1945, wo Katharine Hepburn oder Ingrid Bergman die erhabenste Beziehung veranschaulichten, die die Ethik der Zivilisation hervorgebracht hatte - oder Lauren Bacall und Humphrey Bogart. Träume kamen aus der Traumfabrik heraus, und was war nun einmal sonst zu erwarten? Er begann sich alt zu fühlen, ein gewohntes Gefühl letzthin, und hörte kaum, wie
Fern sagte:
„Ist es dir nicht wichtig, mir zu glauben? Warum, glaubst du wohl, haben sie mich aus dem Bennington College herausgeworfen?"
„Setz dich", sagte er und rückte an dem Stuhl neben seinem Schreibtisch. „Möchtest du eine Zigarette, Fern?" Sie nickte, und er zündete eine für sie und eine für sich selbst an. „Mich kümmert es nicht, warum sie dich herausgeworfen haben", sagte er. „Es
macht nichts aus."
„Mir macht es etwas aus, was du denkst", beharrte sie. „Ich habe nichts getan. Weißt du, was sie hier über mich erzählen? Weißt du, was sie und sogar mein eigener Vater und meine eigene Mutter von mir denken? Weißt du, was es war? Wir lasen einen jungen Mann auf, einen Soldaten auf Urlaub, der kein Geld und keine Bleibe hatte, und wir bildeten uns ein, es wäre forsch und wie in Filmen, die wir gesehen hatten, wenn wir ihn heimlich in unser Zimmer hinaufbrächten. Als wir ihn oben hatten, mussten wir uns erst eine Weile gegen ihn wehren, doch schließlich hatten wir ihn soweit, dass er sich in eins der Betten legte, und wir beide, meine Zimmergenossin und ich, legten uns in das andere. In der Nacht fing er aber von vorn an, splitternackt, und er machte einen solchen Krach, dass die ganze Schule hereinkam - und er log. Er war richtig niederträchtig, gemein und niederträchtig,
und er log... "
Es kam Elliott gar nicht in den Sinn, dass sie etwa nicht die Wahrheit sagte. Es lag die ganze wehrlose Überzeugung darin, die aus der Wahrheit und sonst nirgendwoher kommt. Er fragte sie, warum sie es nicht Vater oder Mutter erzählt hätte.
„Weil ich sie hasse", sagte sie einfach.
„Das solltest du nicht tun, Fern. Es ist sinnlos, sie zu hassen."
„Clark pflegte das ebenfalls zu sagen, und er hasste sie doch auch. Auf eine andere Art. Er hatte Mitleid mit ihnen, ich nicht. Als Clark fiel, wäre auch ich am liebsten gestorben, aber ihnen machte es nichts aus."
„Doch, Fern."
„Meinst du? Du weißt nicht sehr viel von ihnen, nein, Elliott. Er war ihr kostbarster Besitz, er ging ihnen verloren. Die Leute konnten nun nicht mehr Mutter mit Clark Spazierengehen sehen und glauben, sie wären Bruder und Schwester. Sie können überhaupt nicht lieben, Elliott — sie können es nicht. Sie können nicht lieben und sie können nicht hassen. Und deshalb hasse ich sie. Ich hasse sie, weil Clark sterben musste und sie nicht einmal ahnten, dass es ihm weh getan hat oder wie sehr es ihm weh getan hat. Und ich konnte nur daran denken, wie weh es ihm getan hat. Und du glaubst nicht einmal, dass ich vernünftig rede, nicht wahr, Elliott?"
„Ich glaube, dass du vernünftig redest, Ferney."
„Was soll ich denn tun?"
Es war unsinnig von ihr, die Frage zu stellen, oder von ihm, eine Antwort darauf zu versuchen. Er hatte mindestens zehn Antworten bereit; er konnte sie skizzieren, sie genau formulieren, sie aneinanderreihen und sie in eine unbestimmte Zukunft hinein ausdehnen. Er erinnerte sich, dass Ruth ihm einmal gesagt hatte, die ärgste Sünde der Radikalen wäre ihre Zungenfertigkeit, aber Menschen änderte man nicht so leicht, wie man einen Satz änderte, den man sagen könnte, doch nicht sagen möchte. Die Veränderung war ein Vorgang, fundamental für alle andern, aber man beherrschte ihn nicht, wie man ein Musikinstrument beherrscht. Seine eigene Tochter würde, wenn sie am Leben geblieben wäre, etwas über elf Jahre alt sein, nicht sehr viel jünger als das Mädchen, das da nun saß und ihm erzählte, dass sie ihn liebte. Als sein eigenes kleines Mädchen in jener Nacht in Barcelona gestorben war, das Gesicht von einer Fünfzentnerbombe zu Brei zerquetscht, war er die ganze Nacht mit dem Leichnam in seinen Armen umhergewandelt, auf der Suche nach Ruth', er hatte keine Handlungslinien für die Zukunft abgesteckt, sondern hatte sich immer häufiger hingesetzt, um über den kleinen Leichnam zu weinen, bis die Nacht in den Morgen überging und sein Leid mit Verzweiflung mischte. Als er Ruth dann gefunden hatte, gab ihm ihre kalte, rachgierige Wut einen Stoß, einen Stoß, den er brauchte. Er holte ihn wieder ins Leben zurück - in einem Augenblick, da sein Herzblut verströmte, da er alle Antriebe und Gründe, die ihn hierher gebracht, in Zweifel stellte und keine Antwort fand. Der Unterschied zwischen ihm und seiner Frau trat jäh zutage. Er war nach Spanien gegangen, weil es logisch und vernünftig und sittlich war - und höchst richtig in Bezug auf sein Bedürfnis, nachts mit ruhigem Gewissen zu schlafen. Dann war das kleine Mädchen gestorben, und er erkannte, dass er nie mehr ruhig schlafen würde. Bei Ruth aber ließ der Hass kaum Platz für den
Kummer übrig.
Nachher, als Fern gegangen war, sprach er mit Ruth, die ihn dabei während der ganzen Zeit neugierig beobachtete und in der Art, wie sie den Kopf hob, etwas einem Vogel glich.
„Das muss sehr schmeichelhaft gewesen sein", sagte Ruth.
„Warum?"
„Ich glaube, dass ich mich sehr geschmeichelt fühlen würde,
wenn sich ein kleiner Junge in mich verliebte."
„Das ist teuflisch, so etwas zu sagen!" Sein Zorn war ein langsames Ding und kam nie wirklich zum Vorschein, wie der unterdrückte Geschlechtstrieb eines Jünglings.
„Es tut mir leid, Elliott, warum hast du nicht versucht, ihr zu
helfen?"
„Hättest du es getan?"
Ruth zuckte die Schultern: „Mir hätte es nichts ausgemacht."
„Siehst du es tatsächlich so an, ja?" sagte Abbott.
„Du hast ihr doch nicht geholfen."
„Was zum Teufel hätte ich denn tun können?" „Vielleicht hättest du mit ihr ins Bett gehen sollen", sagte Ruth rundheraus, wandte sich ab und ließ ihm seinen Zorn wie ein gefesseltes Lebewesen in der Kehle zurück, einen hoffnungslosen Zorn, der ebenso rasch verging, wie er sich gesammelt hatte. Er war ein vernünftiges Wesen, und er war fähig zu erwägen, dass Ruth, was immer sie sagte, etwas getan haben würde. Er hatte nichts getan; aber je mehr er die Angelegenheit drehte und wandte, um so überzeugter wurde er, dass es nichts gab, was er hätte tun können.
11
Hamilton Gelb schickte Frank Norman auf einen Spaziergang durch die Stadt. Norman erfreute sich einer gewissen Achtung und Zuneigung Gelbs, der aber keine besonders großen Hoffnungen oder Pläne wegen des jungen Mannes hegte, denn er glaubte nicht, dass Aufrichtigkeit und Pflichtgefühl Verstand und Objektivität hinreichend ersetzten. In der Tat, in solchen Momenten, da Gelb über Frank Norman aufgebracht war, nannte er ihn bei sich einen Bauernfänger mit der Seele eines Buchhalters; hinterher aber bedauerte er ein solches Verhalten gewöhnlich und schrieb es seiner weit zurückliegenden Vergangenheit zu, einer gewissen hartnäckigen und ausländischen Abneigung, den echten, aufrichtigen Typ des Amerikaners anzuerkennen. Und doch konnte Gelb nicht umhin, sich über die Art und Weise zu ärgern, wie sich Norman gegen jede Abweichung vom Schema wehrte, über seinen beinahe fanatischen Widerstand gegen jedweden Wechsel, über seine Einstellung gegenüber Negern, Juden, Ausländern und allem andern, was er für umstürzlerisch hielt. Gelb, der für Radikale ein gewisses Verständnis hatte, hasste sie keineswegs. Frank Norman hasste die Radikalen und begriff sie nicht oder wollte sie nicht begreifen, und dieser Hass wurde auch dadurch nicht merklich gemindert, dass Gelb sich geduldig bemühte ihm klarzumachen, dass ein des Bekämpfens werter Feind auch ein des Respekts würdiger Feind ist. Gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte er Norman gesagt: „Sie müssen sich gewisse Dinge aus dem Kopf schlagen. Sie müssen sich aus dem Kopf schlagen, dass diese Leute Mitglieder einer internationalen Verschwörung sind, die von Moskau dirigiert wird, und Sie müssen sich aus dem Kopf schlagen, dass sie eine Revolution planen, in der sie Postämter und Parlamentsgebäude besetzen und übernehmen werden. Das ist eine kindliche Auffassung, gut für Senatoren und Kongressmänner, aber nicht für die Arbeit, die wir tun.“
„Aber sie kriegen doch Befehle aus Moskau... " „Meiner eigenen Meinung nach scheren sie sich den Teufel um Moskau", hatte Gelb darauf gesagt. „Wenn sie eine Organisation von dieser Sorte wären, hätten wir keine Last mit ihnen. Welcher Idiot würde sich einer solchen Organisation anschließen? Ich habe zwanzig Jahre Erfahrung mit diesen Burschen hinter mir, aber die meisten von ihnen wissen gar nicht, dass es den Kreml gibt, und es ist ihnen auch gleichgültig. Ebenso geraten Sie daneben, wenn Sie etwa meinen, dass sie die Haupttriebfeder von allem sind. Sie sind eine sehr kleine Organisation und bestenfalls sind sie ein Katalysator. Sobald Sie glauben, dass sie die Gewerkschaften machen und die Streiks und alles übrige, erleiden Sie Schiffbruch. Das Gegenteil kommt der Wahrheit näher."
Aber das Gegenteil war keine Kategorie, mit der Frank Norman umzugehen verstand. Nach seiner Auffassung machte sich diese Denkmethode durch ihre unvermeidliche Kompliziertheit selbst unwirksam. Er war ein einfacher, keineswegs ungesunder Menschentyp, und während seiner ganzen Soldatenzeit hatte er sich die ruhige und nüchterne Überzeugung bewahrt, dass Amerika gegen die falschen Nationen kämpfte. Es freute ihn, dass er im Frieden eine Stellung auf der richtigen Seite anstatt auf der falschen haben konnte. Bevor er sich jetzt auf den Weg machte, gab ihm Gelb ein paar Worte guten Rats - darauf bezüglich, dass er die Augen offen halten und lieber die Stimmung erfühlen als versuchen sollte, etwas zu erhorchen. „Was auch immer man Ihnen beim Militär über diese Art Arbeit beigebracht hat", sagte Gelb, „die beste Methode ist, sich in die Gemütsverfassung der Leute hineinzuversetzen, die Sie beobachten. Versuchen Sie, ein Teil von ihnen zu werden und so zu reagieren, wie sie reagieren. Das erfordert Einfühlungsvermögen, und Einfühlungsvermögen ist etwas, wovon man nie genug haben kann. Geraten Sie nie in Zorn, denn sobald Sie in Zorn geraten, errichten Sie eine Mauer zwischen sich und Ihren Objekten. Sie könnten in Joe Santanas Friseurladen gehen und sich die Haare schneiden lassen. Stellen Sie keine Fragen, denn es gibt nichts Wissenswertes, das aus Fragen stammt. Die Leute wollen reden, und wenn Sie Geduld haben, werden sie Ihnen alles erzählen, was Sie interessiert. Das ist der einzige Faktor, der sie von Tieren unterscheidet."
Norman wäre wütend geworden, wenn er Gelb nicht so sehr verehrt hätte. Gelb war der Typ des Mannes, den er bewunderte, der Typ, der nach Normans Auffassung die besten Offiziere ergab. Deswegen wünschte er zu tun, was Gelb von ihm verlangte.
Er schlenderte die Hauptstraße von Clarkton hinunter, den Hut im Nacken, den Mantel offen, die Hände in den Taschen, und sah für jedermann wie einer jener College-Jünglinge aus, die manchmal von Williams herunterkamen, um sich im Hotel mit einem Mädchen zu treffen, sich zu betrinken oder vielleicht bloß, um ein Mittagessen mit viel Fleisch zu essen. Es war nicht schwer, an einem so hübschen, sonnigen Tag ohne Ärger zu arbeiten, und er hätte weit gefühlloser sein müssen, als er war, um nichts von der Stimmung, die die Stadt durchdrang, aufzunehmen. Sein Blick wanderte von Schaufenster zu Schaufenster, und hier und dort sah er Plakate, die besagten, dass der Ladeninhaber die Streikenden unterstützte, eine Bewegung, in der, wie Gelb ihm versicherte, die Roten die Initiative ergriffen hatten. Ihre Begründung war die mehr oder weniger gesunde Voraussetzung, dass die Arbeiter in der Stadt am meisten kauften. Norman achtete auch auf die Mädchen, schwarzhaarig zumeist und hübsch, und er wünschte sich, für den Abend eine Verabredung zu haben. Er trat in die dämmerige, säuerliche Höhle einer Kneipe und bestellte ein Bier, und ganz wider sein Erwarten stockte das Gespräch des ungefähren Dutzends Männer an der Theke, alle Arbeiter, bei seinem Eintritt nicht. Sie widmeten ihm kaum mehr als einen flüchtigen Blick und setzten dann die Unterhaltung in ihrer schwerfälligen und bedächtigen Art fort - über die Atombombe, die Familie Lowell, die Lebensmittelpreise, den letzten Krieg, den Präsidenten, die Hockeyspiele, die Russen und eine Menge andere Dinge. Er ging zurück ins Tageslicht und schlenderte weiter. Bald darauf kam er zu Joe Santanas Frisiersalon und ging hinein. Ein Mann wurde gerade rasiert, und ein zwölfjähriger Junge wartete. Norman setzte sich, nahm ein Exemplar der New Masses auf und blätterte es durch, wobei ihm die passende Bemerkung eines Leitartikelschreibers über Einwickelpapier-Zeitschriften einfiel. Seine eigene Achtung vor technischem Können ward durch seine Meinung über jene ausgeglichen, die nichts gut machten und es anscheinend gar nicht konnten.
Der Friseur sprach über das Problem der Evolution in einer Weise, die ihn an sein erstes Jahr im College erinnerte. Er fiel in eine Art leichten Schlummer, als er zuhörte — zufrieden mit sich selbst und überzeugt, dass er einen aufregenden Beruf gut erfüllte.
12
Das Mädchen, das Lowell die Tür seines Hauses öffnete, blieb bei ihm stehen und sah ihn an, als er seinen Mantel ablegte, bis er
fragte, was es gäbe.
„Fräulein Antonini wartet drinnen schon eine halbe Stunde, und ich möchte nur wissen, ob ich sie bitten soll, noch länger zu warten."
„Wer ist Fräulein Antonini?"
„Ich weiß es nicht", sagte das Mädchen. „Sie sagte, sie hätte eine Verabredung mit Frau Lowell."
„Und wo ist Frau Lowell?"
„Sie liegt seit ein Uhr oben mit schlimmen Kopfschmerzen und schläft jetzt. Ich meine, sie sollte weiterschlafen."
„Gut", sagte Lowell. „Ich werde mit Fräulein Antonini sprechen. Wo ist sie - im Wohnzimmer?"
„Im Wohnzimmer", sagte das Mädchen.
Lowell war nicht neugierig; Neugier, selbst nur Interesse, vermochte er zu diesem Zeitpunkt nicht aufzubringen. Die zweiundzwanzig Stunden seit seiner Rückkehr nach Clarkton übersetzten sich, was seine Person betraf, in Leere - eine geistige Ausgehöhltheit, die ihn gleichgültig und apathisch machte. Ein Schnaps war das einzige, wonach ihn in diesem Augenblick verlangte, und was für ein unsympathisches Wesen Fräulein Antonini auch immer sein mochte, so würde sie seiner Frau mit ihren schlimmen Kopfschmerzen vorzuziehen sein. Zuerst ging er in die Bibliothek, und während er die Martinis mixte, versuchte er, ein wenig Begeisterung in sich für den Rest des Tages und den Abend zu erzeugen. Er versuchte an Dinge zu denken, die er gern tun möchte, an eine Reise, die er gern machen möchte, und entdeckte, dass er mit Lois' Vorschlag einverstanden war, von Clarkton wegzugehen. Das einzige, was ihn noch hielt, war, wie er jetzt deutlich erkannte, eben der Streik. Erst seit dem Streik war seine Beziehung zum Werk etwas mehr als oberflächlich geworden. In gewissem Sinne war er seiner erst seit dem Streik als einer Person mit mehr als nur unmittelbaren Bedürfnissen bewusst geworden. Der Streik war ein Kalender.
Mit dem Mixbecher und zwei Gläsern trat er ins Wohnzimmer, sah nebenhin flüchtig auf das Mädchen, das dort saß, und setzte seine Utensilien auf dem Klavier ab. In seiner gewohnten Art, Leute zu grüßen ohne sie anzusehen, sagte er: „Guten Tag, Fräulein... "
„Antonini", sagte sie.
„Sie hatten sich mit meiner Frau verabredet, aber sie ist unpässlich. Kann ich etwas für Sie tun? Ich bin Lowell." „Ich weiß nicht", sagte sie.
Er hatte sie zwar schon gesehen, seit er hereingekommen war, aber jetzt erst lebte sie und wurde Fräulein Antonini. Sie war zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt und hatte eine Figur, die ihn innerlich aufriss, die ihn krank machte — nicht augenblicklich, sondern nach und nach, so dass seine Begierde, die unmerklich begonnen hatte, als er den Raum betrat, zu solcher Höhe stieg, dass sie sein Herz auspumpte und in seinen Ohren pochte und ein Gefühl wie unter die Haut getriebene lange Nadeln in ihn hinunterpresste.
Nach außen hin war er unverändert. So etwas war ihm schon früher passiert, aber es geschah nicht oft. Es kam zuweilen vor, wenn er auf der Straße ging, und dann war es etwas gewesen, das kam und ging, wie ein süßer Duft, den schon die Gesetze der Natur unerreichbar machten. Diesmal ging es nicht vorüber, und er sah das Mädchen behutsam und gespannt an, während er die Gläser füllte. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und füllte es aus, wie eine jener reifen schwarzen Pflaumen ihre schimmernde Haut ausfüllt. Sie hatte hohe runde Brüste, eine geschweifte schmale Taille, eine leichte Wölbung, wo ihr Magen war, volle Hüften und Beine, die weder schlank noch schon plump waren. Und dies alles sah er, bevor er noch ihr Gesicht wirklich sah. Sie war keine außergewöhnlich hübsche Person, aber ihr Gesicht steigerte seinen Hunger, bis er einen wirklichen körperlichen Schmerz empfand. Die Nase war gerade und eben eine Kleinigkeit zu lang, als dass sie dem Ideal von Hollywood entsprochen hätte. Sie hatte volle Lippen, ein etwas großes Kinn und einen ungewöhnlich schönen langen und wohlgebildeten Hals. Die Augen waren dunkel wie das Haar, das sie in einem schweren Knoten im
Nacken trug.
Jetzt sagte er ihren Namen aus einem Bedürfnis heraus: „Fräulein Antonini, möchten Sie nicht etwas trinken? Es tut mir leid, dass Sie warten mussten."
„Es macht nichts." Sie verweigerte weder den Cocktail noch nahm sie ihn an, und er stand da, das Glas in der Hand, und registrierte ihre Stimme, die abgesehen von einer gewissen Schrillheit ziemlich angenehm klang, die Stimme einer jungen italienischen Arbeiterin, die in Clarkton aufgewachsen war und ihr bestes schwarzes Seidenkleid und schwarze Pumps mit hohen Absätzen angezogen hatte, um bei den Lowells Besuch zu machen — aus wer weiß welchen Gründen, die ihn alle nicht im geringsten kümmerten. Er wusste, dass Lois über ihren heftigen Kopfschmerzen, die ihre Ohnmächtigkeit ebenso sicher anzeigten, wie gewisse andere Merkmale die seine bezeichneten, diese Verabredung längst vergessen, weggestellt, beiseite geschoben, aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatte, mit allen anderen Dingen, die Widrigkeiten versprachen. Er begehrte verzweifelt seinen Martini, hielt ihn aber in der Hand, ohne ihn zu kosten, und ging zu ihr hinüber und sagte:
„Wollen Sie denn keinen Martini, Fräulein Antonini? Ich würde sowieso einen getrunken haben, ob nun jemand hier wäre oder nicht."
Jetzt nahm sie das Glas und sagte: „Frau Lowell bat mich, sie zum Tee zu besuchen."
„Zum Tee?" Es schnappte etwas in seinem Gedächtnis ein. Er versuchte sich zu erinnern; da war etwas, was Lois ihm erzählt hatte; er versuchte sich zu erinnern, konnte aber um sein Leben nicht darauf kommen. Er stand über sie geneigt, sah auf ihr Gesicht hinab, auf ihre Brüste, auf den Spalt, wo der Saum ihres Kleides abstand; er träumte, dass er die Hand sinken und sanft über die Seide gleiten ließe, und sie würde sich nicht bewegen, würde sich nicht abwenden, wie ihm ihre Augen sagten, die offen und ruhig in die seinen blickten. Ihre Oberlippe kräuselte sich ein wenig, der feine dunkle Flaum darauf glänzte von einem schwachen Schimmer Feuchtigkeit. Aber er ließ seine Hand nicht sinken, sondern fragte stattdessen, ob er ihr helfen könnte, ob sie ihm sagen wollte, weswegen sie gekommen wäre.
„Ich weiß es nicht", sagte Fräulein Antonini und sah unverwandt den großen, vorzüglich aussehenden Mann, der vor ihr stand, an. „Ich heiße Rose Antonini, und ihr Sohn Clark war ein Freund von mir. Frau Lowell bat mich herzukommen, aber ich weiß nicht, worüber sie mit mir zu sprechen wünschte."
Jetzt kam die Begierde zurück, und er trat fort und trank einen großen Teil seines Martinis. Sie nippte an ihrem Glas. Der Schmerz in ihm war zu einer wirklichen Pein geworden, einer körperlichen Pein, die ihm den Magen verdrehte, die Schenkel krampfte und das Herz zusammenpresste. Er musste sich setzen. Er sagte zu sich: „Ich muss mich setzen, ich muss mich setzen... " Er ging zu seinem Sessel hinüber und setzte sich hinein, und das
Mädchen sagte:
„Dies ist ein sehr hübsches Zimmer." „Sie sind Clarks Freundin", sagte er nickend. Sie bestätigte weder, noch leugnete sie die Tatsache: „Ich weiß nicht, weswegen Frau Lowell mich sprechen wollte."
„Ich glaube, sie wollte nur einmal mit Ihnen sprechen — weil Sie Clark gekannt haben." „Ich verstehe."
„Haben Sie Clark gut gekannt — lange, meine ich?" „Wir trafen uns ein paar Mal. Fast immer, wenn er auf Urlaub war, verabredeten wir uns."
Er hörte sich sagen und lauschte ein wenig neugierig seinen eigenen Worten, als er es sagte: „Clark und ich standen uns sehr nahe. Er war mein einziger Sohn."
„Ich weiß."
„Wahrscheinlich hat es auch Ihnen weh getan", sagte er.
Ihre Stimme klang etwas verlegen, als sie antwortete. „Ich weinte, als ich es hörte", sagte sie. „Ich hatte einen Bruder, der bei Tarawa umgekommen ist. Das machte es noch schlimmer.
„Was tun Sie, Fräulein Antonini?" fragte er sie.
„Ich arbeite - im Werk." Unnötigerweise fügte sie hinzu: „Zur Zeit arbeite ich nicht."
„Natürlich nicht. Sind Sie verheiratet?"
Sie schüttelte den Kopf. Lowell fiel nichts ein, was er sonst noch sagen könnte, nichts, was des Sagens wert oder notwendig gewesen wäre. Seine Fragen nach Clark waren rein förmlich, es war ihm einerlei. In Bezug auf dieses Mädchen hatte Clark keinen Zusammenhang und keine Wirklichkeit und keine Existenz; in Wahrheit sprach Lowell überhaupt nicht von Clark - er sprach von nichts und niemand.
Er sah, dass sie ihr Glas beinahe ausgetrunken hatte, stand auf und füllte es von neuem. „Er ist sehr gut", sagte sie. „Für mich ist es noch zu früh zum Trinken, und auf den leeren Magen steigt er mir zu Kopf."
„Ich mag nicht für mich allein trinken." Das hatte er gar nicht sagen wollen, aber zum ersten Male, seit er den Raum betreten hatte, lächelte sie ihn an.
„Ich muss gehen", sagte sie.
„Trinken Sie zuerst aus."
„Gut. Aber dann muss ich fort. Ich bin mit dem Bus herausgekommen. Geht noch einer zurück?"
„Ich werde Sie nach Hause fahren." Er überlegte, ob Lois ihr wohl Geld angeboten hätte. Als er sich zurückrief, was Lois gestern im Wagen gesagt hatte, gewann er den Eindruck, dass sie etwas für das Mädchen zu tun beabsichtigt hatte. Aber Lois hatte Rose Antonini nie gesehen, und es war fraglich, ob sie nach einem Zusammentreffen mit dem Mädchen noch ebenso denken würde. Er erinnerte sich der Freundinnen, die Clark mit ins Haus gebracht hatte und die Lois gefallen hatten; sie waren anders gewesen als dieses Mädchen. Als er sich fragte, ob sie wohl erwartete, dass er ihr Geld anböte, drängte das sieche Gefühl, das seinen Magen, sein Fleisch, seine Knochen und sein Rückgrat durchdrang, die Frage beiseite.
„Es ist doch komisch, dass Sie Clarks Vater sind", sagte sie.
„Warum?"
„Ich weiß nicht, es ist bloß komisch."
„Es reut Sie nicht, gekommen zu sein?"
„Es macht mir nichts aus."
„Ich habe wahrscheinlich kein Recht, Sie danach zu fragen. Sie brauchen mir auch nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen. Aber, haben Sie für Clark sehr viel übrig gehabt?"
„Ich hatte ihn gern. Er war nicht mein einziger Freund, aber ich hatte ihn gern."
„Ich verstehe."
Sie stand auf und sagte: „Jetzt muss ich bestimmt gehen. Es
wird dunkel draußen."
Er holte ihr selbst den Mantel, einen imitierten Sealpelz, und half ihr hinein. Das Mädchen erschien, als sie fortgingen, und er sagte: „Sie können Frau Lowell sagen, dass ich Fräulein Antonini mit dem Wagen zurück zur Stadt bringe."
13
Sobald er sich zu ihr in den Wagen setzte, wusste er, was geschehen würde. Sie sah ihn nicht an; sie sah stracks geradeaus, aber bevor er die Scheinwerfer einschaltete, schob er eine Hand unter ihren Mantel, gegen ihre Brust. Sie rührte sich nicht; sein Magen war jetzt leer und der Schmerz tief unten in den Weichen. Er knipste die Lichter an, startete den Wagen und wendete ihn. Es war nun ganz dunkel draußen, und wenn sie bemerkte, dass er nach rechts einbog anstatt nach links, wohin es nach Clarkton ging, so ließ sie nichts davon erkennen. Er fuhr eine halbe Meile weit, bog dann auf einen verlassenen Kuhpfad ein und löschte die Lichter. Sie wehrte sich nicht, als er sie in die Arme nahm, kam ihm aber nicht entgegen. Er küsste sie offenen Mundes, zermahlte ihre Lippen mit den Zähnen, bis sie vor Schmerz aufschrie; und von da an wurde sie lebendig, fast als ob ihre Muskeln und Nerven selbständige Wesen wären, die aus dem Schlaf geweckt wurden. Er streifte ihr den Mantel von den Schultern und zerrte an ihrem Kleid. Sie sagte: „Nicht doch - Sie zerreißen es ja, sehen Sie denn nicht?" Er riss ihr das Kleid herab, den Büstenhalter, und sie wimmerte wie ein junger Hund. „Nicht hier", bettelte sie, „nicht hier". „Es muss hier sein! Allmächtiger Jesus Christus, es muss hier sein!" „Nicht hier im Wagen." Der Magen sackte ihm fort, und er wurde zu Feuer. Ihr Stöhnen dauerte an, aber in einem anderen Ton, einer anderen Tonart. Er war sich seiner Finger im Fleisch ihres Rückens, seiner Zähne in ihrer Schulter kaum bewusst. Ihr Körper war in jedem Muskel und Gelenk gespannt und vibrierte wie eine Stimmgabel.
14
In seine Ecke gekauert, eine Zigarette in der Hand, den Arm ruhend über das Steuer gebreitet, betrachtete er ihr Profil, eine dunkle Silhouette auf grauem Hintergrund, die nur dann Fleisch und Blut wurde, wenn sie tief an ihrer eigenen Zigarette zog. Rose Antonini - Rosa Antonini — Rosita Antonini — Rosolita Antonini. Sein Bauch war jetzt voll, er war wie ein Becher, der süßen Wein enthält.
„Du hast mein Kleid zerrissen", sagte sie. „Es ist zu nichts mehr gut, lauter Fetzen."
„Du kannst Kleider haben, alle Kleider, die du willst."
„Ich will keine Kleider von dir. Ich will überhaupt nichts von dir."
„Du willst mich?"
Die Silhouette nickte. Lowells Gedanken waren jetzt locker, wie ein leichtes Wollgewebe, und er ließ sie entschlüpfen und gleiten und wehen, wohin sie wollten, weil ihm nun alles egal war, weil ihm die Vorstellung nichts ausmachte, welch tölpelhafter, leidenschaftsloser, linkischer Tor Clark diesem Mädchen gegenüber gewesen sein musste. Jugend und Befriedigung durchströmten ihn, als die Spannung aus Magen, Herz und Leisten, aus all seinen Muskeln, Nerven und Adern gewichen war.
„Ich war noch nie mit jemand zusammen wie du", sagte sie. „Ich hatte Angst."
„Aber jetzt hast du keine Angst." „Jetzt habe ich keine Angst."
Er setzte sich auf, rückte sich hinter dem Steuer zurecht, stellte die Zündung ein, ließ den Motor an, knipste die Lichter an und fuhr rückwärts aus dem Kuhpfad heraus. Einmal auf der Straße, gab er Gas, und sie dröhnten durch die Nacht.
Nach einer kleinen Weile sagte sie: „Wo fährst du hin?" Er antwortete nicht. Er fuhr entspannt, saß locker hinter dem Rad und hielt den Wagen stets auf fünfzig Meilen die Stunde. „Wo fährst du hin?" fragte sie von neuem. „Ich habe ein Haus oben in den Berkshires, anderthalb Stunden
von hier."
„Ich sollte nach Hause fahren", sagte sie.
„Ich sollte auch nach Hause fahren."
„Fragst du nichts danach?"
„Nicht viel -nein."
„Du könntest doch jedes Mädchen haben, das du willst. Warum
gerade mich?"
„Woher weißt du, dass ich jedes Mädchen haben könnte, das ich
haben will?"
„Du hast sie doch gehabt - ich weiß es." Und dann, nach einem Augenblick oder zwei, fragte sie, beinahe kindlich: „Bist du mit ihnen auch so? Bist du mit deiner Frau auch so?"
„Wie?"
„Wahnsinnig, verrückt, ganz von Sinnen." „Nein", sagte er, „so nicht." „Fühlst du dich jetzt wohler?" fragte sie. „Ja. Ich fühle mich wohler."
„Das freut mich", sagte sie lächelnd und schmiegte sich an ihn, den Kopf gegen seinen Arm.
Sie fuhren weiter, keiner von ihnen sprach. Lowell versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was Gelb gesagt hatte, als sie ihren Lunch nahmen, etwas, das hierauf Bezug hatte -aber es glitt fort, wie die schwarze Straße unter den Reifen, wie der Wall von Dunkelheit, die Bäume, der sterngesprenkelte Himmel, das zunehmende Auf und Ab der Berge, und er gab den Versuch auf. Er war nicht in der Stimmung zu denken, nicht in der Stimmung sich auszuloten. Jetzt war er körperlich, lebendig und alert. Er wurde sich ihrer bewusst; die ganze Nacht lang würde er sich ihrer so bewusst sein. Er wurde hungrig; sein Hunger steigerte sich Meile für Meile, bis er ihn zwang, die Bremsen zu ziehen und bei einem Gasthof an der Straße einzubiegen.
„Ich kann nicht mit hinein", sagte sie, „ich bin nackt unter dem Mantel."
„Lass deinen Mantel zu."
Sie hatte ihn geöffnet, um es ihm zu zeigen. Vom Kleid war nichts übrig geblieben, und er wunderte sich, woher ihm die Kraft gekommen war, es so zu zerreißen, es so zu zerfetzen. Er starrte auf ihren nackten Leib, auf ihre großen, festen Brüste, die keinen Büstenhalter brauchten, um zu stehen, und das Verlangen kam wie eine Woge, wie ein Pulsschlag. „Nicht hier", bettelte sie. Er ließ den Gasthof liegen, fuhr eine Meile weit die Straße hinauf und schwang den Wagen an den Straßenrand. Jetzt war er weniger gierig, vermochte sogar zart zu sein, und hernach ließ er den Wagen noch eine volle halbe Stunde dort stehen und hielt sie in den Armen. Später hielt er vor einem andern Gasthof und ließ sie im Wagen, während er hineinging und ein paar Frikadellen und zwei Flaschen kaltes Bier holte. Sie aßen und rauchten dann Zigaretten, schweigend, befriedigt und satt. Danach fuhr er weiter in die Berge hinein, wo die Tannen an den nördlichen Hängen den frühen Winterschnee noch hielten.
Das Haus lag am Rande eines kleinen Sees, mit eigenem Bootshaus und Anlegeplatz — ein einstöckiger Bau aus polierten Zedernbalken, der ebenso gegen Winterkälte wie gegen Sommerhitze
isoliert war. Es war feucht darinnen, aber er stieß den Wärmeregler auf und hielt dann ein Streichholz an das vorbereitete Feuer im Kamin. Sie kam zaghaft herein und musterte voller Spannung die Deckenbalken des Raums, die breiten tiefen Couches und Sessel und die Bücherborde, die vier Fuß hoch um die Wände liefen und sie unter einer Last von Schiffsmodellen, Gewehren und Sportgeräten fast verbargen. Ein Klopfen an der Tür brachte sie auf den Sprung wie ein erschrecktes Tier, aber es war bloß der Wächter der Kolonie, der wegen des Lichts nachsehen wollte; nach ein paar Worten mit Lowell und einem Zehndollarschein ging er wieder, entschlossen, zu vergessen, dass er jemand hier gesehen hatte - sofern es sich nicht besser lohnen sollte, sich zu erinnern. Lowell ließ Rose am Feuer sitzen, während er in ein anderes Zimmer ging. Als er wiederkam, trug er einen Hausmantel über Hemd und Hosen, und. auf dem Arm hatte er einen weiten wattierten, pfirsichfarbenen Morgenrock Ferns, den er zusammen mit einem Paar gestrickter Norwegerhausschuhe dem Mädchen gab. Noch niemals hatte er für eine Frau ein solches Gefühl gehabt, für keine Frau, auch nicht für Lois. Er saß auf der Couch vor dem Kamin und sah ihr zu, wie sie aus ihrer billigen Pelzimitation schlüpfte, die kunstseidenen schwarzen Strümpfe herunterschälte und die Stöckelschuhe von den Füßen schleuderte. Sie begegnete seinen Augen und kam zu ihm, den pfirsichfarbnen Mantel an einer Hand hinter sich herschleifend. Es war nicht mehr kalt. Das Feuer war eine tobende Lohe und schuf einen Wall von Wärme zwischen Kamin und Couch. Nackt wie er nie zuvor eine Frau gesehen hatte, kam das Mädchen zu ihm. Und wieder erneuerte sich das Leben aus seinen Lenden, hämmerte gegen seinen Magen, verklammte sein Herz...
Die Kälte des ausgebrannten Feuers und das kränkliche Licht der Morgendämmerung weckten ihn auf. Er rührte sich, und das Mädchen rückte dichter an ihn heran. Er drehte seinen Kopf, dass er sie küssen und die Zunge über den Flaum ihrer Oberlippe spielen lassen konnte.
15
Nicht eher als kurz vor dem Abendessen begann Lois eine leichte Ungewissheit zu verspüren. Sie rief das Werk an, aber Tom Wilson, der noch dort war, sagte: „Nein - er ging etwas nach drei Uhr fort. Wiedergekommen ist er. nicht." Lois fragte das Mädchen noch einmal aus, erfuhr aber auch bloß wieder die Tatsache, dass Herr Lowell gesagt hatte, er wollte Fräulein Antonini nach Hause fahren. Ihr Kopfschmerz war jetzt fast vergangen, und noch war sie nicht eigentlich beunruhigt. Als sie mit Fern darüber sprach, sagte das Mädchen gleichgültig: „Es ist alles in Ordnung. Wenn er einen Zusammenstoß oder etwas dergleichen gehabt hätte, würdest du es doch sofort erfahren haben. Oder nicht?"
„Wie kannst du nur so reden!"
„Was soll ich denn sonst sagen? Warum rufst du nicht bei Fräulein Antonini an und erkundigst dich, ob sie zu Hause ist?"
„Wie gemein, so etwas zu sagen."
„Gemein ist doch beinahe alles, was ich in den letzten Tagen sage."
Das Essen verlief schweigend und lustlos; nachher versuchte Lois einen Kriminalroman zu lesen, aber die Worte blieben ohne Sinn, und anstatt ihnen zu folgen, begannen ihre Gedanken ein rührseliges Bild ihrer Familie zu erschaffen. In einer kleinen Weile war sie dabei, nebensächliche Vorfälle aus ihrem Gedächtnis hervorzuziehen, die sich mit ihr und ihrem Sohn zugetragen hatten, und die Begebenheiten auszuschmücken, in denen sie beide immer zusammen und niemand anders dabei gewesen waren. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihm an den Strand zu gehen pflegte, als er sehr klein war und sie in Südfrankreich lebten; und ihr Gedächtnis verwandelte die Landschaft in einen Watteau vom Mittelmeer, in dem nur der Reifrock der Schäferin fehlte. Sie steigerte sich bis in Tränen hinein, und Fern, die sich im Haus herumtrieb, warf einen Blick ins Zimmer und sah ihre Mutter dasitzen und weinen. Sie ging hinaus, und einen Augenblick später hörte Lois den Motor des Zweisitzers. Lois trocknete ihre Tränen und ergab sich - ohne jeden Sinn für die Wirklichkeit - dem Gedanken an Georges Tod. Schon früher hatte sie oft genug flüchtige Betrachtungen angestellt, was sie tun würde, wenn ihr Gatte stürbe; schwarz stand ihr gut, und immer empfand sie mehr Mitleid mit sich selbst als mit George. Ihre Gedanken liefen in keiner Weise auf einen Plan hinaus, noch fußten sie auf einer wirklichen Annahme oder Überzeugung von Georges Tod; sie waren einfach losgelassen und schweiften umher, während sie sich an dem Bild ihrer Witwenschaft ergötzte. Sie würde sich in der Fünften Avenue oder am Central Park eine Wohnung nehmen, vielleicht auch eine Villa im Osten von New York kaufen, wie sie und George eine während der Winter 1937 und 1938 gemietet hatten, als sie so lächerlich billig waren. Sie würde ein ruhiges Leben führen — aber hier überkam sie wieder das Mitleid mit George, der nicht da war. Nachdem sie noch ein bisschen geweint hatte, rief sie Elliott an und erzählte es ihm.
„Ich würde mir keine Sorgen machen", sagte er, „ich bin überzeugt, dass George nichts passiert ist."
„Aber so etwas hat er doch noch nie getan."
„Ich würde mir trotzdem keine Sorgen machen", sagte Elliott
sachlich.
„Kennst du dieses Fräulein Antonini?"
„Ich kenne sie", sagte Elliott, „ein Mädchen, das manchmal mit
Clark ging."
„Du wusstest es also auch. Und du hast mir nie etwas davon gesagt?"
„Ich glaubte, dass Clark es dir erzählt hätte", log Elliott.
Lois fand keinen Übergang, ihn das zu fragen, was sie eigentlich fragen wollte. Sie legte den Hörer auf, ging zu ihrem Buch zurück, legte es nach einer Weile beiseite und wanderte ruhelos durch das Haus. Das Telefon klingelte, das Herz stand ihr still, aber es war nur Tom Wilson, der wissen wollte, ob Lowell inzwischen nach Haus gekommen wäre. Als sie mit dem Gespräch fertig war, ging sie hinauf in Clarks Zimmer. Sie setzte sich auf das Bett ihres Sohnes und betrachtete sein Bild auf dem Schreibtisch, aber sie hatte keinerlei Bedürfnis mehr zu weinen. Ihr Selbstmitleid hatte sich zu einem soliden Klumpen perverser Befriedigung verdichtet, und der Ursprungskeim des Hasses war geboren. Sie schalt sich jetzt eine Törin, weil sie Wilson und Abbott angerufen hatte, und sie begann sich eine Zukunft auszumalen, in der die Witwenschaft keineswegs noch eine Rolle spielte.
Erst als sie zu Bett ging, drang in ihr allmählich wieder Zärtlichkeit für George durch, und sie war bereit, die Voraussetzung hinzunehmen, dass sie ihren Gatten doch sehr liebte. Er wurde in der gleichen Weise zum Kind, wie Clark ein Kind war, und es kam ihr in den Sinn, was er ihr früher einmal erzählt hatte ...
Als sie noch sehr jung waren, waren er und Elliott Abbott einmal in irgendwelche Patsche geraten und zum Polizeirevier geschleppt worden. Über viel mehr ging es nicht hinaus, und sie wurden noch am selben Tage entlassen. Aber Georges Vater, der alte Herr Lowell, war außer sich gewesen. Lois konnte sich tatsächlich an Georges Vater sehr gut erinnern. Er war in Taunton am selben Tage geboren, als das Feuer gegen Fort Sumter eröffnet wurde; er trug den Namen Lowell in Armut, Elend und Hass, bis er in seinem einunddreißigsten Lebensjahr in sein Tagebuch schreiben konnte: „Ich habe meine erste Million Dollar gemacht, und der Geschmack ist süß." Der Geschmack wurde noch süßer. Es kostete den alten Mann glatte fünfzigtausend Dollar zu beweisen, dass er ein Lowell im Sinne von Massachusetts war und dass das Dorf Clarkton von seinem Urgroßvater gegründet wurde, und er rächte sich auf seine Weise an dem schläfrigen Dorf am Hügelhang. Aber woran sich Lois jetzt erinnerte, das war die Geschichte, die George ihr von dem Tag erzählt hatte, da er in die Patsche geraten war, und wie ihn hinterher sein Vater geschlagen hatte, bis die Haut auseinanderplatzte und das Blut herausrann, bis er mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich
der Bibliothek lag und um Gnade winselte, während er über den Ehrenkodex der Lowells belehrt wurde und besonders darüber, was es hieße, ein Lowell zu sein.
16
Es war fast neun Uhr morgens, als Lowell erschien. Fern begegnete ihm beim Hinausgehen, grüßte ihn mit einem Lächeln und sagte: „Du siehst mitgenommen aus", doch sie stellte keine Fragen und machte keine weitere Bemerkung. Das Mädchen sagte ihm, dass seine Frau beim Frühstück im Gewehrzimmer wäre, aber er zuckte nur die Achseln, ging hinauf, entkleidete sich, duschte, rasierte sich und zog sich wieder an. Er band sich die Krawatte, als Lois hereinkam.
„Hallo, George", sagte sie.
„Hallo, Lois."
„Ich nehme an, du hast einen Zug verpasst - oder so etwas Ähnliches."
„Ich war oben im Blockhaus", sagte er, „mit Rose Antonini."
„Weiter nichts?"
„Weiter nichts."
„Du möchtest nicht darüber sprechen, nehme ich an?" fragte Lois.
„Ich habe kein besonderes Verlangen danach."
„Gut", sagte sie. „Wenn du darüber sprechen willst, sag es mir
bitte."
Sie war wieder ihr altes Selbst, die Stimme gleichmäßig und beherrscht, die Haltung ruhig und gefasst, die weitgesetzten Augen von einer ausgeglichenen Würdigung der Situation erfüllt. „Wann immer du darüber sprechen willst, George. Es waren ein paar Anrufe für dich da", fügte sie hinzu. „Wenn du nicht vor elf im Werk sein kannst, bittet dich Wilson, gleich ins Polizeiamt hinüberzukommen."
„Danke, Lois", sagte er.
1
Danny Ryans Aufwachen glich immer einer Explosion. Nie wachte er friedlich auf- ebensowenig, wie er je in Frieden schlief. Wenn eines seiner fünf Kinder in der Nacht aufwachte, weckte es die andern mit auf; die Demarkationslinie zwischen Nacht und Tag war in ihren Gehirnen noch nicht eindeutig festgelegt. Gewöhnlich aber lagen alle fünf ein paar Stunden unmittelbar vor der Morgendämmerung in erschöpftem Schlaf, und bis etwa sieben Uhr herrschte verhältnismäßig Friede; dann explodierte die Welt. Hatte Danny Glück, so weckte ihn als erstes eine Bewegung auf; hatte er weniger Glück, dann trieb ihn ein schrilles, dröhnendes Crescendo von Tönen ins Bewusstsein, das ihn stets an die Zeit erinnerte - Jahre war es her —, da er zu oft und zu viel getrunken hatte. Und wenn er an manchen Morgen Pech hatte, dann kam ihm das Bewusstsein in Gestalt seines Sohnes Sean, der rittlings auf ihm saß und ihm mit entschlossenen kleinen Fingern die Augenlider hochklappte, während die andern unter der Bettdecke umherkrochen und an seinen Füßen zerrten.
Immerhin war er ebenso geschmeichelt wie dankbar, dass er und nicht Jean, seine Frau, den Anprall dieser morgendlichen Attacken abfing. Wenn er auf die vergangenen Jahre zurückblickte, kam es ihm vor, als sei Jean fast immer schwanger gewesen, und vielleicht hatte dieser Dauerzustand die Kinder erzogen, mit der Mutter ein bisschen sanfter umzugehen. Auch jetzt war Jean ungeheuerlich schwanger; sie lag zusammengerollt, voll animalischer Wärme, wohlig und in gelassener Hinnahme der Kinder neben ihm. Nichts vermochte Jean aufzuregen; nichts hatte jemals diese stattliche, hübsche französische Kanadierin seit jener Zeit vor elf Jahren aufgeregt, da Ryan ihr begegnete, sich irrsinnig in sie verliebte und sie heiratete. Ryan war immer noch in sie verliebt, immer noch hielt er sie für die größte, stärkste und schönste Frau auf der ganzen Erde.
Jean ihrerseits betrachtete ihn als einen von ihrer heranwachsenden Brut. Sie hatte eine ungeheure Geduld mit Männern und Kindern, gegenüber Krankheit und Hunger, Kindbett und Politik. Als sie Danny Ryan heiratete, hatten die Eltern sie gewarnt, dass Politik in doppelter Hinsicht wie Krebs wäre; sie wäre unheilbar und würde niemals besser, sondern immer nur schlimmer. Aber da dies eine Eigenschaft zu sein schien, die den meisten Lebensäußerungen zukam, war sie nicht allzu erschüttert. Sie selbst war tief in der Erde verwurzelt, wo nichts umkommt und Veränderung am wenigsten zu spüren ist; und für sie war Danny Ryan Dichter, Sänger und Prophet. Wenn der Pfarrer verdammte, was Danny tat, so war sie Französin genug, um ein uraltes und instinktives Wissen über Pfaffen zu haben; und sie trennte sich weder von der Kirche noch von Danny Ryan, die sie nach der gleichen widersinnigen und doch wirksamen Weise ihrer Vorfahren miteinander in Einklang brachte.
Von ihrem Mann verlangte sie auch gar nicht die gleiche praktische Brauchbarkeit, die sie von den Erscheinungen des Lebens im allgemeinen erwartete. Als sie noch ein kleines Mädchen war, kannte sie schon die Geschichte von Dannys Großvater Kevin Ryan, der im Jahre 1869 mit siebzehn anderen Iren ausgezogen war, die Eroberung Kanadas zu vollenden und sowohl das Land als auch die gottesfürchtigen Menschen, die es bewohnten, vom Joch des britischen Despotismus zu befreien. Gewisse Leute nannten es sogar heute noch ein tollkühnes Unternehmen, und einmal hatte sie auch Danny — der für seinen Großvater die höchste Achtung und die tiefste Bewunderung hatte - es als einen Ausfluss der Abenteuerlust bezeichnen hören. Aber schließlich hatte Kevin Ryan auf einer Massenversammlung in Worcester vor Antritt seiner Expedition selbst zugegeben, dass es ein kühnes Abenteuer für Männer mit großen Hoffnungen und erhabenen Idealen wäre; und obgleich er von der Möglichkeit des Scheiterns sprach, so wies er doch daraufhin, dass John Brown mit nur zwei Leuten mehr in seiner Gemeinschaft die Erde erschüttert und an große Reiche die Brechstange angelegt hätte — und dass, wie die Iren aus tausend Jahren Geschichte sehr wohl wüssten, es gar nicht abzusehen wäre, was das Volk alles leisten würde, wenn man nur erst einen kleinen Funken unter ihm entfachte. Aber die Franzosen des südlichen Kanadas unterließen es - und Jean rechnete es ihnen als ewige Schande an —, Kevin Ryan als ihren Befreier anzuerkennen und sich ihm zu Hunderten und Tausenden anzuschließen. Und nach einem neunzehnstündigen Gefecht gegen achthundert Polizisten und Milizsoldaten, im Stich gelassen von demselben Volk, das er befreien wollte, im Stich gelassen von seiner eigenen Regierung, lagen Kevin Ryan und vierzehn seiner Leute tot; sie entgingen wenigstens der Schmach, gehängt zu werden, die die drei übrigen traf.
Weil sie diese Geschichte kannte, verlangte Jean nicht, dass ihr Mann wie alle andern wäre. Wenn er mit dem Trinken aufhörte, dann würde er, so wusste sie, zu Großem berufen sein, wie es so viele Männer von kleiner Gestalt sind; und sie gestattete niemand ein böses Wort gegen ihn, nicht einmal dem Pfarrer.
Und als sie an diesem Morgen im Bett lag und ihm bei seinem Kampf mit fünf Kindern zusah, sagte sie: „Danny - vielleicht eine Woche noch. Wie die dich von außen treten, so tritt er mich von innen."
„Er?“
„Es wird ein Junge. Bei Gott, Danny, nach diesem werde ich mich lange, lange ausruhen. Jetzt keine mehr."
„Gott behüte, dass ich noch mehr wünschen sollte, nachdem ich sechs habe."
„So sagst du - aber du hast keine Willenskraft, Danny."
„Den Willen habe ich, aber ich habe kein Vertrauen in mich selbst; und das stimmt, wenn ich mir überlege, was ein Mann in seiner selbstsüchtigen Gier einer Frau seelenruhig antut."
„Das ist Unsinn", sagte sie und stieg aus dem Bett. „Willst du Buchweizenpfannkuchen?"
Die Kinder waren begeistert, und damit war es entschieden.
2
Beim Frühstück mit den Abbotts sagte Mike Sawyer: „Eigentlich müsste ich heute abfahren, aber ich denke, ich treibe mich noch eine Weile hier herum, vielleicht bis Sonntag abend. Ich werde wohl ein Hotelzimmer finden."
„Bleib hier", sagte Ruth. „Du störst uns nicht." „Natürlich störe ich, aber es ist angenehm hier. Ich würde mit Vergnügen hier bleiben, wenn ihr mich wollt. Wisst ihr, ich bin gestern abend ins Lesen geraten, ausgerechnet Niedergang und Sturz des Römischen Reiches, bloß weil ihr es gerade hattet. Bis zwei Uhr bin ich aufgeblieben und habe darin gelesen." „War deine Einheit in Italien?" fragte Abbott. „Erst Nordafrika und dann Italien; deshalb hat die Lektüre einen besonderen Reiz. Es sind dreitausend Seiten, ich werde nie damit zu Ende kommen, aber ab und zu möchte ich mich doch daranmachen. Vor Rom haben wir eine Zeitlang mit den Partisanen zusammengearbeitet. Man wusste, dass ich ein Roter war. Man steckte an die sechzig Prozent Rote in diese Truppe — die meisten von uns waren in Spanien gewesen -, weil man mit den Partisanen nicht zurechtkam und meinte, dass diese uns eher trauen würden. Kanntest du Jim Curry?"
„Ich glaube, er hatte einmal Skorbut, und da brachten sie ihn nach Barcelona herauf ins Lazarett. Das war das einzige Mal, dass ich ihm begegnet bin. Er arbeitete im Süden."
„Ein untersetzter Bursche - klein und breit", warf Ruth ein. „Das ist er. Er führte unsere Einheit. Es war eine schöne Arbeit. Ich hatte Dusel, dass ich dort war und nicht irgendwo anders. Aber es ist nicht mit einer zivilen Beschäftigung zu vergleichen.
Es ist bald vier Jahre her, seit ich eine Stellung hatte und auch nicht für lange, denn ich bin wohl zehn Jahre lang mehr ein Berufssoldat gewesen als irgend etwas anderes. Das macht mir Kummer. Ich will das hier nicht durcheinander bringen - nicht bevor ich weiß, wo ich stehe. Es ist keine einfache Sache, bezahlter Funktionär zu sein, selbst in einem so kleinen Bezirk wie diesem."
Der Doktor fragte: „Gibt es einen besonderen Grund, noch hier herumzuhängen?"
„Vor allem Gelbs wegen. Ich kann nicht dahinter kommen, weshalb sie in einen Ort wie Clarkton eine so große Kanone schicken."
„Er muss sich wieder in Erinnerung bringen", lachte Ruth. „Es ist lange her, dass er seinen Ruf erworben hat."
Das Telefon klingelte und Abbott ging an den Apparat. Es war Lowell, der sagte: „Ich muss dich heute früh noch sprechen, Elliott."
„Würde es dir um Mittag passen, um zwölf?"
„Es muss gleich sein."
„Nun - gewöhnlich mache ich meine Besuche... "
„Mach diesmal eine Ausnahme. Ich sage dir, ich muss dich sprechen, Elliott."
„Gut. Das beste ist, du kommst sofort herüber."
„In zehn Minuten bin ich bei dir."
Als Abbott in die Küche zurückkam, sah Ruth ihn fragend an. „Lowell", sagte er, zuckte die Schultern und setzte sich wieder an den Tisch.
3
Als Lowell zu Elliott Abbott ins Sprechzimmer kam, war es, als ob zwei Menschen sich nach langer Zeit wieder träfen, alte Bekannte eher als Freunde. Abbott beugte sich über den Schreibtisch, um ihm die Hand zu schütteln, und seine mächtigen Schultern und der zottige Kopf machten den Schreibtisch zu einer Winzigkeit. Seine hellen Augen sahen den andern neugierig an und stellten fest, dass Lowell mit Schlaf und Nerven gleichermaßen herunter war, eine Vermutung, die nicht weit daneben ging. Lowell aber, dem manche Dinge schon verloren gingen und bei dem die noch verbliebenen auf dem Wege dahin waren, bedeutete Abbott im Augenblick das einzige jetzt noch übrig gebliebene menschliche Wesen, das er in- und auswendig kannte, sein ganzes Leben hindurch von frühester Kindheit an gekannt hatte und das, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, fähig war, den Menschen -ihn, Lowell - von gewissen Ereignissen zu trennen, die im Gange waren. Und seine ersten Worte: „Elliott, ich sitze gemein in der Patsche", bezeugten es Elliott, der ihn beobachtete und nur schwach auf die Feststellung reagierte, dass er gemein in der Patsche saß, blieb ein Turm der Stärke. Sollte Gelb doch sein Gehirn an dem Fakt berauschen, dass er Kommunist war! Elliott war ein seltsamer Mann, wie er auch schon ein seltsamer, übergroßer, ungeschickter Jüngling gewesen war. Aber sie kannten einander, auch ohne Etiketten.
„Was ist los?" fragte Elliott.
„Nun, ich bin krank, das ist los. Eine scheußliche, schmutzige Sache — und zu wem sonst sollte ich wohl gehen?" Er wollte Elliott etwas vorlügen, aber er konnte es nicht - und überhaupt belügt man seinen Arzt nicht. Es hat keinen Sinn. Außerdem hatte er Angst, das konnte Elliott sehen, deutliche, sichtbare Angst.
„Eine Masse Leute sind krank", sagte Elliott und lächelte ganz leicht. „Es sind mehr Leute krank, als du dir vorstellst. Wir weichen ein wenig von der Norm ab, und dieser Zustand heißt Krankheit. Wir werden von einem kleinen Insekt gestochen, und auch dieser Zustand heißt Krankheit. Sie ist sehr weit verbreitet, George." Er stand auf und spreizte seine großen Hände auf dem Schreibtisch: „Lass uns hineingehen und einmal nachsehen."
Er brauchte nicht lange, nur ein paar Minuten, und dann saß er auf einem Emaillestuhl, beobachtete Lowell beim Anziehen und rieb sich mit dem Zeigefinger der einen Hand die Lippen.
„Ist's das, was ich denke?" fragte Lowell ihn.
„Ich weiß nicht, was du denkst, George. Es ist keine sehr aristokratische Krankheit. Es ist ein mehr oder weniger allgemeiner Zustand von Unsauberkeit, den die niederen Klassen Tripper nennen, ein hässlicher Name. Ich kann ihn auch in vier Silben sagen, wenn du das von mir verlangst."
„Es ist doch nicht... ?
„Nein, keineswegs, wenn dir dieser Unterschied ein Trost ist. Außerdem, dies hier kann ziemlich leicht geheilt werden. Sehr oft kann es in etwa drei Stunden nicht übertragbar gemacht werden. Vor fünf Jahren wäre es noch anders gewesen, aber heute weicht es ohne weiteres vor Penicillin. Man wird die Sache ebenso leicht los wie eine Erkältung - leichter, tatsächlich!"
Lowell stand da und sah ihn an; die Furcht verging, die Hilflosigkeit verging, aber Abbott tat nichts, als sich die Lippen reiben.
„Was du auch denkst", begann Lowell, „ich würde... "
„Ich denke gar nichts", sagte Abbott. „Die Sache geht mich nichts an. Ich bin dein Arzt. Meine Sache ist, dich gesund zu machen, wenn ich kann. Weiter nichts."
„Gut. Wenn du es von dieser Seite betrachten willst."
„Von welcher anderen Seite soll man es denn betrachten?"
„Es gibt wohl keine andere. Keine andere Seite. Du hast niemals irgendwelche Zweifel, was, Elliott?"
„Das gehört nicht hierher", sagte Elliott kurz. „Ich halte keine Predigten. Die Sache geht mich einen Dreck an."
„Würdest du mir etwas sagen?"
„Alles, was ich dir sagen kann, mit Freuden", sagte Abbott.
„Wann habe ich mir diese Geschichte geholt?"
Abbott sah ihn genau an und antwortete, ohne dass sich seine Stimme merkbar verändert hätte: „Vor drei Tagen ungefähr."
„Nicht vergangene Nacht?"
„Nicht vergangene Nacht", sagte Abbott, „auch nicht die Nacht zuvor. Es muss länger her sein."
„Bist du dessen sicher?"
„So entwickelt sich jedenfalls eine Geschichte dieser Art. Vielleicht kann es auch anders sein, aber mir ist das noch nicht vorgekommen."
„Aber letzte Nacht", sagte Lowell stumpf, „hätte ich da... " „Das hättest du", nickte Abbott. „Da war es übertragbar." Keinerlei Gefühl klang aus seiner Stimme, keine Verurteilung, kein Zorn. Er saß noch immer auf dem Stuhl, das Kinn in seine Hand geschmiegt, und betrachtete Lowell mit ruhigem Interesse. „Es ist heilbar bei dir", sagte Abbott. „Es ist auch bei jedem andern
heilbar."
„Gestern abend", begann Lowell mit einem nachtwandlerischen
Ton in der Stimme, „war ich... "
„Ich möchte lieber nichts davon wissen", sagte Elliott.
Zum ersten Male, seitdem sie heute früh zusammengekommen waren, lächelte Lowell. „Wie lange hast du auf diese Gelegenheit gewartet, Elliott?" fragte er. „Ich habe dich und Fern jetzt ein ganzes Jahr lang beobachtet."
„Tatsächlich?"
„Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich hätte das nicht
sagen sollen."
„Es macht nichts."
„Ich hätte es nicht sagen sollen. Letzte Nacht habe ich nur vier Stunden geschlafen, Elliott. Dieser verdammte Streik... "
„Es macht wirklich nichts. Vergiss es."
Lowell schüttelte den Kopf. Er fühlte sich schläfrig, sehr schläfrig — weit weg von allem, was er sagte, wie eine zuhörende dritte Person. Vielleicht war das Kranksein an dieser Verfassung
schuld.
„Ich werde eine Analyse machen und dir in einigen Stunden Bescheid sagen", sagte Abbott, stand auf und öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer. „Unterdes wird die Spritze ihre Wirkung tun, wie ich schon sagte, und bis zum Abend dürftest du die Geschichte los sein. Lass dir die Medizin besorgen und nimm alle drei Stunden eine Tablette. An deiner Stelle würde ich mich nicht überarbeiten heute. Ich würde früh zu Bett gehen. Du brauchst Schlaf."
„Danke", sagte Lowell; Abbott sagte nichts. Im Konsultationszimmer nahm Lowell Hut und Mantel auf, stand einen Augenblick und sagte dann:
„Ich möchte nicht, dass es ein solches Ende nimmt, Elliott. Ich habe nicht viele Freunde."
„Die hat keiner von uns", antwortete Abbott ruhig.
„Darf ich dich eins fragen?"
„Alles, was du willst."
„Bist du Kommunist, Elliott?"
„So lange kennst du mich schon und hast mich bis jetzt nie danach gefragt."
„Ich weiß", sagte Lowell hilflos.
„Ich bin Kommunist", sagte Abbott.
„Ich meine nicht, was du glaubst oder denkst. Es gibt doch eine Organisation, oder nicht?"
„Ganz recht."
„Und... "
„Ich gehöre dazu", sagte Abbott. „Mitgliedsbuch und alles andere. Wolltest du mich das fragen?"
Lowell nickte kläglich. Er zog seinen Hut und Mantel an, drehte sich um und ging hinaus. Abbott setzte sich an seinen Schreibtisch und saß da volle fünf Minuten, starrte auf die Löschunterlage, rollte den Füllhalter hin und her und machte kleine Tintenkleckse damit. Dann ging er zurück in die Küche, wo Ruth und Mike Sawyer saßen, rauchten und Frances Colby zusahen, wie sie einen Eierkuchenteig bereitete.
„Sie essen gut", sagte Frances zu Mike. „Kein gekauftes Brot, nein, Herr. Selbstgebackenes. Keinen gekauften Kuchen. Selbstgebackenen. Mein armer Vater würde sich in seinem Grab umdrehen, wenn er mich in meinem Alter noch so arbeiten sähe. Deshalb sage ich ihnen, die gesellschaftlichen Prinzipien beginnen zu Hause. Die Gleichheit der Menschen beginnt zu Hause. Mein Vater hatte eine Farm in New Hampshire; wir hatten einen Knecht, der einmal Gene Debs die Hand gedrückt hatte, und ich schwöre vor der ganzen Nation, dass er uns alle verrückt gemacht hat. Er wollte doch nicht mit uns essen! Alle Knechte, die wir hatten, so lange uns die Farm gehörte, setzten sich an den Küchentisch und aßen mit uns zusammen, aber er nicht. Nein, Herr. Wir waren die besitzende Klasse, und er hatte, was er Klassenbewusstsein nannte, das war eben so. Und wenn er für uns arbeitete, bei Gott, dann arbeitete er für uns, und er wollte keine gesellschaftliche Herablassung anstatt der fünfundzwanzig Dollar im Monat annehmen, um die wir ihn nach seiner Behauptung ausbeuteten. Nun, wir hatten nicht Ruh noch Rast, bis die Ernte herein war, und da nahm Vater einen Harkenstiel und sagte, dass er ihm das Klassenbewusstsein schon stecken wollte."
„Tatsächlich?" fragte Sawyer.
„Ja, da können Sie Gift drauf nehmen, wir mussten uns einen neuen Knecht suchen. Das hat meinen Pa gegen Sozialisten eingenommen."
„Was ist?" sagte Ruth zu Elliott. „Du hast George doch nicht
die Leviten gelesen?"
„Beinahe. Aber das ist es nicht." Er sah verwirrt und bekümmert
aus.
„Was denn?"
„George weiß, dass ich in der Partei bin. Er trug es wie ein Kreuz. Vor einer Woche wusste er es noch nicht." Abbott hatte das Gefühl, als wäre er sich vor einer Woche dessen selbst noch nicht ganz bewusst gewesen.
4
Der frühe Morgen war schön gewesen, aber jetzt wehte ein kalter, heftiger Wind von den Bergen herab und überwischte den Himmel mit der Verheißung von Schnee. Trockene Blätter und Kehrichtteilchen wirbelten den Concordweg hinunter, und jene beherzten Leute, die in Sweatern und dünnen Jacken aus dem Haus gegangen waren, kehrten zurück, um sich wärmer anzuziehen.
George Clark Lowell schlug den Mantelkragen hoch, als der Wind ihn traf, beugte den Kopf und ging quer über die Straße dahin, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Als er hinter dem Steuer saß, zündete er sich eine Zigarette an, machte vier oder fünf lange, nervöse Züge und warf sie weg. Er ließ den Wagen an und fuhr durch Clarkton östlich ins Land hinaus. Die Tatsache allein, dass er in diesem Augenblick die Stadt verließ, gab so sehr seinem Bedürfnis Ausdruck, sich zurückzuziehen und sich loszusprechen, dass er von Selbstmitleid und gerührtem Verständnis seiner selbst erfüllt ward - ein Gefühl, das er auf Abbott und dann sogar auf seine Frau ausdehnte, ein etwas weinerlicher Zustand, der sein Verlangen nach Alkohol bis zu einem Grad von Verzweiflung steigerte. Er dachte an Rose Antonini, in einer Aufwallung von Mitleid, das sie liebend umarmte, und begann zu überlegen, was er für sie tun könnte, irgendeine großartige und huldvolle Handlung, ohne ihr zu sagen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach geschlechtskrank geworden wäre. Aber das erschien ihm nicht als Wirklichkeit oder Tatsache, und wie die meisten Menschen glaubte auch er nicht leibhaftig an die Übertragung von Krankheiten, selbst wenn sie bewiesen war; und darüber hinaus vermochte er sich auch einzureden, dass sie sie schon früher gehabt hätte und ohne Zweifel noch öfter bekommen würde. Aber in seinen Gedanken an sie erhob sich die Krankheit wie eine Mauer, und er hatte die Tatsache hinzunehmen, dass es niemals wieder so sein würde wie gestern abend.
Nichtsdestoweniger empfand er eine zerfließende große Zärtlichkeit für sie, die er auch in irgendeiner Form zum Ausdruck bringen würde. Und wenn das sein Wunsch war, dann rechtfertigten sogar die objektiven Umstände der Angelegenheit seine Handlung; sie war, wenigstens für eine gewisse Zeit, einmal Clarks Freundin gewesen, so dass eine Erkenntlichkeit nicht scheel angesehen werden konnte. Noch trauriger machte ihn der Gedanke, dass selbst Elliott bestenfalls nicht genau begreifen würde, was er für eine kleine Italienerin empfinden konnte, die in seinem Werk arbeitete. Um dies zu verstehen, hätte Elliott etwas von der komplizierten inneren Sauberkeit wissen müssen, die ein Mann bewahren kann, der in einem New Yorker Hotel mit einer Hure ins Bett geht, obgleich er sie und sich selbst dazu verabscheut, und der sich dann fähig fühlt - ja, getrieben wird, die Welt aus den Angeln zu heben, weil eine andere Frau ihn in Brand gesetzt hat, mit solch fleischlicher Lust, wie er sie mit keiner Frau zuvor erlebt; der Mensch war schwach und stark, und stolz und eigensinnig und bußfertig zugleich. Er konnte Elliotts Beziehung zu Fern, seiner Tochter, verstehen, aber Elliott vermochte ihn nicht zu begreifen.
Fünf Meilen außerhalb Clarktons setzte er sich in eine schmierige Schnapsbeize, die hinter einer Tankstelle stand, und trank einen Whisky sauer — einen sehr schlechten Whisky sauer — und noch einen zweiten. Zu dieser Morgenstunde war nur der Kellner im Lokal, der ihm die Schnäpse mit schweigender und etwas verächtlicher Reserviertheit hinstellte. Lowells Mitleid wuchs. Er wälzte die Tatsache, dass Elliott Kommunist war, in seinem Kopfe hin und her. Für Elliott war es Grund genug, ihn zu hassen; er aber konnte stolz versichern, dass es für ihn noch längst kein Grund war, seinerseits Elliott zu hassen.
5
Von einem Fenster in Wilsons Büro beobachtete Frank Norman, wie Fern ihren Zweisitzer in die Streikpostenkette steuerte, ihren Passierschein vorzeigte und durch das Tor fuhr.
„Fräulein Lowell", sagte er zu Wilson, der an seinem Schreibtisch saß und bedächtig einen Haufen Papiere unterschrieb.
„Huhu! Das ist ein aufgewecktes Mädchen. Ein bisschen zu forsch für meinen Geschmack."
„Und hübsch dazu."
„Hübsch ist sie, alles, was recht ist. Sie muss fest an die Leine genommen werden. Ich sage nicht gern etwas über Herrn Lowell — ein verdammt feiner Mann. Sie verstehen mich, Krem der Erde, bloß zu bequem -, aber sie hat ihn am Bändel und nicht er sie."
„Ich hörte, sie hat Unannehmlichkeiten gehabt", sagte Norman langsam.
„Die ganze Stadt weiß es, sonst würde ich keinen Ton davon sagen. Wenn es eins gibt, wovor ich Abscheu habe, dann sind es Männer, die über Frauen herziehen."
„Darin stimme ich mit Ihnen überein", sagte Norman. „Von ganzem Herzen."
„Aber die ganze Stadt weiß es", sagte Wilson. Er mochte Norman gern. Norman war nicht wie Gelb, nicht Gelbs Kaliber, nicht Gelbs Typ, sondern ein sauberer, ordentlicher Bursche, der sich seiner Arbeit mit solchem Schwung, solcher Aufrichtigkeit hingab, dass es Wilson geradezu verjüngte, wenn er bei ihm war. Außerdem war er bescheiden, prahlte nicht mit seiner Militärdienstzeit und brachte Wilson den gleichen höflichen Respekt entgegen, wie er ihn einem seiner Offiziere erwiesen haben mochte. Die ganzen Kriegsjahre hindurch hatte sich Wilson in Gegenwart von Männern seines Alters in Uniform, Hauptleuten, Majoren, Obersten und Generälen, befangen und ungemütlich gefühlt. Es gab gar keinen Grund, so fühlte er, warum nicht auch er, hätte er nur die Chance gehabt, ebensoviel und sogar noch mehr geleistet haben würde. Und so bedeutete es ihm eine der größten Erleichterungen bei Kriegsschluss, dass er diesen fressenden Neid beiseite tun konnte.
„Das ist schade, Herr", sagte Norman.
Und auch das war ihm sympathisch an Norman, dieser gelegentliche und gewinnende respektvolle Gebrauch des Wortes ,Herr'. „Das kommt in einer Stadt wie dieser vor. Auf dem College wurde sie in eine dumme Geschichte verwickelt, und sie schmissen sie hinaus. Wahrscheinlich hätte Herr Lowell die Sache ausbügeln können, aber sie war eben zu verdammt halsstarrig."
Norman sah ihn fragend an.
„Ich weiß nicht, was eigentlich los war. Ein Haufen Gerüchte, ein Haufen übler Klatsch, aber was es wirklich war, weiß weder ich noch vermutlich sonst jemand in der Stadt. Eins muss man den Lowells lassen — verdammt feine Leute, dieselbe Familie wie die Lowells, über die man immerzu etwas liest, verstehen Sie —, sie tragen ihren Kummer nicht spazieren. Sie hatten einen Sohn, ist im Kriege umgekommen, wurde bei dieser Geschichte an der Bulge erschossen. Aber wie sie es hingenommen haben, das würde unsereiner nie fertig bringen. Wenn du mich fragst, Junge, das ist das Zeichen eines Mannes, nicht wie er steht, wenn alles so glatt wie möglich geht, sondern wie er steht, wenn es wettert und stürmt. Da wird Mumm gebraucht, und da zeigt sich der Schlappschwanz. Wenn einer ein Schlappschwanz ist, dann kommt es dabei heraus. Aber ich vermute, Sie haben das in Übersee selbst reichlich erfahren... "
Fern kam nun herein, die Wangen von der Kälte gerötet, noch erregt von dem Erlebnis, die Streikpostenkette passiert zu haben und in dem ruhenden, bestreikten Werk zu sein. Sie trug einen Rock mit gelbem Wildlederjäckchen, einen rauen braunen Sweater, Schuhe mit flachen Absätzen und einen langen gestrickten Schal aus der gleichen Wolle wie der Sweater. Es war das erste Mal, dass Norman sie richtig sah, abgesehen von dem flüchtigen Blick aus dem Fenster, und nun — so wie sie angezogen war, mit ihrem Haar so windzerzaust und locker — war er zugleich erregt und entzückt von ihr. Er hatte sich nicht vorgestellt, dass sie so hübsch wäre, und der Gedanke, sie kennen zu lernen und sich vielleicht mit ihr zu verabreden, machte seinen Auftrag hier in Clarkton geradezu vollkommen.
„Hallo, Tom", begrüßte sie Wilson. „Ich musste einfach herauskommen. Mir blieb das Herz beinahe stehen, als ich in das Tor einbog. Aber wissen Sie, die Leute waren sehr nett dabei. Wer ist das?"
„Fern, ich möchte Sie mit Frank Norman bekannt machen, einem der Betriebsberater, die Ihr Papa von New York hierher geholt hat. Das ist Fräulein Lowell, Frank."
Norman sagte: „Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Fräulein Lowell. Bestimmt waren die Leute sehr nett zu Ihnen. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie es nicht wären."
Fern ging ans Fenster und sah hinaus: „Das macht die Sache weniger schlimm, was? Ich kann bloß nicht verstehen, wie diese paar Menschen euch daran hindern könnten, wenn ihr das Werk wieder aufmachen wolltet."
„Wenn wir aufmachen wollten, Fern... " sagte Wilson. „Frank, hier sind die Haftbefehle. Bringen Sie sie doch bitte zu Gelb, damit er sieht, dass sie in Ordnung sind. Dann können Sie nachsehen, ob Curzon die Leute hergeschickt hat."
„Sie gehen doch nicht gleich wieder, Fräulein Lowell?" fragte Norman.
„Warum?"
„Nun, es interessiert Sie vielleicht. Wir wollen die Streikpostenkette vom Tor zurückdrücken, und das gibt vielleicht ein bisschen Aufregung. Von diesem Fenster aus könnten Sie ausgezeichnet zusehen."
6
Gewöhnlich pflegte Danny Ryan ein oder zwei Stunden vor Mittag vom Gewerkschaftshaus in der Eichenstraße hinüber zum Concordweg und dann die Hauptstraße hinauf bis zur Birkenstraße zu gehen, wo das Werksgelände begann. Westlich der Birkenstraße kamen ungefähr vierhundert Meter mit Unkraut bewachsener Wiese, bevor man an die Tore der Lowell Company gelangte, und diese Wiese erstreckte sich nördlich bis an den Bach und südlich bis zur Hauptlinie der Eisenbahn, wo der freie Durchgang durch einen schweren, neun Fuß hohen Drahtzaun versperrt war. Von dieser Wiese wurde kein besserer Gebrauch gemacht, als gelegentlich einer streunenden Kuh oder Ziege einfallen mochte, und sie war freigiebig mit den Abfällen eines halben Jahrhunderts übersät, Lumpen, Eisen, das sogar für Schrott zu rostig war, verfaulten Brettern und ganz gewöhnlichem Müll. Seinerzeit, im Jahre 1928, hatte der alte Herr Lowell hier einen vorbildlichen Erweiterungsbau geplant, aber als eben das Fundament ausgeschachtet war, haute die Krise dazwischen, und es gähnten jetzt noch eine Reihe von Löchern als schlammige Gruben, die sommers eine Brutstätte für Mücken waren. Die Wege, die zu den vier Werkstoren führten, durchschnitten diese Wiese und waren, wie die Wiese selbst, mit alten, regenfeuchten Schildern PRIVAT! KEIN DURCHGANG FÜR UNBEFUGTE markiert. Manchmal ging Danny allein zur Fabrik hinauf, manchmal mit Bill Noska oder mit einem andern aus dem Büro, manchmal mit Joey Raye. Heute hatte er den großen Neger bei sich, und die beiden waren gerade um die Ecke in die Hauptstraße eingebogen, als sie auf Pater O'Malley stießen, der fröhlich grinste, erst Ryan und dann Raye die Hand bot und darauf fragte, wohin sie denn an diesem schönen Wintermorgen wollten.
„Hatten grade gedacht, zu den Toren hinunter zu gehen und die Lage zu peilen", sagte Ryan. „Joey hier hat mit seiner Kolonne aus einem alten Fordomnibus, den die Gewerkschaft gekauft hat, eine fahrbare Kaffee- und Semmelkantine gebaut, und nun will er die Leute am Tor fragen, was der alte Schlitten ihnen
bringen soll."
„Etwas dagegen, wenn ich ein Stück mitkomme?" fragte Pater
O'Malley.
„Durchaus nicht", sagte Raye. Ryan sagte gar nichts, und Pater O'Malley nahm neben ihm Tritt auf, stieß ihn mit dem Ellbogen leicht in die Rippen und sagte:
„Ich komm' Ihnen wohl zu nahe auf Ihre dünne irische Haut, was, Ryan? Sie fragen sich sicher, was zum Teufel werden die Leute sagen, wenn sie mich neben dem Priester hergehen sehen? Ein Verrat oder was sonst? Sie haben eben eine dünne irische Haut, und die irrt sich leicht. In solchem Ausmaß hab' ich meine Herde noch nicht verloren."
„Nichts derart", antwortete Ryan. „Der Bürgersteig ist breit, und er ist noch frei."
„Sie mögen mich nicht, was, Ryan?" lachte glucksend der Priester.
„Es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Sie stehen auf der einen Seite. Ich stehe auf der andern. Das ist alles."
„Ich stehe auf der Seite Gottes, Ryan", sagte Pater O'Malley.
Ryan lachte. „Na, da müssen Sie erst mal Seinen gegenseitigen Beistandspakt vorweisen, bevor Sie Ihn für sich in Anspruch nehmen."
„Sie glauben nicht an Gott, nicht wahr, Ryan?"
„Wenn Sie mir was in die Hand geben und ich kann es sehen, dann glaub' ich daran." Ryan grinste, als er bemerkte, wie viele Leute, die ihnen auf der Straße begegneten, den Kopf neigten und dem Priester einen guten Morgen wünschten."
„Der Unterschied ist, dass ich Sie tatsächlich gern habe, Ryan. Ich täte es nicht, wenn Sie nur an das glaubten, was ich Ihnen in die Hand geben könnte."
„Es ist aber so."
„Wenn Sie einen Menschen Genossen nennen", sagte der Pfarrer obenhin, „woran glauben Sie denn da?"
„An den Sozialismus."
„Ohne die Bruderschaft der Menschen, Ryan? Bei Gott, dann ist er nicht viel wert, so wie ich ihn sehe."
„Natürlich sehen Sie ihn auf Ihre Art - Sie sind ein tüchtiger Mann in Ihrer Organisation, Pater, aber ich kann mich nicht für die Leier Haben-Sie-aufgehört-Ihre-Frau-zu-schlagen begeistern. Sie hatten in den letzten zweitausend Jahren sozusagen das Monopol auf die Bruderschaft der Menschen, und was in Teufels Namen haben Sie daraus gemacht! Fünfzig Millionen Tote in den letzten zehn Jahren - wenn das Bruderschaft ist, dann behalten Sie sie nur!"
„Sie haben wirklich mit der Kirche gebrochen, was?" sagte der Pfarrer unerschüttert. „Wenn ein Ire bricht, dann bricht er. Aber wie lange kann denn einer auch nur unter der bloßen Drohung ewiger Verdammnis leben?" „Ich komm' zurecht."
„Sicher tun Sie das. Und gerade da möchte ich einhaken. Sie sagen, Sie glauben nicht an Gott. Sie sagen, Sie glauben nicht an die Bruderschaft der Menschen. Sie sagen, Sie glauben nicht an die Erlösung durch Jesus Christus. Und doch sind Sie bereit, für das zu sterben, woran Sie glauben. " „Ich möchte lieber dafür leben." „Woran glauben Sie denn?"
„Wenn das eine ehrliche Frage ist", sagte Ryan und schaute zu dem Priester auf, „werde ich eine ehrliche Antwort versuchen." „Es ist eine ehrliche Frage. "
„In Ordnung — ich glaube an eine Zeit, da der Mensch aufhören wird, seinen Mitmenschen auszubeuten. Damit ist alles gesagt. Wenn Sie ein Buch darüber lesen wollen, dann kann ich
Ihnen eins geben."
„Ich habe etwas Marxismus gelesen, Ryan - keine Menge. Es ist eine ziemlich schwierige Lektüre, wenn Sie mich fragen. Aber ich habe einiges gelesen. Ich soll als Tatsache hinnehmen, dass alles Übel auf Erden daher kommt, weil ein Mensch dem andern Arbeit gibt. Das kann ich nicht akzeptieren."
„Sie machen es verdammt entsetzlich einfach", sagte Ryan. „Sie auch", lächelte der Priester. „Aber wenn ich die Sowjetunion betrachte, ist es nicht einfach, nicht wahr? Es ist mächtig kompliziert, scheint mir. Und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, woran Sie glauben, und was Sie bereit macht, dafür Ihr Leben zu geben."
„Darüber wär' eine Menge zu sagen", seufzte Ryan.
„Ich habe Zeit."
„Ich nicht -jetzt nicht."
„Wenn Sie einmal Zeit haben, Ryan, setzen wir uns doch zusammen und sprechen darüber. Ich habe mich mit schlechten Menschen herumgestritten und habe gewonnen; da sollte ich, so scheint mir, auch bei einem guten Menschen eine Siegeschance haben."
„Was bringt Sie auf die Idee, ich sei ein guter Mensch?" grinste Ryan.
„Die Tatsache, dass Sie bereit sind, für das zu sterben, woran Sie glauben."
„Das ist eine Einbildung, Pater. Und wenn ich's wäre - die Nazis waren es auch, und sie starben dafür."
„Aber sie betrogen sich niemals mit der Vorstellung, dass sie eine bessere Welt schüfen. Für die Kirche war es ein schwarzer Tag, als sie zur Macht kamen."
„Ich hab' nie bemerkt, dass die Kirche irgendeinen Anschein gezeigt hat, sie aufzuhalten."
„Es ist nicht die Aufgabe der Kirche, Ryan, mit dem einen Teil ihrer Herde Partei gegen den andern zu nehmen. Sie haben noch nie gehört, dass ich eine Predigt zur Unterstützung Lowells gehalten hätte."
„Nein - aber haben Sie jemals eine Predigt zur Unterstützung des Streiks gehalten? Haben Sie jemals Ihrer Herde erzählt, wie man fünf Kinder mit dreimal Bohnen am Tag gesund aufzieht?"
„Nein, nicht dass ich wüsste", sagte Pater O'Malley gutmütig.
„Es ist merkwürdig", sagte Ryan, „aber immer wenn wir miteinander sprechen, Pater, geraten wir gleich auf den Himmel. Ich lebe aber nicht im Himmel. Wenn Sie sich über diese Erde und diese Vereinigten Staaten unterhalten wollen - zum Teufel, es wär' mir ein Vergnügen. Wir würden über die Neger sprechen, die gelyncht werden; über die Millionen entlassener Kriegsteilnehmer, die keine Wohnung kriegten; über die dreiundzwanzig Bergleute, die bei der letzten Explosion umkamen; und über die Griechen, die hingeschlachtet werden, weil sie ihre Freiheit lieben. Wir hätten eine verdammte Menge Dinge, worüber wir sprechen könnten."
„Das stimmt", sagte Pater O'Malley.
Hernach, als sie an den Rand der Wiese kamen, sagte Joey Raye zu Ryan: „Das ist 'n gerissener Pfaffe; halt dich nicht selbst zum Narren, Danny. Dem wirst du keine Ware verkaufen."
„Er mir auch nicht", lachte Ryan.
7
Einer von der Werkspolizei brachte Gelb die Nachricht, dass Danny Ryan und Joey Raye am Tor Birkenstraße angelangt wären, und Gelb, der in dem kleinen Büro war, das man ihm gegeben hatte, drehte sich zu Wilson und Norman um und sagte:
„Schön, gehen wir und geben es ihnen zu schlucken."
„Wie steht es mit den andern?" fragte Wilson.
„Ryan und der Nigger sind genug." Zu Norman sagte er: „Nehmen Sie die Haftbefehle für sie und nehmen sie noch ein Dutzend blanko mit. Lassen Sie Curzons Leute die Sache machen, Frank. Sie halten sich im Hintergrund und beobachten und lernen. Jack Curzon ist kein Dummkopf, und er hatte die besten
Lehrer."
„Ja, Herr", nickte Norman und wünschte, dass er noch in Wilsons Büro hinüberhuschen könnte, um Fern zu sagen, dass es jetzt soweit wäre, und sich zu vergewissern, dass sie zusähe.
Als sie in den kleinen eigenbedienten Fahrstuhl traten, sagte Gelb zu dem Jungen: „Das ist ein Punkt, den man sich merken muss, Frank. Dort hinunter gehen und die beiden Roten verhaften, wäre verdammt nichts Besonderes. Sie könnten sich nichts Besseres wünschen, und nichts, was von unserem Gesichtspunkt aus weniger wirkungsvoll wäre. Noch schlechter wäre es, wenn wir gleichzeitig auch die Blankobefehle verwenden und die ganze Streikpostenkette einlochen müssten. Für Massenverhaftungen hat diese Geschichte weder die nötige Reife noch den psychologischen Moment erreicht."
Norman schüttelte den Kopf. „Ich glaubte, gerade dazu hätten wir die Haftbefehle... " Der Fahrstuhl hielt, und sie stiegen aus.
„Ja und nein. Ich möchte mir den Ryan ein bisschen vorknöpfen; ich möchte mir diesen Neger ein bisschen vorknöpfen. Die Hauptsache ist aber, die Kette vor den Toren aufzubrechen. Nicht mit Gewalt — das wäre leicht genug, sondern indem wir sie in eine Lage versetzen, wo das Streikpostenstehen an sich zu einem rechtlichen Problem wird. Eine Gerichtsverfügung bietet einen anderen Weg, das gleiche zu erreichen, aber weder hier noch sonst im Land ist die Lage derart, dass man ihnen einen Gerichtsbefehl zu schlucken geben möchte. Vergessen Sie nie, Frank, die schwerste Sache der Welt für jeden Menschen ist, eine Entscheidung zu treffen — besonders, wenn er diese Art Entscheidung lange Zeit nicht mehr getroffen hat."
Am Eingang des Gebäudes erwarteten sie zwei von Curzons Leuten neben vier bewaffneten Werkspolizisten. Gelb übergab die Haftbefehle den Polizeibeamten, sagte ihnen noch ein paar Worte, und dann begab sich die ganze Gesellschaft ans Tor. Gelb, Wilson und Norman machten den Schluss, und Gelb erklärte dem Jungen:
„Bringen Sie die Leute in eine Lage, wo sie eine Entscheidung treffen müssen. Das liegt der menschlichen Natur nicht, sie hat nicht den Wunsch danach. Sie würden überrascht sein, wenn Sie nur einmal darüber nachdächten, wie sehr unsere Gesellschaftsordnung darauf gegründet ist, dass der Durchschnittsmensch unfähig ist, irgendeine Entscheidung zu treffen."
8
Danny Ryan unterhielt sich mit Maurice Renoir, dem Streikpostenobmann, und Joey Raye half zwei der Mädchen einen Salamander zu schüren und zog sie in seiner sanften, gemächlichen Art auf, als sie die kleine Gesellschaft vom Werk herankommen sahen. In der ruhigen, entschlossenen Art ihres Schritts lag etwas, das auf alle am Tor seine Wirkung tat. Die Streikpostenkette hielt inne, und aus einer organisierten Mannschaft wurde ein Schwarm vorsichtiger, ängstlicher Männer und Frauen. Ihre Herzen schlugen schneller; die Kälte des Wintertags kroch in sie hinein; die plötzliche, ungreifbare Drohung des Gesetzes warf sie auf sich selbst zurück und ließ sie mit leeren Händen dastehen. Ryan brachte die Streikpostenkette wieder in Gang. Zu Renoir sagte er: „Lass mich das Sprechen besorgen, Murray." Die Mädchen neckte er: „Hier kommt die SS. Gebt ihnen den Arm." „Wir werden im Chor rülpsen", sagte jemand, und die Spannung war gelöst. Renoir begann mit seiner hohen Stimme und mit einem merkwürdigen französischen Akzent zu singen: „Einst gab's 'ne Maid in der Gewerkschaft, hatt' niemals Angst und war sehr herzhaft... " Es war ein gezwungenes Lachen, aber sie lachten doch wenigstens. Joey Raye flüsterte Ryan zu:
„Das ist Harn Gelb, dort hinten. Der Clown in dem grellgrauen Anzug - mit dem Schnurrbart."
„Joey, werd' du nicht hitzig", sagte Ryan. „Du hältst den Mund." „Er hat 1937 in Allentown Sam Brodsky eine Kugel durch den Kopf schießen lassen. Er brachte seine Schläger von New York mit, und einer von ihnen ging auf Sam zu, fragte ihn nach seinem Namen und schoss ihn nieder. Und Sam war wie ein Bruder zu mir, als ich noch ein plumper, dummer schwarzer Bankert und Baumwollpächter war... "
„Du hältst den Mund", sagte Ryan bestimmt. „Wenn du dein großes Maul auch nur auftust, tret' ich dir's Gedärm aus dem Leib, so wahr ich lebe. Halt du bloß deine Schnauze!"
Die Polizisten kamen aus dem Tor heraus. Gelb, Norman und Wilson blieben drinnen. Einer von den Polizeibeamten ging auf die Streikpostenkette zu, fuchtelte mit seinem Knüppel und forderte sie auf, hübsch stehenzubleiben. Drei von der Werkspolizei folgten ihm und stellten sich zur Deckung dicht hinter ihn. Der andere Polizeibeamte fragte:
„Wer von Ihnen ist Ryan?"
Ryan kannte den Polizeibeamten, der die Streikpostenkette angehalten hatte. Es war Fanway, ein großer blonder Mann, der mit Curzon zusammen von außerhalb in die Stadt gekommen war, und Ryan sagte ruhig zu ihm:
„Lass uns mal drüber sprechen, Fanway. Wir wollen keinen Krach, Ihr wollt auch keinen Krach."
Die Polizisten hatten sich nunmehr zwischen die Streikposten gedrängt, die Kette war von neuem ins Stocken gekommen und die Arbeiter ballten sich unentschlossen zusammen. Renoir, der von hitzigem Gemüt war, hielt seine Hände in den Taschen und beobachtete Ryan. Die Mädchen hatten sichtlich Furcht; die Männer hatten auch Angst, versuchten aber, sie zu verbergen.
„Sind Sie Ryan?" fragte der zweite Polizist.
„Ganz recht. Was soll denn das? Wir sind in unserm Recht."
„Sie sind auch im Werksgelände", sagte Fanway. „Das Gelände des Werks beginnt draußen an der Birkenstraße, und Sie stehen eben vierhundert Meter ungefähr außerhalb des Gesetzes. Mit andern Worten, Sie müssen die Streikpostenkette hier auflösen und sie dort auf die Gemeindestraßen zurückziehen."
„Das ist ein Witz", sagte Ryan. „Der beste Witz, den ich je gehört habe."
„Sie machen den Mund ziemlich weit auf, Ryan", sagte der zweite Polizist zu ihm, „verdammt weit machen Sie den Mund auf.“
„Klar, und ich mach' ihn auch noch weiter auf. Was für einen Mist wollen Sie uns auftischen? Das sind die Werkstore — sie sind seit fünfundzwanzig Jahren die Werkstore gewesen. Das reicht für das gemeine Recht, oder nicht? Niemand hat dies Stück Land da draußen je benutzt, ausgenommen die Kühe, und die öffentliche Straße führt auch hindurch."
„Das ist eine Werksstraße", sagte Fanway. „Sie wollen keinen Krach nicht, Ryan - in Ordnung. Wir wollen auch keinen nicht. Wir haben hier Haftbefehle wegen widerrechtlichen Betretens fremden Eigentums gegen Sie und Raye drüben, und wenn Sie uns dazu zwingen, dann haben wir auch noch Blankobefehle gegen euren ganzen verdammten Haufen. Ziehen Sie also jetzt Ihre Kette friedlich hier heraus und bis hinten an die Straße zurück, oder sollen wir den ganzen Haufen von Ihnen einlochen?" Ryan konnte Raye atmen hören, kurz und erregt. „Zeigen Sie uns die Haftbefehle", sagte er.
„Hier sind sie, ordentlich, sauber und ganz nach Vorschrift." Raye sagte: „Ich hab' es dir gesagt, Danny. Ich kenn' diesen Hurensohn doch von früher her."
„Ich liebe solche Redensarten nicht", sagte Fanway. „Wieso haben Sie grade Haftbefehle für Raye und mich?" wünschte Ryan zu wissen.
„Ich schreibe die Haftbefehle doch nicht", seufzte Fanway. „Wie ist es also, Ryan?"
Ryan nickte und drehte sich langsam zu Renoir um: „Zieh sie an die Straße zurück, Murray. Nimm auch die andern Ketten zurück. Dann überbring die Geschichte Noska und Max Goldstein. Sag Max, dass er Kaution stellen soll. Wir haben keine Lust, in diesem dreckigen, verlausten Kittchen zu schlafen."
9
Es war zu spät, Wilson noch im Büro anzutreffen, und deshalb fuhr Lowell unmittelbar zum Polizeiamt. Er kam dort wenige Minuten später an, nachdem Ryan und Joey Raye eingebracht worden waren. Lowell war nicht betrunken; er wurde nicht leicht betrunken; aber zwei Schnäpse auf leeren Magen hatten seinen Gedanken die Schärfe genommen. Ein angenehmer feiner Nebel hatte die seelische Qual gedämpft, die ihn von Abbotts Sprechzimmer an begleitete, die zusammenhanglose Natur der Zukunft hatte sich wieder zur Einheit gefügt. Die Dinge kamen immer in Ordnung, und auch diese Sache würde es tun. Lois hatte er die Verantwortung in den Schoß geworfen, ihn zu verlassen oder nicht, und ihm schien es keinen großen Unterschied zu bedeuten, was sie wählte. Wie ihm jetzt vorkam, konnte er den Punkt, wo die Dinge ihre Bedeutung verloren hatten, bis zur Zeit von Clarks Tod zurückverlegen. Dieser Gedanke gefiel ihm. Vielleicht würde er mit Fern fort nach Europa gehen — für den Pass würde sich schon ein geschäftlicher Grund finden lassen-, sobald einmal diese elende Störung durch den Streik erledigt war. Die Vorstellung, mit einem hübschen jungen Mädchen wie Fern — und er selbst auch noch so jung — umherzureisen, mit ihr zusammen von den Leuten gesehen, beobachtet zu werden, war eine höchst angenehme Vorstellung, und er dachte voller Sehnsucht an die Entdeckung von Paris durch einen jungen Menschen, an die Abenteuer, die Europa jedem bot, der über etwas Geld und Enthusiasmus verfügte, an die vergeistigte Kultur längst toter und zerbrochener Dinge, und daran, wie er das alles wohl Fern vermitteln könnte — bis zu einem Punkte beinahe, wo er Clark durch sie ersetzen konnte.
Damit zugleich ergab sich eine Entschlossenheit, mit dem Streik fertig zu werden, rasch mit ihm fertig zu werden und seine Hände in Unschuld zu waschen. Je mehr er Wilson als einen unerträglichen Esel verabscheute, um so weniger war er darauf erpicht, nach der Melodie von Wilsons bewundernder Herablassung zu tanzen.
Er ging in das Polizeigebäude hinein, und der Beamte am Empfangstisch sagte: „Jawohl, Herr Lowell — sie sind im Büro von Hauptmann Curzon. Sie warten schon auf Sie."
Er nickte und folgte dem Polizeibeamten. Er war ein kranker Mann, aber er fühlte sich nicht krank; er war ein beraubter Mann, aber er fühlte sich nicht beraubt. Es gab ihm ein erregendes Gefühl zu wissen, dass im Grunde er diese Angelegenheit beherrschte, und dass Hamilton Gelb, Tom Wilson, der junge Frank Norman und Jack Curzon alle zusammen seine Wünsche ausführen würden, wenn er seine Wünsche nur deutlich genug formulierte. Nach Macht hatte er nie gestrebt, und wenn er von Menschen las, deren ganzes Leben vom Willen zur Macht bestimmt worden war, oder wenn er solchen Menschen begegnete, dann reagierte er, wie er es stets seinem Vater gegenüber getan hatte, mit einer Mischung von Grauen, Ekel und Verachtung. Ihr Extrem, jener Adolf Hitler, war ein irrsinniger, ordinärer und unbedeutender Mensch, und das variierte nur um Grade die ganze Skala hinunter. Er hatte nie ein Gelüst nach Macht gehabt, wie er sich ebensowenig je einer Begierde nach Geld bewusst gewesen war — aber jetzt ward er sich seiner Macht bewusst, mehr und mehr bewusst, und der Geschmack war nicht unangenehm. Sie war mikrokosmisch; sie war nicht sein Werk, wie er erwog; sie war eine kleine Welt für sich in einem Winkel von Massachusetts, aber der Geschmack war nicht unangenehm. Er wurde ein richtigerer George Clark Lowell. Er war ganz George Clark Lowell, als er in Curzons staubiges, schäbiges Büro trat, wo vier Mann, die für ihn arbeiteten, saßen und warteten; und als sie ihm die Hand geschüttelt hatten, erklärten sie ihm, was sie getan hatten. Lowell setzte sich. „Auf eine Anklage wegen widerrechtlichen Betretens hin können Sie sie nicht festhalten", sagte er.
„Ein paar Stunden doch", sagte Gelb. „Ein paar Stunden, mehr brauchen wir nicht."
Wilson war unsicherer als Gelb und dachte an Goldstein. „Dieser Jude", entschied er, „wird einen höllischen Lärm machen!"
Gelb ignorierte Wilson und sagte zu Lowell: „Ich hasse es, Dinge in die Länge zu ziehen. Wenn Sie einen Dauerwettstreit wollen, brauchen Sie mich nicht."
„Ich will keinen Dauerwettstreit. Wenn Sie glauben, Sie könnten die Geschichte beenden, wie lange würde das dauern?"
„Das meiste heute - und der Rest morgen."
Curzon sagte ängstlich: „Ich möchte bloß Ihre Versicherung haben, dass Sie mich decken werden, Herr Lowell."
„Was Herr Gelb auch tut... "
Gelb fragte Lowell: „Könnten Sie hier bleiben? Jack wird langsam fett und alt." Er besaß die Fähigkeit, beleidigende Dinge zu sagen, ohne eigentlich beleidigend zu sein, und er vermochte eine Forderung in die Form eines bescheidenen Vorschlags zu kleiden, der fast unmöglich abgelehnt werden kann. Lowell wollte ablehnen, aber er entdeckte, dass er zustimmte. Sie verließen alle das Büro und stiegen die ausgetretene Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Curzon öffnete die Tür zu einem Raum auf der Rückseite des Gebäudes und trat beiseite, um die andern vorangehen zu lassen. Als sie eintraten, konnte Lowell nicht umhin, über die Billigkeit der ganzen Geschichte nachzudenken, die aus dem fadenscheinigen Gewebe eines Hollywoodfilms gemacht war — oder vielleicht war diese Wirklichkeit das Muster, das Hollywood gebrauchte —, denn er fand Ryan auf einem Holzstuhl unter einer starken elektrischen Lampe sitzend, mit einem von Curzons Leuten an jeder Seite. Lowell erschien das gleichzeitig natürlich und albern, und es fiel ihm schwer, einen Mann wie Gelb, den er sehr zu schätzen und sogar gernzuhaben gelernt hatte, mit solchem Treiben in Verbindung zu bringen. Schamerfüllt und unbehaglich blieb er weit hinten im Schatten stehen und betrachtete Ryan, einen kleinen, gewöhnlichen, abgearbeiteten Menschen unbestimmbaren Alters - und er fragte sich, ob er nicht die Geschichte jetzt stoppen müsste, nicht gezwungen wäre, sie zu stoppen, da sie eine Beleidigung jeden Feingefühls und jeden Maßes guten Geschmacks war, die er besaß.
Er hätte gern gewusst, ob es Clark ähnlich ergangen war, als er ins Gefecht kam, und ob eine Schlacht ebenso gemein war. Wie Elliott Abbott war dieser kleine Mann auf dem hölzernen Küchenstuhl sein Feind von Urbeginn, der bärtige, bombenwerfende Unhold aus zehntausend Bildergeschichten bis zurück zu seiner frühesten Kindheit, aber er vermochte um sein Leben nicht diese Komödie mit der Wirklichkeit zu verknüpfen.
Und dennoch gebot er ihr keinen Einhalt.
Gelb, der ein wenig vor Lowell stand, fing an. Wilson und Norman traten auf eine Seite hinüber, und der Schatten verschlang sie. Curzon stellte sich an den Rand des Lichtkreises und schlug Ryan mit dem Handrücken den Kopf hoch, als Gelb zu sprechen begann. Für Lowell war die Veränderung, die mit Curzon vorging, außerordentlich; die Schlaffheit des Mannes verschwand; sein ganzes Wesen schien einer Verwandlung zu unterliegen, so wie ein Chirurg, der im Alltag ein gewöhnlicher Dutzendmensch ist, in einem Operationssaal zum Künstler
wird.
„Hallo, Ryan", sagte Gelb ungezwungen. „Ich wollte Sie
schon längst einmal kennen lernen."
„Wollen Sie den Nigger nicht auch?" lächelte Curzon.
„Ich will nur Ryan. Ryan ist mein Mann."
„Nicht der Nigger?"
„Nur Ryan — nur Danny Ryan. Er ist mein Mann. Ich mag Ryan gern. Ich habe Achtung vor ihm. Was ich in Clarkton auch höre - alles ist Danny Ryan; er ist ein großer Mann in Clarkton."
„Sie sind Gelb", sagte Ryan und lächelte sehr dünn. „Ich hab' es gern, wenn ich seh', mit wem ich spreche."
„Er hat es gern, wenn er sieht, mit wem er spricht", grinste Curzon. „Er ist auch mein Mann. Er hat es gern, wenn er sieht, mit wem er spricht."
„Sie seh' ich, Curzon", sagte Ryan. „Kein guter Anblick für
wunde Augen."
„Ich bin noch nie einem Iren begegnet, der nicht zu viel geredet hätte. Reden Sie weiter, Ryan."
Gelb trat an den Lichtrand heran, stand da und starrte Ryan ernst an. Dann fragte er ihn: „Sind Sie ein ehrlicher Mensch, Ryan?"
„Ich hab' meiner alten Dame Pfennige geklaut. So hab' ich mein Anfangskapital bekommen."
„Ich stelle eine direkte Frage, Ryan, und ich liebe eine direkte Antwort. Wenn Sie zu stolz sind, etwas nebenbei zu verdienen, dann können wir auch anders."
„Ich bin stolz; die Ryans waren Könige in der alten Heimat."
„Er hat Sinn für Humor", sagte Curzon.
„Ich habe Rote gesehen, die nicht gekauft werden konnten", sagte Gelb langsam. „Sind Sie einer davon?" „Ich mach' bei dieser Bande mit, weil es mir allerhand einbringt. Moskau zahlt einen Tausender die Woche. Können Sie es besser?"
„Sie sind eine Rotznase", sagte Gelb voll Absicht. „Genau wie alle andern. Sie brauchen uns nichts zu verraten, Ryan. Alles, was über Sie und diesen Nigger, den wir aufgegriffen haben, zu erfahren ist, das wissen wir. Alles — verstehen Sie mich? Sie können nun entweder mitspielen, oder wir können Curzon hier Sie ein wenig in die Mache nehmen lassen."
„Auf welche Weise mitspielen?"
„Ich habe hier ein Protokoll, ein ganz kurzes Protokoll, das schildert, wie Sie und Ihre Freunde den Streik angezettelt haben, um die politischen Ziele Ihrer Partei zu fördern. Es stehen einige Namen darin. Das Protokoll wird nicht verwendet werden, wenn es nicht nötig ist, und ich sehe keine Notwendigkeit voraus. Sie haben mein Wort darauf. Der Streik wird sowieso morgen zu Ende sein. Herr Lowell hat eingewilligt, morgen die Forderungen der Gewerkschaft anzuerkennen, und damit wäre dann Schluss. Aber ich wünsche, dass Sie dieses Protokoll unterschreiben. Herr Lowell ist bereit, zweitausend Dollar dafür zu zahlen."
„Das ist billig zu dem Preis", sagte Ryan. „Ich hab' erlebt, dass sich Zeilenschinder vom Daily Worker von Willie Hearst oder einem seiner Kumpane kaufen ließen, und das hat sie für 'n Rest ihres Lebens auf Eis gelegt. Aber für 'nen Proleten sind zwei Tausender ein Haufen Geld."
„Sie brauchen keine Rede zu halten", sagte Gelb ruhig, und in seine Stimme trat die Schärfe, die Lowell schon einmal bemerkt hatte. „Sagen Sie einfach ja oder nein, Ryan. Mehr verlange ich nicht - ja oder nein."
„Der Kummer mit Ihnen ist, Gelb, dass Sie altmodisch sind. Lowell weiß das nicht. Sie sind noch von siebenunddreißig, aber wir haben nicht mehr siebenunddreißig. Heute können Sie nicht mehr einfach daherkommen und Streiks abwürgen. Sie können nicht mehr einfach pusten und erwarten, dass die Arbeiterbewegung umfällt. Alles ändert sich, ausgenommen Bankerte wie Sie,
Gelb... “
Curzon schlug ihn ins Gesicht — es hörte sich an, wie wenn ein Apfel von einem Baum auf ein hartes Brett fällt—, und er kippte nach hinten über, mit Stuhl und allem. Lowell schien das alles sehr, sehr langsam vor sich zu gehen, und er konnte nicht begreifen, warum Ryan den Schlag nicht hatte kommen sehen, nicht versucht hatte, ihm auszuweichen.
Heiße, bittere Säure stieg Lowell vom Magen hoch, und er wich ganz ohne eigenen Willen zurück, bis sich seine Schultern gegen die Tür pressten. Da er ein empfindsamer Mann war, spürte er den Schlag am eigenen Leibe; er schmerzte ihn sogar noch, als die beiden Polizisten Ryan mitsamt dem Stuhl aufgehoben und wieder zurechtgesetzt hatten. Was den Grad der Brutalität anbetraf, so war das die scheußlichste Sache, die Lowell je gesehen; und obgleich er vierundvierzig Jahre alt war, die meisten Länder Europas bereist und sonst noch allerlei gesehen hatte, konnte er sich an nichts erinnern, was diesem hier entsprochen
hätte.
Ryan schüttelte den Kopf und versuchte einen ausgeschlagenen Zahn auszuspucken, der noch an einigen Fleischfäden baumelte. Seine Oberlippe war gespalten und begann bereits anzuschwellen; ein dünnes schwarzes Rinnsal Blut troff ihm aus dem einen Mundwinkel.
„Er ist mein Mann", sagte Gelb.
„Mein Mann ist er auch", grinste Curzon. „Er hat Mumm. Alle Iren haben Mumm. Nichts haben sie lieber als eine kleine Keilerei."
. „Vielleicht will er Frieden und Gemütlichkeit", sagte Gelb. „Er ist Familienvater. Fünf Kinder. Ein Familienvater wird der Keilerei müde. Er will Frieden und Gemütlichkeit. Er glaubt, ich sei altmodisch — aber es könnte sein, dass er nicht mehr in die Zeit passt. Sie haben sein Gesicht zu stark beschädigt", sagte er zu Curzon. „Der Kleine ist sowieso nicht hübsch, warum wollen Sie also sein Gesicht so stark beschädigen, Jack?"
„Nicht mehr ins Gesicht", lächelte Curzon.
„Nein." Gelbs Ton Ryan gegenüber war versöhnlich und schmeichelnd: „Wie steht es, Danny? Mir gefällt dies keineswegs besser als Ihnen."
„Scheren Sie sich zum Teufel!" sagte Ryan.
Diesmal traf ihn Curzon in den Magen, und wieder kam es Lowell vor, als bewegte sich der Polizeihauptmann mit marternder Langsamkeit — obwohl sich doch Curzons ganzer Leib mit dem Hieb bog, der Ryan erneut vom Boden hob und ihn mit dem Stuhl aus dem Lichtkegel in die Dunkelheit schleuderte. Und auch die beiden Geräusche kamen verzögert, das Geräusch der Faust auf Ryans Magen, der Schlag und die Explosion des herausgepressten Atems, und dann der Krach, als Mann und Stuhl über den Boden rollten.
Die beiden Polizisten brachten Ryan und den Stuhl zurück. Sie setzten Ryan in den Stuhl, aber er hing vornüber, und seine Hände griffen nach dem Leib. Der Zahn hing ihm aus dem offenen Munde und baumelte an einem dünnen Faden rosigen Gaumens.
„Er ist ein Blümchen", sagte Gelb. „Ein reizender Junge. Ein Blümchen."
„Er ist mein Mann", grinste Curzon. „Der Schuhwichser ist größer, aber Ryan ist mein Mann."
Ü ber die Schulter hinweg sagte Gelb: „Beachten Sie das, Frank. Er ist ein Mann von Grundsätzen. Ich biete ihm zweitausend Dollar, aber er ist stolz. Sehr stolze Leute, diese Kommunisten. Sie wissen auf alles eine Antwort, aber wenn ich ihm eine ruhige, höfliche Frage stelle, sagt er bloß, scheren Sie sich zum Teufel. Das ist ein Haufen Stolz für einen gemeinen, versoffenen Iren."
„Er hat es gern, wenn er Schläge kriegt", kicherte Curzon. „Es macht ihm Vergnügen, sie einzustecken."
„Aber er könnte damit aufhören. Er könnte es in sein Köpfchen kriegen, dass er und seine Genossen auf der Straße liegen, wenn die Fabrik wieder aufmacht. Er könnte es in sein Köpfchen kriegen, dass er in Clarkton nichts mehr zu bestellen hat. Er könnte es in sein Köpfchen kriegen, dass seine ganze dreckige Bande niemals etwas zu bestellen haben wird. Das könnte er in sein Köpfchen kriegen, und er könnte es sogar noch bezahlt bekommen."
Ryan atmete wieder. Er schüttelte den Zahn ab und sah zu, wie er ihm aufs Knie fiel und dann hinunter auf den Boden glitt. „Sie sind ein Held gewesen", seufzte Gelb. „Aber mir kommt es aufs Geschäft an, Ryan. Ich handle mit Dollars und Cents. Was halten Sie davon?" Er wechselte von neuem den Ton. „Sie haben Frau und Kinder. Was springt dabei für Sie heraus, Ryan? Nehmen Sie es doch für eine Weile leicht. Sie haben nur ein Leben zu leben, und Sie lassen es ganz vor die Hunde gehen. Machen Sie sich's leicht. Vielleicht können wir mit Herrn Lowell etwas arrangieren, wo Sie es sich wirklich mal leicht machen können. Er möchte anständig sein. Ich möchte anständig sein. Dies hier brauchte doch alles nicht zu sein, nicht im geringsten. Was Sie auch von mir denken mögen, oder was Sie auch von mir gehört haben, Ryan, ich kann Ihnen ehrlich sagen, dass ich Brutalität hasse. Ich beklage, dass sie manchmal nötig ist. Ich bewundere Tüchtigkeit. Deshalb bewundere ich euch Leute. Ich falle nicht darauf herein, was Dummköpfe über euch erzählen. Ich bewundere euch aufrichtig. Deshalb mache ich es zweitausend Dollar, deshalb setze ich einen anständigen Preis."
„Du dreckiger Hurensohn", sagte Ryan.
Diesmal traf ihn Curzon in die Lende, der gleiche Hieb wie vorhin, scharf und schwingend, mit dem ganzen Leib dahinter. Lowell fand die Türklinke, drückte sie herunter und entrann aus dem Zimmer. Er fühlte sich jetzt betrunken, schwer betrunken, hoffnungslos betrunken. Er stolperte den Korridor hinunter, bis er eine Tür mit der Aufschrift Waschraum sah, ging hinein, hing über dem Becken und erbrach sich.
10
Die Morgenzeitungen meldeten an diesem Tag, sowohl in New York als in Boston, dass aller Grund bestünde, in den Berkshires und weiter im Lande hinauf Schiwetter zu erwarten, und sie brachten Aufsätze auf der ersten Seite über einen erhofften Nachkriegsaufschwung in der Volkstümlichkeit dieses Sports. „Es besteht kein Zweifel", sagte ein Artikel, „dass der uralte norwegische Sport des Schilaufs viel dazu beitragen wird, die zahme Leere im Leben des Landsers auszufüllen. Bald wird der weiße Mantel König Winters die sanften Hänge Neu-Englands schmücken, und der vorgebliche Rausch der langen Bretter wird die Erinnerung an Minenwerfer und Sprenggranaten verdrängen. Professor Jackson Ely Lynn von der psychiatrischen Abteilung der medizinischen Fakultät der Columbia-Universität teilte uns seine Auffassung vom Wert einer solchen Therapie mit. ,Schifahren und Bergsteigen, sagte Professor Lynn, ,wird die normale, ungestörte Wiederanpassung an die Werte des bürgerlichen Lebens wesentlich erleichtern.' Dieser Korrespondent wenigstens wird die ersten Wintersportzüge mit vermehrter Genugtuung betrachten... "
Und wie um das Wunder zu erfüllen, durch das der Mensch fast jede Laune und Handlung der Natur vorauszusehen vermag, begannen gerade eine Stunde vor Mittag zarte, trockene Schneeflocken über Clarkton zu fallen. Die kleinen weißen Flocken trieben im Wind, wisperten die Straßen entlang und machten sich daran — in Übereinstimmung mit den fröhlichen Voraussagen der Presse -, die Nadelbäume zu bekränzen. Evan Baxter, dem der größte Eisenwarenladen der Stadt gehörte, reagierte auf den Schneefall, indem er ein Plakat hervorholte und es in seinem Schaufenster anheftete; es informierte Clarkton, dass die besten gleitsicheren, pflasterfesten Schneeketten Neu-Englands spottbillig bei ihm zu haben wären.
11
Auch Lois reagierte auf den Schnee; der erste Schneefall versetzte sie stets in melancholische Stimmung, und als sie nun die kleinen Flocken durchs Fenster beobachtete, durchflutete sie eine warme Traurigkeit - die dadurch gesteigert wurde, dass Fern von draußen hereinkam, ganz erregt und voller Jugend und Lächeln. Lois konnte es nicht übers Herz bringen, sich gegen Fern zu stellen; sie legte ihr den Arm um die Schulter und sagte:
„Ferney, Liebling, sei einmal nett."
„Das bin ich", sagte Fern. „Für Papa arbeitet jetzt ein junger Mann, der ist einfach süß. Er ist seit einigen Monaten von den Soldaten entlassen, und er ist nett und naiv und offen."
„Das freut mich", lächelte Lois. „Wie heißt er denn?"
„Er heißt Frank Norman - ein ganz netter, gewöhnlicher
Name."
„In New York kannte ich einige Normans. Ist er aus New
York?"
„Ich glaube."
„Sie waren sehr nette Leute."
„Er ist auch nett. Wenn es heute abend genug geschneit hat, wollen wir auf den Birds Hill rodeln gehen." •
Zum Teil war diese Unterhaltung mit Fern schuld daran, dass
Lois tat, was sie tat - weil das Gespräch so gesund und offen und anständig gewesen war. Es ließ sie erkennen, dass, wenn man etwas besaß, es wert war, dafür zu kämpfen und es zu verteidigen - und dass es nicht bloß die Geduld des Abwartens wert war. Deshalb schlug sie noch vor dem Lunch, den Fern versprochen hatte, mit ihr gemeinsam einzunehmen, im Telefonbuch den Namen Antonini nach; sie fand zwei Familien dieses Namens und rief aufs Geratewohl eine davon an. Eine Stimme halb im Schlaf, eine dröselnde, träge Stimme meldete sich, und Lois fragte höflich und sanft, ob sie mit Rose Antonini spräche.
„Ja.“
„Nun, hier ist Frau Lowell", sagte Lois.
Ein langes Schweigen, und dann: „Ja?"
„Ich weiß Bescheid über gestern abend", pladderte Lois los. „Ich weiß, dass solche Dinge passieren. Ich bin sicher, dass Sie verstehen werden, wie sie passieren... " Nur ein langes Schweigen kam danach, bis Lois fragte: „Hallo?"
„Was wollen Sie?"
„Ich weiß, dass Leute wie Sie - Geld brauchen", sagte Lois mühsam. „Ich könnte etwas Geld auftreiben, aber mein Mann darf es nicht wissen. Ich möchte, dass Sie irgendwo anders hingehen. Dafür könnte ich genug Geld auftreiben - dafür, dass Sie irgendwohin gehen und sogar angenehm leben können... "
Wieder kam ein langes Schweigen. „Hallo", sagte Lois.
„Ach, scheren Sie sich zum Teufel, Sie alter Dienstbolzen", antwortete ihr die schläfrige Stimme.
12
Max Goldstein war einer der Helden des ersten Weltkriegs gewesen, und was er damals vollbracht hatte — das meiste davon jetzt längst vergessen —, hatte ihm die Ehrenmedaille des Kongresses eingebracht. Für Clarkton war das seinerzeit ein großes
Ereignis gewesen, und als er im Juni 1919 heimkam, holte ihn eine Musikkapelle vom Bahnhof ab, und er schritt an der Spitze eines Triumphzuges durch die Stadt. All das gefiel ihm ebenso gut wie jedem andern; er war ein großer, unbekümmerter Mann, und seine Kriegserinnerungen bedeuteten ihm nichts Schreckliches. Eher umgekehrt, denn er war sehr stolz auf ein Buch mit Zeitungsausschnitten, das sein Vater angelegt hatte und das zumeist Ausschnitte aus dem Clarktoner Minuteman enthielt, aber hier und dort auch mit Stücken aus Bostoner und New Yorker Blättern durchsetzt war.
Er war in Clarkton geboren und aufgewachsen, wo seine Eltern einen kleinen Kurzwarenladen hatten, und seine Sympathie für diese Stadt war eingewurzelt und echt. Er war nicht ehrgeizig; einmal war er Friedensrichter gewesen, und dann hatte er auch für das Parlament des Staates kandidiert und war gewählt worden. Aber das war der Gipfel seiner politischen Karriere; er zog ihr seine alltägliche Praxis und sein Büro vor, das in einem mehrstöckigen Gebäude mit Dachgeschoß genau im Zentrum der Stadt lag. Im Laufe der Zeit heiratete er ein zartes, sehr hübsches polnisches Mädchen, blieb ohne Kinder, verlor sein Haar und entwickelte einen gewaltigen Wanst. Er war nur ein mäßig fetter Mann, aber er hatte von allen Männern der Stadt den gewaltigsten Bauch. Da er keine großen Bedürfnisse hatte, übernahm er nur solche Fälle, die ihm lagen, und fast nie drängte er jemanden wegen der Rechnung. Im Winter saßen gewöhnlich ein paar seiner Busenfreunde in seinem Büro, stritten sich über Politik oder spielten Dame; im Sommer verlegte er die Sache in die Grünanlage vor dem Gerichtsgebäude. Jetzt, in seinem einundfünfzigsten Lebensjahr, war er tatsächlich eine Reliquie, ein Rechtsanwalt von der alten Sorte, der bei seinen Grundsätzen blieb, seine Kunst liebte und hoffnungslose Fälle übernahm, die er selbst vorbereitete und selbst vor Gericht vertrat, und der nur einen bedeutenden Klienten hatte, die örtliche Gewerkschaft. An diesem Samstagmorgen spielte er mit dem Dentisten, der die Räume nebenan innehatte, gerade eine Partie Dame, als Maurice Renoir hereinpolterte und ihm berichtete, was am Werk vorgefallen war. Er hörte ruhig zu, nickte mit dem Kopf und tat mitten in der Erzählung einen Zug. Der Dentist übersprang drei seiner Steine.
„Zum Teufel", sagte Goldstein. „Zwanzig Jahre, und ich kann das Spiel immer noch nicht."
„In fünf Minuten habe ich einen Patienten. Noch eine Partie?" fragte der Zahnarzt.
„Ach, zum Teufel. Wie viel bist du voraus — einen Fünfziger?"
„Ja."
Goldstein zahlte, bedächtig und überlegt; er entnahm die Münzen einer ledernen Klappbörse, die er in einem Auszug seines Rollschreibtisches aufbewahrt hielt.
„Heiliger Gott", schrie Renoir, „hörst du mich denn nicht? Sie sind im Gefängnis!"
„Wenn sie dort sind, sind sie dort. Sie werden nicht weglaufen, und das Gefängnis wird auch keiner stehlen." Der Dentist ging hinaus; Goldstein lüftete seinen gewaltigen Leib und begann die Damesteine in ihre Schachtel zurückzutun. „Hast du mit Noska gesprochen?" fragte er Renoir.
„Wo zum Teufel ist Noska? Sag du mir's, Max."
„Sag du mir's", sagte Goldstein. „Das ist nichts. Das ist ein billiger, schmutziger kleiner Vorwand — widerrechtliches Betreten, du meine Güte!"
„Danny sagte, du holst ihn heraus."
„Was beißt Ryan? Hat er noch nie ein paar Stunden im Gefängnis verbracht?" Er schwang sich an seinen Schreibtisch zurück, nahm den Telefonhörer auf, frozzelte sanft eine Weile den Telefonisten und verlangte dann eine Nummer. „Elliott", sagte er, „bist du's, Elliott? Schön, hier ist Max. Sie haben sich gerade Danny und Joey Raye gegriffen, auf irgendeine verdammt blöde Beschuldigung wegen widerrechtlichen Betretens hin. Ich weiß nicht, was dahintersteckt - vielleicht bloß wieder einer von Tom Wilsons brillanten Einfällen. Nein — nein, es haut nicht hin. Selbst wenn Curtis seine Hosen in Lowells Westentasche wärmt, muss das Gericht die Klage verwerfen. Aber sieh her, es scheint, als ließe sich Noska im Moment nicht auftreiben, und Danny hat Ameisen in die Buxe bekommen. Wenn du also ein paar Hunderter als Kaution flüssig machen kannst, dann tragen wir sie hinüber aufs Gericht."
13
Abbott musste erst mit seinen Patienten fertig werden, deshalb schickte er Ruth zur Bank hinüber, rief dann wieder Max Goldstein an und fragte, warum sie sich denn nicht alle bei ihm träfen und dann zusammen zum Gericht hinüberführen? Goldstein sah keinen Grund, weshalb sie es nicht sollten, und es würde Ryan nicht weh tun, eine Extrastunde im Loch zu verbringen, sondern eher für seine unsterbliche Seele gut sein. „Besteht keine Gefahr, dass sie ihn piesacken werden?" wünschte Abbott zu erfahren, und Goldstein sagte: „Wozu? Das ist keine Situation dieser Art."
Abbott aber war nicht so sicher, und er beendete seine Sprechstunde rein mechanisch. Max Goldstein konnte sich irren, dachte er bei sich. Max Goldstein hatte sich schon manchmal geirrt. „Du bist ein ganz trister, humorloser, liebloser, ungläubiger Neu-England-Mann", hatte Goldstein erst vor etwa einer Woche zu Abbott gesagt, als Abbott die Auffassung vertrat, dass der Krieg und das Kriegsende einen Beginn und keineswegs ein Ende bedeuteten. „Wir haben dem Faschismus den Garaus gemacht", sagte Goldstein. „Allem Faschismus?" fragte Abbott und sah ihn an und versuchte sich einzuprägen, dass Max Goldstein Jude war, einer aus dem gleichen Volke, das sechs Millionen Menschen dem kalten Leichentuch der Erde übergeben musste und seinen Anteil an einem Leid hatte, das die Welt nicht sobald vergessen würde; aber das war schwierig bei Goldstein, der mehr Neu-England war und mehr zu dem Tal und den Bergen ringsum gehörte als er selbst. Goldstein hatte damals gesagt: „Im Frühjahr gehe ich Forellen fangen. Ich möchte in den Sonnenschein hinaus, mit hohen Stiefeln und einer Anglertasche, und vergessen, dass diese Bestialität je existierte." Nun hielt Elliott Abbott dafür, dass Vergessenwollen stets ein vergebliches Bemühen wäre; die Erinnerung suchte einen heim, und man war besser vorbereitet, wenn man das im voraus wusste. Seit 1939 hatte er, hier in den Vorbergen der Berkshires, das geruhsame Leben eines Land- und Kleinstadtarztes geführt und hatte vergessen, wie man kämpfte. Sein Unbehagen wuchs und wurde düster und melancholisch, so dass er gezwungen war, seinen Patienten zu erklären, dass sein eigenes Elend und nicht das ihre am Ausdruck seines Gesichts schuld wäre.
Ruth kam zurück. „Fünfhundert habe ich bekommen", sagte sie. „Wird das reichen?"
„Ich denke."
„Was ist los?" fragte sie, als sie sein Gesicht sah.
„Nichts. Warum machst du nicht ein paar Butterbrote, Ruth? Ich habe nur noch Jackie Maurois und Frau Bailey, dann bin ich durch."
Frau Bailey hatte einen aus dem Heer entlassenen Neffen, der Medizin studieren wollte. Als er ihr etwas für den Rücken verschrieben hatte, musste Elliott noch zehn Minuten lang der Aufzählung ihrer Familiengeschichte lauschen, bevor er sie aus der Tür scheuchen und nach hinten in die Küche gehen konnte. Goldstein war noch nicht gekommen, und es war schon zehn Minuten nach eins.
„Dieses verdammte Walross", sagte Abbott. „Der Himmel könnte über ihm einstürzen, und er würde sich immer noch nicht beeilen."
„Elliott, was bohrt dich denn?" wollte Ruth wissen.
„Nichts."
„Die Sache mit George heute morgen ist es nicht?"
„Das habe ich schon beinahe vergessen", sagte Abbott. Er setzte sich zu einem Butterbrot und einem Glas Milch an den Tisch. „Ich hatte es fast vergessen - ist das nicht komisch? Es ist verdammt komisch. Weißt du, ich bin bange", sagte er. „Das ist es -ich bin bange."
„Ich bin es meistens", sagte Ruth achselzuckend. „Möchtest du ein Stück Topfkuchen?"
„Ja — gern." Er saß am Tisch, ein gewaltiger Mann; Glas und Butterbrot wurden zwergenhaft vor seinen ungeheuren Händen; sie musste lächeln.
„Ich wünschte, ich könnte es auch", sagte er. „Gib mir doch noch ein Stück von dem Kuchen, Ruth. Du bist nicht bange, wie?" „Jetzt nicht mehr —nicht in der Beziehung, wie du meinst. Ich bin in anderer Beziehung bange."
„Man wird es, wenn man sich allein und hilflos fühlt. Man gehört zu einer Bewegung, und sie ist einem das ganze Leben und ist das einzige, was in diesem Lande anständig und gut und echt ist. Aber ich brauche mehr als du, Ruth. Ich schaue um mich und zähle an den Fingern beider Hände die Menschen, die in einem Ort wie diesem hier Kommunisten sind. In den Großstädten ist es anders, vermute ich."
„Ich weiß es nicht", sagte Ruth. „Wo zum Teufel bleibt denn Max?"
Er watschelte schließlich durch die Seitentür herein, lächelte und fragte sanft: „Warst du beunruhigt, Doktor? Wenn ich mich langsam in Bewegung setze, verlängere ich mein eigenes Leben, und die Revolution wird immer noch fahrplanmäßig kommen, oder nicht? Das ist eine Sache für die Jugend. Ich bin ein Museumsstück. Es kommt mir gar nicht zu, ein Roter zu sein." „Was hat dich aufgehalten - eine Partie Dame?" „Andere Menschen - andere Motive", sagte Goldstein gedankenvoll, als Ruth sich den Mantel anzog. „Zieh Stiefel an -draußen liegt der Schnee einen Zoll hoch. Du, Elliott, bist ein Berufsrevolutionär, ich bin ein fauler Sack; wir wollen uns doch die Wahrheit eingestehen, die ganze Wahrheit. Als du in Spanien warst, saß ich in der Sonne und wärmte mir die Füße am Herd; und was auch kommen mag, ich werde im Bett sterben, an Harnvergiftung und zu hohem Blutdruck. Was das betrifft, was mich aufgehalten hat, ich habe mich über die Tatsachen informiert, ein altmodisches, doch notwendiges Detail." Er folgte ihnen hinaus und kletterte in den Wagen; er grunzte, als er Ruth in die paar Zoll quetschte, die die beiden großen Leiber ihr ließen. „Ich würde eine ruhige Bewegung vorziehen", seufzte er. „Moralisch und korrekt und geduldig im sanften Fluss der Ereignisse. Eine Bewegung, die beide Seiten einer stachligen Materie sieht", fügte er einen Augenblick später hinzu, „aber für keine von beiden entschieden eintritt. Statt dessen verbünde ich mich mit einer Horde Parias. Ihr seid die Verdammten dieser Erde, genau wie die ersten Christen es waren. Aber ich bin weder demütig noch sündhaft, und Märtyrertum enthält keine sanften Lockungen. Ich habe auch kein nervöses System oder was ihr feinen jungen Leute einen neurotischen Zwangskomplex nennt. Ich bin George Babbitt, mit einer oberflächlichen Gelehrsamkeit — und der einzige Zwangskomplex, den ich habe, existiert in Gestalt einer Mesalliance mit einer Hure, die sich Wahrheit nennt. Ich finde, dass niemand sonst Interesse hat — an der Wahrheit, meine ich... "
„Um Himmels willen", rief Abbott, „hör doch auf, den modernen Sokrates zu spielen! Was geht denn eigentlich vor?"
„Nichts, woraus ich schlau werden kann. Nach ihrer kindlichen Vorstellung — die, wie mir geflüstert wurde, vollerblüht dem Gehirn eines altrenommierten Herrn namens Gelb entsprang, wie Athene der Braue des Zeus entsprang — kann Lowell, weil ihm das ganze Gelände zwischen den Werkstoren und der Birkenstraße gehört und er entsprechende Schilder aufgestellt hat, durch die einfache Handhabung des Verbots widerrechtlichen Betretens das Streikpostenstehen unterbinden. Sie machten sich eine Handvoll Haftbefehle zurecht, warteten, bis Ryan und Joey Raye erschienen, und lochten sie dann ein. Weiterhin haben sie die Streik-
postenkette bis an die Birkenstraße zurückgedrückt. Ich konnte Noska nicht auftreiben, und niemand sonst scheint zu wissen, was
nun zu tun ist."
„Das klingt nach einem billigen, dummdreisten Bluff", sagte Abbott. Sie waren am Gerichtsgebäude angelangt und rückten in die Reihe der schräggeparkten Wagen.
„Ist es auch — tatsächlich. Aber es gehört zum Schema Hamilton Gelbs. Eine ganze Generation von Streikabwürgern hat unter ihm gelernt, und unterschätzt ihn nicht! Euer 79. Kongreß lernt seine Technik. Der Trick besteht darin, irgendein Gesetz, eine Anordnung, einen Erlass, eine Verfügung oder Vorschrift auszugraben, gegen die sich die Streikenden vergehen, sie ihnen auf den Kopf zu hauen, sie zu einer unmöglichen Entscheidung zu zwingen und dann mit ausreichenden gesetzlichen Handhaben über sie herzufallen, um den Streik mit Glanz abzuwürgen. Und mittlerweile die Gewerkschaftsorganisation zu spalten. Das ist die klassische Methode. Deshalb haben sie sich auch Ryan und Raye
herausgesucht."
„Woher konnten sie das wissen?" wunderte sich Abbott.
„Das lässt sich doch herauskriegen", murmelte Goldstein traurig. „Sowas wie einen heimlichen Kommunisten gibt es nicht, lieber Freund. Nur die Geheime Bundespolizei ist dumm genug, es zu glauben und Zeit und Geld darauf zu verschwenden, sie auszugraben. Tu den Mund auf, rede vernünftig, liebe die Freiheit, wisse, was du willst — das sind die altfränkischen Tugenden, die mir eure kindische Bewegung wert und teuer machen, aber sie machen auch einen Menschen durchsichtig wie ein GOP-Programm (Anm.: Grand Old Party — Große Alte Partei; die Republikanische Partei)."
14
Das Kreisgericht war, im geographischen wie auch im geschäftlichen Sinne, der Mittelpunkt Clarktons. Es war ein altes, nicht allzu plumpes Granitgebäude aus dem Jahre 1897 und hatte einen angemessenen Ausdruck von Würde und Zurückhaltung. Eine breite steinerne Freitreppe führte zu der großen Doppeltür hinauf, über der in Stein gemeißelt JUSTITIA OMNIBU S stand, ein Spruch, den Abbott wegen seiner Kürze und seines Inhaltsreichtums stets bewundert hatte. Vor dem Gebäude war ein winziger Park, etwa hundert Fuß im Quadrat, und in seiner Mitte stand das Bürgerkriegsdenkmal mit den Namen aller Angehörigen des 108. Regiments Massachusetts rundherum, das die Wucht des ersten Angriffs bei Gettysburg auszuhalten hatte und so grässliche Verluste erlitt, dass von seinen dreihundertfünfzig und einigen Soldaten dreihundertzweiundzwanzig getötet oder verwundet wurden. Unterhalb der Namen und rings um den Fuß des Sockels war eingegraben: EINHEIT IST KOSTBAR — RUHM HAT EINEN SÜSSEN KLANG — ABER WENN EIN MANN SEIN LEBEN HINGIBT, TUT ER ES FÜR SEINEN BRUDER — UND WAS ANDERS SOLLTE SEIN BRUDER WERTSCHÄTZEN DENN DIE FREIHEIT? Im Park standen Bänke, die bei milderem Wetter den Stadtbummlern und jenen wenigen Bürgern dienten, die mehr als die vom Buch der Bücher zugestandenen sechzigundzehn Jahre erreicht hatten, doch jetzt waren sie verlassen und von einer dünnen Schneeschicht überzogen, wie auch die hölzerne Gedenktafel, die die neuen Toten des alten Kampfs verzeichnete. Von jenseits des Platzes sah die öffentliche Bibliothek zum Gericht herüber, und zu jeder Seite standen zweistöckige spitzdachige Häuser, die Läden und Büros beherbergten.
Abbott und seine Frau folgten Max Goldstein, als er mühselig die Stufen hinaufkletterte, schwitzend und schnaufend trotz aller Kälte, und dann warteten sie in der Vorhalle, bis er wieder zu Atem kam, sich aus seinem Mantel schälte und Halstuch und Handschuhe verstaute. Es war keine eilige Zeit fürs Gericht, sie brauchten nur ein paar Minuten zu warten, bis der Gerichtsdiener Goldstein mitteilte, dass Richter Curtis ihn empfangen wollte. Goldstein übernahm die Führung in den dämmerigen gotisch gewölbten Gerichtssaal, wo ein halbes Dutzend Leute sich auf den Bänken räkelten, ein Rechtsanwalt ungeduldig herumstrich und ein bebrillter zierlicher kleiner Mann mit einem kleinen Bürstenschnurrbart hinter dem Richtertisch gelangweilt Wache hielt. Er grinste Goldstein entgegen und winkte mit der Hand. „Hallo, Max."
Elliott und Ruth machten an der Schranke halt, aber Goldstein stieß mit der ungerührten Hartnäckigkeit eines Elefanten durch und dröhnte: „Allen Respekt vor dem hohen Gericht, aber wenn ich dieses blöde Grinsen auf deinem Gesicht erblicke, sehe ich immer einen willfährigen Diener der verrotteten Oligarchie, die die Stadt in ihren Klauen hält."
„Warum setzt du dich nicht zur Ruhe?" sagte der Richter trocken. „Du bist nur noch ein feister alter Bock, und jeden Tag wird's schlimmer mit dir."
„Ich habe noch nicht Geld genug, um mich zurückzuziehen. Ich halte meine Hände sauber."
„Nimm mal an, ich belange dich wegen Verächtlichmachung des Gerichts, und es kostet dich fünfhundert?"
„Mach voran, mach voran", murmelte Goldstein. „Hast du hier geschäftlich zu tun oder bist du bloß hereingekommen, um das Gericht zu beleidigen? Es ist Sonnabend, und beim normalen Gang der Dinge, wenn du nicht übers Telefon plädiert hättest, und ich nicht dumm genug gewesen wäre, es anzuhören, würde ich dich zu einer Ordnungsstrafe verknacken
und vertagen."
„Mach voran und vertage", sagte Goldstein. „Beim normalen Gang der Dinge säße ich in meinem Büro bei einer Partie Dame, anstatt in diesem wütenden Schneesturm herumzulaufen. Euer Gnaden.." fügte er hinzu.
„Worum handelt es sich?" fragte der Richter. „Ryan und Raye?"
„Ich erwarte, dass du unverzüglich die Haftentlassung verfügst."
„Das kann ich nicht", sagte der Richter kurz.
„Was? Allmächtiger Gott, bin ich dreißig Jahre bei den Gerichten von Massachusetts zugelassen und fünfzig Jahre Bürger dieses Staates, um zu hören, dass du von mir für einen so schäbigen kleinen Schwindel wie widerrechtliches Betreten Kaution verlangst?"
„Allerdings." Die Stimme des zierlichen kleinen Mannes wurde scharf, der Humor verschwand aus seinen Augen. „Allerdings, Max. Mach bloß nicht zu viel davon her. Ich kenne dich lange genug. Ich möchte nicht zornig werden."
„Ich kenne Sie auch schon lange genug, Euer Gnaden", antwortete Goldstein langsam, und für Abbott, der zuhörte, klang etwas aus der Stimme des Rechtsanwalts, das er nie zuvor vernommen hatte. „Wie viel Kaution?"
„Zweihundert Dollar für jeden", sagte der Richter bündig.
„Zweihundert Dollar für widerrechtliches Betreten?"
„Und wegen Widerstands gegen die Festnahme. Das ist sogar billig."
„Widerstand gegen die Festnahme?"
„Jawohl."
Goldstein wandte sich zu Elliott um und nickte. Mit eins war er ein fetter, müder alter Mann geworden.
15
Ryan vermochte zu grinsen, aber auf Joey Rayes zerschlagenem, formlosem Gesicht war kein Platz für ein Lächeln. Außerdem war auch etwas mit den Füßen des großen Negers nicht in Ordnung, und er musste sich schwer auf Elliott lehnen, um die vereisten Stufen des Gerichtsgebäudes hinunterzukommen. Bei jedem Schritt zuckte er zusammen, und kleine Schmerzensschreie. entrangen sich seinen gespaltenen Lippen. Sein Gesicht war zerstoßen, zerquetscht, breiig und geschwollen, dass er wie ein alter abgekämpfter Boxer nach einem langen, aussichtslosen Vorkampf aussah. Max Goldstein sah ihn an, seufzte und stützte ihn von der
anderen Seite.
„Widerstand gegen die Festnahme", sagte Goldstein. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, und jetzt bin ich fremd hier."
Eine kleine Menschenmenge lief zusammen, als sie den beiden Männern über den Platz hinweghalfen. Goldstein und Abbott krochen in den kleinen Rücksitz des Wagens, während Danny Ryan und Joey Raye sich neben Ruth hineinschoben. „Ich bin zu alt für solche Aufregungen", sagte Goldstein verzweifelt. Abbott fragte: „Wer war es, Danny?" „Curzon und Gelb." Und Joey Raye murmelte: „Ich hab' euch doch von diesem Menschen erzählt." „Lass das Sprechen", befahl ihm Ruth. „Auch du, Danny. Du hast einen schlimmen Riss in der Lippe da, also rede nicht." „Die Lippe ist's nicht, es ist innen drin", sagte Ryan. „Ich muss inwendig kaputt sein. Ich wär' am liebsten gestorben vorhin, so
weh tat es."
Sie fuhren zu Abbott zurück und brachten die beiden Männer ins Behandlungszimmer. Mike Sawyer hatte auf sie gewartet, und als Goldstein zu helfen versuchte, schob Elliott ihn hinaus und sagte ihm: „Geh und setz dich zu Mike. Ich werde mit Ruth
allein damit fertig."
„Du bist mir böse, Elliott", sagte Goldstein kläglich. „Wie sollte ich das wissen? Wie konnte ich das wissen?"
„Ich bin dir nicht böse, Max."
Im Sprechzimmer erzählte der Anwalt Mike Sawyer, soweit er davon wusste, was geschehen war. „Dabei ist es eine solch ruhige kleine Stadt", klagte er. „Als ich klein war, spielte ich in Battle Creek. Ich bin hier zur Schule gegangen. Ich hoffe, hier zu sterben. Man gewöhnt sich an eine solch ruhige kleine Stadt."
„Das Schlimme ist", sagte Sawyer nachdenklich, „dass wir uns selbst nicht glauben. Wir sagen uns vor, dass Mord und Totschlag kommen muss, aber wir glauben dem Fahrplan nicht. Und wenn es dann so weit ist, sind wir ebenso überrascht wie jeder andere." „Was hoffen sie denn damit zu erreichen? Sie greifen sich zwei Burschen heraus und prügeln sie halb zu Tode auf eine dreckige kleine Anklage wegen widerrechtlichen Betretens hin. Was hoffen sie damit zu erreichen? Ich könnte es in der Stahlindustrie, im Bergbau, in der Konserven- oder Automobilindustrie verstehen — aber hier, in einem kleinen Ort wie Clarkton? Was erhoffen sie sich davon?"
„Es gehört zu ihrem Schema", sagte Sawyer. „Sie wollen die Arbeiterbewegung zerschlagen, das öffnet ihnen dann den Weg zu allem andern. Aber bevor sie die Arbeiterbewegung zerschlagen, müssen sie uns vernichten. Gelb begreift das. Ein Mann wie Gelb sieht die Dinge wissenschaftlich an. Er begreift das."
„Hast du eine Zigarette?" fragte Goldstein. „Es ist sinnlos. Vielleicht werde ich alt. Vielleicht will ich, dass es sinnlos ist."
„Wir werden alle alt", lächelte Sawyer und gab dem Rechtsanwalt eine Zigarette. „Als ich nach Spanien ging, glaubte ich, der Sozialismus würde in der Zeit, die ich weg wäre, nach Amerika kommen. Das ist schon lange her."
„Es geht langsam. Ich sehe auf diesen Leib, der mir nicht mehr erlaubt, meine Schuhe zu erblicken, und ich stelle fest, er ist alles, was ich habe. Ich muss mit ihm die Zeit auskommen, die mir noch geblieben ist. Man kann nicht tauschen. Jedem sein eigenes Jerusalem, seinen eigenen schönen Traum von der Menschheit Hoffnung. Keats oder Shelley oder irgend etwas. Wir klammern uns an ein Traumbild der Wahrheit und Brüderlichkeit, und plötzlich haben sie die Atombombe. Nun kommen sie da heraus, und ich muss Joey ins Gesicht sehen."
„Sein Gesicht wird wieder heilen", sagte Sawyer. Goldstein nickte, sagte aber nichts. Er rauchte seine Zigarette auf und bat Sawyer um noch eine. Sie warteten. Es hatte aufgehört zu schneien. Das Telefon klingelte, und Ruth kam heraus und ging an den Apparat.
Als sie das Telefongespräch erledigt hatte, sagte sie: „Sie kommen wieder in Ordnung."
„Was meinst du, in Ordnung?"
„Danny war am schwersten verletzt, und wir glaubten, er hätte einen Bruch. Aber er kommt wieder hoch. Joeys Füße... " Sie schüttelte den Kopf und ging wieder hinein. Eine Weile später kamen sie alle heraus. Joey Rayes Gesicht war geflickt und verpflastert, die Schuhe standen offen. Danny Ryan grinste und sank in einen Stuhl. „Hallo, Mike", sagte der Neger. „Ich hab' grässliche Kopfschmerzen - sonst bin ich so gut wie neu." „Er hat einen Schädel aus Granit", lachte Ryan. Raye sagte: „Sechs von ihnen drinnen trommelten mir aufm Schädel rum. Ich überlegte bloß, ob ich ihnen nicht auch 'n paar pflastern sollte, damit sie mich fertig machten; so elend war mir zumut." „Wenn sie ihn erledigt hätten, würd' ihm noch elender zumut sein", nickte Danny. „Ich hab' bei großen Burschen immer festgestellt, dass sie manchmal Mumm haben, aber nie eine Spur von Verstand."
„Wozu?" wollte Goldstein wissen. „Ich kenne Jack Curzon -er ist eine Giftpflanze, aber er hat nicht Mumm genug, das aus sich heraus zu tun." „Gelb."
„Wieso? Was will er damit gewinnen?"
Ryan sagte: „Zum Teufel, sie wollen durchgreifen und die Gewerkschaft zerschlagen. Sie fangen wieder bei einer Stadt mit einem Betrieb an. Es ist eine Provokation, weiter nichts."
„Ihr werdet also die Streikposten wieder ans Tor vorschieben müssen?" fragte Abbott Ryan trüben Gesichts, trüber Stimme. „Ganz richtig."
„Massenstreikposten, nehme ich an?" „Zwei- oder dreitausend Mann", sagte Ryan. Goldstein schüttelte bedenklich den Kopf, er war anderer Meinung.
„Lass mich einen Zivilprozess draufhauen, Danny. Wir bringen die Geschichte in die Zeitungen und setzen den ganzen CIO dahinter. Wenn ihr dort ihren Grund und Boden betretet, dann haben sie uns. Ich sage dir, dann haben sie uns."
„Ich will keinen Zivilprozess nicht. Ich will den Streik gewinnen. Zum Teufel mit einem Zivilprozess."
„Du handelst gegen das Gesetz, Danny... "
„Ich hab' heute morgen den Wanst voll gekriegt vom Gesetz. Joey auch. Sieh dir das Gesetz an, Joeys ganze Visage ist davon überzogen."
„Aber sie können damit nicht durchkommen", beharrte Goldstein.
„Sie kommen damit durch. Diese verdammte Stadt gehört ihnen. Der Staat gehört ihnen. Die ganzen stinkigen Werke gehören ihnen. Wach auf, Max!"
Ruth Abbott sagte: „Er hat recht, Max. Sie zwingen einen zur Entscheidung. Wenn man sich ihr entzieht, ist alles vorbei."
„Du sagst das so leicht", bemerkte Sawyer. „Aber wie steht's mit der Gewerkschaft? Wie steht's mit Noska?"
16
Lowell begegnete Noska zum ersten Male in Tom Wilsons Wohnung beim Lunch dieses Tages. Inzwischen fühlte sich Lowell wieder besser. Die Übelkeit hatte ihn verlassen und einem brennenden Appetit Platz gemacht, einem angenehmeren Verlangen nach Nahrung, als er zu irgendeiner Zeit während der vergangenen Woche verspürt hatte. Es überraschte ihn, wie schnell er den Vorfall auf dem Polizeiamt vergessen konnte; doch in der Rückschau erschien ihm die Prügelszene als ein Tagtraum, völlig beziehungslos und unwirklich. Er stellte sich vor, dass Soldaten im Kampf eine ähnliche Anpassung durchmachten, und er war ziemlich angenehm von seiner eigenen Fähigkeit berührt, Situationen wie diesen zu begegnen, ohne seinem ursprünglichen Impuls zu vorschnellem Rückzug nachzugeben. Zugleich damit hatte er das Gefühl, vor einem Abschluss zu stehen, vor einem nahen Höhepunkt. Die Tatsache, dass die Geschichte bald vorüber sein würde, ließ sie leichter rechtfertigen.
Im ganzen hatte Lowell ein Gefühl des Lebens, des Daseins. Er erinnerte sich - in Tucson in Arizona war es gewesen, als sie ein paar Wintermonate dort verbrachten -, von einem Freund einigen Leuten als ein sehr ordentlicher Sohn eines reichen Mannes vorgestellt worden zu sein, eine Kennzeichnung, die etwas Besonderes ausdrücken sollte. Und wirklich und gewiss, er war fähig zu erkennen, dass er keinen anderen Vorzug als den beanspruchte, für den Sohn eines reichen Mannes zu gelten und alles das sein zu wollen, was sein Vater nicht gewesen war - sanft von Stimme und angenehm in Manieren sein; ein nur auf Erwerb gestelltes Dasein verachten; in die Sommer- und Winterfrische gehen; das Geld, das er besaß, ohne Angabe oder Prahlerei ausgeben; starke Antipathien gegen Leute, die sich mit ihrem Reichtum nur selbst beschmutzen, kultivieren; seinen eigenen Reichtum auf tausenderlei Weise verbergen; Umgang mit Menschen von Kultur pflegen und auch selbst nicht allzu unvertraut mit der Kultur sein.
Aber nichts davon gab ihm ein so intensives Gefühl seines Selbst, wie er es in den letzten paar Tagen empfunden hatte. Einem Manne wie Gelb war er vorher nie begegnet. Die aufrichtige Bewunderung Frank Normans füllte einen Platz, der seit dem Tode Clarks leer gewesen war, und selbst Wilson erwies sich nun nicht so sehr als ein Flegel und Dummkopf denn als ein Mann, der eine Arbeit gewissenhaft und nach bestem Vermögen ausführt. Und der süße Geschmack am Rande davon war das Mädchen, Rose Antonini. Bei allem, was geschah, war sie in seinen Gedanken stets irgendwo gegenwärtig; sogar während der Prügelszene auf dem Polizeiamt hatte er eine Verbindung mit ihr hergestellt - als ob alle Leidenschaften durch ein und dasselbe Band miteinander verbunden waren.
Am Tisch bei Wilsons beobachtete Lowell jetzt Bill Noska mit einem lebhaften Gefühl der Neugier. Frau Wilson, eine dralle hübsche Person, hatte sich als Wirtin - sogar trotz der ungewöhnlichen Umstände -selbst übertroffen und den Lunch im Esszimmer mit einem spitzenumsäumten Tafeltuch unter goldgerändertem Porzellan angerichtet. In der Mitte des Tisches stand ein Blumenarrangement, von zwei silbernen Leuchtern flankiert. Ein beharrlicher Glaube, dass Lunch etwas anderes wäre als Mittagessen -genährt durch die jahrelange Lektüre des Ladies' Home Journal—, hatte sie bewogen, Gabeln, Messer und Löffel fächerförmig anzuordnen, anstatt sie gerade neben die Teller zu legen. Aber das Geschirr war Geschirr für Mittagessen und die Servietten waren schwerer Damast mit dem Glanz langen Nichtgebrauchs. Die Speisenfolge selbst zeigte die gleichen Widersprüche: sowohl Suppe und ein warmer Gang als auch prächtige Gelees in Formen, die auf den Farbfotografen zu warten schienen. Weil sie ihm am nächsten standen, servierte Wilson hauseingemachte Früchte, die wahre Obstwälle darstellten.
Lowell fragte sich, was Bill Noska davon dachte. Er selbst nahm es freundlicher hin, als er früher getan hätte. Das einzige Mal, dass Lowell und Lois bei Wilsons gewesen waren, auf einen Trunk und für zwanzig Minuten, hatte Lois auf alles ungut reagiert, auf das große neue Fachwerkhaus, das Wilson sich hatte bauen lassen, das überladene Mobiliar, das ein Innenarchitekt aus Worcester aufgestellt hatte, die Plüsch- und Samtvorhänge, die nicht zu den Perserbrücken passten, und die Tapeten mit breiten senkrechten Streifen in Silber und Grau oder in zwei verschiedenen Tönen von Blau. Aber er selbst hatte sogar damals eine gewisse Sympathie für Wilsons Trachten empfunden, und heute beim Lunch zeigte er nichts von seiner gewöhnlichen Gereiztheit gegenüber seinem Direktor. Die Erwägung drängte sich ihm auf, dass die ganze gewaltige industrielle Maschinerie Amerikas, diese mächtigste industrielle Maschinerie in der ganzen Welt, der ganzen Geschichte und der ganzen Zivilisation, fast gänzlich von Männern überwacht wurde, die mehr oder weniger Wilson glichen. Das war etwas, woran er früher noch nie in solchem Zusammenhang gedacht hatte, und er grübelte darüber nach, ob wohl auch Bill Noska Vorstellungen dieser Art aufstoßen würden.
Er beobachtete Bill Noska während des Essens. Der Mann, vermutete er, war slawischer Herkunft, vielleicht Pole, Litauer oder Tscheche. Über sechs Fuß groß, breit, solide und in gewisser Weise sogar hübsch, schien er alle notwendigen Eigenschaften eines Anführers zu besitzen. Lowell konnte sich vorstellen, dass die Leute diesem Manne vertrauen und ihm folgen würden. Lowells Wissbegier hatte etwas von der eines Touristen; diese Leute hatten wohl für ihn gearbeitet, aber er hatte sie niemals kennen gelernt, niemals mit einem von ihnen gesprochen. Bis vor kurzem war ihm das Wort Arbeiter ein bloßer Begriff gewesen, und wie bei den meisten seiner Klasse gingen seine Beziehungen zum gemeinen Volk, in Anführungsstrichen, über Taxichauffeure, Friseure, Hotelangestellte, Bootsleute — und in Zwischenräumen über alle jene andern, deren Lebenszweck es war, dies oder jenes seiner besonderen Bedürfnisse zu befriedigen. Sogar seine Verbindung zum Werk war während der letzten fünf Jahre - im Vergleich mit der augenblicklichen Situation - höchst gelegentlicher Natur gewesen. Florida und Arizona waren während des Krieges ebenso erreichbar gewesen wie die Berkshires. Er konnte sich für die Zeit in Clarkton nicht an ein einziges Mal erinnern, dass er mit einem Arbeiter tatsächlich gesprochen hatte, von dem einen oder andern Wort mit einem Büroangestellten abgesehen. Nicht, dass er die Vorstellung von vornherein abgelehnt hätte, sich mit Bill Noska zusammen zum Lunch zu setzen; es gehörte einfach zu den Dingen, die so unwahrscheinlich waren, dass sie im normalen Lauf der Ereignisse nicht vorkamen. Da es nun doch passiert war, fand er Noska durchaus menschlich, klar in seinen Ideen und ohne eine Spur jener Servilität, die nach der Beobachtung Lowells sich bei Arbeitern, die ihn und seine Freunde bedienten, so übereinstimmend zeigte. Als die Mahlzeit vorüber war und Wilson die Zigarren herumreichte, zündete Noska ohne eine Spur von Befangenheit die seine an und sagte zu Lowell:
„Ich möchte Ihnen deutlich sagen, Herr Lowell, dass ich herkam, weil Wilson meinte, es wäre eine Gelegenheit, sich über die Dinge zu unterhalten. Ich liebe den Streik ebensowenig wie Sie, aber ich kann nicht ohne den Vollzugsausschuss der Ortsgruppe handeln. Das einzige, was ich tun kann, ist zuhören."
„Mehr erwarten wir auch nicht von Ihnen", sagte Lowell.
„Sie sind Familienvater, nicht wahr, Bill?" wollte Wilson wissen. „Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie Bill nenne?"
„Ich bin schon Schlimmeres genannt worden", lächelte Noska. „Ich habe Familie — zwei Kinder."
„Kirche?"
„So wie jeder andere", sagte Noska.
Gelb sagte: „Wir wollen nicht bloß auf den Busch klopfen, Bill. Sie haben schon früher Streiks mitgemacht. Sie wissen, dass es für keinen der Betroffenen eine Landpartie ist."
„Das sagte ich schon."
„Wir möchten uns mit Ihnen zusammensetzen und die Sache in Ordnung bringen."
„Heute früh sah es verdammt nicht danach aus", sagte Noska.
„Vielleicht war ich ein bisschen voreilig damit, die Streikpostenkette zurückzudrücken. Herr Lowell meinte es auch, und jetzt bin ich geneigt, ihm zuzustimmen. Aber wenn wir die Geschichte aus der Welt schaffen, wird eine Streikpostenkette sowieso belanglos."
„Ich meine es wahrhaftig ernst damit, Noska", fügte Lowell hinzu. „Ich möchte diese Angelegenheit ebenso sehr abschließen wie jeder andere."
„Ich kann nur zuhören. Ich fälle nicht die Entscheidungen."
„Sie haben schon eine Menge Einfluss", lächelte Wilson. „Ich bin ein ziemlich guter Menschenkenner; ich weiß, wer ein Mann von Einfluss ist, sobald ich ihn sehe. Und von einem Federgewicht verlange ich nicht, dass er in der Schwergewichtsklasse auftritt. Ich bin nicht auf Bluffen aus, Bill - ich bin ein ziemlich ehrlicher Mensch, und ich liebe es, nach guter alter amerikanischer Art gerade auf mein Ziel loszugehen. Das mag mich für die Diplomatie ungeeignet machen, aber ich habe mir nie vorgestellt, dass ein ordentlicher, waschechter Amerikaner einen Diplomaten abgibt, wie diese Ausländer es schaffen. Wenn Sie mich fragen, dann verschwenden wir zuviel Zeit mit diesem diplomatischen Drumherumreden, anstatt zur Sache zu kommen und offen zu sagen, was wir meinen. Und hier ist das, was ich meine - geradeheraus gesprochen, es gibt nur eine Bagage, die Aussicht hat, bei diesem Streik etwas zu gewinnen... das sind die Commies (Anm.: Abkürzung von Communist, als Schimpfwort gemeint)."
Noska zog an seiner Zigarre und sah dem Rauch nach. Schließlich sagte er: „Die haben doch nichts zu sagen."
„Ich meine damit auch nicht, dass sie Ihre Gewerkschaft dirigieren. Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines Mannes, der sich von einem Haufen halbbackener Strolche herumstupsen lässt, die dahin zurückgeschickt werden sollten, wohin sie gehören. Ich sage bloß, sie sind die einzigen, die Aussicht haben, etwas dabei zu gewinnen."
„Das sehe ich nicht", sagte Noska langsam. „Möglich, dass sie darauf aus sind, den Rahm abzuschöpfen. Und wenn Sie es so nehmen, glaube ich, dass mir dieses Pack nicht sympathischer ist als Ihnen. Aber ich sehe es nicht."
„Dies ist mein erster Streik", sagte Lowell. „Glauben Sie mir, Noska, so merkwürdig es klingen mag, ich bin die am wenigsten interessierte Partei hier, der objektivste Teil, nehme ich an. Von meinem Standpunkt aus -je länger Sie streiken, desto weher tut es Ihnen. Ich kann es aushalten. Wenn nötig, kann ich die Fabrik ganz und gar zumachen. Aber was können Sie gewinnen? Würde irgendeine Lohnerhöhung die Streikwochen wiedergutmachen?" „Vom Standpunkt der Roten sieht die Sache anders aus", warf Gelb ein. „Ich kenne diese Burschen von früher. Ihr Hauptinteresse ist, weiterzukommen. Sie wollen die Dinge übernehmen, nicht wahr? Nun also, da sind Streiks eine Wonne für sie. Arbeitslosigkeit. Schlechte Zeiten. Zum Teufel mit der Gewerkschaft! Zum Teufel mit den Arbeitern! Sie sind auf ihre eigenen Ziele aus. Jeder Streik ist ihr Nesthäkchen. Ich bin nicht dagewesen, aber ich wette Ihnen zehn zu eins, dass sie in dieser selben Minute auf Ihrem Gewerkschaftsbüro dabei sind, den Daily Worker zu verkaufen. Was habe ich gesagt? Habe ich recht?"
Noska antwortete nicht. Er hielt die Zigarre in der Hand und starrte in das Rauchgekräusel, das vom langen Aschenkegel aufstieg.
„Lebensmittel heranschaffen. Bei jedem verdammten Streik, den ich bisher erlebt habe, gab es tonnenweise Lebensmittel von der Partei. Grade nur ein armer kleiner Verein, der sich nicht selbst am Leben erhalten kann. Ist Ihnen jemals eingefallen zu fragen, woher diese Lebensmittel kommen, Noska?"
„Ihr würdet Kaviar essen, wenn es keine völlige Verschwendung wäre", sagte Wilson.
„Worauf um Himmels willen sind sie eigentlich aus?" tat Gelb bestürzt. „Wir leben hier doch in einem recht ordentlichen Lande. Es hat seine Unvollkommenheiten — sicher, aber verglichen mit Russland ist es ein Paradies. Ein Land, in dem Milch und Honig fließt, um einen biblischen Ausdruck zu gebrauchen. Wenn einer nicht zu faul zur Arbeit ist, findet er hier auch seine Beschäftigung. Und verdammt noch mal, wenn er doch zu faul zur Arbeit ist, dann gibt es immer noch die Unterstützung. Mag sein, dass er kein Millionär dabei wird -aber wieviele von uns sind denn Millionäre? Sicher, es ist nicht alles vollkommen. Sicher, die Nigger und Juden werden ein bisschen herumgestoßen. Aber überlassen wir doch mal das Land den Niggern und Juden, wie die Commies das von uns möchten, und schauen zu, was für einen christlichen Amerikaner dabei herauskommt. Wissen Sie, was ein Commie ist, Noska? Ein kranker Mann, ein Stück Krankheit. Ein Mensch, der hasst. Alles, was uns wertvoll ist, die Kirche, das Heim, das Land, in dem wir leben - weg damit, sagt er. Schauen Sie nach Spanien, wo die Roten zwanzigtausend katholische Priester umbrachten, sie kaltblütig ermordeten. Schauen Sie nach Russland -wissen Sie, dass sie während der Hungersnot in den zwanziger Jahren zwanzig Millionen Bauern ermordeten? Diese Art von Konzentrationslager wollten sie auch hier einrichten. Deshalb ist ein Streik ihr liebstes Kind. In New York gibt's einen Mann, Jack Loman heißt er — hat einmal selbst zur Partei gehört. Ein guter Schriftsteller, sauberer Charakter, aber in ihr Netz von Täuschungen geraten. Er hat erklärt - und es ist nicht zu bezweifeln -, dass jeder amerikanische Kommunist ein Agent der Sowjetregierung ist. Ich würde ein reicher Mann sein, wenn ich nur ein Prozent von dem Geld hätte, das Russland in dieses Land hineingepumpt hat, um diese Bagage zu unterstützen. Es gibt noch einen anderen Mann, Johnny Frank, vor kurzem noch einer der wichtigsten Männer in ihrer Bande; aber er glaubte an Gott und mochte sich nicht auf ewig in der Hölle schmoren sehen. Er kehrte zur Kirche zurück und machte einige recht erstaunliche Enthüllungen, als er aus der Partei ausrückte. Nannte die Namen der geheimen internationalen Agenten, die in ihrer Bande die Drähte ziehen. Enthüllte ein großes Komplott, sich der Atombombe zu bemächtigen und sie den Russen auszuliefern, die ganze Geschichte. Sie sind reizende kleine Burschen, wirklich sympathische kleine Jungen eben. Und deshalb sage ich, niemand außer ihnen hat die Chance, bei diesem Streik etwas zu gewinnen."
Gelb endete im gleichen Ton beleidigter Bestürzung, der den Beginn seines Ausbruchs markiert hatte. Lowell starrte ihn an, aber Gelb wich seinen Blicken aus; er schaute zu Norman hin und sah ihn ergriffen, hingerissen; während der ganzen Rede Gelbs hatte er die Augen nicht von dessen Gesicht gelassen. Schweigen hing wie ein dichter Schleier über dem Kreis, bis Noska murmelte:
„Ich beschließe keine Streiks. Ich pfeife sie auch nicht ab." „Das wissen wir. Wir haben uns zusammengesetzt, um miteinander zu sprechen", sagte Wilson ernst, „und ich glaube nicht, dass etwas verloren ist, wenn sich erwachsene Menschen zusammensetzen und Dinge durchsprechen. Das ist amerikanische Art."
„Freier Meinungsaustausch", sagte Gelb, „ist die Quelle der Demokratie. Wir können uns das noch leisten; ich sage, Gott steh dem Lande bei, das in eine Lage gerät, wo es das nicht mehr kann."
So sicher war die Stimme des Mannes und so aufrichtig, so vollkommen waren der Klang der Wahrheit, die klagende Note der Sorge, der Brustton der Empörung und Überzeugtheit, dass Lowell trotz seiner selbst, trotz der Dinge, die sich früher am Tage zugetragen hatten, sich mitgerissen fühlte. Gerade die Abgedroschenheit der Sprüche und Klischees, die Wilson und Gelb gebrauchten, erhöhte ihren Effekt, und die stumme Bewunderung Frank Normans war wie eine tadellose, fein erdachte Stütze, die zufällig im letzten Augenblick noch hinzugetan und nunmehr zum zentralen Faktor des Zusammenhalts und der Wirkung wird.
„Ich denke an diesen kleinen Teil von Neu-England", fuhr Gelb sanft fort; seine scharfen Kanten schmolzen und eine Note tiefen Nachdenkens haftete seiner Stimme an. „Ich denke an die Leiden, das Blut und den Schweiß und die Tränen der Generationen, die dies friedvolle Land aufbauten. Ich denke an die Pilgerväter und die Traditionen der Pilgerväter, an das Banner der Freiheit, das sie aufrichteten, damit es unsere Kinder erben; und dann denke ich an diesen dreckigen roten Abschaum, der ein Schandmal" — Gelb zog ein dickes Bündel neuer Geldscheine aus der Tasche und legte es auf den Tisch - „auf dem reinen Antlitz dieses freien Landes ist."
Noskas Augen hefteten sich auf die Scheine; dann schnellten sie hoch, wanderten von Gesicht zu Gesicht, verharrten auf jedem einen Augenblick, schnellten zurück und hefteten sich auf Gelb. Gelb steckte die Banknoten wieder in die Brusttasche.
„Ich glaube, ich muss gehen", sagte Noska.
Lowell erschien das Ganze plötzlich unglaubwürdig, billig, geschmacklos und offensichtlich gestellt. Noska musste das gemerkt haben. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Wilson wollte etwas sagen, aber Gelb packte ihn am Arm, hielt ihn einen Augenblick und stand dann auf und ging Noska nach... Lowell hörte, wie Gelb sagte: „Es tut mir leid, Bill. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte das nicht tun dürfen. Es war schäbig und niederträchtig, so zu handeln."
17
Gelb äußerte etwas, das in der Linie einer Entschuldigung gegenüber Lowell lag: „Alles ist einfach, bis man auf den Kern der Dinge stößt, Herr Lowell. Dann wird es kompliziert."
„Ich konnte Ihnen folgen, bis sie versuchten, ihn zu bestechen", sagte Lowell. „Aber es ist Ihre Arbeit, und Sie müssen sie auf Ihre Weise tun."
„Ich versuchte nicht, ihn zu bestechen", sagte Gelb sachlich, „ebensowenig, wie ich Ryan zu bestechen versuchte. Es ist eine Taktik, weiter nichts. Wenn Sie es für eine billige Taktik halten, haben Sie vielleicht recht."
„Es ist Ihr Geschäft", entgegnete ihm Lowell. „Ich habe den Streik satt bis obenhin. Wenn Sie ihn morgen beenden können, tun Sie es."
„Aber ich möchte, dass Sie mich verstehen. Wenn man einen Arbeiterführer bestechen kann, dann ist er schon zu verkommen und abgetan, um es wert zu sein. Der hier ist ein gesunder junger Mann. Ich will ihn zum Denken bringen. Ich will erreichen, dass eine Idee mit einer andern zusammenprallt. Er wird nicht stillsitzen."
18
Lowell fuhr zu derselben Kneipe hinaus, in der er am Morgen seine Schnäpse getrunken hatte. Es hatte aufgehört zu schneien; die Wolken brachen in tief purpurner Unentschiedenheit auf, und von einem Fleck blauen Himmels kamen lange Strahlen Sonnenlicht herab, die weißen Berge zu salben. Im unirdischen Licht des Nachmittags war die Landschaft ebenso schön wie melancholisch, und sie versetzte Lowell in eine schwermütige und beschauliche Stimmung. Er war ein empfindsamer Mensch, empfänglich für Schönheit, Farben, Töne und selbst die Beschaffenheit der Luft, die auf manche eine solch sichere Wirkung und auf andere eine solch geringe Wirkung ausübt. Bei solchen Anwandlungen schien es Lowell zuweilen, dass er das einzige menschliche Wesen wäre, das inmitten einer ungeheuren und unbeschreiblichen Einsamkeit atmete, und dass die ganze Welt ein Traum wäre, den er allein erlebte. Zu solchen Zeiten pflegte sich seiner eine jugendliche, eine wirklich knabenhafte Zärtlichkeit zu bemächtigen, und er genoss meist eine Verlassenheit, die näher an Glück als an Unglück lag. Er liebte dieses Gefühl, war insgeheim stolz darauf und frönte ihm, wann immer er konnte. Wenn es über ihn kam, pflegte eine puritanische Glut ihn zu ergreifen, eine hochgemute Entschlossenheit, die er oftmals als das Erbe irgendeines ehrwürdigen und gottesfürchtigen Neu-England-Ahnen ansah. Weder durch Widersprüche noch durch die Tatsachen der Geschehnisse des Lebens noch durch das, was er getan oder unterlassen hatte, wurde dieser asketische Drang gestört. Ganz im Gegenteil war er auf die edlen Möglichkeiten in ihm gerichtet, lebte und nährte sich in dieser verdünnten Atmosphäre, welchen Zeitraum auch immer er vorhielt.
In dieser Stimmung war er jetzt, als er zu der Kneipe fuhr. Er parkte den Wagen an der einen Straßenseite und stand noch eine Weile neben ihm in der wundervoll reinen, süß duftenden Winterluft. Jetzt, in diesem kurzen Augenblick, vermochte er ohne Bedauern an Clark zu denken; es gab keine Existenz, über die zu weinen sich verlohnte; alles und jedes war nur für einen Tag oder einen Augenblick. Er war froh und traurig zugleich, als er hineinging; er nickte dem Kellner zu und rief von der Zelle aus Rose Antonini an. Eine müde Stimme meldete sich, beschwert von einem italienischen Akzent, von Heimsuchungen, Drangsalen und unbereuten vergangenen Tagen, antwortete, hörte zu und sagte dann: „Richtig. Warten Sie mal eine Minute. Sie warten doch eine Minute, ja? Ich hole sie."
„Hier ist George", sagte er, als das Mädchen kam. „George?“ „George Lowell."
„Oh." Das war alles, was Rose sagte. „Ich muss dich sehen", sagte er. „Aber ich kann nicht kommen. Heute nicht." „Ich muss mich mit dir treffen. Jetzt."
„Ich kann nicht. Ich kann hier nicht sprechen. Ich kann mich jetzt nicht mit dir treffen."
„Du musst! Verstehst du denn nicht, du musst! Willst du, dass ich zu dir nach Hause komme? Ich muss dich sehen."
„Nein — komm nicht hierher." Sie schwieg von neuem, bis sie sagte: „Wo kann ich dich treffen?"
„Du weißt, wo Francois ist? Eine Tankstelle mit Restaurant, etwas außerhalb der Stadt... " „Ich weiß."
„Du kannst dort aus dem Bus aussteigen." „Ich weiß. Ich kann jetzt nicht sprechen." Dann hängte sie ein. Lowell ging wieder hinaus und stand bei seinem Wagen, rauchte und sah zu, wie die letzten Wolkenfetzen zusammengekämmt und vom Himmel gefegt wurden. Aber nach zehn oder fünfzehn Minuten begann es ihn zu frösteln, und er setzte sich, um zu warten, in den Wagen. Der Tankwärter kam herüber und fragte ihn, ob es etwas gäbe, was er für ihn tun könnte; Lowell gab ihm einen Dollar, verneinte und sagte, es wäre alles in Ordnung, er wartete auf jemand. Seine so köstliche, so echte, so süße Stimmung begann ihn zu verlassen; es waren jetzt beinahe vierzig Minuten, dass er angerufen hatte, und er begann sich wie ein dummer Junge vorzukommen - eine Reaktion, die er anerkannte und zur gleichen Zeit bekämpfte, indem er ihr die Überlegung entgegensetzte, wohin sie gehen könnten. Er dachte an das Blockhaus und verwarf den Gedanken wieder. Gestern war es richtig gewesen, als es geschehen war, aus der Brunst heraus, in der es geschehen war -doch nicht jetzt, nicht in der puritanischen Stimmung, die ihn beherrschte. Er beschloss, mit ihr irgendwohin zum Essen zu fahren und sich mit ihr zu unterhalten. Sie hatten in der Zeit, da sie zusammen gewesen, kaum zwanzig Worte gesprochen, aber wie er sich jetzt fühlte, war er sicher, dass er in ihr Inneres dringen, ihre Seele finden, zum Leben erwecken und entwickeln könnte, dass sie zu derselben Schönheit erblühte, die der Leib besaß.
Die Zigaretten gingen ihm aus, und er ging in die Kneipe, um sich neue zu kaufen. Drei oder vier Männer saßen da und tranken Bier, Männer in Joppen, Jagdmützen und Cordbreeches, wie sie in Massachusetts zur Winterzeit auf dem Lande getragen werden. „Noch nicht gekommen?" fragte der Kellner. Die Männer sahen Lowell neugierig an.
Nach einer Stunde stellte er den Motor an, und dann sah er den Bus halten, ein Stückchen hinter der Tankstelle, und sah Rose aussteigen. Sie trug Hosen, unter demselben Pelzmantel wie gestern. Sie hatte dicke Fausthandschuhe an, mit Kaninchenfell außen, und trug an Stelle eines Hutes ein Seidentuch um den Kopf gewunden. Auf der Straße würde er sie kaum erkannt haben, und als er sie in dieser Aufmachung sah, überkam ihn eine Woge von Widerwillen. Aber sein langes Warten zwang ihn durchzuhalten; in der Tat, die Notwendigkeit war jetzt wirklich dringender denn je. Er öffnete die Tür des Wagens, und Rose schlüpfte neben ihn herein. Als er sie zu küssen versuchte, geschah es verlegen und hölzern. Sie wich aus und schüttelte den Kopf.
„Lass", sagte sie. „Warum hast du mich den ganzen Weg hier herauskommen lassen?"
„Tut es dir leid, dass du gekommen bist?"
„Jetzt ist es egal, wo ich einmal hier bin."
„Ich musste dich sehen", sagte er. „Ich musste mit dir sprechen. Ich möchte mit dir irgendwohin zum Essen fahren."
„Ich bin nicht angezogen, um zum Essen auszugehen."
„Wir können in ein Lokal gehen, wo es nicht darauf ankommt."
„Warum kannst du mir nicht gleich hier sagen, was du mir zu
sagen hast?"
„Es war nicht irgend etwas Bestimmtes, das ich dir sagen
musste", erklärte er langsam. „Warum dann aber... " „Ich musste dich sprechen. Ich musste mich mit dir unterhalten.
Verstehst du das nicht?"
„Nein", sagte sie. „Nein." Ihre Stimme klang flau und unbewegt, sachlich und uninteressiert. Sie sah auf ihre Uhr.
„Darf ich dich küssen?" fragte er, wobei er sich völlig wie ein Narr vorkam und doch nicht vermochte, dem Zwang zu widerstehen.
„Ja - wenn du willst." Er küsste sie mit geschlossenen Lippen.
„Wenn du mich gelegentlich wieder dorthin mitnehmen wolltest, wo wir gestern abend gewesen sind, das wäre nett", sagte sie aus Gefälligkeit. „Es wäre nett, zuweilen ein Wochenende dort zu verbringen. Aber nicht jetzt. Heute bin ich nicht frei. . Ich muss wieder zurück."
Fast eine Minute saß er schweigend neben ihr. Dann nickte er und sagte: „Ich fahre dich zurück."
„Du brauchst es nicht, wenn du nicht willst", sagte sie. „Ich will dich aber nach Hause fahren." „Ich wohne in der Ahornstraße, aber du brauchst nicht ganz bis dahin zu fahren. Du kannst mich Ecke Kastanienstraße und Erste Avenue absetzen."
Vorher war es ihm noch nicht eingefallen, dass es ihr peinlich sein könnte, mit ihm gesehen zu werden. Er wendete den Wagen, schaltete und fragte:
„Hast du überhaupt etwas für mich übrig, Rose?" „Ich mag dich", sagte sie unbewegt. „Es wäre nett, wenn ich mit dir einmal wieder hinauf ins Land fahren könnte."
19
Frank Norman führte Fern zum Essen im Klub aus, oder eigentlich führte sie ihn aus, da es sein erster Besuch im Klub war und sie in ihrem Wagen fuhren. Norman hatte gehofft, dass sie ihn bitten würde zu fahren, aber Fern liebte es, selbst zu fahren, und es kam ihr gar nicht in den Sinn. Als sie losfuhren, erzählte sie ihm: „Es ist tatsächlich der einzige Klub hier, der in Frage kommt; der andere, der in Southdale drüben, hat wohl achtzehn Löcher -dieser hat nur neun, und schlecht sind sie auch — und bietet auch sonst viel mehr, verstehen Sie, aber er kam während der schlechten Konjunktur so sehr herunter, dass sie dort alle und jeden aufnahmen, sogar Juden. Aber hier ist das Essen herrlich, besonders ihre Schnitzel; sie grillen sie über Nussbaumholz, und sie bringen es immer fertig, auch welche zu haben."
Norman wünschte verzweifelt, das Richtige zu sagen; ein Mädchen wie Fern hatte er bis dahin nie kennen gelernt, und er war sich auch stark der Tatsache bewusst, dass er überhaupt noch nie jemand wie sie kennen gelernt hatte. Dass sie nicht den Vorstellungen entsprach, die er sich von ihr gemacht hatte, führte er darauf zurück, dass sie nicht bloß ein reiches Mädchen war, sondern ein reiches Mädchen, dessen Name Lowell hieß, was er dem Eindruck gleichsetzte, den er hier von Anfang an gehabt hatte - wenn man in Clarkton den Namen Lowell führte, dann tat man, was einem gefällig war, und was einem gefällig war, war es auch den andern. Frank hatte noch nie eine Verabredung mit einem reichen Mädchen gehabt - das heißt, mit einem Mädchen aus einer der Familien, die er so feurig bewunderte. Er war in Jackson Heights groß geworden, in einem hübschen roten Backsteinhaus, das mit einem andern roten Backsteinhaus zusammenstand, beide halb aus Holz und 1926 gebaut, um für siebzehntausend Dollar das Paar oder neuntausend Dollar das Stück verkauft zu werden. Frank hatte nicht einmal, er hatte tausendmal seinen Vater sagen hören, der größte Irrtum seines Lebens wäre gewesen, dass er nicht das Paar gekauft und dadurch die Möglichkeit gehabt hätte, die andere Hälfte zu vermieten und auf diese Weise mietfrei zu wohnen. Franks Vater war jetzt Bürodirektor bei Brady, Lance, Caldert & Simpson, einer Maklerfirma in New York City, Broadway 160, mit einem Gehalt von siebentausendvierhundert Dollar im Jahr, und bei dieser selben Firma hatte er vor dreiunddreißig Jahren mit nur vier Dollar die Woche angefangen. In dieser ganzen Zeit hatte er nicht einen Tag Feiern oder Arbeitslosigkeit gekannt, selbst nicht während der Krise von 1929, als Brady, Lance, Caldert & Simpson achtzehn Wochen lang ihre Geschäfte eingestellt hatten, denn sein Gehalt war in dieser Zeit weitergelaufen. Er hatte bei der Firma als Laufjunge angefangen und war nacheinander Bote, Registraturgehilfe, Kontorist, Buchhalter, stellvertretender Hauptbuchhalter, Kassierer, Personal- und schließlich Bürodirektor geworden. Dies war -ähnlich, wie die vielen „der und der zeugte den und den" die verschiedenen Abschnitte des Alten Testaments einleiten — buchstäblich ein Teil der Geschlechtergeschichte Frank Normans und ihm ebenso bedeutungsvoll wie seinem Vater geworden, der ihm oft genug schon zu Zeiten, da Frank noch viel zu jung war, es völlig zu begreifen, gesagt hatte: „Ich bin ein ,Fünftausend-Dollar-das-Jahr-Mann'. Ich weiß es, und meine Chefs wissen es auch. Es ist wichtig, Frank, seinen eignen Wert zu kennen, sich nicht zu unterschätzen, nicht zu überschätzen." Dies wurde natürlich als Glaubensbekenntnis aufgegeben, als Normans Gehalt auf sechs- und siebentausend stieg.
Aber obgleich doch Franks Vater innerhalb des Umkreises von Wallstreet arbeitete, begegnete Frank immer nur Mädchen, die in Jackson Heights wohnten und dieselbe höhere Schule wie er besuchten. Auf dem College wurde er dann mit einer Anzahl Jungen bekannt, die ein gut Teil reicher als er waren, aber er entdeckte, dass es nicht leicht war, sie sich zu Freunden zu machen und in ihre Gesellschaftssphäre hineinzugelangen, obgleich er ihnen mit berechneter unbedingter Hochachtung entgegentrat. Erst sein Heeresdienst öffnete ihm wirklich die Horizonte, und als er zurückkam, besorgte ihm Herr Bruce Caldert die Stellung bei Leopold und James, die aus der kurzen Zeit, da er für sie arbeitete, nur das beste über seine Ehrlichkeit, Anständigkeit und Strebsamkeit zu berichten hatten. Ausführlicher gesagt, er hatte den Ehrgeiz, reich zu werden; er erniedrigte diesen Ehrgeiz nicht und machte ihn nicht zu einer irdischen Angelegenheit; er bewunderte reiche Leute; er bewunderte den Fleiß und den Mut, die ihnen ihre Reichtümer verschafft hatten, und er bewunderte den eleganten und lobenswerten Vorgang, zu dem sie das Leben formten. Er war erst fünfundzwanzig Jahre alt, und er war dankbar, dass er in einem Land solch unbegrenzter Möglichkeiten lebte.
Frank Normans liebenswürdigster Zug war, dass er weder ein Zyniker noch ein Schuft war - und das zusammen ergab eine Tugend. Er war ein Mensch, den die Götter besonders begnadet hatten. Er war Amerikaner, weißer Amerikaner; er war protestantischer Episkopalist; er war gebildet, er hatte nie in seinem Leben im Rahmen des Vernünftigen etwas entbehrt; er war Pfadfinder gewesen und hatte den Rang eines Adlers erreicht; er hatte nie daran gezweifelt, dass Geld die Substanz aller Tugend wäre, er achtete amerikanische Frauen, räumte aber ein, dass irische, jüdische und italienische Mädchen gern mit Männern ins Bett gehen; er hasste die Sowjetunion in der selbstverständlichen Art, wie ein guter Christ den Teufel hasst; er warf Masturbation, Amoralität, Homosexualität und Marijuanarauchen zusammen in einen Topf und tat sie damit ab; er glaubte aufrichtig, dass arme Leute faul und Industriearbeiter der Ausschuss der Gesellschaft wären, und er war des Wissens sicher, dass nächst Henry Ford Thomas Edison das bedeutendste Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts darstellte.
Aus diesen und aus anderen Gründen wünschte er verzweifelt, sich bei Fern Lowell richtig zu benehmen. Sie sollte ihn als den sauberen männlichen Menschen erkennen, der er war; aber gleichzeitig fühlte er, dass ihm ihre Welt ebenso fremd war wie die ungeheuerliche, umstürzlerische Unterwelt, die Kommunisten, Feindagenten, Gewerkschaftsfunktionäre und andere Individuen ähnlicher Art bevölkerten. Der einzige Umstand, der sein Unbehagen lindern half, war das Wissen um ihren Sündenfall, um die Andeutungen unbestimmter, doch schwerer Vergehen, die ihren Ausschluss aus der Schule im Gefolge hatten. Obgleich er ihr diese Vergehen verzieh - einer Lowell hätte er alles verziehen —, halfen sie doch, sie ihm erreichbarer zu machen, da seine nicht allzu methodischen Überlegungen ihn zu dem Schluss führten, dass der Makel an ihrem guten Ruf sie — zwar nicht ihm, doch andern — weniger begehrenswert machte. Auf der andern Seite besaß er genug Verstand, um sich zu sagen, dass er sich mehr als gewöhnlich vor Annäherungsversuchen hüten müsste. Ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen würde ungefähr richtig sein, dachte er.
Er erzählte, dass er für Schnitzel eine Vorliebe hätte, dass er froh wäre, weil auch sie Schnitzel möchte, und dass das einzige, was sie in Übersee wahrhaft vermisst hätten, ein gutes Schnitzel gewesen wäre, da die Wogs (Anm.: Westernized oriental gentlemen — Verwestlichte orientalische Herren; verächtlicher Ausdruck für asiatische und afrikanische Menschen) von Schnitzeln nicht einmal etwas wüssten und den meisten von ihnen sogar Fleisch zu essen verboten wäre, genau wie den Vegetariern. Dann sprach er von Ferns Mutter, die er an diesem Abend kennen gelernt hatte. (Ihn machte es immer glücklich, wenn jemand seine Mutter bewunderte.) „Sie ist eine wundervolle Frau", sagte er. „Sie hat einen natürlichen Adel."
„Sonderbar, dass Sie das sagen", lächelte Fern. „Die meisten Leute meinen, dass Mutter sehr schön sei. Sie ist es auch."
„Ich weiß es. Aber Sie würden überrascht sein, Fern - darf ich Sie Fern nennen? — wie sehr man bei meiner Arbeit danach schauen muss, was unter der Oberfläche steckt und was der wirkliche Charakter der Menschen ist."
„Natürlich können Sie Fern zu mir sagen. Glaubten Sie, dass ich von Ihnen verlangen würde, mich Fräulein Lowell zu nennen
- den ganzen Abend lang Fräulein Lowell dies und Fräulein Lowell das? Aber was meinten Sie vorhin, als Sie ,Wogs' sagten?"
„Nun, im Osten — wissen Sie, ich war da beim OSS (Anm.: Office of Strategie Services — Büro für Dienste der Kriegführung; politisch-militärischer Geheimdienst) in seinem großen Lager auf Ceylon - also im Osten, wissen Sie, sind die Menschen meistens Nigger, genau wie bei uns hier im Süden, und die Landser nannten sie eben Wogs, einfach ein Name. Ich weiß nicht, wie er aufgekommen ist."
„Waren Sie in Ceylon?"
„Und in Burma."
„Ich glaube, Sie haben soviel erlebt - Sie wollen nicht darüber sprechen, nicht wahr?"
„Es ist seltsam", sagte Norman, „aber die meisten Leute wollen es gar nicht hören. Mir macht es nichts aus, darüber zu sprechen -ich glaube, ich tue es gern. Das sind sehr interessante Länder, dort draußen, nur nicht sehr zivilisiert, und nichts von amerikanischer Tüchtigkeit. Alles ist anders, und das Leben bedeutet dort draußen nicht viel - ich meine die Eingeborenen. Wissen Sie, dass es allein in einem Land wie Indien vierhundertundfünfzig Millionen Menschen gibt? Ich glaube, es ist ziemlich günstig, dass sie nicht sehr tüchtig sind, denn wie lange denken Sie wohl, würden wir bestehen, wenn alle diese Menschen, denen weder am Leben noch am Tode etwas liegt, die Atombombe und andere Dinge hätten?"
„Unterhalten wir uns lieber über den Mond", sagte Fern.
„Es scheint, als ob man, worüber man auch immer spricht, stets wieder auf die Atombombe kommt. Ich habe drüben im Werk schwer gearbeitet. Dies hier ist ein herrlicher Genuss, wie Urlaub bei den Soldaten. Auch der Mond ist wundervoll."
„Sie sind ein seltsamer Junge," sagte Fern. „Sie sind so ernsthaft. Ich habe versucht, mir auszumalen, was Sie drüben im Werk eigentlich tun. Ist es wirklich irgendeine Geheimagentengeschichte? Sieht deshalb Herr Gelb wie Ronald Colman oder Bulldog Drummond oder ähnlich aus? Er würde so herrlich nach Hollywood passen."
„Herr Gelb ist ein sehr tüchtiger Mann - er ist mein Chef. Ich glaube, er ist einer der tüchtigsten und schlauesten Männer, die ich je kennen gelernt habe. Wir sind keine Geheimagenten oder irgendwas dergleichen", sagte Norman, mit tröstlichem Zweifel im Klang seiner Worte. „Meine wirkliche Arbeit ist Erhaltung -mit andern Worten, die ordentliche Instandhaltung und der Schutz eines Werks während eines Streiks. Sie ist ein Zweig der Betriebstechnik, könnte man sagen. Ich habe mein Examen als Betriebsingenieur gemacht, und dazu noch meine Erfahrungen beim OSS, da ist diese Arbeit gerade das, was ich mir wünsche. Ich habe sie gern."
„Es muss aufregend sein", lächelte Fern; sie konnte sich des Lächelns nicht erwehren, er war so geradezu und bieder. Sie hielt ihn für den nettesten Jungen, den sie seit langem kennen gelernt hatte, und es gefiel ihr, dass er dabei auch noch so gut aussah.
Sie kamen zum Klub, parkten und gingen in das große, weitschweifige Gebäude im Kolonialstil. Norman war mit seinen Freunden schon zwei- oder dreimal in Landklubs gewesen, aber das waren glänzende Sachen aus Graustein und Stuck in Westchester gewesen. Dieser hier war vergleichsweise beinahe ärmlich, aber er verstand, dass er im Grunde richtiger wäre, auf die gleiche Art, wie auch das alte Neu-England-Haus, in dem die Lowells wohnten, unzweifelhaft richtig war. Der Klub war innen sehr wohnlich eingerichtet, mit glühenden Feuern in fast jedem Raum. Die Bar, in die Fern ihn führte, war als große antike Küche aufgemacht, mit einem Sechs-Fuß-Herd und mit langen Tischen aus Kiefernholz. Er bestellte einen Scotch-Soda, und Fern nahm einen Martini. Er stellte fest, dass sie die meisten der Leute hier kannte, aber nur oberflächlich „hallo" sagte und sich nicht die Mühe machte, ihn vorzustellen.
„Samstagabends ist hier gewöhnlich Tanz", erzählte sie ihm.
„Auch heute abend. Wir können entweder tanzen, oder wir gehen nach draußen auf die Rodelbahn. Sie wird beleuchtet, und es ist lustig abends. Eine richtige Rodelbahn ist es eigentlich nicht, sondern nur eine lange Gleitbahn mit einer Kurve und einem Spill, das einen wieder hinaufzieht. Aber es ist sehr spannend, wirklich."
„Das wäre herrlich", sagte er. „Alles, was Sie tun wollen, wäre herrlich."
20
Joe Santana schloss seinen Laden gewöhnlich um sechs. Um viertel sieben stand das Essen auf dem Tisch, und um halb oder dreiviertel acht war das Geschirr aufgewaschen, abgetrocknet und weggestellt, lagen die Kinder im Bett und war die schönste Stunde des Abends gekommen. Dann konnte er seine Hausschuhe anziehen, seine erste Zigarre anzünden - er rauchte nie während des Tages, wenn er arbeitete — und das Radio andrehen, es auf Nachrichten, einen Vortrag oder ein Frage-und-Antwort-Spiel einstellen und gleichzeitig eine Zeitung, ein Buch oder ein Magazin im Schoß halten, für den Fall, dass sich das Radio als Enttäuschung erweisen sollte. Frage-und-Antwort-Spiele liebte er am meisten. Wie er einmal seiner Frau sagte: „Der Durst nach Wissen ist sehr fundamental. Jeder möchte etwas wissen. Was unterscheidet uns von den Tieren? Was erzeugt einen Menschen wie Dante oder ein Volk wie das italienische Volk? Ohne Zweifel, der Durst nach Wissen." Die Vorträge ärgerten ihn häufiger als nicht, aber er hörte immer wieder zu und schöpfte eine gewisse sanfte Befriedigung aus der Tortur, die er durchmachen musste.
Er und seine Frau waren beide zufriedene Menschen, dankbar für die Sicherheit, die ihnen der Laden und die Wohnung dahinter gewährten. Wenn es Joe Santana jemals eingefallen wäre, darüber nachzudenken, hätte er festgestellt, dass er ein glücklicher Mensch wäre, ein selten glücklicher Mensch, mit zwei solch prächtigen gesunden Kindern, einem anständigen Auskommen und einer Frau, die Manacotti kochte wie niemand sonst auf Erden. Er war dazu gekommen aus einer Kindheit voller Armut, Hunger und Prügel heraus; zu seiner Frau sagte er einmal: „Soweit ich mich erinnere, war mein Papp nie freundlich zu seinen Kindern. Er liebte uns, aber er war nicht freundlich zu uns. Ich verstehe das nicht."
Heute abend aber hatte er Sorgen. Bisweilen wunderte er sich, warum er, wie fast alle Kommunisten, die er kannte, den Frieden seines Heims so sehr und Streit so wenig schätzte. Aus seinem beschränkten italienischen Sprachschatz konnte er ein heimatliches Sprichwort vollständig zitieren: „Für Streit gibt es keinen guten Namen." Als er seiner Frau erzählte, dass an diesem Abend noch bei ihnen eine Versammlung sein würde, schüttelte sie den Kopf: „Ich habe Angst." „Das ist logisch", antwortete er. „Manchmal beneide ich die Leute, die keine Angst haben. Andererseits verachte ich sie auch manchmal."
„Man lebt so ruhig in einer kleinen Stadt wie hier", sagte Hannah, „dass man glatt verrückt wird, wenn so etwas passiert wie heute mit Danny."
„Es kommt vor."
„Aber ich kenne doch Sally Curzon. Ich war heute morgen im A-and -P (Anm.: Atlantic-and-Pacific — großer Konzern von Lebensmittelkaufhäusern), und da traf ich sie mit ihrem kleinen Mädchen. Sie sagte, dass sie mit allen Kindern zum Haarschneiden kommen müsste."
„Diese Art von Beweisführung macht mich fertig", lächelte Santana. „Im dritten Reich haben sich die Leute auch nicht die Haare bis auf die Schultern wachsen lassen."
„Aber wie sie es sagte. Danny ist kein Fremder hier. Wir sind keine Stadt, wo die Menschen Angst haben. Wir sind keine Stadt, wo es Ku-Klux-Klanbanden gibt wie in Boston oder Worcester. Was geht eigentlich vor, Joe?"
Er zuckte die Achseln und entschloss sich, am Ende doch eine Zigarre zu rauchen. Es war erst acht Uhr und noch eine volle halbe Stunde Zeit, bis die Versammlung beginnen sollte. „Ich grüble manchmal darüber nach, was sich ereignen wird", sagte er nachdenklich. „Ich habe es im Gefühl. Mein Papp pflegte mir zu erzählen, wie drüben in der Heimat die Wasserhexen mit einem Olivenzweig in der Hand herumgegangen sind. Wenn sie an eine Stelle kamen, unter der Wasser war, dann konnte keiner sehen, wie sich der Zweig bewegte, aber sie fühlten es. Das setzt natürlich voraus, man glaubt an so einen altmodischen Aberglauben, was ich natürlich nicht tue. Aber irgend etwas geht vor, und ich fühle es. Vielleicht ist es gerade erst der Anfang, mit kleinen Stückchen, die hier und da abbröckeln. Irgend etwas Gewaltiges stirbt, etwas anderes wird geboren, und die Ausläufer der Erschütterung kommen bis hierher, was nur natürlich ist. Ebenso natürlich ist, dass wir nervös werden. Eine Welt in Bewegung erzeugt Nervosität."
21
Danny Ryan und Joey Raye warteten in dem unaufgeräumten Geschäftszimmer der Gewerkschaft, als Bill Noska hereinkam, schlapp in der Haltung seiner großen Gestalt und mit trauriger und übelgelaunter Miene. Er sah die beiden verwundert an und setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch. „Wo zum Teufel warst du denn?" fragte Danny Ryan. Noska starrte ihn an: „Haben sie euch schlimm zugerichtet?" „Es war 'n Vergnügen", sagte Ryan, und Joey Raye grinste flüchtig. „Ich hab' es gern, verprügelt zu werden. Ich hab' es gern, wenn ich was abbekomme. Ich bin richtig scharf drauf." Er gab Noska eine kurze Schilderung, und der große blonde Mann schüttelte den Kopf und sagte: „Die dreckigen Bankerte."
„Ich wünsche, ich glaubte, dass du es so ansiehst", sagte Ryan. „Warum?"
„Man erzählt, du hättest 'ne Zusammenkunft mit Wilson gehabt", sagte Raye niedergeschlagen.
„Das ist kein Verbrechen."
„Ein Verbrechen ist es nicht, aber es klingt nicht besonders
gut.“
Noska sagte: „Warum zum Teufel wartest du denn nicht, Danny, bis ich mich wirklich verkaufe, bevor du mir Vorwürfe machst?"
„Dann ist es zu spät."
„Was ich bei einem Roten am meisten hasse", sagte Noska, „ist diese gottverfluchte erhabene, überlegene Miene, die besagt, dass jeder gekauft werden könnte, außer einem von euch Burschen. "
„Haben sie versucht, dich zu kaufen?" fragte Joey Raye sanft. „Ein Kerl namens Gelb", sagte Noska trübe. „Ein süßer Knabe. Er besorgte das Reden und überließ Curzon das Prügeln."
„Ja. Ich erinnerte mich an ihn von Pittsburgh her. Fünfunddreißig arbeitete ich dort in einem Walzwerk."
„Aber tüchtig", sagte Ryan. „Vielleicht hörst du jetzt auf mich und stellst dort zweitausend Leute vors Tor."
„Sie haben das Recht auf ihrer Seite", sagte Noska müde. „Was können sie denn tun - zweitausend Leute verhaften? Was zum Teufel ist denn los mit dir, Bill?"
„Es passt mir bloß nicht, von euch Burschen herumgeschubst zu werden!" sagte Noska wütend. „Es passt mir nicht, von Gelb und Wilson herumgeschubst zu werden, und es passt mir nicht, von euch Burschen herumgeschubst zu werden! Ich will, dass die Mitgliederschaft diesen Streik führt - nicht eine kleine Clique von
Roten!"
„Du willst, dass wir uns zurückziehen?" fragte Joey Raye
ruhig.
„Ich will, dass ihr eure Versuche einstellt, ihn in die Hand zu
nehmen."
„Wer sagt das? Wilson?" fragte Ryan. „Ich sage es."
„Warum?" fragte Ryan, stand auf, ging hinüber zum Schreibtisch und stand da, beide Hände auf die Platte gestützt. „Warum sagst du das? Du kennst mich seit langer Zeit. Du kennst Joey seit langer Zeit. Was in Jesus Namen wollen wir in die Hand nehmen, und warum? Klar bin ich Kommunist. Ich hab' es nie geleugnet. Du weißt es - Wilson weiß es auch. Ich bin Kommunist, weil ich sehe, wie jedes gottverdammte Stück unserer feinen Zivilisation von den Arbeitern stammt, aus ihrem Schweiß und ihrer Arbeit kommt. Ich bin Arbeiter. Ich bin immer Arbeiter gewesen. Ich bin Arbeiter, seitdem ich zehn Jahre alt bin. Ich bin Kommunist, weil ich niemand sonst kenne, der gewillt ist, sich das Gesicht einschlagen oder die Kehle durchschneiden oder eine Kugel in den Kopf jagen zu lassen, weil er für die Arbeiter ist. Ich kenne keinen sonst, der sie nicht verkauft."
„Du meinst, dass ich sie verkaufe?" sagte Noska kalt.
„Den Teufel tu ich! Ich bemüh' mich, dich dahin zu kriegen, dass du nachdenkst, deinen Kopf gebrauchst und Schluss damit machst, dass der ganze Mist, den du hörst, uns weit auseinander bringt."
„Mir scheint, dass ihr uns vielleicht weiter auseinander bringt", sagte Noska.
„Tun wir das? Wer hat die Kaufleute in der Stadt dazu gebracht, den Streik zu unterstützen? Wer hat die Suppenküchen in Gang gesetzt? Wer hat Tag und Nacht gearbeitet, um Lebensmittel heranzuschaffen, die Salamander zu füttern, für Unterhaltung zu sorgen und die Streikpostenkette in Fluss zu halten? Antworte mal darauf."
„Das ist der springende Punkt - weil ihr für euch was davon erwartet", sagte Noska matt.
„Schön, schön, Bill. Sieh mal — du bist nicht danach gebaut zu glauben, dass irgendwer irgendwas umsonst tut. Ich mache dir daraus keinen Vorwurf; schau, du lebst in einem Land, das nur einen Wert kennt, einen Standard, einen Maßstab - den Dollarschein. Den rührigen Dollarschein, den gerissenen Dollarschein,
den leichten Dollarschein. Leg ihn auf den Tisch, grün gedruckt, mit einem Bild von Washington drauf. Das haut hin, das tut seine Wirkung. Mit anderen Worten, Moskau bezahlt uns, und wir sind bloß deshalb dabei, weil wir was dafür kriegen. Aber lass mich etwas anderes sagen - du und ich, wir sind beide Katholiken. Ich habe mit der Kirche gebrochen, du hast es nicht getan. Doch wir können die gleiche Sprache sprechen. Ich kann von der Bruderschaft der Menschen sprechen, und es klingt nicht so, als ob ich chinesisch mit dir rede. Ich spreche nicht gern davon, denn wenn je eine Lehre in ihrem Sinn verkorkst worden ist, dann ist es dieses Zeug von der Bruderschaft der Menschen. Und doch gibt es nur eine Stelle, wo ich der Bruderschaft der Menschen begegnet bin, und das ist in der Kommunistischen Partei! Natürlich haben wir unsere Filzläuse. Bei uns sind Menschen jeder Art. Wir sind eine Bewegung, die aus dem Volk kommt, und im Volk gibt es keine Heiligen. Wir haben, grade in diesem Augenblick, hier in der Stadt eine Filzlaus, die uns verkauft, jawohl, und die Gewerkschaft dazu. Aber was bei uns ist, und sogar das Kroppzeug, ist immer noch verdammt das beste, was diese Gesellschaft je hervorgebracht hat."
„Ich will es nicht geschenkt, Danny", sagte Noska. „Ich hab' es dir auch gar nicht angeboten. Ich bitt' dich nur, halt die Augen offen - halt sie offen."
22
Lowell und seine Frau nahmen ihr Mittagessen gemeinsam zu Hause ein. Es war eine jener Mahlzeiten, wo sie einander am Tisch gegenübersaßen, an ihrem Essen nippten und dann und wann das eine oder andere Wort wechselten. Die Worte waren formell und höflich. Wenn Lois vom Wetter sagte: „Schnee in Neu-England ist grässlich. Ich begreife nicht, warum die Leute so romantisch darüber werden", dann stimmte Lowell zu. Als
sie mehr zur Sache kam und sagte, dass sie in den Süden fahren wollte, nickte er: „Ich glaube, das würde das beste sein." „Ich dachte an Arizona", sagte sie und beließ es dabei, als wollte sie andeuten, wie viele Erinnerungen Arizona für sie bärge, und Lowell nickte wiederum nur. Es war ihm gleichgültig. Zu dem Vorfall mit der kleinen Italienerin in der Stadt stand es jetzt in keiner Beziehung. Er schämte sich dessen nicht einmal. Durch eine Art Alchimie seines körperlichen Systems war es in die graue Truhe der Dinge gewandert, die geschehen waren, aber weder Form noch Farbe hatten: die Frau, die er in dem Hotel in New York zurückgelassen} das Mädchen vorher in Boston; das Mädchen davor, dem er vor einigen Monaten, als er sich mit Lois in Kanada treffen wollte, im Zuge begegnet war; und davor und davor - die endlose, nutzlose, schmutzige Suche, die seine Sinne quälte und seine Träume äffte; die Hotelzimmerdecken, die farblosen Wände, die Betten mit Sprungfedermatratzen, deren Federn durchkamen, die Schilder Bitte nicht stören, die Gideon-Bibeln, die billigen Netzvorhänge; der hochnäsige, halbverächtliche Ausdruck auf den Gesichtern zahlloser Kellner und Fahrstuhlführer; die ganze Jagd nach dem Glück ohne Glück - es glich sich zu Nichts aus, wie eine platte Ebene, von keinem Höcker oder Hügelchen Erde unterbrochen. Er saß da am Esstisch, beobachtete Lois und dachte daran, wie Wilson ihn beneidete und bewunderte und wie Curzon vor ihm kroch.
„Was gedenkst du zu tun, George?" fragte Lois plötzlich. „Tun? Wie meinst du das?" „Ich meine uns."
„Ich habe gar nicht daran gedacht, etwas zu tun", sagte er langsam und dachte dabei, dass ihre Ehe jetzt so viel enthielt, wie sie stets enthalten hatte, wie jede Ehe, die er kennen gelernt hatte. Er war müde und er wollte nicht darüber sprechen, sondern sich irgendwo hinsetzen, ausruhen und vergessen. Aber sie redete weiter, und sein Missmut verwandelte sich in tiefe Erbitterung. „Ist es denn falsch - ist es so falsch, George, dass ich behalten möchte, was weniges mir geblieben ist, und es verteidige und dafür kämpfe... "
Sie war nicht wachsam, sie war nicht klug, stellte er fest; sie war ein dummes Weib, das nie genügend zu zweifeln verstand. In einer plötzlichen Aufwallung von Hass und Verachtung ihr gegenüber sagte er sich, dass nichts ihn hindern würde, jetzt wegzugehen. Er wollte sie verletzen, fand aber nichts zu sagen, was treffend und dem Augenblick angemessen war, und statt dessen stand er jäh vom Tisch auf und ging in die Bibliothek. Er mischte sich einen Trunk, einen großen Scotch, der sehr wenig Wasser enthielt, stürzte ihn beinah auf einen Schluck hinunter, schauerte und hatte einen Anfall von Übelkeit. Er mischte einen zweiten Trunk - mehr Scotch und mehr Wasser. In dem Wunsch, etwas zu lesen, suchte er sich die „Schicksalsbucht" von Donn Byrne heraus, an die er sich von der Zeit her, als er sie zuerst gelesen hatte — es war vor zehn oder fünfzehn Jahren gewesen —, nur schwach erinnerte, die ihm aber wenigstens die Erinnerung an ein sonnüberströmtes irisches Feenland bot, an einen Ort, wo artige Männer und liebliche Frauen sich mit langsamer und gemessener Würde bewegten. Mit seinem zweiten Trunk wurde er zu rasch fertig, so rasch, dass ihm schlecht wurde und er sich einen dritten einschenkte. Er war nun ein bisschen betrunken, doch nicht so betrunken, dass er sich nicht bewusst war, wie oft er sich in der letzten Zeit so zurückgezogen hatte — zu sehr raschem Trinken, einem Sessel und einem Buch, das er nur halb sah. Er begann „Die Erzählung vom Zigeunerpferd" zu lesen, die er einmal, vor solch langer Zeit, Clark vorgelesen hatte; sie rief ihm die Erinnerung an ein Verhältnis zurück, das durch den trüben Schleier der Zeit hindurch so warm und gut und edel wurde und ihn beinahe bis zum Weinen rührte. Er hatte erst drei oder vier Seiten gelesen, als das Telefon klingelte. Er ging selbst an den Apparat und hörte Wilson sagen: „Es tut mir leid, Sie jetzt zu stören, George, aber Harn Gelb möchte wissen, ob wir nachher mit Butler zu Ihnen hinüberkommen können?"
„Butler?"
„Sie erinnern sich, Fred Butler - der Mann, mit dem wir auf dem Polizeiamt sprachen."
Da erinnerte er sich, aber er sagte ungehalten: „Warum hier? Warum zum Teufel können nicht Sie und Gelb... "
„Es tut mir leid, George. Der Junge ist nervös, will in kein Haus in der Stadt hineingehen."
„Gut, bringen Sie ihn heraus", sagte Lowell.
Dann ging Lowell zu seinem Buch zurück, aber es war langweilig und fade. In diesem Augenblick wünschte er mehr als alles andere, Elliott Abbott anzurufen, aber auch das brachte er nicht fertig.
23
Es war ziemlich spät, als Wilson mit Butler kam und Gelb ein paar Minuten nach ihnen eintraf. Lois war nach oben in ihr Zimmer gegangen, und Lowell war hinreichend betrunken, dass er sich aus dem Besuch nichts machte, hinreichend betrunken, dass seine rauen Kanten poliert waren, und er führte sie mit fast höfischer, europäischer Zuvorkommendheit in die Bibliothek. Er mixte würdevoll Schnäpse für sie und verriet seinen Konsum an Alkohol nur durch die beherrschte Langsamkeit seiner Hantierungen. Er war betrunken, aber nicht zu betrunken, um umherzugehen, zu sprechen, sich hinzusetzen und Gelb sagen zu hören: „Wir bitten Sie sehr um Entschuldigung, Herr Lowell. Es ist nicht bloß, dass Butler hier mit seinen Nerven fertig ist — ich möchte auch nicht, dass sich irgendein Stadium dieser Angelegenheit ohne Sie entwickelt. Ich halte es für einen Fluch unseres Systems, dass sich Leute wie Sie — und ich sage das mit dem tiefsten Respekt — einer aktiven Teilnahme entziehen."
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", sagte Lowell und fuhr dann ernst fort: „Ich würde wahrhaftig ein schlapper Kerl sein, wenn sich dieser alte Boden Neu-Englands nicht auf mich verlassen könnte."
„Ich möchte noch heute nacht raus aus der Stadt", sagte Butler
plötzlich.
„Wir werden Ihre Zeit nicht allzu sehr in Anspruch nehmen", sagte Gelb, ohne Butler zu beachten.
„Der Mann hat Angst", lächelte Lowell. „Thoreau sagt von der Angst, dass sie aus der Seele stamme, nicht von draußen. Wer kann mir Böses tun, wenn meine Sache eine gerechte Sache ist?"
Gelb und Wilson wechselten Blicke. Lowell sprach mit derselben ernsten Höflichkeit weiter: „Sicher ist Herr Gelb in der Lage, dafür zu sorgen, dass Ihnen nichts Böses geschieht. Und wenn Sie die Stadt zu verlassen wünschen, bin ich sicher, dass Sie uns nicht so undankbar finden werden, Sie hier festzuhalten."
Ein schwacher Hauch eines Lächelns glitt so rasch über Gelbs Lippen, dass Lowell kaum gewiss sein konnte, dass es dagewesen war. Butler starrte ihn an. „Ich will, dass Sie Herrn Lowell wiederholen, was Sie mir über die Versammlung erzählt haben", sagte Gelb zu Butler und erklärte Lowell: „Eine Versammlung, die um halb acht heute abend stattfand, alle Gewerkschaftsfunktionäre, das Streikkomitee, Betriebsobleute, Küchen- und Streikpostenchefs - alles zusammen an die hundertzwanzig Leute. Dieser verdammte Narr von einem Richter ließ Ryan gegen Kaution heraus, und der stand nun auf und erzählte die ganze Geschichte. Erzählen Sie es auf Ihre Art, Butler."
„Er sprach etwa eine halbe Stunde", sagte Butler. „Ryan ist ein guter Redner. Sie müssen ihm eine scheußliche Abreibung gegeben haben, nach dem, wie es sich anhörte. Dann sprach der Nigger. Er sagte, Curzon hätte versucht, ihn umzubringen, und das hörte sich noch schlimmer an. Ich halte es für einen Fehler, dass er mit dem Nigger so umgesprungen ist", lächelte Butler; es war sein erstes Lächeln an diesem Abend, flüchtig und für Gelb bestimmt, als ob er sagen wollte: „Du verdammter Hund! Du hast es angedreht!" und Gelb sagte:
„Wir fragen nicht, was Sie denken."
„Es ist bloß, weil wir in der Gewerkschaft einen Haufen Ärger mit den Niggern gehabt haben", fuhr Butler fort. „Die Kanadier haben nichts für die Schwarzen übrig, und die Iren auch nicht. Aber dieser Joey Raye hat sie alle auf seine Seite gebracht, und deshalb, denke ich, war es ein Fehler."
„Uns interessieren Ihre Gedanken nicht, Herr Butler, mögen sie noch so klar und erhaben sein", sagte Lowell höflich, sah aber nicht Butler an, sondern betrachtete den Boden seines Glases, wo das Stückchen Eis sich auflöste, missgestaltete Hände ausstreckte, die flüssig und rastlos an der Bewegung des Getränks teilnahmen. „Auch eine Meinung interessiert uns nicht, selbst wenn sie durch eine so vielfältige Erfahrung wie die Ihre erhärtet ist. Uns interessiert die Tatsache, die Aristoteles die heilige Erhabenheit nennt, die in allen Orakeln wohnet."
Einen langen Augenblick war Stille, bis Gelb sagte: „Fahren Sie fort, Butler."
„Ryan verlangte Massenstreikposten. Er sagte, sein Vorschlag wäre, vielleicht zweitausend, vielleicht auch mehr Leute morgen früh, sobald es Tag wird, auf die Beine zu bringen und den ganzen Haufen gegen das Tor an der Birkenstraße zu wälzen. Er meinte, dass sie sich bei den Suppenküchen und am Gewerkschaftshaus sammeln und dann geradeswegs den Concordweg hinauf zum Werk marschieren sollten. Einer aus dem Saal rief: ,Und was mit Jack Curzon, wenn er versucht, uns zu stoppen?' und Ryan sagte, dass Jack Curzon und all die andern Zuhälter, die die Stadt verseuchten, wohl über eine Gummiente herfallen könnten, dass aber zweitausend Menschen, die man zum Marschieren brächte, von nichts außer dem Teufel persönlich aufgehalten würden." Butler sagte das mit Genugtuung. Sein mageres, abgerackertes Gesicht ging in den Worten auf, und er richtete sie an Gelb, der ruhig bemerkte:
„Das sagte er, was?"
„Genau so."
„Und was sagte Noska?" fragte Gelb.
„Nicht viel. Er wollte wissen, wie es den nächsten Tag und den übernächsten Tag weitergehen sollte, und wie lange sie glaubten, eine Streikpostenkette von der Größe auf die Beine bringen zu können. Ryan sagte, er hätte erlebt, wie es zweiundneunzig Tage lang geschehen wäre, aber er glaubte nicht, dass dieser Streik so lange dauern würde. Daraufhin bekam er Oberwasser, und dann stand Larry Cooney im Saal auf und fragte Noska, warum er nicht einfach zurückträte und der Kommunistischen Partei die Führung überließe."
„Was sagte Noska dazu?" fragte Gelb sehr ruhig. „Er sagte, wenn die Zeit käme, wo er glaubte, die Gewerkschaft nicht mehr führen zu können, würde er ihnen Bescheid sagen — und wenn Cooney Näheres wissen wollte, würde sich Noska nachher mit ihm unterhalten."
„Erhielt Cooney keine Zustimmung?" fragte Wilson. „Wenig - nicht viel, ganz wenig. Sie sehen, was für ein raffiniertes Spiel dieser Ryan und dieser Joey Raye treiben. Sie tun keinen Schritt, ohne dass sie nicht jeden einzelnen in dieser verdammten Gewerkschaft hinter sich haben. Sie warten, bis eine Sache durchgedrungen ist, und dann tun sie, als käme es von den andern. Das ist ein raffiniertes Spiel." Nach einem Augenblick fügte er hinzu: „Aber Noska ist nicht glücklich dabei. Sie haben ihn beim Schwanz, und er ist nicht glücklich dabei."
„Wenige Menschen sind glücklich", sagte Lowell überraschend. „Sehr wenige Menschen, Butler." Als er die Gesichter sah, erkannte er die Reaktion - sie hielten ihn für betrunken. In langsamen, schleppenden Gedanken musterte und wog er sie, dieses schändliche Trio, ein Renegat, ein Rohling und ein Dummkopf, und seine Überlegenheit erhob sich auf fast federleichten Flügeln. So, dachte er schwärmerisch, müsste sich gegenüber den barbarischen und den plebejischen Lümmeln, die seinen Willen taten, der Patrizier des alten Roms gefühlt haben, der wusste, dass sein Wille geschehen musste, und der gleichwohl seine Werkzeuge verachtete. Wie deutlich sah er sie! Und mit welcher Allwissenheit begriff er sie! Sie hielten ihn für betrunken - und vielleicht hatte er auch einen kleinen Schwips, jene feurige Lockerheit, die dem Denken erlaubt, wie Wasser zu fließen anstatt wie träges Öl. Er sah, dass Wilson sich anschickte aufzustehen, und er schüttelte den Kopf, winkte mit der Hand und sagte:
„Nein - ich möchte auch das übrige hören, Tom. Erlauben Sie Herrn Butler fortzufahren." Und zu Butler: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbrochen habe."
Gelb, der beinahe mit den Zähnen knirschte, sagte: „Dann werden sie also morgen loslegen? Stimmt das, Butler?" „Jawohl."
„Und wie steht die Partei dazu?"
„Hernach hatten wir eine Versammlung bei Joe Santana." „Beide Gruppen?"
„Beide. Deswegen will ich eben von hier weg. Sie wissen, dass ein Spitzel unter ihnen ist. Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis einer mit Fingern auf mich zeigt?" „Feige geworden?" fragte Gelb sanft. „Ich muss für meine Haut sorgen - sonst tut es keiner." „Was beschloss die Partei?"
„Sie machen mit bei der großen Kette — fast alle, ein paar ausgenommen, wie der Alte, der Professor. Sie wollen auch versuchen, ebenso viele Außenstehende in der Stadt zum Mitgehen zu bewegen, aber meine Meinung ist, sie werden nicht viele kriegen. Das ist alles. Sie sprachen noch ein wenig über einige Mengen Lebensmittel, die ihnen die Partei von Hudson in New York drüben und von Rutledge in Vermont oben versprochen hatte; aber meist wurde über die große Kette morgen geredet." Butler saß steif und unbehaglich da in Lowells komfortabler Bibliothek und drehte seine Kappe unentwegt in den Händen — ein kleiner, gewöhnlich aussehender Mann, der dem Anschein nach weder schlecht noch gefährlich war, die Art Mensch, die man vorbeigehen sieht und dann einen Augenblick später vergisst, ein müder Mann. Lowell gewährte ihm ein benebeltes Mitgefühl; dies war, so schien es Lowell, der Mensch überhaupt, der Mensch in seinem Elend, seiner Kleinheit und Verächtlichkeit.
„Dafür müsste ich eine Extraprämie haben", beklagte sich Butler. „Ryan haben Sie Geld angeboten - Noska haben Sie zweitausend angeboten, und ich arbeite für einen Apfel und Ei.
„Hat Noska das gesagt?" fuhr Gelb ihn an.
„Klar hat er das gesagt."
„Dieser Hurensohn", flüsterte Gelb.
„Ich arbeite für einen Apfel und Ei", beharrte Butler. „Ich muss heute nacht noch von hier weg. Ich habe Familie. Wie erwarten Sie von mir, dass ich reise?"
„Was wollen Sie?" fragte Wilson.
„Fünfhundert."
„Geben Sie sie ihm", sagte Lowell müde. „Geben Sie sie ihm und lassen Sie ihn gehen. Geben Sie sie ihm und schaffen Sie ihn hinaus. Schaffen Sie den Gestank von ihm hinaus."
24
Es schien Fern, dass dieser Abend in gewisser Weise einen Abschnitt ihrer Entwicklung bedeutete. Sie war nicht verliebt in Frank Norman, aber der Inhalt ihrer Gedanken war der einfache Satz: „Was für ein reizender Junge!" Er hatte sie nicht angefasst, außer einmal, als sie sich vom Schlittenaufzug hinaufziehen ließen, und da war sie an ihn geschmiegt gewesen, und er hatte es in einer solch täppisch deutlichen Art getan, dass es schon nett und ehrlich wurde. Da hatte sie ihn geküsst, und sie küsste ihn noch einmal, als sie im Wagen nach Hause fuhren. Sie hatten diniert, getanzt und waren dann nach draußen gegangen, um den Abhang auszuprobieren. Er war nicht sehr gut, weil nur wenig Schnee gefallen war, aber sie machten doch fünf Fahrten, bevor die Bahn abgenutzt war, und es war wundervoll, ein schieres Vergnügen. Da-
nach trabten sie im Mondschein über den Golfplatz, gingen auf einen Nachttrunk wieder in den Klub zurück - Glühwein, den keiner von ihnen mochte, der aber das angemessene Getränk war, wenn man von draußen aus dem Schnee hereinkam - und fuhren schließlich nach Hause. Der Abend entließ Fern in einer Stimmung voll gärender Reife, die zugleich etwas Kindliches und Unschuldiges enthielt. So war es auch am Hotel, wo sie Frank absetzte und wo er sie leicht und zart auf die Lippen küsste. Sie fuhr singend heim und betrat singend das Haus. Es war ziemlich spät, aber in der Diele und in der Bibliothek brannte noch Licht.
In der Bibliothek war ihr Vater; er lag ausgestreckt in einem großen Ledersessel, schwer schnarchend, den Kopf nach hinten hängend, ein Glas auf dem Boden neben ihm und die Lache, die der Trunk gebildet hatte, als es ihm aus der Hand gefallen war. Aus seinem hübschen langen Gesicht war alle Beherrschung geschwunden; der Mund stand offen, und ein Faden eingetrockneten Speichels kroch über sein Kinn — was, zusammen mit seinem ungekämmten Haar und dem Schatten eines neuen Barts auf den Wangen, ihm das Aussehen eines Fremden gab, eines besonders unappetitlichen Fremden. Als der erste Schock vorüber war, die erste schaudernde Reaktion auf ihn als einen Toten - eine Vorstellung, die das Schnarchen rasch zerstreute -, sah Fern ihn voller Ekel an. Sie musste sich buchstäblich zwingen, ihn anzurühren, ihn zu schütteln und ihn schließlich zu ohrfeigen; aber es erzeugte keine andere Reaktion als ein paar gemurmelte Worte, einen zusammenhanglosen Satz, der tief aus dem Unterbewusstsein kam, und dann erstarrte er mit entschiedenem Widerstand in Schlaf. Die Zunge kam heraus und leckte über die Lippen, und ein zweiter Speichelfaden erschien neben dem ersten. Lauter, als sie meinte, schrie Fern: „Steh auf, hörst du nicht? Steh auf, verdammt noch mal, du dreckiges Schwein, steh auf!" Dann rannte sie hinauf und in das Zimmer ihrer Mutter.
„Fern, hast du unten geschrieen?" fragte ihre Mutter in dem beherrschten, geduldigen Ton, den das Mädchen so hasste.
„Ich bin froh, dass du noch auf bist. Dein Mann liegt unten, stinkbesoffen, und ich kann ihn nicht wachkriegen. Vielleicht kannst du es?"
„Ich habe kein besonderes Verlangen danach", sagte Lois, und nun konnte Fern ihre Gestalt im Bett entdecken, eine Bettjacke an, ein Buch auf der Bettdecke neben ihr, als hätte sie eben das Licht ausgedreht.
„Möchtest du, dass er morgen früh noch da liegt, so dass Jane und die andern hineingehen und ihn sich ansehen können?"
„Wenn ihm das Spaß macht", antwortete Lois, ein kindliches Schmollen in der Stimme.
Fern lief hinunter, wütend und nunmehr halb außer sich; sie nahm den Eiskübel auf und stülpte seinen geschmolzenen Inhalt ihrem Vater über den Kopf. Da rappelte er sich ins Bewusstsein, jedoch langsam und schwerfällig. Er blinzelte mit den Augen, bis er das Mädchen erkennen konnte, und grinste, als er sagte: „Hallo, Ferney." Und dann kamen die Schmerzen und ersetzten das Grinsen durch ein Wimmern: „Ich habe einen fürchterlichen Kopf, Ferney. Wie spät ist es?" „Nach eins."
„Ich bin müde", sagte er. „Ich bin müde und habe einen fürchterlichen Kopf. Willst du mir einen Schnaps einschenken?" „Ich werde etwas Kaffee kochen." „Ein Whisky würde mir besser bekommen, Ferney." „Ich koch' dir etwas Kaffee", sagte sie.
Aber als er zu schlafen versuchte, merkte er, dass der Kaffee ihn wach hielt. Nachdem er ihn getrunken hatte, half Fern ihm die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Sie zog ihm die Schuhe aus und verließ ihn, und er saß da auf der Couch, während nur eine Lampe das Zimmer erhellte. Er band den Schlips ab, zog den Rock aus und schließlich die Hosen; es gelang ihm, zum Schrank zu taumeln und einen schweren wollenen Schlafrock zu finden, in den er sich einwickelte. Dann legte er sich auf die Couch, stumpf, in einem Bewusstsein seiner selbst ohne Form und wirklichen Inhalt, eine gallertartige, amöbenähnliche Masse. In seinen trüben Vorstellungen hatten seine Arme und Beine und auch sein Kopf keine Beziehung zur Wirklichkeit; sie dehnten sich aus und schrumpften zusammen; er verlor den Kopf, und seine Arme streckten sich über tausend Meter; seine Füße verschwanden, und sein Leib schwoll zu gewaltigen Proportionen an; seine Augen huschten heraus und füllten den ganzen abschätzbaren Raum aus, und dann wurden sie zu Nichts, und er war blind.
Trotz des Mantels fror ihn, und er ängstigte sich auch. Er bemühte sich, seine Vorstellungen festzuhalten, sie zu erkennen, sie zu beherrschen, sie zu den Vorstellungen eines Wesens zu machen, das eine erkennbare, vernünftige Welt bewohnt. Er tastete sich in seine Jugend zurück, wo es Sonnenlicht, Sicherheit und Zuversicht gab, aber seine Jugend war ein ungeheurer Raum, in dem er unglücklich umherwanderte, eine Höhle, eine betrunkene Halle, die zu seinen betrunkenen Träumen passte, ein Ort, wo die Jahre ein Kalender waren, der wie ein Kartenspiel ausgegeben wurde. Er erinnerte sich des ersten Mals, dass er Lois gesehen hatte, die Schwester eines Schulfreundes, groß und kühl und selbstgewiss wie eine Göttin, und dann schlug seine Erinnerung an die Jugend in die schreckliche Erkenntnis um, dass die Jugend vergangen und nicht zu ersetzen war. Sein Leben war vorbei und abgetan; er lag da und sah dem Tod ins Auge, und die Todesfurcht würgte ihm das Herz wie eine fest zugezogene Drahtschlinge. Die Vergangenheit war ein Augenblick, und ebenso war die Zukunft nur ein Augenblick, ein kurzes Vorspiel zum Erlöschen, dem Ende aller Dinge, dem endgültigen Schluss, dem Schrecken aller Schrecken. Die Furcht schlug ihm auf den Magen, sie ergriff seine Eingeweide; sie durchdrang ihn ganz, und er lag auf der Couch, das Gesicht in den Händen vergraben, und weinte betrunken.
25
Sein Sohn Clark jedoch hatte bis zu seinem letzten Augenblick den Tod nicht gefürchtet. In jener Zeit, die so lange, so traurig, unermesslich, unvergleichlich lange her war, die der Geschichte angehörte, die der verschatteten Vergangenheit angehörte, worin die Toten leben, wurde sein Sohn Clark gefangen genommen, frierend, zitternd, durchnässt und ganz von der Niedergeschlagenheit und dem Stumpfsinn erfüllt, Gefangener geworden zu sein, ein großer hübscher Bursche mit einem Bart von drei Tagen auf den Wangen, der zu dem Mann neben ihm einfach sagte: „Nun, so ist das; und was zum Teufel heißt das schon!" Zum mindesten aber war es einstweilen vorbei, und bald würde auch der Krieg vorbei sein — denn damals waren die Anzeichen des Endes unverkennbar. Und für Clark Lowell, der, bevor er nach Europa kam, nie einen Faschisten gesehen oder über einen Faschisten nachgedacht, oder einen Faschisten beachtet oder einen Faschisten gehasst noch einen geliebt hatte, war es, was dies betraf, ein Augenblick, der durchaus eintreten konnte. Er trat ein, und man wurde gefangen genommen. Er war ein Rätsel, in der Art wie der Krieg, dieser Krieg, dieser ganze gottverdammte ungeheure, liederliche und desorganisierende Krieg für die riesige heimwehkranke Armee und auch für den Leutnant Clark Lowell ein Rätsel war. Der Leutnant stand im Schnee, die Beine gespreizt, bis es geschah, bis er sah, wie es zu geschehen begann, und dann den ganzen Augenblick bis zum Ende, aber einen ausreichenden Augenblick, dass der Faschismus zu mehr als einer Predigt, einer Idee oder einer Ideologie wurde. Ihm selbst schoss ein SS-Offizier, der neben ihm stand, kühl eine Kugel in den Kopf.
Der Zeitungsberichterstatter, der die Geschichte schrieb, in der Clark Lowells Name zum ersten Mal erwähnt wurde, war ein wenig eifriger, ein wenig neugieriger und menschlicher als die meisten seiner Kollegen. Während sie in ihren Notizbüchern schrieben, kniete er im Schnee neben dem, was Clark Lowell gewesen war, und drehte den Leichnam um. Merkwürdigerweise war sein erster rascher Eindruck von dem vom Frost ganz blau und purpurn gefärbten Gesicht, dass dieser Mensch schön gewesen war. Abgesehen von jenem schrecklichen Loch, das die Pistole gemacht hatte, schlief der Junge, einen Anflug von Zweifel auf dem wächsernen Gesicht, einen Anflug von Ungewissheit, eine Andeutung von Ungläubigkeit, aber auch die friedvolle Überzeugung, die Ruhe bringt.
26
Freddy Butler wohnte Ecke Kirschenstraße und Dritte Avenue, zwei Häuserblöcke östlich der Eichenstraße und etwa drei Blöcke vom Gewerkschaftshaus entfernt. Er ließ sich von Wilson schon an der Zweiten Avenue, auf der anderen Seite des Concordweges, absetzen. Es gab keine Worte zwischen ihnen, und Butler, die fünfhundert Dollar in der Tasche und eine nagende Bitterkeit im Herzen, dachte bei sich: „Zum Teufel mit den Bankerten! Zum Teufel mit ihnen, den Filzläusen!" Er fühlte sich betrogen, einsam und elend, und es war keine einladende Vorstellung, zu dieser Stunde der Nacht seine Familie aus den Betten zu jagen, ihre Klagen anzuhören, statt einer vernünftigen Begründung seinen Willen vorzuschieben, die paar Sachen zu packen und durch die grimmige Kälte zu laufen und auf den Milchzug zu warten. Wie so oft vorher, kam ihm auch jetzt der Gedanke, sie gestrandet zurückzulassen und sich auf eigene Faust durchzuschlagen, und wie früher spielte er damit und verwarf ihn. Das Dahintreiben, die Landstraße, das Huren von Stadt zu Stadt, das Recht, eine Arbeit anzunehmen oder sie aufzustecken, wann immer es ihm verdammt passte, hätten vor Zeiten erregend auf ihn gewirkt. Aber dazu war Jugend unerlässlich, und er war hoch im mittleren Alter; Feuer und Lebenskraft hatten ihn verlassen, und seine Familie war die einzige Sicherheit, die er kannte. Er wusste zur Genüge, dass er ohne sie in den Bodensatz hinabsinken, ein Landstreicher und ein Strolch, ein schlapper, schmutziger Vagabund werden würde. So steckte er die Hände in die Taschen und ging durch die schlafende Stadt, durch die kalte, schweigende, mondhelle Nacht, horchte auf den weit entfernten einsamen Pfiff eines Zuges, das mürrische Bellen eines Hofhundes und probte mittlerweile, was er seiner Frau sagen wollte.
Er bog eben um die Ecke Dritte Avenue, als eine sanfte Stimme von irgend- oder nirgendwoher sagte: „Hallo, Freddy. Für einen Familienvater ist's aber reichlich spät zum Nachhausekommen... ", eine Stimme ohne Bosheit oder Drohung, richtig sanft und freundlich.
Er blieb jäh stehen; wie ein herzloses Messer stach ihn innen Furcht und er erstickte an der Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der schon tot, erschlagen, doch bei Bewusstsein und von jener letzten und schrecklichen Ausgelassenheit erfüllt ist. Die ganze Zeit, so dachte er bei sich, hatte er für einen Apfel und Ei gearbeitet; nicht auf die Art, wie manche ihre Seele verkauften, die von einem lächelnden vornehmen Herrn als Teufel mit Gold aufgewogen wurde; nicht auf die Art, wie die großen Gewerkschaftsführer sich gegen bequeme und dauerhafte Pfründen verkauften; nicht auf die Art, wie die Intellektuellen sich für einen vergoldeten Ehrensitz in einer mit Samt ausgeschlagenen Kloake verkauften - sondern wie ein ordinärer Arbeiter für einen Apfel und Ei, einfach und allein für einen Apfel und Ei. Er hätte weglaufen, fortspringen, aufschreien mögen, aber es rückte schon diese ganzen Jahre heran, und es war zwecklos wegzulaufen. „Wer ist da?" fragte er.
Es war Joey Raye, ein ungeheuer großer schwarzer Mann, der aus der Toreinfahrt eines Ladens trat, wo er gestanden hatte, um sich vor dem scharfen Wind zu schützen, und der unter geschwollenen, geschundenen Lippen seine weißen Zähne zeigte und sagte: „Hallo, Freddy." Die Hände in den Taschen seiner blauen Tuchjacke, eine wollene Mütze auf den Hinterkopf gerückt, setzte er durch das sanfte Dehnen seiner vollen Stimme Vertraulichkeit an die Stelle von Schrecken. „Spazieren gewesen?"
„Ich habe eine Partie Billard gespielt", lächelte Butler und erklärte: „Die Nerven. Ich wollte mir eine Zigarre kaufen, und ich spielte eine Partie Billard." „Wo?" fragte Raye. „Bei Benny."
„Ich ging auch zu Benny rum. Ich hab' gedacht, ich könnte dich dort treffen."
„Ich muss grade rausgegangen sein", sagte Butler und hielt den Augen des Negers stand. „Du müsstest dir etwas Ruhe gönnen. Du hast eine schlimme Abreibung gekriegt."
„Sie haben mich schwer vertrimmt, allerdings", sagte Raye heiter, „sie haben regelrecht den Teufel aus mir rausgeprügelt. Mein Gott und Jesus, diese Weißen verstehen, einen zu verprügeln." Er hob die Augenbrauen, weil Butler so zitterte. „Kalt?" Butler nickte, und Raye sagte: „Komm hier in den Torweg und raus aus dem Wind. Dieser Wind ist grad wie 'n Knüppel, grad so scharf und eklig wie 'n Knüppel, grad wie 'n Knüppel, den, wie ich gesehn, die Polizisten tragen. Ein Knüppel, das ist ein scheußlich gemeines und schlimmes Ding. Ich kann keinen Knüppel leiden. Ich möcht' lieber, dass einer mit 'nem Sandsack mich überfällt als mit 'nem Knüppel."
„Das stimmt", nickte Butler und trat in den Torweg, beobachtete den Neger dabei und versuchte, sich klar zu werden, ob er so naiv wäre oder nicht; er schien wirklich naiv zu sein; er war einem schon immer naiv vorgekommen. „Zigarette?"
Butler nahm eine Zigarette, aber seine Hände bebten, und zweimal ging das Feuer aus. Raye zündete ein Streichholz an und hielt es zwischen den gewölbten Händen, wo es wie eine Kerze brannte. „Das ist ein Schiffertrick", grinste der Neger. „Als ich's erstemal ausfuhr, braucht' ich sechs Wochen um zu lernen, wie man ein Streichholz ansteckt und anhält. Mächtig nützlicher Trick, wenn man ihn kennt. Ich glaub', du wusstest gar nicht, dass ich auf See gefahren bin, Freddy?"
Butler schüttelte den Kopf.
„Ich bin rumgekommen", fuhr Joey Raye fort. „Lieber Himmel, bin ich rumgekommen; Stahl und Autos und Seefahrt und sogar eine Zeitlang Schlachthof in Omaha. Das ist mal eine Gegend, dieses Omaha. Es ist allerhand, wohin ein Mann in diesen Vereinigten Staaten alles kommt, bloß beim Versuch, Arbeit zu kriegen und seinen Bauch voll zu halten. Aber das war in der schlechten alten Zeit... "
„Ich muss machen, dass ich heimkomme", sagte Butler. „Wenn wir die Streikposten bei Tagesanbruch herausbekommen... "
„Ü ber die Streikposten brauchst du dir keine Sorgen zu machen", lächelte Joey Raye. „Wie lange bist du schon in der Partei,
Butler?"
„Bloß ein paar Monate. Du weißt doch, wann ich eingetreten
bin."
„Na klar, natürlich, aber das ist komisch. Das ist mächtig komisch, weil mir scheint, dass ich einen wie dich schon vor langer Zeit gekannt hab', in Kalifornien vielleicht, oder in Illinois oder irgendwo. Na, vielleicht war's jemand anders, ich bin schon so lang in der Partei und hab' viele Menschen kennen gelernt. Ich bin schon 'ne lange Zeit in der Partei, Butler. Fünfzehn Jahre im nächsten Frühjahr. Das ist 'ne mächtig lange Zeit."
„Es ist eine lange Zeit", stimmte Butler zu.
„Du weißt, wie ich dazu kam, einzutreten - das ist auch 'ne komische Geschichte. Mein Pappi war Baumwollpächter in Mississippi. Er macht 'ne Ladung Baumwolle fertig, und ich fahr' mit ihm zur Mühle — es war die letzte Ladung von allen. Er geht hinein zum Chef, rechnet ab und kommt wieder raus und sagt zu mir: ,Mein Wort, Joey, ich hab' genau fünfundsiebzig Cent bekommen', und hielt dabei das Geld so auf der flachen Hand, die Arbeit einer ganzen Saison. Nun sollten wir dies und das für Mutter und dies und das für die beiden kleinen Schwestern, die ich hatte, mitbringen, aber wir konnten überhaupt nichts mitbringen außer eben diesen fünfundsiebzig Cent, die mein Pappi in der Hand hält; und wie er da so steht, fängt er an zu weinen, und ich glaubte, das Herz sollt' mir brechen. Da sag' ich zu ihm: ,Wein nicht, Pappi. Geh du nach Haus.' ,Was willst du denn tun?' fragt er mich. ,Wein nicht', sag' ich ihm, ,und mach dir keine Sorgen. Geh nach Haus.' Dann geh' ich in die Mühle und geb' dem weißen Chef eine Tracht Prügel, wie er sie sein Lebtag noch nicht bekommen hat. Zwei andren Weißen dadrin, denen passte das nicht, da musst' ich sie auch verprügeln. Dann rannten sie nach einer Pistole, die musst' ich ihnen noch wegnehmen. Dann komm' ich wieder nach draußen, und Pappi steht immer noch da, und nun weint er ganz richtig, und er sagt zu mir: ,Mein Gott, o mein kleiner Gott Jesus, sei uns gnädig, was hast du jetzt angestellt?' ,Ich hab' die Weißen da verprügelt', sag' ich ihm, und dann fährt er mich in die Stadt und haut jeden Zoll des ganzen Weges auf die Maultiere ein. Sie versteckten mich unterm Haus meiner Tante, und da bleib' ich zwei Tage und zwei Nächte, derweil die ganze verdammte Gegend mit dem Staubkamm nach mir durchgekämmt wird. Dann schnapp' ich einen Güterzug, der nach Norden fährt, und seitdem bin ich nie wieder in Mississippi gewesen."
Butlers Sicherheit kehrte zurück. Er schnickte die Zigarette auf den Bürgersteig und sagte: „Schau, Joey, ich muss nach Haus."
„Klar — klar. Ich fing grad damit an, dir zu erzählen, wie ich dazu kam, in die Partei einzutreten, weiter nichts. Zwei, drei Jahre schlag' ich mich herum, überall eben, tu Niggerarbeit: Toiletten reinemachen, Kneipen fegen, Schuhe putzen, Geschirr abwaschen - und dann gibt's nicht mal mehr das. Es gibt überhaupt keine Arbeit, kein liebes bisschen. In dieser ganzen Zeit hab' ich eine Wut auf die Weißen im Herzen, die wie 'n Krebsgeschwür eitert und sich vom Herzen aus überall in mir verbreitet und mich zum Tier macht anstatt zu 'nem wirklichen Menschen.
Dann bin ich in Pittsburgh, und damals, einunddreißig, war es eine schlimme Stadt. Da treff' ich einen Weißen, der sich bemüht, die Arbeitslosen zu organisieren. Er bezahlt mir ein Essen. Ich hatte noch nie mit 'nem Weißen zusammen gegessen, aber ich war entsetzlich hungrig. Wir gehen in ein Restaurant, und man versucht uns rauszuwerfen, aber er fängt 'ne kolossale Schlägerei an, dieser Weiße. Schließlich landen wir im Loch, aber am nächsten Tag schmeißt man uns raus, das Loch ist so verdammt voll. Der Weiße erzählt mir, dass eine Demonstration stattfindet, und ich geh' mit ihm hin, und ich wart' immer drauf, dass er Schluss macht, aber er macht nicht Schluss. Er geht mit mir auf eine Art um, wie noch kein Weißer je zuvor mit mir umgegangen ist. Wir gehen also in der Demonstration, mit großen Plakaten, die zur Solidarität auffordern, vielleicht vierzig-, fünfzigtausend Leute; dann kommen die Bullen dazwischen, und ich weiß meinen Kopf noch nicht recht zu gebrauchen, so dass ich 'ne scheußliche Tracht Prügel bekomme und zurück ins Loch. Derselbe Weiße kommt mit Rechtsanwälten an, und nachdem mich die Bullen noch 'n bisschen verwalkt haben, lassen sie mich laufen. Ich wart' immer noch drauf, dass er Schluss macht, und ich trau ihm immer noch nicht, aber nach und nach ändert er das. Er bringt mir was bei. Hatte nie 'nen Tag Schule in meinem Leben gehabt, aber er unterrichtet mich, und langsam krieg' ich 'ne neue Auffassung von den Dingen, warum sie sind, was sie sind, und anstatt in einer Welt von Hass und Mord zu leben, hab' ich einen Bruder in jedem Mann, der arbeitet. Ich fang' an zu verstehen, dass der Hass gegen den schwarzen Menschen nur ein Mittel ist, und was für ein armer Narr der Mensch ist, der sich durch dieses Mittel missbrauchen lässt. Dann tret' ich in die Partei ein. Das ist fünfzehn Jahre her, und die Partei ist meine Mutter und meine Schwester und mein Bruder und mein ganzes gottverdammtes Leben, weil kein Mensch ein Engel oder Heiliger ist, und es gibt gute Menschen und schlechte Menschen, aber in der Partei sind, wie Jesus sagt, alle Menschen Brüder, und ich hab' gesehen, wie sich die Weißen und die Schwarzen die Hand gaben und sogar füreinander starben." Er holte tief Atem und fuhr dann fort: „Ich erzähl' dir das alles bloß, Freddy, damit du weißt, wie's kommt, dass ich dich nicht umbring'. Da liegt nämlich kein Sinn drin", sagte er sanft, beinahe traurig. „Es hat keinen Sinn, einen so kleinen Schmutzfleck auszuradieren. Gab' mir bloß Befriedigung, weiter nichts, aber ich komm' ohne diese Art von Befriedigung aus." Er spreizte seine großen, langfingrigen Hände: „Ich könnt' dich zerdrücken, wie ich ein Kücken mit einem Fleck auf der Haut zerdrücke - also was? Es käm' nichts Gutes dabei raus. Geh nach Haus, Freddy Butler. Hol deine Frau und deine kleinen Kinder, Gott helf ihnen, und fahr mit dem Milchzug. Komm nie zurück."
1
Während die Nacht noch säumte, erwachte Max Goldstein, der nur stoßweise geschlafen hatte, mit jener klaren und quälenden Endgültigkeit, die das Ende des Schlafs anzeigt, bewegte seinen gewaltigen Leib und versuchte, in der grauenden Dunkelheit die Zeiger seiner Uhr zu erkennen. Schließlich musste er ein Streichholz anstecken, das er mit der gewölbten Hand schützte, und er sah, dass die Zeiger auf ein oder zwei Minuten nach sechs standen, eine Zeit, die ihn eine einsame, unheilige und kummervolle Stunde dünkte. Im selben kurzen Schein des Streichholzes erhaschte er einen Schimmer des Gesichts seiner Frau, von Haar umrahmt, das noch immer blond war; es war in diesem Augenblick das Gesicht eines Kindes, und ihr Schlaf war so friedlich und gelöst, dass er jeden Gedanken, sie zu wecken, sogleich verwarf. Deshalb kämpfte er mit seinem Elefantenkörper und schob ihn so leise und sanft aus dem Bett, wie er nur konnte. Einen langen Augenblick saß er mit Magenschmerzen da, die von spätem Schlafengehen und frühem Aufstehen kommen, hätschelte sie, kraxelte dann auf die Füße und watschelte ins Badezimmer.
Er besah sich im Spiegel mit der gleichen ziemlich eklen Neugier, die zum Vorspiel des Rasierens gehörte, so lange er sich erinnern konnte, und frönte jenem kurzen Augenblick der Kontemplation, wo ein Mann sich von außen betrachtet. Das große, fleischige, ziemlich grobe, bartbeschattete Gesicht brach in ein Lächeln aus, teils zynisch, teils hilflos; dann tuschte Schaum es zu einem Clowngesicht, die knollige Nase stach aus kleinen Seifenbergen hervor, von denen sich Stücke in den zottigen Augenbrauen verfingen, und die blassblauen Augen runzelten sich in wortloser Frage. Als er sich zu rasieren begann, fiel Max Goldstein ein, dass viele der Übel dieser Welt nicht so sehr aus einem Mangel an Einsicht als aus einem Mangel an Humor herrührten, und er fragte sich, ob nicht sogar jener mürrische Mann Elliott Abbott die lächerliche Seite einer solchen Situation wie dieser sehen würde, dass der wohlbeleibte und altfränkische Rechtsanwalt Goldstein vor Tagesanbruch aufstand, um mit einem Haufen Streikposten den Concordweg hinauf zum Werk zu marschieren. In den sieben Jahren, seit er der Kommunistischen Partei beigetreten war, war dies tatsächlich der erste Schritt des physischen Mitkämpfens, den er sich erlaubte, und er war sich auch jetzt nicht ganz klar, warum er eigentlich zu diesem Entschluss gekommen war. Während seiner langsamen Toilette grübelte er darüber nach, warum ein Mensch die Dinge tut, die er tut, mögen sie groß oder klein sein, und er überdachte sein eignes Verhältnis zu einer Organisation, die für sich allein mehr Schmähungen als jede andere seit Menschenbeginn geerntet hatte — ausgenommen vielleicht das Christentum.
Sein Heroismus gehörte der tiefen Vergangenheit an. Vor achtundzwanzig Jahren war er ein großer Kriegsheld gewesen, aber er erinnerte sich kaum an etwas, ausgenommen die Musikkapelle, die ihn vom Bahnhof abholte, als er heimkam, und der harte, jugendliche Kern war seit langer Zeit in hundert Pfund Fett verschwunden. Die Vernunft blieb; in jenen alten, vergangenen Tagen hatte er unter Männern gelernt, die im höchsten Grade vernünftig und schon damals Bannerträger waren, geschnitzt aus dem zähen Holz der Republik. Das Prinzip „Ihr sollt das Rechte erkennen und es tun, und allen Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen", war etwas, an das er sich klammerte, wie ein Kind sich an seine Mutter klammert, und es hatte ihn Schritt für Schritt zu einer Gruppe von Menschen geführt, denen er manchmal sehr kritisch, manchmal nachsichtig und manchmal bitterlich bewundernd gegenüberstand. In sich selbst entdeckte er nichts von dem Stoff, aus dem Märtyrer gemacht werden, und Gewalttätigkeit hasste er mit einem tiefen, philosophischen und uralten Hass. Doch gleicherweise verabscheute er die endlosen Schlagzeilen, die ihn aufklärten, dass er ein russischer Agent, ein umstürzlerisches Element, eine bärtige Ratte, ein bösartiges Geschwür am Körper der Gesellschaft wäre, die ihm den Lebensunterhalt gegeben hatte. Er wusste, was er war; er war ein fetter Rechtsanwalt gegen Ende seines mittleren Alters; ein fauler Bursche, der von zu wenigen seiner Klienten Rechnungen einzog, ein unersättlicher Leser Spinozas, Voltaires und A.Conan Doyles; der Sohn eines eingewanderten Juden, der mehr Yankee geworden war als die meisten Produkte von zehn Generationen neuenglischer Vorfahren; ein Klatschmaul, ein kleinstädtischer, etwas eingerosteter Weiser und ein psychopathischer Damespieler. Alles das war er, und nichts davon, wie er sich vor Augen hielt, gehörte zu den Dingen, die vorbehaltlose Bewunderung beanspruchen.
2
Als er die Haustür hinter sich schloss, dachte Max Goldstein daran, wie lange es her war, dass er das Haus zu solcher Stunde verlassen hatte, und er dachte um so mehr in der sonnenlosen, schneidenden Kälte eines Dezembermorgens daran; an sich nur eine kleine Abweichung vom normalen Lauf der Dinge, bedeutete sie ihm beinahe ein Abenteuer. In den leeren, verlassenen Sonntagsstraßen sah er bloß den Wagen des Milchmannes, der von seiner Runde nach Hause fuhr, und vernahm als einzigen Laut das Klick-Klack der Pferdehufe. Es geht kein Wind in dem Augenblick, da die Nacht geendet und der Tag noch nicht begonnen hat — die Legende behauptet es jedenfalls -, und die Luft ist kalt und schwer und müde von kalter Finsternis.
Goldstein hatte sich in einen alpakagefütterten langen Mantel gehüllt; er trug ein Tuch um den Hals und eine Jagdmütze auf dem Kopf, deren Ohrenklappen fest geschlossen waren. Wenn ihn jemand gesehen hätte, würde er an einen intelligenten, wohldressierten Bären gedacht haben, und wie ein Bär stampfte er auch langsam bis an die Ecke und dann die drei Häuserblöcke zum Hause Elliott Abbotts hinunter. Es brannte Licht in dem alten Schindelhaus, trotzdem drückte er einfältig auf die Klingel und machte ein entschuldigendes Gesicht, als Frances Colby ihm öffnete. „Es ist früh", sagte er albern, „es ist sehr früh, nicht wahr?"
„Sechs Uhr fünfundvierzig."
„Ich glaubte, es wäre ein bisschen später."
„Es ist genau sechs Uhr fünfundvierzig", sagte sie nachdrücklich. Sie hatte einen Morgenrock an und war in keiner guten Stimmung.
„Ich dachte, ich käme zum Kaffeetrinken herum. Liz schläft noch."
„Schön, kommen Sie herein", sagte sie. „Stehen Sie nicht den ganzen Morgen da. Kommen Sie herein." Sie führte ihn in die Küche, wo Abbott, seine Frau und Mike Sawyer saßen, Kaffee tranken und Waffeln mit Sirup aßen. Abbott grinste, als er Goldstein sah, und sagte: „Guten Morgen, Max", und Goldstein lächelte dümmlich zurück. Auch die anderen sagten guten Morgen, und Ruth stand auf und setzte Goldstein ein Gedeck hin, während Frances Colby Teig ins Eisen goss.
„Möchtest du Orangensaft?" fragte Ruth.
„Nur Kaffee. Morgens habe ich meist keinen Appetit. Ich glaube, ich könnte wohl ein oder zwei Waffeln essen. Es ist gut, wenn man etwas im Magen hat, was, Doktor?"
„Manche behaupten es", lächelte Abbott. „Wie du halte ich es für bloß akademisch. Hast du der Legalität den Rücken gekehrt?"
„Ich konnte nicht schlafen", antwortete Goldstein unbehaglich.
„Das wundert mich nicht. Wahrscheinlich hast du Blähungen gehabt."
„Nein - ich war nur ins Nachdenken geraten. Ich musste daran denken, dass ich über eine Sache nie hinwegkommen werde, meine Sehnsucht nach dem Richteramt. Und sei es etwas wie Oberfriedensrichter. Ich war einmal ein guter Jurist."
„Du gehst mit, Max?"
„Ich denke", nickte Goldstein kläglich und begoss sorgfältig die Waffeln, die France vor ihn hinstellte, dick mit Sirup. „Du weißt, Helden werden gemacht, nicht geboren. Es ist wohl fünf Jahre her, dass ich morgens so früh aufgestanden bin; für mich ist das ein Unternehmen von einigem Ausmaß, und ich komme mir in diesem Augenblick albern vor. Ich glaube nicht, dass es viel Sinn hat. Aber Elliott verzeiht niemals einem, der nicht tut, was nach seiner Auffassung sich zu tun gehört. Die Waffeln sind sehr gut", sagte er zu Frances Colby. „Elliott hat kühles und altes puritanisches Blut in seinen Adern. Er ist auch ein Asket, was ihn... "
„Du redest wieder verdammten Unsinn", unterbrach ihn Ruth. „Max, Elliott war gar nicht böse auf dich."
„Ich selbst bin böse auf mich", murmelte Goldstein durch einen Mund voll Pfannkuchen. „Ich bin zu alt und zu fett für Kriege, Märsche und Gegenmärsche. Es war mein eigner verehrter Vorfahr Bar Kochba, der gesagt hat ,Schart die jungen Männer um mich, jene von kühner Miene und tapferer Haltung, und ich werde sie zu einem gewaltigen Schwert der Freiheit schmieden.' Ob Jude oder nicht, ich hätte während dieser vergangenen fünfzehn Jahre die Geschäfte des alten Lowell haben können, und vor zehn Jahren noch wäre es nicht so phantastisch wie heute gewesen, einen jüdischen Gouverneur für Massachusetts in Erwägung zu ziehen. Ich beklage mich nicht, ich stelle nur Betrachtungen an. Für den jungen Sawyer hier ist es alltäglich, den Concordweg hinaufzustapfen; für mich ist es ein Abenteuer, an dem Cervantes seine Freude gehabt hätte."
„Warum hörst du nicht auf, so viel zu reden, und frühstückst lieber zu Ende?" sagte Ruth.
3
Es tat Joe Santana gut, die Leute zu beobachten, obgleich sie anfangs nur langsam herankamen. Viele von ihnen besuchten die Frühmesse, und diese begannen erst lange nach acht Uhr sich an den Suppenküchen zu versammeln. Andere gingen zum Gewerkschaftshaus anstatt zu ihrer Suppenküche, so dass gegen halb neun wenigstens sieben- oder achthundert Leute an der Ecke Eichenstraße und Vierte Avenue wartend herumstanden. Joe selbst war schon sehr früh zu Sam Saropoles hinübergegangen und half Sam, Kaffee zu kochen und Toast zu machen, wofür es viele Abnehmer gab, als die Messe zu Ende war. Die Küche wurde gerammelt voll, und es war ein ständiges Kommen und Gehen; das Brot ging ihnen aus, sie brachen ihre Pfannkuchen und Kuchen an, die ebenfalls alle wurden, und rückten dann eine Kiste Zwieback heraus, die ein Kaufmann aus Taunton gestiftet hatte. „Bei Gott", beklagte sich Saropoles bitter, „eins ist an diesem O'Malley dran, er macht den Leuten todsicher Appetit. Hat man die Kirche nicht auf die eine Art am Halse, dann eben auf eine andre Art." „Es ist die Nervosität, die ihnen Appetit macht", sagte Joe. „Damit muss man rechnen." „Hast du damit gerechnet, dass sie uns die Rationen einer ganzen Woche auffressen, wenn sie einmal Massenstreikposten aufstellen?"
Die Sonne ging in einem eisigen, metallischen Glanz auf, und die Glocken der protestantischen Episkopalkirche, die ganz weit im Osten auf der andern Seite der Stadt lag, begannen die liebliche Melodie der Glocken von St. Marien zu spielen. Es war ein seltsamer und ungewöhnlicher Sonntagmorgen für Clarkton, mit so vielen Menschen auf der Straße, so vielen Ansammlungen hier und da, mehr Menschen, als die Stadt überhaupt fassen zu können schien; und durch sie hindurch und unter ihnen bewegten sich jene Einwohner, die nicht im Werk arbeiteten, und dazu einige, die dort arbeiteten, aber in ihren Sonntagskleidern zur Kirche gingen; und nicht ein Polizist war zu sehen, außer dem einen Funkwagen, den Jack Curzon langsam hin und zurück durch die Straßen kreuzen ließ. Hunderte von Kindern waren da, die aus den Federn gekrochen waren, um das Schauspiel zu sehen, und machten einen großen Festtag daraus. Ein ganzer Trupp junger Arbeiter, die Kriegsteilnehmer waren, war in Uniform gekommen, sie trugen ihre eigene Fahne und ein großes Transparent, das lautete: Wir sind da — und wenn es schlimmer kommt als Anzio, Tarawa und die Normandiel
Um viertel vor neun hielt Danny Ryan, der Renoirs alte 1931er Fordlimousine fuhr, vor der Küche von Saropoles, drängte sich hinein und sagte zu dem Griechen: „Die ganze Geschichte ist fix und fertig, so dass wir losgehen können. An der Ecke Eichen und Vierte haben wir mehr als tausend Leute. Warum also schickst du nicht deine Abteilung hinauf? Dann ziehen wir von da los und geben Curzon eine geringere Chance, uns auseinanderzuhauen."
„Ich hab' nicht einen einzigen Bullen gesehen", sagte Saropoles. „Ich denke, dass sie uns verdammt kein bisschen Scherereien machen werden, Danny."
„Schön, denk nicht zu scharf, Sam. Verteufelt sicher ist ein Haufen von ihnen oben am Werk."
Währenddessen beschäftigte sich Noska im Gewerkschaftsbüro mit der Presse. Der junge Jimmy Campbell vom Clarktoner Minuteman war da, ebenso zwei Berichterstatter aus Worcester, die beide mit dem Frühzug gekommen waren, der eine von den Times und der andere, der AP-Mann (Anm.: Associated Press — große Nachrichtenagentur), um die Gelegenheit auf ein Telefongespräch hin wahrzunehmen, das Betty Sullivan, die Propagandistin der Gewerkschaft, mit ihnen geführt hatte. David Broom, ein Buchhalter aus Clarkton, der für zwei Radiogesellschaften auf Zeilenhonorar arbeitete, war gleichfalls da. Das kleine Büro war gestopft voll, und die Reporter feuerten unaufhörlich auf Noska ihre Fragen ab - ein Verfahren, das sie nach dem Vorbild in Film und Buch für erforderlich hielten. Bill Noska sagte
immer wieder:
„Es wird nichts geschehen. Es ist ein Eingriff in unser einfaches gesetzliches Recht, Streikposten zu stehen. Wir haben vor, Streikposten zu stehen, weiter nichts."
„Aber was ist mit der Menge draußen los?"
„Wir haben das Recht, uns in Massen zu versammeln", sagte Noska langsam und halsstarrig und kaute jedes Wort.
„Was halten Sie von Tom Wilsons Bezichtigung, dass die ganze Geschichte von den Kommunisten angedreht sei?"
Noska kaute immer noch die Worte, als er sagte: „Wenn Tom Wilson glaubt, ich sei nicht der Vorsitzende der Gewerkschaft oder ich leite sie verkehrt oder ich lasse mich von einem Haufen Roter umherstupsen, und wenn er das sagt, dann ist er ein dreckiger Lügner."
4
Bei den Lowells herrschte an diesem Sonntagmorgen eine Stimmung ruhiger Förmlichkeit. Als sich Lowell rasiert und geduscht und angezogen hatte, fühlte er sich besser und sauberer und wenigstens einigermaßen in der Verfassung, den Problemen die Stirn zu bieten, denen er sich stellen musste, und er brachte es sogar fertig, die kühle Reserviertheit in Ferns Benehmen hinzunehmen. Bis zu einem gewissen Grade fühlte er sich seit einer Reihe von Tagen besser, etwas müde zwar, aber doch besser. Seine Frau und Tochter saßen bereits da, als er in das Gewehrzimmer herunterkam, und er vermochte zu sagen:
„Guten Morgen, Fern. Guten Morgen, Lois."
Fern antwortete nicht, aber Lois sagte: „Hallo, George", ganz wie immer, und er war erlöst, als er merkte, dass Lois vernünftig war, dass ihm keine Szene bevorstand und sie sich wieder wie zivilisierte menschliche Wesen benehmen konnten. Er hatte noch leichte Kopfschmerzen, aber er hatte etwas Aspirin dagegen genommen, und nun würden sie wohl bald weggehen. Er trank seinen Orangensaft, goss sich Kaffee ein und sagte etwas über das Wetter.
„Ich weiß, wie du über die Kirche denkst", sagte Lois, „aber es ist Gedächtnisgottesdienst für Pearl Harbor, und ich habe die Patenschaft dafür ... "
„Wenn du wünschst, dass ich mitgehe, tue ich's", nickte er. „Es sollen ein paar Gedächtnistafeln enthüllt werden, und eine davon ist für Clark."
„Ich gehe nicht mit", sagte Fern.
Lowell fühlte sich erhaben und weise und leicht bekümmert wegen der beiden, und er sagte sich, dass er nicht gewillt wäre, Lois je wieder verletzt zu sehen. Er begann wirklich zu akzeptieren, dass sich eine Lösung der Affäre ohne Scheidung und Trennung ergeben würde; im Abstand eines Tages war ihm klar, dass sie sich von anderen Zwischenfällen, die sich ereignet hatten, nicht so sehr unterschied, dass es immer eine Lösung gab, und dass es auch jetzt eine geben würde. „Du musst mitkommen, Fern", sagte er freundlich zu ihr. „Ich weiß, wie schwer es dir fällt."
„Das weißt du nicht." Aber darüber hinaus ging sie nicht. Ein gewisser Ernst befiel alle, und sie beendeten ihr Frühstück, ohne mehr als knapp einige Worte zu sprechen. Nach dem Frühstück ging Lois ins Wohnzimmer, und als Lowell ihr dahin folgte, sah er, dass sie ein wenig geweint hatte. Sie tupfte sich die Augen, als er sie um die Hüfte nahm; und als er sie küsste - mit dem Gefühl, dass jede Bewegung seines Körpers, seiner Arme und Lippen überlegt und sorgfältig gelenkt werden müsste -, flüsterte sie: „Was für schlimme Dinge du doch tun kannst, George." „Ich weiß", sagte er, „Ich will nicht daran denken, George." „Ich weiß", sagte er. Fern wartete schließlich auf sie; sie stiegen in den Wagen, Lois steuerte, und Lowell sah sie mit dem betäubten und hoffnungslosen Gefühl an, zurückgekehrt zu sein, wieder bei sich selbst zu sein, und wusste zugleich, dass es gar nicht anders sein konnte. Lois vermied die Stadt und schwang in einem Bogen die alte Chaussee entlang. Als sie zur Kirche kamen, war der Parkplatz bereits voll, und drinnen hatte Hochwürden Ellis Whitford eben seine Predigt begonnen. Verlegen glitten sie in ihren Sitz, und fast augenblicklich nahm Lowells Gesicht den steifen, leeren und etwas einfältigen Ausdruck an, den er für die nicht allzu häufigen Gelegenheiten, wo er im Hause des Herrn saß, reservierte. Er hatte einen Hass auf die Kirche, den er sich nie völlig eingestand, den er nie ganz in die oberen, bewussten Sphären seines Geistes einließ. Er war ein Komplex aus Kindheit, Geburt und Tod, aus gestaltlosen Ängsten und dumpfen Gerüchen, aus der Form des blumenflankierten Sarges bei Begräbnisfeiern, aus dem weiten Raum des gemalten Glasfensters über der Kanzel, aus den mächtigen Damenhüten, die ihm in den Tagen seiner Kindheit alle Sicht versperrten, und aus der Vorstellung Gottes, des majestätischen, bärtigen, maskulinen und schwer mit Muskeln bepackten Gottes, den in solch prächtigen Farben die Laterna magica in der Sonntagsschule seiner Knabenzeit schilderte. In der Seelenruhe des gesunden Menschenverstandes vermochte er dieses Bild zu verdrängen und es durch einen formlosen und zaghaften Begriff der Huld zu ersetzen, die Unsterblichkeit erzeugte, eine geschlechtslose, schwebende, gestaltlose Unsterblichkeit, die der Auslöschung ihre Unerbittlichkeit und weiter nichts nahm. Aber hier in der Kirche — ganz gleich, wieviele Jahre auch vergingen — kehrte ihm der Gott Israels, der Gott Mosis, Michelangelos, Oliver Cromwells, Gouverneur Winthrops, der Gott der Gerechtigkeit und des strengen Eifers zurück, um ihn zu quälen und zu peinigen. Sein Gegenmittel war, in eine erhabene und ehrwürdige Betäubung zu verfallen, in eine Starre, die beinahe völlig leer von Gedanken war, darin er Worte vernahm, ohne ihren Sinn zu begreifen. Damen, die ihn so sahen, straff aufgerichtet, so gespannt und hübsch und mager, beneideten Lois und bedauerten ihn wegen des Verlustes Clarks und der Abtrünnigkeit Ferns. Hochwürden Whitford, ein kleiner, quabbeliger Herr von ernsthaftem Wesen und tiefer Stimme, der den Eintritt der Lowells bemerkt hatte — die Kirche war klein —, empfand sehr stark ebenso und verweilte bei der Frage des Opfers.
„Der Große Befreier", sagte er, „war ein einmaliges Beispiel, und eine göttliche Manifestation des Menschen im Bilde Gottes, ein Gesicht, das von den Sorgen aller Menschheit gefurcht, eine Seele, die süß von allen Inbegriffen unsterblichen Lebens war.
Wir sollten uns um die volle Bedeutung seiner Worte bemühen, als er von jenen ehrwürdigen Toten sprach, die nicht vergebens sterben. Wird es nicht von so vielen - von jenen, die in New York die Übergescheiten genannt werden — als abgedroschene Phrase, als erbauliche Predigt betrachtet, wenn wir uns erinnern, dass nicht der kleinste Sperling auf die Erde fällt und im Fallen dem gesegneten Blick unseres Gottes und seines gütigen Sohnes Jesus Christus, unseres Erlösers, entgeht? Das ist Tatsache, aber ich für mein Teil habe keine Angst vor Klischees und Moralsprüchen, vor den guten Worten, die meine Großmutter und meine Urgroßmutter auf dieser geheiligten alten Erde Neu-Englands gesprochen haben. Ich bin nicht übergescheit, und ich sage Gott sei Dank dazu. Ich habe den Glauben an meinen Gott, an Seine Allgegenwart und an Seine Allmacht noch nicht verloren. Das sind gewaltige Worte für einen gewaltigen Gedanken. In den alten Zeiten, als die Menschen noch Heiden und unerlöst waren, wurden auf Götzenaltären blutige Opfer dargebracht, aber ein Opfer kann süß wie Honig vor den Augen des Herrn unseres Gottes sein. Wie steht es mit jenen ehrwürdigen Toten, die das Äußerste gaben, was Menschen geben können? Sollen sie unbelohnt bleiben? Müssen wir den kalten, so genannten wissenschaftlichen Erkenntnissen von heute Glauben schenken?" Hochwürden Whitford hielt inne und sah ernst und forschend von Gesicht zu Gesicht; er begegnete den Augen George Lowells, verweilte einen Augenblick bei ihnen, erforschte sie und glitt dann weiter; er erinnerte sich dabei der Altweibergeschichte, wie George Washington bald nach seiner Amtseinführung in die Kirche ging und von dem Pastor so gründlich abgekanzelt wurde, dass er nie wieder hinging. So gab Hochwürden Whitford nur einen Augenblick für die Wirkung seiner Worte zu und fuhr fort, während ein starker Ton der Verachtung in seine Stimme kam: „Indes, ich erinnere mich an einen aus meiner Herde, der zu mir kam - nein, ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen, indem ich seinen Namen nenne, das muss er zwischen sich und seinem Gott abmachen -, der also zu mir kam und von einem, der dahingeschieden war, sagte: ,Wie wird er auferstehen, Hochwürden? Als Kind, als Jüngling, als Mann, ausgemergelt und mager vor Krankheit, nackt oder bekleidet?' Nein, das war keine aufrichtige Frage, aber sie verdient eine Antwort. Wie billig und wie kindisch ist solcher Zynismus, und wie typisch für die schlechtesten Elemente unseres heutigen Zeitalters! Ein naives Kind würde die Tatsache begreifen und anerkennen, dass ER, der uns aus Staub und Wasser geschaffen hat, diejenigen, die den Glauben haben, auch wieder aus dem Staub erheben kann. Es ist der Glaube, der Opfer erzeugt, und es ist der Glaube, der Opfer belohnt. Als die Flugzeuge der gelben Horden über Pearl Harbor kamen, war es der Glaube, der die Menschheit rettete. Und es war der Glaube... " Lowell hatte es aufgegeben, zuzuhören. Wenn man ihn plötzlich gefragt hätte, würde er in der Lage gewesen sein, die letzten zehn Wörter zu wiederholen, aber es würde ihn längere Zeit gekostet haben, ihren Sinn zusammenzuklauben. Er saß am Ende des Kirchenstuhls, die Augen niedergeschlagen, und beobachtete das hübsche Spiel und Gegenspiel seiner Finger, während er sie bewegte, und stellte fest, wie die gespannten Sehnen die Adern hervortreten ließen.
5
Er erwachte zur Wirklichkeit und zur Welt, in der er lebte, als er merkte, dass sich Tom Wilson in den Sitz neben ihm drängte, ein aufgeregter, atemloser Wilson, der heiser flüsterte:
„George, es hat Krawall gegeben. Wir hatten einen Zusammenstoß am Werk."
„Werk?"
„Ich muss draußen mit Ihnen sprechen, George."
„Wenn es vorbei ist", sagte Lowell. „Seien Sie doch kein blöder Narr!"
Man zischte um Ruhe, es raschelte in der Reihe vor und in der Reihe hinter ihm. „George", ermahnte ihn Lois.
„Ich muss Sie sprechen", flüsterte Wilson.
„Das kann warten."
„Es kann nicht warten. Ich sage Ihnen, der Teufel ist los,
George."
„Ich kann jetzt nicht weg. Seien Sie doch kein solch blöder Narr, Wilson. Begreifen Sie denn nicht, dass ich jetzt nicht einfach aufstehen und hier hinausgehen kann?"
„George, ich sage Ihnen, es ist eine Sache auf Leben und Tod. Würde ich sonst so in die Kirche kommen?" verteidigte sich Wilson. „Ich bin selbst Kirchgänger. Würde ich mich sonst so in der Kirche benehmen?" Wilson nahm ein Taschentuch heraus und wischte sich das rote, schwitzende Gesicht. Er hatte den Mantel anbehalten und knetete dauernd an seinem Hut herum, drückte ihn nach und nach aus der Form, attackierte ihn mit all der grimmigen, nervösen Energie, die er in Worten nicht ausdrücken konnte. Und währenddessen ging die Predigt weiter, der tiefe, sich hebende und senkende Töneschwall. Lowell sah hilflos auf seine Frau; dann stand er unvermittelt auf, schob Wilson vor sich her, folgte seinem Werkdirektor das Schiff hinunter durch die schwere Eichentür und weiter eine Reihe von Stufen hinab zur Herrentoilette. Dort, in der unbefleckten weißgekachelten Sauberkeit, die Lowell selbst durch eine fürstliche Stiftung von zehntausend Dollar für Einrichtung, Reparatur und Verbesserung installiert hatte, brach sein Zorn los:
„Von allen blödsinnigen Dummheiten, Tom, ist dies die Höhe!" „Bitte — bitte, George. Bitte, hören Sie mich an, George." „Ich höre. Legen Sie los." „Wir hatten einen Krawall oben am Werk. Zwei Leute sind tot."
„Was?"
„Jawohl, George", nickte Wilson jämmerlich und lehnte seinen schweren Leib gegen ein Becken. „Jawohl, George", wiederholte er.
„Wieso? Was ist passiert? Wer ist tot - können Sie denn nicht
sprechen?"
Wilson schüttelte wehleidig den Kopf. „Ich habe nicht eingegriffen, George. Ich bin die halbe Nacht aufgewesen, und ich habe eben nicht eingegriffen."
„Wer ist tot?"
„Ein Bursche namens Jack Lamar - arbeitet im Werk, und der Rechtsanwalt, Max Goldstein."
„Und das passierte am Werk? Wie, in Gottes Namen... "
„Jawohl. Es passierte am Werk, George. George, ich muss Wasser lassen. Sie müssen entschuldigen, George, ich muss Wasser lassen. Ich kann nichts dafür, George... " Er torkelte zum Pissbecken hinüber und stand da, während Lowells Welt um und um purzelte.
„Was passierte?" fragte Lowell. „Erzählen Sie mir einfach, was passierte."
„Man konnte nichts dagegen tun, George, es passierte eben. Sie hatten an die zweitausend Arbeiter und Leute aus der Stadt zusammengebracht, und sie marschierten zu der Wiese hinauf. Wir wussten, dass sie das tun würden, und Gelb ließ unsere Leute und Curzons Männer sie dort erwarten. Gelb sagte ihnen, dass sie vor den Verbotsschildern haltzumachen hätten, aber sie marschierten drauflos und drückten unsere Leute zurück, und als sie dann ungefähr halbwegs über die Wiese sind, schießt irgendein verdammter Idiot seine Pistole ab, und der Teufel ist los, und die Polizisten wurden, glaub' ich, verrückt. Zwei von Curzons Leuten wurden ziemlich schlimm verprügelt, und von der Menge wurden etwa zwanzig zerschlagen und angeschossen, und - na, zwei von ihnen sind tot."
„Was hatte denn Goldstein da zu tun?"
„Er war einer von den Commies", sagte Wilson, und seine Stimme klang lauter, als er sich umdrehte und seine Hose zuknöpfte. „Er hatte verdammt nichts dort zu suchen, George. Dieser feiste Hanswurst hatte verdammt überhaupt nichts dort zu suchen, George."
Lowell fühlte sich übel, schwach und müde und außerhalb des sicheren Geheges der Logik. Er setzte sich auf einen weißen Emailleschemel, hielt seinen Kopf in den Händen und versuchte zu begreifen, was ihm, seiner Frau, seiner Familie, seinem Besitz, seinen Hoffnungen, seiner Vergangenheit und Zukunft und seinen Träumen geschehen würde, wenn so etwas vorkam. Kläglich fragte er Wilson:
„Haben Sie mit Burton gesprochen? Was hält er davon? Wie steht es mit der rechtlichen Seite der Angelegenheit?"
„Das war das erste, was ich tat, Burton anzurufen", nickte Wilson und gewann aus Lowells Zusammenbruch neue Sicherheit. „Ich habe selbst mit Burton telefoniert. Er sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen. Er sagt, es gibt im ganzen Land kein Gericht, das gegen uns entscheiden würde. Ich wusste, dass Sie sich darüber Sorgen machen würden, und setzte ihm zu. Er sagte, er verpfände sein Renommee dafür, und er sagte, er wolle sofort den Gouverneur anrufen und ihm die Tatsachen aus erster Hand mitteilen."
„Ich begreife das mit Goldstein nicht... " „So etwas kommt vor", sagte Wilson. „Sie müssen sich zusammenreißen, George. Entweder ergreifen wir die Offensive und stehen die Geschichte durch, oder sie haut auf uns zurück". „Der andere Mann?"
„Lamar ist ein Kanadier, arbeitete auf der Verladebühne. Ein Dreckmaul und Stänkerer... " „Sind welche von den andern... schlimm... ?" „Nein, nein, keineswegs", beruhigte Wilson ihn. „War es Gelb, der... ?"
„Gelb kann man keinen Vorwurf machen", sagte Wilson. „So wahr mir Gott helfe, George, ich habe die ganze Geschichte gesehen. Gelb wollte sie sauber und anständig durchführen, aber diese verrückten Bankerte, die sich Curzon engagiert hat, nun, sie wurden einfach verrückt."
„Und was tun wir jetzt?" fragte Lowell trübe.
„Die Geschichte in die Hand nehmen. Gelb meint, jetzt wäre es an der Zeit, sie in die Hand zu nehmen und die losen Enden zusammenzubinden. Das ist etwas, was man bei solchen Dingen nicht gebrauchen kann - lose Enden."
„Ich kann nicht mit den Berichterstattern sprechen", sagte Lowell hoffnungslos. „Tom, ich möchte, dass Sie sich darum kümmern. Ich habe nicht einmal die Geschichte gesehen. Ich habe nichts gewusst. Mein Gott, Tom, wie zum Teufel konnten Sie und Gelb zulassen, dass eine solche Geschichte passiert? Wie bloß, in Gottes Namen?"
6
Elliott Abbott hatte vergessen, was Gewalttätigkeit war; Gewalttätigkeit ist, wie Schmerz, vergänglich von Natur, der menschliche Organismus verbannt sie aus dem Gedächtnis. Er hatte vergessen, wie es ist, wenn man jemand operiert und ein andrer und noch ein dritter bestimmen ungeduldig und haarscharf das Tempo und treiben einem die Finger an. Er hatte vergessen, wie tüchtig und rasch und vorwegnehmend seine Frau Ruth sein konnte, stets seiner Anweisung einen Schritt vorauf, so dass, wenn er ,Zange' denken musste, sie schon in seiner Hand sein würde, ehe das Wort noch ganz heraus war, oder wenn er ,Schwamm' murmeln musste, er es erst tat, wenn er ihn schon in seiner Hand und in der Wunde hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er nie ohne Angst operiert, ohne die Notwendigkeit, Angst zu überwinden, aber nie hatte er festgestellt, dass seine Frau dieses Gefühl teilte.
Diesmal war es wie das erste Mal 1937 in Spanien. Damals hatte er eine besondere Sache ausgetüftelt, nämlich die Idee eines Lastautos, eines großen Möbelwagens vom Typ White, der mit Operationstisch, Batterien, Lampen, Sterilisierapparat und dem ganzen Rest ausgerüstet war, eine phantastische rollende Anhäufung von Material. Er fuhr ihn selbst an die Front, Ruth saß neben ihm und verglich eine Inventarliste; beide waren besessen von dem Gedanken, irgend etwas von ausschlaggebender Wichtigkeit vergessen zu haben, aber er selbst war sich einer wachsenden Furcht bewusst, einer Furcht, die ihren Höhepunkt erreichte, als er zu operieren begann und die Granaten rings um den Wagen krepierten. Nachher fühlte er stets, dass ihn nur eine leidliche Selbstachtung hinsichtlich dessen, was seine Frau von ihm denken würde, über diesen Tag hinweggebracht hatte, ein Gefühl, das er auch jetzt empfand. Aber er konnte wenigstens arbeiten und brauchte nicht zu denken und nicht um Max Goldstein zu trauern, den er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, genau wie er Lowell sein ganzes Leben lang in diesen ruhigen, friedlichen Hügeln gekannt hatte, die sie erzeugt und ihnen Unterhalt gegeben hatten. Die am schwersten Verletzten hatten sie ins Gewerkschaftsheim gebracht, wo Abbott sie versorgte, bis Noska seinen Kampf um den Krankenwagen, der zusammen mit Curzons Wagen in der Polizeigarage stand, gewonnen hatte und sie ins Krankenhaus von Clarkton geschafft werden konnten. Brady, einer der andern Ärzte in der Stadt, tauchte schließlich ebenfalls auf, aber er kam erst, als die dringlichsten Fälle schon behandelt waren. Das Gewerkschaftsheim war das reine Tollhaus, gepackt voll von Arbeitern, Neugierigen, Journalisten, hysterischen Angehörigen der Verletzten, und nur Ryan und Renoir und der dicke Sam Saropoles mit einer Handvoll andrer kämpften für Ordnung und eine gewisse Organisation. Ryan, Tony Antonini und ein gewaltiger Schwede namens Jorgensson sperrten den großen Versammlungssaal ab und machten Betten aus den Platten der Esstische. Mike Sawyer war in Ryans kleinem Ford zurückgefahren, um Verbandmaterial zu besorgen, und irgendwie hatte er Bitterman, den Apotheker, aufgetrieben, so dass an Verbänden und Medizin kein Mangel war. So hatte zu der Zeit, als Brady ankam, fast eine volle Stunde, nachdem die Geschichte passiert war, Abbott die schlimmsten Wunden verbunden und den von Schmerzen Geplagten Linderung verschafft, und eine kleine Weile später drängte sich auch Noska herein, gefolgt von den Krankenträgern der Ambulanz, und sie brachten Lance Fragetti fort, der einen Schuss in die Weiche bekommen, und Martha Bruckman, die einen schlimmen komplizierten Armbruch davongetragen hatte.
7
Ryan nahm Bill Noska beiseite und sagte: „So schlimm die Dinge auch stehen, wir sollten zu Lamars hinübergehen. Sie haben ihn nach Haus gebracht."
„Ich kann hier nicht weg. Ich würde gern mitgehen, aber ich kann nicht weg."
„Was gedenkst du zu tun, Bill?"
„Ich wünsche, bei Gott, wir hätten einen Anwalt", sagte Noska unglücklich. „Von all den Leuten musste es gerade Max Goldstein sein. Warum zum Teufel blieb er nicht zu Haus?"
„Wir brauchen keinen Anwalt. Um Himmels willen, Bill, hier gibt es nur eins zu tun, sie von neuem sammeln und sie ans Tor zurückbefördern. Ich für meine Person sage, in den nächsten zwei Stunden werden wir den Streik gewinnen oder verlieren."
Noska schüttelte den Kopf. Es war schwierig für sie, miteinander zu sprechen, und schwierig für ihn zuzuhören. Jeder wollte an ihn herankommen. Sie saßen in seinem Büro, aber sie konnten die Leute nicht heraushalten.
„Bill, du musst es tun", sagte Ryan sanft und obenhin. „Du musst es tun. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn einer Schläge kriegt und haut nicht zurück, ist er unten durch."
„Sie werden nicht wollen."
„Warum versuchst du es nicht? Warum nimmst du dir nicht Jorgensson und den Griechen und gehst dort hinaus und redest mit ihnen?"
„Was zum Teufel kann ich denn sagen?"
„Einfach Leute für eine Streikpostenkette verlangen — weiter nichts."
Sie drängten sich nach außen und nahmen unterwegs noch andere mit. Noska kletterte auf das Geländer am Eingang, wartete auf Ruhe und gab dann in sehr wenigen Worten bekannt, dass er an das Osttor zurückginge und dass jeder, der Lust hätte, sich ihm anzuschließen, willkommen sein würde. Mit Ryan und Sam Saropoles marschierte er los. Etwa hundert von den Kriegsteilnehmern in Uniform schlossen sich ihm an und mehr als doppelt so viele Mädchen. Die Mädchen schafften es. Die Kriegsteilnehmer schämten sich und waren zornig, aber die Mädchen waren von einer Wut erfüllt, die nichts ähnelte, was sie je zuvor erlebt hatten. Die Mädchen schafften es, weil da die andern nicht beiseite stehen und Angst haben durften, und Noska, Ryan und Saropoles führten sie langsam die Eichenstraße entlang, am Polizeiamt vorbei und dann auf die Wiese. Dort waren noch immer einige von Curzons Leuten, gleichfalls einige von Gelbs Leuten, und der Plunder all der Schilder und Transparente lag noch herum, aber niemand hielt sie auf oder machte irgendeine Anstalt, sie aufzuhalten, und sie überschritten die Wiese, bis die unregelmäßige lange Kette unmittelbar vor dem Tor stand.
Niemand sprach sehr viel oder hatte Lust zu sprechen, und niemand lachte oder sang. Ryan blieb eine Weile, dann gingen er und der Grieche dahin zurück, wo Renoirs Ford abgestellt war, und fuhren zu Lamars Haus hinüber.
Lamars Familie wohnte in einer Mietetage in der langen Zeile roter Ziegelsteinhäuser, die dem Werk gehörten und die sich über dem Bach in der Vierten Avenue erhoben. Die Wohnung hatte eine Küche, ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer, aber Lamar hatte vier Kinder, und das ergab nicht gerade Behaglichkeit, und dazu war das Haus jetzt voller Menschen und Tränen. Sie hatten Lamar auf eines der Betten gelegt, und seine Frau und seine Schwester und seine alte Mutter saßen weinend daneben, und Pater O'Malley war da und wurde eben mit den letzten Zeremonien fertig, und andere Leute, Freunde und Verwandte, füllten die übrigen Räume, versuchten die Kinder herauszuhalten und sie zu trösten, und einige von ihnen redeten und einige schwiegen einfach. Ryan und Saropoles nickten verschiedenen Leuten zu, die sie kannten, sagten ein paar Worte und standen dann in der Küche, bis Pater O'Malley herauskam. Der Grieche nahm eins der kleinen Mädchen auf, ein schwarzhaariges, drei Jahre altes Kind, das wie ein Engel aussah, wiegte es in seinen Armen und brachte es fertig, seine Tränen zu stillen.
„Hallo, Ryan", sagte der Pfarrer, „das ist nicht der Tag des Herrn, den wir wollten, was?"
„Ein schwarzer Tag", sagte Ryan bitter.
„Ihr habt Sturm gewollt und habt Sturm geerntet, nicht wahr, Ryan?"
„Kein Mensch will Sturm, der nicht krank oder gemein ist", sagte der Grieche ruhig.
Der Pfarrer sah ihn an, schüttelte den Kopf und ging aus dem Zimmer hinaus. Ryan und Saropoles gingen zu der trauernden Familie.
8
In Frank Norman waren jetzt Furcht und Schrecken stärker als der flüchtige Triumph, der ihn verführt hatte, zusammen mit Curzons Leuten zu brüllen, bis er von der wilden Flucht, dem johlenden Haufen und dem Blut auf der Erde halb verrückt war. Als er zwei Stunden später in Tom Wilsons Büro saß, stellte er ein Bild der Niedergeschlagenheit dar, einer solch völligen Niedergeschlagenheit, dass er Gelb zum Lächeln brachte. Gelb war gerade hereingekommen, untadelhaft wie immer, gleich adrett gekleidet, den Schnurrbart aufs Haar genau geschnitten, die langen, männlichen Falten in den Wangen in klarer, kraftvoller Entschlossenheit um das viereckige Kinn gesammelt. Er verkörperte jene Verbindung von gutmütigem Selbstvertrauen und ruhiger Offenheit, die in fast jeder Situation so ungeheuer beruhigend sein kann, und als er sich eine Zigarre anzündete, schien er die tiefsten Abgründe der Seele Frank Normans zu erforschen. Einen langen
Augenblick sah er Norman abschätzend an, dann strich er das Zündholz für seine Zigarre an, tat mehrere tiefe Züge und ging hinüber ans Fenster. Mit dem Rücken zu Norman sagte er: „Na, da sind sie wieder am Tor."
Norman trat zu ihm, und beide beobachteten die sieben- oder achthundert Arbeiter, wie sie vor dem Osttor im Kreise herummarschierten.
„Was werden wir dagegen tun?" fragte Norman unsicher. „Im Augenblick nichts. Wir werden ihnen wieder eins versetzen - aber erst, wenn sie ihren Schwung verloren haben. Wenn sie glauben, sie hätten gewonnen. Was Sie tun müssen, Sohn, ist, Ihr Mädchen zu treffen und den Sonntag zu verbringen, wie er verbracht werden muss. Schütteln Sie dieses Nest aus Ihren Knochen. Wie ich höre, haben Lowells ein Haus oben in den Bergen. Bringen Sie sie dazu, dass sie Sie hinauffährt. Atmen Sie frische Luft. Und überlassen Sie mir die Plackerei."
„Ich habe einfach das Gefühl, dass wir die Geschichte verpatzt haben. Herr Leopold hat Vertrauen zu mir. Ich denke daran, wie er mir sagte, dass er von seinen Angestellten keine Fehler erwartete und dass die Firma keine Fehler entschuldigte."
„Nur Gott ist so vollkommen", sagte Gelb nachdenklich, „keineswegs aber Leopold und James." Dann fügte er hinzu: „Und manchmal zweifle ich auch an Gott." Er winkte mit seiner Zigarre nach der Streikpostenkette. „Mir ist nicht bewusst, dass wir einen Fehler gemacht haben, Frank. Die Commies nennen diese Sache Klassenkampf. Das muss man im Gedächtnis bewahren. Dies hier ist nur ein kleiner Teil eines Geplänkels — denken Sie an den ,Sitzkrieg', den man neununddreißig und vierzig in Frankreich führte. Ein Kanadier und ein Jude sind tot - nun, Juden sind schon früher gestorben, und Kanadier auch; sie werden es auch künftig tun, nehme ich an. Mit diesem Dezember geht ein ruhiges Jahr zu Ende, und da erscheint ein kleines Geplänkel wie dies hier als eine große Sache. Es ist keine große Sache, Frank. Es liegt eine Menge Vernunft in dem, was die Roten sagen, vorausgesetzt, man hat seinen eigenen Standpunkt. Ich habe das früher gesagt, und ich werde es wieder sagen. Die Zeit wird kommen, wo wir sie werden zerquetschen müssen" — er zerdrückte die Zigarre in seinen kräftigen Fingern -, „so, und wenn diese Zeit kommt, nun, Leopold und James sind Realisten. Wenn irgend etwas gesprochen werden muss, lassen Sie mich es tun. Einstweilen gebe ich noch die Befehle und Sie empfangen sie — verstanden?"
Norman nickte, und Gelb sagte: „Gehen Sie los und suchen Sie das Mädchen. Wie steht es mit Ihren Ausgaben?"
„Nicht schlimm", antwortete Norman, unfähig, der strotzenden Energie des älteren Mannes zu widerstehen. „Ich habe noch etwa zwanzig Dollar."
„Gut, wenden Sie sich nur an mich, wenn Sie knapp sind. Einstweilen will Lowell, dass wir noch hier bleiben. Das enttäuscht Sie doch nicht?"
„Nein, Herr. Ich habe diese Stadt gern."
„Was halten Sie davon, wenn wir heute abend zusammen essen? Es besteht keine Ursache, sich wegen heute zu zerreißen. Es wird heute nichts weiter passieren."
„Ja, Herr. Würde sieben Uhr im Hotel passend sein?"
„Sagen wir halb sieben. Und viel Glück und Hals- und Beinbruch."
9
Es war beinahe Mittag, bevor Abbott mit Ruth und Mike Sawyer in seinen Wagen steigen und vom Gewerkschaftsheim wegfahren konnte, und als Ruth ihn nach Frau Craigs Baby fragte, antwortete er, entweder hätte sie es allein gekriegt oder irgend jemand anders hätte es in die Welt befördert, und es gäbe nicht bloß Frau Craigs Baby, sondern auch noch die Patienten.
„Sie können warten, denke ich", sagte Ruth. „Ich möchte Liz Goldstein besuchen."
„Wohin hat man ihn gebracht?"
„Joe und ich brachten ihn runter zum Friseurladen", sagte Mike langsam. „Uns fiel keine andere Stelle ein. Wir wollten ihn nicht nach Hause bringen und seine Frau aufwecken und es ihr sagen."
„Jemand hat es ihr doch gesagt?"
„Hannah hat es getan."
„Dann fahr hinüber zum Friseurladen", sagte Ruth.
„Es musste also Max sein", sagte Abbott. „Wir stichelten und stachelten ihn, bis er mitgekommen ist. Er musste es sein."
„Es hätte auch irgend jemand anders sein können; jemand musste es sein", sagte Ruth.
„Wahrscheinlich. Aber es war nichts für Max. Es war keine Sache, die ihm lag. Er war nicht dafür geschaffen."
„Wer denn?" sagte Sawyer kurz.
„Keiner, glaube ich. Nur vermutet man es bei manchen Menschen, aber nicht bei Max Goldstein."
„Man vermutet es bei keinem", erinnerte ihn Ruth. „Man vermutet es nicht, Elliott, das ist das Ganze. Man kommt aus der Gewohnheit, es zu vermuten. Wenn wir es vermutet hätten, würde es bei Max keine Frage ,Willst du kommen oder willst du nicht kommen' gegeben haben. Max war ein sehr tapferer Mensch. Er war fett und träge und alt — ich meine nicht alt an Jahren, sondern alt, weil er sich den Kampf ausredete -, aber Angst hatte er vor nichts."
Sie kamen zum Friseurladen. Abbott und Ruth waren nicht verletzt worden, aber Mike Sawyer hatte von einem Polizeiknüppel eine Wucht über die Stirn bekommen, und jetzt war eine dicke Beule dort, und der ganze Kopf tat ihm weh. „Erinnere mich daran, dass ich dir drinnen etwas Anacin gebe", sagte Abbott. Ein kleiner Auflauf war vor dem Laden. Sie drängten sich hindurch, mussten aber erst an die Tür klopfen und warten, bis Joe Santana durch die heruntergelassene Jalousie geguckt hatte. Dann öffnete er ihnen die Tür und schloss sie hinter ihnen wieder ab.
Etwa ein Dutzend Menschen waren in dem Laden. Mit einem Frisiermantel bedeckt, lag Max Goldsteins Leichnam auf der langen Bank, auf der sonst Santanas Kunden saßen und auf ihre Rasuren und Haarschnitte warteten. Die Männer und Frauen im Laden hatten traurige Mienen und sahen gequält drein; aus dem Hinterzimmer drang das unaufhörliche und unbeherrschte Wehklagen einer Frau.
„Das ist Liz- Hannah ist bei ihr", erklärte Santana. „Ich habe sie da hinten reingesteckt und die Kinder zu ihrer Großmutter geschickt. Dann habe ich die Tür abgeschlossen, damit der Raum nicht wie ein Wagen der New Yorker Untergrund aussieht. Das hätte doch nichts genutzt, was? Jedenfalls kommt der ILD-Mann (Anm.: International Labor Defence - Internationale Rote Hilfe) herüber, und bis er hier ist, wollte ich alles so lassen. Er bringt Fotografen und noch eine ganze Kolonne mit, um die Zeugen zu vernehmen. Deshalb habe ich auch noch nicht den Leichenbestatter angerufen, und wenn Curzon den Leichnam will, wird er einen Kampf zu bestehen haben. Über Lamar weiß ich nicht Bescheid, aber ich stelle mir vor, Max würde von uns verlangen, dass wir seinen Leichnam Zoll für Zoll verteidigten." „Was für ein ILD-Mann?" fragte Abbott. „Dettinger aus Boston", sagte Sawyer. „Ich rief ihn etwa eine halbe Stunde, nachdem es passiert war, an, und er hat sich mit dem CIO-Vorstand in Verbindung gesetzt. Er hat ein Flugzeug gemietet und dürfte bald hier sein."
„Ihr würdet besser einmal hineingehen und nach Liz sehen", sagte Santana zum Doktor. „Sie ist völlig von Sinnen. Ich habe nie gedacht, dass sie ihn so nötig hätte. Es ist, als hätte man ihr jedes bisschen Boden glatt unter den Füßen weggeschossen." Joey Raye, der dabeistand, fügte hinzu: „Es ist furchtbar traurig, Doktor. Ich hab' noch nie eine Frau sich so anstellen sehen."
„Ich werde ihr etwas zur Beruhigung geben", stimmte Abbott zu.
„Das ist eine komische Sache mit Max", sagte Joe Santana.
„Hatte nie eine Familie und trieb sich immer umher und schlug seine Zeit hier und dort tot. Der reine Wanderphilosoph, wie man zu sagen pflegte, mit andern Worten, ein Bursche, den es juckte, wenn er zu Hause blieb. Aber diese Frau grämt sich zu Tode, wahrhaftigen Gotts."
„Red nicht so albern", sagte Ruth, als sie hineinging und Abbott ihr folgte. „Er ist ein Narr", sagte sie zu ihrem Mann. „Man kann mit Joe Santana die meiste Zeit auskommen, aber in einer Zeit wie dieser ist er unmöglich."
„Reg dich nicht auf", sagte Abbott weich. „Das ist nicht das Schlimmste, was wir gesehen haben oder sehen werden, nicht wahr, Ruth? Du lässt es dir zu nahe gehen. Nimm es leicht. Joe ist ein sehr feiner Bursche. Er ist ein prächtiger Bursche."
„Er ist ein Narr", sagte Ruth.
Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen. Abbott öffnete sie und trat ein, Ruth mit ihm. Die kleine blonde Frau auf dem Bett erkannte sie, unterbrach ihr klagendes Weinen und brachte die Worte heraus:
„Elliott, hast du ihn gesehen und ist ihm nichts passiert?"
Hannah Santana sah den Arzt an, der seinen großen Kopf schüttelte.
„Aber man weiß doch nicht, ob er tot ist. Nur ein Doktor weiß das."
„Er ist tot, Lizzie, Liebling", sagte Abbott sanft. „Er hat keine Schmerzen - er hat überhaupt keine Schmerzen gehabt. Er starb sofort, genau so, als ob er einschliefe."
Hannah hielt die Frau in ihren Armen und wiegte sie hin und her, als ob sie in der Tat das zartgesichtige Kind wäre, dem sie glich, unterdes Ruth die Spritze fertigmachte. Elizabeth Goldstein protestierte nicht, als Abbott ihr die Nadel in den Schenkel stach.
„In ein paar Minuten wird sie ruhig sein", sagte er. „Du bleibst bei ihr, Ruth." Er versuchte, nichts zu denken, nichts zu fühlen, nicht mit sich selbst zu rechten, als er aus dem Schlafzimmer in den Laden zurückging. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie Max Goldstein heute morgen gekommen war und mit ihnen Kaffee getrunken hatte. Er versuchte, sich nicht zu erinnern, wie er und die andern, die an der Haupt- und Staatsaktion des ersten großen Krieges zur Abschaffung aller Kriege nicht beteiligt waren, auf dem Bahnhof gestanden und zugesehen hatten, wie Max Goldstein, der kämpfende Jude, wie sie ihn damals nannten, zum alle umarmenden Ruhme einer neu-englischen Fabrikstadt zurückkehrte. Man nahm Thoreau und Emerson und Oliver Wendell Holmes und man nahm die Bürde der zweitausendjährigen verruchten Schande des Menschen, und man mischte sie in den Vorbergen der Berkshires, und man siebte sie in eine Damepartie und einen durchschnittlichen schläfrigen Yankeetyp, der sich der Wahrheit und des Ruhmes erinnerte, die eine schlechte Melodie mit Worten von Francis Scott Key zur Hymne der Verfolgten und Unterdrückten aller Nationen der Erde gemacht hatten. Er versuchte, nicht daran oder an die endlosen Diskussionen zu denken, die er mit Max Goldstein geführt hatte - schon so lange her jetzt -, um ihn zu überzeugen, dass niemand ein Menschenfreund wäre, der richtig und klar dachte und doch hinter dem warmen Ofen blieb.
„Nun, das ist jetzt vergangener Schnee", überlegte er und versuchte nüchtern das Faktum anzuerkennen, dass ein phantastisch fetter Mensch mit einem kranken Herzen ohnehin nicht sehr lange gelebt haben würde.
„Er hat keine Verwandten, nicht wahr?" fragte er Joe Santana.
„Keine, von denen ich wüsste, Elliott. Sein Vater und seine Mutter sind tot, und er hat nie von sonst jemand gesprochen."
Abbott ging zur Bank hinüber und hob das Laken auf. Das Stahlmantelgeschoß des Revolvers hatte in Goldsteins Kopf nur ein kleines Loch gemacht. Seine Züge zeigten die gelassene Ruhe der Toten, die Augen waren geschlossen. Ein, zwei Minuten stand Elliott da, sah auf seinen alten Freund und Genossen hinab und dachte, dass alle die prächtigen und großen Worte, die die Literatur für solche Gelegenheiten bestimmt hat, völlig zwecklos sind, und nur ein ,Fahrwohl' und ein ,Gute Reise' übrig bleibt.
10
Um vier Uhr an diesem Nachmittag war Mike Sawyer zur Abreise fertig; er saß in Abbotts Wartezimmer, seine Handtasche neben sich, rauchte eine Zigarette und erledigte noch ein paar Dinge, wie sie immer im letzten Augenblick auftauchen, bevor es Zeit wird, zum Zuge zu gehen. Die drei Tage, die er in Clarkton verbracht hatte, kamen ihm sehr viel länger vor, und wenn er Ruth Abbott, ihren Mann und Danny Ryan ansah, hatte er das Gefühl, sie seit einer Zeit gekannt zu haben, die sich nach Minuten oder Stunden oder Tagen oder Jahren nicht messen ließ; denn das waren Maßstäbe, die nicht anwendbar waren. Wo in Menschen eine Stetigkeit vorhanden ist, so sagte er sich, da ist die Zeit nicht leicht zu messen; man traf gute Genossen, lernte sie kennen und verließ sie dann, sei es in Spanien, in Nordafrika, in Italien oder in Frankreich oder auf der gesegneten Erde dieser Staaten, wo es seit dreihundert Jahren Sawyers gegeben hatte. Mit einigen sprach man ein Wort, mit einigen lebte und kämpfte man eine Reihe von Jahren, und einige sah man niemals wieder, und einige doch. Und einige, wie Ryan, stachen einem das Herz mit Groll und Verachtung aus, und andere, wie diese Arztfrau mit ihrer Mädchenfigur und ihrem sommersprossigen Gesicht, sahen einen nur an, und in diesem einen Blick steckte mehr als in Ryans Worten.
Die Tatsache, dass er innerhalb der nächsten vierzehn Tage nach Clarkton zurückkehren würde - sicher binnen dieser Zeit, wenn der Streik bis dahin nicht gewonnen war -, veränderte nicht die Abschiedsstimmung. Hier kämpfte und wuchs und baute sich etwas auf, und er musste weg an einen anderen Ort gehen. Jetzt gestattete er sich, an Ruth Abbott zu denken; jetzt gestattete er sich, die Zügel zu lockern und sich zu gestehen, diese Arztfrau ist alles und mehr, als ich je in einer Frau begehrte; sie ist es für mich und für keinen andern, nicht für ihn oder für Ryan oder sonst jemand, sondern für mich, und es wird nicht sein. Es wird nicht beginnen; es wird nicht enden. Es wird nicht sein.
Er bemühte sich, an etwas zu denken, das er Ryan sagen konnte und das es möglich machen würde, bei seiner Rückkehr sauber von neuem anzufangen, aber seine Worte klangen ungewöhnlich banal - Phrasen, wie froh er wäre, bei dieser Arbeit und hier zu sein. „Ich hatte mir einen Ort wie Chicago oder Cleveland oder Pittsburgh gewünscht, aber jetzt möchte ich lieber bleiben, wo ich bin."
„Wenn man es richtig betrachtet", sagte Ryan, „macht es verdammt keine Menge Unterschied, wo man ist - bis man eine Familie kriegt und sich niederlässt. Und selbst wenn man eine Familie hat, ändert das die Sache nicht wesentlich."
„Wahrscheinlich nicht."
„Wir werden es schon schaffen", sagte Ruth. „Das ist die erste Geschichte, die uns wirklich getroffen hat; wir waren nicht vorbereitet oder hatten an so etwas nicht gedacht, aber jetzt wissen wir Bescheid. Wir werden schon standhalten."
„Das werden wir", stimmte Danny Ryan bei.
Sie gaben ihm die Schuld. Er war nur für ein paar Stunden nach Clarkton gekommen, ein neuer, gehetzter, teilweise verwirrter Distriktsleiter der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten, und er war drei Tage geblieben, hatte anderwärts mehr Arbeit sich anhäufen lassen, als er zu bewältigen wusste, vier andere Streiks, Versammlungen, unklare Situationen dieser oder jener Art, Lebensmittelsammlungen aus knappen und überbeanspruchten Quellen, Führung in dieser Krise oder jener - eine wüste, unordentliche Art von Programm, das er für fünfunddreißig Dollar die Woche und fünf Dollar extra für Spesen entwirren, zu Vernunft und Ordnung bringen sollte; und zu gleicher Zeit sollte er das sein, was die Presse der ganzen Nation so ausführlich und bestimmt als das Meisterhirn einer straffgeknüpften und verhängnisvoll disziplinierten Organisation beschrieb, das Werkzeug Moskaus, geschaffen zu dem Zweck, die Einrichtungen zu vernichten, an die freie Menschen glauben. Und hier, gleich zu Beginn, als er noch keine andere Absicht hatte, als sich vorzutasten und sich mit den Problemen und Nöten der paar hundert Menschen seines Distrikts bekannt zu machen, da fiel ihm eine solche Situation in den Schoß. Er hätte ein Führer sein sollen, aber er hatte keineswegs geführt, er hatte keine Entscheidungen von irgendwelcher Bedeutung getroffen. Er war erst seit wenigen Wochen vom Militär entlassen, wo jeder außer ihm Entscheidungen getroffen hatte, und nun lag dies in seinem Schoß, ein Streik von fünftausend Arbeitern, der Tod von zweien; ein Massaker, wie es sich seit den neunzehnhundertdreißiger Jahren nicht mehr ereignet hatte; die reale Möglichkeit eines langen, verzweifelten, qualvollen Streiks, eines Streiks, der aus Gewalttätigkeit geboren war und in Gewalttätigkeit sich fortsetzte - und er musste heraustreten, ihn sich selbst überlassen, weil es noch andere Orte, andere Städte und andere Werke gab. Er hatte jetzt keinen Sinn für die Organisation; jetzt saß er in diesem warmen, wohlerleuchteten Raum, aber bald würde er allein sein, und er allein würde die Verantwortung tragen. Was er tat, weil es irgendwo in seinem tiefsten Innern für ihn die eingeprägte Notwendigkeit gab, es zu tun, war diese Sache, die gleich einem schreienden, schmerzenden Gewissen in Amerika geworden war; die kleine Gruppe von Männern und Frauen, verflucht und gesegnet, wie anderen Gruppen einst geschah, wenn man so weit zurückblickt, wie Menschengedächtnis reicht: er als einzelner musste diese Organisation sein, ihre Probleme und die Probleme der Welt dazu kennen und sie lösen. Aber er hatte nichts gelöst, und sie gaben ihm die Schuld.
Er versuchte es ihnen zu erklären und zu sagen, aber es hatte keinen Zweck, und er saß da und sah sie stumm an.
„Mach dir nichts draus", sagte Ryan. „Bist du je irgendwohin gekommen, wo sich alles von selbst ergab?"
„Aber ich hinterlasse es in schlechter Verfassung", sagte er. „Es steht verdammt schlecht, und ich gehe einfach davon."
„Du hast eine verwickelte Arbeit", erklärte ihm Ryan. „Ich tue, was ich zu tun habe, weil es schön schwarz und weiß ist, aber für deine Art Arbeit wird es nichts so Leichtes geben. Lass ihr Zeit."
„Es fängt erst an", sagte Ruth Abbott mit einem unbedingten und strengen Klang in ihrer Stimme. „Wir werden alt, und weil wir schon ein paar Jahre davon mitbekamen und weil wir lieber ohne Aufregung als mit Aufregung leben möchten, deshalb vergessen wir, dass es erst der Anfang ist. Data fata secutus — das ist etwas, was Goldstein gern sagte, man wählt sein Schicksal und vollendet es. Das ist eine furchtbare Entscheidung, Mike. Die meisten Menschen, die wir sehen, tun es nie, und einige tun es halb, und einige tun es. Werde Arzt oder etwas Ähnliches, wenn du einen bequemen Beruf willst, aber wenn du eine neue Welt bauen willst, kommt es härter. Es ist nichts Romantisches daran, es bedeutet Tag für Tag ohne Rast oder Frieden oder Sicherheit leben, und wenn du zu der Sorte Menschen gehörst, die eine Belohnung erwarten, dann kommen wir verdammt besser ohne dich aus. Natürlich kamst du nicht hierher wie ein dem Teufel verfallenes Genie, das auf alles eine Antwort weiß; niemand weiß auf alles eine Antwort. Das übrige wirst du lernen, und du wirst es rasch lernen, weil wir nicht ewig Zeit haben. Ryan ist schon lange dabei; es ist keine Schande, von Ryan zu lernen."
„Ich schäme mich nicht", sagte Sawyer langsam. „Es ist schlimmer als das. Ich habe Angst."
„Die Angst wirst du verlieren", sagte Abbott. „Das ist das Gute daran."
Sie fuhren ihn zum Bahnhof und setzten ihn in den Zug. Hernach sagte Ryan: „Du warst hart zu ihm, Ruth."
„Er brauchte jemand, der hart zu ihm war - Mitleid hatte er nicht nötig."
Als sie Ryan am Gewerkschaftshaus abgesetzt hatten, sagte Ruth Abbott zu ihrem Mann: „Wie geht es dir - in Ordnung?"
„Vollkommen", sagte Abbott.
„Du würdest nicht anhalten und mir einen Kuss geben?" Er hielt an und nahm sie in die Arme, und sie lehnte sich an ihn und zitterte ein bisschen. Sie weinte eine Weile, und dann hatte sie es überwunden, und sie fuhren weiter nach Hause.
11
Es überraschte Abbott nicht, dass er Lowell auf ihn warten fand. Im Grunde seines Herzens hatte er gewusst, dass Lowell zu ihm kommen würde, wenn aus keinem andern Grunde, dann einfach deshalb, weil es niemand anders gab, zu dem Lowell hätte gehen können. Das war die nette und verfluchte Logik dieser Geschichte, dass der hochgewachsene, feine und wohlerzogene Neu-England-Edelmann in seinem schäbigen Wartezimmer saß, ihm nicht in die Augen sehen konnte, aber sich bemühte zu erklären, weshalb er gekommen war.
„Du brauchst nichts zu erklären", sagte Abbott. „Wenn du Lust hattest zu kommen, konntest du's natürlich tun." Der Arzt setzte sich in einen Sessel, wartete ab und sah, dass Ruth an der Tür stand, eine kleine, feste, sommersprossige und durchschnittlich hübsche Frau, die sie mit ruhiger, unbewegter Neugier beobachtete. Er fragte sich, ob sie zornig, erbittert, von Hass erfüllt oder, wie er selbst, völlig gleichgültig und jenseits aller Erregung wäre.
„Ich weiß, was du denkst", sagte Lowell.
„Das stimmt nicht", sagte Abbott scharf. „Du weißt nicht, was ich denke, George. Es ist Unfug, wenn du das behauptest. Es ist Unfug, Gefühle auszukramen."
„Willst du, dass ich mich wegschere?" fragte Lowell.
„Es ist egal, George. Wenn du mir etwas sagen möchtest, werde ich zuhören."
„Jesus, verschone mich mit diesem feinen Ton der Rechtschaffenheit!" schrie Lowell. „Das ist wohl die Art eines Kommunisten, die ganze Welt in Schwarz und Weiß zu sehen, in Recht und Unrecht? Für dich gibt es kein Grau, was, Elliott? Es gibt keine Zweifel, keine Unentschiedenheiten, keine Irrtümer, keine Qualen, keine Ängste? Alles ist gemäß einem Plan angelegt, und ich bin ein hundsgemeiner Mörder. Ist es nicht so?"
„Du sagst das. Ich habe es nicht gesagt, George."
„Aber du denkst es."
„Was suchst du eigentlich hier?" fragte Abbott. „Mitgefühl?"
Lowell schüttelte stumm den Kopf.
„Es gibt einige Dinge, die du weißt, nehme ich an", sagte Abbott ruhig. „Du weißt, dass zwei Menschen heute getötet wurden und dass ein dritter gerade eine Chance hat, durchzukommen. Du weißt, dass einer dieser Männer, Max Goldstein, ein Freund von mir war. Hast du mir nicht einmal gesagt, George, dass ein Mann, der vom Glück begünstigt ist, seine Freunde an den Fingern einer Hand zählen kann, dass er aber überhaupt keine Rechnung aufzumachen braucht, wenn er zum Durchschnitt gehört? Ich glaube, du bist es gewesen. Ich kannte diesen Mann Goldstein, seit ich mich erinnern kann, irgend jemand gekannt zu haben. Ich habe von ihm gelernt. Er besaß eine tiefe Weisheit, und ich wusste das, und weil seine Bescheidenheit größer als seine Weisheit war, pflegte ich ihn einen Narren zu heißen, so oft ich zornig wurde und die Geduld verlor... "
„Elliott, ich sagte dir... "
„Lass mich ausreden", sagte der Arzt. „Ich wollte sagen, dass er mit mir nie die Geduld verlor. Das ist nicht ganz wahr. Er hat einmal die Geduld verloren, ein einziges Mal, das war vor neun Jahren. Er war schon ein dickes Fass von einem Menschen, er hat sich in den letzten Jahren nicht viel verändert. Damals pflegten wir über Politik und andere Dinge zu streiten. Er war damals noch kein Roter, aber ich war es, und der Krieg in Spanien war eben ausgebrochen, und ich ärgerte mich über das, was ich seinen monumentalen Stumpfsinn nannte. Ich hatte mich schon entschlossen, nach Spanien zu gehen, aber ich wollte nicht mit leeren
Händen kommen. Ruth und ich hatten einen Plan entworfen, ein Lastauto als Notoperationsraum auszustatten, um ihn an der Front verwenden zu können, aber wir hatten nicht das Geld dafür, und von dem Geld, das in den Städten aufgebracht wurde, konnte nichts für einen Kleinstadtarzt mit einem albernen Plan entbehrt werden. Ich ging zu Max Goldstein mit diesem Problem, und er schrieb mir einen Scheck aus. Er hatte genau achttausendzweihundertsiebenundsechzig Dollar auf der Bank - und über diesen Betrag schrieb er den Scheck aus. Als ich ihn nicht annehmen wollte, verlor er die Geduld, und am Ende nahm ich das Geld und kaufte den Wagen.
„Einen Augenblick noch", sagte Abbott, hob die Stimme und streckte eine seiner großen Hände gegen Lowell aus. „Du hörst mich bis zum Ende an, George! Du bist hergekommen, und jetzt, bei Gott, hörst du mich an! Wenn ich fertig bin, kannst du deine Meinung sagen, aber du hörst erst den Rest der Geschichte. Mit diesem Manne ging ich gestern aufs Gericht. Wir sprachen bei John Curtis wegen Stellung einer Kaution für Danny Ryan und Joey Raye vor. Du kennst Curtis. Du weißt so gut wie ich, was für ein dreckiger, schäbiger, drittklassiger Spitzel eines Politikers er ist, trotz des feinen Überzugs von Beacon-Hill-Politur, den er sich in Boston zugelegt hat. Du weißt auch, dass er dir gehört, mit Leib und Seele, genau wie Jimmy Burton dir gehört, der eines Tages Gouverneur des Staates sein wird, weil er die Interessen der Lowells vertritt. Nun, ich musste dabeistehen und anhören, wie Max von diesem kleinen Hanswurst, der nicht wert ist, ihm die Schuhe zu putzen, beleidigt und erniedrigt wurde, und ich konnte nur an eins denken - dass alles, was ich über Amerika wusste und gelernt hatte, das alte Amerika, das die Abbotts und Lowells vor langer, langer Zeit schufen, als sehr viele von ihnen noch Berufsrevolutionäre waren - alles, was das Wort Yankee mir bedeutete, als ich noch Kind war -, dass all das in diesem dicken, bequemen Juden steckte, dessen Vater ein Bauernjunge in Litauen gewesen war.
Und heute wurde er erschossen, und ich sage, dass du ihn erschossen hast, George. Von mir erwartest du Mitgefühl?"
Eine Weile lang, die ein endloser Zeitraum schien, oder wie ein Loch in der Zeit, das klaffte und nach Inhalt schnappte, oder wie eine Wunde der Zeit war, stand Lowell da, sagte nichts, tat nichts, sah nur gerade vor sich hin und sagte dann schließlich:
„Ich habe es nicht getan, Elliott. Ich schwöre bei Gott, ich wusste nicht, dass es geschah. Ich wusste es nicht."
„Es geschah eben."
„Alles, was ich wollte, war ein anständiger, sauberer Weg aus dieser Geschichte heraus."
„Ich weiß", sagte Abbott überdrüssig. „Ich kenne dich besser, George, als du denkst. Ich kenne dich als einen humanen und einen kultivierten Menschen. Ich habe Schach mit dir gespielt, George. Ich habe Brot mit dir gebrochen. Du hast mir deine Heimlichkeiten anvertraut. Du tatest nichts, George, gar nichts, und du leidest und du verlangst Mitgefühl und Erbarmen."
„Geh zum Teufel", sagte Lowell, nahm Hut und Mantel und ging hinaus. Aber als er durch das kalte Zwielicht Neu-Englands nach Hause fuhr, wusste er, dass es nicht in Elliott Abbotts Macht gestanden hätte, Frieden zu gewähren. Es gab keinen Frieden mehr. Der Tod war ein finsteres Wesen, das in seinem Bewusstsein saß, und selbst wenn er Nacht für Nacht stinkbesoffen wäre, würde das nicht das wartende Ungeheuer vertreiben. Eines starb und ein anderes wurde geboren, aber sein eigner Gefährte war der Tod, und als er den Concordweg entlangfuhr, am Werk vorbei, und die Betonstraße hinauf zu seinem Hause, leistete der Tod ihm ungebeten frostige Gesellschaft.