Klirrend den zerbeulten japanischen Säbel über die Stufen schleifend, trat Lewinsohn auf den Hof. Von den Feldern her wehte der Honigduft des Buchweizens. In heißen, rosigweißen Dunst gehüllt, schwebte die Julisonne am Himmel.
Moroska, die Ordonnanz, war gerade damit beschäftigt, Hafer auf einer Zeltbahn zu trocknen, und musste dabei die wild gewordenen Perlhühner mit der Reitgerte vertreiben.
»Bring das zur Abteilung Schaldybas«, sagte Lewinsohn, und reichte ihm einen Brief, »sag ihm auch,... nein, ist übrigens nicht nötig, hier steht alles drin.«
Moroska wandte unzufrieden den Kopf und spielte mit der Reitgerte. Er hatte gar keine Lust, sich aufzumachen. Wie langweilten ihn die ewigen dienstlichen Ritte, die unnützen Briefe, besonders aber Lewinsohns abwesende Augen. Groß und tief wie Seen sogen sie Moroska mitsamt seinen Stiefeln in sich ein und sahen in ihm gar manches, wovon vielleicht Moroska selbst nichts wusste.
,Spitzbube', dachte die Ordonnanz, gekränkt blinzelnd, und zog sogleich gewohnheitsmäßig den Schluss: ,Alle Juden sind Spitzbuben.'
»Was stehst du noch herum?« fuhr Lewinsohn auf.
»Nun ja doch, Genosse Kommandeur, ist was zu erledigen,
muss immer Moroska 'ran. Als ob's in der Abteilung keinen andern gäbe ... «
Moroska hatte absichtlich »Genosse Kommandeur« gesagt, damit es offizieller klänge: gewöhnlich nannte er ihn einfach beim Namen.
»Soll ich etwa selber hinreiten, was?« fragte Lewinsohn bissig.
»Warum selber? Sind doch Leute genug da...«
Lewinsohn steckte den Brief in die Tasche mit der entschlossenen Miene eines Menschen, der alle friedlichen Möglichkeiten erschöpft sieht.
»Gib dem Wirtschaftsleiter dein Gewehr ab«, erwiderte er mit unheimlicher Ruhe, »und dann mach schleunigst, dass du fortkommst. Undisziplinierte Menschen kann ich nicht brauchen...«
Vom Fluss her zauste der Wind liebkosend Moroskas widerspenstige Locken. Aus dem von der Hitze welken Wermut um den Schuppen tönte das Zirpen der unermüdlichen Grillen durch die sengende Luft.
»Warte...«, brummte Moroska mürrisch. »Gib mir den Brief...«
Indem er ihn zwischen Hemd und Brust versteckte, sagte er, weniger zu Lewinsohn als zu sich selbst:
»Die Abteilung kann ich nicht verlassen und das Gewehr abgeben erst recht nicht.« Er schob die verstaubte Mütze ins Genick und setzte mit voller, plötzlich fröhlich gewordener Stimme hinzu: »... denn nicht wegen deiner schönen Augen, Freundchen Lewinsohn, haben wir den ganzen Brei angerührt. Das sag' ich dir offen, auf Kumpelart.«
»Das will ich meinen«, lachte der Kommandeur, »aber erst musst du Faxen machen... Schafskopf du.«
Moroska fasste Lewinsohn an einem Knopf, zog ihn zu sich heran und flüsterte geheimnisvoll:
»Hatte mich, Freundchen, ja schon ganz und gar zurechtgemacht, zur Warjucha ins Lazarett zu gehen, da kommst du mit deinem Brief. Stellt sich also 'raus, dass du selbst der Schafskopf bist.«
Er zwinkerte listig mit den grünlichbraunen Augen und prustete los. Und auch jetzt noch, als er von seiner Frau sprach,
klangen jene zotigen Untertöne durch sein Lachen, die wie Schimmel im Laufe der Jahre hineingewachsen waren.
»Timoscha«, rief Lewinsohn einem ganz stier aussehenden Burschen zu, »komm, pass auf den Hafer auf: Moroska muss fort.«
Vor den Stallungen saß auf einem umgekippten Trog der Mineur Gontscharenko und flickte lederne Packtaschen. Prall brannte ihm die Sonne auf den bloßen Kopf; die Strähnen seines feuerroten Bartes waren fest verknotet wie Filz. Das stahlharte Gesicht über die Taschen geneigt, hantierte er breitspurig mit der Ahle wie mit einer Heugabel. Gleich Mühlsteinen mahlten unter dem groben Leinen seine mächtigen Schulterblätter.
»Reitest wieder los?« fragte der Mineur.
»Zu Befehl.' Euer Wohlgeboren.«
Moroska stand stramm und salutierte, die Hand an einen ungebührlichen Ort führend.
»Rührt euch!« sagte herablassend Gontscharenko, »war auch so ein Narr. In welcher Angelegenheit schickt man dich?«
»Pah, nicht der Rede wert: die Knochen rühren, hat der Kommandeur befohlen. Sonst kriegst du mir noch Kinder, sagt er.«
»Dummkopf...«, brummte der Mineur, einen Pechdraht mit den Zähnen zerbeißend, »alte Quasselstrippe.«
Moroska führte sein Pferd aus dem Stall. Der starkmähnige Hengst spitzte aufmerksam die Ohren. Er war ein kräftiger, zottiger Traber und glich seinem Herrn: dieselben klaren, grünlichbraunen Augen, ebenso gedrungen und krummbeinig, so primitiv-schlau und durchtrieben.
»Mischka-a... uh... uh... Teufel du«, knurrte Moroska liebevoll, während er die Gurte anzog, »Mischka-a... uh... uh... Gott, du armes Luder, du...«
»Wenn man's so recht überlegt, wer von euch der klügere ist«, sagte ernst der Mineur, »so müsste Mischka auf dir reiten, nicht du auf ihm, bei Gott.«
Moroska sprengte im Galopp aus der Umzäunung.
Der von Gras und Gestrüpp überwucherte Weg lief den Fluss entlang. Dahinter dehnten sich, sonnenüberflutet, Buchweizen -und Gerstenfelder. Im warmen Schleier wiegten sich die blauen Gipfel des Höhenzuges von Sichote-Alin.
Moroska war Kumpel in der zweiten Generation. Sein Großvater, zerfallen mit seinem Gott und den Menschen, hatte noch den Boden gepflügt, der Vater vertauschte die Schwarzerde mit der Kohle.
Moroska kam in einer dunklen Baracke zur Welt, beim Schacht Nr. 2, als die schrille Sirene gerade die Frühschicht zur Arbeit rief.
»Ein Sohn?« fragte der Vater nochmals, als der Bergwerkarzt aus der Kammer herauskam und ihm mitteilte, dass ihm eben ein Sohn geboren sei und niemand anders.
»Der vierte also...«, zählte der Vater ergeben nach. »Ein lustiges Leben...«
Dann zwängte er sich in den von Kohle geschwärzten Rock und ging zur Arbeit.
Mit zwölf Jahren lernte Moroska mit der Sirene aufstehen, die Hunde schieben, die unnützen und dabei meist wüsten Flüche ausstoßen und Wodka trinken. Kneipen gab es ums Sutschaner Bergwerk herum soviel wie Unkraut.
Zweihundert Meter vom Schacht endete die Schlucht und erhoben sich kleine, runde Hügel. Streng blickten von hier aus moosbewachsene stämmige Tannen auf die Siedlung herab. An graunebligen Morgen konnte man die Taiga-Elche mit den Werksirenen um die Wette schreien hören. In den blauen Schluchten des Höhenzuges, über steile Abhänge, auf endlosen Schienen krochen Tag um Tag mit Kohle beladene Loren nach der Station Kangaus. Auf den Kämmen wanden, im Krampfe ständiger Anstrengung erzitternd, von Teer geschwärzte Trommeln geschmeidige Trosse. Am Fuße der Hügel, wo sich ungebeten steinerne Bauten in den Duft des Nadelwaldes gedrängt hatten, arbeiteten - unbekannt für wen - Menschen, tönten vielstimmig die Pfiffe der Feldbahnen, surrten elektrische Aufzüge.
Das Leben war wirklich lustig.
In diesem Leben suchte Moroska keine neuen Wege, sondern folgte alten, gewohnten Pfaden. Als die Zeit gekommen war, kaufte er ein Satinhemd, hohe Schaftstiefel und begann an Feiertagen talwärts ins Dorf zu gehen. Dort spielte er mit anderen Burschen Ziehharmonika, raufte sich herum, sang unanständige Lieder und »verdarb« die Dorfmädchen.
Auf dem Rückweg stahlen die Kumpels Melonen und runde
Muromer Gurken von den Feldern und badeten in dem reißenden Gebirgsflüsschen. Ihre laut schallenden, fröhlichen Stimmen beunruhigten die Taiga, der abnehmende Mond lugte neidvoll hinter dem Felsen hervor, indessen über dem Fluss warme, nächtliche Feuchtigkeit schwebte.
Als die Zeit gekommen war, steckte man Moroska in ein muffiges, nach Wanzen und Fußlappen stinkendes Polizeirevier. Dies geschah in dem Augenblick, als der Aprilstreik seinen Höhepunkt erreicht hatte, als das unterirdische Wasser trübe wie die Tränen der erblindeten Grubenpferde Tag und Nacht durch die Stollen sickerte, ohne dass sich eine Hand an die Pumpen legte.
Man hatte ihn keiner besonderen Taten, sondern einfach seiner Geschwätzigkeit wegen festgesetzt: man hoffte ihn einzuschüchtern und auf diese Weise etwas über die Aufwiegler zu erfahren. Während er mit Schnapsschmugglern zusammen in der stinkenden Kammer saß, erzählte ihnen Moroska zahllose schlüpfrige Anekdoten, die Aufwiegler aber verriet er nicht.
Als die Zeit gekommen war, fuhr er an die Front und kam zur Kavallerie. Dort lernte er, verächtlich wie alle, auf die »Sandhasen« herabsehen, war sechsmal schwer, zweimal leicht verwundet und wurde noch vor der Revolution als dienstuntauglich entlassen.
Nach Hause zurückgekehrt, soff er zwei Wochen herum und heiratete ein gutes, lockeres und unfruchtbares Mädchen vom Schacht Nr. 1. Er machte alles, ohne zu bedenken: das Leben schien ihm einfach, unkompliziert wie eine runde Muromer Gurke aus den Sutschaner Feldern.
Vielleicht war das der Grund, weshalb er im Jahre 1918 mitsamt seiner Frau die Sowjets verteidigen ging.
Wie dem auch sei, seit der Zeit war ihm der Zutritt zum Bergwerk verschlossen: die Verteidigung der Sowjets misslang, und die neue Regierungsmacht war solchen Jungens nicht allzu sehr gewogen...
Mischka scharrte ärgerlich mit den beschlagenen Hufen; orangefarbene Bremsen schwirrten ihm unentwegt um die Ohren, verstrickten sich in sein zottiges Fell und bissen ihn bis aufs Blut.
Moroska war ins Swiaginsker Kampfgebiet hinausgeritten. Hinter einem hellgrünen, nussbaumbestandenen Hügel schmiegte
sich unsichtbar das Dorf Krylowka; dort stand die Abteilung Schaldybas.
»W-s-s... W-s-s«, summten und surrten die unermüdlichen Bremsen.
Ein sonderbarer, krachender Laut ertönte und verhallte hinter dem Hügel. Ein zweiter, ein dritter folgte. Als hätte ein wildes Tier sich von der Kette gerissen und bräche flüchtend durch stachliges Buschwerk.
»Halt«, sagte Moroska leise und straffte die Zügel.
Mischka erstarrte gehorsam, den muskulösen Leib leicht nach vorn geneigt.
»Hörst du!... Man schießt...«, stammelte aufgeregt die Ordonnanz und reckte sich im Sattel hoch, »man schießt!... Ja?«
»Tatata«, ratterte hinter dem Hügel ein Maschinengewehr, gleichsam den ohrenbetäubenden Flintenlärm und das durchdringende Winseln japanischer Karabiner miteinander vernietend.
»Galopp!...« schrie Moroska mit gekrampfter, erregter Stimme.
Seine Fußspitzen pressten sich gewohnheitsmäßig in die Steigbügel, seine zuckenden Finger öffneten die Halfter, und schon stürmte Mischka durch die knackenden Zweige des Gebüschs zum Gipfel empor.
Moroska riss, noch bevor er den Kamm erreichte, das Pferd zurück:
»Warte hier«, sagte er, rasch zu Boden springend, und warf die Zügel über den Sattelknauf: Mischka, der treue Sklave, brauchte nicht angebunden zu werden.
Moroska kroch zum Gipfel hinauf. Zur Rechten bewegten sich, Krylowka hinter sich lassend, in ausgerichteten Ketten, gedrillt, wie auf einer Parade, kleine gleichmäßige Figürchen mit gelbgrün umränderten Mützen. Zur Linken flohen in panischem Schrecken durch golden wogende Gerstenfelder in ungeordneten Haufen Menschen, die im Laufen um sich schossen. Der rasende Schaldyba (Moroska erkannte ihn an dem rabenschwarzen Pferd und der spitzen Dachsfellmütze) hieb mit der Peitsche, ohne die Flüchtenden aufhalten zu können, nach allen Seiten um sich. Es war zu sehen, wie einige von ihnen heimlich die roten Bändchen herunterrissen.
»So ein Gesindel, was machen die, was machen die bloß!...« murmelte Moroska, den die Schießerei immer stärker erregte.
Im Nachtrab der panisch flüchtenden Menschen lief hinkend, den Kopf mit einem Taschentuch verbunden, den Körper in ein enges städtisches Jackett gezwängt, ungeschickt das Gewehr hinter sich herschleifend, ein mageres Bürschchen. Die anderen schienen absichtlich neben ihm herzulaufen, um ihn nicht allein zu lassen. Das Häufchen lichtete sich rasch, auch der Bursche in der weißen Kopfbinde fiel nieder. Doch er war nicht tot, versuchte einige Male sich zu erheben und fortzukriechen, streckte die Hand aus und schrie etwas Unvernehmbares. Die Menschen begannen schneller zu laufen und ließen den Burschen, ohne sich umzublicken, zurück.
»So ein Gesindel, was machen die bloß!« sagte Moroska von neuem, seine Finger nervös um den schweißigen Karabiner krampfend.
»Mischka, hierher!...« schrie er wie wahnsinnig.
Leise wiehernd, mit weit geblähten Nüstern, trabte der Hengst, mit blutigen Schrammen bedeckt, den Gipfel hinan.
Nach einigen Sekunden flog Moroska wie ein beschwingter Vogel über das Gerstenfeld. Drohend surrten über seinem Kopf feurig-bleierne Bremsen, der Pferderücken unter ihm stürzte irgendwohin in den Abgrund, pfeifend rauschte die Gerste unter seinen Füßen...
»Leg dich!« brüllte Moroska, riss die Zügel herum und stieß mit dem einen Sporn wild in die Flanke des Pferdes.
Mischka wollte sich im Kugelregen nicht niederlegen und umsprang die stöhnende, lang ausgestreckte Gestalt mit der weißen, blutbefleckten Kopfbinde.
»Leg dich!...« ächzte wutentbrannt, an den Zügeln zerrend, Moroska.
Die vor Anstrengung zitternden Knie beugend, legte sich das Tier zu Boden.
»Es tut weh, oh, es tut weh!...« stöhnte der Verwundete, als die Ordonnanz ihn über den Sattel warf. Das Gesicht des Burschen war bleich, bartlos und rein, obgleich mit Blut beschmiert.
»Schweig, Memme...«, zischte Moroska.
Und mit gelockerten Zügeln sprengte er kurz darauf, mit beiden Händen die Last stützend, um den Hügel, dem Dorf zu, in dem die Abteilung Lewinsohn stand.
Um die Wahrheit zu sagen, der Gerettete missfiel Moroska auf den ersten Blick.
Moroska waren solche geschniegelten Menschen zuwider. Nach seiner Lebenserfahrung waren sie unbeständige, nichtsnutzige Leute, denen man keinen Glauben schenken durfte. Außerdem erwies sich der Verwundete gleich bei der ersten Begegnung als ein wenig tapferer Mensch..
»Gelbschnabel...«, zischte die Ordonnanz höhnisch durch die Zähne, als man den bewusstlosen Burschen auf ein Feldbett in der Hütte des Rjabez legte. »Ein bisschen verschrammt, und schon ist der Kerl mürbe.«
Moroska wollte etwas sehr Beleidigendes sagen, aber er fand nicht die passenden Worte.
»Man kennt das, so'n Rotznäsiger...«, brummelte er unzufrieden.
»Halt den Mund«, unterbrach ihn Lewinsohn streng. »Baklanow! ... Bringt den Burschen nachts ins Lazarett.«
Der Verwundete wurde verbunden. In der Seitentasche des Jacketts fand man etwas Geld, Dokumente (und zwar auf den Namen Pawel Metschik), ein Bündel Briefe und die Photographie eines Mädchens.
An die zwei Dutzend grimmiger, unrasierter, von der Sonne schwarzgebrannter Menschen prüften der Reihe nach das zarte, von blonden Locken umrahmte Mädchenantlitz, dann wurde die Photographie etwas betreten wieder an ihren Platz befördert. Der Verwundete lag ohne Besinnung mit kalten, blutleeren Lippen, die Hände leblos über der Decke ausgestreckt.
Er fühlte nicht, wie man ihn an einem schwülen, tiefblauen Abend auf holperndem Gefährt aus dem Dorfe führte, und kam erst auf der Tragbahre zu sich. Die erste leise Empfindung des gleichmäßigen Schaukelns floss mit einer ebenso leisen Ahnung von dem über ihm schwebenden blauen Sternenhimmel zusammen. Ringsum umgab ihn weiche, undurchsichtige Finsternis, und ein frischer, kräftiger Duft von Nadelhölzern und moderndem Laub umwogte ihn.
Eine stille Dankbarkeit gegen jene Unbekannten, die ihn so geschickt und behutsam dahintrugen, erfüllte ihn. Er wollte mit ihnen sprechen, bewegte die Lippen und fiel, ohne etwas gesagt zu haben, von neuem in tiefe Bewusstlosigkeit.
Als er zum zweiten Mal erwachte, war es schon Tag. In den nebelumhüllten Zweigen des Nadelwaldes schmolz die lodernde, träge Sonne. Metschik lag auf einem Feldbett im Schatten. Rechts stand dürr, groß und steif in grauem Spitalkittel ein Mann, links aber neigte sich eine weibliche Gestalt ruhig und sanft über das Feldbett; schwere goldrote Zöpfe fielen ihr über die Schultern.
Der erste Eindruck, den Metschik von dieser Ruhe atmenden Erscheinung, den großen, verschleierten Augen, den buschigen Zöpfen, den warmen, runden Händen empfing, war das Gefühl einer ziellosen und doch alles umfassenden, beinahe grenzenlosen Güte und Sanftheit.
»Wo bin ich?« fragte leise Metschik.
Der große, steife Mann streckte irgendwo von oben herab eine knochige, harte Hand aus, um den Puls zu fühlen.
»Er wird schon durchkommen«, sagte er gelassen. »Warja, legen Sie das Verbandzeug zurecht und rufen Sie Chartschenko...«, er hielt inne, dann fügte er, unklar weshalb, hinzu: »... es wäre dann alles auf einmal erledigt.«
Metschik hob mit schmerzhafter Anstrengung seine Lider und blickte auf den Sprecher. Dieser hatte ein langes gelbes Gesicht, in dem tief eingefallene Augen glänzten. Gleichgültig waren sie auf den Verwundeten gerichtet, eines zuckte überraschend und traurig.
Es tat sehr weh, als man die raue Gaze in die verkrusteten Wunden stopfte, aber Metschik empfand die ganze Zeit die linde Berührung zärtlicher weiblicher Hände und schrie nicht.
»Nun, jetzt ist's gut«, sagte der große Mann, nachdem er den Verband angelegt hatte. »Drei richtige Löcher und am Kopf eine Schramme. In einem Monat verheilt das, oder ich bin nicht Staschinskij.« Er schien etwas lebhafter zu werden, die Finger bewegten sich rascher, nur die Augen blickten mit dem gleichen sehnsüchtigen Glanz, und das rechte zuckte eintönig.
Man hatte Metschik gewaschen. Er stützte sich auf den Ellenbogen hoch und sah um sich.
Verschiedene Menschen liefen geschäftig bei der Holzbaracke hin und her, aus dem Kamin schlängelte sich eine dünne, bläuliche Rauchfahne, auf den Dachbalken bildete sich Harz. Ein riesiger, schwarzgeschnäbelter Specht klopfte eifrig am Waldrand. Auf all dies blickte gutmütig, auf einen Krückstock gestützt, ein hellbärtiger, stiller Greis in weißem Kittel.
Ü ber dem Greis, über der Baracke, über Metschik lagerte, von Harzdüften geschwängert, die satte Stille der Taiga.
Als er vor etwa drei Wochen, einen Passierschein im Stiefel und einen Revolver in der Tasche, aus der Stadt geschritten war, hatte sich Metschik nur ganz dunkel vorgestellt, was ihn erwartete. Er pfiff frohgemut eine lustige städtische Melodie, in seinen Adern pulsierte heftig das Blut, er wollte Kampf und Bewegung.
Diese Leute aus den Bergen, ihm bisher nur aus den Zeitungen bekannt, sah er, als seien sie lebendig, vor sich von Pulverdampf umhüllt und im Glorienschein heroischer Taten. Der Kopf schwoll ihm vor Neugierde, kühnen Einbildungen und qualvoll süßen Erinnerungen an das Mädchen mit den lichten Locken...
Sicherlich trinkt sie wie früher am Morgen Kaffee mit Gebäck und geht mit ihren blau eingeschlagenen, in Riemen verschnürten Büchern zum Unterricht...
Als er Krylowka erreicht hatte, sprangen plötzlich einige Personen, die Flinten im Anschlag, aus dem Gebüsch.
»Wer da?« fragte ein Bursche mit spitzem Gesicht in einer Matrosenmütze.
»Ich... ich bin aus der Stadt geschickt...«
»Die Papiere?«
Er musste sich den Stiefel ausziehen, um den Passierschein hervorzuholen.
»Kü... Küstengebiet... Be... zirksko-mi-tee... der So-zial-revo-lu-tio-näre«, buchstabierte der Matrose, von Zeit zu Zeit einen Blick aus seinen wie Disteln stechenden Augen auf Metschik werfend. »... So-so«, brummte er gedehnt.
Und plötzlich, während ihm das Blut ins Gesicht schoss, packte er Metschik am Rockkragen und schrie mit gepresster, pfeifender Stimme:
»Du Schurke, du elender!...«
»Was? Was?...« fragte verwirrt Metschik. »Aber das ist doch von den ,Maximalisten'... lesen Sie, Genossen!...«
»Durchsuchen!«
Einige Minuten später stand Metschik, verprügelt und entwaffnet, vor einem Menschen mit spitzer Dachsfellmütze und schwarzen durchdringenden Augen.
»Die haben nicht richtig gelesen...«, stotterte Metschik, nervös schluckend, »denn dort steht doch geschrieben ,der Maximalisten'... bitte, sehen Sie selbst...«
»Na, zeig mal das Papier her.«
Der Mann mit der Dachsfeilmütze musterte den Passierschein.
Unter seinem Blick schien das zerknüllte Papier Feuer zu fangen. Dann sah er den Matrosen an.
»Dummkopf«, sagte er rau, »kannst du nicht sehen: die Maximalisten, die gehen doch jetzt mit uns!«
»Nun ja, nun ja doch!« rief Metschik freudig. »Ich sagte ja schon - der Maximalisten!... Das ist doch ganz was anderes...«
»Also haben wir ihn umsonst geschlagen...«, sagte enttäuscht der Matrose. »Ein wahres Wunder!«
Am selben Tag wurde Metschik ein gleichberechtigtes Mitglied der Abteilung.
Die Menschen, die um ihn waren, glichen in keiner Weise denen seiner lebhaften Phantasie. Sie waren schmutziger, verlauster, roher und ungehemmter. Sie stahlen sich gegenseitig die Patronen weg, zankten bei jeder Kleinigkeit, warfen mit Flüchen nur so um sich und konnten sich um ein Stück Speck bis aufs Blut raufen. Sie machten sich über Metschik bei jeder Gelegenheit lustig - über sein städtisches Jackett, seine fehlerfreie Sprache, weil er sein Gewehr nicht zu putzen verstand und sogar deshalb, weil er beim Mittagessen keine 400 Gramm Brot vertilgen konnte.
Dafür waren es aber auch keine Bücherhelden, sondern echte, lebendige Menschen.
Während er jetzt an der stillen Taigalichtung lag, durchlebte Metschik dies alles von neuem. Es tat ihm leid um das gute, naive, aber aufrichtige Gefühl, mit dem er zur Abteilung gegangen war. Mit besonders krankhafter Empfindsamkeit nahm er daher jetzt die Fürsorge und Liebe seiner Umgebung und die schlummernde Stille der Taiga auf.
Das Lazarett stand an einem Platz, wo zwei Bäche zusammenflossen. Am Waldrand klopfte der Specht, flüsterte der dunkelrote mandschurische Ahorn, und unten, am Fuß des Abhangs, sangen, in silbernes Zittergras gehüllt, die Wasserquellen. Es waren nur wenige Kranke und Verwundete da. Zwei schwere Fälle: der Sutschaner Partisan Frolow, mit Bauchschuss, und Metschik.
Jeden Morgen, wenn man sie aus der dumpfen Baracke heraustrug, trat der hellbärtige und bedächtige Greis Pika an Metschik heran. Er gemahnte irgendwie an ein sehr altes, von allen vergessenes Bild: in tiefer Stille, vor einer uralten, moosbewachsenen Klause sitzt über einem See an türkisblauem Ufer ein freundlicher Greis mit einem Mützchen auf dem Haupt und angelt. Über ihm ein stiller Himmel, von der Hitze erschlaffte Tannen, friedliche, schilfumsponnene Ufer eines Sees. Ringsum Friede, Schlaf, Ruhe.
Ist es dieser Traum, nach dem sich Metschiks Seele sehnt?
Mit einer Singsangstimme wie ein Dorfküster erzählte Pika von seinem Sohn - einem ehemaligen Rotgardisten.
»Ja, ja... tritt er da vor mich hin. Ich sitze natürlich in der Imkerei. Nun, hatten uns lange nicht gesehen, umarmten uns also - selbstverständlich. Merke nur: er ist irgendwie traurig... ,Ich', sagt er, Vater, fahre nach Tschita.' ,Warum denn?...' ,Dort sind, Vater', sagte er, ,die Tschechoslowaken aufgetaucht.' ,Nun, was hat's mit den Tschechoslowaken auf sich?... Bleib hier; schau, ruht hier nicht Gottes Segen, sag' ich...' Und wirklich: in meiner Imkerei ist es grad wie im Paradies: Birken, weißt du, blühende Linden, Bienen... ws... ws...«
Pika nahm das weiche schwarze Mützchen vom Kopf und verjagte damit, heiter lächelnd, die Bienen.
»Und was sagst du dazu?... Er ist doch weg! Ist nicht dageblieben... Weggefahren... Jetzt haben die Weißen auch die Bienenkörbe zerstört, und der Sohn ist nicht mehr da. Das ist ein Leben!...«
Metschik hörte ihm gerne zu. Der monotone Singsang des Alten und seine geruhsamen, von innen kommenden Gebärden gefielen ihm.
Aber noch mehr liebte er es, wenn die »barmherzige Schwester« kam. Sie nähte und wusch für das ganze Lazarett. Man fühlte, dass sie von großer Liebe zu den Menschen beseelt war; Metschik gegenüber jedoch war sie von besonderer Zärtlichkeit und Fürsorge. Mehr und mehr gesundend, begann er, sie mit irdischen Augen zu betrachten. Sie hielt sich schlecht, war sehr blass und die Hände waren allzu groß für eine Frau. Sie ging einen seltsamen, unregelmäßig kräftigen Gang, und ihre Stimme schien immer etwas zu versprechen.
Und wenn sie sich zu Metschik ans Bett setzte, so vermochte er nicht ruhig zu bleiben. (Er hätte das dem Mädchen mit den hellen Locken niemals gestanden.)
»Ein lockeres Ding ist diese Warjka«, sagte einmal Pika. »Moroska, ihr Mann, ist in der Abteilung, und sie treibt sich herum...«
Metschik blickte nach der Richtung, in die der Alte zwinkernd gewiesen hatte. Die »Schwester« wusch an der Lichtung Wäsche, und um sie herum scharwenzelte der Sanitäter Chartschenko. Er neigte sich ständig zu ihr und erzählte ihr lustige Dinge, wobei sie immer öfter die Arbeit unterbrach und ihn mit sonderbar verschleiertem Blick betrachtete. Das Wort »locker« hatte in Metschik brennende Neugierde erweckt.
»Und warum ist sie... so eine?« fragte er Pika, bemüht, seine Verwirrung zu verbergen.
»Der Teufel mag das wissen, warum sie eine so liebevolle ist. Kann keinem nein sagen - und alle hier...«
Metschik gedachte des ersten Eindrucks, den er von der »Schwester« hatte, und wurde von dem unbegreiflichen Gefühl ergriffen, eine Kränkung erlitten zu haben.
Von diesem Augenblick an begann er sie aufmerksamer zu beobachten. Tatsächlich, sie »äugelte« zuviel mit den Männern, mit jedem, der nur irgendwie ohne fremde Hilfe auskommen konnte. Und es gab ja im Lazarett sonst keine Frauen.
Eines Morgens, nach Erneuerung des Verbandes, blieb die »Schwester« noch etwas länger als gewöhnlich, während sie Metschiks Bett in Ordnung brachte.
»Setz dich doch ein bisschen zu mir...«, sagte er errötend. Sie sah ihn lange und aufmerksam an, so wie sie an jenem Tag, als sie Wäsche wusch, Chartschenko angeblickt hatte. »Sieh mal an...«, entfuhr es ihr mit einigem Erstaunen. Als sie das Bett gemacht hatte, setzte sie sich zu ihm. »Gefällt dir Chartschenko?« fragte Metschik. Sie überhörte diese Frage, sprach von etwas anderem, Metschik mit ihren großen, verschleierten Augen an sich fesselnd.
»Und ist doch noch so jung...«, und zusammenfahrend: »Chartschenko?... Na ja, es geht. Alle seid ihr dasselbe Kaliber.«
Metschik streckte seine Hand unter das Kissen und holte ein kleines in Zeitungspapier gewickeltes Bündelchen hervor. Aus einer vergilbten Photographie blickte ihn ein bekanntes Mädchengesicht an, aber es erschien ihm nicht mehr so vertraut wie früher - es starrte mit fremder, gekünstelter Fröhlichkeit -, und obschon Metschik zögerte, sich dies einzugestehen, wollte es ihm sonderbar scheinen, dass er früher so viel an dieses Mädchen hatte denken müssen. Er wusste noch nicht, wozu er es tat, und ob es gut sei, als er der »Schwester« das Bild des Mädchens mit den hellen Locken reichte.
Die »Schwester« betrachtete die Photographie erst von nahem, dann in der ausgestreckten Hand, ließ dann plötzlich das Bild fallen, schrie auf, sprang vom Bett hoch und wandte sich um.
»Eine hübsche Hure!« rief hinter dem Gebüsch hervor eine höhnische, heisere Stimme.
Metschik schielte nach jener Seite und sah ein ihm merkwürdig bekanntes Gesicht mit einem widerspenstigen rötlichen Haarschopf, der unter der Mütze hervorquoll, und hämischen, grünlichbraunen Augen, die früher einmal einen anderen Ausdruck gehabt hatten.
»Na, hast du dich erschreckt?« fuhr ruhig die heisere Stimme fort. »Das galt nicht dir, sondern dem Bild... Mit vielen Weibern habe ich's zu tun gehabt, aber solche Bilder besitze ich nicht. Vielleicht schenkst du mir mal eins?...«
Warja war zu sich gekommen und lachte auf.
»Na, hast mir einen ordentlichen Schreck eingejagt«, sagte sie, nicht mit der ihr eigenen, so singenden und fraulichen Stimme. »Wo kommst du her, du zottiger Teufel?...« Und zu Metschik gewandt: »Das ist Moroska, mein Mann. Immer muss er irgendwelche Zicken machen...«
»Wir kennen uns ja ein wenig«, sagte die Ordonnanz mit spöttischem Lachen, das »ein wenig« nachdrücklich betonend. Metschik lag wie zerschmettert, sprachlos vor Scham und Demütigung. Warja hatte das Bild - sie war unversehens mit dem Fuß darauf getreten - schon ganz vergessen und unterhielt sich mit ihrem Mann. Metschik schämte sich sogar, darum zu bitten, dass man das Bild aufhebe.
Und als sie in die Taiga gegangen waren, langte er mit vor Schmerzen zusammengepressten Zähnen nach dem zerknitterten Bild am Boden und riss es in Stücke.
Moroska und Warja kehrten mittags zurück, ohne einander anzusehen, müde und faul.
Moroska trat in die Lichtung hinaus, und zwei Finger in den Mund legend, pfiff er dreimal gellend auf Banditenart. Als dann, wie im Märchen, ein zottiger, hellhufiger Hengst aus dem Gestrüpp schnellte, erinnerte sich Metschik, wo er die beiden schon einmal gesehen hatte.
»Mischka-a... Hundesohn... hast's wohl nicht erwarten können? ... « brummte die Ordonnanz zärtlich.
An Metschik vorbeireitend, streifte er diesen mit einem pfiffigen Lächeln.
Als Moroska später an den Abhängen in das schattige Grün der Waldschluchten tauchte, beschäftigten sich seine Gedanken noch öfters mit Metschik. ,Wozu nur solche Leute zu uns kommen?' dachte er ärgerlich und verständnislos. ,Als wir die Geschichte angefangen haben, war keiner da, und jetzt, an den »gedeckten Tisch«, da setzen sie sich...' Es schien ihm, dass sich Metschik tatsächlich an den »gedeckten Tisch« gesetzt hatte, obwohl in Wirklichkeit der schwere Leidensweg noch bevorstand. ,Kommt da so ein Muttersöhnchen, macht schlapp, richtet den Schaden an, und wir müssen's dann ausbaden... Was nur meine Närrin an ihm gefunden hat?'
Er dachte auch daran, dass das Leben komplizierter wird, die alten Sutschaner Pfade sich verlieren und man gezwungen sei, selbst seinen Weg zu wählen.
In so ungewohnt schweres Sinnen vertieft, bemerkte Moroska nicht, dass er ins Tal hinausgeritten war. Dort, im duftigen Unkraut, im wilden, gelockten Klee klangen die Sensen, lag über den Menschen der emsige Werktag. Die Leute hatten Bärte, lockig wie der Klee, und trugen lange, bis zu den Knien reichende, schweißdurchtränkte Kittel. Mit gemessenem, schwerem Schritt stapften sie durch die Mahd, und die Gräser sanken geräuschvoll zu ihren Füßen, duftend und träge.
Als die Menschen den bewaffneten Reiter bemerkten, hielten sie gemächlich in der Arbeit inne, legten die schwieligen Hände über die Augen und folgten lange seiner Spur.
»Wie eine Kerze!...« staunten sie begeistert über Moroskas Haltung, als er, in den Steigbügeln aufgerichtet, ein wenig nach vorn gebeugt, in ebenmäßigem Trab dahinritt, leicht schwankend wie die Flamme einer Kerze.
An der Flussbiegung, bei den Melonenfeldern des Dorfvorstehers Choma Rjabez, hielt Moroska sein Pferd an. Die Felder waren völlig verwahrlost. Wenn der Herr mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigt ist, überwuchert Unkraut die Felder, verkommen die väterlichen Gehöfte, die gedunsenen Wassermelonen reifen nur mühsam im duftenden Wermut, und selbst die Vogelscheuche über den Feldern scheint zu verenden.
Sich wie ein Dieb nach allen Seiten umschauend, ritt Moroska zu dem baufälligen Gehöft. Behutsam blickte er hinein. Kein Mensch war zu sehen. Lumpen, ein Teil einer verrosteten Sense und vertrocknete Gurken- und Melonenschalen lagen herum. Den Sack loslösend, sprang Moroska vom Pferd und kroch über
die Beete. Die Melonen in fieberhafter Eile vom Stengel reißend, packte er sie in den Sack, einige davon zerbrach er über dem Knie und verzehrte sie auf der Stelle.
Mischka wedelte mit dem Schweif und betrachtete seinen Herrn mit schlauem, verständnisvollem Blick. Doch plötzlich vernahm er ein Geräusch, spitzte die zottigen Ohren und wandte seinen mähnigen Kopf dem Fluss zu. Durch das Gebüsch arbeitete sich ein langbärtiger, breitknochiger Alter in Leinenhosen und braunem Filzhut ans Ufer. Er schleppte mühsam ein Netz, in dem ein riesiger, flachkiemiger Lachs in ohnmächtiger Todesqual zappelte. Von dem Netz rieselte über die Leinenhosen und über die kräftigen nackten Füße mit Wasser verdünntes, himbeerfarbenes Blut.
In der hohen Gestalt des Choma Rjabez erkannte Mischka den Herrn der kräftig gebauten, braunen Stute, mit der er, durch den Bretterverschlag geschieden, in ein und demselben Stalle »Tisch und Bett« teilte, sich in ständiger Sehnsucht nach ihr verzehrend. Bewillkommnend spreizte Mischka die Ohren und wieherte, den Kopf hochwerfend, blöd und freudig los.
Moroska stürzte erschrocken vor und erstarb in halb gebückter Haltung, mit beiden Händen den Sack umklammernd.
»Was... was... treibst du hier?...« rief mit gekränkter und zittriger Stimme Rjabez, einen unerträglichen, strengen und schmerzlichen Blick auf Moroska werfend. Er hielt das Netz fest zwischen den Fingern, und zu seinen Füßen zuckte der Fisch wie ein Herz von der Qual unausgesprochener, heftiger Worte.
Moroska ließ den Sack fallen und lief, den Kopf furchtsam zwischen den Schultern gesenkt, zum Pferd. Als er schon im Sattel saß, überlegte er, dass es eigentlich gut wäre, die Melonen auszuschütten und den Sack mitzunehmen, um kein Beweisstück zu hinterlassen. Aber es war ihm klar, dass das jetzt schon keine Rolle mehr spielte. Er gab also seinem Pferd die Sporen und sprengte, Staub aufwirbelnd, in wahnsinnigem Galopp davon.
»Na warte, die Strafe wird noch kommen, wird noch kommen!« rief Rjabez, sich auf die letzten Worte versteifend. Übrigens konnte er noch immer nicht glauben, dass ein Mensch, für den er einen ganzen Monat lang wie für einen Sohn gesorgt hatte, seine Melonen stahl, noch dazu in einer Zeit, wo das Unkraut in den Feldern wucherte, weil ihr Herr für das Allgemeinwohl arbeitete.
In einem schattigen Winkel im Gärtchen des Rjabez verhörte an einem mit einer abgenutzten Landkarte bedeckten Tisch Lewinsohn einen eben erst angekommenen Kundschafter.
Der Kundschafter, in gestrickter Bauernjacke und Bastschuhen, war im Zentrum der japanischen Stellungen gewesen. Sein rundes, von der Sonne gebräuntes Gesicht brannte noch von der freudigen Erregung eben überstandener Gefahren.
Den Worten des Kundschafters zufolge befand sich der Hauptstab der Japaner in Jakowlewka. Zwei Kompanien aus Spassk-Primorsk waren nach Sandagou gekommen, dafür aber war die Swiaginsker Zweigbahn gesäubert worden, und bis zur Station Schabanowsk-Klutsch saß der Kundschafter im Zuge zusammen mit zwei bewaffneten Partisanen der Abteilung Schaldybas.
»Wohin hat sich denn Schaldyba zurückgezogen?«
»Auf die koreanischen Gehöfte...«
Der Kundschafter versuchte, sie auf der Karte zu finden, aber das war nicht so leicht, und er tippte, um nicht als Ignorant zu erscheinen, unbestimmt mit dem Finger in den Nachbarkreis.
»Bei Krylowka hat man ihnen mächtig eine aufs Dach gegeben«, fuhr er lebhaft, die Luft durch die Nase ziehend, fort. »Jetzt hat sich die Hälfte der Jungens in den Dörfern verstreut, und Schaldyba sitzt im koreanischen Nest und frisst Maisbrei. Man erzählt sich, dass er mächtig säuft. Scheint ganz aus dem Geleis geraten zu sein.«
Lewinsohn verglich die neuen Nachrichten mit denen, die gestern der Deibichinskijsche Schnapsschmuggler Strykscha mitgeteilt hatte, und mit denjenigen, die ihm aus der Stadt überbracht worden waren. Man spürte, dass da irgend etwas nicht stimmte. In solchen Dingen hatte Lewinsohn eine ganz besonders feine Nase - einen sechsten Sinn, wie die Fledermaus.
Diese Unstimmigkeit lag erstens darin, dass der Vorsitzende der Genossenschaft, der nach Spasskoje gereist war, schon die zweite Woche auf sich warten ließ, ferner darin, dass vor drei Tagen einige Sandagouer Bauern, von plötzlichem Heimweh ergriffen, aus der Abteilung fortgelaufen waren, und überdies in der Tatsache, dass der hinkende Tschunguse Li-Fu, der bis dahin mit der Abteilung auf Uborka marschierte, sich aus unbekannten Gründen nach dem Oberlauf des Fudsina gewandt hatte.
Lewinsohn stellte dem Kundschafter unausgesetzt Fragen und vertiefte sich immer wieder von neuem in die Karte. Er war überaus geduldig und beharrlich wie ein alter Taiga-Wolf, der vielleicht keine Zähne mehr hat, aber das Rudel hinter sich herzieht mit der sieghaften Klugheit vieler Geschlechter.
»Na, und so irgend etwas Besonderes... war da nicht zu bemerken?«
Der Kundschafter blickte verständnislos drein.
»Nichts gewittert, nichts gewittert...«, meinte Lewinsohn, indem er die Finger wie mit einer Prise hastig zur Nase führte.
»Nein, nichts gewittert... so ist's...«, antwortete schuldbewusst der Kundschafter. ,Bin ich etwa ein Hund?' dachte er ärgerlich, und sein Gesicht wurde plötzlich rot und dumm wie das einer Hökerin auf dem Sandagouer Markt.
»'s ist gut, geh schon...«, winkte Lewinsohn mit der Hand ab, hinter seinem Rücken die blauen Augen verschmitzt zusammenkneifend.
Als er allein war, ging er, in Nachdenken versunken, durch den Garten. An einem Apfelbaum beobachtete er lange, wie ein großköpfiger, sandfarbener Käfer in der Rinde wühlte, und gelangte plötzlich auf irgendwelchen Umwegen zu dem Ergebnis, dass die Abteilung bald von den Japanern zersprengt werden würde, wenn man nicht besondere Vorkehrungen träfe.
An der Gartenpforte stieß Lewinsohn mit Rjabez und seinem Gehilfen Baklanow zusammen, einem vierschrötigen neunzehnjährigen Burschen in khakifarbener Militärbluse und mit einem stets lockeren Revolver im Gürtel.
»Was macht man bloß mit Moroska?...« platzte dieser ganz unvermittelt heraus, die Brauen runzelnd und darunter Zorn aus feurigen Kohlenaugen sprühend. »Wassermelonen hat er bei Rjabez gestohlen... da habt ihr die Bescherung!...« Mit einer Verbeugung machte er eine Geste vom Kommandeur zu Rjabez hin, als wollte er sie einander vorstellen. Lewinsohn hatte seinen Gehilfen seit langem nicht so aufgeregt gesehen.
»Schrei nur nicht so«, sagte er ruhig und mit Nachdruck, »das Schreien hat keinen Zweck. Um was handelt's sich?...«
Rjabez hielt ihm mit zitternden Händen den verhängnisvollen Sack entgegen.
»Das halbe Feld hat er mir versaut, Genosse Kommandeur, bei Gott! Bin die Netze prüfen gegangen, hatte mich endlich einmal dazu aufgerafft, und wie ich da aus dem Weidengebüsch herauskrieche...«
Und umständlich trug er ihm das angetane Unrecht vor. Besonderen Nachdruck legte er darauf, dass er ja die Wirtschaft deshalb vernachlässige, weil er für das Allgemeinwohl arbeite.
»Meine Weibsbilder, musst du wissen, rackern sich mit dem Mähen ab, anstatt die Melonenfelder zu jäten, wie's bei anderen Leuten gemacht wird. Wie die Verfluchten!...«
Lewinsohn ließ ihn, aufmerksam und geduldig zuhörend, zu Ende reden und schickte nach Moroska. Dieser erschien mit nachlässig ins Genick geschobener Mütze und unnahbar-frecher Miene, die er immer aufsetzte, wenn er sich im Unrecht fühlte, hatte sich aber vorgenommen zu lügen und sich bis zum äußersten zu verteidigen.
»Dein Sack?« fragte der Kommandant, Moroska unmittelbar in den Bannkreis seiner immer klaren Augen reißend.
»Ja...«
»Baklanow, nimm ihm den ,Smith' ab.«
»Was heißt das, ,nimm'?... Hast du ihn mir etwa gegeben?« Moroska sprang zur Seite und knöpfte die Revolvertasche auf.
»Mach keine Faxen...«, sagte Baklanow mit rauer Beherrschtheit, die Falten über der Nasenwurzel fester zusammenziehend.
Moroska, entwaffnet, wurde plötzlich weich:
»Nun, wie viel dieser Wassermelonen hab' ich denn dort genommen?... Und überhaupt, Choma Rjabez, was wollen Sie eigentlich, 's ist doch wirklich nicht der Rede wert... tatsächlich!«
Rjabez neigte abwartend den Kopf und bewegte die nackten Zehen seiner verstaubten Füße.
Lewinsohn verfügte, dass die Dorfversammlung am Abend mit der Abteilung zusammentrete, um über den Diebstahl Moroskas zu beraten.
»Sollen es alle wissen...«
»Josif Abramytsch...«, begann Moroska mit belegter, verdunkelter Stimme. »Die Abteilung meinetwegen... das ist schon einerlei: aber wozu denn die Bauern?«
»Höre, mein Lieber«, sagte Lewinsohn zu Rjabez gewandt, ohne Moroska zu beachten, »ich habe mit dir zu reden... unter vier Augen.«
Er fasste den Vorsitzenden am Ellenbogen, nahm ihn zur Seite und bat ihn, innerhalb einer zweitägigen Frist im Dorfe Brot aufzutreiben und an die zwei Pud Zwieback zu trocknen.
»Nur sieh mir zu, dass niemand erfährt, wozu und für wen der Zwieback bestimmt ist...«
Moroska begriff, dass das Gespräch beendet sei, und schlich niedergeschlagen in die Wachtstube.
Als Lewinsohn mit Baklanow allein war, befahl er ihm, vom morgigen Tag an die Haferrationen der Pferde zu vergrößern.
»Sag dem Wirtschaftsleiter, er soll ein volles Maß aufschütten.«
Die Ankunft Moroskas störte das seelische Gleichgewicht, das sich Metschiks unter dem Einfluss des gleichmäßigen, ruhigen Lazarettlebens bemächtigt hatte.
,Warum hat er mich so verächtlich angeschaut?' dachte Metschik, als die Ordonnanz fortgeritten war. ,Schön, er hat mich aus dem Feuer herausgeholt, aber gibt ihm das ein Recht, sich über mich lustig zu machen? Und alle, vor allem... alle...' Er schaute auf seine dünnen, abgemagerten Finger, seine geschienten Beine unter der Decke, alte, verdrängte Kränkungen flammten in ihm mit neuer Gewalt auf, und seine Seele krampfte sich in Verwirrung und Schmerz zusammen.
Seitdem ihn der Bursche mit den stechenden Distelaugen und dem spitzen Gesicht feindselig und roh am Kragen gepackt hatte, begegneten alle Metschik mit hämischem Lächeln, niemand wollte ihm helfen, niemand das, was ihn kränkte, begreifen. Selbst im Lazarett, wo die Taigastille Liebe und Frieden atmete, waren die
Menschen nur deshalb gut zu ihm, weil es zu ihren Obliegenheiten gehörte. Das Allerschwerste, das Allerbitterste aber war für Metschik das Gefühl, so einsam zu sein - sein Blut war doch auch irgendwo auf einem Gerstenfelde geflossen.
Es zog ihn zu Pika, aber der Alte schlief friedlich auf dem ausgebreiteten Kittel unter einem Baum am Waldesrand, der Kopf ruhte auf seiner weichen Mütze. Von der runden, glänzenden kleinen Glatze aus liefen nach allen Richtungen wie Strahlen feine silberne Härchen. Zwei Burschen - der eine mit verbundener Hand, der andere hinkend - kamen aus der Taiga. Bei dem Alten angelangt, zwinkerten sie einander verschmitzt zu. Der Lahme griff nach einem Strohhalm und kitzelte damit, die Brauen hochgezogen, als müsste er selber niesen, Pikas Nase. Pika brummelte im Schlaf, zuckte mit der Nase, bewegte mehrmals abwehrend die Hand und nieste endlich zum allgemeinen Vergnügen. Beide Burschen platzten los und liefen, in geduckter Haltung, wie Schulbuben schuldbewusst um sich blickend, zur Baracke, der eine mit behutsam angezogener Hand, der andere sein krankes Bein nachziehend.
»He du, Gehilfe des Todes!« rief der erste, als er auf dem Bänkchen vor dem Hause Chartschenko und Warja erblickte. »Was tätschelst du unsere Weiber?... Nun, mein Lieber, nun, lass mich auch mal probieren...«, brummte er mit öliger Stimme, setzte sich daneben und umfasste die »Schwester« mit dem gesunden Arm. »Wir lieben dich, du bist unsere Einzige, aber diesen Neger hier, jag ihn, jag ihn zum Teufel, jag ihn, diesen Hundesohn.'...« Er bemühte sich, mit der einen Hand Chartschenko wegzustoßen, aber der Sanitäter schmiegte sich von der anderen Seite dicht an Warja und fletschte die regelmäßigen, vom Tabak gelben Zähne.
»Und wo soll denn ich mich ankuscheln?« winselte der Lahme. »Was soll denn das bedeuten, wo ist denn da die Gerechtigkeit, und ehrt man etwa so Verwundete? Was meint ihr dazu, Genossen, werte Mitbürger?« schnarrte er wie ein aufgezogenes Uhrwerk, zwinkerte mit den feuchten Lidern und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
Sein Begleiter wehrte sich, um ihn fernzuhalten, mit den Beinen, der Sanitäter aber lachte unnatürlich laut, während er sich heimlich unter Warjas Bluse zu schaffen machte. Sie blickte müde und ergeben drein und machte keine Anstalten, Chartschenkos Hand wegzuschieben. Als sie jedoch plötzlich Metschiks verwirrten Blick auffing, sprang sie, die Bluse zuknöpfend, hoch und wurde rot wie eine Pfingstrose.
»Kriechen wie die Fliegen auf den Honig, die verfluchten Köter!...« sagte sie wütend und lief, mit gesenktem Kopf, in die Baracke. An der Tür klemmte sie sich den Rock ein, riss ihn dann ärgerlich heraus und schlug die Tür von neuem so heftig zu, dass das Moos aus den Ritzen fiel.
»Na, das ist mir eine Schwester!...« rief näselnd der Lahme. Er verzog das Gesicht, als nähme er eine Prise, und kicherte leise, hämisch und gemein.
Und hinter dem Ahorn, von einem Feldbett her, auf einen Berg aus vier Matratzen gelagert, blickte mit zum Himmel gerichtetem gelbem, krankhaft verzehrtem Antlitz fremd und streng der verwundete Partisan Frolow. Sein Blick war matt und leer wie bei Toten. Frolows Verwundung war hoffnungslos, und das war ihm seit dem Augenblick klar, da er sich vor tödlichem Schmerz auf dem Boden wälzte, während sich der über ihm wölbende Himmel in seinen Augen widerspiegelte. Metschik fühlte den unbeweglichen Blick Frolows und wandte sich erschauernd ab.
»Die Jungens... treiben Unfug...«, sagte heiser Frolow und bewegte einen Finger, wie um jemandem zu beweisen, dass er noch lebe.
Metschik tat, als hörte er nicht.
Und obschon Frolow längst nicht mehr an ihn dachte, fürchtete Metschik noch lange, seinem Blick zu begegnen. Ihm war, als stiere der Verwundete noch immer mit einem knöchernen Lächeln.
Aus der Baracke trat, in linkisch gekrümmter Haltung, der Arzt Staschinskij. Doch plötzlich richtete er sich hoch, einem langen aufklappbaren Taschenmesser gleich, schier rätselhaft, wie er sich hatte überhaupt so krümmen können. Mit langen Schritten steuerte er auf die Burschen zu und blieb, völlig vergessend, was er von ihnen wollte, mit dem einen Auge zuckend, erstaunt stehen...
»Eine Hitze«, brummte er endlich und fuhr sich mit der Hand über den geschorenen Kopf. Eigentlich war er herausgekommen, um zu sagen, dass es nicht gut sei, einen Menschen zu belästigen, der ja nicht einem jeden die Mutter und die Frau ersetzen könne.
»Langweilig, so herumzuliegen, was?« fragte er, sich an Metschik wendend, und legte ihm seine trockene, heiße Hand auf die Stirn.
Metschik war ganz gerührt von dieser unerwarteten Teilnahme.
»Mir langweilig?... Ich werde wieder gesund und geh' fort von hier«, antwortete er, leicht bebend, »aber was wird mit Ihnen?... Ewig hier im Wald.«
»Und wenn es nun sein muss?...«
»Was denn?« erwiderte Metschik verständnislos.
»Dass ich im Wald bleibe...« Staschinskij zog seine Hand zurück und seine glänzenden, schwarzen Augen blickten zum ersten Mal mit menschlicher Neugier Metschik gerade ins Gesicht. Sie schienen aus weiter Ferne zu kommen, als hätten sie die ganze unaussprechliche Sehnsucht nach Menschen in sich aufgesogen, die die Einsamen in den langen Nächten an den blauenden Feuern von Sichote-Alin in der Taiga verzehrt.
»Ich verstehe«, sagte Metschik traurig und lächelte ebenso traurig und verträumt. »War's denn nicht möglich, sich im Dorfe einzurichten?... Ich meine natürlich nicht Sie persönlich, sondern das Lazarett«, verbesserte er sich hastig, auf einen befremdenden Blick Staschinskijs hin.
»Gefahrloser ist's hier... Aus welcher Gegend sind Sie denn?«
»Ich bin aus der Stadt.«
»Schon lange?...«
»Ja, schon über einen Monat.«
»Kennen Sie Kreiselmann?« fragte etwas lebhafter Staschinskij.
»Ja, flüchtig...«
»Nun, wie geht's ihm dort? Und wen kennen Sie noch?«
Der Doktor zuckte heftiger mit dem Auge und setzte sich so unvermittelt auf einen Baumstumpf, als hätte ihm jemand hinterrücks einen Schlag in die Kniekehlen versetzt.
»Den Wonsik kenne ich, den Jefremow...«, begann Metschik, aufzählend, »Gurjew, Fränkel, nicht den mit der Brille, den kenne ich nicht, sondern den kleinen...«
»Aber das sind doch alles ,Maximalisten'!« verwunderte sich Staschinskij. »Woher kennen Sie die?«
»Ich bin doch mit ihnen immer...«, murmelte Metschik unsicher, irgendwie zaghaft.
»Ah, ha...«, wollte Staschinskij anscheinend sagen, schluckte es aber hinunter.
»Schöne Sache«, brummte er trocken mit fremder Stimme und stand auf. »Na also... gute Besserung...«, fügte er dann hinzu, ohne Metschik anzusehen. Und als fürchte er, dass jener ihn zurückrufen könnte, schritt er schnell auf die Baracke zu.
»Die Wassjutina kenne ich auch!...« rief Metschik ihm nach, als versuche er, sich noch an etwas zu klammern.
»Ja... ja...«, wiederholte Staschinskij einige Male, sich halb umwendend und seine Schritte beschleunigend.
Metschik begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte, krümmte sich zusammen und wurde rot.
Plötzlich stürzten alle Ereignisse des letzten Monats auf ihn ein, er machte eine letzte Anstrengung, sich an irgend etwas zu klammern, doch das misslang ihm. Seine Lippen erbebten, und heftig schluckend versuchte er, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Jedoch er vermochte nicht, ihrer Herr zu werden, und sie perlten in großen dichten Tropfen über sein Gesicht. Schließlich konnte er sich nicht mehr beherrschen, zog die Decke über die Ohren und weinte leise, leise, bemüht, nicht zu zittern und nicht laut zu schluchzen, damit niemand seine Schwäche bemerke.
Lange und untröstlich weinte er, und seine Gedanken waren salzig und stumpf wie seine Tränen. Als er sich beruhigt hatte, lag er mit bedecktem Gesicht unbeweglich da. Einige Male trat Warja an sein Bett. Er kannte sehr wohl ihren festen Schritt, es war, als ob die »Schwester« sich verpflichtet habe, eine vollbeladene Lore bis zu ihrem Tode vor sich herzuschieben. Sie stand eine Weile unschlüssig da, ging dann aber immer wieder fort. Schließlich kam Pika angehumpelt.
»Schläfst du?« fragte er zärtlich.
Metschik stellte sich schlafend. Pika wartete ein wenig. Über der Decke hörte man die Abendmücken surren.
»Nun, so schlaf...«
Als es schon dunkel war, traten von neuem zwei an sein Lager, Warja und noch jemand. Vorsichtig hoben sie das Feldbett und trugen ihn in die Baracke. Dort war es heiß und feucht.
»Geh... geh... geh zu Frolow... ich komme gleich«, sagte Warja zu dem zweiten.
Sie stand einige Sekunden über das Bett gebeugt und fragte, indem sie vorsichtig die Decke hob:
»Was hast du, Pawluscha?... Ist dir nicht gut?...«
Sie hatte ihn zum ersten Mal Pawluscha genannt.
Metschik konnte sie im Dunkel nicht erkennen, spürte aber ihre Gegenwart ebenso deutlich, wie er fühlte, dass sie ganz allein in der Baracke waren.
»Mir ist nicht gut...«, presste er wehmütig hervor.
»Tun dir die Beine weh?...«
»Nein, nur so...«
Sie beugte sich blitzschnell über ihn, und sich fest mit ihren starken weichen Brüsten an ihn schmiegend, küsste sie ihn auf den Mund.
Um die Richtigkeit seiner Mutmaßungen zu überprüfen, begab sich Lewinsohn frühzeitig in die Versammlung, wollte sich unter die Bauern mischen und etwa umlaufende Gerüchte auffangen.
Die Versammlung fand in der Schule statt. Es waren erst wenige Leute anwesend: einige, die früher vom Felde aufgebrochen waren, unterhielten sich in der Abenddämmerung auf der Vortreppe. Durch eine offene Tür sah man Rjabez im Zimmer an einer verrußten Lampe hantieren.
»Ossip Abramytsch«, begrüßten die Bauern Lewinsohn und streckten ihm ehrerbietig einer nach dem andern die sonnverbrannten, von der Arbeit schwieligen Hände entgegen. Er begrüßte jeden einzelnen und nahm bescheiden auf einer Stufe Platz.
Hinter dem Fluss sangen vielstimmig die Mädchen, es roch nach Heu, feuchtem Staub und Rauchschwaden. Man konnte hören, wie an der Fähre die müden Pferde mit den Hufen stampften. Im warmen, abendlichen Nebel, im Ächzen der beladenen Leiterwagen, in dem langgedehnten Muh satter, ungemolkener Kühe erlosch der mühevolle Bauerntag.
»Reichlich wenig«, sagte Rjabez, auf die Vortreppe hinaustretend. »Viele wird man heute nicht zusammenbringen können, manche nächtigen auf dem Felde...«
»Wozu eine Versammlung am Werktag? Muss wohl was Dringendes sein?«
»Ja, 's ist da so 'ne Sache...«, ließ sich, etwas zögernd, der Vorsitzende vernehmen. »Einer von denen hat was ausgefressen, wohnt bei mir. Eigentlich ist's ja sozusagen eine Kleinigkeit und ist ein ganzer Stunk daraus geworden...« Verwirrt blickte er auf Lewinsohn und schwieg.
»Wenn's nicht der Rede wert ist, hätte man uns gar nicht erst zusammenrufen sollen!...« riefen verschiedene Bauern. »Ist nun mal so 'ne Zeit, da ist dem Bauern jede Stunde teuer.«
Lewinsohn erklärte ihnen, was los war. Da begannen sie, durcheinander redend, ihre bäuerlichen Sorgen auszukramen, die sich hauptsächlich um die Mahd und die Warennot drehten.
»Ossip Abramytsch, du solltest mal so über die Wiesen gehen und sehen, womit die Leute mähen! Keiner hat 'ne ganze Sense, wenn doch nur eine zum Jux wenigstens ganz wäre, alle sind sie geflickt. Das ist eine Schinderei, keine Arbeit.«
»Was für eine Sense der Semen neulich kaputt gemacht hat. Dem geht alles zu langsam, ist ganz arbeitsversessen. Mäht da so drauflos, schnauft wie eine Maschine und fährt mit der Sense in einen Baumstumpf 'rein... Jetzt kann er sie flicken, soviel er will, ist nichts mehr zu machen.«
»So 'ne feine Sense!...«
»Und meine Leute, wie steht's mit denen?...« fragte nachdenklich Rjabez. »Haben Sie's geschafft? Das Gras steht heuer wie ein Wald. Zum Sonntag wenigstens müsste man mit der Sommerwiese fertig werden. Teuer kommt uns dieser Krieg zu stehen.«
Neue Gestalten tauchten aus dem Dunkel in den zitternden Lichtstreifen, einige mit Bündeln beladen, in langen, schmutzigweißen Kitteln. Sie waren eben von der Arbeit gekommen, begannen lärmend nach Bauernart zu reden und verbreiteten einen Geruch von Teer und Schweiß und den Duft von frischgemähtem Gras.
»Gottes Gruß in eure Hütte...«
»Ha-ha-ha!... Iwan?... Lass mal deine Schnauze bei Licht besehen - na, haben dich die Hummeln ordentlich zugerichtet? Hab' gesehen, wie du mit wackelndem Hintern vor ihnen hergelaufen bist...«
»Was hast du, Schweinehund, in meine Wiese hineinzumähen?« »Wieso in deine Wiese? Schwatz keinen Blödsinn!... Haarscharf am Rain hab' ich gemäht... Wir brauchen nichts Fremdes, haben Eigenes genug.«
»Man kennt das... Eigenes genug! Eure Schweine sind nicht aus dem Garten herauszutreiben... Bald werden sie auf meinem Melonenfeld ferkeln... ja, Eigenes genug! Man kennt das...« Irgendein Hagerer, Derber, mit gekrümmtem Rücken und einem im Dunkeln glänzenden Auge, wuchs aus der Menge und sagte:
»Vor drei Tagen ist der Japaner nach Sandagou gekommen. Die Tschuguewer Jungens erzählen's. Kam, besetzte die Schule, und gleich auf die Weiber los: ,Ruhsische Freiein, ruhsische Freiein... sju-sju-sju'. Pfui Teufel, Gott verzeih mir...«, unterbrach er sich hasserfüllt, heftig mit der Hand die Luft durchschneidend, als hacke er etwas ab.
»Er wird auch zu uns kommen, das ist todsicher.« »Und woher dieses Unheil nur kommt?« »Dem Bauer ist keine Ruhe gegönnt.« »Und alles lastet auf dem Bauern. Wenn das doch bloß mal ein Ende hätte.«
»Die Hauptsache ist ja, es gibt keinen Ausweg! Ob direkt ins Grab oder erst in den Sarg, das kommt alles auf eins 'raus!...« Lewinsohn hörte zu, ohne sich einzumischen. Man hatte ihn ganz vergessen. Er war äußerlich so klein, so unscheinbar, bestand ganz aus Mütze, rotem Bart und über die Knie reichenden Stulpenstiefeln. Aber aus den ihn umschwirrenden rauen, bäuerlichen Stimmen fing er nur ihm verständliche, beunruhigende Töne auf. ,Die Sache steht schlecht...', überlegte er angestrengt, ,ganz schlecht...' ,Morgen schon muss man Staschinskij schreiben, dass er die Verwundeten wegschaffen lässt, wohin es nur geht... Wir müssen für eine Weile still werden, als ob wir gar nicht da wären... die Posten verstärken...'
»Baklanow!« rief er seinen Gehilfen. »Komm mal einen Augenblick... Es handelt sich um folgendes... Setz dich näher. Ich glaube, ein Wachtposten an der Umzäunung tut's nicht. Wir müssen berittene Wachen bis nach Krylowka vorschicken... besonders nachts... sind schon arg sorglos geworden...«
»Was ist denn los?« fragte erregt Baklanow. »Ist was passiert?... oder was sonst?« Er wandte seinen geschorenen Kopf Lewinsohn zu, und seine Augen blickten wachsam forschend, wie die Schlitzaugen eines Tataren.
»Im Kriege, lieber Freund, ist's immer unruhig«, sagte Lewinsohn zärtlich und giftig zugleich. »Im Kriege, mein Bester, ist das nicht so wie mit der Marussja auf dem Heuboden...«
Er stieß plötzlich ein kerniges, heiteres Lachen aus und kniff Baklanow in die Seite.
»Sieh mal an, so ein Schlaukopf...«, neckte Baklanow seinen Kommandeur, packte ihn am Arm und verwandelte sich plötzlich in einen rauflustigen, fröhlichen und gutmütigen Jungen.
»Zapple nicht, zapple nicht, kommst sowieso nicht los!...« brummte er zärtlich durch die Zähne, Lewinsohns Arm nach hinten drehend und ihn unmerklich gegen einen Treppenpfosten pressend.
»Pack dich, pack dich, dort ruft die Marussja...«, lachte Lewinsohn verschmitzt. »Na, Teufel du, lass mich doch los!... das gehört sich doch nicht hier auf der Versammlung...«
»Na eben, nur weil sich's nicht gehört, sonst hätt' ich dir's schon gezeigt...«
»Geh schon, geh schon, deine Marussja ruft... geh schon!«
»Ein Wachtposten genügt wohl, denk' ich?« fragte Baklanow, sich erhebend.
Lächelnd blickte Lewinsohn ihm nach.
»Einen Mordskerl von Gehilfen hast du«, sagte jemand, »trinkt nicht, raucht nicht, und was die Hauptsache ist, er ist jung. Kommt da vor drei Tagen zu mir in die Hütte, ein Kummet holen... ,Na', sage ich, ,willst nicht ein Schnäpschen?' ,Nein', sagt er, ,trinke nicht. Wenn du mir schon was vorsetzen willst', sagt er, ,gib mir etwas Milch.' - ,Milch', sagt er, ,die trink' ich gern, das stimmt.' Und trinkt sie, weißt du, wie so'n kleines Kind, aus einem Schüsselchen, und krümelt sich Brot 'rein... mit einem Wort, ein Teufelsjunge.«
In der Menge tauchten immer zahlreicher die Gestalten der Partisanen mit ihren blitzenden Gewehrläufen auf. Die Jungens waren einmütig und pünktlich zur Stelle. Endlich erschienen die Kumpels, ihnen voran Timofej Dubow, ein hochgewachsener Hauer aus Sutschan, der jetzt Zugführer war. Sie fluteten in einer einzigen brüderlichen Masse, ohne sich zu zerstreuen, in die Menge, nur Moroska setzte sich finster abseits auf ein Hügelchen.
»Ah, ah... du bist auch hier?« trompetete Dubow, als er Lewinsohn erblickte, als ob er ihn Jahr und Tag nicht gesehen und nie und nimmer erwartet hätte, ihn hier zu treffen. »Was hat unser Freundchen da denn angestellt?« fragte er bedächtig mit tiefer Stimme und streckte seine schwere, geschwärzte Hand Lewinsohn entgegen. »Man muss ihm einen tüchtigen Denkzettel geben, einen tüchtigen Denkzettel, dass die andern sich das merken!...« trompetete er dann weiter, ohne die Erklärungen Lewinsohns abzuwarten.
»War schon längst nötig, diesem Moroska ein wenig auf die Finger zu gucken, er bringt die ganze Abteilung in Verruf«, entgegnete ein geziert sprechender Bursche. Er hieß Tschish, trug eine Studentenmütze und gewichste Stiefel.
»Du bist nicht gefragt!« schnitt ihm Dubow, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, das Wort ab.
Der Bursche kniff schon gekränkt und stolz die Lippen zusammen, als er jedoch den spöttischen Blick Lewinsohns auffing, zog er es vor, spurlos in der Menge zu verschwinden.
»Hast du den Schafskopf gesehen?« fragte düster der Zugführer. »Wozu lässt du ihn hier?... Man erzählt, dass er selber wegen Diebstahls aus dem Institut gejagt worden ist.«
»Glaub nicht jedem Gerücht«, sagte Lewinsohn.
»Wie lange werdet ihr hier noch herumstehen!...« rief von der Vordertreppe Rjabez, verwirrt mit den Händen herumfuchtelnd, als hätte er nie im Leben erwartet, dass sein mit Unkraut überwuchertes Melonenfeld die Ursache einer solchen Menschenansammlung werden könnte. »Fängt man nicht bald an, Genosse Kommandeur?... Oder sollen wir uns hier herumtreiben, bis die Hähne krähen?...«
Im Zimmer war es heiß und blau vor Rauch geworden. Die
Bänke reichten nicht aus. Bauern und Partisanen in buntem Durcheinander verstopften die Durchgänge, drängten sich an den Türen. Lewinsohn spürte ihren Atem im Genick.
»Fang an, Ossip Abramytsch«, sagte mürrisch Rjabez. Er war unzufrieden mit sich und mit dem Kommandeur. Die ganze Geschichte schien jetzt nichtig und lästig.
Moroska drängte sich durch die Tür und stellte sich böse und finster neben Dubow.
Lewinsohn betonte besonders, dass er die Bauern niemals von der Arbeit abberufen hätte, wäre er nicht der Ansicht gewesen, dass es sich hier um eine gemeinsame Sache handele, die beide Seiten anginge, und außerdem waren viele in der Abteilung aus dem Orte.
»Wie ihr's beschließt, so soll's auch sein«, endete er nachdrücklich, indem er sich die bedächtige bäuerliche Art zu eigen machte. Ruhig ließ er sich auf die Bank nieder, lehnte sich zurück und wurde plötzlich wieder klein und unscheinbar, verlosch wie ein Docht und überließ so der Versammlung, die ins Dunkel fiel, die Aufgabe der Entscheidung.
Zuerst traten verschiedene Personen auf, die sich nebelhaft und unsicher äußerten, sich in Nebensächlichkeiten verloren, dann mischten sich andere ein, und die Versammlung kam langsam in Schwung. Schon nach einigen Minuten war nichts mehr zu verstehen. Meist waren es Bauern, die das Wort ergriffen, die Partisanen schwiegen dumpf und abwartend.
»Das ist so auch keine Ordnung«, brummte streng der alte weißhaarige Jewstafij und runzelte die buschigen Brauen. »In der guten alten Zeit unter Zar Nikolaschka wurde man für solche Sachen durchs Dorf geführt. Man behing den Dieb mit dem gestohlenen Gut und gab ihm unter Topfmusik das Geleit!...« Eindringlich drohte er jemandem mit seinem dürren Finger.
»Lass uns zufrieden mit deinem Nikolaschka!...« schrie der Einäugige mit dem krummen Rücken, derselbe, der von den Japanern erzählt hatte. Ständig drängte es ihn, mit den Armen herumzufuchteln, aber es war zu eng, und so ereiferte er sich denn um so mehr. »Dein Nikolaschka fehlt dir!... Die Zeiten sind vorbei... futsch für immer!...«
»Nikolaschka hin, Nikolaschka her, aber das ist auch kein Recht«, widersetzte sich der Alte. »Die ganze Bande füttern wir schon. Aber Diebe züchten haben wir nicht nötig.«
»Wer spricht von züchten? Keiner hängt sich an Diebe! Diebe züchtest du vielleicht selber!...« entgegnete der Einäugige und spielte damit auf den Sohn des Alten an, der vor zehn Jahren spurlos verschwunden war. »Wir brauchen hier unser eigenes Maß! Der Junge da kämpft vielleicht schon das sechste Jahr, sollte er sich etwa nicht an einer Wassermelone gütlich tun dürfen?...«
»Wozu treibt er solchen Unfug?...« warf einer verständnislos ein. »Mein Gott, wenn es sich noch gelohnt hätte!... Wäre er zu mir gekommen, einen ganzen Sack hätte ich ihm gefüllt. Hier, nimm, gereut uns nicht fürs Vieh, soll uns für einen guten Menschen auch nicht leid tun!...«
In den bäuerlichen Stimmen war keinerlei Verbitterung zu spüren. Die Mehrzahl war sich über eines einig: die alten Gesetze taugten nichts, dieser Sache musste man ganz anders beikommen.
»Sollen sie selber entscheiden mit ihrem Vorsitzenden!« rief jemand. »Wir haben da unsere Nase nicht 'reinzustecken...«
Lewinsohn erhob sich von neuem und klopfte auf den Tisch.
»Genossen, einer nach dem andern«, sagte er leise, aber vernehmlich, so dass jeder es hören konnte. »Wenn wir alle gleichzeitig reden, werden wir zu keinem Beschluss kommen. Aber wo ist denn überhaupt Moroska?... He, komm mal her...«, setzte er düster hinzu, und aller Augen waren auf die Ordonnanz gerichtet.
»Ich sehe auch von hier aus...«, sagte Moroska dumpf.
»Geh schon, geh schon!...« drängte ihn Dubow.
Moroska zögerte, Lewinsohn begab sich nach vorn, durchbohrte ihn mit seinem stählernen Blick und riss ihn gleichsam wie einen Nagel aus der Menge.
Moroska schob sich zum Tisch vor, den Kopf tief gesenkt, ohne jemanden anzublicken. Er war schweißbedeckt, seine Hände zitterten. Hunderte neugieriger Blicke fühlend, hätte er wohl versucht, den Kopf zu heben, bemerkte jedoch das raue, bärtige Gesicht Gontscharenkos. Der Mineur betrachtete ihn teilnehmend und streng. Moroska ertrug das nicht, wandte sich zum Fenster und bohrte wie erstarrt den Blick ins Leere.
»Also, jetzt lasst uns beraten«, sagte Lewinsohn ebenso erstaunlich leise wie vorhin, aber hörbar für alle, selbst für die, die hinter der Türe standen. »Wer verlangt das Wort?... Na, du, Väterchen, wolltest doch was sagen?«
»Was soll man da sagen«, meinte verlegen der alte Jewstafij, »das war nur so unter uns...«
»Da gibt's nicht viel zu fackeln, beratet selbst!« schrieen die Bauern von neuem.
»Na, Alter, lass mich mal reden...«, sagte Dubow ganz unerwartet, mit dumpfer, verhaltener Kraft, und da er dabei Jewstafij ansah, hatte er irrtümlich Lewinsohn mit »Alter« angeredet. In der Stimme Dubows lag etwas, das alle Köpfe emporfahren und sich ihm zuwenden ließ. Er drängte sich zum Tisch und stellte sich, mit seiner großen massigen Gestalt Lewinsohn verdeckend, neben Moroska.
»Wir sollen selbst beraten?... Ihr habt wohl Angst?!« fuhr er drohend und leidenschaftlich auf, mit der Brust gleichsam die Luft durchschneidend. »Nun wohl, wir werden selbst entscheiden!...« Er neigte sich schnell zu Moroska und sog sich mit flammenden Augen an ihm fest. »Bist einer der Unsrigen, sagst du, Moroska?... ein Kumpel?« knirschte er giftig. »Huh-huh... unsauberes Blut, Sutschaner Erz!... Willst nicht einer der Unsrigen sein? Gehst auf Abwege? Befleckst das Geschlecht der Kumpels? Schon gut!...« Die Worte Dubows fielen mit schwerem Dröhnen in die Stille, wie tönender Anthrazit.
Moroska, bleich wie ein Laken, blickte ihn unverwandt an, ohne sich loszureißen, und das Herz zuckte in ihm wie angeschossen.
»Schon gut!« wiederholte Dubow... »Treib dich nur weiter herum!... Wollen sehen, wie du ohne uns auskommst!... Aber wir... zum Teufel müssen wir ihn jagen!...« riss er kurz ab, indem er sich hastig zu Lewinsohn wandte.
»Sieh mal zu, verrechne dich bloß nicht!...« rief einer der Partisanen.
»Was?!« fragte Dubow mit schrecklicher Stimme und stapfte vorwärts.
»Aber mein Gott, genug schon...«, stieß kläglich eine erschrockene Greisenstimme aus einer Ecke hervor.
Lewinsohn packte den Zugführer von hinten am Ärmel.
»Dubow... Dubow...«, sagte er ruhig. »Komm, tritt etwas zur Seite, verstellst die Leute...«
Die Ladung Dubows war verpufft, der Zugführer sank, verwirrt zwinkernd, in sich zusammen.
»Nun, wie sollen wir ihn zum Teufel jagen, diesen Dummkopf?« ließ sich plötzlich Gontscharenko, seinen lockigen, sonnengebräunten Kopf über die Menge erhebend, vernehmen. »Ich sage das nicht zu seiner Verteidigung, hier kann man nur ja oder nein sagen, der Bursche hat eine Schweinerei begangen, ich balge mich selber jeden Tag mit ihm herum... aber er ist auch ein tapferer Junge, das muss man ihm lassen. An der ganzen Ussurischen Front haben wir zusammen gekämpft, in der vordersten Linie. Er ist einer der Unsern, wird keinen verraten noch verkaufen...«
»Einer der Unsern...«, unterbrach ihn Dubow bitter. »Und uns, meinst du, ist er etwa ein Fremder?... In einem Loch haben wir gehaust... Den dritten Monat schlafen wir unter einem Mante! Und da kommt irgendein Hergelaufener« (er erinnert sich plötzlich an den geziert sprechenden Tschish) »und will einem was beibringen!...«
»Das ist's ja, worauf ich hinauswill«, fuhr Gontscharenko, verständnislos zu Dubow hinschielend, fort (er hatte die Beschimpfung auf sich bezogen). »Die Sache so einfach begraben, das geht nicht, und ihn plötzlich davonjagen, das ist auch keine Art, wir verlieren so unsere Leute. Meine Meinung ist: man soll ihn selbst fragen!...« Und er schlug gewichtig mit der Handkante auf, als ob er alles Fremde und Überflüssige von dem Seinigen und dem Richtigen scheide.
»Richtig!... Man frage ihn selbst.'... Er soll selber reden, wenn er es einsieht.'...«
Dubow, im Begriff, seinen Platz aufzusuchen, blieb im Durchgang stehen und blickte forschend auf Moroska. Dieser schaute verständnislos drein und zupfte nervös mit schweißigen Fingern an seinem Hemd.
»Sag, was denkst du?...«
Moroska schielte zu Lewinsohn.
»Ja, hätte ich denn...«, begann er leise, fand keine Worte und verstummte.
»Sprich, sprich...«, rief man ihm aufmunternd entgegen. »Ja, hätte ich denn... so etwas getan...« Er fand wieder nicht das richtige Wort und nickte Rjabez verlegen zu... »Na, diese Wassermelonen... hätt' ich denn das gemacht, wenn ich's überlegt hätte..., oder war's vielleicht aus Gemeinheit?... Schon die Kinder bei uns, alle wissen's, und so habe ich's auch... und wie Dubow sagte, dass ich unsere Jungens alle...ja hätte ich denn, Brüder!...« riss es sich plötzlich aus seinem Innern, und wie von unsichtbarer Kraft getrieben, fasste er sich an die Brust und seine Augen sprühten von einem warmen und feuchten Glanz, »... ich geb' ja meinen letzten Blutstropfen für einen jeden, und da...da sollt' ich noch Schande über euch... oder was!...«
Von der Straße her drangen fremde Töne ins Zimmer. Ein Hund bellte irgendwo auf dem Snitkinschen Gehöft, Mädchen sangen, neben dem Haus des Popen pochte es dumpf und gleichmäßig, wie das Stampfen eines Mörsers. »Hol uns 'rü-über!...«, rief es in langgezogenen Tönen von der Fähre her.
»Nun, und wie ich mich selber bestrafen werde?...« fuhr Moroska schmerzlich, aber schon bedeutend sicherer und weniger aufrichtig fort, »... kann nur mein Wort geben...mein Kumpelwort... daran ist nicht zu rütteln, lass' nichts auf mich kommen....«
»Und wenn du's nicht hältst?« fragte Lewinsohn vorsichtig.
»Werd's halten...« Moroska verzog das Gesicht. Er schämte sich vor den Bauern.
»Und wenn nicht?...«
»Dann macht, was ihr wollt... Stellt mich an die Wand...«
»Werden's auch tun!« sagte streng Dubow, aber seine Augen leuchteten schon ohne jeglichen Zorn, liebevoll und spöttisch.
»Also, jetzt genug damit!... Schluss!« rief es von den Bänken.
»Na, das wäre erledigt...«, sagten die Bauern, erfreut, dass diese langwierige Versammlung sich ihrem Ende näherte. »So 'ne Bagatelle, aber Redereien für ein ganzes Jahr...«
»Dabei bleibt es, oder?... Andere Vorschläge liegen nicht vor? ... «
»Mach schon Schluss, zum Teufel!...« lärmten die Partisanen, die lange genug stillgesessen hatten. »Hängt einem schon zum Halse 'raus... wollen fressen gehen... wie lange sollen wir noch Kohldampf schieben?«
»Abwarten«, sagte Lewinsohn, indem er die Hand hochhob und verhalten die Stirn runzelte. »Diese Frage ist erledigt, jetzt eine andere...«
»Was ist denn noch los?!«
»Ich bin der Meinung, wir müssen eine Resolution fassen...« Er blickte sich um. »Aber wir haben ja überhaupt keinen Sekretär gehabt!« lachte er plötzlich gutmütig und gedämpft auf. »Tschish, komm mal her, schreib...es wird folgende Resolution angenommen: dass die von Kriegshandlungen freie Zeit nicht zum Maulaffenfeilhalten verwendet wird, sondern den Wirtsleuten mitzuhelfen ist, wenigstens ein wenig... « Er sagte dies so überzeugend, als glaubte er wirklich, es würde jemand den Wirtsleuten jemals zur Hand gehen.
»Aber das verlangen wir ja gar nicht!...« rief ein Bauer.
Lewinsohn dachte: ,Angebissen...'
»Seht... Seht!...« wurde der Bauer unterbrochen. »Hör lieber zu. Lasst sie doch wirklich mal arbeiten, die Hände werden ihnen schon davon nicht abfallen...«
»Und bei Rjabez werden wir es noch besonders abarbeiten...«
»Warum besonders?« ereiferten sich die Bauern: »Was ist der denn für ein großer Herr?... Was ist schon dabei, Vorsitzender zu sein, das kann jeder!...«
»Schluss! Schluss!... einverstanden!... schreib!...« Die Partisanen sprangen von den Plätzen und drängten, ohne auf den Kommandeur zu hören, hinaus.
»Hei-ja... Wanja!...« Ein struppiger, spitznäsiger Kerl stürzte auf Moroska zu und zog ihn, mit den Stiefeln aufstampfend, zum Ausgang. »Du mein allerliebstes Bübchen, Söhnchen, Rotznäschen... hei-ja!...« Zu jedem Wort mit den Stiefeln den Takt schlagend, schob er sich die Mütze übermütig ins Genick und legte Moroska den anderen Arm um den Hals.
»Lass mich, lass mich!« stieß ihn Moroska gutmütig beiseite.
Lewinsohn und Baklanow schritten rasch an ihnen vorüber.
»Na, ein Kerl dieser Dubow«, sagte der Gehilfe, spuckte, da er aufgeregt war, beim Sprechen und gestikulierte heftig. »Gontscharenko und Dubow, die beiden müsste man mal aufeinander hetzen! Wer würde wen, was meinst du wohl?...«
Lewinsohn, der mit etwas anderem beschäftigt war, hörte nicht zu. Weich und locker gab der feuchte, staubige Boden unter ihren Füßen nach.
Unbemerkt war Moroska hinter ihnen zurückgeblieben. Die letzten Bauern hatten ihn schon überholt. Sie sprachen jetzt ruhig, ohne sich zu beeilen, als kämen sie von der Arbeit und nicht von einer Versammlung.
»Der Jud hat's in sich«, sagte einer, allem Anschein nach von Lewinsohn.
Ü ber den Hügel glommen die traulichen Lichter der Hütten auf, sie riefen zum Abendessen. Der Fluss lärmte im Nebel in vielen hundert murmelnden Stimmen.
»Hab' Mischka noch nicht getränkt...«, fuhr Moroska auf, der langsam wieder in das altgewohnte Gleis zurückkehrte.
Mischka, der seinen Herrn witterte, wieherte leise und unzufrieden im Stall, als wollte er ihn fragen: ,Wo treibst du dich denn herum?' Moroska tastete im Dunkeln nach der struppigen Mähne und zog das Pferd aus dem Schuppen.
»Sieh einer an, wie der sich freut«, er stieß Mischkas Kopf zurück, als dieser frech die feuchten Nüstern gegen seinen Hals presste: »Nichts als Sperenzchen machen kannst du, und ich, ich hab's dann auszubaden.«
Die Abteilung Lewinsohns lag schon die fünfte Woche in Ruhestellung, allmählich hatte sie sich einen ganzen Train zugelegt mit Zugpferden, Wagen, Kochkesseln, mit allem Drum und Dran, um den sich zerlumpte Deserteure aus anderen Abteilungen drängten; die Leute waren faul geworden und schliefen mehr, als sie sollten, selbst wenn sie Posten standen.
Beunruhigende Nachrichten erlaubten es Lewinsohn nicht, diesen ganzen schwerfälligen Apparat an einen anderen Standort zu
verschieben: er fürchtete sich vor einem übereilten Schritt. Immer wieder neue Geschehnisse bestätigten einerseits seine Befürchtungen, machten sie dann aber wieder lächerlich. Nicht selten warf sich Lewinsohn übertriebene Vorsicht vor, besonders als es bekannt wurde, dass die Japaner Krylowka verlassen hätten und die Kundschafter auf Dutzende von Kilometern keine Spur vorn Feinde entdecken konnten.
Von diesem Schwanken Lewinsohns wusste jedoch außer Staschinskij niemand etwas. Ja, niemand in der Abteilung ahnte, dass Lewinsohn überhaupt schwanken könne; er vertraute keiner Menschenseele seine Gefühle und Gedanken an, sondern präsentierte immer ein fertiges »Ja« oder »Nein«. Daher schien er allen, ausgenommen Menschen wie Dubow, Staschmskij und Gontscharenko, die ihren Kommandeur wirklich zu schätzen wussten, als ein Mensch ganz besonderer Art. Alle Partisanen, zumal der jugendliche Baklanow, der sich in allem bemühte, seinem Kommandeur ähnlich zu sein und sogar dessen Manieren angenommen hatte, dachte etwa folgendes: ,Gewiss habe ich, sündiger Mensch, viele Schwächen; ich verstehe manches nicht, komme mit vielem nicht zurecht; zu Hause habe ich eine fürsorgliche liebe Frau oder Braut, nach der ich mich sehne; ich liebe süße Wassermelonen oder Milch mit Brot oder blankgeputzte Stiefel, um beim Tanz die Mädchenherzen zu erobern. Lewinsohn aber, das ist ganz was anderes. Ihm kann man so etwas nicht nachsagen, er versteht alles, er tut alles, wie es getan sein muss, geht nicht zu den Mädels wie Baklanow und stiehlt keine Wassermelonen wie Moroska; er kennt nur eines - die Sache. Man muss daher einem so unfehlbaren Menschen Vertrauen schenken und sich ihm unterordnen
Von jener Zeit an, da Lewinsohn zum Kommandeur gewählt worden war, konnte sich ihn niemand an einem anderen Posten denken; jedem erschien als seine hervorragendste Eigenschaft eben gerade die, dass er die Abteilung kommandierte. Wenn Lewinsohn davon erzählt hätte, wie er in seiner Kindheit dem Vater geholfen hatte, mit alten Möbeln zu handeln, wie sein Vater sein Leben lang reich werden wollte, sich aber vor Mäusen fürchtete und auf der Geige herumkratzte, so hätten das wohl alle für einen unpassenden Witz gehalten. Aber Lewinsohn erzählte derlei niemals. Nicht deshalb, weil er verschlossen gewesen wäre, sondern deshalb, v/eil er wusste, dass man ihn als einen Menschen »ganz besonderer Art« ansah; er kannte viele der eigenen Schwächen, auch die Schwächen anderer, und dachte, dass man die Menschen nur führen könne, wenn man sie auf ihre Schwächen hinweist, die eigenen aber vor ihnen verbirgt und unterdrückt. Deswegen spottete er auch niemals über den jugendlichen Baklanow, dass dieser ihn nachahmte. Als Lewinsohn in seinem Alter war, hatte er die Menschen, die ihn unterrichteten, gleichfalls nachgeahmt, waren sie ihm doch ebenso vorbildlich wie er dem Baklanow erschienen. Später überzeugte er sich, dass dem nicht so sei, und war ihnen trotzdem sehr dankbar. Baklanow übernahm ja nicht nur seine Manieren, sondern auch die alte Lebenserfahrung, die Fertigkeiten im Kampfe, in der Arbeit und im Benehmen. Und Lewinsohn wusste, dass die Manieren sich im Laufe der Jahre verflüchtigen, die Fertigkeiten aber, bereichert durch eigene Erfahrung, auf neue Lewinsohns und Baklanows übergehen würden; dies aber war sehr wichtig und notwendig.... In feuchter Mitternacht, in den ersten Tagen des August, langte in der Abteilung eine berittene Stafette an. Der alte Suchowej-Kowtun hatte sie gesandt, der Stabschef der Partisanenabteilungen. Der alte Suchowej-Kowtun berichtete von dem Überfall der Japaner auf Anutschino, wo die Hauptkräfte der Partisanen konzentriert waren, über den Todeskampf bei Iswestka, über Hunderte zu Tode gequälter Menschen, und darüber, dass er selbst sich in einem Jägerblockhaus, von neun Kugeln verwundet, verborgen halte und allem Anschein nach seine Stunden gezählt seien...
Das Gerücht über die Niederlage lief mit unheildrohender Geschwindigkeit durch das Tal, und doch hatte die Stafette es noch überholt. Alle Ordonnanzen fühlten, dass dies die schrecklichste Stafette sei, die seit Beginn der Bewegung je ausgesandt worden war. Die Aufregung der Menschen übertrug sich auf die Gäule. Die zottigen Partisanenpferde jagten mit gebleckten Zähnen von Dorf zu Dorf, über düstere, aufgeweichte Feldwege, unter ihren Hufen schwere Klumpen Schmutzes aufwerfend...
Lewinsohn empfing die Stafette um halb ein Uhr nachts, und eine halbe Stunde später sprengte der berittene Zug des Hirten Meteliza, Krylowka hinter sich lassend, fächerförmig auseinanderstrebend, über die geheimen Pfade von Sichote-Alin und trug die Schreckensbotschaft in die Abteilung des Swiaginsker Kampfgebiets.
Vier Tage lang sammelte Lewinsohn die verschiedensten Nachrichten der Abteilungen. Sein Hirn arbeitete angestrengt, tastend, als lauschte es auf etwas. Aber er sprach mit den Menschen genau so ruhig wie immer, kniff wie immer seine blauen abwesenden Augen zusammen und neckte Baklanow wegen seines Techtelmechtels mit der schlampigen Marussja. Und als Tschish, durch die Furcht kühner geworden, ihn gelegentlich fragte, warum er nichts unternehme, schnippte Lewinsohn mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn und erwiderte liebenswürdig, das sei nichts für Spatzenhirne. Äußerlich benahm sich Lewinsohn so, als wisse er ausgezeichnet, warum dies alles so geschehen und wohin es führe, dass darin nichts Außergewöhnliches oder Schreckliches liege und als habe er schon längst einen genauen, einwandfreien Rettungsplan vorbereitet. In Wirklichkeit hatte er nicht nur keinerlei Plan, sondern er war vollkommen ratlos, wie ein Schüler, den man ganz plötzlich zwingt, eine Aufgabe mit zahlreichen Unbekannten zu lösen. Er erwartete noch Nachrichten aus der Stadt, wohin eine Woche vor Ankunft der alarmierenden Stafette der Partisane Kanunnikow geritten war. Dieser kehrte am fünften Tage nach der Stafette zurück, mit langen Bartstoppeln, müde und hungrig, aber noch immer so fix und rothaarig wie vordem, in dieser Beziehung war er unverbesserlich.
»In der Stadt ist alles zusammengekracht, und Kreiselmann sitzt im Gefängnis...«, sagte Kanunnikow, während er mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers Briefe aus dem Ärmelfutter hervorzog, nur mit den Lippen lächelnd; es war ihm keineswegs fröhlich zumute, aber er konnte überhaupt nicht sprechen, ohne zu lächeln. »In Wladimiro-Alexandrowsk und in der Olgabucht sind japanische Truppen gelandet... ganz Sutschan ist zerstört. Übler Tabak!... da, rauch mal...« Er streckte Lewinsohn eine Zigarette hin, und es war nicht zu ersehen, ob er mit dem »rauch mal« die Zigarette oder die Angelegenheiten meinte, die übel seien wie »Tabak«.
Lewinsohn überflog die Adresse, einen Brief steckte er in die Tasche, den anderen brach er auf. Kanunnikows Wort bestätigte sich. Zwischen den offiziellen Zeilen voll gekünstelter Munterkeit war allzu deutlich die Bitterkeit der Niederlage und der Schwäche zu lesen.
»Schlecht, was?...« fragte teilnehmend Kanunnikow.
»Es geht... Wer hat den Brief geschrieben, Sedych?«
Kanunnikow nickte bejahend.
»Das merkt man: bei ihm ist immer alles nach Abschnitten geordnet...« Lewinsohn unterstrich belustigt mit dem Nagel »Abschnitt IV: Tagesaufgaben«, dann roch er an der Zigarette. »Übler Tabak, was? Gib mal Feuer... mach ja kein Gequatsch unter den Jungens, von wegen der Landungstruppen und anderem... hast mir die Pfeife gekauft?« und ohne auf die Erklärungen Kanunnikows, weshalb er die Pfeife nicht gekauft habe, zu hören, vertiefte sich Lewinsohn von neuem in den Brief.
Der Abschnitt »Tagesaufgaben« bestand aus fünf Punkten: vier davon schienen Lewinsohn töricht und unerfüllbar. (,Tja, verdammte Sache ohne Moissej', dachte er; erst jetzt empfand er schmerzlich die Verhaftung Kreiselmanns.) Der fünfte Punkt jedoch lautete:
»... Das Wichtigste, was jetzt von den Partisanenkommandeuren zu fordern ist, was um jeden Preis erreicht werden muss, ist die Bewahrung wenn auch kleiner, so doch starker und disziplinierter Kampfeinheiten, um die später...«
»Ruf Baklanow und den Wirtschaftsleiter«, sagte hastig Lewinsohn.
Er steckte den Brief in die Feldtasche, ohne zu Ende zu lesen, was später um die Kampfeinheiten sein sollte. Irgendwo zeichnete sich aus einer Anzahl von Aufgaben eine ab, »die wichtigste«. Lewinsohn warf die erloschene Zigarette fort und begann auf den Tisch zu trommeln... ,Die Kampfeinheiten bewahren Mit diesem Gedanken konnte er nicht fertig werden, er schwebte ihm vor Augen in Form dreier mit Tintenschrift auf liniertem Papier geschriebener Worte. Mechanisch tastete er nach dem zweiten Brief, prüfte den Umschlag und erinnerte sich, dass er von seiner Frau war. ,Dies nachher', dachte er und steckte ihn wieder weg: ,Die Kampfeinheiten bewahren...'
Als der Wirtschaftsleiter und Baklanow kamen, wusste Lewinsohn bereits, was er tun würde, er und die Leute, die unter seinem Kommando standen: sie würden alles tun, um die Abteilung als Kampfeinheit zu bewahren.
»Wir werden bald von hier abmarschieren müssen«, sagte Lewinsohn. »Ist alles bei uns in Ordnung?... Das Wort hat der Wirtschaftsleiter...«
»Der Wirtschaftsleiter«, wiederholte Baklanow wie ein Echo und zog mit so grimmiger und entschlossener Miene seinen Gürtel an, als wüsste er im voraus, worauf das alles hinauslief.
»Was denn, an mir wird's nicht liegen, ich bin immer bereit... Nur, wie wird das mit dem Hafer werden, der...« - und der Wirtschaftsleiter begann lang und breit von dem durchnässten Hafer zu reden, von den zerrissenen Packtaschen, den kranken Pferden, und dass sie »den ganzen Hafer nicht fortbringen können«, mit einem Wort, von Dingen, die zeigten, dass er noch zu gar nichts bereit war und im Grunde die Verlegung der Abteilung für ein schädliches Beginnen hielt. Er vermied es, Lewinsohn anzusehen, verzog krankhaft das Gesicht, zwinkerte mit den Augen und räusperte sich verlegen, weil er schon im voraus von seiner Niederlage überzeugt war.
Lewinsohn fasste ihn an einem Knopf und sagte:
»Du redest Unsinn...«
»Ja, wahrhaftig, Ossip Abramytsch, besser ist's, wenn wir uns hier befestigen ... «
»Befestigen?... hier?!...« Lewinsohn schüttelte den Kopf, als ob er die Dummheit des Wirtschaftsleiters bemitleide. »Und dabei hat er schon ganz graues Haar. Sag mal, denkst du eigentlich mit dem Kopf?...«
»Ich...«
»Keine Redensarten!« Lewinsohn zerrte ihn vielsagend am Knopf. »Jeden Augenblick bereit sein. Ist das klar?... Baklanow, du passt darauf auf... « Er ließ den Knopf los... »Schäm dich!... Deine Packtaschen, das ist doch nicht der Rede wert... Lappalien!« Seine Augen wurden kalt und unter ihrem scharfen Blick überzeugte sich der Wirtschaftsleiter endgültig davon, dass die Packtaschen wirklich Lappalien waren.
»Nun, selbstverständlich... klar... das ist nicht die Hauptsache...« murmelte er, jetzt sogar bereit, den Hafer auf dem eigenen Buckel zu schleppen, wenn es der Kommandeur für nötig hielte. »Was kann uns da hindern? Das ist doch schnell gemacht! Heute noch, im Handumdrehen...«
»Na, also...«, lachte Lewinsohn auf, »ist schon gut, schon gut, geh schon!« Er versetzte ihm einen kleinen Stoß in den Rücken. »Dass du mir jeden Augenblick...«
,Schlaues Aas', dachte ärgerlich und entzückt der Wirtschaftsleiter, als er das Zimmer verließ.
Gegen Abend versammelte Lewinsohn den Abteilungsrat und die Zugführer.
Zu dem Bericht Lewinsohns verhielt man sich verschieden. Dubow schwieg und zupfte den ganzen Abend an seinem dicht herabhängenden Schnurrbart. Man sah, dass er schon im vornherein mit Lewinsohn einverstanden war. Besonderen Widerspruch gegen die Verlegung der Abteilung erhob der Kommandeur des zweiten Zuges, Kubrak. Es war dies der älteste, verdienteste und allerdümmste Kommandeur des ganzen Kreises. Er wurde von niemandem unterstützt. Kubrak war aus Krylowka gebürtig, und jeder begriff, dass es nur Sehnsucht nach der Scholle und nicht sachliche Erwägung war, die ihm die Worte eingab.
»Nun aber Schluss!...« unterbrach ihn der Hirt Meteliza. »Es ist schon Zeit, sich die Weiberröcke aus dem Kopf zu schlagen, Onkel Kubrak!« Er entzündete sich wie immer an seinen eigenen Worten, schlug mit der Faust auf den Tisch, und sein pockennarbiges Gesicht bedeckte sich mit Schweiß. »Hier wird man uns wie die Hühner - aus - Feierabend!...« Er begann schlürfenden Schrittes im Zimmer hin und her zu rennen und stieß, mit einer Gerte um sich schlagend, die Hocker um.
»Nicht so stürmisch, lieber Freund, sonst wirst du schnell müde werden«, riet ihm Lewinsohn. Aber im stillen freute er sich der explosiven Bewegungen dieses biegsamen Körpers, muskulös und fest wie eine geflochtene Reitpeitsche. Dieser Mensch konnte nicht einen Augenblick ruhig sitzen, war ganz Feuer und Bewegung, und seine Raubtieraugen brannten ständig in der unersättlichen Begier, jemandem nachzujagen und sich zu schlagen.
Meteliza schlug einen eigenen Rückzugsplan vor, aus dem ersichtlich war, dass dieser Hitzkopf die großen Entfernungen nicht scheute und es ihm an militärischem Scharfblick nicht fehlte.
»Richtig!... der ist nicht auf den Kopf gefallen«, rief Baklanow aus, entzückt und ein wenig ärgerlich über den allzu kühnen Flug des selbständigen Denkens des Meteliza. »Hat noch vor kurzem die Pferde gehütet... aber so in zwei Jährchen, eh man sich versieht, wird er uns alle kommandieren...«
»Meteliza?... Höh, oh... Ja, das ist unser Kleinod!« bestätigte Lewinsohn. »Nur pass auf, dass dir nicht der Kamm schwillt...«
Indem er sich aber die heißen Debatten, in denen jeder sich für klüger als den anderen hielt und auf keinen hörte, zunutze machte, vertauschte Lewinsohn den Plan Metelizas mit dem seinen, einem unkomplizierteren und vorsichtigeren. Er machte das derart geschickt und unmerklich, dass sein neuer Vorschlag, über den abgestimmt wurde, als wäre es der Plan Metelizas, einstimmig angenommen wurde.
In seinem nach der Stadt und an Staschinskij gesandten Antwortschreiben teilte Lewinsohn mit, dass er die Abteilung in den nächsten Tagen in das Dorf Schibischi am Oberlauf des Irochedsa überführen werde; das Lazarett jedoch wollte er bis zum Eintreffen besonderer Anordnungen an Ort und Stelle belassen. Lewinsohn kannte Staschinskij noch von der Stadt her, und dies war der zweite alarmierende Brief, den er ihm schrieb.
Erst spätnachts hörte Lewinsohn zu arbeiten auf, das Petroleum in der Lampe ging zur Neige. Durchs offene Fenster strömten Feuchtigkeit und Modergeruch. Man horte, wie hinter dem Ofen die Schwaben raschelten und Rjabez in der Nachbarhütte schnarchte. Lewinsohn erinnerte sich an den Brief seiner Frau und las ihn durch, als er die Lampe nachgefüllt hatte. Nichts Neues und nichts Freudiges. Wie früher findet sie nirgends Arbeit, alles, was nur verkäuflich, ist schon verkauft, es bleibt nichts übrig, als auf Kosten des »Arbeiter-Roten-Kreuzes« zu leben. Die Kinder sind skrofulös und blutarm. Und zwischen den Zeilen klingt die unendliche Sorge um den Mann. Lewinsohn zupfte sich nachdenklich am Bart und begann, eine Antwort zu schreiben. Anfangs scheute er sich, den Kreis der Gedanken, der mit dieser Seite seines Lebens verknüpft war, in Bewegung zu setzen, aber nach und nach geriet er in Eifer, seine Gesichtszüge verloren die Schärfe, zwei volle Bogen füllte er mit kleinen, unleserlichen Schriftzügen, und in ihnen stand gar manches Wort, von dem niemand vermutet hätte, dass es Lewinsohn bekannt sei.
Dann streckte er seine steif gewordenen Glieder und trat auf den Hof hinaus. Im Stall stampften die Pferde mit den Hufen, knirschend zermahlten sie das saftige Gras. Der Posten schlief fest unter dem Wetterdach, das Gewehr an sich gepresst. Lewinsohn dachte: ,Was, wenn auch die anderen Posten so schlafen?...' Er stand eine Weile, kämpfte gegen die eigene Müdigkeit und führte den Hengst aus dem Stall. Er sattelte ihn. Der Posten schlief noch immer. ,Sieh mal einer an, der Hundesohn', dachte Lewinsohn. Behutsam nahm er dem Posten die Mütze ab, versteckte sie unter dem Heu, schwang sich aufs Pferd und ritt fort, um die Posten zu kontrollieren.
An den Büschen entlang erreichte er die Umzäunung.
»Wer da?« rief ein Posten rau, mit dem Verschluss knackend.
»Einer von uns...«
»Lewinsohn?... Was treibt dich durch die Nacht?«
»War die Streife da?«
»Vor fünfzehn Minuten.«
»Nichts Neues?«
»Einstweilen ist alles ruhig... Gibt's was zu rauchen?...«
Lewinsohn gab ihm etwas Tabak und ritt, nachdem er den Fluss überquert hatte, ins Feld hinein.
Der matte Mond brach hervor, aus dem Dunkel hoben sich die bleichen, taubedeckten Sträucher ab. Der Fluss rauschte über eine Sandbank und ließ die Steinchen klirrend gegeneinander schlagen. Vorn am Hügel tänzelten verschwommen vier Reitergestalten. Lewinsohn ritt auf das Gebüsch zu, um sich zu verbergen. Die Stimmen kamen aus nächster Nähe. Lewinsohn erkannte zwei davon: die Streife.
»Wart mal«, sagte Lewinsohn, auf die Straße sprengend. Die Pferde schnauften und bäumten sich seitwärts. Eines hatte den Hengst Lewinsohns erkannt und wieherte leise auf.
»So kann man's mit der Angst kriegen«, sagte der vordere mit erregt-munterer Stimme. »Trrr, Hexe!...«
»Mit wem seid ihr?« fragte, mitten in sie hineinreitend, Lewinsohn.
»Mit der Ossokinschen Streife... die Japaner sind in Marjanowka...«
»In Marjanowka?« fuhr Lewinsohn auf. »Und wo ist Ossokin mit seiner Abteilung?«
»In Krylowka«, antwortete einer der Kundschafter. »Wir haben uns zurückgezogen: der Kampf war mörderisch, konnten uns nicht halten. Jetzt hat man uns zu euch geschickt, um die Verbindung herzustellen. Morgen gehen wir nach den koreanischen Gehöften...« Er beugte sich im Sattel, als drückte ihn die grausame Last seiner eigenen Worte nieder. »Alles ist in Trümmer gegangen. Vierzig Mann haben wir verloren. Im ganzen Sommer hatten wir keine solchen Verluste.«
»Brecht ihr früh von Krylowka auf?« fragte Lewinsohn. »Kehrt um, ich komme mit...«
Es war schon fast Tag geworden, als er zur Abteilung zurückkehrte, abgezehrt, mit entzündeten Augen und einem vom Wachen schweren Kopf.
Die Unterredung mit Ossokin erhärtete endgültig die Richtigkeit des von Lewinsohn gefassten Beschlusses, zeitig aufzubrechen und die Spuren zu verwischen. Noch beredter sprach davon der Zustand der Ossokinschen Abteilung: sie war aus allen Fugen geraten, wie ein altes Fass mit verfaulten Dauben und verrosteten Reifen, gegen das man einen kräftigen Hammerschlag geführt. Die Leute gehorchten ihrem Kommandeur nicht mehr und zerstreuten sich ziellos über die Höfe, viele waren betrunken. Einer fiel besonders auf, ein Dürrer, Struppiger, er saß auf einem Platz am Wege, mit trüben Augen in die Erde stierend, und jagte in blindem Entsetzen einen Schuss nach dem anderen in den fahlschimmernden Morgennebel.
Als Lewinsohn zurückgekehrt war, sandte er die Briefe unverzüglich an ihren Bestimmungsort, ließ aber niemanden wissen, dass er den Aufbruch auf die kommende Nacht festgesetzt habe.
In dem ersten Brief, den Lewinsohn bereits an dem Tage nach der denkwürdigen Bauernversammlung an Staschinskij gesandt hatte, teilte er ihm seine Besorgnisse mit und schlug vor, das Lazarett allmählich abzubauen, um sich jedes überflüssigen Ballastes zu entledigen. Der Arzt überlas den Brief einige Male; in dem häufigeren Zucken der Lider, am schärferen Hervortreten der zusammengepressten Kiefer in dem gelben Gesicht äußerte sich eine Beklemmung, der sich niemand entziehen konnte. Es war, als ob aus dem kleinen grauen Briefumschlag, den Staschinskij in seinen dürren Fingern hielt, die unklare Unruhe Lewinsohns, einer Schlange gleich, fauchend hervorkroch, und als ob die heimische, gewohnte Stille von jedem Grashalm, von jeder leisen menschlichen Seelenschwingung jäh unterbrochen worden sei.
Plötzlich war das gute Wetter umgeschlagen, auf Sonnenschein folgte Regen, wehmütig rauschte der mandschurische Ahorn, der früher als alles andere den Atem des nahenden Herbstes verspürte. Der alte, schwarzgeschnäbelte Specht klopfte mit ungewöhnlichem Eifer gegen die Rinde; Pika, von schlechter Laune übermannt, wurde schweigsam und grob. Tagelang strich er durch die Taiga und kehrte müde und unbefriedigt heim. Er griff zum Nähzeug, der Zwirn verwickelte sich und riss, er setzte sich ans Damespiel, verlor, und ihn überkam ein Gefühl, als sauge er durch einen dünnen Strohhalm fauliges Sumpfwasser. Die Leute aber verstreuten sich schon über die Dörfer, schnürten ihre kärglichen Soldatenbündel und nahmen traurig lächelnd Abschied voneinander. Die »Schwester« prüfte noch einmal die Verbände, küsste ihre »Brüderchen« zum letzten Mal, und sie wanderten, mit den nagelneuen Bastschuhen im Moose versinkend, in unbekannte Fernen und in den Schmutz...
Als letzten geleitete Warja den Lahmen.
»Leb wohl, Brüderlein«, sagte sie und küsste ihn auf den Mund. »Siehst du, Gott liebt dich, hat ein gutes Wetterchen geschickt... Vergiss uns Arme nicht...«
»Wo ist denn Gott?« lächelte der Lahme. »Es gibt keinen Gott... Nein, nein, zum Teufel!...« Wie gewöhnlich wollte er einen saftigen Witz hinzufügen, doch zuckte es plötzlich in seinem Gesicht, er winkte resigniert mit der Hand ab, wandte sich um und trottete über den Pfad, unablässig von dem unheimlichen Geklapper seines Essgeschirrs begleitet.
Von den Verwundeten waren nur Frolow und Metschik zurückgeblieben, zu denen sich noch Pika gesellte, der eigentlich gar nicht krank war, sondern einfach nicht weggehen wollte. Metschik, im neuen Kittel, den ihm die Schwester genäht hatte, saß auf untergeschobenen Kissen halb aufgerichtet auf einem Feldbett. Am Kopf trug er keinen Verband mehr, die Haare waren ihm nachgewachsen, ringelten sich in dichten, gelblichen Locken, die Narbe an der Schläfe ließ sein Gesicht ernster und älter erscheinen.
»Auch du wirst dich erholen und bald weggehen...«, sagte die »Schwester« traurig.
»Wohin soll ich denn gehen?« fragte er unsicher und selbst etwas erstaunt. Die Frage entfuhr ihm zum ersten Male und war für ihn mit unbestimmten, aber ihm schon bekannten Vorstellungen verbunden, sie enthielten nichts Freudiges. Metschiks Gesicht legte sich in Falten. »Hab' nirgends hinzugehen«, sagte er rau.
»Sieh mal einer an!...« verwunderte sich Warja. »Du gehst in die Abteilung zu Lewinsohn. Kannst du reiten? Unsere Abteilung ist beritten...Tut nichts, wirst's schon lernen...« Sie setzte sich zu ihm aufs Feldbett und ergriff seine Hand. Metschik sah sie nicht an, und der Gedanke, dass er früher oder später doch fort müsse, schien ihm jetzt unangebracht und lag ihm bitter wie Schierling auf der Zunge.
»Hab nur keine Angst«, sagte Warja, als hätte sie ihn verstanden. »So hübsch und jung, aber so schüchtern... schüchtern bist du«, wiederholte sie liebevoll und küsste ihn, sich unauffällig umsehend, auf die Stirn. Etwas Mütterliches lag in ihrer Zärtlichkeit. »Bei Schaldyba ist's so, aber bei uns geht's...«, flüsterte sie ihm hastig ins Ohr, ohne die Sätze zu vollenden, »der hat alles Dörfler, bei uns aber sind's meistens Kumpels, gute Kerle, mit denen kann man auskommen...Du musst mich öfters besuchen...«
»Und Moroska, was wird der sagen?«
»Und jene auf dem Bild, was wird die sagen?« fragte sie lachend, im gleichen Augenblick zurückfahrend, da Frolow sich umdrehte.
»... denk' schon gar nicht mehr daran... Habe das Bild zerrissen«, fügte er hastig hinzu: »Hast die Schnippel damals nicht gesehen?...«
»Nun, und ich denk' erst recht nicht an Moroska, las gut sein, er ist daran gewöhnt. Er geht ja auch seine eigenen Wege... Las bloß den Kopf nicht hängen, die Hauptsache, du besuchst mich öfters. Musst keinem was nachsehen... Las dich nicht unterkriegen. Unsere Jungens braucht man nicht zu fürchten, die sehen nur so gefährlich aus: steck ihnen den Finger ins Maul, sie beißen ihn ab. Aber das ist alles halb so schlimm, nichts als Schein. Man muss nur selber die Zähne zeigen...«
»Und du, zeigst du etwa die Zähne?«
»Ich bin eine Frau, ich brauche das wohl gar nicht, ich schaff's vielleicht auch mit der Liebe. Ihr Mannsbilder aber müsst eben die Zähne zeigen... Du wirst's allerdings nicht zuwege bringen«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu. Und sich wieder zu ihm neigend, flüsterte sie: »Vielleicht liebe ich dich eben deshalb... ich weiß nicht...«
,'s ist wahr, ich bin gar nicht mutig', dachte Metschik später, während er die Hände unter den Kopf schob und unbewegten Blicks in den Himmel starrte. ,Aber werde ich es denn wirklich nicht fertig bringen? Irgendwie muss man's doch, andere können's doch auch...' Die schwermütigen Gedanken von Einsamkeit und Sehnsucht waren von ihm gewichen. Er konnte die Dinge bereits unbefangener betrachten, mit anderen Augen. Dies hatte seinen Grund darin, dass in seiner Krankheit ein Umschwung eingetreten war, seine Wunden vernarbten schnell und durch seinen gesunden Körper begannen neue Säfte zu strömen. Und das kam aus der Erde, die Erde roch nach Spiritus und Ameisen, oder das kam auch von Warja, sie hatte zarte, rauchfarbene Augen, und alles, was sie redete, schien aus einem liebevollen Herzen zu quillen. So glaubte er wenigstens.
,... Und wirklich, wozu Trübsal blasen?' dachte Metschik, und es war ihm, als gäbe es jetzt keine Ursache mehr zum Verzagen. ,Man muss sich sofort auf gleichen Fuß stellen: keinem was nachsehen... sich nicht unterkriegen lassen... das hat sie ganz richtig gesagt. Die Menschen sind hier anders, auch ich muss anders werden... Und ich werde es schaffen', sagte er sich mit ungewöhnlicher Entschlossenheit, voll eines beinahe kindlichen Gefühls der Dankbarkeit für Warja, ihre Worte und ihre gütige Liebe. ,Alles wird dann anders werden... und wenn ich in die Stadt zurückkehre, wird mich keiner erkennen, ich werde nicht mehr derselbe sein
Seine Gedanken waren weit abseits geschweift, zu hellen, kommenden Tagen, und sie waren daher leicht, zergingen von selbst wie rosiges, stilles Gewölk über einer Taigalichtung. Er dachte daran, wie er mit Warja zusammen in einem leicht schaukelnden Wagen mit weitgeöffneten Fenstern in die Stadt zurückkehren und da draußen ebenso rosiges, stilles Gewölk über dem fernen, schimmernden Bergrücken schwimmen würde. Und beide werden sie am Fenster sitzen, dicht aneinandergeschmiegt, Warja sagt ihm liebe Worte, und er streichelt ihr Haar, und ihre Zöpfe werden so golden sein wie der lichte Tag... Und Warja glich in seinen Träumen gar nicht der hochschultrigen Bergarbeiterin vom Schacht Nr. 1, denn alles, was Metschik dachte, war der Wirklichkeit entrückt, verklärte sich im Lichte seiner Wünsche.
Nach einigen Tagen langte der zweite Brief aus der Abteilung an. Moroska, der diesen Brief überbrachte, stiftete tolle Verwirrung. Mit wüstem Gepfeife und Gejohle aus der Taiga hervorjagend, brachte er den Hengst zum Aufbäumen und stieß dabei unverständliche Laute hervor. Er tat dies aus überschäumender Lebenskraft und auch... ganz einfach »Spaßes halber«.
»Der Teufel führt dich her«, sagte der erschrockene Pika mit singender, vorwurfsvoller Stimme. »Hier stirbt einer«, er wies auf Frolow, »und du brüllst da...«
»Ah, ah... Vater Seraphim!« begrüßte ihn Moroska. »Habe die Ehre!...«
»Was heißt da Vater, man nennt mich F-Fedor...«, erwiderte Pika erbost. In der letzten Zeit wurde er sehr oft ungehalten, lächerlich und bemitleidenswert.
»Lass gut sein, Fedossej, plustere dich nicht so auf, davon könnten dir die Haare ausgehen... Der holden Gattin meine Hochachtung!« Moroska verneigte sich vor Warja, indem er die Mütze herunterriss und sie auf Pikas Kopf stülpte. »Lass gut sein, Fedossej, die Mütze steht dir zu Gesicht, nur die Höschen heb etwas höher, sie hängen sonst wie an einer Vogelscheuche, reichlich unintelligent!«
»Was, brechen wir unsere Zelte bald ab?« fragte Staschinskij, während er das Kuvert aufriss. »Holst dir nachher aus der Baracke die Antwort«, sagte er, den Brief vor Chartschenko verbergend, der hinter seinen Schultern geradezu lebensgefährlich den Hals reckte.
Warja stand, die Schürze glatt streichend, vor Moroska und war zum ersten Mal bei der Begegnung mit ihrem Mann verlegen.
»Warum bist du so lange nicht gekommen?« fragte sie endlich mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Ach, dir ist wohl die Zeit sehr lang geworden?« stellte er, die unerklärliche Entfremdung zwischen ihnen fühlend, spöttisch die Gegenfrage. »Na, tut nichts, wirst dich dafür um so mehr freuen. Komm mal in den Wald...« - er schwieg und setzte dann bissig hinzu: »Holz hacken...«
»Du hast immer nur das eine im Kopf«, erwiderte sie trocken, ohne ihn anzusehen, und dachte an Metschik.
»Und du...« Moroska spielte abwartend mit der Reitgerte.
»Für mich ist's auch nicht das erste Mal, wir sind uns ja nicht fremd...«
»Also gehen wir?...« sagte er lauernd, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Sie ließ die Schürze los und ging, die Zöpfe nach hinten werfend, mit gemacht nachlässigem Gang über den Pfad voraus; sie mußte an sich halten, um sich nicht nach Metschik umzuwenden. Sie wusste, dass er ihr mit kläglich verwirrtem Blick nachsah und nie verstehen würde, auch später nicht, dass sie nur eine langweilige Pflicht erfüllte.
Sie erwartete, dass Moroska sie gleich von hinten umfasse, aber er näherte sich ihr nicht. So gingen sie ziemlich lange, unter Wahrung eines Abstandes, schweigend dahin. Schließlich ertrug sie es nicht mehr und blieb stehen, und sah ihn erstaunt und erwartungsvoll an. Er trat näher, nahm sie aber nicht.
»Was machst du für Faxen, Mädel...«, sagte er auf einmal heiser und gedehnt. »Hast dich schon vergafft, oder was?«
»Was soll das, ein Verhör?« Sie hob den Kopf und schaute ihm ins Gesicht, trotzig, herausfordernd und mutig.
Moroska war es nichts Neues, dass sie sich in seiner Abwesenheit umhertrieb, ebenso wie sie sich in ihrer Mädchenzeit umhergetrieben hatte. Er wusste es schon vom ersten Tage ihres gemeinsamen Lebens an, als er am Morgen, betrunken und mit brummendem Schädel auf dem Boden inmitten eines Haufens von Leibern erwachend, seine ihm eben angetraute Frau in den Armen des rothaarigen Gerassim, eines Hauers vom Schacht Nr. 4, erblickte. Aber wie damals, so auch später, verhielt er sich dazu völlig gleichgültig. Im Grunde war er noch gar nicht auf den Geschmack des Familienlebens gekommen, und er hatte sich in Wahrheit niemals verheiratet gefühlt. Aber der Gedanke, dass der Liebhaber seiner Frau so ein Mensch wie Metschik sein könne, schien ihm augenblicklich besonders kränkend.
»In wen du dich verschossen hast, hätte ich gerne gewusst?« fragte er mit betont höflicher Zurückhaltung, indem er ihrem Blick mit nachlässigem und ruhigem Lächeln begegnete: er wollte nicht zeigen, dass er sich in seinem Stolz getroffen fühlte. »In dieses Muttersöhnchen etwa?«
»Und wenn in dieses Muttersöhnchen...«
»Tja, er ist nicht übel, ein geschniegeltes Bürschchen«, ergänzte Moroska. »Wird um so besser schmecken. Musst ihm Tücher nähen, den Rotz zu wischen.«
»Werd' sie ihm auch nähen und abwischen, wenn's nötig ist... werd' selber abwischen! Hörst du?« Sie schob ihr Gesicht dicht an ihn heran und begann schnell und aufgeregt zu sprechen: »Was blähst du dich so auf, was steckt denn hinter deiner ganzen Strammheit? In drei Jahren hast du mir kein Kind gemacht, große Töne spucken kannst du... aufgeblasener Frosch...«
»Dir eins machen, wenn da so 'ne ganze Kompanie mitarbeitet... Du, schrei mir bloß nicht.'« sagte er wütend, »sonst...«
»Na, was sonst?...« fragte sie herausfordernd. »Wirst mich vielleicht schlagen... Versuch's nur, möcht's mal sehen...«
Er hob erstaunt die Reitgerte, als wäre ihm dieser Gedanke eben erst gekommen, und ließ dann die Hand wieder sinken.
»Nein, schlagen werd' ich nicht...«, versetzte er unsicher und bedauernd, als überlegte er sich's, ob er sie nicht wirklich verbläuen sollte. »Verdient hättest du's ja, bin aber nicht gewohnt, euresgleichen zu prügeln.« In seiner Stimme vibrierten ganz unbekannte Töne. »Na, meinethalben, tu, was du nicht lassen kannst. Vielleicht wirst noch 'ne große Dame...« Er machte kehrt und schritt zur Baracke, während er auf dem Wege mit der Gerte die Blumenblüten abschlug.
»Hör zu, warte doch!« rief sie, plötzlich voller Mitleid. »Wanja! ... «
»Brauch' keine Brocken von der Herren Tisch«, sagte er heftig. »Sollen sich der Meinigen bedienen...«
Sie war sich nicht einig, sollte sie ihm nachlaufen oder nicht, aber dann blieb sie stehen und wartete, bis er hinter der Biegung verschwunden war. Dann folgte sie ihm, die ausgetrockneten Lippen leckend, langsam nach.
Als Metschik Moroska so schnell aus der Taiga zurückkehren sah (die Ordonnanz ging, heftig mit den Armen fuchtelnd, finster schweren, schwankenden Schritts dahin), verstand er, dass zwischen Moroska und Warja nichts »passiert« und gerade er selbst die Ursache sei. Eine verlegene Freude und das Gefühl einer grundlosen Schuld regte sich in ihm, und es begann ihm unheimlich zu werden, dem vernichtenden Blick Moroskas zu begegnen . .
Dicht am Feldbett stand, Gras rupfend, der zottige Hengst; es hatte den Anschein, als begäbe sich Moroska zu ihm, in Wirklichkeit aber zog ihn eine dunkle Gewalt zu Metschik, doch die Ordonnanz gestand sich das nicht einmal selbst ein, voll grenzenlosen Stolzes verachtete er Metschik. In diesem aber wuchs, je näher Moroska kam, das Gefühl seiner Schuld, seine Freude aber verflüchtigte sich, er schaute mit kleinmütigem, nach innen gerichtetem Blick auf die Ordonnanz und vermochte sich nicht loszureißen. Moroska packte den Hengst, der ihn mit der Schnauze beiseite stieß, am Halfter, und wandte sich wie absichtlich zu Metschik, der, von einem fremden, schweren, von Hass getrübten Blick getroffen, ein Würgen in sich aufsteigen fühlte. Er erschien sich in diesen kurzen Augenblicken so erniedrigt, so unerträglich schlecht, dass er plötzlich mit den Lippen allein zu reden begann, ohne Worte, die Worte fehlten ihm.
»Ihr hockt hier in der Etappe herum«, sagte Moroska, sich der tonlosen Erklärung Metschiks erwehrend, gehässig, im Takt seiner dunklen Gedanken. »Habt euch mit pikfeinen Kitteln ausstaffiert...« Es war ihm ärgerlich, dass Metschik glauben könnte, sein Zorn sei aus Eifersucht entstanden, aber er war sich der wahren Ursachen selber nicht bewusst und schimpfte lange und wüst.
»Was schimpfst du?« fuhr Metschik auf, der eine unbegreifliche Erleichterung empfand, nachdem Moroska sich ausgetobt hatte. »Meine Beine sind zum Teufel, aber nicht in der Etappe...« Bitterkeit und verletzte Eigenliebe erzitterten in seiner Stimme. In diesem Augenblick glaubte er selbst, dass seine Beine zum Teufel wären, und fühlte sich überhaupt so, als trüge nicht er, sondern Moroska den feinen Kittel. »Wir kennen auch solche Frontsoldaten«, fügte er, während ihm das Blut ins Gesicht schoss, hinzu: »Ich würde dir's schon geben, wenn ich dir nicht verpflichtet wäre... zu meinem Unglück.«
»Aha... frisst dich das?« schrie Moroska, der ihn wie früher geflissentlich überhörte und seinen Edelmut nicht verstehen wollte, beinahe hochspringend. »Hast vergessen, wie ich dich aus dem Höllenbrand herausgeschleppt habe?... Laden euch auf unseren Buckel!...« brüllte er so laut, als hätte er Tag für Tag Verwundete wie Kastanien aus dem »Höllenbrand« geholt, »auf unseren Buckel! Hier sitzt ihr uns!...« und er schlug sich mit unglaublicher Heftigkeit auf den Nacken.
Staschinskij und Chartschenko kamen aus der Baracke gelaufen. Frolow wandte den Kopf mit krankhaftem Erstaunen.
»Was soll das Geschrei?« fragte Staschinskij, unheimlich heftig mit dem einen Auge zuckend.
»Wo mein Gewissen ist?!...« schrie Moroska als Antwort auf die Frage Metschiks, wo sein Gewissen sei. »Da ist mein Gewissen, da, da!« hackte er wütend los, indem er unanständige Gesten machte. Aus der Taiga kamen von verschiedenen Seiten her, sich einander überschreiend, die »Schwester« und Pika herbeigeeilt. Moroska schwang sich aufs Pferd und versetzte ihm heftig eins mit der Reitgerte, was nur in Augenblicken allerhöchster Erregung geschah. Mischka bäumte sich auf und sprang zur Seite, als hätte er sich versengt.
»Wart doch, nimm den Brief mit!... Moroska...«, rief Staschinskij verwirrt, aber Moroska war schon verschwunden. Aus dem aufgestöberten Dickicht ertönte das rasende Getrappel der davoneilenden Hufe.
Der Weg lief ihm, wie ein elastisches unendliches Band, entgegen, die Zweige schlugen Moroska schmerzhaft ins Gesicht, er aber jagte und jagte den tollgewordenen Hengst, kochend vor rasender Wut, Kränkung und Rachedurst. Einzelne Episoden jener unsinnigen Unterredung mit Metschik, eine immer deutlicher als die andere, erstanden wieder und wieder in seinem erhitzten Hirn, und trotzdem schien es Moroska, dass er seine Verachtung, die er Menschen dieser Art gegenüber hegte, nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht habe.
Er hätte Metschik beispielsweise daran erinnern können, wie dieser sich im Gerstenfeld krampfhaft an ihn geklammert, welche jämmerliche Furcht um sein kleines Leben ihm aus den entsetzten Augen gesehen hatte; er hätte sich grausam über Metschiks Liebe zu dem lockigen Fräulein, deren Bild der ja wohl noch immer in seiner Jackentasche auf dem Herzen verwahrte, lustig machen und dieses schöne, feingeputzte Dämchen mit den schmutzigsten Worten bedenken können... Da fiel ihm wieder ein, dass Metschik mit seiner Frau angebändelt hatte und jetzt wohl schwerlich um des feinen Fräuleins willen beleidigt sein würde. Statt schadenfrohen Triumphes über den erniedrigten Gegner empfand Moroska von neuem nur seine eigene, nicht wiedergutzumachende Kränkung.
Mischka, von der Ungerechtigkeit seines Herrn zutiefst verletzt, galoppierte dahin, bis sein schäumendes Maul die Zügel erschlaffen fühlte. Dann verlangsamte er die Gangart und setzte sich, da er keinen neuen Befehl vernahm, in einen gekünstelt schnellen Trab, ganz wie ein gekränkter Mensch, der seine Würde nicht preisgibt. Er beachtete nicht einmal die Häher, sie schrieen an diesem Abend allzu laut, aber grundlos wie immer, und schienen ihm noch geschäftiger und dümmer als sonst.
Die Taiga lief in einer lichten Reihe Birken aus, und die Sonne strahlte ihm zwischen den herbstroten Bäumen entgegen. Hier war alles geruhsam, klar und heiter, so ganz unvergleichbar der hähergleichen Geschäftigkeit der Menschen. Der Zorn Moroskas war verraucht. Die beleidigenden Worte, die er Metschik gesagt hatte oder sagen wollte, hatten längst den Reiz eines Rachegefühls verloren, erschienen ihm jetzt in ihrem wahren Lichte: sie waren überflüssig laut und wogen zu leicht. Er bereute schon, sich mit Metschik eingelassen und nicht bis zuletzt die »Rolle« gewahrt zu haben. Er fühlte jetzt, dass ihm Warja gar nicht so gleichgültig war, wie es ihm früher geschienen hatte, aber gleichzeitig war er sich voll bewusst, dass er nie mehr zu ihr zurückkehren werde. Und nun, da er mit Warja, dem nächsten Menschen, der ihn mit seinem früheren Leben im Bergwerk verband, als er noch lebte »wie alle«, als ihm alles noch einfach und klar erschien, auseinander gegangen war, übermannte ihn ein Gefühl, als ob ein großer, gewichtiger Abschnitt seines Lebens abgeschlossen sei, ein neuer aber noch nicht begonnen habe.
Die Sonne lugte unter Moroskas Mützenschirm, sie stand noch über dem Höhenrücken, leidenschaftslos, starr, aber die Felder ringsum waren beunruhigend menschenleer.
Sein Blick fiel auf die zwischen halbgemähten Streifen aufgehäuften Gerstengarben, eine in der Hast auf einem Haufen zurückgelassene Schürze und eine mit dem Stiel in die Erde gestoßene Harke. Auf einem windschiefen Heuschober hockte einsam und traurig eine stumme Krähe. Doch all das nahm Moroska wahr, ohne es zu erfassen. Er wühlte den Staub der Erinnerung auf und entdeckte, dass er gar keine freudige, sondern eine unendlich freudlose und verfluchte Last zu tragen hatte. Er fühlte sich verlassen und einsam. Ihm war, als schwebe er über einem riesigen herrenlosen Feld, und dessen beängstigende Öde erhöhte seine Einsamkeit noch mehr.
Lautes Pferdegetrappel hinter dem Hügel schreckte ihn auf. Kaum hatte er den Kopf gehoben, als er die stattliche, straff gegürtete Gestalt eines Patrouillenreiters auf feurigem Pferd erblickte, das bei dieser unerwarteten Begegnung wie von unsichtbarer Gewalt auf die Hinterbeine geschleudert wurde.
»Oho, verdammte Stute du!...« fluchte die Patrouille, im Fluge die abgerutschte Mütze auffangend. »Moroska, ja? Lauf nach Hause, lauf, dort ist der Teufel los...«
»Was denn?«
»Ja, die Deserteure sind hier vorbeigekommen, ganze Fuhren haben sie zusammengeschwätzt, ganze Fuhren - da, da kommen sie schon, die Japaner. Die Weiber kreischen, die Bauern, hast du nicht gesehen von den Feldern... Karren haben sie bei der Fähre aufgefahren, dein Markt zu Hause ist ein Dreck dagegen. Der Fährmann ist beinahe totgeschlagen worden, hin und her, her und hin, konnte nicht alle 'rüberbringen, nicht alle!... Unser Grischka aber hat ein Dutzend Werst abgeritten, keine Spur von den Japanern, keine Spur, alles dummes Geschwätz. Weibergeschwätz. An die Wand sollte man sie stellen, wenn's nur nicht schade um die Patronen wäre, schade, bei Gott!...« Die Patrouille spuckte und fuchtelte mit der Reitgerte herum, bald nahm sie die Mütze vom Kopf, bald setzte sie sie wieder auf, während sie die Locken schüttelte, als wollte sie zu allem noch hinzufügen: ,Schau mich mal an, lieber Freund, wie die Mädels auf mich fliegen.'
Moroska erinnerte sich, dass ihm dieser Bursche vor zwei Monaten einen Blechnapf gestohlen und nachher hoch und heilig geschworen hatte, dass er ihn noch von der »deutschen Front« her habe. Und obschon ihn der Napf nicht reute, so brachte ihn die Erinnerung daran schneller, als es die Worte der Patrouille -die er, mit sich selbst beschäftigt, überhörte - vermocht hätten, in das alte Geleise des Abteilungslebens zurück. Die Eilstafette, die Ankunft Kanunnikows, der Rückzug Ossokins, die Gerüchte, die in letzter Zeit in der Abteilung umliefen, all das brach wie eine Sturmflut über Moroska herein und schwemmte den schwarzen Schaum des vergangenen Tages hinweg.
»Was schwätzt du von Deserteuren?« unterbrach er die Patrouille. Jener hob erstaunt die Brauen und schien bei der Gebärde, die er vollführte, um die Mütze, die er gerade erst abgenommen hatte, wieder aufzusetzen, zu erstarren. »Dir ist's doch nur darum zu tun, dich aufzuspielen!« sagte Moroska verächtlich. Er riss wütend den Hengst herum und war in wenigen Minuten bereits bei der Fähre.
Der behaarte Fährmann in hochgestülpten Hosen, mit einem mächtigen Geschwür am Knie, war vom Hin- und Hertreiben der überlasteten Fähre völlig erschöpft, aber trotzdem drängten sich noch viele am diesseitigen Ufer. Kaum, dass er mit der Fähre an Land stieß, stürzte eine ganze Lawine von Menschen, Säcken, Fuhrwerken, schreienden Kindern, Kinderwagen über ihn, jeder war bemüht, dem anderen zuvorzukommen. All das schob sich durcheinander, brüllte, stöhnte, stürzte zu Boden, der Fährmann schrie sich vergebens die Kehle aus, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Ein stupsnasiges Bauernweib, das Gelegenheit gehabt hatte, mit den Deserteuren zu sprechen, wurde durch den unlöslichen Widerspruch zwischen ihren Wünschen, entweder so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen oder bei den Zurückbleibenden ihre Neuigkeiten an den Mann zu bringen, hin- und hergerissen, verpasste bereits zum dritten Mal die Fähre, schob ihren riesigen, mit Schweinefutter gefüllten Sack hin und her, jammerte bald »Gott, mein Gott«, oder begann von neuem mit ihren Erzählungen, um die Fähre ein viertes Mal zu verpassen.
Einmal in dieses Durcheinander geraten, hatte Moroska Lust, wie es seine Gewohnheit war, einfach »aus Jux«, noch den Schrecken zu vermehren, wurde aber aus irgendeinem Grunde anderen Sinnes, setzte ab und redete beruhigend auf die Menge ein.
»Was quatschst du da von Japanern, ist ja alles Schwindel«, unterbrach er das förmlich toll gewordene Weib. »Sie wird euch noch erzählen, dass sie Ga-ase lassen... was für Gase? Die Koreaner brennen vielleicht Stroh und die meckert - Ga-ase...«
Die Bauern, die das Weib vergaßen, umringten Moroska, er fühlte sich plötzlich als ein großer, verantwortungsvoller Mann, und hocherfreut über die ungewöhnliche Rolle, die er spielte, und auch, dass er der Versuchung, die Menschen ins Bockshorn zu jagen, widerstanden hatte, dementierte und verhöhnte er so lange die Schreckensmären der Deserteure, bis es ihm geglückt war, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Als die nächste Fähre landete, war das Gedränge schon schwächer geworden, Moroska ordnete selber die Reihenfolge der Fuhren, die Bauern fluchten über ihren frühzeitigen Aufbruch vom Felde und schimpften aus Ärger über sich selbst auf die Pferde. Sogar das stupsnasige Bauernweib mit dem Futtersack geriet zuletzt in irgendeinen Wagen zwischen zwei Pferdeschnauzen und einen breiten Bauernhintern.
Ü ber das Geländer geneigt, sah Moroska, wie die weißen Schaumwirbel zwischen den Booten dahinliefen, nicht einer überjagte den andern, ihre natürliche Ordnung erinnerte ihn daran, wie er selbst eben die Bauern in Reih und Glied ausgerichtet hatte, und diese Erinnerung erfüllte ihn mit Behagen.
Bei der Hürde begegnete er der Ablösung, fünf Jungens aus Dubows Zug. Sie begrüßten ihn mit Gelächter und gutmütigen Flüchen, weil sie sich erstens immer freuten, ihn zu sehen, und sonst nichts zu reden hatten, aber auch deshalb, weil es gesunde, kräftige Jungens waren und der Abend so erfrischend und angenehm.
»Hals- und Beinbruch!...« verabschiedete sich Moroska... Er blickte ihnen neidisch nach. In ihm brannte der Wunsch, mit denen dort zusammen zu sein, mit ihrem Lachen und ihren Flüchen auf gemeinsamem Patrouillenritt durch den erfrischenden kühlen Abend dahinzusprengen.
Die Begegnung mit den Partisanen erinnerte Moroska daran, dass er beim Verlassen des Lazaretts den Brief Staschinskijs vergessen hatte und ihm dies teuer zu stehen kommen könnte. Das Bild der Versammlung, als man ihn um ein Haar mit Schimpf und Schande aus der Abteilung gejagt hätte, stieg in ihm auf, und ein Alp legte sich auf seine Brust. Erst jetzt wurde es Moroska klar, dass dies vielleicht das wichtigste Ereignis für ihn im letzten Monat gewesen war, viel wichtiger als jenes, das sich im Lazarett abgespielt hatte.
»Mischka«, sagte er zum Hengst und zauste ihn an der Mähne. »Hängt mir alles schon zum Halse 'raus, mein Lieber...«
Mischka schüttelte den Kopf und blähte die Nüstern.
Als er sich dem Stab näherte, fasste Moroska den festen Entschluss, »auf alles zu pfeifen« und um die Erlaubnis zu bitten, ihn von den Pflichten einer Ordonnanz zu befreien und ihm zu gestatten, sich den Jungens im Zuge anschließen zu dürfen.
Vor dem Stabsquartier verhörte Baklanow die Deserteure, sie waren waffenlos und unter Bewachung. Baklanow saß auf einer Stufe und notierte die Namen.
»Iwan Filimonow...« stammelte einer mit kläglicher Stimme, aus allen Kräften den Hals reckend.
»Wie?...« fragte Baklanow drohend und drehte sich mit dem ganzen Körper zu ihm, wie das gewöhnlich Lewinsohn machte. (Baklanow erblickte in dieser Gewohnheit Lewinsohns die Absicht, die besondere Wichtigkeit seiner Fragen hervorzuheben, in Wirklichkeit aber drehte sich Lewinsohn auf diese Weise um, weil er infolge einer alten Verwundung am Hals überhaupt nicht in der Lage war, sich anders umzudrehen.)
»Filimonow?... Vatersname!...«
»Wo ist Lewinsohn?« fragte Moroska. Man wies mit einer Kopfbewegung auf die Tür. Er kämmte seinen Schopf und trat in die Hütte.
Lewinsohn arbeitete in einer Ecke, ohne ihn zu bemerken. Moroska spielte unschlüssig mit der Reitgerte. Wie alle andern in der Abteilung, schien der Kommandeur auch Moroska ein »ganzer Kerl« zu sein. Da ihn aber das Leben belehrt hatte, dass es keine »ganzen Kerle« gäbe, so suchte er sich selbst einzureden, dass Lewinsohn im Gegenteil ein großer Spitzbube sei und es faustdick hinter den Ohren habe. Trotz alledem war Moroska fest davon überzeugt, dass dem Blick des Kommandeurs nichts entginge und es beinah unmöglich wäre, ihn hinters Licht zu führen: Moroska fühlte sich in seiner Haut nie recht wohl, wenn er es nötig hatte, Lewinsohn um irgend etwas zu bitten.
»Und immer stöberst du in den Papieren herum, wie so 'ne Maus«, sagte er schließlich. »Hab' das Paket in vollster Ordnung abgegeben.«
»Und keine Antwort?«
»K-keine...«
»Es ist gut«, der Kommandeur schob die Karte beiseite und stand auf.
»Hör mal, Lewinsohn...«, begann Moroska. »Ich habe eine Bitte an dich...wirst sie erfüllen, sollst für alle Zeit mein Freund sein, wahrhaftig...«
»Für alle Zeit dein Freund?« wiederholte Lewinsohn lächelnd. »Na, los, sprich, was ist das für 'ne Bitte?«
»Lass mich in den Zug...«
»In den Zug?... Warum brennt denn das so?«
»Das ist 'ne ganze Geschichte - hängt mir zum Halse 'raus, bei Gott... als wäre ich kein Partisane, sondern...« Moroska machte eine wegwerfende Bewegung und setzte eine düstere Miene auf, um nicht loszufluchen und die Sache zu verderben.
»Und wer wird Ordonnanz sein?«
»Den Jefimka könnte man ja dazu nehmen«, hakte Moroska ein. »Donnerwetter, ist das ein Reiter, kann ich dir sagen, in der alten Armee hat er sich Preise geholt!«
»Für alle Zeit mein Freund, sagst du?« fragte von neuem Lewinsohn in einem Ton, als ob der diesem Umstand eine besondere Bedeutung beimesse.
»Lach bloß nicht, Teufelskerl...«, platzte Moroska los. »Man kommt dienstlich, und der macht Faxen...«
»Reg dich nur nicht auf, das ist schädlich... sag Dubow, dass er mir Jefimka schickt, und du... kannst deine Sachen packen.« »Das nenn' ich mir einen Gefallen erweisen...«, rief erfreut Moroska, »Lewinsohn... das ist eine Nummer!...« Er riss die Mütze vom Kopf und schleuderte sie zu Boden. Lewinsohn hob die Mütze auf und erwiderte: »Dummkopf...«
Als Moroska beim Zug anlangte, war es bereits dunkel. In der Hütte traf er an die zwölf Mann. Dubow, der rittlings auf einer Bank saß, war beim Schein einer Kerze damit beschäftigt, einen Revolver auseinander zunehmen.
»Ahaha, unsaubres Blut...«, zischte er durch die Zähne. Als er das Bündel in den Händen" Moroskas erblickte, verwunderte er sich. »Du kommst da mit deinen ganzen Siebensachen angewackelt? Bist wohl entlassen worden, was?«
»Feierabend!« rief Moroska, »a. D.!... Mit einer Feder im Hintern, ohne Pension... mach Jefimka zurecht - der Kommandeur befiehlt's...«
»Das hab' ich wohl dir zu verdanken?« fragte giftig Jefimka,
ein ausgemergelter, galliger Bursche mit pickelübersätem Gesicht.
»Mach, mach, das werden wir dort untersuchen... Mit einem
Wort, meinen Glückwunsch zur Beförderung, Jefim Semenowitsch! ... Hoffentlich schmeißt du eine Lage...«
Voll Freude, dass er sich wieder bei den Burschen befand, geriet Moroska schier aus dem Häuschen, erzählte Witze, neckte sich mit allen, kniff die Wirtsfrau und wirbelte so lange durch die Hütte, bis er mit dem Zugführer zusammenstieß und das Gewehröl verschüttete.
»Krüppel du, ungehobelter Patron!« fluchte Dubow und schlug ihn so kräftig auf den Rücken, dass Moroskas Kopf beinahe vom Rumpf geflogen wäre.
Obwohl das sehr weh tat, wurde Moroska nicht böse, er hatte sogar einen Spaß an den ausgefallenen Redewendungen, mit denen ihn Dubow traktierte: er nahm alles als selbstverständlich hin.
»Ja... 's war höchste Zeit, höchste Zeit...«, sagte Dubow. »Nur gut, dass du wieder zu uns gestoßen bist. Sonst wärst du ganz und gar verludert, verrostet, wie ein halb angeschraubter Bolzen, hast Schande über uns gebracht...«
Alle waren damit einverstanden, dass es gut sei, aber aus einem anderen Grunde: der Mehrzahl gefiel an Moroska gerade das, was Dubow missfiel.
Moroska bemühte sich, jeden Gedanken an den Ritt ins Lazarett zu verscheuchen. Er befürchtete sehr, jemand könnte ihn fragen: »Und wie geht es denn deinem Frauchen?...«
Dann ritt er zusammen mit allen zum Fluss, die Pferde zu tränken... Hohl, doch ohne gespenstigen Klang schrieen die Käuze, im Nebel über dem Wasser verschwammen die Pferdeköpfe, glitten lautlos über den Spiegel mit gespitzten Ohren dahin - am Ufer geisterten dunkle, von kaltem Tau bereifte Sträucher. ,Das ist ein Leben...', dachte Moroska und pfiff seinem Hengst gut zu. Zu Hause flickten sie Sättel und putzten die Gewehre. Dubow las laut die Briefe vom Bergwerk vor; und als sie zur Ruhe gingen, ließ er Moroska »anlässlich seiner Rückkehr in Timofejs Schoß« zur Wache antreten.
Den ganzen Abend fühlte Moroska sich als vorbildlicher Soldat und guter, nützlicher Mensch.
Nachts erwachte Dubow von einem heftigen Rippenstoß. »Was ist los? Was ist los?...« fragte er erschreckt und setzte sich auf. Noch ehe er Zeit gefunden, einen Blick auf die flackernde Kerze zu werfen, vernahm er, vielmehr verspürte er einen fernen Schuss, dem nach einer Weile ein zweiter folgte... Am Bette stand Moroska und schrie:
»Schnell, steh auf! Hinter dem Fluss wird geschossen/... Vereinzelte Schüsse erfolgten in beinahe regelmäßigen Abständen. »Weck die Jungens!« befahl Dubow, »lauf sofort in die Hütten... rasch!...«
Einige Sekunden später rannte er in voller Kampfausrüstung auf den Hof hinaus. Der Himmel weitete sich über ihm windstill und kalt. Über die fernen, nebligen Pfade der Milchstraße liefen die Sterne wirr dahin. Aus dem dunklen Loch eines Heuschobers stürzten nacheinander die zerzausten Gestalten der Partisanen, die sich fluchend die Patronengürtel umschnallten und die Pferde hinter sich herzogen. Aufgescheuchte Hühner flogen wütend gackernd von den Stangen auf, Pferde stießen wiehernd um sich.
»Gewehre um!... Aufgesessen!« kommandierte Dubow. »Mitrij, Senja!... Lauft in die Hütten, weckt die Leute... rasch!...«
Vom Platz beim Stab stieg eine Rakete hoch und sauste mit rauchendem Zischen zum Himmel empor. Ein verschlafenes Weib beugte sich zum Fenster hinaus und schnellte wieder zurück.
»Zieh die Gurte an...«, ließ sich eine bebende Stimme vernehmen.
Der vom Stab heransprengende Jefimka schrie ins Tor:
»Alarm!... Alle zum Sammelplatz in voller Bereitschaft!...« Jefimka schwang die Reitgerte über dem emporgerissenen fletschenden Pferdemaul und sprengte, etwas Unverständliches schreiend, von dannen.
Als die Ausgesandten zurückgekehrt waren, stellte es sich heraus, dass die Mehrzahl des Zuges außerhalb genächtigt hatte: sie waren am Abend bummeln gegangen und anscheinend bei den Mädels geblieben. Dubow, der nicht wusste, ob er mit dem vorhandenen Bestand antreten oder selber zum Stab reiten sollte, um zu erfahren, was los wäre, fluchte, was das Zeug hielt, und schickte nach allen Windrichtungen auf die Suche. Zweimal kamen die Ordonnanzen mit dem Befehl, sogleich mit dem Zuge anzurücken, aber Dubow, außerstande, die Mannschaft zu sammeln, fegte wie ein Tier im Käfig über den Hof und war vor Verzweiflung bereit, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, was er auch, hätte er nicht dauernd die Last seiner schweren Verantwortung gefühlt, sicherlich ausgeführt haben würde. Manch einer bekam in dieser Nacht seine erbarmungslosen Fäuste zu spüren.
Der Zug sprengte endlich, vom heiseren Geheul der Hunde begleitet, zum Stab, mit rasendem Pferdegetrappel und Stahlgeklirr die in Schreck getauchten Straßen erfüllend.
Dubow staunte sehr, als er auf dem Platz die ganze Abteilung versammelt sah. Die Chaussee entlang hatte sich der marschbereite Train aufgestellt, viele saßen ab und ließen sich rauchend neben den Pferden nieder. Er forschte nach der kleinen Gestalt Lewinsohns, der neben einem fackelerhellten Balken stand und sich ruhig mit Meteliza unterhielt.
»Was kommst du so spät?« schrie ihn Baklanow an, »und sagst noch ,Wir...Kumpel'...« Er war außer sich, nie hätte er sonst so mit Dubow gesprochen. Der Zugführer winkte nur abwehrend ab. Das kränkendste war für ihn das Bewusstsein, dass jetzt dieser junge Bursche Baklanow das unbestreitbare Recht hatte, ihn auf jegliche Weise zu beleidigen, dass aber selbst diese Schmähungen keine zulängliche Sühne für seine Schuld bildeten. Außerdem hatte ihn Baklanow an der empfindlichsten Stelle getroffen: Dubow war in der Tiefe seiner Seele davon überzeugt, dass der Name Kumpel der höchste und ehrenvollste sei, den ein Mensch auf dieser Welt nur tragen könne. Jetzt stand es für ihn fest, dass sein Zug sich wie auch das Sutschaner Bergwerk und das ganze Kumpelgeschlecht bis mindestens ins siebente Glied mit Schande bedeckt habe.
Nachdem er seinen Zorn ausgetobt hatte, entfernte sich Baklanow, um die Posten einzuziehen. Von seinen fünf Burschen, die vom jenseitigen Flussufer zurückgekehrt waren, erfuhr Dubow, dass gar kein Feind in Sicht sei und sie auf Befehl Lewinsohns einfach ins Blaue geschossen hätten. Da verstand er, dass Lewinsohn nur die Kampfbereitschaft der Abteilung erproben wollte, und es wurde ihm noch bitterer bei dem Gedanken zumute, dass er weder das Vertrauen des Kommandeurs gerechtfertigt, noch anderen als Beispiel gedient hatte.
Als die Züge zum Appell angetreten waren, stellte es sich gleichwohl heraus, dass noch viele fehlten. Die überwiegende Anzahl von Deserteuren hatte Kubrak aufzuweisen. Kubrak selbst war am Tage zu seiner Verwandtschaft geritten, um sich zu verabschieden, und war noch nicht nüchtern geworden. Einige Male wandte er sich an seinen Zug mit einer Rede - »ob man ihn achten könne, wenn er so ein Lump und so ein Schwein sei« -und weinte. Und die ganze Abteilung sah, dass Kubrak betrunken war. Nur Lewinsohn schien das nicht zu bemerken, sonst hätte er Kubrak seines Postens entheben müssen, aber er hatte keinen Ersatz für ihn.
Lewinsohn ritt die Front ab und hob, zur Mitte zurückkehrend, die Hand. Während eines Augenblicks hing sie kalt und streng in der Luft. Es entstand eine Stille, durch die nur die geheimen nächtlichen Geräusche schwebten.
»Genossen!...« begann Lewinsohn, und seine leise, aber durchdringende Stimme konnte jeder hören wie das Klopfen seines eigenen Herzens. »Wir gehen von hier fort... wohin -darüber verlohnt sich's jetzt nicht zu reden. Wenn man auch die japanischen Kräfte nicht zu überschätzen braucht, so sind sie doch jedenfalls so bedeutend, dass es besser ist, wenn wir uns auf einige Zeit zurückziehen. Das heißt nicht, dass wir uns völlig aus der Gefahr begeben. Nein. Sie schwebt dauernd über uns, und jeder Partisane weiß das. Haben wir den Ruf der Partisanen gerechtfertigt?... Heute keineswegs... wir haben uns gehen lassen wie Weiber!... Und was, wenn wirklich die Japaner gekommen wären?... Sie hätten uns ja abgewürgt wie die Kücken!... Schande!...« Lewinsohn neigte sich schnell vor, und seine letzten Worte peitschten die Luft gleichsam mit der Kraft einer losgeschnellten Feder, dass sich alle wie überraschte Kücken vorkamen, die im Dunkeln von unerbittlichen eisernen Fängen gewürgt werden.
Selbst Kubrak, der nichts verstanden hatte, sagte überzeugt: »Richtig...Das ist alles richtig...« Er warf seinen quadratischen Kopf zur Seite und rülpste laut.
Dubow wartete von Minute zu Minute, dass Lewinsohn sagen werde: »Dubow zum Beispiel, der ist heute als letzter zum Appell gekommen, und gerade auf ihn hatte ich am meisten gehofft -Schande!...« Aber Lewinsohn nannte keine Namen. Er sprach überhaupt nicht viel, sondern klopfte hartnäckig auf eine Stelle, als triebe er einen massiven Nagel hinein, dem es bestimmt ist, seinen Zweck auf ewige Zeiten zu erfüllen. Erst nachdem er sich von der Wirkung seiner Worte überzeugt hatte, blickte er zu Dubow hin und sagte auf einmal:
»Dubows Zug begleitet den Train...« Er richtete sich im Steigbügel hoch, machte mit der Reitgerte ein Zeichen und kommandierte: »Achtung...in Dreiergruppen rechts schwenkt... marsch!...«
Die Trensen klirrten im Takt, die Sättel quietschten, und durch das Dunkel der Nacht schwamm, wie ein gewaltiger Fisch in den Tiefen der See, eine dichte Kolonne von Menschen dahin, wo hinter den uralten Bergkuppen von Sichote-Alin der ebenso uralte und jugendfrische Morgen anbrach.
Staschinskij erfuhr von dem Aufbruch durch den Gehilfen des Wirtschaftsleiters, der ins Lazarett gekommen war, um hier Lebensmittellager zu organisieren.
»Ein findiger Kopf, dieser Lewinsohn«, sagte der Gehilfe und setzte seinen gekrümmten Rücken in der verblichenen Bluse der Sonne aus. »Ohne ihn wären wir alle aufgeschmissen gewesen... urteile selbst, auch jetzt: den Weg zum Lazarett kennt niemand, im Fall man hinter uns her ist, verschwinden wir hier, hast du nicht gesehen, mit der ganzen Abteilung!... Finden hier schon Proviant und Fourage vor. Fein ausgetüftelt!...« Der Gehilfe blickte begeistert auf, und Staschinskij sah, dass er Lewinsohn nicht allein deshalb lobte, weil jener in der Tat ein »findiger Kopf« war, sondern auch noch des angenehmen Gefühls wegen, das der Gehilfe dabei empfand, einem anderen Menschen Vorzüge zuzuschreiben, die er selber nicht besaß.
An dem gleichen Tage war Metschik zum ersten Mal wieder auf den Beinen. Von rechts und links gestützt, spazierte er über die Wiese, setzte freudig erstaunt die Füße auf den weichen Rasen und lachte unvermittelt wie ein Kind. Als er später auf dem Feldbett lag, spürte er sein Herz rastlos klopfen, vielleicht vor Erschöpfung, vielleicht auch jener beglückenden Berührung mit der Erde wegen. Seine Beine zitterten noch vor Schwäche, und über seinen Körper huschten lustige Schauer wie von kribbelnden Ameisen.
Während Metschik spazierenging, folgte ihm Frolow mit neidvollen Blicken, und Metschik vermochte des Gefühls nicht Herr zu werden, irgendwie in dessen Schuld zu stehen. Frolow war schon so lange krank, dass er das Mitleid der ganzen Umgebung ausgeschöpft hatte. Aus ihrer ständigen Zärtlichkeit und Fürsorge hörte er die immer wiederkehrende Frage: »Wann endlich stirbst du nun?« Er aber wollte nicht sterben. Die sichtliche Unsinnigkeit, mit der er sich ans Leben klammerte, lastete wie ein Grabstein auf allen.
Sonderbare Fäden spannen sich bis zu dem Tag, an dem Metschik das Lazarett verließ, zwischen ihm und Warja, wie bei einem Spiel, bei dem jeder Spieler die Absicht seines Partners kennt und fürchtet, aber keiner sich getraut, einen kühnen, entscheidenden Schritt zu tun.
Während ihres mühevollen, mit Geduld getragenen Lebens, durch das so viele Männer gegangen, so viele, dass man sie weder an der Farbe der Augen noch an der Haarfarbe zu unterscheiden vermochte, und selbst ihre Namen nicht mehr auseinander zuhalten waren, hätte Warja keinem einzigen sagen können: »Mein Einziger, Geliebter!« Metschik war der erste, zu dem so zu sprechen sie das Recht hatte und es auch nutzte. Nur er, vermeinte sie, der Schöne, Bescheidene, Zärtliche, war imstande, ihre Sehnsucht nach Mutterschaft zu stillen, und sie glaubte, dass eben darum sie ihn so lieb gewonnen hatte. In beängstigender Stummheit rief sie nach ihm in den Nächten, folgte ihm am Tage unermüdlich, wohin er auch ging, bestrebt, ihn von den Menschen wegzubringen, um ihm ihre späte Liebe zu schenken. Jedoch aus unerklärlichen Gründen traute sie sich nie, dies offen zu bekennen.
Und obschon Metschik mit aller Leidenschaft und Phantasie seiner erwachenden Mannbarkeit dasselbe wollte, vermied er es doch hartnäckig, allein mit ihr zu bleiben, schleppte entweder Pika mit sich oder klagte über Unwohlsein. Er war äußerst schüchtern, da er noch nie eine Frau berührt hatte; er glaubte, für ihn müsste das sehr beschämend werden, nicht wie sonst bei Menschen. Gelang es ihm aber, seine Scheu zu überwinden, dann erstand vor ihm plötzlich Moroskas drohende Gestalt, wie er mit der Gerte fuchtelnd aus der Taiga kam, und Metschik empfand dann ein Gemisch von Furcht und dem Bewusstsein einer nie zu tilgenden Schuld vor diesem Menschen.
In diesem Hin und Her magerte er ab und wurde reifer, vermochte aber bis zur letzten Minute nicht, seiner Schwäche Herr zu werden. Pika und er machten sich auf den Weg, nachdem sie sich verlegen von allen, als ob es Fremde wären, verabschiedet hatten. Auf dem Fußpfad holte Warja sie ein.
»Komm, lass uns doch wenigstens richtig Abschied nehmen«, sagte sie; das Laufen und die Verlegenheit hatten ihr das Blut ins Gesicht getrieben. »Dort habe ich mich geschämt... das ist mir noch nie passiert, aber diesmal habe ich mich geschämt«, und steckte ihm schuldbewusst einen gestickten Tabaksbeutel zu, wie es Brauch war bei den jungen Mädchen im Bergwerk.
Ihre Verlegenheit und das Geschenk widersprachen so ganz ihrem Wesen. Sie tat Metschik leid, und da er sich vor Pika schämte, berührten seine Lippen kaum die ihren; sie aber umfing ihn mit einem letzten verschleierten Blick, und ihr Mund begann sich zu verzerren.
»Besuch mich, vergiss es nicht.'« rief sie, als er schon im Dickicht verschwunden war. Und da sie keine Antwort vernahm, sank sie schluchzend ins Gras.
Unterwegs, nachdem Metschik die düsteren Erinnerungen abgeschüttelt hatte, fing er an, sich als echter Partisan zu fühlen und krempelte, um braun zu werden, sogar die Ärmel hoch: er vermeinte, dass dies äußerst wichtig sei in dem neuen Leben, das er begonnen hatte nach dem denkwürdigen Gespräch mit der »Schwester«.
Die Mündung des Irochedsa war von japanischen Truppen und Koltschakleuten besetzt. Pika, furchtsam und nervös, jammerte die ganze Zeit über eingebildete Schmerzen. Metschik konnte Pika nicht überreden, zur Umgehung des Dorfes den Weg durchs Tal zu nehmen. Es blieb nichts anderes übrig, als an Felsen entlang, über unwegsame Ziegenpfade zu klettern. In der zweiten Nacht stiegen sie, bei jedem Schritt vom Tode bedroht, die felsigen Hügel zum Fluss hinab. Metschik war noch nicht fest auf den Beinen. Während es zu dämmern begann, erreichten sie eine koreanische Hütte; gierig würgten sie den ungesalzenen Maisbrei hinunter, und als Metschik die zerlumpte, klägliche Gestalt Pikas betrachtete, versuchte er sich vergebens, das Bild des stillen und lichten Greises am friedlichen schilfumstandenen See, das ihn einst so gefesselt, in Erinnerung zu bringen. Pika unterstrich durch sein klägliches Äußeres gleichsam die Unbeständigkeit und das Trügerische dieses Friedens, der weder Ruhe noch Rettung gewährte.
Dann kamen sie noch an vereinzelten Vorwerken vorüber, auf denen man nichts von den Japanern wusste. Auf die Frage, ob die Abteilung vorbeigekommen sei, wies man sie nach dem Oberlauf des Flusses, forschte nach Neuigkeiten, bewirtete sie mit Honigkwass, indessen die Mädels Metschik Blicke zuwarfen. Schon war die Erntezeit ins Land gekommen. Die Wege ertranken im dichten, körnigen Weizen, in den Morgenstunden glitzerte der Tau in den leeren Spinngeweben, und die Luft war erfüllt von dem herbstlich-klagenden Summen der Bienen.
Gegen Abend erreichten sie Schibischi; das Dörfchen lag südwärts, am Fuß eines bewaldeten Hügels, von der untergehenden Sonne bestrahlt. Vor einer morschen, von Schwämmen überwucherten Kapelle tummelte sich eine Schar lustiger Schreihälse beim Wurfspiel, die Mützen mit roten Bändern geschmückt. Ein Männchen in hohen Stulpstiefeln, mit langem, keilförmigem, kupferfarbenem Bart, einem Gnomen ähnlich, wie sie in Kindermärchen vorkommen, hatte eben einen Wurf getan und schmählich danebengetroffen. Gelächter erschallte. Das Männchen grinste verlegen, aber offensichtlich war ihm das keineswegs peinlich, sondern kam ihm ebenfalls höchst belustigend vor.
»Das ist er, Lewinsohn«, sagte Pika.
»Wo?«
»Na, dort, der Rotbart...« Pika ließ den verblüfften Metschik stehen und trippelte unerwartet, mit teuflischer Behändigkeit, auf das kleine Männchen zu.
»Eh, Jungens, guckt mal, Pika!...«
»Ja, Pika selbst...«
»Hast dich hergeschleppt, kahlköpfiger Satan!...«
Die Burschen ließen das Spiel im Stich und umringten den Greis. Metschik hielt sich abseits, ohne recht zu wissen, ob er sich ihnen zugesellen oder warten sollte, bis man ihn ruft.
»Wen hast du da mitgebracht?« fragte endlich Lewinsohn.
»Einen Burschen aus dem Lazarett - ein guter Junge!...«
»Der Verwundete Moroskas«, warf einer dazwischen, der Metschik erkannt hatte, der, als er vernahm, dass von ihm die Rede war, näher herantrat.
Es stellte sich heraus, dass das Männchen, das sich so ungeschickt beim Wurfspiel angestellt hatte, große und schlaue Augen hatte. - Sie packten Metschik, krempelten sein Inneres nach außen und hielten es so einige Augenblicke fest, als wögen sie alles ab, was sie dort gefunden hatten.
»Bin also zu euch in die Abteilung gekommen«, begann Metschik und errötete, als er seine hochgestülpten Ärmel bemerkte, die er vergessen hatte herunterzukrempeln. »War bei Schaldyba, früher... bevor ich verwundet wurde«, setzte er des Nachdrucks wegen hinzu.
»Und bei Schaldyba seit wann?«
»So von Mitte Juni...«
Lewinsohn ließ abermals seinen forschenden, prüfenden Blick auf ihm ruhen und fragte:
»Schießen kannst du?«
»Ja...«, sagte Metschik unsicher.
»Jefimka... hol mal ein Gewehr...«
Während das Gewehr besorgt wurde, fühlte Metschik, wie ihn von allen Seiten Dutzende neugieriger Augen betasteten, deren stumme Hartnäckigkeit er als Feindschaft zu deuten begann.
»Na, also... auf was könntest du da schießen?« Lewinsohn suchte nach einem Ziel.
»Ins Kreuz!« schlug irgend jemand freudig vor.
»Nein ins Kreuz, das verlohnt sich nicht... Jefimka, stell mal einen Knüttel auf den Pfahl, ja dort, auf jenen...«
Metschik nahm das Gewehr und hätte vor Beklommenheit fast zu blinzeln begonnen. (Diese Beklommenheit hatte ihn ergriffen, nicht weil er schießen musste, sondern weil er meinte, alle wünschten ihm, dass er daneben träfe.)
»Die Linke etwas anziehen, 's ist leichter so«, riet einer. •
Diese mit sichtlicher Anteilnahme gesprochenen Worte machten Metschik die Sache leichter. Er drückte tapfer los, und im Krachen des Schusses - dabei kniff er trotzdem die Augen zu -gewahrte er noch, wie der Knüttel vom Pfahl herunterflog.
»Hast's 'raus...«, lachte Lewinsohn. »Verstehst auch mit Pferden umzugehen?«
»Nein«, bekannte Metschik, der nach diesem Erfolg bereit war, sogar fremde Sünden auf sich zu nehmen.
»Schade«, sagte Lewinsohn, und man merkte ihm an, dass er es tatsächlich bedauerte. »Baklanow, gibst ihm die ,Sütschicha«,
er kniff verschmitzt die Augen zusammen, »'s ist ein braves Tier, halt's gut. Der Zugführer wird's dich lehren... in welchen Zug stecken wir ihn?«
»Zu Kubrak, denk' ich, dem fehlen welche«, sagte Baklanow, »wird mit Pika zusammen sein.«
»Auch gut...«, erwiderte Lewinsohn. »Also, dann troll dich...«
...Der erste Blick, den Metschik auf die »Sütschicha« warf, machte ihn seinen Erfolg und die durch diesen hervorgerufenen knabenhaft-stolzen Hoffnungen vergessen. Vor ihm stand eine tränende, wehmütig dreinschauende Stute von schmutzigweißer Farbe, mit durchgedrücktem Rücken und geblähtem Bauch, ein sanft ergebenes Bauernpferdchen, das in seinem Dasein gar manche Deßjatine umgeackert hatte.
»Für mich, was?« fragte Metschik mit tonloser Stimme.
»'s ist kein ansehnliches Pferd«, bemerkte Kubrak, während er ihm auf die Kruppe klopfte. »Hat schwache Hufe, dürfte vielleicht von der Behandlung kommen oder auch von schlechter Veranlagung... Immerhin, zum Reiten geht's...« Er wandte seinen quadratischen, grauborstigen Schädel Metschik zu und wiederholte mit stumpfsinniger Überzeugtheit: »Zum Reiten geht's...«
»Habt ihr denn keine andern?« erwiderte Metschik, plötzlich voll ohnmächtigen Hasses gegen die »Sütschicha« und darüber, dass man auf ihr reiten könne.
Ohne seine Frage zu beantworten, begann Kubrak langweilig und monoton zu erzählen, was Metschik am Morgen, am Mittag und am Abend zu tun habe, um diese schäbige Stute vor den unzähligen Gefahren und Krankheiten zu schützen.
»Kehrst vom Ritt zurück, nicht gleich absatteln«, belehrte ihn der Zugführer. »Erst mal stehen lassen, dass sie abkühlt. Hast den Sattel abgenommen, wisch ihr den Rücken ab; so mit der Handfläche oder mit Stroh, auch ehe du sie sattelst, wisch sie ebenfalls ab...«
Metschik stierte mit zitternden Lippen über das Pferd hinweg, ohne zu hören. Ihm war ums Herz, als hätte man ihm diese klägliche Stute mit den flachgetretenen Hufen nur gegeben, um ihn gleich von Anfang an zu erniedrigen. In der letzten Zeit betrachtete Metschik jede seiner Handlungen von dem Gesichtspunkt jenes neuen Lebens, das er beginnen sollte. Und nun schien es ihm, dass mit diesem abscheulichen Pferd gar keine Rede sein könne von irgendeinem Leben; keiner würde bemerken, dass er schon ein ganz anderer, starker, selbstsicherer Mensch geworden sei, sondern man würde in ihm noch immer den alten komischen Metschik sehen, dem man nicht einmal ein gutes Pferd anvertrauen dürfe.
»Die Stute da hat außerdem noch die Maulseuche...«, fuhr der Zugführer in wenig eindringlichem Tone fort, ohne sich im mindesten um Metschiks Gekränktsein zu kümmern, noch darum, ob seine Worte ihr Ziel erreichten. »Eigentlich müsste sie mit Vitriol behandelt werden, aber wir haben keins. Wir nehmen hier Hühnerdreck, ist auch ein sehr herzhaftes Mittel. Auf ein Läppchen gestrichen und um die Trense gewickelt, ehe man aufzäumt, leistet's gute Dienste.«
,Bin ich ein Schulbub oder was?' dachte Metschik, ohne auf den Zugführer zu achten. ,Nein, ich gehe zu Lewinsohn und sage ihm, dass ich nicht gewillt bin, auf einem solchen Klepper zu reiten... Ich bin keineswegs verpflichtet, für andere zu leiden (die Einbildung, das Opfer an Stelle eines anderen geworden zu sein, tat ihm wohl). Nein, ich werde es ihm offen ins Gesicht sagen, er soll nicht glauben...'
Erst als der Zugführer geendet hatte und das Pferd gänzlich Metschiks Obhut anvertraut worden war, tat es ihm leid, nicht aufgepasst zu haben. »Sütschicha« bewegte träge, mit gesenktem Kopf die weißen Lippen, und Metschik begriff, dass ihr ganzes Leben nun in seinen Händen lag. Aber er wusste ebenso wenig wie früher, wie mit diesem einfachen Pferdeleben umzugehen! Er war nicht einmal imstande, diese sanfte Stute richtig anzubinden, sie irrte in den Ställen herum, machte sich an fremdes Heu heran und beunruhigte Pferde und Wachen.
»Verdammt noch mal, wo ist denn dieser Neue?... Was bindet er seine Stute nicht fest?...« rief jemand in der Baracke. Gleich darauf hörte man eine Peitsche sausen. »Hau ab, hau ab, Aas verdammtes!... He, Wache! Nimm die Stute weg, zum Donnerwetter...«
Metschik, den das schnelle Gehen und ein inneres Fieber in Schweiß gebracht hatten, schritt, auf der Suche nach dem Stab, durch die dunklen, schlummernden Straßen und stieß, während er wütend alle Schimpfwörter zusammenklaubte, bald hier, bald dort gegen stachliges Dorngebüsch. An einer Stelle wäre er beinahe mitten in einen Dorfbummel hineingeraten; eine heisere Ziehharmonika spielte »Saratower Weisen«, die Zigaretten glommen, Säbel und Sporen klirrten, die Mädchen quietschten, und die Erde erzitterte von dem tollen Tanz. Metschik schämte sich, nach dem Wege zu fragen, und bog seitwärts ab. Die ganze Nacht wäre er umhergeirrt, wenn ihm nicht plötzlich um die Ecke eine einsame Gestalt entgegengekommen wäre.
»Genosse! Wie komme ich zum Stab?« rief Metschik, näher tretend. Und er erkannte Moroska. »Guten Abend...«, sagte er höchst verlegen.
Moroska blieb bestürzt stehen und brummelte etwas vor sich hin.
»Der zweite Hof rechts«, antwortete er schließlich, ohne dass ihm sonst was eingefallen wäre. Ein sonderbar flackerndes Licht sprang aus seinen Augen, dann ging er weiter, ohne sich umzusehen...
»Moroska... ja doch... der ist ja hier...', dachte Metschik und fühlte sich plötzlich wie ehedem verlassen und von Gefahren umlauert in Gestalt Moroskas, dunkler, unbekannter Straßen und einer sanftmütigen Stute, mit der er nicht umzugehen wusste. Als er den Stab erreicht hatte, war seine Entschlusskraft endgültig gelähmt, und schon wusste er nicht mehr, weshalb er gekommen, was er tun und was er sagen werde.
Einige zwanzig Partisanen lagen um ein Feuer herum, das sie inmitten eines öden, riesigen Hofes entfacht hatten. Dicht am Feuer saß Lewinsohn, koreanischer Sitte gemäß mit untergeschlagenen Beinen, wie in einem Zauberkreis von Rauch und zischenden Flammen, und erinnerte Metschik mehr noch als sonst an einen Gnomen, wie sie durch Kindermärchen gehen. Metschik trat näher und stellte sich hinter die Partisanen, niemand wandte den Kopf. Sie erzählten der Reihe nach zotige Geschichtchen, in denen immer wieder ein einfältiger Pope mit seiner lasterhaften Ehehälfte und ein durchtriebener Bursche, der den Popen an der Nase herumführte, um von der Popin Zärtlichkeiten einzuheimsen, eine Rolle spielten. Metschik schien es, als erzähle man diese Sachen nicht, weil sie in der Tat komisch waren, sondern einfach, weil man sonst nichts zu reden hatte, auch lachte man nur, um einer Pflicht zu genügen. Lewinsohn aber hörte die ganze Zeit über aufmerksam zu und brach des öfteren in schallendes und scheinbar herzliches Gelächter aus. Auch er erzählte, als er darum gebeten wurde, einige drollige Schnurren. Und da er von allen Versammelten der am meisten gebildete war, ergab es sich, dass es die verzwicktesten und zotigsten waren. Aber Lewinsohn war keineswegs verlegen, sondern redete ironisch-gelassen, und die gemeinen Worte kamen über seine Lippen, ohne ihn zu berühren, als ob es fremde wären.
Als er ihn so betrachtete, bekam Metschik unwillkürlich Lust, selber etwas zum besten zu geben, denn im Grunde genommen liebte er es, wenn von solchen Dingen erzählt wurde, obschon er sie für schimpflich hielt und sich das Ansehen gab, als stehe er über ihnen. Nur fürchtete er, dass ihn alle erstaunt ansehen würden und dass es nicht gut herauskommen würde.
So entfernte er sich denn, ohne sich zu ihnen gesellt zu haben, im Herzen verdrossen über sich selbst und ärgerlich auf alle Welt, am meisten auf Lewinsohn. ,Hol's der Kuckuck', dachte Metschik, gekränkt den Mund verziehend, ,werd' sie sowieso nicht pflegen, von mir aus mag sie verrecken. Woll'n mal hören, was er krähen wird, ich hab' keine Angst...'
In den folgenden Tagen vernachlässigte er das Pferd tatsächlich, holte es bloß zum Reitunterricht und nur selten zur Tränke. Wäre er zu einem fürsorglicheren Kommandeur gekommen, möglich, dass man ihn da rasch eines Besseren belehrt haben würde, aber Kubrak kümmerte sich nie darum, was in seinem Zuge vorging, und ließ alles laufen, wie es gerade kam. »Sütschicha« war grindig geworden, trottete durstig und mit leerem Magen herum, nur selten nahm sich jemand mitleidig ihrer an, während Metschik sich den Ruf eines »Taugenichts« und »Aufschneiders« zugezogen hatte, den niemand leiden konnte.
In dem ganzen Zug gab es nur zwei Menschen, die ihm mehr oder weniger nahe standen, Pika und Tschish. Aber er hatte sich ihnen nicht angeschlossen, weil sie seinen Ansprüchen genügten, sondern deshalb, weil er sonst zu keinem andern den Weg fand. Tschish war selbst zu ihm gekommen, bemüht, sich seine Geneigtheit zu sichern. Er fing den Moment ab, als Metschik, nach einem Streit mit seinem Gruppenführer des ungeputzten. Karabiners wegen, sich allein, mit stumpfem Blick nach der Decke starrend, unter einem Wetterdach hingestreckt hatte. — Tschish näherte sich ihm schlendernden Ganges mit den Worten:
»Sind Sie verärgert? Pah, das lohnt sich nicht! So ein dummer ungebildeter Mensch, der ist doch nicht ernst zu nehmen.«
»Ich bin auch nicht ärgerlich«, antwortete Metschik mit einem Seufzer.
»Sie langweilen sich also? Das ist was anderes, das kann ich verstehen... « Tschish setzte sich auf einen losgeschraubten Vorderwagen und zog mit der ihm eigenen Bewegung die stark gewichsten Stiefel hoch. »Tja, wissen Sie, auch ich langweile mich, intelligente Menschen gibt's nur wenige hier. Der einzige vielleicht Lewinsohn, aber der ist auch...«, Tschish machte eine wegwerfende Handbewegung und schaute bedeutungsvoll auf seine Füße.
»Was denn?« fragte Metschik neugierig.
»Na ja, mit seiner Bildung ist's auch nicht weit her. Schlau ist er, weiter nichts. Hamstert sich seinen Ruhm auf unserem Buckel zusammen. Sie glauben's nicht?« Tschish lächelte bitter. »Sie sind natürlich überzeugt, dass er ein äußerst tapferer und talentvoller Heerführer ist«, das Wort »Heerführer« sprach er mit besonderem Nachdruck aus, »ach was, Unsinn! Diese Fabel haben wir selber in die Welt gesetzt! Ich versichere Sie... aber, nehmen wir doch bloß mal den konkreten Fall unseres Aufbruchs: anstatt mit ungestümem Vorstoß den Feind zu überrennen, haben wir uns in so ein Nest verkrochen. Natürlich, aus höheren strategischen Erwägungen, Sie verstehen schon. Unsere Genossen dort gehen vielleicht zugrunde, aber wir lassen uns hier von strategischen Erwägungen leiten...« Tschish hatte, ohne es selbst zu merken, einen Bolzen aus dem Rad gelöst und steckte ihn ärgerlich wieder zurück.
Metschik konnte nicht glauben, dass Lewinsohn wirklich so sei, wie Tschish ihn darstellte, aber es war doch interessant; er hatte schon lange keine so wohlgesetzte Rede mehr gehört, und er wünschte aus irgendwelchem Grunde, dass sie zum mindesten ein Körnchen Wahrheit enthielte.
»Stimmt das wirklich?« sagte er, sich aufrichtend. »Und er schien mir so ein anständiger Mensch zu sein.«
»Anständig?!« entsetzte sich Tschish. Seine Stimme hatte den süßlichen Unterton verloren, und in ihr klang jetzt das Bewusstsein seiner Überlegenheit. »Welch ein Irrtum! Schaun Sie doch nur, was er sich für Leute aussucht?... Was ist denn dieser Baklanow? Ein dummer Junge!... Eingebildet bis dorthinaus, das soll ein stellvertretender Kommandeur sein? War's etwa nicht möglich, andere aufzutreiben? Gewiss, ich selbst bin krank, durchlöchert, ich habe sieben Schüsse im Leib und Quetschungen erhalten, ich reiße mich gar nicht nach einem so mühevollen Posten, aber wie dem auch sei, soviel wie er würde ich immer noch leisten, das kann ich sagen, ohne mich zu rühmen...«
»Vielleicht wusste er nicht, dass Sie das Kriegshandwerk so gut verstehen?«
»Mein Gott, wusste nicht! Das wissen doch alle, fragen Sie, wen Sie wollen. Manch einer missgönnt mir's natürlich und wird mich aus Ärger schlecht machen, aber Tatsache bleibt Tatsache!...«
Mit der Zeit wurde Metschik lebhafter und mitteilsamer. Den ganzen Tag verbrachten sie zusammen. Und obgleich Metschik nach einigen solchen Unterhaltungen einfach einen Widerwillen gegen Tschish empfand, konnte er doch nicht von ihm loskommen. Wenn er ihn lange nicht sah, suchte er sogar selbst nach ihm. Tschish hatte ihn gelehrt, sich von der Wache zu drücken und vom Küchendienst, denn längst schon hatte das den Reiz der Neuheit verloren, war zur öden Pflicht geworden.
Von dieser Zeit an zog das brodelnde Abteilungsleben unbemerkt an Metschik vorüber. Die wichtigsten Triebfedern des Abteilungsmechanismus blieben ihm verborgen, und er fühlte keineswegs die Notwendigkeit dessen, was dort vor sich ging. In dieser Entfremdung ertranken alle Hoffnungen, die er auf ein neues, kühnes Leben gesetzt, obgleich er gelernt hatte, die Zähne zu zeigen und die Menschen nicht zu fürchten, obgleich die Sonne ihn gebräunt hatte und er seine Kleidung vernachlässigte, so dass sein Äußeres sich nicht mehr von dem der anderen unterschied.
Moroska empfand zu seinem Erstaunen bei der Begegnung mit Metschik weder den Hass noch den Zorn von früher. Nur die Frage war geblieben, weshalb dieser schädliche Mensch von neuem seinen Weg kreuze, und im Unterbewusstsein die Überzeugung, dass er ja eigentlich auf ihn böse sein müsse. Immerhin hatte diese Begegnung doch so auf ihn gewirkt, dass er darüber unbedingt sogleich jemandem erzählen mußte.
»Geh' ich da eben durch ein Gässchen«, sagte er zu Dubow, »bin kaum um die Ecke 'rum, läuft mir, wie aus dem Boden gewachsen, dieser Bursche aus Schaldybas Abteilung entgegen, der, den ich mitgebracht habe, weißt du noch?«
»Na, und?...«
»Sonst nichts... ,Wie komm' ich da', fragt er, ,zum Stab?...' -,Hier', sagte ich, ,der zweite Hof rechts...'«
»Und was weiter?« forschte Dubow, der dabei nichts Außergewöhnliches finden konnte und dachte, dass es doch noch kommen würde.
»Das ist alles!... Was soll noch sein?...« antwortete Moroska mit unerklärlicher Gereiztheit.
Plötzlich ödete ihn alles an, und er verlor die Lust, mit irgend jemandem zu reden. Anstatt zum »Dorfbummel« zu gehen, wie er es sich vorgenommen hatte, kroch er in einen Heuschober, konnte aber keinen Schlaf finden. Unangenehme Erinnerungen bedrückten ihn schwer; es schien, als stelle sich ihm Metschik mit Absicht in die Quere, um ihn vom geraden Wege abzudrängen.
Den ganzen folgenden Tag irrte er planlos umher; nur mit Mühe unterdrückte er den Wunsch, Metschik wieder zu sehen.
»Warum sitzen wir so untätig herum?« lag er verärgert dem Zugführer in den Ohren. »Werden hier noch vor lauter Langeweile verschimmeln... Worüber grübelt er denn, unser Lewinsohn?«
»Eben gerade darüber, wie man Moroska zerstreuen könnte. Hat sich beim Nachgrübeln schon sämtliche Hosen durchgescheuert.«
Dubow ahnte auch nicht im entferntesten die komplizierten Vorgänge in der Seele Moroskas. Dieser aber, völlig sich selbst überlassen, verging in unheilvoller Sehnsucht und wusste, dass er sich bald dem Trunk ergeben würde, sollte es ihm nicht gelingen, im Kampfgewühl Ablenkung zu finden. Zum ersten Mal in seinem Leben kämpfte er gegen die eigenen Wünsche an, aber seine Kräfte waren nur gering. Ein Zufall bloß bewahrte ihn vor dem Sturz.
Seit sie sich in diese gottverlassene Gegend zurückgezogen, hatte Lewinsohn beinahe jegliche Verbindung mit den anderen Abteilungen verloren. Die wenigen Nachrichten, die es hier und da aufzuschnappen gelang, ergaben ein schauriges Bild des Zerfalls und qualvoller Auflösung. Der eiserne Tritt des Todes zerstampfte erbarmungslos die Ameisenhaufen, die toll gewordenen Ameisen aber rannten in ihrer sinnlosen Angst entweder in ihr Verderben oder stoben in ungeordneten Haufen in unbekannte Weiten, um in der eigenen Säure zu verfaulen. Der unheilschwangere Wind aus dem Ulachinsker Tal führte den rauchigen Geruch von Blut mit sich.
Ü ber verborgene Taigapfade, die seit Jahr und Tag keines Menschen Fuß mehr betreten, hatte sich Lewinsohn mit der Eisenbahn verbunden. Man benachrichtigte ihn, dass binnen kurzem ein Transport mit Waffen und Monturen vorbeikommen müsse. Die Eisenbahner hatten versprochen, den genauen Zeitpunkt mitzuteilen. Da Lewinsohn sehr wohl wusste, dass die Abteilung früher oder später entdeckt werden würde und es unmöglich sei, in der Taiga ohne Munition und warme Kleidung zu überwintern, entschloss er sich, den ersten Ausfall zu wagen. Gontscharenko lud in Eile die Sprengminen. Und in einer Nacht, nachdem sie sich unbemerkt im Nebel durch die feindliche Hölle geschlichen, tauchte plötzlich Dubows Zug an der Bahnlinie auf.
Die dem Postzug angehängten Güterwagen riss Dubow los, ohne dass Passagiere zu Schaden kamen. Im Krachen der Explosion, im Brandgeruch des Dynamits sprangen die Schienen hoch und stürzten dröhnend den Abhang hinunter. Der Verschluss der Sprengmine war mit einer Schnur an einem Telegraphendraht hängen geblieben und veranlasste später manch einen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, auf welche Weise und wozu er da hinaufgekommen.
Während die Kavalleriepatrouillen umherstreiften, blieb Dubow abwartend mit den schwerbepackten Gäulen im Swiaginsker Blockhaus und entschlüpfte dann, als es dunkel geworden war, in die Schlucht. Einige Tage später erschien er in Schibischi, ohne auch nur einen Mann verloren zu haben.
»Na, Baklanow, jetzt nimm dich zusammen...«, sagte Lewinsohn, und sein unsteter Blick ließ nur schwer erkennen, ob er im Ernst oder Scherz sprach. An demselben Tage teilte er den ganzen Train auf, Mäntel, Patronen, Säbel, Zwieback, und behielt nur soviel zurück, wie die kräftigen Gäule zu tragen vermochten.
Das ganze Ulachinsker Tal bis zum Ussuri war vom Feinde besetzt. An der Mündung des Irochedsa sammelten sich neue Kräfte, die japanischen Kundschafter schwirrten in allen Windrichtungen durchs Land und stießen oft genug mit Lewinsohnschen Patrouillen zusammen. Ende August setzten sich die Japaner nach dem Oberlauf in Marsch. Sie bewegten sich langsam, mit langen Aufenthalten, von Gehöft zu Gehöft, vorsichtig jeden Schritt abtastend, während sie die Flanken durch ein dichtes Netz von Patrouillen deckten. In der eisernen Hartnäckigkeit ihrer Bewegung fühlte man, ungeachtet des schneckenhaften Tempos, eine selbstsichere, berechnende und gleichzeitig blinde Kraft.
Die Kundschafter Lewinsohns kehrten mit schreckerfüllten Augen zurück, ihre Nachrichten aber widersprachen einander.
»Wie ist denn das möglich?« forschte Lewinsohn kalt und sachlich. »Gestern, behauptest du, waren sie in Solomenaja, heute früh aber in Monakin, sie gehen also zurück?...«
»Das w-weiß ich nicht«, stotterte der Kundschafter. »Vielleicht waren's Vorposten in Solomenaja...«
»Und woraus schließt du, dass in Monakin die Hauptkräfte und nicht Vorposten stehen?«
»Die Bauern sagen's...«
»Hör auf mit deinen Bauern!... Was hat man dir befohlen?«
Da erfand der Kundschafter eine höchst verwickelte Geschichte, wieso und weshalb es ihm nicht gelungen war, tiefer in die Stellungen zu dringen. In Wahrheit verhielt sich die Sache so, dass der durch Weibergeschwätz verängstigte Bursche nur bis auf etwa zehn Werst Entfernung an den Feind herangekommen war und dann rauchend, im Gebüsche versteckt, die geeignete Zeit abwartete, um wieder umzukehren. ,Steck mal deine Nase selber vor', dachte er, während er zwinkernd, mit heimlichem Bauernblick, zu Lewinsohn herüberschielte.
»Wirst schon selber hinfahren müssen«, sagte Lewinsohn zu Baklanow. »Sonst klatscht man uns hier wie Fliegen an die Wand. Mit diesem Volk ist nichts anzufangen. Nimm dir jemanden mit, und brich in aller Frühe auf.«
»Wen nehm' ich da mit?« fragte Baklanow, bemüht, sich ein ernstes und besorgtes Aussehen zu geben, obgleich in seinem Innern alles vor Kampfesfreude bebte: wie Lewinsohn, so glaubte auch er, seine wahren Gefühle verbergen zu müssen.
»Wen du willst... meinetwegen den Neuen, der bei Kubrak ist, den Metschik vielleicht? Kannst ihn bei der Gelegenheit auf die Probe stellen. Man spricht nichts Gutes von ihm, vielleicht mit Unrecht...«
Metschik kam dieser Kundschafterritt äußerst gelegen. Während der kurzen Zeit, die er in der Abteilung verbrachte, hatte er eine solche Fülle unerledigter Angelegenheiten, ungehaltener Versprechen und unverwirklichter Absichten aufgespeichert, dass alles im einzelnen, selbst geordnet, schon allen Sinn und alle Bedeutung verloren haben würde. Zusammengenommen aber lasteten sie immer schwerer, dumpfer und schmerzlicher auf ihm und ließen ihn nicht aus ihrem engen, unsinnigen Bann entkommen. Nun aber meinte er, diesen sinnlosen Kreis mit kühnem Griff sprengen zu können.
Noch vor Sonnenaufgang brachen sie auf. Blassrosa schimmerten am Abhang die Baumwipfel der Taiga, und im Dorfe, am Fuß des Berges, krähten zum zweiten Mal die Hähne. Es war kalt, dunkel und etwas unheimlich. Das Ungewohnte ihrer Lage, die Vorahnung von Gefahren, die Hoffnung auf Erfolg erzeugten in den beiden Reitern jene gehobene Kampfstimmung, in der alles andere verblasste. In den Gliedern ein leichtes Wallen des Blutes, die Muskeln federn, und die Luft scheint kalt und brennend, klirrend fast.
»Mensch, hast du aber eine grindige Stute«, sagte Baklanow. »Pflegst sie wohl nicht, was?... Das ist nicht gut... Kubrak, dieser Dummkopf, hat's dir, scheint's, nicht gezeigt, was du mit ihr zu machen hast?« Baklanow hätte es niemals für möglich gehalten, dass ein Mensch, der mit einem Pferde umzugehen weiß, so gewissenlos sein könnte, um es derart verwahrlosen zu lassen. »Hat's dir nicht gezeigt, was?«
»Wie soll ich sagen«, erwiderte Metschik verlegen, »er hilft überhaupt nicht viel. Man weiß nicht, an wen man sich wenden
soll.«
Er schämte sich seiner Lüge und rutschte, mit abgewandtem Blick, verlegen auf dem Sattel hin und her.
»Frage nur ruhig bei allen. Wir haben dort viele, die mit Pferden umzugehen wissen. Sind schneidige Kerle darunter...«
Entgegen der Ansicht von Tschish, die Metschik beinahe geteilt hatte, fing er an, Gefallen an Baklanow zu finden. Er war so stämmig und rundlich und saß wie angewachsen im Sattel. Seine Augen, braun und gescheit, fingen alles im Fluge auf, im selben Moment auch schon das Wichtige vom Unwichtigen scheidend, dann folgten praktische Schlussfolgerungen:
»He, Freundchen, ich schau' schon immer, warum dein Sattel rutscht! Hast ja den hinteren Sattelgurt so fest angezogen und der vordere hängt. Umgekehrt muß's sein... Zeig mal her...«
Ehe sich's Metschik recht versah, war Baklanow schon vom Pferd gesprungen und machte sich an den Gurten zu schaffen.
»Na... auch die Satteldecke hat sich ja verschoben... steig ab, steig ab, machst das Pferd kaputt. Müssen umsatteln.«
Nach einigen Werst war Metschik schon fest davon überzeugt, dass Baklanow weit tüchtiger und klüger als er und außerdem ein sehr tapferer und starker Mensch war, und dass er, Metschik, sich ihm in allem widerspruchslos fügen müsse. Baklanow hingegen, der ganz unvoreingenommen an Metschik heranging, unterhielt sich, obgleich er sich der eigenen Überlegenheit sehr bald bewusst war, mit ihm wie mit seinesgleichen und bemühte sich, durch bloße Beobachtung dessen wahren Wert zu ergründen.
»Wer hat dich denn hergeschickt?«
»Eigentlich niemand, bin selbst hergekommen, und den Passierschein haben mir die Maximalisten gegeben...«
Metschik erinnerte sich an das sonderbare Benehmen Staschinskijs und versuchte, die Bedeutung der Organisation, von der er geschickt worden war, irgendwie zu verwischen.
»Die Maximalisten?... Solltest dich nicht mit ihnen herumtreiben, mit diesen Schwätzern...«
»Kümmere mich ja auch gar nicht um sie... Dort sind nur einfach einige meiner Freunde aus dem Gymnasium, und da bin ich...«
»Hast du das Gymnasium beendet?« unterbrach ihn Baklanow.
»Das Gymnasium - beendet?... Ja...«
»Das ist schön. Ich habe auch die Gewerbeschule besucht. Für Drechsler. Konnte nicht bis zu Ende machen. Hab' spät angefangen, siehst du«, erklärte er, wie zu seiner Rechtfertigung. »Solange war ich auf einer Werft, bis mein kleiner Bruder heranwuchs, und dann fing dieser Tanz hier an...«
Nachdenklich setzte er nach einer Weile hinzu:
»Ja, ja... das Gymnasium... hatte als ein kleiner Knirps auch Lust, aber so ist's nun mal...«
Metschiks Worte hatten, scheint's, manch unnütze Erinnerung in ihm wachgerufen. Mit plötzlicher Leidenschaftlichkeit begann Metschik ihm zu beweisen, dass es nicht nur nicht schlecht, sondern sogar von Vorteil wäre, dass Baklanow das Gymnasium nicht besucht habe. Ohne es selbst gewahr zu werden, bemühte er sich, ihm zu beweisen, wie rechtschaffen und klug er sei, ungeachtet seiner mangelhaften Bildung. Baklanow vermochte jedoch in seiner Unwissenheit keinerlei Vorteil zu entdecken, und die komplizierten Überlegungen Metschiks waren ihm überhaupt unverständlich. Eine herzliche Aussprache kam nicht zustande. Beide gaben ihrem Pferd die Sporen und ritten lange schweigend nebeneinander her.
Die vielen Kundschafter, die sie auf dem Wege trafen, logen wie immer. Baklanow schüttelte nur den Kopf. Auf einem Gehöft, drei Werst vom Dörfchen Solomenaja, stellten sie ihre Pferde unter und gingen zu Fuß weiter. Längst schon hatte die Sonne sich nach Westen gesenkt. In den müden Feldern leuchteten die bunten Kopftücher, und die fetten Garbenhaufen warfen dunkle, weiche Schatten. Ein Gespann kam ihnen entgegen, und Baklanow erkundigte sich, ob die Japaner in Solomenaja gewesen seien.
»In der Früh, sagt man, sollen Stücker fünf erschienen sein, jetzt ist's wieder still geworden... Wenn man wenigstens noch das Getreide hereinkriegte, dass sie die Hölle...«
Metschiks Herz schlug schneller, aber er hatte keine Angst.
»Sie sind also wirklich in Monakin?«, bemerkte Baklanow. »Das da waren Kundschafter. Also los...«
Als sie ins Dorf kamen, empfing sie träges Hundegebell. In einer Herberge, mit einem an einer Stange befestigten Heubüschel und einem Wagen vor der Tür, tranken sie auf »Baklanowsche Art« Milch: mit eingebrocktem Brot aus einem Schüsselchen. Späterhin - mit Grausen nur gedachte Metschik dieses Ritts - sah er immer wieder Baklanow vor sich, wie er mit glückstrahlendem Gesicht, die Oberlippe mit Milch beschmiert, auf die Straße gegangen war. Sie hatten kaum einige Schritte gemacht, als aus einem Gässchen ein dickes Weib mit geschürzten Röcken gelaufen kam, das bei ihrem Anblick beinahe zur Salzsäule erstarrte. Ihre Augen verkrochen sich unter das Kopftuch, und ihr Mund schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Plötzlich aber begann das Weib mit durchdringender, spitzer Stimme zu kreischen:
»Kinderchen, meine Kinderchen, wohin geht ihr denn? Ungeheure japanische Kräfte stehen an der Schule. Sie kommen hierher, macht euch aus dem Staub, sie kommen hierher!...«
Kaum hatte Metschik ihre Worte erfasst, als im Gleichschritt aus demselben Gässchen heraus vier japanische Soldaten mit geschultertem Gewehr marschierten. Baklanow schrie auf, packte seine Pistole und feuerte zweimal aus nächster Nähe in sie hinein. Metschik sah, wie aus dem Rücken des Getroffenen blutige Fetzen flogen und zwei von ihnen niederstürzten. Die dritte Patrone stellte sich quer, und die Pistole versagte. Einer der übrig gebliebenen Japaner rannte davon, der vierte aber riss sein Gewehr herunter, während Metschik im selben Augenblick, einer neuen Kraft gehorchend, die ihn mehr regierte als die Furcht, einige Male seinen Revolver auf ihn abdrückte. Die letzten Kugeln trafen den Japaner, als er sich zuckend im Staube wälzte.
»Laufen wir!...« rief Baklanow. »Zum Wagen!...«
Einige Minuten später, nachdem sie das Pferd vom Pflock losgebunden hatten, jagten sie, eine Wolke dichten Staubes aufwirbelnd, über die Straße dahin. Baklanow stand aufrecht im Gefährt, schlug aus Leibeskräften mit den Zügelenden auf das Pferd ein, fast ständig rückwärts gewandt, nach dem Feinde spähend. Mindestens fünf Hornisten bliesen irgendwo im Zentrum Alarm.
»Da sind sie... alle!...« brüllte Baklanow im triumphierenden Zorn. »Alle!... Das Gros! Hörst du sie spielen?...«
Metschik hörte nichts. Er warf sich zu Boden und empfand rasende Freude, weil er gerettet war und weil der von ihm getötete Japaner sich in letzter Todesqual im heißen Staube wälzte.
Und als sein Blick auf Baklanow fiel, erschien ihm dessen verzerrtes Gesicht widerlich und furchterregend.
Kurz darauf lachte Baklanow schon.
»Das haben wir fein gedeichselt! Nicht? Sie ins Dorf und wir ins Dorf, gleichzeitig. Aber du, Freundchen, bist ein Prachtkerl! Hätt's gar nicht erwartet von dir, wahrhaftig! Ohne dich hätten sie uns wie ein Sieb durchlöchert!«
Metschik, der sich von ihm abgewandt hatte, lag, den Kopf vergraben, gelb und bleich, das Gesicht mit dunklen Flecken gesprenkelt, im Wagen, ein Halm mit angefaulten Wurzeln.
So waren sie ungefähr zwei Werst gefahren, als Baklanow, der nichts von den Verfolgern hörte, das Pferd an einem einsamen, über den Weg gewachsenen Baum anhielt.
»Du bleib mal hier, ich klettere rasch hinauf, woll'n mal sehen, was los ist...«
»Wozu?...« fragte Metschik mit stockender Stimme. »Beeilen wir uns. Man muss schleunigst alles melden... es ist klar, dass hier die Hauptkräfte stehen...« Er zwang sich selbst vergeblich zu glauben, was er sagte. Jetzt war es ihm unheimlich, in der Nähe des Feindes zu bleiben.
»Nein, es ist schon besser, wenn wir warten. Wir sind doch nicht bloß hergekommen, um drei dieser Dummköpfe über den Haufen zu schießen. Die Sache müssen wir genau beschnuppern.«
Aus Solomenaja ritten eine halbe Stunde später im Schritt einige zwanzig Kavalleristen. ,Was, wenn sie uns bemerken?' dachte Baklanow mit geheimem Schauder, ,auf dem Wagen entwischen wir nicht.' Aber er überwand sich und beschloss, bis zum Äußersten auszuharren. Die Metschiks Blick durch einen Hügel verborgene Reiterei befand sich schon auf halbem Wege, als Baklanow von der Höhe seines Beobachtungspostens aus Infanterie bemerkte; mit matt funkelnden Waffen marschierte sie in dichten Kolonnen gerade aus dem Dorf... Fast hätten sie auf ihrer rasenden Fahrt nach dem Gehöft den Gaul zuschanden gehetzt; dort angekommen, schwangen sie sich auf ihre Pferde, und einige Minuten später galoppierten sie schon in der Richtung nach Schibischi.
Lewinsohn hatte vorsorglicherweise noch vor ihrer Ankunft (sie kehrten in der Nacht zurück) verstärkte Posten aufgestellt, Reiter zu Fuß aus Kubraks Zug. Ein Drittel des Zuges war bei den Pferden geblieben, während der Rest in der Nähe des Dorfes, hinter dem Wall einer alten mongolischen Festung, Wache schob. Metschik hatte Baklanow seine Stute übergeben und blieb beim Zug zurück.
Ungeachtet der starken Übermüdung konnte Metschik keinen Schlaf finden. Es war kalt, und ein dichter Nebel lag über dem Fluss. Pika wälzte sich unruhig auf seinem Platz und stöhnte im Traum, unter den Füßen der Wachen raschelten geheimnisvoll die Gräser. Metschik lag auf dem Rücken, tastend glitten seine Blicke zu den Sternen. Kaum merklich funkelten sie aus der schwarzen Leere, hinter dem Nebelschleier; und eben diese Leere, dumpfer noch und dunkler, da kein Stern sie unterbrach, fühlte Metschik in seinem Innern. Er dachte daran, dass Frolow immerfort eine solche Leere empfinden müsse, und es ward ihm unheimlich zumute bei dem unerwarteten Gedanken, dass auch ihn vielleicht ein gleiches Schicksal wie diesen Menschen erwartete. Er war bemüht, den schrecklichen Gedanken zu verscheuchen, aber Frolows Bild kam ihm nicht aus dem Sinn. Er sah ihn auf dem Feldbett liegen, mit leblos ausgestreckten Armen und welkem Antlitz, und leise rauschte der Ahorn über ihm. ,Er ist ja tot!...' dachte Metschik entsetzt. Aber Frolow bewegte einen Finger und sagte mit knöchernem Lächeln zu Metschik gewandt: ,Die Jungens... treiben Unfug...' Plötzlich krampfte er sich im Bett zusammen, Fetzen flogen von ihm ab, und Metschik sah, dass es gar nicht Frolow, sondern ein Japaner war. ,Das ist schrecklich...' dachte er von neuem, am ganzen Körper zitternd, aber Warja beugte sich zu ihm und flüsterte: ,Du, fürchte dich nicht.' Sie war kühl und weich. Metschik wurde es auf einmal leichter ums Herz. ,Sei nicht böse, dass ich mich so kurz von dir verabschiedet habe', sagte er zärtlich. ,Ich liebe dich.' Sie schmiegte sich an ihn, und im Nu verflog alles, versank in Nichts; einige Sekunden später aber saß er schon auf der Erde, zwinkerte mit den Augen, tastete nach dem Karabiner, und es war lichter Tag. Ringsherum rollten die Leute geschäftig ihre Mäntel zusammen; Kubrak hockte, durch den Feldstecher spähend, im Gebüsch, und alle umdrängten ihn und fragten:
»Wo?... Wo?...«
Metschik, der sein Gewehr endlich gefunden hatte, kroch den Wald hinauf und begriff, dass vom Feinde die Rede war, konnte ihn aber nirgends entdecken und begann ebenfalls zu fragen.
»Wo?...«
»Was habt ihr euch da zusammengerottet?« zischte plötzlich der Zugführer und stieß jemanden heftig zur Seite. »Marsch, in Schützenlinie ausgerichtet!«
Während sich die anderen über den Wall zerstreuten, reckte Metschik den Hals, immer noch bemüht, den Feind ausfindig zu machen.
»Aber wo ist er denn?« wandte er sich einige Male an seinen Nebenmann. Dieser lag auf dem Bauch, beachtete ihn nicht und fasste sich, unerklärlich weshalb, immer wieder ans Ohr, während ihm die Unterlippe schlaff herabhing. Plötzlich drehte er sich um und fluchte wütend los. Ehe noch Metschik Zeit gefunden hatte, ihm zu antworten, ertönte ein Kommando:
»Legt an...«
Er streckte seine Waffe vor, und noch immer nichts sehend und wütend, dass die anderen sahen und er nicht, drückte er bei dem Worte »Feuer« blindlings sein Gewehr ab. (Er wusste nicht, dass die gute Hälfte des Zuges ebenfalls nichts sah, es aber verschwieg, um sich nicht späterhin Hänseleien auszusetzen.)
»Feuer!...« kommandierte Kubrak von neuem, und Metschik schoss wieder.
»Oho, sie reißen aus!...« schallte es ringsumher. Alle fingen plötzlich an, laut und sinnlos durcheinanderzureden, ihre Gesichter wurden heiter und erregt.
»Genug, genug!...« schrie der Zugführer. »Wer schießt dort? Schade um die Patronen!...«
Metschik erfuhr nun auf seine Erkundigungen hin, dass es sich um eine japanische Patrouille gehandelt hatte. Manch einer, der ebenfalls nichts gesehen, lachte jetzt über Metschik und rühmte sich dessen, wie die Japaner, die er aufs Korn genommen, von den Pferden gestürzt seien. Zur selben Zeit erfüllte der dumpfe Donnerschlag eines Kanonenschusses das Tal mit lautschallendem Echo. Verschiedene Partisanen warfen sich erschreckt zu Boden; auch Metschik krümmte sich, wie vom Blitz getroffen; es war der erste Kanonenschuss, den er in seinem Leben vernahm. Die Granate platzte irgendwo hinter dem Dorf. Rasend kläfften die Maschinengewehre, die Karabinergeschosse pfiffen, aber die Partisanen antworteten nicht.
Eine Minute oder vielleicht auch eine Stunde später, die Zeit floh schmerzlich rasch, fühlte Metschik, dass die Zahl der Partisanen sich vermehrt hatte, und gewahrte Baklanow und Meteliza; sie stiegen den Wall herab. Baklanow trug den Feldstecher, bei Meteliza zuckte die eine Wange, und die Nasenflügel blähten sich mächtig.
»Liegst?« fragte Baklanow, die Stirne glättend. »Na, und wie geht's?«
Metschik lächelte gequält, und nach unsäglicher Überwindung presste er hervor: »Wo sind unsere Pferde?...«
»Unsere Pferde sind in der Taiga, bald werden auch wir dort sein, wenn es uns nur gelänge, sie etwas aufzuhalten... Uns können sie ja nichts anhaben«, fügte er hinzu, wohl in der Absicht, Metschik zu ermuntern, »aber Dubows Zug ist in der Ebene... Verdammt noch mal...«, fluchte er plötzlich zusammenfahrend. Eine Granate war in nächster Nähe explodiert. »Auch Lewinsohn ist dort...« Und lief, mit beiden Händen den Feldstecher umklammernd, die Schützenkette entlang.
Das nächstemal, als der Befehl »Feuer« kam, konnte Metschik die Japaner bereits sehen: sie griffen in Schützenketten ausgerichtet an, liefen von Gesträuch zu Gesträuch und waren so nahe, dass es Metschik schien, es wäre nicht mehr möglich, ihnen zu entgehen. Es war nicht Furcht, was er empfand, sondern eher quälende Erwartung, wann all das ein Ende nähme.
In einem solchen Augenblick tauchte plötzlich Kubrak auf und schrie:
»Wohin schießt du denn?...«
Metschik sah sich um und verstand, dass die Worte des Zugführers nicht ihm galten, sondern Pika, den er bis dahin gar nicht bemerkt hatte. Pika lag weiter unten, das Gesicht gegen die Erde gepresst und feuerte, ungeschickt am Gewehrverschluss hantierend, in einen gegenüberstehenden Baum. Er fuhr mit dieser Beschäftigung fort, auch nach dem Zuruf Kubraks, nur mit dem Unterschied, dass das Magazin jetzt leer war und der Verschluß unnütz knackte. Der Zugführer stieß ihn einige Male mit dem Stiefel an, aber Pika hob trotzdem nicht den Kopf.
Und nun begannen alle irgendwohin zu laufen, erst ungeordnet, dann in losem Gänsemarsch; auch Metschik lief mit, ohne zu verstehen, wozu und weshalb das alles geschehe. Doch fühlte er selbst in dem Augenblick des verzweifelten Wirrwarrs, dass dies alles nicht zufällig und sinnlos sei und dass eine ganze Reihe von Menschen, die die Dinge vielleicht anders empfanden als er, sein Handeln und das der anderen bestimmen. Er sah diese Leute nicht, fühlte aber ihren Willen in sich, und als er im Dorfe wieder zur Besinnung kam - jetzt gingen sie in langer Kette ausgerichtet im Schritt -, forschten seine Augen unwillkürlich nach jenen, die die Fäden seines Schicksals in der Hand hielten. Allen voran marschierte Lewinsohn, er sah aber so klein aus und fuchtelte so komisch mit der riesigen Mauserpistole herum, dass es schwer fiel, zu glauben, er sei die hauptsächliche, treibende Kraft. Während Metschik sich bemühte, diesen Widerspruch zu lösen, fingen die Kugeln von neuem an, in dichten, drohenden Schwärmen zu summen; es schien, als streiften sie die Haare, selbst den Flaum an den Ohren. Die Kette stürzte vorwärts, einige fielen zu Boden. Metschik war überzeugt, dass er, sollte er jetzt wieder schießen müssen, sich schon in nichts mehr von Pika unterscheiden werde.
Als verschwommener Eindruck dieses Tages war in Metschiks Erinnerung noch die Gestalt Moroskas geblieben, auf bleckendem Hengst mit feurig lodernder Mähne, der so pfeilgeschwind vorübersauste, dass man nicht zu unterscheiden vermochte, wo Moroska aufhörte und wo das Pferd begann. Bald darauf erfuhr er, dass Moroska einer der Reiter war, deren Aufgabe darin bestand, während des Kampfes die Verbindung mit den Zügen zu unterhalten.
Völlig zur Besinnung kam Metschik erst in der Taiga auf einem Bergpfad, den unlängst ein Zug vorüberziehender Pferde ausgetreten hatte. Da war es still und dunkel, und die ernsten Zedern spendeten Frieden und Schutz.
Die Tage liefen dahin, wie ein Gewebe von Qual aus einer unerbittlichen, herrschsüchtigen Maschine läuft, von dem jede Handbreit der anderen gleicht, die Frucht schlafloser Nächte und unmenschlicher Mühen. Doch über das Gewebe der Tage des Menschen eilt das unermüdliche Schiffchen...
Nach dem Kampf in einer von Zittergras und Farnen überwucherten Schlucht versteckt, inspizierte Lewinsohn die Pferde und stieß auf die »Sütschicha«.
»Was ist denn das?«
»Was denn?« murmelte Metschik.
»Na, sattle mal ab, zeig den Rücken...«
Mit zitternden Händen löste Metschik die Gurte.
»Na, ja, natürlich... der Rücken ist durchgescheuert«, sagte Lewinsohn in einem Ton, als hätte er auch gar nichts Gutes erwartet. »Oder glaubst du, ein Pferd ist nur zum Reiten da, und wer wird es pflegen?... «
Lewinsohn mußte an sich halten, um nicht laut zu werden, und das fiel ihm sehr schwer. Er war schrecklich müde, sein Bart zuckte, und seine Hände zerdrückten nervös einen kleinen Zweig, den er irgendwo abgerissen hatte.
»Zugführer, he, komm her... Womit schaust du eigentlich?
Der Zugführer starrte, ohne zu zwinkern, auf den Sattel, den Metschik, unerfindlich weshalb, in der Hand hielt. Dann sagte er düster und bedächtig:
»Dem Dummkopf da, wie oft hat man's ihm schon gesagt...«
»Das wusste ich doch...« Lewinsohn ließ den Zweig fallen. Sein auf Metschik gerichteter Blick war streng und kalt. »Gehst zum Wirtschaftsleiter und reitest auf den Packpferden, bis du deins wiederhergestellt hast...«
»Hören Sie, Genosse Lewinsohn...«, stieß Metschik zitternd hervor, übermannt von einem Gefühl der Erniedrigung, nicht weil er das Pferd schlecht gepflegt, sondern der läppischen und erniedrigenden Haltung wegen, die er eingenommen... »Ich habe keine Schuld... Hören Sie mich an... warten Sie doch... jetzt können Sie mir wirklich glauben... ich werde es gut behandeln...«
Aber Lewinsohn ging, ohne sich umzublicken, zum nächsten Pferd.... Die knapp gewordenen Lebensmittel zwangen sie bald, das Nachbartal aufzusuchen. Viele Tage zog die Abteilung die unzähligen Wasserläufe des Ulachinsker Tals entlang, sich in Kämpfen und qualvollen Märschen aufreibend. Immer mehr schrumpfte die Zahl der unbesetzten Gehöfte zusammen, jede Brotkrume, jedes Haferkorn mußte erkämpft werden, immer und immer wieder klafften die kaum verheilten Wunden auf. Die Leute wurden ständig dürrer, schweigsamer, erbitterter.
Lewinsohn war zutiefst davon überzeugt, dass nicht nur das Gefühl der Selbsterhaltung diese Menschen treibt, sondern noch ein anderer, auf den ersten Blick nicht erkennbarer, nicht minder wichtiger Instinkt, der den meisten nicht einmal zum Bewusstsein kam und der alles, was sie zu erdulden hatten, selbst den Tod, durch das Endziel rechtfertigte, und ohne den nicht einer von ihnen gekommen wäre, um in der Ulachinsker Taiga freiwillig zu sterben. Doch er wusste auch, dass dieser wichtige Instinkt in den Menschen lebt, versenkt in die Tiefe der Seele, unter winzig kleinen, alltäglichen Bedürfnissen und Sorgen ihrer ebenso kleinen, aber lebendigen Persönlichkeit, weil doch jeder Mensch essen und schlafen will, weil doch jeder Mensch schwach ist. Bedrängt von der Bürde täglichen Kleinkrams, sich ihrer Schwäche bewusst, schienen die Leute ihre wichtigste Sorge anderen anvertraut zu haben, stärkeren, Menschen vom Schlage Lewinsohns, Baklanows, Dubows, indem sie diese verpflichteten, an diese Sorge mehr zu denken als daran, dass auch sie essen und schlafen müssen, und
ihnen gleichzeitig das Amt übertrugen, die anderen daran zu erinnern.
Lewinsohn war jetzt immer unter den Leuten, er führte sie persönlich in den Kampf, aß mit ihnen aus einem Topf, durchwachte Nächte, kontrollierte die Posten und war der einzige Mensch fast, der noch das Lachen nicht verlernt hatte. Selbst wenn er von den allergewöhnlichsten Dingen mit seinen Leuten redete, so klang aus jedem Wort: ,Seht nur, auch ich leide mit euch, auch mich kann morgen eine Kugel treffen, auch ich kann vor Hunger krepieren, und doch bin ich frisch und fest wie nur je, denn letzten Endes spielt das alles doch keine so große Rolle...'
Ungeachtet dessen aber rissen Tag für Tag jene unsichtbaren Fäden, die ihn mit dem Partisanentum verbanden... Und je weniger solcher Fäden übrig blieben, um so schwerer fiel es ihm, zu überzeugen; er wurde zu einer Kraft, die über der Abteilung stand.
Gewöhnlich hatte keiner Lust, ins kalte Wasser zu steigen, um die Fische aus dem Netz zu holen. Daher wurden dazu die Schwächsten angehalten, am häufigsten traf es den ehemaligen Schweinehirten Lawruschka, einen schüchternen, stotternden Menschen unbekannter Herkunft. Er war entsetzlich wasserscheu, zitternd und Kreuze schlagend kroch er die Böschung hinunter, und Metschik betrachtete stets mit schmerzlichem Bedauern seinen hageren, einem ausgebuddelten Kartoffelfeld ähnlichen, wie von Erdhöckern bedeckten Rücken. Eines Tages bemerkte Lewinsohn das.
»Wart mal...«, sagte er zu Lawruschka, »warum steigst du nicht selber 'rein?« Diese Worte galten einem schiefen Burschen, der Lawruschka mit Püffen antrieb und aussah, als wäre seine eine Seite von einer zuklappenden Türe gequetscht worden.
Der richtete seine bösen, weißbewimperten Augen auf ihn und erwiderte unerwartet:
»Steig selber 'rein, versuch's mal...«
»Ich nicht«, antwortete Lewinsohn gelassen, »ich hab' auch so alle Hände voll zu tun, aber dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben... schnell, 'runter mit den Hosen... Da, die Fische schwimmen schon weg.«
»Lass sie schwimmen... ich bin doch kein dummer August...« Der Bursche drehte sich um und entfernte sich langsam vom Ufer. Einige Dutzend Augenpaare sahen bald beifällig auf ihn, bald spöttisch auf Lewinsohn.
,Man hat schon seine Plage mit solchem Volk...', wollte Gontscharenko eben loslegen, während er den Kittel aufknöpfte, hielt aber zusammenfahrend inne, als er einen ungewohnt lauten Schrei seines Kommandeurs vernahm:
»Zurück!...« In Lewinsohns Stimme schmetterten herrische Töne voll unerwarteter Kraft.
Der Bursche blieb stehen. Schon bereute er, diese Suppe eingebrockt zu haben, wollte sich aber vor den andern keine Blöße geben und wiederholte:
»Tu's nicht, und dabei bleibt's...«
Schweren Schrittes ging Lewinsohn auf ihn zu, die Hand an der Mauserpistole, und die Augen, die ungewöhnlich stechend und klein geworden waren, unverwandt auf ihn gerichtet. Der Bursche fing an, langsam und unwillig seine Hosen aufzuknöpfen.
»Bisschen schneller!« sagte Lewinsohn grimmig drohend.
Der Bursche sah ihn von der Seite an, und von plötzlichem Schreck ergriffen, begann er sich hastig auszuziehen, blieb aber in den Hosen hängen, und aus Angst, dass Lewinsohn, der dies nicht als einen Zufall gelten lassen würde, ihn niederschieße, stammelte er, sich überstürzend:
»Gleich, gleich... bin hängen geblieben, da, ach, verdammt!... gleich, gleich...«
Als Lewinsohn sich im Kreise umsah, blickten ihn alle mit Achtung und Furcht an, und nur so: Mitgefühl hatte keiner. In diesem Augenblick kam er sich selbst als feindliche Kraft vor, die über der Abteilung stand. Aber auch dazu war er bereit, war er doch überzeugt, dass seine Kraft eine gerechte sei.
Von diesem Tag an ließ Lewinsohn keine Rücksicht gelten, wenn es darum ging, Lebensmittel zu beschaffen oder einen übrigen Tag der Ruhe zu gewinnen. Er trieb die Kühe fort, plünderte die Felder und Gärten der Bauern, aber selbst Moroska erkannte, dass das alles keine Ähnlichkeit hatte mit dem Diebstahl im Melonenfeld des Rjabez.
Nach einem meilenlangen Marsch über die Ausläufer der Udeginsker Berge, wobei sich die Abteilung einzig von Trauben und über Feuer gedämpften Pilzen nährte, gelangte Lewinsohn an eine einsame koreanische Hütte, zwanzig Werst von der Mündung des Irochedsa entfernt. Ein hochgewachsener Mensch, behaart wie seine langen Filzstiefel, trat ihnen barhäuptig, einen rostigen »Smith« im Gürtel, entgegen. Lewinsohn erkannte den Schnapsschmuggler Styrkscha.
»Aha, Lewinsohn!...« begrüßte Styrkscha ihn mit seiner chronisch heiseren Stimme. Unter seinem struppigen Haar lugten mit dem gewöhnlich bitteren Lächeln seine Augen hervor. »Lebst noch? Tolle Sache... Und hier sucht man dich.«
»Wer sucht mich?«
»Die Japaner, die Koltschakleute... Wer fragt denn sonst nach dir?...«
»Sie suchen wohl vergebens... Gibt's da was zu fressen für uns?«
»Vielleicht auch nicht«, erwiderte Styrkscha vieldeutig. »Sie sind auch keine Dummköpfe. Dein Kopf steht hoch im Preis... In den Dorfversammlungen wird angekündigt: tot oder lebendig gefangen - wird eine Belohnung gezahlt.«
»Oho!... Und bieten sie viel?...«
»Fünfhundert sibirische Rubel.«
»Ein Spottpreis!« lachte Lewinsohn. »Zu fressen, habe ich gefragt, gibt's da was für uns?«
»Einen Dreck gibt's... der Koreaner löffelt selber nur noch Maisbrei. Eine zehn Pud schwere Sau haben sie hier, die verehren sie wie eine Heilige, ist Fleisch für den ganzen Winter.«
Lewinsohn ging den Besitzer suchen. Ein schlottriger, grauhaariger Koreaner mit einem zerdrückten, geflochtenen Hut auf dem Kopf, begann bei den ersten Worten schon flehentlich darum zu bitten, ihm sein Schwein zu lassen. Lewinsohn, der hinter sich anderthalb Hundert hungriger Mäuler spürte und andererseits den Koreaner bedauerte, gab sich alle erdenkliche Mühe, ihm zu beweisen, dass er nicht in der Lage sei, anders zu handeln. Der Koreaner, der ihn nicht begriff, fuhr fort, seine Hände flehentlich zu falten und wiederholte:
»Nicht essen, nicht essen... nicht, nicht...«
»Einerlei, schießt«, Lewinsohn machte eine Handbewegung, und sein Gesicht verzerrte sich, als sollte er selbst erschossen werden.
Auch des Koreaners Gesicht verzerrte sich, und er begann zu weinen. Plötzlich fiel er auf die Knie, und mit dem Bart den Boden wischend, begann er, Lewinsohns Füße zu küssen. Aber dieser hob ihn nicht einmal auf; er fürchtete, wenn er das tun würde, könnte er es nicht aushalten und müsste seinen Befehl zurückziehen.
Metschik sah dies alles, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er lief hinter die Hütte und steckte sein Gesicht ins Stroh. Aber auch hier noch sah er das verweinte Greisengesicht, die kleine weiße Gestalt, wie sie sich zu Lewinsohns Füßen krümmte. ,Geht es denn wirklich nicht ohne das?' überlegte Metschik fieberhaft, und in langer Reihe zogen an ihm die ergebenen, wie zerfallenen Gesichter der Bauern vorüber, denen sie auch das Letzte genommen hatten. ,Nein, nein, das ist grausam, das ist zu grausam', dachte er von neuem und vergrub sich noch tiefer ins Stroh.
Metschik wusste, dass er selbst niemals mit dem Koreaner so umgegangen wäre; das Schwein aber aß er zusammen mit den anderen, weil er Hunger hatte.
In früher Morgenstunde wurde Lewinsohn vom Gebirge abgeschnitten, und nach zweistündigem Kampf, in dem er an die dreißig Mann verlor, bahnte er sich gewaltsam einen Weg in das Irochedsa-Tal. Die Koltschaksche Reiterei folgte ihm auf den Fersen. Er ließ die Packpferde laufen und erreichte gegen Abend erst den bekannten Pfad zum Lazarett.
Da spürte er, dass er sich kaum noch im Sattel hielt. Das Herz schlug nach der unglaublichen Anstrengung ganz, ganz langsam, und es schien, als würde es jeden Augenblick erstarren. Der Schlaf übermannte ihn, er senkte den Kopf, und plötzlich verschwamm alles, wurde einfach und unwichtig. Auf einmal zuckte er auf wie von einem inneren Stoß und sah sich um... Niemand hatte bemerkt, dass er geschlafen hatte. Alle sahen vor sich den gewohnten, leicht gekrümmten Rücken, wie hätte auch jemand denken können, dass er müde ist wie alle und schlafen will?... ,Ob meine Kräfte wohl ausreichen werden!' überlegte Lewinsohn, und es hatte den Anschein, als frage nicht er, sondern irgendein anderer. Lewinsohn warf den Kopf zurück und fühlte ein leises, widerwärtiges Zittern in den Knien.
»Endlich mal... wirst du auch dein Weibchen sehen«, sagte Dubow zu Moroska, als sie sich dem Lazarett näherten.
Moroska schwieg. Er betrachtete diese Sache als erledigt, obgleich er die ganzen Tage schon gewünscht hatte, Warja zu sehen. Sich selbst betrügend, hielt er seinen Wunsch nur für die natürliche Neugier eines unbeteiligten Beobachters: ,Wie ist das bei denen wohl geworden?'
Als er sie aber sah - Warja, Staschinskij und Chartschenko standen lachend und händeschüttelnd an der Baracke -, ging in ihm alles drunter und drüber. Er ritt, ohne anzuhalten, mit dem Zuge weiter bis zu den Ahornbäumen und machte sich dort, die Gurte lockernd, lange am Sattelzeug des Hengstes zu schaffen.
Warja, die nach Metschik forschte, begrüßte nur flüchtig die Ankommenden und lächelte ihnen zerstreut und verlegen zu. Metschik begegnete ihr mit den Augen, nickte und senkte errötend den Kopf: er hatte Angst, sie würde ihm entgegenlaufen, und alle würden dann sehen, dass da etwas nicht stimmte. Aber einem inneren Taktgefühl gehorchend, verbarg sie die Freude über dieses Wiedersehen.
Er band in Eile die Stute fest und schlüpfte ins Gehölz. Nach einigen Schritten stieß er auf Pika. Dieser lag neben seinem Pferd, sein nach innen gerichteter Blick war trübe und leer.
»Setz dich...«, sagte er müde.
Metschik hockte sich neben ihn.
»Wo gehen wir nun hin?...« Metschik antwortete nicht.
»Fische fangen möchte ich gerne«, sagte nachdenklich Pika. »In der Imkerei... Die Fische schwimmen jetzt abwärts... würd' einen kleinen Wasserfall aufbauen... da braucht man nur hineinzugreifen...« Er hielt inne und setzte traurig hinzu: »Aber es gibt ja jetzt gar keine Imkerei mehr... nein! Sonst war' ja alles gut. Ganz still ist's dort. Kein Bienchen summt...«
Plötzlich richtete er sich auf, berührte Metschik und sagte mit einer vor Schmerz und Sehnsucht bebenden Stimme:
»Hör, Pawluscha... mein Jungchen, hör.'... gibt's denn wirklich kein solches Plätzchen?... Wie soll man da bloß leben, mein Jungchen, Pawluscha?... Hab' ja niemanden auf der Welt... bin ganz allein... mutterseelenallein... ein Greis... der Tod wartet schon...« Er fand keine Worte mehr, schnappte hilflos nach Luft, und seine Finger verkrampften sich im Gras.
Metschik sah ihn nicht an, er hörte ihm nicht einmal zu, aber mit jedem seiner Worte zuckte etwas leise in ihm auf, als rissen zaghafte Finger in seiner Brust längst verdorrte Blätter vom noch grünen Stengel ab. ,Das alles ist vorbei und kehrt nie wieder...' dachte Metschik, und es tat ihm leid um seine verdorrten Blätter.
»Werde schlafen gehen...«, sagte er zu Pika, um ihn auf irgendeine Weise loszuwerden, »bin müde...«
Er schlug sich tiefer ins Gehölz, legte sich unter einen Strauch und fiel in unruhigen Halbschlummer. Plötzlich schreckte er auf. Sein Herz hämmerte heftig, das schweiß durchtränkte Hemd klebte ihm am Körper. Hinter dem Strauch unterhielten sich zwei: Metschik erkannte Staschinskij und Lewinsohn. Vorsichtig schob er einen Zweig beiseite, um besser zu sehen.
»... So oder anders«, sagte Lewinsohn düster, »sich länger in dieser Gegend zu halten, ist unmöglich. Nur ein Weg nach Norden ist offen, ins Tudo-Waki-Tal...« Er öffnete seine Feldtasche und zog eine Karte hervor. »Hier... diesen Grat entlang können wir gehen und zum Chaunichedsa absteigen, 's ist allerdings ein weiter Weg, aber was tun... «
Staschinskij sah nicht auf die Karte, sondern irgendwo in die Tiefe der Taiga, als prüfe er jede, von menschlichem Schweiß durchtränkte Werst. Plötzlich begann er heftig mit den Augen zu zwinkern und fragte, Lewinsohn ansehend:
»Und Frolow?... das vergisst du wieder...«
»Ja, Frolow...« Lewinsohn sank schwer ins Gras nieder. Metschik sah das bleiche Profil seines Kommandeurs dicht vor sich.
»Ich kann ja natürlich bei ihm bleiben...«, sagte Staschinskij dumpf, nach einer kurzen Pause... »Im Grunde genommen ist es doch meine Pflicht...«
»Unsinn«, Lewinsohn winkte mit der Hand ab. »Auf unseren frischen Spuren werden die Japaner spätestens morgen mittag hier sein... oder ist es vielleicht deine Pflicht, dich totschlagen zu lassen?«
»Aber was kann man denn machen?«
»Ich weiß nicht...«
Noch niemals hatte Metschik einen so hilflosen Ausdruck in Lewinsohns Gesicht gesehen.
»Es bleibt vielleicht nur eins noch übrig... ich habe mir das schon überlegt...« Lewinsohn stockte, verstummte dann und presste grimmig die Kiefer aufeinander.
»Ja?...« fragte lauernd Staschinskij.
Metschik, Böses ahnend, beugte sich erregt vor und hätte fast seine Anwesenheit verraten.
Lewinsohn wollte mit einem Wort dieses Eine nennen, was ihnen zu tun übrig blieb, aber dieses Wort schien so schwer zu sein, dass er es nicht aussprechen konnte. Mit ängstlichem Staunen betrachtete ihn Staschinskij... und begriff.
Ohne einander anzusehen, begannen sie, in qualvoller Pein, zitternd und stockend, davon zu reden, was beiden schon klar war, was sie sich aber nicht getrauten beim richtigen Namen zu nennen, obschon damit sofort alles ausgesprochen und das Qualvolle der Situation beendet worden wäre.
,Sie wollen ihn töten...' durchfuhr es Metschik, und er erbleichte. Sein Herz pochte so laut, dass es schien, man müsste es jeden Augenblick auch hinter dem Strauch vernehmen.
»Wie steht's denn mit ihm - schlecht? sehr schlecht?...« fragte Lewinsohn einige Male. »Wenn das nicht... ich meine... wenn wir ihn nicht... mit einem Wort, besteht auch nur die geringste Hoffnung, dass er gesund wird?«
»Nicht die geringste... aber ist denn das die Hauptsache?«
»Es ist immerhin doch irgendwie leichter«, gestand Lewinsohn. Allein im nächsten Augenblick schon schämte er sich dieses Selbstbetruges, aber es war ihm in der Tat leichter dabei geworden. Er schwieg etwas und sagte dann leise: »Das wird heute noch geschehen müssen... nur pass auf, dass keiner was merkt, vor allem er selbst nicht... geht das?...«
»Er wird nichts ahnen... bald bekommt er sein Brom, da kann man statt dessen... Aber vielleicht lassen wir das bis morgen?...«
»Wozu die Sache hinziehen... Was für ein Unterschied«, Lewinsohn steckte die Karte ein und erhob sich. »Ist mal nicht zu ändern, muss ja sein... oder nicht?...« Er suchte unwillkürlich Halt bei einem Menschen, dem er selber Halt geben wollte.
,Es muss also sein...', dachte Staschinskij, sprach es aber nicht aus.
»Hör mal«, begann Lewinsohn bedächtig. »Sag's ganz offen, bist du bereit? Sag's lieber offen...«
»Ob ich bereit bin?« fragte Staschinskij, »ja, ich bin's.«
»Komm...« Lewinsohn legte ihm die Hand auf die Schulter, und beide schritten langsam zur Baracke zurück.
»Werden sie das wirklich tun?'... Metschik warf sich der Länge nach hin und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte. Dann richtete er sich auf und ging, taumelnd wie ein Verwundeter, sich ans Gesträuch klammernd, Lewinsohn und Staschinskij nach.
Die abgesattelten Pferde wandten ihre müden Köpfe nach ihm, die Partisanen schnarchten in der Lichtung, einige kochten ihr Mittagessen. Metschik suchte Staschinskij und eilte, als er ihn nicht fand, im Laufschritt zur Baracke.
Er kam noch zur rechten Zeit. Staschinskij stand mit dem Rücken zu Frolow, die zitternden Hände ins Licht gehoben, und träufelte etwas in ein Mensurglas.
»Warten Sie doch!... Was tun Sie?...« rief Metschik und warf sich ihm mit vor Entsetzen geweiteten Augen entgegen. »Warten Sie! Ich habe alles gehört...«
Staschinskij drehte aufzuckend den Kopf, und seine Hände erzitterten noch heftiger... Plötzlich ging er auf Metschik zu, und auf seiner Stirne schwoll furchterregend eine dunkelrote Ader.
»Weg von hier!...« zischte er drohend, mit gepresster Stimme. »Schlag' dich tot!...«
Metschik schrie auf und stürzte, kaum seiner Sinne mächtig, aus der Baracke. Staschinskij riss sich zusammen und wandte sich Frolow zu.
»Was... was ist das?...« fragte dieser, ängstlich nach dem Mensurglas schielend.
»Das ist Brom, trink aus...«, antwortete streng und eindringlich Staschinskij.
Ihre Blicke trafen sich und erstarrten, sich verstehend, gefesselt von ein und demselben Gedanken... ,Aus'... dachte Frolow, ohne sonderlich überrascht zu sein; er empfand keine Angst, weder Erregung noch Bitternis. Alles war ja im Grunde genommen so einfach und leicht, und es war ihm selbst unverständlich, weshalb er so lange gelitten, sich so hartnäckig ans Leben geklammert und den Tod gefürchtet hatte, wenn das Leben für ihn nur neue Leiden barg, der Tod aber die Erlösung brachte. Unschlüssig irrten seine Augen umher, als suchten sie etwas, dann blieben sie plötzlich an dem unberührten Essen, das neben ihm auf einem Hocker stand, haften, einer schon kalt gewordenen, von Fliegen umschwärmten Milchsuppe. Zum ersten Mal, seit Frolow krank war, lag in seinen Augen ein menschlicher Ausdruck, Mitleid mit sich selbst oder vielleicht auch mit Staschinskij. Er senkte die Lider, und als er sie wieder öffnete, war sein Gesicht ruhig und mild.
»Kommst gelegentlich mal nach Sutschan«, sagte er ruhig, »bringst's ihnen bei, dass es nicht allzu weh tut... 's ist aus mit mir... werden alle eines Tages an demselben Ort landen... Alle«, wiederholte er mit einem Ausdruck, wie wenn der Gedanke über die Unvermeidlichkeit des menschlichen Todes für ihn noch nicht ganz geklärt und bewiesen wäre, aber es war eben jener Gedanke, der dem eigenen - seinem, Frolows - Tod den besonderen, schrecklichen Sinn nahm und für ihn diesen Tod zu etwas Alltäglichem, allen Menschen Eigenem machte. Dann überlegte er ein wenig und sagte: »Hab' dort einen Buben... im Bergwerk... Fedja heißt er... Man soll sich seiner annehmen, wenn alles zu Ende ist - vielleicht irgendwie helfen oder so... Nun, gib schon her!...« brach er unvermutet mit belegter, bebender Stimme ab.
Die bleichen Lippen verzerrend, fröstelnd und unheimlich mit dem einen Auge zuckend, brachte ihm Staschinskij das Mensurglas. Frolow fasste es mit beiden Händen und trank es aus...
Ohne auf den Weg zu achten, rannte Metschik, über das Gestrüpp stolpernd und fallend, durch die Taiga. Er hatte seine Mütze verloren, und die Haare hingen ihm über die Augen, widerlich und klebrig wie Spinnengewebe; die Schläfen hämmerten, und mit jedem Schlag seines Blutes wiederholte er irgendein unnütz-jämmerliches Wort, klammerte sich daran, da er sonst nichts hatte, an das er sich klammern konnte. Plötzlich stieß er auf Warja und sprang mit wild blitzenden Augen zur Seite.
»Und ich suche dich...«, begann sie erfreut und verstummte, erschreckt durch sein irres Aussehen.
Er packte sie am Arm und begann hastig und zusammenhanglos auf sie einzureden:
»Hör nur... sie haben ihn vergiftet... Frolow... weißt du?... sie haben ihn...«
»Was?... vergiftet?... schweig!...« rief sie plötzlich, alles begreifend. Sie zog ihn mit Gewalt an sich und verschloss ihm mit ihrer heißen, weichen Hand den Mund. »Schweig, lass das... komm, fort von hier...«
»Wohin?... ach, lass doch!« Er riss sich los und stieß sie, mit den Zähnen klappernd, von sich.
Sie packte ihn abermals am Ärmel, zog ihn mit sich und wiederholte hartnäckig:
»Lass das... komm, fort von hier... man wird uns sehen... da ist irgendein Bursche... er hängt mir an den Fersen... komm schneller!...«
Metschik riss sich nochmals los und hätte ihr beinahe einen Schlag versetzt.
»Wo willst du hin?... Bleib hier!...« rief sie, ihm nachstürzend.
In diesem Augenblick sprang Tschish aus dem Gebüsch hervor, sie aber wich blitzschnell zur Seite, setzte mit raschem Sprung über den Bach und verschwand im Gebüsch.
»Wollte nicht herhalten, was?« fragte sogleich Tschish und lief zu Metschik. »Wollen sehen, vielleicht habe ich mehr Glück!« Er klatschte sich auf die Schenkel und stürzte Warja nach.
Moroska war von klein auf daran gewöhnt, dass Menschen vom Schlage Metschiks ihre wahren Gefühle, ebenso einfach und unscheinbar wie die seinen, hinter großen, tönenden Worten verbergen und sich damit von jenen abgrenzen, denen es wie Moroska nicht gegeben ist, diese Gefühle in entsprechend schöne Hüllen zu kleiden. Es kam ihm nicht zum Bewusstsein, dass es in der Tat so und nicht anders war, und er hätte es mit eigenen
Worten auch nie zum Ausdruck bringen können, aber er fühlte zwischen sich und diesen Menschen ständig eine undurchdringliche Mauer, aufgetürmt aus allen jenen verlogenen, schön gefärbten Worten und Taten, die sie von irgendwoher schleppten.
Zum Beispiel hatte Metschik bei dem denkwürdigen Zusammenstoß zwischen Moroska und ihm versucht, zum Ausdruck zu bringen, dass er dem andern nur aus Dankbarkeit für die Rettung seines Lebens nachgebe. Der Gedanke, niedrige Triebe zu unterdrücken um eines Menschen willen, der dessen nicht einmal wert war, erfüllte sein Wesen mit angenehmer, geduldsamer Wehmut. Im tiefsten Innern aber zürnte er sich und Moroska, weil er ihm in Wirklichkeit alles Böse wünschte und es ihm nur aus Feigheit nicht selbst antun wollte, und auch deshalb, weil es viel schöner und angenehmer war, eine geduldsame Wehmut zu empfinden.
Moroska aber fühlte, dass Warja eben dieses ihm mangelnden Schönen wegen Metschik vorgezogen hatte, in dem Glauben, dieses Schöne sei nicht nur äußerlich, sondern echt und zutiefst mit der Seele Metschiks verbunden. Aus diesem Grunde war Moroska beim Wiedersehen mit Warja ungewollt in den alten Bannkreis der Gedanken geraten, über sie, über sich, über Metschik.
Er bemerkte, dass Warja sich die ganze Zeit irgendwo herumtrieb (»bestimmt mit Metschik!«) und konnte lange keinen Schlaf finden, obgleich er sich einzureden suchte, dass ihn das alles gar nicht berühre. Bei dem geringsten Rascheln hob er, ins Dunkel starrend, ängstlich den Kopf: ob nicht vielleicht zwei schuldbewusst schleichende Gestalten auftauchten?
Einmal schreckten ihn in der Nacht Geräusche auf. In einem Feuer knisterte feuchtes Reisig, und gigantische Schatten geisterten am Rand der Lichtung. Die Fenster der Baracke wurden abwechselnd hell und dunkel, irgendwer hantierte da mit Streichhölzern herum. Dann kam Chartschenko aus der Baracke, wechselte einige Worte mit einem im Dunkel unsichtbaren Menschen und schritt zwischen den Feuern hindurch, um jemanden zu suchen.
»Was willst du?« fragte heiser Moroska. »Was ist los?« Er hatte die Antwort nicht verstanden.
»Frolow ist gestorben«, sagte dumpf Chartschenko.
Moroska wickelte sich fester in seinen Mantel und schlief wieder ein.... Im Morgengrauen legten sie Frolow in die Erde, und Moroska schaufelte, zusammen mit anderen, gleichgültig das Grab zu.
Als die Pferde gesattelt wurden, entdeckte man, dass Pika verschwunden war. Sein kleiner Gaul, noch immer aufgezäumt und gesattelt, stand traurig dösend unter einem Baum. Er sah kläglich aus. ,Hat's nicht ausgehalten, ist ausgerückt, der Alte', überlegte Moroska.
»Na, schön, lasst ihn laufen«, sagte Lewinsohn, vor Seitenstechen, das ihn schon den ganzen Tag über quälte, die Stirne runzelnd. »Vergesst das Pferd nicht... nein, nein, lasst es unbepackt!... Wo ist der Wirtschaftsleiter? Alles bereit?... Aufgesessen?...« Er atmete tief, wieder die Stirne runzelnd, und hob sich schwerfällig, als trüge er in sich etwas Großes, Gewichtiges, das ihn selber schwer und gewichtig machte, in den Sattel.
Keinem tat es leid um Pika. Nur Metschik empfand schmerzlich den Verlust. Obschon der Greis in ihm zuletzt nur noch öde Erinnerungen und Sehnsucht wachgerufen hatte, schien es ihm doch, wie wenn mit Pika auch ein Teil seiner selbst entschwunden wäre.
Die Abteilung klomm einen steilen, von Ziegen abgegrasten Grat empor. Darüber wölbte sich hoch ein kalter, stahlgrauer Himmel. In der Tiefe schimmerten bläuliche Triften, und unter den Füßen hinweg rollte mit Getöse schweres Geröll auf sie hinab.
In erwartungsvoller, herbstlicher Stille umfing sie die goldbelaubte, von dürrem Gras überzogene Taiga. In gelbem Spitzengewebe verzweigter Farne äste ein graubärtiger Edelhirsch, rauschten kühle Quellen, glitzerte den ganzen Tag über durchsichtig klar der Tau, gelb wie die Gräser. Das Tier aber röhrte vom frühen Morgen an - beunruhigend, leidenschaftlich, unerträglich, und es war, als wehe durch das goldene Welken der Taiga der mächtige Atem eines gewaltigen, ewiglebenden Leibes.
Der erste, dem die Spannung zwischen Moroska und Warja auffiel, war die Ordonnanz Jefimka, der kurz vor der Mittagsrast zu Kubrak mit dem Befehl geschickt worden war: »den Schwanz nachzuziehen, damit ihn nicht jemand abbeiße«.
Jefimka hatte sich mit Mühe die Kolonne entlanggezwängt und war, nachdem er sich die Hosen an stachligen Sträuchern zerrissen, mit Kubrak aneinander geraten; der Zugführer riet ihm, sich nicht um fremde Schwänze zu kümmern, sondern lieber auf seine »eigene Nase« zu achten. Dabei bemerkte Jefimka, dass Moroska und Warja in weitem Abstand voneinander ritten, und dass man sie tags zuvor auch nicht zusammen gesehen hatte.
Auf dem Rückweg, an Moroskas Seite trabend, fragte er diesen:
»Scheinst dich ja vor deiner Frau zu drücken, war was zwischen euch?«
Moroska blickte verlegen und böse auf Jefimkas mageres, galliges Gesicht und sagte: »Was soll schon zwischen uns gewesen sein? Hab' sie laufen lassen...«
»La-aufen lassen?...« Jefimka schaute einige Minuten schweigend und mürrisch zur Seite, als überlege er, ob dieses Wort jetzt am Platze sei, da doch schon in den früheren Beziehungen zwischen Moroska und Warja keine festen Familienbande bestanden.
»Nun ja, das kann schon vorkommen«, sagte er endlich. »Wie's einen gerade trifft... Na, na, verdammte Stute!...« Er strich ihr eins mit der Gerte über, und Moroska, dessen Augen seinem Tuchkittel folgten, sah, wie er Lewinsohn etwas mitteilte und dann neben ihm weiterritt.
.Meiner Treu, das ist ein Leben!' dachte Moroska wie in taumelnder Verzweiflung, und es wurde ihm schwer ums Herz, weil er selber an etwas geschmiedet schien und sich nicht ebenso unbekümmert mit dem Nachbarn unterhalten oder die Kolonne entlangreiten konnte. ,Die haben's gut, die brauchen sich keine Sorgen zu machen', dachte er neidvoll. ,Und weshalb sollten die auch Trübsal blasen? Lewinsohn zum Beispiel?... Das ist ein Mensch, der was zu sagen hat, ein jeder begegnet ihm mit Achtung, der macht, was er will... So lässt sich's leben.' Und er ahnte nicht, dass Lewinsohn die Seite schmerzte, dass Lewinsohn in sich die Verantwortung für Frolows Tod trug, dass man auf seinen Kopf einen Preis gesetzt und dass dieser bei ihm lockerer auf den Schultern saß als bei andern. - Moroska dachte daran, was es auf der Welt doch für gesunde, ruhige und sorglose Menschen gäbe und wie er selber so gar kein Glück im Leben habe.
Alle jene verwickelten, lästigen Gedanken, die ihm zum ersten Male in den Sinn kamen, als er an einem heißen Julitag aus dem Lazarett zurückgeritten und die lockigen Schnitter ihm, entzückt über seine reiterhafte Haltung, mit den Blicken gefolgt waren, jene Gedanken, die ihn mit besonderer Kraft erfasst hatten, damals, nach dem Streit mit Metschik, als er über das verödete Feld trabte und die einsame Krähe stumm auf dem windschiefen Heuschober saß; alle diese Gedanken traten jetzt mit ungewöhnlicher schmerzlicher Schärfe und Deutlichkeit hervor. Moroska fühlte, dass er sein ganzes Leben lang betrogen worden war und dass ihn auch jetzt nichts als Lüge und Betrug umlauerten. Er zweifelte nicht mehr, dass sein Leben von der Wiege an, all die Arbeit und dieses wüste sinnlose Umhertreiben, all das Blut und der Schweiß, die er vergossen hatte, selbst seine ganze »unbekümmerte« Ausgelassenheit nichts Freudiges war, sondern lichtlose Zuchthausarbeit, die keiner zu würdigen wusste und auch keiner je würdigen werde.
Mit einer ihm fremden, wehmütigen, müden, fast greisenhaften Erbitterung dachte er daran, dass er ja schon siebenundzwanzig Jahre alt sei und dass keine Macht der Welt auch nur eine Minute des Vergangenen wiederbringen könne, um sie nochmals, anders, zu durchleben, und dass auch die Zukunft nichts Gutes verspreche, und er bald, vielleicht durch eine Kugel, sterben werde, von keinem vermisst, so wie Frolow starb, um den es niemand leid tat. Moroska schien es jetzt, als hätte er sein ganzes Leben lang aus aller Kraft danach gestrebt, sich auf jenen geraden, klaren Weg zu stellen, über den solche Menschen schritten wie Lewinsohn, Baklanow, Dubow (und auch Jefimka, schien ihm, ging nunmehr diesen Weg), aber irgendeiner habe ihn hartnäckig daran gehindert. Und da es ihm nie eingefallen wäre, dass dieser Feind in ihm selber sitze, war es für ihn ein schmerzlich-süßer Gedanke, zu glauben, die Niedertracht der Menschen - in erster Linie solcher wie Metschik - sei die Ursache seiner Leiden.
Nach dem Essen, als er den Hengst an der Quelle tränkte, pflanzte sich jener lebhafte, lockige Bursche, der ihm seinerzeit den Blechkrug gestohlen hatte, mit geheimnisvoller Miene vor ihm auf.
»Was ich dir sagen will...«, stotterte er hastig..., »dass sich
die Krätze, diese Warjka, bei Gott... ich hab' eine scharfe Nase für so was!...«
»Was... Wofür?...« fragte grob Moroska und hob den Kopf.
»Was die Weiber anbetrifft, versteh' ich mich gründlich auf
sie«, erläuterte ein wenig verlegen der Bursche. »Selbst wenn
bisher noch nichts passiert ist, mir kann man da nichts vormachen,
Freundchen... die Augen gafft sie sich nach ihm aus.«
»Und er?...« fragte errötend Moroska; er begriff, dass von Metschik die Rede war, und hatte vergessen, sich den Anschein zu geben, als wüsste er von nichts.
»Was soll er tun...«, erwiderte der Bursche mit unaufrichtiger, schleichender Stimme, als wäre das, wovon er sprach, letzten Endes unwichtig und von ihm nur vorgebracht, um seine alten Sünden vor Moroska zu verwischen.
»Hol sie der Kuckuck, was kümmert's mich?« prustete Moroska los. »Hast vielleicht auch mit ihr geschlafen, was weiß ich«, setzte er verächtlich und gekränkt hinzu.
»Da schlag einer lang hin!... aber ich bin doch...« »Scher dich zum Teufel!« schrie Moroska plötzlich gereizt. »Steck deine Nase wo anders 'rein, hau ab!...« und versetzte ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern.
Mischka, erschreckt von der Heftigkeit der Bewegung, wich zur Seite und rutschte mit zusammengeknickten Hinterbeinen ins Wasser, erstarrt die Ohren spitzend.
»Du Hundesohn, du...«, stieß der Bursche überrascht und zornig hervor und warf sich plötzlich auf Moroska.
Sie gerieten wie zwei Kampfhähne aneinander. Mischka machte kehrt und lief in leichtem Trab, den Kopf verängstigt nach rückwärts gewandt, davon.
»Aas verfluchtes, ich werde dir zeigen, was es heißt, seine Nase in fremde Angelegenheiten stecken!... Ich werde dir...«, knurrte Moroska, ihm die Fäuste in die Seiten bohrend und wütend, dass er, da der Bursche ihn nicht losließ, nicht richtig zum Schlage ausholen konnte.
»Heda, Kinder!« rief eine erstaunte Stimme. »Was ist denn hier los?...«
Ruhig schoben sich zwei große, knotige Hände zwischen die Kämpfenden, fassten beide am Kragen und rissen sie auseinander.
Ohne verstanden zu haben, was eigentlich vorgefallen war, gingen die zwei wieder aufeinander los, erhielten diesmal aber beide einen derartig kräftigen Puff, dass Moroska mit dem Rücken gegen einen Baum flog, der Bursche jedoch über eine Wurzel stolperte und mit den Armen fuchtelnd, wie ein Klotz ins Wasser plumpste.
»Gib die Hand, helf dir 'raus...«, sagte Gontscharenko ohne jeglichen Spott. »Andere Sorgen habt ihr nicht?...«
»Soll ich mir das vielleicht gefallen lassen... Schweinehund... totschlagen müsste man ihn...«, brüllte Moroska und versuchte, sich wieder auf den trief enden, halbbetäubten Burschen zu stürzen. Sich mit der einen Hand an Gontscharenko klammernd und sich ausschließlich an ihn wendend, schlug sich dieser mit der anderen Hand heftig gegen die Brust.
»Nein, sag nur, sag nur«, schrie er ihm mit weinerlicher Stimme ins Gesicht. »Wer Lust hat, kann einem also Tritte in den Hintern geben, Tritte in den Hintern, ja?...« Und als er gewahrte, dass die Menschen zusammenliefen, kreischte er gellend: »Kann jemand was dafür, kann jemand was dafür, wenn die Frau, seine Frau...«
Gontscharenko, der einen Skandal befürchtete und mehr noch um Moroskas Schicksal besorgt war (falls Lewinsohn davon erfahren sollte), ließ den winselnden Burschen los, ergriff Moroska am Arm und zog ihn mit sich fort.
»Komm, komm«, sagte er streng zu dem sich sträubenden Moroska. »Man wird dich noch aus der Abteilung jagen, Hundesohn du...«
Moroska, der das Mitgefühl, das dieser starke und strenge Mensch für ihn empfand, endlich erkannte, gab den Widerstand auf.
»Was ist denn dort geschehen?« fragte ein blauäugiger Deutscher aus Metelizas Zug, der ihnen entgegengelaufen kam.
»Einen Bären haben sie gefangen«, sagte gelassen Gontscharenko.
»Einen Bä-ären?...« Der Deutsche blieb mit offenem Munde stehen und rannte dann hastig davon, als wollte er noch einen zweiten Bären fangen.
Zum ersten Mal betrachtete Moroska Gontscharenko mit Neugier und mußte lächeln.
»Donnerwetter, hast du aber Kräfte«, sagte er mit einer gewissen Befriedigung darüber, dass Gontscharenko so kraftstrotzend war.
»Weshalb hast du ihn verprügelt?« fragte Gontscharenko.
»Weshalb?... Ein solches Aas!...« begann Moroska sich von neuem zu ereifern. »Den müsste man doch...«
»Na, na«, unterbrach ihn beruhigend Gontscharenko, »hast deine Gründe gehabt?... Schon gut, schon gut...«
»Sammeln!...« ertönte, sich überschlagend, Baklanows helle Stimme.
Jetzt schob sich aus dem Gebüsch Mischkas zottiger Kopf. Das Tier schaute mit klugen, grünlichbraunen Augen die Menschen an und wieherte leise.
»Ach du!...« entfuhr es Moroska.
»Ein feines Pferdchen...«
»Sein Leben könnte man dafür lassen!« Moroska klopfte dem Hengst entzückt auf den Hals.
»Schmeiß nur mit deinem Leben nicht so herum, wirst's noch gebrauchen können...« Gontscharenko lächelte versteckt in' seinen lockigen Bart. »Muss meinen Gaul noch tränken, du kannst ja Spazierengehen«, und er entfernte sich mit festem, weit ausholendem Schritt.
Moroska sah ihm nach, abermals mit neugierigem Blick, und überlegte sich, weshalb er diesen prachtvollen Menschen nicht früher schon beachtet hatte.
Später, als die Züge sich ordneten, stellte er sich, ohne es selber zu merken, neben Gontscharenko auf und wich während des ganzen Wegs bis zum Chaunichedsa nicht von seiner Seite.
Warja, Staschinskij und Chartschenko, die Kubraks Zug zugeteilt waren, ritten fast ganz am Ende. An den Windungen des Bergrückens wurde fast die ganze Abteilung sichtbar, eine schmale, lang gestreckte Kette. Voran, in gebückter Haltung, ritt Lewinsohn; dahinter Baklanow, er hatte unbewusst dieselbe Pose eingenommen. Die ganze Zeit fühlte Warja irgendwo hinter sich Metschiks Gegenwart, und in ihr regte sich die Kränkung über sein gestriges Benehmen, jenes warme große Gefühl überschattend, das sie ständig für ihn empfand.
Seit Metschik das Lazarett verlassen hatte, konnte sie ihn keinen Augenblick lang vergessen, und ihr Leben war ganz von dem Gedanken an ein Wiedersehen erfüllt. Mit diesem Tage waren ihre tiefsten, geheimsten Träume verbunden, irdische, greifbare fast, über die sie mit niemandem sprechen konnte. Sie malte sich aus, wie er am Waldrand auftauchen werde - in seinem neuen Kittel, schön, schlank, blond, etwas schüchtern - sie spürte seinen Atem, fühlte seine weichen, lockigen Haare, hörte seine zärtlichen, verliebten Worte. Sie bemühte sich, die früheren Missverständnisse zwischen ihnen zu vergessen, es schien ihr aus irgendeinem Grunde, als könnte sich so etwas nie mehr wiederholen. Mit einem Wort, sie stellte sich die künftigen Beziehungen zu Metschik so vor, wie sie noch nie bestanden hatten, aber wie sie ihr angenehm gewesen wären, und suchte die Gedanken an das, was wirklich geschehen konnte, ihr aber Kummer bereiten würde, zu verscheuchen.
Ais sie Metschik begegnet war, begriff sie mit dem ihr eigenen Feingefühl für Menschen, dass er zu verstimmt und aufgeregt war, um sich Rechenschaft über seine Handlungen geben zu können, und dass die Ursachen seiner Verstimmung viel wichtiger waren als ihre persönlichen Kränkungen. Aber eben deswegen, weil sie sich früher dieses Wiedersehen so ganz anders ausgemalt hatte, kränkte und erschreckte sie die ungewollte Grobheit Metschiks.
Zum ersten Mal fühlte Warja, dass diese Grobheit keine zufällige und dass Metschik vielleicht nicht der sei, den sie lange Tage und Nächte erwartete, dass sie aber keinen anderen habe. Sie vermochte nicht den Mut aufzubringen, sich das sofort einzugestehen: es war nicht gerade leicht, all das von sich zu werfen, wovon sie lange Tage und Nächte gelebt, was sie gepeinigt und berauscht hatte, und in der Seele eine plötzliche, unausfüllbare Leere zu empfinden. Sie machte sich einfach glauben, dass nichts Besonderes geschehen wäre, dass nur der unglückselige Tod Frolows an allem schuld war und sich alles noch zum Guten wenden würde; doch statt dessen dachte sie vom frühen Morgen an nur daran, wie Metschik sie beleidigt und wie er kein Recht gehabt habe, das zu tun, als sie zu ihm kam mit ihren Träumen und ihrer Liebe.
Den ganzen Tag über empfand sie ein quälendes Verlangen, Metschik zu sehen und mit ihm zu sprechen, aber nicht ein einziges Mal sah sie sich nach ihm um, und selbst während der Mittagsrast ging sie nicht zu ihm. ,Was soll ich ihm nachlaufen wie ein Mädel?' dachte sie. ,Wenn er mich wirklich liebt, wie er sagt, mag er als erster zu mir kommen; ich werde ihm keine Vorwürfe machen. Aber wenn er nicht kommt, ist's auch gut, dann bleibe ich allein... da wird eben nichts daraus werden.'
Ü ber der Hauptkuppe verbreiterte sich der Fußpfad, und Tschish gesellte sich zu Warja. Gestern gelang es ihm nicht, sie abzufangen, aber er war in solchen Dingen hartnäckig und gab die Hoffnung nicht auf. Sie fühlte die Berührung seines Beins; er atmete ihr schamlose Worte ins Ohr, aber sie überhörte sie, in eigene Gedanken versunken.
»Nun, wie ist's denn, was meinen Sie?« wiederholte Tschish zudringlich (er sagte zu allen Personen weiblichen Geschlechts »Sie«, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Stand und ihren Beziehungen zu ihm).
»Sind Sie einverstanden - wie?...«
,... Ich verstehe alles, was verlange ich denn groß von ihm?' dachte Warja. ,War es denn wirklich so arg schwer für ihn, gut zu mir zu sein?...Aber vielleicht leidet er jetzt selbst... denkt, ich bin böse. Soll ich mich mit ihm aussprechen?... Wie?.'... Ich?! Nachdem er mich weggejagt?... Nein, nein, da wird eben nichts draus werden
»Aber was ist denn mit Ihnen, sind Sie taub geworden, meine Beste? Ich frage, ob Sie einverstanden sind?«
»Womit einverstanden?« schreckte Warja auf. »Hol dich der...«
»Guten Morgen, gut geruht?...« Tschish zuckte gekränkt mit den Achseln. »Aber meine Beste, Sie tun ja so, als ob's das erste Mal wäre, als seien Sie noch eine Jungfrau.« Und von neuem begann er ihr aufdringlich ins Ohr zu tuscheln, überzeugt, sie verstehe und höre ihn und ziere sich nur, um sich nach Weiberart begehrenswerter zu machen.
Der Abend brach herein, in die Schluchten zog die Nacht ein, müde schnaubten die Pferde, über den Quellen ballte sich der Nebel und kroch langsam ins Tal... Metschik aber ritt noch immer nicht an Warja heran und schien auch keine Anstalten zu machen. Und je mehr sie sich davon überzeugte, dass er nicht zu ihr kommen werde, um so stärker empfand sie die vergebliche Sehnsucht und Bitternis ihrer früheren Träume und um so schwerer wurde es ihr, sich von ihnen zu trennen.
Die Abteilung stieg zum Nachtlager in die Schlucht hinab; in feuchtem, beängstigendem Dunkel wimmelte es von Menschen und Pferden.
»Sie vergessen es also nicht, meine Beste«, flüsterte mit widerlich-zärtlicher Hartnäckigkeit Tschish. »Ja, das Feuer werde ich etwas abseits anlegen... damit Sie's wissen...« Einige Augenblicke später hörte man ihn schreien: »Was heißt das »wohin kriechst du?' Und was hast du dich da breit gemacht?«
»Was hast du in einem fremden Zug zu suchen?«
»Was heißt da fremden? Sperr mal deine Augen auf!...«
Nach kurzem Schweigen, währenddessen beide wahrscheinlich ihre Augen aufgesperrt hatten, sagte der, welcher zuerst gefragt hatte, schuldbewusst mit kleinlauter Stimme:
»Donnerwetter noch mal, tatsächlich ,Kubraken'... Wo ist denn Meteliza?« Und als hätte er mit seiner reuigen Stimme den Irrtum wieder aus der Welt geschafft, begann er von neuem zu schreien: »Me-e-eteliza.«
Unten aber kreischte einer in derart ungeduldiger Erregung, dass es schien, er werde sich - sollte man seine Forderung nicht erfüllen - stehenden Fußes umbringen oder anderen den Garaus machen:
»Feu-er her!... Feu-e-er he-er!...«
Plötzlich zuckte am äußersten Ende der Schlucht lautlos die rötliche Glut flammenden Reisigs auf und riss aus dem Dunkel die zottigen Köpfe der Pferde, die müden Gesichter der Menschen im kalten Schimmer blinkender Patronentaschen und Karabiner.
Staschinskij, Warja und Chartschenko hatten etwas abseits von den anderen Halt gemacht und saßen ab.
»Na also, jetzt wollen wir uns ausruhen und ein Feuerchen machen«, sagte mit gezwungener und niemanden erheiternder Munterkeit Chartschenko. »Such doch einer etwas Reisig zusammen!...«
»... Immer dieselbe Leier, nie hält man zur Zeit, und dann hat man seine Not«, räsonierte er in dem gleichen, wenig überzeugenden Tone weiter, mit den Händen im nassen Gras umhertastend, und hatte wirklich seine Not, nicht minder geplagt von der Nässe, der Dunkelheit und der Furcht, von einer Schlange gebissen zu werden, als von dem mürrischen Schweigen Staschinskijs. »Kann mich entsinnen, kam damals auch von Sutschan -wäre schon längst Zeit gewesen zu lagern, war dunkel wie in einem Loch, aber wir...«
,Wozu erzählt er das bloß?' dachte Warja.,Sutschan... zogen irgendwohin... dunkel wie in einem Loch... wen interessiert denn das jetzt? Ist ja alles, alles schon zu Ende und wird auch nichts mehr sein.'
Sie hatte Hunger, und dieser Hunger verstärkte auch ein anderes Empfinden stummer und drückender Leere, die sie jetzt mit nichts auszufüllen vermochte. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen.
Nachdem sie jedoch gegessen und sich gewärmt hatten, wurden die drei auf einmal besserer Stimmung, und die dunkelblaue, fremde und kalte Welt, die sie umgab, erschien ihnen anheimelnd und vertraut.
»Ach du Mäntelchen, mein Mäntelchen«, sagte Chartschenko mit satter Stimme, während er seinen Mantel auseinanderrollte. »Brennst nicht im Feuer, ersäufst nicht im Wasser. Jetzt fehlt nur noch ein Frauenzimmer!...« Er zwinkerte mit den Augen und lachte auf, als wollte er sagen: ,Das ist natürlich ganz unmöglich, aber ihr müsst zugeben, dass das ganz angenehm wäre.' - »Möchtest du jetzt mit einer Frau schlafen, ah, Genosse Doktor?« fragte er Staschinskij und schnitt eine Grimasse.
»Schlafen möchte ich schon«, antwortete Staschinskij ganz ernst, die eigentliche Frage überhörend.
,Warum bin ich nur böse auf ihn?' dachte Warja, die fühlte, wie vom lustig flackernden Feuer, vom verzehrten Brei und durch die vertraulichen Reden Chartschenkos die ihr eigene Weichheit und Güte sich wieder einstellten. ,Ist doch in Wirklichkeit nichts vorgefallen, weshalb nur bin ich so verstimmt? Und der Junge sitzt und bläst Trübsal, weil ich so närrisch bin... aber ich brauche ja nur zu ihm zu gehen und alles würde wieder gut sein.'
Und ganz plötzlich überkam sie der Wunsch, das Kränkende, Böse von sich zu werfen und nicht mehr leiden zu müssen inmitten der anderen, denen so wohl und sorglos zumute war. Auch ihr könnte ja so wohl und sorglos zumute sein! So beschloss sie, auf der Stelle sich alle Gedanken aus dem Kopf zu schlagen und zu Metschik zu gehen. Und es lag für sie nichts Erniedrigendes mehr darin und nichts Schlechtes.
,Ich brauchte nichts, gar nichts', dachte sie in unvermittelter Heiterkeit. ,Wenn er mich nur haben will und lieb hat, wenn er nur bei mir wäre... ja, ich würde alles hingeben, wenn er nur immer neben mir reiten wollte, mit mir reden, mit mir schlafen möchte, so schön und jung wie er ist...'
Metschik und Tschish hatten sich abseits ein eigenes Feuer angefacht. Sie waren zu faul gewesen, sich Essen zu kochen, brieten über dem Feuer Speck, und da sie diesem mehr zusprachen als dem Brot, saßen sie, nachdem sie alles verzehrt hatten, beide mit knurrendem Magen da.
Metschik war immer noch benommen von Frolows Tod und dem Verschwinden Pikas. Den ganzen Tag schien er wie von dichtem Nebel umgeben, gewoben aus fremden und strengen Gedanken über Einsamkeit und Tod; Gedanken, die ihn von den anderen Menschen um ihn herum unterschieden. Gegen Abend fielen diese Nebelschleier, aber er mochte niemanden sehen und fürchtete sich vor allen.
Nur mit Mühe entdeckte Warja ihr Feuer. Die ganze Schlucht lebte in solchen Feuern und rauchigen Liedern.
»Hierher habt ihr euch verkrochen«, sagte sie, klopfenden Herzens aus den Büschen tretend, »guten Abend...«
Metschik zuckte auf und wandte sich, Warja mit fremdem, erschrockenem Blick streifend, zum Feuer.
»Aha!« ließ sich Tschish erfreut vernehmen. »Nur Sie haben uns noch gefehlt. Setzen Sie sich, setzen Sie sich, meine Beste...«
Er breitete geschäftig seinen Mantel aus und wies ihr einen Platz an seiner Seite. Aber sie setzte sich nicht zu ihm. Seine schlüpfrige Art, eine Eigenschaft, die sie sofort an ihm bemerkt hatte, obgleich sie ihr völlig unbekannt war, berührte sie jetzt besonders unangenehm.
»Wollte sehen, wie's dir geht, sonst vergisst du uns noch ganz«, begann sie mit singender, erregter Stimme, zu Metschik gewandt, ohne zu verhehlen, dass sie ausschließlich zu ihm gekommen war. »Auch Chartsdienko fragt schon, wie es mit deiner Gesundheit steht und weshalb du nichts von dir hören lässt, von mir will ich schon gar nicht erst reden...«
Metschik zuckte schweigend die Achseln.
»Glänzend geht's uns natürlich, was gibt's da überhaupt zu fragen!« rief Tschish, mit Vergnügen alles auf sich beziehend. »Aber setzen Sie sich doch zu mir, warum genieren Sie sich?«
»Ich gehe ja gleich«, sagte sie, »ich bin nur so auf einen Sprung vorbeigekommen...«; sie ärgerte sich plötzlich, Metschiks wegen gekommen zu sein, und dass dieser nur mit den Achseln zuckte. Sie fügte hinzu: »Habt wohl nichts gegessen? - Der Topf ist ja rein...«
»Was ist da schon viel zu essen? Würde man uns wenigstens gute Lebensmittel geben, aber so verteilen sie hier weiß der Teufel was!... « Tschish verzog angewidert das Gesicht. »Aber setzen Sie sich doch zu mir!« wiederholte er nochmals mit frecher Zudringlichkeit, packte sie bei der Hand und zog sie zu sich heran. »Setzen Sie sich doch!...«
Sie ließ sich neben ihm auf dem Mantel nieder.
»Erinnern Sie sich an unsere Verabredung?« Tschish zwinkerte ihr vertraulich zu.
»Was für eine Verabredung?« fragte sie erschreckt, sich dunkel auf etwas besinnend. ,Ach, wäre ich doch nur nicht hergekommen', dachte sie; etwas Großes, Beunruhigendes riss plötzlich in ihrer Brust.
»Wieso, was für eine? Einen Augenblick mal...« Tschish neigte sich schnell zu Metschik herüber. »Man soll zwar in Gesellschaft nicht flüstern«, sagte er, ihn um die Schultern fassend, zu Warja gewandt, »aber...«
»Was habt ihr da für Geheimnisse?...« sagte sie mit gekünsteltem Lächeln, hastig mit den Lidern klappernd, und begann mit ungelenken, zittrigen Fingern ihr Haar zu ordnen.
»Was zum Teufel sitzt du da wie ein Ölgötze?« zischte Tschish Metschik ins Ohr. »Ist schon alles verabredet. So ein Mädel -würde beide 'ranlassen und du...«
Metschik prallte zurück, warf einen raschen Blick zu Warja hinüber und errötete tief. ,Da hast du's. Siehst du nun, was entstanden ist?' schien vorwurfsvoll ihr schwimmender Blick zu sagen.
»Nein, nein, ich werde gehen... nein, nein«, murmelte sie, sobald sich Tschish wieder zu ihr gewandt hatte, als schlüge er ihr jetzt schon etwas Schändliches und Erniedrigendes vor. »Nein, nein, ich gehe...« Sie sprang auf und verschwand, den Kopf tief geneigt, mit kurzen, eiligen Schritten im Dunkeln.
»Wieder hast du die Sache verpatzt, du Schlafmütze!...« fauchte Tschish verächtlich und böse. Plötzlich schnellte er, von elementarer Kraft gepackt, in die Höhe und stürmte ihr, wie von -innen vorwärtsgetrieben, in großen Sätzen nach. Einige Meter weiter holte er sie ein, und sie fest mit einem Arm umklammernd und den anderen an ihre Brust gedrückt, zog er sie ins Gebüsch:
»Komm schon, komm schon, Schatz, komm...«
»Geh... lass mich... lass mich... ich werde schreien!...« wehrte sie ab, während sie schwächer wurde; aber dem Weinen nahe, fühlte sie, dass sie keine Kraft mehr habe, um um Hilfe zu rufen, und auch, dass es ohnedies sinnlos gewesen wäre: für wen denn bloß?
»Aber Schatz, nicht doch, nicht doch«, drang Tschish auf sie ein, presste ihr die Hand auf den Mund und entflammte sich immer mehr an seinen eigenen Zärtlichkeiten.
,Und in der Tat, wozu auch? Kein Hahn kräht danach', dachte sie müde. ,Aber das ist doch Tschish... ja, das ist doch Tschish... woher kommt er... warum er?... ach, ist's nicht einerlei?' Und es wurde ihr in der Tat alles gleichgültig.
»Mag sie nicht leiden, die Bauern, mag sie nicht«, sagte Moroska, sich gleichmäßig im Sattel wiegend, und schlug, wenn Mischka den rechten Vorderhuf nach vorn setzte, mit der Gerte nach den knallgelben Blättern der Birken. »War mal beim Großvater. Hab' zwei Onkels dort, die den Boden ackern. Nein, mag sie nicht! Ist nicht das, nicht das, haben anderes Blut: sind knauserig, hinterhältig, durch die Bank... so ist's.« Moroska hatte eine Birke ausgelassen und hieb, um nicht aus dem Takt zu geraten, mit der Gerte gegen den Stiefelschaft. »Und weshalb, zum Kukkuck, sind sie so hinterhältig, so knauserig?« fragte er, den Kopf erhebend. »Haben ja selber nichts zu beißen...«, und er lachte ein fremdes, kindliches, mitleidiges Lachen.
Gontscharenko lauschte, den Blick zwischen die Ohren des Pferdes gerichtet; in seinen grauen Augen flackerte ein kluger, männlicher Ausdruck, wie er Leuten eigen ist, die die Gabe besitzen, anderen zuzuhören, und die es noch besser verstehen, über das Gehörte nachzudenken.
»Und ich bin der Meinung«, sagte er plötzlich, »nimm irgendeinen von uns unter die Lupe, irgendeinen von uns«, betonte er und schaute dabei auf Moroska, »mich zum Beispiel oder dich oder meinetwegen Dubow, in jedem von uns wird man ein Stück Bauer finden... in jedem von uns«, wiederholte er überzeugt, »mit allem, was so dazu gehört, höchstens vielleicht ohne Bastschuhe...«
»Wovon redet ihr da?« Dubow wandte sich im Sattel um.
»Und vielleicht auch mit Bastschuhen... Wir reden hier von Bauern... in jedem von uns, sag' ich, steckt ein Stück Bauer...«
»Na-a...«, bezweifelte Dubow.
»Das glaubst du nicht?... Moroska zum Beispiel hat einen Großvater, zwei Onkel im Dorfe sitzen, du...«
»Ich, Freundchen, hab' niemanden«, unterbrach ihn Dubow, »und Gott sei Dank. Kann offen gestanden diese Brut nicht leiden... Nehmen wir mal Kubrak: Kubrak bleibt Kubrak (schließlich kann man ja nicht von jedem Menschen Verstand verlangen!), aber was für einen Zug hat er da zusammengestellt? Lauter Deserteure, einer wie der andere, so eine Gesellschaft ist das!« Und Dubow spie verächtlich aus.
Dieses Gespräch entspann sich am fünften Tage nach dem Aufbruch, als die Abteilung zu den Quellen des Chaunichedsa hinabgestiegen war. Sie zog über den mit weichem, verdorrendem Queckengras bedeckten Winterweg. Obgleich keiner auch nur eine Krume mehr von den Lebensmitteln besaß, den der Gehilfe des Wirtschaftsleiters seinerzeit im Lazarett aufgestapelt hatte, befanden sich alle in gehobener Stimmung; das Gefühl, sich bewohnten Gegenden zu nähern, und die Aussicht auf Ruhe erfüllte sie mit Heiterkeit.
»Sieh einer an«, zwinkerte Moroska. »Unser Dubow, der Alte, was sagt ihr dazu?« Und er lachte, verwundert und erfreut darüber, dass der Zugführer seine und nicht Gontscharenkos Ansicht teilte.
»Meinetwegen«, sagte der Mineur, keineswegs entmutigt, »zugegeben, dass du keinen hast, aber nicht darum handelt es sich, ich hab' jetzt auch niemanden. Nehmen wir eure Grube... gewiss, du bist schon in Russland herumgekommen, aber Moroska? Der hat außer seiner Grube noch kaum was gesehen...«
»Was heißt da ,kaum was gesehen'?« warf dieser gekränkt dazwischen. »Und an der Front...« »Lass ihn doch, lass ihn doch«, fiel Dubow ihm ins Wort, »schön, hat nichts gesehen, und...?«
»Aber eure Grube, das ist doch ein Dorf«, sagte ruhig Gontscharenko. »Ein jeder hat seinen Gemüsegarten. Die Hälfte kommt zum Winter und geht im Sommer wieder ins Dorf zurück... ja, und die Hirsche röhren fast wie das Vieh in den Ställen!... Ich kenne eure Grube.«
»Ein Dorf?« verwunderte sich Dubow, der Gontscharenko nicht zu folgen vermochte.
»Was denn sonst? Eure Weiber schuften auf den Feldern, ringsherum nichts als Bauernvolk, hat das etwa keinen Einfluss?... Natürlich hat das Einfluss!« Und der Mineur durchschnitt mit gewohnter Geste die Luft mit der flachen Hand.
»Hat Einfluss... gewiss...«, sagte unsicher Dubow, in Gedanken, ob darin nicht etwas Schimpfliches für das »Geschlecht der Kumpels« liege.
»Na also... nehmen wir jetzt die Stadt: wie groß sind sie denn, unsere Städte, und wie viele haben wir überhaupt? An den Fingern kann man sie abzählen... Tausende von Werst - alles ein Dorf... hat das keinen Einfluss, frag' ich?«
»Wart mal, wart mal«, fuhr der Zugführer verwirrt dazwischen, »auf Tausende von Werst alles ein Dorf?... Gewiss, ein Dorf... Hat das etwa keinen Einfluss?...«
»Ergibt sich also, dass in jedem von uns ein Stück Bauer steckt«, sagte Gontscharenko, zum Ausgangspunkt zurückkehrend und damit gleichsam alles widerlegend, worüber Dubow gesprochen hatte.
»Fein in die Falle gelockt!« entzückte sich Moroska, den der Streit von dem Augenblick, da Dubow sich eingemischt hatte, nur als Erscheinung menschlicher Gewandtheit interessierte. »Hat dich glatt an die Wand gedrückt, Alter, dass dir die Puste wegbleibt!«
»Damit will ich nur sagen«, erläuterte Gontscharenko, ohne Dubow Zeit zur Besinnung zu geben, »dass wir keinen Grund haben, uns vor den Bauern aufs hohe Ross zu setzen, auch Moroska nicht, ohne Bauern sind wir...«, er schüttelte den Kopf und schwieg, und es war offenbar, dass alles, was Dubow nachträglich noch vorbrachte, ihn nicht von seiner Meinung abzubringen vermochte.
,Ein kluger Teufel', dachte Moroska, Gontscharenko von der Seite betrachtend, und empfand zugleich eine immer größere Achtung vor ihm. ,Hat den Alten festgenagelt, dass er nicht ein noch aus weiß.' Moroska wusste sehr wohl, dass Gontscharenko sich irren und im Unrecht sein konnte wie alle Menschen. Moroska fühlte in sich keineswegs jene bäuerliche Last, von der Gontscharenko mit solcher Sicherheit sprach, und doch schenkte er dem Mineur mehr Glauben als sonst wem. Gontscharenko war »einer vom Bau'. Er .konnte verstehen', er ,sah ein', und zu allem war er kein Schwätzer, kein Müßiggänger. Seine großen knotigen Hände gierten nach Arbeit, meisterten sie auf den ersten Blick vielleicht langsam, in Wirklichkeit aber schnell. Jede seiner Bewegungen war wohlüberlegt und präzise.
Und die Beziehungen zwischen Moroska und Gontscharenko erreichten jene erste, zur Freundschaft unerlässliche Stufe, von der es bei den Partisanen heißt: »Sie schlafen unter einem Mantel«, »sie essen aus einem Topf«.
Dank dem täglichen Umgang mit ihm, begann Moroska zu glauben, dass auch er selber ein untadeliger Partisane sei: sein Pferd war in Ordnung, das Gewehr blitzblank und sauber wie ein Spiegel; er war der erste im Kampf, tapfer und zuverlässig, weshalb ihn die Kameraden liebten und achteten... Und indem er so dachte, passte er sich unwillkürlich jenem sinnvollen gesunden Leben an, das Gontscharenko scheinbar immer lebte, das heißt einem Leben, in dem es keinen Platz gab für unnütze und müßige Gedanken...
»Ho-i... halt!...« schrie man vorn. Der Ruf pflanzte sich die Kette entlang fort, und während die Spitze des Zuges schon stehen geblieben war, drängten die Hinteren immer noch nach. Die Kette hatte sich ineinander geschoben.
»Hallo... Meteliza soll kommen...«, rief es von neuem die Kette entlang. Einige Sekunden später jagte Meteliza, einem Stoßfalken gleich, vorbei, und die Augen der ganzen Abteilung verfolgten mit unbewusstem Stolz seine von keinen Reitervorschriften beschwerte Haltung eines Hirten.
»Muss doch auch einmal nachsehen, was dort los ist«, sagte Dubow.
Kurz darauf kehrte er erregt zurück, war jedoch bemüht, seine Erregung vor den anderen zu verbergen.
»Meteliza geht auf Patrouille, werden hier übernachten«, sagte er beherrscht, in seiner Stimme aber, vernehmlich für alle, erzitterten böse, hungrige Untertöne.
»Wie, mit leeren Magen?! Was denken sie sich dort?!« erscholl es ringsherum.
»Das nennt sich also ausruhen!«
»Verdammte Schweinerei!« pflichtete Moroska bei.
Die Vorderen waren schon abgesessen.... Lewinsohn hatte beschlossen, in der Taiga zu nächtigen, weil er nicht mit Sicherheit wusste, ob der Unterlauf des Chaunichedsa vom Feinde frei war. Ungeachtet dessen hoffte er, auch in diesem Fall auf dem von der Patrouille abgetasteten Wege Tudo-Waki, das mit Brot und Pferden gesegnete Tal, zu erreichen.
Den ganzen weiten Weg quälte ihn das unerträgliche, mit jedem Tag sich steigernde Seitenstechen, und er wusste schon, dass dieser Schmerz - eine Folge von Übermüdung und Blutarmut - nur in vielen Wochen geruhsamen und satten Lebens geheilt werden könne. Da er aber ebenso gut wusste, es werde für ihn noch lange kein geruhsames und sattes Leben geben, suchte er sich während des langen Weges dem neuen Zustand anzupassen, indem er sich einredete, dass er immer schon an dieser »ganz nichtigen Krankheit« gelitten habe und sie ihn daher keinesfalls hindern könne, jene Sache zu Ende zu führen, die zu Ende zu führen er für seine Pflicht hielt.
»Und ich bin der Meinung, wir müssen weitergehen...«, wiederholte, ohne auf Lewinsohn zu hören und den Blick auf dessen Stiefel gerichtet, zum vierten Male Kubrak mit der stupiden Hartnäckigkeit eines Menschen, der nichts anderes kennt als seinen Hunger.
»Von mir aus, geh allein, wenn du's nicht erwarten kannst... geh allein...lass einen Stellvertreter zurück und geh los. Aber die ganze Abteilung in Gefahr zu bringen, das heißt eine falsche Rechnung aufmachen...«
Lewinsohn sagte das in so einem Ton, als sei Kubrak dabei, solch eine falsche Rechnung aufzumachen.
»'s ist besser, Freundchen, du stellst die Wachen aus«, fügte er hinzu, eine neue Bemerkung des Zugführers geflissentlich überhörend. Als er aber sah, dass jener hartnäckig blieb, runzelte er plötzlich die Brauen und fragte streng: »Was?...«
Kubrak hob den Kopf und begann zu zwinkern.
»Vorn auf den Weg schickst du eine berittene Patrouille«, fuhr Lewinsohn mit dem früheren, kaum merklichen Hohn in der Stimme fort, »und hinten, so eine halbe Werst weiter, lässt du eine Fußwache antreten; am besten wohl an jener Quelle, durch die wir geritten sind. Verstanden?«
»Verstanden«, brummte Kubrak, darüber erstaunt, dass er etwas anderes sagte, als was er in Wirklichkeit hatte sagen wollen. ,Ein zähes Aas', dachte er über Lewinsohn, mit unbewusstem, von Achtung verdecktem Hass gegen ihn und voller Mitleid mit sich selbst.
Nachts, plötzlich aufwachend, wie es in der letzten Zeit öfters der Fall war, erinnerte Lewinsohn sich an das Gespräch mit Kubrak und ging, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte, die Posten kontrollieren.
Behutsam schlich er, bemüht, nicht auf die Mäntel der Schlafenden zu treten, zwischen den glimmenden Feuern hindurch. Das äußerste zur Rechten brannte heller als die anderen, dicht daran hockte ein Wachtposten und wärmte sich die Hände. Er schien gar nicht mehr ans Wachen zu denken, die schwarze Schaffellmütze war ihm ins Genick gerutscht, die verträumten Augen weit offen; er lächelte ein gutmütiges, kindhaftes Lächeln. ,Sieh mal an...', dachte Lewinsohn, der mit diesen Worten jenem unklaren Gefühl eines leisen, etwas unheimlichen Entzückens Ausdruck gab, das ihn unvermittelt beim Anblick dieser blauen, glimmenden Feuer, des lächelnden Wachtpostens und alles dessen, was ihn dunkel in dieser Nacht erwartete, gefangen nahm.
Und er setzte seinen Weg noch leiser und behutsamer fort, nicht um unbemerkt zu bleiben, sondern nur, um das Lächeln des Postens nicht zu verscheuchen. Der aber verharrte weiter in seiner Stellung und lächelte beim Feuerschein. Sicherlich erinnerte ihn dieses Feuer und die aus der Taiga kommenden trockenen, knirschenden Laute der kauenden Pferde an die nächtliche Hut der Pferde in seiner Jugend: die betaute, vom Mondlicht überflutete Wiese, der ferne Ruf der Hähne im Dorf, die stille Herde der Gäule mit ihren klirrenden Spannketten, die lustigen, tanzenden Flammen des Feuers vor dem kindlichen, verträumten Blick... jenes Feuer war erloschen und erschien dem Wachtposten daher heller und wärmer als das heutige.
Kaum hatte Lewinsohn sich vom Lager entfernt, umfing ihn feuchte, modrige Finsternis, die Füße versanken im schlickrigen Boden, es roch nach Schwämmen und faulendem Holz. ,Wie unheimlich!' dachte er und sah sich um. Hinter ihm nicht ein goldiger Schimmer mehr - als wäre das Lager mitsamt dem lächelnden Posten vom Abgrund verschlungen worden. Lewinsohn seufzte tief und schritt in gemacht fröhlichem Gang über den Pfad in die Tiefe.
Bald darauf vernahm er das sanfte Plätschern einer Quelle, blieb einige Augenblicke stehen, horchte ins Dunkel, vor sich hinlächelnd, und beschleunigte seine Schritte noch mehr, bemüht, stärker zu rascheln, damit man ihn höre.
»Wer da?... Wer ist dort?...« erscholl schrill aus dem Dunkel eine Stimme.
Lewinsohn erkannte Metschik und ging, ohne sich zu melden, auf ihn zu. In der gepressten Stille knackte ein Schloss, blieb stecken und quietschte kläglich auf. Es war zu hören, wie die Hand beim Einlegen der Patrone nervös erzitterte.
»Man muss es öfter fetten«, bemerkte Lewinsohn spöttisch.
»Ach, Sie sind's?...« atmete Metschik erleichtert auf. »Schmier' es doch regelmäßig... weiß nicht, was da passiert ist...« Er schaute verlegen den Kommandeur an und ließ, das offene Schloss vergessend, das Gewehr sinken.
Metschik hatte um Mitternacht als dritte Ablösung die Wache übernommen. Kaum eine halbe Stunde war vergangen, seit sich die gewöhnlichen Schritte des Postenführers raschelnd im Grase entfernt hatten, aber Metschik kam es vor, als stünde er schon eine Ewigkeit da. Er war allein mit seinen Gedanken inmitten einer großen, feindseligen Welt, in der alles sich bewegte, in der alles ein fremdes, wachsames und räuberisches Leben dahinlebte.
Es war im Grunde genommen immer nur derselbe Gedanke, über dem er immer wieder brütete, ob er dies oder jenes dachte, und der in ihm entstanden war, unbekannt wann und wie. Er wusste, dass er von diesem Gedanken zu niemandem sprechen würde, er wusste, dass dieser Gedanke etwas Schlechtes an sich habe, etwas Beschämendes, aber er wusste auch, dass er jetzt nicht mehr von ihm loskommen und alle Kräfte anspannen würde, um ihn zu verwirklichen, dass er das Letzte und Einzige war, was ihm übrig blieb.
Der Gedanke lief darauf hinaus, dass er so oder anders, aber auf schnellstem Wege die Abteilung verlassen müsse.
Und das einstige Leben in der Stadt, das ihm früher so freudlos und langweilig vorgekommen war, sah jetzt, wo er daran dachte, wieder dorthin zurückkehren zu können, unendlich freudig und sorglos aus und schien ihm das einzig Mögliche zu sein.
Metschik geriet, als er Lewinsohn gewahrte, in Verwirrung, aber nicht so sehr, weil sein Gewehr nicht in Ordnung war, als deshalb, weil er bei solchen Gedanken überrascht worden war.
»Das ist mir ein Krieger!« sagte Lewinsohn gutmütig. Er mochte nicht schimpfen nach dem Anblick des lächelnden Postens. »Unheimlich so zu stehen, was?«
»Aber nein... warum denn?« entgegnete Metschik etwas verwirrt. »Bin's schon gewöhnt.«
»Und ich kann mich gar nicht daran gewöhnen«, lächelte Lewinsohn. »Wie lange gehe und reite ich schon allein, bei allen Tages- und Nachtzeiten, und immer ist's mir unheimlich dabei... Nun, was gibt's hier, alles ruhig?«
»Ja«, sagte Metschik, ihn erstaunt und mit einer gewissen Schüchternheit betrachtend.
»Bald werdet ihr's leichter haben«, ließ sich Lewinsohn vernehmen, als beantwortete er nicht Metschiks Worte, sondern das, was dahinter versteckt lag. »Wenn wir erst mal in Tudo-Waki sind, wird's besser werden... Rauchst du? Nein?«
»Nein, ich rauche nicht... höchstens zum Spaß mal«, fügte Metschik eilig hinzu, da ihm plötzlich Warjas Tabaksbeutel in den Sinn kam, von dessen Existenz Lewinsohn allerdings erfahren haben konnte.
»Ist's denn nicht langweilig, so ohne zu rauchen?... ,Übler Tabak', hätte Kanunnikow gesagt. Gab mal so einen braven Partisanen bei uns. Weiß nicht, ob er sich in die Stadt durchgeschlagen hat...«
»Und weshalb ist er dorthin gegangen?« fragte Metschik, während ein unklarer Gedanke sein Herz höher schlagen ließ.
»Hab' ihn mit einem Rapport weggeschickt, aber die Zeiten sind sehr unruhig, und er hatte unseren ganzen Bericht mit.«
»Man könnte ja noch einen schicken«, sagte Metschik mit fremder Stimme, bemüht, sich den Anschein zu geben, als läge nichts Besonderes in seinen Warten. »Haben Sie nicht die Absicht, einen zweiten abzukommandieren?«
»Wieso?« horchte Lewinsohn auf.
»Ganz einfach... wenn Sie die Absicht haben, könnt' ich's ja besorgen ... Mir ist dort alles gut bekannt...«
Metschik kam es vor, als sei er zu eilfertig gewesen und als habe Lewinsohn nun alles durchschaut.
»Nein, hab' nicht die Absicht...«, gab Lewinsohn bedächtig überlegend zur Antwort. »Haben Sie Verwandte dort?«
»Nein, ich habe dort überhaupt gearbeitet... das heißt, Verwandtschaft ist wohl auch da, aber nicht aus diesem Grunde... Nein, Sie können sich auf mich verlassen: als ich in der Stadt tätig war, da hatte ich oft genug Gelegenheit, Geheimpost zu befördern.«
»Mit wem haben Sie denn gearbeitet?«
»Mit den Maximalisten, aber damals dachte ich, dass es einerlei ist...«
»Was heißt das, einerlei?«
»Na ja, mit wem man auch arbeitet...«
»Und jetzt?«
»Jetzt hat man mich etwas konfus gemacht«, erwiderte Metschik leise, ohne zu wissen, was man von ihm letzten Endes verlange.
»Soo«, sagte Lewinsohn gedehnt, als wäre es eben das gewesen, was man von ihm verlangte. »Nein, nein, habe nicht die Absicht... habe nicht die Absicht, was zu schicken«, wiederholte er von neuem.
»Wissen Sie, weshalb ich auch noch davon angefangen habe?...« begann Metschik mit einer plötzlichen nervösen Entschlossenheit, und seine Stimme zitterte. »Denken Sie nicht etwa schlecht von mir und glauben Sie nicht, dass ich Ihnen etwas verheimliche. Ich werde ganz offen mit Ihnen sprechen...«
,Gleich werde ich ihm alles sagen', dachte er und spürte, dass er ihm tatsächlich gleich alles sagen werde, ohne zu wissen, ob dies gut oder schlecht sei.
»Ich bin auch noch aus dem Grunde darauf gekommen, weil ich glaube, dass ich ein ganz untauglicher und unnützer Partisane bin und es besser sein wird, wenn Sie mich wegschicken... Nein, glauben Sie ja nicht, dass ich mich fürchte oder Ihnen etwas verheimliche, aber ich verstehe doch in der Tat nicht das mindeste... Ich kann mich ja hier niemandem anschließen, begegne von keiner Seite auch nur der geringsten Hilfe, und ist das etwa meine Schuld? Ich bin offenen Herzens an alle herangetreten, mir aber begegnete man stets grob, machte sich lustig über mich, verhöhnte mich., obschon ich gleich den anderen an allen Kämpfen teilgenommen habe und schwer verwundet war. Sie wissen das... Jetzt traue ich keinem mehr, ich weiß, wäre ich stark, man würde auf mich hören und mich fürchten, weil hier ein jeder sich nur danach richtet, ein jeder nur darauf bedacht ist, sich seinen Wanst zu füllen, und müsste er selbst seinen Kameraden bestehlen; alles andere jedoch kümmert sie nicht... Oft habe ich sogar den Eindruck, sollte der Zufall sie morgen zu Koltschak führen, dass sie diesem ebenso dienen würden und ebenso zügellos grausam mit allen verfahren würden, aber ich kann das nicht, kann das einfach nicht!...«
Metschik fühlte, wie mit jedem Wort sich irgendein trüber Nebel in ihm zerteilte. Die Worte schossen erstaunlich unbeschwert aus dem wachsenden Loch, und ihm selber wurde leichter davon ums Herz. Er wollte immer weiterreden, und es war ihm schon ganz gleichgültig, was Lewinsohn dazu sagen würde.
,Da haben wir's!... Ein schöner Kohl das', dachte Lewinsohn, der mit steigender Neugier den Sinn verfolgte, der sich hinter Metschiks nervösen Worten verbarg.
»Halt mal«, sagte er schließlich, während er seinen Ärmel berührte, und Metschik spürte stärker als je zuvor seine großen, dunklen Augen auf sich ruhen. »Schwätzt da ein Zeug zusammen, dass man sich schon gar nicht mehr auskennt.'... Bleiben wir einstweilen dabei. Greifen wir das Wichtigste heraus... Du sagst, ein jeder hier ist nur darauf bedacht, sich den Wanst zu füllen...«
»Aber nicht doch!« rief Metschik aus; ihm schien, nicht dies sei das Wichtigste in seinen Worten gewesen, sondern jenes, wie schlecht es ihm hier gehe, wie alle ihn ungerecht behandeln und wie gut er daran tue, offen davon zu sprechen. »Ich wollte sagen...«
»Nein, warte, jetzt lass mich reden«, unterbrach Lewinsohn ihn sanft. »Du hast gesagt, ein jeder schaue nur darauf, sich seinen Wanst zu füllen, und wären wir zu Koltschak geraten...«
»Von Ihnen persönlich habe ich nicht gesprochen!... ich...«
»Das ist ganz gleich... Wären sie also zu Koltschak geraten, so würden sie ebenso grausam und sinnlos alles das ausführen, was er für nötig hielte. Aber das stimmt doch überhaupt nicht!...« Und Lewinsohn begann mit gewohnten Worten zu erklären, weshalb das ihm falsch zu sein schien.
Aber je mehr er sprach, um so deutlicher empfand er, dass er in den Wind redete. An den zusammenhanglosen Einwürfen, die Metschik machte, erkannte er, dass er von etwas anderem sprechen müsste, von etwas Grundlegenderem, Ursprünglicherem, das er sich selbst einst nicht ohne Mühe angeeignet hatte und das ihm nun schon im Fleisch und Blut saß. Aber jetzt war nicht die Zeit, davon zu reden, denn jede Minute forderte von den Leuten schon bewusstes und entschlossenes Handeln.
»Was soll man mit dir anfangen«, sagte er endlich mit ernstem, gutmütigem Bedauern, »bist selbst an allem schuld. Und dass du weggehst ist Unsinn. Man wird dich totschlagen, sonst nichts... Lass dir lieber alles richtig durch den Kopf gehen, besonders das, was ich dir gesagt habe. Es kann nicht schaden, darüber nachzudenken...«
»Ich denke ja sonst auch an nichts anderes«, sagte Metschik dumpf, und die frühere nervöse Kraft, die ihn gezwungen hatte, so viel und so kühn zu sprechen, verließ ihn plötzlich.
»Und das Wichtigste, halte deine Kameraden nicht für schlechter als dich selbst. Sie sind nicht schlechter, nein...« Lewinsohn holte seinen Tabaksbeutel hervor und begann langsam eine Zigarette zu drehen.
Mit welker Wehmut verfolgte Metschik seine Bewegungen.
»Den Verschluß kannst du trotzdem schließen«, sagte Lewinsohn plötzlich, und man sah, dass er während ihres ganzen Gesprächs an das offene Schloss gedacht hatte. »Wäre an der Zeit, sich so etwas zu merken. Hängst hier nicht an Mutters Schürzenzipfel.« Er entzündete ein Streichholz, und aus dem Dunkel traten für einen kurzen Augenblick seine halbgeschlossenen Lider und die langen Wimpern, seine dünnen Nasenflügeln, sein rotbrauner, Ruhe atmender Bart. »Ja, wie steht's eigentlich mit deiner Stute? Reitest noch immer auf ihr?«
»Noch immer . ,.«
Lewinsohn überlegte.
»Also höre: morgen werde ich dir die ,Niwka' geben, kennst sie doch? Pika hat sie geritten... und die ,Sütschicha' gibst dem Wirtschaftsleiter ab. Bist einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete Metschik traurig,
,Ein toller Wirrkopf', dachte Lewinsohn später, als er weich und behutsam seine Füße ins dunkle Gras setzte, hastig an der Zigarette ziehend. Er war etwas erregt von diesem Gespräch. Er dachte daran, wie schwach, faul und energielos doch letzten Endes dieser Metschik ist, und wie bar jeder Freude in Wahrheit jenes Land sein muss, das solche Menschen im Überfluss hervorbringt, solche elenden und nutzlosen Wesen. ,Eben bei uns, auf unserm Boden', überlegte er, seine Schritte beschleunigend und immer hastiger paffend, ,wo Millionen Menschen seit undenklichen Zeiten unter einer langsamen, trägen Sonne leben, in Schmutz und Armut, mit vorsintflutlichem Holzpflug die Furche ziehen, an einen bösen und dummen Gott glauben; eben nur auf solchem Boden konnten diese faulen, willenlosen Menschen, diese tauben Blüten wachsen... '
Und Lewinsohn war erfüllt von Unruhe, weil all das, was er dachte, das Tiefste und Wichtigste war, worüber er nachdenken konnte; denn in der Überwindung dieser Dürftigkeit und Armut lag der eigentliche Urzweck seines Daseins, und Lewinsohn wäre nicht er, sondern ein ganz anderer gewesen, lebte in ihm nicht jene gewaltige, mit keinem andern Wunsche zu vergleichende Sucht nach einem neuen, schönen, starken und guten Menschen. Aber wie konnte man von einem neuen, schönen Menschen sprechen, solange zahllose Millionen gezwungen waren, ein derart vorsintflutliches und armseliges, unausdenklich karges Leben zu fristen.
,War wirklich auch ich einmal so oder ähnlich?' dachte Lewinsohn, dessen Gedanken wieder zu Metschik zurückkehrten. Und er versuchte sich so zu sehen, wie er in der Kindheit gewesen war, in der frühen Jugend, aber nur mit Mühe gelang ihm dies: zu hart und hoch hatten sich die für ihn so bedeutenden folgenden Jahre über ihn geschichtet, als er schon jener Lewinsohn war, den alle gerade als Lewinsohn kannten - ein Mensch, der immer an der Spitze schritt.
Er konnte sich nur noch eines alten Familienbildes entsinnen, auf dem der schmächtige jüdische Junge - in schwarzer Joppe und mit großen naiven Augen - mit erstaunlich unkindlicher Beharrlichkeit auf jene Stelle schaute, aus der, wie man ihm damals sagte, ein buntschillerndes Vögelchen hervorschwirren mußte. Kein Vögelchen kam, und Lewinsohn erinnerte sich noch, dass er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre vor Enttäuschung. Wie vieler solcher Enttäuschungen aber hatte es noch bedurft, bis er sich endgültig davon überzeugte, dass »es so was nicht gäbe!«
Und als er sich dessen wirklich bewusst war, begriff er, welch unermesslichen Schaden diese verlogene Mär von buntschillernden Vöglein unter den Menschen stiftet - von den Vöglein, die von irgendwo herausschwirren sollen und auf die so mancher sein Leben lang vergeblich wartet... Nein, er brauchte sie nicht mehr! Erbarmungslos hatte er in sich die tatenlose, süße Sehnsucht nach ihnen erstickt - alles, was als Erbe entrechteter Geschlechter geblieben war, die mit dieser verlogenen Mär vom buntschillernden Vögelchen aufwuchsen!... »Alles so sehen, wie es ist, um zu ändern, was ist, um das näher zu bringen, was im Entstehen begriffen ist und sein soll', das war die Weisheit, die einfachste und schwierigste zugleich, zu der Lewinsohn sich durchgerungen hatte.
,... Nein, immerhin, ich war ein starker Junge, viel stärker als er', dachte Lewinsohn jetzt, voll eines unerklärlichen, freudigen Triumphgefühls, das keiner verstanden oder gar bei ihm vermutet hätte. ,Ich habe nicht nur manches gewollt, ich habe auch manches gekonnt, das ist der ganze Unterschied...' Er schritt aus, ohne auf den Weg zu achten, und die kalten, betauten Zweige kühlten sein Gesicht; er empfand die Flut ungewöhnlicher Kräfte, die ihn über sich selbst erhoben (zu jenem neuen Menschen etwa, den er mit allen Fibern seines Herzens ersehnte?), und von dieser umspannenden, irdischen, menschlichen Höhe gebot er über seine Schwächen und die Gebresten seines Leibes...
...Als Lewinsohn das Lager erreichte, waren die Feuer schon fast niedergebrannt, und der Wachtposten lächelte nicht mehr; man hörte, wie er sich, mit gedämpfter Stimme fluchend, an seinem Pferd zu schaffen machte. Lewinsohn erreichte sein leise glimmendes Feuer; dicht daneben schlief, in seinen Mantel gehüllt, Baklanow einen tiefen, gesunden Schlaf. Lewinsohn legte trockenes Gras und Reisig auf und blies in die Glut. Von der heftigen Anstrengung begann ihm zu schwindeln. Baklanow empfand die plötzlich aufsteigende Wärme, begann sich zu bewegen und schmatzte laut und behaglich im Traum. Sein Gesicht war unbedeckt, die Lippen hatte er wie ein Kind nach vorn geschoben, die Mütze fest an die Schläfe gepresst. So gemahnte er an einen satten und gutmütigen jungen Hund. ,Sieh einer an', dachte Lewinsohn liebevoll und lächelte; nach dem Gespräch mit Metschik war ihm, er wusste selber nicht weshalb, der Anblick Baklanows besonders angenehm.
Dann legte er sich ächzend neben ihn und hatte kaum die Augen geschlossen - als er, ohne den Körper zu fühlen, zu schwanken und zu taumeln begann, bis er plötzlich in eine endlos tiefe, schwarze Grube sauste.
Als Lewinsohn Meteliza auf Patrouille schickte, befahl er ihm, koste es, was es wolle, noch in derselben Nacht zurückzukehren. Aber das Dorf, wohin der Zugführer geschickt worden war, lag in Wirklichkeit um vieles weiter, als Lewinsohn angenommen hatte. Meteliza verließ gegen vier Uhr nachmittags die Abteilung und trieb den Hengst erbarmungslos an. Wie ein Raubvogel saß er über ihn geneigt, grausam und freudig die dünnen Nasenflügel blähend, wie trunken von diesem rasenden Galopp nach fünf öden, trägen Tagen - doch bis es zu dämmern begann, verfolgte sie unermüdlich die herbstliche Taiga - und das Rascheln der Gräser im kalten und schwermütigen Licht des sterbenden Tages. Es war schon ganz dunkel geworden, als er endlich aus der Taiga herauskam und den Hengst vor einer alten halbverfallenen Hütte, die sichtlich seit langem unbewohnt stand, anhielt.
Er band das Pferd an und sich an das morsche, unter den Händen bröckelnde Gebälk klammernd, kletterte er auf den First, in ständiger Gefahr, in eine dunkle Grube zu stürzen, aus der der unheimliche und widerliche Geruch feuchten Holzes und verfaulter Gräser drang. So stand er zehn Minuten lang, die Knie leicht gebeugt, auf den Fußspitzen, unbeweglich in die Nacht spähend und horchend, unsichtbar auf dem scharfen Hintergrund des Waldes, und glich noch mehr als sonst einem Raubvogel. Vor ihm lag ein finsteres, von Bergkegeln zusammengepresstes Tal, deren dunkle Silhouetten sich vom rauen, ungestirnten Himmel abhoben.
Meteliza sprang in den Sattel und ritt auf den Weg hinaus. Schwarze, seit langem unbefahrene Wagenspuren waren nur undeutlich noch im Gras sichtbar. Die dünnen Stämme der Birken leuchteten still durch die Nacht wie erloschene Kerzen.
Er erklomm einen Hügel: zur Linken ragte wie früher die dunkle Reihe der kleinen Bergkegel, gekrümmt wie das Rückgrat eines gigantischen Untiers. Unten rauschte der Fluss. Zwei Werst weiter, dicht am Fluss wohl, brannte ein Feuer, es erinnerte Meteliza an die triste Einsamkeit des Hirtenlebens; dahinter, den Weg überquerend, glommen die gelben, unbeweglichen Lichter des Dorfes. Zur Rechten bog die Reihe der Kuppen ab und verlor sich in bläulichem Nebel; in dieser Richtung senkte sich der Boden; allem Anschein nach lag dort ein altes Flussbett; ein schwarzer, finsterer Wald umsäumte die Ufer.
,Das ist wohl Sumpf, dachte Meteliza. Es wurde ihm kalt. Über den Kittel mit den abgerissenen Knöpfen und dem aufgeschlagenen Kragen trug er nur ein Lederwams. Er beschloss, zuerst ans Feuer zu reiten. Für alle Fälle holte er den Revolver hervor, steckte ihn hinter den Gürtel unters Lederwams, während er die Revolvertasche im Sattelzeug versteckte. Einen Karabiner hatte er nicht mitgenommen. Jetzt sah er wie ein echter Bauer aus; nach dem deutschen Krieg gingen viele in solchen Monturen herum.
Er war schon ganz nahe am Feuer, als plötzlich aus dem Dunkel unruhiges Pferdegewieher erscholl. Der Hengst riss sich, die Ohren spitzend, nach vorn, sein mächtiger Leib erzitterte, und klagend, leidenschaftlich wieherte er zur Antwort. Im selben Augenblick bewegte sich ein Schatten am Feuer. Meteliza ließ die Gerte aufklatschen, und das Pferd bäumte sich in die Höhe.
Am Feuer stand, die erschrockenen Äuglein weit aufgerissen, mit der einen Hand eine Peitsche umklammernd, die andere im weiten Ärmel wie zur Abwehr hochgehoben, ein mageres, schwarzhaariges Bürschchen in Bastschuhen, zerschlissenen kurzen Höschen, den Körper in einen übergroßen, mit einem Strick umgürteten Rock gehüllt. Meteliza brachte den Hengst mit grausamem Ruck direkt vor dem Bürschchen, das er fast überrannt hatte, zum Stehen. Schon wollte er es grob anfahren, als er plötzlich vor sich über den baumelnden Ärmeln die erschrockenen Augen gewahrte, die kurzen Höschen mit den durchschimmernden nackten Knien und den unförmigen langen Rock eines Erwachsenen, aus dem kläglich und schuldbewusst der dünne, komische Kinderhals ragte...
»Was stehst du denn so? Hast dich erschreckt?... Ach, du Spatz, du Spatz, so ein Dummkopf!« begann Meteliza etwas verwirrt, mit jener gutmütigen Grobheit, mit der er sonst nur zu Pferden redete. »Stehst da wie ein Ölgötze!... Und wenn ich dich überrannt hätte?... So ein Dummkopf!« wiederholte er mit wachsender Rührung und fühlte, wie beim Anblick dieses hilflosen Bürschleins auch in ihm etwas ebenso Klägliches, Komisches, Kindliches sich zu regen begann... Der Junge wagte vor Schreck kaum zu atmen und ließ den Arm sinken.
»Was kommst du wie ein Teufel angesprengt?« sagte er, immer noch verschüchtert, aber bemüht, vernünftig und selbständig wie ein Erwachsener zu sprechen. «-Da soll einer nicht erschrecken, wenn er hier Pferde hat...«
»Pfe-erde?« dehnte ironisch Meteliza. »Was du nicht sagst!« Er warf sich zurück und stemmte die Fäuste in die Hüften, wobei er das Bürschchen mit zusammengekniffenen Augen betrachtete und kaum merklich die samtenen Brauen bewegte. Plötzlich lachte er auf, so herzhaft laut, in so hohen, gutmütigen und fröhlichen Tönen, dass er sich selbst darob verwunderte, wie solche Töne aus ihm kommen konnten.
Das Bürschchen rümpfte verwirrt und misstrauisch die Nase, verzog aber, als er verstand, dass ihm nichts Gefährliches drohe, sondern alles im Gegenteil sehr lustig sei, dermaßen sein Gesicht, dass sich die Nase nach oben schob, und brach ebenfalls in ein helles, kindliches Lachen aus. Das kam so unerwartet, dass Meteliza noch lauter losprustete und beide sich so einige Minuten lang in unbändigem Gelächter schüttelten: der eine mit im Widerschein des Feuers blitzenden Zähnen, sich im Sattel hin- und herschaukelnd, der andere, auf den Hintern gefallen, die beiden Ellenbogen aufgestützt, bei jedem neuen Auflachen den ganzen Körper hochwerfend.
»Ein Spaßvogel«, sagte Meteliza endlich, die Steigbügel von den Füßen streifend. »Wahrhaftig, ein drolliges Käuzchen...« Er sprang zu Boden und hielt die Hände übers Feuer.
Das Bürschchen, das zu lachen aufgehört hatte, betrachtete ihn mit ernstem und gleichzeitig freudigem Erstaunen, wie wenn es von ihm noch die absonderlichsten Dinge erwartete.
»Ein lustiger Teufel bist du«, bemerkte es schließlich, jede Silbe mit Nachdruck betonend, als sei dies die Bilanz seiner Beobachtungen.
»Ich?« lächelte Meteliza. »Ja, ich bin lustig...«
»Und ich hab' mich so erschreckt«, gestand das Bürschchen. »Habe Pferde da. Brate Kartoffeln....«
»Kartoffeln? Donnerwetter!...« Meteliza setzte sich zu ihm, ohne die Zügel loszulassen. »Wo nimmst du sie denn her, die Kartoffeln?«
»Wo ich sie hernehme... Haufenweise gibt's die hier!« Und das Bürschchen beschrieb mit den Händen einen Kreis.
»Du stiehlst also?«
»Stehle... Zeig mir mal deinen Gaul... Halt' schon fest, hab keine Angst... ein feiner Hengst«, sagte das Bürschchen, mit Kennerauge den gestrafften, muskulösen Leib des schlanken Pferdes musternd. »Woher kommst du?«
»Ein flottes Tier«, bestätigte Meteliza. »Und von woher bist du?«
»Von dort«, der Junge machte eine Kopfbewegung nach den Lichtern hin, »aus Chanichesa... Hundertzwanzig Gehöfte, aufs Haar genau«, sagte er, einen irgendwo aufgeschnappten Ausdruck wiederholend, und spuckte aus.
»So... Und ich bin aus Worobjowka, hinterm Bergrücken. Vielleicht kennst du das Nest?«
»Aus Worobjowka? Nein, hab' nie gehört, muss wohl sehr weit sein ... «
»Ja, recht weit.«
»Und was willst du hier bei uns?«
»Wie soll ich sagen... das ist eine lange Geschichte, Freundchen... Pferde möcht' ich bei euch kaufen, ihr sollt so viele haben, erzählt man... Mag sie verdammt gern, die Pferde, Freundchen«, sagte mit pfiffigem Lächeln Meteliza, »hab' selber mein Leben lang welche gehütet, fremde allerdings.«
»Und ich eigene, meinst du?«
Das Bürschchen schob aus dem weiten Ärmel ein mageres schmutziges Händchen hervor und begann mit dem Peitschenstiel in der Glut herumzustochern, aus der verlockend schwarze Erdäpfel kullerten.
»Willst du essen?« fragte das Bürschchen. »Hab' auch Brot da, bloß wenig...«
»Danke, habe mich eben vollgefressen bis zum Hals«, log Meteliza, während es ihm jetzt erst zum Bewusstsein kam, wie hungrig er war.
Das Bürschchen brach eine Kartoffel auseinander, blies sie an, steckte die eine Hälfte mitsamt der Pelle in den Mund, ließ sie ein paar Mal auf der 'Zunge tanzen und begann dann, mit den Ohren wackelnd, drauflos zu kauen. Nachdem es sie hinuntergeschluckt hatte, blickte es auf Meteliza und sagte, ebenso deutlich betont wie vorhin, als es ihn einen lustigen Menschen nannte:
»Eine Waise bin ich, seit einem halben Jahr schon bin ich Waise. Den Vater haben die Kosaken totgeschlagen, die Mutter vergewaltigt und umgebracht, auch meinen Bruder haben sie erschossen...«
»Die Kosaken?« fuhr Meteliza auf.
»Wer denn sonst? Haben wie die Teufel gehaust. Den ganzen Hof haben sie in Brand gesteckt, nicht nur den unsrigen, noch mindestens zwölf andere, und jeden Monat kommen sie wieder, jetzt stehen auch vierzig Mann da. Und in dem Dorf Rakitnoje liegt den ganzen Sommer über schon ein Regiment! Und wie die hausen! Nimm doch Kartoffeln...«
»Warum seid ihr denn nicht geflüchtet?... Habt doch so viel Wald da...« Meteliza hatte sich sogar aufgerichtet.
»Was nützt der Wald? Kannst doch nicht dein Leben lang im Wald herumsitzen. Übrigens sind Sümpfe dort, nicht durchzukommen...«
,Hab' richtig geraten', dachte Meteliza, sich seiner Vermutung erinnernd.
»Weißt du was, pass du auf mein Pferd auf, ich werde zu Fuß ins Dorf gehen. Sehe schon, bei euch ist nichts zu handeln, eher schnappt ihr einem selber noch das Letzte weg...«
»Warum hast du's so eilig? Bleib doch noch!...« sagte der kleine Hirte plötzlich betrübt und stand gleichfalls auf. »Ist langweilig so allein«, erläuterte er mit wehleidiger Stimme und sah Meteliza mit großen, bittenden, ein wenig feuchten Augen an.
»Geht nicht, Freundchen«, Meteliza fuhr mit den Händen durch die Luft. »Muss mich tummeln, solang es dunkel ist... Aber ich bin ja bald zurück. Den Hengst koppeln wir inzwischen... wo steht ihr Oberster dort?«
Das Bürschchen erklärte ihm, wie die Hütte des Eskadronchefs zu finden und wie er sie am besten von den Hinterhöfen her erreichte.
»Habt ihr viel Hunde?«
»Hunde haben wir genug, die beißen aber nicht.«
Nachdem Meteliza das Pferd festgemacht und sich verabschiedet hatte, schritt er das Flussufer entlang über den Fußpfad, dem Dorfe zu. Das Bürschchen sah ihm mit wehmütigen Blicken nach, bis er im Dunkel verschwunden war.
Eine halbe Stunde später hatte Meteliza das Dorf erreicht. Der Fußpfad wandte sich nach rechts, aber er ging, wie ihm der Hirte geraten, über die gemähte Wiese weiter, bis er auf einen Zaun stieß, der die bäuerlichen Felder umfriedete, dann bog er um die Hinterhöfe. Das Dorf lag schon im Schlaf; die Lichter waren erloschen; im matten Schein der Sterne schimmerten kaum sichtbar in den stillen, verödeten Gärten die warmen Strohdächer der Hütten; von den Feldern her trug der Wind den herben Geruch frischer, feuchter Erde.
Meteliza schlug sich in eine kleine Seitengasse, die dritte, die er passierte. Die Hunde begleiteten ihn mit heiserem, ängstlichem Gebell, wie wenn sie selber erschrocken wären, aber niemand zeigte sich, keiner rief ihn an. Man fühlte, die Leute hier waren an alles gewöhnt, auch daran, dass fremde, unbekannte Menschen durch die Straßen irrten und sich wie sie Lust hatten benahmen. Selbst jene herumtuschelnden Pärchen, die sich sonst zur Herbstzeit herumtrieben, wenn auf den Dörfern die Hochzeiten gefeiert wurden, waren nirgends zu erblicken: im dichten Schatten unter den Weidenbüschen raunte in diesem Herbst niemand von Liebe.
Den Kennzeichen folgend, die ihm der kleine Hirte genannt, durchschritt er, die Kirche umkreisend, noch einige Gässchen, bis ihm endlich der gestrichene Zaun des Pfarrhauses den Weg versperrte. (Der Eskadronchef hatte im Hause des Popen Quartier genommen.) Meteliza lugte hinein, horchte, und als er nichts Verdächtiges fand, schwang er sich rasch und geräuschlos über den Zaun.
Es war ein dichter, mit vielen Bäumen bestandener Garten, aber die Zweige waren schon kahl. Meteliza, der kaum zu atmen wagte, drang pochenden Herzens tief in den Garten ein. Das Gebüsch, von einer Allee durchschnitten, brach plötzlich ab, und er gewahrte links von sich, in einer Entfernung von zwanzig Metern, ein erleuchtetes Fenster. Es stand offen. Dahinter saßen Menschen. Weiches, ruhiges Licht bestrahlte die Blätter am Boden und ließ die Silhouetten der Apfelbäume sonderbar und golden schimmern.
,Das also ist's', dachte Meteliza, nervös mit einer Wange zuckend. Er bebte vor innerer Aufregung in jenem unheimlichen, unabwendbaren Gefühl verzweifelter Tollkühnheit, das ihn oft genug zu den unsinnigsten Taten trieb: während er noch überlegte, ob es jemandem von Nutzen sein könne, wenn er das Gespräch dieser Leute im erleuchteten Zimmer belauschte, wusste er im Grunde schon sehr wohl, dass er diesen Ort nicht verlassen würde, ehe dies nicht geschehen sei. Eine Weile später stand er hinter dem Apfelbaum dicht am Fenster, spitzte die Ohren und merkte sich alles, was dort vor sich ging.
Es waren ihrer vier. Sie saßen an einem Tisch im Hintergrund des Zimmers und spielten Karten. Zur Rechten ein kleiner alter Pope, mit flach zurückgekämmten schütteren Härchen und flitzenden Äuglein. Seine mageren, kleinen Hände glitten, geschickt die Karten verteilend, über das grüne Tuch, während seine Blicke unter jedes Blatt zu huschen schienen, so dass sein Nachbar, der Meteliza den Rücken kehrte, sein Spiel in ängstlicher Hast durchsah und es dann schleunigst unter den Tisch verschwinden ließ. Das Gesicht Meteliza zugewandt, saß ein schöner, wohlgenährter, träger und dem Aussehen nach gutmütiger Offizier mit einer Pfeife im Mund; wahrscheinlich hielt ihn Meteliza seiner Wohlbeleibtheit wegen für den Eskadronchef. Die ganze nächste Zeit jedoch interessierte er sich, aus Gründen, die ihm selber verborgen blieben, für den vierten Spieler, einen Mann mit aufgedunsenem Gesicht und unbeweglichen farblosen Wimpern. Dieser trug eine schwarze Fellmütze und einen kaukasischen Mantel ohne Achselstücke, den er, sobald er eine Karte abgeworfen, erneut fest um die Schultern zog.
Entgegen Metelizas Erwartung redeten sie von lauter belanglosen und uninteressanten Dingen: die gute Hälfte ihrer Unterhaltung drehte sich um das Kartenspiel.
»Achtzig«, sagte der Mann, der Meteliza den Rücken kehrte.
»Etwas wenig, Euer Wohlgeboren«, ließ sich die schwarze Fellmütze vernehmen und fügte nachlässig hinzu, »hundert, blind.«
Der Schöne und Wohlgenährte zog die Brauen zusammen, besah sich nochmals das Blatt, nahm die Pfeife aus dem Mund und steigerte auf hundertfünf.
»Ich passe«, sagte der erste zum kleinen Popen gewandt, der die Kaufkarten in der Hand hielt.
»Das habe ich mir gedacht«, lachte die schwarze Fellmütze.
»Kann ich was dafür, wenn ich keine Karten kriege?« sagte der erste, wie zur Rechtfertigung zum Popen, als suche er dessen Mitgefühl zu erregen.
»Immer sachte, immer sachte«, scherzte der Pope und kicherte ganz leise, wie wenn er mit diesem Gekicher das kleinliche Spiel seines Partners betonen wollte. »Aber zweihundertundzwei Augen haben Sie dabei schon abgeschrieben... wir kennen Sie, Freundchen.« Und er drohte mit gemachter Freundlichkeit verschmitzt mit dem Finger.
,So ein Schurke', dachte Meteliza.
»Ach, und Sie passen auch?« wandte sich der Pope an den trägen Offizier. »Hier, bitte, die Kaufkarten«, sagte er zur schwarzen Fellmütze und steckte ihr die Karten zu, ohne sie aufzuschlagen.
Einige Minuten klopften sie eifrig auf den Tisch, bis die schwarze Fellmütze verspielt hatte. ,Aber erst groß aufschneiden', dachte verächtlich Meteliza, ohne sich schlüssig zu sein, ob er sich entfernen oder noch bleiben sollte. Allein er konnte nicht fort, denn die schwarze Fellmütze hatte sich zum Fenster gedreht, und Meteliza fühlte ihren durchdringenden Blick furchterregend und unbeweglich starr auf sich gerichtet.
Jetzt gerade begann der Mann, der mit dem Rücken zum Fenster saß, die Karten zu mischen. Er machte das sorgfältig, mit sparsamen Bewegungen, wie ein altes Mütterchen sein Gebet verrichtet.
»Und Netschitailo ist nicht da«, bemerkte gähnend der Träge. »Hat, scheint's, Erfolg gehabt. Wäre ich nur auch mitgegangen...«
»Zu zweit?« fragte die Fellmütze und wandte sich vom Fenster. Dann fügte sie mit hässlicher Grimasse hinzu: »Sie hätte sich mit euch schon geeinigt.«
»Die Wassenka?« forschte der Pope. »Hu-u... mit der wäret ihr schon ins reine gekommen!... War mal so ein Psalmenleser bei uns... doch, das habe ich euch ja schon erzählt... aber Sergej Iwanowitsch wäre nicht darauf eingegangen... auf keinen Fall. Wisst ihr, was er mir gestern im Vertrauen sagte?... ,Ich werde sie mitnehmen', sagte er, ,und soll mir auch nicht darauf ankommen, sie zu heiraten', sagte er...Oi, oi!« rief plötzlich der Pope und schlug sich mit der Hand auf den Mund, listig mit den klugen Äuglein zwinkernd. »Ein Gedächtnis wie ein Sieb! So sich zu verplappern. Aber um Gottes willen nichts verraten!« und begann in gespielter Ängstlichkeit mit den Händen zu fuchteln. Und obschon die anderen, ebenso wie Meteliza, die Unaufrichtigkeit und die versteckte Kriecherei in seinen Worten und Gesten erkannten, gab es ihm keiner zu verstehen, und alle lachten.
Meteliza schlich, zur Seite tretend, mit gekrümmtem Rücken vom Fenster. Kaum war er in eine Querstraße eingebogen, als er plötzlich mit einem Mann in einem über die Schulter geworfenen Kosakenmantel zusammenprallte, zwei andere standen hinter ihm.
»Was machst du hier?« rief dieser Mann erstaunt, während er mit unbewusster Bewegung nach dem Mantel griff, der ihm bei dem Zusammenprall mit Meteliza fast heruntergefallen wäre.
Der Zugführer sprang zur Seite und stürzte sich ins Gebüsch.
»Halt! Pack ihn! Pack ihn! Hierher!... He!...« schrieen mehrere Stimmen. Ein heftiger, kurzer Knall krachte hinter ihm her.
Meteliza stürmte vorwärts, blieb an den Sträuchern hängen und verlor die Mütze, aber die Stimmen ächzten und heulten schon irgendwo vor ihm, und von der Straße her erscholl wütendes Hundegekläff.
»Da ist er, halt ihn!« rief einer, sich mit ausgestrecktem Arm auf Meteliza werfend. Eine Kugel pfiff an seinem Ohr vorbei. Auch Meteliza feuerte los. Der Mann, der ihm nachgerannt war, stolperte und fiel hin.
»Hast dich verrechnet, wirst mich nicht zu fassen kriegen...«, rief Meteliza siegesgewiss, bis zum letzten Augenblick wirklich glaubend, dass man ihn nicht überwältigen könne.
Aber ein Großer, Schwerer warf sich von hinten auf ihn und begrub ihn unter sich. Meteliza versuchte, eine Hand zu befreien, allein ein grausamer Schlag über den Kopf raubte ihm die Besinnung...
Dann hieben alle der Reihe nach auf ihn ein, und selbst in seiner Betäubung noch spürte er die Schläge, immer wieder, ohne Ende...
In der Niederung, wo die Abteilung lagerte, war es schummerig und feucht, aber aus der rötlichen Lichtung, hinter dem Chaunichedsa, blickte die Sonne hervor, und der Tag, vom Duft herbstlicher Fäulnis erfüllt, stieg über der Taiga auf.
Der Wachtposten hockte neben den Pferden und döste. In seinem Schlaf schlugen eintönige, hartnäckige Laute, ähnlich dem fernen Ticken feuernder Maschinengewehre. Erschrocken fuhr er auf und griff nach dem Gewehr. Aber es war nur ein Specht, der an einer alten Erle beim Fluss klopfte — die Wache fluchte und trat, während sie vor Kälte schaudernd sich fester in den zerfetzten Mantel hüllte, in die Lichtung hinaus. Noch niemand war aufgewacht: die Leute schliefen einen dumpfen, tiefen Schlaf, wie ihn zermarterte, hungrige Menschen schlafen, denen der kommende Morgen keinerlei Hoffnung verspricht.
,Der Zugführer ist immer noch nicht zurück... wird sich wohl vollgefressen haben und pennt jetzt in irgendeiner Hütte, und wir können hier Kohldampf schieben', dachte der Wachtposten. Für gewöhnlich war er nicht minder stolz auf Meteliza als die andern, jetzt aber schien ihm dieser ein ziemlich niederträchtiger Kerl zu sein, den man sehr zu Unrecht zum Zugführer gemacht hatte. Ganz plötzlich lehnte er sich dagegen auf, hier in der Taiga zu leiden, während andere, wie zum Beispiel dieser Meteliza, sich an allen irdischen Freuden ergötzen, aber er wagte es nicht, Lewinsohn ohne genügend triftige Gründe zu beunruhigen und weckte daher Baklanow.
»Was?... Noch nicht zurück?...« Baklanow starrte ihn mit verschlafenen, leeren Augen an. »Was heißt das, noch nicht zurück?« schrie er plötzlich, noch halbverwirrt, begriff aber schon, wovon die Rede war, und bekam einen Schreck. »Mach keine Witze, Freundchen, das ist doch gar nicht möglich... Ach doch! Dann weck gleich Lewinsohn.« Er sprang auf, straffte mit schnellem Griff den Riemen, zog die verschlafenen Brauen über der Nasenwurzel zusammen und wurde auf einmal hart und verschlossen.
Lewinsohn, so fest er auch schlief, hatte kaum seinen Namen gehört, als er die Augen aufschlug und sich aufrichtete. Er warf einen Blick auf die Wache und Baklanow und verstand, dass Meteliza nicht zurückgekommen war und es längst Zeit gewesen wäre aufzubrechen. Anfangs fühlte er sich so müde und zerschlagen, dass er am liebsten den Kopf in den Mantel vergraben hätte, um von neuem einzuschlafen, Meteliza und seine eigenen Leiden vergessend. In der nächsten Minute aber kniete er schon hoch, rollte seinen Mantel ein und beantwortete in trockenem, gleichgültigem Tone die angsterfüllten Fragen Baklanows.
»Nun, und was ist dabei? Hab's mir auch nicht anders gedacht... Selbstverständlich werden wir ihn unterwegs treffen.«
»Und wenn wir ihn nicht treffen?«
»Wenn wir ihn nicht treffen?... Sag mal, hast du nicht noch eine Reserveschnur da für meine Rolle?«
»Aufstehen, aufstehen, faule Bande!« rief der Wachtposten und stieß die Schlafenden mit den Füßen.
Aus dem Grase tauchten die zerzausten Köpfe der Partisanen auf, und von allen Seiten schwirrten dem Posten die ersten zotigen Flüche entgegen - in guten Zeiten pflegte Dubow sie die »Morgendlichen« zu nennen.
»Wie böse sie alle sind«, meinte nachdenklich Baklanow. »Wollen fressen...«
»Und du?« fragte Lewinsohn.
»Was - ich? Von mir ist nicht die Rede. Mit mir ist's genau wie mit dir, als ob du das nicht wüsstest?...«
»Nein, ich weiß davon«, erwiderte Lewinsohn mit so weicher, sanfter Stimme, dass Baklanow zum ersten Mal aufmerksam zu ihm hinüberblickte.
»Bist du aber abgemagert, mein Guter«, sagte Baklanow mit unerwartetem Bedauern. »Nur der Bart ist geblieben. An deiner Stelle würde ich...«
»Komm, komm, wir wollen uns lieber waschen«, unterbrach Lewinsohn ihn mit schuldbewusstem, trübem Lächeln.
Sie gingen zum Fluss. Baklanow zog beide Hemden aus und begann sich zu waschen. Man sah, dass er das kalte Wasser nicht fürchtete. Sein Körper war gedrungen und kräftig, braun, wie aus Erz gegossen, sein Kopf jedoch, rund und gutmütig, glich dem eines Kindes, auch wusch er ihn mit naiver, kindlicher Gebärde, goss aus hohler Hand Wasser drüber und rieb ihn dann kräftig ab.
»Worüber habe ich denn gestern so viel geredet, und versprochen habe ich auch was, und so unbehaglich ist mir zumute jetzt', dachte Lewinsohn plötzlich, indessen die Erinnerung an das gestrige Gespräch mit Metschik und die eigenen Gedanken dabei, dunkel und von peinlichem Gefühl begleitet, in ihm aufstiegen. Nicht etwa, dass diese Gedanken ihm jetzt falsch erschienen, das heißt, dass sie nicht dem entsprochen hätten, was in ihm in Wirklichkeit vorging, nein, nicht das war es. Er wusste, es waren richtige, kluge und interessante Gedanken, und doch empfand er jetzt, als er sich wieder auf sie besann, ein dumpfes Unbehagen. ,Ach so, ich habe ihm ein anderes Pferd versprochen... aber sollte denn das etwa nicht in Ordnung sein? Nein, ich würde es heute ebenso machen, in diesem Punkt ist alles, wie sich's gehört... Um was also handelt es sich?... Es handelt sich
»Warum wäschst du dich nicht?« fragte Baklanow, der seine Prozedur beendet hatte und sich mit dem schmutzigen Handtuch krebsrot rieb. »Schön, dieses kalte Wasser!«
,... Es handelt sich darum, dass ich krank bin und mit jedem Tage immer mehr die Herrschaft über mich verliere', dachte Lewinsohn, zum Wasser hinabsteigend.
Gewaschen, gegürtet und auf der Hüfte das gewohnte Gewicht der Pistole, fühlte er sich doch ausgeruht.
,Was ist mit Meteliza geschehen?' Dieser Gedanke beherrschte ihn jetzt ganz.
Lewinsohn konnte sich Meteliza ohne Bewegung oder leblos überhaupt nicht vorstellen. Seit je schon hatte es ihn dunkel zu diesem Menschen hingezogen, und oft genug stellte er fest, wie angenehm es ihm war, neben ihm zu reiten, mit ihm zu sprechen oder ihn auch nur anzusehen. Allgemeinnützliche, hervorragende Eigenschaften, deren Meteliza übrigens nicht allzu viele besaß und über die Lewinsohn selber in weit größerem Maße verfügte, waren nicht die Ursache dieser Zuneigung; Meteliza gefiel ihm durch seine ungewöhnliche physische Zähigkeit, durch die urwüchsige Kraft seiner Vitalität, die, gleich einem unversiegbaren Quell, in ihm sprudelte und die eben gerade Lewinsohn fehlte. Wenn er vor sich Metelizas behände, stets tatbereite Gestalt sah oder wusste, dass dieser sieh irgendwo in seiner Nähe aufhielt, vergaß er unwillkürlich seine eigene körperliche Schwäche, und es kam ihm vor, als sei auch er so unermüdlich und stark wie Meteliza. Im stillen war er sogar stolz darauf, der Kommandeur eines solchen Menschen zu sein.
Den Gedanken, Meteliza könnte dem Feind in die Hände gefallen sein, vermochten die Partisanen nicht zu Ende zu denken, obschon dieser Gedanke in Lewinsohn selber immer fester Wurzel schlug. Jeder der erschöpften Partisanen wollte beharrlich und ängstlich nichts davon wissen. Sie wiesen diesen Gedanken als den letzten, Unheil und Leiden kündenden und daher gänzlich unmöglichen von sich... Die Annahme des Postens, der Zugführer habe sich »vollgefressen und pennt in irgendeiner Hütte« -wie schlecht dies auch zu dem behänden und pflichtgetreuen Meteliza passte -, fand immer mehr Zuspruch. Viele murrten offen gegen die »Niederträchtigkeit und Verantwortungslosigkeit« Metelizas und mahnten Lewinsohn in einem fort zum Aufbruch, um dem Zugführer entgegenzureiten. Und als Lewinsohn, nachdem er die täglichen Angelegenheiten mit ungewöhnlicher Sorgfalt geregelt, auch Metschik das Pferd ausgewechselt hatte, endlich den Befehl zum Aufbruch gab, entstand in der Abteilung ein solcher Jubel, als würden mit diesem Befehl von nun an alle Qualen und alles Übel ein Ende nehmen.
Eine Stunde um die andere ritten sie dahin, jedoch von dem Zugführer mit dem kecken, schwarzen Haarschopf war auf dem Pfad noch immer nichts zu sehen. Sie ritten weiter und weiter, aber ihre Blicke suchten ihn vergebens. Und jetzt zweifelte nicht Lewinsohn allein mehr, sondern auch die ausgesprochensten Neider und Verleumder Metelizas an dem glücklichen Ausgang seiner
Fahrt.
In gedrücktem, ahnungsschwerem Schweigen näherte sich die Abteilung dem Rande der Taiga.
Meteliza erwachte in einem großen, dunklen Schuppen. Er lag auf der nackten, feuchten Erde, und das erste, was er empfand, war das Gefühl einer mark- und beindurchdringenden Feuchtigkeit. Dann überkam ihn blitzartig die Erinnerung an das Vorgefallene. Die erlittenen Schläge dröhnten noch in seinem Schädel, die Haare klebten in blutigen Strähnen, er spürte das angetrocknete Blut auf Stirn und Wangen.
Ein Gedanke stieg in ihm auf - der erste, der feste Form annahm -, der Gedanke an Flucht. Meteliza konnte es einfach nicht glauben, dass er nach all dem, was er erlebt, nach all den kühnen Taten und dem Erfolg, der ihm noch bei jedem Unternehmen treu geblieben und seinen Namen unter die Leute getragen, dass er liegen und faulen werde zu guter Letzt wie jeder andere dieser Leute. Er ließ seine Blicke durch den Schuppen schweifen, betastete die Ritzen, versuchte sogar, die Türe aufzubrechen - nutzlose Mühe!... Überall stieß er auf totes, kaltes Holz, und die Ritzen waren so hoffnungslos schmal, dass selbst das Auge sie nicht zu durchdringen vermochte, kaum, dass das trübe Dämmerlicht des herbstlichen Morgens sich hindurchzwängte.
Aber immer und immer wieder wanderten seine Blicke umher, bis er schließlich mit auswegloser, unerbittlicher Exaktheit erkannte, dass es diesmal für ihn in der Tat kein Entrinnen gab. Dann, als er sich endgültig davon überzeugt hatte, interessierte ihn plötzlich die Frage seines eigenen Lebens und Todes nicht mehr. Die ganze Kraft des Körpers und der Seele konzentrierte er auf jene, vom Standpunkt seines eigenen Lebens und Todes gänzlich unbedeutende, jetzt aber für ihn zur wichtigsten gewordenen Frage, wie er, dem der Ruhm der Kühnheit voranging, jenen Leuten, die ihn töten würden, zeigen könne, dass er sich nicht fürchte und sie verachte.
Er hatte kaum zu überlegen begonnen, als vor der Tür Geräusche hörbar wurden, der Riegel aufkreischte und mit dem grauen, zitternden und bleichen Frühlicht zwei Kosaken mit umgehängtem Gewehr und Streifen an der Hosennaht in den Schuppen traten. Meteliza pflanzte sich mit gespreizten Beinen auf und betrachtete sie mit zusammengezogenen Brauen.
Als die zwei seiner ansichtig wurden, blieben sie verlegen an der Türe stehen, der hintere schnaubte unruhig.
»Komm mit, Landsmann«, sagte gutmütig, beinahe etwas schuldbewusst, der erste.
Meteliza trat, den Kopf starrsinnig gesenkt, heraus. Kurz darauf stand er vor einem ihm bekannten Menschen in schwarzer Fellmütze und kaukasischem Filzmantel in demselben Zimmer, das er nachts vom Garten des Popen aus beobachtet hatte. Hier saß auch aufrecht in einem Sessel, Meteliza verwundert, aber ohne Strenge betrachtend, jener schöne, wohlgenährte und gutmütige Offizier, den Meteliza gestern für den Chef der Eskadron gehalten hatte. Jetzt, nachdem er die beiden näher betrachtete, erkannte er an verschiedenen unfassbaren Anzeichen, dass nicht jener gutmütige Offizier der Chef war, sondern gerade der andere, im kaukasischen Filzmantel.
»Ihr könnt gehen«, sagte abgehackt dieser andere zu den beiden Kosaken gewandt, die an der Tür Halt gemacht hatten. Sie schoben sich gegenseitig verlegen aus dem Zimmer. »Was hast du gestern abend im Garten gemacht?« fragte er rasch, indem er vor Meteliza stehen blieb und ihn scharf und unverwandt ansah.
Meteliza starrte ihm schweigend und spöttisch ins Gesicht und hielt seinem Blick stand. Kaum merklich zuckte er mit seinen schwarzsamtnen Augenbrauen und zeigte durch seine ganze Haltung, dass, gleichviel, welche Fragen man ihm stellen und auf welche Weise man ihn auch zwingen wollte, auf diese Fragen zu antworten, er nichts sagen würde, was die Fragenden zufrieden stellen könnte.
»Lass den Unsinn«, fing der Eskadronchef wieder an, ohne Zorn und ohne die Stimme zu heben. Aber sein Ton verriet, dass er alles wohl begriff, was jetzt im Innern Metelizas vorging.
»Wozu ins Blaue hineinreden?« lächelte herablassend der Zugführer.
Der Eskadronchef studierte einige Sekunden sein unbewegliches pockennarbiges Gesicht, das mit geronnenem Blut beschmiert war.
»Wann hast du die Pocken gehabt?« fragte er unerwartet.
»Was?« fragte verblüfft der Zugführer zurück. Er war verblüfft, weil in der Frage des Eskadronchefs kein Spott oder Hohn lag, sondern dass er sich einfach für das pockennarbige Gesicht interessiert hatte. Als er dies begriff, wurde Meteliza wütend, noch wütender, als wenn man ihn beschimpft und verhöhnt hätte. Die Frage des Eskadronchefs erweckte in ihm den Eindruck, als versuche dieser, einen menschlichen Kontakt zu ihm herzustellen.
»Bist du vom Ort oder bist du zugereist?«
»Lass doch, Euer Wohlgeboren!...« sagte Meteliza grimmig und entschlossen, ballte die Fäuste, errötete und mußte an sich halten, um sich nicht auf den Fragenden zu stürzen. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch der Gedanke, ,warum nicht wirklich diesen schwarzen Kerl mit dem widerlich-ruhigen, aufgedunsenen Gesicht, mit den unsauberen, rötlichen Haarborsten packen und erdrosseln?', dieser Gedanke nahm plötzlich so von ihm Besitz, dass er das Wort verschluckte und einen Schritt vorwärts tat. Seine Hände zitterten, auf sein pockennarbiges Gesicht trat Schweiß.
»Oho!« rief, zum ersten Mal erstaunt, laut der andere. Er wich jedoch keinen Schritt zurück und blickte Meteliza fest an.
Dieser blieb unentschlossen stehen, seine Augen blitzten auf. Da zog der andere den Revolver und fuchtelte damit vor Metelizas Nase herum. Der Zugführer gewann die Selbstbeherrschung wieder, wandte sich zum Fenster ab und erstarrte in verächtlichem Schweigen.
Man bedrohte ihn mit dem Revolver, mit den entsetzlichsten Strafen, wollte ihn überreden, alles wahrheitsgetreu zu erzählen und versprach ihm dafür die Freiheit. Er aber sagte kein Wort, blickte kein einziges Mal die Fragenden an.
Als das Verhör in vollem Gange war, öffnete sich leise die Türe, und im Spalt erschien ein behaarter Kopf mit großen, ängstlichen, blöden Augen.
»Aha«, sagte der Eskadronchef. »Seid ihr schon da? Nun gut, sag den Leuten, sie sollen diesen Kerl hier mitnehmen.«
Die beiden Kosaken von vorhin führten Meteliza auf den Hof und gingen, auf das offene Tor zeigend, hinter ihm her. Er sah sich nicht um, fühlte aber, dass die beiden Offiziere auch mitkamen. Man kam auf den Kirchplatz, wo die Dorfbewohner, von einer berittenen Kosakenkette umringt, neben dem Blockhaus des Kirchenvorstehers zu einem Haufen gedrängt standen.
Meteliza hatte immer gedacht, dass er die Menschen mit allen ihren langweiligen kleinen Alltagssorgen, mit allem, was sie umgibt, nicht liebe, sondern verachte. Er dachte, es sei ihm ganz und gar gleichgültig, wie sie sich zu ihm stellten und über ihn redeten. Er hatte nie Freunde gehabt und sich auch nie Mühe gegeben, welche zu haben. Trotzdem hatte er, ohne es selber zu merken, das Wichtigste und Wesentlichste in seinem Leben anderer Leute wegen und für andere Leute getan, damit sie auf ihn sehen, auf ihn stolz sein und ihn loben sollten. Und jetzt, als er den Kopf hochwarf, erfasste er plötzlich nicht nur mit dem Blick, sondern mit dem ganzen Herzen diese wogende, bunte, stille Menge von Bauern, jungen Burschen, erschrockenen Weibern in langen, farbigen Röcken, von Mädchen in weißen, geblümten Kopftüchern, von gewandten Reitern mit unter der Mütze hervorquellenden Haarschöpfen, schmuck, stramm und sauber, wie gemalt, mit langem, über das Gras tanzenden Schatten, und dazu diese alten Kirchenkuppeln, die, von einer blassen Sonne überstrahlt, in den kalten Himmel starrten. Fast hätte er aufgejauchzt: Ja, das ist schön!', so erfreut war er beim Anblick dieser ganzen lebendigen, bunten, armseligen Menge, die um ihn herum sich bewegte, atmete, leuchtete und in ihm pulsierte. Rascher und freier schritt er vorwärts, sich geschmeidig in den Hüften wiegend, mit leichtem Gang, unbeschwert wie der eines wilden Tieres, und alle Menschen auf dem Platz wandten sich ihm zu und empfanden mit verhaltenem Atem die tierisch unbeschwerte Kraft, die in diesem geschmeidigen und gierigen Körper wohnte.
Er schritt durch die Menge, blickte über ihre Köpfe hinweg, spürte ihre lautlose, gespannte Aufmerksamkeit und blieb an der Vortreppe beim Haus des Kirchenvorstehers stehen. Die Offiziere überholten ihn und gingen auf die Veranda hinauf.
»Hierher, hierher«, sagte der Eskadronchef und wies ihm einen Platz neben sich an. Die Treppenstufen mit einem Sprung nehmend, stellte sich Meteliza neben ihn.
Jetzt konnten ihn alle gut sehen - straff und schlank mit schwarzen Haaren, in weichen Wildlederstiefeln, im offenen Hemd, das von einer Schnur mit grünen, aus dem Ausschnitt des Lederwamses heraushängenden Troddeln umgürtet war, einen fernen, raubgierigen Glanz in dem fliegenden Blick, der dorthin gerichtet war, wo im grauen Morgennebel die majestätischen Bergrücken emporragten.
»Wer kennt diesen Mann?« fragte der Eskadronchef und blickte mit scharfprüfenden, durchdringenden Augen um sich, bald bei dem einen, bald bei dem andern Gesicht einen Augenblick lang verweilend.
Und jeder, bei dem dieser Blick sich aufhielt, senkte unruhig blinzelnd den Kopf; nur die Frauen, die keine Kraft fanden, die Augen abzuwenden, begegneten ihm schweigend, stumpfsinnig, mit feiger und hungriger Neugierde.
»Keiner kennt ihn?« fragte noch einmal der Eskadronchef, das Wort »keiner« spöttisch betonend, als ob er genau wüsste, dass im Gegenteil alle »diesen Menschen« kannten oder kennen mussten. »Wir werden die Sache gleich klären... Netschitailo!« rief er, mit der Hand nach der Richtung hinwinkend, wo ein hochgewachsener Offizier in langem Kosakenmantel seinen Fuchshengst tanzen ließ.
Eine dumpfe Erregung ergriff die Menge, die vorne Stehenden wandten sich um - ein Mann in schwarzer Weste drängte sich entschlossen durch die Menge vor, den Kopf so nach vorne neigend, dass nur eine dicke Pelzmütze zu sehen war.
»Lasst mich durch!« sagte er schnell, mit der einen Hand sich den Weg bahnend und mit der andern jemanden hinter sich herziehend.
Endlich erreichte er die Treppe. Nun sah man, dass er ein mageres schwarzhaariges Bürschlein in langem Rock mit sich führte, das sich ängstlich sträubte und mit seinen schwarzen Augen abwechselnd Meteliza und den Eskadronchef anglotzte. Die Unruhe der Menge wuchs, Seufzer und verhaltenes Gemurmel der Frauen wurde hörbar. Meteliza blickte hinunter und erkannte plötzlich in dem schwarzhaarigen Burschen den Hirtenjungen mit den schüchternen Augen und dem dünnen, komischen Kinderhals, bei dem er gestern sein Pferd zurückgelassen hatte.
Der Bauer nahm, den Knaben mit einer Hand festhaltend, die Mütze ab, entblößte den angeplatteten, fleckenweise ergrauten blonden Kopf (es sah aus, als ob man ihn ungleichmäßig mit Salz bestreut hätte), verbeugte sich vor dem Eskadronchef und begann:
»Hier, dieser mein Hirtenjunge...«
Dann beugte er sich, offenbar befürchtend, dass man ihn nicht anhören würde, zu dem Burschen nieder und fragte, mit dem Finger auf Meteliza zeigend:
»War es dieser?«
Einige Sekunden lang schauten sich der Hirtenjunge und Meteliza fest in die Augen: Meteliza mit gespieltem Gleichmut, der Hirtenjunge mit Entsetzen und Mitleid. Dann wandte der Junge den Blick zum Eskadronchef, starrte ihn einen Augenblick wie versteinert an, sah dann auf den Bauern, der ihn noch immer festhielt und sich gespannt zu ihm niederbeugte, seufzte schließlich tief und schwer auf und schüttelte verneinend den Kopf... Die Menge, die sich bisher so still verhalten hatte, dass man das Kalb im Stall des Kirchenvorstehers sich regen hörte, erbebte kaum merklich und erstarrte wieder.
»Fürchte dich nicht, Dummkopf, fürchte dich doch nicht«, redete der Bauer mit einem einschmeichelnden Vibrieren in der Stimme auf den Burschen ein, selber erschrocken und geschäftig mit dem Finger auf Meteliza weisend. »Wer sonst sollte es denn sein, wenn nicht er?... Gib es doch zu, hab keine Angst... ah, Lumpenpack!...« - Wütend zerrte er plötzlich den Burschen aus ganzer Kraft am Arm. »Er ist es, Euer Wohlgeboren, wer könnte es sonst sein«, sagte er laut, sich gleichsam entschuldigend und untertänig die Mütze in der Hand knetend. »Der Junge hat bloß Angst, aber wer ist es denn, wenn das Pferd gesattelt und in der Satteltasche das Futteral... Gestern kam er ans Feuer geritten. ,Hüte mein Pferd', sagte er, und er selbst ging ins Dorf, der Junge konnte auf ihn nicht warten, es tagte schon, er wartet nicht, treibt das Pferd nach Hause, und das Pferd ist gesattelt und das Futteral in der Satteltasche - wer könnte es sonst sein?...«
»Wer kam angeritten? Was für ein Futteral?« fragte der Eskadronchef, vergeblich die wirre Rede zu verstehen suchend. Der Bauer drehte noch verlegener die Mütze in der Hand und erzählte, abschweifend und verwirrt, wie sein Hirte am Morgen ein fremdes Pferd heimgetrieben hatte, das gesattelt war und in dessen Satteltasche ein Pistolenfutteral steckte.
»So, so«, meinte der Eskadronchef in schleppendem Ton, »er kennt ihn also nicht?« sagte er, mit dem Kinn auf den Burschen weisend. »Übrigens, gib ihn mal her, wir werden ihn auf unsere Art verhören...«
Der Bursche kam, von hinten gestoßen, an die Treppe heran, wagte jedoch nicht hinaufzugehen. Der Offizier lief die Stufen hinunter, ergriff ihn an den mageren, zitternden Schultern, zog ihn an sich heran und starrte mit durchdringendem entsetzenerregendem Blick in seine vor Schreck weit aufgerissenen Augen.
»A-a... a!...« heulte der Bursche plötzlich auf und verdrehte die Pupillen.
»Was soll denn da werden?« seufzte eines von den Weibern, die Spannung nicht mehr aushaltend.
Im selben Augenblick schoss ein geschmeidiger Körper auf den Eskadronchef los. Die Menge prallte zurück. Der Eskadronchef fiel hin, von einem starken Stoß zu Boden geschleudert...
»Schießt doch!... Was ist denn das?« schrie der schöne Offizier. Er streckte hilflos die flache Hand aus, in seiner Verwirrung ganz vergessend, dass er selbst ja auch schießen könnte.
Einige Berittene sprengten in die Menge, die Leute mit ihren Pferden auseinanderdrängend. Meteliza lag mit dem ganzen Körper auf seinem Feind und versuchte, dessen Kehle zu packen, der aber wand sich gleich einer Fledermaus, den kaukasischen Mantel wie schwarze Flügel auseinanderschlagend und sich mit der Hand krampfhaft an den Gürtel klammernd, um den Revolver zu ziehen. Endlich gelang es ihm, die Pistolentasche aufzuknöpfen, und fast im selben Augenblick, als ihn Meteliza an der Kehle packte, schoss er einige Male hintereinander auf ihn...
Als die herbeieilenden Kosaken Meteliza an den Beinen zerrten, klammerte dieser sich noch ans Gras, knirschte mit den Zähnen und versuchte, den Kopf zu heben, doch dieser fiel kraftlos zurück und schleifte am Boden.
»Netschitailo«, schrie der schöne Offizier. »Die Eskadron sammeln!... Reiten Sie auch mit?« fragte er höflich den Eskadronchef, ohne ihn anzusehen. »Ja.« »Das Pferd für den Kommandeur!...«
Eine halbe Stunde später ritt die Kosakeneskadron in voller Kampfbereitschaft aus dem Dorfe und sprengte aufwärts denselben Weg entlang, den Meteliza nachts vorher geritten war.
Baklanow, der wie alle anderen stark beunruhigt war, hielt es endlich nicht mehr aus.
»Hör mal, lass mich vorreiten«, sagte er zu Lewinsohn. »Weiß der Teufel, am Ende...«
Er gab dem Pferd die Sporen und erreichte, schneller noch als er gedacht hatte, den Waldrand und die moosbewachsene Hütte. Er brauchte gar nicht auf das Dach zu klettern, in einer Entfernung von kaum einer halben Werst ritten fünfzig Reiter den Hügel hinunter. An ihrer gelbfleckigen Uniform sah er, dass es Reguläre waren. Er unterdrückte den ungeduldigen Wunsch, möglichst schnell zurückzureiten, um Lewinsohn vor der Gefahr zu warnen (dieser konnte ja jeden Augenblick da sein), und verbarg sich im Gebüsch, um abzuwarten., ob hinter dem Hügel nicht noch weitere Abteilungen auftauchen würden. Es kam aber niemand mehr; die Eskadron ritt im Schritt, in aufgelösten Reihen; nach dem Sitz der Reiter und dem Verhalten der Pferde zu urteilen, waren sie erst gerade in Trab gekommen.
Baklanow kehrte um und stieß fast mit Lewinsohn zusammen, der an den Waldrand heranritt. Er machte ihm ein Zeichen stehenzubleiben.
»Viele?« fragte Lewinsohn, nachdem er ihn angehört hatte.
»Ungefähr fünfzig.«
»Infanterie?«
»Nein, Berittene...«
»Kubrak, Dubow, absitzen!« kommandierte leise Lewinsohn. »Kubrak an den rechten Flügel, Dubow an den linken. Du kannst was erleben«, zischte er plötzlich, als er sah, dass ein Partisane mit verbundener Backe sich seitwärts in die Büsche schlug und auch den anderen Zeichen machte, seinem Beispiel zu folgen. »Zurück!« und er drohte mit der Reitgerte.
Er übergab Baklanow den Befehl über den Zug Metelizas und befahl ihm dazubleiben; dann saß er ab und ging selber zur Schützenkette hin, ein wenig hinkend und die Mauserpistole schwingend.
Sich im Gebüsch haltend, ließ er die Kette sich hinlegen und kroch, von einem Partisanen begleitet, zur Hütte. Die Eskadron war ganz nahe. An den gelben Mützenrändern und Lampassen sah Lewinsohn, dass es Kosaken waren. Er konnte auch den Kommandeur im kaukasischen Mantel unterscheiden.
»Sag ihnen, sie sollen hierher kriechen«, flüsterte er dem Partisanen zu, »aber nicht aufstehen, sonst... Nun, was gaffst du? Mach rasch!...« und stieß ihn, die Stirn runzelnd, fort.
Obwohl die Zahl der Kosaken gering war, war Lewinsohn plötzlich heftig erregt, wie in der ersten, weit zurückliegenden Zeit seiner militärischen Tätigkeit.
In seiner Kampflaufbahn unterschied er zwei Abschnitte, die zwar durch keinen scharfen Trennungsstrich abgegrenzt, aber für ihn durch die eigenen Empfindungen unterschieden waren, die er in ihnen erlebt hatte.
In der ersten Zeit, als er ohne jede militärische Ausbildung, sogar ohne schießen zu können, über viele Menschen Befehl führen mußte, hatte er das Gefühl, dass in Wirklichkeit nicht er es sei, der kommandiere, sondern die Ereignisse sich unabhängig von ihm und von seinem Willen entwickelten. Und dies rührte nicht daher, weil er seine Pflicht nicht ehrlich erfüllte (er strengte sich an, alles zu geben, was er geben konnte), und auch nicht, weil er meinte, ein einzelner könne überhaupt nicht Ereignisse beeinflussen, an denen die Masse beteiligt ist (er betrachtete sogar eine solche Ansicht als die schlimmste Äußerung menschlicher Heuchelei, die die eigene Schwäche, das heißt den Mangel an Tatwillen decken sollte), sondern weil in dieser erregten kurzen Periode seiner militärischen Tätigkeit fast seine ganze seelische Kraft darauf verwandt werden mußte, die Angst um das eigene Leben, die er im Kampf unwillkürlich empfand, zu überwinden und vor den anderen zu verbergen.
Er gewöhnte sich jedoch sehr schnell an die Verhältnisse und brachte es dahin, dass die Angst um das eigene Leben ihn bei der Verfügung über das Leben anderer nicht mehr störte. In dieser zweiten Periode wurde es ihm auch möglich, die Ereignisse zu lenken - und zwar um so vollständiger und erfolgreicher, je klarer und richtiger er ihren wirklichen Gang und das Verhältnis der Kräfte und Menschen in ihnen erfassen konnte.
Jetzt empfand er aber wieder eine starke Erregung und fühlte, dass diese Erregung irgendwie mit seinem neuen Zustand, mit allen seinen Gedanken über sich selbst und über den Tod Metelizas verbunden sei.
Während die Schützenkette sich zwischen dem Gebüsch weiterschob, gewann er die Selbstbeherrschung wieder, und seine kleine, straffe Gestalt mit den sicheren knappen Bewegungen stand wieder vor den Leuten wie die Verkörperung eines unfehlbaren Planes an den sie aus Gewohnheit und aus innerem Drang glaubten. Die Eskadron war schon so nahe herangekommen, dass man das Getrampel der Pferde und das leise Sprechen der Reiter hören und sogar einzelne Gesichter unterscheiden konnte. Lewinsohn sah ihren Ausdruck, besonders den eines schönen korpulenten Offiziers, der, die Pfeife zwischen den Zähnen, gerade vorgeritten war und sich sehr schlecht im Sattel hielt.
,Muss das ein Unmensch sein', dachte Lewinsohn, ihn anblickend und diesem schönen Offizier unwillkürlich alle furchtbaren Eigenschaften zuschreibend, die gewöhnlich dem Feind zugeschrieben werden. ,Wie mein Herz klopft!... Sollte man schon schießen?... schießen?... Nein, bei der Birke mit abgezogener Rinde... Aber warum hält er sich so schlecht?... Das ist ja geradezu...'
»Zu-u-g...«, schrie Lewinsohn plötzlich mit hoher, lang gezogener Stimme (gerade in diesem Augenblick hatte die Eskadron die Birke mit abgezogener Rinde erreicht, »Feuer!...«
Der schöne Offizier hob, als er die ersten Laute vernahm, erstaunt den Kopf. Aber im selben Augenblick flog seine Mütze vom Kopf, und sein Gesicht nahm einen unwahrscheinlich erschrockenen und hilflosen Ausdruck an.
»Feuer!...« rief Lewinsohn noch einmal und schoss. Er zielte auf den schönen Offizier.
Die Eskadron geriet in Unordnung; viele fielen vom Pferd, jedoch der schöne Offizier blieb aufrecht im Sattel sitzen. Mit aufgerissenem Maul brach sein Pferd unter ihm zusammen. Einige Sekunden lang drängten sich kopflos gewordene Menschen und sich bäumende Pferde auf einem Fleck und schrieen etwas im Lärm der Schüsse Unverständliches durcheinander. Endlich riss sich ein einzelner Reiter im kaukasischen Mantel mit schwarzer Pelzmütze aus dem Knäuel los und schwenkte den Pallasch, sein Pferd mit einer gespannten Geste zurückhaltend. Die übrigen gehorchten ihm offensichtlich nicht, einige sprengten schon davon, ihre Pferde mit der Nagaika antreibend, und bald jagte die ganze Eskadron ihnen nach. Die Partisanen sprangen auf, die Wagemutigsten liefen den Fliehenden nach und schossen im Laufen.
»Pferde her!...« schrie Lewinsohn. »Baklanow, hierher! ... Aufsitzen!...«
Baklanow stürzte mit grimmigem, wutverzerrtem Gesicht an ihm vorbei, den ganzen Körper reckend. In seiner zurückgeworfenen Hand glänzte der gekrümmte Säbel wie Glimmer. Hinter ihm her stürmte waffenstarrend, klirrend und unter Hurrarufen, der Zug Metelizas.
Metschik jagte, vom Strom fortgerissen, mitten in der Lawine mit. Er empfand keine Angst, ja, er verlor sogar die Fähigkeit, die eigenen Gedanken und Taten zu beobachten und von außen zu bewerten, die ihn sonst nie verließ. Er sah nichts vor sich als einen wohlbekannten Rücken und einen beschopften Kopf, fühlte, dass Niwka nicht zurückblieb, dass der Feind vor ihnen floh, und bemühte sich nach bestem Gewissen, mit allen anderen zusammen den Feind einzuholen und hinter dem wohlbekannten Rücken nicht zurückzubleiben.
Die Kosakeneskadron verschwand im Birkenhain. Kurz darauf knatterten Gewehrschüsse der Abteilung entgegen, doch diese stürmte weiter, ohne den Lauf zu mäßigen, ja, durch die Schüsse wurde sie noch ungestümer und erregter.
Plötzlich stürzte der vor Metschik herjagende zottige Hengst zu Boden, und der wohlbekannte Rücken mit dem beschopften Kopf flog mit ausgestreckten Armen nach vorne. Metschik wich mit allen anderen einer großen schwarzen Masse aus, die sich auf der Erde wälzte.
Jetzt sah er den wohlbekannten Rücken nicht mehr und richtete den Blick auf den rasch näher kommenden Birkenhain... Eine kleine bärtige Gestalt auf einem Rappenhengst, die etwas schrie und mit dem Säbel auf etwas hinwies, tauchte für einen Augenblick vor seinen Augen auf. Einige Reiter, die neben ihm galoppierten, bogen plötzlich nach links ab. Metschik aber jagte, den Vorgang nicht begreifend, in der früheren Richtung weiter, bis er den Birkenhain erreichte. In der Heftigkeit seines Tempos schlug er fast gegen die Baumstämme und zerkratzte sich das Gesicht an den nackten Zweigen. Mit Mühe gelang es ihm, Niwka zurückzuhalten, die, wild geworden, durch das Gebüsch raste.
Er war allein - in der sanften Stille der Birken, im Gold der Blätter und Gräser...
Im selben Augenblick schien es ihm, als ob der Hain von Kosaken wimmelte. Er schrie auf und stürzte zurück, vor Schreck nicht beachtend, wie die spitzen, stechenden Zweige sein Gesicht peitschten...
Als er das freie Feld wieder erreicht hatte, war die Abteilung nicht mehr zu sehen. Zweihundert Schritte von ihm lag ein totes Pferd mit zur Seite gerutschtem Sattel. Daneben saß reglos ein Mensch mit angezogenen Beinen, die an die Brust gedrückten Knie mit den Händen umklammernd. Es war Moroska.
Metschik ritt, sich der ausgestandenen Angst schämend, im Schritt an ihn heran.
Mischka lag auf der Seite mit aufgerissenem Maul, seine großen starren Augen quollen hervor; die Vorderfüße mit den scharfen Hufen waren eingebogen, als ob das Pferd auch im Tode noch galoppieren wollte. Moroska schaute an ihm vorbei, seine Augen glänzten trocken und sahen nichts.
»Moroska...«, rief ihn Metschik leise, sein Pferd anhaltend. Ein tränenseliges, gutes Mitleid mit Moroska und dem toten Pferd ergriff ihn plötzlich.
Moroska rührte sich nicht. Einige Minuten blieben sie so, ohne ein Wort zu sprechen, ohne die Haltung zu ändern. Dann seufzte Moroska auf, löste langsam die Hände von den Knien, kniete neben das Pferd hin und begann den Sattel loszumachen, alles, ohne Metschik anzublicken. Metschik beobachtete ihn schweigend, er wagte nicht, ihn wieder anzusprechen.
Moroska löste die Sattelgurte - einer war zerrissen -, er betrachtete aufmerksam den abgerissenen, blutbefleckten Riemen, drehte ihn in der Hand und warf ihn weg. Dann hob er ächzend den Sattel auf den Rücken und setzte sich in der Richtung des Birkenhains in Bewegung, niedergedrückt von der Last und mit seinen krummen Beinen ungeschickt ausschreitend.
»Gib her, ich bringe es hin, oder wenn du willst, sitz selbst auf, ich gehe zu Fuß!« rief Metschik.
Moroska sah sich nicht um, beugte sich nur tiefer unter der Last des Sattels.
Aus irgendeinem Grunde wollte Metschik ihm nicht mehr unter die Augen kommen; er machte einen großen Umweg nach links um den Hain herum und erblickte in kurzer Entfernung das Dorf, quer über das Tal ausgedehnt. In der weiten Niederung rechts lag Wald, an den ganzen, sich in nebliggrauer Ferne verlierenden Bergrücken heranreichend. Der am Morgen noch so klare Himmel war jetzt drückend und finster, die Sonne drang nur mühsam durch.
Fünfzig Schritte vom Wege lagen einige zusammengehauene Kosaken. Einer lebte noch, mühsam stützte er sich auf die Arme, fiel wieder hin und stöhnte. Metschik machte einen weiten Bogen um ihn herum und bemühte sich, das Stöhnen zu überhören. Aus dem Dorfe kamen einige berittene Partisanen ihm entgegen.
»Dem Moroska hat man sein Pferd getötet...«, sagte Metschik, als sie ihn erreicht hatten.
Keiner antwortete. Einer maß ihn mit misstrauischem Blick, als ob er fragen wollte: ,Wo bist du denn geblieben, als wir uns hier schlugen?' Metschik ritt bedrückt weiter, von bösen Vorahnungen erfüllt...
Als er ins Dorf hereinritt, hatten viele Partisanen bereits ihre Quartiere aufgesucht - die übrigen drängten sich um eine große fünfwandige Hütte mit hohen geschnitzten Fenstern. Lewinsohn, verschwitzt und staubbedeckt, die Mütze schief auf dem Kopf, gab von der Veranda aus Befehle. Metschik saß neben dem Zaun ab, wo die Pferde standen.
»Woher des Wegs?« fragte spöttisch sein Gruppenführer. »Warst du Pilze sammeln?«
»Nein, ich habe mich verirrt«, sagte Metschik. Es war ihm jetzt ganz gleich, was man von ihm denken würde, aber aus alter Gewohnheit versuchte er, sich zu rechtfertigen. »Ich geriet in den Hain, ihr seid, glaub' ich, dort links abgebogen?«
»Ja, ja, links!« bestätigte freudig ein flachshaariger kleiner Partisane mit naiven Grübchen im Gesicht und einem kecken Haarwirbel auf dem Scheitel. »Ich rief dich, du hörtest aber wohl nicht...« Er blickte Metschik entzückt an, mit offenbarem Vergnügen sich alle Einzelheiten der Sache ins Gedächtnis rufend.
Metschik band das Pferd an und setzte sich neben ihn.
Aus einer Seitengasse kam Kubrak, begleitet von einem Haufen Bauern. Sie führten zwei Männer, denen die Hände auf den Rücken gebunden waren. Der eine trug eine schwarze Weste, er hatte einen plumpen, abgeplatteten, ungleichmäßig ergrauten Kopf, zitterte stark und flehte die Leute an, die ihn führten. Der andere war ein schmächtiger Pope im zerrissenen Talar, durch dessen Risse seine abgetragenen Hosen sichtbar waren. Metschik bemerkte, dass Kubrak am Gürtel eine offenbar vom Brustkreuz stammende silberne Kette trug.
»Dieser da?« fragte Lewinsohn erblassend und zeigte, als der Zug an die Treppe herankam, mit dem Finger auf den Mann mit der Weste.
»Er ist es, er selbst!...« bezeugten die Bauern.
»So ein Schweinehund!« sagte Lewinsohn zu Staschinskij, der neben ihm saß, »... aber Meteliza machst du schon nicht mehr lebendig...« - seine Lider zuckten plötzlich ein paar Mal; er wandte sich ab und sah einige Sekunden schweigend in die Ferne, um sich von der Erinnerung an Meteliza loszumachen.
»Genossen! Meine Lieben!...« greinte der Verhaftete, bald die Bauern, bald Lewinsohn mit hündisch ergebenen Augen anblickend. »Hab' ich denn aus freien Stücken?... Mein Gott... liebe Genossen...«
Keiner hörte ihn an. Die Bauern wandten sich ab.
»Wozu das Gerede, das ganze Dorf hat es gesehen, wie du den Hirtenjungen genötigt hast«, sagte einer finster, dem Verhafteten einen gleichgültigen Blick zuwerfend.
»Bist selbst schuld...«, bestätigte ein zweiter und wandte sich dann verlegen ab.
»Erschießen«, sagte Lewinsohn kalt, »aber führt ihn weiter abseits!«
»Und der Pope?« fragte Kubrak. »Auch ein Hundsfott, hat's mit den Offizieren gehalten...«
»Lasst ihn laufen, hol ihn der Teufel!...«
Die Menge, der sich auch viele Partisanen anschlossen, strömte Kubrak nach, der den Mann mit der Weste fortschleppte. Dieser sträubte sich, schlenkerte mit den Füßen und weinte, sein Unterkiefer zitterte.
Tschish näherte sich Metschik. Er trug eine unverhohlene Siegesfreude zur Schau, auf seinem Kopfe saß eine schmierige Mütze.
»Hier bist du also!« sagte er freudig und stolz. »Mensch, wie siehst denn du aus? Gehen wir irgendwohin etwas fressen... Jetzt erledigen sie ihn...«, er zog die Worte vielsagend in die Länge und pfiff dazu.
In der Hütte, wohin sie essen gingen, war es schmutzig, die Luft war stickig, es roch nach Brot und Sauerkohl. Die Ofenecke lag voller dreckiger Kohlstrünke; Tschish stopfte Brot und Kohlsuppe in sich hinein und erzählte ununterbrochen von seinen Heldentaten, dabei blickte er das schlanke Mädchen mit den langen Zöpfen, das ihnen das Essen brachte, fortwährend verstohlen an. Sie wurde verlegen und freute sich. Metschik bemühte sich zuzuhören, horchte aber unaufhörlich auf und fuhr bei jedem Geräusch zusammen.
»... Plötzlich dreht er sich um, geht auf mich los...«, schwatzte Tschish, mit vollem Munde schmatzend, »und ich versetzte ihm eins...!«
In diesem Augenblick erklirrten die Fenster, und eine ferne Salve knatterte. Metschik zuckte zusammen, ließ seinen Löffel fallen und erbleichte.
»Wann wird das alles ein Ende nehmen...«, rief er verzweifelt aus und lief, das Gesicht in die Hände vergraben, aus der Hütte hinaus...
,... Sie haben ihn umgebracht, diesen Menschen mit der Weste', dachte er. Er lag irgendwo im Gebüsch, den Mantelkragen hochgeschlagen und wusste sogar nicht einmal, wie er dahingekommen war. »Früher oder später werden sie auch mich umbringen... Aber ich habe ja schon sowieso nichts mehr, mir ist's, als wär' ich gestorben. Ich werde die Menschen, die ich lieb habe, nie mehr sehen, und auch nicht dieses liebe Mädchen mit den hellen Locken, deren Bild ich in kleine Stücke zerrissen habe... Er hat sicher geweint, der arme Kerl mit der Weste...Mein Gott, warum habe ich es denn zerrissen? Werde ich wirklich nie mehr zu ihr zurückkehren? Ich Unglückseliger!...'
Es dämmerte schon, als er aus dem Gebüsch herauskam, mit trockenen Augen, einen leidenden Ausdruck im Gesicht. Irgendwo ganz in der Nähe grölten betrunkene Stimmen, eine Ziehharmonika spielte. Er traf das schlanke Mädchen mit den langen Zöpfen am Tor; sie trug Wasser auf einem Tragjoch und bog sich schwankend wie eine Weidengerte.
»Da bummelt einer von den Eurigen mit unseren Burschen«, sagte sie, hob die dunkeln Wimpern und lächelte. »Hören Sie, wie er...?« und sie wiegte den hübschen Kopf im Takt der ausgelassenen Musik, die von der Straßenecke zu ihr drang. Die Eimer schwangen mit, Wasser verschüttend, das Mädchen wurde verlegen und verschwand im Tor.
»Und wir se-elbst, die Zuchthausbrüder, Haben's a-abgewa-artet...«
sang eine sehr betrunkene und Metschik recht bekannte Stimme. Er blickte um die Ecke und sah Moroska, die Ziehharmonika in den Händen. Der zerzauste Schopf hing ihm ins Gesicht und klebte an seinem roten, verschwitzten Gesicht.
Er ging mitten auf der Straße, den Körper unanständig schaukelnd und die Ziehharmonika mit einem solchen Ausdruck der Hingabe vor sich herschiebend und auseinander ziehend, als ob er seine Schamlosigkeit auch zugleich bereute. Ihm folgte eine Menge ebenso betrunkener Burschen, ohne Mützen und Gürtel. An beiden Seiten des Zuges liefen schreiend und große Staubwolken aufwirbelnd barfüßige Bauernjungen, ausgelassen und unerbittlich wie kleine Teufel.
»A-ah... mein Freund?...« schrie Moroska, Metschik erblickend, in heuchlerischer, besoffener Verzückung. »Wohin gehst du? Wohin? Hab keine Angst, wir werden nicht schlagen... Trink mit uns... Hol's der Teufel - werden sowieso zugrunde gehen!...«
Die ganze Rotte umringte Metschik, sie umarmten ihn, beugten ihre gutmütig-betrunkenen Gesichter zu ihm, hauchten ihn mit nach Schnaps riechendem Atem an. Jemand drückte ihm eine Flasche und eine angebissene Gurke in die Hand.
»Nein, ich trinke nicht«, sagte Metschik, sich losreißend, »ich will nicht trinken...«
»Trink, hol dich der Teufel!« schrie Moroska, vor Übermut fast weinend. »Zusammen zugrunde gehen!...« und er schimpfte unflätig.
»Nur ein wenig, bitte, ich trinke ja nicht«, sagte Metschik, sich fügend.
Er trank einige Schluck. Moroska zog die Ziehharmonika auseinander und fing mit heiserer Stimme zu singen an. Die Burschen sangen mit.
»Komm mit uns«, sagte einer, Metschik unterfassend. »Ich wohne hi-i-er... «, brummte er durch die Nase eine zufällig aufgeschnappte Zeile und schmiegte sich mit der unrasierten Wange an Metschik.
Sie gingen die Straße entlang, scherzend und stolpernd, die Hunde auseinanderjagend und sich selbst, ihre Verwandten und Angehörigen, die ganze unsichere schwere Erde und den sich als Sternenlose finstere Kuppel wölbenden Himmel verfluchend.
Warja hatte sich am Angriff nicht beteiligt (sie war mit dem Tross in der Taiga geblieben) und kam erst ins Dorf, als sich alle in die Hütten zerstreut hatten. Sie bemerkte, dass die Quartiere regellos belegt worden waren, die Züge lagen durcheinander, keiner wusste, wo der andere sich befand, die Befehle der Kommandeure wurden nicht befolgt - die Abteilung zerfiel gleichsam in einzelne, voneinander unabhängige Teile.
Unterwegs stieß Warja auf den Kadaver des Pferdes von Moroska; was mit ihm selbst geschehen war, konnte ihr aber keiner mit Bestimmtheit sagen. Die einen behaupteten, er sei gefallen, sie hätten das mit eigenen Augen gesehen, andere erklärten, er sei nur verwundet; wieder andere wussten nichts von ihm und drückten schon bei den ersten Worten ihre Freude über den glücklichen Umstand aus, dass sie selber am Leben geblieben waren. All dies zusammen verstärkte nur jenen Zustand der Mutlosigkeit und hoffnungslosen Traurigkeit, in den Warja seit ihrem ergebnislosen Versöhnungsversuch mit Metschik verfallen war.
Durch die unaufhörlichen Zudringlichkeiten, durch den Hunger, durch die eigenen Gedanken und Grübeleien zerquält und zermürbt, hatte sie kaum noch die Kraft, sich im Sattel zu halten; endlich machte sie, den Tränen nahe, Dubow ausfindig, den ersten Menschen, den ihr Anblick aufrichtig erfreute und der sie mit einem grimmig-mitleidigen Lächeln anblickte.
Und als sie sein alt gewordenes, finsteres Gesicht mit dem schmierigen, schwarzen, herabhängenden Schnurrbart erblickte und auch alle übrigen sie umgebenden bekannten, lieben, ungeschlachten Gesichter, diese grau gewordenen, vom Kohlenstaub für alle Zeiten gezeichneten Gesichter, erbebte ihr Herz vor süß-bitterem Schmerz, vor Liebe zu ihnen und vor Mitleid mit sich selbst: sie brachten ihr die Tage ins Gedächtnis, als sie, ein junges naives Mädchen mit üppigen Zöpfen, mit großen traurigen Augen, die Karren in den dunklen, wassertriefenden Stollen schob und sich auf den Tanzabenden vergnügte. Sie hatten sie damals ebenso umringt wie heute, dieselben Gesichter, ebenso begierig und lächerlich.
Seitdem sie sich mit Moroska überworfen hatte, hatte sie sich ihnen ganz entfremdet, und doch waren sie die einzigen, die ihr nahe standen, diese alteingesessenen Kumpels, die vor Zeiten mit ihr gelebt und gearbeitet und ihr den Hof gemacht hatten. ,Wie lange habe ich sie schon nicht gesehen, ich habe sie ganz vergessen... Ach, meine lieben Freunde!...' dachte sie mit Liebe und Reue, ihre Schläfen durchzuckte es so süß, dass sie die Tränen kaum zurückzuhalten vermochte.
Nur Dubow allein war es diesmal gelungen, seinen Zug ordnungsgemäß in nebeneinanderliegenden Hütten unterzubringen. Seine Leute stellten die Wache für das Dorf und halfen Lewinsohn bei der Beschaffung von Proviant. An diesem Tage wurde es irgendwie plötzlich allen klar, was früher in der allgemeinen Begeisterung und im für alle gleichen Alltag verborgen geblieben war, dass sich die ganze Abteilung in der Hauptsache auf den Zug Dubows stützte.
Warja erfuhr, dass Moroska lebe und sogar nicht einmal verwundet sei. Man zeigte ihr sein neues, den Weißen abgenommenes Pferd. Es war ein brauner, langbeiniger Hengst mit kurzgeschorener Mähne und dünnem Hals, was ihm ein sehr unverlässliches, verräterisches Aussehen verlieh; man hatte ihn auch schon »Judas« getauft.
,Er lebt also...', dachte Warja, den Hengst zerstreut anblickend. ,Nun gut, ich bin froh
Nach dem Essen kletterte sie auf den Heuboden, und als sie allein im duftenden Heu lag, im Halbschlaf horchend, ob sich ihr nicht jemand »aus alter Freundschaft« nähere, fiel ihr wieder mit einem, weichen, warmen, traumhaften Gefühl ein, dass Moroska lebe. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
Sie erwachte plötzlich in starker Unruhe, ihre Hände waren zu Eis erstarrt. Undurchdringliche, im Nebel schwankende Nacht drang unter dem Dach ein. Ein kalter Wind ließ das Heu erbeben, raschelte in den Zweigen, rauschte in den Blättern des Gartens...
,Mein Gott, wo ist Moroska? Wo sind alle andern?' dachte Warja erzitternd. ,Soll ich wieder einsam und allein geblieben sein, hier in dieser schwarzen Grube?...' Sie schlüpfte in fieberhafter Eile, zitternd und die Ärmellöcher nicht findend, in ihren Mantel und kroch rasch vom Heuboden hinunter.
Am Tor ragte die Silhouette des Wachtpostens auf.
»Wer hat hier die Wache?« fragte sie, näher kommend. »Kostja ... Weißt du nicht, ob Moroska schon zurück ist?«
»Du hast also auf dem Heuboden geschlafen?« fragte Kostja enttäuscht. »Und ich hab's nicht gewusst! Brauchst nicht auf Moroska zu warten, der bummelt, da geht es hoch her, er hält Totenschmaus für sein Pferd... Es ist kalt, nicht wahr? Gib ein Streichholz...«
Sie suchte die Schachtel hervor, er rauchte an, indem er das Feuer mit seinen großen Händen schützte, dann ließ er das Licht auf sie fallen:
»Du siehst schlecht aus, junge Frau...«, und lächelte.
»Nimm dir die Streichhölzer...«, sie schlug den Mantelkragen hoch und ging durchs Tor hinaus.
»Wo gehst du hin?«
»Ich geh' ihn suchen!«
»Moroska?... Nanu!... Vielleicht könnte ich ihn vertreten?«
»Nein, das wohl kaum...«
»Seit wann denn?«
Sie gab keine Antwort. ,Das ist aber ein Mädel', dachte der Wachtposten.
Es war so finster, dass Warja nur schwer den Weg unterscheiden konnte. Ein feiner Regen rieselte nieder. Die Gärten rauschten immer unruhiger und dumpfer. Irgendwo unter einem Zaun winselte kläglich ein vor Kälte zitternder junger Hund. Warja tastete sich an ihn heran und steckte ihn unter ihren Mantel; er zitterte stark und stieß sie mit der Schnauze. Bei einer der Hütten stieß sie auf einen Posten Kubraks und fragte ihn, ob er nicht wüsste, wo Moroska herumbummelt. Der Bursche schickte sie zur Kirche. Sie durchforschte ergebnislos das halbe Dorf und kehrte ganz betrübt um.
Sie war so oft aus einem Gässchen in ein anderes eingebogen, dass sie den Weg vergessen hatte und jetzt aufs Geratewohl loslief, fast ohne an das Ziel ihrer Wanderung zu denken; sie drückte nur das erwärmte Hündchen fester an die Brust. Es verging wohl eine gute Stunde, bevor sie die Straße fand, die zu ihrem Hause führte. Sie bog in die Straße ein, mit der freien Hand sich an dem geflochtenen Zaun festhaltend, um nicht auszurutschen, und wäre fast schon nach einigen Schritten auf Moroska getreten, der am Wege lag.
Er lag auf dem Bauch, den Kopf zum Zaun gekehrt, die Hände unter den Kopf gelegt und stöhnte leise; offenbar hatte er sich gerade übergeben. Warja hatte ihn nicht so sehr erkannt als gefühlt, dass er es sei; sie fand ihn ja nicht das erste Mal in einem solchen Zustand.
»Wanja!« rief sie, sich neben ihn hinhockend, und legte ihm ihre gütige weiche Hand auf die Schulter. »Warum liegst du hier? Ist dir schlecht, ja?«
Er hob den Kopf, und sie erblickte sein zerquältes, aufgedunsenes, blasses Gesicht. Mitleid ergriff sie, erschien er ihr doch so klein und schwach. Er erkannte sie und lächelte gezwungen. Dann setzte er sich auf, sorgfältig auf seine Bewegungen achtend, lehnte sich an den Zaun und streckte die Füße aus.
»A-ah... sind Sie das?... Meine Hochachtung...«, stammelte er mit schwacher Stimme, sich bemühend, den Ton unbekümmerten Wohlergehens anzuschlagen. »Meine Hochachtung, Genossin... Morosowa...«
»Komm mit mir, Wanja«, sie nahm seine Hand, »oder kannst du nicht?... Warte, wir werden alles gleich erledigen, ich werde anklopfen...«, und sie sprang entschlossen auf, mit der Absicht, in der nächsten Hütte Einlass zu verlangen. Es kamen ihr keinen Augenblick Zweifel darüber, ob es angehe, in finsterer Nacht bei fremden Leuten anzuklopfen, und sie überlegte nicht, was man von ihr selbst denken könnte, wenn sie so mit einem betrunkenen Mann das Haus einrenne; um solche Dinge kümmerte sie sich nie.
Aber Moroska schüttelte plötzlich erschrocken den Kopf und knirschte: »Nein - nein - nein... Ich werde dir geben, anklopfen!... Pst!...« und er schüttelte die Fäuste an den Schläfen. Ihr schien sogar, dass er vor Schreck nüchtern geworden war. »Dort liegt doch Gontscharenko, weißt du denn nicht?... Wie kann man nur...«
»Na, und wenn schon Gontscharenko? Auch ein großer Herr...«
»N-nein, du weißt nicht«, er runzelte wie im Schmerz die Stirne und griff sich an den Kopf, »du weißt ja nicht, wozu denn? Er hat mich ja wie einen Menschen, und ich... wie denn?... N—nein, kann man denn das...«
»Was schwatzt du denn so sinnlos, Lieber«, sagte sie und hockte sich wieder neben ihn. »Sieh mal, es regnet, es ist feucht, morgen geht es wieder weiter, komm, Liebster...«
»Nein, mit mir ist's aus«, sagte er, jetzt schon ganz traurig und nüchtern. »Was bin ich jetzt, wer bin ich, wozu«, und er sah sich plötzlich mit seinen geschwollenen Augen, in denen die Tränen standen, im Kreise um.
Da umarmte sie ihn mit der freien Hand, und mit den Lippen fast seine Wimpern berührend, flüsterte sie ihm zärtlich und beschützend, wie einem Kinde, zu: »Was kränkst du dich so? Was kann dir so weh tun?... Ist's dir um das Pferd leid, ja? Dafür haben sie dir schon ein anderes ausgesucht, so ein braves Pferdchen... Kränk dich nicht, Lieber, weine nicht, schau, was für ein Hündchen ich gefunden habe, schau, was für ein kleines Kerlchen!« und sie zeigte ihm, den Mantel zurückschlagend, das schläfrige Tier mit den Hängeohren. Sie war so gerührt, dass nicht nur ihre Stimme, nein, ihr ganzes Wesen vor Güte zerfloss.
»Ps-ps, Kleines!« sagte Moroska mit trunkener Zärtlichkeit und streichelte plump dem Hündchen die Ohren. »Woher hast du ihn?... Er beißt ja, der Schlingel...«
»Na, siehst du!... Komm, Liebster...«
Es gelang ihr, ihn auf die Beine zu bringen, und so führte sie ihn, durch Zureden von bösen Gedanken ablenkend, bis zum Haus. Er leistete keinen Widerstand, vertraute sich ihr an.
Unterwegs erinnerte er sie kein einziges Mal an Metschik, auch sie erwähnte ihn nicht, als ob niemals zwischen ihnen ein Metschik gestanden hätte. Dann machte Moroska ein finsteres Gesicht, sprach nichts mehr und wurde merklich nüchterner.
So erreichten sie die Hütte, in der Dubow lag.
Moroska versuchte auf den Heuboden zu klettern, indem er sich an den Stufen der Leiter festhielt, aber seine Füße gehorchten nicht.
»Soll ich helfen?« fragte Warja.
»Nein, ich kann schon selbst, Närrin!« antwortete er roh und verlegen.
»Dann leb wohl...«
Er ließ die Leiter los und blickte erschrocken auf.
»Wieso ,leb wohl'?«
»Na, so«, sie lachte gekünstelt und traurig auf.
Er ging plötzlich auf sie zu, umarmte sie ungelenk und schmiegte sich mit seiner rauen Backe an ihr Gesicht. Sie fühlte, dass er sie gerne küssen wollte, und das stimmte auch wirklich, aber er schämte sich, weil die Burschen im Bergwerk selten mit den Mädchen zärtlich waren, sondern eben nur mit ihnen gingen. Während ihres ganzen gemeinsamen Lebens hatte er Warja nur. ein einziges Mal geküsst, am Tage ihrer Hochzeit, als er stark betrunken war und die Hochzeitsgäste ihn aufmunterten.
,Hier ist also das Ende, und alles hat sich zum alten gewendet, als ob überhaupt nichts gewesen wäre', dachte Warja mit Schmerz und Sehnsucht, als der befriedigte Moroska an ihrer Schulter einschlief. ,Wieder der alte Weg, wieder dieselbe Geschichte, und alle wollen dasselbe... Aber, mein Gott, wie wenig Freude macht das!'
Sie drehte Moroska den Rücken zu, schloss die Augen, zog die Beine wie ein Kind an, konnte aber nicht einschlafen... Ferne, hinter dem Dorf, wo die zum Chaunichedsa führende Gemeindelandstraße begann und wo die Wachtposten standen, knatterten drei Signalschüsse... Warja weckte Moroska, und kaum hatte er seinen zottigen Kopf erhoben, krachten schon hinter dem Dorf die Gewehre der Wache, und als Antwort fuhr sofort das Rattern und Heulen des Maschinengewehrschnellfeuers durch die Stille und Finsternis der Nacht...
Moroska winkte finster mit der Hand und kroch hinter Warja vom Heuboden hinab. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind wurde stärker, irgendwo schlug ein Fensterladen, und nasse, gelbe Blätter flatterten im Nebel. In den Hütten wurde Licht gemacht. Der Wachthabende lief rufend durch die Straßen und klopfte an die Fenster.
In den wenigen Minuten, während Moroska zum Stall lief und seinen »Judas« herausführte, durchlebte er noch einmal alles, was gestern mit ihm vorgefallen war. Sein Herz krampfte sich zusammen beim Gedanken an den toten Mischka mit den starren Augen, und er erinnerte sich auf einmal voller Ekel und Angst an sein ganzes gestriges unwürdiges Benehmen; er war betrunken durch die Straßen gelaufen, und alle hatten ihn gesehen, ihn, den betrunkenen Partisanen, und er hatte schamlose Lieder gebrüllt, dass das ganze Dorf es hören mußte. Mit ihm war Metschik, sein Feind, gewesen. Sie hatten zusammen gebummelt, wie ein Herz und eine Seele, und er, Moroska, hatte ihm Liebe geschworen und ihn um Verzeihung gebeten. - ,Warum? Wofür?...' Er empfand jetzt die ganze Verlogenheit seines Verhaltens. Was wird Lewinsohn dazu sagen? Und kann man wirklich nach einem solchen Skandal Gontscharenko unter die Augen treten?
Die meisten seiner Kameraden hatten schon ihre Pferde gesattelt und führten sie zum Tore hinaus, aber bei ihm war nichts in Ordnung: der Sattelgurt war nicht da, und das Gewehr war bei Gontscharenko in der Hütte geblieben.
»Timofej, Freund, hilf mir aus!...« bat Moroska mit kläglicher, fast weinender Stimme Dubow, der über den Hof lief. »Gib mir einen übrigen Sattelgurt, du hast einen, ich hab's gesehen...«
»Was?!!« brüllte ihn Dubow an. »Und wo warst du bisher?...« und wütend fluchend, die Pferde auseinanderstoßend, dass sie sich aufbäumten, bahnte er sich den Weg zu seinem Pferd, um den Sattelgurt zu holen. »Da!...« sagte er zornig, kurz darauf zu Moroska kommend und ihm plötzlich aus aller Kraft mit dem Sattelgurt eins überziehend.
,Freilich, jetzt kann er mich schlagen, ich hab's verdient', dachte Moroska und muckste nicht; er empfand keinen Schmerz. Aber die Welt schien ihm jetzt noch düsterer. Und diese Schüsse, die im Nebel knatterten, diese Finsternis, das Schicksal, das hinter der Umfriedung seiner harrte, all das schien ihm eine gerechte Strafe für das, was er im Leben begangen hatte.
Während der Zug sich sammelte und aufstellte, erweiterte sich das Feuergefecht im Halbkreis bis zum Flusse hinab, die Minenwerfer erdröhnten, und hellblinkende, klirrende Fische schwirrten über dem Dorf. Baklanow rannte, den Mantel umgehängt, mit dem Revolver in der Hand, zum Tor und schrie:
»Absitzen!... Ausrichten in einem Glied!... Zwanzig Mann lässt du bei den Pferden«, sagte er zu Dubow.
»Mir nach! Laufschritt!...« schrie er nach einigen Minuten und stürmte irgendwohin in das Dunkel. Die Schützenkette lief ihm nach, im Laufe die Mäntel zusammenschlagend und die Patronentaschen aufknöpfend.
Unterwegs trafen sie die fliehenden Wachtposten.
»Die sind dort ungeheuer stark!« schrieen sie, in ihrer Panik mit den Händen fuchtelnd.
Eine Geschützsalve donnerte, die Geschosse barsten mitten im Dorf, ein Stück Himmel, den krummgeschossenen Glockenturm, den im Tau glänzenden Garten des Popen einen Augenblick erleuchtend. Dann wurde der Himmel noch dunkler. Die Geschosse platzten jetzt eines nach dem andern in kurzen, gleichmäßigen Abständen. Irgendwo abseits sprang eine Flamme auf, ein Heuschober oder Haus hatte Feuer gefangen.
Baklanow sollte den Feind so lange aufhalten, bis Lewinsohn die im ganzen Dorf zerstreute Abteilung gesammelt hatte. Aber Baklanow gelang es nicht einmal, seinen Zug bis zur Dorfweide zu führen: im Lichte der platzenden Bomben erblickte er die ihm entgegenstürmende Kette der Feinde. Die Richtung der Schüsse und der Pfiff der Kugeln zeigten ihm an, dass der Feind sie vom linken Flügel, vom Fluss aus umgangen hatte und jeden Augenblick vom andern Ende in das Dorf einrücken konnte.
Der Zug erwiderte das Feuer und zog sich schräg nach der rechten Ecke zurück, laufend, sich niederwerfend, wieder laufend und in den Seitengassen und den Gemüsegärten manövrierend. Baklanow horchte auf die Kanonade am Fluss, sie verschob sich nach der Mitte hin; offenbar war jene Seite schon vom Feind besetzt. Plötzlich stürmte mit furchtbarem Geschrei die feindliche Kavallerie von der Hauptstraße her vorbei, man sah die dunkle, polternde, vielköpfige Lawine von Menschen und Pferden sich ungestüm die Straße lang ergießen.
Baklanow kümmerte sich nicht mehr um das Aufhalten des Feindes und rannte mit seinem Zug, der ein Dutzend Leute verloren hatte, zum noch freien Geländekeil in der Richtung des Waldes. Fast schon am Abhang der kleinen Vertiefung, wo die letzte Reihe von Hütten sich hinzog, stießen sie auf die Abteilung, die mit Lewinsohn an der Spitze auf sie wartete. Sie war merklich zusammengeschmolzen.
»Da sind sie«, sagte Lewinsohn erleichtert. »Rasch aufsitzen!«
Sie saßen auf und sprengten im Galopp zum Wald, der schwarz in der Talsenke lag. Man hatte sie offenbar bemerkt, die Maschinengewehre knatterten ihnen nach, und über ihren Köpfen flogen bleierne, nächtliche Hummeln. Dröhnende Feuerfische schwirrten wieder am Himmel. Sie tauchten von ihrer Höhe hinab, ihre funkelnden Schwänze zerflossen, sie bohrten sich mit lautem Zischen vor den Füßen der Pferde in den Boden. Die Pferde scheuten, hoben ihre heißen blutigen Mäuler in die Höhe und schrieen wie Weiber - die Abteilung schloss die Reihen und ließ eine wimmelnde Masse von Leibern hinter sich.
Als Lewinsohn sich umsah, erblickte er den Schein einer großen Feuersbrunst, der über dem Dorfe lag; es brannte ein ganzes Viertel, und vor diesem feurigen Hintergrund liefen einzeln und gruppenweise kleine, schwarze Gestalten mit feurigen Gesichtern. Staschinskij, der neben ihm ritt, kippte plötzlich vom Pferd, das ihn noch einige Augenblicke mitschleifte - sein Fuß hatte sich im Steigbügel verfangen -, dann blieb er liegen und das Pferd galoppierte weiter. Die ganze Abteilung wich aus, um den toten Körper nicht zu treten.
»Lewinsohn, schau!« schrie Baklanow erregt und wies mit der Hand nach rechts.
Die Abteilung hatte schon die Senke erreicht und näherte sich rasch dem Wald, oben aber sprengte, an der Schnittlinie des schwarzen Feldes und des Himmels sichtbar werdend, die feindliche Kavallerie dahin, um ihnen den Weg abzuschneiden. Die Pferde, ihre vorgestreckten schwarzen Köpfe, und die über sie gebeugten Reiter hoben sich einen Augenblick von dem helleren Hintergrund des Himmels ab und verschwanden sogleich in der Richtung der Talsenke im Dunkel.
»Rasch!... Rasch!...« schrie Lewinsohn, sich fortwährend umblickend und seinem Hengst die Sporen gebend.
Endlich erreichten sie den Waldrand und saßen ab. Baklanow blieb mit dem Zug Dubows wieder zurück, um den Rückzug zu decken, die anderen verschwanden im Wald, ihre Pferde am Zügel führend.
Im Wald war es stiller und ruhiger: das Rattern der Maschinengewehre, das Knattern der Gewehre, die Salven der Geschütze blieben zurück und schienen bereits nebensächlich und die Ruhe des Waldes in keiner Weise zu berühren. Man hörte nur zuweilen, wie irgendwo in der Tiefe die Geschosse mit Gepolter niedergingen und die Bäume zersplitterten. An einigen Stellen drang der Feuerschein in das Dickicht ein und warf trübe, kupferfarbene, an den Rändern dunkel verlaufende Lichtflecke auf die Erde und auf die Stämme der Bäume, und das die Stämme bedeckende feuchte Moos sah wie blutdurchtränkt aus.
Lewinsohn übergab Jefimka sein Pferd und ließ Kubrak vorgehen, ihm die Richtung weisend, die er einschlagen sollte (er wählte diese Richtung, weil er der Abteilung irgendeine Richtung unbedingt angeben musste), und stellte sich selbst abseits, um zu sehen, wie viel Leute ihm überhaupt übrig geblieben waren.
Sie gingen an ihm vorbei, diese Leute, niedergeschlagen, nass und erbost, knickten schwerfällig in den Knien und blickten angestrengt in die Dunkelheit; unter ihren Tritten spritzte das Wasser auf. Zuweilen versanken die Pferde bis an den Bauch, denn der Boden war sehr glitschig. Besonders schwer hatten es die Leute aus dem Zug Dubows, von denen jeder drei Pferde führen musste, nur Warja führte bloß zwei, ihr eigenes und Moroskas. Und hinter diesem ganzen Zug abgequälter Menschen wand sich in der Taiga eine schmutzige, übel riechende Spur dahin, als ob ein stinkendes, unreines Reptil entlanggekrochen wäre.
Lewinsohn ging, auf beiden Füßen hinkend, hinter allen anderen. Plötzlich machte die Abteilung halt...
»Was ist dort los?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Partisane, der vor ihm ging. Es war Metschik.
»Frag vorne an...«
Nach einiger Zeit kam die Antwort, von vielen erbleichenden Lippen weitergegeben:
»Wir können nicht weiter, dort ist Sumpf...«
Ein plötzliches Zittern in den Beinen überwindend, lief Lewinsohn zu Kubrak vor. Kaum war er hinter den Bäumen verschwunden, stürzte die ganze Masse zurück und rannte durcheinander in allen Richtungen. Doch überall verlegte der sich hinziehende, finstere, ungangbare Sumpf den Weg. Nur ein Weg führte von dort, das war der eben von ihnen begangene, auf dem sich der Zug der Kumpels tapfer durchkämpfte. Doch das vom Waldrand hörbare Krachen der Schüsse schien nicht mehr etwas Nebensächliches, es bezog sich jetzt unmittelbar auf sie, und es war, als ob diese Schüsse ihnen jetzt fortwährend näher kämen.
Verzweiflung und Wut packte die Leute. Sie suchten einen Schuldigen an ihrem Unglück! Natürlich, der Schuldige war niemand anders als Lewinsohn... Hätten sie ihn jetzt alle zugleich sehen können, sie hätten sich mit der ganzen Wucht ihrer Angst auf ihn gestürzt; soll er sie doch jetzt von hier herausführen, wenn er sie hereingeführt hat!...
Da erschien er plötzlich selber vor ihnen, mitten im Menschengewirr, in der Hand eine brennende Fackel haltend, die sein totenbleiches, bärtiges Gesicht mit den zusammengebissenen Zähnen beleuchtete. Mit großen, brennenden, runden Augen blickte er rasch von einem Gesicht zum anderen. Und durch die entstandene Stille, die nur von den Lauten des dort am Waldrand sich entspinnenden tödlichen Spieles unterbrochen wurde, drang für alle hörbar, nervös und scharf seine hohe, heisere Stimme:
»Wer tritt dort aus der Reihe?... Zurück!... Keine Panik... Ruhe da!« schrie er plötzlich, wie ein Wolf die Zähne fletschend, und zog seine Mauserpistole. Die protestierenden Rufe erstarben sofort auf aller Lippen. »Abteilung! Achtung! Wir überdämmen den Sumpf, einen anderen Ausweg haben wir nicht... Borissow (das war der neue Zugführer des dritten Zuges), lass die Leute, die die Pferde führen, zurück und eile Baklanow zu Hilfe! Sag ihm, er soll sich so lange halten, bis ich den Befehl zum Rückzug gebe... Kubrak! Drei Leute für die Verbindung mit Baklanow bestimmen... Achtung, alle! Bindet die Pferde an! Zwei Gruppen holen Reisig! Die Säbel nicht geschont!... Alle übrigen -zur Verfügung Kubraks. Seinen Befehlen unbedingt Folge leisten. Kubrak! Mir nach!...« Er wandte den Leuten den Rücken und ging gebückt auf den Sumpf zu, die schwelende Fackel über dem Kopf haltend.
Und die verstummte, niedergeschlagene, in einen Haufen sich zusammendrängende Masse, die eben noch in Verzweiflung die Hände erhoben hatte und bereit gewesen war, zu weinen oder zu töten, geriet plötzlich in eine unmenschlich rasche, gehorsame, eifrige Bewegung. Im Nu waren die Pferde angebunden, die Äxte dröhnten, der Erlenwald krachte unter den Schlägen der Degen. Als der Zug Borissows, im Nebel mit den Waffen klirrend, mit den Stiefeln im Schlamm schmatzend, zurücklief, kam man ihm schon mit den ersten Bündeln nasser Zweige entgegen... Man hörte das Krachen fallenden Holzes, riesiges verzweigtes Geäst klatschte pfeifend in etwas Weiches und Unheilvolles. Beim Lichte der Harzfackeln sah man, wie die dunkelgrüne, mit Wasserlinsen bewachsene Oberfläche pralle Wellen schlug, wie der Körper einer Riesenschlange.
Dort im Wasser, im Schlamm, im Verderben, wimmelte es von Leuten, die sich am Gestrüpp festhielten - die rauchende Flamme der Fackeln hob ihre verzerrten Gesichter, ihre gekrümmten Rücken, das ungeheure Gewirr von Zweigen aus der Finsternis heraus. Sie hatten zur Arbeit ihre Mäntel abgeworfen, und durch die zerrissenen Hemden und Hosen schimmerten ihre angespannten, verschwitzten, bis aufs Blut zerschundenen Leiber durch. Sie hatten jedes Gefühl von Zeit und Raum verloren, jedes Gefühl des eigenen Körpers, der Scham, des Schmerzes, der Müdigkeit. Sie schöpften in ihren Mützen das Sumpfwasser, das nach Froschlaich stank, und tranken es eilig, gierig, wie verwundete Tiere...
Das Feuer kam immer näher und näher, wurde immer hörbarer und häufiger. Baklanow schickte einen Mann nach dem anderen und ließ fragen: noch lange? bald?... Er verlor die Hälfte seiner Kämpfer, verlor Dubow, der an seinen zahlreichen Wunden verbluten musste, und zog sich langsam zurück, jede Handbreit Boden verteidigend. Endlich erreichte er das Gestrüpp, das für den Damm geschnitten wurde, ein weiteres Zurück gab es nicht mehr. Die feindlichen Kugeln strichen jetzt dicht über den Sumpf. Einige der Arbeitenden waren schon verwundet, Warja legte ihnen Verbände an. Die Pferde wieherten laut, von den Schüssen verängstigt, und bäumten sich, einige rissen ihre Halfter ab und rannten los, fielen in den Sumpf und schrieen kläglich wie um Hilfe.
Dann erfuhren die Partisanen, die sich im Weidengestrüpp eingenistet hatten, dass der Damm fertig sei und wollten die Flucht ergreifen. Baklanow lief ihnen mit eingefallenen Wangen, entzündeten Augen, mit von Pulverrauch geschwärztem Gesicht nach, drohte ihnen mit seiner leergeschossenen Pistole und weinte vor Wut.
Schreiend, mit den Waffen und Fackeln fuchtelnd, die widerstrebenden Pferde hinter sich herzerrend, stürzte sich die ganze Abteilung fast gleichzeitig auf den Damm. Die aufgeregten Pferde gehorchten ihren Führern nicht und schlugen wie im Anfall um sich; die hinteren stiegen toll vor Angst auf die vorderen; der Damm knirschte und begann sich aufzulösen. Beim Übergang auf das gegenüberliegende Ufer glitt das Pferd Metschiks vom Damm ab und wurde unter wüstem, unflätigem Geschimpfe mit Stricken herausgezerrt. Metsdiik klammerte sich krampfhaft an das schlüpfrige Seil, das von dem wilden Zerren des Pferdes in seinen Händen zitterte, und zog, zog, sich mit den Füßen im schlammigen Gezweig verfangend. Und als das Pferd endlich herausgezogen war, konnte er lange den Knoten nicht lösen, der sich um dessen Vorderbeine geschlungen hatte, und mit grimmiger Genugtuung biss er sich an diesem bitteren, vom Geruch des Sumpfes und von einem ekelhaften Schleim durchtränkten Knoten fest...
Als letzte überschritten Lewinsohn und Gontscharenko den Damm.
Der Mineur konnte noch rechtzeitig eine Sprengladung legen, und fast im selben Augenblick, als der Gegner den Übergang erreichte, flog der Damm in die Luft...
Nach einiger Zeit kamen die Menschen zu sich und begriffen, dass es Morgen geworden war. Glitzernd lag die Taiga vor ihnen im rosafarbenen Reif. Zwischen den Bäumen schimmerten helle
Flecken blauen Himmels durch, man spürte, dass dort hinter dem Wald die Sonne aufging. Die Leute warfen die heißen Fackelstümpfe, die sie bis dahin aus irgendeinem Grunde in den Händen behalten hatten, fort und erblickten ihre eigenen roten, zerschundenen Hände, die nassen, abgequälten Pferde, von denen ein dünner verwehender Dampf aufstieg, und staunten darüber, was sie in dieser Nacht vollbracht hatten.
Fünf Werst von der Stelle, wo der Übergang erfolgt war, war der Sumpf überbrückt, dort führte die Chaussee nach Tudo-Waki vorbei. In der Befürchtung, Lewinsohn würde nicht im Dorfe übernachten, hatten die Kosaken schon am Abend vorher an der Chaussee, ungefähr acht Werst von der Brücke, einen Hinterhalt gelegt.
Sie saßen dort die ganze Nacht in Erwartung der Abteilung und lauschten auf die fernen Geschützsalven. Am Morgen kam eine Ordonnanz angesprengt mit dem Befehl, weiter an Ort und Stelle zu bleiben, da der Feind sich durch den Sumpf geschlagen habe und in dieser Richtung vorgehe. Kaum zehn Minuten nach Ankunft der Ordonnanz erreichte auch die Abteilung Lewinsohns die Straße nach Tudo-Waki, nichts von dem Hinterhalt oder davon ahnend, dass diese soeben von einer feindlichen Ordonnanz passiert worden war.
Die Sonne ging schon über dem Walde auf. Der Reif war längst geschmolzen. Der Himmel hoch oben war durchsichtig, eisig und blau. Die Bäume neigten sich über die Straße mit ihrem nassen, glänzenden Gold. Ein warmer, gar nicht herbstlicher Tag brach an.
Lewinsohn überflog mit zerstreutem Blick diese ganze funkelnde, reine und helle Schönheit und empfand sie nicht. Er sah die auf ein Drittel zusammengeschmolzene, abgequälte Abteilung verzagt ihren Weg weiterziehen und begriff, dass er selbst tödlich ermüdet und gänzlich außerstande sei, irgend etwas für diese
Menschen zu tun, die sich mutlos hinter ihm herschleppten. Sie waren das einzige, was ihm nicht gleichgültig war, was ihm nahe stand, diese treuen, abgequälten Menschen, näher als alles andere, näher als er sich selbst war, weil er keinen Augenblick das Gefühl verlor, dass er in ihrer Schuld stand; doch schien es ihm, dass er jetzt nichts mehr für sie tun könne, er führte sie nicht mehr, nur wussten sie es noch nicht und trotteten gehorsam hinter ihm her, wie eine an seinen Hirten gewöhnte Herde. Und das war es gerade, was er am meisten befürchtete, als er am gestrigen Morgen an den Tod Metelizas dachte.
Er versuchte, die Herrschaft über sich selbst wiederzugewinnen, sich auf irgend etwas praktisch Unerlässliches zu konzentrieren, aber seine Gedanken verirrten und verirrten sich, die Augen fielen ihm zu, und sonderbare Bilder, Bruchstücke von Erinnerungen, unklare, nebelhafte und widerspruchsvolle Empfindungen der Umwelt wirbelten in seinem Bewusstsein als fortwährend wechselnder, laut- und körperloser Schwarm...Warum scheinen mir dieser lange endlose Weg und dieses nasse Laub und dieser Himmel jetzt so tot und überflüssig?...Was ist jetzt meine Pflicht?... Ja, ich habe das Tal von Tudo-Waki zu erreichen... Tu-do-Wa—ki — wie sonderbar — Tu-do-Wa-ki —. Ich bin so müde, so schläfrig! Was können diese Menschen noch von mir wollen, wo ich so schläfrig bin?... Er sagt - Patrouille... Ja, ja, auch Patrouille... Er hat einen so runden guten Kopf wie mein Sohn, man muss natürlich eine Patrouille vorschicken, und dann schlafen... schlafen... und er ist auch gar nicht so, wie bei meinem Sohn, wie... was denn?...
»Was hast du gesagt?« fragte er plötzlich, den Kopf hebend. Neben ihm ritt Baklanow.
»Ich sage, man sollte eine Patrouille vorschicken.« »Ja, ja, man muss eine schicken, bitte, mach das...« Einen Augenblick später holte ein müde trabender Reiter Lewinsohn ein. Dieser begleitete dessen gekrümmten Rücken mit dem Blick und erkannte Metschik. Es schien ihm nicht ganz in Ordnung zu sein, dass Metschik den Patrouillenritt machen sollte; er konnte sich aber nicht dazu bringen, sich mit dieser Unrichtigkeit auseinanderzusetzen, und vergaß die Sache sofort wieder. Dann kam noch jemand vorübergeritten.
»Moroska«, rief Baklanow dem zweiten Reiter nach. »Ihr sollt einander doch im Auge behalten...«
,Ist er denn am Leben geblieben?' dachte Lewinsohn. ,Dubow ist gefallen...Armer Dubow... Was war nur noch mit Moroska passiert?... Ach ja, die Sache gestern abend. Gut, dass ich ihn da nicht gesehen habe...'
Metschik, der schon ziemlich weit vorgeritten war, sah sich um: Moroska ritt ungefähr hundert Meter hinter ihm her, die Abteilung war auch noch sichtbar. Dann verschwanden die Abteilung und Moroska hinter einer Biegung. Niwka wollte nicht traben, und Metschik trieb das Tier mechanisch an: er begriff nicht, warum man ihn voraussandte, aber man hatte ihm befohlen, im Trab zu reiten, und er gehorchte.
Die Straße schlängelte sich die nassen Abhänge entlang, die mit Eichen und Ahornbäumen dicht bewachsen waren und noch rotes Herbstlaub trugen. Niwka zuckte furchtsam zusammen und drückte sich an den Büschen entlang. Im Anstieg ging sie im Schritt. Metschik war im Sattel eingedöst und trieb sie nicht mehr an. Von Zeit zu Zeit wachte er auf und sah verwundert immer dasselbe undurchdringliche Dickicht um sich herum. Es hatte weder Anfang noch Ende, wie auch der mit der Umwelt in keinem Zusammenhang stehende Zustand der dumpfen Betäubung, in dem er sich befand, keinen Anfang und kein Ende hatte...
Plötzlich schnaubte Niwka angstvoll und sprang seitwärts in die Büsche, Metschik gegen irgendwelche biegsamen Zweige drückend... Dieser warf den Kopf hoch, und im Nu war seine Betäubung verschwunden, einem Gefühl unvergleichlichen, tierischen Entsetzens Platz machend: auf dem Wege, einige Schritte von ihm entfernt, standen Kosaken.
»Steig ab!...« sagte einer von ihnen im gedämpften, zischenden Flüsterton.
Jemand packte Niwka am Zügel. Metschik schrie leise auf, rutschte aus dem Sattel, machte einige erniedrigende Bewegungen und fiel dann plötzlich die Böschung hinunter. Er schlug sich die Hände schmerzhaft an einem nassen Baumstamm wund, sprang auf, glitt aus, einige Augenblicke zappelte er, schreckensstumm, auf allen vieren, richtete sich dann endlich auf und lief die Schlucht entlang. Er fühlte den eigenen Körper nicht, griff mit
den Händen nach allem, was ihm in den Weg kam, und machte unwahrscheinliche Sprünge. Man verfolgte ihn, hinter ihm knackte das Gehölz, jemand fluchte wütend in gedämpftem Ton...
Moroska, der wusste, dass vor ihm noch ein Kundschafter ritt, achtete nur wenig darauf, was um ihn vorging. Er war im Zustand äußerster Ermüdung, in dem alle, auch die wichtigsten menschlichen Gedanken vollständig verschwinden und nur der einzige unmittelbare Wunsch nach Ruhe, Ruhe um jeden Preis, übrig bleibt. Er dachte weder an sein Leben noch an Warja, noch daran, wie sich Gontscharenko zu ihm verhalten würde; er hatte nicht einmal die Kraft, den Tod Dubows zu bedauern, obwohl Dubow einer der Menschen war, die ihm am nächsten standen; er dachte einzig und allein daran, wann sich ihm endlich das gelobte Land eröffnen würde, wo man sich niederlassen könne. Dieses gelobte Land stellte er sich als großes, friedliches, im Sonnenglanz daliegendes Dorf vor, mit kauenden Kühen und guten, nach Heu und Vieh riechenden Menschen. Er malte es sich aus, wie er das Pferd anbinden, sich mit Milch volltrinken und an wohlriechendem Roggenbrot satt essen, dann auf den Heuboden klettern würde, um dort, in den warmen Mantel eingewickelt, fest einzuschlafen...
Und als plötzlich vor ihm die gelben Ränder der Kosakenmützen auftauchten und »Judas« zurückfuhr und ihn in die vor seinen Augen blutig aufflimmernden Büsche trug, verschmolz diese freudige Vision des großen, im Sonnenglanz liegenden Dorfes mit dem plötzlichen Empfinden eines soeben hier begangenen, ungeheuerlichen, niederträchtigen Verrats...
»Er ist davongelaufen, der Dreckkerl...«, sagte Moroska, plötzlich mit außerordentlicher Klarheit, sich die widerlichen, reinen Augen Metschiks vorstellend und zugleich ein beklemmendes Mitleid mit sich selbst und den hinter ihm reitenden Menschen empfindend.
Er bedauerte nicht, dass er sogleich sterben würde, das heißt aufhören würde, zu fühlen, zu leiden und sich zu bewegen; es war ihm unmöglich, sich in eine so ungewöhnliche Lage hineinzuversetzen, da er ja jetzt noch lebte, litt und sich bewegte, aber es war ihm klar, dass er nun nie dieses im Sonnenglanz liegende Dorf, nie wieder die lieben, teuren Menschen sehen sollte, die hinter ihm ritten. Aber er empfand diese müden, ahnungslosen, sich auf ihn verlassenden Menschen so klar als einen Teil seiner selbst, dass der Gedanke an irgendeine andere Möglichkeit für sich als die, sie noch vor dieser Gefahr zu warnen, in ihm gar nicht auftauchte... Er zog den Revolver, hob ihn, damit die Schüsse besser hörbar seien, hoch über den Kopf und gab drei Schüsse ab, wie verabredet war...
Im selben Augenblick blitzte und krachte etwas, die Welt barst gleichsam entzwei, und Moroska fiel mit »Judas« zusammen rücklings in die Büsche...
Als Lewinsohn die Schüsse hörte, krachten sie so unerwartet, passten so gar nicht in seinen jetzigen Zustand, dass er sie gar nicht begriff. Er verstand ihre Bedeutung erst, als die auf Moroska abgegebene Salve krachte und die Pferde wie angewurzelt stehen blieben, die Köpfe hochwarfen und die Ohren spitzten.
Er sah sich hilflos um, zum ersten Mal von anderwärts Hilfe suchend, doch in dem einen furchtbaren, stummfragenden Gesicht, zu dem für ihn die erblassten und eingefallenen Gesichter der Partisanen zusammenflossen, las er ein und denselben Ausdruck der Hilflosigkeit und der Angst. ,Da ist es, das, was ich befürchtete', dachte er und machte eine Bewegung mit der Hand, als ob er etwas suchte und nicht fand, woran man sich anklammern könnte...
Da sah er plötzlich klar das einfache, knabenhafte, fast ein wenig naive, rauchgeschwärzte und vor Müdigkeit derb gewordene Gesicht Baklanows vor sich. Baklanow hielt in der einen Hand den Revolver, mit der anderen klammerte er sich so fest an den Widerrist des Pferdes, dass seine kurzen kindlichen Finger Abdrücke hinterließen, und blickte gespannt in die Richtung, aus der die Salve gekommen war. Sein naives Gesicht mit den vorstehenden Backenknochen war ein wenig vorgebeugt in Erwartung eines Befehls und brannte in jener echten und größten aller Leidenschaften, in deren Namen die besten Leute der Abteilung ihr Leben gelassen hatten.
Lewinsohn fuhr zusammen, richtete sich auf, schmerzlich-süß erklang es in ihm. Plötzlich zog er den Säbel und beugte sich wie Baklanow mit glänzenden Augen vor.
»Durchbruch versuchen, ja?« fragte er heiser Baklanow und schwang unerwartet den Säbel über dem Kopf, dass er hell in der Sonne erglänzte. Bei diesem Anblick fuhren auch alle Partisanen zusammen und richteten sich in den Steigbügeln auf.
Baklanow warf einen grimmigen Blick auf den Säbel, wandte sich schroff zur Abteilung und schrie durchdringend und scharf etwas, was Lewinsohn nicht mehr verstehen konnte, weil er in diesem Augenblick von derselben inneren Gewalt fortgerissen wurde, die Baklanow beherrschte und ihn selbst vorhin den Säbel hochheben ließ. Und er stürmte auf der Straße vorwärts, fühlend, dass die ganze Abteilung sofort ihm nachstürzen müsse...
Als er sich nach einigen Minuten umsah, sprengten die Leute hinter ihm her, vorgebeugt in den Sätteln sitzend, das Kinn vorgestreckt, mit jenem gespannten und leidenschaftlichen Ausdruck in den Augen, den er bei Baklanow gesehen hatte.
Es war dies der letzte zusammenhängende Eindruck, den Lewinsohn im Gedächtnis behielt, denn im gleichen Augenblick brach blendend und dröhnend irgend etwas über ihn herein, schlug, wirbelte und erdrückte ihn, und er flog, seiner selbst nicht mehr bewusst, doch im Gefühl, dass er noch lebte, über einem brodelnden, orangefarbenen Abgrund dahin...
Metschik sah sich nicht um und vernahm nichts von Verfolgern, wusste aber, dass man ihn verfolgte. Als die drei Schüsse, einer nach dem anderen, und darauf eine Salve krachten, war es ihm, als ob man auf ihn schösse, und er lief noch schneller. Plötzlich erweiterte sich die Schlucht zu einem schmalen kleinen Waldtal. Metschik wandte sich bald nach rechts, bald nach links, bis er wieder einen Abhang hinunterrollte. In diesem Augenblick krachte eine neue Salve, eine viel stärkere und vollere, dann noch eine und noch eine, ununterbrochen, der ganze Wald dröhnte und war voller Leben.
»Ach, mein Gott, mein Gott... o weh... mein Gott...«, flüsterte Metschik, bei jeder neuen betäubenden Salve zusammenfahrend und sein zerkratztes Gesicht absichtlich zu kläglichen Grimmassen verziehend, wie es Kinder tun, wenn sie Tränen hervorrufen wollen. Aber seine Augen blieben widerlich, schändlich trocken. Er lief und lief die ganze Zeit, die letzten Kräfte anspannend.
Das Feuer wurde gedämpfter, als ob es sich in einer anderen Richtung entfernte, und hörte dann ganz auf.
Metschik sah sich einige Male um: von Verfolgung war nichts mehr zu merken. Nichts störte die ferne, hallende Stille, die ringsum herrschte. Atemlos warf er sich unter den ersten besten Strauch. Sein Herz klopfte wie rasend. Er legte die Hände unter die Wange, zog sich zu einem Knäuel zusammen und lag einige Minuten regungslos da, gespannt vor sich hinstarrend. Zehn Schritte vor ihm saß auf einer nackten, dünnen, kleinen, sich bis zur Erde biegenden und von der Sonne beleuchteten Birke ein gestreiftes Eichhörnchen und sah ihn mit naiven gelblichen Äuglein an.
Plötzlich setzte sich Metschik blitzschnell auf, fasste sich an den Kopf und stöhnte laut. Das Eichhörnchen quietschte erschrocken und sprang durchs Gras davon. Metschiks Augen waren ganz irr. Er raufte sich wie rasend die Haare und wand sich mit kläglichem Gewinsel auf der Erde... »Was hab' ich gemacht... o—oh... was hab' ich gemacht«, wiederholte er, sich auf Ellenbogen und Bauch wälzend. Mit jedem Augenblick stellte er sich die wahre Bedeutung seiner Flucht, den Sinn der ersten drei Schüsse und des ganzen darauf folgenden Feuergefechts immer klarer, unerträglicher und kläglicher vor. ,Was hab' ich gemacht, wie konnte ich das tun, ich, ein so braver und ehrlicher Kerl, der keinem Böses wünscht - o-oh... wie konnte ich das tun?'
Je widerlicher und niederträchtiger ihm seine Tat erschien, desto besser, reiner und edler schien er sich selbst vor dieser Tat gewesen zu sein. Und er quälte sich nicht so sehr deshalb, weil diese seine Tat Dutzenden Menschen, die sich auf ihn verlassen hatten, den Tod gebracht hatte, sondern weil der unabwaschbare, scheußlich-schmutzige Fleck dieser Tat all dem Guten und Reinen widersprach, das er in sich selbst fand.
Mechanisch zog er den Revolver und sah ihn lange mit Staunen und Entsetzen an. Zugleich aber fühlte er, dass er sich niemals töten würde, niemals töten könnte, weil er trotz allem in der ganzen Welt sich selbst am meisten liebte; seine weiße, schmutzige, schwächliche Hand, seine stöhnende Stimme, seine Leiden und seine Taten, selbst die allerwiderlichsten. Schon allein von dem Geruch des Gewehröls erstarrend, stellte er sich, als ob er nichts wüsste, und mit duckmäuserig verstohlener Geste steckte er den Revolver rasch wieder ein.
Jetzt stöhnte und weinte er nicht mehr. Das Gesicht mit den Händen verdeckend, lag er still auf dem Bauch. Alles, was er in den letzten Monaten, seitdem er die Stadt verlassen, erlebt hatte, zog in müder, wehmütiger Folge wieder an ihm vorbei: die naiven Träume, deren er sich jetzt schämte, der Schmerz der ersten Begegnungen und der ersten Wunden, Moroska, das Lazarett, der alte Pika mit den silbernen Härchen, der tote Frolow, Warja mit ihren großen einzigartigen Augen und dieser letzte furchtbare Marsch über den Sumpf, vor dem alles andere verblasste.
,Ich kann das nicht mehr ertragen', dachte Metschik mit unerwarteter Aufrichtigkeit und Nüchternheit, und ein großes Mitleid mit sich selbst ergriff ihn. ,Ich kann das nicht mehr ertragen, ich kann nicht mehr ein solch gemeines, unmenschliches, entsetzliches Leben führen', dachte er wieder, um sich selbst noch rührseliger zu stimmen und unter diesen mitleidigen Gedanken die eigene Blöße und Niedertracht zu begraben.
Er verurteilte seine Tat noch immer und empfand Reue, konnte aber seine persönlichen Hoffnungen und Freuden nicht mehr unterdrücken, die sich plötzlich in ihm regten, als er daran dachte, dass er jetzt vollkommen frei sei und dahin gehen könne, wo das Leben nicht so entsetzlich ist und wo keiner von seiner Tat weiß. Jetzt gehe ich in die Stadt, es bleibt mir nichts anderes übrig, als dorthin zu gehen', dachte er und versuchte, diesem Entschluss den Anschein einer traurigen Notwendigkeit zu geben. Mit Mühe unterdrückte er in sich das Empfinden der Freude, der Scham und der Angst, dass dieser Entschluss vielleicht doch nicht verwirklicht werden würde.
Die Sonne stand schon jenseits der kleinen schmiegsamen Birke, und diese lag jetzt ganz im Schatten. Metschik nahm den Revolver und schleuderte ihn weit in die Büsche hinein. Dann fand er eine Quelle, wusch sich und setzte sich nieder. Er entschloss sich noch immer nicht, auf die Chaussee hinauszugehen. ,Am Ende sind die Weißen noch dort?... 'dachte er beklommen. Er hörte, wie das winzige Quellchen im Grase leise rieselte...
,Ist es nicht gleich?' dachte Metschik plötzlich mit der Aufrichtigkeit und Nüchternheit, die er jetzt unter der Menge allerlei guter und rührseliger Gedanken und Gefühle bereits selbst zu finden wusste.
Er seufzte tief, knöpfte das Hemd zu und entfernte sich langsam in der Richtung, in der die Straße nach Tudo-Waki lag.
Lewinsohn wusste nicht, wie lange sein Zustandhalber Bewusstlosigkeit gedauert hatte; es schien ihm, sehr lange, aber in Wirklichkeit war höchstens eine Minute vergangen. Als er jedoch wieder zu sich kam, fühlte er zu seinem großen Erstaunen, dass er noch wie früher im Sattel saß, nur dass er keinen Säbel mehr in der Hand hielt. Vor sich sah er die schwarze Mähne seines Pferdes und dessen blutiges Ohr.
Erst jetzt vernahm er die Schüsse und begriff, dass sie ihnen galten. Die Kugeln pfiffen dicht an seinem Kopf vorbei. Zugleich aber wurde es ihm klar, dass die Schüsse von hinten kamen und dass das Schlimmste schon vorüber war. In diesem Moment holten ihn zwei Reiter ein. Er erkannte Warja und Gontsdiarenko. Gontscharenkos Backe blutete. Lewinsohn entsann sich der Abteilung und sah sich um, nichts war von ihr zu sehen: die ganze Strecke war mit Menschen- und Pferdeleichen übersät, einige Reiter mit Kubrak an der Spitze eilten Lewinsohn mühsam nach, weiter sah man noch einige kleine Grüppchen, die rasch zusammenschmolzen. Ein Mann blieb auf einem hinkenden Pferd weit zurück, winkte mit der Hand und schrie etwas. Er wurde von Leuten mit gelben Mützenrändern umringt, man schlug mit Gewehrkolben auf ihn ein, er wankte und fiel. Lewinsohn runzelte die Stirn und wandte sich ab.
Jetzt erreichten er, Warja und Gontscharenko die Straßenbiegung. Das Feuer ließ etwas nach, und die Kugeln pfiffen ihnen nicht mehr um die Ohren. Lewinsohn hielt mechanisch seinen Hengst zurück. Die überlebenden Partisanen holten ihn einzeln ein. Gontscharenko zählte neunzehn Mann, sich selbst und Lewinsohn mitgerechnet. Sie galoppierten lange schweigend die Straße hinunter ohne einen einzigen Laut und richteten ihre schreckerfüllten, aber schon freudigen Augen auf den schmalen, gelben, stummen Raum, der wie ein verfolgter Hund einsam und unablässig vor ihnen davoneilte.
Allmählich begannen die Pferde zu traben. Man konnte einzelne verbrannte Baumstümpfe, Gesträuch, Kilometersteine und den klaren Himmel in der Ferne über dem Wald unterscheiden. Dann gingen die Pferde im Schritt.
Lewinsohn ritt, den Kopf auf die Brust gesenkt, in Gedanken versunken, ein wenig vor. Zuweilen sah er sich hilflos um, als ob er etwas fragen wollte, aber sich nicht entsinnen konnte was; er schaute auf alle sonderbar und unheimlich mit einem langen Blick, der blind ins Leere sah. Plötzlich riss er sein Pferd jäh zurück, wandte sich um und sah zum ersten Mal seine Leute mit seinen großen, tiefgründigen blauen Augen an. Achtzehn Menschen blieben stehen wie ein Mann. Es wurde ganz still.
»Wo ist Baklanow?« fragte Lewinsohn.
Achtzehn Mann sahen ihn stumm und verwirrt an.
»Baklanow ist gefallen...«, sagte endlich Gontscharenko und blickte streng auf seine große schwielige Hand, die die Zügel hielt.
Warja, die im Sattel zusammengekauert neben ihm ritt, warf sich plötzlich auf den Hals ihres Pferdes und weinte laut und hysterisch auf. Ihre langen, zerzausten Zöpfe hingen fast bis zur Erde und zitterten. Das Pferd zuckte müde mit den Ohren und zog die herabhängende Lippe ein. Tschish schielte zu Warja hin, schluchzte auf und wandte sich ab.
Die Augen Lewinsohns hielten sich einige Sekunden noch über den Leuten. Dann schrumpfte er gleichsam zusammen, sank in sich, und alle merkten plötzlich, wie schwach und alt er geworden war. Doch schämte er sich seiner Schwäche nicht mehr und verbarg sie nicht: er saß mit gesenkten Augen, blinzelte langsam mit den langen feuchten Wimpern, und die Tränen rollten ihm in den Bart... Die Leute blickten weg, um ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren.
Lewinsohn wandte sein Pferd und ritt langsam vor. Die Abteilung folgte ihm.
»Wein doch nicht, wozu denn...«, sagte schuldbewusst Gontscharenko und fasste Warja an der Schulter.
Immer wenn Lewinsohn auch nur ein wenig Ruhe und Vergessen gefunden hatte, sah er sich verwirrt um und besann sich dann jedes Mal darauf, dass Baklanow nicht mehr war. Und jedes Mal standen ihm dann Tränen in den Augen.
So ritten sie aus dem Wald hinaus, die Neunzehn.
Ganz unerwartet weitete sich dieser Wald vor ihnen zur unabsehbaren Ferne; hoch und blau der Himmel, grellrot und sonnenüberflutet ein abgemähtes Feld, das sich zu beiden Seiten der Straße, so weit das Auge reichte, erstreckte. In der entgegengesetzten Richtung, beim Weidengehölz, das ein wasserreiches Flüsschen blau durchschimmern ließ, lag ein von den goldenen Kuppeln der fetten Getreideschober glänzender Dreschboden. Dort ging das lustig tönende, mühereiche Leben seinen Gang. Wie kleine bunte Käfer kribbelten die Menschen, flogen die Garben, rhythmisch-trocken klopfte die Dreschmaschine; aus der Wolke glitzernder Spreu und Staubes klangen erregte Stimmen und perlendes, hohes Lachen der Mädchen. Hinter dem Fluss blaute das Gebirge, gleichsam das Himmelsgewölbe stützend und mit seinen Ausläufern in den gelbgelockten Wald übergehend. Über die scharfen Zackenkämme floss ein durchsichtiger Schaum rosaschimmernder weißer Wolken in das Tal herab, sich blähend und sprudelnd wie kuhwarme Milch.
Lewinsohn sah mit schweigendem, noch tränenfeuchtem Blick diesen weiten Himmel, diese Brot und Ruhe verheißende Erde, diese fernen Menschen auf dem Dreschboden. Bald wird er sie zu ebensolchen ihm nahestehenden Menschen machen "müssen, wie es jene schweigend hinter ihm herreitenden Achtzehn waren. Er hörte auf zu weinen: man musste leben und seinen Verpflichtungen nachkommen.