Albert Daudistel – Das Opfer (1925)
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Erster Teil

1.

Eduard trug seit gestern die ersten langen Hosen. Morgen früh sollte er ins Leben gehen — zur Grube! Freudig gelobte er seiner Mutter, sie in ihren alten Tagen treulich zu pflegen. Die Mutter seufzte.
Auf der Treppe polterte es lebhaft. Eduard öffnete. Und jubelnd sprang sein Jugendkamerad, der Heinrich, in die Stube. „Eduard, ich hab was Feines gefunden! Komm mal her!" Heinrich zog ein zerknittertes Zeitungsblatt aus der Tasche und ging der Dämmerung wegen zum Ofen, aus dessen Aschfall rötlicher Feuerschein strahlte.
„G'n Abend, Frau Frank, ich hatt Sie gar nicht gesehen!" Mit diesem entschuldigenden Gruß kniete sich Heinrich vor die Ofentür und las: „Seelustige schulentlassene Knaben finden Stellung als Schiffsjunge auf erstklassigen Segel- und Dampfschiffen. Späteres Steuermannsexamen berechtigt zum einjährigen Dienst bei der kaiserlichen Marine. Seegemäße Ausrüstung kostenlos. Näheres bei Harry Miller, Hamburg, Vorsetzen hundertachtundsechzig a. — Eduard, ich werd Seemann! — Kommst du mit in die weite Welt? Heut Abend noch schreib ich nach Hamburg!"
Fragend schaute Eduard nach seiner Mutter. Sie aber schwieg. Eduard und Heinrich setzten sich auf den Fußboden. Es wurde dunkel. Begeistert sannen die beiden Jungen in die Zukunft.

Durch die Straße schwirrte Aufregung. Frauen jammerten. Und Kinder weinten.
Frau Frank schreckte auf. Sie zündete das Licht an. Heinrich und Eduard schauten horchend. Da wurde die Stubentür aufgerissen. Und herein stürzte mit schmerzverzerrtem Gesicht und flehend gerungenen Händen die Mutter des Heinrich. „Der Vater... Der Vater ist verunglückt!" Ohnmächtig fiel sie zu Boden.
Heinrich schrie: „Mutter!"

Eduard war aus der Stube gestürmt und suchte Hilfe. Bald traten zwei Nachbarn mit aufgekrempelten Hemdsärmeln ein, nahmen den erschütterten Heinrich von der Mutter und rafften sie auf das Bett. Mittlerweile füllte sich die Stube mit rußig aussehenden Bergleuten. Frauen standen gedrängt in der Tür und redeten Heinrich Trost ein oder tupften sich mit ihren Schürzen die Augen. „Lasst mich doch rein!"
Durch den Türspalt zwängte sich Eduard. Seinen Kleidern entströmte die kalte Luft der Straße. Ihm folgte der Arzt.
Scheu wichen alle zur Seite. Der Doktor befühlte den Puls der Ohnmächtigen. Die Wanduhr raschelte. Kaum war ihr letzter Schlag verklungen, da ließ der Arzt die Hand der Liegenden fallen, griff nach seinem Hut und sagte, dass die Frau Hölzel gleich abgeholt würde — sie sei tot.

Der Ofen stand kalt. Die Tote war fortgetragen worden. Heinrich und seine beiden Schwestern schliefen endlich erschöpft. Frau Frank löschte das Licht. Die Märznacht toste.

Das Hufgeklapper der Pferde und das Holpern der Wagen wurde lauter. Fabriksirenen schrieen. Der Tag begann. Achthundert Meter tief senkten die Förderkörbe der Zechen Menschen in die Erde. Frau Frank weckte ihren Eduard. Eindringlich flüsterte sie, dass er den Tag über bei Heinrich und dessen Schwestern bleiben müsse und dass er der Frau Pfisterer, die bald käme, behilflich sein solle. Dann warf sie sich ihr Wolltuch über die Schultern, schaute noch mal nach den schlummernden Waisen und ging. Eine Stunde später stand sie in einer Waschküche, im Dampfdunst kaum sichtbar, bei ihrer Arbeit.

Frau Pfisterer war in der Hölzelschen Stube mit Reinemachen beschäftigt. Heinrich und seine Schwestern saßen mit Eduard am Tisch und tranken Kaffee. Da kam der Pfarrer in die Stube. „Guten Morgen! — Na, meine Kinder, schmeckt's? Das ist recht. Und du, mein Junge... ?" Er reichte seine fleischige Hand dem Heinrich. Heinrich ergriff sie mürrisch. Dann wandte der Geistliche sein volles Gesicht lächelnd nach Frieda und streckte beide Arme nach ihr. „Komm mal zu mir, du kleines Ding!" Die fünfjährige Frieda aber floh zu ihrer Schwester und schrie: „Mutter!" Da schaute der Pfarrer nach der Frau Pfisterer und sagte ihr, dass die drei Kinder bald in ein Waisenhaus kämen. Er nahm eine Prise.
Während er sich die gerötete Nase rieb, griff er nach der Tür. „Seid brav, denn euer Vater und eure Mutter sind im Himmel und sehen ständig auf euch herab!" Der Seelsorger verließ das Haus.

„Waisenhaus!" Schrecken starrte aus Heinrichs Augen. Um zu trösten, griff Frau Pfisterer nach der verstaubten Bibel auf dem Schrank und las vor. Die zehnjährige Else fand Trost. Die kleine Frieda vergaß sich im Blicken nach der Alten mit der Hornbrille und nach Heinrich, der den Kopf verbittert auf die Fäuste stützte und so wie die lauschende Else den Eindruck der Aufmerksamkeit machte.
Auch der Nachmittag verlief ruhig. Als es anfing zu dunkeln, sammelte Frau Pfisterer ihre Schützlinge um den warmen Ofen und erzählte:
„Es war, als Gott auf Erden wohnte, da glich die Welt noch einem Paradies, und alle Menschen waren Engel, da fand einer der Engel ein noch nie gesehenes Metall, das wie die Sonne glänzte... Alle Engel begehrten sehr nach dem seltenen Fund. Der Besitzer aber jenes blinkenden Metalls gab nur etwas davon her, wenn er die Flügel der anderen dafür bekam. Die begierig Gewordenen tauschten. Folge war, dass sie nicht mehr Engeln glichen, sondern Teufeln... Darum verließ Gott die Erde. In der Welt wurde es nun kalt. Denn vor Gottes Zorn verfinsterte sich die Sonne. Da jammerten die Menschen und forderten ihre Flügel zurück. Der Kluge aber machte sie glauben, dass Gott ihre Flügel versteckt hätte und sie zur Strafe danach suchen müssten. Eifrig suchten sie die Erde ab. Aber vergebens. Da gab ihnen jener kluge Erzengel viele Werkzeuge aus Stein und sagte, Gott habe sie gegeben, damit sie auch unter der Erde nach ihren Flügeln suchen könnten. Nun fingen die Betrogenen an zu scharren, bis sie auf harte Felsen stießen. Und da bekamen sie schwere Werkzeuge aus Bronze und Eisen. Mit diesen gruben sie Tag und Nacht. Auch hatten sie sich schon große Winden und Förderkörbe gemacht, wie sie die Zechen haben. Und so gerieten sie viele hundert Meter unter die Erde. Unaufhörlich wühlten sie. Da fanden sie tief unten in der Erde schwarze Brocken. Bald merkten die Menschen, dass diese brannten und heizten. Deshalb suchten sie nur mehr nach Kohle — so hießen die schwarzen Brocken. Dabei vergaßen sie ganz, warum sie eigentlich angefangen hatten zu graben. Die Arbeit war schwer, und viele Menschen starben. Darum fingen sie an zu murren. Der Kluge aber sagte ihnen nun zum Trost, Gott habe versprochen, dass jeder, der suche, bis er sterbe, dann zum Lohn wieder ins Paradies komme. Hoffnungsfroh gruben sie weiter. Jener Kluge aber lachte die Betrogenen aus. Denn er spielte mit seinem glänzenden Metall im Paradies auf Erden und wärmte seinen Leib am Feuer der Kohlen, ohne sich zu plagen!"
Noch lange klang die monotone Stimme der alten Frau mit dem Summen des Kaffeekessels und mit dem Knistern des Feuers in harmonischem Akkord. Deshalb traf auch Frau Frank, als sie von ihrer Arbeit kam, die Kinder in beruhigter Stimmung. Nachdem Abendbrot gegessen war, ging Eduard mit seiner Mutter nach Hause. Frau Pfisterer blieb bei den Waisen.

Auf Zeche Hammerfest" sollte in dieser Nacht die Bergung der Verunglückten beendet werden. Möbelwagen, gefüllt mit roh gezimmerten Särgen, rollten an. Eifrig wurden zerfetzte und verkohlte Bergmannsleichen und einzelne Gliedmaßen eingesargt. Endlich war der Stapelplatz geräumt, und die Möbelwagen rumpelten schwer durch die schlafende Stadt zum Friedhof. Zechensirenen schrieen Leid wach. Mütter und Kinder eilten vor das Direktionsgebäude. Leutselig lächelte der dicke Kommerzienrat von oben. „Beruhigen Sie sich! In der vergangenen Nacht ist alles geborgen worden!" Schmerz zerstreute sich. Dann holperten Wagen, beladen mit frischem Grubenholz, in die Zeche.

Drei Tage nach der Grubenexplosion bewegte sich ein endloser Trauerzug unter den Klängen des Totenmarsches durch die Straßen. Neben Eduard, seiner Mutter und Frau Pfisterer ging ein Matrose der Kriegsmarine: der älteste Sohn der Familie Hölzel.
Heinrich war geflüchtet.
Else und Frieda befanden sich bereits im Zuge nach B., wo ein Waisenhaus sie aufnehmen sollte.

Müde und zermürbt waren die Schwestern in Begleitung einer Nonne am Eingangsportal der Anstalt angelangt. Die Klosterfrau zog an einem baumelnden Kreuz. Im Schloss knackte es. Sie traten ein. Links und rechts standen lebensgroße Heiligenstatuen. Else und Frieda schauten andächtig.
Und gerade als die erste Erde von der Schaufel des Totengräbers auf den Sarg der Mutter fiel, erschreckte die Kinder der schwere Schlag der Waisenhaustür.
Hatten die offenen Gräber der Eltern den Bergmannskindern als dunkler Eingang in bange Ungewissheit entgegengegähnt, so war es doch die Liebe mitfühlender Menschen, die die jungen Seelen stützte. Jetzt aber tappten sie hilflos zwischen steinernen Heiligen.
In einer Uniform rauer brauner Kleider, beschuht mit schweren Holzpantoffeln, das Taschentuch an die Brust geheftet und kahl geschoren, standen sich Else und Frieda für lange Zeit zum letzten Mal im Büro der Vorsteherin gegenüber. Bald war an der großen schwarzen Wandtafel an zwei verschiedenen Stellen um je eine Nummer die Zahl geändert. Dann führten Nonnen die Geschwister voneinander.

Das letzte Gebet des Tages war geplappert. Schwester Walpurgis und ihre Assistentin Cordula löschten die Lichter und verließen den Schlafsaal.
Räuspern. Schleichen. Dann Kichern!
Nackt, mit geil gestreckten Beinen, sich an den Brüsten spielend oder zu zweien aufeinander liegend, gewahrte Else die vorher so andächtig gewesenen Mädchen. Doch die letzten Eindrücke ihres jungen Lebens und besonders die fremde zeremonielle Abwicklung der ersten Stunden in diesem Hause verursachten, dass sie auch diesen Anblick als das „Neue" aufnahm.
Erschöpft durch physische und seelische Mühseligkeiten schlief sie ein.
Erschreckt wachte sie auf. Ein heißer Mädchenleib drängte sich an sie und stotterte erregt: „Von, von wo bist du?"
Während Else erzählte, fühlte sie, wie die fiebernden Hände des fremden Mädchens ihre Arme streichelten und auch ihre Beine. Und immer tiefer kroch die Unbekannte unter die Zudecke. Plötzlich spürte Else einen unbekannten stechenden Schmerz... Sie schrie.
Kampf entstand!
Schlüssel rasselten!
Dann strampelndes Huschen.
Schwester Walpurgis und ihre Assistentin betraten den Schlafsaal und eilten in die Gänge zwischen den Betten. Die Nachbarin der Else stand mit blutig zerkratztem Gesicht vor der Schwester Walpurgis und erzählte, dass die Neue zu ihr ins Bett gewollt habe, und als sie aber sich dagegen gewehrt habe, hätte Else sie gekratzt. Else wurde abgeführt. Und bald lag sie, von Rutenhieben blutend, nackt im Keller. Ekel und Angst vor den fremden Menschen erfüllte das Kinderherz. Schmerz jammerte nach Erbarmen. Ihre Hilferufe verhallten aber ungehört in dem hohlen Gewölbe. Verzweifelt sank Else in den dunklen Dunst der Wände.
Langsam wurde es hell. Zitternd richtete sie ihre leidvollen Augen zum hochgelegenen Kellerfenster. Sie gierten in das graue Licht des aufbrechenden Tages.


2.

Seit ein paar Stunden hatte es angefangen aufzubrisen mit Regenböen von Südwest. Mit zwei Reffen im Mars und mit halbgegeiter Fock stampfte der Segler „Bella" mit nordöstlichem Kurs, von der Westküste Südamerikas kommend, im berüchtigten Golf von Biskaya.
Das Barometer fiel stark. Der Atlantiksturm begann. Am Handruder stand Heinrich, neben ihm, bedächtig den Wolkenzug und die aufkommende See beobachtend, ebenfalls in Ölzeug und Südwester, der Kapitän. „Der Wind dreht sich nach Westen und wird auf Nordost enden!" Noch ehe Heinrich zum Erwidern kam, riss ihm eine unverhofft einsetzende Böe das Wort von der Zunge, und beide Seeleute standen bis an den Hals im eisigen Wasser einer von achtern über das Deck brandenden Woge.
Nachdem sich beide aufgerafft haben, brummte der Kapitän: »Weck die Freiwache zum Segelreffen!" Heinrich schob sich im hin und her rauschenden Wasser nach dem Mannschaftsraum und rief die trotz allem Toben der Naturgewalten schlafenden Seeleute.
Bald schwirrte vom Großmast her das Kommando: „Fock fest! — Vor- und Marssegel dicht reffen!" Die „Bella" schlingerte nun derart, dass die Rahenden fast die Schaumkämme der Wogen berührten. Aber mit zusammengebissenen Zähnen enterten die Seeleute hoch in den Mast und arbeiteten zäh, bis sie das Segel dem zerrenden Sturm entrissen und festgemacht hatten. Dann enterten die Seeleute nieder.
In der nun angebrochenen Nacht lag die „Bella", sich nicht mehr wo wild bäumend, nur ab und zu eine See übernehmend, hart beim Wind. Vier Tage trieb der Segler willenlos, von der aufgewühlten See herumgeworfen, in dem gefährlichen Golf von Biskaya, bis dann endlich das Wetter abflaute und es wieder hieß: „Segel setzen!" Endlich, eine Woche später, lief die „Bella" nach zweijähriger wilder Fahrt, mit Salpeter beladen, in ihren Heimathafen Hamburg ein.

Zwischen Händlern und Dienstleuten, zwischen Runnern von Freuden- und Boardinghäusern drängte sich die Besatzung der „Bella" zur Abmusterungsstelle. Bald hatten die Segelschiffmatrosen ihren schweren Verdienst für die zweijährige Reise in den Taschen, und bald, nachdem sie sich neu eingekleidet hatten, wurden sie umschwärmt von lächelnden Straßendirnen. Der Abend kam.
Im „Atlantik-Haus" setzten, von Trommelwirbel begleitet, auf einen Paukenschlag Trompeten, Geigen und Ziehharmonikas ein. Und lärmend jauchzten, von lustvollen Gefühlen und von Whisky beseelt, die landfrohen Seeleute mit den weinfrohen Halbnackten.
Immer mehr briste die Lust auf. Immer leidenschaftlicher raste die Radaukapelle.
Der „Atlantiksturm" fing an.
Heinrich hatte bereits Windstärke neun! Bedächtig balancierend schob er sich nach dem „Rosenlogis". Wollüstig brüllte er unter die Seebräute. Eben setzten die Ziehharmonikas melancholisch wie eine Orgel ein, dann schneller und schneller werdend, bis die Kapelle wieder raste. Draußen dröhnte der Fußboden unterm Two-step. Schreiendes Lachen gellte. Die ans Schlingern gewöhnten Seeleute stampften mit von Wollust geblähten Segeln.
Komm!" Heinrich ging mit der „Bella" nach oben.
Lustig pfiff der „Sturm" und riss die Takelage. Auf der obersten Rah lag Heinrich übergebeugt, die Füße fest gesträubt, und arbeitete sich zäh das „zerrende Segel" Zoll um Zoll unter den Bauch, bis er es so ganz dem „Sturm" entrissen und festgemacht hatte. Dann enterte er nieder. Und die „Bella" lag, sich nicht mehr wild bäumend, neben Heinrich, „Backe an Backe".
Acht Tage trieb der „Segler" willenlos, von aufgewühlter Leidenschaft herumgeworfen, bis er sich eines Morgens verblüfft im Rinnstein wieder fand. „Ein echter Seemann!" spottete ein Passant. Scham half dem Heinrich auf die Beine. Und ausgebeutete Taschen schrieen: „Segel setzen!"
Ein paar Tage später durchkreuzte Heinrich wieder im vollen Orkan auf einem Dampfer den berüchtigten Golf von Biskaya.


3.

Im Wartesaal des Hamburger Hauptbahnhofes erster und zweiter Klasse saß seit vielen Stunden ein elegant gekleidetes junges Mädchen. Unruhig lugten ihre Augen. Nervös drückte sie ihr Taschentuch. Denn der Zeiger der Uhr rückte immer weiter.
Der letzte Zug war abgefahren.
Die Kellner stellten die Stühle auf die Tische. Mühsam erhob sich das Mädchen und verließ seufzend den Saal. Dann ging sie fröstelnd, verfolgt von lockenden Männern, stundenlang in der großen Halle hin und her.
Qualvoll pendelten ihre Gedanken zwischen Verzagen und Hoffen.
Endlich gähnte der Morgen. In der Halle dröhnte Leben. Der Wartesaal wurde geöffnet. Sie trat wieder ein. Kaffeeduft steigerte ihren Hunger. Sie zitterte.
Entschlossen griff sie nach ihren flimmernden Ohrringen, nahm sie ab und winkte einem Kellner. Sie flüsterte mit ihm und reichte ihm endlich ihren Schmuck. Er prüfte und gestikulierte zögernd. Dennoch aber griff er in die Tasche und zählte ihr den zustande gekommenen Preis vor. Bald schlürfte sie gierig heißen Kaffee. Und aß. Es war acht Uhr.
Getrieben von der Furcht vor den kalten und ruhelosen Nächten, flüchtete sie in die Stadt, um Erwerb zu erhaschen. Abgehetzt, aber ohne Erfolg, stand sie mittags am Kai des Hafens, wo die Dampfjollen Hafenarbeiter und Seeleute absetzten. Plötzlich tauchte in ihr die Frage nach ihren Geschwistern auf. Lange stand sie am Kai und sann... Wehmütig wandte sie sich und irrte wieder in die Stadt. Allmählich kam der Abend. Regen fiel.
Einige Tage später kauerte die junge Unglückliche in zerknüllter Garderobe, von Not und Elend gebleicht, im Wartesaal dritter und vierter Klasse. Ihr Suchen nach Erwerb war umsonst gewesen. Hunger, Müdigkeit und Kälte erwürgten ihre Energie. In ihren Augen brannte Angst, Verzweiflung und Flehen. Endlich wurde sie freundlich angesprochen. Und bald verließ sie in Begleitung eines Herrn den Bahnhof. Hotel. Reichliches Essen. Belebender Wein. Dafür erhielt sie am folgenden Abend den Befehl zur „Promenade" am Alsterbecken. Zwei Wochen vergingen. Es schneite. Und immer noch bestrich sie den Jungfernstieg. Endlich ruhte sie auf der Holzpritsche eines Polizeiarrestes zwischen gedrückten Dirnen, die dann, dem Sittenkommissar und Arzt vorgeführt, sich in ihr Los fügten und zur Zerstreuung die neuesten Schlager summten.

Aus den braunen Betten der Polizeistation im Krankenhaus schauten schwarzumränderte, trübe Augen. Der Chefarzt, die Assistenten und die Wärterin traten in die qualvolle
Stille.
„Wie war hier das Präparat?" fragte der Stationsarzt am Bett einer Patientin mit einem Mundverband.
„Drei plus Spirochäten!"
„Behandlung!"
So schritten die Ärzte von Bett zu Bett. Immer wieder klang es: „Behandlung!"
Glatte, blütenweiße oder gelblich verwelkte Gesichter, umwallt von üppigem Haar oder spärlich mit silbergrauen Strähnen behangen, folgten mit Spannung der Visite, die vor dem Bett eines kaum sechzehnjährigen Mädchens stehen geblieben: Frieda Hölzel...
„Behandlung!"

Sechs Märtyrertische standen in Abständen nebeneinander, beschienen von der Frühlingssonne, die durch das Glasdach den Äther und widerlich süßen Dunst in glitzernde Stäubchen auflöste. In der Nähe des Operationstisches standen große und kleine Flaschen mit dem Porträt des Todes auf dem Bauch. Daneben waren große Sezierplatten mit Zangen, Scheren, Nadeln und Stangen, die, an einem Ende im Halbkreis gebogen, aussahen wie Feuerhaken. Dicht neben den Schlachtbänken auf dem Terrazzoboden standen weißemaillierte Eimer.
Rastloser Betrieb setzte ein. Über die Tische gebeugt, arbeiteten gummibehandschuht mit exakten Handgriffen schweigsam die Ärzte an festgeschnallten Frauenleibern. Schwestern nahmen Instrumente ab und reichten zu. Die Gequälten schrieen. Und ihre Hände krallten sich um die Tischkanten. Eiter quoll. Blut spritzte. Der Raum ward Folterkammer. Unentwegt klang es: „Höllenstein, bitte!"
Das Schreien wurde Stöhnen. Dann wurden die nur noch Röchelnden in den Krankensaal getragen. „Die nächsten!"
Schnell entleerten die Schwestern die vollen Eimer.
Sechs Wochen später, nachdem Frieda gesund war und die ihr wegen gewerbsmäßiger Unzucht zudiktierten vierzehn Tage Gefängnis verbüßt hatte und in die Kontrollliste für Prostituierte eingetragen war, wurde sie aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Hoffnung trieb sie an eine Adresse, die ihr eine Dirne im Krankenhaus bekannt gegeben hatte. Und am selbigen Abend schon saß sie im Zug nach Bremerhaven. Ihr Gesicht schien zufrieden; denn sie fuhr aus ihrem Elend. Es war Nacht. Doch jetzt quälte sie nichts mehr. Sie war am Ziel! An einem marmorumfaßten Portal klingelte sie. Die Tür öffnete sich. Frieda trat ein.
Weiche Teppiche. Süßer Duft. Prunkvoll gemalte Wände. Überall große Spiegel. Magischer Lichtschein hing über märchenhafter Ausstattung. Dumpfe Stille herrschte in dem Bordell.
Bald saß Frieda im luxuriösen Marmorbad. Und bald stand sie frisch und duftig in rotseidenen Pumphöschen und weitärmeliger, ausgeschnittener Bluse, aus der ihr voller Busen weiß zur Lust lockte.
Frieda atmete auf, als sie ihr Zimmer mit dem Himmelbett betrat. Erleichtert zündete sie sich vor dem Spiegel eine Zigarette an, sog und lachte glücklich, bis der Rauch sie allmählich wie eine Wolke einhüllte. Da löschte sie plötzlich weinend das Licht...


4.

Vom funkelnden Mailänder Himmel leuchtete der Mond nach kauernden Heimatlosen auf der breiten Treppe des Domes. Zwei Karabinieri auf der untersten Stufe nickten stumm. Schritte hallten. „Morgen ist großes Treffen in der ,Weinkirche'!" Die Stadtgendarmen erhoben sich aus der wachenden Ruhe und setzten sich behäbig in Bewegung. Um die Domecke bogen zwei Deutsche, der eine mit langem Vollbart, der junge mit englischer Mütze. „Buona sera, signori!" Freundlich tönte die Frage der Schutzleute: „Sind Sie Ausländer, meine Herren?" Als ob Sterne am Marmor des Kirchenpalastes anklängen, so erschallte die freundliche Antwort: „Siamo internationali, signori!" Dann bot jener mit dem Schlapphut Zigaretten an. Sein Gefährte Heinrich fragte nach der Via arena, und mit gedämpften Worten begleiteten die Karabinieri die Fremden bis zur Grenze ihres Wachreviers.

Via arena Nummer 34, das Logierhaus der Globetrotter, ein kleines Häuschen, das sich altersschwach an starken Eisenträgern stützte. Philipp, der Ältere, stellte sich mit dem Rücken an die Eingangstür und schlug mit Fäusten und Füßen Lärm. Von drinnen knurrte es: „Porco di Christo! Wer schlägt so spät in der Nacht an meine Tür?" Philipp brummte: „Mach auf, Olle!" Die Tür öffnete sich. Und ein altes, verwahrlostes Weib fragte mit Männerstimme: „Wer seid Ihr?"
„Bist du blind geworden, Mama Rosa?" „Oh — il Philippo! Wo kommt Ihr her so spät?" Während die beiden Freunde eintraten, begrüßte die Alte auch Heinrich und deutete nach oben. „Es sind noch Schlafplätze frei. Buona notte!"
Sie ging in ihre Kammer. Philipp und sein Freund stolperten die abgetretene steile Treppe hoch. Und bald schnarchten sie mit den anderen um die Wette.

Der Nachmittag lachte, als die beiden Freunde endlich unbekümmert ihre Toilette vor der großen Erkerscheibe des „Cafes Gambrinus" unter der „Galleria Vittorio Emanuele III." beendet hatten und sich dann durch das wogende Korsoleben drängten. Kaum waren sie in die Via Monfort eingeschwenkt, da deutete der bärtige Philipp nach einer Kirche unten in der Straße. „Dort steht sie, die ,Chiesa di Santa Maria'! Aus jenem göttlichen Schafstall machte Napoleon I. einen Pferdestall. Aber wir, wir haben sie ausgemistet und sie zu einem Tempel für die Welt hergerichtet, in dem nicht gemuckt und gelispelt, sondern frei und laut aus vollem Herzen das Leben gefeiert wird. Und darum nennen wir dieses ehemalige Gotteshaus einfach die ,Weinkirche'!"
Beide waren angekommen. Philipp öffnete die große Tür, und im Sonnenschein, der wie ein Teppich auf den Steinplatten lag, folgte ihm Heinrich. Laut dröhnte das Zuschlagen der Tür. Dann rumpelte und klirrte es... „Kreuzdonnerundhimmelkeil!" fluchte der alte Philipp, welcher, vom Tageslicht geblendet, wider den Tresen gerannt war und dabei Flaschen und Gläser zu Boden gestreift hatte.
„Hallo, ,Krachphilipp'! — Servus, alter Tramp!" schrie einer aus dem Düstern. Einsetzendes Gelächter gab Mandolinen, Gitarren und Ziehharmonikas das Zeichen zum Anfangen, und lustiger Strudel zog den fluchenden Krachphilipp und den Heinrich in die ungebundene Freude internationaler Globetrotter.
Allmählich waren dem Heinrich in dem Kirchendunkel die Augen aufgegangen. Wo einst Betstühle waren, standen jetzt braunpolierte Tische aus Eichenholz. Oben im Gewölbe klebte noch hie und da ein Stück vom alten Himmel. Die gemalten Sterne waren ganz verblichen. Die Engel hinten über dem Allerheiligsten, in dem dickbauchige Fässer Trost und Labsal „per Tutti" goren, schauten verdorrt wie Mumien. Aber Gesang, Weingeruch und Pastaciataduft belebten alles. Begeistert erschallte ein italienisches Volkslied. Und gepackt von freiheitlicher Leidenschaft, stimmte auch Heinrich ein: „... stretti, stretti, nell' estasi d'amor!
La spagnola s'amar cosi:
Bocca, bocca la nott el di... "
„Bravo!" — „Cameriere! Fünf Fiaschi ,Christustränen', aber presto!" — „Noch zwei Liter di Mastiaca!" schrie ein anderer. Und bald dröhnte es wie trotziges Fluchen hoch im Gewölbe: „Saluti! Prost!" Dann klirrten die Gläser wie Engellachen.
Wieder drang Sonne in die düstere Kirche. Blutrot und goldgelb funkelten die Gläser. Die Fröhlichen schauten nach der Tür.
Ein Greis mit langem grauem Bart in verwitterten Kleidern tappte barfuss in stolzer Haltung näher. Wie vom Hund gebissen, schnellte der knorrige Krachphilipp hoch. „Der ,silberne Gustav'! Servus, altes Gerippe!" „Servus! Servus! Servus!" knallte es durcheinander. Begeistert wurde der Alte mit Fragen befeuert. Die „Christustränen" leckten von den Tischen.
„Cameriere! Noch fünf di Ricinado und fünf di Samos, presto, presto!"
Ergriffen schüttelte der silbergraue Greis jedem die Hand und ließ sich neben dem Krachphilipp nieder. Der stand auf, befahl einzuschenken und erhob sein Glas zu Ehren seines siebzigjährigen Freundes.
Gustav erwiderte. Seine weißen Augenbrauen stellten sich wie Stacheln. Er ballte die welken Fäuste. Seine altersgeschwächte Stimme bannte. Plötzlich schlug er mit der knöchernen Rechten auf den Tisch. Die Linke erhob er herausfordernd und schrie: „Evviva la liberta!" — Heinrich war erschüttert. Einem solchen Gottesdienst hatte er noch nie beigewohnt. Während die Unterhaltung gesellig wurde, fragte er seinen Reisegefährten, was dies alles für Leute seien und wie es komme, dass diese aus allen Nationen und Rassen Zusammengewürfelten sich so gut kennen und so einmütig seien. Philipp deutete nach dem „silbernen Gustav". „Schau dir diesen Kerl an. Muss man sich nicht über die Feuerkraft, die ihn beseelt, wundern? Und dennoch hat seine Seele einen Bruch!"
Heinrich schaute zweifelnd.
„Ja, so ist's: Wie jeder Mensch, so hat auch dieser Kerl eine Beule im Herzen. Nur lässt er sie nicht merken. Selbst in seiner Trunkenheit schaut er nur listig hinter dem Schleier seines Geheimnisses hervor. Hein! — Dich will ich's wissen lassen, was er mir mal einst verriet. Aber... !" Der Krachphilipp erzählte dem Heinrich, dass der „silberne Gustav" Privatdozent einer deutschen Universität gewesen war, dass er ein armes betrogenes Mädchen, die Tochter seiner Hauswirtin, vor Schwangerschaft gehütet hatte und so mit dem Strafgesetz in Konflikt geriet und verfolgt wurde.
„Die Wogen seines damaligen Schicksals setzten ihn hier unter dem Schutz des lachenden Himmels ab. Seit jener Zeit irrte er, verachtet und unstet, umher. Sein Geist aber dehnte sich in dem engen Zusammenleben mit der Natur. Auf seinen Wanderungen im Orient, in Asien, in Palästina und in Nordafrika sammelte er einen großen Sprachschatz. In späteren Jahren liefen seine Reisen über den ganzen Erdball. Er vereinigte dabei die Ausgestoßenen zu einer Gesellschaft, von der du hier einen kleinen Teil siehst. Was uns alle fest zusammenhält, ist unser Trotz gegen unser Schicksal!" Philipp trank sein Glas leer und sagte: „Siehst du, Freund, alle, die hier in der ,Weinkirche' sitzen, und viele lausende, zerstreut in aller Welt, sind seine Apostel. Überall, sei es in den Wüsten Bessarabiens oder in den Rosengärten des Libanon oder in den Schluchten der Pyrenäen oder auf den verwahrlosten Straßen Griechenlands, oder sei es, wo es wolle, da mahnen wir zur Menschlichkeit und predigen Mut zum Leben. Und überall schallt, wie hier, trotzig unsere Parole: ,Es lebe die Freiheit!' Dabei scheren wir uns nicht um Gott und Teufel. Die mögen uns beide gern haben!" Krachphilipp hatte geendet. Die Fiaschi waren geleert. Während Heinrich noch verdaute, was ihm sein Freund erzählt hatte, schallte der Ruf: „Hallo, der ,Stelzfuß'!"
„Na, Stelzfuß, dir ist's wohl im Sudan wieder mal eingefallen, dass es im nordischen Mailand auch ganz warm zugeht!" rief der „Yankee", ein verkrachter amerikanischer Getreidehändler. Zum Antworten kam der einbeinige Wüstenwanderer nicht, denn schon zappelte er in tosender Brandung freudigen Wiedersehens.
Schenkburschen schleppten Wein an. Prosits knallten. Dann erschollen freudiger Gesang und Musik.
Lustig begannen die internationalen Vagabunden auf den Steinplatten der „Weinkirche" zu tanzen. Einmal mit Gesang einer englischen Volksweise, dann abwechselnd mit italienischen, deutschen und französischen. In diesem Trubel landete eine Reisegesellschaft à la „Cook & Sohn". Staunen gruppierte sich mit langen Gesichtern, im Baedeker nachschlagend, um das hosenzerrissene, barfüßige alte und junge Leben. Dazwischen echote der rußige Boden der Kochtöpfe auf den Rücken der tanzenden Weltenbummler, wenn dieser allzu zärtlich die in Verwunderung starrenden Nasen entzückter Damen berührte. Fluchend wirbelte der Krachphilipp im Arm des „silbernen Gustav". „Platz da! Sakrament!" Immer mehr drängten die Sensationsreisenden auf die tollende Freiheit ein... , bis schließlich nach einer kleinen Pause der „silberne Gustav" mit großem Kompliment zwischen dem Vater und der Schwiegertochter die Kommerzienrätin in den neu beginnenden Wirbel hineinzog. Stelzfuß ergriff die Tochter, und der Philipp packte den Bankier, und so versah sich kühn jeder Vagabund mit einem Partner oder einer Partnerin. Und bald drehte sich die ganze Welt in der „Weinkirche". Arme und Reiche, Elegante und Zerlumpte, alle tanzten, lachten — und tranken aus einem Fass das Wunderserum „Lacrimae Christi"!

Langsam schwoll die Feier ab. Noch einmal sprach der „silberne Gustav". Grimmig, aber mitreißend. Und alle fielen begeistert ein: „Menschen, seid froh!"
Einer nach dem andern verließ die „Weinkirche". Philipp zeigte seinem Freund Heinrich die Stadt. Schließlich gingen sie durch einen Seitengang in das Innere des Mailänder Doms.
Auch eine Kirche.
Modernder Duft. Mystische Dämmerung.
Schüchternes Murmeln verfing sich im hohen Gewölbe.
Starre Heilige, leblose Engel.
Versteckter Schmerz.
Philipp und Heinrich verließen die Stätte des verstaubten Prunkes durch das Hauptportal.
Auf der breiten Treppe lagen Krüppel, hungernde Greise, zerlumpte Frauen und verwahrloste Kinder, aus dem Dom Menschlichkeit erwartend. Alle wollten Brot. Philipp und Heinrich gaben ihre gebettelten Soldi. „Lazzaroni!"


5.

Seit Heinrich sein Schiff, mit dem er von Hamburg nach Savona gekommen war, verlassen hatte, seit ihn der Krachphilipp durch die „Weinkirche" auf jene Straße gebracht hatte, welche zu den mächtigsten Denkmälern menschlichen Schaffens führt, atmete er neues Leben.
Florenz hatte er passiert. Unter gewaltigen Eindrücken wanderte er nun mit einem neuen Reisekumpan, einem alten Holländer, durch die wilden Narzissen und Veilchen der römischen Campagna. Wolkenlos wie der Himmel, so war sein Gemüt. Während sein Reisegefährte schweigsam, ab und zu über den „öden, endlosen Weg" murrend, vor sich hin tappte, schwärmte Heinrich in Begeisterung. Denn Rom war in Sicht! Langsam neigte sich der Tag. Rom spornte an. Und endlich hinkten Heinrich und sein Freund ermattet im Schatten der Häuser und Paläste. Hoffnungsvoll fingen sie an zu betteln. Überall taube Ohren! — Schließlich erhielten sie die Adresse des „Albergo di Tempio di Chato". Römische Freude pulsierte in den Todmüden. Beschleunigten Schrittes zwangen sie sich durch das dunkle Labyrinth der heiligen Stadt. Bald waren beide vor einer runden, düsteren Ruine angelangt. Müde bis zum Zusammenbrechen zeigte Heinrich einem Passanten die Adresse. Dieser stutzte, fasste sich aber sofort, und während er flüchtig die beiden Fremden von unten herauf musterte, wies er lächelnd hinüber zum Kolosseum: „La, signori, la!" Scheu schlich Heinrich mit seinem Kameraden durch eins der vielen unverschlossenen Tore in dem ausgehöhlten Felsen.
Grauenhafte Stille.
Katzen huschen.
Heinrich steht gebannt in der kiesbestreuten Ellipse altrömischer Zeit, unter dem pompösen Marmorgerüst der Kaiserloge. Flüsternd, als knisterten längst verbrannte Märtyrerpfähle, als knirschte noch mal der Kies unter den Füßen sich zur Schau gegenseitig zerfleischender Sklaven, erzählt Heinrichs Freund die Geschichte des „Katzentempels", des einstigen römischen Volkstheaters. — Heinrich misst das Ungeheure des Trichters, in dem das Brüllen blutdürstiger Bestien und das Todeswimmern der vielen Menschen unheimlich dröhnten. Er sieht all die vielen Stufen und Plätze ringsum, bis oben voll besetzt von wollüstig lächelnden Zuschauern... Er spürt in seinem Ergriffensein den Dreizack in seinem Körper. Er spürt die Flammen des Scheiterhaufens. Erschüttert flüstert Heinrich: „Warum? Wa-rum?"
Der alte Holländer wandte die Augen zum ruhig glitzernden Nachthimmel. Und schwieg. Heinrich sank erschauert auf den Kies. Sein Freund legte sich neben ihn. Irgendwo im Kolosseum ertönten Mandolinen und Stimmen sich heimlich Liebender. Und bald träumte Heinrich von Rom...

Klarheit des Tages drang zwischen das alte Gemäuer. Sonnenschein fiel auf die gekauert liegenden Wanderer. Sie erwachten. Noch schmerzten die Glieder. Aber Hunger und Frost quäken Heinrich und seinen Freund zur Klosterpforte. Mönchisch reichte der Kapuziner eine Schüssel Minestra. Der Bauch war gefüllt. Sankt Peter lockte.
Auch Heinrich staunte in dem gewaltigen Kirchenraum. »Wie schön... " Dann stiegen sie zur Kuppel. Lange las Heinrich an den getünchten Wänden der Sankt-Peters-Kuppel in stiller Feier die in den Kalk gekritzelten Inschriften: »Heilige Jungfrau, bitt für mich... " Oder: „Auf unserer Hochzeitsreise, Joseph und Maria 1890." Und über dem Kopf eines mit Kohle gemalten gekreuzigten Christus leuchtete in Rot: „Los vom Kreuz! Lebe!" Eine Inschrift verschmierte die andere. Heinrich entzifferte unter einem frisch übertünchten Fleck: „Heiliges Rom! — Verruchter Schein!" Bald verließ er mit seinem Reisegefährten die heilige Peterskirche und — das heilige Rom.

Neapel! Das neue Verlangen — lechzender Weltdurst! „Noch siebzig Kilometer!"
Schon winkt der Vesuv. Vollbrüstig schnaufend wälzt sich das Tyrrhenische Meer. Zu Heinrichs Verwunderung jauchzt der mürrische Holländer: „Welt! — Raus aus modrigem Gemäuer! — Natur belebt — befreit!" Alle Mühseligkeiten überwindend, wandern beide am Strand südwärts. Sehnsüchtig eilen ihre Blicke voraus.
Die Sonne sinkt. Die Nacht frisst Meile um Meile. Der Tag strahlt wieder. Heinrichs Kumpan atmet auf. „Die letzte Kurve... "
Da — überwältigend — der blaue Golf! Der Vesuv! Zu seinen Füßen das ersehnte Napoli! Die Müdigkeit weicht der Freude in der „Osteria della rondinella", dem Treffpunkt der internationalen Vagabunden. Ein Lärm, als brumme, als zische, als spektakle der Vesuv. Überschäumen des Lebensmutes. Wein — und schnatternde Schwarzäugige: der Himmel auf Erden! „Saluti amici! Prost Angelina! — Prost tutti!" Mandolinen spielen. Begeistert entladen sich die freiheitlichen Gemüter: „O dolce Napoli, suolo beato... "
Lind breitet sich die Nacht über Frohsinn und Heiterkeit. Wein- und glückstrunken liegt Heinrich, weich umarmt von neapolitanischer Gastfreundschaft. Groß, voll scheint der Mond. Heinrich lächelt im Schlaf. Und dumpf grollt der Vesuv über der Stadt.
Zwei Wochen später stieg Heinrich mit seinem Reisefreund sinnend in den Trümmern von Pompeji und Herculanum umher. War es der Abschied vom gastfreundlichen Neapel, oder bedrückte das Grab menschlicher Kraft die Gemüter der Wanderer?
Heinrich ließ sich auf einer umgefallenen Steinsäule nieder und schaute versonnen zurück: Vor ihm aus dem Schutt stieg sein vergangenes Leben... Jetzt erst verstand er das Stöhnen des Meeres und das Grollen in der uralten Hofburg geheimer Feuerkräfte. — In sich versunken murmelte er: „Arme Menschen! — Jämmerliches Rom!" — Wieder sah er den Vesuv qualmen, aber anstelle Neapels war es die Heimatstadt Solingen. Hochöfen und riesige Fabrikschlote verdunkelten die Sonne. Er hörte Stampfen, Fauchen und Rattern. Neapolitanische Heiterkeit war verschwunden. Zorn, Hass, Unzufriedenheit, Murren dröhnten aus dem mächtigen Schlund. Die Erde zitterte. Freiheit entfesselte sich. Der Vesuv barst. Feuerfontänen schossen sprühend ins All. Blutige Lava zischte! Heinrich erschauerte. Er wandte den Blick zum Vesuv. — Imposant sah er die schwarze Rauchsäule und herrlicher als je zuvor Neapel.

Seelenvergnügt trotteten die beiden Vagabunden den Strand entlang. Im Schatten der Orangenhaine von Salerno rasteten sie. Kräftig blähte Heinrich seine Lunge in dem paradiesischen Duft. „L'Italia e il giardino dell' Europa!"
Hans, sein holländischer Freund, sang als Antwort jenes alte deutsche Soldatenlied: „Was nützet mir ein schöner Garten, wenn andere drin spazierengehn... "
Sanft wiegten sich die Äste der Orangenbäume, und fern rauschte die See.
Das Lied war verklungen. Lange noch unterhielten sich die beiden Wanderer. Bis schließlich Heinrich aufstand. „Wir sind arme Vagabunden, aber unser ist die Welt! Wir sind freie Patenkinder des Vesuv!"

Barfuss, sonnverbrannt und äußerlich total verwahrlost kamen Heinrich und sein Freund aus dem felsigen Kalabrien.
In Reggio bezahlten sie mit ihren zusammengebettelten Soldi das Dampferbillett für die Überfahrt nach Sizilien.
Messina — Schmerzenskind der paradiesischen Insel! Perle des Südens.
Versteckt in einer engen Häuserschlucht lag der Treffpunkt — freies Leben. Dabei aber waltete hier ein seltsamer Ernst. Denn hier forderte der Drang nach vorwärts die verwegensten Entschlüsse...

Heinrich und der Holländer hatten als nächstes Reiseziel Ägypten gewählt. Abends, nachdem beide von ihren Kollegen, die hier gegenseitige Erfahrungen und Erlebnisse austauschten, Rat und Auskunft wegen der Überfahrt nach Alexandria oder nach Port Said erhalten hatten, begaben beide sich nach dem Hafen. Sie enterten am Tau, mit dem der deutsche Dampfer „Kehre wieder" festgemacht war, hoch und krochen in ein Rettungsboot an Deck.
Frisch strich die Morgenbrise über die blaue See. Fest stampfte der Dampfer „Kehre wieder" östlich. Heinrich lufte aus dem Versteck und winkte lächelnd zurück. „Leb wohl, Sizilien!"


6.

Nach sechstägiger Fahrt ließ die „Kehre wieder" auf Reede vor Alexandria Anker fallen. Heinrich und sein Freund standen an Deck und verabschiedeten sich von den Matrosen und Heizern, von denen sie kameradschaftlich behandelt worden waren und von denen sie auch Kleidungsstücke bekommen hatten. Glücklich sprangen die beiden Vagabunden in das Fährboot, mit dem sie an Land fuhren. Inmitten der internationalen Lebewelt auf der Promenade des Anglais schlenderten in lebhafter Unterhaltung die beiden Ägyptenwanderer nach einer Strandbank, auf der sich ein Araber lauste Beide nahmen ihre Hände aus den Taschen. Sofort raffte der Pharaonensohn seine Lumpen auf und lief. Heinrich und Hans wischten die weißlackierte Liegebank ab und ließen sich gemächlich nieder. Über ihnen fächelten, von leichter Seebrise bewegt, die Palmenzweige. Lange genossen sie die Kühle und Ruhe, bis dann das Leben auf der Promenade allmählich verebbte. Dann begaben sie sich nach der Rue de la concorde, wo das Trefflokal war.

Im Mondschein vor der Stadt scharrten sich dunkle Gestalten in den warmen Wüstensand. Und schließlich lagen viele Körper, die Köpfe zur Seite geneigt, friedlich schlummernd. Nur Heinrich Hölzel wachte. Begeistert beschaute er die Bijouterie des ägyptischen Nachthimmels. Schwermut bedrückte auf einmal sein Gehirn. Endlich schlossen sich doch seine Augen.
Warme Sandkörnchen prickelten auf seiner Haut. Er spürte Streicheln — seine Geschwister!
Summen drang an sein Ohr. Der Schlummernde lächelte.
Sehnsüchtig verklingendem Singen lauschend, öffnete der Schlafende den Mund. Dann kam das Summen näher... Er wollte sich erheben. Doch schwer lag es auf ihm. Es riss an seinen Gliedern. Das Summen ward Zischen. Sein Gesicht verzerrte sich. Mit schreckhaftem Ruck schnellten seine Hände aus dem Sand und griffen in die kalte Luft. Heinrich erwachte. Erschreckt sprang er auf. Totenstille. Vor ihm war nur der Schatten der Stadt, sonst alles Wüste...
Moskitos schwirrten.
Wieder grub er sich ein und breitete seine Jacke über den Kopf. Und hell lachte der Mond auf den nun von warmer Liebe Träumenden.

Schlaf und Moskitos waren geflüchtet. Die Sonne stach. Heinrich und der Holländer krochen aus dem Naturbett. Während sie den Sand aus ihren Kleidern schüttelten, tauchten ringsum aus den Wüstenwellen weiße, braune und schwarze Gesichter. Die Vagabunden verließen das „Grand Hotel international". Es war früh acht Uhr.
Nachdem Heinrich und Hans am Strand gebadet hatten, gingen sie durch die hitzestinkenden Straßen des arabischen Village zum Lokal der internationalen Globetrotter. Fünf Wanderer der verschiedensten Nationen hatten sich eingefunden und berieten über die Reise nach Kairo. Heinrich und Hans tranken Mokka, dazu aßen sie Schafkäse.
Das „Krokodil", ein Weltenbummler deutscher Nationalität, der das Niltal bis hoch in den Sudan schon oft durchwandert hatte, berichtete in italienisch über das Merkwürdigste Ägyptens. Die jüngeren Vagabunden lauschten mit Interesse.
„Freunde, die Geschichte dieses Landes greift bis zum Jahre dreitausendvierhundert vor Christus zurück. Moderne Grabungen förderten Funde aus jener Zeit zutage, die Zeugnis für die hochentwickelte Kultur des alten Ägypten sind. Es wurden Halsketten aus Gold und Edelsteinen und Stühle und Betten mit Tierfüßen aus geschnitztem Elfenbein und Skulpturen geborgen. Von vorhandenen Bildern und figürlichen Darstellungen ist zu ersehen, dass damals schon Bier und Wein bereitet und Flachs und Wolle verarbeitet wurden. Uralte Überlieferungen des priesterlichen Geschichtsschreibers Herodot sagen, dass ein Höhepunkt dieser Kultur schon in die Zeit des ersten historischen Königs Menes fällt, der die Stadt Memphis schuf, von welcher aus er das Land regierte. Also bestanden im vierten Jahrtausend vor Christus schon festentwickelte staatlich-gesellschaftliche Zustände."
Heinrich unterbrach den alten Vagabunden mit der Frage, warum sich die früheste Kultur gerade im Niltal entwickelt habe.
„Ja", fuhr das „Krokodil" fort, „die Ursache ist der schwarze Schlamm, welchen der Nil in den Regenmonaten September bis Januar weit über seine Ufer hinaus in dem Wüsteneiland absetzt. Die Fruchtbarkeit des Chemi war es, welche die Menschen zum Zusammenschluss zwang. Distriktsweise bearbeiteten sie den Boden und so das ganze Land. Aus dieser Zeit, wo Menschengeist anfing, stammt die Religion! Die Ägypter verehrten besonders die großen kosmischen Gewalten, zum Beispiel die Sonne und den Mond, aber auch den Frühling und den Nil. Jener erste König Menes ließ zu Ehren des Sonnengottes Ra einen prächtigen Tempel in der Stadt Memphis erbauen. Der Zweck dieser phantastisch grotesken, sinnlich roh dargestellten Symbole universaler Gewalt war ursprünglich nicht auf Sittlichkeit gerichtet! Freunde! Der Ursprung der Religion ist aus persönlicher Besorgnis im Kampf mit den mächtigen Naturgewalten entstanden. Und diese Furcht ist seit Menschengedenken zur Ausbeutung der dummen Masse missbraucht worden. Schon in frühesten Zeiten waren nur die Gebildeten in dieses theologische Geheimnis eingeweiht! Darum war es den Söhnen des Herrschers Menes leicht, sich Söhne des Sonnengottes Ra zu nennen! Allmählich könnt ihr euch am Maßstab des Geschilderten einen Begriff machen, wie ungeheuer die Ausbeutung der Untertanen damals war. Im dunklen Selbsterhaltungstrieb unterwarfen sich Millionen Kräfte einer einzigen menschlichen! Und bald genossen die ,Söhne des großen Gottes' demütige Hingabe, reichliche Opfer und kultische Dienste! Davon zeugen die kolossalen Denkmäler bei Gizeh: die Pyramiden!"
Das „Krokodil", welches bis jetzt leidenschaftslos gesprochen, holte Luft und schrie: „Hunderttausend Menschen fraß ein einziges dieser mystischen Königsgräber! Was fragten die schweren Steinblöcke dieser mächtigen Königsmonumente nach Blut und Leben! — Na, Ihr werdet sie ja sehen!"
Der alte Vagabund setzte sich. Die jüngeren Wanderer schauten ergriffen. Heinrich murmelte: „Das ist Ägypten? — Kultur und Religion?"
Wie von Stacheln gestochen sprang das „Krokodil" auf und rief: „Das ist unsere heutige Zeit!"
Erschreckt kam der arabische Wirt in die Gaststube und fragte, ob man ihn gerufen hätte.
„Ja!" erscholl es „bring Wein!"
Dann feierte die internationale Armut die letzten Stunden ihres Aufenthaltes in Alexandria.


7.

Der Tag hatte sich geneigt. Ein Trupp von sieben Vagabunden verließ Alexandria in südlicher Richtung.
Die Libysche Wüste! — Zwei Tage schon tappten sie, von vollglutiger Sonne bespiegelt, über die heißen Sandwellen. Nur langsam kamen sie vorwärts. Schweiß biss in die Augen. Keiner sprach. Ihre Kraft dörrte.
Wieder rasteten sie und stellten ihre Stöcke so zusammen, dass die darüber gehängten Jacken Schutz vor der Afrikasonne boten. Alle lagen mit gestreckten Gliedern, die Zunge in den Schatten hängend, erschlafft. Die dunstgeblähten Lungen arbeiteten kurzatmig. Die Besinnung schwand. Die Nacht erbarmte sich.
Heinrich erwachte, als das „Krokodil", der Führer der Vagabundenkarawane, die Jacken von den Stöcken nahm und sie auf die Liegenden warf. „Hein, wie ist's dir?"
„Mir?" — Er stand auf und schaute fröstelnd. Bis zum Dunkel der Horizontes flimmerte das sternenbesetzte Firmament. Endlich antwortete er: „Warum haben wir geschlafen?" Der Wüstenkenner rüttelte sofort die übrigen wach. Heinrich half allen Mut zureden. Wie Seekranke ließen sich die Erschöpften aufhelfen und sanken wieder in den Sand. Heinrich feuerte einen Pistolenschuss in die weite Nacht. „Auf! — Seid Ihr denn verrückt!" Die Liegenden gierten nach Labung. Unausgesetzt schrie Heinrich ihnen Mut zu. Das „Krokodil" entkernte einige Datteln. Gieriges Schmatzen. Bald war das Wüstenfieber ziemlich überstanden. Zu zweien nebeneinander tappte die armselige Karawane weiter und verschwand hinter einem Wüstenberg.

Der neue Tag glühte. Lautlos schleppte sich der schmachtende Trupp vorwärts.
Die letzte Nahrung wurde verteilt. Wasser, ein Schluck für jeden, sollte bis zum Äußersten aufbewahrt werden. Der Schatten fiel senkrecht! Immer schwerer stiegen die matten Menschen im weichen Sand. Heinrich legte seine Hand über die Augen und spähte von einer Wüstenwelle aus in die zermürbende Schwüle. Qual dunstete die Wüste.
Schon fing einer an, irre zu reden. Das „Krokodil" gab ihm schnell ein paar Tropfen des brühwarm gewordenen Wassers. Als hätte der Schmachtende Blütenduft geatmet, so seufzte er auf.
Da — ein heiserer Schrei! Ein anderer stürzte zusammen. Schweiß und Schaum entstellten sein Gesicht. Wie wahnsinnig schlug und trat er um sich. Immer mehr, als wollte er der brennenden Sonne entgehen, wühlte sich sein Körper in den Sand. In schmachtender Fieberphantasie rang er um sein Leben. Plötzlich blieb er regungslos auf dem Rücken liegen. Unbarmherzig sog die glühende Sonne an seinen gedörrten Lippen. Während das „Krokodil" ihn beschattete, schiffte Heinrich in seine Mütze und wusch dem Bewusstlosen das versandete Gesicht ab. Die anderen hatten wieder ihr primitives Zelt aufgeschlagen und lagen matt.

Das „Krokodil" hatte die gefährliche Situation längst erkannt. Er flüsterte, über eine Landkarte gebeugt, mit Heinrich. Heinrich nickte zustimmend. Dann befahlen sie ihren Kameraden, ruhig liegenzubleiben, und erklärten, sie wollten die nahe liegende Oase Bir Hooken suchen, um Hilfe oder Wasser zu holen. »Wasser! — Wasser!" Leben atmete auf.
Heinrich und das „Krokodil" tappten in der Bruthitze voraus. Die anderen schliefen ein.
Beide mochten ungefähr zwei bis acht Stunden forciert gewandert sein, als sie plötzlich Schnaufen und Pusten vernahmen. Sie blieben stehen und horchten.
Beduinen! „Wirf dich nieder. Hein!" Schnell unterrichtete das „Krokodil" den Freund, wie er sich verhalten müsse. Die Wüstenbanditen sprengten in einer Entfernung von fünfzig Metern vorbei. Der alte Vagabund sprang auf. Die Beduinen hatten ihn bemerkt und rissen ihre Gewehre hoch. Das „Krokodil" aber schlug seine Arme kreuzweise über die Brust. Heinrich ahmte nach. Mit letzter Kraft schrieen beide ihr: „Salam... "
Zwei Araber sprengten heran. Im Nu waren sie aus dem Sattel, koppelten ihre unruhig schnaufenden Pferde zusammen und umarmten in islamischer Begrüßungsart die beiden Vagabunden. Das „Krokodil", das die Eigenart und die Sprache der Wüstenvölker kannte, hatte gleich das Vertrauen derselben. Sofort berichtete er, dass hinter seinem Rücken fünf Freunde am Verschmachten seien.
„Allah akbar!" Mit diesem Ausruf schwang sich der eine Beduine auf seinen Sattel. Während Heinrich die Pferde los- i band, half der andere Araber dem „Krokodil" zu sich aufs Pferd. Dann schrie er: „Nach Westen!", riss seinen Hengst herum und stob in Richtung nach der Oase.

Der zurückgebliebene Beduine half Heinrich auf. Ein Ruck seines ungeduldigen Pferdes, und die langgestreiften Tücher des Arabers flatterten in der windstillen Schwüle. Wegweiser waren die Fußspuren im Sand. Noch eine Sandwelle! Da hatten sie die Schmachtenden erreicht. Unverständliche Worte murmelte der Wüstensohn nach den Hilflosen. Noch bevor sein Pferd stand, sprang er aus dem Sattel, riss den Wasserschlauch an sich und eilte auf zwei zu, denen dickes Blut aus Mund und Nase quoll.
Stöhnen.
Heinrich schrie auf die Kameraden ein: „Haltet aus, ihr bekommt Wasser!"
Helles Auflachen, dann Röcheln. Die Kehlen waren ledern. Wahnsinnig begannen sie zu krächzen. Kraftlos griffen die ringenden Hände in die heiße Luft. Geschrumpfte Zungen lechzten.
Heinrich besprengte die Stirn seiner Kameraden. Der Araber führte den Wasserschlauch in den Mund eines Blutenden. Erlöstes Lächeln glitt über zwei verdorrte Gesichter. Dann verschwammen ihre Augen. Verschmachtet!
Der Beduine warf sich auf die Knie und neigte sein Haupt gen Osten. „Allah il Allah!"

Der zweite Araber und das „Krokodil" waren eingetroffen. Ihnen folgte eine kleine Expedition mit zwei Kamelen. Hilfebeflissen zerschnitten die Muselmanen Melonen und reichten den dreien, welche noch lebten, die safttriefenden Stücke. Dann banden sie den Ermatteten nasse Tücher um die Stirn und hoben sie auf die Kamele.
Während die drei Überlebenden allmählich erfrischt aufzuatmen begannen, scharrten Heinrich und der alte Vagabund die Gräber für ihre Freunde. Als sie begraben waren, warfen sich die Beduinen noch einmal in Ehrfurcht vor dem Wüstentod nieder. Und bald tappte die kleine Karawane mit den Geretteten der Oase Bir Hooken zu.

Heinrich und sein Freund Hans reisten mit der Beduinenkarawane, die von Benghasi kam und die Oasen der Libyschen Wüste aufsuchte, um mit den Scheichs der Nomadenstämme Waffen und Schmuck gegen Elfenbein und Pferde einzutauschen, bis zu den uralten Ruinen der oberägyptischen Hauptstadt Theben. Dort schlossen die beiden Vagabunden sich einer nilabwärts wandernden Fremdenexpedition an. Heinrich, der von der Reisegesellschaft einen Platz auf dem letzten Kamel der Karawane zugewiesen bekommen hatte, fühlte sich im Schatten der Sänfte und in der Unterhaltung mit einer jungen Deutschen wie ehemals an Bord. Freundlichkeit, die ihm in dieser grellgelben Hitze zuteil ward, durchschnitt die träge Schwüle wie der Bug eines Schiffes die endlose See. Die junge Deutsche lehnte sich bequem zurück, rauchte und erzählte von Ägypten.
Heinrich spürte die arbeitenden Muskeln des Tieres. Er lauschte. In seinem Innern hallte die Stimme des „Krokodils"... Die Karawane streifte die verwitterten Denkmäler der ersten Königsstadt Memphis. Die Deutsche wies mit ihrer Zigarette nach den Ruinen. „Dort stand der herrliche Tempel des mächtigen Sonnengottes Ra!" Heinrich schaute auf. Mit runzligem, verbissenem Antlitz starrte die verfallene Pracht. Heinrich murmelte: „Dort grinst Verfall über Kultur!" Beide saßen stumm.
Memphis wich immer mehr. Die junge Deutsche rückte näher an Heinrich und reichte ihm Feuer. Das Tier stolperte. Heinrich lächelte verliebt. Sie war nicht zimperlich.
Langsam schlängelte die Karawane vorwärts. Die gelbe Öde ward blau. Wunderbar wirkte der Nachthimmel. Die junge Deutsche schaute ergriffen. Denn da standen sie, protzig: die Königsgräber von Gizeh. Die Chufupyramide! Zweihundert Meter lang. Hundertdreißig Meter türmten sich die gewaltigen Steinblöcke aus der Wüste. Jubel toste. Vollbackig lachte der ägyptische Mond. Heinrichs Augen funkelten. Denn Sklavenblut schrie: Über hunderttausend Arbeiter fraß dieser einzige Koloss! Ellen reichte ihm die Hand. Und zwei Menschen begriffen sich da im Schatten der lauernd liegenden Sphinx.


8.

Heinrich und Hans wohnten seit einigen Tagen in einem arabischen Logierhaus in Kairo. Mit wichtiger Miene empfing der Besitzer den Heinrich, der eben von der Straße in die Gaststube trat, und reichte ihm einen Brief. Gleichzeitig forderte er ihn auf, nach oben zu folgen. Heinrich aber las
bereits. Schroff raunte er dem aufdringlicher werdenden Araber zu: „Verrückter Kerl, warte!" Heinrichs Kopf sank immer mehr.
. Halte, was du versprochen. Leb wohl. Wiedersehen.
Ellen Werner, Gouvernante
Genf, poste restante!"
Wirsch wandte sich Heinrich an den Araber. „Was ist los, Alter?" Der Wirt winkte ihm. Heinrich schob Ellens Abschiedszeilen in die Tasche und folgte die Treppe hinauf. Wie vom Schlage getroffen blieb er in der geöffneten Zimmertür stehen. Hans, sein Freund, saß trotz der Bruthitze, in wollene Decken gehüllt, am geheizten Kamin! Aus seinem gelben Gesicht schauten die matten Augen wirr. Hans zitterte am ganzen Körper. Frost schüttelte ihn.
„Frierst du, Hans?" Besorgt schaute Heinrich nach dem Araber. Der Alte verstand und flüsterte: „Il febre gialla!" Dann reichte er dem Heinrich eine Haschischzigarette und deutete nach dem Kranken. „Die einzige Linderung!" Hans, der erst ablehnte, spürte aber bald die wohltuende Wirkung der Zigarette. Der Araber stieß Heinrich unauffällig, und beide verließen den Raum. Draußen redete er eindringlich auf Heinrich ein, dass er sofort zum Generalkonsul laufen und für seinen Freund eintreten solle, damit ihm ärztliche Hilfe zuteil werde. Auch möge er erwirken, dass dem Hans baldigst nach der Heimat geholfen würde.
Heinrich lief. Kurz nachdem er das Generalkonsulat betreten hatte, kam er in höchster Erregung auf die Straße zurück. Wut flammte aus ihm. „Verdammte Banditen! — Ihr nennt euch Menschen? Satane!" Heinrich schrie maßlos und drohte in das geöffnete Portal. Plötzlich sprangen aus dem Innern des Palastes vier Kawassen (Araber, die als Konsulatspolizisten angestellt sind). Heinrich packte einen der Knechte blitzschnell, warf ihn zu Boden und entriss ihm die Waffe. Wie tollwütig stürzte er sich auf den nächsten und schlug ihn mit dem Revolver nieder. Die anderen beiden flohen ins Gebäude. Ein Schuss krachte aus dem Portal. Heinrich rannte ihnen nach. Im Laufen entsicherte er seine Waffe. Und drinnen krachten Schüsse auf Schüsse.

Durch glutheißen Wüstendunst keuchte die Eisenbahn von Kairo nach Alexandria. Ungeduld brannte in Heinrich. Endlich sank die Sonne. Die blendende Öde lag seeblau. Sehnsucht... schwärmte durch diese Nacht: Heinrichs Gedanken badeten in frischen Vorsätzen. Die Kühle tat ihm wohl. Er nickte ein.
Ununterbrochen hastete der Zug. Heinrichs Gedanken jagten der Liebe, dem Leben nach.
Der Zug stoppte! Schreck schrie Trauer wach. Aus dem Dunkel tauchte das Plateau von Gizeh. Das Grab des Freundes quoll aus dem Sand. Aber am Horizont nickte Ellen... Heinrich lächelte versunken.
Da — die Sphinx sprang auf und folgte in mächtigen Sätzen. Heinrich stierte gehetzt voraus. Und der Zug raste! Heinrich keuchte.
Auf Heinrichs Stirn perlte Schweiß. Der Weg wurde steil.
Ein Felsen!
Verzweifelt rang der Verfolgte. Aber kalt schüttelte ihn die glatte Wand ab. Er krampfte sich. „Licht! Licht!"
Kampf ums Leben.
Der Zug stolperte. Ein Ruck! Die Erschütterung warf seinen Körper... Die Höhe war erklommen. Erleichtert stieg Heinrich in das morgengoldige Alexandria.
Sein Weg führte ihn zum Strand. Längst war die Promenade des Anglais von leichtlebigem Lärm geräumt. Heinrich suchte jene Bank auf, wo er und sein Freund hoffnungsfroh die erste ägyptische Rast gemacht hatten. Immer noch wedelte die Palme. Hilfesuchend glitten seine Blicke über das weite Meer. Er knirschte: „Heute Nacht... Und wenn der Teufel auf Stelzfüßen mich verfolgt — ich muss hinüber!"
Der Abend kam. Heinrich begab sich an den Kai. Weit draußen auf See blinkte sein Ziel... Entschluss. Sprung! Allmählich verrauschte sein Ächzen im Murmeln
der See.


9.

Drei Jahre waren wieder vergangen.
Auf der Passagierpier im Hafen von Genua platzten aus einer Gruppe Seeleute, die gerade von Bord des englischen Dampfers „Urania" kamen, grobkameradschaftliche Redensarten. Vor einer Stunde erst waren sie von Ostasien eingelaufen. Nun standen sie gereinigt und unterhielten sich. Endlich lichtete sich die muntere Gruppe im Weitergehen, und herzhaft lachte ein wettergebräuntes Gesicht: Der Heinrich Hölzel!

Bald war die „Urania"-Besatzung vor dem Boardinghaus mit der Citybar angelangt.
„Rin!"
Südländische junge Weiber bespritzten die Liebesdurstigen mit Schnaps, Bier und Wein. Tropenheiße Seeleute brüllten vor Lebensfreude. Immer wiederholte es: „Ei was nützt denn dem Seemann sein Geld... !" Alle lachten und lärmten. Über diesem Klamauk saß Heinrich in seinem Zimmer am offenen Fenster und rauchte. Sein Blick lag sinnend auf dem stilliegenden Hafen. Seine Gedanken glitten in die Kaschemme. Er sah sich selbst: wild, ausgelassen — jämmerlich im Rinnstein ... Er erkannte sein ganzes Irren, sein Suchen... Er sah Ellen.
„Schluss! — Fahr zur See, wer Lust hat; ich scheide aus!" Und wie ein wohltuendes Wundpflaster spürte er an seinem Herzen die Brieftasche mit der schweren Heuer seiner letzten Seefahrt.
„Geld, Geld, nur Geld!" schrie es aus seinem Innern.
Heinrichs Ehrgeiz, der ihn zum tüchtigen Seemann gemacht, der ihn aber in blindem Drange in widerliches Leben trieb, schwoll! Heinrich fühlte, wie willenlos er sich der Ausbeutung durch andere unterworfen hatte. Vernunft war erwacht! Sonne lachte. Heinrichs Plan lag klar — mit begeistert pochendem Herzen sprang er in die neue Geschäftigkeit.

Sein Weg führte ihn zum „Grand Hotel Miramare". „Gern, Sie müssen nur den Kram regelmäßig abholen." „Selbstverständlich!"
Der Portier wandte sich lachend. „Ich wünsche Ihnen viel Glück mit dem Zeug!"
Heinrich nahm zwei schwere Stöße Zeitungen der letzten Tage in den Strick und schob ab.

Deutscher Passagierdampfer „Cincinnati".
„Zei-tun-gän! Zei-tun-gän! Zei-tun-gän!"
„Es brennt", das hätte nicht besser gewirkt! Wild stürmten sie auf ihn ein. „The Herald!" — „The Times!" Dazwischen schrie es: „Mir die ,Frankfurter'!" — „Die ,Vossische', bitte!" Wie gierige Straußenhälse strecken sich Hände nach dem Heinrich.
„Erst Money!" Er nahm's ab.
Finger haschten nach den gereichten Zeitungen. Immer wieder nahm er erst das Geld, reichte seine Ware und griff nach der nächsten Hand...
Plötzlich keilte sich der Betrieb fest. Heinrich fragte dumm: „Wie viel gaben Sie mir?"
Heftiger als zuvor setzte das internationale Geschnatter ein: „Zum Donnerwetter, das ,Hamburger Fremdenblatt'!" — „Ich will auf meine fünf Lire den Rest!" „Nachher! Nachher!"
Der bunte Zeitungsrummel hastete wild weiter. Ihre Proteste überschrieen die Käufer selbst. Ein wüster Knäuel entstand. Heinrich ergriff den Rest seiner Zeitungen und verschwand im Matrosenlogis. Dort gab er ihn gratis ab. Dafür wurde er zum Mittagessen eingeladen.
Der Dampfer brummte. Schnell zündete Heinrich seine kurze Pip an. Dann jumpte er gemütlich das Fallreep hinunter. Und aus seinem freudigen Gesicht las man in allen Sprachen: Ausverkauft!

Die Jagd begann. Eilenden Schrittes verließ er den Hafen. Bald stand er wieder im „Grand Hotel Miramare". „Na", der Portier grinste. „Ich glaubte, Sie würden heute Ihre Knochen im Bündel gepackt tragen. Aber ich sehe ... ! Im übrigen, wie ist das Geschäft ausgefallen?"
Heinrich erzählte, wie automatisch sich sein Zeitungsladen an Bord der „Cincinnati" geleert hatte. Dass aber des Öfteren Missgriffe vorgekommen seien. So zum Beispiel hätte er einem Amerikaner, der ihm den „Herald" bezahlte, die „Welt am Montag" und einem Deutschen, der die „Kölnische" verlangte, hätte er aus Versehen das „Echo de Paris" gegeben...
Schon längst schüttelte Lachkrampf den dicken Portier. Schließlich bekam er doch wieder Luft und schluchzte: „Geh bloß nicht mehr an Bord! Die fressen dich auf!"
„I wo!" erwiderte Heinrich. „Die Gesellschaft raufte sich ja um den alten Kram. Jedenfalls hab ich ein Bombengeschäft gemacht. Abgesehen von den verschiedenen falschen Münzen, die mir auch so stillschweigend in die Hand gedrückt wurden, sind's fünfundachtzig Lire!"
Während Heinrich wieder zwei Stöße gelesener Zeitungen zusammenschnürte, spöttelte er: „Portier, die haben jetzt wenigstens für die Überfahrt nach New York genügend Unterhaltungsstoff!" Dann nahm er die frische Ladung über die Schulter. Und ging.
Passagierdampfer „Berlin". „Zeitun-gän! Zei-tun-gän! Zei-tun-gän!"
Vorm Schiff zählte Heinrich seine Einnahme.
„Fünfundachtzig und neunzig sind hundertfünfundsiebzig!" Er murmelte selbstgefällig: „Gut, gut!"
Plötzlich prasselte von der Reling des Promenadendecks maßloses Geschimpfe.
Die Schiffsschrauben begannen sich zu bewegen. Und lachend wünschte Heinrich seiner ausreisenden Kundschaft: „Glückliche Fahrt!"


10.

Mit den Erfolgen der ersten Wochen schaffte sich Heinrich eine feste Unterlage: Er übernahm Zeitungsagenturen und errichtete einen Buchhandel. Zugleich sicherte er sein Unternehmen vor Konkurrenz durch Erwerbung des Alleinverkaufsrechts im Genueser Hafen.
Der „Weltbuchhandel H. Hölzel" blühte. Heinrich engagierte fünf Vertriebsleute und nahm sich einen Vertreter zur Seite.
Gewinn schrie zur Hast. Heinrich baute Erfolg auf Erfolg. Neue Chance reizte seine Sucht nach Besitz. Die internationale Saison in Venedig begann. Heinrich gab die Leitung seines Geschäfts ab und bestieg den Zug nach der Lagunenstadt.
Venezia! Vor Heinrichs Augen gaukelte und gondelte freudiges Leben. Gewinnhungrig langte er auf der Piazza di San Marco an.
Goldglänzendes Mosaik winkte in düsteren Nischen.
Heinrich folgte in mystische Dompracht.
Ehrfurchtsvoll flüsterten abgetretene Betstühle Menschenleid.
Wunder der Kunst lockte tiefer in die stickige Sphäre.
Palastprunk starrte auf bang kriechende Demut.
Blendender Marmor hauchte Schauder.
Wasser seufzte!
Strohgelbe Lichtstreifen stachen in himmelsuchende Auen _ Ponte di sospiri!
Heinrich tastete an klitschigen Wänden tiefer.
Zackiges Gewölbe grinste Totenschädel.
Aus finstrem Moder schreien Zerfleischte.
Folterkammer, du Fundament der Kirche und des Palastes!
Schauer trieb den Heinrich aus dem Grauen.
Wirr schaute er zum Himmel. Da lachten das Kreuz und die Krone in der Sonne.
Wunder der Schönheit!
Heinrich fror.
Um Markuskirche, Palast und Staatsgefängnis flatterten Tauben. Die Menge wog in Seidenschieiern. Hoffnung beseelte Heinrich. Düster schaute der Dom auf die bröckelnde Pracht. Der Tag neigte sich. Kandelaber blitzten auf. Unverständlich knurrten die engen Gassen. Aufbrausender Akkord der Kurkapelle rief die internationale Lebewelt. Venezianische Muse erwachte. — Rote Barkenlämpchen, Mandolinen und weinfrohe Augen zitterten im Mondschein.
Heinrich eilte längs stinkender Kanäle. Laut erzählten die alten Paläste von ihrer Jugend...
Plötzlich verschwand Heinrich in der kaum zwei Schritt breiten Häuserschlucht der Calle di Convento und ging auf die „Osteria del Bue", den Treffpunkt internationaler Globetrotter, zu. Er öffnete die Tür der in feuchtem Gestank verborgenen Höhle. Freude unverhofften Wiedersehens flammte. Geblendet zwinkerte die Nacht... Alles ging auf in Entzücken — in Geschäft!

Im venezianischen Lokal der Weltenbummler hatte den Heinrich die Anwesenheit des „silbernen Gustav" überrascht. Mehr aber freute Heinrich sich, als er endlich den welterfahrenen, unverwüstlichen Greis für seine Geschäftsidee gewonnen hatte. Noch in selbiger Nacht nahm der Alte eine Auslese unter seinen Kollegen vor. Am folgenden Tag lief Heinrich mit seinen abgewanderten Freunden verschiedenster Nationalitäten von einem Trödler zum andern. Dann zum Barbier. Und schließlich ins Badehaus. Während sich dort der große Wechsel des Äußeren an den Vagabunden vollzog, überstolperte Heinrich Brücke auf Brücke, sprang für eine kurze Strecke auf eine zufällig abfahrende Dampfjolle, fragte nach diesem und jenem Geschäft, kaufte und kaufte, rammte alte Weiber, fluchte hastig, kreuzte schwer schleppend das lachende „nva degli schiavoni" und landete endlich, bepackt wie ein Weihnachtsmann, in seinen Räumen.
Die Vorbereitungen für morgen waren getroffen. Die Nacht verlief im „Bue".

Der Morgen war heiter. Heinrich stand in sonniger Erwartung auf der Piazza. Der Dom glänzte. Tauben flatterten. Die Uhr schlug zehn. Neun Gentlemen kamen auf die Piazza. Zwei schleppten an einem kleinen Sack. Der „silberne Gustav" trug eine Chrysantheme im Knopfloch. Heinrich erhob die Hand. „Ici, Messieurs!" Neugierige sammelten sich an. Da ließ Heinrich Maiskörner auf sie prasseln. Photoapparate wurden aufgestellt. Gurrend komplimentierten die Tauben. Mit allen erdenklichen Tricks und sprachfarbigen Anerbieten stießen die kultivierten Globetrotter staunender Fremdenwelt vor den Kopf. Der Rummel sollte beginnen. Pfiffig raunte der „silberne Gustav" dem Heinrich ein paar Worte zu und deutete nach dem Dom. Ein Wink! — Und die schussfertigen Apparate rückten an.
Herrisch, wie daheim bei den Dienstboten, stand eine jener alten Sanatoriumhexen vor dem Duomo di San Marco, kritisch nippend an der kunstvollen Fassade. Hochwichtig bröckelte sie, genau nach Baedekervorschrift, Stück für Stück von dem Prachtbau und gab es gut durchgekaut unter sattem Schmatzen an ihre umstehenden Lieben. Plötzlich verschluckte sie das letzte Wort und warf sich, den aufgeschlagenen Baedeker weit ab haltend, in Positur. War es ein Druckfehler in ihrem „Führer durch Venedig"? Roch sie etwa angebrannten Braten? Oder verglich sie die Schönheit des Doms mit der ihres Buches? Überdies gleichgültig, schüttete ihr Heinrich eine Handvoll Mais auf den Hut. Der „silberne Gustav" hielt ihr das Musteralbum vor. „Aber natürlich, Madame, Sie möchten auch gern ein solch reizendes Andenken mit nach Hause nehmen? Ja, ja, natürlich!"
Im Nu lärmten Heinrichs Requisiteure: „Attention, messieurs et mes dames, s'il vous plait!" Das Gedränge wurde sensationslustig. Wie ein Kind, das in den Schmutz gefallen, so stand die kritische Dame und verzog bissig das Gesicht. Aber die auf sie zuschwirrenden Tauben verscheuchten die Wolke von ihrer Stirn. Und Verlegenheit zog das längst in finstren Hintergrund gefallene Naive des Weibes aus Auge und Gebärde.
Das Gesicht! — Dieser Anblick! Breitbeinig, in Kniebeuge, mit offenem Mund, die Arme mit gespreizten Fingern nach der Seite gestreckt, balancierte sie unter kräftigen Lachsalven der Umstehenden ein paar Tauben auf ihrem Hut. Immer tiefer rutschte er ihr ins Gesicht. Was fragten die heiligen Tauben danach, ob es der „Gnädigen" angenehm sei. Frech wie Spatzen pickten und trampelten sie auf dem Hut herum. Endlich war sie geknipst. — Und lachte. Nachdem Heinrich die Bestellung der Bilder und gleich ein Drittel des Gesamtpreises erhalten und die Tauben der fröhlich lachenden Alten auch ein Andenken auf dem Hut hinterlassen hatten, verjagte sie Heinrich. Dann drängten die nächsten zur Aufnahme.
Die neugegründete „Internationale Photogesellschaft Komet" arbeitete mit phänomenalem Erfolg Tag und Nacht. Feste wurde gelacht und dabei feste geknipst.
Und die Tauben! —
Schließlich waren sie derart mit Mais gepfropft, dass sie nur noch schwerfällig aus den Pleureusen radgroßer Damenhüte flattern konnten.

Die Saison flaute ab. Die Dächer der Kirche und des Dogenpalastes waren weiß geworden. Satt hockten die Markustauben in den Nischen und schauten gefühlvoll auf die lebloser werdende Piazza. Bald stand die ganze Pracht im Nebel verschleiert.
Der Herbst spendete den neuen Wein: den Abschiedstrunk. Zum letzten Mal saß Heinrich mit seinen internationalen Freunden um den gedeckten Tisch im „Bue". Begeistert klangen die Gläser und die Stimmen zum gratulierenden Hochzeitstoast. Ellen Werner und Heinrich dankten ergriffen !
Beseelt von neuer Kraft, bestieg Heinrich mit Ellen den Express. Dumpf holpernd fuhr der Zug über die sechs Kilometer lange Brücke nach dem Festland. Dann aber sauste er durch die venezianische Ebene.

Federnd wiegten sich in fliegender Geschwindigkeit die langen Durchgangswagen. In die gepolsterten Ecken gelehnt, saßen sich Heinrich und Ellen gegenüber. Ellen schaute, mit ihren Gedanken lächelnd, durch die Fensterscheibe... Heinrich rauchte eine Zigarette nach der andern. Die Augen strahlten nach seinem Weib. Plötzlich errötete Ellens Gesicht. Wie mitten in fließender Unterhaltung wandte sie sich an Heinrich: „Das möchte ich so gerne wissen, Hein, wann du damals Ägypten verlassen hast und wie du alle die Jahre hindurch versuchtest, dein Versprechen einzulösen."
Heinrich sah Ellen stumm in die Augen. Seine Lippen vibrierten leicht. Ellen verstand. Aber sie wünschte, dass er ihr das alles erzähle. Sie erhob sich und nahm schmeichelnd neben ihm Platz. Heinrich spürte ihre innere Unruhe.
Während der Zug in die Nacht eilte, sah Ellen das Ringen ihres Mannes nach einem besseren Dasein. Ein Vagabund, der herzlos von Menschen und Naturgewalten in der Welt herumgestoßen wurde, genoss an den ägyptischen Pyramiden die Liebe eines verständnisvollen Weibes. Seine in Armut und Enttäuschung verkümmerte Seele gesundete durch jene herzbindende Kraft. Er erhielt inneren Halt. Die furchtbare Qual, sich gänzlich verlassen und wertlos zu fühlen, schwand.
Rohe Instinkte strebten maifrisch nach hohem Ziel... Freundschaft ward begeisterte Menschenliebe. Die Teilnahme damals an dem Los seines todkranken mittellosen Reisegenossen trieb den Heinrich in den Palast des holländischen Generalkonsuls. Dort flehte er um Hilfe für das Leben des Freundes. Aber der Üppige verachtete die Freundschaft. Darum lebte Hass in Heinrichs Seele auf. Liebe zum Freund ward Kampf! Schüsse krachten. Natürlich siegte die Übermacht. Er wurde verhaftet. Und während dieser Freund im Kerker schmachtete, fraß der „gelbe Tod" den Menschenbruder...
Ellen hatte die Augen geschlossen.
Plötzlich schrie Heinrich auf: „So hat mich diese niederträchtige Bande behandelt!" Ellen schaute erschreckt nach Heinrich. Mit zitternder Stimme erzählte er: „In jenem arabischen Gefängnis in Kairo gab man mir trotz der Hitze täglich nicht mehr als nur einen Liter Wasser zum Trinken und zum Waschen. Als Nahrung reichte man mir vier bis fünf Datteln und eine Handvoll rohen Reis. Nach achtzig Tagen ließ man mich frei mit der Eröffnung des Gouverneurs, dass ich innerhalb sechzehn Tagen Ägypten verlassen müsse, widrigenfalls ich zu einjähriger Zwangsarbeit nach dem Sudan käme. Es gelang mir, Alexandria zu erreichen. Ohne Mittel und ratlos lief ich am Kai herum. Schließlich brachte ich in Erfahrung, dass zwei Dampfer auf Reede lägen, die bis zu dem in Frage kommenden Tag Ägypten verlassen würden. Schwere Gedanken quälten mein Hirn. Endlich am Abend riss mich das ,unbedingte Muss' in die Flut!"
Schauer überrieselte Ellen.
Heinrich aber schilderte unentwegt.
Aus gischtzischenden Wellen schimmerte verkrampft im Mondschein Heinrichs Gesicht. Nach Rettung gierend, griff seine Hand aus dem Meer. Kampf um Leben tobte vor Ellens Augen. Sie lehnte sich an Heinrich. „Nur du, Ellen, warst jene Kraft, die mich drei Kilometer vom Land nach dem Dampfer rang. Lange versuchte ich wie wahnsinnig, an der Ankerboje des Schiffes hochzukommen. Aber die Dünung schmiss mich immer und immer wieder gegen die mit Miesmuscheln bespießte Tonne. Glück warf mich endlich hoch! — Am ganzen Körper zerschunden, enterte ich dann am Bojentau des Dampfers an Deck und verbarg mich in einer Windhutze. Hungernd und frierend klemmte ich in dem runden Luftschacht. Unter mir gähnte der fünfzehn Meter tiefe Heizraum. Mein blutender Körper klebte an dem kalten Blech. Ich war geborgen. Dieser Gedanke keilte sich zwischen mich und die runde Wand. Und endlich erlöste mich Ohnmacht aus aller Qual!"
Heinrich saß auf einmal innerlich verstimmt. „Ja, und dann, Hein? Du schriebst mir doch zum ersten Mal von Sydney?"
Heinrich atmete tief. „Der Dampfer begann seine Reise. Nach zwei Tagen versuchte ich, mich bemerkbar zu machen. Mich selbst aus der Röhre herauszuschaffen, in der ich wie ein Keil stak, vermochte ich nicht. Mein Körper war bereits gefühllos. Ununterbrochen schrie ich um Hilfe. Es ward dunkel über mir und lange danach wieder grau. Plötzlich drehte sich der obere Teil der Röhre. Ich verspürte einen Schmerz, als würde mir der Rumpf vom Unterkörper gewürgt. Der Tod schrie aus mir. — Ein Heizer hatte von Deck aus die Windhutze nach dem Wind drehen wollen. Mein eingezwängter Körper aber klemmte den drehbaren Teil der Luftröhre. — Ich vernahm Hämmern! Wieder verdrehten sie meinen Körper. — Ich schrie mich in Todesqual heiser. Um den Ventilator rasselten nun Ketten. Gleich darauf spürte ich einen Ruck, als reiße man mich voneinander. Und da schwebte ich auf einmal in dem hochgehievten Teil der Windhutze, und bald lag ich in dieser eisernen Zwangsjacke an Deck. Erstaunt riefen die Seeleute: ,Lebt er noch?' Ich gab Antwort. Da zerrten sie an meinen Beinen, um mich zu befreien. Es war zwecklos. So meißelten sie die Windhutze auf. Ein Knacksen und Brechen. Endlich war die Röhre offen. Am ganzen Körper blutend und steif lag ich in dieser Schale." Heinrich atmete auf. „Das war meine Rettung! —
Die englischen Kameraden pflegten mich während der Reise. Und als der Dampfer in Sydney eingelaufen war, ging ich lebensfroh wie ein Kücken, das erst aus dem Ei kroch, an Land."
Heinrich zündete sich eine Zigarette an und schloss: „Ich ließ mich anheuern und fuhr zur See. Mit meiner Heuer geizte ich. Denn ich hatte große Pläne im Kopf. Und dir wollte ich zeigen, wer Heinrich Hölzel ist!" Wie eine Schuldige schaute Ellen. Er aber lachte. „Nun aber bloß nicht traurig werden, Ellen! Du wolltest ja alles wissen!"
Längst war es hell geworden... Bald fuhr der D-Zug in die lärmende Halle ein. „Genua!"
Sonne strahlte.
Ellen und Heinrich schauten stolz in die neue Heimat.


11.

Wetteifernde Ausbeutung hetzte die Welt. Internationaler Verkehr staute Bahnhöfe, Hotels, Häfen und Freudenhäuser. Wahnsinnige Gier saugte das Mark aus der breiten Masse. Schweiß fiel im Kurs. Not stieg himmelhoch. Profit und Genuss wurden Pole, um die sich die Welt in schwindelndem Rasen drehte. Und feste schmierte die Presse!
Unglaublich gut ging Heinrichs Zeitungs- und Buchgeschäft. Wie alles, so erforderte auch dieser Betrieb mehr Kraft, immer mehr Kraft. Zu seiner Entlastung engagierte Heinrich den „silbernen Gustav" mit der ganzen venezianischen Photographengarde, die auch in Genua eingetroffen war. Die Leitung seines Betriebes vertraute er seiner Frau an.
Sucht nach Besitz war auch bei Heinrich Gier geworden. Er übernahm die Generalagentur des Reise- und Verkehrsbüros „Helvetia" für Italien. Konkurrenz schrie! Auf seinen Geschäftsreisen nützte Heinrich seine einst als Vagabund gesammelten Kenntnisse ordentlich aus. Immer gründlicher organisierte er sein Unternehmen. Überall, wo bedeutende Klöster waren, verschaffte er sich Fühlung mit den Äbten. So gelang es ihm, besonders durch Empfehlung des altbekannten deutschen Mönchs Pater Vogel in Loretto, dass ihm die berühmtesten Klöster Italiens ihre Hospize für seine Gäste billig zur Verfügung stellten. Hiermit hatte er alle Konkurrenz geschlagen. Denn wer den Nepp-Süden kannte, wusste so ein geschütztes Reisen zu schätzen. Und besonders die weniger bemittelten Kunst- und Studienreisenden, welche seine Agentur benutzten, waren in der Lage, ohne sich von Ausbeutern anekeln lassen zu müssen, unter der Obhut des Klerus angenehm und preiswert zu leben. Sie durften sogar da malen und skizzieren, wo im allgemeinen strenge Domgendarmen es verboten.
Den Erfolg seiner Organisation empfand Heinrich an immer stärker werdender Belastung der Generalagentur. Zumal seine Kundschaft auf ihren Akademien seinem Geschäft reklameschreiendes Lob zollte. Im übrigen sorgten die freundschaftlich gewordenen Verhältnisse der Studierenden zu den Klöstern für weitgehendes Entgegenkommen der Äbte.
Schon nach Ablauf eines Jahres war Heinrich Hauptteilhaber des Reise- und Verkehrsbüros „Helvetia".
Das war ein Erfolg, wuchtig und wie keiner zuvor. Aber kein Stehen bleiben und Bewundern gab es bei dem Heinrich. Vorwärts, immer weiter trieb ihn ein gewaltiger Instinkt...

Kraft tropfte in den Schoß der Mutter Erde. Junges Leben spross. Die Frühlingssonne lachte die Knospen auf.
Heinrichs Heim war wonnig geworden. Lachend hielt er seinen Sprössling, der strampelte und schrie, als hätte ihn ein Krebs in der Klemme. Heinrich küsste ihn und gab ihn Ellen. Denn die geschäftige Welt rief nach dem Vater...
Der Balkan schmatzte blutlüstern an ausgemergelten Brüsten jüdischer Arbeiterfrauen. Kinder lagen genotzüchtigt zwischen ihren ermordeten Vätern. Gier nach Profit und Genuss war dort in Tollwut ausgeartet. Die Staaten schändeten ihre Gesetze. Sie ließen Pogromen freien Lauf. Und der Mensch flüchtete vor den Menschen! Jüdisches Elend überflutete die Zivilisation der Welt. Die Ärmsten strömten aus der Heimat. Und überall wurden sie freundlich aufgenommen, wenn sie Geld oder Werte — oder schöne Weiber hatten. Auch auf Heinrichs Gemüt wirkte da der in Aussicht stehende Gewinn. Nach eingehenden Verhandlungen sandte er den „silbernen Gustav" mit gleichwertigen Kräften nach Nis in Serbien, um von dort aus die jüdische Balkanemigration zu zentralisieren. Unterdessen mietete Heinrich in Genua zwei Häuser und richtete sie als „Auswandererzentrale" ein. Dann setzte er sich mit Agenten in New York-Brooklyn in Verbindung und schloss wegen der Überfahrt jüdischer Emigranten feste Kontrakte mit zwei italienischen Reedereien. Nach drei Wochen war dies Unternehmen fix. Auch der „silberne Gustav" mit seinem Stabe hatte unter Hochdruck gearbeitet. Denn Trupp auf Trupp verelendeter Flüchtlinge traf ein.
Langbärtige Männer schleppten stinkendes Bettzeug. Und ihre schwangeren Frauen seufzten unter der Last des erbärmlichen Hausrats und der letzten Geburt. Abgehärmte Judenmädchen führten wehleidig die zerlumpten Kinder. — Hoffnungsfreudig betraten struppige Greise die „Auswandererzentrale". Da trippelte bald die verängstigt gewesene Jugend wie zu Hause. Auch die mitgebrachten Waisen fingen an zu lächeln. Die alten Mütter aber beschwichtigten mit andächtiger Miene. Immerhin: Die heillose Armut fühlte Wärme. Und alle dankten da ihrem Gott.
Aber der Heinrich lief sich die Füße wund. Wieder hatte er die Zwischendecks zweier Amerikadampfer mit jenen Heimatlosen voll gestopft. Neue Flüchtlingstransporte waren eingetroffen. Massenelend verseuchte die Räume der „Auswandererzentrale". Immer wieder verweigerte der Reedereiarzt den Erkrankten die Überfahrtsberechtigung. Allmählich waren Heinrichs Emigrantenhäuser ein Lazarett geworden. Schnell stoppte er die „Zufuhr" ab. Denn halbe Transporte waren an ihren Landungsplätzen von den Agenten der Dollarfürsten als „ausbeutungsminderwertig" abgewiesen worden und landeten, nachdem sie lange Zeit auf Heinrichs Unkosten in amerikanischen Häfen unter Quarantäne gelegen, wieder in Genua. Die italienische Staatsregierung zwang Heinrich, für das eingeführte Massenelend aufzukommen. Was seine beiden anderen Betriebe an Gewinn abwarfen, verschlang die „Auswandererzentrale". Die Massennot verstieg sich ins Grauenhafte. Unentwegt gebaren die Frauen und die Mädchen. Junge Mütter flohen ziellos und ließen die Säuglinge zurück. Andere verschacherten das letzte Hemd, dann ihren Leib. Viele wurden angesteckt. Furchtbar wütete der Jammer in der „Elendszentrale". Unermüdlich lief drum der Heinrich von einem Balkankonsulat zum anderen und schilderte die grausame Not der Flüchtlinge. Aber höflich wurde ihm geachselzuckt. „Juden? — Tut uns sehr leid, wir haben genug hilfsbedürftige Leute!" Heinrich stand vor dem Bankrott. Verzweifelt schrie er das ungeheure Elend in die Welt. Endlich schlossen sich jüdische Kapitalisten aus allen Ländern zusammen und nahmen ihm seine Unkosten und den Massenjammer ab. Er war froh...

Die Riviera öffnete ihre schlaftrunkenen Augen. In Monte Carlo und Nizza schlüpften Kasinos, Spiegel, Chaiselongues und Riesenkronleuchter aus ihren Decken. Heere fliegender Kellner und schnippischer Zimmermädchen rieben dem verkaterten Glanz die trüben Augen — und sich die Hände. Die Eingangsportale jenes Paradieses öffneten sich einladend. Und unaufhörlich rollte (waggonweise) der Profit der Fabriken und Werkstätten an, um sich hier verwerten zu lassen. Galahuren, bessere Damen, verfettete Aufsichtsräte — halt Lebemenschen — versoffen hier den Arbeiterschweiß; überreizte Ansprüche schreien in Ekstase.
Heinrich hatte durch Abgabe seiner „Elendszentrale" einen Arm freibekommen. Mit aller Kraft betrieb er daher wieder sein Reise- und Verkehrsbüro. Das Personal des neugegründeten „Ressorts für Vergnügungsreisen" (Dolmetscher, Reisebegleiter, Fremdenführer, lauter ehemalige waschechte internationale Vagabunden) arbeitete unter Leitung des „silbernen Gustav" musterhaft. „Schwerindustrieller Rührupp mit Frau, Tochter und Schwiegersohn sind von Solingen gemeldet, für zwei- bis dreimonatigen Aufenthalt in San Remo, und wünschen Reisebegleiter. Fillialvermerk: penible Bedienung- Glatte Zahler!" So lautete der Befehl Heinrichs an den „silbernen Gustav". Der aber spöttelte: „Haha! Pe-ni-bel!" Dann verließ er Heinrichs Privatbüro und erteilte sofort die Ausführungsorder dem „langen Polack", einem ehemaligen Fabrikbesitzer, der durch konkurrierende Trusts Bankrott machte, aber falschen Offenbarungseid leistete, deswegen mit einjähriger Zuchthausstrafe belegt worden war und somit von der Gesellschaft ausgestoßen wurde.

Solingen.
„... sehr gut! — Aber ich erwarte absolute Befriedigung meiner Empfindungen und Wünsche! Verstehen Sie?" — „Der Weitblick meiner Firma wird Sie entzücken!" — „Schön! Hm! — Und wie ist der Reiseplan?" — „Wenn es so beliebt... "
„Hübsch! — Also übermorgen Abend sieben Uhr dreißig! Via?"
„Via Basel — Como — Milano — Genova!"
„Recht!"
„Womit kann ich gleich dienen, mein Herr?"
Der Kommerzienrat staunte lächelnd. „Mir wäre es lieb, heute Abend — na, sagen wir mal — um fünf Uhr im ,Cafe Börse'... " — „Sehr angenehm, Herr Direktor!"

„Cafe Börse" — Abend sieben Uhr!
Der „lange Polack" endete die Unterhaltung: „Ich wahre Ihre Interessen und das Vertrauen!" Auffallend freundlich verabschiedete sich endlich der Großindustrielle von seinem Reisebegleiter und ging. Der „lange Polack" biss auf das Mundstück seiner Zigarette, verzog verächtlich das Gesicht, und während auch er nach seinem Hut griff, murmelte er durch die Zähne: „Alte Sau!"

San Remo: „Eden-Palace".
Umgeben von duftigem Orangen-, Palmen- und Olivenhain, mitten in märchenhafter Flora, oben am Berg in würziger Rivieraluft stand wie hingezaubert das Hotel. Wunderbarer Ausblick auf die weite tiefblaue See. Allen erdenklichen Komfort. Und über aller Pracht waren die luxuriösen Zimmer der Familie Rührupp. „Recht, recht, recht!" die erste Anerkennung, welche der „lange Polack" von seinem Gast erntete. Auch die kritische Frau Kommerzienrätin äußerte sich herablassend zufrieden. Erwartungsvoll begab sich der Großindustrielle an das offene Fenster und betrachtete lüstern das imposante Rivierabild. Dabei spielte er nervös mit den Händen in den Hosentaschen und schmunzelte. „Hoffentlich gelingt es ihm, meine Alte zu täuschen! — Aber dann... Hm... "

Dickqualmende Fabrikschlote verpesteten die Luft der Stadt
Bochum. Zum verrußten Winterhimmel glühten lodernde Hochöfen. Schneewolken tauten zu Dreck über der Stadt. Die Betriebe pusteten langsamer. Keuchend standen sie still. Es war Heiliger Abend.
Die Mietskasernen rochen nach Tannengrün und Margarine. Teure Hampelmänner und fadenscheiniger bunter Plunder beglückte die Armen. Kirchenglocken lockten schwindsüchtig gewordene Arbeiter zum Trost. Satte Pfaffen schreien in die menschenwarme Halle: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen!" Lungenzerreißender Husten mischte sich in das Echo: „Bitt für uns... " Abgezehrte schwielige Hände schlugen Kreuze. Alle flehten: „Amen!"
Der Brotschrank war leer geworden. Menschen froren in ihren Stuben. „Arbeitet euch warm, dann habt ihr zu fressen!" Hah! Wie die Betriebe wieder hasteten! — Die klappernden Maschinen überlärmten das Leid: Zwei Tage Verdienst musste eingeholt werden. Das war Weihnachten: das Fest des Volkes!

Milchig behauchte die Rivierasonne San Remo. Die üppigen Reichen hasteten in prunkvollen Kraftwagen. Endlich waren die Boulevards leer. Es war Abend vor Weihnachten. Feenhafte Salons durchwehten Parfüm und Wollust. Herren und Damen in durchsichtiger Reizwäsche stießen mit nackten Knaben an. Ausgesuchtes Damenquartett im Badeanzug ließ eine vierzehnjährige Nackttänzerin mit erhobener Schale voll Eiswasser wirbeln. „Bravo!" — „Bravissimo!" — Hurra!"
Erfrischungspause. Knaben und Mädchen peitschten die Geilen zum Roulette- und Trente-et-quarante-Tisch. Auf bloßem Knabenleib klatschten die Trümpfe. Ein betrunkenes Kind stand plötzlich breitbeinig über der rasend laufenden Scheibe ... Der abgeschleuderte Ekel zwang die Hockenden auf. Das Meckern der Salonziege beendete die Pause.
Lebendes Geflügel wurde verlost. Licht verschwand... Knaben und Mädchen lagen mit Herren und Damen beinumschlungen auf dem Teppich im Sekt. Der Schmerz überstöhnte: „Pst — stille! — Ich zahle hundert Franken mehr und... !" Mann wurde Weib. Tier wurde Mensch. Menschen wurden tierisch.
Der Weihnachtsmorgen drang in das stille Versteck... Sorgfältige Toilette! Und laut spotteten die Banken: „Aber was bedeuten ein-, zehn-, hunderttausend Emmchen! — Achttausend Arbeiter im Betrieb! — Akkordarbeit! — Das ist mehr, viel mehr!" Diese Weihnachten waren um.
Fasching von Nizza klopfte an.

Die Bank von Monte Carlo und die Freuden- und Krankenhäuser hatten „ihr" Gold... In den zitternden Händen hielt der Großindustrielle ein Telegramm und knurrte: „Unverschämtheit! — Das Gesindel verlangt schon wieder zwei Pfennig mehr Stundenlohn."
Da klingelte es.
Der Zimmerkellner trat in das Zimmer und überreichte dem Kommerzienrat ein Kuvert mit dem Aufdruck „International Ticket Office H. Hölzel, Genua". Der Briefumschlag war schnell offen. Unter dem dicken Strich auf dem weißen Bogen starrten: summa summarum 1500 Lire.
Herr Rührupp schaute verwirrt. Er fiel rücklings in den Sessel. Die Kommerzienrätin eilte herbei. „Um Gottes willen, Männchen... !"
Er zwang sich. „Die alte Herzstörung!"
Es klingelte wieder.
Die Rechnung des Juweliers: 250 000 Lire.
Verzweiflung verzerrte das verlebte Gesicht. Vorwürfe nagten im Gehirn. Da — ein Telegramm: „Schacht ,Lucie' gestern Nacht verschüttet — Kredite werden verweigert."
Schrecken warf den Schlemmer in Ohnmacht.
Der Arzt wurde gerufen. „Herzschlag!"

Allmählich erschöpfte sich die geile Saison. Die Rivierasonne fing an zu brennen. Bald lag der bespiene Luxus wieder gut verschalt. In Heinrichs Seele aber gellte mehr denn je das schreiende Klagen aus dem gärenden Schlamm der Zeit. Die Unterschiede des Lebens hatten sich vor seinen Augen ins Extreme gesteigert.


12.

Während in Indien der Hungertod Tausende Arbeiterfamilien fraß, barsten in den zivilisierten Ländern die Silos und die Magazine. Auf dem Weltmarkt überschrie der Dollar den Schilling, die Reichsmark alle beide, Münze die Münze: ein Land das andere.
Zermalmender Konkurrenz entstiegen politisch schwere
Krisen. Längst aber hatten die nationalen Banken gewarnt. Und Steuern waren Wehrbeitrag geworden. Dreadnoughts und Krupp repräsentierten den Nationalstolz.
Die Sommersaison in Ostende, in Skandinavien... oder auf Helgoland bekümmerte die brütende Gluthitze nicht. Das „Ressort für Vergnügungsreisen" der „International Ticket Office H. Hölzel" arbeitete hastend. Und friedlich plätscherte die Seele der Weltkonkurrenz mit ihren schlanken Lieblingen in blaukühlem Genuss.
Wieder war Heinrich von einer vierwöchigen Geschäftsreise zurückgekommen. Seine Freunde hatten ihm Geschäftsbericht erstattet und unterhielten sich über politische Angelegenheiten.
„Ja", bestätigte plötzlich Heinrich dem „silbernen Gustav". „Vergleiche ich meine Eindrücke von den modrigen Gewölben des Mittelalters mit unserer Zeit, dann muss ich es gestehen, dass die Unterdrückung und Vergewaltigung der breiten Massen heute noch schlimmer und die Ausbeutung nur raffinierter ist. Aber — was ich nicht begreifen kann, ist der Stumpfsinn, die faule Geduld, mit der sich das schaffende Volk quälen lässt!"
„Die Pfaffen, die Paffen, Hein!" rief der „lange Polack." „Das ist's ja, was mir nicht in meinen Schädel passt!" erwiderte Heinrich und betonte: „Sind die Millionen Arbeiter trotz ihrer Intelligenz und Geschicklichkeit, die sie in der Produktion in der kräftigsten Weise anzuwenden verstehen, tatsächlich nicht in der Lage, sich eine eigene Weltanschauung von ihrem Leben zu bilden, sich über das Niveau einer Hammelherde zu erheben?"
Noch bevor Heinrich dazu kam, seine Gedanken weiter auszusprechen, platzte der „silberne Gustav" heraus: „Nein! — Nie und nimmer!"
Dann deutete er nach der Straße und erhob sich. „Den Unterdrückten fehlt der geistige Schliff! Diese ungeheuren Massen werden durch die Kirche um eine erhabene Religion betrogen. Sie werden von den Pfaffen in ein Labyrinth der Mystik geführt, wo ihnen ihr göttliches Bewusstsein geraubt wird. Im Verlangen aber nach dem Schönen, Wahren und Guten werfen die Armen dann ihren Mut, ihre Lebenslust, ihre Selbstachtung in den Staub. Sie nennen die Welt ein Jammertal! Und sie sehnen sich geradezu nach dem Tod, während ihre Unterdrücker, unsere Badegäste, wissen: ,Schaue den Tod, dann lebst du stärker!' Solange Rom noch Platz auf unserem Planeten einnimmt, wird die ungeheure Masse der Arbeiter erbärmlich missbraucht dahinleben, ihr jämmerlicher Zahltag wird ihr ein ,Segen' sein. Und die Kirchenbank wird ihr Sprungbrett bleiben in neue schweißsalzige Wochen, und diese sich in einem fort wiederholende Regel schützt halt das Gesetz: die Obrigkeit!"
Die altersgeschwächte Stimme des „silbernen Gustav" hatte wieder mal tiefen Eindruck gemacht. Heinrich saß, den Kopf in den Händen haltend. Einer der Anwesenden fragte halblaut: „Wie das sittenlose Gieren nach Kapital endet, interessiert mich."
„Wie Pompeji und Herculanum!" schrie Heinrich auf. Die Freunde bemerkten das Blitzen in Heinrichs Augen... Sie schüttelten ihm die Hand. Jeder ging seiner Pflicht nach.
Wieder stand Heinrich reisefertig. Geschäftliche Verpflichtungen litten ihn nicht lange bei Weib und Kind. Ungeduldig blätterte er im Kilometerheft: Genova — via Gotthard — Basel — Frankfurt — Düsseldorf. „Ein herrliches Programm!"
Unaufhörlich kurbelte der Lloydexpreßzug den Weltfilm... Kohlenstinkende Rauchfetzen erinnerten an Heimatluft. In Heinrichs Gehirn lebten jugendfröhliche Gedanken auf. Und wohltuend durchzog ihn eilende Kraft. Armverschränkt schaute er die vorbeifliegenden Stationen. Dann verhüllte langer Tunnel Heinrichs Augen...
Aber rastlos pustete die Maschine. Und endlich traf Sonnenstrahl das Herz. Heinrich erblickte den grünen Rhein. Unaufhörlich raste der D-Zug. Frankfurt — Köln — Düsseldorf. Freude begeistert den Heinrich. Da — Heimatdialekt.
Und von allen Litfasssäulen grinste der rothaarige Tünnes mit seinen Schmalzbacken.
Wie von zuckenden Sekundenzeigern gekitzelt, eilte Heinrich seinen Geschäften nach. Ein paar Tage wollte er für seine Seele erobern. Endlich die alte Heimat mit dem Friedhof!
Schwere Wolken verdunkelten die Sonne. Sturm heulte. Zechen schrieen. Am Himmel zuckte es. Donner grollte... Gewitterregen aber würzte die Luft mit frischem Erdgeruch. Heinrich atmete auf. Er verließ die Gräber seiner Eltern. Und folgte seinem seelischen Drange.

Barfuss, in buntgeflickten Hosen, bestaunten ihn, ihr Spiel vergessend, die Schulbuben, als er das holperige Pflaster der alten Löhrgasse betrat.
Heinrich, stattlich, massiv, ein ungewohnter Fremdling in dem Katzenviertel, grüßte die Buben wie alte Bekannte. Die Gassenschmutzigen wurden zutraulich. Wie springlustige Hunde trippelten sie voraus, die Nase nach Heinrich gehoben. Aber Heinrichs Blick galt nur den baufälligen geschwärzten Häuserreihen. Plötzlich blieb er stehen. Die mitgelaufenen neugierigen Buben stauten sich um ihn.
„Sag, Kleiner, wer wohnt dort oben?" Heinrich zeigte auf das erste vornüberhängende Stockwerk einer Bergmannshütte. „Da? — Da wohnt... ?" Der antwortende Junge fragte einen, der neben ihm stand: „Du, wie heißen die da oben?" Der Gefragte schaute nach dem Stockwerk wie auf das Zifferblatt einer Uhr, das er nicht kannte. Die junge Schar stockte in Verlegenheit. Beflissen zwängte sich ein krummbeiniger Knirps vor Heinrich, versteckte seine Brotstulle hinter sich und fragte ihn wichtig: „Wie die da oben heißen? Willst du's wissen?" Heinrich lachte und nickte. „Ja!" Mit einer Miene, die etwas wie Vorwurf ausdrückte, deutete der Bergmannsjunge nach dem fraglichen Stockwerk. „Die heißen doch Frank!"
„Jajaja — Frank!" beifallten die Kinder.
„Danke schön!"
Heinrich griff in die Tasche und schenkte jedem Buben eine Mark. „Gebt das eurer Mutter! — Sie soll dafür 'en Happen Fohlenfleisch fürs Stielmus kaufen! Allez!"
Von der Gasse lief Freude in elende Hütten. Heinrich betrat das Bergmannshaus.

Oben an der Treppe stand eine Arbeiterfrau, in Spannung nach dem fremden Tritt horchend. Wider alle Erwartung hob sich die große Gestalt Heinrichs vor ihr aus dem dunklen Stiegenschacht. Heinrich trat näher und grüßte erfreut. Das abgehärmte Weib geriet außer Fassung. Er fragt: „Frau Frank?"
Die Angeredete wurde bleich und nickt. Aber Heinrich reichte ihr die Hand und nannte seinen Namen. Die Frau schaute wirr. Heinrich half ihr aus der Befangenheit: „Ist Eduard zu Hause?"
Sie stammelte: „Er ist zur Schicht!"
Heinrichs Lächeln verflog. Er wiederholte: „Zur — Schicht?"
Plötzlich packte namenlose Freude die verwirrte Frau. Verblüffung platzte. Sie erkannte ihren Schulkameraden. Sie rief aus vollem Herzen: „Mein Gott! Sie sind Heinrich Hölzel? — Hast du dich aber gemacht!"
Erregt öffnete sie die niedere Stubentür. „Komm, tritt ein!" Heinrich beugte sein Haupt und folgte. Der Fußboden ächzte. Auf dem alten Stuhl neben dem kleinen Ofen ließ er sich nieder. Sein Kopf sank zur Brust...
Auch das Bergmannsweib saß sinnend.
Die alte Wanduhr raschelte und schlug drei harte Schläge. — Erschüttert tönte Heinrichs Stimme: „Wisst Ihr was von meinen Geschwistern?"
Eduards Frau schwieg. Heinrich starrte auf jene Stelle am Boden vor dem kleinen Ofen...
Unverhofft entrann der Frau Frank die Frage: „Hein, dir ging es wohl trotz allem... recht gut im Leben? — Weißt du, dass Eduards Mutter schon sechs Jahre tot ist?"
Heinrichs Hirn arbeitete fieberhaft. Er hörte nicht. Erinnerungen nagten in ihm. Sein Gesicht zuckte im Schmerz. Mitleidig schaute die Bergmannsfrau. Und schwere Stille schlich sich in das Stübchen.
Dennoch ist er zur Grube... Er wurde also doch Bergmann?" murmelte Heinrich vor sich hin. Eduards Frau seufzte und antwortete...
In Heinrichs Kopf hämmerte es.
Achthundert Meter hatte der Förderkorb Menschen in den dunklen Rachen der Erde gesenkt. Gebückt tastete sich Eduard mit einem Hauer an der schleimigen Wand im Stollen zur Arbeitsstätte. Blaurot hauchte es aus dem Grabesdunkel nach der Grubenlampe. Eine Stunde Wegs waren beide Bergleute vom Förderkorb entfernt. Vor einer Verzimmerung machten sie halt.
Im Stübchen raschelte die alte Wanduhr... Gequält warf Frau Frank die unbeantwortet gebliebene Frage zwischen ihre Erzählung. Endlich schaute Heinrich auf. Er seufzte.

Wie dröhnende Schläge wirkte seine Antwort und riss der Jugendkameradin die irrtümliche Meinung über sein Leben weg.
Absperrende Planken waren entfernt. „Und wie geht's euch? — Ist Eduard immer noch so lustig?"
Frau Frank antwortete mit gebrochener Stimme. Der „tote Stollen" gähnte Grauen... Eduard und der Hauer zwängten sich in das drohende Grab. Aus dem gärenden Schlamm quirlte das Gemurmel verschütteter Väter. Heinrich lauschte gebannt und versank in seine Gedanken...
„Warum muss dieses verlotterte und verfluchte Flöz wieder in Arbeit genommen werden, trotzdem oben die Halden prassvoll sind? Eduard, was meinst du?"
Frau Frank versagte die Stimme. Sie wischte sich die Augen. Heinrich merkte das nicht. Sein Blick lag auf jeder Stelle auf dem Fußboden vor dem kleinen Ofen ...
Wieder flüsterte es aus dem Erdrachen: „Soviel ich weiß, haben die neuen Aktionäre im Sinn, über kurzem einen neuen Schacht anzulegen, und — ich nehme an — da muss dieser verdammte, aber protzige Stollen herhalten! — Pass auf, wenn wir erst mal hier Luft gemacht haben und der Direktor die fette Kohle bekribbelt hat, dann ist in dieser verlassenen Ecke wieder Hochbetrieb!" Scharfer Stahl bohrte. Schwerer Staub stieg. Funken sprühten. Ab und zu zischte es. Anstrengung trieb den beiden Bergleuten im „toten Stollen" die Augen aus den Höhlen. Endlich steckten die Patronen dem „schwarzen Satan" im Leibe. Eduard und der Hauer atmeten auf. Langsam kroch der bläuliche Funken. Es roch nach Gas. Es blitzte. Die finstere Luft stieß. Die Erde hüpfte und stand wieder. — Heinrich zitterte. Unaufhörlich kotzte die Wand Tonnen schwarzglänzenden Gesteins... Frau Frank hatte geendet.
Wie schwerer Alp lag es auf Heinrichs Seele. Hilflos schaute er nach den leidvollen Augen des Weibes. Frau Frank aber erhob sich, fasste Heinrichs Hand und schüttelte sie. „Und nun freue ich mich, Hein, dass du so ganz ungeahnt unser Gast wurdest! — Eduard wird staunen — wenn er kommt... "
Es war Abend geworden. Auf der Treppe stolperte es schwer. Heinrich zündete sich eine Zigarette an.

War das Eduard, der Jugendfreund? Heinrich vermochte es nicht zu glauben. Und doch: Das ewige Einerlei von schwerer Arbeit und erdrückender Not hatte es wirklich fertig gebracht, das einst aufgeweckte Menschenkind Eduard zu verkümmern. Geradezu erschreckt vernahm Heinrich die Antwort Eduards: „Uns ging es immer so, dass wir Brot im Hause hatten. Hein! Ich danke Gott, dass er mich gesund erhält, damit ich schaffen kann!" Heinrich fragte erschüttert: „Eduard, denkt ihr Bergleute alle so?"
Die sehnigen Muskeln des Bergmanns erröteten. Heinrich begriff. „Ja, ja, ihr seht nicht in eurem Loch in der Erde die Exzesse des Reichtums an der Oberfläche. Und während der paar Stunden, die ihr im Sonnenschein seid, halten euch ausgebreitete Christusarme den undurchdringlichen Schleier vor die Augen!"
Lange saßen diese beiden Bergmannskinder beisammen. Bis endlich die späte Nachtstunde den Eduard erschlaffen ließ. Heinrich ging nicht in sein Hotel. Er streckte sich auf Eduards altem Sofa aus. Und bald erlebte er nochmals das grausige Einst...
Der Sonntagmorgen war trüb. Der politische Himmel hatte sich verfinstert. Heinrich erledigte schleunigst das Nötige zur Abreise in der kommenden Nacht. Dann begab er sich in das Gasthaus „Zum Grubengaul". Misstrauisch und prüfend trafen ihn da die Blicke. Aber bald saßen eng verbunden einstige Jugendkameraden, lauter Bergleute, um den reichen Freund.
Heinrich erzählte. Andächtig lauschten alle.
Draußen läuteten die Kirchenglocken, unaufhörlich...
Feier? — Ein Moment heiliger Stille schwebte durch die Wirtsbude. Plötzlich erschallte inbrünstig die Stimme des Heinrich. Und all die Bergleute sangen auf einmal wie einen Kirchenchoral:

Wer schafft das Gold zutage?
Wer hämmert Erz und Stein?
Wer webet Tuch und Seide?
Wer bauet Korn und Wein?
Wer gibt den Reichen all ihr Brot?
Und lebt dabei in bittrer Not?

In maßloser Begeisterung überschrieen die von der Kohle zerfressenen Kehlen das auf der Straße einsetzende „Deutschland, Deutschland über alles" mit dem Refrain des Arbeiterliedes: „Das sind die Arbeitsmänner, das Proletariat!"
Kaum war das Arbeiterlied verklungen, da stürzte einer von draußen in die Wirtsstube: „Der Krieg! Der Krieg ist ausgebrochen!"
Und gerade als alle hinauseilen wollten, drangen Schutzleute ein und verhafteten den Heinrich.

 

Zweiter Teil

1.

Die Welt brannte in chauvinistischer Begeisterung. Pfaffen zerrten an Kirchenglocken Sturm. Fabriken leerten sich. Alles rannte aus dem alten Elend ... In Menschenbörsen stempelten Generäle die Pferde, Arbeiter und Autos „k.v.". Und Flaggen wehten.
Wahnsinn raste. „Es lebe der Krieg!"
Militärkapellen schmetterten die Vernunft nieder. Männer und Weiber schreien wie wild: „Mit Gott für König und Vaterland!"

Erschüttert lag Heinrich in seiner Zelle. Der Ausbruch des Krieges hatte die Erfolge seines Schaffens zertrümmert. Auch die Gedanken an sein Weib und an sein Kind marterten seine Seele. Und überhaupt: Er, dessen Vaterland keine geographischen Grenzen hatte, der den Krieg natürlich als ein ungeheures Verbrechen gegen den friedlich strebenden Weltbürger und gegen das sittliche Empfinden schlechthin erkannte, er, der Heinrich Hölzel, sollte nun auch noch seine Kräfte, ja sogar sein Leben dem Krieg opfern? Ingrimmig und verächtlich knurrte Heinrich: „Blöde Menschen!"
Endlich wurde er aus der Schutzhaft zur Bahnstation geführt. Mit dem Gestellungsbefehl nach Wilhelmshaven musste er in dem D-Zug Platz nehmen.
Die Fahrt begann. Truppenzüge passierten. Und all die Berauschten jubelten: „Hurra - 'rra! - 'rra!" Auf den Stationen erfrischten patriotische Rotkreuzschwestern die heiser gebrüllten Soldatenkehlen... Immer mehr Truppenzüge,buntgeschmückt mit Kriegsreklamen, grölten einander an. Die Stationen tauchten als Kasernen auf. Es war eine Völkerwanderung in den Tod.
Schweigsam wie sonst erwartete Heinrich seine neue Situation. Allmählich raste der D-Zug in das Dunkel der Nacht. Auch die Kriegsbegeisterten wurden müde. Und schnarchten...
„Wilhelmshaven! Alles raus! Hier antreten!" — So weckte der neue Tag.

Im Reichskriegshafen tobten die elementaren Gewalten der Befehle und der Dummheit. In den Kasernen und auf den Exerzierplätzen wurden die Mannschaften militärisch ausgebildet und gehetzt. Und unaufhörlich brachten Truppenzüge neues Menschenmaterial.
Handelsschiffe wurden Hilfskreuzer und Minenleger. Die Salondampfer lagen bereit als Lazarettschiffe.
In den Werften gab es keine Pausen mehr. Tag und Nacht übernahm die Flotte Kohlen, Munition und Menschen. Und schon schreien gellend die Sirenen der kleinen Kreuzer und der Torpedo- und U-Boote die Hafenschleusen auf.
Scheinwerfer blinkten zitternd.
Signalflaggen gingen hoch.
Die erste Streitformation lief in See.
Unterdessen verlasen auf dem Kasernenhof der II. Marinedivision die Offiziere: „Lüttich ist erobert! Und unaufhörlich dringen die deutschen Armeen vor im Westen... "
Tatenbegeisterte Gemüter explodierten: „Hurra!"
Die Marinekapelle zog das Wildflammende in brünstige Feier. Es war ein Jubel ohne Maßen... „Immer feste druff!" machte alle besoffen. „Segg, Hein, die glöven wohl all, dat die Inglänner mit Kabeljauköpp smieten?" fragte ein Matrose aus der Umgebung Heinrichs, welcher sich gegen die Vorschrift seine Mützenbänder so abgeschnitten hatte, dass sie nunmehr einem Heringsschwanz glichen. Heinrich lachte. „Den Mut, den die besitzen, um ihre Ausbeuter zu verteidigen, muss man bewundern. Aber wie werden sie glotzen, wenn ihnen der Teufel einheizt?"
Der Offizier las weiter: „U neun, Kommandant Kapitänleutnant von Weddingen, hat drei englische Kreuzer versenkt." „Hurra! - 'rra! - 'rra!"
Der Platz tobte.
Dann wurde die Nachricht bekannt gegeben: „Papst Pius der Zehnte ist gestorben."
In die plötzlich herrschende Stille brüllte Heinrich: „Oh — oh!"
Und lachender Wind bewegte die Mützenbänder der versammelten Kriegsschiffmatrosen. Verlegen wandte sich der Offizier an eine eben angekommene Ordonnanz, nahm zwei Schriftstücke entgegen, prüfte beide, schob das eine unwillig in die Tasche und schrie wie im Zorn: „Leute! — Ein neuer, ein großer Sieg! Antwerpen ist gefallen und fest in unserer Hand!"
Und während die beiden Kreuzer „Mainz" und „Köln" und der Hilfskreuzer „Königin Luise" mit Mann und Maus auf den Meeresgrund sanken und der Kreuzer „Frauenlob", von feindlichem Torpedo getroffen, mit Toten und Schwerverwundeten still in den Kriegshafen geschleppt wurde, schrie es an Land unaufhörlich: „Hurra! — 'rra! — 'rra!"

Die Nacht senkte sich nieder. Als große dunkle Schatten standen die Kasernen ...
Hoch in der Luft brummten Motoren. Die Signalstation sprach mit Scheinwerfern nach den Wolken. Und irgendwo draußen auf See lasen Signalgasten mit freudigen Augen vom Nachthimmel: „Großer Sieg des Generals von Hindenburg bei Tannenberg. Neunzigtausend Gefangene. Unzähliges Kriegsmaterial erbeutet."
Neblig brach der Morgen an.
Und rasender Jubel überschrie den Tod der vierhundertköpfigen Besatzung des bei Morgengrauen im heimatlicher Fahrwasser auf Minen gelaufenen Kreuzers „York".
Immer deutlicher machte sich das Kriegsgespenst bemerkbar. Schon sammelten sich die Angehörigen toter und vermisster Seeleute vor dem Stabsgebäude der II. Marinedivision. Das misstrauisch gewordene Volk kaute aus der Beruhigungspille „Wenn das Laub fällt, ist wieder Friede" große Hoffnung. Dagegen hauten Franzosen die vorgedrungene: deutsche Armee zurück. Aber die deutschen Kriegsberichterstatter schwindelten die Erfolge von Wochen summarisch zusammen und schilderten in Phrasen die „unbeschreibliche" Wirkung der deutschen 42-Zentimeter-Mörser.

Welterschütternde Ereignisse hatten Heinrich überrascht und ihn von dem, was ihm lieb und wert war, weggerissen unter die militärische Gewalt. Aber für ihn galt: sich unter allen Umständen dieser Kriegsgesellschaft, die er verachtete, zu entziehen. Dabei kamen ihm seine Kenntnisse wie seine Klugheit sehr zustatten. Unterhaltungen mied er. Ihm kochte das Blut in den Adern, wenn er sah, wie Ärzte den zusammengezogenen Volkshaufen nach „Schlachtvieh" für berüchtigte „Himmelfahrtskommandos" durchwühlten. Und Groll verbitterte ihn, wenn er mit ansehen musste, wie arme Familienväter sich geschmeichelt fühlten, wenn sie für kriegsdienst-| tauglich befunden wurden. Allein Heinrich biss die Zähne zusammen und schwieg. Denn das war ihm klar, dass diese Arbeitsmenschen noch nicht an Auflehnung zu denken vermochten.

Obwohl Heinrich sich mit klugen Vorkehrungen zu schützen verstand, der Krieg näherte sich ihm immer mehr. Ein) Matrosenregiment nach dem andern war begeistert, die begleitende Kapelle überschreiend, nach dem Bahnhof gezogen und nach Flandern gerollt.
Die Flotte mit allen Hilfsschiffen war kriegsstark besetzt. Die großen Kasernen der Matrosendivision hatten sich also:; bis aufs Normale geleert...
Das Laub war längst gefallen! —
Schon ächzten jene Züge mit dem Roten Kreuz als Zeichen tiefernst und langsam von der Front ins Land, beladen mit zerrissenen und laut stöhnenden Hoffnungen. Erschreckende Tatsachen ernüchterten allmählich die Vernunft. Trotz der paar Monate Krieg reichten in Wilhelmshaven die Lazarette, obgleich für „außergewöhnliche Vorkommnisse" eingerichtet, nicht mehr aus, Seeleute, die draußen auf See Glück im Unglück hatten, wenn auch von schweren feindlichen Schiffsgranaten zersplittert, zerquetscht oder verbrannt, so doch noch matt lebend aufzunehmen, um sie zu erhalten.

Rohheit lief parallel mit Leichtsinn. Kamen Schiffe von See, hatten die Seeleute den drohenden knöchernen Finger des Todes gesehen, so benutzten sie die Hafenzeit zur Vertreibung dessen, was ihr Gemüt bedrückte: Sie genossen ihr Leben gierig. Die Hafenstädte wurden Zerrbilder der Menschlichkeit; die engen, niederen Kaschemmen waren die Oasen der Kriegsschiffmatrosen. Hier wurde im Verein mit anderen Verzweifelten, mit Dirnen und Kriegerfrauen, gesoffen. Was war noch zu verlieren?
„Immer feste druff!" hieß es überall. Achtung vor Trauer und Leid verschwand. Der Widerwillen gegen den Krieg äußerte sich schon ganz merklich in Demoralisation. Das war es, was den Heinrich hoffend machte. Und wo es ihm möglich war, warf er Funken in die brodelnde Unzufriedenheit der Seeleute. Doch gerade als sich Matrosen und Heizer der verschiedensten Formationen, geleitet von ihrer gleichen Gesinnung, zusammenfanden, griff die eiserne Faust des Militarismus zwischen sie und holte Heinrich aus Wilhelmshaven weg.

Das stille Wesen Heinrichs innerhalb der Kaserne und das Verbergen seiner Kenntnisse fiel höheren Vorgesetzten gelegentlich einer Unterredung mit ihm auf und hatte zur Folge,
dass er weitgehende Berücksichtigung erfuhr. So wurde er mit dem Posten eines Dolmetschers und Kommissionärs beim Stab der II. Marinedivision in Flandern betraut.
Dem Kriegstod war er entrissen.
Doch jener unwiderstehliche Drang, der ihn auf seiner Lebenswege immer weiter schob, bewahrte ihn vor der Phlegmatik im Beharren persönlicher Sicherheit und Erfolge.
Schnee war schon gefallen, als Heinrich in Flandern ankam. Schwerbepackte Marinetrupps, ganz verdreckt, tappten auf der matschigen Landstraße schweigend nach der Front.. Rasende Autos erschütterten die Häuser. Und in der Ferne hörte Heinrich die Kriegsbestie grollen, ganz anders als in Wilhelmshaven.
Am nächsten Morgen fuhr Heinrich dienstlich nach Brügge, der militärischen Zentrale für Flandern, um zu requirieren. Durch seine Tätigkeit kam er in Fühlung mit der Bevölkerung. Schlimmer als im Reichskriegshafen sah er hier die Demoralisation wachsen. Grauenhafte Not schrie nach Erwerb. Krieg! — Winter! — Aus Frontdörfern flüchteten Männer, Frauen und Kinder. Alles sammelte sich unter dem himmelschreienden Elend des Städtchens. Und lüstern leckte die von der Zeit gezüchtigte Hyäne am nackten Körper der Armen. Dazwischen schreien Kinder: „Mutter!" Um so gieriger aber ward die geile Bestie. Heißhungriges Haschen nach einem halben Kommissbrot machte Mütter zu Huren und ihre Kinder krank. Den blind draufloslebenden Truppen aber schreien uniformierte Pfaffen, dekoriert mit Tapferkeitsauszeichnungen, zu: „Gott strafe England!" und predigten Vergewaltigung der Menschheit; während aus alldem erschreckenden Jammer gellend der Todesschrei schwerverwundeter und zerfetzter Soldaten nach Einhalt schrie.
Kalt, ehern, hämmerte über dem Massenelend das Glockenspiel des Beifried: „Deutschland, Deutschland über alles... "

War es die alte Herznarbe Heinrichs, die erneut aufriss und ihn schmerzte, als wäre heißes Blei hineingegossen? — Heinrich spürte das gesehene Elend in sich. Auf der Rückfahrt ins Stabsquartier nach Jabeke stiegen schwere Gedanken in ihm auf... Und als Heinrich, trotzdem er mit Umsicht und Weitblick seine Aufgaben erledigt hatte, von einem Stabsoffizier Willkür zu fühlen bekam, da flammte aus ihm sein ganzer Hass, seine ganze Verachtung. „Sie Lump!"
Noch am selben Abend erfuhr Heinrich deshalb seine Abkommandierung nach einem Matrosenregiment an der Front. Nur zu gut verstand er, was man mit ihm vorhatte. Einem Vertreter der Offizierskaste war er zu nahe gekommen, und darum musste er auf irgendeine Weise verschwinden. Ihn ins Gefängnis zu schicken schien zu gefährlich, weil durch den Prozess vieles, von dem nur er als vertrauter Kommissionär wusste, an die Öffentlichkeit dringen würde. Also an die Front!
„Eine Patrouille, und der Kerl ist mundtot!" „Bevor ich im Schützengraben falle, fällt jene infame Brut! Das schwöre ich!" antwortete Heinrich einem Kameraden, der ihn mit vaterländischem Schmus beschwichtigen wollte.
Heinrich hatte sich von seinen belgischen Freunden verabschiedet und für ihre in Westflandern durch Briefsperre isolierten Angehörigen lang entbehrte Botschaft übernommen.
Dann begab er sich auf den Marsch.
Nach achttägiger Reise als geheimer Postbote klopfte er am Büro des Bataillonskommandeurs an. Ob ein Hund drinnen bellte? — Heinrich trat ein. „Wer sind Sie?" — „Matrose Hölzel zur Stelle!" Und da schnauzte der Kommandeur, dass seine Augen wie Billardkugeln hervorquollen. Aber Heinrich schwieg. Und dachte...
Aber Heinrichs Schweigen reizte den sich wie wild gebärdenden Kommandanten derart, dass er, vollends in Wut aufgehend, dem Heinrich den Marschbefehl vor die Füße warf und schrie: „Raus, du Schweineaas! - Zur elften Kompanie! Dich, Bürschchen, kriegen wir schon!" Heinrich verstand die Bedeutung dieser Worte. Vor der Tür des Bataillonsbüros schüttelte er sich wie ein nasser Hund. Und im Weitergehen lachte er. „Großartig, wie diese Gesellschaft zusammenhält! Der Narr da drinnen ist längst vom Divisionsstab benachrichtigt!"
Am nächsten Tag aber meldete sich Heinrich krank. Dem Arzt sagte er nicht, dass er erst einen Tag beim Bataillon sei, vielmehr erklärte er ihm ganz unverfroren, er sehe seit den letzten Tagen fast nichts mehr.
Nachdem ihn der Arzt gründlich beäugelt hatte, ging der Befehl an den Sanitätsfeldwebel: „Matrose Hölzel wird morgen früh zum Spezialarzt nach Brügge gebracht!" Heinrichs Herz pochte vor Freude.
Nach sechswöchiger Behandlung des Augenspezialisten im Kriegslazarett I Brügge besteigt Heinrich den Lazarettzug nach Wilhelmshaven.
Zerrissene Soldatenleiber tropfen von Blut und Ohnmachtsschweiß. Trostlose Qual zuckt hinter geronnenen Verbänden. Fiebernde Augen stieren in ätherdunstige Gegenwart...
Der Lazarettzug fängt an zu bremsen!
Schmerzaufreißendes Ziehen in brandigen Wunden! Knochen- und Granatsplitter spießen Bewusstlose wach.
Ein Ruck! — Verzweifeltes Geschrei! „Was ist? — Wo sind wir?" fragen die Blindgeschossenen ängstlich.
Antwort ist Wimmern. Tote werden abgegeben. Und die leeren Betten werden wieder mit röchelnden Fleischrümpfen gefüllt. Der Zug zieht an. Und der Tod schreit im Rhythmus der rollenden Räder Vorwürfe. Dazwischen lachen die Irrsinnigen. Dann hallt das Echo der Front in hohler Bahnhofshalle. Heinrich und Leichtverwundete führen Blindgeschossene. Dann folgen die zugedeckten Bahren...

Qual schreit trotz Narkose.
Dazwischen ächzen Knochensägen.
Aus geschlitzten Bäuchen werden zerschossene Därme gezogen, geflickt und wieder reingepackt. Die Atmosphäre ist Eiter-, Blut- und Kresoldunst. Immer wieder werden die
Schlachtbänke belegt. Schon fallen Schwestern vor Mattigkeit um. Unentwegt füllen und leeren sich die Leichenkammern.
Grauen pestete der Krieg. Die Welt wurde zur Hölle. Von Heinrich waren nunmehr die letzten Bedenken gewichen.
„Nieder mit dem Krieg!" schwor er endgültig, als er wieder zu seinem Truppenteil entlassen worden war.


2.

Mit Umsturzgedanken wühlte Heinrich in den Kaschemmen Wilhelmshavens den vorhandenen Widerwillen am Krieg auf. Bald fand er auch gleichgesinnte und beherzte Kameraden. Mit diesen gründete er geheim einen revolutionären Zirkel. Unter Heinrichs Organisationsfähigkeit gedieh dieses Unternehmen vortrefflich. Schon nach dreimonatigem Bestehen des revolutionären Zirkels waren auf allen Schiffen Vertrauensleute, welche die Bordkameraden „bearbeiteten". Erfolg machte sich schnell bemerkbar. Aus der Flotte drängten Mannschaften mit Zorn zum Umsturz. Heinrich aber erklärte, man müsse warten, bis wenigstens die ganze Marine-Nordseestation „dazu reif" sei. Aber die zornerfüllten Seeleute verlangten den Angriff. In einer abgelegenen und geschlossenen Kaschemme fand denn auch eines Nachts eine Vollversammlung des revolutionären Zirkels statt. Rebellengeist drückte den Zeiger über den roten Warnungsstrich. »Wir verlangen die Lahmlegung der Flotte! Der Krieg muss niedergeschlagen werden!"
Leidenschaftliche Zustimmungsrufe.
Heinrich stand auf. Ruhig ergriff er das Wort: „Aber Kameraden, bevor wir unsere Aktion beraten, muss jeder den Schwur auf sich nehmen: ,Verrat und Feigheit unter uns wird mit dem Tode gesühnt!'"
Beklemmende Stille...
Der Schwur wurde abgenommen.
Wieder klang Heinrichs Stimme: „Kameraden, wir schreiten zur Beratung der Aktion. Es gilt, die Gewalt der Marine-Nordseestation an uns zu reißen. Der Hauptfaktor ist die Eroberung der Flotte. Um in dieser wichtigen Sache Erfolg zu haben, ist unbedingt erforderlich: die Sprengung der Schleusen des Reichskriegshafens in der Zeit, wenn der größte Teil der Flotte im Hafen liegt. Denn der Kriegshafen liegt höher als der Wasserspiegel des Jadebusens. Sind also die Schleusen demoliert, dann fließt das Wasser ab, und die Schiffe liegen mit Schlagseite auf. Folge ist, dass die Schiffe nicht mehr manövrierfähig sind. In der ausbrechenden Konfusion, in der die Schiffsbesatzungen an Land sein werden, muss unabwendbar die Sprengung der Flotte rasch beginnen. Die Kameraden der Landkommandos erhalten in der Stunde der Detonation von einer zu errichtenden Zentrale den Befehl zur Besitzergreifung der Kasernen, des Nachrichtenwesens und der umliegenden Küstenforts. Wichtig ist, dass von diesem Augenblick an kein Mensch, ebenso absolut keine Nachricht aus Wilhelmshaven hinauskommt. Die Verhaftung aller Offiziere ohne Unterschied und der Widerstand leistenden Kameraden muss stillschweigend geschehen. Überhaupt wird dann sofort der verschärfte Belagerungszustand verhängt und Standgerichte geschaffen. Die eroberten Kommandostellen und Truppenformationen sind sofort der erwähnten Zentrale zuzuleiten, welche damit die Sicherung des Reichskriegshafens nach außen übernimmt. Ist die Aktion so weit gediehen, dann muss die Zentrale sofort versuchen, mit Kiel, Cuxhaven und Emden Fühlung zu erreichen. Dies erst durch Abwerfen von Flugblättern. Die Seefahrtsstraßen Jade — Weser — Elbe sind mit Minen zu verseuchen. Mit Proviant ist sparsamst umzugehen. Und nun muss vor allem, aus Misstrauensgründen gegen Kiel, der einzig mögliche Wasserverbindungsweg Kiel — Wilhelmshaven unbefahrbar gemacht werden!" Heinrichs Plan lag nun jedem Mitglied offen. In gleich anschließender technischer Beratung bezeugten die mutigen Seeleute großes Verantwortungsgefühl. Durch Heinrichs außerordentliche Vorarbeit war die einheitliche Organisation am folgenden Morgen bis ins einzelne vollkommen fertig. Und die Rebellenkommandos wurden schnell verteilt. Die Detonation im Kaiser-Wilhelm-Kanal war als allgemeines Aufbruchsignal festgesetzt.
Paarweise mit strenger Instruktion verließen dann die Seeleute das Versammlungslokal. Und warteten bei ihren Formationen Näheres ab.

Eine Gruppe Vorpostenboote (von der Kriegsmarine gecharterte Fischdamper) fuhr die Weser, von See kommend, aufwärts. An Deck der kleinen schwarzen Fahrzeuge herrschte reges Leben. Laue und Leinen wurden klargelegt. Das Führerboot der „Piratengruppe" ließ seine Dampfpfeife brummen und stoppte vor der Hafeneinfahrt. Auf der Mole winkten freudig wartende Bekannte. In Kiellinie liefen die Boote der I. Nordsee-Vorposten-Halbflottille ein. Rauschen und Brausen. Die Boote lagen an der Pier.
„Leinen fest!" Der Bootsmann erwiderte mit erhobener Hand nach der Kommandobrücke:
„Alles klar."
Ein Matrose zog hastig seinen weiten Takelanzug aus und stand sauber in Blau. Noch schnell mal die Hände ins warme Wasser! Ein Sprung an Land! Und zwei ausgestreckte Arme einer jugendlichen Schönen fingen unter herzlichem Lachen den „Vorpostenkuli" auf. „Donnerwetter! — Hein hat's aber eilig!" Ein anderer spöttelte: „Recht! — Wer hat — hat!"
Es war Abend. Lebensfreude schwellte Herzen. Das Orchester rauschte auf wie Sturzwellen. Heinrich war auf einmal niedergeschlagen. Seine Freundin staunte. „Hein, was ist dir?"
„Mir? - Haha! Prost, Mignon!"
„Hein, du bist heute so... ? — Was soll das bedeuten?" Die einsetzende Musik machte sein Brummen unverständlich. Und er lachte. Und trank hastig.
Lind wehte die Frühlingsnacht.
Heinrich wollte sich von Mignon verabschieden. „Bleibe bei mir! — Besser ist besser! In dir stimmt etwas nicht... !"
Von den schlaflosen Nächten der Patrouillenfahrten in der minenverseuchten Nordsee ermattet und unter Wirkung des verlebten Abends folgte Heinrich im Halbschlaf seiner Freundin.
Es war Mittag, als er sich endlich die Augen blank rieb. Mignon drang in ihn: „Gesteh's mir doch, was ist seit deiner letzten Hafenliegezeit in dir vorgegangen?" „Lächerlich!"
Mignon bangte. Sie schwieg aber. Und er verabschiedete sich plötzlich auffällig herzlich.

Seit einigen Tagen wurde Heinrich an Bord vermisst. Auch seine Freundin fragte wiederholt auf seinem Vorpostenboot nach ihm. Aber vergebens.
Beim letzten Passieren der Insel Helgoland hatte Heinrich den Fernspruch eines dortigen revolutionären Kameraden aufgefangen: „,Westfalen' läuft aus nach Kiel — r. 2." Demgemäß verschwand Heinrich im Hafen heimlich von Bord. Denn er mit einem Torpedobootheizer hatte übernommen, die Umsturzaktion vor Kiel dadurch zu sichern, dass sie im Kaiser-Wilhelm-Kanal das Linienschiff sprengen und so zum Gesamtaufbruch alarmieren wollten.
Von allen Lebensfreuden hatte sich Heinrich verabschiedet.

„S. M. S. ,Westfalen' nimmt in dieser Nacht Kohlen über und ist morgen früh fünf Uhr dreißig seeklar. Um sechs Uhr schleust die ,Westfalen' aus und fährt zur Schießübung in die Kieler Bucht!" So berichtete ein Vertrauensmann der „West-falen"-Besatzung in der tagenden außerordentlichen Versammlung des geheimen revolutionären Zirkels. Nachdem brachte ein Kamerad vom Artilleriedepot zwei Schiffsbomben und übergab sie dem Heinrich. Die revolutionären Seeleute wünschten ihren beiden Beauftragten noch ein herzliches „Glück auf!".
Und Heinrich schlich mit seinem Gehilfen durch die stille nichts ahnende Nacht zum Hafen...

Bogenlampen bleichten das bestimmte Linienschiff aus der Dunkelheit. Hinter vorgelagerten Kohlenbergen lauerten Heinrich und sein Freund. Sie wechselten die Mützenbänder ihrer Formationen mit dem der „Westfalen" und zogen sich wie die Besatzung des Linienschiffes den Takelanzug über.
Im Osten merkte man bereits den Morgen. Noch immer balgten sich die Matrosen mit Kohlenbrocken, mit Schaufeln und Körben.
„Bald sind's zweitausend Tonnen, Herr Kapitän!" drang's herüber ins Versteck.
„Aufpassen, aufpassen... Die müssen bald fertig sein da drüben!" Verstärktes Rauschen und Rattern. Plötzlich ein Aufschrei.
Der Lärm verstummt.
Ein Offizier schreit: „Ab mit ihm ms Lazarett!" Und das „Kohlen" beginnt wieder.
(Ein Matrose, von der ungeheuren Arbeit vollständig erschöpft, hatte nicht mehr die Kraft, der hastenden Eile nachzukommen. Gerade als er zwei Kohlenkörbe in den Greifer des Zugseils eingehakt hatte und auch noch einen dritten Korb einschäkeln wollte, schnauzte ihn der Offizier an: „Sie Lahmarsch, dalli!" Der Matrose oben an Deck, der die Dampfwinde bediente, meinte, das Anschnauzen gälte ihm. Er setzte Volldampf auf die Winde. Und unten im Kohlenprahm schnellte der Greifer hoch, hakte sich dem abgeschufteten Matrosen unterm Kinn ein und riss ihm den Unterkiefer aus.)
„Verdammte Schlappschwänze! Der Teufel holt euch alle, wenn die Prähme nicht bald leer werden! Los!"
Die Bordkapelle spielte einen bekannten Schlager. Die Menschentiere reagierten. Ihre letzte Kraft gaben sie her. Der Osten war schon lila.
„Jann, also, du verschwindest in der Kartuschkammer des Geschützturmes ,Dora' und ich in der des Turmes ,Cäsar'. Sind die Bomben in den Kammern gut untergebracht, dann aber schnell in den Kohlenbunker drei. Dort können wir gut abwarten, bis wir im Kanal sind! Jann! 's ist Zeit, komm, komm!"
Zack, zack! — Beide waren an Deck. Wie Mäuse huschten sie in die Luke.

Heinrich saß im Kohlenbunker drei. Totenstille, Gestank und Finsternis: wie unter der Erde!
Auf einmal Geräusch. Heinrich linste ins Dunkel. Flüstern : „Hein?"
„Hallo, Jann?"
„Wo... "
„Komm! Hier... "
Auf allen vieren kroch Jann über die Kohlenbrocken zum Heinrich.
„Erledigt?"
„Tadellos geklappt, Hein!"
„Du, die ,Westfalen' muss ja auseinander fallen wie'n verkochter Fisch. Unten in den Kartuschkammern etliche hundert Zentner Pulver. Darüber die vollgestauten Granatkammern mit 28-Zentimeter-Geschossen und daneben noch die Heizräume! Hein, ich bin überzeugt, dass diese Barrikade im Wilhelmskanal nicht so schnell demontiert wird, wie wir sie hinsetzen!"
„Jann — aber vorläufig ist die Wirkung noch Nebensache. Hauptsächlich kommt es nun erst darauf an, dass die Dinge zum Erfolg uns glücken!"
Kräftiges Stoßen der vollarbeitenden Schiffsmaschinen!
„Wir sind aus der Hafenschleuse!"
Das Linienschiff dampfte seewärts. Leicht fing es an, sich auf den Wellen zu wiegen, und ganz unbemerkt schläferte der warme Stickstoff im Kohlenbunker die beiden ermüdeten Seeleute ein...
Immer heftiger stampfte das Schiff.
Im Kohlenbunker begann es zu rascheln... Eine Welle hob die „Westfalen" am Steven und ließ sie wieder fallen. Der Kohlenberg im Bunker wurde erschüttert, und abrutschender Kohlengrus bedeckte die Eingeschläferten. Schrecken riss Heinrich aus dem gefährlichen Dusel. Mit aller Kraft arbeitete er sich frei. „Jann? Jann?"
Keine Antwort...
Heinrich fühlte um sich: Seine Hände griffen ins dunkle Leere.
Der Schlaf hatte ihm jede Orientierung genommen. Verzweifelt tastete er nach seinem Freund. „Jann! — Jann?"
Angst um den Kameraden machte ihn irre. Das Beißen des Schweißes und des Kohlendrecks in seinen Augen spürte er nicht. Nur in den abrutschenden Kohlen suchen, ihn finden. „Verflucht... "
Die Kohlen rutschten toller.
Mit Bärenkräften stemmte sich Heinrich gegen die stürzende Masse. Seine Hände klebten schon von Blut. Doch zäh scharrte er weiter unter den scharfkantigen Brocken nach seinem Freund. Endlich fühlte er ihn. Rasch machte er das mit Kohlen verschüttete Gesicht seines Kameraden frei. „Jann? — Du, Jann? — Himmeldonnerwetter, Jann! — Bist du wach?"
Der Freund blieb stumm. Was nun? — Kein Wasser! — Keine Luft! — Und niemand an Bord darf erfahren...
Aber ja: Im Heizraum eins arbeitete doch einer unserer Vertrauensmänner. Ob der jetzt auf Wache war? Wenn ich bloß die Zeiger meiner Uhr erkennen könnte! Diese Gedanken zuckten in Heinrichs Gehirn. Er erschrak: Atmet er denn überhaupt noch? Hastig befühlte er den Puls des Bewusstlosen. „Hallo, Jann! Verdammt, gib Antwort, Jann!" Schnell wusch ihm Heinrich das Gesicht mit Rum, den er bei sich trug, reinigte ihm Mund und Nase von dem Kohlendreck und stülpte ihm schließlich die Feldflasche in den Mund.
Jann schluckte! Nachdem Heinrich auch sich den Mund ausgespült hatte, packte er den Jann bei den Schultern, schüttelte ihn, dass der Kopf schnickte, und verabreichte ihm ein paar zünftige Ohrfeigen. Die Wirkung beglückte den Heinrich. Denn Jann brummte.
„Was ist denn mit dir los, Jann?"
„Hmmmmm."
„Du, Jann, alte Eule, bist du bald bei dir? Komm hoch!"
„Wa-as?"
„Komm nur!"
„Wo - bin - ich?"

Die „Westfalen" fuhr längst wieder ruhig.
„Ob wir die Schleuse im Kanal schon passiert haben?"
„Ich weiß nicht, Jann, ob die Maschinen schon mal stoppten! Jann, wir müssen uns unbedingt orientieren. Du bleibst hier sitzen, und ich schleiche mich nach dem Heizraum."
„Sieh zu, ob du Trinkwasser und Zündhölzer von unserem Vertrauensmann bekommen kannst!"
Heinrich stolperte hinter der mannshohen Schutzmauer (die sich schließlich die beiden aus großen Kohlenbrocken errichtet hatten) hervor, um nach dem Ausgangsschott zu gelangen, das nach dem Bunker zwei führte, und durch den er den Heizraum erreichen konnte, ohne von den Kohlen-ziehern bemerkt zu werden.
„In welcher Richtung ist denn bloß das Schott?" Wie ein Blinder tappte Heinrich, bald nach da, bald nach dort.
„Verflucht!" Wo er hintappte, fühlte er nur Kohlen.
„Hast du die Bunkerwand, Hein?"
„Nee! Noch nicht!"
Mit Kohlenbrocken nach allen Richtungen werfend, suchte er. Pump!
Behutsam arbeitete sich Heinrich nach der Richtung, in die er zuletzt geworfen.
„Hier! Bravo!"
„Bleib nicht zu lange fort, Hein, und lass dich nicht erwischen!"
„Menschenskind, so schnell geht das nicht! Ich muss erst mal das Ausgangsschott haben! Sakrament! Die ganze Wand hab ich schon abgefühlt... Ist das Schott verschüttet?"
„Soll ich kommen?"
„Halt's Maul! Bleib hinter deiner Mauer!" Mit seinen zerschundenen Händen fing Heinrich nun an, den abgerutschten Kohlenberg von der Wand zu räumen.
Salziger Schweiß mit Kohlendreck sickerte ihm in die Augen. Im Mund spürte er nur noch Staub. Aber wütend bis er auf die Zähne. „Es muss gehen, und sollte alles verrecken!"
„Hein, ich lös dich ab!"
„Quatsch! Bleib dort!" Zäh arbeitete er weiter. Plötzlich krächzte er: „Bravo... "
„Hein, hast du ihn?"
„Ja, endlich! Aber... Ho — ruck, ho — ruck! Verdammtes Aas... "
„Was ist, Hein?"
„Mensch! Vor dem Schott liegt ein Brocken, mit dem man die ,Westfalen' verankern könnte!"
„Wart, ich helf dir!"
„Nein, Sakrament! Du sollst dort bleiben! Ho — ruck, ho — ruck, ho — ruck, ho — ruck, ho — ru — ru — ru — ruck! — A-ah!"
„Hast du ihn weg, Hein?"
„Ja, hallo, der Teufel! Verflucht, verflucht... "
Ein Brausen, Donnern und Toben. Der Brocken war weg. Der Kohlenberg aber rutschte nach. Von oben rollten schwere Brocken gegen die eiserne Bunkerwand.
" Wie ersterbender Seufzer verrauschte endlich das Tosen. Die Hand fühlte den Kohlenstaub, so dicht wirbelte er. „Hein? - Hein... "
Verstecktes Stöhnen antwortete.
Jann tastete sich nach der Unglücksstätte und arbeitete den heruntergerutschten Kohlenberg von der Bunkerwand. Den Kopf von eine Riesenbrocken an die Wand gepresst, so fand Jann seinen Freund unter den Kohlen. Er befreite ihn.
Mit unsäglicher Mühe hatte Jann den verschütteten Freund hinter die sichere Schutzmauer geschleift. „Ist dir's besser, Hein?" „Ja. — Forsche, wo sich das Schiff befindet!"
Jann hatte sich bis zum Heizraumschott durchgearbeitet. Langsam, ganz unmerklich öffnete er es und lugte unter die halbnackten Heizer vor den grellen Kesselfeuern. Der Kamerad vom revolutionären Zirkel schaufelte gerade Kohlen auf die Glut. „Pst! - Pst!"
Aber der Heizer warf die Feuertür zu und ging an die nächste, dicht am Schott. „Pst! - Pst!"
Er schaute um sich. „Pst, pst!"
Gemerkt. Der Heizer ging an das Schott. Und Jann fragte: „Sind wir im Kanal ... ? Wie viel Uhr ist's? Besorg zu trinken und Brot und Zündhölzer! Aber schnell!"
Der Freund verschwand. Bald kam er wieder mit einer Büchse voll heißem Kaffee, mit Brot und mit Zigaretten und Zündhölzern. „Wir fahren andauernd langsame Fahrt. In einer Stunde schleusen wir erst in den Kanal. Jetzt ist die Uhr neun!
„Neun Uhr? — Vormittag oder Abend?" „Vormittag! Was macht Hein? Ist's langweilig im Bunker?"
„Mann! Du hast keine Ahnung von dem, war wir in den paar Stunden geschuftet und ausgestanden haben! Sag uns Bescheid, wenn's Zeit ist... "
„Ja."

Zwei Zigaretten glimmten im Dunkel des Kohlenbunkers. „Aber was ist mit der Mannschaft, Jann? Die müssen wir unter allen Umständen warnen! Aber wie... " Sie berieten.

„Recht, Jann! Eine Explosion genügt! Ruhig!" Vom Ausgangsschott her Stolpern!
Beide löschten ihre Zigaretten und verhielten sich, ohne zu mucksen. „Hein? — Jann?"
„Unser Vertrauensmann! — Hallo — hier! Ist's Zeit?" „Ja! Grad passieren wir Rendsburg!"
„Recht! Komm, setz dich! Hör: Wir machen die Sache folgendermaßen... "

„Ausgezeichnet, Hein! Und jetzt, wenn meine Wache abgelöst wird, dann lauft ihr so quasi als blinde Schafe mit uns nach dem Baderaum. In dem Dampfschwalm könnt ihr euch ungesehen erfrischen, und von dort aus treten wir in Aktion."
„Gut!"
„Nun kommt mit bis zum Heizraumschott, dort wartet ihr, bis ich euch Bescheid sage!"
Die Heizer hatten ihre Kessel an die neue Wache abgegeben und kletterten, schwarz wie Neger und abgeschuftet, den Niedergang hoch zum Zwischendeck. In den Trubel mischten sich unauffällig Heinrich und Jann. Im Baderaum brachte ihnen ihr Vertrauensmann Seife und Schweißtuch. Dann wies er sie in eine weniger benutzte und dampfdunstige Ecke. „Ihr armen Teufel seht ja treu aus." Unter der heißen Dusche weichten die von Schweiß, Blut und Kohlendreck verkrusteten Wunden.
Heinrich lief im Zwischendeck auf Steuerbordseite von einem Heizraumsprachrohr zum andern und gab energisch den Befehl hinunter: „Sofort Feuer raus! Alles an Land! Kartuschkammer brennt! Die Flutventile und Pumpen sind demoliert!" Dann schrie er in die Maschinenräume: „Maschinen stopp! Personal sofort an Land! Höchste Lebensgefahr! Explosionsgefahr! Kartusch- und Granatkammer brennt!"
Während Jann die Backbordseite auf gleiche Weise bearbeitete, ließ der Vertrauensmann, der sich zur Kommandozentrale des Linienschiffes geschlichen hatte, sämtliche Alarmglocken rasseln. Diese außergewöhnlichen Befehle warfen alles über den Haufen. Aus jedem Winkel des Kriegsschiffes stürmte die Panik. Offiziere waren der flüchtenden Gewalt gegenüber machtlos. Das Schiff stoppte.
Und während die Besatzung sich an Land in Entfernung vom Schiff sammelte, stieg Heinrich in die Kartuschkammer des Turmes „Cäsar".

Die Offiziere der „Westfalen" hatten mit nicht weniger Überraschung die richtige Kopfzahl der Besatzung festgestellt und sie dem Kommandanten gemeldet. Und sofort wurden Matrosen und Heizer, Unter- und Deckoffiziere für die Durchsuchung des Schiffes abkommandiert...
Heinrich hielt die Bombe vor sich, stellte sie auf eine Verzögerung von zehn Minuten ein und holte aus, um sie abzuschlagen, als das Alarmsignal „Schotten dicht!" durch das ganze Schiff rasselte. Erschreckt hob Heinrich die Bombe zwischen die Kartuschen. Er horchte auf. Knacks — knacks! — Das Seitenschott der Kartuschkammer öffnete sich. „Hände hoch!" Heinrich leistete erblasst Folge.
Dann fielen drei Unteroffiziere über ihn her und schnürten ihn in eine Hängematte. Als er aus dem Geschützturm nach der Arrestzelle geschleppt wurde, sah er den Vertrauensmann an der Seite des Offiziers. Heiß schlug das Blut in Heinrichs Gehirn: „Verrat?"
Es war Herbst 1915.
Eine Eskorte der Marineinfanterie übernahm den Heinrich an der Schleuse des Reichskriegshafens von einem Kieler Torpedoboot und lieferte ihn ins militärische Untersuchungsgefängnis ein. Unter scharfer Bewachung fand gleich sein erstes Verhör statt. Aber ergebnislos. Heinrich verweigerte jede Aussage.
In die erdrückende Enge seiner Zelle brandete der Lärm des Hafens. Ruhelos wälzte er sich auf der quälenden Pritsche.
Tritte! — Schlüsselgerassel! Flüstern! Und Knarren der Riegel! Dann das Schnauzen: „Aufstehen! Raus!"
Im fahlen Mondschein auf dem Korridor blitzten Bajonette und — die Augen Heinrichs.
Es war nach Mitternacht, als ihm der Oberkriegsgerichtsrat zuredete: „Ich kann Ihnen nur raten, Aussagen zu machen! Denn sonst, Sie wissen — das Gesetz — der Paragraph — 's ist Meuterei — Sie werden erschossen. Sagen Sie ruhig die volle Wahrheit! Vielleicht lässt sich die Sache noch etwas reparieren!"
Im Nu war jedes niederdrückende Gefühl von Heinrich verschwunden: Die Krisis war überstanden! Trotzig erwiderte er: „Ich protestiere gegen meinen Haftbefehl! Ich beschwere mich darüber!"
Höhnisch grinste der kaiserliche Oberkriegsgerichtsrat. „Trösten Sie sich! Wir haben alle, nicht nur Sie!"
Heinrich lag wieder in seiner Zelle. Den dicken Strich unter sein Leben hatte er gezogen... Rebellenstolz aber erleichterte seine Seele. Bald schlief er ein.

Endlich wurde Heinrich zur Aburteilung vorgeführt. Gerade als wenn ihn die Sache nichts anginge, so ließ er sich auf der Anklagebank nieder. Nachdem vier Heizer der „Westfalen" beschworen hatten, Heinrichs Stimme sei dieselbe, welche damals im Kanal die falschen Befehle in die Heiz- Und Maschinenräume gegeben habe, zog sich das Militärgericht Zurück zur Beratung.
Bald schallte das Urteil: „Im Namen des Königs ist der Angeklagte, der Matrose Heinrich Hölzel, vom Kommandanturgericht Wilhelmshaven wegen Meuterei zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die militärischen Ehren aber werden ihm wegen seiner Verwegenheit belassen!"
Seelenruhig nahm Heinrich den Richterspruch hin. In seiner Zelle durchrieselte ihn trotz allem Freude, weil es dem Jann gelungen sein musste, die Bomben und sich selbst in Sicherheit zu bringen, und weil also die Aktion nicht von dem Vertrauensmann denunziert worden war. Und deshalb triumphierte Heinrich. „Nun mag geschehen, was will! Der revolutionäre Zirkel besteht!"

Anfang Dezember 1915 wurde Heinrich von drei bewaffneten Unteroffizieren nach der Marinestrafanstalt Köln am Rhein transportiert. Durch strahlendes Großstadtleben, vorbei an tannenduftenden Plätzen schleifte die Militärbestie die Beute nach ihrer Höhle.
Das schwere Tor der Festung hatte sich hinter Heinrich geschlossen. Unaufhörlich schüttete der Himmel Regen.
Eine Stunde schon stand Heinrich im Festungshof vor dem Aufnahmebüro. Plötzlich schrie ein Hauptmann: „Wo ist der Kerl?" Und während der Dom feierliches Geläute über die weihnachtsfrohe Stadt goss, grinste der Offizier nach dem Heinrich. „Freundchen! — Den Schlüssel zu dem Ausgangstor hier haben Sie: Entweder Sie fügen sich bedingungslos, oder Sie kommen Ihr Lebtag nicht wieder hinter diesen Mauern raus! Verstanden?" Und dann fauchte er: „Hinleg'n! Auf! Dahin marsch, marsch! — Zurück marsch, marsch!" Herzlose Befehle schleiften den Heinrich durch den Dreck, bis er abgehetzt liegen blieb. Hungrig, müde, matschig bis auf die Haut, trieben dann die Henker nach schamloser Leibes- und Aftervisitation den Heinrich in den Kerker und schmissen ihn auf sein Lager. Aber die Nacht, die dunkle Nacht, erbarmte sich endlich über das Grauen. Zerrüttet sank Heinrich in wohltuende Erschöpfung.
„Ist der Kerl noch nicht hoch?"
Erschreckt schnellte Heinrich vom Lager in militärisches Starren. „Scheißkübel raus!" So wurde Heinrich am Weihnachtsmorgen geweckt.
Die Klappe an der Zellentür, durch welche die Nahrung gereicht wurde, fiel zurück. „Kaffee! Brot gibt's heute... " Der Schlag der zugeworfenen Kosttüre verschluckte die letzten Worte. Wieder sprang die Zellentür auf. Der Abteilungsfeldwebel visitierte den Kerker. „Schweinekerl! Soll das 'n Bett sein?"
Der begleitende Korporal zerrte die blau und weiß karierte Zudecke in die Mitte der Zelle. „Der Scheißkorb wird mir gebaut wie eine Zigarrenkiste so kantig! Die Zudecke ist unten, oben und in der Mitte zweiunddreißig Karo breit, aber haargenau!" Dann wandte sich der Feldwebel nach dem Korporal. „Sie melden mir in zehn Minuten, dass der Kerl fertig ist!"
Mit verbissener Miene verließen endlich die beiden die Zelle. Heinrich fasste sich an die Schläfen. Und stöhnte: „Fünfzehn Jahre... " Wütend ballte er die Fäuste: Der revolutionäre Zirkel wird mich schon rächen!

„Achtung! — Zum Kirchgang — raustret'n!"
Zack! Wie auf einen Schlag klappten auf den Galerien des Zellenbaues Türen und Hacken.
Weihnachtsgottesdienst. Der Choral war in atemloser Stille verklungen. Der Hauptmann sprach. Laut warfen die Wände seine brutalen Worte ab in ängstlich ergriffene Herzen. Sein „Wehe dem... " verhallte langsam unter fröstelnden Menschen. Dann kam der Pfaff, zeigte den abgeschreckten, schmachtenden militärgefangenen Leibern den Kelch und soff ihn aus.

Ruhelose Schritte in den Zellen. Wild stürmte es in Heinrichs Hirn. Endlich war Weihnachten vorüber.
„Wenn Sie Ihr Tagespensum Arbeit nicht leisten, fliegen Sie ins Dunkel, bei Wasser und Brot!"
Der Feldwebel ließ dem Heinrich einen Armvoll zugeschnittener Unterhosen vorwerfen. „Was sind Sie von Beruf?"
„Seemann, Herr Feldwebel!"
„Na, dann aber man ran und feste ins Zeug!"

An langen Tischen im Arbeitssaal saßen stumm, mit knurrendem Magen, die Militärgefangenen und nähten.
„Achtung!"
Die Köpfe ruckten in die Höhe. Die Augen richteten sich nach dem Aufsichthabenden.
„Fertigmach'n zum Austret'n!" Behände wurden Nadel und Zeug zur Seite gelegt.
„Raustret'n!"

Die Soldaten waren im Festungshof in zwei Reihen hintereinander angetreten. „Zu vieren abzähl'n! In Gruppen rechts schwenkt — marsch!"
Im Paradeschritt marschierten die Militärgefangenen zum Abort.
„Beine raus! — Zurück marsch, marsch!" Wild stürmten alle an den Standplatz.
„Achtung! Wenn ihr eure Kackstelzen nicht hochschmeißt, ziehe ich euch im Dreck rum, bis euch die Zunge am Boden schleift! Abteilung — marsch!"

Die Soldaten hatten ihre Notdurft verrichtet und saßen wieder an ihrer Arbeit. Plötzlich schrie der aufsichtführende Unteroffizier in die traurige Stille: „Sie unverschämter Lümmel! Sie hab'n erst um Erlaubnis zu bitten, wenn Sie sich schnäuzen müssen!"
„Marinegefangener Hölzel bittet, das Taschentuch benutzen zu dürfen!"
Heinrich errötete vor Scham und Zorn.
Kaum hatte sich Heinrich die Nase geputzt, da schrie der Korporal: „Achtung! — Fertigmach'n zum Exerzier'n!"
Schnell reinigten sich die Militärgefangenen. „Raustret'n! — Abzählen! — Rechts um! Marsch!"
Zehn Uhr vormittags. „Das Ganze - halt! Richt' euch!"
Wie angewachsen standen zweitausend Militärgefangene im Isolierhof der Festung. Die Unteroffiziere meldeten einem Offiziersstellvertreter ihre Korporalschaften. An den Militärgefangenenhänden bis der Frost.
„Achtung!" Der Feldwebel hatte das Kommando übernommen. „Der Größe nach angetret'n — marsch, marsch!" Wild stoben die Soldaten durcheinander. Und schon wieder standen sie in „Reih und Glied" — wie angefroren. „Noch mal zurück — marsch, marsch!" Scheu, mit Aufwand ganzer Kraft, liefen alle an ihre alten Plätze, gejagt von tierisch brüllenden Korporalen.
„Was ist mit dies'n? Woll'n die nicht mehr?" Einige Militärgefangene wälzten sich jammernd auf der kalten Erde. „Der war verschüttet!" „Der hat 'n Kopfschuss!" „Der hat 'n Bauchschuss!"
„Der hat 'n Nervenschock!" so lautete die Antwort der Unteroffiziere. „Dort an die Wand leg'n! — Auszappeln lass'n! Die Krüppel links raus — marsch, marsch! Das übrige anfangen mit Laufschritt."
Scharf blies eisiger Ostwind. Der Isolierhof dröhnte.
An der Mauer lagen Wimmernde. Davor standen mit der Krücke oder mit einem oder zwei Stützstücken die Verstümmelten und machten auf Befehl — Kopf- oder Fußrollen. Die mit schwulstigen Narben, mit Geschoß- und Granatsplittern im Körper folgten mit schmerzverzerrtem Gesicht dem Kommando:
„Kniebeuge! — Ei-n-s! — Zw-ei-i-i! — Ei-n-s! — Zw-ei-i-i!" Der große Haufen dampfte.
„Achtung! — In Korporalschaften angetret'n marsch, marsch! — Einrück'n!"
Zweitausend Gefangene seufzten zum Himmel. „Fertigmachen zum Appell! — Mit Waschschüssel, mit Essnapf und mit dem Urinkübel! — Raustret'n!"
Die Verzweifelten zitterten vor Kälte, Hunger und Anstrengung.
Endlich! „Achtung! — Fertigmachen zum Essenhol'n! Tretet — weg!"
Erlöst stürzten die deutschen Soldaten die Galerien hoch, in ihre Zellen.
„Wehe dem, der es hier wagt, als Mann zu handeln!" hauchte Heinrich.
Die Essklappe schlug zurück. „Ess'n!"
Gierig schlürfte Heinrich den halben Liter warme Brühe und verschlang sein Stück Brot. „Schüssel raus!"
Nachdem schlug die Glocke der Zentrale. Die Militärgefangenen rückten wieder in ihre Arbeitssäle.
Endlich war es sieben Uhr abends. Dann noch einen halben Liter Wassersuppe. Und die Nacht kam.

 

3.

Wie die Kriegslazarette, so hatten sich auch die militärischen Strafanstalten des Reiches und der besetzten Gebiete gefüllt. Aber fortwährend schmissen die Fronten neue Massen unwillig Gewordener hinter jene Mauern. Um all die Militärgefangenen zu bergen, wurden schließlich die großen zivilen Zentralgefängnisse verwendet. Mit Genugtuung sah Heinrich das Abbröckeln militärischer Macht. Kurz nach Neujahr 1916 kam er mit noch etlichen hundert Kameraden nach dem Zentralgefängnis Berlin-Tegel.
Die Strafbehandlung ward durch die stetig wachsende Zahl der Militärgefangenen und durch die steigende Not im Lande immer brutaler. Heißhunger und entmenschte Vorgesetzte trieben viele der vogelfreien Soldaten zum Wahnsinn und Selbstmord. Wut und Hass gegen die Tyrannen quälten Heinrich. „Wehe, wenn der Tag der Abrechnung kommt!" schrie er eines Nachts aus seiner Zelle. Laut schallte das Echo in dem hohlen Zellenbau und verklang in vielstimmigem: „Ra-che!" Da stürmten die Henker heran. Aber die Zellen schwiegen...

Es war Herbst 1916.
Das Fleisch von Heinrichs Körper war weg. In langen Reihen hintereinander standen im Gefängnishof die lebenden Skelette feldmarschmäßig, ohne Waffen, fertig zum Abtransport nach Nordschleswig.

Mitten durch die Freiheit raste der Sonderzug mit Militärgefangenen. Aus den Rahmen der Wagenfenster schmachteten bleiche und zerfallene Gesichter. Die verstaubten Lungen mit Freiheitshauch blähen und die von den Kerkermauern niedergehaltenen Blicke wieder ins Weite unter Menschen schweifen lassen zu können löste aus all den gefangenen Soldaten andächtige Freude. Heinrichs Blicke fraßen geradezu Natur und Leben. Doch tückisch verhängte der Himmel die Freiheit mit undurchdringlichem Dunkel...

Aus dem Schleier der Nacht erhoben sich in der Ferne abseits der Welt schwarze Baracken ins Grau des aufbrechenden Tages: das Gefangenenlager. „Lügumkloster!"
Der Sonderzug hielt. Die erwartungsvollen Soldaten wurden ausgeladen, wie Vieh abgezählt, und dann querfeld ins Gelände — in ungeahntes Elend getrieben. Im Gefangenentrupp tappte Heinrich stumm, an die Freiheit denkend. Plötzlich erhielt er einen Stoß mit dem Gewehrkolben gegen die Rippen. Ein deutscher Soldat — einer vom Wachtpersonal, fauchte ihn an: „Vordermann! — Abstand halt'n!"

Herbststurm heulte in der zwei Meter hohen Stacheldrahtumzäunung des Gefangenenlagers. Wie Riesensärge lagen die schwarzen, fensterlosen Baracken. Davor standen lange Reihen schauernder Militärgefangener. „Achtung! — Die Augen — links!"
Der Lagerkommandant schritt mit Monokel und Reitpeitsche die lange Elendsfront ab. „Kerls! — Von jetzt ab werden Vergehen als vor dem Feinde begangen bestraft!" Dann grinste er. „In einer Stunde besichtige ich die Quartiere! — Einrücken!"
Dunkelheit und faulenden Dunst hauchte der aufgesperrte Rachen des Feldgefängnisses. In Heinrichs Adern fror das Blut. „Los! Rin marsch, marsch!"
Mit Kolbenhieben trieb das Wachtpersonal eine Kompanie Menschen durch die enge Tür. Wer stolperte und fiel, wurde zertrampelt.
Die Barackentür schloss sich.
Endlich waren die Militärgefangenen zur Ruhe gekommen. Aus den durch die Mitte der Baracke zu einer langen Reihe ausgerichteten und vierfach übereinander stehenden Schlafkasten drang seufzendes Schnarchen. Nur in einem ganz oben flüsterte es noch: „Ja, ja, ich fühle, hier gehen wir zugrunde!" Im spärlichen Mondschein, der durch den engen Luftschacht fiel, schüttelte Heinrich seinen mit verfaultem Laub gefüllten Strohsack auf und legte sich nieder.

Kolbenschläge an die Schlafkasten und wüstes Geschrei schreckte die Gefangenen auf. Ein neuer Tag begann.
Es war früh vier Uhr, als die dreizehnte Arbeitskompanie die Baracke verließ, um Essen zu holen. Und eine Stunde später, durchgeregnet und von Frost geschüttelt, stülpte Heinrich die dünne und gallenbittere Kunstmehlsuppe in sich hinein. Seine erste Nahrung außer einem Pfund Brot seit der Abreise von Tegel. Gleich nach dem Einnehmen der Morgensuppe brüllten die Korporale: „Austret'n!" Und kaum hatten die Soldaten ihre Notdurft verrichtet, da schrie das Wachtpersonal in die unheimliche Stille der Baracke: „Zum Arbeitsdienst — raustret'n!"

Gegen den Wind gelehnt, standen, wie aus Stein gemeißelt, zehn Kompanien Gefangener im Matsch des Lagerhofes, die Mäntel trugen diese Soldaten zusammengerollt über der Schulter. Ihr Brotbeutel und Kochgeschirr waren leer. Vor und hinter der jammervollen Reihe gruppierte sich in Mänteln und ein Zelttuch übergehängt, das Wachtpersonal — mit geladenem Gewehr. Ein Gardeoffizier postierte sich vor das Ganze. „Ich mache drauf aufmerksam, dass bei Fluchtversuch, tätlichem Angriff, Arbeitsverweigerung und Ungehorsam rücksichtslos von der Waffe Gebrauch gemacht wird!" Dann übernahm ein Offiziersstellvertreter das Kommando zum Abrücken, worauf die Militärgefangenen im Paradeschritt das Lager verließen. Endlich, als alle von oben bis unten mit Schlamm bespritzt waren, erscholl: „Rührt euch!" Und stumm, im Gleichschritt, bewegte sich der Jammerzug nach dem unbekannten Arbeitsplatz.

Auf der Station Lügumkloster hatten die Militärgefangenen einen bereitstehenden Zug nach Scheerebeck bestiegen. Dort wurden sie in einen Pionierpark geführt, woselbst je sechs Mann ein sieben Meter langes Feldbahngeleise auf die Schultern nehmen mussten. Dann grinste der aufsichthabende Offizier. „Ma-a-rsch!" Und langsam ging der Gefangenentrupp mit der schweren Last vorwärts... Es regnete: Es goss!
„Wo sollen die Geleise hinkommen?"
„Habe keine Ahnung, Kamerad!" Kaum hatte Heinrich seinem Nebenmann die Antwort zugeflüstert, da sank er auch schon in den Kot der Straße: Ein Unteroffizier, der ihn sprechen hörte, hatte ihm deswegen einen Fußtritt gegen den Magen versetzt. Wie ein Wurm krümmte sich Heinrich im Dreck und rang nach Luft. Neben ihm schrie der Unmensch: „Eine Minute Pause!"

Die zitternden Gefangenen hatten ihre Last wieder auf die Schultern genommen.
„Aufsteh'n! Sie soll'n aufsteh'n!" Heinrich griff in die aufgeweichte Straße, um dem Befehl nachkommen zu können. Aber vergebens.
„Was! — Sauhund! — Willst markieren?" Wie wahnsinnig stieß der Wachtmann mit dem Kolben auf Heinrich ein. Heinrichs Gesicht war Blut und Straßendreck. Seine einstigen Riesenkräfte hatte die barbarische Strafe längst aufgezehrt. Wie verendet lag er mit dem Gesicht im Schlamm. Da überkam den Korporal plötzlich Furcht vor der Verantwortung. Deshalb redete er geheuchelt in gutmütiger Weise auf den Stöhnenden ein. Dann pflanzte er sein Seitengewehr auf, hob Heinrich am Rockkragen hoch und warf ihn auf den Rücken. „Ich gebe Ihnen jetzt zum letzt'nmal den Befehl: Sie soll'n aufsteh'n!" Heinrichs Glieder zuckten.
„Ich mach von der Waffe Gebrauch, wenn Sie nicht woll'n! - Hör'n Sie?"
Allmählich vermochte sich Heinrich aufzurichten.
„Sie unverschämter Sauhund! Sie woll'n sich verstell'n! Was? Laufschritt — marsch, marsch!"
Nach langem verbissenem Sichfortschleppen bat Heinrich, seine Fußlappen richten zu dürfen.
„Nein! Die Schuh bleib'n angezog'nü Nachher komm'n Sie nicht mehr rin in Ihre Quadratlatsch'n!"
Nun bat Heinrich, wenigstens, „einen Moment bloß", rasten zu dürfen. Und wirklich, die sadistische Bestie erbarmte sich. Heinrich setzte sich ins nasse Gras. Er wünschte sich tot.
„Auf!" Heinrich bis sich verzweifelt auf die Zunge. Seine Augen schauten irr. Immer vorwärts musste er, dem Gefangenentrupp nach. Links und rechts der Straße im Graben lagen vereinzelt, dann immer mehr andere Kameraden, die auch unter der schweren Last zusammengebrochen waren und nach den kurzen Ruhepausen nicht mehr die Kraft aufbrachten aufzustehen.
Deutsche Männer lagen wie Tote im Dreck der Straße. Daneben stand, wie Kettenhunde bellend, das Wachtpersonal. Da kam der Begleitoffizier vom Gros zurück. „Wer nicht unter seinem Geleise zum Bestimmungsort kommt, kriegt — heut abend — nichts zu fressen!" Er spottete: „Hättet ihr eure Pflicht an der Front getan, dann wärt ihr schon längst kaputt, und man müsste sich nicht mit solch'm Gesindel rumärgern! Auf! Oder ich lasse auf euch feuern!" Mit geradezu viehischer Kraft rafften sich die Zusammengestürzten auf und quälten sich mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter, immer weiter. Endlich, unter unsäglicher Mühsal, hatte auch Heinrich den Gefangenentrupp wieder erreicht. Zwei Stunden später kam das Kommando: „Ha-a-lt!"
Zehn Kompanien legten die schwere Last ab. Alle atmeten erleichtert auf. Es war mittags zwei Uhr. Siebzehn Kilometer hatten die deutschen Militärgefangenen die schweren Feldbahngeleise durch die Heide getragen. Ihre Gedärme zogen sich vor Hunger zusammen. Ihre Seele fror. Und die Glieder schmerzten. Deswegen bekümmerte sich aber kein Vorgesetzter, kein Gott und kein Teufel! Die Gefangenen standen bald wieder in der Marschformation.
„Ma-a-rsch!" Und sie tappten zurück — zurück nach Scheerebeck.

Fünf Uhr abends. Da standen sie endlich paarweise in langen Reihen und stierten und gierten mit gekrümmtem Rückgrat, das Kochgeschirr in gekrampften Händen, nach dem dampfenden Viehkessel.
„Achtung! — Wer sei'n Fraß hat, kommt dann nach hier!" Die Unteroffiziere begannen auszuteilen: einen halben Liter dünne Grießsuppe per Kopf.
„Herr Unteroffizier? — Die Kelle war aber nicht ganz voll!" „Was will der?" schnauzte der Wachthabende. „Auskipp'n!
- Weg marsch!"
Der Gefangene ging mit leerem Kochgeschirr zur Seite, verhüllte das verfallene Gesicht in seinem Vollbart. Und weinte. Langsam schlängelte sich die Reihe am Kessel vorbei. Diejenigen, welche ihre Suppe hatten, standen nach Befehl abseits angetreten, steckten heimlich die Finger ins Kochgeschirr und schleckten sie dann verstohlen ab. „Hinsetz'n! Anfang'n mit Ess'n!"
Ein Schlürfen, Lecken und Schaben! „Ah! — Ob man noch was kriegt?"
Die Unteroffiziere riefen einige Gefangene. Die durften den Viehkessel auskratzen. Wie Raben über Aas, so gierig fraßen vier „glückliche" Gefangene den angebrannten Grieß aus dem Kessel, beneidet von ihren Kameraden. „Achtung! — Antret'n — marsch, marsch!"
Und bald bestiegen die abgehunzten Militärgefangenen die Eisenbahn, die sie wieder nach Lügumkloster brachte.

Während der Fahrt waren die strapazierten Glieder der Gefangenen derart angeschwollen, dass jeder Auftritt neue Qual wurde. Endlich abends acht Uhr war der Drahtverhau des Lagers erreicht. Die Gemarterten seufzten nach der Nacht.
Eben hatten sie den Eingang in die Hölle passiert. „Achtung!" — Paradeschritt war wieder befohlen. Vor den Baracken machten die Kompanien halt. „Abzähl'n!" Dann erfolgte gründliche Leibesvisitation und
— Bekanntgabe der Disziplinarstrafen. „Marinegefangener Hölzel wird wegen Sprechens auf dem
Marsch mit zwei Stunden Anbinden an dem Pfahl bestraft! Einrück'n!"
Um neun Uhr, als die Gefangenen noch einen Liter Sauerrüben verschlungen hatten, erscholl das letzte Kommando des ersten Tages: „Nachtruhe!"
Erlöst kletterte Heinrich nach seinem hochgelegenen Schlafkasten. Das Entkleiden war wegen der Kälte und des vom Dache auf die Laubsäcke tropfenden Regens nicht vorteilhaft! Heinrich würgte sich die Stiefel von den geschwollenen Füßen. Und packte seine quatschnassen Fußlappen zum Trocknen unter sich auf den verfaulten Laubsack. Bald lag der zuckende Leib zähneklappernd in dem nassen und verlausten Schlafkasten des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers.

Am Morgen war es Heinrich nicht möglich, die wunden Füße in die hart gewordenen Stiefel zu zwängen. Barfuss tappte er daher über den schlammigen Lagerhof, um die Morgensuppe zu empfangen. Und später, als die noch Marschfähigen der Gefangenenkompanien zur Arbeit ausrückten, musste er, wie alle Kranken, den Vormittag bei eisigem Regen vor der Arztbaracke warten. Der Arzt behandelte die Fußkranken mit Jod und schrieb sie ohne Bedenken „dienstfähig"...
Um zwölf Uhr wurden sämtliche Kranken des Lagers zusammengestellt und auf einem Feldweg zur Ablegstelle der Feldbahngeleise getrieben.

Gegenseitig sich stützend, plagte sich der elende Trupp vorwärts. Bis einer nach dem andern ganz abgeschunden mit Schaum vor dem Munde in den Dreck stürzte. Verzweifelt schrie Heinrich, als zwei Unteroffiziere auch auf ihn eintraten: „Schlagt mich endlich tot!"
Der Krankentrupp lag mehrere Stunden blutend und wimmernd im kalten Schlamm des Feldwegs. Beim Dunkelwerden kamen Wagen. Wie mit den Toten an der Front, so ging das entmenschte Wachtpersonal mit den Gefangenen um. Ob beim Aufschmeißen auf die Wagen einem Gefangenen der Schädel zertrümmert wurde oder ob einem die Arme brachen und ein anderer erstickte, das war dem Strafvoll-streckungspersonal egal.
Während die Pferde galoppierten, machten die Bedauernswerten jammernd ihre eingeklemmten wunden Körper frei.
Heinrich röchelte wie ein Sterbender. Über seinem linken Auge klaffte eine frische Wunde. Er war bewusstlos.

Langsam waren die ersten Tage in Lügumkloster vergangen. Sonntagmorgen!
Im Gefangenenlager herrschte angespornter Hochbetrieb. Vor einer Baracke wurde gewaschen. In einer Ecke des Lagerhofes wurde stramm exerziert. Währenddessen polierten andere Kompanien die rissigen Stiefel und die verrosteten Kochgeschirre. Dabei grölten wirr durcheinander das Schimpfen und Fluchen des Aufsichtspersonals. Endlich war es Mittag.
„Achtung! — Fertigmach'n zum Appell! Alles mitbring'n!" Den Tornister vor den Füßen, daneben das Kochgeschirr und den Löffel, den Brotbeutel umgehängt, auf dem einen Arm die Schlafdecke, über dem andern den Mantel, so standen die Militärgefangenen.
„Achtung! — Decken vorzeig'n!" Die Musterung begann.
„Sie meld'n sich heut zwisch'n ein und zwei Uhr noch mal mit Ihrer Decke!"
„Herr Feldwebel, ich konnte die Decke nicht reiner kriegen, weil ich keine Bürste habe!"
„Warum antwort'n Sie? War'n Sie gefragt?"
„Nein, Herr Feldwebel!"
„Von zwei bis fünf Uhr antret'n zum Strafexerzier'n! Vielleicht halt'n Sie nächstens Ihr blödes Maul, wenn Sie nicht gefragt sind!"
Der Offiziersstellvertreter hatte die Reihen durchgemustert.
„Deck'n weg! Mäntel zeig'n!"
„Warum komm'n Sie zum Appell mit seichnass'm Mantel? Sie Toppsau!"
„Herr Feldwebel, ich musste den Mantel unbedingt waschen!"
„Wer hat's Ihn'n befohl'n?"
„Niemand, Herr Feldwebel! Er war doch zu schmutzig!" „Eig'nmächtig gehandelt! Ebenfalls von zwei bis fünf Uhr... Verstand'n!" „Jawohl, Herr Feldwebel!"
Nun stellte sich der Offiziersstellvertreter breitbeinig, mit beiden Händen auf den Säbel gestützt, hin, grinste verschmitzt, rieb sich die Nase und fragte: „Was hab'n Sie denn da am Auge?" Heinrich zögerte.
Denn: Hätte er die Wahrheit gesagt, es wäre ihm noch schlechter ergangen. Der Feldwebel holte Luft, um ein Donnerwetter auf ihn loszulassen. Heinrich aber kam ihm zuvor: „Gestoßen, Herr Feldwebel!" „Gestoß'n? An was?" „Am Auge, Herr Feldwebel!"
Höhnisch grinsten die beiden Korporale, die dem Heinrich mit ihren Kommissstiefeln beinahe das Auge ausgetreten hatten.
Der Appell war beendet.
Der Feldwebel machte dem abseits der Gefangenenkompanie stehenden Offizier Meldung. Dann kreischte der Gardeoffizier die Namen derer, die nachmittags zum Strafexerzieren mussten. „Achtung! — Zum Ess'nhol'n — weggetret'n!"
Panikartig flüchteten die Gefangenen mit ihren Sachen in das Dunkel der Baracken.

Eben war die dreizehnte Strafkompanie vom Essenholen gekommen, und schon platzte das Kommando unter sie: „Die zum Strafexerzier'n Abgeteilten fertigmachen zum — Raustreten! Anzug — feldmarschmäßig!" Schnell brachte Heinrich sein Brot und sein Kochgeschirr (halbvoll Dörrgemüse) nach seinem Schlafkasten und betraute den Kameraden neben ihm mit der Aufbewahrung der Nahrung. Und schon erscholl das Kommando: „Zum Strafexerzieren — raustreten!"

Die lahmen und ausgehungerten Gefangenen wurden neben die Lagerküche an einen Haufen Lokomotivenbriketts geführt. Jeder musste zwei Brocken in den mit größter Mühe gereinigten Tornister packen. Dann begann die Hetze. „Paradeschritt! — Laufschritt!
Rechts schwenkt — marsch, marsch!
Hinlegen! — Auf! — Kniebeuge!
Hinsetzen! — Auf!
Dahin — marsch, marsch!
Zurück — marsch — marsch!
Achtung!"
Schweißtriefend, zitternd, wie abgehetzte Hunde, so standen die Gefangenen. „Weggetreten!"
Die Ruhezeit war um.

Heißhunger trieb Heinrich, so verdreckt, wie er von draußen kam, nach seinem Schlafplatz. Sein erster Griff galt der Stelle, wo er mittags in Eile sein Kochgeschirr mit dem Essen und das Brot versteckte. Heinrich starrte wie vom Schlag getroffen. Sein Kochgeschirr war leer, sein Brot weg. Wilder Zorn schrie aus ihm: „Wenn ich jenen Lump kriege, der mir mein Brot und mein Essen gestohlen hat, dem schlage ich alle Zähne in den Schlund!" Die Gefangenen, welche in Heinrichs Schlafkasten wohnten, hockten lautlos. „Wisst ihr nicht, wer der Lump ist?"
Alle beteuerten, nicht gewusst zu haben, dass Heinrich sein Essen und Brot unter dem Kopfteil seines Lagers verborgen hatte. Der aber, dem er das Versteck anvertraute, lag, die Decke über den Kopf gezogen, auf dem Schlafplatz. Ohne ein Wort zu sagen, riss ihm Heinrich die Decke weg und verboxte ihn dermaßen, dass man in der herrschenden Dunkelheit annehmen musste, das Gesicht des Diebes müsse zerfetzen.
„Hast du es getan? Du hast mein Essen gestohlen?"
„Ja!" wimmerte der Dieb.
„Du elender Lump, schämst du dich nicht, deine Kameraden zu bestehlen?" Heinrich verabreichte dem rücksichtslosen Kameraden eine abermalige Lage Hiebe.

Die täglich länger werdenden Märsche führten in grenzenlosen Jammer. Der zu tierischer Gier gesteigerte Heißhunger verschlang alle Selbstachtung. Gefrorene Steckrüben, die von irgendeinem Bauernwagen gefallen waren, wurden Grund zu größten Keilereien unter den Militärgefangenen. Was die Gefangenen fanden und zur Befriedigung des Hungerwahnsinns diente, fraßen sie. Die ihnen abgegebene Nahrung nahmen sie in aller Hast ein, zogen sich in den Hinterhalt, würgten sie wieder aus und fraßen das Ausgespiene noch mal. Hatte einer im Lager in einem unbeobachteten Moment die kostbare Gelegenheit, mit dem Kochgeschirr in die stinkende Tranktonne zu greifen, dann vertilgte er überglücklich die im Regenwasser gärenden Küchenabfälle. Mit dieser Not vereinigte sich der grauenhafte Winter 1916/17. An blutleeren Leibern der Militärgefangenen bissen die Läuse und der Frost. Einer wärmte sich am anderen. Neigte sich endlich der schwere Tag, dann erhob sich zwischen den erschöpft Liegenden die Menschenbestie. Leidenschaftlich spähten diebische Augen nach den lebensnotwendigen Habseligkeiten der Schlafenden.
Mensch — Kamerad war Hohn geworden.
Die Lagerlatrine, wo morgens die Gefangenen aller Kompanien zusammentrafen, war die Lagerbörse. Hier wurde der Raub der Nacht verwertet. Fortwährendes Einundausgehen in der dunklen Pesthütte. Anfragen und Angebote summten durcheinander. Der Handel mit Bekleidungsstücken konzentrierte sich an der langen Urinierrinne. Hinter dem Gedränge auf den Sitzen, wo Gestank wie Zwiebelsaft in der Nase und den Augen bis, war die Lebensmittelabteilung.
Eben drehte sich ein Gefangener aus zerriebenen Zigarrenstumpen, die er von der Straße aufgelesen hatte, mit Zeitungspapier eine Zigarette. „Du, ich geb dir die Suppe dafür!"
„Lass mal sehen! — Ist das die ganze Morgensuppe? Da hast du doch schon davon gegessen! Wenn's die ganze Portion wäre, ja! Aber so... „Gib mir wenigstens die Hälfte der Zigarette dafür."
Der Tausch war gemacht. Hastig trank der eine das Kochgeschirr aus, der andere inhalierte kräftig. „Kamerad, lass mich auch einmal ziehen!" „Ich glaub, du bist verrückt! Ich gab mein Essen dafür." „Aber bevor du wegwirfst, lässt du mich doch mal ziehen! —
Ja?"
„Wenn du nicht machst, dass du fortkommst, schlag ich dir vorn Kopf! Vertausch dein Essen, dann kannst du rauchen!"
Eine andere Kompanie war noch hinzugekommen. Der Morgen war trüb. Nasse Witterung stand bevor. Deshalb war die Nachfrage nach Tabak (weil auf verregneter oder verschneiter Straße nichts zu finden war) außerordentlich.
Ein Mantel — zwei Zigaretten. Drei für ein paar gute Stiefel.
Fußlappen und Suppen kamen außer Kurs.
Die Tagesration Brot stand am höchsten: vier Zigaretten.
Und während der Tausch seinen Höhepunkt erreichte, jammerten in den Baracken die Bestohlenen nach ihren Kochgeschirren, nach ihrem Brot, nach ihren Stiefeln und sonstigem. Die Schwerkranken aber mussten sich in das faulende Warme ihres Schlafsackes verkriechen, denn ihnen waren Hose, Rock, Decke, Mantel und Essen gestohlen worden. Kam beim Frühappell das Stehlen von Bekleidungsstücken und Nahrung zur Meldung, dann war das Fehlende längst in den Händen anderer Kompanien. Jeder trachtete mit allen Mitteln, sein Ich aus diesem Jammer zu retten. Zumal die deutsche Militärjustiz dem, der vor allem ständig seinen schweren Dienst leistete, Strafunterbrechung versprach. Kam es vor, dass doch einige mit Groll gegen die Behandlung sich militärisch verfehlten, so wurden nicht nur diese allein, sondern ihre ganze Kompanie mitbestraft. Der so entfachte Zorn entlud sich nicht gegen die Vorgesetzten, die Unrecht begingen, sondern gegen die eigenen Kameraden.
Meldete sich dann der mit wund und lahm geschlagenem Körper dem Lagerarzt, so wurde er ohne weiteres „krank" geschrieben. Die Korporale aber ließen seine Tagesleistung von der Arbeitsgruppe, welcher der Unglückliche angehörte, mit verrichten und leisteten der Uneinigkeit unter den Gefangenen Vorschub, indem sie die Verbitterten aufhetzten: „Das habt ihr bloß eurem Kameraden zu verdanken!" Der Kompanieführer nannte das alles „Selbsterziehung".


4.

In dieser trostlosen Situation suchte Heinrich nach Mitgefangenen, die noch nicht von der tierischen Selbstsucht verseucht waren, um der furchtbaren Demoralisation in der Baracke mit Gewalt entgegentreten zu können. Denn ihm war brennender Vorsatz, sie alle, die im Grunde genommen doch mit Hass gegen ihr Elend erfüllt waren, zu vereinigen und ihrem Zorn, den sie sich gegenseitig fühlen ließen, revolutionären Inhalt zu geben. Aber bei den Abgeschmachteten, die nur mehr Sinn für die Befriedigung ihrer Gier hatten, waren die Bemühungen Heinrichs nutzlos. Überzeugt von dieser Erkenntnis, sann er nach, wie er trotzdem seinen Zweck erreichen könnte. Er entschloss sich also, durch außerordentliche Tüchtigkeit im Dienst sich nach einer bevorzugten Stellung unter seinen Kameraden emporzuarbeiten, um dann den militärischen Unterordnungszwang der Mitgefangenen ihm gegenüber für sein revolutionäres Vorhaben anzuwenden.
Heinrich gönnte sich nicht mehr die freien Augenblicke der Erholung. Ständig mühte er sich ab, sein Zeug in ordentlichen Zustand zu bringen. Beim Arbeitsdienst, beim Exerzieren und beim Appell fiel er als Muster auf. Das Wachtpersonal schätzte ihn bald als einen willigen, strammen Soldaten.
Nach geraumer Zeit unsäglicher Bemühungen hatte er das erreicht, was er wollte: Der Kompanieführer ernannte ihn wegen seiner „mustergültigen Führung" zum Barackenältesten, dem Verantwortlichen für Ruhe und Ordnung in der Baracke und — Respektsperson unter den Gefangenen.
In seiner jetzigen Eigenschaft hatte Heinrich den Befehl erhalten, die übrig gebliebene Suppe, die von der Lagerküche in die Baracke kam, an Mitgefangene mit guter Führung zu verteilen. Deshalb trachteten die Gefangenen danach, sich bei ihm beliebt zu machen. Er aber hatte sich längst Leute, die er zur Revolutionierung der Militärgefangenen benötigte, vorgemerkt. Es waren die Deserteure und Meuterer. Unauffällig gruppierte er sie um sich, besorgte ihnen, sooft es ging, Suppe, band sie zu einem Freundschaftskreis zusammen und brachte allmählich wieder Rebellenstolz in die Verwahrlosten. Und so war in der verpesteten Baracke eine unsichtbare Wand zwischen den Vertierten, nach Strafunterbrechung Schmarotzenden, und den hoffnungslosen Höchstbestraften entstanden.

Aus dem abenddunklen Wald, durch den die Heerstraße nach der dänischen Grenze führte, krachten Gewehrsalven. Dann kamen aus dem Föhrendickicht die Militärgefangenenkompanien.
„Herrgott! Wenn er bloß durchkommt!"
„Ich wünsche es. Aber ich glaube nicht an das Gelingen einer Flucht in dieser patrouillenverseuchten Gegend!" erwiderte Heinrich.
„Verflucht... , den Julius machen die Hunde ja kaputt, wenn er wieder ins Lager eingeliefert wird! Dem Julius haben sie in einer Woche fünfzig Tage strengen Arrest gegeben. Außerdem trat er beim letzten Exerzieren dem Unteroffizier, der ihn mit der Faust unters Kinn schlug, vor den Magen. Der Tatbestand wegen tätlichem Angriff ist schon aufgenommen worden. Abermals zehn Jahre, das ist die Mindeststrafe dafür, hat er noch zu erwarten. Julius floh vor seinem Tod. Er sah, wie sie den armen Petermann aus dem Arrest brachten. Der hatte aber nur vierzehn Tage in jener verdammten Bretterbude, durch die der Wind den Schnee fegt, gebrummt. Und wie dann die Kameraden, weil sie wegen ihm strafexerzieren mussten, wie rasend Gewordene auf den armen Teufel einhauten... "
„Max, schweige jetzt! Heute Nacht werden wir mal zusammen über unsere Lage sprechen!"

Die erste „Nachtrunde" hatte kontrolliert. Aus den Schlafkasten drang Gestank und Schnarchen. Kümmerlich warf eine Stalllaterne Licht auf ein paar zusammengedrängt hockende Militärgefangene.
„Kameraden, ich muss euch leider mitteilen, dass unser Freund Julius, der gestern auf dem Heimweg dort im Föhrendickicht flüchtete, mit einem Streifschuss am Oberschenkel drei Kilometer vor der dänischen Grenze eingefangen wurde. Er soll wahrscheinlich, so gab mir der Feldwebel zu wissen, morgen abend der Kompanie zugeführt werden. Ihr wisst, dass wir wegen seiner Flucht schwer geschunden wurden. Deswegen hat sich eine böse Stimmung unter den Kameraden gegen ihn breit gemacht. Die Vorgesetzten erwarten, dass er in der Baracke windelweich gehauen wird. Wenn wir Julius vor der Wut der andern nicht schützen, geht es ihm wie dem Petermann. Also! — Es ist unsere Pflicht, endlich mal mit dem Gesindel unter uns gründlich aufzuräumen. Kameraden! — Wir sind den andern gegenüber nur ein kleines Häufchen. Deshalb darf, wenn wir loslegen, absolut keine Rücksicht genommen werden. Es wird so lange draufgehauen, bis alle am Boden liegen!"
„Selbstverständlich, Hein!"
„Gut! — Ist der Trubel aber um oder kommt die Wache dazwischen, dann schnell in die Schlafbunker und nicht mehr gemuckst. Das Weitere mache ich."
Nachdem Heinrich mit der Verteilung der einzelnen Posten und der Knüppel fertig war, wünschte sich der mühselig zustande gekommene Freundschaftskreis „Gute Nacht!". Und alle krochen in ihre Schlafkasten. Dann kam die zweite Nachtrunde.
Aber alles schlief.

Die Gefangenenkompanie war wieder vom Tagesmarsch zurückgekommen und saß, die Kochgeschirre zwischen die Beine geklemmt, den Löffel in der steif gefrorenen Faust, beim Verschlingen der Abendsuppe. Plötzlich knallte unter sie das Kommando: „Achtung!" — Einige Unteroffiziere hatten die Baracke betreten. Die Militärgefangenen stellten ihre Kochgeschirre vor sich auf den Boden und verharrten in militärischer Haltung. „Raustreten zum Exerzier'n — marsch, marsch!"
Knurrend wie Hunde, denen man den Knochen aus der Schnauze riss, traten die Gefangenen über ihre Kochgeschirre in den Gang und rannten unter dem Gebrüll der Korporale aus der Baracke. Gleich standen sie auf dem Lagerhof in Reih und Glied.
„Ich will euch Saubande helfen, auszureißen! Ihr bekommt zuviel zu fressen! Euch geht's zu gut! Hinlegen! Auf!"
Drinnen stand das bisschen Abendsuppe und wurde kalt. Und draußen wurden die Heißhungrigen und Todmüden nach ihrer schweren Tagesleistung noch zwei Stunden im Dreck und Frost herumgejagt. Erst als über fünfzig Militärgefangene ohnmächtig am Boden lagen und die übrigen vor Verzweiflung schäumten, kreischte der Gardeoffizier endlich: „Achtung!"
Der Gardeoffizier trat vor die Zitternden. „Kommt es noch einmal vor, dass so 'n Saukerl ausreißt, dann geht's euch noch dreckiger! Feldwebel! — Bring'n Sie den Kerl her!"
Julius stand der Dunkelheit wegen unkenntlich zwischen dem Kompanieführer und dem Feldwebel.
„Sie soll'n das rufen, was ich befohl'n habe. Woll'n Sie oder nicht? Ich gebe Ihnen jetzt zum letzten Mal den direkten Befehl. Sie soll'n das rufen, was ich Ihnen befohl'n habe!"
Zitternd kam Julius diesem verbrecherischen Befehl nach. „Kameraden, ebendie Parade war famos! Ich habe meine Freude daran gehabt, deshalb morgen abend noch mal!"
Wütende Blicke blitzten aus den Reihen der Gefangenen. Der Gardeoffizier: „Barackenältester!" „Hier, Herr Oberleutnant!" „Herkomm'n!"
Heinrich stand vor dem Offizier.
„Sie sorgen dafür, dass dem Kerl nichts, ja nichts passiert! Verstand'n! — Weg!"
Heinrich lief nach seinem Platz.
„Kommt noch mal so was vor, dann wehe euch! Weggetreten — marsch, marsch!"
Heinrich rannte zu Julius, der dastand wie ein zum Tode Verurteilter, und flüsterte ihm schnell zu, wie er sich in der Baracke verhalten sollte.

Während sich Gefangene allmählich an Julius, der in Heinrichs Nähe war, heranmachten, nahmen Heinrichs Freunde unauffällig ihre angewiesenen Posten ein. Jetzt fielen zwei über Julius her. Mit einem Sprung war Heinrich an Julius' Seite, zerrte ihn in einen gesicherten Schlafkasten und schrie: „Ruhe!" Das war das Signal... Sofort erlosch die Laterne. Dann hörte man nur Getrampel, Hiebe und Aufschreien. Die Gruppen Heinrichs, die sich an den Enden des Haupteingangs beiderseits der Schlafkasten postiert hatten, hauten mit ihren Knüppeln den überraschten Gefangenenhaufen nach der Mitte. Dort prasselten blindlings von den Schlafkasten herab knorrige Prügel auf die unten zusarhmengedrängten Köpfe. Aus den kleinen Gängen zwischen den Schlafkasten, welche die beiden Hauptgänge verbanden, drang bereits entsetzliches Wimmern. Aber Heinrich gab noch nicht das Signal zum Einhalt.
Draußen vor der Tür standen grinsend die „Herodes", ahnten aber nicht die revolutionäre Aktion in der Baracke. Endlich schrie Heinrich: „Ruhe! — Was ist hier los?! — Wache! -Wache!"
Ein Getrampel, als ob Pferde über verfaulten Holzboden galoppierten.
Die Barackentür öffnete sich. Das Laufen und Stolpern hörte auf.
„Barackenältester! Warum brennt hier kein Licht?! Was geht hier vor?"
„Herr Oberleutnant, ich weiß nicht! Ich rief eben die Wache!" „Unteroffiziere! Sofort nachsehen!"

Grelles Licht der Taschenlampen stach in blutunterlaufene Augen. Aus dem Dunkel grinsten die Korporale über die wimmernd am Boden Liegenden.
Fußtritte. Kolbenhiebe. Schnauzen. Das Nachsehen war beendet. Und der Feldwebel machte Meldung: „Baracke in Ordnung!" Dann wandte sich der Kompanieführer. „Der Vorgang wird am nächsten Sonntag untersucht!"
Das Wachtpersonal verließ die Baracke.
Noch in derselben Nacht ließ Heinrich durch seine Freunde in alle Schlafkasten die Parole bringen:
„Hütet euch, mit Vorgesetzten außerdienstliche Gespräche zu führen. Wer bei der Untersuchung gefragt wird, sagt, er hat in der Dunkelheit nichts gesehen und auch niemand erkannt! Wer anders handelt, den holt der Tod!"
Schmerzfiebernd staunten die verwundeten Gefangenen über den seltsamen Geist, der auf einmal in die Baracke eingezogen war.

Die Untersuchung des Vorfalls am Abend der Keilerei sollte stattfinden. Die Gefangenenkompanie stand auf dem Lagerhof. Der Offizier rief Heinrich vor die Front. „Melden Sie mir, was sich damals in der Baracke zugetragen hat!"
Heinrich berichtete: „Herr Oberleutnant, wir aßen unsere Abendsuppe, als der Befehl kam ,2um Exerzieren raustreten!'. Die Kompanie stellte die Kochgeschirre auf den Boden und begab sich im Laufschritt auf den Platz. Nach dem Strafexerzieren wurde der Befehl ,Weggetreten marsch, marsch!' gegeben. Alle liefen, so schnell wie sie nur laufen konnten, in die dunkle Baracke. Da wurden Kochgeschirre umgerannt und gestohlen, deswegen entstand eine Schlägerei, wobei die Laterne umfiel. In der Dunkelheit wurde die Stehlerei und die Keilerei schlimmer. Ich gebot mehrmals Ruhe. Als ich einsah, dass in dem Dunkel das Durcheinander nicht nachließ, rief ich die Wache!"
„So 'n Viehzeug! Sie als Barackenältester sorg'n nächstens besser für Ordnung, oder ich lasse Sie einsperr'n! Weg!"
Die Untersuchung war beendet.
Heinrichs Aussage hatte Glauben gefunden.

Unter dem Schein militärischer Selbsterziehung begann Heinrich mit der Revolutionierung seiner Mitgefangenen. Rücksichtslos wandte er sich gegen seinen größten Feind, den tierischen Selbsterhaltungstrieb der Kameraden. Waren Stehlereien vorgekommen, dann plazierte er den Bestohlenen in seine Nähe. Und über den diebischen Schlafkasten und dessen Umgebung kam nachts jener Geist, den er zum ersten Mal, um Julius zu schützen, beschworen hatte. Nach kurzer Zeit war es Heinrich auf diese Weise gelungen, einen Teil der besseren Elemente aus der Demoralisierung herauszuziehen. Auch baten ihn viele um persönlichen Schutz vor dem nächtlichen Terror. Alle diese schloss er dem revolutionären Freundschaftskreis an. Und bald hatte er jene, die zur Selbstermannung nicht mehr fähig waren, abgesondert.
Alte Energie und Schaffensfreude belebte wieder Heinrichs mau gewordene Augen. Seine schwer errungenen Erfolge machten ihn unermüdlich. Bis spät in die Nacht hockte er oft unter seinen Freunden. Hell glühten da schöne Erinnerungen.
Alle lauschten andächtig. „- Und jetzt?"
Vor der schrecklichen Gegenwart erschauerten die aus der Menschheit Verbannten.
„Wer ist schuld an unserem Elend? — Der Krieg! Der Krieg!
Wer ist schuld an diesem heillosen Menschenmorden? — Die Reichen! Die Kapitalisten!
Und warum? — Weil sie mehr verdienen wollen! Nur um des Profits der Reichen willen bluten, leiden und sterben Millionen Menschen! Schuld an unserem Elend sind ihr Staat und ihre Kirche! Kameraden! Wir müssen fest zusammenhalten, um vereint mit dieser verrohten Gesellschaft abrechnen zu können! Nur Mut! Wir haben nichts mehr zu verlieren! — Wohl aber können wir eine ganze — eine neue Welt gewinnen!"
Viel deutlicher fühlten die Hockenden durch diese Worte, was sie erlebten. Und wie erst Heinrich allein, so ging nun der größer und fester gewordene Freundschaftskreis gegen die in der Not Verkommenen vor.

Unverzagt rettete der Heinrich seine Kameraden immer mehr aus der militärischen Demoralisation. Neben der diktatorischen Faust zeigte er auch die helfende Hand. Seine vornehmste Besorgnis galt den verrotteten und hilflosen Schwerkranken. Diese holte er in die unteren Schlafkasten, weil da die Beobachtung und die Pflege praktischer war. Der so entstandenen Krankenabteilung wies er ein Pflegekommando unter Aufsicht eines Mitglieds des Freundschaftskreises zu. Andere im Charakter wieder verlässlich gewordene Gefangene verteilte er als seine Vertrauensleute in alle Schlafkasten. Der schleichenden Menschenbestie waren somit die Zähne gezogen, und leise wehte kameradschaftlicher Geist durch die verpestete Baracke. Auch brannte der Ofen, welcher sonst mit vier Kilogramm Kohlengrus die große Menschenremise erwärmen sollte, bis zum Morgen. Das er-
reichte Heinrich durch seinen Befehl, dass jeder abends nach dem Tagesmarsch an ihn ein Stückchen Holz abzugeben hätte. (Im Pionierpark lagen genügend Holzstücke herum.) Ruhrkranke, die nicht zur Arbeit ausrückten, beauftragte er mit der Instandhaltung des Feuers während der Nacht. Dabei mussten sie auch dafür sorgen, dass morgens beim Wecken sämtliche Fußlappen getrocknet waren. So begann für alle der Tag mit einer heißbegehrten Wohltat. Überhaupt atmeten die schwergeplagten Militärgefangenen im Genusse des Menschlichen, das ihnen Heinrich verschaffte, ordentlich auf. Und nannten ihn, „den Rücksichtslosen", auf einmal „einen feinen Kerl".
Bei seinen Erzählungen, an denen sich die meisten beteiligten, wies er immer wieder darauf hin, wie anders sich die barbarische Strafe gestaltet, wenn alle für einen und einer für eintritt. „Das ist Sozialismus!" rief er unter die Gefangenen Und erklärte: „Würden alle, alle Geknechteten sich wie wir rechtlosen Militärgefangenen zusammenraffen, dann wäre das Leben ein menschlicheres. Das ist doch euer Wunsch. Und der muss aber auch euer Ziel werden!"
Nach einiger Zeit war es tatsächlich zustande gekommen, dass jeder Gefangene abends einen Löffel Suppe für den Kameraden abgab, der grad aus dem Arrest kam. Dieser Erfolg ermutigte den Heinrich so, dass er unter seinen Kameraden von der Verwirklichung des Sozialismus zu sprechen begann. „Revolution!
Die furchtbaren Vorgesetzten stürzen in den Dreck da draußen!
Die Reichen aus ihren Sesseln schmeißen! Sie arbeiten lassen, feste!
Gleichen Anteil haben an allen Erzeugnissen der Erde!
Kein Krieg mehr!
Nicht mehr Militärgefangener!"
Diese Gedanken beseelten die Abgeschmachteten wie Wein. Und bald fühlten sie sich leichter und folgten den Anweisungen Heinrichs nunmehr, ohne sich zu sträuben.
Eine Militärkommission hatte das Gefangenenlager besichtigt und dem Kompanieführer der dreizehnten Arbeitskompanie Lob über den ordentlichen Zustand der Baracke gezollt... Aber misstrauisch betonte sie die oppositionell gefärbten Antworten der Militärgefangenen beim Befragen über Nahrung, Arbeit und Unterbringung.
Längst war dem Kompanieführer die wesentliche Wandlung seiner Kompanie aufgefallen. Jetzt aber roch er Lunte! Und begann, die selbständig gewordenen Militärgefangenen mit scharfen Verordnungen zu unterdrücken. Das brachte die Zerstörung der aufopfernden Arbeit Heinrichs. Mit seiner alten Zähigkeit versuchte Heinrich seine Schöpfung zu retten, aber er wurde krank.

Groß hingen die Eiszapfen vom inneren Dach in die Baracke und leckten auf die Nachtlager. Das Feuer im Ofen musste wieder abends um neun Uhr gelöscht werden. In der Lagerküche übrig gebliebene Suppe verteilten seit kurzem — die Korporale. Und der Krankendienst war Disziplinarstrafe geworden. Die besten Militärgefangenen hatte die Ruhr in die Schlafkasten geworfen. Von Lungenentzündung niedergehalten, sah Heinrich sein mühevolles Werk in den alten Sumpf versinken. Das namenlose Elend schrie: Rette sich, wer kann! Heinrichs Zustand wurde schlimmer. Mit Aufwand letzter Kräfte riss er sich jeden Morgen auf und schleppte sich vor den Arzt. Bis er schließlich, in hohem Fieber lachend, nach dem „Militärgefangenen- und Seuchenlazarett Schleswig" übergeführt wurde.


5.

In der Nacht schienen die beschneiten Stämme des Eichenwaldes, durch den der Fußweg von der Stadt Schleswig nach dem Gefangenenlazarett führte, als gewaltige Säulen, die
den Himmel trugen. Plötzlich wurde das tiefe Schweigen in diesem wuchtigen Gewölbe von barschen Menschenstimmen zerstört. Blanker Stahl blitzte. Aus dem Schnee ließ der Mondschein zwei Soldaten mit Bajonetten erkennen und beleuchtete ein hohlwangiges Gesicht am Boden. „Woll'n Sie etwa schon hier verrecken? — Auf!"
Dann halfen die zwei Soldaten einem uniformierten Knochengestell auf die Beine. Zwischen knirschenden Schritten hauchte ein Militärgefangener röchelnde Seufzer in die kalte Nacht.
Der Wald war zu Ende. Kaum sichtlich, mit Drahtverhau umzäunt, standen geduckt vier verschneite Baracken: das Seuchenlazarett. Bald lag Heinrich auf einem Feldbett zwischen schwer Ruhrkranken.

Gleichgültig und abgestumpft begann der Sanitätsoffizier die Visite in Baracke vier. Sein Blick galt nur der Kopftafel über den Betten. Hinter ihm tappte, blöd, mit wässerigen Augen, der Krankenwärter, ein ostfriesischer Heidebauer.
„Sind Zugänge da?"
Der Wärter zeigte nach dem Patienten am Anfang der fünfzig Betten zählenden Reihe, die aber bereits abgeschritten war: „Jawohl, Herr Stabsarzt, dort in der ersten Koje! Hei is awer all im Totenschuppen!"
Die Visite nahm ihren Fortgang an der gegenüberliegenden Reihe. Empört blieb der Arzt plötzlich vor einem Bett stehen. „Nehmen Sie gefälligst Ihre Flossen unter der Zudecke hervor, wenn ich an Ihrem Bett vorbeigehe!" Er ging weiter. „Was ist mit diesem?"
„Der? — Der is hüt morgen storben!"
„Warum liegt die Leiche noch nicht im Schuppen? — Nachher... , aber sofort. Haben Sie gehört?"
Er kam an Heinrichs Bett. „Fieber nachgelassen?"
„Ja-wohl!"
„Fühlen Sie sich sehr schwach?"
„Ja-wohl!"
„Wie lange liegen Sie schon?"
„Vier Wochen!"
„Ja, natürlich... !" Der Arzt wies nach Heinrichs Kopftafel. Und schaute zum Wärter. „B auswischen!"
Während der Torfbauer sich auf die Finger spie, um das Zeichen für „bettlägerig" zu entfernen, befahl der Arzt dem Heinrich: „Sie können aufstehen!"
Die Visite war beendet. Heinrich hatte sich auf seine schwachen Beine gestellt. Schwerfällig, wie bei Seegang, stieg er in die stinkende Uniform.
„Na, Hölzel, dat heste nu achter dir! Ick hew nit gläuvt, dat du noch mol opleven deist! Nu nimm mal erst en' op die Back', dann woll'n wi die Kojen holen und den Toden nach achtern sleppen!"
„Behalt den Priem! Wer hat gesagt, dass ich schon arbeiten soll?"
„Der Feldwebel hat dat doch seggt!"

Die Betten waren aufgeschlagen. Der Tote lag im Schuppen auf den andern... Heinrich sank erschöpft und keuchend wie ein Hund auf sein Lager. Wagen rollten vor die Baracke. „Hein! — Komm afladen, die Zugäng sin do!" Aus dem Lazarettwagen zogen die Wärter bis auf die Knochen abgehungerte Militärgefangene. Ledern geschmachteten Lippen entfiel Schmerz. Aus den wettergebräunten Totenschädeln quollen die trüben Augen. Fäulnis dunsteten die lebenden Leichen! „Alles ruhrkrank!"
Einer der Wärter antwortete dem Lazarettfeldwebel: „Jawohl!" „Dann kommt die ganze Sendung in die Baracke vier!"
Heinrich streifte den verkoteten Gefangenen die faulende Uniform ab und half ihnen in die Betten.
„Militärgefangener Hölzel! Sie packen sofort die Lumpen zusammen und bringen sie nach dem Zeugschuppen!"
„Jawohl, Herr Feldwebel!"
Bald brachten zwei Wärter den ohnmächtig gewordenen Heinrich von draußen angeschleppt und legten den am ganzen Körper Zitternden auf sein Bett.

In der Baracke vier kommandierte der Tod. Aufzuckendes Leben bäumte sich im Fieber unter dem Griff der knöchernen Hand. „Leben! — Leben! — Ich will noch leben!"
Mitten in diesem furchtbaren Ringen stand der Heinrich unter der Lampe an dem großen Tisch und rührte Boluspulver in einem Eimer an. Dann füllte er die breiige Medizin in Biergläser und lief damit geschäftig von Bett zu Bett. Plötzlich fiel etwas drüben in der anderen Reihe schwer zu Boden. Fragend rief Heinrich nach der im Schatten befindlichen Stelle. Lautes Stöhnen antwortete. Sofort stellte er die Gläser, welche er in den Händen hatte, auf einen Stuhl zwischen den Betten und eilte, um zu helfen. „Wärter! Wärter! — Wär-ter!" Niemand kam. Heinrich hob den im höchsten Stadium der Lungenentzündung aus dem Bett gefallenen Patienten wieder auf das Lager. Und da begann in der Mitte der Baracke ein wüstes Geschrei heiserer Stimmen. Und der Boluseimer rasselte auf den Fußboden. Schnell rückte Heinrich die beiden Betten zu beiden Seiten des Lungenkranken heran, damit der Fiebernde nicht wieder herausfallen konnte, und lief hin zu dem Tisch. Dort standen lebende Skelette, die Hände und den Mund voll Bolusbrei, und verschlangen gierig die Medizin als Nahrung...
Gutmütig erklärte der Heinrich seinen Kameraden, dass das Verschlingen der breiigen Medizin lebensgefährlich sei. Aber die Hungerwahnsinnigen ließen nicht von ihrer Beute. Aus Mitleid versuchte Heinrich, ihnen die vollen Bolusgläser abzunehmen. Da aber kreischten sie: „Du Lump! — Du Bluthund!" Schließlich packte Heinrich einen Patienten nach dem andern und legte ihn in die Koje. Dann begab er sich eilig zwischen die Betten, wo er die Gläser abgestellt hatte. Sie waren sogar ausgeleckt. Sofort lief er nach der Barackentür und sagte dem "Wachtposten, er solle dafür sorgen, dass der Wärter komme.
Bald traf der Lazarettfeldwebel ein. „Was ist hier geplatzt?"
Heinrich meldete den Vorgang.
„Warum passen Sie nicht auf? Für was sind Sie denn hier?" Dann brüllte der Feldwebel nach den Kranken: „Wenn ihr euern Magen vollstopfen wollt mit dem Porzellankitt, nur zu! Draußen im Schuppen... ist wieder Platz!"

Die Nacht hindurch hatte der Regen auf dem Dach der Baracke vier stürmische Wirbel getrommelt. Erst die Morgendämmerung brachte den Fieberschlappen die ersehnte Ruhe. Heinrich teilte die winzigen Portionen Morgensuppe aus. Aber keiner rührte sich. Im Schlaf war alle Gier und Qual geschwunden.
Die Barackentür öffnete sich.
„Militärgefangener Hölzel!"
„Jawohl, Herr Feldwebel!"
„Sie heizen sofort den Badeofen, aber sofort! Wenn das Bad fertig ist, machen Sie Meldung!"
„Herr Feldwebel, es sind keine Kohlen da!"
„Was? — Die haben Sie wohl alle für die Zugänge verpulvert?"
„Nein, Herr Feldwebel, die Zugänge baden doch nicht!"
„Halten Sie 's Maul, Sie dreckiger Militärgefangener! Sie bekommen Kohlen von der Küche... , und dann machen Sie mir schleunigst das Bad!"
Der Lazarettfeldwebel entfernte sich. Unter den Decken begann ein Räuspern, und hastig griffen die Skeletthände nach den Schüsseln...
Der Badeofen brannte. Heinrich stand wieder am großen Tisch und rührte den Eimer voll Boluspulver an. Danach stellte er auf die Stühle zwischen den Betten für jeden Patienten ein Glas voll Brei.
Schmatzen!
Hohle Augen stierten verlangend nach dem Eimer. „Nichts mehr drin, Kameraden!"
Damit sich die Hungrigen selbst überzeugen konnten, hob Heinrich den Eimer hoch, stülpte ihn um und ging aus der Baracke, um das Feuer im Badeofen zu schüren. Da horchte er plötzlich auf. Aus der Baracke drangen heisere Stimmen. „Wenn du mir nichts abgibst, melde ich, dass der überhaupt schon tot ist!" „Wir teilen! Hier!"
„Morgen aber muss er weg, der stinkt doch schon!" „Stinken? — Haha! — Verrückt! — Bleibt liegen!" Heinrich trat ein. Ruhe herrschte...

Die Stunde des ärztlichen Rundgangs kam näher. Heinrich war fertig mit dem Ausfegen der Baracke. Er sammelte in Eile die Essnäpfe und die Bolusgläser. Dabei warf er flüchtig jedem Kameraden einen Blick zu.
„Ist der da tot?"
In dem Bett, vor dem Heinrich stand, lag ein Gefangener auf dem Rücken und starrte mit gebrochenen Augen. Um den Mund klebte frischer Bolusbrei... Heinrich befühlte die Stirne des Regungslosen. „Der muss grad eben gestorben sein!" Dann packte er dessen Napf und dessen Glas in seine Schürze und ging weiter.
„Wann ist denn dieser gestorben? Der ist ja schon kalt!" Der Nebenliegende antwortete: „Keine Ahnung!"
„Hat er heute morgen noch gegessen?"
„Das siehst du ja! 's ist doch alles leer!"
Die Näpfe und Gläser in der einen Reihe waren eingesammelt. Sechs Verendete lagen nun zufrieden. Der Krankenwärter rief durch die Türspalte: „Hein, man tau, de Visit is unnerwegs!"
Heinrich begab sich hastig nach der Reihe gegenüber. Nun kam er an die Betten derer, die er belauscht hatte. „Der Teufel! — Was stinkt hier so... "
Mit einem Griff riss er die Zudecke von dem verdächtigen Bett. Heinrichs Magen drängte sich zum Schlund. Schnell warf er die Zudecke über das Bett, griff das leere Bolusglas und eilte aus dem Gang. Der Arzt kam, ging an der einen Reihe hinunter, an der anderen wieder hinauf, hinter ihm tappte der Krankenwärter.
„Die sterben wohl um die Wette! Die sechs kommen sofort in den Schuppen! Haben Sie gehört?"
„Jawohl, Herr Stabsarzt!"

Der Sanitätsoffizier hatte die Baracke verlassen. Da kam der Wärter auf Heinrich zu. „Erst mog mol min Kammer tauracht, dann erst kommen die Toten weg!"
„Verdammter Mistbauer! Stehen wir in deinen Augen unterm Vieh? Erst ess ich meine Morgensuppe!"
„Wat? Du deist och noch opmukken? Ik will dir helven!" Mit dieser Drohung wollte der Krankenwärter zum Lazarettfeldwebel. Heinrich aber fasste ihn am Arm und zog ihn nach der vergessenen Leiche...

In der Mitte der Baracke stand die Totenbahre. Heinrich nahm die Zudecke von dem faulenden Leichnam und zog ihm das Hemd ab. Dann schüttete er einen Eimer Kresol über das von der Verwesung angefressene Gerippe, hüllte es in ein Betttuch, griff ihm mit einem Arm unter den Rücken, mit dem andern unter die Beine und hob es hoch. Wie vom Teufel gepeitscht, schnellte der Nebenliegende auf, fasste die Leiche am Kopf, zerrte und schrie in tierischen Lauten. Dabei stierte er nach dem Heinrich. Heinrich taumelte zurück. Und der Leichnam fiel auf das Bett, dass der faulende Kot spritzte. Wahnsinn feixte aus dem Nebenliegenden. „Der? — Der braucht nichts! Ha-aa!"
Heinrich erschauerte. Er sah den Hungertod aus dem Patienten feixen.
Der Kranke saß wieder ruhig neben der Leiche. Heinrich versuchte noch mal, den Toten, der die ganze Baracke verpestete, hochzuheben. Aber der Nebenliegende gebärdete sich wild. Heinrich gab sich alle Mühe, um ihn zu beruhigen. „Petermann? — Petermann?" —
Der Angesprochene staunte plötzlich stumm. „Kennst du mich noch, Petermann?"
Wirr stierte der Kranke auf Heinrich. „Na, sprich!" „Wa-as?"
Heinrich neigte sich zu dem widerlich dunstenden Kameraden.
„Wenn du mir Antwort gibst, besorge ich dir Suppe!" „Suppe! Suppe! Oh, oh... "
„Jetzt kennst du mich? Den Hölzel aus der dreizehnten Arbeitskompanie!"
„Hölzel? — Ja, ja! — Suppe — Suppe!" Der Hungerwahnsinnige weinte wie ein Kind. Unter Heinrichs Füßen bebte der Boden. Aber er tröstete: „Petermann, sei ruhig! Es wird schon besser... "
Die Augen des Gefangenen erhielten auf einmal Leben. Gleich aber stierte er wieder. Und murmelte: „Hein-rich!" Dann seufzte er tief auf und fiel hintenüber... Bald lagen die Toten im Schuppen.

Das Elend und die brutale Behandlung in dem Militärgefangenenlazarett trieben Heinrich zu dem Entschluss: Heraus aus dieser Hölle, koste es, was es wolle! Aber zurück ins Gefangenenlager wollte er auch nicht. Denn eingelieferte Ruhrkranke warnten ihn durch die Schilderung vor dem grauenhafter gewordenen Los im Lager. Auch erzählten sie ihm, dass die Zahl der Militärgefangenen allein in Nordschleswig bis auf fünfundvierzig kriegsstarke Kompanien angewachsen sei. Aus dieser Nachricht ersah Heinrich, dass der Rebellengeist an den Fronten zugenommen hatte. Das gab ihm Halt und Mut. Gern hätte er sich auch über die Missverhältnisse im Reich informiert. Aber den Krankenwärtern war es wie dem Wachtpersonal im Gefangenenlager strengstens verboten, den Militärgefangenen irgendwelche Nachricht über die Welt außerhalb der Drahtumzäunung zu geben. Heinrich sann nach, wie er sich aus dem Elend retten könne. Endlich hatte er sich einen Plan geschaffen: Mitten in der täglichen Hast legte er sich ins Bett. Als der Krankenwärter ihn darüber erstaunt fragte, antwortete Heinrich, er sehe auf einmal nichts mehr. Freundliche und grobe Worte waren nun umsonst. Immer wieder drang der Torfbauer auf ihn ein. Heinrich aber warf sich auf seine andere Seite, zog die Zudecke über seine Schultern und dachte...
Am folgenden Tag blieb der Arzt mit misstrauischer Miene vor Heinrichs Bett stehen. „Was ist mit Ihnen los?"
Gelassen antwortete Heinrich: „Seit ein paar Tagen ist vor meinen Augen alles verschleiert. Gestern wurde es schlimmer!
„Auf welchem Auge haben Sie die Erscheinung?" „Auf beiden, Herr Stabsarzt!"
„Hm... " Der Arzt erhob seine Faust, aus der sich zwei Finger streckten. „Wie viel Finger sehen Sie?" „Keinen, Herr Stabsarzt."
„Was? Machen Sie mir bloß keine Schnippchen, Sie Drückeberger!"
Heinrich erwiderte: „Herr Stabsarzt, ich erkläre, wo ich hinschaue, ist alles mit Nebel bedeckt."
„Schön! Dann bleiben Sie halt im Bett liegen, bis Sie anfangen zu faulen oder bis Ihre Augen besser sind!" Zum Feldwebel und Krankenwärter gewendet, sagte er: „Lassen Sie den Kerl täglich schwitzen, aber ordentlich, und passen auf, dass der Drückeberger auf keinen Fall das Bett verlässt. Zum Verrichten der Notdurft geben Sie ihm ein Steckbecken!" Der Arzt ging.
Heinrich merkte die Schwere des aufgenommenen Kampfes. Was ihn aber widerstandsfähig gegen die ärztlichen Schikanen machte, war der tiefe Hass gegen die Vergewaltiger der Menschlichkeit.
In acht Decken gehüllt, lag Heinrich und schwitzte — auf Befehl. Täglich wurde die Umgebung des Gefangenenlazaretts herrlicher. Durch die geöffneten Fenster duftete Frühlingsluft. Drei Wochen schon lag Heinrich in seiner Tortur. Der Sanitätsoffizier schüttelte den Kopf, denn solch ausdauernde Willenskraft, wie sie Heinrich aufbrachte, war dem Gefangenenarzt fremd.
„Na, ist's mit Ihren Augen besser geworden?" „Nein, Herr Stabsarzt, schlimmer!" „Dann wollen wir mal was anderes versuchen!"
Nun bekam Heinrich Tropfen in die Augen. Die aber stärkten nur seinen Willen zum Aushalten.
Nach vierzehn Tagen erhielt Heinrich den Befehl, aufzustehen und seine Uniform zu holen. Dann gab ihm der Lazarettfeldwebel bekannt, dass er zu einem Augenspezialisten in Schleswig geführt würde.
In Heinrichs Herz klang der Frühling in mächtigen Akkorden, als er durch den goldigen Maienmorgen, der den frischgrünen Wald erhellte, nach der Stadt Schleswig gebracht wurde. Heinrichs Blick aber blieb finster...


6.

Heinrich hatte dem Augen-Spezialarzt seine Beschwerden gemeldet.
„Na schön! — Nun wollen wir erst mal feststellen, was Sie überhaupt noch sehen können. Bitte nehmen Sie Platz!" Erstaunt über den liebenswürdigen Ton dieses Arztes, schaute Heinrich auf. Da gewahrte er an der Wand gegenüber die ihm von der Augenabteilung des Kriegslazaretts in Brügge gut bekannte Tabelle zur Feststellung der Sehschärfe oder — zur Feststellung der Simulation. Über Heinrichs Totengesicht glitt ein Lächeln, das zum Ausdruck brachte: Alter Schlaumeier, mich fängst du nicht mit deiner Heuchelei.
Schnell hatten Heinrichs Augen die Entfernung zwischen ihm und der Tabelle festgestellt: sechs Meter.
„Nun, mein Freundchen, können Sie diese Buchstaben da noch erkennen?" Der Arzt stand neben der Tabelle und deutete mit einem Stock nach der zweitobersten Reihe. Heinrich saß wie ein Medium. Er rechnete: Ein Sechstel Sehschärfe gab ich damals in Brügge an. Der Arzt deutet auf Rubrik vierundzwanzig. Um also bloß ein Sechstel zu lesen, muss ich bis auf einen Meter an die Tabelle herangehen.
Ungeduldig klopfte der Arzt an die Tabelle. „Bitte, antworten Sie!"
„Herr Doktor, von hier aus kann ich die Reihe nicht erkennen!"
Nun deutete der Spezialarzt auf die oberste Rubrik, deren Buchstaben so groß waren, wie eine Hand breit ist. „Na, aber diese Elefantenbuchstaben da werden Sie wohl noch lesen können?"
Heinrich ließ sich nicht beirren. Es war Rubrik dreißig, auf die der Arzt zeigte. Heinrich aber stand immer noch auf sechs Meter Distanz von der Tabelle. Er durfte also, wenn er ein Sechstel Sehschärfe behaupten wollte, nicht die Rubrik dreißig trotz der großen Buchstaben auf sechs Meter Entfernung lesen. Denn er hätte somit anstatt ein Sechstel Sehschärfe ein Fünftel, also mehr angegeben. Deshalb antwortete Heinrich: „Nein, Herr Doktor, es geht nicht!"
„Nun, dann kommen Sie mal so nahe heran, bis Sie die Reihe da lesen können!" Der Arzt deutete auf eine Reihe in der Mitte der Tabelle. Heinrich verließ die Wand. Schritt für Schritt.
„Um Gottes willen, Sie sind doch nicht blind?"
Heinrich musste trotz des Ernstes ein Lächeln verbeißen. Die zu lesende Reihe hatte er als die zwölfte erkannt und ging, seiner Formel folgend, von sechs bis auf zwei Meter an die Tabelle heran. „Jetzt kann ich die Buchstaben lesen!"
Aus des Arztes Augen zwinkerte List. „Nun? Wie? Man los!"
„F!"
„Schön! Und dieser da?"
„G!"
„Wunderbar! Können Sie nun auch diese da lesen?" Der Spezialist wollte den Heinrich überrumpeln: Er zeigte, weil Simulanten bei schnellem Durcheinanderfragen mit der Antwort zögern oder befangen werden und demzufolge sich mit ihren ersten Angaben verwerfen, beliebig auf Buchstaben in Reihen über der Rubrik zwölf. Aber Heinrich las wie auswendig gelernt. Denn wenn er kleinere Buchstaben auf einen Meter Entfernung erkennen konnte, dann durfte er erst recht die großen Buchstaben auf zwei Meter Entfernung lesen. Der kluge Arzt deutete nun geschwind auf eine Reihe unter der Rubrik zwölf. Wie auf Befehl verstummte der Heinrich. Der Doktor wurde ärgerlich. „Was? Eben haben Sie so flott gelesen, und auf einmal sehen Sie wieder nichts mehr?"
Jetzt machte Heinrich den Doktor nervös. „Ich lese nur, was ich sehen kann."
„Dann laufen Sie in Gottes Namen so dicht heran, bis Sie das Scheunentor da entdecken können. Aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich Sie bereits der Simulation überführt habe und dass auf Vortäuschung von Krankheiten, die den Mann dem Heeresdienst entziehen sollen, fünf Jahre Gefängnis stehen! Wie hoch ist Ihre Strafe?"
„Fünfzehn Jahre, Herr Doktor!"
„Also, noch mal fünf Jahre dazu, dann können Sie sich aufhängen. Seien Sie vernünftig, und geben Sie endlich an, was Sie wirklich sehen!" Der Augenarzt zeigte auf die Rubrik sechs. Heinrich ließ das Gerede des Doktors außer acht und ging unentwegt bis auf einen Meter Entfernung an die Tabelle heran. Dann las er Rubrik sechs auf einen Meter, also: ein Sechstel. Der Augenarzt kratzte sich hinter den Ohren. Nachdem Heinrich vor einer anderen Tabelle, auf welcher die Buchstaben der einzelnen Rubriken durcheinander standen, ebenfalls frei gelesen, versuchte der Spezialist seine Kunst mit dem Brillenkasten. Aber Heinrich las durch „plus" oder durch „minus" nicht mehr oder weniger als mit dem bloßen Auge, nämlich: ganz genau nur ein Sechstel.
Immer war es „der graue Fleck" auf der Stelle, wo er hinsah, der alle Augengläser hinfällig machte. Der Doktor geriet bald in Verzweiflung.
„Was sind Sie denn von Beruf?"
„Seemann, Herr Doktor!"
„Aber da müssen Sie doch ganz besonders scharfe Augen haben!"
„Jawohl, Herr Doktor, die hatte ich auch, aber an der Front sind sie ruiniert worden... "
„Wie, was? Sie waren während der Kriegszeit schon in Augenbehandlung?"
„Jawohl. Im Kriegslazarett I Brügge."
„So?"
Da öffnete sich die Zimmertür, und ein Herr in Zivil mit einem „Schmiss" an der Backe trat ein. Der Arzt wandte sich, denselben begrüßend, von Heinrich und erzählte in französisch, damit Heinrich nichts verstehen sollte, welch hochinteressanten Fall er gerade vorhabe. Heinrich hockte sich auf Weisung des Arztes in die Dunkelkammer, hörte den beiden hübsch zu und grinste verschmitzt. Schließlich begab sich der Augenarzt mit seinem Freund zu dem Heinrich. Aus der Dunkelkammer drangen nun die Worte: „Mal nach oben schauen! — Nach unten! Mal nach hier! Mal nach da!" Dann vernahm man ärgerliches Schnalzen.
Drinnen saßen neben einer elektrischen Lampe bald Nase an Nase der Heinrich und der Augenarzt. Zwischen beiden Köpfen blitzte der Augenspiegel, durch den der Arzt in Heinrichs Auge zielte.
Endlich kamen die beiden Ärzte mit dem Heinrich heraus, flüsterten zusammen und stellten ihn wieder an den Stuhl vor der Wand, zum letzten Versuch: zur Spiegelprobe.
Scheinbar reagierte der Arzt auf die Angaben des Heinrich. Aber nur — um ihn zu fangen... Er stellte den Heinrich auf zwei Meter Distanz vor die Tabelle, zeigte auf die Reihe in der Mitte (Rubrik zwölf) und fragte bestimmt: „Diese Reihe können Sie von dort aus lesen?" „Ja!"
Nun hängte der Arzt an den Aufhängenagel der Tabelle einen großen Wandspiegel. Dann stellte er sich mit der Tabelle hinter den Heinrich, hob sie so hoch, dass sie sich im Spiegel an der Wand zeigte, und fragte recht herzlich: „Nun lesen Sie mal diese Reihe da, dann sind wir fertig."
Der Augenarzt zeigte auf die Rubrik achtzehn.
Heinrich stand auf zwei Meter Entfernung vor dem Spiegel. Ursprünglich hatte er auf diese Entfernung sämtliche Reihen von der Rubrik zwölf ab von unten nach oben gelesen. Heinrich erkannte die Raffiniertheit der Spiegelprobe. „Es geht nicht, Herr Doktor!" „Dann versuchen Sie's mal näher!"
Heinrich machte einen kleinen Schritt nach vorn und blieb auf anderthalb Meter Abstand vom Spiegel stehen: Ein Sechstel muss ich angeben. Rubrik achtzehn soll ich im Spiegel lesen. Also muss ich bis auf anderthalb Meter heran. Denn von dem Spiegel gelesen, muss ich die Entfernung, auf welche ich sonst ein Sechstel las, mit zwei dividieren, wenn ich wieder ein Sechstel angeben will. Weil die Distanz von der Tabelle zum Spiegel und vom Spiegel zum Auge ja der doppelte Weg ist.
Prompt las Heinrich durch den Spiegel — ein Sechstel.
Die beiden Ärzte schauten sich bedeutungsvoll an. Dann stützte der eine seine Hände in die Hüften und sagte zu Heinrich: „Sie können gehen!"
Draußen im Wartezimmer saßen die beiden Wachtleute und nahmen den Heinrich in Empfang. Nachdem der Arzt einem der Transportleute ein verschlossenes Schreiben an den Gefangenenarzt gegeben hatte, wurde der Heinrich wieder ins Seuchenlazarett zurückgeführt.

Dass man im Seuchenlazarett sich anscheinend nicht um sein angebliches Augenleiden kümmerte, ärgerte den Heinrich.
Mit gesteigerten Klagen wagte er sich daher vorsichtig an den Gefangenenarzt heran. Aus dessen Antworten entnahm Heinrich zur Genüge, dass man großes Misstrauen gegen seine Beschwerden hege. Um aber unter allen Umständen sein Ziel zu erreichen, erdreistete er sich eines Morgens zu der Meldung, jetzt sehe er auf dem linken Auge gar nichts mehr. Je hartnäckiger Heinrich vorging, desto offener verfolgte ihn der Gefangenenarzt. Doch ohne Rücksicht und Blinzeln überrannte der Heinrich alle Schikanen, die ihm in den Weg gelegt wurden. Endlich gab ihm der Sanitätsoffizier unter zynischem Schnauzen zu wissen, dass er in eine Augenklinik übergeführt werde. Wenn Heinrich sich im stillen auch seines Erfolges freute, so krampfte er fester als je die Faust. Denn ihm war bewusst, dass nun hart auf hart geraten würde.


7.

Ergriffen von dem vorbeischwärmenden Leben der Kriegsschiffmatrosen, war Heinrich an der Universitäts-Augenklinik in Kiel angekommen.
Drei Rotkreuzschwestern, die eben noch mit einem Arzt in dem stillen Korridor leise kicherten, schauten leicht erschreckt zum Heinrich und zu den zwei Posten mit Gewehr, die ihn führten.
Als der Gefangenentransport auf sie zukam, trat der Arzt aus der sich unterhaltenden Gruppe und fragte mit abstoßendem Blick: „Name? Woher?"
Heinrich meldete: „Marinegefangener Hölzel vom Militärgefangenenlager Lügumkloster."
Eine der Rotkreuzschwestern staunte gebannt. „Was haben Sie denn ausgefressen?" „Meuterei."
Der Arzt rümpfte seine Nase wie bei einer Obduktion.
„Hm! Wo haben Sie gemeutert?"
„Auf S. M. S. .Westfalen'."
„Aha. — Und was haben Sie dafür bekommen?"
„Fünfzehn Jahre."
Bedenklich schaute der Arzt vor sich hin und nickte dabei. Auf einmal wandte er sich freundlich an Heinrich: „Sagen Sie mir bloß, was haben Sie sich dabei gedacht, als Sie das ausheckten?"
Während Heinrich zwischen den beiden Wachtleuten im Korridor weiter nach dem Aufnahmebüro ging, legte sich auf Arzt und Schwestern eine merkwürdige Beklommenheit. Dann vernahm man ein: „Entschuldigen Sie, Herr Professor!" Und die Operationsschwester eilte in ein Zimmer der Seitenflucht.
Heinrich wurde, nachdem er gebadet und die stinkige Militärgefangenenuniform mit frisch riechendem Krankenanzug gewechselt hatte, in ein kleines Stübchen unter dem Dach des fünfstöckigen Hauses gebracht. Wie neugeboren stand Heinrich in dem sauberen Raum. Vor gewisser Freude trat er an das Fenster, das eine wundersame Aussicht auf die Stadt und auf den Kriegshafen bot, und — ergötzte sich an der unter ihm liegenden Welt — aber nicht bloß mit ein Sechstel Sehschärfe...

Die Tür des netten Verbannungsortes wurde geöffnet. Zwei Matrosen brachten Essen und stellten dies auf den Tisch. Dann verließen sie die Gefangenenstube. An der Tür wandte sich der eine noch mal. „Kamerad, wenn du noch mehr willst, klopf!" Heinrich grinste.
Denn er vermochte fast nicht zu glauben, dass er sich „endlich wieder einmal" an kräftiger Kost satt essen durfte. Später kamen die Matrosen wieder. „Hat's geschmeckt, Kamerad? Willst du noch?"
Heinrich lachte und prustete. „Vorläufig langt's!" Zwischen ihm und den Matrosen entspann sich eine lebhafte Unterhaltung, wobei der eine Posten einen Karton Zigaretten und eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche zog und dies dem Heinrich gab. Vor Heinrichs Augen fing sich die Stube an zu drehen. Denn die lang entbehrten Genüsse war er nicht mehr gewohnt. Endlich gab er sich den beiden Matrosen als „Wilhelmshavener Kuli" zu erkennen. Heinrich erzählte, weshalb er bestraft sei. Auch schilderte er den Morast des Militärgefangenenlagers und des Seuchenlazaretts. Die Matrosen hörten gebannt zu.
Schritte hallten.
„Also, wenn du was brauchst, sag Bescheid. Und wenn jemand in die Bude kommt und fragen sollte, wer hier geraucht hätte, dann sagst du nur: der Posten!" Bald hörte man in dem Stübchen tiefe Atemzüge.

Längst lärmte wieder die Stadt und der Kriegshafen. Aber Heinrich schlief noch immer. Die neue Sphäre, in die sich Heinrich hineingeschwindelt hatte, tat ihm sehr wohl. Erst als der Schlüssel im Schloss knirschte, öffnete er die Augen. „Guten Morgen, Hein! Na, wie hast du hier gepennt?"
Heinrich richtete sich auf und lachte. „Ich schlief wie im Frieden."
Auf dem Tisch duftete Bohnenkaffee. Butter lachte. Und bald knisterte das frische Weißbrot. Dieses Kameradschaftsopfer erfreute ihn maßlos. Ja, was diese Leute im Kampf mit den Gewalten auf See fest zusammenschweißte, war in Fleisch und Blut übergegangen: Teilnahme am Los der andern war selbstverständlich geworden. Helfen wollten sie ihm; sie wollten ihn, den Abgeschmachteten, aufleben lassen.

Die Hände in den Hosenbund gesteckt, verbissen vor sich hin schauend, so ging Heinrich ruhelos in seiner Stube hin und her. Plötzlich blieb er stehen. Und lauschte. Er hörte Schritte näher kommen. Das Schloss knackste. Heinrich stand in Erwartung. Die Tür ging auf. Ein Arzt in Begleitung einer Rotkreuzschwester kam auf ihn zu. „Was haben Sie für Beschwerden?"
Heinrich berichtete militärisch. Während der Arzt den Posten befahl: „Der Gefangene ist sofort nach unten in die Augenklinik zu bringen!", musterte Heinrich das Gesicht des Arztes, dann das der Schwester. Diese stand hinter dem Doktor und sah zur Seite, auf die Kopftafel über Heinrichs Bett. Aber der Arzt wandte sich hastig, um zu gehen. Ungewollt berührte er die abseits schauende Krankenpflegerin. „Pardon!" Verlegen wandte die Rotkreuzschwester den Blick von der Kopftafel und streifte Heinrichs Augen. Und gerade als sie dem Arzt lächelnd erwidern wollte, erbleichte erschreckt ihr hübsches Gesicht. Doch der Arzt, der dies merkte, verwischte ihre Blässe. „Ja, Schwester, ein ganz gefährlicher Bursche!"
„Hein, du kennst ja das Kasperltheater." Bei diesen Worten zogen die beiden Matrosen ihr Seitengewehr. Und der Heinrich folgte zwischen ihnen nach unten — in die Augenklinik.
Auf den Stühlen längs den Wänden des hohen weiten Saales der Augenklinik saßen Frauen, Kinder und Soldaten, An den Tischchen in der Mitte saßen Kranke mit tränenden Augen vor hantierenden Ärzten. Waren Patienten abgefertigt, dann winkten die Schwestern lächelnd andere heran. Unaufhörlich. Allmählich wurde die Luft dick. In diesem Massenbetrieb langte der Heinrich mit seiner Bewachung an. Verblüffte Gesichter richteten sich nach ihm. Aus Nischen und hinter Portieren kamen neue Ärzte.
„Herr Geheimrat, nehmen Sie ihn vor. Er gibt zentrales Skotom in der Macula an und ein Sechstel."
Kaltblütig begann der Heinrich vor den Patienten, Schwestern und Ärzten mit seiner gefahrvollen Vorstellung. Wie ein Zirkuspferd in der Manege, so glatt „arbeitete" er. Was waren für ihn die verächtlichen Blicke der Zuschauer? Nur die Tabellen und ihr Abstand von ihm interessierten ihn. Von einem Apparat zum andern wurde er kommandiert. Dann in die Dunkelkammer. Wieder an die Tabellen. Endlich kam die Spiegelprobe! Die Ärzte, lauter Spezialisten, umringten ihn. „Sie sind entlarvt!" Mit gleichem Maß der Herausforderung erwiderte Heinrich: „Herr Professor! Was Sie mir sagen, ist unverantwortlich! Ich lese nur, was ich sehen kann!" Das hatten die Arzte nicht erwartet. Ihr ironisches Lächeln ging in Verlegenheit unter. Schnell winkte der Geheimrat den Posten. Die Operationsschwester öffnete die Tür des Saals. Heinrich ward wieder nach oben geführt.
Unter der Fürsorge seiner Kameraden, die ihn bewachten, erholte sich Heinrich zusehends. Auch erwirkten die Seeleute unter den verwundeten Soldaten in der Klinik sowie beim Dienstpersonal allseitige Teilnahme an seinem Schicksal. Die ursprüngliche verächtliche Meinung über ihn war weg. Alle sahen in ihm einen Kameraden, der sich eigentlich für das blutende Volk geopfert hatte. Diese Anerkennung wirkte auf den Heinrich wie Sonne. Verwundert sahen die Augenärzte „den lebenden Leichnam" kräftiger, lebendiger werden. Ja, jene Kraft, die den Heinrich beseelte, war ihnen ein Rätsel. Kein Krankheitsbefund, dennoch die unglaublich sicheren Angaben. Der Professor, der Geheimrat und die Assistenten wurden stutzig. „Das ist ein ganz sonderbarer Fall. Ich kann nicht mehr glauben, dass der Patient vortäuscht. Hier ist das Krankenblatt vom Kriegslazarett I Brügge und das vom Seuchenlazarett. In beiden decken sich die Beschwerden über das Leiden und über die Angabe seiner Sehschärfe. Auch die Gesichtsfeldproben stimmen. Herr Geheimrat, wir setzen Behandlung an!"
„Ich hatte bereits vor, Herr Professor, mal bei ihm einen Versuch mit Kochsalzinjektion in das linke Auge zu machen. Es ist möglich, dass eine Reaktion folgt!" „Wie war denn die Blutprobe, Herr Geheimrat?" „Negativ, Herr Professor. Der Mensch ist ein wahres Prachtexemplar."
Der Chefarzt schüttelte den Kopf. „Schade um den Kerl!" Dann wandte sich der Geheimrat an die Operationsschwester, die mit dem Auskochen der Instrumente beschäftigt war. „Schwester, geben Sie dem Militärgefangenen morgen früh eine Cocaineinträufelung ins linke Auge!" Darauf verließen die Ärzte den Saal der Klinik. Die Schwester sank auf einen Stuhl und bedeckte mit den Händen ihr Gesicht.

Heinrich hatte sein Frühstück eingenommen und saß in Unterhaltung mit den Posten. Die Krankenpflegerin trat ein. Lächelnd neigte sie den Kopf nach den Matrosen und grüßte leise im Vorbeigehen. Auf Heinrichs Nachttisch stellte sie ein Fläschchen ab, füllte die Cocainspntze und schritt mit einem erzwungenen „Bitte!" auf Heinrich zu. Heinrich setzte sich auf den Stuhl und lehnte den Kopf hintenüber. Mit zitternder Hand spreizte sie seine Augenlider. Er hörte sie atmen. Ihm war es, als hörte er ihr Herz erregt klopfen. Fragend schaute er hoch in die Augen der Schwester. Sie erblasste. Die beiden Matrosen standen wie Pfähle im Wasser. Vollständig verdattert träufelte sie Heinrich das Cocain ins Auge. Und eilte fort.
„Habt ihr das beobachtet?"
„Ja, Hein! Die hat ein Auge für dich. Bloß schad, dass du Gefangener bist. Kürzlich fragte sie, ob wir wüssten, was du für ein Landsmann seist. Und als wir ihr sagten, du wärst ein Bochumer, machte sie eine Miene, als ob sie uns backpfeifen wollte!"
„Ich natürlich", bekräftigte der andere Matrose, „hätte ihr am liebsten auf jeden Backen gleich zwei... aufdrücken mögen, so kess sah sie aus, als ich wiederholte: Ja, ja, Fräulein, Hein ist aus Bochum!'"
Die Posten verließen die Gefangenenstube. Heinrich sann über diese merkwürdige Krankenschwester nach. Von draußen rief einer: „Hein, komm runter in die Klinik!" Nach einer halben Stunde war Heinrich wieder mal „behandelt" worden. Und um die Zeit zu vertreiben, half er dem Dienstpersonal die Etage scheuern. Denn jede Lektüre musste er meiden. Nach dem Etagescheuern vergaß er ganz, dass er überhaupt Gefangener war. Zumal ihn die Dienstmädchen alles fühlen ließen, bloß seine traurige Lage nicht.


8.

Der Tag war um. Auf dem dämmerigen Korridor vor der Gefangenenstube lustwandelte Heinrich mit einer Zigarette. Sein voller gewordenes Gesicht strahlte zufrieden. Die Posten, vom langweiligen Herumstehen ermüdet, lagen auf dem Ohr und „nahmen ein Auge voll". Heinrich lächelte. Denn hier in der „Spatzenetage" war Friede!
Unbemerkt war es schon dunkel geworden. Aber ohne zu sehen und zu hören, verlängerte der Heinrich seine Korridorpromenade. Er sann. Diese Stille zerriss plötzlich eine weibliche Stimme: „Sie, Militärgefangener!"
Heinrich stand. In dem Dunkel sah er jene sonderbare Krankenschwester. Sie kam auf ihn zu. Heinrich wandte sich. Denn dieses Weib, das ihn Verachtung fühlen ließ, verachtete er. Sie aber bat ihn: „Möchten Sie mir helfen ein paar Betten überziehen?" Es sind unerwartet Verwundete gemeldet worden!" Stumm sah Heinrich in das von Dunkelheit verschleierte Gesicht der Schwester. Er spürte einen heißen Druck an seiner Hand. „Aber bitte, kommen Sie doch!" Heinrich folgte schweigsam in ein Krankenzimmer, in dem sechs Betten unüberzogen standen. „Nur diese?"
„Nein, nebenan sind auch noch welche!"
„Ich mache alles in Ordnung, und dann lasse ich Ihnen durch den Posten Bescheid bringen!"
Kleinlaut wies die Schwester nach der Bettwäsche. Dann drückte sie ihr Taschentuch ins Gesicht und eilte aus dem Zimmer. Heinrich schaute ihr nach. Er hörte sie schluchzen. Nachdenklich schüttelte er den Kopf.

Kaum war er mit seiner Arbeit fertig, da öffnete sich die Tür der Krankenstube. Mit bebenden Lippen und nassglänzenden Augen stürzte die Krankenschwester in den hell erleuchteten Raum und — umarmte ihn. Er spürte ihr heißes und tränennasses Gesicht an seiner Wange. Erschüttert schluchzte sie:
„Heinrich, verzeih mir, weil ich dich so verächtlich behandelt habe!"
Er begriff nicht. Vielmehr glaubte er, sie sei eine hochgradige Hysterische. Wieder hörte er sie ein paar Worte schluchzen... Heinrich staunte: „Was!" und hielt ihr tränennasses Gesicht vor sich hin. „Du bist Else? — Meine Schwester?"
Nachdem er sie beruhigt hatte, seufzte sie: „Heinrich, Heinrich, wie konntest du dich bloß so vergessen und jetzt, wo das Vaterland blutet, ihm in den Rücken fallen? Lass um Gottes willen niemand wissen, dass wir Geschwister sind! Ich müsste mich ja vor meinem Mann und vor aller Welt schämen!" Heinrich lächelte hämisch. „Bei Gelegenheit spreche ich mich mit dir aus. Jetzt aber muss ich gehen. Denn es könnte jemand was... merken!" Er ging.

Wenn auch die Annehmlichkeiten in der Augenklinik die Seele Heinrichs erfreuten, so vermochten doch all diese ihm heimlich zuteil gewordenen Sympathien nicht, seine revolutionären Gedanken abzukühlen. Im Gegenteil! Nun, wo er seine Schwester neben sich fühlte, reizte ihn das Verlangen, durch sie Verbindung mit dem revolutionären Zirkel in Wilhelmshaven herzustellen. Dass sie aber dabei „immer völlig im dunkeln bleiben musste", das hatte er klar aus ihrem Vorwurf ersehen. Er nahm sich nunmehr erst vor, mal zu prüfen, was bei seiner Schwester stärker sei, ihre patriotische Gesinnung oder ihre Liebe zu ihm. Darum behandelte er sie einfach als — die Rotkreuzschwester: Ihre gelegentlichen freundlichen Blicke oder Worte ließ er außer acht. Da merkte er, dass er einen ganz empfindlichen Nerv seiner Schwester reizte.
Aber Heinrich blieb unnachsichtlich in seinem Entschluss. Sogar Geschenke, die sie ihm heimlich zustecken wollte, lehnte er ab. Schon fing sie an, ihre ursprüngliche Missachtung gegen den Bruder zu bereuen, zumal sie beiseite stehend zusehen musste, wie er sich von Tag zu Tag ungebundener mit den Ärzten unterhielt. Und besonders traf er ihr Herz damit, dass er dem weiblichen Dienstpersonal mit ausgesuchten Liebenswürdigkeiten begegnete. Eines Abends kam sie denn auch zu ihm in die Gefangenenstube und drang in ihn: „Hein, vergiss doch meine unüberlegten Worte! Verzeihe mir! Ich bin doch deine Schwester!" Heinrich antwortete ihr trocken: „Ja, aber lass deine ehrlose Meinung über mich fallen!" Rasch hielt sie ihm den Mund zu. Er ließ sie gewähren. Freudig griff sie nach seiner Hand. Er aber schaute ernst in ihr strahlendes Gesicht und mahnte sie sehr, sie solle die anderen nicht merken lassen, dass sie Geschwister seien.

Plötzlich klopfte in der Nacht Heinrich den Posten und bat, sie sollten die Schwester holen, welche Nachtdienst habe. Sofort lief ein Posten nach unten und kam bald mit der Operationsschwester zurück. Heinrich klagte über Kopfschmerzen und Schüttelfrost. Forschend betastete die Krankenschwester seine Stirn.
„Ich muss mal Ihre Temperatur messen! Einen Augenblick!" Sie eilte aus der Gefangenenstube.
Bald traf sie mit dem Thermometer ein. Mitleidig schaute der Posten. Die Schwester aber stand vor Heinrichs Bett, presste die Lippen und schnickte kräftig das Thermometer. Nachdem sie Heinrich „gemessen" hatte, ging sie auf den Fußspitzen zu dem Posten und flüsterte: „Sie können gehen! Ich bleibe bei dem Patienten!" Sie lächelte. „Und wenn Sie eine Glocke hören, klopfen Sie mir bitte! Ja? Danke schön!"
Die Schwester setzte sich auf den Stuhl neben Heinrichs Bett und fragte in sichtlicher Gespanntheit: „Armer Hein, wie ging es dir denn, nachdem uns der Tod unserer Eltern überrascht hatte?"
Heinrich erzählte und erzählte. Die Leidenschaft seiner Worte riss seine Schwester in ein Leben voll Kampf. Gebannt von der sich vor ihr abwickelnden Tragik starrte sie auf den Boden. Rücksichtslos riss Heinrich längst vernarbte Wunden auf. Schauer durchrieselten das Weib. Aus Heinrichs Worten klangen schwere Anklagen. „... Und nun kam der Krieg!" Da ließ er den Schatten Tausender blindgeschossener und zerfetzter Soldaten, wimmernder Waisen und jammernder Mütter auf sie fallen. Endlose Massengräber wühlte er auf...
Die Schwester erblasste. Unerbittlich schüttelte Heinrich all das geflossene Blut über die Bebende. „Warum schreit ihr Rotkreuzschwestern nicht entsetzt ins Land: ,Haltet endlich ein mit dem namenlosen Verbrechen!'?"... Sie fror.
Dumpf klangen seine Worte weiter. „Aber ein Häufchen Matrosen unternahm, das Massenmorden zu beenden. Und ich bekam fünfzehn Jahre... "
Erregt schilderte er die Strafvollstreckung. „Weiß denn niemand im Reich von dem grauenvollen Elend der Militärgefangenen? Rechnen wir nicht mehr zu den Menschen?" Aus dem Gesicht des Weibes presste sich Qual. Hasserfüllt knirschte er: „Ich kann von Glück sagen, dass es mir gelungen ist, mich aus diesem Morast herauszuarbeiten! Hoffentlich gelingt mir mein... Aber dann . . ." Seine Schwester war erschüttert.
Heinrich fragte: „Else, schämst du dich immer noch, meine Schwester zu sein?" Kraft- und sprachlos fiel sie an des Bruders Brust. Heinrich aber hob ihr Gesicht empor, schaute ihr in die verschwommenen Augen und riss sie mit herzlicher Freundlichkeit aus dem geschilderten Grauen. „So, Else, nun zu dir! Komm, erzähle."

Die Kraft, welche aus Heinrich strömte, hatte ihr die Worte des Professors „Schade um den Kerl" verständlich gemacht. Voll Bewunderung und Bangen schaute sie zu ihrem Bruder empor. Und begann seufzend: „Der plötzliche Tod unserer Eltern hat uns Geschwister voneinander gerissen. Richard und dich sah ich am Beerdigungstage unserer Eltern zum letzten Mal. Die Friedel kam mit mir ins Waisenhaus. In der großen Anstalt trennte man uns. Und ich kam nicht eher wieder mit ihr zusammen als am Tage meiner Entlassung. Sie war groß und hübsch geworden. Und kannte mich nicht mehr!" Weinkrampf würgte sie. „Ich darf, ich darf nicht daran denken... " Tröstend half ihr Heinrich über ihren Schmerz. „Ja, Else, und dann?" Sie atmete auf und wischte sich die Augen. „Ich kam in den Haushalt eines Apothekers im Siegerland, dessen Frau gestorben war und der drei Kinder hatte. Ich wurde dort gut behandelt. In jener Zeit dachte ich oft an dich und Friedel. Gern hätte ich gewusst, wo du stecktest! Um es zu erfahren, wandte ich mich schließlich an den Pfarrer in unserer Heimat. Von ihm erhielt ich aber die Antwort, dass man nicht wisse, wo du seiest. Desto öfter schrieb ich dann an Friedel. Auf einmal blieben meine Briefe an sie unbeantwortet. Darüber erkundigte ich mich bei der Waisenhausleitung. Ich erhielt die Auskunft, sie wäre zu einem Gasthofbesitzer in Unna in Westfalen als Pflegetochter gekommen. Gleich schrieb ich nach dort und bekam Antwort. Damals hätte ich sie bald beneidet. Denn sie zählte in ihren Briefen lauter Freuden und neue Kleider auf. Aber heute weiß ich mehr!" Die Schwester betonte gereizt: „Es ist ja ungeheuerlich, ein Waisenkind so zu missbrauchen!" „Ich verstehe dich nicht, Else!"
Kurz warf die Schwester dazwischen: „Später... , Hein!" Dann sprach sie gezwungen weiter: „Wieder blieb Antwort auf meine Briefe an sie aus. Ich bat zum zweiten Mal das Waisenhaus um Auskunft und erhielt den Bescheid, Friedel sei entwischt, niemand wisse, wohin! — Das war ein harter Schlag für mich. Mein ganzes Leid vergrub ich nun in meiner Arbeit. Durch meine Hingabe an die Apothekerfamilie verschwand der Unterschied zwischen Herr und Dienstbote immer mehr. Allgemein sah man in mir die Hausfrau. Und der junge Apothekergehilfe, der bei uns wohnte und aß... Wir verlobten uns!" Über der Schwester Gesicht huschte ein Lächeln.
„Ja, ja! Weiter, Else!" „Mit dem Lauf der Zeit wurde das lebendige Haus leer. Ein Junge war Offizier geworden, der Jüngste studierte Medizin, die Tochter hatte geheiratet. Jedes jagte sein Glück. Schließlich, als der Herr des Hauses starb, zog ich mit meinem Mann nach Berlin, wo er Stellung in der Apotheke eines Krankenhauses nahm. Und da heiratete ich!"
„Hast du niemals wieder von Friedel Nachricht bekommen?"
„Doch! Das will ich jetzt erzählen: Ich mochte ungefähr sechs Jahre aus dem Waisenhaus gewesen sein, da schrieb mir Friedel wieder, und zwar von Hamburg. Meine Adresse hatte sie durch die Waisenhausleitung erfahren. Ihr Brief ließ mich merken, dass es ihr sehr schlecht ging. Sofort sandte ich an die Adresse, welche sie mir in dem Brief angegeben hatte, Antwort — und Geld zur Reise nach Berlin. Aber sie kam nicht und auch keine Antwort. Ich bangte. Mehrere Wochen waren um, da erhielt ich meinen Brief mit dem Geld zurück mit dem Vermerk: Ohne Angabe der Adresse verzogen! Schlimme Ahnung drückte mich gänzlich nieder. Als mich mein Mann nach meinem Kummer fragte, schüttete ich ihm mein Herz aus. Darauf bat er um Friedeis Brief. Er las ihn und gab ihn mir mit der Bemerkung zurück, dass dieser Brief, wenn man die Poststempel vergleiche, von Hamburg bis zu uns acht Wochen unterwegs gewesen war. Ach, die Zeit verging. Und die Gedanken an Friedel wurden blasser. Da kam auf einmal Nachricht von ihr. Sie war in Bremerhaven. Aber, Hein, diesen Brief musst du hören!" Die Schwester zog ein beschriebenes Blatt aus ihrem Busen. Heinrichs Gesicht krampfte sich. „Was? Die Friedel wurde eine Hure?"
„Pst! Ich fuhr sofort zu ihr. Und, und... " Lange hatte die Schwester von der Friedel erzählt.
„Ja!" seufzte Else. „Als der Krieg ausbrach, gab ich die Hoffnung, dich wieder zu sehen, auf. Um so mehr fesselte mich aber nun die Friedel. Sie hatte doch noch Glück und heiratete einen Steward vom Norddeutschen Lloyd. Während des Krieges ist ihr Mann, der auf S. M. S. ,Blücher' diente, gefallen. Sie zog dann nach hier!" Heinrich staunte.
„Ja, Hein, ich bin gespannt, was sie für Augen macht, wenn sie dich wieder sieht!"
„Else, Friedel kennt mich nicht!"
„Gott, sie freut sich, dessen bin ich gewiss. Denn sie sprach schon oft davon, mal ihre Geschwister beisammen zu sehen. Aber wenn sie zu dir kommt, Hein, das musst du mir versprechen, lass nichts merken, dass du über ihre Vergangenheit unterrichtet bist."
Heinrich kam plötzlich mit der Frage: „Else, wolltest du mir nicht noch etwas über Friedel erläutern?"
Die Schwester zwang sich: „Es ist... Ihr Pflegevater hat sie damals mit zwölf fahren... Und als sie schwanger war und der Kerl sie dennoch nicht in Ruhe ließ, lief sie davon. Irgendwo gebar sie. Aber, Gott sei Dank, kam ihr Kind tot zur Well," Heinrich schaute verbissen vor sich hin.
Die Krankenschwester klagte: „Ja, Hein, Friedel ist zu bedauern. Lieblos ward sie im Waisenhaus erzogen. Und als sie in die Welt kam und allenthalben angelacht und ihr schöngetan wurde, da fasste sie Zutrauen. Und... "
„Na", ermunterte Heinrich, „die Hauptsache ist, dass es ihr nun gut geht."
Jetzt erst berührte der Heinrich seinen geheimen Wunsch... Ohne Bedenken willigte die gerührte Schwester ein. „Also, ich schreibe deiner Freundin sofort, du seiest hier, sie solle mich besuchen, dann würde ich sie zu dir führen. Wie war noch ihre Adresse?" Heinrich diktierte und sie schrieb: Mignon Röhring, Bremerhaven, Lloydstraße 42. Allmählich fing es an zu tagen. Heinrich richtete noch die Frage an seine Schwester, wo ihr Mann sich befinde.
„Der ist in einem Kriegslazarett im Osten als Apotheker!" Die Schwester wünschte dem Heinrich angenehme Ruhe und ging.
Was Heinrich wollte, das hatte er unauffällig erreicht. Deshalb schlief er auch bald fest.
Als er erwachte, standen Morgenkaffee und Mittagessen längst kalt geworden auf dem Tisch. Der visitegehende Arzt hatte ihn nicht geweckt, weil seine Schwester berichtete, der Gefangene habe während der Nacht Fieber gehabt, er läge noch unter der Wirkung eines Schlafpulvers…


9.

Sentimentalität hatte Heinrich verlernt. Kräftiger als je belebte ihn nun seine durch die barbarische Strafe entfachte Begeisterung für die Revolution. Das war gerade in der Zeit, wo aus den deutschen Heeresberichten zu ersehen war, dass der Offensivgeist erlahmte, wo der deutsche Munitionsminister, General Gröner, den durch kneifenden Hunger unwillig gewordenen Rüstungsarbeitern zurief: „Ein Hundsfott ist der, der jetzt streikt!", wo bereits die Glocken von den Kirchtürmen für die Munitionsfabriken heruntergeholt wurden, wo sogar in den Kriegslazaretten schon Ersatzstoffe für Heilung kriegsgeschädigter Soldaten Anwendung fanden, wo jeder Invalide bis zum Greis unter die Arbeit der Kriegsindustrie gezwungen wurde, wo das arbeitende und blutende Volk vom Säugling bis zum Schwerverwundeten hungerte, wo wegen der Massenverluste an der Front sogar die Zuchthäuser nach Ersatztruppen durchwühlt wurden, wo Schleichhändler und Lebensmittelschieber, im Gegensatz zu dem schwergeprüften Volk, besser als je zuvor schlemmten und mit ihren Kumpanen aus Aktiengesellschaften dem Reich Riesenvorschüsse unter dem Namen „Kriegsanleihe" gaben, damit die Hochkonjunktur der Ausbeutung erhalten blieb. Wo endlich sich die Sozialisten aller Länder zu einer Friedenskonferenz in Stockholm aufrafften. Wie ein hungriger Löwe in seinem Käfig, so lief jetzt Heinrich ungeduldig in der Gefangenenstube hin und her, auf die Ankunft seiner Freundin Mignon aus Bremerhaven wartend. Denn durch sie hoffte er direkte Verbindung mit dem revolutionären Zirkel in Wilhelmshaven zustande zu bringen.
Am folgenden Sonntag ertönte die elektrische Schelle der Eingangstür zur Universitäts-Augenklinik, was an Feier- und Festtagen nur in außergewöhnlichen Fällen vorkam. Die Operationsschwester, welche an diesem Tag Dienst hatte, ging in sichtlicher Gespanntheit nach der Pforte und öffnete. In flatterndem Sommerkostüm stand eine reizende junge Dame vor ihr, in deren heiterem Gesicht die dunklen Augen glänzten. „Guten Tag, ist Schwester Else anwesend?" Die Krankenpflegerin geriet schnell aus ihrem Staunen. Nachdem sie die junge Dame gebeten hatte einzutreten, gab sie sich als Schwester Else zu erkennen.
Keuchend kam Heinrichs Schwester die Treppe herauf und gab dem Posten zu wissen, dass sie „den Gefangenen im Auftrag" nach unten holen solle. Mit gleichgültiger Miene schloss der Matrose die Tür der Gefangenenstube auf. Sie trat ein. Heinrich lag angekleidet auf dem Bett und schlief. Freudig klopfte sie ihm auf die Schultet. Er aber rührte sich nicht. Sie rüttelte ihn und sagte lachend dabei: „Mein Gott, wie kann man nur am hellen Tag so fest schlafen?" Darauf knurrte der Schlafende und drehte sich um. Die Else aber rüttelte ihn gehörig. Er öffnete die Augen.
„Hein! Die Mignon ist da!" Zack! Und schon stand Heinrich vor dem Bett und strich sich die Haare zurecht. Beide hatten die Gefangenenstube verlassen. An der Treppe bat Heinrich seine Schwester: „Wart ein' Moment!" Er ging zu den Posten und flüsterte mit ihnen. Aus seiner Geste war zu schließen, dass er den beiden Matrosen etwas erklärte. Die Posten nickten verständnisvoll. Endlich brach Heinrich ab. „Nur der Vorsicht halber, falls Kontrolle kommen sollte!" Dann ging er seiner Schwester nach. Hinter ihm folgte freudig der Posten.

Auf dem unteren Korridor ging die Schwester mit dem Heinrich in einen Seitenflügel und führte ihn nach dem Zimmer geradeaus. Kaum dass Heinrich angeklopft hatte, öffnete er auch schon die Tür. Mignon schnellte von ihrem Sessel und eilte, vor Freude sprachlos, wie ein Kind auf ihn zu.
Seine Schwester räusperte sich bei diesem Anblick und stammelte: „Entschuldigt, ich gehe mal nach der Küche!" Und gerade als sie das Zimmer verließ und die Tür zumachte, schlüpften ihr noch Mignons erste Worte ins Ohr: „Armer Hein!" Die Innigkeit dieser Begrüßung musste in Heinrichs Schwester gezündet haben. Denn ihr Gesicht errötete.
Mit einer Freundlichkeit, die Heinrich auffiel, brachte sie bald Kaffee und Kuchen. Und in herzlicher Weise bat sie die Mignon, zuzugreifen. Dann nahm sie Platz und beteiligte sich an den Erzählungen ihrer Gäste.
Langsam ging die Sonne unter. Mignon und Heinrichs Schwester unterhielten sich in einem fort. Heinrich verhielt sich scheinbar lauschend. Aber mit der zunehmenden Dämmerung wurde sein Gesicht immer ernster. Und heimlich sammelte sich über der Traulichkeit, die das „verbotene Kaffeekränzchen" umwob, der Rauch von Zigaretten zu einer dicken Wolke. Plötzlich ertönte die Glocke des Hauseingangs. Wie elektrisiert sprang Heinrichs Schwester auf. Auch er. Doch bevor seine Schwester das Zimmer verließ, bat sie ihn dazubleiben. Denn sie wollte erst mal durch das Fenster schauen, wer geklingelt habe. Dann ging sie. Gleich darauf kam sie atemlos erregt zurück. „Friedel ist's!" Und verschwand wieder.
Mignon legte ihren Arm um Heinrichs Nacken, lehnte müde den Kopf an seine Brust und drückte nervös seine Hand. In diese dämmerige Stille ließ der Regulator über ihnen gleichmäßig seine harten Schläge fallen. Verlegen fragte Mignon vor sich hin: „Heinrich, ich bin erstaunt über diese Rotkreuzschwester. Wie kommt es, dass sie alles für dich tut? Ist sie verliebt?"
„Kannst du schweigen, Mignon?"
„Ob ich... Haha!" Heinrich erklärte: „Sie ist meine Schwester!"
„Ist's möglich?"
„Natürlich! Und die Dame auch, die sie eben einlässt!"
Mignons Verwunderung wurde laut. Er aber mahnte: „Ich will sehen, ob du dich beherrschen kannst!" Heinrichs Freundin lachte selbstbewusst.
„Du, Mignon... "
„Was ist, Hein?"
„Den Auftrag für den Matrosen Albin Köbis auf dem ,Prinzregenten Luitpold', den erledigst du aber sofort!"
„Sobald ich in Bremerhaven bin, schreibe ich ihm, dass er mich baldigst besuchen soll. Meinen Brief an ihn stecke ich in dein Kuvert. Wenn er bei mir ist, sage ich ihm, dass du hier bist. Er soll unverzüglich dafür sorgen, dass jemand zu dir kommt. Ist's recht so?"
„Aber unter keinen Umständen mehr schreiben als, er solle dich besuchen. Denn Wilhelmshaven liegt unter scharfer Briefzensur. Auch mache dir nicht die Mühe, selbst nach Wilhelmshaven zu fahren. Das wäre zwecklos, weil kein Mensch von außerhalb, der nicht einen Pass von der dortigen Kommandantur in Händen hat, die Stadt betreten darf! Kapiert?"
„Jawohl", scherzte Mignon. Draußen hörte man Schritte und freundliches Sprechen.
„Also, Mignon... "

Die Zimmertür öffnete sich, und mit einem „Guten Abend!" trat Friedel in die dämmerige Stube. Hinter ihr folgte die Rotkreuzschwester und schaltete das Licht ein. Musternd blickten Friedeis Augen aus dem freundlich eingestellten Gesicht. Heinrich ging ihr entgegen und begrüßte sie, obwohl er das Gezwungene bereits ihrerseits fühlte. Die Zeit war merklich vorgeschritten. Er hatte es fertig gebracht, Friedel durch unbefangene Fragen in die scherzhaften Erzählungen seiner Freundin hereinzuziehen. Ihre Kühle, mit welcher sie in die Stube eintrat, war getaut. Ihr ganzes Wesen floss mit Mignons Lustigkeit.
Die Rotkreuzschwester hatte den Tisch gedeckt und ging, um das Abendessen aus der Küche zu holen. Unerwartet richtete Friedel an ihren Bruder die Worte: „Hein, nach dem, was mir Else mitteilte, musst du unbedingt weg von hier ... " Heinrich und Mignon schauten fragend. „Ich verstehe dich nicht, Friedel!"
„Ich meine, du solltest klug sein und entweichen. Denn so eine günstige Gelegenheit wird dir nie wieder geboten."
Ernsthaft kam Mignon dazwischen: „Warum zögerst du noch, Hein? Weg von hier, und das so schnell wie möglich!"
Friedel bekräftigte die Worte seiner Freundin. „Hein, verlass dich auf mich!"
Wieder drang Mignon auf ihn ein: „Dass ich alles aufbiete, damit du weg- und sicher unterkommst, das weißt du! Also entschließe dich doch!"
Die aufrichtige Liebe der beiden rührte ihn. Ergriffen stand er auf. „Kinder! Was denkt ihr, wie es der Else erginge, wenn ich eines Tages von hier verschwunden wäre?" Dann fragte er noch mal eindringlich: „Habt ihr mal daran
gedacht?"
Und während beide still vor sich hin sahen und Mignon nervös an ihrem Ring spielte, sprach er hohl: „Sie käme wegen mir ins Zuchthaus!" Mignon schüttelte sich. Erdrückende Stille war eingetreten.
„Aber!" ermunterte Heinrich, „ich werde die Karre anders schieben. Nur keine Überstürzung, meine Damen!" Die Krankenpflegerin kam mit dem Abendessen.
Plötzlich fragte Heinrich: „Sakrament! Else, hast du nach dem Posten draußen gesehen?" „Längst besorgt."
Es war schon spät in der Nacht, als Mignon und Friedel sich verabschiedeten. Wohltuend legte sich Zufriedenheit auf Heinrich. Denn der Stein war ins Rollen gebracht.


10.

Es war ein schöner Abend. Heinrich schaute aus seinem Fenster und sann. Die Tür der Gefangenenstube wurde geöffnet. Erst als jemand über die Türschwelle stolperte, drehte Heinrich das Licht an.
Zwei Matrosen, einer von S. M. S. „Prinzregent Luitpold", der andere von S. M. S. „Friedrich der Große" stürmten auf ihn ein. „Hallo, Hein! Servus!" Wie die Taue an Bord, so fest ergriffen sie seine Hände und schüttelten sie. Dabei weiteten sich die Züge ihrer glattrasierten, wettergebräunten Gesichter, dass sie in Begeisterung glitzerten. Ein Strudel besorgter Fragen zog Heinrich in tiefe Rührung. Kein Wort brachte er heraus. Endlich kam er zur Fassung. „Was, ihr seid schon hier?" Groß schaute er in die seeklaren Augen seiner beiden Freunde.
Der Posten hatte zwei Stühle angeschleppt und entfernte sich grinsend. Die Seeleute warfen ihre Mützen auf den Tisch, rückten die Stühle nebeneinander und setzten sich. Heinrich löschte das Licht und nahm vor ihnen Platz. „So! Abgeblendet ist's besser!"
Der vom „Prinzregenten Luitpold" bot Zigaretten an und reichte Feuer. Dann fragte er gedämpft: „Wie sind die Posten, Hein?"
„Treue Jungs! Heizer von der alten ,Emden'."
Heinrich zog kräftig an seiner Zigarette. Und versicherte: „Uns stört keiner, dafür sorgen die schon! Wie lange bleibt ihr hier?"
„Voraussichtlich morgen laufen die Wilhelmshavener Schiffe nach der ,Bucht'!"
„Aa-h!" Hein staunte, „eure Pötte liegen hier?"
„Mein Prahm liegt hier draußen an Boje elf, der ,dicke Fritz' schwoit an Boje acht!"
„Donnerkiel! Das hat ja fein geklappt! Sagt mir, wie war das möglich, so schnell möglich geworden?"
Nun erzählte der von „Friedrich dem Großen": „Am vergangenen Montag stand ich in Wilhelmshaven als ,Posten vorm Schiff. Da kam einer von der ,Nassau'-Besatzung zu mir und hat gefragt, ob ich ihm sagen könne, in welcher Division der Matrose Max Reichpietsch sei. Als ich ihm sagte, das wär ich selbst, gab er mir einen verschlossenen, aber unfrankierten Brief. Während er mir erzählte, von wem er diesen Auftrag bekam, betrachtete ich die Handschrift der Adresse auf dem Kuvert. Da ist mir ein Licht aufgegangen. Ich hab erkannt, dass die Handschrift auf dem Briefumschlag die deine war. Ich hab dem ,Nassauer' gesagt, er soll gleich nach dem Südhafen laufen und dem Matrosen Albin Köbes an Bord des ,Prinzregenten', zweite Division, sagen, dass er sofort zu mir kommen solle. Noch am selben Abend, nachdem ein Kamerad meine Wache übernommen hatte, haute ich mit dem Fährboot nach Eckwarden ab. Dann fuhr ich über Nordenham nach Blexen. Von da aus ließ ich mich über die Weser setzen, und um zwölf Uhr nachts war ich bei Mignon!" Der Matrose zog seine Zigarette in Glut. „Allen Respekt vor dem Mädel! Als sie hörte, ich sei da, ließ sie alles stehen und liegen und lud mich ein. Sie gab mir erst zu essen und zu trinken. Dann sagte sie mir, wo du bist und dass sie am Sonntag bei dir war, dass sie den Brief an mich dem ,Nassauer' gegeben hatte, der noch damit am selben Tage nach Wilhelmshaven gefahren ist!" Der Matrose warf seine Zigarette weg. „Hein! Ich bekam Hochachtung vor dem Mädel. Sie hat geheult und gelacht vor Freude. Und bat mich, wir sollen doch sorgen, dass wir dich zur Flucht bewegen können. Ich versprach's ihr, damit sie Ruhe gab. Dann reiste ich zurück. Mittags war ich wieder an Bord. Max lief sofort von Schiff zu Schiff und ließ eine Versammlung der Vertrauensleute einberufen. Und des Abends in unserem Lokal, das hättest du miterleben sollen! Als ich den Nichtsahnenden auf einmal Nachricht von dir gegeben hatte, da brüllte die ganze Bande los. Mich traf die alte Treue derart, dass ich mich einen Moment nach achtern verholen musste. Alle lassen dich grüßen. Und nun unsere Anträge!" Heinrichs Zigarette glich in der Dunkelheit einer glimmenden Lunte. Unheimliche Stille legte sich auf alle drei. Heinrich rückte sich zurecht und sprach: „Also, zur Sache!" Da berichtete der Matrose vom „Prinzregenten Luitpold":
„Hein! Als du auf Festung kamst, hast du zweierlei in Wilhelmshaven zurückgelassen: den revolutionären Zirkel und den Gedanken der Rache! Unsere Mitglieder überall, an Bord wie an Land, sprachen unter den Seeleuten von dir und von dem, was du eigentlich wolltest. Und sie waren erbittert über die ungeheure Strafe. Da haben wir den Hass gegen die Vorgesetzten entfacht. Und die haben ihn geschürt, aber zünftig! Der blödsinnige Dienst in der Flotte: Tag wie Nacht mit hungrigem Magen auf Kriegswache, und das noch auf Reede, und der Saufraß, mit dem die uns abfüttern, ist jedem, aber auch jedem zum Ekel geworden. Die Vaterländer sind ja verrückt! Stinken aus der Mannschaftskombüse die Steckrüben, dann riechen aus der Offiziersküche die Braten und die Zwiebelsaucen! Wir kriegen das verschimmelte Brot in Scheiben vorgeschnitten wie die Kinder. Aber die Offiziere fressen Semmeln und Weißbrot, soviel sie wollen! Beschwert sich von uns einer darüber, dann wird er eingesperrt! Knurrt man über den Hampelmanndienst, dann droht man uns mit dem Paragraphen der Aufwiegelung! Heimaturlaub kriegen wir bloß alle Jubeljahre einmal! Garnisonsurlaub gibt's nur bis elf Uhr! Da muss doch der Teufel rinhauen in den Bruch! Was meint denn die verrückt gewordene Gesellschaft eigentlich von uns? Sind wir vielleicht alte Weiber, die nicht mehr können! Oder, verdammt, sind wir Kulis!" „Albin, nicht so laut!" mahnte Heinrich. „Es ist doch wahr, wie diese Bande mit uns verfährt!"
Der Matrose hatte seinem Groll Luft gemacht und zündete sich eine Zigarette an. Im Schein des Streichholzes zuckten seine Backenmuskeln. Seine Augen flimmerten wild. Zähneknirschend flüsterte er: „Aber wartet! Wir werden euch schon kriegen, ihr Burschen, ihr großmäuligen!" Verbissen berichtete er: „Wir setzen demnächst wieder zur Aktion an. Dieses Mal aber muss die Aktion klappen. Wir scheuen vor nichts zurück! Und wenn die ganze Flotte mit Wilhelmshaven zu Scheiße wird, das ist uns wurscht! Das Volk entfesseln wir! Das haben wir uns geschworen!"
Plötzlich fragte er ruhig: „Hein, was meinst du? Der revolutionäre Zirkel will deinen Rat haben!" „Hm — wie steht's mit eurer Organisation? Wie ist euer
Plan?"
Nun ergriff der Matrose vom Linienschiff „Friedrich der Große" das Wort: „Die Zustände, wie sie jetzt auf unsern Schiffen herrschen, drängen uns mit Gewalt, zum Schlag gegen unsre Tyrannen auszuholen. Denn säumen wir noch lang, dann ist unsere Sache verloren, weil die Kameraden in ihrem Zorn keine, überhaupt keine Disziplin mehr anerkennen!"
Heinrich fragte: „Hat sich der revolutionäre Zirkel, seitdem ich in Gefangenschaft bin, ordentlich vergrößert?" „Selbstverständlich! Wir haben dann erst recht immer mehr neue Kameraden geworben, obwohl wir uns sehr in acht nehmen mussten. Und heute haben wir nicht nur einen Vertrauensmann wie einst, sondern durchschnittlich zehn auf jedem Großkampfschiff. Dazu kommen die Kreuzer mit der gleichen Zahl, die Minensuch-, die Vorposten-, die Torpedoboot- und die U-Boot-Flottillen. Dann folgen noch die Landformationen mit etwa fünfhundert Vertrauensleuten im gesamten!"
Heinrich forschte: „Und wie gedenkt ihr eure Kräfte zu
verwerten?"
„Wir haben vor, in diesem Sommer loszuschlagen. Und wir sind überzeugt, dass die anderen Kameraden in der Flotte ohne weiteres mitmachen!"
„Und wie ist euer Plan?"
„Das ist der alte!"
„Kameraden, mit dem bin ich nicht einverstanden. Wennschon, dennschon! Also hört mal zu, ich hab mir die Sache längst gut überlegt: Ihr habt von der allgemeinen Unzufriedenheit in der Flotte berichtet. Nun möchte ich wissen, ob die Kameraden der einzelnen Schiffsbesatzungen schon unter sich über die heillosen Zustände diskutierten."
„Aber natürlich! Zusammenkünfte in der Vorbatterie der Schiffe fallen gar nicht mehr auf!"
„Habt ihr darum schon daran gedacht, diese lose Masse mit der andern fest zusammenzubinden, zu organisieren?"
„Hein, wenn wir den revolutionären Zirkel verraten wollen, müssten wir dies tun, dann haben sie uns schnell beim Wickel!"
„Das ist Unsinn! Die andern müssen revolutioniert werden! Überlegt doch mal! Ihr berichtet mir von außerordentlich guter Stimmung eurer Bordkameraden! Ihr traut ihnen sogar zu, dass sie euch ohne weiteres helfen, wenn ihr aufbrecht! Also, organisiert sie!" Heinrich zündete sich eine Zigarette an und riet ihnen, gut aufzupassen. Dann begann er: „Unter den derzeitigen Verhältnissen in der Flotte ist es ratsam, wenn die augenblickliche Leitung des revolutionären Zirkels einen geheimen Aktionsausschuss aus den Reihen der Mitglieder bestimmt und dann dies in einer Vollversammlung des revolutionären Zirkels ohne Namensnennung bekannt gibt. Dieser geheime Aktionsausschuss muss die volle Verantwortung für die Mitglieder des Zirkels übernehmen. Er schafft Pläne und trifft Bestimmungen. Auch darf der Aktionsausschuss, der das Allerheiligste bildet, nur Bestimmten zugängig sein. Deshalb ist es erforderlich, dass der revolutionäre Zirkel neu organisiert wird. Und zwar folgendermaßen: Die Vertrauensleute einer Besatzung haben einen Schiffsobmann zu wählen! Die Schiffsobmänner eines Halb-Geschwaders oder einer Flottille bilden den Geschwader- oder Flottillenrat. Aus den Geschwader- oder Flottillenräten setzt sich dann der Zentralrat der revolutionären Hochseestreitkräfte zusammen. In gleicher Weise sind die Landformationen zu organisieren. Beide, der Zentralrat der revolutionären Hochseestreitkräfte wie der Zentralrat der revolutionären Landformationen, stehen in unmittelbarer Fühlung mit dem geheimen Aktionsausschuss. Sie erstatten Bericht und leiten seine Anordnungen weiter. Seid ihr so organisiert, dann beginnt ihr mit der Zusammenfassung der losen Masse. Und zwar in diesem Sinne: Die Vertrauensleute veranlassen auf ihren Schiffen oder in ihren Kasernen die Bildung eines Soldatenbundes, halten aber den revolutionären Zirkel geheim. Dieser Soldatenbund ist nicht zu radikalisieren. Er soll nur den Zweck unbedingter Solidarität ausreifen. Gelingt dieses Unternehmen, so ist er wie beim revolutionären Zirkel aufzubauen. Seine Spitzen sind allmählich mit den beiden revolutionären Zentralräten zu verbinden. Dann, wenn die Sache so weit gediehen ist, rat ich dem Aktionsausschuss, die Parole zum Angriff zu geben: Die Flotte muss anfangen. Die Mannschaften überrumpeln nachts die Offiziere und Berufssoldaten und setzen sie gefangen. Die Schiffe sammeln sich auf Reede, mit schussfertiger Breitseite auf Wilhelmshaven gerichtet. In dieser Stunde müssen sich die Landformationen erheben. Die beiden revolutionären Zentralräte schließen sich sofort mit der Leitung des Soldatenbundes zusammen und stellen sich mit ihren gesamten Kräften unter die Befehle des revolutionären Aktionsausschusses. Die Mitglieder des revolutionären Zirkels übernehmen die Führung der aufgewühlten Massen und leiten den Vollzug der obersten revolutionären Instanz. Erhebt sich irgendwo militärischer Widerstand, so ist er erbarmungslos niederzuwerfen. Bestehen aber hierbei Bedenken, so sind erst Parlamentäre nach dem Stationschef mit einem Ultimatum zu entsenden, worin er aufgefordert wird, binnen einer festgesetzten Frist die gesamte Marine-Nordseestation zu übergeben, widrigenfalls ganz Wilhelmshaven unter Geschützfeuer genommen wird. Auch ist in dem Ultimatum zu erwähnen, dass für die Parlamentäre Geiseln bestimmt sind. Steht die Marine-Nordseestation vor der so vollendeten Tatsache der Revolution, dann aber gleich vor allem anderen in die ganze Welt funken: ,Die deutsche Kriegsmarine hat sich gegen den Krieg erhoben.
Alle maritime Macht ist in Händen der revolutionären deutschen Matrosen. Soldaten des In- und Auslands, fallt uns nicht in den Rücken! Helft uns! Verweigert die Befehle zum Angriff! Wählt Euch Vertrauensleute aus den eigenen Reihen! Setzt alle Offiziere gefangen! Erhebt Euch mit uns, wie ein Mann! Es lebe der Friede! Nieder mit dem Krieg! Eure Kameraden der revolutionären deutschen Kriegsmarine.' Ebenso sind durch Flugzeuge im Land Flugblätter mit demselben Text abzuwerfen. Alle im Machtbereich befindlichen Kriegsgefangenenlager sind zu leeren. Die Verteidigung muss eisern ausgebaut werden. Na, das Weitere wisst ihr ja vom letzten Mal. Habt ihr mich verstanden?"
Die beiden Matrosen nickten. Heinrich nahm einen Schluck Wasser und endete frisch: „In ein paar Monaten bin ich auch wieder bei euch!"
Heinrichs Freunde wollten erstaunt fragen. Er aber winkte ab und schloss: „Also, arbeitet gut vor! Hier, nehmt das Programm! Verwahrt es aber gut!" (Den Umsturzplan hatte Heinrich in der vorigen Nacht heimlich niedergeschrieben.)
Seine Kameraden fragten ihn nun noch, ob er genug zu essen bekäme und ob er sonst was benötige. Heinrich verneinte. Die Seeleute verabschiedeten sich. Heinrich gab Grüße an den revolutionären Zirkel mit und mahnte, niemand zu sagen, dass er in Kiel sei. Während die Kriegsschiffmatrosen die Treppe hinunterhuschten, wusch sich Heinrich. Dann ging er nervös, eine Zigarette rauchend, in der dämmerigen Gefangenenstube hin und her...

Seit die beiden Leiter des revolutionären Zirkels bei Heinrich gewesen, war ihm die Gefangenenstube zur Folterkammer geworden. Eines Tages aber, als ihm seine Schwester Else zu wissen gab, dass der Professor sein Krankenblatt mit der Schlussbemerkung versehen habe, er würde als „dienstunfähig" seiner Strafkompanie zugestellt, und dass ihn der Professor wegen des schweren Augenleidens zur Begnadigung empfohlen habe, da atmete der Revolutionär auf.
Aufstoßen von Gewehrkolben! — Die Tür der Gefangenenstube öffnete sich. Ein Unteroffizier mit einer Armeepistole trat ein. „Sind Sie der Marinegefangene Hölzel, Heinrich?"
„Jawohl!"
„Los, raus!"
Heinrich folgte. Else und Friedel, ebenso die bisherigen Posten und das Dienstpersonal standen paff.
Vor der Gefangenenstube empfingen den Heinrich noch drei Soldaten mit Gewehr. Der Unteroffizier befahl ihnen: „Lad'n und sichern!"
Gewehrschlösser knatterten. Ladestreifen fielen auf den Boden. Dann schrie der Transportführer auf Heinrich ein: „Bei Fluchtversuch schieß'n wir Sie auf der Stelle zusammen! Verstand'n?"
Unmerklich zupfte die Friedel den Unteroffizier am Rock, zog ihn mit listigem Lächeln zur Seite und flüsterte mit ihm.
- Das hatte geholfen. Fast kameradschaftlich fragte jetzt der Aufschneider: „Hab'n Sie alles bei sich?" Dann winkte er die Treppe hinunter. Heinrich nickte noch mal grüßend nach seinen Schwestern und nach seinen Gönnern. Und der Gefangenentransport verließ die Universitäts-Augenklinik.


11.

Heinrich war wieder im Militärgefangenenlager Lügumkloster. Aber nach kaum zwei Wochen wurde er wegen des Krankheitsberichtes des Professors der Universitäts-Augenklinik nach dem Zentralgefängnis Berlin-Tegel zurücktransportiert. Wiederholt drang dort der Stabsoffizier der Militärgefangenen-Abteilung auf ihn ein, er solle doch versuchen, Dienst zu machen, desto eher könne er auf Strafunterbrechung oder Begnadigung rechnen. Heinrich wusste besser Bescheid... Endlich wurde er in Ruhe gelassen. Tage und Wochen vergingen. Ungeduld begann ihn zu quälen.
„Der Satan soll den Kerl hol'n! Hört der denn nichts? — Marinegefangener Höl-zel!"
Heinrich ahnte. Wild stürzte er aus seiner Zelle und schrie nach der Hauszentrale: „Hier, Herr Feldwebel!"
„Los, her, marsch, marsch!"
Heinrich sah den Besen, welcher ihm als blödsinnige letzte Sehprobe in Schienbeinhöhe über den Weg gelegt. Er aber rannte mit zusammengebissenen Zähnen blindlings darauf los... Klatsch! Mit seiner ganzen Länge schlug Heinrich auf das Linoleum der Galerie. Im Nu stand er aber wieder auf. Und lief toll vor Freude nach der Hauszentrale. Zack! — „Marinegefangener Hölzel zur Stelle!"
„Sie renn' auch noch die Kirch' im Dorf rum! Was?"
„Jawohl, Herr Feldwebel!"
„Los, auf die Kleiderkammer, marsch, marsch!" Wie von tausend Teufeln gehetzt, stürmte Heinrich die Wendeltreppe hoch. Nun sah er aber tatsächlich nichts mehr...
Ü berglücklich nahm er in seiner Zelle seinen blauen Kulianzug aus seinem alten Zeugsack. Und lachte. „Endlich, endlich — ihr — Lumpen!"

Aus Fabrikschloten wuchs schwarzer Rauch säulengerade ins explosionsschwangere Blau. Und unter erdrückender Schwüle seufzte das Arbeitsvolk: Flüche. Von heißen Arbeitsstirnen tropfte die Qual. Die Fahnen hingen schwer und matt. Kriegsbegeisterung erlosch immer mehr.
„Es geht ums Ganze!" schreien die Generäle. Rücksichtslos kommandierte der fette Feldmarschall Hindenburg dem verzweifelt ringenden Volk: „Aushalten!"
Das deutsche Große Hauptquartier bluffte: „Unsere U-Boote blockieren England! Der Brite muss sich ergeben oder verhungern. Darum, um Gottes willen, haltet aus!"
Neues Hoffen entfachte frischen Mut: Grimmig warf sich das Arbeitsvolk in sein schweres Joch. Zäh straffte es seine Muskeln — für den baldigen Frieden.
Aber im Westen zog es sich schwarz zusammen.
Gewittersturm bestrich kühl die heißen deutschen Arbeitsund Soldatenschädel.
Es ward finster...
Wut zuckte. Der Himmel flammte grell.
Ein Krachen, Grollen und Toben! —
Der Hochsommer 1917 hatte sich entladen! — Die furchtbare Sommeschlacht war verloren. Die Revolution in Wilhelmshaven galt als verraten.
Aber Heinrich wurde mit Strafmilderung um zehn Jahre und mit bedingter Begnadigung zur II. Matrosendivision entlassen.

 

Dritter Teil

1.

Das schwere Tor des Zentralgefängnisses öffnete sich. Heinrich trat in Begleitung eines Bootsmaats in die morgenfrische sonnige Freiheit. — „Hah!" — Heinrichs Herz pumpte Wonne durch den Körper. Seine Augen strahlten. Er fühlte sich wie ein Stier, der zum ersten Mal den engen Stall mit der Weide wechselte.
Heinrich zog kräftig an seiner Zigarette. Und als ob er Wein geschluckt hätte, so leicht klang aus ihm seine namenlose Freude. „Fünfzehn Jährlein!" „Was?"
„Ja ja."
„Und wie lange warst du eingesperrt?"
„Zwei Jahre."
„Mensch, das nennt man Schwein!"
Heinrich lachte. „Ich hatte halt für einen Pfennig Glück... "
Beide waren an der Tramhaltestelle angekommen. Der Maat stellte sein Gepäck ab und platzte heraus: „Beinahe vergessen!" Er gab dem Heinrich ein verschlossenes Kuvert. Heinrich riss es auf und zog fünfhundert Mark und die Visitenkarte seiner Freundin Mignon heraus. Er staunte zum Maat. „Kennst du sie? Du kennst sie?"
„Lies mal, was auf der Rückseite ihres Billetts steht!"
Heinrichs Blick hastete über die Zeilen. (Die hatte sein Freund Jann geschrieben!) Lachend griff Heinrich nach der Hand des Bootsmaats. Während beide sich nun als revolutionäre Freunde begrüßten, kam die Tramway. Mit den Worten
„Im Zug habe ich dir viel zu sagen" nahm der Maat sein Gepäck auf. Die beiden Seeleute bestiegen die Elektrische. So fuhren die beiden ins hastende Groß-Berlin.
Je mehr Heinrich in die Brandung der Weltstadt kam, desto mehr staunte er über das hohlwangige Leben der Straße. Die Frauen, ebenfalls in Wickelgamaschen, erschienen als Arbeiter, als Straßen- oder Eisenbahnschaffner. Die verwunderten sich aber darüber nicht mehr: Der Krieg war Gewohnheit geworden.
Heinrichs Zigarette war ihm in der Hand abgebrannt. Er zuckte. Verlegen lächelnd wandte er sich nach seinem Begleiter. „Was wolltest du mir alles mitteilen, Fritz?"
„Das hat noch Zeit bis morgen während der Reise, Hein! Heute sollst du erst mal wieder aufleben!"
Obwohl Heinrich etwas Schweres aus dem Klang dieser Worte empfand, begeisterte ihn doch die Besorgnis des Freundes.
Heinrich rauchte wieder und unterhielt sich lachend. Beide tauchten in dem schwärmenden Leben der Reichshauptstadt unter.

In dunklen Straßen summen wie Mücken die Menschen um illuminierte Kinos und Cafes. Lebenslust erwacht und säuft Leichtsinn. Berauscht schreit Lust: „Ma-rie, Marie, Marie... " Alle wollen leben, leben und leben mitten im Krieg! „Prosit! - Prosit! - Prosit!"... „Kapelle! - Bitte noch mal den Trauermarsch!"
Der Kapellmeister verneigt sich tief... „Bravo-o!" — Dann Totenstille. Und knöchernes Tippen: „... drei, vier!"
Aus dumpfem Wirbel schreit Verzweiflung. Die Menschen krampfen sich in wohligem Schauer. „Schluss! — Polizeistunde!"
Das Gesetz löscht Licht.
Die erregten Gemüter keuchen trunken. Dann schleicht die Demoralisation in die Wohnstätten der Kriegerwitwen...
Und morgens sagen dann die Kinder zum „Gast" der Mutter: „Onkel, nun schenk uns ein bisschen Brot!"

Verspätung einholend, raste der D-Zug (Berlin —Bremen — Wilhelmshaven) durch die ersten Morgenstunden. Während der Begleiter Heinrichs auf dem Polster lag und schlief, bot Heinrich der nachtkühlen Frühluft, die durchs geöffnete Coupefenster auf ihn stürmte, seine nackte Brust und die faltige Stirn. Er bis die Zähne zusammen. Denn er spürte Kraft, freie, elementare Gewalt. Und je wilder die Brise seine Haare zerzauste, je mehr zerstob die Windeseile die grauen Nebelfetzen, die sich in der ersten Nacht der wiedererlangten Freiheit als schwere Zweifel auf seinen revolutionären Geist gelegt hatten. Und als es hellte, da wollte er endlich wissen, was ihm sein Freund an der Tramhaltestelle vor dem Zentralgefängnis angedeutet hatte. Kurz entschlossen rüttelte er ihn an der Schulter und drang: „Komm hoch, Fritz!"
Unaufhaltsam eilte der Schnellzug durch die taufrische Ebene. Heinrichs Freund erhob sich gähnend und schaute fröstelnd nach dem wildflatternden Fenstervorhang. Die Sonne erschien am Horizont. Schlaf und Nüchternheit schwanden. Auch das Frühstück tat seine ermunternde Wirkung. Die Seeleute zündeten sich Zigaretten an. Dann fragte der Heinrich. „Also, Fritz, wie steht unsere Sache? Was wolltest du mir alles sagen?"
Der Freund schaute kaum merklich nickend nach Heinrich. „Unsere Sache steht schlimm... " Der Freund verstummte. Und starrte. Ungewisse dunkle Ahnung erregte den Heinrich. „Was heißt schlimm? Max und Albin haben mir doch in Kiel vor knapp drei Monaten über die sehr günstige Lage unserer Sache berichtet." Heinrichs Begleiter schwieg und schaute versunken... Von seiner Ungeduld gereizt, fluchte der Heinrich: „Verdammt! Ist was passiert? Ich will's wissen!"
Durch diesen Ton aus seinem Trauern gerissen, erwiderte der Freund klanglos: „Sie sind erschossen!"
Auf Heinrichs Stirn schwollen die Adern. Er schnellte hoch und ballte die Fäuste. Sein Antlitz verzerrte sich. Gleich aber fiel er zurück. Und schnaufte wie ein Ringender. Und zum ersten Mal in seinem harten Leben wurden die Augen dieses starken Mannes feucht.
Langsam versank Heinrich in tiefes Sinnen. Auch sein Freund saß regungslos.
Der Zug hielt.
„Hannover!" Kein Hurrageschrei erschütterte mehr die große Bahnhofshalle. Die hübschen Rotkreuzschwestern von 1914 waren gealtert, ihre Lachmuskeln erschlafft. Die Bahnhöfe, einst Festhallen, waren Kirchen geworden.
Das Stadtbild zerriss. Ruhelos eilte der D-Zug weiter. Truppenzüge mit geschlossenen Fenstern passierten ihn. Die Heide schien grenzenlos. Ungeduldig räusperte sich Heinrich. In seinen Augen flimmerte Leben. Endlich hatte er sich aus seiner Trauer gerungen. Aufmunternd wandte er sich an seinen Freund. „Fritz, gib mir Feuer!" Erst aber nahm er einen tüchtigen Schluck aus der Flasche. Und dann forderte er: „So, Fritz, nun erzähle!"
Erleichtert begann Fritz. „Wir hatten uns schon darangemacht, nach deinem Plan zu arbeiten, den uns Max und Albin von Kiel mitgebracht hatten. Wir hatten schöne Organisationserfolge in kurzer Zeit erzielt. Aber nun kommt's. Was wir ängstlich befürchteten, traf ein: Die alten Leute der Schiffe, als die hörten, dass ein großer Umsturz in Vorbereitung wäre, schalteten in ihrer heillosen Begeisterung ihre Vernunft aus. Sie wurden zügellos. Und schäumten in ihrer Wut in Ausbrüchen gegen die Vorgesetzten über, was natürlich nichts anderes war als unbewusster Verrat. Früh genug griffen wir noch ein und mahnten ernsthaft immer und immer wieder zur äußersten Vorsicht und Selbstbeherrschung. Aber schon begannen einzelne Bordkommandos die aktiven Besatzungen mit Kriegsfreiwilligen auszuwechseln! — Bei dieser Beobachtung kamen wir zu dem Entschluss aufzubrechen. Hein! Der revolutionäre Zirkel wusste bestimmt, dass
er katastrophal endet. Denn wir hatten ja erst mit der groß angelegten, straffen Organisation begonnen. Aber! Das trieb uns: Die Flotte so nach und nach in die Hände unreifer, patriotischer Abenteurer abzugeben, die sich in ihrem nationalistischen Fimmel zum schwersten Verbrechen gegen uns gebrauchen lassen, das mussten wir unter allen Umständen verhindern. Wir saßen sozusagen auf der Schneide eines Rasiermessers! ,Biegen oder Brechen', das war die Parole des revolutionären Zirkels! Schon war der Tag des Aufbruchs bestimmt. Und der Satan wollt's: Vier Tage zuvor, da meutert auf See wegen einem stinkigen Hering der ,Prinzregent'. Und gerade der ,Prinzregent' mit dem Kopf des revolutionären Zirkels musste es sein, der auf die Falle der Offizierssippe einging. Himmelherrgottsakrament! Selbstverständlich stellten sich Albin und die anderen Mitglieder des revolutionären Zirkels sofort an die Spitze der Revolte. Aber kaum hatten die wütigen Kameraden das Schiff in ihrer Gewalt, da schmissen sie den Kommandanten und die Verschlüsse der Geschütze über Bord: Denn natürlich dachten sie, der Umsturz sei vollendet. Stolz und kühn steuerten die ,Prinzregentleute' die Jade herauf. Auf Reede vor Wilhelmshaven warfen sie Anker. Und während sie die Bordkapelle zwangen, die Marseillaise zu spielen, ging die rote Flagge hoch in die Toppen. Gleichzeitig holten sie die Kriegsflagge nieder. Und da donnerte das Freudengebrüll der Kameraden vom ,Prinzregenten' herüber zur Stadt und zum Hafen: In dieser kolossalen Stunde gärte der ganze Kriegshafen. Die Besatzungen von ,Friedrich dem Großen' und von ,Von der Tann', die zur Zeit im Hafen Kohlen übernahmen, verließen sofort ihre Schiffe. Und das hättest du sehen sollen: Die Heizer, halb nackt, barfuss in ihren Holzlatschen, nur das Schweißtuch um den Hals gewunden, die Matrosen im Kohlenanzug, alle schwarz, wie sie eben aus dem Kohlendreck kamen, zogen, in geschlossener Ordnung fest grölend: ,Auf, Sozialisten, schließt die Reihen ... ', nach dem Exerzierplatz. Sakrament, Sakrament! Mir brennt's im Leib, wenn ich daran
denke! Auf dem großen Platz hielt Max eine wuchtige Rede und warnte mit der Todesstrafe vor jedem Verbrechen. Dann, nachdem er die Mitglieder des revolutionären Zirkels, die sich ganz von selbst bei ihm einfanden, beauftragt hatte, ihre Schiffe sofort wieder zu besetzen, auszuschleusen und auf Reede ständig see- und gefechtsklar abzuwarten, brachte er noch ein Hoch auf die Revolution aus. Und aus vieltausend wutentbrannten Kehlen dröhnte der Schrei nach Freiheit. Das war imposant! Aber... Kaum war das letzte ,Hurra!' verklungen, da knatterten ohrenbetäubend rings um den menschengefüllten Platz Maschinengewehre. Ein wildes Durcheinander entstand. Alle fluchten über die Halunken, die die Maschinengewehre bedienten. Und schon begann sich der rasende Menschenhaufen nach allen Seiten zum Angriff auszudehnen. Da sprang Max auf unsere Schultern und schwenkte sein Hemd, das er sich schnell ausgezogen. Sofort hörten die Schreckschüsse auf. Und gleich schrie er: ,Ka-mera-den! — Ha-a-lt!' Der Haufen zog sich allmählich wieder dicht um ihn. Als die Kameraden ruhig waren, hielt er eine scharfe Rede, in der er vor einem nutzlosen Blutvergießen warnte. ,Denn wir haben keine Waffen. Wir müssen uns ergeben, oder die Verräter schießen uns alle zu Dreck. Kameraden! Verliert den Verstand nicht! Lassen wir es bei einer Demonstration gegen die erbärmliche Behandlung und den Hunger!' Seine Worte erreichten ihren Zweck. In vollständiger Ordnung, wenn auch mit wütigen Blicken, sind die Kameraden nach ihren Schiffen gegangen. Anders fiel die Sache des ,Prinzregenten' aus: Albin ließ sich mit noch fünf Mitgliedern des Zirkels an Land setzen und begab sich nach dem ,Kaiser Wilhelm II.', auf dem der Flottenstab war. Die Kommission erstattete Bericht und überreichte dem Flottenchef ein Schreiben der ,Prinzregent'-Besatzung, in dem sie ihren Unwillen äußerte und den Stab aufforderte abzudanken, widrigenfalls der ,Prinzregent' gesprengt werde. Gleichzeitig trafen Seeleute anderer Schiffe auf ,Kaiser Wilhelm II.' ein und äußerten ebenfalls ihren Unwillen. Und ver-
langten Straffreiheit für alle Meuterer, andernfalls sich ihre Schiffe solidarisch mit dem ,Prinzregenten' erklären würden. Die Verhandlungen dauerten lange. Unterdessen sandten Max und Albin Vertrauensleute auf andere Schiffe und in die Kasernen, mit dem Auftrag, alle Vertrauensleute herbeizuholen. Aber schon waren sämtliche Ausgänge des Hafens gesperrt! Endlich machte der Flottenstab angesichts des Ernstes der Lage Zugeständnisse: Er beauftragte die Kommission, an Bord zu gehen und den Mannschaften zu erklären, dass der Flottenstab die Angelegenheit prüft und sofort für gute Verpflegung sorgt, falls der ,Prinzregent' unverzüglich in den Hafen läuft. Dies geschah. Aber noch am selben Abend begannen die Verhaftungen durch Marineinfanterie. Die planlose Revolte war niedergeschlagen. Max und Albin und ungefähr ein Drittel des revolutionären Zirkels sind vor das Oberste Kriegsgericht gebracht worden. Dort stellte sich heraus, dass es den kaiserlichen Schergen gelungen war, den Unwillen in der Flotte zum Ausbruch zu bringen, damit der geheime revolutionäre Zirkel sich zu erkennen gibt, um niedergeschlagen zu werden. Das ist denen gelungen: Von den fünf zum Tode Verurteilten wurden Max und Albin am siebenten September erschossen. Auf einen Teil der anderen Kameraden sind insgesamt über zweihundert Jahre Zuchthausstrafen verteilt worden, und der andere Teil unserer Freunde wurde mit langjährigen Strafen in die militärischen Gefängnisse gebracht. Aber der Tag der Vergeltung kommt! Und dann, dann werden wir unsere Rache kalt genießen!"
Der Schnellzug näherte sich der Wasserkante. Von See her fegten vom Sturm zerrissene schwarzgraue Wolken. Die verdunkelten den Tag. Und bald bespülte anklatschender Regen die Wagenfenster. Heinrich saß stumm. In seinem Hirn hatten die Worte des Freundes die Erkenntnis wach geschrieen: Rache ist nicht Revolution!
Traurig schaute er unter das Volk, wo aus Not die Demoralisation furchtbar hauste, wo jeder, wie in den schwarzen Baracken von Lügumkloster, sich nur von verwahrlostem
Selbsterhaltungstrieb leiten ließ und kein Interesse für eine große, alle befreiende, gemeinsame Sache zu hegen schien. Heinrich zweifelte an der Möglichkeit der Revolution.

In Bremen hatten die beiden Seeleute die Fahrt unterbrochen. Müde folgte Heinrich seinem Begleiter nach der Perronsperre. Ebenso wie das hastende Menschengewimmel rauschten die aufmunternden Worte des Freundes an ihm vorbei. Der Grund der Reiseunterbrechung schien ihm egal. Sie verließen die Bahnsperre. Der Freund spähte suchend umher. Dann stellte er sein Gepäck ab und nahm eine Zigarette in den Mund. Während er auch Heinrich eine anbot und ihm Feuer reichte, winkte er unauffällig eine Dame heran. Da — auf einmal — erschrak der Heinrich freudig. „Hallo, Mignon!" Er reichte ihr seine Hand, und — plötzlich schaute er versonnen vor sich hin. Besorgt nahm sie seinen Arm unter den ihrigen. Und mit festem Schritt führte sie ihn dem Ausgang der Halle zu.
Der stürmische Tag war verdämmert. In den Vergnügungslokalen tobte die Kriegsnacht: Granatendreherinnen in Seide, mit Radhut mit Pleureusen, und Infanteristen mit Fronterde und Blutflecken am Rock und Chansonetten in gelbschmutziger Spitzenwäsche, geile Schieber und großzügige Wucherer, alle johlten und rülpsten.
Ein Weib schrie auf!
Alle horchten auf eine Soldatenstimme. „Du elende Motte. Verhol dich, oder ich schieb dir die Augen blau!"
Klatsch, klatsch — das geohrfeigte Weib schrie auf wie eine Schiffssirene.
Tumult entstand.
Aus Nischen drängten sich Kriegsschiffmatrosen. „Was ist hier los?" Die Soldatenstimme schrie verbittert: „Dieser verwahrlosten Sau kollern schon die Zähne ins Glas vor Syphilis! Eine halbe Kompanie hat sie schon verseucht! Nun kommt dieser Mistkäfer auch noch zu mir!"
Ein Zivilist erhob die Faust nach dem empörten Soldaten.
Da aber kracht's! Die Vergnügungsstätte wurde zu einem „Kriegsschauplatz".
Stühle fielen! Geschirr klirrte! Unnachsichtlich hauten die Kriegsschiffmatrosen die Demoralisierten in die Flucht.
Dann sammelten sich die Soldaten. Heinrichs Freund begab sich ans Klavier.
Und Violinen begleiteten leise den Fritz. Und da — schaute der Heinrich gebannt, ergriffen: Er vernahm das Wimmern seiner revolutionären Kameraden aus dem Kerker. — Und Hass, der alte Hass gegen den Krieg — begeisterte ihn maßlos. Und da erscholl in gewaltigen Akkorden: „Dann steig ich gewappnet hervor aus dem Grab... "
Der Heinrich fror da in seinem Ergriffensein. Das Schöne packte ihn. Die Schlemmerstätte ward ein feierlicher Raum: Kriegsmüde Soldaten und genusssüchtige Urlauber starrten im Banne der „Marseillaise", des allumfassenden Geistes. Augen schlossen sich. Köpfe sanken schwer auf die biernassen Tische. Aber eine gewisse seelische Macht riss den Heinrich hoch. Mit Wucht, die alle erschreckte, schrie er: „Rache ist nicht Revolution! Revolution ist unerbittliches Aufpeitschen aller Unterdrückten aus ihrem Sumpf, aus ihrer Feigheit, ist unerbittlicher Kampf gegen die Volksverbrecher, ist Erobern der Menschlichkeit — ist Sühne!" Zornglänzende Blicke zuckten aus den strapazierten Soldatengesichtern.
Ein Freiheitslied erscholl. Heinrich erhob sein Glas und triumphierte: „Wie in Lügumkloster! Alle wollen... "
Vor einem geöffneten Coupefenster des Nachtzuges (Bremen— Wilhelmshaven) stand schmerzerfüllt Mignon bei Heinrich, seine Hand fest in der ihrigen haltend. Schon zog der Zug an. Noch einmal schüttelten sich beide die Hände. Dann riss Heinrich sich los, und mit einem „Leb wohl, Mignon!" sprang er in sein Abteil. Als der Zug die Bahnhofshalle verlassen hatte, da begann zwischen den beiden Seeleuten ein Gespräch über den neuen Aufbau des zerschmetterten revolutionären Zirkels in Wilhelmshaven. Nach vielen Erwägungen sagte Heinrich, der seinem Freund gegenübersaß:
„Fritz, der Krieg, nachdem er nun schon drei Jahre getobt hat, müsste nun noch so lange fortdauern, bis beide Gegner sich vollständig ruiniert hätten!"
Fritz schaute paff.
Heinrich aber klopfte ihm freundlich aufs Knie. „Ich meine (natürlich persönliche Gefühle werden ausgeschaltet), das Kultursystem unserer Zeit müsse man ruhig sich selbst zum Bankrott, zum Sturz entwickeln lassen. Dabei aber, was revolutionäre Organisation betrifft, über Wilhelmshaven hinaus, soweit wie nur irgend möglich, sie ausdehnen, so dass in der Stunde des Sturmes ein zielbewusstes, revolutionäres Volk das Geschick der Revolution bestimmen kann. Verläuft also der Weltkrieg in eine Weltkatastrophe, das glaube ich, dann sinkt auch der Militarismus der Entente mit lahmgeschlagenen Armen auf seine Trümmer, dann wird die Saat des Blutes: der revolutionäre Gedanke — nicht nur Wilhelmshaven oder Deutschland berühren, sondern die ganze kultivierte Welt umspannen!"
Die Stirne des Freundes runzelte sich. Heinrich erklärte: „Fritz, mir scheint, als kämen wir anders nicht zum Ziel! Betracht nur mal unabhängig von jeder Leidenschaft den Zeitgeist. Und du wirst einsehen, dass dieser grade so zerrissen und verdreckt ist wie sein jüngstes Erzeugnis: das Papierkleingeld. Was hat denn das für einen Zweck, wenn wir immer und immer wieder gegen das mächtige Gewaltsystem anrennen und jedes Mal erbarmungslos niedergeschmettert werden? Dadurch erreichen wir verdammt nichts. Wir machen bloß durch wiederholte Niederlagen dem arbeitenden Volk den Gedanken mundgerecht: Das geht doch einfach nicht. Davor müssen wir uns unter allen Umständen hüten. Deshalb meine ich: Man muss das Unkraut bei der Wurzel fassen. Und die steckt tief im Herzen des Arbeiters und Soldaten. Was hält denn überhaupt den ekligen Jammer unserer Zeit zusammen? Doch nur der unbedingte Gehorsam! Weil unsere Klassengenossen nicht der Furcht halber, sondern sogar von Gewissens wegen sich den unheilvollen Ereignissen
einfach fügen und weiter nichts anderes kennen, als sich höchstens mal verstohlen in den Bart zu knurren oder die Faust in der Tasche zu ballen, deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass sie sich erst mal die Hörner an der Stalltür ihrer Dummheit abrennen. Dann werden sie zur Besinnung kommen. Und dass in jener Stunde der allgemeinen Erkenntnis Männer zur Stelle sind, die die Geschicke der aufbrechenden Revolution leiten können, dafür zu sorgen, leben wir. Und deshalb sind wir die Revolutionäre. Also Fritz! Die gewaltsame Aktion muss im Programm des revolutionären Zirkels zurückgesetzt werden. In Wilhelmshaven fangen wir systematisch an mit der Aufklärung über die revolutionäre Idee. Und verbinden uns mit den Arbeitern im Land. Wenn wir so Hand in Hand zusammenarbeiten, dann wachsen wir so ganz natürlich zu einer Macht, die uns befähigt, das zu vollenden, wofür wir leben und leiden!"
Die Worte Heinrichs hatten tief auf seinen Freund gewirkt. Fritz stand auf und öffnete das Coupefenster. Dann, als die kühle Nacht in das verqualmte Abteil blies, atmete der Freund auf und erwiderte: „Hein, hast du denn eine Ahnung von den Schwierigkeiten, die deine letzten Worte enthalten?" Erstaunt fragte Heinrich: „Wieso? Ich verstehe dich nicht,
Fritz!"
„Das will ich dir erklären!"
„Aber Fritz! Schwierigkeiten hin, Schwierigkeiten her... " Ärgerlich betonte Heinrichs Freund: „Meinetwegen verwundere dich! Aber von wegen mit den Arbeitern im Land Hand in Hand arbeiten, das ist eine Illusion."
„Menschenskind, Fritz! Siehst du das denn noch schwärzer
als ich?"
„Lass mich ausreden, Hein!" „Mal los!"
Kopfnickend legte Fritz die Frage vor: „Weißt du denn, Hein, dass wir ohne weiteres mit der Sozialdemokratie in Konflikt geraten, wenn wir mit der revolutionären Propaganda an die Arbeiterschaft herantreten?"
Obwohl Heinrich seinen Freund heilig ernst nahm, musste er über ihn lachen. Gleich aber wies ihn Fritz zurecht: „Hein! Ich als altes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und als eingesessener Gewerkschaftsbeamter bin wohl in der Lage, das, worüber du lachst, als unumstößliche Wahrheit aufzustellen!" Verbissen, wie er seinen Freund noch nie gesehen, führte dieser aus. „Hein! Was weißt du von der deutschen Sozialdemokratie? Nix! Wo solltest du auch von ihr gehört haben!"
Verlegenheit rötete Heinrichs Gesicht. Aber er schwieg: Ihn verlangte, von einem alten Sozialisten über die historischen Vorgänge der Sozialdemokratie zu hören.
„Nebenbei bemerkt!" lenkte sein Freund ein, als er fühlte, dass er einem begeisterten Revolutionär zu scharf gekommen war, „wenn du auch kein in Marx, Engels und Bebel geschulter Sozialist bist, so weiß ich, Hein, dass du dich in deinem Geschäftsleben zum tatkräftigen Handeln entwickelt hast. Und weil gerade Leute deines Schlages sich nicht in endlose Theorien verlieren und sich nicht durch das Beschnüffeln der verschiedensten Philosophen eine künstliche Denkart verschafft haben, auf die wohl Verlass in schwulstigen Reden ist, aber nie im zuverlässigen, kurzentschlossenen Handeln, deshalb hat es mich zu euch hingezogen. Und darum, weil ihr sogar den Mut aufbrachtet, euer Leben, eure Gesundheit und alles, alles, was euch persönlich lieb und wert war, aufzuopfern, darum habe ich die Sozialdemokratische Partei verlassen. Aber nun zur Sache!" Heinrichs Freund umschrieb in groben Umrissen die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Dabei baute er seine Ausführungen auf den großen Forschern des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, auf. Er entwickelte die Zeit, berührte dabei die I. Sozialistische Internationale und bemerkte hier, dass dieselbe im Jahre 1864 von Karl Marx gegründet wurde, dass sie aber nach der Niederschlagung der Pariser Kommune zerbrach, dass sich nachher doch wieder die Sozialisten aller Länder im Jahre 1889 in Paris zusammenfanden und eine II. Internationale ins Leben riefen, die bei Ausbruch des Weltkrieges aber ebenfalls zerschellte. Er verglich die bedeutungsvollsten historischen Ereignisse der deutschen Sozialdemokratie mit den Theorien der sozialistischen Gelehrten. Dann zog er ein gedrucktes Blatt aus der Tasche. „Das ist das Programm der Sozialdemokratischen Partei. Es ist im Jahre 1891 auf dem Parteitag in Erfurt beschlossen worden!" Er las. Ganz ausdrücklich hob er hervor: „Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomischen Rechte nicht entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz politischer Macht zu kommen. Dieser Kampf der Arbeiterklasse ist zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten. Und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen, das ist die Aufgabe der Sozialistischen Partei!" Nachdem Fritz das Programm gelesen hatte, stieß er grimmig aus: „Hein! Es ist ein Skandal, dass die Sozialdemokratische Partei all ihre gefassten und vereinbarten Beschlüsse und ihr Programm am 4. August 1914 verlassen hat! Was haben ihre Vertreter auf dem sozialistischen Kongress 1907 in Stuttgart gesagt? ,Die ganze sozialistische Macht gegen ein Verbrechen des Krieges!' Und 1912 auf dem internationalen Sozialistenkongress in Basel hat jene Partei noch mal gesagt: ,Falls ein Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.' Was aber hat sie gemacht? Die Kriegskredite hat sie bewilligt! Und für die Kriegsanleihen' agitierte sie!"
Heinrichs Freund setzte sich.
Draußen fing es bereits an zu tagen. Immer im gleichen
Rhythmus jagte der D-Zug seinem Ziel zu. Nach einer kurzen Pause fragte Heinrich: „Hat denn die deutsche Sozialdemokratie überhaupt nichts getan, um den Krieg in letzter Minute zu verhindern? Hat diese große Partei total versagt?" „Lieber Freund, vor dem Krieg war diese Partei vortrefflich. Sie war, wie du aus den Beschlüssen der internationalen Sozialistenkongresse gehört hast, Jahre im voraus über den Ausbruch des Krieges orientiert. Sie hat dementsprechend intensive Antikriegspropaganda betrieben. Und zwar so, dass man nicht an ein Zustandekommen eines derartigen Massenmordens glauben konnte. Aber — das ist ja die heillose Tragik — die Sozialdemokratie der ganzen Welt stellte sich 1914 auf den Boden der nationalen Verteidigung!"
Der Freund hatte geendet. Heinrich schaute sinnend vor sich hin und nickte kaum merklich. „Wo Menschen sind, menschelt's!" Dann zündeten sich beide Zigaretten an. Plötzlich unterbrach Heinrich die im Coupe schwebende Stille. „Was schert mich all das! Wir müssen und werden mit den Arbeitern Fühlung nehmen, basta!"
Kleinlaut stimmte Fritz zu. Heinrich fühlte, dass sein Freund doch die geeignete Person war, um den Kontakt zwischen dem revolutionären Zirkel der Kriegsmarine und dem revolutionären Geist im Lande herzustellen. Zuversicht strahlte aus seinem Gesichte, als er sich erhob und nach seiner Mütze griff. Der D-Zug hielt.
Während die beiden Revolutionäre in dem blauen Durcheinander des Reichskriegshafens verschwanden, mahnte der Fritz seinen Freund zur einstweiligen Vorsicht. Heinrich aber vermochte nicht mehr mit Worten zu antworten. Er roch Seeluft.

 

2.

Die II. Matrosendivision. Kommandogebrüll und Schrillen der Offizierspfeifen. Wie einst! Heinrich ging längs dem großen Exerzierplatz nach dem Gebäude seiner Kompanie. Erst als er das in Ausbildung begriffene „Jung Deutschland" mit dem hängenden Hosenboden wahrnahm, schaute er verwundert. Plötzlich hörte er eine raue Stimme: „Hein! Hallo, hallo!" Sein Blick traf einen Freund vom „Zirkel", der Rekruten trainierte und ihm zurief: „K. vier?" (vierte Kompanie). „Ja!"
„Mittag komm ich!" Heinrich nickte im Weitergehen. Sonne war aufgegangen.
Seme Kaserne: ehedem ein Bau, gefüllt mit lebenslustigem Gelärm. Und nun ruhig wie ein Totenhaus. Heinrich meldete sich zur Stelle. Dann öffnete er eine Stube der „alten Leute". „Leer?" Er schaute in die neben- und aufeinander stehenden Kojen. Vereinzelt lagen blaue Gestalten. „Abgelöste Wache?" Heinrich entfernte sich geräuschlos. Er öffnete die nächste Stube. Das gleiche Bild. Und so
alle.
Qual brannte in ihm. Er ging an das Korridorfenster und schaute in das kriegsfreiwillige Gewimmel auf dem Exerzierhof. Während seine Gedanken alte Kameraden suchten, lag der „Stamm" der Kriegsmarine, die protzigen, lederbraunen Gesichter, von Bord abgelöste Aufruhrverdächtige, müde in den Stuben und träumten: von ihren Schiffen, von den eingekerkerten und erschossenen Kameraden, von der Revolution.
Eine Tür quietschte. Mit verworrenem Haar, sich die Augen reibend, betrat ein Matrose den Flur. Vor Heinrichs Rücken blieb er stehen, staunte, rieb sich nochmals die Augen, und da platzte er heraus: „Ja, Hein? Ja, Hein... Servus!"
Fünf Minuten später war der tote Bau lebendig. Wie ein Lauffeuer pflanzte sich die Kunde von Heinrichs Ankunft durch die acht großen Kasernen der II. Matrosendivision. Immer mehr Seeleute kamen zu ihm. Jeder wollte ihm die Hände schütteln, jeder wollte ihn sehen, fragen und hören. Die Stubentür schloss sich. Lärm verstummte lange...
Dann strömten sie still auseinander. Scheu wichen die Rekruten. Die Parole zur ersten Versammlung des revolutionären Zirkels seit den Sommerkrawallen war für den Abend ausgegeben...

Vereinzelt, dann paarweise, dann geraume Zeit überhaupt keiner — so kamen die Revolutionäre, dann wieder vereinzelt, bis zuletzt noch eine Gruppe schweigend wie verspätete Urlauber in die menschenleere dunkle Gasse einbog und ihre Schritte vor einer alten Hütte verhallte, an der zwei patschnaßgeregnete Matrosen den Ankömmlingen ohne Aufforderung die Tagesparole abnahmen, bevor sie sie eintreten ließen.
Vom Kirchturm fielen acht Schläge, als Heinrich, von einer Regenböe geschoben, anlangte. „Sind schon alle da?" Während Heinrich seinen Überzieherkragen umschlug und das Regenwasser aus seiner Mütze schleuderte, antwortete der eine Posten. „Hundertzwei von Land, einige vom ,Derfflinger', vom ,Kaiser', von der ,Helgoland' und von der ,Baden'. Grad hundertvierundfünfzig Mann mit dir!" Heinrich verschwand in dem stockdunklen Hausgang. Die beiden Posten folgten. Die Tür schloss sich.
Und heulend trieb der Novembersturm peitschenden Regen. Laut gurgelten die Kanäle der Gasse.

In dem niederen Tanzsaal des ehemaligen Gasthauses „Zur Möwe" saßen in nervöser Erwartung die Mitglieder des revolutionären Zirkels. Ungeduld bewegte die Gemüter. „Schon längst acht Uhr! Was soll das bedeuten?" Die Tür öffnete sich. Höchstes Gespanntsein! Hinter zwei
Heizern folgte Heinrich mit ernster Miene. Ein „Hurra!" erscholl, und zwar so, als ob ein Küchenschrank, gefüllt mit Glas und Porzellan, umgefallen wäre. Stille herrschte.
Jeden einzelnen der Versammelten überlief es eiskalt. Denn ihr bester Freund, der Organisator des Zirkels, das erste Opfer, welches ihre gemeinsame Sache forderte, er, der zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war, der gestern nach Wilhelmshaven kam und trotz allem sie schon wieder zusammenrief, war mitten unter ihnen. Diese Gedanken hatten sich unwillkürlich entladen und bannten nun alle. Und erst als Heinrich anfing, den nächsten die Hände zu schütteln, da vermochten die Seeleute ihre Kameradschaft nicht mehr zu bändigen:
Stühle fielen. Darüber hinweg drängten die Stürmischen. Ein Zwängen und Schieben! Und Jubeln! Endlich schrie Heinrichs Begleiter, jener Torpedobootheizer, mit dem Heinrich die Aktion auf dem Linienschiff „Westfalen" unternommen hatte: „Ruhe!" Und alle, ob älter oder jung, ob Gemeiner oder Maat, reagierten sofort. Respekt vor tatkräftigen Männern war Disziplin.
Heinrich spricht. Schauer gleitet über die freudigheißen Gemüter. Ihr Atem stockt. „Lügumkloster... " Zorn erhitzt den Willen.
Der Revolutionär schreit auf. Heinrichs Stimme verklingt, plötzlich. Sein Blick neigt sich. „Max und Albin... und die andern... "
Die lebenshungrigen Menschen kauern sich. „Ihr Andenken ist unsere Ehre!" Und da erhebt sich Achtung und Mut. Und furchtbarer Ernst kühlt die Leidenschaft. Heilige Stille!
Wie verwundet heult die Nacht. Die Tür öffnet sich.
Teeduft! Während sich Heinrich mit Fritz und Jann bespricht, rauscht im Saal die flüsternde Unterhaltung. Heinrich klopft auf den Tisch. „Kameraden! Seid nicht ungehalten darüber, weil ich jetzt schon gehe. Ich muss unbedingt um zehn Uhr in der Kaserne sein. Und überdies bin ich todmüde. Fritz wird mit euch noch verschiedenes besprechen. Erledigt es. Und beherzigt meine Mahnung. Immer Augen auf — und das Maul zu! Servus!"
Fritz, der die Leitung der Versammlung übernommen hatte, stellte fest, dass sich die Fäden des Zirkels trotz der erlittenen Katastrophe, wenn auch nur oft mit einem Kameraden, so doch wieder nach allen Truppenformationen der Marine-Nordseestation spannen. Mit besonderer Genugtuung schätzte er die Tatsache, dass nunmehr etwa zwanzig Mitglieder des Zirkels zum Rekruten-Ausbildungspersonal zählten. Und von allen Mitgliedern über fünfunddreißig sozialistisch organisiert waren. Dann erklärte er, dass vorläufig Stammlokale zu schaffen seien, welche die Marinemannschaften ihren Kommandos entsprechend gesellig zusammenbinden. „Dabei dürfen wir unter keinen Umständen vom Zirkel sprechen, denn sonst steht gleich wieder alles auf dem Kopf! Die entstandenen Stammlokale müssen mit dem Band der Landsmannschaft verbunden werden. Ferner sind die älteren Kameraden, die sozialistisch organisiert waren, auszusuchen. Ist diese Vorarbeit gemacht, dann erst organisieren wir das Ganze zum Umsturz. Mitglieder in den Zirkeln nehmen wir keine mehr auf. Nun sind noch zwei Vertrauensleute zu bestimmen, bei denen Weisungen und Nachricht, gegebenenfalls auch die Bekanntgabe von Versammlungen des Zirkels, abgeholt und Berichte entgegengenommen werden können. Den Kameraden, die heute nicht hier sein konnten, ist das alles bekannt zu geben. Tagesparolen werden nicht mehr ausgegeben. Telefon und Post sind in unserer Sache immer zu meiden. Nun schlage ich zwei Obermaate als Vertrauensleute vor. Einen für die Werft-, den anderen für die Matrosendivision."
Das war schnell erledigt. Aus praktischen Gründen bestimmte der Fritz noch, dass die beiden Gewählten bis sechs Uhr zu sprechen sind.
Die erste Versammlung war beendet.
Die Saat der Revolution wurde ausgestreut.


3.

Immer deutlicher machten sich die Abkommandierungen der „alten Leute" von Bord bemerkbar. Immer häufiger wurden sie in die zusammengeschossenen Matrosenregimenter in Flandern gesteckt. Wer noch an Bord war, traute sich nicht mehr zu mucksen. Die Aburteilungen der Meuterer des vergangenen Sommers hatten die Seelen der Marinemannschaften erschreckt. Heinrichs Freunde aber begannen mit ihrer Aufgabe von neuem. Durch die jüngsten tragischen Ereignisse belehrt, gingen sie klug zu Werke. Mit Hilfe ihrer besten Freunde bei den Kommandos flüsterten sie den Wunsch unter die anderen: Stammlokale zu schaffen, damit der Missgram endlich mal aufhöre und man sich trotz allem mit den Abkommandierten treffen könne. Die Anregung fand Anklang.
Kraft fing wieder an sich zu rühren: Der „Derfflinger" ließ sich in diesem Lokal nieder, die „Posen" in jenem, der „Prinzregent" verkehrte da, der „Hindenburg" verkehrte dort; die XL Torpedoboot-Halbflottille hauste im „Flottenkeller", ein anderes Kommando nistete sich bei „Mutter Böttcher" ein, ein anderes in der „Senfgurke". Die Wirte staunten. Der „Magnet an Land" wirkte auf die Gemüter der Kriegsschiffmatrosen. Die „Stammbeize" zog alle an. Hier fanden sich die alten Kameraden. Hier feierten die Flandernleute Abschied. Hier hingen bald die Wände voll Photographien der Gefallenen. Hier wurde erstaunt gefragt: „Wat, 's Blümmsche is g'fallen? Der is doch erst vor vierzehn Tagen von Wilhelmshaven weg nach Ypern?" Hier erhielt mancher Freund die überraschende Antwort: „In seiner Kompanie, da waren der Hans, das ,Hamburger Fittge', der Karl, die ,Butterbemme' und der Ernst von der Steuerbordwache und unser Botteliersgast bei, da ist keiner mehr vom ersten Angriff zurückgekommen. Bloß der ,Frankfurter Schorsch' kam vor ein paar Tagen mit dem Lazarettzug nach hier und liegt schwerverwundet im Garnisonschluns!"
Hier hallte bald Empörung an den Wänden. Und bitterer Groll festigte die Macht der Kameradschaft wieder — trotz alledem.
Heinrich begann mit der Revolutionierung: Er schuf aus jenen Mitgliedern des revolutionären Zirkels, die sozialistisch organisiert waren, eine eigene Gruppe. Fritz, sein politisch erfahrener Freund, suchte mit diesen Kräften „die Verkehrslokale" der Matrosen und Heizer auf und entwickelte sachte politische Gespräche. Unterdessen schloss Heinrich seine Freunde beim Rekruten-Ausbildungspersonal zusammen. Und half, auf die zukünftigen Bordbesatzungen revolutionären Einfluss auszuüben, damit der Plan des Flottenkommandos, die Zersplitterung der aufrührigen Elemente, von vornweg sabotiert sei.
Die Zeit glitt. Schon mischten sich die Rekruten vertraulich unter die „alten Leute". Verbissen zirkulierte die Frage: „Wie lange soll denn dieser verdammte Kriegsschwindel noch dauern?"
Allenthalben begann wieder das Knurren.

In einer frostklaren Dezembernacht hatte sich der revolutionäre Zirkel zu einer Vollversammlung in der „Möwe" eingefunden. Dreihundertneun Gesichter strahlten. Die beiden Öfen glühten...

Heinrich schloss seine Ansprache: „Nun wollen wir hören, was wir fertig gebracht haben!" Er verließ den Rednerplatz. Staunendes Flüstern: „Nanu?" Aus der Mitte des Saales aber drängte sich der Berichterstatter des Rekruten-Ausbildungspersonals. „... und die junge Mannschaft geht für uns durch Feuer und Wasser!"
„Bravo!" Dann sprach der Fritz als Referent der politischen Gruppe. „. . . Verbindung mit den revolutionären Reichstagsabgeordneten ist hergestellt! Wir stehen also in enger Fühlung mit der revolutionären Arbeiterschaft im Land ... "
Heinrich lächelte verständnisvoll. Alle hörten gebannt den weiteren Ausführungen des Fritz „... Für den bevorstehenden Weihnachtsurlaub bekommt also jedes Mitglied, das in eine größere Stadt oder in einen Industriebezirk reist, von den beiden Vertrauensleuten der Matrosen- und Werftdivision Instruktionen und Adressen mit!"
Endlich kam der Redner der Nachrichtengruppe zum Wort. „... Darum haben wir Signalgasten, Ordonnanzen und Stewards, die wir Einblick in die Geschäfte der Kommandostellen und Umgang mit den Offizieren haben, uns zur Pflicht gemacht, durch ständige Beobachtungen der Kommandos und der Vorgesetzten euer tatkräftiges Wirken zu schützen und zu stützen. Und dass kein Geheimbefehl ungelesen durch unsere Hände geht, dafür sollt ihr hier einen überraschenden Beweis haben!"
Der Matrose entfaltete ein Schriftstück. Alle Augen schauten auf seinen Mund. Er las:
„Kommandanturgericht Wilhelmshaven. An zweite Matrosendivision. Geheim. Aus Sicherheitsgründen ist der Matrose Heinrich Hölzel unverzüglich an ein isoliertes Kommando außerhalb Wilhelmshavens zu überweisen, Feuerschiff oder Leuchtturm. Retourbericht."
Blicke starrten nach Heinrich. Tumult brach aus. Heinrich erhob sich gleichgültig und mahnte zur Ruhe. Lärm verrauschte wie ein vorbeirasender Schnellzug. Heinrich sprach: „Kameraden! Nicht minder als euch hat mich die außerordentliche Tüchtigkeit unserer Freunde verwundert. Aber nun wollen wir uns wegen des zutage geförderten Geheimbefehls nicht in wirres Durcheinander verlieren. Kameraden!" betonte Heinrich, „die Gesellschaft bekommt es allmählich mit der Angst zu tun!" Heinrich erwähnte die Revolution der russischen Matrosen, Soldaten und Arbeiter. Er berichtete kurz von den revolutionären Geheimorganisationen im eigenen Land... „Das lasst euch sagen: Keiner ahnt aber auch nur im geringsten, was unsere Freunde im Reich um der Sache der deutschen Revolution willen auszuhalten haben. Mit seiner ganzen Gewalt wirft sich der Verbrecherstaat auf das erwachende Volk der Rüstungsarbeiter. Väter und Mütter, Kriegerfrauen und Kriegerwitwen, Kriegswaisen und unsere zu elenden Krüppeln zusammengeschossenen Kameraden werden herzlos in die Kerker geworfen, wenn sie allzu laut klagen. Kameraden! Dennoch aber stampft das arme Volk trotzig auf die Straße. Es hat sein Wertvollstes, sein Liebstes verloren! Unendlicher Schmerz frisst ihm am Herzen. Krieg dem Kriege, schreit das furchtbare Elend!" Heinrichs Freunde schauten, als hockten sie in einem Lazarettsaal voll Schwerverwundeter. Heinrich bekräftigte: „Wenn auch die Jammerbriefe der Heimat den Truppen vorenthalten werden, weil sie die Mordlust abdämpfen, weil sie unseren feldgrauen Kameraden klarmachen würden, dass sie ihr Leben, ihre Gesundheit für alles andere einsetzen, nur nicht für das, was ihnen von Jugend aus eingebläut wurde: für ihr Haus und Herd, für ihr Weib, für ihr Kind, so dringt doch der Geist der Revolution durch und schlüpft trotz Schutzhaft und Verfolgung in die Schädel drangsalierter Sklaven. Die deutsche Revolution marschiert! Wer von euch will an diesem jämmerlichen Geheimbefehl kleben bleiben?" Über die Gesichter der Zuhörer huschte Verlegenheit. Sie rückten sich zurecht und räusperten sich. Heinrich hob das Schriftstück in die Höhe. „Dieses hier ist uns weiter gar nichts als ein freudiger Beweis, dass unsere Arbeit klappt! Kameraden! Die bekommen Angst! Darum lasst uns mutig werden, mutig bis zum Tod!"
Nachdem Heinrich geendet hatte, ging er auf den in seiner Nähe stehenden Leiter der Nachrichtengruppe zu und schüttelte ihm herzhaft die Hand zum Dank und Glückwunsch für seine Gruppe. Mittlerweile wurden Tee und Rum ausgegeben. Und lebhaft fing es an zu murmeln.
Lautes Klopfen auf den Rednertisch. Dann der Ruf: „Ruhe!" Ein Heizer vom Flottenflaggschiff sprach. Sein Körper arbeitete wie beim Bedienen der Kesselfeuer. Wie schwere Kohlenbrocken schmiss er seine Worte in die Versammlung. Eine Zeitlang redete er ruhig über die allgemeine Lage auf der „Baden". Dann lüftete er die Begeisterung durch neue Vorschläge. Wieder warf er seine derben Worte unter die Zuhörer: „Das ist doch 'n Klacks! Machen wir uns mal dran, Deutschlands Stolz... zu organisieren. Und ihr werdet sehen, alle machen mit, sogar die Kackerlacks und die Bülschratten. Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser! Hähä! Also: Gehen wir auf die Schiffe!" Die Versammelten lachten.
Der Heizer aber, als er dies sah, haute auf den Tisch und schrie: „Ihr lacht? Das ist ja grad das Traurige! Macht's so, wie wir's gemacht haben. Dann könnt ihr grinsen."
Ein anderer Heizer von der „Baden" eilte zum Rednertisch. Während der erste mit grimmigem Gesicht nach seinem Platz ging, begann dessen Freund: „Kameraden! Ich bin erstaunt über unseren Jochen! Sonst muss man ihm, wenn er den Mund aufmachen soll, entweder auf die große Zehe treten, oder man muss ihm einen Schnaps vor die Nase halten. Und heute?" Der Redner sprach lachend nach seinem Freund: „Jochen, ich bin platt. Du hast deine Sache tipptopp gemacht!" „Sehr richtig!" tönte es durch den Saal.
Der biedere Heizer ließ sich erweichen: Er grinste. Dann führte sein Freund aus, dass Matrosen und Heizer der Besatzung des Flottenflaggschiffs tatsächlich, wie sein Bordkamerad angedeutet, sich zu einer revolutionären Gruppe zusammengeschlossen und ihn als Obmann gewählt hatten. „Diese Gruppe weiß vom Bestehen des neuen revolutionären Zirkels nichts. Sie wollten aber einen gründen und über die Flotte ausdehnen. Ich riet ab. Die Kameraden verständigten sich dann dahin mit mir, dass sie nur an Land in den Stammbeiseln agitieren. Also, im allgemeinen uns helfen, die große
Masse zu bearbeiten!" Der letzte Redner schloss. Dann ergriff Heinrich noch mal das Wort:
„Kameraden! Ihr habt gesehen, dass wir sicherer und doch schneller vorwärts kommen, wenn mehr die kalte Vernunft als die Gefühle walten. Durch das besonnene, kluge Arbeiten jedes einzelnen von uns haben sich die Verantwortlichen des revolutionären Zirkels einverstanden erklärt, einen Schritt weiter zu schreiten. Ich betone aber im Interesse aller, nun noch vorsichtiger, noch klüger zu sein als je zuvor. Die Mitglieder des revolutionären Zirkels schaffen bei ihren Kommandos an Bord wie an Land geheime revolutionäre Gruppen. Diese Gruppen leiten sie genau nach dem Muster des revolutionären Zirkels. Das Bestehen unseres Zirkels muss unter allen Umständen geheim bleiben. Wir betrachten uns als die revolutionären Zentralen der Marine-Nordseestation. Wir leiten und bewachen die ganze Revolutionierung. Wir sammeln alle hervorragenden Kräfte und führen mit diesen zuletzt den Umsturz aus und setzen zum Besten aller den Kampf durch! So, nun wieder ran ans Werk! Die nächste Versammlung des revolutionären Zirkels muss ebenfalls solche Erfolge aufweisen wie die heutige! Ich wünsche euch zum bevorstehenden Weihnachtsfest und zum Urlaub alles Erfreuliche. Kameraden! Lasst uns die Versammlung aufheben. Denn es tagt schon!" Bald war der rauchige Saal leer.
Heinrich bis die Zähne zusammen.

Im Schnee vor der Kaserne standen die „alten Leute" zum Appell angetreten. Aus der blauen Front leuchteten von strenger Kälte gerötete Gesichter und die nackte Brust. Kein Glied rührte sich. Nur die Mützenbänder flatterten.
Der Kompaniefeldwebel gab den Tagesbefehl bekannt. Dann nahm er einige Schritte mehr Abstand von der Front. Zynisch flog sein Blick an der stillstehenden Ungeduld vorbei. „Ein Mann für Vorpostenboot ,Polarstern'! — Rührt euch!"
Trampeln, Sich-in-die-Hände-Hauchen und Schnüffeln begann. „Wer meldet sich freiwillig?"
Die rauchenden Schornsteine der Kaserne! —
Der Feldwebel rieb sich die Faust in der flachen Hand und verzog frierend das Gesicht. „Wenn sich keiner meldet, bestimme ich einen!"
Heinrich trat aus der Front.
Wenn Heinrich sich auch mit sauersüßer Miene von seinen Kameraden verabschiedete, so freute er sich doch. Denn dem Geheimbefehl, ihn auf ein weltverlassenes Feuerschiff oder auf einen Leuchtturm zu verbannen, war er zuvorgekommen.

Der Kriegshafen starrte in Eis und Nacht. Vollmond stand hoch. Kälte glitzerte. Wie Gefunkel der Sterne zwinkerten elektrische Morselampen in den Masten der Kriegsschiffe: geheimnisvolles Tuscheln, sonst überall Ruhe.
Aus einigen Booten an der Pier der Nordsee-Vorpostenflottille drang das Kratzen der Kohlenschaufeln, dann das Zuschlagen der Feuertüren. Die Schlote fingen an zu qualmen.
Ü ber das Eisendeck des Führerbootes latschte, die Hände in den Taschen, den Kopf bis an die Augen mit einem Wollschal verwickelt, ein Matrose. Er kletterte auf die Kommandobrücke. Da flammte rotes und grünes Licht auf. Auch die nebenliegenden Fahrzeuge setzten die Positionslampen. Wieder klapperte einer über das Eisendeck: der Kommandant. Auf der Brücke murmelte er. Dann schrie er langgezogen in die Nacht: „Klar zum Manöver!" Aus den Luken krabbelten Seeleute. Leben rührte sich. Die Dampfpfeife brummte.
„Leinen los!"
Rasseln der Maschinentelegraphen. Die Schiffsschrauben fingen an zu arbeiten. Die Dampfer kamen von der Pier ab.
Bald war die Hafenausfahrt passiert. Zwischen riesigen Trümmern Treibeis dampfte die Sondergruppe der Nordsee-Vorpostenflottille seewärts.
Wohin?

In dem düstern Matrosenlogis auf dem Führerboot der „S"-Gruppe saß Heinrich mit noch zwei Kameraden rauchend um den Kaffeekessel, der in einem Haken zwischen ihnen pendelte. Polternd kam der „Läufer der Wache" den Niedergang herunter ins Logis. Er schüttelte sich: brrr! Während er die Salzwassertropfen aus dem krebsroten Gesicht wischte, brummte er: „Helgoland!" Dann stülpte er hastig eine Tasse heißen Kaffee in seinen durchfrorenen Leib und spöttelte ärgerlich: „Das gibt 'ne saubere Weihnachten!" Die Schiffsglocke schlug acht Glas. „Ablösen!"
Die neue Wache verließ den warmen Raum.
Heinrich wollte gerade einen Fuß an Deck setzen, als er schnell wieder zurückwich. Der Fischdampfer hatte übergeholt. Und eine riesige Welle stürzte an Deck. Unten im Logis fiel Schlag auf Schlag: Bänke und der schmale Tisch wälzten sich vom Rücken auf die Seite, von der Seite auf den Rücken. Dazwischen rannten Teller und Tassen von einer Wand zur andern. Und der Kaffeekessel schaukelte. Die Seeleute lachten. Denn die Haut war ihnen trocken geblieben.
Endlich war das Wasser abgelaufen. Ein paar Sprünge mit gekrümmtem Rücken, und Heinrich war auf der Brücke in seinem Element.
„Ha! — Wie es hier oben bläst! Wie sich der Busen des Meeres hebt und senkt! Wie gewaltig die Freiheit rauscht!"
Heinrich verspürte die eisige Brise nicht. Das Weite, das Unendliche tat ihm wohl. Aber die Sonne wurde finster. Möwen kreischten. Sturm heulte auf.
„Kurs Nordwest!" tönte es monoton von der Brücke ins Ruderhaus. Gegen Abend fing das Meer an zu gären.
Treibminen wurden gesichtet. Sturm wurde Orkan. Es
war Nacht. Achtzig Seemeilen nordwestlich Helgolands: auf Vorposten!
Zäh arbeiteten Schiff und Menschen. „Wenn es bloß wieder Tag wäre!"

Die Bestimmungsorder an die „S"-Gruppe war in der Nacht durch Funkspruch von Helgoland auf dem „Polarstern" eingetroffen: „180 Seemeilen nordwestlich Helgolands Fahrstraßen VI bis X außerhalb Hauptminensperre abpatrouillieren. Mittelmeer-U-Boote erwarten. Bis Punkt ,R' Geleit geben. Dann Patrouillendienst außerhalb bis Abruf."
Wie ein gepeinigtes Ungeheuer stöhnte das aufgewühlte Meer: Gischtzischende Sturzwellen bäumten sich. Bald lag der Dampfer erschreckend auf der Seite, bald stand er auf dem Kopf. Die Seeleute auf der Brücke hielten und sträubten sich krampfhaft. Da — ein Ruck durchs ganze Schiff! Die Maschine stoppte. Das Vorpostenboot steckte in gurgelndem Schaum. Die Menschen starrten entsetzt.
Aus allen Nieten und Spanten ächzend, hob sich der Dampfer zitternd aus dem zusammengestürzten Wellenberg. Ohrenbetäubend rauschte die See von Deck. Es knackste und brach: Das Rettungsboot war zerschlagen, die Planken waren weggespült. Der „Polarstern" konnte nicht mehr gegen die See an. Er trieb! Die Pumpen fingen an zu arbeiten.
Die Heizer atmeten auf: „So 'n Sauwetter!"
Und Heinrich brüllte: „Dieser Saukrieg!"

Zwei Wochen schon in feindlichem Gewässer spähte der „Polarstern" nach den gemeldeten heimkehrenden Mittelmeer-U-Booten, um sie sicher durch die Minenfelder zu bringen.
Ununterbrochen lechzte die See nach Leichen. Wie Glassplitter spritzte das eisige Salzwasser den Vorpostenleuten ins Gesicht. Sturm heulte schon tagelang zum Verrücktwerden. Auf weißkämmigen Wellenbergen trieben Kisten, Fässer, Wrackstücke und — wilde Minen.
In einem fort krachten Gewehrschüsse von der Brücke des
„Polarsterns". Wieder sträubte sich Heinrich mit angelegtem Gewehr gegen die Brüstung. Seine Finger waren krumm gefroren. Egal! Es galt, Tod zu vernichten, darum zielte er. Krach! — Dann schnelles Ducken und atemloses Warten. „Nix war's!"
Wieder spannte er das Gewehr. Bedächtig balancierte er mit dem Schwanken des Schiffes und zielte. Krach! — Köpfe verschwanden hinter der Brüstung. Die Menschen schmiegten sich zusammengekauert aneinander. Herzen klopften in Erwartung. „Na?"
Wu-um!
Die Glieder krampften sich. Eisensplitter schwirrten durch die Luft. Und hoch wie eine Kirche steht dreihundert Meter vom Schiff eine weiße Wassergarbe aus der wilden See.
Donnernd stürzte sie zusammen.
Das Meer blähte sich.
Die zwanzigste Seetreibmine des Tages war abgeschossen.

Mit einem Kommissbrot unter dem Arm, in der einen Hand den Kaffeekessel voll Grog, mit der freien Hand sich festhaltend, so schlich Heinrich von der Kombüse auf der Leeseite über das dunkle Deck nach dem Logis. Ihm folgten seine beiden Wachtkameraden mit dem Essen. Es war Abend vor Weihnachten. Trüb brannte die Lampe im Mannschaftsraum. Wortlos aßen die Seeleute. Wortlos stülpten sie den heißen Grog in sich. Die abgelösten Heizer hatten keinen Bissen angerührt. Todmüde lagen sie in ihren Kojen.
Bald schnarchten alle. Plötzlich schrie einer von Deck ins Logis: „Treibminen! Treibminen!"
Aber unten schliefen alle fest.
„Kameraden! Treibminen an Back- und Steuerbord! Kameraden! Schnell an Deck!"
Die abgelösten Heizer und Matrosen lagen wie bewusstlos. Im triefenden Ölzeug stolperte der „Läufer der Wache" herunter ins Logis, sprang von Koje zu Koje und riss je-
den aus dem Schlaf und schrie und schrie: „Kameraden! Schnell an Deck! Minen!"
Draußen an der Bordwand rumpelte es... Da zerrte jeder die Schwimmweste aus der Koje. Und — nur mit dem Hemd bekleidet, die Augen wild aufgerissen, stürmten alle an Deck und sprangen, die Schwimmweste in der Hand, über Bord.
Feuer blitzte!
Ein furchtbarer Luftdruck. Ein Fallen in Windeseile...
Die Detonation war vorüber. Der „Polarstern" war nicht mehr. Befriedigt gurgelte die gefräßige See. Blasen quirlten aus der Tiefe.

Während der „Polarstern" auf der äußeren Position im Orkan trieb, hatte der Chef der Nordsee-Vorpostenflottille die „S"-Gruppe funktelegraphisch nach Helgoland zurückgerufen. Schon längst lagen die drei Begleitboote des „Polarsterns" unter Schutz der Insel vor Anker. Ungeduldig wartete der Chef auf die Ankunft des Führerbootes. Bis er endlich den Befehl in die Funkerbude seiner Jacht gab, die im Hafen der Insel stationiert war, den „Polarstern" fortwährend anzurufen. Andauernd funkte der F.T-Gast der Flottille, bald schwächer, bald stärker: „Polarstern — Polarstern — Polarstern — Polarstern!"
Die Anrufe blieben unbeantwortet.
Dann, als am ersten Weihnachtsmorgen das Wetter abflaute und die drei Boote der „S"-Gruppe ihre Anker lichteten und wieder auf ihre Position dampften, flitzte mit forcierter Geschwindigkeit ein Torpedobootzerstörer durch die grünen Wogen, mit Kurs Nordwest!
Nach stark dreistündiger Fahrt meldete der Steuermann des Zerstörers dem Kommandanten: „Hundertfünfzig Seemeilen nordwestlich Helgolands!"
Die Antwort lautete: „Halbe Fahrt!" Sofort sank die Geschwindigkeit.
Die Kommandobrücke war voll besetzt. Scharf spähten Matrosen und Offiziere den Horizont ab.
Treibminen wurden gemeldet. Der Kommandant befahl: „Langsame Fahrt!"
Suchend kreuzte der Zerstörer weiter nach Nordwest. „Backbord voraus — wo Möwen kreisen — Wrackstücke!" meldete der Matrose im Ausguck nach der Brücke. Der Kommandant und der Steuermann steckten die Seekarte ab.
Wieder meldete der Matrose im Ausguck: „Voraus — wo Möwen kreisen — Ölfleck, Wrackstücke und treibende Menschen!"
Der Kommandant peilte durch sein Glas. „Richtig! — Dort im englischen Minenfeld! — Nebelsignal geben!" Wie ein gejagtes Wild, das nach seinen Jungen schreit, so heulte die Dampfsirene. Der Zerstörer fuhr mit Kurs auf die Wrackstücke. „Maschinen stopp!"
Rettungsboote wurden ausgesetzt. Behände nahmen die Kuttergäste Platz.
„Riemen los!" Und zack, zack, zack — folgten die Ruderschläge über das Minenfeld.
Die Unglücksstelle war erreicht. In einem Riesenölfleck trieben auf Schwimmwesten zwischen den Toten vier matt Lebende, denen auch schon der Tod aus den blaugefrorenen Gesichtern schaute. Schnell griffen lange Bootshaken nach ihnen. Schwer wie Blei, wurden die Geretteten in die Kutter gezogen. Ihre Glieder waren wie Holz.
Mit aller Kraft rissen die Matrosen an ihren Riemen, als gälte es, einen Rekord zu schlagen. Und bald waren die Kutter wieder längsseit des Zerstörers. Die Schiffbrüchigen wurden abgegeben. Und wieder ruderten die Zerstörermatrosen zurück ins Minenfeld. Die Leichen wurden gefischt.
Unterdessen halfen die anderen an Bord nach Weisung des Schiffsarztes. Der Arzt selbst und der Sanitätsgast reinigten den Schiffbrüchigen die vom Salzwasser weißgefressenen Verwundungen und legten Verbände an. Dann wickelten die Matrosen ihre geretteten Kameraden in dicke Wolldecken und betteten sie in die Kojen.
Mittlerweile waren die verstümmelten Leichen geborgen worden. Und wurden mit ihren umgeschnallten Schwimmwesten an Deck aufgestapelt, mit Tauen seefest gezurrt und mit der Kriegsflagge bedeckt. Dann ging der Arzt zum Kommandanten auf die Brücke und meldet: „Vier Mann gerettet! — Leicht verwundet! Fünfzehn Leichen! — Kommandant, Maschinist und der übrige Teil der ,Polarstern'-Besat-zung nicht aufgefunden!"
Der Maschinentelegraph rasselte.
Die Turbinen fingen an zu arbeiten. Der Zerstörer wurde durchzittert. Und da öffnete Heinrich die Augen. Er schaute fremd.

Die zähe Lebensenergie Heinrichs hatte ihm endlich wieder auf die Beine geholfen. Noch war er schwach. Noch durchzog rheumatischer Schmerz seinen Körper. Aber er rauchte und lachte wieder. Sein unerschütterliches Selbstbewusstsein, der allem trotzende Rebellengeist litt nicht, dass Schicksalsverfolgungen seine Lebenslust und seinen Lebensmut erstickten. Sein unverwüstlicher Humor äußerte sich recht kennzeichnend, wenn seine Freunde ihn bei ihren Besuchen im Lazarett zu bemitleiden anfingen. „Quatsch! — Beinah ist noch nicht ganz! Aber: Auf 'ne Leuchtboje in der Jade-, Weser- oder Elbmündung haben sie mich ebenso wenig raufgekriegt wie auf den ,Roten-Sand-Leuchtturm'. Und nun schicken sie mich auf Erholungsurlaub nach Kiel. Haha! Grade das Gegenteil von dem, was die Bande wollte, habe ich erreicht!"


4.

Heinrich wohnte bei seiner Schwester Friedel in Kiel. Es war Frühling.
Vier Wochen freier Mensch!
Das nützte Heinrich ordentlich aus. Er befand sich mehr
unterwegs als zu Hause. Oft bat ihn Friedel, er solle sich doch besser pflegen. Das waren Worte, zum Wind gesprochen. Noch nicht mal zum Essen traf er bei der Friedel ein. Friedel litt duldsam. Als er eines Nachts überhaupt ausblieb und erst am folgenden Mittag kam, aß und gleich wieder fortwollte, da bat sie: „Hein, tu mir den Gefallen und bleibe heute hier! Ich bitt dich. Denn Else...
Heinrich scherzte an der Türschwelle: „Friedel, nicht gar zu ängstlich!"
Er ging.

Vierzehn Tage schon lief Heinrich geschäftig wie ein Schnapsreisender in Kiel herum. In seinem Eifer vergaß er nicht nur seine leiblichen Beschwerden, sondern auch seine Schwester Else, die Krankenpflegerin. Nicht wenig verblüfft war er daher, als er spät nach Mitternacht behutsam die Tür seiner Behausung aufschloss und sie ihn da überrascht empfing: „Nun komm aber mal her, mein Freundchen!" „Ah, Else! Servus! So spät noch hier? Wie geht's denn?"
Heinrich ließ sie schimpfen. Aber als sie anfing aufzustampfen, „Bruderpflicht und Dankbarkeit hätten dich dazu treiben müssen, mich zu besuchen", da drückte er sich an ihr vorbei. An der geöffneten Tür der Wohnstube blieb er stehen. Im roten Lampenschein saß Friedel und schluchzte. „Guten Morgen, Friedel!"
Keine Antwort.
Er trat ein.
Ihm folgte Else. „Natürlich, Friedel findet ihren Gefallen an deiner Bummelei! Ihr steckt auch noch ihre Vergangenheit im Kopf!"
Heinrich wusste genug! Ohne die Rotkreuzschwester zu beachten, ging er zu Friedel. „Kopf hoch! Hör nicht auf die Else!"
Friedel fing vor Scham an zu erröten: Sie fühlte, dass Heinrich ihr Vorleben kannte. Weinkrampf würgte sie. Heinrich versuchte sie zu beruhigen. Vergebens. Sein Blick traf die Rotkreuzschwester. Mit beschwichtigenden Worten ging sie auf Friedel zu. Aber kurz befahl ihr der Heinrich: „Geh weg!" Auch zu Friedel wurde er ernst. „Wenn du nicht auf mich hörst, verlasse ich sofort das Haus!" Ihre Hände griffen nach ihm. Heinrich nahm neben ihr Platz. Dann aber kanzelte er mit ungeschminkten Worten seine Schwester Else ab. „... Ja! Weine nur zu, weil du aus einer erbärmlichen Bergmannshütte stammst! Aber! Unterstehst du dich noch einmal, der Friedel solche Vorhaltungen zu machen, dann bin ich dein Bruder gewesen!"
Heinrich hatte wieder die Else schwer getroffen. Friedel empfand Mitleid mit der Else. Sie stand auf, ging zur Else und schmiegte sich an sie. Heinrich aber blieb verbittert.
Längst war es Tag geworden. Die Rotkreuzschwester musste zur Klinik. In Reue aufgelöst, griff sie nach Heinrichs Hand. „Hein! Die Friedel ist mir ja auch wieder gut... " „Ich verzeihe dir, Else, zum zweiten-, aber zum letzten Mal."
Was Heinrich an seiner Schwester Else missfiel, das war ihre eifersüchtige Liebe zu ihm und — was dabei zum Ausbruch kam: ihr Standesdünkel. Immerhin erfreute ihn doch ihre Offenherzigkeit. Heinrich verglich seine Schwester mit seiner Zeit: Sie schien ihm „nur für sich selbst eingenommen" und oberflächlich denkend. Dennoch wollte er ihre Mängel nicht ausreifen lassen: Er besuchte sie noch am selbigen Nachmittag. Da war sie wieder fast wie ein Kind. Heinrich bemitleidete sie im stillen. Denn als er ihr versicherte, seine Vernachlässigung enthalte durchaus keine böse Absicht, da wurde sie rührselig. Und als er sie bat, ihn zu entschuldigen, wenn er nicht jeden Tag zu ihr kommen könne, er müsse nämlich wichtige Versprechungen einlösen, da war sie ohne weiteres bereitwillig.
„Aber wenn du Zeit hast, sag dann der Friedel Bescheid, dann treffen wir uns bei ihr!"

Mit dem Bündel Adressen, die ihm der revolutionäre Zirkel in Wilhelmshaven mitgab, hatte sich der Heinrich das militärische Kiel erschlossen. Er fand hier nicht nur den durch Kieler Schiffe von Wilhelmshaven nach der Ostsee übergetragenen Kameradschaftsgeist, sondern auch den Geist der Auflehnung gegen den Krieg: Der „ewige Krieg" war der Handlanger der Revolution geworden. Diese Tatsache blähte die Segel Heinrichs: Ruhelos wirkte er.

An den Wänden der Matrosenkneipen in Kiel prangten jetzt die Opfer der kaiserlichen Mordtat: Max und Albin. Unter dem roten Aufdruck: „Sie haben uns getötet, weil wir dir, Kamerad, helfen wollten!"
Haufenweise waren die schwarzumränderten Porträts der beiden Hingerichteten unter die Marinemannschaften der Ostseestation verteilt. Es brodelte: Heinrichs Arbeit gedieh. Bald hatte er mit Hilfe seiner Vertrauten einen revolutionären Zirkel Kiel mit weit über sechshundert Mitgliedern fundiert. Eine Nachtversammlung nach der andern fand statt. Heinrich referierte über 1915... „Das hätt man uns schon damals sagen sollen!"
Dann wies er den Kräften des Zirkels gewisse Funktionen zu. Und erteilte Instruktionen und Richtlinien. Der neue revolutionäre Zirkel wählte nun noch fünf Kameraden, die mit fünf Wilhelmshavenern den großen revolutionären Rat der Kriegsmarine bilden sollten. Damit hatte Heinrich seinen Auftrag erledigt. Die Revolution keimte.
Den Rest des „Erholungsurlaubes" widmete er ganz seinen Schwestern. Endlich kam der Tag der Abreise. Friedet und Else staunten, als eine halbe Kompanie Mariner dem ausfahrenden Zug Kiel —Wilhelmshaven ebenfalls nachriefen: „Wiedersehn, Hein!"


5.

Wieder in Wilhelmshaven, im Garnisonslazaratt! Der Flur vor dem Arztzimmer war voll Patienten. Wieder trat der Sanitätsmaat aus dem Zimmer, stellte sich auf die Zehenspitzen und rief mit gestrecktem Hals einige Namen auf. Sein Blick traf den Heinrich.
Schnell drückte er sich durch die Umherstehenden und reichte seinem Freund die Hand. „Wie siehst du denn aus, Hein? Ist dir etwas passiert?"
Heinrich lächelte — müde, schlapp. Der Sanitätsmaat ging ins Arztzimmer. Gleich kam er wieder auf den Gang. Er winkte. Heinrich folgte ihm. Und meldete sich bei dem Oberstabsarzt „vom Erholungsurlaub zurück". „Vom Erholungsurlaub komm'n Sie? Wie sehn Sie denn aus? Sie konnt'n wohl auch ihr'n Hals nicht voll genug kriegen? Was? Und sicher ein'n Modehundstripper mitgebracht! Mach'n Sie Ihre Hose vorne auf! Aber dalli!"
Heinrich bis sich auf die Zunge, um seinen Zorn über den Arzt bändigen zu können. Und öffnete seine Hose.
„Sie könn'n von Glück sag'n... Ich hätte Sie vielleicht anders als gewöhnlich kurier'n lass'n! — Dienst!"
Heinrich brachte seine Hose in Ordnung. „Drauß'n wart'n!"
Er verließ das Arztzimmer. Sein Freund brachte ihm die Papiere und begleitete ihn flüsternd bis an die Treppe.
Während beide sich verabschiedeten, hörte man Heinrich: „Lass sie doch ruhig die Teufelsküche mit Pulver heizen. Brenzlig riecht's schon. Nur die Gesellschaft in ihrem Wahn nicht stören."

Dass Heinrich wegen seines vorgetäuschten Augenleidens als „borddienstunfähig" galt, war bei dem Marine-Oberstabsarzt vergessen. Bestand doch die Reserve der Landfront zum größten Teil aus wieder zusammengeflickten Soldaten.
Heinrichs Versuch, sein formales Recht der Borddienstunfähigkeit zur Geltung zu bringen, war gescheitert. Drei Tage nach seiner Ankunft in Wilhelmshaven saß er wieder auf einem Vorpostenboot. Trotzdem hatte er Glück: Die „Brake" patrouillierte nur um Helgoland, auf der besten Position, und war das Vorpostenfahrzeug, welches stets zuerst in See abgelöst wurde.

Freudig beglückwünschten ihn seine Freunde, als er wieder ordentlich gekräftigt in der Nacht vor Pfingsten zu der zweiten Vollversammlung des revolutionären Zirkels erschien. Zuerst stellte Heinrich den Versammelten eine Arbeiterdelegation aus verschiedenen Städten des Binnenlandes vor.
Begeisterte Begrüßung lärmte. „Ruhe!"
Ein Arbeiter sprach: „Nicht weniger als sechshunderttausend Volksgenossen haben im vergangenen Januar allein auf dem Berliner Pflaster gezeigt, dass sie mit euch gehen wollen! Uns kann die ,Hindenburgspende' mit ihrem erbärmlichen Speck nicht mehr reizen! Unsere Geduld ist geplatzt! Bald wird sich das Volk der Arbeiter endlich die Kriegsmarmelade vom Maul abwischen! Helft uns, Soldaten!"
Die Matrosen schreien auf aus Verwunderung über die deutschen Arbeiter. Fritz sprach alsdann im Namen der revolutionären Kriegsmarine den Arbeitern den Dank aus für ihre Solidarität. Die Arbeiterdelegation verabschiedete sich in begeisterten Worten.
Nun stellte Heinrich die fünf leitenden Matrosen des revolutionären Zirkels von Kiel vor und erklärte, dass aus den fünf Kielern und aus fünf Wilhelmshavenern „der große revolutionäre Rat der Kriegsmarine" gebildet worden sei.
Im Saal tobte die Begeisterung.
Wieder erscholl: „Ruhe!"
Die Kieler berichteten: „Ganz besonders haben wir Wert auf die um Kiel liegenden Forts gelegt. Die Matrosenartillerie hat sich uns angegliedert. Sämtliche Forts sind unser!"
Freude schäumte in tosenden Beifallsrufen über... Jann gebot fortgesetzt Ruhe. Schließlich, als seine Stimme im Lärm unterging, sprang er nach dem Ofen, griff ein Scheit Holz und haute ein kurzes Schnellfeuer auf dem Rednertisch. Dann folgten die Berichte der einzelnen Gruppen. Mit der Parole, in der Flotte sowie bei allen Formationen wieder Vertrauensleute zu wählen, ging die Vollversammlung auseinander.

Immer deutlicher erschollen zwischen den die deutsche Front zermalmenden englischen Tankgeschwadern die Sturmhurras der herausgeforderten amerikanischen Truppen. Verstümmelte überschwemmten die Heimat.
Das Kriegsgas wütete! Aber trotzdem wurde die große Frühjahrsoffensive niedergeschlagen: Der Dolchstoß saß dem Deutschland zwischen den Rippen. Bis zum Hals standen die deutschen Generäle und Annexionspolitiker im Blut des Volkes. Und trotzdem logen sie: „Aus strategischen Gründen zogen wir uns zurück!" Sie versuchten, noch im letzten Aufzucken alles mit ins Verderben zu reißen. „Entweder wir siegen oder sterben!"
Schon hatten sie den Tagessold der Mannschaften von dreißig Pfennig auf eine Mark erhöht. Schon spendeten sie den Urlaubern Freifahrtscheine auf der Eisenbahn. Schon hatten sie ihre drakonische Militärjustiz bedeutend gemildert. Aber viel zu spät! Niederlage auf Niederlage folgte. Die Matrosen und Heizer der Kriegsmarine spotteten über die Offiziere und die „Siegesnachrichten".
Der Sommer 1918 stank von Leichen.
Der Gehorsam verweste.
Der Verfall düngte Empörung.
Die Revolution grünte.

Unaufhaltsam eilten die Missgeschicke der deutschen Fronten. Überall in der Marine-Nordseestation waren wieder Vertrauensleute entstanden. Die Mitglieder des revolutionären Zirkels in Kiel und in Wilhelmshaven arbeiteten „mit beiden Händen". Einzelne Schiffe hielten bereits an Land Geheimversammlungen ab. Anfang September entfernte sich der Heinrich heimlich von seinem Kommando. Freunde, die bei obersten Stellen der Kriegsmarine Dienst taten, versahen ihn mit Ausweisen. Und rastloser als je zuvor setzte seine Vorbereitung ein für das endliche Gelingen dessen, wofür sich schon so viele seiner Gesinnungsgenossen geopfert hatten.
Zwischen Kiel und Wilhelmshaven entstand ein atemloses Wetteifern. Heinrich und sein Freund Fritz (der sich ebenfalls selbst vom Kriegsdienst entlassen hatte) waren ständig unterwegs: bald in Kiel, bald in Cuxhaven, dann in Bremerhaven, in Emden, ab und zu in Hamburg, in Bremen oder in Oldenburg. Sie sicherten „die nasse Ecke" vor der Gefahr der Überrumpelung. Und allenthalben, wo Marinetruppen lagen, wurde organisiert. Die neugeschaffenen Stellen ließen sie dann von umsichtigen Mitgliedern der beiden Zirkel und schließlich abwechselnd von Vertrauensleuten der verschiedensten Formationen „ins Schlepptau" nehmen. Sie selbst besuchten in Wilhelmshaven an einem Abend die Geheimversammlung dieser Schiffsbesatzung, an einem andern Abend jene, dann sprachen sie wieder unter versammelten Torpedoboot- und U-Boot-Leuten, oder sie hockten in den Kasernenstuben bei den Rekruten. Kein Winkel in und um Wilhelmshaven wurde vergessen. Dazwischen fielen die Vollversammlungen des Zirkels, die jetzt wöchentlich stattfanden. Alles in einem: Sie hasteten unermüdlich.

Als ob der Altar, auf dem das arme deutsche Volk sein ganzes Glück geopfert hatte, in ein Nichts versänke, so wirkte das Waffenstillstandsabkommen der deutschen Regierung in der großen Marine. Unentwegt aber griffen Heinrich und seine Freunde zur Axt. Die Parole „Wer eigenmächtig etwas unternimmt, wird als Verräter beseitigt" war von den Mitgliedern des revolutionären Zirkels an alle Vertrauensleute der Marine-Nordseestation gegeben.
Vorsicht harrte.
Den Offizieren wurde es unheimlich. Es war Ende Oktober — nachts: Heinrich hatte ohne vorheriges Abmachen alle Mitglieder des revolutionären Zirkels und zum ersten Mal sämtliche Vertrauensleute zur dringenden Vollversammlung in die „Möwe" holen lassen. Das Haus war bis zum Brechen voll. Trotzdem herrschte Ordnung. Nachdem Heinrich durch etliche Freunde, die mit Armeepistolen ausgerüstet waren, das Haus gesichert hatte, erscholl seine Stimme: „Kameraden! Der revolutionäre Zirkel, dessen Bestehen viele unter euch vielleicht bloß ahnten, der hat euch rufen lassen, um euch die Verantwortung für das Leben aller Schiffsbesatzungen aufzutragen! Ihr wisst, dass von Deutschland ein Waffenstillstandsangebot an den Präsidenten der Vereinigten Staaten Nordamerikas abgesandt wurde.
Deutschland ist aufgerieben. Der Friede steht also bevor. Aber, Kameraden! Schon einmal hat uns die oberste Heeresleitung um den Frieden betrogen. Sie hat im Sommer 1916 das Friedensangebot der Entente abgelehnt. Und heute — heute soll sich ein letzter, der größte Betrug an uns wiederholen!"
Heinrich holte tief Luft.
Einige riefen: „Wir wollen's wissen! Sprich! Sprich!" Schmährufe auf die Offiziere und auf die Regierung dröhnten wild durcheinander.
„Ruhe! Kameraden! Ich mahne zum heiligen Ernst dieser Stunde. Unterbrecht mich nicht. Denn noch heute Nacht müssen in den Heizräumen der Schiffe die Feuer unter den Kesseln rausgerissen und die Befehlsleitungen demoliert und die Maschinen betriebsunfähig gemacht werden!"
Nur Atemzüge hörte man, wie ein Wind, der leicht den
Wald bestreicht.
„Kameraden! Nun wisst, warum das sein muss! Mitglieder des revolutionären Zirkels haben sich beim Chef der Hochseestreitkräfte Einsicht in einen Geheimbefehl zu verschaffen gewusst, in dem es heißt, dass die gesamten Streitkräfte zur
See den Engländer stellen müssen! Kameraden! Freunde von unserm Zirkel, die in der Postzensurstelle des Reichskriegshafens tätig sind, haben ganze Stöße Briefe in Händen, worin Offiziere offen aussprechen, dass sie eher ihre Schiffe mit Mann und Maus opfern, bevor sie sich ergeben! Kameraden! Weiter brauche ich euch nichts zu sagen! Jetzt geht — und handelt! Und seid gewiss, dass hinter euch der revolutionäre Zirkel von Kiel und der von Wilhelmshaven steht!"
Schnell leerte sich das Haus. Die Seeleute eilten auf ihre Schiffe. Und im frischen Winde des Oktober sauste der erste Hieb in den faulen Stamm des kaiserlichen Staats. Die Gluthitze des Krieges hatte die Revolution ergriffen.

Der Morgen brach an. Im Reichskriegshafen setzte fieberhafte Tätigkeit ein: Die Kriegsschiffe übernahmen Munition und Kohlen. Die Bordkapellen konnten sich nicht genug tun mit „Deutschland, Deutschland über alles... " und „Puppchen, du bist mein Augenstern... ".
Mit Bärenkräften arbeiteten die Seeleute. Denn diese Abwechslung erinnerte an die Vorbereitung zur Herbstreise in der Friedenszeit. Sie tat jedem wohl.
Allmählich passierte ein Schiff nach dem andern die Schleuse. Wie sonst! Auf Reede aber wehte „ein anderer Wind":
Von den Signalbrücken wurde eifrig über die ganze Flotte gewinkt: „man will sämtliche schiffe mit besatzung in see vernichten deshalb überall befehle verweigern — feuer unter den kesseln raus."
Schon hatten Matrosen und Heizer der „Thüringen" und „Helgoland", die an der Spitze fuhren, ihre Schiffe zum Stoppen gebracht und sie quer über die Fahrstraße gesteuert. Das war das allgemeine Kommando: „Halt!"
Während die beiden Linienschiffe die Ankerflagge hißten, winkte es von ihren Signalbrücken: „wir rechnen auf eure kameradschaft — befinden uns im meutern."
Und bald ließ ein Schiff nach dem andern seine Anker fallen. Die Einigkeit der Matrosen und Heizer wehte auf allen Schiffen hoch in den Toppen.
U- und Torpedoboote begannen die meuternde Flotte zu umkreuzen. Drüben schwenkten sich die schweren Geschütze der Küstenforts. Offiziere krochen aus ihren Kajüten und hielten Ansprachen. Die Mitglieder des revolutionären Zirkels und ihre Vertrauensleute aber schreien die Verräter nieder. Sie drohten mit Gewalt. Denn sie wussten, wer sie im Rückhalt stützte.
Da! — Im ernstesten Augenblick senkten sich die Geschützrohre der Küstenforts. Und über den Küstendämmen wehte das Flaggensignal: „nicht ergeben — hein!"
Gleich folgte ein Winkspruch von „Thüringen" und „Helgoland": „breitseite auf kreuzer und torpedoboote richten, schusssignal abwarten." Die böse Miene der meuternden Flotte wirkte: Sofort zeigte sich allenthalben die Flagge: freund!
Und achtzigtausend Kameraden jubelten siegesbewusst der
Befreiung.

Der Endkampf um die Macht fauchte. Zuerst versuchten die Offiziere, in kameradschaftlich gemimter Art ihre Schiffsbesatzungen zu übertölpeln. Als das aber nicht half, schlugen sie vor, man solle einige wählen, damit der Sachverhalt ruhig geklärt werden könne. Dazu gaben etliche Schiffe ihre Zustimmung. In diesem Augenblick gerieten die Berufssoldaten ins Schwanken. Ängstliche Elemente verbreiteten das Gerücht, der Chef des III. Geschwaders hätte ehrenwörtlich erklärt, die Flotte hätte nur bis Helgoland auslaufen sollen. Dazu kam, dass einige Offiziere mit Verhaftungen einzelner Meuterer einsetzten. Die ganze revolutionäre Aktion stand windschief!
In diesem kritischen Moment blinkte es vom Dach einer über die dunkle Stadt ragenden Kaserne: „eben geheimbefehl an flotte in händen, lautet: auslaufen unbedingt ausführen — antwort der flotte lautet: nicht ausführbar — verhindert verrat — setzt verdächtige gefangen, kiel ist wie ein mann — hein!"
Sofort wurden die Verhandlungen auf den Schiffen von den Meuterern abgebrochen. Die Mitglieder des revolutionären Zirkels und ihre Vertrauensleute und Freunde hielten die Schiffe fest in ihrer Hand. Sie bewaffneten die Mannschaften. Sämtliche Geschütze wurden schussfertig gemacht. Manche Offiziere liefen bereits mit zugeschwollenen Augen in ihre Kajüten. Einige erschossen sich. Die Krisis war überstanden. Die Schiffe liefen nicht in See!

Novembersturm briste auf. Vor den öffentlichen Gebäuden in Wilhelmshaven standen Doppel- und Maschinengewehrposten. Die Vertrauensleute der Landkommandos waren in der Nachtversammlung des revolutionären Zirkels. Man besprach den lag des allgemeinen Aufstandes. Plötzlich schrie es von der Ausgangstür des Saales: „Achtung!"
Während die Versammelten verdutzt nach der Tür schauten, sprang ein Matrose, in der erhobenen Hand ein Schreiben haltend, flink wie eine Katze über Tisch und Köpfe nach — dem Heinrich.
„Was ist?" — Diese Frage lag still und schwer im Saal. Endlich ging Heinrich zum Rednertisch: „Kameraden! Kiel hat sich befreit! Auf allen Schiffen, Gefängnissen und Kasernen weht die rote Flagge. Soldatenräte sind gewählt! Alle Macht liegt in den Händen unserer Kameraden!" Maßloser Jubel tobte. Heinrich erhob die Hand. „Kameraden! — Auch unsere Stunde ist gekommen! Jeder begibt sich sofort nach seinem Kommando und bereitet alles vor. Kein Schuss darf auf die Kameraden fallen, die öffentliche Gebäude besetzt halten. Denn ihre Wachthabende sind unsere besten Freunde! Bei Morgengrauen erheben wir uns. Widerspenstige sind zu verhaften! Kameraden! Auf zum Kampf."
Viertausend Vertrauensleute entsicherten ihre Pistolen. „Hurra! Hurra! Hurra!" Auf den Kasernen zwinkerten Morselampen. Sonst lag alles ruhig...
Noch in selbiger Nacht setzten sich die Mitglieder des revolutionären Zirkels und ihre Vertrauensleute mit allem Anhang in den Besitz der Kasernen. Um acht Uhr morgens wurden kurze Ansprachen gehalten, worin besonders vor feindseligen Handlungen gewarnt wurde. Von den Offizieren ließ sich keiner blicken. Die meisten Matrosen wussten nicht, was sich zutrug. In der zehnten Stunde dröhnte die Straße: An der Spitze einer Demonstration hatte Heinrich, mit einer roten Decke als Fahne, die Kaserne der Torpedodivision verlassen. Von allen Seiten strömte es blau herbei. Neugierige Offiziere wurden entwaffnet und in die Mitte des Demonstrationszuges geschoben. Die Kaserne der Matroseninfanterie und der Matrosenartillerie war erreicht. Begeistert folgten auch diese Kameraden. Immer mächtiger wurde die Demonstration. Dazu kam die II. Matrosendivision, Dann die Tausendmannkaserne. Die Werftdivision. Die Leute der Linienschiffe und der großen und kleinen Kreuzer. U-, Minensuch-, Vorposten- und Torpedobootbesatzungen. Die Marine-Luftschifferabteilung. Arbeiter. Frauen. Kinder. Alles schloss sich dem gewaltigen Ereignis an. Die Militärkapellen spielten die Marseillaise. Und im festen Schritt, alle mitsingend, langte der endlose Zug vor dem Gebäude des Chefs der Marine-Nordseestation an.

Eisern verharrte die blaue Straße.
Auf dem Balkon der Station erscheint Heinrich. Die Menschenmasse starrt in Andacht. Lang gezogen, durch die hole Hand, wie auf See, schreit Heinrich in die Stille: „Kameraden! Die Stunde der Befreiung hat geschlagen! Wir Mariner sind es satt, uns von unverantwortlichen kaiserlichen Korporalen und Offizieren wie ein Schindluder behandeln zu lassen! Wir haben den Stationschef gezwungen, unter vorläufiger Kontrolle des revolutionären Zirkels im Amt zu bleiben. Und ihm erklärt, dass er dafür verantwortlich ist, wenn von Seiten der Offiziere etwas gegen uns unternommen wird. Kameraden! Wer sich von seinen Vorgesetzten zu gegenrevolutionären Handlungen missbrauchen lässt, begeht Verrat an seinen Kameraden und wird auf der Stelle erschossen! Wahrt Disziplin! Und beweist aller Welt, dass ihr keine erbärmlichen Knechte seid, die nur Gehorsam leisten, wenn der Knüppel droht, sondern dass ihr seid: Männer — der Freiheit, der Ordnung und der Zucht! — Und nun eilt nach euern Kommandos und wählt aus euren Kameraden heraus Soldatenräte, die unsern Sieg ausbauen! Als Treueschwur fordere ich, stimmt alle mit ein: ,Die deutsche Revolution, sie lebe! Hurra! Hurra! Hurra!'"
Dagegen war die Augustbegeisterung von 1914 ein Kindergeschrei. Denn jetzt waren Zorn und Wut geplatzt.
Langsam ging die Admiralsflagge auf dem Stationsgebäude nieder.
Gewaltig toste der Jubel.
Und bald wehten überall auf Haus und Schiff die roten Flaggen der Revolution.

 

Vierter Teil

1.

Der Krieg war verloren. Kaiser Wilhelm II. desertierte nach Holland. Der Waffenstillstand wurde abgeschlossen.
Die Fronten barsten. Deutschland erbebte. Millionen Opfer schreien aus heller Verzweiflung. Unentwegt aber befahl Wilson, der Präsident der Vereinigten Staaten Nordamerikas, den zermürbten deutschen Heeren: „Zurück — marsch,
marsch!"
Ein Jagen und Rennen! Ein Keuchen und Fluchen! — Die Chausseen Nordfrankreichs und Belgiens wurden belebt wie Straßen der Weltstädte. Truppen- und Transportzüge folgten nacheinander ununterbrochen — ostwärts. Auf Puffer, Trittbrett und Dach überladener Eisenbahnzüge rettete sich der alte deutsche Wunsch: nach Hause!
Friede! — Endlich Friede! Diese Tatsache entfachte die
ungeheure Flucht zu einer maßlosen Begeisterung. Und wild
stoben die deutschen Armeen nach der Heimat: ins Chaos
zerschmetterter Illusionen. Revolution! — Revolution!
Das verratene Volk tobte. Die Reichsregierung flüchtete
vor Schrecken.
Am 11. November dröhnte noch mal die Luft über Wilhelmshaven. Mehr als hunderttausend Soldaten und Arbeiter, Frauen und Kinder holten vereint aus zum letzten Schlag gegen den alten, morschen Staat: „Die sozialistische Republik, sie lebe! Hurra! Hurra!
Hurra!"
Kampfflugzeuge mit langen roten Wimpeln huldigten kaum turmhoch über den Massen dem gewaltigen Geschehnis. Die Kapellen der Kriegsschiffe spielten den Sozialistenmarsch. Entblößten Hauptes sang die Menge.
Die Luft zitterte. Es ward dunkel. Sirenen und Dampfpfeifen der Kriegsschiffe schreien auf. Rote, weiße und grüne Leuchtkugeln verwirrten ängstliche Menschen. Kirchenglocken fingen an zu läuten. Grell stachen die Scheinwerfer der Flotte in die Nacht. Der Mond schaute blass.
Die Schiffe feuerten eine Breitseite nach der andern. In Kinos, Kaschemmen, Cafes und Theatern entstand Panik und überflutete die Gassen und die Straßen. Aufruhr! — Überall Aufruhr, auf allen Schiffen, in allen Kasernen. Die Revolution durchzitterte alles.
Die versammelten Soldaten- und Arbeiterräte im Offizierskasino in Wilhelmshaven schauten starr. Denn der Heinrich betonte: „Und jetzt werden nur noch harte Worte gesprochen! Ich fordere im Namen des revolutionären Zirkels Wilhelmshaven das Leben von zehntausend Offizieren der Marine-Nordseestation als Vergeltung für die Ermordung unserer besten Freunde Max und Albin!" Schrecken bannte die Soldaten und Arbeiter. Wie versteinert stierten ihre Gesichter nach Heinrich. Er aber schrie: „Ich verlange eure Antwort!" Er ballte seine Hände zu Fäusten. Und verharrte so. Endlich erhob sich ein alter Werftarbeiter. Der stammelte: „Nicht den Bruderkrieg... Hein, nicht... "
Heinrich wandte sich und öffnete das Fenster. „Das ist der Schrei nach Recht! — Hört ihr den Massenjammer?" (Der Lärm in Stadt und Hafen toste ohrenbetäubend.) Die Versammelten erschauerten. Die Luft war eisig...
Heinrich schloss das Fenster.
Mit verärgerten Blicken schaute er nach seinen beiden Begleitern, die auf einer Chaiselongue an der Tür saßen... Dann richtete er sich wieder nach den Soldaten- und Arbeiterräten. „Mit jenen ,Brüdern', die sich heillos mit dem Blut unserer Väter und unserer besten Kameraden berauschten, muss gründlich abgerechnet werden! Der Krieg hat uns gelehrt, hart zu sein! Unserer Revolution müssen wir zu einer
ungeheuren Durchschlagskraft verhelfen. Sie muss die unbarmherzige Gesellschaft durch Schrecken erschüttern. Aber diese infame Gesellschaft ist klug!"
„Blut — Hein? Immer noch mehr von dem Blut... ?" erwiderte ein Matrose. Wie gepeitscht schrie Heinrich: „Verflucht! Auf einmal ist euch Blut heilig!"
Die Tür des Saales wurde aufgerissen. Heinrich schwieg. Fritz, die politische Stütze des revolutionären Zirkels, trat, vor Freude strahlend, ein, vergaß zu grüßen und jubelte Heinrich zu: „Für dich, Nachricht aus Italien ist's!" Während Fritz seine Aktenmappe auf den Tisch warf und einen Brief herauszog, wandte Heinrich sich an die Versammelten: „Ist schon vergessen, was gestern noch war?"
Heinrich griff nach dem gereichten Brief, musterte ihn flüchtig und rief: „Wacht auf, Kameraden! — Wacht auf!"
Der Saal war erschüttert. Heinrich setzte sich. Während er sich die Stirne wischte, trat Fritz an ihn. „... doch von deiner Frau?" Heinrich nickte. Und erhob sich. Beide gingen nach einem Fenster und flüsterten.
Die versammelten Soldaten- und Arbeiterräte saßen gebannt. Endlich begab sich Heinrichs Freund an den großen Tisch. Heinrich las, an die Wand gelehnt, den ersten Brief von seiner Frau seit 1914.
Fritz hatte einige Schriftstücke vor sich gelegt und begann: „Kameraden! Der Vorsitzende des revolutionären Zirkels hat mich eben beauftragt, unsere bereits bekannte Forderung zu begründen. Dies kann ich nicht besser tun als mit der heute abend bei uns eingetroffenen Note der Ententemächte, welche euch bedingungslos verpflichtet, die Flotte wie überhaupt die gesamten Kriegsfahrzeuge zu desarmieren, aber — fahrbereit zu halten. Kameraden! Unsere Schiffe sollen der Beutegier des alliierten Militarismus verfallen!"
Fritz brach seine Rede ab, legte seine Hände auf dem Rücken zusammen, postierte sich breitbeinig und fragte in die Augen der Soldaten: „Erhebt sich dagegen Widerspruch?"
Niedergeschlagen hockten die Versammelten.
Heinrich schielte erwartungsvoll von der Wand her über seinen Brief zu den Seeleuten...
Endlich war die plötzliche Frage allenthalben in den Köpfen durchgegangen. Ein Heizer sprang aus Empörung hoch. „Wir werden denen was spucken!"
Dann lärmten sie durcheinander: „Die sind ja verrückt... " „Die haben 'n Koller... " „Die Flotte bleibt... " „Ausgeschlossen! Die lassen wir absaufen... "
Die herausgeforderte Wut der Seeleute überschrie sich. „Jawohl!" — „Bravo!" — „Hurra!" — „Nieder mit dem Krieg!" Fritz stand wie Erz.
Heinrich atmete nun auf aus einer gewissen Zuversicht... Denn Fritz war es gelungen, den alten solidarischen Geist der Seeleute, ihren Trotz, ihr Selbstbewusstsein, über die Scheu vor ungewohnter Verantwortung zu stellen. Die Ironie, mit der Fritz unverhofft seine Frage den Soldaten ans Herz gedrückt, reizte den alten Unwillen gegen den Krieg, gegen die brutalen, herrschsüchtigen Offiziere. Wüstes Geschrei und Fluchen tobte — wie draußen auf den Straßen. Ein Sprung. Und Heinrich stand mit erhobener Hand vor dem Tisch.
„Kameraden!" — Der Lärm verebbte. Heinrich sprach: „Das ist der gewaltige Rhythmus der Revolution! In dieser heiligen Stunde, wo die entfesselten Volksmassen überall im Land maßlos in eine neue Welt jauchzen, wo sie jenen Männern blind vertrauen, die sie von ihren Tyrannen, von ihren unbarmherzigen Ausbeutern befreiten, da müssen wir uns der kolossalen Verantwortung, die uns aufgebürdet ist, voll und ganz bewusst sein! Kameraden! — Während wir zaghaft an unbedingte Notwendigkeit tasten, anstatt fest zuzupacken, während wir kostbare Zeit durch nutzloses Zögern vergeuden, erhebt sich die Reaktion! Das Binnenland schreit uns an um Hilfe. Telegramme aus verschiedenen Städten
Deutschlands liefen in dieser Nacht bei uns ein. Ihr Inhalt ist fast durchweg: ,Sendet sofort zuverlässige Truppen. Quartiere sind bereit.' Die zurückflutenden deutschen Armeen sind an den Landesgrenzen angelangt. Die Deputationen des revolutionären Zirkels, die wir unseren zerschlagenen feldgrauen Kameraden entgegensandten, damit sie über den Sturz des alten Militarismus unterrichtet und für das Banner proletarischer Freiheit gewonnen werden, klagen in ihren Berichten, wie abgestumpft, wie wehleidig diese armen Teufel schauen, die im Trommelfeuer an der Aisne oder an der Somme standgehalten, weil nun die schwarz-weiß-rote Flagge vor ihren Augen niedergeht und an derselben Leine die rote Fahne gehisst wird. Kameraden! Ich habe volles Verständnis für diese erschütternde Enttäuschung, für die Katastrophe, die in den Schädeln unserer feldgrauen Kameraden, unserer wahrhaftigen Brüder, vor sich geht. Aber: Ich sehe auch die große Gefahr, die sich aus jenen verwirrten Heeresmassen gegen unsere Sache entwickeln kann. Kameraden! — Jetzt werden sich die Folgen des Krieges zeigen. Seelische Verrohung, Demoralisation! Hunger, Kälte, Arbeitslosigkeit werden den Egoismus der dem Tod entronnenen Soldatenmassen gegen den Kameraden, gegen den Bruder, gegen Mitmenschen in brutalster Weise, wie es das vierjährige Massenmorden gelehrt hat, anfeuern! Und diese korrumpierten Zustände werden die Feinde unserer Sache auszunützen wissen!" — Heinrich drohte mit der Faust und schrie leidenschaftlich: „Die deutsche Revolution ist in Gefahr! — Kameraden! Denkt an jene kaiserlichen Offiziere, die in Finnland dreitausend und in der Ukraine fünfzehntausend Revolutionäre mit Maschinengewehren zu Dreck und Kot schossen! Wacht auf, Kameraden! — Wacht auf! Der Kampf beginnt!"
Eine Ordonnanz betrat den Saal und überreichte dem Fritz ein Bündel Schriftstücke und Telegramme. Durch die Fensterscheiben drang bereits das Grau des aufbrechenden Wintertages. Wie gequält räusperten sich die Versammelten.
Denn Heinrich hatte wieder die Forderung des revolutionären Zirkels vorgelegt.
Schweigend schob Fritz dem Heinrich einige Telegramme zu, wies ihn durch energisches Drauftippen auf die Bedeutung derselben und trat zurück.
Heinrichs Blick fiel schwer auf die Papiere. Er ergriff sie. Dann las er. Seine Stimme klang müde.
„Bremen: Heftige Kämpfe mit kaisertreuen Truppen. Tote und Verwundete unsererseits. — Munitionsmangel!
Hannover: Heimkehrende Truppen leisten erbitterten Widerstand unter Befehl ihrer Offiziere. Hilfe!
Hamburg: Husaren kaisertreu. Putsch. Schickt Truppen!"
Eine Kampfmeldung nach der anderen las Heinrich den Arbeiter- und Soldatenräten vor. Fritz saß abseits des Tisches vornübergebeugt und hielt den Kopf in Händen ...
Kalt fiel die weiße Wintersonne in die übernächtigen Gesichter der Versammelten. Die Luft im Saal war klebrig. Die abgearbeiteten Nerven der Revolutionäre waren im Erschlaffen. Nur die große Pendeluhr verriet noch Leben. Wieder betrat eine Ordonnanz den Saal, überbrachte dem Heinrich, der immer noch stand, ein verschlossenes Kuvert und entfernte sich scheu auf den Fußspitzen. Heinrich öffnete das Schreiben und nahm Einsicht. Er blieb aber ruhig. Die Köpfe der Versammelten sanken tiefer. Einige Männer schnarchten. Heinrich verharrte mit zusammengebissenen Zähnen...
Es war zehn Uhr vormittags. Da hob Heinrich seine Faust. Und zack! Da ruckten die Köpfe hoch. Wie Detonation hatte der Schlag auf den Tisch in den überarbeiteten Hirnen der Versammelten gewirkt: Sie starrten erschrocken.
Mit heiserer Stimme schrie Heinrich: „Ich mahne zum dritten Mal: Wacht auf, Kameraden! Wacht auf! Das Land brennt! Die Massen schreien uns um Hilfe an! Seid Männer! Rafft euch zusammen!" — Dann fragte er ruhig: „Erhebt sich Widerspruch gegen die Forderung des revolutionären Zirkels?"
Heinrichs Augen zitterten nach den regungslosen Gesichtern der Versammelten. Plötzlich grinste er, die Zähne gebleckt. „Da sich kein Widerspruch erhebt, ist unsere Forderung einstimmig angenommen!" Er ergriff das Kuvert, welches ihm die letzte Ordonnanz übergeben hatte. Und sagte kurz: „Kameraden!" (Er schaute nach dem Fritz und winkte ab. Fritz verließ den Saal.) Heinrich begann: „Ich gebe euch nun die Vollzugsbestimmungen unseres Entschlusses bekannt!"
Heinrich hatte dem Kuvert ein Schreiben entnommen und las und las...
Die Arbeiter- und Soldatenräte richteten sich auf. Ihre Augen wurden lebendig. Heinrich bekräftigte Punkt für Punkt der Vollzugsbestimmungen. Es war Mittag geworden. Lastautos mit zornig blickenden Soldaten durchratterten die Straßen. Die großen Fenster des Versammlungssaales der Arbeiter- und Soldatenräte klirrten: Ein gewaltiges Zittern drang durch Wilhelmshaven. Heinrichs Stimme wollte da plötzlich versagen... Schnell trank er ein Glas Wasser. Dann führte er mit sichtlichem Zwang die Bekanntgabe der Vollzugsbestimmungen zu Ende. Die Versammelten seufzten.
Noch einmal sprach Heinrich. Seine Stimme klang weh. „Die versammelten Arbeiter- und Soldatenräte der Republik Oldenburg tagten zwanzig Stunden in einem fort. Ein schwerer Entschluss wurde gefasst. In den nächsten zwanzig Stunden ist der Entschluss vollzogen: Die deutsche Flotte und zehntausend Offiziere sind gewesen. Kameraden! — Die deutsche Revolution, sie lebe ... "
Einige Männer bekamen feuchte Augen. Die meisten schreien erschreckt: „Hurra! Hurra! — Hurra!"
Die Versammlung wurde geschlossen. Bald war der Saal leer.

Schwarze Wolken zogen über Wilhelmshaven. Die Flotte qualmte aus allen Schloten. In rasendem Tempo bog ein
feldgrauer Kraftwagen in die Straße, wo sich das Standquartier des revolutionären Zirkels befand. Ein Ruck! Seine Räder schleiften. Und Funken sprühten vom Pflaster. Da stand das Auto vor dem rotbeflaggten Gebäude. Fritz trat aus dem Torbogen. Heinrich entstieg dem Wagen. Die Luft war nasskalt. Die beiden Führer des revolutionären Zirkels schritten in die Einfahrt. Fritz flüsterte eifrig. Heinrich schaute finster zu Boden und fragte: „Befinden sich alle Formationen in Alarmbereitschaft?" Fritz berichtete: „Die Aktion — ist in vollem Gange. Unsere Mitglieder halten sämtliche Zufahrtsstraßen zur Stadt, ebenfalls alle Wasserwege, den Strand, die Schleusen, alle Signalstationen an Bord wie an Land, die Post und die Telegraphen- und Fliegerstationen unter Bewachung. Gelände- und Straßenpatrouillen laufen. In der Stadt wird lächerliches Zeug gemunkelt. Schad't nix! Die Hilfsfahrzeuge, die dann... auf See die Mannschaften der Flotte übernehmen, stehen ebenfalls unter Dampf. Spätestens morgen früh um neun Uhr können die Schleusen geöffnet werden. Alles klappt wie Schlag auf Schlag!"
Heinrich nickte zu einem Posten an der Einfahrt, welcher ihm gewinkt hatte.
„Also, Fritz, sorge dafür... ! Ich muss eine Stunde ausruhen. Mir fallen die Augen zu vor Schlaf!"
Heinrich begab sich nach dem Posten. Der Matrose meldete: „Dich will eine Dame sprechen."
„Mich?"
„Ja!" Der Matrose trat aus der Einfahrt und gab einen Wink nach der Straße. Eine vornehme junge Frau in schwarzer Kleidung kam herbei. Der Matrose führte sie zu dem Heinrich.
„Was wollen Sie?"
Das elegante Weib schluchzte, lüftete ihren schwarzen Schleier und tupfte sich mit einem kleinen weißen Taschentuch die Augen. Dann stammelte sie, dass ihr Mann als U-Boot-Kommandant gefallen sei und sie jetzt für ihren Bruder, den die Bolschewisten hier heute verhaftet hätten, Für-
bitte tun und hohe Kaution stellen wolle, wenn er wieder freigelassen würde. Heinrich schaute dem Weib verständnisvoll in die Augen. Plötzlich aber befahl er: „Nein! Weg!" Ein Haufen Offiziersfrauen hatte sich in die Einfahrt gedrängt. Fritz kam aus einer Seitentür gestürzt und befahl einigen Matrosen, die Einfahrt und die Straße frei zu machen. Fritz und Heinrich begaben sich ins Gebäude. Es war Abend. Ein Trupp schwerbewaffneter Matrosen verließ das Standquartier und besetzte die beiden Enden der Straße. Und die Nacht des Schreckens begann.
Die Tür des Speisesaals im Standquartier war weit geöffnet. Es roch nach gekochtem Rindfleisch und sauren Bohnen. Heinrich ging vorbei. Vor seinem Zimmer machte er den Matrosen, der „Posten Korridor" stand, aufmerksam, dass er nicht gestört sein wolle. „Übergib das auch deiner Ablösung!"
Heinrich trat ein. Die Tür schloss sich. Es begann zu stürmen. Regenschauer prasselten gegen die Fensterscheiben. Heinrich war auf einen Klubsessel gesunken. Erschütterung ging durch das Gebäude... Wieder knatterte ein Lastauto nach dem andern, beladen mit verhafteten Offizieren, durch die Toreinfahrt des Standquartiers in den großen Hof. Heinrichs Kieferladen vibrierten. Der Brief von seiner Frau zitterte in seinen Händen... Sirenen und Dampfpfeifen heulten auf. Heinrichs Kopf neigte sich zum unwillkürlichen Schlaf.
„Notlampen klar!" schreien Matrosen durch das Haus. Und Trommelwirbel dröhnte in den Korridoren: „Alarm! — Alarm!" Einige Minuten wildes Gelaufe. Licht erlöschte. Kirchenglocken begannen zu läuten. Die Sirenen und Dampfpfeifen verstummten. Die Lastautos unten im Hof standen still. Matrosenstimmen erschollen. „Gas und Elektrizität ist überall in der Stadt ausgeschaltet! Sämtliche Truppenformationen haben alarmbereit gemeldet!" Es herrschte Ruhe.
Heinrichs Körper streckte sich. Seine Hände hingen schlaff zu Boden. Der Brief war ihm entfallen. Sein Mund
ö ffnete sich. Es hörte auf zu regnen. Mondschein bleichte Heinrichs wetterhartes Gesicht. Die offene Brust, umsäumt vom blauen Matrosenkragen, hob und senkte sich in dem Dunkel. Heinrich schlief. „Los, runter!"
Der Schlafende hörte die gefangenen Offiziere von den Lastautos abspringen. Seine Finger spreizten sich. Dann ballte er die Hände zur Faust. „Zwei Glieder Vordermann!" - „Abzählen, ihr Verfluchten!"
Im Hof liefen sie voll Angst den Befehlen nach. Und wütige Matrosen brüllten: „Lauft, ihr Hunde!"
Heinrich knirschte, zynisch grinsend. Sein Kopf wälzte sich hin und her. Die herabhängenden Arme straffte er durch, dass es knackste. Er schnaubte. Plötzlich lag sein Körper wieder ruhig. Das Toben im Hof hatte aufgehört.
Eine Wolke schob sich vor den Mond. Dumpf antwortete im Hof ein Matrose: „Siebentausendzweihundertneun — im ganzen!" Rau wiederholte eine Stimme: „Siebentausendzweihundertneun!" Dann schrie einer verbittert: „Los! — Mit diesen ebenfalls nach hinten!" Das Getrabe verlief in Patschen, dort war der Sammelplatz für die Offiziere. „Sechster Lastzug klar?" „Jawohl!"
„Abfahren!" Motoren fingen an zu knattern. Dann rumpelten die Lastautos durch die Toreinfahrt zurück in die Stadt... Das Haus bebte.
Mondschein bleichte das verzerrte Antlitz des Heinrich. Seine Augen schienen halb offen. Er röchelte. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn. Sein Körper zuckte. Er rang nach Luft. Endlich rückte sich der Schlafende. Und seufzte. Die Uhr im Zimmer schlug. Heinrich brummte: „Die Zahl ist voll. Die Nacht der Revolution beginnt. Kameraden — die Seitengewehre pflanzt auf!" Er grinste. „Und nun: das Ganze — marsch!"
Seine Zähne blinkten im fahlen Mondschein. Er sah den endlosen Zug der zehntausend gefangenen Offiziere auf
dem Weg zum Hafen. Zu beiden Seiten der „für den Tod bestimmten Regimenter" schritten Matrosen mit Bajonetten. Er sah die zerrütteten Gesichter seiner ehemaligen Gewaltherren. Und schnaubte durch die zusammengebissenen Zähne. Plötzlich lachte er heiser. „Musik! Musik!"
Heinrichs Seele fieberte in maßloser Verbitterung. Die Nacht war stockfinster geworden. Regen prasselte plötzlich wolkenbruchartig. Und der Sturm hatte noch zugenommen. Der Schlafende glaubte, er befände sich auf der Kommandobrücke des Lloyddampfers „Bremen", der im Kriegshafen lag und der die Flotte mit den zehntausend Offizieren in See begleiten und dort — vor ihrer Versenkung — ihre Bedienungsmannschaften zu sich an Bord übernehmen sollte. Heinrich hörte, dass ihm ein Signalgast meldete: „Einschiffen beendet! Geschwader sind seeklar!"
Der Schlafende befahl: „Anker auf!" Über Heinrichs Gesicht glitt ein freudiges Lächeln. Er atmete erleichtert. Dann: Immer mehr blieb Wilhelmshaven zurück... Und die Flotte sah er in Kiellinie querab der „Bremen" dampfen. Die See rauschte. Land war bereits außer Sicht. Heinrich lachte auf. „Ha — wie sie schwabbeln, die gepanzerten Särge! Nur zu, immer nördlicher! Sechshundert Meter Tiefe sind euch bewilligt!" Lange lächelte der Schlafende... Plötzlich schrie er: „Stopp! Alle Maschinen stopp!" Und brummte: „Torpedoboote längsseit der Linienschiffe Mannschaften übernehmen. Und hier an Bord absetzen!"
Der Schlafende sah die Geleitflottille im Dunkel der Nacht auf die Flotte zujagen. Er sah sie zurückkehren. Er sah Bedienungsmannschaften der Flotte an Bord der „Bremen" übersteigen. Er sah, wie die Torpedoboote dann nach der Flotte ausschwärmten. Heinrich hörte die Meldung: „Klar zum Schuss!"
Verbissen befahl er dem Signalgast: „Feuersignal hoch!" Drei rote Lampen untereinander zeigte der Lloyddampfer am Vordermast. Die Scheinwerfer der Torpedoboote blendeten die Flotte. — Heinrich zuckte. Die Torpedos wurden
abgefeuert. Der Schlafende krampfte die Lehnen des Sessels. Und richtete sich auf: Er sah die Detonation der menschengefüllten Linienschiffe. Er sah die Flotte mit zehntausend Offizieren in der Tiefe verschwinden. Die Uhr im Zimmer schlug. Frost schüttelte den Schlafenden. Heinrichs Körper fiel zurück. Die Tür des Zimmers öffnete sich. Heinrich starrte in die feuchten Augen seines fünfjährigen Buben. Er sah, wie sein Bub nach ihm schlug. „Du Mörder!"
Schreck riss ihn wach. Vor ihm stand Fritz, sein Freund. „Hein! Wir können ausschleusen!"
Heinrich sprang hoch. „Fritz! Fritz! Lass sofort die Luken der Schiffe öffnen. Behandelt die Gefangenen menschlich und wartet weitere Befehle ab! Los, los, zum Hafen, zum Hafen!"
Fritz schaute erschrocken. Aber der Heinrich drängte: „Himmelsakrament! Verlier keine Zeit! Zum Hafen! Zum Hafen!"
Der Freund verstand plötzlich. Er stürmte aus dem Zimmer. Heinrich eilte zur Wachtstube. Und gleich radaute der Tambour durch die Korridore des Stabsquartiers: „Alarm! Alarm!"
Gewehrschlösser knatterten. Stubentüren wurden zugeschmissen. Gehetzt polterten die Matrosen die Treppe hinunter, durch den Hausflur, nach dem Sammelplatz der Offiziere.
Heinrich befahl den Freiwachen, sämtliche Arbeiter- und Soldatenräte Wilhelmshavens sofort zu einer dringenden außerordentlichen Versammlung ins Offizierskorps herbeizuholen.
Frisch fegte eine Brise über den Reichskriegshafen. Heinrich bestieg ein Auto. Dann raste der Kraftwagen in bläulichen Dunst des aufbrechenden Tages. Auch die Freiwachen schwärmten aus mit Autos, zu Fahrrad oder zu Fuß. Noch schliefen die Einwohner der Jadestädte. Aber bald klirrten leise die Lampenschirme in den Wohnungen. Bald zitterten die Fundamente der auf Schlick gebauten Häuser, ganz sachte.
Wie steife Leichen mit hochgestellten Mantelkragen saßen im großen Saal des Offizierskasinos die Arbeiter- und Soldatenräte. Sie fröstelten. Viele senkten die Köpfe. Die Beherzten seufzten auf. Denn Heinrich wiederholte feierlich: „Sind wir uns gestern über einen schweren Entschluss einig geworden, so müssen wir uns heute für den allerschwersten entscheiden. Der Auftakt zum Blutgericht ist gegeben! Unser Hass schreit! Kameraden! Die Flotte liegt mit zehntausend Menschen seeklar! Wir können ausschleusen!"
Irgendeiner der Arbeiterräte stöhnte: „Lasst sie leben!" Heinrich schaute verzweifelt. Plötzlich schrie er auf. „Das Recht der Sühne, der furchtbaren Vergeltung steht uns zu!" Und da — senkte sich sein Blick. Heinrich nickte vor sich hin und sprach: „Aber wir müssen auf unsere Rache verzichten! Wir müssen gegen unsere namenlose Verbitterung rebellieren, um der jungen Revolution willen! Denn die Revolution verlangt Amnestie! Sie verlangt das ganze deutsche Volk restlos zum Aufbau einer gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung. Sie verlangt von uns, dass wir die Verelendeten, Verkrüppelten und die durch den verfluchten Krieg demoralisierten deutschen Volksmassen vor der Verzweiflung schützen! Aber, Kameraden", betonte Heinrich, „gelingt den Ententekapitalisten, ihre Rache und Habgier an unseren Volksgenossen zu befriedigen, Kameraden, das würde in seinen Folgen den Tod von Millionen deutscher Proletarier bedeuten. Unsere jahrelange mühselige und opferreiche Vorbereitung zur Befreiung der Unterdrückten wäre umsonst gewesen! Die Verteidigung aller Erfolge unserer jungen Revolution bedingt daher, dass das verelendete deutsche Volk nicht zur Anarchie getrieben wird, sondern sich in voller Disziplin mit den gewaltigen revolutionären Massen Russlands verbindet, um vereint die sozialistische Wirtschaftsordnung aufzubauen, die jedem Menschen eine würdige Existenz garantiert. Diesem heiligen Gebot opfert der revolutionäre Zirkel sein Recht der Rache! Kameraden! Ich fordere nun, dass ihr euch auch über unseren allerschwersten Entschluss einigt! Wer dafür ist, dass darum die zehntausend Offiziere dem Leben zurückgegeben werden, den bitte ich, die Hand zu erheben!" Heinrich stand erschüttert.
Denn die müden Arbeiter- und Soldatenräte sprangen jubelnd auf. „Alle — alle!" Heinrich rief ergriffen: „In einigen Stunden sind die Schiffe leer!" Er verließ den Saal.


2.

Die Sturmflut der heimkehrenden Truppen brandete über Deutschland. Tag und Nacht erschütterten eilende Militärzüge die Fahrdämme. Überall wurde rot geflaggt und gearbeitet. Die Bahnhöfe blühten im frischen Schmuck. Die Feldgrauen lachten. Auch die Viehkessel von 1914 brodelten wieder auf den Bahnsteigen. Und unermüdlich, dabei meisterhaft, kippten die Rotkreuzschwestern aber Tausende Militärkochgeschirre voll mit breiigen Suppen, mit Steckrübengemüse oder mit mokkaschwarzem Ersatzkaffee. Die Frontsoldaten kauten und verwunderten sich. Denn auch Dauerwurst, Tafelbutter, gute Zigarren, Offizierszigaretten, Offiziersküchen und die „heiligen"- Offizierslatrinen, alles stand ihnen nun zur Verfügung. Die Soldatenräte hatten die Entlausung befohlen! Plündern und Tragen von Offiziersachselstücken war mit Lebensgefahr verbunden. Musterhaft nahm die Demobilisierung ihren Anfang. Das Volk regierte sich selbst. Die Revolution feierte ihren Sieg.
Aber der November ging zu Ende. Und die deutschen Millionenheere waren erwerbslos. Eisig pfiff der Wind. Da flatterten Flugblätter auf die Hungernden und Frierenden:
„Deutsche! — Schützt Deutschland vor dem Bolschewismus! Wahrt eure Frauen vor Schändung und eure Kinder und Greise vor der russischen Schreckensherrschaft! Steht ein für Ruhe, Ordnung und Wiederaufbau unseres Vaterlandes!"
Die Gegenrevolution hatte sich erhoben! Die Seeleute des revolutionären Zirkels aber wechselten ihre blauen Marineuniformen mit der feldgrauen. Sie nahmen Stahlhelme, Gasmasken, Pistolen, Handgranaten, Maschinengewehre, Minen- und Flammenwerfer und folgten dem Ruf des revolutionären Proletariats. Und die Leiter der revolutionären Zirkel siedelten mit allen revolutionstreuen Kameraden der Marine-Nord- und -Ostseestation im Auftrag der sozialistischen Regierung nach Berlin über.
Die Reichshauptstadt. Rede- und Pressefreiheit! Überall erhitzte Diskussionen. In den düsteren Kellerwohnungen, in weltentlegenen Mansarden der Hinterhäuser, in Straßen-, Untergrund- und Vorortbahnen, in Omnibussen und Vergnügungssälen, in Massenversammlungen der verschiedensten Parteien, an den Verkehrsknotenpunkten, allenthalben kämpfte das „Für" mit dem „Wider". Rätesystem oder Parlament. Kommunismus oder privatkapitalistische Wirtschaftsweise. Die Novemberrevolution stand windschief! Denn die Ententekapitalisten lehnten die revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte ab. Und die Bürgerlichen organisierten sich gegen das Rätesystem. Sie riefen die berufslos gewordenen Offiziere und Soldaten zum Kampf gegen das Rätesystem auf. Und forderten Teilnahme an der Regierung. Verzweifelt gellte der Schrei des revolutionären Großstadtproletariats. „Es lebe die Räterepublik! Nieder mit der Nationalversammlung!"
In der politischen Hitze blühte die antibolschewistische Propaganda. Denn die Fabrikschlote standen kalt. Der Aufmarsch zum Kampf zwischen Kapital und Arbeit begann! Bald krachten die ersten Schüsse des Bruderkrieges.
Unauffällig errichteten die revolutionären Matrosen ihr Standquartier im ehemaligen kaiserlichen Marstall. Heinrich, seine Wilhelmshavener Freunde und eine Abteilung Seeleute aus Cuxhaven besetzten das Berliner Schloss. Ruhig leistete die Marinetruppe ihren Sicherheitsdienst. Aber ihr Führer, der Heinrich und sein Freund Fritz, trafen Vorbereitungen zur revolutionären Verteidigung, während die gegenrevolutionären Offiziere und Berufssoldaten schwerbewaffnet die Stadt durchzogen.

In einem Salon des Schlosses standen Heinrich und Fritz an dem runden Tisch, auf welchem zwei große Stadtpläne ausgebreitet lagen. Kein Wort fiel. Sie arbeiteten. Plötzlich richtete sich Heinrich auf. „Also zwölf Bezirke — drei Zentraldepots!"
Fritz knurrte: „Mit tausendsechshundert Mann — nicht ein einziges Geschütz und keinen Arzt?"
Der Heinrich: „Zwölf Bezirke, drei Zentraldepots! Stimmt! Und tausendsechshundert entschlossene Kameraden holen sich Geschütze und zwingen die Ärzte!"
„Uns holt der Teufel! — Die Geschütze werden uns zwingen... "
Heinrich erwiderte: „Wer Angst hat vor dem Tod, soll auch nicht töten!" Er drehte die Kurbel des Telefons. Dann nahm er den Hörer. „G. S. — Hallo?... Im Dunkelwerden abrücken! Sind die Abteilungen klar? — Wenn erledigt — Meldung!"
Heinrich legte den Hörer ab. Dann arbeitete er, über den Stadtplan gebeugt. Fritz beschäftigte sich mit Angriffsmaßnahmen auf die Kasernen der gegenrevolutionären Truppen. Mit größtem Eifer verfolgten die beiden Revolutionäre ihre Arbeit. Nur ihre Atemzüge waren zu hören. Fritz schaute zum Heinrich. „Tausendsechshundert Kameraden, einige Tanks und die übrigen Kleinigkeiten, die noch dazu gehören, würden die Revolution in wenigen Stunden reparieren!"
Heinrich nickte. „Mit Speckerbsen und Kommissbrot sabotiere ich die Konterrevolution noch schneller!"
Plötzlich bemerkte Fritz: „Hast du ,Stirner' gelesen, Hein?"
„Gelesen? — Vor die Stirne könnte ich mich schlagen... " Heinrichs Gesicht faltete sich. „Aber wir haben unsere schwache Seite erkannt! Nun kommt's hart auf hart!"
Eine Ordonnanz öffnete die Tür und meldete: „Hier ist eine Rotkreuzschwester. Darf sie rein?"
Heinrich bejahte. Der Matrose wich zur Seite. Else, Heinrichs Schwester, betrat das Kommandanturzimmer der revolutionären Schlossbesatzung. Sie grüßte herzlich. Fritz stellte ihr einen Sessel bereit. Er bat sie, Platz zu nehmen. Während Else sich niederließ, schaute sie respektvoll nach Heinrich. „Ich hörte, ihr solltet zur Verstärkung noch zehntausend Mariner aus Kiel erhalten?" —
Heinrichs Blick wurde ernst und streifte flüchtig den Freund. Fritz, der sich eine Zigarette anzündete, kniff ein Auge zu. Lächelnd wandte sich Heinrich nach seiner Schwester. „Ließen dich die Posten, ohne dir Schwierigkeiten zu machen, ein?" Er setzte sich. Else antwortete selbstbewusst: „Die Mariner respektieren das Rote Kreuz! Friedel aber wiesen sie zurück!"
Heinrich staunte. „Dann wartet sie gewiss in der Kälte?" „Sie wird sich mit dem Posten unterhalten!" Fritz entschuldigte sich und verließ den Salon... Heinrich saß stumm. Er sann. Seine Schwester sah interessiert zu dem großen braunpolierten Tisch, auf welchem die Stadtpläne ausgebreitet lagen. Peinliche Stille drängte sich zwischen die Geschwister. Unwillig erhob sich Else. „Warum bist du so verstimmt, Hein?" Sie ging an den Arbeitstisch. Aber Heinrich verhinderte in gebietendem Ton: „Nicht hier... " Verlegen nahm Else ihren Platz ein. „Du bist sehr liebenswürdig, Hein!"
Heinrich antwortete mit einem Lächeln, das seiner Schwester fremd war: „Hast du Interesse für die Straßen? Ich nahm an, dass du Berlin kennst!"
„Und ob! Nur staune ich, weil ihr arbeitet wie Generäle!" Heinrich senkte den Kopf und antwortete dumpf: „Wir müssen! Die kaiserlichen Schlachtmeister verlangend!" Else räusperte sich und seufzte.
Heinrich murmelte: „Sanitätspersonal aber ist unsere Sorge!"
„Sanitätspersonal?"
Heinrich richtete sich auf und zündete sich eine Zigarette an. Dann sagte er freundlich: „Else, als ich dich besuchte, versprachst du, nicht ins Schloss zu kommen."
Else stand auf. „Bin ich lästig?"
Die Tür öffnete sich. Fritz kam mit Friedel. Frisch belebt eilte Heinrich ihr entgegen. „Guten Abend! — Entschuldige, weil die Posten... Es war mein Befehl. Aber ich wusste nicht... "
Friedel nahm Platz. Der Kronleuchter strahlte festlich auf. Besorgt forschte Heinrich: „Frierst du, Friedel?"
Sie schüttelte den Kopf. Fritz unterhielt sich lebhaft mit den beiden Damen. Heinrich war froh. Er arbeitete wieder. Die Unterhaltung dauerte lange. Endlich schlug die Uhr neun. Die beiden Schwestern erhoben sich. Else erklärte: „Aber natürlich stelle ich mich der Marinetruppe zur Verfügung!" Fritz dankte. Heinrich bekräftigte: „Brav, Else!" Sie erschrak, denn das Telefon rasselte. Hastig nahm Heinrich den Hörer: „G. S.! - Hallo?... Nicht angreifen! - Bloß verteidigen."
Heinrich legte den Hörer auf den Tisch und knurrte: „Im Norden fließt schon Blut!" Else und Friedel überhörten es. Sie verabschiedeten sich von Fritz. Dann begleitete Heinrich seine Schwestern aus dem Schloss.
Erregt langte Heinrich wieder in seinem Arbeitsraum an. Fritz schritt nach der Mitte des Salons. Er schob die Hände in die Hosentaschen und starrte zu Boden. Nervös fragte Heinrich: „Was ist, Fritz — was ist?"
Fritz rührte sich nicht und antwortete monoton: „Das Weib ist gefährlich!"
Heinrich lachte. „Unserem Gegner!" Dann beteuerte Heinrich: „Fritz — Else verhehlt mir nichts!"
Fritz begab sich an den Tisch und fragte: „Hast du geforscht, wo sie die Nachricht von den zehntausend Marinen herhat?" Heinrich seufzte. „Zehntausend Berufssoldaten der Kieler Besatzung werden demnächst in Berlin eindringen.
Diese Truppe nennt sich ,Eiserne Division'! Der Mann meiner Schwester gehört dem Sanitätskorps jener gegenrevolutionären Garde an!"
Fritz nickte bedenklich. „Hein, Hein... !" Heinrich schwieg und arbeitete. Fritz ging unruhig hin und her.
Endlich trat Heinrich an den Tisch zurück. „Fritz, auf einige Tage werde ich verschwinden!"
Die beiden Revolutionäre besprachen sich. Der Morgen dämmerte. Heinrich verließ den Salon. Bald aber traf er wieder ein. Er trug Zivil. Und verabschiedete sich von Fritz.

Weihnachten kam näher. Tannen dufteten. Und Schnee fiel. Der Straßenverkehr hastete. Der Matsch spritzte. Die Schaufenster der Warenhäuser prunkten. Und freudig erregt eilten die Menschen dem bevorstehendem Christfest entgegen —
ahnungslos.
Auch Heinrich rüstete eifrig. Mit einem Teil der Marstallmatrosen hatte er ein Ausstellungsgebäude im aufrührerischen Nordwesten bezogen und zum Stützpunkt ausgebaut. Und auf den Dächern zweckdienlicher Häuser hatte er Beobachtungs- und Signalstationen errichten lassen. Einige seiner zuverlässigsten Kameraden durchstreiften schon seit Tagen in Zivil als Geheimpatrouillen die Stadt und die Regierungsgebäude. Die Marinemannschaften aber mieden die Straßen. Sie wurden für Häuser- und Straßenkämpfe ausgebildet.
Täglich musterte Heinrich seinen Stoßtrupp und kontrollierte die Waffen. Er sorgte für gute Verpflegung, für reichliche Munition und für Sanitätspersonal. Das neue Quartier war Heinrichs Freude. Denn seine Kameraden versahen ihren Dienst begeistert. Und alles funktionierte. Schon war der Kampfesmut im revolutionären Stützpunkt so gediehen, dass sich jeder nach der Stunde sehnte, in der Heinrich den Befehl gab, die johlende Konterrevolution zu stellen.
Nachdem Heinrich seinen Wilhelmshavener Freund, Jann, jenen Torpedobootheizer, zum Leiter des revolutionären
Stützpunktes bestimmt und ihm weitsichtige Kameraden zur Seite gestellt hatte, begab sich Heinrich zurück ins Berliner Schloss.
Es war zwei Tage vor Weihnachten, als Heinrich wieder bei Fritz eintraf. Ruhig hörte Heinrich den Bericht des Freundes vom Konflikt zwischen der revolutionären Marinetruppe und der sozialistischen Regierung. Dann antwortete er entschlossen: „Unsere Pflicht erfüllen wir rücksichtslos!"
Fritz aber ging gänzlich entmutigt ans Fenster. Und knirschte: „Fluch lastet auf uns seit der Stunde, wo unser Hass versagte!"
Heinrich schaute finster.
Fritz schrie aus Qual: „Raubgesindel hat sich bei uns eingeschlichen! Die Truppe bietet keinen Verlass! Sakrament, Sakrament!" Fritz sank in einen Sessel. Wut aber riss Heinrich hoch. Fluchtartig verließ er das Arbeitszimmer und eilte nach dem Raum der Hauswache. Wie wahnsinnig schrie Heinrich auf den Führer der Wache ein: „Sofort sind sämtliche Posten einzuziehen, aber alle! — Ebenso die Freiwachen alarmieren! Dringende Versammlung! Kein Mann darf fehlen! Meldung im Kommandanturzimmer!"
Der Wachthabende schaute erschrocken. Noch ehe der Befehl verhallte, war Heinrich aus dem Raum verschwunden! Keuchend hatte er sein Arbeitszimmer betreten. Er setzte sich und berichtete seinem Freund. Plötzlich brach er ab: „Wer die Revolution schändet, den stellen wir an die Wand!"
Ein Matrose trat ein und meldete: „Alles angetreten zum Appell!" Heinrich und Fritz folgten der Ordonnanz nach der versammelten Schlossbesatzung.
Aufmerksamkeit bannte die Versammelten, als Heinrich auf einen Tisch sprang. Aber als er anklagende Worte an sie richtete, entstand unter den revolutionären Seeleuten nicht wenig Unruhe. Gelassen aber hob Heinrich die Hand und schrie unter die geladenen Gemüter der Matrosen: „Kameraden! — Nun wisst's! Ruchlose Halunken unter uns haben sich
an dem Gut vergriffen, das uns die Revolution anvertraute. Während sich eure Führer bei Tag und bei Nacht abmühen, um den kommenden schweren Ereignissen gewappnet entgegentreten zu können, schleichen Menschen aus euren Reihen in diesem Bau herum und plündern! Kameraden! Ich lehne es ab, Schandtaten mit meinem Namen zu decken! Und belege euch alle mit dem Verdacht des Treubruchs!" Die Versammelten protestierten wild durcheinander.
„Ruhe!" Als Heinrichs Stimme nicht durchdrang, feuerte er ein paar Schüsse nach der Decke. Dann lenkte er ein: „Derjenige aber, welcher den Mut hat, gegen den Kameraden das Gewehr anzulegen, der uns verrät oder den Namen der revolutionären Truppe besudelt, der mag die Hand erheben!" Heinrich schaute paff. Denn alle stimmten dafür. Schnell schloss Heinrich: „Kameraden, Fritz wird euch jetzt den Bericht erstatten über unsere Lage!"
Fritz sprach. Er fesselte die Gemüter der Matrosen. Endlich betonte er kräftig: „Kameraden! — Weil wir keine Polizeigarde, sondern Stoßtrupp der Revolution sind, weil deshalb uns schwerste Kämpfe bevorstehen, weil wir wissen, dass Leute unter uns sind, die für Frau und Kind, für Mutter oder Vater zu sorgen haben, darum erkläre ich feierlichst, dass wir es keinem übel nehmen, wenn er nach Schluss der Versammlung im Kommandanturzimmer seine Entlassung aus der revolutionären Marinetruppe fordert!" Die Versammlung war zu Ende.
Heinrich und Fritz beauftragten den Führer der Hauswache mit der neuen Zusammenstellung der Schlosswache. Einige Stunden später verließen dreißig entlassene Matrosen das Schloss. Fritz zündete sich eine Zigarette an. Und Heinrich atmete auf. „So — das Gesindel sind wir los!"

Der Tag neigte sich. Die Schlossbesatzung bezog ihre Gefechtsstationen. Heinrich holte die Außenposten ein. Und stellte sie, wie die Matrosen der Hauswache, an den Treppen und in den Korridoren der Stockwerke als Befehlsübermittler oder Munitionsträger auf. Fritz ließ die Maschinengewehre nachsehen und Kühlwasser bereitstellen. Alle Lichter wurden abgeblendet. Und Heinrich lief von einer Gefechtsstation zur andern und instruierte. Dann, als „klar zum Gefecht" gemeldet war, gingen die beiden Matrosenführer in den leeren Raum der Hauswache, in dem der Gefechtsbeobachtungsstand war.

Heinrich lag vor dem Ausguck und schaute über den dunklen Schlossplatz. Fritz verharrte am Tisch. Es war nach Mitternacht, als er sich erhob und fragte: „Ist das Eingangsportal offen?"
Heinrich stand auf. Und gähnte. „Ja!" Müde schritt er nach der Tür. Während er sich die Augen rieb, brummte er mürrisch: „Ich kontrolliere die Stationen!" Rasch verließ Fritz seinen Platz am Tisch und legte sich vor die Beobachtungsscharte. Er knurrte verschlafen: „Die Bereitschaft wird wieder in nutzlose Kriegswache auslaufen!" Heinrich wiegte den Kopf und ging seine Ronde. Fritz rief plötzlich: „Die Kampfreserven!" Der Befehlsvermittler gab lang gezogen und monoton den Befehl durch das dunkle Schloss. Und bald meldeten sich die Reservemannschaften der verschiedenen Gefechtsstationen bei Fritz „zur Stelle". Fritz unterrichtete seine Kameraden. Vom Eingangsportal kamen Schritte näher. Sporen klirrten. Und eine Stimme erscholl: „Posten?" Fritz mahnte die Matrosen der Kampfreserve: „Sst!" Und entsicherte seine Pistole. Geräuschlos schlich er sich zur Tür, . die nach dem Vorraum des Hauptportals führte. Und rief den Ankömmling an. Die Gestalt stand und antwortete: „Nicht schießen!"
Fritz befahl: „Licht!" Ein Matrose kam dem Befehl nach. Fritz sah einen Feldgrauen mit Stahlhelm, der beide Hände erhob und am linken Arm die weiße Binde trug. „Herkommen!"
Der Feldgraue folgte. „Wer sind Sie?"
„Parlamentär!"
Fritz forderte den Feldgrauen auf, die erhobenen Arme niederzulassen.
Heinrich betrat den Raum. „Warum brennt hier Licht?" „Drüben sammeln sich Truppen!"
Fritz erwiderte: „Hier ist der Parlamentär!"
Heinrich ging hin. „Was wollen Sie?" Er stellte sich dem Feldgrauen als Führer der revolutionären Schlossbesatzung vor. Der Gesandte des Gegners griff in die Brusttasche. Er überreichte dem Heinrich ein Schreiben. Heinrich las. Dann gab er es zurück. „Sagen Sie Ihrem General, dass wir das Schloss lebend nicht verlassen!"
Der Parlamentär verneigte sich und ging.
Fritz bemerkte leise, aber grimmig: „Der trug Mannschaftsuniform."
„Diese Gesellschaft arbeitet mit allen Tricks!" sagte Heinrich und erklärte seiner Umgebung: „Der Befehlshaber der Regierungstruppen fordert uns auf, binnen zehn Minuten das Schloss zu übergeben, widrigenfalls er diesen Bau erstürmen lässt."
Heinrich sah auf seine Uhr. „In acht Minuten beginnt der Bruderkrieg — den wir im November ablehnten! In acht Minuten aber wird uns Gelegenheit geboten, vieles wiedergutzumachen! Kameraden, auf die Gefechtsstationen — marsch, marsch! — Alles klar zum Gefecht!"

Vor dem Schloss krachte ein Gewehrschuss. Heinrich rief lang gezogen: „Sperrfeuergruppen, entsichern! Front-MG-Gruppe erster Stock links, nach rechts ... MG-Gruppe Dach, den Platz und das Hinterhaus... MG-Gruppe zweiter Stock rechts, nach links ver-tei-di-gen! Parterreschützen die Sturmkolonnen befeuern!" Deutlich artikulierend gaben die Befehlsübermittler das Ankündigungskommando nach den Gefechtsstationen. Unterdessen wandte sich Heinrich an Fritz, der an einer Beobachtungsscharte lag: „Ich gebe noch schnell einen Funkspruch nach dem Stützpunkt!" Kaum
hatte Heinrich ausgesprochen, feuerte der Feind eine Gewehrsalve gegen das Schloss. Fritz mahnte: „Nicht antworten!" Heinrich grinste. „Noch nicht, aber... " Und eilte aus dem Gefechtsbeobachtungsstand die Treppe hoch, aufs Dach. Und bald rief er mit einer Morselampe die nächste Funkstation des revolutionären Stützpunktes an, die auf einem Haus der dem Schloss gegenüberliegenden Gebäudereihe war. Endlich wurde sein Anruf beantwortet. Schnell überreichte Heinrich einem Signalgast die Morselampe und diktierte. Der Matrose morste: „regierungstruppen haben ultimatum gestellt — wir lehnten Ultimatum ab — kampf beginnt — sperrt kampfzone — wenn rote rakete gesichtet — den gegner im rücken angreifen — wir halten aus. hein!"
Die Fernsprechstationen des revolutionären Stützpunktes meldeten „verstanden". Heinrich mahnte seine Signalgasten, scharf Ausguck zu halten. Dann hastete er zurück zu Fritz. Denn die Regierungstruppen eröffneten ein mörderisches Maschinengewehrschnellfeuer.
Noch war kein Schuss von den revolutionären Matrosen erwidert worden. Aber kaum hatte sich Heinrich neben Fritz an die Gefechtsbeobachtungsscharte gelegt, da begann ein feindlicher Stoßtrupp unter Hurrarufen zu stürmen. Heinrich atmete erregt. Plötzlich befahl er ruhig wie bei einer Übung: „Überall — Schnellfeuer!"
Und wild durcheinander knatterten die Maschinengewehre der revolutionären Schlossbesatzung.
Die Nacht war mondhell. Mit zusammengebissenen Zähnen verfolgte Heinrich durch den Ausguck die Wirkung seines Befehls auf dem Schlossplatz. Der Stoßtrupp war an dem Feuer der Parterreschützen abgeprallt. Die Sperrfeuergruppe bestrich mit schweren Maschinengewehren das Rückzuggelände. Die Front-MG-Gruppen feuerten dem Stoßtrupp in die Seiten. Und während die Parterreschützen die Köpfe der Sturmkolonnen bestrichen, feuerten die Dachschützen in die Fenster der gegenüberliegenden Häuser, aus denen feindliche Streitkräfte sich am Kampf beteiligten. Endlich erhob Heinrich die Hand. Der wilde Feuerlärm im Schloss schwächte ab. Heinrich zählte... Und grinste. „Ungefähr
achtzig sind's... "
Fritz stand auf und knurrte: „Vielleicht ist den andern
drüben die Lust vergangen!"
Auch die Regierungstruppen stellten das Gefecht ein. Ruhe herrschte. Die Luft war Pulvergestank. Auf dem Schlossplatz wimmerten zerschossene Menschen und Tiere. Heinrich befahl: „Gefechtspause! — Waffen nachsehen! — Die Gefechtsstationen ihre Ausfälle melden!"
Und wie auf ein Kommando schallte durchs dunkle Schloss das siegesbegeisterte „Hurra" der revolutionären Matrosen.
Der Läufer der Signalstation des Schlosses betrat den Gefechtsbeobachtungsstand und übergab Fritz die notierte Antwort, die der revolutionäre Stützpunkt gemorst hatte. Dann entfernte er sich. Fritz las und reichte den Fernspruch dem Heinrich, der am Boden vor dem Ausguck lag und mit dem Feldstecher nach den Regierungstruppen spähte. „Hier, Hein! - Alles klar!" Heinrich flüsterte kurz: „Störe mich nicht!" Wieder kam ein Befehlsübermittler in den Gefechtsbeobachtungsstand und meldete: „MG-Gruppe Dach — zwei Ausfälle — ein Kamerad tot — einer an der Schulter verwundet — Reserven sind eingesprungen — alle Stationen gefechtsklar!"
Plötzlich schrie Heinrich: „Breitseite auf auffahrende Artillerie!"
Fritz warf sich vor die Beobachtungsscharte. Der Ankündigungsbefehl war nach den Stationen geleitet. Heinrich zuckte. „Feuern!" Und gleich knatterten die Maschinengewehre auf die auffahrende Artillerie.
Plötzlich eine gehörzerreißende Detonation oben im Schloss. Durch die Gefechtsbeobachtungsscharten stieß die Luft, dass dem Heinrich und dem Fritz der Atem stockte. Fritz sprang auf. Er taumelte. Die wuchtigen Mauern des
Schlosses schienen zusammenzubrechen, denn salvenweise krepierten die Granaten der regierungstreuen Geschütze in den Kampfstationen der revolutionären Matrosen. Trotz diesem Höllenlärm stürmte eine Befehlsordonnanz in den Gefechtsbeobachtungsstand und schrie... Der Geschützdonner aber machte jedes Wort unverständlich. Fritz legte die Hand ans Ohr und winkte den Kameraden zu sich unter die blaue Lampe. Schreiend wiederholte der Matrose: „Erster Stock — alles tot — Regierungstruppen feuern mit Gasgranaten!"
Heinrich starrte entsetzt. In heilloser Wut schrie er auf den Befehlsübermittler ein. Der Matrose nickte und verschwand.
Fritz beugte sich zu Heinrich nieder und riet ihm, er solle sich nach dem Sammelraum im unteren Korridor begeben und mit den eintreffenden Maschinengewehrgruppen den zu erwartenden Sturmangriff der Regierungstruppen abwehren. Dann rannte Fritz nach dem beschossenen Stockwerk. Im Laufen legte er sich die Gasmaske an, die er am Koppel trug. Ungeheuer tobte und toste der Kampf. Ununterbrochen platzten die Sprenggranaten in den Salons. Mauern stürzten. Das Schloss bebte. Die Fundamente hüpften. Aber unerschütterlich blieb der Trotz der revolutionären Seeleute.

Achtundzwanzig Matrosen mit sechs schweren Maschinengewehren trafen im Sammelraum des unteren Korridors bei dem Heinrich ein. Alle trugen Gasmasken. Die Ohren hatten sie mit Putzwolle verstopft. Die Uniformen waren weiß von Schutt.
Wortlos begann Heinrich den dicken Teppich im Sammelraum aufzurollen. Seine Kameraden griffen zu. Dann schleppten sie den Teppich nach dem inneren Ende des Korridors und breiteten ihn aus. Danach klopfte Heinrich einem Matrosen auf die Schulter. Beide gingen zurück nach dem Sammelraum. Bald kamen sie mit einem schweren Maschinengewehr wieder und brachten es, acht Meter vom Ende
des Korridors entfernt, auf dem Teppich so in Stellung, dass die Gewehrmündungen nach dem vorderen Ende des Korridors zeigten. Heinrich gab den Matrosen durch einen Wink zu verstehen, die anderen Maschinengewehre zu holen. Als hätten sie Nerven aus Stahl, so ruhig führten die revolutionären Seeleute trotz des Granatengewitters oben im Schloss den Befehl aus. Nachdem die sechs Maschinengewehre auf dem Teppich nebeneinander (auf Knie- und Bauchschuss eingestellt) gestaffelt waren, legten sich die Bedienungsmannschaften schussfertig hin. Hinter ihnen an der Endwand des Korridors lagen die Reserven und füllten Patronengurte. Endlich hörte das Artilleriefeuer auf.
Totenstille erfüllte den düsteren Korridor. Wie Schatten lagen die Matrosen neben ihrer entsicherten Waffe: Sie lauerten scharf voraus — nach dem Eingangsportal.
„Hurra! 'rra! 'raa!" Wild brüllend stürmte ein Stoßtrupp des Gegners in die „Mausefalle" der revolutionären Seeleute. Aber immer noch verhielten sich die Matrosen ruhig. Schon war der Nahkampftrupp bis auf zwanzig Meter Distanz an die dunklen revolutionären Maschinengewehrgruppen herangekommen. Da eröffnete plötzlich der Heinrich ein rasendes Geknatter. Seine Kameraden steigerten das Gefecht zum erbittertsten Feuerwirbel. Der gegenrevolutionäre Stoßtrupp stand entsetzt. Unaufhörlich befeuerten die Matrosen den dunklen Menschenhaufen. Schon kochte das Kühlwasser ihrer Maschinengewehre. Aber immer wieder legten die Bedienungsmannschaften frische Patronengurte ein. Mit aller Kraft stemmten sich die Seeleute gegen ihre stoßenden Maschinengewehre. Zäh kämpften sie mit dem Tod. Der Korridor war ein Hexenkessel. In einem fort zuckten die bläulichen Schussflammen nach den gegenrevolutionären Menschen. Endlich leuchtete grau der anbrechende Tag in die Stätte des Hasses. Heinrich stellte das Feuer ein. Dann schritt er von Schütze zu Schütze und gab den Befehl: „Stopp!" Das furchtbare Echo des mörderischen Gefechts verhallte langsam. Nachdem die Revolutionäre ihre Reservemaschinengewehre und Munition und die Handgranaten aus dem Sammelraum geholt, trugen sie ihre Waffen über die zerschossenen Leichen des feindlichen Stoßtrupps zum Hauptportal.

Es war hell geworden. Die revolutionären Maschinengewehrgruppen hatten ihre Gasmasken abgenommen und lagen wieder gefechtsbereit hinter den beiden Seiten des Eingangsportals in Deckung. Ihre tiefen Atemzüge rauschten. Die Körper der Matrosen zitterten. Einigen klapperten die Kieferladen. Denn durch das offene Portal blies eisig der Morgen des 24. Dezember. Und in den Ohren der Seeleute echote der Feuerlärm der vergangenen Nacht wie Geknatter sechszylindrischer Motoren ohne Schalldämpfer in einem Tunnel. Ab und zu stöhnte einer der revolutionären Menschen. Wie erschreckt richteten sich dann wirr schauende Gesichter zum Portal. Und sanken gleich wieder, müde. Schon waren Stunden in dieser folternden Unruhe vergangen. Dadurch zur Verzweiflung gereizt, knirschte ein Matrose durch die zusammengebissenen Zähne. Plötzlich schrie Heinrich auf: „Kameraden! Fritz!" Und er streckte sich am Boden. Er keuchte röchelnd. Schaum quoll aus seinem Mund. Entsetzen riss die Matrosen hoch. Fritz stürmte hin zum Heinrich und schrie: „Raus! Schnell raus! — Gas!"
Panik entstand. Ein Matrose war mit erhobenen Armen aus dem Portal gestürmt. Gleich aber sprang er wieder zurück in den Vorraum. „Der Platz liegt voll Toter!" Hastig packte Fritz den Heinrich am Rockkragen und schleifte so den schlaffen Körper an die Luft. Bald lagen die revolutionären Seeleute restlos erschöpft, im Todeskampf nach Atem ringend, vorm Schloss in der kalten Wintersonne.

Gleich nachdem Heinrich den Fernspruch vom Schlossdach nach dem revolutionären Stützpunkt gegeben, war die Kampftruppe des revolutionären Stützpunktes schwerbewaffnet nach dem Gefechtsplatz aufgebrochen. Unauffällig
besetzte sie die Straßenecken der Stadtteile, die an das Schloss grenzten. Schwere Maschinengewehrgruppen schoben sich im Schatten der Häuser zum Kampfplatz vor. Sie öffneten Gebäude und nisteten sich ein, auf Dächern, die vortreffliches Schussfeld boten. Die Scharfschützen aber schlichen hart an den Feind heran und nahmen Deckung in Kanalschächten, hinter Litfasssäulen oder schmiegten sich schussfertig in die Gossen. Während die Artillerie der Regierungstruppen begonnen hatte, das Schloss „sturmreif" zu schießen, während der Geschützdonner dumpf über Berlin rollte, während Fritz vom Dach des Schlosses die roten Raketen in die Nacht feuerte, gab Jann, der Führer des revolutionären Stützpunktes, den Angriffsbefehl auf die gegenrevolutionären Truppen. Fahl lag Mondschein auf dem Feind. Die revolutionären Matrosen überschütteten ihr Ziel mit Prasselfeuer. Bald verstummten die feindlichen Geschütze.
Immer enger zogen die revolutionären Straßenkämpfer den Kreis um den fassungslos gewordenen Gegner. Ununterbrochen knatterten ihre Maschinengewehre. Jann drang mit einem Panzerauto ins verbittertste Gefecht. Sprungweise folgten seine Stoßtrupps. Wie die revolutionären Matrosen im unteren Korridor des Schlosses, so kämpften ihre Kameraden vom revolutionären Stützpunkt in den Straßen und auf den Dächern. Die Regierungstruppen wichen. Berlin zitterte. Ungeheuer wütete der Hass. Und die Verwundeten verbluteten hilflos.
Endlich war es Tag geworden. Schreiend, das Gewehr klar zum Anschlag oder mit gefechtsbereiten Pistolen und Handgranaten, stürmten die Kampfkolonnen des revolutionären Stützpunktes. Der Feind drängte sich verzweifelt in eine Straße und durchbrach die revolutionäre Front. Getrieben von vernichtendem Feuer, flohen die Regierungstruppen mit ihren Geschützen und ihren Verwundeten ins Stadtinnere; die tapfersten und versprengten retteten sich in die Häuser.
Fenster öffneten sich. Das Gefecht begann wild. Wo ein
Schuss krachte, wurde hingeschossen. Ziellos fielen die Handgranaten. Der Häuserkampf tobte fanatisch. Endlich ertönte ein Hornsignal. Frische Sturmkolonnen mit der roten Armbinde schwärmten in die Straßen. Wütiges Gebrüll: „Fenster zu! — Straße frei!" Revolutionäre Maschinengewehre „bestrichen" die Häuserfronten. Dann säuberten die Matrosen das Stadtviertel.

Die Signalgasten der revolutionären Schlossbesatzung hatten ihre erschöpften Kameraden der Kälte wegen dicht nebeneinander gelegt. Immer höher schien die Sonne. In den nahen Stadtteilen krachten nur noch vereinzelt Gewehrschüsse und Handgranaten. Plötzlich heulte Heinrich wie schwer verwundet. Gepeinigt wälzte er den Kopf auf den Steinplatten. Gehetzt arbeitete seine Brust. Ein Signalgast zog seinen Waffenrock aus und warf ihn über den Heinrich. Da bäumte sich der Bewusstlose wie unter erdrückender Last. Er schrie: „Wehe dem! Wehe... ." Die übrigen Signalgasten sprangen herbei. Denn kraftlos war Heinrichs Haupt zur Seite gefallen. Sein Körper streckte sich. Heiser lallte er: „Schlagt mich endlich tot... " (Lügumkloster, der Giftstachel des Hasses, marterte Heinrichs Seele!)
Schwere Wolken zogen über die Reichshauptstadt. Es ward trübe. In den Kampfvierteln herrschte Totenstille. Schnee fiel. Unter den zusammengekauert liegenden Matrosen vorm Schloss bewegten sich Glieder. Mühselig raffte sich Fritz aus dem jammervollen Menschenhaufen. Er schaute irre und wankte. Endlich entrann ihm ein Seufzer. Sein Blick wurde fest. Aufmunternd klang seine Stimme: „Kameraden, die Nacht ist um... "
Heinrich murmelte: „'s ist kalt!"
Ängstlich rief Fritz: „Bist du wach?" Keine Antwort. Viele räusperten sich. Hilflos schaute Fritz hoch zum Schloss. Er erschrak, sank auf die Knie, packte mit beiden Händen Heinrichs Schulter, rüttelte ihn und schrie: „Das Schloss ist weiß beflaggt! — Wach auf!"
Müde richtete sich Heinrich auf. „Das taten unsere Toten!"
Dann kauerte er wieder am Boden. Und stöhnte: „Die
Nacht ist zu lang... "
Fritz klapperten die Kiefer. Es war dunkel geworden. Ein Hustenanfall rüttelte den Heinrich. Plötzlich hob er den Kopf und horchte gebannt. Schrecken riss ihn auf die Beine. Kein Wort vermochte er zu rufen. Zwei Scheinwerfer eines näher kommenden Autos blendeten ihn. Auch der Fritz hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Er klopfte sich den Schnee ab und atmete auf. Vor dem Schlossportal hielt der Kraftwagen. Vier Soldaten und ein Weib entstiegen ihm und bewegten sich stumm zum Schlosseingang. Fritz schrie erschreckt: „Halt! — Haltet!" Heinrich zuckte, sprang hoch und schrie nach dem Schlossportal: „Sanitäter, nicht... Drinnen schleicht Gas!" Die vier Soldaten und das Weib wichen zurück. Und bleich, abgehärmt, am ganzen Körper zitternd, so stand der Heinrich seinem Freund Jann und seiner Schwester Else gegenüber. Jann ergriff Heinrichs steifgefrorene Hände. Die Else weinte. Plötzlich machte sich Heinrich frei. Und stammelte: „Kommt, kommt, wir müssen retten!"
Er führte seine Schwester und den Jann mit den drei Sanitätssoldaten zu dem im Schnee liegenden Rest der revolutionären Schlossbesatzung. Und feierlich begannen die Kirchenglocken zu läuten. Es war Heiliger Abend.

Längst lagen die Schwerverwundeten der revolutionären Marinetruppe in den Garnisonlazaretten. In einem großen Raum des ehemaligen kaiserlichen Marstalls saßen aber versammelt die Matrosen der Hauswache. Trauer bannte die
Seeleute.
Plötzlich erschütterten ankommende Lastautos die Stille.
Einige Matrosen in blauer Uniform trugen ihre gefallenen Kameraden in den Saal und bahrten die Helden auf Tannengrün vor den vier mächtigen lichterstrahlenden Christbäumen auf. Ein Matrose entrollte eine große rote Fahne und
stellte sie in den Ständer zwischen den beiden mittleren Tannenbäumen. Alle Blicke senkten sich. Stumm predigte der Tod...
Wieder knatterten Autos. Die Saaltür wurde geöffnet. Hustend betraten feldgraue Matrosen mit Stahlhelmen den stillen Saal. An ihrem Koppel baumelte die Gasmaske... Geblendet schauten sie in das lichterflimmernde Gezweige der Tannen. Dann fielen ihre Blicke auf die blutigen, schmerzlich verzerrten Gesichter der Toten. Schließlich ging ein Matrose der Hauswache auf sie zu. Heiser fragte einer der Ankömmlinge: „Wo ist unser Platz?"
Der Matrose der Hauswache führte die Überlebenden der revolutionären Schlossbesatzung an die vorderste Reihe der Stühle. Und nun traf der Heinrich ein. Ihm folgten Else, die Rotkreuzschwester, der Fritz und der Jann. Jubelnd schrie die revolutionäre Matrosentruppe auf: „Hurra, Hein!" Die Totenstille war geflüchtet.
Heinrich entblößte sein Haupt und starrte erschüttert nieder zu den Gefallenen. Dann besprachen sich der Fritz und der Jann leise mit dem Heinrich. Heinrich, seine Schwester und Jann nahmen in der vordersten Stuhlreihe nebeneinander Platz. Fritz begab sich vor die Versammelten: Er schilderte die Kämpfe im Schloss. Dann betonte er: „Wäre anstatt des Offiziers ein Volksbeauftragter ins Schloss gekommen, das Blutbad hätte nicht stattgefunden. Aber den Offizieren weichen wir nie und nimmer!"
„Nie! Nie!" erscholl. Die meisten aber schreien: „Die Gefangenen, her mit allen Gefangenen! — Los! — Bringt die Hunde rin!"
Heinrich stand auf und erhob die Hand. „Kameraden! — Die Gefangenen sind verwahrt und werden abgeurteilt!"
Zornige Zwischenrufe dröhnten: „An die Wand, an die Wand mit den Hunden! — Wo sind sie?" Einige Matrosen entsicherten ihre Pistolen und stürmten nach der Saaltür: „Her mit der Bande! — Die Hunde werden gleich hier erschossen!"
Schnell sprang Heinrich zum Ausgang, versperrte den Wütigen den Weg und schrie mit zitternder Stimme: „Ich fordere mehr Achtung vor unseren Toten!"
Die Verbitterten horchten auf. Da öffnete sich die Saaltür. Ein Matrose trat ein, ging zu Heinrich und erstattete flüsternd Meldung. Heinrich nickte. Der Matrose verließ den Saal. Und bald führte er zehn Zivilisten in die Versammlung ein. Ehrfurchtsvoll senkten sich ihre Blicke vor den Toten. Heinrich schüttelte jedem die Hand und forderte sie auf, neben der Else und dem Jann Platz zu nehmen. Nur vier der Zivilisten folgten. Die anderen verharrten stehend.
Heinrich begab sich vor die Versammlung. Mahnend erhob er die Hand und schaute scharf zu seinen Kameraden. Die Matrosen verstanden seine Miene. „Kameraden!" rief Heinrich, „das Volk feiert Weihnachten! Aber wir, wir feiern einen traurigen Sieg! Große Lücken hat die Gegenrevolution in unsere Reihen geschossen! Wir sind geschwächt! Die Verfolgung des geschlagenen Feindes durchzusetzen war uns deswegen unmöglich!"
Ein Matrose unterbrach den Heinrich: „Wo ist das Proletariat?"
Heinrich zeigte nach den beiden Gruppen und antwortete
in den Saal: „Hier ist's vertreten!"
Dann schloss Heinrich keuchend (denn er war leicht gasvergiftet): „Die Vertreter des Proletariats werden uns jetzt über die Haltung des revolutionären, Proletariats informieren!"
Ein Zivilist der stehenden Gruppe schritt vor die Versammelten. „Soldaten! Mit zäher Standhaftigkeit habt ihr der Reaktion den Todesstoß gegeben. Noch pochen die ängstlichen Herzen der Bourgeoisie. Jetzt heißt's: nachrücken! In atemloser Hetze nachrücken! Noch heute Nacht muss das Proletariat in den restlichen Besitz der politischen und wirtschaftlichen Macht gelangen. Noch heute Nacht müssen sämtliche Regierungs- und Zeitungsgebäude, die Depeschenbüros, die Postanstalten, die Banken, alle Kasernen, die
Bahnhöfe und alle Fernsprechstationen besetzt werden! Wir ernennen neue, tatsächlich revolutionäre Volksbeauftragte. Und dann lassen wir den Telegraph spielen. Und morgen früh ist Deutschland eine Räterepublik! Darum, Soldaten, nicht lange zögern! Munition und Waffen haben wir genügend in den Kriegsrüstungsfabriken! Auf! Scheut kein Blut!" Heinrich stand und hemmte mit verbissenem Blick die neuentfachte Begeisterung der revolutionären Marinetruppen. Denn zwischen den beiden Gruppen der Vertreter des Proletariats hatte sich ein leidenschaftliches Geschrei entwickelt. „Das ist unerhört! Ihr seid ja wahnsinnig! Ihr Radikalinskis!"
„Und ihr Feiglinge! — Ihr elenden Bonzen! Ihr gehört verhaftet!"
„Oho!" erwiderte einer der Gemäßigten und schrie: „Mit unserem Leben stehen wir dafür ein, dass euer Wahnsinnsplan nicht zur Aktion wird! Das Blut dieser Matrosen hier ist uns heilig!"
Heinrich schüttelte bedenklich den Kopf, während die Vertreter des Proletariats sich in gehässigster Weise beschimpften. Die Matrosen machten große Augen. Aber als die Gruppe der Radikalen drohend die Fäuste nach der Gruppe der Gemäßigten erhob und Töne laut wurden wie: „Ihr konterrevolutionären Hundsfotte", da sprang Heinrich dazwischen. „Ruhe!" Auch die zermürbten Seeleute, die das Schloss verteidigt hatten, waren aufgestanden und sahen erwartungsvoll zum Heinrich. Aber ihr Eingreifen in die trostlose Szene erübrigte sich. Der Krawall der Radikalen war verstummt. Else saß starr. Leichenblass beobachtete sie ihren Bruder.
Heinrichs Augen zitterten. Seine Adern schwollen ihm an Schläfe und Hals. Und seine Brust begann wie gehetzt zu arbeiten.
„Kameraden!" schrie Heinrich aus Verzweiflung. Die Matrosen erschauerten. Einige erhoben sich im Banne einer schlimmen Ahnung. Heinrich keuchte. „Wir stehen seit Jahren in vorderster Linie des Klassenkampfes. Fortwährend haben wir große Opfer gebracht, um die unterdrückten Volksschichten von den Ausbeutern zu befreien!" (Pfeifender Husten würgte den Heinrich.) Endlich vermochte er weiterzusprechen: „Und uns Soldaten ist trotz allem gelungen, was wir wollten: Wir drückten die deutsche Revolution durch. Und erblickten als die einzige praktische und ideale Volksregierung: die Räteregierung!" in einem fort plagte Husten den Revolutionär. Aber mit Aufwand ganzer Energie zwang er seinen Körper und seine Stimme. „Deshalb haben die revolutionären Zirkel von Wilhelmshaven und von Kiel im vergangenen November ihre politische Macht an die Mannschaften der Kriegsmarine abgegeben. Auch die Landtruppen und die gesamte deutsche Arbeiterschaft wählten proletarische Räte. Ja, das Rätesystem ist wunderbar! Aber diese verfluchten Menschen versagten. Kameraden! Eure Führer haben die Hochburg der Konterrevolution, Berlin, mit zwölf Gefechtsbezirken unterminiert. Für alle Notwendigkeiten des großen Endkampfes war peinlich gesorgt worden. Imposant wäre die alte Welt zusammengestürzt, wenn das Proletariat fähig gewesen wäre, uns so beizustehen, wie während des Weltkrieges die Kameraden der Kriegsmarine dem Proletariat beigestanden haben!" Heinrich wandte sich nach den beiden Gruppen der Vertreter des Proletariats. „Die Bravsten des arbeitenden Volkes liegen hier unter den Christbäumen als Opfer ihres revolutionären Willens! Nehmt diese Leichen als heiliges Geschenk!" Der Raum war Kirche.
Plötzlich wurde die Saaltür aufgerissen. Erregt sprang ein Matrose in die feierliche Stille. „Hein! Wo ist Hein?"
Heinrich antwortete und ging auf den Matrosen zu. Atemlos, mit wirrem Blick meldete die Ordonnanz: „Regierungstruppen haben das Standquartier des revolutionären
Stützpunktes besetzt!"
Heinrich starrte. Und seufzte. „Ich weiß es: Wir sind verloren!" Und da stürzte er zu Boden.
Else, die Rotkreuzschwester, eilte herbei. Schnell knöpfte sie ihrem keuchenden Bruder den Waffenrock auf. Fritz und Jann bemühten sich, um die Versammelten zu beschwichtigen. Einige Matrosen trugen Heinrich aus dem Saal. Bald verließ ein Lazarettauto den Marstall. Und jagte mit voller Fahrt durch die Stadt.

Heinrich lag auf der unteren Bahre im Lazarettauto. Er röchelte. Neben ihm saß seine Schwester. Plötzlich keuchte Heinrich: „Else, dich hatte ich verkannt!" Er griff nach ihr. Sie weinte. Und er zerrte an seiner Brust. Wie ein Erstickender rang er nach Luft. In einem Außenviertel von Berlin hielt das Auto. Der Chauffeur und sein Begleitmann öffneten die Wagentür. Else stieg aus und huschte in den Vorgarten ihres Häuschens. Bald folgten die beiden Sanitäter mit dem Heinrich auf der Bahre. Und bald eilte das Lazarettauto wieder zurück nach dem Marstall.

Else hatte ihren Bruder aus einer gewissen Vorsicht heraus in eine wohnlich eingerichtete Dachstube ihres Häuschens tragen lassen. Spärlich entfiel der kleinen Lampe auf dem Nachttisch ein grüner Lichtschein. Else wachte auf einem Stuhl neben Heinrichs Bett. Sie sann. Es war nach Mitternacht, als endlich Heinrichs Atem ruhiger wurde.
Plötzlich rasselte die Glocke der Haustüre. Else stand auf und entfernte sich geräuschlos.
Heinrich horchte. Er hörte Kichern. Schritte kamen näher, die Türe öffnete sich. Laut lachend trat die Friedel mit Hut und Handtasche in die Stube. „Na Hein? — Du hier?" Sie ging an sein Bett. Heinrich begann zu husten. Wehleidig schaute er der Friedel in die Augen. Da neigte sie sich zu ihm. Aber Heinrich wandte sich um. „Geh, du riechst nach Tabak und Wein!" Er begann zu husten, dass sein Kopf rot anschwoll. Friedeis weinfrohes Antlitz wurde zynisch. „Gut, dann geh ich halt... " Sie verließ die Stube.
Else eilte ihr nach. „Friedel, Friedel!" Aber die Haustür
zerschlug das Rufen. Seufzend kam Else zu Heinrich zurück. Erstaunt fragte Heinrich: „Ist Friedel fort?"
Die Rotkreuzschwester nickte stumm. Heinrich stöhnte. Endlich streckte er sich erschöpft.
Der Morgen graute... Schriller Weiberschrei schreckte den Heinrich aus dem Schlaf. Da hörte er Schritte die Treppe heraufpoltern. Heinrichs Miene wurde finster. Barsch fragte an der Stubentür eine Männerstimme: „Wo ist der Matrose?" Ein Offizier und vier schwerbewaffnete Regierungssoldaten drangen in Heinrichs Zimmer und befahlen ihm: „Stehn Sie auf! Sie sind verhaftet!"
Schweigend stieg Heinrich aus dem Bett und kleidete sich an. Dann stießen ihn die Soldaten aus der Stube, die Treppe hinunter. Flehend versperrte die Else die Haustür.
„Tür frei!" befahl der Offizier. Die Rotkreuzschwester aber wich nicht. Lächelnd griff Heinrich die zitternde Hand seiner Schwester. „Ich danke dir, Else! Komm! — Du kannst die Dinge nicht aufhalten!" Else folgte den Worten ihres Bruders. Heinrich schüttelte ihr herzhaft die Hand. „Leb wohl, Else! — Grüße mein Weib und Kind!"
Dann führten die Regierungssoldaten den Heinrich in ein Personenauto. Eilig verschwand der Kraftwagen in der Stadt.

Im Hof des ehemaligen Standquartiers des revolutionären Stützpunktes hielt das Auto. Feldmarschmäßig ausgerüstete Regierungssoldaten sammelten sich an. Heinrich entstieg
dem Kraftwagen.
„Der Kerl kommt nach drüben zu den andern an der Wand!" befahl der Offizier dem Feldwebel. Heinrich starrte. Denn an der Hofmauer standen zirka dreißig revolutionäre
Matrosen. „Marsch — dorthin!"
Heinrich ging. Neben und hinter ihm knirschten Soldaten. Kurz vor den Matrosen blieb Heinrich stehen. Er schaute mitleidig. Denn er sah den Fritz und den Jann. Fluchend
stieß der Soldat das Gewehr dem Heinrich gegen den Rücken. „Wer sich rührt, wird gleich erschossen!" Dann schrie der Feldwebel zum Heinrich: „Auch da stehnbleiben!"

Heinrich stand in der vordersten Reihe der gefangenen Revolutionäre. Der Offizier, welcher den Heinrich verhaftet hatte, stellte eine Abteilung Schützen den Gefangenen gegenüber auf. Dann zog er den Säbel und schritt vor die Front der Matrosen. „Wenn sich der Kommandeur der Rebellen nicht meldet, lasse ich alle erschießen!"
Mit verbissenem Blick trat Heinrich vor. Und schrie wie im Zorn: „Ich bin schuldig, tötet nicht die andern!" Da schaute der Offizier wirr. Und befahl stotternd: „Das, das Opfer stehnbleiben — die übrigen links raus — marsch — marsch!"
Während Heinrichs Kameraden zur Seite rannten, kam durch die Toreinfahrt, am Arm eines Hauptmanns, die Friedel, Heinrichs Schwester. Lustig schwang sie die Reitpeitsche und lachte übermütig.
Der Heinrich stierte hin zu seiner Schwester. Mit Aufwand letzter Kraft schrie er auf: „Friedel? Friedel? Du Verräter... " Friedel stand ernüchtert, entsetzt.
Der Exekutionsoffizier kommandierte: „Laden!"
Gewehrschlösser knatterten. Erschreckt stieß Friedel den Hauptmann von sich. Mit erhobenen Händen stob sie zu den Schützen. „Soldaten — Soldaten!" Der Offizier befahl: „Legt an... , feuern!"
Die Gewehrsalve krachte. Heinrichs Körper stürzte.
Verzweifelt kniete sich die Friedel neben den Heinrich. Bebend umfasste sie das blutende Haupt ihres Bruders. Und schrie: „Verzeih — o Gott, o Gott! Was hab ich angerichtet, was, was? Und warum, warum? Hein! Hein!" schrie sie auf. Und weinte.
Noch einmal schaute Heinrich groß zum Himmel. Dann neigte er das Haupt nach seiner Schwester. Vor seinen Augen versank eine Welt voll Hass und Neid.
Heinrich lächelte. Und verschied.