Willi Bredel - Maschinenfabrik N.& K. (1930)
http://nemesis.marxists.org

Das Werk.

Jetzt war es fünfzehn Minuten vor sieben. Das grüne Bäckerauto fuhr wie jeden Morgen um diese Zeit hier vorbei. Die drei Arbeitermädel von der Gummifabrik kamen dort um die Ecke. Wie jeden Morgen um diese Zeit humpelte der Alte mit den schlohweißen Haaren und dem merkwürdig langen Kinn über die Kanalbrücke. Dann rasselte auch schon drüben wie jeden Morgen um diese Zeit, fünfzehn Minuten vor sieben, der Schlüssel des Pförtners im Schloss der schweren Eisentür, und die Arbeiter, die bereits vor dem Fabrikgebäude standen oder am Geländer des Kanals lehnten, schritten langsam in den Fabrikhof. Es war ein diesiger, nasskalter Februarmorgen. Mit hochgeklappten Kragen, die Hände tief in den Taschen, schritten die Arbeiter mit unwirschen, verschlafenen Gesichtern dahin.
Je mehr die Uhr auf sieben ging, desto lebhafter wurde der Zustrom. Der Pförtner, ein kleiner, verhungert aussehender Kriegsbeschädigter, stand am Eingang und murmelte ununterbrochen: „'n Morgen, 'n Morgen!"
Da heulte die Fabriksirene kurz und schrill. Fünf Minuten vor sieben. Auch von den anderen Fabriken pfiff, heulte, schrie es. Die Arbeiter auf den Straßen beschleunigten ihre Schritte. Einige junge Weiber liefen lautlos über die Kanalbrücke, sie mussten zur Gummifabrik, die noch ein ganzes Stück entfernt lag.
Im Fabrikeingang bei Negel & Kopp staute es sich jetzt. Arbeiter mit Fahrrädern hatten Mühe, sich durch das Tor zu zwängen. Gesprochen wurde fast gar nicht. Keiner hatte Lust, den Mund auf zutun, nur der Alte mit dem lahmen Bein murmelte immer wieder: „'n Morgen! 'n Morgen!"
Diejenigen, die sich schon umgezogen hatten, gingen über den Fabrikhof in ihre Werkstattabteilung. Einige schüttelten sich, als sie die nasskalten, dreckigen und öligen blauen Kittel am Leibe hatten und in die kalte, feuchte Luft kamen.
In dem Umkleideraum, gleich links am Eingang, war es jetzt übervoll. Jeder trachtete so schnell wie möglich in seine „Plünnen" zu kommen. Außer einer Schar Lehrlinge, die hinten in der Ecke rumorten, stieg jeder stumm in seine Arbeitshosen, knöpfte den Kittel zu und ging hinaus. An der Zentralheizung standen die Arbeitsleute, alte verhutzelte Gestalten, die klappernd vor Kälte ihre Glieder aufzuwärmen suchten.
Ein Pfiff, lang, abscheulich grell. Sieben Uhr. Und dann eine Schreierei in den Lüften in allen Tonarten. Fast gleichzeitig wurden die großen Elektromotoren angestellt, und die Vorgelege von Hunderten von Maschinen ratterten durch die Räume. An einigen großen Hobelmaschinen, die mitten im Span abgestellt worden waren, quälte sich kreischend und ächzend der Stahl durch das Eisen.
Bevor Geliert, der lahme Pförtner, das Tor schloss, sah er immer noch einmal nach Nachzüglern aus. Er kannte sie schon, die immer auf die letzte Minute oder gar zu spät kamen. Er wollte gerade seinen Kopf wieder zurückziehen und schließen, als er den langen Erwin drüben um die Ecke rennen sah. Ganz außer Atem kam er an. „Immer dieselben!"
„Sing nicht, Alter!" rief der Lange und setzte über den Hof. Stempelte man nämlich an der Kontrolluhr fünf Minuten nach sieben Uhr, dann wurden dreißig Minuten abgezogen.
Die Maschinenfabrik Negel & Kopp stellte Kräne, Schäl-, Schneide- und landwirtschaftliche Maschinen her. Drei riesige Werkzeughallen bildeten die Fabrik. Gleich links am Eingang, anschließend an den Umkleideraum, war die Halle der Tischlerei. Bedeutend größer und höher zog sich in der Mitte des ganzen Fabrikkomplexes die Montagehalle hin. Ganz rechts, direkt am Kanal, stand die Maschinenhalle und daran anschließend die technische Werkstatt und das Büro. Insgesamt waren etwa dreihundert Arbeiter und fünfzig Angestellte der technischen und kaufmännischen Abteilung in der Fabrik beschäftigt.
In der Tischlerei war es verhältnismäßig sauber. Einige Kreis- und Horizontalsägen kreischten grell und drangen erstaunlich schnell ins helle Holz. Große Bretter wurden an einer Maschine gehobelt, dass die Späne als lockige Holzwolle umherwirbelten. Sämtliche früheren umständlichen Handgriffe wurden in verblüffender Schnelligkeit maschinell erledigt. Drei halbfertige Krangehäuse standen in der Halle. Rechts in der Ecke war eines fertig und wurde von Lehrlingen gestrichen. Dazwischen lagen Holzstapel und kleinere Einzelteile. Es wurde gehämmert, gemessen, gerufen, und ununterbrochen kreischten die Sägen.
In der Montagehalle sah es bedeutend finsterer und schmutziger aus. Mitten durch die Halle liefen Schienen, auf denen halbfertige Kräne standen. Unter der Hallendecke hingen Laufkräne, die schwere Eisenteile transportierten. An den Seiten, vor den verschmutzten Fenstern, standen die Werkzeugtische, und in einer angebauten Vertiefung brannten mehrere Schmiedefeuer, wo die Schweißer arbeiteten. Hier war ein Höllenlärm, ein Tosen und Gedröhne. Das durcheinander tönende tiefe und helle Eisenschlagen, der Gleichklang des Schmiedens, das Zischen und Fauchen der Schweißapparate, das Sausen und Schlurren der großen Schleifsteine, das gegenseitige Anbrüllen der Arbeiter, die sich nur so in diesem Lärm verständlich machen konnten, war die so oft angedichtete Sinfonie der Arbeit, in der die Arbeiter von morgens bis abends ihr ganzes Leben lang schufteten und lebten.
Der Laufkran fuhr einen riesigen Greifer über die Köpfe der Arbeitenden hinweg. Schmächtige, kaum der Schule entwachsene Jungen turnten zwischen den Eisenteilen umher und reichten den Gesellen Werkzeugteile zu. Dort stand ein hünenhafter Arbeiter und wischte sich von der verschmutzten, öligen Hand Blut. An den Werkzeugbänken wurde gehämmert und gefeilt. Überall lagen die blauen Zeichnungen. Es arbeiteten immer mehrere Arbeiter in einer Kolonne zusammen, die ihr bestimmtes Arbeitspensum schaffen musste. Es waren zum größten Teil eingearbeitete Facharbeiter, die ohne viel Reden ihre Arbeit machten. Zum Umsehen war dabei allerdings auch keine Zeit.
In der Maschinenhalle standen die Dreh-, Hobel- und Bohrbänke. Eine lange Reihe Drehbänke stand an der Fensterfront. Inmitten der Halle waren riesige Karussell- und
Plandrehbänke in den Boden gemauert. Am andern Ende standen die Hobelbänke und Bohrmaschinen. Geteilt wurde die Halle durch eine Glasbude, von der aus die Meister den Arbeitsgang kontrollieren konnten.
In Reih und Glied hintereinander, so, wie die Bänke standen, arbeiteten natürlich auch die Dreher. Die verschiedenartigsten Artikel wurden hergestellt. Von der kleinsten Schraube, dem einfachsten Bolzen bis zu den kompliziertesten Kugellagergehäusen und Trapezgewindespindeln lagen sie auf den Arbeitstischen bei den Drehbänken. Es wurden nur solche Artikel in Arbeit genommen, die sich zur Massenfabrikation eigneten und dann nach Zahl und Arbeitsvorgang geordnet gestapelt wurden.
An den Riesen- und Karusselldrehbänken schleppten wieder Laufkräne das oft zentnerschwere Arbeitsstück heran, das dann mit ganzer Kraft und genauer Berechnung an der Drehscheibe der Bank gefertigt wurde.
Die kleinen Bänke liefen in rasendem Tempo. Erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit der für das Material zurechtgeschliffene Stahl das Eisen herunterschälte. Ein pfeifendes Sausen begleitete den Vorgang.
Die großen Bänke liefen langsam und stöhnten, dröhnten und ächzten. Der Stahl quälte sich gewaltsam in den spröden Guss, dass die ganze Drehbank zitterte.
Etwas abseits standen die Bohr- und Hobelmaschinen. Bei dauernder starker Kühlung mit so genanntem Seifenwasser (Ölwasser) fraß sich unter Quietschen und Kreischen der Bohrer ins Material. Die kleinsten und größten Bohrungen wurden in einmaligem Vorgang fertig gestellt.
Neben dieser Abteilung war die Werkzeugmacherei, in der das Werkzeug instand gehalten und ausgeliehen wurde. -
Da heulte wieder die abscheuliche Fabriksirene. Es war fünfzehn Minuten vor neun Uhr. Frühstück. Um neun Uhr wird sie abermals heulen, dann ist Frühstück vorbei. Von zwölf bis zwölf Uhr fünfundvierzig ist Mittag und um vier Uhr Feierabend, dann ist ein Arbeitstag vorüber. Die Woche hat sechs, das Jahr über dreihundert solcher Arbeitstage.

 

Meister Westmann. 

„Also kommen Sie mit!" Meister Westmann von der Dreherei ging voraus, und ein „Neuer", ein großer schlanker Arbeiter, Ende der Zwanziger, mit pieksauberem blauem Arbeitszeug, folgte.
„Sie übernehmen diese Bank!" Es war eine mittelgroße Spindelbank, nicht gerade das neueste, aber auch nicht das älteste Modell. Sie sah stabil und doch handlich aus.
„Hier im Schrank liegt das Werkzeug, das Sie bekommen, sehen Sie her!... Drei Schlüssel liegen hier! Zwanzig Stähle. Zählen Sie!"
„Eins, zwei, drei, vier... Stimmt!"
„Einen Stahlhalter - einen Handfeger - eine Ölkanne - und hier zehn Werkzeugmarken. Sie haben Nummer sechsundsiebzig. - Nun unterschreiben Sie den Empfang!
Ich habe Ihnen bereits gesagt, hier wird im Akkord gearbeitet. Die ersten Tage drücke ich natürlich ein Auge zu, aber sehen Sie zu, dass Sie sich bald eingearbeitet haben. Es ist in Ihrem eigenen Interesse!"
Meister Westmann war schon einige Schritte fort, da kehrte er wieder um.
„Melmster, sind Sie organisiert?"
„Wie meinen Sie das?"
„Ich meine gewerkschaftlich. Ihre Kollegen hier dulden keine Unorganisierten!" „Ich bin organisiert!"
„Ist gut, und Arbeit wird Ihnen gleich gebracht!" Alfred Melmster, der „Neue", sah sich um. Sein Platz war mitten in der Reihe der Dreher. Seitlich von ihm stand ein riesiges Biest von einer Karusselldrehbank. Ein älterer Dreher würgte an ihr mit einem verlängerten Schraubenschlüssel herum. Vor ihm stand ein jüngerer Mensch mit rötlichen Haaren. Er schien peinlichst ordentlich zu sein, denn an seinem Platz lag alles sauber und geordnet. Hinter ihm stand ein kleinerer, bejahrter, schlau aussehender Arbeiter. Melmster hatte das Gefühl: Den magst du nicht.
Die Arbeit war nicht außergewöhnlich schwierig, aber gearbeitet wurde im Galopp, das sah er. „'n Morgen, Kollege!" - „Morgen!"
„Ich heiße Endrusch und bin der Vertrauensmann der Dreher, bist du im Verband?" „Ja - warte -, hier ist mein Buch!"
Inzwischen hatte der Arbeitsbursche auf einem Rollkarren die erste Arbeit gebracht. Einhundert Flansche und einige Enden Metall.
Melmster sah sich die Zeichnung an. Ganz gute Arbeit. Meister Westmann kam wieder. „Werden Sie draus schlau?" „Natürlich."
„Sehen Sie", und nun erklärte er ihm bis ins einzelne, worauf es bei den Flanschen ankam und wie die Arbeit am besten in verschiedenen Arbeitsteilungen fertig zu stellen sei. Ein anständiger Kerl, sagte sich Melmster, als der Meister wieder weiterging.
„Hier, Kollege, dein Buch!"
„Hör mal, Kollege En... En... !"
„Endrusch!" half dieser nach.
„Ja, richtig, wie ist dieser Betrieb organisiert?"
„Sehr gut - fast hundertprozentig. Es sind nur drei bis vier Arbeiter, die sich hartnäckig weigern."
„Das ist ja fabelhaft. Und der Arbeiterrat?"
„Sieben Kollegen. Von uns, von der Dreherei, dort der Kollege Schmachel!"
„Wie ist der Arbeiterrat politisch zusammengesetzt?"
„Alles Sozialdemokraten!"
„Gibt es hier gar keine Kommunisten?"
„Doch - aber die sind hier nicht die Mehrheit!"
„So!" sagte Melmster, aber er wurde aus der Zusammensetzung des Arbeiterrats nicht recht schlau.
„Dort hinten, der junge Hobler, das ist der Wortführer der Kommunisten!"
„Sooo", sagte Melmster wieder und lachte dem Gewerkschaftsfunktionär ins Gesicht.
Dieser lachte aus Verlegenheit mit und ging. Dann arbeitete Melmster. Er überholte die Bank, ölte sie ab, schliff sich die Stähle so, wie er sie brauchte, setzte einen Flansch in die Planscheibe und begann zu schruppen und zu bohren. Als er aber sah, dass der junge Hobler hinter der Meisterbude seine Hobelmaschine abstellte und aus der Halle ging, fragte er seinen Vordermann nach dem Abort. „Aus der Halle hier, bei der großen Tür, links übern Hof!" Da stellte auch Melmster seine Bank ab. Auf dem Hof stieß er auf den Hobler. „Ich hab schon gesehn, hast heute angefangen, was?"
Sie gaben sich die Hände. „Du, ich möchte was von dir wissen. Wer sind meine Nebenleute?"
„Sozialdemokraten. Wirst es nicht leicht haben. Und der hinter dir steht, Olbracht, ist eine Kanaille, vor dem musst du dich in acht nehmen."
„Aber wie kommt es, dass hier nur SPD-Arbeiterräte sind?"
„Wir sind in der freigewerkschaftlichen Versammlung in der Minderheit geblieben, und weil wir ihnen tüchtig Zunder gaben, haben sie sich auf keine Verhältniswahl eingelassen und uns an die Wand gedrückt."
„Haben wir denn keine eigene Liste aufgestellt?"
„Doch - aber nur in der freigewerkschaftlichen Betriebsversammlung, und da blieben wir in der Minderheit, und die SPD besetzte den ganzen Arbeiterrat!"
„Dann ist also gar keine richtige Betriebsratswahl gewesen?"
„Nein!"
„Wie stark ist unsere Zelle?" „Achtundzwanzig Genossen!" „Mit mir also neunundzwanzig!"
„Und dann noch zirka vierzig in der RH und fast ebenso viele in der IAH. Man muss gegen einen Kreis ganz verknöcherter Leute boxen, die hier in der Wiege reingefahren wurden und die auch wieder im Sarg rausgekarrt werden möchten!"
„Weißt du, Hans, ich mach mich die ersten Tage noch nicht mausig - ich will erst Grund fassen!"
„Wenn du mit irgend etwas nicht zurechtkommst oder etwas wissen willst, dann frag mich nur, ich bin hier altes Inventar und weiß so ziemlich Bescheid", hatte Melmsters Hintermann zu ihm gesagt. Melmster hatte sich freundlichst bedankt, aber die Antipathie gegen diesen schwammigen Menschen mit den unruhigen Augen war nur gestiegen.
Als es Mittag heulte, fragte Melmster, wo der Frühstücksraum sei. Olbracht lachte.
„Der ist so verdreckt und so ungemütlich, dass da keiner hingeht", sagte er.
„Also gibt's hier keinen Frühstücksraum?"
„Doch!"
„Nein! - Ein dreckiger, ungemütlicher Frühstücksraum ist so gut wie keiner!"
Nach Mittag kam Meister Westmann. Er beobachtete, wie Melmster seine Arbeit handhabte, und war anscheinend zufrieden, denn er legte, ohne ein Wort zu sagen, einen Akkordzettel auf die Drehbank und ging wieder.
In vierzehneinhalb Stunden mussten die Flansche fertig sein, das heißt geschruppt, gebohrt, Messingbuchsen abgestochen, gedreht, in die Flansche gepasst und diese dann auf einem Dorn endgültig fertig gedreht werden. Da war jede Minute einkalkuliert.
„Stimmt der Preis?" fragte Melmster seinen Hintermann und zeigte ihm den Akkordzettel.
„Wieso?-Natürlich!"
„Nun, ich meine nur, einem Neuen können sie ja alles in die Hand drücken!"
Kurz vor vier Uhr wurde es unruhig. Heimlich wurden die Hände in Öl und Seifenwasser gewaschen, die Frühstückstaschen mit den Thermosflaschen bereitgelegt, und als es heulte - jagte, rannte, stolperte alles zum Mittelausgang.
„Was ist denn das?" fragte sich Melmster. „Die sind ja total meschugge!"
Er stand noch allein hinter seiner Drehbank, aber als er fortgehen wollte, sah er, dass er sich anschließen musste, eine lange Kette Arbeiter stand vor dem Ausgang.
„Warum muss man sich anschließen?" fragte er den, der vor ihm stand.
„Weil man an der Kontrolluhr stempeln muss!"
„Steht denn da nur eine Uhr?"
„Ja!"
„Na, Mensch, das ist aber 'n Betrieb!" Als Melmster seine Karte abstempelte, war es fünf Minuten nach vier. Im Wasch- und Umkleideraum war ein wildes Durcheinander. Jetzt sah man es erst, der Raum war viel zu klein. Einige Minuten musste er warten, bis ein Becken frei wurde. Die Lehrlinge durften sich sogar erst dann waschen, wenn die Gesellen fertig waren.
„Toller Betrieb", murmelte Melmster, als er aus dem Fabriktor schritt... „Frühstücksraum - Waschraum - Kontrolluhr... "

 

Der Neue orientiert sich.

Am Tage darauf hatte sich Melmster im Betrieb tüchtig umgesehen. Wenn die Bearbeitung der Flansche einmal eingestellt war und der Span einige Minuten lief, fand man immer noch Zeit, sich über die Nachbarschaft zu orientieren. Der junge Rotkopf vor ihm, Kurt Menzel, war ein harmloser, etwas penibler Junge. Melmster hatte bald heraus, dass er leidenschaftlich gern tanzte, jedes größere Fußballmatch besuchte und dass die Mädels ihm den ganzen Tag im Kopf spukten. Er war ein in sich verschlossener Mensch, aber freundlich und gefällig.
Bleckmann hieß der ältere Dreher an der Karusselldrehbank. Wenn ein Meister oder einer der Kalkulatoren durch die Halle ging, wollte er sich vor Arbeit umbringen. Das gefiel Melmster nicht. Er schien sich außerordentlich gut mit
Olbracht zu stehen, die beiden hatten oft die Köpfe beieinander.
Dieser Olbracht war ein merkwürdiger Kerl. Ganz offensichtlich versuchte er bei Melmster Sympathie und Zutrauen zu erwerben. Er war freundlich, fast zu freundlich, lächelte oft, selbst dann, wenn es gar nicht angebracht war, und bot sich immer wieder als hilfsbereiter Kollege an.
Von den übrigen Arbeitern fiel ihm ganz am Ende der Reihe ein längerer schmächtiger Mensch auf, der oft übermäßig laut auf seinen Vordermann ein schrie und dann knallrot im Gesicht wurde.
An der großen Koppbank stand ein Dreher aus der „Demagogengeneration". Er trug einen Spitzbart à la Bebel, und Melmster wollte wetten, dass er einen schwarzen, breitrandigen Hut trüge.
Der alte John mochte siebzig Jahre alt sein, und wenngleich er an seiner Karusselldrehbank seit Jahr und Tag dieselben Schwungräder drehte, wie Olbracht sagte, empfand es Melmster doch als einen Skandal, dass dieser Greis sich noch so abplagen musste.
Olbracht zuckte die Schultern: „Er will ja nicht! Invalidität und Rente könnte er längst haben!" „Dabei kann er aber verhungern!"
Olbracht zuckte wieder als Antwort die Schultern.
Ein lustiger Kauz war der Dreher neben Bleckmann. Er bediente eine ebensolche Karusselldrehbank wie dieser, und sie schienen in der Arbeit auch richtige Konkurrenten zu sein. Vornehmlich Bleckmann bekam alle Augenblicke den Besuch seines Nebenmannes, und dann wurde heftig über die Arbeit und das Material schwadroniert. Er war ein schmächtiger, aber springlebendiger Kerl, von einer grotesken Unsauberkeit, denn er schmierte sich gedankenlos den ganzen Dreck seiner Hände ins Gesicht und sah nach einigen Stunden Arbeit wie ein Hottentotte aus. Er hieß Wiesenbach, Fritz, und war für seine Nebenleute das Unikum. Zum Gaudium seiner Kollegen konnte er bei allen Spöttereien gottserbärmlich fluchen.
Der Hobler Hans kam und tat so, als ob er eine Zeichnung suchte, und raunte dabei Melmster zu: „Komm zwanzig nach drei Uhr zum Scheißhaus fünf!"
Melmster hätte nach der Akkordstundenzeit eigentlich mit der Arbeit schon fertig sein müssen, doch war er nach seiner Berechnung höchstens am nächsten Tag um zehn Uhr soweit. Dabei hatte es außergewöhnlich gut geklappt. Nur ein Flansch, in den sich der stumpf gewordene Stahl eingefressen hatte, war Ausschuss. Da er nun mit der Zeit versackt war, bekam er seinen Grundlohn, und das waren 1,20 Mark die Stunde. Die Zeit auf dem Akkordzettel war Durchschnittslohn, das heißt zehn Prozent mehr, also 1,32 Mark. Der Höchstakkordsatz, der nach stillschweigendem Übereinkommen der Belegschaft verrechnet werden durfte, waren zwanzig Prozent. Auf diese Weise wurde verhindert, dass sich die Kollegen aneinander vorbeiarbeiteten; wer aus der Reihe tanzte - es gab auch solche Elemente -, wurde gemieden wie ein Streikbrecher.
„Nun, kommen Sie mit der Zeit zurecht?" Meister Westmann war an die Drehbank getreten und betrachtete die Flansche.
„Sie müssen darauf achten, dass die Metallbohrungen saugend nach Kaliber minus passen!" „Jawohl!"
„Und das wird mit der Zeit schon kommen!" „Was wollte er?" fragte Olbracht, als Westmann fort war. „Nichts von Bedeutung!" entgegnete Melmster. Olbracht biss sich auf die Lippen.
Melmster ging über den Fabrikhof zum Lokus. Die Latrine war eine baufällige Bretterbude. Eine grauschmutzige Blechrinne mit einem Abfluss in ein Siel zog sich durch die ganze Bretterbude. Atemerstickend war der Gestank, der einem entgegenschlug. Durch starkes Qualmen versuchte sich jeder hier den Aufenthalt zu ermöglichen. Melmster kannte von den Werften und von Süddeutschland her die Lattenlatrinen, wo in einer Bretterbude nur eine Latte gelegt war, über der man sich balancierend festhalten musste, doch diese hier waren mindestens ebenso ekelhaft. Die Wände waren verschmiert und verkritzelt, der Boden war nackte Erde, und von den fünf Latrinen stand an der dritten noch ein Schild „Nicht benutzen", hier funktionierte die Wasserleitung nicht.
Auf Nummer fünf saßen bereits drei. Außer dem Hobler Hans lernte Melmster den Schlosser Drohn und den Tischler Hackbarth kennen. Diese drei waren der Zellenkopf der Fabrik.
Sie hatten Melmster zur Beratung herangezogen, weil sie wussten, dass er ein aktives und langjähriges Parteimitglied war.
„Ist das hier eine Pestbude!" Melmster verzog vor Gestank das Gesicht. „Macht schnell, ich verschwinde bald wieder!"
„Wir haben so auf Umwegen erfahren", begann der Hobler Hans zu flüstern, „dass der Arbeiterrat eine Belegschaftsversammlung für Mittwoch nächster Woche plant. Er wird sie heimlich unter seinen Anhängern vorbereiten und sie am Tage davor offiziell bekannt geben. So hoffen sie uns zu über rumpeln. Wir müssen also auf der Hut sein!" - „Ich schlage vor, sofort für morgen eine außerordentliche Zellenversammlung einzuberufen. Es ist seit dem Sommer die erste Belegschaftsversammlung, die der Arbeiterrat einberuft, und vielleicht die letzte vor den Wahlen!"
Der Schlosser Drohn gefiel Melmster, was er sagte, war klar und bestimmt.
„Dann muss jeder möglichst heute noch die Genossen seiner Abteilung benachrichtigen", ergänzte ihn der Tischler Hackbarth.
„Hallo!" Jemand rüttelte an der Tür.
„Besetzt!" schrie Hans Wend.
„Und was meinst du?" fragte er Melmster.
„Ich bin durchaus eurer Auffassung. Wenn die Burschen eine Belegschaftsversammlung umgehen, wo sie nur können, müssen wir auf Draht sein!"
„Also gut!" flüsterte nun wieder Hans Wend, „morgen gleich nach Feierabend. - Geh du zuerst!"
Melmster ging über den Hof in die Maschinenhalle.
Kurz vor Feierabend ging der Oberkalkulator durch die Halle, der meistgehasste Mensch der ganzen Fabrik. Das wusste er auch, aber er wurde dadurch nur noch hochmütiger. Die Hände auf dem Rücken, schlenderte er mit scheinbar gleichgültigen Blicken an den Drehbänken vorbei. Er schien keine Menschen, sondern nur Arbeit zu sehen. Als er bei dem Dreher Bleckmann vorbeikam, zog dieser die Mütze. Bei Melmster blieb er etwas länger stehen und beobachtete dessen Handgriffe. Dann betrachtete der „Mann mit der Stoppuhr" die fertigen Flansche. Dabei sahen sich Melmster und er sekundenlang in die Augen. Melmster hatte das Empfinden, als warte jeder darauf, dass der andere grüßen würde. Melmster verzog keine Miene. Er, der Prolet, fühlte keine Veranlassung, dem „Ober" die einfachste Höflichkeit zu ersparen. Wortlos ging der Oberkalkulator weiter.
„Immer kurz vor Feierabend", brummte der Rotkopf, „dieser madige Sack!" Dann ließ er seine Bank leer laufen und wusch sich hinter seinem Werkzeugtisch die Hände.
Eine komische Begegnung, dachte Melmster, und dann heulte es, und alles lief wieder in wilder Raserei zur Steckuhr. Melmster aber lief wieder nicht mit.

 

Der Betriebsobmann mit der Kastratenstimme.

Karl Kühne, der Betriebsratsobmann, war ein hünenhafter Kerl. 1,90 Meter mochte er groß sein, und der eiförmige kleine Kopf saß auf breiten, fastwaagerechten Schultern. Er schien sich bei seinen körperlichen Ausmaßen und seiner Funktion auch außerordentlich wichtig vorzukommen, denn er bewegte sich langsam und gravitätisch. Er war Anreißer, und seine Anreißplatte stand gleich hinter der Meisterbude zwischen den Maschinen. Ein großes Gussgehäuse stand hier, und der Riese bearbeitete mit Winkel, Maß und Reißnadel die angekreideten Stellen. Dabei war ihm seine außergewöhnliche Körpergröße so hinderlich, dass er meistens in geduckter Stellung vor seinem Arbeitsstück stand.
„Kollege, hast du die Zeichnung E sechsunddreißigvierund-zwanzig?"
Melmster suchte eine Zeichnung, die hier liegen sollte.
„Sieh mal nach, dort unter den andern!" piepste der Riese mit einer fisteldünnen Stimme, dass Melmster ihn förmlich entsetzt anstarrte. Der riesengroße Mensch schien zu begreifen, was in dem andern vorging, wurde rot und beugte sich noch tiefer über seine Arbeit. Melmster aber stellte fest, dass er außer dieser Altjungfernstimme auch noch große, helle, aber etwas einfältige Augen hatte.
Er fand seine Zeichnung, sagte es und wollte gehen, da rief ihn der piepsende Riese zurück.
„Kollege, wo hast du zuletzt gearbeitet?"
„Ich bin als Reparaturdreher zur See gefahren."
„Du bist ja schon ziemlich lange im Verband!"
„Ich war in der Arbeiterjugendbewegung", war Melmsters ganze Antwort.
„Kommst du mit der Zeit zurecht?"
„Sie scheint nicht an der Drehbank, sondern nach Tabellen errechnet zu sein. Die Arbeit selbst ist nicht so aufregend!"
Melmster beobachtete, wie der Betriebsrat ihn fortgesetzt groß und stur ansah. Er tat so väterlich gütig und so intelligent wie möglich und wollte Autorität erobern, er war doch Betriebsratsobmann, und da er im Zweifel war, ob der „Neue" es überhaupt schon wusste, konnte er es sich nicht verkneifen, es so scheinbar nebenbei zu bemerken.
„Ich weiß bereits", sagte Melmster gleichgültig, und der Riese zuckte ordentlich zusammen...
„Sie haben an den Flanschen neunzehn Stunden gearbeitet", kam Meister Westmann mit dem Akkordzettel zu Melmster, „das wird wohl nicht stimmen I"
„Doch, ich bin erst heute etwas nach zehn Uhr fertig geworden."
„Na, Menschenskind, dann haben Sie ja nichts verdient. Haben Sie nicht die Bank eingerichtet, als Sie sie übernahmen?"
„Jawohl!"
„Also schreiben wir vier Stunden Bankeinrichten, dann haben Sie doch wenigstens etwas!"
Melmster wusste nun, wie hier die Akkordpreise gehalten wurden. Im Kalkulationsbüro hieß es jetzt, sogar die Neueingetretenen verrechnen bei der ersten Arbeit schon zehn Prozent.
In den Nachmittagsstunden war an den letzten Drehbänken eine Brüllerei, die den Lärm der Maschinen übertönte. Besonders der Dreher mit dem Bebelspitzbart fuchtelte erregt mit den Armen in der Luft.
„Das ist Schmachel, der sich mit dem Kommunisten unterhält", grinste Olbracht.
„Wer ist denn der Kommunist?"
„Der Junge dort mit der gespaltenen Nase. - Der Drittvorletzte!"
„Aber warum brüllt denn der andere so?"
„Das ist Politik", grinste Olbracht gemein. Politik, dachte Melmster und wurde daraus nicht schlau.
Der Spitzbart brüllte weiter, bis der Meister kam, dann fuchtelte er diesem mit den Händen vorm Gesicht herum und schien sich gar nicht beruhigen zu können.
Melmster hatte konische Zahnräder zu bearbeiten. Es war ekelhaftes, sandiges Material, kein Stahl war scharf zu halten. Auf einem Gang langsamer ging es dann schließlich leidlich. Sinnend sah Melmster, wie sich der lange, dünne Bohrstahl federnd ins Material arbeitete. Plötzlich wurde ihm der Sinn der Brüllerei klar. Die schlagen also Lärm, damit alles auf den Kommunisten aufmerksam wird und dieser dann bei der nächsten Gelegenheit seine Papiere erhalten kann. Und alles bewusst und überlegt. Eine Gemeinheit. -
Als Melmster nach Feierabend glücklich ein Waschbecken ergattert hatte und sich wusch, trat der Hobler Hans an ihn heran und sagte: „Ich geh mit dir längs!"
„Weißt du", sagte er dann, als sie auf dem Wege zum Versammlungslokal waren, „wir haben eine Sympathisierende (er sagte es immer statt Sympathisierende) im Kalkulationsbüro.
Eine frühere Jugendbeweglerin. Sie macht auch die Protokolle der Verhandlungen des Arbeiterrats mit der Firma und hat uns schon manchen Tipp gegeben. Wir kennen jedes Wort, das oben gesprochen wird." „Das ist ja glänzend I"
„Aber wir können nie richtigen Gebrauch davon machen, sonst ist sie natürlich kompromittiert. Es ist gewissermaßen nur zur Information!"
„Wissen alle davon?"
„Nee, nur Kerge und Drohn!"
„Das braucht auch weiter keiner zu wissen!" Inzwischen waren sie durch einige Straßen gegangen.
„Hier an der Ecke ist es", sagte dann Hans.

 

Die Zelle.

Zirka acht Genossen saßen schon im Vereinszimmer der Eckwirtschaft beisammen, als Melmster und Hans eintraten.
„Mensch, Hans, dir hab'n se wohl ins Gehirn gespuckt!" rief ein großer Arbeiter mit klobigem Knochenbau, ungewaschen und mit freier, behaarter Brust, „heut ist doch Kundgebung bei Sagebiel!", und seine gelben Zähne glänzten, „man kann sich ja kaum den Schiet abwaschen!"
„Hätten wir nicht warten können bis zum festen Tag? Ich wollte heute gerade meine zehn Mann kassieren", rief ein anderer.
Nach Melmster kamen noch einige. Unter ihnen interessierte Melmster ein junger Bursche mit flachsblonden Haaren. „Hallo, Fritz!"
„Bist du bi uns anfungen?" kam der Junge fragend auf Melmster zu. Sie setzten sich zusammen. Fritz Baldow, der Tischlerlehrling, schien sich höllisch zu freuen. Sie kannten sich durch den Bruder des Lehrlings, der ein unermüdlicher Funktionär der Partei war.
Der Wirt kam, stellte einige Glas Bier auf den Tisch und nahm Bestellungen entgegen.
Als sich noch einige zwischen den Fahrrädern, die an der
Tür standen, durchklemmten, war das kleine Zimmer fast überfüllt.
„Warum kommt Rudioff nicht?" fragte Hans, der am Ende des Tisches Platz genommen hatte. Keiner wusste eine Antwort. „Voriges Mal war er auch nicht hier, notier es mal, Karl!" „Kulmbacher und Erwing fehlen auch noch!" rief einer. „Das faule Volk kommt nicht", erwiderte ein anderer. Dann schlug Hans Wend mit seinem Schlüssel an das Bierglas.
„Genossen, ich eröffne unsere außer der Reihe einberufene Zellensitzung. Die Angelegenheit ist unaufschiebbar, aber wir erledigen sie schnell. An einem Tag in der nächsten Woche ist Betriebsversammlung. Der Arbeiterrat ist schon mächtig aktiv, heimlich natürlich. Alle sicheren Leute werden verständigt. Es soll über Überstunden in der Dreherei und Neukalkulierung der Akkordpreise verhandelt werden."
„Das heißt Reduzierung des Akkordlohnes!" rief einer dazwischen.
„Selbstverständlich", fuhr Hans fort, „und wir müssen geschlossen und planmäßig auftreten. Bei der letzten Besprechung des Arbeiterrats mit Jacobi und Fritsche haben Kühne und Schmachel schon so gut wie zugestimmt. Die Belegschaft soll nur noch amen sagen. Wir müssen nun ein, zwei Redner bestimmen und eine Resolution ausarbeiten und alle Sympathisierenden in die Versammlung bringen. Wer will das Wort dazu?"
„Hier!" rief der Ungewaschene, der Schmied Hennings, wie Fritz erklärte. „Genossen, die Brüder wollen uns übers Maul fahren. Gut, dass wir heute beisammen sind und schon wissen, was gespielt wird. Ich schlage vor, Hans und Drohn reden!"
Es waren gut zwanzig Arbeiter in dem kleinen Raum, durchschnittlich, wie Melmster feststellte, im Alter von fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren. Große und kleine, schmächtige und breite. Ihren Beruf konnte man schon an der Kleidung erkennen.
„Hans, gib mir mal das Wort!" Ein älterer Kollege - die winzigen Holzfasern am Rock verrieten den Tischler - räusperte sich und sagte: „Wir haben zwanzig bis dreißig Pfennig weniger Lohn als die Tischler in anderen Betrieben. - Beim Abschluss des jetzigen Tarifs sind wir um unsere Forderungen betrogen worden! - Kaum eine Lohnerhöhung. - Keinen freien Sonnabendnachmittag. - Jetzt ist die Gelegenheit selten günstig. - Wir müssen der Firma unsere Forderungen unterbreiten und diese Forderungen bis zum Ende durchkämpfen! Zuerst müssen wir eine Resolution einreichen, wo alles drinsteht, aber kurz muss sie sein, kurz - ganz kurz." Er suchte schwer nach den passenden Worten.
„Wenn ich recht verstanden habe, sind wir einer Meinung", erklärte nun wieder Hans. „Der Zellenvorstand wird sich auf seine vier Buchstaben setzen und eine Resolution ausarbeiten sowie Redner bestimmen. Alle Sympathisierenden müssen mobilisiert werden. Und jetzt hat unser neuer Genosse Melmster das Wort."
Dichter Tabaksqualm war in dem kleinen Zimmer. Der Tischler Hackbarth tat einen tiefen Schluck und wischte sich den Bierschaum vom Bart. Jeder wartete, was der „Neue" sagen würde.
„Genossen, ich bin zwei Tage im Betrieb, ich will euch kurz mitteilen, was mir aufgefallen ist. Dreihundert Arbeiter und dreißig Genossen und ein derartiges verdrecktes, ekelhaftes Scheißhaus, dass man sich die Pest holen kann, kein anständiger Frühstücksraum, keine Spinde und nicht genügend Waschbecken im Umkleideraum; täglich um vier Uhr ein Nurmi-Wettrennen, weil nur eine Kontrolluhr vorhanden ist. Das alles ist ein Skandal ohnegleichen. Aber, Genossen, wir sind mitschuldig daran, wenn wir nicht gegen derartige Missstände kämpfen.
Dieser Betriebsrat krümmt doch keinen Finger, der fühlt sich in seinem Amte für das Wohl und Wehe der Betriebsleitung und die Ruhe und Ordnung der kapitalistischen Ausbeutung im Werk verantwortlich. Diese Puppen der reformistischen Bonzen vom ADGB werden niemals Missstände entdecken.
Wie können wir aber am besten derartige Missstände anprangern und eine Bewegung im Betrieb entfesseln, damit sie beseitigt werden?
Genossen, es freute mich als Neuling in eurem Kreise ungemein, als der Genosse Hans mir mitteilte, dass demnächst eine Betriebszeitung erscheinen wird." Hans sah ihn furchtbar blöde an, aber Melmster fuhr fort: „Seht, das ist die richtige Waffe, eine schonungslose Kritik unter den Kollegen im Betrieb zu entfesseln. Aber ihr müsst alle mitarbeiten, Schweinereien rücksichtslos anzuprangern, die Meinungen der Kollegen festhalten, berichten, was gegenwärtig interessiert und diskutiert wird. Und noch eins - ich bin im Betrieb noch nicht richtig warm, ich werde mich dabei noch etwas im Hintergrund halten.
Aber gearbeitet wird schon ab heute, und jeder Genosse, der ein wirklicher Kommunist sein will, muss mitmachen."
Keiner sagte was, jeder aber wunderte sich, denn von einer Betriebszeitung war wohl früher mal flüchtig, aber dann nie wieder gesprochen worden.
Am Schluss der Zellensitzung trat Hans zu Melmster. „Du willst eine Betriebszeitung machen?" „Ich nicht - wir!"
„Schön, und wen gedenkst du offiziell zu beauftragen?" „Unter uns gesagt, Fritz Baldow."
„Der Junge, der Lehrling?" Hans hob abwehrend die Hände.
„Der ist gut, Hans, glaub es mir."

 

Er hätte...

Kaum ratterten am andern Morgen die Maschinen in den Hallen, da hielten sie auch schon wieder. Die Dreher vermuteten eine Betriebsstörung und suchten erfreut ihre Sitzplätze an der Fensterfront auf. An einer steigenden Unruhe in der Fabrik erkannten jedoch alle, dass die Störung andere Ursachen hatte. Arbeiter liefen durch die Halle. Unter dem einen Laufkran sammelten sich immer mehr Arbeiter und sahen zum Kran hinauf. Einige waren
von der Galerie über die Eisenbalken balanciert, denn der Kranführer Georg war ins Getriebe gekommen.
Unten an den Leitschnüren stand totenbleich und wie erstarrt der zweite Kranführer, der den Kran wahrscheinlich benutzen wollte, ohne dass er wusste, dass sein Kollege oben das Getriebe schmierte.
Immer mehr Arbeiter strömten herbei. Auch die Meister kamen aus ihrem Glashaus. Ein Junge lief ins Kontor. Er sollte nach einem Krankenwagen telefonieren. Aber von den Büroangestellten war noch keiner da. Nun lief er durch das große Tor zum Pförtner.
Inzwischen hatten einige beherzte Kollegen den eingeklemmten Kranführer befreit. Er war bewusstlos, und eine Hand hing wie tot, schlaff und weiß herunter. Bei Kopf und Füßen wurde er nun vorsichtig von zwei Arbeitern über den schmalen Eisenbalken getragen. Alles starrte mit offenen Mäulern hinauf. Ein Fehltritt, und die beiden schlugen mit dem Verletzten auf die untenstehenden Maschinen. Es war trotz der Ansammlung unterm Kran grabesstill. Auf der Galerie standen einige Schlosser und hoben den Verletzten über das Geländer. Dann wurde es auch unten wieder lebendiger. Überall wurde gleich diskutiert, wer schuld habe.
„Er hätte die Leitschnüre zusammenknoten müssen, damit der andere aufmerksam wurde!" „Er hätte überhaupt den Motor abstellen sollen!" „Kräne sollten nur in der Frühstücks- oder Mittagszeit geschmiert werden!" „Er hat selber schuld, er ist zu leichtsinnig gewesen!" „Nicht er, sondern die Antreiberei hier ist schuld, es kann denen da ja nie schnell genug gehen!"
Alle Auffassungen wurden vertreten. Der Kranführer Emil hörte zu, sprach aber selbst kein Wort; er, ein kräftiger, knochiger Mann, lehnte noch immer bleich und vom Schreck wie gelähmt am Pfeiler.
Melmster traf mit Olbracht an der Galerietreppe zusammen, und sie gingen gemeinsam an ihre Bänke. „Das Bein scheint mehrere Male gebrochen zu sein - der
Kerl war auch zu unvernünftig! Wenn die Invalidität genau nachforscht, steht es mies mit ihm!"
„Warum werden die Kräne nicht vor Arbeitsbeginn oder nach Feierabend geschmiert?" fragte Melmster.
Olbracht machte eine Bewegung mit Daumen und Zeigefinger, was soviel heißen sollte wie „Geld! - Geld!", und lächelte.
„Dann wissen wir ja also, wo die Schuld zu suchen ist."
Allmählich hatten alle wieder ihren Arbeitsplatz aufgesucht. Die Motoren wurden angestellt. Drehbänke und Bohrmaschinen liefen, und alles war wieder bei der Arbeit.
Dann aber kam das Krankenauto in den Fabrikhof gefahren. Auf einer Bahre wurde der Kranführer hinausgetragen. Er lag wie tot. Alles rannte an die Fenster, wischte sich ein Blickloch sauber und sah zu, wie der Verunglückte vorsichtig ins Auto geschoben wurde. Der Motor sprang an, und sanft und lautlos fuhr das Auto zum Fabriktor.
Als letzter stand der Kranführer Emil an der weitgeöffneten Seitentür und sah noch, wie der humpelnde Pförtner das Fabriktor schloss.
„Unfälle passieren ja täglich", Olbracht schnäuzte sich, „aber das war ein schwerer!"
Dann schien der Vorfall vergessen zu sein, auch in der Frühstückspause sprach keiner weiter davon.
Melmster quälte sich mit seinen konischen Zahnrädern ab. Während sich der Stahl in ein Zahnrad wühlte, sortierte er die übrigen nach der Güte des Materials. Einige waren so versandet, dass sie nicht zu bearbeiten waren. Als Meister Westmann vorbeikam, zeigte er sie ihm.
„Sehen Sie, langsam muss ich laufen lassen, sonst rutscht der Stahl weg!"
„Hundsmiserabler Guss!" Meister Westmann betrachtete die Sandstellen.
„Dabei komm ich mit der Zeit natürlich nicht annähernd aus!"
„Schreiben Sie das extra und reservieren Sie einen für den Kalkulator!"
Ein etwas rundliches Mädel mit üppigem rotblondem Bubikopf schritt in ihrem weißen Bürokittel forsch durch die Maschinenhalle.
Ob sie das ist? dachte Melmster und sah ihr nach.
Der Kittel war eng an den Körper geschnürt, und sie wiegte sich in den Hüften.
Wie unbewusst blickte er in die Richtung, wo der Hobler Hans arbeitete. Der schien sich nach ihm den Hals zu verrenken. Als sich die Blicke begegneten, nickte Hans mit dem Kopf. Melmster nickte wieder. Also sie war es.

 

„Der Rote Greifer".

Während Hans Wend einen Greifer zeichnete, der ein ganzes Bündel strampelnder und angstschreiender Kapitalisten mit fetten Bäuchen gepackt hatte, schrieb Melmster über die kommende Belegschaftsversammlung und redigierte eine Arbeiterkorrespondenz über den piepsenden Goliath. Der Tischlerlehrling Fritz, der an der Fensterbank saß, entwarf einige kleine Artikel und Schlagzeilen für die bevorstehende Arbeiterratswahl.
Das kleine dreieckige Zimmer des Hoblers war die Redaktion, die Druckerei und die Expedition der neuen Betriebszeitung „Der Rote Greifer" der Maschinenfabrik von N. & K. geworden. Eine alte Schreibmaschine und ein Vervielfältigungsapparat waren die einzigen Betriebsutensilien, die sich die Zelle von den gesammelten Groschen der Arbeiter hatte anschaffen können. Am Tage der Belegschaftsversammlung sollte der erste „Greifer" erscheinen. Und nun saß jeder der engeren Redaktionsmitglieder hier und tat sein Teil zur Fertigstellung.
„Alfred, Dora Timm wollte auch kommen, wir können ihr dann alles gleich in die Maschine diktieren!" „Wer?"
„Na, unsere Freundin von N. & K."
„Ach so!" Nach einer Weile fragte Melmster: „Hast du eigentlich mit der ein Verhältnis?" „Nee!" meckerte Hans.
„Aber wieso hält die zu uns?"
„Das ist eine kuriose Geschichte - ich denke mir, dazu haben uns unsere Feinde verholfen! - Sieh mal, hat der nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem alten Kopp?"
Hans wies auf einen fetten Bourgeois, den der Greifer sich gekrallt hatte.
„Aber was ist mit der Dora Timm?" blieb Melmster hartnäckig.
„Nun, sie sagt, sie sympathisiere mit uns und fühle sich daher verpflichtet, auch für uns zu arbeiten!" „Warum ist sie kein Parteimitglied?"
„Sie will sich nicht binden, sagt sie. Aber - ich habe meine eigenen Gedanken. Kennst du den Walter Denvolt? Früher in der SAJ?"
„Dies Protektionskind der SPD? Natürlich!"
„Und der spielt, glaube ich, dabei eine Rolle!"
„Nanu?"
„Das ist ein vollendeter Lump geworden. Früher in der Jugendbewegung radikal bis zur Schwärmerei, die Haare konnten nicht lang genug, die Hosen nicht kurz genug sein. Du kennst vielleicht seine Gedichte in der ,Arbeiterjugend': ,Wir Jungen!' und ,Wir Jungen wollen in der ersten Reihe stehn!' Er boxte auch zeitweilig gegen die Senatorenclique innerhalb der SPD, bis diese es für an der Zeit hielt, an seine niedrigen Instinkte zu appellieren. Sie brachten ihn zum Schweigen, indem sie ihn kauften!"
„Und er ließ sich kaufen?" fragte Fritz entsetzt.
„Er ließ sich kaufen, das heißt, wie das heute vor sich geht. Man kauft durch Vergebung von gutbezahlten Funktionen. Er war in der GEG angestellt, wurde dort herausgenommen und in den ZdA gesteckt. Gleichzeitig stellte man ihn bei der nächsten Bürgerschaftswahl auf die Liste und flüsterte ihm ins Ohr, dass er noch zu großen Dingen berufen sei. Jetzt ist er schon im Vorstand der SPD, sein Vorbild ist der Maxe Brauer und sein Ziel, Senator von Hamburg zu werden!"
„Was hat nun aber die Dora Timm damit zu tun?"
„Die war in der SAJ sein Mädel, seine Braut oder so. Jetzt sagt ihm die einfache Kontoristin nicht mehr zu, und er löste dieses nicht zu seiner Karriere passende Verhältnis!"
„Also ein Racheliebchen!" spottete Melmster.
„Nenn es, wie du willst. Sie sagt, sie mache sich keine Illusionen mehr über die Führer dieser Partei. Sie aber sei Sozialistin!"
„Das verstoßene Bräutchen als unsere Spionin, das ist ja der reinste Film!" „Lass sie das um Gottes willen nicht hören!" Mit einem lächelnden „Guten Tag" trat Dora Timm nach einer Weile ein.
Ungezwungen reichte sie jedem die Hand. „Schon so flei­ßig?"
„Das ist unser neueingetretener Genosse, Alfred Melmster." „Kenn ich bereits, guten Tag."
„Mir aber gar nicht bewusst!" erwiderte etwas verwirrt Melmster.
„Wissen Sie, ich habe Sie bereits in meiner Kartothek mit Alter, Beruf und Fähigkeiten!"
Alle lachten, und Melmster wollte wissen, welche Fähigkeiten denn bereits registriert seien.
Während sie ihren Mantel abnahm, vorsichtig den Hut über den Kopf zog, damit die dichten rotblonden Haare, die hervorquollen, nicht in Unordnung gerieten, sagte sie neckend: „Sie scheinen ein schlechter Kommunist zu sein, denn Sie gelten als guter Arbeiter!"
„Aber erlauben Sie mal, jeder Kommunist sollte sich bemühen, ein guter Arbeiter zu sein!"
„Heißt das, dass man für die Kapitalisten tüchtig schuften soll?" fragte Fritz erstaunt.
„Fritz, wir sprachen kürzlich mit Hans von unserer bolschewistischen Taktik in der Armee. Wie wir dort, wenn's drauf ankommt, gute, wissbegierige, umsichtige Soldaten sein müssen, denn wir sollen zum Teil die künftigen Offiziere sein, so müssen wir auch in den Betrieben gute, wissbegierige Arbeiter sein, die nicht nur ihr Handwerk, sondern auch noch die
Kalkulation beherrschen und möglichst noch vom Vertrieb und Umsatz eine Ahnung haben, denn wir wollen doch später mal die Betriebe sozialisieren; und wer sollte sie dann leiten, wenn nicht wir?"
„Ach, soweit ist es noch lange nicht!" seufzte Dora Timm.
„Sie sind ja ein Schwärmer!"
„Nein, das sind Fragen, die von uns Kommunisten leider viel zuwenig berücksichtigt und oft gar nicht verstanden werden!" erwiderte Melmster.
„Danach wäre es also für mich als Kommunisten Pflicht, dass ich mich bemühe, ein tüchtiger Tischler zu werden?" meinte noch immer zweifelnd Fritz.
„Selbstverständlich ist das eine deiner Pflichten, die du als Kommunist hast!"
„Ich halte es für richtiger, Marx und Lenin gründlich zu studieren."
„Sonst wärst du ja kein Kommunist, aber dann musst du auch ein tüchtiger Facharbeiter sein, denn nach der siegreichen Revolution und dem Aufbau des Sozialismus musst du als roter Direktor Kommunist und Fachmann sein."
„Na, wissen Sie, dem weinenden Herkules haben Sie es aber gegeben!" Dora las den Artikel von Melmster. „Das ist auch eine ebenso unglückliche wie jämmerliche Figur!"
„Was sagen Sie zu meinem Zeichentalent?" Hans Wend zeigte den fertigen Kopf der Betriebszeitung.
„Gut! Gut! Und dieser Dickbauch - direkt wie der brummige Kopp!"
„Na, was sagte ich?" rief Hans triumphierend.
„Wann ist nun eigentlich die Versammlung?"
„Mittwoch."
„Dann dürfen wir nicht vergessen, für Mittwoch zwei erwerbslose Genossen zu bestellen, die den ,Greifer' um sieben Uhr an der Fabrik verteilen."
Dora Timm begann vorsichtig, die erste Seite der Betriebszeitung auf den Wachsbogen zu tippen. Es war ein Artikel zur Belegschaftsversammlung, den der Betriebsrat immer noch verheimlichte.
„Da wird der Herkules aber seine Pferdeaugen aufreißen!" lachte Dora.
Alle schmunzelten still vor sich hin.

 

Der „Greifer" trifft.

„Zu wem zählst du dich eigentlich, zu den Sozialdemokraten oder zu den Kommunisten?" fragte Olbracht eines Tages. Das kam Melmster schneller, als er es gewünscht hatte. Als er dann aber seelenruhig sagte, zu den Kommunisten, polterte Olbracht los: „Zu den Krakeelern, den Maulhelden mit ihrem Kaschemmenanhang und ihrer gewissenlosen Putschtaktik?"
Darauf hatte Melmster nur lächelnd erwidert: „Das habe ich alles schon im ,Echo' gelesen."
Melmster glaubte nun, Olbracht würde sich fortan etwas reservierter verhalten, doch dieser blieb scheinbar der alte, väterlich-hilfsbereite Kollege. Nur Bleckmann schielte ihn einige Male erstaunt an.
Am Dienstagnachmittag befestigte endlich der Betriebsratsobmann Kühne am „Schwarzen Brett" eine Bekanntmachung.
Melmster las, dass am folgenden Tage Belegschaftsversammlung sei, und meinte so nebenbei zu den Umstehenden: „Das wird reichlich spät bekannt gemacht!"
„Ja", sagte Bleckmann betont gleichmütig, „das hätte der Arbeiterrat ruhig einige Tage eher bekannt machen können!"
Die Kollegen stimmten ihnen zu.
Am folgenden Morgen platzte die Sensation. An der Anreißplatte war ein Kommen und Gehen. Karl Kühne bemühte sich, jedem beruhigend zuzulächeln, aber man sah doch zwischen dem Lächeln, dass er außer sich war vor Zorn.
Reibungslos waren dreihundert „Rote Greifer" am Fabriktor verteilt worden. Schon im Umkleideraum wurden auf den Arbeiterrat Witze gerissen, da der „Rote Greifer" anscheinend besser orientiert war als mancher Anhänger der SPD.
Der Dreher Schmachel schnaubte vor Wut. Dieser „Rote
Greifer", der vor ihm lag, war für ihn ein Teufelswerk, etwas Unfassbares. Er rannte wie ein gereizter Tiger umher.
„Hast du auch solchen Wisch bekommen?" fragte Olbracht.
„Ja!" lachte Melmster, „ganz interessant. Ich wusste gar nicht, dass es hier auch so was gibt."
„Das ist der erste!" zischte Olbracht. „Ich gäb was drum, wenn ich wüsste, wer dahintersteckt!"
„Redaktion: Hummel! Hummel I"
„Die Kerle sind zu feige, ihren Namen darunterzuschreiben!"
„Dann würden sie auch nur ihre Entlassung unterschreiben!"
„Du verteidigst dieses anonyme Machwerk wohl noch?" bellte Olbracht.
„Lass mich doch erst einmal lesen, was überhaupt drinsteht!"-
Melmster hatte sich gedacht, dass die erste Betriebszeitung eine Sensation sein würde, aber alle Hoffnungen wurden übertroffen. Als ob eine Bombe im Betrieb eingeschlagen hätte. Überall lasen und diskutierten die Arbeiter. Hier wurde gelacht und zugestimmt, dort wurde auch gepöbelt und verächtlich geredet, aber überall war der „Rote Greifer" und sein Inhalt Gesprächsthema. Sogar Meister Westmann lieh sich, wie Melmster beobachten konnte, von dem Dreher Wiesenbach ein Exemplar, und dann lagen sie in der Meisterbude mit vier Meistern darüber.
Der „Rote Greifer" war ein Volltreffer. Melmster strahlte, Hans strahlte, Fritz strahlte, alle revolutionären Arbeiter strahlten vor Freude.

 

Drohn, der „Scharfe" und der „Gottsucher".

Der Schlosser Drohn arbeitete in einer Kolonne in der Montagehalle. Er war bereits drei Jahre bei der Firma tätig und war gewissermaßen in seiner Kolonne der Angeber; Kolonnenführer war er jedoch nicht. Seit die Betriebsleitung wusste, dass er Kommunist war, kam er für diesen Posten nicht mehr in Frage.
Kolonnenführer sind eine Art Vorarbeiter; sie erhalten einige Pfennige die Stunde mehr, und diese Pfennige genügen oft, um die so bevorzugten Arbeiter von den übrigen zu isolieren. Das gehörte zur Lohnpolitik des Unternehmertums.
Drohn hatte aber den Kolonnenführer völlig in seiner Hand. Es war ein älterer Arbeiter, Mathews mit Namen, der heidenfroh war, wenn Drohn ihm alle heiklen Aufgaben, die er als Kolonnenführer zu erledigen hatte, wie Arbeitsverteilung, Akkordverrechnung und dergleichen, stillschweigend erledigte. So kam es, dass die Kollegen mehr auf Drohn hörten als auf Mathews und dieser nur für die Betriebsleitung, nicht aber für die Arbeiter der Kolonnenführer war.
Der alte Mathews war seit dem Kriege politisch uninteressiert, indifferent. Die Enttäuschungen, die ihm als alten Sozialdemokraten aus den achtziger Jahren die Scheidemänner bereiteten, konnte er nicht überwinden. Er schimpfte bei jeder Gelegenheit auf den Ministersozialismus und nannte die Kommunisten eine neue Auflage der alten Verräter. Er war ein politisch Gescheiterter, er nahm keine Partei, er wählte nicht, baute nach Feierabend seinen Kohl und seine Kartoffeln in seinem Schrebergarten und spielte sonntags seinen Skat.
Es war überhaupt interessant, zu beobachten, wie sich besonders hier in der Montagehalle die Generationen schieden. Der alte Kriegs- und Vorkriegsstamm der Arbeiter, die teilweise ihr 25jähriges Jubiläum bei der Firma schon gefeiert hatten oder dicht davorstanden, war durchweg verspießert oder verbürgert. Entweder waren sie politisch fatalistisch eingestellt und hatten ihren Schrebergarten oder Gesangverein, oder sie waren mehr oder weniger fanatische Parteigänger des sozialdemokratischen Wahlvereins, wie sich ja heute immer noch die einzelnen Ortsgruppen der SPD nennen. Sie liefen sich für einige Pfennige Kassiererprozente nach Feierabend die Füße wund und verteilten treppauf, treppab Flugblätter, in denen Zörgiebel und Severing als die größten Sozialisten unserer Zeit verherrlicht wurden. Dabei schimpften sie über die heutige Jugend, die politisch unaufgeklärt sei und sich vor der nötigen Kleinarbeit drücke.
Es gab tatsächlich nur wenige Jungarbeiter, die aktive Parteigänger der SPD waren. Die 25- und 30jährigen im Betrieb waren entweder Fanatiker des Fußballs, des Boxringes oder des Tanzbodens, und was politisch aufgeklärt und interessiert war, schloss sich durchweg der kommunistischen Opposition im Betrieb an. Die SPD-Führung beurteilten sie instinktiv durchaus richtig als reaktionär. Natürlich waren nicht nur die Jungarbeiter revolutionär. Es gab gute Revolutionäre aus der Bebel-Generation, die sich noch heute unermüdlich und selbstlos für die Forderungen der Arbeiterklasse einsetzten, wie sie es als aktive Funktionäre innerhalb der Sozialdemokratie während ihrer heroischen und revolutionären Vergangenheit getan hatten. Aber der Nachwuchs, die Jungen, waren doch die stärksten Gruppen in der Front der proletarischen Revolution.
Das war nirgends so auffällig wie in der Montage. Meister und Kolonnenführer durchweg Sozialdemokraten, viele Arbeiter passiv. Aber ein großer Teil der Jüngeren gehörte der Opposition an.
Die revolutionäre Arbeiterschaft hatte ihre Vertrauensleute unter den Zuschlägern in der Schmiede, den Brennern in der Schweißerei und den Montageschlossern. Die Vertrauensleute der Firma waren die Privilegierten, die Meister, Vorarbeiter und Kolonnenführer der einzelnen Branchen mit dem höheren Lohn und der höheren Akkordverrechnung. Hier schieden sich die Geister.
Nun arbeitete in der Blechschmiede der Montage ein junger Schlosser, der Erich Scharff hieß und bei den Kollegen kurz der „Scharfe" genannt wurde. Er hatte lange, fliegende Haare, ein sympathisches, etwas mädchenhaftes Gesicht, einen geschmeidigen Gang und eine gepflegte Aussprache. Man merkte ihm auf hundert Schritt an, dass er einer Sportoder Kulturorganisation angehörte. Er war ein Gern- und Schönredner und infolgedessen im ganzen Betrieb bekannt. Er war Mitglied der Jungsozialisten und das einzige jüngere
Mitglied der Sozialdemokratie, ein heftiger Opponent gegen den Ministerialismus in seiner Partei, griff auch seine Parteigenossen im Arbeiterrat heftig an und hatte im Betrieb fast den Nimbus eines ungestümen Rebellen, trotzdem er ein erbitterter Antikommunist war. Er war in der Montagehalle erklärlicherweise das Sprachrohr der sich zur Sozialdemokratie zählenden Arbeiter geworden, und die Meister und Vorarbeiter verwahrten sich wohl hin und wieder gegen einige ausgeteilte Hiebe, ließen ihn aber im übrigen gewähren. Das kommt daher, sagte einmal Drohn, weil sie wissen, dass er die erregte Stimmung der Arbeiter abreagiert. Der Dreher Schmachel nannte ihn einmal den vorgeschobensten Posten der Sozialdemokratie, der sich oft bis in die Gefilde der Kommunisten wage, und hatte damit die politische Rolle des „Scharfen" trefflich charakterisiert.
Ein originelles Gegenstück zum „Scharfen" war ein jüngerer Tischler, ein blasses, schmales Kerlchen mit großen, hellen Augen und einer süßlichen Menschenfreundlichkeit. Er war Guttempler, dünkte sich etwas Besseres und bekämpfte seine Feinde mit Liebe und Güte. Da er in jedem Menschen, nach seinen eigenen Worten, den Gott suchte, nannten ihn die Proleten lächelnd den „Gottsucher". Er sprach nie über den Siebenstundentag, nie über die Rationalisierung oder die kapitalistische Profitwirtschaft, desto eifriger aber vom Alkohol, dem ärgsten Feind der Arbeiterschaft, und vom Sozialismus, der Religion werden müsse.
„Du siehst, bei uns sind allerlei Typen vertreten", sagte der Schlosser Drohn belustigt zu Melmster. „Wir Bolschewiki befinden uns in einer bunten Gesellschaft!"

 

Betriebsversammlung.

In dem großen Klublokal von Horning mochten bereits gut hundert Arbeiter versammelt sein. Teilweise kamen sie direkt vom Schraubstock und Schmiedefeuer. Die Gesichter der meisten waren schwarz vom Schweiß und Dreck der Tagesarbeit. Einige jedoch kamen auch strahlend vor Sauberkeit, mit weißer Wäsche und
einer Aktentasche unterm Arm. Das waren nicht etwa Angestellte, sondern jüngere ledige Arbeiter, die sich trotz aller Umstände gleich in der Fabrik gründlich säuberten und umzogen.
Am Vorstandstisch saßen Kühne, Schmachel und ein Dritter. Sie flüsterten sich gegenseitig die letzten Verhaltungsmaßregeln zu. Nervös blätterten sie in den vor ihnen liegenden Papieren. Im Raum selbst wurde es immer unruhiger. „Anfangen! - Anfangen!"
Schmachel, der die Versammlung leiten wollte, winkte ab. Melmster sah sich um. Immer neue Arbeiter kamen hinzu. Die Hälfte der Belegschaft mochte vertreten sein. Er sah alte und junge, sympathische und kampflustige, indifferente und apathische Gesichter. Auch einige Jugendbewegler in ihrem Manchesteranzug und farbigen Kragen waren darunter.
„Das ist der ,Scharfe' dort mit der Aktentasche, und dort der Hagere, das ist der ,Gottsucher'", raunte ihm Drohn zu. Das Versammlungslokal war nun fast überfüllt, als der Betriebsrat Schmachel die Versammlung eröffnete und kurz den Anlass der heutigen Zusammenkunft darlegte.
Die Betriebsleitung war an den Arbeiterrat herangetreten und hatte zu folgenden Forderungen seine Zustimmung verlangt: Um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben, müsse rationalisiert werden, habe die Betriebsleitung erklärt. Man habe sich aus dem Ausland den besten Schnelldrehstahl besorgt und gedenke mit einem Instrukteur die Dreharbeiten zu schematisieren. Jeder einzelne Dreher solle künftig nur seine Spezialarbeiten anfertigen, seine Bank ganz auf dies eine Arbeitsstück einrichten und sein dazugehöriges Werkzeug erhalten. Er müsse natürlich bei dieser rationelleren Arbeitsweise auch entsprechend schneller fertig werden. An einigen Artikeln solle mit doppelten Stahlhaltern und mehreren Stählen gearbeitet werden.
In der Montagehalle müsse die ganze Arbeit reorganisiert werden. Die einzelnen Kolonnen sollten nicht mehr wie bisher an ganzen Kränen beziehungsweise Schälmaschinen arbeiten, sondern nur ihre jeweiligen Einzelteile montieren, die dann von anderen Kolonnen zusammengebaut würden. Die jetzige Arbeitsweise sei für die Firma nicht mehr tragbar. Sämtliche Arbeit müsse in erheblich kürzerer Zeit fertig gestellt werden.
In der Tischlerei solle es ähnlich gemacht werden.
Weiter fordere die Betriebsleitung, um Zeit zur Reorganisation zu gewinnen, bis auf weiteres täglich zwei Überstunden von den Drehern.
„Der Arbeiterrat", erklärte Schmachel, „konnte bei solchen schwerwiegenden Entscheidungen ohne Befragen der Belegschaft natürlich nicht verhandeln und hat darum diese Belegschaftsversammlung einberufen. Nun ist heute morgen so ein Wischblatt verteilt worden!" Er schwenkte einen „Roten Greifer" in der Luft.
„Hohoo-o! Hoho!" tönte es aus der Versammlung.
„Jawohl, Wisch- und Lügenblatt!" schrie jetzt Schmachel, und die Schläfen wurden ihm rot. „Mag der Satan wissen, von wem die Moskowiter die Tagesordnung der heutigen Versammlung bekommen haben. Vielleicht vom Betriebsleiter Jacobi!"
„Also gibst du zu, dass der eher von der Versammlung wusste als wir!" riefen einige. Andere lachten.
„Ich gebe gar nichts zu!" schrie Schmachel wieder. „Ich erteile jetzt das Wort zur Diskussion über die Forderungen der Firma!" Er beruhigte sich allmählich wieder. „Wer will das Wort?"
„Hier!" - Hinten im Raum erhob sich ein Arbeiter. „Kollegen, wir haben gehört, was die Firma alles plant, damit sie ihre Profite erhöhen kann, aber sosehr ich auch die Ohren spitzte, ich habe kein einziges Wort von einer Lohnerhöhung gehört. Dabei können wir täglich in der Zeitung lesen, wie der Index steigt. Wenn die Firma amerikanische Arbeitsmethoden einführen will, soll sie uns auch amerikanische Löhne zahlen. Auch wundere ich mich, dass der Arbeiterrat selbst anscheinend keine Meinung hat, sonst hätte er uns doch vielleicht gesagt, wie er zu den Forderungen der Firma steht!" Der Hobler Hans meldete sich zu Wort.
„Kollegen, mein Vorredner hat durchaus recht. Bis Oktober sind wir nach Auffassung der Firma und unserer Gewerkschaftsinstanzen an den Tarif gebunden. Inzwischen aber ist die Lebenshaltung enorm gestiegen und steigt unaufhörlich weiter. Die Firma aber benutzt diese Zeit, um aus einer Betriebsrationalisierung bei gleichen niedrigen Löhnen erhöhte Profite herauszuschinden.
Diese Maßnahme liegt ganz in der Linie der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. Nachdem sich neunzehnhundertachtzehn aus dem Zusammenbruch des imperialistischen Weltgemetzels der deutsche Kapitalismus gerettet hat - ich will hier gar nicht zum abermalsten Male erwähnen, durch wessen Hilfe..."
„Noske! - Ebert! - Scheidemann!" rief es aus der Versammlung.
„Also, nachdem die deutsche Bourgeoisie und ihr kapitalistisches Herrschaftssystem vor der proletarischen Revolution und dem Sozialismus gerettet wurde und durch das Inflationsverbrechen wirtschaftlich gesundete, geht sie unermüdlich an die Rationalisierung ihrer Wirtschaft. Jede technische Erfindung beschleunigt diesen Prozess. Diese Entwicklung, die zum Wohle der ganzen Menschheit beitragen könnte, wird durch den Kapitalismus zum Fluch für die werktätigen Schichten. Die Aktionäre scheffeln den Profit, der Arbeiter aber hat keine Vorteile, sondern noch alle Mehrlasten der verschärften Ausbeutung zu tragen, und Tausende und aber Tausende von Arbeitern werden durch diese Rationalisierung, die auf Profitinteressen aufgebaut ist, für immer aufs Straßenpflaster fliegen.
Wir können auf das Verlangen der Firma nur so antworten: Wie steht es mit einer zwischentariflichen Lohnerhöhung? Wie steht es mit dem freien Sonnabendnachmittag, also der Fünfundvierzigstundenwoche? Wir müssen ganz klar und deutlich sagen, dass wir an den Maßnahmen, wie sie die Firma plant, völlig uninteressiert sind, aber wir müssen den Arbeiterrat beauftragen, unsererseits Forderungen an die
Firma zu stellen, und aus diesem Grunde bitte ich euch, folgendem Antrag der Opposition zuzustimmen:
Die Belegschaft lehnt die Vorschläge der Firma ab. Sie verlangt aber von der Firma eine Entscheidung über die Forderungen der Belegschaft. Diese lauten: zwanzig Prozent Lohnerhöhung auf den Effektivlohn und Fünfundvierzigstundenwoche. Kollegen, die Firma verlangt von uns Opfer und Mehrleistungen. Ich denke, wir sind längst an der Reihe, der Firma Forderungen zu stellen." „Sehr richtig!" riefen einige.
„Ich bitte euch darum, diesem Antrag der Opposition zuzustimmen!"
„Sehr richtig!" riefen einige. Der Betriebsratsobmann Kühne hatte sich zu Wort gemeldet.
„Ich bin zwar kein Schönredner wie unser kommunistischer Kollege, aber ich fühle mich doch veranlasst, zu seinen Ausführungen einiges zu sagen!" flötete er. „Wir müssen die Dinge so betrachten, wie sie sind, und nicht, wie wir sie gerne sähen. Wir müssen uns doch darüber klar sein, dass die Firma ihren Betrieb rationalisiert, gleichgültig, ob wir ,ja' oder ,nein' dazu sagen!"
„Na, was soll dann dies ganze Affentheater?" rief der Schmied Hennings, und alles lachte.
„Was das hier soll, wird gefragt, nun, wir können der Firma bei dieser Gelegenheit unsern guten Willen zeigen und sie so durch unser Verhalten entwaffnen und zu einigen Zugeständnissen zwingen."
Aus der Versammlung kamen stürmische Zwischenrufe.
„Mit Gewalt erobern wir gar nichts, überhaupt will ich unsern moskauisch orientierten Freunden nur folgendes sagen: In keinem Lande der Erde wird in solchem Tempo rationalisiert wie in der Sowjetunion. Der so genannte Fünfjahrplan ist ein einziges riesenhaftes Rationalisierungsprogramm!"
„Das ist aber der sozialistische Aufbau!" wurde gerufen.
„Das wird so gesagt, ja, aber Prämien auf Meistarbeit werden verteilt, wer sein Quantum nicht leistet, fliegt auf die Straße, und wer besonders rackert, bekommt den Orden der Roten Fahne!"
„Schwindler - Antibolschewistenhetzer!" schrie es aus der Versammlung. Der Versammlungsleiter Schmachel klingelte wie besessen.
„Ich erzählte dies nur", rief Kühne, und seine Stimme überschlug sich, „damit ihr seht, bei wem unsere Unternehmer in die Schule gehen. Richtet euch bei eurer Entscheidung danach."
Die Stimmung in der Versammlung war nach wie vor erregt. Einige redeten wild aufeinander ein. Schimpfworte flogen hin und her. Andere brüllten: „Ruhe!"
Schmachel klingelte und klingelte und erteilte schließlich dem Kollegen Ahrnfeld das Wort. „Der ,Gottsucher'!" flüsterte Drohn.
„Du musst auf den Unterschied der Rationalisierung hier und drüben eingehen!" flüsterte Melmster zurück.
„Arbeitskollegen", begann der „Gottsucher", „wir streiten uns hier wieder, und der Unternehmer reibt sich die Hände!"
„So ist es immer!" rief einer.
„Der schlimmste Feind der Arbeiter ist immer der Arbeiter selbst", fuhr er fort. „Wir müssen nicht in jedem Kollegen, der anderer Meinung ist als wir selbst, einen Verbrecher sehen, sondern in jeder Rede, in jeder Ansicht das Körnchen Wahrheit suchen."
„Der sucht schon wieder den lieben Gott!" rief ein Witzbold. Fast alles lachte.
„Nenn es, wie du willst!" Der blasse Gottsucher ließ sich gar nicht irritieren. „Ob Gott oder Wahrheit, aber jeder einzelne hat recht und unrecht!"
Wat'n Quatsch! dachte Melmster.
„Ich habe beispielsweise nicht gehört, dass der Arbeiterrat sich freudig für die Vorschläge der Firma einsetzt. Wozu also das Gehässige? Auf die Zustände in Russland und den Gesinnungsterror dort will ich gar nicht eingehen. Ich kann mir
wirklich nicht denken, dass ein Kulturmensch das gutheißen und verteidigen kann!" „Wo ist denn darin nun das Körnlein Wahrheit?" wurde gerufen.
Der „Gottsucher" hörte nichts mehr.
Der Schlosser Drohn meldete sich hartnäckig zu Wort, aber Schmachel erteilte es dem Vertreter des Metallarbeiterverbandes, dem Kollegen Höhne. Ein bartloser, hagerer Mann, der dritte am Vorstandstisch, erhob sich.
„Kollegen", er hatte ein volles, metallenes Organ, „ich will euch in eurer Entscheidung nicht vorgreifen, jedoch erlaubt mir, dass ich euch auf folgendes hinweise: Was ihr jetzt in eurem Werk erlebt, ist bereits im ganzen Reich praktisch verwirklicht worden. Nach dem zusammengebrochenen und verlorenen Krieg hat naturgemäß das deutsche Volk durch die ungeheuren Reparationsleistungen an die Siegerstaaten besonders schwer am Wiederaufbau seiner Wirtschaft zu leiden."
„Wessen Wirtschaft?" rief einer. Der Redner reagierte nicht darauf.
„Dazu kommt, dass tatsächlich die Konkurrenz des Auslandes auf dem Weltmarkt die deutsche Industrie zu größter Intensität antreibt. Nicht der einzelne Unternehmer ist schuld und führt diese Maßnahmen aus Arbeiterfeindlichkeit durch, sondern auch er wird getrieben durch die Gesetze der allgemeinen ökonomischen Entwicklung. Natürlich versucht er, alle Schwierigkeiten auf die Arbeiter abzuwälzen, und leider, ich sage leider, denn daran ist die Uneinigkeit der Arbeiterschaft nicht schuldlos, noch zu oft mit Erfolg!"
„Sehr richtig!" betonte mit Nachdruck der „Scharfe".
„Kein Mensch verkennt die Missstände und Ungerechtigkeiten, die heute noch in unserer Republik vorherrschen, aber, Kollegen, bedenkt einmal, was käme, wenn die sozialistische Arbeiterschaft diese Republik fallenließe?"
„Ein Sowjetdeutschland!"
„Nein, aber ein Hugenberg-Hitler-Deutschland!"
„Traurig genug!" rief es ihm entgegen.
„Wer an diesem Zustand die Schuld trägt, will ich hier lieber nicht erörtern, das Resultat könnte für manchen der Schreier hier verflucht schlecht ausfallen! Tatsachenmenschen müssen wir sein und die Dinge sehen, wie sie sind. Aussprechen, was ist, sagte Lassalle, und da müssen wir heute zu dem bitteren Entschluss kommen und die Rationalisierungsvorschläge der Firma prüfen und dabei das Beste für die Arbeiterschaft herauszuschlagen versuchen. Ich ersuche euch also, den Antrag der Opposition abzulehnen und dem Arbeiterrat alle Vollmachten zu weiteren Verhandlungen zu übertragen!"
„Wie ein Unternehmeragent!" rief einer. Schmachel führte die Klingel und erwiderte auf den Zwischenruf: „Ich glaube eher, dass dieses hier" - und er schwenkte wieder den „Roten Greifer" - „von der Firma subventioniert wird!"
„Bravo!" riefen einige, und unter den Rufern erkannte Melmster Bleckmann und Olbracht.
„Idioten!" schallte es aus der anderen Ecke der Versammlung.
Drohn meldete sich wieder zu Wort. Schmachel winkte kurz ab. „Kollegen", rief er, „ich denke, wir wollen zum Schluss kommen. Wünscht die Versammlung noch, nachdem der Vertreter der Gewerkschaften gesprochen hat, dass über den Antrag der so genannten Opposition abgestimmt wird?" „Natürlich!-Ja!-Ja!" „Dann ersuche ich die, die..." „Noch einmal vorlesen!" riefen etliche. Schmachel, der eine Mehrheit für den Arbeiterrat ungefährdet sah, las den Antrag noch einmal vor. Dann ließ er abstimmen. Etwa die Hälfte war dafür, nicht ganz soviel dagegen, der Rest enthielt sich der Stimme.
Schmachel erklärte fest und kühn: „Mit Mehrheit abgelehnt!"
Ein Sturm des Widerspruchs erfolgte. „Schiebung! -Schwindler!" wurde gerufen.
Schmachel musste die Abstimmung wiederholen und auszählen lassen, und da er ja genau wusste, wie die erste Ab-
Stimmung ausgefallen war, appellierte er an die Stimmenthalter und hielt ihnen vor, dass ihr Verhalten feige sei. Für den Antrag wurden 84, dagegen 69 Stimmen gezählt.
Vierunddreißig Kollegen hatten sich nach wie vor der Stimme enthalten. Am Vorstandstisch sah man sich entsetzt an, und nun machte Schmachel eine Riesendummheit. Er war feuerrot im Gesicht vor Verlegenheit und Wut und schrie in die Versammlung:
„Ihr könnt beschließen, was ihr wollt, der Arbeiterrat weiß, was er zu tun hat, und hat sich bereits der Firma gegenüber festgelegt!"
Ein unbeschreiblicher Spektakel brach los. Es nutzte nichts, dass der Verbandsvertreter beschwörend die Hände hob, und als der Schlosser Drohn zum Vorstandstisch eilte und ultimativ das Wort verlangte, schloss Schmachel, der jetzt kreidebleich geworden war, unter größtem Tumult kurzerhand die Versammlung.

 

Die Dreher.

Im „Roten Greifer" stand eine Notiz zu den von der Betriebsleitung geforderten Überstunden. Sie schloss mit der Aufforderung: Lehnt diese Überstunden ab!
Der Arbeiterrat war in einer verzwickten Lage. Der Betriebsleitung hatte er sie bereits bewilligt, die Belegschaft hatte sie abgelehnt. Nun berief er eine Branchenversammlung der Dreher ein. Das Arbeiterratsmitglied Schmachel wusste, dass die Dreher ziemlich revolutionär eingestellt waren, aber er wusste auch, dass unter den Drehern kein Sprecher der Opposition war.
Die tumultuarische Belegschaftsversammlung zitterte noch im Betrieb nach. Es war die erste offene Niederlage des sozialdemokratischen Arbeiterrats und für die alteingesessenen Arbeiter wie Olbracht und Bleckmann unbegreiflich.
Olbracht stand bei Melmsters Vordermann und redete auf ihn ein. Dieser versuchte ihn mehrmals abzuschieben, doch Olbracht blieb, redete, flüsterte, drohte. Melmster erfuhr später, dass der Rotkopf in der Belegschaftsversammlung für die
Opposition gestimmt hatte, und er rief ihm zu: „Lass dich nur nicht einschüchtern!" und dachte: Den kannst du diesen Reformisten entreißen.
Mit einem lauten Krach brach Melmsters Bohrstahl und flog ihm haarscharf am Kopf vorbei. Der Deckel einer Schneidemaschine, den er bearbeitete, hatte sich in der Planscheibe gelockert, war auf den Bohrstahl geschlagen und hatte ihn durch die Wucht der Umdrehungen gebrochen, dann war der Deckel auf den Stahlstumpf geschlagen, und dieser hatte ihn unbrauchbar gemacht. Alles war eine Angelegenheit von Sekunden, und es hätte für Melmster äußerst gefährlich auslaufen können. Olbracht grinste. Bleckmann hatte die nackte Schadenfreude im Gesicht. Schmachel, der mit anderen Arbeitern wegen des Krachs hinzukam, machte einige ironische Bemerkungen und zog hämisch grinsend wieder ab.
Melmster überlief es eiskalt. Nicht wegen des Missgeschicks oder der glücklich überstandenen Gefahr, sondern wegen der Feindseligkeit dieser Kollegen.
Meister Westmann kam angerannt, besah sich die Bescherung und sagte kurz: „Malheur!"
Dann trat er aber an Melmster heran: „Sehen Sie die Schadenfreude Ihrer Kollegen?" „Natürlich!"
„Kann man da nicht zum Menschenverächter werden?" „Nein!" sagte Melmster, „höchstens zum Verächter aller verachtungswürdigen Menschen!"
- Meister Westmann schüttelte den Kopf: „Lassen Sie sich in der Materialverwaltung einen neuen Deckel geben!"
In der Mittagszeit war die Zusammenkunft der Dreher in der so genannten Frühstückshalle. Es war ein großer, aber kahler und verschmierter Raum mit langen rohen Holztischen und Bänken. Drei alte Arbeiter, die hier saßen, mussten sich woanders einen Mittagsplatz suchen.
„Kollegen", begann Schmachel, als die etwa fünfzig Dreher beisammen waren, „durch die Sprengung der Belegschaftsversammlung konnte nicht über den Punkt entschieden werden, der besonders uns Dreher angeht, nämlich über die von der Firma geforderten Überstunden. Ich denke, dass wir hier kurz beschließen, dass wir bereit sind, bis auf weiteres täglich zwei Überstunden zu leisten. Oder ist ein Kollege anderer Auffassung?"
Keiner rührte sich, aber als Schmachel Miene machte, weiterzureden, sagte Melmster: „Allerdings! - Ich denke nämlich, dass die Belegschaftsversammlung auch die Überstunden der Dreher abgelehnt hat, denn die gehörten doch zum Rationalisierungsprogramm der Firma."
„Was wollen wir uns hier streiten", erwiderte Schmachel unwillig. „Es soll sich doch keiner einbilden, dass sich die Firma durch den letzten Belegschaftsbeschluss von ihren Plänen abhalten lässt, das können doch nur Kinder oder - Kommunisten glauben!"
„Dann dürfen wir aber unsern Kollegen nicht in den Rücken fallen und müssen den Belegschaftsbeschluss akzeptieren und die Überstunden ablehnen", erklärte Melmster mit größter Ruhe. Schmachel starrte ihn böse an.
„Unser neuer Kollege will uns Alten Lehren und Verhaltungsmaßregeln geben!" fiel ironisch Bleckmann ein. „Ich denke, wir wissen selbst, wie wir uns zu verhalten haben!"
„Aber er hat doch ganz recht!" rief der Dreher mit dem gespaltenen Nasenbein. „Wir können doch den Belegschaftsbeschluss nicht umstoßen!"
„Quatsch", rief jetzt Schmachel, der sich schon wieder aufregte. „Der Arbeiterrat muss und wird seine Zustimmung zu den Überstunden geben, und die Kollegen müssen einsehen, dass er gar nicht anders kann!"
„Dann müssen eben die Kollegen der Dreherei trotz Zustimmung des Arbeiterrates die Überstunden verweigern!"
Schmacheis Schläfen waren blutunterlaufen, er schrie Melmster an: „Organisierte Kollegen kennen Disziplin!"
„Ich bin organisiert und weiß, dass ich meinen Kollegen nicht in den Rücken fallen darf!"
„Lausejunge!" zischte Schmachel. Einige riefen „Hallo! -Hohoo!"
Melmster lachte. „Kollegen! Ihr wisst, um was es sich handelt", ergriff der Betriebsratsobmann Kühne, der der Branchenversammlung beiwohnte, das Wort. „So kommen wir nicht zum Ziel, und keiner ist hoffentlich interessiert an einer zweiten Auflage der Belegschaftsversammlung. Als organisierte Kollegen müssen wir jetzt wissen, was wir zu tun haben, und ich bitte diejenigen, die die Haltung des Arbeiterrats betreffs Überstunden billigen, um das Handzeichen!"
Eine Anzahl Arme erhoben sich. Der Kollege Endrusch zählte: „... vierzehn, fünfzehn, sechzehn!" „Und wer ist dagegen?"
Gut ebenso viele Arme standen, dann kamen noch einige
dazu. Endrusch zählte:... ..vierzehn, fünfzehn, sechzehn,
siebzehn, achtzehn, neunzehn!" Man sah, wie dem Riesen das Blut aus dem Gesicht wich. Er erhob sich jedoch lässig und lispelte: „Ihr werdet das Weitere erfahren - die Sitzung ist beendet!"

 

Im Betrieb ist ein Spitzel.

Olbracht und Bleckmann schienen mit Melmster gebrochen zu haben, sie sprachen kein Wort mit ihm. Melmster unterhielt sich nun, zur größten Wut Olbrachts, desto eifriger mit seinem Vordermann, dem Rotkopf. Dieser hatte in der Branchenversammlung wieder gegen den Arbeiterrat gestimmt. „Ich brauche keinen Vormund", sagte er.
„Aber du unterstützt die Feinde der Arbeiterklasse!"
„Wieso?" fragte ganz erstaunt der Rotkopf.
„Du bist im bürgerlichen Sportverein, dem Tummelplatz nationalistischer Tendenzen, und ich habe noch jeden Montagmorgen sehen müssen, dass du die reaktionäre Sportpresse liest. Siehst du, mindestens in diesen Dingen unterstützt du arbeiterfeindliche Organisationen!"
„Mensch, ich bin nun mal 'n Fußballfanatiker, darum werde ich doch der Arbeiterbewegung noch lange nicht abtrünnig."
„Ein Arbeiter wie du und ich darf in keiner Frage aus der großen Klassenfront tanzen. Es gibt doch Arbeitersportorganisationen, warum diesen unsinnigen Persönlichkeits- und Rekordwahnsinn des bürgerlichen Sportgeschäfts unterstützen?"
Sie sprachen nicht weiter davon.
Kurz vor Feierabend schlenderte der Oberkalkulator wieder durch den Betrieb. Nirgends hielt er sich auf, bei Melmster aber blieb er stehen und sah ihm bei der Arbeit zu. Melmster drehte große Lagerteile aus Weißmetall und freute sich, dass es gerade so gut klappte, als dieser Akkordhetzer zusah. Bei wahnsinnig schneller Umdrehung schälte der Stahl die Lagerfläche spiegelblank. Ein Strahl weißer Metallspäne spritzte über die Drehbank.
Der „Ober" stand noch immer wie festgewurzelt da, dann ging er plötzlich auf Melmster zu. „Sie hatten einige versandete konische Zahnräder von der letzten Partie, sagte mir Meister Westmann, kann ich die mal sehen?"
„Bitte sehr! - Aber einen Moment, eben den Span auslaufen lassen!" Dann reichte ihm Melmster zwei völlig versandete Zahnräder.
Der „Ober" betrachtete sie von allen Seiten.
„Tatsächlich unmöglich zu bearbeiten! Und ich dachte schon", wandte er sich an Melmster, „Sie wären bei Ihrer politischen Agitation im Betrieb mit der Zeit versackt!"
„Hm!" machte Melmster und dachte sich sein Teil.

 

Der Jubilar.

Rot vor Eifer hantierten eines Morgens die Dreher Bleckmann und Schmachel mit Grünzeug und Girlanden an der Karusselldrehbank des alten John herum. An der Planscheibe war eine große „50" befestigt und mit Tannenzweigen umwunden. Bunte Papierstreifen hingen vom Vorgelege herunter, und auf dem Werkzeugtisch stand eine Vase mit frischen Blumen.
Als Melmster kam, dachte er zuerst an goldenes Hochzeitsjubiläum und musste lächeln, doch dann hörte er, dass mit
dem heutigen Tag der alte John fünfzig Jahre bei der Firma gearbeitet hatte.
„Du lieber Himmel!" Melmster war ganz entsetzt. Und an seiner Drehbank, dachte er, darf man heute so etwas feiern -fünfzig Jahre? Doch dann dachte er an den Greis, an dessen Falten in der ledernen Haut, dachte an die tapprigen Hände, an dieses armselige Häufchen Mensch, das sich selbst kaum helfen konnte und mit sechsundsiebzig Jahren noch in dieser Hölle schuften musste.
Dem alten John kamen die Tränen, er war gerührt und vor Aufregung unfähig zum Arbeiten. Immer wieder betrachtete er die große Fünfzig und beschnupperte den Blumenstrauß. Dann setzte er sich auf seinen Block und brütete gedankenvoll vor sich hin.
Bleckmann war nicht wenig stolz auf sein Werk. Er sah jeden seiner Kollegen an, und seine Blicke sagten: Seht, so bin ich. Da. sah er Melmsters verschmitztes Lächeln. „Du nennst es Humbug, nicht wahr?" „Wieso?" wich Melmster aus.
„Aber er soll doch heute in den Ruhestand gesetzt werden!"
„Der John?"
„Natürlich!"
„Wie geht denn das hier vor sich?"
„Er bekommt heute einige hundert Mark und dann von der Firma eine Leibrente!" „Na, na - weißt du das sicher?"
„Es ist zwar eine ganze Zeit her, dass einer diese Leibrente erhielt, denn die meisten werden ja nicht so alt, aber bekommen wird er sie bestimmt - wo er im Kriege doch Meister in der Dreherei war", setzte er noch hinzu.
„Der alte Holt hat den Gründer dieser Firma noch gekannt und sich sogar mit ihm geduzt", mischte sich Olbracht ins Gespräch. Das war früher noch ein innigeres Verhältnis zwischen Chef und Arbeiter!" Olbracht schüttelte bedauernd den Kopf.
„Dabei war der Alte zeitlebens indifferent", fuhr er fort, „nie Sozialdemokrat, nur um Streit zu vermeiden im Ver-
Reichspräsidenten gewählt hat, weil er glaubte, dieser alte Soldat würde geordnete Verhältnisse schaffen. Aber es ist doch ein famoser Mensch", schloss er.
Melmster musste sich über das alles wundern. Aber es gab ja noch einige Betriebe, wo aus Stiftungen und Fonds der Gründer der Firma, aus früheren patriarchalischen Arbeitsverhältnissen, derartige Renten gezahlt wurden.
„Selbstverständlich bekommt er das", kam Bleckmann noch einmal auf die Angelegenheit zurück, „denn unser Betriebsrat hat einen großen moralischen Einfluss auf die Direktion." Melmster lachte.
Bleckmann wurde krebsrot vor Zorn, aber er musste an seinem Arbeitsplatz bleiben, denn Meister Westmann kam. Von allen Seiten strömten Kollegen herbei, um dem alten John die Hand zu drücken und einige freundliche Worte zu sagen. Alte gebrechliche Arbeiter, Schmiede und Schlosser waren es meistens, die ein Menschenleben mit ihm gemeinsam gearbeitet hatten und nun für einen Augenblick ihren Kollegen, den alten Jubilar, begrüßten.
Dieser saß vor seiner Drehbank, die heute unbenutzt dastand, hörte wortlos alle guten Reden an und schlug in jede dargebotene Hand ein. Heute war sein Ehrentag. -
Melmster hörte: „Der Alte ist bei John!" und sah einen elegant gekleideten Mann an der Drehbank bei dem alten Dreher stehen. Diesem war es anscheinend unangenehm, dass er sitzen bleiben sollte, aber er wurde immer wieder, wenn er sich erheben wollte, durch einen sanften Druck auf die Schultern genötigt sitzen zu bleiben.
Der „Alte" sprach mit John. Alles sah hin. In den entferntesten Ecken reckten die Arbeiter die Hälse. Dann reichte er ihm etwas Weißes, drückte ihm noch einmal die Hand und ging mit kurzen, aber schnellen Schritten ins Büro zurück.
„Siehst du!" rief triumphierend Bleckmann. Melmster hatte seine eigenen Gedanken und polierte an seinen Kegelringen, bis die Dichtungsflächen spiegelblank waren. Er hatte immer nur die Zahl 50 im Kopf. Ihm schien es eine furchtbare Zahl.
Neugierig waren Bleckmann und Olbracht und andere Arbeiter zum alten John gelaufen und hatten gefragt, was „er" gesagt und was „er" gegeben hatte. Sie blieben nicht lange.
„Na, was hat er bekommen?" fragte Melmster. „Weiß nicht!" rief Bleckmann. Olbracht schwieg.
In der Latrine traf Melmster später den Hobler Hans. „Schönes Theater bei euch!" „Was meinst du?"
„Weißt du, was der alte John erhalten hat?" Und ohne die Antwort abzuwarten, gab er sie selbst: „Fünfzig Mark!" „Fünfzig Mark?"
„Ja - und darum diesen Hokuspokus, diese Arschleckerei, diese hündische Kriecherei!"
Melmster sagte kein Wort, aber er merkte, wie er rot im Gesicht wurde. Schämte er sich? Aber warum denn, für wen denn?
„Als vor einigen Jahren die Firma fünfundsiebzigjähriges Bestehen feierte, wurde trotz unseres Protestes gesammelt, und es kamen hundertzwanzig Mark für ein Geschenk zusammen. Und diese Schweine drücken einem Arbeiter, den sie fünfzig Jahre ausgebeutet haben, nun, wo er alt und klapprig geworden ist, fünfzig Mark in die Hand."
„Wie viel Rente zahlt ihm denn die Firma?"
„Keinen Pfennig, der Betrieb kann derartige ,unrentable Belastungen' nicht tragen!"
„Stimmt das?"
„Aber der Betriebsrat ist doch schon drinnen und weint dem Alten was vor!"
Melmster wandte sich an Bleckmann: „Fünfzig Mark hat der alte John bekommen, du!" „Ja - Schweinerei!" brummte dieser. „Und Leibrente keinen Pfennig."
Bleckmann schwieg. „Aber der Betriebsrat ist ja drinnen, der wird's schon schaffen", spottete Melmster, „der hat ja so'n großen moralischen Einfluss auf die Firma...!"
Bleckmann schwieg noch immer, und Olbracht grinste.
Durch den ganzen Betrieb ging es wie ein Lauffeuer: „Fünfzig Mark - Keine Rente! - Davongejagt!" Überall standen Gruppen und diskutierten. Überall Wut, aber auch Spott auf alle Speichellecker und Kriecher und über den Kanossagang des Arbeiterrats.
Inzwischen war der alte John, ohne dass es in der allgemeinen Aufregung einer gemerkt hätte, verschwunden.
Stundenlang wurde verhandelt. Kurz vor Feierabend zogen die fünf Arbeiterräte, Kühne, der Riese, voran, im Gänsemarsch aus dem Büro durch den Maschinensaal. An der Anreißplatte war noch eine kurze Besprechung, wurden noch einige Instruktionen erteilt, und dann gingen sie auseinander.
Bleckmann stürzte sofort zu Schmachel.
Als sie sich die Hände im Öl wuschen, fragte Melmster: „Na?"
„Die Firma zahlt nicht mehr", war die kurze Antwort.
„Beim Geld hört die Wirtschaftsdemokratie auf!" lachte Melmster, „und auch der moralische Einfluss!"
Bleckmann wurde wütend. „Schließlich ist es ja heute auch etwas ganz anderes als früher", rief er.
„So-oo!"
„Ja, natürlich! Heute sorgen für die Arbeitsinvaliden die Institutionen des Staates, heute hilft die Republik den Alten!"
Melmster war sprachlos über diese Wandlung, aber er musste laut lachen.
„Und übrigens, dass heute das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer so schlecht ist, ist Schuld der Kommunisten, der Radauhelden, der Schreihälse!" rief Bleckmann.
Melmster fühlte, wie er bis an den Hals rot wurde. „So ist es richtig! Verteidige um Gottes willen die Firma und die Direktion", rief Melmster zurück, „ohrfeige dich selbst, aber verteidige das Unternehmertum!"
„Ist das nicht grotesk, dass jetzt die Kommunisten die Schuld kriegen, dass der alte John von der Firma so schofel behandelt wurde?" wandte sich Melmster an Olbracht. Der zuckte die Schultern.

 

Arbeiterkorrespondenz 2516.

Der alte John hatte sich erhängt. Wie ein Peitschenhieb traf die Nachricht jeden Arbeiter. Der Betrieb glich im Nu einem aufgewühlten Ameisenhaufen. Eine drohende Schwüle herrschte in allen Abteilungen. Überall diskutierten Gruppen. Drohungen, Verwünschungen wurden ausgestoßen. Einige verlangten Proteststreik, andere sofortige Belegschaftsversammlung. Der Hobler Hans ging an Bleckmanns Drehbank vorüber. „Nimm man die Tannenzweige und binde einen Kranz draus!" rief er.
Bleckmann tat, als höre er nichts.
Bald wurden ergänzende Meldungen bekannt. Das greise Ehepaar Holt, eben John und seine achtundsiebzigjährige Frau, hatten sich gemeinsam in ihrer Wohnung erhängt. Auf dem Tisch fand man auf einem weißen Briefumschlag einen Fünfzigmarkschein. Nachbarn hatten sie am Morgen gefunden; nachdem sie bereits die ganze Nacht gehangen hatten.
Der Arbeiterrat hatte alles getan, um eine Protestbewegung zu unterdrücken. Am Tage der Beerdigung sollte etwas unternommen werden. Der Betrieb arbeitete wieder. Die Arbeiter hatten sich scheinbar beruhigt.
Melmster war ganz in seine Arbeit vertieft. Durch die vielen Diskussionen hatte er Zeit verloren. Lange, durch die schnellen Umdrehungen blaue Spanspiralen drehte der Stahl aus dem Eisen. Und immer wieder ertappte er sich, wie er an den alten John dachte. Das war das Proletarierende. Fünfzig Jahre geschuftet, gerackert, fünfzig mal dreihundert Tage täglich an der Drehbank gewühlt, nur um das kärgliche Leben zu erhalten und dem Unternehmer den Profit zuzuschanzen, um dann schließlich, wenn die Haare grau, die Glieder steif
und die Hände zittrig wurden, sich erhängen zu müssen. Das war unsere Zivilisation - das war die „soziale Republik".
„Er hätte es nicht zu tun brauchen", meinte Olbracht. Melmster stellte erstaunt fest, dass er nicht grinste.
„Ich habe mir ausgerechnet, was er an Invalidenrente bekommen hätte."
Sie wollen ihr Gewissen beruhigen, dachte Melmster und sagte: „Kann man denn von diesen Bettelpfennigen leben?"
„Alte Leute brauchen nicht viel", entgegnete Olbracht.
„Ich will dir was sagen: Was wir jetzt erlebt haben, ist ein Stück von dem Irrsinn der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Wer nicht das Glück hat, vor dem Altwerden zu krepieren, der muss, wenn er graue Haare hat, Hand an sich legen. Geh mir los!"
„Wie willst du das ändern?"
„Komische Frage von einem angeblichen Sozialisten. Durch die Herrschaft der Arbeitenden und eine sozialistische Staatsund Gesellschaftsordnung!"
„Die Menschen sind nicht reif!"
„Man muss gesunde Verhältnisse schaffen, sozialistische." „Nur der aufgeklärte Mensch schafft sich gesunde Verhältnisse."
„Olbracht, wir als organisierte Arbeiter sollten dazu aufgeklärt genug sein. Aber die Masse der Menschen ist ein Produkt ihrer Verhältnisse, wir sozialistischen Arbeiter müssen Verhältnisse schaffen, die für alle gesund sind!"
„Ich bin aber gegen Zwang!"
„Das ist ja nicht wahr, du bist, genauso wie ich, der Auffassung, dass hier im Betrieb jeder Arbeiter organisiert sein muss. Der Arbeiter, der einen Streik, welcher mit Mehrheit beschlossen wurde, nicht mitmacht, wird als Streikbrecher aus dem Betrieb gejagt. Ist das Demokratie? Aber übertrage diese Gedankengänge auf die große Politik, und du kommst zur Diktatur der Arbeiterschaft, das heißt zur Diktatur der übergroßen Mehrheit der Arbeitenden über eine kleine Clique Gauner, Hals- und Kuponabschneider!" Olbracht grinste und winkte ab. -
Der Arbeiterrat hatte unter dem Druck der erregten Stimmung im Betrieb beschlossen, am Tag der Beerdigung des Ehepaares Holt eine Stunde früher den Betrieb zu verlassen. Ausdrücklich erklärte jedoch Obmann Kühne, dies sei keine Demonstration gegen die Betriebsleitung, sondern eine Ehrung des verstorbenen Kollegen.
Die kommunistische Opposition im Betrieb hatte einen eintägigen Proteststreik gegen das schändliche Verhalten des Unternehmers gefordert. Der Betriebsrat hatte es abgelehnt, diesen Vorschlag überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Am Tage der Beerdigung standen in verschiedenen Zeitungen Nachrufe. Die Angestellten hatten im demokratischen „Anzeiger", der Arbeiterrat in der sozialdemokratischen Presse einen schwülstigen Nachruf veröffentlicht. Der Selbstmord wurde schamhaft in „trauriges Ende" und „hoffnungsloses Alter" umfrisiert und mit keiner Silbe erwähnt.
Die kommunistische „Arbeiterzeitung" aber war die Sensation des Betriebes. Unter der Überschrift „Der Jubilar" stand darin eine Arbeiterkorrespondenz folgenden Inhalts:
Arbeiterkorrespondenz 2516. Johann Holt war ein Greis von sechsundsiebzig Jahren. Er stand fünfzig Jahre an der großen Karusselldrehbank der Maschinenfabrik N. & K. Als junger, frischer Bursch war er auf der Walze quer durch Deutschland in unsere Stadt gekommen und blieb, wie es so im Leben ist, hier sitzen. Er hatte zu tief in die Augen einer Frau gesehen und richtete sich ein, bei der Firma N. & K. eine Lebensstellung zu suchen. Er witterte, wie man das anfangen musste. Er arbeitete nicht nur unermüdlich, ohne Unzufriedenheit zu zeigen, täglich seine zwölf und, wenn es sein musste, vierzehn Stunden, sondern rückte auch weit ab von den sozialdemokratischen Agitatoren, die damals ihre hetzerische Tätigkeit im Betrieb entfalteten. Er war ein Freund der bestehenden Ordnung, und da er niemals die wilden Streiks und Unruhen der Sozialdemokratie mitmachte und sogar einmal zur Zeit des Sozialistengesetzes einen illegalen sozialdemokratischen Agitator denunzierte, war er bald der
Intimus des alten Chefs geworden. So hatte er sich seine gesicherte Stellung errungen und lebte einen ruhigen und bescheidenen, wenngleich arbeitsreichen Tag.
Zwei Pole füllten durchaus sein Leben aus: die Arbeit an der großen Karusselldrehbank bei N. & K. und die paar Stunden Ruhe und Ausspannung bei seiner kleinen Familie im Hinterhaus der Roloffstraße.
So flossen Jahre und Jahrzehnte dahin. Johann Holts Junge, Arthur, war in mühseligen, entbehrungsreichen Jahren groß und stark geworden, hatte ein Handwerk gelernt und war dann in Frankreich gefallen. In seinen alten Tagen war Holt wieder einsam und lebte mit seiner von Arbeit und Gram gebeugten, halbblinden Frau ein stilles Dasein.
Teilnahmslos ließ das alte Ehepaar, nachdem Moloch Krieg den Sohn gefressen hatte, die Revolutionsjahre an sich vor­überziehen. Und ihre einzige staatsbürgerliche Handlung bestand darin, dass sie von Zeit zu Zeit von einigen netten Herren mit dem Auto abgeholt wurden, um der einzig wahren und gerechten deutschnationalen Partei ihre Stimme zu geben. Auf diese Weise hatten auch die beiden alten Leute den kaiserlichen Feldmarschall Hindenburg zum Präsidenten der Republik gewählt.
Fünfzig Jahre hatte Johann Holt so Jahr für Jahr, Tag für Tag seine Drehbank bedient. Längst war sein Rücken gebeugt und sein Haar ergraut. Heute war er nun fünfzig Jahre Dreher bei N. & K. Die Kollegen hatten einige Blumen um die Drehbank gewunden, mit einer großen „50" darüber, und Johann Holt überdachte die fünfzig Jahre seines Lebens, die er hier verbracht hatte.
Da wurde ihm plötzlich leise auf die Schulter geklopft. Holt drehte sich um, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, vor ihm stand der Chef der Firma. Dies war der größte Augenblick in Holts Leben, auf den er fünfzig Jahre gewartet hatte und wo er die Ernte seines arbeitsreichen Lebens einbringen wollte.
„Mein lieber Holt", begann der Chef, „im Namen der Firma Negel & Kopp spreche ich Ihnen für Ihre treuen Dienste, die
Sie geleistet haben, unsern herzlichen Dank aus. Leider ist die großmütige Spende des verehrten Gründers unserer Firma durch die Inflation verloren gegangen. Aber auch wir wollen uns erkenntlich zeigen, und ich bin beauftragt, Ihnen dies zu überreichen. Wir nehmen an, dass sie den verständlichen Wunsch haben, sich zur Ruhe zu setzen, Sie wissen ja, mein lieber Holt, dass die sozialen Institutionen Ihnen treu zur Seite stehen. Nochmals unseren herzlichen Dank und Glückwünsche für Ihren Lebensabend!" Damit schüttelte er dem Greis die Hand, machte kehrt und ging ins Büro zurück.
Der alte Holt schaute ihm entgeistert nach. Das war so ganz anders, als er gedacht hatte. Mit zitternden Händen öffnete er das Kuvert. Er zog einen Fünfzigmarkschein heraus. Heimlich und still wie ein räudiger Hund schlich er aus der Fabrik.
Gestern stand folgende Notiz in der Zeitung: „Ein altes Ehepaar mit Namen Holt, wohnhaft Roioffstraße, verübte Doppelselbstmord durch Erhängen. Die Motive der grausigen Tat sind unbekannt."
Es gab keinen in der Fabrik, der nicht die Zeitung las.
Es gab keinen, dem nicht das Blut in die Schläfen schoss.
Es gab kaum einen, der nicht an sein eigenes Leben dachte.
Es gab leider noch zu wenige, die die Faust ballten und diesem kapitalistischen Mordsystem Fehde schworen.

 

Drohn lässt „husten".

Am Sonnabendnachmittag wurde am „Schwarzen Brett" folgende Bekanntmachung angeschlagen:
Ab Montag arbeitet die Dreherei bis auf weiteres bis sechs Uhr. Jacobi, Betriebsleiter.
Kühne, Betriebsratsobmann.
„Wirst du bleiben, Kurt?" fragte Melmster den Rotkopf, der neben ihm stand und diesen Anschlag las. „Ich bin doch kein Heidelberger!" war die Antwort.
„Nun haben wir uns gerupft, dass die Haare flogen", grinste Olbracht, „und erreicht haben wir nischt!" „Wieso?"
„Na, nun heißt es doch Überstunden schieben!"
„Für dich gilt der Branchenbeschluss wie für jeden andern!"
„Für mich ist der Arbeiterrat maßgebend!"
Die Dreher hatten sich in zwei Lager gespalten. Die Minorität, die Betriebsratsanhänger, wollten die Überstunden hinnehmen, aber von den sechzehn Indifferenten rückten jetzt einige offen ab. Die Mehrheit der Dreher aber wollte Montag wie jeden Tag um vier den Betrieb verlassen.
In aller Eile wurde noch Sonnabend Nachmittag in der Latrine vom Zellenkopf der Opposition beschlossen, was am Montag zu tun sei. Es war klar, dass ohne Unterstützung der Gesamtbelegschaft die Schmachel-Leute sich durchsetzen würden, denn hinter ihnen stand die Betriebsleitung. Es gab nur einen Weg. Dieser musste beschritten werden.
Am Montag wurde von der Opposition vom frühen Morgen an fieberhaft gearbeitet. Nicht nur in der Dreherei wurde die Front gegen die Diktatur des reformistischen Arbeiterrats aufgerichtet, auch in der Montage und in der Tischlerei nahmen alle Kollegen zum Verhalten des Arbeiterrats Stellung. „Nicht sofort nach Hause gehen, im Umkleideraum bleiben", war die Parole. Sie fiel auf günstigen Boden, denn noch war das Ende des alten John nicht vergessen. In der Dreherei war es dagegen unheimlich ruhig. Keiner sprach zum andern, jeder war in seine Arbeit vertieft und in seine Gedanken verbissen.
Bleckmann drehte Gusstrommeln von riesigem Umfang. Sie drehten sich langsam und bedächtig, und bei jeder Umdrehung fraß sich der Stahl ächzend weiter, dass die ganze Umgebung erzitterte. Sein Nebenmann Wiesenbach hatte wieder alle zehn Finger Dreck im Gesicht und zappelte an der Drehbank hin und her, er musste höllisch aufpassen, dass ihm die großen, aber leichten, dünnwandigen Gehäuse nicht aus der Planscheibe fielen.
Der Rotkopf trällerte den allerneuesten Schlager von
Liebe, Park und Bank und den neun Monaten. Er schien sich die geringsten Sorgen zu machen.
Hundert lange, einfache Spindeln zu drehen war eine famose Arbeit.
Melmster selbst schien nur an seine Arbeit zu denken. Er drehte an handgroße Kegelräder konische Dichtungsflächen an. Mit seinen Gedanken war er jedoch nur bei den Dingen, die heute Nachmittag bevorstanden. Die Luft war verteufelt dick, und wie würde es verlaufen?
In der Montage wartete alles auf vier Uhr. Nachdem sich sogar der „Scharfe" bereit erklärt hatte, dem Belegschafts­- und Branchenbeschluss Geltung verschaffen zu helfen, war Einmütigkeit unter den Schlossern. Die Einzelgänger in der Dreherei sollten einen Nasenstüber erhalten.
Die Tischler waren eigenbrötlerischer. „Wat hewt wi mit de Dreiher to don?" meinten einige. -
„Was habt ihr vor?" fragte der Riese mit der Kastratenstimme den Hobler Hans.
„Was meinst du?"
„Verstell dich man nicht so! Aber ich warne euch, ihr werdet euch die Köppe einrennen!" -
Wiesenbach hatte auf der Latrine so allerlei munkeln hören, und nun erinnerte er sich plötzlich, dass er ja heute eine wichtige Besorgung zu machen hätte und um vier Uhr fortmüsse. Er verständigte Meister Westmann und seine Kollegen Bleckmann und Olbracht. „Sehr merkwürdig!" brummte Bleckmann.
Wiesenbach verdrehte die Augen und beteuerte, dass es ihm unter diesen Umständen sehr peinlich sei.
Je mehr die Uhr auf vier ging, desto aufgeregter und erwartungsvoller wurden alle. Etwas würde kommen, das fühlte jeder, aber keiner wusste recht, was.
Melmster hatte seine achtzig Kegelräder fertig. Sie lagen übereinander auf dem Arbeitstisch. Die neue Arbeit, schwere Eisenköpfe mit grobem Innengewinde, war auch schon herangekarrt. Er fegte die Bank sauber und stellte sie auf die neue Arbeit um.
Kurz vor vier ging der Arbeiterrat Schmachel von Drehbank zu Drehbank und rief jedem Dreher zu: „Heute bis sechs!"
Melmster tat wie die meisten, er hörte und sah ihn nicht. Hinterher konferierte Schmachel an der Anreißplatte mit Kühne. Sie schienen sehr zuversichtlich. Den Jungens wollten sie mal eine Lektion erteilen.
Zehn Minuten vor vier sah sich Melmster um. Jeder arbeitete, keiner wusch sich wie sonst die Hände und bereitete sich zum Weggehen vor. Ihm wurde unangenehm zumute. Wenn nun die meisten umfielen? Wenn nun keiner ging?
„Machen wir uns fertig, Kurt?" rief er seinem Vordermann zu.
Sie wuschen sich die Hände in Öl und Seifenwasser. Bleckmann schielte verstohlen zu ihnen hin, und als Melmster sich mit Twist abtrocknete, sah er Olbrachts Grinsen. Auch Wiesenbach machte sich fertig.
„Das hätte ich nicht gedacht!" sagte der Rotkopf und zeigte auf Wiesenbach.
Nun waren schon mehrere Dreher dabei, die Arbeit für heute zu beenden, Olbracht und Bleckmann aber schienen von alledem nichts zu sehen, sie waren kolossal in ihre Arbeit vertieft. Dann heulte es Feierabend.
Als Melmster sich anschließen wollte, um seine Tageskarte zu stempeln, trat Meister Westmann ihm in den Weg. „Sie sollen doch Überstunden machen?" „Die Branchenversammlung hat die Überstunden mit Stimmenmehrheit abgelehnt!" erwiderte Melmster. „Aber der Arbeiterrat hat doch mit unterzeichnet!" Melmster zuckte die Schultern.
Die übergroße Mehrzahl der Dreher war fortgegangen, nur vereinzelt standen noch einige hinter ihren Bänken.
Vor dem Ausgang des Umkleideraums standen Drohn, Hennings und Hackbarth und sagten zu jedem, der hinausgehen wollte: „Alles hier bleiben!" „Warum?" fragte einer.
„Wir müssen uns noch ein paar Arbeitswütige ansehen!" erwiderte der Schmied, über sein ganzes verrußtes Gesicht lachend.
„Kollegen!" rief dann der Schlosser Drohn. „Trotzdem die Belegschaftsversammlung und die Branchenversammlung der Dreher mit Mehrheit Überstunden abgelehnt hat, haben sich heute einige charakterlose Elemente gefunden, die Überstunden schieben. Wir können uns das nicht gefallen lassen, und ich schlage euch vor, wir sehen uns die Burschen einmal an, damit wir in Zukunft wissen, mit wem wir es zu tun haben!"
„Sehr richtig!" riefen einige. - „Schlagt diese Lumpen mit Eisenstangen aus dem Betrieb!" schrie einer.
Es mochten achtzig bis hundert Arbeiter sein, die den Umkleideraum verließen und zur Maschinenhalle zogen. Drohn, Hennings und der Hobler Hans marschierten voran. Als sie durch das breite Tor strömten, schrie Hennings in die Halle: „So, jetzt wollen wir mal sehen, wer hier noch arbeitet!"
Sie bewegten sich auf die ersten Drehbänke zu, an denen Olbracht und Bleckmann, totenbleich geworden, arbeiteten. Keiner von den Hereinströmenden wusste, was eigentlich geschehen sollte. Fünfzig Arbeiter standen um die beiden Bänke herum, andere zogen zwischen den Bänken zu solchen, wo ebenfalls noch gearbeitet wurde.
Olbracht war gewiss kein Held; als er hundert drohende Augen auf sich gerichtet fühlte, zitterten seine Hände an der Kurbel. Er wagte nicht aufzusehen. Bleckmann hatte die Situation sofort erfasst, stellte seine Bank ab und packte ein. Olbracht stand wie angewurzelt. Da hustete der Schlosser Drohn auffällig stark, und wie auf Kommando husteten fünfzig Menschen. Das dröhnte abscheulich durch die stille Maschinenhalle.
Olbracht zuckte zusammen und stellte seine Bank ab und ging sofort hinaus. Hinterher schob sich der ganze Schwarm.
Kein einziges Wort war gefallen, aber kein Dreher stand mehr an der Drehbank. Es war eine stumme, aber eindrucksvolle Demonstration gewesen.
Nun standen alle vorm Umkleideraum und warteten, bis der letzte die Fabrik verlassen hatte. Dann gingen auch sie.

 

Dora kennt den Spitzel.

„Natürlich - sie wollte bestimmt um acht Uhr kommen. Wenn man es sich richtig überlegt, geht das Mädel ein ziemliches Risiko ein. Nicht wegen der Entlassung, ich meine wegen Verletzung oder Weitertragen von Geschäftsgeheimnissen oder so. Kann man eigentlich so etwas konstruieren? Wir müssen höllisch vorsichtig sein!"
Melmster und der Hobler Hans warteten schon eine ganze Weile am „Grünen Jäger". Jetzt sah man erst so richtig, was für große, ansehnliche Kerle sie waren. Statt in verdreckten, öligen blauen Kitteln steckten sie in braunen und blauen Anzügen, und statt der eisenstaubdreckigen Haut leuchteten saubere, rasierte Gesichter. Die hellen Sportkragen und die dunklen Binder gaben ihnen sogar ein flottes Aussehen.
„Trotz alldem sag ich dir, Hans, die hat ein Auge auf dich geworfen, sonst ist das einfach nicht zu begreifen."
„Bei dir Panne, hier oben!" lachte der Hobler.
„Na ja, das musst du mit dir selbst abmachen - aber ich verdrücke mich bald!"
„Du bist ein ausgemachter Feigling!"
„Das weiß ich!" - Sie schwiegen.
„Mensch, das geht nicht!" erinnerte sich dann der Hobler plötzlich, „was soll ich denn allein mit ihr anfangen?"
„Soll ich dir das sagen?" Melmster dachte nach. „Überlass ihr das", war alles, was er vorschlagen konnte.
„Jetzt ist es doch mindestens zwanzig nach acht, ich glaub wirklich, die lässt uns sitzen."
„Nee, da kommt sie!" Sie ging wie ein Mann, fest und kräftig. Einen helleuchtenden Regenmantel hatte sie an, und unter dem glockenförmigen Hut lachte ein volles Gesicht und blitzten ein Paar große helle Augen.
Melmster und Hans lüfteten artig ihren Hut.
„Meine Herren!" lachte sie, „entschuldigen Sie meine kleine Verspätung", und dann schüttelten sie sich die Hände und schlenderten ins Borsteler Moor.
„Das ist sehr nett, Hans, dass Sie Ihren Freund mitgebracht haben!"
Melmster war überzeugt, dass sie log.
„Ich kann Ihnen Dinge erzählen, die direkt ungeheuerlich sind. Natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Davon darf auch nichts in den ,Greifer'. - Sehen Sie nur, wie es schon grün wird. Diese zarten Knospen, man kann bald Kätzchen pflücken!"
„Sie müssen natürlich auch sehr vorsichtig sein", lenkte Melmster wieder ein.
„Na, und ob!" Sie wandte sich an Melmster. „Ich persönlich habe ja gar nichts damit zu tun, ich höre es ja alles nur durch meine Kollegin Anita oder lese es heimlich in ihren Sachen. Sie wissen doch, ich habe nur die Kalkulationsschreiberei und die Protokolle. Das andere bekomme ich gar nicht zu Gesicht. - Und gerade Sie betrifft es!"
„Mich?" fragte Melmster ungläubig.
„Jawohl - und eine Stimmung ist augenblicklich bei uns! Der Fritsche gebärdet sich wie ein Irrsinniger, und der Jacobi brüllt jeden ohne Grund an. Es ist kaum auszuhalten!"
„Aber was ist das mit Melmster?" fragte Hans.
„Über Sie liegt ein Bericht vor. Und den Betriebsspitzel kenne ich nun auch! Wie heißt doch Ihr Hintermann?"
„Menzel!"
„Nein - der andere?" „Olbracht!"
„Ja, richtig, Olbracht! Dass Sie gegen die Überstunden gesprochen haben und sonst im Betrieb kommunistische Propaganda treiben, steht darin."
Melmster bekam ein Kribbeln im Körper. Eben war er heiß, jetzt eiskalt. Olbracht! An den hatte er nicht gedacht, ist das möglich?
„Sagen Sie, bekommen diese Lumpen von der Firma dafür Geld?"
„Die bekommen nichts!"
„Wissen Sie das genau? Vielleicht keine baren Korruptionsgelder, aber doch irgendwelche Begünstigungen?"
„Was ich nicht wüsste!" Dora Timm schien nie darüber nachgedacht zu haben. „Er soll wohl mal Meister werden, wenn der Westmann ausscheidet, aber sonst bekommt er außer seinem Höchstlohn, soviel ich weiß, nichts."
„Was ist das für ein Höchstlohn?"
„Zwanzig Prozent auf den höchsten Akkordlohn!"
„Zwanzig Prozent auf den höchsten Akkordlohn?" fragte Melmster. „Wer bekommt denn das?"
„Der Arbeiterrat und die Alten!"
„Alle Arbeiterratsmitglieder?"
„Ja."
„Und alle Alten?"
„Nicht alle, vielleicht vier oder fünf! Aber Olbracht ist dabei."
„War der alte John auch dabei?" „Nein, gewiss nicht!" Dora Timm lachte. „Warum lachen Sie?"
„Na, den Höchstlohn bekommen doch nur die Günstlinge der Firma."
„Was sagste nun?" fragte Melmster Hans.
„Warum sagen Sie uns das heute erst?" wandte sich dieser an Dora.
„Ich dachte, das wär Ihnen längst bekannt."
„Wissen Sie, ich habe noch eine Verabredung. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich möchte mich verabschieden!" sagte jetzt Melmster, dem die Situation unangenehm wurde.
„Wir gehen doch auch da runter!" meinte Hans.
„Ich möchte aber gleich in die Bahn steigen!" Bevor er ging, rief ihm das Mädchen noch zu: „Sie dürfen aber von dem, was ich Ihnen erzählt habe, keinen Gebrauch machen!"
Melmster nickte. -
„Ihr Freund war doch auf einmal so sonderbar?"
„Ja!" war alles, was Hans erwiderte. Melmster stieg nicht in die Straßenbahn. Ziellos rannte er die Chaussee hinunter. Was könnte man mit diesem Olbracht machen? Wie sollte man mit so einem Lumpen abrechnen?
„Guten Morgen, Kollege Olbracht!" könnte man sagen, „du bist doch im Verband, bist doch Gewerkschaftler?" - „Ja!" -„Du bist doch Sozialdemokrat?" - „Ja!" - „Du weißt doch auch, was Kollegialität heißt? Hm! Weißt du auch, was ein Denunziant ist? Hm? - Hierbleiben! Hallo!" Und dann eins in die Fresse, noch eins, noch und noch. Und wenn er fällt, aufreißen und noch eins und noch. Pfui Teufel, solch Schwein. Ja, das müsste man tun. Oder ihn im „Greifer" vor allen Kollegen entlarven. „Die korrupten Gesellen von N. & K." oder „Der Betriebsspitzel von N. & K.". Oder eine Arbeiterkorrespondenz in die Tagespresse bringen. Ach, man müsste ihm einen zölligen Schlüssel an den Schädel schmeißen. Solche Lumpen!
Melmster stöhnte vor Wut.
Und dann hörte er wieder: „Aber Sie dürfen davon keinen Gebrauch machen!"

 

Die acht Verächtlichen.

„Fabrikkuli", das ist der richtige Name für uns!" sagte der Schlosser Drohn. „Tag für Tag, Jahr für Jahr ist man in diesem schmutzigen und lärmenden Kessel zusammengepfercht und dreht, hämmert, montiert Dinge, zu denen man nicht die geringsten Beziehungen hat. Um einige Pfennige Akkord wird gehetzt und gerufft. Um einige Pfennige Akkord werden die notwendigsten Schutzmaßnahmen, wenn sie Zeit beanspruchen, außer acht gelassen. Viele wurden wegen so'n paar Pfennige Krüppel und Invaliden, denn von fünfunddreißig Mark Lohn kann keiner eine Familie ernähren. Schon mit einigen Mark Zulage gelingt es dem Unternehmer, Arbeiter zu korrumpieren und sie gegen die Interessen der Gesamtbelegschaft auszuspielen. Gemeinheiten und Lumpereien sind spottbillig geworden, und die Unternehmer haben in der Korrumpierung Routine bekommen!" -
Schon im Umkleideraum wurde von der Vertreibung der acht Dreher gesprochen.
Melmster verspätete sich an diesem Morgen um zwei Minuten. Als er kam, standen die Kollegen bereits an ihrem Arbeitsplatz.
„Guten Morgen!" Der Rotkopf grüßte und kniff ein Auge zu.
„Guten Morgen!"
„Guten Morgen!" Olbracht grüßte, als wäre gar nichts geschehen.
Melmsters Hände zitterten, als er seinen Schrank aufschloss, sein Essen verpackte und das Werkzeug herausholte. Als er zu arbeiten begann, sah er den Hobler Hans hinten stehen und warnend mit der Hand drohen.
Den ganzen Vormittag wurde unter den Drehern um Melmster herum kein einziges Wort geredet. Der Rotkopf war schließlich der einzige, der sich von Zeit zu Zeit umdrehte und mit Melmster über die „acht" und ihre Vertreibung sprach. Die „acht Verächtlichen" waren sie bereits in der Fabrik getauft, und von den Kollegen waren viele im Zweifel, ob sie überhaupt weiter mit ihnen reden oder sie meiden sollten.
Kurz vor Mittag ging Dora Timm in die Meisterbude. Den Rückweg ins Büro nahm sie nicht durch den Mittelgang, wie gewöhnlich, sondern an den Fenstern entlang, bei den Drehern vorbei.
Melmster sah sie kommen. Sie sähen sich an. Keine Miene verriet etwas. Olbracht, der an seinem Arbeitstisch fertige Lagerdeckel sortierte, grüßte überfreundlich. „Guten Morgen, Fräulein!" „Guten Morgen!" lachte sie. Melmster fühlte einen Druck in der Kehle. Der Rotkopf verrenkte sich den Hals. „Stramme Deern -und Beine... "
Der Stahl an Melmsters Support zitterte und krächzte. Die Arbeit ging in ihrer Eintönigkeit weiter. „Italien hat ja gegen Deutschland zwei zu null gewonnen?" „Nanu? - Seit wann verfolgst du diese Spiele?" „Ich habe an der Radiostrippe gehangen!" „Nicht wahr, dieser Caligari war fabelhaft und dieser Combi
erst", der Rotkopf brannte lichterloh, „dieser Combi, von dem kann der lange Heiner noch was lernen. Die einzige Genugtuung war der Schalker. Leinberger hat katastrophal versagt und Hofmann enttäuscht. Aber das war doch spannend, was?"
„Weißt du, Kurt, das sind die gefährlichsten Demonstrationen des Nationalismus. Dagegen sind Hugenberg und Hitler Stümper!"
„Wenn du Fußballer wärst, dächtest du gar nicht daran!"
„Oha! Ich liebe den Fußball. - Augenblick!" Melmsters Stahl war die Bohrung durch. Er spannte ein neues Schwungrad ein. Der Stahl setzte an. „Ich liebe den Fußball. Er ist so ganz der Sport unserer Zeit. Nicht Mann gegen Mann, sondern Mannschaft gegen Mannschaft, also ein kollektives Spiel. Dazu ein ausgesprochener Kampfsport. Es ist kein Wunder, dass der Fußball ein Massensport geworden ist! Aber die Bourgeoisie macht aus dem Sport nicht nur ein Geschäft, sondern auch Manifestationen des Nationalismus. Sie sangen in Frankreich die .Giovinezza' und ,Deutschland, Deutschland über alles!'."
„Aber das Verteidigungsdreieck der Italiener war trotzdem brillant!"
Mittags saß wie gewöhnlich jeder an seinem Fensterplatz und aß und las. Keiner sprach aber ein Wort. Selbst Bleckmann und Olbracht sprachen nicht miteinander. Zur größten Verwunderung Melmsters fielen auch von den anderen Kollegen keine spöttischen oder provozierenden Bemerkungen.
Später, als es auf vier Uhr ging und Melmster sich umdrehte, um ein neues Schwungrad zu packen und es in die Planscheibe zu spannen, sagte Olbracht: „Ihr braucht euch heute nicht zu bemühen, es wird nicht gearbeitet!"
„Ich würde mich an deiner Stelle genieren, noch hier zu sein!" war Melmsters Antwort.
„Mensch, Melmster!" rief Olbracht, „wir haben doch nur nach dem Willen des Arbeiterrats gehandelt, und wenn dessen Handlungen nicht richtig waren, rechnet mit ihm ab!" Melmsters Kiefer zitterten.
„Ich bin zwar Sozialdemokrat, aber keiner kann mir Unkollegialität oder Streikbruch vorwerfen!"
Melmster arbeitete wie wild. „Der Überfall gestern war doch etwas zu schimpflich. Die Grünschnäbel in der Montage sprechen von unsereinem wie von Erzhaiunken."
Melmster hatte ein Flimmern vor den Augen. Etwas würgte ihn im Halse. Die Hände krallten sich in die Supportkurbeln. - Verflucht! - Er stellte seine Bank ab und ging mit großen Schritten durch die Mitteltür über den Fabrikhof. -„Verprügeln? In Sack hau'n? In die Zeitung lancieren? Und das jetzt? Ist Quatsch", sagte der Hobler. „Wir suchen die richtigste und günstigste Zeit aus und rechnen dann gründlich mit dem Schurken ab! Also mach keine Geschichten! Denk auch an Dora!"
Melmster stand kreidebleich vor Erregung vor dem Lokus, auf dem der Hobler saß. „Hast du etwas Papier?" -
Als er wieder an den Arbeitsplatz ging, fühlte er Olbrachts Blicke. Er vermied, ihn anzusehen.
Bei der Arbeit aber hatte er immer das Gefühl, als hocke ihm eine Bestie im Genick und kralle sich in ihm fest.
Der Rotkopf war beneidenswert. Der sang einen Schlager nach dem andern. -
Der Dreher mit dem gespaltenen Nasenbein kam. Er war ein gedrungener, knochiger Mensch mit einem zerrissenen Gesicht und kleinen Boxeraugen. „Habt ihr euch in den Haaren gehabt?" „Dieser Olbracht versuchte, sich zu entschuldigen und alle Schuld auf Schmachel zu schieben!"
„Der riskiert bei uns keinen Pieps, und keiner spricht mit ihm. Man müsste diesen Schweinehund bei Kopf und Arsch packen und in den Kanal schmeißen!"
Er ging um die Drehbank herum weiter. „Was nicht ist, kann noch werden!" rief er noch. -
Zehn Minuten vor vier Uhr überraschte Meister Westmann den Rotkopf beim Waschen der Hände in Öl. Plötzlich trat
er hinter Wiesenbachs Bank hervor. Er schimpfte pflichtgemäß, trotzdem er genau wusste, dass es jeder tat. Der Rotkopf begann von neuem zu arbeiten.
Der „Alte" sah dann zu Melmster. Nach einer Weile trat er dicht an ihn heran.
„Melmster!" flüsterte er, „nehmen Sie sich in acht vor Denunzianten!"
„Ich danke Ihnen!" lächelte er, „aber man hat mich bereits orientiert."
Meister Westmann stutzte und schob sprachlos ab.

 

Vom Abort, der Kontrolluhr und vom Umkleideraum.

Am Mittwochmorgen wurde ein neuer „Roter Greifer" verteilt. Der Betriebsobmann Kühne machte einen schwachen Versuch, die Verteiler vor dem Fabriktor zu vertreiben. Es gelang ihm jedoch nicht, die Arbeiter selbst schützten sie.
Einen neuen Zusammenstoß gab es im Umkleideraum. Einige Arbeiterratsmitglieder wollten den Lehrlingen den „Greifer" wegnehmen.
„Dat is nix vor Jungens!" meinte das Arbeiterratsmitglied Kappke von der Tischlerei. Doch die Lehrjungen wehrten sich, und die Mehrzahl versteckte die Betriebszeitung und behauptete, keine bekommen zu haben.
Im „Roten Greifer" wurde zur Belegschafts- und Branchenversammlung Stellung genommen und die Kollegenschaft aufgefordert, stets so wie an diesem Montag fest und geschlossen zusammenzustehen und ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Der sozialdemokratische Arbeiterrat und die „acht Verächtlichen" wurden als die Agenten des Unternehmertums entlarvt. Doch den größten Eindruck unter den Kollegen machte die Korrespondenz „Nur drei Punkte". Jeder las sie. Alles diskutierte über die drei Punkte. Die Korrespondenz hatte folgenden Wortlaut:
Wir wollen in dieser Korrespondenz nicht von dem Hungerlohn, nicht von der Akkordraserei, nicht von den Agenten des Unternehmertums in unseren eigenen Reihen sprechen, sondern nur von drei Dingen im Betrieb, die so schon seit Jahren bestehen und um die sich noch nie ein Arbeiterratsmitglied gekümmert hat.
1. Der Abort. - Hört man unsern Betriebsobmann und seine Anhänger, so kommen immer wieder die Redewendungen „wir heutigen Kulturmenschen!" - „anspruchsvoll, jahrzehntelang organisierte Arbeiter!" - „Der Betriebsrat hat heute ein Wort mitzureden!" und dergleichen mehr. Nun, um so charakteristischer ist die Feststellung, dass seit Jahrzehnten auf dem Fabrikhof ein Scheißhaus steht, das ein wahrer Pestpfuhl ist. Aber kein „kultivierter" Sozialdemokrat oder gar Arbeiterratsmitglied hat je daran Anstoß genommen. Für dreihundert Menschen sind fünf Aborte vorhanden, die in der Regel noch nicht einmal alle benutzt werden können, fast täglich ist einer verstopft. Im Winter ist in diesem leichten, unheizbaren Holzverschlag eine Hundekälte, im Sommer ist es eine Brutstelle für Seuchen. Dass durch diese Abtritte noch nicht die Pest entstanden ist, ist ein seltener Glücksumstand, aber Unterleibsleiden und Erkältungen sind an der Tagesordnung, denn der Boden ist nackte Erde, nur wissen die Kollegen in den meisten Fällen nicht, dass es auf diese Aborte zurückzuführen ist. Das Pissoir ist eine verrostete und verschmutzte Blechrinne, in der allerlei Gewürm lebt. Zwei Meter breit für dreihundert Menschen. Der Arbeiterrat kennt diese schweinemäßigen Zustände, aber er rührt keinen Finger, er scheißt, wo dransteht „Meister und Vorarbeiter".
2. Die Kontrolluhr. - In jeder Halle steht nur eine Kontrolluhr. Täglich spielt sich um vier Uhr eine Szene ab, die tief beschämend für die gesamte Belegschaft ist. In wilder Jagd stürzt sich jeder auf die Kontrolluhr, um der erste zu sein. Die letzten, diejenigen, die am Ende der Halle arbeiten oder die diese dumme Rennerei nicht mitmachen wollen, müssen oft fünf und mehr Minuten warten, bis die eine Uhr frei ist. Wer morgens fünf Minuten zu spät kommt, dem wird eine halbe Stunde vom Lohn abgezogen.
Wann du, Kollege, aber abends nach Hause kommst, das
interessiert den Unternehmer nicht. Das ist kapitalistische Rationalisierung. Und der gold-gelbe Arbeiterrat sieht über diesen skandalösen Zustand hinweg, denn er ist vom Stempeln an der Uhr entbunden.
3. Der Umkleideraum. - Etwa neunzig bis hundertzwanzig Quadratmeter groß ist der Raum, den die Firma zum Umkleiden und zum Reinigen von dreihundert Arbeitern übrig hat. Nicht ein einziges Spind steht darin, dazu wäre auch der Raum viel zu klein, sondern lange Hakenständer sind aufgestellt mit dreihundert Haken. Jede Nummer hat ihren Haken, und man kann auf diesem einen Haken unmöglich sein Zeug richtig aufhängen. Zweiundvierzig Waschbecken stehen in diesem Raum für dreihundert Arbeiter. Die Arbeiterratsmitglieder und die... zigjährigen im Betrieb haben ihr Stammbecken, die andern müssen warten oder ungewaschen nach Hause gehen. - Noch nie ist vom Arbeiterrat daran gedacht worden, hier Wandel zu schaffen. Der Betriebsratsobmann Kühne kennt diesen ungeheuren Missstand, denn er geht fast regelmäßig täglich einige Minuten vor vier in den Umkleideraum, und die Betriebsleitung ist klug genug, es bei ihm zu dulden.
Kollegen, soll dies so weitergehen? - Die Gewerkschaftsopposition und die revolutionären Arbeiter fordern von der Betriebsleitung:
1. einen hygienisch einwandfreien Abort
2. mindestens zwei Kontrolluhren für jede Fabrikhalle
3. ein Waschbecken und ein verschließbares Spind für jeden Arbeiter.
Der Arbeiterrat muss sich in der nächsten Belegschaftsversammlung zu diesen Punkten äußern. Sorgt dafür, dass bald eine Belegschaftsversammlung einberufen wird, brecht die Sabotage der feigen Unternehmerseelen! Die gesamte Belegschaft muss sich für die Forderungen der Revolutionären Gewerkschaftsopposition einsetzen und sie durchkämpfen.
Diese Korrespondenz im „Roten Greifer" wurde Betriebsgespräch. In der Montage, in der Maschinenhalle, in der
Tischlerei, überall wurden die „drei Punkte" erörtert und diskutiert. An der Holzwand über der Pissrinne im Lokus war der aufgeschlagene „Greifer" angeheftet, und darüber hatte einer mit Kreide geschrieben: „Wer kann bestreiten, dass es so ist?"
Nur die Arbeiterratsmitglieder taten, als hätten sie nichts gelesen und wüssten von nichts. Der Betriebsgoliath an der Anreißplatte bewegte sich eher noch gravitätischer als gewöhnlich! Doch das war Berechnung, innerlich bebte und tobte er, aber er wusste auch genau, dass er machtlos war und sich nur noch mehr der Lächerlichkeit aussetzte, wenn er zeigen würde, was in ihm vorging.
Olbracht und Bleckmann fühlten sich inzwischen von ihrer Überstundenblamage etwas erholt und hatten wieder dauernd die Köpfe beieinander. Melmster erriet, worüber sie sprachen. Nicht etwa über das, was in der Betriebszeitung stand, nicht über Möglichkeiten und Wege, die aufgezeigten Missstände zu beseitigen - sie waren nur von dem einen Problem erfüllt: Wer kann der Betriebszeitungsredakteur sein? Alle bekannten Kommunisten im Betrieb nahmen sie durch.
„Der Hobler Wend?"
„Sie werden nicht gerade den nehmen!"
„Der Schlosser Drohn?"
„Ich weiß genau, der kann wohl reden, aber nicht schreiben!"
„Der Revolverdreher Dresen?"
„Unmöglich, der ist zu alt!"
„Der Schmied Hennings?"
„Der Schreihals ist viel zu dämlich!"
„Aber einer muss es doch sein?"
„Natürlich! Einer muss es sein!"
„Ja!-Wer?-Wer?"
„Und Melmster?" fragte Bleckmann.
„Daran habe ich auch schon gedacht! Doch der war knapp zwei Tage im Betrieb, als die erste Nummer erschien. Und wie mir versichert wurde, hat er in der Zellenversammlung der Kommunisten bereits davon gesprochen, dass eine Betriebszeitung geplant und vorbereitet ist. Der ist es nicht! Der ist noch zu jung im Betrieb!"
„Aber wer ist es denn?"
„Ja! Ja! Ich möcht es verflucht gern wissen!"

 

Die Zelle wächst.

Der Hobler Hans trug seit einiger Zeit ein merkwürdiges Wesen zur Schau. Er verhielt sich zurückhaltend und äußerst schweigsam. Auch einige Funktionärssitzungen der Partei hatte er geschwänzt, was in der letzten Zeit nicht vorgekommen war. Sogar den letzten „Greifer" hatten Fritz und Melmster allein zusammengebaut. Hans war schon nach einer Stunde fortgegangen, und die Dora Timm war auch nicht gekommen. Bis hart gegen Mitternacht hatten Melmster und der brave Jungkommunist Fritz abwechselnd mit zwei Fingern die Wachsbogen vollgetippt. Auch im Betrieb wich Hans den Genossen aus. In der Mittagspause stellte ihn Melmster.
„Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Du hockst hier wie ein nasser Sack und redst kein Wort. Was ist mit dir?"
„Wir hatten Angst, du würdst dich nicht beherrschen können!"
Hm! Hm! Wir! dachte Melmster und sagte: „Unsinn, das kann doch nicht der Grund deines Verhaltens sein. Übrigens seht ihr ja, dass ich mich beherrsche!"
„Knapp war's man!" lachte der Hobler.
„Versetz dich in meine Lage! - Aber dein Gesicht gefällt mir nicht."
„Ich versteh nicht, was du hast, ich fühl mich sauwohl!"
Die exzentrischen Schwundräder, die Melmster zu bearbeiten hatte, waren die gefürchtetste Dreherarbeit. Das Ausrichten in der Planscheibe mit Gegengewichten nach genauen Berechnungen nahm die meiste Zeit in Anspruch und kostete Nerven, denn einige Fehlschläge, und man war mit der nach Tabellen, Stoppuhr und Spindelumdrehungen errechneten Zeit uneinholbar versackt.
Melmster hatte Pech. Schon einige Male war das Schwungrad unausgeglichen geblieben, und die Bohrung wurde infolgedessen elliptisch. Er rackerte an der Planscheibe herum, berechnete, experimentierte, und alles kostete Zeit - Zeit, die nicht einkalkuliert war, denn die Berechnungstabelle kennt nur glatte Arbeitsgänge.
Der Rotkopf beobachtete sinnend die Anstrengung Melmsters, der sich in Schweiß arbeitete. „Weißt du, Alfred."
Melmster dachte, er wolle ihm Ratschläge geben, und hörte hin.
„Ich will in die Partei eintreten!" „Richtig, Kurt! Und der Fußball?" „Ich bin schon aus ,Concordia' ausgetreten!" „Das ist anständig! - Sieh doch mal dies Aas! Ich kriege ihn nicht hin!"
„Ich will aber in ,Barmbeck dreiundneunzig' eintreten, da wird ein guter Arbeiter-Fußball gespielt."
„Gib mir mal noch einen halbzölligen Schlüssel! - So! -Halt hier fest! - Noch mal! - Und wenn das Luder jetzt noch schlägt...!"
Es lief. Der Stahl setzte an.
„Das ist fabelhaft, Kurt. Dann sind wir ja Genossen!" -Melmster atmete erleichtert auf, als es auf vier Uhr ging. Das war ein verfluchter Tag gewesen. Er war wie in Schweiß gebadet und hatte doch nichts beschickt.
„Hast du noch etwas Öl?" rief Olbracht. Melmster reichte ihm seine Kanne. Merkwürdig, die Wut auf dieses Subjekt war vorerst verraucht. Doch die Abrechnung war nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben.
Olbracht erzählt ihm, dass die Firma demnächst ihre Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen gedenke. Stähle und verstellbare Kopfhalter sowie mehrstählige Vorrichtungen seien schon eingetroffen.
„Was gedenkt ihr dagegen zu unternehmen?" fragte er zum Schluss.
„Du fragst mich, als ob ich der Generalissimus der Opposition wäre!"
„Na, ihr werdet doch vorgearbeitet haben?" „Wie darauf reagiert wird, weiß ich nicht, das ist ja auch Sache der Kollegen selbst!" wich Melmster aus.
Vier neue Parteimitglieder hatten die letzten vierzehn Tage gebracht. Zwei Schlosser aus der Montage, einen Arbeitsmann und den Dreher Kurt Menzel. Der „Rote Greifer" hatte richtig gegriffen, und alle Genossen und darüber hinaus fast die gesamte Belegschaft waren von dieser mutigen Betriebszeitung begeistert. Selbst einige von den Genossen wollten in der Zellenversammlung wissen, wer den „Greifer" schreibe. Der Hobler Hans sagte darauf nur, dass es besser sei, es wüssten dies so wenige wie nur möglich.
Auf der Tagesordnung dieser Zellenversammlung stand ein Referat über die Taktik der Opposition bei den bevorstehenden Betriebsrätewahlen. Da aber, wie gewöhnlich, der Referent der Bezirksleitung nicht kam, wurde über dies Thema unter den Genossen diskutiert.
Viele waren der Meinung, dass die Opposition in der freigewerkschaftlichen Belegschaftsversammlung die Mehrheit bekommen würde und dann gleichzeitig den gesamten Arbeiterrat in Händen hätte.
Ein Genosse machte darauf aufmerksam, dass die Betriebsleitung im Interesse des jetzigen, ihr sehr angenehmen Arbeiterrats kurz vor der Wahl Massenentlassungen oppositioneller Arbeiter vornehmen werde, um so dem jetzigen Arbeiterrat eine abermalige Mehrheit zu sichern.
Melmster forderte die unsichtbare „Greifer"-Redaktion auf, bereits in der nächsten Nummer zu den Betriebsratswahlen Stellung zu nehmen, und machte die Zellenleitung darauf aufmerksam, alle Termine genauestens zu beachten und einzuhalten.
Zum Schluss wurde noch auf Vorschlag des Hoblers aus jeder Halle ein Literaturobmann bestimmt. Der Vertrieb der „Arbeiter-Illustrierten" sowie sämtlicher Parteibroschüren sollte jetzt systematisch im Betrieb organisiert werden. Jeder Genosse und darüber hinaus alle Leser sollten künftig im
Betrieb die Zeitung abonnieren und neue Leser werben. Auf diese Weise sollte diese einzige proletarische Bilderzeitung noch mehr unter die Arbeiterschaft kommen, und gleichzeitig blieben der Zelle wöchentlich einige Groschen zur Finanzierung des „Roten Greifers".
Es sollten vorerst achtzig Exemplare wöchentlich bestellt werden.
Am Schluss der Zellenversammlung fragte Melmster den Hobler nach Dora Timm. „Was soll ich dir da antworten?"
„Ich meine nur so", log Melmster, „ich habe euch gesehen!"
„Ist das wahr?" Hans war ganz erschrocken. „Wir haben immer Angst, dass uns mal einer vom Betrieb begegnet!"
„Na, beruhige dich, es stimmt nicht."
„Doch woher weißt du... ? Wie kommst du darauf... ?"
„Es muss doch eine Erklärung für dein jetziges Verhalten geben!"
Hans wurde rot und verlegen wie ein Backfisch.

 

RGO Metall.

Die oppositionellen Arbeiter aller Landbetriebe der Metallindustrie hatten in einer gemeinsamen Versammlung zu dem bevorstehenden Ablauf des Tarifs Forderungen aufgestellt und diese in einem Kampfaufruf ver­öffentlicht.
Einige Tage später lagen auch auf den Arbeitsplätzen der Arbeiter der Maschinenfabrik N. & K. kleine Flugzettel mit folgendem Inhalt:

An die Arbeiter der Landbetriebe der Metallindustrie!
Kollegen! - Am 31. März läuft der Tarifvertrag der Metallarbeiter ab. Die Löhne sind katastrophal gesunken. Von Juli bis Dezember sank der Geldlohn des deutschen Arbeiters um 13,6 Prozent und der Reallohn um 12, 9 Prozent. Unablässig steigern die Unternehmer die Ausbeutung. Die Hungeroffensive der Bourgeoisie gegen das Proletariat, Massensteuern, Zollwucher, Mietverteuerung, die Verschlechterung der Sozialfürsorge zwingen die Metallarbeiter, schon jetzt alle
Voraussetzungen für einen erfolgreichen Kampf um Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit zu organisieren.
Die Forderungen der Metallarbeiter der Landbetriebe sind:
1. Die Arbeitszeit wird auf sieben Stunden pro Tag und vierzig Stunden die Woche herabgesetzt. An Sonnabenden beträgt sie fünf Stunden.
2. Für Jugendliche unter sechzehn Jahren beträgt sie sechs Stunden pro Tag und fünfunddreißig Stunden die Woche.
3. Die bisherigen Löhne werden unter Festhalten an der Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ab 1. April erhöht für:
a) gelernte Arbeiter von 92 Pf um 38 Pf auf 1,30 Mark
b) angelernte Arbeiter von 86 Pf um 39 Pf auf 1,25 Mark
c) ungelernte Arbeiter von 79 Pf um 41 Pf auf 1,20 Mark
d) ungelernte Arbeiterinnen von 52 Pf um 53 Pf auf 1,05 Mark
e) Lehrlinge im ersten Lehrjahr von 13 Pf um 17 Pf auf 30 Pf, im vierten Lehrjahr von 33 Pf um 57 Pf auf 90 Pf und entsprechende Abstufungen in den anderen Lehrjahren.
4. Die bisher wirklich erzielten Verdienste erhöhen sich für alle Arbeiter entsprechend der Erhöhung des Grundlohnes.
5. Der Tarif läuft auf unbestimmte Zeit und kann jederzeit mit einer Frist von vier Wochen gekündigt werden.
In allen Betrieben müssen vorbereitende Kampfleitungen aus klassenbewussten organisierten und unorganisierten Arbeitern und Arbeiterinnen, Jungarbeitern und Jungarbeiterinnen gebildet werden. Es gilt, sofort Betriebs- und Branchenversammlungen einzuberufen und Beschlüsse zu den vorstehenden Forderungen der Revolutionären Gewerkschaftsopposition zu fassen. Wer gegen diese Forderungen steht, ist auf der Seite der Arbeiterfeinde.
Metallarbeiter, wählt bei den bevorstehenden Betriebsratswahlen nur solche Kollegen, die bereit sind, für diese Forderungen zu kämpfen. Organisiert auf der breitesten Grundlage den Kampf für diese Forderungen! - Bildet revolutionäre Wahlkomitees! - Wählt rote Arbeiterräte!
Die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition der Metallarbeiter der Landbetriebe.

„Das sind wirklich einmal Forderungen, für die es sich lohnt, zu kämpfen!" sagte ein junger Schlosser zum „Scharfen", mit dem er gemeinsam Bolzen in das Drehgestell eines Kranes schlug.
„Das sind Phantasie- und Agitationsphrasen der Kommunisten. Sie wissen ganz genau, dass sie niemals verwirklicht werden können, und darauf spekulieren sie!" entgegnete unwirsch und abfällig der „Scharfe" und schlug mit einem kurzen, schweren Vorschlaghammer einen neuen Bolzen in den Drehkranz.
„Man muss heute ja immer schon damit rechnen, dass nur dreißig Prozent oder gar nur zwanzig Prozent der von uns aufgestellten Forderungen durchkommen, und was bleibt dann noch, wenn wir vier oder sechs Pfennig Zulage fordern, wie es im vorigen Jahr unsere Gewerkschaftsinstanzen taten?" mischte sich ein anderer, älterer Schlosser ins Gespräch.
„Was noch bleibt, hast du ja erfahren, zwei Pfennig!" lachte der Junge.
„Die können sie sich diesmal in den Arsch stecken! Wir sind die miserabelst bezahlten Arbeiter und sind die bestorganisierten. Aber die in Berlin, die Oberbonzen, mit ihren Tausendmarkgehältern und diversen Spesen, diese Clique würgt jeden ernsthaften Kampf aus staatspolitischen Gründen ab, wie sie sagen. Bei diesen staatspolitischen Gründen kriegt der Kapitalist volle Backen, und wir gehen vor die Hunde!"
„Komm, lass mich mal schlagen!"
Ein Bolzen nach dem andern wurde eingeschlagen. Bald war der Kranz fertig. Unter den wütenden, wuchtigen Schlägen flutschte die Arbeit. Der „Scharfe" hatte mit keinem Wort seinem Kollegen widersprochen. Er war klug genug, sich nicht offen zum Schützer korrupter Gewerkschaftsbonzen aufzuwerfen, seine Methode war, bei günstigen Situationen belanglose antikommunistische Argumente breit auszuwalzen und dabei den sittlich und politisch Entrüsteten zu spielen. Wenn revolutionäre Arbeiter mit einem Sack voll Argumente gegen die falsche Politik der SPD-Führung kamen, hörte er schweigend zu, denn es erschütterte ihn nicht.
Aber wenn er an einem armseligen Argument seinen Faden spann, gab es immer noch Arbeiter, die er ins Schwanken brachte und vom entscheidenden Schritt zur revolutionären Opposition abhielt. -
„Ihr seid ja gar nicht bescheiden!" Olbracht wies grinsend auf das Flugblatt. Als Melmster nichts erwiderte, setzte er noch mit besonderer Betonung hinzu: „Hoffentlich stellt die Verbandsleitung realisierbare Forderungen!"
„Und was wäre nach deiner Auffassung realisierbar?" fragte Melmster.
„Ich denke, dass der Verband acht bis zehn Pfennig fordern wird!"
„Damit du zwei oder drei Pfennig bekommst und an die Bonzokratie zehn Pfennig mehr Verbandsbeitrag zahlen kannst!"
„Aus dir spricht richtig der kommunistische Gewerkschaftsfeind!" polterte Olbracht in künstlicher Erregung los.
Melmster biss sich auf die Lippen. Ausgerechnet diese Kanaille musste ihm das sagen.

 

Der „Gottsucher" sucht Anhänger.  

Am andern Tag hatte Melmster an seiner Bank einen seltsamen Besuch. Der „Gottsucher" kam, und die ganze Nachbarschaft beobachtete erstaunt und interessiert dieses Ereignis.
„Ich komm zu dir, Kollege, um mit dir bekannt zu werden!" Und dabei lachte er Melmster mit seinem kinderhaft schmalen Gesicht freundlich an. Er trug einen sauberen gestreiften Kittel und eine kleine lederne Schürze. „Und fragen wollte ich, ob ich dich heute auf dem Nachhauseweg begleiten kann?"
Nun musste Melmster lächeln. Er hatte das Gefühl, als spräche ein Mädchen mit ihm. Glasklare, treuherzige Augen hatte der Mensch und eine rührende Schüchternheit.
„Natürlich habe ich nichts dagegen! Nur kann ich mir den Zweck nicht erklären!"
„Du wirst doch Mitglied einer Jugendorganisation, nicht wahr? Und du bist doch Kommunist? - Eben aus diesen Gründen möchte ich mit dir reden."
„Also gut!"
„Schönen Dank!" Er nickte leicht mit dem Kopf und ging dann um die Drehbank herum sofort aus der Halle hinaus. Melmster lächelte in sich hinein und merkte, wie Olbracht vor Neugier zappelte. Er hätte zu gern erfahren, was der „Gottsucher" gewollt hatte, aber er traute sich doch nicht zu fragen.
Wiesenbach aber streckte sein verschmiertes Gesicht vor. „Wull he di bekehren?"
„De süht nich so schietig ut wi du!" rief ihm der Rotkopf zu. -
Am Vormittag besichtigte eine Kommission die Fabrik. Es mochten zwölf Herren sein, die, vom Betriebsleiter geführt, auch durch die Dreherei kamen. Um Bleckmanns Bank versammelten sie sich. Dieser hatte wieder Riesentrommeln in Arbeit, in die er unter Mordsspektakel des Stahles armbreite Trossennuten drehte. Bleckmann hüpfte hin und her und fühlte sich außerordentlich wichtig. Kollege Wiesenbach wurde von dem nachbarlichen Ereignis so mitgenommen, dass er sich krampfhaft mit einer Handvoll Twist das Gesicht säuberte. Aber die Kommission ging weiter, ohne Wiesenbach und seine Arbeit zu beachten. Er sah ordentlich beleidigt aus.
„Das sind die Aasgeier der Rationalisierung!" rief Olbracht Melmster zu.
Die Mitglieder des Arbeiterrats waren nach den letzten Vorfällen auffallend schweigsam geworden. Schmachel pütscherte von morgens bis abends an seiner plumpen Koppbank herum. Er wurde von den Kollegen der Dreherei wie ein an den Pocken Erkrankter gemieden. Kühne, der gern im Betrieb herumstolzierte und der sich sonst seines Wertes übervoll bewusst war, kam gar nicht mehr von der Anreißplatte weg und war so bescheiden geworden. Und die Betriebsleitung, die so brennend nötig Überstunden brauchte, um vorauszuarbeiten, damit kurz vor den neuen Tarifverhandlungen Flaute vorgeschützt werden konnte, und die auch sonst auf alle Fälle vorbereitet war, verlor gegenüber den widerspenstigen Drehern kein Wort. Und das war gerade das Unheildrohende.
Es lag etwas in der Luft, das sich auch bald entladen sollte.
Als sich Melmster nach vier Uhr angezogen und gewaschen hatte, sah er sich nach dem „Gottsucher" um, aber er konnte ihn nicht finden. Er hat es vergessen, dachte er. Doch als er aus der Fabrik herauskam und seinen Weg zur nächsten Hochbahnstation nehmen wollte, ging der „Gottsucher" plötzlich neben ihm.
„Hallo, ich dachte schon, du hättest es verschwitzt!"
„O nein! Du gehst zur Hochbahn?" Melmster nickte.
„Vielleicht werden wir bis dahin ins reine kommen!" Was der bloß will, grübelte Melmster.
„Kollege Melmster, du bist vielleicht schon durch die Kollegen über mich orientiert. Es ist natürlich gar nicht so, wie es die meisten kolportieren. Ich bin nicht religiös, zumindest nicht im kirchlichen Sinne, sondern bei meinen Anschauungen eher so etwas wie Anarchist, und ich bemühe mich ernsthaft, an der Lösung des sozialen Problems mitzuarbeiten. Wenn man nun im Betrieb, wie bei uns, sich umsieht, beobachtet man zwei Generationen, die sich schroff gegenüberstehen, die Alten und die Jungen. Die Alten sind hoffnungslos und für den Kampf der Arbeiter verloren, sie sind innerlich ungläubig geworden und so gescheitert. Die Jungen, wir also, sind der einzige Faktor, der der Bewegung neuen Antrieb, neue Gläubigkeit und neue Kraft geben kann. Ich plane nun eine
Zusammenfassung dieser Jungen, vorerst im Betrieb, und natürlich auch vorerst nur bestimmter, etwa solcher, die aus der Jugendbewegung kommen, und dich möchte ich für meinen Plan gewinnen. Wie ist deine Meinung?"
Melmster war ein ganzes Stück größer als der Tischler, und dieser blickte ihn von unten fragend an.
„Drei Fragen!" entgegnete Melmster. „Wie stehst du zur Theorie des Klassenkampfes? - Wie stehst du zur Diktatur des Proletariats? - Wie stehst du zur Kommunistischen Partei?"
„Soll dieses Ultimatum eine Antwort auf meinen Vorschlag sein?"
„Es gibt bestimmte Voraussetzungen, unter denen sich nur in einem solchen Falle Diskussionen lohnen!"
Der blasse Mensch mit den träumerischen Augen dachte nach.
„So will ich dir deine Fragen sofort beantworten. Erstens bin ich kein Marxist. Zweitens bin ich kein Mitglied der Kommunistischen Partei, noch sympathisiere ich mit ihr. Und nun?"
„Wissen wir, woran wir sind!" lächelte Melmster. „Ich bin Marxist und infolgedessen auch Kommunist!" „Und mein Vorschlag?"
„Ist völlig undiskutabel! - Die Frage des Klassenkampfes und der revolutionäre Kampf der Arbeiter ist keine besondere Frage von Generationen. Dass die Generation vor uns den Kampf in anderen Formen führte, ist nur zurückzuführen auf die damaligen ökonomischen Zustände und den entsprechenden Reifegrad der Arbeiterschaft und umgekehrt. Die heutigen Formen und Methoden des Klassenkampfes entsprechen den heutigen Wirtschaftsverhältnissen und dem gegenwärtigen Entwicklungsstadium der Arbeiterschaft und sind nicht das Ergebnis einer besonders berufenen Generation!"
„Aber bedenke...!"
„Dass die Alten, wie du sagst, versagen, ist die historische Schuld der SPD-Führung, die dies mit ihrer ideologisch lähmenden und praktisch konterrevolutionären Politik heraufbeschwor."
„Ihr schreibt im ,Roten Greifer' von den Missständen im Betrieb und von der miserablen Entlohnung, und wenn Arbeitskollegen kommen, um euch in diesem Kampf zu unterstützen, dann weist ihr sie ab. Ich wollte nicht mit dir politisieren, sondern dir nur Vorschläge unterbreiten, wie man gegen diese Missstände kämpfen kann!"
„Dann schließ dich der Opposition an!"
„Ich wollte aber gerade durch deine Mitwirkung die Jungen im Betrieb dafür interessieren und gewinnen!"
„Recht schön und gut, Ahrnfeld, aber man muss sich dann doch einigen, auf welcher Grundlage."
Der „Gottsucher" reagierte aber nicht auf diese Frage, er sprach nachdenklich, fast bedauernd und wie zu sich selbst: „Das ist nicht gut, dass wir es ohne dich und Wend machen müssen!"
„Hat denn der Hobler auch schon abgelehnt?"
„Ich hab noch nicht mit ihm gesprochen, aber Scharff und Ermisch, die Schlosser, und der Platzarbeiter Franke und mein Kollege Gerhard sind bereit. Wir kommen am Sonnabend bei Scharff zusammen!"
So weit hatte der Tischler schon vorgearbeitet. Melmster überlegte. Eine verrückte Idee dieser Leutchen! - Man müsste doch sehen, was da vorgeht.
Und zur größten Freude des „Gottsuchers" erklärte Melmster, er würde kommen.

 

Eine Kriegserklärung.

„Wissen Sie, was der Direktor der Eumo-Werke sagte, als er durch unseren Betrieb ging? - So gemütlich arbeiteten wir in den neunziger Jahren. Das ist hier ja ein richtiges Idyll!"
„Will mir gar nicht so scheinen!" brummte Meister Westmann.
„Das sagte so ähnlich auch Jacobi!" begann der Kalkulator wieder. „Aber das hätten Sie hören sollen! - Was laufen die
Arbeiter hier spazieren? - Wo ist deren Arbeitsplatz? -Warum bedienen nicht die Dreher und Hobler zwei von den großen Maschinen? - Warum müssen die tagsüber stundenlang in die Luft gaffen? - Warum murksen vier oder fünf Arbeiter immer nur einen Kran fertig? - Das ist Spielerei! - Wer kann sich das heute noch erlauben? - Warum wird nicht systematisch Hand in Hand gearbeitet? - Dieser Betrieb muss ja unrentabel sein! - Dreihundert Prozent mehr ließen sich herausholen!"
„Der vergisst unser Menschenmaterial."
„Als Jacobi ihm sagte, dass die Arbeiter nicht wollen und sich gegen weitere Rationalisierungsmaßnahmen wehren würden, lachte der Direktor laut auf. Bestimmen in diesem Betrieb die Arbeiter oder Sie? Sie züchten ja den Bolschewismus durch Ihre unangebrachte Humanität! - Das wird noch heiß bei uns hergehen! Mir wurde hinterher eingeheizt, als sei ich der Schuldige! Bei den Drehern fängt nun der Rummel an!"
„Ausgerechnet!"
„Bei Planarbeiten soll Bleckmann Wiesenbachs Bank mit übernehmen. Diesem müssen Sie dann eine kleine Schnelldrehbank geben. Der Dreher Dresen richtet künftig nur die Automatenbänke ein. Die Dreher in der Reihe bekommen nur noch Spezialarbeiten. Auch die Hobler müssen fortan zwei Maschinen bedienen!"
„Wenn das man alles gut geht!"
„Etliche Entlassungen stehen ebenfalls bevor, besonders in der Montage." „Mehrarbeit und Entlassungen?" „Das ist das Programm!"
In den nächsten Tagen wurde im Betrieb hin und her gehastet. Die Meister liefen wie aufgescheuchtes Wild umher. Drei Kalkulatoren tauchten mit ihren Stoppuhren zwischen den Drehbänken auf. Die Umdrehungen der einzelnen Gänge von den verschiedensten Drehbänken wurden abgelesen und registriert. Sämtliche Stahlarten wurden ausprobiert. Phantastische Apparate mit mehrstähligen Supporten und schnellfließenden Kühlanlagen wurden auf einige Bänke montiert. Alles war in Aufregung und fieberhafter Tätigkeit.
Bleckmann arbeitete im Beisein der Kalkulatoren, dass ihm große Schweißtropfen auf der Stirn standen. Wiesenbach schmierte sich in nervöser Hast noch mehr Dreck ins Gesicht als gewöhnlich, und der Rotkopf knurrte und brummte den ganzen Tag über diesen tollhausartigen Betrieb.
An einem Nachmittag gab dann die Betriebsleitung durch einen Anschlag offiziell die Einführung rationellerer Arbeitsmethoden bekannt. Es wurde in dem Anschlag in einem schwülstigen Pathos von der Konkurrenz auf dem Weltmarkt geredet und von Deutschlands Wettbewerb um die Erhaltung und Verbreiterung der Absatzmärkte. Die Rationalisierung sei die Lebensnotwendigkeit der deutschen Wirtschaft, hieß es weiter, und Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssten gemeinsam am Wiederaufbau unserer zerrissenen Wirtschaft arbeiten.
Etwa zwanzig Arbeiter standen vor dem „Schwarzen Brett" und lasen.
„Das sind dieselben Redensarten, wie sie unsere Reformisten gebrauchen!"
„Das ist eine Kriegserklärung!" Der Hobler Hans hatte sich unter die lesenden Arbeiter gedrängt.
„Eines Krieges, der gegen uns gerichtet ist!" ergänzte ein Revolverdreher.
„Und den wir wieder bezahlen müssen!" setzte ein anderer hinzu.
So entstand wieder eine Unruhe im Betrieb. Jeder Arbeiter spürte, das war ein Angriff des Unternehmertums, und das Ziel dieses Angriffes war: Mehrleistung bei gleichem Lohn mit weniger Arbeitern.
In allen Abteilungen wurde diskutiert. Die unsinnigsten Vorschläge wurden gemacht, um diesen Vorstoß der Unternehmer abzuwehren. Von Sabotage, von passiver Resistenz, von systematischem Versacken aller und dergleichen mehr wurde schwadroniert. Der Schlosser Drohn war überall. Er bewies den Arbeitern, dass die Ursachen dieser Rationalisierung in den Bemühungen der deutschen Kapitalisten zu suchen waren, die Konkurrenz auf den Weltmärkten zu schlagen. Er widerlegte alle die unsinnigen Vorschläge, die im Grunde durchaus passiver Natur waren, und zeigte, wie nur im revolutionären Kampf des Proletariats, und zwar auf breitester Grundlage, Klasse gegen Klasse, die wirtschaftlichen Positionen der Arbeiter verbessert und der Kapitalismus niedergerungen werden könnten. Unermüdlich ging er auf jede Unterredung, auf jede gegenseitige Bemerkung ein. Die Kollegen seiner Kolonne arbeiteten widerspruchslos für ihn mit, dadurch bewiesen sie ihre Sympathie für ihn.
Auch Hans Wend wirkte in diesem Sinne unter den Hoblern und Bohrern. Die Mitglieder des Arbeiterrats aber verhielten sich völlig desinteressiert, sie und die feste Clique der Jubiläumsarbeiter nahmen alles hin, als ginge es sie gar nichts an. Einige Schlosser standen an der Anreißplatte bei Kühne und redeten auf ihn ein. Man konnte sehen, wie sie der Riese abwehrte und sie zu beschwichtigen versuchte. Heftig gestikulierend verließen sie die Maschinenhalle.
Der Hobler rief dem Betriebsratsobmann zu: „Deine Genossen rebellieren wohl? Wie steht es denn mit dem Belegschaftsbeschluss?"
Der Riese machte lediglich eine wegwerfende Handbewegung.
„Ja, ja!" lachte und höhnte der Hobler. „Undankbarer Posten. Deine Genossen sagen auch, es ist ein Opfer, Minister zu sein, und drängeln sich danach, dieses Opfer zu bringen!"
Bei den Drehern wurde wie wild gearbeitet. Meister und Kalkulatoren rannten hin und her. „Nun beginnen deine Raben zu arbeiten!"
Olbracht verspürte offenbar keine Lust, auf diese Spitzfindigkeit einzugehen, aber Bleckmann hatte es gehört, und er pöbelte und drohte: „Diese Parasiten in Lack und Frack sollen sich nicht einbilden, dass ich mich teilen kann, ich habe mich mit meiner einen Bank genug zu quälen. Die sollen nicht glauben, dass ich zugleich an zwei Bänken arbeiten kann. Zwei Hände habe ich man nur!" „Mit Schimpfen ist da nichts getan!"
„Verquickst wohl diese Angelegenheit auch mit der Weltrevolution wie der Hobler und versuchst, daran dein Parteisüppchen zu kochen!"
„Die kapitalistische Rationalisierung ist eine verdammt wichtige Angelegenheit der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Sie ist ein Generalangriff auf deine, meine und unser aller Lebenshaltung und unsere noch vorhandenen geringen Rechte!"
„Siehe Rationalisierung in Russland! Dort wird selbst nach euren eigenen Angaben amerikanisches Tempo überboten!" warf jetzt Olbracht bissig ein.
„In Russland beherrschen die Arbeiter und Bauern Staat und Wirtschaft!" erwiderte Melmster. „Alle Errungenschaften kommen dort den Werktätigen zugute. Weitestgehende Sozialfürsorge, auskömmliche Löhne, Siebenstundentag und Fünftagewoche. Der russische Rationalisierungsprozess ist das Tempo des sozialistischen Aufbaus. Hier schuften wir für den Profit anderer. Die kapitalistische Rationalisierung bei uns bringt den Unternehmern erhöhte Profite und uns Elend und Massenerwerbslosigkeit. Die sozialistische Rationalisierung in der Sowjetunion bringt höhere Löhne für die Arbeiter und verkürzte Arbeitszeit. Das ist der Unterschied."
„Schluss!" winkte Olbracht ab und grinste.

 

Das erste Opfer.

„Dem Tischler Elmers sind zwei Finger von der linken Hand abgesägt!"
Der Rotkopf brachte diese Nachricht. Sie wurde mit erstaunlichem Gleichmut aufgenommen. Kurt Menzel aber war ganz erregt. Er hatte den aschfahlen Tischler mit der zerstückelten, blutenden Hand gesehen.
„Nummer eins!" registrierte Melmster.
„Was meinst du damit?"
„Das erste Opfer der Rationalisierung!"
„Die soll ja erst kommen!" meinte Olbracht lachend. „Ich habe grässlichere Unfälle erlebt, und übrigens geschehen in jeder Minute Unfälle und meistens schwerere!"
Melmster erwiderte nichts, aber er dachte: Zwei Finger weg sind heute eine Bagatelle, und ein erzählter Unfall erschüttert nicht. Anders ist es, wenn man Blut und die angst- und schmerzaufgerissenen Augen des Verunglückten sieht.
Unvergesslich blieb ihm ein Unfall während seiner Lehrzeit. Er lernte in einer Armaturenfabrik. Ein Dreher in einer Nebenabteilung hatte seinen Treibriemen ausgebessert und war dabei, ihn wieder über das Schwungrad der Transmission zu werfen. Die Dreher hatten darin eine erstaunliche Fertigkeit und kamen damit zustande, ohne den Betrieb zum Halten zu bringen. Doch tausendmal geht es gut, einmal passiert's. Melmster hörte damals nur einen Schrei, einen kurzen, durchdringenden, gellenden Schrei. Er sah nicht, was vorgefallen war, und auch nicht einmal den Verunglückten, aber diesen Schrei konnte er nicht vergessen. Das Schwungrad packte den Dreher und riss ihm den rechten Arm glatt ab. -Dann erinnerte sich Melmster noch eines besonders schaurigen Unfalls. Vor Jahren, in einer Werkzeugfabrik, kam sein Vordermann mit der Hand zwischen Arbeitsstück und Bohrstahl, dabei wurde ihm der Daumen abgewürgt, und unter dem entsetzlichen Gebrüll des Arbeiters wickelte sich eine Sehne aus der blutenden Hand um das rotierende Arbeitsstück.
Melmster hatte außer vielen leichteren Verletzungen, die jeder schon als Selbstverständlichkeit hinnahm, einen schweren Unfall gehabt, und eine breite Narbe an der inneren Handfläche war ein bleibendes Erinnern daran. Beim Bohren musste er sich einmal ohne Bohrfutter behelfen und mit einem Mitnehmer, den er um den Bohrer spannte, diesen halten. Während des Bohrens glitt die führende Reitstockspitze ab, der Bohrer fraß sich schief, und der Mitnehmer schlug ihm auf die Hand. Die ganze ausgespannte Handfläche platzte, und der kleine Finger hing wie losgelöst dabei. Er hatte noch Glück gehabt und seine Finger behalten.
So floss in der Fabrik täglich Blut. Die verschärfte kapitalistische Rationalisierung würde noch mehr blutige Opfer fordern, und wie im imperialistischen Kriege fielen auch auf diesem Schlachtfeld der Arbeit nur die Geknechteten, die Ausgebeuteten. Die kapitalistischen Nutznießer, die Dividendenschlucker und Profitjäger saßen auch hier weitab von der mordenden Front.
Auf dem Fabrikhof traf Melmster den „Gottsucher". Der eilte gleich auf ihn zu.
„Entsetzlich! Denk dir, völlig ab - die Finger lagen an der Erde. Und jetzt ist immer noch kein Krankenauto da!"
„Er ist bewusstlos!"
„Ach wo! Er stiert vor sich hin, als könne er das alles nicht begreifen!" „Dann hat er aber Nerven!"
„Ich will noch einmal das Hafenkrankenhaus anrufen!" Damit lief er weiter zum Pförtner.
In der Latrine wurde natürlich auch von dem Unfall gesprochen.
„Lächerlich!" sagte ein untersetzter, aber stämmiger Schlosser. „Hier die Fingerkuppe weg, abgemeißelt. - Hier den ganzen Handrücken geröstet, heißes Eisen draufgefallen. -Und hier die Narbe unter den Haaren, ich bin da von einer Stellage heruntergesaust und beinahe skalpiert worden!" Das zeigte er und lachte breit.
Zwei jüngere Lehrlinge staunten ihn entsetzt und ehrfurchtsvoll an.
„Na, Emil, mach die Jungens nicht ängstlich, die trauen sich keinen Hammer und Meißel mehr anzufassen!" Ein alter, durch die ewige Schmiedefeuerglut ausgedörrter Schmied hatte vom Lokus aus zugehört. Mit brüllendem Gelächter schlug der so vielfach von der Arbeit Gezeichnete die Latrinentür zu.

 

„Es kommt auf unsere Kollegen von links an."

Melmster und der Hobler standen vor einem Neubau an der Peripherie der Stadt. „Nummer hundertvierundsechzig! Hier muss es sein!"
Das Haus stand am äußersten Ende des Neubaublocks. Der Wind heulte aus der unbebauten Finsternis heran. Dort mussten Schrebergärten sein, denn in der Dunkelheit waren die Umrisse von Lauben und Holzbaracken zu erkennen.
„Wir verhalten uns, wie besprochen. Ihnen auf den Zahn fühlen und uns auf keinen Fall binden oder verpflichten!"
Der „Scharfe" kam selbst an die Tür und öffnete. An der Begrüßung erkannten die beiden, dass denen, die diesen Plan ausgedacht hatten, sehr viel an ihrem Kommen lag.
In einer kleinen, gut geheizten Stube, in der etwas zuviel Möbel standen, saßen unter einem grünen Lampenschirm bereits der „Gottsucher" und der junge Platzarbeiter Franke. Sie hatten offensichtlich eine lebhafte Diskussion gehabt, denn schon im Flur hörte man ihre lauten Stimmen. Als Melmster und der Hobler eintraten, verstummte das Gespräch, und die beiden rückten zusammen, um den Eintretenden Platz zu machen. „Nun warten wir nur noch auf den Franz und den Aly!"
Der „Gottsucher" hatte ordentlich glänzende Augen.
Im Zimmer stand wie ein Schmuckstück ein fast neuer Bücherschrank, in dem eine ganz stattliche Anzahl Leinen- und Lederbände sorgsam geordnet hinter den Glastüren standen.
Melmster setzte sich an den Tisch und sah vor sich einen großen Kunstdruck in einem schmalen schwarzen Rahmen. Eine Heidelandschaft mit Wacholder.
Der Hobler, der auf der Chaiselongue Platz genommen hatte, konnte auf dem Bücherschrank die bekannte Dante-Büste sehen.
Auf dem Tisch lagen einige Bücher. Melmster erkannte auf den ersten Blick Emil Ludwigs „Bismarck" und den „Johann-Christof" von Romain Rolland. „Wir sprachen soeben von Emil Ludwig", wandte sich der
„Gottsucher" an die Hinzugekommenen. „Das ist doch ein ungemein spannender und lehrreicher Historiker."
„Er ist fraglos ein sehr interessanter Literat", erwiderte Melmster, „aber ein gefährlicher Historiker!"
„Siehst du, Willy, was ich sagte. Er nimmt es mit der geschichtlichen Wahrheit nicht so genau!" rief der „Scharfe".
„Die Gefahren der Ludwigschen Geschichtsmalerei liegen nicht einmal so sehr in seiner Geschichtsfälschung, sondern in seiner ausgesprochen antimarxistischen Geschichtsdarstellung. Große Männer machen die Geschichte. Von den Zusammenhängen ihrer Politik mit den wirtschaftlichen Kräften ihrer Zeit hörst du nichts. Er ist gerade darum ein so gefährlicher Gegner für uns Marxisten, weil seine Bücher liberal gehalten und ungemein spannend geschrieben sind!"
„Du lehnst offenbar alles von deinem orthodoxen Parteistandpunkt ab!"
„Wer eine Weltanschauung hat, kann nur von der aus diese Dinge betrachten!"
Es klingelte, und der „Scharfe" lief mit dem Ruf: „Das ist Aly!" zur Tür.
Ein untersetzter, breitschultriger Arbeiter trat ins Zimmer. Melmster kannte ihn nicht, aber der Hobler raunte ihm zu: „Der sympathisiert mit uns, es wundert mich, dass der hier ist!"
Um den großen Tisch gruppierten sich die Anwesenden. Länger wollte man nicht warten, und der „Gottsucher" er­öffnete die Zusammenkunft der Jungen von N. & K. und erteilte sich dann selbst das Wort.
Er schilderte die materielle und geistige Not der heutigen Arbeiterschaft und speziell der Jugend, zeigte noch einmal ganz allgemein den Gegensatz zwischen den Alten und den Jungen auf und begründete seinen Vorschlag der heutigen Zusammenkunft mit der besonderen Mission, die vor der Jugend stehe und von der so ungeheuer viel abhänge. Die heutige Fühlungsnahme solle ein erstes Tasten untereinander sein, um einmal zu sehen, wie weit die Verständigungsmöglichkeit unter den Jungen trotz aller weltanschaulichen oder parteilichen Differenzen bereits gediehen sei.
Dann sprach der „Scharfe" ein offenes Wort, wie er seine Ausführungen nannte, und schilderte klagend den konservativen Geist der Sozialdemokratie. „Immer mehr verbürgerlicht meine Partei, ein Tor, wer das leugnen wollte", sagte er wörtlich. Die einzige Hoffnung seien die jüngere Generation und die revolutionäre Opposition dieser Jungen gegen den Ministerialismus und die Koalitionspolitik. „Es kommt auf unsere Kollegen von links an, ob wir einheitlich im Betrieb gegen die Auswüchse in allen Parteien vorstoßen können!" schloss er seine Ausführungen.
Alle erwarteten, dass hinterher Melmster oder der Hobler sprechen würden. Aber die schwiegen.
Der Platzarbeiter Franke sprach etwas von der Achtung vor den Anschauungen der andern.
Der „Gottsucher" blickte erwartungsvoll auf Melmster. „Nun, Kollege Melmster, was ist deine Meinung?" „Wenn ich das sagen soll, muss ich erst eins wissen!" „Na, und?"
„Was glaubt ihr zu erreichen, und was ist der Zweck des Ganzen?"
„Ich denke mir das eventuell so", erklärte der „Gottsucher", „wir bleiben eine lose Gemeinschaft, unterhalten uns über alle Missstände im Betrieb und suchen sie zu beseitigen und besprechen alle sonstigen Vorkommnisse und wirken revolutionierend und reinigend - jeder in seiner Partei. Wir sind so gewissermaßen in den kleinsten Anfängen das Verbindungs- und Einigungsglied zwischen den beiden sozialistischen Parteien!"
Alles blickte auf Melmster.
„Nun, dann will ich darauf auch einmal ein offenes Wort sagen", begann er dann lächelnd. „Ich brauche keine lange Einleitung zu machen. Mein Leben hat nur durch meine politische Tätigkeit in den Organisationen des Proletariats und im revolutionären Kampf um seine Befreiung Sinn und Inhalt. Dass eine starke, millionenstarke, im Ziel klare und im
Wollen einige Partei die Voraussetzung des Sieges der Arbeiterklasse sein muss, weiß ich. All das brauche ich wohl nicht zu betonen. Aber nun eins. Eure ganze Einstellung, eure ganze Absicht, ich will gern zugute halten, unbewusst, unbeabsichtigt, steht auf antisozialistischer Grundlage. Die entscheidende Frage für euch ist doch, die Sozialdemokratie zu reformieren. Ich vermeide bewusst das Wort revolutionieren. Und da seid ihr in einem Generalirrtum befangen. Die SPD-Führung betreibt keine revolutionäre, keine marxistische, sozialistische Politik mehr. Sie war in den Jahren der Revolution der Retter der kapitalistischen Wirtschaft auf bürgerlich-demokratischer Grundlage, sie ist im Laufe der Jahre ein Bestandteil dieser Wirtschaft und dieses Staates geworden. Ihre ganze Politik richtet sich vornehmlich gegen alle revolutionären Strömungen in der Arbeiterklasse. Sie hat nicht nur die proletarische Revolution blutig unterdrückt, sie hat sich von damals bis heute zum ausgesprochenen Schützer des kapitalistischen Staates entwickelt, der mit allen Mitteln der bewaffneten Klassenmacht der Bourgeoisie jeden revolutionären Willen der Arbeiterklasse blutig unterdrückt. Die Rolle des Faschismus im Todesalter des Kapitalismus ist bekanntlich, dem Kapitalismus durch barbarischste Unterdrückung aller revolutionären Kräfte des Proletariats eine Galgenfrist zu verschaffen. Die heutige SPD-Führung arbeitet unter einer dünnen Maske sozialer Phrasen dem Faschismus in die Hand.
Sie hat den Marxismus endgültig über Bord geworfen und steht in krassem Gegensatz zu den Lebensinteressen der Arbeiterklasse. Die klügeren und prominenteren Gegner der offiziellen Parteipolitik opponieren auch nur gegen die plumpe Taktik eines verlumpten Nosketums, gegen die grundlegende antisozialistische, staatserhaltende Politik opponieren sie nicht. Aber darin liegt das Entscheidende. Eure Versuche werden, wie man so sagt, am untauglichen Objekt scheitern, oder ihr werdet euch anpassen und in die Front der Klassengegner schwenken. Ich kann euch in meinem und meiner Genossen Namen nur sagen: Solange ihr einer solchen
Führung folgt, solange ihr die politischen Grundfragen dieser Partei bejaht und die KPD bekämpft, solange ihr nicht beweist, durch Wort und Tat, dass ihr proletarische Revolutionäre seid, so lange gibt es zwischen uns keine Annäherung. Die Tatsache, dass wir eine Generation und sämtlich aus der Jugendbewegung sind, hat gar nichts auf sich und ist als eine Grundlage irgendeiner Gemeinschaft völlig ungenügend. Einmal sind aus der proletarischen Jugendbewegung genügend Korruptionisten hervorgegangen, so dass die ehemalige Mitgliedschaft einfach kein absoluter Beweis politischer Anständigkeit mehr ist. Und zweitens ist, wie gesagt, die entscheidende Frage die des politischen Bekenntnisses. Wer wirklich bereit ist, für die proletarische Revolution, für den Sozialismus zu leben und zu kämpfen, der kann nur einen Weg, nur einen einzigen Weg gehen: mit allen revolutionären Arbeitern in der geschlossenen proletarischen Klassenfront, unter Führung der Partei Lenins und Liebknechts. - Das ist, was ich hier zu sagen hätte!" Alles schwieg.
„Ich verstehe diesen Parteifanatismus nicht!" begann endlich der „Gottsucher", „und wahrhaftig, die KPD hat doch genug Dreck am Stecken!"
„Nach Melmster sind wir und alle Sozialdemokraten im Betrieb ausgesprochene Lumpen, Klassenfeinde und Faschisten. Das ist wirklich eine traurige Perspektive!" meinte der „Scharfe".
„Das ist Unsinn, Erich", begann nun der Hobler, „ich glaube, ihr übertreibt und missversteht schon aus Absicht. Wir Kommunisten ringen um jeden Betriebsarbeiter, ja, jeder sozialdemokratische Arbeiter, der im Kampf gegen das Unternehmertum an unserer Seite kämpft, ist unser Klassengenosse. Aber das sage ich ausdrücklich, mit manchem einfachen sozialdemokratischen Betriebsarbeiter werdet ihr noch euer blaues Wunder erleben!"
„Lumpen gibt es in allen Lagern!"
„Durchaus richtig, aber in dem einen Lager machen sie Karriere und in dem anderen werden sie ausgerottet. Und
die heutige Massenkorruption kann nur auf dem politischen Boden des Klassenverrats gedeihen!"
„Dann sind wir Nichtkommunisten also alle Verräter?"
„Jeder, der sich gegen die in der Klassenfront des Proletariats für die politische Herrschaft der Arbeiterklasse und den Sozialismus kämpfenden Arbeiter stellt, hilft dem Klassenfeind!"
„So kommen wir natürlich nicht weiter!" fiel der „Gottsucher" ein. „Die kommunistischen Kollegen wollen nicht. Ihr Verhalten mag man beurteilen, wie man will, ich bedaure es. Wir werden nun ohne sie arbeiten müssen!"
„Aber was wollt ihr denn eigentlich praktisch erreichen?" fragte ungeduldig Melmster und erhob sich.
„Beispielsweise unseren Einfluss bei den Arbeiterratswahlen geltend machen!"
„Und wie denkst du dir das?"
„Einen von uns an aussichtsreiche Stelle bringen!"
„Nun, wir werden ja sehen! Auf der Oppositionsliste wird einer von uns vertreten sein!"
Melmster und der Hobler hatten sich inzwischen zum Aufbruch fertiggemacht. Von den Anwesenden sprach nun keiner mehr. Sie sahen den beiden schweigend zu.
„Darum keine Feindschaft!" meinte der „Gottsucher", als er Melmster die Hand zum Abschied gab.
„Nicht mehr als sonst!" lachte dieser. -Als sie aus der windigen Neubaustraße zurück ins Stadtinnere schritten, lachte der Hobler aus vollem Halse: „Die wittern Gewitter und wollten uns als Blitzableiter benutzen!"
„Trotzdem müssen wir sie gegen die Kühne und Schmachel ausspielen!"

 

Ein Kapitel gegen die Querulanten.

„Wir müssen uns auch viel stärker auf die Betriebsratswahlen einstellen!"
Melmster und der Hobler gingen durch die abendlich menschenleeren Straßen der Arbeitervorstadt.
„Die Firma macht in den nächsten Tagen den Anfang!" „Entlassungen?"
„Ja - in der Montage, und besonders natürlich unsere Genossen. Dora erzählt, dass die Betriebsleitung gar zu gern auch für einige Wochen die Dreherzahl halbiert hätte. Einmal wissen sie genau, dass oppositionelle Dreher ihren ganzen Betrieb gefährden, und dann auch wegen der Ferien. Sie sparen sie bei den später Eingestellten!"
„Und warum unterlassen sie es?"
„Weil sie zuviel Dreherarbeit haben!"
„Hätten wir Überstunden geschoben, würden jetzt zwanzig Dreher rausgesetzt!"
„Weißt du, wer unter den Entlassungskandidaten steht?"
„Na?"
„Der ,Scharfe'."
„Nanu? Wird der ihnen sogar unbequem?"
„Ich bin wirklich gespannt, wie das verläuft!"
„Wir werden im nächsten ,Greifer' dazu Stellung nehmen!"
„Hast du die Anweisungen der Partei zur Arbeiterratswahl gelesen?" - „Ja."
„Ich verstehe die Auseinandersetzungen in der Partei nicht. Man kann doch im Betrieb nur revolutionär arbeiten im stärksten Gegensatz zu den Rechten und den reformistischen Gewerkschaftsinstanzen. Wir können doch nicht, wie in den Vorjahren, immer noch am Schwanz der reformistischen Gewerkschaftspolitik herschleifen? Ich bin für selbständiges, entschiedenes Auftreten!"
„Der Kern ist die Betriebsarbeit. Die Querulanten sind immer wieder diejenigen, die die Notwendigkeit der Betriebszellenarbeit bestreiten. Sie ist um so vieles unbequemer und gefährlicher als die Organisationsstruktur eines Wahlvereins. Und dann müssen wir damit rechnen, dass wir rudelweise aus den Gewerkschaften ausgeschlossen werden!"
„Sie können schon nicht mehr so, wie sie möchten, der Widerstand wächst."
„Das hängt ganz von unserer Arbeit in den Gewerkschaften ab."
„Was sagt Dora sonst noch?"
„Nichts Besonderes! Im Kalkulationsbüro ist alles durcheinandergerührt. Es wird gerechnet - umgestoßen - wieder gerechnet - wieder umgestoßen. Die Preise werden sämtlich nachkalkuliert und neu registriert. Eine Hetzjagd von morgens bis abends. Die Dora jammert mir jeden Abend die Ohren voll!"
„Seid ihr denn jeden Abend zusammen?"
„Wieso?" Der Hobler fühlte sich ertappt und wusste gar nicht, was er sagen sollte. „Das ist doch nur so eine Redensart!"
„Lauf morgen man nicht wieder weg! Der ,Greifer' ist für zwei zuviel Arbeit!"

 

Lakaien des Kapitals.

Die Wirkung im Betrieb war verblüffend. An dem Tag, an dem die Firma in der Montage zehn Schlosser entließ, wurde der „Rote Greifer" verteilt, in dem zu den Entlassungen Stellung genommen wurde. Das Argument der Betriebsleitung, die Entlassungen in der Schlosserei seien durch die abgelehnte Überstundenarbeit der Dreher notwendig geworden, wurde zerpflückt und als bewusstes Irreführungsmanöver, um die Branchen gegeneinander auszuspielen, entlarvt.
„Das sind Mordskerle", sagten die einen, „so prompt auf die neusten Ereignisse zu reagieren."
„Dahinter steckt die Betriebsleitung", behaupteten die Reformisten, „denn anders ist das nicht zu erklären."
Die Entlassungen und die noch folgenden schilderte der „Greifer" als eine Hilfe der Firma für den unternehmerhörigen Betriebsrat.
„Auf diese Weise soll die Belegschaft von den unruhigen Elementen befreit und den Reformisten die Möglichkeit zu einer Mehrheit in der so reduzierten Belegschaft gegeben werden!" hieß es im „Greifer". „Dieser Arbeiterrat erspart nämlich der Firma ein Dutzend Vorarbeiter und Aufseher. Keiner könnte besser im Betrieb die Belange der Firma vertreten
als der jetzige Arbeiterrat. Keiner könnte tatkräftiger für die Ruhe und Ordnung der Ausbeutung in diesem Betrieb sorgen als er. Er hat der Firma unschätzbare Dienste geleistet. Welcher Kollege kennt einen Fall, wo sich der Arbeiterrat entschlossen für die Forderungen der Belegschaft eingesetzt und sie der Firma gegenüber durchgesetzt hat? Es gibt in dem ganzen Jahr seiner Tätigkeit keinen einzigen derartigen Fall. - Und die politische Rolle, die dieser sozialdemokratische Arbeiterrat in unserem Betrieb spielt, ist im kleinen die Rolle, die die SPD-Führung in der großen Politik innerhalb der kapitalistischen Republik spielt. - Wenn ihr diese Leute wieder zu Arbeiterräten macht", schloss der Artikel, „wählt ihr nicht euch, sondern der Firma Vertrauensleute im Betrieb. Darum gilt es bei der kommenden Wahl, trotz Hand-in-Hand-Arbeitens der Reformisten und der Betriebsleitung, trotz Hinauswurfs oppositioneller Arbeiter revolutionäre Arbeiterräte und rote Vertrauensleute zu wählen. Schluss mit der Begünstigungs- und Korruptionswirtschaft!"
„Die haben sich ja wieder ein Ding abgekniffen!" Olbracht grinste.
„Das liegt klar auf der Hand, dass hinter dieser Sache die Firma steht!" ergänzte Bleckmann, und beide sprachen so laut, dass Melmster es hören musste.
Auch der Rotkopf hatte es gehört. Ihm schien das selbst nicht ganz geheuer zu sein, er grübelte und grübelte.
„Alfred!" wandte er sich endlich an Melmster, „erfahren auch die Mitglieder der Partei nicht, wer den ,Greifer' herstellt?"
„Einige wissen es - nicht alle!"
„Sind sie nicht einmal alle vertrauenswürdig?"
„Unter dreißig kann sich schon ein Spitzel einschleichen!"
„Wie ist es aber möglich, dass hier schon immer die neusten Ereignisse erörtert werden?"
„Einmal waren die Entlassungen vorauszusehen. Die Säuberung der Betriebe vor den Arbeiterratswahlen von revolutionären Arbeitern ist eine alte Taktik der Unternehmer. Und -kann es nicht auch möglich sein, dass wir Vertrauensleute oder gar Genossen im Büro haben?"
„Das wäre eine famose Sache!"
„Vielleicht ist es so!" So kamen durch die Stinkbomben der Reformisten die mit dem Kommunismus sympathisierenden Arbeiter immer wieder ins Schwanken, denn so, wie es dem Rotkopf ging, ging es in noch stärkerem Maße allen nur lose mit der Opposition verbundenen Arbeitern.
Die Entlassungen in der Montage verliefen nicht ohne Zwischenfall. Unter den Entlassenen war ein Gewerkschaftsfunktionär, der ging zu dem Arbeiterrat der Montage, dem Schlosser Fahs.
„Warum werden diese Entlassungen vom Arbeiterrat genehmigt?"
„Wir konnten daran nichts ändern. Es ist eine vorübergehende Stockung der Arbeit eingetreten."
„Dann verlangen wir, dass der Arbeiterrat der Firma vernünftige Maßnahmen vorschlägt. Warum wird, wenn es nur eine vorübergehende Stockung ist, keine Kurzarbeit eingeführt?"
Der Arbeiterrat Fahs hatte über diese Möglichkeit nie nachgedacht, und schließlich lag sie ja auch gar nicht im Interesse der Firma.
Er war aber ganz perplex. „Ja! Ja!" stotterte er. „Hm!"
„Ich verlange im Auftrag meiner zehn Kollegen, dass sich der Arbeiterrat mit dieser Frage sofort beschäftigt." „Ja, wenn das man geht?"
„Was seid ihr eigentlich!" brauste der Schlosser auf, „unsere Interessenvertreter oder die Lakeien der Firma?"
„So komm mir man, dann ist es aus!" brüllte der Arbeiterrat verletzt zurück.
„Soll man dir in'n Arsch kriechen? Wir verlangen, dass du unserm Wunsch nachkommst!"
„Schert euch zum Teufel!" knirschte Fahs. Darauf organisierten die zehn Schlosser einen gemeinsamen Beschwerdegang zum Betriebsratsobmann. Kühne sah sich an der Anreißplatte plötzlich von zehn Arbeitern umringt. Ihm wurde dasselbe wie dem Montage-Arbeiterrat vorgebracht: Kurzarbeit für alle, bis wieder genügend Arbeit vorhanden ist.
Kühne versuchte sie abzuwimmeln. Es gelang ihm aber nicht. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Arbeiterratsmitglieder zu einer Besprechung zusammenzutrommeln. Es war mittlerweile zwei Uhr geworden. Kühne ging ins Kontor. Er kam sofort wieder heraus. Im Frühstücksraum wurde dann beraten. Es wurde drei Uhr. Der Arbeiterrat beriet. Die entlassenen Schlosser mussten unterdessen ihr Werkzeug abgeben und ihre Akkordverrechnungen machen. Der Arbeiterrat beriet noch immer.
Der Schlosser Drohn hatte inzwischen unter den Kollegen gearbeitet. Sein Verdienst war es, dass die Forderung der Kurzarbeit nicht nur die der zehn entlassenen Schlosser, sondern eine Forderung der ganzen Montage war. Nur einer verhielt sich in dieser Frage auffallend zurückhaltend und schweigsam - der „Scharfe". Er sagte nicht nein und nicht ja dazu.
Zwanzig Minuten vor vier Uhr kamen endlich die Arbeiterratsmitglieder von ihrer Beratung zurück, Kühne ging selbst in die Montage zu den Entlassenen und erklärte, dass die Betriebsleitung eine Rückgängigmachung der Entlassungen und eine Gesamtumstellung der Montage auf Kurzarbeit augenblicklich für undurchführbar halte und sie als Arbeiterrat nichts weiter unternehmen könnten.
„Man kann von euch nichts anderes verlangen!" erwiderte der Sprecher der Schlosser.
„Kollege!" wandte sich der Obmann an den Schlosser, „dein Verhalten gegenüber dem Kollegen und Betriebsrat Fahs war eines organisierten Arbeiters unwürdig!" Die Antwort war ein Gelächter.
Im Waschraum trat der Hobler an Melmster heran: „Der ,Scharfe' ist nicht unter den Entlassenen!" „Ich habe schon gesehen!" „Wir werden ja erfahren, warum nicht!"

 

Der Oberkalkulator blamiert sich.

Am nächsten Tag verteilten die Funktionäre der Sozialdemokratie ihre Betriebszeitung „Die Betriebswacht". Es war ein gedrucktes Blatt, das für sämtliche Betriebe der Stadt galt. Während der Arbeitszeit gingen Olbracht und Schmachel in der Dreherei umher und verteilten sie.
„Hier!" sagte Olbracht und reichte Melmster eine hin.
„Danke!"
„Da steht aber der Name drunter - das ist nix Anonymes!" „Der Inhalt wird es wohl erlauben!" erwiderte Melmster. „Eben weil es Wahrheit ist!"
„Vielleicht auch, weil es dem Unternehmer nicht weh tut! Ich werde ja sehen!"
Wichtig gingen die beiden von Drehbank zu Drehbank. Ihr Benehmen sagte: Seht, so sind wir, so vor aller Welt verteilen wir unsere Zeitung! - Sie schienen sich auf die stillschweigende Duldung des Unternehmers noch ungeheuer viel einzubilden. Dass dies seine bestimmten politischen Gründe hatte, die sie vor der gesamten Arbeiterschaft hätten verächtlich machen müssen, kam ihnen nicht in den Sinn. -
„Hest all lesen, wat dor binn steit?" fragte der Rotkopf.
„Junge, Junge, all's gegen uns!" Melmster las: Kommunistische Schuftigkeiten! - Das Sowjetparadies! - Der Weinkeller im Zentralgebäude der KPD! - Kommunistische Spaltungsarbeiten in den Gewerkschaften! - Ein bekehrter Weltrevolutionär! - Die Blutschuld der Komintern an den Chinesenmassakern! - und zum Schluss: Wählt nur sozialdemokratische freigewerkschaftliche Kollegen in den Arbeiterrat und die Vertrauensmännerkörperschaften!
Melmster und der Rotkopf lachten wie toll. Olbracht war ganz verwundert.
„Ihr habt euch wohl vergriffen? Das ist wohl von der Antibolschewistischen Liga zusammengestellt?"
„Das sind euch wohl unangenehme Tatsachen?"
„Mensch, mach dich nicht lächerlich! - Aber wo ist denn euer Kampf gegen das Unternehmertum? - wo gegen die
Missstände im Betrieb? - wo für höhere Löhne? - wo für verkürzte Arbeitszeit? - Solche Dinger verteilt nur jeden Tag, vor dem Erfolg wird euch noch grausen. Und du wunderst dich, dass das Unternehmertum euch stillschweigend, sogar freudig gewähren lässt!" Olbracht schwieg hartnäckig.
„Hast du etwas vom Ablauf des Tarifs und unseren Lohnforderungen gelesen?" fragte der Rotkopf, der eifrig die „Betriebswacht" studierte.
„Und etwas aus den Betrieben oder gegen die kapitalistischen Halsabschneider? Warum heißt das Ding überhaupt ,Betriebswacht'?"
„Frag Olbracht!" lachte Melmster.
„Nur Hetze - alles Kommunistenhetze! Da will ich mal einige ,Freunde' ärgern!" rief er und lief davon.
Olbracht las jetzt selbst erst das Blatt, und Melmster sah, dass er mit Bleckmann und Wiesenbach zusammenstand und ärgerlich über den Inhalt der „Betriebswacht" tuschelte. Die beiden stimmten ihm zu. Ihnen war beim Lesen dieser tollen Hetze selbst nicht wohl zumute.
Es gab aber auch Witzbolde im Betrieb. In der Latrine über der Pissrinne war auch diese „Betriebszeitung" angeheftet, und darüber stand: „Betriebsnachtwächter - Kümmere dich nicht um deinen Kohldampf, Prolet, schon den Unternehmer, aber hau den Kommunisten!"
„Nun wird auch bei Ihnen rationalisiert!" kam Meister Westmann zu Melmster. „Waren nicht die Seitenflansche mit den Messingbuchsen Ihre erste Arbeit?"
„Allerdings!"
„Das wird in Zukunft Ihre Spezialität werden, die Sie auf neuer rationalisierter Basis fertigstellen sollen! Welche Zeit haben Sie noch dafür bekommen?"
„Ich weiß nicht genau, sechzehn oder achtzehn Stunden!"
„O nee! Ich hab hier die Abrechnung! Vierzehneinhalb Stunden! Gearbeitet haben Sie sechzehn Stunden! Jetzt muss es in zehn Stunden geschafft werden!"
„Ist die ganze Rationalisierung nur eine Heruntersetzung der Zeit?"
„Nicht nur!" erwiderte Meister Westmann lächelnd, „Sie bohren die Flansche, die Buchsen werden in der Automatenbank gemacht und von den Jungens eingeschlagen. Dann nehmen Sie die Flansche auf einen Federdorn und drehen sie fertig. Siebeneinhalb Stunden erhalten Sie dafür."
„Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, das ist unmöglich!"
„Es ist alles genau auskalkuliert! Sie bekommen eine Vorrichtung, an der Sie mit zwei Stählen zugleich arbeiten können!"
„Soll ich mich gleich umstellen?"
„Ja, fangen Sie gleich die Flansche zu bohren an!"
Der Rotkopf bekam ähnliche Anweisungen. Er sollte fortan Spindeln drehen, seine Bank zog am besten zylindrisch. Die Aussicht stimmte ihn ganz zufrieden, denn es war laufende Arbeit. Aber die Zeit, erklärte er, habe ein Verrückter oder ein Schneider ausgetüftelt.
Mit Hochdruck wurde jetzt im Betrieb rationalisiert. Bereits am Nachmittag hatte Melmster die berohrten Flansche wieder zurück. Er richtete nur den Federdorn aus und begann die Stähle an der neuen Vorrichtung auszuprobieren.
Da näherte sich auch schon der Oberkalkulator mit seinen Kalkulationsgehilfen. Sie gruppierten sich um Melmsters Bank und wollten ihr an Tabellen zurecht addiertes und multipliziertes Wunderwerk praktisch erprobt sehen.
Melmster nahm sich bei Anwesenheit dieser Akkordteufel selbst ein feierliches Versprechen ab, ruhig und überlegt zu bleiben, keine Hetzpsychose aufkommen zu lassen.
Er rechnete noch die Entfernung der beiden Stähle aus, als der eine Kalkulator auch schon die erste Belehrung vom Stapel ließ.
„Nehmen Sie doch ein genaues Zwischenstück!" „Haben Sie eins?" Schweigen.
Damit war die Unterhaltung fürs erste wieder beendet. Dann ließ er die Bank laufen. Mindestens acht Augenpaare verfolgten den Arbeitsvorgang. Beide Stähle setzten zugleich an. Melmster kurbelte vorsichtig. Die Stähle schnitten gut.
Der erste Flansch war zwei Millimeter zu stark. Melmster gab dem Stahl einen kleinen Schlag. Sein durch die dauernde Dreherei entwickeltes Gefühl für die Arbeit bestimmte die Schnelligkeit der Umdrehungen und des Kurbeins. So wurden einige Flansche fertig. Zwei Kalkulatoren rechneten ununterbrochen. Einige flüsterten. Es schien etwas nicht zu stimmen.
„Lassen Sie einen Gang schneller laufen, und kurbeln Sie auch ruhig schneller, die Flächen brauchen nicht direkt blank zu werden."
„Das hält der Stahl nicht aus!" widersprach Melmster. „Natürlich hält er das aus!" Melmster wusste genau, wie schwach der Federdorn war und dass der Stahl nicht haken durfte, sonst schlug der Dorn, darum sagte er standhaft: „Das ist unmöglich!"
„Es gibt nichts Unmögliches!" belehrte ihn der „Ober". „Ich will Ihnen das zeigen."
Melmster ging bereitwilligst zur Seite. „Ja, so dürfen Sie die Stähle nicht schleifen!" Er spannte die Stähle aus und ging sie schleifen.
Olbracht grinste über Melmsters Demütigung. Der „Ober" kam mit den Stählen zurück, spannte sie ein, nahm das Maß und warf den Riemen einen Gang schneller.
Melmster sah, dass der hintere Stahl viel zu niedrig eingespannt war - so musste er unterhaken -, er sagte aber nichts.
Der „Ober" drehte. Seine Gehilfen sahen ihm aufmerksam und bewundernd zu.
„Notieren Sie die Zeit!" rief er siegesgewiss und kurbelte drauflos. Fast hatte er die Flächen herunter, da rutschte der hintere Stahl unter den Flansch. Es knackte, der Stahl würgte sich ins Material, holperte über den Federdorn und verbog die leichten Federflügel. Erschreckt riss der „Ober" den eingeklemmten Stahl zurück. Er war völlig abgeschliffen, und der demolierte Federdorn schlug wie ein Lämmerschwanz.
Die Kalkulatoren standen mit aufgerissenen Mäulern dabei, hilf- und fassungslos. Der „Ober" hatte einen zum Platzen knallroten Kopf. Melmster aber erglühte bis oben hin vor Schadenfreude. „Nein, so etwas!" kam der „Ober" endlich wieder zu sich. „Der Stahl steht zu tief, nicht wahr?" wandte er sich an Melmster.
Der zuckte die Schultern.
Von den Herumstehenden war einer noch verlegener als der andere.
„Also, drehen Sie die Dinger fertig - wir werden ja sehen, wie Sie mit der Zeit auskommen!"
„Das heißt, ich muss mir erst einen neuen Federdorn drehen!"
„Ja. Ja!" nickte der „Ober", und mit langen Gesichtern schob der ganze Tross ab. Melmster jubelte. Sieg auf der ganzen Linie. Der erste Angriff war abgeschlagen.
Dann kam Meister Westmann angetrippelt und sah sich kopfschüttelnd die Bescherung an.

 

Der zweite Verrat.

Von Hand zu Hand wanderte an einem Morgen die abgerissene Hälfte des bürgerlichen Anzeigers. Hier stand unter der Rubrik „Aus Wirtschaft und Handel" in kleinster Schrift folgende Notiz:
In der Metallindustrie, Gruppe Landbetriebe, ist zwischen dem Arbeitgeberverband und dem Metallarbeiterverband ein Abkommen geschlossen worden, dass der gegenwärtige Lohn- und Arbeitstarif als bis auf weiteres verlängert gilt.
Die Arbeiter waren vor Erstaunen über die Unverfrorenheit der reformistischen Gewerkschaftsinstanzen derart sprachlos, dass sie wortlos auf diese kleine Notiz starrten. Das Stück Zeitung kursierte durch den ganzen Betrieb. Fast keiner von denen, die es lasen, sagte etwas, höchstens, dass einige
Flüche gebrummt wurden. Die maßlose Wut verschnürte jedem Arbeiter den Hals. Die ärgsten Pessimisten hatten mit zwei oder drei Pfennig Lohnerhöhung gerechnet, aber nichts hatte keiner erwartet.
„Das sind wirklich realisierbare Forderungen!" wandte sich Melmster an Olbracht. „Und was sagst du dazu?"
Olbracht zuckte mit den Schultern, als wollte er etwas Lästiges abschütteln.
„Wie steht es denn mit deinen acht bis zehn Pfennig Lohnerhöhung?"
Olbracht grinste, aber er erwiderte nichts.
Um die Mittagszeit war Lärm an der Anreißplatte. Mehrere Arbeiter drangen auf Kühne ein. Er sollte erklären, ob diese Notiz in der Zeitung wahr sei. Der Betriebsratsobmann wehrte ab, schwieg und arbeitete weiter. Der Hobler Hans gab aber auf die Fragen der Kollegen Antwort, und jede Antwort war eine Ohrfeige für Kühne, für die Gewerkschaftsbürokratie und die Reformisten.
Kühne hantierte mit vor Wut und Ohnmacht zitternden Händen an seinem Gussgehäuse herum.
Unter wilden Verwünschungen und Flüchen verließen schließlich die aufgebrachten Arbeiter diesen feigen Herkules.
„Das wird dir heimgezahlt!" zischte er drohend zum Hobler hinüber.
Die Erregung im Betrieb nahm ständig zu. Besonders bei den Drehern gärte es. In der Mittagspause setzten sich einige zusammen und beschlossen, eine Branchenversammlung zu erzwingen und zwischentarifliche Lohnforderungen zu stellen.
„Wir müssen selbst für uns eintreten, die Verbandsbonzen paktieren mit den Unternehmern!" war die allgemeine Auffassung.
Es waren überwiegend parteilose Arbeiter, sogar einige mit dem Mitgliedsbuch der SPD stimmten zu. Gemeinsam traten sie an den Gewerkschaftsdelegierten der Dreherei, Endrusch, heran und forderten von ihm die sofortige Einberufung einer Branchenversammlung aller freigewerkschaftlich organisierten Dreher. Endrusch wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte, er hätte sich zu gern Rat und Order vom Arbeiterrat geholt, aber dazu ließen ihm die Kollegen keine Zeit. Er zögerte.
„Falls es dir an Courage mangelt, berufen wir sie selber ein!"
„Ich bin natürlich einverstanden!" „Na also, auf was wartest du noch?"
„Willst du erst die Firma um Erlaubnis fragen?" rief einer. „Aber wo denn?"
„Bei Hornings! - Bei Hornings!" riefen mehrere durcheinander.
„Gleich nach Feierabend?"
„Ja!"
„Na gut!"
Der Delegierte Endrusch ging nun bei den Drehern herum und teilte jedem mit, dass nach Arbeitsschluss bei Horning Branchenversammlung sei.

 

Fünfzehn Prozent Lohnerhöhung.   

Auf dem Wege zum Versammlungslokal kaufte sich Melmster die sozialdemokratische Tageszeitung. Er war neugierig, wie diese das Abkommen in der Metallindustrie bringen und kommentieren würde. In der Zeitung war nichts zu finden. Er ging Spalte für Spalte durch, las einmal, zweimal, las von hinten nach vorn, nichts zu finden. „Halt! - Hier!" rief der Rotkopf, der mitsuchte.
In der äußersten Ecke standen hier dieselben lakonischen Zeilen wie im Anzeiger, kein Wort dazu. Darunter fanden die beiden noch eine Notiz des Holzarbeiterverbandes, dass er den Tarif gekündigt und fünfzehn Prozent Lohnerhöhung gefordert habe.
Das kleine Klublokal von Horning war gedrängt voll. Schmachel, Kühne, Olbracht und Bleckmann saßen zusammen. Endrusch saß am Vorstandstisch. Tabaksqualm und lärmende Reden erfüllten den Raum. Es wurde laut diskutiert und geschimpft und gedroht.
Endrusch teilte bei der Eröffnung der Versammlung kurz mit, dass die Kollegen die Versammlung von ihm verlangt hätten, und erteilte dann dem Betriebsobmann das Wort.
„Kollegen!" piepste der, „ich muss außerordentlich bedauern, dass auf eine unkontrollierbare Meldung eines bürgerlichen Pressereptils diese Aufregung und diese überstürzte Versammlung zustande gekommen ist!"
„Irrtum!" unterbrach ihn Melmster, „auch in deiner Parteipresse steht die gleiche Meldung!" Er schwenkte die Zeitung in der Luft. Gelächter.
Kühne stierte ihn böse an.
„Es mag dahingestellt sein, ob die Meldung auf Wahrheit beruht oder nicht!"
„Haha! - Na also!" tönte es aus der Versammlung.
„Aber eins dürfen wir nicht außer acht lassen, die Dreher können für sich keine Extrawurst beanspruchen. Wenn zwischentarifliche Lohnforderungen gestellt werden, dann muss es Sache der gesamten Belegschaft sein. Der Arbeiterrat wird sein Möglichstes tun, um einheitliche Forderungen aufzustellen. Doch die Dreher dürfen nicht undiszipliniert aus der Reihe tanzen!"
„Bremser! - Schwindler!" wurde ihm zugerufen. Als erster erhielt der Dreher Dresen das Wort. Sofort waren die Anwesenden ruhig. Dresen war ein alter, ruhiger Arbeiter, der nur sehr selten sprach, dann aber aufmerksam angehört wurde.
„Wir sollen unsere Arbeiten um durchschnittlich dreißig Prozent billiger herstellen, und die Firma steckt den Mehrgewinn restlos ein, kein lumpiger Pfennig Lohnerhöhung ist dabei für uns übrig. Für das Verhalten der Gewerkschaftsführer finde ich keine Worte!"
„Korrupte Lumpen! Unternehmeragenten sind es!" rief einer.
„Wir sind die bestorganisierte und die lebenswichtigste Branche", fuhr der Alte fort, „wir müssen jetzt vorstoßen und nicht nur für uns, sondern für die Gesamtbelegschaft eine Lohnerhöhung erzwingen."
Mit Beifall und Bravorufen wurden seine Ausführungen aufgenommen.
Dann erteilte Endrusch Melmster das Wort.
„Unser alter Kollege Dresen hat recht, in einer Zeit, wo nicht nur die Lebenshaltung sich ungeheuer verteuert, sondern wo die Unternehmer auch in einem rücksichtslosen Rationalisierungsfeldzug gegen uns die Arbeitsleistungen auf Kosten unserer Knochen phantastisch steigern, bleibt der elende Lohn aus dem vorigen Jahr für unabsehbare Zeit bestehen. Mehr Arbeit - weniger Lohn heißt das, denn die Beibehaltung des alten Lohnes ist in Wirklichkeit ein Lohnabbau!"
„Sehr richtig! Sehr richtig!"
„Ist das Verhalten der heutigen Gewerkschaftsführer verwunderlich? Ich sage nein! Die reformistische Gewerkschaftsbürokratie ist bereits so eng mit dem republikanischen Staatsapparat verquickt und versippt, dass sie das wirtschaftliche Fundament dieses Staates nicht erschüttern darf, wenn sie nicht ihre eigenen Positionen erschüttern will. Darum wird jeder Lohnkampf abgewürgt, darum wird von vornherein vor dem Unternehmer kapituliert, denn sie wissen genau, jeder wirtschaftliche Kampf ist heute zugleich ein politischer, der sich gegen das System, gegen die kapitalistische Republik richtet - und das wollen sie auf alle Fälle vermeiden. Die Existenz dieser Republik steht ihnen höher als die Existenz der Arbeiterschaft. Aber die kapitalistischen Beherrscher dieser Republik rüsten zu noch gewaltigeren Schlägen. Die Arbeiterschaft soll nicht nur wirtschaftlich geschwächt und politisch geknebelt werden, die deutschen Unternehmer wollen auch in der Kriegs-Allianz der kapitalistischen Staaten gegen den Staat der Herrschaft der Arbeiter und Bauern dabeisein. Warum wird unentwegt gerüstet? Jeder behauptet doch, er wolle den Frieden. Panzerkreuzer werden gebaut, Hunderte Millionen für die Reichswehr bewilligt!"
„Zur Sache!" kreischte Kühne. „Ja, ja, zur Sache!" riefen etliche.
„Diese Dinge hängen unlösbar mit dem wirtschaftlichen Lohnabbau der Unternehmer und den politischen Unterdrückungsmaßnahmen des Staates zusammen. Auch der Vorstoß der Unternehmer der Metallindustrie ist ein Glied in der riesenhaften Kette. Wenn wir uns nicht geschlossen und entschlossen zur Wehr setzen, werden weitere Lohndrückungsmaßnahmen, weitere Beschneidungen unserer Rechte die Folgen sein. Ich stelle im Namen der Gewerkschaftsopposition folgenden Antrag:
Die versammelten freigewerkschaftlichen Dreher der Maschinenfabrik N. & K. fordern eine Erhöhung des bestehenden Lohnes um fünfzehn Prozent. Werden diese Forderungen von der Firma abgelehnt, treten die Dreher in den Streik."
Kühne und Schmachel fuhren bei dem Wort „Streik" ordentlich zusammen.
„Wir haben keine andere Wahl", schloss Melmster, „steht einmütig und geschlossen zu diesem Antrag und wählt bereits heute einen vorbereitenden Kampfausschuss!"
„Sehr richtig! - Bravo!" riefen einige, aber die Mehrzahl der Anwesenden schwieg und überlegte. Das beobachtete auch Kühne, und er erhob sich und erklärte, dass der Arbeiterrat zu derartig leichtfertig vom Zaune gebrochenen Streiks seine Zustimmung nicht geben werde.
Ein wildes Geschrei war die Antwort. Kühne stand reglos mit blutleerem Antlitz da. Seine weiteren Worte verhallten im Lärm.
Melmster sah, wie Olbracht scharf beobachtete und grinste. Diese abscheuliche Kreatur freute sich anscheinend bereits über den interessanten Bericht an die Firma. „Schluss! Schluss! Abstimmen!" wurde dauernd gerufen.
Zweiunddreißig Stimmen wurden für den Antrag gezählt, der ganze Tisch um Kühne und fünf weitere Kollegen, also neun, dagegen.
Dann wurde ein vorbereitender Kampfausschuss aus drei oppositionellen Kollegen gebildet. Dresen und der Dreher mit dem gespaltenen Nasenbein waren dabei.
Melmster jauchzte innerlich. Die Kurve ging steil an. Und übermorgen war Arbeiterratswahl.

 

Schlachtpläne.

„Ich soll die Polizei herbeirufen, wenn Sie wieder diese Zeitung verteilen!" erklärte der Pförtner den beiden erwerbslosen Arbeitern, die einen neuen „Roten Greifer" verteilten. „Dat lot man sin!" entgegnete trocken der eine. Der Pförtner humpelte unentschlossen hinter das Fabriktor zurück.
Die Zeitung wurde den beiden aus den Händen gerissen, nur der Betriebsratsobmann Kühne ging mit verächtlichen Blicken für die Verteiler weiter und verweigerte die Annahme der ihm hingereichten Betriebszeitung. Die umstehenden Arbeiter uzten und verspotteten ihn.
Als die Fabriksirene lang anhaltend heulte, waren wieder dreihundert Exemplare verteilt.
Beim Dreher Schmachel an der großen Koppbank in der äußersten Ecke der Maschinenhalle war Konferenz des Fünfmännerkollegiums. Kühne, Olbracht, Bleckmann und der Bohrer Kaufmann waren beisammen. Seit drei Tagen war die entscheidende freigewerkschaftliche Belegschaftsversammlung angesetzt. Heute fand sie statt. Den Arbeiterratsmitgliedern grauste. Und dann am letzten Tag der „Greifer", der in einem letzten Appell an die Belegschaft zur Wahl der Kandidaten der Opposition aufforderte und die Streikhetze, die bei den Drehern Erfolg hatte, über die ganze Belegschaft ausdehnte, steigerte ihre Sorgen.
„Wenn man wüsste, was für eine Liste sie einreichen werden?" flüsterte Kühne.
„Ich werde dem Dreher Kulb sagen, dass er den Harms aushorchen soll. Der quasselt mehr, als er verantworten kann!"
„Wer ist das?" fragte Kühne.
„Der Boxer mit der gespaltenen Nase, der hier am Ende steht." „Ach der!"
„Der hat mir, ohne es zu ahnen, über Kulb schon manches verraten!" grinste Olbracht. „Werden wir durchkommen?" „Ich glaube nicht!" antwortete Schmachel.
Kühne schwieg. „Und dann?" „Abwarten!"
Auch der Zellenkopf der Opposition tagte. Der aber durfte nicht wagen, sich offen im Betrieb zu zeigen. Die Sitzung war wieder auf Latrine fünf. Bis ins einzelne wurden der Vorstoßplan und alle möglichen Eventualitäten besprochen, und alle, aber besonders der Hobler, waren zuversichtlich.
„Ich hab's in der Tasche!" sagte er und lachte. „Hast du alles überlegt?" fragte Melmster. „Wir werden die Karten aufdecken. Heut oder nie!" „Wie sich wohl der ,Gottsucher' und der ,Scharfe' verhalten werden?"
„Scharff verteidigt Fahs und arbeitet für die SPD.-Liste", erklärte Drohn, „der entpuppt sich vor der Wahl wieder einmal richtig!"
„Er wird wohl wissen, warum!" Melmster lachte verächtlich.
„Der soll sich heute nur nicht aufblasen!" drohte der Hobler.
Am Nachmittag wurde es im Betrieb immer lebhafter. Die Arbeiterratsmitglieder gingen zu ihren vermeintlichen Freunden und lächelten süß wie im ganzen Jahre zuvor nicht.
Unter den Kollegen aber wurde heftig diskutiert, Wetten auf das Wahlergebnis wurden abgeschlossen, und die fiebernde Spannung unter den Arbeitern wuchs, je mehr die Uhr auf vier zuging.

 

Einhunderteinundsiebzig!

Im großen Tanzsaal von Horning war bereits kurz nach vier Uhr jeder Stuhl und jeder Winkel besetzt. Die Nachzügler, die keinen Platz mehr fanden, blieben im Gastzimmer oder an der Tür stehen. Die Durstigen zogen die Plätze an der Theke vor.
Immer noch drängten sich neue Arbeiter durch die kleine Saaltür, an der zwei Kollegen die Kontrolle ausübten. Nur freigewerkschaftlich organisierte Arbeiter, die bei N. & K. arbeiteten, wurden eingelassen. Im Saal rumorte und lärmte es. Es wurde laut diskutiert, gerufen, gelacht, Stühle wurden aus dem kleinen Klubzimmer in den Saal gereicht. Und dazwischen liefen Kellner und brachten Bier, Selters und Schnäpse.
Der Schmied Hennings ging durch den Saal und verteilte kleine weiße Zettel, darauf standen die Namen: Hans Wend, Hobler Karl Dresen, Dreher Fritz Drohn, Schlosser Adolf Hackbarth, Tischler Hermann Hennings, Schmied Alfred Plien, Schweißer Karl Bröse, Platzarbeiter
Das waren die Arbeiterratskandidaten der Revolutionären Gewerkschaftsopposition.
Pünktlich um viereinhalb klingelte der Betriebsratsobmann, der die Versammlung leitete. Die Saaltür wurde geschlossen. Der Lärm ließ nach. Als Vertreter des Verbandes erhielt der Gewerkschaftsangestellte Kies das Wort. Am Vorstandstisch erhob sich ein bärenhaft großer, beleibter Mann.
„Wat de Drönbüdel verteilt, weet wi all!" sagte ein hagerer Schmied. „Komm, lot uns rut!"
An der Theke standen noch eine ganze Anzahl Arbeiter. „Wer spricht?"
„Der Gewerkschaftsbonze Kies!"
„Ich will dessen Quatsch gar nicht hören. Bei der Abstimmung gehe ich rein. Wen ich zu wählen hab, weiß ich. - Kuddel, schenk mi noch 'en Halben in!"
Auch an der Theke bildeten sich Diskutiergruppen.
„Mensch, sieh sie dir an! Der Riese mit dem Sammetpfötchen - der tapprige Fahs - der Dreher mit dem Gemsbart -das sind doch alles Scheißkerle!"
„Die Kommunisten sind aber manchmal noch richtige Jungens!"
„Aber nicht bange, mein Lieber. Den Alten läuft das Wasser aus den Hosen, wenn sie von weitem den Jacobi sehen! Geh mir mit diesen verknöcherten Leisetretern los!" erwiderte ein stämmiger, noch von der Tagesarbeit schmutziger Schlosser dem Schweißer und nahm dabei einen tiefen Schluck.
An einem Tisch wurde geknobelt. Dreimal sieben und zweimal eins gewinnt. Für einen Augenblick sah alles zu den Spielern, denn mit lautem Hallo und Gelächter wurde der Verlierer festgestellt. „Wirt, noch eine Runde!"
„Faselt der noch immer?" fragte der Schmied den Schlosser, der die Saaltür etwas geöffnet und einen Augenblick zugehorcht hatte.
„Fahs spricht. Er gibt den Jahresbericht!"
„Fahs? Kühne hat wohl einen Kloss im Hals - oder ist er heiser?"
„Was will und was kann der berichten?"
„Geh rein und hör dir's an. Du wirst staunen, was wir alles im letzten Jahr erreicht haben!"
„Das sagt mir mein Portemonnaie viel besser!"
„Ja!" brüllte der Schmied mit rauhem Lachen. „Uns wird der Schaum nur so um die Fresse geklatscht!" -
„Der Dreher spricht jetzt!"
„Welcher?"
„Der große, der neue, der mit dem Kindergesicht!"
Die Saaltür wurde aufgerissen. „Pst! - Pst!"
„Ruhe, wir wollen auch was hören!"
Melmster sprach. „Zwar bin ich knapp ein Vierteljahr im Betrieb, aber das genügt, um diesen zusammengestotterten Jahresbericht des Arbeiterrats zu zerpflücken."
„Hahaha!" brüllte zustimmend der Schmied, dass sich ein gutes Dutzend Arbeiter nach ihm umsahen.
„In welcher Frage kann der jetzige Arbeiterrat vor uns hintreten und sagen, dies und das haben wir mit eurer Hilfe der Firma, dem Unternehmer abgerungen? In keiner, in keiner einzigen Frage kann er das. Weder hygienisch noch organisatorisch ist etwas von den vorsintflutlichen Zuständen in unserem Betrieb geändert worden, höchstens in einer Frage gab es eine umwälzende Änderung, in der Frage des Arbeitstempos. Hier ist modernisiert und das Tempo auf unsere Kosten nach oben geschraubt worden. Und dann der Lohn..."
„Der Junge redet wie ein Advokat!"
„Der ist gut, der lässt sich kein X für ein U vormachen und gibt dem Arbeiterrat manche bittere Pille zu schlucken!" stimmte der Schlosser zu und schloss die Saaltür. Langsam gingen sie wieder zu ihren halbvollen Gläsern an die Theke.
„So Feuer und Flamme waren wir auch mal!" sagte der Schmied und sah tiefsinnig ins Bierglas. „Bebel kam. Ich vergeß es mein Lebtag nicht. Er sprach im Gewerkschaftshaus, unserer damaligen Waffen- und heutigen Verratsschmiede. Das war ein Leben! Wir haben agitiert, nachts geklebt, Flugblätter verteilt und waren von morgens bis abends auf den Beinen. Und dann die Massen, die Begeisterung! Tausende eng gepfropft im Saal, Tausende auf der Straße. Plötzlich Ruhe. Alles starrte wie hypnotisiert nach vorn. Dann trat der Alte ans Podium. Ein Tosen, ein Brausen, ein Gejubel. Das war er. Mir kollerten Tränen, ich sage dir, Tränen übers Gesicht. Das war der letzte vernünftige Sozialdemokrat!"
Der Schmied goss den ganzen Rest des Bieres in sich hinein.
„Und diese Spitzbuben heute, diese Minister und Senatoren! Man sollte es nicht für möglich halten!" Im Saal wurde lebhaft geklatscht.
„Der Junge wird seine Sache gut gemacht haben!" meinte der Schlosser.
„Drei Sieben! Ich bin raus!" Die vier jungen Montageschlosser knobelten noch immer.
„Ich will doch mal sehen, wer jetzt am Törn ist!"
„Der Tischler Kappke!" kam der Schweißer zurück. Plötzlich entstand im Saal ein großer Lärm. Rufe, Schreie und die Klingel des Versammlungsleiters drangen bis an die Theke.
„Ich bin doch neugierig!"
„Ja, horch und erzähl mir's dann!" rief der Schmied dem Schweißer nach.
An der offenen Saaltür standen jetzt eine ganze Anzahl Arbeiter und horchten. Der Schmied aber saß auf seinem Bock an der Theke und träumte vor sich hin.
Die jungen Kerle würfelten noch immer, aber nicht mehr um Bier, sondern aus Vergnügen.
Wieder Lärm im Saal, aber auch Beifall dazwischen. „Der Tischler behauptet, der ,Rote Greifer' werde von der Firma finanziert!" „Der Idiot!"
„Er sagt, der Arbeiterrat habe Beweise dafür!" „Dann soll er sie sagen!"
„Das sieht so aus, als ob die Stimmung umschlägt!"
„Sollte mich nicht wundern!" brummte der Schmied. „Die Menschen sind zu blöde und fallen auf jeden Trick herein!"
„Mensch, komm her!" schrie der Schlosser aus Leibeskräften. „Jetzt wird's interessant!" Und fast gleichzeitig drang ein lautes Gebrüll aus dem Saal.
Der Schmied und sogar die Würfelspieler eilten zur Saaltür, die wieder weit aufgerissen war.
Inmitten der Versammlung stand der Hobler.
„Wenn diese niederträchtigen, durch nichts zu beweisenden Behauptungen hier geäußert wurden, so will ich der erste sein, der den Vorhang lüftet, damit die Kollegen einmal hinter die Kulissen blicken können. Im Namen meiner Gesinnungsfreunde behaupte ich, dass der Arbeiterrat von der
Firma korrumpiert wurde!" - Eine unheimliche Ruhe im ganzen Saal.
„Aber ich behaupte es nicht nur, ich beweise es. Welcher Kollege hier im Saal weiß, dass sämtliche Arbeiterratsmitglieder jede Woche zwanzig Prozent auf den bei uns üblichen Höchstlohn ausgezahlt bekommen? Ich glaube, keiner, und doch ist es so! Oder stimmt es nicht, Kollege Kühne?" Keiner rührte sich.
„Das Schweigen bestätigt alles!"
„Solch Gesindel!" schrie einer, und im Nu wogte und lärmte es im ganzen Saal. Der Arbeiterrat saß regungslos, wie versteinert am Vorstandstisch.
„Das ist aber noch nicht alles!" schrie der Hobler, und die Ruhe war fast augenblicklich wiederhergestellt.
„Wir haben auch einen Kollegen in unserer Mitte, der über jedes Vorkommnis im Betrieb, über jede Versammlung, die wir abhalten, über jedes Wort, das ein Kollege spricht, der Firma Mitteilung macht!"
Eine drohende Unruhe ging durch die anwesenden Arbeiter.
„Das sind die Leute, die behaupten, die oppositionellen Kollegen stehen mit der Firma im Bunde!"
Nun brach es los. Die Arbeiter sprangen von ihren Stühlen. Alles schrie, tobte: „Wer? - Wer? - Wer ist das?" Der Hobler winkte sich mit der Hand Ruhe. „Der - Dreher - Olbracht!" Wie ein knallender Schlag schlug jedes Wort in der Versammlung ein. Erst schien alles wie gelähmt, dann brüllte ein Schrei aus hundert Kehlen. Fäuste wurden geballt. Einige ließen sich kaum noch bändigen. „Kollegen!" schrie der Hobler. „Kollegen!" Nur langsam beruhigten sich die aufs äußerste erregten Arbeiter.
„Lasst uns hören, was dieser Schurke auf die Anschuldigungen zu sagen hat!"
Und als ob der Hobler der Versammlungsleiter wäre, rief er: „Olbracht hat das Wort!"
Über zweihundert Augenpaare sahen zu dem kleinen Tisch hin, an dem grau und mit blauen Lippen, wie ein Lebloser, der Entlarvte saß und unverwandt vor sich hin starrte.
Er rührte sich nicht. Selbst wenn er sich hätte verteidigen wollen, wäre er unfähig dazu gewesen. Der Angriff erfolgte so unerwartet und plötzlich. „Er schweigt!" stellte trocken der Hobler fest.
Wieder brach ein Sturm der Entrüstung los, Verwünschungen und Flüche schwirrten durch den Saal.
Die Arbeiter, die an einem Tisch mit dem Spitzel saßen, erhoben sich und rückten von ihm ab. Einer spuckte vor Ekel vor ihm aus. Als aber einige mit unverkennbarer Absicht sich den Weg zu ihm bahnten, rief der Hobler mit lauter Stimme: „Kollegen, lasst uns erst die Wahl tätigen. Durch unüberlegte Handlungen hetzen wir nur die Polizei auf uns!"
„Da findet man direkt keine Worte für!" Der Schmied hatte ein vor Wut gerötetes Gesicht, und sein Unterkiefer zitterte.
„Es ist unbegreiflich, dass es noch solche Schufte gibt!" pflichtete der Schweißer bei.
Sie gingen wieder an den Schanktisch zurück. Das stehen gebliebene Bier war schal geworden. Der Wirt schenkte neues ein.
„So'n Schuft!" wiederholte der Schlosser.
„Die Gurgel umdrehen, das einzige!" brummte der Schmied.
Hennings und Melmster kamen aus der Saaltür. „Also es ist absolut bewiesen!"
„Alles stimmt und ist zu beweisen, was Hans sagte!" bestätigte Melmster.
„Ist gut!" erwiderte kurz der Schmied, seine Augen flatterten, und seine knochigen Finger verkrampften sich zur Faust.
„Was hast du vor?"
„Ist gut!" wiederholte Hennings und ging in den Saal zurück.
„Hallo, Hermann!" rief ihm sein alter Arbeitskollege von der Theke nach. Doch der war schon wieder im Saal verschwunden.
„Er hätte doch 'n Schluck mittrinken können!"
„Der Arbeiterrat rückt jetzt von Olbracht ab! Der Kühne spricht! meldete der Schweißer, der von der Tür kam.
„Jetzt lassen sie ihn fallen, aber sie waren und bleiben seine Spießgesellen!"
„Ich begreife es noch nicht!" grübelte der Schlosser, „was denkt sich so'n Kerl dabei!"
„Was denken sich Zörgiebel, Severing und der Müller und wie die Kerle alle heißen!" antwortete der Schmied mit einer Frage.
„Ja, meinst du, dass die Firma ihn direkt bezahlt?"
„Die werden sich schon revanchieren!"
„Abstimmung!" schrie einer von der Tür, und alle begaben sich in den Saal.
Kleine weiße Zettel wurden verteilt. Es wurde über Listen abgestimmt. Liste eins war die sozialdemokratische, und fast sämtliche Mitglieder des alten Arbeiterrats kandidierten wieder. Liste zwei war die der Revolutionären Gewerkschaftsopposition. Gleichzeitig wurden entsprechend diesem Wahlergebnis die Vertrauensleute gewählt.
Noch klang die unterdrückte Erregung unter den Arbeitern nach. Überall wurde halblaut diskutiert. Dazwischen wurde geschrieben. Einige Bleistifte wanderten von Hand zu Hand. Dann liefen drei Gewerkschaftsfunktionäre mit Hüten umher und sammelten die beschriebenen Stimmzettel wieder ein.
Während der Auszählung sprach der Gewerkschaftsangestellte Kies zu den letzten Vorfällen und erklärte, „dass die Gewerkschaften diese ungeheuerlichen Beschuldigungen prüfen und den betreffenden Kollegen zur Rechenschaft ziehen werden!"
„Vertuschen werden!" rief einer.
„Bei uns wird nichts vertuscht!" schrie der Redner. Dann meldete sich der „Gottsucher" zu Wort.
„Ich habe die Liste der Opposition gewählt", begann er, „nicht weil unter den Sozialdemokraten ein Lump entlarvt wurde, sondern weil ich zur Überzeugung gekommen bin, dass überhaupt nur noch in der Opposition die fortschrittlich und ehrlich gesinnten Arbeiter versammelt sind!"
„Bravo!" riefen etliche.
„Jetzt will ich aber nicht nur mit der Stimmabgabe, sondern auch in der praktischen Kleinarbeit die Opposition unterstützen!" schloss er.
Dann gab der Versammlungsleiter Fahs unter denkbar größter Ruhe das Wahlresultat bekannt.
Für Liste eins: zweiundvierzig Stimmen. Für Liste zwei: hunderteinundsiebzig Stimmen. Ungültig waren achtzehn Stimmen.

 

Der Spitzel bekommt eine Abreibung.

Inzwischen war es dämmerig geworden. Es war ein trüber, unfreundlicher Märztag gewesen, und jetzt in der Dämmerung fiel ein dünner, kalter Regen.
Den Jackettkragen hoch, den Kopf tief eingezogen, schritt eilig ein kleiner untersetzter Mann an der Häuserfront entlang. An der großen Automobilwerkstätte, kurz vor einer Einfahrt, stockte er plötzlich. Wie aus der Erde gezaubert, standen drei ebenfalls in hochaufgeschlagene Kragen vermummte Gestalten, die Hüte tief im Gesicht, vor ihm. „Lasst mich weiter."
Der eine Flügel der Garagentür stand halb geöffnet. Die drei Gestalten drängten sich wortlos an den ängstlich weiterschreitenden Olbracht. Ein Schlag - Olbracht taumelte in die halbgeöffnete Autoauffahrt.
Der letzte der drei spähte noch einmal sorgfältig nach allen Seiten und schloss dann vorsichtig die Tür.
Einige Minuten später kamen die drei wieder heraus. Der eine, ein knochiger Kerl, zerrte sein Jackett zurecht. Mit schnellen Schritten entfernten sie sich.
Dann taumelte Olbracht, blutend, dunkle Flecke im Gesicht, barhäuptig und mit zerzausten Kleidern wie ein Betrunkener aus der Garagenauffahrt.
Mitten auf der Straße schrie er mit gellender Stimme „Hilfe!", drehte sich einmal um sich selbst und brach zusammen.

 

Der Kampf geht weiter.

Der nächste Arbeitsmorgen unterschied sich nicht von den übrigen. Im Umkleideraum wurden nur einige bekannte Parteigänger der Sozialdemokratie, weil sie so verärgert dreinblickten, gehänselt. Doch sonst ging alles seinen gewohnten Gang.
„Wo ist denn Olbracht, dein Parteigenosse?" fragte der Rotkopf höhnisch Bleckmann.
Ein rabiater Fluch war die Antwort.
„Blas dich man nicht künstlich auf!" lachte der Rote. Melmster beobachtete das geschwollene Siegesbewusstsein seines Vordermannes und hatte Angst um seinen jungen Gesinnungsgenossen. Dieser sah nur den gestrigen Wahlerfolg und ahnte nicht, dass der Kampf erst begonnen hatte und nicht etwa ausgefochten war.
„Kurt, dass unser gestriger Sieg gleich so überwältigend war, ist gar nicht gut!"
„Du bist wohl verrückt!"
„Nein, im Ernst! Sie werden die ganze Meute auf uns hetzen!"
„Aber jetzt beherrschen wir doch für ein Jahr den Betrieb, und an uns werden sie sich die Zähne ausbeißen, hoff ich!"
„Gewiss - doch wart nur ab, der Tanz beginnt erst!"
„Du bist merkwürdig!" -Melmster drehte seine Flansche. Kunstvoll pyramidisch geordnet, standen bereits Dutzende fertig auf dem Arbeitstisch. Melmster hatte nach dem missglückten Rekordversuch des Oberkalkulators neun Stunden statt siebeneinhalb Stunden bekommen. Das ging so leidlich, er verdiente seinen Höchstlohn.
Die scharfen Stähle schoben sich die beiden Flächen hinunter. Melmster starrte auf seine Arbeit. In seinen Gedanken aber war er ganz woanders. Würde die vom alten Arbeiterrat zusammengesetzte Wahlleitung den neuen Arbeiterrat bestätigen? Von den sieben Arbeiterräten hatte die Opposition fünf erobert. Selbst wenn die Angestellten zwei Reformisten oder Bürgerliche wählten, hatte die Opposition immer noch die absolute Mehrheit. Er grübelte vor sich hin. Plötzlich stand der Oberkalkulator neben ihm.
„'n Morgen!"
„Guten Morgen!"
„Sie kommen wohl ganz gut zurecht?"
„Wenn immer alles klappt!" erwiderte Melmster.
„Sagen Sie mal, wissen Sie, was mit Olbracht los ist?"
„Nein!"
„Er ist doch gestern noch in der Versammlung gewesen, nicht wahr?" „Allerdings!"
„Kam es denn da zu Zusammenstößen?" „Wieso?"
„Weil Olbracht im Krankenhaus liegt!" Melmster pfiff unmerklich durch die Zähne.
„Nein, es ging alles ruhig ab!" sagte er.
„Aber wie ist denn die Versammlung verlaufen?"
„Wissen Sie, Sie können nicht verlangen, dass ich Ihnen einen detaillierten Versammlungsbericht gebe!"
„Soso!" fauchte der „Ober" und rannte geradenwegs zur Anreißplatte.
Melmster erzählte in seiner Nachbarschaft von Olbracht, und im Nu raste die Neuigkeit durch den Betrieb, Olbracht liege im Krankenhaus.
Melmster musste an die knochigen Arme des Schmieds denken. -
Mittags kam der Hobler und verzehrte sein Mittagbrot bei Melmster an der Fensterfront.
„Was die wohl jetzt im Büro herumtoben?"
„Meinst du, dass sie bereits alles wissen?"
„Der Kühne hat sich ausgeheult. Wie ein blutlechzender Tiger stürzte der ,Ober' ins Büro!"
„Ist Dora gesichert?" fragte flüsternd Melmster.
„Ich glaube kaum, dass man ihr etwas nachweisen kann!"
„Was, meinst du, wird die Wahlleitung tun? Bestätigen oder Kladderadatsch!"
„Sie sind ganz von der Firma abhängig, und ich möchte fast glauben, sie beißen in den sauren Apfel. Die Firma hat zuviel Aufträge."
„Wen machen wir zum Obmann?"
„Drohn! - Und..."
„Was?"
„Ich---ich---habe mich verlobt!"
„Gratuliere!" lachte Melmster.
Am Nachmittag brachte Meister Westmann neue Arbeitszettel. Er kam ganz nahe an Melmster heran.
„Meinen Sie nicht auch, Ihr Bombensieg ist eine schlimme Sache?"
„Im Gegenteil!"
„Das ist damit nicht erledigt, das fängt erst an!" „Das ist ja gerade das Erfreuliche!" „Glauben Sie denn, dass Sie was erreichen können?" „Ungeheuer viel!"
„Was denn, Menschenskind?" fragte ärgerlich und ungläubig der rundliche Mann mit den misstrauischen Augen. „Sympathien!"
„Davon werden Sie aber nicht satt!"
„Nicht für mich, sondern für den Kommunismus!"
„Wissen Sie, Melmster, Ihre Gegner sind viel zu mächtig. Der Arbeiterrat im Betrieb, die Gewerkschaften, die Firma, die Polizei, alles ist gegen Sie und Ihre Genossen!"
„Das ist es ja, Meister Westmann, was alle endlich begreifen und erfahren sollen!"
„Die Menschen sind zu blöde!"
Dieser Tag war wirklich einmal schnell vorübergegangen. Melmster fühlte sich so leicht und froh wie nie zuvor. War es die Erwartung kommender Kämpfe, das Bewusstsein des Vorwärtsschreitens der Bewegung, der Gedanke an den „Roten Greifer" oder?
Hinter ihm stand die Bank leer. Er fühlte sich im Rücken freier.

 

Streik.

Am andern Tag erklärte der Ex-Betriebsratsobmann Kühne, dass die sozialdemokratischen Kollegen eine eigene freigewerkschaftliche Liste zur Betriebsratswahl einreichen würden, denn die Kandidaten auf der Oppositionsliste würden sämtlich aus der Gewerkschaft ausgeschlossen.
Dieses unüberlegte Geständnis rief unter den organisierten Arbeitern einen Sturm der Entrüstung hervor.
„Ihr werdet nicht einmal eure zweiundvierzig Stimmen aus der Versammlung zusammenbekommen!"
„Nein!" rief ein anderer, „außer den Mitgliedern des Arbeiterrats wird sich keiner zu derartigen Lumpereien hergeben!"
„Sind wir eigentlich Kulis für euch!" schrie einer.
„Ausschließen - ausschließen wollt ihr. Die oppositionellen Kollegen sind in einer rechtmäßigen Versammlung rechtmäßig gewählt. Ihr könnt sie nicht ausschließen!"
„Das werdet ihr ja sehen!" entgegnete Kühne höhnisch.
Am selben Tag noch reichte der alte Arbeiterrat eine eigene Liste zur Arbeiterratswahl ein. Sämtliche Mitglieder des alten Arbeiterrats waren auch die Kandidaten für den neuen. Das Kennwort dieser Liste hieß: freigewerkschaftlich.
Aber zur Betriebsratswahl sollte es gar nicht kommen, denn inzwischen trat die Betriebsleitung in Aktion.
Die Wahl der oppositionellen Arbeiterratsliste beantwortete sie mit der Entlassung des Hoblers. Er habe Geschäftsgeheimnisse der Firma preisgegeben und sich geweigert, seine Zuträger aus dem technischen oder kaufmännischen Personal anzugeben, hieß es in der Begründung.
Die ultimativen Lohnforderungen der Dreher wurden mit der Entlassung Melmsters beantwortet. Hier wurde als Grund lakonisch-höhnisch „Arbeitsmangel" angegeben.
„Ich sagte es Ihnen gleich!" war Meister Westmanns letztes Wort.
Melmster lachte.
Der Rotkopf war erschrocken. „Das ist unmöglich - es gibt doch ein Betriebsrätegesetz!"
„Der sozialdemokratische Arbeiterrat und der Wahlausschuss werden keinen Finger für uns krümmen!" erwiderte Melmster.
„Aber Arbeitsmangel? Das ist doch Quatsch! Dass das an den Haaren herbeigezogen ist, sieht doch jeder."
„Natürlich! Aber das Betriebsrätegesetz, schon mies genug, wird ein Fetzen Papier, wenn die Frage Macht gegen Macht steht!"
„Aber wir werden doch nicht...?" „Natürlich nicht!"
Der Schlosser Drohn veranlasste sofort, dass die neugewählten oppositionellen Vertrauensleute eine Sitzung anberaumten. Sie fand im Frühstücksraum statt. Die Sitzung war kurz. Es wurde beschlossen, Zurücknahme der Entlassungen und Bewilligung der Forderungen der Dreher zu verlangen. Der Firma wurde eine Frist bis zwölf Uhr gelassen. Im Fall der Ablehnung dieser Forderungen wollten die Vertrauensleute die Belegschaft auffordern, in den Streik zu treten. In der Mittagspause sollte eine Betriebsversammlung auf dem Fabrikhof einberufen werden.
Die Betriebsleitung wollte die Opposition zerschlagen, bevor sie sich im Betrieb fest verankern konnte. Ihr Vorgehen war eine bewusste Provokation. Die Opposition, die nun die Mehrheit der Belegschaft hinter sich hatte, musste wiederum mit aller Klarheit und Schärfe den Anschlag der Betriebsleitung abschlagen, selbst angesichts der nicht zu leugnenden großen Schwierigkeiten.
Die gestürzten Alleinherrscher, die Kühne und Schmachel und Fahs, sagten kein Wort. Zwar schlug ihnen das Herz bis zum Halse vor freudiger Aufregung und Genugtuung, aber sie taten so, als ginge sie das alles nichts mehr an, was sich im Betrieb ereignete.
Der Betrieb selbst war wie in Auflösung begriffen. Alles lief durcheinander. Überall standen Gruppen und diskutierten. Die Latrine war gedrängt voll. Gearbeitet wurde fast gar nicht.
Der Hobler, Drohn und Melmster waren unermüdlich. An den Drehbänken und Schmiedefeuern, an den Feilbänken und bei den Montageschlossern wurde die proletarische Einheitsfront gegen die Unternehmerfrechheit geschmiedet. Einen neuen wichtigen Bundes- und Kampfgenossen hatte die Opposition erhalten. Der „Gottsucher" arbeitete im Sinne der einheitlichen Kampfesfront mit verbissener Zähigkeit unter den Tischlern. Diese wollten sich neutralisieren, denn der Holzarbeiterverband hatte einen Tarif mit zehn Prozent Lohnzuschlag abgeschlossen, und nun behaupteten sie, der Kampf im Betrieb sei eine alleinige Angelegenheit der Metallarbeiter. Wenn die Tischler im Betrieb blieben, war die einheitliche Front gesprengt.
Der „Scharfe", der bei ähnlichen Anlässen immer vornweg war, stand abseits und verhielt sich völlig passiv.
Der Hobler trat dicht zu ihm heran und flüsterte ihm unter vier Augen etwas zu. Der „Scharfe" wurde über und über rot und erklärte, unter diesen Umständen seine Entlassung fordern zu wollen.
Mit den Worten: „Ich habe immer gewusst, dass du ein Feigling bist!" verließ ihn der Hobler.
Kaum hatte die Fabriksirene Mittag angezeigt, strömten aus den Hallen die Arbeiter auf den Fabrikhof. So von der Arbeit weg, mit den vor Schweiß und Dreck schmutzigen Gesichtern, standen sie, das Mittagsbrot in den Händen, Kopf an Kopf vor dem Maschinenhaus, wo der Dreher Dresen auf eine Abfalltonne geklettert war und redete. Ein feiner Regen fiel, und rundherum starrten die grauen, rußigen und schmierigen Fabrikwände auf den Hof.
Der alte Dreher stellte die anwesenden Arbeiter vor die Entscheidung: Unterwerfung unter das Unternehmerdiktat oder Streik.
Aus den Bürofenstern guckten interessiert die Angestellten und Büromädel. Sogar der humpelnde Pförtner blickte erwartungsvoll um die Ecke. Der Regen wurde stärker.
Als der Alte mit seiner Rede zu Ende war und von der
Tonne stieg, war kein Laut zu vernehmen. Bei der Abstimmung aber stimmten fast alle für Streik.
Langsam kehrten die Arbeiter in die Hallen zurück und ordneten alles zum Verlassen der Fabrik. Mit Tränen vor Wut in den Augen stürzte der „Gottsucher" in den Umkleideraum. Die Tischler arbeiteten.

 

Von Kapitalisten, Bonzen und Schlichtern.

Die Gastwirtschaft Horning war Streiklokal. In einem kleinen Klubzimmer tagte die Streikleitung in Permanenz. Hier wurden Streikposten und Kuriere bestimmt, Kontrollisten der streikenden Arbeiter geschrieben, hier wurden Meldungen entgegengenommen und Ordern erteilt.
In der Gastwirtschaft selbst und an der Theke saßen die Arbeiter. Einige lasen, andere knobelten, und ganz hinten in der Ecke spielten zwei Schach. Dabei schwirrten ununterbrochen Reden durch die Luft, denn es wurde oft überlaut diskutiert.
Etwas nach zehn Uhr war eine Versammlung gewesen, in der Drohn über die Organisation des Streiks und die ersten Maßnahmen der Streikleitung referiert hatte. Die Arbeiter waren zuversichtlich, keiner rechnete mit einem langen Anhalten des Ausstandes.
Die bekannten Sozialdemokraten im Betrieb, wie Kühne, Schmachel, Bleckmann oder Scharff, hatten sich nicht bei der Streikleitung gemeldet. Doch außer den Tischlern arbeitete keiner im Werk.
An der Tür des Klubzimmers, in dem die Streikleitung arbeitete, war eine „Streikzeitung" befestigt. Es war ein schwarzes Brett, auf dem allerlei Neuigkeiten und Meldungen über die Streiklage angeheftet wurden.
Der Hobler kam aus dem Zimmer und nahm die schwarze Tafel vom Nagel.
„Hallo, Hans! Trink einen mit!" rief ein junger Arbeiter von der Theke und schwenkte ihm ein halbvolles Bierglas zu.
„Nee, lot man!" winkte der Hobler ab und verschwand wieder hinter der Tür. -
„Hohoooo! - Halloooo!" brüllten einige im Chorus an der Theke.
„Was ist denn los?"
„Der Blechklopper behauptet, wir erreichen nichts!"
„Tun wir auch nicht!" kreischte ein kleiner, spindeldürrer Mann, dem die spitzen Backenknochen aus dem Gesicht stachen.
„Tun wir auch nicht!" wiederholte er und fuchtelte mit den Armen in der Luft umher.
„Aber warum denn nicht, Vadder Brahle?" fragte ruhig ein selbstbewusst lächelnder Schlosser.
„Das einzige, was wir uns holen werden, sind Beulen!"
„Du willst wohl miesmachen!" herrschte ihn grob der hagere Schmied an.
„Wir stehen doch ganz allein, und die andern sind mächtig!" sprudelte der Blechschmied los, seine Worte überrannten sich, der Speichel spritzte ihm aus dem Mund.
„Wer, die andern?"
„Alle! Alle! Kapitalisten und Polizisten und Bonzen und Schlichter und Miesmacher und... !" „Da gehörst du ja auch zu!"
„Ich? Ich?" kreischte der Kleine und hob seine Arme. „Du Lümmel!"
„Ruhe! Ruhe! Keine Prügeleien!" rief der Schmied. „Beruhige dich, Vadder Brahle!"
„So unrecht hat er gar nicht!" meinte einer, der nahe an der Theke saß und den Würfelspielern zusah. „Man darf aber keine Mutlosigkeit predigen!" Der Hobler hängte das Schwarze Brett wieder an. Einige Zeitungsausschnitte waren neu angeklebt.
Mehrere Arbeiter gingen hin, um zu lesen. Ein schmalbrüstiger Arbeitsbursche las auf Wunsch laut vor: „Zu dem Lohnabkommen in der norddeutschen Metallindustrie schreibt die bürgerliche Presse: Gewerkschaftliche Tapferkeit. - Ein beachtenswerter gewerkschaftlicher Vorgang ist der auf einer Versammlung vom Deutschen Metallarbeiterverband gefasste Beschluss, die Kündigung des Lohntarifs in der Eisenindustrie Nordwestdeutschlands zu unterlassen. Ein solcher Beschluss, trotz Verlangens der radikalen Mitgliedschaft nach Lohnerhöhung, bedeutet den Sieg des Standpunktes, dass nur Preisabbau die Industrie von dem schweren Druck befreien kann. Der Beschluss zeugt von Einsicht und entschlossener Tapferkeit besonnener Gewerkschafter. Das Börsenblatt der Industrie, das ,Berliner Tageblatt': Die Ortsverwaltung des Metallarbeiterverbandes empfahl im Einverständnis mit den Arbeitgebern, in Anbetracht der augenblicklichen Wirtschaftslage in Norddeutschland von einer Kündigung des Tarifs abzusehen." „Die Unternehmer sind also mit den reformistischen Gewerkschaftsbonzen sehr zufrieden." „Die ja - aber wir absolut nicht!" schrie der Schmied heiser. „Diese Bande steckt ja mit den Unternehmern unter einer Decke!"
„Wir haben sie gemästet!" stöhnte ein weißhaariger Arbeiter.
„Aber sie wollen die Preise senken?"
„Was? - Haha! - Alles Schwindel!" schrie es nun durcheinander.
„Alles Lug und Trug! - Spitzbübereien! - Wer glaubt denn daran?"
Melmster trat ein, grüßte und ging sofort in das kleine Klubzimmer.
Hier saßen an einem länglichen Tisch der Hobler Hans, Drohn und ein ihm unbekannter Kollege. Der „Gottsucher" war auch da. Er saß am Fenster und schrieb Listen.
„Die da oben verwerfen unsern Streik und erklären ihn für wild!"
„Diese Schurken!" rief der „Gottsucher".
„Das war vorauszusehen!" meinte kühl der Hobler.
„Wisst ihr, wer im Gewerkschaftsbüro war?"
„Und?"
„Olbracht und Kühne."
„Und was taten sie, als sie dich sahen?"
„Olbracht grinste!"
„Und?"
„Dann gingen beide in einen Nebenraum, an dessen Tür ,Privat' stand!" „Was soll man dazu sagen!"
„Die Gewerkschaften unterstützen uns also nicht?"
„Unterstützen?" lachte Melmster. „Sie werden alles versuchen, um unsern Kampf schnellstens zu liquidieren."
„Und was beginnen wir nun?" fragte der „Gottsucher".
„Wir kämpfen weiter - ohne Gewerkschaften!"
„Und gegen die Gewerkschaften!"
„Die Internationale Arbeiterhilfe muss helfen!" Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. „Kollege Ahrnfeld, die Tischler verlassen die Fabrik!"
„Hallo!" rief der „Gottsucher" und schoss hoch. „Da muss ich laufen!"
„Komm sofort wieder!" rief ihm der Hobler nach.
„Sie werden alle Minen gegen uns loslassen!"
„Dora erzählt, die Firma ist ungeheuer im Druck. Riesige Konventionalstrafen drohen. Der Schaden ist unermesslich, und jeder Tag vergrößert ihn. Die Firma kann das nicht lange aushalten, sie muss kapitulieren!"
„Die Gewerkschaften aber wollen, dass nicht die Firma, sondern wir kapitulieren müssen!" entgegnete Melmster.
„Du übertreibst!" warf Drohn dazwischen.
„Aber nein! Gewinnen wir, ist das ein Schlag gegen die Reformisten und eine Stärkung unserer Opposition - und das wollen sie auf alle Fälle vermeiden!"
„Und du meinst, dass sie lieber den Unternehmer als uns triumphieren lassen?"
„Aber selbstverständlich, Drohn! Mit ihrer Wirtschaftsdemokratie, überhaupt mit dem heutigen Wirtschaftssystem leben und sterben sie!"
„Wie viele haben sich registriert?" - „Zweihundertvierundachtzig!"
„Dann fehlen... ?"
„Zirka fünfunddreißig!"
„Das Verhältnis ist nicht übel!" Der „Gottsucher" riss die Tür auf und stürzte herein.
„Aussperrung!" keuchte er.
„Was?" riefen alle wie aus einem Munde.
„Die gesamte Belegschaft ist ausgesperrt! Die Tischler mussten die Fabrik verlassen!"
„Na, was sagt ihr nun?" wandte sich Drohn an Melmster und den Hobler.
Was mag dahinterstecken? fragte sich Melmster.

 

Dresen macht einen Besuch.

Am Nachmittag desselben Tages stand bereits in allen bürgerlichen Organen und in der sozialdemokratischen Tageszeitung folgendes Inserat:

Aussperrung

Seit einigen Wochen wühlen in unserer Maschinenfabrik einige kommunistische Unruhestifter, die, reichlich mit Geldmitteln versehen, eine Betriebszeitung herausgaben und immer wieder versuchten, die Belegschaft aufzuputschen und die besonnenen Arbeiter zu terrorisieren. Nun ist ihr verbrecherischer Anschlag geglückt. Ein Teil unserer Belegschaft hat den Betrieb verlassen. Die Betriebsleitung unseres Werkes fühlt sich eins mit den freigewerkschaftlichen Instanzen, die diese Treibereien auf das schärfste verurteilen und diesen Streich der kommunistischen Krakeeler einen kalten Putsch und wilden Streik nennen.
Um nun derartigen Vorkommnissen ein für allemal die Spitze abzubrechen und den besonnenen Familienvätern Lohn und Brot zu sichern, hat sich die Betriebsleitung veranlasst gesehen, sämtliche Arbeiter auszusperren und die Fabrik zu schließen.
Nach einer gründlichen Säuberung der Belegschaft von allen verbrecherischen Elementen werden wir unser Werk wieder öffnen. Alle Arbeiter, die dann wieder bei uns eingestellt werden, erhalten schriftlichen Bescheid.
Die Betriebsleitung der Maschinenfabrik Negel & Kopp

Der alte Dreher Dresen, der einundzwanzig Jahre dem freigewerkschaftlichen Deutschen Metallarbeiterverband angehörte, ging am andern Morgen zum Büro der Organisation. Die Büroräume der Gewerkschaft waren große, helle Zimmer, die kunstvoll tapezierte Wände und einen spiegelblanken Linoleumboden hatten. Hinter und zwischen den Schreibtischen standen mehrere Blumentische mit kostbaren Blumen und bizarren Kaktusgewächsen. An den großen Fenstern waren Aquarien angebaut, in denen sich Goldfische und Schleierschwänze tummelten. Der alte Dreher stellte sich an einen der vielen Schalter und wartete geduldig, bis der Kollege Gewerkschaftsfunktionär hinter dem Schalter zu ihm aufsehen und ihn nach seinen Wünschen fragen würde. Das dauerte freilich eine ganze Weile, mit einer beneidenswerten Ruhe kritzelte dieser mit dem Bleistift auf einer Kartothekkarte herum und suchte dann scheinbar etwas in einem der vielen Schubfächer des Schreibtisches. Mit der Gelassenheit und Ruhe eines regelmäßig um diese Zeit frühstückenden Menschen kaute an einem andern Tisch ein Kollege Angestellter sein Butterbrot und blätterte dabei interessiert in der neusten Nummer der „Berliner Illustrierten". Ein anderer stand in den Knien gehockt vor einem Aquarium und neckte schelmisch die Goldfische, indem er hin und wieder ans Glas klopfte und dann kicherte, wenn sich die Fische erschrecken ließen.
Dresen musste an die streikenden Kollegen denken. Hier war Frieden und Geruhsamkeit, hier musste das Wort „Kampf" ein Störenfried sein, hier war auch kein Lüftchen der Atmosphäre, die an der Drehbank und an dem Schraubstock herrschte, hier kannte man keine Stopp- und Kontrolluhren, keine Akkordhatz, keine Rationalisierung, hier stand unsichtbar über jedem Schreibtisch: „Mei Ruh' will i ham."
Der Alte wollte gerade umkehren, weil ihm der Zweck
seines Kommens plötzlich absurd vorkam, als tatsächlich der Kollege hinter dem Schalter den wartenden Dreher eines Blickes würdigte und ihn sogar nach seinen Wünschen fragte.
„Ich komm von der streikenden Belegschaft der Maschinenfabrik N. & K. und möchte den Kollegen Peters sprechen!" erwiderte ruhig der Dreher und gab sein Verbandsbuch durch den Schalter.
Zwei zusammengekniffene Augen blinzelten ihn durch die Brillengläser an. „Einen Augenblick!"
Plötzlich zuckte der Schalterbeamte jäh zurück. Er hatte sich von seinem Schreibtisch erhoben und wollte ins anliegende Zimmer gehen, als er einen kleinen Stapel Verbandsbücher etwas schief auf dem Aufsatz seines Pultes liegen sah. Sorgfältig klopfte er den Haufen Bücher zusammen und stellte ihn, mit zurückliegendem Kopf abschätzend, symmetrisch hin. Dann erst ging er befriedigt durch das Büro in einen Nebenraum.
Dresen sah sich um. Hinter ihm standen bereits vier Arbeiter. Der eine wurde schon ungeduldig und sah einige Male, leise vor sich hin fluchend, zum Schalter.
„Einen Augenblick musst du noch warten!" kam der Schalterbeamte zurück und steckte seinen Kopf durch die Schalter­öffnung.
„Darauf wird man hier wohl dressiert?"
„Ich kann mich nicht zerreißen!" schrie es aus dem Schalter hervor, und zwei beleidigte und wütende Blicke trafen den Dreher.
Das erste, was dem Dreher Dresen auffiel, als er in das Zimmer des ersten Bevollmächtigten des Metallarbeiterverbandes trat, war ein riesiges Ebert-Bild in einem breiten, pechschwarzen Rahmen. Es hing dem Eingang gegenüber, und darunter saß an einem Diplomatenschreibtisch der breitschultrige Peters, aus dessen bartlosem Gesicht ein paar stahlgraue Augen hervorstachen.
„Kollege, was führt dich her? Setz dich dorthin - ja dorthin!"
Der Alte setzte sich etwas umständlich und verwirrt in einen niedrigen, gepolsterten Tuchstuhl.
„Wegen des Streiks und der Aussperrung!"
„Ja, ja - dumme Sache, Kollege, wie konntet ihr euch von den paar Jungens im Betrieb verleiten lassen und leichtfertig in einen Streik treten?"
„Ein paar Jungens?" Der Alte sah ihn ganz erstaunt an. „Elf Zwölftel der Belegschaft stimmten für Streik, Kollege Peters!"
„Ich sagte ja, ihr habt euch verleiten lassen!"
„Keiner wurde verleitet. Das ist alles Unsinn. Es blieb der Belegschaft gar nichts anderes übrig, als in den Streik zu treten, und ich bin nur gekommen, um zu erfahren, wie sich eigentlich die Leitung des Verbandes die Angelegenheit denkt!"
„Das sollte dir als altem Kollegen klar sein!" erwiderte etwas verärgert der Verbandsleiter. „Dir ist doch bekannt, dass sich unsere Organisation mit dem Unternehmerverband geeinigt hat. Der Streik bei euch widerspricht den Abmachungen, die wir nicht durchbrechen können noch wollen. Der Verband hat also mit der disziplinlosen Aktion der Belegschaft von N. & K. absolut nichts zu tun!"
„Und die Aussperrung?" fragte der alte Dreher, der den Bevollmächtigten unentwegt anstarrte.
„Ist doch nur eine automatische Folge eures wilden Streiks! - Natürlich haben wir bereits in dieser Angelegenheit mit der Firma verhandelt, aber die setzt sich aufs hohe Pferd und will nur die ihr angenehmen Arbeiter wieder einstellen."
„Ihr habt verhandelt? Davon wusste ja von uns keiner etwas!" entgegnete erstaunt der Dreher. „Nun, es war unsere Pflicht."
„Eure Pflicht?" lächelte bitter der Alte, und seine Kiefer zitterten vor Aufregung. „Eure Pflicht? Mir scheint, eure Pflicht wäre etwas anderes!"
„So, was denn?"
„Uns in unserem Kampf zu unterstützen!" schrie nun der Alte, der sich nicht mehr länger beherrschen konnte, los. „Statt dessen paktiert ihr hinter unserm Rücken mit dem Unternehmer und organisiert unsere Niederlage. Seid ihr eigentlich noch unsere Vertreter oder Unternehmeragenten?"
Der Verbandsleiter erhob sich langsam und erwiderte kaltschnäuzig: „Anpöbeleien dulde ich in diesem Zimmer nicht!"
Der Dreher hatte sich ebenfalls erhoben und starrte den ihm ruhig gegenüberstehenden Peters an. Seine Zähne schlugen hörbar aufeinander.
„Als zwanzigjährig organisierter Arbeiter würde ich vorsichtiger in meinem Urteil sein!"
„Wieso? Wieso?" brachte erregt der Dreher hervor.
„Um mir die Vorteile meiner Mitgliedschaft zu sichern."
„Was?" brüllte der andere, und er wurde blau in seinem faltigen Gesicht. „Wollt ihr mich auf die Art kaufen? Schufte seid ihr! Schufte! Betrüger und Verräter!"
Der Verbandsleiter stieß mit dem Fuß gegen die Tür, dass sie krachend aufflog. -
Am Schalter verweigerte der Gewerkschaftsangestellte dem fortwährend schimpfenden Dreher das Mitgliedsbuch und drohte mit Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Polizei.

 

Die Internationale Arbeiterhilfe.

Fast eine Woche dauerte nun schon der Streik. Die Fabrik lag da wie ausgestorben. Kein Rad drehte sich. Nur eine dünne Rauchfahne stieg aus dem hohen Schlot hervor. Jeden Morgen fünfzehn Minuten vor sieben fuhr wie immer das grüne Bäckerauto vorbei. Jeden Morgen fünf Minuten vor sieben liefen die Arbeitermädels hurtig über die Kanalbrücke zur Gummifabrik. Jeden Morgen um sieben Uhr, wenn sonst die Transmissionen in den Hallen zu rattern begannen und die elektrischen Blasebälge pfiffen, die Sägen kreischten, heulte auch die Fabriksirene. Der humpelnde Pförtner musste etwas Dampf für die Heizkörper in den Büroräumen halten und auf Anordnung der Betriebsleitung wie an normalen Arbeitstagen, auf die Sekunde genau, die Sirene heulen lassen. Es wirkte gespenstisch, wenn aus dieser wie tot daliegenden Fabrik plötzlich die Sirene aufschrie.
Das Leben um die Fabrik herum ging aber den alltäglichen Gang weiter.
Im Streiklokal waren jetzt immer bedeutend weniger Arbeiter anwesend. Das Geld wurde knapp. Jedes Glas Bier schwächte die Streikfront, denn es schwächte die wirtschaftliche Widerstandskraft der Kämpfenden, und bei vielen der Streikenden warteten im Hause hungrige Mäuler.
Fast sämtliche Streiker waren gewerkschaftlich organisiert, viele zehn und zwanzig Jahre, und diese Arbeiter, die jahrzehntelang regelmäßig ihren Beitrag den Gewerkschaften gezahlt hatten, bekamen nun in ihrem Wirtschaftskampf keinen Pfennig Unterstützung. Die heutigen Gewerkschaftsführer fühlten sich für die Erhaltung der Ruhe und Ordnung der kapitalistischen Wirtschaft verantwortlich, nicht dafür, dass mit den steigenden Lebensmittelpreisen auch die Löhne der Arbeiter stiegen. Sie waren sogar die Grundpfeiler dieser kapitalistischen Wirtschaftordnung geworden, und sie betrachteten ihre Aufgabe lediglich darin, innerhalb dieser Wirtschaftsstruktur dem Arbeiter nach Möglichkeit ein Existenzminimum zu erhandeln.
Als die Arbeiter nun in ihrem Kampf von den Gewerkschaften verraten wurden, trat die Internationale Arbeiterhilfe auf den Plan, die proletarische Proviantkolonne, die stets dort eingreift, wo kämpfende Arbeiter Not leiden.
Sie hatte auch zur Unterstützung der Streiker von N. & K. eine Hilfsaktion organisiert. Im Laufe des Tages war eine Wagenladung Brote und Pakete bei Horning abgeladen worden, und nun arbeiteten im großen Saal eine Anzahl selbstloser Helfer dieser Organisation, um eine geregelte Verteilung der Lebensmittel durchführen zu können. Auch zahlreiche Frauen der streikenden Metallarbeiter, die auf diese Weise ihr Teil
dazu beitragen wollten, die Kampffront ihrer Männer zu stärken, halfen tatkräftig mit.
Melmster schrieb an einer Liste. Sämtliche Arbeiter von N. & K. mussten registriert werden. Jeder einzelne musste darauf aufmerksam gemacht werden, dass er Anspruch auf sein Quantum Lebensmittel hatte.
„Famose Sache, diese IAH!" meinte ein junger Genosse, dem man ansah, dass er viel Sport trieb. Er saß neben Melmster und schrieb Adressen auf Briefumschläge.
„Die hat auch Lenin ins Leben gerufen!"
„Wirklich?"
„Weißt du das nicht, Hermann? Das war damals, als nach dem Bürgerkrieg in Russland im Wolgagebiet Hungersnot ausbrach und Millionen Menschen nicht wussten, womit sie das nackte Leben fristen sollten. Da hat Lenin einen Aufruf erlassen, das Proletariat der ganzen Welt sollte als Zeichen der brüderlichen Solidarität aller Werktätigen Hilfe für die Hungernden organisieren. Millionen Arbeiter der ganzen Welt, Engländer, Amerikaner, Chinesen, Japaner, Franzosen, Deutsche, gaben freiwillig ihr Scherflein. Mehrere Millionen Mark kamen damals zusammen. Dazu riesige Mengen von Lebensmitteln, Kleidungsstücken, Medikamenten, die ins Hungergebiet geschickt wurden. Es war das größte Zeichen der Arbeitersolidarität, das die Welt bis dahin gesehen hatte." Der junge Schlosser hörte interessiert zu.
„So ist die Internationale Arbeiterhilfe entstanden. Sie ist die einzige proletarische Hilfsorganisation in der ganzen Welt. Übrigens ist der Generalsekretär ein Deutscher. Wenn nun irgendwo in der Welt, ob in Amerika, Deutschland oder China, Arbeiter im Streik sind, greift die IAH ein und sorgt dafür, dass es den Unternehmern nicht gelingt, die streikenden Arbeiter auszuhungern. Kein Gewerkschaftsbonze kann sich dazwischendrängen, die Arbeiter sorgen selbst dafür, dass die Hilfe an die Richtigen kommt. So wird jetzt auch unseren Genossen geholfen werden."
„Das habe ich bis jetzt noch gar nicht gewusst!" sagte der Schlosser und wurde über und über rot.
„Das ist schlimm genug!" sagte Melmster und lachte. „Nach dem Streik trete ich bestimmt in die IAH ein!" „Recht so, Hermann!" Gutmütig klopfte Melmster dem Kollegen auf den Rücken. Die Arbeit ging weiter.
Vormittags um elf Uhr begann die Verteilung der Brote und Lebensmittelpakete. Es wurde nicht gefragt, welcher politischen Gesinnung der einzelne war, sondern jeder im Kampf stehende Arbeiter erhielt sein Teil.
Unter scherzhaften Zurufen ging die Verteilung vor sich. Einige Frauen standen wartend vor dem Lokal und nahmen hastig und aufatmend die Brote und Lebensmittel von ihren Männern in Empfang. Etwas nach zwölf Uhr waren über zweihundertfünfzig Arbeiter für einige Tage mit Lebensmitteln versorgt.
„Hest diene Kampfration weg?" fragte der hagere Schmied, der jetzt in seinem grauen Jackett mit dem bunten Patentvorhemd noch knochiger und hagerer aussah.
„Dat weur ok bannig Tied!" erwiderte der Gefragte, der seine Pakete in einen mitgebrachten Bogen Zeitungspapier wickelte und vergnügt seine beiden Brote unter den Arm kniff.
„Wenn uns die übrigen Arbeiter weiter solidarisch zur Seite stehen, werden wir schon durchhalten!" mischte sich ein Dritter ins Gespräch.
„Die sollten lieber wie wir ihre Betriebe stilllegen!"
„Die Gewerkschaften verhindern das!"
„Wir haben uns doch auch nicht hindern lassen." Darauf wusste der andere nichts zu sagen.
„Wir müssen von uns aus, über die Köpfe aller Instanzen hinweg, die proletarische Einheitsfront bilden!" begann erneut der junge Dreher.
„Das ist eine alte Phrase. Wie soll denn das geschehen?"
„Durch die Wahl roter Betriebsräte!"
„Und wenn sie gewählt sind, schmeißt der Unternehmer sie raus!"
„In allen Betrieben müssen sie gewählt werden!" erhitzte sich der Junge, „und dann müssen von allen Werken die Betriebsräte zusammengefasst werden. Nur sie sind dann unsere Vertretung, und auf diese Art werden alle Arbeiter durch ihre selbstgewählten Vertreter zusammengefasst und eine einheitliche Masse!"
„Der Junge hat nicht so unrecht!"
„Mensch, was wird das für Arbeit kosten?" Der alte Schlosser schüttelte grübelnd und zweifelnd den Kopf.
„Natürlich viel Arbeit!" rief der Junge, „aber wenn wir nicht so arbeiten, kommen wir nicht weiter, und wir werden nie dieses verruchte System beseitigen!" -
„Was ist denn das für ein Spektakel auf der Straße?" In der Nähe des Lokals wurde geschrieen, einige Straßenpassanten liefen an der Gaststube vorbei.
„Polizei! Polizei!" kreischte eine Frauenstimme. Die Arbeiter stürmten aus dem Lokal. An der Straßenecke war ein Menschenauflauf. Aus der Hauptstraße kamen zwei Tschakos angerannt.
Zwei Arbeiter hatten sich offenbar geprügelt. Der eine, ein breiter, stämmiger und schlecht gekleideter Arbeiter, war völlig ruhig und ließ sich von einigen Kindern seine beiden Brote und die Pakete wiedergeben. Der andere sah furchtbar zerzaust aus und blutete im Gesicht. „Herr Wachtmeister! -Herr Wachtmeister!" - Er schnappte mühsam nach Luft. „Der Mensch hat mich ohne Grund misshandelt! - Ohne Grund! - Ich bin kein Rowdy! - Ich falle auf der Straße keinen friedfertigen Bürger an!"
„Sie kommen mit zur Wache!" wandte sich der Sipo an den Arbeiter, der mit seinen Broten und Paketen neben dem Polizisten stand. „Warum haben Sie diesen Mann verprügelt?"
„De Internationale Arbeiterhilfe, de uns in unsern Streik helpen deit, is ne ,kommunistische Heilsarmee', het he seggt -und dorvor het he en Morsvull kregen!"
„Also kommen Sie!"
„Jo, dat do ick ok!"

 

Streikbrecher gesucht.

„Das macht ein hübsches Sümmchen!" nickte Dresen. „Einundzwanzig Jahre, über tausend Wochen, habe ich mir den Beitrag für den Verband vom Lohn abgezwackt, und wofür? Wofür? Wir haben eine Bonzokratie gezüchtet und uns im riesenhaftesten Ausmaß selbst die Fesseln um die Gelenke gelegt!"
„Hat er dir denn nicht irgend etwas Grundsätzliches mitgeteilt?" fragte Melmster den Alten.
„Grundsätzliches?" überlegte Dresen. „Natürlich! - Dass sie grundsätzlich nicht kämpfen können, dass sie das Abkommen mit den Unternehmern respektieren müssen!"
„Ich meinte...!"
„Ja! Ja!" fiel ihm der Alte ins Wort, „und dann hat er mir den Rat gegeben, auf meine alten Tage doch das Maul zu halten!"
„Auf deine alten Tage? Wie soll man das verstehen?" warf Drohn ein.
„Invalidität!" bemerkte bissig der Alte.
„Ja, das ist wirklich kein Rätsel!" lachte Melmster. „Das ist das korrumpierende Argument, mit dem die reformistische Bonzokratie raffiniert zu arbeiten weiß. Wer soundso viele Jahre Mitglied des Verbandes ist, bekommt in einem bestimmten Alter eine monatliche Invalidenrente ausgezahlt. Wer sich aber auf der anderen Seite im Verband oppositionell betätigt und reformistischen Bonzokratien lästig wird, fliegt aus der Gewerkschaft raus und wird damit seiner Rente verlustig, selbst wenn er wie Dresen einundzwanzig Jahre Mitglied war!"
„Darum sind die Jubiläumsmitglieder des Verbandes so bürokratietreu!" ergänzte der Hobler.
„So machen sie aus den Gewerkschaften, die Kampforganisationen für höhere Löhne und eine endgültige Befreiung der Arbeiterklasse sein sollen, eine Invalidenversicherung!"
„Die nur Mamelucken Rente zahlt!"
„Mir tut jede Mark leid, die ich diesen Halunken in den Rachen geworfen habe!" brummte der Alte. „Dresen, die Gewerkschaften sind keine Angelegenheit von einer Handvoll Schurken, die Gewerkschaften sind wir, trotzdem reformistische Schurken mit allen Mitteln und durch ausgeklügelte Statuten jede Arbeiterdemokrade in den Gewerkschaften unterbinden und sich durch Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse die schwerbezahlten Positionen erhalten", sagte Drohn.
„Ich ziehe heute einen Schlussstrich!" erklärte entschlossen der Alte.
„Du darfst die Mitgliedschaft nicht einfach von dir werfen!" fiel ihm Melmster wieder ins Wort.
„Brich aufs entschiedenste mit der Sozialdemokratie, mit der konterrevolutionären Ideologie des wirtschaftsfriedlichen Reformismus, aber bleib, bleib auf alle Fälle als gärender Sauerteig in der Organisation, wo du vor dem Forum der Gesamtarbeiterschaft in der Opposition aufklärend und revolutionär wirken kannst. Wir dürfen den Reformisten nicht die Arbeit erleichtern und Tausenden Arbeitern den Rücken kehren und sie diesen Schurken überlassen!"
„Sie werden uns aus dem Verband werfen, wenn wir ihnen gefährlich werden und wenn wir drei Viertel der Belegschaft hinter uns haben!"
„Wenn wir drei Viertel der Mitglieder fest hinter uns haben, sind wir der Verband, nicht das übrige Viertel!"
„Also Spaltung der Gewerkschaften?"
„Nein, keine Spaltung, aber Eroberung der Mehrheit der Mitgliedschaft!"
„Sie werden uns alle ausschließen!"
„Wir werden uns dagegen wehren und die Mitgliedschaft fest unter der Führung der RGO zusammenhalten."
Wie an jedem Tag saß in dem kleinen Klubzimmer bei Horning die Streikleitung oder der Viermännerausschuss, wie die Kollegen sagten, beisammen. Melmster, der der Streikleitung nicht angehörte, wartete auf einen Schlosser, mit dem er zusammen in einigen Minuten die Streikposten für drei Stunden ablösen sollte.
Auch der „Gottsucher" war anwesend. Er arbeitete mit einer Aufopferung, als wollte er nachholen, was er in früheren Jahren versäumt hatte.
Ein großer, schlanker Arbeiter trat ins Zimmer. Melmster erinnerte sich an das Gesicht, aber er wusste im Augenblick nicht, wer es war. „Na, Helmut?" begrüßte ihn der Hobler. „Hier! Das habe ich heute geschickt bekommen!" Er trat an den Tisch heran und überreichte dem Hobler ein Schreiben.
Der hatte kaum einen Blick hineingeworfen, als er ausrief: „Hallo! Die Firma will morgen arbeiten!"
„Was?" Alle sprangen von ihren Stühlen und drängten sich zum Hobler, der Wort für Wort aus einem Einschreibebrief der Betriebsleitung an den Bohrer Helmut Rohde las: „Wir haben uns entschlossen, die Tätigkeit in unserer Fabrik wieder aufzunehmen. Wenn Sie am Donnerstag um sieben Uhr sich zur Arbeit melden, gelten Sie mit den alten Rechten als eingestellt.
Betriebsleitung von Negel & Kopp" Alle blickten den Hobler an, als warteten sie, dass er etwas darauf sagen würde. „So beginnt es!" brach der Schlosser Drohn das Schweigen. „Was beginnt?" fragte ein anderer, und dann schnatterte alles durcheinander: „Diese Schufte!" - „Was nun?" - „Was tun wir?" - „Dahinter stecken die Gewerkschaften!" - „Und Kühne und Schmachel." „Hört einmal, Genossen!" rief der Hobler. „Wir müssen uns sofort klar werden, was wir unternehmen wollen. Bleiben wir bei unseren jetzigen Streikschutzmethoden, arbeiten morgen mindestens einige Dutzend Streikbrecher in der Fabrik!"
„Die Kühne, Schmachel und Fahs warten schon jeden Tag darauf!" rief der „Gottsucher", der vor Erregung fieberte.
„Ja, eben", fuhr der Hobler fort, „darum schlage ich vor, sämtliche Kollegen sind morgen früh am Fabrikeingang und sehen sich an, was da vorgehen soll!"
Von allen Seiten wurde ihm zugestimmt. „Wir werden einen Streikschutz organisieren", warf Melmster ein, „wie er in Amerika üblich ist. Die ganze Belegschaft wird dabeisein. Die ganze Belegschaft wird Streikposten stehen! Außerdem werden wir die Erwerbslosen zu Solidaritätsaktionen alarmieren, damit es den Reformisten und Unternehmern nicht gelingt, sie gegen uns auszuspielen. Die Erwerbslosen gehören mit in die Streikfront!"
Der Bohrer Helmut Rohde, der immer noch am Tisch stand, war völlig vergessen. Sofort wurden jetzt von den Mitgliedern der Streikleitung die Adressen der streikenden Kollegen aufgeteilt. Jeder sollte benachrichtigt werden, dass er morgen früh um sechseinhalb Uhr vor der Fabrik zu erscheinen habe.
Im Laufe des Tages kamen noch einige Kollegen, die ebenfalls das Schreiben der Betriebsleitung erhalten hatten. Jeder Arbeiter, der kam, wurde in die Arbeit zur Organisierung der Abwehr des geplanten Streikbruchs eingespannt.
„Was wird morgen früh?"
„Wer wird arbeiten wollen?"
„Wird es uns gelingen, den Streikbruch zu verhindern?" Das waren die Fragen, die jeden streikenden Arbeiter bewegten.
Vorerst wurden die Streikposten verdoppelt. Einige Arbeiter mit Fahrrädern wurden als Kuriere mit Adressenmaterial losgeschickt. Die Arbeit unter den Kollegen hatte einen neuen Anstoß erhalten.
Melmster war von der Streikleitung vom Streikpostenstehen befreit worden. Er saß in einem Winkel der Gaststube und schrieb an einer längeren Arbeiterkorrespondenz für die kommunistische Tageszeitung über die Ursachen und den bisherigen Verlauf des Streiks.

 

Die Polizei schießt.

Um sechs Uhr drückten sich am andern Morgen schon die ersten Streiker in den Eingängen und Terrassen der um die Fabrik liegenden Häuser herum. Es war ein windstiller, milder, aber nebliger Morgen. In den Straßen war es noch menschenleer. Die festen Schritte eines Arbeiters, der über die Kanalbrücke ging, hallten in den Straßen wider. Hin und wieder flammte Licht hinter den Fenstern der Wohnhäuser auf. Langsam kroch der alltägliche graue Morgen in diesem Proletarierviertel heran.
Melmster, der Hobler und der Rotkopf kauerten in einem Treppenflur. Ihnen gegenüber lag in der nebligen Morgendämmerung die Fabrik. Melmster fror und hatte sich ganz in einen alten Mantel verkrochen. Noch hörte man in der Ferne die Schritte des einen Arbeiters.
„Der ,Gottsucher' und der Schweißer Georg stehen drüben in der Terrasse!"
„Und noch ein Dritter!"
„Ja, am Ende des Häuserblocks kriechen auch einige herum!"
„Gut, dass es nicht kalt ist!" „Mich friert abscheulich!" „Du bist eben krank!"
Von irgendwoher schlug es halb. Es schien so, als wenn nur wenige Arbeiter inzwischen hinzugekommen wären. Es war überall still. Jetzt aber gingen schon mit dem morgendlich müden Gang mehrere Arbeiter die Straße entlang und über die Kanalbrücke. Ein junges Arbeitermädel mit schlafgeschwollenen Augen hastete am Hauseingang, in dem die drei standen, vorbei. Ein Rollwagen fuhr langsam, aber geräuschvoll in der Nebenstraße. Der Nebel wich kaum.
„Dort an der Brücke, der Schmied!" zeigte der Rotkopf mit der Hand.
Vor der Kanalbrücke war ein Torweg, hier standen mehrere Arbeiter. Der muskulöse Schmied Hennings war unter ihnen gut zu erkennen.
Im Nebenhaus bellte wütend ein Hund. Stimmengewirr erklang dazwischen. Vier bis fünf Arbeiter traten aus dem Hausflur heraus, und ein Einwohner, der mit einem Hund die Treppen herunterkam, sah sich erstaunt nach ihnen um. Wie die Minuten langsam dahinkrochen...
„Das grüne Bäckerauto!" rief der Hobler.
„Jetzt aufpassen!"
Gleich musste die Uhr drei Viertel schlagen. Würde der Pförtner wie an den Arbeitstagen sorglos das Tor öffnen? Durch den Nebel konnten die drei nur auf der andern Seite, in unmittelbarer Nähe des Fabrikeingangs, die beiden Streikposten patrouillieren sehen.
„Hörst du?"
„Was?"
„Der Pförtner!"
„Unsinn!"
„Doch!"
Ein Geräusch war zu hören, als wenn ein Schlüssel in einem großen Schloss rumorte.
„Halt! Hier wird gestreikt!" brüllte eine Stimme, und als sei es ein Signal, strömten aus den umliegenden Häusern und über die Straße zahlreiche Arbeiter auf den Fabrikeingang zu.
Der Schlosser Berlitt, der an diesem Morgen Streikposten war, stand dicht vor einem Arbeiter und verweigerte diesem den Eingang in die Fabrik. Es war der Dreher Schmachel. Mit aufgerissenen Augen starrte er die auf ihn eindringenden Arbeiter an.
„Hast du gehört, hier wird gestreikt!" Schmachel war keines Wortes mächtig. Unschlüssig stand er da und sah, als begriffe er das Ganze nicht, um sich.
„Gestreikt! Gestreikt!" schrie ihm ein Arbeiter in die Ohren.
„Ich fühle mich euch nicht verpflichtet!"
„Was? - Was? - Du Kanaille!" schrie es um ihn her.
„Du wirst es bald fühlen!" pflanzte sich ein baumlanger Schlosser vor ihm auf, „und zwar, wenn du nicht schleunigst kehrtmachst!"
In diesem Augenblick drang ein Geschrei von der Brücke herüber. „Hilfe! Hilfe!"
Von der Fabrik aus konnte man nicht viel sehen. Einige Arbeiter rannten über die Brücke. Der ganze Platz vor der Fabrik wimmelte jetzt von Arbeitern.
Plötzlich schrie lang anhaltend die Fabriksirene fünf Minuten vor sieben. Ein hundertstimmiges Gebrüll aus Arbeiterkehlen war die Antwort. In der Straße brodelte es. Die Fenster der umliegenden Häuser wurden aufgerissen, und verschlafene Gesichter sahen heraus. „Kollegen!"
Der Hobler hatte sich auf einen Absatz der Fabrikmauer geschwungen. „Kollegen! Wir wollen absolut keinen Krawall entfesseln, sondern nur die Streikbrecherlumpen verjagen und unsern Streik schützen. Sämtliche Kollegen bleiben hier als Streikschutz, aber jeder verhält sich ruhig, keiner darf sich provozieren lassen!"
Scharenweise patrouillierten die Arbeiter vor der Fabrik auf und ab. Dann heulte die Sirene sieben Uhr. Diesmal wurde die demonstrative Mahnung des Unternehmertums mit Gelächter beantwortet.
Eine Sipostreife kam und forderte die Arbeiter zum Weitergehen auf.
„Hohoo! - Hohoooo!" war die Antwort, und keiner wich. Der alte Dreher Dresen ging an die Sipos heran und erklärte, dass sie lediglich Streikposten ständen und soeben nur einige Streikbrecher verjagt hätten. Der eine ältere Wachtmeister blickte sich um, sah sich von einem Dutzend entschlossener Arbeiter umringt. Er lächelte vor Verlegenheit. Die beiden anderen erwiderten: „So, so! - Ja, ja!"
„Was war an der Brücke?" fragte Melmster.
„Der Schmied!" beantwortete der Hobler die Frage.
„Und wer?" bohrte Melmster weiter.
„Wen meinst du?" lachte Hans. „Den Goliath!"
„Den?" Melmster vergegenwärtigte sich die Ausmaße des Ex-Betriebsratsobmanns.
„Hat Hordenkeile gekriegt!" knüpfte der Hobler belustigt an Melmsters Ausspruch an. „Und hoffentlich saftig!" Melmster tat noch ganz verwundert.
„Überhaupt ist der feige wie ein altes Weib!"
„Guten Morgen, Genossen!"
„Guten Morgen!" grüßten die beiden den „Gottsucher". „Das hat doch famos geklappt, nicht wahr?"
„Das kann man wohl sagen!"
„Und wie viele gekommen sind! Auch die Lehrlinge haben wir sämtlich wieder nach Hause geschickt!"
„Die waren doch sicherlich nicht ärgerlich darüber?"
„Nein, gewiss nicht!" lachte der „Gottsucher".
„Was ist denn das?" schrie der Rotkopf und zeigte nach vorn.
In rasendem Tempo kam ein großes Polizeiauto die Straße heruntergejagt. Kurz vor der Fabrik stoppte es hart. Sämtliche Arbeiter drängten sich instinktiv zusammen. Ein paar kurze Kommandorufe, dann sprangen etwa drei Dutzend Sipos vom Wagen, und unter dem Ruf des leitenden Offiziers „Straße frei!" rückten sie gegen die Arbeiter vor.
Mit Gebrüll und Gejohle wurden sie empfangen. Nach einigen Rempeleien zogen sich die Streikenden geschlossen bis zur Kanalbrücke zurück. Die Polizisten besetzten den Fabrikeingang. Alles war eine Angelegenheit von Minuten.
Dann fuhr ein zweites Polizeiauto heran und hielt direkt vor dem Fabrikeingang. Eine Anzahl Arbeiter stiegen heraus. Als die Streikenden auf der Brücke Olbracht, Kühne und Schmachel unter den Streikbrechern erkannten, durchbrachen sie mit Geheul die Postenkette und fielen über sie her. Eine wilde Schlägerei entstand. Der Schmied Hennings brach wie ein Berserker in die Gruppe der Streikbrecher ein und schlug wie wild um sich. Der Schlosser Fahs stürzte lang zu Boden, und über ihn wälzte sich ein in sich verkrampfter Knäuel prügelnder Menschen.
Die Sipos waren im ersten Augenblick vor Erstaunen wie gelähmt, jetzt hieben sie blindlings mit ihrem Gummiknüppel nach allen Seiten hin. Aber immer mehr Arbeiter wurden in den Tumult hineingerissen.
Plötzlich kreischte ein Offizier: „Achtung, es wird geschossen!"
Einige stoben auseinander. Der Menschenknäuel löste sich. Drei Sipos rissen den Schmied hoch und wollten dessen Arme nach hinten schrauben. Der aber wehrte sich wie toll. Der eine Sipo zog einen Revolver, aber bevor er richtig anlegen konnte, taumelte er, durch einen Tritt in den Unterleib getroffen, zurück. Als sich der Revolver dabei entlud, sank plötzlich unter den zurückweichenden Arbeitern der „Gottsucher" laudos zu Boden.
Durch den Schuss waren die Polizisten selbst erschrocken.
Der Schmied riss sich los und verschwand unter den übrigen Arbeitern.
Melmster und der Hobler packten vorsichtig den „Gottsucher" und trugen ihn in das nächste Treppenhaus. Das sowieso blasse Kerlchen sah mit aufgerissenen Augen entsetzt auf Melmster. Er wimmerte leise und hielt sich mit beiden Händen den Hals.
Als Melmster die Hände um den Hals etwas zu lösen versuchte, sickerte dünnes Blut hervor. „Genosse Melmster!" flüsterte wimmernd der Tischler. „Was denn, Ahrnfeld?"
„Ich möchte doch so gern der Partei beitreten!" hauchte er. „Natürlich, das kannst du ja auch!"
Melmster lächelte gewaltsam, und das schmale Kindergesicht des Tischlers lächelte zurück. -
Auf der Straße wurde gebrüllt. In den Häusern, an den Fenstern schrieen die Frauen. Der Verkehr staute sich, und die Arbeiter, die durch diesen Lärm aus allen Straßen herbeigelockt wurden, schwollen zu Massen an.
Am Fabriktor stand die Sipoabteilung. Rundherum in dichten Scharen wogte eine Kette erregter Arbeiter.
Mit dem bekannten schrillen Signal nahte ein Krankenauto und hielt vor dem Fabrikeingang. Der Streikbrecher Fahs wurde auf eine Bahre gelegt und in das Auto geschoben. Als das Auto abfahren wollte, stürzte Melmster aus dem Treppenflur und brüllte: „Halt! Halt!"
Das Auto hielt. Vorsichtig wurde der bleiche Tischler, dessen Finger sich noch immer um den Hals krallten, ins Auto neben den Streikbrecher geschoben.
Wie eine Mauer standen die Arbeiter um die Fabrik. Ein befreiendes Geschrei erscholl, als die Streikbrecher wieder auf das Polizeiauto verladen wurden und über die Kanalbrücke, von Schmährufen der Arbeiter begleitet, davonfuhren.
Eine kleine Abteilung Sipo marschierte ins Kontor der Fabrik, die übrigen fuhren dem ersten Auto nach. -
Die Streikfront war nicht erschüttert. In der Fabrik drehte sich kein Rad. Aber Blut war geflossen. Arbeiterblut.

 

Ein Kapitel über Faschismus.

Melmster hatte sämtliche Abendzeitungen gekauft. Die deutschnationalen „Nachrichten" schrieben:
Blutige Streikhetze der Kommunisten Heute früh kam es vor der Maschinenfabrik von N. & K. zu blutigen Zusammenstößen zwischen streikenden Arbeitern und der Polizei. Die Belegschaft dieser Firma steht seit einigen Tagen im Streik. Einige arbeitswillige Elemente wurden von den Streikenden misshandelt. Als die Polizei eingriff, gingen die kommunistischen Unruhestifter auch gegen die Polizisten vor. Diese mussten von der Schusswaffe Gebrauch machen. Nach dem Polizeibericht wurden zwei Arbeiter verwundet. Der demokratische „Generalanzeiger" schrieb: Schießerei vor der Maschinenfabrik N. & K. -Ein Toter, ein Verwundeter
Bei Zusammenstößen zwischen streikenden und arbeitswilligen Arbeitern, in deren Verlauf die Polizei eingreifen musste, kam es zu Schießereien. Bedauerlicherweise wurde ein junger Arbeiter durch Halsschuss tödlich getroffen. Wer geschossen hat, ist noch nicht einwandfrei erwiesen. Die Ruhe ist wiederhergestellt. Das Organ der SPD schrieb: Die Blutschuld der Kommunisten -Ein Todesopfer der Moskauer Gewaltanbeter Mit terroristischen Methoden ist es einer Handvoll junger Kommunisten in der Maschinenfabrik N. & K. gelungen, die Belegschaft zu einem wilden Streik zu provozieren. Die gemeinsten und verruchtesten Mittel wurden gegen alte,
ergraute Gewerkschaftler angewandt. Vor einigen Tagen erst wurde ein alter Gewerkschaftler vom kommunistischen Janhagel in der Dunkelheit überfallen und blutig geschlagen.
Natürlich grenzen sich die Gewerkschaften von diesen verbrecherischen Methoden der kommunistischen Gewaltanbeter scharf ab. Sie haben diesen wilden Streik sofort als eine planmäßige Putschisterei gekennzeichnet, die kein organisierter Arbeiter unterstützen darf. Als heute morgen der Betrieb (nach einer Aussperrung seitens der Firma) wieder geöffnet werden sollte, fiel eine Rotte Halbstarker über die alten Gewerkschaftler her. Polizei musste den kommunistischen Janhagel zurückdrängen. Während der Schlägerei wurde auch geschossen. Ein junger Tischler wurde tödlich und ein älterer Arbeiter leicht verletzt. Es steht einwandfrei fest, dass auf Seiten der Kommunisten geschossen wurde.
Melmster, der die Zeitungsberichte vorgelesen hatte, sah auf. Der Hobler lächelte. Der Schlosser Drohn machte Anstalten, etwas zu sagen, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Der Lehrling Fritz drückte sich ganz in die Ecke. „Seht ihr jetzt, was Faschismus ist?" fragte Melmster.
Und da keiner antwortete, fuhr er fort: „Die herrschende Bourgeoisie kennt viele Methoden zur Erhaltung ihrer Klassenherrschaft. Die blutige Unterdrückung aller revolutionären Strömungen durch ihre eigenen staatlichen Machtmittel ist der offene robuste Ausdruck ihrer Klassenmacht. Darüber hinaus aber kauft sie sich durch alle Arten der Korrumpierung Verbündete, die sie durch deren eigene Interessen an den Bestand ihrer Herrschaft fesselt, und schafft sich so Prätorianergarden. Sind die Hitler-Leute, die Stahlhelmer etwas anderes als Prätorianer des deutschen Unternehmertums, als die besoldete Schutztruppe des um seine Klassenherrschaft besorgten Bürgertums?"
Keiner erwiderte etwas auf Melmsters Ausführungen, aber jeder wunderte sich, wie er jetzt davon sprechen konnte.
„Warum erzählst du uns so etwas und stellst uns solche Fragen?"
„Ist das, was wir heute erlebten, nicht Faschismus in Reinkultur, ist das nicht modernes Prätorianertum?" Alle schwiegen.
„Glaubst du, dass sich die Kühne und Schmachel dessen bewusst sind?" fragte Drohn.
„Kaum", erwiderte Melmster, „vielleicht nicht einmal die besoldete Bonzokratie, ich sage vielleicht, aber darauf kommt es bei der Feststellung der Dinge ja nicht an, sondern auf die Wirkung ihrer Handlungen. Dass sich die sozialdemokratischen Arbeiter dessen bewusst werden, ist ja der Sinn unserer Arbeit."
„Das werden wir auch jedem Arbeiter einhämmern müssen!" stimmte der Hobler zu.
„Was wir erlebten, ist ja kein Einzelfall", begann noch einmal Melmster, „sondern der Ausdruck der allgemeinen Entwicklung. Durch unseren revolutionären Widerstand haben wir sie nur gezwungen, alle Trümpfe gegen uns auszuspielen!"
„Was schreibt nun eigentlich unsere Presse?"
„Sie bringen das, was wir heute Vormittag zusammenstellten, und den Bericht von Alfred!"
„Bis um sieben Uhr sollen wir die Plakate haben!"
„Wir kleben den ganzen Stadtteil, aber hauptsächlich die Fabrik!"
„Vier Kolonnen habe ich organisiert!" „Ist der Hennings dabei?" fragte Melmster. „Ja!" antwortete Drohn.
„Der sollte sich im Augenblick lieber etwas zurückhalten." Als Melmster und der Hobler durch die Straßen schlenderten, fragte Melmster nach Dora.
„Wir sind jetzt natürlich außerordentlich vorsichtig, denn im Kontor traut einer dem andern nicht. Aber es ist seltsam, Dora sagt, keiner erwähnt noch etwas von der Affäre. Es ist, als wenn sie vergessen oder aufgeklärt wäre!"
„Beides wird wohl nicht stimmen!"
„Bestimmt nicht. Ich glaube sogar, dahinter steckt eine bestimmte Absicht der Betriebsleitung. Dora wird die Ohren spitzen und steifhalten!"
Drüben auf der andern Seite lag die Fabrik. Im Pförtnerhaus brannte Licht.
„Dort wird die Sipo einquartiert sein!"
„Möglich!"
Scharf zeichneten sich die Umrisse des massigen Fabrikgebäudes mit den Schnörkeleien des kitschigen wilhelminischen Baustils vom mondhellen Nachthimmel ab. „Ob er wirklich tot ist?"
„Er war auf dem Wege, ein guter Revolutionär zu werden!"

 

Die Klebekolonne.

Kurz vor Mitternacht brachen sie auf. Melmster war von der Streikleitung der Kolonne zugeteilt, die unter anderem auch die Fabrik bekleben sollte. Vier Arbeiter waren immer eine Kolonne. Einer trug in einer alten Einholetasche, wie sie Arbeiterfrauen zum Einkaufen benutzen, unter Zeitungspapier verdeckt, einen großen Topf Kleister. Ein anderer schleppte eine bis oben hin voll gepfropfte Aktentasche mit Flugblättern.
Es war jetzt Anfang April, und wenn auch tagsüber die Sonne schien, war der Abend noch eisig. Das war nun allerdings sehr günstig, denn die nüchternen Arbeiterstraßen waren nahezu menschenleer. Um die Ecke vom Kanal her blies der Wind, dass die Flamme im Glühstrumpf der Gaslaterne zur Seite schoss.
Melmster klapperte am ganzen Körper. Ihn fror entsetzlich. Eine bleierne Schwere lag ihm im Kopf knapp über den Augen. Aber bloß nicht schlappmachen, nur nicht krank sein. Er fühlte sich für diesen Kampf der Belegschaft stark mitverantwortlich. Würde es nicht Arbeiter geben, die dächten, er wolle sich jetzt, wo es mulmig wurde, nur drücken! Wer würde ihm restlos glauben, dass ihm hundsmiserabel zumute sei? Also bloß nicht krank sein. „Ich habe eine Idee!" Der Rotkopf, der zur Kolonne gehörte, tat furchtbar wichtig. „Wir kleben rund um die Fabrik einen geraden roten Strich Plakate. Das muss in die Augen springen und wirken!" „Nicht übel!"
„Du gehst mit deinem Kleistertopf die Fabrikmauer entlang und pinselst nur. Immer in gleicher Höhe, immer in gleicher Breite. Und wir gehen hinterdrein und klatschen ein Plakat neben das andere!"
„Und ich? Bin ich überflüssig?" fragte Melmster.
„Du schützt vor Überraschungen! Ein Pfiff genügt!"
„Vorher nehmen wir aber die Terrassen und Höfe unseres Häuserblocks, denn der rote Strich um die Fabrik wird selbst nachts mächtig auffallen."
„Fabelhaft, was!" lobte der Rotkopf selbst seinen Vorschlag. Sie trafen in den dunklen Terrassen Liebesleute, Einwohner, die spät nach Hause kamen, Passanten, die ihres Weges gingen, keiner kümmerte sich um die Plakatkleber. Und doch hieß es aufpassen. Es gab welche, die aus purem Schabernack die nächste Sipostreife den Plakatklebern auf den Hals hetzten. Man musste die Menschen, denen man begegnete, scharf beobachten, um gewissermaßen sofort aus deren Verhalten Rückschlüsse zu ziehen.
Melmster schlenderte scheinbar völlig gedankenlos und gleichgültig den Bürgersteig entlang, aber seine Sinne waren angespannt und seine Augen überall.
Währenddessen klebten die drei unermüdlich eine Torwegwand nach der anderen mit den nicht sehr großen, aber knallroten Plakaten.
War das nur ein Rad? Eine kleine, träge Funzel Licht war zu sehen. Nein - das waren drei! - Verflucht! Ein kurzer, schriller Pfiff.
Wie Schatten huschten die drei in den Torweg und von dort in die Hauseingänge. Melmster stand breitbeinig am Kantstein.
„Was pfeifen Sie denn hier mitten in der Nacht?" „Ich bin schon halb erfroren. Eine Stunde stehe ich schon hier. Ich habe meinen Hausschlüssel vergessen!"
„So was ist verflucht unangenehm!" „Das mögen Sie wohl sagen!" „Also - angenehme Nacht!"
Lachend fuhren die drei Sipos auf ihren Rädern weiter. „Danke!" sagte Melmster und lachte auch. -
Schritt für Schritt wurde der Ring Plakate um die Fabrik geklebt.
„Hier traf es den ,Gottsucher'!" flüsterte der Rotkopf.
„Ja!" erwiderte Melmster, und er dachte an den Besuch an der Drehbank, an die glasklaren Augen und die weiße, zarte Haut des „Gottsuchers", der noch wenige Minuten vor seinem Ende den richtigen Weg gefunden hatte. -
„Das gibt eine Sensation."
„Was?"
„Na, dieser rote Ring!" erwiderte gekränkt der Rotkopf. -Als wäre rund um die Fabrik mit Blut ein roter Strich gezogen, so leuchtete am andern Morgen der Plakatring. In alle Straßen schrie das grelle Rot. Keiner konnte achtlos vorübergehen. Vor den schlaftrunkenen Augen flimmerte und brannte es. Jeder sah, jeder las.
„Arbeiterblut ist geflossen!" las der Alte mit dem herabhängenden Kinn, der jeden Morgen um diese Zeit an der Fabrik vorübereilte.
„Kampf um das Stück Brot... Rationalisierung... Abwehr der willkürlichen Entlassung von oppositionellen Arbeiterräten, die mit großer Mehrheit gewählt wurden...!"
„Ja, ja!" nickte der Alte, als er weiterlas.
„Die reformistische Gewerkschaftsbürokratie paktiert mit den Unternehmern und fällt den streikenden Arbeitern in den Rücken... Wenn die Reformisten heute Streikbrecher mobilisieren, unter Polizeischutz Streikbruch betreiben und streikende Arbeiter ermorden lassen, so ist das ein Beispiel, mit welchen arbeiterfeindlichen Methoden Sozialdemokraten und die reformistische Gewerkschaftsbürokratie im Interesse des Unternehmertums gegen die Arbeiterklasse vorgehen!" Der Alte nickte und brummte etwas vor sich hin.
„Nieder... Arbeitermörder!... Reiht euch ein... Gewerkschaftsopposition... Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit, um höheren Lohn und den revolutionären Sieg der Arbeiterklasse... Übt Solidarität!"
Mit einigen Milchflaschen unter dem Arm trat ein Sipo aus der Fabrik. Als er den roten Streifen um die Fabrik sah, machte er Stielaugen und rannte wieder zurück. Zirka acht Sipos stürzten bald darauf heraus. Der Gruppenführer bekam einen Kopf, so rot wie die Plakate.
Im Schweiße ihres Angesichts kratzten dann alle mit den Bajonetten an den Fabrikwänden herum.
Die Arbeiter, die vorübergingen, grinsten. Die Frauen aus den umliegenden Häusern lachten hell auf. Die Kinder aber, die zur Schule gingen, schrieen: „Oooh, die Sipo arbeitet!"

 

Die Streikleitung wird verhaftet.  

„Der ,Scharfe' ist kein schlechter Kerl, nur eine verrückte Nudel -steckt bis an den Hals in Schulden!"
„Wie kann denn der Schulden haben? Der isst aus Mutters Kochtopf, raucht nicht, trinkt nicht?"
„Stimmt, aber Motorradfahren ist sein halbes Leben. Diese Kerle sind ja total meschugge. Erst wird monatelang trocken Brot gefressen, um die Anzahlung für ein Rad zu erhungern, dann wird monatelang gehungert, um die Abzahlungen aufzubringen. Soviel ich weiß, hatte der noch eine hübsche Stange nach."
„Aber der ist doch so 'n Wandervogel!"
„Na, Mensch, ein moderner Wandervogel trillert doch nicht mehr mit Klampfengezirpe, sondern pufft mit einigen PS die Landstraße hinunter!"
„Der sah wirklich nicht so aus!"
„Nee!" lachte der andere, „aber die langen, wilden Haare und die krausen, wilden Gedanken darunter bleiben darum doch die gleichen!"
„Hallo, Karl, schenk uns beiden noch 'n kleinen ein!"
„Übrigens gibt es doch schon Motorrad-Wandervogel-Lieder!"
„Ach was!"
„Aber, Mensch, natürlich! Kennst du nicht das Lied: Bin ein fahrender Gesell?"
Und dann brüllte er selbst auf vor Vergnügen über seinen Witz und bekam es dabei mörderisch in der Kehle, dass er mit geschwollenem Kopf hustete, als sollte der Schädel zerspringen.
„Aber ich sage dir, der ,Scharfe' ist kein schlechter Kerl!" wiederholte er noch einmal.
Melmster, der in diesem Augenblick an die Theke trat, hörte das.
„Hast du den ,Scharfen' gesehen?"
„Gestern Abend", antwortete der Schlosser.
„Weißt du, warum der sich hier nicht meldet?"
„Der arbeitet doch!"
„Der arbeitet?"
„Bei Henkel und Söhne. Es gefällt ihm ganz gut. Er sagte, er könne doch bei uns nicht mehr weiterarbeiten."
„Kann ich mir denken!" lachte Melmster.
„Was ist denn eigentlich vorgefallen?" fragte nun der Schlosser.
„Er sollte damals entlassen werden, aber nachdem er das Versprechen abgab, sich der politischen Tätigkeit im Betrieb zu enthalten, durfte er bleiben!"
„Hm! Hm!"
Melmster kaufte zwei Selters und ging dann ins Klubzimmer zurück.
„Was ich dir sagte!" wandte sich der Schlosser an seinen Nachbarn. „Das Motorrad! So 'n Motorrad kann den besten Kerl versauen! Aber trotzdem, der ,Scharfe' ist kein schlechter Kerl!"
„Die Parteileitung hat uns heute Abend zu einer Sitzung beordert; trotzdem du offiziell nicht zur Streikleitung gehörst, ist es selbstverständlich, dass du dabei bist!"
„Ich werde schon kommen!" erwiderte Melmster.
„Wir müssen alles versuchen, um die Kampfbasis zu erweitern. Die ziehen uns den Strick immer enger!" redete der
Hobler weiter. „Die Partei will sämtliche Genossen der Metallbetriebe zusammenrufen!"
„Das hätte schon längst geschehen können!"
„Du kennst doch die Schwierigkeiten, Drohn! - Morgen Vormittag müssen unbedingt einige hier sein. Um elf Uhr ist wieder IAH-Verteilung."
„Einer muss auch zu den Eltern des ,Gottsuchers' gehen!"
„Melmster!"
„Ausgeschlossen!" rief der. „Ich wäre der letzte, der sich dazu eignet!" „Dann muss Dresen gehen, ich kann es auch nicht!" „Die Streikorganisation lockert sich!" „Wieso?"
„Es kommen nicht mehr alle zur Kontrolle!" „Einige wohnen aber auch sehr entfernt!" „Das kann es allein nicht sein."
„Das Leben ist beschissen, wenn du arbeitest, und es ist beschissen, wenn du nicht arbeitest, also lass das Arbeiten sein!"
„Wie lange soll der Dreck noch so laufen? Ich habe nie gewusst, dass ein Tag so lang ist!"
Zwei Streikende, ein Bohrer und ein Schlosser, saßen auf den hohen Böcken an der Theke.
„Die meisten wühlen wie die Maulwürfe in ihren Schrebergärten. Verrückte Bagage!"
„Der Boldt hilft schon den dritten Tag seiner Ollen beim Großreinemachen. Der muss büßen."
„Hohohohoho!" brüllten die beiden los, dass die Gläser auf dem Schanktisch hüpften.
„Die da spielen schon den ganzen Morgen Skat!"
„Wie hoch?"
„Drei Streichhölzer! Anschreiben!" Und wieder brüllten die beiden und prusteten vor Lachen. Nach einer Weile fragte der eine: „Kannst du mir 'n Taler pumpen?"
„Du bist wohl wahnsinnig!"
„Auf sechsundfünfzig Pfennig bin ich abgebrannt!" Der hagere Schmied und sein Berufsnachbar Hennings traten in die Gaststube.
„Verdammt ekelhaftes Wetter! Überall lauert die Grippe. Die einzige Arznei ist Rum!"
„Mir sitzt das Wetter in allen Gliedern!"
„Zwei Grogs! Nicht zu wenig Rum!"
„Hallo, guten Tag!"
„Guten Tag!"
„Immer noch fidel?"
„Unser Streik ist der reinste Hungerstreik. Nichts zu fressen!"
„Das geht uns ja allen so!" erwiderte der dürre Schmied. „Da musst du eben um so mehr trinken!" sagte er lachend.
„Ich glaube, du bildest dir noch ein, du wärst der Schuldige?"
„Es geht mir auch mächtig an die Nieren!" Sie probierten beide ihren Grog.
„Wer lässt sich schließlich wehrlos niederknallen? Ich nicht!" brüllte plötzlich Hennings.
„Nun sei doch ruhig!" herrschte ihn der Hagere an.
„Schuss kriegen und auf der Stelle weg sein. Glänzende Sache!" mischte sich der Montageschlosser ins Gespräch. „Aber verwundet werden, Schmerzen, Bein ab, Arm ab oder gar gelähmt oder blind - huh, das ist ekelhaft!"
„Das ist alles noch gar nicht so schlimm, aber verhaftet und dann im Polizeikeller verprügelt werden", begann nun auch noch der Bohrer. „Damals, neunzehnhundertdreiundzwanzig - die haben uns geprügelt noch und noch. Mit Kolben, Revolvern, Stangen, Knüppeln - und wenn du am Boden lagst, mit den schweren Kommissstiefeln ins Kreuz, in den Leib, in die Fresse. Das ist viel schlimmer. Sadistische Bestien gibt es unter den Grünen. Wir haben sie um standrechtliche Erschießung angebettelt, denn diese Misshandlungen waren unerträglich!"
„Du lebst ja noch!" grinste der Schmied.
„Mich kriegen sie nicht ein zweites Mal. Lieber Kopfschuss als so etwas noch einmal!"
„Mensch, ich Rindvieh - ich dachte, das As wäre schon weg. So 'n Massel!" fluchte ärgerlich einer der Skatspieler.
„Polizei-ei!" schrie einer. Jeder blieb wie angewurzelt an seinem Platz. Der Schmied Hennings war der einzige, der gelassen sein Grogglas nahm und es bis auf den letzten Tropfen leerte.
Etwa zehn Sipos drangen in die Wirtschaft. Draußen postierten sich weitere, das konnte man von der Theke aus durch die Gardinen sehen.
„Keiner verlässt das Lokal!" schnarrte die Stimme eines gestriegelten und geschniegelten Offiziers.
„Wo tagt die Streikleitung?" Keiner der Arbeiter antwortete. Der Schmied Hennings bestellte sich noch einen Grog.
„Da drinnen!" wies der Wirt. Zwei Sipos blieben in der Gastwirtschaft am Eingang stehen. Der Offizier riss die kleine Klubzimmertür auf.
„Die Streikleitung der Belegschaft von N. & K. ist verhaftet!"
Der Hobler bewahrte eine bewundernswerte Ruhe. „Auf wessen Anordnung?" fragte er. „Machen Sie keine Umstände. Hier ist der Haftbefehl!"
Der Hobler warf einen flüchtigen Blick hinein. „Schön!" lächelte er dann. „Ich bin Vorsitzender der Streikleitung. Weiter gehören ihr an dieser und jener Kollege!" „Es sollen vier sein!"
„Der vierte ist der Tischler Ahrnfeld, aber der wurde ja gestern von Ihnen erschossen!"
„Dann ersuche ich Sie und Ihre beiden Kollegen, mir zu folgen!"
Der Offizier ging als erster. Der Hobler warf Melmster noch einen Blick zu, der völlig verstanden wurde, dann folgte er und ebenfalls der junge Schlosser und der Dreher mit der gespaltenen Nase. Der alte Dreher Dresen blieb durch des Hoblers Geistesgegenwart von der Verhaftung verschont.
„Ausharren!" rief der Hobler, als sie durch die Gaststube schritten.
Ein zustimmendes Knurren war die Antwort.
„Sie haben still zu sein!" keifte der Offizier, und bevor er die Gaststube verließ, wandte er sich plötzlich an den ihm am nächsten sitzenden Arbeiter.
„Kennen Sie den Schmied Hermann Hennings?"
„Jawohl!"
„Wissen Sie, wo er ist?" „Nein!"
Der Offizier ließ noch einmal seinen Blick über alle Anwesenden schweifen, drehte sich dann kurz um und ging hinaus.
Draußen hatten sich bereits zahlreiche Neugierige angesammelt. Unter knallendem Auspufflärm fuhr das Überfallauto davon.
Melmster handelte sofort. Eine neue provisorische Streikleitung wurde gebildet. Der alte Dresen blieb drin, der hagere Schmied wurde herangezogen. Melmster übernahm vorerst die Leitung. Ein junger Schlosser, der sein Fahrrad draußen stehen hatte, wurde sofort von Melmster zur Kommunistischen Partei und Presse geschickt. Für morgen Vormittag wurde eine allgemeine Belegschaftsversammlung angesetzt.
Inzwischen verschwand der Schmied Hennings unauffällig.
Am Nachmittag bekam die Streikleitung einen überraschenden Besuch:
Bleckmann!
Als er eintrat, sagte er kein Wort, selbst der Gruß blieb ihm anscheinend im Halse stecken. Er ging langsam auf Melmster zu.
„Ich möchte mich als Streikender eintragen lassen!"
„Du kommst reichlich spät, Bleckmann!"
„Was zuviel ist, ist zuviel. Ich möchte nicht mit einem Betriebsspitzel identifiziert werden!"
„Das ist anständig von dir!" Melmster reichte ihm die Hand.

 

Die Reichsbannerkolonne.

Die Betriebsleitung der Maschinenfabrik von N. & K. hatte wiederholt mit dem Vorstand des freigewerkschaftlichen Metallarbeiterverbandes Fühlung aufgenommen, um gemeinsam Mittel und Wege zu finden, den Streik der Belegschaft beziehungsweise die Aussperrung der Firma zu liquidieren. Riesenhafte Konventionalstrafen drohten, und der Unternehmerverband machte die Gewerkschaft als Vertragskontrahenten beim Tarifabschluss der beiden Verbände für den Streik moralisch verantwortlich. Die Gewerkschaften wieder schreckten vor keinem Mittel zurück, um den Streik so schnell wie möglich abzuwürgen. Sie veranlassten die polizeiliche Besetzung des Betriebes, sie organisierten den - allerdings bislang vereitelten - Streikbruch, sie forderten und erreichten die Verhaftung der Streikleitung, sie waren unermüdlich am Werk, den Streik, auf dessen Führung sie keinen Einfluss hatten, zu zerschlagen.
Heimlich warben die Vertrauensleute der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie auf dem Arbeitsnachweis der Metallarbeiter unter den erwerbslosen Reichsbannermitgliedern Streikbrecher. Jeder Erwerbslose mit dem Firmenschild der Republik an der Mütze wurde, wenn er Dreher, Schlosser, Schmied oder Schweißer war, angehalten und bearbeitet. Es gab manchen, der trotz allen Zuredens derartige Schurkereien glatt ablehnte, es gab aber auch viele, denen jede Gelegenheit recht war, wieder zu Arbeit zu kommen, und in deren Augen jeder Streik, wenn er nicht vom Verband organisiert und geführt wurde, ein Verbrechen war, das man bekämpfen musste.
So hatten die Gewerkschaftsinstanzen für den entscheidenden Schlag, den sie gemeinsam mit der Firma gegen die streikende Belegschaft planten, alles im geheimen vorbereitet.
Am Tag nach der Verhaftung der Streikleitung führten die Gewerkschaften ihren planmäßig organisierten Streikbruch durch. In aller Stille wurde die Polizeibesetzung der Fabrik verstärkt und rund um das Werk eine Postenkette gezogen, die strikte Anweisung hatten, rücksichtslos gegen Ansammlungen streikender Arbeiter vorzugehen.
Am nächsten Morgen waren sämtliche Zugangsstraßen zur
Fabrik polizeilich besetzt. Unmittelbar vor dem Fabriktor standen zwei Ketten Sipo, die ihre Gewehre schussbereit im Arm trugen.
Kurz vor sieben Uhr kamen dann einzeln die angeworbenen Streikbrecher und betrachteten erstaunt den kriegerischen Schutz vor der Fabrik.
„Sollen wir etwa unter polizeilichem Schutz arbeiten?" rief plötzlich einer im Umkleideraum. „Wer ist hier der Betriebsratsobmann?"
Alle horchten gespannt auf.
„Hier!" rief Kühne und reckte sich auf, denn er wechselte gerade sein Schuhzeug.
„Das hat man uns nicht gesagt, dass die Fabrik von Polizei besetzt ist!" wandte sich der Arbeiter an ihn. „Was hat das zu bedeuten?"
„Kollege, hast du denn keine Zeitung gelesen?"
„Nein."
„Gestern haben doch einige Kommunisten auf uns geschossen und einen Jungarbeiter getötet!" Kühne suchte in seiner Rocktasche nach der Zeitung.
„Wir müssen uns doch gegen diesen Terror schützen!" rief einer aus der Ecke.
„Das mit der Polizei ist schließlich nur heute!" meinte ein anderer.
„Davon weiß ich gar nichts", erwiderte nun der Arbeiter, der die Frage gestellt hatte, etwas verlegen. „Immerhin - eine verflucht dreckige Geschichte. Ich arbeite nicht gern unter Polizeiaufsicht."
„Sieht ja auch dumm aus", meinte nun auch Kühne, „aber muss sein!"
Ein Gemurmel war die Antwort, und das dumpfe Schweigen, das sich dann über die Streikbrecher legte, wurde nur durch die schrille Stimme des alten Platzarbeiters unterbrochen, der den neueingestellten Arbeitern Plätze und Kleiderhaken anwies, wo sie sich umziehen und ihre Kleider lassen konnten.
Noch hing die Mehrzahl der „Blutplakate" an den Mauern der Fabrik, noch war der ermordete Tischler nicht bestattet, noch stand die übergroße Mehrzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter von N. & K. im Streik, als etwa siebzig Arbeiter der Belegschaft, meistens Tischler - die noch immer sich selber einredeten, mit dem Streik nichts zu tun zu haben -, und zirka hundert auf dem Arbeitsnachweis angeworbene erwerbslose Reichsbannerarbeiter unter dem Schutz der Polizei die Arbeit im Betrieb wieder aufnahmen.
Als am Morgen um sieben Uhr die Fabriksirene heulte, ratterten seit langem wieder die Transmissionen durch die Maschinenhalle, kreischten die Sägen und pfiffen die elektrischen Blasebälge.

 

Nieder mit den Streikbrechern und Arbeitermördern!

Das war ein fortwährendes Kommen und Gehen. In und vor dem Lokal von Horning stauten sich die streikenden Arbeiter. Zahlreiche Fahrräder standen am Straßenrand. Auf der anderen Seite patrouillierten zwei Sipos, die das Lokal beobachteten.
Melmster trug jetzt die ganze Last der Streikleitung. Er organisierte den Kurierdienst, er hielt die Verbindung mit der Gewerkschaftsabteilung der Partei aufrecht, er musste auf Hunderte Fragen, Pläne und Vorschläge der Kollegen Antwort geben, er musste in der bevorstehenden Belegschaftsversammlung einen zusammenfassenden Bericht über den Streik und die gegenwärtige Situation geben. Melmster war von morgens bis abends im Klubzimmer des Streiklokals und hinterher auf den Sitzungen und Zusammenkünften der Partei tätig.
Dabei war die Streiklage hoffnungslos. Unternehmer, Gewerkschaft und Polizei bildeten eine einheitliche Front gegen die dreihundert streikenden Arbeiter. Die übrigen Metallbetriebe waren nicht zum Streik zu bewegen. Einige Unternehmer hatten raffiniert - „zur Beruhigung" - minimale Lohnerhöhungen bewilligt, in anderen Betrieben war der Einfluss der Reformisten noch zu groß.
Melmster dachte an das gemeine Grinsen Olbrachts, an Kühnes selbstbewusst gravitätische Schritte - eine Wut, eine unbändige Wut packte ihn. Diese Leute würden triumphieren, würden von der Unfähigkeit der Kommunisten, einen Streik erfolgreich zu Ende zu führen, schwafeln, würden weiter zu jedem Diktat der Betriebsleitung eine tiefe Verbeugung machen und weiter unliebsame, revolutionäre Arbeiter diffamieren. -
Der Wirt Karl Horning kam selbst ins Klubzimmer und überreichte Melmster einen Brief, der an seine Adresse gerichtet war. Staunend öffnete ihn Melmster. Er war von Dora Timm. Melmster las:

Lieber Alfred!
Da ich ja mit Hans keine Verbindung mehr haben kann, wende ich mich an Sie und teile Ihnen nun folgendes mit: Es besteht ein Abkommen zwischen der Firma und der Gewerkschaft, den Betrieb unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Polizei soll fürs erste in der Fabrik bleiben. Zweihundertvierzehn Arbeiter erhalten heute mit der Post ihre Entlassungspapiere. Außer den bereits Arbeitenden erhalten noch zirka neunzig Arbeiter die Aufforderung, die Arbeit am Freitag wieder aufzunehmen oder sich die Entlassungspapiere abzuholen. Sie sind leider nicht unter den Wiedereingestellten.

Gruß Dora!

Vernichten Sie diesen Brief sofort.

Famose Deern, dachte Melmster, als er zum Erstaunen aller anwesenden Kollegen den Brief verbrannte. Dann setzte er sich hin und schrieb an die Gewerkschaftsabteilung der Partei.
Seine Vorschläge waren: Abbruch des Streiks. - Weiteres revolutionäres Arbeiten im Betrieb. - Die neunzig Arbeiter, die wieder eingestellt würden, sollten die Arbeit wieder aufnehmen. - Die Ursachen und Erfahrungen dieses Streiks in den übrigen Betrieben der Metallindustrie behandeln. - Auf breiterer Grundlage neue Kämpfe vorbereiten.
Kaum war ein Kollege mit den Vorschlägen Melmsters
zur Parteileitung gefahren, um dann deren Meinung zurückzubringen, als vor dem Lokal eine lebhafte Bewegung entstand. Alles lief aus dem Lokal auf die Straße...
Ein geschlossener Trupp Arbeiter marschierte die Straße herauf. Man hörte den Gesang eines revolutionären Liedes.
„Die Erwerbslosen!" kam der Rotkopf ins Klubzimmer gestürzt. „Die wollen uns unterstützen!"
„Wie viele sind es?" fragte Melmster.
„Oh, sicher über vierhundert!" Bei einer Kohlenhandlung mitten auf der Straße sprach ein Arbeiter zu der Masse. Melmster konnte von der Gastwirtschaft aus einige Sätze des Redners verstehen.
„Wir lassen uns nicht dazu missbrauchen, unseren kämpfenden Kollegen in den Rücken zu fallen... Erwerbslose Reichsbannerarbeiter wurden durch die Bürokratie zum Streikbruch angehalten... Heute haben eine Anzahl dieser Auch-Arbeiter in der Maschinenfabrik N. & K. zu arbeiten angefangen, trotzdem seit fünfzehn Tagen die Belegschaft im Streik steht... Dieser Streich der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie und das schuftige Verhalten einiger gesinnungsloser oder betrogener Erwerbsloser fällt auf uns alle zurück!"
„Sehr richtig!" riefen einige.
„Wir wollen den streikenden Arbeitern von N. & K. zeigen, dass wir ihnen nicht in den Rücken fallen, sondern sie in ihrem Kampf gegen das Unternehmertum unterstützen!"
„Bravo! Bravo!"
„Und wir wollen den Streikbrechern zeigen, zu welchen schuftigen Handlungen sie sich durch eine korrupte Gewerkschaftsbürokratie missbrauchen lassen. Nieder mit den Streikbrechern und Arbeitermördern!"
„Nieder! Nieder! Nieder!" brüllte es aus Hunderten von Arbeiterkehlen.
Die Straße war jetzt schwarz voll Menschen, und plötzlich kam eine Unruhe über sie.
„Sipo! Sipo!" wurde geschrieen. Einige liefen in die Treppenhäuser.
Über die ganze Breite der Straße nahte eine Sipokette, den Sturmriemen unterm Kinn. „Stra-aße - frei!"
Alles lief durcheinander, einige stolperten und stürzten. Nieder-Rufe wurden ausgebracht. Eine Frau fiel in Schreikrämpfe.
Einige Erwerbslose gingen furchdos mit ausgebreiteten Armen der Sipo entgegen und riefen: „Wir haben Hunger! Huu-unger! - Schießt doch!"
Mit Gummiknüppeln schlugen die Sipos auf sie ein, bis sie blutend zu Boden stürzten.
Die ganze Straße wurde geräumt. Hinter der ersten Sipokette nahte eine zweite, die prügelte die in die Treppenhäuser und Terrassen geflüchteten Arbeiter heraus. In den Nebenstraßen sammelten sich die Arbeiter wieder. Ununterbrochen ertönten Nieder-Rufe auf die Polizeibestialitäten. Der gesamte Verkehr stockte. Immer mehr Menschen sammelten sich an. Ein Trupp Erwerbsloser war in großem Bogen zur entgegengesetzten Seite des Stadtviertels gezogen und hatte dicht vor der Fabrik im Sprechchor Nieder-Rufe auf den Streikbruch ausgebracht. Die Einwohner des ganzen Stadtteils gerieten über das brutale Verhalten der Polizei in Erregung. Überall sammelten sich Arbeiter an, die über den Streik, den Streikbruch und die Aktion der Erwerbslosen diskutierten. Nach einiger Zeit kam der Kurier mit der Antwort der Parteileitung zu Melmster zurück. Nach dem Vorschlag, der Situation entsprechend zu handeln, lautete die Antwort. - Für heute war an eine Versammlung nicht zu denken. Sie wurde auf den kommenden Tag verschoben.
Am Nachmittag waren sämtliche um die Fabrik liegenden Straßen polizeilich überwacht. In zwei Autobussen, die die Hoch- und Straßenbahn AG auf Veranlassung des reformistischen Metallarbeiterverbandes den Streikbrechern zur Verfügung stellte, fuhren diese unter Polizeiaufsicht in ihre Wohnbezirke.

 

Aufgeschoben — aber nicht aufgehoben!

Eine gespannte Erwartung lag über den Arbeitern, die dichtgedrängt im großen Saal bei Horning den Ausführungen Melmsters lauschten. Der Kampf der dreihundert hatte die größte Steigerung erreicht, hatte Zusammenstöße mit der Polizei und einen Toten gekostet. Was war jetzt zu tun?
Melmster stand am Vorstandstisch und zeigte in seiner klaren, ruhigen Art die Ursachen des Streiks, das elende Verhalten der Gewerkschaftsbürokratie auf und enthüllte die Hintergründe des Polizeiterrors.
Es war eine unruhige und aufgeregte Versammlung. Zahlreiche Zwischenrufe wurden gemacht. Einige wollten auf die Straße und nicht in einer Versammlung die kostbare Zeit vertrödeln. Andere wollten eine Verprügelung aller Streikbrecher organisieren. Oft schrie alles erregt durcheinander.
Wenn sich die Stürme der Entrüstung gelegt hatten, fuhr Melmster in seinem Bericht fort. Eingehend zeigte er den Arbeitern anhand der erlebten Beispiele die politische Rolle der Reformisten und der Gewerkschaftsbürokratie und erklärte die Motive ihrer Handlungen aus ihrer Schicksalsverbundenheit mit der bürgerlichen Gesellschaft. Am Schluss seiner Ausführungen machte er die Versammlung mit den Dingen bekannt, die ihm Dora Timm geschrieben hatte.
„Ich habe Nachricht bekommen", sprach er unter atemloser Stille, „dass die Betriebsleitung im Einvernehmen mit der Gewerkschaftsbürokratie und der von einem Sozialdemokraten geleiteten Polizeibehörde unter allen Umständen den Betrieb aufrechterhalten will. Dies ,unter allen Umständen' ist für unsere Klassenfeinde ein blutiger Begriff. ,Unter allen Umständen' heißt nicht nur polizeiliche Unterdrückung und Einkerkerung, sondern blutige Niederschlagung der kämpfenden Arbeiter mit allen Mitteln!"
„Die Bluthunde!" kreischte einer mit entsetzlich greller Stimme, dass es jedem durch und durch ging. Die Ruhe im Saal wurde hinterher noch unheimlicher.
„Noch ist der Zeitpunkt nicht erreicht", rief Melmster jetzt mit erhobener Stimme, „wo wir Arbeiter auf allen Fronten zum revolutionären Angriff auf die kapitalistische Klassenherrschaft losstürmen. Aber der Zeitpunkt wird kommen, der Zeitpunkt muss kommen, und jeder Kollege, der nicht das Ende des alten John nehmen will, der dieses unerträgliche Dasein für sich und seine Kinder nicht verewigen helfen will, muss kämpfen mit allen revolutionären Arbeitern in einer Klassenfront. Das ist die Lehre dieses Streiks, das ist seine Mahnung an jeden Arbeiter hier im Saal, ob er nun Mitglied der Kommunistischen Partei, parteilos oder Mitglied der Sozialdemokratie ist!"
Eine flüsternde Unruhe ging durch den Saal, als Melmster endete.
Ein Platzarbeiter erhob sich und bat ums Wort. Er sprach über Sowjetrussland und die Hetze gegen diesen ersten Staat der werktätigen Klasse. Dann las er aus einer bürgerlichen Zeitschrift Zahlen über den Lebensstandard der dortigen Arbeiter vor.
„Wir haben noch viel einzuholen, wenn wir an die Leistungen und Erfolge der russischen Arbeitsbrüder herankommen wollen!" schloss er.
Abschließend nahm Melmster noch einmal das Wort.
„Die Streikleitung hat Mitteilung erhalten, dass die Betriebsleitung nur zirka neunzig Kollegen wieder einstellen will und den übrigen die Entlassungspapiere zuschicken wird. Diejenigen nun, die eine Aufforderung bekommen, die Arbeit wieder aufzunehmen, müssen dies tun. Sie haben aber die Pflicht, die revolutionäre Arbeit im Betrieb weiterzuführen. Auch der ,Rote Greifer' muss weiter erscheinen. Kollegen, sechzehn Tage gegen den Dreimächteblock Unternehmertum - Reformismus - Polizei zu kämpfen und tagelang den organisierten Streikbruch zu verhindern ist eine unvergleichliche Leistung. Es ist uns gelungen, während des Kampfes die Reformisten im Betrieb gründlich zu entlarven und einem gemeingefährlichen Betriebsspitzel das schmutzige Handwerk zu legen. Zahlreiche Arbeiter sind, angeekelt von der niederträchtigen,  verräterischen  Politik  der Kühne,
Schmachel und Fahs und der reformistischen Metallarbeiterbürokratie, in die Front des Klassenkampfes gestoßen und haben sich der RGO angeschlossen. Von den dreihundert streikenden Kollegen hat jeder einzelne seine volle Pflicht getan. Nach dem Streik wird die revolutionäre Arbeit im Betrieb nicht aufhören. Die Streikleitung hat bereits diesbezügliche Zusicherung erhalten.
Auch nach der Niederdrückung unseres Kampfes durch die ungeheure Übermacht muss jeder Kollege seine revolutionäre Pflicht auf einem anderen Frontabschnitt im Klassenkampf weiter erfüllen. Todfeindschaft der Barbarei der kapitalistischen Klassenherrschaft! Todfeindschaft der arbeiterfeindlichen reformistischen Bürokratie! Es lebe der Kampf um die Herrschaft der Arbeiterklasse und den Sieg des Sozialismus!"
Brausend stimmten die Arbeiter Melmster zu. Wie ein Mann erhob sich die Versammlung.
Mit lauter Stimme rief Melmster in den Saal: „Dann erkläre ich im Auftrag der Streikleitung den Streik der Belegschaft der Maschinenfabrik von N. & K. für beendet!"

 

Die Jugend greift ein.

Melmster, Dresen, der Rotkopf und noch einige Arbeiter kamen von der Bestattung des „Gottsuchers" und begegneten auf dem Friedhof dem Dreher Bleckmann.
„Ich habe mich leider verspätet!" bedauerte er bei der Begrüßung. „Wo liegt Ahrnfeld?"
„Du musst hier in den linken Seitenweg einbiegen. Etwas weiter unten findest du die frisch aufgeworfenen Gräber!" erklärte eilfertig der Rotkopf.
„Hör mal, Melmster!" Bleckmann nahm Melmster zur Seite. „Ich glaube, mich werden sie wieder einstellen. Soll ich die Arbeiter wieder aufnehmen?"
„Selbstverständlich, Bleckmann!"
„Wird das ratsam sein?"
„Ich weiß, du hast auf den Meisterposten reflektiert. Wenn du das noch nicht aufgegeben hast, musst du allerdings dem Betriebsleiter süß zulächeln!"
„Verlass dich drauf, ich bin kein Schuft!" Melmster schwieg und sann vor sich hin.
„Du glaubst mir nicht?" fragte Bleckmann nach einer Weile Schweigen.
„Doch!" riss sich Melmster aus seinen Sinnen. „Natürlich, Bleckmann."
Dann verabschiedeten sie sich. „Was wollte er?" fragte der alte Dresen. „Ihn zwickt das Gewissen." „Also hat er wenigstens noch eins!"
„Stimmt das, Alfred, wir haben gestern sechzehn Neuaufnahmen gemacht?"
„Ja - und einundzwanzig Aufnahmen für die IAH!"
„Das ist ja großartig!" rief der Rotkopf. „Ist der Bohrer Kahlberg unter den Eingetretenen?"
„Ich glaube!"
„Siehst du! Haha! Das ist doch der, den ich dauernd bearbeitet habe!" triumphierte selbstgefällig der Rotkopf.
Atemlos kam Fritz Baldow, der Tischlerlehrling, hinter ihnen hergerannt.
„Wie kommst denn du hierher?"
„Ich bin - von der - anderen Seite - gekommen", pustete der Blondkopf, „und traf Bleckmann. Dann bin ich euch nachgerannt."
„Aber, ich denke, du arbeitest?"
„Nee, ick schwänze!"
„Was meinst du, Melmster, wie lange werden sie die drei noch festhalten?"
„Sie werden sicher morgen, spätestens übermorgen freikommen."
„Zwei erwerbslose Arbeiter haben sie gestern auch noch verhaftet!"
„Die Hunde hausen wie in den Revolutionstagen!" „Besonders einer war da", fiel der Rotkopf dazwischen, „mit einem aufgedunsenen Gesicht und einem Pickel über der Nase, der schlug wie verrückt drauflos. Den hab ich mir gemerkt!"
Melmster lachte. „Lass ihn leben, Kurt!"
„Man weiß nicht, wie das mal kommen kann!" entgegnete der Rotkopf ernsthaft.
„Ich möchte wissen, wen sie sich unter uns heraussortieren!"
„Uns beide gewiss nicht, Dresen!"
„Hoffentlich kommen aber wieder einige Genossen hinein!"
„Auf jeden Fall wird die Agitation im Betrieb nicht lahm gelegt werden können!" erwiderte Melmster. „Bist du dessen so sicher?" „Absolut sicher!"
Melmster streifte mit einem Blick Fritz, der neben ihm ging, den Blick auffing und dabei vielsagend ein Auge zukniff.
Vor dem Friedhofsportal trennten sie sich, und Melmster ging mit dem Tischlerlehrling zu Fuß in die Stadt.
„Fritz, übermorgen muss ein neuer ,Greifer' verteilt werden!"
„Ja!"
„Ich werde soweit alles fertigstellen, und dann müssen wir sehen, dass wir in jeder Halle einen Genossen ausfindig machen. Unter den neunzig Kollegen, die dann angefangen haben, werden wir sie wohl finden!"
„Ja!"
„Vor dem Fabrikeingang verteilen ist natürlich fürs erste unmöglich. Es müssen also mehrere Genossen die Betriebszeitung in den Betrieb schmuggeln und sie irgendwie vorsichtig verteilen!"
„Ja!"
„Vielleicht in der Mittagspause heimlich unter die Schränke stecken oder sie ganz frühmorgens auf die Arbeitsplätze legen. Ein paar kann man auch auf der Latrine liegenlassen!"
„Ja!"
„Aber vorsichtig!" „Ja!"
„Du wirst nun künftig mit einigen erst jetzt in die Partei eingetretenen Genossen die Zeitung selber machen müssen."
Fritz sagte nicht „Ja", aber seine hellen Augen waren eine viel deutlichere Zustimmung.
„Du wirst es schon können!" lachte Melmster und packte ihn an den Schultern.

 

Zuchthäusler oder Fürsorgezöglinge?

Scheinbar völlig ungestört begann in den nächsten Tagen die Arbeit in der Fabrik wieder. Auch in den Straßen war wieder Ruhe. Kaum waren noch Spuren der letzten Kämpfe und Zusammenstöße zu sehen. Die Polizei hatte sich zurückgezogen, lediglich zwei Sipos patrouillierten in der Nähe der Fabrik und beobachteten den Fabrikeingang.
Nur siebenundneunzig von den über dreihundert streikenden Arbeitern waren wieder eingestellt. Wortkarg und voller Verachtung für die streikbrecherischen Neulinge standen die meisten an ihrem Arbeitsplatz.
In der Fabrik aber herrschte seit dem Streik der größte Wirrwarr. Die Meister fluchten und rauften sich die Haare. Die Mehrzahl der eingearbeiteten Arbeiter war mit der Zeit schon auf der Strecke geblieben. Mit diesen neuen, teilweise auch direkt unfähigen Arbeitern mussten sie sich behelfen. Die Arbeit ging überhaupt nicht vorwärts, und die vermurksten Ausschüsse häuften sich. Von vorn musste angefangen werden, denn die Neuen kamen nicht annähernd mit der Zeit aus, in der die eingearbeiteten und mit allen Kniffen vertrauten Arbeiter die Arbeit fertig gestellt hatten.
Ernstlich wurden diese Dinge in der Meisterbude besprochen.
„Das ist ganz ausgeschlossen, dass das noch lange so weitergehen kann. Was nützt uns nun die Rationalisierung? Wir schaffen nicht die Hälfte von dem, was vor dem Streik geschafft wurde!"
„Ein gewisser Rückgang der Produktion war in der ersten
Zeit ja zu erwarten. Aber ich gestehe, das hier übertrifft alle Befürchtungen!"
„Ich gehe noch auseinander vor Wut", ereiferte sich Meister Westmann, „wenn ich dies unfähige Volk bei der Arbeit sehe!"
„Es wird ja nur für einige Tage sein", beschwichtigte ihn der Oberkalkulator, „wenn sich alles beruhigt hat, sortieren wir; was wir dann nicht brauchen können, fliegt, und wir suchen uns brauchbareres Material. Es laufen genug Dreher herum!"
„Aber wissen Sie denn, wie diese Leute gesinnt sind? Es dauert nicht lange, und wir haben wieder den Bau voll Bolschewiki!"
Der Oberkalkulator zuckte mit den Schultern. „Ihre ganze Reinigungsaktion war für die Katz!" „Das ist nun wohl mal so! Nur müssen wir aufpassen, dass es nicht wieder so hart hergeht!"
Bleckmann arbeitete wieder an seiner riesigen Karusselldrehbank.
„Was sagen Sie nun?" wandte er sich an Meister Westmann, als dieser an seiner Bank vorbeikam. „Ein neuer ,Roter Greifer'!"
Meister Westmann starrte ihn wie abwesend an. „Wa-aas?"
„Ein neuer ,Roter Greifer'!" lachte Bleckmann und zeigte ihm die neue Betriebszeitung. „Würden Sie mir die ausleihen?" „Natürlich!"
„Die muss ich doch gleich mal denen da vorn unter die Nase reiben!"
Er tippelte erregt und schnurstracks ins Büro.
Überall tauchte der „Rote Greifer" auf. Im Umkleideraum wurden in der Mittagspause einige gefunden, auf der Latrine, an den Arbeitstischen, unter den Dreh- und Hobelbänken lagen etliche. Es dauerte nicht lange, und die gefundenen Exemplare wanderten von Hand zu Hand.
Die am Streik beteiligten Kollegen lasen ihn mit triumphierenden Gesichtern, die Reichsbannermitglieder studierten ihn mehr aus Neugierde, aber die alten Arbeiterratsmitglieder waren erst wie versteinert und tobten dann im Betrieb umher.
Kühne, der nach Erdrosselung des Streiks im Betrieb einherschritt, als war ihm alles Untertan, verlor seine ganze Haltung. Der Dreher Schmachel fluchte laut in die Welt, trotzdem weit und breit nur er allein an der Drehbank stand.
Olbracht aber, der von jedem, sogar von den meisten Reichsbannerarbeitern, gemieden wurde und der noch als Erinnerung an seine Schuftigkeit ein langes Pflaster im Gesicht hatte, wurde käsig im Gesicht, als er vom Wiedererscheinen des „Greifers" hörte. Er wusste, warum.
In allen Ecken der Fabrik tuschelten nun die Arbeiter über den „Greifer". „Organisierter Streikbruch" stand in fetten Lettern unter dem Kopf der Betriebszeitung. „Die Mörder des Kollegen Ahrnfeld" hieß eine weitere Überschrift.
Jeder las über die Ursachen des Streiks, von der Einheitsfront der Unternehmer, Gewerkschaftsbürokratie und Polizei gegen die Streikenden. Der Polizeimord an dem Tischler wurde geschildert, und die streikbruchbereiten ehemaligen Arbeiterräte wurden dafür verantwortlich gemacht.
„Die Mitglieder des Reichsbanners, die als Streikbrecher herbeigeholt wurden, sind betrogen worden!" hieß es im „Greifer". „Sie wurden mit erlogenen Gründen zum Streikbruch angehalten. Sicher gibt es auch unter den Arbeitern im Reichsbanner viele, die, wenn sie gewusst hätten, warum sie geholt wurden, sich nicht gegen ihre Arbeitskollegen im Interesse des Unternehmertums hätten missbrauchen lassen."
Einige Reichsbannerarbeiter lasen diesen Artikel immer und immer wieder.
„Der Betriebsspitzel Olbracht" hieß ein weiterer Artikel im „Greifer". Klar und eindeutig wurde dessen Denunziantentum an den Pranger gestellt, und die Kollegen wurden aufgefordert, derartige Kreaturen aus dem Betrieb hinauszujagen.
Ganz groß stand auf der letzten Seite: „Der ,Rote Greifer' wird nach wie vor alle vierzehn Tage erscheinen!"
Während das Blatt von vorn bis hinten durchgeschnüffelt wurde, tauchte bei allen die Frage auf: Woher kommt die Zeitung? - Einige grübelten - andere lachten sich ins Fäustchen. Am gleichgültigsten taten der Tischlerlehrling Fritz und der junge Schlosser Wittig, die seit Abbruch des Streiks Mitglied der kommunistischen Zelle im Betrieb geworden waren.
Am aufgeregtesten aber waren die Mitglieder des alten Arbeiterrats. Sie tobten im Betrieb umher. Kühne ging durch die Maschinenhalle und Schmachel durch die Montagehalle, und beide sammelten die Betriebszeitungen ein.
Es gab Arbeiter, die sie ablieferten, aber bei den meisten wurden sie ausgelacht. Selbst viele Reichsbannermitglieder wehrten sich gegen diese Bevormundung. „Hast du auch eine Zeitung?" „Jawohl!"
„Also gib sie her!" flötete der Riese.
„Wie komm ich dazu!" erwiderte der Bohrer, ein Reichsbannerarbeiter, der sogar an seiner alten, fettigen Fabrikmütze eine schwarzrotgoldene Fahne trug.
„Warum willst du den Wisch behalten!" brauste Kühne auf.
„Sind wir hier Zuchthäusler oder Fürsorgezöglinge? Wir brauchen keinen Zensor. Wir können selbst beurteilen, was Lüge und was Wahrheit ist!"
„Ich bin kein Zensor, aber..."
„Dann wohl Altpapiersammler, was? Ich liefere nicht ab!" fiel ihm der Bohrer ins Wort.
Kühne versuchte fluchend sein Glück bei anderen.
Am Nachmittag aber vereinbarte er mit der Betriebsleitung, ohne dazu befugt zu sein, dass künftig jeder Kollege mit verdächtigem Gepäck beim Betreten der Fabrik untersucht würde. Diese Vereinbarung wurde von der Betriebsleitung in jeder Halle ans „Schwarze Brett" geschlagen. Gleichzeitig wurde die nächste Versammlung der freigewerkschaftlich organisierten Arbeiter bekannt gegeben, die aber nicht bei Horning, sondern innerhalb des Betriebes, im Frühstücksraum, stattfinden sollte.

 

Trotz alledem: Rote Liste.

Nach einigen Tagen wurde ein neuer Termin für die Wahl eines Arbeiterrats angesetzt. Kühne schmunzelte. Schmachel machte höhnische Bemerkungen über die RGO und erzählte den neueingestellten Reichsbannerarbeitern skrupellos von dem unerträglich gewesenen Terror der Handvoll Kommunisten, die ja nun glücklich hinausgeworfen worden seien.
„Nun herrscht wieder Ruhe in der Bude!" frohlockte er. „Wir jahrzehntelang organisierten Arbeiter wurden von diesen Rotzjungen wie Denunzianten und Unternehmeragenten behandelt!"
„Und Olbracht?" fragte skeptisch der Dreher mit dem Reichsbannerabzeichen an seiner ölschmierigen Mütze.
„Was weißt du von Olbracht?" fuhr ihn Schmachel an.
„Das, was du auch weißt!" kam keck die Antwort. Schmachel wurde puterrot im Gesicht. „Alles Lügen und Verleumdungen, die über ihn verbreitet wurden!" zischte er und ging wieder an seine Drehbank.
„Was ist denn mit Olbracht?" fragte einer der Dreher.
„Der hat kommunistische Kollegen der Betriebsleitung denunziert!"
„So 'n Schwein!" platzte der andere heraus. „Das war wohl ein Gelber?"
„Nein, er ist heute noch Sozialdemokrat!" antwortete ruhig der Dreher und kurbelte plan und horizontal zugleich eine Konusfläche an einen großen Gusseisernen Kegelbolzen.
Der Ex-Betriebsratsobmann fühlte sich wieder restlos als Herr der Lage. Eine Versammlung der freigewerkschaftlich organisierten Arbeiter hatte eine neue Arbeiterratsliste aufgestellt. Kühne, Schmachel und Fahs waren wieder auf ihr vertreten. Von einer Opposition war nichts mehr zu sehen. Die war allem Anschein nach gründlich ausgeräuchert.
Einiges Erstaunen erregte aber der Rücktritt Bleckmanns von der Liste.
Als der Vorschlag an das „Schwarze Brett" geheftet wurde, um dann nach Ablauf der gesetzlichen Frist als gewählt erklärt zu werden, huschte über das Gesicht des piepsenden Riesen ein zufriedenes Lächeln. Er fühlte sich als Sieger.
Um so größer war das Entsetzen, als später, knapp vor Ablauf der Frist, eine Gegenliste der RGO eingereicht wurde. Die reformistischen Betriebsfunktionäre liefen unruhig im Betrieb umher und bestürmten Kühne an der Anreißplatte mit Fragen. Mit geheuchelter Sicherheit gab er allen Auskunft und überschüttete die unsichtbare RGO mit Hohn und Spott.
Der Dreher Schmachel aber war wieder mal außer sich vor Wut. Fortan war er gegen jeden im Betrieb misstrauisch und schielte auch den Dreher, der ihm zur Seite stand, zweifelnd an, trotzdem er den Reichsadler an der Mütze trug.
„Das war also der Grund, warum du die Kandidatur auf unserer Liste abgelehnt hast?" Kühne stand mit forschenden Blicken vor Bleckmann.
„Natürlich!" erwiderte der und machte sich an der Planscheibe zu schaffen.
„Mensch, Bleckmann...!" drang Kühne auf ihn ein. „Was ist eigentlich der Anlass zu deiner plötzlichen...!"
„Der da gestanden hat!" schrie ihn plötzlich der Dreher an und zeigte zur großen Karusselldrehbank, an der der alte John gestanden hatte. „Und der dort!" zeigte er auf Olbracht, der ganz in seine Arbeit vertieft schien. „Und du und deinesgleichen, damit ihr es wisst! Und jetzt hau ab! Verschwinde!"
„Dein Name auf der RGO-Liste, du weißt hoffentlich, was das bedeutet!"
„Ja, ich weiß!" lächelte Bleckmann verächtlich. „Ich erspare dir oder deinem Genossen Olbracht das Denunzieren!"
Kühne stierte ihn mit seinen Kuhaugen wütend an. „Bilde dir bloß nicht ein, dass du gewählt wirst", murmelte er und ging.
Meister Westmann, der diesen Auftritt beobachtet hatte, trat an Bleckmann heran.
„Bleckmann, Sie machen sich unmöglich!"
„Nach allem, was vorgefallen ist, kann ich nicht anders, ich kann kein Freund von Denunzianten und Halunken sein!"
„Trotzdem wäre es klüger, wenn Sie schweigen würden!" Meister Westmann rückte näher.
„Wissen Sie was von Melmster und Dresen und dem Hobler?" flüsterte er.
„Nichts!" wehrte Bleckmann ab.
„Sie kommen nicht mit ihnen zusammen?"
„Nein! Die drei sind ja längst aus der Haft entlassen!" Meister Westmann nickte.
„Die lassen nicht locker... Die lassen sich durch nichts schrecken!... Diese Begeisterung! Diese Uneigennützigkeit! Diese Entschlossenheit...!"
Meister Westmann nickte immer noch und sann vor sich hin. „Die werden es schaffen! Das ist sicher!"
An diesem Tag fand abends in einer kleinen Gastwirtschaft die erste Zellenversammlung der neugegründeten kommunistischen Jugendbetriebszelle der Firma Negel & Kopp statt. Es war dem Jungkommunisten Fritz Baldow gelungen, drei weitere junge Arbeiter zu gewinnen, mit denen zusammen bildete er nun die neue Betriebszelle.
„Die wichtigste Arbeit, die vor uns steht, ist die Herstellung und Verteilung der Betriebszeitung", flüsterte Fritz, denn auch der Wirt sollte nicht wissen, um was es ging.
„Wir müssen aber außerordentlich vorsichtig arbeiten. Erwischt werden darf keiner! Wir sind jetzt die Basis für die weitere Arbeit im Betrieb! Wir haben nicht nur die Jungarbeiter im Betrieb zu bearbeiten, sondern müssen auch noch die ganze Parteiarbeit übernehmen und dahin arbeiten, dass bald wieder eine neue Betriebszelle geschaffen wird!"
„Wir werden's schon machen!" meinte ein kleiner Blondkopf, der an der Metallsäge arbeitete. Die andern nickten ihm zu.
Am Tage nach der Arbeiterratswahl stand in der sozialdemokratischen Tageszeitung folgende Notiz: Arbeiterratswahl in der Maschinenfabrik N. &• K.
Die gestrige Arbeiterratswahl bei Negel & Kopp wurde zu einem großen Erfolg der sozialdemokratischen Liste. Trotz monatelanger Wühlereien der Kommunisten, trotz Streikhetze und planmäßiger Überfälle auf langjährige Gewerkschaftsfunktionäre erhielt die sozialdemokratische Arbeiterratsliste 164 Stimmen. Die Liste der Kommunisten, die so genannte RGO, erhielt nur 53 Stimmen. Die Sozialdemokraten haben hiernach drei, die Kommunisten nur einen Vertreter im Arbeiterrat. Das Resultat zeigt wieder einmal, was für eine hoffnungslose Minderheit die Kommunisten in den Betrieben sind.
Bei N. & K. wirbelte diese Notiz ungeheuren Staub auf. Jeder einzelne wusste von den Kämpfen im Betrieb, wusste, dass alle oppositionellen und der Opposition verdächtigen Arbeiter entlassen worden waren, dass durch Denunziation, Polizei und organisierten Streikbruch der Reformisten der Betrieb kommunistenrein gemacht worden war.
Kühne wimmelte kaltschnäuzig die ihn bestürmenden Arbeiter ab. Er fühlte sich wieder ganz als Betriebsratsobmann. Schmachel aber, der hitzige, fauchte den Dreher mit der Reichsbannerkokarde unüberlegt an. „Du musst doch die politische Notwendigkeit solcher Dinge verstehen! Es steht doch nur drin, um andere Arbeiter zu warnen!"
„Aber es stimmt doch nicht!" erwiderte hartnäckig der Dreher.
„Das ist ja auch nicht für uns kleines Häuflein im Betrieb geschrieben, sondern für die vielen Tausende Arbeiter, die von den Kämpfen hier nichts wissen!"
„Sosoo!" quittierte der Dreher ironisch das unfreiwillige Geständnis.

 

„Es rettet uns kein höh'res Wesen".

Nach fünf Tagen wurden der Hobler und seine beiden Kollegen von der ersten Streikleitung aus der Haft entlassen.
Die ehemaligen Arbeiter von N. & K., die täglich mit der Entlassung der drei rechneten, hatten sich wie jeden Morgen, bevor sie in die Stadt zum Arbeitsnachweis gingen, bei Horning versammelt.
Unter größtem Hallo und Jubel wurden die drei empfangen. Jeder wollte seine letzten Groschen opfern, um ihnen ein Glas Bier zu spendieren. Der Hobler sah wohl etwas blass und mitgenommen aus, aber er lachte über das ganze Gesicht und schüttelte die vielen Hände, die sich ihm entgegenstreckten.
„Hier, Hans, lies mal das SPD-Blatt von gestern!" trat der hagere Schmied an den Hobler heran.
Der Hobler las das Geschreibsel, blieb aber ganz ruhig.
„Wat sagste nu?" fragte ihn der Schmied, der ihn aufmerksam beobachtet hatte.
„Kein Wort über den Polizeiterror, kein Wort über die Verhaftung der Streikleitung, kein Wort über die Massenentlassungen nach der Streikniederschlagung - an solchen Siegen werden sie zugrunde gehen."
„Aber das sind Demagogen, was?" Der Wirt Karl Horning, der immer mit den oppositionellen Arbeitern sympathisiert hatte, servierte den drei Entlassenen eine tüchtige Portion Bratkartoffeln mit Rührei.
Mitten in der Gastwirtschaft saßen nun die drei und futterten.
Rund um sie herum standen wie eine dichte Mauer die Arbeiter, die sich an dem gesunden Appetit der drei freuten.
„Man los!" rief der Hobler. „Hier können noch einige hungrige Mäuler anmustern!"
„Nee! - Nee! - Um Gottes willen! - Man bloß nicht!" riefen alle durcheinander und hoben abwehrend die Hände.
„Haut man ordentlich rein!" rief lachend der Schmied, und alle lachten mit, und allen knurrte ganz gottserbärmlich der Magen.
Nachdem die drei sich satt gegessen und die anderen sich hungrig gesehen hatten, zogen sie alle in die Stadt zum Stempeln. Der Hobler, der Dreher Harms und der dritte, der junge Schlosser Boldt, mussten sich nun auch auf dem Arbeitsamt anmelden.
„Unterstützung gibt's aber erst nach drei Wochen Karenzzeit!" erklärte ein Dreher den dreien. „Warum?" fragte Harms.
„Weil wir unsere Entlassung selbst verschuldet hätten, sagte mir so ein Dickwanst hinterm Schalter!"
„Genossen, jetzt heißt es aber unter den Erwerbslosen arbeiten. Im Erwerbslosen-Ausschuss sitzen auch nicht die Besten. Die politische Arbeit tut dort bitter Not!"
„Wie der redet!" lachte der Schmied. „Ist eben eine Stunde aus dem Gefängnis!"
Geschlossen verließen die Arbeiter das Lokal. Auf dem Bürgersteig musste alles vor ihnen Platz machen. Mit beinahe achtzig Mann zogen sie los.
„Platz dem Arbeiter!" rief der Schmied aufgebracht, als zwei wohlgenährte Bourgeois über den Fahrdamm ihnen ausbiegen mussten und sich empört von den ruppigen Arbeitern abwandten.
„Hans, wie war's denn im Kittchen?" rief einer laut über die Straße. Alles lachte. „Wo ist Hennings?" fragte der Hobler Melmster. „Der taucht für eine Weile nicht wieder auf!" „Das ist auch besser."
Um ins Innere der Stadt zu kommen, wo das Arbeitsamt war, mussten sie durch ein Villenviertel.
„Jetzt kommen wir ins Schlaraffenviertel!" rief einer der Arbeiter.
„Zu den Nichtstuern!"
„Zu den Ausbeutern!" rief ein anderer.
„Und den Nutznießern!" betonte der Schmied.
„Melmster, sieh mal den Palast da mit dem prächtigen Park.
Was werden wir damit anfangen, wenn wir die Macht erobert haben?"
Melmster überlegte lächelnd. „Ich würde es als Heim für Arbeiterveteranen vorschlagen. Dann soll sich keiner mehr erhängen müssen wie der alte John!"
„Nicht übel!" meinte der Schmied dazu und sann angestrengt über die Zweckmäßigkeit des Vorschlages nach, als läge es in seiner Macht, ihn sofort zu verwirklichen.
„Das dort wär ein ideales Klubhaus, groß, geräumig und vorzüglich gelegen!" begann ein anderer.
„Was muss denn nach deiner Meinung alles in solchem Klubhaus sein?" fragte einer.
„Eine Bibliothek, ein Leseraum, ein Baderaum, ein Radiozimmer und ein größerer Raum für Kino und Theater, auch ein Schachzimmer..."
„Und ein Rauchzimmer?"
„Natürlich auch ein Rauchzimmer!" ergänzte er.
„Sag mal, wie groß ist jetzt deine Wohnung?" fragte der Schmied und zwinkerte dem andern zu.
„Ich habe keine Wohnung, wir haben ein Zimmer in Untermiete!"
Alles lachte, doch der Schmied brüllte vor Vergnügen, dass ihm die Tränen aus den Augen purzelten.
„Was habt ihr nur? Das soll doch nicht für mich, sondern für uns alle sein!" erwiderte ganz verlegen der Erwerbslose.
„Schon gut! Schon gut! Ich meine nur so!" prustete noch immer der Schmied.
Melmster und der Hobler hatten das Gespräch schweigend mit angehört.
„Lacht nicht, all das und noch viel mehr wird uns einmal gehören. Alles, was die Werktätigen geschaffen haben, wird ihnen auch gehören, wie es heute schon unseren russischen Arbeitsbrüdern gehört. Dann werden wir das gesellschaftliche Leben in unserem Sinne, im sozialistischen Sinne regeln, dann werden wir die Wirtschaft auf kollektiver Grundlage organisieren, und nur wer arbeitet, erhält Anteil an der Arbeit aller. - Aber, Genossen, noch gehört uns nicht soviel, um uns satt essen zu können. Doch jeder muss sich sagen, an mir liegt es mit, wie lange es dauert, bis wir, die Arbeiterklasse, die Macht im Staate haben. Das Verhalten eines jeden einzelnen von uns ist mitentscheidend, ob es bald oder erst später sein wird. Nur wenn wir restlos alles dransetzen, werden wir alles gewinnen!"
„Zur Herrschaft der Arbeiterklasse und zum Aufbau des Sozialismus gibt es nicht mehrere, nicht einmal zwei Wege", ergänzte Melmster den Hobler, „sondern nur einen, einen einzigen, den Weg der proletarischen Revolution und der Diktatur der Arbeiterklasse!" -
Schweigend schritten die achtzig Arbeiter mit schweren, dröhnenden Schritten durch die Straßen. Das Villenviertel lag längst hinter ihnen, sie marschierten wieder durch eintönige, schmucklose Proletarierstraßen.
Erstaunt betrachteten die Leute auf der Straße den Trupp. Plötzlich begann einer eine revolutionäre Melodie zu summen:
„Es rettet uns kein höh'res Wesen -" Bald summten einige leise mit: „Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun -" Schließlich sangen alle, dass es in den Straßen widerhallte: „Uns aus dem Elend zu erlösen,
Können wir nur selber tun!" Der Gesang stürmte die Straße entlang, kletterte an den Häusern hoch und drang in die Türen und Fenster.
Melmster und der Hobler, der alte Dresen und der hagere Schmied, achtzig Proleten, im Bewusstsein der unüberwindbaren Kraft ihrer Klasse, marschierten im Gleichschritt die Straßen hinunter, dass es von den Steinen dröhnte.

 

Nachwort des Autors zur Ausgabe von 1960.

Dreißig Jahre sind es her, seit dieses Buch - mein Erstling - gedruckt erschien. Nie habe ich erwartet, dass es einmal neu aufgelegt werden würde und
- offen gesagt - es auch gar nicht gewollt. Aber warum eigentlich sollte ich es verhindern? Es kann vielleicht helfen, lesenden Arbeitern Mut zu machen, selber zur Feder zu greifen.
Ich schrieb es in meiner Festungshaft, zu der mich das Reichsgericht der Weimarer Republik wegen Vorbereitung zum literarischen Hoch- und Landesverrat verurteilt hatte. Die Haft nutzte ich anders, als meine Richter es gewiss erwarteten; die zwei Festungsjähre wurden meine Universitätsjahre. Ich studierte nach einem von mir selbst aufgestellten Lehrplan, den ich gewissenhaft erfüllte. Zugleich wurden die zwei Haftjahre für mich schriftstellerische Lehrjahre.
Ende der zwanziger Jahre arbeitete ich in meinem Beruf als Dreher in der Hamburger Maschinenfabrik Nagel & Kaemp. Im Kampf gegen die reformistische Gewerkschaftsbürokratie und ihre Verteidiger an der Werkbank errang die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition das Vertrauen der Kollegen im Betrieb; sie erreichte in legaler Gewerkschaftswahl die absolute Mehrheit. Die Folgen waren Aussperrung, Streik und Polizeimaßnahmen. Auch ich wurde damals auf die Straße geworfen. Was sich in der Fabrik abgespielt hatte, schrieb ich in der Festungshaft auf; es sollte in Fortsetzungen in der „Hamburger Volkszeitung", unserer Tagespresse, erscheinen. An eine Buchausgabe dachte ich im Traume nicht; mir schwebte vielmehr so etwas wie eine erweiterte Arbeiterkorrespondenz vor.
Mit allen ihren Unzulänglichkeiten ist diese Aufzeichnung
- das finde ich heute noch - ein wahrheitsgetreues Dokument aus den damaligen politischen Kampfjahren. Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung wirkte sich immer verhängnisvoller aus. Trotz der Missstände in den Betrieben, der ständig sinkenden Lebenshaltung der Werktätigen, der steigenden Massenerwerbslosigkeit und der drohend heraufziehenden faschistischen Gefahr gelang es nicht, eine einheitliche Arbeiterfront zu bilden. Die Erbitterung der ehrlichen, klassenbewussten und kampfentschlossenen Arbeiter über die arbeiterfeindliche Politik der rechten SPD- und Gewerkschaftsführer führte vielfach dazu, dass sie ihren Unwillen an ihren sozialdemokratischen Kollegen im Betrieb ausließen; sie beschimpften sie, anstatt sie von der Verderblichkeit der Politik ihrer Führer zu überzeugen und mit ihnen gemeinsam die Einheit der Arbeiter an den Werkbänken herzustellen. Diese Erscheinungen mehrten sich und beeinflussten auch zeitweilig die Politik der Kommunistischen Partei, nachdem am 1. Mai 1929 der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Karl Zörgiebel, auf demonstrierende Arbeiter schie­ßen ließ und in den Straßen Berlins Arbeiterblut floss.
Auch in der Maschinenfabrik N. & K. wurde nach diesem schändlichen Verbrechen zwischen organisierten Sozialdemokraten im Betrieb und den reformistischen Führern, die wie auch in Hamburg zugleich Bürgermeister, Senatoren, Polizeipräsident und Arbeitsamtleiter waren, immer seltener unterschieden, und die politischen Auseinandersetzungen verschärften sich immer mehr. Wir Kommunisten hatten die Gefahr erkannt, die der gesamten Arbeiterbewegung, dem ganzen werktätigen Volk drohte. Wir wussten und haben es oft genug ausgesprochen, gelang es den Hitlerfaschisten, die politische Macht zu bekommen, dann würden sie unter der organisierten Arbeiterbewegung ein unvorstellbares Blutbad anrichten und schließlich einen neuen Weltkrieg entfesseln. Wir aber wollten ein derartiges Verhängnis von unserm Volk abwenden. Es ist wahr, wir kannten und wir hatten keine Ruhe zu jener Zeit und auch nur wenig Geduld mit denen, die gleichgültig blieben oder nicht begriffen, wie nah, wie groß und wie furchtbar die Gefahr war.
Ende Januar 1933 schob das Großbürgertum Hitler die politische Macht zu. Es kam, wie wir Kommunisten vorausgesagt hatten: Terror und Krieg. Nicht nur Kommunisten wurden verfolgt und ermordet, sondern auch Sozialdemokraten und ehrliche parteilose Arbeiter, Juden und aufrechte Christen, und am Ende trieb der Hitlerfaschismus unser ganzes Volk auf die Schlachtbank des zweiten Weltkrieges, zerstörte Europa und brachte Deutschland an den Rand des totalen Ruins. Wir deutschen Kommunisten hatten längst die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Bereits 1935 war auf der Brüsseler Konferenz unserer Partei, die unter dem Vorsitz von Wilhelm Pieck durchgeführt wurde, als politisches Ziel die Schaffung einer breiten Volksfront im Kampf gegen den Faschismus und zum Sturz der faschistischen Tyrannei aufgestellt worden. Auch die besten Kräfte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hatten in den faschistischen Kerkern und Todeslagern erkannt, wie verhängnisvoll sich die Spaltungspolitik reformistischer Führer für die ganze Nation ausgewirkt hat.
Nach dem Sieg der Sowjetunion und der mit ihr alliierten Mächte über Hitlerdeutschland wurde als erstes und Wichtigstes darangegangen, die unheilvolle Spaltung der deutschen Arbeiterklasse zu überwinden. Die Kommunistische Partei und die Sozialdemokratische Partei vereinigten sich Ostern 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In den von den kapitalistischen Westmächten besetzten westdeutschen Zonen, wo der Wille der Arbeiterklasse zur Einheit nicht weniger stark als im Osten war, gelang es den in- und ausländischen Imperialisten mit entscheidender Hilfe rechter sozialdemokratischer Führer wie Kurt Schumacher, die Spaltung der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten.
Dreißig Jahre im Leben eines Menschen sind eine große, im Leben eines Volkes eine nur kurze Spanne Zeit. Schwere, entsetzlich schwere, aber auch außerordentlich lehrreiche drei Jahrzehnte waren es. Sie brachten unserm Volk und andern Völkern das Grauenvollste, das Menschen je erlebt haben. Menschenvernichtungslager und ein in Flammen stehendes Europa. Aber in diesen drei Jahrzehnten triumphierten letztlich doch die Kräfte, die Völkerhass und Krieg überwinden, und jene Völker, die sich eine sozialistische Ordnung gaben, wuchsen an zu einem Weltlager. All das liegt zwischen der ersten deutschen Ausgabe der „Maschinenfabrik N. & K." 1930 und dieser neuen Ausgabe 1960.
Als 1932 die russische Ausgabe des Buches vorbereitet wurde (es erschien außerdem noch in ukrainischer, dänischer, jiddischer, holländischer und japanischer Sprache sowie in Esperanto), wurde ich von den sowjetischen Schriftstellern eingeladen. Kaum war ich aus der Festungshaft entlassen, fuhr ich nach Moskau. In kameradschaftlichen, für mich außerordentlich lehrreichen Begegnungen und Aussprachen wurde mein Erstling kritisch unter die Lupe genommen. Als ich hörte, die russische Erstauflage werde hunderttausend Exemplare betragen, rief ich erstaunt: „Nach dieser Kritik?" Mir wurde erwidert: „Als erstes Buch ist es eine beachtliche Leistung. Aber deine nächsten Bücher, lieber Genosse Willi, müssen bedeutend besser werden."
Die Prüfung als Schriftsteller, das wusste ich gut, hatte ich mit meinem ersten Buch noch keineswegs bestanden. Würde ich sie je bestehen? Und wann würde ich überhaupt dazu kommen, ein neues Buch zu schreiben? Ja, wann? In den deutschen Straßen marschierten, randalierten und mordeten die braunen Totschläger. Hitler forderte von der herrschenden Bürgerklasse die politische Macht. Ich arbeitete wieder als Redakteur an der „Hamburger Volkszeitung", als Funktionär meiner Partei.
Anfang 1933 war ich abermals ein Gefangener, diesmal KZ-Gefangener der Faschisten. Eine Leidenszeit ohnegleichen begann: dreizehn Monate Kerker, elf Monate Einzelhaft und sieben Wochen Dunkelhaft, dazu siebzehn Auspeitschungen. Aber in den Nächten auf der Pritsche schrieb ich an einem Buch. In Gedanken, denn Feder und Papier hatte ich nicht. Aber ich schrieb Episode auf Episode, Kapitel auf Kapitel, ein ganzes Buch. Und als es mir tatsächlich gelang, dem KZ Hamburg-Fuhlsbüttel zu entrinnen und aus Deutschland zu fliehen, schrieb ich das im Gedächtnis Angesammelte in Prag nieder. Ich gab diesem Buch den Titel „Die Prüfung".
Willi Bredel