Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Ich kann nicht schweigen, denn ich will nicht mitschuldig werden. Zola

Ich sage mich los: von der leichtsinnigen Hoffnung einer Errettung durch die Hand des Zufalls; von der dumpfen Erwartung der Zukunft, die ein stumpfer Sinn nicht erkennen will...
Clausewitz

De te fabula narrarur.
(Deine Sache, Leser, ist es, die hier verhandelt wird!)

EINLEITUNG

Hände weg!
Hände weg von diesem Buch, wenn Ihr damit, übersättigt und bis zum tödlichen Erbrechen gelangweilt, nur wieder einige Euerer müßigen Stunden totschlagen wollt!
Dem stinkenden Kadaver dieser Zeit flechte ich keine Kränze.
Das spannungslose Gesabber unserer offiziellen Poeten befriedigt schon übergenug solche Bedürfnisse.
Was heutzutage Not tut: das ist Begeisterung, Kühnheit, Todesverachtung der einzelnen, Nüchternheit, Zielsicherheit und Klarheit. Zusammenschluss, eine untrennbare Einheit aller im Schweiße ihres Angesichts Werktätigen. Dieser Zusammenschluss: das ist die große Sprengmine, die Tag für Tag aufplatzt und deren Sprenggänge die Fundamente dieser verrotteten Gesellschaft eines Tags völlig unterwühlt haben werden...
Es handelt sich hier nicht um poetische Erfindungen, phantastische Konstruktionen oder um Wahnbildungen. Es handelt sich hier um Tatsachen, um Taten, um Ereignisse.
Es geht um das, was ist.
Es geht hart auf hart.
Es geht um das, was gewesen ist.
Es geht um das, was sein wird. —

Dieses Buch ist sicher nicht Kind jenes Geistes, „der über den Wassern schwebt", es ist aus der Wirklichkeit geboren, und es trägt, unverschminkt allen sicht-
bar, noch deutlich das Zeichen dieser Marter-Hölle an sich. Auch der Sprachkörper: stahlgrau, gehackt, rissig: die Gelenke im Schmerzkrampf fest angezogen, die Arme an den Schulterstücken schwer hängend: Hämmer, Äxte, Brecheisen. Ein blutiges Muskelspiel zuckt... Das ist nicht der klassische wohlgepflegte Leib, nicht die parfümierte Tanzpuppe der Biedermeierzeit noch der verträumte Taugenichts der Romantik: es ist der mit Wundenlöchern über und über ausgefüllte Dulderleib des werktätigen Volks am Pfahl der Kreuzigung: mitten im Qualm von Gasschwaden, von Staub, Rauch, Russfetzen umschleiert, umschwirrt von giftigen Aasfliegen — das ist der Dulderleib des werktätigen Volks in jenem geschichtlichen Zeitabschnitt, da er sich vom Kreuzstamm losreißt, niedersteigt und das Gesindel seiner Peiniger vor sich in die Knie zwingt... Ein millionenstimmiger Schrei, ein Aufruhr- und Klagelied, gesungen von Millionen metallischen Feuerzungen. —
Dieses Buch möchte, ein lebendiges Wesen, künftig wieder selbst Anteil haben an den Kämpfen, deren Blutzeuge es ist, selbst wieder mit im Feuer stehen und mit seinen Blutteilen noch röter färben die rote Fahne, unter der es als ein Soldat der Revolution dient. —

Es wird nur wenig von „Liebe" die Rede sein.
Dieses Buch ist ein Heldengedicht.
Wo Millionen, „Hunger" schreiend — zuerst eine formlose Masse noch, dann aber immer deutlicher Gestalt gewinnend —, sich herauf auf das Plateau der Weltgeschichte bewegen: in der eisern gehackten Rhythmik solcher Tage tönt auch die Stimme des Bluts als Metall. Stirnen wölben sich gegeneinander, wie gemeißelt aus Granit.  Die Herztrommel wirbelt Kampftempo und
Marschtakt. Der Gedanke des kämpferischen Menschen stößt vor in die Zukunft als Stichflamme. Und ein anderer, als der, der einst du gewesen bist, findest plötzlich nach Jahren du dich wieder, neu geboren aus mörderischen Krisen, wie aus Schmelzglut. —

Die Riesendurchbruchsschlacht jener Menschen-Armeen in die Zukunft hat längst begonnen. Kampfplatz ist die Welt. Dieses Terrain ist nicht mehr nach Nationen oder Erdteilen abgesteckt. Alle Grenzpfähle der Welt schlottern gespenstisch im roten Sturmwind, wie Vogelscheuchen... Überall, wo Menschen im Arbeitsprozess untereinander verbunden sind, überall auf der ganzen Erde, auch in den tiefsten Tiefen der Kolonien, gewittert es...

Lernt kennen die Geschichte Europas, Europas am Rande des Abgrunds! —
Gewidmet der kommenden deutschen sozialen Revolution! —

Berlin, zum 4. August 1925        Johannes R. Becher

 

Erstes Kapitel

„DEUTSCHLAND ÜBER ALLES...!"

Episode aus den Novembertagen 1918. „Deutschland über alles... !" — „Lazarett-Poesie". Den Veranstaltern patriotischer Heldengedenkfeiern gewidmet. Heilige Familie. — Das Trio. — Menschen-Dreck. Götter stürzen. — „Geh deinen Weg!"

1

Es ist Herbst, November 1918, vier Uhr morgens.
Die letzten deutschen Truppen ziehen über den Rhein.
Gespenstische Nebelhaufen wälzen sich über den beiden Rheinufern, die Wassermassen unter der Brücke flüchten unterirdisch-rauschend und unruhig dahin, ein schwer beladener Schleppkahn treibt darauf, schweigend, als ob er, eine Sagengestalt der Vorzeit, durch einen uferlosen Traum wandele. Nur die gotisch zerzackte Spitze des Kölner Doms ragt stumpf aus einem Nebelloch, wie der Gipfel eines gewaltigen Gebirgsmassivs.
Das ferne gedämpfte Geläute des Doms fällt jetzt langsam und zögernd auf die Erde nieder, ein schwerer metallischer Tropfen...
Es war eine niedergekämpfte Kolonne Sturminfanterie, der Rest eines einst stolzen deutschen Regiments, die, ohne Schritt, dahintrottete: bärtig verwachsene Gesichter, knöcherige Gestalten, mit zerfetzten und ausgeblichenen Uniformen schlotternd behängt, in Mützen, barhaupt, der eine oder der andere noch unter dem Stahlhelm, den vermoderten und zerzausten Affen auf dem
Buckel, die Gewehre, Mündung nach unten, über die Schulter geworfen, und die zu Skeletten abgemagerten Gäule vor der einzigen Feldküche stolperten und knickten immer wieder von Zeit zu Zeit in die Knie, gleichmütig sprang der Trainsoldat vom Bock ab, die Kolonne stockte eine Weile, einige drückten sich links und rechts vorbei am Wegrand, dann ein müder Peitschenknall, die Gäule standen wieder wackelnd aufgerichtet, und das Häuflein Soldaten setzte sich wieder in Marsch.
Kein Kommando erscholl mehr.
Kein Wort wurde gesprochen...
Doch kam es vor, dass der eine oder der andere sich plötzlich mit einem jähen Ruck umwandte, mit einer blitzschnellen Handbewegung nach dem Gewehrschaft griff, den Kopf sonderbar lächelnd schüttelte und wieder den einen Fuß vor den anderen tat, als ob es nie anders gewesen wäre und als ob es auch gar nicht je anders sein könnte...
Vor zwei Tagen noch...
Einer rechnete nach: „Ja, das sind zweimal vierundzwanzig Stunden..."
Also: frisch wie aus Schlamm gebacken aus dem Granattrichter...
Und das gigantische Schlachtorchester brüllte die Symphonie der Trommelfeuer und der Stahlgewitter und der Eisenorkane; forte, fortissimo; Gaswellen fluteten unsichtbar geheimnisvoll heran; und nun gewitterte auch schon über die stacheldrahtgezäunte, granatgepflügte labyrinthische Ebene hinweg das Finale des Nahkampfes: der dumpfe Knall platzender Handgranatenballungen in Erdhöhlen und Felsunterständen, Menschenschreie, gurgelnd und wie „Huhu" dazwischen, und das Sicheln des Bajonetts...
Traum? Wirklichkeit?
Denen, die hier in die Heimat zurückmarschierten, war das Bewusstsein geschwunden, das Hirn leer, nur ein unbestimmter Trieb drängte in allen ihren Gliedern sie mit vorwärts; links, rechts, links, rechts; das Gesicht nach unten auf den Boden niedergedrückt, dort, wo immer wieder zwei Stiefelbeine hervorschnellten oder der Absatz des Vordermanns, der fest in den Straßendreck hackte.
Auch an eine Rast oder gar ans Abkochen dachte niemand.
Marschierten sie durch ein Dorf, so schien es ihnen, als wichen ihnen die Einwohner scheu aus dem Weg, kein Mensch zeigte sich, alle Türen und Fenster waren fest verschlossen, auch jetzt noch, da sie sich schon seit einem Tag bald auf deutschem Boden befanden.
Es wurde Morgen.
Nein, es war kein englischer Tank, der plötzlich schnellwendig aus den zerschleißenden Nebelschwaden hervorknatterte, auch keine Flammenwerfer, die, flüssigen Phosphor spritzend, ganze Ballen von verbranntem Menschenfleisch durch die Luft wickelten; kein leichtes Infanteriegeschütz, kein auffliegendes Munitionsdepot, auch kein Flieger, dicht über der Erde mit MGs die Stellungen abstreichend...
Nichts, nichts mehr von alledem...
Weinberge waren es, Hügel, saubere Steinhäuschen darin, Treppen und gut angelegte Pfade durch Weingelände hindurch, Kirchturmspitzen blinkten. Mit ihren Stöcken stocherten die Soldaten in den dahinkollernden Laubhaufen; es war wirklich schönes, feuchtes rotbraunes Laub...
Doch die fieberig flackernden Augen der Soldaten suchten von neuem den Boden ab, fanden sich nicht zurecht, stießen sich und tasteten; man hatte sich schon daran gewöhnt, es fehlte einem was; keine Leichname, keine abgequetschten Arme, keine Rümpfe, die in der Hitze brodelten; auch nichts von „Offensivparfüm", das aus den von Granaten wieder aufgewühlten Massengräbern dick aufstieg... Rein und würzig war die Luft, die Nebel verdampften sich nach oben... Einer pfiff schon vor sich hin, ein anderer summte leise im Takt, allmählich bildeten sich wieder Reihen, fester und immer fester hämmerte der Schritt und, ohne dass sie sich dessen bewusst waren, marschierten sie durch das nächste Dorf im Gleichschritt. Schon winkte man ihnen zu, Menschen standen freundlich nickend zwischen Türen und Fenstern, und da, als sie eben die letzten Häuser hinter sich hatten, brach voll die Sonne durch.
Zerfetzt und zersplittert hing die Nebelpest herum, die Wipfel der Bäume schüttelten sich, dass der letzte Laubrest an ihnen auseinander stieb; riesige Feuerfarren blühten im Weltraum die Sonnenstrahlen... als ein Mann, ein Landstürmer, in der Mitte des Zugs plötzlich mit tränenerstickter Stimme ruft: „Kameraden! Seht: Sonne über Deutschland!"
Ein Trompetensignal bläst.
Eine Trommel trommelt.
Hundert Köpfe rucken hoch.
Hundert Herztakte schlagen wieder.
Und aus Hunderten von vielem Blut- und Pulvergeschmack ausgedorrten Kehlen schluchzt der Gesang: „Deutschland über alles... !"

 

2

Auch Peter Friedjung, damals knapp zweiundzwanzig Jahre alt, befand sich unter den Heimkehrern.
Auch er stieß jetzt „Deutschland über alles" hervor...
Mit dem Gesang „Deutschland über alles" hatte zu Beginn des Kriegs das Freiwilligenregiment List gestürmt, mit dem Gesang „Deutschland über alles" auf den Lippen wurden die jungen Freiwilligen vom Trommelfeuer zu einem Leichenbrei zusammengestampft.
Fünfmal während des Krieges war Peter Friedjung für „Deutschland über alles" verwundet worden.
Und nun!?
Wäre ein Flieger der Rheingrenze entlanggeflogen: er hätte deutlich beobachten können, wie das acht Millionen starke deutsche Feldheer, einer riesigen Schlammflut gleich, in die Heimat zurücktrieb, wie die Massen der Armeen von den Städten aufgesogen wurden und das Gewimmel der Züge auf den geometrischen Figuren der Eisenbahnnetze gegen das Hinterland zu sich langsam auflockerte und dort schon wieder Zug auf Zug straff, in vollkommener Ordnung dahinrollte...
Am Abend kam die Kolonne, der Peter Friedjung angehörte, drei Kilometer vor der Bahnstation an, wo sie nach München verladen werden sollte.
Ein Matrose, ein baumstarker Kerl, ein Mann in Zivil mit einer knolligen Schnapsnase und einer in einer feldgrauen Uniform, alle rote Binden um den Arm, kamen ihnen am Dorfeingang entgegen und forderten sie auf, die Waffen abzulegen.
„Also ist es zur Tatsache geworden. Revolution!" stellte Kamerad Friedjung fest.
„Hier in der Dorfschule ist der Arbeiter- und Soldatenrat."
Die Heimkehrer sahen sich unschlüssig an.
Aber man ließ ihnen nicht lange Zeit zum Überlegen.
Eine schwerbewaffnete Abteilung Rotbinden erschien. Die Kolonne wurde ohne weiteres entwaffnet.
Zum ersten Mal hörte man wieder etwas über die Vorfälle in der Heimat.
„Das Heer hat teilweise gemeutert. Straßenkämpfe. Der Kaiser geflohen. Neue Regierung. Die Sozialisten... "
In die Sprache eines Deutschen übersetzt, schloss Peter, bedeutet das: Äußerlich hat die Entente gesiegt und damit also offenbar innerlich: der Unglaube, die Vaterlandslosigkeit, die Pöbelherrschaft, die Anarchie.
Auf der Straße vor der Bahnstation waren größere Truppenteile versammelt, alle ohne Offiziere, von denen es hieß, sie hätten sich schleunigst in Zivil aus de Staub gemacht.
Die Internationale wurde gesungen, Soldaten standen Arm in Arm, alle hatten sich die Kokarden und die Achselstücke abgerissen... Von Zeit zu Zeit hielt einer, auf den Schultern seiner Kameraden 9itzend, eine Rede, dann schrieen sie alle: „Hoch! Hoch! Nieder! Nieder!"
Die Kameraden, mit denen Peter zurückgekehrt war, waren nicht mehr aufzufinden.
Er stand mitten in dem Tumult allein.
Er wusste jetzt überhaupt nichts mit sich anzufangen.
Er wiederholte sich noch einmal, was er während des Kriegs alles von der revolutionären Bewegung gelesen und gehört hatte.
Da kannte er natürlich dem Namen nach Karl Liebknecht, diesen hundsföttischen Vaterlandsverräter, wie ihn immer die Offiziere bei ihren Sektgelagen im Kasino tituliert hatten, von dem man erzählte, dass er steinreich sei, eine Unmenge Häuser besitze und von der Entente bestochen sei, um dem deutschen Volk die Kriegskredite zu verweigern ... „Und die anderen, die werden auch kaum besser sein, Parasiten unserer Niederlage, individuelle Nutznießer des Volksunglücks, Kreaturen, die nur im Augenblick der vollkommenen Verwirrung, Ohnmacht und Wehrlosigkeit eines Volks zu Wort kommen und sich leider auch, bei der Dummheit, Gutgläubigkeit und politischen Ungebildetheit des Deutschen, Gehör verschaffen können."
Und scharf in jeder seiner grauenvollen Einzelheiten tauchte in Peters Gedächtnis jener Morgen auf, der Beginn einer der gewaltigsten Großkampftage, den die Westfront je gesehen.

Der Massenüberfall war beendet.
Die Sturminfanterie ging zum Angriff vor.
Von Stellung zu Stellung. Ein einziges Kraterfeld war nunmehr das feindliche Gräbensystem, schon hatten die Infanteriewellen ein großes Loch in die feindliche Front hineingefressen, und „nun mit den Engländern ins Meer" jubelten, ihres gelungenen Durchbruchs sicher, die verschiedenen Regimenter der verschiedenen deutschen Stämme sich zu, schon wurde der Befehl erteilt: „Kavallerie vor!"... da setzte unerwarteterweise eine Reservedivision Kanadier zum Gegenstoß an, und — das Sperrfeuer der eigenen Artillerie blieb aus, alle Gewehr-, Handgranaten- und Maschinengewehrmunition war verschossen, keine Hilfe weit und breit, kein einziger Schuss krachte, nur die feindliche Artillerie hieb mit den schwersten Brocken herein, Staubsäule um Staubsäule dampfte hoch, und ein zäher entsetzlicher Bajonett-, Messer-, Spaten- und Würgkampf begann, Mann gegen Mann, bis am Abend die deutschen Truppen gezwungen waren, die eroberten Positionen Schritt um Schritt und unter den ungeheuersten Verlusten aufzugeben, und die Lücke in der feindlichen Front wieder restlos geschlossen war.
Noch in derselben Nacht wurde bekannt: Die Munitionsfabriken im deutschen Vaterland streiken. Die Artilleriemunition im ganzen Frontabschnitt ist zu Ende. Das Messer zwischen die Zähne, heißt es jetzt, und mit den blanken Leibern die Front, wenn sie wo einreißen sollte, gestopft... Auf keinen Artillerieschuss sei für die nächsten Tage zu rechnen ...
Ein wilder Racheschwur schoss aus den Herzen der Frontkämpfer hoch; die Finger reichten keinem, die Zahl der ihm lieben Kameraden, die er heute verloren hatte, abzuzählen; wutentbrannt zerstampften manche die Pakete mit Liebesgaben und drohten mit schreckensverzerrten Gesichtern: „Dolchstoß von hinten! Na, wartet nur, wenn wir zurückkommen! Da werden wir gründlich mit diesem schmierigen sozialistischen Gesindel aufräumen..."
Doch das war bald vergessen. Die meisten wurden, wie es Peter wenigstens damals schien, selbst bald Handlanger dieses sozialistischen Gesindels, machten schlapp, knurrten, und die Erschießung von missliebigen Offizieren von hinten kam immer häufiger vor... Selbst tagelanges Baumanbinden gegen Insubordination und einzelne Füsilladen nützten nichts... Die moralische Auflösung der deutschen Front begann...
Eiskalt vor innerer Erregung, mit hasserfüllten Augen blickte Peter auf seine Umgebung.
„Pack schlägt sich, Pack... "
„Nein, wir hätten die Waffen nicht..."
Doch auch die Treuesten und Zuverlässigsten hatten sich bereits in die Mauselöcher verkrochen.
Wieder rauschte ein Zug vorbei mit Hurras und vielen roten Fahnen...
Ein pockennarbiger krummgewachsener Zivilist trat auf Peter zu, riss ihm die Kokarde ab: „Aas!"
Peter stand wie gelähmt, lächelte und stotterte etwas.
Der andere war schon fort.
Dann presste er zwischen den Zähnen hervor: „Hunde! Schweine! Lügner! Ihr gottsjämmerlich erbärmlichen Schufte..."

Der Herbststurm fegte. Die Dächer auf den Häusern klapperten. Zu einem Skelett kahlgefressen war rings die Welt...
„Eine feste Burg ist unser Gott!"
Dieser Choral dröhnte mächtig auf in ihm, von Tausenden von Glockenspielen umläutet, in wunderbaren Klangspiralen, und hoch die Sterne glänzten, das Firmament wölbte sich in raumlosen unbegrenzten Schleifen und Kurven, und sprühte... War das nicht der Abglanz von Gottes Angesicht, jenes myriadenäugigen Gottes, des allfühlenden, des allerkennenden, jener Abglanz von Gottes Angesicht, der den Abgrund, der die Welt hieß, mit einer schimmernden firnisartigen Schicht überzog, mit dem Glanz der Verklärung, der dieses diesseitige Jammertal überhaupt erst für den Menschen erträglich machte? Jenes Gottes, dessen Atem gleich Ebbe und Brandung war, dessen Sekunde ein Tausend Menschenjahre in sich fasste und in dessen Allmacht es stand, die allerhöchsten Bergmassive, die es auf der Menschenerde gab, leichthin wegzublasen wie ein Sandkorn!? Das Meer, alle die großen und kleinen Ozeane wären nicht mehr gewesen als nur ein einziger Schluck in der Schale der göttlichen Hand. Und war nicht die ganze Welt ein einziges Riesenorgelwerk, rühmend des Ewigen Ehre, eine jede Kreatur ein besonderes Register darin, darauf der Schöpfer des Weltalls, der Schöpfer der heiligen Ordnung aller Wesen und Dinge, spielte, er, das Urbild aller Geschaffenheit, große, kühne, erhabene Akkorde, auch schrille Dissonanzen darunter, doch nur dazu da, um am Ende in einem desto gewaltiger schwellenden Halleluja sich aufzulösen... !

 

Eingepfercht zwischen durch und durch verlausten und völlig verwahrlosten Mannschaften, die zynisch auf Gott, Kaiser und Vaterland fluchten, rollt Peter der Heimat zu.

 

3

Peter fand seine Eltern zu Hause in niedergedrückter Stimmung.
Zwar hing ein Kranz mit „Willkommen" und schwarzweiß-roter Schleife über der Tür, aber die ausgeweinten Augen der Mutter verrieten ihm, dass sie schon viele Tage und Nächte hindurch an einem Wiedersehen mit dem Sohne gezweifelt hatte.
„Da ist er ja!" umarmte ihn der Vater. „Nun also doch! Als ein tapferer deutscher Held bist du uns wiedergeschenkt. Du hast dich auch rein gehalten, das seh ich dir an. Flecken- und makellos hast du dir das Schild deiner Ehre erhalten. Und das Eiserne Kreuz! Nun kann ich mich beruhigt sterben legen... Welch eine Freude!"
„So, Peter, gut so, dass du wieder da bist!" begrüßte ihn die Mutter, die indes weißhaarig geworden war und eine gebückte Haltung hatte. „Nun ruh dich aus! Der Krieg ist ja zu Ende."
Dies sagte sie in einer merkwürdig singenden Sprache, in einem Tonfall, den Peter bisher noch nie an ihr wahrgenommen hatte.
Peter schwieg. Er stand da, mitten im Zimmer, den Stahlhelm noch immer unterm Arm. Er hatte Tränen in den Augen.
Aber das, wie es die Mutter gesagt hatte, klang so, als ob der Krieg gar nicht zu Ende sei, nie auch zu Ende sein könnte, als ob er weitergehe, und nur ein Schlachtfeld mit dem anderen sich vertauscht habe, vielleicht sogar: Volksgenosse gegen Volksgenosse. Nach den letzten Ereignissen zu schließen: ja, vielleicht sogar mitten in Deutschland: der Muskel gegen den Nerv, Sehne wider Sehne, das Mark eines Volkes gegen das Mark, das Herzinnere gegen das Herzinnere...
Klang es nicht so, was die Mutter gesagt hatte, als ob man überhaupt nie zu Ende kommen könne damit, als ob dieser Krieg nur ein Vorspiel, ein harmloses sogar, gewesen sei und als ob die Rückkunft ins Elternhaus für Peter auch nur eine kurz bemessene Rast sei, um bald darauf wieder...
Als ob der Krieg sei wie ein Strom... Nun, da Frieden ist, fließt unsichtbar er dahin, unterirdisch, überschüttet von irrnisblendendem Gestein, um auf einmal aber, denen nur unerwartet, die das Bewegungsgesetz des Stromverlaufs nicht kennen: stäubend, gurgelnd, strudelnd auf die Erde wieder hervorzubrechen.
Nein, der Krieg ist nicht zu Ende! schrie es in Peter innerlich auf, als er seiner Mutter in die Augen sah, in die angstverzerrten, kümmernisstumpfen Augen. Der Frieden, das ist ja ein ganz ungeheuerer Betrug, eine Art Betäubungsmittel, Beruhigungspulver... Der Krieg hat begonnen, um nicht mehr zu enden. Seuchenisolierbaracken, Lazarette, ja so, genauso wie ich sie gesehen und erlebt habe: weiterbauen werden die sich durch den ganzen Weltraum hindurch... Jetzt schläft er; der Krieg hat sich ein wenig nur hingelegt, um zu schlafen; der Krieg, hört ihr es, schnarcht. Der Krieg schläft seinen Blutrausch aus... Dann steht er wieder auf, frisch, kräftig, hungrig, unersättlich, wie er ist, schwingt sich in die Lüfte, fliegt! fliegt! fliegt! Ja, fliegen wird er diesmal und einen giftigen Samen niederstreuen, Giftgas, Samen: Gas, Gas, Gas... Und aufgehen wird dieser Samen, ein entsetzliches Geschwür in jeder Menschenbrust, als brandiger, blasenziehender Aussatz über der ganzen Hautfläche, als eine Wucherung, die wüsten Wahnwitz in jedem Gehirn zeugt... Welch eine Tiefen-Wirkung! Tod wird er ernten in Hülle und Fülle...
Wer aber ist der Krieg!?
Die Menschen!?
Und welcher Art Menschen sind es!? —

Nach Tisch stand der Vater auf, zog sich an und fragte Peter: „Kommst du mit zum Trio!?"
Mit einem Blick auf die Mutter sagte Peter zögernd ja...
Auf dem Hinweg begann der Vater: „Du weißt doch Peter, dass du nicht den Oberstudienrat Dr. Reuchlin nach seinem Sohn fragen kannst. Das ist ein wunder Punkt. Nicht daran rühren! Der alte Mann ist zu bedauern. Man muss sehr taktvoll und zurückhaltend sein. Schrecklich, so ein Schicksal."
Peter nickte nachdenklich.
„Das war doch ein wunderbar prächtiger Bursche, der junge Reuchlin, ich verstehe das nicht..."
„Ja, mir ist das auch ein Rätsel. Geistige Umnachtung unter Umständen, Verwirrtheit wahrscheinlich. Anders ist das nicht zu erklären... Und welche Sorgfalt in der Erziehung hat er seinem Jungen angedeihen lassen... Merkwürdig, wie ein Mensch so aus der Art schlagen kann...!"

Am Trio, das regelmäßig einmal in der Woche in der prächtig ausgestatteten Achtzimmerwohnung des unverheirateten Dekan Lampert stattfand, nahmen teil die Herren Fabrikbesitzer Joachim Hellmer, Oberstudienrat Dr. Reuchlin und Peters Vater, der Landgerichtsdirektor Dr. Friedjung.
Diesmal waren noch zugegen als Gäste Oberstleutnant Hugenberg, Emil Freywolf, Redakteur einer grö­ßeren liberalen Tageszeitung, Kriegsberichterstatter, und ein gewisser Paul Bratz, der in der Gesellschaft als eine ausgesprochene Abenteurernatur galt, früher Leutnant der Schutztruppe, während des Krieges aber dauernd aus dem Heer wegen chronischer Trunksucht beurlaubt; er lungerte in dieser Zeit in allen Sanatorien Deutschlands herum und interessierte sich für Frauenjagd.
Die Gesellschaft war schon versammelt, als Dr. Friedjung und sein Sohn eintraten.
Die meisten Herren kannte Peter schon.
„Und wie er sich verändert hat! Mein Sohn, viel männlicher, ganz zu seinem Vorteil." Breit und behäbig, wie ein Luther-Standbild, pflanzte sich der Dekan vor Peter auf. „Na ja, der Krieg ist der beste Lehrmeister! Da sehen Sie mal wieder! Gott hat seinen Anteil daran. Gott hat gewollt, dass gerade wir dieses Gericht vollziehen sollen, und die Reinheit des sittlichen Gewissens ist auf unserer Seite. Wie der Ausgang des Krieges in Übereinstimmung mit dieser Tatsache zu bringen ist: Gottes Rat ist unerforschlich. Wahrscheinlich haben sich große Volksteile Deutschlands, vor allem die unteren Schichten, an die Arbeiterbevölkerung der Industriebezirke denke ich da vor allem, noch nicht als genügend geläutert für diese göttliche Aufgabe erwiesen. Wir gehen schweren Zeiten entgegen. Doch die Jugend gehört uns und damit die Zukunft, und wenn die ganze Jugend Deutschlands aus lauter Friedjungs bestünde: dann, dann kann Deutschland nicht untergehen... Nun, mein Sohn, nimm Platz... " Noch einen Augenblick verharrte der Dekan bei seinem Augenaufschlag. „Nun, habe ich es nicht immer gesagt, den preußischen Leutnant macht uns so leicht niemand nach..."
Herr Bratz holte das verborgene Monokel hervor und klemmte es fest.
Landgerichtsdirektor Friedjung bedankte sich nach allen Seiten hin für die Gratulationen.
Nur dem Oberstudienrat Dr. Reuchlin drückte er stumm die Hand. „Wird schon wieder werden... Nur Kopf hoch! Mut..."
„Ein Junge mit solcher Begabung wie der Ihre, Herr Landgerichtsdirektor... ich schlage vor: Bankfach. Das ist heute noch am aussichtsreichsten..." Der Fabrikbesitzer fand allseitige Zustimmung. „Ich wäre natürlich auch bereit, ihn bei mir unterzubringen... Ich brauche absolut zuverlässige, gegen jedes Streikgelüste immune Leute, heutzutage mehr denn je... "
Inzwischen hatten der Redakteur, der Oberstleutnant, Herr Bratz eine Gruppe gebildet.
„Richtig so, ganz so ist es, wie Sie sagen: Der Krieg ist nicht nur ein notwendiges Element im Völkerleben, sondern auch ein unentbehrlicher Faktor der Kultur, ja die höchste Kraft und Lebensäußerung wahrer Kulturvölker."
Der Oberstleutnant ergänzte begeistert den Redakteur: „Nicht nur eine biologische Notwendigkeit, sondern auch eine sittliche Forderung und als solche ein unentbehrlicher Faktor der Kultur..."
„Meine Herren! Lassen Sie sich schildern, wie die Zivilisation in den Kolonien vor sich geht. Wir brauchen Kolonien, das ist eine Lebensnotwendigkeit für das deutsche Volk. Kolonialarbeit ist aber notwendigerweise Blutarbeit und durchaus durch die Verdrängung des Heidentums durch das Christentum gerechtfertigt. Wir sind immer mal wieder gezwungen, da unten einen großen Kehraus mit den Schwarzen zu machen. Selbst Ausrottung ganzer Stämme mitsamt ihren Stammsiedelungen sind dabei leider Gottes nicht zu vermeiden... Kultur! Kultur!... Und überdies zum vorigen Thema: Sie haben ja die Ermordung des österreichischen Thronfolgers gestreift: ich sage: wenn je ein Blutopfer eine befreiende, eine erlösende Wirkung gehabt hat, so war es dieses... "
Die Gruppe löste sich wieder auf und schloss sich der allgemeinen Diskussion an.
„Im übrigen, meine Ansicht ist die: Die Sozialdemokraten, mag man gegen sie haben, was man will, die müssen jetzt die Sache schmeißen. Wir müssen uns auf eine Politik auf lange Sicht einrichten... Unsere Zeit kommt! Abwarten..."
Bratz widersprach energisch dem Fabrikanten. „Nein, nun ganz und gar nicht."
Er sprach von illegalen Organisationen, Attentaten,
Verschwörerklubs, Kampftrupps, die sofort aus den aktivsten, zuverlässigsten vaterländischen Elementen gebildet werden müssen, um den Novemberverbrechern energisch auf den Leib zu rücken. „Wie Sie sehen: die Arbeiterschaft ist in zwei feindliche Lager geteilt. Die Sozialisten werden nicht umhin können, im Kampf gegen die Spartakisten sich unserer Hilfe zu bedienen, wir werden und müssen uns diese Dienste so teuer wie nur möglich bezahlen lassen... Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen... So wird man uns nicht abfinden. Nie und nimmermehr..."
„Meine Herren, streiten wir nicht! Ich bin für zwei Eisen im Feuer!" vermittelte der Dekan. „Auf legale Art, und auch die Vorschläge des Herrn Bratz dürfen wir nicht ganz und gar außer acht lassen... Dem Volk muss die Religion auf jeden Fall erhalten bleiben. Denn nicht auf Gescheitheit oder Dummheit des einzelnen kommt es an, sondern auf die Erlösung der Seele. Was für den einzelnen gilt, gilt auch für das Ganze. Einkehr, innere Wandlung, das ist's, was vor allem Not tut."
Nun sprach auch Peters Vater. „Die Hauptsache ist, dass die Staatsautorität erhalten bleibt. Ich meinerseits habe bei den Sozialdemokraten seit Kriegsbeginn nichts gelesen, was der Lehre von der Unantastbarkeit des Staates zuwiderliefe. Im Gegenteil, ihre Partei hat sich während des Krieges ihre nationale Vergangenheit geschaffen!... Und meine Herren, die Staatsform kann uns doch schon wirklich ganz egal sein, auf den Inhalt kommt es an."
Der Oberstleutnant fiel ihm ins Wort: „Allerdings, jetzt heißt es Schritt für Schritt, so zäh wie nur möglich, unsere Positionen verteidigen, die Sozialdemokraten regieren lassen, heimlich ihre Regierung infamieren und
sie so in den weitesten Volkskreisen unmöglich machen, und zwar ein für allemal, um dann, wenn so der Staatsapparat relativ intakt in unserer Hand bleibt, eines Tages wohlbemerkt, ich rechne mit Jahren, zum Generalangriff überzugehen... Meine Herren! Man kann die Erfahrungen des Krieges auch auf den Frieden anwenden... Jedenfalls, eine Voreiligkeit, eine zu frühe öffentliche Preisgabe unserer Entschlüsse könnte uns teuer zu stehen kommen. In diesen Tagen der roten Hochflut wird auch der geringste taktische Fehler, meine Herren, mit Blut bezahlt...!"
„Es ist schon so!" bestätigte auch der Oberstudienrat Dr. Reuchlin. „Man muss mit den Wölfen heulen. In unserem Herzen sind und bleiben wir Monarchisten, jawohl. Aber in der Praxis könnte es sogar unter Umständen möglich sein, dass wir uns mit der Republik abfinden. Wer will prophezeien, es könnte gar der Tag kommen, wo wir die treuesten Stützen der Republik sind... Spotten Sie nicht, schütteln Sie nicht ungläubig die Köpfe..."
„Oh!" rief pathetisch Bratz dagegen. „Wenn der Schicksalstag naht, und wäre über uns Ragnarök, die Götterdämmerung verhängt, dann lieber in tobender Schlacht als in schleichendem Siechtum... "
„Auch ich finde, Dr. Reuchlin, das klingt bedenklich nach Kant", philosophierte jetzt der Dekan. „Also Monarchie wäre demnach die einzige rationelle Staatsform, aber sozusagen nur als ein Postulat der praktischen Vernunft, deren Verwirklichung zwar nie erreicht wird, deren Erreichung aber stets als Ziel angestrebt wird und in der Gesinnung festgehalten werden muss... Auch christlich terminologisch ließe sich das ausdrücken..."
„Meine Herren", knurrte jetzt der Oberstleutnant dazwischen, „ich finde, das Gespräch führt uns jetzt zu weit ab... Besser ist: Wenig davon sprechen. Immer daran denken..."
„Jawohl, auf die Tat kommt es an", schloss Bratz.

Der Landgerichtsdirektor saß am Flügel. Der Fabrikant stimmte die Violine. Oberstudienrat Dr. Reuchlin bediente das Cello. „Wir haben das letzte Mal Beethoven geübt. Wir wollen sehen, was davon hängen geblieben ist." Das Trio begann.
Der Landgerichtsdirektor zählte den Takt mit...
Verstreut saßen der Redakteur, der Oberstleutnant, der Dekan, Bratz und Peter im Zimmer herum.
Der Dekan dachte an die Sonntagspredigt. Man musste vorsichtig sein und alles in Gleichnissen ausdrücken; auch machte ihm die Möglichkeit einer Abtrennung von Kirche und Staat einige Sorgen. Für die Predigt am kommenden Sonntag suchte er noch immer den passenden Text. Er war bekannt dafür, dass er so ergreifend sprach, dass die Leute weinten... Da fiel ihm jenes berühmte Pauluswort ein: „Und hättet der Liebe nicht...!" In der Tat vortrefflich. Er zog ein Notizbuch und skizzierte die Disposition. Natürlich Liebe, Liebe und nochmals Liebe: Christentum und Sozialismus, Sozialismus und Christentum: nur zwei verschiedene Ausdrücke für im Grunde ein und dasselbe. Versöhnend wirken! Und zu was Besserem könnte man auch in solchen Zeiten ermahnen, als zur Liebe, innerer Einkehr, Arbeit an sich selbst; die Staatsform und die äußeren sozialen Fortschritte erst in zweiter Linie. Der Mensch ist die Hauptsache, der innere Mensch, auf das Seelenheil des
Menschen kommt es an... Und die Klänge des Trios beschwangen ihn: er notierte fieberhaft, und als die Herren mit einem wunderbaren piano pianissimo geschlossen hatten, wobei besonders die Violine ergreifend zur Wirkung kam, sprang er freudigst erregt auf.
„Danke, meine Herrn! Hier meine Sonntagspredigt! Vortrefflich gelungen..."

Peter hatte während des Konzerts allerlei groteske Einfälle.
„Das Frontschwein badet im Konzert!" Oder: „Ohrenschmarrenschmaus" und „Sonntagspredigtbraten", „Ragout aus sanftlebigem Oberkonsistorialrat-Fleisch" usw. Auch betrachtete er geradezu mit einem wollüstigen Ingrimm den Herrn Bratz neben sich, diese beständig nervös grimmassierende Monokel-Fratze...
Aber auch der Journalist war nicht müßig geblieben.
In seinem Gehirn stand schon der Leitartikel „Vom neuen Zeitgeist" fix und fertig. Hier waren die Sünden und vielen Fehlerhaftigkeiten des alten vergangenen Regimes scharf und präzis kritisiert, dann aber auch das Gute, Edle und Wahre vergangener Zeiten sorgfältig und liebevoll dargestellt, das es nun weiter zu pflegen und zu hegen gelte, und am Schluss war als Bilanz die beschwörende Formel gegen den Bolschewismus und gegen die alle geistigen und sittlichen Kulturwerke bedrohende Anarchie angebracht. Einige Berichte Reisender aus Russland, Gräuelszenen voll phantastischer Anschaulichkeit waren nicht ungeschickt eingeflochten, und vor allem volltönend und warnend zugleich war die Stimme, die er für die Unantastbarkeit des Privateigentums erhob.
Bratz dagegen döste zwischen „Farbenklavier-Klavilux", „Sonnenmaschine" und der „Wirkung des Grammophons auf Neger" dahin und dachte dann konzentriert an Lucie, ein Rasseweib, Kellnerin in einer Bar, und wie man Geld auftreiben könne, die Weiber kosten Geld, das ist eine alte Sache. Vielleicht geht's mit einem Spielklub, der vaterländische Verschwörerklub, dem er auch nebenbei angehörte, war noch nicht recht in Schwung, die Geldgeber zogen noch nicht, doch was nicht ist, kann immerhin allemal noch werden...
Der Oberstleutnant gab sich willig der Musik hin.
Zwar Marschmusik ist es nicht, überlegte er, auch reizen Blasinstrumente nicht so sehr zum Träumen. Aber Kunst ist es, erhaben und großartig. Nur die Künstler, das ist eine andere Sache... Gegenüber dem undisziplinierten Beethoven da war doch Goethe ein ganzer Kerl... Und dann bemerkte er unwillig, dass er Zivil trug. Die schöne alte Uniform. Vielleicht werde ich es noch einmal erleben: Sonnenglanz, die Brust voll Orden, die Straßen zur Parade abgesperrt... schon dröhnt der Stechschritt...
Da eben schloss das Trio mit pianissimo. —

Noch einige Stücke. Ein Violinsolo. Ein Marsch, auf besonderen Wunsch des Oberstleutnants, und der Trio-Abend war beendet.
Man blieb nun noch bis über Mitternacht gemütlich zusammen.
„Die Einwohner müssten sich zum Schutze ihres Eigentums zusammentun, für Ruhe und Ordnung, gegen Bürgerkrieg und Anarchie."
„Ist schon erwogen beziehungsweise beschlossen."
„Im übrigen: was unsere Revolutionäre anbetrifft, vom Schlage solcher Bürschchen wie Toller, die jetzt
den Mund so voll nehmen, so dürften die uns nicht besonders gefährlich werden. Sie sind eitel bis zum Überlaufen, man muss sie hätscheln, ausgemachte Windbeutel, mit denen nicht fertig zu werden, das wäre zum Lachen... Man muss sie nur ein wenig mit einer Verbeugung vor ihrer Genialität, wovon sie natürlich keine Spur besitzen, kitzeln, man muss ihnen geschickt durch die Presse einreden, sie hätten eine weltgeschichtliche Mission, dann strecken sie, von sich selbst fasziniert, eitel bis zum Brechreiz, wie sie sind, gleich alle Viere von sich, und man kann alles, was man nur will, mit ihnen anstellen. Da sind die Bolschewisten schon andere Kerle, aus einem Guss, die wenigstens wissen, was sie wollen. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen, Russische Glut, amerikanische Gründlichkeit: das sind ihre Hauptqualitäten, das muss ihnen auch ihr ärgster Feind lassen..."
„Gewiss auch in der Schule weisen wir jetzt in jeder Unterrichtsstunde darauf hin, welche Gefahren dem deutschen Vaterlande drohen. Na, unsere Jungens sind alle Gott Lob und Dank vernünftig und würden sich sofort wieder zur Verfügung stellen, wenn es losgeht..."
„Sicher auch Ihr Herr Sohn", zwinkerte der Dekan zu Peter hinüber, der wie versteinert dasaß.
„Aber das ist ja selbstverständlich!" antwortete für ihn der Vater. „Er ist gegen jede Art bolschewistischen Giftes gefeit. Im Trommelfeuer zu einer undurchdringlichen Panzerhaut geschmiedet. Ein Friedjung und Bolschewist: das scheidet sich wie Feuer und Wasser."
„Das meine ich auch!" lächelte der Dekan befriedigt.
Man tat noch einen langen Zug aus der Zigarre, leerte den Rest aus dem Bierglas und stand auf.
„Also sagen wir Dienstag, nächste Woche!"
Man stand schon an der Tür.
„Aber wollen wir so auseinandergehn, nach solch einem Abend, es ist ja immerhin in gewisser Weise das Willkommfest des jungen Herrn Friedjung gewesen. So unverbindlich auseinandergehn, ohne ... "
Alle stimmten begeistert dem Vorschlag des Redakteurs zu.
Der Landgerichtsdirektor saß wieder am Flügel.
„Aber pst! Leise bitte!" mahnte der Dekan. „Sonst habe ich Unannehmlichkeiten."
Und sie sangen mit gedämpften Stimmen: „Deutschland über alles."
Peter sang nicht.
Er sprach leise für sich ganz nüchtern und trocken den Text nach. Wie ein mechanischer Kontrollapparat. Dabei beobachtete er scharf die Sänger. Und beim letzten Vers sprach er halblaut mit: „I-h-r... e-l-e-n-d-e-n... S-c-h-u-r-k-e-n." —

Unten verabschiedeten sich sogleich die Herren. Bratz schlug vor dem Oberstleutnant die Hacken zusammen, stand stramm. Peter verbeugte sich kaum.
Bratz ging noch ein Stück mit den beiden Friedjungs. Er hatte das Monokel wieder eingesteckt.
„Vorsicht ist am Platz. Meine Devise ist: das Leben so teuer wie nur möglich zu verkaufen..."
Und zu Peter gewandt fragte er: „Wahrscheinlich werden Sie nun doch studieren!? In Berlin vielleicht. Ich kann Ihnen für einige Korps Empfehlungen geben..."
„Ich danke", erwiderte Peter kalt.
Bratz schnitt mit dem Stock durch die Luft, dass es pfiff.
„Hören Sie, das ist der preußische Pfiff... Bald kommt der große, der heilige, der entscheidende Tag..."
Dazu summte er schmalzig eine Melodie. „Wissen Sie, woraus das ist. Nein?! Aber... Wagner ,Tannhäuser', dritter Akt..."
„Ich denke an den armen bemitleidenswerten Oberstudienrat. Wie Söhne zu Fallstricken für ihre Väter werden! Armer alter, gebrochener Mann... ", sinnierte der Landgerichtsdirektor. —
Es war ein öffentliches Geheimnis: Dr. Reuchlins Sohn war wegen Meuterei und Hochverrat im Felde vor ein Kriegsgericht gestellt, zum Tode verurteilt und erschossen worden.

 

4

Peters Mutter war noch wach, als Vater und Sohn vom Trio nach Hause kamen.
Peter saß nun mit seiner Mutter allein.
„Mein Kind, du hast Schweres durchgemacht. Ich will dir nun sagen: wenn du wieder von zu Hause fortgehst, dann ist auch meine Zeit gekommen. Du weißt vielleicht, ich lebe mit dem Vater sehr schlecht. Nur deinetwegen bin ich geblieben. Aber du bist ja jetzt erwachsen, und du hast mich nicht mehr nötig..."
Doch, doch! wollte Peter stammeln, aber er konnte kein Wort hervorbringen.
„Es ist am besten, Peter, ich nehme gleich heute von dir Abschied: du bist ein Musterbeispiel für einen idealistisch gesinnten jungen Deutschen. Wie du dich durch diese Zeit hindurchschlagen wirst!? Auf welche Art und Weise du mit ihr fertig werden wirst!? Was aus dir noch werden wird... Fast ist's mir, als ob ich es wüsste. Ich ahne schon so etwas. Aber ich will darüber schweigen. Kurz und gut: Lass die Leute reden, Peter, und geh deinen Weg... Das soll unser Abschied gewesen sein. Leb wohl! Gute Nacht!" Wieder schwieg Peter.
Aber was ist die Wahrheit!? Was soll ich tun...
Und Peter schlief einen unruhigen Schlaf.
Er schlief in demselben Zimmer wieder, in dem er schon als Kind geschlafen hatte, dort an der Wand hingen noch die Eichenkränze, die ersten Preise aus Wettschwimmen und Fußballspielen, und dort obenauf im ersten Schubfach des Schrankes lagen noch durcheinander Schulbücher und Hefte.
Direkt aus dem Gymnasium war er ins Regiment eingetreten, in der Zeit seiner militärischen Ausbildung kam er nur selten nach Haus. Und jetzt, jetzt, was soll aus mir werden.
Peters Vater war Landgerichtsdirektor, ein Richter in höherer Staatsstellung, dessen schönster Tag in seinem Leben war, wie er nie müde wurde zu betonen: damals, als Peter auszog mit dem Freiwilligenregiment, Blumensträuße am Helm und einen vorne im Gewehrlauf: das war ein großartiger erschütternder Marsch lauter prächtiger junger Menschen unter dem Gesang „Die Vöglein im Walde... " auf den Bahnhof. Ihm zur Seite auf dem Trottoir schritten damals Vater und Mutter, beide schluchzten, Peter schluchzte und lachte freudig auf dazwischen, die ganze Stadt war mit Fahnen, Girlanden und Blumen geschmückt: der Auszug dieses Freiwilligenregiments war ein großes Freudenweinen...

Vor vielen Jahren belauschte einmal in diesem Zimmer Peter eines Nachts ein Gespräch zwischen Vater und Mutter.
Peters Vater war damals Staatsanwalt und Anklagevertreter in dem bekannten Prozess gegen den berüchtigten vielfachen Raubmörder Alois Kneisel. Kneisel wurde zuerst in der chirurgischen Klinik zurechtgeflickt, da er bei seiner Verhaftung von den Gendarmen verwundet worden war, und danach dem Scharfrichter überantwortet.
Es muss die Nacht vor der Hinrichtung gewesen sein, denn der Vater hatte dem Dienstmädchen aufgetragen, ihn pünktlich um fünf Uhr früh zu wecken. Der Wecker wurde sorgfältig gestellt.
Auch waren Gehrock, Zylinder, weiße Glacehandschuhe herausgerichtet worden, die guten Schuhe, ein frisches steifes Hemd und die Manschetten mit den rubinroten Knöpfen.
Peter legte das Ohr dicht an die Wand, als er die ersten aufgeregten Worte der Mutter vernahm.
„Nein, Heinrich, ich kann mit dir beim besten Willen nicht mehr zusammenleben", weinte die Mutter, „du bist ein Mörder, mitschuldig an einem ganz gemeinen barbarischen, infamen Mord... Ich flehe dich an, lass mich fort von dir... "
Der Vater sprach ruhig und mit sehr tiefer Stimme vom Staat, von der Notwendigkeit der Erhaltung der Autorität, von der modernen Straftheorie, wonach Strafe erstens: Sühne im religiösen Sinne sei, dann auch ein prophylaktisch wirkendes Abschreckungsmittel und drittens: Befreiung der Gesellschaft von der Gemeingefährlichkeit gewisser menschlich minderwertiger Subjekte.
Jedoch: des Vaters Gegenargumente fruchteten bei der Mutter nichts.
Immerfort schluchzte die Mutter noch: „Das ist Heuchelei, abgrundtiefe Verlogenheit... Ich kann es nicht so in Worten ausdrücken, aber mein Gefühl, mein Instinkt sagt es mir... Ach Gott, o Gott, o Gott, dass du das nicht einsiehst. So verstockt, wer hätte das gedacht. .."
Und die Mutter weinte die ganze Nacht still vor sich hin.
Einmal schrie sie: „Siehst du ihn nicht vor dir: das Gesicht seiner letzten Nacht: groß, ungeheuer und der Hals ist da, warm der Rumpf darunter... dieser in die Länge gezogene Blick... Pfui, wie du mich anekelst... Ich kann es wirklich nicht mehr länger mit dir aushalten..."
Wieder kam ein Weinanfall.
„Du hasst mich also?" fragte der Vater.
„Lässt du mir das Kind!?"
„Auf keinen Fall..."
„Damit du ihn auch zu einem Verbrecher deiner Art, zur gemeinsten und tierischsten Art Verbrecher, die es auf der Welt gibt, erziehen kannst!?"
Ein schwerer Schlag.
Ein Schrei, der hoch und schrill war...
Trotzdem Peter damals erst acht Jahre alt war, wusste er sofort: Der Vater hat die Mutter niedergeschlagen.
Und Peter taumelte, als ob er selbst den Schlag erhalten hätte, fiel ins Bett zurück und versank tief in einen ohnmachtähnlichen Schlaf.
Wie ein Goldregenschwarm sangen Scharen von Engeln darin, wie Bienen sahen sie aus, und die Erde darunter war wie eine klotzige, schattenhafte, geschwollene Blutkugel. Und die Mutter war da, eine überlebensgroße Gestalt, streichelte ihm zärtlich die blutende Kopfwunde, und Peter strengte sich sogar an, ordentlich viel zu bluten, das blutende Blut tat ihm wohl, es rann und blühte
in unendlich vielen Knospen und Beeren im Himmelsgarten...
Die Mutter war in der Nacht noch auf und davon gelaufen.
Der Vater stand pünktlich früh um fünf auf.
Als er mittags nach Hause kam, schaute ihn Peter groß und fragend an. Hat er ihn jetzt wirklich umgebracht?! Aber die Kleidung des Vaters, der jetzt ein bequemes Hausjöppchen trug, war tadelfrei, schwarz; wie anlackiert sah er aus. Nirgends ein Blutspritzer, nicht einmal an den Manschetten. Ob er eine Schürze sich umgebunden hat, so wie im Schlachthaus? Peter wollte erfahren, ob er das eigenhändig gemacht hat, mit dem Beil oder mit einem scharfen Rasiermesser. Immer noch schaute Peter groß und fragend. Der Vater aber schwieg, erkundigte sich nach Peters Schulaufgaben und ließ sich dabei den Gansbraten schmecken.

Nach acht Tagen kam die Mutter zurück. Des Kindes wegen.
„Die Kindheit eines Menschen ist entscheidend. Wie es auch gewesen sein mag, Heinrich, das, was zwischen uns beiden ist, ist Nebensache. Mein Entschluss ist: ich bleibe... Ich kann nicht anders... Und dabei bleibe ich auch: die Todesstrafe anzuwenden innerlich berechtigt ist man meiner Meinung nach nur solchen gegen­über, die ein System, dem dieses Gräuel zugehört, mit Gewalt aufrechterhalten wollen..."
Seit jener Nacht aber war die Mutter eine andere geworden.
Etwas seltsam, absonderlich, sagten die Leute, es muss
ihr etwas auf die Nerven gegangen sein... Vielleicht auch eine Gemütskrankheit... Sie achtete nicht mehr auf die Kleidung, tagelang aß und trank sie nichts, sie entließ das Mädchen, machte jede Arbeit selbst.
Als der Vater ihr einmal darüber Vorhaltungen machte, das entspreche doch ihrem Stand nicht, bekam sie einen Anfall. Die Befürchtung entstand, sie werde über kurz oder lang irrsinnig.
Sie gönnte sich keine Freude mehr. Das dritte Wort hieß: sparen.
Stundenlang saß sie auf dem Balkon, ihre Lippen bewegten sich, sie nickte mit dem Kopfe, seufzte...
Vater und Mutter: jeder von beiden ging von da ab seinen Weg allein.
Nur wenn die Sprache auf Peter kam, auf Peters Begabung, Beruf, Zukunft, dann kreuzten sich für einen Augenblick die beiden Wege, um sich gleich darauf wieder in entgegengesetzter Richtung zu entfernen. —

 

5

Und wieder überzog Peter die Erinnerung an den Krieg wie ein dumpfes, dunstig-tropisches Gewitter:
Da stand der Mensch inmitten platzender Brisanzgeschosse, von Giftgasnebeln eingeschwadet, unter einem Phosphorfeuerregen, wie unter einer kreidig-weißen Branddusche. In eine der Taucherkleidung ähnliche Uniform gekleidet, die alle seine Bewegungen schwerfällig und ungelenk machte, einen Gasmaskenhelm aufgestülpt, der oben eine oval abgeflachte Stahlkuppel bildete, der Filteransatz in der Mundgegend: ein kurzer dicker Rüssel. Schrauben, Griffe, Hebel, Manometer
rings an den Hüften; ein Schläuche-Durcheinander und Drahtgeflechte umspannten den Leib... Und nun, wie ein dem ganzen Körper dicht aufgelegtes Pflaster umschloss ihn diese Uniform, sog, mit dem Giftgas durchtränkt, juckende Blasen auf der Haut; schon beginnen jauchige gangränartige Wucherungen in Luftröhre und Kehlkopf; blutiges Erbrechen; es ist ein langwieriges Ertrinken unter Todesangstschweiß austreibenden Erstickungsanfällen in der eigenen Körperflüssigkeit; die Lunge schwemmt sich auf, wie ein mit Wasser voll gesogener Schwamm, um das Vielfache ihres ursprünglichen Volumens; Haut und Uniform werden dabei eins, eine gallertartige nässende, mit Geschwüren durchklebte Masse, und die Uniform-Haut, die Haut-Uniform schält sich ab... und da stand nackt und bloß der Mensch, ein unförmiges Stück rohen blutigen Fleisches, ausgenommen wie ein geschlachtetes Vieh bei lebendigem Leib, geschunden nach allen Regeln der modernen Wissenschaft und Kriegskunst. Die Sonne drückt nieder vom Himmel als ein glühender Stempel: der ganze Leib wird wie mit flüssigem Feuer eingebrannt. Und nun quellen ihm noch die geronnenen Augen aus den schon kohlig vermorschten Stirnhöhlen, zwei weißliche Kugeln, wie bei einem Fisch, den man siedet...
Und dieses Stück rohen blutigen Fleisches, das sich Mensch nennt, bewegt sich, lebt: es ist ein Mensch, es sind ihrer viele, es ist ein ganzes Menschenvolk, ein ganzes Volk roher blutiger Fleischstücke, mit und ohne Arm, mit und ohne Bein, kopflos und welche mit bläulich gedunsenen Köpfen: sind es schon oder sind dazu bestimmt, es in Bälde zu werden; und die so einem entsetzlichen Schicksal Ausgelieferten beginnen zu leben, lebendig zu werden, gewinnen das Bewusstsein über sich selbst, schließen sich zusammen, Blutendes an Blutendes, und marschieren eines Tages aus Mietskasernen, Fabriken, Massengräbern hervor, hinauf auf die breite Straße, wo die große, schöne, die heitere, die weite, die sorglose, die glückliche Welt blüht, wo es thront und promeniert: ein Trompetenstoß: Achtung, ihr feinen Damen und Herren: stinkendes, rohes, blutiges Menschenfleisch kommt; ja es kommt, wälzt sich daher wie ein fauliger Strom, brüllt vor Schmerz, flucht im Chor und knurrt... Die Damen raffen ihre Röcke hoch: Vorsicht, dass wir nicht schmutzig werden; die Herren blicken betrübt auf ihre blutbesudelten Lackspitzen und Gamaschen... Nein, die hitzigste Sonne brennt so heiß nicht wie diese Wundenflecken, so rot wie diese Wundenfarbe ist nie eine Sonne... und aus den von Kolbenschlägen zerschmetterten Gebissen, an denen noch wie an einem Faden an einem Sehnenstrang halbe, dreiviertel Unterkiefer herumhängen, pfeift, trillert und zirpt ein Gesang: „In der Heimat da gibt's ein Wiedersehen..."
„Bitte zurücktreten!" schnauzt der Offizier das blutende Stück Menschenfleisch an, als es den Absperrungskordon durchbrechen will, der um den großen Platz, auf dem soeben die Heldengedenkfeier stattfindet, gezogen ist.
„Ich hatt einen Kameraden!" spielt eben die Militärkapelle.
Blutige Fackeln leuchten.
„Ich bin der unbekannte tote Soldat!" spricht das blutende Stück Menschenfleisch. „Ich wünsche das Wort zu diesem Thema. Auch ich habe einiges dazu zu sagen. Ich möchte sprechen."
„Treten Sie bitte nicht näher..." — „So eine Gemütsroheit! So eine Taktlosigkeit!" zetern schon einige Kleinbürgerseelen drauflos und ballen wutentbrannt die Fäuste. „Was fällt Ihnen denn eigentlich ein! Schämen Sie sich denn gar nicht!? In so einem Aufzug, und dazu noch am helllichten Tag! Splitternackt!... Sie erregen öffentliches Ärgernis! Das ist ja ein Skandal sondergleichen! Unsere Ruhe wollen wir haben! Leichenpack! Das ist einfach schofel..." — „Zurück! Sonst muss ich von meiner Waffe Gebrauch machen. Ich habe strengste Instruktionen, rücksichtslos vorzugehen... Verhalten Sie sich ruhig und stören Sie den Ernst und die Weihe der Feier nicht! Der Herr Generalfeldmarschall spricht..."
„Wer...!?"
„Bitte sehr, ein letztes Mal, oder ich schieße. Sie haben hier nichts zu suchen... "
Aber schon flitzen die Gummiknüppel, die Bajonette stellen sich waagrecht, die berittene Hundertschaft zur besonderen Verwendung galoppiert heran, ein Panzerwagen knattert...
„Sie haben, scheint's, an einem Tod nicht genug... Gebt euch endlich zufrieden... Hinunter ins Massengrab oder hinauf wieder ans Kreuz mit euch! Als aufbauende Glieder der Volksgemeinschaft kommt ihr, so wie ihr seid, heute nicht mehr in Betracht..."
In diesem Augenblick stößt ein anderer Zug gegen die Polizeikette, eine rote Fahne an der Spitze, kräftig tönt der Gesang:

Einst kommt der Tag, da wir uns rächen,
Dann werden wir die Richter sein...

„Das sind die Sachverwalter, die wirklichen Wahrer unseres ungeheueren kostbaren Schmerzensguts...", sprachen die zusammengehauenen blutenden Fleischstücke... , „in deren Hände hat die Zukunft die Vergangenheit als Erbmasse gelegt. Darin ist auch unser Schicksal mit inbegriffen." —

Mit einem Ruck fuhr Peter aus dem Traum auf, schrie „Jonny", und beinahe in greifbarer Nähe stand vor ihm jener arme Teufel vom amerikanischen Gasregiment, den er bei einem Sturmangriff auf einen der gefährlichsten feindlichen Minenstollen zum Gefangenen gemacht hatte.
Jonny hatte weder um Pardon gefleht, noch hatte er sich zur Wehr gesetzt. Mit einem unglaublich traurigen Ausdruck in den Augen sah er den Deutschen an und drückte ihm einfach herzlich die Hand, als der die bereitgehaltene Handgranate nicht abzog.
Jonny war der einzige Sohn eines kleinen amerikanischen Farmers, arbeitete bei Kriegsbeginn in einer Seifenfabrik und war dann zum Gasregiment eingezogen und gleich darauf nach Edgewood, dem großen amerikanischen Kriegsarsenal, abkommandiert worden.
Drei Monate lag er in Edgewood, dann kam er an die Front.
Auf dem Rücktransport verständigte sich Peter durch einen Dolmetsch mit ihm und erfuhr, wie dort an lebenden Menschen die Gasschutzmasken und die bei einer Gaserkrankung anzuwendenden Gegengriffe ausprobiert werden. Zuerst das Tierexperiment, dann der Mensch...
„Das ist ja Vivisektion!" entfuhr es Peter und der Amerikaner nickte.
Auch hatte jeder Soldat eine so genannte zweite eiserne
Ration bei sich, ein Mittel, das im Fall einer Gasvergiftung bei bestimmten Symptomen gebraucht werden sollte. Dieses Mittel war ein sofort tödlich wirkendes Gift, das dem über alle Maßen schrecklichen Gastod zuvorkam. Auch bestand die Absicht, im Fall der Verwendung des Giftgases von Flugzeugen herab dieses Mittel an die Zivilbevölkerung aller bedrohten Städte verteilen zu lassen...
„Ihr an eurem Frontabschnitt scheint ja im Mond zu leben", bemerkte der Dolmetsch, als er sah, wie sich Peter darüber wunderte. „Ist bei uns genauso... Keine Neuigkeit. Gegen das Giftgas ist bisher auf der Menschenerde leider noch kein Kraut gewachsen. Da mühen sich selbst die größten Autoritäten vergebens. Schutz gegen Gas lässt sich nur durch Maßnahmen schaffen, die praktisch undurchführbar sind... Wie viele von uns verunglückten täglich beim Ausprobieren der Gasschutzmaske im Gasraum! Aber auch das minderwertigste Zeug wird von den Fabriken geliefert. Das Schlechteste auf diesem Gebiet ist eben gerade noch für das Frontschwein gut genug. Der nackte und bloße Mensch ist das billigste Material. Das ganze Drum und Dran verteuert zu sehr die Sache. Aber der Spaß muss sich rentieren... Und nicht genug damit: ist einer einmal gaserkrankt, dann beginnt im Lazarett das Herumdoktern. Doch Schwamm darüber... Wer es nicht miterlebt hat, glaubt es ja doch nicht..."

Die Unterhaltung zwischen dem Deutschen und dem Amerikaner aber sollte nicht lange andauern, ein dicker, untersetzter, schwammbackiger Feldwebelleutnant kam dazwischen, und kaum dass er des Amerikaners ansichtig geworden war, holte er seine Repetierpistole hervor, fuchtelte ein paar Mal wild damit in der Luft herum und knallte Jonny mit den Worten: „So ein Luder!" nieder.
„Du Vieh!" schrie damals Peter auf und löste die Handgranate von der Koppel.
Herbeistürzende Kameraden machten dem Zwischenfall, der ohne weitere Folgen für die Beteiligten blieb, rasch ein Ende...
Eine Woche darauf wurde Peter, durch einen Bajonettstich in den Oberschenkel verwundet, ins Lazarett abtransportiert.

 

6

Dieses Kriegslazarett war eine ausgesprochene Morphium- und Kokainhölle.
Nicht nur der Chefarzt spritzte und schnupfte, sämtliche Assistenzärzte und das ganze Pflegepersonal waren verseucht.
Dazu lag das Lazarett ständig in stärkstem Feuerbereich, kaum eine Woche verging, dass nicht ein schwerer Brocken auf eine der Baracken herunterhagelte und unter dem wahnwitzigen Geheul aller Kranken krepierte.
In der Zeit, als Peter dort lag — es waren insgesamt drei Monate —, kamen noch täglich nervenzerrüttende Fliegerüberfälle hinzu.

Das Lazarett hieß im Soldatenmund „Giftschaukel" und war hauptsächlich mit Gaskranken belegt.
Daneben bestand noch eine eigene Irrenabteilung, doch unterschieden sich die Kranken nicht wesentlich voneinander.
Hier lagen vor allem die Paralytiker, die Silbenschmierer und die Silbenstotterer. Bei all diesen hatte erst die
Erschütterung ihres Nervensystems durch den Krieg den paralytischen Anfall ausgelöst. Remissionen kamen auf Grund der Ungunst der Verhältnisse und der sehr mäßigen Behandlung nur selten vor. Wie ein Katarakt galoppierten sie dem Grabe zu. —
Aber Kokain wurde nicht nur geschnupft, es wurde bei denen, die sich daran gewöhnt hatten, auch in ungeheuren Quanten verspritzt.
Zuerst behandelte man die Gaserkrankten mit Salben und Sauerstoff, dann, wenn, was wenig häufig genug vorkam, die akute Gefahr vorüber war, griff der Unglückliche zum Morphium, später zum Kokain. Offene nekrotisierende und bis tief auf die Knochen sich einfressende Wunden hatte bei den meisten das blasenziehende Agens, d. h. das chemische Kampfmittel zurückgelassen, mit Verbänden und Schmierkuren war nur wenig dagegen auszurichten. Der Zustand der Lunge war mehr als trostlos, überhaupt hatte das Gas bei den meisten tief greifende Veränderungen des Blutbildes hervorgebracht. Die weißen Blutkörperchen nahmen rapid ab, kernhaltige Blutkörperchen treten auf, die roten Blutkörperchen ändern ihre Form, nehmen Stechapfelform an und gehen massenhaft zugrunde. Umfangreiche Pigmentierungen der Haut erscheinen, die durch den freiwerdenden Blutfarbstoff ein gelb- und graubräunliches bis bronzefarbenes Aussehen erhalten. Auch Eisenablagerungen in verschiedenen Organen, namentlich in Leber und Milz, wurden beobachtet.
Und zu alledem blieb einem Entlassenen noch die angenehme Hoffnung auf einen so genannten „Spättod", der oft genug überraschenderweise erst nach Jahren eintrat...
Der Saal, in dem Peter lag, war der „septische", der
Saal, in dem die „Eiterigen" untergebracht waren, vor allem die Lungenemphyseme.
Vierzehn Mann kauerten in halb aufrechter Stellung in den Feldbetten, mit dicken Papierverbänden um den Leib, einen Gummidrain zwischen den geöffneten Rippen, durch den der jauchige Eiter aus der entzündeten Lunge herauseiterte. Das Fieberthermometer kreiste beständig im Saal, die Temperaturen der einzelnen waren das Hauptgesprächsthema. Ununterbrochen wurde gegen den beizenden Fäulnisgestank „Tannenduft" gestäubt, und die Ärzte kamen nur mit der Zigarre im Munde.
Jeder war misstrauisch, hinterhältig gegen den andern, belauerte eifersüchtig jeden Temperaturunterschied, eine ungeheuere Schadenfreude entstand, wenn bei einem das Thermometer wieder einmal um einige Grad höherschnellte. Ein jeder rettungslos seiner eigenen Fieberkurve versklavt: nach ihr schwang der Weltrhythmus. Ja, es kamen auch einige Prügeleien bei der Essenverteilung vor: die, die sich benachteiligt glaubten, stürzten sich mit ihren Krückstöcken aus dem Bett, schlugen auf die ihrer Meinung nach von der Schwester mehr Begünstigten ein, bis einem der Verband sich auflöste und der jauchige Eiter sich dick auf dem Fußboden herumschmierte... War wieder einer „an der Reihe", wurde er auf den Gang hinausgefahren, nicht ohne dass ihm einige höhnisch „Gute Besserung!" nachriefen...
Dann die Folterqualen des Dekubitus! Nach kurzer Zeit hatten sich beinahe alle aufgelegen, hauptsächlich am Steißbein, wo sich trotz sorgfältiger und häufiger Waschungen mit Spiritus, trotz Salben und Puders bald faustgroße Löcher bildeten; den Ärmsten wurde dann ein Luft- oder Wasserkissen untergeschoben, aber die Wundlöcher eiterten, der Kranke faulte jetzt nicht
nur von innen und oben, sondern auch von unten an. Dem also Gefolterten war es, als ob er an den mit dem Dekubitus behafteten Stellen bei lebendigem Leib auf einer glühenden Eisenplatte briete.
Dazu tat noch ein übriges die Wirkung der verschiedensten Narkotika.
Es war unmöglich, ohne diese bei den Erstickungsanfällen und Schmerzkrämpfen auszukommen.
Beim ersten Gebrauch: eine übermütige, durch nichts begründete Heiterkeit, die Patienten plapperten unermüdlich Tag und Nacht Sinnvolles und völlig Sinnloses wirr durcheinander, Pläne wurden geschmiedet, das Modell eines gegen jede Gasart undurchdringlichen Asbestanzuges mit viel Liebe und Hingabe entworfen, Ideen, phantastische Vorstellungen jagten und hetzten sich, ein jeder war eigentlich plötzlich mit seinem Zustande ganz zufrieden, nur, wenn die Schwester einmal länger als gewöhnlich mit der Spritze ausblieb, dann gab es förmlich eine Revolte, man heulte und läutete: der ganze Saal krampfte sich zusammen wie unter einem Tobsuchtsanfall...
Diesem Übel wurde bald abgeholfen dadurch, dass man jedem eine ausreichend große Giftportion zuwies und er sich die Spritzen selbst machte.
Nun gab es jeden Tag einen neuen Abszess, es wurde geschnitten, man saß halbe Tage lang im Warmbad, bis sich der eine oder der andere zuerst eine weit ausgedehnte Furunkulose, dann eine Phlegmone holte, die sich über den ganzen Körper ausbreitete, so dass, wo man auch mit der Injektionsnadel einstach, eitrig-wässerige Flüssigkeit einem entgegenspritzte.
Einige gingen dabei an Thrombosen zugrunde.
Dann kam zur Abwechslung Kokain in Mode.
Die Kranken hatten das Mittel schon mehrere Wochen gebraucht, als sie plötzlich Stimmen zu hören vorgaben, Gestalten sahen, die sie bei ihrem Namen nannten und sie bedrohten, zu wüsten sexuellen Ausschweifungen zu verleiten suchten, elektrische Nadeln durch die Wände hindurch mitten auf ihren Körper hin zuspitzten und wiederum Stimmen, oben und unten und nebenan, die entsetzlich fluchten, Zoten rissen... und plötzlich in den Vorstellungen der Kokainverseuchten der ganze Saal sich in einen Granattrichter verwandelte, Trommelfeuer rauschte und einer sein Bett in Brand steckte, was zwar von den Wärtern noch rechtzeitig bemerkt wurde... Dazwischen sang einer immer monoton vor sich hin: „O herrliche Phosgen-Luft! Du bist mein Augenstern..." Man bewarf ihn, als er nicht aufhören wollte, einfach mit den nächstbesten Gegenständen.
Bald darauf wurde allerdings, besonders da auch eine Inspektion angekündigt war, mit der Dosierung der narkotischen Mittel gebremst.
Die einen ätherisierten zum Ersatz, chloroformierten, fraßen Veronal röhrchenweise, andere versuchten eine Entwöhnungskur mit Alkohol und Pantopon, wieder andere dösten in schweren Schlafmitteln tagelang dahin, vollkommen von einem undurchdringlichen Paraldehyddunst eingedeckt, und wieder anderen, die nicht zu toben aufhören wollten, wurde vom Arzt Skopolamin verordnet, ein stark lähmendes Mittel, das jede Orientierungsfähigkeit ausschaltet, Gesichtsfeldverengungen zur Folge hat, die Sprache des Patienten wurde tief und sandig-rau... und er lag weich gebettet auf seinem harten Feldbett wie in einem unermessbar abgründigen Abgrund...
Die Zwangsjacke wurde nicht mehr angewendet. —
Auch Peter hatte man die Mittel gleich nach seiner Einlieferung aufgedrängt.
„Herrlich! Sie dürfen sich die Sensation nicht entgehen lassen. Einfach: Nirwana..." So hatte ihm die Krankenschwester, süßlich lächelnd, die Drogen angepriesen.
Eine unheilbare Krankheit ist der ganze Mensch, eine Seuche, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss, dachte damals Peter zuerst. Weiter dachte er noch nicht...
Er schlug die Mittel nicht aus: eine lange, angenehm lauwarme Flüssigkeit war es, die sich durch seinen Körper erstreckte, alle Blutbahnen hindurch sich verrieselnd und verzweigend...
Und eines Tages bemerkte er: er konnte das Mittel nicht mehr lassen.
Ließ er nur eine Spritze aus: sofort fiel er schlapp in sich zusammen wie ein leerer Sack, ganz ausgelaugt und geleert war er, zitterig, bis in die feinsten Nervenspitzen flimmernd, und nur immer mit dem einen Gedanken, der zur Zwangsvorstellung wurde: Die Spritze...
Die Schwester kam wieder.
„Na, ich hab es Ihnen doch gleich gesagt. Machen Sie sich kein Gewissen. Ist ja gar nicht so schlimm..."
Da half ihm gar mächtig die Erinnerung an Tage seiner Kindheit, die sich ihm plötzlich als die festeste Ankerkette seines Lebens erwies.
Dort gab es Berge und Märsche durch Gebirgstäler, Wiesenflächen, flaumig und flockig; Wälder am Horizont, wie zu fleischigem Ölgrün geronnene Wellen; enzianübersäte, mit Zwergholz bewachsene Alpwiesen; Wildbäche, die so munter die Schluchten herabstolperten; auch ein uralter Bergführer, ein origineller Kauz, war da, ein ganzes Bündel von Hirschzähnen und Silbertalern an seiner Riesenuhrkette; Sonnenaufgang war: Gletscherebenen und Gipfelzacken: flüssig feueriges Eis; dann unten wieder im Tal die Volkstänze und derben Volksbelustigungen, ja das war noch von einem gesunden Menschenschlag, die sträubten sich mit Händen und Füßen gegen die monokel-, lorgnettglotzenden Fremden... Und Gewitter zogen auf und platzten mitten am Himmel auseinander über dem Bergdorf: alle Kapellen des Tals wimmerten Wetterläuten,  und die Flammenwolke trieb den Berghang entlang. Blitz auf Blitz, Donnerschlag auf Donnerschlag: jeden Augenblick flammte vom Blitz entzündet eine andere Tanne auf, und das vielfache Echo der Donnerschläge prallte und knallte von den Felswänden. Nun knatterte der Regen, der Sturm surrte: da reckte sich der Mensch auf, die Muskeln strafften sich: ja das Ereignis solch eines elementaren Gewittersturzes hatte noch etwas von der  Sprache   des   Welten-Anfangs,   der  Vorzeit... Auch im Vorfrühling war Peter einmal im Gebirge: da aber donnerten die Lawinen, überall lag noch Schnee und der Schnee begann zu fließen...  Da stellte sich Peter breitbeinig gegen den Wind, wie ein Torwächter gegen den Ball beim Fußballspiel: und der Sturm drückte ihn mit einem heftigen Faustschlag von der Stelle, so gewaltig, herrlich, übermenschlich war der Sturm...
An die Erinnerung an diese Landschaft klammerte sich Peter in seiner tiefsten Not in Gedanken an, eine kristallharte eisklare Kraft sog er aus ihr, und er lachte eines Tages überlegen. „Was, ich soll mit diesem Dreck da nicht fertig werden... "
Und er wurde eines Tages fertig damit, ein marternder Heißhunger überfiel ihn, er stahl den Sterbenden das Essen, trotzdem es schon mit Speichel versabbert war, aus den Näpfen weg, es war zwar ein entsetzlicher Fraß, aber er wurde gerade doch noch kräftig und gesund damit. —
Die Operationswagen rollten in den Gängen, eine Rippenresektion folgte wieder auf die andere, draußen stand Sanitätsautomobil an Sanitätsautomobil: die ersten Blutzeugen der soeben begonnenen Riesenmassenschlacht.
„Meine Kindheit hat mich diesmal gerettet, ein Erbgut, an dem die Kinder gut gestellter Leute unendlich lang zu zehren haben... Und die anderen?!... Was der Mensch in solchen vier Jahren durchmachen muss, das geht schon auf keine Kuhhaut... Und was der Mensch aushalten kann... Und wofür und warum dies alles?!"
Peters Antwort war: „Deutschland."

Bereits drei Tage nach seiner Entlassung wurde Peter mit seiner Kompanie zu einem Sturmangriff eingesetzt. —

 

7

Peter hielt es zu Hause nicht mehr länger aus.
Das Gehalt seines Vaters reichte gerade, ihn auswärts studieren zu lassen. Er suchte sich Berlin aus. Auch einige Kameraden waren dort, für die erste Zeit war es gut, nicht ganz allein zu sein. —
Einige Tage vor seiner Abreise besuchte er den Abiturientenstammtisch. Alle Monate einmal fanden sich immer noch einige frühere Schulkameraden in einer Bräustube zusammen. Diesmal waren fünf da. Dreiviertel der Klasse war gefallen.
Rainer Feck, ein dummdreister und oberflächlicher Bursche, der prinzipiell nur die modernsten Schlipse trug, erzählte Kriegserlebnisse, schnitt ungeheuer dabei auf und schwelgte voll Entzücken, dass ihm der Mund troff, in der Schilderung, wie er eines Nachts ganz allein von der Flanke aus einen feindlichen Graben aufgerollt habe.
„Stücker fünfzig haben daran glauben müssen."
Aber auch Fritz Kunz, der frühere Primus, ein schmächtiges Kerlchen mit einem großen Kneifer auf der kleinen käsig glänzenden Stupsnase, riss Witze und Zoten, mitten daraus hervor wurde angestoßen, ein vaterländisches Lied gesummt und mit betrunkenen heiseren Stimmen gegrölt: „Deutschland über alles!"
„Peter! Los! Gib dein deutsches Ehrenwort, verpfände uns deine Männerehre, dass du, wenn du nach Berlin kommst, es den Sausozialisten ordentlich einbrocken wirst... Hast du gehört von der widerlichen Hure, der Rosa Luxemburg... Feste druff, allemal, sage ich... Hoch! Lasst uns gleich im voraus die kommenden Heldentaten des großen Sozialistentöters Peter Friedjung begießen! Heil! Prost!"
„Bravo, Peter! so ist's recht", schnarrte Kunz, als Feck die Hand Peters packte und sie kräftig schüttelte.
„Noch können wir uns nicht rühren! Aber der Tag kommt! Blutige Rache!... Der scheißige Volksstaat Bayern! Na wartet nur ... Ruhe im Puff, wenn Ebert..."
„Bravo! Dufte Nummer! Viechskerl!" applaudierte Kunz wieder.
Augenblicklich war Stille, als eine Patrouille dreier roter Matrosen ins Lokal trat.
Alle hatten angstgeschwollene Köpfe.
Auch Peter, der sich von ganzem Herzen seiner Kumpane schämte.
Hasserfüllte Blicke von allen Tischen geisterten an den drei Matrosen empor, die ruhig und sachlich die Ausweise der Anwesenden kontrollierten, ironisch lächelten, als ein dicker Spießer vor Angst zusammenzuckte.
Zwei waren schon hinausgegangen, der dritte stopfte sich noch eine Pfeife, dann ging auch er, höflich und gemütlich guten Abend wünschend.
Das ganze Lokal brodelte auf.
„So ein Saupack! So eine Gemeinheit! Was nicht die sich alles herausnehmen. Polizeibefugnisse, Strafvollzug. Die ganze Welt ist ja auf den Kopf gestellt! Bevor die nicht an der Laterne ... "
„Ja, wisst ihr was", kreischte Feck, „Agenten müsste man denen auf den Hals schicken, Aufstände inszenieren lassen, die Massen, wenn sie hungern, zu Plünderungen provozieren, Bomben und Waffen in Versammlungslokale einschmuggeln, einen Führer, wenn er sich allzu aufsässig erweist, unauffällig um die Ecke bringen... kurzum die Leute aus ihrer Passivität heraus vor die Gewehre locken... Viele von uns haben jetzt solche Stellungen. Das ist auch eine Wissenschaft, eine Kunst, das will gelernt sein. Das erfordert täglich Übung, Geistesgegenwart, einen ganzen Mann, so jemand darf keine Gefahr kennen. So einer bekommt bestimmte Aufträge. Führt sie aus. Steht selbst unter Kontrolle... Spitzel, auf Horchposten Tag und Nacht, Gift einspritzen und immer wieder Gift einspritzen, das macht sich bezahlt. Seine Wohnung hat man, sein Essen hat man, auch
Weiber in Hülle und Fülle: und da fällt auch hie und da so was wie ein Anzug ab, Kopfprämien, Extraprovisionen in erregteren Zeiten, und dass die nie ausgehen, dafür sorgt man schon: damit lässt sich also schon trefflich auskommen... Was meint ihr zu meinem Vorschlag! Wollen wir nicht gescheiter statt irgendein windiges Kolleg dieses Fach belegen!?"
„Selbstverständlich", meinte Kunz, „eine ehrliche Kugel ist für dieses Gesindel zu gut... Ja, einem solchen Kanaillenpack gegenüber kann man schon frei seine bestialischen Instinkte schießen lassen. Der Zweck heiligt die Mittel."
„Na, Peter!?"
„Ihr entschuldigt schon, aber ich versteh euch einfach nicht mehr. Ich kenn diese Sprache nicht..." Alle lachten.
„Lange Leitung... oder ein wenig plemplem im Felde geworden, nanu, du Affenschwanz! Hämorrhoiden im Hirn?!"
Man brach auf.
„Und jetzt feste druff! Jetzt gehen wir noch ins Puff... Müssen doch Peters Wiederkehr feiern... !?"
An einer Straßenecke drückte sich Peter wortlos davon.
„Fotzendreck und Hurenschleim!" johlte ihm Feck nach. —

Und Peters Gott zertrümmerte.
Wie ein tausendjähriger Eichstamm, von der Axt der Holzknechte gefällt, im Waldgrund niederrauscht, so lag, durch Ereignisse und Erlebnisse zerspalten, eines Tages im Zeitabgrund „Stamm" und „Wipfel" Gott da, der Wipfel, der hoch im Äther wie ein Baldachin die
Erde überschattete, der Stamm, der in der Sehnsucht des Menschenherzens Wurzel schlug und erschütternd inbrünstige Gebete wie Säfte aufwärtsleitete... Welk waren die goldenen Blätter geworden, ein Geruch von Morast und Fäulnis schlug Peter aus dem gefallenen Wipfelwerk entgegen, er staunte noch und wunderte sich: das war doch Gott... Und zu gleicher Zeit drang, von einem Haufen wesenloser Schemen gesungen, das Lied „Deutschland über alles" zu ihm, die Gesichter der Singenden verzerrten sich zu blutrünstigen Grimassen, es war wie ein feister laut grölender Grabgesang, vollkommen gedankenlos von denen, die ihn sangen, hergeleiert, und immer kräftiger dagegen tönte aus den Schluchten und Dickicht-Labyrinthen einer kommenden Zeit herauf, begleitet von dem sausenden Takt der Maschinenhämmer und der mit elektrischen Motoren und Turbinen betriebenen flitzenden Treibriemen: „Wacht auf..."
Peter erinnerte sich des Rückmarsches, des Rheinübergangs, des Deutschlandliedes, als die Sonne voll durch die Nebelpest durchbrach...
„Deutschland über alles... "
Das Deutschland, das ihr meint, das ist das meine nicht...
Zwei Männer in Arbeiterkleidung standen da unter einer Toreinfahrt und Peter hörte gerade noch: „Jedes deutsche Arbeiterherz wird unter der Wucht solcher Ereignisse zur Zündmasse... Großes geht in der Welt vor... Blick nur nach dem Osten... Revolutionsjahrzehnte... Bis alles Alte und Faule und Morsche gestürzt ist...!"
Als Peter am andern Morgen in die weite Welt fuhr, sagte ihm der Vater zum Abschied: „Und nun, Peter, werde der, der du bist! Halte dich weiter rein! Nichts ist von Blutschande oder Rassenunreinheit an dir. Werde ein kerndeutscher Männercharakter! Gedenke, dass du ein Deutscher bist..."
Auf dem Nachhauseweg herrschte der Vater die Mutter an: „Aber das eine bitte ich mir aus, wenn du ihm schreibst: ich wünsche mir keinen zweiten Fall Reuchlin junior."
„Sei ohne Sorge", erwiderte ihm die Mutter sanft und siegesgewiss, „Peter wird schon ganz allein den rechten Weg machen!" —

 

Zweites Kapitel

DIE ERDE PLATZT!

Schlagwetterkatastrophe auf der Zeche „Königin Luise". Die „Majestät des Todes". — Was tut Not!? „Lieber im Feuer der Revolution verbrennen, als... "

1

Die Menschen waren nicht mehr in den Häusern zu halten. Es trieb sie heraus auf die Straße. Sie hetzten zunächst einzeln, ein jeder für sich, dann in Gruppen dahin, Hunderte ballten sich an: in einer Masse von Tausenden schon schwemmte es die Straße hinunter.
Mit eckig aus den Schultern geschleuderten Armen. Manche halbnackt, nur mit einem Lumpen um.
Sie kletterten über Zäune. Gitter und Schranken wurden niedergetreten. Dazu läuteten die Glocken auf allen Türmen der Stadt.
Keinen Betrunkenen sah man mehr. Keine Kneipe lärmte mehr.
Maschinen stampften in den Kesselhäusern, von keiner Menschenhand mehr bedient, in einem unregelmäßigen Rhythmus weiter.
Die Straßenbahnen hatten ihren Betrieb eingestellt.
Überall standen auf den Gleisen wie leblose Klötze die verlassenen Wagen. —

Es war gegen fünf Uhr nachmittags, als ein lang gezogener Donner unter der Erde hinrollte. Über der Erde war es wie ein elektrischer Stoß, der in alle Winkel, auch in die kleinsten Häuserwinkel der Stadt, hineinzuckte. Die Telefone schrillten noch einmal auf. Die Telegrafenapparate knatterten drauflos... Und es warf sich von Mund zu Mund: eine unheimliche Erschütterung: sie sprang von Nerv zu Nerv über, jedes Menschenherz krampfte sich zusammen, dann stieß es wieder um so gewaltiger einen Strom von Blut aus. Abwechselnd färbten sich die Wangen der Menschen kreideweiß, schwarzrot... Automatisch schnappten Münder auf und zu. Wie im Starrkrampf blieben sie weit offen... Der Boden schien plötzlich unter den Füßen weggezogen. Man tappte wie im Finstern, trotzdem es noch helllichter Tag war. Wie in einem Hohlraum. Man tastete sich wie im Leeren... Ja, wie ein riesiges unsichtbares Fragezeichen stand es plötzlich mitten im Raum. Das ganze Leben, das Menschendasein selbst war in einem Sekundenaugenblick, mit einem jähen Ruck zu einer Frage geworden.

Die Läden waren im Nu geschlossen.
Niemand zeigte sich an den Fenstern.
In den Stadtteilen der Reichen kehrten die Autos schleunigst in die Garagen zurück. Auch dort, in den vornehmen Villenvierteln, war der Druck spürbar. Man sprach halblaut: „Was wird wohl daraus wieder werden?!"
Die Fabriksirenen heulten.
Rudel von Kindern krallten sich kreischend in die Röcke der Mütter fest, die, wie vom Irrsinn gehetzt, dahinfegten.
Auch die Polizeimannschaften, auf Lastkraftwagen heraneilend, vermochten diesem Menschensturm keinen Einhalt zu tun, Dazwischen klingelten die Löschfahrzeuge der städtischen Feuerwehr. Sanitätskolonnen sputeten vorüber.
Wahnwitzige schrille Schreie gellten jetzt über diese Flut fliegender Menschenhäupter hinweg.
Da rannten auch welche querfeldein. Einige stürzten. Andere packten sie wieder hoch. Ohne dass sie ihre zerschlagenen Beine bewegen mussten, trug der über die holperigen Trottoire sich dumpf dahinwälzende Menschenstrom unwiderstehlich sie mit vorwärts. —

Es war im Februar. Aber es war wie ein Frühlingstag.
Durch die Rauchschicht, die in dieser Gegend ewig in der Luft lagerte, waren Fetzen blauen Himmels sichtbar. Die Sonne dampfte, und spärliche Reste schmutzigen Grases fingen an den Böschungen, die die Schlackenhalden dort von der Straße abgrenzten, bereits dürftig zu grünen an.
Es roch nach Blut, Schweiß, Pulver.
Es roch nach verbranntem Fleisch. —

 

2

Von einem großen freien Platz aus, der mit russerstickten verkrüppelten Bäumchen umpflanzt war, tönt jetzt eine gewaltige Stimme herüber:
„So ist bereits festgestellt, dass riesige Kohlenstaubmengen vorhanden waren, die weder berieselt noch mit Gesteinsstaub unschädlich gemacht wurden... Die Koksablagerung nach der Explosion ist der sicherste Beweis... Auch die Ansammlung von Schlagwettern ist auf der ,Königin Luise' keine Seltenheit gewesen. Sehr oft haben wir vom Betriebsausschuss bei unseren Befahrungen Wetter festgestellt. Aber gerade darum, weil wir sehr oft die Verwaltung belästigten und dem Betriebsführer und Steiger meldeten, dass dort und dort Wetter stehn, sind wir an der Befahrung gehindert worden... Ja, seit Oktober vorigen Jahres hat man uns vom Betriebsausschuss am ordentlichen Befahren gehindert... Ihr alle spürt es ja am eigenen Leib — und an Hand der Förderzahlen können wir es auch leicht nachweisen —, bei uns hier herrscht das schlimmste Antreibersystem... Ja, so sieht in Wahrheit der Geist des Unternehmertums aus... Was dem Bergmann Not tut, dass der Bergarbeiter schließlich auch ein Mensch ist, seine Bedürfnisse, seine Sorgen, seine Nöte hat: das, das alles scheint man im Laufe der Zeit wieder ganz und gar vergessen zu haben. Wir, wir hausen hier unten in unseren Gruben wie in einer unterirdischen Leichenfabrik..."
Tausende von Kumpels standen dort, eng um den Redner gedrückt. Mit stieren Augen sogen sie sich fest im Boden ein. Tausende Fäuste waren wie zu einem Klumpen aus Stein geballt.
Es war ein großes Schluchzen. —

Von der Zechenverwaltung war strenge Anweisung gegeben worden, keinerlei Nachrichten über den Umfang des Unglücks sowie auch über die Zahl und die Namen der Toten den Draußenstehenden bekannt zu geben.
Die Menschenmassen stauten sich vor den Zechentoren zu einer Mauer.
Fest stand diese Menschenmauer. Schwankte vor. Neigte sich wieder elastisch vor der Polizeikette zurück.
Wie Brandung und Ebbe war das.
Wie Atemzüge. —

 

3

Vor einer halben Stunde war im Nordostfeld der Zeche „Königin Luise", Fach 7, die Schlagwetterexplosion erfolgt.
Zuerst: ein Riss. Ein gewaltiger Schnitt mitten durch die Luft... Das Trommelfell platzt, den Brustkasten quetscht es wie einen Schwamm aus... als zöge es einem die Lunge wie einen Schlauch durch den Hals herauf... Der Explosionsstoß: und die Bergarbeiter klatschten an die Wände. Mit zerbrochenen Gliedern, mit Gehirnerschütterungen, mit Schädelbrüchen kleben sie da, bereits unkenntlich entstellt... Zwanzig, oft dreißig Meter weit fliegen sie, manche nach oben, zappelnd: schwer wie ein Sack fallen sie wieder nieder... Und da rast auch schon die Explosionsflamme daher: verbrennt, verkohlt, stürzt sich von allen Seiten zugleich auf dich, reißt mit ihrem stechenden Feuer dir die Augen aus... Die wenigen noch Überlebenden fliehen, flüchten durch brennende Gänge; wie Feuerschlangen winden die sich; die Angst peitscht sie, die Todesangst sitzt wie ein Stachelhalsband fest an der Gurgel. Auf allen Vieren flieht man, krabbelt, macht Schwimmbewegungen. Stürzt über sich selbst im Dunkeln, das ununterbrochen giftigen Kohlenstaub regnet.
Gesteinhagel prasseln.
Ein schlagartiger Wind schlägt.
Ein eiserner Luftdruck. Ein unsichtbarer atomhafter
Riesenknebel...
Wirbel. Strudel. Böen. Flammenschüsse kreuzweis. — Und in diesen Felsenkellern wirkten zudem noch die
fliegenden Steinmassen wie Geschosse von höchster
Splitterwirkung.
Die Kolbengestänge der Lokomotiven und Wasserpumpen, Stahlhäute zerknüllte es leicht, als wären sie aus Konservenblech. Ganze Förderzüge schleudert es spielend vor sich hin und her. Hier wird ein frisch gebohrter Tunnel durch ein Bündel dort aufgestapelter Reserveschienen verstopft. Gebogen, geknickt; in allen Formen. Drahtgewirre hingen herum wie Spinnenweben... Und einem passiert vielleicht mitten im Todeskampf noch der Witz: „Das ist ja beinahe akkurat so, als hätte hier der Riese, Herr Breitbart, gehaust..."

Hier war ein Ausweg... Aber da ist der Stollen schon längst wieder zugemauert. Hier stehen metertiefe Tümpel. Dort prallt man mit anderen zusammen. Aus allen vier Richtungen nun toben sie kaminähnliche Steingänge hinauf, schluchtenartige Durchbrüche kollern sie sich wieder hinab... Auch hier, auch hier, auch hier kein Ausweg...
Und schon zieht das Gas heran, ganz sanft, ganz unmerklich, wie der heilige Geist, wie auf Taubenfüßen. Schwebt heran. Schmilzt heran... Ein Schluck: und alle Glieder sind behängt wie mit Blei. Ein inneres, unheimliches Gewicht. Sinken nach unten...
Es war ein Geräusch wie xs... xs... xsss...
Xs... xss... und immer xs... xsss ...
Hinter den Schläfenwänden trillerte es, tickte es...
Es zirpte, wisperte...
Und immer wieder das: xs... xsss...
Gäule: ein Beinpaar gespreizt, das andere steif angezogen: unwirklich, wie zerschlagenes hölzernes Spielzeug. Der Bauch wie ein Ballon aufgetrieben...
Förderwagen, mit Kohlenschutt beladen, schieben sich polternd noch abschüssige Strecken hinunter, irgendwo
im Dunkeln. Ein dumpfer Knall in der Ferne. Irgendwo stoßen sie jetzt auf.
Und nichts mehr. Kein Laut.
Nur immer wieder das xs... xsss...

Da findet das Aufräumungskommando nach Tagen, wenn auch die letzten Nachschwaden verzogen sind, noch gefüllte Kaffeeflaschen, Kreidezeichen an den Wänden: „Um elf Uhr nachts habe ich noch gelebt." — „Grüßt mir schön die Jule."
Der Riesenventilator surrt. Das Massengrab wird ordentlich durchgelüftet, und nach einer Woche vielleicht tut der gespenstische Erdrachen sich wieder auf, bereit zu neuen Opfern. —

 

4

Dick aber kleben jetzt die Gasschwaden noch unten.
Die Rettungsmannschaften kommen in den Förderkörben immer wieder betäubt nach oben. Eingekleidet wie Taucher. Die Gaskonzentration ist zu stark. Immer wieder versagen die Sauerstoffapparate.
Da erspäht die vieltausendäugige lebendige Menschenmauer durch die Gitter des Zechentores hindurch, wie einer auf der Treppe zum Verwaltungsgebäude mit der Schulter zuckt, den Kopf schüttelt...
Und die lebendige Menschenmauer schreit aus vielen tausend Mündern einen einzigen Schrei, Namen, Hunderte von Namen schreit sie, jede Frau schreit den Namen ihres Mannes, jeder Kumpel den Namen irgendeines Kameraden: „Lutz, Fritz, Adolf... wo bist du... habt ihr den Anton, den Karl gesehen... ist der Stieben noch unten... August, Josef Zarewski..."
Und die Frauen machen Bewegungen mit den Händen, als schaufelten sie; krümmen die Finger, als ob sie ihre Männer gewaltsam aus der Grube herauskratzen wollten.
Die Polizeikette schwankt. Reißt mittendurch — Und die lebendige Menschenmauer stößt sich in die Gitter des Zechentores hinein. —

Bälge.
Hautfetzen.
Von Armen und Beinen abgequetschte Rümpfe. Verkohlte Menschenköpfe, wie kugelähnliche Versteinerungen:
So lag es schon, ein wirres Durcheinander, auf den Höfen herum.
Die Lebenden stürzten sich mit einem schrillen Aufschrei auf diese Toten. Rissen, zerrten an ihnen herum. Wem gehörte dieses Haarbüschel?! Dieser Arm mit den Tätowierungen!? Dieser Ring mit dem Finger da!? Wer ist das mit dieser Narbe am Hals da?!...
Fackeln waren jetzt angebrannt.
Ein Haufen von Menschen: nach allen Seiten hin wendete man der Reihe nach so einen Menschenbrocken.
Und wie Baggermaschinen arbeiteten die Förderkörbe: neue Weinkrämpfe, neue Herzschmerzen, neue unermessliche Leiden, neue unselige Gewissheiten, immer neue Tote, Leichenfetzen und Leichenbrocken schöpften sie aus der Tiefe herauf. —
Eine Stunde später: und die Nachricht von der Grubenkatastrophe verbreitet sich, dreihundert Kilometer von der Unglücksstätte entfernt, in der Hauptstadt.
„Wie kam es zur Entzündung!?"
„Durch eine Lampe!? Durch einen Schuss!?"
„Ist der Sicherheitssprengstoff, der verwendet wird, auch wirklich ganz sicher!?"
„Hat der Schießmeister nicht einen Fehler begangen!? Und wie steht es mit der Ausbildung der Bergleute überhaupt!?"
„Funktionierten die Kohlensperren?! Und wenn nicht, was ist die tiefere Ursache?!"
„Über zwei bis drei Tote im Ruhrbergbau täglich, oft über siebenhundert Verletzte monatlich... Muss das so sein!?"
„Nein, nein, nein... Das verstehen Sie so nicht recht, Herr, um was es sich bei solchen Unglücksfällen eigentlich handelt... Das ist Schicksal. Alles ist bestimmt in Gottes unerforschlichem Rat... Wie der Weltkrieg ein Gericht Gottes ist, um die Übervölkerung zu beseitigen, so ist ein Grubenunglück eine Vorsehung Gottes, um den Kapitalismus zu vernichten. Gott nimmt den Proletarierfamilien den Ernährer, damit der Kapitalist Frauen und Kinder unterstützen muss. Dadurch zeigt Gott den Kapitalisten, dass er ihnen nicht gut gesinnt ist..."

 

5

Es war gegen zwölf Uhr nachts.
Die Arbeiterviertel horchten auf.
Ein kurzer Ruck auch dort. Eine Sekunde lang zögerte auch dort in jeder Brust der Herzschlag. Bis in die Fingerspitzen hinein floss die Nachricht als eiskalte Blutwelle. Lähmend.
Auch Max Herse sprang noch einmal aus dem Bett hoch und zog sich an, als der Kollege von nebenan, ein
Straßenbahner, der eben vom Dienst heimkam, bei ihm anklopfte.
„Du, Max, hast schon gehört!?" „?"
„Bis jetzt über einhundertzwanzig Tote ... "
„?"
„Schlagwetterexplosion. Grubenkatastrophe... Natürlich, sicher genau wie bei uns bei der Straßenbahn. Überall fehlt's, zu nichts ist Geld da, die Schachtanlagen waren sicher mangelhaft... Ist doch heutzutag die Arbeitskraft eines Proleten billiger, als neue technische Anlagen kosten. Das rentiert sich ja heutzutag nicht... Und das, das muss man sich merken, das sind doch noch obendrein die Herrschaften, die höchst ehrenwerten Herrschaften, sage ich, die Millionen, viele Millionen Ruhrkredite verschlungen haben. Unersättlich sind die. Der Krieg, die Revolution: nichts kann sie satt genug kriegen... Wenn wir Proleten ihnen nicht endlich das Maul stopfen..."
Und der Straßenbahnerkollege schlug auch schon mit der Faust auf den Tisch. „Wann, frage ich mich, Herrgottsdonnerwetter, werden wir endlich soweit sein, einig, einig, einig... Darauf, nur darauf kommt's noch an... Wir, wir, wir Proleten, verfluchte Proleten, die wir sind..."
Max Herse musste dem zustimmen.
Dann sprachen die beiden noch lange.
Woher und warum dieser Zwist in der Arbeiterschaft!? Dass die einzelnen Berufsverbände zu wenig, viel zu wenig zusammenarbeiten, ja oft sogar gegeneinander arbeiten. Dass zum Beispiel Arbeitslose und Arbeitende schon recht oft hart aneinander geraten sind. Dass der eine im Produktionsapparat eben den, der andere den Platz einnimmt. Daher auch die verschiedenen Interessen, die unterschiedliche Denkart... die Konflikte. Dass die meisten unter ihnen eben leider immer noch nicht weiter zu sehen vermögen als bis zu ihrer eigenen Nasenspitze... Ganz dumm, ganz eng gedacht ist das... Wie das ganze System rücksichtslos korrumpiert... Dass sie neidisch sind, Lohndrückereien usw. Wegen der kleinsten Differenzen oft gleich übereinander herfallen, wie Kampfhähne, zum Gaudium der „Dritten"... dass sie allesamt viel zu wenig die Gesamtinteressen der Arbeiterschaft im Auge behalten. Dass sie endlich auch kampfmüde geworden sind und immer noch natürlich viel, viel zu wenig opferbereit... Wie der Beruf sich auswirkt: dass einer, der acht Stunden und mehr noch hinter sich hat, halt eben einfach nicht mehr die Kraft hat, die Konzentrationsfähigkeit, nicht mehr genügend aufnahmefähig ist, halt ein ausgepumpter und beinahe zu nichts mehr brauchbarer Mensch ist... Da, da bleibt aber auch schon gar kein Überschuss an Menschenkraft mehr, im Gegenteil, jeder Tag bringt an Menschenkraft ein Defizit. Man muss sich schon verteufelt ernst ranhalten, um sich auch nur einigermaßen wieder herzustellen... Und dass das alles eben daran liegt, dass-
Na, dass die Arbeiterschaft eben heute beinahe schon nichts mehr zu sagen hat —
Dass sie alle Machtpositionen, die sie einstmals innegehabt hat, sich hat entwinden lassen —
Dass sie wehrlos, entwaffnet, vergewaltigt ist —
Führern anvertraut ist, die —
Und dass man sich unbedingt wieder aufraffen muss, zusammenschließen muss, wieder kämpfen muss — Kämpfen um das, was nur recht und billig ist —
Kämpfen um das, was jedem Menschen auf Grund der Tatsache seines Menschendaseins allein, auch schon von Natur wegen, zusteht —
Was die „Anderen" aber freiwillig nie und nimmer gewähren werden —
Dass man also kämpfen muss — um die Macht!...
Nicht mehr so gutgläubig, vertrauensselig, verzeihend sein wie vordem. Sondern: unerbittlich, nüchtern, das Ziel fest im Aug. Und alle die rücksichtslos aus den Reihen des kämpfenden Proletariats stoßend, die durch ihre stete Geneigtheit zu Verhandlungen und Konzessionen die Kampfkraft, die revolutionären Energien schwächen. —

So drückte die Katastrophe den Proleten nieder.
So richtete sie ihn aber auch wieder auf.
Mit furchtbaren Schlägen hämmerte sie ihm wieder Klassenbewusstsein ein, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Solidarität, die Kampfverbundenheit.
Die Klassenehre, die Klassenpflicht.
„Dass wir Arbeiter endlich allesamt werden: ein Wille, ein Herzschlag, ein Blut, ein Leib, ein Geist..."

Mit einem festen Händedruck schieden die beiden Proleten voneinander.
„Diese Welt muss unser sein!" sagte der eine.
Der andere: „Dann werden wir die Rächer sein... Der endliche Sieg ist unser!" —

 

6

Noch in derselben Nacht wurde in den Bureaus der Korrespondenzen und der Zeitungen die Katastrophe gründlichst bearbeitet.
Und schon früh am Morgen stürzte sich die große Welt wie eine gierige Meute, die Blut zu schmecken bekommen wird, auf dieses neueste Ereignis.
Die letzten Wochen war es schon so: abwechslungsreich in jeder Beziehung kann man sagen: zugleich mit dem Frühstück wurde einem im Morgenblatt jeden Tag ein anderer Skandal serviert.
Nun, eine Grubenexplosion: das war eine delikate Abwechslung in dem öden Grau und allmählich langweilig werdenden Einerlei ganzer Serien von Skandalaffären.
Man selbst fern vom Schuss... Nur hie und da ein Kolonialkriegchen, nicht sonderlich aufregend... Bolschewistengräuel ziehen zwar immer noch... Auch Waffenlager, Bombenfunde, geplante Dynamitattentate, Tscheka-Abenteuer... Cholerabazillen. Tagebücher berühmter Scharfrichter... Doppelt so gut schmeckt einem dabei so ein Kännchen Mokka...
Aber auch eine Katastrophe, und ginge die Hälfte des Volkes dabei zugrunde, muss leicht verdaulich und schmackhaft zubereitet werden. Flink wirbelten herum in den Redaktionsküchen die Presseköche. Die an das Papiergift ziemlich gewöhnten Gehirne der Zeitungsleser vibrierten wieder mal heftig unter dem Nervengewitter dieser schaurigen Sensation. „Erinnert das nicht an Zolas ,Germinal'?" - „Gewiss, Schatz, auch in der Literatur ist solch ein Stoff schon des Öfteren und man kann sagen ziemlich erfolgreich behandelt worden. Ein lohnender Vorwurf, in der Tat. Auch Sinclairs
,König Kohle' lies mal nach, auch nicht übel..." Und die bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Spannung entlud sich. Die Journalisten schoben Artikel um Artikel. Sentimentale und schmalzige Nachrufe waren sofort lieferbar in Hülle und Fülle. Theoretische gelehrte Abhandlungen über das „Wesen von Grubenexplosionen" standen in Menge zur Verfügung. „Grubenexplosionen in alter und neuer Zeit", mit Bildermaterial reichlich versehen, oder „Der Kampf des Menschen mit der Natur" oder „Die Rache der Elemente". „Katastrophe im unterirdischen Reich der aufgespeicherten Sonnenenergien". Der Apparat funktionierte wieder mal ausgezeichnet; alles lief wie am Schnürchen. So oder so: Professoren, Historiker, technische Sachverständige, Dichter: sie alle waren eifrig dabei, unermüdlich tätig waren sie, um das von den allein schuldigen Industriemagnaten groß angelegte Ablenkungsmanöver ideologisch zu stützen. Wobei es sich erübrigt zu bemerken, dass die professionellen Arbeiterverräter auch in diesem Fall getreulich ihre Pflicht taten. Und man blieb, was in einem gewissen Moment doch recht zweifelhaft schien, Herr der Situation. Auch dieser Situation.
Eine Wohltätigkeitsaktion wurde eingeleitet.
Berühmteste Namen, Größen der Nation, stellten sich uneigennützig an die Spitze. —

Der Reichstag trat zusammen.
Die Abgeordneten erhoben sich zum Zeichen der Trauer von ihren Plätzen.
Als die Kommunisten den Antrag stellten, aus den von diesem Unglücksfall betroffenen Betrieben heraus sofort eine Untersuchungskommission wählen zu lassen, um gründlich und wirklich wahrheitsgemäß die
ganze Sachlage nachprüfen zu lassen, da erhob sich der Präsident.
Die Regierungsvertreter tuschelten miteinander. Der Präsident rückte sich die Krawatte zurecht. Pathetisch schlüpften ihm die Hände bei seiner Rede aus den Rockärmeln.
„Vor der Majestät des Todes mögen für heute alle Parteistreitigkeiten schweigen... Burgfrieden...!"
Gegen die Stimmen der Kommunisten wurde der Antrag abgelehnt. Als agitatorische Nutznießer dieser Katastrophe wurden die Kommunisten außerdem noch gebührend gebrandmarkt.
In einem schwarzen Gehrock wandelt die „Majestät des Todes" geschäftig hin und her zwischen den Bankreihen der Herren Abgeordneten hindurch: man kondolierte, man beglückwünschte sich aber auch, bei dem gerüttelten Maß von Schuld, das ein jeder der hier Anwesenden für sich buchen konnte, so unerwarteterweise glimpflich dabei weggekommen zu sein.
„Gerne geschehen... Bitte sehr... Meinen allerverbindlichsten Dank... Und die allerbesten Empfehlungen, wenn ich bitten darf, an Ihre Frau Gemahlin... "
„Nichts für ungut... Sie wissen schon, wir nehmen nichts so leicht krumm... Ganz gut so, ein bisschen hie und da Opposition mimen, Herr Levi... Nur im entscheidenden Augenblick zur Stange halten... Darauf kommt's an... Und darauf, na darauf können wir uns ja wohl verlassen... "
Und die „Majestät des Todes" betonte nochmals nachdrücklich den Herren Abgeordneten gegenüber ihre stete Bereitwilligkeit zu jeder Art von Gegendienstleistung... „Wir lassen Sie nicht im Stich... Verlassen Sie sich darauf..." Die „Majestät des Todes" versprach es außerdem noch jedem einzelnen in die Hand hinein. „Über die Frage der Unkosten, die Sie eventuell dabei haben sollten, verständigen wir uns schon. Aktien oder direkt. Dass dabei was ganz Hübsches herausspringt, das ist ja ganz selbstverständlich."
Man schmunzelte schon wieder. Zwinkerte verteufeltlistig mit den Blau-Äuglein nach allen Seiten, blinzelte ein Dankstoßgebet zum Himmel hinauf, und die „Majestät des Todes" entfernte sich, eine dick gestopfte Aktentasche unter dem Arm, um bei den Gewerkschaften und anderen Organisationen noch rasch Almosen und Liebesgaben, nach bewährtem Muster von 1914 bis 1918 Anno dazumal, für die Opfer der Hinterbliebenen zusammenzubetteln. Die „Majestät des Todes" ging dabei recht geschäftstüchtig vor, auch nahm sie es dabei nicht allzu genau. —

An den Bahren der Ermordeten aber standen sie mit entblößten Häuptern; der Reichskanzler und die Abordnungen der Behörden, die Herren der Industrie, die Abgesandten der Großbanken. Auch die Herren Sozialisten standen wie immer mit ihnen. Wohlangesehene Bürger. Ein Bürgermeister. Noch einer. Und ein Oberbürgermeister.
„Leichenschändung. Nichts weiter als Leichenschändung treiben diese da, wenn sie so herumstehen... Jeder ehrliche Prolet muss das so empfinden... "
Sonderzüge in das vom Unglück betroffene Gebiet waren auch sofort von der Eisenbahnverwaltung in bereitwilligster und anerkennendster Weise für die Herren der Regierung usw. eingelegt worden. —
Gut so, aber dachte auch mancher der Angehörigen der tödlich Verunglückten, gut, dass er wenigstens noch
bei einem Massenunglück umgekommen ist... Kommt einer als einzelner um, so kümmert man sich um uns schon überhaupt nicht... Da muss man sich eben hübsch brav mit der Bettelrente, die die Unfallversicherung einem gewährt, abfinden... In einem Jahr sind es über sechstausend solcher Unfälle, mindestens sechshundert davon tödlich...

 

7

Die Tränen der Hinterbliebenen versiegten allmählich.
Man ging zwar noch unter der unheimlichen Last gebeugt, aber auch schon beobachtend und lauernd. Und schon einen Tag vor dem gemeinsamen Begräbnis der Opfer hatten sie sich wieder gefasst, um einige Grade härter und kampfentschlossener waren die meisten unter ihnen geworden, und mit roten Fahnen an der Spitze durchzogen schon früh am Morgen des Begräbnistages Gruppen von Kumpels, Witwen und Waisen die rußverschlammten Straßen der Bergarbeiterstadt und sangen die Internationale.
Oh, erinnerte sich da mancher, das war schon einmal so.
Drei, vier Jahre zurück vielleicht. Aber ein jeder denkt noch voll Stolz daran. Schade nur, dass nicht... Aber aus unseren Fehlern muss gelernt werden... Es geht eben mal schwer vorwärts, und nichts wird einem geschenkt, das ist nun einmal so...

Die Rote Armee zog damals von Stadt zu Stadt. Hals über Kopf rückte die Reichswehr ab. Das Rote Banner flog —
Höhen und Täler leuchteten...
Wir marschierten durch Wälder, setzten uns auf eroberten Pontons über die Flüsse, Tag und Nacht, unermüdlich immer hinter dem weißen Feind her...
Rote Soldaten stiegen aus den Gruben, warfen sich, wo noch eine Lücke war, in die Rote Front...
Das ganze Bergwerksrevier marschiert.
Das ganze Bergwerksrevier kämpfte seinen bewaffneten Aufstand.
So war es.
So wird es wieder sein.
Grab an Grab, Schächte, in denen Tausende verschüttet, erstickt, zermalmt worden sind, Schlachtäcker des Bürgerkriegs, gedüngt mit proletarischem Heldenblut: das ist westfälischer Boden.
Das Land ist hier wie erdiges Geschwür.
Trüb schwelt heute die Flamme der Revolution.
Die Bergwerke wie erloschene Krater...
Menschenfleisch, Arbeiterfleisch verfault bei lebendigem Leib in den Ruinen dieser modernen Katakomben.
Rußt ein. Und der Menschenkadaver heizt sich zur Not noch an in den Schnapsschenken mit giftigem Fusel...
Aber täuscht euch nicht!
Morgen, übermorgen brechen sie wieder auf: Narben, Wunden, Schmerzen brechen wieder auf, und Millionen Kumpels stürzen sich wieder herauf aus der Erdtiefe, wie lebendige Lavamassen.
Die Erde platzt!
Der Erdbauch platzt: und herauf aus den mit lebendigen Menschenleichen angefüllten Erddärmen fördert es Haufen an Haufen, wandelnde, leibhaft gewordene Kohlenstrunke... Wehe:  die Kohle kommt!  Wehe,
wenn die Menschenkohle über euch kommt, wenn die aus Bitternis über Jahrhunderte lang geduldig ertragenes Leid glühend gewordene Menschenkohle über euch kommt!...
Das wird der Auferstehungstag, der Tag der Befreiung sein ganzer Geschlechter lebendig Begrabener... Glück auf! —

 

7

Nur die Leiche des alten Bergarbeiters Hempel konnte noch nicht geborgen werden.
Soviel wusste man: er saß halb aufrecht, wohl ein wenig in sich zusammengekauert, durch riesige Felstrümmer abgeriegelt, in einem vergasten Schachtloch. Man konnte aber nicht herankommen, so, aber auch so nicht, bei jedem Aufräumungsversuch lösten sich immer wieder von oben neue Gesteinsmassen ab. Auch stieß man in dieser Gegend immer wieder von neuem auf plötzlich hervorbrechende Gasquellen.
So musste man den guten Vater Hempel eben bis auf weiteres in seinem stillen Kämmerlein sitzen lassen.
Vergebens warteten zwar oben schon seit zwei Tagen und Nächten die Seinen auf ihn.
Warteten händeringend auf ihn bei jedem Zug aus der Tiefe. Sahen sich die Augen aus —
Nein, der Alte kam nicht.
Nicht einmal, dass er heut bei dem großen Begräbnis mit dabei war...
Halb aufrecht saß er da, wohl ein wenig in sich zusammengekauert, der Kopf tief auf die Brust heruntergeklappt, der Oberkörper war entblößt, schwarz bestrichen: so dick war er mit Kohlenstaub bedeckt. Das Fleisch schwammig, vom Gas aufgebläht. Nur wenig sah man vom Mund: die Lippen waren fest aufeinander­ gepresst, schief, auf der einen Seite beinahe in einem rechten Winkel nach oben verzogen. Von leicht gekräuseltem Schaum überkrustet. Die Augäpfel vorgetrieben, feucht und glanzweiß. Um die Backenknochen herum dicke, kurze weißliche Bartstoppeln.
Neben ihm Jacke, Sicherheitslampe, irgendein Werkzeug. Über fünfunddreißig Jahre Arbeit in der Grube saßen da, Vater dreier Söhne: einen davon an den Krieg drangegeben, einen als „Hundejungen" vor zwei Jahren im Schacht verloren, einer noch überlebend... Da half nichts, da musste auch die Mutter noch in der Fabrik an der Brikettmaschine mitverdienen.
Nun, der Alte war schon immer ein wenig absonderlich.
„Ach, tappen wir Menschen nicht eigentlich alle im Dunkeln. Ist gar nicht so schlimm. Hände gefaltet. Augen zu. Welt, schwarzer Traum, ade!..."
Hundertundfünfzig Särge zugleich, einhundertundfünfzig Leichen von Bergarbeitern, in billige, roh zurechtgezimmerte Holzsärge gepackt, schwankten jetzt oben dahin unter den blechernen Klängen eines Trauermarsches durch die Frühlingsluft.
Ein ungeheurer Menschenzug stampfte dahinter her.
Abordnungen aller Bergarbeiter der Welt waren erschienen.
Schwarze Fahnen. Rote Fahnen.
... Kohle und Blut...

Unten in der Tiefe löste sich wieder ein Felsblock. Der Alte fiel weit hintenüber. Nun lag er ausgestreckt.
Oben meinte die Mutter: „Ja, ja, ich hab's gleich gesagt: diesmal macht der Vater Feiertag..."
Der Mund war ihm aufgeschlagen. Die Zunge stieg zurück, bis in den Gaumen geklemmt. Um den Lippenrand herum, wie ein eingelegter Kranz, bräunliche Zahnstummeln.
Der Begräbniszug war wie fernes Wasserrauschen.
Und immer noch hing die unsichtbare Gaswolke fest in dem unterirdischen System: Korridore, Labyrinthe, Windungen: es sickerte darin, die Wände flüsterten, eine Quelle schlüpfte vorüber, es krachte und knarrte in dem Gebälk, ein Winddruck fauchte hindurch, in einem Kohlentümpel gluckste es... und schwarz war es, so schwarz, als müsste man, um diese Finsternis zu durchdringen, Bohrmaschinen gegen sie auffahren. Undurchdringlich schwarz.
Das war endlich Ruhe. Die Große Ruhe. —

 

9

Die einen nahmen an diesem Begräbnistag Paradeaufstellung.
Sie rüsteten sich zu einer Toten-Parade.
Patriotische Ansprachen, Trauerreden wurden gehalten.
Ein Filmoperateur kurbelte.
Dutzendweis Leichen ließen sie an sich vorüberdefilieren. Viel Tröstungen und Weihrauch und Versprechungen taten not. Viel künstliche Tränen mussten vertropft werden. Denn das Ganze schmeckte wieder mal bedenklich nach Massenmord... Mit einem breiten Trauerflor waren die Zylinder umflochten.
Die Regie klappte.
Die anderen aber nahmen Kampfaufstellung.
Sie standen da, gerüstet zu einem neuen Kampf.
Wie: Gewehr bei Fuß.
Blutrote Wimpel. Blutrote Banner.
Es war ein blutrotes Meeting.
Flammende Kampfaufrufe schossen empor.
Und stießen sich frei in dem Schwur: „Lieber im Feuer der Revolution verbrennen, als elend verrecken auf dem Misthaufen dieser Republik... "

Und die Sonne schwang flimmernd über sie hin, den ganzen Raum erfüllend, ein gespenstischer Lichtkreisel. —

 

Drittes Kapitel

„FRIEDE AUF ERDEN" —

Max Herse, ein junger Arbeiter, besucht eine sozialdemokratische Wahlversammlung. — Die Befriedung der Welt ist da. Der Weltfrieden scheint gesichert. Deutschland: die Industriewerkstatt der Welt! — Zeitungsleser im Cafe Unheimliche Nachrichten. — Einiges vom Studenten Peter Friedjung. Max Herse und seine Kollegen auf dem Heimweg. — Klebekolonnen bei der Arbeit. — Schlafende Menschen. — „Friede auf Erden."

1

Der Nebelrauch stand unbewegt in den Straßen. Tausende Lichtpunkte flimmerten. Die Verkehrstürme blinkten grün, weiß, rot. Die Menschen gingen sehr schnell. In Trupps schoben sie sich über die Plätze...
Ein Lichtband fließt oben vorüber...
Max drückte sich aus dem Menschengewühl heraus auf die hintere Plattform einer Elektrischen.
Er studierte noch immer den Aufruf der Gewerkschaften.
Der lautete:
„Wo soll die Frage entschieden werden, ob wir den gesetzlichen Achtstundentag wiederbekommen sollen?! Im Reichstag. Wo wird das Arbeitsgerichtsgesetz, das Arbeitsvertragsgesetz, die Schlichtungsordnung, das Tarifgesetz gestaltet? Im Reichstag. Wo wird die Verteilung der Lasten gesetzlich geregelt, die der Dawes-Plan uns gebracht hat!? Im Reichstag... "
Also doch! dachte Max. Wenn nur die Mark stabil bleibt! Dann kann man wenigstens wieder rechnen...
Man braucht ja heutzutage, mehr denn je, schon wirklich gewaltig viel Geld... Sich zu Tode schuften. Aber das Resultat ist dann wenigstens doch ein stabiler Hundelohn...
Eine Theatergesellschaft scherzte im Wageninnern.
Die schwimmen hübsch obenauf, wie auf der Suppe die Fettaugen...
Reichswehrsoldaten, den Tornister aufgepackt, dar­über den Stahlhelm. Sie kamen von einem Truppen­übungsplatz.
Ein Unteroffizier erläuterte das neue Visier: „Fünfzigtausend Gewehre sind bis jetzt schon darauf eingeschossen. Tadellos. Ein jeder Schuss aber muss bei uns auch sitzen."
Gesprächsfetzen schwirrten:
„Na, also doch, dass wir wieder geordnete Zustände bekommen haben! Ja, wissen Sie, die Inflationszeit. Die steckt mir immer noch wie die Grippe in den Gliedern."
„Ich, Herr Kulicke, hab es immer schon gesagt — und was die vielen Parteien anbetrifft — eine Linke, eine Rechte, eine Mitte: das genügt vollauf, dann hat jeder was..."
„Lassen Sie mich nur aus damit, Herr Rechnungsrat, sage ich Ihnen, mit den Regierungen! Lassen Sie die neue ein wenig liegen und schon wieder wird sie abgeholt... Sie werden sehen, der starke Mann ist's, der uns fehlt... So ein Bismarck... "
„Also wird's doch Wahrheit, dass Amerika uns unter die Arme greift..."
Auch mit dem Straßenbahnschaffner sprach natürlich jemand, der eine duftige Zigarre rauchte. „Na, was macht's... Viele Unfälle, was... Ja, das deutsche Volk muss eben erst wieder arbeiten lernen!..."
„Wenn man oft über zwölf Stunden Dienst hat, Herr, dazu nicht genug, um einmal in der Woche sich ordentlich satt zu essen... außerdem vier Jahre schließlich im Krieg gewesen ist, ein paar Mal verwundet ist, wie unsereins... Das stellen Sie sich schon einfacher vor, wie es ist... Stellen Sie sich mal vorn an den Kurbelkasten... Und wie das alles heruntergekommen ist... Die Bremsen, die Sicherungsanlagen... aber dazu ist ja eben kein Geld nicht da..."

Millionen Räder drehten sich, um die Menschenmassen an die Arbeitsstätten zu befördern. Hin und zurück. Es war ein gewaltiger Kreislauf, ein schwingender Wirbel. Unter der Erde, auf der Erde, hoch in der Luft. Eingepfercht in die eisernen Kasten der Untergrundbahnen schossen Menschenhaufen durch zementgemauerte unterirdische Röhren, stießen auf Treppen hoch, rannten kreuz und quer... Rufe splitterten, Signale pfiffen, schief gestellt schmissen sich die Autobusse um die Kurven... Jeder wehrte sich gegen den andern... Wie das Meer kennt auch die Großstadt Flut und Ebbe. Brandung und Springflut... Erst tief in der Nacht ziehen stillere weite Kreise die beruhigten Menschenwellen...

Max war mit dem Gewerkschaftsaufruf fertig.
„Gott der Allmächtige!" stöhnt in sich hinein ein Kriegskrüppel. Er trug die Soldatenmütze mit schwarzweiß-roter und schwarz-weißer Kokarde, das Eiserne Kreuz, eine Hakenkreuznadel, einen Totenkopf, und handelte mit patriotischen Ansichtspostkarten.
Er stolperte mit einem Prothesenbein.
Vor jedem Bessergekleideten salutierte er, stand stramm.
Rheinische Mädchen bei rheinischem Wein", orgelte ein Leierkasten.
Schupo patrouillierte vorüber, prüfte den Ausweis eines Straßenhändlers.
Schon zwitscherte es aus den Anlagen. —

 

2

Arbeiterviertel:
Übermenschengroße Stücke von Verputz waren von den Häuserfronten heruntergebrochen. Das ganze Viertel hatte seinen besonderen Geruch. Das Nebeldickicht schlug sich durch Mauerritzen in das Innere der Häuser hinein. Winkelig und unaufwaschbar vor lauter Gerümpel war es in den Geschäften. Überall rochen die feuchten Keller herauf. Überall troff es. In einem steilen Zickzack kletterten knarrend die Treppen empor. Gaslicht gespensterte.
Ein Greis schleppte sich mit einem Bündel Holz quer über die Straße. Frauen standen, aus zahnlosen Mündern wispernd, in Gruppen herum. Festen Schritts kamen einige Burschen vorüber, Mützen auf, die Fäuste tief in den Hosentaschen. Kinder jagten sich. Droschkengäule hatten den Futtersack vor.
Das Herz-Innere der Häuser bestand, durch längst schlissig gewordene Gardinen sichtbar, aus Küche, Kampier, Stube. Mit spärlichen Möbelresten waren sie dürftig ausgeflickt.
Menschenwerk sind diese Häuser.
Doch in diesen Häusern formten sich unmerklich auch wieder die Menschen um.
Eine kalkige Kruste sind diese Häuser, über einen lebendigen Leidenskern gestülpt.
Wo sind die Gefangenenaufseher, fragt man. Es sind freiwillig Gefangene, bekommt man zur Antwort. Sie beaufsichtigen sich selbst. Sie haben sich ihrem Schicksal ergeben. Lieben sie wirklich ihre Verdammnis... ?
Menschen und Häuser dieser Gegenden: lebensverbunden!
Sie schlagen den gleichen Herztakt. Mit Leidenszeichen sind sie überreichlich besät und mit Todesrunen. Viele Morde, Verzweiflungsmorde sind schon in ihren Gängen geschehen. Sie bergen in sich ein Maß von Not, das übermenschlich ist. Seht diese Häuser an! Kaum dass sie sich noch auf ihren Füßen halten können! Die Fundamente sind längst unterwühlt. Erdschlamm dringt vor. Alles steht hier auf Abbruch. Sie sind wirklich schlecht genährt. Gemüsereste, Kartoffeln, Brennsuppen, Heringe. Immer ist es derselbe Trott. Wer die Augen noch im Kopf hat, um zu sehen, der sieht: das sind Kerker, Leichenkasernen, Grabhäuser, und die Fetzen der Fassaden schlottern an ihnen herunter wie Lumpen an einem Skelett...
Nenn mir den glücklichen Besitzer, und du erfährst: er heißt vielleicht heute noch Krätzig und wohnt im Ostseevillenörtchen Heringsdorf. Aber die Häuser, zweihundert Stück gleich auf einmal, sie wandern: sie wandern herum zwischen Tschechoslowakei und Amerika; nur die Verwalter bleiben, treiben die Mieten ein, besorgen redlich und treu Kündigungen und Hinausschmisse... Denn auch das todwunde Häuserrevier ist immer noch ein lohnendes Spekulationsobjekt. —
Hier führen die Menschen tagaus, tagein einen heroischen Kampf um die Wohnung. Hier ist ein rumpfgroßes Loch in der Wand. Es müsste vermörtelt werden. Man muss die Bettstellen rücken, einmal hierhin, einmal dorthin: denn die Decke tropft. Es müsste geteert werden. Hier sind ganze Barrikadensysteme gegen Ratten errichtet. Dort unternimmt man vergebens Feldzug um Feldzug gegen das Ungeziefer. Hier wächst der Schmutz von selbst. Mit zusammengebissenen Zähnen versucht man zu retten, was noch zu retten ist. Aber der Schimmel marschiert, er erobert mühelos das Innere der Schränke. Die Tuberkulose bricht ein, die Geschlechtskrankheiten pflanzen zynisch triumphierend ihr Banner auf... Und schon ist wie immer Arbeitslosigkeit, Hunger, Skrofulose da... Eine höllische Armee, zusammengesetzt aus allen Kadres der menschlichen Notdurft und Hilflosigkeit, ist vollzählig zur Stelle... Der Generalangriff beginnt. Aus Schlitzen, Ritzen, Poren, Verschalungen, Mauern hindurch, millionenmäulig, speit es Verderben. Da gibt's keinen Widerstand. Jede Abwehr ist nutzlos...
Und in den Höfen waten die Kinder, wenn sie spielen wollen, bis zu den Knöcheln in einem fauligen Tümpel...
Erbarmungslos vollzieht sich hier unter den Augen des Gesetzes, infolge Gesetzeskraft und laut Paragraph so und soviel — erbarmungslos vollzieht sich hier eine ganz viehische, ganz trockene Blut-Kleinarbeit...
Glanzblau glaste der Himmel darüber, wunderbar grenzenlos über dieses Massenelend gespannt. —

 

3

Ein Kino vorn:
Mit einem Plakat: ein Schiff, das im Eismeer versinkt, ein Auto, das vollbesetzt auf einer mexikanischen Alpenstraße in den Abgrund saust, eine Großaufnahme von einem blonden Mädchenkopf, „Lia Mara" oder die „Ge-
fesselte Schönheit" genannt, bengalisch überstrahlt von himbeerroten Lichtern. —
Und hinten über zwei Höfe hinweg war das Versammlungslokal.
Neue Frankfurter Festsäle nannte es sich.
Es mochten gegen zweitausend Menschen anwesend sein.
Der Bühnenhintergrund war sichtbar, gemalte Kulissen, eine Seelandschaft, dahinter im Sonnenuntergang leuchtende Bergspitzen, ziegelrot. Auf knallgrüner Leinwandalm weideten braunlackierte Kühe, auch die schöne Sennerin fehlte nicht, in samtschwarz gestrichenem Mieder, die Lippen wie ein Kügelchen so rund.
Blauweiße Fahnengirlanden waren kreuz und quer gespannt.

Als Max eintrat, sprach der Redner schon.
Es hatte auch schon einige Zwischenrufe gesetzt, Kollegen informierten Max gleich darüber, aber der Saalschutz funktionierte diesmal gut, und man hatte die Störenfriede gleich in vereinfachtem Verfahren an die Luft befördert.
Auch Max nickte mit dem Kopf. „Eine bodenlose Frechheit, unsere Versammlungen zu stören... Radaubrüder... "
Und er war stolz auf seinen Saalschutz. „Es ist gut so... Mögen die sich woanders austoben... "
Und auch aus ordentlich gekleideten Kerls bestand der Saalschutz. Gut ausgerüstet: blaue Mütze, Wickelgamaschen, Windjacke. Bewaffnet mit stählernen federnden Totschlägern und Gummiknüppeln. —
Man musste also über die bevorstehenden Reichstagswahlen mit sich ins klare kommen.
Der Redner ließ es sich dabei nicht nehmen, der Reaktion, worunter er vor allem die Deutschnationalen verstand, einiges ordentlich auszuwischen, ging dann von der innerpolitischen Lage zur außenpolitischen über und erörterte sachlich und wirkungsvoll die wichtigsten Probleme. Es gelang ihm dabei, überzeugend darzutun, dass unter den nun einmal gegebenen politischen Verhältnissen dem deutschen Volke, das, schlecht geführt, den Krieg verloren hat, nichts anderes übrig bleibt, als das Sachverständigengutachten anzunehmen, das — im Vergleich zu den Verpflichtungen, die vor dem Deutschland aus dem Versailler Vertrag erwuchsen —, wesentliche Erleichterungen biete, die Räumung des Ruhrgebiets und damit die Befreiung einiger Millionen Deutscher von der französischen Fremdherrschaft bringe, der Industrie die lebenswichtigen, nicht unerheblichen Kredite vermittle, der zerrütteten deutschen Wirtschaft wieder aufhelfe — man denke nur an die passive Handelsbilanz! — und damit auch zugleich dem Proletariat Verdienstmöglichkeiten und Arbeit verschaffe. Über die Lastenverteilung aber entscheide der Reichstag, und es komme nun darauf an, möglichst stark dort einzuziehen, um die Gewichtsverteilung der Lasten zugunsten der werktätigen Bevölkerung auf die Schultern der besitzenden Klasse abzuwälzen.
„Ja, aber meine Herrschaften!" rief der Referent aus, als sich aus einer Saalecke heraus wieder Widerspruch bemerkbar machte. „Wir leben eben nun einmal in einer kapitalistischen Gesellschaft, und ich kann nicht, so gern ich auch möchte, sie von heute auf morgen wegpusten. So heißt es also, sich so gut es geht mit dieser Tatsache
abzufinden und sich so häuslich wie irgend nur möglich in dieser Gesellschaft einzurichten... Gedulden Sie sich, warten Sie ab, bitte, alles zu seiner Zeit..." Dies alles schien sonnenklar.
„Solange die Arbeiterschaft noch nicht einmal unter sich selbst einig ist... Da kann man ja jeden x-beliebigen Betrieb als Beweis dafür hernehmen... "
Und auch das, was der Redner nur so nebenbei bemerkte, dass man es sich schon was kosten lassen solle, um die Hohenzollern außer Land zu halten: „Wir werden uns schon in dieser Frage nicht lumpen lassen..."
Auch das war Maxens Standpunkt.
„So haben eben nun doch die Herrschaften der Entente einsehen gelernt, dass man auf dem Weltmarkt ohne den deutschen Arbeiter, ohne den begabten, gründlichen, gewissenhaften deutschen Arbeiter nicht auskommt. Deutschland: Industriewerkstatt der Welt! Das ist der Inhalt, das wahre Wesen dieses von uns angenommenen Gutachtens! Stellt euch vor, Arbeiter, wie nun langsam, aber sicher von Monat zu Monat euere Lage sich bessert, euer Lebensniveau sich heben wird... In einem solchen Moment sollen den Mut wir sinken lassen...! Nach all den Jahren, in denen ein schlimmer Unstern über Deutschland, über euch Proleten im besonderen, waltete!? Nein, dreimal nein! Nimmermehr! Mit vollem Recht können heute wir wieder ausrufen: am deutschen Wesen, am Wesen des deutschen Arbeiters im besonderen, wird wieder die Welt genesen... Schaut frohen Mutes drum in die Zukunft!"
„Ja, ja. So, so ist es."
Viele nickten mit den Köpfen.
„Reaktion oder Revolution!? Schwarz-weiß-rot oder schwarz-rot-gold!? Entscheidet euch?! Monarchie oder
Republik!? Gebt euere Stimmen, Proleten, der Republik, schafft mit an dem Erlösungswerk der werktätigen Massen. Die Revolution, die Befreiungsaktion des Proletariats marschiert, wenn auch langsam... Auf zur Wahl! Schließt die Reihen dicht!... Beziehen wir unsere alten revolutionären Kampfpositionen! Hinein in die Wahlschlacht... Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, sie lebe... "
„Hoch! Hoch! Hoch!"
Der Saal schmetterte.
Die Internationale sang. —

 

4

Wird es nun wirklich schon Frühling?! Die Fenster sind weit offen. Menschenstimmen hört man aus den Höfen. Diese Jahreszeit ist ein Heldengedicht. Gewaltig und grau ziehen den Horizont herauf Wolkenquader um Wolkenquader: formlos, unbehauen, roh: rebellische Figuren...
Die Zeitungsleser saßen um diese Stunde wie immer im Cafe. Glatzköpfig, vollbäuchig, manche mit prallen, rötlich getupften Bäcklein. Tranken Mokka, schlürften Limonaden aus Strohhalmen, schluckten auch sonst noch was...
Draußen prasselten Hagelschauer nieder. Ein kurzer Zwischenfall. Eine Stimme: „Sie Kapitalssau, Sie Dreck-... " „Was, Drecklump, Kapital... haben Sie mich genannt. Mein Herr, ich bitte Sie, das sofort zu berichtigen... " Und die Drehtüre schob beide ins Freie. Das Cafe-Innere war wie ein Aquarium. Tropisch-
warm; die Bewegungen der Cafehausbesucher waren, als sei die Luft eine zähe, kleberige Flüssigkeit.
Schönes Buchstabengift. Schönes Papiergift.
Sie sahen nur selten mal auf. Die Augen waren in dem Papierwinkel, den sie an einem Holzgriff steif vor sich herhielten, festgesogen.
Gehirne fraßen. Gehirne verdauten.
„Grand-Hotel, Honolulu" — „Isa, die Serbenfürstin"
— „Raubmord" — „Lustmord" — „Spanische Flugzeuge bombardieren die Rifkabylen mit Gasbomben" — „Neue SchreckenstatendesKommunisten-Gesindels"—„Tscheka"
— „Parade der Stahlhelmer... "
Die Zeitungsblätter bewegten sich. Legen sich um. Es knistert. Ein geheimnisvoller Wind weht. Ein neues Pack mit Ereignissen. Mit einem Blick hüpft da ein Auge über eine ganze Seite hinweg. Ein neuer Teil, mit Schicksalen, Erlebnissen, amüsanten Neuigkeiten nur so voll gepfropft...
Nun sind die Hände der Leser in eine Papierfläche eingekrallt wie Tatzen.
„...von den Fräcken der Herren ist nur zu sagen, dass sie ausnahmslos up to date und im besten englischen Stil waren; nicht ein Millimeter der weißen Weste war unterhalb des Frackrandes sichtbar... Die Toiletten der Damen im Stylkleid weiß Gourdeille mit Pelz Suhmann, den man seiner großen Seltenheit wegen noch wenig sieht... Lisa Benedict aber hatte ihren prachtvollen Rubens in dunkellila Chadourne gehüllt, benäht mit marokkanischen Pailletten aus vielfarbiger Mika... Ein zart aquarelliertes Kleid hellgelbe Merveille-Saturé. In schwarzem Craou, besetzt mit Jorkin, ein Fell, das wie goldgepudert aussieht... Es war einem ganz indianisch zumute..."
Schwerarbeiter!" knurrte lautlos der Bettler, der zwischen den Tischen herumstrich. Von dem Geschäftsführer und einem Kellner arretiert, verlässt er wieder das Lokal.
Weiter arbeiten sich durch den Papierschlamm hindurch die Zeitungsleser.
Vulkane brechen auf, Länder werden überschwemmt, Kolonialvölker rebellieren, Massenselbstmorde, Maschinenhinrichrungen, Hungersnöte. Lächelnd thront dabei das Büfettfräulein über dieser Flut rauchverwolkter Häupter, aus deren Gehirnwindungen jetzt bei der Lektüre abessinische Residenzen erstehen, Petroleumquellen aufknattern, Bohrtürme durch Kalifornien wandern, mit breitwulstigen Epauletten die Achseln bestickt hochwamstige Negergeneräle vor dem amerikanischen Präsidenten paradieren...
Das Gesäß des Lesers drückt sich fest im Stuhl.
Ein fleischerner Riesenpudding...
Merkwürdige Dinge werden im letzten Teil des Blattes über den großen Ozean gemeldet. Was davon wohl auf Wahrheit beruht!?
„Sir William Pope, in der Präsidentschaftsrede in der Chemical Society am 27. März 1919: Die englische Methode zur Herstellung giftiger Gase sei dreißigmal so wirksam, wie die von Deutschland, während die Kosten in Deutschland dreißigmal so groß seien wie die in England. Bei Kriegsende hätte die Entente täglich ebensoviel herstellen können wie die Zentralmächte monatlich. Anmerkung der Redaktion: Was man besonders dem bekannten Führer der zionistischen Bewegung, Herrn Prof. Waitzmann, verdanke, dem kühnen Organisator des chemischen Krieges auf ententistischer Seite."
Wie auf einem scheu gewordenen Gaul galoppiert unser sehr verehrter Leser weiter. Schüttelt sich. Nun geht es wieder in gewohntem Tempo. Die Sprünge, die schließlich diese mörderisch gottverfluchte Zeit macht, zwingen auch den unsichersten Kumpan am Ende noch fest in den Sattel... Neue Entdeckungen! Ein neues Geheimnis! Und wieder von jenseits des Ozeans, aus dem Wunderland!
„Ein Todesregen! — Ein neues Gift, so tödlich, dass drei Tropfen auf der menschlichen Haut genügen, um den Tod herbeizuführen, ist die neueste Erfindung des chemischen Kriegsdienstes der amerikanischen Armee. Man führt Fachleute an, die aussagen, dass, wenn man die Flüssigkeit aus Röhrchen an der unteren Fläche eines Flugzeuges ausstieße, sie alles, was sich im Wege dieser Maschine befindet, töten würde. Ein Flugzeug, fügt man hinzu, könne zwei Tonnen der Flüssigkeit über eine sieben Meilen lange und hundert Fuß breite Gegend verteilen, und dies würde genügen, um jedermann in dieser Gegend zu töten. Die Flüssigkeit kann leicht hergestellt werden, und eine Ausbeute von einigen tausend Tonnen täglich könnte angeblich schnell erreicht werden..."
Hat man noch Zeit, über das alles nachzudenken!? Bleibt einem da nicht die Luft weg!? Staune vor nichts, sagt sich der Spießer oftmals selbst vor und richtet energisch und stolz sich dabei auf im Steigbügel. „Alles ist möglich... Alles schon dagewesen... Nichts unter der Sonne ist neu..."
So ist doch zum Beispiel bekannt das so genannte griechische Feuer im vierten Jahrhundert vor Christi, aus Harz, Petroleum, Schwefel und ungelöschtem Kalk bestehend, und das später, im zwölften Jahrhundert, häufig von den Sarazenen gegen die Kreuzfahrer zur Anwendung gebracht wurde... ? Und dann erst das Mittelalter! Eine reiche Ausbeute für unsere geschichtliche Exkursion! Lesen wir da nicht in dem berühmten „Kompendium der Sekrete" des Arztes und Naturforschers Leonhard Floravanti von Bononia um 1600 von einem Öl, destilliert aus Terpentin, Schwefel, Asa foetida, Menschenkot, Menschenblut usw., das dermaßen stinkt, dass kein Mensch in der Festung, in die es geworfen wird, mittels Schleudermaschinen, versteht sich, es darin aushalten kann...
Also, alles schon dagewesen... Was zu beweisen war.
„Prosit Neujahr!" entfuhr es aber da dennoch einem kleinen Bankangestellten, als er das las. „Schöne Aussichten, das kann ja noch recht gemütlich werden... Heiter, immer heiterer, in der Tat! Aber man muss schon mit den Wölfen heulen... "
Und er versucht gleich ein Gespräch über dieses Thema mit dem Studenten anzuknüpfen, der noch mit an dem Tisch saß.
Der wehrte aber energisch ab.
„Ja, warum denn nicht... Glauben Sie vielleicht noch an den Abrüstungsschwindel!?..."
„Sie entschuldigen schon... Das war doch nicht so ernst gemeint..."
Unablässig drehten sich indes die Drehtüren.
Zwei Bekannte prallten dort unerwarteterweise im Gang aufeinander.
„Du hier, ach Emil, wer hätte das gedacht... ja, wie lange schon... ? Und immer wohlauf... Und das Geschäft..." Und schon zogen sie sich gegenseitig an einem Tischchen nieder, und wie eine Litanei wurde die ganze Skala der Bekannten und Geschäftsfreunde abgeklappert.
Die Schnurrbartspitzen des Portiers leuchteten wie zwei rötliche Stichflammen.
Der eine oder der andere stolzierte in dem Caferaum auf und ab wie in einer Wandelhalle. Der Zeitungsmann flitzte geschäftig.
Der Nachtbetrieb begann. —

 

5

Peter Friedjung war Werkstudent. Sechs Stunden arbeitete er täglich bei einem Patentanwalt in der Alten Jakobstraße am Setzkasten. Die Patentanmeldungen wurden hier auf einer kleinen Handdruckmaschine abgezogen. Ein seltsamer Betrieb. Hunderte von Patentanmeldungen liefen täglich ein. Da waren Patentgesuche darunter auf fahrbare Rucksäcke, auf Hosenträger, die mit einer Hand bedient werden konnten, Klosetts, mit selbsttätigem Wischapparat, zwanzig Modelle des Perpetuum mobile täglich, Studierlampen, die zu gleicher Zeit als Kochapparat benützbar waren, ohne jede Inangriffnahme des Zylinders selbstverständlich, Patente auf in der Dunkelheit leuchtende Füllfederhalter usw., usw. Gegen Einsendung eines nicht unbeträchtlichen Vorschusses wurden diese Gesuche exakt der Reihe nach behandelt und dem Patentamt vorgelegt... Damit war aber auch die Angelegenheit dieser Hunderte von kleinen Erfindern erledigt... Eine Ausnutzung des Patentes kam natürlich nicht in Frage...
Bis zum Ruhrabenteuer war Peter deutschnational. Deutschnational bis auf die Knochen. Er glaubte an Deutschland, als an ein auserwähltes Volk, er selbst hatte ja bereits gekämpft und gelitten für Deutschlands Herrlichkeit. Sollen die vier Jahre Krieg für die Katz gewesen sein... Sollte es wirklich wahr sein, dass... Daran konnte er nicht glauben. Das hing mit Sinn oder Sinnlosigkeit seiner eigenen Existenz zusammen. Dass Krieg das Produkt geschäftlicher Konflikte ist, das Kriegsziel nichts weiter, als dem Gegner diejenigen wirtschaftlichen Bedingungen aufzuzwingen, die man für sich als notwendig erachtet; dass das Wesentliche dabei, das Herzblut des Krieges sozusagen: der Beutel, die Interessen der Kapitalisten sind; dass in Wirklichkeit aber alles kämpft für die Interessen eines Häufleins von Magnaten des Finanzkapitals, für ein Dreihundert-Männerkollegium; und dass auch das Instrument der Schiedsgerichte nur dazu dient, den Ausbruch ungewollter Kriege zu verhindern... Das alles mochte vielleicht für England, für Amerika, Frankreich stimmen, für unsere Gegner stimmen, aber für Deutschland!? War nicht für Deutschland Krieg: Schicksal, elementar wie eine Naturgewalt, Aufbruch der Jugend, Blutrausch!?... Gott hat den Krieg gewollt, und ich, Peter, habe ihn geführt... Als Kriegsfreiwilliger hatte er den Krieg mitgemacht. Als Kriegsfreiwilliger im Regiment List, mit „Deutschland, Deutschland über alles" hatte er gestürmt, dieses Lied auf den Lippen waren bis auf ihn alle seine Kameraden gefallen... Und das soll nicht das Wunderbarste, das Höchste, das Heldenhafteste in der Welt gewesen sein...? Die Fahne Schwarz-weiß-rot, die soll nicht die Fahne, die Fahne unseres Blutes, die Fahne der Ehre der gesamten Nation gewesen sein...? Die Fahne, die damals bei Tannenberg, bei Verdun... Deutschlands gesamte idealistische Jugend muss sich um sie scharen, damit sie nicht der rote Sturmgeier zerfetzt...
Bis er eines Tages, selbst Mitglied einer völkischen Sturmabteilung, plötzlich erkannte: es ist ein Unterschied zwischen der Phraseologie einer Sache und dem Inhalt einer Sache. Und dass die nationalen Phraseure sich im Grunde ihres Herzens keinen Deut um die wahren Interessen der Nation scheren, sondern: Profitjäger, Hasardeure, Spekulanten, Großschieber, Hyänen sind, ganz raffinierte, abgefeimte, ausgebrühte Burschen, die das Blut und das Lebensmark des Volkes aussaugen; die nationale Phrase aber als Köder benutzen, blindgläubigen, von dem sozialdemokratischen Regime enttäuschten Kleinbürgern gegenüber; und dass sie, ja, dass sie die eigentlichen Volksverbrecher, Hochverräter, Landesverräter sind und die... ja, die Kommunisten, die revolutionären Proletarier, die eigentliche Lebens- und Schaffenskraft des deutschen Volkes: keineswegs! keineswegs! —

Seitdem sympathisierte Peter Friedjung mit der proletarischen Bewegung.

Ereignisse an Ereignissen sich überstürzend, eine gewaltige chaotische Lawine, so stieg es empor aus dem Zeitungshaufen. Peters Gehirn wurde mit hineingerissen in einen ungeheuren Weltwirbel.
Stänkereien und Zänkereien: das war immer mehr der Grundton unserer Zusammenkünfte. Die Enttäuschung über die Bewegung äußerte sich immer mehr in persönlichen Verunglimpfungen, Anschuldigungen, Verleumdungen übelster Art. Nichts und niemand mehr blieb von Witzen und Zotereien verschont: auch Schlageter begann man bereits nach Strich und Faden herunterzureißen, viele wollten wissen, dass... Ein abstraktes, von patriotischen Phrasen triefendes Gefasel: genüge es, wem es wolle... Keiner wollte das endgültig besiegelte Debakel wahrhaben. Ein jeder drückte sich mehr oder minder feig um die Tatsache herum, dass von einer Mission der völkischen Bewegung bereits nicht mehr gesprochen werden konnte... Und blieben gar einmal die Geldunterstützungen aus, deren Quelle immer mystischer verhüllt und ungenannt blieb, dann war es schon gar nicht mehr zum Aushalten. Es war schon so: Abzeichen, Hakenkreuze, Totenkopffahnen, Armbinden, Wickelgamaschen, Windjacken: damit musste man sich darüber hinweghelfen, dass man eigentlich nichts zu sagen hatte. Ja, gewiss, bei jeder Versammlung, bei jeder Heldengedenkfeier redete man, aber bitte sehr, nur bildlich gesprochen, aus hohlem Bauch... Ein jeder misstraute dem andern. Rohheiten, Exzesse jeder Art, Unterschlagungen waren an der Tagesordnung. Da gab es Degenerierte aller Art, Effeminierte, pathologisch Klatschsüchtige, Hochstapler, Abenteurer, Dilettanten, Homosexuelle, Päderasten, Sadisten, Masochisten, kurzum, ein Klub von Deklassierten tat sich in prächtigen Salons auf, die Politik war nur meist für geschäftliche und erotische Beziehungen die Maske, und dieser hochpolitische Klub unterhielt durch seine Kuriere und Mittelsleute eine stete Verbindung mit den übelsten lumpenproletarischen Kloakenbuden und Obdachlosenasylen. Lumpenproletarier waren es, die man zuerst durch Versprechungen auf Unterstützung und Anstellung in die Stahlhelmverbände lockte, dann trieb man die Kleinbürger, heillos borniert wie sie waren, zu Paaren, sie waren es gewohnt, zu gehorchen wie dem Hund die Schafherden. Die hatten während der Novembertage geradezu Angst vor ihrer eigenen Freiheit bekommen, waren sie doch dressiert, nur auf
Kommando zu parieren. Eine geringe Dosis schwarzweiß-roter Gemütssalbe genügte, feste druff, und schon hatte man sie wieder bei der Stange. Sie waren von den hohen Stellen bestimmt, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Preußische Disziplin, kerndeutsch, treudeutsch: das waren so die üblichen Zauberworte, um damit jeden, der sich irgendwie missliebig gemacht hatte, ordentlich unter die Fuchtel zu nehmen, und das besorgten auch ausreichend die jeden Tag sich noch „nationaler" gebärdenden kleinen Herrschercliquen. Und zwar nach allen Regeln der Kunst. Zeitweilig wurden Speiseküchen eingerichtet, man wollte künstlich die Bewegung ins Proletariat hinein verbreitern, auch gab die Großindustrie in der damaligen Zeit viel Geld: bei all diesen Wohlfahrtseinrichtungen verschlangen aber über sechzig Prozent die betreffenden Organisationen. Richtige Parasitennester entstanden, die ungeheuerlichsten und schamlosesten Forderungen wurden für die geringsten Dienstleistungen gestellt. Die Inflation warf auch noch jeden Tag neue Postenanwärter in die völkischen Reihen... Dann gab es eine Periode: jeder war sein eigener Ludendorff. Man sprach überhaupt nur noch in Zitaten... Dann kam eine Zeit, da tauchten Gestalten auf, die nicht nur für eine Seite spitzelten, sondern mit wahren und falschen Nachrichten fünf bis sechs Stellen zugleich bedienten... Mit den widerlichsten Krankheiten behaftete Kretins taten sich dazwischen breit, zeterten „Heil" und schrieen Mordio und Feurio, kolportierten bis zum Brechreiz die beinahe nur noch pathologisch zu bewertende Phrase vom rassenreinen Menschentum, vom Sonnen-Arier, trieben Wotankult und verzückten sich augenverdrehend an einem paradiesischen Traum-Walhall, indessen fütterten sie sich beträchtlich und rafften mit gierigen Händen, alles was ihnen unter die Finger kam, zusammen. Dann kam eine Zeit, Flaute nannte man sie, keiner wurde eigentlich mehr recht froh seiner begangenen Spitzbübereien und vollbrachten Morde, die eisenkreuzgeschmückten Bramarbasse wurden bedeutend ruhiger, und man begeisterte sich plötzlich wieder für eine vernünftige deutschnationale Realpolitik... Nur konfessionelle Gegensätze trieb man noch ab und zu auf die Spitze... Auch in der Angelegenheit des Erbfeindes kriselte es schon bedenklich. Der Revancheangriff, großmäulig vorbereitet und um so schlechter organisiert, wurde plötzlich über Nacht abgeblasen... Das wäre also in Umrissen die Geschichte einer politischen Bewegung, vom Finanzkapital ausgehalten und von ihm in einem gewissen Zeitabschnitt als politisches Druckmittel gehandhabt, als ein Instrument der Erpressung, in einem Zeitabschnitt, da man noch nicht an die Möglichkeit einer legalen Restauration glaubte. Als Ideologen figurierten durchwegs Lumpenbourgeois, internationale Desperados, abgetakelte Offiziere; die Träger der Bewegung, die Masse waren: Studenten, Angestellte, Gymnasiasten, kleine Beamte, Lumpenproletarier, Kleinbürger. Mag sein, dass sich auch mancher persönlich lautere Charakter und idealistisch Gesinnte dorthin verirrt hatte. Diese aber haben sich bald voll Ekel abgewandt... Überhaupt, es dauerte nicht mehr lange: die ganze Bewegung erstickte vollends im Schlamm der Korruption, verschmorte in ihrem eigenen Fett. Nur hie und da ein Nebbich-Sektenbildner rumorte noch wo herum als Diskussionsredner in einer Versammlung. In hellen Scharen war man zu den Deutschnationalen übergelaufen, andere zogen sich schmollend aus dem politischen Leben zurück... Drei Monate in solch
einer Bewegung verbracht: da heißt es gründlich mit sich abrechnen, das Fazit ziehen und dann: für die Zukunft daraus lernen. Nur Narren und Phantasten binden sich weiter die Scheuklappe um, erhitzen sich selbst künstlich bis auf vierzig Grad Fieber und sind eben unempfindlich gegen jede Art von kalter Dusche. Dass Deutschlands Aufstieg allerdings gleichbedeutend ist mit der restlosen Ausrottung dieser Banditen und ihrer Geldgeber, dass die Niederkämpfung dieser Bewegung vielmehr die Grundvoraussetzung der wirklichen Gesundung Deutschlands ist: das wurde mir im Verlauf jener drei Monate, die ich in dieser Gesellschaft verlebt hatte, eindringlich klar. Die Antisemiten pumpten wacker beim Juden, und ein Jude wiederum schrieb zum Dank dafür für die Völkischen das antisemitische Exerzierreglement!

 

6

Weiter jagten sich Peters Gedanken:
Da gleiten hin die Industriemagnaten durch die Stadt auf ihren schnittigen Luxuskraftwagen. Weit außerhalb der Stadt, den schmutzig-gelben Strom entlang, ragen die Fabrikschlote. Fronten von Mietskasernen, scharf ausgerichtet, starren leblos, unbewegt. Fünfzig Stock hoch türmen sich in den Stadtzentren die Bankhäuser...
Ein Boxkampf findet statt: als der Sieger abtritt, rasen fünfzigtausend Menschen vor Begeisterung. Der Riesenraum der Arena ist ein vieltausendfaseriges zuckendes Nervenbündel...
Es hält in Moskau der rote Kriegsrat eine Sitzung ab. Der rote Reitergeneral Budjonny spricht. Seine Worte sind Trompetensignale, sind Hammerschläge...
Und die Straßen Jokohamas sind voll von demonstrierenden Menschenmassen. Japan, ganz Japan läuft Sturm gegen das amerikanische Einwanderungsgesetz. Im Staate Ohio aber wird indes ein Neger gelyncht: ein Scheiterhaufen ist errichtet und man verkauft an die vornehmen Amerikanerinnen, fünf Dollar pro Stück, Fleischfetzen, Knochenteile von dem verkohlten Gerippe... Sie sollen wohl Gesundheit und Glück bringen...
Während in Stuttgart ein berühmter Deutscher Soziologe seinen Vortrag über nationalökonomische Probleme mit den Worten beschließt: „Zurück zu Gott!"...
Oh, da ist ja auch die ganze Scharfrichterfamilie versammelt, Herr Gröpler: so heißt er, der der ordnungsgemäßen Handhabung des Richtbeils nur Allzukundige, im Nebenberuf Inhaber einer gut gehenden Dampfwäscherei; da feiert er auch schon im Kreis seiner Lieben das Jubiläum seiner fünfzigsten Hinrichtung. Und die Wände seines trauten Heims sind mit Sprüchen aus der Bibel (Korinther) und mit Kaiserbildnissen geschmückt. Den fünf zum Tode Verurteilten aber hat man über Weihnachten drei Tage Aufschub gewährt, damit der Sängerchor der Strafvollziehungsanstalt, dessen eifrige Mitglieder die fünf Armensünder bis dato noch sind, an den hohen Festtagen wenigstens intakt bleibt...
Halleluja!...
Und wieder wird ein Betrieb stillgelegt. Tausende trollen wieder arbeitslos herum auf der Straße, schwarz, hungernd, knieschlotternd, frierend: so staut es sich vor dem Arbeitsnachweis ...
Und in den chemischen Laboratorien experimentiert man inzwischen herum an einem neuen Giftgas. In den illustrierten Zeitschriften  findet man,  neckisch  von
Blümchengirlanden umrahmt, die Photographie des genialen Konstrukteurs der neuesten Flugzeugbombe...
Die Prediger verkünden mit ausgebreiteten Armen von der Kanzel herab: „Friede auf Erden"...
„Friede auf Erden!" — „Amen! Amen", schallt vielstimmig zurück der Chor der Gläubigen. Die Kathedrale ist wie ein Sarg. Weihrauch, Kerzenglanz, geflüsterte Gebete mischen sich ineinander...
Die Strafexpedition, aus Truppenkontingenten zweier europäischer Nationen zu gleichen Teilen zusammengesetzt, stößt in die von den flüchtigen Eingeborenen angezündeten Urwälder vor. Riesige Giftmücken flattern um die von der Siedehitze brodelnd aufgeweichten Leichname. Der Himmel glänzt scharf. Wie glanzblau lackiert...
Tausende sterben jetzt...
Tausende entschlüpfen soeben dem Mutterbauch...
Leben und Tod: o untrennbar eins sind sie in jeder Weltsekunde.
Die Wellen des Ozeans schlagen an viele Küsten...
Da findet ein Hundediner statt. Reichlich besetzt mit wirklich köstlichen Dingen ist solch eine Tafel. In Bombay beträgt die Kindersterblichkeit zweiundachtzig Promille. Schreckliche Höllen sind überall in der Welt die Proletarierviertel. Eine grausige Blutsprache sprechen die Statistiken...
Aufgeteilt ist die Welt...
Nach blutigen Gemetzeln... Vor noch schlimmeren Morden...
Ein revolutionärer Führer spricht im Norden Berlins in einer Proletenversammlung. Ein anderer schreibt hin wie lebendige Feuerlinien aufrührerische Sätze... „Hetzer" ist ihnen ein Ehrenname...
In welchem Zeitabschnitt leben wir!?... Das Tempo der Geschichte hämmert mit gewaltigen Schlägen...
Eine große Zeit fürwahr, eine Heldenzeit... Doch wer sind ihre eigentlichen Träger... ? Namenloses Heldentum. Blutzeugentum. Kämpfertum. Märtyrertum... Ein Arsenal von Kampftaten und Opferlegenden noch für Jahrtausende...
Und einer zum Beispiel, ein Schulkamerad, ein gleichgültiger Name, fand nicht mehr heraus aus diesem Labyrinth, was er auch tun mochte, wie sehr er sich auch anstrengte. Er war bis zum Irrsinn angewidert von all dem, wurde eines Tages wirklich verrückt, titulierte Christus mit „Kollege" und schoss sich eine Kugel durch den Kopf. Als er abdrückte, schrie er überselig: „Es ist vollbracht!" Warum auch nicht. Ein anderer, Freund meines Vaters, Fabrikant Germersheimer, ebenfalls ein überaus gleichgültiger Name, mästet sich prall mit Illusionen, hält Geistersitzungen ab, lässt Tische rücken und studiert auf seine alten Tage Theosophie. Auch er muss eines Tages platzen... Andere gehn vorüber. Gehn sie vorüber!? Nimmermehr. Keineswegs. Auch ihnen wird eines Tages die Entscheidung aufgezwungen werden, auch sie werden eines Tages Farbe bekennen müssen...
Aber Arbeiterkolonnen, die abends aus der Fabrik heimkehren, scheinen mir muskelbepackt, straff, trotz der Überarbeit. Ihre Beine federn elastisch, wenn sie ausschreiten: die zeigen, dass sie noch marschieren können, trotz alledem. Dass sie sprungbereit geblieben sind. Trotz alledem. Und in ihren Fäusten sitzt ein guter Griff. Glück auf! Greift zu, wenn es soweit ist. Seid auf eurem Posten, wenn es drauf ankommt. Werdet ihr es schmeißen!?...
Und da zählen nach Tausenden, Abertausenden in diesem Augenblick die Gefangenen, die in den zwingkäfigähnlichen Zellen der staatlichen Zuchthausanstalten hocken. In allen fünf Erdteilen. Farbige ebenso wie Weiße. Alt und jung. Männer, Kinder, Weiber. Unterschiedslos. Noch-Gesunde und schon Sterbenskranke. Sie drücken sich in die Mauerwinkel. Schweigend. Nur hie und da ein Tobsuchtsanfall. Schreie, wie ein blutiger Erguss. Sind es versteinerte Menschenreste!?...
Einzelmorde, Massenschlächtereien, Bankkrachs, Umarmung, Empfängnis, Vergewaltigung, Streik, Niedertracht, Straßendemonstrationen, Ausbeutung, Prassereien: das alles geschieht jetzt in der Welt, zur selben Stunde, zur gleichen Zeit... Aber die ganze Welt ist aufgeteilt in zwei große Heerlager...

 

7

Automatisch schwang die Drehtüre des Cafehauses wieder um ihre eigene Achse. Ach, da bin ich ja noch...
Die Mäntel am Garderobenständer kletterten übereinander.
Immer noch saßen die Zeitungsleser, verschanzt hinter ihren Zeitungen. Ein Telefon klingelte. Peter ging.
Sollte das nicht doch möglich sein, das Menschen-natürlichste, das Menschenselbstverständlichste, das Aller-aller-Einfachste? Mit Aufbietung aller Kräfte, unter Zusammenraffung unseres ganzen Menschendaseins!? Das, das müsste man doch versuchen... Oder ob das
Einfachste nicht doch nur ein scheinbar Einfachstes ist, am Ende nicht gar das Allerschwerste!?...
Die Theater waren jetzt aus.
Neue Menschenströme brachen in die Straßen ein.
Ein Autohupen-Konzert.
Kokottenrudel trieben straßauf, straßab.
Liebespaare wankten eng umschlungen einem Park zu.
Ein Mädchen der Heilsarmee grölte irgendwo in einem Platzwinkel: „Jesus, süßer Bräutigam..."
Recht so, die Religion soll dem Volk erhalten bleiben. Und das drückte auch auf die Tränendrüse manch einer vornehmen Herrschaft, die gnädiglich aus krokodilsledernen Handtaschen heraus ein Almosen für die Armenspeisung spendete. Mit blankgescheuertem Gewissen schlenkerte sie dann, sich wohlig in ihren Pelzen räkelnd, von dannen.
„Menschendreck..."

Der Himmel war wie ein Eismeer.
Wie Packeis trieben die Wolken darin, zu Eisbergen sich türmend, absplitternd; Haufen von Scherben. Scharf gezeichnet hoben sich weit hinten am Horizont in der blauen Flut die unermesslich lang gestreckten Eiswände ab. Und der Mond stand mitten darin, unförmig, geborsten, ein ziellos treibendes Leucht-Wrack. „Ja, ja, das ist schon so: es stimmt schon: Die Barbarei erscheint wieder, aber aus dem Schoß der Zivilisation selbst erzeugt und ihr angehörig..." Und Peter schritt die Straße hinauf, die sich vor ihm zu heben schien und steil und immer steiler ward, wie im Sturmschritt.

 

8

Die Diskussion in den Frankfurter Festsälen begann.
„Natürlich wieder so ein Kommunist", knurrten einige, als der Versammlungsleiter bekannt gab: „Herr Schnetter hat das Wort."
Einige Zwischenrufe knallten.
Der Referent schmunzelte.
„Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu haben, wenn man sich freigemacht vom Glauben an die erbliche Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie. — Der Feind aber, der uns die Hand zum Wahlbündnis hinstreckt und sich als Freund und Bruder uns aufdrängt — ihn und nur ihn allein haben wir zu fürchten. Wie können die Massen noch an uns glauben, wenn die Männer des Zentrums, des Fortschritts und anderer bürgerlicher Parteien unsere Bundesgenossen sind — wozu dann der Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft, deren Vertreter und Verfechter sie allesamt sind?... Ist einmal die Grenzlinie des Klassengegensatzes verwischt, sind wir einmal auf der schiefen Ebene des Kompromisses, dann gibt es kein Halten. Dann geht es weiter und weiter abwärts, bis es kein Tiefer mehr gibt... Mit der Bewilligung der Kriegskredite 1914 hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands diesen Tiefpunkt erreicht."
Hier schon wurde der Diskussionsredner unterbrochen.
„Reden Sie nicht in Zitaten und besonders nicht in solchen, die Sie nicht verstehen!"
Das habe nicht ich, sondern Karl Marx in seiner Einleitung zum ,Bürgerkrieg in Frankreich' gesagt, und das zweite Zitat ist von Wilhelm Liebknecht. Sie zeigen durch Ihre Zwischenrufe nur, dass sie mit diesen beiden Männern nichts mehr gemein haben...", erwiderte der Diskussionsredner.
„Na, also da haben wir's ja. Weiter habe ich ja auch nichts gesagt."
Der Zwischenrufer hatte Beifall.
„Der Arbeiterverrat, den Sie heute vertreten", fuhr Genosse Schnetter fort, „ist schon von langer Hand vorbereitet worden. Schon Kautsky, der Historiker... in seinen Vorläufern des Sozialismus . . . Welche internationale Bedeutung aber die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 hatte, das kann nur der ermessen, der die ungeheure Ausnahmestellung, die die deutsche Sozialdemokratie innerhalb der Zweiten Internationale damals innehatte, kennt, die deutsche Sozialdemokratie war die Perle der..."
„Wirf sie jetzt nicht vor die Säue, Hund... "
„Theoretischer Quatsch!"
„Schluss damit!"
„Erledigt! Raus! Abtreten! Zur Sache!" Der Ordnerdienst schob sich unauffällig nach vorn. Hielt im Saal Umschau und stellte die Positionen derer fest, die dem kommunistischen Redner zustimmten. Eine kurze Unruhe entstand.
Der Versammlungsleiter klingelte.
„Holt doch einfach die Schupo... "
Der Diskussionsredner hatte sich dem Referenten halb zugewendet.
„Lauter!" brüllte jemand.
„Keine Dialoge! Sprechen Sie zur Versammlung!"
„Ihr seid an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht schuld! Wollt ihr das noch immer nicht wahrhaben ... Ihr, ihr..."
Und unter einem brüllenden Gelächter zog der Kommunist eine Broschüre hervor.
„Pfui! Pfui! Pfui! Schurke! Halunke! Schuft! Verleumdung! Elender Lügner! Von Moskau bezahlt! Erbärmliche Niedertracht! Brenn ihm eins! Jib ihm Saures... "
„Zehn Jahre SPD!"
Einen Augenblick wurde es ganz still.
„Blamieren Sie sich, so gut Sie können!" schmunzelte jovial der Referent!
„Arbeiter! Genossen! Seht euch euere Führer an! Wir Kommunisten würden doch nicht immer wieder auf die Haltung der SPD während des Krieges zurückkommen, wenn nicht die Politik der SPD nach dem Krieg in jeder Epoche der Nachkriegszeit denselben Arbeiterverrat darstellen würde... Dieser Herr, der Herr Referent, der euch heute Abend noch soeben das Sachverständigengutachten so wohlschmeckend zubereitet hat, ist er nicht derselbe, der einstmals begeistert ausgerufen hat: ,Ich geh zum Hindenburg!' und der damals folgendes geschrieben hat: ,Nur im Zeichen dieser Ströme von Blut, nur im Zeichen des zermalmenden Eisens, das diese Ströme hervorbrechen macht, können wir davon sprechen, dass das Ziel nahe ist. Wir müssen den Kriegswillen der Gegner im Blut ersticken...' Das ist das eine. Das andere lautet - passt gut auf! -: ,Um alles in der Welt möchte ich jene Tage inneren Kampfes nicht noch einmal erleben! Dies drängend heiße Sehnen, sich hineinzustürzen in den gewaltigen Strom der allgemeinen nationalen Hochflut, und von der anderen Seite her die furchtbare seelische Angst, diesem Sehnen rückhaltlos
zu folgen, der Stimmung ganz sich hinzugeben, die rings um einen herum brauste und brandete und die, sah man sich ganz tief ins Herz hinein, auch vom eigenen Inneren ja schon Besitz ergriffen hatte. Diese Angst: Wirst du auch nicht zum Halunken an dir selbst und deiner Sache!? Darfst du auch so fühlen, wie dir ums Herz ist? Bis dann — ich vergesse den Tag und die Stunde nicht — plötzlich die furchtbare Spannung sich löste, bis man wagte, das zu sein, was man doch war, bis man — allen erstarrten Prinzipien und hölzernen Theorien zum Trotz — zum ersten Mal (zum ersten Mal seit fast einem Vierteljahrhundert wieder!) aus vollem Herzen, mit gutem Gewissen und ohne jede Angst, dadurch zum Verräter zu werden, einstimmen durfte in den brausenden Sturmgesang: >Deutschland, Deutschland über alles!<"'
Die Versammlung atmete kaum noch...
„Nun, Arbeiter-Genossen und sehr verehrte ,Herren' Zwischenrufer von vorhin, ich frage euch jetzt, urteilt selbst: ist das die Sprache eines Sozialisten!? Wem von euch noch ein Funke proletarischen Ehrgefühls innewohnt, wer noch ein klein wenig proletarischen Klasseninstinkts sein eigen nennt, der wird nicht umhinkönnen, eine solche Auffassung zu brandmarken als das, was sie in der Tat ist: als Ausdruck der schamlosesten, hundsföttischsten Korruption. Das ist zwar nicht Landesverrat, auch nicht Hochverrat, jeder dieser ehrenwerten Spießer ist würdig, mit dem Pour le mérite dekoriert zu werden... aber dafür ist es Arbeiterverrat, Arbeiterverrat und nochmals Arbeiterverrat!..."
Viele Arbeiter sahen bei diesen Worten sich unschlüssig an.
Manche schüttelten mit den Köpfen.
„Hat der wirklich so was geschrieben?!"
„Kann's gar nicht glauben..."
„Ja, bei der Stimmung, die damals gewesen ist..."
Vieler Augen öffneten sich jetzt weit, viele Ohren horchten gespannt.
„Rasch! Mach schnell!" flüsterte der Versammlungsleiter einem Funktionär zu. „Sonst geht uns am Ende noch die ganze Versammlung aus dem Leim. Lieber noch sie hochfliegen lassen..."
Und der Funktionär gab unauffällig ein Zeichen.
Vier oder fünf unter den Tausenden schrieen plötzlich los: „Unsinn! Blödsinn! Schuft! Neue Lügen! Kein Wort ist wahr! Alles gefälscht!..."
Die Arbeiter sahen sich wieder an.
„Siehst du, das hab ich doch gleich gedacht, dass das so eine Lüge ist. Das wäre doch schon... Da dürfte der ja gleich einpacken... Aber was die Kommunisten sich nicht alles aus den Fingern saugen... Pfui Teufel... "
„Das haben Sie, das haben Sie, Sie, Sie, Herr Genosse Bauer geschrieben, damals, und jetzt, jetzt schämen Sie sich nicht, jetzt wagen Sie es... "
„Schluss! Schluss! Schluss!"
Der Versammlungsleiter klingelte.
„...und so entziehe ich dem Redner wegen grober Verleumdungen persönlicher Art und wegen vollkommenen Mangels an Objektivität und Sachlichkeit das Wort... Da kein Redner mehr gemeldet ist, hat unser Genosse Bauer das Schlusswort."
„Recht so!"
„Bravo! Bravo! Raus mit ihm!" Der Saal stampfte. —
Und schon wurde der Kommunist von einigen kräftigen Ordnungsleuten heruntergeholt. Genosse Bauer schüttelte noch den Kopf und riet überlegen freundschaftlich von Gewaltanwendung in diesem besonderen Falle ab.
Hofrichter-Rauscher-Breuer-Kuttner!" drohte der Kommunist mit der Faust... „Und damals in den Kapp-Tagen, erinnern Sie sich noch, auf der Pressekonferenz... Sie ihr, die wirklichen Urheber an der Ermordung... Soll ich Ihnen das sozialdemokratische Rezept verraten: Was sagt euer Wels: ,Wir haben eine Bewegung der Arbeitermassen nicht zu fürchten. Wenn sie über unsere Köpfe hinwegzugehen droht, stellen wir uns an ihre Spitze und biegen die Bewegung um, wie 1918 .."
Dies schrie der Kommunist noch, schon halb aus dem Saal geschleift.
Ein riesiger athletischer Bursche vom republikanischen Ordnerdienst klopfte jetzt auf ihm mit einem stählernen Totschläger einige Mal herum.
„Längst erledigt! Zur Sache! Moskowiter! Genosse Bauer hat jetzt das Wort..."
„Hinaus... aus... aus... ", echote es rings.
Am Saaleingang aber vermochte sich der Kommunist doch noch einmal aufzurichten, sich loszureißen und mit einer mächtigen Stimme schleuderte er zurück: „Ihr, ihr, ihr dort oben: ihr habt dem Proletariat den Mut, das Kraftgefühl, das Selbstvertrauen gestohlen. Und das ist vielleicht von allen eueren Missetaten, Unterlassungssünden, Gemeinheiten das Allerschlimmste... Ihr seid in den Reihen der bürgerlichen Klassenarmee nichts weiter als die Spezialkommandos zur Niederknüppelung der revolutionären Arbeiterschaft... Ihr seid der Klassenfeind im eigenen Lager... Pfui, Mörder, Schufte, Verräter! Schluss mit euch... !"
Die Saaltür krachte jetzt zu.
„So ein Kommunist ist nicht tot zu kriegen... "
Die Luft war wieder rein. —

 

9

Max beobachtete den Referenten, der soeben das Schlusswort ergriff.
Wie vertrauenerweckend allein schon seine Gestalt war! Breit und behäbig, prall gefüllt mit Wohlüberlegtheit und kugelrund vor Verantwortlichkeit! Rotbackig, mit schwärzlich buschigem Schnurrbart. Ganz im Gegensatz zu dem Kommunisten, einem jungen und aufgeregten Bürschlein... Sachlich, wenn es sachlich zu sein galt, voll von Entrüstung und gewitterschwangerem Pathos, wenn er auf die Umtriebe der Reaktion oder auf die schändlichen Machenschaften und Spaltungsversuche der Kommunisten zu sprechen kam. Ausgeglichen, männlich-reif... Der hat Kenntnisse, der versteht was vom Handwerk, der lässt sich nicht so leicht unterkriegen, der hat Erfahrungen. Nun, schau nur einmal!... Kurz gesagt: es war, als spreche hier der gesunde Menschenverstand selbst.
Wie fieberig erhitzt dagegen der Kommunist wirkte! Überspitzt in allen seinen Gesten und Äußerungen, jedes Wort maßlos übertrieben. Vor solchen Menschen muss man sich in acht nehmen, wie das in ihren Augen flackert, in ihren Fäusten zuckt, in ihrem Brustkasten rumort...! Die sind nicht schlecht verrückt!... Donnerwetter...
„Nun, Genossen und Genossinnen, werte Versammlung!
Dieser allem Anschein nach systematisch vorbereitete Sprengungsversuch der Kommunisten ist dank dem wirksamen Eingreifen unseres Reichsbanners... "
„Bravo! Frei Heil!"
missglückt. Da haben Sie es! Aber der deutsche Arbeiter ist schließlich gerechtigkeitsliebend genug, um auch den Gegner so zu sehen, wie er ist. Ich spreche jetzt von der besitzenden Klasse. Lassen wir uns bei deren Beurteilung nicht von blindwütigem Hass hinreißen, ich gebe zu, mancher von uns muss, um zu einem objektiven Urteil über seinen Gegner zu kommen, noch viel an sich arbeiten, denn die Theorie vom Klassenkampf hat viel an uns verdorben. Wir Sozialdemokraten vertreten die Gesamtheit der Nation, wir vertreten die Interessen aller Bevölkerungskreise, das Wort ,Klassenkampf ist überhaupt veraltet und wissenschaftlich bereits längst überholt ... Also: mit dieser kommunistischen infamierenden Klassenhetze haben wir Sozialdemokraten nichts gemein. Von Kriegsgewinnlern und Inflationsschiebern abgesehen, was haben uns schließlich die Reichen getan, die in den Palästen wohnen? Sie sind dem Nestbaubetrieb gefolgt, sage ich, nichts weiter. Und dieser Tatsache müssen wir Verständnis entgegenbringen. Dafür wollen wir ihnen, bei Gott, nicht allzu gram sein... Nun, zur Frage der Amnestie! Wer hat sich für die Amnestie eingesetzt!? Die Sozialdemokratie... Ich brauche euch wohl nicht den Brief Max Hoelzens zu verlesen. Ihr kennt ihn ja aus dem ,Vorwärts'. Aber es ist schließlich nicht ganz so leicht, immer gleich ebensoviel aus den Zuchthäusern herauszubringen, wie die Zentrale der Kommunistischen Partei jeden Tag durch ihre putschistische Taktik wieder hineinschafft. Eine Beharrlichkeit zeigen darin die Herrschaften, dass man sie bei-
nahe bewundern möchte... Wer aber knebelt, knechtet, verfolgt und verrät die Arbeiterschaft schlimmer als die dunkelste Reaktion!? Die Bolschewisten. Werft einen Blick in die russischen Gefängnisse, in die sibirischen Öden! Denkt an die Gräueltaten und an die Folterkammern der Tscheka! Und wer, frage ich euch, stellt immer wieder eigene Kandidaten auf, auch dort, wo gar keine Aussicht auf Erfolg ist, wer spaltet durch diese Manöver die Arbeiterschaft und wird so objektiv zum Steigbügelhalter der Reaktion? Wieder die Kommunisten. Ja, die Kommunisten sind an allem schuld. Und ich sage, lebte Rosa Luxemburg heute noch, sie stünde bestimmt in unseren Reihen..." „Bravo! Sehr richtig!"
„Die Kommunisten aber treiben mit ihr Leichenschändung. Also darum! Auf an die Wahlurne! Abrechnung mit den Hetzern! Abrechnung mit jenen Kanaillen der Arbeiterschaft, den kommunistischen Berufsrevolutionären! Nieder mit der kommunistischen Bewegung, nieder mit den Kommunisten, dieser reaktionären Masse!... Es lebe... "
Und wieder dröhnte der Saal von dem dreimaligen „Hoch!"
Langsam und schleppend wurde jetzt die letzte Strophe der Internationale gesungen.
Wie ein Trauermarsch.
„Diese Welt muss unser sein!"
Ja, so ist es. Aber wer glaubte noch daran!?
Wie ein muskelloser, schlaffer, erschöpfter Körper: so war dieser Gesang. Tausend Münder schnappten automatisch auf und zu... Kein Schwung, keine Kraft. Es zog nicht durch...

Erst wenn wir sie vertrieben haben —
Dann scheint die Sonn ohn Unterlass...

Auch viele kannten den Text nicht...
Aber ein Proletariermädchen sang mit, es war klein und schmal, es hustete oft dazwischen, die Haut war durchsichtig, die Augen groß aufgerissen: es sang mit einer hohen schönen Stimme, diese Stimme schwang sich im Gesang hell empor aus Elend, Lebensnot und Alltagseinerlei, diese Stimme war wie klares Eiswasser: die Hände ballten sich, schneller sang sie die Strophen wie die andern, aber sie wurde auch immer wieder unwiderstehlich in den zähen, trüben, kleberigen Strom des Massengesanges zurückgerissen...
Die Versammlung war zu Ende.
Polizeimannschaften mit umgehängtem Karabiner patrouillierten.
Das Wetter war umgeschlagen. Das Nebeldickicht verdampft. Es wehte ein scharfer Wind... Die Nacht war eisig.
Mit einigen Kollegen machte sich Max zu Fuß auf den Heimweg. —

 

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Lange Autoreihen vor den Hotels: betresste Diener öffneten, die Hand an der Mütze, den Verschlag. Damen in Pelzmänteln, Herren in hochgeschlossenen schwarzen Mänteln, den Zylinder auf, dahinschreitend, beinahe akkurat so wie die Göttergestalten aus dem Altertum. Oder wie die Ritter meinetwegen... Läden: aus denen wunderbar lackierte Autokarosserien hervorleuchteten... Und wirklich schöne Frauen waren das
vorhin, radikal mit den Augen einen zerschmeißen konnten die; duftiges Fleisch, ohne Fehl und Makel, irdische Göttinnen, gelenkig und geschmeidig. Wie sicher sie sich bewegten! Man musste schon genau hinhören, wenn man ihre Sprache verstehen wollte. Gleichnisse, Tonfall: alles war anders.
„Während unsereinem zu Hause die Frauen vor lauter Haushaltungsarbeit und Nahrungssorgen wurmstichig werden."
An den drei von der Versammlung heimkehrenden Proleten glitt das alles vorüber, wie eine unwirkliche Erscheinung.
Das war wie das „Jenseits".
Einmal stieß der Metalldreher Lange den Max Herse in die Seite, man sprach aber dazu kein Wort: eine Gruppe von übergeschminkten Kokotten zwitscherte an einer Straßenecke herum, stürzte sich auf einen dicklichen angetrunkenen Herrn, der leicht schlingernd seines Weges daherzog: der dickliche Herr stoppte auch, nicht ohne Mühe, gestikulierte eifrig, nickte am Ende der Unterhandlung jovial und verschwand auch schon in der Nebenstraße, auf der einen Seite eingehakt von einer Spindeldürren, auf der anderen von einer Fetten.
„Was so ein Späßchen bloß wieder mal kosten mag!"
„Da schau nur mal an: so ein vollgefressenes Schweinchen das... Na, dem gehört auch von seiner Alten der Buckel voll..."
Die Proleten lachten nur dazu. Schüttelten die Köpfe.
„Nein, Wilhelm, wenn ich seh, wie die im Betrieb arbeiten! So eine Pfuscherei... Ich sag dir... Lass mich aus damit..."
„Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln...
und das nennen sie dann Arbeit im Konsum, Gewerkschaftsarbeit... Ist schon richtig: Fehler werden alleweil gemacht, Fehler müssen sogar gemacht werden, nur einer, der nichts tut, macht keine, aber absolut sich nun darauf zu versteifen, aus den Fehlern ausgerechnet nichts zu lernen..."
Der einzige von den dreien, der eben noch etwas für die Kommunisten übrig hatte, war Lange, Lange Wilhelm. Er war in einem Großbetrieb Metalldreher. Der Kollege Stilling von der AEG und Herse Max drangen nun auf ihren Arbeitskollegen Lange energischer ein.
„Beim Streik bei der Turbine haben wir es wieder gesehen. Schön hübsch zuwarten, bis alles von selbst losgeht... Dann sich hinten anhängen und das große Maul haben, aber nur, nur nichts organisieren... was kommt's denn auf drei oder vier Pfennig mehr Lohn an, sagen sich die vornehmen Herrschaften... und doch kommt's darauf an, sag ich, der hat auch für große Kämpfe nicht das Vertrauen der Arbeiter, der nicht ihre kleinen und kleinsten Alltagsschmerzen mit ihnen teilt... Auf ein mehr oder minder gutes Klosett kommt's an, und wer das nicht begreift... Eine richtige Schwanzpolitik ist das... Na, ihr werdet euch noch gewaltig die Finger verbrennen..."
„Und damals Wilhelm, wie war's denn im Oktober!... Ich geb dir die Hand darauf, ich hab gewartet, dass es endlich losgeht. Kaum heimgehn hab ich noch können, immer war ich wie auf dem Sprung, und dann... so in den Dreck gekrochen... Pfui Teufel..."
Die beiden überschütteten Wilhelm mit einem Trommelfeuer von Vorwürfen.
„Mag sein. Mag alles sein. Wir, wir vor allem in den Betrieben, müssen eben jetzt diese Fehler wieder
herauswirtschaften... Aber, wenn man so wie ihr auf der Seite steht... Und seht da: siebentausend. Hunderte von Jahren Zuchthaus und Gefängnis sind es, Kollegen. Und fünfzehntausend haben sie allein in Deutschland unter die Erde geschossen. Und von Rechts wegen müsstet ihr auch die Kriegsverluste noch dazuzählen: dreizehn Millionen insgesamt gibt das... Und diese Proleten, Kollegen, haben doch mit bestem Wissen, mit bestem Glauben, voll und ganz für uns gekämpft. Das könnt ihr doch, trotz alldem, nicht ableugnen... Ist doch unser Blut!..."
„Mag sein. Die Führer sind schuld daran. Die haben sie hereingebracht. Die sind allesamt durch die Bank faul... Moskau... "
„Nein, Kollegen, daran liegt's nicht. Daran liegt's, dass wir bisher noch keine richtige Partei gehabt haben. Die müssen wir uns erst schaffen. Ohne Partei keine Führer... So ist's. Und die SPD ist eine bürgerliche Partei... Wir brauchen jetzt eine wirkliche Arbeiterpartei. Das ist keine geringe Aufgabe... "
Der Kollege Lange wurde sich eigentlich erst, während er sprach, selbst klar darüber, was er jetzt vorbrachte.
„Gut. Mag vieles davon stimmen, was ihr angeführt habt, du, Herse, und du, Stilling. Aber auf das Ganze kommt es an, und da, das weiß ich, haben wir wohl recht..."
„Na, und stimmt das oder nicht, dass ihr Kommunisten auch immer dort eigene Kandidaten aufstellt, wo ihr gar keine Aussicht auf einen Wahlerfolg habt. Dadurch schwächt ihr nur die Arbeiterstimmen und leistet der Reaktion Vorschub. Wie heute Abend auch richtig der Redner auseinandergesetzt hat..."
Bin schöner politischer Schmierölfabrikant das... Da erteilt euch aber Karl Marx eine ordentliche Abfuhr. Bei dem heißt es nämlich klipp und klar: ,Selbst da, wo gar keine Aussicht zu ihrer Durchführung vorhanden ist, müssen die Arbeiter ihre eigenen Kandidaten aufstellen, um ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre Kräfte zu zählen, ihre revolutionäre Stellung und Parteistandpunkte vor die Öffentlichkeit zu bringen. Sie dürfen sich hierbei nicht durch die Redensarten der Demokraten bestechen lassen, wie zum Beispiel, dadurch spalte man die Demokratische Partei und gebe der Reaktion die Möglichkeit zum Siege. Bei allen diesen Phrasen kommt es schließlich darauf hinaus, dass das Proletariat geprellt werden soll. Die Fortschritte, die die proletarische Partei durch ein solches unabhängiges Auftreten machen muss, sind unendlich wichtiger als der Nachteil, den die Gegenwart einiger Reaktionäre in der Vertretung erzeugen könnte... So, da habt ihr's, schwarz auf weiß, wie damals, so heute..."

 

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Aber die Gegner Langes gaben sich damit nicht zufrieden. Nun fuhren sie, wenigstens ihrer Meinung nach, ein besonders schweres Geschütz auf.
„Und Bazillen, Cholerabazillen, Giftgase und Fälscherzentralen... So lies doch die Zeitung!... Auch eine deutsche Tscheka gibt es und Terrorgruppen... Ich will nichts zu tun haben mit diesen Bombenwerfern und Gurgelabschneidern... Jeder ehrliche Prolet... Ich meine nur: Pfui Teufel..."
„Wir haben doch das denkbar größte Interesse daran,
dass der Kapitalismus sich entwickelt. Und solange außerdem noch zwei Drittel der Bevölkerung für den Kapitalismus stimmen... Nein, Wilhelm, so eine Putschtaktik mache auch ich meinerseits nicht mit... Und kannst du vielleicht bestreiten, dass gerade die Kommunisten es sind, die am meisten unserem Reichsbanner zu schaffen machen. Da, wie war's denn neulich im Sportpalast. Glaubt ihr denn im Ernst: Radau, Zwischenrufe, Gummiknüppel und Schlagringe sind ein ausreichendes Beweismittel. Gerade das Gegenteil erreicht ihr! Das müsst ihr schon anders anfangen!... Wie wollt ihr das alles vom Arbeiterstandpunkt, vom Standpunkt der proletarischen Revolution aus rechtfertigen. Aber Befehl ist eben Befehl. Und Moskau ist für euch schon der liebe rote Gott. Ja, wenn der Rubel rollt, so war es schon immer in der Weltgeschichte, und wo der hinfällt, da wächst keine Vernunft mehr. Heute ist die Dritte Internationale nichts weiter mehr als ein Instrument der russischen Außenpolitik... Mit Arbeiterinteressen hat das verflucht wenig zu tun... Und Reichsbanner oder Stahlhelm, was ist da das kleinere Übel...? Außerdem, so schlimm ist es ja nun, Gott sei Dank, mit dem Kapitalismus doch nicht. Wer arbeiten will und etwas kann, etwas kann vor allem, der bekommt auch Arbeit und hat zu essen. Aber schau dir nur einmal im Betrieb die Herren Genossen Kommunisten-Kollegen an: verstehn die vielleicht was vom Handwerk!?... Bengels, freche Bengels sind sie, die große Schnauze haben sie, können sie vielleicht auf sachliche Einwände etwas wirklich Ernstzunehmendes erwidern... zurückgeblieben und stehngeblieben mit ihren Anschauungen sind sie, weiter nichts... Hie und da, das gebe ich gern zu, ist auch so ein Ehrlicher, so ein Fanatiker darunter... So verbohrt, so verdreht... Ich sage mir: man muss sich halt durchboxen... Leben und leben lassen... Wird schon werden. Und die Auswüchse des Kapitalismus, die muss man bekämpfen. Habe nichts dagegen, wenn man die Wucherer und Schieber, und mögen sie Minister und Kaiser und Könige und weiß Gott wie heißen, dass man die vor das Gericht stellt. Gerechtigkeit muss sein. Und die allzu große Ungleichheit zwischen Löhnen und Profit, die allerdings sollte auch beseitigt werden. Und wenn wir erst einmal die Mehrheit im Reichstag haben, dann wirst du sehen: wie ein Hagelwetter prasseln die Steuern auf den Rücken der Besitzenden nieder... Du hast es doch heute Abend selbst gehört..."
„Illusionen! Illusionen! Merkwürdig, wie ein Prolet sich heute noch solche Illusionen machen kann... Ja, was ein jeder sich wünscht, daran glaubt er... So arbeitet die SPD... Es ist wirklich zum Verzweifeln. Zum Tieftraurigwerden..."
Wilhelm Lange pfiff leise vor sich hin.
„Ruhe und Ordnung!"
Auch der Kollege Stilling von der AEG war der gleichen Ansicht wie Herse. „Wir brauchen einen Linksblock", meinte der, „mit Einschluss der Kommunisten meinetwegen, wenn, ja wenn sie positive Arbeit, Wiederaufbauarbeit leisten wollen. So etwas wie in England oder in Frankreich. Da sieh dir nur einmal das Leben eines Arbeiters in England an! In Amerika. Hast du nichts von Ford gehört. Es gibt eben zweierlei Kapitalisten. Solche und solche... Jeder hat da bald schon sein eigenes Auto. Ganz bestimmt, so wird es bald auch noch bei uns kommen... Und ich sehe gar nicht ein, warum wir uns nicht friedlich weiterentwickeln sollen. Die Kapitalisten haben gar kein Interesse mehr am Kriege.
Ein viel zu großes Risiko. Viel zuviel Angst vor einer Niederlage, die immer mit Revolutionsgefahr verbunden ist... Für den Kommunismus aber sind wir noch nicht im entferntesten reif... Hast du denn keine Augen und Ohren, Wilhelm, und siehst und hörst nichts in den Betrieben!? Diese Schweinereien! Diese Schmierereien! Wie der eine gegen den andern stänkert! Denunziert! Den Lohn drückt! Sich zu Überstunden drängt! Um den Meister herumschwänzelt! Streik bricht! Da ist es mit dem Klassenbewusstsein nicht weit her... Und die Kommunisten, sage ich, die haben, sage ich, durch ihr Maulaufreißertum ein für allemal abgewirtschaftet. Revolutionsgewäsch, überradikales Geschwätz, weiter nichts. Ich meine halt schon, auf das eine kommt es jetzt an — Frieden auf Erden... "
Endlich kam auch der Kommunist wieder zu Wort.
„Schau, Max, neulich bei dem Grubenunglück, da hast du ganz anders gesprochen. Da bist auch du aus deiner SPD-Haut gefahren. Und heut!?... Es ist viel zu viel von Frieden die Rede, als dass es wahr sein könnte. Glaub mir's. Und haben wir nicht eigentlich noch immer Krieg: in Indien, in Ägypten, in China, bei den Türken, bei den Rifkabylen... Bei uns selbst: ein trockener Krieg, wenn du willst... Jeder Tag bringt doch neue Verluste... Erwerbslose, Verhungernde, solche, denen die tödlichen Krankheiten direkt aufgezwungen werden... Da war ich neulich dabei bei einer Armenkommission und habe einige Wohnungen besucht... Na, sage ich dir: oft neun, zwölf Menschen in einem Raum, in einem Stalloch, und das war längst noch nicht das Schlimmste... Hundert Wohnungen gehören da einem, der vielleicht in Czernowitz sitzt. Heute ist der Besitzer, morgen der... So einer wechselt die Häuser wie die Wäsche. Reine Spekulationsobjekte sind solche Wohnhäuser... Dabei verfaulen sie, verfallen sie... Wer kümmert sich um sie. Der Staat vielleicht!? Na, der hat andere Sorgen... Die Bettstellen waren halb durch die verfaulten Bodenbretter in den Keller heruntergebrochen, ein Gestank darin... nein, so was kann man nicht schildern... Ich sage dir, so eine Wohnung ist weiter nichts als ein langsam sich vollstreckender Lebensmord... Und außerdem, sag ich euch, schaut euch nur einmal die Kriegsrüstungen an, das ist jetzt nur eine Atempause, und alles spricht dafür, dass es bald wieder losgeht..."
„Nachtigall, ick hör dir tapsen... Das ja eben ist's, was ihr braucht. Natürlich! Natürlich! Aufstieg und Gesundung unseres wirtschaftlichen und politischen Lebens dürft ihr ja nicht wahrhaben wollen. Ihr müsst im trüben fischen. Wo reine helle Luft ist, da ist keine Atmosphäre für euch, da ist für euch nichts herauszuholen... Je schlimmer aber die Verelendung ist, je grö­ßere kriegerische Konflikte ausbrechen, desto mehr Wasser, glaubt ihr, bekommt ihr auf eure Mühle... Ich könnte mir denken, dass ihr von diesem Standpunkt aus, wenn Ebert mal tot ist, auch dem Hindenburg noch zur Präsidentschaft verhelft... Doch wartet nur!... Vielleicht läuft der Hase doch anders... "
„Ach, lass mich aus jetzt mit der leidigen Politik, dar­über werden wir uns doch nicht einig werden, warten wir die Zeit ab, aber so, wie es heute ist, sind die Kommunisten nichts weiter als ein Agentenklub der russischen Außenpolitik. Lenin, das war schon ein Mann, Trotzki, meinetwegen auch, aber alle anderen, diese Berufsfeldwebel der Revolution, sind von Übel... Da schaut euch nur die deutschen Kommunisten an!...
Reaktionäre Masse... Jüngelchen in kurzen Hosen, noch nicht trocken hinter den Ohren, Novembersozialisten, Dienstzeit: insgesamt drei Jahre Arbeiterbewegung höchstens. Aber das Maul um so voller mit Phrasen, mit revolutionären Scheinparolen, und wenn es mal losgeht, ebenso die Hosen voll... Nur ein Lastkraftwagen mit Schupo... und, heidi, heida, verschwunden schon sind sie... Hast du nicht neulich gesehn, wie am Alexanderplatz von zehn Schupos eine ganze Demonstration dieser Lausbuben auseinandergesäbelt wurde... Dieses Grünzeug. Recht geschieht ihm... Immer mal feste druff... Kein ehrlicher deutscher Prolet..."
Wilhelm haute jetzt nur noch die Sätze hin: „Aber die sozialdemokratischen Führer haben die Arbeiterschaft entwaffnet, wehrlos gemacht, verraten, dem Klassenfeind ausgeliefert... Das haben sie... Und fahnenflüchtig seid ihr allesamt geworden. Rot aber habt ihr mit schwarzrotschwefelgelb vertauscht. Fahnenflüchtige Mostrichbrüder!... Aber es hat ja doch keinen Sinn... Wir Kommunisten waren die einzigen, die gegen die Monarchisten wirklich mit der Waffe in der Hand gekämpft haben: siehe Kapp-Putsch... Und das werden wir auch weiterhin tun... Jetzt aber Schluss damit... "

In der Debatte setzte es jetzt wieder Schlag auf Schlag. Der Genosse Wilhelm stand in einem richtigen Kreuzfeuer...
„Kindertrompeten im Reichstag. Höllenmaschinen in Kathedralen. Explosivstoffe. Vor nichts Respekt..."
„Wir haben eben eine andere Auffassung vom Staat, wie ihr. — Wir, wir Proleten, wir sind die wirklichen Legitimen, wenn du so willst... Und was die Gewinnung der Mehrheit innerhalb des kapitalistischen Systems betrifft, so ist das auch so ein utopischer Unfug. Der Mehrheitsgewinnung steht immer der mächtige Propagandaapparat der Bourgeoisie gegenüber, schau dir nur jetzt einmal den Rundfunk an, zu was allem der herhalten muss — und außerdem durch die Verschiedenartigkeit des Arbeitsplatzes, den jeder im Produktionsprozess einnimmt... Während des Kampfes erst, im Feuer des bewaffneten Aufstandes wird die Mehrheit. Ihr solltet endlich euch über den statistischen Unsinn klar geworden sein..."
„Schon gut. Aber arbeiten, arbeiten, die Revolution wirklich vorbereiten, organisieren: das könnt ihr nicht... Nur Terrorgruppen, und niederbomben... "
„Mag richtig sein, was das erste betrifft. Darin müssen wir gewaltig viel noch zulernen. Warum sollen wir eine vernünftige Kritik nicht ertragen. Und das ist das erste Gescheite, was ihr gesagt habt... Was die Spitzel anbetrifft, so solltet ihr euch als Proleten schämen, so einen ausgemachten bürgerlichen Schwindel nachzuschwätzen... Habt es ja selbst neulich erlebt: wie diese gekauften Subjekte provozieren... um dann uns Kommunisten etwas anzuhängen... Ja immer, das sind wir schon gewohnt, sind es die Kommunisten. Die sind an allem schuld... Vielleicht auch die Sonne, das rote Biest!?... Die Bourgeoisie verzapft schon einen Mist, wäre ja alles zum Lachen, wenn die Arbeiterschaft sich doch nicht immer wieder von ihr ein X für U vormachen ließe. So ist's zum Heulen... "
Wilhelm verschnaufte sich.
Der eine oder der andere brummte noch etwas.
„Nichts für ungut", knurrte der AEG-Kollege.
„'s ist schon so, die Hemdärmel möchte man sich
hochkrempeln, wenn man mit euch diskutiert", gab Wilhelm zurück. Schwieg.
Nun war wirklich einige Minuten lang Kampfpause. —

 

12

Das Gespräch brach ab.
Schweigend schritten die drei nebeneinander her. So war kein Zusammenkommen. In Moabit begegneten sie auf einer Brücke einer Klebekolonne.
Vom anderen Ufer blinkte, hell erleuchtet, die Meierei Bolle herüber. Der Fabrikschlot rauchte. Nachtschicht. Dunkle Schleppkähne lagerten unten am Spreeufer.

Die drei betrachteten schweigend ein eben angeklebtes Plakat. Ein Gefangener, der mit ausgemergelten Fingern in die Eisenstäbe eines Gefängnisgitters hineingreift. Blutrot war die ganze Gestalt. Das verzerrte Gesicht: eine irrsinnige Grimasse. Darunter stand nichts als die Zahl: 7000.
Max erinnerte sich einen Augenblick an eine Gefängnisbeschreibung, die er neulich irgendwo gelesen hatte. Auch im Polizeigefängnis am Alexanderplatz sollen unglaubliche Zustände herrschen. Dass Gefangene auch noch geschlagen werden können, Dunkelarrest usw. Das wahnwitzige Antreiber- und Auspressersystem, das in den Gefängnissen gang und gäbe ist: das Papiertütenkleben, Bindfadenfabrizieren, wodurch Tausende von Heimarbeitern brotlos werden. Der Hundelohn, der den Gefangenen dafür bezahlt wird. Das Vorenthalten aller anderen Lektüre, außer der geistlichen. Das Untersuchungsverfahren, unter Anwendung von Torturen — wobei ohne Verurteilung schon drei Viertel des Menschen vor die Hunde geht. Während es im überzivilisierten Amerika schon Gefängnisse gibt, als Rundbau aufgeführt, von innen, von der Mitte aus alle Zellen von einem Beobachtungsturm einzusehen, der zum Schutz gegen Revolten mit einem Maschinengewehr bestückt ist... Auch Gas soll schon in Gefängnissen gegen Meuterer angewendet worden sein, wenigstens las man so was zwischen den Zeilen neulich in einem Bericht. Wie Geständnisse von politischen Angeklagten erpresst werden mit Hilfe von Daumenschrauben, Hundepeitschen, Misshandlungen mit glühenden Eisenstäben, Schlägen auf die Sohlen... dass gegen zwei Angeklagte erst neulich das Verfahren eingestellt werden musste, weil der eine während der Untersuchungshaft wahnsinnig wurde und der andere Selbstmord verübte... Und dann erst, wie hingerichtet wird... Das übersteigt schon jede Vorstellung... Im Sowjetparadies aber soll es, den bürgerlichen Berichten nach, gar am schlimmsten sein... Die Kommunisten also, die haben es gerade nötig... Ein dummer Schwindel ist das...
Ein anderes Plakat: sehr hoch angeklebt: eine Riesengestalt, die mit einer Keule ein spinnenartiges Hakenkreuzgespenst erschlägt. Darunter stand: „Proleten! Tretet ein in den Roten Frontkämpferbund!"
„Gewalt, Gewalt, nichts als Gewalt. Und ein kranker Körper, wie das deutsche Volk ihn darstellt, braucht nichts dringender als Erholung...!"
Wilhelm Lange rang noch einmal nach Luft. „Nun zum Abschied, das will ich euch beiden noch sagen, ich hab mir's überlegt. Das was ihr von Haarspaltereien bei uns sagt, ist nicht richtig, theoretische Klarheit muss sein. Wenn die nicht ist, dann kommt bei Aktionen auch nichts Rechtes heraus. Und da muss allerdings oft um einen I-Punkt gestritten werden ... Was ihr über die Arbeiterschaft Englands sagt, so müsst ihr bedenken, dass die an den Extraprofiten, die die Kapitalisten aus den Kolonien herausschlagen, Anteil hat... Also, dass es dem englischen Arbeiter besser geht, dafür schuften eben Millionen indischer Kulis... Dann: Krieg und Kapitalismus gehören zusammen. So einheitlich, wie ihr euch das vorstellt, entwickelt sich die Wirtschaft eben nicht. Sondern: in Widersprüchen, unter Krisen, Rissen und Sprüngen... Was unsere kommunistische Arbeit in den Betrieben anbetrifft: richtig ist, wir haben noch nicht gelernt, ordentlich zu arbeiten... Woher das kommt, auch das will ich euch sagen: wir haben unsere Parteiarbeit in den vergangenen Jahren eben, der ganzen politisch-ökonomischen Situation entsprechend, auf den Endkampf eingestellt. Gut, nun müssen wir ummanövrieren ... Auch wir lehnen Reformen nicht ab, aber die Grundlage des richtigen Verhältnisses ist folgende: Reformen sind Nebenprodukte des revolutionären Klassenkampfs... Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei besteht nicht darin, den unmöglichen Verzicht auf jegliche Kompromisse zu proklamieren, sondern darin, durch alle Kompromisse hindurch — insofern sie unvermeidlich sind — die Treue unserer Prinzipien, unserer Klasse, unserer revolutionären Aufgabe, unserer Sache der Vorbereitung der Revolution und Vorbereitung der Volksmassen zum Sieg der Revolution durchzuführen... So gibt es auch Kompromisse und Kompromisse. Wenn du auf einer Landstraße von einer Räuberbande überfallen wirst und du dich nur retten kannst, wenn du ihnen dein Geld gibst, so wirst du das tun, um dich möglichst schleunigst aus dem Staube zu machen. Das ist ein Kompromiss. Aber sich der Räuberbande anzuschließen, um gemeinsam andere zu überfallen: das ist auch ein Kompromiss, und zwar ein solches, wie es die Sozialdemokraten machen. Und nun weiter: nur die Auswüchse des Kapitalismus bekämpfen, bedeutet die Illusion in den werktätigen Massen nähren, als gäbe es einen gesunden Kapitalismus, was grundfalsch ist... Zum Schluss, Kollegen: ich sage, diese Republik ist ein Treibhaus für die Kapitalisten und für die Reaktionäre und ein Zuchthaus für die Arbeiter... Und so sieht die SPD aus: die wie das Fegefeuer heute das Wörtchen Klassenkampf scheut, ihn praktisch längst hat fallenlassen, und die dafür immer vom Gesamtwohl und vom Vaterland, das der Arbeiter bekanntlich nicht hat, schwafelt: die SPD ist ihrer Politik nach, nicht den Massen nach, die ihr angehören, eine bürgerliche Partei... Lebt wohl!"
Die drei trennten sich.
Max war schon um die Ecke zu Haus. —

 

13

Nestbaubetrieb — reaktionäre Masse — fahnenflüchtig! So kollerte es noch lang in Maxens Schädel herum.
Fahnenflüchtig!?
Und diese Frage nahm plötzlich Gestalt an, wurde wie zu einem Menschen, der lang und tief in ihn hineinschaute.
Dieser Mensch war seinesgleichen. Blut von seinem Blut. Ganz seiner Art.
Hieß auch Max Herse. Trat jetzt vor ihn hin wie sein leibhaftiger Steckbrief.
Dieser Max Herse fragte ihn: „Max, stimmt das: fahnenflüchtig!? Ist da nicht doch vielleicht etwas wahr daran!?... Wie war das nur neulich bei der Grubenkatastrophe? Erinnerst du dich nicht mehr, was du unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Unglücks alles gesagt hast!?... Versprochen hast eigentlich?!... Fahnenflüchtig... Desertiert aus der Klassenkampfreihe... Verlassen das proletarische Banner!?... Das Banner, für das dein Vater gekämpft und gelitten hat, für das deine Mutter sich so manchen Bissen vom Munde abgespart hat!? Die rote wehende Hoffnung deiner Millionen Arbeitsbrüder! Der Stolz deiner Arbeiterinnen-Schwestern, für das sie in manchen Nächten ihre Finger sich wund genäht haben... Max Herse! Willst du nicht wieder ehrlich, proletarisch ehrlich werden!?... Stimmt das nicht, was der Wilhelm sagte: Ja, für euch bleibt's halt ewig beim alten, ihr wisst schon, was ich meine: Kaisergeburtstagsfeier und Erster Mai...'"
„Wieder ehrlich, proletarisch ehrlich werden...!?" Max Herse sprach, im Halbtraum schon, diese Frage nach. Und mit dieser ungelösten Frage auf den Lippen schlief er ein. —

 

14

Man hörte die Atemzüge der schlafenden Menschen durch die Wände hindurch.
Flackernd ging der Atem, oben und unten und nebenan, von Röcheln, Seufzern und holprigen Hustenanfällen unterbrochen.
Viele Uhren tickten immer dazwischen.
Wieder warf sich einer im Bett, einer schlich den Gang entlang, jetzt tastete es nach einer Klinke; eine Tür knarrte.
Schritte kamen von der Straße hoch, fern, dann nah, wie tropfenweis. Stimmen, das Tappen eines Betrunkenen, Autohupen; Klingeln, die plötzlich schrillten. Und man konnte nur schwer unterscheiden zwischen dem ewigen selbsttätigen Knirschen der morschen Diele und dem Menschenstöhnen und Menschenächzen.
Katzen kreischten. Hunde winselten.
Auf ein Fenster drückte der Wind. Ein Schrank krachte.
Traum-Schreie...
Ein Mensch hatte seinen Anfall. Das Schaumweiß brodelte ihm um den Mund. Da zündete jemand eine Kerze an, warf sich über ihn und hielt ihn im Bett fest.
Monoton lallte jetzt einer vor sich hin. Einer räusperte sich...
Das Wasser im Kanal gluckste. Fernzüge pfiffen. Die Räder stießen auf den Schienen einen dumpfen rauschenden Takt...
In einem Kübel plätscherte es. Einer wusch sich. Die Vorposten des bei Tagesgrauen aufmarschierenden Arbeiterheers standen schon wieder auf und machten sich kampfbereit. Auch die Milchfuhrwerke schepperten schon wieder in der Straße. An den Litfasssäulen arbeiteten in weißen Kitteln die Plakatankleber...
Zähne knirschten, Fäuste krampften sich, Knie zogen sich an, Hände glitten über Decken und strichen sie glatt.
Wie ein Mensch lebt —
Wie ein Mensch kämpft —
Wie ein Mensch schläft--
Da lagen sie auf den Bäuchen, auf dem Rücken, auf
der Seite, in allen Stellungen, allein und zu zweit, ausgespreizt und zusammengedrückt, nackt, namenlos. In allen Stellungen aber wie Plastiken aus jener Galerie, die genannt ist: „Die Verdammnis des Menschendaseins"...

Andere wieder banden sich die Nacht wie eine Maske vor.
Rudelweis zogen Menschen auf Raub. Andere auf Menschenjagd.
Einer stößt jetzt vielleicht dem anderen das Messer in die Brust. Einer knüpft sich jetzt den Strick zurecht, seift ihn irrsinnig-grinsend ein. Nebenan hört man jetzt ein Geräusch, dumpf, wie das Fallen eines Gegenstandes: er hat den Stuhl unter seinen Füßen weggezogen. Zwei, drei Schlingerbewegungen macht der Körper noch: dehnt sich, ein Muskelspiel zuckt, ein Speichelfaden sabbert lang aus dem Mundwinkel... Schluss ...
Kauerten da nicht welche in Knäueln, drei, vier Leiber in einem Bett; fünf auf dem Fußboden; lagen sie nicht da, als ob sie sitzen würden, schliefen nicht welche an den Straßenecken im Stehn, und was schnarcht hier oder lehnt sich mit weit aufgerissenen Augen des Nachts in Parkanlagen auf den Bänken!?...

Das höllische Tagestempo zitterte noch in der auf Leerlauf abgestellten Menschenmaschine nach. Die Gesichter von Lebensangstschweiß und Todesschweiß überzogen wie von einem geheimnisvollen Firnis.
Verstreut wie auf einem unendlichen Schlachtfeld reihenweis Gemordete. —

 

Viertes Kapitel

NUR EIN TRAUM...

Nur ein Traum... — „Die neue Sintflut kommt von oben und als Gift." — Liebe Erinnerungen. Der 22. April 1915: ein Wendepunkt in der Kriegsgeschichte. Die Deutschen blasen in Flandern, Frontabschnitt Bixschote—Langemarck, gegen englische Stellungen Gas ab. — Gasschießen, Gaswerfen. Eine Gastaktik entwickelt sich. — Doch alles in allem: es bleibt beim Experiment. (Diesmal noch.) — Und was gewesen ist, ist gewesen. Keiner denkt mehr daran.

1

Der Traum, den Max Herse in dieser Nacht träumte, war merkwürdig genug. Er zerfiel in drei Teile.
Im ersten Teil lag die Erde da, ein blühendes Chaos.
Ströme rissen dahin, Meere wölbten sich vor den Horizont; Sümpfe, Urwälder, Schlingpflanzen; Feuersäulen stiegen aus den Bergen, Felsen kollerten tosend herab, Tiere aller Art krochen, hüpften, schlichen in diesem Labyrinth, der Mensch, mit riesigen Kiefern und krallenbesetzten Würgfäusten bewehrt, kämpfte um das nackte Leben. Langsam wuchs um ihn der Menschenraum. Er drängte Schritt für Schritt die Wildnis zurück. Immer wieder aber überfielen ihn die Naturgewalten, er duckte sich, wie ein ungeheueres Gewicht lastete über ihm das Unheimliche, das Unerklärliche. Brust an Brust rang er mit den Ungeheuern, da schwang er schon das Steinbeil, die Schädel der Bestien sprangen entzwei, aus tausend
Biss- und Kratzwunden troff aber der menschliche Körper und blutete. Blitze spritzten aus dem Gewölk herab, endlich fand er das Feuer. Mit Sturmfluten überschüttete das Meer das Land, Felsblöcke und Waldberge trieb ein Riesenorkan vor sich her, Lawinen brüllten, der Erdboden spaltete sich, Dämpfe und Gase zischten empor aus Kraterlöchern und Schlitzen. Hart, stahlhart war der Körper des Menschen, mit langen Haaren bedeckt, aber schon hatte er sich Waffen und Werkzeuge geschaffen, er zog aus den Höhlen, deren Wände mit Tierfratzen bedeckt waren, aus; auf riesige Strecken verteilt sah man den Rauch der ersten menschlichen Siedlungen. Gemeinsam zog man zur Jagd, gemeinsam wurde der Boden bestellt, gemeinsam gearbeitet, gemeinsam wurden Früchte und Jagdbeute verteilt: alles gehörte allen gemeinsam. Eine Sekunde:
Das Traumbild sprang in ein anderes um. Tausende von Jahren wohl müssen inzwischen vergangen sein.
Beinahe in geometrische Figuren eingeteilt war die Erde. Berge waren noch da, auch Wälder, auch Meere, auf denen schwimmende Kolosse kreuzten, Geleise, mit sausenden Strichen, die Züge darstellten, durchschnitten kreuz und quer das Land. Stadt an Stadt, alles war abgegrenzt, eingeteilt. Der Mensch war gewachsen: er streckte seine Organe aus, eiserne Gelenke; seine Stimme, durch elektrische Wellen getragen, war vernehmbar zugleich in allen fünf Erdteilen. Er konnte sich abheben von der Erde, er flog durch die Lüfte... Riesige Maschinen stampften unermessliche Schätze aus der Erde; ein Griff an einem Hebel: ein wunderbarer Mechanismus setzte sich leise surrend in Bewegung: millionenfache Muskelarbeit wurde spielend geleistet: aus Wasserkraft wurde Licht, aus Winden, aus Gasen zog man Triebkraft, die Meerbrandung wurde auf geniale Weise in Krafterzeugnis umgesetzt, ja die Umdrehung der Erde selbst wurde bereits von phantasiebegabten Technikern als Arbeitsertrag in Rechnung gestellt.
Der Mensch hatte die Erde erobert.
Die Naturgewalten waren bezwungen, Götter und Götzen waren gestürzt, das Unheimliche, das Schicksal, Gott selbst, ward seines Thrones enthoben, das Zeitalter der Maschine, so hieß es, welch ein Zeugnis von Menschenkühnheit und Menschengeist!
Und wie nun sahen diese Menschen aus!?
Da marschierte es auch schon heran, Kolonne hinter Kolonne, durch Straßen, wie mit dem Lineal ausgerichtet, hinweg über Brücken, unter denen Schnellzüge beinahe lautlos glitten, marschierte schon heran, frühmorgens fünf Uhr, riesigen Fabrikgevierten zu; es waren Millionen, Männer und Frauen, Scharen von Kindern: mit Ruß bedeckt, Schwielen an den Händen, ach so dürftig gekleidet, mit ausgeglänzten Augen, schwerfällig, wie unter einer ungeheuren Riesenlast jeder Schritt. Einarmige und Einbeinige waren darunter, stumm, lautlos marschierten sie... Ja, was war das?
Aber in Pelze und Seide gekleidet wandelten andere auf breiten Straßen, diese Straßen mündeten wie in Marmorbecken in große runde Plätze, Palast stand dort an Palast, große goldene Wappen blinkten von den Baikonen, und hinter seidenen, von kristallischen Lüstern durchhellten Gardinen, war eine Menschengesellschaft sichtbar, manche in Klubsesseln und Schaukelstühlen nach dem Takt der Musik sich wiegend, manche auf- und abpromenierend, alle in Fräcken oder in Uni-
formen, neben Menschen, die richtig wie fleischige Schwämme aussahen, aber auch hartgeschnittene Gesichter darunter, kalt die Augen, völlig mitleidlos... Ja, was war das... ?
Und die Armen drängten gegen die Reichen, und die Reichen drückten die Armen, die Armen aber wurden immer mehr, die Reichen dafür immer grausamer und unerbittlicher, Land, Maschinen, das alles gehörte den Reichen, und der Staat dazu, der selbst eine Maschinerie darstellte, aus Polizeibeamten, Aufsehern, Henkern, Soldaten, Pfaffen, Richtern bestehend; fabriksmäßig, serienweise wurde Recht gesprochen, rein mechanisch hingerichtet und verurteilt; empörte sich einer wider diese Ordnung, wurde ganz sachlich abtaxiert: wie hochprozentig die revolutionäre Energie zu bemessen sei, und demgemäß wurde mit so und soviel Jahren Zuchthausstrafe gegen ihn verfahren...
Dabei riss aber dies Traumbild mitten entzwei, es gab sozusagen einen gewaltigen Zwischenfall.
Tafeln erschienen mit der Aufschrift: „Burgfrieden", man sah von Rednertribünen auf Plätzen von gewaltigem Umfang Menschen auf die Massen einreden, die nickten alle mit den Köpfen, gewaltig ertönten in allen fünf Weltteilen die hundert verschiedenen Nationalhymnen.
„Euer Gott ist nicht unser Gott."
„Der unsere ist der richtige."
„Wir allein sind das auserwählte Volk."
„Nein wir", schrie es sofort von entgegengesetzter Seite.
„Ihr habt uns überfallen."
„Nein ihr, ihr habt zuerst die Grenzen überschritten."
Und siebzig Millionen Menschen zogen aus und kämpften gegeneinander.
Die Erde war wie eine Mondlandschaft. Von den Millionen und Abermillionen Granattrichtern war sie ganz pockennarbig.
„Absatzmärkte! Absatzmärkte!" schrie es wie toll in allen fünf Weltteilen durcheinander. „Wir wissen schon nicht mehr, wie wir profitabel noch weiter produzieren sollen."
Dort wurde Getreide in Lokomotiven verheizt, hier verhungerten Millionen. Hier starben Menschen vor Unterernährung, dort starben welche an Unmäßigkeit. Der eine fraß, der andere wurde gefressen. Manche, die auf diese Ungleichheit hinwiesen, kamen sofort, mit Ketten behängt, ins Gefängnis.
Aber es kam noch schlimmer.
Ganze Hundertschaften von Aeroplanen erhoben sich plötzlich, kein Mensch war darin, sie wurden ferngelenkt und steuerten mechanisch über das Meer. Drei schwere Flügelbomben hingen, leicht hin und her pendelnd, unter jedem. Sicher summten sie ihrem Ziel zu.
Eine Riesenstadt.
Die Fabriksirenen wimmerten.
Die Riesenstadt: ein seltsames Knistern von ineinander vermischten Menschenstimmen, Eisenbahnpfiffen, Räderrollen und Schrillen an Kurven sich bildender Tonschleifen: ein gespenstisches Orchestrion.
Das Licht in den Straßen erlöschte. Ganz plötzlich: man rannte gegen die Finsternis fest, wie gegen eine Mauer.
In den Verkehrszentren der Stadt fuhren Scheinwerferkolonnen auf, Menschengruppen, die sich bildeten, wurden auf Anordnung der Regierung sofort zerstreut.
Menschen schrieen laut vor sich her, die Autos fuhren energisch hupend ganz langsam.
Kein Mensch wusste eigentlich, was los war. Man munkelte zwar allerlei...
Es mochte gegen drei Uhr morgens gewesen sein. Menschen saßen auf den Dächern, Menschen saßen in Kellern. Andere tasten sich noch immer unter Lebensgefahr in den Straßen herum... Ein leichter Regen setzte ein, dann wurde es wieder still. Warm und schön war die Nacht. Einer behauptete, er hätte das feine Knattern eines Motors in den Lüften gehört. Alles lauschte angespannt. Schon wurde es ein wenig heller.
Ein leichter elektrischer Ferndruck: und die Flügelbomben stachen senkrecht hernieder.
Ein feiner Knall.
Nur ein wenig Staub, sonst war nichts sichtbar. Ein dumpfer Krach.
Wie wenn ein Fels auf eine weiche Polsterung fällt.
Ein zweiter, dritter, vierter... Noch mehrmals. Jetzt hörten aber alle ganz deutlich das feine Knattern. Zur gleichen Zeit fielen Schüsse. Leuchtraketen spritzten hoch. Die Scheinwerfer gruben sich wie ein Lichtspaten in die Wolkenberge...
„In die Keller", schrieen die einen.
„Oben auf den Dächern ist man geschützter", diskutierten die andern.
Manche blieben auch wie festgenagelt dort, wo sie
gerade standen.
Groß und rotstrahlend ging bald darauf die Sonne
auf.
Schwere   Tanks   holperten   wie   Stahlschildkröten durch die Straßen. Kein Mensch war zu sehen.
Einer der Tanks schien einen Motordefekt zu haben,
die Mannschaft stieg aus: sie war wie Taucher gekleidet, das Gesicht von einer massiven Gasschutzmaske bedeckt, schwerfällig humpelten sie um den Wagen herum.
Die Tankkolonne machte einen Augenblick halt. Ein Pfiff -
Die Stahlungeheuer setzten sich wieder in Bewegung.

Es wurde durch diese Kolonnen festgestellt: drei Viertel der Stadt waren vergast. Kollektivschutzräume, wie mancher Schwärmer erhofft hatte, bestanden nicht, die Gasmasken, nur für die Kampfstoffe des vorhergegangenen Krieges beschaffen, mussten versagen. Trank und Speise waren vergiftet. Die ersten Anzeichen von Seuchen machten sich bemerkbar.

Drei Stunden später — und trotzdem die Bewohner mit Masken und Anzügen geschützt waren — lagen sie da, wimmernd und vor Hilfeschreien gellend, die meisten in den Kellern, andere aber irrten wie wahnsinnig auf den Dächern umher, spreizten Beine und Arme ab und stürzten sich unter einem grausigen Fluch auf die Trottoire hinab. Überall sah man Blutlachen.
„Vom Himmel hoch, da komm ich her", tönte noch in diesem Augenblick ein heller Kinderchoral aus dem Dom, die Glocken schwangen, ja es war Weihnacht. Und trotzdem —
Die Flügelbomben verrichteten als mechanische unpersönliche Henker getreulich ihre unumgängliche Blutarbeit.
„Das ist das neue Gas", sagte jemand. „Und wie sich herausstellt, unsere Versuche haben sich demnach gelohnt."
„Friede auf Erden." „Amen! Amen...", scholl es im Chor wieder dazwischen.
Die Farbstofffabriken waren jetzt plötzlich riesige Arsenale. Unterirdische Gänge. Auch tief in den Schächten der Bergwerke wurde Gas fabriziert. Ununterbrochen experimentierten die Chemiker an neuen Kampfstoffen herum.
Es dauerte nicht lange.
Ein Monat — und alles Lebendige war auf der Erde vernichtet.
Und es wurde auf dieser Erde still, mäuschenstill.
Uhren hörte man noch ticken.
Auch sie blieben allmählich stehn.
Nur das Rauschen noch von Wassern, der Wind, und da es Sommer und übermäßig heiß war, das Brodeln und Zischen der menschlichen Leichname, die geräuschvoll in Verwesung übergingen.
Nichts sonst.

 

2

Es hätte aber auch leicht anders werden können, sagte jemand, und der Traum, den Max Herse träumte, kehrte jetzt wieder ein ganzes Stück zurück: über die Vernichtung hinweg, er fing wieder beim Erscheinen der Flieger an.
Kaum hatte sich das Gerücht verbreitet, dass die Flug-flotte mobil gemacht würde, als auch schon riesige unübersehbare Menschenmassen auf die Straßen trieben, Arbeiter, Angestellte, Reden wurden gehalten, Flugblätter verteilt, wie ein aufgestöberter Ameisenschwarm war es. Polizeisoldaten, Soldaten sah man unter der
Menge, ja auch Angehörige der Luftflotte selbst sah man unter ihnen. Der Zug der Demonstranten brandete als eine gefährliche Woge gegen die Regierungsviertel. Hier hatte man die zuverlässigsten Regimenter bereitgestellt, auch zivile Wehren, meist aus Studenten zusammengesetzt, man sah es ihnen an, sie waren vor einigen Stunden erst eingekleidet. In Berlin, in Jokohama, in Paris, in Chicago, in London: überall fanden diese Demonstrationen, beinahe zu gleicher Zeit, statt... Schon waren Truppen von Bewaffneten zu bemerken, ein Schuss fiel, irgendwo ging ein Maschinengewehr von selbst los... das war das Zeichen zum allgemeinen Angriff, das Regierungsviertel wurde gestürmt, Telefonzentrale, Bahnhöfe waren im Nu besetzt, um andere Stellungen tobte der Kampf noch stundenlang. —
Durch Verhandlungen wurde der Vorstoß der Revolutionäre aufgehalten, die Regierung konzentrierte in den Vororten gewaltige Truppenmassen.
Im Norden der Stadt wurde ein Aufstand von Arbeitern rasch niedergeschlagen. Trotzdem kamen aus der Provinz, wo geflüchtete Revolutionäre Landarbeiter und Kleinbauern mobilisiert hatten, stündlich neue Nachrichten. Das ganze Land war wie ein Mann losgebrochen, hatte Gutshöfe gestürmt, alle wichtigen Eisenbahnknotenpunkte waren besetzt, eine Rote Armee war im Anmarsch. Die Arbeiter in den verschiedenen Stadtvierteln waren glänzend benachrichtigt. Trotzdem war beinahe niemand auf den Straßen zu sehen. Unterirdisch aber, das spürte man förmlich durch die Wände hindurch, vollzog sich beinahe automatisch eine ungeheure Bewegung.
„Bewaffneter Aufstand!" surrten hinaus ins Land die Telegrafendrähte.
„Der Aufstand ist geglückt", surrte es schon drei Tage darauf. Das Proletariat hat die Macht erobert. Den Krieg verhindert. Es hat Opfer gekostet, aber Opfer, gering im Vergleich zu dem, was gekommen wäre...

Traumbild an Traumbild zuckte vorwärts.
Das alles erstreckte sich über Jahrzehnte, nur im Traumreich war alles so verdichtet und zusammengedrängt. In der Traumlandschaft verkürzte sich und überschnitt sich jede Perspektive.
Durch Rauch und Blut, an Stationen neuen Elends vorbei durch neue Wüsten hindurch, an Stätten neuer Demütigungen und Kreuzigungen vorüber. Und trotz alledem, es ging vorwärts.
Und am Ende dieses Weges blühte die Erde, blühte, wie sie noch nie geblüht hatte. Jubelte, wie sie noch nie gejubelt hatte. Die Menschen waren einfach und schön, voneinander beinahe nicht unterscheidbar. Tiefblau war alles, alles so selbstverständlich.
Die Arbeitsmethoden waren unendlich vervollkommnet. Trotzdem hörte man jeden Tag von neuen Erfindungen; denn alles ließ sich immer noch viel besser machen, als es schon war. Als Grundsatz galt: mehr Kraft auf irgendeine Arbeit zu verwenden, als absolut notwendig ist, ist Verschwendung und damit gesellschaftsschädigend... Immer mehr verteilten und differenzierten sich die einzelnen Handgriffe; Wunderwerke von Maschinen verrichteten, mühelos einem elektrischen Hebeldruck gehorchend, das Allernotwendigste, die menschliche Schwerarbeit war erfolgreich auf ein Mindestmaß reduziert. Die Arbeitsplätze waren so beschaffen, dass sie ohne besondere Vorkenntnisse von einem jeden eingenommen werden konnten. Nur ein Prozent der
menschlichen Arbeitsleistung verlangte noch längere Schulung und besondere Vorkenntnisse. Wobei allerdings zu bemerken ist: das allgemeine Bildungsniveau überragte um ein Vieltausendfaches den heutigen Durchschnitt... Für alle war Arbeit da. Für alle waren in überreichem Maße Mittel zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft da. Ungeheure menschliche Energien wurden dadurch der elenden Sorge um das tägliche Brot entbunden und für neue gewaltige Unternehmungen freigelegt. Der menschliche Geist stürzte sich in den Weltraum. Die Menschen wurden stolz auf die Welt, sie schufen sie immer mehr nach ihrem Bild: die Welt wurde zur Menschen-Schöpfung...
Weit, weit... man konnte tief Atem holen, man hatte Luft zum Leben...
Mit einem solch tiefen Atemzug wachte Max Herse auf.
Sechs Uhr.
Der Fabrikgang begann.
Was war das nur?
Ein Traum. Nur ein Traum?
Was wohl dieser Traum bedeutete?
Der Traum ließ nicht von ihm, er ging neben ihm her, er begleitete ihn, oft sah Max Herse sich nach ihm um oder zur Seite.
Er versuchte ihn jetzt von sich abzuschütteln. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er sagte zu ihm, wie zu jemandem, der sich aufdrängen will, unwirsch und mit dem Fuß stampfend: „Ach, lass mich!"

 

3

Bevor der Straßenbahnschaffner in den Dienst gegangen war, hatte er Max noch eine Zeitung zugesteckt... „Da lies!"
„Ein groß angelegter Betrug. Was geschieht mit den Spenden für die Hinterbliebenen der hundertsechsunddrei­ßig ermordeten Kumpels der Zeche ,Königin Luise'...? Kaum hatten sich die Erdhügel über den hundertsechsunddreißig Opfern geschlossen, da hatte man vergessen, was man gestern noch zum Ausdruck gebracht hatte. Alle die schönen Worte erwiesen sich als leerer Schall..." Max wusch sich eben. „Und was war gestern Abend los... ?" Max wich aus. „Ach, wie immer dasselbe. Man kennt sich überhaupt nicht mehr aus." —
Max war in den letzten Tagen bedeutend vorsichtiger mit seinen Äußerungen geworden. Eine tiefe innere Unruhe trieb ihn. Er versuchte neben dem „Vorwärts" auch die „Rote Fahne" zu bekommen. Auch die Betriebszeitungen las er gründlich durch. Er begann von neuem seine Kollegen im Betrieb zu studieren, war selbst sehr zurückhaltend, er lauerte auf jede Antwort, e selbst fragte nur, um zu lernen. Bei allen Debatten, di sich immer aus Anlass einer scheinbar ganz nebensächlichen Betriebsahngelegenheit zuerst entspannen und sich sofort zu Zusammenstößen zwischen SPD und Kommunisten entwickelten, bei allen derartigen Auseinandersetzungen ergriff Max nicht mehr Partei.
Kinos, Vergnügungslokale, Kneipen mied er, er holte sich bei Kollegen einige Bücher, fraß sich mit Müh und Not durch. Er wollte unbedingt dahinter kommen. —
Was gewesen ist, ist gewesen. Oder: keiner denkt mehr daran. Aber plötzlich eines Tages überfällt dich ein Teil deiner Vergangenheit, stürzt sich auf dich, wälzt sich auf dir herum, man biegt und krümmt sich unter der Last: bis das drückende Gewicht solch einer Erscheinung zu schweben beginnt, kampflos von einem ablässt, und man plötzlich wieder, so wie man ist, mit sich selbst dasteht, ohne noch über das Wesen dieser Bedrückung und den Zusammenhang, in dem sie erschienen ist, sich klar geworden zu sein.
So geschah es auch Max, als ihn die folgenden Erinnerungen aus dem Weltkrieg heimsuchten. —

 

4

Max Herse war damals knapp neunzehn Jahre alt. Aber er hatte alles darangesetzt, als Kriegsfreiwilliger mitzukommen. Sein Schulkamerad Franke war sogar von jenseits des Ozeans zu den Waffen geeilt.
Das waren Tage! Das Leben flaumleicht. Der Körper ging wunderbar, wie mit Elektrizität geladen.

Es war am 22. April 1915 in Flandern. Frontabschnitt Bixschote-Langemarck. Gegen englische Stellungen.
Windstärke drei bis vier Sekundenmeter. Witterung kalt und trocken.
Zerfetzte Bäume am Horizont wie Drahtgespinste. Vereinzelte Vogelrufe durchschwirrten die Weltöde.
Geheimnisvolles munkelte man. Von einem Überläufer war die Rede, der alles an die Engländer verraten hatte. Gerüchte. Gegengerüchte. Jedenfalls etwas Neues. Man ahnte nicht, was, wusste nicht, wie ...
Es war fünf Uhr nachmittags.
Auf der Brustwehr des vordersten englischen Grabens erschienen jetzt Tafeln mit der Aufschrift: „Ihr könnt lange warten, bis der richtige Wind weht!"
Hie und da knackte ein Schuss. Ein MG ratterte sich heiß am linken Flügel. Knäuel deutscher Stoßtrupps lagen weit hinten im Trichterfeld.
Endlich: „Gas".
Das Gas kommt. Irgendwer hatte es aufgeschnappt.
Also: Nachts waren an die dreihundert Gasbatterien vortransportiert und eingebaut worden. Eine Batterie bestand aus zwanzig Gaszylindern. Sechstausend Gaszylinder standen demnach zur Verfügung. Auf einen Kilometer Frontbreite rechnete man damals fünfzig Batterien. Tausend Flaschen. Zwanzigtausend Kilo Gas.
Das alles wusste man plötzlich.
Auch das: Um das Klirren des Metalls zu vermeiden, waren sämtliche Gaszylinder mit Decken und Stroh umwickelt.

Erhöhte Gefechtsbereitschaft war angeordnet. Die Infanterie in die zweite Stellung zurückgenommen.
Nur technische Truppen und MGs blieben vorne... Fliegergeschwader summten wieder den ganzen Tag über.
Pst! Ein Pfiff...
Alles wurde plötzlich so mäuschenstill...
Das Abblasen einer eigens dazu markierten Stammbatterie galt als Signal.
Die Ventile von sechstausend Flaschen öffneten sich gleichzeitig.
Es war ein brodelndes und zischendes Geräusch, es prickelte, fauchte, als man das Gas aus den Mannesmann-Stahlröhren abblies.
Jeder hielt die Nase hin, jeder schnupperte. Man merkte aber eigentlich noch so gar nichts.
Ein graugrüner Schwaden zog jetzt schon auf die englischen Stellungen zu. Mannshoch. Einen Kilometer tief.
Die deutschen Batterien hämmerten wieder.
An einigen Stellen biegen die den Zylindern aufgeschraubten meterlangen Bleirohre unter dem Druck des ausströmenden Gases um. Knicken, krümmen sich hin und her...
Das Gas fließt in die eigenen Gräben.
Einen Trupp von acht Mann trifft das Gas mit voller Kraft. Man sieht, sie halten krampfhaft den Atem an. Können nicht mehr. Legen sich einfach um... Andere schlagen mit den Händen dagegen, klemmen sich die Nase zu, beißen sich die Lippen dicht: auch das hilft nichts ... Sanitätsmannschaften eilen heran mit Sauerstoffapparaten.
In drei Wellen auf einer Strecke von insgesamt sechs Kilometern trieb eine riesige Chlorwolke.
Dicke weißliche Nebelballen schieden sich ab.
Teile flüssigen Chlors verdampften...
Max kniet sich auf den Rand eines Trichters herauf.
Der Leutnant neben ihm beobachtet, die Stoppuhr in der Hand, den Verlauf des Angriffs. Noch zwanzig Sekunden: dann aber hieß es nachstoßen.
Die englischen Gräben standen jetzt mitten im Gasnebel.
Und plötzlich wurde es dort lebendig. Wie aufgefegt wurden sie. Ein unsichtbarer Besen kehrte das Unterste zuoberst. Leute rannten mit erhobenen Armen querfeldein. Hilferufe gellten. Einzeln, in Rudeln flüchtete es da-
hin. Einer dreht sich immerfort um sich selbst. Er sprang federnd hinweg wie ein Kreisel. Röcke schottischer Hochländer flogen. Ein monotones heiseres Bellen: das Gebrüll der Turkos...
Ein leichter erstickender Geruch wurde nun bemerkbar.
Augen tränten. Einige husteten. Nieskrämpfe. Spuckten aus.

Die deutsche Artillerie hämmerte, hämmerte.
Der Leutnant zählte jetzt laut:
fünfzehn — achtzehn — neunzehn ---
Eine Leuchtrakete zerstäubte hoch.
Graue Knäuel bewegten sich, lockerten sich heraus aus den metertiefen Poren der Erdlöcher, lösten sich auf. Kettenglieder. Ausschreitend, hüpfend, dahinstolpernd. Sehwarmlinie.
Die deutsche Sturminfanterie stieß nach.
Äxte. Scheren. Leitern.
Verhaue wurden umgelegt.
Über die ersten feindlichen Gräben hinweg...
Offiziere mit Karten: das feindliche Gräbensystem wurde gleich korrigiert. Neu eingezeichnet.
Kolbenschläge. Bajonettstöße.
In einem Unterstand poltert eine Handgranate.
„Vorwärts."

Die zweite feindliche Stellung kam in Bewegung. Auch die dritte Linie flog auf.
Die Sturmabteilung zerschnitt sich das Schuhwerk an Flaschenresten und Haufen von Konservenbüchsen.
Gelblich-grün trieb die Gaswolke weiter.
Es war wie eine Gespensterlandschaft, durch die man jetzt schritt. Merkwürdig verfärbte Menschengesichter glotzten einem entgegen. Bis zum Hals in Schlamm getunkt. Die Augen doppelt so groß wie bei Lebenden. Die Stahlhelme weit ins Genick zurückgeschoben oder tief im Gesicht. Schaum um die Münder. Einer rutschte aus einem nach rückwärts ein wenig abgeflachten Granattrichter auf den Knien herauf, er machte mit den Armen Schwimmbewegungen. Ein ihm von einem stämmigen pommerschen Landwehrmann in die Brust gestoßenes Bajonett brach ab...
Die feindliche Front war aufgerissen.
Ein tiefes zackichtes Loch klaffte.

Es wurde Nacht. Scheinwerfer. Leuchtraketen.
Erdfontänen schossen in die Luft. Die feindlichen Batterien kamen wieder in Schwung. Es trommelte, hackte, wirbelte. Manchmal wie Platzregen. Man verschanzte sich rasch hinter Fleischfetzen, Körperstümpfen, Schlammhaufen.
Pioniere wickelten wieder Stacheldraht ab. MG-Gruppen schoben sich vor. Munitionstransporte im Laufschritt. Lebensmittellager waren genug erbeutet. Man konnte sich also zwischendurch satt essen. Alles hatte aber einen widerlich beizenden Geschmack.
Und schon knackte es wieder im Vorfeld.
Geduckt kroch es an. Ein rasender Schnitt durch die Luft: Pfiffe: hinter einem, vor einem krümmte es sich... Der Nebenmann links stürzte vornüber; der rechte ächzte noch einen halben Fluch.
Etwas sprang vor. Etwas sprang zurück.
Es knisterte. Ein Messer zuckte. Körper schnellten gegen Körper. Wie gespannte Federn.
Man kam mit dem Gegner bis in Tuchfühlung.
„Das ist Ursprache des Volkes. Aus dem Blut heraus wird bejaht: Dieser Krieg muss sein...", fieberphantasierte irgendwo ein Leutnant herum. Max juckte der Zeigefinger: „Brenn ihm eins!"
„Der ganze Krieg soll mich...", fluchte ein Soldat-Prolet und riss einem „Pardon" wimmernden Hochländer mit einem Ruck das Messer durch die Gurgel.
Pfui Teufel.
Viele kotzten.
Wieder andere hatten die Hosen voll.
In den Kehlen steckte wie ein würgender Pfropf ein unwiderstehlicher Brechreiz.
Man watete schon wieder bis über die Knie in einem richtigen Leichenmorast. Menschenmüll. Überall Pfützen voll Blutwasser. Hie und da entlud sich wieder einmal eine Sprengmine zur Abwechslung. Es roch süßlich, ranzig. Wie angebranntes Fett.
Dort schüttete die explodierende Erde ein Massengrab hoch.
„Offensivparfüm", meckerte einer. Eine MG-Mannschaft füllte den Kühlkasten ihrer Kugelspritze mit Urin auf.

Max Herse bekam kaum noch Luft. Er lechzte nach einem Schluck Wasser. Die Glieder, die Arme und die Beine, schlenkerten an ihm herum wie etwas Fremdes. Er fühlte, dass sein ganzer Körper nur noch aus Knochen bestand. Die Haut wurde ganz straff, spannte. Die Gelenke gingen ihm beinahe aus dem Leim... Das war die Todesangst...
Menschenleiche, Stein, Baum: das ist ein und dasselbe. Gleich wahr, gleich unwirklich. Nur nicht lange Federlesens machen. Das lohnt sich nicht. Irgendwo spaziert ein irrsinnig Gewordener im Tanzschritt über das Schlachtfeld.
Gefangene wurden abgeknallt.
Man sah kaum mehr aus den Augen vor Blutrausch.
Zu einem wüsten Grinsen war das Gesicht einer Ordonnanz verzerrt, die immer wieder von neuem ihre zweiunddreißigschüssige Repetierpistole lud und damit einen Gefangenentransport nach dem andern umlegte.
Der Zeigefinger der Ordonnanz war schwarz gefärbt von Pulverrauch.
Die Menschen funktionierten wie Automaten.
Wie auf dem Exerzierplatz.
Stoß: Gegenstoß.
Schlag: Hieb.
Hart gegen hart.
Ruck-zuck...
„Alte preußische Garde... hahaha... Prost Mahlzeit, altes Frontschwein... Einen Kuss, Max Bruderherz. Hier einen Schluck Sturmschnaps... " Max kroch auf allen Vieren.
Ein sinnlos Betrunkener torkelte ohne jede Deckung an, umarmte ihn, tapste vorüber, rief noch: „Fünfe hab ich heute schon hinter mir. Knorke. Nun aber für heute Feierabend und Schluss damit..."
Ein Feldwebelleutnant knurrte herüber: „Stopf ihm die Schnauze..."
Schwuppdich. Ein leichter Klaps vor die Stirn. Und der Feldwebelleutnant schnappte mit einem Purzelbaum hintüber. Er kauerte sich noch zurecht. Er wimmerte:
„Mami, Mami", bis eine genügende Menge Blutes aus ihm ausgequetscht war.
Es gab fast keine Nuancen mehr in den Bewegungen. Mit dem ganzen Lebenstrieb dahinter wurde so ein Bajonettstoß geführt. Manchmal glitten die Messer mit einem spitzen Geräusch elastisch aneinander ab. Eines stieß senkrecht auf die Verschlussschnalle der Koppel auf, bog sich zu einem Halbkreis. Zuckte ab, sprang links vorbei mitten hindurch durch die Niere.
Man fraß sich mit aufgesperrten Augen, mit vibrierenden Nasenflügeln, man fraß sich förmlich mit seiner ganzen Existenz in den Gegner hinein.
Waren es noch Menschen oder mechanische Puppen? Mit dicken Mänteln waren sie behängt. Mit einem wattigen Stoff, der bei einem Stich Ströme Blutes sickern lassen konnte, waren sie ausgestopft. So haute es sich, anscheinend ziel- und planlos, jetzt im Niemandsland herum.
Reserven stürzten sich auf Reserven.
Qualmend dunstete die Erde aus.
Darüber Vollmond...

Die feindlichen Bataillone hatten noch in der Nacht zum Gegenstoß ausgeholt. —

 

5

Weiter zogen die Jahre. Tag für Tag erschienen die Zeitungen mit spaltenlangen Verlustlisten gefüllt. Alle viere von sich gestreckt, lagen sie auf der Erde da: Männer, die Schädel zerfetzt, die Brust aufgetrieben, die Gedärme brachen aus den geborstenen Uniformen heraus, Millionen Männer lagen so, über der Erde, unter der Erde...
Noch immer kein Ende...
Tag und Nacht experimentierten Tausende von Chemikern. Wunderbare Gasgemische entstanden in den Laboratorien. Zentner-Mengen Kampfstoff schickten die deutschen Farbstoffindustrien in die Welt. Die in diesen Fabriken beschäftigten Arbeiter wussten nicht, was sie produzierten. Die organische Verbindung zwischen den Kriegsmaterialien und der friedlichen Industrie ist im Kriegsgaswesen besonders eng. Fast alle Kampfgase finden auch im friedlichen Leben Anwendung. Sie dienen entweder unmittelbar für verschiedene friedliche Zwecke, zum Beispiel zur Desinfektion des Getreides, von Wohnräumen und dergleichen, oder aber sie bilden Zwischenprodukte für andere im friedlichen Leben unentbehrliche Produkte. Vor allem stehen die Kampfgase mit der Farbindustrie in Verbindung, zugleich aber sind sie auch für die Herstellung von Medikamenten und photographischen Artikeln zu benutzen.
Es marschierte auf das Chlor.
Chlorphosgengemische. Chlorpikrinsulfuryl. Zwanzigtausend Zentner Gaskampfstoffe wälzten sich daher als Giftflut.
Es marschierte auf Phosgen.
Diente es einstmals nicht zur Herstellung einer ganzen Reihe hellroter, blauer und violetter Farben?!
Es marschierten auf die Arsine, aus dem gleichen Rohstoff hergestellt wie die Arsen-Präparate.
Acht deutsche Fabriken befassten sich mit der Herstellung dieser Kampfgase... —

Und gegen vier Uhr morgens begann wieder die Artillerieschlacht mit einem gewaltigen Feuerschlage auf siebzig Kilometer Breite.
Siebentausend Geschütze waren es, riesenkalibrige und
großkalibrige, die die Bekämpfung des feindlichen Grabensystems aufnahmen, gegen das auch eine Unmasse an Minenwerfern und Gaswerfern eingesetzt wurde.
Die feindliche Artillerie war durch das reichliche Infektionsschießen am vorhergehenden Tage schon zum Schweigen gebracht.
Das feindliche Gelände war in dichte Gassümpfe verwandelt worden.
Eine Doppelwalze lief vor der stürmenden Infanterie einher: eine Walze mit Splittermunition dicht vor, die? andere mit Gasmunition weit vorauswandernd.
Alle Truppen waren mit Gasmasken versehen.
Pferde trugen Gasschuhe.
Es gab schon Entseuchungskommandos in richtigen taucherähnlichen Gasschutzanzügen. Riesige Mengen Chlorkalk, das entgiftend wirkte, wurden auf Feldbahnen herangefahren.
Man legte Gassperren, blaue Räume, gelbe Räume bunte Räume, man unterschied bereits zwischen Gasüberfall, Schwadenschießen, Gasbrisanzschießen, Verseuchungsschießen.
Eine richtige Gastaktik hatte sich entwickelt. -

Mit einem leichten dumpfen Knall explodierten ununterbrochen in der Stadt die Gasgeschosse.
Es roch nur ein wenig in den Straßen wie nach bitteren Mandeln. Man sah kaum Menschen, einige nur, einen Bausch vor Nase und Mund, der mit einer besonderen Flüssigkeit getränkt war.
Verwundete zwar, die hier von der Front durchkamen erzählten kaum Glaubliches: „Die Deutschen verfeuern Geschosse, die geheimnisvolle Flüssigkeiten enthalten, die verdampfen und in gasförmigem Zustand die Fähigkeit haben, Leder, Haut, Gemäuer zu durchdringen, und die, selbst in den minimalsten Dosen eingeatmet, absolut tödlich sind. Und welch ein Tod! Ja, erzählte man de wirkten auch durch die Haut selbst hindurch sofort tödlich, starke Erregungen der Atmung, eine eigentümliche psychische Unruhe machte sich sofort bemerkbar, Erbrechen, Magenstörungen, Verlangsamung des Herzschlags, Bewusstlosigkeit. Geschmack und Geruch gehen oft völlig verloren. Das aber sind nur die Nebenwirkungen. Kennzeichnend ist der schleichende Verlauf. Zuerst etwa das Bild eines Gletscherbrandes: erst nach mehreren Stunden eine Rötung, hierauf oft beträchtliche Schwellungen der Haut. Blasen bilden sich, nicht selten von unförmiger Größe, sie sind mit einer klaren, leicht gerinnenden Flüssigkeit gefüllt, leicht eiternd. Das Sehvermögen wird durch eine schmerzhafte Bindehautentzündung beeinträchtigt. Ja, das Auge kann völlig zuschwellen und eiterigen Ausfluss absondern. Dann kommt das Lungenödem: in den Lungen bilden sich überall kleine Herde von angesammelter Flüssigkeit, die rasch wachsen und sich vereinigen können, um schließlich den größten Teil des Lungenraumes auszufüllen und durch zunehmende Beschränkung der Luftzufuhr tödliche Erstickung herbeizuführen... Nun, Luftgeschwader seien bereitgestellt, diese Flüssigkeiten, die in die Fliegerbomben gefüllt sind, weit hinter der Front über die Städte auszugießen... Auch hätten die Deutschen jetzt zudem Apparate, aus denen sie Flammen spritzten, und das alles verwendeten sie zusammen, das eine nicht ohne das andere... es sei unmöglich, den Krieg noch länger zu führen, es sei einfach menschenunmöglich, so was auszuhalten..."
Weiter fielen unterdes die Bomben auf die Stadt. Ein dunkler schwerfälliger Regen, mit großen eisernen Tropfen...
Bald nah, bald fern: aber die Geschosse hatten nur eine geringe Sprengwirkung. Die Einwohner fühlten sich mehr als bei früheren Beschießungen geborgen. Auch Brandwirkung war keine zu beobachten. Es war volle Frühlingssonne; die Straßen waren aufgeweicht, hoch oben surrten die Fliegergeschwader in der blauen Märzluft.
Aber trotzdem: nach Verlauf von einigen Stunden begann es.
Die Einwohner hockten wie immer in den Kellern.
Es war unheimlich. Es war noch nie dagewesen. Es war, um völlig den Verstand zu verlieren.
Irgendwer stürzte die Treppen herunter. Die Nase dieses „Irgendwer" war ein einziger blutiger Knollen. Er hatte sie sich vollkommen aufgejuckt. Aus seinen Augen troff das Tränenwasser, und dabei schrie er immer mit heiserer Stimme: „Das ist das Wahnsinnsgas... das Wahnsinnsgas..." Er taumelte unten noch einige Schritte vor, dann stürzte er wo nieder, fetzte sich die Kleider vom Leib, knirschte mit den Zähnen, kratzte und knetete sich, ganz leise wimmerte er jetzt nur noch: „Die Boches. Die ver..."
Wie auf Kommando begann jetzt auch schon der ganze Raum zu husten.
Einige zündeten sich die Pfeifen an, pafften wie toll, behaupteten, das wäre ein Mittel dagegen.
Acht Menschen saßen da im Keller, fünf Frauen, drei Männer. Die Frauen in mittlerem Alter, die Männer alle über fünfzig alt. Man hatte auch Matratzen nach unten geschafft, man lag und stand da jeden Tag seine fünf
Stunden herum, das war einem schon so zur Gewohnheit
worden. Die Kinder nahmen Spielzeug mit, einen Teddybär, der gar keine Angst hatte und aus seinen Glaskugelaugen nach wie vor fröhlich in die Welt blickte.
Jeder sah jetzt auf den andern.
Einige nur stierten teilnahmslos vor sich hin.
Die Beschießung hatte aufgehört.
Oben klimperten Schritte.
Der „Irgendwer" jammerte in seinem Winkel ganz erbärmlich.
André, kriegsinvalid, Feldzugsteilnehmer von 70/71, stieß ihn: „Na Junge, schwere Brocken was ... "

Eine gespenstische Verwandlung bereitete sich vor.
Die Gesichter der im Keller eingepferchten Menschen wurden plötzlich schwammig, klößig, auch die Hände dunsen auf.
Die Weiber fingen zu plärren an.
Ein Hustenkrampf erstickte ihre Stimme.
Seltsame Bewegungen machten sie mit Armen und Fingern, wie in einem Traumzustand, ganz schwer, langsam, schleichend.
Die Gesichter hatten nun eine Farbe wie Lehm.
Der Körper fleckte sich.
Die Schleimhäute bissen.
Schüttelfieber jagte daher, Augen schwollen, unter den Fingernägeln war es, als krabbelten dort lebendig gewordene widerhakichte Eisenspäne. Der Kellerraum drückte wie ein unendliches Gewicht auf die Lunge herein. Wie flüssiges Blei kochte es in der Brust... Da wurde alles auch schon schleierig, fadenscheinig, der ganze Raum wogte, alles floss auseinander in Millionen unsichtbaren Wellen, merkwürdig summend...
Der Todeskampf der Gasvergifteten dauerte so einig Stunden lang...

Es entspricht aber keineswegs den Tatsachen, was man sich späterhin oft erzählt hat. Es ist nicht richtig, dass die von der Gasvergiftung betroffenen Menschen sich im letzten Stadium der Vergiftung gegenseitig noch angefallen haben, sich mit dem Messer bearbeitet oder gegenseitig sich gebissen und gewürgt haben. Solche Ausbrüche wahnsinniger Verzweiflung wurden nicht bekannt. Ganz das Gegenteil. Ohne dass sie etwas dagegen unternommen hätten, trockneten diese Unglücklichen einfach inwendig aus. Ein allgemeiner lähmender Zustand ging dem Endstadium voraus.
Keiner bewegte sich vom Platz. Sie blieben wie festgenagelt, wo sie gerade saßen oder standen. —

Eine unsichtbare Gasdecke lagerte über der Stadt.
Langsam drang das Gas überall ein.
Es wehte daher durch Wasserleitungsrohre, durch Türritzen und Fensterspalten, durch Mauern, durch Glas, durch Stein, durch Eisen.
Es war völlige Windstille. Das Gas verflüchtigte sich nicht.
Hunde, Hühner, Pferde lagen auf den Trottoiren, Klumpen, Fetzen von Haut, auch das Leben der Bäume und Gräser schien restlos getilgt.
Absolut tödliche Gase waren mit so genannten Reizgasen gemischt: man musste vor Augen-, Nasen- und Mundschmerzen die Masken abreißen, das absolut tödliche Gas fand durch die Luftröhre in die Lunge Eingang, und man war rettungslos geliefert.
Dann wieder setzte eine Gasbombenbeschießung ein, kombiniert mit Brisanzgeschossen: so erreichte man außerdem noch eine hübsche Sprengwirkung: durch die aufgerissenen Löcher flutete nun das Giftgas in vollkommener Dichtigkeit.
Vorne an der Front wurden die Bewegungen der nachstoßenden Infanterie langsamer und unsicherer. Gewisse Gassumpfgebiete waren für die überhaupt nicht mehr passierbar. In Masken standen sich von nun an die Bajonettfechter, die Handgranatenwerfer gegenüber.
In die gasverseuchten Grabensysteme stürzten sich die Stoßtrupps hinein, wie die Frettchen in einen Kaninchenbau. Mit Bajonetten und Handgranaten kitzelten sie die letzten noch Überlebenden heraus. Zweifüßige gespenstische Larven jagten in den Grabengängen hintereinander her, die Büchse mit dem Filtereinsatz hing vom Mund herab wie ein kurzer Rüssel.
„So ein Krieg..."
„Kotzbrocken..."
„Klamottenkrieg..."
Und Max Herse fand eben in einem Unterstand, der zur Nachbardivision gehörte, folgendes Flugblatt an einem Balken angeheftet:
„Helft mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung habt, zur schnellsten Beendigung des Menschenmordens. Verlangt das sofortige Ende des Krieges. Erhebt euch zum Kampfe, getretene und hingemordete Völker! Es naht die Stunde des Völkerfriedens. Nieder mit dem Krieg..."
Quatsch.
Was war das!?
Wie ein Herzschlag pochte es in der Erde. Jeden Moment konnte man auffliegen.

 

6

Deutsche Sturminfanterie stürmte auf dem Balkan. Im Wüstensand, hoch im Gebirge. Der deutsche Soldat kämpfte auf einer Front, die so groß war, dass die Sonne über ihr nie unterging. —

Herbst war. Weiche, braunrot getupfte Waldgefälle. Wie Riesenpolster wölbten sich hoch die italienischen Berge. Himmel und Seen wurden eins. Glutblau, wie Lapislazuli.
Das italienische Bataillon war nicht zu fassen.
Es hatte sich, gegen jede Feuerart gedeckt, in Schluchten und Kavernen eingenistet.
Man unterscheidet zwischen Zielen, die mechanisch zerstörbar sind, und solchen, die nur chemisch zu erledigen sind.
Zu den letzteren gehörte in diesem Fall die italienische Stellung. —

Vier volle Nächte dauerte der Abtransport des Kampfgeräts. Da die Anmarschstraßen von Truppen- und Sanitätskolonnen überfüllt waren, mussten Seitenpfade begangen werden. Im Zickzack arbeiteten sich die Trägerkolonnen empor, ausgetrocknete Waldbachschluchten mussten mühsam überquert werden, immer wieder sanken die Träger von Müdigkeit übermannt um, dann hieß es, ein Plateau überqueren, das von der feindlichen Artillerie voll eingesehen werden konnte, Felssplitter mischten sich mit Granatsplittern, ein wahrer Splitterorkan ging nieder, es stäubte und prasselte von oben her, von unten auf, von allen Seiten, in den Wipfeln der Tannen pfiff es und knackte es, die Granataufschläge auf dem Felsboden waren schrill und gellend.
Ein Riss: ein Granatstoß fegte mitten durch eine Trägerkolonne hindurch.
Sich um sich drehende plumpe Säcke, rollten sie einen Abhang hinunter. Ein Latschengestrüpp fing einige von ihnen auf, die anderen kollerten schreiend weiter.
Viele Träger warfen jetzt die Rohre weg.
Endlich waren die tausend Gasminen an der deutschen Front eingebaut. Tausend Rohre waren genau nach der italienischen Front hin ausgerichtet. Es war ein Uhr nachts. Das deutsche Gaswerferbataillon stand in Bereitschaft.

Es war eine Nacht wie alle Nächte.
Rötlich-blau. Ein dunkel-tönender Strich war fern das Rauschen der Bergwässer. Die tausend und abertausend Blinkfeuer der Sterne leuchteten ungetrübt, hie und da riss sich ein Schuss aus dem Dunkel heraus, Leuchtraketen stoben knatternd aus dem Erddickicht auf, eine kurze Salve folgte, ein Durcheinander-Rattern, und wieder lag alles wie verkrochen in einer Höhle da, die Hände der Mannschaften glitten von dem Gewehrschaft ab, die Geschützbedienungen schnarchten, nur die Horchposten wachten noch, jedes geringste Geräusch zeichnete sich ihnen vielfach vergrößert ein in der Ohrmuschel, sie standen dicht vor dem Stacheldrahtkranz unbewegt. —

„Zum Abschuss fertig..."
Punkt zwei Uhr wurde eine Gassalve von über neunhundert Minen gleichzeitig abgefeuert. Die Zündung erfolgte elektrisch von einer Stelle aus.
Ein gewaltiger Feuerfächer durchsprang grell die Nacht. Tausend Mündungsfeuer blitzten gleichzeitig auf. Hunderttausende von Menschen hielten jetzt gleich-
zeitig den Atem an. Einige schreckten aus dem Schlaf hervor: „Was ist... Was ist los...?" Schneidend, eiskalt war dieser Feuerschein, wie eiserne Zacken standen die fernsten Bergspitzen darin. Und schon rauschte ein ebenso gewaltiger unterirdischer Donner auf, von allen Bergwänden rings als hundertfaches Echo widerschallend, man bekam einen Augenblick lang keine Luft mehr. Wie ein unsichtbares Gewicht presste auf alle Lungen die Luft herein. Die Magennerven rebellierten bei einigen. Einige kauerten sich am Boden nieder, andere hatten Arme und Beine von sich gestreckt. Wieder andere bedeckten mit den Händen das Gesicht und heulten einfach drauflos. Jeder aber hielt sich irgendwo fest. Und es war dies alles doch nur der Bruchteil einer Sekunde.
Rudel von Leuchtkugeln flatterten sogleich empor. Ein riesiger schwarzer Rauchschleim zog unten dahin.
Man hätte meinen können, man befinde sich hoch über den Wolken.
Ein Rauschen, Summen, Sirren, Plätschern war in
der Luft.
Die Luft war wellengleich bewegt, wie unter der Einwirkung riesiger Schraubenumdrehungen, Blasebälge oder gigantischer Propellerschläge.
Endlich:
Trum-trum...
Trum-trum-trumtrum... vielhundertmal dieses trum-trum... und so fort.
Es war das dumpfe Niederklatschen der Minen, in kurzer Reihenfolge aufeinander krepierten.
Wieder Feuerschein...
Wieder diese Erderschütterung...
Wieder jene geheimnisvollen, sprengenden Flügelschläge...
Hinten und vorne, überall: Stichflammen — Eine zweite Salve krachte... Eine dritte...
Wieder gurgelte es, ächzte es, der Erdgrund stieß ein paar Mal gewaltig auf. Wie im Galopp ruckte der Boden einige Male von selbst nach vorwärts, eine Erdschicht schob sich über eine andere, Schutt kam wie eine Lawine ins Rollen und rutschte davon, steil prasselten breite Erdfontänen hoch, mit riesigen Felsklumpen darunter, wie Hagel schlugen sie wieder nieder.

Die Gasanhäufung im italienischen Graben war so dicht, dass die Gasmasken völlig versagten.
Die Minen aber waren zudem noch mit Einlagen aus Petroleum versehen, das bei der Explosion zerstäubte und brennend den Stoff der Gasschutzmaske durchlöcherte. Artilleriebrisanzfeuer setzte zu gleicher Zeit von der deutschen Front ein.
Sechshundert Mann lagen da, Pferde und Hunde darunter, krümmten sich, platzten, stießen, einer irrsinniger als der andere, lallende Laute aus, man konnte schon von Kopfwunden, Fleischwunden, Knochenschüssen nicht mehr reden: das ganze italienische Bataillon war einfach zu einer breiigen Masse zusammengestampft, die Gasschwaden zogen in den Unterständen ein, räucherten sie aus, beim nächsten Windzug schlugen sie wieder zurück, erhoben sich, senkten sich, je nachdem, und marschierten nun, als unheimliche Kolonne, weiter in das Hinterland.
Jeder Instinkt, jedes Denkvermögen hörte auf. Das Gesetz der Schwerkraft selbst schien aufgehoben.
Strudel bildeten sich, Luftgefälle, Luftwirbel, bewegliche Gasmauern, Flammen zuckten hervor, ganze Flammenschleier wieder breiteten sich aus, schrumpften, gerannen, und brachen plötzlich wieder hervor, ein dicker, spiralig geschwollener Flammenstoß.
Und mitten in den nun schon sich verflüchtigenden Gasnebel hinein stießen einige Stunden später — es war jetzt gegen sechs Uhr morgens — die Infanteriereihen, die Gasschutzmaske aufgesetzt, führten einen verzweifelten Bajonettkampf durch, Maske gegen Maske.
Geschlechter von zweifüßigen Larven stießen da mit blankem Messer auf einem gespenstischen Schlachtfeld auf sich ein, mancher riss sich plötzlich selbst die Maske von dem Gesicht herunter, eine angstverzerrte Grimasse wurde einen Augenblick lang sichtbar, ein Schluck... und schon ertrank er rettungslos im Gassumpf.
Die Sonne ging auf. Der Himmel drückte bald wie glühendes Eisen. Die Erde selbst aber wurde darunter aufgeweicht, schäumte und brodelte, der über und über durchtrichterte Boden schien wie ein mit flüssiger Lava getränkter Feuerschwamm. Die Poren, die die Tausende von Granatlöchern darstellten, waren mit Bündeln von Menschenleichen voll gestopft. Die Luft zwischen Himmel und Erde stand still. Jeden Moment, dachte man, fängt auch sie zu brennen an... Kein Baum, kein Strauch. Schattenlos strotzten auch die gewaltigsten Felsklumpen empor aus diesem Flammensumpf...
Tausende von Gasvergifteten schmorten jetzt langsam sich zu Tod in der Hitze.
Manche Leichname fingen zu brodeln an.
Fliegen summten, Käfer und Eidechsen krabbelten darüber.
Da liegt so ein fleischiger Haufen: die Gedärme aus dem Bauch neben sich hingeschüttet: ein seltsames Leben beginnt sich in dem Kadaver zu regen.
Es riecht nach Oliven, nach Staub... geronnenes Blut und faules Fleisch riecht, Jauche und Eiter... überall sieht man es qualmen...
Ein solches Unmaß an Hitze, wie es einem Gasvergifteten auferlegt ist zu ertragen, kann man sich kaum vorstellen.
Die ganzen Eingeweide verbrennen von innen, die Lungenwände sind wie mit einer beißenden Säure ausgelegt, mit jedem Herzschlag pumpt es sich wie siedendes Blei durch die Adern. Von oben presst sich einem die Sonne, ein scharlachener Klotz, schwer auf den Schädel, zentnerschwer; die Kehle steckt wie zwischen einem langsam sich zudrehenden Schraubstock... Ekelhaft kleberig ist der Schlund, hart, porös wie Bimsstein fühlt sich die Zunge an.
Hunderte lagen noch auf den Knien vor den Sanitätern und flehten um den Fangschuss. Morphiuminjektionen wurden verabreicht. Wieder einige hatten das Glück, noch ihr Bajonett zu besitzen. Sie machten Harakiri.
Gewaltige Strahlenmassen prallten jetzt in diesem Talkessel zusammen.
Es war gegen Mittag...
Die Bergspitzen glänzten wie Messing.
Junge Regimenter, flaumlose Kindergesichter, stolperten über diese Leichenwelt hinweg im Sturmschritt. Italienische Tanks krochen die Dolomitenstraßen herauf.
Überall Menschenblutspritzer, Knochensplitter, Fleischfetzen: alles mit Menschenblut voll gesogen. Bis über die Knie blieb man oft stecken im Menschendreck.

 

7

Max Herse stand mit seiner Vision plötzlich mitten auf einem Platz der inneren Stadt.
Es lärmte Alarm. Es brandete und brauste...
Eine Musik: Räderknurren, Stahlhämmer, Treibriemen, Bohrer und Schaufeln...
Max rieb sich die Augen...
Und das Schwergewicht der Welt hatte sich ihm unmerklich verschoben; es war, als rückte sich ihm jetzt erst, das erste Mal, sein Inneres zurecht...
Muskelbänder, Adern, Sehnen, Armhebel: darauf ruhte die Welt, und als Max ein vornehm aufgemachtes Spielwarengeschäft erblickte, da dachte er schon wieder ganz proletarisch folgerichtig:
An diesen Puppenköpfen, Kinderuhren, Haarnadeln, dem ganzen Schnickschnack der modernen Kleinindustrie klebt Blut und Schweiß lebendiger Menschen, die unter den elendsten Verhältnissen ihr Leben fristen. Der elegante Herr, der seine Autobrille dort aufsetzt, denkt nicht daran, dass diese Brille zusammengesetzt ist in einer dunklen Küche, die als Arbeitsraum dient, oder in einem Kellerloch, von unterernährten darbenden Menschen...
So scharf, so anschaulich, so gründlich hatte Max bisher noch nicht gedacht.
So muss gedacht werden, so muss die Welt angesehen, so muss sie erlebt werden! Das ist der einzig berechtigte und historisch notwendige Denk- und Anschauungsakt. So muss die Welt betrachtet werden und im Kampf von uns Proleten verändert werden. Alles andere ist ein menschenmörderischer Luxus... Es gibt nur einen Standpunkt, von dem aus diese vermorschte
Welt aus den Angeln gehoben werden kann, und dieser Standpunkt ist der unsere.

In diesem Augenblick marschierte ein Zug der kommunistischen Jugend vorüber. Rote Fahnen wehten. Die Internationale sang.
Dieser Gesang hatte Rhythmus, Takt, Tonfall einer unerbittlichen Kampfansage.
Noch einmal verbanden sich Maxens Gedanken mit jenen Erinnerungen, die ihn vor einer halben Stunde noch heimgesucht hatten:
Ja, die ganze Stadt war ein Trümmerhaufen, als wir damals einmarschierten. Kein lebendes Wesen weit und breit. Nur in einem verschütteten Haus aus einem Kellerloch die Stimme eines halb verhungerten Kindes, das... das die Internationale sang... Ja, ich erinnere mich noch deutlich, das war für viele unserer Soldaten damals ein grausamer, grauenhafter Weckruf. Viele wurden mit einem Mal nüchtern. Das proletarische Gewissen gellte in ihnen wie eine Sturmglocke. Tränen liefen ihnen über die Backen. Knirschten mit den Zähnen... Ja, der erste Zug unserer Kompanie stand mitten im Marsch auf einen Augenblick starr, wie versteinert zu einer Säule. Wir haben das Kind dann ausgegraben. Es war ein belgisches Proletariermädchen. Die ganze Kompanie hegte es als ihr Kleinod. Es war unser Herzenshalt. Es war das Beste, was wir damals hatten. —
Da schwenkten die Jungkommunisten in eine Seitenstraße ab, und Max bemerkte, wie er ihnen freundlich zunickte, er hatte auch, ohne dass er sich dessen bewusst war, den Hut zum Gruß abgezogen. Er murmelte noch leise vor sich hin: „Bravo, Burschen! Nur so weiter! Ist nicht am Ende doch alles, was man über euch herschimpft, eitel Lug und Trug!? Muss es denn nicht so sein!?... Können euch denn eure
Feinde loben!?... Recht so! Vorwärts in die Zukunft...
Auf eueren Schultern ruht — die Welt..." Ein Spießer bleckte die Zähne.
Was der für ein widerliches Gebiss hat. Man möchte ihm das Gebiss aus dem Maul reißen. Pfui Teufel... So eine feiste Fresse...
Es war inzwischen Abend geworden.
Die ganze Stadt war wie eine sich immer wieder von selbst aufziehende Mechanik, eine auf geheimnisvolle Weise immer wieder sich selbst regulierende Wildnis voll intensivsten Leuchtens. —

 

7

Max schob sich automatisch einige Straßen durch.
„Nun muss ich aber doch endlich einmal auch bei Lene vorbeischauen."
Lene war Arbeiterin in einer Trikotagenfabrik.
Max hatte sie neulich nur kurz in der Versammlung gesprochen. Hie und da sah man sich sonntags, dann machte man einen Sprung in die Umgebung Berlins hinaus, zu mehr langte es ja ohnedies nicht. Sie kannten sich von der sozialdemokratischen Arbeiterjugend her. In der letzten Zeit allerdings waren sie ganz außer Kontakt gekommen. Das kam, weil Max sich seit einigen Monaten wenig mehr um Politik kümmerte, Lene aber ganz in die Arbeiterbewegung hineinwuchs und eigentlich schon vollends darin aufging.
Lene empfing ihn gleich unter der Tür mit den Worten:
„Du, Max, denk dir nur, gestern bin ich aus der Partei ausgetreten. Ich kann es nicht mehr länger so mitmachen. Die letzten Wochen haben mir den Rest geben... Ich habe mich heute noch nicht entschieden... Zu den Kommunisten kann ich noch nicht... Auch, weißt du, hab ich so eine Intellektuellenschrulle, das ist das mit der Gewaltfrage..." Max blieb gleich mitten im Zimmer stehen. Die Gewaltfrage also ist's. Das kann ich dir nur sagen: ich für mein Teil könnte das nicht als Hinderungsgrund betrachten. Die ganze Gesellschaft ist ja doch nichts weiter als Gewalt. Gewalt ist Geld, Gewalt ist: dass du und ich in die Fabrik gehen, Gewalt ist, wie du wohnst, das ganze Recht, alle Sitten und Gebräuche beruhen auf Gewalt. Auf nacktester brutalster Gewalt... Nur haben natürlich die, die herrschen, ein Interesse daran, diesen bitteren Gewaltkern wohlschmeckend zu machen. Sie schwätzen also Vieles und Schönes von der Gewaltlosigkeit ihrer Gewalt. Sie legalisieren die Gewalt... Ist nicht die Arbeitsstätte heute für die weitaus meisten Menschen
eine Schlachtbank?! Der ganze Produktionsprozess ist Gewalt, die Art und Weise, wie produziert, wie verteilt und wie verdient wird... Ja, gehe nur einen Schritt so, wie es der herrschenden Klasse nicht passt, gleich packt dich in der oder jener Form die Gewalt... Der ganze Gesellschaftsapparat, samt Staat, Beamtenmaschine, Militär, Polizei dazu: Gewalt, Gewalt, nichts als Gewalt. Und sieh: dieser friedliche Gewaltkörper bricht eines Tags plötzlich aus, und dieses Geschwür, bisher nur unter der Oberfläche eiternd, das ist der Krieg... Es bleibt uns schon nichts anderes übrig, als diesen ganzen Gewaltkörper mit Gewalt zu zerschlagen... Und überhaupt: geschichtlich betrachtet:
die Gewalt war und ist noch immer seit jeher, seit Menschengedenken, die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft gewesen, die mit einer neuen schwanger ging... Lene, du musst wieder einmal das ,Kommunistische Manifest' lesen. Wir müssen gewaltig viel aufholen, wir sind durch die bürgerlichen Schulen und durch unsere verbürgerlichten Führer ungeheuer verdorben und verbildet worden. Wir müssen uns wieder zu uns selbst zurückfinden, zu uns, zu unserem unverfälschten instinktsicheren Klassenstandpunkt..."
Max streckte Lene die Hand hin.
Die schüttelte nur ungläubig lachend den Kopf —
Dann schlug sie ein.
„Recht hast du, Max, sehr recht: wir sind an uns selbst irre geworden... Ja, aber, Max, seit wann... Das ist ja gut gekommen mit dir!... Ich staune nur so... Neulich in der Versammlung nämlich, da hast du mir schon gar nicht gefallen... Ich hab dich immer bei jedem Satz, den der Redner sagte, beobachtet... Ja, Max das, was die Gewalt anbetrifft, das weiß ich natürlich auch, so tief bin ich ja doch noch nicht gesunken: auch die Ideen, die heute herrschend sind und die man uns so schön eingewickelt durch die Presse als tägliche Herzens- und Gehirnkost verabreicht, bedeuten Gewalt und dienen ihrerseits treu dem Gewaltsystem, mittels dessen das Bürgertum über uns herrscht... Aber, schau: den Eintritt in die Kommunistische Partei: das muss ich mir gründlich überlegen. Die Kommunistische Partei ist eben nicht so eine Partei wie die anderen Parteien, das jedenfalls habe ich längst begriffen. Da heißt es, voll und ganz in der Arbeit aufgehen, sich opfern, restlos sich opfern. Disziplin halten, sich unterordnen. Sonst hat das Ganze gar keinen Sinn... Und darum, um diesen letzten Entschluss kämpfe ich noch. Das muss doch ein jeder ernsthaft vorher mit sich selbst abmachen. Kann ich das, was von mir verlangt werden wird, auch leisten? Daraufhin prüfe ich mich... Aber ich werde schon wohl nicht anders können... "

 

9

Es war spät Nacht, als Max sich auf den Heimweg machte.
Er fühlte sich gewaltig gestärkt und über sich selbst emporgehoben.
Ich werde schon fertig damit. Nur keine Bange... Ich bin in den letzten Tagen der Lösung des Problems schon ziemlich nahe gekommen... Lene ist ein Prachtkerl... Auch sie hat mir noch geholfen... Wird der Wilhelm Augen machen, wenn ich ihm erzähle... Nun gut so... Jetzt nur noch ein kleiner Stoß... Doch genug für heute... Die Straßen waren menschenleer. An einer Straßenbahnkreuzung wurden die Schienen ausgebessert. Ein Haufen von Arbeitsmännern hantierte mit Schweißapparaten. Schienenhobel flitzten. Eine Weiche wurde schwer herausgehoben.
Das blaue Licht der Sauerstoffgebläse gespensterte magisch auf und ab in der Nacht. Huschte die Häusermauern entlang. Wie Gerippe, mit fahlen Knochenhäuten bespannt, geisterten sie...
„Arbeitskollegen. Genossen. Proleten. Wir. Du und ich. Wir gehören zusammen... Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Ein wunderbarer Satz!
Max sprach ihn immer wieder vor sich hin.
Welcher Menschengehirnkraft, Menschenerfahrung, welchen Menschenleids bedurfte es, um diesen proletarischen Block zusammenzuschweißen! Trieb nicht vorher die ganze Menschheit in einem riesigen Leidensmeer, Traumtrümmer an Traumtrümmer!? Was an Heroismus, Aufopferung, Disziplin wird weiterhin nötig sein, um diesen Block in Bewegung zu setzen, welche gewaltigen Hebelkräfte, ihn über die dem Untergang geweihten Geschlechter der Vergangenheit hinweg in die Zukunft zu wälzen!... Gebt uns eine Partei! so schrie es aus Millionen Mündern in allen Menschensprachen. Gebt uns eine Partei! Einen aus Millionen Proletarierarmen geschmiedeten Hebelarm, eine eisern in sich gefügte Organisation, ein Willens-Kollektiv, ein Erfahrungs-Kollektiv... und verlasst euch drauf: wir werden es schaffen!
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Eine Parole. Eine Fanfare. Der alarmschmetternde Grundton des proletarischen Siegesmarsches. — Max marschierte im Infanterieschritt. Pfiff dazu...
Marschierte mit Hunderten, mit Tausenden...
Im Gleichschritt. Im Arbeiter-Marsch.
Kolonnen marschierten auf Kolonnen...
Manchmal gewitterte ein elektrischer Schein über den Horizont herauf.
Auch schimmerte es schon rötlich an der Himmelsferne. Nun färbte sich ein langverzogener Wolkenstreifen lebendig rot.
Die ersten Fabriksirenen heulten...
Ein riesiger steinerner Pfuhl, ein ungeheurer aus Granit und Zement gehauener Leidenstümpel ist diese
Stadt. Morgen, übermorgen, wie schön und frei werden dann die Menschen wohnen!

So glücklich und kräftig zugleich war Max in seinem Leben noch nie. —

 

Fünftes Kapitel

DIE KRIEGSDEBATTE IM AMERIKANISCHEN OFFIZIERSKLUB

Abkommandiert zum Gas-Dienst. En Kamerad von den Luftstreitkräften. Die Kriegsdebatte im amerikanischen Offiziersklub. Einige wichtige Ergänzungspunkte zum Kampf gegen den imperialistischen Krieg. — Der Völkerbund organisiert den Vernichtungskampf gegen die Kommunisten im Weltmaßstab. „Vertilgt die Kommunisten wie Ratten!" — Mary Green auf dem elektrischen Hinrichtungsstuhl. — Generalstreik in USA. Eine rote Zelle in der amerikanischen Armee. GBRO: Geheim-Bund revolutionärer Offiziere. - Es kann beginnen!

1

Seit einem Vierteljahr war der amerikanische Leutnant der Infanterie Frank Morrow zum Gasdienst abkommandiert. Frank Morrow entstammte einer Arbeiterfamilie, er selbst arbeitete vor dem Krieg bei Ford. Auf den Schlachtfeldern Frankreichs avancierte er, gegen Ende des Krieges war er Führer eines Stoßtrupps. Frank Morrows Körper selbst glich einem Schlachtfeld: Arme und Beine trugen breite Narben von Bajonettstichen, der linke Lungenflügel war zweimal durchlöchert. Damals, im kleinen Kriegslazarett von Belleville, wohin er, schwer verwundet, aus der großen Angriffsschlacht der Deutschen heraus gerade noch rechtzeitig abtransportiert werden konnte, schwanden ihm die letzten Illusionen über den Krieg, mit denen er über den großen Ozean gegen die Deutschen gezogen war... Immer wieder brach das zerschossene Lungengewebe auf, das blutige
Exsudat drückte auf das Herz, die Ärzte hatten die Hoffnung aufgegeben. Frank konnte es nur noch mit dem Sauerstoffapparat aushalten, er bekam keine Luft mehr. Eine Punktion folgte der anderen. Bis eines Nachts, Frank erinnerte sich daran genau, der Arzt mit einer Schwester hereinstürzte, ihm den Augendeckel lüftete, den Kopf schüttelte... und Frank auf den Operationstisch gelegt wurde, während der Arzt zum Assistenten bemerkte: „Vorsicht beim Aufsitzen, er kann uns unter der Hand bleiben." Frank war von dem vielen Sekt, den Herzmitteln und dem Morphium ganz dösig. Trotzdem fühlte er ganz deutlich, um was es ging. Sein oder Nichtsein. Er sprach zu sich mit einer wimmernden Stimme einen militärischen Befehl. Und wieder wurde eine Punktion vorgenommen...
Nach weiteren acht Tagen war Frank bereits auf und spazierte im Garten des Kriegslazaretts umher. Ununterbrochen heulte und schluchzte er, die Augen waren an das Licht nicht mehr gewöhnt, die Nerven bis aufs äußerste angespannt, der Körper war außer Rand und Band, es schüttelte ihn hin und her, und es begann ein langes intensives Zittern...
Damals lernte Frank Morrow Thomas Butler kennen, Thomas Butler vom dritten Flugzeuggeschwader. Den Namen kannte er, Thomas Butler hatte in der Heeresgruppe die meisten Abschüsse. Er war der Sohn eines Chicagoer Holzwarenfabrikanten, zynisch und aufgeklärt, und führte sich bei Frank gleich mit den Worten ein: „Der ganze Krieg, Kamerad, ist weiter nichts als eine Riesenprofitquetsche... Wir allesamt sind die Beschissenen ... " Und die Gespräche über den Krieg wurden fortgesetzt. Thomas las dabei oft Stellen aus den Briefen einer gewissen Mary Green vor, von der Frank
zunächst nur wusste, dass sie die Freundin Butlers und eine Sozialistin war. Frank wurde zum Nachdenken gezwungen. Er wehrte sich zwar oft innerlich dagegen, Thomas ließ aber nicht ab, und das Resultat war: auch Frank Morrow betrachtete seitdem alle Vorgänge mit kritischen Augen.
Für wen eigentlich schlagen wir uns!? fragten sich die beiden. Und die Antwort hieß: für das Bankhaus Morgan und Compagnie.
Und für wen die Deutschen!? Für die Deutsche Bank vielleicht. Die Firma kann aber auch anders heißen.
Und wer hat den Krieg begonnen?
Keiner von beiden. Und alle beide.
Wenn zwei Räuber sich um die Beute streiten, da ist es schwer, zu entscheiden, wer angefangen hat. Außerdem, wer einen Verteidigungskrieg und wer einen Angriffskrieg führt, das kann nur historisch entschieden werden. Die diplomatische Frage kommt hier nicht in Betracht. Aber historisch betrachtet führt nur der einen Verteidigungskrieg, der eine höher organisierte. Gesellschaftsform gegen eine reaktionäre verteidigt. Ob er dabei angreift oder der Angegriffene ist, ist gleichgültig. 1914...!? Sie waren sich klar darüber, was alle die Phrasen von Nationalehre, Vaterlandsverteidigung, Freiheitskampf bedeuteten... Eigentlich sind wir ganz elende Hunde, sagten sie sich, dass wir uns so was gefallen lassen... einfach unter Einsatz unseres Lebens die Kastanien für die Riesenfinanzschufte aus dem Feuer zu holen?!... Man kommt sich bei einem solchen Sklavendienst selbst verächtlich vor...
Eines Tages setzten sie sich wieder einmal zusammen. Sie versuchten es jetzt mit dem Galgenhumor. Zwar der Galgen wird dabei nicht aufgehoben... „aber Geduld,
wir zerreißen vielleicht doch noch dieses ganze Riesengespinst von Lebenslüge, in das wir noch verstrickt sind.
sind schon dabei..." Sie zählten auf, was jeder kriegführende Staat eigentlich von sich behauptet. Ohne Mühe ließ sich folgendes dabei herausfinden: Dass er einen Verteidigungskrieg führt und für die gerechte Sache kämpft, dass er einen Kampf für Freiheit und Zivilisation aller Völker führt, dass er einen dauernden Frieden anstrebt, dass er alle Kräfte anspannen und kämpfen wird, bis der Gegner endgültig niedergeworfen ist, dass er ohne Zweifel Sieger bleiben wird, dass er siegreich vorgeht und nur geringe Verluste zu verzeichnen hat, dass die Bomben seiner Flieger nur militärische Institutionen der Gegner treffen und immer mit großem Erfolg, dass seine Artillerie und seine Flieger bedeutend besser sind als die Flieger und die Artillerie der Gegner, dass er gerade jetzt große Unternehmungen plant, die unbedingt Erfolg versprechen, dass der liebe Gott ihm zur Seite steht... Und jeder kriegführende Staat behauptet weiter: Dass der Gegner den Krieg gewollt hat und seit langem dazu rüstet, dass der Gegner den Krieg angefangen und „uns" überfallen hat, dass der Gegner einen Eroberungskrieg führt und die Welt beherrschen will, dass der Gegner das Völkerrecht mit Füßen tritt, dass der Gegner die Neutralität kleiner Staaten bedroht, dass der Gegner den Krieg mit barbarischen Mitteln führt, Dum-Dum-Geschosse anwendet, das Rote Kreuz missbraucht, Gefangene misshandelt, Frauen vergewaltigt, mordet und plündert, dass die Kriegsgerichte des Gegners eine Verhöhnung des Gesetzes sind, dass der Gegner Gefangene tötet, freie Städte bombardiert, Frauen und Kinder tötet, „uns" aber damit nie einen militärischen Schaden zufügt, dass der Überfall des Gegners immer im Keim erstickt oder mit großen Verlusten für den Feind zurückgeschlagen wird, dass der Gegner Gasbomben gebraucht, ein Seeräuber ist, ohne Notwendigkeit den neutralen Handel unterbindet, dass die Informationen des Gegners durchwegs Lügen und Verleumdungen sind, dass der Gegner die Neutralen mittels Lügen, Drohungen und Bestechungen zu bearbeiten sucht, dass der Gegner die neutralen Staaten, zu deren größtem Unglück, im den Krieg hetzt, dass der Gegner an Geldmangel, Teuerung, Industriekrisen leidet, dass die Kriegsanleihen des Gegners nur durch Betrug zustande kommen, dass beim Gegner Epidemien wüten, dass im Lande des Gegners Streik und innere Zerwürfnisse herrschen, dass beim Gegner Minister und Generale zurücktreten, dass der Gegner kampfesmüde ist...
Sechsunddreißig solcher Punkte hatte man leicht beisammen. Kein Zweifel: die Staatsmänner und Politiker aller Nationen verfügten über eine ganz gerissene Technik, die Völker gegenseitig in Schwung zu bringen... Und die beiden Offiziere sahen sich ratlos an: „Und nun, wir... was mit unseren Erkenntnissen anfangen?... Was tun?...!"
Und zu gleicher Zeit kam ein Brief, der mitteilte, Mary Green sei wegen antimilitaristischer Propaganda zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. In diesem Brief stand: „Es ist gut abgegangen. Eine große Anzahl von Antimilitaristen wurde gelyncht, die grauenhaftesten Bestialitäten sind dabei vorgekommen... Lieber Junge: Mary lässt Dir sagen, Du sollst gründlich über das alles nachdenken und endlich auch die Konsequenzen ziehen. Dieses Menscheitsunglück kann von uns, die wir die Einsicht in den ganzen Mechanismus haben, nicht weiter schweigend ertragen werden. Agitiere für den Frieden... Doch der einzige Kampf gegen den Krieg: das ist die soziale Revolution... "
Die beiden Offiziere wurden noch unschlüssiger.
Doch das Ende des Krieges kam.
Die Waffenstillstandsverhandlungen begannen.

 

2

Welch eine Rückfahrt!
Ein glorreicher Siegeszug übers Meer! Welch ein Triumph!
Als die Transportdampfer in Sicht der New Yorker Freiheitsstatue gekommen waren, begannen plötzlich mit einem Male alle Schiffssirenen zu heulen, Leuchtraketen schossen auf, Hunderte von Torpedobooten und Schaluppen umkreisten die Heimkehrenden. Die Militärkapelle spielte die Nationalhymne.
Die Wolkenkratzer glühten.
Hoch hinauf in die Nacht brannten die Siegesfeuer. —

Die Truppen waren ausgeschifft.
Umarmungen. Küsse. Endlose Händedrücke.
Die Tränen der Tausende von Witwen und Waisen glätteten nicht diesen Freudenstrudel.
Auch Frank Morrow und Thomas Butler waren heimgekehrt.
Mary Green war aus dem Gefängnis entlassen...

Das Nachkriegsleben begann.
Weder Frank Morrow noch Thomas Butler nahmen ihren Abschied. Sie blieben bei der Truppe... Auch Mary war dafür, überall musste angepackt werden, und
man konnte nicht wissen... Denn von Abrüstung war nicht die Rede, im Gegenteil. Die Waffen wurden vervollkommnet. Die Kriegserfahrungen eigentlich erst jetzt recht ausgewertet. Es gab großartige Manöver, Manöver, bei denen kein Mensch mehr sichtbar war: sie wurden nur mit mechanischen Kriegsmitteln, mit Tanks und mit Panzerwagen ausgeführt. Es wurden gewaltige Befestigungspläne besprochen, der Panamakanal und die Hawaiischen Inseln sollten zu Wunderwerken modernster Kriegskunst ausgebaut werden, zu den stärksten militärischen Stützpunkten der Welt. Militärischer Drill begann bereits in den Schulen, Privatarmeen wurden aufgestellt, geheime illegale Organisationen, militärisch organisierte Streikbrechergarden entstanden... Das Land wurde unruhig... Millionen enteigneter Farmer wanderten in die Städte. Die Regierung griff straff in die Zügel. Prozesse gegen Sozialisten häuften sich. Zu gleicher Zeit wurden die Propagandamittel, Kino und Presse, stark forciert. Russland: so hieß die Gefahr. Im Herzen Amerikas selbst wohnt Russland. Die werktätigen Massen Amerikas schauten nach Russland. Gefängnismauern und Barrikaden mussten gegen die rote, gegen die bolschewistische Gefahr errichtet werden... Da liefen in allen New Yorker Kinos schon die antibolschewistischen Gräuelfilme: da war zu sehen, wie es die Kommunisten trieben: Berge von Erschossenen häuften sich vor dem andächtig glotzenden Publikum... Die weißgardistischen Emigranten stützten den Feldzug: sie schrieben Lebenserinnerungen, und ihre Flucht aus dem roten Massengrab war wirklich heldenhaft abenteuerlich. Kapitalisten aller Länder vereinigt euch! Diese Parole, zwar nicht so deutlich ausgesprochen, wurde bis zu einem gewissen Grad zur Tat...
Japan wuchs sich energisch groß. Vereine von Rassenschützern erhoben warnend die Stimme.
Da geschahen einige Erdbeben, Feuersbrünste bei den Gelben: man dankte auf Wallstreet Gott auf den Knien. Doch bedeutete das nur einen zeitweiligen Aufschub.
Man hörte aus Deutschland: Die Arbeiterschaft mobilisiert sich, Rote Armeen bilden sich, das bolschewistische Feuer springt nach Europa über. In der amerikanischen Finanzwelt gab es zwei Meinungen: die einen: das kümmert uns nicht, lasst Europa Europa sein; die anderen: wir brauchen Europa, unser Kapitalexport stockt... Deren Meinung setzte sich allmählich durch. In Deutschland war Ruhe und Ordnung auch wieder eingekehrt. Frankreich klopfte man rechtzeitig noch auf die Finger. Der Franc sank... Und die Vertreter der Nationen erschienen, der amerikanischen diesmal mit einbegriffen, zur Lösung des Reparationsproblems am Verhandlungstisch. —

Die beiden Freunde bildeten sich weiter. Es war ihnen allmählich bewusst geworden, welche Funktion sie als Offiziere der bewaffneten Macht auszuüben hatten. Sie wurden radikale Sozialisten, das heißt gründliche Sozialisten.
„Jeder an seinem Platz... Und wir, wir werden hier unsere Pflicht tun."

 

3

Die beiden Freunde hatten sich wieder in New York getroffen.
„Und wie steht's in Edgewood?..."
„Nicht gleich mit der Türe ins Haus fallen, Thomas Darüber später..."
„Wir gehen gleich in den Klub!?" ...
„Ja, und morgen treffen wir uns mit Mary... Es wird allerlei Interessantes zu berichten geben... Auch Bolleff ist hier, ein bulgarischer Genosse... Aber man muss auf die Detektive Acht geben... Die Luft wird immer dicker..."
Ein gewaltiger Menschenstrom begann.
„Ah, die Weltmeisterschaft..."
Und schon schwirrten die Gesprächsfetzen:
„Ich setze auf Dempsey!"
„Dempsey?!... Ja, man weiß nicht, was wahr ist. Aber man hat sich ganz Erstaunliches von dem Argentinier erzählt ... "
„Ach, diese Stierhelden und Pampasbullen, meist ist's nicht viel gerade, was dahintersteckt... Ein schwerer mörderischer Schlag, der kein Gras mehr wachsen lässt, wo er hintrifft... Aber Technik, meist keine Ahnung;... Auch keine Luft, höchstens über drei Runden Stehvermögen... Alles Reklame, Maulaufreißertum, Profitgier... Da, sieh nur..."
Und der ununterbrochen sich dahinwälzende Menschenstrom erfasste die beiden Offiziere, schob sie mit von Straße zu Straße, Hunderttausende trieben so vorwärts, der Riesensportarena zu, in der heute die Weltmeisterschaft im Schwergewicht zwischen Dempsey und Firpo ausgetragen werden sollte. Das Geschrei der Stra­ßenhändler, das blitzende Rauschen von Lichtkegeln in der Luft, gleitende Trottoirs, fünfzigstöckige Wolkenkratzer, bengalisch illuminiert, unübersehbare Reihen von Automobilen, die im Menschenstrom stecken geblieben waren, Absperrungsketten der Polizeimannschaf-
ten, Billetthändler dazwischen, alles erdrückt, gequetscht, manchmal wieder vor dem Eingang ganze Menschengruppen um sich selbst kreisend, wie Menschenwirbel, und dort hingen wohl zehn Meter große Plakate den beiden Boxergestalten, da sprach irgend jemand vom Balkon durch einen Schalltrichter, eine zweite Stimme gegenüber aus einem Lautsprecher, dort glitten die Hochbahnen vorüber, Lichtpunkte flimmerten hinauf in die Nacht, Lichtbänder rollten wieder hoch oben vorüber, leuchtende Buchstaben, „Persil bleibt Persil", „Die Zarin ist soeben in Washington eingetroffen", Aufzüge sah man strahlend aufwärts gehoben in gläsernen Warenhäusern, die Asphaltböden, über der diese Menschenmasse wogte, waren unterhöhlt, das merkte man; ein langhingezogener Donner: das waren die Untergrundbahnen, ausgedehnte Zementröhrensysteme unterflochten die Erde... Dempsey — Firpo: ein einziger Gedanke, ein einziger Wille war diesen Hunderttausenden aufsuggeriert, dieser Gedanke trieb sie, packte sie, peitschte sie, flammte sie vorwärts, dieser tausendgliederige Massenkörper war nur von der Sucht nach diesem einen Erlebnis durchschüttert...
„Wie am Tag der Kriegserklärung..."
„Erhebend! Gewaltig!"
Den beiden Offizieren war es gelungen, die Menschenmassen zu durchkreuzen und in eine leere Seitenstraße einzubiegen. Diese Seitenstraße war wie ein vom Wellenschlag unberührtes Bassin.
„Und denkst du eigentlich noch oft an den Krieg?"
„,Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister des Sprengstoffs.' So habe ich neulich im Gedicht eines Deutschen gelesen. Ob ich noch an den Krieg denke? An den, der gewesen
ist, nicht mehr. An den, der kommen wird. Ich bin doch schließlich zum Gasdienst abkommandiert."
„Ich bin gespannt auf heute Abend. Man müsste öfter solche Vorträge hören können. Immerhin, gegen früher, es wird jetzt in der Armee doch mehr für politische und kriegswissenschaftliche Bildung getan..."
„Die Deutschen waren uns darin bei weitem überlegen. Doch wir haben den Vorsprung eingeholt... Die Welt gehört USA. Ich sage das nicht unbegründet. Ich gehöre gewiss nicht zur Gattung jener Hornochsenpatrioten, die nicht weiter, als ihre eigene Nasenspitze reicht, zu blicken vermögen. Ich sage das, na... auf Grund meiner Erfahrungen in Edgewood. Verstehst du mich... Vom militärischen Standpunkt aus, meine ich das."

 

4

„Das chemische Kampfmittel ist gekommen, um zu bleiben. Mit dieser Tatsache wird sich die Welt abfinden müssen."
Mit diesen Worten begann Professor Snowden seinen Vortrag vor Offizieren der amerikanischen Marine, des Heers und der Luftflotte. Auch Vertreter der Zivilbehörden und der Industrie waren dazu erschienen.
Professor Snowden gab zunächst einen kurzen geschichtlichen Rückblick.
„Jahrtausende liegen die Anfänge des Gaskriegs zurück, künstliche Staubwolken, raucherzeugende Brennstoffe, Vernebeln der feindlichen Stellungen und Ausräuchern: das war schon im Altertum und im Mittelalter bekannt. Und schon im Jahre 1854 wurden dem englischen Kriegsministerium Gasbomben vorgelegt. Ein deutscher Apotheker war es, der während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 eine Füllung der Granaten mit Veratrin empfahl, einem lediglich stark zum Niesen reizenden Stoff. Sein Vorschlag kam damals jedoch nicht zur Durchführung.
In den fünfhundert Jahren, die vergangen waren, seit die Feuerwaffe Harnisch und Lanze überwand, hat man anfangs langsam, dann in den letzten fünfzig Jahren in außerordentlich gesteigertem Tempo gelernt, die Feuergeschwindigkeit, die Durchschlagkraft und die Rasanz der fliegenden Eisenteile zu erhöhen, mit denen man den Gegner bekämpfte. Dabei war man zu einem Punkte gelangt, der die bisherige Kriegführung praktisch umwarf. Denn alle diese fliegenden Eisenteile waren von größter Wirkung im freien Feld, aber durch Erdwälle von mäßiger Stärke verhältnismäßig bequem aufzuhalten. Das gab dem Verteidiger eine grundsätzliche technische Überlegenheit über den Angreifer. Der menschliche Körper mit seinen zwei Quadratmetern Oberfläche stellte eine Zielscheibe dar, die gegen den Eisenstrudel von Maschinengewehr und Feldkanone nicht mehr unbeschädigt an die verteidigte Stellung heranzubringen war. Der Verteidiger konnte nicht vor dem Sturme in seiner Erddeckung niedergekämpft werden, weil ihn die fliegenden Eisenteile nicht genügend erreichten. Es war eine Sache der naturwissenschaftlichen Phantasie, diesen Zustand vorauszusehen und auf die Abhilfe zu verfallen, die der Stand der Technik möglich machte. Diese Abhilfe ist der Gaskrieg."
Während Professor Snowden exakt die drei verschiedenen Etappen der Gasexperimente im Weltkrieg schilderte, das Gasblasen, das Gasschießen, das Gaswerfen — wobei er unablässig betonte, dass es sich damals lediglich um Experimente handelte und sozusagen der Gaskampf noch in den Kinderschuheil steckte —, überlegt sich Frank sprunghaft die neuesten Arbeiten des „Gasdienstes" in den Laboratorien und auf den Übungsplätzen von Edgewood.
„Ja, in der Tat, man kann sagen, das Problem der Fernlenkung ist gelöst. Eine Kommandotafel, ein Druck: automatischer Start: und das mechanische Flugzeug, durch keinerlei atmosphärische Verhältnisse behindert, schießt — fünfhundert Kilometer Stundengeschwindigkeit — seinem Ziel zu... Phantastische Gedanken, allein der Technik ist kein Ding unmöglich... Sehen wir nur unsere modernen Tanks an. Wie wendig sie sind, wie schnell. Siebzig Kilometer machen wir heute schon mit ihnen pro Stunde. Eine ideale Verbindung von Feuer und Bewegung!... Wie war es nur bei den letzten Manövern? Da sah man schon keinen Menschen mehr. Auch die Munitions- und Proviantübernahme sowie Mannschaftswechsel erfolgten vollkommen automatisch, durch Reservekampfwagen... Nun besteht das Problem noch darin, die Tanks gasdicht zu machen. Dann durchqueren wir mit ihnen wie mit Unterseebooten die Gassümpfe. Der Krieg hat nun einmal die feste ungepanzerte Feuerlinie durch die gepanzerte bewegte Feuerlinie ersetzt..."
So ist also, dachte Frank zu Ende, der kommende Krieg wieder ein Bewegungskrieg. Das Massenheer wird durch das Spezialistenheer ersetzt. Übergänge sind möglich. Genaue Prophezeiungen lassen sich natürlich nicht anstellen. Aber das Überraschungsmoment gewinnt ungeheuer an Bedeutung...
Das sprach auch soeben Professor Snowden aus.
„Die chemische Kriegführung stellt zur Zeit die letzte Entwicklungsstufe der Kriegskunst dar. Sie ist die
bisher wissenschaftlichste aller Kampfmethoden. Vom ökonomischen Standpunkt ist die chemische Waffe billiger als alle anderen. Sie ist aber auch die humanste. Meine Herren! Man hat die Verwendung von Giftgasen als Kampfmittel grausam und unnatürlich genannt, unzweifelhaft ist dies auch im Anfang so empfunden worden Aber man muss dabei doch bedenken, dass man jede neue Methode der Kriegführung, so auch die Einführung des Schießpulvers als grausam bezeichnet hat, erst allmählich hat es seine Schrecken verloren.
So stehen alle Weltmächte demnach sichtlich unter dem Eindruck, dass die Überlegenheit in einem kommenden Krieg dem gehören wird, der überraschend einen unparierbaren Hieb mit der chemischen Waffe führen kann. Erstrebenswert darum ist die Herstellung geheim gehaltener Gaskampfstoffe, die kein anderer hat. Es ist ohne weiteres also selbstverständlich, dass geheim gehaltene Fortschritte in dieser Richtung einen militärischen Vorsprung bedeuten würden, der vom Gegner im Verlauf des Krieges wohl kaum eingeholt werden könnte. Denn Schutz gegen Kampfgase ist nur möglich, wenn ihre Zusammensetzung bekannt ist. Neue Gase wirken also meistens vernichtend..."
Mit einem Aufruf zur Zusammenarbeit von Offizieren, Naturwissenschaftlern, Chemikern und Technikern schloss der Professor seinen Vortrag.

 

5

Es entspann sich sofort eine lebhafte Diskussion. Man debattierte in Gruppen.
„So und nicht anders muss es kommen, auf diese Art
und Weise macht sich der Krieg selbst unmöglich. Das Kriegsungeheuer beißt sich selbst den Kopf ab. Sehen Sie nicht ein, meine Herren, dass nach den interessanten Ausführungen des Professor Snowden das Kriegführen eine unmögliche Sache geworden ist? Ein solcher Zukunftskrieg, würdig, von einem Jules Verne beschrieben zu werden, er ist ein Angstprodukt verhetzter Gehirne, eine Wahngeburt, nicht mehr, das ist unmöglich, sage ich Ihnen, die Menschheit in ihrer Gesamtheit wird sich nicht in so frivoler Weise der Barbarei überantworten lassen. Jules Vernesche Phantasien, Mondfahrten, Abenteuer im Uferlosen... nichts mehr."
Es war ein Wilsonianer, der so sprach. Ein gealtertes, elegantes Männchen, ein Monokel im Auge. Professor der Medizin an der Universität.
„Und der Völkerbund!?" wisperte er erregt weiter. „Und das Washingtoner Abkommen! Ziehen Sie, bitte, in Betracht, meine Herren, den Artikel fünf des Vertrages... Schreiten wir weiter fort auf dem Weg der Abrüstung, die Befriedung der Welt ist sichergestellt. Ich sage Ihnen, meine Herren, der vergangene Krieg ist und bleibt der letzte... Mögen auch kleine Konflikte noch entstehen, Krisen Empörung und Streit aufwirbeln, mögen auch die Kolonialvölker, uneinsichtig wie sie sind, gegen Kultur und Gesittung randalieren... ein Krieg von dem Ausmaß und in den Formen, wie Sie ihn uns beschrieben haben, ist eine glatte Unmöglichkeit, Aberglauben einfach, nichts weiter... Die Zivilisation, meine Herren, marschiert. Ich meinerseits schwöre in dieser Beziehung absolut auf den Völkerbund... "
„Aber, lieber Arthur, welche Töne!" grinste ihm gummikauend ganz jovial ein chemischer Sachverständiger entgegen. „Sie gütiger Apostel der Aufklärungs-
zeit. Gewiss, gewiss, Ihr Pazifismus ist mir psychologisch gut erklärlich aus der Katerstimmung nach dem Weltkrieg heraus. Aber ich denke, wir haben das heute, nach fünf Jahren doch wohl schon gründlich überwunden. Überall, wohin Sie sehen in der Welt, erteilen wir doch mit Bajonetten etc. bereits wieder gründliche Lektionen im praktischen Pazifismus, wie Sie das nennen. Nun zum Thema. Dazu wäre kurz folgendes zu sagen: Solange das Gas von anderen Militärmächten in ihre Bewaffnung eingereiht ist, können und werden wir es nicht fallenlassen. Chemische Kriegsabteilungen bilden jetzt einen wesentlichen Teil der militärischen Organisationen Frankreichs, Italiens und der USA, und in jedem dieser Länder sind Experimente im Gange, wirksame Methoden für Gasangriffe auszuarbeiten. Auf die Verwendung von Gasen verzichten, hieße die Sicherung unserer Kampfeinrichtung auf das Spiel setzen, und im Hinblick auf die Erfahrungen, die wir im Krieg gemacht haben, würde es glatten Irrsinn bedeuten, solch ein Risiko zu laufen. Im übrigen ist es sehr töricht, den Gaskampf als Kampfart zu verdammen und jemandem Vorwürfe zu machen, ihn aufgebracht zu haben. In Wirklichkeit ist es keine Kampfmethode, die man nicht etwa hätte voraussehen können. Die ehemalige Entrüstung gilt nicht dem Gaskampf selbst, sondern nur dem Bruch der Vereinbarungen. Kindliche Einfalt und unberechtigte Bedenken haben Frankreich bei Kriegsbeginn abgehalten, sich einer so vorzüglichen Waffe zu bedienen. Die französischen Chemiker haben sie sofort vorgeschlagen. Ein gänzlich falsch angebrachtes Schamgefühl hat Frankreich um den Prioritätsanspruch gedacht... Kurz: wir alle betrachten den Gaskrieg als den Krieg der Zukunft und bereiten uns emsig auf die chemische Kriegführung vor. Und das sind keine Märchen, keine Legenden, liebes Professorchen, sondern Tatsachen. Es wäre klug, wenn Sie im Zusammenhang damit einmal bei sich erwägen würden, ob das hier Gehörte auch nicht für Ihr Fach bedeutende Gewinne bringen könnte..."
„Ich verstehe Sie nicht, meine Herren, Sie setzen sich über die Abrüstungskonferenz und über den Friedenswillen der Völker einfach hinweg, als wäre das alles etwas, was man im entscheidenden Moment mit dem kleinen Finger umstößt. Dem ist nun doch nicht so..."
„Der Beschluss der Abrüstungskonferenz, den Gaskampf zu verbieten, steht nur auf dem Papier, denn in Wirklichkeit kann er den Gebrauch von Giftgasen in einem neuen Krieg nicht verhindern. Deshalb war es auch ein Fehler, nicht auf die Ansichten der Sachverständigen zu hören, sondern auf die Ansicht von Nichtfachleuten, die aus allgemein menschlichen Erwägungen heraus den Gaskampf als grausame, ungehörige Anwendung der Wissenschaft verurteilen. Die Vorbereitung für die chemische Kriegführung muss weiter betrieben werden... Es dürfte wenig Zweifel darüber herrschen, dass das chemische Kampfmittel gegebenenfalls in sehr viel größeren Mengen und in anderer Weise verwandt werden dürfte als im letzten Krieg. Daraus ergibt sich trotz der Washingtoner Beschlüsse die Notwendigkeit für unser Land, die chemische Kriegführung weiter auszubauen. Die demoralisierende Wirkung von Gas auf einen in seinem Gebrauch ungeübten Gegner ist so groß, dass kein Führer es verantworten kann, wenn er daraus nicht vollen Nutzen zieht. Eine Nation mit größeren wissenschaftlichen Kenntnissen wird unzweifelhaft im nächsten Krieg von dieser Wissenschaft vollsten Gebrauch
machen, wenn sie der Ansicht ist, dass sie dadurch den Krieg gewinnt." Aber auch ein Professor der Soziologie war vorhanden.
„Und da sehen Sie, meine Herrschaften, auch auf ein anderes Problem möchte ich beiläufig aufmerksam machen. Die neue Kriegstechnik gibt uns wieder die Waffe in die Hand. Wie ein Bumerang kehrt die Waffe, die wir notgedrungen eine Zeitlang aus der Hand geben mussten, wieder an ihr ursprüngliches Ziel zurück. Lassen Sie mich das erklären. Im letzten Krieg war das Klassenbewusstsein des Proletariats noch nicht allzu entwickelt. Die Zweite Internationale spielte ihre Rolle gut: sie ist Schulter an Schulter mit uns rechtzeitig allen Versuchen, den Krieg in den Bürgerkrieg umzuleiten, entgegengetreten. In einem kommenden Krieg dürfte ihr das vermutlich nicht mehr gelingen. Russland ist da. Die kommunistischen Parteien haben in allen Kontinenten tief in der Arbeiterschaft Wurzel geschlagen. Eine Volksbewaffnung, ein Massenaufgebot: bedenken Sie, welch ein Risiko, welch eine Gefahr für uns! Da aber trennt die neue Kriegstechnik das Proletariat von der Waffe, die Waffe bleibt in unserer Hand, nur an den Produktionsstätten haben wir die Arbeiterkadres noch nötig, die nichts mehr und nichts weniger nur mehr Arbeitskadres sind. Wir, die Bourgeoisie, an der Front; das Proletariat im Hinterland, in der Etappe, das Proletariat in der Gefahrzone. Wir: in Tanks, in Flugzeugen, in durch Kollektivschutz gesicherten Laboratorien, so sieht in einer schroffen Wendung der Verhältnisse der neue Krieg aus."
Der Pazifist machte wieder Einwendungen. Streik, Generalstreik, Kriegsdienstverweigerung, Sabotage in den Munitionsfabriken usw.
Dutzendweise prasselten da Gegenargumente auf ihn nieder.
„Ja, aber lieber Professor! Munitionsarbeiterstreik Glauben Sie denn, dass unsere guten Proleten überhaupt wissen, was sie herstellen, Gas, Giftgas: muss ich Ihnen, naives Gemüt, denn erklären, dass dies alles in Arzneien Parfümerien, in Düngemitteln, in den Seifenfabrikaten enthalten ist? Wo fängt die Munitionsherstellung an und wo hört sie auf? Sehen Sie, die Raupenschlepper der Tanks, werden sie nicht auch zu Traktoren verwendet? Haben Sie nie etwas von den Normungstendenzen der Industrie gehört... Oh, das ist alles organisiert..."
Ein anderer spottete: „Streik, Dienstverweigerer. Sie rechnen nicht mit der Atmosphäre beim Ausbruch eines bewaffneten Konflikts. Sie rechnen nicht mit der Macht der Presse, mit der Erschütterung, die wir in neun Zehntel aller Menschen mit Schauergeschichten und Gräuelmärchen bewirken können, mögen sie noch so absurd und noch so schamlos dumm erlogen sein. Sie rechnen nicht mit der Spaltung der Arbeiterschaft. Die revolutionären Elemente haben bestimmt im Anfang des Krieges keinen großen Einfluss, erst unter den direkten Wirkungen... und dann: entweder — oder! Wir siegen oder -das andere ist Sache der feindlichen Besatzungstruppen. Wir werden uns auch hier zur rechten Zeit verständigen. Hundertprozentige Irrsinns-Atmosphäre, mein Herr!... Das verdient in Rechnung gestellt, einkalkuliert zu werden, mein Herr!... Nur wir, die Arrangeure, ein Prozent der Gesamtmenschheit, behält klar den Kopf. Denn wir sind darauf eingestellt, wir kennen die Vorbereitungen, für uns allein ist die Kriegserklärung kein Überraschungsmoment, wir allein wissen nur allzu genau — im Gegensatz zu gewissen Sozialisten, Sie entschuldigen schon —, dass die Produktionsmethode, die wir heute betreiben, und Krieg unbedingt zusammengehören, in ihrem Wesensgrund eins sind, und dass der so genannte Friede nur eine Atempause ist... Wie lange eine solche dauert, das kann man nicht sicher prophezeien... Wir geben für einen kommenden Krieg kein Datum an... Kurz gesagt: Träumen wir nicht den Frieden, sondern para bellum! Bereite den Krieg vor...
„Hat schon Nietzsche gesagt: nur im Schatten des Schwertes..."
„...Wir dürfen ja wohl hoffen, Herr Professor, dass Sie nur außerhalb ihres Geschäfts so pazifistisch sich gerieren... Wenn der Krieg einmal da ist, verlassen wir uns darauf: Sie schreiben alles, was noch aus dem
letzten Loch pfeift, k.v..."
„Eingeschlagen!"
„Nun, das ja... Wir sind doch schließlich allzumal Patrioten. Kern-amerikanisch." Eine Pause trat ein ...

 

6

Berühmte Herrenreiter, Tennisspieler, Tänzerinnen, ein Arzt, monokelblitzende Herren vom demokratischen Yachtklub promenierten schon auf und ab, eine Filmdiva zirpte am Arm des berühmten Relativitätstheoretikers vorüber, eine parfümierte Duftwolke durchschütterte die Luft. Die Kinoschauspielerin war raffiniert einfach gekleidet, ein goldenes Kreuz im weiten Halsausschnitt, schwarze Seide. Sie hatte merkwürdigerweise den Spitznamen „Lola, das Känguru". Eine andere hieß „Das Sardellenbrötchen", eine dritte „Der Vampir".
„Unterseeboote...", grunzte ein hoher Geistlicher sehr bedächtig, „...sind gewiss lieblos, unchristlich. Sie sind genauso ungerecht wie der Mammon. Gerade darum entsagen wir ihnen nimmer. Wir brauchen sie, wie wir ja auch nach Jesu eigenem Wort den Mammon brauchen sollen. Das ist eben das Schöne, dass wir bei dem allen das Wort Jesu für uns haben... Unsere Schuld wahrlich ist es nicht, wenn wir in der Blutarbeit des Krieges auch die des Henkers zugleich mit verrichten müssen..."
„Meine Herren! In der Tat! Der Mensch wurde über sich selbst hinausgehoben! Wenn ich mich an die Jahre des Krieges zurückerinnere: in der Tat: wir durften unsere Bilder dorther nehmen, wo die ewigen Sterne hangen... Wir sahen keine Vergangenheit mehr: wir waren das Schicksal selbst... Wie das Wehen einer neuen Zeit, so ging ein Geist des gegenseitigen Verstehens und der gegenseitigen Hilfsbereitschaft durch die Menschenherzen. Und die vaterlandslosen Gesellen haben ihre Pflicht erfüllt und sich darin in keiner Weise von den Patrioten übertreffen lassen... Ein jubelnder Aufschrei hat die Herzen des Volkes durchglüht, ein versöhnender Hauch hat sich über die Herzen des Volkes gebreitet. Darüber sind sich doch alle meine Freunde klar, ohne den Krieg wären die vielen demokratischen Freiheiten in den USA noch lange nicht erreicht worden. Ein solcher Sieges- und Friedenspreis ist der Opfer würdig... Das sage ich, trotzdem oder besser eben weil ich Sozialist bin..."
„Ja, wirklich, es war aber auch ein heißes Bad in schwarzem Blut nach so viel feuchten Lauheiten von Muttermilch und Brudertränen dringend notwendig. Es war eine ordentliche Begießung mit Blut nötig. Vor allen
Dingen: wir sind unserer zuviel geworden. Und der Krieg nimmt allemal eine Unmenge von Menschen weg, die nur lebten, weil sie eben geboren waren. Unter den Tausenden von Leichen, die im Tode vereinigt sind und sich nur noch durch die Farbe der Uniform unterscheiden, wie viele sind denn darunter, die man zu beweinen oder deren wir uns auch nur zu erinnern brauchten!? Ich wette meinen Kopf, dass sie nicht an die Zahl der Finger und der Zehen heranreichen. — Man halte uns nicht zur Gemütserschütterung die Tränen der Mütter vor! Zu was aber sind auch nach einem gewissen Alter die Mütter überhaupt noch zu gebrauchen als zum Heulen!? Der Krieg nutzt außerdem der Landwirtschaft und der Neuzeitlichkeit. Die Schlachtfelder liefern für viele Jahre einen erheblich höheren Ertrag als zuvor ohne irgendwelche Düngemittel. Was für schöne Kohlköpfe werden wir essen, wo die Leichen sich aufhäufen, und welche dicken Kartoffeln wird man einige Jahre später in den Gegenden ernten, wo die Leichenmassen der deutschen Infanteristen liegen. Wir wollen den Krieg lieben und ihn, solange er dauert, als Feinschmecker auskosten..."
So dozierte ein Ästhet. Er war bekannt durch den Besitz einer reichhaltigen Porzellansammlung. Er selbst galt als Kraftnatur und bevorzugte von allen anderen Kunstrichtungen den Futurismus.
Gegen einige Einwände, die namentlich von weiblicher Seite gemacht wurden, erhob sich sofort der Psychiater.
Sie müssen einsehen lernen, die Kriegskassandren beiderlei Geschlechts, dass es Demenz verrät, die Modefrage nach dem Frieden stoßzubeten. Krieg lernt man nicht an einem Tag. Der Krieg, bisher Reaktion auf Reiz,
Ehrensache, Mittel zum Zweck: im Moment der Kriegserklärung wird er Selbstzweck. Und von da an, hoffe ich dringend, werden auch alle jene noch unerlösten amerikanischen Seelen, möglicherweise sogar die letzten Pazifisten, ihren Sündenfall erkennen, werden erkennen, dass ihre Ideale keine Reliquien, sondern Relikte sind. Und die ganze Nation wird wie ein Mann den ewigen Krieg wiederfordern... Im übrigen: Venn es Sie interessiert: ich bin jetzt gerade bei einer Psychoanalyse der Arbeiterbewegung: die ununterbrochenen Klagen über die Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie sind nichts weiter als die Sublimierung des Verfolgungswahns, und was die Losung ,Proletarier aller Länder vereinigt euch' betrifft: so ist sie nichts anderes als der Klassenausdruck der Homosexualität..." „Nein, was Sie sagen!"

 

7

Im Musiksalon wurde inzwischen über Kunst debattiert.
Ein Bücherschrank öffnete sich.
Zuerst liebkoste man mit den Fingerspitzen die Einbände.
Ein berühmter Kritiker drehte sich hin und her in der Mitte eines Kreises, wie ein Pfau, zwei sehr fett geratene Schauspielerinnen umwogten ihn, endlich schaufelte er sich durch die Fleischmassen hindurch, elastisch wippend. Den mit ihm Sprechenden ließ er nur sein Profil sehen.
„Auch Sie hier, Herr Doktor!?... Ein wenig herausgeflogen aus der Studierstube?!... Nun, was macht Ihre
Arbeit!?"
„Ja, ganz richtig, was die Kriegsschuldfrage anbetrifft: mir fehlt in meinen .Untersuchungen nur noch eine Minute im damaligen Leben des leider verewigten Zaren... Dann ist der Kreis lückenlos geschlossen... Jeden Staatsmann habe ich wissenschaftlich gewissenhaft unter die Lupe genommen... Ich kann aber heute schon Ihnen vertraulich versichern, die Unschuld der Entente wird einwandfrei bewiesen ... "
„Und korrespondieren Sie noch mit... na, ich meine den Verfasser von diesem Buch ,Untergang des Abendlandes' oder so ähnlich..."
„Gewiss. Gewiss. Eine renaissancehafte Cäsarennatur, gemästet an den von ihm selbst gezeugten Kadavern... Hat übrigens die Absicht, über das große Wasser zu kommen... Würde sich lohnen... Jemand, der es finanziell arrangieren würde, würde bestimmt, bei der großen Aussicht auf Erfolg, zu finden sein."
„Das sowieso. Ist ja ganz nach dem Geschmack unseres Publikums..."
„Man muss dem Volk die Wege zu Kraft und Schönheit weisen. Sport. Sport: das ist das in unserem Zeitalter gegebene Mittel dazu... ", unterbrach jetzt die beiden ein dritter.

„Vom Leben nach dem Tode" wurde jetzt gesprochen.
„Ein aktuelles Thema sozusagen", schnauzte jemand.
Einige lächelten zwar skeptisch, sie erklärten sich für Agnostiker und Relativisten, aber die Jenseitsgläubigen gewannen unschwer die Oberhand.
„Religiös zu sein, ist modern. Außerdem liebe ich prinzipiell nur religiöse Menschen. Haben Sie neulich nicht das Bild des Kardinals im Journal gesehen! Ein feiner Kopf! Todschick."
Die Filmdiva erinnerte sich daran genau.
„Überwundener Standpunkt!" höhnte der Kunstmaler, der fest an einen persönlichen Gott glaubte, zu einem der Ungläubigen hinüber und entwickelte eine exakte Topographie des Jenseits. Er ging zur Beschreibung der Hölle über und kicherte satanisch, als er jedem Ungläubigen dort bereitwilligst sein Plätzchen zuwies.
Der Kunstmaler bekannte gleich darauf dem interessiert aufhorchenden Zuhörerkreis nicht unbescheiden er selbst befinde sich im Zustand der Gnade, das regelmäßig gepflogene Gebet erwirke in ihm eine magische Kraft, Gottes Stimme sei auch heute noch ganz reell zu hören... Verlor sich aber gleich darauf in einem langwierig ausgesponnenen Traktat über das Wesen des Sündenreizes und über Luthers „Fortiter peccare" und schloss damit, dass dem Gläubigen alles erlaubt sei. Auf die Reue lediglich komme es an.
Ein neukatholischer Universitätsprofessor wiederholte dabei monoton: „Man muss sein Leben opfern... Für mich persönlich allerdings, das muss ich gestehen, wäre der Heldentod keine besondere Sache. Wer, wie ich, in der Entspannung lebt, wem, wie mir, das Leben leicht ist... Das Problem der Opferung umfasst bei mir nicht solche materielle Bezirke..."
Wieder war ein Wortstreit ausgebrochen.
Ein Theosoph schlug sich mit einem Mystiker, ein Protestant mit einem Neukatholiken, ein Monist griff taktlos ein, und alles hielt sich plötzlich die Ohren zu und kreischte: „Ausgerechnet Darwin!"
Und die Gesellschaft schlug unter Anleitung eines bekannten Schauspielers jetzt einige prächtig gelungene Salto mortale in Geistreichigkeiten... Die Witze hüpften...
Aber schon ließ sich ein Sekretär des Auswärtigen hören: „Soll ich Ihnen, meine sehr verehrten Herrschaften, vielleicht einmal schildern, wie das Volk in Wirklichkeit fühlt und denkt!? Ja!? Vielleicht jage ich damit auch den letzten Restspuk ihrer pazifistischen Illusiönchen zum Teufel!
Es handelt sich um die Lynchjustiz an Negern im Staate Ohio.
Stellen Sie sich bitte vor: eine Menge von zehntausend Personen. Geballte Fäuste, blutunterlaufene Augen, Fluchen und Schimpfen. Mit Stöcken, Pechfackeln, Revolvern, Besen, Stricken, Messern, Scheren, Schirmen, Vitriol bewaffnet. Inmitten dieser entfesselten und immer wachsenden Truppe ein schwarzer Klumpen, einmal nach links, einmal nach rechts gestoßen, geschlagen, niedergetreten, zerrissen, blutbedeckt, beinahe tot... Die lynchende Menge schleppt ihr Opfer, den Neger, mit sich. In einen Wald oder auf einen öffentlichen Platz. Dort wird er an einen Baum gebunden, mit Petroleum oder sonstigem Brennstoff begossen. Bevor das Feuer angezündet wird und seinen Körper erfasst, wird ihm ein Zahn nach dem andern ausgeschlagen, werden ihm die Augen ausgerissen, wird ihm das Haar in Büscheln vom Kopf gerissen, wobei ganze Hautfetzen mitgehen und ein blutiger Schädel zurückgelassen wird. Der Körper wird derart geschlagen, dass kleine Fleischstücke herumfliegen... Der Neger atmet noch; aber er schreit nicht mehr. Denn man hat ihm seine Zunge mit glühendem Eisen verbrannt. Der ganze Körper krampft sich zusammen wie eine Schlange, die halb zertreten wird, wenn man ihn von zwei oder drei Seiten zugleich mit glühendem Eisen versengt. Mit einem Messer wird ihm sein Ohr abgeschnitten... ,Oh, wie schwarz er ist! Wie hässlich
er ist!' kreischen die Damen, die ihm das Gesicht zerfleischen. ,Man soll ihn anzünden!' schreit einer. ,Nur langsam', fügt ein anderer hinzu, ,nur hübsch langsam braten lassen, damit er nicht zu rasch stirbt, sonst hat die Sache keinen Witz.' Der Schwarze wird geröstet, gebraten, bis der Körper schließlich fast verkohlt ist. Aber ein Tod ist zu wenig. Darum hängt man den Körper noch auf, genauer gesagt, man hängt das auf, was von seinem Leichnam übrig ist, und alle Zuschauer klatschen Beifall und rufen ,Hurra'! Wenn die Menge sich an dem Schauspiel genügend satt gesehen hat, lässt man den Leichnam zur Erde fallen. Man schneidet die Stricke, mit denen er angebunden und gehenkt worden ist, in kleine Stücke, von denen jedes um drei oder fünf Dollar verkauft wird. Das sind Andenken, die Glück bringen und um die sich die Frauen reißen... "
Man schwieg auf diese Erzählung hin nicht lange.
„Schauderhaft... Furchtbar... "
„Das Urböse im Menschen, die Bestie, der Satan..."
„Ob es nun wahr ist, was Sie uns erzählt haben oder nicht... es war spannend erzählt, es prägte sich einem deutlich ein..."
„Nun, wir sind keine Nervenbündel... und wenn die Frauen sich ängstigen: mulier taceat in ecclesia! Übrigens: auch Weiber werden zu Hyänen, und wie der Krieg gezeigt hat, oft zu sehr brauchbaren ... "
„Ja, du meine süße Hyäne... "
Man scherzte schon wieder.
Der Neger war rasch vergessen.

 

7

Professor Snowden nahm indes das Schlusswort.
Eine Generalstabskarte war aufgespannt, auf der der Vortragende die einzelnen Positionen mit dem Stab aufzeigte.
„Ich werde jetzt versuchen, eine ökonomische Analyse des kommenden Krieges zu geben... Es handelt sich dabei vor allem um die nicht kapitalistischen Absatzmärkte in China und Indien. England ist im Jahre 1925 so gut wie aus China vertrieben, so dass jetzt der Kampf zwischen den beiden siegreichen Mächten Japan und Amerika beginnt. China mit seinen 400 Millionen Einwohnern, von denen der größte Teil Kleinbürger sind, 320 Millionen in der Landwirtschaft, die sie kleinbürgerlich betreiben, ein großer Teil von Kleinbürgern in den Städten, und Indien mit seinen 320 Millionen, darunter 217 Millionen in der Landwirtschaft: sind die beiden großen Hauptbecken, wo wir noch Mehrwert realisieren können, namentlich nachdem sich der nicht kapitalistische Markt in Amerika und Kanada immer mehr verengt hat. In Amerika sind allein in den letzten zehn Jahren etwa sieben Millionen Farmer als Proletarier in die Städte gewandert.
Schon früh haben wir die große Bedeutung Chinas erkannt.
Das Vordringen unserer Standard Oil Company in China, das Eindringen unserer amerikanischen Maschinen in China ist ein deutliches Zeichen dafür. Wir mussten unsere Zivilisationsbestrebungen aber auch militärisch fundieren. Die erste Periode war im Jahre 1899 der amerikanisch-spanische Krieg, in dem wir die Philippinen, direkt vor China, annektierten. In der zweiten
Periode wird die Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und den Philippinen hergestellt, werden im ganzen Stillen Ozean feste Kriegsstützpunkte zu seiner Beherrschung, zur Vorbereitung des weiteren Vordringens nach China, nach Ostasien gemacht. Durch den Abkauf der dänischen Inselgruppe St. Thome, durch den Ausbau von Hawaii, insbesondere durch den Ausbau von Dutch-Harbor auf Alaska, nach dem Krieg durch die Besetzung und den Ausbau von Tutuila in der ozeanischen Inselgruppe und schließlich durch die Besetzung und den Ausbau von Guam haben wir ein weites, großes Viereck geschaffen, das zur Vorbereitung von Angriffen bzw. Abwehr vorzüglich geeignet ist. Dieses große Viereck im Stillen Ozean erhält seine Rückenstützpunkte durch Kalifornien auf der einen Seite, durch den Panamakanal und damit die Verbindung zum Atlantischen Ozean auf der anderen Seite.
Nun, und auf der anderen Seite steht Japan, das gleichfalls Anspruch auf China und Indien erhebt, und das immer stärker gleichfalls vordringen will.
Die Probleme des japanischen Imperialismus lassen sich auf zwei Hauptfragen zurückführen. Das eine ist selbstverständlicherweise die Frage des Absatzes seiner Ware, das andere ist das spezifisch japanische Problem der Übervölkerung und damit die Notwendigkeit der Ansiedlung und des Ausbaues seines Imperiums. Bereits 1919 hat Graf Komura erklärt, dass Japan verloren sei, wenn es ihm nicht gelinge, in einem Menschenalter Raum für 100 Millionen Menschen zu sichern und obendrein seine Auswanderungsräume unter der Flagge zusammenzuhalten.
In Japan drängen sich auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie die Deutschlands, dabei aber vielfach unbewohnbar ist durch steile Vulkanberge, 78 Millionen zusammen, sein Geburtenüberschuss betrug in dem einen Jahre 1921 724 600 Geburten, während der Überschuss in den über 250 Jahren der japanischen Abgeschlossenheit von 1600 bis 1886 nur 900 000 betrug. Die plötzlich so starke Ausdehnung vor allem zwingt Japan, fremde Gebiete zu erobern, dorthin die Mengen von proletarisierten Bauern und Proletariern zu übertragen. So hat Japan Korea besetzt und völlig zur japanischen Kolonie ausgebildet, so dringt es in China ein, in Indien, in Südafrika, so hat es sich vor allem schon in Kalifornien, in unserer direktesten Nähe, festgesetzt. Vor dem Erlass unseres Einwanderungsverbots und auch jetzt noch steht Kalifornien vor der Gefahr, eine japanische Kolonie zu werden. Bereits 1922 gab es 110000 Japaner in Kalifornien, denen mehr als zwei Drittel des hochwertigen Weizenlandes gehören.
Nun die Frage der Rohstoffversorgungsmöglichkeiten Japans!
Während Japan selbst nicht reich an Kohle, arm an Eisen und Öl ist, ist China und Korea außerordentlich mit Kohle und Eisenerz versehen. Während man den japanischen Kohlenvorrat insgesamt auf etwa 1600 Millionen Tonnen schätzt, wird der chinesische auf 15 Milliarden Tonnen geschätzt. Ebenso belaufen sich die chinesischen Eisenerzvorräte auf zirka 45000 Millionen Tonnen, während die Japans nur etwa 4000 Millionen Tonnen betragen. Das Vordringen Japans in China, das bereits durch große Bindungen, durch große Beteiligung der Japaner an Eisen- und Stahlwerken vollzogen ist, droht für unseren Handel jetzt zur direkten Gefahr zu werden! Für England ist Japan bereits zur Gefahr geworden! Der englisch-japanische Vertrag ist auch aus diesen
Gründen nicht mehr erneuert worden. Und die Errichtung der Singapore-Basis seitens England kann nur Japan gelten. Wir können daher wirklich von einer gelben Gefahr sprechen, und die Gefahr eines kommenden Krieges ist damit ebenfalls in große Nähe gerückt."

Da platzte die Nachricht herein: „Dempsey Knockout-Sieger nach zwei heftigsten an Überraschungen reichen Runden über Firpo..."
Der Lärm der Straße schwoll.
Ein Menschenkatarakt...
Frank und Thomas trieben steuerlos dahin durch die Nacht wie durch ein Traumland...
„Mir ist es oft", sagte Frank zuerst, „als sei das Proletariat aller Länder, dieser Riesenmenschenmassenleib, mit magnetischen Strömen geladen und mitten hinein in ein Stahlgewitter gestellt, dazu ausgesucht, die Blitze, die sich aus der labyrinthischen Wirrnis dieser Gesellschaftsform entladen, auf sich abzuziehen ... Ein wandelnder Blitzableiter..."
„Nun heißt es aber für uns: mit zehnfacher Kraft heran an die Arbeit! Wir müssen gleich morgen zu einem wirklichen Resultat kommen!..."

 

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„Ich schlage vor", nahm die Genossin Green das Wort, „nachdem wir jetzt die ausführlichen Berichte der Genossen Morrow und Butler gehört haben, eine Resolution zu fassen und sie allen revolutionären Arbeiterorganisationen der Welt vorzulegen und dringend zur Annahme und zur Durchführung zu empfehlen. Auch der Genosse Bolleff von der bulgarischen Sektion hat einige Bemerkungen gemacht, die wir berücksichtigen müssen. Wir Sozialisten Amerikas, als des Landes, das am weitesten fortgeschritten ist in der imperialistischen Kriegstechnik, haben demnach die Pflicht, auch in der Bekämpfung des imperialistischen Krieges führend zu sein und unsere Beobachtungen  allen  Sektionen  mitzuteilen.  Unsere Kommission  zur  Beobachtung  der  imperialistischen Kriegsrüstungen hat gut gearbeitet, sie steht nach wie vor mit unseren illegalen Organisationen in engster Verbindung und wird sich weiter intensivst ihrer Aufgabe widmen. Die Resolution, die wir aufgesetzt haben,
lautet:

Einige wichtige Ergänzungspunkte zum Kampf gegen den imperialistischen Krieg

Zu dem Kampf gegen den imperialistischen Krieg gehört unmittelbar auch die möglichst genaue Kenntnis der Waffen, die in diesem Krieg aller Voraussicht nach zur Anwendung kommen werden. Wir müssen in unserer Aufklärungsarbeit unbedingt regelmäßig über den Stand der modernen Kriegstechnik konkret berichten können und auch von dieser Richtung her die Massen damit bekannt machen, was für sie ein kommender Krieg bedeutet.
Der Weltkrieg war eine Revolution für die gesamte Kriegstechnik.
Es lässt sich nun nicht leugnen, dass unsere gesamte bisherige Antikriegspropaganda viel zu sehr auf den vorhergegangenen Krieg eingestellt war, viel zu ,konservativ' war, und dass wir es nicht richtig verstanden haben, die experimentellen Ansätze der im vorhergegangenen Krieg entwickelten Kriegstechniken scharf her-
auszuanalysieren, ihre Weiterentwicklung in der Nachkriegsperiode in aller Öffentlichkeit zu verfolgen und damit den entscheidenden Wendepunkt im Charakter der gesamten Kriegführung überhaupt überzeugend darzutun. Das, was gewesen ist, interessiert uns doch nur im Hinblick auf das, was ist, im Hinblick auf das, was sein wird.
In den wenn verhältnismäßig auch nur spärlichen Berichten der Bourgeoisie über dieses Thema aber bietet sich uns ein ungeheueres Agitationsmaterial dar, das im entscheidenden Augenblick richtig eingesetzt, eine durchschlagende Wirkung auf die weitesten Kreise unserer Meinung nach ausüben müsste.
Es gilt den Fortschritt der Militärtechnik in allen Ländern mit größter Sorgfalt zu verfolgen, um einerseits durch die Schilderung des Konkreten dem Proletariat ein Bild des kommenden Krieges in anschaulichster, lebenswirklichster Weise geben zu können und um andererseits durch die intensive Beschäftigung mit den Rüstungen in dieser Weise, durch ihr näheres Studium auf Grund der dabei gemachten Erfahrungen realere Anhaltspunkte für unseren Kampf gegen den Krieg zu gewinnen.
Wir amerikanischen Genossen ersuchen euch, Genossen, schon heute auf dieser Basis eine großzügige Aufklärungspropaganda über den chemischen Krieg zum 1. August dieses Jahres vorzubereiten. (Vorträge, Aufklärungsmeetings, Broschüren usw.) Vor allem aber auch mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die polnische Regierung am 9. März 1925 das erste Mal im Klassenkrieg gegen revolutionäre Arbeiter chemische Kampfstoffe eingesetzt hat. Dies ist unseres Wissens das erste Mal, dass im Bürgerkrieg chemische Kampfstoffe angewendet
wurden. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass es nur eine Frage der Schärfe in der Zuspitzung der Klassenverhältnisse ist, ob und wann das Gas auch im Bürgerkrieg allgemein seine Verwendung finden wird. Die Bourgeoisie spart bekanntlich nur deswegen ihr bestes Pulver auf, um ihre Geheimnisse nicht vorzeitig preiszugeben. Es wäre aber äußerst verhängnisvoll für uns, uns darüber Illusionen zu machen und uns, wenn es einmal hart auf hart geht, auf einen solchen Kampf nicht einzustellen.
Wir fordern euch, Genossen, daher auf, alle das Eure zu tun zur Konkretisierung unserer Methoden des Kampfes gegen den imperialistischen Krieg... "

„Wünscht einer der Genossen zu dieser Resolution das Wort?" Der bulgarische Genosse meldete sich. „Genosse Bolleff!"
Der bulgarische Genosse bemängelt vor allem, dass die Resolution selbst nicht genügend konkret sei, die Konkretheit fordere, ohne selbst dieser Anforderung zu entsprechen. So hätte man auf den Abrüstungsschwindel genau eingehen müssen, nachweisen müssen, dass Rüstungsindustrie identisch ist mit Farbstoffindustrie und dass die ungeheuere Entwicklung der chemischen Industrie gleichbedeutend ist mit der ungeheuren Aufrüstung, wie sie fieberhaft in allen Ländern betrieben wird. „Wir hätten am besten Amerika als Beispiel anführen können, das vor dem Krieg sieben chemische Fabriken besaß, nach dem Kriege bereits hundertachtzehn! Dann hätte man sagen müssen, dass alle schweren Giftstoffe Abkömmlinge der Farbindustrie beziehungsweise der Heilmittelindustrie sind. So weiß im Zeitalter des
Giftgaskrieges der Arbeiter in der Fabrik nicht mehr, ob er ein harmloses Heilmittel, irgendeine Farbe oder aber ein äußerst gefährliches Giftgas herstellt. Hier enthüllt sich mit voller Schärfe die konterrevolutionäre Forderung der Zweiten Internationale, dass man bei Kriegsausbruch einfach den Krieg unmöglich macht dadurch, dass man keine Munition herstellt. Hier zeigt sich klar, dass diese Forderung nur dazu dient, das Proletariat von der Erkenntnis der unerbittlichen Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bourgeoisie, des Krieges gegen den Krieg, abzuhalten. Wir müssen dabei in Rechnung stellen, dass man versuchen wird, die Belegschaften dieser Fabriken mit ,zuverlässigen' Elementen auszufüllen. Die Resolution hätte noch besonders hinweisen müssen auf die Wichtigkeit unserer Betriebszellenarbeit in diesen Fabriken, auf unsere Zellenzeitungen in diesen Betrieben... "
Als zweiter meldete sich ein amerikanischer Genosse.
In der Resolution sei die Tatsache nicht in Betracht gezogen, dass die amerikanische Polizei bereits gegen so genannte Verbrecher ausreichend von Gashandgranaten Gebrauch mache, dass man Gas in Gefängnissen gegen Meuterer verwende, ja dass man bereits Experimente angestellt habe, den elektrischen Hinrichtungsstuhl durch Gas zu ersetzen... Abgesehen aber davon, hätte man auch formulieren müssen, dass der Kampf gegen den imperialistischen Krieg eben gleichbedeutend ist mit dem Kampf um den Besitz der Produktionsmittel. Dass der Kern der Sache der Besitz der Produktionsmittel ist. Und dass das Entweder-Oder, Sozialismus oder Untergang in die Barbarei, in diesem Zusammenhang zur höchsten Aktualität gesteigert, plötzlich eine ganz neue schlagartige Beleuchtung erhält.
„Zweierlei scheint mir noch zu fehlen", fügte jetzt Genosse Morrow hinzu, „erstens, dass alle Kampfmittel und Kampfstoffe eben dadurch, dass sie uns bekannt sind, beweisen, dass sie von den einschlägigen Kreisen bereits längst aufgegeben sind, und dass wir im Ernstfall bei weitem schärfere und ausgiebigere Kampfstoffe erwarten haben... Und dann: dass man mit allen Mitteln dem Unfug entgegentreten muss, den zukünftigen Krieg utopisch durch allerlei phantastischen Schnickschnack wie Todesstrahlen und mechanische Polizeimänner zu verzerren, dadurch wird nur erreicht, dass auch das bereits wirklich Vorhandene angezweifelt wird und unsere ganze Kampagne sich leer läuft. Die Bourgeoisie allerdings hat das größte Interesse daran, diesen Dingen gegenüber die Methode der Camouflage anzuwenden, d. h. Dinge, die sie nicht mehr verschweigen kann, durch Kombination mit blödsinnigem Ulk als harmlos und als unwirklich darzustellen.  Das hätte meiner Meinung nach berücksichtigt werden müssen... "

Damit war die Debatte über die Resolution beendet.
Es wurde vorgeschlagen, als Kommentar zur Resolution zwei ausführliche Artikel anzufügen, der eine mit dem Titel: „Der zukünftige Krieg und die chemische Industrie der Welt", der andere: „Die chemische Waffe im kommenden Krieg!" Diese Arbeiten sollten möglichst knapp gehalten, mit überzeugendem Tatsachenmaterial versehen sein und so präzis wie nur möglich formuliert werden. Mit der Ausarbeitung wurden die Genossen Frank Morrow und Thomas Butler beauftragt.

 

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Die Ereignisse überstürzen sich.
Mancher der besten Kommunisten hatte das Tempo falsch eingeschätzt.
Die Kriegsgefahr springt wie eine Springflut die Völker an...
Die großen amerikanischen Flottenmanöver im Stillen Ozean begannen. Eine gewaltige militärische Demonstration gegen Japan...
Sieben Monate lang sind die verschiedenen Schiffseinheiten unterwegs.

Pearl Harbor auf Hawaii:
zwölf Schlachtkreuzer, sechs Kreuzer, sechsundfünfzig Zerstörer, sechs Unterseeboote, ein Geschwader Flugzeuge, zwei Flugzeugmutterschiffe: sind zum Angriff angesetzt.
Minengürtel, mit Unterseebooten verseuchte Zonen sperren Hawaii ab. Ein einziger Feuer und Eisen speiender Krater ist Hawaii...

Je näher die Kriegsgefahr heranrückt, desto energischer betreiben die einzelnen Regierungen die Kommunistenverfolgungen. Die Revolutionsgefahr wächst. Alle kommunistischen Sektionen sind schon in die Illegalität gedrängt. Kommunistengesetz, Geheimerlasse zur Bekämpfung unruhiger Elemente durchwirbeln die Länder. Die Parlamente heben rücksichtslos die Immunität der kommunistischen Abgeordneten auf. Die Demokraten regieren nur wackelnd noch auf den Krückstöcken rigorosester Ausnahmegesetze... Überall drängen die ausgebeuteten Volksmassen vor. Die Sozialdemokratien aller Länder spalten sich...
Der Völkerbund beschäftigt sich mit der kommunistischen Gefahr.
Ob ein „heiliger Krieg" gegen Sowjetrussland noch einmal die durch die verschiedensten Interessengegensätze zersplitterten Kapitalisten aller Länder zusammenzwingt? Man ist willens, die Austragung der Konflikte unter sich bis nach der Niederringung der „Roten Gefahr" aufzuschieben.
Der Vernichtungskampf gegen die Kommunisten wird im Weltmaßstab organisiert.
Die Regierungen haben die Kommunisten offen außerhalb des Gesetzes gestellt, sind entschlossen, ihre Organisationen wie Ratten auszurotten. Armee, Polizei, Miliz, Gruppen von Reserveoffizieren spüren alle bekannten Kommunisten auf und ermorden sie...

In New York findet der Hochverratsprozess gegen Mary Green und fünfundzwanzig Genossen statt. Den Angeklagten wird zur Last gelegt, Giftgase fabriziert zu haben, Cholerabazillen und Giftbakterien mit Hilfe bestochener Chemiker und Ärzte hergestellt zu haben in solchen Mengen, um über Nacht halb Amerika damit zu vergiften. Drei Giftmorde seien bereits auf Konto dieser Organisation zu setzen, weitere Attentate u. a. auf Morgan, Ford usw. seien geplant gewesen, umfangreiche Waffenlager mit Toluol, Dynamit, Nitroglyzerin usw. habe man entdeckt, sogar ausgedehnte Materiallager zur Herstellung von Bombenflugzeugen. Einzig und allein den mit einer Beamtenkorruptionsaffäre in Zusammenhang stehenden Ankaufsversuch von Unterseebooten zwecks In-die-Luft-Sprengung der amerikanischen Hochseeflotte bezog der Oberstaatsanwalt nicht in seine Anklagerede ein.
Der eigentliche Träger dieser riesigen und nach allen derartigen Prozessen eigentlich reichlich banal erscheinenden Komödie war ein außerordentlich gut funktionierender Spitzelapparat. Die Angeklagten wurden glatt der ihnen zur Last gelegten Verbrechen überführt. Jede Lücke der Beweisführung war restlos geschlossen.
Verteidiger waren gewaltsam aus dem Sitzungssaal entfernt. Den Angeklagten wird das Schlusswort entzogen...
Die Zeitungen heulen. Stoßen Warnungssignale aus. Der Tag der Urteilsverkündung naht...

Man traut seinen Ohren nicht, man liest die Überschriften der Extrablätter einige Male: „Mary Green und drei Genossen sind zum Tode verurteilt."
Schon eine halbe Stunde darauf kommt es zu Zusammenstößen mit der Arbeiterschaft.
Am Abend wird der Generalstreik verkündet.
Ganz Amerika ist plötzlich ein riesiges Grab. Die Menschen gehen leis wie auf den Fußspitzen.
„Jetzt nur nicht nachgeben! Durchbrechen!" feixt das Gericht. „Man wird es uns sonst als Schwäche auslegen ... "
Die Armee und die Flotte sind mobilisiert. Die Luftstreitkräfte versehen zunächst noch den Aufklärungsdienst.
Amerikas Lunge atmet nur mit Viertel Kraft. Schlaff hängen die Muskeln herunter.

Manche äußern: „Man hätte sie nicht zum Tode verurteilen sollen... Man soll keine Märtyrer schaf-
fen... So erledigen... geschickt... Das stürzt uns
in zu große Unkosten..."

An Sing Sing ist nicht heranzukommen. Schwere MGs funken in die Menschenmassen hinein...
Während draußen die Kugelspritzen knattern, wird Mary Green mitgeteilt, dass morgen früh fünf Uhr das Urteil vollstreckt wird.
Sie zuckt zurück, einen Augenblick... fern verrauschen die Salven.

Es ist fünf Uhr früh.
Mary Green wird einen langen zementgemauerten Korridor entlang in das „Todeskabinett" geführt. Sie singt mit leiser Stimme.
Sie hört fern, fern, ganz fern als Antwort: „Wacht auf..."
Eine zweite Stimme — Eine dritte —
Die fernen Stimmen werden zum fernen Chor. Der ferne Chor wird zum Massengesang. Der Massengesang zum Orkan.
Mary Greens Blick sieht starr in die Ferne: Gewaltige Zeiten dröhnen heran, in denen der Mensch das Letzte, was er zu handeln und zu erdulden fähig sein wird, aus sich auspressen wird. Groß und opferreich wie noch keine wird diese Zeit sein; grausam, niedrig und erbärmlich aber zugleich. Diese Zeit donnert, rast, knattert dahin, ein reißender Feuerstrom. Die Menschen: gestaltgewordene Leidensbrände, entzünden sich an sich selbst. Das Gewölbe des Himmels schmilzt und tropft flüssiges Feuer, die Erde schäumt, wird Lava und fließt über die Horizonte ab.
Und alle diese Menschen werden namenlos sein, tragen nur das Zeichen ihrer Klassenzugehörigkeit an sich. Es gibt kein Menschendasein außerhalb der Klasse mehr. Alles fühlt, denkt, ringt sich der Klasse zu, kämpft sich bis ins Klasseninnere hinein, kämpft auf Leben und Tod um das Wesentliche, um den Klassenkern.
Das wird die Zeit sein, wo die Galgen und Hinrichtungsmaschinen wieder öffentlich mitten auf den Plätzen der Städte errichtet werden. Von allen Seiten hupen die herrschaftlichen Automobile herbei. Die Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft sind zahlreich vertreten. So viel Blut aber auf der Erde gibt es nicht, dass je sie ihren Blutdurst stillen könnten... Sie sind mit Operngläsern und photographischen Apparaten versehen, es ist, als wohnten sie einem großen Sportereignis bei. Auf dem Platz der Hinrichtung sind Reihen von Filmapparaten aufgestellt. O die einst so friedliebende Bourgeoisie: sie schwelgt heute in Orgien von Blutrache und sadistischen Gräueln ohne Maßen.
Die Polizeichefs werden nicht mehr für die Zuchthäuser arbeiten, nicht mehr für Krüppelheime und Obdachlosenasyle, sondern für die Friedhöfe...
Das wird auch die Zeit sein der Wiederauferstehung der Folter.
Mit schweren eisernen Ketten wird man die Leiber der Gefangenen umschmieden. Das Schlagen mit Gummiknüppeln, das Aufreißen der Fingernägel, Einschlagen von Nägeln in die Füße, Brechen der Körperteile und der Rippen: das wird keine allzu große Seltenheit mehr sein. Man wird die Gefangenen aus den Städten herausfahren, sie zwingen, ihre Gräber selbst zu schaufeln, sie bei lebendigem Leib begraben... Man wird nach raffiniert ausgeklügelten wissenschaftlichen Methoden die Qualen steigern, bis zum Wahnsinn des Gefolterten sie steigern und dann die Geständnisse, deren man bedarf, Protokoll um Protokoll auspressen.
Aber die Galgen reden eine Sprache, der Galgen, die Hinrichtungsmaschine, die Folter spricht...

Und der Galgen kreist.
Kreist um Europa.
Kreist durch alle fünf Weltteile...
In jeder Himmelsrichtung wächst riesengroß aus der Erde auf Galgen an Galgen.
Der Tisch unter ihm ist umgeworfen.
Der Leichnam an dem eingeseiften Hanfstrick, eine weiße Kapuze dem Kopf übergezogen, dreht sich jetzt langsam, schwingt hin und her wie ein Pendel...
Und die Leichname unter dem Galgen, die Galgen selbst sprechen:
Hört es! Und lernt daraus!
Kein Erbarmen gibt es im Bürgerkrieg.
Kein Erbarmen.
Wer den Klassenfeind nicht hart zu schlagen versteht, der wird von ihm vernichtet...
Sie oder wir...

Mary Greens Blick sieht starr in die Ferne, während ihr im Beisein eines Dutzend braver amerikanischer Bürger noch einmal das Todesurteil verlesen wird.
Vierzig wohlangesehene Bürger der Stadt New York nehmen an der Hinrichtung teil.
Es dauert insgesamt drei Minuten.
Schon ist sie auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt...
Spricht fest und in den ledernen Bandagen noch einmal ein wenig sich aufrichtend:
„Lenin ist tot.
Der Leninismus lebt.
Lenin lebt.
Wir in ihm.
Er in uns...
Es lebe die Welt-Re..."
Sie bricht mitten im Wort ab.
Drei amerikanische Untertanen stehen hinter einem Schirm. Jeder drückt auf einen Kontaktknopf. Nur einer aber löst den tödlichen Strom aus...

Wo ein Polizist in den Arbeitervierteln sich noch sehen lässt, wird er abgeknallt. Jetzt gilt das Gesetz der Klassenrache...
Drei oder vier Zeitungen können noch arbeiten. Sie sind von Regierungstruppen besetzt. Streikbrecherkompagnien sind dorthin beordert.
Die Presse kläfft: „Ende der Giftmörderin." Bazillenmärchen und abenteuerliche Gaslegenden werden von neuem aufgetischt. Der Glaube daran aber ist im Volk Amerikas schon bedeutend erschüttert...
Und Japan horcht nach Amerika hinüber mit gespannten Ohren.
Der japanische Kriegsrat hat die Mobilisation angeordnet.
Die Bankiers Amerikas erstarren. Es sind Menschenmasken, blutleer, wie gehauen aus Granit.
„Das ist das Weltende... Das ist Amerikas Untergang..."
Die Regierung ruft auf:
Amerikaner!  Wahrt eure heiligsten  Güter!  Der äußere Feind... Lasst für die Zeit des Verteidigungskrieges gegen die gelbe Gefahr euere inneren Zerwürfnisse schweigen... Regierungswechsel... Die neue Regierung ist bereit... Das Gesamtwohl der Nation erheischt... Auf zu den Waffen..." Die Geistlichen versuchten es im Auftrag der neuebildeten Regierung von den Kanzeln herab: „Auf! Söhne Amerikas! Dem Feind das Bajonett zwischen die Rippen gerannt! Im Namen Gottes... "
Die Antwort der amerikanischen Arbeiterschaft ist ein einziges Kopfschütteln. Der Generalstreik geht weiter ...

 

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In der Arbeiterpresse der ganzen Welt erscheint jetzt folgender Artikel:

Die chemische Waffe im kommenden Krieg

1. Gaskrieg und Luftkrieg

Das Gaskampfmittel wird erst durch das Flugzeug zu der furchtbaren Kriegswaffe. Flugzeug und Gaskampfmittel bilden zusammen eine Einheit, die ausschlaggebend für die völlige Veränderung der Kriegstaktik und Strategie ist.
Das Wesentliche dabei ist die Aufhebung der Front, damit auch die Aufhebung des Hinterlandes. Das Hinterland wird zur Front.
Sehr deutlich und offen sprechen die Generäle aller
Staaten es aus, dass das Hauptziel, das Angriffsobjekt des nächsten Krieges nicht mehr so sehr die Front, d.h. die sich vorwärts und rückwärts bewegende bzw. stillstehende Linie der feindlichen Armee, ist, sondern dass vielmehr die Hauptangriffspunkte die Großstädte, die Industriewerkstätten usw. sind, also dass das Hauptgewicht auf die Vernichtung gerade jener Teile des Proletariats gelegt wird, die in den Produktionsstätten des Krieges beschäftigt sind, d. h. bei der neuen Form der Armeen, der größte Teil des Proletariats. Hier zeigt sich bereits der Grundzug der veränderten Kriegstechnik. Die Anwendung des Gaskrieges, des Flugzeugkrieges bedingen eine kleine Armee von Spezialisten, mit anderen Worten: im Zusammenhang mit der Entwicklung des Klassenbewusstseins des Proletariats tritt immer stärker die Trennung des Proletariats von der Waffe ein.
Die Luftwaffe ist außerordentlich stark vermehrt worden.
Die französische Heeresluftflotte zum Beispiel verfügt über etwa fünftausend Flugzeuge, davon sind dreitausend startbereit. Zur Zeit produziert Frankreich hundertfünfzig Flugzeuge monatlich. Man spricht vom Flugzeug nur noch als von einem fliegenden Geschütz, vom Gas als von mikroskopischen Geschossen. Die französische Industrie ist auf Grund der fortschreitenden Normungstendenzen so organisiert, dass im Ernstfall stündlich je ein Flugzeug hergestellt werden kann... Auf eine besondere Verwendung der Flugzeuge ist insbesondere aufmerksam zu machen: das ist der Bau von Spezialflugzeugen für Gasverwendung, bei denen vermittels von in einem Röhrensystem angebrachten Düsen Gas auf die Erde gestreut wird. Durch die starke Abkühlung
infolge des Ausströmens kühlen sich das Gas und die fein verteilten Flüssigkeitspartikelchen stark ab und senken sich wie ein feiner Nebel, wie Tau — daher auch der Name „Tau des Todes" — mit großer Schnelligkeit auf die Erde. Bei Versuchen im Jahre 1922 auf dem Schießplatz in Aberdeen in den Vereinigten Staaten wurde eine unschädliche aromatische Flüssigkeit durch einen derartig gebauten Flieger herabgestreut. In weniger als einer Minute war der Geruch deutlich auf einer Fläche von über fünfzigtausend Quadratmetern wahrnehmbar. Es sei noch darauf hingewiesen, dass seit langem bereits erfolgreich die Flugzeuge ohne Führer von der Erde aus gelenkt werden können. So berichtet bereits am 15. November 1923 die „Revue d'Artillerie" von erfolgreichen Versuchen mit automatischen Flugzeugen, die auf Entfernungen von zwanzig Kilometern ganz sicher, ohne Eingriffe des Passagiers, durch funkentelegraphische Lenkung geführt wurden.

2. Die Giftgasstoffe

Über die Giftgasstoffe selbst bewahren natürlich die einzelnen imperialistischen Mächte völliges Stillschweigen. Die Wirkung eines Gasstoffes, der bekannt ist, wird dadurch entweder stark herabgesetzt oder überhaupt wertlos gemacht. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass zu Beginn des nächsten Krieges oder in seinem Verlauf gänzlich neue Gasstoffe von bisher unbekannter Wirkung auftauchen. Das „Idealgas", nach dem die einzelnen imperialistischen Gruppen suchen, ist ein Gas, das durch keinen Sinn wahrgenommen wird, Gasmasken völlig durchtränkt, sofort tödlich wirkt und außerdem den Körper auch von außen her angreift. Diese „idealen"
Bedingungen hat man gespalten und beschäftigt sich vor allen Dingen nunmehr mit der Suche nach zwei Richtungen hin: dem geruch- und geschmacklosen Gas, das absolut tödlich wirkt, und dem auch tödlichen Gas, das außerdem noch den Körper angreift. Das „Idealgas" für die erste Richtung ist das Kohlenstoffmonoxyd (CO), das bei der unvollständigen Verbrennung von Kohle entsteht. Dieses Gas ist absolut tödlich. Es scheint, dass es den Amerikanern gelungen ist, dieses Gas als Kriegswaffe zu verwenden.
Das zweite Gas, das außerordentlich stark auf die Haut wirkt, ist das Yperite (Senfgas) und das Levisite. Wahrscheinlich sind beide Sorten längst überholt, aber die neuen Mittel liegen in ähnlicher Richtung.
Yperite und Levisite oder die ihnen ähnlichen Gase werden sich insbesondere in zerstörender Gewalt auswirken, wenn sie, was ohne Zweifel steht, auf die Industriezentren angewandt werden. War das Bewegen während des Krieges 1914 bis 1918 in durch Yperite vergasten Gebieten nur möglich, wenn man außer der Gasmaske noch eine besondere undurchdringliche Schutzkleidung trug, so mag man sich selbst die Wirkung dort vorstellen, wo in dicht gedrängten Haufen, in Proletariervierteln, in Fabriken, die Menschen leben, ohne dass sie mit den geringsten Schutzmitteln ausgerüstet wären. Da gleichzeitig eine Rettung aus den vergasten Gebieten unmöglich sein wird durch die ungeheure Ausdehnung des vergasten Raumes, so liegt offensichtlich die Vernichtung eines großen Teiles des Proletariats als zwangsläufige Folge vor.

3. Giftgase und chemische Industrie

Besonders wichtig bei der modernen Gastechnik ist, dass alle diese schweren Giftstoffe Abkömmlinge der Farbindustrie beziehungsweise der Heilmittelindustrie
sind Es handelt sich daher für die einzelnen Länder nicht so sehr darum, einen möglichst großen Vorrat aufzuspeichern, sondern es geht bei den einzelnen imperialistischen Gruppen um die möglichst hohe Steigerung der Produktionsmöglichkeit. Wir haben infolgedessen eine außerordentlich starke Entwicklung der chemischen Industrie, die natürlich hohe Profite einheimst, hohe Unterstützungen vom Staate erhält. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel gab es 1914 sieben chemische Fabriken. 1918: hundertachtzehn mit einem Kapital von zweihundert Millionen Dollar. Die Gesamtfarbenproduktion belief sich in den Vereinigten Staaten 1914 auf 6,6 Millionen Pfund, 1922 auf 64,6 Millionen, 1923 auf 93,7 Millionen, so dass die Farbenproduktion in den neun Jahren auf mehr als das vierzehnfache gestiegen ist. Gegen eine Einfuhr von sechsundvierzig Millionen Pfund im Jahre 1913 wurden 1923 lediglich drei Millionen eingeführt, dagegen 17,9 Millionen ausgeführt. In dem Zolltarif sind außerordentlich hohe Zollsätze für Farben festgelegt worden. Während England 1913 etwa vierzehn Prozent seines Bedarfs selbst produzierte, stellt es nach einem Bericht des Handelsamtes in Washington gegenwärtig achtzig Prozent seines Verbrauches selbst her. Die englische Regierung hat sich verpflichtet, ein Sechstel der Produktion selbst zu übernehmen. Die französische Produktion ist noch stärker gestiegen. Während Frankreich noch 1920 sechsundvierzig Prozent seines Verbrauchs einführte, ist diese Ein-
fuhr im ersten Halbjahr 1924 auf fünf Prozent zurück gegangen. Die Produktion hat sich demzufolge in diesen vier Jahren verdoppelt. Während Frankreich 1920 noch siebentausend Tonnen jährlich produzierte, produziert es im ersten Halbjahr 1924 bereits achttausend Tonnen. Die Entwicklung in anderen Ländern ist ganz ähnlich.
Diese schnelle Entwicklung der Farbenindustrie hat zur Ursache, dass die meisten Gasstoffe entweder Zwischenprodukte von Farbstoffen sind oder dass die Farbstoffe (und Heilmittel) Ausgangspunkt für die Gasmittel sind. So haben die Arsine, also die Reihe der Levisite usw., das gleiche Ausgangsprodukt wie das Salvarsan. Yperite und auch der andere Gasstoff, die Levisite, haben ein gleiches Zwischenprodukt wie das vielgebrauchte Indigo. Das Phosgen und die Tränengase haben gleiche Zwischenprodukte wie die hellroten, blauen und violetten Farben. Die Pikrinsäure, Ausgangspunkt einer Reihe von giftigen Farben, ebenso wie sie in der Sprengtechnik angewandt wird, ergibt durch einfache Chlorierung das sehr schädlich wirkende Chlorpikrin. Aus dem Anilin werden gleichzeitig Yperite, verschiedene Anilinfarben und Heilmittel hergestellt.

4. Giftgase und Proletariat

Damit zeigt sich ein weiterer wesentlicher Zug des Gaskampfes. Das Proletariat, das früher Panzerplatten, Kanonen, Sprengstoffe, Munition herstellte, kannte genau den Zweck der Fabrikation. Im Zeitalter des Giftgaskrieges weiß der Arbeiter in der Fabrik nicht mehr, ob er ein harmloses Heilmittel, irgendeine Farbe oder ein äußerst gefährliches Giftgas herstellt.
Hier enthüllt sich mit voller Schärfe die konterrevolutionäre Forderung der Zweiten Internationale, dass man bei Kriegsausbruch den Krieg einfach unmöglich mache dadurch, dass man keine Munition herstellt. Hier zeigt sich klar, dass diese Forderung nur dazu dient, das Proletariat von der Erkenntnis der unerbittlichen Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bourgeoisie, des „Krieg dem Kriege", abzuhalten.
Der nächste Krieg wird in der Hauptsache geführt werden gegen die großen Städte und gegen die Industriezentren. Das Proletariat ist in seiner Masse im nächsten Krieg an die Produktionsstätten gebunden. Der Hauptangriff richtet sich gegen die Produktionswerkstätten, die verschärfte Bedeutung haben, da es in diesem nächsten Krieg auf die dauernde Produktion der Giftstoffe und der Flugzeuge ankommt.
Der nächste Krieg wird geführt werden von einer vom Proletariat losgelösten Spezialistengruppe mit Waffen, bei deren Produktion der Arbeiter nicht weiß, dass er Waffen herstellt. So erscheint das Proletariat zunächst getrennt und losgelöst von der Waffe, aber in weit höherem Maß ist die Waffe wiederum dadurch in seine Hand gegeben, dass das Proletariat an den Stätten der Produktion von Kriegsmitteln, die eine weit höhere Bedeutung gewinnen, in starkem Maß konzentriert ist. Damit wird die einzige Möglichkeit für das Proletariat, diesem kommenden Krieg zu begegnen oder ihn zu beendigen, klar sichtbar: nur wenn es die Leitung der Produktion in den Händen hat, nur wenn es den Betrieb besitzt, kann es die Produktion der Kriegsmittel verhindern. Daher wird mit erhöhter Notwendigkeit die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaft in die proletarische vorzunehmen sein. Dies kann nur geschehen dadurch, dass die
Bourgeoisie gestürzt und das Proletariat die Leitung der Produktion, die Macht überhaupt übernimmt. So verlangt die moderne Kriegführung ihre schleunigste Beendigung durch die Umwandlung des Krieges in einen Krieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie zu ihrem Sturze. Diese Kriegführung verlangt schon vorher die Vorbereitung des Kampfes des Proletariats.

Die Proletarier wussten nun, woran sie waren. „Das also hätten wir von diesem Menschen-Kehricht zu erwarten gehabt. Pfui Teufel!..." Überallhin flatterten die Flugblätter. Die Regierungen setzten Kopfprämien aus. Hilft nichts.
Das Geheimnis des kommenden Kriegs war enthüllt. Es war eine schreckliche Bewusstwerdung.
„Wer ist nun der wirkliche Giftgasfabrikant!? Wer ist der Bazillenmassenmörder nun in Wirklichkeit?..
Millionen knirschten vor Wut...
„Wie steht's in Edgewood!? Können wir uns auf die Mannschaften der Bombenflugzeuggeschwader verlassen!? Sind die Arsenale in Ordnung!?"

Die Nachrichten lauteten unbestimmt.
Die Krise zog sich enger wie ein Strick um die Hälse der Finanzmagnaten zusammen. Man hatte Verdauungs- und Schluckbeschwerden. Viele Hebel am Regierungsapparat funktionierten schon nicht mehr. Von vielen Stellen blieb die Antwort aus. Eine rote Zelle ist in der Armee, hieß es. Die Panik fieberte empor. GBRO. Was ist GBRO? Geheimbund revolutionärer Offiziere... Den reaktionären Gewerkschaftsführern entglitt nun völlig die Bewegung...
Mechanische Armeen ließ die Regierung aufmarschieren: Bataillone schwerer Tanks, Bataillone mittlerer Tanks, Brigaden mechanischer Artillerie, schwere MG-
Kompanien... . Man verließ sich auf die niederschmetternde psychologische Wirkung. Vergebens.
Die Arbeiterschaft steht Gewehr bei Fuß. Wir sind gerüstet.
Wir sind bereit, die Feuerprobe zu bestehen... Wir warten nur auf das Angriffssignal. Die Stellungen des Gegners sind genau bekannt. Es gibt kein Verhandeln mehr.
Nun ist es klar: „Die Frage, die die geschichtliche Situation dem Proletariat stellt, ist nicht die Wahl zwischen Krieg und Frieden, sondern zwischen imperialistischem Krieg und Krieg gegen diesen Krieg..."
Wie bewegungslos ist in diesem Augenblick Amerika! Einige Muskelbänder nur spielen an ihm noch, wie im Starrkrampf.
„Nieder mit dem Menschenschlachthaus!" gellt jubelnd eine Stimme.
„Für heute und für immer!"
Millionen Augen zucken nach oben.
„Werden sie es wagen... Schicken sie uns die Flieger... Und..."
„Und..."
„Werden die Unseren in Edgewood ihre Pflicht tun..." Kein Laut.
Die Stadt ist wie vergletschert... Da...
Dort stürzen sich schon im Sturmschritt Arbeiterbataillone über den Platz.
„Sprung auf! Marsch! Marsch!" „Wir haben mehr zu verlieren als nur unsere Ketten: wir haben die Zukunft der Welt zu verlieren!" Vorwärts! Auf drum! Los! Es kann beginnen!

 

Sechstes Kapitel

DER ERSTE MAI

Ein Brief. — Sonne über Schweizer Bergen. „Gebt uns eine Partei!" Der Erste Mai: ein Welt-Kampftag! Aufmarsch der Vaterländischen Verbände. Rote Gegendemonstration.
Provokateure an der Arbeit. — Ein Blutbad. Am Abend des Ersten Mai.

1

Als Peter spät nachts nach Hause kam, fand er von seiner Mutter einen Brief vor.
„Mein Lieber! Auf Deinen ausführlichen Brief will ich Dir antworten, indem ich Dir den folgenden Ausschnitt aus einer Zeitung schicke, die ich jetzt täglich lese. Diese Schilderung stammt von Eugen Leviné, wie Du weißt, vom Münchener Standgericht zum Tode verurteilt und erschossen. Dieser Bericht ist auch meine Antwort auf Deinen Brief. Ich bin glücklich über Dich, Peter, Du hast den richtigen Weg gefunden. Nun, nimm und lies!"

Und Peter las:
„Der Wind heult. In der kleinen Petroleumlampe flackert die Flamme, züngelt hin und her, biegt sich und beugt sich. Phantastisch tanzt der Schatten des Teekessels an den runden Wänden der Turmzelle. Auf der harten Pritsche liege ich, fest gehüllt in meinen Pelz, und lausche dem Liede des Windes. In den verrosteten Angeln knarrt das Fenster und ächzt. Die kleine Ratte, die mir sonst Gesellschaft leistet, graziös über den Tisch läuft
und hin und her huscht, wagt sich heute aus dem Loch nicht heraus. Ganz allein bin ich heute. Starre zur Decke. Lasse müde den Blick über die Wände gleiten. Alles so bekannt. Die Namen an den Wänden. Kommentare der Nachfolger: ,Ab nach dem Zuchthaus zu Smolensk, ,Hingerichtet in Wilna'... Und daneben immer und immer wieder: ,Es lebe der Kampf', ,Es lebe die Revolution'.
Der Wind heult, und wieder flackert das Licht in der Lampe, wieder tanzen phantastische Schatten. Immer fester hülle ich mich in den Pelz, den sie mir gelassen haben. Es ist kalt in der Turmzelle. Schon ermüden die Augen und fallen langsam zu. Da plötzlich fahre ich auf. Draußen auf der eisernen Treppe höre ich Schritte und Kettengeklirr, Stimmen und Kommandorufe. Sie nahen in der Richtung meiner Zelle. Unter mir verstummen sie. Dumpf dröhnend fällt in der unteren Turmzelle die eisenbeschlagene Tür ins Schloss. Wieder Stimmengewirr und stampfende Schritte. Dann wieder Stille.
Nur der Wind heult. Der Fensterrahmen knarrt, die Flamme in der Lampe züngelt und flackert, und phantastisch tanzen die Schatten.
Ich lausche angestrengt. In die Zelle unter mir haben sie einen ,Neuen' gebracht. Wer ist es? Ein Fremder, ein Freund? Ein Genosse oder Krimineller? Was droht ihm? Der Galgen? Oder bloß Kerker? Ich lausche. Wird er nicht klopfen? Nicht seinen Namen nennen? Nein, es bleibt still. Nur der Wind singt sein Lied.
Ich lege das Ohr an die Wand — alles still. Kein Laut.
Vielleicht weiß er nicht, dass jemand über ihm sitzt. Ich nehme den Metallbecher und klopfe leise an die Wand: ta ta — tatatatatatatatata — tatata — leise, rhythmisch. ,Kto wy
?' - Wer seid ihr?' Aber ich komme
nicht zu Ende. An der Tür ein leises, schleichendes Geräusch. Schnell ist der Becher versteckt. Ich liege auf dem Rücken, mit verschränkten Armen, mit künstlich gleichgültigem Gesicht. Ich schaue nach dem Guckloch an der Tür. Ein entzündetes Auge richtet seinen Blick auf mich. Ich erwidere den Blick und fühle, wie etwas Feindseliges wider meinen Willen aus meinem Auge spricht. Da wird das Guckloch wieder geschlossen, und an Stelle des Auges grinst hinter der kleinen Öffnung die dunkle Metallplatte.
Nun bin ich wieder allein. Mit dem Klopfen ist es heute Nacht zu Ende. Sonst werde ich angezeigt.
Übrigens scheint der Neue das Klopfen nicht zu verstehen. Morgen muss ich versuchen, ihm das Klopfalphabet zuzustellen. Durch wen? Ich überlege. Denke an verschiedene Kriminelle, die Zutritt zum unteren Korridor haben. Am einfachsten wäre es ja, den Brief durchs Fenster an einem Strick hinabzulassen. Doch das ist gefährlich. Die Posten haben Befehl, zu feuern, sobald sich jemand am Fenster zeigt. Ich werde mit Butkewitsch sprechen. Der hat als Putzer zu allen Zellen unseres Korridors Zutritt. Vielleicht kann er mir helfen. Es eilt ja auch nicht. Morgen wird sich schon ein Weg finden. Ich schließe die Augen und versuche zu schlafen. Lange höre ich noch das Knarren des Fensters, lange höre ich noch das Heulen des Windes... Dann aber allmählich legt sich bleierne Müdigkeit wie ein Reifen um die Stirn, und ich schlafe ein...
Langsam dreht sich der Schlüssel im Türschloss. Einmal, zweimal. Knarrend geht die Tür auf. Ekelhafter Geruch von Dutzenden von Paraschas (Eimern) schlägt vom Korridor in die Turmzelle. Ich öffne die Augen. Es dämmert kaum. Gähnend steht der Wärter in der Tür,
nestelt am Gurt, steckt den Revolver zurecht. ,Guten Morgen', ,Guten Morgen'. Klappernd mit den Holzpantoffeln auf dem steinernen Boden, klirrend mit den eisernen Ketten, läuft Butkewitsch, der Korridorputzer, hin und her. ,Guten Morgen.' — Er läuft ans Fenster, reißt es auf, und kühlend netzt die frische Morgenluft mir das Gesicht. Ich wende den Kopf zum Fenster, atme in vollen Zügen die Luft ein. Da gewahre ich im fahlen Morgenlicht auf dem Fensterbrett etwas Weißes: einen kleinen Zettel. Schnell sehe ich weg, damit der Wärter nicht der Richtung meines Blickes folgt. Doch er hat nichts gemerkt. Noch immer macht er sich gähnend am Revolver zu schaffen. Wieder klirren die Ketten und klappern die Pantoffeln: Butkewitsch bringt die leere Parascha. Schnell wechseln wir einen Blick des Einverständnisses. Dann nimmt er die leergebrannte Lampe vom Tisch, und die Tür fällt dröhnend ins Schloss. Zweimal dreht sich der Schlüssel. Ich bin wieder allein.
Einen Blick aufs Guckloch in der Tür: Nein, niemand. Ich nehme den Zettel vom Fenster. Ich erkenne die Handschrift, ein Genosse vom unteren Korridor schreibt mir: ,Genosse! Gestern Nacht hat man einen Neuen gebracht. Du kennst ihn nicht. Er sitzt unter Dir im Turm. Morgen wird er zur Hinrichtung transportiert. In unserer Zelle sitzen seine Freunde. Sie wollen ihm einen letzten Gruß senden. Jede Verbindung mit seiner Zelle im unteren Korridor ist abgeschnitten. Versuche den beiliegenden Zettel zu ihm zu schaffen. Es sind letzte Abschiedsgrüße. Dank im voraus... '
Den ganzen Vormittag gehe ich in meiner Zelle auf und ab und überlege. Unten ist die Verbindung mit ihm abgeschnitten. Es gibt nur ein einziges Mittel: Ich muss ihm den Brief durchs Fenster zustellen...
Als ich um zwölf das Mittagessen in Empfang nehme, raune ich Butkewitsch zu: ,Das Telefon!' Er nickt. Eine halbe Stunde später bringt er heißes Wasser für den Tee. Der Wärter bleibt in der Tür stehen. Butkewitsch
macht sich am Tisch zu schaffen. Der Wärter wird ärgerlich. ,Na, wird's bald?' Da beginnen zwei Kriminelle dem Korridor Streit. Absichtlich, um den Wärter abzulenken. Laut schallen die Schimpfworte. Der Wärter geht hinaus. ,Wollt ihr wohl Ruhe halten!' Butkewitsch benutzt den Augenblick, zieht unter seiner Jacke ein Bündel hervor, wirft es schnell unter meine Pritsche und geht auch hinaus. Auf dem Korridor ist es wieder ruhig, der Wärter kommt zurück, lässt seine Blicke prüfend durch die Zelle schweifen und geht dann auch hinaus. Die Tür fällt ins Schloss, wieder knarrt zweimal der Schlüssel, und wieder bin ich allein. Das ,Telefon' liegt unter der Pritsche: ein langer Strick aus Fetzen von Bettdecken zusammengesetzt. Der Zettel ist in einer Spalte der Wand versteckt. Ich muss warten. Ein dreifacher Ring umgibt das Gefängnis. Innen im Hof Gefängniswärter und Feldjäger, draußen, vor der Mauer, Schutzleute. Gerade vor meinem Fenster — ein Feldjäger. Er muss es sehen, wenn ich das ,Telefon' hinablasse. Doch ich habe Glück. Heute Abend soll ein Feldjäger auf Wache kommen, der mit uns heimlich sympathisiert. Der wird schon ein Auge zudrücken. Und die Außenposten werden es nicht so schnell merken. Ich habe alles für den Abend bereit. Schreibe ein Klopfalphabet mit Erläuterungen, damit der Genosse wenigstens die letzte Nacht mit mir sprechen kann. Vielleicht hat er letzte Wünsche zu übermitteln, letzte Grüße...
Es dämmert. Ich hocke auf dem Fensterbrett. Im Garten des Gefängnisdirektors, draußen, vor unserer Mauer,
rekeln sich die Schutzleute. Innen im Hofe, vor dem Fenster, steht der Feldjäger. Sieht er mich nicht? Will er mich nicht sehen?
Ich stecke die Hand zwischen die Gitterstäbe und lasse langsam das ,Telefon' hinab. Unten baumelt der Brief. Nach meiner Berechnung muss er jetzt vor seinem Fenster sein. Ich klopfe an die Wand, um den Genossen aufmerksam zu machen. Keine Antwort. Das Telefon baumelt im Winde. Vielleicht kann er es nicht greifen, weil es so hin und her geht. Ich ziehe das Telefon wieder herauf, beschwere es mit dem Metallbecher und lasse es hinab. Gerade gespannt hängt jetzt der Strick. Jetzt muss der Brief vor seinem Fenster sein. Ich klopfe mit dem Fuß auf den Boden, klopfe mit dem schweren Holzschemel. Laut. Er muss es hören. Aber unten bleibt alles still. Keine Hand greift nach dem Brief.
Der Feldjäger wird unruhig. Er winkt mir und macht mir ein Zeichen. Ich soll aufhören. Ich beachte es nicht. Die Schutzleute an der Außenmauer haben es auch bemerkt. Laut tönen ihre Stimmen. ,Hundesohn! — mach, dass du fortkommst vom Fenster!'
Jetzt gilt es. Länger kann ich nicht bleiben. Gesehen hat man mich ja doch schon. Ich presse das Gesicht an die Gitterstäbe und rufe: ,Genosse! Genosse! Warum nehmen Sie den Brief nicht?' — ,Hundesohn! Wird's bald? Wir schießen!' Und schon greifen sie nach den Gewehren. Ich lausche — noch einen Augenblick, sonst ist es zu spät. Da dringt eine Stimme von unten herauf, stammelnd und klagend, leise und kraftlos, so leise, dass ich das Gehör anstrengen muss, um zu hören: ,Genosse... . Ich kann... den Brief... nicht... nehmen. Beim Verhör... hat man... mir . . . beide Arme... gebrochen. Genosse... leb wohl...' Leise
und klagend tönt die Stimme und bricht plötzlich ab.
Ein wütendes Winken des Feldjägers; die Schutzleute vor der Mauer haben schon angelegt. Mit einem Ruck reiße ich das Telefon nach oben und lasse mich vom Fensterbrett gleiten, verstecke alles schnell unter der Pritsche, Es ist höchste Zeit gewesen. Aufgescheucht vom Lärm macht der Wärter auf dem Korridor seine Runde. Und jetzt schaut sein Auge durchs Guckloch. Aber ich liege schon auf meiner Pritsche auf dem Rücken mit verschränkten Armen, und beruhigt geht er weiter...
Nachts, als es ganz still ist und draußen vor der Tür regelmäßiges Schnarchen ertönt, stehe ich auf und verbrenne alles: das Klopfalphabet, die Erläuterungen und die letzten Grüße.
Rußig züngelt die Flamme zur Lampe heraus, ergreift das Papier und leckt gierig daran. Ein Häufchen Asche fällt auf den Tisch. Der Wind heult; fährt zwischen den Fensterritzen hindurch, und die Aschestückchen flattern durch die Zelle: Das Alphabet, die Erläuterungen und die letzten Grüße.
Unten aber sitzt der, dem sie galten. Am Vorabend seiner Hinrichtung. Mit gebrochenen Armen. Und niemand, der ihm ein letztes Abschiedswort sagen könnte.
Der Wind heult. Unruhig flackert die Flamme. Phantastisch tanzen die Schatten. Am Fußboden bewegen sich zitternd Aschestückchen.
Ich liege wieder auf der Pritsche. Hülle mich fester in den Pelz. Fröstle trotzdem. Schließe krampfhaft die Augen, beiße die Zähne zusammen. Im Ohr klingt immer noch leise und klagend die stammelnde Stimme: Ich kann den Brief nicht nehmen, Genosse! Lebe wohl!"

Es ging gegen Morgen.
Peter las noch immer den Brief.
Dieser Brief soll eine Antwort sein... Sind denn auch ihr bei einer Voruntersuchung beide Arme gebrochen worden...? Aber sie war doch nicht verhaftet... oder sollte das ganz anders gemeint sein, so vielleicht, dass...
„Ja, so ist es!" Nun kannte er plötzlich die Bedeutung der Antwort.
Zehn Jahre solch eines „Zusammenlebens", das war ihre Voruntersuchung, und jetzt... Sie ist einfach ein körperlich und geistig gebrochener Mensch und kann nicht mehr.
Peter rieb sich den Schlaf aus den Augen und machte sich an seine Arbeit. —
Und wieder strahlte die Sonne auf. Früher war es: die Stadt erwachte. Jetzt wacht sie Tag und Nacht.
Alle Gegenstände ringsum — Kleider, Möbel, Häuser, Straßen, was es auch sei — sprechen laut und eindringlich im Frühlicht ihre stumme Sprache: Im Anfang war die Arbeit. Alle Waren, die heute produziert werden, sind geronnenes Menschenleid... Du kleidest dich in Blut und Tränen. Was du isst und trinkst: heißt Menschenschweiß, ist Menschenbitternis... Du schwebst nicht in der Luft. Der Grund, auf dem deine Füße stehen, was ist er anderes als eine Plattform gekrümmter Menschenrücken ... ?! Unsichtbar eingegraben ist in alles, was dich umgibt, die Rune der Not...
So, so ist es, und nicht anders. —

 

2

Zur gleichen Zeit ging auch über den Schweizer Bergen die Sonne auf. Groß, rot, schmetternd... Ein Horn blies. Die Kurgäste, in Pelze und Mäntel gehüllt traten aus ihren Appartements und Prachtzimmern auf die Veranden und die Balkone des Hotels „Rigikulm" hinaus, um den Sonnenaufgang zu bewundern.
Der Kurhaussaal unten wurde eben aufgeräumt, noch hingen Girlanden, Papierschlangen und bunte Lampions herum von dem Fest, das vorige Nacht zu Ehren der Ankunft der „Deutschen" gegeben worden war.
Es war ein wildes, ausgelassenes Fest, an nichts wurde gespart, es glich einem Karneval, alle Teilnehmer hatten sich phantastisch kostümiert. Es waren die letzten Deutschen, die über die Grenze gekommen waren, bevor diese endgültig abgesperrt wurde.
Auch der Landgerichtsdirektor Dr. Friedjung war unter ihnen.
Er fungierte in den letzten Jahren als Untersuchungsrichter und war durch einige bedeutende politische Prozesse allgemein bekannt geworden. Die Zuspitzung der inneren Verhältnisse in Deutschland ließ es für ihn geraten erscheinen, Deutschland zu verlassen. Seine vorgesetzte Behörde selbst riet ihm dazu. Er sollte sich im Ausland bereit halten, bis sich die weitere Entwicklung der Lage besser übersehen ließ.
Landgerichtsdirektor Dr. Friedjung, übernächtigt, den Mantel über, darunter noch im Maskenkostüm, stand, abseits von der übrigen Gesellschaft, am Rand der Felsen.
Der berühmte Hofopernsänger Eugen Garu, eine etwas fettlich geratene Siegfriedgestalt, sang eben zur Begrüßung der aufgegangenen Sonne eine italienische Arie. Als er mit einer geschwollenen Stimme endete, die wie der Bizeps eines Ringers klang oder wie Nackenspeck, klatschten die Zuhörer begeistert Beifall.
Es waren Politiker, hohe Beamte, Schauspieler, Tänzerinnen, Filmstars, auch Literaten, Professoren und ähnliche Kulturträger darunter.
Im gesamten neutralen Ausland schossen jetzt solche Kolonien deutscher Emigranten empor.

Der Landgerichtsdirektor klingelte in Gedanken. Wo bleibt heute nur der Gerichtsdiener mit der Aktenmappe!?
Dr. Friedjung war allein im Büro. Niemand war zur Stelle.
Die ganze Alpenwelt glühte jetzt...
Ein flammender Blutballon schwebte die Sonne am blaudunstigen Gewölb herauf.
Auch die Zeitungen bleiben aus...
Und er sah auf die Uhr. Der Zeiger stand. Das Uhrwerk war abgelaufen...
Sehr verehrter Herr Dr. Reuchlin! Ich habe die verzweifelte Ehre, Ihnen, leider Gottes, mitteilen zu müssen, auch meinerseits Vater eines Sohnes zu sein, der..., setzte der Landgerichtsdirektor in Gedanken auf und knüllte dabei hastig nervös in der Hosentasche seiner Maskenuniform an einem Brief herum, in dem ihm ein Kollege über die neueste Entwicklung Peters schrieb...
Verdammt!
Und sein ganzes Leben schrumpfte ihm plötzlich in einen Akt zusammen, Akt Heinrich Friedjung, er blätterte darin, dann schlug er die erste Seite auf und siehe
da, darauf stand: Versalien, Fraktur, wie früher „Im Namen des Volkes", „Verlustliste".
Namen standen der Reihe nach herunter, hinter jedem ein Kreuz.
Andere Namen, dahinter: 8 Jahre Zuchthaus, 17 Jahre Zuchthaus, 25 Jahre Zuchthaus, lebenslänglich... Er zählte zusammen: 15 Kreuze, 987 Jahre...

Wieder sang der Hofopernsänger.
Alle Kurgäste sangen im Chor: „Deutschland über
Auch zu Dr. Friedjung drang der Gesang.
Damit steh und falle ich... Herrlich weit haben wir's gebracht... Dahin also ist es jetzt gekommen...
Es wurde schon warm, die Sonne brannt und die Schminke lief ihm dick vom Gesicht.
Das Untersuchungsverfahren gegen Friedjung Heinrich ist abgeschlossen, hörte er jetzt sich selbst sprechen. Die Hauptverhandlung ist bereits eröffnet. Die Zeugenvernehmung ist beendet. Das Plädoyer des Staatsanwalts beginnt: Und so stelle ich hiermit den Antrag auf Zuerkennung einer Strafe in der Höhe des gesetzlich zulässigen Mindeststrafmaßes und beantrage demnach...
Mit den Händen schob sich der Angeklagte Dr. Friedjung in ein Gebüsch hinein, setzte sich auf einen Stein und lächelte.
Der Angeklagte hat das Schlusswort.
Meine Herren Richter! Der Angeklagte stand vom Stein auf. Eigelb ist nun die Sonne. Die Sonne: ein Dotter. Und wenn man von dieser Tatsache ausgehend den Weltraum sich als etwas Atmosphärisch-Gläsernes vorstellt, dann... Ei im Glas...
Weiter kam er in seiner Betrachtung nicht.
Jetzt beginnt er zu simulieren, bemerkte irgendwer im Zuhörerraum spöttisch.
Die Richter erschienen wieder nach einer Sekundenpause.
Alles erhob sich.
Das Gericht hat dem Antrag des Anklagevertreters stattgegeben und auf das gesetzlich zulässige Mindeststrafmaß erkannt, auf... Der Strafvollzug tritt sofort in Kraft.

Aus der Tasche, in der er an dem Brief herumgeknüllt hatte, zog der Landgerichtsdirektor die Pistole hervor.
Schwarzblau... Prima Stahlware... Wie ein kleiner Monteur siehst du ja aus... Bist mein Söhnchen vielleicht gar selbst, heißt am Ende noch Peter, und bist wohl nun schon auch inzwischen zum klassenbewussten Proleten geworden!?... Wie dem aber auch sein mag... Dein alter Vater ist dir nicht lange mehr gram dar­über... Musste ja so kommen... Kann auch gar nicht anders sein...
Nun traten plötzlich alle die von ihm Voruntersuchten auf ihn zu, alle sie, die er nur in der einzigen Absicht voruntersucht hatte, um sie dem Henker zu überantworten: Gehängte, Gefallbeilte, die in der Untersuchungshaft meuchlings Ermordeten, Kopfschüßler: Im Namen des Volkes! Bitte...
„...über a-alles in der Welt!" schloss vielstimmig, hoch tremolierend die Schar der Kurgäste.
Kreischend lachte der Landgerichtsdirektor auf.
Durch alle Räume hindurch, wie aus einem Megaphon, durch die ganze Welt schrie dieses Gelächter.
Dann drückte er ab.
Es tat wie ein die ganze Herzgegend tief durchdringender leichter Schlag mit der flachen Hand. —

 

3

Ein schluchtenartiges, von steilen Gefällen überschüttetes Gelände war diese Zeit.
Die Partei arbeitete sich hoch hinauf durch diese Zeit wie ein Traktor: die schwer keuchende Masse des Proletariats hinter ihm dumpf wie eine aus Fleisch, Eisen und Ruß geknetete Wolke.
Mit Blut, Tränen und Schweiß unlösbar ineinander verkittet, bewegte sich der Menschenmillionenknäuel der Ausgebeuteten daher. —

Die Partei war zu einer Kampfmaschine geworden.
Absolute Starrheit, Festigkeit, Sicherheit in allem Prinzipiellen, größte Biegsamkeit, Elastizität, Beweglichkeit, Manövrierfähigkeit in allem übrigen...
Jeder hatte seine Funktion. Der Hydra der Korruption wurde rücksichtslos Kopf um Kopf abgeschlagen...
Ein unermessliches Kampffeld war zu übersehen.
Die Fühler und Tastorgane der Partei reichten bis in den kleinsten Winkel hinein. Kein Verein, keine Vereinigung gab es ohne rote Zelle. Die Betriebszellen wuchsen, fraßen wie reißend Feuer um sich, die Proletariermassen wurden wieder glühend... Die Fabriken wurden die Kasernen der Arbeiter, wurden zu roten Kampfarsenalen, zu roten Bollwerken...
Die Sektionen der Komintern, eisern in sich gefügte, disziplinierte Organismen, krümmten und schlugen sich,
stießen vor, wichen aus, nahmen hier den Kampf mit dem Gegner auf, bissen und rissen sich durch, zogen dort sich zurück; an einer anderen Stelle wieder ließen sie es nur beim Geplänkel.
Millionenäugig war dieser Kampfkörper. Das Gehirn: ein einziger Erfahrungs-  und Willensapparat, über Millionen Muskeln, Arme, Herzen, Nervenbündel gebietend. Jede Schraube an diesem lebendigen Mechanismus war fest angezogen, jeder Teil bis auf den letzten Grad seiner Leistungsfähigkeit ausgenützt und gespannt...

Die Partei hatte aus ihren Fehlern und Niederlagen gelernt, im Kreuzfeuer der Verfolgungen und der Illegalität ward sie nur widerstandsfähiger und härter geschmiedet, jeder Prolet hatte seinen beträchtlichen Anteil an den tausendfachen Verbesserungen, die unter den erschwertesten Umständen in den letzten Jahren durchgeführt werden mussten. Voll Stolz, Zuversicht und mit unerschütterlichem Vertrauen sah er auf seine Partei, auf seine Kampfführung: ein gewaltiges, aus Proletarierherzblut gewachsenes Instrument, das exakt funktionierende Hebelwerkzeug der sozialen Revolution.
Das Proletariat war wieder auf sich selbst gestellt.
Das Proletariat glaubte wieder an sich selbst. —

 

4

Der Student Peter Friedjung und der Arbeiter Max Herse waren beinahe zu gleicher Zeit in die Partei eingetreten.
Lene arbeitete sogar seit einem halben Jahr schon in einer Parteistellung.
Peter verrichtete ganz selbstverständlich die Parteikleinarbeit wie jeder andere. So hatte er auch binnen kurzem das Misstrauen, das die Proleten zuerst ihm als einem Intellektuellen gegenüber hatten, überwunden. Man hatte ihn herzlich gern, er sprach immer nur ganz kurz in der Diskussion, aber alles, was er sagte, hatte Hand und Fuß und war nicht aus dem Abstrakten her oder aus dem Lichtblauen gesogen.
Zu berechtigt war dieses Misstrauen gegenüber den Intellektuellen, sah Peter immer mehr ein, die Intellektuellen sind zu schwach, zu beeinflussbar, treten häufig nur in die Partei ein, um dort unter einem anderen Vorzeichen die große Rolle zu spielen, und wenn man auf ihren verfluchten, meistens noch dazu eingebildeten Individualismus und ihre läppischen Eitelkeiten keine Rücksicht nimmt, dann ist es kaum mit ihnen auszuhalten. Immer heißt es da ihrem seelischen Differenzierungsquark Reverenz erweisen, die Empfindlichkeit ihrer feinen Seelenplatte ist aufs höchste übersteigert, und bestimmt ist mindestens jeder dritte in diesem Augenblick eine gekränkte Leberwurst. Aber für das alles ist kein Raum in einer bolschewistischen Partei. Man muss ihnen den Schädel ordentlich einboxen...
Unzuverlässig. Unpünktlich...
Mit solchen Menschen lässt sich eben rein schon gar nichts anfangen...

Da begann wieder einmal einer jener Menschenart mit Peter anzubinden, einer der an der Peripherie der Partei Herumwimmelnden, für gewöhnlich „Sympathisierender" genannt, einer, der in alles hineinschmeckte, von außen her sich alles zu beurteilen anmaßte, und zu dessen einträglichem Berufe es gehörte, alles, was es auch
sein mag, an der Partei zu bemäkeln. Ein Groß Nörgler, ein sympathisierender Gernegroß, einer, der die gesamte kommunistische Bewegung am liebsten zur Deckung seines Größenwahnbedarfs für alle Ewigkeit gepachtet hätte...  Ebenso, wie  er für sich selbst einen fanatischen Persönlichkeitskult beanspruchte, ebenso hinterhältig griff er mit Verleumdungen in der oder in jener Person die Gesamtpartei an, ging immer mit alarmierenden Gerüchten krebsen, trug jeder einmal aufkommenden  Panikstimmung  gewissenhaft  Rechnung und erwies sich so in weitesten Intellektuellenkreisen als ein zugkräftiger Miesmacher. Er selbst rührte natürlich, mit den verwegensten Projekten zwar immerdar schwanger, in der praktischen Arbeit keinen Finger.
„Und was sagst du nun, Peter, zu der Genossin Kramer!... Diese aufgeplusterte Kröte. Aber Geld hat sie immer, niemand weiß woher, und eine Villa hat sie sich auch gebaut, und sie trieft nur so von französischem Puder und Schminke... Sie lebt offenbar mit drei Genossen zugleich zusammen... Da gibt es Sowjetsterne bei ihr aus Schlagsahne, hörst du, auf Kuchen, zum Geburtstag... Aber wenn sie nur den Mund auftut: das raspelt herunter wie aus einer Blechtrommel... Das ist ein richtiges antibolschewistisches Gräuel... Wenn ich die schon sehe, da vergeht mir schon wieder die ganze Lust an der Bewegung... Schau dir nur diese Feldwebelin an, wie aufdringlich die herumquatscht, Phrasen, nichts als Phrasen... Man müsste ihr einmal ordentlich den Hintern... Aber dass so etwas auch die Partei duldet...
Na, überhaupt die Partei! Sieh dir, Peter, einmal die Führer an! Hochwürden! Marx-Pfaffen! Euer organisatorischer Leiter, dieser verknöcherte Bonze, bezieht er nicht zusammen mit seiner Frau ein doppeltes Gehalt?...
Ja, euere Führer verstehen sich zwar fürtrefflich aufs Kuhhandeln, aber nicht aufs Kämpfen. Haben sie die Situation vielleicht ausgenützt!? Und die, und die... Und da soll wieder das und dort wieder jenes vorgekommen sein. Hast du nicht gehört, dass... Und übrigens neulich habe ich den Genossen Bittermann sieht sehr schlecht aus, der mir erzählt hat, dass... und
auch im Bezirk soll es oberfaul stehn... und R. und A.
sollen aus der Partei bereits wieder ausgeschlossen sein, und von G. sagt man, dass er ein Spitzel sei, und L. soll zur SPD übergetreten sein... Auch hab ich gehört, dass die Arbeiterkorrespondenzen von Intellektuellen geschrieben seien, stimmt daran nicht was, und schau nur die Berichterstattung unserer Presse an... Im übrigen bitt ich dich, Peter, mach keinen Gebrauch von dem, was ich dir soeben vertraulich mitgeteilt habe. Ich möchte nicht haben, dass..."
Am liebsten hätte Peter gleich dem Stänker den Rücken gekehrt. Aber er hatte Geduld gelernt und blieb ruhig. Sagte jetzt nur ganz sachlich: „Nun aber stopp, Stänker! Mach Schluss! Mich interessiert nicht, wessen Nase dir nicht gefällt!"
Der Stänker platzte jetzt beinahe vor Erbitterung. Spie Gift und Galle. Nichts war ihm radikal genug, aber auf einmal schlug er wieder ins Gegenteil um, stülpte sich um, völlig haltlos warf es ihn von einem Extrem ins andere... Vom Abkillen und missverstandenen Reformvorschlägen sprach er im selben Augenblick.
„Eine heilige Sache fürwahr, für die sich's zu sterben lohnte, war vormals der Kommunismus! Was habt ihr aus dem schönen Kommunismus gemacht? Einen der Idee feindlichen Kloakenhaufen..."
So schloss der Stänker seinen Wutausbruch.
„Dass du jetzt nur keinen Anfall bekommst, Stänker! Dir scheint ja eine Riesenlaus über die Leber gelaufen zu sein... Aber, du entschuldigst schon, das, was du hier verzapfst, ist Quatsch mit Sauerkohl. Mir ist schon ganz speiübel..."
Und ein schöner Misthaufen ist das, dachte sich Peter was da alles ins Zeug schießt: Utopien, Überradikalismus, Versöhnlertum, Menschenliebe, dummdreiste Gehässigkeit: alles hübsch einträchtiglich chaotisch sprießt da beieinander.
„Ist das wirklich, Stänker, deiner Weisheit letzter Schluss? Du tust mir ordentlich leid..."
„Und was ist das mit der Kaltstellung Trotzkis?" kläffte der Stänker noch...
Während Peter versuchte, trotzdem dem Stänker noch einmal klarzulegen, was eigentlich eine Partei sei und wie er sie von seinem individuellen Standpunkt aus vollkommen schief sehe, ja sie auch, da er ihr inneres Leben und ihre innere Gesetzmäßigkeit nicht kenne, völlig danebenbeurteilen und sie aus seinem ganzen blödsinnigen Egozentrismus heraus kindisch verzerren müsse.
„Wenn sich einer wie du immer um sich selbst dreht, glaubst du, der bekommt eine richtige Übersicht...? Die Umgebung erscheint dann natürlich unter einer individuell willkürlich verzogenen Perspektive."
Und weiter erläuterte Peter, dass die Partei mit einer gewaltigen Filtriermaschine vergleichbar sei, in der jeder einzelne, ohne Rücksicht auf seine Funktion, ordentlich durchtrainiert und durchgeknetet werde und sicher in kürzester Frist bald auf einen Platz zu stehen komme, wo er letzten Endes seiner Begabung und Veranlagung nach hingehöre.
„Sicher, es gibt Reibungen, muss solche geben, es geht nicht immer alles so glatt ab, aber wozu diese Verweichlichung, lernen wir nur ein wenig den Ellenbogen gebrauchen, man muss es dem anderen deswegen nicht gleich so krumm nehmen. Die Korruption wird nie ganz auszuschalten sein, trotzdem, natürlich, sie muss aufs Äußerste reduziert und darum auf das Heftigste, überall dort, wo sie auftritt, bekämpft werden: aber, die revolutionäre Bewegung, aus dem Schoß der kapitalistischen Gesellschaft geboren, trägt deutlich die Zeichen ihres Ursprungs an sich... Das nicht begreifen, heißt, von Dialektik auch nicht das geringste verstanden zu haben... Und nun, mein lieber Gottlieb Jeremias Stänker, treib es mit deinen Anschuldigungen nicht allzu toll, kühle dich ein wenig ab, verordne dir selbst eine kalte Abreibung, ich kann dir zum Schluss nur sagen: die Partei leistet heute wirklich, magst du es anpacken, wo du willst, positive Arbeit, und dass es keine bessere Zentrale gibt als die, die wir heute haben, das ist gewisser als gewiss ... Es gibt aber immer zweierlei Kritik... Na, Freundchen Stänker, du verstehst, was ich meine...
Und nun, mein Lieber, will ich dir noch sagen, was ich für eine Auffassung von einem Kommunisten, der diesen Namen zu Recht trägt, habe. Schreib dir's, wenn du's kapiert hast, hinter die Ohren. Jeder Kommunist muss wissen, dass er, wo auch immer: im Betriebe, in der Gewerkschaft, in der Genossenschaft, nur dann voll seine Pflicht tun kann, wenn er in jeder Beziehung den Arbeitern ein Vorbild ist: der aufgeklärteste, gebildetste, geschickteste Arbeiter in der Betriebsversammlung, der energischste, mutigste, klassenbewussteste dem Unternehmer, Direktor, Antreiber gegenüber; der eifrigste, aufopferndste Gewerkschafts- und Genossenschaftsarbeiter,  der  sachlichste,  positivste,  kampfbereiteste als Betriebs-,  Gewerkschafts-,   Genossenschaftsfunktionär kurz, überall dort, wo er Arbeiter vertritt. Jeder Kommunist muss sich der Verantwortung für jede Äußerung bewusst sein. Sachlichkeit, Positivität, kritische Schärfe, Unerschrockenheit, glühender Hass und kalter Verstand allen Bonzen gegenüber, Geduld, große Geduld allen anders denkenden Arbeitern gegenüber, organisatorische Fähigkeiten, Werben unter den Unorganisierten für die Gewerkschaften zur Verstärkung des kommunistischen Einflusses, Fähigkeit, mit der Feder einfach, präzis, wirklichkeitsgetreu umzugehen, Abstreifen jedes zünftlerischen, spießbürgerlichen, individualistisch verseuchten Geistes, jeder Art von luxuriöser Gehirnfatzkerei — das muss die Partei von jedem ihrer Mitglieder verlangen, und nur der, der diesen Anforderungen voll gewachsen ist, verdient den Ehrentitel eines Kommunisten."
Und Peter verabschiedete sich mit einem kurzen Ruck vom Stänker.
Der rief ihm noch nach: „Bei Philippi sehen wir uns wieder! Denk an mich! Mit der Parole ,Diktatur des Proletariats!' gewinnt ihr keinen Blumentopf..."
Und hopste verbissen von dannen.

Peter widerte es an.
Wozu nun diese lange Auseinandersetzung? Ein hoffnungsloser Fall. So einer wird aus seinen Komplizierungen und seelischen Verkrümmungen heraus eines Tages noch zum Spitzel... Das Besondere, das Originale, das Interessante, das ist bei diesen sensationslüsternen, pseudodämonischen Individual-Säuen die Hauptsache! Nervenkitzel und Seelenschleim, mit einem tüchtigen
Schuss „Gottes-Rummel" gemischt: diese Welt liegt hinter uns... Komische Käuze!
Der eine lebt nach dem Motto: Ich trinke nicht, ich rauche nicht, ich lebe vegetarisch: mein Kopf ward schon zum Kohlkopf... Ein anderer hat schon den Zustand des reinen Wurzelkauertums erreicht, und ein dritter endlich ein biederer Schmock von Stinnes Gnaden, wittert rote Morgenluft, stellt sich um und fristet sein Dasein als feiste Revolutionswanze... Lebendige Leichname sind am schwersten totzukriegen. -
Auch der Inhaber eines kleinen Kramladens, Eugen Brennnessel, der „Heringsbändiger" genannt, erkundigt sich neulich eingehend bei Peter, meinte aber am Schluss ganz treuherzig: „Nur glaub ich nicht, dass Sie auf diese Weise es zu etwas bringen werden... "

 

5

Max und Lene saßen beieinander.
„Und morgen ist der Erste Mai... Ach, Max, wenn ich an die Maifeiern bei der SPD denke, mir wird bei der Erinnerung noch ganz übel... Die vielstimmigen schmalzigen Männerchöre und die Reigentänze... Dieses ganze ,Jupudei Jupudei'. Einmal haben wir sogar aufgeführt: ,Sah ein Knab ein Röslein stehn...' Und dann die Umzüge: im Gehrock, die Angströhre aufgestülpt, den Zylinder, mit roter Schärpe um, und die Blechmusik an der Spitze: Tschindarassa... Es war wirklich ein schöner, gemütlich-biederer sozialdemokratischer Bußbrüder- und Betschwesternverein... Ich bin froh, dass es jetzt gründlich aus ist mit diesen Spießbürgerparaden... Weißt du was, morgen wird es großartig werden. Der Aufmarsch! Der große Sprechchor! Die roten Frontkämpfer!... Aber es ist jetzt auch eine Zeit! In der ganzen Welt wird morgen das Proletariat aufstehen, wir sind wieder gewaltig mächtig und selbstbewusst geworden... Es ist freilich eine Lust zu leben!..."
„Ja, Lene, auch ich, wenn ich zurückdenke... Damals, bei den Sozialdemokraten... Eine abscheuliche Erinnerung!... Wir haben uns einfach verlaufen. Jetzt erst weiß ich richtig, wozu ich in der Welt eigentlich da bin... "
„Ach, Max, ich bin ja auch so sehr glücklich... "
Nun kam auch schon der Genosse Lange.
„Na, ihr beiden!... Und du, Max, du Doktor Unblutig des Klassenkampfs!..."
„Gut geht's, Wilhelm... Wir haben gerade von früher gesprochen... Was den Doktor Unblutig anbelangt: lass mich aus damit, mit dem, was gewesen ist, bin ich fertig... Strich darunter: und ich glaub, ich hab in den letzten Monaten meine Parteivergangenheit nachgeholt ... "
„Also: nichts für ungut, Max. Ich widme dir hiermit — wie es so schön in dem Bericht über eine SPD-Bonzen-Zusammenkunft heißt — einen Anerkennungsschluck! Prost!... Ja, Max, an den Heimweg von damals hab ich noch oft gedacht!... Halsstarrig wart ihr, dickschädelig... mich hat's oft recht gewurmt und dabei in der Hand gejuckt. Hätt aber damals auch nicht viel geholfen... Na, und was sagst du zu den Nachrichten über China, über die amerikanischen Manöver, zu dem intensiven Wettrüsten!?... Und hast du den Artikel über den Gaskrieg von den amerikanischen Genossen gelesen?!... Ich glaub halt immer, wir müssen schleunigst unsere Arbeit verdoppeln... Ganz gewaltig scharf auf der Hut sein!..."
„Was ich dazu meine!?... Wenn man bedenkt, wie wir 1914 ausgezogen sind: mit blanken Knöpfen an den Uniformen, mit der Pickelhaube auf, meist noch ohne Überzug, und wenn man sich jetzt klarmacht, wie rapid schnell die ganze Kriegstechnik während des Krieges selbst sich entwickelt hat und dass man sich allem Anschein nach auch nach Kriegsschluss nicht auf die faule Bärenhaut gelegt hat, sondern weitergearbeitet und weiterexperimentiert hat, so muss man meines Erachtens schon ein ganz phantasieloses und borniert verblendetes Rindvieh sein, um nicht einzusehen, dass ein kommender Krieg eine ganz höllische Sache sein wird, mit der verglichen der vorhergegangene Krieg sich noch wie eine harmlose Holzerei ausnehmen wird... Und dass wir Proleten dabei eine wesentlich andere Rolle spielen werden, die Regie hat uns gleichsam die Statistenrolle übertragen, nur haben diesmal eben die Statisten ganz und gar allein den Hauptdreck auszufressen... "
„Das weißt du ja auch schon, dass morgen die vaterländischen Verbände aufmarschieren wollen. Da wird's wieder ein ,Gloria! Gloria! Victoria!' grölen, wenn wir Proleten ihnen nicht ordentlich diesmal das Maul verstopfen... Auch die Polizei liegt in erhöhter Alarmbereitschaft. Truppen sind um Berlin konzentriert. Man wird uns provozieren wollen... Also: Vorsicht!... Es sind auch von der Zentrale dahingehend entsprechende Vorkehrungen getroffen worden... Na, wir sprechen uns ja morgen früh im Lokal noch... Gute Nacht beieinander!... "

 

6

Max überlegte sich noch einmal den Artikel über den kommenden Krieg. Keine Übertreibungen, sagte er immer wieder zu sich selbst. Natürlich, es ist wahrscheinlich: zuerst geht es schon noch mit Tanks und mit Brisanz und mit Dreadnoughts los. Die Bombenflugzeuggeschwader mit Gasmunition: das ist sozusagen der Clou. Der neue Krieg wird kein hundertprozentig reiner chemischer Krieg sein, auch hier gibt es Übergänge, Variationen, Kombinationen wie überall, Vergangenheit Gegenwart und Zukunft ist tief miteinander verfilzt, das ist knorpelig ineinander verwachsen und löst sich nicht so abrupt voneinander los... Ganze Industriegebiete werden zwar gegen die Sicht der Flieger eingenebelt werden. Aber andererseits gibt es auch bereits Apparate, mit denen man von über dreitausend Meter hoch genaueste Standortfeststellungen machen kann. Nur als Vertröstung, als Beruhigungsmittel im ersten Augenblick... Und die, die das Geld dazu haben, werden natürlich die Gefahrenzone schleunigst verlassen und sich auf dem Land in Sicherheit bringen... Ja, wenn es in der Macht der einzelnen imperialistischen Gruppen läge, ich glaube ihren flennenden Versicherungen gern, der Krieg ist heute bei dem hohen Stand des Klassenbewusstseins des Proletariats ein großes Risiko, und sie möchten natürlich am liebsten den Krieg vermeiden... Aber das System, dessen Gesetzmäßigkeit sie treibt und zum Handeln zwingt, ist stärker als ihr Wille... Sie müssen, ob sie wollen oder nicht... Und für die Arbeiterschaft heißt es diesmal endgültig: verrecken oder kämpfen. Etwas anderes gibt es gar nicht. Ich glaube aber auch nicht mehr, dass einer der unseren noch auf die pazifistischen Schwindeleien hereinfällt... An diesem Schmus hat sich heute die Mehrzahl der Menschheit bereits ordentlich überfressen... Ein deutlich hörbares Bauchgrimmen geht durchs Land...
Es war am Vorabend des Ersten Mai.
Wie ein gewaltiger atmosphärischer Druck, so drückte es auf die Stadt herein.
Alles war noch „verdeckt", da und dort an den Stra­ßenecken sah man Gruppen von Menschen, die debattierten, die einen oder anderen begrüßten sich mit „Rot Front!" oder mit „Heil!", die Läden waren überfüllt, vor Lebensmittelgeschäften stand man Polonaise, in langen Windungen kroch vor den Brotgeschäften die Schlange der Hausfrauen. „Wie einst im Mai... In unserer herrlich großen Weltkriegszeit nämlich..."
Eine Abteilung Motorradfahrer der Schutzpolizei durchknatterte jetzt die Straße, ein Tank manövrierte quer über einen Platz...
Die ganze Stadt rüstete...
Sie war wie ein unsichtbares Kriegslager...

„Au Backe!" entfuhr es Max beim Anblick eines Kampfwagens. Der trug in weißen ungelenken Buchstaben den Namen „Totila", vorne an der Motorhaube einen Totenkopf. „Eine geballte Ladung Handgranaten darunter, und wie ein Kartengehäuse klappt diese ganze Stahlschachtel auseinander. Auch abblocken oder, was schon vorgekommen sein soll, ein wohlgezielter Schuss eines Scharfschützen durch den Sehschlitz: auch damit wird der Bursche zu erledigen sein. Aber trotzdem: so ein Kerl schlaucht einem gewaltig... Das psychische Moment dabei ist das Wichtigste... "
Die Nachricht kam: Eine Erwerbslosendemonstration ist in der Linienstraße von der berittenen Hundertschaft zur besonderen Verwendung zusammengehauen worden. Tote. Viele Verletzte... Auch Plünderung von Lebensmittelgeschäften im Norden der Stadt. Offenbar: Provokateure an der Arbeit. Ein Aufruf der Regierung kam heraus mit Amnestieversprechen, Ankündigung ausreichender Lebensmittelzufuhr im Lauf der nächsten Tage, mit einem ausführlichen Dementi aller Kriegs- und Krisengerüchte. „Einigkeit macht stark. Unsere Stärke beruht in unserer Einigkeit." Solche und ähnlich bereits historisch sattsam bekannte Flausen, von denen kaum noch jemand Notiz nahm, wenn nicht mit einem bissigen Witz, ließ der damalige Reichspräsident tagaus, tagein wieder durch die Presse austrompeten...
Die ganze Wirtschaftslast lag auf den Knochen der Arbeiter. Mit den Knochen der Arbeiter wurde gezahlt, die Knochen der Arbeiter selbst wurden zu einem Spottpreis an ausländische Finanzcliquen verschachert, an allen Ecken und Enden händerangen und feilschten kreischend die Finanzmagnaten: „Knochen her! Wir brauchen Knochen! Knochen!"
Alle Klassenkräfte befanden sich damals in einer ununterbrochenen Bewegung, ein steter Fluss, jeder Tag brachte eine neue Situation, ganze Gesellschaftsschichten tauchten plötzlich unter in einem jener gespenstischen Krisenwirbel, wie sie damals an der Tagesordnung waren; das alles wechselte und veränderte sich im Laufe einer Stunde.
„Nichts steht fest. Nicht einmal das."
Aus dieser Stimmung heraus kam es oft genug zu Selbstmord und Wahnsinn.
Lohnkämpfe. Teilstreiks. Überall Ansätze zu einer Massenaktion. Überall Ausbrüche der Volkswut. Eine elementare Verzweiflungswelle fegte über ganze Landesteile.
Die Frontlinien des bevorstehenden Kampfes zeichneten sich immer deutlicher ab. Es drängte an vielen Orten bereits stürmisch zur Entscheidung. Die einzelnen Führungen hielten noch zurück...
Die meisten Menschen blieben in dieser Nacht zusammen.
Viele gingen, trotzdem die Regierung teils pathetischbeschwörend, teils energisch drohend dazu aufforderte, nicht von der Straße. —

 

7

Draußen vor der Stadt war ein warmer Frühlingstag. Der Wind fegt übers Land. Das Gras fließt...
Kolonnen von Landarbeitern marschieren stadtwärts.
Auf allen Wegen Landarbeiterkolonnen, sie tragen rote Fahnen, singen: „Wacht auf..." Ein alter Bauer sitzt, an der Pfeife nagend, vor seiner halb verfallenen Hütte: „Bravo Jungens, macht's gut!... Dann baut ein neues Dorf auf, das alte ist ja so zu nichts mehr zu gebrauchen... Bevor dieses Jahr das Korn in die Scheuer fährt, wird die Erde noch viel Menschenblut in sich hineinstürzen. Meine Hand ist trocken. Der Boden hitzig. Das bedeutet Menschenblut... O das sind Zeiten..."
„Recht so, Alter!" schreien ein paar junge Burschen zu ihm herüber. „Nur den Mut nicht verlieren! Wir schaffen's schon..."
Der ferne Dunstschleier zerreißt. Näher rückt heran die Stadt. Wie ein noch schlafendes Steinungeheuer liegt sie da, die Vororte inmitten breiter Flächen Grün wie Tatzen.
Kein Fabrikschlot raucht.
Keine Kirchenglocke läutet...
Eine Pappelallee zieht sich am Horizont hin, wie eine Reihe schwarzschwelender Flammen...

Ganze Stadtteile sind seit dem frühesten Morgen von Polizei und Militär abgesperrt.
Die sämtlichen Zufahrtsstraßen zur Stadt sind durch Panzerwagen und Maschinengewehrabteilungen gesichert.
Erkundungsflieger kreisen hoch in der Luft. Die Eisenbahngleise entlang streifen Militärpatrouillen.
Ein Panzerzug rangiert: jetzt gibt er Volldampf und heult der Stadt zu.

Immer wieder werden die Landarbeiterkolonnen abgedrängt.
Es wird schon gegen Mittag. Unruhig kreisen sie um die Stadt. Sie müssen durch...
Im Südosten brechen sie endlich herein. Dort sind die Arbeiterbezirke.
Von den Offizieren der Absperrungskommandos wird der Befehl zum Feuern gegeben.
Viele Soldaten schießen nicht. Viele halten in die Luft...
Die Offiziere werden an die Wand gedrückt. Gewehre und Bajonette zerbrechen...
Die Absperrungskommandos sind überrannt. Laut singend, geschlossenen Zugs, marschieren die Landarbeiter weiter... Aus jeder Straße strömt jetzt ein neuer Zug. „Des Volkes Blut verströmt in Bächen", singen die
einen.
Die anderen: „Bolschewisten! Bolschewisten! Edelste der Kommunisten!"
Auf den Baikonen beugen sich Menschen herab, in die Hände klatschend. An den Straßenecken begrüßen die Marschierenden große Menschengruppen im Chor: „Rot Front! Rot Front! Rot Front!"
Es trommelt.
Es pfeift.
Trompetensalven schmettern darein...

Das Militär wird zurückgezogen: Hie und da fern am Straßenende sieht man noch einen Panzerwagen davonrattern.
In den Flanken ist der Arbeiterzug durch Radfahrerabteilungen gesichert.
Auf den Dächern sind Arbeitertrupps aufgestellt, sie winken mit den Mützen.
Ob die Regierung im letzten Augenblick noch ein Versammlungs- oder Demonstrationsverbot erlassen hat, ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen.
Die ganze Stadt ist ein gewaltiger, roter Menschenwirbel.
Frauen mit roten Kopftüchern. Der Jung-Spartakus-Bund. Greise. Witwen und Waisen. Aber es marschiert auch ein Frauen-Regiment auf, genannt „Regiment Rosa". Hell schmettert Gesang aus ihren Reihen...
Auf den Asphaltstraßen der Stadt dröhnt daher ein roter Menschenmassen-Orkan.
Da marschiert an, langsam und immer wieder stokend, der Zug der Kriegsopfer: manche werden auf Bahren getragen, die meisten humpeln sich mühsam vorwärts auf monoton klappernden Krückstöcken, da ist die Abteilung der Erblindeten, hier die der Armlosen, hier die der Beinlosen, hier sind welche, die nur einen gliederlosen Rumpf noch ihr eigen nennen. Hier werden Tafeln getragen: „Wir sind das Abc des Kriegs!" oder: „Krieg dem Krieg!" oder: „Proletarier, gedenkt des imperialistischen Kriegs!"
Ohne Musik marschiert der Zug.
Ein Skelett an der Spitze, mit der Zahl: 13 Millionen.
Die Straße erstarrt. Die Häuserpforten erstarren. Jedes Wort gerinnt im Mund. Das Leben friert... Es ist großes
Schweigen.
Schweigend marschiert der Zug. —

Im Westen der Stadt sind die vaterländischen Verbände aufmarschiert.
In straffester militärischer Disziplin.
Die Mannschaften sind außerordentlich gut und modern eingekleidet. Sie haben den Sturmriemen umgeschnallt. Feldflasche und Brotbeutel. Viele tragen den Stahlhelm. Pistolen. Auch Leinwandsäckchen mit Eierhandgranaten.
Eine Unzahl Autos und Lastkraftwagen stehen ihnen zur Verfügung.
In einer Autogarage befindet sich ein Waffenlager. Dort in einem Bankhaus eine Befehlsstelle, nach überallhin durch Kuriere verbunden.
Eine Feldtelefonleitung wird unter besonderer Sicherung jetzt nach vorne gelegt. Die Spitzentruppen setzen sich unauffällig in Bewegung.
Der Westen ist tot, ausgestorben. Jalousien und Läden
sind heruntergelassen. Nur wenig Menschen zeigen sich
noch... Wo überhaupt noch Verkehr ist, kann man immer mit ziemlicher Sicherheit ein Munitionsdepot oder
eine Reservestelle vermuten.
Ein grauhaariger Spitzbart instruiert an einer Straßenecke nochmals seine Gruppe.
„Treudeutsch!" schließt er seine Instruktion.
„Allewege!" schnarrt es ihm zurück.
Die deutsche Kriegsflagge weht. Schwarz-weiß-rot.
Hakenkreuzstandarten.
Trommler, Trompeter, Pfeifer.
Die Eichenstöcke, mit eisernen Spitzen versehen, schultern sich. „Achtung!"
„Ohne Tritt! Marsch... " Parole: „Baltikum."
„Die Vöglein im Walde... " — „Das Flaggenlied." Die Gesichter unter den Stahlhelmen sind hartkantig, erdig. Zum Äußersten entschlossen. —

Die Kasernen der Schutzpolizei und des Militärs werden durch Stacheldrahtverhaue abgesperrt.
An der Bannmeile ist eine mechanische Barrikade aus einem Geschwader Panzerwagen und gepanzerter Lastkraftwagen errichtet.
Festen Schritts marschieren dort stundenlang die roten Bataillone vorüber.
Es wird gegen drei Uhr nachmittags.
Zu Zusammenstößen ist es nicht gekommen. Kleine Zwischenfälle, nicht der Rede wert.
Auch von den „Vaterländischen" ist weit und breit nichts zu sehen.
Wie es heißt: sie sind wieder in ihre Quartiere abgerückt.
Und so findet das Arbeiter-Riesen-Meeting auf einem Platz mitten im Stadtzentrum statt.

Es sind über Hunderttausende.
Aus allen Straßenmündungen presst es sich schwer herein.
Die Roten Frontkämpfer halten den Ordnerdienst.
Die ungeheure Anzahl der roten Fahnen: sie flattern in der Luft wie glühende Flammenzungen.
Jeder Betrieb hat seine Fahne.
Ein lang gezogener Trommelwirbel...
Von den Dächern widerhallt es.
Über die ganze Innenstadt hin fluten die Trommelwellen.
Ein Trompetenstoß.
Elektrisch zuckt's in den Gliedern...
Das Meeting beginnt.

Ein Sprechchor, tausend Genossen und Genossinnen, donnert empor.
„Der Erste Mai!"
Dann: Alle singen.
Ist dies ein Gesang noch!? Es ist ein Stimmenstrom, eine Riesenklangwoge, die sich hebt und senkt, die aufsteigt, anschwillt, in Millionen von Stimmenlichtem blinkend, jäh und steil sich überschlägt, dann ruhig wieder und gewaltig ihres Weges dahinzieht... Nur die
letzte Strophe: die Stimmen verstärken sich, es schlägt auf: hart, gehackt, rhythmisch: als eine eiserne Brandung.
Durch einen Schalltrichter wird verkündet: „Ein amerikanischer Genosse spricht!"
Zwei Arme schwingen, zwei Fäuste ballen sich: jetzt wächst die Menschengestalt übermenschengroß heraus aus der Tribüne.
„Wir amerikanischen Genossen, wir grüßen dich, deutsches Proletariat! Wir stehen vor der Entscheidung... Die Kriegsrüstungen... Der Krieg gegen Russland. Gegen Japan... Und euere Regierung: wisst ihr von den Geheimverträgen, den geheimen militärischen Bündnissen... Deutschland, das Aufmarschgebiet gegen Russland..."
Ein tosender Millionenschrei stieß in diesem Moment hoch: „Nein! Niemehr! Nimmermehr! Bürgerkrieg!"
Der amerikanische Genosse fuhr fort: „Der Völkerbund hat den Krieg gegen Russland gefordert! Überall Kommunistenverfolgungen, Hinrichtungen, Pogrome, Massakres... Es lebe die Diktatur des Proletariats! Sie allein vermag diesem menschenmörderischen, niederträchtigen Spuk ein für allemal ein Ende zu machen!..."
„Die amerikanische Kommunistische Partei! Sie lebe —"
„Hoch! Hoch! Hoch!"
Nur: Wortbrocken, Sprachfetzen.
Aber den Sinn verstand jeder.
Und schon spricht der japanische Genosse, der russische, ein bulgarischer Genosse spricht.
„Genossen! Deutsche Kommunisten! Deutsche Arbeiter! Deutsche Proletarier! Die Stunde zum Handeln ist da! Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Tag
der Abrechnung mit den Volkspeinigern und Volksmördern..."
Wieder ein Zwischenschrei: „Nieder mit den Verrätern des Volks... verrecken... "
„Genug jetzt der Foltern und Bestialitäten! Wir setzen dieser vergangenen Zeit den Grabstein... Heute, am Ersten Mai: überall, bei den kleinen japanischen Maisbauern, bis hoch hinauf in die einsamsten Bergdörfer Chinas: der Sturm bricht los, der Sturm erfasst Höhen und Tiefen, über Deutschland hinweg, über Europa hinweg, von Asien über Afrika; in allen fünf Erdteilen: die große rote Sturmglocke läutet: das werktätige Volk, das Proletariat steht auf..."
Für die Frauen spricht Genossin Martha, eine alte erfahrene Bolschewistin, zehn Jahre Zuchthaus hat sie hinter sich, sie hat auch mit der Waffe in der Hand gekämpft, sie ist lungenkrank, jedes Wort presst sie aus sich heraus, immer wieder von begeisterungsflammenden Zurufen unterbrochen: „Auch wir Frauen, das geloben wir, werden unsere Pflicht tun. Wir Genossinnen werden nicht hinter euch, Genossen, zurückstehen! Verlasst euch darauf!"
Ein deutscher Genosse erhält noch das Wort.
„Erster Mai! Tag der Heerschau des Weltproletariats! Tag du des Aufmarschs der Proletariermassen in allen fünf Erdteilen! Erster Mai: Kampftag: lass uns bereit sein! Lass stahlhart uns werden, ausfüllen die letzte Lücke in unserer Front! Lass denken unsere Gedanken nur dies eine: Kampf! Unsere Herzen nur dies eine fühlen, unsere Willen nur dies eine wollen: Kampf... "
Ein Jugendgenosse tritt vor, er ballt die Faust zum Schwur.
„Unermüdlich wollen wir kämpfen! Unsere Muskeln
spannen, unsere Gehirne stählen, mit unserem Herztakt euch alle, die ihr in Ketten noch schlaft, wachhämmern! In uns schüren den Willensbrand, bis diese Welt von uns erobert ist, bis du, Erster Mai, du Weltkampftag, der Weltfeiertag aller werktätig Schaffenden geworden bist!" Ein Sprechchor von Jungpionieren antwortet im Chor: „Nicht eher werden ruhen wir! Nicht eher werden die Hände wir falten! Das schwören wir!..." Hunderttausende von Stimmen fallen jetzt wieder ein: „Das schwören wir. Schwören wir. Schwören wir... " Ein Trompetensignal.
Ein Genosse in der Roten-Frontkämpfer-Uniform steht auf der Tribüne. Der Fahneneid...
Eine große und dunkle Stimme spricht vor: „Frontkämpfer auf! Die Faust gereckt! Wir schwören rot: Sieg oder Tod!"
„Sieg oder Tod!" jauchzt die Menschenmasse. „Wir schwören: beim Blut der Brüder, das zur Erde rinnt —
Wir schwören: am Riesenstrom der Tränen, die vergossen sind —
Frontkämpfer auf! Die Faust gereckt! Wir schwören rot: Sieg oder Tod!
Dem großen Klassenkrieg sind wir geweiht.
Wir sind der Sturmschritt einer neuen Zeit!" —
Wieder waren Hunderttausende von Menschenstimmen eine Felswand lebendigen Echos.
„Dem großen Klassenkrieg sind wir geweiht.
Wir sind der Sturmschritt einer neuen Zeit..."

Die Internationale erscholl.
Eine Sturmlawine —
Menschenkörper rissen unter dem Gesang sich steil empor.
Die rote Flut kommt. Die rote Flut steigt. Zeit der Ebbe: vorbei... Aufwärts! Aufwärts! Aufrecht schon stehen wir hoch oben auf dem Kamm der Woge...
Und plötzlich wurde spontan aus der Menschenmasse heraus ein bekannter illegaler Genosse der Zentrale auf die Schultern gehoben, er schwenkte die Mütze, sein Arm stand, schräg, wie ein Fahrtzeichen.
„Arbeiter! Proletarier! Genossen! Seid ihr bereit zum Kampf, seid ihr bereit, dem Ruf zum Generalstreik, dem Ruf zum bewaffneten Aufstand zu folgen, wenn ihn die Partei an euch ergehen lässt?"
„Allzeit bereit!"
„Keine Woche wird mehr vergehen, bis euch die Partei zum Kampf aufruft. Unsere Parole heißt: Eroberung der Macht!!!"
„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" tönte jetzt, einfach und schlicht gesungen. Viele bekamen es mit dem Schlucken. Manche weinten. Und manche wieder sangen, das Angesicht von einem glücklichen Lächeln verzückt.
Max hatte Lene eingehakt.
„Siehst du, Millionen an Millionen stürmen jetzt in diesem Augenblick, geordnet in unübersehbaren Reihen, den steilen Abhang der Zeit herauf im Sturmschritt. Dieser Abhang ist ein Geröllfeld, bedeckt mit Schädelstücken und Körperknochen, alle Sträucher haben statt der Knospen Knollen, getränkt mit Menschenblut. Alle die brechen heut auf, Blutrinnen, Blutbäche: alle die schie­ßen, zu einem Wildstrom von vergossenem Menschenblut anschwellend, empor... Was singen sie, diese proletarischen Sturmtruppen, diese Eroberer der Menschheitszukunft: ,Wir fürchten nicht den Tod! Denn unsere Fahn ist rot...'"
Das Trompetensignal blies.
Ein kurzer Trommelwirbelstoß.
Die Züge ordneten sich zum Abmarsch...

Und -
In diesem Augenblick geschah, allen völlig unerwartet, das Unglaubliche. -

 

7

Die Sonne ging eben sprühend unter, Gewitterwolken trieben an wie Schlammfluten: da stand plötzlich mitten in den Menschenmassen auf der Südostseite des Platzes ein Geschwader von Kampfwagen: die kleinen Panzertürme drehten sich, die Maschinengewehrmündungen senkten sich abwärts, die Führer machten die Kampfmaschinen gefechtsbereit...
Die Motore knatterten, und unter einem metallischen Gebrüll schoben sie sich weiter in die Menschenmasse hinein.
Dort rammten sie sich fest.
Man konnte noch beobachten, wie sich die Gittertore der Einfahrt eines erstklassigen Hotels schlossen, eine Rolle mit Stacheldraht abgewickelt wurde und dahinter eine Gruppe mit Stahlhelmen im Anschlag lag.
Dieses Hotel hatte der Panzerwagenkolonne als Hinterhalt gedient...
Schon ertönten laut die Kommandos des roten Ordnerdienstes: „Ruhe halten, Genossen! Nicht provozieren lassen! Weitergehn!"
Da wurde auch schon die Abmarschstraße auf der
Gegenseite des Platzes durch eine Gruppe Tanks abgesperrt. Es war eine neue mechanische Abriegelung das erste Mal zur Anwendung gebracht worden, und zwar mittels des so genannten berüchtigten Schutzgitters, einer Art Stacheldrahtgürtel, der von Tank zu Tank gezogen war und der, wie es hieß, elektrisch geladen sein sollte
Die Tanks machten Halt. Sie lagen breitseitig da, wie verankert.
In diesem Moment entstand die Panik.
Unter den Demonstranten waren schon von Anfang an große Mengen von so genannten Zivilspähern verteilt worden, denen nun die Aufgabe zufiel, die Panik künstlich zu steigern und die empörten Massen zu einem Angriff aufzuputschen. Dies war sehr schwierig, denn die Massen hielten eine mustergültige Disziplin...
Da fiel plötzlich vom Balkon eines Hotels, dann von einem gegenüberliegenden Haus, aus einem Fenster des ersten Stockes, ein Schuss, noch einer, mehrere: es waren kleine krachende Pistolenschüsse, und diese galten für die Führer der Kampfwagengeschwader als Angriffssignal...
„Aus der Menge ist geschossen worden!"
Die Polizeiagenten, die auftragsgemäß die Schüsse abgegeben hatten, verdufteten schleunigst.
„Platz frei! Straße frei!" gellte ein Lautsprecher... „Oder es wird geschossen!"
Dabei knackten schon die MGs.
Menschen sah man, die sprangen, durch einen Kopfschuss getroffen, über einen halben Meter hoch, Menschenleiber verschlangen sich, wurden zu einem unentwirrbaren Knäuel geballt und wälzten sich, sich gegenseitig erdrückend, ineinander-, übereinander stehend, dem Ausgang zu.
Es gab aber nur noch einen Ausgang...
Die MGs strichen systematisch den ganzen Platz ab.
Einige Rote Frontkämpfer sprangen wie wilde Tiere, Schaum um den Mund, die gepanzerten Ungetüme an, schnellten federnd wieder zurück: gewaltige tellergroße Brandwunden an den Händen. Die eisernen Bestien spieen elektrische Ströme.
Auch Max musste sich mit Gewalt zurückhalten, um nicht einfach mit seinem Kopf gegen diese mörderische Wand zu rennen...
Menschen lagen übereinander.
Über Max lag ein baumstarker, stämmiger Prolet, der sich mit der Hand die ausgefleischte Hüfte zuhielt und kräftig schrie: „Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben..." Dabei verdrehten sich ihm die Augen, quollen hervor, rund und groß, wie zwei elfenbeinerne Billardkugeln.
Er biss sich in Max hinein —
Max bekam einen Genickkrampf. Ein eiserner Knopf massierte ihm den Halswirbel.
Einer umschlang einen Laternenpfahl. Barst mitten am Bauch entzwei. Die Gedärme schütteten sich vor ihm hin nach allen Seiten. Andere schleiften darüber hinweg, glitschten in eine schmierige Blutlache, krochen über ein Häuflein verspritzten Gehirns weiter...
Einer gestikulierte, hatte den Mund weit offen, sprach, aber in dem allgemeinen Geschrei versackten die Worte. Einer gurgelte, ein anderer stieß ganz kurze trockene Hustenlaute hervor.
Viele waren wie irrsinnig, hatten Lachkrämpfe, knieten mit entblößtem Oberkörper, wackelten mit dem Kopf, ohne sich von der Stelle zu rühren, und starrten mit brennenden Augen lang in den Tumult.
Es wurde dunkel.
Scheinwerferabteilungen waren auf den Dächern der angrenzenden Häuserblocks postiert. Scharfe Stöße Lichts blendeten herab.
Eine dritte Tankkolonne knatterte an und begann die Räumung des Platzes von Norden her. Es waren wieder drei Kampfwagen, durch straff gespannte Stahltrossen miteinander verbunden; so rasierten sie langsam und schräg dahin.
Der Platz war nun völlig eingepfercht. Auch der einzige Ausgang war nicht mehr frei, er war längst von Schwerverwundeten und von Leichenhaufen verstopft.
Max kauerte zum Sprung geduckt in Deckung hinter einer dürftigen, aus drei Toten aufgeworfenen Menschenbarrikade.
An ein Durchkommen war jetzt nicht mehr zu denken.
Max biss sich die Lippen: Jetzt Achtung: dass mir nicht schlecht wird! Hob sich ein wenig und sah über den Platz hinweg die Straße hinunter: immer noch rannten ab und zu welche im Zickzack, bis zu einer bestimmten Grenze, hier streuten die MGs eine genau vorher berechnete und markierte Linie ab: dort klappten die Flüchtlinge plötzlich nach vorn oder nach rückwärts in sich zusammen wie ein Taschenmesser, streckten alle Viere von sich und blieben, flach auf die Erde gedrückt, liegen...
Max schnellte hoch, wie eine Sprungfeder warf sich in ihm das Rückgrat, setzte sich den Hut auf und schritt, als ob nichts geschehen wäre, schräg über den Platz. Er hatte nur den einen Gedanken: wenn schon, dann nicht von hinten, es ist leichter, den Tod im Angesicht...
Der ganze Hinterkopf schien ihm offen, das Gehirn bloßzuliegen: eine einzige Wundfläche...
In diesem Moment öffneten sich sämtliche mechanische Sperren, die Tankgeschwader führten einige kurze Manöver aus und ratterten ab.
Max sah noch, sich rasch in die Dunkelheit drückend, eine Hundertschaft, noch eine, eine dritte im Laufschritt heranstürzend, mit gefälltem Bajonett. Sie hatten den Befehl, die noch Lebenden von den Ermordeten zu sondieren.
per Platz lag unter den Scheinwerfern wie unter einer kaltgelben gespenstischen Lichtdusche.
Wimmernd und langgedehnt, vollrauschend, oft wie Akkorde, so tönten daraus noch Menschenschreie, der Platz machte von dieser Stelle aus den Eindruck eines mit Zappelndem angefüllten Kessels, an den Wänden klebten noch Menschen, die Truppen stießen sie der Mitte zu: dort schichtete sich Haufen an Haufen... Mit Eisensplittern, Geschoßspitzen, Stahlspänen war reingekehrt.
Fleisch. Blut. Knochen.
Pulverqualm, Ausdünstung, Todesangstschweiß: es war ein feuchter Brodem...

Es begann langsam in großen Tropfen zu regnen. Bald ferner, bald näher: nun prasselte ein Gewitterhagel hinweg.
Es trommelte, knatterte, tackte...
Viel Menschen fuhren erschreckt auf, öffneten die Fenster: „Geht's los?... Wird schon wieder geschossen? ... "
Nichts. Nur die Dunkelheit. Die Häuserfronten: zackige Konturen darin.
Hie und da zuckte ein Blitz. Die Dunkelheit leuchtete. Dann ächzte ein Donner...
Die ganze Stadt blieb die Nacht über aufgescheucht.
Schon die zweite Nacht in solcher Unruhe...
Überall war es auch noch zu Zusammenstößen mit den „Vaterländischen" gekommen.
Alle wichtigen Punkte der Stadt waren bereits im Lauf des Abends militärisch gesichert worden. —

 

9

Max trottete sich in einem beinahe bewusstlosen Zustand heim.
Oft musste er sich anhalten, aber das waren nur die Aufregung und die Nerven, er war unverletzt.
Oft wurde er angesprochen, ein Prolet sah ihm ins Gesicht, fragte ihn kurz, drückte ihm die Hand und verschwand wieder im Dunkel.
„Rache!" Dieses Wort hörte Max auf seinem Heimweg oftmals.
Auch an einer Gruppe von „Vaterländischen" kam er vorbei, sie unterhielten sich angeregt und laut, da sie in größerer Anzahl beisammen standen. Sie trugen bereits Karabiner. Es waren breit aufgedunsene und verfettete Gesichter, aber auch scharfgeschnittene Profile waren darunter, richtige Galgenvögel- und Mördervisagen.
„Den Arbeiterschweinen wird jetzt gründlich der Garaus gemacht werden", quietschte einer. Er hatte dünne Beinchen und trug eine Gymnasiastenmütze.
„Was suchst du Schwein hier!" schrie einer mit Schmissen im Gesicht Max nach, der, ohne zu mucken, weiterlief.
„Mach, dass du weiterkommst oder du bist eine Leiche..."
Derartiges wurde ihm oft noch nachgerufen. Max dachte: „Jetzt, jeden Augenblick... " Er spürte es in den Ohren... Es waren meist, wie sich Max schnell vergewisserte, Reserveoffiziere, Studenten, Fabrikantensöhne, Angestellte, aber wenig, und hie und da auch noch ein wütiger Kleinbürger. Die gaben kein Pardon.
Nun aber auch kein falsches Mitleid mehr wie früher diesen berufsmäßigen Mörderbanden gegenüber... Jeder von diesen, den wir schonen, kostet uns Blut!... Keine Illusionen mehr, die Blut kosten!"
Auffällig war: der Wachtdienst in und außerhalb der Kasernen wurde durchwegs von verstärkten Offiziersposten versehen... Holla, da stimmt etwas nicht, schloss Max, die scheinen ihrer Sache nicht ganz sicher zu sein, und Max schlich sich noch ein wenig in dieser Gegend herum, bis er auf einen einzelnen Soldatenposten stieß.
„Kamerad!"
Der Soldat sprang drei Schritte zurück. Dann lachte er plötzlich und kam auf Max zu. „Rot Front!"
„Richtig, es rumort gewaltig auch unter uns. Dicke Luft. Sehr brenzlich. Alles in Alarmbereitschaft. Dreißig Prozent sind euch, wenn es losgeht, sicher... Die Behandlung wird immer gemeiner: ,Halten Sie die Schnauze oder ich schieße Sie nieder...' Das ist gang und gäbe. Ohne Scheißkerl und Arschloch kommt man uns gegen­über überhaupt schon nicht mehr aus... Gestern ist bei den Kraftfahrern ein Leutnant hochgegangen, bei den technischen Truppen ein Major, auch bei den Fliegern ist's faul... Fortsetzung folgt. Nun genug für heute!... Rot Front!"
Max war auf diese Auskunft sehr stolz.
„Natürlich", wiederholte er für sich, „einen Platz zu räumen und dazu nur verhältnismäßig geringe militärische Kräfte einsetzen: das bedeutet den Willen, den Vorsatz. haben, es zu einem Zusammenstoß kommen zu lassen. Das ist absichtlicher Massenmord von Seiten der Regierung. Missverständnisse und Irrtümer sind bei der verhältnismäßig langen Zeitdauer dieser Exekution völlig ausgeschlossen... Ein neues Schandwerk der Volksverbrecher... Aber alles, was sie tun, zwingt sie mit unerbittlicher Folgerichtigkeit in ihre eigene Katastrophe hinein..."
An der Ecke seiner Straße traf Max auf seinen Zimmernachbarn, den Straßenbahnschaffner.
„Na und..."
„Schon beschlossene Sache: Morgen ist Generalstreik. Einstimmig angenommener Beschluss... Sollst sofort in das Lokal von Fritz kommen... Wartete auf dich, um dir das zu sagen... ich hab einen anderen Auftrag, muss noch in die Stadt..."
Aus seiner inneren Manteltasche zog der Straßenbahnschaffner ein Pack Klebestreifen hervor.
„Nieder mit der Mörderregierung! Es lebe die Diktatur des Proletariats! Generalstreik! Alle Macht den Räten!"

 

10

Max klopfte sein Zeichen.
Der eiserne Rollladen vor der Eingangstür der kleinen Gastwirtschaft hob sich ein wenig, Max schlüpfte hindurch.
Ungefähr fünfzig Genossen waren anwesend.
Niemand sprach ein Wort.
Der Genosse Lange saß in der Ecke, den Kopf eingebunden, so kreidebleich, staunte Max, habe ich noch nie einen Menschen gesehen.
Lene schluchzte in sich hinein.
Es dauerte eine halbe Stunde.
Einer stand hin und wieder auf und ging vor sich hersummend unruhig auf und ab. Hie und da zählte einer still für sich die Anwesenden. Zehn Genossen waren noch dazugekommen. „Nun aber Schluss!" Genosse Lange erhob sich. „Wer fehlt!?"
Dann erstatten die Betriebszellenobleute kurz Bericht.
„Also, das sind allein von unserer Gruppe zehn Mann. Nahezu ein Fünftel... Auch Genosse Friedjung. Die Funktion übernimmst du, Max. Einverstanden!"
Das „Ja" war das selbstverständlichste von der Welt.
„Weiß jemand etwas vom Genossen Friedjung?"
Mehrere Genossen meldeten sich.
„Einige Polizeiagenten haben ihn herausgestochert. Er muss schwer verletzt sein. Man hat ihn über den Platz fortgetragen... In ein Sanitätsautomobil..."
„Gut, wir wissen Bescheid..."

„Also! Genossen und Genossinnen! Morgen ist wahrscheinlich Generalstreik..."
Max bestätigte: „Es ist schon sicher... Einstimmig..."
„Also, um so besser! Wir erwarten heute noch einen Kurier der Zentrale... Ich denke, bis dahin werde ich einen kurzen Überblick über die politische Lage geben... Ich glaube, eine Diskussion zu diesem Punkt ist nicht nötig... Dann wird inzwischen der Kurier erschienen sein, und wir werden im Anschluss daran sofort das Weitere beraten. Im übrigen: seit heute werden keine neuen Mitglieder mehr in die Partei aufgenommen. Den Revolutionsschmarotzern muss gleich im Anfang das Handwerk gelegt werden... Dies nur nebenbei...

Die Kriegsgefahr zwischen Amerika und Japan hat sich bedeutend verschärft. Die Kriegsvorbereitungen haben ihren Höhepunkt erreicht. Wie das amerikanische und japanische Proletariat darauf reagiert, ist noch ungewiss. Ferner: die Hälfte aller Betriebe ist in Deutschland stillgelegt. Der Außenhandel war in dem vorhergehenden halben Jahre gleich null. Die Stabilisierung ist zu Ende... Die Absatzschwierigkeiten aller kapitalistischen Staaten sind enorm. Auch das Mandat, das Deutschland vom Völkerbund über seine früheren Kolonien erhalten hat, konnte nicht viel retten. England hat die größten Schwierigkeiten in Indien. Der Konkurrenzkampf hat die schärfsten Formen angenommen. Eine kriegerische Auseinandersetzung ist nicht mehr zu vermeiden... Jeden Tag also ist die Kriegserklärung zu erwarten, oder vielmehr die erste kriegerische Handlung... Wir alle wissen, was das bedeutet... Selbstverständlich ist es für uns gleichgültig, wer, diplomatisch gesehen, der angreifende Teil ist. Jeder der Partner ist gleich schuldig und ein Räuber... Zur Lage in Deutschland im besonderen: überall Plünderungen von Lebensmittelgeschäften, Industriekrisen, eine ungeheure Arbeitslosigkeit, verbunden mit Hungersnot, besonders in den ländlichen Bezirken, wo teilweise von den völlig industrialisierten Großgrundbesitzern das Getreide zurückgehalten wird, Hungersnot also bei vollen Scheunen... Die nationalistischen Banden bewaffnen sich... Zu gleicher Zeit starke Tendenzen, den Krieg gegen Russland zu proklamieren als ,heiligen Krieg' und damit im Zusammenhang der Entschluss der kapitalistischen Regierungen, zu diesem Zweck die revolutionäre Arbeiterschaft mit treuer Unterstützung der allerdings heute völlig isolierten SPD-Führerschaft entscheidend aufs Haupt zu schlagen... Also, wir befinden uns alle inmitten eines Krisenwirbels von internationalem Ausmaß... Die weitesten Kreise der werktätigen Bevölkerung stehen heute hinter uns und sind bereit, mit uns..." Der Kurier der Zentrale stürzte herein.

Und!?
Er schüttelte kräftig dem Genossen Lange die Hand. Alle Genossen waren wie elektrisiert aufgesprungen. Und-Und-
Nur zwei Worte brachte der Kurier noch heraus: „Generalstreik!... Krieg dem Krieg!"
Viele Genossen umarmten sich. Einige heulten drauflos.
Einer flüsterte nur immer wieder die Namen: „Rosa! Karl! Lenin!"
„Bravo! Nun Gott sei Dank! Endlich!"
Lene stürzte auf Max zu: „Na, Max, hab ich's nicht gleich gesagt..."
Max sang leise vor sich hin.
„Dass ich das noch erleben durfte ... "
„Nun aber zur Sache!"
Der Kurier stürzte fort.
Es war feierlich und ernst.
Eingehend wurden die einzelnen organisatorischen Maßnahmen besprochen.

 

11

Die Regierung beriet ununterbrochen Tag und Nacht.
Die Herren kamen kaum noch zum Essen...
Das Regierungsviertel war ein offenes Heerlager.
Die Keller der Regierungsgebäude waren in Waffenmagazine umgewandelt worden. An jeder Straßenecke Alarmmelder. Überall ragten Antennenmasten.
Die Bannmeile ward erneut militärisch-mechanisch abgesperrt...

Der Präsident der Republik war damals schon altersschwach. Er litt an Arterienverkalkung. Er saß in einem der Konferenzzimmer in einem hohen Lehnstuhl, dessen Rückenwand mit dem Adler und mit den Reichsfarben geschmückt war. Er trug Pulswärmer und hatte die geschwollenen Füße in ein dickes Plaid eingewickelt. Seine Frau titulierte er mit dem Kosenamen „Schnucki". Die Augenbrauen waren ihm nach Bismarck-Art buschig über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Er atmete schwer. Von Zeit zu Zeit erhob er sich, eine Klingel schrillte durchs Haus, aus allen Beratungszimmern strömte es herbei, und der Präsident sprach: „Hochansehnliche Versammlung! Hohes Haus! Einigkeit macht stark. Unsere Stärke ist die Einigkeit. Schon damals, als mich das Vertrauen des Volkes auf diesen hohen und verantwortungsvollen Posten berufen hatte, erklärte ich, dass ich mich besonders der Armen und Elenden annehmen werde, aller jener, die in dem gewaltigen wirtschaftlichen Ringen unserer Zeit nach Aufopferung ihrer Kräfte zu Boden liegen. Mein Bestreben bleibt es auch heute, die Klassengegensätze zu mildern, ich reiche darum heute erneut jedem Deutschen feierlich die Hand. Durch Treue und Pflichterfüllung auch im Kleinsten müssen wir uns die Achtung in der Welt wiederverschaffen. Durch Selbstachtung zur Weltachtung! Dann kann Deutschland nicht untergehn... Treue um Treue!..." Diese Rede las er ab.
Das Blatt knisterte bedenklich. Der Präsident litt auch an einem ausgesprochenen Tatterich.
„Hat der Trottel den Aufruf ,An mein Volk' jetzt endlich unterzeichnet!?" fragte inzwischen ein höherer Militär einen Sekretär des Innern.
Der Sekretär nickte diensteifrig. „Alles druckfertig, Exzellenz, hier in meiner Mappe... Man musste ihm dabei die Feder führen... Schrecklich, nicht wahr, schrecklich..."

Über das Land war der Ausnahmezustand verhängt. Die Militärdiktatur war errichtet.
Die Zimmer, in denen wirklich über Wohl und Wehe des Landes entschieden wurde, lagen in einem anderen Stockwerk. Die Minister und die einzelnen ministeriellen Abteilungen wurden von dorther nur kurz unterrichtet und hatten weiter nichts zu tun, als binnen kürzester Frist die einzelnen Ordres genau nach Anweisung auszuführen.
Die sämtlichen militärischen Befehlshaber der einzelnen Kommandobezirke der Hauptstadt waren erschienen. Der englische und der amerikanische Militärattache waren ebenfalls zugegen.

Der Chef des Generalstabes referierte:
„Amerika beabsichtigt, spätestens noch diese Woche anzugreifen. Der diplomatische Vorwand wird soeben geschaffen. Die Entscheidung liegt letzten Endes natürlich zwischen Amerika und Russland. Gemäß unserer Verpflichtungen, unseres militärischen Übereinkommens, haben wir Deutschland als Aufmarschgebiet gegen Osten übernommen: unsere Vorbereitungen sind abgeschlossen. Genügend Plätze zur Landung und zur Verproviantierung von Bombenflugzeuggeschwadern sind vorhanden. Unsere eigenen Farbstofffabriken arbeiten mit Hochdruck... Russland mobilisiert. Das ist das wichtigste Moment der letzten vierundzwanzig Stunden. Diese Nachricht wird von uns geheim gehalten. Denn wir befinden uns dadurch ohne Zweifel in einer verzwickten Lage. Denn bedenklich musste uns schon an und für sich, abgesehen von dieser Tatsache, die Entwicklung unserer inneren Lage stimmen, die Arbeiterbewegung wird weiter entschieden radikal terrorisiert... Auch große Teile der übrigen Bevölkerung treiben im revolutionären Fahrwasser... Die Bekanntgabe der russischen Mobilisation, diese Nachricht wäre unseres Erachtens der Funke ins Pulverfass! Wie Sie wissen, meine Herren, gestern Abend ist es bereits zu einem aufstandähnlichen Zusammenstoß gekommen. Es ist uns gelungen, diese sporadische und ihrem Charakter nach spontane Bewegung ohne jeden Verlust für uns im Blut zu ersticken. Dieser Erfolg darf uns über den Ernst der Gesamtsituation nicht hinwegtäuschen. Wir haben jetzt ein heikles Thema zu besprechen. Bei dieser Beratung kommt es vor allen Dingen darauf an, Richtlinien für die wirksamste Niederkämpfung der Aufständischen und für die Unschädlichmachung ihrer Führer und für die Aushebung ihrer Unruheherde auszuarbeiten, gemeinverständlich, so dass sie jeder Mann im Heer begreift, besonders aber haben wir darüber zu entscheiden, ob, unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß chemische Kampfstoffe eingesetzt werden sollen. Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Wobei das ideologische Moment nicht zu unterschätzen ist. Ich bitte die einzelnen Sachverständigen, diese beiden letzten Punkte besonders scharf im Auge zu behalten!...
Noch das eine: bitte, meine Herren, berücksichtigen
Sie: Wir haben keine Zeit zu verlieren; also kurz und
bündig!"

Die Beratung dauerte nicht lang.
Der Bericht des chemischen Sachverständigen fiel zur allgemeinen Zufriedenheit aus.
Man war prinzipiell einstimmig für die Anwendung der chemischen Kampfstoffe, doch sollte dieses Mittel so lang wie nur irgend möglich aufgespart werden. Und wenn eingesetzt, öffentlich abgeleugnet und vor allem auch eine Gasbeschießung bzw. Gasausräucherung von Kommunistennestern durch Anwendung genügender Mengen von Brisanzmunition verschleiert werden.
Außerdem sei in der nachfolgenden Pressekonferenz gebührend und eindringlich darauf hinzuweisen, dass es sich im Fall der Anwendung von Gasen von Seiten der Regierungstruppen um einen an sich höchst bedauerlichen Fall von Notwehrakt beziehungsweise Gegenmaßnahme handle, dass immer aber nur betäubende Gase,
d. h. Reiz- und Tränengase, zur Verschießung kommen, die im übrigen bei weitem humaner und bedeutend weniger verlustbringend seien als die blanke Waffe bzw. das Brisanzgeschoß. Ferner: zuverlässigen Nachrichten zufolge hätten die Kommunisten schon an anderen Orten Gasmunition verschossen, besäßen außerdem umfangreiche Gaslager und arbeiteten nach russischer Tschekamethode mit Bakterienschleuderapparaten und Cholerabazillen. —

Wieder sprach der Präsident. „Nun denn also! Im Namen — zum Wohl unserer geliebten deutschen Schicksalsgemeinschaft — im Namen des Allerhöchsten!"
Und unterschrieb den besonderen Schießerlass, nach dem jeder, der mit der Waffe in der Hand... ohne weiteres, sofort... und den Geheimbefehl an die Kommandostellen der Flugzeuggeschwader, der Kampfwagenabteilungen und der technisch-chemischen Spezialtruppen über die Anwendung von giftigen Gasen im Fall eines Bürgerkrieges.
Die Kommandeure traten ab.
Eine zweite kurze Besprechung folgte.
„Die Lage in Amerika aber scheint nach unseren letzten Berichten doch nicht so ganz einfach zu sein... Heutzutage ist es den ziemlich aufgeklärten Massen gegenüber auch nicht mehr so kinderleicht, einen einigermaßen passablen Kriegsvorwand zu finden... Doch Geschäft ist Geschäft... Damit basta... "
Einige prominente Gewerkschaftsführer erhielten das Wort.
„Wir können nur immer und immer wieder betonen, wir werden unsere Pflicht tun. Was in unseren Kräften liegt... Aber wir sehen die Lage schwarz in schwarz. Die Arbeiterschaft ist gewillt zu kämpfen, sie folgt unbedingt den Parolen der Kommunistischen Partei, die jedes Kriegsabenteuer mit dem Aufruf zum Bürgerkrieg beantworten wird... Wir selbst sind ziemlich einflusslos geworden... Wir warnen also dringend... Ist der Krieg — sei es der Bürgerkrieg oder der äußere Krieg -aber einmal ausgebrochen, so ist es selbstverständlich,
dass wir uns auf den Boden der gegebenen Tatsachen stellen, d.h. auf der Seite der verfassungsmäßig gewählten Regierung stehn werden. Wir folgen damit nur der bewährten ruhmreichen Tradition unserer Partei. Nur möchten wir bitten, um wenigstens den demokratischen Schein zu wahren, das Parlament nicht völlig auszuschalten. Vielleicht hie und da so eine kurze Sitzung, in der selbstverständlich nur Regierungsvertretern oder Abgeordneten der verfassungstreuen Parteien das Wort erteilt werden soll. Wir stimmen im übrigen von vornherein dafür, dass auch die kommunistischen Parlamentarier außerhalb des Gesetzes gestellt werden."
Der Kommandeur der Schutzpolizei erschien und erstattete über die Vorfälle anlässlich der Demonstration am Ersten Mai Bericht.
„Rhinozeros! Sie Gamaschenknopf!" schnauzte ihn ein militärischer Befehlshaber kameradschaftlich an.
„Sie haben die ganze Lage künstlich überforciert. Die Folge ist morgen Generalstreik. Es geht uns zu frühzeitig los... Haben Sie schon etwas Sicheres über den Termin, wann die losschlagen... Na, sie werden ja ihrer Gewohnheit gemäß sich wieder gewaltig in der Zeitbestimmung, im Tempo verrechnen, das ist das einzige, was die Kommunisten immer noch nicht gelernt haben .. Also Nachrichten, detaillierte Angaben über Stimmung der Bevölkerung usw. Es ist höchste Zeit... Und dann studieren Sie in Zukunft mit mehr Sorgfalt unser Reglement über den Bürgerkrieg..."
„Ich habe gemeint", stotterte der Schutzpolizeiler heraus, „je blutiger der erste Tag, desto besser..." Aber er hatte seine Schlappe weg. Mehrere Vertreter der „Vaterländischen Verbände" baten um Gehör.
Sie jammerten über Zersetzungserscheinungen. Ohne hinreichende Geldunterstützung von Seiten der Großindustrie sei nichts zu machen. Die Kleinbürger seien nur noch mit alleräußerster Anstrengung bei der Stange zu halten. „Jede Stunde, die wir zögern, bedeutet für uns eine ebenso gewaltige moralische wie auch materielle Schlappe. Alles ist bei uns auf sofortiges Losschlagen eingestellt. Dieser Stimmung müssen wir Rechnung tragen. Wir lassen uns ohnedies viel zuviel gefallen. Endlich ist die Stunde gekommen, rücksichtslos durchzugreifen... Wenn sich die Arbeiterschaft erst wieder erholt, dann ,Kopf ab' und ,Gute Nacht'! Für den Gummiknüppel ist die Zeit zu ernst..."
„Ganz unsere Meinung", pflichteten Vertreter der Industrie und der Landwirtschaft dem Vorredner bei. „Sehen Sie sich, meine Herren, bitte die Betriebe an! Fünfzig Prozent davon stillgelegt, und der Rest arbeitet, aber fragen Sie nur nicht wie. Unter passiver Resistenz, unter täglichen Sabotageakten... Nein, so geht es nicht mehr weiter. Keineswegs... Und der Zustand der Eisenbahnen. Die Eisenbahnergewerkschaften sind von allen die aufsässigsten... Jeder Respekt vor der Autorität der Regierung ist zum Teufel... Wir Arbeitgeber können die Ausartung unserer Republik in den Bolschewismus keineswegs dulden. Schon heute spricht man mit Fug und Recht von einem Staat im Staate... Und wie sieht es auf dem Land aus?... Unsereins ist ja seines Lebens nicht mehr sicher... Jetzt oder nie... Meine Herren, entscheiden Sie sich jetzt, unmittelbar, sofort: oder unser aller letztes Stündchen hat geschlagen..."
„Bitten Sie den Leiter der politischen Abteilung der Polizei!"
Oberregierungsrat Ledermann erschien.
„Ihr Nachrichtenmaterial bitte. Wir brauchen unverzüglich konkreteste Angaben. Unserer militärischen Exekution muss sofort ein groß angelegter Propagandafeldzug koordiniert werden. Lassen Sie Berichte anfertigen, Zeugenaussagen, Geständnisse von Gefangenen... Nicht allzu konstruiert, es muss raffinierter als bisher kombiniert werden... Man ist draußen im Land inzwischen durch verschiedene unserer Fehlleistungen hellhöriger und scharfsichtiger geworden. Missgriffe in der augenblicklichen Situation können wir uns nicht leisten, jede Zufälligkeit kann katastrophale Auswirkungen haben... Also: Sie verbreiten zunächst alarmierende Meldungen über kommunistische Putschvorbereitungen, beziehungsweise setzen Sie sich mit den entsprechenden Stellen augenblicks in Verbindung und lassen Sie durch Polizeiagenten Attentate und andere Terrorakte, am besten auf so genannte, dem Volksempfinden nach geheiligte Orte wie Kirchen, Säuglingsheime, Krankenhäuser usw., fabrizieren. Das neulich am Ersten Mai soll die Feuerprobe gewesen sein. Nun also rüstig weiter... Lassen Sie noch heute einige Höllenmaschinen in die kommunistischen Parteibüros einschmuggeln. Dadurch kommen wir zu einer populären Begründung der allgemeinen Mobilisierung. Dadurch bekommen wir auch bedeutend mehr Reserven heran und können die unzuverlässigen Regimenter auffüllen. Setzen Sie Fahndungskommandos ein, schreiben Sie Kopfprämien aus, zunächst muss der ganze Funktionärkörper der Kommunisten rücksichtslos zerschlagen werden. Erst auf dieser Basis können wir dann erfolgreich an der Sanierung weiterarbeiten. Fälle von Insubordination, Meuterei bei der bewaffneten Macht, rote Zellenbildungen in Armee und Marine sind mir direkt zu melden. Anweisung an die Kriegsgerichte: exemplarisch bestrafen, sofort Exempel statuieren! Keine offizielle Hinrichtung revolutionärer Führer. Solche sind auf der Flucht zu erschießen, beziehungsweise ist in besonders geeignet erscheinenden Fällen geschickt ein Selbstmord zu arrangieren... Was ,Auskundschafter' und derartige Individuen anbetrifft, so kaufen Sie in großer Anzahl dazu geeignete Subjekte auf, wir brauchen Vorrat für mindestens einen Monat. In den Obdachlosenasylen, die Sie durch Polizeistreifen säubern lassen müssen, werden gegen entsprechendes Handgeld sich immer welche in großer Anzahl finden lassen.. Jede derartige Dienstleistung wird gegen bar honoriert Nach festen Sätzen. Spesen extra. Staatsstellung in Aussicht stellen... Ich empfehle mich und erwarte Sie spätestens morgen früh persönlich zum Bericht..."
Der Oberregierungsrat war entlassen.
Die verschiedenen Herren verabschiedeten sich.
Man salutierte. Stand stramm.
Alle gingen an die Arbeit.
Der Chef des Generalstabs stand mit mehreren Offizieren vor der Karte.
Mit blauen Marken wurde Berlin eingekreist...

Die Telefunkenzentrale fieberte.
Telegrafenapparate klapperten.
Lärmende Gerüchte poltern durch Stadt und Land.
Extrablätter: „Generalstreik!"
Extrablätter: „Entdeckung kommunistischer Waffenlager. Drohender Kommunisten-Putsch.

 

12

Kommunistische Giftgase... Die Regierung hat die Mobilisation angeordnet... "
Unter den Schwerverwundeten befand sich auch Peter.
Er hatte einen Nierenschuss, und zwar einen Querschläger. Die rechte Hüftenseite war fleischig ausgefetzt.
Sein Zustand war hoffnungslos.
Daran war überhaupt nicht zu zweifeln.
Er war als Polizeihäftling in das Krankenhaus eingeliefert worden.
Es war jetzt Abend. Die Vögel sangen im Krankenhausgarten. Immer wieder schrillte die Torglocke. Aufnahme an Aufnahme. Auf den Gängen war Bewegung...

Peter lag in einer vergitterten Einzelzelle.
Der Arzt untersuchte kurz. Auf einer Holztafel wurde der Name mit Kreide aufgeschrieben. Drei Polizeikommissare erschienen, wie es hieß, zu einer vorläufigen Vernehmung.
Der Sterbende sprach nicht.
Drei photographische Aufnahmen wurden gemacht. Man zog ihm dazu die Jacke wieder an, drückte ihm den Hut auf, dann stellte man ihn aus dem Bett heraus an die Wand.
„So stehen Sie doch! Stellen Sie sich doch nicht dümmer an als Sie sind! Knicken Sie doch nicht immer wieder in sich zusammen wie ein hohler Schlauch!..."
Fingerabdrücke. Messungen.
Der Arzt spritzte, um den Sterbenden dabei frisch zu halten, Herzmittel.
Man musste aber auch noch eine Aussage erpressen, man musste, koste es, was es wolle, ein Geständnis erzwingen, klipp und klar musste es sein, gemeinverständlich für jedermann, nur er, Peter, konnte darüber Aufschluss geben; der Student: war er nicht Leiter einer militärischen Abteilung, vielleicht gar der berüchtigten kommunistischen GAKAB, Gaskampfabwehrabteilung!? Man war informiert darüber. Peter wusste am ehesten Bescheid...
„Lassen Sie, bitte, Herr Doktor, Sekt auffahren! Wünschen Sie zu rauchen, eine Zigarette gefällig, Herr Friedjung... Oder was ist Ihnen angenehm!?... Haben Sie vielleicht Angehörige, gute Freunde, ein Fräulein Braut, die Sie noch sprechen möchten... Verheiratet sind Sie ja nicht... Und Ihr Herr Vater, eine telegrafische Benachrichtigung vielleicht... Wir stehen Ihnen selbstverständlich zu jeder Art Dienstleistung bereitwilligst zur Verfügung. Das ist auch der eigentliche Grund unseres Kommens... Aber bequemen Sie sich bitte zu einer ganz kurzen Aussage. Ihr Entgegenkommen soll Sie nicht reuen... Sie kennen doch den... Und wo hält der sich auf... Bitte, bitte, wir lassen Sie sofort in Ruhe. Sie sind aus der Haft entlassen! Sofort sind Sie frei."
Peter schwieg.
Nur einmal drehte er sich kurz auf. „Lassen Sie mich doch... Quälen Sie mich nicht... Sie wissen doch, es hat keinen Zweck... Das müssten Sie sich doch eigentlich selbst sagen. Wozu diese Folter... Sie müssten sich eigentlich schämen..."
Wieder wurde er im Bett aufgesetzt.
„Sehen Sie, Herr Friedjung, Herr ,Doktor', alle diese Unannehmlichkeiten müssen Sie über sich ergehen lassen. Sie erschweren sich durch Ihr hartnäckiges, uns geradezu unverständliches Schweigen nur ganz unnötigerweise selbst die Lage... Wollen Sie... Es geschähe in einer solch kritischen Situation auch sicher im Einverständnis mit der Partei..."
Peter schwieg.
„Na, also, da müssen wir scheinbar andere Seiten aufziehen, da werden wir kurzen Prozess machen. Wollen Sie jetzt oder wollen Sie nicht, Sie verfluchtes Kommunistenschwein? Heraus mit der Sprache: Wo sind eure Gaslager!? He! Oder wir brechen Ihnen noch bei lebendigem Leib die Knochen entzwei... Sie haben vielleicht gehört,
Ihrem schönen heiligen roten Russland benützt man Gefangene dazu, um an ihnen ein neues Gas auszuprobieren... . Dass so ein Dreckskerl, so ein Luder wie du nur einmal verreckt, das genügt nicht. .. Man müsste die Kommunisten, diese Kannibalen, zur Vivisektion freigeben..." Und versetzte ihm einen Puff, dass der Sterbende an die Wand rutschte.
„Warte, du wirst gleich aus dem Bett herauskollern, Freundchen, dann wirst du schön hübsch und brav auf dem Boden unseren Dreck fressen... "
„Lass ihn deinen... lecken, diese Kommunistensau, so haben es seine Bundesbrüder, die Franzosen, mit unseren Gefangenen gemacht... Na, so ein stures Vieh... "
Einer der Kommissare klingelte.
Der Arzt erschien.
„Herr Doktor, der Kerl schweigt. Haben Sie vielleicht so was wie einen elektrischen Pinsel!? Oder, was stark schmerzt, eine Ätherinjektion vielleicht unter die Haut!? Oder kann man ihn noch in eine dreiviertel Narkose, in einen Chloräthylrausch versetzen, um dadurch vielleicht etwas herauszukriegen?..."
„Aber meine Herren, ich muss davon abraten. Diese Mittel versprechen hier keinen Erfolg mehr, fühlen Sie doch den Puls, bei Mittelkranken ja, aber in solchen Fällen: kurz vor dem Torschluss, fünf Minuten vor dem Exitus... Ich bin zwar Gerichtsarzt und in erster Linie Gehilfe des Richters, aber, Herr Inspektor, wir wollen uns doch nicht noch an einer Leiche vergreifen..."
Der Herztakt des Sterbenden galoppierte. Setzte aus. Brach sich wieder stockend, zögernd durch... tropfenweise... Dann hämmerte er ganz, ganz langsam...
„Sehen Sie doch!..."
Der Arzt lüpfte die Decke.
„Es kommt ganz dick durch den Verband... "
„Ein solches Kommunistendreckschwein!"
„Aber Herr Friedjung", versuchte es jetzt wieder einer der Kommissare, „ich beschwöre Sie, im Augenblick Ihrer letzten Stunde, vor Gottes Angesicht! Auch ich bin innerlich tiefreligiös, und ich spreche jetzt zu Ihnen wie Mensch zu Mensch!... Sie können uns doch unmöglich so unverrichteter Dinge abziehen lassen! Versetzen Sie sich, bitte, wenn es Ihnen auch schwer fällt, doch einmal für einen Augenblick in unsere Lage! Was wird unser Chef dazu sagen, wenn wir so mit leeren Händen nach Hause kommen! Wir verlieren Ihretwegen, Herr Friedjung, noch unsere Stellung! Und sind allesamt doch verheiratete Männer, bedenken Sie, mit Weib und Kind und Haushalt! Sind schließlich doch auch nur Proletarier!"
„Also, haben Sie Erbarmen mit uns!" gab ein zweiter dazu „Mut gefasst. Auf eine Aussage mehr oder weniger kommt's doch nicht an. Sprechen Sie, wir sind doch Männer! Deutsche ehrliche, offene Männer, die nichts zu befürchten und zu verschweigen haben, und wenn die Welt voll Teufel wär, unsere feste Burg ist unser Gott. Also... Wir wollen im Grund letzten Endes doch alle das gleiche..."
Peter schwieg...
Die Kommissare zogen türenschlagend ab. Die Schritte schleiften den Gang hinunter, ein Schlüssel
klirrte, eine Tür schnappte... Nur fern wo schrie jemand... Der nächste...
Halt auch du stand, Genosse, und schweig! Peter war mit sich allein. —

 

13

Sind es Spinnenweben! ? Licht-Gespinste? Sind es Strahlengeflechte, die, kreuz und quer in sich verschlungen, durch den Weltraum gezogen sind!?
Nein.
Es ist das Gitter.
Und das Gitter kommt auf Peter zu, wandert, wandert vor ihm her, wandert ihm nach bis in den kleinsten Weltwinkel.
Er steht in einer sauberen Stube. Er ist einem Mädchen gut. Er hat sie umgefasst. Du, wollen wir nicht zueinander du sagen!? Er ist eigentlich ganz glücklich...
Da senkt sich auch schon wieder schwer, schwarz, vierkantig und schemenhaft vor ihm das Gitter herab. Das Gitter spricht: Bevor ich nicht zerbrochen bin, gibt es für dich Ruhe nicht!... Peter, tu deine Pflicht!... Feile, beiße dich mit den Zähnen fest, reiße deine Hände wund daran, knie dich herauf zu mir, ziehe dich zu mir empor, presse deine Schädelknochen hinein zwischen mich, rüttle daran, schüttle mich... Friss das Gitter...
Das Gitter spricht: Ich lass dich nicht!
„Wie schön das Leben ist!" flüstert Peter. „Die Berge, das Meer, wellengebuckelt, Gewitter darüber metallisch, wie über einer gerippten Fläche aus schwarzem Erz! Und die Jahreszeiten! So ein Winter voll Schneefließen und
Skilauf!... Wie die Bäume blühen, die Wälder duften... Wie ein Klotz liegt man ausgestreckt inmitten des Wiesenkrauts ... Windmühlenflügel am Horizont! Kornwagen, die auf der steinigen Landstraße polternd von der Ernte dorfwärts schwanken... Menschen, gebräunte knochige Gesichter, die in der Schenke vor einem hölzernen Tisch sitzen, bei Rauch und bei Wein!... O noch einmal! O noch einmal!"
Und wieder fällt das Gitter, ein Netz diesmal, gewoben aus Geschoßbahnen und Feuerdampf, es fällt und fällt, bis der ganze Weltraum durchgittert ist. Auch das „schöne Leben" durchgittert ist! Irrsinnig flackernde Augenpaare dahinter, Bajonette und Stacheldraht, Knochenknacken und Ächzen und Tränenwimmern, das schwere Stampfen einer Riesenpumpe, die Menschenblut pumpt, die Menschenmark, Menschenlebenskraft saugt. Mordmaschinen, Fabrikanlagen: Massenmord wie harmloses Kinderspielzeug fabrizierend...
Da sind Menschen, die vor dem Gitter flüchten. Menschen, die hinter dem Gitterwerk träumen. Es ist ein goldener Käfig, darin sie sich schändlich zu Tod träumen. Die Stäbe sind bronzen lackiert...
Das Gitter wächst... Setzt Glieder an, Knoten, Verkuppelungen... Es kann Menschen umarmen, Menschen umarmend zu Tode drücken. Die Gitterstäbe sind vielkantig, messerscharf...
Und das Gitter steht mitten in Europa.
Und das Gitter steht in Asien.
Steht um Afrika herum...
Dehnt sich aus und zieht sich wieder zusammen... Schwimmt aufrecht stehend übers Meer — Umgittert Japan. Umgittert China...
Die Gitterstäbe werden lebendig, sind Menschen, uniformiert, bewaffnet mit Pistolen und Handgranaten... Und das lebendige Gitter marschiert, macht Menschenjagd Und die Gitterstäbe pflanzen sich wie spitze pfähle fest mitten hindurch durch Menschenleiber. Und das Gitter schwenkt sich jetzt wehend im Wind wie eine Fahne über krampfhaft sich zu Tode zuckende Menschenhaufen. Diese Fahne ist gehisst auf einem pyramidenähnlichen Hügel von Leichenmüll.
Die Fahne spricht: „Ich proklamiere die Menschenrechte. Ich bin die Fahne der Zivilisation! Glaubt denen nicht, die da sagen: ich sei eine Todesfalle. Glaubt denen nicht, die da prophezeien, ich würde über kurz oder lang dennoch heruntergeholt. Beugt euch, ihr heidnischen Völker, in Glauben und Demut vor mir. Ich bin das Christentum. Ich bin die Erlösung. Die Freiheit, die Arbeit, das Glück, die Lebensmöglichkeit für alle... Ich bin der Menschheitsfortschritt... "

Ein feiner, in messerscharfen Strichen heruntergerissener Regen rann. Rann senkrecht und waagrecht und schlang sich plötzlich um Peter herum, ein fließendes Gitter... Ein unentwirrbares Regendickicht. Bis ein gewaltiger Lichtsturz niederschoss... das Regengitter durchschmolz...
Unter der Glut einer roten Sonne löste es sich auf. Peter stand frei in einer unbegrenzten Landschaft. Eine unendlich tiefe, jubilierende, glanzblaue Klangmulde war die Welt. —

Ein Genosse reichte ihm die Hand. Die Hand Peters war farblos geworden, alles Blut hatte sich in das Herzinnere zurückgezogen, Peter sah auf seine Hand hinab: da lag sie vor ihm auf der bunt gewürfelten Bettdecke, groß, ausgeruht, unfassbar fremd.
„Gute Nacht! Peter!" nickte der Genosse ihm zu. „Hast's gut gemacht! Hab keine Zeit, viel noch zu schaffen. Muss jetzt weiter..."
„Bleib wohlauf!" antwortete Peter, und das schon aus einem sehr tiefen, wie mit einer samtenen Nacht ausgelegten Hintergrund hervor. „Lass dir's gut gehen! Du schaffst es schon! Zähne fest zusammenbeißen. Weiterarbeiten so. Nicht wahr...! Denn das eine steht heute unumstößlich fest: mag der einzelne auch fallen, das Ganze, die proletarische Klasse siegt!..."
Das sprach Peter schon wortlos.
Der Genosse hörte es nicht mehr.
Dieser Genosse, von dem Peter jetzt Abschied genommen hatte, war aber nicht ein einzelner. Keine Einzelperson. Er war anonym, namenlos, dieser Genosse war die Partei, dieser Genosse war das Proletariat, dieser Genosse war die Masse aller Ausgebeuteten und Verelendeten. Dieser Genosse war die siegreiche Revolution.
Dieser Genosse hieß auch: die Zukunft der Welt. —

Peters Lippen bewegten sich immer noch.
Nun versank er in sich.
Die Augen glühten glanzweiß...
Menschenmassen schrieen gegeneinander. Menschenmassen schoben immerfort kämpfend sich aufeinander zu...
Die Geräusche bewegten sich jetzt von ihm fort, wie ein Blätterschwall, der dicht über den Boden dahinfegt.
Noch einmal wölbte sich ein Wipfel von Geräusch über ihm: Schüsse, Schreie, Knochensplitter... Der Wipfel
schwang schmetternd über ihn hin... Und es wurde Herbst... Der Wipfel entblätterte... Es wurde traumhaft ruhig um ihn...

Trotzdem nun Peter ganz mit sich allein in der vergitterten Zelle lag: so wenig einsam wie jetzt war er in seinem Leben noch nie. —

 

Siebentes Kapitel

VOM EINZIG GERECHTEN KRIEG

Das „neue Leben". — Wie es im Himmel aussieht! Und auf Erden?! Gespensterlandschaft. — Vom einzig gerechten Krieg. Im Anfang war die Arbeit. — Fleisch. Blut. Knochen. Denen, die in Ketten träumen. — Roter Marsch. Gesang der Welteroberer.
Wir lassen hier die Aufzeichnungen folgen, die Genosse Peter Friedjung uns hinterlassen hat.

1

Im Anfang war die Arbeit.

Es sind nun schon einige Jahre her, dass ich das bürgerliche Leben verließ, in dem ich bisher, wenn vielleicht auch absonderlich und phantastisch, lebte. Dass eine Brücke nach der anderen ich hinter mir abbrach, bis endlich auch die Konturen dieses alten Lebens immer mehr schwanden, ich auf der neuen Erde Tag für Tag fester Fuß fasste, neue Menschen fand, neue Kameraden gewann, und ich mit meinem Vorleben, das ja auch nur ein bescheidenes Plätzchen innerhalb der allgemeinen bürgerlichen Verworfenheit darstellte, mich nunmehr dergestalt beschäftigte: den eisklaren revolutionären Vernichtungsplan im Gehirn; konkreten Willens, exakt und zweckmäßig gearbeitet wie ein modernes Brechwerkzeug; ein unerschütterliches Bollwerk von Hass gegen jede Form von Menschenausbeutung im Herzen; die Waffe in der Hand.
Die Realität dieses vergangenen Lebens ist notwendigerweise eine gespenstische.
Dieses Abschiednehmen, dieses Zurückweichen der Uferlinie mag, wie mir bekannt ist, am besten, wenn
auch auf typisch kleinbürgerliche und idyllische Art und Weise, seinen Ausdruck gefunden haben in jenen Worten ans Strindbergs „Entzweit", wo es am Schluss heißt:
So fuhr er wieder hinaus in die Welt. Als der Dampfer an dem schönen Herbstabend sich den Strom hinaufarbeitete, sah er noch einmal das Häuschen, dessen Fenster jetzt leuchteten. Alles Böse und Hässliche, das er dort gesehen hatte, war jetzt verschwunden; er empfand kaum eine flüchtige Freude, diesem Gefängnis, in dem er so unerhört gelitten hatte, entronnen zu sein. Nur Gefühle der Dankbarkeit und Wehmut ergriffen ihn. Einen Augenblick zog das Band, das ihn an Weib und Kind fesselte, so stark an, dass er sich ins Wasser stürzen wollte. Dann aber drehten die Schaufelräder den Dampfer einige Male kräftig vorwärts, das Band dehnte sich, streckte sich —und riss."
Und riss! -

Nun zeichne ich hier die Kurve dieses Wegs der Ablösung auf, einer Kurve, die oft einer Fieberkurve gleicht.

Zuchthausmauern, Hinrichtungen, Verfolgungen, Leichenhaufen, lohnend bezahlter Meuchelmord: das ist die Landschaft, durch die dich der Weg auf seiner neuen Richtung, die er genommen, hindurchführt. Dein Schritt ist nicht mehr eines einzelnen Schritt, du schreitest im Gleichtakt, du schreitest ihn als Kampfkolonne.
Hinter dir, weit hinter dir der andere Teil der Menschheit auf seinem verlorenen Posten, überwuchert von seinem eigenen Pesthauch wie von Giftschwaden; rachefletschend, geifernd, verleumdend, zu jeder Untat und Gemeinheit allzeit bereit: die Profitrate sinkt — ein panisches Gezeter: und nun lassen sie hervorstürzen aus den Zwingkäfigen ihrer Kasernen, sie, die schöngeistige Ruhmredner auf Kultur und Zivilisation, schlimmer als Hunnenhorden, die von ihnen im Namen des Vaterlandes gedungenen Söldnertruppen und die Garden der Streikbrecher, von Arbeiterverrätern und bornierten Gewerkschaftsvertretern kommandiert; Studenten- und Freiwilligenbataillone, durch deklassierte Offiziere, abenteuerlüsterne Professoren und Pfaffen auf Arbeitermassacres abgerichtet.
Polizeirock, Windjacke, Uniformfetzen stürzt sich auf Arbeitskittel: „Jib ihm Saures!" Oder: „Komm mit! Kusch dich! Oder sonst beißt sich was... "
Und das letzte Stadium des Martyriums des blutdurchtränkten Arbeitskittels beginnt: endend mit jahrelangen Zuchthausstrafen oder „An die Wand" und angefangen mit ausgeschlagenen Zähnen, ausgerissenen Augen und Rippenbrüchen schon bei der Verhaftung, auf dem Transport oder auf der Wachtstube. —

Auseinanderfallen der Weltwirtschaft. Unfähigkeit des Kapitalismus, irgendeines der großen internationalen Probleme zu lösen. Valuta-Chaos. Unlösbarkeit der Reparationsfrage. Verschärfte Krisenperiode. Einengung des Weltmarkts. Uneinheitlichkeit der Konjunktur. Unerträgliche Spannung zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. —
Aber nur neue Terrorakte gegenüber der werktätigen Bevölkerung produzieren diese Tatsachen, und, maskiert durch die Kulisse einer pazifistischen Ära, häuften sich allenthalb die Explosivstoffe. Unter unsäglichen Leiden und Opfern der von den Produktionsmitteln künstlich Abgetrennten, der die Fundamente der Gesellschaft mittels des lebendigen Kitts ihres Herzbluts, ihres Schwei­ßes, ihrer Tränen gerade noch notdürftig Zusammenhaltenden: arbeitete in allen Fugen krachend weiter der altmodische und an den wichtigsten Stellen schon völlig unbrauchbar gewordene Welt-Mechanismus.
per ganze Apparat taugt eben nichts mehr, funktioniert nicht mehr, kommt nicht in Schwung...
Auch die Kolonialvölker hatten zugelernt, rebellierten.
Jeder, auch im entlegensten Weltwinkel, hatte allmählich eine genügend hinreichende Dosis Erfahrung geschluckt...
Unentwirrbar das Riesenknäuel der machtpolitischen Probleme —
Und die internationale Bourgeoisie bereitete trotz Völkerbund und gegenteiliger scheinheiliger Versicherungen bereits in ihren Flugzeugwerkstätten und chemischen Giftgasversuchslaboratorien einen großartigen Start vor zu neuen imperialistischen Weltkriegen.
Immer wieder von neuem dazwischen heftige elementare Ausbrüche ihrer inneren unüberwindbaren Interessengegensätze ...
Auch kamen die aufgewecktesten Teile des Proletariats endlich dahinter, wie höllisch-friedlich in Wahrheit so ein imperialistischer Frieden war.
Recht energisch knurrten schon ihre Reihen: „Misstrauen! Misstrauen der menschenfressenden Kanaille gegenüber bis zum Äußersten!"
Und: „Ein Narr, wer Tigern predigt Pflanzenkost!"
„Euer herrlicher Frieden: eine Fortsetzung eures glorreichen Kriegs wohl, mit anderen Mitteln, was!?" — „Und wenn es schon einen ,trockenen Putsch' gibt, warum soll es nicht auch einen ,trockenen Krieg' geben?"

Wahre Volksschlächter- und Massenhenkernaturen entstanden auf diesem, von Fäulniskeimen durch und durch unterminierten Boden.
Professionelle Sadisten im Dienst der politischen Polizei, Gewohnheitsverbrecher, Verräter, Denunzianten, Attentäter, lebendige Marterinstrumente, menschliche Folterbestien, Lockspitzel, geriebene Erpresser: das marschierte wie ein Heer auf, verschlang, ein parasitäres Geschwür, mörderisch durchseuchend den ganzen Volkskörper, Unsummen vom Staatshaushalt; denn diese, teils aus Unzurechnungsfähigen, teils aus Menschendreck rekrutierte Geheimarmee wollte eben auch gut bürgerlich leben und zählte nach Hunderttausenden.
„Mit Stumpf und Stiel ausrotten..."
Dieser Plan gegenüber dem klassenbewussten revolutionären Proletariat aller Länder kristallisierte sich also im Lager der zu einem eisern-gelenkigen Abwehrblock zusammengeschweißten, mit den raffiniertesten Großkampfmitteln ausgerüsteten internationalen Welt-Bourgeoisie immer deutlicher. Ob mit Hilfe des Faschismus oder mit Hilfe der Sozialdemokratie, d. h. mittels einer so genannten „Arbeiterregierung", ob offen, brutal oder ob pazifistisch, demokratisch, illusionistisch: das war eine reine Taktikfrage, und man war sich einig darüber drüben: das wird den verschiedenen Zeitumständen und Kräfteverhältnissen entsprechend abwechselnd, je nachdem, einmal so und einmal so, gehandhabt.
Welt-Mobilisation. Front gegen Front. Es riss durch -
Und es riss durch bis auf die Sprachverbindung hinab, bis hinab auf die gleiche Erlebnismöglichkeit.
Front gegen Front heißt: Sprache gegen Sprache, Gefühlsausdruck gegen Gefühlsausdruck, heißt Denkart gegen Denkart, heißt Anschauungsform gegen Anschauungsform, heißt Weltbild gegen Weltbild.
Denn eingetreten schon waren wir in das Zeitalter der alle Erdteile umspannenden, der die Welt-Zukunft entscheidenden Riesenklassenschlacht. Die Klassenkräfte gruppierten sich, die Klassenkräfte manövrierten gegeneinander —
Druck und Gegendruck —
Und gewaltig drückte herein das rote Russland, ein Einhundertundfünfzig-Millionen-Volk; einhundertundfünfzig Millionen, Arbeiter- und Bauernmassen, warfen sich jetzt, ein drückendes Gewicht, in die Waagschale; rote Erde, ein Sechstel des Erdteils... Und dahinter die aus dem Bann jahrtausendelanger Knechtschaft erwachenden, zu Meeren aus Schmelzglut verwandelten Völker des Ostens...
Der Zeiger rückt vor in das letzte Viertel auf dem Zifferblatt des Menschheitsmanometers. Die Alarmpfeifen an den Sicherheitsventilen trillern. Die Stahlhäute schwitzen. Der Augenblick der Sprengung ist nah! Die Stahlhäute werden rissig, beulen sich aus, dehnen, zerren, biegen sich---
Mit ewigkeitstriefenden Lippen beschwören zwar noch ihre imaginären, verschiedenartig uniformierten Götter die Fetischgläubigen, das gerechte, ja nur allzu gerechte Verdammnisurteil der lebendigen Geschichte von den
Häuptern der heute Herrschenden gnädiglichst abzuwenden: immer eindringlicher aber, selbst bis in die letzte unscheinbarste geringste Alltäglichkeit hinein, kündigt sich an die gewitterschwangere Atmosphäre einer Endphase. —

Wie je nur einer, so habe auch ich vormals begeisterungsinnig genug verehrt sie alle, die Meisterwerke euerer Dichtung, euerer Malerei, euerer Musik, euerer Plastik; ich selbst war einer jener „Verklärer", jener Ekstatiker der Apotheose des „Abgrunds"; durchgeforscht habe ich mich durch alle Gefühlswildnisse und weisheitssüchtig mich durchgedacht durch die Labyrinthe eueres an Komplizierungen und Kombinationen so berauschend reichen, ja überreichen Denkens, durch alle scheinbar so lückenlos gefügten philosophischen Systeme hindurch, grausam-offen sprechende Zeugnisse des von euch zwangshaft nie und nimmer zu lösenden Widerspruchs. Kindlich staunend aufgeblickt habe ich zu den siebenmalsiebentausend Wundern euerer Maschinentechnik, euerer genialen Organisationskunst, zu der, wie ihr gern wahrhaben möchtet, metaphysisch-einheitlichen Geordnetheit eueres Weltbilds... aber ich habe den Blutsumpf auch mit eigenen Augen gesehen, auf dem euere Kultur erbaut ist, und ich habe den selbstverständlichen Mut geschöpft daraus, sie, und dadurch vor allem auch das, was in meinem eigenen Dasein damit zusammenhängt, rücksichtslos durch die Tat zu verneinen.

 

2

Man kann einem Menschen nicht zum Vorwurf machen, dass er in der bürgerlichen Gesellschaft gelebt hat. —
Der eine: zerfetzt, den Körper mit Wunden bedeckt — kämpft sich durch. Ob er den Übergang gewinnt!? Und dann, ob er nach diesem gewaltsamen, oft mit Gehirnzerrüttung und Gesundheitsschädigung erkauften Durchbruch noch soviel an lebendiger Kraft erübrigt hat, um auf der Kampffront der werktätigen Millionenmassen seinen Mann zu stellen: vorn, in der offenen Feuerlinie, im Nahgefecht, bei der täglichen Kleinarbeit!? Denn das „neue Leben", die Revolution, sie erfordert dich ganz. Sie verlangt unerbittlich eine unendliche Fülle von exaktem Wissensmaterial von dir; sprunghafte Kühnheit zugleich und zweckhafte Fähigkeit...Heroisch zu sein in den heroischen Momenten der Geschichte ist leicht. Aber von nun an heißt es: Spanne dich! — und wenn auch nur ein erbärmlicher sozialdemokratischer Gewerkschaftsbürokrat die Scheibe ist — auch dahinter leuchtet das große erhabene Ziel: auch da musst du dich hindurchschießen!
Ob man die Möglichkeit der Gedankenvereinfachung noch hat!? Die Möglichkeit des Sich-in-Beziehung-Setzens mit dem Ausdrucksorgan des Ausgebeuteten, der eine andere Sprache spricht als die deine ist, die aber auch von nun an die deine werden wird. Ob du dich damit bescheiden kannst, zu lernen, weiter nichts als zu lernen, dich durch die asketisch-strenge Schule der Partei hindurchzukneten, ein Lernender zu sein, nichts weniger und nichts mehr als nur ein Lernender... Rücksichtslos alle deine bürgerlichen individualistischen Exzesse aus dir auszuschneiden... Um eines Tages durch deine Arbeit dein neues Heimatrecht dir zu erobern: vom Proletariat als seinesgleichen adoptiert zu werden...

Das Gehirn in jenem „alten Leben" wird abstrakt, wie
eine Windblase, und entfernt sich, irrsinnig phosphoreszierend, ins Zeit- und Raumlose. Du schwelgst zwar in einem gewaltigen Pathos, aber es ist jenes berüchtigte romantische Pathos der Distanz, das Pathos vom Wissen des Nie-je-verwirklichen-Könnens, das Pathos der hoffnungslosen Unüberbrückbarkeit zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll.
Andere geifern sich darüber hinweg mit Zynismen. Es ist ein und dasselbe. —

Ob man sich selbst herunterholen kann!?
Herunter bis auf diese naheste aller Erdnähen, bis zu diesem festen granitenen fundamentalen Grund: Klassenkampf, Klassensolidarität, Parteidisziplin, Parteiehre!? Darnach, nachdem das ganze Dasein ausgelaugt von der bürgerlichen Gifthölle ist oder millionenscherbig zersplittert! Und man sich mühselig von neuem wieder zusammenklauben muss!... Dreivierteln seines Menschendaseins den Todesstoß versetzen muss, um mit dem übrig gebliebenen, ach so spärlichen Restviertel von vorne, ganz von vorne zu beginnen!?...

Nun, ich habe viele kennen gelernt, die auf diesem Wege gefallen sind, zu etwas Besserem geboren als zu farblosem Verzicht und ruhmlosem Opfertum: freiheitsfanatische, prächtige, an allem Wahren und Schönen entzündbare und alle Menschen rings um sich mitentzündende, gemeinschaftssüchtige Menschen; Menschen, in ihrer Jugend wie Kraterberge, mit explosiver Lava an-
gefüllt, rissig rings von einem ununterbrochenen ekstatischen Bersten; Jahr für Jahr aber mehr und immer mehr abglühend bis zu einem wandelnden Aschenhaufen, durchdunkelt von unheilbarer Schwermut. Manche von ihnen schüttelten sich in dem ihnen von der Gesellschaft angeborenen brennenden Kettengewand oft rasend wie Berserker. Sie waren allesamt wissend, zum mindesten aber ahnend, und in Gesprächen gelegentlich oder in einem hingezuckten Blick verrieten sie ihr Geheimnis.
Wie lautete ihr Geheimnis?
Einfach:
„Die Lebenskraft reicht uns eben nicht mehr hin, her­über, herauf über den Rand zu kommen. Man bleibt hilflos, einsam hängen wie in einem ungeheuren Rauchfang im Weltabgrund... Man lässt los. Ein Traum, ein violetter vielleicht, wenn Sie wollen, von einem seligen, vergessenheitstrunkenen Absturz. Fratzenhaft das alles, grimmassierend... Ein elektrischer Einstich jeder Sternblick. Alles Leben ist gläsernes Schweben... Über metallisch fließende Traumsteppen hin uferloses Tonwehen... Die Atmosphäre, die Atmosphäre, die ist es... Sie ist zwangshaft... Ein unheimlich unsichtbarer, mörderischer Fetisch... Unentrinnbar umklammert von einer mystischen Gefühls- und Denkzange: ein mystischer Terror: man — kann nicht mehr."
Solchen kann man wirklich nicht zurufen: „Nur Mut!"
Das ist das völlige Abgekämpftsein, ein Bruchton aus der Symphonie des bürgerlichen Klassensterbens, das in seltsamen Klangkombinationen hinschmelzende Finale der physiologischen Gebrochenheit.
Ihr Welträtsel!? Ihres Welträtsels Unergründbarkeit!?
Sie fanden nicht mehr den Anschluss an die allein rettende, an die alleinig heilende Realität dieser Erde, an die einzig die Menschheitserlösung erkämpfende Macht dieser Erde, an das Proletariat, an die Kampftruppe der Zukunft — und so würgten sie sich selbst ab unter metaphysisch-grotesken, oft harlekinhaften Todesgesten Luftleeren.
Mit welchem Aufwand an Sentimentalität, Zärtlichkeit, Andacht bauten sie sich aus in dem auf dem Boden des Nichts errichteten Elfenbeinturm ihrer Individualität für jede Laune, für jede Absonderlichkeit ein eigenes Wohngemach; ganze Appartements darin für treibhausdünstiges „Höhenleben" —: bis eines Tages dieses künstlich aufgeführte Gebäude schwankte und zu dem zusammenstürzte, was es war: zu einem Häufchen von Daseinsmoder, Lebensekel und verworrener, ihrer blendenden Umschalung entkleideten Weltlüge.
Sie endeten alle mit Selbstmord, ob sie nun Hand an sich legten oder nicht.
Auch ihr Wahnsinn war Selbstmord.
Man kann sie nicht verurteilen, man kann sich nicht zum Richter aufwerfen über sie.
Hier gibt es nur das eine: „Es ist schade, jammerschade."
Über alle diese „Zu-kurz-Gesprungenen" schreibe ich als Epilog:
Ich weiß, welches unausmeßbare Maß an Schmerzen ihr erlitten habt. Ich bin fähig und ich bin auch willens, sie mitzuleiden. Mancher von euch hat tapfer sich gewehrt; jahrelang, jahrzehntelang sich tapfer gewehrt, bevor er die Arme verschränkte oder die Hände faltete... Wie viel, o wie unaussprechbar viel an unausgelebter Kameradschaftlichkeit, Herzensgüte, Menschenwärme, Lebensschwung ist mit euch dahingegangen! Legionen von Begabungen unbarmherzig erdrosselt! Ausgehungert irrtet herum ihr oft monate-, ja jahrelang; ausgehungert bis auf den nackten Knochen... In diesem menschenschlächterischen, menschenunwürdigen Menschheitszustand: was wird nicht zum Spekulationsobjekt!? Euere Trauer, euere Not, euere Tränen, euere Verzweiflung, euer Angstschweiß, euer Verfolgungswahn, jede Pille der Bitternis, die ihr geschluckt habt, jede Art euerer Marter bis zum letzten Todesröcheln... Das alles... Und mehr noch... Geduldet, gedacht, gefühlt, von Leidensstation zu Leidensstation gehetzt — für wen?! Warum?! Wozu?!... Für nichts und wieder nichts!... Hoch über der Sinnlosigkeit jeder Einzel-Existenz thront, weiter behäbig sich mästend, der Welt-Unsinn... Nicht eine Sekunde lang währte sein ach so oft euch flammend versichertes Beileid!... Dem Fresser dientet ihr nur dazu, sich mehr noch anzufressen; dem Geilen nur, sich von neuem aufzugeilen. Kein einziges seiner Massenopfer habt ihr je den Massenmördern abgerungen. Euere Waffen waren stumpf geworden mit der Zeit, ihr merktet es vielleicht selbst nicht, aber sie ritzten nurmehr ganz an der Oberfläche die wie zu einem Panzer geronnene Menschenhaut... Da liegt ihr nun mit eueren gerupften Traumflügeln auf dem Abfallhaufen der Geschichte... Wir haben es nicht nötig zu schwören: denn wir selbst sind gestaltgewordene Schwüre der Rache... Aber die Geschlechter aller heute Herrschenden zusammengenommen: was ist's mehr denn ein elendes Häuflein Menschendreck...
Wir aber haben keine Zeit, euere Gräber auszugraben, keine Zeit, euch zu mumifizieren, keine Zeit weder zu einer Verklärung noch zu einer elegischen Gloriole... Wir haben nur Zeit, uns zu rüsten, damit wir bereit sind, wenn es wieder soweit ist, diese barbarische Menschengesellschaft mit dem Bajonett zu sondieren. —

 

3

Der imperialistische Frieden war ein Krieg gegen das Proletariat. Und nicht nur gegen das Proletariat, sondern auch gegen die Mittelschichten und jeden einzelnen Kleinbürger.
(Nach einem der Fundamentalsätze der Lebenseinsicht: lerne scharf zu unterscheiden zwischen der Phraseologie einer Sache und dem Inhalt einer Sache; oder: nicht auf das, was einer sagt, kommt es an, sondern darauf, was einer tut. Auf die Fäuste sehen! Worte sind Lügenbeine!)
Da lebt man nun so ein Leben lang herum: Feierabend — und man kriecht sich wieder herein in seine zwei blümchentapetenüberzogenen Wohnlöcher, an Körper und Geist gleichermaßen erfrischt durch einen kräftigen, herzhaften Vierzehnstundentag...
Für wen das eigentlich?! —
Und da gibt es so eine gottverfluchte ketzerische Lehre vom Mehrwert!...
Und das Kätzchen schnurrt so idyllisch-warm am Sims, neben dem Nähkorb, und vielleicht auch so ein Kanarienvogelgeripp in einem Goldstabkäfig, der Fliegenfänger hängt herab von der Decke in der Mitte des Zimmers, dicht besät mit den noch zappelnden Pünktchen der Schmeißfliegen. Unten im Hof wimmert die Drehorgel, auf den Dächern die Armeleutewäsche im Abendrot...
Man knurrt, wird bissig wie ein Köter. Mit den Kollegen hält's auch schwer, sich zu vertragen... Man müsste sich eigentlich wieder mal tüchtig satt essen und ordentlich ausschlafen... Das ganze hundsverreckte Dasein taugt ja so zu nichts... Man ist angesäuert wie gestockte Milch... Aber vielleicht: 's langt doch noch
einmal zu einer Laube und darnach auch zu einem Einfamilienhaus... Deutschland: 's geht vorwärts, es bessert sich von Woche zu Woche, wenn die Arbeitszeit auch steigt und der Reallohn auch sinkt... Die Rentenmark bleibt stabil... Überall steht's ja zu lesen...
Man spielt Fußball, hört Radio... Siehst du wohl! Recht muss Recht bleiben. Auch das Volk hat sein Vergnügen. Auch verheiratet man sich frühzeitig: man hungert, friert, man klönt zu zweien, und ein regelmäßiger Beischlaf ist gesichert... Ach, außerdem gibt es noch tausend, abertausend schöne Dinge, die einen von der Beantwortung der Grundfrage seines eigenen Daseins abziehen. Ja, die Fragestellung selbst: sie ist gründlich in Frage gestellt--
Und des Sonntags wackelt man sich hinaus ins Freie, die Familie lüftet sich, das ist doch immerhin schon ein ganz reeller Vorgeschmack vom Paradies.
Nun, und auch der „große Unbekannte" erscheint in mannigfaltiger Gestalt. Er streckt ausgerechnet immer gerade dort seinen anbetungswürdigen klotzigen Schädel hervor, wo das eigene Elend-Dasein das mit bestem Willen nicht mehr zu verkleisternde Loch hat. An jeder Bruchstelle erscheint er, der liebe Wundermann. Er hängt am Kreuz, steigt widerspruchslos herunter, sofort, wenn zum Beispiel der Kaiser sein Volk zu den Waffen ruft, und bedient ein Maschinengewehr, nimmt die Parade ab als S. M. oder hurt hurtig in Berlin herum, bis auf Widerruf in der deutschnationalen Presse, als Kaisersohn; drückt freundlich herablassend, umstrahlt vom auserwählten Offizierskorps, einem Veteranen die Hand, richtet rührend-anerkennende Worte vom Dank des Vaterlandes an den Kriegskrüppel; überschüttet wieder vom amerikanischen Himmel herab das von seinen
eigenen Finanzmagnaten bis auf das Weißbluten ausgepowerte Deutschland mit einem im herrlichsten Unschuldsweiß sprühenden Dollarregen; er ist weder ein Wucherstaat noch spekuliert er auf Extraprofite aus dem Kapitalexport; er ist Fabrikbesitzer, bieder, Treu und Redlichkeit. Reserveleutnant, patenter Kerl, versteht was vom Geschäft, und wenn er nicht wäre, wo gäbe es dann überhaupt sonst noch Arbeit!? —
„Nur Tagediebe und Müßiggänger bringen es bekanntlich in dieser Welt zu nichts. Sei darum auch als Sklave ein ganzer, vollkommener, treuer Sklave... Jegliche Seele sei den vorgesetzten Gewalten untergeben, denn es gibt keine Gewalt außer von Gott; die es aber sind, die sind von Gott eingesetzt..."
Und weiter geht's in der allbekannten Melodie: Die Knochen knacken entzwei, die Muskelstränge lockern sich, das Gesicht verzerrt sich in unausglättbare Falten, die Dichter singen zwar: „Wie ein Fächer tut sich auf dem Müden die Nacht" — aber es ist anders, schade eigentlich, aber was tut's auch...
Ausgequetscht der Leib wie eine Frucht, und die Haut dann fortgeworfen.
Vaterländische Lieder grölend, waten Millionen im Blutsumpf, ein Schlückchen „Heldenschnaps" — und wenn du grad nicht das übliche Pech hattest, das E.K.I war dir sicher... Der Füsilier-Feldwebel wettert heute wieder im Unterstand herum: die Kaiserbilder sind wieder von den Ratten verschlissen... Und das gewittert zudem bleischwer über einem am Himmel; rabiat... Zum Teufel mit diesen himmlischen Heerscharen... Aber man schmort sich ja, so heißt es wenigstens, frischfröhlichgesund in diesem Feuerkessel... Arbeitetest du in einer Phosphorfabrik: fünf Jahre — und schon stahlst
du dich davon als eine Leiche... Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehn! ?... Pah, Quatsch... Was soll ich mich als einzelner dagegen auflehnen — —
Mitgefangen, mitgehangen.
Alles Jacke wie Hose.
Schnurzegal. -

Leib an Leib krümmt sich übereinander.
Das ganze werktätige Volk ist nichts mehr weiter als ein einziger zuckender Schmerzenskadaver, ein fleischerner Berg, von abgerissenen Gliedern dicht überwachsen wie von Gestrüppen... Der stößt keine lebendigen Schreie mehr aus, Millionen erloschener Augen glühen daran schwarz; schwärzer, durchdringender als selbst die Finsternis. Unterirdisch nur ein unverständliches Murmeln. Hie und da Wortfetzen. Hie und da ein fiebriges, feuriges Flackern; fernes Alarmheulen... Und hie und da ängstliches Zusammenrücken an den Tischen der Götter, Halbgötter, Rentner, Parasiten und anderer Heiligen: „Der Berg... der Berg... wehe... Kommt er nicht doch eines Tages über uns... "
Aber die ganze Welt ist mit Fatalismen voll gepfropft. Alles, was da ist, ist im molkig getrübten Bewusstsein der Mehrzahl der Menschen heute noch vernünftig und muss eben so sein, der Pfaffe, der Gerichtsherr, der Mehrwerts-Vampir, der Journalist: das alles hängt zusammen an unsichtbaren Fäden und zappelt sich herum im Weltraum im Auftrag jenes großen grandiosen Überirdischen...
Hah! Und die papierene Sintflut schwemmt befehlsgemäß heran!
Tausende von Laboratorien fabrizieren das so beliebte Volks-Opium: Aberglauben, Kulturdünkel, Verstocktheit... Immer wieder und immer von neuem wieder wird erfolgreich das Preisrätsel gelöst: wie erhalte ich am besten die Massen der Ausgebeuteten in Abhängigkeit und Dummheit?... Die Bücherfabriken rascheln, die Zeitungen flattern fröhlich wie winzige Papierdrachen von Hand zu Hand im Wind... In wunderbaren Einbänden,  mit herrlichen  verlockenden  Titeln geschmückt, auch sonst fein säuberlich aufgemacht, präsentieren die Menschenfänger ihre im Interesse der Massenverbreitung recht preiswert gehaltenen Köder Ästheten, Schriftsteller, Gelehrte hocken herum, gierig lauernd auf jeden Auftrag, gesellschaftstüchtige Heimarbeiter. Sie sind ordentlich elastisch geworden mit der Zeit, ihre geistigen Glieder zu Gummi gebogen, sie lernten es, sich rasch umzustellen... Tempo! Das Geschäft verlangt es... An solch originellen Charakteren hat es ja bekanntlich nie gefehlt. Und die Kultur muss dem Volk erhalten bleiben, koste es, was es wolle. Und der Heldentod ist schließlich nur auf dem Papier was wert, in Wirklichkeit keinen Pfifferling.

Die Kinomaschinen rattern.
Hoppla, mein Freund, damit auch deine Augen nicht verhungern. Und ein strammer Militärmarsch „Ruckzuck" sorgt für den Ohrenschmaus.
Und die Männer der Regierung marschieren auf, Hebe freundliche Herren, kein Zweifel. Wie schön und blendend neu gestärkt ist dem Herrn Präsidenten sein Frackhemd, wie ein Harnisch; und einen Blick tut er, einen Blick, sage ich Ihnen, aus der Tiefe seiner Seele in die Tiefe deiner Seele: akkurat wie durchschaun tut er einen... Da gibt es sogar einen Wohltätigkeitstee, und die ausgemergelten dünnen Fingerchen einiger extra ausgesuchter Musterproletarierkinder zupfen an der Frau Minister herum: da ist alles Samt und Seide, Perlenkettlein und Brillantring... Gott wohlgefällig rauscht dahin über das prima gebohnerte Parkett der Hermelinmantel... Wessen Herz blüht da nicht über in Ehrfurcht und Bewunderung... Und da nippt so eine Exzellenz an einer anderen mit einem Handkuss... Und stehen da nicht, in holder Umarmung mit Unternehmern, Generälen und Bankpiraten aufgenommen, hoffähige Gewerkschaftsbeamte, wie aus dem Ei gepellte, tadelfrei geschnitzte und ebenholzschwarz mit neuen Paradefräcken anlackierte Männlein: sie, die letzten Endes glorreich immer wieder sich selbst begaunernden Schlaumeier!... Ihre Rede: ein bedingungsloses zu allem ja und amen... An Gründen hinterher, sogar überzeugenden, fehlt es bekanntlich ja nie, und sie kommen sogar, einem Eingeweihten zwar nicht gerade überraschend, ihren Unterdrückern zu Hilfe, wenn diese ausnahmsweise einmal in Verlegenheit geraten sind, und offerieren sich ihnen, lakaienhaft lächelnd, auf dem Präsentierteller. Kanaillen —
Deutschland über alles — Hurra!...
Kein Zweifel: diese Herren wollen — das Wohl der Volksgemeinschaft scharf im treudeutschen Auge — alle nur das Beste.
Und da verschwindet eben so ein großer Schieber der Weltgeschichte, die Aktentasche mit genialen Spekulationsprojekten unter dem Arm, im Auto; vierzehn Stunden jeden Tag ist er zu Konferenzen unterwegs, und jetzt, spät schon über Mitternacht, noch mit einem ausländischen Vertreter eine Verhandlung.
Und hier der Reichstag: eine stürmische Sitzung zwar: aber wirklich nur ein ganz Bösartiger kann da bei der Betrachtung dieser Ehrwürdigen, von Volkes Gnaden Gesalbten, auf den Gedanken kommen: Schafstall... Das Schicksal des Volkes wird hier entschieden: darum, bist du katholisch: bekreuzige dich!...
Blechmusik, Trommeln, Pauken, ein gellendes Trara — Bajonett aufgepflanzt! Andacht! Bravo, die Reichswehr! Prächtige Jungens, hieb- und stichfest... Verwendbar zwar vorerst, aber das ist ja grad kein Nationalunglück, nur im Bürgerkrieg. Da kann man sich denn auch nicht wundern, dass die Sympathie breitester Volkskreise auf ihrer Seite ist, besonders, na besonders, wenn man den Kommunisten dort als Gegenstück betrachtet: unordentlich, die Hose in Fetzen, kein Hemd, nur ein blutbefleckter Wollsweater, tief in seiner Kellerwohnung, wie er dort bei Kerzenlicht an seinem Schraubstock Handgranaten aus alten Konservenbüchsen fabriziert, und man außerdem noch gerade zufällig mitanzusehen freundlicherweise Gelegenheit nimmt, wie eben ein anderer Genosse mit gewichtiger Miene, durch eine Geheimfalltüre natürlich, eintritt und ihm dann glückstrahlend eine Handvoll Cholerabazillen überreicht... Nach dieser gewitterschwangeren Stimmung strahlt selbst der im Kreis seiner Opfer extra für das verehrte Publikum photographierte berühmte Massenmörder heiter wie ein Sommertag... Und nun noch zum Schluss:
Badeszene   am   Lido:   bewimpelte   Strandflächen,
neueste Badetoiletten, blitzende Meerwellen--
Alles blökt, grunzt, summt —
Auch die Begleitmusik schwellend-weich, ein gemütvolles Tonsofa —
Gott sei Dank!
Großes Welt-Wettschnarchen. Es wird wieder behaglich...

 

4

Das „Jenseits"-Panorama

So beschaffen ist nun eben einmal die Welt.
Da sitzen sie also nach wie vor hoch oben auf dem Palmengarten des himmlischen Wolkenkratzers, von ihren eigenen parfümierten Ausdünstungen umfächelt: die Kaiser und die Könige, die Propheten und die Erzväter mit goldenen und mit elfenbeinernen Szeptern und mit anderen demagogischen Zauberstäben bewaffnet, und um sie herum, vielfach in sich gestapelt, die Geschlechter der Menschheitshyänen, der gottwohlgefälligen Menschheitsgeißeln und Zuchtruten: Finanzoligarchen, je nach den Extraprofiten der Rang, Admirale, Minister, Generale, in blendenden, ordensüberklirrten Uniformen, Federbusch, Zylinder, Stahlhelm, und die violett vom Ewigkeitsatem angehauchten Pfäfflein klappern, teils inbrünstig schielend, teils mürrisch geifernd ihre Gebete, und er, der Herr dieser aller, blinzelt und schmunzelt, und saugt, wohl ein wenig zu wollüstig schlürfend, die narkotischen Düfte des Weihrauchs ein und räkelt sich, dass der ewigkeitsschwangere Leib beinahe aus dem Leim kracht, auf seinem himmlischen Plüschsofa... Die berühmtesten Medizinmänner Europas aber betreuen ihn. Naht mit einer Zeitenwende eine Ohnmacht dem Schöpfer der Welt: da läuten gellend und wimmernd die unsichtbaren Sturmglocken des Himmels, mit Strömen von wunderwirkendem Digitalis durchpumpt man das göttliche Herz... So hatte er sich schon einige Male wieder erholt. Nach erfolgter Genesung huldigten ihm die Heerscharen bei der Himmelsparade. Die Antennen auf dem Himmelssanatorium wisperten. Radio-Glückwünsche rieselten herein ins Operationsprunkgemach aus allen Ecken der diesseitigen und jenseitigen Welt. Nie sangen so innig wie damals die Chöre der Heiligen das Halleluja, versammelt mitten im Raum auf einer schwebenden Plattform. Auch die purpurn glühende Abendwolke weinte vor Rührung. Es lächelten selig verzückt die Friedenspalmwedel und die in ihrer Einfalt kindisch naiv psalmenstammelnden Weihwasserpinsel. Delegierte erschienen zur Audienz aus allen Himmelsbetrieben —
Diplomaten rutschen heran auf herrlich gepolsterten Klubsesseln, die Oberengel spielen jetzt Skat, einer der im diesseitigen Jammertal erfolgreichsten Henker bereitet die allabendliche Fußwaschung.
Wieder ein Zug: Epauletten-Helden, die Dirigenten des Riesenflugzeugbombenwerfer-Orchesters, die Generalfeldmarschalle der Trusts, und, preisgekrönt mit den Ordensauszeichnungen aller Erdteile, das größte Schmarotzergenie dieser Zeit. Konzern-Päpste. Kartell-Kardinäle. Syndikat-Kommandeure...
Etwas abseits, die auserwählten Vertretungen der Arbeiteraristokraten und kleinbürgerlicher Emporkömmlinge, in leichtgeschürzten Batikgewändern, die Riesenplattfüße in blumenbestickten Wollpantoffeln, sie schmauchen blaudunstig die Ewigkeit an aus spiralig gewundenen Tabakspfeifen.
Hier ist der Boden schlüpfrig von lakaienhaftem Gesabber.
Sie krampfen sich noch jetzt hysterisch jauchzend zusammen bei der Erinnerung an die mancherlei unseligen Taten jener Abtrünnigen, Kommunisten geheißen, und sie versichern sich immer wieder gegenseitig, voll pathetischen Ernstes, Sprechchor gegen Sprechchor: „Wir sind doch allzumal zahme Haustiere... "
Ein donnerähnliches Geblöke erfüllt in dieser Gegend des Paradieses die siebenmal siebentausendfach echoenden sphärischen Himmel.
Richter, mit den aus den Fetzen der Todesurteile bunt zusammengestückten Talaren; Korpsstudenten, die prominentesten Angehörigen der Studentengarden, jedem die Anzahl seiner Morde an der Arbeiterbevölkerung am Steiß aufnummeriert; berühmte Faschistenhäuptlinge, Polizeispitzel und Meuchelmörder. Hier auch Naturapostel und jene sonderbaren Heiligen, die die Ankunft des jüngsten Tages auf Erden predigten, die prophezeien und weissagen konnten aus ihren Exkrementen.
Da-
Wie Heuschreckenschwärme... Ein schwarzes Flügelschlagen: so stürzt es sich heraus aus dem goldenen Lichtloch der Ewigkeit...
Und die Mätressen der Reichen und Übersatten schweben vorüber, in der neuesten Mode, pedikürt, manikürt, ein jedes Zeitalter, ein jedes Land strömt seinen besonderen, gottlobpreisenden Wohlgeruch... Tipptopp, todschick. Geschminkt, gesalbt, gepudert. Die Haare frisiert wie Stuckatur. Fressen in die modrig duftenden Fratzen linienscharf hineinziseliert...
Maler aller Zeiten haben ihnen leuchtende Glorienkringel aufgemalt, auf die Hinterbacken Sprüche tätowiert. Schenkel aus Brokat, fließende Gebeine; Dicke wie  zentnerschwere  Fleischsäcke,  Spindeldürre  wie
Drahtfigürchen, bunte Kreuzchen statt der Brustwarzen...
Da verstummen augenblicks die heiligen Reden und die Gespräche und die Gesänge — alles strömt herab von den Tribünen und eilt nach den Marmordampfbädern und Massagezellen, Knutsch-Dielen und Lustgemächern -und der gesamte überirdische Chor ist ein einziges wollüstiges Zungenschnalzen. Aller Nasenflügel schnuppern...
Halleluja!
Andere Choräle tönen schon an, von Jazzband und Niggertrommeln begleitet, mit absonderlichen Zynismen und Zoten vermischt...

Der Blick von unten

Und tief unten die Völker der Bauern und die Völker der Arbeiter, im Schweiß ihres Angesichts vollbringen sie ihr Tagwerk: zur Ehre Gottes, zur Ehre der Menschheit, zur Ehre ihres Vaterlandes ... Brot, Fleisch, alle Nahrung, alle Kleidung: das alles hebt aufwärts sich wie auf automatischen Fahrstühlen, dort breitet sich's aus in den Kammern der Vornehmen, in den Küchen der Reichen — und ach, was vom Tische des Herrn abfällt: es ist ein dürftiger, ein nur allzu dürftiger Brosamen... Ach, und sieh doch: gibt's nicht unter den Christen so viele Wohltäter der Menschheit, sie gründen Kinderbewahranstalten und Sparkassen-Bibelvereine und veranstalten so seelenstärkende Gefallenenfeiern und Heldengedenkfeste, Stierkämpfe und Boxkämpfe, Fußballmeetings und Baseballwettspiele, Tennisturniere, Autowettfahrten, internationale Pferderennen, und lassen Messen lesen zum. Besten der noch
kümmerlich Lebenden und zum Heil der Seelen der glücklicherweise schon Verstorbenen, und auch die Kirche, die allein seligmachende, sie hat ihr Teil daran, Sündenablass gibt's, Generalabsolution, richtig deine kümmernisbeladene Seele auskotzen kannst du bei der Beichte, und wenn du nur schön brav wedelst, hie und da auch mal Almosen; Museen werden gebaut, mit den farbenprächtigsten Gemälden darin, Eintritt frei, Bibliotheken eingerichtet, Bücher in Schweinslederbänden, in Safran, Bibeln auf Zanderbütten und solche billig wie ein Ei zum Hausgebrauch ... Und Gefängnisse sind da für die Atheisten und Übeltäter und ganz natürlicherweise für alle die, die der himmlischen Weltordnung sich einfach nicht fügen wollen, und eine moderne elektrische Hinrichtungsmaschine; unterirdisch, schön unsichtbar sind dran die Kabel, und bequem mit Leder gepolstert Arm- und Rückenlehne, beinahe wie ein gotischer Großväterstuhl: das aber nur für die Ewig-Rückfälligen oder völlig Unbekehrbaren; denn Strafe, Buße und Abschreckung bei humanem Strafvollzug zwar muss sein; Ruhe und Ordnung: so will es der Allerhöchste Gerechtsame, wie es geschrieben steht im Buch, Seite X, Seite Z bis Y, und auch der Soldat tut in diesem wunderlichen Weltwerk seine Pflicht: ihm ist das kalte Eisen in die Hand gegeben, er soll es führen ohne Scheu, er soll dem Feind das Bajonett zwischen die Rippen rennen, er soll sein Gewehr auf ihre Schädel schmettern, das ist sein heiliger Beruf, das ist sein Gottesdienst.
Und so ist demnach es unausbleiblich: Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, die Massengräber der Tiefe stinken sein Lob, überall, allüberall ist eitel Glück und Friede und Freude und Segen, und auch die Erde trieft vor Wonne, ist voll davon.
Das ist das Werk der Schöpfung. Und siehe da:
Wie wir gesehen haben und wie wir es an uns erlebt haben, Tag für Tag: Es war gut, nur allzu gut so. -

 

5

Der Ausweg aus diesem Menschheits-Irrgarten!? Breit und wunderbar eben angelegt, asphalt-glatt, mit Phrasen von Menschheitstum gepolstert, mit allen Bürgertugenden gepflastert, auf Viadukten über die abgründigsten aller Abgründe scheinbar schwebend gespannt, oft mit bengalischen Fackeln phantastisch, märchenhaft erleuchtet: das ist der Weg, der immer tiefer, gleichsam zwangshaft hineinführt ins Labyrinth, ins völlig Aus-weglose.
Offizielle Wegweiser sind angebracht, wie: „Hier Rettung aus der Not!"
„Der richtige Weg!" „Pfad der Hoffnung!"
„Hier: Weg des Fingerzeigs Gottes aus dem Tal der Verdammnis!"
Auch antike, togaumhüllte Göttergestalten sind links und rechts diesem heiteren Lebenskorso entlang aufgestellt, bronzene Reiterdenkmäler, Siegessäulen, marmorne Kriegergedächtnishallen, und feierlich bewegen sich daher, auf hohen Kothurnen stelzend, die Heldengestalten der vergangenen Geschichte, berühmte Sprüche orakelnd, manche mit Dreispitz oder in Ritterrüstung, Friedrich der Große, der Große Kurfürst.
„Gedenke, dass du ein Deutscher bist!" Oder: „Wenn auf  unseren  verödeten  Exerzierplätzen  wieder  die Schritte preußischer Grenadiere hallen, dann geht's mit uns aufwärts!"
Auch für Musik ist auf dieser Wanderung hinreichend gesorgt, für Tanz, für Poesie, für Bildung. In den kargen Ruhestunden wirst du ausgiebig mit den erhabensten Gedanken gratis gefüttert, Denk-Automaten schnurren, es wird für dich gedacht, auf diese Weise wird ein schreckliches Unglück verhütet, nämlich: dass du selbst zu denken etwa gezwungen wirst. Und würde solch ein Unglück unvorhergesehenerweise gar massenhaft auftreten, keine Epidemie käme dem an Gemeingefährlichkeit gleich, es wäre das Chaos, so ein Zustand wäre für die moderne Gesellschaft unertragbar. So schmilzt auch die Stimme des berühmten Professors der Gesellschaftskunde herab vom staatlichen Universitätskatheder: „Klassenversöhnung! Volksgemeinschaft! Rückkehr zum Gottesglauben!"... Oder ein anderer, seine Brust wölbt sich unter einem Taifun von so genannter Vaterlandsbegeisterung: „Der heiligste Beruf der deutschen Arbeiterklasse ist, die deutsche Wirtschaft für alle Verluste, die sie im Weltkrieg erlitten hat, schadlos zu halten... " Und flugs werden Menschenleben und verlorene Landstriche in Arbeitsstunden umgerechnet, die der deutsche Kuli nun als Überstunden hereinzuschaffen hat... Und die ganze Luft ist erfüllt wie bei einer mittelalterlichen Hexenorgie mit Idealen, Idolen, Phantomen.

Das also ist ein eiliges Gekrabbel mit zugehaltenen Ohren, verkleisterten Augen, verkniffenen Mündern; kopfüber drängt und zwängt sich alles, einer schiebt den andern, rücksichtslos gebraucht man den mit einem Eisenstachel noch besonders wirksam bewaffneten Ellenbogen, und alles mischt sich freudig erregt hinein in die
Verwesung; alles maskiert, es ist wie bei einem Karneval; alles wird breiig, verschwommen, die Umrisse enträndern sich, nun fliegen die Menschen dahin als Schemen, nebelhaft, mit Fangarmen, künstlichen Rüsseln, unnatürlich sich überwuchernden Gebissen, vergespenstert: mit Scheuklappen vor den links und rechts sich ruckhaft-mechanisch aufgipfelnden Schädelpyramiden: ein Staatsmann zeigt einen neuen Bluff, alle klatschen hypnotisiert ekstatischen Beifall, „spontan", „frenetisch" wie es im Zeitungsbericht heißt, durch einen Gaunertrick zeugt man unter geheimnisvollen Beschwörungsformeln ein neues polypenartiges Gebilde, den Völkerbund; da heben plötzlich alle die Sektgläser, kreischen „Prost Neujahr!", fallen sich gegenseitig in die Arme vor Entzücken, würgen sich und beißen sich aber gleich darauf die Gurgeln durch, und die Glocken läuten dazu noch ganz ernsthaft „Friede auf Erden!" Sektierer aller Arten nun schwärmen heran, spleenige Käuze, Prediger, von denen ein jeder eigensinnigst darauf erpicht ist, auf seine nur ihm allein eigene und geschäftstüchtig natürlich patentierte, höchst originelle Weise in den Untergang zu stolpern; Pazifisten, mit Palmenschweifen wedelnd, auf allen Vieren hopsend vor dem von ihnen mitgetragenen imaginären Standbild des von ihnen nie zu verwirklichenden Weltfriedens; geschäftig verhandeln sie unter sich die gegen jedes Blutbad garantiert imprägnierten Schutzmäntel... O Prozession des Todes!... Und Strenggläubige noch, den Bedürfnissen eines modernen Zeitalters nicht unbegabt angepasst: auf fahrenden, in einem eindrucksvollen Hundertkilometertempo angleitenden, elektrisch betriebenen Betstühlen... Lachsalven:  ein irrsinniges Grinsen... Und das alles mit „Hoppsassa! Heisassa!" immer tiefer hinein in einen riesigen Pfuhl, mit blut- und kottriefenden Masken.

Mit Gebälken, Barrikaden und Schranken aller Art aber verrammelt ist der Weg, der aus dieser Marterhöhle herausführt.
Mit Stacheldrahtverhauen von den Herrn dieser Erde abgesperrt, unterminiert, durchtupft mit Wolfsgruben, von Schützengräben durchquert, von Schlingen und Fallen umstellt, und mit einer Riesenwarnungstafel gütigst versehen: „Wer weitergeht, wird erschossen!"
Polizeitruppen, schweißtriefend, rasen in Lastwagen auf und nieder, angaloppieren schneidig die berittenen Hundertschaften „zur besonderen Verwendung", die Gummiknüppel flitzen, Säbelschneiden ziehen durch, die Gewehrkolbenschläge dröhnen dumpf, Bajonettspitzen zucken, Schüsse knacken... und Panzerwagen, aus allen Luken beinahe lautlos Feuer speiend, kriechen wie stahlhäutige Riesenkäfer hervor aus den zu Forts ausgebauten Regierungsvierteln. Gasgranaten, Bomben; Maschinengewehre knattern oben aus Flugzeugen.
Haufen Erschossener.
Haufen lebenslänglich in Zuchthäusern an die Mauern Geketteter.
Millionen: das Lebensmark ausgesogen von übermenschlichen Entsagungen.
Ein Haufen zum Tode Verurteilter: wie groß und unendlich ruhig stehen sie an der Wand —
Millionen namenloser Märtyrer: Und sie halten sich unverrückbar im Herzen eines jeden Lebenden fest, im Kampf den Kämpfern ein gerades Richtzeichen.
Und aufrecht schreitet diesen Weg trotzdem und trotz alledem ein Zug: rußgeschwärzte Gestalten, beinahe nackt, singend, unter einer großen roten Wolke als Fahne...
Ihre Schritte klirren, klirren wie Hämmer im Takt
Kein Schönredner ist da, der die Gehirne dieser Männer auslaugt mit Schwatz und mit Flausen...
Rhythmisch, hart schwingend, als ob die Straße selbst marschiert, ist es. Die Lebendigkeit, das Leben, die Erde, die Welt selbst ist hier in Bewegung; die Erdkugel rollt, das Sonnenfeuer dreht sich, das Firmament zieht glanzstark auf und nieder, die ganze Natur, alle Kreatur: alles marschiert, alles singt hier, triumphierend und kühn, das: „Vorwärts!"

Ein Kommando ertönt.
Ist es der Sturm selbst, der menschliche Sprache gewonnen hat; das Meer, das aufgewühlte Meer, das schreit, schreit und tief hinten am Horizont hochpeitscht, der in Millionen Flammensplitter zerspringt!?
Ein Kommando —
Stürzen die Gräber herauf, stülpt sich der Weltraum wie eine sphärische Glasglocke um... und die Pflastersteine würfelt's dahin wie kantige Granitschädel---
Wie Lehm ist die Haut des Menschen, alles Blut zieht sich bis ins Innerste des Herz-Kerns zurück---
Und die Arme renkt es weit aus dem Körper hervor, die Fäuste hängen schon wie rotierende Eisenkugeln dran an den muskelschwellenden Gelenken...
Ein Kommando —
Und widerhallen die Stimmen der Wurzeln in der Tiefe...
Und dies Kommandowort, das die Geschichte den werktätigen Massen aller Länder zuruft, heißt: Klassenkrieg! —

 

6

Keiner ist so blind, dass er letzten Endes nicht doch noch sehend werden könnte. Auch die Verblendetsten sind nicht verloren.
Die gepanzerte Faust der Geschichte meißelt auch die verstocktesten Schädel noch auf.
Auch hier rinnen, über und über verschüttet, Quellen unheimlicher Rache, Quellen lebensspendender Kraft.
Ein magnetischer Streif donnert dahin der rote Strom.
Wenn er durch die Städte treibt: die Städte brechen auf, die Fabriken ziehen mit, die Werften hämmern sich herein, die Schiffssirenen aufruhrtrillern, die Krane neigen sich, die Ufer bröckeln: der Strom, der Strom: uferlos, immer uferloser wird er...
Was ist dieser Strom anderes als befreiungsschmetternd aus den alten Welträumen sich ergießendes, alle Dämme niederreißendes, jahrtausendelang gemartertes Herzblut!?
Schlag um Schlag in ihr Angesicht: Auch die Kleinbürger werden eines Tages noch gezwungen werden, ihrem Feind ins Auge zu sehen.
Herunter mit den Scheuklappen, aus ist's mit dem Sichherumdrücken, Schluss mit jedem Dem-Kampf-Ausweichen, Farbe bekennen, heißt es, Brust an Brust, Brust an Brust gekettet: so beginnt auch hier das Ringen um die Entscheidung...
Langsam, zögernd, misstrauisch rücken die Kleinbürger in die proletarische Front ein: mancher auch im letzten Augenblick noch bereit, seine Kameraden, seine Mitkämpfer, sich selbst zu verraten.
Aber die Erde kracht, die Risse reißen immer tiefer sich ein, und sie, die Erde, sie ist mit keiner noch so ausgeklügelten Phrase auf die Dauer mehr ganz zu leimen.
Der Kleinbürger kann sich vorerst sein Vaterland bis in alle Ewigkeit hinein nur schwarz-weiß-rot vorstellen. Es wird nicht schwarz-weiß-rot sein. Es wird nicht schwarz-rot-gold sein. Es wird rot sein.
Die Kleinbürger täten klug daran, sich beizeiten damit abzufinden.
Die Welt wird unser sein. —

 

7

Klassenkrieg. —
Ich habe nicht ein Jahr, nicht zwei, nicht drei Jahre -ich habe zehn Jahre lang gebraucht, um dieses Wort aus zusprechen.
Von Angesicht zu Angesicht habe ich dieses Wort geschaut: ich war allein mit ihm, so allein, wie nur ein Mensch mit sich selbst sein kann...
Stirnfetzen, Gerippe, Gerippsplitter; abgerissene bluttriefende Fleischstücke von Menschenwangen; niedergestampfte Säuglinge, Gehirnmasse, die aus einer von Gewehrkolben aufgehauenen Schädelnuss quillt; Mütter, flach an die Mauern gequetscht von dem Luftdruck einer Fliegerbombe; milchiges verflocktes Augenweiß; eingeknetet das alles zu einem grobknochigen zementfarbenen Brei oder wie seifige Lauge oder Mörtel, schon flüssiger geworden; Hautknäuel, Fleischknollen, Menschenkadaver, stinkender wie Exkremente; Torsos des Grauens, widerlichste Skelettfragmente... Transport Transport der zur Hinrichtung Abgeführten... Oh, ich habe auch die Stellungen studiert, und nicht nur studiert!, dieses Zucken in den Mundwinkeln, die unendliche klumpige Gliederschwere, der ganze Mensch bis in die letzte Nervenfaser hinein elektrisch knisternd gespannt und qualgeprägt: all derer, die, zum Tod verurteilt, vor der Gewehrlinie knien... Ich weiß, was es heißt, die Schlinge im Genick und zehn Sekunden noch sind es, o diese ganz unfassbaren, zeitlosen, weltweiten Sekunden!, zehn Sekunden noch bis zum Weggezogenwerden des Schemels unter deinen Füßen, und dann, dann der erste Augenblick des Freischwebens am Strang--
Ich kenne wirklich auswendig das ABC des Kriegs, den menschlichen Elementarunterricht des Kriegs sozusagen, denn das Vergessenkönnen war nicht meine Tugend. Heilig ist mir auch heute noch jeder Tropfen Herzblut — und eben darum, und eben darum, weil ich nicht müde werden kann zu klagen: o Mensch, du kümmerlicher, du elend dich im rohesten Daseinskampf krümmender, du armseliger Wurm.
Klassenkrieg. —
Ich habe dieses Wort niedergehalten, trotzdem und trotz alledem, in mir: lange genug war ich bereit, die verruchte Grimasse dieser Welt mit schönen Illusionen zu umkränzen. Ich brachte es einfach nicht über mich, das auszusprechen, was ist. Das zu tun, was Not tut...
Klassenkrieg...
Ich werde heute die Zähne zusammenbeißen und, wenn der Ekel mich würgt, mit einem kräftigen Fluch dreinspucken —
Klassenkrieg. —
Es geht nicht anders.
Darüber kommt man nur mit Schwindel hinweg...
Ich habe nun alle Möglichkeiten, nicht nur in meinem Gehirn, sondern auch in meinem Blut durchprüft Erlebnis an Erlebnis durchkontrolliert, Erfahrung durch Erfahrung. Es sickerte hindurch durch die vielen Jahre wie durch einen Filter.
Bitter zwar und herb, aber die lauterste, durch kein Surrogat künstlich verputzte Wahrheit: das ist das Grundresultat, der Extrakt.
„Bitte schön", nun werden wir sagen, „bitte schön, meine Herrschaften, Essenz gefälligst?" Denn wir sind weder ein Kuriositätenkabinett noch ein Album, darin man abstrakte Lebensweisheit sammelt...
Ich habe die Welt gründlich ausgeschmeckt. Nie und nirgends begnügte ich mich nur mit einer Kostprobe. Ich habe alle Menschenarten dieser Welt geschmeckt...
Und ich komme heim von meiner Irrfahrt, still, sehr still geworden, ohne große Worte. Mein eigenes innerstes Wesen empfängt mich, mich umarmend, wie eine Mutter, bei meiner Heimkehr. Weiter: entdecke! erobere! Und ich reihe mich vorbehaltlos der proletarischen Front ein. Alles, was ist, alles, was je gewesen war, alle Erwägungen, die ich anstelle darüber, was je einst noch sein wird: alles Vergangene, Zukünftige, Gegenwärtige drängt mich schlicht, völlig naturgemäß zu dieser Entscheidung.
Sie hat mich organisch zersetzt, dann war es plötzlich abrupt, sprunghaft — und die Entscheidung war, lange bevor ich es eigentlich selbst bemerkte, gefallen...
Klassenkrieg... Rache juckt mich nicht.
Auch sachlich, kühl wie ein Stein kann ich sein. Nüchtern, wie nur der Nüchternsten einer, den Weltgang betrachten. Ich bin heute von keinem Fasching der Illusionen mehr gefoppt.
So sehe ich das unausweichbare Gegeneinandervorrücken, das Gegeneinander-mit-den-Spitzen-Zusammenstoßen, das explosionsartig Gegeneinander-Aufprallen zweier Welten, zweier Weltgruppen, zweier Weltgewalten, und, in der Weltmulde offen lagernd, das gewaltigste Dynamit unseres Zeitalters:
Der Klassen-Widerstreit. —

Und ihr?
Ihr versucht den Klassenkampf hinwegzudekretieren. „Volksgemeinschaft" phrasendrischt's heraus aus dem Programm der Volksverbrecher: ihr versucht dadurch die Einheitlichkeit eueres Weltbilds zu retten, o du hochgepriesene Einheit, die du doch nur, immer offenkundiger, eine Einheit unauflösbarer Widersprüche bist! O jämmerlich-hilfloseste Versuche ihr engstirniger, kurzsichtiger Kretins!
O ihr oft gar so honigsüß den Weltfrieden anlispelnden Verbrecher-Hochstapler und Narren!
Jede Unterdrückungsmaßnahme von euerer Seite her muss, vielleicht zähneknirschend erkennt ihr's, muss, muss nur unsere Waffen schärfen. Wir wetzen uns blank an euch wie an einem Schleifstein. Und der Griff, mit dem nach unserer Gurgel ihr euch streckt: damit reißt automatisch den Todesstoß ihr euch selbst in euere Herzmitte.
Ja, und die schlimmsten Fehler, die zu begehen wir überhaupt nur fähig sind, o wie viel unendlich mal richtiger sind sie, von der Perspektive der Geschichte der Menschheitsentwicklung aus gesehen, als euere lauterste Wahrheit! —
So singe ich hin im Kampf zweier Welten ein stählerngefittichtes Schlachtlied, in Riesenschleifen kreisend über der Revolutions-Ära.
Zetert „Hilfe!", Bürger! Kläfft „Jesus, Maria!" und „Mordio!"
Jammert! Heuchelt! Heult!
Plärrt euch unsertwegen, wenn es sein muss, die Hosen voll!
Fabelt von Bürgerkriegsgräueln, Vergewaltigung, Terror, Geißelfüsilladen, bestialischen Grausamkeiten — aufrichtig sicherlich meint ihr's, ihr zivilisierten Kannibalen-Geschlechter!
Phantasiert nur des Nachts im Traum vom Geschröpftwerden, von Barrikaden, von euch umschwirrenden Feuergarben und Bajonettstichen.
O welche Leichenbittermienen! O welch eine Krätze rumort in euerem Gehirn!... Kikeriki... Ja, ja, der Hahn kräht... O ihr gütigen Visionen, Halluzinationen aller Bornierten!
Schmarotzer-Kulturphilister!
Bei heruntergelassenen Jalousien, bei abgeblendetem traumweichen Licht: so hockt ihr in eueren Luxusprachtappartements, nichtsdestoweniger aber sind es die Abfallgruben, die Parasitennester der lebendigen Geschichte. Ästhetisch vermodernd, trotz euerer Schönheits- und Gesundheitskuren in warmen Milch- und künstlichen Höhensonnenbädern!
O ihr Treibhausgewächse, von Generation zu Generation übernommen, wie mit Watte mit ausgesuchtesten Daseinsbedingungen sorgfältig umwickelt und mühsam am Leben erhätschelt!...
Packt den Ranzen euch auf mit Traktaten und Katechismen, stopft den Wanst euch voll, bis zum tödlichen Erbrechen voll, mit Bibelsprüchen! Du göttliches Gesindel, ihr Augenaufschlagkünstler, ihr zynischen, ihr virtuosen Schufte der Kirchen! Mästet fortab euch mit Reliquienresten und langweilt unsertwegen zu Tod euch im stillen Kämmerlein mit eueren albernen Sophistereien: Hände aber weg, ein für allemal, von all dem, was lebt, und von all dem, was nach Leben, Leben, lebendigem Leben stöhnt, was sich Leben erobern will!!!
Unter dem sausenden Gleiten der Transmissionsriemen beim Funkenspritzen der Schleifräder, beim Krach der Explosionen tief unten in den Schächten der Bergwerke —
Wenn der Hobel flitzt, beim Knirschen der Stahlsäge, beim Staub der Eisenspäne — Gezeugt
Inmitten des Pulverdampfs —
In den unhygienischen gesundheitsmordenden Räumen der Granat- und der Phosphorfabriken —
Beim Granatendrehen der Proletarierfrauen, der Proletarierkinder —
Beim Kartoffelstehlen und auf den Heringspolonaisen —
Beim tage- und nächtelangen Anstehn der Arbeiterfrauen vor den Lebensmittelgeschäften —
Im verzweiflungsvollen Schluchzen von Millionen der ihrer Männer im imperialistischen Weltkrieg beraubten Arbeiterwitwen —
Dort
In der armseligen Proletenwohnung —
Dort
In Granattrichtern, in Schützengräben — Dort
Im Geklapper der Prothesenglieder der demonstrierenden Kriegskrüppel auf den mit Luxusläden garnierten Hauptstraßen —
Im Zug der Erwerbslosen,
Im Beschluss „Generalstreik",
Im ersten Schuss des bewaffneten Aufstands —
In der Salve des Exekutionskommandos, die die ersten roten Soldaten niederkracht —
Großgezogen
Mit Graupen und Grütze —
Mit Hungertränen,
Mit Tuberkeln,
Mit Skrofulose,
Mit Lebensangstschweiß —
So
Steht die neue Welt auf — So
Steht die neue Geschichte,
Die Zukunft
Auf-
Unfertig,
Formlos,
So wie es sein muss: Unter konvulsivischen Zuckungen, Schaum ohnmächtiger Rache noch um den Mund wie ein Epileptiker — Aber
Es wird schon,
Es formt sich schon,
Hart, stahlhart gerinnen die Umrisse —
Das Herz beginnt zu schlagen,
Zu hämmern:
Ein eiserner Takt —
O welch ein wunderbares, der Sonne gleich Menschenwärme ausstrahlendes Herz — Hebel — Muskelstränge — Gelenke — Und
Millionenfüßig ansteigend, kriechend, geduckt auf den Sprung lauernd, nun: wie eine Sturzwelle, nun — schreitend:
Und die Revolution steht da
Vor euch
Unerbittlich,
Ruhig — aus Millionen elektrisch blitzender Augen euch erspähend —
Mit Millionen zangenartiger Arme euch umklammernd —
Aufrecht,
Mann gegen Mann---
„Wie eine Lawine —" „Wie ein Orkan —"
„Wie Lavamasse, die herein sich in eueren Weltraum
wälzt--"
Leibhafte Gestalt!!!
Biedert euch an, ihr Hampelmänner der Geschichte mit Göttern, Heroen, Titanen, mit dem ganzen wertlosen Plunder und Seelen-Krimskrams der Vorzeit!...
Glotzt hinab in euch selbst, in den Abgrund des Nichts...
Purzelbaumschlagt, ihr metaphysischen Clowns!
Auf! Ein Salto mortale ins Jenseits!
Los!
Auf zur Seelenwanderung!
Produziert euch im Himmelszirkus mit Wesensschau!
Heil euch, ihr Emigranten!
Flugs, desertiert aus den Reihen des Diesseits!
Die jenseitigen Geister verspüren Appetit nach euch. -

 

7

Ihr lebendig wandelnden Marter-Maschinerien der Menschheit in menschenähnlicher Gestalt! Ihr großen allgewaltigen Saugpumpen! Ihr demokratischen Würg-Götter, ihr Knochenmühlen Gottes! Ihr allmächtig euch dünkenden Akteure der Weltgeschichte--
(— bis auf weiteres)
Die Erde, die ganze Erde haltet umkrallt ihr mit eueren Gliedern, geheimnisvolle Riesenspinnen: euere Organe wachsen sich aus, euere Organe verlängern sich: euere Hände, euere Arme, euere Beine, euere Muskelbündel setzen sich fort: Eisengelenke, Riesendampfer, Dampf-Hämmer, Hebel, Krane, Räder, Maschinen, Werkzeuge! Euer Gehirn: ein allgewaltiges Verrechnungsinstitut. Fest steht ihr mit beiden Füßen, nein mit Millionen Füßen auf der Erde, verknüpft untereinander mit blitzenden Stahlschienenbändern die fernsten Weltteile, stopft voll, und das nennt ihr Kulturmission, mit euerem wertlosen Gerümpel jeden Weltwinkel. „Der Anfang sind wir", so prahlt ihr großmäulig, „die Mitte und das Ende der Welt."
„Cäsarennaturen —"
„Führen zurück wir nicht unseren geistigen Stammbaum auf die Schöpfer der Pyramiden —!?"
Da marschieren sie heran, lakaienhaft grinsend, euere
Angestelltenheere, es speichelt im Chor: „Respekt vor dem Kapitalismus! Respekt vor dem Ungeheuer! Respekt!" —: Millionen Beamte, Techniker, Chemiker, Pfaffen, Ärzte, Lehrer, Professoren, Künstler; so fein säuberlich wie auf Emaille gemalt: Generäle als Trabanten. Eine Handbewegung von euch, Druck auf einen Signalknopf: und automatisch die Fabriken öffnen sich, und Hunderttausende von Erwerbslosen speit es hinaus aus dem zementenen Rachen auf die Straße; Menschenrudel überstürzen sich; das humpelt, kriecht, rast, schon irrsinnig geworden, auf den Arbeitsnachweis, von euch, ihr Auserwählten, die Gnade des Arbeitendürfens in Empfang zu nehmen. Mürrisch gewährt ihr's, wenn es euch in eueren räuberischen Produktionsplan passt, wenn nicht — wieder ein Signal, und rasch verständigt ihr euch, das Militär sperrt ab — Handgranaten, Fliegerbomben, Maschinengewehrsalven als Begleitung — und Millionen lasst abschwenken ihr von der Straße des Lebens zum Marsch in die Hunger-Dschungel...
„Gewürm, Abfall, Dung der Geschichte ... "
Konstatiert ihr. Der Geschichte, die euere Geschichte ist. Denn dort, wo die höchsten Schlote enden, dort ziehen sich hin euere Höhen, mit Prachtgärten und Villen bebaut, die modernen Götterwohnungen, die Königsschlösser unserer Zeit, unsichtbar gegen jeden Ansturm der Rebellen verbarrikadiert, und alles vom werktätigen Volk Geschaffene findet dort in euch seinen endgültigen sinnvollen Ausklang.
„O ihr gütigen Spender des heiligen Lebens, wie danken wir euch! Den Lohn, den ihr uns auszahlt, welch ein kostbares Geschenk!... Und kleiden wir uns auch in Lumpen, bewohnen wir auch Höhlen, und haben weder Speise noch Trank... und wir Frauen und Kinder: man kann sich schon nirgends mehr anlehnen, so
schmerzt es vor lauter Gerippe---o ihr, euer gütiges Lächeln ist unseren Wunden ein Balsam, und unser Vierzehnstundentag nichts weniger und nichts mehr als ein Gottesdienst..."

Anders aber spricht die Wirklichkeit.
Die Russknäuel, die die Schächte ausatmen, ballen sich am Himmel zu einer schweren Wolke. Stöße brennenden Windes furchen das Land.
Waggonweise nun lasst ausschütten ihr unter den Murrenden, unter den Todgeweihten die jedes Klassenbewusstsein mordende Korruption. Von euch gedungene Arbeiterführer spalten auftragsgemäß jede proletarische Kampforganisation. Verrat, Bestechung, Niedertracht ohnegleichen. Die Arbeiter selbst bekriegen sich. Unter dem Aushängeschild des Arbeiterwohls und der „Volkserneuerung" gründen sich neue arbeiterversklavende Verbände. Misstrauen gegen die bewährten revolutionären Führer: in jeder Herzfalte sprießt schon euere giftige Saat. Da wieder lasst ihr einen, freudig gewährend, einherstelzen im Prunkgewand anarchistischer Phrasen; andere wieder orakeln von Rednertribünen — und schmunzelnd kostet ihr's aus —: „Langsam voran, im Zickzack vorwärts!" Und das instinktiv schon klar entschiedene Arbeitergehirn verwirrt sich, die Kampfkraft laugt sich aus, planlos verläuft die Aktion und uneinheitlich — und das Ende: ein blutiges Menschenknäuel.
Denn rücksichtslos gebraucht ihr, wo das System der Korruption nicht mehr ausreicht, gegen die sich Empörenden euere schärfste Waffe: die Machtorganisation des Staates.
Es marschiert aber, es marschiert, es marschiert.
Die Straße selbst zu eueren Höhen hinan, ihr Unerreichbaren, bewegt sich.
per Hungertod marschiert, die Arbeitslosigkeit marschiert, es marschieren die Tuberkulose, die Syphilis, das Alkoholdelirium, die unhygienischen Wohnungsstätten der Arbeiterbevölkerung: schwer, schwerfällig, tappend, denn schwer nur kommt es noch in Bewegung. Und das Massengrab des imperialistischen Krieges marschiert, und Selbstmord und Lebensverzweiflung, und dahinterher wieder Skrofulose und fahrlässige Verstümmelung, und nebenan die Kolonialschmach und die amerikanische Lynchjustiz, die Todesstrafe marschiert, Gerichtsurteil an Gerichtsurteil, Millionen Jahre Zuchthaus und Gefängnisstrafen, die Kinderarbeit, die Herzensträgheit, die Gedankenzerrüttung... eine riesige schmutzig-gelbe gallertartige Masse von Millionen von Menschen zerstörten Lebensglücks.
Die Menschenunterdrückung, die Ausmergelung, die Unnatur, der brutale Daseinskampf marschiert.
Es ist eine Sintflut der Daseinssinnlosigkeit, eine Sintflut des Nichts.
Ist es Walhall, ist es der Olymp selbst, den ihr stürmen wollt!?
Hoffärtig glotzend psalmensingen die Priester zum christlichen Himmel: aber schon schüttelt es wie Hagelkörner über die ganze Welt hin zu Stahlgeschossen geronnene Menschentränen...
Und-
Ein Gesang marschiert.
Die Internationale marschiert...

Wie ruhig, wie unendlich ruhig stehen die sieben „der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes" angeklagten Revolutionäre vor ihren Richtern.
Vier, fünf, zehn, zwölf, fünfzehn Jahre Zuchthaus.
So lautet der Antrag des Staatsanwalts.
Die Angeklagten haben das Schlusswort.
„Wir haben jederzeit unser Ziel unumwunden zugegeben. Die Strafe, die Sie gegen mich beantragt haben wenn das eine Strafe für meine kommunistische Gesinnung sein soll, nun gut. Für den Kommunismus setze ich alles ein."
„Für mich ist es einerlei, was der Gerichtshof beschließt. Ich habe bis jetzt mit meinen Genossen gelitten: ich bin bereit, wenn es sein muss, für meine Überzeugung weiter ins Gefängnis zu gehn."
„Ich habe für meine Überzeugung bisher im Gefängnis gesessen. Ich habe dafür meinen Beruf aufgeben müssen. Ich werde, wenn Sie es wollen, weiter zu leiden verstehn."
„Eine Gesellschaftsordnung, die Millionen ins tiefste Unglück hineingestoßen hat, ist nicht wert, weiter zu existieren. Ich habe im Gefängnis in die tiefsten Tiefen hineingeschaut. Wir werden es zu ändern verstehen. Sie werden mir mit dem Strafantrag einen Lorbeerkranz um mein Haupt legen, den ich gar nicht verdiene, denn ich bin ja nur ein einfacher Funktionär. Ich werde trotz alledem den Kopf hoch tragen."
„Ich bin mir völlig klar darüber: der Leidensweg des Proletariats erfordert große Opfer. Ich bin es gewohnt, für den Kommunismus zu kämpfen und zu leiden. Ich werde auch weiter Opfer zu bringen verstehn. Aber das Bewusstsein habe ich, und das macht uns alle stark: Zuletzt werden wir die Sieger sein und triumphieren über den Schmutz der heutigen bankrotten Gesellschaftsordnung."
Und auch die Jugend des revolutionären Proletariats meldet heroisch an ihre Stimme: „Ich bin stolz darauf, für meine Überzeugung vor Ihnen, hoher Gerichtshof, zu stehen. Ein großer Arbeiterführer hat uns einmal gesagt: wenn euere Altersgenossen ins Gasthaus und ins Tingeltangel gehen, so werdet ihr mit einem Lächeln ins Zuchthaus wandern. Nun, wenn Sie mich ins Gefängnis schicken wollen, ich bin bereit, für den Kampf der Jugend meine ganze Person einzusetzen und werde stolz die Gefängniszelle auf mich nehmen."
„Wenn Sie mich verurteilen, nun gut, so werde ich dieses Lehrgeld zahlen. Ich glaube, es wird sich lohnen."

Was ist das für eine Ruhe!?
Das ist die Ruhe des Schon-gesiegt-Habens, nur einen Schritt, nur einen kleinen Schritt noch ist die Geschichte zurück. Morgen, übermorgen: es kommt, es wird kommen, es muss kommen... Der Kampf ist schon entschieden — und wenn du zur Bekräftigung des Sieges noch das Siegel deines Lebens draufdrücken musst: so geschieht es ohne Zögern und voller Heiterkeit.
Was ist das für eine Sprache!?
Das ist eine Sprache, die gesprochen wird, bald laut, bald weniger laut, doch deutlich vernehmbar, bekennerisch, in allen Erdteilen. Das ist der Grundton einer neuen Weltsprache, der Sprache der Zukunft. Und jeder echte Dichter müsste sie sprechen.
Ja, die Höhe der Strafe: das ist einer der Gradmesser der revolutionären Tüchtigkeit, einer der Gradmesser deiner Menschheitsverantwortlichkeit. Das „An die Wand": das ist für den Revolutionär, wenn es schon sein muss, das aus seinem Herzblut mit Freuden gespritzte Blutsiegel unter die Botschaft: Einst kommen wird der Tag... Denn —
„Wer Kampf gegen den Bolschewismus beginnt, der sinkt immer tiefer und tiefer. Er wird Verbündeter von Monarchisten, Werkzeug von Imperialisten, dann Spi0n und Bandit. Auf diesem Weg gibt es kein Zurück
mehr."
Mit diesem offenen Geständnis beschloss vor dem roten Revolutionstribunal einer der unerbittlichsten Gegner des Sowjetsystems seinen verruchten Kampf gegen die Arbeiter- und Bauernrepublik: Sawinkow.
Und so ist es. —

 

9

Aus diesen Fangarmen sich zu befreien, aus Fangarmen, die unsichtbar sind, die fließend sind, die wie ein millionenästiges Gezweig dein Denken und Fühlen durchzweigen, um so mehr, je mehr du vermeinst, ihrem eisernen Zugriff bereits dich entzogen zu haben; heraus aus allen Verkettungen und Verwindungen, denn wie ein Sperrfeuergürtel ist die Not der Zeit um die begrenzte Zone deines Daseins gelegt: heraus dich zu arbeiten, das Messer zwischen den Zähnen, aus all den tausendfachen Verstrickungen, Durchgarnungen, Hinterhältigkeiten und Unbewusstheiten: dazu ist die Kraft eines einzelnen Lebens nicht genug, und wäre sie noch so eine übermenschliche und gigantische. Aber du lebst dein Leben weiter. Lebst dein Leben weiter im Leben von Kämpfern, die um dich sind, die mit dir sind, im Leben von Kämpfer-Generationen, die nach dir kommen wer-
den. Die besser kämpfen werden wie du, zielsicherer, konzentrierter, gerüsteter. Die eines Tages auch den Kampf zu Ende gekämpft haben werden, von dem es heißen wird:
Er war der größte, er war der herrlichste, er war der an Niederlagen reichste: keiner war ihm gleich.
Gekämpft habt ihr in Träumen; gekämpft habt ihr mit entzündenden Worten, mit Melodien; mit Wandzeichnungen, mit Debatten; mit euerer Atemzüge monotonen Rhythmen; mit jedem euerer Herztakte, hart, gehackt klopfend hindurch durch die stickicht qualmenden Fabrikräume: ihr lebendigen Arbeitsmaschinen!
Lawinen von Menschenmassen schüttelt aus sich heraus die Erde. Lava von Menschenblut stampfte dampfend daher.
Türme von Menschenleichen stiegen an aus der Tiefe. Massengräber schluckten, ein schlammiger Rachen, die Lichtfrucht der Sonne.
Strang, Füsillade, elektrischer Hinrichtungsstuhl: Bis zur Neige geleert den Kelch der Bitternis!
Nicht einen Tropfen nicht geschmeckten Leids schenkt euch die nach Menschenopfern lechzende Menschenerde!
Schritt auf Schritt auf dem wie eine getretene Schlange sich windenden Weg siehst du, hereingebaut bis ins blaue Erz des Himmels, Schädelpyramiden.
Blutquellen perlten. Blutbäche schössen, Blutströme rollten. Die Riesenorkane, mit den Flügeln des Hagels sie schlagend, furchten das Blutmeer.
Wer seid ihr!?
Kolonnen rußgeschwärzter Männer — Kolonnen der Arbeitskittel —
Kolonnen der Genossen, der Leninisten-Kommunisten —
Kolonnen der Genossinnen — Kolonnen der Jungkommunisten — Kolonnen der Parteilosen-Sympathisierenden — Proletariat. Menschheitsgranit.
Zu Wellenbergen der Geschichte verwandelte Menschenmassen. Welt-Eroberer. —

Es hingen nieder die Wälder von den Bergen wie schwarzes Geläute. Die Felsen donnerten hoch oben im Luftleeren.
Keine Tafel fasst je die Namen der Helden, gefallen in der Riesenklassenschlacht.
Die kommenden Geschlechter werden ein Instrument erfinden, die Namen der Helden und Kämpfer der ganzen Erde, die Schlachtäcker und Kampftaten alle gleichzeitig zu nennen: das dröhnt wie Gebläse einer millionenstimmigen Riesenorgel; alle Kreatur singt mit im Chor.
Jeder Blick deiner Augen kämpft, jede Faser deines Herzens, jede Bewegung deiner Hand kämpft.
Einer voraus!
Einer in der Mitte.
Einer ist der Anfang.
Das Gewölbe hallt wider vom Refrain des ersten Tausends. Das zweite Tausend — Das dritte — Das vierte...
Das erste Hunderttausend — Schritt gefasst! Schwenkt! Ausgeschwärmt —
Massenprotest — Generalstreik — Massenaktion — Bewaffneter Aufstand---
Und wie ein Fächer sich entfaltet —
Sturmwellen wirft der hohe Triumphgang der Geschichte.
Alles ist Kampf, ist Bewegung.
Die Natur selbst trommelt den Kampftakt.
„Wer ist das!?" „Was ist das!?" „Einfach ein Irrsinniger!?" „Oder -?!"
„Ein Projektil der Geschichte — von nie dagewesener Sprengkraft!?"
Lenin
„Aus diesem Teig sind geknetet die Robespierres, die Marats — und sogar noch viel, viel Größere... "
Ihr stahlgepanzerten Großkampfmaschinen, rot bewimpelt, seid gegrüßt! Hinüber!
Ruckend zuckt es hinweg schon über Gräben, angefüllt mit Stößen regenbogenfarbig schillernder Gasleichen.
Stahl, Erz, Kohle, Kupfer, Metall, Wasser, Zement, das Gift, die Wurzeln der Tiefe, das zarteste Blümlein der Erde: nenn mir ein Ding, nenn mir ein Fleckchen im Weltraum, nenn ein Element mir, das heute nicht kämpft.
Auch die Vögel, die Sonne, Stern, Wald, Meer, von Schwarz bis Purpur; Bergpfade und Gefälle:
Alles jauchzt Kampfwillen. —

Tausend Jahre oder darüber — ich zähl sie nicht -: aber ich höre deutlich das Siegeslied, gesungen von dem befreiten Welt-Volk, hereinschmettern in den Strudel der Klassenkampfzeit aus der alle Menschenzeitalter triumph-kühn überhöhenden Zukunft:

„Genossen! Kampfscharen!
Seht, das ist das Leben, das ihr uns erkämpftet! Auf sonnenstarken Bergen: geflügelt überspringen wir Gipfel an Gipfel; wie auf einer Fläche gleiten wir hin auf dem Wind...
Greift unsere Körper! Nicht nach der Zahl von Jahren mehr leben wir: wandelnde Fackeln des Lebens sind wir, genährt an dem ewigen unauslöschbaren allebendigen Lebensbrand...
Herrschaftslos herrschen wir!
Begeisterungsglühend, ein Menschen-Stern, zieht jeder einzelne dahin über die Erdenbahn.
Was ist's für Wärme, die in einer leuchtenden Woge, länderauf, länderab, meerauf, meerab bis hinüber über den Süd- und über den Nordpol wallt!? Nicht Golfstrom ist's und nicht Samum: es ist unser neuer Sommer, es ist Wärme des Menschenherzens.
Was ist's für ein schweigendes Gewittern im Raum, Takt an Takt; es wölbt sich, ein kristallisches Kuppelgefüge, strömt an, strömt an in Klangwellen, und wieder strahlt es sich auseinander in vielfarbigen Schwingungen!? Es ist die unermüdbare Schlagkraft des Menschenherzens.
Wie Wein schäumt über den Rand: so überquillt vor Fruchtbarkeit die Erde an den Horizonten. Das ist Menschen-Unsterblichkeit. Das ist Menschen-Kraft. —
Genossen! Kampfscharen!
Im fernsten Dunkel ruhen unausgesprochen euere Sprachen. O ihr Brücken, geflochten aus Menschenleibern, hineingebaut in die Reiche des unerschöpfbaren Lebenslichts!... Kameraden! Der Helden der Vorzeit gedenkt! Der von Menschen einst der Menschheit geschlagenen Wunden gedenkt!
Jauchzend gedenkt!"

 

Achtes Kapitel

SOWJET-EUROPA ENTGEGEN!

Prinzipielle Vorbemerkung zum letzten Kapitel. — Kolonialwirren
Die Kriegsgaswolke am Horizont. — Arbeiter bewaffnen sich. Was bedeutet CHCl=CH)3As (Levisite)? — Die Farbstoff-Fabriken rebellieren. Das chemische Kampfstoffarsenal der USA: Edgewood. Der Sturm bricht los! — Der Kern der Sache. Abgefangene Radios aus Amerika. — Nachrichten aus aller Welt. Japans werktätige Massen brechen ihr Sklavenjoch. Sowjet-Russland marschiert. — Unsterbliche Opfer. Sowjet-Europa entgegen!

Ein preußischer Monarch hat am Ende des 18. Jahrhunderts einen klugen Satz geprägt: „Würden unsere Soldaten verstehen, weswegen wir Krieg führen, so hätte man keinen einzigen Krieg führen können." Der alte Preußenkönig war kein dummer Kerl. Wir aber können jetzt sagen, wenn wir unsere Lage mit derjenigen des preußischen Herrschers vergleichen: „Wir können kämpfen deshalb, weil die Massen wissen, weswegen sie kämpfen und kämpfen wollen, ungeachtet der unerhörten Opfer, weil sie wissen, dass sie verzweifelte, unsagbar schwere Opfer bringen, um ihre sozialistische Sache zu verteidigen im Kampfe Schulter an Schulter mit jenen Arbeitern in den anderen Ländern, die unsere Lage zu begreifen angefangen haben." Lenin

1

Noch einmal ein letzter Appell vor dem Sturm, ein Manifest an alle, die menschenwürdig leben wollen, vor dem Generalangriff!

Kameraden!

Die Transmissionsriemen knattern, die Schleifräder spritzen Funken, 10000-PS-Motoren knurren... Und das ist ein Maschinenraum: an Millionen Hebeln zucken Millionen Händepaare herum, wie abgeschlagen vom Körper sind sie, aber an den Händen pulst noch ein Herz, eine Lunge atmet noch, ein Gehirn will denken: noch ist der Mensch nicht ganz tot, zwar ist's schon nicht mehr viel, was hier noch um das gütigst gewährte Existenzminimum ringt... Und die elektrischen Bogenlampen flimmern, die Expressluxuszüge knüpfen Weltende an Weltende, Riesendampfer schrauben sich wohlig und sicher herauf durch den Ozean: der eine Teil der Menschheit verlängert tausend Kilometer lang seine Glieder, dem anderen Teil der Menschheit schrumpfen sie, sterben sie ab... Phantastisch von kristallischen Lüstern erhellt, überblüht die Luxuskabine das armselige Schattendasein der vier Wände des Lohnarbeiters, aber — sind nicht aus seinem Herzblut, aus Schweiß und Herzblut des Lohnarbeiters die Paläste gegossen? Maschinen, Licht, Lebensluft, Wärme: ist es nicht sein Werk!? Und haben demnach diese anonymen Schöpfer jeder Lebenskraft nicht das Recht, nein, nicht die heilige Verpflichtung, sich im Fall, dass sie gewaltsam im Interesse einiger weniger, die schon im Urteil der Geschichte als Gesellschaftsverbrecher gebrandmarkt sind, aus dem Lebensprozess ausgeschaltet werden, hat diese Menschenmehrheit demnach nicht die Pflicht, die ihr zur Verfügung stehenden Notwehrmaßnahmen zu ergreifen, um der Verelendung, der sicheren Katastrophe, dem Lebensuntergang zu entgehen!
Das Natürlichste vom Natürlichen wäre es. Das Menschen-Selbstverständlichste...
Und die Trusts, die Kartelle, die Syndikate bewegen sich, bewegen sich gegeneinander, und jede ihrer Bewegungen schafft Kollisionen, zeugt Krisen, schaufelt das
Grab für Hunderttausende. Und hört ihr den Chor der Menschheitsvampire, zunächst noch als ein konspiratives Flüstern:

„O heilige pazifistische Ära!
Der ganze Weltraum trieft ja von Friedensgeläuten!
Halleluja donnern hinweg über den Ozean
Die Kanonenschlünde der Dreadnoughts:
,Friede auf Erden!'
Ach, nur in den stillen Kämmerlein
Unserer Staatslaboratorien
Fabrizieren wir gutes Giftgas.
Seht: den Staat haben wir uns geschaffen
Als unsere beste Waffe —
Und wenn es wieder mal losgeht:
Diesmal wird der Konkurrenzkampf geführt
Als chemischer Krieg...
(Sachbeschädigung ausgeschlossen.)
Phosphorbomben. Flugtorpedos. Elektrische Wellen—
Fünf Minuten —
Und (jede Pore exakt durchgiftet)
Liegt leblos so ein Riese
Wie zum Beispiel Chicago da...
Und wer bezahlt dann die Zeche!?
Zuviel Menschen sind ja sowieso auf der Welt.
Darüber sind wir uns einig...
Tastet inzwischen die Erde ab:
Wo riecht's nach Petroleum?!
Schade nur,
Dass der Mars noch nicht zu kolonisieren ist!"

Eine gespenstische Polonaise wandert indes hindurch durch den Weltraum die Millionen-Kolonne der körperlich und geistig Verhungerten, Mann an Mann, Weib an Weib, Kind an Kind... Warum!?... Genügt euch wirklich als Antwort darauf nur ein Achselzucken!? Ist das Grundgesetz der Gesellschaft für euch immer noch eine geheimnisvolle mystische Chiffre, ohne Schlüssel!? Rutscht ihr immer noch die Knie euch wund vor dem erbärmlichsten gesellschaftlichen Aberglauben: „Es ist immer so gewesen, es wird immer so sein... "

Ein Fünfsekunden-Querschnitt durch Zeitungskioske, Theater, Verlage: es ist zum... Es gleicht wohl einem Sprung durch eine Papierhölle. Alles was einmal groß, echt, gewaltig, lebendig war: verkauft, verwässert, entwertet, verraten... Alles ursprünglich Edle, Wahre, Heroische und Schöne in eine schleimige Korruptionstunke eingetaucht, jeder lautere Ton überkeift von einem zotigen Gemecker...
Aufgeplustert bis zum hysterischen Exzess, widerlich zerschminkt, bis zum Brechreiz bengalisch illuminiert: so stolzieren die modernen Revuen an, und desto erfolgreicher sind sie, desto inhaltsloser sie sind und desto nichts sagender und leerer ihre bedauernswerten Akteure daherplappern:  prächtig  maskierte  Volksseuchen...
Magazine, Journale, Sumpfliteratur, Auflageziffern bis 300000... Und wer sind sie, die armseligen Opfer dieser typischen Misthaufenerzeugnisse!? Im Cafe, in den Wartezimmern des Arztes: dort strömen sie ihren pestilenzartigen Geruch aus.
Der Film, in sich bergend ungeahnte Möglichkeiten, Was ist aus ihm, eingespannt in den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft, geworden!? Man braucht, glauben wir, nicht mehr darüber zu sprechen. Film, Radio, Presse, Theater, Literatur: das sind nur die verschiedenen Ressorts jenes gewaltigen, immer mehr sich amerikanisierenden Propagandainstituts  zur Weiterzüchtung der menschlichen Dummheit. Hier sind die staatlich konzessionierten Fälscherzentralen und geistigen Bazillenfabriken, sie arbeiten so wundertätig wie unter der Aufsicht des lieben Gottes selbst, sie hebt kein Polizeikommando aus, aber sie produzieren ja auch so verflucht erfolgreich in nächster Nähe des Regierungsviertels und nicht in proletarischen Kellerwohnungen...

Aber bei klarer und nüchterner Überprüfung der Geschichte der Menschen und der Geschichte der Natur müsstet auch ihr eines Tages zu der Überzeugung kommen — nehmt alle Erfahrungen der letzten Jahrzehnte hinzu, euere Erlebnisse —, zu der Überzeugung, dass die heutige bürgerliche Gesellschaft samt ihrer so genannten Kultur rettungslos dem Untergang in die Zivilisationsbarbarei verfallen ist und dass sie nicht mehr dazu berufen sein kann, die wirtschaftlichen und geistigen Weltprobleme in einem wirklich schöpferischen Sinne zu lösen, dass sie nicht mehr dazu berufen sein kann, aus sich heraus das einzige Bollwerk gegen die herannahende Phase modernster chemischer Weltkriege zu errichten: die planmäßig organisierte Weltgemeinschaft aller Werktätigen.
Millionenmenschenmassen kreisen indes lautlos nieder auf den Grund in dem riesigen kapitalistischen Krisen-Wirbel...
Den Befreiungskampf des Menschen aus seinem gespenstischen Warendasein, den Befreiungskampf der Menschheit aus allen ökonomischen Zwangsformen, den
Krieg gegen den Krieg — und damit auch eueren Befreiungskampf, Kopfarbeiter, aus den Fesseln geistiger Lohnsklaverei, kämpft heute die Klasse der Unterdrücken: das Proletariat. Seine geschichtliche Mission, als einzige an der Verewigung dieses Gesellschaftszustandes nicht interessierte Klasse, ist es, die Hinfälligkeit und die barbarische Verlogenheit des heute noch herrschenden Systems zu erkennen und ihm den organisierten Widerspruch entgegenzustellen, die einheitlich geschlossene Kampffront aller Ausgebeuteten gegen die Ausbeuterwirtschaft und ihre Helfershelfer: den Massenterror aller Werktätigen, den Klassenkrieg auf Leben und Tod.
Diktatur der Bourgeoisie. Diktatur des Proletariats...
Ein Drittes, wie ihr es vielleicht gerne wahrhaben möchtet, gibt es nicht.
Kameraden! Welcher Front schließt ihr euch an? Entscheidet euch!
Verfallt dabei nicht in den dünkelhaften Fehler euerer Berufsschicht, dessen Quelle auf Grund des besonderen Arbeitsplatzes, den die meisten von euch auch heute noch im Produktionsprozess einnehmen, leicht auszuspüren ist, in den Fehler, dass ihr euch selbst vormacht, selbständig, unabhängig zu sein, euer eigener Herr zu sein, niemandem verpflichtet, keinem Rechenschaft oder Tribut schuldig... Ja, zu handeln wähnt ihr, aber um so besser werdet ihr, von der Illusion euerer Freiheit gut eingedeckt, gehandelt und verhandelt... Euere geistigen Positionen sind mehr, als ihr euch gewöhnlich zugeben wollt, recht kräftig materiell unterzementiert: drum, Augen auf, seht zu, wie alles, was ihr tut, sich heute notgezwungenermaßen objektiv, das heißt, von der Perspektive der Geschichte aus gesehen, auswirken muss! Macht euch gefeit gegen idealistischen Aberglauben, Jenseitstaumel und gegen jede Art von noch so interessanten Mystifikationsversuchen, gegen Nervenzauber und Seelenschmierereien, die gerade auf Grund der Tatsache heutzutage Kurswert erhalten können, als die Grundgesetze des Gesellschaftssystems und damit auch die Lehre von dessen Überwindung, die revolutionäre Theorie, nur verstandesmäßig zu erfassen sind. „Blickverschleierung tut Not" aber orakeln, und sie wissen nur zu gut warum, die Menschheitshyänen... Habt acht auf die offizielle, mit allen Kräften geförderte Fabrikation von Gehirnvergasungsapparaten und auf die weit verbreitete Produktion von mystischen Gehirnnebeln!
Helft mit! Entlarvt das pazifistische Gesabber von angeblich zukünftig humaneren Methoden im Austrag der Völkerkonflikte, das beinahe blutrünstige Gekeife von der „pazifistischen Ära" als das, was es ist: als ein verruchtes Ablenkungsmanöver, als den bewussten Betrugsversuch, „Atempause" und „Schonzeit" ideologisch als eine ewige Kategorie zu stabilisieren... Erkennt den Unterschied zwischen der Phraseologie einer Sache und dem Inhalt einer Sache! Acht gehabt nicht auf das, was der Mund spricht, sondern auf die Bewegung der Fäuste! Statt dass ihr Worte, Papierform, Verfassungsparagraphen ernst nehmt, stürzt euch, wenn ihr mit euerem Entschluss fertig werden wollt, auf das spezifische Gewicht einer Handlung, auf Berechnungen, auf Tatsachen!
So lasst aus den Arsenalen der jährlichen Statistiken die Millionenarmeen der Selbstmörder, der Verhungerten, der Tuberkulösen, der Skrofulösen, jenen Millionenhaufen der in diesem Gesellschaftszustand der Wirklichkeit nach völlig Entrechteten vor euch aufmarschieren, die Kriegsopfer der Kolonialkriege und die Tausende von Jahren zählenden Zuchthausstrafen der politischen Gefangenen, und ihr werdet einwandfrei feststellen können was es auf sich hat, wenn die Regierer aller Länder zynisch von den Parlamentstribünen meckern: „Friede auf Erden!"

Seht die Kommunistische Partei, die weit mehr als Partei ist, die die Vorhut einer neuen kommenden Weltordnung, die das gestaltgewordene neue Welt-Bewusstsein, die der Stoßtrupp der Zukunft ist! Deren Mitglieder von den nur allzu getreuen Hütern der Menschheitsverwesung in allen Reichen der Erde über alle Maßen grausam verfolgt und verleumdet sind, zu Tausenden und Abertausenden ermordet oder lebenslänglich in Zuchthäusern eingesperrt, aber in deren Reihen, trotz alledem, noch immer wach erhalten ist und wach erhalten bleiben wird: Opfermut, Solidaritätsgefühl, wahre Lebendigkeit, Disziplin, Kampfgeist!... Heraus mit euch aus euerer Knechtseligkeit, aus euerem von mörderischen Ketten umstrickten Todesschlaf, aus euerer Indifferenz, aus euerer stupiden, verantwortungslosen Eigenbrötelei! Heraus mit euch aus euerer abstrakten Atelier- und Studierstubenluft: wir beschwören euch: informiert euch endlich darüber, was konkret in der Welt vor sich geht! Folgt unseren Parolen: „Heran an den Feind! Nieder mit Phantomen und Schemen! Herunter von den Thronen mit den lebendigen gekrönten und ungekrönten Leichnamen! Der Mensch muss endlich zu sich selbst den Mut haben! Erobert euch die Wirklichkeit!... "
Kämpft gegen den Welt-Unsinn, gegen den Welt-Wahnsinn, gegen den Menschenmarkt, gegen das Menschen-Zuchthaus, gegen das Menschen-Schlachthaus! Kämpft gegen die im Interesse der Profitwirtschaft künstlich gezüchtete Menschendummheit, kämpft für Menschenfreiheit! Kämpft für die Wiedergeburt des Menschen aus der Menschen-Gemeinschaft!

„Meine Pflicht ist zu reden, ich will nicht mitschuldig werden!" Dieses stolze Wort Zolas haben unsere intellektuellen Hampelmänner, kautschuk-elastisch, wie sie nun einmal sind, und eingedenk der Tatsache, dass Zivilcourage in diesen bösartigen Zeiten unter Umständen zu einer recht brenzlichen Sache werden kann — dieses kühne Wort des französischen Sozialisten hat also unsere offizielle Intelligenz dahin abgewandelt, dass sie prinzipiell nur, wie nach einem geheimen Abkommen, über die Dinge redet, die nicht der Rede wert sind.
Es gibt aber auch eine Lebensstrategie und damit auch fundamentale Grundsätze dieser Lebensstrategie. Und die Grundlage für jeden Erfolg beruht eben bekanntlich in der Fähigkeit, den Gegner mit überlegenen Kräften am entscheidenden Punkt im richtigen Augenblick zu schlagen. Über überlegene Kräfte aber einmal verfügen zu können, das verlangt schon heute: den vollen Lebenseinsatz jedes einzelnen. Der entscheidende Punkt der gegnerischen Stellung, der springende Punkt, auf den zu alle Kräfte unserer Zeit sich bewegen werden, ist: das Problem der Ausbeutung. („Wer alles verteidigen will verteidigt nichts." Dies für Wesensschauer und reine Seelenmenschen!)
Was aber treiben objektiv unsere Intellektuellen?!
Sie treiben „Tarnung". (Oder Camouflage, wie es in Amerika heißt, und woraus man bereits eine ganze Wissenschaft gemacht hat... Popularisiert diesen Begriff!) Was ist Tarnung? Unter Tarnung versteht man die Kunst, den Gegner über die wahren Absichten, die man hegt, im unklaren zu lassen. Unter Tarnung verstand man zum Beispiel den Grasbüschel am Stahlhelm des MG-Schützen, und da bekanntlich auch der imperialistische Frieden' die Fortsetzung der Politik des imperialistischen Krieges mit besonderen Mitteln ist, so versteht man unter Tarnung in der so genannten pazifistischen Ära: die serienweise Fabrikation von Ideologien und Illusionen (Parlament, Demokratie, Völkerbund, Ableugnung des Klassencharakters des Staates, der Justiz, des Heeres, der Polizeigewalt usw. usw.), die dazu geeignet sind, den Gegner, d. h. den Klassengegner, das Proletariat, über die wahren Absichten der Volksverbrecher und der Massenblutsauger im unklaren zu lassen. Die Spitzen der Klassenkampfbewegung womöglich schon ideologisch und psychologisch abzubiegen und auf diese Weise sich die Profitrate beziehungsweise die höhere Profitrate zu sichern...
Selbstverständlich, so denken instinktsicher die Gewalthyänen, man kann es sich schon was kosten lassen, den verwesungstriefenden kapitalistischen Leichnam mit Girlanden zu umwickeln, wer wird auch seinen eigenen Gestank und seinen Totenschädel offen auf der Straße umhertragen! Ideologische Parfümeriefabriken tun bei dem allgemeinen Verwesungsgestank dringend Not: man muss die Verwesung wenigstens wohlriechend machen! Kulissen her! Man kann sich doch nicht so jämmerlich, wie man in Wirklichkeit ist, zeigen! Ja, denn es geht hart auf hart! Alle Kräfte mobilisiert zum Endkampf, heißt es da; hungern lassen, heißt es da, ausbeuten! Nur die Massen nicht in revolutionären Schwung kommen lassen,
nur die Haltung nicht verlieren. Nur jetzt nicht.. Verflucht, bleibt bald für das internationale Weltkapitel nur noch China übrig, immer spärlicher werden die Akkumulationsreste... und wenn man sich nicht mehr um Absatzgebiete hinmorden kann, was dann... Wie soll man weiterhin den Mehrwert realisieren!?... Die Welt ist aufgeteilt: nun muss man wohl bald dem Konkurrenten den Produktionsapparat selbst zerschlagen...
Und Worte sind in solchen Zeiten nicht mehr dazu da, um die Wahrheit zu sagen, sondern: um sie zu verdecken...
Nun, gut! Wir werden ihnen aber, wie man so sagt, mörderisch in ihr verruchtes Handwerk pfuschen. Wir werden reden, nicht um die Gegensätze zu verdecken, sondern um sie aufzureißen. Damit alle sie sehen können, werden wir die Wirklichkeit, nackt und brutal wie sie ist, in einen Kegel von Blendlicht stellen...
Ja, euere Pflicht wäre es zu reden, Intellektuelle, um die Klassenkräfte mit in Bewegung zu bringen, euere Pflicht wäre es, den Motor an der Kampfmaschine des Klassenwiderstreites mit anzukurbeln, für den nötigen Brennstoff mit zu sorgen, mit zu sorgen dafür, dass die Zündkerze intakt bleibt. Euere Pflicht wäre es, die proletarischen Klassenenergien mit zu entwickeln. Euere Pflicht wäre es, zu reden, um nicht an der drohenden Versackung ganzer Geschlechter im „absoluten Krieg", d. h. im „Gassumpf", mitschuldig zu werden.
Euere Pflicht wäre es, nicht nur zu reden, um nicht an dem stündlichen ungeheueren Menschheitsverbrechen mitschuldig zu werden, sondern...
Und wenn es euch auch den Kopf kostete!
Aber auch im Fall, dass euere Entscheidung für die Revolution ausfällt, auch in diesem Fall gilt es, mit einem festeingewurzelten Aberglauben gründlich aufzuräumen.
Denn Revolution bedeutet nicht nur gefühlsmäßige, begeisterungsflammende Hingabe an das revolutionäre Ideal. Damit ist bei weitem noch nicht alles getan. Revolution ist nicht nur der bewaffnete Aufstand, ist nicht nur das Stadium des Emporflammens der Massen-Empörung, Revolution bedeutet auch kleine zermürbende Parteiarbeit. Revolution ist auch die Klebekolonne. Revolution sind auch leere Versammlungen. Revolution ist Legalität und Illegalität. Die Kampfmaschine der Revolution: sie treibt einen ungeheueren Verschleiß an Menschenzahl und Menschenkraft. Revolution ist gründlichstes, exaktestes Wissen; sie ist das härteste, gewagteste und furchtbarste Lebenstraining dieser Welt; sie fordert deine Disziplin, deine Ausdauer, sie fordert dich hinein bis auf die letzte Nervenfaser; sie fordert dich ganz. Aber es ist unschwer, wie Lenin sagt, revolutionär zu sein, wenn die Revolution schon ausgebrochen ist und in Flammen steht. „Nicht der ist revolutionär, der beim Eintritt der Revolution revolutionär wird, sondern der, der auch zur Zeit des stärksten Wütens der Reaktion die Grundsätze und die Losungen der Revolution verficht..."

„Wir möchten es für euch wünschen, Kameraden, wir möchten es herzlichst für euch, in euerem eigenen Interesse wünschen: lernt wieder kennen Heroismus, Aufopferung, Kameradschaftlichkeit. Lernt wieder kennen, was es heißt, dass der Mensch nicht nur eine Ware ist, dass der Mensch nicht nur ein über alle Maßen gedemütigtes Ausbeutungs- und Spekulationsobjekt ist, sondern dass der
Mensch vor allen Dingen noch ein Wesen ist, das aus einem Herzen besteht, das schlagen will, aus einem Gehirn, das denken will, aus Fleisch und aus Blutteilen. Lernt wieder kennen, nachdem ein Ideal nach dem andern euch zertrümmert worden ist, lernt wieder kennen das Gefühl, einer Bewegung anzugehören, der die Zukunft gewiss ist und deren Sieg gleichbedeutend ist mit Menschenwürde und Menschenfreiheit. Hier findet ihr hoch hinaus über alle spielerische Formelfexerei und geheimnisgeile Spekulationskrämerei wieder einen kräftigen Lebensinhalt. Unser Leben hat einen wesentlichen, das heißt einen zukunftszeugenden Inhalt: das ist das einfachste und wunderbarste zugleich, was ein Mensch von sich aussagen kann. Ein Lebensinhalt, um den es sich zu leben und zu kämpfen lohnt, und ein Lebensinhalt, um den es sich, wenn es sein muss, auch zu sterben lohnt. Mehr als das, etwas Schöneres, Herrlicheres, Gewaltigeres gibt es nicht, was der Mensch dem Leben abzugewinnen vermag...
Kämpft mit uns, wenn ihr wirklich ernsthaft gewillt seid, dass endlich Schluss gemacht wird mit jenen uniformierten Folterbestien, kämpft mit uns, wenn ihr wirklich ernsthaft gewillt seid, dass endlich Schluss gemacht wird mit jener Minderheit von Mehrwertshyänen in Menschengestalt, die Glück, Freude, Leben, Gesundheit von Millionen und Abermillionen Menschen täglich, ja stündlich auf dem Gewissen haben! Kämpft mit, Kameraden, wenn ihr die Wiedergeburt des Menschen aus der Menschengemeinschaft wollt, kämpft mit uns, Schulter an Schulter mit dem klassenbewusstesten Teil des Proletariats, Schulter an Schulter mit der Kommunistischen Partei: für die Grundsätze und für die Losungen der Revolution ... "
Solche und ähnliche Aufrufe erschienen damals in allen Universitäten, Hochschulen... Und die idealgesinntesten und aktivsten Elemente der bürgerlichen Gesellschaft traten unter die rote Fahne. Es geschah, dass mancher Chemiker, Techniker, Künstler, Gelehrte, Arzt plötzlich, wie aus einem Lebensschlaf erwachend, die Augen sich rieb, staunte: „Ja, die Kommunisten sind ja gar nicht so... Die hab ich mir immer ganz anders vorgestellt!" Und mit einer ungeheueren Überzeugungswucht und einem fanatischen Bekennermut sich die gefährlichsten Kampflagen aussuchte.
Zahl, Kampfstärke der beiden Fronten änderten sich Tag für Tag.
An manchen Stellen war ein großes Überlaufen...
Zwischenstufen, Mischungen, seltsamste Kombinationen, Übergänge: die ganze Welt erschien in einem strudelnd flüssigen Zustand, und gespensterhaft phosphoreszierend. —

 

2

Ein kurzer, schlagartig einsetzender Generalstreik: das war das Vorspiel zum bewaffneten Aufstand. Nicht überall lösten sich gleich bewaffnete Kämpfe aus, wie denn überhaupt die ganze Lage nicht schematisch zu beurteilen war. Über manchen Landesteilen lagerte eine unheimliche Stille; war es Stille vor dem Sturm oder Grabesstille!? Es war Stille vor dem Sturm, wie sich bald herausstellte. Und jene Führer der Arbeiterbewegung hatten wieder einmal bitter Unrecht behalten, die auch damals von der Kampfmüdigkeit und von der Gelähmtheit der proletarischen Energien unkten. Wurde auch die Generalstreikparole nicht überall gleich restlos befolgt, beim Ruf zum bewaffneten Aufstand zögerten nur noch wenige...

Um diese Zeit starb auch plötzlich der hochbetagte Präsident der Republik am Schlagfluss.
„Berufsmörder!" — „Mit Orden ausgezeichneter Funktionär des Menschenmassenmords", fluchten die einen ihm ins Grab nach. „Deutschlands letzte Stütze!" — „Unsere letzte Hoffnung!" flennten die anderen.

„Deutschland über alles", hörte man damals das letzten Mal.
Deutschland war in den letzten Jahren immer mehr zur Bedeutungslosigkeit eines reinen Vasallenstaates, einer Industriekolonie, herabgesunken. Die nationalen Kreise, die mit der Parole „Nichterfüllung" ans Ruder kamen, wurden im Moment der Regierungsübernahme zu Vollstreckern der Verschacherung des deutschen Nationalguts. Immer raffiniertere Methoden im Volksbetrug wurden ausgebildet, bis diese eines Tages in einen ganz gemeinen offensichtlichen und plumpen Schwindel umschlugen. Dann wurde künstlich sofort das patriotische Delirium aufs höchste gesteigert, „Deutschland über alles" ertönte, wie immer, wenn ein ganz gerissenes Schiebermanöver im Gang war...
Die hin und wieder unter Ausbrüchen heilig-flammender Empörung gegen Deutschlands Vergewaltigung erhobenen Proteste wie auch das ganze Gefasel von der Wiedergutmachung der Schuldlüge usw. war ein vorher genau mit den einzelnen Staatengruppen abgekartetes Spiel, damit sich den gutgläubigen Kleinbürgern gegenüber die nationale Farbe der Regierungsträger nicht verwischen sollte. Ja, diese hatten sich durch die Bank
so brav und ordentlich gehalten, dass der Völkerbund ihnen sogar ihre einstigen Kolonien als Mandat übergab.-
Wie Hammerschläge zum Sarge des Reichsoberhauptes dröhnten jetzt die Geschütze in das Stadtinnere aus den Vororten herein, wo Militär und bewaffnete Arbeiterschaft miteinander im Kampfe lagen.
Von Stacheldrahtverhauen geschützt, bewegte sich der Leichenzug dem Dom zu, wo die Beisetzung stattfand. Auf Paraden und feierliches Gepränge hatte man, wie man öffentlich kundtat, in Anbetracht der traurigen Lage der deutschen Volksgemeinschaft verzichtet.
Vor dem Dom machte sich eine Gruppe von Provokateuren ans Werk, schleuderte eine Bombe ins Publikum, die fehlging, aber immerhin eine ungeheuere Panik hervorrief, bei der viele umkamen und es Hunderte von Verletzten gab; und eine Viertelstunde darauf ließ die Regierung bereits die Nachricht von einem kommunistischen Bombenanschlag verbreiten. Man erklärte die Kommunisten für vogelfrei. Die „Schwarz-Weiß-Roten" zogen auf Kommunistenjagd. —

Draußen in einem Arbeiterviertel auf einem weiten Platz waren in roten Särgen die ersten Revolutionsopfer aufgebahrt.
Als die KPD-Truppen anmarschierten: das klang hart, exakt, schneidend. Schlagartig, metallisch, knallend.
Der Revolutionsgesang war ein kräftiges, in Rhythmen gefasstes Klassenkampfbekenntnis, ein Schwur, eine Bürgerkriegsfanfare, eine unerbittliche Kampfansage.
Dieser Trauermarsch war ein Kriegsmarsch.
Ein Genosse sprach.
Er sprach von der roten Blutmauer der Föderierten: „Die Mauer der Föderierten auf dem Kirchhof Père-Lachaise, wo damals der Massenmord vollzogen wurde, steht noch heute, ein stummberedtes Zeugnis, welcher Raserei die herrschende Klasse fähig ist, sobald das Proletariat wagt, für sein Recht einzutreten. Dann kamen die Massenverhaftungen, als die Abschlachtung aller sich als unmöglich erwies, die Erschießung von willkürlich aus den Reihen der Gefangenen herausgesuchten Schlachtopfern, die Abführung des Restes in große Lager, wo sie der Vorführung vor die Kriegsgerichte harrten... " Und der Genosse schilderte weiter, wie diese Mauer durch alle Länder hindurch, über alle Meere hinweg sich hinzieht, wie sie mit Strömen Proletarierblut getränkt ist und wie diese Mauer auch heute wieder auferrichtet ist, turmhoch, wie an ihr das gesamte Proletariat steht, ausgesucht von der weißen Menschenbestie dazu, wehrlos niedergemetzelt zu werden... Aber wie das Proletariat nun selbst zur Mauer wird, jede Brust ein Stein, jede Gruppe von Proleten ein scharfkantiger Quader, und wie plötzlich sich diese proletarische Menschenmauer in Bewegung setzt, stampfend über die Leiber der Mörder sich hinwegwälzt... und das vergossene Blut in der Mauer zu leuchten beginnt, rotes Siegesblut und rotes Opferblut eins wird, glühend rot...
Und schloss mit den Worten Lenins: „Auf je hundert unserer Fehler, die die Bourgeoisie und ihre Speichellecker in die Welt hinausschreien, kommen zehntausend große Heldenakte, die um so größer und heldenhafter sind, als sie einfach und unscheinbar sind, sich im Alltag des Fabrikviertels, oder des entlegenen Dorfes abspielen und von Menschen begangen werden, die nicht gewohnt sind und auch keine Möglichkeit dazu haben, ihren Erfolg in die Welt hinauszutrompeten... " Unsterbliche Opfer...

Weiter ging der Kampf.
Maschinengewehrfeuer knatterte aus Flugzeugen, die dicht über die Dächer hinwegflogen. Proletarische Scharfschützen aber schossen in einem Stadtviertel aus Dachluken und hinter Kaminen hervor ein ganzes Geschwader ab. Ungemein beweglich war die Kampfesart, die sich im Verlauf der bewaffneten Aktion die Arbeiter zu eigen machten. In kleinen elastisch hin und her manövrierenden Trupps wurde gekämpft, die sich trennten, blitzschnell sich wieder vereinigten und. beinahe ohne Kommando sofort entschlossen zu einem Angriffsstoß ausholten. Polizeiwachen wurden erstürmt, niemand aber beging mehr den Fehler, sich darin festzusetzen und die anrückenden feindlichen Truppenteile aus der Verteidigungsstellung heraus zu bekämpfen. Jede erstürmte Stellung wurde sofort geräumt, geschickt maskiert, tagelang blockierte dann oft unter ungeheueren Verlusten der Feind solche Masken. Der Kampfgeist der „Weißen" wurde dadurch bedenklich zermürbt. Schweres Artilleriematerial, Flammenwerfer, Phosphor-Brandspritzen wurden mühsam herangeschafft, denn nur nach gründlichster Vorbereitung konnten die weißen Kommandos noch einen Sturm wagen. Bei übermäßigen Verlusten oder Rückschlägen ergab sich sofort eine Unzahl von Insubordinationen und Desertionen, nur die technische Überlegenheit verhinderte in diesem Moment noch den völligen Auflösungsprozess...
So bewegte sich auch auf einer Erkundungsfahrt ein Geschwader von Kampfwagen mitten in das Zentrum des Arbeiterviertels hinein.
Die Kampfwagen waren gasdicht abschließbar und mit Sauerstoffapparaten ausgerüstet.
Glühend heiß war es im Innern des Panzerwagens. Die Fünf-Mann-Besatzung schwitzte, und das eiserne Ungetüm holperte polternd über die aufgerissenen Straßenpflaster. Der Leutnant stand am Sehschlitz, brüllt die Kommandos. Wie ein Unterseeboot schwankt der Tank im hellen Gewässer des Tages einher.
Nichts ist zu sehen. Nur kurz und hart schlagen außen die Geschosse unsichtbarer Schützen auf dem Stahlpanzer auf.
„Hagelwetter bei heiterem Himmel."
Doch die Fünf-Mann-Besatzung ist nervös, es wird heiß und immer heißer bis zum Ersticken, man ist halbnackt und feuert, was die Kugelspritze hält, drauflos. Man stößt mit voller Kraft über die Straßenecken vor, vermeidet jeden toten Winkel, wendet kurz und schlenkert weiter im Zickzack straßeneinwärts. Hinter allen Fenstern spürt man Augen, Augen, die wie sengende Strahlen in das Wageninnere hineinbrennen, vorwärts, rückwärts, oben und unten: überall lauert der Feind. Und die Antenne ist schon kaputtgeschossen. Man ist abgeschnitten... Nur der Motor rauscht und summt.
Wieder um eine Ecke.
Haustüren weit offen... Man funkt hinein...
Der Leutnant sieht sich um: die vier Soldaten, Bauernjungens, machen giftige Gesichter. Reißen mit Wut an den Hebeln, ihre Bewegungen sind Stoß und Faustschlag...
Eine Leiche liegt mitten auf der Straße.
„Volle Fahrt!"
Drüber hinweg...
War es eine Leiche!?
Oder hat es sich im Tuch bewegt?!
Und der Leutnant schreit noch: „Jetzt Kinder, seid doch vernünftig, eine geballte Ladung! Achtung..."
Und während die vier Soldaten ihm an die Kehle springen, einer ihm das Messer zwischen die Rippen stößt, die Pistole ihm zwischen den Fingern hindurchfällt, flutet auch schon eine Feuerwelle durch den Panzerraum; zwei, drei kurze Detonationen... und die fünf Menschen hocken am Boden: in sich verkrümmt, wie verkohlte Baumstümpfe.
Auch die vier anderen Wagen des Geschwaders waren abgefangen. Die Mannschaften hatten sich bedingungslos ergeben.
Die Schäden waren leicht auszureparieren.
Genosse Max Herse gehörte zur Besatzung des Wagens „Roter Blitz", der auf Patrouille ausfuhr...

Wunderbare Dinge geschahen.
So kam einer die Straße herunter, ein gutgekleideter Mensch, mit dem Taschentuch winkend, auf den Wagen zu, meldet sich mit einer tränenerstickten Stimme: „Helft mir! Ich will wieder ein Mensch werden. Ich war es nur einmal in meinem Leben, drei Tage lang... Seitdem, ach..." Der sonderbare Überläufer wird im Wagen mitgenommen, kämpft später bei einer roten Sturmabteilung, fällt, ist schwerverwundet, und sein letztes Wort ist: „Ich kann euch nicht sagen, wie glücklich ich bin... nun ist ja alles gut so..." —
Das Kampfgebiet wurde mehr und mehr von den Arbeitervierteln weg in den Westen der Stadt verlegt, wo sich die Villenquartiere und die vornehmen Geschäftshäuser befanden.
Gemeinsam mit den roten Partisanen operieren die roten Kampfwagen.
„Nicht verbarrikadieren!" so heißt es immer wieder...
Da trifft die Nachricht ein:
„Die Funkstation ist besetzt."
„Der Generalsturm bricht los!"
„Überall in ganz Deutschland!"
„Russland mobilisiert. Russland marschiert."
„Über der polnischen Grenze steht schon das rote Gewitter."
So stark wirkte die Nachricht, dass zwei weitere Stadtviertel in dieser Nacht von den Arbeitern erstürmt wurden.

Die Arbeiter sind ihrer Sache sicher und siegesbewusst. „Die Welt wird unser sein!" — „Wir haben es lange genug nur gesungen."
Erwischt man einen von den „Schwarz-Weiß-Roten", so haut man ihm die Jacke voll, lässt ihn laufen...
Bis eines Tages ein „Roter" den „Weißen" entkommt, der Leib ist über und über mit Peitschen- und Säbelstriemen bedeckt, über zwanzig Bajonettstiche, das eine Auge ausgerissen... und er erzählt: an den Laternenpfählen... unmenschliche Martern... Spießrutenlaufen ... Vergewaltigung von Arbeiterfrauen... Hinschlachtung von politischen Gefangenen in den Gefängnissen... und Gas, Giftgas... die Vorbereitungen sind getroffen... Nehmt euch in acht!... Dicke Luft... Die Hauptsache, die kommt erst..."
Von mehreren Seiten werden jetzt kurz hintereinander diese Aussagen bestätigt.
Der Prolet beißt die Zähne fester zusammen. „Gut so, wenn sie es haben wollen... Von nun an wird kurzer Prozess gemacht!..."

 

3

Max wurde in besonderem Auftrag ins Reich geschickt.
Die Bahnhöfe, noch in den Händen der Regierungstruppen, waren gesperrt. Nur Munitionszüge und Truppentransporte verkehrten. Viele Brücken waren gesprengt, auf weite Strecken die Schienen aufgerissen, Züge flogen jeden Tag in die Luft.
Max fuhr mit dem Motorrad.
Serien von Landschaften zogen an ihm vorüber, kaleidoskopartig, wie ein Filmstreifen.
Die Aufträge, die er zu übermitteln hatte, waren in den verschiedenen Hohlteilen der Maschine gut untergebracht. Auch besaß er verschiedene Ausweise, darunter auch einen „schwarz-weiß-roten"...

So flog er an dunkelgrünen Wiesengründen vorbei, auf denen noch friedlich die Kühe weideten, an Äckern, die leicht gekräuselten Wellenbeeten glichen: so lag das Heu in Reihen... Durch Dörfer hindurch, wo ihm, Bittgebete leiernd, eine gebrechliche Prozession entgegenhinkte. Unbewegt stand noch so ein Dorf, wie ein träger zähflüssiger Tümpel, inmitten der gewaltigen Wirbelbewegung, die die Industriegebiete bereits längst ergriffen hatte.
Andere Orte wieder durchfuhr er, lange Autoreihen hielten vor prächtig und amerikanisch aufgemachten Hotels: die ausgewanderten Reichen waren hierher geflüchtet, hier hatten sie sich wie die Ratten bei einer Feuersbrunst in die Schlupflöcher verkrochen. Landhäuser, Villen mit Laubgängen und herrlichen Gartenanlagen grenzten an den See: wie viele Tausende von Menschen werden einst in diesen Erholungsheimen ihr Leben feiern! Schwer und solid gebaute Klöster standen vierschrötig auf Bergkuppen: auch hier, das ganze Land in dieser Gegend war ein tief wieder Lebensatem schöpfendes Ausruhen.
Auch Siedlungen: mit Freideutschen, Christussen und „Wandervögeln" darin, die sich selbst auf den Aussterbeetat gesetzt hatten, in die seltsamsten metaphysisch-verschrullten Gedankengänge verstrickt, dabei vegetierend und wurzelkauend. Eine zwanglose Selbstausschaltung dauernd Lebensuntüchtiger aus dem Gesellschaftsprozess, ein Ersatz für Irrenanstalten bei harmloseren Fällen von Geisteserkrankungen.
In der Nähe befanden sich einige ausgedehnte Konzentrationslager, in denen neue Armeen gebildet wurden, Büros zur Anwerbung von Freiwilligen waren fast in jeder Gemeinde untergebracht, die Pfaffen warben eifrig für diese Verbände im Beichtstuhl und von der Kanzel herab bei ihrer Predigt.
Weiter ging's.
Hier und dort hatten es die Regierer allerdings schon gründlich mit den Bauern verscherzt, die ihre Dörfer verlassen hatten und sich, wie das Gerücht ging, in einer bestimmten Gegend zu einem Heerhaufen sammelten. Manchmal waren Flammenschein und Rauchsäulen am Himmel: Gutshöfe und Kirchen brannten: die Bauernschaft war aufgestanden und hatte ihre Peiniger zu Paaren getrieben. Unbewegt wie holzgeschnitzte Figuren standen an Wegkreuzungen, rote Binden um den Arm, die bäuerlichen Wachtposten, und oft, durch einen kurzen Durchblick durch einen Wald hindurch, sah man: auf geschlungenen Feldpfaden Züge von Marschierenden An einer Stelle war es zum Zusammenstoß gekommen. Max musste einen Umweg machen, alle Straßen lagen unter einem schweren Feuerdruck.
An dem berüchtigten Zuchthaus kam Max vorbei, in dem ein halbes Tausend von politischen Gefangenen elend sein Leben fristete, über zweitausend Jahre Gefangenschaft saßen darin; dort in dem Mauerwinkel, über den großen Lindenbaum hinweg, war die Stelle, wo die Hinrichtungen mit dem Fallbeil stattfanden.
Kein Gefangener war hinter den Gittern zu erblicken.
Schlafen sie noch oder haben sie ihren Zwingkäfig bereits verlassen?
Der Nächstbeste unten im Dorf konnte ihn darüber aufklären.
Vor zwei Tagen, da war es, da hätten die Gefangenen gemeutert, seien unruhig geworden, man hätte es bis ins Dorf herunter gehört. Da habe die Gefängnisleitung die einzelnen Zellen mit Matratzen abdichten lassen, die Zellenräume vergast, in jede eine Giftgasflasche hineingelegt... Drei Minuten hat es gedauert und der Lärm, der in diesem Stadium dem Gebrüll von Tobsüchtigen glich, war zu Ende.
Es wird die Zeit kommen, knirschte Max grimmig, da man wieder dazu zurückkehren wird, Galgen öffentlich auf den Plätzen zu errichten, eine Hinrichtung zur Volksbelustigung zu machen, und wo man Torturen rücksichtslos anwenden wird. Da werden Reihen von Märtyrern auf den Tischen unter dem Strang stehen, eine weiße Kapuze über, um den Hals die Bulle des Todesurteils... und man wird den Tisch unter ihren Füßen hinweg-
ziehen, fest strafft sich der Strick, und die zwei oder drei Henkersgesellen hängen sich mit ihrem Gewicht noch an den Leib des Verurteilten... und die Sache ist erledigt. Man wird Menschen bis oben hin in Watte einwickeln, mit leicht brennbarem Öl begießen, anzünden und sie laufen lassen. Wir sind im Anfang einer Zeit von Grausamkeiten, Barbareien, Gräueln ohnegleichen, und bei all dem wird man verlogen, wie man ist, ver­ächtlich und human aufgeklärt auf die Geschichtsepoche der Inquisition und der Hexenprozesse herabblicken... Unsere Gerichte sind Fabriken, weiter nichts als Fabriken, in denen nach einem bestimmten Schema, Gesetz genannt, serienweise Urteile fabriziert werden. Wer in dem Besitz dieser Fabriken ist!? Na, wir werden dafür sorgen müssen, dass diese Betriebe möglichst bald betriebsunfähig gemacht werden!...

So kam Max bis ins Ruhrgebiet.
Eine gelbliche Nebelschicht lag in der Luft. Es war still, wie ein Feiertag. Max erinnerte sich an jene Bergwerkskatastrophe, die damals den ersten Anstoß zu seiner proletarischen Bewusstwerdung und zu seinem neuen Leben gegeben hatte. Was der Kollege Straßenbahner jetzt wohl machen mag!?... Und Wilhelm!? Ein jeder von denen stand auf seinem Posten, ein jeder hatte im großen Schlachtfeld seinen bestimmten Kampfplatz.
Auch Lene... Sie war seit der Ausrufung des bewaffneten Aufstands als Sanitäterin bei einer neu sich bildenden roten Armee in Ostpreußen...

Das gesamte Ruhrgebiet war ein einziges rotes Riesenbollwerk.
Fieberhaft wurde gearbeitet.
Überall Patrouillen, Sicherungen, Motorradfahrerabteilungen...
Die Erde war geplatzt: nicht eine Armee nur, nein drei, vier rote Armeen waren aus dieser mit Proletarierblut überreichlich gedüngten Erde herausgestampft.

Nach heftigsten und für beide Seiten verlustreichsten Kämpfen war die weiße Armee geschlagen worden, sie löste sich auf dem Rückzug vollends auf, und die rote Armeeleitung war eben dabei, einen groß angelegten Aufmarschplan gegen Norden, über Hannover, gegen Berlin auszuarbeiten.
Hier sah Max zum ersten Mal einen roten Panzerzug. Pfeifend und schnaubend, unter dem Gesang „Völker, hört die Signale" schob er sich ins grüne Land hinein.
„Glänzend organisiert", musste Max anerkennen. „Und was für eine Disziplin!"
„Kein Fall von Plünderung oder ähnlichem ist bei uns vorgekommen, ja ja, wir haben eben eine revolutionäre Tradition... Die vielen Kämpfe in den vorhergegangenen Jahren sind nicht umsonst gewesen... ", wurde ihm im Hauptquartier berichtet. Und Heldentaten wurden erzählt, ohne Namensnennung, jeder hatte sie vollbracht, sie gehörten alle zusammen...
Hier erfuhr Max weiter: Generalstreik in USA. Bewaffnete Demonstrationen gegen den imperialistischen Krieg in USA. Die Negervölker in den Kolonien stehen auf... Bis über Afrika, in Ägypten und Indien. Streik der chinesischen Arbeiter in den japanischen Spinnereien in Tsingtau. Sympathiestreik des japanischen Proletariats. Bewaffnete Zusammenstöße. Japans werktätige Massen sind in Aktion; Massen-Mobilisation; brechen ihr Sklavenjoch...
Den Nachrichten von Amerika gegenüber verhielt sich Max von Anfang an skeptisch.
Die Partei ist noch schwach. Und das kann einer revolutionären Bewegung immer das Genick brechen. Wie viel Schutt spült eine Revolution herauf: Desperados, Hochstapler, Hasardeure: wenn da nicht fest zugegriffen wird, und die Miesmacherschweine dazu und die Flautegeier...! Spitzel und Provokateure... ! Nur eine starke Organisation... sonst geht das Spiel blutig verloren... Alle gescheiterten Aufstände lassen sich auf den Mangel einer führenden Rolle der Partei zurückführen...
So 1919 zum Beispiel!
Vom Roland bis zur Viktoria standen die Massen Kopf an Kopf. Bis weit hinein in den Tiergarten standen sie. Sie hatten ihre Waffen mitgebracht, sie ließen ihre roten Banner wehen. Sie waren bereit, alles zu tun, alles zu geben, das Leben selbst. Eine Armee von zweihunderttausend Mann. Und da geschah das Unerhörte. Die Massen standen von neun Uhr früh an in Kälte und Nebel. Und irgendwo saßen die Führer und berieten. Der Nebel stieg, und die Massen standen weiter. Aber die Führer berieten. Der Mittag kam, und dazu die Kälte, der Hunger. Und die Führer berieten. Die Massen fieberten vor Erregung: sie wollten eine Tat, auch nur ein Wort, das ihre Erregung besänftigte. Doch keiner wusste, welches. Denn die Führer berieten. Der Nebel fiel weiter, und mit ihm die Dämmerung. Traurig gingen die Massen nach Hause: sie hatten Großes gewollt und nichts getan. Denn die Führer berieten. Im Marstall hatten sie beraten, dann gingen sie weiter ins Polizeipräsidium und berieten weiter. Draußen die Proletarier auf dem leeren Alexanderplatz, die Knarre in der Hand, mit leichten und schweren Maschinengewehren. Und drinnen berieten die Führer Im Präsidium wurden die Geschütze klargemacht, Matrosen standen an jeder Ecke der Gänge, im Vorderzimmer ein Gewimmel, Soldaten, Matrosen, Proletarier. Und drinnen saßen die Führer und berieten. Sie saßen den ganzen Abend und saßen die ganze Nacht und berieten, sie saßen am nächsten Morgen, als der Tag graute, teils noch, teils wieder, und berieten. Und wieder zogen die Scharen in die Siegesallee, und noch saßen die Führer und berieten ...
Nur war es mehr eine Frage der Führung als der einzelnen Führer, es war die Partei, die fehlte.
Die Konterrevolution aber arbeitete indessen nach einem einheitlichen Plan. Sie rechnete nicht nur mit Berlin, sondern mit dem ganzen Reiche. Ein Werbebüro nach dem andern wird eingerichtet, auf Lastautomobilen werden Waffen herbeigefahren. Kraftwagen aus Kasernen und Depots, ein ganzer Park von Fuhrwerken wird in Dahlem zusammengestellt, wohin inzwischen Noske und Oberst Reinhardt aus Berlin geflüchtet sind. Nach drei Tagen schon glich die Gegend einem Kriegslager. Es wurde mit fabelhaftem Eifer und großer Schnelligkeit gearbeitet. Auffüllung von Restbeständen der Gardekavallerieschützendivision in Berlin — Zusammenfassung kleiner Truppenteile in den märkischen Dörfern — eine letzte Besprechung und nach schleuniger Zusammenstellung von Einwohnerwehren in den Berliner Bourgeoisievierteln: Einmarsch, Sturm auf die von den Arbeitern besetzten Gebäude und fünf Tage darauf: Berlin, die stärkste Festung der deutschen Revolution, war gefallen.

„Und nun Glück auf die Reise, Max, wie ungeheuer wichtig das ist, was du durchzuführen hast, weißt du ja selbst..."
Und schon lag das Ruhrgebiet hinter ihm. Weiter ging's.
Max traute seinen Augen nicht: Da bewegte sich durch die Straßen eines Provinzstädtchens ein großer Festzug, Militärvereine und Musikkapellen waren in dem Zug, den verschiedene historische Gruppen „verschönerten". Auf zwei Wagen zogen die Pfahlbauern mit ihren Häusern daher. Ihnen folgte Hermann, der Cherusker, mit einem bewaffneten Gefolge. In Tierfelle gekleidet zeigten sich die Alemannen. Die Kreuzfahrer, ein gewisser Graf Eberhard im Bart, Landsknechte zu Fuß und zu Pferd. Stolz marschierte Theodor Körner in lebenswahrer Nachahmung, hinter ihm ritten die Schillschen Offiziere. Und gar welch ein erinnerungsvolles Bild bot die Kolonialtruppe, bei der ein mit acht Ochsen bespannter Wagen schwarze und weiße Bewohner der Kolonien mit sich führte...
Was war das nur!?
Max lachte aus vollen Kräften.
Es war ein Bezirkskriegertag.
Eine tragigroteske Illustration dafür, wie die Vorstellungen und die Ideen der Menschen noch lange an Zuständen haften bleiben, die bereits durch die tatsächliche materielle Entwicklung der Geschichte längst überholt sind...
Und schon tobten mit bärtigen Stimmen kerndeutsche Männerchöre gegeneinander, vielstimmig, und mit tremolierenden Gefühlsschnörkeln am Ende gesungen, ein Sängermassenwettstreit, ein echt arisches Wettsingen...
„Die Wacht am Rhein". „Heil dir im Siegerkranz". „Wer hat dich, du schöner Wald!"...
Fern schluchzte ein altmodisches Grammophönlein ganz blechern erbärmlich, und mollige Katzen schnurrten hinter den mit Geranien bewachsenen Fenstersimsen...
Die Zuschauer im Bratenrock und Zylinder mit gestickten Fahnen bildeten zu beiden Straßenseiten Spalier, wie schwarz anlackierte Menschenpuppen.
Auch die Bordellmutter Susanne stand mittendrin, notierte in Gedanken eine Bestellung auf Flaschenbier, leckte sich mit der Zunge die Lippen, faltete die Hände und schmunzelte...

Und dann wieder:
Violine, Cello, Klavier...
„Dabei lässt es sich zwar bis zum Schmelzen butterweich träumen, behaglich seelen-schmatzen, liebkosen, plauschen, schweifwedeln, und wenn es hochkommt, bestenfalls noch ein ,guter Mensch' werden... Nichts mehr. Also: Schluss damit!"
Max gab Vollgas und flitzte, sich immer noch vor Lachen schüttelnd, aus diesem gespenstischen Idyll von dannen...

Es kam noch eine Irren- und Siechenanstalt, im Pavillonsystem erbaut: die Blöden tappten mit eckig ungelenken Bewegungen schwerfällig hinter den Zäunen entlang, nickten und grinsten, manche waren ein gleichmäßiges ewiges Wandeln auf und ab, andere wieder wie zu einer Säule erstarrt. Das Heim der idiotischen Kinder war bei weitem das Grauenhafteste, Säufergeburten lagen in den Windeln da, mit unförmigen klumpigen Köpfen, die glanzlosen, wirr in sich verschlungenen Augen schrieen stumm eine entsetzliche Anklage...
Einmal, mit einer Krankenkassenkommission, hatte
auch Max schon einen Gang durch ein städtisches Krankenhaus gemacht. Gewiss, es war sauber, hygienisch, die Gänge, die Bettreihen blitzblank, die Ärzte, die Schwestern in ihren weißen Mänteln und Schürzen: dagegen war nichts zu sagen. Welch ein Widerspruch: die Reinlichkeit, die Pflege, die Barmherzigkeit: sie beginnt erst wenn der Mensch durch die skandalösesten unsaubersten Verhältnisse draußen, durch Gemeinheit, Profitjägerei und Menschenniedertracht unheilbar auf das Totenbett gestreckt ist! Wie viele dieser hier liegenden Gangräne Lungenvereiterungen, innerer Verletzungen hätte eine richtige Behandlung des betreffenden Menschen am Arbeitsplatz unmöglich gemacht. Zu neun Zehnteln bestimmt sind alle diese Krankheiten unnötig: diese durchjauchten Verbände, diese Kübel stinkenden Eiters, diese verstümmelten Menschenkadaver im Leichenschauhaus: eine technisch besser angelegte Gesellschaftsordnung wird auch im Laufe der Jahre diesen ganzen kostspieligen und mit so ungeheuerlichen Leiden verbundenen Menschheitsaussatz hinwegfegen... Und heute: die Mehrzahl der Menschen lebt nicht, sondern wird durchs Leben gehetzt; stirbt nicht, sondern verreckt...
Noch am Abend traf Max am Ziel seiner Fahrt ein.

Es war ein gewaltiger Komplex von Farbstoff-Fabriken, der sich über eine Fläche von mehreren Quadratkilometern erstreckte.
Bei einem Genossen fand Max Unterkunft.
In einem schäbigen Anzug meldete er sich am nächsten Morgen auf dem Arbeitsnachweis, zeigte seine Papiere vor und wurde auf Grund seiner „schwarz-weißroten" Empfehlung sofort genommen.
Am Tage darauf sollte die Arbeit in der Giftbude beginnen.
Wahrscheinlich, so erfuhr er durch die Genossen, werde er als Neuling gleich ins Gift gestellt...
Max trieb sich noch ein wenig in der Umgegend herum.
Einige Holzfabriken in der Nähe streikten. In Gruppen standen die Menschen vor den Telegrafenbüros.
Die Farbstoffindustrie, durch eine besonders zuverlässige Belegschaft ausgezeichnet, arbeitete nach wie vor mit Hochdruck.
Die Konzentration des Militärs war in dieser Gegend besonders stark. Zu Zusammenstößen war es bisher noch nicht gekommen. Überall war die Meldung verbreitet: „Aufstandsbewegung in Berlin niedergeworfen. Ruhe und Ordnung wiederhergestellt."
Die Farbstoffindustriearbeiter waren sofort an der gelblich fahlen Hautfarbe zu erkennen. Die Zähne waren auffallend schlecht, manche Münder wiesen mit eiterigen Geschwüren behaftete klaffende Lücken auf. Die Augen waren durchwegs entzündet.
Viele Arbeiter litten dazu noch an inneren Nasengeschwüren, an einer so genannten Stinknase...
Der größte Teil der Arbeiterschaft der chemischen Industrie war im Fabrikkomplex selbst in kleinen Backsteinhäuschen, mit einem spärlichen Gemüsegarten davor, angesiedelt. Sie durften augenblicklich nur mit besonderer Genehmigung der Fabrikverwaltung das Areal verlassen...
Es war ein älterer, gutmütig aussehender Genosse, mit dem Max ein längeres Gespräch anknüpfte.
„Mehr als höchstens ein Vierteljahr, Freundchen, hält es darin keiner aus. Wenn du an den Bottichen mit der
Gifttunke zu arbeiten hast oder beim Umfüllen in die Flaschen... in drei Monaten spätestens bist du eine Leiche... da heißt es, rasch Karriere machen oder aber... Hier leiden sie alle an Lungenkrebs, das ist sozusagen unsere Berufskrankheit... Und die vielen Fälle von Verbrennungen und Erblindungen... Na, richtige Krepierer sind das... Und überhaupt jetzt: täglich kommen fünfzig neue herein, täglich haben wir an die fünfzig Mann Abgang! Siehst du die Baracken da drüben: das sind die Hoffnungslosen, unser Sterbesalon... Ist eben auch die gefährlichste Industrie ... Und grad gegenwärtig: Hochbetrieb, Saison, Hochkonjunktur! Lohnzuschlag! Überstunden, dass es nur so kracht! Gewaltige Aufträge aus Amerika, sagte man. Heilmittelaufträge. Aber man munkelt allerlei. Ist eben alles noch ungewiss. Keiner weiß was Genaueres darüber..."
Max ließ den nichts ahnenden Genossen wiederholen. „Aufträge aus Amerika... Heilmittel..."
Dabei sah er ihn prüfend von unten an. „Glaubst du eigentlich selbst, was du sagst?..."
„Ja, wir werden ja vermutlich auch streiken... Soll aber bereits alles abgewürgt und eine aussichtslose Sache sein..."
„Eine bestochene, eine korrumpierte Bande seid ihr!" fuhr es Max heraus. „Was ihr produziert, na, vorerst Schwamm darüber...!"
Und Max klärte den Genossen zunächst über Berlin auf.
Dem Proleten standen dabei die Tränen in den Augen. „Nein, was du nicht sagst... Diese Erzgauner... So eine Lumperei..."
„Verlass dich drauf... Auch hier, wir werden schon Trieb dahinter setzen. Auf euch vor allem kommt es jetzt
Ihr habt das Schicksal der ganzen Bewegung in der Hand. Jetzt oder nie!... Morgen wird die Arbeit losgehn!... Parole: auf der ganzen Front ganze Arbeit!"

 

4

Am anderen Morgen wurde Max auch wirklich gleich mitten ins Gift gestellt.
Er hatte sich schon beizeiten auf den Weg gemacht, setzte sich noch vor Beginn der Arbeit mit den roten Zellenobleuten in Verbindung, ermittelte genau die Struktur der Belegschaft: wie viel Sozialdemokraten, Schwarz-Weiß-Rote, Persönliches usw., und besprach mit den Genossen kurz die Situation im Reich, besonders in den großen Industriestädten, worüber die Proleten, da die Regierung noch den gesamten Nachrichtenapparat besaß, völlig uninformiert waren. Dann ging er dazu über, ihnen klipp und klar das Wesen und die Bedeutung ihrer Tätigkeit zu erklären. Einige Flugschriften unterstützten das, doch im allgemeinen konnte man sagen, was das Gebiet der Technik des kommenden Krieges anbetraf, so war darin vom proletarischen Standpunkt aus nur recht wenig Brauchbares geleistet worden. Die Artikel der amerikanischen Genossen, die Resolution, hie und da Aufsätze in den revolutionären Tageszeitungen: aber mit Propaganda allein war eben nicht alles zu machen, und Erfahrung — die Genossen in der chemischen Industrie waren auf dem besten Wege dazu, sich diese möglichst teuer zu erkaufen.
Immer wieder kamen sie mit den Einwänden: „Stimmt ja gar nicht, was du sagst, diese Säuren braucht man zu Seife, und daraus werden Parfümerien gemacht, darüber
besteht doch gar kein Zweifel, sind doch genaueste Kontrollen da, lies doch das Buch der Schweizer Chemikerin, die erstens Kanone in ihrem Fach und zweitens noch dazu eine Pazifistin ist, die lässt sich doch sicher nicht so leicht was vormachen, ihre Kontrollvorschläge hat doch der Völkerbund einstimmig angenommen, und die ganze öffentliche Meinung der Welt ist gegen den Gaskrieg, na und überhaupt... Der Chemische Krieg ist doch verboten, und alle Nationen haben unter Abgabe feierlichster Versicherungen sich dagegen erklärt... Siehst du, Genosse, du magst es ja recht ehrlich meinen, aber wir, die wir jahrelang in der Bude stecken, wir müssen doch schließlich am Ende auch noch was davon verstehn: was wir zum Beispiel in letzter Zeit fabrizieren, sind lediglich Heilmittel, Aufträge nach Amerika, Salvarsan, davon wirst du ja gewiss auch schon gehört haben... Nicht wahr?... Und deshalb auch der Lohnzuschlag."
Man behandelte Max beinahe etwas herablassend wie einen Laien.
„Einen Vorschlag, Genosse Max! Alles, was du uns da sagst, hat weder Hand noch Fuß! Komm erst einmal in unseren Betrieb, schau dich einige Tage gründlich darin um und informiere dich!... Wir wollen dir gern dabei behilflich sein..."
„Gut so!" Max schlug ein.
„Verschrobene Vorstellungen! Inhaltsleere, blödsinnige Phantastereien, alles ein hanebüchener Schwindel, wenn man ihm ernsthaft auf den Grund geht. Ein Kinderschreck! Für alte Weiber und Flennbrüder! Da sieh nur mal her, Max, Märchenerzähler!" Und immer noch schüttelten sie ungläubig die Köpfe. Sie schleppten bürgerliche illustrierte Zeitungen an mit Beschreibungen mechanischer Polizeimänner, die gar gruselig anzusehen waren, mit Todesstrahlen, die mörderisch in den Lüften nach Fliegern herumstocherten und mit anderem ähnlichen Mumpitz.
Dann begannen aber doch einige der Genossen die Artikel der Amerikaner zu lesen, langsam und schwerfällig lasen sie, als ob sie buchstabierten.
Einer dachte schon nach.
Sah lang dabei in die Ferne.
Schüttelte wieder den Kopf, las wieder.
„So meinst du also, Genosse Max, das ganze so großartig ethisch und human aufgezogene Verbot des Gaskriegs durch den Völkerbund soll nichts weiter als nur ein ganz elendiglicher Bluff gewesen sein. Eine Beruhigungspille sozusagen... Um uns Proleten vor allem in Sicherheit zu wiegen... Und damit man um so ungestörter sich der Vorbereitung einer gewaltigen Massenhenkerarbeit widmen kann."
„Das allerdings meine ich", entgegnete Genosse Max.
Und fuhr fort: „Und die Bestätigung dieser Meinung wird nicht lange mehr auf sich warten lassen. Aber wir müssen unseren Gegnern zuvorkommen. Wir können nicht warten bis es soweit ist, da es dann unter Umständen auch bereits zu spät sein kann... "
Wieder kam ein anderer gelaufen. „Also, das... wir, wir Farbindustriearbeiter... Nein, das kann nicht möglich sein... das wäre ja... " Er machte eine Bewegung, als ob er sich krümmte.
Langsam und hartnäckig, mit viel Geduld, arbeitete sich Max in diese Schädel hinein, er gab nicht nach, hielt sie wie mit einer eisernen Umklammerung an ihrem eigenen Gedankengang fest, bohrte weiter und führte sie sicher aus ihren Illusionen heraus.
„Schwierigkeiten sind nur dazu da, um überwunden
zu werden. Schwierigkeiten lechzen geradezu nach ihrer Überwindung." Das war sein Leitspruch bei dieser Tätigkeit.
Immer nachdenklicher wurden die anderen.
Max gab ihnen ungeschminkte Wahrheit. Dadurch gewann er ihr volles Vertrauen. So schilderte er ihnen eindringlich, wie die Revolution ein langwieriger Prozess sei, voll von Aufopferung, Martern, Blut und Wunden, und dass gar nicht daran zu denken sei, dass die Lage der Arbeiterschaft bei der Machtübernahme sich gleich von heute auf morgen bessere. Im Gegenteil... „Wir Kommunisten gaukeln euch nichts vor. Wer die Wahrheit nicht ertragen kann, bitte sehr... Aber es gibt für euch Proleten gar keine andere Wahl. Entweder — oder. Ihr müsst kämpfen oder — untergehn."
„Nein, wir wollen nicht untergehn. Gewiss nicht... Und wenn, wie du uns mitgeteilt hast, unsere Brüder jetzt kämpfen..."
Max bemerkte schon: mit geschärften Augen beobachteten sie alles, was im Betrieb vor sich ging, oft verschwand der eine oder der andere für eine Weile, bis plötzlich eines Vormittags, grün vor Schrecken, einer der Obleute zurückkam und Max leise ins Ohr flüsterte: „Max, ich hab's, es stimmt, was du sagst... Hier ist die genaue Aufstellung... Eine ganze Liste... Also es ist festgestellt: seit drei Monaten fabrizieren wir weiter nichts als Giftgas."

Max beobachtete genau die Herstellungsverfahren.
Die Arbeiter hier in den Betrieben machten lediglich Vorarbeiten. Erst im letzten Stadium vollzog sich die Umwandlung der Produkte in chemische Kampfstoffe.
Diese Arbeit geschah in einem besonderen Gebäude, zu dem niemand Zutritt hatte. Die Arbeiter dort waren vertragsgemäß unkündbar auf mindestens zwölf Jahre verpflichtet. Vor dieser Zeit verließ auch keiner seinen Arbeitsplatz. Sie wohnten dort. Nur Unverheiratete wurden aufgenommen. Dieser Teil des Farbstoffwerkes hieß die „Falle" oder auch „Die feste Burg". Die meisten Arbeiter betrachteten die „Falle" als eine Art freiwilliger Quarantäne, da gewisse Arbeiten mit Ansteckungsgefahr verbunden waren. Nur besonders zuverlässige Leute, am liebsten aus den Vaterländischen Verbänden, wurden hier aufgenommen. Auch frühere Angehörige des Heeres, entlassene Unteroffiziere, Soldaten wurden mit Vorliebe eingestellt. Nach allen vier Himmelsrichtungen hin war die „Falle" von der übrigen Welt abgemauert, über die Mauer selbst aber zog sich noch ein zwei Meter hoher Stacheldraht, wie man vermutete, elektrisch geladen. „Versuche, das isolierte Gebiet zu betreten, mit Lebensgefahr verbunden!" warnten überall Tafeln. Durch ein doppeltes Geleise war dieser mysteriöse Teil des Farbstoffwerks direkt mit der Staatsbahn verbunden. Ununterbrochen rollten nachts Güterzüge ein und aus.
Was dort vor sich ging, darüber erfuhr man im übrigen Betrieb nichts.
Die Arbeiter kümmerten sich nur wenig um die „Falle".
Sie war beinahe von einer Legende umwoben und atmete ein geheimnisvolles Schweigen.
Nur einmal: da soll es zu einem Zwischenfall gekommen sein, als sich einer der Insassen aus dem Fenster stürzte im Wahnsinn, wie es hieß, der durch die unsachgemäße Behandlung von chemischen Mischungen erzeugt worden sei.
Dieser Vorfall kam damals auch in den Betrieben zur
Sprache und wurde in Zusammenhang gebracht mit einer Meldung aus Amerika, die über ein neues so genanntes „Wahnsinnsgas" berichtete.
Die Diskussion darüber dauerte vielleicht eine Woche.
Es kam nichts dabei heraus.
Man wollte zuerst eine Untersuchungskommission einsetzen.
Doch wie gesagt: eine Woche lang, und die erregten Gemüter beruhigten sich. —

Der Fabrikraum, in dem Max arbeitete, war bis aufs äußerste ausgenützt. Es war genau berechnet, wie viel Platz jeder Arbeiter brauchte, jede Arbeitsbewegung war kinematographisch festgestellt: ein elektrisch betriebenes Band rollte und führte dem Arbeiter die einzelnen Arbeitsprodukte zu, an denen jeder Arbeiter nur mit einem Handgriff eine bestimmte Prozedur vorzunehmen hatte. Zeit, Arbeitstempo waren bis auf die Sekunde geregelt. Und immer wieder wurden von den zu diesem Zweck besonders angestellten Arbeitstechnikern neue Methoden herausgefunden, die Arbeitsintensität zu steigern.
Sämtliche Arbeiter trugen zum Schutz gegen die giftigen Dämpfe haubenähnliche Masken, die Gläser der Sehschlitze waren gegen den Beschlag durch ätzende Säuren besonders eingefettet.
Trotzdem waren die Schutzmaßnahmen, hauptsächlich die an den in einem rasenden Tempo wirbelnden Maschinen, recht mangelhaft.
Die schönste Erholung war schließlich der „Sauerstoffraum", der nach je drei Stunden Arbeitszeit auf drei Minuten aufgesucht werden konnte.
Ein dunkles Zischen und Surren schwebte in der Luft, ein knatternder, gedämpfter Orkan, Eisenarme drehten sich und neigten sich vielgelenkig über; Bottiche, gefüllt mit dickklebrigen Brühen, schwenkten sich dicht unter der Decke dahin, ein harziger Brei schwemmte selbsttätig von Kübel zu Kübel, Wunderwerke von Präzisionsmaschinen nahmen die kompliziertesten Mischungen vor. Durch andere Räume hindurch, die großen Hallen glichen, sah man Kessel an Kessel, zwei- und dreistöckige Kessel sozusagen, an denen auf langen Leitern die Arbeiter herumstiegen. Mehrere Plattformen teilten so einen Kessel nach oben ab, Max schien es, als glichen sie ganz den gotischen Kirchen.

Mitten in der Arbeit hatte Max einmal die Vision.
Alles gast, dampft, spritzt; der ganze Raum ist mit fliegenden, spritzenden Säuren durchspannt; es knistert und flackert phosphoreszierend an den Böden, die krautig und haarig bewachsen sind, als Steinbrocken darin klotzige Knochenschädel, und das Ganze brennt tropisch glühend, eine morastige Landschaft, so heiß, dass die Haut unempfindlich wird und die Augen aus den Stirnhöhlen heraustropfen, dicke, perlenähnliche, weißlich-festgeronnene Blasen. Wesen hausen in auszementierten Schlupflöchern und in Gräbern als Unterständen, in schwere Gummianzüge gepresst, Masken-Helme aufgestülpt, durch die Worte nur noch als dumpfes Gurgeln und Röcheln vernehmbar sind. „Der neue Mensch!" dozierte jemand, und immer dichter und dichter ward das gasige Dickicht. „Jetzt endlich haben wir es!" dröhnte pathetisch und wohlig schnalzend eine Stimme. „Eine hochkonzentrierte Gaswolke, die die Möglichkeit bietet, den Gegner zu überrumpeln, und dabei noch die Eigenschaft hat, von
topographischen und meteorologischen Einflüssen völlig unabhängig zu sein... Dies Problem zu lösen, war in der Tat nicht ganz einfach..." Das Besondere an dieser visionären Landschaft war, dass sie geometrisch exakt und sauber aufgeteilt war, ja dass die zahllosen Einzelteile und Figuren in ihr aufs feinste ausgebildet und aufs strengste sich organisiert erwiesen, das Ganze aber durchaus chaotisch und einem mittelalterlichen Spuk und Hexensabbat vergleichbar. Alles drängte nach Auflösung, ein in Strudeln sich um und um drehender Abgrund schwamm, voll von Algen, Lurchen, Schnecken und Quallen. Gestaltgewordene eitertriefende Geschwüre wandelten dazwischen, Gewürme und stachlichte Riesenkletten: alles fabriziert, saugt, atmet Gas: verfärbt sich und verwandelt sich jeden Augenblick, Muscheltiere und Mollusken kommen hoch, ganze Haufen exotischer, mit schlingenden Fangarmen bewehrter fleischfressender Pflanzen, und darüber schillert und brennt es wieder magisch hinweg, man hört beinahe nichts: die Gashölle ist geruchlos und lautlos, und die Sonne in diesem modernen Inferno glüht eisern, roh ausgezackt und völlig unbewegt, schmettert sengend Strahl auf Strahl nieder, jede Luftschicht wirkt wieder, die Hitzgrade vervielfachend, als eine besondere Art atmosphärischen Brennspiegels: und darunter dickt die Luft sich von selbst ein, wird milchig, flockig und schwimmt, schleimige Fäden lassend, über dem Erdsumpf dahin als eine molkige Riesenwolke.. Alle Völker, alle Erdwesen sind durch die Giftgasschwemme hindurchgegangen. Ein neues Wüstengebiet entsteht: alles wie unter einer Bleiche gefleckt und knöcherig überkrustet. —
Max studierte die tabellarische Übersicht der wichtigsten chemischen Kampfstoffe. Es war klar, die neuesten Verfahren waren darunter nicht aufgezählt. Chemische Bezeichnung, chemische Formel, militärische Bezeichnung, militärisch-technischer Deckname, physiologische Wirkung, physikalische Beschaffenheit, Siedepunkt, Flüchtigkeit, Wasserbeständigkeit, das alles galt es gründlich durchzuarbeiten und zu erforschen.
Da erfuhr er, wie in der Geschichte der Entwicklung des Gaskampfes die Gase selbst wechselten. Das Chlor wurde vom Phosgen, einem Gas mit stärkerer Erstickungs- und Giftwirkung als Chlor, abgelöst. Phosgen verdichtet sich bereits bei acht Grad zur Flüssigkeit und war daher vom physikalischen Standpunkt aus kaum mehr als Gas anzusprechen. Auch waren fast alle Stoffe, die im Gaskampf künftighin zur Anwendung gelangten, unter gewöhnlicher Temperatur und Druck entweder Flüssigkeiten oder feste Körper. Die Bezeichnung „Gase" wurde nur beibehalten, weil diese Stoffe im Augenblick der Aktion sich entweder im dampfförmigen Zustande befanden oder dünn als Rauch oder Nebel zerstäubt wurden. Feste Stoffe, wie zum Beispiel einzelne Arsine, wurden bei der Explosion in feine Partikel zerstäubt und verharrten lange Zeit schwebend in der Luft...
Die chemischen Formeln schwankten ihm zunächst in langen, sich immer wieder zersetzenden und sich wieder verdichtenden abstrakten Reihen durch den Kopf. Endlich erreichte er dabei eine klare, konkret-lebendige, sachlich-nüchterne Vorstellung. Was bedeutet zum Beispiel:

(CHCl=CH)3As!?

Es war die Formel für Chlorovinyldichlorarsirt, eine Arsenverbindung, und die Bezeichnung für eine der drei Arten der vielgenannten amerikanischen Levisite.
Das Verfahren zu dessen Herstellung war zwar ungeheuer kompliziert, aber trotzdem mit den technischen Mitteln, die damals in jeder Farbstofffabrik vorhanden waren, unbedingt auszuführen.
Ebenso klar war: man konnte sich aber auch darauf nicht festlegen. Im Gegenteil: alles sprach dafür, dass auch dieser Kampfstoff überholt war. Doch diese Formel war ein Programm, ein Warnungssignal, ein Ausrufungszeichen, ein proletarischer Imperativ: „Wacht auf, Verdammte... "
Sie war sozusagen das Symbol des Nullpunktes, des Gefrierpunktes, auf dem jetzt die bürgerliche Kultur angelangt war. —

Dabei stieß Max auch auf die ungeheure Bedeutung des Normenwesens.
Die moderne Industrie, eingestellt auf Normisierung und Massenherstellung, ermöglichte es nämlich, in verhältnismäßig rascher Zeit anfangs experimentelle Erfolge bald auf Massenverarbeitung umzustellen, so dass bis zu einem gewissen Grade infolge der kolossalen Erweiterungsmöglichkeiten, die dann zu einer rein mechanischen Fortführung des gelungenen Experimentes werden, bei manchen Kriegsmitteln im Frieden die Ausgaben ohne Gefährdung für die militärische Schlagkraft beschränkt werden konnten. Daher legten schon seit langem sämtliche Staaten ein so starkes Gewicht, auch aus militärischen Gründen, auf die Durchführung einer strengen Normisierung innerhalb der verschiedenen Kriegsindustrien und der Industrie überhaupt, die die erhöhte militärische Schlagkraft gewährleistete. Die deutsche Industrie hatte gegenüber allen anderen Industrien schon vor dem Kriege 1914 bis 1918 ein verhältnismäßig stark entwickeltes Normenwesen gehabt. Trotzdem herrschte damals bei Kriegsbeginn in Deutschland auf den verschiedensten Gebieten ein wirres Neben- und Durcheinander von Modellen. Jede Truppengattung hatte beispielsweise Spaten und sonstiges Schanzzeug, aber kaum zwei hatten gleiche Modelle. Es gab unzählige Fahrzeuge, Fahrzeugteile, Beschläge, Beschirrung, optisches und Fernsprechgerät und noch vieles andere, was bei allen Waffengattungen hätte gleich sein können, aber doch nicht gleich war. Verschlimmert wurde diese Buntscheckigkeit durch die Zustände in der Industrie. Jede Fabrik hatte an ihren Erzeugnissen kleine Besonderheiten, die, an sich oft ziemlich belanglos, doch den Austausch und die Durcheinanderverwendung mit den Erzeugnissen anderer Fabriken ausschlossen. Um die Kriegsindustrie und auch die übrigen Industrien auf Massenproduktion von Kriegsmaterial vorzubereiten, wurden in verschiedenen Staaten, ähnlich wie längst in Deutschland, Normenausschüsse der Industrien, die natürlich mit den Generalstäben in enger Verbindung standen, geschaffen. — Man muss nur hören können, wie „das Gras wächst"! —

Mit konkretem Material konnte nun Max der Belegschaft gegenübertreten. „Der Kern der Sache —!?
Der Kern der Sache ist der Besitz der Produktionsmittel!...
Arbeiter der Farbstoffindustrie! Euere Brüder, euere Arbeitskollegen, euere Klassengenossen kämpfen in den Städten, und ihr: morgen, übermorgen werden euere Arbeitsprodukte die Entscheidung im Kampf herbeiführen euere Arbeitsprodukte, die chemischen Kampfstoffe, von Fliegern über den Arbeitervierteln abgeworfen werden. Arbeiter! An euer proletarisches Solidaritätsgefühl appelliere ich. Arbeiter, werdet Kampfgenossen! Schluss mit der menschenschlächterischen Arbeit, die ihr bisher, nichts ahnend, hier in dieser Giftbude verrichtet habt! Generalstreik! Sturm auf die ,Menschenfalle'!"
Die Belegschaftsversammlung war ein einziger Empörungsschrei.
„Heraus aus der Giftbude!"
„Sturm auf die ,Menschenfalle'!"
Schon klapperten auf dem Direktionsbüro flink die Telegrafen.
Aber auch von den umliegenden Ortschaften waren Arbeiter- und Landarbeitertrupps alarmiert.
„Nun aber, knorke, nun werden wir das Gesindel aus der ,Falle' herausholen."
So, wie sie gerade standen, rannten sie los, manche krempelten sich die Rockärmel hoch, manche mit dem Messer; sie waren nicht zurückzuhalten.
Nicht lange spie die „Falle" Maschinengewehrfeuer.
Ein langes, zischendes, brodelndes Geräusch kam:
„Gas!"
„Gas!"
„Gas!"

Mit ungeheueren Verlusten für die Arbeiter wurde der Sturm zurückgeschlagen.
Dabei geschah es, dass einem, vielleicht am Rockärmel, ein winziges Tröpfchen Gasflüssigkeit hängen blieb, er in einen Raum trat, das Tröpfchen Gasflüssigkeit verdampfte und er sich selbst samt ungefähr fünfzig seiner Kameraden tödlich ansteckte.
Das gab auch dem letzten, der noch immer nicht daran glauben wollte, den Rest.
Das ganze Farbstoffwerk musste geräumt werden.
Rings herum auf den Höhen, kilometerweit entfernt, lagen die Arbeiter. Dann: endlich war das Geschütz herbeigeschafft, und beim fünften Schuss stieg eine Flammenlohe hoch, wie ein Feuer-Geysir, prasselnd, fauchend, und zerstäubte über den ganzen Horizont hin, rings fächerartig geöffnet, als Glühregen.
Die „Falle" war in die Luft geflogen.
Erst in drei Tagen ging scharfer Wind.
Die Gasschwaden verzogen sich.
Die Arbeiter konnten wieder in ihren Werken einziehen. —

 

5

Die roten Arbeiter- und Farmerbataillone, die in Kolonnen von Hunderten von Lastkraftwagen bei Morgengrauen auf verschiedenen Anmarschstraßen dem amerikanischen Giftgas- und Waffenarsenal Edgewood zueilten, sahen in der aufgehenden Morgensonne plötzlich vor sich über eine schneeweiß schimmernde Ebene dahingestreckt ein riesiges Mohnfeld.
Die Blüten des Mohns schwangen im Wind, entfalteten sich, wehten und leuchteten...
Einen Augenblick stoppten die Kolonnen, mit Ferngläsern und Scherenfernrohren suchte man den Horizont ab: ein Freudenschrei, ein Schrei, der in einen gewaltigen Massengesang überschlug: Hunderte von roten Fahnen flatterten in der Ferne über den unzähligen weißlichen
Wellblechbaracken und auf den Giebeln der Verwaltungsgebäude, des Kontrollwerkes und der Elektrizitätsanstalt. Ja, der Blitzableiter jedes Fabrikschlotes trug ein rotes Fähnlein.
Edgewood war gefallen! Edgewood, das gewaltigste Kriegsarsenal der Welt, in den Händen der „Roten"! Hurra! Hurra! Hurra!
Wie drei Freudensalven knallte es aus Hunderttausenden von Mündern dahin...
Und in diesem Augenblick stieg es schon auf: Geschwader an Geschwader, Kampfflieger, Aufklärungsflugzeuge, Bombenflugzeuggeschwader: alle rote, lange, bänderartige Wimpel an den Tragflächen. Das ganze Tal überzog sich mit einer Schicht von Flaggenrot und Motorengeknatter: in ruhig geschwungenen Schleifen zogen die Geschwader dahin, in Spiralen tauchten sie auf und nieder in dem gläsernen Luftmeer und landeten dann unter dem gleichzeitigen Jauchzen von Hunderten von Fabriksirenen senkrecht abschießend auf den verschiedenen Flugplätzen...

Der rote Kriegsrat des Farbstofftrusts, dem Arbeiter, Matrosen, Soldaten, die Offiziere des revolutionären Offiziersbundes angehörten, beschloss einstimmig: der Angriff gegen die feindlichen Stellungen, Flugzeughäfen und Flottenstützpunkte hat unmittelbar zu beginnen. Die Operationsbasis ist durch die Industriegebiete und durch die eroberten militärischen Bollwerke gegeben, das Ziel: die rücksichtslose Niederkämpfung der feindlichen militärischen Macht. Zu gleicher Zeit wird ein umfangreicher Propagandaapparat eingesetzt, ein richtiger Feldzugsplan zur Zersetzung, zur moralischen und materiellen, der feindlichen Streitkräfte ist ausgearbeitet und wird in den einzelnen Punkten von den betreffenden Stellen noch heute durchgeführt. Es ist selbstverständlich, bei der geradezu bestialischen Art, mit der die Weißen den Bürgerkrieg zu führen belieben, dass von der chemischen Waffe zweckmäßig Gebrauch gemacht wird. Die Zweckmäßigkeitsfrage wird bei jeder taktischen Überlegung in den Mittelpunkt gestellt, Sentiments und Ressentiments sind restlos auszuschalten... Keiner Erwägung bedarf der Beschluss, sich mit den revolutionären Organisationen Japans, Europas, Russlands unverzüglich in Verbindung zu setzen... Wobei, was andere noch nicht revolutionierte Völker anbetrifft, zu bemerken ist; das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben... Schon sind Fälle ferner gemeldet worden, wonach die Regierungsflugzeuggeschwader die Reviere der revolutionären Bergarbeiter eingegast haben, man hat Kohlenschächte ersäuft, in denen man rebellische Belegschaften vermutete, und durch Überläufer und abgefangene Radios weiterhin festgestellt ist, dass umfangreiche Vorbereitungen getroffen sind, Edgewood durch einen groß angelegten Bombenfliegerangriff in einen Gassumpf zu verwandeln... Also: wir werden ihnen die Suppe gründlich zu schmecken geben, die sie uns zugedacht haben... Das ist selbstverständlich...

Wieder trillerten die Fabriksirenen.
Die roten Fahnen wurden eingezogen: grau und eisig lag Edgewood da.
Die Flugzeuge waren startbereit.
Auf einer elektrisch betriebenen Kleinbahn rollten die
schweren Riesenflügelbomben zum Flugplatz an: sie waren mausgrau, am Kopf dicklich und rund und hatten ganz das Aussehen von Walen. Ein Kommando.
Viele Klingeln schrillten. Leuchttafeln zuckten auf...
Ein Lautsprecher dröhnte —
Achtung!
Los!
Die erste Schlachtstaffel gleitet ab, schnellt senkrecht hoch. Die zweite...
Die Mannschaften unten winken mit den Mützen — Wieder: „Hurra! Hurra! Hurra!" Und die Flieger werfen die roten Wimpel ab... „Kameraden! Auf Wiedersehen!"
Der Führer der Schlachtstaffel III ist der Genosse Thomas.
„Na, mein Junge, noch ein Händedruck... Halt dich gut!... Wir werden die Sache schmeißen... Davon bin ich fest überzeugt... Glück auf die Reise... Ich hoffe: übermorgen!..."
Und der Genosse Frank umarmte den Genossen Thomas.
Dann küssten sich die Freunde. Frank bekam es dabei mit dem Schlucken... Ein Pfiff...
Und auch Schlachtstaffel III erhob sich...
Frank inspizierte die Gasläger. Die Bestandsaufnahme war fertig gestellt.
„Es genügt, um die ganze Welt einige Male mit Gas zu vergiften..."
Die Arbeiterschaft der verschiedenen Betriebe war inzwischen versammelt und besprach einen neuen Produktionsplan.
Die weitere Herstellung der Giftgase konnte bei der großen Menge der vorhandenen chemischen Kampfstoffe sofort eingestellt werden. Dagegen waren vom roten Kriegsrat Flugzeuge („Goliath"-Typ) und Kampfwagen in bedeutender Menge angefordert worden. Ebenfalls wieder einstimmig erklärten sich die Arbeiter bereit, alles aus sich herausholen zu wollen und die Arbeitszeit in keiner Weise nach unten hin zu beschränken.
„Für die kapitalistische Wirtschaft war uns jeder Knochen zu schade... wenn es für uns ist, für die Diktatur des Proletariats, dann mit Freuden alle Muskeln, das Herz, das Hirn, das Fleisch, alle Knochen... "
Auch eine große Anzahl von Chemikern, Technikern, Ingenieuren, die man im Augenblick der Übernahme der Macht absondern musste, stellten sich jetzt bedingungslos den Roten zur Verfügung.
„Es ist klar, die kapitalistische Produktionsweise ist einfach zu unrationell, wir können bei weitem produktiver wirtschaften, fünfzigmal soviel aus der Welt mit Leichtigkeit herausholen... Ihr Roten seid einfach die Vertreter einer technisch am modernsten konstruierten Organisationsform... Zu blöd, dass man diese Einsicht den Kapitalisten mit Blut abzapfen muss..."
Und zu gleicher Zeit entwickelte sich jene erste Phase gewaltiger Luftschlachten, die den weiteren Verlauf der Geschichte Amerikas entscheidend beeinflussen sollten. Die Flugzeuggeschwader der weißen und der roten Flugflotte stürzten sich aufeinander, hakten sich ineinander fest und, unlösbar ineinander verbissen, schossen sie, ein wirres Stahl- und Drahtknäueldurcheinander, erdab.
Andere Geschwader nebelten sich ein, blitzten plötzlich völlig unerwartet aus dem Hinterhalt des Nebelschleims hervor oder überstreuten den von den feindlichen Flugzeugen zu passierenden Luftraum mit einem dichten Netz von Giftgas.
Und unten auf der Erde marschierten die mechanischen Armeen auf: Tanks, Panzerzüge, Straßenpanzerwagen... Rauchwellen fluteten übers Land, quadratkilometergroße Herde von Giftrauchkerzen schwelten... Ganze Städte versanken in einem unergründlich tiefen und geheimnisvollen Gasgrund... Pflanzen, Wälder, Wiesengründe färbten sich: grün, blau, violett. Wunderbare und seltsamste Farbenspiele zauberten die Gasschwaden aus der Erde hervor. Lautlos überzogen ganze Landesteile wie mit einer Decke sich mit Todesschlaf...
Die Hochseeflotten liefen aus den Häfen aus: Kreuzer, Dreadnougths, Unterseeboote, Flugzeugmutterschiffe... Und auf der Hochseeflotte meuterte es, ein Kriegsschiff hisst die rote Fahne, noch eines, und die Forts auf Hawaii und die Küstenwerke im Panamakanal... Es war der Beginn einer gewaltigen Seeschlacht.
„Die Japaner kommen!" funkte es dazwischen. Aber trotzdem die beiden Flottengruppen sich immer vergrö­ßerten: es waren nur rote Flaggen zu sehen und weiße: die Nationalfarben hatten keine Bedeutung mehr.
In der Luft, auf der Erde, über Wasser und unter Wasser: stürzt es sich übereinander her, würgt sich zu Tod, es gibt kein Erbarmen.
Heldentaten, die unbeschreiblich sind, Qualen ohne Maß, Krämpfe und Zuckungen, wie sie die Erde seit ihrem Anbeginn noch nicht gesehen hat, Schmerzensschreie, Hilfeschreie, Todesgebrüll...
Jedes Lebewesen trug schon einen gespenstischen Flecken an sich, zum Zeichen: angeätzt von der Gaslauge ,..
Ein blutiger Sommer rauscht... —

„Genosse Thomas Butler gefallen in der Luftschlacht über Hawaii." Die Nachricht kommt nach Edgewood. Genosse Morrow springt ins Flugzeug. Festgeschnallt.
Sturzhelm und Gasmaske auf. Vorwärts! Los!
„Genosse Frank Morrow gefallen in der Luftschlacht mitten über dem Großen Ozean!"
Die Nachricht kommt nach Edgewood.
Ein zweiter, ein dritter, ein vierter springen ins Flugzeug.
Festgeschnallt.
Sturzhelm und Gasmaske auf. Vorwärts! Los!
„Der zweite, der dritte, der vierte gefallen in der Luftschlacht über dem Panama..."
Die Nachricht kommt nach Edgewood.
Jetzt drängen Hunderte an die startbereiten Flugzeuge heran.
Man stampft vor Wut, wenn man nicht mitkommt.
Jeder wartet nur auf das eine: „Wann endlich kommt die Reihe an mich... "
Nur eine Befürchtung, eine Todes- und Lebensangst: „Vielleicht ist dann schon der Krieg aus!"
Überall Butlers, überall Morrows, ob sie nun so heißen oder nicht...
„Russland marschiert! Das deutsche Proletariat im Kampf!"
Die Nachricht kommt nach Edgewood. „Ein Hurra dem deutschen Proletariat!" „Hoch Sowjet-Russland!"
„Auch wir sind im Kampf, Brüder, die amerikanischen Genossen: sie grüßen euch!"
„Japans werktätige Massen verhindern den Krieg! Yokohama im Aufruhr."
Auch diese Nachricht kommt nach Edgewood.
„Bravo, japanische Genossen!"
„Die Kolonialvölker, Indien, China, Afrika..."
„Hoch! Unsere Sache steht gut!"
„Würdig unserer Führerin, der Genossin Mary Green, gemordet auf dem elektrischen Hinrichtungsstuhl, eingedenk der Lehren unseres großen Meisters, des Genossen Lenin, Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gedenkend und der Tausende, die von den weißen Banden aufs grausamste gemeuchelt worden sind... "
„Festgeschnallt..."
„Sturzhelm und Gasmaske auf!"
„Vorwärts! Los!" —

Die Milliardäre sitzen irgendwo hoch in den Bergen, wimmern: „Zu schade, nun ist es mit der Urbarmachung der Polarregion auch nichts... Und die Geologen versichern doch, gewaltige Kohlenläger seien vorhanden, deren Ausbeutung relativ einfach sei, nur mit geringen Unkosten verbunden, und der Tierreichtum... der Verlust für die Menschheit ist nicht auszudenken... O welch ein Gewinn!... Die kostspieligen Expeditionen, wenn man bedenkt, die schließlich doch wir finanziert haben, wie soll man das alles jetzt verkalkulieren... Es scheint, die Welt sehnt sich nach einer neuen Verrechnungsart... Ja, es scheint richtig so, was die Priester angedroht und die Spiritisten prophezeit haben: das Jahrtausend der Herrschaft des Pöbels beginnt. Das ist die Sintflut. Wie lange sie währen wird, um die Menschheit von ihren Sünden reinzuwaschen?! Sicher: wir haben nur immer das Beste gewollt..."
„Keine Angst, ihr ehrenwerten Herren Bürger!" kommt ein Radio aus Edgewood. „Wir verderben euch nicht eueren Lebensabend. Ein kärglich dosiertes Paradies ist euch sicher. Das ist nur recht und billig. Auf einer Insel irgendwo. Bei Kokosnüssen und Affenjagd, bei Brotbäumen, bei Fischfang und Holzfällen... Kriecht ruhig aus eueren Berghöhlen heraus... Wir vergreifen uns nicht an Leichen, wenn sie auch noch wie ihr ein wenig parfümierten Lebensodem ausströmen..."
Die Lebensgreise aber knurren durch die künstlichen Goldgebisse hindurch im Chor: „Wir kapitulieren nicht! - Rache!"
Und-
Ein blutiger Sommer rauscht...

 

6

„Bombenflug und Sauerstoff!" fluchte Max.
„Nur den Verstand nicht verlieren!" redete ihm Wilhelm gut zu, dem dabei aber selbst die Tränen über die Backen herunterliefen.
Viele Genossen knirschten laut auf.
Die Nachricht, die soeben aus Amerika eintraf, war in der Tat niederschmetternd.
Alle im ersten Anlauf eroberten Positionen mussten bis auf Edgewood, aufgegeben werden. Edgewood selbst lag seit drei Tagen bereits unter schwerstem Gasfeuer, bis auf ein Drittel ungefähr war der ganze Komplex gasverseucht. An ein weiteres Durchhalten war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken.
Kurz und gut: die revolutionäre Aufstandsbewegung, im Anbeginn unerwarteterweise siegreich vordringend, war niedergeschlagen. In Anbetracht der ungeheueren blutigen Verluste, mit denen, der ganzen Sachlage nach, bestimmt zu rechnen war, schien ein Wiederaufflackern des bewaffneten Aufstandes in absehbarer Zeit völlig ausgeschlossen.
Ja, die amerikanische Regierung konnte schon wieder ernsthaft in Betracht ziehen, die Feindseligkeiten gegen Japan zu eröffnen.
Wenn man sich die weitere Wirkung, die diese Nachricht auf die breiten Massen des Proletariats ausüben wird, vorstellt: es war zum Verzweifeln. Schon jetzt: jeder Tag bringt neue Schwierigkeiten, schon jetzt melden sich immer lauter die Stimmen derer an, die unter verhältnismäßig anständigen Bedingungen den ganzen Aufstand zu liquidieren bereit sind... immer häufiger wird das Geschwätz von den festen, neunundneunzigprozentigen realen Garantien für den Sieg... Jetzt heißt es: alle Kraft zusammennehmen, nur jetzt nicht lockerlassen, mit eiserner rücksichtsloser Energie allen derartigen aktionslähmenden Versuchen entgegentreten, und, in welcher Form sie sich auch äußern mögen: erbarmungslos nieder mit ihnen. Nur unter keinen Umständen Flautestimmungen und Krisenmachereien aufkommen lassen, nur jetzt nicht! Solche Situationen waren noch immer Keimbeete, Treibhausboden, richtiges Nährfutter für Verrätereien, Verzicht, Hinterhältigkeiten unter einem meist überschwänglich radikal sich gebärdenden verlogenen Phrasentum. Einige wildgewordene Anarchisten großmaulten und bramarbasierten besonders auffällig dazwischen herum: die wollten am liebsten gleich, wie sie möglichst aufdringlich betonten, die ganze „Bude", worunter sie die Welt verstanden, in die Luft sprengen: Vorbereitung und Ausführung dieses nihilistischen pseudoheroisch-famosen Vernichtungsplans überließen sie großmütig, wie sie nun einmal waren, allerdings mit besonderer Vorliebe den andern. Sie selbst klinkten sich ein geheimes Hintertürchen auf, um im Fall einer Explosionskatastrophe sich schleunigst aus dem Staube zu machen... Trotzdem:
Eine große, eine schöne, eine schwerwiegende Hoffnung sank.
Die gehisste rote Fahne, ein Intermezzo! Woraus es nun zu lernen galt...

Auch der Vormarsch der russischen roten Armee stockte.
Deutschland selbst war inzwischen zum Kriegsgebiet geworden.
Englische Flugzeuggeschwader landeten bereits auf deutschem Boden. Ungeheure Proviantmagazine, ganze Arsenale und Werkstätten für Flugzeugersatzteile waren schon vordem in den letzten Jahren errichtet worden...
Der Hunger begann.
Seuchen und Krankheiten schossen üppig ins Kraut. Das kämpfende Proletariat hatte noch keine Entscheidung herbeiführen können.
Zwar die deutschen Farbstoffwerke hatten inzwischen
erfolgreich rebelliert, aber es gestaltete sich außerordentlich schwierig, dort nur einigermaßen wieder die Produktion in Gang zu bringen, um die Arbeitermassen auch nur mit den allernötigsten Kampfmitteln zu versehen. Die Arbeiten litten unter den beständigen Überfällen der Regierungsflieger, die genau orientiert waren, jede verwundbare Stelle solch eines Riesenbetriebes genau kannten und an Hand von im Frieden wissenschaftlich ausgeführten Berechnungen und Standortbestimmungen aus den phantastischsten Höhen herab exakt ihre Bomben abwarfen.
Dieses Störungsfeuer von oben hielt Tag und Nacht ununterbrochen an: und die Arbeitsleistung wurde dadurch auf ein Minimum reduziert...

„Die Gaswalze kommt!" so hieß es jeden Augenblick in den noch von den Arbeitern gehaltenen Stadtteilen Berlins.
„Jetzt! Diesmal ganz sicher! Ich spür's schon... "
Zwar verfügte man über einige Messapparate, die jedes Gasgemisch in der Luft sofort anzeigten, die Zusammensetzung analysieren ließen, und so konnte man wenigstens, grad leidlich genug, Vorkehrmaßnahmen treffen. Wie jede Gasschutzabwehr war auch die proletarische höchst mangelhaft. Ein Versuch, Kollektivschutzräume anzulegen, scheiterte kläglich. Diese Dinge waren eben nicht so ohne weiteres aus dem Boden zu stampfen. Überall fehlte es an geeigneten Kräften, überall an Genossen, die auch nur über die allerprimitivsten Kenntnisse in der Technik des Gaskampfes verfügt hätten. Die Erfahrungen aus den Gasexperimenten 1915 bis 1918 waren bei der völlig veränderten Lage nicht auszuwerten. Es mehrten sich die Stimmen, die sagten: „Wir haben darin unendlich viel versäumt. Das rächt sich jetzt bitter... Wenn es uns schon nicht den Sieg kosten wird, so doch gewaltige Menschenopfer."
Eine leichte Panikstimmung verbreitete sich.
Wieder hieß es: „Die Gaswalze kommt!"
Die unglaublichsten Vorstellungen über einen Gasangriff grassierten, ununterbrochen waren einige dazu besonders befähigte Genossen bei der Aufklärungsarbeit...
Und die Gaswalze kam wieder nicht. Noch immer nicht...
Und dennoch: beinahe jeder lauerte auf die ersten Symptome einer Vergiftung.
Bald aber rissen sich die Proleten wieder zusammen, packten ihre Nervenbündel fest, und es ging wieder einigermaßen vorwärts...
„Na immer noch nicht", scherzte Max, „hoher Besuch von oben? Schade, dass Pfingsten schon vorüber ist, sonst könnte man sagen: Fest der Ausgießung des heiligen Geistes..." Auch wurde man sich bald klar darüber: Die rote Welle überflutet auch diesmal aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die ganze Welt, nur einige Nationen werden von ihr ergriffen werden, und man wird am Ende dieser Kriegsperiode vor der Tatsache eines großen gewaltig zusammengeschmiedeten Blocks von Sowjetrepubliken stehen, denen gegenüber sich aber noch eine beträchtliche Anzahl kapitalistischer Staaten behaupten wird.

Wie hatte sich hier alles verändert, seitdem Max von Berlin fort war!
Einen halben Tag erst war er wieder zurück, doch
lange genug, um sofort zu erkennen: das ganze Kampftempo war gründlich verändert, der Rhythmus des Aufstandes selbst war ein wesentlich anderer geworden.
Für Elan, für Schwung war nur wenig Platz mehr da, auf andere Kämpfereigenschaften kam es jetzt vor allem an.
Verbissen, zäh, zwei Schritte vor, eineinhalb wieder zurück, und jeder Schritt verbunden mit Blut, wahnwitziger Anstrengung, Verkrüppelungen, unheilbaren Wunden: so wurde jetzt gekämpft, und jeder Mann hatte außerdem das kristallhelle Bewusstsein dabei: das ist von allem noch längst nicht das Letzte, der Feind hat seine Reserven noch nicht angebrochen, seine letzten und gefährlichsten Kampfmittel noch längst nicht eingesetzt...

Es war wieder ein warmer Sommerabend.
Nichts war von den Weißen zu sehen.
Ruhe und Frieden weit und breit.
Die Weißen hatten sich tief in ihre Hauptstellungen zurückgezogen.
Das erste Mal seit langem bemerkte Max wieder: die Vögel sangen.
Sangen sie wirklich!?
Ja, sie sangen...
Max musste sich fest über die Augen streichen, um nicht drauflos zu heulen.
Schön war es, wirklich: wunderbar.
Und Max dachte einen Augenblick an die Welt, wie sie nach all diesen Gräueln und Gemetzeln kommen werde...
Inbrünstig sehnte er sich darnach.
Wieder sangen die Vögel, aber wo in aller Welt sangen sie!?
Die Bäume an den Straßen und in den Anlagen waren längst alle umgelegt, nur Fetzen von Bäumen und verkohlte Baumstümpfe standen noch.
Oder in den Häusern!?
Singen sie heraus vielleicht aus eueren leergebrannten Augen, ihr rätselhaften Mauer-Wesen!?
Mitten hindurchgeschnitten waren manche Gebäude, wie glatt mit der Axt durchgespalten: ein Zimmer mit Bett und Stuhl war sichtbar, ein Kübel im Winkel; die Matratze des dritten Stockes hing hinab in den zweiten, wie eine ausgerissene Zunge; und der Plafond des ersten Stockes lag wieder auf dem geborstenen Billardtisch einer Wirtschaft parterre. Das sah aus wie auf der Bühne, unwirklich, mit nichts Lebendigem mehr verbunden: dass Menschen je in diesen Ziegellöchern gehaust haben: eine unvorstellbare Vorstellung...
Die Nachrichten, die noch im Laufe der Nacht eintrafen, lauteten durchwegs wieder günstig.
Der Druck der russischen Armee mache sich bereits deutlich bemerkbar. Die feindliche Front im Osten sei bereits gründlich aufmassiert, heute oder morgen spätestens erfolge der Durchstoß. Das rote Loch im Osten also werde zur Tatsache. Endlich! Inzwischen sei auch eine Luftschlacht geschlagen worden, ebenfalls siegreich für die Roten, ebenfalls, spätestens morgen gegen Abend, erwarte man die ersten roten russischen Flieger über Berlin...
Mit einigen Genossen saß Max in einem Kellerunterstand bis zum Anbruch des Morgens zusammen.
Also: auch mit Lene stand alles gut. Sie war noch immer in Ostpreußen, wo es vorwärtsging. Überhaupt: das Land machte sich...
Die Genossen sprachen Einzelheiten aus den Kämpfen
durch, den und jenen nannte man, aber die Zeit reicht nicht hin, alle aufzuzählen, die etwas Besonderes vollbracht hatten, sie hatten sich alle ausnahmslos ausgezeichnet gehalten.
Jeder von ihnen oder auch wiederum keiner von ihnen war ein Held. Der „Held" war ein Kollektivbegriff geworden. Der Held war das Proletariat.
Einige, na, das wusste man schon früher... Dass sie abfallen und abtrünnig werden würden, damit rechnete man, und das gab also keine besondere Enttäuschung.
„Die machen noch lange keine Niederlage..."
„Und wenn wir allesamt, sage ich, so wie wir hier beieinander sitzen jetzt, in diesem Augenblick, futschgehn, die Bewegung geht weiter, die Bewegung steht und fällt nicht mit dem Schicksal von Einzelpersonen, jeden von uns kann es treffen, heute den, morgen den, nur die Bewegung: die bleibt. Die kommunistische Bewegung ist: die materielle und die ideologische Auswirkung und die kollektive Auswertung des Klassen-Widerstreits. Die Bewegung, die ist: so lange noch einer auf Kosten eines anderen lebt, so lange noch einer satt und zufrieden die Hände sich reibt, während sein Mitmensch leidet und hungert..."
Dann kam die Sprache auf die Gefangenen.
Die Genossen sprachen halblaut.
Die Zunge sträubte sich, alle die Grausamkeiten und bestialischen Gemeinheiten, die die Weißen an völlig Wehrlosen und an schon Sterbenden verübt hatten, auszusprechen. Was Wunder: darüber regte sich ja längst keiner mehr auf: dass man Gefangene mit dicken Ketten um den Leib an Bäume und Laternenpfähle gebunden hatte... und sich ihrer als Zielscheibe für ein frischfröhliches Pistolenpreisschießen bediente... Das Anbinden, das kannte man ja aus dem Feld her... Aber dass man Leichen den Kopf abschlägt und ihn auf die Bajonette spießt, das wollte man überhaupt nicht gelten lassen. Man hielt es absolut für eine ganz unmögliche Ungeheuerlichkeit und beschuldigte lieber den Erzähler hysterischer Übertreibung...

„An die Gewehre!"
Die Genossen erhoben sich.
„Heute oder morgen fällt die Entscheidung! Heute der, Max, morgen der! Mach's gut! Leb wohl..."
Wilhelm und Max trennten sich.
Schweigend bezog jeder seine Stellung.
Max kniete, fünf Stielhandgranaten im Gürtel, das Gewehr schussfertig im Anschlag, hinter dem Schornstein auf dem Dach einer Mietskaserne und beobachtete gespannt die Straßenmündung.
Es war halb vier Uhr morgens.
Es war völlig windstill.
Hie und da hörte man in der Ferne einen Schuss knacken.
Wie Spinnenarme geisterten jetzt die ersten Strahlen der Sonne am Horizont herauf. Wolken-Kolosse färbten sich blühend, überquellend rot, wie frisch blutende Fleischstücke.

 

7

Das Bombardement hatte nicht länger als höchstens drei Minuten gedauert.
Fünf Gasbomben waren insgesamt abgeworfen worden.
Das gasverseuchte Gebiet erstreckte sich auf den zwei-
ten Bezirk; einige daran angrenzende Parks und die Elektrizitätsanlage in der Hauptstraße waren davon noch betroffen worden.
Es bildete sich ein Gassumpf.
Trotzdem sich Max bei Erscheinen des Bombenflugzeuggeschwaders sofort schleunigst in Galopp gesetzt hatte, hatte er doch noch einen tüchtigen Gasschluck mit abbekommen.
Auch jetzt, wo er, was das Zeug hält, die Straße hinunterrennt, kann er das Gefühl nicht loswerden, als treibe er noch mitten in einem dichten Gasschwaden.
Kein Mensch ist zu erblicken.
So kann er sich nicht recht klar darüber werden, ob er sich eigentlich noch innerhalb oder schon außerhalb der verseuchten Zone befindet.
„Schlimme Sache das", überdenkt er rasch, „Entseuchungskommandos haben wir nicht, Chlorkalk zum Entseuchen ist nur in ganz geringen Mengen da... "
Mit einem Fetzen von Taschentuch hält er sich Mund und Nase zu. Die Augen beißen wie zwei ausgebrannte Wundlöcher. Automatisch fängt er zu heulen an. In den Ohren tackt und tickt es. Er schwankt, taumelt. Auch der Gleichgewichtssinn funktioniert nicht mehr...
Er reißt sich immer wieder an sich selbst hoch, mit einer letzten Willensanspannung, wie an einem unsichtbaren Nervenzügel.
„Energie! Energie! Max!" ruft er sich zu. Stolpert und schwankt sich wieder einige Schritte vorwärts.
„Man muss rücksichtslos Geiseln nehmen, sofort androhen lassen: lebenslängliche Anstellung ander Wand... als Repressalie gegenüber solch einer unmenschlich-barbarischen Kriegführung. Aber gut so: sie haben sich da
mit selbst ihr Grab gegraben... Wenn das auch die ungeheuersten Menschenverluste noch kosten wird... " Da bricht er.
Ein langer blutiger Erguss.
Die Gedärme kommen ihm hoch dabei.
„Kotzerbärmlich ist mir zumut. Max, was ist nur mit dir!? Soll es diesmal wirklich ernst werden!? Mach keinen Quatsch! Das kann, das darf doch nicht sein... Heute oder morgen wird die Entscheidung fallen... Nur jetzt nicht."
Die ganze Oberfläche der Haut ist ihm brandig angelaufen, es juckt und kratzt in ihm herum, eine unheimliche innere Krätze, der Gaumen fühlt sich pelzig an, bei jedem Atemzug hat er den Geschmack, als ziehe er flüssiges Feuer ein.
„Ob ich angesteckt bin... ?! Und ob ich nicht mehr zu meinen Kameraden zurück kann, ohne auch sie anzustecken, wie das beim Sturm auf die ,Menschenfalle' vorgekommen ist...?! Ist doch nichts zum Desinfizieren da..."
„Nein! Ausgeschlossen, ich sterbe nicht!" versichert er sich gleich darauf wieder krampfhaft. „Mir ist nur ein klein wenig übel!" ermuntert er sich. „Unkraut verdirbt nicht. Mir kann nichts geschehen. Wird schon wieder werden."
Und schiebt sich mühsam mit den Knien um eine Ecke.
Auch der Tastsinn, das Orientierungsvermögen funktionieren nicht: die Gegenstände in nächster Nähe rücken auf einmal in eine traumhafte Entfernung.
Das Gesichtsfeld verengt sich, verschiebt sich.
Eine ruckhaft von ihm sich abstoßende Häuserfront erscheint, jäh in den Hintergrund abfallend, spitzwinkelig nach innen zu verzogen...
Schwerfällig wie ein Sack sinkt er, mit den Händen sich gerade noch aufstützend, nach vorne um.
Ihm ist's, als stürze er viele tausend Meter tief.
Ein ganzes Leben dauert dieser Fall...
Dreht sich auf die Seite. Wälzt sich.
Das Schwergewicht ist aufgehoben...
Als glitte er schwebend über den Boden hinweg.
Bleibt liegen...
Wie lange —?
Erwacht wieder...
Eine Turmuhr schlägt eben fünf.
Er weiß nicht: ist es fünf Uhr morgens oder fünf Uhr abends.
Wiederholt noch wie aus einem früheren Leben: „Nur jetzt nicht... Heute oder morgen muss die Entscheidung fallen... Ah, schön so, wie wunderbar, wie gut... Rote Flieger über Berlin."
Eine Maske, Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett, springt auf vor ihm. „Hände hoch!"
Max macht eine mechanische Armbewegung nach aufwärts...
Die Bajonettspitze steht ihm senkrecht auf der Brust.
Ein zweiter, ein dritter, noch einer tappt herzu: sie alle sind in taucherähnliche, schwarzglänzende Gummiuniformen gekleidet. Das einzige Abzeichen, das sie tragen: je zwei kleine weißblecherne Totenkopfknöpfe oberhalb der beiden Kragenspitzen.
„Nur, nicht lange gefackelt... Marsch! Kehrt um! Ab damit! Marsch! An die Wand..."
Die Stimmen kommen, durch die Maske gedämpft, von tief unten herauf.
Max wird einfach in eine Wand hineingeschoben.
Er steht schon mit dem Gesicht gegen die Wand.
Es war eine kurze dicke Verbindungsmauer zwischen zwei Häuserblocks, zwischen der Delikatesswarenhandlung Andreas Gräulich und einer Sargfabrik, gegründet 1860, Grieneisen.
Max bemerkt: Die Ziegelsteinmauer war nur notdürftig verputzt, überall Sprünge, Risse, faustgroße Löcher.
„Armes Kind, ganz pockennarbig ... "
„Aha", ergänzt und kommentiert er sich selbst, „der Irrsinn."

Das Gas hängt bleischwer in ihm.
Der Boden an dieser Stelle scheint ihm wieder abgrundtief und sehr schlüpfrig. Viel Geplätscher ist unten, Wellengeplätscher, wie Ozean... Er befürchtet im letzten Moment noch auszurutschen.
Da spürt er plötzlich ganz deutlich in der Kehle, dass er schreien müsse. Es war ein lang gezogener strangulierender, messerscharf schneidender Halsschmerz.
Schreien, nichts als schreien —
Schreit: „Sowjet-Deutschland entgegen!"
Dabei schwitzt er, dass es nur so an ihm herunterläuft.
Neigt sich noch ein wenig vornüber.
Berührt leicht mit der Stirn die Wand.
Er verliert sein Gesicht. Das Gesicht schmilzt.
Der Boden unter ihm rollt wie Wellen ...
Und -
Mit einem jähen Ruck schnellt er sich plötzlich um sich herum...
Die Salve knallte. —
Den roten Entseuchungskommandos gelang es erst im Verlauf einiger Monate, den Gassumpf, in den die Regierungsflieger die Hauptstadt verwandelt hatten, trockenzulegen.

 

QUELLENNACHWEIS

1

Vom proletarischen Klassenstandpunkt aus:

Lenin: Ausgewählte Werke. Der Kampf um die Soziale Revolution. Verlag für Literatur und Politik.
Stalin: Lenin und der Leninismus. Verlag für Literatur und Politik.
*Sinowjew: Der Krieg und die Krise des Sozialismus.
Verlag für Literatur und Politik.
Engels: Militärpolitische Aufsätze.
*Fischmann: Der Gaskrieg.
— Der Gaskrieg. Eine Flugschrift über den chemischen Krieg für Industriearbeiter.
— Die Chemie im Krieg und in der Landwirtschaft. Flugschrift für Kleinbauern und Landarbeiter.
F. Meister: Internationales Finanzkapital und europäische Vertrustung. „Die Internationale", Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus. Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten, Berlin SW 61. „Die größten chemischen Werke Deutschlands, schon bisher in Interessengemeinschaft verbunden, haben sich in der I. G. Farbenindustrie-A.-G. zu einer einheitlichen Firma mit einem Aktienkapital von 652 Millionen Mark zusammengeschlossen. Dieser neue Trust ist außerdem im Besitz der Aktien der Firma Casella (Frankfurt a. M.) und Kalle (Biebrich), deren Kapital weitere 70 Millionen Mark beträgt. Wie um das militärische Moment dieser Kapitalsgruppe zu unterstreichen, hat der Trust den Hauptteil der für die Munitionsindustrie unentbehrlichen Kunstseidenindustrie an sich gerissen und baut neue Fabrikationsmethoden aus, so dass er etwa fünfundsiebzig Prozent dieser Industrie in Deutschland beherrscht. Der übrige Teil der deutschen Kunstseidenproduktion wird charakteristischerweise von der so genannten Pulver- und Sprengstoffgruppe kontrolliert."
Baumann: Das Rhein-Problem. Arbeiterliteratur.
*Erkner: Artikel in der „Internationale". Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten.
Georg: ebendort.
*Rolf: sämtliche Artikel in der Kriegsbeilage der „Roten Fahne" und in der „Neuen Zeitung".

2

Vom bürgerlichen Klassenstandpunkt aus:
Adelsheim, R., Dr., Riga: Über Gaskampfstoffe und Gasangriffe im Weltkriege. In „Politik und Weltmacht", August 1922.
Auld, S. Y., Captain: Chemical Warfare. In „The Royal Engineers Journal", Februar 1922, Gas and Flame.
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Berlin, Generalmajor: Waffenwesen. InM. Schwarte, „Die militärischen Lehren des großen Krieges". 1. Auflage. Verlag Johann Amb. Barth, Leipzig 1920.
Berliner, A., Dr.: Zur Beteiligung deutscher Gelehrter an
der Ausbildung von Gaskampfmitteln. In „Die Naturwissenschaften", Heft 43,1919.
Bernhardi: La guerra dell'avenire.
Bircher: Über den Gasangriff, Allg. Schweizer Militärzeitung, 63,1917.
Bradley, Dewey, Colonel, Chemical Warfare Service: Production of Gas defense equipment for the army. In „The Journal of Industrial and Engineering Chemistry", S. 185, März 1919.
Carr: Bemerkungen über die Herstellung giftiger Gase in Deutschland. In „Journal Soc. Chem. Ind." 38,1919.
Cromwell and Wilson: Armies of Industry. Yale Univ. Press.
Dopter, Professor, Paris: Vorlesung für Truppenoffiziere
an der Ecole supérieur de Guerre in Paris.
Dorsay, M., Colonel: Development Division, Ch.W.S. U.S.A. In „The Journal of Industrial and Engineering Chemistry", S. 281, April 1919.
Devin: Die deutschen Militärapotheker im Weltkrieg, siehe Gemeinhardt.
Dyes: Nordamerikas Rüstungen und das fünfte Jahr des
Weltkrieges. „Chemiker-Zeitung", Cöthen, 42, 1918. — Der Krieg der alliierten Chemiker gegen Deutsche und Neutrale. „Chemiker-Zeitung", 44,1920.
Engelhardt, Dr.: Neuere Gesichtsmasken. In „Feuerschutz", Nr. 1,1924.
v. Falkenhayn, Erich, General d. Infanterie: Die Oberste Heeresleitung in ihren wichtigsten Entscheidungen 1914—1916. Verlag E. S. Mittler u. Sohn, Berlin 1920.
Feuville, General: Les gaz à la guerre. In „La France Militaire", vom 31. Januar 1922.
Flusser: Einiges über Gaskampfschädigung. Wiener Klin.
Wochenschrift, Nr. 15,1918.
Flury, F., Professor: Über Kampfgasvergiftungen I und II In der „Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin".  13. Band, Verlag Jul.  Springer, Berlin 1921.
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— Vortrag, gehalten in der American Chemical Association, 1921.
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*Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Mittler u. Sohn, Berlin.
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— Die militärischen Lehren des großen Krieges, 2. Auflage, Verlag E. S. Mittler u. Sohn, Berlin 1923.
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Chemiker-Zeitung, Deutsche. Verlag Cöthen in Anhalt. Gas als Kampf mittel, Roth. Nr. 44,1919.1. Jahrg. 1919, S. 365; 2. Jahrg. 1920, S. 185; 3. Jahrg. 1920, S. 353; 4. Jahrg. 1921, S. 110. Die deutsche chemische Industrie. Angaben über die Produktion der Kampfgase, 43,
1919. Engl. Kriegsministerium: Zukunft der ehem. Kriegsmittel, 44, 1920. Handgranaten mit Schwefelsäurefüllung, 44, 1920. Senfgasherstellung IV, 1920.
Excerpt from Statement: 1. of Major General William L. Siebert, Chemical Warfare Service, Hearings on H. R. 5227 pp. 274—284, 18. Juni 1919; 2. of Lieutenant Colonel Arnos A. Fn'es, Chemical Warf are Service, on H. R. 5227 pp. 287—291,18. Juni 1919. Veröffentlicht in „The Journal of Industrial and Engineering Chemistry", September 1919.
Die deutsche Kriegführung und das Völkerrecht, herausgegeben im Auftrage des Kriegsministeriums und der Obersten Heeresleitung. Verlag E. S. Mittler u. Sohn, Berlin 1919.
Dräger-Hefte, Periodische Mitteilungen des Drägerwerks
Lübeck. Heft 55,56, 57, 58,64/66, 69. Heerestechnik, herausgegeben von M. Schwarte. Nr. 12,
1923.
History of the Great War. Medical Services. Diseases of the War. Printed and published by His Majesty Stationery Office, London 1922.
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L'Independance Beige, Les Poisons sur les champs de
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S. 9,1919,1920,1921. The Literary Digest, Chemistry in the next War, vom
11. August 1923. The Royal Engineers Journal, Nr. 3, S. 195. The work of
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— Kornubert. — La guerre des gaz. Journal of the Royal Artülery v. 46,1920.
Journal of the Society of Chemical Industry v. 38,1919. Journal of the Chemical Society v. c 15—c 16.1919. Chimie et Industrie, 1919.
Revue Militaires Suisse, 1922, Jacques. — La sixieme arme.
— i923-
Revue du Genie Militaire (France), Capitaine Olivier. -La guerre chimique.
Rivista ospedaliere, 1918, Nr. 1. Carelli. — Contribute alla conoscenze dell'intoscicazione.
Moniteur scientifique: Yperite. 9. 11. Juli 1919.
Chemisches Centraiblatt, 1921, IV. de Kap-Herr: Die gewerbliche Herstellung des Yperits. Dichlordiäthylsulfit, III. 321.1920.
Zeitschrift für gesamte exp. Medizin. Berlin 1921. Springer.
Liebigs Annalen der Chemie, 1923, B. 431.
Special Libraries, Nov. 1919, New York.
Rivista ospedaliere, 1918. Nr. 1. Carelli. — „Contributo alla conoscenze dell'intoscicazione da iprite ed in par-ticolar modo del suo reparto anatomo-patoologico."
Folia Medica. 1918, Nr. 33. Franco — „Gasi asfissanti."
Journ. Leb. and Clin. Med. 1919. The clinical pathology of mustard gas.
Annali di Medicine navale e coloniale. 1918, vol. 2, Nr.
bis 4. Rho. — „Gasi asfissianti." Rivista di artiglieria e genie, v. 2,1923. Medical Aspects of Mustard-gas Poisoning. 1919. Journal Phys. Chem. 24,1920. Journal Pharmacol, 12 and 13,1918,1919. Journal Americ. Chem. Society, 41,1919. Chemical and metallurgical Engineering. 1919. Journal of the Society of Chemical Industry. 1919. Comptes rendus de l'academie des Sciences. 1919.

Aus den mit * bezeichneten Werken wurde teils wörtlich, teils dem Sinn gemäß zitiert.

 

NACHTRAG

Bei Abschluss der Korrekturen erhalten wir die Nachricht von einem Gaskampfreglement, wie es in der amerikanischen Armee bei der Bekämpfung des „Mobs" in Anwendung gebracht werden soll. („Anwendung von chemischen Kampfstoffen in der Heimat".) Der „Mob" wird in verschiedene Stufen nach seinem Kampfwert eingeteilt. („Mob I: Männer bewaffnet. Mob II: Männer unbewaffnet. Mob III: Männer, Frauen, Kinder gemischt.") Diesen verschiedenen Wertigkeitsgraden entsprechen die verschiedenen chemischen Kampfstoffe, Gaskonzentration, Gasmischungen, mit denen gegen den „Mob" vorgegangen wird. („Gegen Mob I: Giftgas. Gegen Mob II: Reiz- und Tränengase, Feld-Konzentration. Gegen Mob III: Reiz- und Tränengase, lediglich nur zur Panikerzeugung.") Auch die Verwendung von Gas in Verbindung mit Flugzeugen gegen den „Mob" ist vorgesehen. („Sprengung.") Dass man unter „Mob" die streikende und demonstrierende Arbeiterschaft versteht, ist selbstverständlich. („Mit Gas kann man um die Ecke schießen!") Dieses Kampfreglement ist für uns ein wertvolles Dokument der zynischen Sachlichkeit der amerikanischen Zivilisationsbarbarei und zugleich auch ein einwandfreier Beleg für manche Stellen in unserem Buch, die den naiven Leser vielleicht noch „utopisch" anmuten. Der Titel des amerikanischen Kampfreglements ist: „Instruction Book, Chemical Warfare Service, U. S. Army." Und zu beziehen durch: Supt. of Public Documents, Govt. Printing Office, Washington, D. C. America.