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Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Dreizehntes Kapitel

in dem Kremnew mit der schlechten Einrichtung von Gefängnisorten im Lande der Utopie und mit einigen Formen utopischer Gerichtsbarkeit Bekanntschaft schließt.

Das geräumige »Hotel für Reisende aus den Rjasaner Ländern«, das vorübergehend in ein Gefängnis verwandelt worden war, war von allen Seiten mit Wachposten der Bauerngarde in malerischen Strelitzenkostümen aus der Zeit von Alexej Michajlowitsch umstellt.
Als der Kommissar, der Alexej verhaftet hatte, ihn in das Vestibül führte und dem Kommandanten übergab, nahm jener seine Verhaftungsnummer und sagte, nachdem er mit dem Portier telefoniert hatte: »Wir haben uns mit den Räumen etwas verrechnet, so dass ich gezwungen bin, Sie für die heutige Nacht in einem Gemeinschaftszimmer unterzubringen. Sie sind anscheinend ohne Sachen? Wenn Sie Moskauer sind, geben Sie uns Ihre Adresse, wir werden zu Ihnen nach Hause schicken und die notwendigen Dinge holen lassen.«
Kremnew entgegnete, dass er, leider, ein Zugereister sei, und man versprach ihm, alles aus den Hotelvorräten zu beschaffen. Der Konzertsaal des Hotels, der als Gefängnis Verwendung fand, glich dem Bahnhof eines Eisenbahnknotenpunktes der guten alten Zeit. Männer und Frauen aller Altersstufen und Stände saßen in gelangweilten Posen und mürrisch dreinblickend neben ihren Reisetaschen und Packen. Hier befanden sich Deutsche in Lederjacken und mit Käppis, hager und lang, die die teutonische Arroganz und eine Verachtung für ihre ganze Umgebung zur Schau trugen, blasse russische Damen, junge Leute mit abwesenden, farblosen Augen und gewisse flinke Gestalten östlicher Provenienz.
Wie Alexej später erfahren konnte, waren die russischen Damen und jungen Leute Antroposophen, unglückliche Menschen, die in die deutsche Intrige verwickelt waren und sich von der großen deutschen Idee hatten hinreißen lassen. Der Kommandant des Gefängnisses betrat den Saal und entschuldigte sich
noch einmal vor allen Versammelten, dass man sie der Freiheit beraubt und zu solch unzumutbaren Bedingungen untergebracht habe, doch sprach er die Erwartung aus, dass alle in etwa zwei Tagen bereits wieder auf freiem Fuß sein würden, und versprach, diese Unbequemlichkeiten mit einem guten Mittagessen und diversen Unterhaltungsveranstaltungen zu kompensieren.
Und in der Tat ließ das Mittagessen, oder richtiger Abendessen, nicht auf sich warten, und abends ergaben sich die Deutschen an den Spieltischen leidenschaftlich dem Kartenspiel, während das übrige Publikum einem kleinen Konzert lauschte, das vom Kommandanten in aller Eile organisiert worden war.
Man schlief auf Klappbetten, ohne sich auszuziehen. Am nächsten Morgen wurde Alexej zur Vernehmung geführt, und auf die Frage, wer er sei und warum er sich als der amerikanische Ingenieur Charlie Man ausgegeben habe, erzählte er treuherzig seine ganze Geschichte, obwohl er befürchtete, dass sein Bericht Lachen hervorrufen würde. Als Beweis führte er seine Büste im Panoptikum von Belaja Kolp sowie authentische Materialien in den Sälen der historischen Andenken des Rumjanzewmuseums an.
Zu seiner größten Verwunderung nahm man seinen Bericht ohne Einwendungen oder Befremden auf, sondern protokollierte ihn in aller Ruhe und sagte ihm, dass man ihn abends einer Expertenuntersuchung unterziehen werde.
Den ganzen quälend langen Tag verbrachte Kremnew vor den Fenstern des ihm zugewiesenen Zimmers sitzend und blickte in die Stadt. Das soziale Meer befand sich im Zustand des Aufruhrs. Ähnlich dem Onkelchen Schwarzmeer entstiegen dreiundzwanzig Recken den Tiefen des ländlichen Russland.
An den Fenstern marschierten im schnellen Schritt französischer Jäger geschlossene Heeresabteilungen vorbei. Eine junge Dame im dunkelblauen Reitkleid, auf weißem Ross und angetan mit dem Federbusch eines Generals nahm die Parade der leichten Kavallerie der Amazonen ab. Voll innerer Bewegung erkannte Alexej in einer der Anführerinnen der flott vorüberziehenden Schwadronen die vertrauten Züge Katharinas. Bald wurde die Kavallerie von der Infanterie abgelöst, und Scharen von Zivilbevölkerung füllten das gesamte Blickfeld. Die Menge lauschte den Ansprachen von Rednern und umherfahrenden
Lautsprecherwagen und fing Telegramme auf, die bündelweise in sie hineingeworfen wurden.
Gegen Abend setzte man Alexej in eine Limousine und fuhr ihn in die Mochowaja-Straße, wo ihn in einem runden Saal der Universitätsverwaltung eine Expertenkommission erwartete.
»Sagen Sie«, begann ein weißhaariger Alter mit einer goldumrandeten Brille seine Frage, »was ist ein Oblikomsap! Wenn Sie wirklich ein Zeitgenosse der großen Revolution sind, müssen Sie uns den Sinn dieses Wortes erklären können.«
Lächelnd antwortete Kremnew, dass dies ein »Gebietsexekutivkomitee des westlichen Verwaltungsgebietes« sei, eine Einrichtung, die einige Zeit in Petrograd existiert habe, nachdem Moskau Hauptstadt geworden sei. Was Zekmonkult für eine Institution sei?
Hier handele es sich um das »Zentralkomitee der monopolisierten Kultur«, das im Jahre 1921 zum Zwecke der obligatorischen Nutzung aller kulturellen Kräfte gegründet worden sei.
»Sagen Sie, aufgrund welcher Überlegungen die bäuerlichen Komitees der landlosen und landarmen Bauern eingeführt und warum sie wieder abgeschafft wurden!«
Kremnew vermochte mit seiner Antwort auch dieser Frage gerecht zu werden.
Ihm wurden einige Dokumente aus jener Epoche mit der Bitte um Kommentar vorgelegt, womit er ebenfalls gut zurechtkam, und zum Schluss musste er auf die Frage nach den Sowjetwirtschaften lange und mit einiger Mühe die Idee der Urbanisierung der Landwirtschaft erklären. Im Endergebnis schüttelten die Gesprächspartner, die Herren Professoren, lange und bedauernd ihre Köpfe und erklärten ihm zum Abschied, dass er ohne Zweifel in der revolutionären Literatur recht belesen sei, dass er jedoch den Geist der Epoche in keiner Weise verkörpere und ungeheuerlicherweise, aus Unverständnis, historische Ereignisse kommentiere, weshalb er unmöglich als deren Zeitgenosse angesehen werden könne.
Als man Alexej zurück ins Gefängnis brachte, waren die Straßen erneut von einer Menschenmenge überfüllt, die, wie das Brausen des Meeres, laut und triumphierend lärmte.

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