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Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Zehntes Kapitel

in dem der Jahrmarkt von Belaja Kolp geschildert und klargestellt wird, dass der Autor in völliger Übereinstimmung mit Anatole France die Meinung vertritt, dass eine Erzählung ohne Liebe so viel ist wie Speck ohne Senf.

Das »Ausgabenbuch der Patriarchenkanzlei« lässt uns wissen, dass man zu Beginn des XVIII. Jahrhunderts an der Tafel des Allerheiligsten Patriarchen Adrian täglich folgende Speisen serviert hat: »Weißbrot, Eingesalzenes von frischen Hechten, Fischsuppe mit Belugastör, gekochter Sewrugasterlet, Kohlsuppe mit Fischbäuchen, Fleischhappen mit Meerrettich, Störrippchen, gefüllte Pirogge« und mindestens weitere zwanzig Gerichte in unglaublichen Mengen und erlesenster Zubereitung. Wenn man diese Mahlzeit vergangener Zeiten mit der utopischen Mahlzeit im gastfreundlichen Haus der Minins vergleicht, so muss man zwar einräumen, dass man den Patriarchen ein wenig reichlicher ernährte, aber auch nur ein wenig... Denn nach dem Willen der aus Moskau angereisten Paraskewa wurde auf dem Mittagstisch eine solche Fülle von Pasteten, gefüllt mit geröstetem Fisch oder Fleisch, von gebackenen oder in saurer Sahne angerichteten Karauschen sowie weitere Speisen aufgetragen, dass sich die Beine des Tisches sicherlich verbogen hätten, wären sie noch ein klein wenig dünner gewesen, und der sozialistische Funktionär Kremnew zog das Fazit, dass alle Teilnehmer des Mahles gegen Abend unbedingt an Völlerei zugrunde gehen müssten. Doch die Nationalgerichte, die speziell für den Amerikaner gekocht worden waren, schmolzen äußerst schnell und spurlos dahin und wurden von immer stärker werdenden Lobeshymnen auf die Paraskewa abgelöst, die ihrerseits bescheiden darum bat, diese an die »Russische Küche«, ein von einem Herrn Ljowschin im Jahre 1818 herausgegebenes Kochbuch, weiterzugeben.
Nach orthodoxem Brauch ruhte man sich nach dem Mittagessen ein wenig auf dem Heuboden aus. Danach wurde Kremnew von der Jugend auf den Jahrmarkt in Belaja Kolp geschleppt.
Wolkenschatten wanderten über die abgemähte Wiese dahin, am Wege leuchteten die gelben Tupfen der blühenden Schafgarbe, und in der gesät-
tigten herbstlichen Luft wehten die Spinnengewebe des Altweibersommers, als Kremnew und seine Begleiter am Ufer der Lama entlanggingen. Katharina schritt hocherhobenen Hauptes einher, und auf dem Hintergrund der blauen Fernen jenseits des Flusses zeichnete sich deutlich die vom Hauch des Windes umspielte, klare Kontur ihrer Gestalt ab. Meg und Natascha pflückten Blumen. Es duftete nach herbstlichem Wermut. »Ah, da ist ja die große Straße!«
Sie bogen in die mit Trauerbirken umsäumte Chaussee ein, und in der Ferne zeigten sich die Kuppeln der Kirche von Belaja Kolp. Leiterwagen, die wie Tabletts bemalt und mit Nüsse knackenden Jungen und Mädchen voll beladen waren, überholten die Wanderer. Über der Straße ertönten die perlenden Klänge von Volksliedern.
Ein Täuberich sitzt auf dem Dach, einen Täuberich will man erschlagen. Gebt, Freundinnen, mir einen Rat, wen von den dreien ich lieben soll.
Kremnew verwunderte es sehr, dass sich seine Begleiter fast in Nichts von den Entgegenkommenden und den sie Überholenden unterschieden: Die gleichen Kleider, die gleiche Moskauer Art, zu sprechen und sich auszudrücken. Fröhlich und mit sichtlichem Vergnügen entzog sich Paraskewa scherzend den Komplimenten der vorbeifahrenden Burschen, während Katharina einfach auf irgendeinen Leiterwagen sprang, die darin sitzenden Mädchen abküsste und einem verdutzten Jungen eine Schirmmütze voller Nüsse abstibitzte, nachdem sie ihm zuvor ein Stück von einer Banane in den Mund geschoben hatte. Auf dem Jahrmarkt ging es hoch her.
Auf den Ladentischen türmten sich knusprig braungebackene und mit kandierten Früchten verzierte Tulaer Pfefferkuchen, Twerer Pfefferminz in den Formen eines Sterlets oder eines Generals und saftige, verschiedenfarbige Pastila aus Kolomenskoje.
Die vergangenen, so schnell vorbeigeeilten Jahrhunderte hatten an den bäuerlichen Süßigkeiten nichts verändert, und nur dem geübten Blick konnten die Fülle kandierter Ananasfrüchte, die Bananenbüschel und der Überfluss an guter Schokolade nicht entgehen.
Wie in der guten alten Zeit pfiffen die kleinen Lausbuben auf tönernen, vergoldeten kleinen Hähnen, wie sie dies im übrigen bereits zur Zeit eines
Iwan Wassiljewitsch oder in Groß-Nowgorod getan hatten. Eine zweireihige Harmonika spielte schwungvoll zur Polka auf. Mit einem Wort: Alles war genau so, wie es sein sollte. Katharina, der die Führung des »Mister Charlie« anvertraut war, geleitete ihn in ein großes weißes Zelt und sagte ohne jeden weiteren Kommentar: »Da, sehen Sie!«
Das Innere des Zeltes war mit Bildern alter und neuer Meister behängt. Voll Freude erkannte Kremnew »alte Bekannte«: Veneziano, Kontschalowski, den »Heiligen Gerassim« Rybnikows, den Nowgoroder »Propheten Elias« aus der Sammlung Ostrouchows und Hunderte von neuen, unbekannten Bildern und Skulpturen, die ihn lebhaft an sein gestriges Gespräch mit Paraskewa erinnerten.
Vor dem Bild »Christus als Knabe« von Giampetrino, das ihn einst im Rumjanzew-Museum gefesselt hatte, blieb er stehen und - indem er riskierte, sein Inkognito zu verraten - fragte er: »Wie konnten diese Bilder nur auf den Jahrmarkt von Belaja Kolp geraten?« Paraskewa beeilte sich, ihm zu erklären, dass der Jahrmarktsrummel mit einer Wanderausstellung des Wolokolamsker Museums, dem zeitweise auch einige Moskauer Bilder zur Verfügung gestellt wurden, verbunden sei.
Die große Zahl der Besucher, die die Bilder aufmerksam betrachteten und dabei untereinander Bemerkungen austauschten, bewies Kremnew, dass die darstellenden Künste nunmehr fest zum Alltag des bäuerlichen Lebens gehörten und auf vorbereitetes Verständnis trafen. Ein überzeugender Beweis hierfür war der Eifer, mit dem am Eingang die 132. Ausgabe des Buches von P. Muratow »Geschichte der Malerei auf hundert Seiten« und das Büchlein »Von Rokotow bis Ladonow« verkauft wurden und reißenden Absatz fanden, und als Kremnew den Umschlag des letzteren las, konnte er sich davon überzeugen, dass Paraskewa nicht nur über Malerei zu sprechen verstand, sondern sogar Bücher schrieb. Im Nachbarzelt drängten sich die Frauen an Schaustücken alter russischer Stickereien, während zwei Burschen ein Schränkchen von Boulle abschätzten.
Bald wurde es leer auf der Ausstellung, und das Stimmengewirr und der Glockenklang kündeten den Beginn der rhythmischen Spiele an, auf die ein Babchenspiel, ein Hindernislauf und andere Wettkämpfe um die Meisterschaft im Jaropolsker Gebiet folgten. Riesige blaue Plakate versprachen für sieben Uhr eine Aufführung des »Hamlet« von einem Herrn Shakespeare, gespielt von der Truppe des örtlichen kooperativen Bundes. Doch man musste sich beeilen, um nach Hause zu kommen und nach dem Honig im Bienenstand zu sehen. Deshalb entschloss sich die Gruppe, den Feierlichkeiten zu entsagen und nur noch einen Abstecher ins Panoptikum zu machen, das von der Kultur- und Bildungsabteilung des Gouvernement-Bauernbundes zur Schau gestellt wurde.
An den Wänden standen Wachsbüsten: die Porträts aller historischen Persönlichkeiten. In Panoramen wurde der Besucher über die erhabensten Ereignisse der Heimat- und Weltgeschichte sowie über wilde, tropische Länder informiert.
Die kinematischen Apparate zeigten Julius Caesar vor dem Rubikon, Napoleon auf den Mauern des Kreml, die Abdankung von Nikolaus II. und seinen Tod, Lenin, als er auf dem Sowjetkongress sprach, Sedow, als er die aufständischen Stenotypistinnen auseinanderjagte, den singenden Bass Schaljapins und den Gaganows. »Sehen Sie mal, das ist ja Ihr Porträt!« rief Katharina aus. Kremnew erstarrte: Vor ihm, auf einer Plane unter Glas stand eine photographisch genaue Büste, unter der zu lesen war:
»Alexej Wassiljewitsch Kremnew, Mitglied des Mirsownarchoskollegiums, Unterdrücker der bäuerlichen Bewegung Russlands. Nach Feststellung der Ärzte litt er aller Wahrscheinlichkeit nach an Verfolgungswahn, die Degeneration ist deutlich an der Asymmetrie des Gesichtes und der Schädelform erkennbar.«
Alexej errötete tief und wagte nicht, seine Begleiter anzusehen. »Das ist ja hervorragend! Eine verblüffende Ähnlichkeit, sogar die Jacke ist die gleiche wie bei Ihnen, Mister Charlie!« rief Nikifor Alexejewitsch aus.
Alle fühlten sich irgendwie peinlich berührt und verließen das Panoptikum schweigend.
Man eilte nach Hause, doch Katharina schleppte Kremnew noch zum Bienenstand, um nach dem Honig zu sehen. Der Weg führte durch Kohlgärten. Wie saftige Tupfer betonten die fast dunkelblauen, festen Kohlköpfe
das Schwarz der Erde. Zwei kräftige Frauen in weiß und rosa getupften Kleidern schnitten die reifsten Köpfe ab und warfen sie in einen zweirädrigen Karren.
Alexej war von dem Anblick seines Doppelgängers in Wachs bis ins Innerste erschüttert, und zum ersten Mal während seiner utopischen Reise fühlte er ganz deutlich und mit letzter Konsequenz den ganzen Ernst und die Ausweglosigkeit seiner Lage.
Die Ursünde, die er bei seiner Geburt unter falschem Namen begangen hatte, band ihn nun an Händen und Füßen. Sein wirklicher Name erwies sich im Reich der bäuerlichen Utopie ganz offensichtlich als gleichbedeutend mit einem »Wolfspaß«.
Und doch war die ihn umgebende Welt mit ihren Kohlgärten, blauen Fernen und den roten Trauben der Ebereschen ihm bereits nicht mehr völlig fremd.
Er empfand dieser Welt gegenüber eine neue, für ihn wertvolle Bindung, eine Vertrautheit, die sogar stärker war als diejenige, die er mit der verlassenen sozialistischen Welt empfunden hatte, und die Ursache dieser Vertrautheit, Katharina, deren Wangen sich vom schnellen Lauf gerötet hatten, ging völlig verzaubert neben ihm einher und schmiegte sich unmerklich an ihn an.
Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie den Hang zum alten Flussbett hinabstiegen. Alexej berührte ihre Hand, und ihre Finger verständigten sich. Über der tiefschwarzen, aufgepflügten Erde erhoben sich in klaren Reihen die Kronen der Apfelbäume mit ihren gesenkten, von Früchten beladenen Zweigen wie auf einem alten japanischen Stich. Große, rote, duftende Äpfel und die weißgekalkten Stämme sättigten die Luft mit dem Duft von Fruchtbarkeit, und es schien Kremnew, als durchdringe dieser Duft die Poren der unbedeckten Hände und des Halses seiner Begleiterin. Und so begann seine utopische Liebe.

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