Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Erstes Kapitel

in dem der geneigte Leser Bekanntschaft schließt mit dem Sieg des Sozialismus und dem Helden unseres Romans, Alexej Kremnew.

Mitternacht war schon längst vorüber, als der Besitzer des Arbeitsbuches Nr. 37413, in der bourgeoisen Welt einst Alexej Wassiljewitsch Kremnew genannt, das stickige, maßlos überfüllte Auditorium Maximum des Polytechnischen Museums verließ.
Ein herbstlich-nächtlicher Nebelschleier breitete sich über die verschlafenen Straßen. Wie verloren standen die wenigen elektrischen Laternen in den entschwindenden Fernen der sich kreuzenden Gässchen. Der Wind zauste die gelben Blätter in den Bäumen des Boulevards, und wie ein märchenhafter Riese schimmerten im Dunkel die weißen Mauern des chinesischen Viertels.
Kremnew bog in die Nikolskaja-Straße ein. Es schien, als wolle sie im nebligen Dunst ihre ehemaligen Konturen wieder annehmen. Vergebens hüllte sich Kremnew in seinen Regenmantel, um sich gegen die durchdringende nächtliche Feuchtigkeit zu schützen, und betrachtete traurig die Wladimir-Kirche und die Pantelejmon-Kapelle. Er erinnerte sich, wie er vor vielen Jahren als Jurastudent im ersten Semester beklommenen Herzens eben hier auf der rechten Seite beim Antiquar Nikolajew das »ABC der Sozialwissenschaften« von Flerowski kaufte, wie er vor drei Jahren seine Ikonensammlung begann, als er bei Jelisej Ssilin den Nowgoroder
Erlöser fand, und an die vielen, langen Stunden, in denen er mit den heißen Augen eines Neubekehrten in den Handschriften- und Bücherschätzen des Schibanowski-Antiquariats wühlte, dort, wo man jetzt beim trüben Licht der Laterne die kurze Aufschrift »Glawbum« lesen konnte. Alexej verscheuchte die frevelhaften Erinnerungen und wandte sich dem Iwerski-Tor zu, ging am ersten Haus der Sowjets vorüber und tauchte unter im Halbdunkel der Moskauer Gässchen.
Doch in seinem Kopf brannten schmerzhaft die Worte, Sätze und Bruchstücke von Sätzen, die er eben erst auf dem Meeting im Polytechnischen Museum vernommen hatte: »Indem wir den heimischen Herd zerstören, versetzen wir der bourgeoisen Gesellschaft den Todesstoß!« »Unser Dekret, das die häusliche Verpflegung verbietet, wirft das süße Gift der bourgeoisen Familie hinaus aus unserem Dasein und verankert das sozialistische Prinzip bis ans Ende aller Zeiten.« »Die familiäre Behaglichkeit gebiert eigensüchtige Wünsche, die Freude des Kleinbesitzers birgt in sich die Keime des Kapitalismus.« Der übermüdete Kopf schmerzte dumpf und war bereits daran gewöhnt zu denken, ohne den Verstand dabei zu gebrauchen, ohne Schlussfolgerungen zu ziehen, während die Beine mechanisch dem halbzerstörten heimischen Herd zusteuerten, der gemäß dem eben erst veröffentlichten und erläuterten Dekret vom 27. Oktober 1921 innerhalb einer Woche dem völligen Untergang geweiht sein sollte.

 

Zweites Kapitel

das über den Einfluss Herzens auf die entzündete Phantasie eines Sowjetangestellten berichtet.

Nachdem er sich ein dickes Stück Brot, eine gesegnete Gabe der von Gott beschützten Sucharewka, mit Butter bestrichen hatte, goss sich Alexej ein Glas bereits aufgekochten Kaffees ein und ließ sich in seinem Arbeitssessel nieder.
Durch die Scheiben des großen Fensters war die Stadt zu erkennen; unten, im Nebelschleier, erstreckten sich die langen Bänder der Straßenlaternen wie helle milchige Punkte. Irgendwo in den schwarzen Blocks der Häuser schimmerten noch erleuchtete Fenster in dämmrigem gelbem Licht. »So hat es sich also erfüllt«, dachte Alexej und blickte auf das nächtliche Moskau. »Der alte Morris, der wohltätige Thomas, Bellamy, Blatchford und ihr anderen guten, lieben Utopisten. Eure einsamen Träume sind heute allgemeine Überzeugungen, eure großartigen, kühnen Ideen -offizielles Programm und graue Alltäglichkeit! Im vierten Jahr der Revolution darf sich der Sozialismus als uneingeschränkter Herrscher der Welt betrachten. Seid ihr's zufrieden, ihr Pioniere der Utopie?« Und Kremnew betrachtete das Porträt Fouriers, das über einem der Bücherschränke in seiner Bibliothek hing. Doch für ihn selbst, den alten Sozialisten, den einflussreichen Sowjetangestellten und Leiter einer Abteilung im Mirsownarchos, stimmte irgend etwas nicht in dieser Verwirklichung. Er empfand ein unbestimmtes Mitleid mit dem Entschwundenen, ein Gespinst bourgeoiser Psychologie verschleierte noch sein sozialistisches Bewusstsein.
Er ging ein wenig auf und ab über den Teppich seines Arbeitszimmers, sein Blick glitt über die Einbände der Bücher, und für ihn selbst unerwartet, entdeckte er eine Reihe von Bänden auf einem halbvergessenen Bücherbrett. Die Namen Tschernyschewski, Herzen und Plechanow blickten von ledernen Buchrücken solider Einbände auf ihn nieder. Er lächelte, so wie man bei Kindheitserinnerungen lächelt, und nahm einen Band des von Pawlenkow herausgegebenen Herzen vom Regal. Es schlug zwei. Die Uhr surrte gedehnt und verstummte wieder. Gute, edle und kindlich-naive Worte offenbarten sich den Augen Kremnews. Die Lektüre ergriff ihn, bewegte ihn, so wie die Erinnerungen an die erste Jugendliebe, den ersten jugendlichen Schwur einen Menschen bewegen.
Der Verstand befreite sich gleichsam aus der Hypnose der sowjetischen Alltäglichkeit, im Bewusstsein begannen sich neue, keineswegs banale Gedanken zu rühren, es wurde möglich, die Gedanken mit anderen Varianten spielen zu lassen.
Ergriffen überflog Kremnew die längst vergessene, prophetische Seite: »Schwache, mickrige, dumme Generationen«, schrieb Herzen, »werden sich mit Ach und Krach bis zum nächsten Ausbruch, bis zu dieser oder einer anderen Lava hinschleppen, die einen steinernen Schleier über sie decken und der Vergessenheit der Chroniken verfallen wird. Und dann? Dann zieht der Frühling ein, junges Leben erblüht auf ihren Grabhügeln - eine Barbarei der Kindheit voller ungeordneter, aber gesunder Kräfte tritt an die Stelle der greisenhaften Barbarei. Eine frische, wilde Kraft bricht in der Jünglingsbrust junger Völker auf, und es beginnt ein neuer Ring des Geschehens und der dritte Band der Weltgeschichte. Seinen Grundton können wir schon jetzt verstehen. Er gehört den sozialen Ideen an. Der Sozialismus wird sich in allen seinen Phasen bis zu den äußersten Konsequenzen, bis zu Absurditäten entwickeln. Dann wird von neuem aus der titanischen Brust einer revolutionären Minderheit der Schrei der Negation hervorbrechen, und von neuem wird ein Kampf auf Leben und Tod beginnen, in dem der Sozialismus den Platz des heutigen Konservativismus einnehmen und von einer kommenden, uns unbekannten Revolution besiegt werden wird...«
- Ein neuer Aufstand? Wo ist er denn? Und im Namen welcher Ideale? -fuhr es ihm durch den Kopf. - Oh weh, die Schwäche des Liberalismus bestand schon immer darin, dass er keine Ideologie entwickeln konnte und frei von Utopien war.
Kremnew lächelte mitleidig. Oh, ihr Miljukows und Nowgorodzy, ihr Kuskower und Makarower, welche Utopie habt ihr denn auf eure Fahnen geschrieben?! Was, außer obskurer kapitalistischer Reaktion habt ihr denn als Ersatz für die sozialistische Gesellschaftsordnung anzubieten?! Ich stimme euch ja zu... wir leben noch lange nicht im sozialistischen Paradies, doch was wollt ihr an seine Stelle setzen?
Krachend schlug das Buch Herzens plötzlich von selbst zu, und ein Stapel dicker Wälzer in Oktav und in Folio fiel vom Regal. Kremnew zuckte zusammen.
Im Zimmer roch es beklemmend nach Schwefel. Die Zeiger der großen Wanduhr begannen sich immer schneller und schneller zu drehen, schon waren sie in ihrer rasenden Rotation nicht mehr zu erkennen. Rauschend lösten sich die Blätter des Abreißkalenders von selbst los, flogen empor und erfüllten den Raum mit herumwirbelndem Papier. Die Wände des Zimmers erbebten und verzerrten sich in merkwürdiger Weise. Kremnew schwindelte, und kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er fuhr zusammen, warf sich in panischem Entsetzen gegen die Tür zum Esszimmer, die wie ein zerberstender Baum krachend hinter ihm zuschlug. Vergeblich suchte er den Lichtschalter. Er war nicht mehr an seinem Platz. Während er sich in der Dunkelheit vorwärts bewegte, stieß er gegen unbekannte Gegenstände. Ihm schwindelte, und sein Bewusstsein trübte sich, als sei er seekrank geworden.
Völlig erschöpft von all den Anstrengungen ließ sich Alexej auf irgendein Sofa nieder, das vorher niemals hier gestanden hatte, und fiel in Bewusstlosigkeit.

 

Drittes Kapitel

in dem die Ankunft Kremnews im Lande Utopia sowie seine angenehmen Gespräche mit einer utopischen Moskauerin über die Geschichte der Malerei des XX. Jahrhunderts dargestellt werden.

Ein silbernes Läuten weckte Kremnew.
»Hallo, ja, ich bin am Apparat«, ließ sich eine weibliche Stimme vernehmen. »Ja, er ist angekommen... offensichtlich heute nacht... Er schläft noch... War wohl sehr müde, schlief ein, ohne sich auszuziehen... Gut. Ich werde anrufen.«
Die Stimme verstummte, und das Rascheln der Röcke verriet, dass deren Besitzerin das Zimmer verließ.
Kremnew richtete sich auf dem Sofa auf und rieb sich erstaunt die Augen. Er lag in einem großen, von den Strahlen der Morgensonne durchfluteten, gelben Zimmer. Möbel aus rotem Holz mit grün-gelbem Bezug in einem seltsamen Stil, der Alexej unbekannt war, gelbe, zur Hälfte zugezogene Fenstervorhänge, ein Tisch mit wunderlichen metallischen Geräten umgaben ihn. Im Nachbarzimmer waren leichte Frauenschritte zu hören. Die Tür knarrte, und dann war alles still.
Kremnew sprang auf die Beine. Er wollte sich klar werden über das, was geschehen war, und lief zum Fenster.
Am blauen Himmel schwammen dicke, herbstliche Wolkenschiffe. Neben ihnen, etwas tiefer, unmittelbar über der Erde schwebten einige Luftschiffe, kleinere und größere, von seltsamer Gestalt, und ihre sich drehenden metallischen Teile funkelten in der Sonne. Unten breitete sich die Stadt aus... Zweifellos, dies war Moskau. Links ragten die riesigen Kremltürme, rechts schimmerte rot die Sucharewka, und dort in der Ferne erhoben sich stolz die Kadaschi. Ein schon seit vielen, vielen Jahren bekannter Anblick. Doch wie sich ringsum alles verändert hatte! Verschwunden waren die steinernen Monumentalbauten, die einst den Horizont überzogen, ganze
Gebäudekomplexe waren nicht mehr vorhanden, das Haus Nirenseje stand nicht mehr an seinem Platz... Statt dessen versank die ganze Umgebung in Gärten... Die gesamte Fläche bis dicht an den Kreml füllten weit ausladende Baumgruppen, in denen einsame Inseln architektonischer Einheiten zurückblieben. Alleen kreuzten das grüne, sich bereits gelb färbende Meer. Auf ihnen bewegten sich lebhafte Ströme von Fußgängern, Autos und Equipagen. All dies atmete den Hauch klarer Frische, zuversichtlicher Lebensfreude.
Zweifellos, dies war Moskau, aber ein neues Moskau, ein verwandeltes, lichteres.
»Sollte ich etwa der Held eines utopischen Romans geworden sein?« rief Kremnew aus. »Offen gestanden, eine ziemlich dumme Situation!« Um sich zurechtzufinden, hielt er Umschau, in der Hoffnung, irgendeinen Anhaltspunkt zum Verständnis für die ihn umgebende neue Welt zu finden.
»Was erwartet mich hinter diesen Mauern? Das treffliche Reich eines geläuterten und gefestigten Sozialismus? Die wunderliche Anarchie des Fürsten Pjotr Alexejewitsch? Zurückgekehrter Kapitalismus? Oder vielleicht ein neues, früher unbekanntes soziales System?« Soweit der Blick aus dem Fenster ein Urteil gestattete, war eines klar: die Menschen lebten in gehörigem Wohlstand und auf hohem kulturellem Niveau, und sie lebten gemeinschaftlich. Doch dies reichte bei weitem nicht aus, um das Wesen dieser Umwelt zu begreifen.
Neugierig begann Alexej die ihn umgebenden Gegenstände genau zu betrachten, doch erwiesen sie sich als wenig aufschlussreich. Es waren überwiegend keine außergewöhnlichen Dinge, sie zeichneten sich lediglich durch die Sorgfalt ihrer Bearbeitung, durch eine bestechende Prägnanz und Großzügigkeit in der Ausführung sowie durch einen eigentümlichen Formstil aus, der teils an die russische Antike, teils an die Ornamente von Ninive erinnerte. Mit einem Wort: dies war ein stark russifiziertes Babylon.
Ü ber dem außerordentlich tiefen und weichen Sofa, auf dem Kremnew erwacht war, hing ein großes Bild, das seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Auf den ersten Blick hätte man mit voller Überzeugung behaupten können, hier handele es sich um ein klassisches Stück von Pieter Breughel des Älteren. Die gleiche Komposition mit weitem Horizont, die gleichen
klaren und kostbaren Farben, die gleichen, überaus kurzen Figürchen, aber... auf der Leinwand waren Menschen in bunten Fracks, Damen mit Schirmchen, Automobile dargestellt, und es konnte keinem Zweifel unterliegen, dass so etwas wie der Abflug eines Luftschiffes das Sujet bildete. Von gleichem Charakter waren einige Reproduktionen, die auf dem Nachbartisch lagen.
Kremnew ging auf den großen Arbeitstisch zu, der aus massivem Kork hergestellt zu sein schien, und begann hoffnungsvoll die auf dem Tisch verstreut herumliegenden Bücher zu betrachten. Es waren dies der fünfte Band der »Praxis des Sozialismus« von W. Scher, »Die Renaissance der Krinoline, Versuch zur Erforschung der modernen Mode«, zwei Bände von Rjasanows »Vom Kommunismus zum Idealismus«, die 38. Ausgabe der Memoiren der Je. Kuskowa, eine prächtige Ausgabe des »Ehernen Reiters«, eine Broschüre »Über die Transformation der B-Energie«, und zu guter Letzt ergriff seine vor Erregung zitternde Hand die neueste Nummer einer Zeitung.
Aufgeregt entfaltete Kremnew das kleine Blatt. Im Kopfteil stand das Datum: 23 Uhr abends, 5. September 1984. Er hatte 60 Jahre übersprungen. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, Kremnew war im Land der Zukunft erwacht. Er vertiefte sich in die Lektüre des Zeitungsblattes. »Landwirtschaft«, »Vergangene Epoche städtischer Kultur«, »Staatlicher Kollektivismus unseligen Angedenkens«, »Dies geschah zu kapitalistischen, d. h. zu nahezu prähistorischen Zeiten...«, »Anglo-französisches Isolationssystem« - alle diese Sätze und noch Dutzende anderer drangen in Kremnews Gehirn ein und erfüllten seine Seele mit Staunen und großem Wissensdurst.
Das Klingeln eines Telefons unterbrach seine Überlegungen. Im Zimmer nebenan waren Schritte zu vernehmen. Die Tür öffnete sich weit, und, begleitet von einer Flut von Sonnenstrahlen, trat ein junges Mädchen ein. »Ach, Sie sind bereits aufgestanden...«, sagte sie fröhlich. »Ich habe gestern Ihre Ankunft verschlafen.« Wieder läutete das Telefon.
»Verzeihen Sie, das wird mein Bruder sein, er sorgt sich um Sie... Hallo... ja, er ist schon aufgestanden... ich weiß nicht warum... werde sofort fragen... Sie sprechen Russisch, Herr... Charlie... Man... wenn ich mich nicht irre.«
»Natürlich, natürlich«, rief Alexej für ihn selbst unerwartet laut aus. »Er spricht Russisch und sogar mit Moskauer Akzent... gut, ich übergebe den Hörer.«
Dem verwirrten Kremnew wurde etwas in die Hände gelegt, was an einen Telefonhörer der alten Zeit erinnerte, er hörte den Gruß einer weichen Bassstimme, das Versprechen, bei ihm um drei Uhr vorbeizukommen, die Versicherung, dass die Schwester sich um alles kümmern werde, und als er den Hörer auflegte, hatte er nur allzu gut verstanden, dass man ihn für einen anderen hielt, einen Mann namens Charlie Man. Das Mädchen hatte bereits das Zimmer verlassen. Mit verzweifelter Entschlossenheit stürzte Alexej zum Tisch, in der Hoffnung, in den Papieren und Telegrammpäckchen wenigstens irgendeinen noch so kleinen Hinweis zu finden, der das ihn umgebende Geheimnis lüften könnte. Das Glück kam ihm zu Hilfe. Schon der erste Brief, den er in die Hand bekam, war von einem Charlie Man unterzeichnet, und in wenigen Sätzen wurde dessen Wunsch zum Ausdruck gebracht, Russland zu besuchen, um sich über die Ingenieuranlagen auf dem Gebiet der Bodenbearbeitung zu informieren.

 

Viertes Kapitel

das eine Fortsetzung des dritten ist und nur deshalb von jenem getrennt wurde, damit die Kapitel nicht zu lang werden.

Die Tür ging auf, und die junge Wirtin trat ins Zimmer. Über dem Kopf trug sie ein Tablett mit dampfenden Tassen eines morgendlichen Frühstücks.
Alexej war entzückt von dieser utopischen Frau, ihrem fast klassischen, auf dem festen, geraden Hals ideal sitzenden Kopf, ihren breiten Schultern und der vollen Brust, die bei jedem Atemzug den Ausschnitt der Bluse anhob.
Die Schweigsamkeit erster Bekanntschaft wechselte alsbald in ein lebhaftes Gespräch über. Kremnew, der es vermeiden wollte, die Rolle eines Erzählers spielen zu müssen, lenkte das Gespräch auf die Kunst, in der Annahme, das Mädchen hiermit nicht in Verlegenheit zu bringen, zumal es in Zimmern lebte, an deren Wänden herrliche Exemplare der Malerei hingen.
Das junge Mädchen, es hieß Paraskewa, berichtete mit der ganzen Glut jugendlicher Begeisterung über seine Lieblingsmaler: den alten Breughel, Van Gogh, den Greis Rybnikow und den großartigen Ladonow. Als leidenschaftliche Anhängerin des Neorealismus suchte sie in der Kunst das Geheimnis der Dinge, etwas, das entweder göttlich oder teuflisch war, doch die menschlichen Kräfte übertraf.
Sie erkannte den höchsten Wert alles Seienden an und forderte daher vom Künstler Kongenialität mit dem Schöpfer des Alls, schätzte in einem Bild die Kraft der Magie, den prometheischen Funken, der ein neues Wesen verleiht, und im Grunde genommen stand sie damit dem Realismus der alten flandrischen Maler nahe.
Kremnew entnahm ihren Worten, dass in der Malerei nach der Epoche der großen Revolution, die durch den Futurismus und den völligen Verfall der alten Traditionen gekennzeichnet war, eine Periode des Barock-Futurismus, eines gebändigten und sinnlichen Futurismus angebrochen war.
Danach war, so wie ein Sonnentag auf ein Gewitter folgt, die Suche nach Meisterschaft auf den ersten Platz gerückt. In Mode kamen die Anhänger der Bologneser Schule, die Primitiven fielen sofort der Vergessenheit anheim, und Museen, in denen Bilder von Memling, Fra Beato, Botticelli und Cranach ausgestellt wurden, konnten fast keine Besucher mehr verzeichnen. Die Meisterschaft jedoch, die sich dem Geist der Zeit anpasste und nicht an Niveau verlor, entwickelte allmählich eine Neigung zum Dekorativen und schuf monumentale Gemälde und Fresken über die Ära des Warwarin-Komplotts; stürmisch verlief die Epoche des Stilllebens und des blauen Gammas, nach ihr beherrschten die Ssusdaler Fresken des XII. Jahrhunderts das gesamte künstlerische Schaffen bis schließlich mit Pieter Breughel als dem Abgott die Herrschaft des Realismus anbrach. Zwei Stunden waren wie im Nu verstrichen, und Alexej wusste nicht, ob er dem tiefen Kontraalt seiner Gesprächspartnerin zuhören oder aber die schweren Zöpfe, die sie um ihren Kopf gewunden hatte, betrachten sollte. Ihre weitgeöffneten, aufmerksamen Augen und das Muttermal an ihrem Hals sprachen zu ihm eindringlicher als alle Beweise von der Überlegenheit des Neorealismus.

 

Fünftes Kapitel

das überaus lang, aber unbedingt notwendig ist, damit Kremnew das Moskau des Jahres 1984 kennen lernen kann.

»Ich werde Sie durch die ganze Stadt fahren«, sagte der Bruder Paraskewas, Nikifor Alexejewitsch Minin, während er Kremnew beim Einsteigen ins Automobil behilflich war, »und Sie werden unser heutiges Moskau sehen.«
Das Automobil setzte sich in Bewegung.
Die Stadt schien ein einziger Park zu sein, in dem rechts und links Gebäudekomplexe auftauchten, die an kleine, abgelegene Städtchen erinnerten. Hin und wieder, in einer unerwarteten Kurve, eröffnete sich vor den Augen Kremnews der Ausblick auf bekannte, vorwiegend im XVII. und XVIII. Jahrhundert errichtete Gebäude.
Herbstlich färbten sich die Ahornbäume, und hinter ihren dichten Kronen blitzten die Kuppeln der Baryschi auf; auseinandertretende Linden gaben den Blick frei auf die prunkvolle Silhouette des von Rastrelli errichteten Bauwerks, in dem Kremnew als Gymnasiast täglich ein- und ausgegangen war. Kurz gesagt: sie durchfuhren eine utopische Pokrowka. »Wieviel Einwohner hat euer Moskau?« fragte Kremnew seinen Begleiter.
»Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Wenn man das Gebiet zur Zeit der großen Revolution als Stadtterritorium zugrunde legt, so umfasst die ständig hier übernachtende Bevölkerung heute möglicherweise bereits 100000 Menschen. Vor 40 Jahren jedoch, unmittelbar nach dem berühmten Dekret, in dem die Vernichtung der Städte angeordnet wurde, gab es maximal 30000 Einwohner. Während der Tagesstunden überschreitet die Bevölkerung aber, wenn man alle Reisenden und Hotelgäste berücksichtigt, die fünf Millionen.«
Das Automobil verlangsamte seine Fahrt. Die Allee wurde schmaler; die Gebäudekomplexe rückten immer enger zusammen, Straßen vom alten
städtischen Typus kamen zum Vorschein. Tausende von Automobilen und Pferdekutschen strebten auf mehreren Fahrspuren in ununterbrochenem Strom dem Stadtzentrum zu; über die breiten Trottoire bewegte sich eine dichte Menge von Fußgängern. Das fast völlige Fehlen schwarzer Farbe verblüffte; leuchtend blaue, rote, dunkelblaue, gelbe und fast immer einfarbige Herrenjacketts und Kittel mischten sich mit außerordentlich bunten Frauengewändern, die an die aus Sarafan und Krinoline bestehende Tracht der russischen Bäuerinnen erinnerten, aber dennoch eine Vielfalt an Formen erkennen ließen.
Zeitungsjungen, Blumen-, Sbiten- und Zigarrenverkäufer eilten in der Menge hin und her. Über den Köpfen der Menschen und Equipagen funkelten in der Sonne die Spruchbänder der Flaggen und fähnchengeschmückten Zugriemen.
Fast unmittelbar unter den Rädern der Kutschen flitzten Lausbuben hin und her, die irgendwelche Blättchen verkauften und aus Leibeskräften »Endkampf!! Wanja aus Wologda gegen Ter-Markeljanez! Zwei zu eins im Knöchelspiel!« schrieen.
In der Menschenmenge wurde erregt diskutiert. Ausrufe, in denen vor allem immer wieder »Plozka« und Nitschka« wiederkehrten, flogen hin und her.
Erstaunt blickte Kremnew auf seinen Begleiter. Dieser schmunzelte und sagte:
»Ein Nationalspiel! Heute ist der letzte Tag im internationalen Wettkampf um den Sieg im Knöchelspiel. Der Champion im Ziegenschlittenspiel aus Tiflis kämpft mit dem Wologder um den ersten Platz im Knöchelspiel. .. Aber Wanja wird sich nicht beleidigen lassen, und am Abend wird ihn der Theaterplatz zum fünften Mal als Sieger erleben.« Das Automobil hatte seine Fahrt immer mehr verlangsamt. Es passierte den Lubjankaplatz, auf dem noch immer die Mauer der Chinastadt sowie die von Vitali geschaffenen Jünglingsfiguren standen, und fuhr weiter abwärts, vorbei an der »Straße des ersten Druckers«. Auf dem Theaterplatz wogte ein Meer von Köpfen. Wie ein Feuerwerk funkelten und blitzten die hellen Flaggen in der Sonne. Die Tribünen erhoben sich mit vielen
Rängen fast bis zum Dach des Bolschoj-Theaters, und die Luft war erfüllt vom Tosen der Menge. Das Knöchelspiel war in vollem Gange. Kremnew wandte seinen Blick nach links, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Das Hotel Metropol war verschwunden. Hier war eine Grünfläche angelegt worden, auf der sich eine gigantische Säule erhob. Sie war aus lauter Kanonenmündungen hergestellt, und ein mit einem Basrelief geschmücktes metallisches Band rankte sich an ihr spiralenförmig von unten nach oben. Drei aus Bronze gegossene, riesige Figuren, die mit dem Rücken zueinander standen und sich freundschaftlich an der Hand hielten, krönten diese kolossale Säule. Kremnew hätte fast laut aufgeschrieen, als er die ihm wohlbekannten Gesichter erblickte. Kein Zweifel: auf den Tausenden von Geschützmündungen standen einander freundschaftlich stützend Lenin, Kerenski und Miljukow. Das Automobil bog scharf nach links ab, so dass sie ganz nahe am Sockel des Denkmals vorbeifuhren.
Trotz der schnellen Fahrt gelang es Kremnew, einige Gestalten auf dem Basrelief zu unterscheiden: Es waren Rykow, Konowalow und Prokopowitsch, die sich malerisch um einen Amboss gruppierten, Sereda und Maslow, die mit Säen beschäftigt waren, und Kremnew konnte einen Ausruf der Verwunderung nicht unterdrücken. Ohne die rauchende Pfeife aus dem Mund zu nehmen, brummte sein Begleiter zur Antwort: »Ein Denkmal unserer berühmten Revolutionäre.« »Aber ich bitte Sie, Nikifor Alexejewitsch, schließlich haben diese Männer zu ihren Lebzeiten nun wirklich nicht so friedlich beieinander gestanden!«
»Nun, aus der historischen Perspektive erscheinen sie für uns als Kollegen ein und derselben revolutionären Tätigkeit, und glauben Sie mir, ein heutiger Moskauer kümmert sich herzlich wenig um die Meinungsverschiedenheiten, die zwischen ihnen bestanden. Hoppla! Teufel auch, da hätte ich doch um ein Haar das Hündchen überfahren... !« Das Automobil wich ruckartig nach links aus, eine Dame mit Hündchen sprang nach rechts; nach einer Kurve tauchte das Automobil in eine unterirdische Röhre ein, schoss für einige Augenblicke mit enormer Geschwindigkeit durch einen hell erleuchteten Tunnel unter der Erde dahin, raste auf das Moskwaufer zu und kam neben einer Terrasse zum Stehen, auf der kleine Tische aufgestellt waren.
»Kommen Sie, trinken wir zur Erfrischung einen Kokasaft«, sagte Minin und stieg aus dem Auto.
Kremnew blickte sich nach allen Seiten um. Vor ihm erhob sich eine riesige Brücke, die so täuschend ähnlich der Steinernen Brücke aus dem XVII. Jahrhundert nachgebildet war, dass sie wie ein Stich von Picard wirkte. Und hinter ihm ragte in seiner ganzen Pracht mit golden funkelnden Kuppeln der Kreml auf, von allen Seiten eingehüllt in das Gold des herbstlichen Waldes.
Ein Kellner in der traditionellen weißen Berufskleidung brachte ein mit kandierten Früchten gemischtes Getränk, das an Gogol-Mogol erinnerte, und beschaulich schwiegen unsere Reisenden für einige Zeit. »Verzeihen Sie«, unterbrach Kremnew das Schweigen, »mir als Ausländer ist die Organisation Ihrer Stadt nicht ganz verständlich. Wie kam es eigentlich zu dieser dezentralisierten Ansiedlung?« »Anfangs haben politische Ursachen auf den Umbau Moskaus eingewirkt«, antwortete sein Begleiter. »Im Jahre 1934, als die Macht fest in den Händen der Bauernparteien lag, entschloss sich die Regierung Mitrofanow zu einer revolutionären Maßnahme, nachdem sie sich nach langjähriger Praxis davon überzeugen konnte, welche Gefahr die riesigen Ansammlungen städtischer Bevölkerung für ein demokratisches Regime darstellen, und sie setzte auf dem Sowjetkongress - wie auch Ihnen in Washington bekannt sein dürfte - das Dekret über die Vernichtung aller Städte mit mehr als 20 000 Einwohnern durch.
Natürlich erwies es sich vor allem in Bezug auf Moskau, das in den 30er Jahren mehr als 4 Millionen Einwohner zählte, als überaus schwierig, das Dekret in die Tat umzusetzen. Aber die unnachgiebige Beharrlichkeit unserer Führer und die technische Leistungsfähigkeit unseres Ingenieurkorps machten es möglich, diese Aufgabe im Verlauf von 10 Jahren zu bewältigen.
Die Eisenbahnwerkstätten und Warendepots wurden auf die Linie des fünften Stadtringes verschoben, die Eisenbahnarbeiter der zweiundzwanzig Radiallinien und ihre Familien entlang der Linie eben dieses fünften Gürtels angesiedelt, d. h. an den Stationen Ramenskoje, Kubinka, Klin und anderer. Die Fabriken wurden nacheinander an neue Eisenbahnknotenpunkte in ganz Russland evakuiert.
Etwa ab 1937 begannen die Straßen von Moskau leerer zu werden. Nach der Verschwörung Warwarins wurden die Arbeiten selbstverständlich noch beschleunigt. Das Ingenieurkorps machte sich an die Planung eines neuen Moskaus, zu Hunderten wurden die Moskauer Wolkenkratzer eingerissen, und nicht selten verwandte man hierfür Dynamit. Mein Vater erinnert sich, wie im Jahre 1939 die kühnsten unserer Führer, als sie durch die Stadt der Trümmer streiften, bereit waren, sich selbst als Vandalen zu bezeichnen, ein solches Bild der Zerstörung bot Moskau. Doch lagen den Zerstörern die Zeichnungen Scholtowskis vor, und die hartnäckige Arbeit wurde fortgeführt. Zur Beruhigung der Bevölkerung und auch Europas wurde 1940 der erste Sektor ganz fertig gestellt, der alle in Erstaunen versetzte und die Gemüter besänftigte. 1944 dann erhielt alles sein jetziges Aussehen.«
Minin holte aus seiner Tasche einen kleinen Stadtplan und entfaltete ihn. »Heute allerdings sitzt das Bauernregime so fest im Sattel, dass dieses für uns heilige Dekret bereits nicht mehr mit der früheren puritanischen Strenge eingehalten wird. Die Bevölkerung Moskaus wächst so stark an, dass unsere Stadtväter, um dem Buchstaben des Gesetzes gerecht zu werden, nur noch das Gebiet der alten Weißen Stadt, d. h. das Gebiet innerhalb der Boulevards der vorrevolutionären Epoche, als die Stadt Moskau betrachten.«
Kremnew, der die Karte aufmerksam studiert hatte, hob die Augen. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »was ist denn das für eine Sophistik! Das Gebiet um die Weiße Stadt herum ist ja schließlich schon so groß wie eine Stadt. Ja, und überhaupt ist es mir völlig unbegreiflich, wie diese eure Agrarisierung des Landes reibungslos vonstatten gehen konnte und welche klägliche Rolle eure Stadt-Pygmäen in der Volkswirtschaft spielen können.«
»Es fällt mir sehr schwer, mit wenigen Worten auf Ihre Frage zu antworten. Sehen Sie, früher genügte die Stadt sich selbst, das Land war nichts mehr als sein Piedestal. Heute, wenn Sie so wollen, gibt es überhaupt keine Städte im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur noch Orte, die als Knotenpunkte sozialer Verbindungen dienen. Jede unserer Städte ist nichts anderes als ein Versammlungsort, ein zentraler Platz des Verwaltungskreises. Das ist kein Ort, an dem man lebt, sondern ein Ort für Feierlichkeiten, Versammlungen und einige andere Anliegen. Ein Punkt, aber kein soziales Wesen.«
Minin hob das Glas, leerte es in einem Zug und fuhr fort: »Nehmen Sie zum Beispiel Moskau: auf hunderttausend Einwohner kommen Hotels für 4 Millionen Menschen, in den Kreisstädten kommen auf 10000 Einwohner Hotels für 100000, und sie stehen fast nie leer. Die Verkehrsverbindungen sind so ausgebaut, dass jeder Bauer seine Stadt innerhalb einer oder anderthalb Stunden erreichen kann, und er hält sich oft in ihr auf. Doch jetzt ist es an der Zeit, wieder aufzubrechen. Wir müssen einen beträchtlichen Umweg machen und Katherina in Archangelskoje abholen.« Das Automobil machte sich wieder auf den Weg und bog in den Pretschistenski-Boulevard ein. Voller Verwunderung blickte sich Kemnew um: statt der goldenen, wie ein Samowar aus Tula glänzenden Erlöserkirche erblickte er riesige, von Efeu umrankte Ruinen, die offensichtlich sorgfältig gepflegt wurden.

 

Sechstes Kapitel

in dem sich der Leser davon überzeugen kann, dass man im Verlauf von 80 Jahren in Archangelskoje nicht verlernt hat, zum Tee Vanillequarkkuchen zu backen.

Inmitten der hochgewachsenen Linden des Twerskoj-Boulevards erhob sich das altertümliche Puschkindenkmal.
Es war an jenem Platz errichtet worden, auf dem einstmals auf Befehl Napoleons die angeblichen Brandstifter Moskaus gehängt worden waren, und des wurde in der Folgezeit ein stummer Zeuge schrecklicher Ereignisse in der russischen Geschichte.
Es erinnerte an die Barrikaden des Jahres 1905, an die nächtlichen Meetings und bolschewistischen Kanonen von 1917, an die Schützengräben der Bauerngarde von 1932, an die Warwarinschen Wasserbombenwerfer von 1937, und es verharrte mit der gleichen stillen, inneren Sammlung in Erwartung zukünftiger Ereignisse.
Nur einmal hatte es versucht, sich in die tosenden Elementargewalten politischer Leidenschaften einzumischen, als es die zu seinen Füßen Versammelten an das »Märchen von dem Fischer und dem Fisch« erinnerte, doch man hörte nicht darauf...
Das Automobil bog in die Großen Alleen des westlichen Stadtteils ein. Hier verliefen einst die stillen und verstaubten Straßen, auf denen die Fuhrwerke nach Twer rollten. An die Stelle der eintönigen Gebäude waren die prächtigen Linden des Westparks getreten, und wie eine Insel inmitten eines wogenden, grünen Meeres tauchten aus dem grünen Dickicht die Kuppeln der Kathedrale und die weißen Fassaden der Schanjawski-Universität auf.
Tausende von Automobilen glitten über den Asphalt der großen Weststrecke dahin. Zeitungs- und Blumenverkäufer eilten auf den von einer bunten Menge belebten Alleen hin und her, es funkelten die gelben Zeltdächer der Kaffeehäuser, in den bewegungslos erstarrten Wolken Schimmer-
ten die schwarzen Punkte von Hunderten großer und kleiner Aeropile, und schwer beladene Passagierflugzeuge stiegen nach dem Start vom Westflughafen auf, um sich auf die Reise zu begeben. Das Automobil raste an den Alleen des Petrowskiparks vorbei, der vom Lärm kindlicher Stimmen erfüllt war, preschte an der Orangerie des Silberwäldchens vorüber, bog scharf nach links und flog wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil über die Swenigoroder Chaussee dahin. Die Stadt schien kein Ende zu nehmen. Rechts und links erstreckten sich nach wie vor herrliche Alleen, glänzten einstöckige weiße Häuschen, hin und wieder auch ganze architektonische Ensembles, nur dass sich nun anstelle der Blumen zwischen den Maulbeer- und Apfelbäumen Gemüsegärten, fruchtbare Weiden und dichtgedrängte Getreidefelder ausbreiteten. »Na«, wandte sich Kremnew an seinen Begleiter, »euer Dekret über die Vernichtung städtischer Ansiedlungen scheint sich offensichtlich nur auf dem Papier gehalten zu haben. Die Moskauer Vorstädte erstrecken sich weit über Swerchswjatoje hinaus.«
»Pardon, Mister Charlie, aber das gehört bereits nicht mehr zum Stadtgebiet, das ist das typische russische Dorf des Nordens«, ließ ihn Minin abblitzen und erklärte, dass bei einer solchen Bevölkerungsdichte, wie sie die Bauernschaft des Moskauer Gouvernements erreiche, das Land ein für dörfliche Siedlungen atypisches Aussehen annehme. Das gesamte Gebiet um Moskau stelle heute auf Hunderten von Werst eine durchgängige landwirtschaftliche Ansiedlung dar, die lediglich von den Vierteln der öffentlichen Wälder, den Zonen kooperativer Weiden und riesigen klimatischen Parks unterbrochen werde.
»In den Gebieten der Einzelgehöftsiedlungen, in denen der Landanteil einer Familie noch 3-4 Desjatinen beträgt, stehen die Bauernhäuser auf einer Strecke von vielen Dutzend Werst in einer Reihe nebeneinander, und nur die heute verbreiteten dichten Maulbeer- und Obstbäume trennen ein Gebäude vom anderen. Ja, und eigentlich ist es jetzt an der Zeit, die altmodische Einteilung in Stadt und Dorf aufzugeben, weil wir heute nur einen Siedlungstyp ein- und derselben Agrarbevölkerung haben, der sich lediglich in der Bevölkerungsdichte unterscheiden kann.« »Sie sehen eine Gruppe von Gebäuden«, Minin zeigte weit nach links, »die aufgrund ihrer Ausmaße etwas auffallen. Das ist die >Großstadt<, wie man sie heute üblicherweise nennt. Hier befinden sich die örtliche Schule, eine Bibliothek, ein Theater- und Tanzsaal sowie andere öffentliche Einrichtungen. Ein kleiner sozialer Knotenpunkt. Die heutigen Städte sind nichts anderes als eben solche sozialen Knotenpunkte eines allgemeinen Landlebens, nur größer in ihren Ausmaßen. Ah, da sind wir ja schon.« Der Wald trat zurück, und in der Ferne tauchten die schlanken Mauern des Schlosses von Archangelskoje auf.
Eine scharfe Kurve - und das Auto fuhr über knirschenden Kies, passierte das breite, von Posaunenengeln gekrönte Portal und kam, nachdem es einen ganzen Schwarm mit Reifen spielender junger Mädchen aufgescheucht hatte, neben der Orangerie zum Stehen. Weiße, rosafarbene, hellblaue Kleider umringten die Ankömmlinge, und ein Mädchen von etwa sieben Jahren warf sich mit einem Freudenschrei in die Arme von Alexejs Begleiter.
»Mister Charlie Man, das ist Katharina, meine Schwester!« Auf der Waldwiese des Archangelski-Parks, neben den Büsten antiker Philosophen bat man die Gäste sogleich an den summenden Samowar zu Tisch, der mit linnenen Tischtüchern bedeckt war und auf dem sich Berge purpurroter Quarkkuchen türmten.
Alexej wurde mit Quarkkuchen, verführerischen, lockeren Vanillequarkkuchen und duftendem Tee gefüttert, mit Blumen und Fragen über amerikanische Sitten und Gebräuche und darüber, ob man in Amerika Gedichte schreiben könne, überschüttet. Als er fürchtete, in die Klemme zu geraten, ging er selbst zum Angriff über, indem er auf jede an ihn gerichtete Frage mit zwei Fragen an seine Gesprächspartnerinnen antwortete. Während er einen Quarkkuchen nach dem anderen verschlang, erfuhr er, dass Archangelskoje der »Bruderschaft des heiligen Florus und Laurus«, einem eigentümlichen weltlichen Kloster, gehörte, dessen Brüder begabte Jungen und Mädchen anwarben, die sich in den Künsten und Wissenschaften ausgezeichnet hatten.
In der Zimmerflucht des alten Palastes und den Lindenalleen des Parks, in einer Atmosphäre, die durch die früheren Besuche Puschkins und durch das glanzvolle, galante Leben des Boris Nikolajewitsch Jusupow samt seinem Voltairianismus und seiner kolossalen, der französischen Revolution und Küche gewidmeten Bibliothek verklärt war, lärmte die junge Schar,
die Träger des prometheischen Feuers, indem sie die Arbeit mit den Freuden des Lebens verband.
Die Bruderschaft besaß zwei Dutzend solcher riesigen und wunderbaren Landgüter, die über Russland und Asien verstreut lagen und mit Bibliotheken, Laboratorien und Bildergalerien ausgestattet waren, und sie stellte, soweit zu verstehen war, eine der stärksten schöpferischen Kräfte des Landes dar. Die strengen Regeln der Satzung, die in ihrer Art klösterlich anmutete, und diese strahlende, klingende Freude, von der die ganze Umgebung durchdrungen war: die Bäume und Statuen, die Gesichter ihrer Besitzer und sogar die Fäden der herbstlichen, unter der Sonne wehenden Spinnweben, all das versetzte Alexej in großes Staunen. Und doch war all dies nichts im Vergleich zu dem tiefen Blick und der melodischen Stimme der Schwester Paraskewas. Die positiv-utopischen Frauen brachten Alexej allmählich um den Verstand.

 

Siebtes Kapitel

das alle, so sie es wünschen, davon überzeugt, dass eine Familie eine Familie ist und immer eine Familie bleiben wird.

»Schneller, schneller, meine Freunde«, Nikifor Alexejewitsch, der die Reisekoffer und Bündel Katharinas im Automobil verstaute, trieb seine Begleiter zur Eile an. »Auf 9 Uhr ist heute der Beginn des Generalregens angesetzt worden, und in einer Stunde werden die Meteorophoren richtige Wirbelstürme entfesseln.«
Obwohl Kremnew, als er diese Worte vernahm, sich eigentlich hätte wundern und nachfragen müssen, tat er dies nicht, denn er beobachtete voller Verzückung, wie sich die Schwester Paraskewas in ihre Schals einhüllte. Dann aber, als das Auto lautlos über die Fahrbahn der Neujerusalemer Chaussee dahinglitt und zu beiden Seiten Felder auftauchten, auf denen sich Tausende von Bauern darum bemühten, vor dem Regen schnell noch die letzten Schober Hafer einzubringen, da konnte sich Alexej nicht enthalten, seinen Begleiter zu fragen:
»Zum Teufel auch, wozu vergeudet ihr eine solche Menge an menschlicher Arbeitskraft auf die Feldarbeit? Ist eure Technik, mit der sich so leicht das Wetter steuern lässt, denn wirklich zu schwach, um die landwirtschaftliche Arbeit zu mechanisieren und die Arbeitskräfte für qualifiziertere Tätigkeiten freizustellen?«
»Sieh mal einer an, da kommt der echte Amerikaner zum Vorschein«, rief Minin aus. »Nein, verehrter Mister Charlie, gegen das Gesetz der sich verringernden Bodenfruchtbarkeit kann man nicht viel ausrichten. Unsere Ernten, die von einer Desjatine mehr als 500 Pud ergeben, sind nur dadurch zu erklären, dass bei uns nahezu jede einzelne Ähre individuell gepflegt wird. Niemals zuvor war die Landwirtschaft in solchem Maße auf Handarbeit eingestellt wie heute. Und das ist kein Spleen, sondern eine Notwendigkeit bei der heutigen Bevölkerungsdichte. Jawohl!«
Er schwieg und beschleunigte die Fahrgeschwindigkeit. Der Wind pfiff, und Katharinas Schals wehten über dem Automobil. Alexej betrachtete ihre Augenwimpern, ihre Lippen, die durch die Falten des Schals hindurchschimmerten, und sie erschien ihm unendlich vertraut... Ein zärtliches Lächeln erfüllte seine Seele mit Freude und Behaglichkeit. Es dunkelte, und schwere Wolken türmten sich am Himmel, als das Automobil die kleinen Häuser erreichte, die an den Steilhängen des Flusses Lama lagen.
Die zahlreichen Familienmitglieder der Minins bewohnten einige kleine Häuschen, die im einfachen Stil des XVI. Jahrhunderts erbaut und mit einem Staketenzaun umgeben waren, was dem Wohnsitz das Aussehen eines altertümlichen Städtchens verlieh. Hundegebell und Stimmengewirr empfing die Ankommenden am Tor. Ein kräftiger Bursche umarmte Katharina. Zwei Mädchen und ein Junge stürzten sich auf die Pakete mit den aus Moskau mitgebrachten Vorräten, ein junges Mädchen im Gymnasiastenalter fragte nach irgendeinem Brief, und ein weißhaariger Alter, der sich als das Oberhaupt der Familie herausstellte, Alexej Alexandrowitsch Minin, nahm seinen Namensvetter unter seine Obhut, um ihm ein Zimmer zuzuweisen, und wunderte sich über seine korrekte Sprache und den Zuschnitt seiner amerikanischen Kleidung, die ihn lebhaft an die Mode seiner frühen Kindheit erinnerte.
Etwa zehn Minuten später betrat ein gewaschener und gekämmter, durch und durch verlegener Alexej das Speisezimmer. Am gemeinsamen Tisch, der mit Blumen überschüttet war, wurde über irgendein Thema heiß diskutiert, und sein Erscheinen auf der Schwelle genügte, um als »völlig unparteiischer« Mensch sogleich zum Schiedsrichter in dieser Sache erkoren zu werden. Seiner kompetenten Entscheidung wurden zwei flache Schüsseln vorgeführt, wovon die eine mit Krebsen und schwarzen Weintrauben dekoriert war, während die andere eine Komposition aus Zitronen, roten Weintrauben und einem geschliffenen, mit Wein gefüllten Pokal darstellte. Die zwei Konkurrentinnen, Meg und Natascha, forderten ihn mit dem vollen, helltönenden Klang ihrer fünfzehnjährigen Stimmbänder auf, zu entscheiden, welches Stilleben »holländischer« sei. Nur mit Mühe gelang es Alexej, aus dieser schwierigen Lage herauszukommen, indem er die eine Komposition als ein vergessenes Original Jakob Puters, die andere als ein Plagiat Willem Kalfs anerkannte, und zum Dank wurde er mit Beifall und einem riesigen Stück Sahnetorte bedacht, die, wie man ihm mitteilte, von einer Professorin der Kochkunst selbst, der abwesenden Paraskewa, erfunden worden war. Der kleine Antoschka wollte vom Amerikaner erfahren, ob es wahr sei,
dass in der Hudsonbucht Pottwale an der Angel anbeißen, wurde jedoch auf der Stelle zu Bett geschickt. Eine ältere Dame erkundigte sich bei Alexej, als sie das dritte Glas Tee einschenkte, ob er Kinder habe, und konnte es nicht fassen, dass seine Frau ihn über den Atlantischen Ozean hatte fliegen lassen. Es betrübte sie außerordentlich, als ihr Alexej versicherte, dass bei ihm keinerlei Anzeichen einer Ehefrau zu erkennen seien, doch als sie ihre Ausforschung fortsetzen wollte, verdeckten fremde Hände Alexejs Augen mit einem Tuch, und er begriff, oder besser erfühlte, dass hinter ihm Katharina stand.
»Blindekuh, Blindekuh« schrie der Kinderschwarm, zog ihn in den Saal, und er musste gehörig herumlaufen, bis er Katharina schließlich umarmen konnte.
Alexej Alexandrowitsch erschien und stellte die Ordnung wieder her, und nachdem er Kremnew aus der Gefangenschaft befreit und am Kamin hatte Platz nehmen lassen, sagte er:
»Heute, so direkt nach der Reise, will ich Sie nicht mit geschäftlichen Gesprächen behelligen. Doch sagen Sie mit bitte das eine: wie ist der erste Eindruck eines isolierten Amerikaners von unserem Vaterland?« Überschwänglich versicherte ihm Kremnew, dass er voller Staunen und Entzücken sei, doch die Klänge des Klavichords unterbrachen ihre Unterhaltung. Katharina bat ihren Bruder, sie zu begleiten, und sang eine Romanze Alexandrows nach den Worten Derschawins:
Goldener Sterlet aus der Scheksna, Sauerrahm und Borschtsch stehen bereit, Wein in den Karaffen, glitzernder Punsch locken mal wie Eiskristalle, mal wie Funken.
Daraufhin folgte »Der Pfau«, dann das Duett »Einzugsfeier der jungen Leute«, und Kremnew fühlte, dass sie für ihn allein sang und dass sie seine Aufmerksamkeit mit niemandem teilen wollte.
Draußen ergoss sich in Strömen der von 9 bis 2 Uhr nachts angesetzte »Generalregen«. Das Zimmer wurde dadurch noch gemütlicher, und das ausglühende Feuer im Kamin erwärmte die Eintracht familiärer Stille. Tante Wassilissa legte Natascha die Karten, und die Jugend schmiedete Pläne, wie man dem Amerikaner am besten »Jaropolez« und »Belaja Kolp« zeigen könne. Doch Alexej Alexandrowitsch erklärte kategorisch, dass er Mister Charlie für den gesamten Morgen in Beschlag nehme und dass es nun für alle an der Zeit sei, schlafen zu gehen.
Kremnew erbat sich von Meg als Bettlektüre ein Lehrbuch der Weltgeschichte und zog sich dann unter der Führung Katharinas durch den Platzregen laufend in den ihm zugewiesenen Flügel zurück.

 

Achtes, historisches Kapitel

Katharina deckte für Kremnew das Bett auf, legte eine Handvoll Pfefferkuchen und Datteln auf den Tisch, blickte dann sehr aufmerksam Kremnew an und fragte unvermittelt:
»Sind bei Ihnen in Amerika eigentlich alle Menschen so wie Sie?« Der verwirrte Alexej geriet in Verlegenheit, und das nicht minder verwirrte junge Mädchen lief fort, schlug die Tür zu, und an den angelaufenen Fensterscheiben huschte das kleine Licht der sich entfernenden Laterne vorüber.
Kremnew war allein.
Lange ließen die Eindrücke dieses ungeheuerlichen Tages ihn nicht zu sich kommen. Doch alle Wunder, die er geschaut hatte, wurden von der bezaubernden Gestalt der Schwester Paraskewas verdrängt. Als er wieder zu sich kam, zog er sich aus und schlug das Geschichtsbuch auf.
Anfangs konnte er überhaupt nichts verstehen: weitschweifig wurde die Geschichte des Jaropolsker Amtsbezirks abgehandelt, danach die Geschichte von Wolokolamsk, des Moskauer Gouvernements, und erst die letzten Seiten des Buches enthielten eine Darstellung der russischen und Weltgeschichte.
Mit wachsender Erregung verschlang Kremnew eine Seite nach der anderen und aß zu den historischen Ereignissen die Pfefferkuchen Katharinas. Als er bei der Darstellung seiner Epoche angelangt war, erfuhr Kremnew, dass sich die Welteinheit des sozialistischen Systems nicht lange gehalten und zentrifugale soziale Kräfte die herrschende Eintracht recht schnell wieder zerrissen hatten. Die Idee einer kriegerischen Revanche war mit keinerlei Dogmen des Sozialismus aus der deutschen Seele auszumerzen, und aus nichtigem Anlass, wegen der Verteilung der Kohle aus dem Saargebiet, hatten die deutschen Gewerkschaften ihren Präsidenten Radek dazu gezwungen, die deutschen Metallarbeiter und Bergleute zu mobilisieren und das Saarland mit militärischer Gewalt zu besetzen, noch bevor
eine Entscheidung in dieser Frage auf einem Kongress des Mirsownarchos herbeigeführt werden konnte.
Europa war erneut in seine Bestandteile zerfallen. Das Gebäude der Welteinheit stürzte ein, und ein blutiger Krieg begann, in dessen Verlauf es dem alten Herve in Frankreich gelang, einen sozialen Umsturz herbeizuführen und eine Oligarchie verantwortlicher Sowjetfunktionäre herzustellen. Nach sechsmonatigem Blutvergießen wurde durch die vereinten Bemühungen Amerikas und des Skandinavischen Bundes der Friede wiederhergestellt, jedoch um den Preis einer Aufteilung der Welt in fünf geschlossene volkswirtschaftliche Systeme: das deutsche, das englisch-französische, das amerikanisch-australische, das japanisch-chinesische und das russische. Jedes isolierte System erhielt in allen Klimazonen verschiedene territoriale Anteile, die einen rundum vollkommenen Aufbau des volkswirtschaftlichen Lebens garantierten, und in der Folgezeit begann jedes System unter Aufrechterhaltung eines gegenseitigen kulturellen Austausches ein in seiner politischen und wirtschaftlichen Ordnung völlig andersartiges Leben.
In England-Frankreich artete die Oligarchie der Sowjetfunktionäre sehr schnell in ein kapitalistisches Regime aus; Amerika, das den Parlamentarismus wieder einführte, reprivatisierte seine Produktion teilweise, hielt jedoch den staatlichen Betrieb in der Landwirtschaft aufrecht; Japan-China kehrte in seiner politischen Entwicklung zur Monarchie zurück, bewahrte aber eigentümliche Formen des Sozialismus in der Volkswirtschaft; einzig und allein Deutschland trug immer noch in völliger Unversehrtheit das Regime der zwanziger Jahre mit sich herum. Die Geschichte Russlands aber war folgendermaßen verlaufen. In unverbrüchlicher Treue zur Gesellschaftsordnung der Sowjets war es Russland nicht gelungen, die Landwirtschaft gänzlich zu nationalisieren. Die Bauernschaft, die ein riesiges soziales Potential darstellte, fügte sich nur mühsam in die »Kommunisierung«, und 5 oder 6 Jahre nach Beendigung des Bürgerkrieges begannen die bäuerlichen Gruppen sowohl in den örtlichen Sowjets als auch im WZIK imponierenden Einfluss zu gewinnen. Ihre Kraft wurde durch die versöhnlerische Politik der fünf Sozialrevoluionären-Parteien
empfindlich geschwächt, die mehr als einmal den Einfluss der rein klassengebundenen bäuerlichen Vereinigungen schmälerten. Zehn Jahre lang verfügte keine andere Richtung auf den Sowjetkongressen über eine stabilere Mehrheit, und die Macht lag praktisch in den Händen zweier kommunistischer Fraktionen, die es in kritischen Augenblicken immer wieder verstanden, sich untereinander zu einigen und die Arbeitermassen zu eindrucksvollen Demonstrationen auf die Straße zu schicken.
Der Konflikt jedoch, der zwischen ihnen anlässlich des Dekrets über die zwangsweise Einführung der »Eugenik«-Methoden entbrannte, ließ eine Lage entstehen, aus der die rechten Kommunisten um den Preis einer Koalitionsregierung und Abänderung der Verfassung zugunsten des gleichen Wahlrechts von Bauern und Städtern als Sieger hervorgingen. Neuwahlen zu den Sowjets ergaben einen neuen Sowjetkongress, in dem die rein klassengebundenen bäuerlichen Gruppierungen das absolute Übergewicht bekamen; seit 1932 blieb die bäuerliche Mehrheit im WZIK und auf den Kongressen unverändert, und das Regime wurde durch langsame Evolution immer bäuerlicher und bäuerlicher.
Aber die heuchlerische Politik der SR-Intelligenz und die Methode, Straßendemonstrationen und Aufstände zu inszenieren, erschütterten mehr als einmal die Grundlagen der sowjetischen Verfassung und zwangen die Bauernführer, sich bei der Organisation des Sownarkom an die Koalition zu halten, was durch mehrere Versuche gewisser städtischer Elemente, einen reaktionären Staatsstreich herbeizuführen, noch begünstigt wurde. Im Jahre 1934, nach dem Aufstand, der die Einführung einer Intelligenzoligarchie nach französischem Muster zum Ziele hatte und der aufgrund taktischer Erwägungen von den Metall- und Textilarbeitern unterstützt wurde, gründete Mitrofanow zum ersten Mal einen rein klassengebundenen bäuerlichen Sownarkom, und sein Dekret über die Vernichtung der Städte wurde vom Sowjetkongress gebilligt.
Im Aufstand Warwarins vom Jahre 1937 zeigte sich ein letztes Aufflammen der politischen Bedeutung der Städte. Danach lösten sie sich im bäuerlichen Meer auf.
In den vierziger Jahren wurde der Generalplan über die Landorganisation bestätigt und verwirklicht, und es wurden Meteorophoren, ein Netz magnetischer Elektrizitätswerke errichtet, die das Wetter nach den Methoden A. A. Minins steuerten. Die sechziger Jahre waren gekennzeichnet durch starke religiöse Unruhen und den Versuch der Kirche, im Gebiet von Rostow die weltliche Macht zu erobern.
Kremnew fielen die Augen zu, und das übermüdete Gehirn weigerte sich, noch irgend etwas aufzunehmen.
Er löschte das Licht und schloss die Augen. Doch noch lange glaubte er, die Augen Katharinas vor sich zu sehen, und konnte erst spät in der Nacht einschlafen.

 

Neuntes Kapitel

das junge Leserinnen auch auslassen dürfen, das aber den Mitgliedern der Kommunistischen Partei zur besonderen Aufmerksamkeit empfohlen wird.

Bücherregale, auf denen die matte Vergoldung lederner Einbände schimmerte sowie einige Ikonen aus der Wladimir-Ssusdal-Schule stellten den einzigen Schmuck im geräumigen Arbeitszimmer Alexej Alexandrowitsch Minins dar.
Ein Porträt seines Vaters, eines berühmten Professors, der zunächst in Woronesch, später in Konstantinopel lehrte, vervollständigte die Zimmereinrichtung, die in indigoblauen Farbtönen gehalten war. »Meine Aufgabe ist es«, begann der gastfreundliche Hausherr, »Sie mit dem Wesen unseres Lebens vertraut zu machen, denn ohne dessen Kenntnis werden Sie die Bedeutung unserer Ingenieuranlagen und die Möglichkeit ihrer Entstehung gar nicht verstehen. Aber wahrhaftig, Mister Charlie, ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll. Sie sind gerade eben erst aus jener Welt zu uns gekommen, und es fällt mir schwer zu beurteilen, auf welchem Gebiet unseres Lebens Sie für sich selbst etwas besonders Neues und Unerwartetes entdeckt haben.«
»Ich würde gerne«, begann Kremnew, »jene neuen sozialen Grundlagen kennen lernen, auf denen sich das russische Leben nach der Bauernrevolution der 30er Jahre entwickelt hat und ohne die es, wie mir scheinen will, sehr schwierig sein wird, alles übrige zu verstehen.« Sein Gesprächspartner antwortete nicht sogleich. Er schien seine Erzählung gründlich zu überdenken.
»Sie fragen«, begann er, »nach jenen neuen Prinzipien, die die Bauernmacht in unser soziales und wirtschaftliches Leben eingeführt haben soll. In Wirklichkeit benötigten wir überhaupt keine neuen Prinzipien, unsere Aufgabe bestand nur darin, die alten ewigen Gesetze, die seit eh und je die Grundlage der bäuerlichen Wirtschaft bildeten, zu sanktionieren. Wir haben nichts anderes erstrebt, als diese uralten, erhabenen Prinzipien zu festigen, ihren kulturellen Wert zu vertiefen, sie geistig zu verwandeln und bei ihrer Verwirklichung jene sozial-technische Organisation anzuwenden, die sie nicht nur als althergebrachte, bloß passive Resistenz er-
scheinen, sondern sie aktive Leistungsfähigkeit, Flexibilität und, wenn Sie so wollen, Schlagkraft erlangen ließe.
Unserer Wirtschaftsstruktur liegt, ebenso wie zur Zeit des alten Russland, die individuelle bäuerliche Wirtschaft zugrunde. Wir betrachteten und betrachten sie immer noch als die vollendetste Form wirtschaftlicher Tätigkeit. Hier tritt der Mensch der Natur entgegen, hier kommt die Arbeit in schöpferische Berührung mit allen Kräften des Kosmos und lässt neue Lebensformen entstehen. Jeder Arbeiter wird zu einem Schöpfer, jede Äußerung seiner Individualität ein Kunstwerk der Arbeit. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, dass Leben und Arbeiten auf dem Lande äußerst gesund sind, dass das Leben eines Landwirts außerordentlich vielseitig ist, und andere Selbstverständlichkeiten. Dies ist der natürliche Zustand des Menschen, aus dem er von dem Dämon Kapitalismus vertrieben wurde.
Doch um die Ordnung der Nation des XX. Jahrhunderts auf der Basis der bäuerlichen Wirtschaft und bäuerlichen Lebensweise zu festigen, mussten wir zwei grundlegende organisatorische Probleme meistern. Das ökonomische Problem: seine Lösung erforderte die Schaffung eines volkswirtschaftlichen Systems, das auf der bäuerlichen Wirtschaft beruhte, ohne deren führende Rolle zu beeinträchtigen, und das gleichzeitig einen volkswirtschaftlichen Apparat hervorbrachte, dessen Arbeitsweise in technischer Hinsicht hinter keinem anderen denkbaren Apparat zurückstand und der automatisch, ohne Zuhilfenahme von außerökonomischem staatlichem Zwang, funktionierte.
Das soziale oder, wenn Sie wollen, kulturelle Problem war das der Organisation des sozialen Lebens riesiger Bevölkerungsmassen in Formen, die -unter der Bedingung dezentralisierter dörflicher Siedlung - den höchsten kulturellen Lebensstil, der lange Zeit ein Monopol städtischer Kultur war, bewahrten und kulturellen Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens zumindest in nicht geringerem Maße als jede andere Gesellschaftsordnung ermöglichten.
Hierbei, Mister Charlie, mussten wir nicht nur die uns gestellten Probleme lösen, sondern auch sehr gründlich darüber nachdenken, mit welchen Mitteln wir sie angehen wollten. Für uns war es nicht nur wichtig, welches Ziel wir erreichen wollten, sondern auch, auf welche Weise es verwirklicht werden sollte.
Die Epoche des staatlichen Kollektivismus, in der die Ideologen der Arbeiterklasse ihre Ideale mit den Methoden des aufgeklärten Absolutismus realisieren wollten, brachte die russische Gesellschaft in einen solchen Zustand anarchischer Reaktion, dass es unmöglich wurde, irgendeine neue Ordnung auf dem Verordnungs- oder Dekretswege, der durch die Macht der Bajonette sanktioniert war, einzuführen.
Ja, unseren Ideologen selbst waren die Ideen irgendeines Monopols auf dem Gebiet sozialen Schaffens geistig völlig fremd. Ohne Anhänger eines monistischen Verständnisses, Denkens oder Handelns zu sein, verfügten unsere Führer in den meisten Fällen über ein Bewusstsein, in das eine pluralistische Weltvorstellung hineinpasste, und eben deshalb hielten sie ein Leben erst dann für gerechtfertigt, wenn es alle Möglichkeiten und alle Ansätze, die in ihm angelegt waren, zur vollen Entfaltung bringen konnte.
Kurz gesagt, wir mussten die vor uns stehenden Probleme auf eine Weise lösen, die es jedem beliebigen Unterfangen, jeder beliebigen schöpferischen Bemühung gestattete, mit uns zu konkurrieren. Wir wollten die Welt mit der unserer Sache inhärenten Kraft, mit unserer Organisation, mit der technischen Überlegenheit unserer organisatorischen Idee erobern und keineswegs, indem wir jedem Andersdenkenden >in die Fresse schlugen<. Außerdem haben wir den Staat und seinen Apparat niemals als den ausschließlichen und einzigen Ausdruck gesellschaftlichen Lebens betrachtet, und deshalb haben wir uns bei seiner Reform vorwiegend auf Methoden der gesellschaftlichen Lösung von Problemen und nicht auf Verfahren staatlicher Zwangsmaßnahmen gestützt.
Und im übrigen waren wir niemals Prinzipienreiter, denn als unserer Sache Gefahr drohte und die Zweckmäßigkeit uns daran erinnerte, dass die staatliche Macht in unseren Händen lag, da leisteten unsere Maschinengewehre auch keine schlechtere Arbeit als die bolschewistischen. Von den beiden Problemen, die ich umrissen habe, bereitete uns das ökonomische keine besonderen Schwierigkeiten.
Ihnen dürfte bekannt sein, dass man in der sozialistischen Periode unserer Geschichte die bäuerliche Wirtschaft für etwas Minderwertiges, für jene Urmaterie gehalten hat, aus der sich die >höheren Formen einer großen Kollektivwirtschaft herauskristallisieren müssten. Hieraus erklärt sich die alte Idee von den Brot- und Fleischfabriken. Für uns heute ist es sonnenklar, dass sich eine solche Ansicht nicht so sehr aus der Logik, sondern aus ihrer Entstehungsgeschichte herleitet. Der Sozialismus wurde gezeugt als Antithese zum Kapitalismus; geboren in den Folterkammern der deutschen kapitalistischen Fabrik, ausgetragen von der Psychologie des in abhängiger Arbeit gequälten städtischen Proletariats, von Generationen, die jeglicher individuellen schöpferischen Arbeit und Denkweise entwöhnt waren, konnte er sich als ideale Gesellschaftsordnung nur die Negation der Lebensordnung, die ihn umgab, vorstellen.
Selbst ein Tagelöhner, führte der Arbeiter, als er seine Ideologie schuf, das Tagelöhnertum als Symbol des Glaubens an eine zukünftige Gesellschaftsordnung ein und errichtete ein ökonomisches System, in dem alle Befehlsempfänger waren und nur wenige Einzelne ein Recht auf schöpferisches Tun besaßen.
Jedoch, verzeihen Sie, Mister Charlie, ich bin etwas abgeschweift. So kam es, dass die Sozialisten sich die Bauernschaft als Urmaterie vorstellten, weil sie nur innerhalb der weiterverarbeitenden Industrie über wirtschaftliche Erfahrung verfügten und nur in den Kategorien und Formen ihrer begrenzten Erfahrung denken konnten.
Für uns jedoch war es völlig klar, dass vom sozialen Standpunkt aus der industrielle Kapitalismus nichts anderes als ein krankhafter Anfall war, der die weiterverarbeitende Industrie wegen der Besonderheiten ihrer Natur befallen hatte, und dass er keineswegs eine Etappe in der Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft darstellte.
Dank der zutiefst gesunden Natur der Landwirtschaft ging an ihr der bittere Kelch des Kapitalismus vorüber, und wir brauchten ihre Entwicklung nicht in diese Richtung zu lenken. Und dies um so mehr, als das kollektivistische Ideal der deutschen Sozialisten, das der werktätigen Bevölkerung die Möglichkeit gab, auf dem Gebiet der Wirtschaft als ausführendes Organ der staatlichen Pläne aufzutreten, uns - vom sozialen Gesichtspunkt aus - außerordentlich unvollkommen erschien im Vergleich zum System des eigenhändig wirtschaftenden Ackerbaus, in dem die Arbeit nicht vom Schaffen organisatorischer Formen getrennt ist, in dem die freie, persönliche Initiative jedem menschlichen Individuum die Chance eröffnet, alle Möglichkeiten seiner geistigen Entwicklung zu verwirklichen und gleichzeitig, wenn es notwendig wird, die ganze Macht der kollektiven Großwirtschaft sowie öffentliche und staatliche Organisationen zu nutzen. All jene Industriezweige, in denen eine Großwirtschaft Vorteile vor der Kleinwirtschaft bot, wurden bereits zu Beginn des XX. Jahrhunderts von der Bauernschaft kollektiviert und zu kooperativen Großunternehmungen erhoben, und sie stellen in ihrer heutigen Gestalt einen überaus stabilen und technisch ausgereiften Organismus dar.
Das ist die Stütze unserer Volkswirtschaft. Wesentlich schwieriger gestaltete sich die Aufgabe, eine weiterverarbeitende Industrie auf die Beine zu stellen. Es wäre natürlich dumm gewesen, in diesem Bereich auf eine Erneuerung der Familienproduktion zu rechnen.
In nahezu allen Industriebereichen sind Handwerk und Hausindustrie angesichts der heutigen Betriebstechnik ausgeschlossen. Aber auch hier hat uns die bäuerliche Eigeninitiative weitergeholfen; die bäuerliche Kooperation, die über einen garantierten und überaus umfangreichen Absatzmarkt verfügt, erstickte jede nur mögliche Konkurrenz für die meisten Produkte bereits im Keim.
Nun ja, wir haben hierbei ein wenig nachgeholfen und den kapitalistischen Fabriken durch eine enorm hohe Besteuerung, von der die kooperative Produktion ausgenommen wurde, das Rückgrat gebrochen. Dennoch existiert bei uns immer noch private Initiative kapitalistischer Art: in jenen Bereichen, in denen die kollektiv geleiteten Unternehmen zu schwach sind, und in jenen Fällen, wo ein organisatorisches Genie mit dem hohen Stand der Technik unsere drakonischen Steuern besiegt. Wir denken gar nicht daran, ihr den Todesstoß zu versetzen, weil wir es für notwendig erachten, für die Genossen-Kooperatoren eine gewisse Drohung beständiger Konkurrenz aufrechtzuerhalten, um sie damit vor technischer Stagnation zu bewahren. Wir wissen, dass auch bei den heutigen Kapitalisten noch räuberische Ambitionen anzutreffen sind, doch schließlich ist es eine alte Weisheit, dass der Hecht im Teich dazu da ist, damit die Karausche nicht schlummert.
Dieser Restkapitalismus bei uns ist jedoch äußerst zahm, wie übrigens auch die kooperative Industrie, die sich eher einmal störrisch zeigt, weil unsere Arbeitsgesetze den Arbeiter besser vor Ausbeutung schützen, als dies die Gesetze einer Arbeiterdiktatur tun, bei der ein kolossaler Anteil des Mehrwerts auf die Herden von Angestellten in den Hauptverwaltungen und Zentren entfällt.
Nun, nachdem wir uns außerdem aller Wirtschaftsunternehmen entledigt hatten, wurde dem Staat das Holz-, Erdöl- und Steinkohlemonopol vorbehalten. Da wir den Brennstoff besitzen, beherrschen wir die gesamte weiterverarbeitende Industrie.
Wenn ich nun noch hinzufüge, dass unser Warenumsatz überwiegend in den Händen von Kooperationen liegt und das System der Staatsfinanzen auf einer Rentenbesteuerung derjenigen Unternehmen, die Lohnarbeit anwenden, sowie auf indirekten Steuern beruht, so dürfte Ihnen das Schema unserer Volkswirtschaft in seinen allgemeinen Zügen klar sein.« »Verzeihen Sie, habe ich mich nicht verhört?« erkundigte sich Kremnew. »Sie sagten, dass Ihre Staatsfinanzen auf indirekten Steuern basieren?« »Absolut richtig«, schmunzelte Alexej Alexandrowitsch, »Sie überrascht diese >rückständige< Methode, sie missfällt Ihnen, wenn Sie sie mit Ihren amerikanischen Einkommenssystemen vergleichen. Doch Sie können versichert sein, dass unsere indirekten Steuern genauso progressive Einkommenssteuern sind wie Ihr Zensus. Wir kennen die Komponenten und die Mechanik des Konsums einer jeden Schicht unserer Gesellschaft gut genug, um unsere Steuern in der Hauptsache nicht aus einer Besteuerung lebensnotwendiger Verbrauchsgüter, sondern aus Elementen des Wohlstandes zu beziehen, und außerdem ist der Gehaltsunterschied bei den mittleren Einkommen bei uns längst nicht so groß. Der Vorzug der indirekten Besteuerung besteht eben darin, dass sie dem Zahler keine Minute an Zeit raubt. Unser staatliches System ist überhaupt so eingerichtet, dass Sie, nun sagen wir, z. B. im Wolokolamsker Kreis jahrelang leben können, ohne ein einziges Mal daran erinnert zu werden, dass ein Staat als eine Institution des Zwangs existiert.
Das bedeutet nicht, dass unsere staatliche Organisation schwach sei. Keineswegs. Nur halten wir uns an solche Methoden staatlicher Tätigkeit, bei denen vermieden wird, unsere Mitbürger am Schlafittchen zu packen. In früherer Zeit glaubte man recht naiv, dass man das volkswirtschaftliche Leben allein durch Verfügungen, Unterordnung, Verstaatlichung, Verbote, Befehle und Erteilen von Aufträgen, mit einem Wort, durch die Erfüllung des volkswirtschaftlichen Plans mittels willenloser Befehlsempfänger steuern könne.
Wir waren immer schon der Meinung und können es heute mit vierzigjähriger Erfahrung beweisen, dass wir solche heidnischen, für die Herrschenden wie für die Beherrschten in gleicher Weise lästigen Requisiten zur Aufrechterhaltung der Moral heute ebenso wenig benötigen wie die Donnerkeile des Zeus. Methoden dieser Art haben wir längst aufgegeben, so wie man seinerzeit Katapulte, Sturmböcke, Signaltelegraphen und Kremlmauern aufgegeben hat.
Wir verfügen über weitaus feinere und wirksamere Mittel der indirekten Einwirkung und können die Existenzbedingungen jedes beliebigen Bereiches der Volkswirtschaft jederzeit so gestalten, dass er mit unseren Absichten übereinstimmt.
Etwas später werde ich versuchen, Ihnen anhand einiger konkreter Fälle die Wirksamkeit unseres ökonomischen Systems zu demonstrieren. Nun aber, am Ende meiner kleinen volkswirtschaftlichen Abhandlung, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf zwei organisatorische Probleme lenken, die zum Verständnis unseres Systems von besonderer Bedeutung sind.
Da ist zunächst das Problem der Stimulierung des volkswirtschaftlichen Lebens. Wenn Sie sich an die Epoche des staatlichen Kollektivismus und die für diese Zeit so typische Minderung der volkswirtschaftlichen Produktivkräfte erinnern und wenn Sie sich die Prinzipien dieses Phänomens vor Augen halten, so werden Sie verstehen, dass die wichtigsten Ursachen ganz und gar nicht im staatlichen Wirtschaftsplan selbst lagen.
Man muss dem organisatorischen Scharfsinn eines Ju. Larin und W. Miljutin Gerechtigkeit widerfahren lassen: ihre Projekte waren außerordentlich gut durchdacht und bis ins Detail ausgearbeitet. Aber mit der Ausarbeitung von Plänen ist es noch nicht getan, man muss sie auch verwirklichen, denn Wirtschaftspolitik ist in erster Linie eine Kunst der Realisierung von Plänen, nicht eine Kunst des Pläneschmiedens. Es genügt nicht, eine Maschine zu projektieren, man muss ebenso die für ihren Bau geeigneten Materialien sowie jene Kraft, die die Maschine in Betrieb setzen kann, finden. Aus Stroh lassen sich keine Eiffeltürme bauen, und mit den Händen zweier Arbeiter kann man keine Rotationsmaschine in Gang setzen.
Wenn wir uns einmal die vorsozialistische Welt genau ansehen, so stellen wir fest, dass die komplizierte Maschine von den Kräften der menschlichen Habsucht, des Hungers, in Gang gehalten wurde. Jeder ihrer Bestandteile, vom Bankier bis hin zum letzten Arbeiter, hatte ein persönliches Interesse daran, die eigene wirtschaftliche Tätigkeit zu intensivieren, und dieses Interesse stimulierte seine Arbeit. In jedem am Produktionsprozess Beteiligten verfügte die Wirtschaftsmaschinerie über Motoren, die sie antrieben.
Das System des Kommunismus verwies alle am Wirtschaftsleben Beteiligten auf etatmäßige Tagelöhnerpositionen und raubte ihrer Arbeit somit jegliche Stimulation. Gearbeitet wurde selbstverständlich, doch es fehlte der Antrieb zur Arbeit, da ihr die Grundlage entzogen worden war. Das Fehlen einer Stimulation wirkte sich nicht nur auf die Produzierenden, sondern auch auf die Organisatoren der Produktion aus, weil diese, wie alle Beamten, an der Vervollkommnung der Wirtschaftstätigkeit an sich, an der Arbeitsgenauigkeit und dem äußeren Glanz des Wirtschaftsapparates statt an seiner Effektivität interessiert waren. Für sie war die Vorstellung von einer Sache wichtiger als deren materielle Ergebnisse. Als wir die Organisation des Wirtschaftslebens übernahmen, haben wir unverzüglich alle Motoren, die die private Wirtschaftstätigkeit stimulieren, in Gang gesetzt, als da sind: Leistungslohn, Tantiemen für Organisatoren, und wir haben zusätzlich zu den Preisen Prämien auf jene Produkte der bäuerlichen Wirtschaft gezahlt, deren Förderung wir für unerlässlich hielten, wie z. B. die Produkte des Maulbeerbaums im Norden. Nachdem wir das privatwirtschaftliche Stimulans wiederhergestellt hatten, mussten wir natürlich mit einer ungleichmäßigen Verteilung des Volkseinkommens rechnen.
Wenn auch in dieser Hinsicht von den kooperativen Organisationen, die 3/4 des volkswirtschaftlichen Lebens in den Bereichen von Industrie und Handel erobert hatten, bereits die Hauptarbeit geleistet worden war, so sahen wir uns dennoch ständig mit dem Problem der Demokratisierung des Volkseinkommens konfrontiert.
Zunächst machten wir uns daran, den Anteil, der auf nichterarbeitetes Einkommen entfiel, zu verringern. Die wichtigsten Maßnahmen in dieser Hinsicht waren die Rentenbesteuerung in der Landwirtschaft, die Abschaffung der Aktionärsgesellschaften und der privaten Kreditvermittlung.
Ich bediene mich alter ökonomischer Termini, Mister Charlie, um Ihnen zu verdeutlichen, worum es hier geht, und in Ihrem Land werden sie ja auch noch gebraucht. Bei uns aber... ich weiß wirklich nicht, ob sie unserer heutigen Jugend überhaupt bekannt sind. So also haben wir unsere ökonomischen Probleme gelöst.
Wesentlich komplizierter und schwieriger gestaltete sich für uns das soziale Problem, die Beibehaltung und Weiterentwicklung der kulturellen Errungenschaften bei gleichzeitiger Vernichtung der Städte und Abschaffung hoher Renteneinnahmen.«
»Im übrigen läutet man bereits zum Mittagessen«, unterbrach Alexejs Gesprächspartner seine Erzählung, nachdem er durch das Fenster gesehen hatte, wie Katharina mit sichtlicher Freude und wilder Entrüstung auf den eisernen Gong einschlug, der in der Mitte des großen Hofes hing.

 

Zehntes Kapitel

in dem der Jahrmarkt von Belaja Kolp geschildert und klargestellt wird, dass der Autor in völliger Übereinstimmung mit Anatole France die Meinung vertritt, dass eine Erzählung ohne Liebe so viel ist wie Speck ohne Senf.

Das »Ausgabenbuch der Patriarchenkanzlei« lässt uns wissen, dass man zu Beginn des XVIII. Jahrhunderts an der Tafel des Allerheiligsten Patriarchen Adrian täglich folgende Speisen serviert hat: »Weißbrot, Eingesalzenes von frischen Hechten, Fischsuppe mit Belugastör, gekochter Sewrugasterlet, Kohlsuppe mit Fischbäuchen, Fleischhappen mit Meerrettich, Störrippchen, gefüllte Pirogge« und mindestens weitere zwanzig Gerichte in unglaublichen Mengen und erlesenster Zubereitung. Wenn man diese Mahlzeit vergangener Zeiten mit der utopischen Mahlzeit im gastfreundlichen Haus der Minins vergleicht, so muss man zwar einräumen, dass man den Patriarchen ein wenig reichlicher ernährte, aber auch nur ein wenig... Denn nach dem Willen der aus Moskau angereisten Paraskewa wurde auf dem Mittagstisch eine solche Fülle von Pasteten, gefüllt mit geröstetem Fisch oder Fleisch, von gebackenen oder in saurer Sahne angerichteten Karauschen sowie weitere Speisen aufgetragen, dass sich die Beine des Tisches sicherlich verbogen hätten, wären sie noch ein klein wenig dünner gewesen, und der sozialistische Funktionär Kremnew zog das Fazit, dass alle Teilnehmer des Mahles gegen Abend unbedingt an Völlerei zugrunde gehen müssten. Doch die Nationalgerichte, die speziell für den Amerikaner gekocht worden waren, schmolzen äußerst schnell und spurlos dahin und wurden von immer stärker werdenden Lobeshymnen auf die Paraskewa abgelöst, die ihrerseits bescheiden darum bat, diese an die »Russische Küche«, ein von einem Herrn Ljowschin im Jahre 1818 herausgegebenes Kochbuch, weiterzugeben.
Nach orthodoxem Brauch ruhte man sich nach dem Mittagessen ein wenig auf dem Heuboden aus. Danach wurde Kremnew von der Jugend auf den Jahrmarkt in Belaja Kolp geschleppt.
Wolkenschatten wanderten über die abgemähte Wiese dahin, am Wege leuchteten die gelben Tupfen der blühenden Schafgarbe, und in der gesät-
tigten herbstlichen Luft wehten die Spinnengewebe des Altweibersommers, als Kremnew und seine Begleiter am Ufer der Lama entlanggingen. Katharina schritt hocherhobenen Hauptes einher, und auf dem Hintergrund der blauen Fernen jenseits des Flusses zeichnete sich deutlich die vom Hauch des Windes umspielte, klare Kontur ihrer Gestalt ab. Meg und Natascha pflückten Blumen. Es duftete nach herbstlichem Wermut. »Ah, da ist ja die große Straße!«
Sie bogen in die mit Trauerbirken umsäumte Chaussee ein, und in der Ferne zeigten sich die Kuppeln der Kirche von Belaja Kolp. Leiterwagen, die wie Tabletts bemalt und mit Nüsse knackenden Jungen und Mädchen voll beladen waren, überholten die Wanderer. Über der Straße ertönten die perlenden Klänge von Volksliedern.
Ein Täuberich sitzt auf dem Dach, einen Täuberich will man erschlagen. Gebt, Freundinnen, mir einen Rat, wen von den dreien ich lieben soll.
Kremnew verwunderte es sehr, dass sich seine Begleiter fast in Nichts von den Entgegenkommenden und den sie Überholenden unterschieden: Die gleichen Kleider, die gleiche Moskauer Art, zu sprechen und sich auszudrücken. Fröhlich und mit sichtlichem Vergnügen entzog sich Paraskewa scherzend den Komplimenten der vorbeifahrenden Burschen, während Katharina einfach auf irgendeinen Leiterwagen sprang, die darin sitzenden Mädchen abküsste und einem verdutzten Jungen eine Schirmmütze voller Nüsse abstibitzte, nachdem sie ihm zuvor ein Stück von einer Banane in den Mund geschoben hatte. Auf dem Jahrmarkt ging es hoch her.
Auf den Ladentischen türmten sich knusprig braungebackene und mit kandierten Früchten verzierte Tulaer Pfefferkuchen, Twerer Pfefferminz in den Formen eines Sterlets oder eines Generals und saftige, verschiedenfarbige Pastila aus Kolomenskoje.
Die vergangenen, so schnell vorbeigeeilten Jahrhunderte hatten an den bäuerlichen Süßigkeiten nichts verändert, und nur dem geübten Blick konnten die Fülle kandierter Ananasfrüchte, die Bananenbüschel und der Überfluss an guter Schokolade nicht entgehen.
Wie in der guten alten Zeit pfiffen die kleinen Lausbuben auf tönernen, vergoldeten kleinen Hähnen, wie sie dies im übrigen bereits zur Zeit eines
Iwan Wassiljewitsch oder in Groß-Nowgorod getan hatten. Eine zweireihige Harmonika spielte schwungvoll zur Polka auf. Mit einem Wort: Alles war genau so, wie es sein sollte. Katharina, der die Führung des »Mister Charlie« anvertraut war, geleitete ihn in ein großes weißes Zelt und sagte ohne jeden weiteren Kommentar: »Da, sehen Sie!«
Das Innere des Zeltes war mit Bildern alter und neuer Meister behängt. Voll Freude erkannte Kremnew »alte Bekannte«: Veneziano, Kontschalowski, den »Heiligen Gerassim« Rybnikows, den Nowgoroder »Propheten Elias« aus der Sammlung Ostrouchows und Hunderte von neuen, unbekannten Bildern und Skulpturen, die ihn lebhaft an sein gestriges Gespräch mit Paraskewa erinnerten.
Vor dem Bild »Christus als Knabe« von Giampetrino, das ihn einst im Rumjanzew-Museum gefesselt hatte, blieb er stehen und - indem er riskierte, sein Inkognito zu verraten - fragte er: »Wie konnten diese Bilder nur auf den Jahrmarkt von Belaja Kolp geraten?« Paraskewa beeilte sich, ihm zu erklären, dass der Jahrmarktsrummel mit einer Wanderausstellung des Wolokolamsker Museums, dem zeitweise auch einige Moskauer Bilder zur Verfügung gestellt wurden, verbunden sei.
Die große Zahl der Besucher, die die Bilder aufmerksam betrachteten und dabei untereinander Bemerkungen austauschten, bewies Kremnew, dass die darstellenden Künste nunmehr fest zum Alltag des bäuerlichen Lebens gehörten und auf vorbereitetes Verständnis trafen. Ein überzeugender Beweis hierfür war der Eifer, mit dem am Eingang die 132. Ausgabe des Buches von P. Muratow »Geschichte der Malerei auf hundert Seiten« und das Büchlein »Von Rokotow bis Ladonow« verkauft wurden und reißenden Absatz fanden, und als Kremnew den Umschlag des letzteren las, konnte er sich davon überzeugen, dass Paraskewa nicht nur über Malerei zu sprechen verstand, sondern sogar Bücher schrieb. Im Nachbarzelt drängten sich die Frauen an Schaustücken alter russischer Stickereien, während zwei Burschen ein Schränkchen von Boulle abschätzten.
Bald wurde es leer auf der Ausstellung, und das Stimmengewirr und der Glockenklang kündeten den Beginn der rhythmischen Spiele an, auf die ein Babchenspiel, ein Hindernislauf und andere Wettkämpfe um die Meisterschaft im Jaropolsker Gebiet folgten. Riesige blaue Plakate versprachen für sieben Uhr eine Aufführung des »Hamlet« von einem Herrn Shakespeare, gespielt von der Truppe des örtlichen kooperativen Bundes. Doch man musste sich beeilen, um nach Hause zu kommen und nach dem Honig im Bienenstand zu sehen. Deshalb entschloss sich die Gruppe, den Feierlichkeiten zu entsagen und nur noch einen Abstecher ins Panoptikum zu machen, das von der Kultur- und Bildungsabteilung des Gouvernement-Bauernbundes zur Schau gestellt wurde.
An den Wänden standen Wachsbüsten: die Porträts aller historischen Persönlichkeiten. In Panoramen wurde der Besucher über die erhabensten Ereignisse der Heimat- und Weltgeschichte sowie über wilde, tropische Länder informiert.
Die kinematischen Apparate zeigten Julius Caesar vor dem Rubikon, Napoleon auf den Mauern des Kreml, die Abdankung von Nikolaus II. und seinen Tod, Lenin, als er auf dem Sowjetkongress sprach, Sedow, als er die aufständischen Stenotypistinnen auseinanderjagte, den singenden Bass Schaljapins und den Gaganows. »Sehen Sie mal, das ist ja Ihr Porträt!« rief Katharina aus. Kremnew erstarrte: Vor ihm, auf einer Plane unter Glas stand eine photographisch genaue Büste, unter der zu lesen war:
»Alexej Wassiljewitsch Kremnew, Mitglied des Mirsownarchoskollegiums, Unterdrücker der bäuerlichen Bewegung Russlands. Nach Feststellung der Ärzte litt er aller Wahrscheinlichkeit nach an Verfolgungswahn, die Degeneration ist deutlich an der Asymmetrie des Gesichtes und der Schädelform erkennbar.«
Alexej errötete tief und wagte nicht, seine Begleiter anzusehen. »Das ist ja hervorragend! Eine verblüffende Ähnlichkeit, sogar die Jacke ist die gleiche wie bei Ihnen, Mister Charlie!« rief Nikifor Alexejewitsch aus.
Alle fühlten sich irgendwie peinlich berührt und verließen das Panoptikum schweigend.
Man eilte nach Hause, doch Katharina schleppte Kremnew noch zum Bienenstand, um nach dem Honig zu sehen. Der Weg führte durch Kohlgärten. Wie saftige Tupfer betonten die fast dunkelblauen, festen Kohlköpfe
das Schwarz der Erde. Zwei kräftige Frauen in weiß und rosa getupften Kleidern schnitten die reifsten Köpfe ab und warfen sie in einen zweirädrigen Karren.
Alexej war von dem Anblick seines Doppelgängers in Wachs bis ins Innerste erschüttert, und zum ersten Mal während seiner utopischen Reise fühlte er ganz deutlich und mit letzter Konsequenz den ganzen Ernst und die Ausweglosigkeit seiner Lage.
Die Ursünde, die er bei seiner Geburt unter falschem Namen begangen hatte, band ihn nun an Händen und Füßen. Sein wirklicher Name erwies sich im Reich der bäuerlichen Utopie ganz offensichtlich als gleichbedeutend mit einem »Wolfspaß«.
Und doch war die ihn umgebende Welt mit ihren Kohlgärten, blauen Fernen und den roten Trauben der Ebereschen ihm bereits nicht mehr völlig fremd.
Er empfand dieser Welt gegenüber eine neue, für ihn wertvolle Bindung, eine Vertrautheit, die sogar stärker war als diejenige, die er mit der verlassenen sozialistischen Welt empfunden hatte, und die Ursache dieser Vertrautheit, Katharina, deren Wangen sich vom schnellen Lauf gerötet hatten, ging völlig verzaubert neben ihm einher und schmiegte sich unmerklich an ihn an.
Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie den Hang zum alten Flussbett hinabstiegen. Alexej berührte ihre Hand, und ihre Finger verständigten sich. Über der tiefschwarzen, aufgepflügten Erde erhoben sich in klaren Reihen die Kronen der Apfelbäume mit ihren gesenkten, von Früchten beladenen Zweigen wie auf einem alten japanischen Stich. Große, rote, duftende Äpfel und die weißgekalkten Stämme sättigten die Luft mit dem Duft von Fruchtbarkeit, und es schien Kremnew, als durchdringe dieser Duft die Poren der unbedeckten Hände und des Halses seiner Begleiterin. Und so begann seine utopische Liebe.

 

Elftes, dem neunten sehr ähnliches Kapitel

Als Kremnew und seine Begleiterin nach Hause zurückkehrten, wartete man auf sie bereits längst mit dem Abendessen.
Man empfing sie kühl, und sie setzten sich schweigend zu Tisch. Im Hause war eine gewisse Unruhe zu spüren. Man sprach über die drohenden Ereignisse in Deutschland, über die Forderung des deutschen Sownarkoms1 nach einer Revision der galizischen Grenze. Alexej schien es so, als ob nicht nur er, sondern auch Katharina ein unbestimmtes Schuldgefühl empfände.
Eine gewisse Unfreundlichkeit war auch bei Alexej Alexandrowitsch zu verspüren, als Alexej abends in sein Arbeitszimmer kam, um das morgendliche Gespräch fortzusetzen.
»Bei unserem Gespräch heute morgen«, so begann der weißhaarige Patriarch, »habe ich vergessen, auf eine weitere Besonderheit unserer wirtschaftlichen Struktur hinzuweisen. Bei dem Bemühen, das Volkseinkommen zu demokratisieren, haben wir selbstverständlich die erhaltenen Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilt und eben damit die Bildung sehr großer Vermögen verhindert.
Trotz aller Vorzüge, die diese Erscheinung mit sich brachte, hatte sie doch auch Nachteile. Zum ersten, die Kapitalakkumulation wurde geschwächt. Das verteilte Einkommen wurde fast vollständig verbraucht, und die kapitalbildende Kraft unserer Gesellschaft war, besonders nach der Abschaffung der privaten Kreditvermittlung, natürlich verschwindend gering.
Daher mussten erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um zu erreichen, dass die bäuerlichen Kooperationen und gewisse staatliche Organe ernsthafte Maßnahmen zur Schaffung spezieller sozialer Kapitalien ergriffen, um dadurch die Kapitalbildung zu forcieren. Zu den Maßnahmen dieser Kategorie gehört bei uns die großzügige Finanzierung aller Erfinder und derjenigen Unternehmer, die auf neuen Gebieten des Wirtschaftslebens tätig sind.
Eine weitere Folge der Demokratisierung des Nationaleinkommens war die beträchtliche Verminderung des Mäzenatentums sowie die Verringerung der Zahl derjenigen Menschen, die überhaupt nichts taten, d. h. zweier Substrate, aus denen sich in bedeutendem Maße Kunst und Philosophie nährten.
Aber auch hier gelang es der bäuerlichen Initiative mit ein wenig Unterstützung aus dem Zentrum, wie ich gerne zugeben will, die Aufgabe zu meistern.
Um eine erfolgreiche Entwicklung der Kunst sicherzustellen, muss ihr die Gesellschaft erhöhte Aufmerksamkeit und aktive und großzügige Nachfrage nach ihren Erzeugnissen entgegenbringen. Jetzt haben wir beides erreicht: Sie sahen heute in Belaja Kolp eine Bilderausstellung und auch, wie sich die Bevölkerung ihr gegenüber verhielt. Es gilt noch hinzuzufügen, dass die von der jetzigen ländlichen Gesellschaftsorganisation bestellten Fresken in die Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Quadratsaschen gehen. Prächtige Exemplare der Malerei werden Sie in den Schulen und Volkshäusern eines jeden Amtsbezirks finden. Es besteht eine erhebliche private Nachfrage.
Wissen Sie, Mister Charlie, bei uns besteht nicht nur Nachfrage nach den Erzeugnissen der Künstler, sondern sogar nach den Künstlern selbst. Mir sind mehrere Fälle bekannt, wonach der eine oder andere Bezirk oder Kreis auf der Basis langjähriger Verträge einem Maler, Poeten oder Gelehrten erhebliche Summen allein für die Verlegung des Wohnsitzes auf ihr Territorium zahlten. Sie müssen zugeben, dass dies an die Zeiten der Medici und Gonzago der italienischen Renaissance erinnert. Außerdem unterstützen wir in verstärktem Maße die >Bruderschaft des Florus und Laurus<, die >Kunstmaler des Olympia< und viele andere, deren Organisation Sie, wie es scheint, bereits kennen. Wie Sie sehen, haben wir uns, als wir über das ökonomische Problem sprachen, unmerklich dem sozialen, für uns schwierigeren und komplizierteren Problem genähert.
Die Aufgabe, die wir lösen mussten, lag im Problem des Verhältnisses von Persönlichkeit und Gesellschaft. Es galt eine solche menschliche Gesellschaft zu schaffen, in der sich die Persönlichkeit durch keinerlei Art von Fessel eingeschränkt fühlte, die Gesellschaft aber mit für das Individuum unsichtbaren Fesseln als Hüter des öffentlichen Interesses auftrat. Hierbei haben wir aus der Gesellschaft niemals einen Abgott, aus unserem Staat niemals einen Fetisch gemacht. Als letztes Kriterium galt uns immer, die Substanz des menschlichen Lebens zu vertiefen, einen in die Gesamtheit des Lebens integrierten Menschen zu schaffen. Alles übrige war Mittel zum Zweck. Gesellschaft und Staat erachten wir als eines der mächtigsten und notwendigsten dieser Mittel, wobei wir jedoch niemals vergessen, dass sie nichts anderes als Mittel sind.
Besonders vorsichtig verhalten wir uns dem Staat gegenüber, von dem wir nur im äußersten Notfall Gebrauch machen. Die politische Erfahrung vieler Jahrhunderte lehrt uns leider, dass die menschliche Natur fast immer menschliche Natur bleibt, die Zähmung der Charaktere vollzieht sich mit der Langsamkeit geologischer Prozesse. Starke Naturen, die in sich den Willen zur Macht haben, streben immer danach, sich ein volles integriertes und essentielles Leben zu verschaffen, und zwar auf Kosten anderer, deren Leben dabei verwüstet wird. Wir verstehen bestens, dass das Leben Herodots von Attika, Mark Aureis, Wassilij Golyzins in seiner Substanz und Tiefe dem Leben der besten unserer Zeitgenossen wohl kaum in irgend etwas nachstand. Der einzige Unterschied ist der, dass damals ein solches Leben nur Einzelne führten, während heute Zehntausende und in der Zukunft, so will ich hoffen, Millionen auf diese Art leben werden. Der ganze soziale Prozess besteht allein darin, dass sich der Kreis von Personen, die aus den Urquellen der Kultur und des Lebens trinken, langsam erweitert. Nektar und Ambrosia sind bereits nicht mehr den Olympiern vorbehalten, sie schmücken heute den Herd der ärmsten Dorfbewohner. Diese progressive Richtung hat die Gesellschaft in den letzten zwei Jahrhunderten eingeschlagen, und sie hat natürlich das Recht, sich zu verteidigen. Wenn irgendwelche starke Naturen oder sogar ganze Gruppen starker Naturen den prozessiven Verlauf stören wollen, so darf sich die Gesellschaft zur Wehr setzen, und der Staat ist ein in dieser Hinsicht erprobter Apparat.
Außerdem ist der Staat kein schlechtes Werkzeug für eine ganze Reihe technischer Notwendigkeiten.
Sie fragen, wie der Staat bei uns organisiert ist? Ihnen ist bekannt, dass die Entwicklung staatlicher Formen nicht in logischen, sondern historischen Bahnen verläuft. Viele unserer bestehenden Bestimmungen lassen sich hierdurch teilweise erklären. Wie Sie wissen, handelt es sich bei unserem System um ein Sowjet-System, ein System bäuerlicher Sowjets. Einerseits ist dies ein Erbe aus der sozialistischen Epoche unserer Geschichte, andererseits enthält es eine ganze Menge wertvoller Elemente. Hierbei muss man betonen, dass dieses System in seinem Kern im bäuerlichen Milieu
lange vor dem Oktober des Jahres 17 existierte, und zwar in der Verwaltungsform kooperativer Orgnisationen.
Die wichtigsten Grundlagen dieses Systems sind Ihnen wahrscheinlich bekannt, so dass ich nicht weiter darauf eingehen muss. Ich sage nur, dass wir in ihm die Idee der direkten Verantwortlichkeit aller machttragenden Organe gegenüber dem Volk bzw. den Institutionen, denen sie zu dienen haben, schätzen. Ausgenommen von dieser Regel sind bei uns nur das Gerichtswesen, die staatliche Kontrolle sowie einige Verkehrsbehörden und Verkehrswege, die vollständig der Leitung der Zentralmacht unterstellt sind.
Von nicht geringer Bedeutung ist nach unserer Sicht die Teilung der legislativen Gewalt, die vorsieht, dass prinzipielle Fragen vom Sowjetkongress entschieden werden, und zwar nach vorausgegangener Erörterung in den örtlichen Gremien. Ich betone: Erörterung, denn das Gesetz verbietet den Delegierten imperative Mandate. Die gesetzgeberische Tätigkeit selbst aber wird dem Zentralen Exekutivkomitee und in vielen Fällen auch dem Rat der Volkskommissare übertragen.
Bei dieser Art der Verwaltung wird das Volk am stärksten in die schöpferische Tätigkeit des Staates miteinbezogen, und die Flexibilität des gesetzgeberischen Apparates ist gewährleistet.
Im übrigen denken wir ja gar nicht daran, uns als Rigoristen aufzuspielen, nicht einmal bei der Realisierung dieser ganzen Mechanik, und wir lassen gerne örtliche Varianten zu. So gibt es z. B. in unserem Gebiet von Jakutsk Parlamentarismus, und in Uglitsch haben die Anhänger der Monarchie einen »Teilfürsten« eingesetzt, dessen Machtbefugnisse allerdings durch den örtlichen Deputiertensowjet eingeschränkt sind, und auf dem Territorium von Mongolisch-Altai regiert ein >Generalgouverneur< als Zentralmacht in Ein-Mann-Regie.«
»Verzeihen Sie«, unterbrach ihn Kremnew, »die Sowjetkongresse, das Zentrale Exekutivkomitee und die örtlichen Deputiertensowjets - sie alle sind doch nichts anderes als Sanktionen der Macht. Worauf stützt sich denn die eigentliche materielle Macht bei Ihnen?« »Ach, mein lieber guter Mister Charlie, solche Sorgen haben unsere Mitbürger fast vergessen, denn wir haben den Staat fast aller sozialen und ökonomischen Funktionen beraubt, und der Durchschnittsbürger kommt mit ihm kaum in Berührung. Ja, und überhaupt sind wir der Ansicht, dass der Staat eine veraltete Organisationsmethode des sozialen Lebens darstellt, und 9/10 unserer Arbeit werden mit gesellschaftlichen Methoden durchgeführt, denn diese sind für unser Regime charakteristisch: diverse Gesellschaften, Kooperationen, Kongresse, Ligen, Zeitungen, andere Organe der öffentlichen Meinung, Akademien und schließlich Clubs. Sie alle bilden das soziale Gewebe, aus dem sich das Leben unseres Volkes als solches zusammensetzt. Und eben hier, bei der Organisation dieses Gewebes, stoßen wir auf außerordentlich komplizierte organisatorische Probleme. Die menschliche Natur neigt leider zur Vereinfachung. Wenn sie sich selbst überlassen bleibt, ohne soziale Bindungen, ohne psychische Stimulation von außen, wird sie langsam verlöschen und ihre Substanz sinnlos vergeuden. Ein in den Wald verschlagener Mensch verwildert. Seine Seele verkümmert.
Daher ist es nur natürlich, dass wir, nachdem wir die Städte, die jahrhundertelang die Quellen der Kultur gewesen sind, kurz und klein geschlagen hatten, befürchten mussten, dass unsere in Wäldern und Feldern zerstreut lebende Bevölkerung allmählich versauern, d. h. ihre Kultur - wie in der Petersburger Periode unserer Geschichte - verlieren würde. Um diesen Prozess zu bekämpfen, musste man eine soziale Dränage entwickeln.
Noch größere Sorge bereitete uns das Problem der Weiterentwicklung unserer Kultur, all jener Werte, die wir eben der Stadt zu verdanken hatten. Unablässig beschäftigte uns der Gedanke: Sind die höchsten Formen der Kultur unter der Bedingung einer dezentralisierten ländlichen Siedlungsweise der Menschheit überhaupt möglich?
Die Epoche der Gutsbesitzerkultur der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die die Dekabristen hervorbrachte und der Welt einen Puschkin schenkte, gab uns die Antwort, dass all dies technisch möglich sein musste.
Es galt nur noch, die hierfür notwendigen Mittel und Wege zu finden. Wir haben alle Anstrengungen unternommen, um ideale Verkehrsverhältnisse zu schaffen, fanden Mittel, um unsere Bevölkerung auch dazu zu bewegen, auf diesen Verkehrswegen zu fahren, und sei es auch nur bis zu den örtlichen Zentren, und in diese Zentren haben wir alle Elemente der Kultur, die wir besaßen, hineingepackt, als da sind: das Kreis- und Gebietstheater, das Kreismuseum mit Filialen der Gebietsmuseen, Volksuniversitäten, Sport aller Klassen und Arten, Gesangvereine, einfach alles bis hin zur Kirche und Politik wurde zur Hebung der Kultur auf das Land verlagert.
Wir haben viel riskiert, doch haben wir das Land über Jahrzehnte hin in psychischer Spannung gehalten. Eine spezielle Liga, die die öffentliche Meinung organisieren sollte, schuf Dutzende von Apparaten, die die soziale Energie der Massen herausforderten und aufrechterhielten, ja, ich gestehe, dass sogar spezielle Gesetzentwürfe in die legislativen Institutionen lanciert wurden, die den bäuerlichen Interessen zuwiderliefen, allein, um das öffentliche Bewusstsein der Landbevölkerung aufzurütteln. Von größter Bedeutung für die Herstellung eines Kontaktes zwischen unseren Mitbürgern und den Kulturquellen war vermutlich jedoch das Gesetz, das Pflichtreisen sowie eine zweijährige Wehrdienstverpflichtung für unsere heranwachsenden Jungen und Mädchen festsetzte. Die Reiseidee, die wir den mittelalterlichen Zünften abgesehen hatten, brachte den jungen Menschen in Berührung mit der ganzen Welt und erweiterte seinen Horizont. In noch stärkerem Maße wurde er während des Wehrdienstes bearbeitet. Ehrlich gesagt, maßen wir dem Wehrdienst fast keine strategische Bedeutung bei: im Falle eines Angriffes durch eine ausländische Macht haben wir mächtigere Verteidigungsmittel parat als alle Kanonen und Gewehre zusammengenommen, und wenn die Deutschen ihre Drohung wahrmachen sollten, so werden sie sich davon überzeugen können.
Aber die pädagogische Seite des Wehrdienstes, die moralische Disziplinierung, kann gar nicht überschätzt werden. Sport, rhythmische Gymnastik, bildhafte Gestaltung, Arbeit in Fabriken, Wanderungen, Manöver, Landarbeiten - durch all dies wird uns der Mitbürger geschmiedet und wahrhaftig, ein Militarismus dieser Art macht viele Sünden des alten Militarismus wieder wett.
Es bleibt noch die Frage der Weiterentwicklung der Kultur. Über einiges, was auf diesem Gebiet getan wurde, habe ich Ihnen bereits berichtet. Die wichtigste Idee, die uns bei der Lösung dieses Problems half, war die Idee der künstlerischen Auslese und die organisatorische Unterstützung talentierter Individuen.
Frühere Epochen verfügten über keine wissenschaftlichen Erkenntnisse des menschlichen Lebens, sie haben nicht einmal den Versuch unternommen, eine Theorie seiner normalen oder seiner pathologischen Entwicklung aufzustellen. Die Krankheiten in den Biographien der Menschen waren uns unbekannt, wir hatten keine Vorstellung von der Diagnose und Therapie eines misslungenen Lebens.
Menschen, die über geringe Vorräte an potentieller Energie verfügten, brannten oft wie Kerzen ab und gingen unter dem Druck der Verhältnisse zugrunde, während Persönlichkeiten voll kolossaler Kraft nicht einmal ein Zehntel ihrer Energie ausnutzten. Heute kennen wir die Morphologie und Dynamik des menschlichen Lebens, wir wissen, wie man in einem Menschen alle vorhandenen Kräfte zur Entfaltung bringen kann. Spezielle mitgliederstarke und mächtige Gesellschaften beschäftigen sich mit der Beobachtung von Millionen von Menschen, und Sie können überzeugt sein, dass heute kein einziges Talent abhanden kommen kann und kein einziges menschliches Potential dem Reich der Vergessenheit anheim fallen wird...«
Kremnew fuhr auf, er war äußerst erregt.
»Aber das ist ja einfach grauenvoll! Das ist ja eine Tyrannei, wie sie schlimmer nicht sein kann! Ihre Gesellschaften, die die deutschen Antroposophen und französischen Freimaurer wiederauferstehen lassen, stehen jedem beliebigen staatlichen Terror in nichts nach. - Wahrhaftig, wozu brauchen Sie noch einen Staat, wo doch Ihre ganze Gesellschaftsordnung nichts anderes ist als eine verfeinerte Oligarchie von zwei Dutzend superklugen Ehrgeizlingen!«
»Regen Sie sich nicht auf, Mister Charlie. Zum ersten: jede starke Persönlichkeit spürt nicht einmal einen Deut von unserer Tyrannei, und zum zweiten: Sie hätten vor dreißig Jahren recht gehabt, damals war unsere Gesellschaftsordnung eine Oligarchie begabter Enthusiasten. Heute können wir sagen: >Nun lässest Du Deinen Diener im Frieden fahren.< Die bäuerlichen Massen sind bei der Bildung der öffentlichen Meinung des Landes zur aktiven Teilnahme herangewachsen, und wenn wir geistig an der Macht sind, so nur deshalb, weil: > Und der Kaiser absolut, wenn er unsren Willen tut<, wie die Deutschen sagen.
Und wenn selbst die stärkste Organisation es wagen sollte, mit der Meinung derer, die in den Hütten von Jaropolez, Murinow oder tausend anderen Ortschaften wohnen und denken, auf Kollisionskurs zu gehen, so wird sie ihren ganzen Einfluss und ihre geistige Macht im Nu verlieren. Glauben Sie mir, die geistige Kultur des Volkes kann sich, nachdem sie erst einmal einen bestimmten Grad erreicht hat, selbst automatisch halten und gewinnt eine innere Widerstandsfähigkeit. Unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass jeder Amtsbezirk sein eigenes kulturell schöpferisches Leben lebt, dass sich das Leben im Kortschewer Kreis nicht qualitativ vom Leben im Kreis Moskau unterscheidet, und wenn wir das erreicht haben, können wir, die Enthusiasten der Renaissance des Dorfes, wir, die Nachfolger des großen Propheten A. Jewdokimow in Frieden ins Grab steigen.«
Die Augen des Alten brannten in jugendlichem Feuer, vor Kremnew stand ein Fanatiker.
Kremnew erhob sich und wandte sich mit sichtlicher Gereiztheit an Minin: »Nun schön, Sie sagen, dass die freie menschliche Persönlichkeit - dass der ganze Staat, die Pflicht, die Gesellschaft - Mittel zum Zweck sind. Ist denn dann, Ihrer Meinung nach, ein soziales Kriterium für die Selbsteinschätzung des Verhaltens Ihrer Bürger notwendig oder überflüssig?« »Vom Standpunkt der Bequemlichkeit staatlicher Verwaltung aus und als Massenerscheinung ist es wünschenswert, vom ethischen Standpunkt aus - nicht obligatorisch.« »Und so etwas verkünden Sie ganz offen?«
»Ja, so verstehen Sie doch, mein Lieber«, brauste der Alte auf, »bei uns gibt es keinen Diebstahl, und zwar nicht deshalb, weil jeder einsieht, dass Stehlen etwas Böses ist, sondern weil in den Köpfen unserer Mitbürger der Gedanke an Diebstahl gar nicht erst auftauchen kann. Unserer Meinung nach ist, wenn Sie so wollen, Einsicht in ethisches Verhalten - unmoralisch.«
»Schön, aber Sie selbst, Sie, die Sie alles das begreifen, Sie, die Oberkommandierenden des geistigen Lebens - wer sind Sie: sind Sie Auguren oder Fanatiker der Pflicht? Welche Ideen beflügelten Ihre Arbeit, als Sie diesen bäuerlichen Garten Eden schufen?«
»Sie unglücklicher Mensch!« rief Alexej Alexandrowitsch aus und richtete sich in seiner ganzen Größe auf. »Was unsere Arbeit und diejenige Tausender anderer beflügelt? Fragen Sie Skrjabin, was ihn beflügelte, seinen >Prometheus< zu schaffen, was Rembrandt dazu bewog, seine märchenhaften Visionen zu malen! Die Funken des prometheischen schöpferischen Feuers, Mister Charlie! Sie wollen wissen, wer wir sind - Auguren oder Fanatiker der Pflicht? Wir sind weder das eine noch das andere, wir sind Menschen der Kunst.«

 

Zwölftes Kapitel

in dem erhebliche Verbesserungen in den Moskauer Museen und bei Vergnügungsveranstaltungen beschrieben werden und das mit einer äußerst unangenehmen Überraschung endet.

Am Morgen des folgenden Tages empfand Kremnew eine noch stärkere Abkühlung im Verhalten der Einwohner des Städtchens Belaja Kolp ihm gegenüber. Alexej Alexandrowitsch gab ihm irgendwie ungern eine Erklärung bezüglich des Meteorophorensystems.
Nach seinen Worten war bereits im XIX. Jahrhundert festgestellt worden, dass zwischen den verschiedenen Wetterlagen und dem Strom magnetischer Kraftlinien eine Beziehung bestand. Die schnell vorüberziehenden Zyklone und Antizyklone entsprachen immer einem bestimmten Magnetfeld. Es war nur noch nicht vollständig geklärt, wer in dieser Beziehung das dominierende Moment war: bestimmte das Wetter die Lage des Magnetfeldes, oder wurde das Wetter vom Magnetfeld bestimmt. Eine Analyse bestätigte die zweite Hypothese, und die Einrichtung eines Netzes von 4500 magnetischen Kraftwerken ermöglichte es, die Lage des Magnetfeldes und damit folglich den Zustand des Wetters nach Belieben zu steuern. Minin ging zur Beschreibung eines Meteorophoren über, doch als er feststellte, wie wenig Alexej mit den Gesetzen der Mathematik vertraut war, brach er seine Erläuterungen abrupt ab...
Nach dem Mittagessen empfand Kremnew, wie unerträglich seine Lage geworden war und dass eine Katastrophe herannahte. Daher reagierte er überglücklich, als ihn Paraskewa bat, zum Einkaufen mit ihr nach Moskau zu fahren und dort ein geistliches Konzert der Moskauer Glocken zu hören.
Ein leichtes Aeropil setzte sie gegen drei Uhr auf dem Zentralflughafen ab, und da bis zum Beginn des Konzertes noch eine gute Stunde Zeit war, schlug Paraskewa Alexej vor, Moskauer Museen zu besichtigen, wobei sie erwähnte, dass ihnen heute das zu tun gelungen sei, wovon die große Revolution in Ohnmacht Halt gemacht hatte: alle Schätze des Geistes, die in den Museen gelagert hatten, seien der Museumsroutine entrissen worden. »Sogar das Historische Museum, und jenes dort wurde im Jahre 70 wieder entdeckt!« Das neue Gebäude des Rumjanzew-Museums nahm einen riesigen Hau-
serblock vom Manegeplatz bis hin zu den Snamenki ein, dessen Fassaden dem Alexandrowskipark zugewandt waren. In seinen Zimmerfluchten offenbarten sich Kremnew die wunderbaren Visionen von Sandro Botticelli, Rubens, Velasquez und anderer Koryphäen der alten Kunst, japanische und ihm bisher unbekannte chinesische Emaillearbeiten. Alle diese Gaben fremder Länder waren, wie ihm Paraskewa erklärte, gegen Nowgoroder und Ssusdaler Ikonen bei Museen des Westens und denen östlicher Länder eingetauscht worden. Eine Fülle von Sälen durcheilte Alexej in flüchtiger Besichtigung, im Saal der historischen Andenken verweilte er, ohne es eigentlich zu wollen, etwas länger. Das Zimmer Puschkins, aus dem die Seele des großen Dichters deutlicher zu Alexej sprach als alle Bücher, die er einstmals über ihn gelesen hatte, hielt ihn gefangen. Hier sah er das Uschakow-Album, Blätter mit Albumgedichten, die Porträts der Menschen, die ihm nahe gestanden hatten, das Häuschen der Naschtschokins und Hunderte anderer Zeugnisse eines bedeutenden Lebens. Die Säle aus der Epoche der großen Revolution, in denen bekannte, im Laufe der Zeit reichlich verstaubte Gesichter und Gegenstände ihn ausgesprochen herausfordernd anblickten, bedrückten ihn. Länger durfte man jedoch nicht mehr verweilen. In einer halben Stunde sollte der erste Glockenschlag ertönen.
Als sie auf die Straße hinaustraten, waren die Plätze und Parks und die Gärten entlang des Moskwaufers voller Menschen. Alexej fiel ein Programm in die Hände. Er las darin, dass die Alexander-Smagin-Gesellschaft die Bauern des Moskauer Bezirks zum Erntedankfest einlud, folgendem Programm Gehör zu schenken, das auf den Kremlglocken in Gemeinschaft mit den Glocken anderer Moskauer Kirchen gespielt werden sollte.
Programm
1. Rostower Klänge des XVI. Jahrhunderts
2. Die Liturgie Rachmaninows
3. Das Akimow-Geläut (1731)
4. Das Glockenspiel von Borissjak
5. Das Jegorjew-Glockengeläut mit dem Osterläuten auf allen Glocken
6. Der »Prometheus« von Skrjabin
7. Moskauer Klänge
Eine Minute später hob der volle Schlag der Polijelej-Glocke zu läuten an und erschallte weithin über ganz Moskau. Ihr antworteten mit tiefem Bass die Kadaschi, das Großkreuz Nikola, das Satschatjew-Kloster, und das Rostower Glockengeläut erfüllte ganz Moskau. Die kupfernen Klänge, die aus der Höhe auf die Köpfe der verstummten Menschenmenge herabsanken, glichen dem Flügelschlag eines geheimnisvollen Vogels. Die Elementargewalt der Rostower Klänge stieg, nachdem sie ihren Kreis vollendet hatte, langsam zu den Wolken empor, während die Kremlglocken bereits die strengen Etüden der Rachmaninowschen Liturgie anklingen ließen.
Alexej, erschüttert und überwältigt von diesem höchsten Fest der Kunst, fühlte, dass ihn jemand an der Schulter berührte. Er wandte sich um und entdeckte Katharina, die ihn mit geheimnisvollem Mienenspiel aufforderte, ihr zu folgen... Er wollte ihr etwas sagen, doch die Worte gingen ungehört im Klang der Glocken unter. Eine Minute später betraten sie die Säle des gigantischen Restaurants »Julia und der Elefant«, dessen Räumlichkeiten Schutz vor dem Glockengeläut boten.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, flüsterte die aufgeregte Katharina, »ich weiß nur, dass Sie nicht Charlie Man sein können.« Und sie erzählte in großer Aufregung und in der Rede sich überschlagend, dass seine schlechte englische, dafür aber reine russische Aussprache, Details seiner Kleidung und seine Unkenntnis in der Mathematik in ihrer Familie bereits am ersten Tag ein Misstrauen erweckt hatten, das sich ständig verstärkte; dass man ihn mit Bestimmtheit für einen Antroposophen halte, der ein deutsches Abenteuer vorbereite; dass ihm die Verhaftung, ja vielleicht sogar noch Schlimmeres drohe; dass sie an diese Verleumdung nicht glaube; dass sie ihn in den vergangenen zwei Tagen kennen- und liebenge-
lernt habe; dass er ein ungewöhnlich mitreißender und schöner Mensch -wie ein Wolf - sei und dass sie ihn gesucht habe, um ihn zu warnen, und ihn anflehe, zu fliehen; dass sie fürchte, die richterliche Gewalt auf seine Fährte zu bringen, die jetzt Deutsche und Antroposophen inhaftiere; dass der Krieg jeden Augenblick erklärt werden könne, und so unerwartet, wie sie ihn auf die Stirn küsste, verschwand sie wieder.
Kremnew, der in zaristischer Zeit jahrelang im russischen Untergrund gelebt hatte, war dennoch aus der Fassung gebracht und fühlte sich wie gelähmt angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Lage. Er fuhr auf, als er den durchdringenden und argwöhnischen Blick der Kellner auf sich gerichtet sah.
Schnell verließ er das Restaurant und ging auf den Platz hinaus. Die Glocken hatten bereits aufgehört, den Himmel erzittern zu lassen, und in Unruhe gingen die Menschen auseinander. Zeitungsverkäufer warfen mit Blättchen um sich. »Krieg, Krieg«, war von allen Seiten zu hören. Kremnew war noch keine zehn Schritte gegangen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte und er eine Stimme hörte: »Halt, Genosse, Sie sind verhaftet!«

 

Dreizehntes Kapitel

in dem Kremnew mit der schlechten Einrichtung von Gefängnisorten im Lande der Utopie und mit einigen Formen utopischer Gerichtsbarkeit Bekanntschaft schließt.

Das geräumige »Hotel für Reisende aus den Rjasaner Ländern«, das vorübergehend in ein Gefängnis verwandelt worden war, war von allen Seiten mit Wachposten der Bauerngarde in malerischen Strelitzenkostümen aus der Zeit von Alexej Michajlowitsch umstellt.
Als der Kommissar, der Alexej verhaftet hatte, ihn in das Vestibül führte und dem Kommandanten übergab, nahm jener seine Verhaftungsnummer und sagte, nachdem er mit dem Portier telefoniert hatte: »Wir haben uns mit den Räumen etwas verrechnet, so dass ich gezwungen bin, Sie für die heutige Nacht in einem Gemeinschaftszimmer unterzubringen. Sie sind anscheinend ohne Sachen? Wenn Sie Moskauer sind, geben Sie uns Ihre Adresse, wir werden zu Ihnen nach Hause schicken und die notwendigen Dinge holen lassen.«
Kremnew entgegnete, dass er, leider, ein Zugereister sei, und man versprach ihm, alles aus den Hotelvorräten zu beschaffen. Der Konzertsaal des Hotels, der als Gefängnis Verwendung fand, glich dem Bahnhof eines Eisenbahnknotenpunktes der guten alten Zeit. Männer und Frauen aller Altersstufen und Stände saßen in gelangweilten Posen und mürrisch dreinblickend neben ihren Reisetaschen und Packen. Hier befanden sich Deutsche in Lederjacken und mit Käppis, hager und lang, die die teutonische Arroganz und eine Verachtung für ihre ganze Umgebung zur Schau trugen, blasse russische Damen, junge Leute mit abwesenden, farblosen Augen und gewisse flinke Gestalten östlicher Provenienz.
Wie Alexej später erfahren konnte, waren die russischen Damen und jungen Leute Antroposophen, unglückliche Menschen, die in die deutsche Intrige verwickelt waren und sich von der großen deutschen Idee hatten hinreißen lassen. Der Kommandant des Gefängnisses betrat den Saal und entschuldigte sich
noch einmal vor allen Versammelten, dass man sie der Freiheit beraubt und zu solch unzumutbaren Bedingungen untergebracht habe, doch sprach er die Erwartung aus, dass alle in etwa zwei Tagen bereits wieder auf freiem Fuß sein würden, und versprach, diese Unbequemlichkeiten mit einem guten Mittagessen und diversen Unterhaltungsveranstaltungen zu kompensieren.
Und in der Tat ließ das Mittagessen, oder richtiger Abendessen, nicht auf sich warten, und abends ergaben sich die Deutschen an den Spieltischen leidenschaftlich dem Kartenspiel, während das übrige Publikum einem kleinen Konzert lauschte, das vom Kommandanten in aller Eile organisiert worden war.
Man schlief auf Klappbetten, ohne sich auszuziehen. Am nächsten Morgen wurde Alexej zur Vernehmung geführt, und auf die Frage, wer er sei und warum er sich als der amerikanische Ingenieur Charlie Man ausgegeben habe, erzählte er treuherzig seine ganze Geschichte, obwohl er befürchtete, dass sein Bericht Lachen hervorrufen würde. Als Beweis führte er seine Büste im Panoptikum von Belaja Kolp sowie authentische Materialien in den Sälen der historischen Andenken des Rumjanzewmuseums an.
Zu seiner größten Verwunderung nahm man seinen Bericht ohne Einwendungen oder Befremden auf, sondern protokollierte ihn in aller Ruhe und sagte ihm, dass man ihn abends einer Expertenuntersuchung unterziehen werde.
Den ganzen quälend langen Tag verbrachte Kremnew vor den Fenstern des ihm zugewiesenen Zimmers sitzend und blickte in die Stadt. Das soziale Meer befand sich im Zustand des Aufruhrs. Ähnlich dem Onkelchen Schwarzmeer entstiegen dreiundzwanzig Recken den Tiefen des ländlichen Russland.
An den Fenstern marschierten im schnellen Schritt französischer Jäger geschlossene Heeresabteilungen vorbei. Eine junge Dame im dunkelblauen Reitkleid, auf weißem Ross und angetan mit dem Federbusch eines Generals nahm die Parade der leichten Kavallerie der Amazonen ab. Voll innerer Bewegung erkannte Alexej in einer der Anführerinnen der flott vorüberziehenden Schwadronen die vertrauten Züge Katharinas. Bald wurde die Kavallerie von der Infanterie abgelöst, und Scharen von Zivilbevölkerung füllten das gesamte Blickfeld. Die Menge lauschte den Ansprachen von Rednern und umherfahrenden
Lautsprecherwagen und fing Telegramme auf, die bündelweise in sie hineingeworfen wurden.
Gegen Abend setzte man Alexej in eine Limousine und fuhr ihn in die Mochowaja-Straße, wo ihn in einem runden Saal der Universitätsverwaltung eine Expertenkommission erwartete.
»Sagen Sie«, begann ein weißhaariger Alter mit einer goldumrandeten Brille seine Frage, »was ist ein Oblikomsap! Wenn Sie wirklich ein Zeitgenosse der großen Revolution sind, müssen Sie uns den Sinn dieses Wortes erklären können.«
Lächelnd antwortete Kremnew, dass dies ein »Gebietsexekutivkomitee des westlichen Verwaltungsgebietes« sei, eine Einrichtung, die einige Zeit in Petrograd existiert habe, nachdem Moskau Hauptstadt geworden sei. Was Zekmonkult für eine Institution sei?
Hier handele es sich um das »Zentralkomitee der monopolisierten Kultur«, das im Jahre 1921 zum Zwecke der obligatorischen Nutzung aller kulturellen Kräfte gegründet worden sei.
»Sagen Sie, aufgrund welcher Überlegungen die bäuerlichen Komitees der landlosen und landarmen Bauern eingeführt und warum sie wieder abgeschafft wurden!«
Kremnew vermochte mit seiner Antwort auch dieser Frage gerecht zu werden.
Ihm wurden einige Dokumente aus jener Epoche mit der Bitte um Kommentar vorgelegt, womit er ebenfalls gut zurechtkam, und zum Schluss musste er auf die Frage nach den Sowjetwirtschaften lange und mit einiger Mühe die Idee der Urbanisierung der Landwirtschaft erklären. Im Endergebnis schüttelten die Gesprächspartner, die Herren Professoren, lange und bedauernd ihre Köpfe und erklärten ihm zum Abschied, dass er ohne Zweifel in der revolutionären Literatur recht belesen sei, dass er jedoch den Geist der Epoche in keiner Weise verkörpere und ungeheuerlicherweise, aus Unverständnis, historische Ereignisse kommentiere, weshalb er unmöglich als deren Zeitgenosse angesehen werden könne.
Als man Alexej zurück ins Gefängnis brachte, waren die Straßen erneut von einer Menschenmenge überfüllt, die, wie das Brausen des Meeres, laut und triumphierend lärmte.

 

Vierzehntes Kapitel

in dem gleichzeitig der Beweis erbracht wird, dass mitunter Pflüge erfolgreich in Schwerter umgeschmiedet werden können und dass sich Kremnew letzten Endes in einer äußerst beklagenswerten Situation befand.

Ein feierlicher und singender Glockenschlag weckte die Zwangsbewohner des »Hotels für Reisende aus den Rjasaner Ländern« und bald darauf wurde ihnen mitgeteilt, dass sie alle anlässlich der Beendigung des Krieges frei seien, wer aber wolle, könne noch bleiben, um den Morgenkaffee zu trinken.
Unverzüglich verwandelte sich das Gefängnis in ein belebtes Hotel und kehrte somit zu seiner ursprünglichen Bestimmung zurück. Als Kremnew sich auf den Weg machte, händigte ihm der Kommandant ein Paket mit dem Bescheid der Untersuchungskommission aus, in dem die Anweisung enthalten war, dass in Ermangelung eines verbrecherischen Tatbestandes der Bürger, der sich selbst als Kremnew, Alexej, bezeichne, ebenso wie alle anderen in die Freiheit zu entlassen sei. Die Version über seine Herkunft halte die Kommission für unwahrscheinlich, doch da kein Grund vorliege, den Bürger, der sich selbst Kremnew nenne, als ein verbrecherisches Element, das einen falschen Namen führe, anzusehen, werde das Untersuchungsverfahren, das Nikifor Minin gegen ihn angestrengt habe, eingestellt.
Alexej entschloss sich, das ihm gewährte Recht auszunutzen und auf der Veranda des ehemaligen Gefängnisses auf Staatskosten zu frühstücken. Nachdem er einen Tisch belegt hatte, vertiefte er sich in die Lektüre eines Blättchens, das ein Zeitungsjunge verloren hatte und in dem die offizielle Mitteilung über die Beendigung des Krieges enthalten war. Alexej erfuhr, dass am 7. September drei Armeen der deutschen Wsewobutsch, begleitet von einer Unmenge von Flugzeugen, die Grenzen der russischen Bauernrepublik überschritten hatten und innerhalb von 24 Stunden 50, stellenweise sogar 100 Werst weit vorgedrungen waren, ohne auf irgendwelche Anzeichen eines Widerstandes oder gar lebender Bevölkerung zu treffen.
In der Nacht zum 8. September, um 3 Uhr und 15 Minuten, lieferten die Meteorophoren des Grenzgebietes nach einem im voraus entwickelten Plan die für einen Zyklon von kleinem Radius erforderliche maximale Kraftlinienspannung, und im Verlauf einer halben Stunde waren die Millionenarmeen und Zehntausende von Flugzeugen kraft ungeheurlicher Wirbelstürme buchstäblich hinweggefegt worden. An der Grenze wurde ein Windvorhang errichtet, und die entsandten Taraluftschlitten erwiesen den besiegten Kriegshorden nach besten Kräften Hilfe. Zwei Stunden später teilte die Berliner Regierung mit, dass sie den Krieg abbreche und die durch sie verursachten Auslagen in beliebiger Form kompensieren werde. Als Zahlungsmodus wählte der russische Rat der Volkskommissare einige Dutzend Bilder von Botticelli, Domenico Veneziano, Holbein, den Pergamon-Altar, 1000 buntbemalte chinesische Stiche aus der Epoche der Tang-Dynastie sowie 1000 Zuchtbullen, Zuchttiere der berühmten Rasse »Nur für Deutschland«.
Die klangvollen Trompeten der Bauernarmee bliesen Fanfaren, und die Klänge von Skrjabins »Prometheus«, der zur Nationalhymne erkoren worden war, erschütterten den Himmel Moskaus. Der Kaffee war ausgetrunken, das Roastbeef verzehrt, und Kremnew erhob sich von seinem Stuhl. Gebeugt und niedergeschlagen von alldem, was vorgefallen war, stieg er langsam die Treppe hinab, und allein, ohne Beziehungen und mittellos, ging er einem Leben in einem fast unbekannten utopischen Land entgegen.