Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
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PERSONENVERZEICHNIS

Aus Ungarn
Pali Jungarbeiter
Jozsi Jungarbeiter. Palis Freund
Bató Steiner Ehemalige Hochschullehrer
Faludi Ehemaliger Offizier
Böhm Ehemaliger Student

Aus Polen
Janek Färber
Wladek Färber. Janeks Bruder
Anka Janeks Frau
Dorabrowski Arbeiter
Die Dombrowski Arbeiterin

Aus Italien
Bordoni Vorarbeiter in einer Armaturenfabrik
Katarina Bordoni Seine Frau
Giulia und Giuseppe Seine Kinder
Aus Bulgarien
Dudoff Holzarbeiter
Stojanoff Bauer
Stojanoffs Frau
Andreas Stojanoffs Sohn
Dimoff Holzarbeiter

Aus China
Liau Han-tschi Student
Liau Yen-kai Sein Bruder
Dr. Tsen Agronom

 

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Alles war zu Ende.
Das Dorf war eingekreist, die Dorfausgänge waren besetzt, die Luft war bitter, die Herzen hämmerten.
An einem Augusttag war es, der heiße Mittag drückte die braune und goldene Ebene, die flachen Hütten, blind und triefend von Erde.
Räte-Ungarn war aus. Jetzt, da alles zu Ende war, hieß es, aus dem Ende ein wahres Ende machen, alles aus ihm herausholen, was sich aus einem Ende an Schrecken holen lässt. In das Gesicht des Leutnants Jákó Géza zählte der Dorfrichter an den gespreizten Fingern ab: Kürtös Béla - all seine Söhne, vier Stück, in der Roten Armee; Asztalos Stephan - hat ihn unter seinem Dach gehabt, den roten Juden, Gott verdamm ihn, sooft er rauskam; Papp Johann - eine Wanzengrube von solchen Zettelchen „An die Bauern und Landarbeiter"; Sebö András - hat auf dem Gut die Spaliere rasiert mit seinem ganzen Anhang; seine Bälge haben Bäuche gekriegt wie Trommeln; Horvát Johann, Rotarmist - hat das Maul voll genommen, in einem Soldatenrock auf der Tenne gestanden, eine Rotte war um ihn herum, an die tausend Stück aus acht Dörfern; Szekeres, beide Brüder -
Beide Brüder knieten nebeneinander und richteten ihre Gewehre gegen die Tür. Die stillste aller Mittagsstillen. Ein Huhn plumpste mehr als es flog vom Tisch auf den Boden. Dann überrannten die Soldaten das Dorf. Die Szekeres wickelte blitzschnell ihre Röcke um alle Kinder. Die Tür sprang auf, es knallte doppelt heraus und zehnmal hinein, schon rannten die Soldaten gegen die nächste Tür und ließen liegen, was tot lag, vor und hinter Szekeres' Schwelle. Ganz nutzlos, von niemand gesehen, hielt sich die Frau noch minutenlang aufrecht, in ihrem neuen, leuchtenden, über Wangen und Schultern fließenden Kopftuch aus Blut; sie glitt weg und ihre Röcke glitten von den Kindern weg.
Eins von den Kindern kroch über die Toten ins Freie. Draußen war alles verändert. Der glänzendweiße Himmel war ganz tief gesunken. Die Hütten waren geschrumpft: den Weg hinauf schleiften sie fremde, schwere Bauern mit langen, roten Schleppen. Neben der Tür hielten Soldaten ein großes, wildes Pferd. Sebös Hütte zuckte und lachte, ein schrilles, kreischendes Lachen, wie auf Hochzeit. Alle Hütten schrien und zitterten.
Kürtös schrie: „Nie hab ich was getan, fremdes Gut nie angerührt!" Einer der Soldaten drehte Kürtös' langen fahrigen Bart um sein Handgelenk und riss. Die Frau rutschte auf ihren Knien herum: „Nie hat er was getan, fremdes Gut nie angerührt." Der Soldat drückte den Kopf an seine Brust, um besser zu reißen: „Eure Söhne, vier Stück!" - „Hat er doch alle verflucht!" rutschte die Frau auf Knien und Ellenbogen, „morgens und abends hat er sie alle vier verflucht." Die Soldaten ließen sie rutschen, immer längelang, bis ihre Knie blank durchkamen.
Die Asztalos hielt ihren Leib mit beiden Händen zusammen und rief den Soldaten mit junger schallender Stimme entgegen, als stünden sie nicht vor ihr, sondern am Rand der Ebene: „Hier gibt es keinen Asztalos!" Die Soldaten tippten lachend mit den Stiefeln ihren Leib. „Er war doch da, wo ist er?" Die Asztalos stellte sich breit hin. Das Kind in ihrem schweren Körper musste mitschützen, ihn, der draußen hinterm Feld in einer Furche lag. Denn die Soldaten stießen zu, sie fiel und rief mit schwacher, in viele Scherben zerspringender Stimme: „Hier gibt es keinen Asztalos!"
Sebö hinter dem Tisch rührte sich nicht. Sein Kopf war ganz kahl und glänzte, vor ihm auf dem Tisch lagen seine beiden riesengroßen Hände. Er bekam einen Schlag auf den Kopf, das duckte ihn nicht, er richtete sich erst jetzt zu seiner vollen Größe auf. Wie war er überhaupt hereingegangen, in diese vier Wände, all die Jahre über? Mit seinen eignen beiden Händen schob er die heulende Frau von sich weg; die seine. Hände banden, schleifte er hinter sich ins Freie. Eins der Kinder packte mit beiden Armen einen Soldaten um den Stiefel und biss ihn ins Knie. Sebö hörte dann hinter sich schreien, wie er noch nie ein Kind schreien gehört hatte, und das Geheul der Frau, unbegreiflich, maßlos.
Aber Sebö konnte sich nicht umdrehn, er erfuhr es nie mehr. Die Kolben schoben seinen Rücken, und das Geheul floss hinter ihm ab. Er drückte seine Schritte in die Erde ein, zärtliche, glühende Schritte. . Der Dorfrichter sagte: „Jetzt bringen sie den Sebö."
Der Leutnant Jákó und der Dorfrichter standen auf der Treppe, wie sie einen nach dem andern brachten. „Wart mal, du bist doch der Sebö." Sebö hob mit Mühe seine von geronnenem Blut schuppigen Augenlider. „Red doch! Reden kannst du wie ein Bischof." Jákó wurde bleich, und. auch Sebö erbleichte plötzlich in seinem dunklen Gesicht. Jákó duckte sich, sprang ihn an, packte ihn an der Kehle und schüttelte. Sebös Gesicht, aus so wenigen Strichen gemacht, wie man braucht, um das Gesicht eines Mannes zu machen, blieb unverändert. Da fiel nichts heraus, alles war fest. Jákó holte aus und schlug mit voller Kraft. Sebös Gesicht, von der Braue bis zum Mundwinkel, lief sofort blau an, ohne seinen Ausdruck finsterer Ruhe zu verändern. Sie stießen ihm von hinten die Kolben in die Kniekehlen. Jákó sah herunter auf den kahlen, glänzenden Schädel. Er drückte ihm mit dem Schuh das Kinn zurück. Sebös Gesicht blieb unverändert, einen halben Meter tiefer, ruhig und finster.
Draußen, hinter dem Korn, krümmte sich Asztalos in seiner Furche, Mund und Augen voll Erde. Die Schüsse knallten im Hof des Dorfrichters. Ins Herz getroffen, bäumte sich das ganze Dorf noch einmal auf, und Asztalos bäumte sich mit dem Dorf in seiner Furche. Er hielt sich mit beiden Händen an der Erde fest, aber die Erde war auch nicht fest und bäumte sich auch. Er hob sein von Erde beschmiertes Gesicht; der helle, fast weiße Himmel hielt alles still zusammen in seinem heißen Nachmittag.
Jákó trat aus der Tür in den Hof. In dem unordentlichen Durcheinander von Köpfen und Armen und Rücken toter Bauern, die so lagen, wie sie gefallen waren, erblickte Jákó Sebös kahlen, glänzenden Schädel. Er trat ein paar Schritt näher, Sebös nach der Seite gedrehtes Gesicht vor seinen Füßen auf der Erde war unverändert, ruhig und finster.


II
Das dritte Regiment unter dem Kommando des Genossen Faludi, bisher am rechten Theißufer stationiert, lauter Metallarbeiter aus dem zehnten Bezirk Budapests, hatte den Rückzugsbefehl ausgeführt. Es kam nachts im Lager an, als dort die Verwirrung am größten war. Die Nachricht vom Durchbruch der Front, von der befohlenen Auflösung der Roten Armee war schon eingetroffen. In die zerfallenden Haufen, die nichts mehr zusammenhielt als die Todesangst, hämmerten umsonst die alten Stimmen die glühenden Worte. Die Worte versanken spurlos in einem Brei von kranken weißen Gesichtern. Sie brachten nichts mehr zusammen. Zuweilen setzte die Internationale ein, versackte; es war schrecklicher, sie versacken zu hören, als wenn sie niemand angestimmt hätte. In den Gesichtern der Bauernsoldaten waren die Augen bodenlose Löcher. Manche rissen sich die Uniformen in Stücke und trampelten darauf. Manche rannten blind davon, einzeln oder zuhauf, in der vermeintlichen Richtung ihrer Dörfer. Man hörte offene Flüche und Drohungen.
Das dritte Regiment, Metallarbeiter aus dem zehnten Bezirk, machte sich mit den Kolben den Weg durch das Lager frei. Geschlossen in Reih und Glied, wie beim Ausmarsch, zog es quer durch. Nur hatten alle Stirnen schwarze Striche zwischen die Brauen bekommen. Rechts und links seines Wegs steiften sich die Rücken, und die Blicke wurden dunkler und die Herzen kälter, wie ein Eisberg rundum die Luft gefrieren macht.
Aber zwei Stunden vor der Stadt erfuhr das dritte Regiment, dass die Rumänen bereits eingezogen waren. Faludi gab den Befehl, zu halten. Er redete die Soldaten an und dankte ihnen, Einer der Soldaten trat vor und dankte dem Genossen Faludi. Dann mussten sie sich auflösen.
Faludi und Böhm erschossen ihre Pferde. Sie liefen zu zweit über Felder, von den Bauern verlassene, auf denen das Korn in nutzloser Reife für sich allein rauschte und duftete. Hell war es lange, jetzt wurde es warm. Auf einer sanften, kaum merklichen Erdwelle war das Korn nach der Sonnenseite gemäht. Vom Kamm ab stand es noch - wie eine üppige schimmernde Mähne auf braunem Rücken. Hinter dem Hügel lagen ein paar Hütten. Eine alte Frau rief sie an: „He, ihr Roten in euren Röcken!"
„Wir können doch nicht nackt weiter."
Die Frau holte sie ohne viel Worte herein und gab ihnen Bauernkittel. Sie überquerten die zweite, noch ganz goldene Erdwelle. Sie gingen schneller, die Stadt war jetzt nahe. Sie hörten aus zwei Richtungen Gewehrfeuer. Wahrscheinlich war es schon immer dagewesen, sogar stärker, sie horchten erst jetzt darauf. Sie schnauften sich aus unter einem Ahornbaum. Der Ahorn war grün und dicht, noch keine Spur von Herbst, da gab es nur an einem Zweig einen langen, weißen Faden, das Leichteste auf der ganzen Welt. Das werde ich nie vergessen, dachte Böhm. Ob ich nun heute sterbe oder über viele Jahre, das werde ich nie vergessen. Er wusste selbst nicht, was er damit meinte, alles oder diesen Faden.
Faludi war kriegsgefangen in Russland gewesen, dort vor zwei Jahren zur Revolution gekommen. Peter Böhm war im März noch ein Knabe gewesen. Ihn, den kleinen Studenten, hatte das erste Nachdenken aus dem Hörsaal auf die Straße geworfen und von der Straße an die Front. Faludi hatte ihn lieb gewonnen und bei sich behalten. Immer hatte Böhm den Sturm im Rücken gehabt. Jetzt war in seinem Rücken kein Sturm mehr, sondern die leere, grausame Luft. Faludi sagte zu ihm: „Es ist richtig, wir trennen uns jetzt. Wir kommen leichter jeder allein weiter." Er betrachtete ihn lächelnd und küsste ihn dann schnell rechts und links.


III
Am nächstfolgenden Tag um die Mittagszeit - ein goldener, fast heißer Spätsommermittag - lief Böhm in Budapest auf dem Elisabethring herum. Er war vor zwei Tagen heil in die Stadt hereingekommen. Er hatte nicht gewagt, zu seinen Eltern zu gehen, weil ihn dort jeder kannte. Er war zu seinem Freund, dem Studenten Kelen gegangen. Kelens Mietsherr, ein bis dahin friedlicher, pfiffiger Kleinbürger, hatte gedroht, sie anzuzeigen, wenn sie nicht beide sofort das Zimmer räumten. Sie hatten sich dann getrennt, aber besprochen, sich am nächsten Nachmittag im Metropol-Cafe zu treffen und gemeinsam die Stadt zu verlassen. Böhm war noch zu Bekannten gegangen, die ihn zunächst aufnahmen. Mitten in der Nacht bekamen sie Angst, beschworen ihn, „um ihrer kleinen Kinder willen" freiwillig wegzugehen.
Seit dem frühen Morgen lief Böhm kreuz und quer in der Stadt herum. Er hatte schon viele Stunden hinter sich, viele Kilometer, er hatte keine Füße mehr - als schüttle ihn jemand wie einen Würfel in einem hohlen Becher. In den Straßen war der Morgen blau, dann golden geworden. In der Innenstadt schwärmten die Menschen, die meisten waren besser und lichter gekleidet, mit erwartungsvollen Gesichtern. Auf der Rákóczi-út schnurrten die Läden hoch. Da waren über Nacht die Auslagen aufgeblüht, und die Frauen starrten hinein wie in Wunder. Böhms kranker Kopf tauchte in Wolken unbekannter Gerüche und Farben. Er lief durch die Üllöi-út, eine kleine Kolonne Arbeiter kam zwischen Gendarmen. Sie trugen Arbeitskittel, ihre Hände waren kreuzweise übereinander gebunden. Die Passanten, die gestern bei diesem Anblick Mitleid oder Schadenfreude gezeigt hatten, blickten heute schon gleichgültig. Er lief auf den Donaukai. Auf einer Flut von heiteren, bunten Menschen schwammen die goldenen Achselstücke der Offiziere. Das Metropol-Cafe war überfüllt. Er musste sich umsehen, bis er einen leeren Platz fand. Die Marmortische, Spiegel und Tabletts glänzten, viele Dutzend Hände hatten sie diese Nacht in furchtbarer Eile blank gerieben. Böhm schlug mit dem Knöchel in einem fort gegen die Tischplatte. Es kostete ihn eine ungeheure Anstrengung, diese Bewegung zu unterdrücken. Er zählte fünf Minuten vor vier - drei Minuten. Jetzt musste Kelen vor ihm stehen. Er sah auf, Kelen stand vor ihm. Ein eiserner Vorhang fiel, deckte alles zu, Musik und Menschen. Er war allein mit Kelens ernstem, vertrautem Gesicht. „Aber ich kann nicht mit dir fahren. Ich habe Auftrag, zu bleiben." Er gab Böhm noch ein paar Ratschläge, wie er fortkönnte; aber der hört nur halb mit zu; er weiß, dass er nicht heraus kann, allein, ungeschickt, zu Tode erschöpft. Der eiserne Vorhang ging wieder hoch, die Musik trällerte wieder, Kelens Gesicht war nur irgendein Fleck, aufgegeben, schon unbekannt. Später lief Böhm hinaus auf den Kai, auf und ab, wieder in die Stadt hinein. Es wurde Nachmittag. Längs der Dächer, in goldenen Rillen, lief das Licht zu Ende. „Wo soll ich heute nacht hin? Ich kann doch nicht immer laufen. Soll ich mich aufs Pflaster setzen? Dann wird man mich verhaften. Besser laufen." Die Straßen waren noch voll, nicht bunt, grau voll. Vor den Schaufenstern, die jetzt beleuchtet waren, stauten sich die Menschen. Ecke Fürdö-utca war ein Auflauf. „Sie haben wieder einen." Böhm wurde hineingedrängt. Einmal riss es, da sah er mitten im Knäuel etwas Rohes, Rotes unter den Stiefeln der Polizisten. Der ganze Menschenauflauf stapfte plötzlich in einer großen Blutpfütze. Ein paar traten sich mit entsetzten, angeekelten Gesichtern die Schuhe am Rinnstein ab. Die Stimmen der Peiniger und des Gepeinigten klangen zusammen in einem einzigen dünnen, schon müden Schrei.
Böhm lief weiter. „Wo soll ich hingehen? Alles ist zu Ende." Er lief über den Josephsplatz. Seine Beine knackten, als seien die Schrauben aus den Kniegelenken gezogen. In der Menschenmenge, die aus dem Kino strömte, erkannte er Mosonyi aus dem Studentenausschuss. Er lief auf ihn zu, hängte sich an seinen Arm, ließ sich schleifen. „Was denn, was denn, können Sie nicht mehr gehen?" Mosonyi zog ihn ein Stück durch die Straße. Plötzlich blieb er stehen, schüttelte ihn ab. „Gehen Sie doch zum Teufel auf Ihren eigenen Beinen!" Böhm packte seinen Arm: „Genosse -" Mosonyi spuckte: „Ah pah, Genosse." Am Ende der Straße, an der gegenüberliegenden Ecke, stand ein Posten. Mosonyi ließ ihn plötzlich los und ging quer über die Straße auf den Posten zu. Böhm hätte jetzt rennen müssen, aber er war wie gelähmt von ungeheurem Erstaunen. Das letzte, was er hörte, war ein Pfiff, das Signal zu völligem Abbruch. Dann schlug die Stadt über ihm zusammen, Knüppel der Polizisten, Dächer und Himmel.


IV
Böhm stand nicht mehr auf, er wurde immer tiefer ins Pflaster hineingeknüppelt. Er kam zu sich in einem von Menschen vollen, düstern, von wenigen Glühbirnen erleuchteten Raum. Dass dieser Raum zutiefst unter der Erde war, wusste Böhm sofort; alle andren wussten es auch. Von diesen Menschen erwartete keiner Hilfe mehr. Böhm erblickte plötzlich zwei bekannte Gesichter: Jucze, dem die Tränen über die Wangen liefen, während er in einem fort das Wort Gott kaute, Mezei Margit, eine weiße Blume der Angst. Über ihren Schläfen lag das feuchtglänzende schwarze Haar wie die Flügel einer Amsel. Obwohl es eng war, drängten alle gegen die Wand und ließen ein Stück frei vor der großen Tür. Wurde aufgemacht und ein Name gerufen, dann stieß der Gerufene wie ein Hammel mit dem Kopf in seine Gefährten. Nach einiger Zeit wurde wieder aufgemacht und über die Schwelle geworfen, was von einem übrig blieb.
Böhm saß auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Er krümmte sich inwendig, als sei er in seinen Leib hineingestopft wie in einen zu engen Sack. Alles drängte sich in die Ecke, wo das Bündel lag, das man zuletzt aus der Tür geworfen hatte. Es war doch längst nicht der tiefste Punkt, denn das Zimmer wurde immer noch schwerer und sank und sank. Einmal wurden zwei Neue eingeliefert, Arbeiter in blutigen Hemden. Diese beiden setzten sich sofort auf den Boden, und zwar auf das freie Stück dicht vor der Tür, und redeten zueinander. Bei ihrem Anblick war es aus irgendeinem Grund still geworden, unwillkürlich horchten alle, was diese beiden, schwer atmend, sich zu sagen hatten. „Horvát wird doch die Listen zerrissen haben?"
„Mach dir keine Sorgen, der ist schon recht."
Böhm horchte hin, einen Augenblick hörte der Raum auf, tiefer zu sinken.
Auf einmal flog die Tür auf, sein Name ertönte mit scharfer, erschreckender Deutlichkeit, schallte in seinem Kopf, als gäbe es darin einen weiten, unermesslichen Raum.
Nebenan, hinter der Tür, war es ganz hell, ganz oberirdisch. Hinter dem Tisch stand einer und stemmte die Arme auf, in schwarzem Rock, Krawatte, Kragen. Ein paar saßen und standen in Röcken und Uniformen. Alle sahen ihn an, ihre Augen lösten sich ab und schwirrten um ihn herum, ein Kaleidoskop aus Augen. Er fürchtete sich und zitterte und konnte seine Zähne nicht zusammenbringen. Alle sahen, wie er sich fürchtete, und lachten. „Brauchst frische Hosen, Jungchen? Lass sie lieber gleich aus - wart mal."
Böhm dachte: Wenn sie mich wieder auf dieselbe Stelle schlagen, dann kann ich nicht weiter, dann sage ich alles.
„Komm mal näher, so. Du bist der Student Peter Böhm -" Böhm brachte nichts heraus. Nickte. „Also pass mal auf. Du bist in die Rote Armee eingetreten?" - „Ja." - „Gut. Unter dem Kommando von Faludi Pal?" - „Ja." - „Gut."
Böhm zitterte noch stärker, dann hörte er zu zittern auf, als hätte ihn etwas von außen geschüttelt, eine Faust, die plötzlich erlahmt war. Einen Augenblick war alles ganz klar, die Umrisse aller Dinge schienen mit übertriebener Deutlichkeit nachgezeichnet.
„Sie sind mit Faludi zusammen in die Stadt gekommen?" Böhm dachte: Ich kann nicht mehr weiter, ich werde alles sagen. Jetzt, wo nichts mehr von einem verlangt wird, jetzt wo alles zu Ende ist. Da ertönte plötzlich, wer weiß woher, eine furchtbare harte, überlaute, unbekannte Stimme, die der kleine Böhm nie in seinem Leben gehört hatte: „Ich sage von jetzt ab nichts mehr!" Nur an einem Dröhnen in seinem Kopf, am Gefrieren seiner Mundwinkel merkte Böhm, dass diese Stimme aus ihm kam.
Später lag Böhm auf dem Boden hinter der Tür. Alles an ihm war wund und offen. Wenn ihn jemand berührte, schrie er laut auf. In den Gesichtern, die sich über ihn beugten, war Grauen und Schrecken. Aber in seinem Innern war er erleichtert, ruhig.


V
Der Express Budapest-Wien sollte in einer Minute abgehen. Ein Reisender mit einem Lederkoffer stieg in ein Abteil zweiter Klasse. Er setzte sich ans Fenster. Ihm gegenüber saßen zwei junge Mädchen, Schwestern, Hand in Hand. Die Abfahrtszeit war jetzt schon überschritten. Viele Reisende wurden ungeduldig und sahen heraus. Auf einmal packte der Mann seine Reisetasche, überquerte, ohne sich umzusehen, den Bahnsteig und verschwand im Wartesaal. Gleich darauf kamen zwei Fremde, fragten: „Ist jemand ausgestiegen?" Eins der Mädchen erwiderte schnell: „Ja, hier herum."
Die beiden liefen über die Schienen gegen den Bahndamm. Die Mädchen saßen schweigend, bis der Zug abfuhr. „Warum hast du gelogen?" - „Hast du nicht erkannt, wer das war?"
Am Büfett im Wartesaal, auf den langen Bänken, über den schmierigen Tischen lungerten Menschen mit Koffern, Bündeln, Kindern. Faludi drückte sich herum, stemmte sich auf das Büfett, seine Spannung ließ nach, er fühlte fast körperlich, wie die Gefahr von ihm abglitt. Auf einmal tippte ihm jemand auf die Schulter. Ein langer, schludriger Kerl im Gummimantel. Sie starrten einander an. Aus den Augen des jungen Burschen, hellblauen, kindlichen Augen, spritzten helle Pünktchen dem andren ins Gesicht, juckten ordentlich, sengten. Er sagte: „Still, gehen Sie nur immer hinter mir her, ich werde Sie schon bestimmt irgendwo hinbringen." Faludi zögerte, aber dann folgte er. Sie gingen hintereinander durch das weitläufige Bahnhofsgebäude durch eine Seitentür ins Freie. Dann liefen sie nebeneinander. Die Laternen brannten schon. Faludi dachte angestrengt nach. Der andere sagte: „Wozu denken Sie nach, Sie kennen mich doch. Glauben Sie, dass ich Ihnen was tun werde? Nein, ich will Sie auf den Dampfer bringen, seien Sie nur ruhig, Sie werden dort Bekannte treffen, Sie sind nicht der erste und nicht der letzte. Aber Geld müssen Sie mir geben, denn Sie haben reiche Verwandte und ich bin arm. Ich habe mich gleich bei denen gemeldet, bevor die sich bei mir gemeldet haben. Wem nützt es denn, wenn ich mir den Bauch vertrampeln lasse? Jetzt habe ich Bahnhofsdienst, genau wie ich angefangen habe im ersten Kriegsjahr. Die Katze fällt immer auf ihre vier Füße." Faludis Gesicht verzog sich vor Schmerz und Ekel. Auch über seines Begleiters Gesicht zog zwar kein Kummer, aber der Schatten eines Kummers. Er redete: „Diese drei Monate, die ich bei Ihnen gearbeitet habe, die werde ich nie vergessen. Ein großartiger Sommer." Faludi dachte nach, ob er ihn ausnutzen könnte, ausfragen. Der andre fing von selbst an: „Wissen Sie schon, was aus Bató geworden ist?"
Faludi fuhr herum, sein Herz stand ihm still. „Alles in Ordnung. Er ist seit gestern in Wien. Doch gut, wenn einer wie ich beim Bahnhofsdienst ist. Ich habe auch Wagner geholfen. Aber mit dem ist es schiefgegangen. Es hat was gekostet, ihn herauszubringen. Wir haben ihn auf die tschechische Seite bekommen. Da sind ihm die Nerven durchgerissen, er hat sich eine Kugel durch den Kopf geschossen, auf der tschechischen Seite." Faludi dachte: Wagner hat sich erschossen.
Er drehte die Worte in seinem Kopf herum, aber er konnte den Sinn nicht verstehen. Der andre legte den Arm in den seinen. Er ließ es, sie gingen schon den Kai entlang. Der Fluss funkelte von Lichtern.
Der andre sagte: „Können Sie das mit Wagner verstehen? Ich kann so etwas nicht verstehen. Mir ist alles eins. Seit zehn Jahren bin ich gewöhnt, immer auf der Kante zu leben. Immer ist's einem zum Umkippen, aber es hat doch auch was für sich, es spannt einen, man will's nicht anders. Ich habe auf diesem Schiff den Steiner untergebracht, den Doktor Steiner. Sehen Sie, der grüne Dampfer, der dritte, rechts von der Brücke."
Steiner und Faludi hockten in einem Verschlag im Lagerraum. Es war schrecklich heiß. Steiner sagte: „Werden wir durchkommen?" Faludi sagte: „Ich für meine Person habe in solchen Sachen Glück." Steiner kauerte sich zusammen und starrte hinauf in die Wand, in die winzige Luke voll tintenfarbigem Wasser, das sich gerade im Licht einer Schiffslaterne mit hellen Kringelchen überzog. Diese Handvoll Licht erfüllte sein Herz mit Verzweiflung, mit dem hoffnungslosen Wunsch nach Leben und Sicherheit.
Aber ich habe doch alles einbezogen, dachte Steiner, alles habe ich durchdacht, bevor ich im April herauf bin und gesagt habe, ich stelle mich euch zur Verfügung, Genossen, ich, mit meinem ganzen Wissen und Können, da habe ich alles vorgedacht, alle Möglichkeiten, auch das Ende, auch die Flucht, aber das nicht, so nicht, diesen heißen Verschlag, dieses Loch voll Kringel, die Maschine, die so stößt -
Er legte seine Hand auf Faludis Knie. „Was glauben Sie? Werden wir durchkommen?" - „Ja, wir werden. Wir werden schon irgendwie aus diesem Land herauskommen, wir beide. Es war viel schwerer, in die Stadt zu kommen. Das ist das letzte Stück, da wird es uns nicht schnappen. Die letzte Nacht." -„Worüber lachen Sie?" - „Wie wir von der Front kamen, der kleine Böhm und ich, da zogen wir Bauernkittel an. Später, als ich allein war - denn wir trennten uns, weil es leichter war, allein in die Stadt zu kommen -, sitzt ein Bauer vor seiner Tür, beguckt mich und sagt: ,Bruder, du hast dich gut zurechtgemacht, dir sieht niemand mehr an, dass du ein verkleideter Rotarmist bist.' "
„Was ist aus dem kleinen Böhm geworden?" - „Ich weiß nicht, ich musste ihn wegschicken. Wenn man uns beide zusammen gefunden hätte, dann hätte man ihn totgeschlagen, weil man mich totschlägt, aber ich fürchte, man hat ihn auch so totgeschlagen."
Steiner fragte, und der einzige ausschließliche Gedanke an die Rettung seines Lebens quälte und beschämte ihn: „Warum glauben Sie, werden gerade wir durchkommen?" Faludi sah Steiner schnell an, unterdrückte seinen Widerwillen. Es dauerte eine Zeitlang, bis er antwortete: „Ich für mein Teil habe wenig Phantasie. Kann mir nur vorstellen, was ist, nicht, was nicht ist. Denke, ich muss wohl durchkommen, jetzt, wo die schwere Arbeit erst anfängt."
Sie waren schon viele Stunden unterwegs. In der Luke war das Wasser grünlich geworden. Helle Sonnenkringelchen blitzten und schlugen zurück auf Steiners graues, ausgelöschtes Gesicht. „Jetzt wissen wir bald, ob wir durchkommen." - „Aber Sie sagen doch immer ja, wir werden." - „Gut, aber ich habe doch keine Versicherung abgeschlossen." Steiner zog seine Hand von Faludis Knie weg, bedeckte sein Gesicht. Das ist alles nicht wahr, dachte er, nur im Traum fährt man auf einem Dampfer mit Faludi und weiß, dass man sterben muss. Ich muss aufwachen, bevor sie uns einfangen.
Faludi fing zu erzählen an, sein Gesicht war auf einmal streng, als horche er gespannt seinen eigenen Worten. „Einmal drüben im Bürgerkrieg an der Wolga stießen wir bei einer Erkundung zu dritt auf eine Streife von zwanzig. Dass das unser Ende war, davon waren wir alle überzeugt, wir drei und die zwanzig vor uns. Wir platzten aufeinander. Es gab einen winzigen Augenblick Überraschung. Lauter Bauernjungens - die hatten zum ersten Mal Rote vor sich. Also so sahen wir aus, keine Schwänze, keine Hörner, Sowjetsterne über den Stirnen, das ging ihnen durch und durch. Wir brüllten los: ,Genossen!' Wir kamen abends zu dreiundzwanzig zurück. Es hätte aber auch passieren können, dass es ihnen erst beim dritten- und vierten Mal durch und durch gegangen wäre, ja, aber auch das ist Durchkommen."
Steiner behielt die Hände vor dem Gesicht. Er versuchte anfangs zuzuhören. (Das kann ich jetzt nicht mehr brauchen, was der erzählt, gestern noch, vor zwei Stunden noch, aber jetzt nicht mehr.)
Ihm schien es, die Stöße der Maschine wurden von Minute zu Minute heftiger. Er leistete diesen Stößen keinen Widerstand mehr, sondern ließ sich von einer Seite auf die andere werfen. Auch Faludis Körper schien leichter geworden, wackelte.
Das Wasser im Guckloch war blau. Das Netz aus Sonnenkringelchen wurde dichter. Faludi sagte: „Ja, aber es reißt einen doch aus, es spannt einen. Seit Jahren ist man daran gewöhnt, immer so zu leben, immer auf der Kante." Und er dachte: Was sind denn das für Worte, wo habe ich denn die aufgefangen? Wenn man sich nur auf dieser Erde noch einmal satt schlafen könnte. Er entschloss sich, rollte sich zusammen und legte seinen Kopf auf Steiners Knie. Er war noch nicht aufgewacht, als der Dampfer hielt. Es war die letzte Station vor der Grenze. Steiner packte Faludi an den Schultern und rüttelte. Aber Faludi schlief jetzt so fest, dass es nichts nutzte. Steiner versuchte die Beine unter Faludis Kopf wegzuziehen. Er hämmerte mit den Fäusten auf ihm herum, er konnte es nicht ertragen, jetzt allein wach zu sein. Aber Faludi war nicht aufzuwecken. Steiner stöhnte, es zog und zog in seinem Innern und riss plötzlich durch - es war ihm auf einmal alles einerlei Auf dem Schiff war Gelaufe und Gepolter, hinter den Latten ging ein wildes Geschimpfe los - vielleicht war außer ihnen noch wer versteckt und wurde gefunden. Werde ich durchkommen? dachte Steiner auf einmal ganz ruhig, und er dachte sofort: Wozu eigentlich? Und er wusste, dass dieser zweite Gedanke viel schrecklicher war als der erste.
Faludi wachte von den Maschinenstößen auf. „Also wo sind wir?" - „Über die Grenze hinaus." Faludi lachte: „Nun, also."
Steiner fragte: „Wann, glauben Sie, werden wir zurückfahren?"
„Ich weiß es nicht. Ich muss vielleicht in diesem Monat wieder zurückfahren. - Schlafen Sie jetzt!"
Steiner legte widerstrebend seinen Kopf auf Faludis Knie. Aber die Ruhe, die aus Faludis Körper strömte, wie Wärme aus einem Ofen, war größer als seine Abneigung. Er schloss die Augen, schlief nicht, sondern versuchte wach die Sicherheit auszukosten, die ihn endlich überkam, seine erstarrten Gedanken auftaute. Sein Kopf füllte sich mit Hoffnungen und Möglichkeiten, seine Todesangst war ausgelöscht, es gab keine Grenzen und kein Ende mehr. Heiße Vorfreude auf alles Kommende durchzuckte ihn, brannte hell auf, schlug plötzlich um und erlosch. Nichts blieb zurück als Enttäuschung, ja Trauer. Steiner stellte sich schlafend, um nichts zu sagen, und er dachte angestrengt weiter: Wozu eigentlich?
Jemand rüttelte von außen an der Latte. „Fertigmachen, Wien!" Droben in der Wand war die Luke voll Licht, Abfall einer leuchtenden Stadt, nächtliche Einfahrt.


VI
In Budapest vor der Schuhfabrik in der Váczistraße, auf deren Toren noch die Anschläge des Arbeiter- und Soldatenrats klebten, lagen sechs oder acht Proleten mit den Gesichtern auf dem Pflaster. Büttel mit Stöcken droschen zuck, zuck die Reihen ab. Aus einem Fenster sauste etwas Schweres, Dunkles und klatschte nieder. Hinterher wurde gebrüllt, ganz nahe, in wilden furchtbaren Stößen, das Gebrüll wurde zu einer richtigen Stimme, oh, oh, aus. Pali riss seinen Kopf nach der Stimme; sofort kniete ihm jemand auf dem Nacken und schleifte sein Gesicht hin und her, als erfülle er den Auftrag, Palis Gesicht vollkommen auszulöschen. Einer, der neben ihm lag, berührte ihn mit dem Knie: „Pali." Pali versuchte zu lächeln, den Mund voll Blut. „Bist du da, Józsi?"
Hinter einem der grauen, blinden Fenster packten welche die Eri. Einer drückte ihre Knöchel zusammen, der andere fragte. Drunten im Hof hatte eine Frau in ihrer Angst geschrieen: „Fragt da oben, fragt die Eri!"
Eri war allein, ihr Vater war bei der Armee, die Brüder waren versteckt. Eri und ihre Brüder hatten alle drei zur „Arbeiterjugend" gehört. Sie war allein in der Gasse geblieben, sie hatte in der Nacht alles verbrannt.
Sie wurde dann unter den Achseln hochgenommen und auf die Füße gestellt. Sie wurde gegen die Wand gedrückt und ausgefragt. Sie steckte die Zungenspitze zwischen die Zähne, bekam einen Tritt und knickte zusammen. Bei jeder Frage glänzten ihre Augen auf, der eine fragte und der andre trat, ihr graues Gesicht zersprang, ein neues, fremdes Gesicht glänzte schon hell in den Sprüngen des alten. Eri öffnete zum ersten Mal den Mund und rutschte auf den Boden. Die Männer drehten sie um und suchten im Herausgehen Bett und Schrank ab mit gewohnten Handgriffen. Eri blickte aus den Augenwinkeln nach dem Wandbrett. Unter der Tasse liegt ein Zehnkronenschein. Jugendgruppe zehnter Bezirk. Kassenrest Juli. Die Männer schlugen die Tür hinter sich zu. Eri dachte: Ich habe doch nichts gesagt. In ihrem sterbenden Gesicht versickerte aller Glanz. Sie aber glaubte, dass dies das Leben sei, dies und nichts anders.


VII
„... beschlossen wir, uns aus sämtlichen Institutionen der Sozialdemokratie zurückzuziehen und in die Illegalität einzutreten; gaben uns einander die Hand, denn wir wussten, dass inzwischen die Rumänen, die Vorhut der Gegenrevolution, in die Vorstadt eingezogen waren und einer den andern nicht mehr wieder sehen wird." Kovács gab auch allen die Hand, die ihn anhörten. Er war noch einmal in seinen Bezirk zurückgekehrt, um die Arbeit aufzuteilen. Er entkam schließlich mit zwei Arbeitern durch ein Kanalrohr. Sie klopften nachts an einem der kleinen Häuser über der Landstraße. Der Besitzer, er hatte etwas Gartenland und einen Laden, war nie in die Gassen gekommen; er war furchtsam und hatte sich von allem zurückgehalten. Wie er jetzt einen winzigen Spalt öffnete und die drei erblickte, riss es in ihm. Er ließ sie nicht nur ein, er gab ihnen auch alles Geld, was er hatte. Einige Stunden später war er, von Nachbarn angezeigt, im Polizeigefängnis gelandet, sein Besitz zertrampelt, sein Weib halbtot geschlagen.
Die drei Männer waren ein Stück in die Felder gelaufen und hatten sich dann getrennt. Die zwei Jungen wollten in die Dörfer, Kovács wollte an den Westbahnhof. Er kannte sich dort im Bezirk aus, dort gab es welche, die ihm weiterhalfen. Die ganze Zeit über war er ruhig gewesen. Wenn er ein wenig gelächelt und ein paar Worte gesagt hatte, waren auch die Menschen um ihn herum ruhiger geworden. Jetzt war er zum ersten Mal allein. Er war nie aus den Gassen herausgekommen. Seufzend, mit kleinen, engen Gassenschritten, auf dünnen, ausgeleierten Beinen lief Kovács den Stadtrand entlang. Manchmal konnte er einzelne, schnurgerade Straßen hinuntersehen, bis in ihr Innerstes, als sei die Stadt an dieser Stelle angeschnitten und bloßgelegt. Auf einer Straße war ein Menschenauflauf. Kovács weiß, was der Mittelpunkt ist: ein blutiger Leib unter den Stiefeln der Polizisten. Vielleicht ist es sein eigener Leib in der nächsten Stunde. Er sehnt sich nach seinen Kameraden, die er eben verlassen hat. Er versucht sich klarzumachen, dass es kein Unterschied sein kann, ob sie neben ihm hergehen oder zehn Kilometer weiter auf derselben Erde. Er wiederholt in einem fort seinen eigenen Bericht im Bezirk, während er rund um die Stadt steigt.
Er kommt mittags auf die Station. Im Schalterraum der Güterabfertigung findet er seinen Freund Ligeti, über die Waage gebeugt, mit zitternden Händen die Eisenteile ölend. Er wagt nicht, ihn offen anzusehen, aus einem Augenwinkel huscht ein Blick, wie die Maus aus dem Mauseloch - Kovács' Hände zittern schon mit Ligetis Händen, bevor er hört:
„Man hat die alte Belegschaft zusammengekoppelt weggetrieben. Man hat eine neue Belegschaft eingesetzt. Was gestern und heute nacht hier war, gestern und heute nacht. Sie suchen die Lagerhäuser mit Hunden nach Flüchtlingen ab. Sie haben welche von uns auf die Schienen gebunden. Sie haben welche von uns auf die Puffer gebunden. Sie haben zwei Heizer in die Kessel geworfen. Aber das ist auch furchtbar -", Ligeti sah plötzlich Kovács voll an, mit Menschenblick, trotzdem stutzte Kovács, ob das Ligetis Gesicht war, „dass ich trotzdem hier stehe und Eisenteile öle, das ist doch ganz furchtbar, dass ich hier weiterstelle und Schräubchen öle, dass ich hier stehe und Schräubchen öle."
Kovács knotet seine Finger zusammen, damit sie endlich still sind. „Da kann ich also nicht fort."
„Doch, doch, doch. Ich kenne da zwei von der neuen Belegschaft -"
Sie versteckten ihn im tschechischen Güterzug. Vor der Einfahrt verließ Kovács den Zug. Er musste durch ein Wäldchen bis zum Fluss gehen. Die zittrige Uferlinie war von den Lichtern der Grenzwache punktiert. Noch nie in seinem Leben hat er den Tag im Freien anbrechen sehen, mit schwachem und schreckhaftem Licht über nebligen Hügeln. Er erschrak, wie schwer und zäh das Wasser war. Drüben griff ihn die tschechische Grenzwache auf, packte ihn, weil er schwach war, unter den Armen, sagte aber: „Das wird schlecht ausgehen, gestern wärst du noch durchgekommen, heute ist eine Order da, dass alles wieder zurück muss."
Ungarische Grenzwache nimmt ihn der tschechischen ab, packt ihn, trampelt. Von Station zu Station rollt sein zertretener Körper in die Stadt zurück.

 

Zweites Kapitel

Auf- und nebeneinander lagen in der Zelle die, die nicht mehr stehen konnten, ein unordentliches Grab. Luft und Tageslicht gab es nur zum Verhör oder Gericht.
Solange Kovács allein gewesen war, vom Augenblick an, als sich seine Gefährten im Feld von ihm trennten, hatte er sich im Grunde seines Herzens vor dem Tod gefürchtet und nicht an seine Rettung geglaubt. Als er ins Massengefängnis eingeliefert wurde, hörte er auf, sich zu fürchten und wurde ruhig. „Wartet ab." - „Auf was sollen wir warten?" - „Wartet ab."
Er ließ sich nicht verwirren. Er hatte schon in seinen Ohren das Geknall von Schüssen, das Dröhnen der Schritte, das Aufbrechen der Tür, die Befreiung. Mit unerbittlicher Wucht und Schnelligkeit lief es draußen weiter, es gab nur eins, was ebenso schnell und wuchtig ablief, um die Wette mit dem Draußen: sein eigenes Leben. Er wurde zum Verhör geholt. Er kam mit blutigen Ohren und eingeschlagenen Zähnen zurück und: „Wartet ab." Ein Schub Gefangener wurde abgeführt und nicht mehr zurückgebracht. Sie waren abgeurteilt und erschossen worden. Ein zweiter Schub wurde abgeführt und wieder zurückgebracht. Auf dem Boden der Zelle, nach dem Verhör, schrieen sie: „Wir wollen nicht mehr, wir können nicht mehr!" Kovács sagte: „Doch. Es kommt noch vieles."
Neue wurden eingeliefert. Der Gestank und die Dunkelheit entsetzte sie. Sie fingen zu brüllen an und schlugen gegen die Tür. Kovács kannte einen. „Was gibt es draußen?" Als der nun Kovács' Gesicht erblickte - zwar war es Kovács' altem Gesicht nur so ähnlich, wie Tote den Lebenden ähnlich sind -, wurde er klar im Kopf: „Draußen - man hat Tibor gefunden, man hat ihn in die Donau geworfen, Hände und Füße mit Draht umwickelt. In Kapósvar haben sie zwanzig Bauern aufgehängt, dann haben sie sie wieder abgeschnitten und den Frauen zurückgegeben. Dann haben sie sie den Frauen wieder weggenommen und ganz aufgehängt. Man hat, man hat -"
„Die Partei?"
„Partei, Partei - einmal hieß es, ein ganzes Heer marschiert durch das Burgenland. Sie haben sich durchgeschlagen und stehen vor der Stadt. Faludi war aus Wien gekommen, das war wohl alles - ich weiß nicht, ob er heil zurück ist -, er sagte: Wartet ab."
„Russland?"
„Russland, Russland - von allen Seiten haben sie tief hineingebissen. -
Was fragst du mich? Das sagt man im achten Bezirk, im neunten stecken sie schon die roten Fahnen auf, und nichts ist. Und Russland -"
„Gar nichts weißt du. Keine Augen hast du und keine Ohren. Unnütz bist du. Ich weiß dir mehr zu sagen als du mir."
Viele, nach ihnen Eingelieferte waren schon abgeurteilt. „Wozu hebt man uns auf? Was will man von uns? Man lässt uns liegen, lässt uns absterben." -
Kovács sagte: „Je länger, desto besser, noch kann vieles kommen."
Wochen waren vergangen, vielleicht Monate. Neue wurden eingeliefert. „Wir Jungen haben den Sommer über gearbeitet, trafen uns in den Ofener Bergen. Wir hatten etwas Ruhe, jetzt hat man frisch zugegriffen. Die sind neu wild geworden. In Italien, müsst ihr wissen, geht es hoch her. Die Bauern reißen den Gutsherren das Land weg. Die Arbeiter haben die Fabriken besetzt. In Mailand und in Bologna und in vielen Städten.
In Russland, aber das müsst ihr doch wissen, hat die Rote Armee eine große Schlacht gewonnen. Sie haben Kiew den Polen wieder abgenommen. Unaufhaltsam stürmt die Rote Reiterarmee nach Warschau."
Kovács sagte: „Hört ihr."
Er steckte die andren an. Alles war möglich. Es war eine Frage der Zeit. Sie waren eine kleine weiße Insel in einer roten Welt. Jetzt horchten sie alle auf Geräusche vor der Tür, auf Schüsse, Schritte.
Kurz danach wurde Kovács mit drei andern dem Außerordentlichen Gericht vorgeführt. Sie wurden zum Erschießen verurteilt. Nach dem Urteil wurden sie nicht mehr zurück, sondern zu viert in eine andre Zelle gebracht.
Kovács glaubte noch immer nicht, aber er ahnte, dass sein Leben schneller ablief als das, was draußen war. Er redete die ganze Nacht seinen Gefährten zu, und wenn er aufhörte, baten sie ihn, weiterzureden.
Gegen Morgen wusste Kovács auch, dass für ihn nichts mehr möglich war.
Am Mittag, vor der Kasernenmauer, redete er seine Gefährten zum letzten Mal an, mit der vollen Kraft seines Wissens und seiner Stimme. Seine Worte verbreiteten sich über den Kasernenhof, hinaus in die Stadt und über die Landesgrenze. Aufgeteilt war unter sie der schwere Tod in viele leichte Tode. Doch Kovács selbst starb langsam und qualvoll; denn er war schlecht getroffen, weil die Hände, die auf ihn schossen, gezittert haben.


II
Ein kleiner Haufen zerfetzter Menschen stand zusammengedrückt vor einem Transparent, das zwei italienische Genossen mit feierlichen und ernsthaften Gesichtern über sie hielten. Auf der Treppe des Gewerkschaftshauses stand Morani und begrüßte die Angekommenen im Namen der Eisenbahnergewerkschaft von Bologna. Es war kein Zweifel, dass das alles ihnen galt, das Transparent, die Sonne, die stürmische Begrüßung.
Droben im Gewerkschaftshaus gab es Ansprachen und Wein und Essen bis in die Nacht. Die Italiener drängten sich, ihre ungarischen Brüder zu bewirten und mit nach Hause zu nehmen.
Einer trat schon zum zehnten Mal an Pali heran: „Vergiss nicht, ich heiße Bordoni - ich hab mich zuallererst beim Hilfskomitee gemeldet, du musst mit mir gehen." - „Ja, gewiss." Pali verstand ihn nicht ganz. „Wir können auch gleich gehen, wenn du willst." Er war ein hübscher, großer Junge, rote Nelke im Knopfloch. Er starrte Pali an, verschluckte den kleinen, krummbeinigen, zerzausten Pali, auf dessen Gesicht es Schrammen gab, die vielleicht noch die Spuren von Misshandlungen waren. Pali erblickte sich selbst, förmlich festgesaugt, in Bordonis Pupillen, im ganzen Glanz seiner Augen. Er lächelte ein wenig und sagte: „Los, gehen wir."
Bordoni redete unterwegs auf ihn ein, aber Pali verstand noch nicht. Er versuchte sich den Weg zu merken, Bordoni hängte sich in ihn ein. Er schleppte ihn nochmals schnell in eine Kneipe, zeigte ihn dort seinen Freunden, forderte alle auf, nachher in sein Zimmer zu kommen. Pali verstand nichts als Blicke und Hände und lächelte. Trotz allem machte Bordoni auf Pali keinen besonders guten Eindruck. Der steckt sich gern eine rote Papiernelke an und spaziert herum - und fertig. Sie kamen eingehängt durch ein Gewirr von fröhlichen, lärmenden Gassen zu Bordonis Wohnung. Der machte die Tür auf und sagte ein wenig kleinlaut: „Da sind wir." Die Frau hinter dem Tisch, gleichfalls jung und hübsch, mit krausem Haar und klingenden Ohrringen, schnellte hoch. Sie sah bestürzt aus. Frau Bordoni hatte sich tagelang mit aller Kraft dem Wunsch ihres Mannes widersetzt, einen Flüchtling aufzunehmen. „Gib dem Komitee ein paar Hosen oder zwei Hemden. Lieber gib ihm Geld. Aber nimm keinen Fremden auf. Hier in unseren vier Wänden."
„Gewiss nehme ich -"
„Hier bei uns soll er essen und schlafen?"
„Soll er auf der Straße schlafen?"
Er versuchte alles zu erklären, aber sie weinte nur. Bordoni hatte es beinahe aufgegeben. Es waren so viele, die sich meldeten, sollten die aufnehmen. Aber die Ansprache Moranis, die Beschreibung aller Verfolgungen und Palis Anblick stimmten ihn dann wieder um. Frau Bordoni hatte nicht im Traum daran gedacht, dass er wirklich jemand mitbrachte. Sie hatten im Krieg geheiratet, ihre Eltern waren Handwerker. Nach dem Krieg wurde Bordoni Vorarbeiter in der Armaturenfabrik. Er war leicht mitzureißen, und die Stimmung der Arbeiterschaft in diesen Jahren riss ihn mit. Frau Bordoni schimpfte über seine Redensarten, über seine abendlichen Versammlungen. Aber einmal daheim, war er verliebt und weich.
Als Palis rundes, helles Gesicht hinter dem Arm ihres Mannes in ihr ordentliches Zimmer hineinplatschte, ging es ihr durch und durch. Sie spürte sofort, dieses Gesicht reißt in mein Zimmer ein Loch, das kann man nie mehr zunähen. Durch dieses Loch wird viel von außen hereinkommen.
Pali wunderte sich über die Frau. Er gab ihr ruhig die Hand und liebkoste ihr zu Gefallen die Kinder. Aber sie lächelte nur obendrauf und sah ihm allzu hart mitten ins Gesicht hinein. So und nicht anders hatte sich Frau Bordoni einen Flüchtling vorgestellt, mit Narben und mit Lumpen.
Auch Bordoni hatte sich das so vorgestellt, er schämte sich über die Frau und hasste in diesem Augenblick, bis auf Pali, alles, was im Zimmer war.
Bald kamen die Genossen aus der Kneipe, die Bordoni auf dem Heimweg eingeladen hatte. Da wusste Frau Bordoni, jetzt war es soweit, so kommt es, wenn ein Loch da ist. Die Kinder wachten auf durch das Gelärm. Sie rutschten auf den Knien der Männer herum. Pali verstand nicht viel, aber er war schlau; hörte die Namen heraus und zeigte mit seinen beiden Händen, was er von allen hielt. Pali ahnte nicht, dass es in dieser Nacht zum ersten Mal bei Bordoni voll war; er, Pali, hätte nicht begriffen, wie es anders als voll sein konnte, bei einem Proleten, in einer solchen Zeit, in einer solchen Stadt. Er glaubte, er sei in vier heiße Wände hineingeraten. Er wusste nicht, dass er die Wände erst heiß machte.
Frau Bordoni hinter dem Tisch war müde und unglücklich. Sie betrachtete heimlich Palis Gesicht, kindlich und rund und hell, zwischen den schwärzlichen Gesichtern der Männer. Die Narben in diesem Gesicht erschreckten sie wie eine ansteckende Krankheit, die in ihr Heim gekommen war, über sie und die Ihren.


III
Mitternacht war vorüber. Aber keiner von allen Menschen in Batós Zimmer in Wien in der St.-Antons-Gasse machte Anstalten, zu gehen. Bató sah gelb und hutzelig aus. Seine Backenknochen zuckten vor Ermüdung. Seine Augen sahen schnell von einem zum andern, mit beinah schmerzhafter Aufmerksamkeit.
Eugen und Hajnal hatten ihre Stühle gegeneinander gestellt und schrieen, Gesicht gegen Gesicht:
„Im jetzigen Augenblick zehntausend Mann hinstellen und ins Burgenland einziehen! Die Bauern -"
„Man sollte dich internieren, Hajnal, wahrhaftig, im jetzigen Augenblick ist es ein Unglück, dass deinesgleichen frei herumläuft."
Bató hörte gespannt zu. Sein Blick blieb an Hajnals Gesicht hängen, das vor Hass bleich und entstellt war.
„- ob die Fabrikbesetzung eine Einzelaktion ist oder ein Signal, nach einem solchen Schritt darf es kein Zurück geben.
Er muss den allgemeinen Aufstand auslösen oder einen furchtbaren Gegenschlag. Deshalb ist Turati -"
Bató stand leise auf und stellte sich hinter die Redenden, um besser zu hören. Ohne dass ihn jemand beachtete, horchte er bald da-, bald dorthin. Plötzlich wandte er sich von allen ab und trat ans Fenster. Er machte weit auf und beugte sich hinaus. Es schlug gerade zwei Uhr von Turm zu Turm in die stille feuchte Nacht, in hellen und tiefen Schlägen. Zwischen den Laternen kamen Schritte, jemand blieb unter dem Fenster stehen.
Bató drehte sich um: „Faludi." Alle hörten zu reden auf und warteten. Gleich darauf trat Faludi ein, als brächte er ein neues Zimmer mit und stülpte es den Menschen über. Das Gespräch verpuffte. Faludi war zum zweiten Mal illegal „drunten" gewesen, er war gerade zurückgekommen. Einen Augenblick lag auf den zerstrittenen Gesichtern nur Erleichterung, ihn wieder zu sehen. Faludi ging auf Hajnal los und fing zu schimpfen an. Er erblickte plötzlich Steiner: „Sind Sie auch noch da?" Steiner sah ihn kalt an und erwiderte nichts. Faludi fragte und antwortete. Auf einmal fiel sein Blick auf einen dunklen jungen Kopf, der über dem Tisch in den verschränkten Armen schlief. Faludi hob ihn hoch, stemmte ihn von sich ab - zwischen ihm und diesem Kopf lagen braune goldene Erdwellen, die Flucht, das Land, das ganze Leben herauf und herunter - und sagte: „Ich habe geglaubt, dass du tot bist."
Böhm wurde zwischen Faludis Händen wach und fiel ihm um den Hals. „Ach, dein Gesicht, Böhm, wie ich dich allein auf dem Feld stehenließ." - „Werden Sie hier bleiben?" - „Nein, das ist nichts für mich. Ich habe andere Parteiarbeit bekommen. Ich fahre in die Karpaten, ins Russinsko, vielleicht schon morgen. Soll ich dich mitnehmen?" Früher wäre Böhm mit Faludi auf den Mond gegangen, jetzt war es ihm nicht mehr wichtig, mit Faludi an einem Ort zu sein. „Ich fahre nach Deutschland." Hajnal rief dazwischen: „Wozu denn, Sie können in drei Wochen heimfahren." - „Ich kann auch aus Deutschland heimfahren." -„Fahr du nach Deutschland, Peter. Aber jetzt komm, geh mit mir, sei mein Gast, bleiben wir diese Nacht beisammen, reden wir von früher."
„Früher, was ist das, früher?"
„Früher ist alles, bis zu diesem Augenblick. Was stört dich denn? Was ist eigentlich in diesem Zimmer los, dass ihr alle zusammenhockt?"
„Hier war heute morgen eine Sitzung."
„Ich habe Licht gesehen, bin heraufgekommen. Komm, Böhm."
„Wo wollen wir hingehen? Zu dir, zu mir, ins Cafe?"
„Zu dir!"
,,Es ist ein gutes Stück zu mir, in den neunzehnten Bezirk, in die Baracke. Aber du kannst dort in meinem Zimmer allerlei Leute treffen, wenn du Lust dazu hast."
Böhm wohnte in der Baracke Nr. 43 - Militärbaracken, die man Studenten zum Wohnen überlassen hatte. Die 43. war Emigrantenbaracke. Über dem Zug flacher, niedriger Dächer wurde der Himmel heller, aber in vielen Fenstern war noch Licht
„Bei mir ist auch noch Licht", sagte Böhm. Seine Schläfen hämmerten. Seit Wochen und Monaten flossen Tage und Nächte zusammen in eine brennende Wartezeit, unsichere, flimmrige Polarnacht.
In Böhms graugetünchter Barackenbude gab es einen Tisch, ein Bett, ein paar Stühle und an der Decke eine grelle, schirmlose Glühbirne.
Auf seinem Bett saßen fünf oder sechs, in der Ecke duselte, von niemand beachtet, ein komischer alter Mann.
„Der Kapitalismus kann sich vielleicht scheinbar konsolidieren auf ein paar Monate -" Jonny schwenkte die Arme, als mähe er die Worte mit einer Sense. „Aber hör mal", sagte Faludi, er war sofort mittendrin. Böhm trat, von niemandem beachtet, mit erschrockenem Gesicht hinter den Alten. Er weckte ihn, ohne ihn zu berühren, indem er nur an der Lehne ein wenig rüttelte.
„Sind Sie's, was machen Sie denn hier?"
„Ich hab hier ein Geschäft, und da sagte ich daheim, da kann ich gleich mal sehen, was unser Peter macht. Nu, setz dich doch."
Böhm sah den Alten so starr an, dass dieser die Augen zusammenkniff. Er war gekommen, um mit Böhm zu sprechen, dessen Gesicht er besser kannte als sonst etwas Sichtbares. Aber jetzt war es gar nicht das Gesicht, das er kannte, sondern ein unbekanntes, feindliches Gesicht. (Du bist also gekommen, um mit mir zu sprechen, aber ich bin hart und stark, nichts kann an mich heran.)
„Nu, erzähl mal, schreiben tust du ja nicht. Nu, erzähl mal." Der Alte sprach langsam und deutlich, aber nur deshalb, weil er Angst hatte, Angst, dass ihn im nächsten Augenblick etwas Schreckliches treffen würde, ein Schlag, den er nicht abwehren konnte. „Nu, so erzähl doch. Da bist du also glücklich in Wien."
(Was fragst du mich denn? Hast du denn keine Ahnung, wer ich bin? Weißt du denn nicht, was alles an Großem und Furchtbarem mit mir geschehen ist?)
„Also, fang doch mal an, was lernst du denn?" (Fragen kannst du, was du willst, kannst dich sogar hier auf den Boden werfen und in Stücke zerreden. Bei mir wirst du nichts erreichen.) „Aber Sie wissen doch", sagte Böhm ruhig, „dass ich nicht nach Wien gefahren bin, um zu lernen. Übrigens fahre ich dieser Tage von hier weg nach Deutschland. Ich habe mein Studium abgebrochen. Sie müssen sich damit abfinden." - „Was, was, du lernst nicht mehr? Ja, warum lernst du denn nicht mehr? Jetzt bist du soundso lange von zu Hause weg, und wir wissen nicht, was du machst und wo du bist. Und endlich schreibst du, du bist in Wien, und wir sind froh und schicken dir Geld, und jetzt sagst du, du lernst nicht mehr. Wenn ich das deiner Mutter erzähle, dann wird sie sagen: Jetzt siehst du, wofür wir uns geplagt haben.'"
„Sie brauchen sich nicht für mich zu plagen."
„Nicht zu plagen!" Ein Schwarm von Gedanken flog durch seinen Kopf, spiegelte sich in hellen Pünktchen in seinen Augen, fremde phantastische, nie gekostete Freuden des Daseins, die sich alle verwandelt hatten, in Stiefel und Bücher und Arzneien für Peter. Dann waren die hellen Punkte weg. Hass war darin. „Daran sind diese Leute schuld, denen du immer daheim nachgelaufen bist, diese Leute, wie man sie jetzt bei uns einsperrt und aufhängt. Gott verfluch sie!" - „Hören Sie mal", sagte Böhm, „lassen Sie mich in Frieden. Bekümmern Sie sich nicht mehr um mich. Fahren Sie nach Hause," (Jetzt habe ich dich endlich getroffen.) Der Alte stand wirklich auf. Er sah ihn wie ein kleines Kind von unten nach oben an; ohne etwas zu sagen,
ohne ihm die Hand zu geben, verließ er das Zimmer so schnell, dass Böhm ganz überrascht vor dem leeren Stuhl stand.
Böhm trat schnell hinter Faludi. „Wer war denn das?" -„Mein Vater, den hab ich rausgeworfen."
Als Böhm mit Faludi den Anfang gemacht hatte, waren auch die andern nach und nach aus Batós Zimmer weggegangen. Steiner ging zuletzt. Er kehrte in der Tür nochmals um. Bató sah zu Tode erschöpft aus. Steiner wusste, wie sehnlichst er wünschte, auch er, Steiner, möchte gehen. Aber er sagte: „Verzeihen Sie. Ich muss noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen." Bató sagte sofort: „Gewiss." Sie hatten vor dem Kriege zusammen studiert, an Hochschulen unterrichtet. Bató hatte schon im letzten Kriegsjahr sein Lehramt mit dem «Gefängnis vertauscht, während der Diktatur hatte er Steiner in der Universität wiedergetroffen und jetzt nach dem Zusammenbruch in Wien. Sie setzten sich sofort gegenüber. Bató richtete seine Augen auf Steiners Gesicht, als sähe er dieses kluge, unruhige Gesicht zum ersten Mal. Steiner trank einen Schluck kalten, bittern Tee. Er sagte: „Sehen Sie, Bató, ich kann es einfach nicht mehr aushalten." - „Was aushalten?"
„Fragen Sie doch nicht ,was'! Ich kenne Sie doch, stellen Sie sich doch nicht als ob - Sie wissen wohl, was es zum Aushalten gibt. Man sagt, Sie sind in der Nacht auf den Zwölften über die Grenze geflohen. Am nächsten Morgen um acht haben Sie draußen in Floridsdorf gestanden und Flugblätter verteilt. Großartig, sogar sehr großartig. Nämlich, am ersten Tag nach der Flucht, auch am zweiten, auch am dritten. Aber dann immer weiter, am vierten, hundertsten, tausendsten Tag -"
Bató drückte seine Augen zusammen, als sei Steiners Gesicht plötzlich weit weggerückt, schwer erkennbar. Vielleicht dachte er, lass mich doch endlich schlafen, mich, der ich dir nicht helfen kann. Aber er zwang sich mitzuzuhören.
„Ich kann es nicht mehr aushalten, was hier geschieht. Nein, das kann ich nicht.
Ich fürchte mich vor der Zeit. Ich muss wissen, ob ich acht Tage warten soll, oder zehn Tage oder mein Leben lang. Das sind drei ganz verschiedene Dinge, auf die muss ich mich einrichten. Lachen Sie nicht."
„Ich lache ja gar nicht."
„Auf was warte ich eigentlich? Was ist das eigentlich für ein Ding, Weltrevolution? Abgesehen von dem Brot, das wir alle genug haben werden - wird der Weg zwischen Leben und Sterben gangbarer sein (abgesehen, sage ich, von dem Brot, dem Proviant auf diesem Weg), wird der Tod geringfügiger sein und werde ich weniger allein sein?"
Bató betrachtete Steiners Gesicht, als sei es der Schauplatz verwickelter Ereignisse. Zum ersten Mal an diesem Abend redete er selbst: „Ja, diese Anfälle von Angst und Trauer, diese Angst, die stärker ist als unser Wille und unsere Einsicht, tief im Blut drin, Todesangst und Trauer. Aber wir müssen uns doch Rechenschaft ablegen, woher das kommt -"
Steiner runzelte die Stirn. Er kannte Batós Antworten, wie Bató seine Klagen kannte. Denn er kam jeden Abend herauf, seit er in Wien war. Aber diesmal stand er plötzlich auf: „Das ist es gerade, was mir fehlt, in Ruhe Rechenschaft ablegen. Sehen Sie, und deshalb bin ich heute gekommen, um Ihnen Lebewohl zu sagen. Wie sagte der kleine Böhm? Ich kann auch von Deutschland aus heimkehren. Man kann allerorts warten. Zwischen dem, was war, und dem, was sein wird, will ich noch einmal ruhig nachdenken, vielleicht in einer kleinen deutschen Universitätsstadt - nicht bloß hier mit diesen Auguren in einem Käfig, immer ihre Gefriße vor Augen und die Ohren voll von ihren Prophezeiungen."
(Ich bin todmüde, und es ist ganz unnütz, ihn zurückzuhalten.) „Also leben Sie wohl."
Steiner erschrak. Er hatte erwartet, Bató möchte ihm mit aller Kraft von dieser Reise abreden. Bató reichte ihm beide Hände, aber seine Augen sahen Steiner gleichgültig an.
Als Steiner gegangen war, sah Bató eine Weile vor Müdigkeit gedankenlos auf den Tisch, der mit einem Berg von schmutzigen Tassen beladen war. Dann ging er in die Kammer hinter der Tür. Seine Frau - ihr bleiches, kränkliches Gesicht war auch vor Müdigkeit wie ausgelöscht - saß schon wach mit dem Kind, das in der letzten Augustwoche geboren war. Es war winzig und elend und schien langsam abzusterben. Der ältere Knabe lag hinter ihr, mit einem zugekniffenen und einem wachen, offenen Auge, als warte er auf etwas.
Marie sagte: „Sieh nur mal, wie es jetzt aussieht." Bató warf einen schnellen Blick auf das Kind. Er sagte: „Faludi ist wieder zurückgekommen. Er fährt vielleicht schon morgen in die Karpaten, ins Russinsko."
Marie fuhr fort: „Ich glaube, du hast das Kind, seit es auf der Welt ist, noch nicht gesehen." Sie wartete ein wenig und fügte hinzu: „Und es wird sterben, und du wirst es nicht angesehen haben." Sie erschrak heftig über ihre eigenen Worte, aber Bató sagte gleichmütig: „Lass doch, es wird schon leben bleiben."


IV
Aus der unendlichen polnischen Ebene brach die zähe feuchte Erde in die Stadt ein, in die hilflosen, schon im Entstehen zerfallenden, locker um die Fabriken gewundenen Gassen. Auf dem Steg, der über den aufgeweichten, zerstampften Boden gelegt war, traten die Färber zur Frühschicht an, am Seiteneingang der Appretur.
Die Kontrolle war scharf, sie wurden langsam, unter Stichproben, durchgelassen. Dem Eingang gegenüber, vor einer großen, unfertigen, mit Reklame und Aufschriften bedeckten Mauer, standen Polizisten in über und über bespritzten Uniformen.
Janek, unter den Letzten in der Reihe, ein kleiner, kurzer, kugelrunder Junge, wischte mit dem Ärmel die vor Aufregung rinnenden Nasenlöcher. Seine Haut juckte, eine dicke Haut aus Flugblatt; sein ganzer Körper knisterte.
Janek dachte: Wladek, mein Bruder, ist nicht mehr heimgekommen. Er liegt jetzt auf dem Revier. Sie prügeln noch immer.
Janek hatte stets hinter dem älteren Bruder hervorgeguckt, ein Anhängsel ohne eigene Schultern. Gestern abend war das Flugblatt herausgekommen. Wladek hatte einen Pack gebracht, in den Ofen gelegt Er hatte noch Sophie erklärt, wie sie ein Brikett unter den Kessel legen müsste, dass es oben rauchte. Vom zweiten Abholen war er nicht mehr zurückgekommen. Sie hatten in die Nacht hinein gewartet Um zwei Uhr war Janek aufgestanden, hatte die Blätter herausgeholt und mit seiner jüngeren Schwester sofort zu falten angefangen. Die Mutter war herausgekrochen. Sie sog die Lippen nach innen, als lutsche sie Zucker; das tat sie immer, statt zu weinen. Aber sie setzte sich zu ihnen und half falten, im Dunklen, mit leisen Händen, damit es niemand hörte, die Alten nicht, und die ältere Schwester auch nicht.
Der Zweite vor ihm wurde sistiert. Die Arbeiter traten alle von einem Fuß auf den andren. Janek machte sich steif, um nicht zu knistern. Er war auf einmal überzeugt, dass er durchkam. Weiter, dachte er ungeduldig, „weiter, weiter", schimpfte mürrisch der Aufseher.
Später, in der Pause, im Waschraum der Appretur, drängten sich die Männer um die Bütten, tauchten ihre Arme in das fette, schon blaugeäderte Wasser. Einer langte sich einen Brotknorzen aus dem Kittel, kriegte etwas zwischen die Finger. Es zuckte ihm von den Fingerspitzen bis ins Herz. So ein Blatt brachte zwei Jahre Zuchthaus, das wusste seine Hand von selbst und ballte sich von selbst zusammen. Er warf gequält einen einzigen Blick auf den Papierknäuel, ein zerknittertes Wort sprang heraus, er vergaß die zwei Jahre, strich es mit der Handfläche glatt.
„Lesen und weitergeben! Lasst euch nicht anlügen! Auf Pferden stürmt die Rote Armee unaufhaltsam nach Warschau!"
Seine dicken Brauen stellten sich hoch. Länger als sonst drängten sich die Männer um die Bütte und beugten sich tiefer herunter. Janek sah einen Fetzen aufgeweichtes Papier auf der Lauge schwimmen.
Inzwischen saß seine Mutter noch immer auf ihrem alten Platz daheim und sog an ihren Lippen, da trat plötzlich Wladek, der ältere, ein. Er hatte ein graues Gesicht, alles an ihm hing etwas nach unten, seine Schultern, seine Mundwinkel, seine Brauen. Sophie merkte sofort, dass er so aussah wie als Kind, wenn er einen Pfennig verloren hatte. Er hatte auch gewiss diesmal etwas verloren, sie wusste nur nicht was. Die Mutter merkte nichts davon, sie sah nur, dass er überhaupt da war, und freute sich. Wladek sagte nicht viel, sondern legte sich sofort gegen die Wand, um zu schlafen.
Kurz danach klopfte es ans Fenster: „Sie haben euren Jungen geschnappt, sie schlagen ihn windelweich. Seht euch vor, sie kommen."
Sophie sah von einem zum andern, Wladek lag gegen die
Wand, aber Sophie sah es seinem Rücken an, dass er nicht schlief. Die Mutter sagte bestürzt: „Aber er ist doch längst hier." Sophie rief laut: „Den doch nicht, Mutter, unsern Janek!"


V
Zwölf Uhr mittags, dreistündige Waffenruhe an der polnischen Front zwecks Austauschs von Gefangenen. Die Polen geben den Russen zehn „Politische" aus ihren Kerkern heraus gegen ebenso viele Offiziere und Popen. Der Zug hält hinter der Grenze. Die Soldaten springen von den Trittbrettern, das Abteil wird aufgeriegelt. Die Polen, acht Männer, zwei Frauen, warten zwischen Gewehrkolben. Sie sind noch allesamt gefesselt. Während der Fahrt war Erregung, auf einmal sind alle still. Zwei Weißhaarige sind unter ihnen, Sophie Jaroslawski und Solonjenko. Die Soldaten kreischen: „Voran!" Sie laufen ein Stück die Schienen entlang, übers Feld gegen die Postenkette. Alles was hinter der Postenkette ist, Luft und Erde, ist unwahrscheinlich und schwer erreichbar. Sophie stapft und stampft, Solonjenko drückt die Brust heraus, das Kinn gegen die Brust. Sie erreichen die Postenkette.
„Halt!"
Ü brigens gibt es hinter den Posten nichts als Drahtverhaue. Die Fesseln werden ihnen abgenommen. Die Gewehrkolben bleiben, begleiten sie einen schmalen Weg, einen Pfad zwischen Gestrüppen von Stacheldraht. Sie sind zwanzig Minuten gegangen. Schon sehen sie jenseits des Drahtverhaues, vielleicht nochmals zwanzig Minuten entfernt, in der schwachen Sonne, in dunklen Soldatengruppen Helme und Waffenstücke glänzen. Sie hören Trommeln hinter sich, vor sich. Gleichzeitig, auf die Sekunde gleichzeitig, hören sie im Rücken den ersten Takt „Noch ist Polen nicht verloren!" und vor sich „Wacht auf, Verdammte ... !" Alle machen eine Bewegung mit den Schultern, als schüttelten sie Wasser ab, lächeln.
Auf einem andern Pfad durch das Drahtgestrüpp werden gerade die russischen Austauschgefangenen geleitet, ein Dutzend Popen und Gutsbesitzer. Jetzt schälen sich aus den Soldatengruppen' jenseits des Drahtfeldes die einzelnen heraus, Langmäntel der Rotarmisten. Die Gefangenen singen laut, während man ihnen die Fesseln abnimmt und die Namenslisten unterschreibt und austauscht. Die Gewehrkolben schlagen noch einmal auf die Erde und machen kehrt. Mit wilder, glühender Begrüßung reißt man die Gefangenen an sich. Der alte, kleine Solonjenko gibt es plötzlich auf, sich gerade zu halten. Er legt seinen Kopf auf die linke Schulter, als sei er jetzt sehr müde, sieht aber mit klaren Augen die Gestalt des roten Kommandeurs entlang, der vor ihm steht, mit dröhnender Stimme spricht - wie ein Standbild scheint er auf dem unteren Rand seines mächtigen Soldatenmantels auf der Erde zu ruhen. Die Musik hört auf. Die Gefangenen küssen sich mit den Soldaten und küssen sich untereinander. Solonjenko soll für alle sprechen. Er ist bleich, er zieht den Atem, dann ist es seine gewohnte gleichmäßige leise Stimme: „Vor euch, russische Genossen, steht die erste Generation von Gefangenen, die es erlebt, die Früchte ihres Kampfes zu sehen." Alle betrachten einander mit durchdringender Aufmerksamkeit. Der Dolmetscher im Soldatenrock tritt ein wenig vor und wendet sich an die Russen zurück. „Vor euch, Genossen, steht die erste Generation von Gefangenen, der es vergönnt ist, die Früchte ihres Kampfes zu sehen." Solonjenko macht mit beiden Händen eine Bewegung nach den Schläfen, lächelt und fährt dann russisch fort: „Noch keiner von uns, keiner unserer Verfolgten, Gefolterten, Eingekerkerten und getöteten Genossen hat mit eigenen Augen den Preis seines Kampfes gesehen. Wir als erste, in diesem Augenblick, sehen ihn." Er spricht schnell und leise, immer die Hände an den Schläfen, bis sie ihm sogleich am Ende seiner Rede herunterfallen. Im selben Augenblick reißen ihn zwei Arme unter den Achseln hoch und schwingen ihn in die Luft. Sein Herz klopft furchtbar. Einen Augenblick denkt er: Nein, noch nicht das Ende, ich will noch nicht. Er sieht die dicken Röcke der Jaroslawski mächtig durch die Luft wirbeln. In einer kurzen Sekunde der Heiterkeit beginnt sein Herz, sich von der unerträglichen Freude zu fassen, und klopft schon weniger furchtbar. Er steht wieder auf der Erde!


VI
Die Bergkette der Karpaten war dunkel, und die Feuer in den Bergen erloschen plötzlich, eins nach dem andern. Die Leute, ruthenische Bauern, die zur Versammlung auf die Holzplätze gekommen waren, legten sich nieder, schliefen und warteten. Jetzt, in der tiefen Nacht, war es noch schwerer, zu warten. Seit Tagen und Nächten wartete alles, in düsterer, unerträglicher Unruhe, wie sie die Frauen erfasst, wenn ihr Leib größer und größer wird und die Geburt bevorsteht. Die Versammlung war schon auf den Abend in die Nähe von Hruschowo festgesetzt, aber auf den morgigen Tag verschoben worden. Aus den acht umliegenden Dörfern erwarteten die Bauern den neuen Tag, das einzige, was bestimmt kommen musste. Eine alte, leise Stimme vom Boden her tröstete über die Liegenden weg: „Der Mann, den man uns aus Russland geschickt hat, um alles zu erklären, hat einen langen Weg, den kann er nicht auf die Stunde ausrechnen."
Aber ein andrer richtete sich auf und sagte: „Ach was, der hat keinen langen Weg, der wohnt ganz nahe bei der Partei, in Uzhorod."
Auf einmal, in ihren auf die Erde gebetteten Köpfen, dachten viele, die Russen könnten in zwei Tagen hier sein, wenn sie wirklich schon in Polen waren. In ihren Gesichtern zuckte die Hoffnung, sichtbar wie ein Lichtschein, der über den Holzplatz geschwenkt wird und schnell wieder abgeblendet Von neuem spannten sich alle Gesichter in unerträglichem, düsterem Warten. Jemand zeigte ein ausgeschnittenes Bild herum, Lenin, mit einem Bärtchen und einer Mütze. Aber dieses ausgeschnittene Bildchen machte nur bitter. Er konnte es sein, konnte es aber auch nicht sein. Etwas Besonderes, woran man ihn bestimmt erkennen konnte, hatte er nicht an sich. Er war es vielleicht, vielleicht war es ein fremder Mann.
Jetzt erinnerten sich viele, wie es im vorigen Jahr ähnlich zugegangen war. Umsturz in Ungarn. Sie hatten Feuer auf den Bergen gemacht, Flugblätter waren in die Dörfer gekommen. Ein großes Warten war es gewesen, und der Rest: Flüchtlinge "über die Berge gekommen, in den Holzstapeln versteckt, die Diktatur gestürzt, Bauern an ihren eigenen Bäumen aufgehängt
Jemand stöhnte laut auf, in zorniger, schmerzhafter Unruhe. Als striche der Lichtschein von neuem über den Abhang, legte sich etwas Helles auf alle Gesichter. Dann verging es wieder. Dann standen die meisten auf und sahen angestrengt hinunter
auf die Landstraße. Auf dem weißen, um die dunklen Berge gewundenen Band rückte etwas gegen den Holzplatz. Es waren Arbeiter aus Akna Zlatina. Sie stiegen geschlossen herauf und brachten Fahnen mit. Gleichzeitig mit den ansteigenden Menschen kehrte zuerst langsam, dann erstaunlich schnell der Tag, kehrten rundum die ausgezackten Berge zurück, tiefe, mit Wald ausgefüllte Bergfalten. Eine große Menschenmenge, die man nachts gar nicht gespürt hatte, bedeckte jetzt, da es Morgen wurde, den Abhang bis zur Landstraße. Ein heller, flockiger Himmel hielt Berge und Menschen zusammen. Sie fingen an, hartnäckig gegen den Wald zu rücken. Die Menge zog sich immer dunkler zusammen. Jemand war in der Mitte auf einen Holzstapel geklettert. In der wachsenden Stille hörte man eine starke Stimme anschlagen. Die an den äußersten Rand geraten waren, hielten sich an dem bloßen Klang dieser Stimme, die auch ohne Worte erregend war, wie das Feuergeläute eines entfernten Dorfes. Sie legten die Köpfe zurück, dass ihre Nacken brannten. Ihre Münder waren offen, mit nackten Zähnen schienen sie die Stimme zu zerbeißen.
Davon sagte die Stimme nichts, dass die Russen in zwei Tagen da seien. Aber sie sagte, dass Russland ein unermessliches Land sei, mit fetter Erde, die ganz und gar den Bauern gehörte. Sie forderte alle auf, die gekommen waren, der Partei zu folgen.
Auf den Gesichtern der Horchenden lag ein harter, schmerzlicher Glanz, wie auf Gesichtern von Toten.

 

Drittes Kapitel

Faludi, nachdem er fertig war - nach ihm stiegen noch andre auf den Holzstapel -, machte sich sofort auf den Weg nach Akna Zlatina, Dorf am Eingang des alten Salzbergwerks. Seit seiner Ankunft in Russinsko war er schon viele Tage in den Bergen, von Ort zu Ort, schlaflos.
Früher war Akna Zlatina ein Haufen schmieriger Hütten gewesen, ein Klumpen Menschen war aus den Kneipen in das Bergwerk gerutscht, aus dem Bergwerk in die Kneipen. Inzwischen hatten sich aus dem Klumpen Fäuste und Gesichter herausgeschält.
Seit Wochen stand das Bergwerk still. Gendarmen waren gekommen, es hatte Schießereien und Verhaftungen gegeben. Aber plötzlich waren die Gendarmen zurückgezogen worden. Auf den Holzplätzen in den Bergen glühten wieder die Feuer der Bauernversammlungen. Etwas Dunkles, Schweres war ganz nah, man sah es noch nicht, aber der Schatten war schon über einem, man spürte schon den Luftzug. Sprang einer auf den Tisch und rief, dann horchten die Menschen, denn jeder Ruf konnte der Ruf sein. Manchmal sprang einer hoch und redete in einem Zug mehr als bisher sein ganzes Leben lang. Jetzt hieß es, die Partei schickt uns den Faludi, der weiß es. Faludi kam, seine Stimme schlug auch hier über die Menschen weg, schwemmte von allen Gesichtern Zweifel und Müdigkeit. Vom Allerletzten sagte er nichts, das sie erwarteten, er war auch noch nicht zu Ende, das kam noch. Auf einmal gab es eine Unruhe, viele drehten die Köpfe weg, nach der Tür. - Faludi rief: „Was gibt es?" Jemand rief zurück: „Die Versammlung, von der du kommst, ist gesprengt worden!" - Weiter hinten riefen viele durcheinander, es hat Tote gegeben, viele sind verhaftet worden! Jemand kletterte auf einen Tisch an der Wand und fing laut zu erzählen an.
Faludi drückte sich durch und fragte. Alle möglichen Gerüchte waren schon im Umlauf, wie er von Uzhorod wegfuhr. Langsam verhallte das Echo vom Eintritt der Roten Armee in Polen, Stimmen kamen auf, dass die Offensive vor Warschau stockte. In diesen Tagen schlug die Stimmung in einem fort um. Vielleicht war die Schwere in seinen Gedanken, die es ihm plötzlich zur Qual machte, weiterzureden, nur eine gewöhnliche Erschöpfung. Aber wenn die Versammlung wirklich gesprengt war, war etwas Entscheidendes geschehen. Er gab sich einen Ruck und ordnete seine Gedanken. Was heißt das, etwas Entscheidendes? Die Feder in seinem Innern, die bei allen Nachrichten leiser oder stärker anschlug, hatte eben heftiger gezuckt! Vielleicht war der Vormarsch wirklich abgebrochen. Vielleicht sogar waren die Russen entscheidend geschlagen!
Er riss sich zusammen und kehrte an seinen Platz zurück. Er überdröhnte das Durcheinander von Stimmen. Wieder waren nach wenigen Minuten alle Gesichter ähnlich. Abwarten, Beschlüsse, Partei. Die Stille war so groß, dass beide etwas Drohendes, beinah Feindliches hatten, seine Stimme gegen die Stille. Da, wo auch vorher die Unruhe hergekommen war, schrie jemand wild: „Abwarten!" Faludi rief in dieselbe Richtung zurück, von verschiedenen Seiten wurde gerufen. Immer wieder fasste seine Stimme die Versammlung zusammen.
Jemand nahm ihn mit nach Hause. Faludi sagte: „Lass nur, da leg ich mich nieder." Er merkte, wie der Mann mit der Frau flüsterte, wie die Frau seufzend aufstand und etwas hervorsuchte. Er war zu müde, um noch mal: „Lass gut sein", zu sagen. Um ihn herum war der Schlaf von vielen Menschen. Draußen hörte man eilige Schritte, die Tür wurde wieder aufgerissen, jemand fragte, ob sie mitkämen. Faludi trat in die Tür und sah ihnen nach. Über den niedrigen Hütten war der Himmel dunkel, und die schweren Regenwolken waren schwärzer als die ausgehende Nacht. Die Berge lösten sich langsam ab. Sterne gab es keine, und die Dörfer schliefen. Nur in der Richtung nach Ust, nicht allzu weit weg, glühte ein winziges, seltsam durchdringendes Licht. Faludi starrte in Gedanken darauf, bis es sich ablöste, herumschwirrte und wieder auf seinen alten Platz zurückkehrte. Einen Augenblick schien es ihm, die Bergkämme allein hinderten ihn, das Kommende zu erkennen. Er hatte Lust, loszurennen. Aber viel größer als dieser Wunsch war eine schreckliche Erschöpfung, aufgesammelte Müdigkeit, nicht von Tagen, sondern von Jahren. Er schloss die Tür und legte sich nieder. „Aber es soll nicht aufhören, es soll mich nicht loslassen. Was wird aus mir, wenn es mich loslässt?" Er fühlte noch einschlafend, wie die Frau eine Decke über ihn breitete und etwas darunterstopfte, eins ihrer Kinder, das warm war und ihm Brust und Beine kitzelte.


II
„Seien Sie versichert, mein Herr", sagte der Gepäckträger, „dass Sie mit diesem Zimmer zufrieden sind. Ich kenne dieses Zimmer, weil ich immer den Koffer von Herrn Doktor Winter an die Bahn gebracht habe, der Assistent von Professor Panzer war und jetzt mit ihm nach Berlin gefahren ist; der Herr hat in diesem Zimmer sechs Jahre gewohnt."
Es roch nach Wald und Regen. Sie gingen hintereinander fast durch die ganze kleine Universitätsstadt, dann eine steile Straße hinauf, zwischen tropfenden, nach Jasmin duftenden Gärten. Steiner betrachtete mit Gewissensbissen den unter seinem Koffer gekrümmten Rücken. Sonst war alles unwahrscheinlich still -müder, behaglicher Regen. „Hier droben." Sie hielten, Steiner sah auf das Fenster hinter den Baumkronen, bekam sofort Angst, sein Zimmer könnte besetzt sein.
„Gewiss, das Zimmer ist frei", sagte die breite, weißhaarige Frau, „lassen Sie nur Ihren Koffer herauftragen. Mein früherer Mieter, der Assistent von Herrn Professor Panzer war und jetzt mit ihm nach Berlin gegangen ist, hat in diesem Zimmer sechs Jahre gewohnt." Sie betrachtete ihn von oben bis unten, als vergliche sie ihn mit seinem Vorgänger, erforschte sein Gesicht und seine Kleidung nach Anzeichen für die Dauer seines Aufenthalts.
Sie ging vor ihm her, gleich war das Fenster geöffnet, die Kanne frisch gefüllt, das Bett weiß bezogen. Steiner dachte aufatmend, er hätte schon lange nicht mehr einen Baum so nahe gesehen, hunderttausendtropfig.
Wenn sie draußen ist, werde ich sofort anfangen zu arbeiten, auf der Stelle.
Er schloss auf, legte seine Bücher vor sich hin. Er trat noch einmal ans Fenster, sein Gepäckträger lief durch den Garten und klinkte hinter sich zu. Fertig.
Steiner setzte sich, aber es war schon dämmrig vor lauter Baum. Jetzt war er auch zu müd, um nachzudenken. Er sah sich rund um, das gleichsam jungfräuliche Zimmer bedrückte ihn, der Tisch, der beladen war mit Gedanken, die er noch nicht gedacht, mit Ehrgeizen, die er noch nicht befriedigt hatte, das für ihn hergerichtete Bett, in dem er sich quälen und freuen sollte, allein oder mit jemand, in Traurigkeit, die unweigerlich mit dieser Nacht beginnen und mit der letzten hier verbrachten enden sollte. Er trat zum zweiten Mal ans Fenster. Er hatte Heimweh und Reue, dass er abgefahren war. Ob denn in dieser Stadt der Regen nie aufhört? Was musste das für ein Mensch gewesen sein, der vordem hier gewohnt und es fertig gebracht hatte, sechs Jahre in diesem Zimmer zu leben?


III
Frau Bordoni wartete inbrünstig darauf, Pali möchte ein anderes Quartier suchen. Wenn Pali nur nicht mehr da war, glaubte Frau Bordoni, dann sei das Leben besser zu ertragen. Das Leben in der Mariengasse, das seit September immer drohender wurde und unverständlicher. Dazu konnte Pali nichts, dass alles so ging wie es ging, in allen Nächten Schüsse und Messerstiche, die Gassen der Arbeiterviertel voll fremder schludriger Burschen, Faustschläge an die Türen und Steine in die Fenster des Gewerkschaftshauses. Da konnte der kleine Pali nichts dafür und nichts dagegen. Aber er konnte etwas dafür, wenn Bordoni in solchen Nächten, statt die Tür abzuschließen, erst recht ausging, wenn er Plakate abriss und anklebte und Posten stand für den Arbeiterselbstschutz in der Mariengasse, mit einem Soldatengürtel und Pistolen. Niemals wären ohne Pali allabendlich in ihr ordentliches Zimmer diese Männer hereingeströmt, die Bordonis ehemaligen Sonntagsgenossen in nichts mehr glichen.
Frau Bordoni glaubte, wenn Pali weg war, dann könnte sie das Loch doch noch irgendwie zustopfen.
Mitten in der Nacht kam Pali herein, ohne Bordoni. Es hatte Streit gegeben, Schüsse. Die Polizei hatte ein Auto voll mitgenommen, auch Bordoni.
„Lange werden sie ihn nicht behalten", meinte Pali, „man kann ihm ja nichts nachweisen."
Frau Bordoni starrte in sein rundes Gesicht. Das Herz stand ihr still, sie war zu verzweifelt, um zu schimpfen. Es ging aber alles gut aus. Bordoni kam schon am frühen Morgen wieder, er war gleich entlassen worden. Frau Bordoni atmete auf und schleuderte mit freier Kehle freche, spitzige Schimpfworte gegen Pali. Bordoni erzählte: „Wen, glaubst du, treffe ich da unter diesen Gagalacken auf dem Revier? Unseren kleinen Maffi. Der hat noch vor vier Wochen auf unseren Versammlungen herumgeplärrt und ,Hoch, hoch' geschrieen. ,Nun, Kleiner', hab ich gesagt, ,wer hat dir denn dein schönes seidenes Hemd geschenkt?'"
Pali hatte seit dem ersten Tag nie mehr auf Bordonis Gesicht geachtet. Jetzt sah er ihn an und dachte, dass Bordoni überhaupt ganz anders aussah, als er gedacht hatte. -
Nein, so sieht er nicht aus, dachte Pali, so war sein Gesicht gar nicht, damals auf dem Heimweg, oder es hat sich so verändert.
Frau Bordonis Wunsch, Pali möchte sein Quartier wechseln, ging in Erfüllung, acht Tage nach der Bürgermeisterwahl, nach dem Faschistenputsch in Bologna. Da wurde er ausgewiesen. Ihm machte es nichts. Eins, zwei, drei hatte er seine paar Sachen zusammengeschnürt, die Kinder geküsst, den Bordonis die Hand gegeben. Bordoni biss die Zähne zusammen, und Frau Bordoni dachte: Er hat mir alles durcheinander gebracht und alles kaputtgemacht, alles, alles, und nicht einmal ordentlich die Hand gegeben.
Kurz vor der Grenze wurde der Waggon, in dem Pali mit anderen Ausgewiesenen untergebracht war, abgehängt. Posten standen auf den Trittbrettern. Sie warteten im heißen, staubigen Nachmittag. Erst gab es ein großes Gefluche, dann wurden sie still, durstig, müde. Eine ältere Frau und Pali bekamen die Erlaubnis, Wasser zu holen. Sie gingen langsam, um die frische Luft auszukosten. Hinter dem Stationsgebäude begann das neue Land, sanft, hinterhältig, ein Hügel mit einer Wolke aus weißem Schlehdorn. Sie ließen sich das Wasser über die Handgelenke laufen. Pali sah sich um: rund um die kleine Station türmten sich Berge, ungeheure Berge, wie Pali nicht geahnt hatte, dass es Berge auf Erden geben könnte.
In dieser Nacht jedenfalls gelang es Frau Bordoni noch nicht, die Tür hinter Pali abzuriegeln. Die Genossen, die mit Bordoni abends kamen, blieben bis zum Morgen, weil es verboten war, nachts auf die Straße zu gehen. Seit gestern war der Aufruf des neuen Magistrats angeschlagen, die Waffen distriktsweise abzugeben. Am Nachmittag war die Protestdemonstration vor dem Stadthaus mit Schüssen empfangen worden. Bordoni saß auf Palis Platz auf der Bank und versuchte, was im Zimmer gesprochen wurde, mit Palis Gedanken durchzudenken: Wir haben hergegeben, was wir in der Hand gehabt haben, wir haben einen Bissen von ihnen geschluckt, dafür werden sie unser ganzes Fleisch schlucken. Wer das Hemd hat, der will auch die Haut haben. Diese Spitzbuben in diesen Verhandlungen haben uns unsere jungen Leben wegverhandelt
Als morgens alle fortgingen, blieb Bordoni unschlüssig auf der Schwelle stehen. Er war weich, es tat ihm weh, dass Pali nicht mehr da war. Er war entschlossen, aber sein Entschluss tat ihm weh. Er hatte Widerwillen, in sein eigenes Zimmer zurückzukehren. In diesen morschen Wänden, in diesem faulen Brei aus Frau, Hausrat und Kindern gab es nur eine feste Achse, an die man sich halten konnte, sein Armeegewehr unter dem Bett.


IV
Bató, am Anhalter Bahnhof in Berlin, wartete auf den Zug aus Wien, auf Frau und Kinder. Er selbst war am vorigen Abend aus Russland angekommen. Vor drei Tagen in Moskau auf der Twerskaja: Rückkehr von Betriebsformationen von der Front. Sie waren abgerissen, zerlumpt, aber ihre fliegenden Lumpen hatten etwas Ehernes, wie die Bronzefetzen von Standbildern. In unbestechlicher Eile, als sei dies nicht die Heimkehr, sondern erst der Aufbruch, marschierten sie kalt durch eine Feuersbrunst von Fahnen. Von den Tribünen herab dröhnte die Macht des proletarischen Staates, das Leben Lenins, die Größe der Roten Armee. Bleicher und bleicher, bis zur Weißglut erglühten die Gesichter. Wohl tausendmal hatte er selbst an diesem Tag „Es lebe!" gerufen. Er war in die Masse eingekeilt, dass er weder seine eigene Stimme noch seinen eigenen Körper herausfand. In diesem Augenblick gab es auf der Erde keinen Platz mit besserer Sicht. Aber er hatte nicht dort zu bleiben, sondern nach dem Westen zu fahren, er hatte diese Stelle als zweiter Redakteur bei der „Neuen Welt" in Berlin anzutreten. Er hatte seine Frau und seine Kinder abzuholen, sich in einem Zimmer mit ihnen einzurichten, unter allen Menschen gerade mit diesen. Das ist alles schwer zu verstehen, dachte Bató, aber es ist nicht für lange. Es ist einerlei, wie man sich einrichtet für eine Nacht, für zwei Nächte.
Bató lief den Bahnsteig hinauf und herunter, hinter sich selbst her, in einem Trubel abreisender und ankommender Menschen. Es ist nicht für lange. Oh, wie wird alles vorbeigehen und durchreißen, es wird uns alle bald durcheinander rütteln, sowieso. Plötzlich fiel ihm ein, dass der Zug in wenigen Minuten eintraf. Er erschrak.
Marie im Eisenbahnabteil packte ihre Kinder und ihre Sachen zusammen. Sie fuhren gerade quer durch die ersten rohen, rußigen Häuserblocks. Sie fing schon an, sich vor Batós Gesicht zu fürchten.
Diese Frau, diese Stelle, schwer ist das alles, dachte Bató. Wenn nicht sowieso alles durchreißt, bald, über Nacht.
Er blieb jetzt stehen, grübelnd, während alle Menschen um ihn herum nach den Abteilen des bereits angekommenen Zuges rannten, der Bahnsteig leer wurde. Marie redete ihn zaghaft an, die Kinder von ihm weghaltend. Sie blickte schnell einmal in sein Gesicht - ihre Furcht war begründet. „Wo sollen wir jetzt hin?"
Bató war heute morgen ausgegangen, um ein Zimmer zu mieten. Beim ersten Schild „Möbliertes Zimmer" war er heraufgegangen und hatte gemietet. Es war das Atelier eines Malers, der im Winter seine Studien in Italien wieder aufnahm.
Jetzt stiegen sie von Absatz zu Absatz höher mit Gepäck und Kindern. Bató hielt Andris' Hand, ließ sie gedankenlos auf der Hälfte der Treppe. Als er aufgeschlossen und den großen Kronleuchter des Malers angedreht hatte, standen sie ratlos, von Licht übergossen, zwischen Haufen von bunten und goldenen Bildern, Spiegeln und Bronzen und Staffeleien. „Für ein paar Nächte geht es wohl, mach dunkel."


V
„Zum ersten Mal?" fragten sie Janek. „Ja", sagte Janek, „zum ersten Mal." Er saß auf einer Pritsche und versuchte ebenso auszusehen und sich ebenso zu benehmen wie die andern. Er war so klein und rund, dass alle, wenn sie ihn ansahen, lächelten. Häufig fuhr eine Hand über seinen dicken, kugelrunden Kopf. Er schämte sich ein wenig, begriff nicht, warum man ihn oft mit einem Lächeln ansah. Er war so verbeult, ausgelaugt, von allem abgeschnitten. Er hatte viel Prügel auf dem Fell. Ihm war bös zugesetzt worden während der Untersuchungshaft. Später beim Prozess war niemand von seinen Leuten dabei gewesen. Sie hatten kein Geld, um hinzufahren und Abschied zu nehmen. Er sehnte sich im geheimen nach Zuhause. Seine Schulter war so kahl, ohne dass Wladeks Arm manchmal darüberhing. Am meisten sehnte er sich nach dem Betrieb, nach der Appretur. Er verstand nichts aus der Zeit zu machen, allein, die Hände auf den Knien. Ihm war, als sei sein Kopf voll Luft.
Doch gleich nachdem man diese Zelle hinter ihm abschloss, fürchtete er sich weniger vor den bevorstehenden vier Jahren. Sie hockten dicht zusammen, acht Politische, auf den beiden untersten Pritschen, dass die Knie zusammenstießen. Auf dem Tisch aus Knien lag ein gelbes, zerknülltes Heft.
„Also fangen wir an", hieß es. Alle drehten sich von ihm weg. Jemand las vor, von Absatz zu Absatz. Zwischen jedem Absatz gab es Streit, Gebrodel. Janek saß still auf seinem Platz. Er verstand wenig. Trotzdem begannen schon wieder kleine Würzelchen aus ihm zu wachsen, sich an der neuen Umgebung festzusaugen. Einmal sah ihn Solonjenko an. „Wie weit bist du? Verstehst du?" Janek schämte sich. Sein runder Kopf wurde puterrot. „Wenig." Solonjenko legte ihm eine Hand auf den Kopf, eine fast erschreckende Hand, Aderstränge statt Knochen. Janek wusste damals noch nichts von Solonjenko, er sah nur einen alten, kleinen, zähen Mann mit weißem, wie vereistem Gesicht und fröhlichen Augen, mit herausgedrückter Brust und aufrechter, fast steifer Haltung.
„Du musst immer fragen, Janek, frage viel. Da lies was! Frag mich morgen. Unterbrich uns ruhig, wenn du nicht verstehst. Wir werden dir jedes Wort erklären. Wenn du nach vier Jahren herauskommst, willst du doch weiterarbeiten, verstehen, was vorgeht. Wenn du Glück hast, wenn wir eine Zeitlang zusammenbleiben, kannst du hier viel lernen. Ob man vier Jahre hier bleibt wie du, oder acht wie ich, oder lebenslänglich - zwischen uns und draußen darf es nie eine Kluft geben, verstehst du, was ich dir sage?"
„Ja, das verstehe ich", sagte Janek verstört, in Solonjenkos ruhige Augen hinein. Aber er dachte, dass es schwer zu verstehen war. Er staunte Solonjenko an. Er wusste noch nicht, dass alles, was er anstaunte, schon in ihm selbst drin war, während Solonjenkos aus Adern geknotete Hand auf seinem Kopf lag.
Janek setzte sich allein, mit zusammengezogener Stirn fing er zu lesen an, mit dem einzigen Wunsch, zu verstehen, was er las.
Solonjenko setzte sich noch einmal zu ihm, fragte ihn aus, sprach lange zu ihm. Solonjenko horchte aber auch gierig auf Janek - er war kurz nach seiner Rückkehr aus Russland verhaftet
worden, zum vierten Mal, er hatte die polnischen Kerker schon abgewohnt, als sie noch zaristisch waren. Ganze Generationen junger Gefangener waren durch seine Zellen gegangen. Er brauchte Janek, frische Wirklichkeit - ließ sich alles erzählen, die Appretur, den Betrieb, Wladek, das Flugblatt, die Verhaftung. Noch nie hatte jemand so zu Janek gesprochen. Bis jetzt hatte Janek, ohne viel zu verstehen, ohne viel nachzudenken, immer gehandelt, wie sein Bruder Wladek handelte. In dieser Nacht lag er ganz benommen da, zu erregt, um einzuschlafen. Es war ihm zumute, als hätte er bis jetzt in der Dumpfheit und Enge einer Zelle gesessen, und Solonjenko hätte sie mit einer Faust entzweigeschlagen, und Luft und Helligkeit drangen von außen ein.

 

ZWEITER TEIL

Viertes Kapitel

Winter 1924. Janek, vier Jahre Gefängnis hinter sich, wartete an der Station auf seinen Zug nach Bialystok. Es war scharf geheizt. Um die Stiefel der Menschen schmolz der Schnee in Pfützen. Janek hielt sich an der Tischkante fest, weil ihm schwindlig war, so weit und bewegt war alles. Gegen die breiten Fenster trieben riesige Schneemassen. Drei Bäuerinnen breiteten ihre Tücher am Ofen zum Trocknen aus. Die Soldaten, die rundherum auf den Bänken lagen, bedrückten den ganzen Raum mit ihrem schweren Schlaf.
Allmählich kamen alle Dinge in Ordnung, als ob sich ein Sturm beruhigt hätte. Janek ließ die Tischkante los und fing an nachzudenken. Vor diesem ersten besten Fetzen Wirklichkeit - wie man sein Gesicht nach langer Zeit in irgendeinem Spiegelscherben sieht - spürte er plötzlich, was die letzten vier Jahre aus ihm gemacht hatten. Er stand bewegt auf und ging hinaus.
Um die Weichenlichter kreisten Schwärme von Schneeflocken. Die Schienen verschwanden schon gleich hinter dem Vordach im Schnee. Aber Janek wusste, hinter dem Schnee war die Ebene -unermessliche Weite. Er lehnte sich ruhig an die Wand und schloss die Augen.
Später im Zug schlief er ein zwischen kartenspielenden Bauern; er erwachte erst eine halbe Stunde vor der Ankunft. Er war ausgeruht, alles prickelte ihm vor Freude. Er beteiligte sich am Geschwätz der Bauern: Steuern, der Skandal um den Bischof von Lowicz, Pferdemarkt, 20 Zloty das Pferd. In Bialystok sagten sie: „Die ganze Nacht schläft er, und jetzt steigt er aus, wo man anfängt, warm zu werden."
Janek ging in die Stadt hinein. Die letzten Schneeflocken blätterten vor einem fahlen Frühhimmel. Die leeren, kahlen Straßenzüge zeigten ihre ganze Schadhaftigkeit, wie die Gesichter von Schlafenden. Janek war hier geboren, er kannte keine andere Stadt. Aber als hätte er die Zwischenzeit nicht in der Zelle, sondern wunder wo verbracht, schien es ihm jetzt eine Strafe für einen Menschen, in einer solchen Stadt zu wohnen.
Er war Mitte August 20 verhaftet worden, kurz danach waren die Russen hier gewesen, dann zurückgegangen. Als sei nur eine Nacht seit seiner Verhaftung verflossen, bewachten die alten Polizisten die alten Straßenkreuzungen, die eisernen Schritte der Patrouillen quetschten die niedergeknüppelten Straßen, stumm erwartete die Stadt einen nutzlosen Tag.
Janek kam in das Färberviertel, seine Fabrik war stillgelegt, als Lagerräume verpachtet, aus dem Hof der Färberei ragten ein paar Dutzend Deichseln von ramponierten Kutschen. An der Mauer schnupperte Janek an einem Fetzen Plakat herum, abgerissen oder von selbst aufgeweicht, eine ganz gewöhnliche Bekanntmachung. Er bog in seine eigene Gasse, es war eigentlich schon Tag, aber niemand hatte Lust danach. Janek verbrauchte wartend seinen letzten Vorrat an Freude. Schließlich wurde von innen aufgeriegelt, ein großer Schneebesen kam heraus, und dann seine jüngere Schwester Sophie, fremd, kein Mädchen mehr, dickbäuchig. Sie warf den Besen weg und küsste ihn. Hinter dem Ofen guckte die Mutter hervor, was in der Tür los war. Sie fing nicht zu weinen an, sondern sog die Lippen nach innen. Und sie sagte: „Luft hast du in den Backen und kein Fleisch mehr, aber womit dich aufprusten?" Ein Janek wurde weich und kroch in ihre Röcke, ein Janek machte sich hart und beobachtete alle und alles. Sophies Mann, den Janek noch nicht kannte, schlug ihm mit hellen Augen auf die Schulter und sagte: „Willkommen, Bruder!" Die Alten waren vollends blöd geworden und verstanden gar nichts. Manja war wohl nur zufällig hier - mit roten Flecken und gelbem, fahrigem Haar, das einzig Bunte im Zimmer -, tat, als sei er nur eben fortgewesen, beachtete ihn gar nicht und trällerte. Sein Bruder hatte ihm schnell die Hand gegeben und sich dann hinter den Tisch gesetzt. Ihre Augen suchten einander. Wieder wurde ein Janek klein, schrumpfte zusammen unter dem Arm des großen Bruders, ein Janek machte sich hart und beobachtete unablässig den anderen hinter dem Tisch. Irgend etwas war aus Wladeks Gesicht herausgefallen, vielleicht war es auch nur gewöhnlich grau. Janek setzte sich dicht zu ihm, um ihn besser zu betrachten. Wladek legte den Arm um seine Schulter, sein Arm war leichter geworden.
Er begann: „Bist geschunden worden all die Zeit, und was wird jetzt werden?"
Janek sagte: „Mir geht's gut. Und du?"
„So -"
„Sie haben dich gar nicht geschnappt damals, das war gut, erzähl mal was."
„Was willst du, dass ich erzähle?"
„Freilich am besten von vom, wie die Russen hier waren."
„Was willst du, dass ich erzähle? Sie waren eben hier, ich habe sie selbst anreiten sehen, mit Hoi und Ho, und eh man's noch recht verstanden hatte, waren sie wieder fort, und das Nachher war wie das Vorher, bloß schlimmer."
„Was ist das für eine Erzählerei? Damals, als ich geschnappt wurde, auf der Wache, als ich die Zähne in den Schlund geschlagen kriegte, dachte ich immerfort, das hat mein Wladek hinter sich, so oder so, nu erzähl doch schon mal."
Wladek zog den Arm von Janeks Schulter herunter und hakte die Finger ineinander:
„Damals, am Abend vor dem Morgen, an dem sie dich verhafteten, ging ich in das Geschäft von Sutin und holte das Paket ab, ich habe es heimgebracht, in den Ofen gelegt. Dann bin ich gleich weggegangen, um die anderen Flugblätter zu holen, in einer Wohnung in der Antonsgasse. Es war schon ziemlich still, die Patrouille Ecke Veitsgasse überholte mich und dann kreuzte sie die Patrouille, die von der Antonsgasse herunterkam, und ich habe in meinem Rücken gespürt, wie sie die Köpfe nach mir umgedreht haben, da bin ich in eine Kneipe hineingegangen, als sei ich deswegen in der Antonsgasse. In der Kneipe saßen zwei aus der Färberei, und wie sie mich sahen, holten sie mich ran und sagten: ,Dank deinem Schöpfer, dass du deine Nase heute abend in nichts drin hast; hast du gehört, was mit Paul ist?' - ,Nein', sage ich, ,ich habe nichts gehört.' - ,Den haben sie geschnappt in Nummer 18 unter dem Dach, sie haben ihn zusammengebunden und die Treppe hinuntergeschubst von Absatz zu Absatz; wie der unten angekommen ist, da hat er ausgesehen wie umgestülpt, und dann haben sie ihn in die Wache hineingeschleift, und er war nur ein Kloß und kein Gesicht mehr.' Und sie sagten: ,Wart mal, Wladek, wir gehen alle zusammen.' Da gingen wir ein Stück zu dritt, und sie erzählten immerfort weiter; mit mir war aber was los, und ich dachte, es ist bloß in den Knien, bisher habe ich doch immer meine Pakete geholt, wie Brote vom Bäcker -"
Wladek seufzte. Janek berührte seinen Arm, da redete er weiter: „An der Veitsstraße habe ich sie gelassen, da ist eine Kaffeestube mit Mädchen, wo ein Schild heraushängt mit Tanzen, es wurde aber nicht getanzt, nur das Schild war noch da. Kommt der Genosse Stefan heraus, sieht ganz komisch aus und packt mich am Arm und sagt: ,Ich bin ganz verrückt vor Warten, jetzt geh mal da runter und drück dich rum, dann geh weiter, du kannst nicht nach Nummer 7, die sind aufgeflogen. Und ich weiß nicht, ob sie hinter uns her sind.' Da bin ich heruntergegangen, es war knallvoll, und habe mich da herumgedrückt, eine halbe Stunde, eine Stunde, ich weiß nicht, ich bin dann heimgegangen, und da bist du schon fort gewesen."
Alle anderen im Zimmer drückten sich zusammen und ließen die beiden hinter dem Tisch leise miteinander sprechen.
„Wart mal, Wladek, da war eine Anweisung herausgegeben, wenn im vierten Bezirk das Lager auffliegt, dann soll man im nächsten Bezirk vom anderen Lager die Flugblätter abholen."
„Ja, es gab eine solche Anweisung."
„Aber du, Wladek, hast dann nicht mehr abgeholt?"
„Nein, dann habe ich nicht mehr abgeholt."
Er schwieg, ihre Köpfe rutschten auseinander, die Mutter dachte, dass sie fertig seien, und legte die Löffel hin.
Janek sagte: „Unsere Mutter, unsere Schwester und ich, wir haben damals nachts gefaltet. Ich habe dann alles in die erste Schicht mitgenommen, mein gutes Paket. Für dieses Paketchen haben sie mich vier Jahre eingesperrt, zwei davon saß ich mit Solonjenko, von dem habe ich viel gelernt, das war für mich ein großes Glück. - Aber du, Wladek, was hat es seitdem mit dir gegeben?"
„Was soll es geben - Unsere Bude ist zu, ich sitze mir den Hintern durch -"
„Was ist mit unserer Arbeit?"
„Frag mich." - Wladek zog sich den Topf heran - graue, schlappe Hände, es war lange her, seit diese Hände von Ultramarin gebeizt waren. Aber es musste auch lange her sein, dass sie als Fäuste im Schritt der Demonstration gependelt hatten! -„Iß dich mal voll, Janek - Zähne brauchst du keine -"
Alle warteten, bis Janek anfing zu essen, ob er etwas dazu sagen würde. Aber Janek aß still und dachte nach; hinter dem Fenster zerfiel der Tag in eine Asche aus grauem Schnee. Das Zimmer schien immer enger und enger zu werden, einem um die Kehle zu ziehen. Aus den Gesichtern der Mutter, der Schwester und des Schwagers schien eine eigene Helligkeit auf den Tisch; nur Wladeks Gesicht war kahl und grau wie der Tag draußen. Im Stroh schnupperten die Alten nach dem Essen auf dem Tisch. Wie am vergangenen Abend auf der Station, war Janek plötzlich alles viel zuviel, er hätte am liebsten den Kopf auf den Tisch gelegt und geschlafen, aber Sophies Mann sagte: „Heute gehe ich nicht auf den Markt, heute tu ich das nicht, da musst du erzählen."
Janek sagte: „Ja, ich habe viel gelernt diese vier Jahre." Er warf seine Erschöpfung ab und zwang sich, zu sprechen. In den Gesichtern der drei zwischen den aufgestützten Händen glühten die Augen hell, und die Augen der Mutter hinter den grauen Zotteln standen Janeks Augen nicht nach.
Nur sein Bruder hörte mit niedergeschlagenen Lidern Zu. Heiße Freude strömte durch Janek, weil er daheim war. Er sagte: „Wenn sie auf der Wache nach mir fragen, sagt, ich war die Nacht über hier, bin aufs Land und komme wieder." Sophies Mann sagte:
„Du kommst und gehst, kommst und gehst. Willst du schon wieder weg?" - „Ja, ich muss -" Die Mutter sog ihre Lippen nach innen. Sophie drückte sich an ihn, schimpfte und streichelte sein Haar. Ihr Mann ging weg und brachte etwas zum Trinken, alle tranken, auch die Alten im Stroh verkleckerten kichernd etwas auf ihre Kittel. Janek wollte die Nachbarn nicht haben. So feierten sie Janeks Ankunft und Abschied eng aneinandergedrückt, und innen im Knäuel drin sang Sophie leise, was Janek sich wünschte.
Zuletzt setzte sich Janek neben seinen Bruder hinter den Tisch, er legte seinen Arm schwer auf Wladeks Schulter - „was quälst du dich ab, was ist denn in dich gefahren? -"
„- Es ist nicht in mich, Bruder, es ist aus mir raus -" Als ihre Gesichter auseinanderglitten, hatte etwas Helles auf Wladeks Gesicht abgefärbt.
Nachts kam Manja heim mit nassem, gelbem Haar und ausgelaufenen Flecken. Sie hatte niemand gefunden und musste sich zu den anderen ins Stroh legen. Sie machte Licht und schnüffelte nach Essbarem; sie fand nichts, erblickte aber die Gläser auf dem Tisch, goss die Tropfen in eins und leckte. Auf einmal fuhr sie zusammen, sah sich um und begriff, dass Janek fort, ja, begriff erst jetzt, dass er dagewesen war. Ihr Gesicht verzog sich kläglich.


II
„Pali, Pali!" Die Frau packte ihn schließlich an den Schultern und rüttelte zornig, weil er den Söhnen das Bett wegnahm. Die beiden Söhne standen am Fußende des Bettes mit nackten Oberkörpern - ihre Hemden waren schon in der Bütte - und warteten verdrossen auf den Schlaf, von dem Pali ein Stück zuviel für sich selbst nahm. Es kostete Pali eine schreckliche Anstrengung, aufzuwachen. Frau Bordoni war das nicht, die kleine Frau mit den weißen Zotteln. Jetzt war er schon viele Tage hier in Enzéres, das Zimmer war wie gewöhnlich frühmorgens bei Schichtwechsel: die einen räumten das Bett, und die anderen warfen sich darüber; in den Gesichtern der Frauen hatte sich die Müdigkeit wie grünlicher Schimmel angesetzt. Hinter dem trüben Fenster auf dem Weg war Schatten und Unruhe. Die Hemden trockneten über den Stuhllehnen, Pali zog seins über, steif war es, aber warm, ah! Die dicke, zottelige Frau drehte sich um, ihr Gesicht glänzte plötzlich weich auf im Lächeln der Gastfreundschaft.
Es war spät, Pali stürzte hinter den Letzten her, den Weg zwischen den Baracken. Ein scharfer, rieseliger Schnee nahm ihm den Atem. An den Barackenwänden, an den Kneipen hingen Schilder, ein paar Flicken Heimat, wie im Schlaf, die Löcher mit Schnee ausgefüllt.
Im vergangenen Herbst waren viele seiner Landsleute nach Frankreich gegangen in die Aufbauzone und in die Kohlendistrikte, als daheim so viele Betriebe stillgelegt wurden, dass es unmöglich war, weiterzuleben. Es waren aber auch Flüchtlinge aus dem Jahr 19 darunter, die schon allerlei Strecken hinter sich hatten, so wie Pali. Auch ihn hatten sie von Paris nach Enzéres geschickt. Er hatte Arbeit bekommen, schwere, ungewohnte Arbeit, auch war der Winter ungewöhnlich kalt.
Aus einer Kneipe stürzte ein Mann ins Freie, fiel in den Schnee und jammerte; hinterher kamen noch welche, die bückten sich, rieben sich wild das Gesicht mit Schnee ab und torkelten weiter. Pali warf einen sehnsüchtigen Blick in die offene Tür, wo es heiß und voll war. Pali, der Mann, der noch im Schnee zappelte, die drei mit den schneenassen Gesichtern, alle spürten sie, es war ein Tag, der sich von Anfang an auf einen legte, um einen gleich nicht hochkommen zu lassen.
Die Halde, auf der er arbeitete, lag über dem Ort. In dem Gestränge liefen die Karren mit weißen Hauben an; auf den Säcken, die die Arbeiter als Kapuzen über sich trugen, klebte der Schnee. Sooft Pali den Fuß auf die Schaufel setzte, schnitt es ihm tief in die Sohle. Dann schien es ihm, er könnte nicht einmal einen Tag durchhalten. Er hatte sich vorgenommen, den Winter über hier zu bleiben.
Gegen Mittag fing es zu tauen an. Man konnte unter dem dünnen Schnee die Halde in breiten schwärzlichen Adern in die Barackenvorstadt einmünden sehen. Frankreich: eine glitschige Halde und darunter schiefe Baracken, eingeweicht in Schneeruß. Abends trat Pali in die erste Kneipe am Anfang des ersten Barackenzugs. Dicker schwärzlicher Schnee kam ihm in zähen Fäden nach. Aber aus dem Bild über der Theke glühte ein heißer, brennender Sommer, und der Himmel war knallblau, und schläfrig der Hirt und seine Tiere, und ein sengender Wind strich das Gras, und selbst die verstaubten Maiskolben, die der Wirt an die Decke gehängt hatte. Man brauchte sich nur auf den Bänken herumzudrücken und zu trinken und zu dösen. Für alle klagte und schluchzte im Grammophon die Stimme: „Wie traurig seid ihr geworden, Abende in Szolnok -" Auf einmal schrie jemand: „Stell doch ab das Biest, stopf ihm das Maul, dem Frauenzimmer, wir wollen selbst weinen." Der Wirt stellte ab. Der geschrieen hatte, stemmte sich vom Tisch weg und setzte mit tiefer, glühender Stimme ein:
„Auf dem Markt in der Stadt erfuhr Mischka, Untreu war ihm seine Liebste.
Gar nichts sagte Mischka, aber auf dem Heimweg mit der Gewaltig schlug er seinen Esel." [Faust
Auf einmal packte jemand Pali am Handgelenk und zog ihn herunter. Das war Józsi, Józsi aus dem vierten Bezirk! - „Ich habe dich nirgends gesehen, nicht geahnt, dass du hier bist." -„Du wirst noch nicht hier gewesen sein, ich sitze jeden Abend hier, hier auf diesem Fleck -" Józsi leckte an seinem leeren Gläschen, kippte es um und stellte es vorsichtig auf die beiden umgekippten, die schon vor ihm standen, zu einer kleinen Pyramide. Józsi war noch immer ein schöner, breiter Bursche wie vor fünf Jahren, jetzt war er rot und verschwitzt, zwischen betrunken und angetrunken, er wäre vielleicht in diesem Augenblick ganz betrunken geworden, wenn Pali nicht dazwischengekommen wäre. Obwohl er Pali zuerst erkannt hatte, schrie er plötzlich von neuem auf: „Pali, Pali!", als begriffe er mit einem Schlag die Bedeutung ihres Zusammentreffens. Er küsste ihn auch von neuem, dass die Umsitzenden lächelten und nasse Augen bekamen, als enthielten diese Küsse das Urbild aller menschlichen Wiedersehen.
Pali begann: „Was ist mit dir passiert, hast du Nachricht von zu Haus? Wie bist du hergekommen?"
Józsi sagte: „Wo haben wir uns zum letzten Mal gesehen?
Zum letzten Mal haben wir uns in der Váczigasse in Budapest gesehen, im großen Fabriktor, dieser Scheißkerl, der auf uns rumgehoppt ist, hat den einen Stiefel auf deinem und den anderen auf meinem Bauch gehabt. Dann haben sie mich in so ein Loch gesperrt -
So ist es, wenn man am Leben bleibt. Ich bin aus dem verfluchten Land herausgekommen, ich bin dahin und dorthin gefegt worden, ich bin auch nach Paris gekommen, und dann haben sie mich hierher geschickt, der Präfekt hat wohl gedacht, hier können sie einander ihre rote Krätze abkratzen, da sind sie unter sich, mag dabei sein, wer will, niemand stecken sie an."
Pali sagte: „Kommst du mit unseren Genossen zusammen? All die Zeit bist du nie bei uns gewesen -"
„Ich werde schon noch mal zu euch kommen, so schnell werde ich ja nicht aus diesem Rattennest herauskommen, dass ich nicht mal Langeweile kriege, und dann hocken wir beieinander und studieren die Thesen des vierten Weltkongresses, und wir verfassen ein Telegramm an den Jugendkongress in Berlin:
,Der Proletarischen Jugend der ganzen Welt unsere brüderlichen Grüße.' - Habt ihr schon gemacht, ohne mich, siehst du? Mein Vater, Pali, hatte zu Hause solche Gläschen, er kippte immer eins auf das andere, eine Pyramide von sieben Stück, aber er blieb ein friedlicher Mensch, wenn man ihn nur sein Pyramidchen zu Ende bauen ließ. Wenn meine Mutter mal durchaus wegräumen wollte, wurde er fuchswild und zerschlug uns allen die Knochen." Auf einmal fing Józsi zu lachen an:
„Nun, Pali, wer hat damals zu Hause recht gehabt, du oder ich? Sollen wir eine Wohnungskommission einsetzen oder den selbstgewählten Mieterausschuß anerkennen?" Pali erwiderte ruhig: „Du hast recht gehabt, natürlich Kommission -" Er betrachtete Józsi von der Seite vorsichtig. Was war das für ein Józsi gewesen, seine Gruppe war die beste und straffste bis zuletzt, die Jungens hatten wie Kletten an ihm gehangen. Wenn Józsi aufgesprungen war und angefangen hatte zu sprechen, wenn sein Gesicht geleuchtet hatte von klarem Menschenverstand -
Józsi sagte: „Ich werde nie mehr in meinem Leben aus diesem Rattennest herauskommen."
„Warum sollst du nie mehr herauskommen? Und dann, findest du, dass es hier so besonders anders ist, schlimmer als woanders?" „Nein", sagte Józsi, „nicht besonders anders, eine Scheiße ist's - ein Gepansche ist's, aus ist's; wir haben ein paar auf den Kopf gekriegt, allerorts, nicht zu knapp, nicht von schlechten Eltern. Auf den Kopf, sag ich dir, auf den Hintern und auf den Bauch und auf den Nacken.
In der Váczigasse, mein Teurer, in Ungarn, Bulgarien, in Italien und in Deutschland und wo immer. Tot ist Lenin.
Wie ich das gehört habe, dass er tot ist, da hab ich mich noch mal auf meine Beine gemacht, und ich war in Paris, und wir sind marschiert, und wir waren sechzigtausend.
Jetzt aber ist es still geworden, und wir können uns ausschnaufen und einen Bart anstehen lassen -
Sie haben mich damals in ein solches Loch gesperrt, da hab ich in meinem Dreck in einer Pfütze gesessen im Dunkeln und habe die Internationale gesungen, Tag und Nacht, vor und zurück, zurück und vor, von ,Ohn Unterlaß' bis ,Wacht auf, Verdammte', von ,Wacht auf, Verdammte' bis ,Ohn Unterlaß'. Ich sage dir, sie haben mich zu solchen Verhören geführt, sie haben mich an den Füßen aufgehängt, sie haben Fußball mit meinem Kopf gespielt, und doch hat mein herunterhängender, zwischen ihren Füßen baumelnder Kopf geschrieen: ,Es lebe die Weltrevolution!' Aber wenn ich jetzt rufen sollte, wie ich vor dir sitze, da ist es, als ob man es aus meiner Kehle herausgekratzt hätte."
Und er sagte: „Jetzt hör doch nur mal den an! Der singt ja noch immer! Er singt und singt, er zupft einem die Fasern einzeln vom Herzen weg, und man legt sich hin und lässt sie zupfen."
Nach dieser Begegnung vermied es Pali, mit Józsi zusammenzutreffen; aber nach einigen Wochen stießen sie doch zusammen, und da bedauerte Pali, dass er Józsi damals gelassen hatte, nur weil er betrunken und verzweifelt war. Es war im Gewerkschaftshaus in Enzéres. Zu diesem Abend hatte der Verband Dorin und Beuzon aus Paris geholt, um der Versammlung klarzumachen, in diesem zähen, ungewöhnlich harten Winter: Unzweckmäßig sei es, sich dem Streik von Tenay anzuschließen, da der Distrikt einen erfolgreichen Teilstreik hinter sich hatte und durch Anschluss nichts erreichen konnte. Dorins Sprache hatte etwas Rieseliges, Glitzriges über dem grauen, mürrischen Block der Versammlung - Beuzon dagegen machte sich derb. (Seht mich an. Ich bin hier geboren. Ich kann mich noch ganz gut erinnern, wie ich hier geschuftet habe. Ich kann mich noch ziemlich genau erinnern, wie es mir damals zumute war. Habt also Vertrauen zu meinen Ratschlägen.)
Unter denen, die sich zur Aussprache gemeldet hatten, wurde Józsi aufgerufen. Pali hat ihn die ganze Zeit vorher und auch jetzt im Saal nicht gesehen. Er sah ihn erst, wie er heraufsprang. Nicht nur Pali, alle verschluckten ihn mit den Augen. Als richte sich plötzlich ein Scheinwerfer scharf auf Józsis Gesicht, glänzte es auf, aber es glänzte von innen. Alle sahen es, wie bei einer gewissen Witterung eine Landschaft deutlich wird. Er handhabte
die fremde Sprache schlecht, lernte sie erst im Reden. Den Dorin und Beuzon warf er ihre eigenen Worte zurück an den Kopf. Abgerissener, zerfetzter Józsi, in seinen Rissen und Fetzen war der alte Glanz der Revolution hängengeblieben, er brachte ihn mit ins Gewerkschaftshaus von Enzéres. Dieser Glanz war mit keinem anderen Stoff der Welt zu verwechseln. Das verstanden alle, die mit zusammengebissenen Zähnen zuhörten oder wütend „runter" und „raus" brüllten.
„Ihre Zeit ist um! -"
„Er soll weiterreden -"
„Weiter!" schrie Pali, schrieen ihre Landsleute - sie waren ein gutes Viertel im Saal -, ihre französischen Genossen. Seine zerstückelten Worte hielten die Menschen in Atem. „Da hat man uns gesagt, dass wir uns schneiden ins eigene Fleisch. Nun, und wenn schon. Wir müssen uns auf unserem Weg noch oft ins eigene Fleisch schneiden - Da hat man uns eben gesagt, wir sollen uns nicht anschließen, und hat uns auch den Grund gesagt. Aber es kommt nicht bloß darauf an, dass wir hier einen Bissen mehr zu fressen haben, sondern dass wir alle einmal satt haben werden, in Enzéres und in Tenay und überall."
Je länger er redete, desto leichter ging es, als überrenne er alle Hindernisse der Sprache und der Gedanken. Es gab keine Schwierigkeit, irgend jemand im Saal zu überzeugen. Als nähere er sich mit großer Geschwindigkeit einem Ziel, erblicke es selbst immer deutlicher. Mitstreiken oder nicht - Er hatte nur einen kleinen Winkel erhellen wollen, aber er hatte ein so helles Licht gewählt, dass der ganze Umkreis hell wurde. Minutenlang mussten auch Józsi selbst alle Zusammenhänge seines eignen Lebens klar sein.
Als Józsi herunterstieg, wussten alle, wie die Abstimmung ausfiel. Aber sein Gesicht war mit einem Schlag verändert, als hätte man ihn soeben gegen seinen Willen zum Reden gezwungen.
Nachher beim Ausgang wartete Pali auf Józsi. Der kam allein herunter, mit hängenden Schultern, pfeifend, mit schiefem Mund. „Das hast du gut gegeben." - „Hab ich - ich guckte bloß rein, höre dieses Bonzengeorgel -, willst du schon heimfahren, Pali? Na, da fahr allein. Hab ich schon das Fahrgeld ausgegeben, will ich mir mal das Städtchen von innen ansehen." Pali sah sich später wieder nach Józsi um, fand ihn nirgends. Es war, als
hielt sich Józsi mit Absicht verborgen. Der duselte gewiss in irgendeiner Kneipe, schlief mit einem von diesen klapprigen Frauenzimmern, die aus der Innenstadt kamen, wenn sie nicht mal dort Anschluss fanden. Er bekam es satt, nach ihm zu suchen.
Eines Abends sagten sie ihm in der Kneipe: „Du, der, den du hier mal getroffen hast, und ihr habt euch geküsst, dem hat's gestern den Bauch eingequetscht, sie haben ihn ins Spital nach Enzéres gebracht, dass er zugenäht wird."
Am Abend fuhr Pali nach Enzéres hinein.
„Sie können doch jetzt nicht mehr rein."
Pali bettelte: „Über Tag kann ich nicht, ich muss, ich muss."
Im Saal war schon das Nachtlicht an. Bläuliche, in Mull verwickelte Fleischstücke lagen auf den Betten herum, wie angefault. Ein scharfer, reißender Schmerz - als gäbe es nur einen einzigen - schüttelte eine ganze Reihe von Betten, biss sich bald da, bald dort fest und erstarb in einer Ecke in einem kläglichen Stöhnen. Pali erschreckte es zuerst, aber er war bald daran gewöhnt. Józsis Gesicht unter ihm war fast ohne Fleisch; alles, was Józsi immer verdecken wollte, lag jetzt offen da, er versuchte ein dünnes Lächeln darüberzuziehen, es langte nicht. Bei Palis Anblick zog Józsi die Brauen hoch, dachte: Wenn er jetzt nur nicht wieder anfängt in mich einzureden, von der Partei, von der Streiklage, mich quält. Ich kann ja nicht mehr mit.
Pali setzte sich aufs Bett, Józsis Leib verschob sich ein wenig, er wurde schwindlig vor Schmerz, verbiss es aber. Er sagte: „In diesem Rattenloch bin ich stecken geblieben, siehst du, für ganz-" Pali sagte: „Warum denn für ganz? Es kann einem auch woanders den Bauch einquetschen." Sie starrten einander an. Józsi sagte: „Ja, freilich, das kann es." Pali fing leise zu erzählen an, alte Sachen von der Partei und neue, die sich inzwischen ereignet hatten. - „Was sagst du dazu, diese Gewerkschaftsfatzken haben den Streik wieder abgekurbelt?"
Józsi presste die Lippen zusammen und drehte sein Gesicht nach der Wand. Pali erschrak und brach ab. Aber Józsi sagte: „Geh noch nicht, erzähl was, was ganz Gewöhnliches." Pali versuchte verwirrt, irgend etwas zusammenzubringen. Józsi sagte: „Wenn du unten herausgehst, dann liegt links das Direktionszimmer." Er schluckte. Pali sagte: „Du hast etwas sagen wollen."
Józsi hatte wohl sagen wollen, Pali möchte sich Nachricht einholen, wenn was mit ihm passierte; das müsste doch gut sein, wenn hier in Enzéres ganz zuletzt einer von daheim aus dem zehnten Bezirk dabei war, aber er schämte sich, verachtete diesen Gedanken, wusste nichts mehr. Da dachte Pali, dass er jetzt gehen müsste, und nahm seine Hand von der Decke weg.
Józsi behielt das Gesicht gegen die Wand. Die Schmerzen in seinem Leib waren fast solche Schmerzen, wie man sie nicht zu ertragen braucht, aber man konnte sie noch ertragen, und Józsi biss sich die Lippen durch. Richtig war es, zu brüllen, wie der Mann ein paar Betten weiter jetzt brüllte, maßlos, in wilden, heftigen Stößen. Józsi kannte die Schmerzen, die einem das Innerste herausziehen. Man stemmte sich dagegen und biss sich die Zunge ab. Jetzt hätte er brüllen dürfen - Er hatte kein Geheimnis preiszugeben, keinen Führer zu verraten. Hinter diesen Schmerzen drohte nicht ein ungewöhnlicher Tod, ihn mit ewigem, unauslöschlichem Glanz zu überschütten. Hier war der tägliche, auf viele fleckige Betten verteilte Tod. Am Ende des Saales fing es an, stöhnte die Reihe entlang und brach vor Józsis Bett ab. Eine furchtbare Enttäuschung, furchtbarer als alle Schmerzen, presste sein Herz zusammen, es ist aus, es geht ohne mich weiter.
Dann drehte Józsi plötzlich sein Gesicht von der Wand weg, dem ganzen Saal zu. Sein Gesicht veränderte sich gänzlich, als begriffe er erst jetzt, wo er eigentlich war, und mit wem, und sei mehr als zufrieden mit seinem Platz. Zugleich fiel ihm ein, dass Pali gekommen war. Er streckte die Hände nach ihm aus, mit der zauberhaften, mit unsichtbaren Bällen spielenden Bewegung der Sterbenden.
Pali ging langsam, schwer vor Nachdenken, die Treppe hinunter. Am Ausgang stutzte er, links an der Treppe hing ein Schild: Büro der Direktion. Er trat ein, weckte die unter der Lampe duselnde Krankenschwester. Er zählte sein Geld hin und sagte rauh: „Wenn meinem Freund auf Saal 4 etwas passiert, bitte um Mitteilung."


III
Nach einer Bezirksversammlung hinter dem Schlesischen Tor in Berlin wartete Bató mit einem seiner Genossen auf den Autobus. Sie traten von einem Fuß auf den andern. Ihre Gesichter waren vergilbt vor Kälte.
„Was einem jetzt im Betrieb geboten wird - dem Prolet wird's ins Fell gegerbt, der spürt seine Fehler im Fleisch, wir sind eben hineingeschliddert in den Dreck, für diesmal haben wir unsere Sache verpasst. Und was man jetzt oben macht, bloß feststellen, warum wir hineingeschliddert sind. Aber dann denk ich mir, jetzt mal Schluss und aufrappeln und Luft kriegen."
Bató sprang auf den Autobus, den er fast verpasst hätte. Luft kriegen! Vielleicht war die Last von Enttäuschungen und eigenem Missgeschick allmählich so schwer geworden, dass ein paar Worte zu dieser Last genügten, um ihn ganz niederzudrücken. Er war in einen schrecklichen Hohlraum hineingeraten, das spürte er in diesem Winter jeden Tag mehr. „Seit ich von Wien fort bin, sind meine Freunde von mir abgebröckelt. Meine Familie ist nur eine Zufallsfamilie. Meine Stelle auf der Redaktion ist nur eine Zufallsstelle. In der deutschen Partei habe ich keine Arbeit. Meine Kraft hat wohl bloß ausgelangt, mich vom Alten loszureißen, nicht im Neuen einzuwurzeln. Deshalb kann ich auch nicht mehr schreiben, keinen einzigen Satz mehr." Niemals wird etwas über seine Lippen kommen, er wird nicht einmal vor sich selbst klagen. Aber keine Fahrt in seinem Leben, selbst nicht die Flucht vor vier Jahren über die Grenze, war schwerer gewesen als diese Autobusfahrt in die helle Stadt an einem Winterabend.
Er wischte mit dem Ärmel die angelaufene Scheibe. Seine Blicke begannen verzweifelt eine nutzlose Sucherei durch endlose Reihen von Laternen, Dächer auf und ab, durch ein Gestrüpp flammender Lichtbuchstaben.
Was ist das eigentlich für eine Dunkelheit? dachte er. - Was ist das eigentlich für eine Angst? Woher kommt sie? Den ganzen Abend über war es leichter, noch eben war es leichter, unter der Laterne mit meinem Genossen. Genügt das denn, dass man auf einen Autobus springt, um wieder allein zu sein?
Als Bató ausstieg, war sein Zimmer auf der großen Häuserwand hell. Das sah nach Gästen aus. Bató war erstaunt und ziemlich erfreut. Früher war es bei ihm voll bis zum Morgen gewesen, inzwischen hatten sich alle verlaufen. Große Dinge gab es mit ihm nicht mehr zu besprechen und kleine wusste er nicht und war nicht kurzweilig. Er wäre jetzt am liebsten selbst zu Eugen gefahren, wo es immer lustig war.
Wie er heraufkam, war es auch bloß Marie, die hell gemacht hatte, um ihre frischen Vorhänge aufzuhängen. Sie lächelte immer, wenn er eintrat, als hätte sie nicht damit gerechnet, ihn wieder zu sehen. Er sagte: „Gut, dass niemand hier ist, da kann ich wenigstens ruhig arbeiten." Marie steckte den letzten Vorhang auf. Hinter dem Wandschirm in dem riesigen vergoldeten Barocklhimmelbett des Malers schliefen seine Kinder.
Alles war beinahe wie eine Familie. Er setzte sich hin und versuchte zu arbeiten wie jeden Abend. Wie jeden Abend begriff er sofort: Es ging nicht mehr, es war unmöglich, alle Versuche waren fruchtlos. Diese seine Fähigkeit, die er für sein Eigentum gehalten hatte, wie sein Herz oder wie seine Hand, hatte ihn verlassen. Seine frühere Kraft, sich durch Worte mitzuteilen, war erloschen - als hätte er sie versehentlich mit hineingeworfen in das große Feuer, in das er alles Alte geworfen hatte. Marie drehte den großen Kronleuchter mit den Kristallkugeln aus, nahm eine Näharbeit und setzte sich zu ihm. Jetzt im Kreislicht der Lampe war es wirklich ganz wie eine Familie.
Marie sagte: „Wir sollten endlich ein anderes Zimmer suchen."
„Wozu denn?"
„Das ist eine schlechte Straße und ein schlechtes Zimmer. Kein richtiges Zimmer, die vielen Spiegel überall und der Kronleuchter. Im Winter ist es hier bitter kalt und im Sommer heiß."
„Das ging doch lange Zeit."
„Dass man ein Jahr in einem Zimmer wohnt, ist doch kein Grund, für immer hier zu wohnen; du sagst doch, dass wir in dieser Stadt noch länger bleiben."
„Ja, es sieht so aus, als ob wir für lange Zeit hier bleiben."
Da sagte Marie erschrocken, als lägen sie auf der bloßen Erde in irgendeinem Wald: „Warum sollen wir gerade hier für immer bleiben?"
Bató erwiderte nichts; Marie packte ihre Sachen zusammen und legte sich zu den Kindern. Bató blieb einige Stunden sitzen. Statt zu arbeiten, dachte er nach, warum er nicht mehr arbeiten konnte.
Dann ging er hinüber. Er betrachtete die drei kränklichen, schlafenden Gesichter in dem großen goldbronzierten Barockbett mit den bauschigen Vorhängen, mit den gespreizten, elektrische Kerzen tragenden Engelchen. Er wusste nicht, ob er diese Menschen gar nicht oder über alle Maßen liebte; jedenfalls hatte er sie immer wieder zusammengerafft und mitgeschleppt und liegengelassen und weitergeschleppt. Er wusste nicht einmal, ob das falsch oder richtig war.
Auf einmal merkte er, dass Andris nicht schlief, sondern ihn mit seinem einen durchdringenden wachen Auge betrachtete. Bató zog sich aus und legte sich in das schmale Feldbett, das in einer Ecke des Raumes zwischen Staffeleien und Stehlampen aufgeschlagen war, als befänden sie sich im Kriegsgebiet, im Flügel eines feindlichen, dreiviertel niedergebrannten Schlosses. Bató winkte Andris mit der Hand, der Knabe kroch leise aus dem großen Bett, kroch zu ihm und schloss sofort beide Augen. Die Dunkelheit hörte auf, ihm zu drohen. Nur bei seinem Vater war Sicherheit, er schlief tief ein. Bató drückte den warmen Körper an sich, die Unsicherheit ließ nach, und auch sein Herz schlug ruhiger.


IV
„Wir haben ihn." Dudoff lag unter dem Vordach eines Bahnwärterhäuschen auf der freien Strecke Marjakoy, zwei Eisenbahnstunden vor Sofia. Er war an Händen und Füßen gefesselt, aber er hätte ohnedies nicht stehen können. Er war ein einziger, roher Fleischklumpen mit Streifen aus Haut und Tuch. Die beiden Hunde waren an einem Balken der Altane festgebunden. Bei gespannter Kette waren sie nur eine Handbreit von ihm entfernt. Ihre aufgestemmten Vorderbeine zitterten.
Der Leutnant Kolaroff war aus Marjakoy geholt worden. Obwohl er von dort aus drei Tage und drei Nächte die Fahndung selbst geleitet und mehr Soldaten darauf verwandt hatte, als man brauchte, um eine Bande von vielen Dutzend Köpfen zu umzingeln, erschien es ihm ein Wunder, Dudoff vor sich zu sehen, auf dem Boden der Altane in einer Blutpfütze.
Dudoff war wenige Stunden weg von dem Fleck, auf dem er jetzt lag, geboren worden. Sein Vater und seine Brüder und er selbst standen bis zum Krieg im Sägewerk am Fluss.
Nach dem Krieg kehrte Dudoff verwundet und nachdenklich ins Sägewerk zurück Er trat ein in den Holzarbeiterverband und in den Genossenschaftsverein und lernte. Die Partei und der Bauernbund teilten sich damals in die Genossenschaft und in den Verband und in Dudoffs Herz, bis er sich im Jahre 22 für die Partei entschied. Im Jahre 23, beim Faschistenstaatsstreich, war sein Gesicht schon so deutlich, dass sie ihn griffen und in den Kerker schickten. Er wurde nach Plevna gebracht, seine Hände wurden in eine eiserne Stange gelegt. Beim Umtransport schlug er seinen Wächter mit der Stange nieder und alles, was sich entgegenstellte, und floh in die Berge. Er wurde angeschossen und zog eine Blutspur hinter sich. Er floh bis in die Prutka und blieb dort und arbeitete weiter. Er musste sich verstecken, war bald in Marjakoy, bald in Banja, verankerte die Partei in den tiefen Falten der Drei-Schwestern-Berge.
Im Septemberaufstand half er die jäh flammenden Bauern-und Holzarbeiterdörfer unter sich und mit der Stadt verknüpfen, bis es ihn selber traf.
Vielleicht hätte sich Kolaroff, von der Jagd erschöpft, zufrieden gegeben, wenn Dudoff keine Augen gehabt hätte. Aber dieses blutige Bündel hatte Augen, scharfe, glänzende Blicke. Die sprangen ihn von unten an. Eine Sekunde lang brauchte auch Kolaroff, um zu begreifen, dass Dudoff nichts anderes war als ein Stück zerbissenes Fleisch. Was auch von Dudoff erzählt wurde, Wirkliches und Unwirkliches, was erzählt wurde und was er war, es gehörte in diesen Körper, in diese Pfütze, unter das Vordach. Kolaroff rief: „Bringt ihn rein!"
Sie jagten die Bahnwärterfamilie auf die Altane hinaus. Kolaroff sagte: „Zieht ihm die Schuhe aus." Sie rissen ihm die Stricke weg, Schuhe, Hosen. Im heißen Zimmer kam Dudoff zu sich und atmete schwer. Er erblickte plötzlich von außen, gegen die Fenster gedrückt, die vor Angst verzerrten Gesichter der Bahnwärterleute. Sie hatten schon verstanden, um was es ging, früher als er.
„Diesmal wirst du nicht weglaufen!" Sie hoben ihn über den Ofen, hielten ihn zu viert um die Hüften, stießen seine Füße in den Kessel. Dudoffs Kopf fiel nach hinten. Kolaroff hämmerte mit einem hölzernen Kinderlöffel auf den Tisch.
Als Dudoff zu sich kam, lag er auf dem Boden eines Waggons. Er versuchte umsonst, seine Beine aus dem Feuer zu ziehen. Er wimmerte, aber er merkte nicht, dass er das war, das Wimmern
kam von weit weg. Die Soldaten beobachteten ihn schweigend, wie er zu sich kam. In ihren jungen Bauerngesichtern wurde die Neugierde stärker, als er zu zucken anfing. Aufstehen konnte er nicht mehr, aber irgend etwas erwarteten sie; Dudoff schraubte sich zusammen, wurde wieder steif und hielt den Mund offen. Einen Augenblick glaubten sie, er sei tot. Als Dudoff von neuem wimmerte, machte einer der Soldaten die Tür auf und nahm von der Plattform eine Handvoll Schnee. Einer hielt ihm den Arm zurück und sagte: „Bist verrückt? Das braucht Fett." Er fing an, ihm die Füße einzuschmieren. Der am Kopfende saß, steckte die Finger in Dudoffs offenen Mund und befühlte die Zähne. Einer sagte: „Glaubst du, dass er gehängt wird?" - „Was ist an dem noch zu hängen? Da glitscht einem der Strick weg."
Sie hielten auf einer kleinen Station. Als sei sie ihm dort verloren gegangen und er spähe vergebens in der Dunkelheit nach ihr aus, rief der Stationsvorsteher kläglich in die Nacht: „Marjakoy, Marjakoy!" Einen Augenblick kam Dudoff ganz klar zu sich. Er verstand den Namen und begriff, wo er war. Einen Augenblick lang sah er deutlich das vom Schnee in Wellen gedämpfte Zickzack der Drei-Schwestern-Berge und die fünf in die Bergkuhlen gestopften Dörfer. - Wäre das plötzlich alles vom Erdboden verschwunden, er hätte es nachbauen können - doch nicht es verschwand, sondern er.
Der Zug zog an, Dudoff seufzte und wurde still. Die Soldaten begannen zu glauben, dass er tot sei. Sie erwarteten nichts mehr, hörten auf, ihn zu beobachten, stellten ihre Gewehre zusammen und schliefen ein.

 

Fünftes Kapitel

Obwohl die Gefangenen im Gefängnis von Sofia von der Außenwelt abgeschnitten waren, verbreitete sich doch das Gerücht, dass Dudoff weiterlebte. Nicht in Sofia entstand es - zweihundert Kilometer weit weg auf der Nordseite der Prutkaberge, Sonntag nacht in einer Bauernkneipe.
Sieht man von der Ebene auf die Prutka, abends, wenn die kläglichen Dochte der Waldbauernhütten zusammenglimmen in einem einzigen Licht, dann gleichen die fünf großen Dörfer auf der Bergwand dem Sternbild des Großen Bären. Revesch war das nördlichste der fünf Dörfer. Im Ausschank des Bauernwirtes ging der Sonntag zu Ende. Die Bauern lagen in schwerer, zäher Trunkenheit, als erstickten sie im Schnaps wie Fliegen im Leim. Der Wirt stand seufzend auf und drehte den Docht klein, Betrunkene brauchen kein Licht. Verzweifelt, mit abgestorbenen Händen, tappte einer nach dem unendlich fernen Lichtpünktchen. Eine Stimme bettelte: „Erbarme dich doch unser." Auf einmal knirschte draußen der Schnee. Die höckrige, bis in die Hütte von Wurzeln durchzogene Erde zitterte. Der Wirt drehte den Docht wieder groß. Man hörte das Herannahen von Männern.
Es war ein Dutzend Holzfäller von den großen Holzplätzen auf dem Prutkakamm. Manchmal wird die Lust nach Licht und Bauernwärme auf den einsamen Holzplätzen wie eine Krankheit. Dann ziehen welche los nach dem nächsten Dorf. Einen Tag hin, eine Nacht zurück.
Die Männer traten ein in eine Wolke von Dampf. Es war, als sprengten sie die Wände. Sie schüttelten einen Schwarm von Schnee auf die Bauern, zogen ächzend ihre Stiefel aus und stellten sie in einem Halbkreis um den Ofen. Sie fingen zu trinken an, zitternd, mit gesenkten Lidern. Die Bauern wurden wach und fragten nach Söhnen und Bekannten droben auf den Holzplätzen.
Knirschend, langsam wie Lasten auf stumpfen Kufen, rollten die ersten Worte. Einer erzählte, dass dem Iwan Iwanoff drei Finger abgeschlagen wurden. Er hatte viel Blut verloren. Vielleicht kam er in ein paar Tagen heim. Der alte Iwanoff fing zu weinen an, er hatte schon drei Söhne verloren. Bei ihm krochen aus allen Fugen dürre Enkelkinder. Die Holzfäller trösteten gleichmütig. Schlucken und Prusten, das Geheul des Alten, einförmiges Geschwätz floss ihnen zusammen in eine Bauernnähe; sie saugten alles ein mit offenen Poren.
„Wie weit seid ihr oben auf dem Geviert?"
„Wir fangen nächste Woche mit Stapeln an."
„Dann ist mal wieder die Zeit um, dann kommt ihr bald wieder herunter nach Marjakoy."
Jedes Jahr zogen die Holzfäller die Gebirgsstraße hinunter nach Marjakoy zum Abschluss. Ein Heer von schweigsamen
Riesen, die Äxte über den Schultern, wälzten sie sich durch die Prutka, erfüllten die Nacht mit Gesang und Rauferei, rissen an den Brusttüchern der Weiber. Erregt und nachgiebig empfingen die Dörfer ihre Gäste.
„Nein, dieses Jahr gibt es keinen Abschluss in Marjakoy. Sie wollen nicht soviel Besuch auf einmal. Sie löhnen uns gleich oben ab, an fünf, sechs Stellen, dann sollen wir von den Holzplätzen heim nach allen Richtungen."
„Sie können uns ja gerne einteilen, wir machen doch unsern kleinen Ausflug nach Marjakoy."
„Es fragt sich, wie viele mitmachen, ganz zuletzt, wenn es heißt, jetzt macht mit."
„Doch, sie machen!"
Dimoff hatte eine leise verschleimte Stimme. Es war nichts Auffälliges an ihm, als seine unregelmäßig gezackten Zähne. Aber alle warteten, bis Dimoff seinen Schleim herausgehustet hatte und deutlicher sprechen konnte.
Er sagte: „Wir haben unsere Knochen nicht geschont, wir sind in der Nacht von einem Holzplatz auf den andren, wir haben geredet, wir haben Zettel verteilt, wir haben das ganze Geviert da oben durchgehechelt. Dass es wirklich nur taubes Korn sein muss, was da übrig bleibt."
Einer von den Bauern sagte: „Wir haben, wir, wir, wir. Da bliesen sich viele immer auf mit ,wir', ,wir'. Wie im September die Hölle losging, schrumpfte mancher ein und schrie: ,Ich!' "
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgemacht, zwei Männer und ein Hund kamen herein. Der eine war der Bauer Stojanoff. Er hatte eine verkommene seit dem Krieg nicht ausgebesserte Hütte, ein kleines Stück Land mit einem angebröckelten Wall aus Geröll. Frau und Kind, der Bauer und der Hund, alle waren unglaublich grindig und abgerissen. Sein Begleiter hatte zwar einen schäbigen Schafspelz an, sah aber nach Stadt aus. Die Bauern dachten zuerst, dass er irgend etwas mit dem Holz zu tun hätte. Dimoff fuhr fort. „Ja, wir! Vorigen Sonntag war ein Treffen der Holzarbeiter, wir haben den ganzen Winter vorbereitet. Tausend sind nicht gekommen, aber zweihundert. Das war zuwenig. Wir waren nur zweihundert. Aber Dudoff war selbst heraufgekommen und hat gesprochen. Daran kann man schon merken, was unser Treffen war; Genosse Dudoff war selbst heraufgekommen zu uns; im Winter, über die Berge, auf unsern räudigen Holzplatz, dreißig Kilometer weit mit seinem im voraus bezahlten Kopf. Er hat zugesagt. Wenn er meint, dass es wichtig ist, dann spricht er auch, ob tausend oder hundert oder zwei sind da, und er unterschlägt keine Silbe und spart an seinem Atem nicht."
Der Mann, der mit Stojanoff gekommen war, sagte verwundert: „Aber Dudoff ist doch im vorigen Monat in Marjakoy verhaftet worden." Er hatte seine Mütze abgenommen. Sein Kopf war mit dunklen Haarkringeln bedeckt wie mit einer zweiten Mütze. Die Bauern sahen es seinem Schädel an, dass er viel damit gedacht hatte, und begriffen den Zusammenhang zwischen diesem Mann, Dimoff und Stojanoff. Dimoff sagte: „Dudoff war oft verhaftet." „Ja, aber diesmal haben sie ihn in einem Wald bei Marjakoy gefangen. Wir haben nichts davon gehört, ob er lebend irgendwo eingeliefert wurde, und das sind jetzt vier Wochen her."
Einer der Bauern.- vor einer Stunde hatte er noch mit betrunkenen Händen nach dem Dochtpünktchen getappt - sagte leise: „In Marjakoy hat ihn niemand verraten. Wer wird denn sein eigen Fleisch und Blut verraten. Mein Mund soll Dreck fressen, wenn ich lüge. Wenn einer gejagt werden soll, mein Sohn oder Dudoff, ich würde den Sohn drangeben. Sie haben ihn mit Hunden in einem Wald bei Marjakoy gejagt, mögen sie selbst gejagt und gebissen werden am Tage des Gerichts."
Der Mann, der mit Stojanoff gekommen war, sagte: „Ja, sie werden."
Dimoff sagte: „Er ist nirgends eingeliefert worden. Ich habe ihn vor acht Tagen droben reden hören. Soll ich euch wiederholen, was er gesagt hat?"
Der Mann lächelte ein wenig und sagte: „Ja, wiederhole." Dimoff stellte sich auf, mit vor Heiserkeit rauher, eindringlicher Stimme, den Tonfall eines andern mit gedehnter Feierlichkeit nachahmend:
„Die Partei hat sich nach der Niederlage wiederaufgerichtet, ihre Fehler verbessert, die Ihrigen zusammengerufen, sich erneut an die Spitze des Kampfes gestellt."
Die Bauern seufzten, die Lider vor Scham gesenkt. In ihren dunklen und dumpfen Gesichtern glühten schmale Lichtspalten. Der Mann hätte nun sagen können, dass er diese Sätze selbst auswendig wusste; denn sie waren in Wirklichkeit aus der Rede genommen, die der Delegierte der Partei im Sommer auf dem Kongress gehalten hatte. Aber er fing von etwas anderem an: „Wie viele aus eurem Dorf gehen ins Holz?"
„Es werden dreißig sein."
Der alte Bauer flennte und fing von neuem an: „Wieso weißt du von meinem Iwan, dass es drei Finger sind?"
„Es sind drei. Wir wissen es genau. Da ist nichts zu machen."
Dimoff zog seinen Pelz und seine Stiefel an und ging hinaus. Er wartete im Schnee, bis die beiden mit dem Hund nachkamen. Stojanoff hatte nichts gesagt und sagte auch draußen nichts. Er ging voran. Es schneite nicht mehr, aber die Hütten erstickten im Schnee. Man merkte kaum, dass das ein Dorf war. Schräg gegenüber, auf dem Westabfall der Drei Schwestern, lagen ein paar Lichter, aber die Sterne am Himmel sahen eindringlicher und erreichbarer aus. Jeder der drei Männer dachte erregt für sich, dass der Winter gebrochen war. Keiner von ihnen blieb verschont von der Unruhe der Schneeschmelze.
Stojanoff blieb plötzlich stehen mit einer einladenden Bewegung. Die beiden merkten nicht, dass sie irgendwo angekommen waren. Stojanoff stieß eine Lattentür auf. Der Zaun rechts und links war niedergebrochen, nur die Tür war stehen geblieben. Es ging steil hoch, eine Halde schien sich in eine andre zu schieben, es war kalt und finster. In der Hütte war es auch kalt, beißender Rauch. Stojanoff machte Licht an. Zwischen dem Ofen und der Wand war Stroh hingeschüttet. Sah man schärfer hin, regten sich dort ein paar Lumpen, ein Haarschopf, eine, Kinderfaust. Alles war, wie es Wind und Schnee gemacht hatten: eingedrückt das Dach: dass die zusammengerutschte Mauer das Innere mit Steinen halb auffüllte. Die gegenüberliegende Wand stützte sich am Ofen.
Stojanoff sagte: „Ich bin vor fünf Jahren aus der Kriegsgefangenschaft gekommen. Weiß ich, wo die fünf Jahre hingegangen sind. Ich kann euch sagen, sie lassen mir keine Ruhe, ich bin Tag und Nacht unterwegs.
Alles ist noch so, wie es gewesen ist vor fünf Jahren, als ich heraufkam. Meine Frau hatte Angst bekommen, hier draußen allein. Da war sie mit dem Kind zu Verwandten gezogen. Kaum war ich hier, da hieß es, geh nach Marjakoy, wir brauchen dich; dann kam die Zeit, wo sie den Leutnant Kolaroff drunten stationierten. Sie suchten die Dörfer nach Roten ab, suchten so gründlich, dass sie zwischen den Beinen der Weiber suchten und mit ihren Bajonetten die Därme der Männer aufstöberten. Ich musste mich verstecken und sagte zu meiner Frau: ,Geh nach Varna, wir kommen hier doch nicht dazu, Mais zu ziehen und Ziegen zu melken."
Vorigen Winter war ich im Holz, diesen Winter bin ich hier geblieben. Da habe ich meine Frau hergeholt, weil ich den Winter über ein Weib wollte.
Ich erzähle dir das alles, damit du weißt, wer ich bin. Dimoff kennt das ja, auch Dudoff hat es gewusst, er war oft hier oben.
Wie sie Marjakoy nach Dudoff absuchten, haben sie keinen Stein auf dem andern gelassen. Über kurz oder lang werden sie hier heraufkommen. Sie werden keinen Stein auf dem andern lassen, aber ich werde auch keinen Stein auf den andern setzen. Den ganzen Winter über, jeden Tag, übe ich mit meinem kleinen Sohn dasselbe ein: Ich frage, und er muss antworten. Andreas, was sagst du, mein Sohn, wenn sie dich holen, und ich sitze da, einen Strick um die Hände, rechts und links ein Gewehr, und sie fragen dich: ,Kleiner, kennst du diesen Mann?', antwortet er: ,So wahr Gott lebt, diesen Mann kenne ich nicht.'"
Sein Begleiter hustete vor Rauch, Stojanoff sagte schroff: „Kommst du aus Sofia?"
„Nein, ich arbeitete in Plevna. Aber vor fünf Wochen, als Dudoff verfolgt wurde und für die Arbeit ausschied, da bekam ich Befehl, meine Funktion aufzugeben und an Dudoffs Stelle einzuspringen."
Dimoff sagte: „Es war schwer, alle zehn von allen Holzplätzen zusammenzubringen. Wir müssen die Gelegenheit abpassen, wo du hier bist. Wir und du, wir können uns gehörig einander ausfragen. Du kannst es dann gleich weiterleiten. Wir bekommen jetzt zum ersten Mal Verbindung mit dem ganzen Gebiet östlich von Varna.
Am besten gehst du ein Stück mit auf die Straße nach dem Ködesch."
„Ich werde dir einen Packen Blätter heraufschicken, die eben in Marjakoy gedruckt wurden."
„Wirst du nicht selbst kommen?"
„Nein, wir haben wieder und wieder gesagt, dass es falsch ist, sich unnütz auszusetzen, jetzt, wo Schlag auf Schlag fällt."
Stojanoff sagte: „Das ist wahr, man kann nichts dagegen sagen. Aber auf die Allerbesten, solche wie du und Dudoff und ich" -nicht die geringste Prahlerei war in den Worten, dass Stojanoff sich zu den Besten rechnete, so sicher war es -, „macht es immer einen großen Eindruck, wenn ein Mensch den Tod nicht fürchtet." Er brachte einen dünnen Packen Blätter, Dimoff legte sie auf die bloße Haut, auf Brust und Rücken. „Die halten warm."
Um dieselbe Stunde ereignete sich folgendes im Zentralgefängnis von Sofia: In der westlichen Kasematte, gegen den Hof, waren zehn Gefangene untergebracht, die meisten aus dem Novemberprozess. Am vorigen Tag war ein gewisser Stantscheff eingeliefert worden. Spätabends, als alle in tiefem Schlaf lagen, wurde Stantscheff zum Verhör geweckt. Die übrigen konnten nicht mehr schlafen und warteten bedrückt. Nach einigen Stunden schleppte der Aufseher etwas herein und legte es auf Stantscheffs Pritsche. Stantscheff sah schrecklicher aus als je ein Mensch nach einem Verhör. Keiner konnte begreifen, mit welchen Instrumenten man ein Geschöpf so zurichtete, noch weniger, wodurch ein solches Geschöpf am Leben blieb. Es war unmöglich, Stantscheff auf irgendeine Weise zu helfen. Sie rückten von ihm ab und schämten sich einer vor dem andern.
Auf einmal schrie der junge Wlasnoff auf: „Aber das ist nicht Stantscheff." Er zitterte, dass seine Zähne aufeinander schlugen. Seine Genossen fürchteten für ihn und beruhigten ihn. „Nimm dich doch zusammen. Was schreist du da."
Aber Wlasnoff schrie: „Das ist doch Dudoff; oh, mir kann man nichts vormachen; seine Mutter würde ihn nicht erkennen. Aber ich erkenne ihn. Wir haben zusammen in Marjakoy gearbeitet, ich kenne ihn ganz und gar. Mögen sie ihm das Fleisch von den Knochen schaben, ich kenne ihn doch. Und seht doch mal seine Zähne an."
Wlasnoff kauerte sich nieder, und wie der junge Soldat im Waggon, steckte auch er seine Hand zwischen Dudoffs Kiefer und befühlte seine Zähne.
Einige hatten Dudoff gekannt oder irgendwo gesehen. Langsam fingen sie an, ihn zu erkennen, aber er erkannte sie nicht.


II
Wenn Steiner am späten Nachmittag in die Lesehalle der Universität eintrat, hätte er jedes der grünen Lichter mit beiden Händen streicheln mögen. Die Mittage waren immer schlecht. Nach dem Essen verliefen sich die Pensionäre. Steiner ging in sein Zimmer hinauf, schüttete eine Schaufel Kohlen in den Ofen. November. Aus den Baumkronen hinter dem Fenster tropfte der Regen seit seiner Ankunft, aber ein paar glühende Sommertage waren doch dazwischen gewesen, nicht von einem, von vier, fünf Sommern. Steiner setzte sich hin, um zu arbeiten. Er wollte eine Besprechung von Mautners Buch für die Monatshefte beenden. Steiner wusste, dass seine zwei Seiten Besprechung wichtiger waren als die hundert Seiten Buch; er fürchtete nur, ob die Monatshefte seine Besprechung drucken wollten. Es war zwischen zwei und drei Uhr. Er kann sich noch nicht entschließen, Licht anzumachen. Die Zeit verläuft sich ohnedies. Er wird nicht so dumm sein, den Abend an den Morgen zu hängen. Er rutscht auf dem Bett, steht auf und spielt am Ofen herum. Er denkt sich die letzten Sätze aus, ist aber zu faul, sie aufzuschreiben. Mautner fiel ihm ein, ein Männchen in einem schmierigen Gehrock aus den achtziger Jahren. Er hatte immer, ein Rudel Jugend um sich; aus irgendeinem Grund stritten sich seit einigen Jahren Schüler aus allen Ländern und Städten um die besten Plätze in seinem Hörsaal.
Eine Unruhe plagte ihn. Er stand auf und packte sein Schreib- • zeug ein. Die Unlust befiel ihn so stark wie eine Grippe oder ähnliche Krankheit. Seine Knie waren lahm, als er die Treppe herunterstieg. An einem solchen Tag kann man nicht arbeiten, in einem solch widerwärtigen Zimmer. Vielleicht bin ich auch wirklich krank.
Ja, aber was fehlt mir denn? dachte Steiner im Gleichschritt der schon beleuchteten, der Universität zulaufenden Straße. Er erinnerte sich an eine ähnliche Unruhe aus seinen ersten drei Jahren in dieser Stadt. Da war er manchmal an den Bahnhof gerannt und nach Ludwigshafen gefahren. Dort war die Fabrik aus. Die Anilinproleten drängten sich, um ihre Milliardenbündel vor Ladenschluss loszuwerden. Die Gesichter waren finster. Ein winziger Ruck genügte damals, um die ganze, von Menschen volle Straße in einen Gleichschritt zu bringen, in einen Aufmarsch. Fahnen zischten hoch. Steiner spürte in seiner Kehle, dass er brüllte, aber er konnte seine eigene Stimme nicht heraushören. Eines Morgens war die kleine Stadt besprenkelt von roten Zettelchen, als hätte ein Ausschlag aus der Nachbarstadt angesteckt. „Wer heute für Ruhe und Ordnung eintritt, schützt das Kapital." An einem andern Morgen im selben Winter, als er zufällig vor sechs auf die Straße kam, sah er zum letzten Mal in seinem Leben einen gefesselten Mann. Der hatte sich vielleicht hier versteckt und war gefunden worden. Steiner wusste nicht, war das der Rest von einem Traum oder war nur das die Wirklichkeit. Er starrte und starrte, obwohl an diesem jungen Proleten zwischen zwei Geheimen, der übrigens gesund und gleichmütig aussah, nichts Besonderes zu sehen war als eben seine Fesseln. Das war der Abschluss. Seitdem war die kleine Stadt genauso still und abgeschlossen, wie sich Steiner eine deutsche Universitätsstadt gewünscht hatte, als er mit Faludi auf dem grünen Dampfer nach Wien geflohen war. „Ja, aber was fehlt mir denn?" Als hätten seine Gedanken immer dieselbe Meterlänge, immer am selben Punkt, Ecke Rößlerstraße, an der kleinen Konditorei, fiel es ihm ein, er wusste, was ihm fehlte. Er blieb stehen, horchte. Während er in einer lächerlichen Stellung, das Gesicht gegen das bunte, hellerleuchtete Fenster der Konditorei gedrückt, den Passanten den Weg versperrte - Studenten, die es eilig hatten, am Anfang des Semesters pünktlich zum Kolleg zu kommen -, wartete er, dass ein Entschluss in ihm aufsteigen, mit ungeheurer, schmerzhafter Helligkeit sein Inneres durchleuchten musste. Schon spürte er die scharfe Kante, beugte sich, gehorchend. Aber er beugte sich umsonst. Was ein Entschluss werden sollte, verkümmerte zu einer Art Erinnerung. Als ob er sich rächen wollte, fasste er einen geringeren, nebensächlichen Entschluss. Er trat in die Konditorei ein. Seine Blicke liefen verwirrt rundum, bis sie Halt fanden: das kluge, junge Gesicht des Doktor Felix Robert, Redakteur der Monatshefte. Der pflegte hier zu arbeiten. Steiner setzte sich zu ihm. Er betrachtete mit Neid das Päckchen Papiere mit Roberts enger, splittriger Schrift bedeckt. Robert sagte: „Wir stellen Ihnen in den beiden nächsten Nummern je vier Seiten zur Verfügung. Sind Sie zufrieden?"
„Danke, Robert, Sie bekommen meine acht Seiten pünktlich geschickt, ich fahre nämlich von hier weg, für immer." Steiner war selbst überrascht von seinen eigenen Worten. Sie waren vielleicht kein Entschluss, doch der Schatten eines Entschlusses. Als läge dieser Schatten sichtbar auf Steiners Gesicht, betrachtete ihn Robert aufmerksamer als sonst und sagte fast bedauernd: „Wir haben gerade viel mit Ihnen vorgehabt; eine große Veranstaltung."
Steiner lachte: „Es gibt ja Eisenbahnen." Er stand plötzlich auf und verabschiedete sich.
Er hatte auf einmal solche Lust zu arbeiten. Er ging leicht, heiter, als sei die zweite Hälfte der Straße mit einem anderen Pflaster gepflastert. Das war eine gute Nachricht. Acht Seiten in den Monatsheften. Es war quälend für einen Menschen wie ihn, ins Blaue hinein zu schreiben. Bis jetzt hatte er nirgends und nie Anschluss gefunden. Die Professoren und Redakteure hatten ihn empfangen und besucht, angehört und ausgefragt, unschlüssig -ein Fremder. Mit den Druckbogen ihrer Zeitungen und Verlage hätte man dieses ganze Land bedecken können. Aber sie hatten um ihre Papiererde einen Stacheldraht gezogen. Endlich heute, im fünften Jahr, gaben sie ein winziges Stück frei, aber doch etwas, acht Seiten, je vier auf zwei Fortsetzungen.
Steiner trat in den Lesesaal. Einer seiner Lieblingsplätze war frei, er knipste das Lämpchen an. Sofort trieb er mit seinem grünen Lichtchen weg auf ein unermessliches Meer. Um ihn herum, verschwommen, doch ziemlich nah, trieb eine ganze Flotte von Lichtchen auf demselben Meer. Das ist gut, dachte Steiner, allein mit seinen Gedanken sein, das ist schwer und das ist richtig. Und seine Gedanken eilten sich heute, Worte zu werden, als wüssten sie, dass sie diesmal nicht nutzlos und heimatlos herumstreichen müssten, sondern ein Dach über den Kopf bekämen: die Dezembernummer der Monatshefte.
Als Steiner ein wenig müde wurde, fiel ihm ein, er könnte auch noch zu Mautner hinaufgehen, sich den mal anhören, bevor er abfuhr.
Wie er verspätet eintrat, war das Seminar schon im vollen Gang. Mautner verteilte gerade Referate für den Winter. Er sah aus, als sei er wie Diogenes aus einem Fass gekrochen, um Seminar abzuhalten. Steiner hörte zuerst belustigt, dann gedrückt mit zu. Ihn quält seine eigene Leidenschaft, zu unterrichten.
Unter Mautners Händen schien der grüne Tisch lebendig zu werden wie ein Geistertisch. Er überschüttete die Hörer mit Fragen, stürzte weiter, während die Antworten vereinzelt eintrafen oder ganz ausblieben. Er bemerkte plötzlich Steiner und fragte, ob er mitarbeiten wolle. Steiner wählte sofort ein Thema. Im Laufe des Abends warf er dann und wann einen Widerspruch über den Tisch. Alle sahen ihn an, als bildeten die Teilnehmer eine Ellipse, deren einer Brennpunkt Mautner und der andere er selbst war.
Als er aber nachher die dunkle, leere Straße hinunterging, war es schlecht, wie auf dem Hinweg. Mautner war droben stehen geblieben, in einem Knäuel stürmischer, fragender Jungen. Steiner dachte: Was soll ich hier eigentlich? Ich bin lange genug hier geblieben. Auf was warte ich? Ich muss zurückfahren. Ich muss mit Bató sprechen, gerade mit ihm, sofort. Am Ersten fahre ich, nicht später. Wie weit so ein Weg ist in ein leeres Zimmer -
Auf der anderen Seite schlurfte etwas zwischen den Laternen; Steiner erkannte den alten Mautner. Seine Schüler hatten ihn wohl an der Ecke verlassen, da musste auch er das letzte Stück allein gehen. Er blieb stehen, schnaufte, winkte Steiner zu sich herüber. Steiner passte seinen Schritt dem schweren Schritt des Alten an. Mautner packte ihn am Arm, ließ sich beinah schleifen: „Wollen Sie eigentlich für immer bei uns bleiben?"
„O nein, ich werde am Ersten abfahren."
Sie waren vor Mautners Wohnung angelangt, er presste mit einer Hand Steiners Hand, mit der andern den gelben Messingknopf. „Abfahren! Ich alter Mann habe geglaubt, Sie hätten ganz andere Pläne als Abfahrt."
Steiner ging nachdenklich heim. Er beendete beinahe zerstreut seine Besprechung. Als korrigiere ihn jemand über die Schulter, endete die Besprechung mit anderen Sätzen, als er am Mittag ausgedacht hatte. Als verstünde jemand besser als er selbst, was man über Mautner schreiben und was man nicht schreiben sollte, fiel diese und jene Stelle aus, eine andere fügte sich ein.
Am späten Abend ging er noch einmal fort, um seine Post einzuwerfen. Wie er den Bahnhof der kleinen Stadt betrat, verdeckte der nächtliche, kahle Bahnsteig alle dürftigen, verwaschenen Tagesbilder. Er war überzeugt, dass er abfuhr. Mächtige Freude auf seine Abfahrt durchzuckte ihn. So heftig war diese Vorfreude - wie er, an einen Pfeiler gelehnt, die mit Weichenlichtern besteckten Schienen entlangsah, war es, als schnurre sein Innerstes, endlich abgespult, stracks und eisern in die Nacht hinein.


III
London-Limehouse. Liau Han-tschi trat schnell ein und drückte die Tür gegen den Wind. Aus seinem Gummimantel floss der Regen in dünnen Fäden auf den Boden. Der ganze Raum war noch kahler und grauer als sonst, auf der Grenze der Wirklichkeit. Ein kleines Holzfeuer erwärmte nur die Katze mit ihrem Näpfchen, beide in einer Pfütze Milch. An einem der leeren Tische war ein Liebespaar übrig geblieben. Sie waren eingeschlafen und auseinandergerutscht, jedes in seinem eigenen Schlaf. Hinten, zwischen den Hoffenstern, hing ein graues Bild von Sun Yat-sen, wie eines jener Plakate, die zufällig auf den Wänden von Bahnhöfen klebenbleiben. Irgendwo über der Decke war ein Geräusch, als zerschlüge jemand beharrlich ein leichtes Geschirr in Scherben, und ruhe nicht, bis es ganz klein zerschlagen war.
Ma, der auf den Aufbruch des Liebespaares gewartet hatte, war hinter der Theke eingeschlafen. Liau Han-tschi weckte ihn, indem er mit dem Knöchel gegen das Glas stieß. Bei Ma gab es keinen Übergang, er war immer sofort wach, in einer schweigsamen, schläfrigen Wachheit.
„Warum kommst du zurück? Gibt es was Neues?" - „Nur so, gar nichts gibt es." Man kam hervor, räumte die Tassen zwischen den Schlafenden weg, wodurch sie aufwachten, zahlten und aneinandergelehnt hinausduselten. „Die werden nass." - Ma zuckte mit den Schultern. Er drehte das Licht aus, sie gingen hinauf. In Mas Wohnung, zwischen Tisch und Wand geklemmt, spielten ein paar Männer Mah-Jongg. Die Frau saß dabei und nähte. An der Wand klebte wieder ein Sun Yat-sen, ein bunter, pfiffiger. Einer der Männer trug eine schwarze Seidenjacke, die übrigen waren europäisch gekleidet. Liau Han-tschi sah auf das Spiel hinunter, auf die mit ihren Schatten tanzenden Hände des Schwarzröckigen. Er setzte sich zu der Frau. Er sagte: „Ich bleibe nicht länger hier, ich reise zurück." - „Wo willst du jetzt das viele Geld hernehmen?" Ma sagte: „Er ist doch der Sohn reicher Eltern." Liau fuhr fort: „Mein Vater wird wütend auf mich sein.
Zuerst will ich um jeden Preis fort, dann will ich um jeden Preis heim. Vielleicht gibt mir mein Bruder Geld." - „Ihr steht euch gut?" - „Ich habe ihn von allen meinen Brüdern am liebsten. Ich kann mir nie vorstellen, dass er etwas anderes tut als ich. Wenn ich zu einer Frau gehe, dann denke ich, jetzt geht auch er zu einer Frau; wenn ich in meinem Zimmer nachts sitze, allein, und nachdenke, dann weiß ich, dass auch er in seinem Zimmer sitzt, allein, und über alle diese Dinge nachdenkt."
Am Tisch hatten sie zu spielen aufgehört und hörten mit zu. Liau Han-tschi seufzte. Auf einmal sahen alle kränklich und verfroren aus, als hätte sein Seufzen die Temperatur im Zimmer verändert.
Und er sagte: „Ich kann nicht verstehen, was zu Hause vorgeht. Gestern habe ich Nachricht bekommen, ich verstehe wenig davon. Die Kommunisten, schreiben sie, sind in die Kuomintang eingetreten. Wann habe ich im Grund überhaupt etwas davon verstanden. - Ich war versessen darauf, nach dem Westen zu fahren. Jetzt sitze ich auf der falschen Seite der Erde. Könnte ich morgen daheim aufwachen. Es kann einem nichts Schrecklicheres geschehen, als nicht zu verstehen, was daheim vorgeht. Es ist, als befände sich das Herz an einer ganz anderen Stelle außerhalb des Leibes."
Sie hörten eine Weile geduldig zu, dann sahen sie weg. Ihrem Wegsehen war anzumerken, dass sie den Ablauf von Liau Hantsdiis Klagen kannten, allabendlich. Ma sagte - man hörte auch seinen Worten an, dass er den gestrigen Abend mit dem heutigen verknüpfte, ein niemals endendes Gespräch, wie eine Kette aus gleichen Kettengliedern: „Immerhin hat Sun Yat-sen diesen Russen Borodin bei sich behalten, immerhin hat er ein Bündnis mit Russland geschlossen, immerhin hat er gesagt, man soll sich an den großen Lenin anschließen." Der Schwarzröckige hakte ein: „Was willst du daraus ableiten? Er hat sich nicht mit den Bolschewiken verbündet, sondern mit einem mächtigen Reich, das an das unsre grenzt." Ma widersetzte sich: „Jedenfalls hat er ein Bündnis geschlossen. Kann man streiten, was er gemeint hat, bleibt immer noch offen, ob er etwas Falsches gemeint hat." -„Wenn du so sprichst, was bleibt dann nicht offen?" Ma erwiderte heftig: „Für mich ist ein Toter kein Heiliger. Seine Worte sind mir nicht unverbrüchlich. Auch ihn dort oben" – er deutete auf den kleinen bunten Sun Yat-sen über dem Kopf der schweigend nähenden Frau - „kann ich herunternehmen, wenn er mir nicht mehr passt und einen anderen auf seinen Platz hängen, den kleinen Russen mit dem Spitzbart."
Liau Han-tschi dachte: Ich will kein Gerede mehr. Ich will sehen, ich will heim. Jetzt, gerade jetzt, geschieht etwas Mächtiges daheim, ein mächtiger Stoß, man spürt es sogar hier, sogar dieser schläfrige Ma zittert mit, sogar dieses Limehouse-Zimmer zittert ja mit, ich aber will sofort heim.
Er stand auf, Ma begleitete ihn vor die Tür. Liau sagte: „Bis gestern waren meine Wünsche die Wünsche meines Vaters. Mein Ehrgeiz war der Ehrgeiz meines Vaters. Ich bin hierher gefahren und habe gelernt, was ich ebenso gut gelernt hätte, wenn ich mit andern Augen zu Fuß durch meine Heimatstadt gegangen wäre." Ma sagte mit leiser Ungeduld: „Immerhin, gelernt ist gelernt."
Es hatte aufgehört zu regnen. Liau ging zur Haltestelle und betrachtete die Auslage einer kleinen Tätowierbude, rohe, plumpe Bilderbogen, die er auswendig kannte, weil sie nur einmal im Monat gewechselt wurden, und er täglich hier wartete bei seinem abendlichen Besuch in Limehouse. Warten, Alleinsein in dieser fremden Straße mit ihren frechen, stolzen Fassaden, und dahinter die langen, kahlen Gassen, ausgegerbt und stumm. Er dachte an seine eigene Stadt, an seinen Vater. Der hatte Söhne genug, um Hoffnungen an sie zu knüpfen und Liebe an sie zu hängen. Aber sein Vater hatte nun mal gerade auf ihn gesetzt, und seine Hoffnung hatte jenen leidenschaftlichen Schwung angenommen, den sinnlose Wünsche zuweilen bei alten Leuten annehmen. Liau Han-tschi lächelte. Aber sein Lächeln, wie etwas Schweres, fiel sofort von seinem müden Gesicht herunter.


IV
„Janek?" - „Bin ich. Das ist meine Frau, Anka. Bist du Wronski?" - „Bin ich." Janek hielt mit der einen Hand Wronskis Hand, in der anderen Ankas Handgelenk. Er war zur Arbeit nach Lodz gerufen am Vorabend des großen Textilstreiks. Um sie herum strömten die Menschen aus den Abendzügen auf den Bahnhofsplatz von Lodz, der von einem hellen, im Regen zittrigen Kranz von Lichtern umgeben war. Janek blickte gegen die Stadt, als suche er Spuren ihrer Erwartung, ihrer geheimen Unruhe - blickte zurück in Wronskis breites, dunkles Gesicht, in welchem Unruhe und Erwartung deutlich waren.
„Du kommst mit mir. Es ist besser, ihr trennt euch. Hier ist die Adresse für die Frau, sie wird erwartet." Anka verbarg ihre Enttäuschung und hielt ihr Gesicht zum Kuss hin, rundes rotes Apfelgesicht, achtzehnjährig. Sie umarmten sich schnell, jedes auf dieselbe Weise, jedes legte seinen Arm in einem Reif mit geschlossenen Händen um den Rücken des anderen. Anka trat unter die Laterne und buchstabierte den Namen auf dem Zettel.
Janek und Wronski fuhren in die Stadt. Sie redeten nichts während der Fahrt, betrachteten einander offen, abwägend. Sie liefen durch ein paar düstere Straßen, gegen Windstöße, die schon aus der Ebene kamen. Wronski verteilte Grüße und Zurufe an Menschen, die sich für Janek kaum als Schatten in den Torbögen abhoben. „Hier ist es." Wronskis Familie und alles was sie an diesem Abend an Genossen und Nachbarn in sich aufgesaugt hatte, stopfte die vier Wände voll. Scharfe Reden, trommelnde Fäuste machten die Wände rattern wie Waggonwände. Gleich musste ein Pfiff ertönen und alles fuhr ab. Ihre Gesichter und Worte glühten schon von Abfahrt.
Janek sah sich um und wurde heiß: eine vertraute Landschaft graubleicher Färbergesichter, zerbissener Hände; seine eigenen Hände mit glatten Spitzen sind Fremdlinge, sie waren damals noch nicht lange genug durchgelaugt, dass es vorhielt. Aber was in Wronskis vier Wänden gesprochen wird, Tarife und Erfahrungen und Witze und Flüche, das ist Muttersprache. Daran hab ich reden gelernt und denken, und darin hab ich handeln gelernt. Das ist wie 'ne Heimat, da geht die Kraft zurück und hin und hin und zurück, da pumpte man sich voll, da bleibt keine Lücke in einem leer.
Dass der Streik erbittert und breit auf lange Sicht einsetzte, das war vollkommen sicher. Sicher war auch, dass er vor sich ging unter dem Abknallen von Polizeigewehren, unter Hieben mit Kolben und Riemen. Alle in Wronskis Zimmer ahnten, dass die nächsten Wochen das Äußerste an Kraft und Blut aus ihnen herauspressten. Aber nicht nur Wronski, seine Frau und seine Söhne, alle traten heiß und beinah festlich erregt in den Streik.
„Das gemischte Komitee zur Überwachung der Gewerkschaften war gut, ist aber schnell auseinander gefallen." Wronski machte mit beiden Armen die Bewegung des Auseinanderfallens. Seine beiden halbwüchsigen Söhne hörten scharf mit zu, ihre Augen glänzten. In ihren jungen Köpfen tönten alle die geläufigen Parolen wie wuchtige, erstmalige Befehle. Wronski packte mit jeder Hand einen Kopf, umspannte ihn mit seinen großen Fingern. „Die sind schlau und findig, die werden richtig."
Anka indessen hatte ihre Wohnung herausgesucht, nicht allzu weit weg vom Bahnhof in einem vierstöckigen Mietshaus. In der kleinen stickigen Lehrerwohnung der Melnyks war die Erregung gedrückt. Die Melnyk zog Flugblätter ab, mit aufgekrempelten Ärmeln, Bluse und Kinn und Hände mit Druckerschwärze beschmiert. Melnyk selbst legte ungeschickt frisches Papier ein. Zwei junge Leute zählten umständlich die fertigen Bündel ab. Hinten auf den Kissen lag das Wachsgesicht eines kranken Mädchens. Manchmal stand Melnyk auf, ging schnell zum Bett hinüber und setzte sich wieder. Die Melnyks druckten Tag und Nacht, doch lief der dünne, zähe Faden der Familie Melnyk, der eigne Faden, quer durch den Streik, verlor sich niemals. Melnyk flüsterte und druckte, und manchmal veränderte sich sein Gesicht, als zupfte ihn jemand am Ohr: „Du, das Kind ist krank." Einen Augenblick brachte Anka in dieses dürre Zimmer ein wenig Helligkeit, die schnell erlosch, wie aufgesogen. Melnyk fuhr mit einem Bündel in die Stadt, Anka setzte sich an seinen Platz, zählte ab, legte ein.
In vielen Wohnungen wurde in dieser Nacht gedruckt. Zwei davon wurden in der Morgenfrühe ausgehoben. Auf seinem Weg in die Bezirke kostete das Flugblatt ein Dutzend Verhaftungen.
Zwei Mittage später stand Anka am Fenster und drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe. Melnyk war weggefahren und nicht mehr zurückgekommen. Frau Melnyk hatte das Kind ins Spital gebracht und war gleichfalls ausgeblieben. Anka musste das Zimmer hüten und den erwarteten Genossen Bescheid geben. Sie hatte jetzt nichts mehr zu tun, als zu warten. Ohne Abziehapparat und Papierberge war das Zimmer eine dürre Beamtenwohnung, Plüsch, Vasen, Photographien. Ihre Fingerspitzen prickelten vor Ungeduld. Sie war ganz verzehrt vom Warten.
Tief drunten, auf der mittäglichen Straße, im hellen, aber faden Sonnenschein rollten die Menschen in zwei gleich breiten, gleich schnellen Bändern aneinander vorüber. Anka ahnte, was um diese Zeit in den Ostbezirken vorging. Aber dieses untätige, lähmende Warten vor dem Fenster eines leeren Zimmers verbrauchte mehr Kraft als erbittertes Handeln.
Drunten auf der Straße war es jetzt voller, schwärzlicher als vor zwei Minuten. Anka drückte ihr Gesicht platt. Aus irgendeinem Grunde stockte das Band auf der gegenüberliegenden Seite, verknotete sich, hakte an irgendeinem Schaufenster. Anka wusste selbst nicht recht, warum ihr Herz klopfte, nach unten riss, vier Stockwerke abwärts. Von der anderen Seite rannten plötzlich die Menschen quer über die Straße, die lockere Menge gerann zu einer zähen Masse. Es zischte rot heraus über die Köpfe weg, mit einer jähen Welle von Gesang. Die Fahne richtete sich höher, der Zug schloss sich zusammen, alle zufälligen Passanten zerstoben wie Spreu in die Torfahrten und Kellerluken. Minutenlang flitschte das Spruchband durch die Luft: „Gegen Lohnabbau und Massenentlassung!" Anka sah noch das Ende des Zugs, während sie schon die Schüsse gegen die Spitze hörte, zwei Straßenkreuzungen weiter. Mit geschärften Ohren hörte sie die Schüsse nach entlegenen Stadtteilen überspringen - was hier geschah, war nur ein Abfall von Aufmärschen und Schüssen im Osten der Stadt. Die auf einmal unwahrscheinlich leere, halb graue, halb sonnengelbe Straße glich jetzt einer überflüssigen Kulisse, die man auch gleich abschieben wird.
Bald darauf kamen Melnyk und zwei andere, atemlos. Sie waren gerade noch durch die Polizeikette geschlüpft. Melnyk erzählte, fragte plötzlich erschrocken: „Wo ist die Tochter?" Anka wollte jetzt zu Janek fahren, versprach, auf dem Rückweg ins Spital zu gehen.
Sie war zum ersten Mal bei Wronskis. Es war noch immer so voll wie am ersten Abend. Mit seinen von Lärm und Poltern zitternden Wänden glich das Zimmer noch immer einem Waggon in Fahrt, aus dem kein einziger ausgestiegen war. Anka suchte nach Janeks Gesicht. Einer von Wronskis Söhnen rief: „Wer sind sie denn?"
Er stand dann auf und kam näher: „Aber das ganze Streikkomitee ist doch verhaftet. Warum weißt du das nicht? Die Grabskiwerke haben sich uns angeschlossen. Weißt du das auch nicht? Unser Vater ist seit dem zweiten Tag verhaftet, liegt im Polizeilazarett. Bleib doch hier, setz dich."
Anka schwieg, um dann ruhig fragen zu können: „Wie war es denn?"
Die Brüder erzählten. Anka versuchte, scharf mit zuzuhören, um nicht in sich hineinzuhorchen. Horchte sie erst einmal in sich hinein, dann wurde der Schmerz inwendig laut und biss: Morgen und übermorgen und lange kein Janek. - Sie dachte auch beiläufig: Sind das Brüder? Starke Jungens sind das. Gut, solche Söhne. Eine kleine dicke Frau mit ruhigem braunem Blick brachte Tee und etwas Geschirr. Einige hatten Blechtassen bei sich und hielten sie hin. Als die Wronskibrüder „Mutter" zu ihr sagten, sah sich Anka diese Frau genau an. Sie ging ruhig von einem zum andern und goss Tee ein. An dem ganzen Gebaren der Frau merkte Anka, dass weder ihr noch Frau Wronski etwas Unerwartetes geschehen war. Einer von den Jungens sagte: „Morgen ist schon der fünfte Tag. Aber man kann eigentlich erst seit gestern rechnen, seit die Grabskiwerke angeschlossen sind."
Die Frau brachte eine große Schüssel, auf die jeder seine Tasche ausgeleert hatte: Brot, Wurst, Zwiebel, Zuckerstücke.
Über diese Schüssel wurde viel gelacht.

 

Sechstes Kapitel

Janek bekommt fünf Jahre. Er kommt nach dem Gefängnis Mokotow. In seiner Zelle liegen fünf Kriminelle. Zwei davon sind Zigeuner, die im Stadtwald einen Mann erschlagen und beraubt haben. Einer von beiden, der junge, liegt immer still und erloschen, der alte ist geschwätzig und lebhaft. Man kann sein Geplapper nicht mehr anhören. Bronski springt ihn dreimal am Tag an und hält ihm die Faust ins Maul. Bronski war Fuhrmann auf einer Landstraße in Dobre gewesen. Er zitterte um das Leben seines mageren, eigentlich zum Abhäuten reifen Braunen, bis es über ihn kam, den Fahrgast zu würgen, den er an der Station beim Wechseln eines Scheines beobachtet hatte. Korzak hatte in der Trunkenheit seinen Kumpan erschlagen. Das war schon ein Jahr her, aber er schaute immer so stur und glasig vor sich hin, als hätte er seinen Rausch noch nicht ausgeschlafen. Faruga hatte im Güterbahnhof geraubt. Er sowohl wie die Zigeuner waren schon mehrmals vorbestraft. Janek vertrug sich mit allen ganz gut. Im selben Gefängnis waren noch etwa zehn Politische. Kurz nach seiner Ankunft bekam Janek Nachricht, man muss uns zusammenlegen, fangt zu hungern an. Er begann am folgenden Tag. Zuerst, als er das Essen zurückwies, kümmerte sich niemand darum, nicht einmal die Mitgefangenen. „Was schon, der wird krank sein." Am zweiten Tag wurden sie unruhig. Faruga, der schon öfters mit Politischen eingesperrt war, verstand Janek sofort. Janek hörte oft, wie er dem Fuhrmann alles erklärte. „Zäh sind diese Politischen, die geben nicht bei, die kauen Eisen." Sie starrten ihn an, als besäße er, der kleine runde Janek, ein ihnen versagtes Recht zu kämpfen, eine geheimnisvolle Kraft, Nahrung abzuweisen. Die beiden Zigeuner - sogar der Junge hatte bei diesem Anlass seine träge Trauer abgelegt - betrachteten ihn neugierig, eine Merkwürdigkeit mehr in ihrem Leben. Fünf Tage hörte Janek um sich herum die Teller schrabben und kratzen, während er still dalag. Faruga drehte ihm den Rücken, aß mit gerunzelter Stirn, als sei er verurteilt zu essen und sinne über dieses seltsame Urteil nach. Die Zigeuner beobachteten Janek gleichmütig - wer sich hängen will, mag sich hängen, - ob er nicht doch anfing. Der Alte hielt ihm sogar den Napf unter die Nase.
Faruga war überzeugt, dass Janek nicht anfing, und aß finster und nachdenklich. Mit Faruga und wahrscheinlich auch mit dem Fuhrmann hätte man manches erreichen können, dachte Janek. Hetzte man die Kriminellen gegen die Politischen, dann wären die Zigeuner und Bronski zu bestechen, mit schnellerer Freiheit oder besserem Essen; aber Faruga war unbestechlich, und unter seinem Einfluss auch der Fuhrmann. Wissen nicht, aber eine Ahnung, wo er hingehörte, quälte Faruga, quälte sein dunkles Gesicht, das im Zuchthaus nicht blass, sondern schwarzgrau wie Blei geworden war. Janek dachte später in anderen Zellen oft an Faruga, von dem er nie mehr erfuhr, als dass er im Winter 1923 Waggons und Bahnlager beraubt hatte.
Am fünften Tag gab die Gefängnisverwaltung nach. Janek wurde umgelegt. Er verabschiedete sich von seinen Gefährten, Farugas Blick begleitete ihn, ein schwerer, trauriger, aus irgendeinem Grunde vorwurfsvoller Blick.
Mindestens zwanzig mussten in der neuen Zelle sein, in die man ihn spätabends hineinquetschte. Ein paar Hände langten nach ihm, schoben ihn auf seinen Platz. Er lag auf dem Rücken in Erschöpfungswachheit, in einer prickelnden, flimmernden Dunkelheit - die erste Mahlzeit gab es erst morgen früh. Er fuhr hoch und fragte: „Was gibt es Neues von draußen?" Einer antwortete: „Hast du schon den Brief der Exekutive an die Parteileitung gelesen?" Sofort fing es rundherum zu streiten an. Janek mischte sich nicht ein, horchte nur, um ein frisches Bild zu bekommen.
Plötzlich brach die Erschöpfung mitten durch, nach fünf Tagen Hunger, sie schliefen alle gleichzeitig ein.
Nachdem die ersten Tage der Eingewöhnung vorüber waren, fingen sie an, ihr Leben einzuteilen, voneinander zu lernen. Alle merkten schnell, dass Janek ein guter Ofen war, an dem man sich wärmen konnte.
Im selben Monat sah er auch Anka wieder. Er hatte sie zum letzten Mal im Gerichtssaal gesehen, bei der Urteilsverkündung. Eigentlich hätte Anka erst im dritten Monat kommen können, sie hatte Erlaubnis erlangt, vor ihrer Niederkunft zu kommen.
Der Aufseher, der mit Janek kam, schloss das Gitter auf. Anka verstand es, mit zehn Minuten umzugehen, die bittere Kürze der einen, die bittere Länge der andern Zeit, das war nichts, was ihr Furcht einjagte. Sie kam heiter und ruhig, auf leichten Füßen, einem kleinen Mädchen gleich, das einen Ball unter der Schürze versteckt trägt. Sie hatte sich auf dem Hinweg alles ausgedacht, was sie Janek sagen musste, einen großen Vorrat sollte er bekommen, bis zum nächstenmal. Über den Tisch, an den sie gesetzt wurde, zwischen Janek und den Aufseher, erzählte sie frech mit unglaublicher Geschwindigkeit. Sie verschachtelte geschickt in belanglose Familiennachrichten den ganzen Bericht der vierten Konferenz, die Lösung der Parteikonflikte. Später in der Zelle wunderten sich die Genossen, wie viele Nachrichten Janek mitbrachte.
Als die Besuchszeit abgelaufen war, zog Anka ihr Tuch über
den Kopf und ging schnell weg, schroff. Der verregnete Platz, die Kasernen, die Menschen mit ihren Schirmen, alles war schraffiert von Gitterwerk. Ihr Körper war jetzt schwer, als sei dieses Kind aus Blei, aber Anka war es, als beobachtete sie jemand unablässig, ob sie auch jetzt noch lächelte. Mit kleinen, flinken Schritten, stärker lächelnd, lief sie in die Stadt hinein.


II
Als Liau Han-tschi die Müllerstraße in Berlin hinunterging, versuchte er sich vorzustellen, dass diese Stadt einige Breitengrade östlicher lag als die Stadt, die er verlassen hatte. Sein Bruder hatte ihm geschrieben: „Fahr zunächst nach Berlin. Dort kannst du mehr lernen als sonst in einer Stadt. Geh zu dem Studenten Sun Fo-li, der mein Freund und ein guter Genosse ist. Er wird Dir helfen.
Ich weiß nicht, wie viel Du von uns weißt. Du wirst wissen, dass der große Boykott noch immer anhält. Hongkong ist völlig vom Festland abgeschnitten. Es kommt keine englische Ware mehr herein, und die Arbeiter und Handwerker und Ladenbesitzer verlassen die Stadt. Das Streikkomitee hat wirklich Regierungsgewalt, und es übt seinen Druck aus, wenn die Regierung in ihren Maßnahmen schwach ist. Überall hält die gewaltige Erregung an und wächst noch. Kein Dorf und keine Stadt ohne Versammlung. Es ist, als ob auf einmal alle Wasser zusammenlaufen. Alle Menschen und Dinge haben über Nacht ihr Gesicht verändert, selbst die Toten."
Liau hatte die erste kindliche Stufe seines Heimwehs längst überwunden. Wie er die abendliche Straße hinunterging -Mauern und Pflaster und Menschen waren von einer dicken, gelben Schicht Sonnenstaub überkrustet -, fühlte er zum ersten Mal diesen Stich nicht mehr: eine fremde Stadt.
Die kahle, kärgliche, unabsehbar lange Straße schien rund um die ganze Erde, um alle Städte gewunden. Das grelle Gekreisch einer Drehorgel in einem Schwarm entzückter Kinder begleitete sie gleichfalls rundum von Anfang bis Ende. Überall war sie gesäumt von Fenstern voll erschöpfter, ins Abendlicht blinzelnder Gesichter, von Gruppen breitbeiniger Proleten, streitend um das Brot und den Sinn des vergangenen und des morgigen Tages. -
Ich werde auf dieser Straße schon heimkommen, dachte Liau Han-tschi benommen, weiß jemand von diesen Männern und Frauen, was jetzt in meiner Heimat vor sich geht?
Er trat in die Torfahrt Nr. 12. Von selbst rief ihm jemand zu: „Willst du zu Sun Fo-li?" - „Ja, dorthin." - „Dritter Hof, ganz hinten, ganz oben."
Im dritten Hof geriet er in eine Schar Mädchen, die aus einer dort eingebauten Spinnerei strömten. Eine fasste ihn am Arm: „Du willst zu Sun Fo-li, zu uns, komm mit." Auf der Treppe sagte sie: „Wir haben einen Brief, wir erwarten dich. Fo-li wohnt zwei Jahre bei uns. Er suchte damals in dieser Straße ein Quartier, du kannst auch bei uns wohnen."
Liau dachte: Wie sich heute abend alles fügt, die Häuser und die Menschen.
Fo-li wohnte bei der Familie Balke auf den dritten Hof hinaus. Liau Han-tschi sah sich neugierig um. Mit dem kleinen Studenten war eine Flut chinesischer Bücher und Zeitungen über die Familie hereingebrochen, die ihre Betten, ihre Tische und Stühle und ihr Plüschsofa überflutete.
Dem Fenster gegenüber hing das Bild von Tschen Tu-hsiu, dem chinesischen Parteiführer, aus einer Zeitung ausgeschnitten, neben den Bildern von Liebknecht und Rosa. Dreimal hieß es: „Ein Brief ist da, wir haben dich erwartet." Fo-li war klein und behend und lustig. Balke, Eltern und Tochter, waren gleichfalls klein und fröhlich. Alle wussten so gut Bescheid über alles, was sich in seiner Heimat zutrug, als sei es im nächsten Bezirk geschehen. Fo-li krempelte seine Ärmel hoch und half der Frau, ein Abendessen nach seinen Angaben richten. Die Jüngere bändigte mit zwei dünnen Holzstäbchen die auf der Pfanne tanzenden Kohlblätter. Fo-lis zweijährige Anwesenheit in diesen Wänden hatte die ganze Familie verändert, wie ein Tropfen Tinte einen Eimer Flüssigkeit färbt. „Gut?" „Sehr gut."
Klappern der Stäbchen, Aufschlagen der Löffel. „Was ist das für ein Brief?" „Ein ganz neuer Brief, hör:
Bei uns in Kanton zieht sich alles zusammen. Der faktische Leiter der Whampoa-Militärschule ist jetzt ein gewisser Tschi-
ang Kai-schek. Er ist gerissen und hart und hat Geldgeber. An diesen Menschen knüpfen sich jetzt eine Menge Erwartungen und Befürchtungen. Dieser Tage wird Dich mein Bruder besuchen, ich bitte Dich, hilf ihm -"
Fo-li brach ab und lachte: „Soll ich weiterlesen?"
„Ja, lies."
„Er war früher ein sehr weicher Mensch - ,sag selbst, bist du ein weicher Mensch?'" Liau lachte: ,,,War' und ,früher', heißt es im Brief! - Weiter."
„- Vollgestopft mit Gelehrsamkeit. Aus seinen Briefen sehe ich, dass er anfängt, nachzudenken. - ,Fängst du an, nachzudenken?' "
„Ja, ich fange an."
„Es liegt mir sehr viel daran, dass er mit Dir zusammenkommt - ,Also, Liau, bleibe hier, du kannst hier wohnen. - Wie, er kann doch?'"
„Gewiss, kann er."
„Hier kannst du viel lernen. Deutsche Parteiarbeit, wie man Menschen zusammenhält. Wann willst du heimfahren?"
„Sobald das Geld da ist."
„Hab es nicht so eilig. Es gibt auch hier viel zu tun. Wer von uns nach dem Westen fährt, hat die Pflicht, viel Wissen nach Hause mitzubringen."
„Schlaf bei deinen Eltern", wandte sich Fo-li an die junge Frau, „lass Liau und mich beisammen, wir brauchen diese Nacht zum Durchschwatzen.
Die nächste Woche wohnst du allein hier. Wir fahren nach Rotterdam, Treffen chinesischer Seeleute. Das Treffen ist beschickt von Vertretern der Rechten Kuomintang im Ausland. Wir müssen alles dransetzen, unsere Landsleute über die wirkliche Lage aufzuklären. Wir haben einen schweren Stand. Ich wünsche, du wärest schon ebensogut eingearbeitet wie meine deutsche Genossin, hörst du?"
Liau Han-tschi, mit dem Rücken zum Zimmer, betrachtete die Höfe: tiefe Schatten auf dem Pflaster, Licht im Büro der Spinnerei, und der Himmel eigentlich noch ganz blau. Aber der blaue Streifen zwischen den Dächern, der schattige Hof, das Licht, alles erschien Liau nicht wie die Wirklichkeit selbst, sondern wie ihre Erinnerung. „Vor langer Zeit, bei der Heimreise, habe ich mal bei meinem Freund Fo-li in Berlin, in Deutschland, übernachtet. Ich stand am Fenster in einem Zimmer, in welchem die Bilder von Liebknecht und Rosa und Tschen Tu-hsiu nebeneinander hingen. Ich kann mich sogar noch erinnern, dass es Abend war und drunten im Hof eine Laterne brannte."
„Hast du gehört", zupfte ihn Fo-li am Ärmel, „ich wünsche, du wärst hier halb so gut eingearbeitet wie meine kleine deutsche Genossin."
„Ist das gut für dich, mit ihr zusammen?"
„Gewiss ist es gut. Sie hat sich ganz mit mir eingearbeitet. Fährt mit nach Rotterdam, versteht unsere Sprache. Sieh doch selbst, wie sanft und gut sie ist. Überhaupt, sie und ihre Familie, das ist ein gutes Nest."
„Du hättest dich in diese Stadt nicht tiefer hineinwühlen können."
„Das hab ich auch gewollt, das hab ich für meine Pflicht gehalten."


III
Als Frau Bordoni abends aus dem Hotel kam, in dem sie über Tag Aufwaschstelle hatte, und in die Rue Mazarine einbog, um ihren Mann abzuholen, der Konzession hatte für einen Obstwagen Rue Mazarine, Rue de Seine, da erblickte sie zu ihrer Verwunderung einen ganzen Auflauf um den Karren. Sie war beunruhigt, denn Bordoni war kein großer Anpreiser von Waren, sondern schwatzte lieber und döste und wartete, bis jemand von selbst Lust auf Feigen und Knoblauch hatte. Wie sie näher kam, da erblickte sie mittendrin das kleine, runde, sanfte Gesicht von Pali; ihr Herz blieb vor Schreck stehen. Sie dachte, näher kommend: Der hat mir grad noch gefehlt. Der wird ihm den letzten Rest geben, der wird dem Bordoni seinen letzten Verstand aus dem Kopf reden.
Sie puffte sich durch, begrüßte Bordoni nicht, schien Pali nicht zu sehen. Sie begann sofort, den Karren abzuräumen. Die Männer blieben um den leeren Karren stehen. Pali versuchte angestrengt, ihnen etwas klarzumachen. Er wiederholte in einem fort die französischen und italienischen Brocken, die er wusste -¦ aber seine Hände erfanden immer neue, eindringliche Bewegungen. Verwickelt in Palis Hände, horchten die Männer geduldig, als lohne es sich, hinter seine Worte zu kommen, Männer aus den Werkstätten der Rue Mazarine, die zum ersten Mal an dieser Ecke mit ihm zusammentrafen.
Frau Bordoni packte den leeren Wagen an den Deichseln und zerrte ihn in den Hof. Jetzt bröckelten die Menschen wirklich auseinander und gingen heim.
Drinnen im Hof drängten sich die Weiber aus den Nachbarhäusern um Frau Bordoni und handelten um die Reste von Gemüse und Obst, die vor der Nacht abgesetzt wurden, damit sie nicht verfaulten. Frau Bordoni hatte einen kurzen Blick in das Gesicht ihres Mannes geworfen. Er hatte das Gesicht, das er die letzten Monate in Paris trug, wo er ganz gut verdiente, plötzlich an diesem Abend gegen das Gesicht ausgewechselt, das er in Bologna vor ihrer Ausweisung getragen hatte. Mit niedergeschlagenen Augen, mit zusammengepresstem Herzen feilschte sie wie verrückt. Sie war erschöpft, ihr Kopf, ihre Stimme, ihre Beine, alles war bis aufs Mark verbraucht. Einen Augenblick blitzte in ihr ein Gedanke auf, den Korb umzustülpen, mögen sie sich ihre verdrückten Feigen vom Pflaster auflesen, sie wird indessen an den Kai gehen und ihre morschen Beine in die Sonne strecken. Aus ihren vor Ekel zusammengepressten Lippen zischten spitzige Zahlen. Umsonst, umsonst wollen sie alles von ihr haben, diese frechen französischen Weiber, vom Hotel die Patronin, das gemeine, stinkende Frauenzimmer.
Schluchzend vor Müdigkeit, die Fäuste voll Kupfergeld trat Frau Bordoni in die Tür. Am Tisch beim Essen saß die Familie des Patrons. Auf ihrem eigenen Bett saßen Bordoni, Pali und zwei junge Burschen aus der Nachbarschaft. Bordoni sagte unsicher: „Seht mal, wen ich da mitbringe. Ich sehe bei Chazelle hinein, und da sitzt unser Pali." Pali dachte belustigt, dass die Frau ihn am liebsten mit Krallen und Zähnen verjagt hätte. Bordoni sagte: „Gib mal was zu beißen her, Katarina, wir haben Hunger." Frau Bordoni sagte: „Alle vier?" Der Mann erwiderte nichts. Sie schämte sich jetzt, weil sie gefragt hatte, alle vier, hätte am liebsten einen ganzen Kübel voll Fleisch und Suppe auf den Tisch gebracht. Aber dann stieß sie die Teller vor die Männer hin wie vor Hunde. Pali dachte: Warum ist sie nicht besser geworden? Wenn ich italienisch verstünde, könnte ich öfters mit ihr reden und ihr viel erklären. Er liebkoste die Kinder, aber sie lächelte nicht. Der Junge lehnte sich an seinen Vater und betrachtete ihn stumm. Aber Giulia prustete vor Lachen, weil sie ihn erkannt hatte. „Bleibst du für immer hier?" - „Nein, nur einen Tag." Frau Bordoni war erleichtert - wenn der nur bloß mal wieder draußen war. Pali sagte: „Gehst du morgen mit? Bordoni sagte: „Weißt du, ich muss etwas achtgeben. Wenn sie mich irgendwo sistieren, dann nehmen sie mir die Konzession für meinen Stand weg." - „Wenn du darauf achtgibst, kannst du nie und nirgends mitgehen."
Bordoni erwiderte nichts, fast den ganzen Abend hörte er schweigend zu, quälte sich. Die ersten Wochen nach seiner Ankunft war er immer überall dabeigewesen. Seine Frau und seine Kinder hatte er einzeln bei Genossen untergebracht. Dann hatten sie Arbeit gefunden, waren wieder zusammengezogen. Die letzten Wochen war er nur selten ausgegangen, allmählich hatte er sich gefürchtet, sistiert, zurückgeschickt und eingesperrt zu werden.
Die Frau dauerte ihn, er trug ihr das Geschimpfe nicht nach. Eine gewöhnliche Frau, gewöhnliche Kinder, ein Korb voll Wäsche, eine Konzession auf einen Obstwagen. In diesem Augenblick begriff er nicht mehr, was er im vorigen Augenblick zu verlieren gefürchtet hatte.


IV
Auf der Halde, in die der morsche Wall hineingebröckelt war, standen Stojanoff und sein Weib und mähten. Das winzige Geviert Erde, das ihnen gehörte, hing fast senkrecht auf der Bergwand. Mit jedem Sensenschwung sah es aus, als flögen sie ab, in den niedrigen, nicht allzu entfernten Herbsthimmel. Aber Stojanoff verlor den Boden nicht unter den Füßen. Seine Sense stieß niemals auf den Stein, wie mächtig er auch ausholte, traf immer haarscharf jeden Grasbüschel im Geröll. Stojanoff stieß einen dumpfen, klagenden Ton aus, sein Weib folgte sofort mit einem leichten Schwung und einem höheren Ton. Es waren immer die gleichen Töne, doch klangen sie jedes Mal wie der Ansatz zu einem stürmischen Lied, das aus irgendeinem Grund stets an derselben Stelle abgebrochen wurde. Stojanoffs Weib war unansehnlich, klein, struppig, verknorpelt. Unter dem hochgebundenen Rock waren die nackten, zu kurzen Beine, gleichförmig gedrungen von den Knöcheln bis zu den Knien. Aber ihre Zehen waren geschickt und beweglich, und ihr Blick war hell und listig. -Sie wollte mit ihrem Kind auf den Winter nach Varna. Da wollte sie eine Ziege unterstellen und Futter dazu.
Andreas kam herauf und brachte seinen Eltern Brot. Er hatte es schon geteilt, in jeder Hand ein Stück. Er glich der Mutter, klein, struppig, krummbeinig. Seine Zehen waren lang und ungeheuer beweglich, und sein Blick war hell und listig.
Auf einmal waren in der Luft viele Schritte von der Straße her, schwacher Gesang. Andreas lief weg und lief zurück. „Oh, oh, kommt."
Aus dem Dorf, aus der Mahd liefen sie gegen die Straße. Zwei Dutzend Holzfäller rückten langsam, seltsam schlurfend, herunter, in einer dicken Staubwolke. Aus der Wolke strömte dunkler, einförmiger Gesang wie Brummen aus einem Bienenschwarm. Sie rückten näher, erreichten das Dorf. Die Bauern am Straßenrand starrten unwissend, bestürzt. Vier und vier waren aneinandergekettet, vorn und hinten marschierten Soldaten. Stojanoffs Frau rief: „Iwan, Iwan!" Einer der Gefangenen drehte den Kopf und lächelte. Hinter ihr sagte jemand: „Halt's Maul, Weib." Die Frau fragte ihren Mann, mit schrägem, listigem Blick. Der sagte leise: „Ruf!" Die Frau rief, und ihre Stimme traf den Rücken des Gerufenen: „Iwan, Iwan, vergiss uns nie. Nie vergessen wir dich!"
Die Kolonne streifte die Hütten, verschwand hinter dem Massiv des Ködeschfelsens. Stojanoff sagte zu seiner Frau: „Wer war denn das?" Die Frau erwiderte: „Was weiß ich? Ihr Männer wart alle wie zugenagelt. Ich dachte, rufen musst du, ruf nur, wird schon ein Iwan dabeisein."
Die Bauern warteten schweigend vor der leeren Straße. Nichts geschah als schwere Regentropfen, die sie ans Heu gemahnten, an die karge, gefährdete Mahd.
Später ging Stojanoff zu Petscheff hinüber in die Schenke. Es war ungewöhnlich, Montag abend. Er nahm seine Frau, sein Kind und seinen Hund mit. Alle kamen von selbst an diesem ungewohnten Abend. Der Regen rauschte in Strömen.
Das schwache Licht von der Decke über dem Kopf des Wirtes Petscheff blinzelte und erhellte nichts als sein verhasstes Gesicht. Auf das Brett gestützt, das über seine beiden Fässchen gelegt war, war er nur gegen Kupfer bereit, an die Verzweifelten Trunkenheit abzugeben. Wer später kam, legte sich hinter den Ofen, der den Raum in zwei ungleiche Hälften teilte, eine halbdunkle und eine stockdunkle. Da hinten war es gar nicht wie eine Schenke, sondern zwecklos, wie ausgestoßen.
Sie fluchten über den ungerechten Regen, der ihnen die Mahd verdarb, sie fluchten über den nahen Winter, über den Hunger und über das ganze Leben. Sie fluchten über den König, über seine Minister, über alle Herren in goldenen Uniformen und in schwarzen Röcken. Andreas, zwischen den Knien seines Vaters, saugte mit offenem Mund alle Flüche ein. Bei jedem Faustschlag hüpften seine Augenlider. Der Brustkorb seines Vaters dröhnte, als er sich selbst verfluchte, weil er im Herbst 19 sein Gewehr abgeschnallt und auf die übrigen Gewehre des Königs gelegt hatte.
Gewehre. Auf einmal, als ihre Flüche so hart waren, dass man sie packen und schleudern konnte, gerade an dieser Stelle, als sei das Ganze nutzlos und eine Schande in seiner Nutzlosigkeit, brachen sie ab im Fluchen und, abgebrochen, aus, wennschon, dennschon, zupfte eine Hand ein paar Saiten an. Sie seufzten beschämt, erleichtert, als sei eine unerträgliche Last weggenommen, duckten sich zusammen und wiegten sich. Jemand begann mit leiser, aber ganz reiner Stimme:
„Siebenhundert Glocken läuten
abends auf dem Grund des Kjolsees. Siebenhundert Frauen schlafen abends auf dem Grund des Kjolsees."
Die Zither kam in eine andere Hand, zu einer starken, rauhen Stimme:
„Siebenhundert Schwerter klirren
abends auf dem Grund des Kjolsees. Siebenhundert Rosse wiehern
abends auf dem Grund des Kjolsees."
Sie neigten sich allesamt herüber und hinüber, brummten. Nur Stojanoff saß aufrecht, drückte hart das Kind zwischen seinen Knien. Eine Frauenstimme, der man das Erröten anhörte, sagte, mehr als sie sang:
„Siebenhundert Männer kämpfen
abends auf dem Grund des Kjolsees. Siebenhundert Pfeile fliegen
abends auf dem Grund des Kjolsees."
Jemand fuhr fort mit deutlicher, etwas gepresster Stimme:
„Siebenhundert Morgen Weizen
hat der Herr, der Jeffim Lawitsch. Siebenhundert Morgen Wälder hat der Herr, der Jeffim Lawitsch."
Alle stutzten, hörten auf, sich zu wiegen.
„Siebenhundert weiße Huren
hat der Herr, der Jeffim Lawitsch. Siebenhundert goldne Münzen gibt der König jeden Monat seinem Freund, dem Jeffim Lawitsch."
Es war dunkel, sie konnten sein Gesicht nicht sehen. Wenn gemäht wurde, gab es immer ein paar Ortsfremde, Verwandte aus den Dörfern. Er riss ein wenig an den Saiten, seine Stimme hämmerte, deutlich, gepresst:
„Der die Erde durchgerissen und geteilt in ihre Teile, liegt in seinem Grab in Moskau. Doch auf seinem Grabe lauert die Partei und wird nicht müde."
Alle horchten starr mit angehaltenem Atem, nur Stojanoff wiegte sich jetzt, er wiegte das inzwischen auf seinen Knien eingeschlafene Kind. Plötzlich machte Petscheff Licht an, vielleicht, weil er sich fürchtete. Es waren ein paar fremde Gesichter da, nichts Besonderes. Alle sahen sich ähnlich. Blinzelnd, frierend vor Erregung.
Als sie einzeln heimgingen, kam schon der Tag hinter dem Regen auf. Stojanoff trug das Kind, seine Frau kam, der Hund und noch ein Mann.
Stojanoffs Hütte, in die Halde hineingeweicht, verschluckte sie alle. Stojanoff hatte kein Licht, und sein Gefährte fluchte, weil er sich überall anstieß, tölpisch vor Müdigkeit. „Allein an Weg habe ich dreißig Kilometer hinter mir." -
„Leg dich doch."
Er legte sich da nieder, wo er stand. Stojanoff forderte ihn auf, sich an eine bessere Stelle zu legen, aber er war zu müde. Von was klopft denn die Erde in Stojanoffs Hütte? dachte er erschrocken. Dann merkte er, dass er auf seinem Herzen schlief, war aber zu müde, sich auf die rechte Seite zu drehen. Stojanoff sagte: „Dudoff ist jetzt wirklich auf und davon. Es heißt, nach Russland." Der andere wusste, dass nichts an dieser Flucht war. Er sagte noch nichts, sondern ließ Stojanoff weiterreden; obwohl er zu müde war, ein Glied zu rühren, war er nicht zu müde, ihn anzuhören. „Einmal ist Dudoff mit einer Eisenstange, in die man seine Hände gezogen hat, in die Berge gelaufen. An der Marjakoyer Straße gibt es eine Waldschmiede, sie gehört dem Schmied Iwan Dubrow, möge er lange auf dieser Erde leben bleiben. Du wirst gleich begreifen, warum ich ihm ein langes Leben wünsche. Eines Nachts hört Dubrow etwas klappern. Er meint, etwas Eisernes ist umgefallen, steht auf, um nachzusehen. Da steht Dudoff vor ihm mit seiner Stange. ,Wirst du mir die Stange abnehmen, ja oder nein?' - Ja.' Dann aßen sie zusammen ihr Brot, aber Dudoffs Hände waren noch taub, man musste ihm die Bissen in den Mund schieben. Dudoff fragte: ,Weißt du, wer ich bin?' Darauf erwiderte Dubrow nichts. Dudoff sagte: ,Du kennst mich nicht und ich dich nicht. Ich muss fort, ich habe nichts. Ich kann dir nichts anderes zurücklassen als diese Stange.' Dubrow sagte: ,Genug, übergenug. Ich lege diese Stange unter meine Schwelle, wer heraus- und hineingeht, muss darüber.' So hat es Dubrow gemacht. Ich bin selbst diesen Sommer über seine Schwelle gegangen."
Der andere sagte auch jetzt nichts. Vielleicht schien es ihm, dass Stojanoffs erfundene Nachricht fruchtbarer als seine war, außerdem wusste er nicht, ob Stojanoff zu ihm oder Andreas gesprochen hatte. Denn jetzt, wo es hell wurde, merkte er erst, dass Andreas die ganze Zeit zwischen ihnen lag. Stojanoff sagte in verändertem Ton: „Die hören nie mehr auf, uns zu jagen, seitdem dort unten in Sofia ihre Kirche in die Luft geflogen ist. Wo soviel Blut fließt, sollte man denken, kommt es auf dieses Blut nicht an. Es gibt noch viele Dudoffs. Aber wie sollte es gerade auf Dudoffs Blut nicht ankommen?"
„Als er seine Rede beendet hatte, zogen die Delegierten der Großbetriebe in bewaffneten Formationen an der Tribüne vorüber. Achtzigtausend Menschen. Sie trugen alle Patronengürtel und Gewehre. Ein Arbeiter nach dem andern betrat die Tribüne. Eine Wolke von Flugzeugen kam über den Himmel gesaust. Dieser Tribüne gegenüber, auf einer andern, besonderen Tribüne, saßen die Gesandten aller Nationen, und sooft ein Redner den Staat der Arbeiter und Bauern hochleben ließ, waren sie genötigt, die Hand zu erheben."
Nikoloff brach ab. In dem steinernen Gang, der die Kasematten voneinander trennte, dröhnten die Schritte einer Patrouille. Es war um diese Zeit verboten, zu sprechen. Die Schritte näherten sich der Tür und entfernten sich gegen den Kreuzgang zur Ablösung. Ein Kommando rollte den Gang herunter, lärmend wie eine Kegelkugel. Im Kasernenhof ertönten Hornsignale, ein langes und zwei kurze. Nikoloff hatte sich flach ausgestreckt, er horchte zum ersten Mal auf alle Töne, die nun Abend für Abend kamen, vielleicht auf Jahre. Er war vor zwei Monaten aus Russland zurückgekommen und beinahe sofort verhaftet worden. Als alles fertig war - als sei Nacht endgültig beschlossen -, fuhr Nikoloff fort:
„Vor dem Leningrab steht Tag und Nacht eine Menschenschlange, sie nimmt niemals ab. Ich habe mich oft eingestellt -
Die neue Ernte drüben verspricht gut zu werden -"
„Weiter, weiter." - Sie lagen je drei übereinander, rechts und links. Der Mann, der gegenüberlag, drehte ihm das Gesicht zu. Nikoloff konnte sein Gesicht nicht erkennen, es. war vollkommen dunkel. Er wunderte sich, woher trotzdem die hellen Punkte in diese Augen kamen. In der vollkommenen Finsternis hatte keins Lichter außer des anderen Augen. „Unser Parteikonflikt ist beendet. Man hat sie alle miteinander vorgeladen. Schließlich ist es zu einer Einigung gekommen, und zwar folgendermaßen -"
Dudoff spürte es selbst, wie seine Augen brannten. Der neue Genosse starrte ihn unverwandt an, auch seine Augen glänzten, so schien es Dudoff, in drohendem, unerbittlichem Glanz. „Man hat der Minderheit zugebilligt, einen Delegierten ins Komitee zu schicken. Also ist es jetzt so verteilt:------" In diesem Augenblick fasste Dudoff den Entschluss, als hinge es von seinem Willen ab, am Leben zu bleiben. Nikoloff brach ab. Man hörte wieder Schritte, aber nicht nebenan, sondern im nächsten Laufgang. Auf einmal fragte Dudoff mit gepresster, seiner alten ganz unähnlichen Stimme: „Wer macht jetzt meine Arbeit in der Prutka?" Seine Gefährten krümmten sich zusammen, das waren Dudoffs erste Worte. Schrecklicher als alles andere war es, Dudoff zwischen sich zu haben, ihn verkommen und verfallen zu sehen. Jetzt drehte sich die Zelle um ihre Achse. Nikoloff, der nicht so erregt war, erwiderte: „Ich glaube, Kondoff." Dudoff sagte: „Ist das der Kondoff, der früher in Plevna war?" - „Ja, es wird derselbe sein." Dudoff fragte nichts mehr. Es wurde überhaupt still. Jemand knetete stöhnend seine Füße.
Dudoff dachte an die Flucht. Er dachte an die Vergangenheit - nicht an eine Möglichkeit, zu fliehen. Seine Flucht in die Berge mit einer Eisenstange, die letzte Fahrt auf dem Boden des Waggons - einschlafend vermischte sich spielend Unvermischbares. Aber selbst im Traum verließ ihn keinen Augenblick der Gedanke, dass von ihm verlangt wurde, wenn es nur eine Möglichkeit gab, zu fliehen und weiterzuarbeiten. Sein ganzer Körper sträubte sich, wünschte sich nichts, als endlich liegenzubleiben, wo immer, wie lange immer, sieben Jahre, zehn Jahre, lebenslänglich.


V
An einem Abend des Sommers 26 machte die Parteizelle 15/16 Haus- und Hofpropaganda in Berlin um das Schlesische Tor.
„Da drüben", deutete der Zellenleiter auf einen Häuserblock. Gerade als er „da drüben" sagte, gingen in zwei oder drei Fenstern Lichter an. Sie gingen durch die Torfahrt in den ersten Hof. Innen war es schon dunkel. Helle Fenster klebten wie Pflaster auf den kahlen Wänden. Der kranke weißliche Himmel sah aus, als müsste Mörtel aus ihm herunterfallen auf die kleine Gruppe atemschöpfender Menschen, drunten auf dem Viereck.
Ihre Stimmen setzten ein, die Parole knallte in den Hof, im nächsten Augenblick waren die Fenster gesprengt, Männer und
Frauen guckten heraus, wütend, erstaunt oder begrüßend, alle Zimmer, alle Löcher warfen ihr Innerstes in den Hof, fluchend, schimpfend, beifällig.
Drei oder vier aus der Gruppe gingen sofort weg in die Stockwerke. Bató ging mit einer ganz alten Genossin, die auf jedem Absatz schnaufte, aber immer flink weiterstieg und ihn antrieb.
Mit der ihm eigenen, brennenden, ihm selbst schmerzhaften Aufmerksamkeit starrte Bató in die Türspalten, in die Gesichter der Einwohner, horchte auf die Antworten.
Vor einer Tür stand ein junger Bursche, wartete und lachte.
„Guten Abend, Bató!"
„Böhm! Was, wieso bist du hier?"
„Weil ich hier wohne."
„Wie, hier wohnst du?"
„Ja, warum soll ich nicht hier wohnen? Ich habe dich unten im Hof stehen sehen und auf der Treppe gewartet, bis du an meine Tür kamst. Verkauf deine Hefte fertig. Dann warte auf der Straße, ich gehe ein Stück mit."
Auf der Straße wechselten sie die Sprache und sagten auch Sie zueinander. Bató wunderte sich, dass sich ein Mensch so verändern konnte. Böhm war förmlich in das Haus hineingewachsen. Böhm wunderte sich, dass sich ein Mensch so wenig verändern konnte. Noch immer war Bató der kleine vergilbte Hochschullehrer.
Nun erzählte Böhm von seinem Häuserblock. Er kannte die Zusammensetzung der Bewohner, ihre Berufe, Einzelheiten aus ihrem Leben. Seit er hier wohnte, hatte er so oft die Straßenecken mit Plakaten bekleben helfen, Flugblätter verteilt und Versammlungen beigewohnt, dass es keine Häuserwände und keine Gesichter gab, die er nicht kannte. Ja, er wusste sogar alle Ereignisse, die die Straße betroffen hatten, bevor er selbst hierher gekommen war. Bató hätte ihn beneidet, wenn ihm Böhm nicht auf besondere Art teuer gewesen wäre. Man beneidet nicht einen Sohn, wenn er das erreicht, was man selbst nicht erreicht. Er fragte: „Mit unseren Leuten kommen Sie wenig zusammen?"
„Dann und wann, mit einzelnen fast nie. Zum Glück", setzte er lachend hinzu. „Hören Sie etwas von Faludi?" - „Ja, der ist doch hier." - „Was, Faludi ist hier?" - „Ja, haben Sie das nicht gewusst? Er ist lange abgehängt, das wissen Sie doch. Das war eine böse Sache. Er war immer gewohnt, im Brennpunkt zu stehen, in einer Arbeit, wo es scharf auf scharf ging, auf Tod und Leben. Wo der Mensch ganz deutlich gesehen wird. Wenn die Lage nicht danach war, wenn es keine solchen Aktionen gab, dann versuchte er, sie herbeizuführen."
„Ich habe mal gehört, man hat ihm seine Funktion abgenommen."
Böhm wunderte sich jetzt, dass er nie mehr nach Faludi gefragt hatte. Seitdem er hier lebte und eingewurzelt war, vermied er es, auf die Vergangenheit zu stoßen, als drohe ihm von dort eine Gefahr.
„Was macht er denn jetzt?"
„Gar nichts mehr, irgend etwas Belangloses. Redaktion."
Böhm lachte. „Ich kann mir Faludi schlecht als Redakteur vorstellen. Wenn er in ein Zimmer eintrat, hatte man immer das Gefühl, er hätte draußen ein Pferd angebunden."
„Jetzt hat er kein Pferd mehr angebunden."
„Und Steiner?"
„Sitzt in einer kleinen Universitätsstadt. Schreibt mir manchmal einen Brief, dass er es nicht mehr aushält und im Begriff ist, abzufahren. Aber er wird bestimmt nicht fahren."
Böhm hörte nur noch halb mit zu. Er hatte keine Lust, weiterzugehen. Er erinnerte sich an endlose Gespräche in Batós Zimmer in Wien, an quälende, sinnlose Streitereien. Die streiten sich gewiss noch immer über die alten Scherben. Wie kann sich ein Mensch so wenig verändern. Bató dachte: Soll ich ihn fragen, ob er heute abend mit mir kommen will? Aber Böhm hat sicher alle Abende über und über ausgefüllt. Weshalb soll er gerade mit mir in meinem Zimmer sitzen?
Sie warteten nebeneinander an der Haltestelle, nachdenklich. Aus verschiedenen Richtungen kommend, schnitten sich ihre Gedanken in einer Frage, die der Ältere aussprach: „Haben Sie Rákosis Rede vor dem Standgericht gelesen?" - „Gewiss, ja." Beide hatten unablässig darüber nachgedacht, seit Rákosis Rede vor dem Militärgericht in Budapest am vorigen Tag. Sie dachten auch gleich wieder darüber nach, aber schweigend, nebeneinander.
Böhm fing noch einmal an: „Ihm ist es wirklich ziemlich gelungen, alles zu sagen, was heute einer von uns sagen muss, bevor man ihn in ein Grab oder eine Zelle einsperrt."
Bató sagte: „Ja, ihm ist das gelungen."
Als sie sich verabschiedeten, fragte Böhm zum Abschluss: „Und Sie, was machen Sie?"
Bató erwiderte: „Ich habe meine kleine Stelle in der Redaktion der ,Neuen Welt'. Nach wie vor. Sonst mache ich nur die geläufige Parteiarbeit. Seit einigen Jahren habe ich nichts mehr geschrieben." Auf einmal bekam er Lust zu sprechen, weil es dann belanglos wurde, in Böhms junges, ruhiges Genossengesicht. Böhm hörte gleichmütig mit zu, widerwillig. Jetzt fängt er bestimmt von sich selbst an, findet kein Ende.
„Können Sie sich das vorstellen, ich quäle mich ab, nutzlos. Ich fühle förmlich eine taube Stelle, hier, körperlich, wo früher meine Gedanken herauskamen. Ich habe doch keine andere Möglichkeit, mich auszudrücken. Können Sie das begreifen?"
Böhm betrachtete ihn von der Seite. Eine flüchtige Erinnerung stieg in ihm auf, wie man einen Menschen langsam wieder erkennt, der einem einmal einen großen Dienst geleistet hat, dessen Angesicht und Gebärden aber nichts Außergewöhnliches hatten, um sich scharf einzuprägen. Sie gingen langsam nebeneinander die Straße hinunter. Bei jedem Schritt, mehr und mehr, als trüge Bató diesen Stoff in seiner Gestalt mit sich, sickerte die Vergangenheit in Böhms Denken. Er bereute, dass er Bató fast gewaltsam vergessen hatte; vergessen, dass Bató sein Lehrer war. Ihn, den kleinen Studenten, hatte er damals gepackt und gerüttelt und nicht lockergelassen. Als hätte sich mit einem Schlag Gerechtigkeit seines jungen Herzens bemächtigt, sah er Bató wie er war: ein kleiner, vergilbter Mann mit vor Müdigkeit zitternden Backenknochen. Nur seine Augen brannten mit unverminderter, schmerzhafter Aufmerksamkeit, doch auch sie brannten hinter trüben Brillengläsern.
Die Bahn kam. Am liebsten hätte Böhm gefragt, ob er mitfahren könnte, aber er dachte: Bató hat sicher alle Abende besetzt. Warum soll er sich gerade mit mir in ein Zimmer setzen?
Bató stieg also allein die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Er zögerte vor der Tür, jeden Abend drehte er unschlüssig die Klinke in der Hand. Hineingehen oder für ganz fortbleiben?
Er trat ein. Marie saß wie immer auf dem gleichen Fleck und nähte. Andris hatte sich aufgerichtet und starrte seinen Vater an. Bató betrachtete alles kalt und höflich, wie man eine Umgebung betrachtet, mit der man gezwungen ist, in engem Raum eine weite Strecke zu reisen. Marie ging sofort leise hinaus und brachte einen Teller voll dampfendem Essen. Das ganze Zimmer füllte sich mit scharfem Geruch. Bató aß gierig, in dieser Minute erschien ihm der Geschmack des Essens die einzige Wohltat. Marie trug den Teller hinaus. Bató setzte sich unter die Lampe, Marie kam zurück und nahm ihr Nähzeug. Aber jetzt erschien ihm der Lichtkreis der Lampe quälend eng für die Frau und ihn. Marie rückte auch von selbst heraus. Dann sagte Marie, und man hörte ihrer Frage an, dass sie Angst vor der Antwort hatte: „Entschuldige, dass ich dich etwas frage, vielleicht willst du nichts davon sagen. Sage mir doch, ob dir etwas Schlechtes geschehen ist."
Bató antwortete nicht gleich, dann erwiderte er ruhig, etwa so, wie er vorhin Böhm erwidert hatte: „Es ist nichts Besonderes geschehen, es quält mich, dass ich nicht arbeiten kann."
Marie sah erleichtert aus, als hätte sie ein größeres und sonderbares Unglück erwartet: „Was wirst du jetzt machen?"
„Ich weiß nicht, vielleicht nach Russland fahren." Marie sagte: „Bald, mit uns allen." Bató sagte: „Du sollst nicht mitgehen, Marie. Willst du nicht mit den Kindern zu deiner Familie zurückkehren?" Marie wurde weiß, es war, als erkenne er erst jetzt auf schneeweißem Grund ihr wirkliches Gesicht. Sie sagte: „Ich weiß, dass du uns wenig liebst. Aber ich habe nicht gewusst, dass du deine Kinder gar nicht liebst. Niemals, ob du weggehst oder nicht, werde ich mit deinen Söhnen in dieses Land zurückkehren." Bató erschrak. Er sagte: „Es ist nicht wahr, dass ich euch wenig liebe. Aber du weißt, dass es etwas gibt, das ich viel mehr liebe."
Marie sagte leise: „Du hast nie Freude an uns, warum denn nicht? Sieh mich doch an." Sie stand auf, als ob sie ihm ihre Gestalt zeigen wollte. Bató trat auf sie zu und küsste sie.
Später, als sich die Frau niedergelegt hatte, setzte sich Bató an seinen alten Platz. Er beschloss, nicht eher aufzustehen, bis er seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte. Andris beobachtete ihn mit einem zugekniffenen Auge. Auf was wartet er eigentlich? dachte er, und er dachte weiter: Jetzt ist es schon ewig, schon unglaublich ewig her, dass fremde Männer plötzlich heraufgekommen sind und alles zerwühlt und zerschlagen haben und ihn dort, ihn dort mitgenommen. Bató verstand es tagsüber nicht, mit seinem Sohn zu sprechen, doch in diesem Augenblick waren ihre Gedanken die gleichen.

 

Siebtes Kapitel

Nachdem Böhm mit zugesehen hatte, wie Bató ungeschickt auf den Autobus gestiegen war, ging er langsam die Straße zurück. Aber dann kehrte er wieder um nach der Haltestelle. Denn er hatte plötzlich gar keine Lust, den Abend in dieser Straße zu verbringen, sondern er hatte Lust, in derselben Sprache weiterzusprechen, die er eben mit Bató gesprochen hatte, und vor allem hatte er Lust, Faludi wieder zu sehen, wenn er wirklich in dieser Stadt war. Er fuhr also sofort nach dem Westen, Kleiststraße. Er suchte die Zimmernummer, hörte schon von außen Radau. Ein ungeheures Freudengeschrei begrüßte ihn. Böhm war ganz betäubt. Eine Unmenge Gesichter wimmelte um ihn her, die er alle mehr oder weniger kannte und irgendwo einmal vor Jahren getroffen hatte. Da war Margit mit ihrem unverändert kalten, grauen Gesicht, und Mischka, ihr Mann, klein und zappelig, ein bisschen eingeschrumpft, der existierte ja wirklich auch noch, an den hatte er jahrelang nicht gedacht. Hajnal sah noch ebenso erbost aus wie früher (was hat er denn gegen mich; ich glaube, wir haben mal vor sechs Jahren einen Krach gehabt; aber ich kann mich um keinen Preis mehr erinnern). Agnes, noch immer schön, zu faul, um aufzustehen, lag auf dem Sofa, winkte ihm nur mit der Hand und lachte. Alle waren ein bisschen verdrückt, die ein bisschen dicker, die andren ein bisschen dünner, als wären sie alle zusammen in diesem Zimmer wie in einer Schublade aufbewahrt gewesen, kämen aber bald wieder in Ordnung. Ganz gefährlich bekannt kam Böhm einer vor, der ihn fortwährend an den Ellbogen gepackt hielt und rechts und links abküsste - ein stämmiger, dicker Mann mit lustigem fettem Gesicht. Böhm fiel es ein, dass das Faludi war, er erschrak, lachte aber und küsste gleichfalls. „Wie ich mich mit dir freue", sagte Faludi. „Setz dich und iss." Er zog ihn an den Tisch, an dem die übrigen bereits gegessen hatten, der aber noch voll war mit Resten von allen möglichen guten Speisen, wie sie Böhm zum letzten Mal bei seiner Mutter gegessen hatte. „Da sind noch Pogatschen übrig", sagte Faludi. „Ich habe sie extra bei Weisz bestellt." Böhm zerdrückte mit der Zunge die Gansfettklümpchen gegen den Gaumen und sah sich um. Im ganzen Zimmer, über Stuhllehnen und Betten waren Mützen und Hüte und Mäntel verstreut; zwischen den Fenstern hing eine kleine Landschaft von Tibor; Böhm dachte nach, da zwei Betten da waren, wer wohl von den anwesenden Frauen zu Faludi gehörte, dann fiel es ihm ein, dass es wohl Agnes sein musste, die mit hochgezogenen Beinen in einem gestickten Hauskittel dalag. Mit der war Faludi mal in Wien zusammen gewesen und aus irgendeinem Grund hängengeblieben. An der Wand, über dem Tisch, hing eine Photographie von Lenin, hinter dem Schreibtisch, ein Lächeln in den Augen, mit der gleichmütig belustigten Miene eines Menschen, der schon auf unzähligen Tapeten und Wänden geduldig gehangen hat.
„Ich habe schon von dir gehört", fing Faludi an, „wie du dich gut hier eingearbeitet hast."
„Ja, ich habe mich gut eingelebt und gut eingearbeitet."
Faludi betrachtete Böhm lächelnd, füllte seinen Teller nach. „Das bewunderte ich noch extra an dir, dass du das Essen aushältst, bei deiner Familie, bei deinen Deutschen."
Hajnal erzählte: „Um Gottes willen. Im Jahre 20 wohnte ich mal zwei Monate in Neukölln, bei Deutschen, durfte mich nicht auf der Straße zeigen. Es gab dort solche furchtbaren, in Öl gebackenen Pfannkuchen, es schüttelt mich noch heute. Mein einziges Glück war das Hundchen. Das stopfte ich immer unter dem Tisch voll."
Faludi legte den Arm um Böhm. „Erinnerst du dich noch, wie wir zu zweit, du und ich, von der Front kamen? Erinnerst du dich noch, wie unsre Leute quer durch das Lager marschierten, wo alles Verwirrung und Verzweiflung war? Erinnerst du dich, wie wir über die Felder flohen; wir hatten Bauernkleider an, und eine alte Frau saß da und sagte: ,Ach, ihr Lieben, wie gut habt ihr euch herausgemacht, niemand sieht euch an, dass ihr verkleidete Rotarmisten seid.' "
Ja, er erinnerte sich; wie sollte er sich nicht erinnern?
„Was ist aus dem kleinen Pali geworden?"
„Weiß nicht, habe ihn ganz aus den Augen verloren. Er ist damals nach Italien gegangen."
Faludi kam in Fluss und erzählte unaufhörlich. Wozu erzählt er soviel? dachte Böhm gequält, wie ein Korporal Kriegsabenteuer erzählt, daheim in einer Kneipe. „Komm mal zu mir", unterbrach ihn Agnes, die das alles schon hundertmal gehört hatte. „Ich muss dich mal am Haar ziehen."
Böhm setzte sich herüber, während Faludi seinen Gästen weitererzählte.
„Erinnerst du dich an die Baracke", fing Agnes an, „erinnerst du dich an Erwin, wie er von außen eine Leiter an sein Fenster stellte, um in sein Zimmer zu kommen, ohne an allen vorbei zu müssen." - „An Erwin ja, aber die Leiter war wohl nach meiner Zeit." Er drehte sich gegen das Zimmer. „Was hört ihr von zu Hause?" - „Ich war im Sommer drunten", erwiderte Margit schnell. Ihr kaltes graues Gesicht gefiel ihm jetzt in diesem Zimmer am besten. „Zu Hause warst du?" - „Ja, warum nicht, mein Pass ist ja nicht gesperrt. Ich war zuerst drunten in der Provinz bei meiner Tante. Da ist die Hauptstraße mit Läden und Cafes, da ist eine Garnison, da sind Offiziere mit ihren Damen, die sehen sehr gut aus, Modelle nach Poiret und so, und in derselben Straße rudelweise barfüßige Menschen, so zerlumpt, dass kein Faden mehr zusammenhält. Alles, was hier schön sauber getrennt ist, das hast du dort in einer Straße zusammen. Die sehen das dort gar nicht, die wundern sich nicht und fürchten sich nicht.
Ich bin dann zurückgefahren in die Stadt. Rate, wen ich da getroffen habe: Kelen. Erinnerst du dich an Kelen?"
Ja, er erinnerte sich. Kelen im Metropol-Cafe am Tage vor der Flucht. Sein wunderbar vertrautes Gesicht, seine furchtbaren Worte: „Fahr allein, ich habe Auftrag, in der Stadt zu bleiben."
Margit fuhr fort: „Ich habe Kelen im Metropol-Cafe getroffen. Er sah sehr lecker und appetitlich aus, eine weiße Schürze vor. Ich bin zuerst ganz platt, dann fällt mir ein, das Metropol-Cafe gehört doch seinem Vater, er ist der Sohn im Hause. Du weißt ja, damals ist er weg von daheim, unter allen üblichen Flüchen und Drohungen, er hat gut gearbeitet, der kleine Kelen, und wir liebten ihn sehr. War er nicht auch mit euch an der Front?"
„Doch, er war."
„War er nicht in der Stadt geblieben, hatte Auftrag zu bleiben, gleich am Anfang?"
„Ja, er blieb."
Böhm spürte noch heute seinen Schrecken, seine Ehrfurcht: Bleiben muss ich, also bleibe ich.
„Ja, er blieb, und er ist gründlich geblieben, wie du siehst. Er hatte wohl damals Glück, die Polizei fand ihn nicht, da war er wohl ein paar Wochen oder Monate illegal, das hat er eine Zeitlang ertragen, aber dann allmählich, wahrscheinlich ganz allmählich, hat er nachgelassen, hat er nicht mehr gearbeitet, ist er langsam, ganz langsam in seine Familie zurückgerutscht. Jedenfalls war er nicht einmal verlegen, wie er mich gesehen hat. Er freute sich sogar. Er war so eingewöhnt in sein Metropol-Cafe -" Eine Minute lang schwiegen alle. Ihre Gedanken liefen durcheinander nach verschiedenen Richtungen, bis Faludi fragte: „Böhm, hast du schon die Gerichtsverhandlung gelesen, Rákosis Rede?"
„Gewiss habe ich sie gelesen."
„Ich kenne Rákosi seit zehn Jahren", fing Faludi zu erzählen an, „wir waren zusammen interniert -" Alle hörten jetzt Faludi ziemlich aufmerksam mit zu. Aber Böhm folgte bald nicht mehr. Alles, was da erzählt und erinnert wurde, mochten die Bilder kläglich sein oder getreu, verstümmelt oder vollkommen, sie erweckten in ihm den Wunsch nach ihrem Urbild, nach der Wirklichkeit. Bis zu diesem Tag war Böhm ruhig gewesen, verwachsen mit seiner Arbeit. Nur die hatte gegolten, nicht die Vergangenheit. Ihn hatte es immer gezwickt, den Daumen in die Ohren zu stecken, wenn es losging: Erinnerst du dich. - Aber heute wurde er unruhig, während er dasaß und versuchte, nicht mitzuhören. Er spürte undeutlich, dass er über der strengen Tagesarbeit vergessen hatte, über etwas Wichtiges nachzudenken. Seine Arbeit war ihm eng geworden. Er wünschte sich, auf der Stelle möchte man eine andere Forderung an ihn erheben. Seine letzte, ihm selbst noch unbekannte Kraft sollten sie aus ihm herausverlangen.
Unwillkürlich stand er sofort auf.
Als er fortging, zog Faludi seinen Rock an und begleitete Böhm nach der Haltestelle. Er hing den Arm in ihn ein. „Ich freue mich mit dir, komm oft." - „Ist bei euch immer soviel los?" - „Bei uns ja, jeden Abend." Sein Gesicht war gesund und sorglos. Sie schwiegen eine Weile. Dann begann Faludi, und zum ersten Mal an diesem Abend sprach er mit seiner alten Stimme: „Du hast wohl von mir gehört, dass man mich damals abgehängt hat. Man hat viel Unwahres, viel Stunk um mich gemacht. Jedenfalls war es für mich das beste, mich eine Zeitlang still zu verhalten. Man hat mir hier in der Redaktion eine Stelle verschafft."
„Ja, ich habe manchmal dies und jenes über dich gehört."
„Was hast du denn gehört?"
„Ich kenne dich ja. Ich weiß ja ungefähr, was stimmt und was nicht stimmt. Dass du alles zuspitzt - überspannst, dass du's nicht ausgehalten hast und nicht ruhig auf deinem Hintern sitzen kannst. Dass es Krach gegeben hat, und denen kein Mittel zu schlecht war -"
„Nichts war ihnen zu schlecht, um mich umzuschmeißen -"
„Aber wacklig hast du gestanden und schön bist du umgeschmissen."
Faludi lachte. „Hör mal, Kleiner, du hast dir einen Schnabel zugelegt. Nie werde ich dein Gesicht vergessen, wie ich dich auf dem Feld stehenließ, allein."
Böhm sagte: „Dafür mindestens werde ich dir immer dankbar sein."
Faludi stutzte, dachte einen Augenblick nach. Dann fuhr er fort: „Du weißt doch, was drüben vorgeht, du weißt doch, wie es jetzt zugeht. Man kann nicht behaupten, dass alle, die jetzt fallen, immer auf schwachen Füßen gestanden haben."
„Ach so, jetzt hast du eine Plattform und kannst dich daraufstellen und sagen: ,Es blasen noch ganz andere aus demselben Loch.' Aber bei dir war es so: Du warst keine Ruhe gewöhnt, du warst einen andern Einsatz gewöhnt, der jetzt gar nicht von dir verlangt wird, hast andere mitgerissen. Du bist kaltgestellt worden und kannst dich wieder hochrappeln."
„Ich weiß nicht, wie viel du weißt, und ob du überhaupt nachdenkst." Er packte Böhm bei den Ellbogen und begann hitzig in ihn einzureden. Böhm dachte, wie Faludi einen ehemals an den Ellbogen gepackt und in einen hineingeredet hatte. Das hatte gesengt und war nie vergangen. Faludi redete und redete, und Böhm hatte Mühe, seinen Widerwillen zu unterdrücken.
Bist abgerutscht und hängengeblieben, dachte Böhm. Wirst dich nie mehr einarbeiten. Jetzt, wo er Faludis Gesicht dicht vor sich hatte, merkte er, dass Faludi gar nicht lustig und gar nicht sorglos aussah, sondern dass in seinem fröhlichen Gesicht, in seinen glänzenden Augen Punkte von Angst waren, von Angst und Verzweiflung. Und Faludi, der Böhms Gedanken begriff, sagte selbst laut die ganze Wahrheit: „Ohne Arbeit gehe ich zugrunde. Sieh nur, wie ich aussehe." Ich sehe es schon, dachte Böhm, aber ich kann dir nicht helfen. Und er war froh, dass er einsteigen konnte.


II
Kurz nach Ankas Besuch bekam Janek Nachricht, dass das Kind geboren war. Um dieselbe Zeit bekam die Zelle noch ein Kind. Die Dombrowski - die Frau eines Arbeiters, der aus derselben Stadt war - erschien auf dem Bahndamm und brüllte: „Mischka, ein Sohn!" Dombrowski klebte am Fenster. Die beiden brüllten sich das Herz aus der Kehle, bis sie einander verstanden. Schließlich drehte sich Dombrowski nach der Zelle um: „Ein Sohn ist gekommen." Alle lachten und freuten sich, bis auf Dombrowski selbst, dessen Gesicht noch finsterer als sonst war. „Ach was, bei uns gibt es Bälge genug, die Weiber kennen sich selbst nicht mehr aus." Luschak schrie ihn an: „Wie kannst du so von dir selbst reden, von dir selbst, von deiner Frau, deinen Kindern?" Dombrowski sah ihn kalt an und erwiderte nichts. Später, beim Essen, sagte er: „Dieser Fraß in meinem Napf, der euch zum Kotzen ist, da würden sich meine da drunten freuen, wenn wir sie zum Kindsmahl heraufholen würden, verlasst euch drauf."
Um Dombrowski lag es herum wie eine Kruste, dass es nicht nur ihm selbst kalt war, sondern allen in seiner Nähe gefror. Aber manchmal kamen Augenblicke, in denen sein Blick heiß wurde, besonders wenn Luschak unterrichtete. Dombrowski lernte verbissen, wild. Er war fast unwissend gekommen, und er sollte noch sechs Jahre absitzen. Er lernte, als müsse er sich einen unerschöpflichen Vorrat für eine lange Reise sichern. Im geheimen quälte ihn die Angst, sie könnten alle auseinander gerissen werden, versickern könnte, was er gelernt hatte, und er müsste in seinen alten Zustand von Dumpfheit und Unwissenheit zurücksinken.
Mosuzki lernte ebenso unermüdlich wie Dombrowski. Er war krank. Es konnte nicht lange dauern, bis er in irgendein Lazarett abgeschoben wurde. Aber er lernte unbekümmert, Tag und Nacht. Er wusste selbst, dass er die Haft nicht überlebte. Der Widerspruch zwischen diesem Wissen und seinem Lernen bedrückte die Genossen. Ihm schien er nicht aufzufallen.
Janek, der schon bei seiner ersten Haft einen guten Lehrer gehabt hatte, war ruhig und heiter.
Nach dem faschistischen Staatsstreich, dem Pilsudski-Umsturz im Mai, brannte die Zelle vor Erregung. Blandski und Dombrowski fingen an, sich zu hassen. Dombrowski fühlte sofort durch die wenigen Nachrichten die Schwächen der Partei heraus und übertrieb sie - in der Unbedingtheit seines Lebens und gereizt durch Blandskis äußere Gewandtheit im Diskutieren.
Ankas zweiter Besuchstag - das Kopftuch war ein dickes Bündel in ihren Armen geworden, und in dem Bündel lag ein kleiner weißer Mond. Der Aufseher sagte: „Ich lasse Sie einen Augenblick zusammen, aber treten Sie gleich zurück." Er schloss auf, Janek trat einen Schritt vor, betrachtete das Kind, küsste Anka auf den Mund und trat zurück. Er versuchte mit aller Kraft, beides in sich aufzunehmen, Ankas Nachrichten und das Kind -als ströme das Leben von außen durch zwei Kanäle in ihn ein. Anka deckte die Augen des Kindes mit einem Zipfel behutsam zu. Sie berichtete über das Schreiben der Exekutive an die Parteileitung wegen ihrer Fehler im Mai beim Staatsstreich Pilsudskis. Janek kam so erregt in die Zelle, dass er alle damit ansteckte.
Die Stimmung war gut, alle lobten die Zusammensetzung der Zelle und behaupteten, dass nie ein Halbjahr so schnell vorbeigegangen sei. Bei ihrem nächsten Besuch war Anka ohne Bündel: „Es ist ein wenig krank. Im Winter reist es sich auch schlecht." Sie brachte wieder viele Nachrichten, erzählte, ohne zu stocken, mit eintöniger Stimme, dass die Zeit unversehens ablief. Etwas in ihrem Gesicht war anders als sonst, abgeblaßter, gleichsam entfernt. Janek dachte nicht viel darüber nach. Ihr Gesicht verschwand hinter den Nachrichten, die sie mitgebracht hatte.
Diese Nachrichten versetzten Janeks Zelle von neuem in Unruhe und Verwirrung. Die Erregung wurde noch gesteigert durch Gerüchte, von der Direktion wohldosierte Gerüchte, unverständliche Bruchstücke von Debatten, Trotzki, Ausstoßung, Spaltung. Da sie nichts anderes tun konnten als grübeln und streiten, war die Ungewissheit unerträglich. Blandskis übertriebene Genugtuung machte Dombrowski wild. Man musste die beiden alle Augenblicke trennen. Als Luschak einmal ruhig zu Dombrowski sagte, ein einziger seiner Sätze genüge, um ihn in der Freiheit aus der Partei zu bringen, fühlte sich der rundum bedroht, verhasst, aufs äußerste vereinsamt. Bei der Nachricht von Trotzkis Verbannung - eine falsche, die der Wirklichkeit um lange Zeit vorausging -, fuhr es Dombrowski schließlich heraus: „Dafür sechs Jahre." Janek legte ihm die Hand vor den Mund. Dombrowski sah ihn mit einem sonderbar scharfen Blick an, der dann unversehens weich' wurde.
Plötzlich trat ein, was er schon lange gefürchtet hatte, die Zelle wurde aufgeteilt. Luschak kam weg, unbekannt wohin. Vier andere kamen nach Krakau, Mosuzki kam ins Lazarett, Dombrowski und Janek blieben wenigstens zusammen.
Janek war in vielen Punkten selbst noch unwissend. Er musste, so gut es anging, Dombrowski beim Lernen helfen; denn das war es, was er brauchte. Sie stritten viel, aber in ihrem Streit war niemals Hass.
Dann stand Anka wieder da, wieder ohne Kind. Diesmal begriff Janek alles, er rief: „Was ist mit dem Kind?" Anka sagte: „Wir haben keins mehr, es war schon damals tot, das letzte Mal." Sie verbrachten schweigend viele Minuten der teuren Zeit. Schließlich sagte Janek: „Fürchte dich nicht, Anka, das zweite Jahr ist ja schon angebrochen." Anka sagte: „Ja, darüber bin ich froh." Später in der Zelle erzählte Janek nichts. Er schämte sich, weil er kein Kind mehr besaß, oder wollte keinen Kummer hineinbringen. Erst nachts erzählte er Dombrowski, was geschehen war. Und nun war es Dombrowski, der ihn tröstete. „Ja, ein großes Unglück. Aber denke, Janek, du hast nur noch drei Jahre vor, dann wirst du wieder eins haben."
Die nächste Zeit war die Zelle enger denn je, der Gestank unerträglich, die Zeit unabsehbar, die Gesichter und Stimmen widerwärtig. Früher hatte Janek den andern die Zeit vorgewärmt, Erloschen und mürrisch, wie er jetzt war, merkte er selbst, wie es bald um ihn herum auskühlte. Seine Genossen dauerten ihn, er zwang sich zu seiner alten Heiterkeit. Sein eigenes Lachen tat ihm weh, als ob ihn jemand auslachte. Es kostete ihn größte Anstrengung, sich zu verstellen. Aber nachdem er sich eine Zeitlang gewaltsam verstellt hatte, wurde er auch wirklich so ruhig und heiter wie früher.


III
„Japaner und Engländer werden höflichst darauf aufmerksam gemacht, dass für ihre Sicherheit in diesem Lokal nicht garantiert werden kann." Liau Yen-kais Augen lasen und lächelten gleichzeitig. Er sah sich nach einem guten Platz um. Es war ein kleines Lokal, in eine lärmende Straße eingezwängt, gold und blau lackiert, mit Fahnen und Bildern geschmückt. Liau Yen-kai erschien es jedenfalls festlich und heiter. Auf den Gesichtern der Studenten, die rundherum saßen und zu Mittag aßen, lag eine Art von Gruß. Der Koch kam hinter der Theke hervor und bediente ihn wie einen alten Gast. Vielleicht war das seine Art, vielleicht verwechselte er ihn mit irgend jemand.
Liau Yen-kai war ungefähr um dieselbe Zeit in die Bewegung eingetreten, in der sein Bruder Liau Han-tschi nach dem Westen gefahren war. Er liebte diesen viel jüngeren Bruder mit einer Art liebevoller Geringschätzung. Im Innern wartete er darauf, dass sein Bruder kurz oder lang denselben Weg wie er selbst einschlug. Er hatte ihm regelmäßig geschrieben, wusste aber nicht, wie viele dieser Briefe ihn erreicht hatten. Seit einigen Wochen war Liau Yen-kai in Moskau.
Nun war nur noch wenig Land zwischen ihnen, um sich in Berlin zu treffen.
Liau Yen-kai bemerkte verwundert, dass ihn das Wiedersehn mit dem Bruder beunruhigte. Wenn der noch ebenso pünktlich wie früher war, musste er jede Minute eintreten. Liau Yen-kai erblickte einen Schatten hinter der Glastür, er erhob sich unwillkürlich. Er war so überrascht, dass er nicht enttäuscht war. Der Eintretende war nicht sein Bruder, aber ein Mensch, den er sehr gut kannte. Sein ehemaliger Freund und Lehrer, Doktor Tsen. Sie prallten gegeneinander, begrüßten sich verwirrt. Doktor Tsen setzte sich vor das Gedeck, das Liau Yen-kai für seinen Bruder hatte hinstellen lassen - er konnte freilich unmöglich etwas von diesem Bruder wissen. Als Knabe war Yen-kai gern zu Gast bei ihm in dem kleinen, mit Büchern und Pflanzen und Porzellan vollgestopften Landhaus gewesen. Sein Gesicht und seine Hände waren klein und zart, von beinah versteinerter Zartheit, wie ein dünnes, zerbrechliches Fossil. Liau Yen-kai kam es merkwürdig vor, diese Hände hier liegen zu sehen auf einem Wirtshaustisch, in der Hauptstadt eines fremden Landes. Es war auch merkwürdig, Doktor Tsen fragen zu hören: „Woher, Genosse?" - „Aus Russland, seit heute und bis morgen. Und Sie?" - „Ich bin auch erst einige Tage hier. Ich war im Hauptquartier, in der Kommission der Agrarsachverständigen. Kürzlich hat man unsere Kommission von der Armee abgetrennt und verselbständigt. Ich bin nur zum Studium hier, dann werde ich wieder meinen Posten einnehmen." - „Was haben Sie für Nachrichten, Genosse?" - „Wenn Sie erst heute angekommen sind, dann sind Ihre Nachrichten die letzten."
In diesem Augenblick tippte jemand Liau Yen-kai an die Schulter - „Bruder!" Er hatte ihn gerade vergessen. Sie begrüßten einander kurz, für Tsen sah es aus wie eine gewöhnliche tägliche Begrüßung. Der Jüngere setzte sich so still, als fürchte er, mit einer unvorsichtigen Bewegung ihr Gespräch zu zerreißen. Es wurde noch eine Weile zugeredet. Schließlich stand Tsen auf: „Hier ist meine Adresse, besucht mich oft, Genossen." Der ältere Liau sagte: „Ich nicht, aber hier, mein Bruder."
Doktor Tsen ging hinaus, leise, ein wenig wippend. Der jüngere Liau überbrückte mit leichten Worten die Erregung des Wiedersehens: „Wer war das denn?" - „Kennst du ihn nicht? Er hat 1924 in Kanton gearbeitet, er hat sich uns angeschlossen, sagt er, sagen wir genähert." Er fügte hinzu: „Es ist nicht schwer, sich uns zu nähern, jetzt in diesem Augenblick."
Jetzt erst sah der ältere Liau seinen Bruder voll an. Sofort zerfiel das alte Bild, das er die ganze Zeit über von ihm behalten hatte. Er wusste auf einmal, dass der jüngere erwachsen war, wie er selber. Sie schwiegen einige Minuten, um alles in Ordnung zu bringen und da anzufangen, wo sie aufgehört hatten.
Schließlich fing der Jüngere an: „Du hast recht gehabt und ich unrecht. Das nützt jetzt nichts mehr. Ich bin nicht dabeigewesen.
In diesem Augenblick, in dem ein Mensch zu Hause sein muss, war ich nicht zu Hause."
Sie standen auf und suchten sich einen andern Tisch in der Ecke. Liau Han-tschi packte seinen Bruder am Handgelenk. „Erzähle."
„Frag, fang irgendwo an."
„Tangsi!"
„Es gibt in Tangsi keinen Mann und keine Frau, die es wagen, im seidenen Kleid auf die Straße zu gehen. Es gibt keinen Menschen, der es wagt, eine Rikscha zu bezahlen, aber es gibt auch keinen, der es wagt, sich einzuspannen."
„Wenn unser Vater nach Tangsi kam, und er fuhr an den Hafen, dann gab es sechs Kulis zwischen zwei langen Deichseln. An irgendeiner Straßenecke wartend, unseren Vater, mit beiden Beinen auf der Straße, das kann ich mir nicht vorstellen."
„Er ist nicht nur an den Hafen zu Fuß gegangen, unser Vater. Er ist zwanzig Kilometer gegangen, von seinem Landgut nach Tangsi und quer durch die Stadt, mit einem Pack auf dem Rücken." Liau Han-tschi sagte: „Hat man ihn wirklich weggejagt?"
„Ja, wir haben ihn weggejagt. Wir haben sein Gut der Bauernschaft zugeteilt, jetzt wohnt er und die ganze Verwandtschaft in einem schlechten Quartier am Hafen."
„Hat er sehr gejammert?"
„Was kümmert es dich, ob er gejammert hat? Übrigens hat er nicht besonders gejammert, er ist ja ein harter Mann. Ich weiß nicht, was inzwischen aus ihm geworden ist.
Ich war Instrukteur in der Armee. Ich habe den Abmarsch aus Kanton, den Marsch nach dem Norden bis vorigen Monat mitgemacht. Ich wurde inzwischen bestimmt, nach Russland zu fahren. Ich bin heute gekommen, um dich zu sehen, und ich muss morgen abend zurückfahren."
Der jüngere Liau sagte schnell: „Ich habe einen Pass. Ich werde mitfahren."
Der ältere sagte: „Nein, nein, du musst hier bleiben, wir haben Arbeit für dich."
„Ich habe damit gerechnet, über Russland heimzufahren."
„Was gibt es da viel zu rechnen, du wirst einige Monate später heimfahren. Lerne, arbeite, hier wirst du arbeiten lernen. Fährst du heim, wirst du ganz anders heimfahren. Wir brauchen dich jetzt hier."
Es wurde Nachmittag, Abend. Sie bestellten ein Abendessen. Vom Reden schmerzten ihre Kinnladen. Liau Yen-kai dachte: Warum ist mir dieser Mensch besonders teuer? Weil er mein Bruder ist? Weil er mein Genosse ist? Weil er alles zusammen ist? Sein Gesicht, sein Knabengesicht ist ganz matt vom Grübeln.
„Gute Genossen, gute Freunde sind das, wo ich wohne. Und du hast noch keine Frau?"
„O ja doch." Jetzt lachte der Jüngere, weil der Ältere verwirrt war hinter seinem ernsten Gesicht. Liau Yen-kai dachte an Jü-si, die Studentin, die er mit nach Moskau gebracht hatte. Sie war sanft und zart, abends, wenn sie ihre Brille und ihre Gelehrsamkeit ablegte. Er verstand nicht, sie zu beschreiben.
„Was ist das für eine Frau?"
„Nun so." Liau Han-tschi dachte: Seine Frau kann ihn nicht im geringsten so lieben wie ich. Er hat ein seltenes Gesicht. Straff und ernst und gesund, alles zusammen.
Gäste kamen und gingen. Zuletzt stellte sich der Wirt an ihren Tisch und forderte sie schweigend auf, wegzugehen. Das war ein andrer Wirt als der kleine Ma in London, der hätte sie jetzt beide heraufgenommen. „Wohin sollen wir gehen?" - „Gehen wir gleich an den Bahnhof. Es ist einerlei, wo wir reden."
Sie fuhren an den Bahnhof. Liau Han-tschi dachte, ob es unumgänglich sei, dass er hier blieb, schämte sich aber, unterdrückte die Frage. Sie setzten sich in den Wartesaal und redeten. Schläfrige, fröstelnde Reisende stellten sich ein zum Frühzug und beguckten sie misstrauisch. Schließlich hatten sie alles Wichtige durchgeredet, ihr Zusammensein war gut gewesen, sie konnten ruhig auseinandergehen.
Es wurde Nachmittag. Im Wartesaal stellten sich die ersten Menschen ein, denen man ansah, dass sie nach Osten fuhren. Bunte, polnische Bäuerinnen. Es war Zeit, sie gingen auf den Bahnsteig. „Hör mal, du kannst diesen Doktor Tsen ruhig manchmal besuchen. So spindeldürr er ist, er weiß eine ganze Menge." Das weiße Schild klappte hoch: Negoreloje. Wie der letzte Wegweiser am Ende einer Landstraße. Dieser Bahnsteig war ja schon eine Schwelle. Liau Han-tschi wurde der Abschied leicht Erspürte noch, als er allein in die Stadt fuhr, die Anwesenheit seines Bruders wie eine Substanz, die ihn wärmer und flinker machte.


IV
Den halben Weg sprachen sie über die Vorlesung. Aber vor der Konditorei blieben sie stehen und betrachteten die Baumkuchen.
Steiner sagte plötzlich: „Los, rein!" Elisabeth sah ihn überrascht an. Einen Augenblick lang sah sie so schön aus, wie es Steiner nicht für möglich gehalten hätte. Er begann ihren Körper zu entdecken, wie sie vor ihm hineinging und zweimal schnell ihr Gesicht über die Schulter drehte, als fürchte sie, er könne seine Einladung zurückziehen. Er entdeckte ihre Schönheit, ihre zwanzig Jahre, ihre Bereitschaft, jede Freude mit Zärtlichkeit zu belohnen. Doch er entdeckte auch gleichzeitig Robert und die anderen an ihrem gewohnten Tisch beisammen. Diese beiden Entdeckungen schmolzen in eins zusammen: „Ich komme heute abend nicht allein. Vielleicht höre ich ganz auf, allein zu sein. Es ist überhaupt nichts mehr so schlimm."
Die Vorlesungen waren der Feiertage halber um sechs zu Ende, ein fusseliger Winterregen besprühte die kleine Stadt. In der Konditorei war es voll. Auf Elisabeths Gesicht, das Steiner nur ernsthaft und angestrengt kannte, lag der süße und unerwartete Geschmack des Baumkuchens. Mit ihrem dunklen, schlecht und recht beschnittenen Haar glich sie mehr einer Novize als einem Knaben. Das Wichtigste war, jetzt schnell ihre Hand zu berühren; er fasste, Elisabeth senkte den Kopf, ihre Hand zog sich zusammen, eine kleine Faust.
An Roberts Tisch: „Seht mal an. Sie passen ganz gut zusammen. Ein ganz gutes Paar." - „Wer ist sie?" - „Ich meine, sie heißt Schlüter. Ja, jetzt weiß ich auch, wer sie ist. Es gab da mal vor ein paar Jahren einen Archäologen Schlüter, der jetzt tot ist. Von dem wird sie sein." - „Ist sie schön? Ja?" - „Ganz schön, bisschen blass. Dass ihm das gefällt?" - „Aber das ist genau das Richtige für ihn, das wird sehr gut für ihn sein; dass er nichts Fremdes hier eingeschleppt hat, dass er so eine nimmt, das wird ihn gut fundieren und ruhig machen."
Steiner hielt ihre Hand. Sie war, wie er es gern hatte, fest und kühl, nicht sehr klein, aber mit ganz dünnem Gelenk.
„Woran denken Sie jetzt, Elisabeth?"
„An alles mögliche. Ich denke, woher Sie eigentlich kommen, und was mit Ihnen los ist. Ich kenne Sie nur von dort oben", sie schnickte mit der Schulter nach irgendeiner Richtung, Mautners Seminar -
„Wie sehen denn in Ihrer Familie die Männer aus?"
„Sie wissen doch - Archäologenfamilie. Bei uns wurde übrigens mehr über den Parthenonfries gesprochen als über uns selbst. Wir haben so wenig einer über den andren nachgedacht."
„Wir viel zuviel."
Sie sah ihn schnell an, ihre Hand war jetzt locker, ihr Gesicht war weiß und hell.
Steiner verglich sie mit Margit, eine große Liebessache vor vielen Jahren. Margit war weiß und sanft, eine Unschlüssigkeit war in ihr gewesen, viel Quälerei. In der letzten Nacht vor der Flucht hatte sie ihn mit überraschender Bereitwilligkeit aufgenommen, die freilich von Abenteuerlichkeit nicht ganz frei war. Der Geruch ihrer Haut vermischte sich damals mit seiner Todesangst. Er war den Geruch lange nicht losgeworden. Er war der Gefahr entronnen, aber seine Angst war geblieben. Er glaubte damals, für immer. Er hatte jahrelang bitter allein zugebracht. Erst jetzt merkte er, dass seine Angst vergangen war. Er konnte sich auf keine Weise mehr in diesen Zustand zurückfinden. Im letzten Jahr war es leichter gewesen, er hatte sich stärker Hoffnungen gemacht auf: Erfolg, Familie, dauernden Wohnsitz. Jetzt, in diesem Augenblick, war ihm klar, dass seine Angst vollkommen vorbei war. Er hielt Elisabeths Hand in der seinen und aß Kuchen, alles ganz einfach, ohne Angst. Das Mädchen war gewiss schön und liebenswert, aber es musste etwas Gewaltiges an diesem Mädchen sein, dass es einen solchen Riss ausfüllte, oder der Riss war so eingeschrumpft, dass dieses Mädchen genügte, um ihn auszufüllen.
„Warten Sie, ich hole noch mehr." Er sprang auf und kehrte mit zwei vollen Kuchentellern zurück.
An Roberts Tisch drehten sich die Gesichter nach ihm hin und lächelten. „Heirat oder Liebschaft?"
Robert sah noch mal scharf herüber. „Der braucht jetzt etwas Standhaftigkeit, der will sich verankern, der will Boden unter den Füßen."
„Den wird er auch bekommen." - „Und ein Dach über den Kopf." - „Und übers Jahr seinen Lehrauftrag."
Steiner setzte sich, fasste sofort ihre Hand, erschrak, Elisabeth fragte: „Was gibt es denn?"
„Ich denke daran, ob Sie vielleicht, wie man hier sagt, ,schon jemand' haben. Ob Sie einen Freund haben."
„Nein, ja, nein, ja."
„Also -"
„Sehen Sie, nichts Ernstes -"
„Und jetzt, wir beide, ist das etwas Ernstes?"
„Ich weiß nicht -"
Ihr Gesicht war nah und klar, schon vertraut, voller Furcht.
„Doch, das ist etwas Ernstes."
Er wünschte sich, nur für den Körper zu denken, ihre Haut, ihre Hand, ihren bald zurückgebogenen Hals. Er dachte: Sogar etwas furchtbar Ernstes. Warum eigentlich?
Auf einmal sprang Elisabeth auf und musste ins Kolleg gehen. Steiner begleitete sie, kehrte für die Zwischenzeit in die Konditorei zurück. Robert lachte in seinem jungen, hellen Gesicht, unter seiner übertrieben blanken Brille, die immer aussah, als ob sie mitlachte.
„Auf, Steiner, einen Sherry, Baumkuchen hast du jetzt genug!"
Steiner freute sich, als Robert sagte: „Eine schöne Frau, wo hast du die denn her?"
„Wo man hier die Frauen her hat - bei Mautner im Seminar."
„Also hör mal", begann Robert, sein Gesicht blieb ernst, nur seine Brillengläser lachten, „warum hast du mir nicht gesagt, dass du etwas Ernstes vorhast?"
Steiner wunderte sich, weil Robert seine eigenen Worte gebrauchte, und zog die Brauen hoch. Robert ärgerte sich, dass er es war, der Steiner im vergangenen Jahr das „Du" angeboten hatte. Sie rückten ihre Stühle an den Tisch. Steiner legte seine Hand auf Roberts Arm, versöhnte ihn.
„Wenn ich mich recht erinnere, Robert, hast du mich zu einem Sherry eingeladen."
„Also, was ist mit deiner Arbeit? Wann bist du fertig?"
„Gut, ich bin schon fertig. Geht dieser Tage in Druck."
„Bist du zufrieden?" Steiner dachte einen Augenblick nach, als überlege er das selbst zum ersten Mal, als plagten ihn nie, sobald er allein war, Zweifel, ob sein Verstand missbraucht, sein Wissen vertan sei. Er erwiderte gequält: „Ich bin zufrieden." Kaum hatte er das gesagt, als hätte er eine gnädige Macht angerufen, waren seine Zweifel verschwunden.
„Aber was machst du denn schon wieder?" fragte Robert erstaunt. Steiner sprang doch auf, trank im Stehen leer und legte sogar ein Geldstück auf den Tisch. „Ich habe ganz vergessen -"
Er stürzte auf die Straße. Er fürchtete sich, Elisabeth zu versäumen. Er hatte sie eine Stunde lang glatt vergessen, wie ausgelöscht. Da war die Strafe. Er wartete wohl umsonst vor dem Haus, in das sie gegangen war, kostete schon den Geschmack des Alleinseins in dieser verhassten Straße.
Aber dann war es eine wilde, verrückte Freude, wie in einem Rudel Jugend auf der Treppe ihr kleines weißes Gesicht auftauchte.


V
Stojanoff saß auf der Erde mit ausgestreckten Beinen, den Rücken gegen den Ofen, das Gesicht gegen die offene Tür. Vor der Tür lag die kahle blauschwarze Halde, im Schatten des Ködeschfelsens; zwischen Felsen und Halde schob sich steil eine etwas hellere Halde, der Abendhimmel. Durch das leere Rauchloch fiel das Abendlicht, tropfenweise.
Die Frau saß in der Ecke, den Kübel zwischen die Knie geklemmt, der Mörser knirschte.
Stojanoff dachte nach, ob er fliehen oder bleiben sollte. Eng war der Himmel, und die hohen, finsteren Berge waren doch schlechte Wächter. Die Frau warf den hölzernen Mörser weg und hob das Sieb aus dem Kübel. Andreas goss vorsichtig Milch zu, in einem regelmäßig dünnen Faden. Die Frau fing an, den Teig zu kneten. Jetzt, wo der Mörser nicht mehr knirschte, war es vollkommen still.
Andreas stellte die Kanne auf, die Frau sagte: „Es hat keinen Zweck mehr, den Ofen anzumachen. Ich schlage den Teig in ein Tuch und nehme ihn roh mit."
Stojanoff sagte: „Ja, mach es so." Er stand auf und stellte sich in die Tür. Aus Polje war er ins sechs Stunden heraufgekommen, an den Schlagbäumen, an den Türen der Dorfrichter war das Blatt manchmal vor ihm gewesen, manchmal dicht hinter ihm: „Wir haben das dritte Regiment in Branje stationiert, um die Ordnung wiederherzustellen."
Die Frau rollte den Teig in ein reines Tuch, knüpfte ihr Bündel auf und legte ihn hinein. Sie sagte: „Ich bin mit allem fertig. Sollen wir gleich gehen oder morgen früh?" Stojanoff sagte, ohne sich umzusehen, in die Tür hinein: „Geh jetzt." Die Frau stand einen Augenblick unschlüssig, dann sagte sie: „Wirst du eigentlich nachkommen?" Stojanoff erwiderte nichts. Die Frau begann zum dritten Mal: „Im Sommer 18, da habe ich am allermeisten gemeint, dass du nicht mehr kommst, viel mehr als diesmal. -Wenn er ins Holz ginge", fuhr sie laut fort, nicht zu Stojanoff, der doch keine Antwort gab, sondern zu sich selbst, „wenn er ins Holz ginge, dann könnte es bei uns auch anders aussehen.
Schnell ist gepackt bei uns, da, Andreas, Gott weiß, was auf den Rücken eines fünfjährigen Kindes geht."
Stojanoff, das Gesicht nach außen, grübelte und grübelte: Wahrscheinlich werden sie gar nicht hierherkommen, das letzte Mal sind sie nicht einmal bis Markowo gekommen. Vor allem kommt es darauf an, die Verbindung zu erhalten. Er entschloss sich, zu bleiben.
Er hatte nicht gemerkt, dass das Kind unter seinem Arm hindurchgeschlupft war. Jetzt sagte die Frau: „Lass mich durch, wir gehen." Er drehte sich halb um, die Frau drückte sich an ihm vorbei, durch die schmale Tür, es war zu eng; es war, als wollte die Hütte sie noch einmal gegeneinander drücken, Brust gegen Brust, Schoß gegen Schoß. StojanofF starrte die Frau an und sagte deutlich: „Leb wohl." Da verstand die Frau, dass es anders als sonst war, viel schlimmer, der Abend aller Tage. Stojanoff dachte einen Augenblick, er müsste noch etwas für sie tun. Unwillkürlich streckte er die Hand aus, um ein Kreuz über der Frau zu schlagen, aber er zuckte zurück, lächelte ein wenig über die Torheit seiner Hand. Kurz darauf hörte er schon die helle Stimme der Frau über den Weg „Andreas" rufen.
Aber hinter dem Ködesch stieß die Frau auf einen fremden Mann. Nach wenigen Minuten kehrten sie zu dritt in die Hütte zurück, der Fremde, die Frau und das Kind. Der Mann warf sich auf die Bank und schrie und fluchte: „Schließt die Tür ab, habt ihr denn keinen Riegel an der Tür! Verflucht sollst du sein, der Schlag soll dich treffen, zwischen deinen eignen Beinen soll dein Weib -"
Stojanoff sagte: „Gib jetzt Ruhe du, wer bist du?" Der Mann sagte: „Willst du noch lange fragen, bevor du abriegelst? Willst du mir die Erde unter den Füßen wegziehen?" Stojanoff sagte: „Jetzt halt aber dein Maul. Du weißt ja, wer ich bin, wenn du den Weg zu mir weißt."
Der Mann fing auf einmal zu winseln und zu betteln an: „Lass mich mal ausschnaufen. Du kennst mich doch. Ich war mal im Winter vor zwei, drei Jahren hier oben. Fürchte dich nicht, ich geh ja schon."
Stojanoff verriegelte die Tür. Es war fast dunkel im Innern. Eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnten, war Dimoffs Gesicht, das Stojanoff inzwischen erkannt hatte, wie ausgelöscht. Ein Zittern durchlief den Mann vom Kopf bis zu den Füßen, so heftig, dass es die übrigen mitschüttelte. Es kam und ging und kam. Dimoff wartete, bis es vorbeiging. Dann fing er ganz ruhig an: „Ich habe nämlich zu den zwanzig Holzarbeitern gehört, die der Leutnant Goneff drunten im Sägewerk herausgezählt hat, jeden vierten, beim Streik, du weißt doch. Wir waren eine Belegschaft von achtzig. Er hat uns nach Branje transportieren lassen. Ich und drei andere, wir sind durch. Ich will jetzt nicht lange erzählen. Kennst du Petko, den Bahnwärter?"
„Ja."
„Wir blieben eine Nacht bei ihm. Dann kamen sie zu ihm und fragten ihn. Sie haben ihn in einen Sack gesteckt, in einen Sack mit einer Wildkatze, und sie haben mit einem Knüppel auf den Sack geschlagen, und dann haben sie ihn herausgeholt."
Stojanoffs Frau fragte schnell: „Hat er dann alles gesagt?"
Dimoff sah die Frau erstaunt an und sagte: „Ja, da hat er alles gesagt. Von uns vier haben sie zwei abgeknallt. Einer ist geblieben; ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Ich bin davongekommen, das war gestern nacht. Du musst immer ganz dicht vor mir her gewesen sein. In Marjakoy hat es schon geheißen, er ist hier gewesen. Ich habe immer nur gedacht, dass ich dich einhole. Ich weiß nicht, warum, aber mir war es, mein Leben sei gerettet, wenn ich auf deinen Schatten trete. Sie werden wohl nicht bis hierher heraufkommen. Er hat sechzig Mann auf Polje gelegt, da heißt es, gebt den und den heraus, eher gehen wir nicht.
Unser Aufruf war doch angeschlagen, ja, er war doch angeschlagen, ein gelbes Papier mit schwarzen Buchstaben, fing an: ,Sie wagen zum letzten Mal' -
Es ist eben ein Unterschied, ob das Messer durch das Fleisch geht bis ins Herz oder ob es auf Knochen stößt."
Dimoff brach ab, und Stojanoff fragte nichts mehr. Sie rückten alle dicht zusammen im Dunkeln. Vielleicht schliefen sie sogar ein wenig.
Schließlich erhob sich Stojanoff und riegelte auf. Mitternacht war schon lange vorüber, der Himmel war blass.
Andreas wurde geweckt: „Zeig ihm den Weg!"
Andreas freute sich und sprang zu. Er kümmerte sich nicht viel um Dimoff, sondern kletterte hinauf und herunter, und ging selten neben ihm. Dimoff dachte, dass es ein Zufall war, wohin sie kamen. Er versuchte, das Kind an sich zu locken. Aber Andreas lief immer gleich vor ihm her. Dimoff blieb manchmal stehen, weil ihm die Knie weich waren, und wenn er stehen blieb, schüttelte ihn die Todesangst - je heller es über den Bergen wurde. Er rief Andreas zu sich und packte ihn hart am Handgelenk. Andreas sah Dimoff mit seinen listigen Augen an und sagte: „Wir sind gleich dort. Sind schon über den Kamm weg, sind schon über den Ostabhang." Dimoff fing an zu merken, dass Andreas schlau und flink war und den Weg gut kannte. Sicherheit erfaßte ihn - die Schrecken der letzten Nacht verblaßten zur Erinnerung -, Stolz, weil er am Leben war. Andreas sagte: „Steig immer hier hinunter, tritt immer auf große Brocken, das Wasser macht dir nichts. Einmal kommst du an eine Stelle, wo ein Steg ist, der gehört schon den Leuten von Banja." Er ließ ihn stehen, rannte weg. Oben blieb er noch einmal stehen und sah dem Mann nach. Dimoff kehrte sich um und winkte. Aber Andreas' Blick war jetzt schon woanders, bei den roten Flocken der Eichenwälder in den tiefen Falten der Drei-Schwestern-Berge.
Inzwischen, gerade als die Menschen anfingen, sich weniger zu fürchten und Hoffnung schöpften, kam eine Abteilung von dreißig Soldaten, alle übrigen Dörfer rechts und links von sich lassend, die große Prutkastraße hinauf nach Revesch. Sie mussten einen ganz besonderen Grund haben. Denn der Leutnant Goneff kam selbst herauf, mit dieser kleinen Abteilung, in die Berge.
Es war Mittag.
Sofort nach ihrer Ankunft requirierten die Soldaten, was sie brauchten. Sie stülpten die Säcke um, langten sich den Wintervorrat, grabschten die Spinde aus. Mit offenen Augen und Mündern sahen die Weiber zu, was alles in den Kessel ging für einen Soldatenfraß. Wenn die bis Sonntag blieben, war das Dorf ratzekahl.
Der Leutnant Goneff ließ die Erwachsenen im Halbkreis vor sich hinstellen. Er streckte die Beine von sich: Da bin ich, da seid ihr. Er sah einen nach dem andern an und griff Petscheff, den Wirt, heraus, weil seine Lippen weiß waren und die Poren tief in seiner Gänsehaut. Kein einziger hätte ihm getaugt, aber Petscheff wurde schon weich, als ihm Soldatendaumen ins Schlüsselbein drückten. Er gab in den Knien nach. „Was wollt ihr von mir? - Fragt Stojanoff."
Als sie spät über die Halde kamen, ging ihnen Stojanoff, da es zu spät war, sogar drei Schritte entgegen. Er hatte die Axt bei sich. Schon füllte sich mit rotem Schaum die Prutka bis zum Himmelsrand. Sie riefen: „Wir schießen, leg die Axt weg." Stojanoff dachte nach. - In diesem Augenblick kamen über ihn alle Worte, die er verstanden hatte, starrten ihm über die Schulter, härter und drohender als der Granit des Ködeschfelsens - und er warf die Axt weg. Sie warfen sich gegen seine Brust. Sie fielen übereinander in der Hütte. Bei dem Anprall senkte sich die Westwand, und der Schutt rieselte. Bei ihrem Bündel im Winkel saß die Frau still, wie nun alles über sie kam, die Männer und das Dach ihrer Hütte. Ihre Augen waren vor Angst glashell;, aber Fünkchen von List waren noch nicht ausgelöscht. Sie drehten Stojanoff die Arme auf den Rücken: „Wir wissen alles. Er ist nach Revesch gegangen und nirgends anders hin. Du hast ihn über Nacht hier gehabt."
Stojanoff schwieg. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Verwunderung. Der Leutnant Goneff zog die Beine an und beugte sich vor. In der ganz vollkommenen Finsternis der Welt gab es zwei winzige Ritzen, durch die ein unerträglich leuchtendes Licht glänzte: Stojanoffs Augenspalten. Goneff schrie auf wie gestochen: „Hängt ihn längs!" Sie banden ihm Hände und Füße, zogen einen Stock durch und hingen ihn längs zwischen Ofen und Türbalken. Sie schaukelten ihn hin und her, seine Sehnen krachten. Unter dem Gewicht des Mannes gab der Türbalken nach, der Schutt rieselte nieder. Sie fassten die Frau: „Sprich du." Die Frau zitterte und bewegte die Lippen. Sie wollte sprechen, aber kein Ton kam heraus. Und wie man sie endlich verstand, war es nur: „Verflucht sollt ihr sein!"
Als Stojanoff zu sich kam, lag er auf der Erde. „Glaub nicht, dass wir dich einfach krepieren lassen. Wo ist er hingegangen?" Sie drückten sein Gesicht auf den Boden. Einer setzte sich auf seinen Hals. Sie schlugen zu, nach ein paar Streichen drehten sie ihn um: „Wo ist er hingegangen?" Stojanoff erblickte weit weg -wie groß war die Hütte geworden - das Gesicht der Frau. Sie sahen sich an - als sei ihr Abschied am vorigen Tag ein solcher gewesen, dass eins den andern aufgab und längst nicht mehr kannte. Sie rissen ihm Hemd und Haut vom Fleisch und schlugen zu. Die Frau sah, dass er starb, doch ihre Gedanken wandten sich ab von dem Sterbenden, ihre Angst galt dem Lebendigen, ihrem Sohn Andreas, der gleich zurückkehren musste.
Im hellen Mittag vor der Tür stand ein kleiner Schatten. Die Frau schlug ihn umsonst mit ihrem Blick zurück, es war zu spät. Andreas starrte auf den Boden, ein ganz roter Vater. „Gehörst du hierher?" - „Nein, nein, nein. So wahr Gott lebt, diesen Mann kenne ich nicht."
Er flog. Von unten hatten die letzten roten Eichenflocken wie Feuer geglüht. Aber oben war es kalt, wie erloschen. Der Wind pfiff vom Gipfel. Die paar Blätter wurden erst wieder feurig, wenn sie in der Luft waren. Der Himmel war allzu nah. Andreas fürchtete sich.
Sie schlugen Stojanoff das Fleisch von den Knochen, sie drehten ihn um. In seinem verschmierten Gesicht hatten die Augen den scharfen, äußeren Glanz, den sie kurz vor dem Brechen haben. „Wir wissen ja alles. Wir wissen, dass Dudoff soundso oft bei dir war, wir wissen, dass er durchgekommen ist, bei dir, heute nacht." Als Stojanoff diese Worte verstanden und begriffen hatte, mit wem man Dimoff verwechselte, da warf er wie ein Pferd den Soldaten ab, der auf seinem Hals saß, und er brüllte vor Freude: „Sucht ihr Dudoff? Dudoff ist euch durch! Dudoff geflohen. Das ist ein großes Glück für mich!" Er lachte und schlug mit Armen und Beinen um sich, und es war, als spüre er vor Freude nichts von seinem eigenen Tod.
Alles war sehr schnell gegangen. Kurz vor Mittag waren die Soldaten heraufgekommen, kurz nach Mittag zogen sie ab. Inzwischen hatten die Bauern einen Entschluss gefasst. Sie zogen voraus, rissen Bauern aus den Bergdörfern mit sich, die abziehenden Soldaten empfingen sie mit Äxten und Flinten an der Prutkastraße.
Dieses Ereignis verkürzte, ja beendete im großen ganzen die Strafexpedition in die Prutka, obwohl in der folgenden Nacht noch viele getötet und verhaftet wurden.
Dudoff, aus dem Kerker geflohen, mit fremdem Namen und fremdem Gesicht, fing an einzuschlafen, nun, da die Spannung der letzten Grenze vorbei war. Er wehrte sich, aber die letzten fünf Tage hatte er nicht geschlafen. Er schlief schließlich so fest, dass die Passagiere ihn gemeinsam wecken mussten. Er erschrak, lachte aber und dankte. Er trat mit seinem Koffer in den Gang, in die Reihe der ungeduldigen und erregten Ankömmlinge. Flocken von grünem und weißem Licht schlugen gegen die Scheiben, und er kam an in Paris, am Gare de l'Est.

 

Achtes Kapitel

In Paris, in einem der kleinen Cafes an der Rue Seveste, saß Sukoff, die Arme um das Marmortischchen geschlungen, als ob ihn jemand von hier wegreißen wollte, mit halboffenem Mund, die Nasenlöcher, wie bei Kindern, vor Entzücken gebläht. Erstaunen und Freude lag auf seinem jungen, schönen olivenbraunen Gesicht. Die drei aufgeregten Straßen, die gerade vor seinem Tisch ineinander mündeten und, sobald es dunkel wurde, vor Licht schäumten, die weiße Kuppel von Sacré-Coeur über den Dächern, wie hingeblasen, gefielen Sukoff nach dreiviertel Jahr noch so gut wie das erste Mal. Er war mit einem Freund von Marseille aus zu Fuß durch ganz Frankreich gekommen. Er hatte den Genossen Petrow aufgesucht, der hatte sich gefreut, ihn wieder zu sehen und ihn hier in diesem Cafe bewirtet.
Sukoff saß von da ab jeden Tag hier, wartete. Er hatte versucht, Arbeit zu finden. Aber er hatte keine Papiere und wurde überall bald hinausgeworfen. Einmal ließ man ihn für die „l'Humanite" eine Beschreibung seiner Flucht und der letzten Ereignisse in Philippopel verfassen, die er in der dortigen Jugendgruppe miterlebt hatte. Auf diese und ähnliche Art verdiente er zuweilen ein paar Francs. Manchmal kamen Freunde von der Straße herein, er setzte sich zu ihnen an den Tisch, bekam einen Kaffee gezahlt oder einen Kognak oder ein Abendessen. . Sukoff betrachtete lächelnd die grünen und roten Lichtflocken auf seinem Tisch, auf seinen Händen. Die weiße Kuppel dort oben verblasste im Dunst, um später desto deutlicher gegen den Nachthimmel hervorzutreten. Auf sechs Uhr war die Demonstration angesetzt, und Sukoff, der bei so etwas nie zu fehlen pflegte und die Zeit inwendig hatte, bekam einen Ruck. Er stand seufzend auf und überquerte ein wenig schwindlig die Straße. Der Kellner hielt ihn nicht zurück, weil er wusste, dass immer irgendwie für Sukoff gezahlt wurde.
Auf dem Place Ste-Genevieve pflegte sich Sukoff mit seinen Landsleuten bei dem kleinen Rondell zu treffen. Er erblickte von weitem Petrow, versuchte, ihm auszuweichen. Petrow hatte ihn zuallererst herzlich empfangen, wurde aber die letzte Zeit immer schroffer und abweisender. Dann drehte Sukoff sich doch noch einmal um, weil ihm etwas an dem Mann, der mit Petrow redete, aufgefallen war. Gleichzeitig machte der Mann eine Bewegung auf ihn zu. Sukoff blieb jäh stehen, bestürzt, dann raffte er sich auf, ging langsam auf den andern zu und streckte seine Hand hin. Währenddessen hatte Petrow gesagt: „Lass dich nicht mit ihm ein, Dudoff, sei vorsichtig, er ist ganz heruntergekommen." Dudoff nahm dem Jungen die Hand, nahm beide Hände. Er sah ihn zögernd an, wie man jemand auf der Straße zu erkennen glaubt - beim Schärfersehen verschwimmt sein Gesicht, wird fremd. Sukoff stieg die Erregung bis zum Hals, doch er sagte nur: „Bist du das?" Dudoff sagte lächelnd: „Ja, das bin ich." Sukoff riss sich schnell los und ging mit gesenktem Kopf über den Platz. Die abendliche Stadt, das Licht über den Plätzen, alles war auf einmal wie verdunkelt von Trauer. Er erriet, was Petrow zu Dudoff gesagt hatte, er erriet, was Dudoffs Blick bedeutete, was diese beiden jetzt über ihn redeten. „Er war doch zuverlässig, auf ihn war Verlass, er hat gut gearbeitet, wieso ist er so schnell zugrunde gegangen?"
„Wir haben alles mögliche mit ihm versucht, er verschlampt, er hat keinen Boden mehr unter den Füßen, er kommt nicht mehr hoch." Und während das Licht der Straßen über Sukoff zusammenschlug, murmelte er: „Was soll ich nur hier anfangen?" Einige Stunden später saß Sukoff in seinem kleinen Cafe in der Rue Seveste. Es war neun Uhr abends. Vom Boulevard des Italiens her rauschte es, als sei dort die Küste, Brandung. Sogar die Telefondrähte zwischen den Dächern schienen aus gezogenem Silber. Sukoff umschlang wie gewöhnlich den Tisch mit seinen beiden Armen. Eine Gesellschaft von Männern und Frauen rief ihn zu sich, Journalisten, die ihm schon öfters geholfen hatten. Sukoff saß und trank in seinen vor Hunger ausgelaugten Magen, was gerade da war, Schnaps, Syphon und die Brioches aus der Schale. Die Frauen betrachteten sein junges Gesicht, und er erwiderte ungeschickt ihre Blicke. „Ce jeune camarade a joué un rôle héroique, vous savez, pendant les massacres de Philippopel." Nach einer Stunde standen alle auf und fuhren irgendwohin. Sukoff setzte sich an seinen alten Platz. Er legte entschlossen sein Gesicht auf den Tisch. Draußen, vom Boulevard des Italiens her, fegten krächzend die letzten Zeitungsverkäufer mit den Morgenzeitungen. Sukoff richtete sich auf. Er schrie den Kellner an, als sei es dessen Pflicht gewesen, rechtzeitig etwas zu bringen, bevor die Trauer seine Kehle erstickte. Beim ersten Glas verstand Sukoff plötzlich, dass es sinnlos war, zu warten, sondern etwas ganz anderes von ihm verlangt wurde. Beim zweiten Glas erfaßte ihn eine rasende Wut, dass man ihn nicht totgeschlagen hatte in Philippopel, sondern dass er hierhergeraten war, in diese hundsgemeine, niederträchtige Stadt. Beim dritten Glas fluchte er laut, dass die Vorübergehenden lachten über dieses verrückte Gefluche in einer fremden Sprache. Zwei Russen mit Georgskreuzen in verblichenen Paletots blieben stehen und betrachteten ihn mitleidig: „Das macht aus dem Menschen das Heimweh." Dann fasste Sukoff die Flasche am Hals und soff sie ganz leer. Jetzt kamen solche Flüche aus ihm heraus, von denen er selbst nicht gewusst hatte, dass sie in ihm drin waren, wilde, vertrackte Flüche, die er zum letzten Mal als kleiner Knabe auf der Hochzeit seines Onkels gehört hatte, als zuletzt alle übereinander herfielen und die Braut mit zerfetztem, besudeltem Kleid heulend auf die Straße lief.
„Jetzt hast du gesehen, wie so etwas bei uns aussieht", sagte Petrow nach dieser Demonstration zu Dudoff in seinem Hotelzimmer. Dudoff stand mit dem Rücken zum Zimmer. Das Licht der Stadt schlug hier oben gegen den unruhigen, schwefelgelben Himmel und strömte zurück auf die glänzenden, von zahllosen Schornsteinen berittenen Dächer. Dudoff war zu Tode erschöpft. Gerade in diesem Augenblick spürte er deutlich, dass seine Kraft zu Ende ging, und dass er nutzlos für die Partei wurde. Eine Weile, unter einem furchtbaren, unerträglichen Druck, bleiben seine Gedanken stehen. Dann erinnerte er sich an ähnliche Augenblicke - sie waren immer vorbeigegangen, wenn man ihm eine Aufgabe zugewiesen hatte. Er hatte dann von neuem soviel Kraft gehabt, wie er brauchte. Aber hier, an diesem Ort, wo er nichts und niemand kannte, wo er die Sprache nicht verstand, keine Möglichkeit war, ohne weiteres Kraft aus der Bewegung zu ziehen - so schwer war es noch nie gewesen. Petrow saß am Tisch und wartete, dass Dudoff von selbst sprechen sollte. Seiner Gewohnheit nach, die Zeit gut auszunutzen, machte er sich Notizen auf einen Zettel. Doch waren diese Notizen Stichworte zu einer Aussprache, die er sofort mit Dudoff herbeiführen wollte. „Wie sie brüllt", sagte Dudoff und drehte sich von der Stadt weg. Petrow sagte: „Ich möchte mit dir unser Gespräch von gestern fortsetzen. Wir wollen mit vollkommener, kameradschaftlicher Offenheit miteinander reden.
Aus verschiedenen deiner Äußerungen -
Aus deiner gestrigen Stellungnahme -
Du bist allzulange getrennt gewesen, die vielen Jahre Haft, du wirst es nötig haben, dich einzuleben, du bist noch krank -Was deine Funktion anbelangt - es scheint uns richtiger, jetzt einen anderen zu schicken. Geh du ein Jahr nach drüben, lerne, sieh dich in Russland um, mach dich ganz gesund."
Petrow setzte ab. Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber dann auch ganz. Auch Dudoff schwieg. Beide betrachteten einander aufmerksam, als sähen sie sich zum ersten Mal. Schließlich sagte Dudoff: „Gut." Petrow wartete, dass er noch etwas hinzusetzte, dann fragte er noch einmal: „Was sagst du?" Dudoff lächelte und sagte: „Ich sage: gut." Petrow, der gefürchtet hatte, Dudoff könnte Schwierigkeiten irgendwelcher Art machen, seufzte erleichtert. Nach einer Weile fügte Dudoff hinzu, gleichsam Petrows Gedanken statt seiner eigenen unterstreichend: „Diese Arbeit, die ich zuletzt vor meiner Verhaftung im Prutkagebiet machte, das war die mir angemessene Arbeit, hat gerade meine Kraft ausgefüllt." Sein Gesicht war krank und nachdenklich. Er verabschiedete sich, aber in der Tür blieb er noch einmal stehen: „Ich bin ganz ungewohnt, allein zu schlafen." - „Nun, dann bleib doch hier", sagte der andre erfreut.
Er betrachtete Dudoffs Rücken, er war so abgemagert, dass die Rippen wie die silbrigen Adern eines Blattes herausstanden. Und über diesen Rücken zerstreut, zählte Petrow sechs tiefe Narben. „Wie sie dich zugerichtet haben!" Dudoff sagte: „Das ist nicht von diesmal, sondern noch vom vorletztenmal. Du hättest erst sehen sollen, wie sie mich von vorn zugerichtet haben. Niemand hat mich mehr erkannt. Ich habe nicht geglaubt, dass ich jemals wieder ein Gesicht bekomme, und doch ist ganz genau mein altes Gesicht darübergewachsen, mein altes Gesicht."


II
Pali hatte keine Arbeit mehr, er ging wieder nach Paris. Er fragte sich durch nach der kleinen italienischen Kneipe - keinen Sou in der Tasche. Trotz des Herbstes waren die Boulevard-Cafés überfüllt. Es musste großartig sein, dort zu sitzen und die gierige, auf die Nacht verrückte Stadt an sich vorüberschnauben zu lassen. Aber die Rue Demours war viel weiter weg, als sich Pali erinnert hatte. Der abendliche Boulevard mit seinem wie geschliffenes Eis glänzenden Asphalt zog sich endlos wie irgendeine Landstraße. Pali überquerte einen Platz von unermesslicher Helligkeit, er taumelte ganz benommen in all dem Licht herum -mit diesem Licht hätte man alle Nächte in seinem kleinen finsteren Enzeres anzünden können. Hinter dem Platz wurde der Boulevard noch breiter, noch glänzender. Seinen sehmüden Augen schmolz all das Licht links und rechts in zwei lange Schweife zusammen.
In der Rue Demours war es dunkel. Zwischen den beiden einzigen Laternen pendelte ein Polizist hin und her. In der kleinen Vitrine brannte ein winziges Glühbirnchen. Der Wirt hatte einfach einen Sack Melonen ins Schaufenster geschüttet. Pali war froh, als er eintrat. Der Wirt, der zwischen seinen Gästen saß, erkannte Pali und rief: „Guten Abend, Kleiner, da bist du ja wieder!" Alle, auch die ihn nicht kannten, begrüßten Pali und rückten auseinander. Sie fingen gleich heiß zu reden an, noch immer war um Palis friedliches, rundliches Gesicht ein Gebrodel und Gestreite, er kannte es nicht anders. Es dauerte bis zum frühen Morgen. Er legte den Kopf auf den Tisch, so brauchte er für die Nacht nichts zu zahlen. Einer sagte: „Wir demonstrieren heute vor der Mairie. Jetzt gehe ich mich aufstellen am Place des Ternes. Machst du mit, Kleiner?"
Sie waren nicht allzu viele. Sie spannten ihre Transparente und brachen ein in die Avenue des Ternes. Pali sah sich um, einen Augenblick glaubte er flüchtig, Bordonis Gesicht zu sehen. Pali hatte an diesen Bordoni, wie er vor zwei Jahren gewesen war, nicht mehr gedacht, er war aus seinem Gedächtnis herausgefallen. Auch jetzt vergaß er ihn. Der Zugang zur Mairie war gesperrt. Die Polizisten schrieen und fuchtelten. Sie bogen ab und schwenkten durch die Avenue Mac Mahon. Auf einmal sah Pali Bordonis Gesicht dicht vor sich, dann war es wieder weg. Aus der Rue de l'Etoile stürzten die Polizisten auf sie zu und knüppelten. Viele blieben überrascht stehen, manche stürzten voran, manche gegen die Häuser. Plötzlich hatte Pali Bordoni wieder vor sich. Sie stürzten alle zusammen gegen die hintere feste Polizeikette -Pali sah gerade, wie Bordoni den Oberkörper wütend herumwarf und mit der Schulter schräg vordrängte. Da sah Pali an Bordonis Schultern, dass es mit Bordoni in diesem Jahr gut gegangen war. Er sagte: „Bordoni." Bordoni sah ihn schnell an und sagte: „Rue Ste-Catherine, heute abend, ja?" Pali sagte nichts mehr, beide liefen, einem kleinen Haufen gelang es, die Postenkette durchzustoßen und vor der Mairie seine Parolen zu rufen.
Am Abend, als Pali die Rue Ste-Catherine gefunden hatte, stand Bordoni an der Ecke wie in früheren Tagen und wartete. Als Pali auftauchte, zuckte er zusammen, und sein Gesicht glänzte vor Freude. Unterwegs erzählte er: „Aus der alten Wohnung, als bei uns zweimal Polizei war, hat uns der Wirt herausgeworfen, wir wohnen jetzt hier." Sie kamen durch einen Hof, in dem es nach Terpentin stank. Bordoni machte eine Tür auf, gleich kicherte es aus der Ecke, Giulia, die Pali sofort erkannt hatte. Der Junge war noch dunkler und schweigsamer geworden. Er sah jetzt seinem Vater sehr ähnlich, oder vielmehr, der Vater sah dem Knaben ähnlich, viel dunkler, viel straffer. In drei Ecken waren Betten hergerichtet; in der vierten lief eine Bank um einen Tisch herum; um einen Schusterhocker am Kellerfenster türmten sich Schuhwerk und Lederzeug und quollen über in die schmalen Gänge zwischen den Brettern. Ein paar Kinder krochen darin und spielten. Bordoni sagte, ein anständiger Mensch sei der Patron und halte zu ihm. Frau Bordoni kam hereingelaufen; wie sie Pali erblickte, zog sie langsam, mit erstarrtem Gesicht, die Tür hinter sich zu. Pali streckte die Hand hin, aber sie sah es gar nicht vor lauter In-sein-Gesicht-Starren. Jetzt, da Bordoni ein andrer war, belustigte ihn die Frau nicht mehr, sondern ärgerte ihn. Sie aßen viele um einen Tisch. Die Bordonis, die Familie des Patrons, ein Schlafbursche. Die Männer vertrugen sich und redeten offen voreinander. Pali fragte: „Hast du Arbeit?" - „Gelegenheitsarbeit. Die Konzession hat man mir längst genommen. Und dann ist meine Frau vom Hotel herausgeflogen, der Patronin vom Hotel haben sie auch alles gequatscht." Jetzt wurde Frau Bordoni wild: „Gelegenheitsarbeit. Wann hast du denn zum letzten Mal gearbeitet? Das ist wohl deine Gelegenheitsarbeit, Flugblätter für die andern herumtragen, deine Sohlen ablaufen bei den Demonstrationen wie heute abend. Das nennst du wohl Gelegenheitsarbeit." Bordoni erwiderte nichts, kraulte die Kleine mit den Fingerspitzen. Seinem Gesicht war anzumerken, dass er etwas anderes mehr liebte als seine Angehörigen, auch unter den Menschen liebte er Pali mehr als diese. Da geriet die Frau ganz außer sich: „Gelegenheitsarbeit, das nennst du auch Gelegenheitsarbeit, von dreißig Nächten im Monat eine daheim schlafen und mich dann dick machen, das ist wohl auch Gelegenheitsarbeit." Sie stürzte in den Hof hinaus und wieder herein, ein paar Mal hintereinander. Die Frau des Patrons winkte mit der Hand und tröstete: „Ah pah!" Die Männer lachten. Pali sagte: „Ihr habt ja auch wirklich genug Kinder." Bordoni zuckte die Achseln: „Sie braucht es ja nicht, das passiert doch mal." Frau Bordoni kehrte zurück. Jetzt dauerte sie Pali doch. Das Geschrei der Kinder, das Geschimpf der Patronin, das Klappern der Teller war immerfort um ihren geplagten Körper herum, wie ein stechender, prickelnder Mückenschwarm. Bordoni sagte: „Und du, hast du Arbeit?" -„Nein, Schluss in Enzeres, ich bin hier, um zu suchen." Bordoni sagte: „Dann bleib mal einstweilen bei uns. Die Patronin kann es zwar nicht leiden, wenn jemand Fremdes bei uns mitschläft, aber vielleicht gibt sie nicht viel acht."
Pali sagte: „Gut, aber die Frau."
Bordoni zuckte die Achseln.
Die Familie des Patrons und der Schlafbursche fingen an, miteinander „Schwarzer Kater" zu spielen. Frau Bordoni war auf einmal ganz still, sie gehorchte mit gesenktem Kopf den Befehlen der Wirtin, die über das Kartenspiel weg rief: „Tun Sie dies, tun Sie das!"
Ihr Mann und Pali sahen ihr mit gedankenloser Verwunderung zu. Sie war einmal eine hübsche Person gewesen, jetzt hing ihr Kinn, ihre Brust, ihr Leib herunter, als seien die Fäden gerissen, die das alles zusammenhielten.
Auf einmal fing Bordoni von etwas anderem an. „Du hättest im August hier sein müssen. Das war was anderes als heute morgen. Das Pflaster war aufgerissen - ich bin damals mit geschnappt worden. Aber sie haben mir nichts nachweisen können, da hättest du mit dabeisein müssen. Genützt hat es nichts, all das für sie aufgerissene Pflaster, den beiden armen Teufeln drüben in Amerika, meinen zwei Landsleuten. Die hat man doch nacheinander auf denselben elektrischen Stuhl geschnallt. Aber mir hat das damals die rechte Wut in den Bauch zurückgegeben; ich war ja vordem ein bisschen lahm geworden, ich weiß es wohl, hinter allem ein bisschen nachgehumpelt. Ich mache jetzt immer mit, verstehst du?"
Am Tisch legten sie die Karten zusammen. Der Schlafbursche fluchte lachend. Die Patronin trug die drei Sou, die sie ihm abgenommen hatte, in das Büchschen im Werkzeugkasten, worin der Schuster seine Einnahmen aufbewahrte. Dann legte sich alles schlafen. Pali erkannte die knallgelbe Decke wieder - vergriffen, geplatzt; Frau Bordoni hatte sie eines Sonntags von den Eltern mitgebracht, und die Nachbarinnen hatten sie befühlt. „Was hörst du von daheim?" - „Daheim. Ich kriege keine Postanweisungen und keine Liebesbriefe. Die fürchten sich wohl daheim, wenn sie einen Brief einwerfen mit der Aufschrift: Bordoni, Paris. Diesen Bolagnetti, den man jetzt auf eine Insel geschickt hat, lebenslänglich, den haben wir doch beide miteinander sprechen hören, du und ich, im großen weißen Saal des Gewerkschaftshauses. Erinnerst du dich?"
Pali versuchte an sein eigenes Daheim zu denken, an den zehnten Bezirk. Aber sein Herz zog sich nicht einmal mehr zusammen, als ob es diese Bewegung verlernt hätte. Er war zufrieden mit diesem Abend. Ein anständiger Genosse, eine Unterkunft, eine Decke. Frau Bordoni schimpfte nicht; vielleicht fürchtete sie sich vor der Patronin, vielleicht war sie auch froh, dass ihr Mann an diesem Abend nicht mehr ausging.


III
„Mein Sohn, wir waren sehr glücklich, von Dir zu hören, nach so langer Zeit. Für einen alten Mann ist es schwer, nicht den Namen der Stadt zu wissen, in der sein Sohn wohnt. Wenn Du heimfährst, wird es für mich alten Mann eine Freude sein. Ich werde Dir das Geld durch die Vermittlung des ehrenwerten Herrn Konsul Irving in Kanton an die Bank für ausländischen Handel und Kredit überweisen lassen. Scheue Dich also nicht, und komme schnell heim. Wir empfehlen die zweite Klasse der Orient White Star.
Wir leben seit einigen Monaten wieder auf unserem Landgut. Ich habe gewusst, dass ich vor meinem Tod hierher zurückkomme, habe es immer Deiner Mutter gesagt, der diese Zeit schwer zugesetzt hat. Bis auf die Grundsteuer ist die schwerste Zeit jetzt vorbei. Der neue Gouverneur ist ein gewisser Tsi Yi-yin. Zwar würde ich lieber einen andern auf seinem Platz sehen, doch als ich mich entschloss, ihn zu besuchen, war er ein Mann, mit dem man reden konnte. Er hat uns zugesagt, dass die ärgsten Übeltäter bestraft werden. 150 Morgen werden der Gemeinde zugesprochen, welche statt einer einmaligen Abgabe eine Pacht zahlen wird bis zum Jahre 1950. Ich habe die zerstörten und beschmutzten Häuser wiederherrichten lassen. Du wirst sie selbst nicht wieder erkennen."
„Das Geld ist schon da", sagte Liau Han-tschi. „Zu ihm fahre ich nicht, sondern dahin, wo man mich hinschickt. Diese Heimfahrt sieht anders aus, als wir geglaubt haben."
„Wann geht der Dampfer?"
„Am Siebenten, Marseille."
Fo-li und die junge Balke sahen ihn schnell an. Liau lächelte ein wenig. Das gleiche, schwache, etwas schmerzliche Lächeln flog über alle drei Gesichter. Sie hatten einander lieb gewonnen.
„Gestern habe ich Yank getroffen. Auf ihn habe ich doch gebaut wie auf dich oder mich. Ich habe ihm unsern Artikel gezeigt. Hier, schwarz auf weiß, diese Stelle lies laut:"
„Gestützt auf die Masse der Arbeiter und armen Bauern, eroberte Tschiang Kai-schek der Nationalregierung zehn Provinzen. Am entscheidenden Punkt, vor der Frage, die Revolution zu Ende zu führen oder sich gegen die Massen zu stellen, antwortete Tschiang Kai-schek mit der Erschießung von zweihundert Arbeitern in Schanghai auf offener Straße im Namen der bürgerlichen Ordnung."
„Das hat er gelesen, und was glaubst du, hat er gesagt?"
„Ja?" - Er sagte: „Ich kann aus der Entfernung solche Maßnahmen nicht beurteilen." - „Kann man das verstehen?"
„Doch, man kann. Er ist Kaufmannssohn, Student, in seinen Ursprung zurückgefallen."
„Und du und ich?"
„Wir arbeiten, uns braucht man."
„Siau, Li, alle, die vor ein paar Monaten mit uns feierten, sind in ihre Schlupfwinkel zurückgekrochen, setzen sich nicht mehr an unseren Tisch, sogar hier, dreißig Tage weit weg."
Die Eltern Balke kamen herein und setzten sich still dazu. Sie betrachteten Liau genau; sie begriffen, was diese Heimfahrt jetzt für ihn bedeutete. Die Frau stand seufzend auf und richtete Teller und Näpfe. Liau ging es, wie es ihm jetzt oft ging: Die Gesichter und Dinge, ja sogar die winzigen Reisnäpfe mit ihrem in diesem finsteren Zimmer fast durchdringenden Blau schienen sich von selbst von ihm zu entfernen, blasser zu werden.
Liau Han-tschi trat ans Fenster. Das Brummen der Spinnerei erfüllte den Hof und die anstoßenden Quartiere. Gerade, während er heruntersah, zum ersten Mal in diesem Spätsommer, wurde die Spinnerei während der Arbeitszeit von innen beleuchtet. Er betrachtete erstaunt, was er bisher nur als Schattenrisse kannte, die bleichen, alle nach einer Seite gerichteten Gesichter der Mädchen, ihre gleichmäßigen Hantierungen. Er wusste, es waren dreißig Mädchen zu einem Tarif von 43 Pfennig. Er kannte diese Straße besser als je seine eigene, die alten Balkes kannte er besser, als er je seine eigenen Eltern gekannt hatte. Aber der wohlbekannte Hof vor seinen Augen, das dunkle Pflaster, der helle Ausschnitt der Werkstatt, das erschien ihm schon nicht mehr wie die Wirklichkeit selbst, sondern wie ihre Erinnerung.
Liau Han-tschi dachte: Manchmal auf einer Reise verbringt man ein paar Nächte in einer Herberge, in der man für immer bleiben möchte. Es kostet einem mehr Mühe, sich loszureißen, als verließe man das Elternhaus. - Vielleicht steht mein Bruder jetzt gleichfalls am Fenster seines Zimmers, die gleichen Nachrichten machen sein Herz schwer, seine Gedanken bitter, zwingen ihn, sich loszureißen von einem Ort, der ihm teuer ist.
Liau Yen-kai wohnte mit seiner Frau in Moskau in einem alten, von Gärten umgebenen Haus, das früher einem Bankier gehört hatte und inzwischen in ein Internat für die Schüler der Akademie Sun Yat-sen umgewandelt war. Mit seinem von zersprungenen Spiegeln bekleideten, von Flocken abblätternder Stukkatur verschneiten Treppenhaus sah es beständig nach Umzug aus. Der große Parkettsaal enthielt Schlafkojen für über vierzig Studenten. Liau Yen-kai lebte mit seiner Frau und seinem vor einigen Wochen geborenen Kind in einem kleinen stillen Zimmer unter dem Dach. In ihren vier Wänden war all die Zeit über die Stille wie eingefangen. Ihre Genossen kamen zuweilen herauf, um sich einen Atemzug aus diesem Zimmer zu holen.
Liau Yen-kai und seine Frau sagten zueinander: „Wir haben uns lieb gehabt, wir waren lange Zeit gut miteinander. Jetzt aber finden wir, dass es Zeit ist, sich zu trennen, heimzufahren zur Arbeit und das Kind dem Staat zu lassen."
Liau Yen-kai hätte das Kind am liebsten in Abwesenheit seiner Frau fortgebracht, um ihr den Abschied zu erleichtern. Sie bestand darauf, es selbst hinzubringen. Sie war so ruhig, als gäbe es bloß zwei Steine, ihr Herz und das Kind. Aber Liau Yen-kai merkte doch, wie ihre Brauen zuckten.
„Am 3. November 1927 übergaben die Unterzeichneten ihren Sohn dem Kinderheim. Sie überlassen das Kind dem Staat zur Pflege und zur Erziehung und zur späteren Verwendung nach seinen Fähigkeiten."
Es fügte sich so, dass die Frau vor ihm abfuhr. Kurz vor seiner eigenen Heimreise fuhr er noch mal hinaus, um das Kind zu sehen. Er stand am Fenster, zwei Hände voll Kind. - Ein wenig Wärme - Abfall des berauschenden, triumphierenden Glücks, das sein Vater über die Geburt seiner Söhne gespürt hatte. Das satte, schläfrige Kind betrachtete ihn. stumpf mit glänzenden Käferaugen. Er gab es zurück. Mögen es andere nehmen. Er wird es später tun. Aber er wusste: später war nie, und andre, das waren doch ebensolche wie er.


IV
Im März trat Bató mit seiner Frau und seinem ältesten Sohn zur Jahresfeier der ungarischen Revolution in den kleinen Raum, den seine Landsleute für diesen Vormittag in einer Gastwirtschaft im Westen von Berlin gemietet hatten. Er ärgerte sich, dass sie zu spät kamen - Marie hatte das kleine Kind um keinen Preis bei der Portiersfrau lassen wollen; Bató grübelte während der Fahrt, warum Marie war wie sie war, schwach, unveränderlich, und was das für eine Kraft war in einem Menschen, den andern zu verändern, und warum ihm diese Kraft abging.
Sie kamen alle drei auf den Zehenspitzen herein und schämten sich. Alle sahen nach ihnen - aber Bató spürte sofort an ihren Blicken, dass er anders als sonst aussah. Auch die andern sahen anders aus, als das Jahr über. Aus ihren Gesichtern war weggewischt, was sich an unnützen Strichen unterwegs eingezeichnet hatte. Der kleine Gyula, erster Redakteur der „Neuen Welt", dem Bató täglich gegenübersaß, notgedrungen, mit schlecht bezwungenem Widerwillen, hatte das kalte, verzweifelte Gesicht, mit dem er am 2. August im Jahre 19 als erster die Nachricht vom Durchbruch der Front in die Sitzung gebracht hatte. Da saß Faludi, auf seinem heute merkwürdig bleichen Gesicht das Bewusstsein, das vierte Regiment in Ordnung in die Stadt zurückgeführt zu haben. Der kleine zappelige Mischka mit hochgezogenen Knien, den man immer für einen unsichern Burschen gehalten hatte, bis er beim Zusammenbruch seine kleine Funktion überraschend gut durchführte -! Aber Lischka dachte jetzt nicht einmal daran. Sein Gesicht war stolz, weil er die vorige Woche, obwohl es ihm dreckig ging, das Angebot seines alten Freundes Stricker, für „United Press" zu arbeiten, abgelehnt hatte. Die ganze Woche war er ärgerlich gewesen, weil ihm ohnedies keiner seiner Genossen etwas Besonderes zutraute, aber heute war er stolz auf seine Absage. Der kleine Ernst Papp, er ist zu Fuß durch halb Europa gelaufen und zufällig heute hier. Die lustigen Lumpen seiner Abenteuerjahre sind ihm für ein paar Stunden genommen. Er ist für alle, was er einmal war: Jugendgenosse aus dem zehnten Bezirk.
Bató sieht auf seine Frau. Sie sieht so aus, wie sie damals ausgesehen hat, als sie sich ein einziges Mal mit erstaunlicher Entschiedenheit von ihm trennte, um ihr ungeborenes Kind lebend über die Grenze zu bringen. (Dasselbe Kind, um das es heute morgen bei der Herfahrt diesen Ärger gab.) Hajnal hat das rotumwundene Pult bestiegen. Er ist kein guter Redner. Mit voller Lungenkraft versucht er, die Hände an das Pult geklammert, das Feuer der Erinnerung anzufachen. Alle hören ihn schweigend an. Er schildert die Ereignisse des letzten Jahres, die Prozesse, Rákosis Rede vor dem Standgericht. An dieser Stelle kommt plötzlich ein Schwung in seine Worte, als drehe eine energische Hand die Kurbel. Die Zuschauer sehen beklommen aus. Böhm starrt auf das Pult, denkt: Ich werde bald daheim sein. Faludi seufzt, als würge ihn ein Gedanke: Das war ich damals. Bató legt den Arm um Andris Stuhl. Er betrachtet sein Kind. Die kleine Stirn ist gerunzelt. Es quält sich. (Erinnerst du dich, Andris, wie ich dir die Faust in den Mund steckte, damit du nicht schreien solltest? Ich muss mich mehr um dich kümmern, aber ich bin ein unnützer Mensch, ich möchte dir alles erklären, aber ich verstehe nicht, mit Kindern zu sprechen.)
Die Menschen stehen schon auf. An einem Ende des kleinen Saales, vielleicht bei Faludi, beginnt die Internationale ungarisch. Aber bei der zweiten Strophe stockt es, die meisten können nur deutsch weiter. Man hört auch ein französisches „Formons-nous et demain". Der kleine Papp vielleicht, der aus Paris kommt. Aber das Lied hält ihre zögernden, ungeschickten Stimmen beisammen bis zur letzten Strophe.
Draußen auf der Straße kam Böhm hinter Bató hergerannt. „Verzeihen Sie, können wir ein paar Minuten zusammen sprechen?" - „Gewiss." Er blickte in Böhms junges, offenes Gesicht, überrascht und froh, dass der etwas von ihm wollte.
„Nichts Besonderes, eigentlich will ich mich nur verabschieden. Wir haben uns hier wenig gesehen, aber ich meine doch, ich muss mich von Ihnen besonders verabschieden.
Ich gehe fort von hier. Bin heimgeschickt, arbeiten! Das ist lange Zeit mein großer Wunsch gewesen. Jetzt ist es soweit."
Bató gab es einen Stich. Wiederum hätte er Böhm beneidet, wenn er ihm nicht zu teuer wäre. „Hast es gut." - „Gut? - Ich habe oft gedacht, dass es gut ist, jetzt herauszukommen, weil hier jetzt alles schwer und verwickelt ist, aber dann habe ich oft gedacht, das ist ein falscher Anstoß, weil hier jetzt alles schwierig ist, verstehen Sie?"
„Ja, das verstehe ich." Er wünschte sich, wie der Junge neben ihm, alle Gedanken, die er selbst so oft gedacht hatte, dass sie gleichsam abgewetzt waren, noch einmal jung zu denken, in ihrer ersten unbestechlichen Klarheit.
„Aber dann entschloss ich mich, dahin zu gehen, wo man mich am meisten braucht, und es kann kein Zweifel sein, dass man mich dort braucht."
Wo braucht man mich am meisten, dachte Bató. Braucht man mich überhaupt?
„Ich habe mich von Ihnen verabschieden müssen", sagte Böhm lächelnd, „weil ich ohne Sie gar nicht fortging. Sie waren der erste Anstoß, der allererste. Wie ich zum ersten Mal in Ihren Hörsaal hineinging, war alles rundum in Ordnung. Wie ich herausging, war da ein großer Zweifel an der Ordnung der Dinge."
Bató lachte. „Das stimmt ja nicht ganz so." Er lud Böhm ein, aber Böhm wies ab - Arbeit bis zum letzten Abend. Sie umarmten einander: „Lass dir's gut gehen."


V
Als Anka zum vierten Besuchstag ins Gefängnis fuhr, wurde ihr mitgeteilt, dass sie Janek nicht sprechen könnte. Sie wollte ein Paket Lebensmittel zurücklassen, aber das wurde ihr auch verweigert. Sie lief ganz verstört in die Stadt zurück. Sie erinnerte sich an den Namen eines Arbeiters, der mit Janek eingesperrt war, suchte und suchte, bis sie endlich diese Leute am äußersten Ende der Großstadt in ihrer kleinen Kaute fand. Die Dombrowski wusste schon Bescheid - Hungerstreik seit drei Tagen gegen das neue Reglement. Sie war eine vierzigjährige, magere, Anka in allem überlegene Frau; in dieser von fremden und eigenen Männern, von Kindern und Weibern vollen Hütte schien sie das Wort zu führen, das Dach auf ihren Schultern zu tragen. Ihre Stimme war vom Schreien rauh wie eine Männerstimme, von harter Arbeit im Schrott waren ihre Fingerspitzen abgewetzt, sie hatte fast keine Nägel mehr, aber ihre Hände waren ruhig und gut, wenn sie eines der herumtappenden Kinder aus dem Weg räumte.
Ihr Mann hatte schon mehrmals im Gefängnis gesessen. Wenigstens ein Mann aus der Familie saß meistens, manchmal saßen alle gleichzeitig. Dann schlugen sich die Frauen, zwei Schwestern, eine Alte und eine Schwägerin, auf irgendeine Weise durch. Aber auch wenn keiner saß, ging eins von Dombrowskis mal am Gefängnis vorbei und gab einen Laib Brot oder einen Sack Kohle ab „für die Politischen".
Die Kinder waren daran gewöhnt, dass Spitzel und Büttel das Unterste zuoberst kehrten, dass ihr bisschen Eigentum wie Flocken durcheinanderwirbelte.
In den letzten zwei Jahren war fast jeden Monat eins von ihnen auf die Wache gebracht, ausgefragt und geprügelt worden. Aber die Dombrowskis scherten sich nicht um diese Unglücke, sie waren der Mörtel, der ihr Leben zusammenhielt.
In den Zeiten der Streiks und Demonstrationen sickerte es glühend aus den gewundenen, rußigen Gassen der Nordvorstadt. In diesen Hütten begann man das Leben, indem man als Knabe ein rotes Fähnchen auf einen Telegrafenmast spießte und sich von einem Streik zum andern, von einem verbotenen Aufmarsch zum andern ins Zuchthaus hineinkämpfte. Die Dombrowski kannte alle Einzelheiten des Gefängnislebens, alle Reglements, alle Schliche. Sie lebte um seine Mauern herum wie Hirten um einen Berg. Jetzt antwortete sie: „Man trennt sie gewöhnlich gleich und schickt sie in Einzelzellen. Übermorgen wird man sie künstlich ernähren." Sie betrachtete Anka mit jener leisen Geringschätzung, mit der ganz ausgegerbte Frauen jüngere betrachten, an denen noch etwas rot und rund geblieben ist.
Dann sagte sie: „Deinem wird es nichts machen. Er ist ja jung und noch nicht lange drin." Einer von den Männern sagte: „Der Doktor Cink wird es machen. Der geht noch an." Jemand erzählte von einem Arzt, der die Röhre so roh eingeführt hatte, dass dem Gefangenen der Schlund gerissen war.
Die Dombrowski forderte Anka nicht auf, dazubleiben, aber sie wunderte sich auch nicht, als Anka blieb und sich in irgendeinem Winkel verkroch. Sie horchte, ihren Kummer verbeißend, auf das rauhe Lachen der Dombrowski, auf die Reden, die jeden Augenblick in Drohungen übergingen. Eine der Frauen fasste sie am Arm, mehr hart als tröstend. „Was hockst du da, setz dich zu uns." Anka gehorchte. Einen Augenblick gingen die Blicke an ihr erstaunt herauf und hinunter - das einzig Weiche und Helle in dieser Stube, sie senkte beschämt die Augen -, wandten sich gleichgültig von ihr weg.
Am nächsten Nachmittag forderte die Dombrowski Anka auf, mitzugehen. Sie liefen am Rand der Stadt, durch unbebautes Gelände, unterhalb des Bahndammes. Sie kamen an die Rückseite des Gefängnisses, durch die Umfassungsmauer getrennt, dem Bahndamm gegenüber. Die Dombrowski pflanzte sich auf der höchsten Stelle auf und brüllte dreist: „Ohoho!" Anka wartete, sie betrachtete erregt die Dombrowski, auf breiten Beinen stand sie da und schrie gegen den grauen, von unzähligen vergitterten Fenstern bedeckten Steinklotz. Was Anka fast wie ein Wunder erschien, es kam wirklich Antwort. Sie verstand nichts als den Klang einer Stimme von oben, die beinah hell war gegen die tiefe, wilde von unten. Die Dombrowski kletterte den Abhang hinunter und erklärte: „Es ist, wie ich gesagt habe. Man hat sie alle auseinandergelegt, sie machen weiter." Als sie den Damm entlanggingen, kam ihnen eine Wache entgegen. „Was hast du da gebrüllt, du Aas." Die Dombrowski machte Anka ein Zeichen, weiterzugehen. Sie trafen sich dann in der Gasse. Die Dombrowski legte ihr Tuch ab und zeigte allen daheim, wo der Soldat sie gepackt hatte - als hätte man Tinte über die Schulter geschüttet -! „Wenn er dich statt meiner gepackt hätte, Anka, wärst du in zwei Stücke zerbrochen."
Janek war schon am zweiten Tag allein gelegt worden. Am dritten Tag kam die Gefängnisverwaltung und teilte ihm mit, der Streik sei abgebrochen. Janek weigerte sich, aufzuhören, bevor er nicht von der Gefangenendelegation aufgefordert wurde. Da diese Aufforderung ausblieb, wusste Janek, dass man ihn belog und der Streik fortdauerte.
Zwei oder drei Tage vergingen. Es gelang ihm nicht, mit irgend jemand in Verbindung zu treten. Er fing an, sich zu beunruhigen; vielleicht war der Streik wirklich abgebrochen, die Verwaltung kann später sagen, sie hat ihm Mitteilung gemacht. Sie lassen ihn hier verfaulen, in einer abgelegenen Zelle. Alles in allem erschien es ihm sicher, dass der Streik fortdauerte. Er konnte nichts tun, als auf dem Boden liegen und denken. Zuerst hatte er Schmerzen gehabt, jetzt war er nur schwindlig und elend. Seine Gedanken hatten keine Kraft; kaum entstanden, zerfielen sie in einen rieseligen, flimmernden Staub von winzigen Erinnerungen. Er dachte an Anka, sie war vielleicht in diesen Tagen umsonst gekommen, an den blassen, kleinen, unfassbaren Mond in ihren Armen, Janek vergaß minutenlang, dass er vergangen war.
Aber Anka zerfiel in denselben bunten, feinkörnigen Staub, und dieser Staub vermischte sich mit dem Staub anderer Bilder und wurde etwas Neues, das ebenfalls zerfiel.
Am sechsten Tag wurde er ins Lazarett gebracht. Er erblickte gerade noch Dombrowski, der vorbeigetragen wurde, mit herunterhängenden Armen und grünüberzogenem Gesicht, als sei es mit Grünspan angelaufen. Janek dachte noch: Also doch alle. Er wehrte sich mit Händen und Füßen, dann wurde sein Kopf gepackt, seine Kiefer auseinandergedrückt. Zwischen den fluchenden, schwitzenden Aufsehern hantierte der Arzt mit grauem, kläglichem Gesicht, der Doktor Cink. Mit vor Angst und Widerwillen hervorquellenden Augen, aber immerhin vorsichtig, führte er die Röhre ein. Warum tue ich das? dachte er, aber schon ein Hundertstel weniger verzweifelt als bei Dombrowski, den man soeben an Janek vorbeigetragen hatte.
In einer Ecke seiner armseligen, nach Karbol und Zwiebel riechenden Wohnung wartete Anka. Der Doktor Cink versuchte, sie gleichzeitig zu trösten und loszuwerden. Er konnte sich auch nicht erinnern, welcher von den zehn oder fünfzehn Männern Janek gewesen war.
Die zweite Woche begann. Sie wurden täglich zur Ernährung ins Lazarett gebracht. Janek bekam Anweisung, weiterzuhungern. Dann bekam er Nachricht, dass Dombrowski schwer erkrankt sei. Janek selbst ging es auch schlecht, aber sein zäher, junger Körper hatte immer alles Schlechte überdauert. Janek konnte sich gar nicht vorstellen, dass er etwas nicht überdauerte. Am zwölften Tag bekam er Nachricht, dass Dombrowski gestorben sei. Der Schmerz machte Janek eine Zeitlang ganz klar, ganz frisch. In all den vielen Monaten hatte sich Dombrowskis dunkles, breites Gesicht nie verändert. Er war so vertraut gewesen mit allen Leiden und Schlägen, tief verwurzelt. Was hatten sie mit Dombrowski gemacht? Eine Glasröhre in den heißen, mutigen, wissensdurstigen Dombrowski, rohes Zeug hineingestopft, dass die Röhre geplatzt war und Dombrowski inwendig gerissen. Er dachte an Dombrowskis Frau, die er einmal flüchtig gesehen hatte, wie sie sich von dem Mann am Gitter verabschiedete, mit rauhen, verächtlich tröstenden Worten: „Es geht auch ohne dich." An diese finstere, magere Frau dachte er heißer als an die eigene junge, helle.
Er bekam Nachricht, weiterzuhungern.
Dann kam die Verwaltung in seine Zelle und teilte ihm mit, dass er sich fertigmachen müsste zum Abtransport. Es war der zwölfte Tag. Mit dem Abtransport war der Streik so gut wie verloren. Die einzelnen Gefangenen wurden nach verschiedenen Städten verlegt. Aber es kam keine Anweisung „Aufhören", und Janek hungerte weiter. Sobald er ins Freie gebracht wurde, fiel er um. Er wusste später gar nicht, wie er in die Eisenbahn gekommen war. Die Stöße zerstießen jeden Gedanken in betäubende, wirbelnde Staubwolken. Manchmal konnte er die Gestalten seiner Wächter, die dunkle, welke Ebene vor den Fenstern nicht mehr von seinen eigenen Bildern unterscheiden.
Janek kam in das entlegene Zuchthaus Posen. Der diesmalige Streik war endgültig verloren. Er hatte für die Betroffenen schwere Folgen. Sie erhielten das folgende Jahr keinen Besuch und keine Briefe.
Anka hätte gar nicht kommen können. Sie war inzwischen selbst verhaftet worden. Janek erfuhr es erst nach einem Jahr, nach seiner Entlassung. Er hatte sich auf Anka gefreut - als er jetzt nach Russland fuhr, hatte er vorher nicht einmal genau erfahren können, in welchem Gefängnis sie lebte.

 

Neuntes Kapitel

Auf dem von vielen Schritten zerwühlten und zertretenen Platz aus dem unregelmäßigen Viereck anstoßender Fabrikhöfe warteten etwa sechzig Frauen - mit Kindern, wie die Parole gelautet hatte. Die hellen, aber von Frost und Müdigkeit gedämpften Stimmen und das Gequietsche der Kinder gaben eine wunderliche Art von Lärm, gewöhnlichen Demonstrationen unähnlich. In allen Gesichtern spiegelte sich der Himmel, ein erbärmlicher grauer Frühhimmel. Die Schornsteine der toten, seit Wochen stillstehenden Fabriken trugen magere Schneekappen, ein wässriger Novemberschnee, der nie ganz auf die Erde herunterkam. Durch die engen, finsteren Gänge zwischen den abschüssigen Fabrikwänden kamen noch einige Frauen gegen den Platz gelaufen, mit vom Zugwind geblähten Tuchzipfeln. Die Dombrowski kam mit einem dicken Bündel, das jüngste Kind ihrer Schwester. Sofort hörte man ihre rauhe Stimme da und dort knarren. Der Zug begann sich in Bewegung zu setzen. Die beiden Frauen ganz vom spannten ihre Transparente. Wie sie auf die offene Straße kamen, trieb der Wind gegen den Stoff und warf eine der Frauen um. Der Ruck pflanzte sich durch den Zug fort, als sei das Transparent ein Segel, unter dem sie alle treiben oder kentern mussten. Die Frau richtete sich pustend wieder hoch, aber die Dombrowski stieß sie zornig beiseite, gab ihr das Kind und packte selbst die Stange, indem sie sie nach Männerart in die Hüfte stemmte. Der Strich zwischen ihren Brauen war so tief, dass es ihr selbst inwendig weh tat Im achten Bezirk kamen noch ein paar Frauen dazu. Die Männer standen in Gruppen unter den Türen und schrieen: „So ist's recht, macht's gut!"
Schweigend, bis auf das Quietschen und Lärmen der Kinder, mit ihrem einzigen Transparent, ohne Gesang und Rufe, mit federndem, gewöhnlichen Demonstrationen unähnlichem Gleichschritt zogen sie in das Innere der Stadt. Die Passanten gafften, winkten, schimpften. Diese verrückten Weiber. Sie sollen zu Hause bleiben. Sie werden nicht zum Vergnügen herumlaufen. Meiner würd ich was hinpfeffern. Aus der Ulskistraße kam Polizei „Schnell, aber schnell heim, ihr besessenen Weiber, eins zwei drei!" Sie rissen ein paar aus dem Zug, klopften mit lockerem Knüppel auf die Hinterteile. „Den Rest hol dir daheim." - „Aber jetzt marsch, da hast du eins aufs Maul, du Luder." Sie knüppelten und schlugen, aber es war doch eine Unstimmigkeit. Aus den zuströmenden Menschen kam ein Knurren. „Lasst sie doch. Wem tut sie was."
Die Dombrowski rief ihrer Gefährtin etwas zu, das Transparent straffte sich und stieß vor. Die Dombrowski drehte sich einmal schnell um. Weiße, gespannte Gesichter, aus denen helle und dunkle Blicke zu springen schienen. „Gib mal den Lappen her. Wirst bald den Lappen rausgeben." Man verdrehte ihren Arm, dass sie in den Knien nachgeben musste und sich stöhnend zusammenschraubte. Auf einmal war es um sie herum so still, dass man die Stange zerknacken hörte. Aber ihr Gesicht über dem breiten, vor Schmerz gekrümmten Körper blieb unverändert Sie richtete sich langsam auf. „Ah, du, dich kennen wir schon." -„Kennst du mich, um so besser." - „Willst du gleich dein freches Maul halten. Sag deinem Mann, er soll dir ein paar in die Fresse dazuhaun." - „Mein Mann ist krepiert im Mokotow. Städtischer Friedhof 108. Reihe, der dritte von links. Da kannst du sistieren, wenn du Lust hast."
„Na, na, na, na", sagte sie zu einem der Kinder, das unaufhörlich plärrte, „gib schon Schluss." Sie zog es hinter sich her, in die Menschen hinein, die sie anstarrten und ihr Platz machten und sich unwillkürlich schützend hinter ihr zusammenzogen. Jetzt sah es aus, als ob alles zu Ende sei. Aber in der Domgasse waren auf einmal alle wieder beisammen. Ehe die Polizei den Platz abgesperrt hatte, waren sie vor dem Stadthaus angelangt Die Dombrowski nahm der Frau das Kind ihrer Schwester aus dem Arm und legte es blitzschnell auf die Treppe. Im Nu war die ganze Treppe von zappeligen, heulenden Kinderbündeln bedeckt, sie streuten ihre Zettel darüber: „Gib ihnen zu fressen, Staat, wir haben nichts, gib du, lass sie saugen, Marschall." Die Frauen stoben auseinander, drängten sich unter die Menschen. Die Polizei knüppelte aufs Geratewohl und schrie und drohte: ,,Ihr gottverfluchten Weiber! Holt ihr wohl gleich eure Bälge ab!" Irgendwo aus der Menge schnarrte ein hartes, rauhes Lachen, als schleife man Eisen auf Stein.
Bis zum heutigen Tag hatte Janek rote Fahnen nur herauswachsen sehen aus dunklen, hartnäckigen Menschenmassen, im höchsten Augenblick, unter dem Geknatter von Schüssen. Oder in den schwachen Händen von Knaben auf der Spitze von Telegrafenmasten unter dem großen leeren Himmel über der drohenden Stadt.
Heute verzehrte die Stadt eine freudige Feuersbrunst. Auf den Dächern drehten sich Scheinwerfer und blendeten das Innerste der Stadt auf, das letzte Rot aus verborgenen Fenstern und Torbogen. Schon lag hinter ihnen der Kremlplatz, dunkel, fast einsam, während die Lebenden weiterstapften durch den Schnee, zusammengefroren mit ihren Fahnen, deren Tücher vor Kälte steif und massig waren. Von den Tribünen hinunter in die Masse, als schleuderten sie Steine von einer Brücke, warfen Redner die Parolen des Jahres, die Größe des sozialistischen Aufbaus, den Fünfjahrplan, die Einheit der Partei. Nur an dem helleren oder dunkleren Echo erkannte man, ob die Vorüberziehenden Männer, Frauen oder Kinder waren. Janek, sooft er „Es lebe" schrie, bekam einen eisernen Bissen Kälte zwischen die Zähne. Wie ein allzu niedriges Dach drückte die Kälte ihre Köpfe.
Neben Janek ging einer, das Gewehr über der Schulter, die Züge von Frost fast ausgelöscht. Janek dachte an Dombrowski. Der konnte nie so neben ihm gehen, das Gewehr über der Schulter, auf seinem dunklen Gesicht einen Schimmer von Genugtuung. Eine Tagereise hätte gelangt, und Dombrowski wäre unter dem hölzernen Torbogen auf der Grenze durchgefahren. Aber sein Leben war im Gefängnis zu Ende gelaufen, im letzten Jahre hatte es Zweifel und quälende Dispute gegeben, dann eine kurze Periode der Beruhigung, aus der er Kraft nahm, um den Hungerstreik bis zuletzt durchzuhalten: Glassplitter im Innern und gerissene Speiseröhre.
Später stand Janek allein im Dunkel einer Gasse. Der nächtliche Schnee gewann die Oberhand. Die Fahnen erloschen. Kleine Kolonnen kehrten mit ihren Gewehren und Transparenten in die Betriebe zurück.
Janek schloss sich einem Trupp an, Gassen auf und ab. Die Stangen der Transparente in den vom stundenlangen Tragen müden Händen schleiften eine Spur in den Schnee, in der die ganze Kolonne weiterzog. Das Band legte sich quer über die Brust der Träger, deren dunkle, schleppende Stimmen den Ton hielten, Stück eines Liedes, dessen Ende Janek in der Torfahrt verloren ging.
„Noch floss in Saporoshje das Blut, Da kam eine große Hungersnot, Die Menschen fraßen Erde statt Brot Im vierten Jahr der Diktatur.
Da reckte der Burshui seinen Hals, Die Krähen fingen an zu schreien: Die können nicht weiter, die krachen ein Im vierten Jahr der Diktatur.
Wir Arbeiter von Dzershinski Sawod
Aus dem Bürgerkrieg heim ohne Stiefel, ohne Brot,
Wir schnallten ab, wir heizten den Schlot
Im vierten Jahr der Diktatur."
Seit seiner Entlassung hatte Janek nichts mehr von Anka gehört. Er schrieb und schrieb, suchte und suchte. Es gab auch andere Mädchen, helle, gute Gefährtinnen. Aber mit Anka war er aus Freude zusammen gewesen, mit diesen nur, um nicht allein zu sein.
In Moskau ging er fast jeden Abend in den polnischen Klub nachfragen. Seine Freunde wussten schon, da ist Janek, fragt wieder. Wenn er dann nach dem abschlägigen Bescheid zu ihnen trat, war er schnell ausgewechselt, lustig, zu Späßen aufgelegt. Als einer mal seiner Frau den Arm um die Schulter legte, senkte Janek schnell die Augen, und der zog schnell seinen Arm zurück.
Zwei Wochen vor seiner Abreise kam er nachts in das Zimmer, das er mit Strochoff teilte. Der war noch nicht zurückgekommen. Janek war enttäuscht, er war nicht gern in einem Zimmer allein, er blieb wach und wartete. Jetzt hatte er nur noch zwei Wochen, vielleicht war ihm Anka schon verloren, wie seine Mutter und seine Schwester verloren waren. Vielleicht ist es überhaupt ganz falsch für mich - er drückte seinen runden Kopf gegen die Bettlade -, mich so an einen einzelnen Menschen zu knüpfen. Vielleicht ist es zum Schämen, dass mir das Kummer macht. Für solche wie mich ist es schlecht, sich an einzelne zu hängen. Vielleicht denke ich aber auch nur jetzt so, weil mir das Kummer eingebracht hat. Vielleicht ist es gerade für mich anders richtig. Strochoff soll schon endlich kommen. Aber er ist auch nicht der Richtige, um mit ihm darüber zu sprechen.
Nach einer Stunde traten Strochoff und noch zwei ein und forderten Janek auf, in den Klub zurückzukehren.
Es war lange nach Mitternacht, der Essraum war schon dunkel. Im Lesezimmer spielten ein paar verbissen Schach. Janek wunderte sich, warum sie bei seinem Eintritt aufhörten und ihn listig ansahen. In der Ecke auf der Bank schlief eine junge Frau unter ihrem großen Tuch. Umrisse einer weichen, runden Frau füllten das dicke Tuch, füllten die Lücke in Janeks Herz ganz aus. Er zupfte ein wenig am Tuch: in die Knie gezogene, runde wollene Beine. Es war gar keine unmäßige Freude, eine sanfte „Alles ist in Ordnung"-Freude. Er berührte ihr Gesicht, dicke rauhe Winterbacken. Er scheute sich, sie aufzuwecken. Die anderen hätten gern dieses Wiedersehen miterlebt, aber Janek wehrte ab: Geht heim, ihr, ich warte.


II
Der schneeweiße Kai von Aden verblasste. Es war nutzlos, immerfort in eine Richtung zu starren, die Küste war längst nur ein dünner Strich, das Ungewisseste vom Ungewissen, der Horizont. Sie rissen sich los. „Wir haben genau die Hälfte des Weges hinter uns," Sie gingen langsam, mit gesenkten Köpfen über Deck zu ihren Liegestühlen. Als sich Liau Han-tschi gegen das Meer kehrte, in diesem Augenblick fühlte er, dass er die Linie überschritten hatte, die das Heimweh von der Erregung der Nähe abtrennt.
Doktor Tsen war schon vor der Abfahrt in Marseille auf ihn zugetreten: „Genosse! Wir haben einmal zu dritt in Berlin gegessen, du, dein Bruder und ich. Wir haben, glaube ich, jetzt eine gemeinsame Kabine. Wir kehren unter sehr veränderten Umständen auf unsere Posten zurück."
Sie richteten ihre Liegestühle nebeneinander. Sie lasen die englischen Zeitungen, die sie am Abend in Aden gekauft hatten. Ihre Köpfe mahlten nebeneinander. Liau sagte: „Es ist soweit. Er hat die Gewerkschaftsführer in Kanton verhaften lassen. Es sieht so aus, als ob sie bereits ermordet sind." Tsen sagte: „Er wird glauben, dass diese Maßnahme notwendig ist" Liau las und las, zuweilen richtete er eine Frage an Tsen, aber dieser erwiderte immer nur: „Quäl dich nicht, wie willst du aus diesem Wust die Wahrheit herausfinden? Bald siehst du alles mit eigenen Augen."
Liau lehnte sich zurück. Jetzt hier oben am frühen Tag war die Hitze unermesslich, eine dickflüssige Substanz. Meer und Himmel schimmerten weiß, in einem engmaschigen Netz von flimmernden Kringelchen. Liau schloss die Augen. Wenn er nachdachte, dachte er nie an die Vergangenheit. Das letzte Jahr lag zu weit zurück, als dass es sich lohnte, Bilderchen zu flicken. Er dachte an die Ankunft. Wohin wird man mich schicken, werde ich brauchbar sein? Ich muss mehr schlafen. Ich muss ausgeruht ankommen, mit starken Nerven. Ob ich meinen Bruder noch sehen werde? Wenn ich noch zwei Monate dort bleibe - aber vielleicht schickt man mich gleich weiter. Wozu auch auf ihn warten. Keiner sieht keinen wieder.
Aber dann war es doch das alte Fenster auf den Hof, durch das er gezwungen war, die gegenüberliegende, von innen erleuchtete Werkstatt zu betrachten. Er sieht und sieht. Der Himmel über dem Hof ist noch blau, aber drinnen brennt Licht. Hinter seinem Rücken geht die Tür. Er hat keine Lust, sich umzudrehen, aber er tut es doch. Sein Herz bleibt vor Schreck stehen. Mitten im Zimmer sitzt der Doktor Tsen, er ist einfach hereingekommen und sitzt jetzt hier. Liau weiß nicht, warum das furchtbar ist. Aber furchtbar ist es, und sein Atem stockt. Das stimmt doch gar nicht, denkt er. Tsen ist abgefahren, wir sind beide abgefahren, aber Tsen sagt, er glaubt, dass diese Maßnahme notwendig war.
Liau seufzte, und Tsen drehte sich nach ihm um. Er beugte sich förmlich über ihn, betrachtete sein schlafendes Gesicht Wie jung er war. Man konnte hinter der dünnen Stirn die Gedanken zucken sehen. Tsen wurde nicht müde, das Gesicht zu betrachten, eine viertel Stunde, eine halbe Stunde. Drei, vier Grammophone plärrten durcheinander, zwischen Himmel und Meer. Der Rauch legte sich auf das Hinterdeck, die Luft schmeckte bitter. Zwischen den ächzenden Passagieren trieb ein rotkostümierter Junge sein Eiswägelchen und verkaufte Limonade und Früchte. Liau Hantschi richtete sich auf. Sein Hemd und sein Haar waren nass von Schweiß. Er stand auf und ging zum Geländer. Das Meer schien unbewegt, selbst der dicke, beständig knisternde Schaum der Turbine schien dem Schiff wie ein Flügel seitlich angeklebt. Drei Schüfe stocherten am Horizont herum, Himmel und Meer klappten hinter jedem einzelnen zusammen. Liau dachte an seine Abreise vor vier Jahren mit bitterer Reue: „Dann brauchte ich jetzt nicht anzukommen. Was für ein Unsinn, sich damit abzuplagen. Ich muss diesen Umweg aufholen." Tsen stellte sich neben ihn.
Sie hatten sich auf der Reise so aneinander gewöhnt, dass keiner den andern allein ließ. Liau drehte sich vom Wasser weg, und Tsen drehte sich auch weg. Er sagte: „Sieh mal, da drunten, die ist schön." Da lag eine, das kleine braune Gesicht auf einem Schweif von Haar, mit nackten, hochgezogenen Knien. Liau sagte zerstreut: „Wunder-, wunderschön." Tsen sagte: „Ob der kleine mickrige Kerl zu ihr gehört? Ist die aber schön. Warum fährt sie zweiter Klasse?" Einen Augenblick wunderte sich der Jüngere über Tsens Gesicht. Er beunruhigte sich flüchtig über ein so schnell auswechselbares Gesicht. Dann sagte er lachend: „Vielleicht ist sie geizig." Tsen seufzte, als ob er ohne den Jüngeren nichts anfangen könnte.
Abends, wenn die Hitze nachließ, wurde Tsen gesprächig. „Dein Bruder ist in Russland?" - „Er ist noch drüben, aber auch er wird bald zurückfahren." - „Hast du nicht zuerst nach Russland fahren wollen?" - „Nein, später, wenn ich daheim gearbeitet habe", er erklärte, Tsen hörte gespannt mit zu. „Du bist spät in die Bewegung gekommen, hast aber deine Stellungnahme beibehalten. Woher kommt das?" - „Das ist doch einfach, sobald ich unsern Kampf verstanden hatte, stellte ich mich mit beiden Füßen auf meinen Platz. Fängt man endlich an, nachzudenken, dann denkt man folgerichtig." - „Ich kenne deinen Vater aus früheren Zeiten. Er hat doch ein Landgut?" - „Man hat es ihm abgenommen und später wieder zurückgegeben. Er war Beamter, mein Vater, er hat viel verdient und von seinen Ersparnissen dieses Gut gekauft."
Sie gingen nach unten. Liau legte sich schlafen, und Tsen legte sich auch schlafen. Zuerst unterdrückte Tsen den Wunsch, sich vornüberzubeugen und das Gesicht des schlafenden Liau zu betrachten. Er blieb reglos liegen, mit zusammengepressten Lippen unter schwerem Gewicht. Dann, ratsch, warf er sich doch herum, blickte auf den Jüngeren. Der hatte das Gesicht nach Knabenart im Arm vergraben, so dass Tsen nur seinen Hinterkopf sah, bedeckt mit dickem, zottigem, auf der Reise unregelmäßig beschnittenem Haar.
Sie hielten in Singapore. Sie gingen ins Chinesenviertel. Vorkost der Heimat. Liau dachte: Fühlt er keine Erregung, oder verbirgt er sie? Die letzte Zeit ist er so schweigsam, als sei ihm sein Reisevorrat an Worten ausgegangen. Sie fuhren zum Dampfer zurück. Sie lagen nebeneinander. Einmal sagte Liau: „Wann wirst du von Kanton weiterfahren?" - „Das weiß ich noch nicht."
Um Malakka herumfahrend, zerschlitzte der Dampfer die letzten Breitengrade. Liau schwieg jetzt ganz, der Ernst der Ankunft lag auf ihm wie ein Abschied.
Sie kamen am Fünften in Kanton an. Sie räumten zusammen ihre Kabine. „Leb wohl, Genosse, besser hier als oben." - „Ja, leb wohl. Aber die Einfahrt dauert stundenlang, wir werden noch oben beisammen bleiben." Liau beeilte sich, heraufzukommen, Land, Hafen und Stadt schälten sich aus dem frühen Morgen. Er wusste nicht, wie lange die Einfahrt dauerte, bis ihm zu Bewusstsein kam, dass die Landung vorbei war. Tsen stand noch immer neben ihm.
Die Brücke war noch gesperrt. Aber Beamte liefen eilig an Bord in neuen, unbekannten Uniformen, die Liau wunderlich vorkamen. Tsen sagte plötzlich: „Bleib hier stehen, ich komme gleich zurück." Liau blieb stehen, sah auf den Hafen. Tsen kam mit zwei Beamten zurück. „Im Namen der Nationalregierung, Sie sind verhaftet."
Tsen wollte so schnell wie möglich fortgehen, aber er ging nicht fort, sondern blieb stehen, so lange er noch einen Schimmer von Liaus Gesicht erblickte - unsagbares Erstaunen. Als sie Liau Han-tschi über die Brücke führten, blieb er dicht hinter ihnen, bis Liau als erster den Boden ihres Heimatlandes betreten hatte, zwischen seinen beiden Begleitern, an deren Handgelenke die seinen mit eisernen Ringen befestigt waren.


III
Katarina Bordoni trat in den Hof, nasses Zeug klatschte ihre Backen, sie legte den Kopf zurück, um zu sehen, ob der Himmel auf ihre Wäsche regnen würde. Der Himmel war über das Hofviereck gespannt wie ein feuchtes weißliches Laken. Sie hielt ihren Bauch zusammen und ging ins Haus. Sie konnte nicht verstehen, warum die Geburt nicht anfing. Sie hatte schon viermal alles gewaschen und viermal war alles verdreckt.
Drin im Zimmer saß der Patron auf seinem Schusterhoeker und schwätzte mit den Kunden durch das Kellerfenster; über seinem Kopf hing der Vogel in seinem Käfig. Hinter dem Tisch saß der Schlafbursche vor seinem Teller und seinem Weinglas; außerdem gab es noch im Zimmer eine Katze und ein paar Kinder, Katarinas eigene und die des Patrons. Alle diese Lebewesen hasste Katarina Bordoni, und sie hätte jedem einzelnen etwas Schlechtes zufügen mögen. Sie wollte aufräumen, langte nach ein paar Sachen und stopfte sie wieder an ihre alten Plätze Schließlich setzte sie sich auf ihren Korb, das einzige, was sie diesem Zimmer besaß, ihren Korb mit ihren Sachen aus Bordesiglio.
In der Tür erschien ein Mann, aber nicht ihr eigener, sondern Pali. Die Frau erhob sich so schnell, als hätte ihr Bauch seine Schwerkraft eingebüßt. Der Patron drehte sich herum, und die Kunden hängten sich durch das Fenster in das Zimmer. Der Schlafbursche stellte sein Glas hin und freute sich auf das lustige Geschimpfe.
Die Frau stellte sich vor Pali hin und fragte: „Was willst du denn?"
„Wo ist Bordoni?"
„Der ist noch nicht da, was willst du denn?"
Pali konnte die Frau nicht leiden, erwiderte kurz: „Ihn abholen, zur Demonstration."
Die Frau kam einen Schritt dichter heran, der Schlafbursche hinter dem Tisch freute sich: jetzt kam's. Aber die Frau war zu erschöpft, um zu schimpfen, sie erwiderte leise: „Ich sage dir jetzt zum hundertstenmal, dass er gar nicht da ist." Da drehte sich Pali um und ging hinaus auf die Gasse, um Bordoni an der Ecke abzupassen. Die Frau setzte sich wieder auf ihren Korb und blieb sitzen wie aufmontiert. Das Zimmer füllte sich mit schwatzenden und schimpfenden Menschen. Es wurde Abend. Über dem Tisch ging die Lampe an, die Frau des Patrons richtete Abendessen her und schimpfte, weil Frau Bordoni nicht mithalf.
Aber die blieb auf ihrem Korb sitzen wie auf einer Insel, als sei sie nur dort in Sicherheit. Es gab Lärm und Gelächter und Klappern, der Schlafbursche spielte Harmonika, Kinder, die vielleicht ihre eigenen waren, schrieen und zerbrachen etwas, und die Frau des Patrons kam zweimal dicht an den Korb und schimpfte, weil Frau Bordoni sich nicht um die Kinder kümmerte. Sie wollte aufstehen, aber ihr Bauch zog zu sehr, da blieb sie einfach sitzen, und die Kinder und überhaupt alle Menschen im Zimmer wurden von selbst still und flach. Die Lampe war aus, die Frau krümmte sich auf ihrem Korb zusammen und wartete. Schlecht war alles, seit Jahren wurde es immer schlechter und unverständlicher, aber Pali war von allem das Schlechteste. Wenn einmal in einem Monat nichts besonders Schlechtes da war, dann kam dieser Pali, setzte sich zu ihrem Mann, und die beiden heckten miteinander etwas neues Schlechtes aus. Pali hatte an allem schuld, an der Partei, an dem Herumgeziehe, an ihrem Mann, an allem. Alles hatte angefangen, als sein rundes, weiches Gesicht hereingeplatscht war in ihr ordentliches Zimmer in Bologna. Wenn Bordoni nicht mit der Demonstration gegangen wäre, dann hätte er längst hier sein müssen. Aber Pali hatte ihn bestimmt abgepasst. Die Frau dachte, dass sie auf die Gasse hinausgehen wollte, um ihn wenigstens jetzt abzupassen, aber ihr Bauch hielt sie auf dem Korb zurück, nur in ihrem Kopf lief und lief sie, sie hörte ihre eigenen Schritte hinter ihrer Stirn die Gasse hinauf und herunter hallen.
Die Menschen unter den Decken schnauften und raschelten, ihr Schlaf war schon nicht mehr so dicht, die Frau verstand, dass Bordoni nach der Demonstration nicht heim, sondern in irgendeine Versammlung gegangen war. Aufstehen wollte sie nicht, aber sie wusste auch nicht, was sie mit ihrem Kopf machen sollte. Wie müde wird sie morgen sein. Am liebsten hätte sie das neue Kind, das noch gar nicht da war, tief in sich hineingestopft in ihr Allerinnerstes, dass es gar nicht mehr herausfand, und die Kinder, die schon da waren, dazu. Jetzt wurde es schon hell. Katarina verstand, dass irgend etwas geschehen sein musste.
Am nächsten Morgen erschienen zwei Fremde an der Tür und fragten nach der Familie Bordoni. Katarina auf ihrem Korb erwiderte: „Ich." Sagte der eine, was der andere übersetzte: „Wir haben die Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Mann gestern abend bei einer Demonstration festgestellt wurde und dass Sie Frankreich innerhalb vierundzwanzig Stunden verlassen müssen." Katarina erwiderte ruhig, nun da sie alles wusste: „Aber das kann ich ja gar nicht." Übersetzte der andere: „Sie können natürlich ein Gesuch einreichen, aber wir machen Sie darauf aufmerksam, dass es zweckmäßiger für Sie sein wird, sofort mit Ihrem Mann zu fahren."
Als die Fremden gegangen waren, stand Katarina von ihrem Korb auf und trat in den Hof. Sie nahm drei, vier Wäschestücke ab, aber dann besann sie sich anders, hängte die Leine rechts und links ab und rollte alles in einem nassen Bündel zusammen. Böse Fragen der Patronin und der Nachbarin schnickte sie einfach weg mit ihren beiden Schultern. Dann rief sie die Kinder zusammen, machte eins nach dem andern fertig und setzte sie nebeneinander auf den Korb. Die Wäsche rollte sie in ihre Schlafdecke.
Am Nachmittag nach der Arbeit kamen Genossen, auch Pali kam, und halfen ihr, die Kinder und die Sachen an die Bahn bringen. Um sechs Uhr kam Bordoni auf den Bahnsteig in Begleitung eines fremden Mannes. Er reichte allen die Hand und lächelte, ihm war alles eins, nur der Anblick der Frau und der Bündel störte ihn, vielleicht hätte er im tiefsten Herzen nichts dagegen gehabt, wenn die Frau in irgendeinem Spital hängengeblieben wäre.
Der fremde Mann, der den Auftrag hatte, bis Maubeuge mitzufahren, setzte sich ihnen im Abteil gegenüber. Bordoni verstaute den Korb und das Bündel im Netz, breitete die Decke auf dem Boden aus und legte die Kinder darauf. Er stellte den Schirm über das Gaslicht, aber bei jeder Station schüttete die Stadt noch so viel Licht und Lärm durch die Fenster, dass die Kinder erschraken und aufwachten. Endlich hatten sie das Weichbild von Paris verlassen, und die einbrechende Nacht war nur noch von den Lichtern der Bahnwärterhäuschen punktiert. Die Frau saß gerade da; mit beiden Händen zog sie den Rock über ihrem Leib glatt, als könnte das Kind dann besser durchsehen, alles Schlechte genau betrachten.
Die letzte Zeit hatte sich Bordoni überhaupt nicht um seine Familie gekümmert. Sie waren so schreckliche Gewichte an den Füßen, in allem, was er für die Partei unternahm. Aber der Anblick dieser auf dem Boden eines Abteils schlafenden Kinder irgendeines Genossen, ihr im Gaslicht grünliches, im Rattern des Zuges zitterndes Fleisch erfüllte ihn mit verzweifelter Zärtlichkeit. Auf einmal sagte die Frau mit neuer, harter, ganz veränderter Stimme: „Wohin fahren wir eigentlich?" Der Mann sah sie schnell an, ihr Gesicht war wie die Stimme: neu und hart. Der Mann erwiderte: „Nach Belgien." Die Frau fragte: „Was ist das für ein Land?" Der Mann erwiderte: „Ein Land wie alle andern Länder."
Die Frau legte ihm eine Hand aufs Knie. Der Mann wunderte sich, nahm Katarinas Hand von seinem Knie weg und legte sie in seine andere Hand. Zwar war es nicht Liebe, aber mehr.


IV
Der Nebel war dicht. In den dicken grauen Schwaden, die die Prutka von Osten nach Westen erfüllten und, von Talwind gebläht, wie Riesenmähnen um den Ködesch und die Drei Schwestern standen, verlor sich das einzige winzige Licht der Dorfschenke. Aber die Leute, die in der Hütte herumlagen, kamen, von diesem Licht angelockt. Und geblendet senkte der Mann die Lider, der eben, triefend von Nebelnässe, nach langer Wanderung in die Tür trat. Er taumelte, lehnte sich an den Türbalken. Er öffnete den Mund, aber es kam nur Nebel heraus. Die Männer fingen an, ihn zu erkennen und, erwachend aus ihrer düsteren Tätigkeit, riefen sie ihm zu: „Dimoff, bist du das? Wo bist du all die Zeit über gewesen?" Dimoff stülpte langsam seine Mütze ab, trat über die Bauern weg an den Ofen, langte danach. Der war kalt, aber er lehnte sich doch daran. Er sagte: „Ich bin über die Halden gekommen. Ich suche da im Nebel herum und suche und suche und finde nichts. Da bin ich mal zu euch herüber." - „Was suchst du denn?" - „Seine Hütte." Sie schwiegen. Dimoff fühlte ihre schmalen, scharfen Blicke auf seinem Gesicht, kreuz und quer, wie Schnitte. Schließlich sagte einer: „Da kannst du lange suchen. Morgen, wenn es hell wird, geh mal hinauf, da liegt viel Geröll vom Ködesch. Da kannst du dir die Steine von Stojanoffs Hütte herausklauben. Was da noch an Erde ist von Stojanoffs Stück, das hat man zum Gemeindestück gelegt. Den haben sie doch damals erschlagen, als es bei uns losging, da war er der allererste, den sie totschlugen." Dimoff sagte: „Sie haben Stojanoff totgeschlagen?" Er rieb seinen Hinterkopf am Ofen.
Seit seiner furchtbaren, gelungenen Flucht war Dimoff nicht mehr auf die Holzplätze gegangen, geschweige denn in die Stadt. Die zweite große Welle der Verfolgungen hatte ihn in sein entlegenes Heimatdorf zurückgeschwemmt, in die Dunkelheit, aus der er gekommen war. Dann war vor einigen Tagen jemand bei ihm gewesen, hatte ihn aufgefordert, wenn irgend möglich, herunterzukommen. Gewiss war es möglich, und gewiss kam er -er brach auf, als hätte er nur dieses äußeren Anstoßes bedurft, um ihn wachzurütteln. Stojanoffs Tod erregte ihn, aber verstörte ihn nicht - als sei für ihn selbst durchlebt, was er gefürchtet hatte, so deutlich war Stojanoff, sein struppiges Stirnhaar, sein Hund. Sie redeten über den teuren Toten und waren daran gewöhnt.
„Sein Weib und sein Sohn - mögen sie lange auf dieser Erde leben bleiben - sind nach Banja zur Verwandtschaft. Damals, als sie den Stojanoff schlugen, war Dudoff durchgekommen. Er war aus dem Kerker in die Berge gesprungen. Sie hatten ihm seine beiden Hände in eine Eisenstange gesperrt. Er aber hat mit dieser Stange seine Tür eingedrückt, die Wächter niedergeschlagen und ist in die Wälder gelaufen. Da ist er nachts in die Waldschmiede des Schmiedes Dimo gekommen, an der Brücke am Ornoflüßchen, dieser Dimo hat ihm die Stange abgenommen, Dudoff hatte einen Vorsprung, war die Nacht über bei Stojanoff versteckt - wir wussten es nicht, wahrscheinlich ist er gar nicht über die Prutkastraße gekommen, sondern oben herum. Seitdem hält er sich hier in der Nähe verborgen - in Banja heißt es, dicht bei uns. Er ist auch hier sicher, so sicher er in diesem Jahr sein kann. Man kann sogar sagen, dass er aufgehoben bei denen ist, die sonst der Partei den Hintern hinstrecken und von nichts gehört haben und nichts hören wollen. Das haben sie doch gehört und begriffen in ihren Nußköpfen, dass das, was Dudoff getan hat, auf sie gegangen ist. Da kann man manchen finden, der gewöhnlich nicht das Schwarze unter dem Nagel umsonst hergibt, aber für Dudoff, wenn er eine Nachtherberge braucht, alles, was Stojanoff gegeben hat."
Dimoff schien kaum mit zuzuhören, sein Gesicht blieb dunkel. Er beschloss, den Umweg über Banja zu machen, um Stojanoffs Frau und Kind wieder zu sehen. Im geheimen hoffte er dabei, Dudoff zu treffen. Ein einziges Mal hatte er Dudoff gehört, am Ausgangspunkt seines jetzigen Lebens, vor vielen Wintern auf dem Holzplatz; damals hatte er zuerst eine klare, eindeutige, ihm vollkommen verständliche Antwort auf alle Fragen bekommen, sogar auf solche, die er in seiner Armut an Brot und Worten noch gar nicht gestellt hatte. Er wünschte sich, Dudoff zu hören, ja sehnte sich danach, in seinem finsteren, von Verfolgungen und Drohungen eingeschnürten Herzen.
„Warum gehst du schon?"
„Ich muss."
Dimoff stieg vorsichtig über die Bauern weg, die auf dem Boden um den Ofen herum lagen, als könnte er, wenn man nur lange genug wartete, doch noch Wärme geben.
„Warum seid ihr alle noch hier?"
„Zurückgeschickt — die alten Stapel lagern noch. Der Winter fängt erst an - wenn unser Dorf vom Ködesch herunterfällt, merkte es niemand."
Als Dimoff hinausging, war die Nacht über den Bergen fast klar. Der Nebel hatte sich in den Tälern gesetzt, ein dicker, glänzender Schaum, aus dem die Bergspitzen wie Hügelchen heraussahen. Dimoff suchte und fand den Weg, den ihn das Kind im vorigen Herbst geführt hatte. Damals hatte er nicht geglaubt, dass er den unvorstellbar schrecklichen Weg noch einmal, ja bis zu Ende gehen könnte. Er war bereits über dem Westabfall, aber der Abgrund war gar nicht fühlbar, weil er mit dickem Nebel ausgefüllt war, mit so fester, gleichmäßiger Oberfläche, dass sich die drei Schatten der Schwesternberge darauf abbildeten. Neben Dimoff her bewegte sich über die ganze Nebelfläche der Prutka ein ungeheurer Schatten, vor dem ihm gegraut hätte, wäre er nicht an einer Stelle an seine eigenen Füße gekettet.
Er kletterte das alte Bachbett hinunter in dem Nebel. Aber unversehens, als breite sich der neue Tag wie ein Feuer von unten aus, glühte hier und da das Eichenlaub in den Bergfalten.
Als Dimoff nach Banja kam, musste er erst jemand wecken, um nach der Witwe des Stojanoff zu fragen. Der Hund des Geweckten bellte, alle Hunde bellten, als Dimoff den Weg hinunterging, den zögernden Tag mit seinen Schritten anfeuernd. Die Hütte, die er suchte, war zwischen die übrigen Hütten geklemmt, die, durch den Bergabfall gezwungen, eine lange Gasse bildeten. Dimoff erinnerte sich, dass der Bauernbund hier nach dem Krieg festen Fuß gefasst hatte, bevor Stojanoff und die anderen zur Arbeit herüberkamen. Jedenfalls war es ein aufgeschlossenes Dorf, Banja, das sich jetzt bellend und schimpfend an den frischen Tag machte.
Dimoff klopfte, eine kleine Frau öffnete; Strohhalme steckten in ihrem vom Schlaf verwirrten Haar. Sie packte ihn am Gürtel, sah ihn von unten nach oben an. In ihren Augen gingen kleine helle Punkte an, erloschen wieder. Beide sagten nichts. Die Frau ging voran - so wenig Schritte Dimoff hinterherfolgte -, schon umwehte ihn, ihm das Wasser im Mund zusammenziehend, der Geruch von angebratenem Hammelfleisch. Die Frau rief: „Andreas!" Der Knabe torkelte, wurde gleich wach, als er Dimoff erkannte. Auch er fasste ihn am Gürtel, auch in seinen Augen gingen kleine Lichter an, aber sie blieben. Sie betrachteten einander lächelnd. In den Augen des Mannes hatte sich alles, was sie gesehen hatten, im Grund festgesetzt, ein dunkler Bodensatz. Aber die Augen des Kindes waren klar geblieben, ins Bodenlose war alles gerutscht, als sei die kleinere Stirn die tiefere.
Nach und nach standen alle auf, gaben ihm die Hand und setzten sich. Stojanoffs Frau schien in ihrer Verwandtschaft gut aufgenommen. Man merkte es an der Art, wie sie jedem die Schüssel hinrückte und ein Wort dazugab, jedem für seine Tagesarbeit. Niemand zeigte Erstaunen, dass dem Gast reichlich gerichtet wurde. Die Frau mochte wohl ihren Grund haben.
Seit Dimoff in dieser Stube war, erwartete er etwas Besonderes. Er sah sich rundum. Aber unter den bräunlichen, gesenkten, kauenden Gesichtern war keins, das Dudoff sein konnte. Bald gingen alle fort, auch Andreas ging, zwei leere Säcke schleifend.
Die Frau brachte noch einmal Brot und, auf einen kleinen Spieß gereiht, ein paar Brocken fertig geröstetes Fleisch. Sie setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn genau.
Dimoff sagte: „Dudoff ist doch hier in Banja. Wo ist er?"
„Nein, wieso denn? Er ist nicht hier."
„Du weißt es vielleicht nicht"
„Du bist ja - wenn es jemand weiß, weiß ich's. Bestimmt nicht."
„Dort oben haben sie gesagt -"
„Ah, von dort kommst du -"
In ihren Augen gingen helle Punkte an, gingen aus. Sie stand auf, holte frisches Brot. Sie merkte wohl, dass sich Dimoff Gedanken machte, über irgend etwas sehr enttäuscht war. Sie füllte seinen Teller noch und noch.
„Lass nur -"
„Lass doch, Dimoff, lass mich. Haben wir dir unser Blut gegeben, können wir dir auch ein Stück Brot dazugeben."
„Wie?"
„Kaum warst du fort. Kaum warst du fort. Keine zwei Stunden danach."
Dimoff rieb und rieb mit den Zähnen, ja, diese Mahlzeit musste er essen bis auf den letzten Bissen.
„War es nicht, als Dudoff durchkam?"
Da sagte die Frau ärgerlich: „Dudoff. Was hast du mit ihm? Niemand weiß, wo er ist. Er ist vielleicht längst außer Landes. Er war längst nicht mehr bei uns durchgekommen. Nur du warst durchgekommen."
Dimoff tunkte auch noch das Fett von seinem Teller mit einer Brotrinde. Alles schmeckte wie Sand. Die Frau fuhr fort, ihn zu betrachten.
Er dachte nach. Er sah sich um, als hätte er plötzlich einen Punkt erreicht, von dem er den zurückgelegten Weg besser übersehen konnte.
Er sah sich selbst als Kind rittlings auf einem Balken das Ornoflüßchen heruntersausen, kreischen vor Angst und Freude, bestürzt und glücklich über das Wasser, und weil er zum ersten Mal spürte, dass er etwas war, das sich vom Wasser, den Balken, der Luft und den Bergen abhob. Sein erster Gang auf den Holzplatz. Verwundert und enttäuscht hörte er das Echo seiner ersten Hiebe, schwach und mager gegen das Echo seiner Brüder. Lange hielt er diese Axthiebe zu den Bergen gehörig wie Schnee und Nebel und Wasser. Bis er verstand, dass es eine Stelle gab, wo alle gezählt und keine vergessen waren, die im Herbst rot brennenden Eichen und seine Axthiebe: das Notizbuch in der Tasche des Lagerverwalters drunten bei den Sägewerken. Wie hatte er damals in der Wildheit der Heimkehrnächte den verächtlichen Lohn in einer Stunde ausgestreut! Lange hatte er aus seiner Erbitterung nichts anderes machen können als noch härtere Axthiebe, nicht zu seinen Gunsten. Man hatte ihm Worte gesagt und Zettel in die Hand gedrückt, aber seine Stirn war dumpf und ungepflügt, da ging noch nichts auf. Dann war Dudoff heraufgekommen, er hatte die Partei in ihrer Stärke vor ihn hingestellt, in der nur eine Lücke war, wo etwas Wichtiges fehlte: er selbst. Er hatte auf den Holzplätzen gearbeitet, dann war er ins Sägewerk gegangen. Dort hatte man ihn geheißen zu streiken vor den Bajonetten der Goneff-Soldaten.
Dimoff sah zurück und betrachtete voll Ehrfurcht sein eigenes Leben. Die Frau betrachtete Dimoff.
Aber dann war es doch gut, dass Andreas zurückkam, weil die Spreu in den Säcken gleich für den Stall gebraucht wurde.
Dimoff legte ihm die Hand auf den Kopf. „Warst du schon einmal in einer Stadt? Willst du mit mir gehen?"
In der nächstfolgenden Nacht lag Andreas zusammengerollt auf einem Plüschsofa in der verrauchten Stube hinter Mileffs Werkstatt.
Am Tisch saßen fünf oder sechs Männer in einem Spinnweben aus Rauch. Manchmal schreckte Andreas auf, aber er merkte, dass Dimoff noch immer dasaß, und schlief weiter. Im Schlafen und Wachen, wie Kerben in einer Rinde, mitwachsend, wenn der Baum wächst, schlugen in Andreas' Herz die Worte, die drüben gesprochen wurden.
In Moskau reden die teuren Gräber vor dem Kreml von der Vergangenheit, die rauchenden Schornsteine von der Gegenwart, die leuchtenden Zahlendiagramme über den Toren von der Zukunft. Es musste wohl noch eine vierte Zeit geben, da Dudoff an keiner von diesen drei Zeiten Anteil hatte.
Jetzt war er in Moskau, junge Genossen gaben ihm die Hand, zeigten ihn einer dem andern. „Das ist Dudoff", und die Blicke, mit denen sie ihn betrachteten, erfüllten sein Herz mit Bitterkeit.
Er ahnte, dass er stehen geblieben war und sich nicht mehr vorwärtsbewegt hatte seit seiner letzten Verhaftung vor vier Jahren, dass seine Kraft endgültig erschöpft war. Wenn er jetzt noch einholen sollte, was er verloren hatte, dann musste er eine Anstrengung aufbringen, gegen die alle früheren Anstrengungen seines Lebens eine leichte, spielerische Bewegung waren. Das allergefährlichste aber war, dass niemand eine solche Anstrengung von ihm verlangte. Vielmehr schienen alle zu denken, dass es ganz berechtigt sei, wenn er verbraucht und erschöpft war. Nur er allein begriff nicht, dass aus seinem Leben nichts mehr zu holen sein sollte,


V
Als Steiner eines Abends, in sein Zimmer eingeschlossen, darüber nachdachte, dass er sechs Jahre in dieser Stadt lebte, dass er ein regelmäßiger Mitarbeiter der „Monatshefte", Verfasser überall besprochener Aufsätze war, dass er inzwischen geheiratet, eine eigene Wohnung und einen Kreis von Freunden und Bekannten und sichere Aussicht auf eine Dozentur hatte, wurde seine Verzweiflung so groß und ratlos, dass er in diesem Augenblick keine andere Hilfe wusste als einen Brief an seinen ehemaligen Freund Bató.
Er schrieb folgenden Brief:
„Lieber Doktor Bató. Sie werden erstaunt sein, nach so langer Zeit von mir zu hören. Es ist für mich unzweifelhaft, dass Sie zu jenen seltenen Menschen gehören, an die man sich instinktiv, ich möchte fast sagen schamlos, in wirklichen Notlagen wendet. Ich zögere deshalb nicht, Sie um Rat anzugehen, ungeachtet der verschiedenen Haltungen, die Sie und ich in den letzten Jahren dem Leben gegenüber eingenommen haben und, wie ich gleich hinzufügen möchte, immer einnehmen werden. Denn nach wie vor ist mein Standpunkt derselbe, der er war zur Zeit unserer Wiener Gespräche. Und ich bitte Sie, ihn zu achten, so, wie auch ich den Ihren achte.
In den Jahren, die ich hier lebe, habe ich eigentlich an Tatsächlichem nichts Schlechtes erfahren. Ich habe Freunde, eine gute Frau. Eine feste Stelle habe ich nicht gesucht und nicht gefunden. Doch kann ich nicht leugnen, dass die Depression der letzten Jahre allmählich zu einem Zustand geführt hat, den ich selbst als krankhaft empfinde. Ich arbeite fortwährend, aber ich sehe das Wozu dieser Arbeit nicht mehr ein. Ich komme mir vor wie ein Offizier auf einem Wrack, das in einigen Tagen untergehen wird, während er seine gewohnten nautischen Beobachtungen in das Schiffstagebuch einträgt, ausgezeichnete, scharfe Beobachtungen. Unsere furchtbaren, mit soviel Leid und Mut verbundenen Anstrengungen haben gegen die Schwerkraft der Geschichte - darf ich sagen Naturgeschichte - nichts ausgerichtet, und im Grunde ist nichts Besonderes geschehen und wird nichts Besonderes geschehen; denn die Umorganisierung eines Riesenreiches im Osten mag für den reinen Historiker ein grandioser Anblick sein, unsrer Sinnlosigkeit hat sie keinen Sinn gegeben und unsrem geistigen Leid kein Ende bereitet, und wird schließlich nichts anderes gewesen sein als irgendeine Form der staatlichen Zusammenfassungen, eine der zahllosen Möglichkeiten, in einem Netz zu zappeln. Aber solche Betrachtungen sind nicht der geeignete Stoff für einen Brief. Ich bitte Sie daher, und schöpfe das Recht zu meiner Bitte aus der gemeinsamen Vergangenheit, mir einen Tag und einen Ort anzugeben, damit wir uns aussprechen können."
Briefe dieser Art habe ich zuletzt mit siebzehn Jahren geschrieben. Macht nichts. Es war schon spät. Aber Steiner machte seinen Brief fertig und trug ihn an die Bahn. Sooft er durch die Sperre ging, erschien ihm der beste Ort in der Stadt dieser leere, zugige Bahnsteig. Ich habe hier nichts zu versäumen und hätte ebensogut gleich zu Bató fahren können. Wie wird er wohl wohnen. Krank, erschöpft, mit Frau und Kindern in einem unmöglichen Zimmer. Aber wenn ich vor ihm sitze, wird er mich mit aufmerksamen Augen - endlich ein Mensch mit aufmerksamen Augen - anblicken. Nachdem Steiner den Brief eingeworfen hatte, war er bereits ruhiger.
Er wartete, aber er bekam keine Antwort. Er schämte sich nicht, dass er geschrieben hatte, aber er verachtete Bató wegen seiner Gleichgültigkeit und seines Hochmuts.
Zwei Wochen vergingen, drei Wochen. Auch in der eigenen Wohnung waren die Mittage schlecht. Er war schläfrig, eine süßliche, traurige Schläfrigkeit. Er hörte auf einmal die Uhr ticken, sie tickte und tickte, es war, als tropfe die Zeit in schweren, hörbaren Tropfen.
Seine Frau kam herein - ob es etwas zu diktieren gäbe? Ihr schönes, ernstes Gesicht war vor Jahren aus seinem festen Rahmen von Fremdheit herausgetreten. Er hatte es geküsst. Dann war
es wieder in seinen festen Rahmen von Fremdheit zurückgekehrt.
Er sprang auf, rannte beinah in die Stadt. Auf der gewohnten Straße war ihm leichter. Er sah in die Konditorei, ob Robert schon dasaß. Er saß noch nicht da. Also setzte sich Steiner auf seinen Platz und wartete. Robert kam auch wirklich mit zwei Aktenmappen voll Manuskripten für die „Monatshefte". Steiner wäre am liebsten sitzen geblieben, es war aber richtiger, seine Trägheit zu überwinden und seine Arbeitszeit einzuhalten. Im Lesezimmer brannten die Lämpchen schon. Junge und alte Gesichter, alle waren grünlich und verbissen, als hätte man sie in diesen Saal zu einer grausamen, sagenhaften Prüfung eingesperrt, und jeder löste für sich erbittert seine Aufgabe. Steiner widerstrebte es, sich dazwischenzusetzen. Er arbeitete auch nicht, sondern stellte sich, als ob er arbeitete. Er ging frühzeitig zu Mautner. Dort oben um den großen Tisch war es leichter. Mautner kannte ihn jetzt so gut, dass er ihm die Hand gab und nach Einzelheiten seiner Arbeit fragte. Steiner beteiligte sich lebhafter als sonst. An Mautners Tisch war er geborgen. Seine Zweifel wurden geduldig angehört. Sein Widerspruch stieß nicht ins Leere. Er bekam auf Fragen sogar Antworten. Es tat ihm leid, dass die zwei Stunden zu Ende gingen.
Später, auf dem Heimweg, vergaß er minutenlang, dass ihn kein leeres Zimmer erwartete, sondern die Frau. Er kam an Mautners Haus vorbei. Der stand auf der Treppe und zerrte an dem gelben Messingknopf, denn er hatte den Schlüssel vergessen. Steiner wartete mit ihm, bis eine alte Person kam und aufmachte. Mautner forderte Steiner auf, mit hereinzukommen. Vielleicht war dieser Abend für alle gleich - er hatte einen Rest, den niemand gern allein schluckte. Daheim war Mautner anders, geschwätzig, zutunlich. In seinen dunklen, unübersichtlichen Räumen glänzte da und dort eine Bilderleiste, ein Bücherrücken. Wenn er, um das, was er sagte, zu bestätigen, ein Buch herauslangte, dann ging das so schnell, als kämen die Bücher auf einen Zuruf gesprungen. Steiner fühlte sich gut, müde.
Mautner sagte: „Sie hätten gewiss ohne mich einen vergnügteren Abend gehabt. Aber das Alleinsein tut weh, womit man uns alte Leute in den Tod eingewöhnen will. Aber ich will mich nun einmal nicht eingewöhnen lassen."
Steiner sagte: „Halten Sie mich für jemand, der auf vergnügte Abende aus ist?"
Die Haushälterin brachte Mautner Tee und geröstetes Weißbrot. Steiner vergaß zwischendurch, dass er zu Gast war, stand in einem Anfall von Unruhe auf, hob den Vorhang und warf einen Blick auf die kleine stille, von zwei Laternen kaum erhellte Straße. Mautner beobachtete ihn lächelnd: „Bleiben Sie doch bei mir sitzen; sie hat sich nicht verändert, die Straße, bestimmt nicht."
Er erzählte von der Vorkriegsuniversität; sie fragten einander nach der neuen Shakespeare-Biographie, nach Scheler, nach Amerika, nach Sacco und Vanzetti.
„Warum ich den Protest nicht mit unterschrieben habe? In gewissen Zeiten werden einzelne Menschen zum Sinnbild der menschlichen Ungerechtigkeit schlechthin. Giordano Bruno oder Christus oder Sokrates - mit oder ohne Protest, mit oder ohne Unterschriften."
„Was mich selbst anbelangt", in Mautners Gesicht war jetzt keine Spur mehr von einem Lächeln, „so verschanze ich mich hier jeden Abend gegen den Tod hinter meinen Bücherrücken."
(So verschanzt, so fest möchte auch ich einmal dasitzen, dachte Steiner.)
Er begriff auf einmal, warum Mautners Hörsaal immer voll war, warum ihn Scharen unruhiger, zielloser Jugend aufmerksam anhörten.
Seine Geringschätzung schlug plötzlich in Hochachtung um.
Im Lauf der Jahre hatte sich das Bild ein wenig verschoben, das sich Mautner am ersten Seminarabend von Steiner gemacht hatte. Seine Abneigung schwächte sich, je mehr er sich an Steiners Gesicht, an seinen höflichen, die Seminare belebenden Widerspruch gewöhnte. An diesem Abend vergaß er das alte Bild vollkommen und schloss Steiner aufrichtig in sein Herz. Steiner lud den alten Mann in seine eigene Wohnung ein. Mautner wiederum lud Steiner kurze Zeit später zum zweiten Mal ein, zusammen mit einigen seiner jüngeren Freunde, die er in regelmäßigen Abständen kommen ließ, aber immer in Abständen, als ob er seine Einsamkeit ebenso fürchtete wie hütete.

 

Zehntes Kapitel

Mehrere Wochen nachdem er den Brief an Bató geschrieben hatte, bekam Steiner plötzlich Nachricht, dass Bató ihn auf der Durchreise am Bahnhof erwarte. Bató hatte den Brief auf einer Reise nachgeschickt bekommen und sofort diesen Umweg beschlossen. Steiner konnte sich auf den Inhalt seines damaligen Briefes nicht mehr genau besinnen. Er bereute jetzt, ihn abgeschickt zu haben. Nur weil es keine Möglichkeit mehr gab zu telegrafieren, fand er sich zur verabredeten Zeit in der Bahnhofswirtschaft ein. Bató sah noch genauso aus wie früher. Seine Haltung und seine Züge verrieten ununterbrochene Überanstrengung. Seine ewig zuckenden Backenknochen stießen Steiner geradezu ab. Sein Unbehagen wuchs, als Bató seine Brille abnahm und ihn mit demselben übertrieben aufmerksamen Blick ansah, nach dem Steiner damals verlangt hatte. (Jetzt wird er gleich anfangen, mich zu „retten", dachte Steiner.) Er sagte: „Ich muss Sie um Verzeihung bitten, wenn ich Sie mit meinem damaligen Brief belästigt habe. Sie sind sicher großzügig genug, um eine Stimmung verstehen zu können. Es geht jetzt schon alles sowieso besser." Bató setzte seine Brille auf, erleichtert: „Um so besser."
(Er ärgert sich, dachte Steiner, dass ich seine Rettung nicht brauche.)
„Solche Stimmungen pflegen nun einmal jeden Menschen, der arbeitet, von Zeit zu Zeit heimzusuchen und ihren Ablauf zu haben, wie jede Krankheit."
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen." Mit der Offenheit, die ihn früher zu einem geschickten und beliebten Lehrer gemacht hatte, warf Bató sein ganzes Gewicht auf die Waagschale des anderen: „Mir ist es selbst die ganze Zeit schlecht gegangen. Erst nach und nach, im Grund erst dieses letzte Jahr, bin ich ins Gleichgewicht gekommen."
„Was haben Sie jetzt für eine Arbeit? Verteilen Sie noch immer Flugblätter?"
„Ich redigiere eine kleine Zeitung, schreibe Artikel und gebe Kurse, und manchmal verteile ich Flugblätter -.
Ich habe mich die ersten Jahre krampfhaft bemüht, meine eigne Arbeit fortzusetzen. Ich habe sie jetzt für einige Zeit abgebrochen."
„Ja, warum denn?"
„Warum?" - Bató kam bei seiner Antwort von neuem ins Grübeln. „Das kann man nicht so einfach erklären. Es gibt eine Kluft zwischen Wissen und Leben, die man erst überbrücken muss, bevor man arbeitet, ohne das geht es nicht, verstehn Sie, Steiner, es genügt nicht, das, worüber man schreibt, im Bewusstsein zu haben. Man muss sich in der Wirklichkeit wirklich zurechtfinden, wie ein Blinder in der Nacht ohne Stock -.
Wenn ich in der Partei drinstecke, wie ich in meinem früheren Vorkriegsleben gesteckt habe, nicht bloß mit meinem Kopf, sondern ganz und gar, von oben bis unten, mit meinem ganzen Sein -.
Ja, dann werde ich arbeiten, etwas Gutes arbeiten", fügte er hinzu.
(Dieser Bató war früher ein ernsthafter und nachdenklicher Mensch, jetzt wiederholt er noch immer, wie ein Kranker, Tag für Tag, Jahr für Jahr dieselben Sätze, dieselben Gedankengänge.)
„Ja, solchen Menschen wie euch geht es gut! Geht in die Partei, und dann habt ihr, was gewöhnlich dem Menschen im allgemeinen fehlt. Anschluss, Geborgenheit. Eine einfache Antwort."
„Wieso denn einfach?"
„Natürlich gibt es eine wirkliche und eine verstellte Einfachheit.
Wieso einfach? Eine einfache Antwort auf alle Fragen bereit haben. - Aber alles Lebbare auf der Welt hat hundert Seiten, hundert Möglichkeiten, hundert Lösungen, und der Mensch hat nur ein Leben."
„Hundert? Ich glaube nur zwei."
Steiner wollte etwas erwidern. Seine Erwiderung hätte wahrscheinlich die Mauer durchstoßen, welche zumeist zwischen zwei Menschen am Anfang eines Gespräches aufgerichtet ist, so dass sie sich, wie Gefangene in Zellen, nicht durch Gedanken, sondern zunächst nur durch Klopfzeichen verständigen - aber schon befiel ihn eine Lähmung, Unlust und Müdigkeit.
(Das hat doch alles keinen Zweck, dachte Steiner.) „Wie geht es Ihrer Frau und Ihren Kindern?" - „Danke, ich denke, dass es ihnen ganz gut geht." Bató dachte an das Zimmer, in das er gezwungen war, heute nacht zurückzukehren, an Marie, die dann eilig das Essen aufwärmte, an Andris, sein waches Auge auf die Tür gerichtet. Zum ersten Mal empfand er bei dieser Vorstellung kein Unbehagen, vielleicht war es überhaupt einerlei, in welches Zimmer man zurückkehrte, wenn es nur kein leeres war.
Sie redeten von Neuerscheinungen, von den „Monatsheften", von Bekannten. Steiner zeigte die Photographie seiner Frau, die Bató ebenso aufmerksam betrachtete wie alle Dinge. Beim Anblick dieses schönen ernsthaften Gesichts erinnerte er sich, wie er Marie vor zehn, zwölf Jahren zu sich genommen hatte, nicht durch ihre Schönheit gerührt, sondern durch ihre außerordentliche Ungeschicklichkeit - ein kindliches Gegenstück zu seiner eigenen Schwierigkeit, sich auf Erden zurechtzufinden. Er wünschte sich plötzlich, sie möglichst schnell vor sich zu sehen. Ein wenig besser immerhin war es in diesem Zimmer daheim geworden, seit es mit ihm überhaupt ein wenig besser ging.
„Vielleicht kann ich noch den Vorzug erreichen." Sie packten plötzlich ihre Sachen zusammen und verabschiedeten sich lebhaft, fast herzlich. Steiner rannte über den Bahnhofsplatz, lief mit der ganzen laufenden Straße auf die Universität zu. Ich hätte die Gelegenheit ausnützen sollen, ich hätte noch versuchen sollen, mit ihm zu sprechen, ich werde diesen Menschen ja nie mehr wiedersehen. Aber dieser Gedanke hatte jetzt kein Gewicht.
Eines Abends nach vielen Jahren wird Steiner in seinem Arbeitszimmer in der kleinen Universitätsstadt, in der er sich festgesetzt hat - bis in die Hauptstadt ist er, der ehemalige Emigrant und Ausländer, nicht gekommen -, hinter seinem Schreibtisch unruhig werden. Draußen wird ein Herbstnachmittag zu Ende gehen, sein Dunst wird die Kleinstadtgassen füllen, ihre wohlbekannten Züge auslöschen, die Unruhe der Menschen begünstigen. Steiner wird mit seiner Arbeit an diesem Nachmittag nicht gut vorwärtskommen. Es wird ihm einfallen, dass er an den Bahnhof gehen muss und dort die Abendzeitung kaufen oder einen Brief einwerfen. Draußen im Dunst der Gasse wird er sich wohler fühlen als im Kreisrund der Lampe. Er wird laufen und laufen in zerstreuter, gedankenloser Unruhe. Aber trotzdem wird ihn eine unwiderstehliche Gewalt geradezu an den Bahnhof treiben. Dort wird es ihm einfallen, dass er seinen Brief nicht draußen auf dem Platz, sondern im Briefkasten auf dem Bahnsteig einwerfen muss. Er wird eine Karte kaufen, seinen Brief einwerfen und stehen bleiben. Gleich wird der Expresszug ankommen. Er wird nur wenige Minuten in der kleinen Stadt halten, wo wenige ein- und aussteigen. Der Bahnsteig wird fast leer sein, der Gepäckträger, der immer da ist, wird ein paar Handkoffer übereinander stellen. Vier, fünf Leute werden erregt auf und ab gehen oder wenigstens von einem Fuß auf den andern treten, im Begriff abzureisen oder jemand abzuholen. Steiner wird sich zu ihnen gesellen, er wird gleichfalls auf und ab gehen, es wird so aussehen, als ob auch er abreisen oder jemand abholen will. Es wird nicht nur so aussehen, die Erregung der anderen wird auch über ihn kommen. Es wird ihm selbst erscheinen, als hätte er von dem ankommenden Zug etwas Besonderes zu erwarten. Er wird in die Richtung blicken, in die alle blicken. Er wird sehen, wie sich hinten im Tunnel der Dunst weiß und fest zusammenballt. Er wird wie in seiner Kindheit die glühenden Augen auftauchen und unbarmherzig gerade auf sich gerichtet fühlen. Schon ertönt ganz nahe der Pfiff der Lokomotive. Pfiff der Lokomotive! Wenn irgendeines der Schlösser seines Herzens schlecht verwahrt wurde, bei diesem Pfiff wird es aufspringen, jede Faser wird sich zusammenziehen bei diesem Pfiff in dem einzigen Wunsch: abzufahren.
Dann wird der Zug den Bahnsteig, der noch eben still dalag, mit Lärm und Geknatter ausfüllen. Der Schaffner wird nacheinander die Abteiltüren aufreißen, wie ein gastlicher Wirt alle Türen den Fremden aufreißt. Steiner wird betäubt dastehen, gerade vor ihm wird auch eine Abteiltür aufgeschlagen werden. In Steiners Kopf wird ein Gedanke aufsteigen, sonderbarer als alle Gedanken, die er in den letzten Jahren gedacht hat: er kann abfahren, nichts hält ihn zurück. Kaum wird der Gedanke dasein - wie man zuerst das Geschoß spürt und hinterher erst den Schmerz -, so wird sich sein Herz in unsagbarem, verzweifeltem Heimweh zusammenziehen. Alle diese ehemals widerwärtigen, vom Geruch fremder Menschen vollgesaugten Zimmer, die er je bewohnt hatte, alle Straßen, die er je gegangen war, alle von endlosen Streitigkeiten zerhäckelten Nächte - jetzt ist nichts mehr
davon zurückgeblieben als Heimweh. Einem solchen Heimweh gegenüber wird ihm alles armselig und geringfügig erscheinen. Nichts wird ihn zurückhalten, keine Arbeit, die war nur ein Zeitvertreib, um ein paar abseitige Jahre zu überbrücken, nicht der Körper seiner Frau, der wie der Körper des Mädchens in der Märchenhecke alle Jahre hindurch Glanz und Zartheit vergangener Zeit bewahrt hat. Er wird zurückkehren. Er wird sofort nach seiner Ankunft seinen alten Freund Bató aufsuchen. Bató wird ihn freudig empfangen. Er wird ihn fragen, was er tun muss, sofort, am kommenden Tag. Er wird zu seinen Gefährten zurückkehren. Er wird nichts mehr zu tun brauchen als einen Sprung aufs Trittbrett. Jetzt wird die Lokomotive wieder pfeifen, der Schaffner wird eilig eine Tür nach der andern zuschlagen, Steiner wird eine erschrockene Bewegung nach vorn machen, der Schaffner wird einen Augenblick zögern, dieser Augenblick wird lang sein. Was eben noch ein Gedanke war, wird in harte, scharfkantige Wirklichkeit erstarren. Eben war er noch das Leichteste auf der Welt, jetzt wird er das Schwerste sein, was ein Mensch ertragen kann. Steiner wird sich heftig wehren, er wird in einem Augenblick an alle denken, die das getan haben, was er tun möchte. Manche haben es in der ersten Kraft der Jugend getan, manche in der letzten Kraft des Alters, manche waren dabei, die mehr als er zurücklassen mussten und von niemand erwartet wurden, viele, die schwächer als er waren, von geringerem Verstand. Warum wird es gerade für ihn so schwer sein? Der Schaffner wird ihn ansehn, er wird, da er schon lange mit Reisenden umgeht, mit einem Blick wissen, ob er einsteigt oder nicht. Er wird die Tür vor seinen Augen zuschlagen. Steiner wird einen zweiten Schritt vorwärts machen, aber jetzt wird eine Bewegung durch den Zug gehen, noch keine Fahrt, nur ein Stöhnen. Steiner wird zusammenzucken, er wird aufspringen wollen, aber jetzt wird der Zug schon fahren. Er wird wieder ganz betäubt dastehen. Aus dem Tunnel wird von neuem weißer Dunst herausquellen, zart und dicht wie vor drei Minuten, und geschwind den verlassenen Bahnsteig ausfüllen. Steiner wird sich plötzlich entsetzlich müde fühlen. Er wird erschöpft, wie nach einer langen Reise, über den Bahnsteig ins Freie stolpern. Draußen wird der Bahnhofsplatz ebenso verlassen daliegen. Ein paar Laternen werden im Nebel hängen, unter ihnen auf dem Boden werden ein paar trübe, erlöschende Lichtflecke liegen. Aus irgendeinem Grund wird er zögern, über einen solchen Platz zu gehen. Er wird verzweifelt wie am Rand eines Abgrunds stehen bleiben. So groß wird seine Verzweiflung sein -er könnte sie nicht ertragen, wenn seine Müdigkeit nicht noch größer wäre. Dann wird ihm auf einmal einfallen, dass es irgendwo nicht allzu weit weg, wohl noch heute erreichbar, ein Zimmer gibt, eine Lampe, eine Frau. Dann wird er langsam, ein wenig erleichtert, aber noch immer todmüde, den einzigen mattglänzenden Schienenstrang entlang in die kleine Stadt hineingehen. - Vorbei waren die Möglichkeiten, er war alt geworden.


II
„Was machst du da?" schrie eine der Schwägerinnen Frau Dombrowski an. „Unmöglich, was du da machst." Sie hetzte die Kinder auf: „Seht nur, was sie euch wegträgt."
Die Dombrowski sah die andre Frau an - wo es sonst bei Augen tiefer ins Innere hineingeht, war bei der Dombrowski etwas Schwarzes, Zugeriegeltes, Schluss. Das Gesicht der Schwägerin war grau mit nach unten gezogenen Mundwinkeln, aber gegen das Gesicht der Dombrowski war es doch ein junges Frauengesicht.
Die Dombrowski packte also ein Brot, eine Tüte und eine Konservenbüchse in ihren Korb - aus der Streikkasse an die Familien der Streikenden; seit drei Wochen erschütterten Streikstöße die Stadt - und trug den Korb durch ein Spalier von entsetzten Blicken auf die Straße hinaus.
Einer der Männer kam ihr jetzt nach, legte eine Hand auf ihre Schulter und sagte ganz ruhig: „Es ist nicht richtig, was du da tust, genau genommen." Er ging neben ihr her, da sie weiterging. Er sah sie an, in ihrem Gesicht bildeten sich dünne Rillen, um die Tränen herunterzulassen, aber es kamen keine Tränen. Er zuckte die Achseln und ließ sie gehen.
Später, im Büro der Zuchthausverwaltung, als man die Sachen aus dem Korb in Empfang nahm, fragte der Aufseher, der die Dombrowski wieder erkannte:
„Sie haben doch keinen mehr hier?" „Nein, ich habe keinen mehr hier."
„Für wen?"
„Für die Politischen."
Später ging die Dombrowski um den Block herum, durch die Gassen auf den Bahndamm, schräg gegenüber. Dort setzte sie sich nieder, fror in die feuchtkalte Erde hinein, ein Hügelchen.
Ihr Blick suchte die vergitterten Fenster ab, von oben nach unten, von rechts nach links: hooo!
Aus einer Ritze unter dem Dach, sie hat das Gesicht nie gesehen, kennt bloß die Stimme: „Wie steht's?" - „Unverändert." -„Matthiasgrube?" - „Geht mit!" Sie drehte sich plötzlich scharf um, witterte Patrouille. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, dass es dunkelgrau wurde. Sie seufzte und stand auf. Sie lief den Bahndamm entlang in die Nordvorstadt. Daheim im Zimmer war ein kalter Reif um sie herum. Aber er schmolz langsam ab, trotz des leeren Korbs, wie sie da und dort anpackte, die Kinder unter die Decke stopfte, die Männer ausfragte.
Einige Monate nach seiner Rückkehr aus Russland wurde Janek bei der Wahlarbeit von der Straße weg verhaftet. Er war angezeigt und nach einer Beschreibung von Spitzel zu Spitzel erkannt worden. Aber es lag eine Verwechslung vor, und er wurde auf dem Revier für einen anderen gehalten. Obgleich ihm diese Verwechslung ein fast zehnstündiges Verhör eintrug, war er zufrieden, denn er dachte sich, dass der andere bei seiner Arbeit Spielraum bekam.
Seine Angelegenheit war so verschleppt und verwickelt, dass es lange dauerte, bis er Anka wiedersah, im Zuchthaus in Posen, wohin man ihn zur Verschärfung seiner Strafe gelegt hatte. Er wusste, dass Anka inzwischen abermals geboren hatte. Aber das Leben dieses Kindes war für ihn nichts Wirkliches. Er brauchte seine ganze Kraft gegen die Haft in diesem entlegenen Gefängnis, wo er zeitweise der einzige Politische war. Er war ganz ausgetrocknet. Als er zu Ankas Besuch geführt wurde, klopfte sein Herz unmäßig. Er richtete unwillkürlich den Blick auf Ankas Arm, entdeckte erst einen Augenblick später das Kind auf der Erde, an Ankas Hand. Es war ja über ein Jahr seit dieser Geburt vergangen. Das Kind war kugelrund, seine Augen standen vor Schreck und Neugierde heraus, seine roten Backen waren vor Kälte gesprungen. Der Aufseher rückte seinen Stuhl etwas vom Tisch ab. Anka erzählte geschwind, Janek horchte und betrachtete gierig das Kind. Einmal sagte er: „Das Kind sieht doch stark aus. Glaubst du, dass dieses Kind am Leben bleibt?" Anka erwiderte ruhig: „Ja, diesmal bestimmt." Der Aufseher machte bereits Schluss. Janek fing schnell an: „Und du, Anka, was machst du, wie teilst du dich ein?" Anka sagte aufstehend: „Diesmal geht alles sehr gut. Ich wohne mit einer andren zusammen, die auch ein Kind hat. Es geht alles viel leichter als das letzte Mal." Die ganze Zeit hatte das Kind stumm und puterrot dagehockt. Janek hatte mit dem Aufseher den Raum noch nicht verlassen, die Tür hinter Anka war noch nicht zugeschlagen, da ertönte draußen ein heller, zitternder Freudenschrei, wie von einem Wasservogel, den nur das Kind ausgestoßen haben konnte. In seiner Zelle überdachte und ordnete Janek alles, was Anka erzählt hatte. Er hatte gehofft, nach Ankas Besuch sei es besser, aber nie war das Alleinsein so quälend gewesen. Er war noch nie in seinem Leben so lange allein gewesen. Alle möglichen Bilder von Gemeinschaften und Zusammensein quälten und brannten ihn. Er erinnerte sich an alle Einzelheiten, selbst an solche, die ihm damals entgangen waren: Im Bottich der Färberei, im schmutzigblauen Wasser, schwamm ein zerknäultes Papier, das Flugblatt. Sein Herz klopfte; er spürte sich zum ersten Mal allein, handelnd. Um ihn herum drängten sich brummend und müde fluchend die Färber im frühen Tag. - Von Schnee bedrängt war das Zimmer bei seinem einzigen Besuch daheim. Was war mit Wladek geschehen? Die Schwäche, die einem die Knie und Handgelenke steif macht, bekommt man auf zwei Arten los, im Kampf oder in der Kneipe. Vielleicht hockt Wladek jetzt wieder dort und prahlt, triefend, großmäulig. Vielleicht hat er sich wieder hochgerappelt. Was war mit der älteren Schwester? Er hatte nur mit Sophie gesprochen. Die Ältere war weggegangen und nicht mehr wiedergekommen. Sie war dürr und klapprig gewesen. Wie Pflaster war das Rot auf ihre Backen gesetzt. Warum hatte er nicht noch einmal nach ihr gefragt? Jetzt grämte es ihn. - Das Zimmer der Wronski in Lodz beim Textilstreik, dreitägiger Aufenthalt, hatte ihn mit Menschenwärme aufgefüllt, dass jetzt noch etwas von diesem Zimmer in ihm drin war. -Die alte Zelle mit neun Genossen, wie war die gut gewesen. Dombrowski und immer wieder Dombrowski, aber auch jener, 170
mit dem er nur sechs Tage gesessen hatte in der Zigeunerzelle, mit dem finsteren bleigrauen Gesicht. Die Einsamkeit fraß ihm das Hirn weg, er quälte sich. Einige Monate später wurden drei Politische nach Posen gelegt Sie setzten sich miteinander in Verbindung, nahmen den Kampf um Zusammenlegung auf. Sie mussten acht Tage hungern, bis sie sich durchsetzten. Schließlich saßen sie alle beieinander in der Zelle. Sie waren noch krank und elend, aber zufrieden. Sie fragten einander aus.
Der erste erzählte: „Ich heiße Kuczinsky. Ich bin nicht in der Partei. Am achten Januar, vor den Wahlen, habe ich die verbotene Demonstration mitgemacht. Auf der Wache haben sie noch ein paar Blätter in meiner Tasche gefunden. Seht, wie sie mich zugerichtet haben. Für die Demonstration zweieinhalb, für das Flugblatt zwei Jahre, das macht viereinhalb Jahre."
Der zweite sagte: „Ich war Lehrer in Lemberg. Mein Vater ist jetzt noch Kantor. Ich habe noch fünf Geschwister. Ein anderer Lehrer gab mir eins nach dem andern zu lesen, immer weiter - voriges Jahr trat ich in die Partei ein. Wie bei uns die Druckerei aufflog, flog ich mit auf."
Der dritte sagte: „Ich heiße Janek, ich war Färber. Ich bin mit neunzehn in die Partei gegangen, mit meinem Bruder, der schon drin war. Jetzt sitze ich zum dritten Mal. Das erste Mal im Jahre 21 beim Flugblatteinschmuggeln. Das zweite Mal bei dem großen Streik in Lodz, drei Jahre. Diesmal bin ich bei der Wahl verhaftet worden. Ich bekam acht Jahre."
Der vierte sagte: „Du wirst schon von mir gehört haben: Jasiensky, ich habe auch schon von dir gehört. Ich wurde im Jahre 19 nach dem Abzug der Russen geschnappt und bekam acht Jahre wegen Landesverrat. Kaum bin ich draußen, haben sie mich wieder. Nun, da bin ich."
Ja, Janek hatte schon von Jasiensky gehört, in den Zellen, wenn jeder von jedem erzählte. Er freute sich, dass er gerade mit ihm zusammen war. Er war ein kleiner zäher Mann mit besonders brauner Hautfarbe, trotz der Haft. Seine dicken Brauen fingen schon an, grau zu werden. - So begann Janek das zweite Jahr seiner dritten Haft und das neunundzwanzigste seines Lebens.


III
Frau Bordoni füllte die Säcke, einen nach dem andern, mit neuen Kartoffeln. Aber Bordoni, der in der Mitte zwischen der Kartoffelablade und dem Wagen zu stehen hatte, war noch nicht da. Frau Bordoni lief also mit den Säcken selbst hinüber, schnell, damit der Kartoffel-Peuval nicht merkte, dass Bordoni wieder zu spät kam. Im Gebrüll der Markthalle, im betäubenden Sommergeruch hantierte Frau Bordoni mit offnem Mund und eingeknickten Knien, die auch eingeknickt blieben, wenn sie die Säcke einfüllte, als koste es zuviel Zeit, zwischendurch die Beine zu strecken.
Auf einmal stand Bordoni auf seinem Platz, die Frau schwenkte ihm die Säcke zu, und er beförderte sie im Gleitflug in den Wagen. Frau Bordoni schnaufte und dachte wieder einzelne Gedanken. Sooft sie sich gegeneinander wandten, riefen sie sich halbe Sätze zu, gerade noch verständlich im Lärm des Marktes, auch war es für Mann und Frau die beste Sprachgelegenheit. „Rate, wen ich getroffen habe?" „Ich weiß nicht." „Rate." „Pali."
„O nein, ihn nicht, Brigelli." „Brigelli aus Bologna?" „Ja, ihn."
„Was erzählt er denn?"
Bordoni wartete, bis der Karren vollgeladen und ein neuer eingeschoben wurde. In der Zwischenzeit half er der Frau die Säcke füllen.
„Er erzählt, wie es jetzt so zugeht in Bologna. In der Armaturenfabrik und auf der Gasse: Sooo hält man einem die Hände kreuzweise unter die Nase, wenn einer losflucht. Das bedeutet: Halt's Maul, gleich hast du Handschellen weg." - „Weiß er, wer jetzt in unserer Wohnung wohnt?" - „Das hab ich ihn nicht gefragt. Aber in der Armaturenfabrik haben wir eine Zelle, wir haben dort zwanzig Mann, Brigelli hat auch dort gearbeitet, er hat dann erzählt, wie er eine Angeberei gerochen hat und wie er ausgerückt ist, er hat viel hinter sich, und jetzt will er nach Russland fahren, das wäre auch für mich eine gute Gelegenheit."
Seit Jahr und Tag war es Bordonis Wunsch gewesen, herüberzufahren.
Der leere Wagen hielt auf den Schienen an, die aus der äußeren Markthalle zu den Verkaufshallen führten. Bordoni sprang an seinen Platz. Frau Bordoni schwenkte den Sack und rief: „So fahr doch."
„Ist das dein Ernst?"
„Ja, fahr doch."
„Was wirst du machen?"
„So fahr doch schon."
Bordoni trat wieder neben sie. „Aber was willst du machen, du und die Kinder? Vielleicht kommt ihr später nach?"
„Hör mal, Bordoni, all die Jahre über hast du dich nie groß um uns geschert. Weiß Brigelli einen Rat, fahr!"
Bordoni trat an seinen Platz. Eine halbe Stunde arbeiteten sie schweigend, Frau Bordoni dachte, dass es nichts sei, tags nichts, nachts nichts, diese Woche hielten sie bei Peuval aus, die nächste Woche konnten sie sich die Finger saugen, hinter ihnen war kein Punkt, auf den man zurückkommen konnte, vor ihnen war kein Punkt, auf den man zukam, aber wenn er fuhr, ihr Bordoni, aus dem doch kein Brot heraussprang, wenn er wirklich nach drüben fuhr, das war doch etwas, ein Punkt. Sie schwenkte den letzten Sack und rief: „Also fahr!" Bordoni sprang neben sie. „Wenn es drauf und dran geht, wirst du nicht weinen?" Frau Bordoni sah ihn groß an. Bordoni erschrak furchtbar, als sähe er jetzt zum ersten Mal, dass sie hart und grob war, und Tränen unvorstellbar in ihrem misstrauischen Gesicht. Sie sagte selbst: „Kannst du mir vielleicht sagen, wann ich zum letzten Mal geweint habe?
Habe ich vielleicht geweint, wie das mit dem Kind passiert ist?"
Der leere Karren war einrangiert. Bordoni sprang zu. Als das neue Kind kurz nach ihrer Ankunft in Brüssel bei der Geburt starb, war Bordoni ziemlich erleichtert, es war ihm auch gar nicht aufgefallen, dass die Frau nicht geweint hatte. Jetzt packte ihn der Jammer um das sinnlos geborene Kind, um die nicht vergossenen Tränen. Er donnerte wütend einen Sack nach dem andern in den Wagen. Später, neben ihr, sagte er weich: „Werde ich dir nicht fehlen?"
» Hör mal. Wie oft wir im letzten Jahr zusammen geschlafen haben, kann man ausrechnen. Im Bett wirst du mir nicht fehlen.
Und sonst? Du bist ja nicht aus der Welt verloren. Du musst schreiben, versprichst du?"
„Versprochen."
„Da kommt Giulia", sagte Frau Bordoni. Das Mädchen, dünngliedrig, lockig, hickelte auf einem Bein, eine Sandale in der Hand, mit zum Spaß aufgeblasenen Backen. Bei ihrem Anblick fiel es Bordoni plötzlich und zum ersten Mal ein, dass aus ihr etwas werden musste wie die Frau, etwas Breites, Hartes. Er packte sie am Haar und küsste ihr wie einem Weib Gesicht, Brust und Hals mit verrückter Zärtlichkeit. Er setzte zwei Säcke aus, die die Frau an ihm vorbeischleppte. Schließlich wartete Frau Bordoni, indem sie starr mit zusah, ungefähr seine Gedanken erriet, den Grund seiner maßlosen Zärtlichkeit.
Bordoni stellte das Kind auf den Boden, trat, da der volle Wagen abfuhr, neben die Frau und füllte Säcke. Giulia, zappelig, gierig auf neue Küsse, drängte sich zwischen die Eltern, aber jetzt stieß er sie weg. „Lauf uns nicht bei der Arbeit zwischen den Füßen herum!"


IV
„Sag doch, Mutter, warum hat man ihn erschlagen?"
„Lass doch! Du weißt ja doch, warum!"
„Hat er sehr geschrieen?"
„Er lag ja mit dem Mund auf der Erde, dein Vater, er stöhnte nur mmmm, mmmm, ein Soldat saß auf seinem Hals."
„Wo ist er jetzt, dieser Soldat?"
„Weiß ich? Sitzt vielleicht jetzt auch bei seiner Mutter, häckelt vielleicht jetzt auch Zwiebel, denkt an das, was er jetzt getan hat, denkt und denkt, und es würgt ihn."
„Und zuletzt war es sehr furchtbar mit dem Mund auf der Erde?"
„Nicht sehr furchtbar, er starb froh, in vollkommener und gewisser Hoffnung -"
„Dimoff sagt doch, dass es nichts ist mit dem weiten Himmel."
„- mit dem Mund auf der Erde, über seinem Kopf, über seinen toten Schultern, über dem Ködesch das Land der Bauern und Arbeiter."
Zwischen den Augen der Mutter und des Knaben liefen wie flinke, geschmeidige Eidechsen ganz ähnliche listige Blicke.
„Aber Dudoff haben sie nicht totgeschlagen?"
„Nein, ihn nicht."
„Wo ist jetzt Dudoff?"
„Sitzt mit Lenin unter einem weißen Kastanienbaum -"
„Der ist tot, sagt Dimoff."
„Was willst du wissen?"
„Ist es Frühling oder Herbst, wo sie sitzen?"
„Was soll es sein, Herbst wie hier, und die Kastanien, bambam, kullern auf ihre Köpfe."
„Aber du hast gesagt: weiße Kastanien."
„Wenn du alles kennst, erzähl ich nichts mehr."
„Doch, doch, doch. Ich weiß noch genau, wie unser Vater aussah, stehend, ohne Blut, ich weiß auch, wie Dudoff aussah.
Viel, viel früher als alles geschah, was du erzählt hast, waren wir einmal alle zusammen, es war das letzte Mal, als ich aus deiner Brust getrunken habe, ich stand zwischen deinen Knien und du sagtest: ,Zum letzten Mal.' Du und ich, wir weinten, aber der Vater und Dudoff lachten, sag doch, warum haben sie gelacht?"
„Weiß ich, worüber alles die Männer lachen -"
Dudoff fuhr aus der Krim, wo man ihn den Sommer über als Gast empfangen und gepflegt hatte, im Herbst nach Moskau. Sein Körper war jetzt ziemlich gesund und kräftig. Aber je gesünder er körperlich war, desto mehr spürte er die Enge, in die sein Körper hineingezwängt war, wie den Druck einer unsichtbaren Mauer. Er versuchte zu verstehen, was um ihn herum im Abteil gesprochen wurde. Soldaten, die aus dem Manöver auf Urlaub fuhren, die Bauern, die mit Saatgutproben in die nächste Stadt fuhren, das schlitzäugige Mädchen, das auf eine Schule kommandiert war, alle hatten ihren festen Platz, ihre zugemessene Aufgabe. Sie versuchten gleichfalls neugierig, auch mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber Dudoff antwortete kaum, erzählte nichts über sich selbst.
Er erinnerte sich, wie er auf seiner Pritsche nachts in der Kasematte gelegen hatte; irgendein Genosse, der kurz nach seiner Rückkehr aus Russland verhaftet war, erzählte von solchen Fahrten, wie er sie jetzt selbst machte. Ein einziger seiner Sätze hatte damals genügt, um seine kranken Sehnen anzuspannen, seine Kraft zu erneuern. Jetzt fuhr er quer durch dieses Land - die jungen und runzeligen Gesichter der Mitfahrenden sahen verwundert und beinah vorwurfsvoll auf sein schweigendes Gesicht.
Sie hielten auf einer kleinen Station, der sechsten oder siebenten dieses Tages. Der Aufenthalt dauerte übermäßig lange. Irgendein Schaden an der Lokomotive musste ausgebessert werden. Die Soldaten schimpften, die Bauern stiegen aus und ließen sich in der Sonne schmoren, das Mädchen lief zu der Lokomotive, um zu fragen. Der Ort selbst, von dem keine Dächer, nur ein paar Bäume sichtbar waren, musste ein gutes Stück von der Station entfernt liegen. Es hatte keinen Zweck, auszusteigen. Das Stationsgebäude warf nur einen kümmerlichen Schatten, war aber frisch gestrichen. Ein ebenfalls frisch gestrichener Zaun führte ein Stück die Böschung entlang, umzäunte nichts, sondern brach nach ein paar Metern ziellos ab. Dudoff war auf den freien Fensterplatz des Mädchens gerückt. Er betrachtete alles bloß mit den Augen; im Grunde war es für ihn einerlei, was hinter dem zwecklosen grünen Lattenzaun lag; einerlei war es, ob der Zug weiterfuhr oder stecken blieb. Eine Angst, die er nicht kannte, die er noch nie in seinem Leben, nicht einmal als kleiner Knabe gespürt hatte, deren Ursprung ihm unverständlich war, drückte ihm die Kehle. Zwei Bäuerinnen liefen um die auf dem offenen Bahnsteig lagernden Passagiere herum, jede ein gerupftes Huhn in den Händen. Dudoff kaufte gedankenlos eins ab. Er sah einen Augenblick gedankenlos in die hellgrauen, erstaunten Augen der Bäuerin. Er sah wieder hinaus. Hinter dem Zaun waren zwei hohe, das Stationsdach überragende Stangen aufgestellt, die ein Schild trugen. Dudoff las das Schild: „Wir Einwohner von Mokroje haben zum Lenintag den Sumpf ausgetrocknet und die Malaria ausgemerzt." Dudoff beugte sich zurück. Er hörte die leise klare Stimme in der Dunkelheit der Zelle dieses Schild nacherzählen. Ein Ruck ging durch ihn, ging durch den ganzen Zug. Die Bauern drängten sich zu. „In Ordnung", schrie das Mädchen und klatschte in die Hände, als hätte sie selbst den Schaden repariert.
Als Dudoff am nächsten Mittag in den Klub trat, traf er dort Petrow, den er zuletzt in Paris gesehen hatte. Sie gingen ein Stück in die Stadt. Dudoff sagte: „Ich werde nicht mehr lange hier bleiben, ich werde alles tun, um so schnell als möglich heimgeschickt zu werden." Petrow wusste, dass es irgendwelche Widerstände gegen Dudoffs Heimreise gab, er galt seit einiger Zeit als verbraucht und kränklich. Petrow dachte nach, was er ihm antworten sollte. Dudoff fuhr fort: „Ich habe lange genug brachgelegen. Ich weiß gut, es gibt da Widerstände. Aber wir werden schon zusammenkommen, meine Arbeit und ich, wir beide."


V
Als der ältere Liau nach Schanghai kam, hoffte er, jemand zu sprechen, der über seinen Bruder Bescheid wusste. Aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Es wurden wohl Freunde aus Kanton erwartet, die vielleicht genauere Angaben hatten, aber inzwischen bekam Liau Yen-kai selbst den Auftrag, nach den roten Provinzen abzufahren. Zwar verzögerte sich seine Abfahrt noch: die beiden Männer blieben aus, die von unten geschickt waren, ihn abzuholen.
Liau ahnte ungefähr, dass etwas mit dem Jüngeren geschehen war. Zuweilen schüttelte ihn ein plötzlicher krampfhafter Schmerz, wie ihn Menschen in Gliedern empfinden, die sie längst verloren haben. Dagegen dachte er fast gar nicht an seine Frau und an sein zurückgelassenes Kind. Schließlich fuhr er ab, ohne die Kanton-Leute gesprochen zu haben. Die Truppenansammlungen in Schanghai bedeuteten einen neuen Vorstoß gegen die roten Provinzen. Er musste mit seinem Auftrag vorher unten sein. Da seine Begleiter ausblieben, musste er eben allein durch.
Von einer Stunde in die andere in das klare Licht der Gefahr hineingestellt - das war eine Erleichterung. Seit er auf dem Dampfer stand, dachte er fast ohne Schmerz an den Bruder. Nicht nur vom Ufer, von allem, was ihn dort festgehalten, sein Herz beschwert hatte, trennten ihn die wenigen Windungen dieses Seiles, das sich beruhigend schnell ablöste. Er spürte sich selbst auf dem Deck des Schiffes, seine eigne Gestalt scharf abgehoben von der Luft, vom frühen Morgen. In der Gefahr gab es immer einen Augenblick, wo alles von ihm, nur von ihm abhing. Unlösbar an seine Gestalt geknüpft, kamen Tausende durch, wenn er durchkam. Irgendwo auf einer blanken Messingglocke erblickte er flüchtig sein eigenes Gesicht, straff und ernst, ein getreuer Helfershelfer.
Im letzten Augenblick wurde der Dampfer gesperrt für eine Abteilung Soldaten, die stromaufwärts fuhren. Die Zivilisten bekamen eine Kabine zugewiesen, Beamte, Kaufleute in speckige Röcken. Alle fingen sofort zu essen und zu spielen an. Liau schwatzte und spielte ein paar Kartenspiele. Es war ihm zumute,| als sei eine Glasglocke über ihn gestülpt. Er saß darin, spielte] und lachte, aber von allen abgetrennt. Bei einer heftigen Bewegung musste sie klirren. Ein Kahlköpfiger entdeckte, dass das Klappfenster zur Kantine gehörte. Das nützten sie aus, obwohl sie schon die ganze Zeit gegessen hatten. Der Tisch belud sich mit Gläsern und schmierigem Geschirr. Der Dampfer stampfte los, drei Fresssäcken wurde übel, die Wache ließ sie nicht durch, und es gab ein großes Gelächter. Sie versuchten die Luke zu öffnen, aber die Schrauben waren vergipst, und sie waren betrunken und kraftlos vor Lachen. Liau Yen-kai warf einen Blick durch die Luke. Über dem Wasser stand der Bug eines Kriegsschiffes, die riesigen Lichtkegel seines Scheinwerfers kreisten über Himmel und Erde, blendeten in Abständen die Kabine auf. Einer holte aus seinem Rock Photographien, dicke und dünne Weiber, schraffiert von den Abdrücken fettiger Daumen. Eine Weile belustigten sich alle, dann wurden sie verdrießlich und müde. Es wurde Tag, im Frühlicht drehten sich kraftlos die blassen, abgemagerten Scheinwerfer.
Bei der nächsten Station wurde ein Teil der Soldaten aus- und neue eingeladen. Sie durften aus der Kabine nach oben gehen, Luft schnappen, dann wurden sie wieder eingesperrt. Sie fraßen und spielten. Der Kahlköpfige zeigte Kartenkunststücke. Alle Gesichter waren verquollen. Liau blickte durch die Luke. Auf dem dunstigen Ufer, auf einzelnen Booten gingen schon Lichter an, die zweite Nacht.
Am nächstfolgenden Tag hielt der Dampfer in Ti-Kiang.
Ungeduldig horchten sie auf das Scharren der Soldaten, bis alle ausgeladen waren. Das Klappfenster der Kantine wurde von innen zugeschlossen. Sie hockten vergessen um die fleckigen Tellerberge. Endlich wurden einzelne herausgelassen, aber dann mussten sie wieder warten. Schließlich wurde geöffnet, ein Offizier sperrte die Schwelle, Soldaten hinter sich, suchte mit flinken Blicken die Kabine ab. Der Kahlköpfige wurde gepackt. Sein Doppelkinn hing ihm wie ein loser Lappen am Hals. Auf einmal, als dringe der Augenblick mit scharfem Licht in die Vergangenheit, fiel es Liau Yen-kai ein, wo er den Kahlköpfigen schon mal
gesehen hatte: im Ausschuss der Seeleute-Gewerkschaft. Der war auch mit einem Auftrag nach dem Süden geschickt. Aus dem Schwammgesicht, aus den Kugelaugen stachen zwei glühende Spitzen. Er hatte Liau gleichfalls erkannt.
Sie durften jetzt alle heraus. Die kleine Stadt war zum Bersten voll Soldaten. Die Luft roch nach Soldatenessen. Als würden sie hineingepumpt, strömten alle Menschen, auch Liau, nach dem Marktplatz.
Auf den Tribünen erklärten Funktionäre der Tschiang-Kai-schek-Armee den neuen Feldzug. Liau Yen-kai beobachtete die Soldaten. Ihre stumpfen, ledernen Gesichter schienen mit den Uniformen aus einem festen Stoff geschnitten. Der letzte Feldzug war an der Unzuverlässigkeit der Soldaten gescheitert. Sie waren wild geworden, auseinander gefallen, als sie die Sowjetfahnen und Inschriften beim Einzug in die von ihnen selbst eroberten Dörfer erblickten. Aber diese neuen Soldaten sahen nicht aus, als ob sie irgend etwas wild machen könnten. Sie sahen aus, als seien sie bereit, nach der Stoppuhr jeder auf sich selbst loszuknallen. Auf die Tribüne sprang ein junger Redner, der mit seinem ganzen Körper weit ausholte. Über die gleichmäßige Fläche aus Gesichtern flitschte ein langer Schattenarm. Helle, schon im Aufklang zerbrechende Stimme: „Genossen, Soldaten -" Die eben noch starre Menge bäumte sich auf und sackte zusammen. Ein paar Arme rissen ihn herunter, vielleicht war er schon tot, als sie ihn wegschleppten. Liau erblickte noch einen Schimmer seines Gesichts - unsagbares Erstaunen lag drauf. Liau Yen-kai wusste plötzlich, dass sein Bruder tot war; es war zwecklos, auf ein Wiedersehen zu hoffen. Ein scharfer Schmerz brannte ihn durch, erlosch.
Mittags verließ er die Stadt mit einem Haufen Bauern, die querfeldein zur nächsten Anlegestelle an den Hou-Fluß Hefen.

 

Elftes Kapitel

Eines Nachts erhob sich der Bauer Tien Shi-li, denn er spürte im Schlaf vom Kopf bis zu den Zehen, dass der Zeitabschnitt angebrochen war, in dem man den angekündigten Boten aus Schanghai erwarten konnte.
Vor einigen Tagen hatte sein Enkelsohn die Nachricht gebracht, dass die beiden aus dem Süden abgeschickten Männer, die den Boten in Schanghai abholen und zurückbringen sollten, von Soldaten am Hou-Flüßchen festgenommen und wahrscheinlich erschossen waren. Tien und sein Enkel rechneten aus: Der in Schanghai wird zwei, drei Tage warten, dann aber, da sein Auftrag dringend ist und er vor der Offensive durch muss, wird er allein aufbrechen, nach der vereinbarten, von Dorf zu Dorf bestimmten Route, das wird drei bis, vier Tage dauern.
Tien Shi-li weckte mit seinem schweren, unter Ächzen und Rascheln sich aufrichtenden Körper die ganze Familie. Kaum kamen sie hoch und wimmelten durcheinander, da lag auf ihren Nacken und Stimmen schon der unermessliche Druck des neuen Tages. Alle wussten, in der eben endenden Nacht waren wieder Hunderte von Soldaten über den Strom gesetzt. Die Alten aßen gar nichts oder schweigend. Man hörte das gierige, beinah rasende Schmatzen der Kinder, ihr dünnes Winseln um mehr.
Dann öffnete sich die Hütte auf die bräunliche, wellige Erde, und alle Menschen gingen arbeiten. Tien voraus, sein Sohn und sein ältester Enkelsohn, alle drei gleich groß, beinahe brüderlich, Weiber mit Hacken und Körben und Kindern. Sie überquerten miteinander zwei flache Erdwellen. Aus den Bewässerungsringen war das Wasser in einen kleinen See gelaufen, in dem sich der rosaflockige Himmel spiegelte: ein Granattrichter. Nicht allzu weit weg, gegen den Rand eines größeren, gleichfalls mit Wasser angefüllten Trichters, als hätte es noch einmal saufen wollen, kroch ein elendes, unterwegs gestorbenes Dorf, Stücke leerer Hütten, die bereits in die Erde hineinfaulten. Die Familie machte sich wild über ihr unversehrtes Stückchen Land her, um ihm vor der Ankunft der Soldaten noch etwas Gutes anzutun.
Mittags richtete sich Tien Shi-li zum ersten Mal auf. Gegen sein Dorf kamen ein Dutzend Leute mit Stangen und Körben. Sie kamen vom Hou-Flüßchen, von der Fähre, einige Stunden weit weg. Tien umflog die wohlbekannten Umrisse dieser Leute. Es war kein fremder Strich dabei. - Zum ersten Mal seufzte er über den vergebens Erwarteten, um das vielleicht verlorene Leben. Aber sein Sohn, schon wieder über die Erde gebückt, sagte: „Der kann noch lange kommen." Abends stellte Tien den Napf für den Gast bereit, wehrte mit der Hand die Fliegen weg, horchte. In der Nacht kamen Schritte von Menschen, die vielleicht das letzte Boot verpasst hatten. Bevor Liau klopfen konnte, war die Tür von innen geöffnet. Liau setzte sich und aß; die Kinnbacken der Familie Tien bewegten sich zu seinem Essen. Trotz seinem Hunger und seiner Erschöpfung fühlte er mit jedem Atemzug mehr Sicherheit.
Tien Shi-li sagte: „Du bist hier dreiviertel sicher. Die Hütten rundum sind alles wir.
Mein Sohn wird dich nach Tsi-I bringen. Das war vor dem ersten Feldzug der Sitz der Sowjets für unseren Bezirk. Das nördlichste Dorf war das, aus dem du kommst, an der Anlegestelle. Die Nordarmee hat aber überall ihre Verwalter und Spitzel eingesetzt. Wenn die Soldaten erst nicht mehr hinter dem Hou-Fluß stehen, dann wird unsere Einteilung genauso werden, wie sie vorher war."
Am Morgen ging Liau mit dem Sohn fort. Ihre Schritte passten sich gut einander an. Sie bedauerten beide, dass sie in ihrem Leben nur einen Weg von wenigen Stunden zusammen hatten. Liau erzählte von Russland. Sein Begleiter hörte gierig mit zu. Liau gab ihm auf Jahrzehnte Stoff zum Nachdenken. Der Sohn erzählte: „Du musst in Tsi-I nach dem Nagelschmied A-Sen fragen. Zwar ist die Verwaltung dieses Ortes von Tschiang Kai-schek eingesetzt, sie guckt jedem auf die Finger, aber niemand hat A-Sen angezeigt; wer wird auch sein eigenes Gesicht verschandeln? Dieser A-Sen ist der Führer einer starken roten Formation. Nach allem, was man erzählt, wird er bald wieder seine Schmiede verlassen müssen und die Seinigen zusammenholen."
Sie trennten sich vor Tsi-I. Der Nagelschmied war ein kleines, zerknittertes, schwärzliches Männchen. Seine Schmiede war voll Kunden, als Liau hereinkam. Er reparierte allerlei altes Eisenzeug. Nur am Hochziehen seiner Brauen merkte Liau, dass er begriffen hatte, wer der neue Kunde war. Liau verbrachte die Nacht in der Schmiede. Als sei es zwischen ihnen ausgemacht, fragte keiner den andern. A-Sen sagte nur: „Der Hol-See ist eigentlich eine Erweiterung unseres Flüsschens. Die letzten Einschläge der Kanonenboote auf dem Jangtse sind nie auch nur ein einziges Mal weiter als bis in den Hol-See gekommen. Am anderen Ende des Sees liegt das Dorf Li Tung. Wenn du dort bist, kannst du dich als angekommen betrachten."
A-Sen rappelte schon in der Frühe mit seinem Eisen herum, stocherte an seinen alten Zangen und Nägeln, untersuchte rostige Bütten auf ihre Dichtigkeit. Als Liau aufbrach, war die Werkstatt bereits voll mit allerlei Leuten, die die merkwürdigsten abgenutztesten Gegenstände aus Eisen brachten, schwatzend um A-Sen herumstanden. Liau ging fast unbemerkt, ohne Abschied, aus der Schmiede.
Es war besser, keine Fähre mehr zu besteigen. Er kam noch durch drei oder vier Dörfer, am linken Ufer des Hol-Sees. Er machte nirgends Rast. Zuletzt machte er einen Bogen, weit vom Ufer ab, um keinen Grenzwachen der Regierungstruppen zu begegnen, und kehrte erst bei Einbruch der Nacht auf einem Umweg an den See zurück. Er erreichte ein größeres Dorf. Er war sich im Zweifel, ob er sein Ziel schon erreicht hatte, wagte aber niemand zu fragen. Nachdem er einige Minuten durch das schlafende Dorf gestrichen war, erblickte er auf einem großen hölzernen, neu errichteten Gebäude eine Aufschrift: „Sitz des Sowjets sowie der Schule des Dorfes Li Tung." Auf dem Dach steckte eine Fahne, die freilich von der feuchten Nacht verkrumpelt war. Liau gab es einen Ruck. Einen ähnlichen Ruck wie vor Jahren, als er im Norden zum ersten Mal die russische Grenze durchfahren hatte. Aber dieser Ruck war stärker. Eben war die Erde, auf der er gegangen war, noch ein dunkler und unsicherer Schauplatz gewesen; jetzt war sie Grund und Boden seines Lebens. Er klopfte an die Tür des Holzhauses. Drinnen wurde gebrummt, ein Licht huschte an zwei, drei Fenstern vorüber. In dieser Minute des Wartens dachte Liau an seinen Bruder. Aber der schmerzte ihn nicht mehr. Er dachte auch an seinen Sohn. Gewiss war er gesund und stark. Er brauchte ihn ebenso wenig wie er ihn. Das Licht ging wieder aus, vielleicht weil er nicht gerufen hatte. Liau klopfte ärgerlich zum zweiten Mal mit beiden Fäusten an die Tür: „Ho, ho, ihr da drinnen! Hört ihr! Entschließt euch! Macht auf!"


II
Wo wir auch hingeblasen werden, dachte Pali, diese Bordonis und ich, irgendwo rutschen wir doch mal zusammen in eine Kuhle. „Kennen Sie hier jemand im Haus, der Bordoni heißt?" _ „Da müssen Sie eins von den Weibern fragen, die wissen alles."
Pali suchte im Hof herum. Er stieg die Treppen hinauf und herunter und wollte es schon aufgeben. Endlich hieß es: „Bordoni, es gibt so etwas im zweiten Hof links."
Wie Pali im zweiten Hof links suchte, da stand im Kellerfenster ein Gestell mit Knoblauchkränzen. Das kam ihm bekannt vor. Er rief in den Keller hinunter: „Bordoni!" Eine Frauenstimme antwortete: „Was gibt es denn?" Pali lachte. Jetzt hockt sie da unten und guckt herauf und sieht meine Fresse im Kellerloch, da wird ihr der Schreck in die Glieder fahren.
Eine Antwort kam nicht, aber er hörte Schritte, und gleich darauf wurde die Kellertür aufgemacht. •
Et musste sich wohl auch verändert haben, denn Frau Bordoni erkannte ihn nicht gleich, sondern blinzelte, geblendet vom Abendlicht, das über die Kuppel von Ste-Cathérine über die Dächer von Brüssel strömte, aus den goldenen Rillen der Dachkanten auf das Hofpflaster tropfte. Auch er hätte sie kaum wieder erkannt. Sie war mal anmutig gewesen, das war jetzt weg. Schon das letzte Mal war nichts mehr davon übrig gewesen, aber jetzt konnte man überhaupt nicht mehr glauben, dass etwas davon dagewesen war. Aus ihrem Gesicht war das fahrige, graue Haar in zwei Büscheln hinter die Ohren geklemmt. Nur die Ohrringe klapperten noch immer, als hätte sie vergessen, sie abzulegen.
Dann erkannte sie Pali und lächelte. Nicht nur über ihr Gesicht, durch die ganze Frau Bordoni lächelte es bis in ihre Füße, bis in die Fingerspitzen ihrer ausgebreiteten Arme. „Bist du's denn wirklich, Pali? Komm herein."
Unten war es schon fast dunkel, bis auf einen schmalen gelben Sonnenstreifen, der den Boden in zwei Teile teilte. Eine Holzlatte trennte den Raum vom übrigen Keller; von der anderen Seite drückten sich Kinder dagegen. Unter der Luke stand ein Korb, der Korb der Frau Bordoni aus Bordesiglio. Ein junger Knabe - nicht allzu viel jünger als Pali gewesen war, wie er die Gasse im zehnten Bezirk verlassen hatte - saß dahinter und las. Kisten waren aufgestapelt, und irgendwo erblickte Pali einen bunten Fleck, den er kannte: Bordonis Decke. „Wo ist Bordoni?"
„Bordoni! Der ist längst weg - nach drüben. So setz dich doch, Genosse, habe es nicht so eilig. Wir werden eins dem andern alles erzählen."
Der gelbe Sonnenstreifen wurde dünn, ein Faden, verlor sich. Hinter dem Holzverschlag, der die beiden Familien trennte wie zwei Sorten Geflügel, entstand die verworrene, unnütze Unruhe eines mürrischen Heimkommens, eines kläglichen Abends. Rechts und links wurde Licht gemacht.
In diesem Augenblick kam es über den Hof gelaufen, die Tür sprang auf, Giulia hüpfte herunter. Sie erkannte Pali und errötete. Sie wusste nichts zu ihm zu sagen, aber sie machte sich mit ihren langen dünnen Beinen und Armen um ihn herum zu schaffen mit den frechen und ängstlichen Bewegungen der Halbwüchsigen, die nicht weiß, ob sie sich der kleinen, selbst noch ungewohnten Brust schämen oder sie zeigen will.
„Setzt euch doch", sagte Frau Bordoni zu Pali und ihren beiden Kindern. Sie machte den Korb auf, holte das Brot heraus, das oben lag, und pflückte aus dem Knoblauchkranz ein paar Zwiebeln. Alle fingen still zu essen an. Pali war es jetzt, als sei er mal wieder daheim. Er hing doch sehr an dieser Familie, auch ohne Bordoni. Er hatte das nicht so gewusst. Die andern spürten wohl dasselbe mit ihm, wenn sie auch nicht viel darüber nachdachten.
„Giulia ist so groß geworden - und ich bin ein kleiner Stups geblieben. Wenn ich wiederkomme, können wir uns lieben."
Giulia lachte auch ein wenig, aber ihre Wimpern zuckten auf, ab - warum nicht schon diesmal?
„Wie, Bordoni ist nach drüben gegangen, für ganz?" „Ja, für ganz. Es war sein allergrößter Wunsch, du kennst ihn ja. Du weißt es ja, ganz aus Eisen ist er nicht, mein Bordoni, man muss ihm oft mal einen Schubs geben, auch bei dem, was er selbst will. Es ist da eine Gelegenheit gekommen - ,Fahr', hab ich gesagt - hat er gesagt: ,Aber du, Katarina, wie willst du das machen, und die Kinder?' Hab ich gesagt: ,Lass mich das machen. Wenn von uns allen eins rauskommt, das ist sehr viel wert. Da häng ich mir ein paar Zwiebelkränze um, stell mich rüber auf den Markt, wo Italiener und Juden kaufen. Fahr du nur und sieh, wie es ist, und wir kommen nach.' Sagt er: ,Das ist so eine Sache mit dem Nachkommen. Da kann dir bald der Atem ausgehen, in dieser Stadt, und noch mal so 'n Winter.' Da hab ich gesagt: ,Mir geht schon der Atem nicht aus, denk nicht an meinen Atem, denk nicht und frag nicht und fahr.' Also ist er gefahren. Was sagst du? Ist es gut, dass er gefahren ist?"
„Nun, für ihn ist es gut! Hat er geschrieben?"
„Geschrieben? Ah, er hat einen Brief geschrieben -"
Sie holte ihn aus der Tasche, machte ihn glatt und gab ihn dem Jungen. „Lies du, er kann so gut vorlesen." Giuseppe, mit schüchternem Gesicht und im glühenden Tonfall seiner Muttersprache:
„Meine teure Katarina! Brigelli und ich, wir sind jetzt sechs Wochen in diesem Land. Man hat uns Plätze gegeben in einer Fabrik, sie macht Maschinen, und man hat uns diesen Platz gegeben, weil die Armaturenwerke in Bologna dasselbe gemacht haben. Die Stadt, in der wir arbeiten und welche drei Tage von Moskau entfernt liegt, in der Ebene, ist noch keine Stadt, nur die Fabrik ist da und Baracken und ein Spital, doch hat man der Stadt schon diesen Namen gegeben, und man weiß, wie groß sie sein wird und wie viele Straßen sie haben wird, und man hat den Punkt hingezeichnet, wo die Schule stehen wird, und auch einen Fluss wird die Stadt bekommen, obwohl noch keiner da ist, man wird ihn von einem andren Fluss wegnehmen.
Du musst aber nicht denken, dass wir hier immer Sonntag haben. Im Gegenteil, unsere Gelenke knirschen. Auch ist das Brot ein merkwürdiges Brot, schwarz wie die Erde und gar keine glatten Scheiben, sondern Brocken.
Jetzt, wo Du meine Adresse hast, schreibe schnell, Katarina. Oft denke ich an Euch, meine Lieblinge. Ist die Stadt da - vielleicht könnt Ihr dann kommen, ich weiß nicht, wie lange es dauert. Ich küsse Dich, Katarina, ich küsse Dich, meine kleine Giulia, und Dich, Giuseppe, Euch alle umarmt Euer Vater."
„Ich weiß, was du jetzt denkst, Pali. - Du denkst, es war nicht recht von ihm, uns allein zu lassen."
„Ja, wenn du's schon selbst sagst - so was Ähnliches hab ich gedacht."
„Aber sieh mal, Pali, die Menschen sind doch keine Bäume -man braucht die nicht erst abzuhacken, kann sie nicht hindern, ihre Füße voreinanderzusetzen. Aber der Brief war gut, wie?"
„Ja."
Frau Bordoni räumte zusammen, schüttelte die Decken aus, schimpfte mit Giulia, die am Tisch sitzen blieb. In dem zarten, mageren Gesicht des Kindes war die untere Hälfte lachend und die obere traurig. Denn Pali dachte jetzt nicht an Giulia, sondern sprach leise mit ihrem Bruder.
„O ja, ich arbeite, ich lese, ich lerne, ich arbeite im Jugendverband."
Frau Bordoni rief dazwischen: „Sehr viel arbeitet mein Giuseppe."
Giuseppe runzelte die Stirn. Bordoni hatte in wenigen seltenen Augenblicken ähnlich ausgesehen. Aus diesen wenigen seltenen Augenblicken seines Vaters war Giuseppes Gesicht ganz und gar gemacht.
„Möchtest du auch hinüber?"
„O ja." Seine Antworten waren ruhig, aber er errötete bei jeder Antwort. „Im vorigen Jahr war Brigelli aus Bologna da, auch andere waren da und erzählten von daheim -" „Da sehnst du dich -"
„Nach dahin und nach dorthin. Vielleicht ist es nicht richtig, aber mehr noch -" Giuseppe machte eine schnelle und heftige Bewegung gegen die Latte in der Richtung, in der er Bologna vermutete, die Armaturenwerke, die Illegalität und die Vorbereitung zum Endkampf, „nach dorthin!"
„Jetzt in die Klappe", rief Frau Bordoni. Sie machte das Licht aus, aber nebenan war es noch hell. Man konnte durch die Latte die ganze Familie halb eingeschlafen um einen großen brütenden Mann herumsitzen und -liegen sehen. „Ist das immer so?" „Immer."
Frau Bordoni fing leise von neuem an, als alle verstaut waren: „Sag mal, Pali, wird er uns kommen lassen, was glaubst du?" „Möglich -"
„Aber, wenn nicht - Es heißt was, sich über Wasser halten. Ich sage dir, hart sind in dieser Stadt die Menschen zu einem, ich glaube, so hart waren die Menschen noch in keiner Stadt und noch nie.
Muckst du dich, heißt es: Raus. Wir haben nicht mal für uns und die da oben - wie die Wanzen vom Bettuch - möchten sie dich glatt vom Erdboden abschütteln, wenn du nicht festhältst."
„Hör mal, wenn dir das was nützt, ich kann ein bisschen zusehen, mal hier bleiben, unter die Arme greifen."
„Nicht schlecht, Pali."
Minutenlang schienen alle erleichtert einzuschlafen. Schon ordneten sich ihre Atemzüge in einem breiten Schlaf. Doch fing Frau Bordoni noch mal an: „Als ob Bordoni gewusst hätte, dass du schon kommen wirst Sag selbst."


III
Auf der Landstraße vor den herabgelassenen Schlagbäumen stauten sich die Wagen der Marktbauern. Es regnete in Strömen. Drin in der Stadt war noch tiefe Nacht. Im Inneren der Plandächer, die wie mächtige Hauben die Körbe und die von Kälte verquollenen, verstörten Gesichter der Bauern umspannten, zuckten Laternen. Aber der Rostfleck im grauen Himmel, das war unzweifelhaft Tag. Alle Menschen, die vor den Schlagbäumen warteten, spürten, wie die Stadt bis zum Rande mit etwas Grauenhaftem erfüllt war. Sie starrten fragend in die Gesichter der Wachsoldaten. Aber die Soldaten rührten sich nicht, die Gesichter gegen die Wartenden gerichtet und die Rücken fest angelehnt gegen das Furchtbare.
Jenseits der Schlagbäume, rechts und links der Landstraße, die unter den zurückweichenden Bergen in die Ebene führte, standen zwei oder drei Schenken und kleine Gruppen ineinandergewachsener Hütten. Manchmal gehörte ein Stück Ackerland dazu; doch sahen sowohl die Häuser wie die Menschen in ihnen aus, als seien sie im Begriff, mit der Straße weiterzuziehen. Diese Kneipen waren immer voll: Erntearbeiter, am Rand der Ebene hängen gebliebene Männer, die um Arbeit ins Sägewerk gekommen und nicht eingestellt oder schon weggeschickt waren, aus den Gefängnissen Entlassene, vom Hunger Vertriebene, die hier ihre erste Station machten.
Als jetzt die Bauern, von Regen und Morgenkälte eingeweicht, zögernd in die Kneipen unterschlupften, da redeten diese Eingesessenen ganz klar und nackt von allem, was sich in der Stadt zutrug. „Das, was in der Stadt ist, das ist der Belagerungszustand. Man hat doch auf den Herbst Wahlen ausgeschrieben. Da haben sie auch hier vorher das Komitee der Kommunisten ausgehoben, man hat ein Standgericht gemacht, einen hat man schon gestern gezwungen, aus dem Fenster zu springen, viere hat man heute gehängt. Man hat den Kasernenhof aufgelassen, damit alle, die Lust haben, sie betrachten können. Man hat ihre Namen dazugeschrieben, und das sind ihre Namen: Dimo Straschimiroff, Naiden Siaroff, Iwan Nakoff und Michael Dudorf."
„Hast du gehört?" sagte einer von den Bauern, „sie haben Dudoff gehängt."
Der andere fürchtete sich, eine richtige Antwort zu geben, und sagte nur verdrießlich: „Ja, ich höre schon."
„Sie waren alle ganz lang geworden und ganz verzogen vom Regen und ganz grün angelaufen."
Und wieder fragte der Bauer, ein alter Mann mit einem an den Spitzen geringelten Bart wie der heilige Ignaz: „Und Dudoff, war auch er langgezogen und grün angelaufen?"
„Ja, gewiss. Er hat außen gehangen, an vierter Stelle. Du kannst ihn ja ansehen, wenn du Lust hast."
Seine Gefährten stießen ihn rechts und links an, dass er endlich still sein sollte, aber er zupfte nur an seinem Bart und sagte: „Ja, ihn möchte ich wohl sehen."
Andreas zupfte Dimoffs Finger - der nahm jetzt oft den Knaben mit in die Stadt -, er fürchtete sich, wünschte aber gleichfalls die Galgen zu sehen. Aber Dimoff achtete jetzt nicht auf das Kind. Er saß aufrecht und unbewegt da, auf jedem Knie eine Faust, nur seine Blicke flogen schnell von einem Gesicht zum andern. Die Bauern drückten sich dicht an der Tür zusammen und schwiegen. Die Eingesessenen fuhren fort zu lärmen und zu streiten, wie sie offenbar schon die Nacht durch gestritten hatten. „Alles umsonst, solange es Holz gibt, wird es Galgen geben, man hat sie gehängt, und man wird sie hängen, sie nützen sich nichts und nützen uns nichts."
„Wieso umsonst? Umsonst hängen die Henker. Schluck du deine Umsonste und werde satt davon."
So redeten die Menschen offen und gleichgültig, als gebe es keinen Unterschied, die Schlinge um den Hals zu haben oder das nackte Leben.
„Da haben sie alles abgeschrabbt, aber am nächsten Morgen blühte wieder das Flugblatt wie Schimmel an den Wänden."
Dimoff fragte zwischen den Zähnen, man fand nur seine Frage heraus, aber nicht sein Gesicht. „Was für ein Flugblatt?" -„Gelbes, schwarzrandiges Flugblatt: Wer wählt wen?" Die Bauern drückten sich noch enger zusammen und schwiegen weiter. In ihren Köpfen drehten sich die Gedanken unablässig, ohne leer zu laufen. Aber die andern waren längst mit dem Denken fertig, schrieen und sangen das Spottlied:
„Der pfäffische Malikoff. Der seiltanzende Alexandroff. Der vor Angst naßhosige Kosturkoff."
Dann wurde die Tür aufgerissen, Soldaten sprangen herein, der gesungen hatte, wurde weiß im Gesicht, nicht nur weiß, sein Gesicht fiel förmlich ab von einem neuen weißen, kühnen, auf das Äußerste gefassten. Aber es ging nicht um ihn, um etwas andres - sie hatten sich in der Tür geirrt und stürzten weiter. Manche rannten jetzt fort, um zu sehen, was es jetzt draußen gab. Andre kamen schon zurück, das Flugblatt sei außerhalb der Schlagbäume aufgetaucht. In der offenen Tür standen noch zwei Soldaten. Über das weiße Gesicht des Burschen wuchs das alte gewöhnliche Gesicht zusammen, er zog frech im Angesicht der Soldaten die Harmonika in ellenlangen Tönen, dünn und süß wie Sirupfäden. Dimoff saß noch immer unbewegt, die Fäuste auf den Knien. Nur wie die Tür aufgerissen wurde, hatte er die abgespreizten Daumen nach innen gekrümmt. Jetzt knallte die Tür wieder zu. Die Stille schlug um in Gelächter, die Angst in Hohn. Ein kleiner, hutzeliger Mann mit einem roten Bärtchen, der wie ein verkniffener Bauer aussah, wenn er schwieg, aber sofort ganz anders, wenn er redete, begann - obwohl er mit geschlossenen Lippen sprach, horchten alle sofort: „Spätabends sah die Wache hier einen durchschlüpfen. Sie ließ ihn schlupfen und schlupfte nur hinterher, um zu sehen, wo er hingehörte. Da schlug er ein Blatt an den Schlagbaum, sie wollte zugreifen, aber dann dachte sie, ich muss doch mal sehen, wo er hingeht. Er lief also weiter, und sie immer dicht hinterher. Er schlägt da und dort ein Blatt an, sie kommen auf den Borisplatz, da geht er ganz frech quer über den Platz und klebt sein Blatt an den Reiter, dann geht er in die Markusgasse, die Wache hinter ihm her. Er geht in ein Tor, aber er geht wieder heraus, geht über die Brücke, schlägt sein Blatt an den Brückenkopf und geht gegen die Kaserne. Er schlägt sein Blatt an und wartet, und geht zwischen den Schildwachhäusern in den Hof und schlägt auch innen an. Drinnen im Hof stehen die Galgen, da bleibt er stehen unter dem vierten Galgen und sieht hinauf. Die Wache sieht auch hinauf und erschrickt, denn der vierte Galgen ist leer. Da steigt der Mann auf den Galgen und schlupft in die Schlinge, und da hängt er wieder."
Alle lachten scharf. „Du bist ja gut." Sein Gesicht wurde wieder ein verkniffenes Bauerngesicht. Dimoff packte Andreas bei den Ohren. „Fürchte dich nicht, tot sind die Toten."
Dann wurde wieder lange gestritten, die Herzen aus den Kehlen. Dann fiel einer nach dem andern erschöpft aus dem Streit zurück in das Seinige, grübelte über seinen eigenen kommenden Tag, den brot- und uferlosen. Bis der, der schon mal losgesungen hatte, seine Harmonika krümmte und alle mit stöhnten. Stille. Dann aber, unerwartet, zu seiner eigenen und aller namenlosen Erleichterung, wurde aus der Stille etwas, das aus ihm herauskam:
„Sei ruhig, meine süße Liebste,
Ich werde dich küssen und lieben.
Sei ruhig, meine Liebste,
Ich werde dich schon sehr lieben.
Wenn wir davongescheucht haben
All deine Schmeißfliegen,
Dann werde ich dich lieben,
Oh, wie werde ich dich lieben.
Meine Liebste,
Land zwischen Isker und Struma,
Braunes, goldmähniges, pflaumengespicktes,
Aus heißem Herzen lieben."
Dann wurde die Tür aufgeschlagen, ein Zustrom von Menschen kam herein, Geschäftsleute mit Taschen, Körben und Höckern, die in die Stadt wollten und fluchten, weil sie nicht herein konnten, einerlei warum. Sie brachten klaren, beißenden Tag mit. Alles riss auseinander, die meisten standen auf. Draußen rief jemand: „Der Schlagbaum geht hoch!"


IV
Janek wurde in das Gefängnis St. Michael überführt. Es hatte allerlei Durcheinander gegeben und war spät geworden. Der Aufseher, der ihn abholte und in die Zelle führte, unterdrückte ein Lächeln. „Da sind Sie ja wieder einmal."
Janek drehte sich um, erkannte den Alten. „Was, noch immer hier. Was gibt es hier, wer ist noch da?"
„Seien Sie still, Janek, machen Sie mir keine Scherereien. Kennen Sie Stanski?"
„Ja, ist der hier?"
„Ja. Wie viel gab's denn diesmal, Janek?"
„Acht, zwei hab ich hinter mir, sechs vor mir, wenn nichts dazwischenkommt."
Beide lächelten kurz auf, erloschen.
Die Zelle wurde aufgeschlossen. Drin rief es: „Was gibt es denn noch - halten Sie die Tür auf, damit wir ihn sehen können."
Der Alte wurde plötzlich wütend. „Sie werden noch lange genug Zeit haben, einander in die Gefrisse zu sehen - werden sich einander die Fresse satt sehen!" Er schloss ab, es war jetzt stockdunkel. Janek suchte sich zurecht. Er fragte ins Dunkle hinein: „Ist hier Stanski?" - „Ja, hier bin ich."
„Ich bin's, Janek." - „Ah, aha, Janek." Sie suchten einander im Dunkeln ihre Hände.
„Wie ist's mit dir, wo kommst du her?"
„Was gibt es hier? Wie viele sind wir hier?"
„Die Order ist schon raus. Gleichstellung mit den Kriminellen, soll am 1. Januar in Kraft treten, wird aber schon jetzt durchgedrückt. Man hat die alte Direktion abgesetzt, man kann uns jeden Tag auseinanderlegen."
Sie fragten und antworteten. Es wurde Morgen. Janek konnte allmählich die Gesichter sehen. Die Gefährten richteten sich gleichfalls auf und betrachteten Janek. Aus der triefenden, milchigen Dämmerung der Zelle tauchte Stanskis Gesicht auf, sie reichten sich noch mal die Hand. Janek erblickte einen älteren, finsteren, misstrauischen Menschen, der sich nicht einmischte und keine Lust hatte, etwas zu fragen. Er glich so sehr Dombrowski, dass Janek sein ganzes Leben aus seinem schwärzlichen, verächtlichen Gesicht ablesen konnte. Dann erblickte er einen jungen Gefangenen, der ihn unausgesetzt betrachtete. „Wie heißt du?"
- „Labiak." - „Zum ersten Mal?" - „Ja", erwiderte Labiak verwundert.
Sie fuhren fort, zu fragen. „Hast du Nachricht vom Parteitag?" Sie quetschten ihn aus, es kamen immer noch Tropfen. Seine letzten Nachrichten kamen von Anka, die er in diesem Monat vor dem Umtransport gesehen hatte. Sie war wieder mit dem kleinen Sohn gekommen; das Kind war so ruhig und hell wie Anka, man hätte die beiden wie Holzpuppen ineinanderstellen können. Es fasste ihn an der Hand. „Komm mit." - „Geht nicht." - „Warum?" Die letzten Worte, die er von Anka hörte, zu dem Kind: „Still -unterwegs." - Was wird sie ihm sagen, jetzt, wenn sie herausgehen, diese beiden, in die Stadt, dachte Janek, der gleich nach dem Besuch fortgebracht wurde. In den nächsten sechs Jahren, wenn ich sie dann und wann wieder sehe, wird das Kind jedes Mal einige Zentimeter größer sein, von Ankas Helligkeit wird immer etwas mehr weg sein; werde ich das überhaupt merken? Ach was, nichts wird weg sein, solche Gedanken sind nichts für uns. Er riss seine Gedanken von Ankas Besuch und den sechs kommenden Jahren ab zu den Nachrichten, die sie gebracht hatte
- dieselben Nachrichten, die seine Genossen jetzt gierig aus ihm heraussaugten. Janek wusste, was solche Nachrichten bedeuteten, erzählte so ausführlich wie möglich; „Wie lange hast du eigentlich?"
Janek sagte nochmals: „Acht Jahre, zwei hinter mir, sechs vor mir, wenn nichts dazwischenkommt." Er wandte sich dem jungen Labiak zu, dessen Blick nicht lockerließ. Der Jüngere betrachtete Janek mit offener, fassungsloser Neugierde. Die kurze Haft hatte seiner Haltung und seinen Zügen die Herkunft noch nicht ausgelöscht.
„Dombrowo?" - „Ja."
Sein Vater und seine Brüder und er selbst, Parteilose, hatten sich am ersten Streiktag dem Komitee zur Verfügung gestellt. Die Streikposten waren verhaftet worden, alle bekamen Strafen von sechs bis zehn Jahren. Die bevorstehenden Jahre erschienen Labiak so unausdenkbar furchtbar, dass er sich überhaupt keine Vorstellung über ihren Verlauf machte, Tag für Tag gedankenlos hinnahm. Janeks nächtliche Einlieferung, die Fragen ins Dunkle, sein Gespräch mit Stanski, das hatte alles auf Labiak
tiefen Eindruck gemacht. Er starrte Janek an, der von seinen sechs Jahren sprach wie von gewöhnlichen Jahren, dem unruhigen Lauf des Lebens eingefügt. Dieser selbe Janek aber war ein kleiner runder Bursche, zu Witzen aufgelegt - er hatte zwischendurch mal schnell seine Bürste unter Stanskis Hintern geschoben -, mit flinken, vor Lustigkeit funkelnden Augen. Labiak betrachtete und betrachtete ihn, als wollte er entdecken, an welcher Stelle Janeks Kraft saß.
Janek begriff Labiaks Gedanken. Er konnte im Augenblick nichts andres für ihn tun, als was Solonjenko damals für ihn getan hatte. Er legte seine Hand auf Labiaks Kopf, glatter, fester Kegelkopf. Labiak wusste noch nicht, ahnte aber, dass die gleiche Kraft schon in ihm selbst drin war, während Janeks Hand noch auf seinem Kopf lag.