Larissa Reisner - Oktober (1924)
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AUS DEM ZYKLUS FRONT

KASAN

Die Stadt ist noch nicht genommen, aber die Niederlage ist schon besiegelt. Die Türen der verlassenen Räume knallen zu, überall auf dem Boden - Papierfetzen, die verschiedensten, wahllos durcheinandergeworfenen Sachen.
Nichts ist schlimmer als der Rückzug. Aus allen Winkeln tauchen unmerklich die Gesichter von Nachbarn auf, die man monatelang nicht gesehen hat.
Knöpfe in verblichenem Glanz, Dinge, die wie Kokarden aussehen, sogar wie Ordensbänder - aber alles noch versteckt, im Dunkel der sich leerenden Korridore, alles bei Menschen, die noch nicht wagen, ihr feiges und wildes „Fass ihn, fass ihn!" auszurufen. Vor dem Hauseingang: dunkle Umrisse vorüberziehender Batterien, staubige, verbissene, böse Gesichter, schrille Rufe; irgendwo dröhnen Räder übers Pflaster, Pferdehufe klappern. Der letzte Widerstand wird vorbereitet. Die Fensterscheiben klirren von den schweren, vorüberjagenden Lastautos, ihre lärmende Flucht tötet die letzte Hoffnung... schrecklich. An den Türen, an denen noch weiße Schilder unnötig schimmern - „Organisationsabteilung", „Sekretariat" - nehmen einige Frauen von ihren Nächsten Abschied, und hinter ihnen drein fegen freche Diener den revolutionären Schmutz von den roten Läufern. Der Staub fliegt, Bürsten scheuern herausfordernd. Hier steckt die Bitterkeit, der Dreck des Misserfolgs - in dem Besen eines Lakaien, der unsere frischen Spuren auf die Straße hinausfegt. Seltsam, dieses Gefühl: an unbekannten Häusern mit festverschlossenen Türen und Fenstern vorüberzugehen; zu
wissen, dass man dort hinter den Mauern dieses verfluchten Hotels bis zum letzten kämpfen wird.
Einige werden gewiss umkommen, einige werden sich retten, andere wird man gefangen nehmen. In solchen Augenblicken vergisst man alle Worte, alle Formeln, die uns helfen, die Geistesgegenwart zu bewahren. Es bleibt nur das spitze, schneidende Gefühl des Grams und darunter, ganz in der Tiefe, kaum spürbar - dasjenige, „in dessen Namen" man flüchten oder bleiben muss. Das tränenschwere Herz wiederholt immer wieder: man muss ruhig fortgehen, ohne Panik, ohne erniedrigende Eile.
Aber wenn ein Geschoß zuerst vorüberfliegt, in die sumpfige Wiese am Kreml, und dann schon in das Stabsgebäude, wo sie sich noch aufhalten, sie, die letzten, die fortgehen werden, wenn man nicht mehr fortgehen kann, da geht jede Haltung zum Teufel, es zieht einen unwiderstehlich zurück.
Ich bin unter den Kleidern mit Papieren, Stempeln und mit noch etwas sehr Geheimem behängt, was ich mitnehmen und dem ersten Stab, dem ich begegne, übergeben soll. Ich drehe mich nicht um, wenn Geschosse pfeifen - sie schlagen immer häufiger in das weiße Gesims des „Sibirischen Hotels". Ich versuche, nicht mehr an die Hausdiener zu denken, nicht mehr an die Staubwolken, die ihre Besen aufwirbeln, nicht mehr an das Panzerauto und an den entsetzlichen, aufgeweichten Weg, den es passieren - oder nicht passieren? - wird.
Neben mir flüchtet eine Familie mit Kindern, Pelzen und Samowaren; etwas weiter vor mir zerrt ein Weib eine Ziege am Strick hinter sich drein. In ihren Armen liegt ein Kind. Wo man auch hinblickt, längs dieser goldenen Herbstfelder, ein lebendiger Strom von armen Menschen, Soldaten, mit Hausrat beladene Fuhren, Handwagen, mit Pelzen, Bettdecken, Geschirr. Ich erinnere mich, um wie vieles leichter es in diesem lebendigen Strom hätte sein können. Wer sind diese Flüchtlinge? Kommunisten? Wohl kaum. Das Weib mit der Ziege hat gewiss kein Parteibuch. Bei jedem Schuss, bei jedem Ausbruch des panischen Schreckens, der die Menge aufrüttelt, bekreuzigt sie sich in der Richtung jedes sichtbaren Kirchturms. Es ist einfach das Volk, die Masse, die sich vor ihren alten Feinden rettet. Ein ganzes Russland, das mit seinen Habseligkeiten auf den Schultern auf dem schlammigen Wege vor den tschechoslowakischen Befreiern flieht (Anm.: Gemeint sind die ehemaligen kriegsgefangenen Tschechen und Slowaken, die nach dem Ende des ersten Weltkrieges in Russland geblieben waren und mit Hilfe der Sozialrevolutionäre und der Entente von Mai bis November 1918 einen konterrevolutionären Aufstand machten.).
Draußen hinter der Stadt wurde der Strom der Flüchtlinge seichter. Aber noch immer gingen Frauen und Kinder mit ihren Wagen weiter, ohne zurückzublicken, ohne auf den Weg zu sehen, getrieben von einem gewaltigen sozialen Instinkt. Vereinzelte Menschen schritten ohne Hut und Mantel, einige mit krampfhaft unter dem Arm festgehaltenen Aktentaschen schlugen in strömendem Regen Seitenpfade ein oder gingen geradewegs über schmierige Felder, stolpernd, fallend, sich wieder erhebend, bis sie zur Nacht in entfernten Dörfern eintrafen.
Der leichte Sommerregen wurde zu einem Platzregen, die Felder wurden schwarz, unbeschreiblich schwer. Eine aufgequollene blaue Wolke hing über dem jetzt schon besetzten Kasan. Der Geschützdonner verstummte, und unter dem Gewitterhimmel begannen lautlos Brände aufzuflammen, fernes Wetterleuchten. Gelangweilt flog eine Schar Krähen nach dem Vorwerk.
Wie lange wir gegangen und wohin, das weiß ich nicht mehr. Aber es ging immer über aufgepflügte Felder, über nassen Lehm, der jeden Schritt festhielt, es ging, wie wir glaubten, in der Richtung auf Swijashsk. Bei der Flucht, zu mal in den ersten Stunden, hängt vieles von dem dumpfen Instinkt ab, der uns zwingt, von drei Dörfern gerade dieses eine zu wählen, von mehreren Wegen gerade diesen und nicht die anderen beiden. Alle Gefühle spitzen sich zu - der Blick eines Fußgängers, die Silhouette eines Bauern, das Bellen eines Hundes -,alles nimmt die Färbung der Gefahr oder des zuversichtlichen „Es wird schon gehen" an.
Allen anderen voran marschierte mit bloßem Kopf, in einer durchnässten, fatal anständig aussehenden Jacke ein verantwortlicher Parteiarbeiter, der Genosse B. Dieser verstand nichts von den geheimnisvollen Wegweisern unserer Flucht - er sah schlecht und überlegte schlecht. Er hätte sich am liebsten hingelegt und geschlafen - nach den letzten krampfhaften Nächten in der Stadt. Ein kleiner Matrose führte uns. Mit seinen ein wenig krummen Beinen schritt er fest und sicher durch den Lehm, der Regen hinderte sein einziges munter leuchtendes blaues Auge nicht am scharfen Sehen, überhaupt, man fühlte sich ruhig mit ihm. Nachdem er mit der „Aktentasche", die, von Wind und Müdigkeit getrieben, kopflos vorwärts steuerte, eine Weile gestritten hatte, machte er eine scharfe Wendung nach links und zwang uns so, einen weiten Umweg um das erste Dorf zu machen: Wir stießen bald auf eine im Dunkeln schimmernde Chaussee, auf welcher wir nun ohne Zögern zum zweiten Dorf gelangten. Unser Kommandeur hieß uns „vor Anker gehen", ging ein Stück Weges allein weiter und klopfte an die Fensterscheibe eines dunklen Hauses.
Wir schliefen auf dem Fußboden; es war ein Genuss, die durchnässten, schweren Stiefel von den Füßen zu ziehen. Weiches Heu, menschliche Wärme, das Licht einer heiligen Lampe in der Ecke. Und im Halbschlaf, der alle giftigen Gedanken zur Ruhe brachte - ein Stück warmen, schwarzen Brotes. Am Morgen stellte sich heraus, dass das ganze Zimmer voller Flüchtlinge war, aber das wollte niemand eingestehen. Es begann eine Hetze, jeder verteidigte sich, wie er konnte, und suchte seiner Flucht diese oder jene Deutung zu geben. Unser „Verantwortlicher" oder unsere „Aktentasche", wie wir ihn auch noch nannten, beschloss, mit der Naivität eines echten Städters und Intellektuellen, sein Inkognito zu wahren. Sein schöner Hut war plötzlich verschwunden und machte einer wild aussehenden Mütze Platz, in der die „Aktentasche" auf einmal das Aussehen eines Sträflings bekam. Der Wirt unserer Herberge war ein Dorfschullehrer. Er hätte sehr gern den Siegeston angeschlagen, aber der Besiegten waren so viele, und sie sahen so finster drein, dass er sich darauf beschränkte, ihnen gute Lehren zu erteilen. Im großen und ganzen war er ein guter Mensch, er gab uns allen zu essen, ohne etwas dafür zu verlangen, und wies uns ohne jede Tücke den Weg nach Swijashsk. Er begleitete uns sogar bis zu dem Fußpfad - mit hitzigem Armfuchteln und vielem Gerede: Wir diskutierten ein wenig über die konstituierende Versammlung. Dieser Pfad, den der Lehrer uns führte, hat uns gerettet; Auf der großen Landstraße, die die meisten eingeschlagen haben, warteten bereits Posten im Hinterhalt. Swijashsk? Warum gerade Swijashsk? Der Name dieser kleinen Station am Wolgaufer, die in der Folge bei der Verteidigung und Rückeroberung von Kasan eine so große Rolle gespielt hat, weil sich dort die Kerntruppen der Roten Armee formierten, dieser Name ist bei der Flucht aus Kasan irgendwie im Gedächtnis geblieben; man wiederholte ihn, erinnerte sich seiner, als Rückzug und Panik ihren Höhepunkt erreichten.
Hatte der Armeestab gerade Swijashsk als Basis für die Verteidigung bestimmt, oder der Instinkt der Selbsterhaltung diesen Namen in die flüchtende Menge geworfen -jedenfalls strebte die Woge der Flüchtenden diesem Orte zu.
Der Bürgerkrieg spielt sich fast immer nur auf den großen Straßen ab. Man braucht nur einen Landweg, einen Feldpfad einzuschlagen, der zwischen saftigen Weiden und braunen Garben führt, und man ist sofort mitten im Frieden, im Herbst, in der durchsichtigen Stille der letzten Sommertage. Wir gehen barfuss, Stiefel und Brot hängen an einem Stock über der Schulter. Der Matrose hat irgendwo eine lange Hirtenpeitsche gefunden, und er knallt mit ihr so unbarmherzig hinter dem Rücken der „Aktentasche", dass diese jeden Augenblick zusammensinkt und nahe daran ist, in Tränen auszubrechen. Ja, es muss zugestanden werden, unser Genosse B. war keiner von den ganz Mutigen. In den Dörfern kehrten wir fast gar nicht ein, und wenn, so doch meistens bei den Sektenmitgliedern: dort war es sauberer, die Bauern sympathisierten mit uns, die Milch war so fett wie im Himmelreich und die Frauen so frisch wie Wabenhonig. Die Angehörigen von Sekten haben uns niemals verraten und nie hungrig von dannen gehen lassen.
Am dritten Tage wären wir übrigens beinahe in eine Falle geraten. Unsere „Aktentasche" verletzte sich den Fuß, war müde und jammerte; meine zwei Kameraden - zwei Matrosen - waren so erschöpft von dem langen Laufen auf dem Trocknen und vom Staubschlucken und dem Spiel als Zivilisten, dass ihr vereinigtes Gejammer sogar den Widerstand Mischkas (unseres einsichtigen Führers) brach. Er gab ihnen nach, und wir kehrten in ein Dorf ein, nachdem wir es ein wenig ausgekundschaftet hatten. Anfangs ging alles gut: kühle Holzstufen am Hause, auf denen es sich gut sitzen ließ, hartgesottene Eier, Tee, Gurken und ein sich vollkommen neutral verhaltender Wirt. Und plötzlich, wir fangen gerade an, in gute Stimmung zu kommen, taucht von irgendwoher ein Herr im blauen Kaftan und rotem Gürtel auf, mit einem Bart „à la russe" - etwas von der Art eines ausgedienten Landpolizisten oder eines kriegerisch veranlagten Gutsbesitzers. Unser Wirt warf ihm einen kurzen Blick zu und wurde auf einmal noch grauer und schweigsamer. Der Blaue betrachtete lebhaft interessiert die „Aktentasche" mitsamt ihrer Aktentasche, unseren Mischka, der in aller Ruhe seinen Tee trinkt, und die beiden, sehr wohlanständig und sogar sehr friedlich aussehenden Matrosen. Und es beginnt ein ganz harmloses und ruhiges Gespräch.
„Sie sind wohl aus Kasan, Flüchtlinge?" Unser Führer antwortete für alle: „Nein, wir suchen einen angenehmen Landaufenthalt. Ein Häuschen mit einem guten Ausblick auf den Fluss und überhaupt mit allen Bequemlichkeiten. Können Sie so etwas empfehlen?" Unser „Ältester" hat ein unrasiertes, wild dreinblickendes Gesicht, er ist ein Vollblutsüdländer, schwarz, immer munter und tollkühn.
Der Blaue kichert: „Ach was, meine Herrschaften, lassen Sie doch die Komödie! Man hat Sie wohl aus Kasan vertrieben? Tüchtig vertrieben, was? Dieser Genosse da hat sogar seine Aktentasche in der Hast mitgenommen. Sie sind wahrscheinlich von den Unsrigen?" Und er zwinkert mit den Augen.
Mischka schlägt eine Volte. Er beginnt zu schildern, welche gewaltige Unterstützung die Rote Armee erhalten hat: „Stellen Sie sich vor, zwanzigzöllige Geschütze aus Kronstadt, Lyditbomben - alles - in zwei, drei Tagen... " Auf einmal wirft er einen scharfen Blick auf unseren Wirt, von diesem nach der Seite - in die Steppe: weit, sehr weit sieht man dunkle Punkte, die schwarzen Piken der Kosaken heben sich gegen den Himmel ab. Der Blaue fährt auf, aber Mischka greift lächelnd in seine Tasche, und wir alle (die „Aktentasche" natürlich an der Spitze) ziehen uns so schnell durch den Garten in das nächste Feld zurück, dass er nicht dazukommt, etwas zu unternehmen. Den Rest des Tages verbringen wir schlafend zwischen goldenen, heißatmenden Garben unweit des Weges. Einige Male reiten Kosaken vorüber, und dann weckt Genosse Mischka die „Aktentasche", damit sie nicht gar so laut schnarche. '
Irgendein Dorf - in dunkler stürmischer Nacht. Endloses Wetterleuchten, knarrende Wagenräder, unruhiges Wiehern der Pferde.
Handlaternen hüpfen im Dunkeln. Erschöpft, vom Wege abgeirrt, erreichen wir den Train einige Minuten vor seinem Abgang. Wohin - nach Swijashsk. Hier ist ein Teil des Stabes, einige übrig gebliebene Truppen, Vertreter der politischen Abteilung. Man erkennt uns. Jemand kommt auf uns zu, betrachtet uns im flüchtigen Schein seiner Laterne...
Die ganze Nacht ziehen die Wagen auf dem durchweichten Wege vorüber, unter strömendem Regen, unter fortwährendem Aufflammen blauen Lichtes. Einer ist stecken geblieben - ein Befehl geht von einem Trainsoldaten zum nächsten: der ganze Zug hält. Laternen hüpfen, man hört das schwere Seufzen des im zähen Sumpf stecken gebliebenen Pferdes, aufklatschende Schritte - es geht wieder weiter. Der Regen prasselt, dumpf knarrt der Fichtenwald, und bei jedem Wetterleuchten sieht man einen Bauern, der die dampfende, vor Müdigkeit zitternde Flanke seines Pferdes stützt, und irgendein weißes, schläfriges Gesicht, nass vom Gewitterregen. Dann erlischt es. Es hat keinen Zweck, den Morgen des nächsten Tages ausführlich zu beschreiben: Er ist wie alle anderen Tage des Rückzugs. Gelegentliches Einschlummern an einem feuchten Heuschober, Schmerz in den wundgelaufenen Füßen, unermüdliche Scherze der Soldaten, besonders wenn sie auf der Feldküche sitzen: ein Ruheplatz, der der Reihe nach eingenommen wird. Hoch aufgerichtet, tief in Gedanken versunken, geht schweigsam die Frau des Genossen Scheimann. Sie sieht nichts, sie hört nichts, spricht mit keinem Menschen. Ihr Kopf im weißen Tüchlein schwebt auf dem Hintergrunde der toten Herbstfelder. Sie weiß noch nicht gewiss, ob er lebt oder tot ist, aber eine Ahnung nimmt immer mehr von ihr Besitz, man kann sehen, wie sie sie immer härter und grausamer packt. Die versteckte, auf ihr lastende Angst macht die anderen bedrückt. Endlich - Wolga, Überfahrt, eine Bahnstation, schwerer Schlaf auf dem Fußboden eines kalten, rissigen Güterwagens. Noch vierundzwanzig Stunden verloren auf nassen, öden Landstraßen. Morgens Stocken, Knarren der Räder, endlich das lang erwartete, ersehnte rasselnde Zucken der Wagen - eine Stunde später sind wir wirklich in Swijashsk. In der Kommandantur - ein Gedränge, ein Hin- und Herfragen... Dann: das steinerne, blutlose Gesicht der Frau des Genossen Scheimann. Ihr Mann ist also wirklich tot. Mischka und ich beschließen, nach Kasan zurückzugehen. Genosse Bakinsky schreibt einen Passierschein auf einen winzigen Fetzen Zigarettenpapier. Und listig mit den blauen Augen zwinkernd: „Geht" - sagt er - „zum Kommandeur des lettischen Regiments, er wird euch gewiss zwei Pferde bis zur Front geben. Von dort müsst ihr schon zu Fuß weitergehen." Und wirklich, die Letten halfen uns aus... Man gab mir Mantel, Hosen, Stiefel, führte zwei Kavalleriepferde vor, aber mein Gott, wie soll man sich auf dieses wilde Biest setzen? Von rechts oder von links, und was macht man dann mit den Beinen und mit den, nicht ohne boshafte Absicht angeschraubten mächtigen Sporen? Wir reiten im Schritt - es geht. Dann im Trab -Angst und Schrecken. Und wir haben vierzig Kilometer vor uns.
Am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit dem roten Fuchs begann unsere zärtliche Freundschaft, die im ganzen drei Jahre dauerte. Weit hinter der Wolga, dicht am Eisenbahndamm, wird das Pferd plötzlich unruhig. Ich gebe ihm einen Schlag mit der Gerte: die nervösen Ohren zittern, das heiße Auge schielt mich an - es geht nicht vom Fleck. Auch die uns begleitenden Kavalleristen machen halt und lachen mich aus. Und plötzlich erheben sich unmittelbar vor uns nacheinander drei Säulen aus dem Boden, drei staubige rote Donnerschläge: drei Tote. Wir bogen in den Wald ein.
Es gab hier viele verwundete Bäume, mit einem sonderbar kreischenden Geräusch fielen die Geschosse ins Dickicht.
Die Bäume stehen still da, wie zum Tode verurteilt, erstaunlich still und gerade. Und ebenso still liegen die Menschen auf einer kleinen Waldwiese unter roten, duftenden Fichten. Die Soldaten und zwei Kommandeure neben ihrer verstummten, lauernden Batterie. Sie waren gerade beim Mittagessen. Im glutheißen Rasen dampften die Suppenschüsseln, zwei und drei Menschen aßen zugleich aus einer Schüssel. Sie fragten uns, aus irgendeinem Grunde flüsternd, als fürchteten sie sich, die kleine Waldwiese zu verraten, nach unseren Passierscheinen und boten uns dann an, an ihrem Mittagsmahl teilzunehmen. Es ging ein komischer Geruch von ihrer Suppe aus: sie roch nach Kohlbrühe und Walderdbeeren, die allenthalben zwischen dem dünnen, trockenen Lanzengras hervorleuchteten. In der Stille, als irgendwo draußen, weit hinterm Walde, ein schwarz verräucherter und fast tauber Artillerist mit Hilfe - einiger Zahlen und seines tierischen Instinkts unseren dunkel geahnten Zufluchtsort suchte - in der Zwischenpause, als die an ihren Fleck gefesselten Fichten Atem holten -, hörte man irgendwo in unserer nächsten Nähe das unschlüssige Trillern eines Waldvogels - es wird wohl eine Meise gewesen sein. Ein Triller, ein zweiter, und es wird wieder still. Die Soldaten hören auf zu essen und horchen aufmerksam in den Wald. Der eine setzt eine geschäftig rennende Ameise auf seinen Löffel und betrachtet sie mit schwerer, konzentrierter Aufmerksamkeit. Und alle fühlen sich leichter, als wieder ein unsichtbares Geschoß heulend über unsere Köpfe fliegt und im Dickicht krepiert, weiße, harzige Späne der zerschmetterten Fichten um sich sprühend. Nicht erwischt, vorbei - und alle Löffel sind wieder in der Suppe.
Wir reiten weiter durch den verzauberten, toten Wald, bis am Waldsaum große, verlassene Sommervillen auftauchen. Hinter den Häusern liegt der Eisenbahndamm -er sieht seltsam aus. Einzelne Waggons stehen zu zweit, zu dritt, weit voneinander entfernt, als ob sie miteinander „Zauberer" spielten, als wenn man sich nur abzuwenden brauchte, damit sie wieder weiterlaufen, um dann, beim ersten Blick, den man ihnen zuwirft, wieder wie überrascht in ungeschickten Stellungen stehenzubleiben. Hier und da liegen tote Pferde, und dieser ganze öde, verlassene Ort wird nur von Zeit zu Zeit von einfallenden Geschossen belebt. Der Stab ist in nächster Nähe, in einer Villa an der Bahnstation. Ungefähr eine Stunde, nachdem wir sie verließen, fand ihn eine entfernt liegende Batterie: einer unserer besten Kommandeure, Genosse Judin, kam dabei ums Leben. Aber als wir dort waren, kurz vorher, lebte er noch, hat uns empfangen. Und in den letzten Stunden seines gesteigert pulsierenden, bis zum Platzen gespannten Lebens füllten wir einige rasche, sachlich-herbe Minuten aus. Er prüfte unsere Papiere, ließ sie vor sich auf dem Tisch liegen, ließ uns Essen und Betten geben. Und während wir uns erholten und Tee tranken, rief im Nebenzimmer (diese Sommerhäuser sind leicht gebaut) jemand telefonisch den revolutionären Kriegsrat in Swijashsk an: „Kennen Sie eine Reisner?... Ja, Reisner? Sie haben ihr den Passierschein gegeben? Ja? Es ist gut... Ja, wir dachten... Na ja... bleiben Sie gesund! Schluss."
Der Mensch, der in irgendwelchen Geschäften in eine Bank gerät, fühlt sich anfangs immer als Dieb. Gitter, einbruchssichere Schränke, dicke Kassenbücher, tadellos gebohnertes Parkett - diese ganze vergitterte Höflichkeit schnappender Schlösser vermutet in jedem Besucher einen Einbrecher und Gauner. Und in dem Augenblick, als das Telefon sich über eine gewisse R. erkundigte, kam mir auf einmal in den Sinn, dass mein ganzes Benehmen verteufelt unglaubwürdig und das Äußere verdächtig sein müsse. Der Teufel hol's, und die Stimme? Ich sagte laut vor mich hin: „Ich gehe nach Kasan mit einem geheimen Auftrag" - eine fremde, falsche Stimme, es ist doch klar: eine Spionin. In der Abenddämmerung kam Genosse Judin zu uns ins Zimmer. Sein Gesicht war fast gar nicht zu sehen, aber die ganze Gestalt - die groben, weiten Gallifethosen, die Sporen, die gelassen in den Taschen ruhenden Hände -machte einen freundschaftlichen Eindruck. Nachdem er uns noch ein wenig ausgefragt hatte, riet er uns, die Reise sofort fortzusetzen, wenn wir nun einmal ein so verdammt dummes Unternehmen begonnen hätten. „Leben Sie wohl, ich hoffe, wir sehen uns noch." Er drückte uns fest die Hand und mochte sich dabei gedacht haben, dass wir diesen Wald wohl kaum lebendig verlassen würden. Der hinter seinem Rücken stehende Tod lächelte zynisch in die Finsternis hinein.
Ich prüfte trübselig meine riesigen Stiefel und Hosen und bemerkte dabei, dass auch der kleinrussische Rotarmist, der uns den Tee brachte, mein Äußeres nicht minder interessiert betrachtete: „Genosse Madame, lass uns tauschen: du gibst mir deine Montur und ich dir richtige Frauenkleidung - mit Falten und Federn." Und er brachte von irgendwoher, vom Dachboden wahrscheinlich, ein elegantes Pariser Korsett, tadellose Hosen eines Kammerherrn und, zu meinem Glück, ein dunkles Damenkostüm. Das Gold des Kammerherrnrocks funkelte bald auf dem mageren Gesäß eines Botenjungen, das rosafarbene Korsett gefiel einem Rotarmisten so sehr, dass er es anprobierte, während Mischka und ich aus dieser Maskerade als dermaßen anständige Bourgeois hervorkamen, dass schon der nächste Wachposten uns trotz aller Parolen, Dokumente und Passierscheine glattweg verhaftete. Der wütende Mischka wurde unter Begleitung zurück zum Stab befördert, und als er endlich wieder da war, war es schon ganz finster geworden. Zum Abschied gab uns der Posten einen guten Rat - dem Eisenbahndamm sorgfältig fernzubleiben und den Weg durch den Wald zu nehmen. „Hier aber" - die Schienen leuchteten unangenehm aus der Dunkelheit -„wird man euch im Handumdrehen niederknallen." Einige Stunden stillen Waldwegs. Wir begegneten unterwegs einer Patrouille - zwei Kavalleristen. Im Dunkeln jagten wir einander einen großen Schreck ein. Wir unterhielten uns ein wenig, genossen die Wärme des menschlichen Gespräches, dann ging es weiter. Der Wald kühlt die Müdigkeit, die vom Gehen ermatteten Füße wie ein großer schwarzer See. Ich erinnere mich noch an die Sterne, an die Angst vor der Finsternis, die Angst, ohne ein Zuhause zu sein, ohne ein Bett, ohne ein Morgen. Im allgemeinen das unangenehme Gefühl des Städters, dem die Landstraße fremd ist. Auf einem Pfade gelangten wir zu irgendeinem Dorfe. In der Nähe eines Hauses - verzweifelte weibliche Hilferufe: Im Badehause, auf dem nackten Boden lag eine junge Kirgisenfrau den dritten Tag in Wehen und konnte nicht gebären. Das Klopfen an die Tür, die neuen Gesichter, die Berührung unbekannter Hände, alles das hat vielleicht ihren Nerven, ihrem Lebenswillen aufgeholfen - ein furchtbarer Krampf erlöste sie von dem Kinde. Und sich sofort beruhigend, hielt sie mich bei der Hand, murmelte unter ihren schweißfeuchten Haarflechten fremde, gutturale, einschläfernde Worte.
So schlief sie auch ein - ohne ihre heißen, wie Vogelfüße trockenen Finger zurückzuziehen.
Kurz und gut - der kleine Kirgise hat mich meinen Unterrock gekostet, und in meinem seidenen Taschentuch reiste er in die Kirche, zusammen mit irgendwelchen für alle Fälle von der Mutter mitgenommenen heidnischen Gottheiten. Aber auf den Besuch der Kirche haben wir verzichtet. Der Pope, duldsam gegenüber den alten heidnischen Göttern, konnte in den plötzlich aufgetauchten Paten weit gefährlichere dämonische Kräfte entdecken. Nach der Taufe schlug der glückliche Vater in seiner Dankbarkeit vor, uns mit seinem eigenen Pferde nach Kasan zu bringen.
„Ich sehe schon, ihr seid gute, anständige Leute. Ich kenne Gott sei Dank die Welt und weiß, was sich gehört." „Und wenn man uns anhält, was werden Sie ihnen sagen?" „Ich werde ihnen sagen, dass die Herrschaften Sommergäste sind und nach Hause fahren. Man kennt mich ja, man wird mir's schon glauben."
Und wirklich fuhr uns der Wagen des Kirgisen eines warmen, taufrischen Morgens durch stille Waldwege. Radspuren, vom leuchtenden Waldgrün bewachsen, helles Trommeln der Spechte, ein Duft von Harz und Walderdbeeren. Und von Zeit zu Zeit kreischende Geschosse, durch die klare Morgenluft über unsere Köpfe hinwegjagend. Über den Wald feuerte die schwere Artillerie. Die russische Provinz ist im allgemeinen armselig, hässlich und langweilig. Alle ihre Städte und Flecken sehen sich ähnlich wie alte Semmeln. Aber unter ihnen ragt Kasan doch als besondere Missgeburt hervor. Das einzige, was einen gewissen Stil und architektonischen Charakter hat, ist der alte Turm Sumbeki. Verglichen mit diesem rein tatarischen Denkmal des Altertums, trägt alles andere einen mehr als mongolischen Stempel. Wassermelonen, Staub, Bretterzäune, Häuser, in denen es außer Schildern und Auslagen nichts gibt. Und ein Pflaster - aus versteinerten Hühneraugen und granitnen Geschwülsten... Keine einzige Patrouille hat unseren Wagen angehalten, und wir fuhren in die Admiralitätsvorstadt ein - unsern eigenen Augen kaum trauend, so unwahrscheinlich kam uns der Erfolg vor, obwohl die unwiderlegliche Hässlichkeit der Straßen und Häuser uns von allen Seiten eilig davon zu überzeugen suchte, dass es kein Traum, sondern zweifellos das schiefäugige, vom weißgardistischen Fieberwahn erfasste Kasan ist.
„Wohin bringt Ihr uns, Gevatter - wisst Ihr, wo wir unterkommen können?"
Der Kirgise wandte uns sein munteres, listig lächelndes Gesicht zu.
„Das weiß ich schon - ihr habt ja Ruhe nötig. Ruhiger werdet ihr es nirgends haben - ich bringe euch zum Polizeiwachtmeister. Er ist ein guter Mann, verlässlich und wohlwollend. Er und ich sind gute Freunde." Und er klatschte zufrieden mit der Leine auf den dicken Rücken des kleinen Pferdes.
Mischka und ich sahen uns an. Der Gevatter hat es wirklich gut gemeint, das muss man ihm lassen. Und ausgerechnet ein Polizeiwachtmeister!
Der Wagen bog in eine staubige, breite Vorstadtstraße ein. Durch die Ritze des hölzernen Bürgersteiges schossen einfältige Grashalme hervor; einstöckige Holzhäuschen, Hoftore mit geschnitzten Hähnen und unerträglichem Knarren, mit grünen und weißen, immer schläfrigen Fensterläden. Kurz, es war ein Gemälde von Kustodijew: tadellose Bläue des Kaufmannshimmels, mit Wölkchen wie der Dampf des Nachmittagssamowars, das Städtchen Okurow in seidenglänzenden, öligen, grellen Farben dieses Malers. Der pfiffige Gevatter machte vor einem aufgeputzten Häuschen halt, küsste uns zum Abschied und übergab Mischa und mich dem vor dem Hauseingang erschienenen Polizeiwachtmeister.
Eigentlich gerieten wir, Mischa und ich, in ein „Theater für sich". In den oberen Zimmern des Hauses, auf sauber gescheuerten, gewachsten, mit Läufern verzierten Dielen spielte sich eine dem Anschein nach ganz und gar harmlose, kleinbürgerliche Komödie (gegeben im Künstlertheater) ab: mit Geranienstöcken an den Fenstern, mit Heiligenbildern in der Ecke, mit Fotografien des Kreisgerichts über dem Schreibtisch. Unter den altmodischen Röcken und den hohen und engen Uniformkragen waren die hervorstechenden Augen, die breiten Backenknochen und die flache, mit Fliegenschmutz besprenkelte Stirn unseres Wirtes leicht zu erkennen. Wie es sich gehört, hatte der gemessene, mit einer gefälligen Stimme begabte, alle Menschen in gleicher und stiller Weise bedrückende Wachtmeister eine dürre, knarrende Frau mit einem glänzenden, von einer dünnen, öligen Haarschicht bedeckten, bösartigen Schädel. Ihr Töchterchen Pascha, ein rosafarbenes Mädchen, „alles in den Pfötchen und Äugelein, in den Äugelein und Pfötchen", verbrachte ihre Zeit damit, dass sie, ihre üppige Brust an das niedrige Fensterbrett lehnend, Sonnenblumenkerne knackte und die Schalen auf die wenigen Passanten hinabspie. Als sorgenlose Erbin des väterlichen Vermögens mischte sie sich in Politik nicht ein, und nur wenn die lauten, hysterischen Skandale zwischen ihrer Mutter und den Mietern der unteren Etage, des Kellers, gar zu arg wurden, kräuselte sie unzufrieden das rosafarbene Knöpfchen, das ihr den Mund ersetzte, und sagte: „Mamachen, wie sind Sie doch ungebildet, es ist unfein, so laut zu schreien." Unten, unter dem Wachtmeister, unter seiner gebohnerten Diele und seinen Geranien, wohnten als Schiafstellenmieter einige Arbeiter mit ihren Familien. Die Revolution unterbrach für eine Zeitlang das klare und einfache Verhältnis, das zwischen dem unteren und oberen Stockwerk ehedem herrschte. Und sogar Paschas Aussteuer geriet dabei in Gefahr. Die Wurzeln der Geranienstöcke (oder des Wachtmeisters), die ihren Lebenssaft wohlwollend und sogar patriarchalisch aus dem unteren Stockwerk zu beziehen pflegten, blieben auf einmal ohne Nahrung und empfanden sogar, dort unten - in den Tiefen - deutlich spürbare scharfe Zähne, die das weitere Gedeihen der Pflanze in Frage zu stellen begannen. Es ging so weit, dass einer der Untermieter, ein Arbeiter, die weiße, flaumige Ziege des Wachtmeisters für seine Kinder requirierte. Aber dann kam der Juli, und der liebe Gott mischte sich in die unsauberen menschlichen Händel ein. Recht und Gesetz sprangen aus dem Rahmen über dem Schreibtisch und schwangen die toten Gesetzestafeln: Die blühende Pascha war keineswegs beunruhigt und erstaunt, als man den ungemütlichen Bewohner des unteren Stockwerks, denselben, der die Ziege genommen, gebunden über die Straße führte; auch das fiel ihr nicht weiter auf, dass er nie wieder zurückkehrte. Alles kam wieder ins alte Geleise, und in dem Maße, wie die neue Regierung Arbeiterleichen zur Wolga hinabbeförderte, legten sich die alten, idyllischen Schatten über das Häuschen des Wachtmeisters. Mit friedlichem, glucksendem Behagen begann die ganze Familie wie in früheren Zeiten an den Nährquellen aus dem unteren Stockwerk zu saugen, wo man sich fürchtete, allzu laut zu weinen. Zu eben dieser Zeit, als das Gericht Gottes und auch der Tschechoslowaken in vollem Gange war, quartierten wir uns bei dem Wachtmeister ein. Anfangs schien sich dieser ein wenig zu genieren, wie ein Igel, der mitten am helllichten Tage beim Verspeisen eines lebendigen Frosches überrascht worden ist, und nach alter Igelgewohnheit dieses schmackhafte Gericht bei den zappelnden Hinterbeinen zu verspeisen begann. Aber nachdem er mit seinen Gästen Tee getrunken, auf Juden und Kommunisten geschimpft, hatte er sich von unserer guten politischen Gesinnung überzeugt und beruhigte sich völlig. Er war mäßig, auch im Genuss: nicht öfter, denn einmal in drei Tagen fuhr er in die Stadt, und dann wusste die ganze Straße, und auch „die von unten" wussten es sehr gut, dass „er" wieder in die Stadt gefahren ist, um einen von ihnen anzuzeigen. Abends kam die Polizei und holte den, der gerade an der Reihe war; oben trank man Tee, die Mutter spitzte die Ohren nach den von unten kommenden Geräuschen, der Vater sprach sehr lange und mit innerer Befriedigung davon, dass es auch ihm aufrichtig leid tue, dass er aber als Christ und Offizier nicht anders handeln könne usw. Wenn dieser Wachtmeister das schwarze Gift hätte sehen können, das seine Erörterungen in unseren Nerven verbreitete.
Pascha, ganz in rosa Musselin und mit einer Seele, die restlos in jenem wolkenlosen Himmel versank, wo papierne Täubchen und Vergissmeinnicht schwebten, füllte dem Lehrer, den man unten einfach „Freier" nannte, nicht ohne in diese evangelische Bezeichnung einen unaussprechlichen Hass gegen sein klägliches Bärtchen, seine Brille und überhaupt gegen seine ganze „Intelligenz" hineinzulegen, in aller Stille die sechste Tasse. Und wenn unten das lange zurückgehaltene Schluchzen endlich doch ausbrach, lachte Mamachen, während Papachen über den Rand seiner Brille und der Zeitung „Nowoje wremja" von 1911 hinweg erstaunte Blicke um sich warf. Pascha rümpfte ein wenig die Nase, obwohl der Lehrer ihr zärtlich erklärte, was eine Konstituierende Versammlung sei. Am nächsten Morgen nahm Mischa Geld und Papiere und ging in die Stadt, um sich Informationen zu verschaffen. Der Wachtmeister machte sich zu seinem gewohnten Rundgang auf, auf die Suche nach Waffen bei den Arbeitern, die Mutter stieg in die süße Hölle hinab, in das untere Stockwerk, um dort den bitteren, ätzenden Gram abzurahmen. Pascha machte sich an einen Roman, in dem der unvermeidliche Raoul vorkam, ich nahm die Zeitung vor, in der ich unter den Namen der Hingerichteten den einzigen mich interessierenden nicht fand. Auf diese Weise gaben sich alle Bewohner des Wachtmeisterhäuschens ihren verschiedenartigen Geschäften hin. Fette, schwarze Fliegen schlugen summend gegen die Fensterscheiben, alles versank nach und nach in tiefe Schläfrigkeit. Aber gegen zwei begann sich das Grollen der Geschütze, das am Tage vorher viel entfernter klang, der Stadt beträchtlich zu nähern. Im atlasblauen Kaufmannshimmel begannen, milchweißen Pleureusen gleich, Schrapnellwölkchen aufzutauchen und zu zerflattern. Unsere menschenleere Straße wurde vollends öde, die ihr eigene Schläfrigkeit verdichtete sich zu drohender Stille. Unten weinte und flüsterte man nicht mehr. Unten wartete man. Der Wachtmeister kam erregt nach Hause, und gerade beim Mittagessen, als er mitten in der ausführlichen Beschreibung der von ihm vorgenommenen Haussuchung war, platzte über seinem Dach die erste eiserne Nuss. Ein Schreck fuhr in die Familie, aber nach einer Weile verwandelte ein unüberwindlicher Wortschwall die Explosion der Granate in einen einfachen Zufall. Die von Angst gebeugten Disteln erholten sich wieder und richteten ihre stachligen Köpfe zum Himmel empor. Ich, als die „Frau eines Offiziers", musste noch einmal meinen Hausgenossen versichern, dass die Rote Armee vollkommen kampfunfähig sei: „Aber natürlich, das sind doch keine Truppen! Eine Bande, Gesindel, das bei dem ersten Schuss die Flucht ergreifen wird."
„Sie haben ganz recht, meine Gnädige!" Bums! - krepiert wieder ein Geschoß über unsern Köpfen. Mein Herz zittert von dem wilden Tanz der roten lustigen Teufel, während der Wachtmeister, seine strategischen Erwägungen auf ein andermal verschiebend, sich das zweite Paar warme Hosen anzog und mit all seinen Hausgenossen im Badehaus Zuflucht suchte. Bei dieser Gelegenheit war es, dass wir die Mieter von unten kennen lernten.
Ich fand sie auf dem obersten Treppenabsatz. Die Köpfe über die niedrige Schwelle reckend, starrten Frauen und Kinder mit versteinerter Erwartung auf den Himmel, bald auf die krausen Wölkchen, bald auf die Tür der Badestube, hinter der die eingesperrte Ziege unruhig meckerte. Wir verstanden einander mit einem halben Wort. Die Frau des letzten, erst in der letzten Nacht verhafteten Arbeiters fragte dicht an meinem Ohr nach dem Namen, dachte eine Weile nach und sagte: „Nein, der ist auf und davon, es stand in den Zeitungen, Sie sind umsonst hergekommen." Sie schob ihr Kind zurecht, dessen Mund die große braune Saugwarze ihrer mageren Brust nicht finden konnte, und horchte wieder schweigend auf das Rollen des Artilleriefeuers.
„Was denken Sie, hat man meinen schon erschossen? Wenn heute die Roten kommen - werden sie ihn befreien, oder wird es schon zu spät sein?" Und ohne eine Antwort abzuwarten (die Antwort war schon in ihrer Brust – eine stumpfe hölzerne Antwort, dunkel wie die Decke ihres Kellers), versenkte sie sich in die Sinfonie des Angriffs, die das ganze Haus erzittern machte. Anfangs näherte sich das Dröhnen unausgesetzt. Es waren lange, wuchtige Salven, die die kleinen und unruhigen des Gegners mit ruhiger Sicherheit deckten. Dann öffneten sich plötzlich auf dem andern Ufer gewaltige, Feuer speiende Schlünde und stimmten in das Konzert ein. Zuerst feuerten sie wie tastend, dann mit erschreckend zunehmender Sicherheit. Sind es unsere oder die andern? Ach, wir hörten nur jenes spezifische Dröhnen der Salven heraus, über dessen Ursprung man sich nicht im unklaren sein konnte. Die Geschosse fielen nicht auf Kasan, also auf die Unsrigen. Noch eine Stunde etwa wütete das Gewitter in dem blauen, sonnigen Himmel, dann schien es sich zurückzuziehen. Immer seltener und seltener krepierten die Geschosse über den Dächern der Stadt, dann verstummten sie ganz. Und nur in der Ferne, weit draußen, ohne sich zu entfernen, aber auch ohne sich zu nähern, brandeten die Wellen des Gewehrfeuers hin und her. Ein oder zwei Stunden, vielleicht noch mehr, saß meine Nachbarin an der Schwelle, ohne sich zu rühren, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt hob sie den Kopf. Auf ihrem Gesicht waren Spuren der Tränen, Spuren des Schmutzes, Spuren unserer Niederlage. Sie nahm das eingeschlafene Kind von der Stufe und stieg aufgerichtet, mit hölzernen Bewegungen in den Keller zurück.
Braucht es betont zu werden, dass zwei dem Wachtmeister ins Ohr geflüsterte Worte alle diese Familien von dem ferneren weißen Terror bewahrt hätten und dass kein einziger von den siebzehn Kellerbewohnern von diesem Mittel gegen mich Gebrauch machen wollte! Weder am Abend noch am Morgen des nächsten Tages kehrte mein Begleiter zurück. Ich blieb allein, ohne Geld und Papiere.
Der Wachtmeister wurde unruhig, aber dann kam er auf den Gedanken, dass man meinen „Mann" im Stab, wo er hingegangen sei, als freiwilligen Offizier eingezogen haben könnte; er riet mir, in die Stadt zu fahren und Erkundigungen einzuziehen.
Bekannte Straßen, bekannte Häuser, und doch ist es so schwer, sie wieder zu erkennen. Als wenn zehn Jahre seit unserem Rückzug verflossen wären. Alles ist anders und ungewohnt. Offiziere, Gymnasiasten, Mädchen aus bürgerlichen Häusern in Schwesterntracht, offene Geschäfte und grell hervortretende, fast hysterisch schreiende Cafes -kurz, es war jener schillernde Ausschlag, der sofort auf dem Körper der getöteten Revolution aufzutauchen pflegt. In der Vorstadt machte die Straßenbahn halt, um einen Wagen vorüberzulassen, der mit steifen, nackten Leibern erschossener Arbeiter beladen war. Der Wagen rollte langsam humpelnd an einem Zaun vorüber, der mit Plakaten beklebt war: „Alle Macht der Konstituierenden Versammlung!" Wahrscheinlich haben die Menschen, die diesen Konstitutionsschwindel angepappt haben, nicht daran gedacht, dass ihre Plakate ein Bestandteil eines solch zynischen, allgemein verständlichen, revolutionierenden Gesamtbildes sein würden.
Der weiße Stab befand sich in der Grusinischen Straße. Es kostete keine besondere Mühe, einen Passierschein in die Kanzlei zu erlangen; einige Stabsoffiziere liefen an mir vorüber, die noch vor wenigen Tagen im Revolutionären Kriegsrat gearbeitet hatten. An allen Türen Posten: Gymnasiasten von 15 bis 16 Jahren. Überhaupt, die ganze Provinzintelligenz lebte auf, stürzte sich in das überschäumende Meer geschäftiger Tätigkeit, bewaffnete sich und warf sich auf Staatsgeschäfte - arbeitete im freiwilligen Roten Kreuz, für die Spionage, und in Selbstaufopferung auf dem Altar des Vaterlandes, für den dekorierten, sporenklirrenden, schnurrbärtigen Galifet. Mein Gott, wie gut war das weiße Regime am dritten Tag seiner Schöpfung! Wie flink klappern die Schreibmaschinen, wie lieb und nett sind die Mädchengesichter über den Remingtons. An der Tür stehen zwei Soldaten, mächtig wie jene Grenadiere, die seinerzeit an der Loge des Zaren Posten standen - und in dieser Tür erscheint ab und zu - im blendend weißen Hemd unter dem aufgeknöpften Waffenrock mit schön gepflegtem Schnurrbart - ein General oder, wenn auch kein General, so doch jedenfalls ein Oberst oder etwas Ähnliches. Und wie wohltuend durchgeistigt und bescheiden schimmern am Äußeren der Beamten und Militärs, wenn auch selten, die Fettflecke der wahren Bildung: wie kokett zeigen sich unsere akademischen Abzeichen.
O Alma mater, du Hort der russischen Kommisswissenschaft, auch dein trüber Schein vergoldet diese Achselklappen. Einmal traf ich sogar in dem Empfangszimmer des Leutnants Iwanow, dieser Mademoiselle-Fifi des weißgardistischen Kasans, einen echten Professor mit einem vornehm weichen Hut und jenen üppigen weißen Locken, wie sie nach Turgenjew alle gelehrten Volksfreunde, diese Abgötter der „feinfühlenden, fortschrittlichen Jugend", zu tragen pflegten, der hastig einem träge und herablassend zuhörenden Junker allerlei Geheimnisse über die unzuverlässigen Elemente seines Stadtviertels zuflüsterte. Zwei Tage dauerten meine Visiten in der Grusinischen Straße; es gelang mir, von einigen Sekretären die Listen der erschossenen und geflüchteten Freunde zu erfahren -es war Zeit, an den Rückzug zu denken. Der Wachtmeister wartete vergeblich auf meinen verschwundenen „Gatten" und begann sichtlich unruhig zu werden. Geld hatte ich überhaupt keins, und meine Nachbarn von unten rieten mir dringend, beizeiten zu verschwinden. Auch dieses Leben der fortwährenden Lüge, der täglichen Gespräche über Juden, Kommunisten und künftige Siege der heiligen christlich-rechtgläubigen Waffen, es wurde immer unerträglicher. Eines Morgens zog ich mich leise an, tastete in der Tasche nach dem vertrockneten Stück Brot, in dem mein Passierschein versteckt war, und beschloss, das Haus zu verlassen, um nie wieder zurückzukehren. Die Frau eines Arbeiters steckte mir verstohlen drei Rubel in die Hand. Aber am Tor begegnete ich dem Wachtmeister: „Wohin so früh am Morgen, meine Gnädigste?"
„In den Stab, man wollte mir heute eine genaue Auskunft
geben."
„Gestatten Sie, dass ich Sie begleite, ich werde Ihnen dabei behilflich sein, Ihnen sozusagen meine Protektion gewähren."
„Aber bitte, machen Sie sich keine Umstände, ich kann ja sehr gut allein ... "
„Da gibt es gar keine Umstände, es macht mir, dem alten Mann, wirklich ein Vergnügen, einer Dame ein wenig den Hof zu machen."
Trotz aller meiner Ausflüchte bestand der Wachtmeister auf seiner Absicht, und alle meine Worte waren machtlos gegen seine süßliche Hartnäckigkeit. Im Stab tauchte plötzlich der diensteifrige Sekretär vor uns auf, und während wir mit ihm durch den großen Saal schritten, blitzte hinter den uns neugierig betrachtenden Bittstellern und Stenotypistinnen der kühle Stahl eines Bajonetts auf.
Iwanows Kabinett befand sich oben in drei kleinen Zimmern. Das erste von ihnen, das Empfangszimmer, war mit Besuchern, Verhafteten, Verwandten aller Art und Wachtposten dicht gefüllt. Während mein Ehrenbegleiter mit seiner Meldung zu Iwanow hineinlief, zu demselben, der die Eisenbahner von Kasan „für die Revolution" auf die nackten Fußsohlen peitschen ließ, konnte ich mich orientieren. Und da sehe ich zwei Schritte von mir, die Gesichter mir zugewandt, eine Gruppe von bekannten Matrosen aus unserer Flottille. Matrosen, wie alle jene, die 1918 der Großen Russischen Revolution ihren romantischen Glanz verliehen haben. Starke, nackte Hälse, braune Gesichter, Mützen mit den Aufschriften „Andrej", „Sewastopol" oder einfach „Rote Flotte". Der Bootsmann sieht mich aus erkennenden Augen scharf an, so, dass man seine nackte Seele sehen kann; nach zwanzig Minuten wird er an die Wand treten: eine große Seele. Er ist breit in den Schultern, trägt ein Kreuzchen am schwarzen Schnürsenkel um den Hals - nicht für den lieben Gott, sondern so, für das Glück. Der Puls hämmert: eine Sekunde, zwei, drei Sekunden, ich weiß nicht wie lange. Und die Augen, die laut um Hilfe riefen, sehen mich nicht mehr an. Wie Geschütze bei feuchter Witterung haben sie sich mit grauen Schleiern überzogen. Die Kolben schlagen auf - man führt die Matrosen hinaus. In der Tür dreht mir der Bootsmann vorsichtig seinen Kopf zu. „Nun", sagen die Augen, „leb wohl." Das Zimmer dreht sich wie toll; woher kommt das Funkeln des Wassers, dieses glitzernde Meer bei windigem Tage, wie kommt dieses ärgerliche, silberne Flimmern in dieses Zimmer?
Ein grüner Tisch, dahinter drei Offiziere. Natürlich - dieser links ist Iwanow. Ein bleicher Glatzkopf, so weiß, dass er wie ein hartgekochtes Ei erscheint. Helle Augen ohne Brauen, ein weißer Militärkittel, weiße, saubere Hände auf dem Tisch. Der zweite - ein Franzose; an sein Gesicht erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur, dass es von verächtlicher Neugierde und unendlicher Kühle war. Er blickt um sich, anscheinend bemüht, alles seinem Gedächtnis einzuprägen, um später in Frankreich, bei sich zu Hause, imstande zu sein, das Erlebte geistreich zu schildern. Der dritte ist ein Protokollant. Eine Feder, ein gerader Scheitel, ein Anfangsbuchstabe mit kühn geschwungenem, pomadisiertem Federstrich. „Ihr Name? Alter? Soziale Lage?"
Iwanow erwidert meine Antworten mit einem breiten, fast gutmütigen Lächeln...
Und plötzlich gerät dieser Mann, der eben erst fähig war, solche künstlerischen Pausen einzuhalten, der wie ein satter Kater gelangweilt mit einer Maus spielte, der dem ausländischen Offizier zublinzelte, als meine bei der vorangegangenen Leibesvisitation mir abgenommene Wäsche akkurat vor sein Tintenfass hingelegt wurde - plötzlich gerät dieser elegante, nachlässige, geistreiche Staatsanwalt außer sich, schlägt mit der Faust auf den Tisch und springt, durchaus „russisch" aufbrüllend, in hysterischer Wut auf: „Ich werde dir zeigen, du... du wirst mich noch kennen lernen, Kanaille!" Und dem Franzosen, der die Taktlosigkeit hatte, Zeuge der weiteren väterlichen Ermahnung sein zu wollen, warf er grob zu: „Gehen Sie nach unten, wenn es möglich sein wird, werde ich Sie rufen lassen." Der ausländische Offizier ging mit leichten Schritten an mir vorüber und hinaus, ein verächtlich gleichgültiger, fast schadenfroher Blick streifte sowohl mich als seinen Kollegen und Bundesgenossen.
Iwanow begann wieder eine ruhige, gefasste Unterhaltung, mit seinem früheren, weichen, zweideutigen Lächeln: „Einen Augenblick, wir werden wohl nicht ohne einen Untersuchungsrichter auskommen."
Das Zimmer hatte drei Türen: rechts jene, durch die Iwanow eben hinausgegangen war; in der Mitte eine andere mit Filz vernagelte, die anscheinend nicht in Gebrauch war; die dritte führte in das Empfangszimmer. Vor ihr stand ein Wachtposten.
Es gibt im Leben Augenblicke eines märchenhaften, maßlosen, göttlichen Glücks. Und an diesem grauen Morgen, den ich durch das hoffnungslose Gitter des Fensters sah, geschah mit mir ein Wunder. Kaum war Iwanow draußen, drehte sich der Posten, den das nervöse Spiel des Leutnants, dessen fortwährende Übergänge von einschmeichelnder und spöttischer Höflichkeit zu tierhaftem Aufbrüllen, offenbar ganz blöde gemacht haben, um und schob den Oberkörper, um „anzurauchen", zur Tür hinaus. Im Zimmer blieben nur die gespreizten Falten seines Militärmantels und der schwere Kolben des Gewehrs. Wie viel Sekunden brauchte er, um „anzurauchen"? Ich hatte gerade Zeit, zu der vernagelten mittleren Tür zu laufen, einige Male aus allen Kräften an ihr zu rütteln - sie öffnete sich, ließ mich hindurch, schlug wieder geräuschlos zu. Ich befand mich auf einer Treppe, es dauerte nicht lange, und ich war auf der Straße. Am Fenster der großen Kanzlei wartete auf mich der Polizeiwachtmeister - er kehrte mir gerade den Rücken zu, als ich im Flur vorbeilief - und drückte aus Langeweile die Fliegen an die Fensterscheiben. Am Stabsgebäude trottete langsam eine Droschke vorbei. Der Kutscher drehte sich um, als ich in den Wagen sprang. „Wohin wollen Sie?"
Ich kann ihm nicht antworten. Ich will und kann es nicht. Er sieht mein mangelhaftes Kostüm, mein Gesicht, wirft einen Blick auf das Stabsgebäude, richtet sich seiner ganzen Länge nach auf und beginnt wie wahnsinnig auf das Pferd einzuschlagen. Mit lautem Krachen jagen wir über das fürchterliche Pflaster von Kasan, durch kleine Gassen und enge Straßen, bis der Droschkengaul, schaumbedeckt und mit in die Luft starrendem Schwanz in einen Hof hineinrast. Der Sohn meines Droschkenkutschers diente in der Roten Armee, und er selbst war der Mann der prächtigen Awdotja Markowna - einer dicken, roten, wie ein Ofen warmen, wie die Sonne der Dorfmärchen gütigen Frau. Sie umarmte mich, ich lag an ihrer unermesslichen Mutterbrust und schluchzte, auch sie weinte und gab mir tröstende, zärtliche Worte, die warm und weich waren wie frischgebackene Semmel. Dann hüllte sie meine nackten Schultern in ein Tuch ein und, nachdem sie die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende angehört, bedachte sie Seine Gnaden, den Leutnant Iwanow, mit solchen Worten, dass die majestätischen Hähne, die gerade geschäftig auf dem sonnenwarmen Dünger arbeiteten, begeistert zu krähen anfingen.
„Komm, Mama, jetzt gibt's Tee!"
Zwei Stunden darauf verließ ich, ein rosageblümtes Tuch um die Schultern, mit einem Pfund Brot und drei Rubeln in der Tasche, die Mauern Kasans. Der mit der Prüfung eines vorüberfahrenden Wagens beschäftigte Posten bemerkte mich nicht; als ich einem andern begegnete, schlug ich mich in die Büsche.
Ein Bauer, der sich bereit erklärte, mich bis zum nächsten Dorf zu fahren, schenkte mir an diesem glücklichsten Tage meines Lebens zum zweiten Mal mein Dasein. Nachdem er etwa sechs Kilometer im leichten Trab gefahren, sagte er mit einer Stimme, die die Stimme meiner Nachbarin „von unten", die Stimme des rotbärtigen Droschkenkutschers, der Awdotja Markowna und der ganzen russischen Armut war, die in jenen Tagen des revolutionären Wirrwarrs, der Niederlagen und Rückzüge zweifellos auf unserer Seite war und die unsern Sieg oft ebenso einfach und schlicht rettete wie mich, wie tausend andere auf den zahllosen russischen Landstraßen verstreute Genossen: „Na, steig jetzt runter, Mädel. Hast genug geschwindelt, ich weiß schon, was du für ein Vogel bist. Geh in das Dorf dort links - dort sind eure Leute. Und rechts, siehst du die schwarze Wolke da, das ist die tschechische Kavallerie." Nachdem ich eine Werst quer durchs Feld gelaufen war, stieß ich wirklich auf unsere vorgeschobene Postenkette. Einer der Rotarmisten, der mich wahrscheinlich im Stab des Genossen Judin gesehen hatte, setzte sich neben mich nieder und sagte, gelassen an seiner Zigarette drehend, taktvoll, als bemerke er meinen verstörten Zustand nicht: „Nun, was ist, hast du deinen Mann gefunden?"

 

KASAN-SARAPUL

I

Das nächtliche Schlagen der Schiffsuhr auf dem Deck des Minenschiffes klingt dem Glockenspiel in der Peter-Pauls-Festung erstaunlich ähnlich. Aber statt der Newa, statt des majestätisch ruhenden nordischen Stroms, statt des trübe schimmernden Granits und der goldenen Turmspitzen umspielt ihr klarer Ton die unbewohnten Ufer, die klaren, angenehmen Gewässer der Kama, die verlorenen Inseln kleiner Dörfer. Auf der Kommandobrücke ist es dunkel. Der Mond erleuchtet kaum die langen, schmalen, ungestümen Körper der Kampfschiffe. Leicht flattern Funken aus den Schornsteinen, der milchweiße Rauch neigt seine krause Mähne zum Wasser, und die Schiffe selbst, mit ihren stolz erhobenen Steven, erscheinen in dieser ursprünglichen Weite nicht als die letzte Errungenschaft der Kultur, sondern als kriegerische, unerreichbare Seerosse.
Ein seltsames Licht: einzelne Gesichter sind sichtbar und wie am Tage deutlich zu erkennen. Die Bewegungen sind geräuschlos und doch exakt. Episch, durch Jahre anerzogen und daher ungezwungen wie in einem Ballett sind die Bewegungen des Matrosen, der die schwere Hülle vom Geschütz zieht, mit einem Ruck, wie man den Schleier von einem verzauberten, furchtbaren Kopf zieht. Schwingende Hände des Signalmaates mit seinen roten, kleinen Flaggen tanzen ausdrucksvoll und lakonisch im nächtlichen Wind den rituellen Tanz der Befehle und Antworten.
Und über der verhaltenen Unruhe der sich auf den Kampf vorbereitenden Schiffe, über dem Abglanz der glühenden Feuerung, die ihren Rauch und ihre Hitze in der Tiefe des Schiffsrumpfs versteckt - geht über der Kommandobrücke und den Masten zwischen leise zitternden Rahen der grüne Morgenstern auf.
Der vorgeschobene Posten, den wir sonst einnehmen, liegt weit zurück. Das Schiff ist dicht am Ufer, sein Kommandeur - Owtschinnikow -, der immer gelassene, bestimmte, präzise und wortkarge Mann, ist einer aus der ruhmreichen Schar der Asinschen 28. Division, die unter Kämpfen ganz Russland, von der kalten Kama bis zu dem von gelben Winden versengten Baku, durchschritten hat. Irgendwo rechts flammte und verschwand ein tückisches Feuerchen - vielleicht sind es die Weißen, aber es kann auch eine Abteilung Koshewnikows sein, der im tiefen Hinterlande der Weißen herumstöbert und zuweilen, ganz unerwartet, aus dem undurchdringlichen, das Kama-Ufer versteckenden Dickicht auftaucht.
Bei den ersten Strahlen des Morgens sind diese Ufer ungewöhnlich schön. Bei Sarapul ist die Kama breit und tief, sie fließt zwischen lehmigen, gelben Abhängen, umspült Inseln, trägt auf ihrer glatten, öligen Oberfläche Spiegelungen der Zedern. Und so fließt sie, frei und ruhig. Die geräuschlosen Minenschiffe unterbrechen nicht die zauberhafte Ruhe des Flusses.
Tagsüber spreizen auf den Sandbänken Hunderte von Schwänen ihre weißen, von den letzten Strahlen der Oktobersonne durchschimmerten Schwingen. Eine Schar kleiner Schrotpunkte - die Enten - zieht über dem Wasser dahin, und in der Ferne, über der weißen Kirche, schwebt kreisend ein Adler. Und obwohl das gegenüberliegende Wiesenufer vom Feinde besetzt ist, hört man im niedrigen Gestrüpp drüben keinen einzigen Schuss fallen. Offenbar hat man uns in dieser Gegend nicht erwartet und ist auf unser Kommen nicht vorbereitet.
Aus dem Maschinenraum taucht bis zum Gürtel ein bleicher, verrußter Mechaniker empor, wischt sich Schweiß und Ruß vom Gesicht und atmet mit Vergnügen die scharfe Morgenluft ein, die über Nacht herbstlich und nordisch geworden ist.
Der Lotse auf der Kommandobrücke - zerzaust und stämmig, mit seinem grauen Haar und Schafpelz einem Waldteufel nicht unähnlich - prophezeit frühes Frostwetter. „Es riecht nach Schnee, man spürt's, die Luft riecht nach Schnee" - und wieder beginnt er schweigend den schmalen Weg der Schiffe durch den Nebel und das verräterische Gekräusel der Sandbänke, der Steine zu suchen. Wir haben diese Nacht über 100 Werst zurückgelegt -jetzt zeigen sich in der Ferne das feine Spitzengewebe einer Eisenbahnbrücke und die weißen Kuppeln von Sarapul. Die Mannschaft ruht sich aus, planscht am Wasserhahn, ärgert zwei schwarze junge Hunde, die unter Geschützdonner und schweren Fahrten mit großer Liebe aufgezogen wurden.
Ein scharfer Ruf des Beobachters: „Menschen am linken Ufer!" Und wieder - gespannte Erwartung. Aber jene am Ufer haben uns schon erkannt: Rote Tuchstreifen flattern lustig im Wind. Auch weiter am Ufer und auf der Brücke und hinter dem Sandwall flimmern jetzt rote Fähnchen auf. Kleine Figürchen der Infanteristen in grauen Mänteln rennen am Ufer entlang, schreien unverständliche, segnende Begrüßungsworte zu den Minenschiffen herüber. Wir passieren die Brücke, biegen nach links ein - da knattert schon hinter dem letzten Schiff der Kielwasserkolonne Gewehrfeuer auf. Es sind die Weißen, die die Schutzwache der Brücke beschießen, denn diese stürzte ans Ufer, um einen Dampfer unserer Flottille aus der Nähe zu sehen. Mit dem Fernglas war deutlich der ganze Kai von Sarapul sichtbar, das, von der Asinschen Division besetzt, von allen Seiten von den Weißen belagert, nun endlich, dank der Ankunft unserer Flottille, mit den tiefer liegenden Armeen verbunden war.
Wir kommen näher. Auf den Pontons, Geländern und Wegen - überall Rotarmisten, Tücher, Bärte - die freundschaftlichen, froh erstaunten Gesichter der Unseren. Das Orchester auf der Anhöhe spielt dröhnend die Marseillaise, der Trommler starrt die Schiffe an und legt mit seinem Getöse eine Bresche in die Melodie, das Horn überholt den ärgerlichen Dirigenten, schmettert rollende Klänge in die Luft, unbändig wie ein Ross, das den Reiter abgeworfen hat. Die Taue sind schon aufgenommen, der Bordrand legt sich sacht an die Anlegestelle, Matrosen zerstreuen sich auf dem Ufer - die Unterhaltung ist im vollen Gange.
„Wie seid ihr denn durchgekommen? Habt ihr ihre Schiffe kaputt geschlagen?"
„Freilich, Väterchen, vernichtet und in den Weißen Fluss getrieben." „Du lügst." „Ich lüge aber nicht."
Eine noch junge Frau, tränenüberströmt, drängt sich durch die Menge. Eine „Matrosenfrau", sagen die Umstehenden. Und es beginnt ein neues Klagen und Jammern. Das Weinen der Mutter und der Frau - ein durchdringendes, monotones Heulen: „Man hat ihn mir genommen, auf einem Schleppkahn fortgebracht. Matrose war er, genau wie ihr."
Das Tüchlein der Frau flattert von einem Matrosen zum andern, das Gesicht ist tränennass, sie streichelt den blauen Stoff der Jacken, diese ihre letzte Erinnerung. Ja, jeder Krieg ist eine grausame Sache, aber der Bürgerkrieg ist entsetzlich. Wie viel bewusste, ausgeklügelte kalte Bestialitäten haben die sich zurückziehenden Feinde schon begangen.
Tschistopol, Jelabug, Tschelny und Sarapul - alle diese Flecken sind von Blut überschwemmt, mit glühenden Lettern stehen die Namen bescheidener Dörfer in der Geschichte. In einem Ort warf man Frauen und Kinder der Rotarmisten in die Kama, auch Säuglinge verschonte man nicht. In einem andern: noch immer sind dort die Dorfstraßen mit schwarzen geronnenen Blutpfützen bedeckt, selbst das herrliche Rot des herbstlichen Ahorns ringsherum scheint die Spuren der Metzelei zu tragen.
Die Frauen und Kinder dieser Erschlagenen flüchten nicht ins Ausland, schreiben keine Memoiren, in denen sie von dem Brand ihres uralten Landhauses mit seinen Rembrandts und Bücherschätzen und von den Grausamkeiten der Tscheka berichten. Niemand wird es je erfahren, niemand wird es dem empfindsamen Europa in die Ohren schreien: wie Tausende Soldaten auf dem hohen Kama-Ufer erschlagen, von dem Strom in zähen Sümpfen vergraben oder an unbewohnte Ufer gespült wurden. Hat es auch nur einen einzigen Tag gegeben - erinnert euch, ihr, die ihr an Bord des „Rastoropny", „Prytki" und „Retiwy", auf der Batterie „Serjosha", auf „Wanja, dem Kommunisten", auf allen unsern ungefügen, eisengepanzerten Schildkröten waret -, hat es auch nur einen einzigen Tag gegeben, an dem an eurem Bordrand nicht ein schweigsamer Rücken, ein Soldatennacken mit spärlichem Haar (nach dem Typhus!) und mit über den Wellen tanzendem Arm aus der Tiefe aufgetaucht wäre? Hat es auch nur einen Flecken an der Kama gegeben, wo man bei eurer Ankunft nicht aufgeheult hätte, wo man am Ufer unter den Glücklichen, Aufgeregten, die eure grauen „Pferdchen" so ungeschickt einfingen (es waren ja Arbeiter, keine Seeleute), nicht ein Dutzend verwaiste Weiber und schmutzige, ausgehungerte Arbeiterkinder gesehen hätte? Erinnert euch an das Heulen, an das herzzerreißende Schluchzen, das sogar das Rasseln der Schiffsketten, das wütende Herzklopfen, ja sogar die überanstrengte Stimme des Vorsitzenden der Exekutive nicht übertönen konnte, der euch schon von weitem aus einer Entfernung von einem halben Kilometer zurief: Samara ist von den Roten eingenommen... "
Inzwischen war zu der ersten Frau eine andere getreten, eine kleine, dürre Alte. Auch über ihr Gesicht zogen sich Furchen des bittersten Kummers. „Weine nicht, erzähl vernünftig."
Und das Mütterchen erzählt, aber ihre Worte verlieren sich in Wehklagen, man kann nichts verstehen. Es handelte sich um folgendes: Beim Rückzug luden die Weißen 600 unserer Leute auf einen Kahn und schafften sie fort - keiner weiß, wohin -, man sagt nach Ufa, vielleicht auch noch weiter. -
Eine Stunde später sammelt eine durchdringende Sirene die am Ufer verstreuten Matrosen, und der Kommandierende erteilt den Befehl: Die Flottille geht stromaufwärts auf die Suche nach dem Schleppkahn mit den Gefangenen. Und die Mannschaft anfeuernd, klingen betont seine Worte: „Sechshundert Mann, Genossen!"


II

Sie haben uns nicht erwartet: Schützengräben, Drahtverhau, Vorposten - alles war von der Flussseite aus ungeschützt und sichtbar wie auf einem Präsentierteller. Langsam längs des Ufers gleitend, nahmen die Minenschiffe bequeme Stellungen ein - die Richtkanoniere richteten die Geschütze. In der Messe öffnete man die Luken zur Munitionskammer, von wo aus eilig die Granaten heraufgereicht wurden. Das Kommando ertönt: „Feuer!"
Die Mündungen schleudern Feuerstrahlen, mit leichtem, metallischem Klang fällt die leere Hülse, und nach 10 bis 15 Sekunden steigt inmitten der fliehenden Schützenketten des Gegners eine aschgraue und schwarz dampfende Fontäne auf. Der Richtmeister ändert das Ziel. „Visier zwei, eins nach links - Feuer!" Auch das Minenschiff „Retiwy" eröffnete das Feuer; „Protschny" setzt mit seinem Heckgeschütz die Kirche in Brand. Die allgemeine Verwirrung ausnützend, werden wir wohl noch bei Tage in Galjany sein (35 Werst oberhalb Sarapul). -
Noch eine Strecke von 10 Werst, und wir sind am Ziel. Die roten Flaggen sind eingezogen - man beschloss, den Gegner zu überraschen und die Flottille für jene weißgardistische - des Admirals Stark - auszugeben, die von den Weißen mit Ungeduld erwartet wurde. Die Schiffe schießen hinter einer Insel und einer Biegung der Kama in voller Fahrt vor, passieren die Anlegestelle von Galjany, und das Dorf selbst, das sich über einen Hügel hinbreitet, und hinter ihm machen sie eine Wendung und schwärmen aus - ein Manöver, das auf dieser seichten und schmalen Stelle sehr schwierig ist. „Nur auf Befehl schießen!" meldet der Signalmaat von einem Minenschiff zum andern.
Die Situation ist die folgende: Etwa 70 Meter vom Ufer entfernt sieht man neben der Kirche deutlich ein schweres, sechszölliges Geschütz. Dahinter auf der Anhöhe viele neugierige Bauern und zwischen ihnen Häuflein bewaffneter Soldaten. Auf dem Kirchturm ein zweites Geschütz - vielleicht ein Maschinengewehr. Am linken Ufer ein Schleppkahn mit Weißgardisten. Zwischen den Sträuchern schimmern weiße Lagerzelte hervor. Feldküchen rauchen, Soldaten liegen am Ufer und verfolgen neugierig die Manöver der Minenschiffe. Mitten im Fluss aber - von Posten bewacht - ein schwimmendes Grab, regungslos und unbeweglich.
Rupor vom „Prytki" gibt mit halblauter Stimme den Aktionsplan an die anderen Schiffe weiter. „Retiwy" nähert sich dem Schleppkahn und überzeugt sich, ohne sich zu verraten, dass die kostbare lebende Fracht an Bord ist. „Prytki" richtet seine Geschütze auf die sechszöllige Kanone des Gegners, um sie bei der ersten Bewegung des Feindes zu vernichten. Gleichzeitig beobachtet er die Infanterie. Aber wie soll man den schweren Schleppkahn von seinen Ankern befreien, wie ihn aus der engen Falle fortschaffen, die von den Sandbänken und Inseln gebildet wird? Glücklicherweise dampft an der Landungsbrücke der feindliche Schlepper „Morgenröte". Unser Offizier - in seiner goldbetressten Marinemütze natürlich - erteilt dem Kapitän des Schleppers den kategorischen Befehl: „Im Namen des Kommandierenden der Flotte des Admirals Stark befehle ich Ihnen, den Kahn mit den Gefangenen ins Schlepptau zu nehmen und uns nach Ufa zu folgen!"
Von den Weißen zum sklavischen Gehorsam erzogen, führt der Kapitän der „Morgenröte" den Befehl sofort aus, nähert sich dem Kahn und nimmt ihn ins Schlepptau. Unendlich langsam ziehen sich diese Minuten hin, bis der schwerfällige Dampfer die Stahltrosse befestigt hat und alle Vorbereitungen zur Fahrt trifft. Unsere Mannschaft steht regungslos da, die Gesichter sind leichenblass, man glaubt und wagt doch nicht daran zu glauben, dass dieses Märchen sich verwirklichen werde. Dieser dem Tode geweihte Kahn ist so nah und noch so endlos weit. Flüsternd fragt einer den anderen:
„Nun, was ist, rührt er sich endlich? Ach, er steht ja noch immer..."
Aber durch den scharfen Befehl unseres Befehlshabers eingeschüchtert, führt die „Morgenröte" ihre Rolle glänzend aus. Auf dem Kahn herrscht lebhafte Bewegung. Das Begleitkommando und sogar sein Offizier selbst legen ihre Gewehre nieder und helfen, den Anker hochzuziehen. Und nach und nach gibt das schwere Ungetüm seine hoffnungslose Regungslosigkeit auf, wendet den Steven, die straff gespannten Seile hängen eine Weile schlaff da, bis sein eigensinniger Reisegefährte ihn aufs neue hinter sich herzieht. Der Befehlshaber des „Prytki" beruhigt die ratlosen Gefangenenwächter endgültig.
„Ich befehle euch im Namen des Admirals, volle Ruhe zu bewahren und uns zu folgen - wir werden euch begleiten." „Wir haben wenig Holz", versucht man von der „Morgenröte" zu protestieren.
„Das macht nichts, unterwegs gibt es Holz genug", antwortet der Kommandeur der Flottille, und die Minenschiffe schlagen langsam, ohne Übereilung, um die Leute am Ufer nicht misstrauisch zu machen, die Richtung auf Sarapul ein.
Aber dort, im Innern des Kahns, beginnt schon die Unruhe: „Wohin schleppen sie uns, warum und wer?" Auf dem ekelhaften, schmutzigen Boden drängt sich einer der Gefangenen, ein Matrose, zum Heck des Schleppkahns durch: dort, in ein dickes Brett ist mit einem Taschenmesser ein Loch geschnitten worden - die einzige kleine Öffnung, durch die man ein Stück Himmel und Wasser sehen kann. Lange und aufmerksam beobachtet er die geheimnisvollen Schiffe und ihre schweigsame Besatzung. Jede Spur von Hoffnung oder Gefahr an seinem Gesicht ablesend, umdrängen ihn die entstellten Gesichter - ein einheitliches, allgemeines Gesicht, leblos, unbeweglich. „Sie sind alle gleich, lang, grau." „Sind's Weißgardisten, wie? Sieh genauer hin!" „Aber nein doch ... " „Was - nein? So red doch, zum Teufel!" Der Beobachter wird von seinem Posten gerissen. „Mir scheint, es sind die Unsrigen, aus der Baltischen Flotte."
Aber die Unglücklichen, die drei Wochen in dieser Pesthöhle verbracht, die inmitten ihrer eigenen Exkremente geschlafen und gegessen haben, nackt und nur mit Sackleinen bedeckt, sie wagen nicht zu hoffen. Sogar in Sarapul, als das Volk sie an den Anlegestellen begrüßte, schrie und weinte, als die Matrosen die weißgardistische Wache verhafteten und - da sie nicht wagten, in die Hölle hinabzusteigen - die Gefangenen herausriefen, antworteten diese mit Flüchen und Stöhnen. Keiner von den 430 Menschen glaubte an die Möglichkeit einer Rettung. Gestern noch haben die Wachsoldaten sich für eine Brotrinde das letzte Hemd geben lassen; gestern noch, am Morgen war es, zerrten sieben Bajonette die zerfetzten Körper der drei Brüder Krasnopjorow und noch 27 Menschen heraus. Seit 24 Stunden wurde durch die Luke kein Brot mehr hinabgeworfen (ein Viertelpfund je Tag und Mann war das einzige, was sie seit drei Wochen erhielten).
Man hörte auf, sie zu ernähren, das bedeutete, es lohnte sich nicht mehr, die Verurteilten zu füttern, das bedeutet: eines Nachts oder in einer grauen, blutlosen Morgenstunde wird für alle das Ende da sein, ein schweres Ende. Und plötzlich verschleppt man sie, öffnet blaue und silberne Löcher im nächtlichen Himmel und ruft sie alle herauf - mit seltsam klingenden, erregten Stimmen, spricht das verbotene und verfemte Wort: „Genossen!" Ist das nicht ein Verrat, eine Falle, eine neue Tücke? Und sie kamen doch, in Tränen, kriechend; einer hinter dem andern krochen sie aus ihrer Gruft heraus. Was spielte sich da auf dem Deck ab! Einige Chinesen, die in dieser kalten Gegend niemand hatten, fielen zu den Füßen eines Matrosen nieder und drückten in unserer Sprache fremden Lauten ihre grenzenlose Verehrung aus für die Verbrüderung der Unterdrückten, die füreinander zu sterben verstehen.
Am Morgen empfingen Stadt und Truppen die Gefangenen. Man brachte das schwimmende Gefängnis ans Ufer, legte einen Landesteg zum „Rasin", einer mächtigen eisernen Barke, bestückt mit weittragenden Geschützen. Und durch die lebendige Gasse der Seeleute schritten die 430 wankenden, bleichen, verwildert aussehenden Menschen. Sie glichen einer langen Kette von Bastpuppen, mit abenteuerlichen Kopfbedeckungen, mit aus Stroh geflochtenen, phantastischen Mützen, und sahen aus wie eine Prozession aus einer anderen Welt. Jedoch in der von diesem Schauspiel noch erschütterten Menge erwachte bereits ein prachtvoller Humor.
„Wer hat euch denn so aufgeputzt, Genossen?" „Seht, seht, das ist die Uniform der Konstituierenden Versammlung - jeder hat ein Basthemd und einen Strick um den Hals."
„Tritt mir nicht auf den Schuh, siehst du nicht - die Zehen gucken hervor." Und er hebt seinen in schmutzige Lappen gewickelten Fuß.
Auf dem Weg zum Ufer begannen sie mit Stimmen, die von den langen Qualen in der dunklen Pesthöhle gepresst klangen, die Marseillaise zu singen. Und der Gesang hörte bis zum Stadtplatz nicht auf. Hier begrüßte der Vertreter der Gefangenen die Seeleute der Wolgaflottille, ihren Kommandierenden und die Sowjetmacht... Unbeschreibliche Gesichter, Worte, Tränen, es war, als wenn eine ganze Familie, die ihren Vater, Bruder oder Sohn gefunden hat, neben dem Verlorengeglaubten sitzt und ihm zusieht, während er isst und von der Gefangenschaft erzählt, und dann, sich verabschiedend, zu den Genossen Seeleuten geht, um für die Rettung zu danken. In der Menge der Matrosen und Soldaten sieht man ab und zu goldbetresste Mützen jener wenigen Offiziere, die den ganzen drei Monate langen Feldzug von Kasan bis Sarapul mitgemacht haben. Ich denke, dass man sie schon lange nicht mit dieser grenzenlosen Achtung und dieser brüderlichen Liebe begrüßt hat, wie gerade an diesem Tage. Und wenn es zwischen der Intelligenz und den Massen eine Einheit im Geiste, in der Heldentat und im Opfer gibt, so entstand sie in jenem Augenblick, als die Mütter der Arbeiter, ihre Frauen und Kinder die Matrosen und Offiziere dafür segneten, dass sie ihre Väter, Brüder und Kinder vor den Qualen der Hinrichtung bewahrt haben.

 

MARKIN

Jeden Morgen berichtet der Bootsmann des Flaggschiffs „Meshen" mit zufriedener, lachender Miene von dem Fallen der Temperatur in der Kama. Heute steht das Thermometer im Wasser ein halbes Grad über Null und in der Luft auf dem Gefrierpunkt. Einsame Eisschollen schwimmen im Strom, das Wasser ist dick und träge geworden, auf der Oberfläche dampfen stete Nebel - ein sicheres Vorzeichen des Frostes. Die Mannschaften der Schiffe, die den ganzen schweren Feldzug von Kasan bis Sarapul mitgemacht haben, bereiten sich auf die Überwinterung vor, im Vorgenuss der kommenden Ruhe heitern sich die Gesichter auf. Noch ein, zwei Tage, und die Flottille wird die Kama bis zum nächsten Frühjahr verlassen müssen.
Und erst jetzt, da die Stunde des unfreiwilligen Rückzugs nahe ist, beginnen alle auf einmal zu fühlen, wie unvergesslich und teuer diese dem Feinde genommenen Ufer sind, jede Wendung des Flusses, jede zottige Fichte über dem steilen Abhang.
Wie viel schwere Stunden der Erwartung, wie viel Hoffnungen und Leiden - nicht um sein Leben natürlich, sondern um das große Jahr 1918, dessen Schicksal oft von der Treffsicherheit eines Schusses, von dem Mut eines Kundschafters abhing! Wie viel freudige Stunden des Sieges bleiben hier an der Kama zurück! Das Eis wird die rauen, von Geschossen durchfurchten, von den Schiffen unzählige Male durchkreuzten Wogen überziehen, für lange Zeit die Tiefen verhüllen, die zu Gräbern unserer besten Kameraden und erbittertsten Feinde geworden sind.
Wer weiß, gegen wen und in welchen Gewässern der Kampf übers Jahr beginnen wird, welche Genossen die Kommandobrücken der Schiffe, die jedem von uns so teuer und vertraut geworden, besteigen werden. Schwer mit den Radspeichen stampfend, mit leise pendelnder Signallaterne oben am Mast, geht eins der Transportschiffe nach Nishni.
Die zurückbleibenden Fahrzeuge begleiten den sich entfernenden Kameraden mit einem Konzert aufheulender Sirenen, das lange anhält: jede ihrer Stimmen ist uns bekannt wie die Stimme eines Freundes. Das ist der scharfe Schrei des „Roschal", dies der durchdringende, kurze Pfiff des „Wolodarski", und das ist „Genosse Markin" mit seinem sonoren, drohenden Brustton.
Die schwersten Erinnerungen verbinden sich mit diesem Abschiedsgruß der Seeleute. Zu ihnen nehmen die Schiffe ihre Zuflucht, wenn sie in äußerster Not sind. So rief der unglückliche „Kommunist Wanja" um Hilfe, als er, von einem feindlichen Geschoß in Brand gesetzt, auf eisigen Wellen, von herabregnenden Projektilen bedroht, mit gebrochenem Steuer und zerstörtem Telegraf umhertrieb. Wie lange, wie unendlich lange schrie seine Sirene.
Immer dichter stiegen ringsum die Fontänen aus dem Wasser, schon sah man schwarze Punkte - Menschen, die schwimmend das Ufer zu erreichen suchten - verkohltes Gerümpel, Eimer, Hocker schwammen den Strom hinab, und noch immer verstummte die Sirene nicht - in Dampf gehüllt, vom Feuer umlodert -, eine verzweifelte, schreckliche Sirene des Todes. Seltsam und unerwartet kam dieses Unglück.
Noch am Tage vorher errangen wir einen bedeutenden Sieg über die weißgardistische Flottille: nach einer zweitägigen Schlacht bei dem Dorfe Bitki musste die letztere flüchten, und unsere Fahrzeuge brachen sich Bahn in das Hinterland der Weißen, die damals beide Ufer besetzt hielten. Die Verfolgung dauerte noch ganze 24 Stunden, und erst am Morgen des dritten Tages ging die Flottille vor Anker - es war ein herrlicher, klarer/Novembertag, das Wasser war durchsichtig blau, stellenweise mit bernsteinfarbenen Flecken. Es wurde beschlossen, eine Weile haltzumachen und unsere Truppentransporte abzuwarten, da unsere Patrouillen beunruhigende Nachrichten über starke Befestigungen am Ufer vor dem Dorfe „Pjany Bor" gemeldet hatten; ohne die Unterstützung unserer Infanterie konnte man diese Befestigungen nicht nehmen, zudem waren unsere Munitionsvorräte vollkommen aufgebraucht - die Schiffe und der Schleppkahn hatten nur noch je 18 bis 50 Schüsse. In Erwartung der Infanterie, die sich immer sehr verspätete, unternahmen unsere Motorkutter Patrouillenfahrten, und die Matrosen beobachteten von weitem mit Vergnügen, wie die raschen, in Schaumwolken kaum sichtbaren, pfeilschnellen Körper, gegen die die Weißen ein wütendes Feuer eröffneten, hin- und herschossen.
In den hohen Wassersäulen spielten feurige Regenbogenfarben, und fortwährend bäumten sich schneeweiße, schaumige Fontänen über der Oberfläche auf und verschwanden wieder. Eine Schar erschreckter Schwäne erhob sich von der Sandbank, ein Wasserflugzeug dröhnte an ihr vorüber, und die Luft füllte sich mit dem Schrei der Schwäne, mit dem Rascheln der weißen Flügel und dem summenden Knattern des Propellers. Und Markin hielt es nicht mehr aus. Markin, der das beste Schiff - „Kommunist Wanja" - befehligte, an die Gefahren gewöhnt und in sie wie ein Knabe verliebt war, konnte das kriegerische Spiel dieses Morgens nicht mehr untätig beobachten. Ihn reizte der hohe Uferabhang, das schweigsame Dorf „Pjany Bor" und diese Batterie am Ufer, die irgendwo versteckt lag und geduldig wartete. Wie der Anker hochgezogen wurde, wie das Schiff an geheimnisvollen Ufern vorbeiglitt, wie er es fertig brachte, sich so weit von seinem Standort zu entfernen, niemand erinnert sich mehr genau. Und plötzlich bemerkte Markin fast unmittelbar vor sich die regungslosen gegen ihn gerichteten Mündungen.
Ein Schiff allein ist nicht imstande, mit einer Batterie am Ufer zu kämpfen. Aber dieser Morgen nach dem Siege war so berauschend, so unvernünftig, dass der „Kommunist" sich nicht zurückzog, sondern sich dem Ufer noch mehr näherte und mit Maschinengewehrfeuer die Mannschaft an den Geschützen zu vertreiben suchte. Der Tollkühnheit der Mutigen singen wir unser Lob. Aber diesmal war Markins Untergang vom Schicksal beschlossen. Dem „Kommunisten", der sich schon weit entfernt hatte, eilte das Minenschiff „Prytki" zu Hilfe. Man braucht nicht an Vorahnungen zu glauben, und doch waren alle, die damals auf der Kommandobrücke des „Prytki" standen, von qualvoller Unruhe erfüllt. Es war keine Angst - dieser gemeinen Krankheit war keiner unterworfen -, sondern eine eigentümliche, nagende Erwartung, die auch ich empfand, als das Minenschiff sich ahnungslos dem „Kommunisten" näherte.
Das kurze Gespräch von Schiff zu Schiff war für Markin das letzte. Der Kommandeur der Flottille fragte durch das Megaphon:
„Markin, was beschießen Sie?" „Die Batterie." „Welche Batterie?"
„Dort hinter den Bäumen, man sieht die Mündung glänzen."
„Ziehen Sie sich unverzüglich mit Volldampf zurück." Aber es war schon zu spät. Kaum machte die Maschine des Minenschiffs einen wilden Sprung nach rückwärts, kaum war der „Kommunist" ihm gefolgt - als die Weißen am Ufer, fühlend, dass die Beute ihnen entgehe, ein mörderisches Feuer eröffneten. Die Geschosse hagelten nur so nieder. Hinter dem Heck, vor dem Steven, backbord und steuerbord. Mit saugendem Geheul jagten sie über die Kommandobrücke, dass die Luft erzitterte. Und nach einigen weiteren Minuten hüllte sich der „Kommunist" in eine Dampfwolke, aus der tanzend eine goldene Zunge hervorsprang - mit gebrochenem Steuer irrte das Schiff von Ufer zu Ufer. Da begann die Sirene um Hilfe zu schreien.
Trotz des furchtbaren Artilleriefeuers kehrten wir zu dem Untergehenden zurück, in der Hoffnung, ihn ins Schlepptau zu nehmen - wie es bei Kasan war, als es uns gelang, das Schiff „Taschkent" auf diese Weise aus der Feuerlinie herauszubringen.
Aber es gibt Fälle, wo jeder Mut vergeblich ist: gleich der erste Schuss zerstörte das Steuerreep und den Telegraf des „Kommunisten". Das Fahrzeug begann sich im Kreise zu drehen, und dem Minenschiff, das sich ihm mit der größten Gefahr genähert hatte, gelang es nicht, das sterbende Schiff ins Schlepptau zu nehmen. „Prytki" machte eine scharfe Wendung und musste sich zurückziehen. Wie die Weißen uns damals entwischen ließen, ist einfach unverständlich. Man schoss aus unmittelbarer Nähe. Nur die ungeheuerliche Schnelligkeit des Minenschiffs und das Feuer seiner Geschütze retteten es aus dieser Falle. Und seltsam, zwei große Möwen flogen lange Zeit furchtlos unmittelbar vor unserem Steven, jeden Augenblick im weißen Gischt verschwindend.
Unter jenen, die gerettet werden konnten, war auch Genosse Poplewin, Markins Gehilfe. Dieser schweigsame, auffallend bescheidene und mutige Mensch, einer der besten unserer Flottille, behielt noch lange die bläuliche Blässe auf seinem Gesicht; diese Todesspuren traten gerade dann besonders deutlich hervor, wenn der Herbsthimmel wolkenlos leuchtete und das Wasser an den goldenen Ufern der Koma friedlich rauschte. Er rächte sich für den Tod seines Freundes und den Untergang seines Schiffes. Des Nachts, wenn die Stärksten müde wurden, stieg Poplewin geräuschlos auf die Kommandobrücke und horchte, einsam unter dem dunklen Sternenhimmel, auf die geringsten Bewegungen der Nacht und des Feindes, und niemals ermüdete seine heilige Rache. Man wartete die ganze Nacht auf Markin. Markin kehrte nicht zurück. Um ihn trauerten die Kanoniere an den Geschützen, die Wachen am Steuer und die Beobachter vor ihren Ferngläsern, die auf einmal von den unvergossenen Tränen wassertrübe geworden schienen.
Markin ist gefallen, Markin mit seinem feurigen Temperament, mit seinem erstaunlichen Instinkt für den Feind, seinem grausamen Willen und Stolz, seinen blauen Augen, kräftigen Flüchen, mit seiner Güte und seinem Heroismus. Der „Kommunist Wanja" ist untergegangen; die Minenschiffe hatten fast keine Munition mehr und der versprochene Truppentransport kam noch immer nicht. Als es Abend wurde, entfernte man auf einem Motorkutter das Segeltuch von vier dunklen, länglichen Gegenständen, die nebeneinander lagen.
Es fand eine lange Beratung beim Kommandeur statt. Lange neigten sie sich über die Karten, und als sie aus der Kajüte herauskamen, waren sie schweigsam und drückten fest die Hände des Offiziers und der vier Matrosen, die eine Minute darauf auf einem mit Minen beladenen Zerstörer hinter der nächsten Insel verschwanden. Das Schiff kam am folgenden Morgen zurück, im Heck sah man nicht mehr die vier langen, dunklen Minen. Jetzt blieb nur das eine: ruhig abwarten. Und in der Tat, die Weißen gingen am zweiten Tag, nachdem sie den Untergang des „Kommunisten" mit einem großen Trinkgelage gefeiert hatten, zum Angriff über.
Sie zogen feierlich in Kiellinie, wie zur Parade, heran. Sogar Admiral Stark, der Kommandeur der weißgardistischen Flottille, nahm zum ersten Mal persönlich an einer Schlacht teil. Seine Flagge war auf dem „Orjol" gehisst. Aber kaum hatte die feierliche Prozession die „Grüne Insel" erreicht, als sie Halt machen musste. Der Dampfer „Trud", der als Kopffahrzeug voranging, wurde buchstäblich in zwei Teile gerissen: die Minen haben ihr Werk getan. Jetzt sieht man auf den vereisten Ufern der Kama die Gerippe der beiden zerstörten und verbrannten Schiffe fast nebeneinander liegen: den „Kommunist Wanja" und den weißgardistischen „Trud". Und wer weiß, vielleicht hat die Strömung unter der undurchdringlichen Oberfläche des Flusses auf seinem dunklen Grunde Markin und jene Verachtungswürdigen zusammengetrieben, die Markins Mannschaft mit Maschinengewehren niederschossen.
Als die Seeleute die Kama verließen, vielleicht für immer, verabschiedeten sie sich endlos lange und schwer voneinander. Nichts bringt die Menschen so nahe wie gemeinsam erlebte Gefahren, schlaflose Nächte auf der Kommandobrücke, und jene langen, äußerlich unmerklichen aber doch qualvollen Anstrengungen des Willens und des Geistes, die einen Sieg möglich machen und vorbereiten. Keinerlei Geschichtsschreibung wird imstande sein, die täglich vollbrachten großen und kleinen Heldentaten der Seeleute der Wolgakriegsflottille nach Gebühr einzuschätzen; sogar kaum die Namen jener, deren freiwillige Disziplin, Unerschrockenheit und Bescheidenheit an der Entstehung der neuen Flotte mitgeholfen haben, werden
bekannt sein.
Natürlich, die Geschichte wird nicht von einzelnen Personen gemacht. Aber bei uns in Russland gab es damals überhaupt sehr wenig Persönlichkeiten und Charaktere, es kostete eine ungeheure Mühe, durch die Schicht der alten und neuen Bürokratie durchzudringen, für seine Kampffähigkeit das rechte Betätigungsfeld zu finden. Und doch hat die Revolution viele solche Menschen hervorgebracht, Menschen im besten Sinne des Wortes, und das ist ein Zeichen dafür, dass Russland gesundet und wächst. In der Schicht, die zu beobachten ich Gelegenheit hatte, gab es viele solche Charaktere. In den entscheidenden Situationen traten sie von selbst aus der allgemeinen Masse hervor, und das Gewicht, das sie mit ihrer Person in die Waagschale warfen, erwies sich als entscheidend; sie beherrschten ihr heroisches Handwerk und hoben die schwankende, nachgiebige Masse auf ihr Niveau. Da ist zum Beispiel der wortkarge Jelisejew, ein prachtvoller Richtkanonier, der in einer Entfernung von 12 Werst aus weittragenden Geschützen ein Boot in den Grund schießen konnte, der leuchtend blaue Augen ohne Wimpern hatte - ohne Wimpern, weil sie ihm bei der Explosion eines Geschützes verbrannt waren. Immer strebte er irgendwohin, weit voraus. Da ist Babkin, der immer krank ist, immer fiebert und brennende Augen hat, der nicht mehr lange leben wird und die Schätze seines sorglosen, gütigen und erstaunlich festen Geistes königlich vergeudet.
Er war es gewesen, der das Minenfeld gelegt hatte, auf dem der stärkste Dampfer der Weißen, „Trud", seinen Untergang fand.
Da ist Nikolai Nikolajewitsch Strujski, Steuermann des Flaggschiffs und Chef der operativen Verwaltung der Flottille in der zweiten Hälfte des Kama-Feldzugs. Er war einer der besten Fachleute und gebildetsten Seeleute, der der Sowjetmacht während des ganzen Bürgerkrieges treu ergeben war. Und doch war er seinerzeit gemeinsam mit einigen jüngeren Offizieren geradezu gewaltsam mobilisiert und fast unter Eskorte an die Front gebracht worden. Als er auf das Torpedoboot „Meshen" kam, hasste er die Revolution und war aufrichtig davon überzeugt, dass die Bolschewiki deutsche Spione seien, und glaubte den reaktionären Zeitungen „Retsch" und „Birshewka" jedes Wort.
Gleich am nächsten Morgen nach ihrer Ankunft nahm diese Gruppe von Offizieren an einem Kampf teil. Anfangs - finsteres Misstrauen und kalte Korrektheit von Menschen, die an einer fremden, verhassten und ungerechten Sache gezwungen teilnehmen. Aber schon nach den ersten Schüssen änderte sich das: Man kann eine Sache nicht halb machen, wenn das Leben von Dutzenden, die jedem Befehl blind folgen, von einem Kommando abhängt - und nicht nur das Leben dieser Menschen, sondern auch des Minenschiffs, dieser herrlichen Kampfmaschine. Von einem jeden Matrosen zieht sich ein stählerner Faden zu der Kommandobrücke hin, zu der Stimme, die die Maschinen, die Geschwindigkeit, das Feuer der Geschütze und das unter den besorgten Händen des Steuermanns kreisende Steuerrad beherrscht. Ein guter Seemann kann im Kampf nicht sabotieren. Jede Politik vergessend, beantwortet er das Feuer des Gegners mit dem Feuer seiner Geschütze; er wird hartnäckig angreifen, sich glänzend verteidigen und seine Berufspflicht kaltblütig erfüllen. Und hat er einmal einen Kampf mitgemacht, dann ist er schon nicht mehr frei. Starke Bande binden ihn an den Kommissar, an die Mannschaft, an die rote Flagge am Mast - der Stolz des Siegers -, dazu das ehrgeizige Bewusstsein seiner Unentbehrlichkeit und jener absoluten Macht, die man gerade ihm, dem geschulten Offizier, im Augenblick der Gefahr gibt.
Nach zehn Tagen der Teilnahme am Feldzug, nach dem ersten Sieg, dem ersten feierlichen Empfang, bei dem die Arbeiter irgendeines befreiten Städtchens unter Musikklängen an die Landungsstelle marschieren und gleich herzlich die Hand jenes Matrosen drücken, der als erster ans Ufer springt, und die verwöhnten aristokratischen Hände eines „roten Offiziers", der, unentschlossen um sich blickend, das „fremde" Ufer betritt, noch immer nicht glaubend, dass auch er ein Genosse, dass auch er ein Mitglied jener „großen Armee der Arbeit" ist, von der das heisere Provinzorchester mit der Internationale so erregt freudig und ungefügig verkündet.
Und auf einmal bemerkt dieser Spezialist, dieser „Marine-Kapitän I. Klasse" aus dem alten kaiserlichen Dienst, mit Entsetzen, dass Tränen in seine Augen steigen, dass um ihn herum nicht eine „Bande von deutschen Spionen", sondern das echte Russland ist, das seine Erfahrung, seine akademischen Kenntnisse, sein durch hartnäckige Arbeit erzogenes Gehirn unendlich nötig hat. Jemand hält eine Rede -ach, diese Rede eines ungeschlachten, ungebildeten Mannes, die noch vor einer Woche nur ein schiefes Lächeln bei ihm hervorgerufen hätte -, aber der „Kapitän I. Klasse" hört sie mit Herzklopfen an, mit zitternden Händen sich vor dem Geständnis fürchtend, dass das Russland dieser Weiber, dieser Deserteure und Bengel, dieses Agitators, dieses Genossen Abram, dieser Bauern und Sowjets -sein Russland ist, für das er gekämpft hat und bis an sein Lebensende kämpfen wird, ohne sich der Läuse, des Hungers und der Fehler zu schämen. Er weiß es noch nicht, fühlt jedoch schon, dass auf der Seite dieses Russlands Recht, Leben und Zukunft sind.
Noch eine Woche später wäscht sich Genosse Strujski den Kohlen- und Pulverrauch vom Gesicht, legt sich einen reinen Kragen um, schließt alle goldenen, beadlerten Knöpfe seines Kittels, dessen von den abgetrennten Achselklappen und Abzeichen übrig gebliebene dunkle Spuren noch nicht ausgeblichen sind - und richtet seine Schritte zu der bolschewistischen Obrigkeit. Er spricht - und hält sich mit beiden Händen fest an die Armlehne - als wanke das ganze Zimmer unter ihm:
„Erstens glaube ich nicht, dass Sie und Lenin und die übrigen im ,plombierten Wagen' von den Deutschen Geld genommen haben."
Eine Atempause - wie nach einer Salve. Irgendwo in der Ferne die adlige Kadettenschule, die kaiserliche Tafel auf „S. M. S. - Standarte" und die goldenen Waffen für den Weltkrieg... Dann - Explosion, Zusammenbruch. Ein verspäteter Oktober.
„Zweitens: Mit euch ist Russland, und auch wir wollen mit euch sein. Allen jüngeren Kameraden, die meine Ansicht erfahren wollen, werde ich das gleiche sagen. Und drittens: Gestern haben wir Jelabug eingenommen. Wie Sie wissen, hat man am Ufer an die hundert Bauernmützen gefunden. Alle Steine sind mit Gehirn und Blut bespritzt. Sie haben es selbst gesehen - Bastschuhe, Fußlappen, Blut. Wir kamen eine halbe Stunde zu spät. Das darf nicht mehr vorkommen. Man kann auch des Nachts fahren. Freilich -gefährliches Fahrwasser, Batterien können im Hinterhalt sein... , aber..."
Und aus der Tasche wird ein zerlesenes Bändchen herausgeholt: „Operationen der Flussflottillen im Kriege zwischen den Nord- und Südstaaten."

 

ASTRACHAN

I

Die ersten Tage.
Die Nächte sind dunkel und blau und endlos die Steppen. Am Bahndamm - ruhen, wie Raubvögel kauernd, Tataren, sogar beim Schein der fernen schmalen Mondsichel sieht man das Braun ihrer Gesichter.
So sahen sie auch vor Urzeiten unter dem Fürsten Igor aus - in ihren gesteppten Mützen auf der Erde kauernd, Steinen am Wegrand gleich. Und wie vor Hunderten von Jahren zieht Russland kämpfend an ihnen vorüber, nach Süden.
In der Dämmerung knarren und rasseln Militärzüge, aber die Menschen in den einsamen, kleinen Steppenstationen fühlen sich ruhiger, stärker, sicherer als auf den furchtbaren Bahnhöfen der Hauptstadt, wo Krankenhaus und Lager, Obdachlosenasyl und Biwak sich widerwärtig durcheinander mengen. Der reine Wind trägt die letzten von uns mitgenommenen Spuren des Stadtstaubs über die unermesslichen Weiten, sogar der Rauch der Lokomotive riecht jetzt ein wenig nach Wermut.
Hier tritt schon der Krieg in seine Rechte. Mit dem ersten Verwundeten, dem man über die hohen Trittbretter in den Wagen hilft, tritt er in unser Leben, um es bis zu Ende zu beherrschen.
Dieser Verwundete ist ein Mann von etwa 40 Jahren, mit einer knotigen Haut und einem kurzgeschorenen Kopf und kleinen Augen, aus denen der ebene Goldgrund seiner Seele unentwegt hervorleuchtet. Hohe, gebräunte Stirn, voller Spuren der sengenden Südsonne, auf der aber nicht der leiseste Zweifel das kleinste Fältchen hinterlassen hat. Sein Arm ist am Ellbogen von einem Kosakenpallasch zerhauen, noch immer sieht man die Blutspuren auf dem grauen, hausgewebten Tuch des Hemds. Den Vater begleitet der dreizehnjährige Sohn, ein schon großer, schöner, seine Schönheit nicht ahnender Jüngling, fast noch ein Kind und doch schon ein Krieger - im Profil an die kriegerischen Cherubinen des alten Byzanz erinnernd. Wie lange und klar bleibt das Gesicht dieses Knaben im Gedächtnis haften! Es ist jenem Land voll und ganz zugewendet, aus dem ein starker Sturmwind zu wehen scheint; der Abglanz der Revolution, deren flammende Schwingen seine Kindheit so nahe gestreift, leuchtet aus diesem Gesicht.
Vielleicht wird er die reifen Jahre, die Mannbarkeit niemals erleben, niemals ein Buch lesen, niemals ein Weib berühren. Diese schnell vorüberziehende Zeit wird ihn in irgendeine grüne Steppe tragen, die plötzlich von Kalmücken umzingelt sein wird. Er wird sich lange verteidigen, Schulter an Schulter mit seinen Brüdern und Vätern, wird wahrscheinlich fallen, und im unendlichen Blau über seinem Kopf wird ein Raubvogel langsam konzentrische Kreise ziehen. Die Todesangst, die auf den Gesichtern schwacher Menschen wie Fett auf kalten Tellern erstarrt, wird auf diesem lieben, kühnen Gesicht nicht erscheinen; es werden sich die schönsten Frostblumen zeichnen, märchenhaft, unergründlich und regungslos freudig. So sterben die Kinder der Revolution.


II

Astrachan ist bedrückend. Astrachan ist hoffnungslos.
Wie ein glühender, gelber Stein liegt es inmitten der aus den Ufern getretenen Wolga. Zu der Stadt führen durch überschwemmte Felder schmale Eisenbahndämme: braungoldene Fäden in einem weiten Meer trüben, salzigen, unruhigen Wassers.
Es riecht nach Meer, die Sonne brennt, und die Stadt besteht aus nie trocknendem Schmutz, niedrigen Häusern ohne Gesicht und Alter, aus Stein und Staub und üblem Dunst, aus Dunst und Trümmern. - Es ist schwer, in dieser Stadt zu atmen.
Erst nachts beginnt das Leben. Die Gesichter, von Fieber und Tagesglut entkräftet, sind so seltsam bleich bei dem elektrischen Licht in dem einzigen Park, dessen wenige alte Bäume schwarz und aus dem Urwald hierher gebracht scheinen. In der Mitte, im Schatten der Ahornzweige, strahlt, von innen erleuchtet, ein großer, gläserner Sarg, bis zum Rande gefüllt mit Blumen. Es ist, als ob die seltsamen Rosen, Lilien von ungeahnter Größe, Mohn und Levkojen diesen Glanz ausstrahlen. Dies ist das Grab der Revolutionäre, das genialste von allen, das ich bisher gesehen.


III

In der salzigen Wüste, die Astrachan umgibt und die von Flugsand beherrscht ist, gibt es vereinzelte Oasen: Das sind uralte tatarische Gärten. Dort blüht der Wein, dort riecht es nach Honig, Wein und Pfefferminz. Ein träger Stier setzt, endlose Kreise ziehend, eine knarrende, vorsintflutliche Vorrichtung in Bewegung und hebt das Wasser aus dem salzigen Sumpf zu den Gärten hinauf.
Die weißen Rosen sind bleich und unbeweglich und verschwenden ihren schweren, kostbaren Atem. Sie erinnern an die kühlen, niedrigen Lehmkapellen in den Steppen, wo auf einem Ebenholzaltar Asiens Götterbilder herrschen - die feinen, langen Hände und Pantöffelchen gekreuzt und der Sonne ein goldenes Lächeln spendend. Auf den grünen, seidigen Rasen fallen von tief herabhängenden Ästen Aprikosen geräuschlos herab; die flammenden Tomaten über dem dürren Geäst sind herrlich, man hat den Eindruck, zu prunkvoll, wie am frühen Morgen in kostbare Gewänder gehüllte Schätze. Und die glühenden Pflaumen: Unter ihrem bernsteinfarbenen, dünnen Häutchen gärt der warme Saft.
Hoch in der Luft, über den trunkenen Gärten hört man ein fernes Summen. Es wird lauter - aber ringsum flüstert das Paradies, und man möchte die Augen nicht aufschlagen. Es werden wohl Bienen sein, die im Wein summen, es klingt wie fernes Glockengeläut des reifenden Sommers. Und plötzlich - Erwachen: erschreckte Gärtner lassen ihre Spaliere und Beete im Stich, drängen sich zusammen, alle Gesichter sind zum Himmel gerichtet. Dort fliegen drei feindliche Vögel der Stadt zu - jetzt tauchen sie im Dreieck aus dem krausen Wölkchen hervor -, und in der Sonne, bei jeder Wendung, schimmern ihre Schwingen silbern auf; ruhig und selbstsicher, fast nichts riskierend, denn sie treibt echt englisches Benzin. Den drei tieffliegenden Raubvögeln entgegen, erhebt sich hinter dem Walde einsam unser schwerfälliger Aeroplan. Er fühlt in den Adern seines zarten, empfindlichen Mechanismus das giftige „Ersatz"benzin fließen, das in den feinen Adern gerinnt, sie nur notdürftig speist und jede Sekunde zu verraten droht. Es ist ein hoffnungsloser Aufstieg. Der Flieger verzichtet auf den Schutz der im Luftmeer gleich einer Halbinsel schwimmenden, faserigen Wolke und steigt, ohne zu kreisen, steil und lärmend wie ein Krieger in voller Rüstung zur Spitze des unsichtbaren Berges auf.
Wer ist er, dieser Unbekannte, welcher Könige Herz klopft in seiner Brust, welcher Helden Blut gibt ihm diese verzweifelt tollkühne, unvergleichliche Gradheit seines Fluges ein?
Dort unten liegt eine schutzlose Stadt: Sie aber mit ihren schmutzigen Straßen und ihren bösen, überflüssigen Menschen, die jeden Augenblick bereit sind, die Revolution und alle rotblühenden Schösslinge des Lebens zu ersticken, konnte niemand zu solcher Heldentat begeistern.
Und doch steigt er empor. Schon hört man das Knattern der Maschinengewehre, und weiße Rauchknäuel tauchen über den feindlichen Flugzeugen auf: es ist die einzige Kanone am Ufer, die, ihr zyklopisches Auge schwerfällig wendend, das ferne Ziel gefunden hat und nun den Tod in den Raum schickt.
Sie ziehen sich zurück. Diese unmittelbare Berührung können sie nicht vertragen. Dort, schon fern, funkeln noch ihre silbrig geschuppten Rücken; das feindliche Summen ist kaum noch zu hören. In einem breiten, freudigen Bogen schwebt unser Aero nach Hause. Das Gesicht des Fliegers unter der Maske wird jetzt gewiss ganz weiß sein; jeder seiner Züge ist vollendet und groß geprägt, und die Blicke sind scharf und glänzend: die Blicke längst verschwundener kriegerischer Vögel.


IV

„Wo goldgestickte Wespen, Blumen, Drachen prangen... "

In rosafarbenem Feuer sinkt die Sonne. Eine leichte Arbe, ein zweirädriger Wagen, eilt schnell zur Stadt, irgendwo in der Ferne bleiben die Gärten und der Luftkampf über ihnen zurück. Niedrige, schmutzige Vorstädte ziehen sich bis zum Kreml. An Türen und Toren des tatarischen Viertels sitzen würdige Greise in sauberen seidenen Kaftans und weißen Strümpfen. Auf ihren Gesichtern breitet sich rosafarbener Widerschein der Sonne -älter als der Purpur unserer Banner. Sie sitzen und träumen schweigend - vielleicht von alten buddhistischen Heiligenbildern, die unsere Kundschafter aus den Steppendörfern mitbringen. Hier ist eins dieser Bildnisse: auf einem Hintergrund, dunkelgrün wie der sinnliche, triumphierende südliche Frühling, leuchtet rosa der Halbkreis des Morgens, unter dessen Schatten, die überfeinen Glieder gekreuzt, die Morgengottheit thront. Ihr Gesicht ist von der gleichen dunkelgrünen Farbe, und wie ein blühender Ast inmitten der Zweige lächelt der gewölbte, scharfgeschnittene Mund. In der einen Hand ein purpurnes Glöckchen, in der andern die Sanduhr: aber nicht jene einsame Sanduhr der Dürerschen Melancholie, deren Körner die Verzweiflung messen, es ist die Uhr des Erwachens und ewigen Lebens. Über dem Kopf der Gottheit, den smaragdgrünen Himmel teilend, stehen freundschaftlich nebeneinander - rechts die Sonne, links der Mond. Beide Himmelskörper sind von dampfenden Wolken umgeben - etwas weicher getönt als der purpurne Nimbus, in den sie übergehen. Hinter ihnen ist Unendlichkeit. Ungewöhnlich sind die Augen dieser asiatischen Aurora, leicht geschrägt, mit dem Morgenstern zwischen den achatnen Brauen. Das sind die Augen der rätselhaften Bildnisse der Renaissance, aber ohne deren zweideutige Schwäche und künstlerische Lüge. Weise, kalt, in sich versenkt, trotz des süßen Lächelns. An den fast weiblichen Armen rote Armbänder. Aber die Brust dieser grünpurpurnen Eos ist mit keinem einzigen Strich angedeutet. Somit ist sie, die herrlichste unter den Göttern und Menschen der Urzeit - unbefleckt, mit dem Torso der Jugend -, eine lachende Morgenröte, aus deren Augen die ganze Freude und die ganze Trauer des noch nicht angebrochenen Tages leuchtet. Zu ihren Füßen liegt die Erde, dunkel, waldbedeckt, mit einer hellen, sonnig erwachten Wiese in der Mitte.
Wir trafen mit Behrens, mit dem Kommandeur aller Seekräfte der Republik, zusammen. Er kam zur Front, liebenswürdig, klug, wie immer durch die Unhöflichkeit der Revolution verletzt, die er in einer Weise behandelte wie ein alter, ergebener Würdenträger die oft schweren Launen seines jungen Königs.
Sein europäischer Intellekt fand die unwiderlegliche Logik der stürmischen Ereignisse heraus, und von dieser fast gegen seinen Willen überzeugt, zog er freiwillig alle Fol-


V

gerungen aus jener ungeheuren, barbarischen Wahrheit, die die gewundenen Galerien, Paradesäle, Gärten und Kapellen seiner halb höfischen, halb philosophischen Seele ins Wanken brachte. Und obwohl über seinem Kopf die jahrhundertealten Mauern und Wappen seines Geschlechtes lustig flammend zusammenbrachen und das spiegelnde Parkett der Admiralität unter seinen Füßen zu schwanken begann, triumphierte doch der helle Kopf des Rationalisten und verbot ihm auch dann die Wahrheit zu verschweigen oder zu entstellen, wenn sein Herz getroffen um Schonung flehte.
Eines Tages kam die neue Macht an sein verfallenes Haus, verschaffte sich Eingang und forderte von ihm Eid und Treue. Er empfing sie erregt, aber mit aller Höflichkeit der Courtoisie des 18. Jahrhunderts und eines alternden Edelmanns und Voltairianers, der viel erlebt und im Erleben müde geworden, an der Neige seiner Tage noch einmal besiegt von seiner Leidenschaft: von der letzten, zärtlichen Liebe zum Leben, zur Jugend und ihrer schöpferischen Arbeit, zu dem grausamen und herrlichen Engel, der, von B!ut und Tränen eines ganzen Volkes besprengt, endlich gekommen war, die Welt zu richten. Die Revolution zwang Behrens - diesen Theoretiker und Sybariten -, seine Spitzenmanschetten aufzukrempeln und mit eigenen Händen seiner sterbenden Vergangenheit und seiner besiegten Klasse das Grab zu graben. Behrens kämpft gegen die Restauration, er bewaffnet Schiffe und glaubt allen Dogmen zum Trotz, dass seine kleinen, mit Mut und Opferwillen befrachteten Flottillen siegen können und müssen. Nach dem Fall von Zarizyn saß Behrens in seiner Kajüte, und seine Augen bekamen plötzlich jenen Ausdruck, wie ihn Greise haben, wenn sie über Nacht ihren einzigen Sohn verlieren.


VI

Der 10. Juli 1919.
„Genosse Kommandeur, die Leute von der Exekutive wollen ans andere Ufer - erlauben Sie, sie hinüberzubringen?" „Es geht nicht, wir müssen sie mitnehmen, damit sie uns jene Dörfer zeigen, die von Kosaken besetzt sind." Es tritt ein stämmiger, sonnenverbrannter Mann mit lebhaften, lachenden Augen vor, es ist der Vorsitzende irgendeines Landkomitees, der nach der Ankunft der Kadetten aus seiner Steppenresidenz geflüchtet ist und daher sehr interessante Nachrichten mitteilen kann. Es stellt sich heraus, dass das 25 Werst flussaufwärts am Ufer liegende Dorf schon von zwei Kosakenregimentern besetzt ist; auf dem Platz hinter der Kirche sind vier Geschütze aufgestellt. Beim Morgengrauen sollten diese gesamten Streitkräfte gegen unsern Stab in P, geworfen werden. „Und wo sind sie jetzt?"
„Wer? Die Kosaken? Sie baden. Sie haben bis heute Abend Ruhetag. Pferde und Menschen, alle sind im Wasser. Es ist heiß."
In der Tat, der Tag ist siedend heiß. Der Fluss lagert träge in den goldenen Sandufern. Es dampft. Ab und zu glänzt ein schwerer Fisch auf der Wasserfläche auf. Wenn die Uterbatterien nicht wären, könnte man schon jetzt über das schläfrige, erhitzte Wasser an das andere Ufer fahren, wo die ganze wilde Horde im Wasser ist, wo die breiten Rücken der Reiter zwischen auffunkelndem Wasser in der Sonne glänzen - ganz wie bei Leonardo in seinen „Badenden Kriegern". Der Angriff wird auf die Nacht festgesetzt. Eine herrliche Nacht. Wieder dieser tiefhängende rosige Mond, metallisch, perlenfarbig, gewaltig, der einen Geruch verbreitet, bitter wie Wermut und zart wie die Blüten des Weins. Die Minenschiffe fahren schweigend gegen den Strom, die Zeit vergeht, die Rahen zittern wie Netze auf dem Blau des Himmels, ihre Maschen sind voller Sterne. Wir kommen an Dörfern vorbei, wo Hunderte von Feinden schlafen oder nur ruhen und an den morgigen Angriff denken. Die Schiffe wählen einen Standort, richten die Geschütze, und die ungeheuren Körper speien nach einem leisen Kommandowort Feuerstrahlen aus. Dort am Ufer stirbt man schon.
Der kleine Bauer, der Vorsitzende des Dorfsowjets, steht auf der Kommandobrücke und hält sich die Ohren zu. Im magischen Schein der Salven sieht man einen Augenblick lang sein Gesicht mit dem spärlichen roten Bärtchen, sein weißes Hemd und die nackten Füße. Er ist betäubt, aber nach jeder Detonation huscht über dieses Gesicht ein seltsames, majestätisches Lächeln, ein verlegenes, unbewusstes, fast kindliches Machtgefühl. Da steht er, dieser russische Bauer in Bastschuhen, auf dem gepanzerten Deck des Kriegsschiffs, und dieser ganze schnellaufende, geräuschlose Riese mit seinem gehorsamen Mechanismus, seiner Antenne an den Masten, mit seinem berühmten Richtkanonier am Telemeter - alles das gehört ihm und dient seinem obersten Willen, ihm, dem Iwan Iwanowitsch aus dem Dorfe Solodniki. Noch niemals und nirgends in der Welt standen Bauernbastschuhe auf dieser hohen, stolzen Kommandobrücke, über den 100-Millimeter-Geschützen und Minenapparaten, hoch über ganz Russland, über der ganzen Menschheit, deren Leben von der Revolution von neuem aufgebaut wird.
Die Watte aus dem Ohr nehmend, neigt sich die Leuchte der Marineakademie - Wegmann - zu dem regungslosen und feierlichen Iwan Iwanowitsch und fragt ihn in der Dunkelheit:
„Genosse Vorsitzender - oberhalb oder unterhalb des Glockenturms? Zielen wir richtig?"
Iwan Iwanowitsch antwortet nichts, aber man sieht es seinen glänzenden Augen an, dass sehr wohl richtig geschossen wird. Es tagt.
Dicht am Ufer explodiert ein Geschoß. „Das wird wohl das Haus von Mikita sein! Ein reicher Bauer, zehn Kühe - auch die Offiziere nehmen bei ihm Quartier."
Die Weißen beantworten unser Feuer nicht, aber man fühlt in der Dunkelheit ihre verzweifelte Flucht. Kaum bekleidet, werden sie auf ihren wilden Pferden diese ganze heiße und lange Nacht durch die Steppen jagen, verfolgt von dem wiedererstandenen Gespenst der uralten mongolischen Angst. Mikitas Haus brennt, die Geschütze schweigen schon längst.
Das Minenschiff holt die Anker ein und treibt langsam den Strom hinab.


VII

Prachtvoll sind die Veteranen der Revolution. Prachtvoll sind die Menschen, die das gewöhnliche menschliche Leben schon längst hinter sich haben und die plötzlich zu dem Zeitpunkt, an dem der Vorhang fallen und Dunkelheit und Schlaf zu beginnen pflegen, gegen alle Regel beginnen, jugendfrischen Lebensmut zu trinken. Da ist zum Beispiel Saburow, Alexander Wassiljewitsch. Sein ältester Sohn ist im Kriege gefallen, seine Frau hat sich unmerklich zu einem Bündel leichter, weicher, aschgrauer, alternder Gefühle und Gedanken zusammengerollt. Er selbst durchlief die ganze Skala des Lebens eines Revolutionärs: von den goldenen Leutnantsepauletten bis zur Emigration in Paris - noch zur Zeit des rebellischen Leutnants Schmidt, in dessen Prozess er verwickelt war. In der Emigration lebte Saburow wie Tausende anderer politischer Verbannter: vom einfachen Schlosser einer Fabrik diente er sich bis zum Verwalter herauf. Die große Teufelsuhr des Lebens zeigte für Saburow 58 Jahre auf, als die Revolution ausbrach, und alles im Stich lassend, kehrte er sofort nach Russland zurück, um als Seeoffizier an die Front zu gehen.
Noch als er das graue Baltische Meer durchquerte, saß er wahrscheinlich irgendwo auf dem Deck, hörte, wie die schweren Wellen an Bord schlagen, wie die Matrosen eilig über Deck liefen, wie das Meer atmete und dampfte; hier zählte er seine verlorenen Jahre und sah sein neues, unendlich junges Leben vor sich.
Er kam zur Wolga, als der tschechoslowakische Aufstand seinen Höhepunkt erreichte. Man gab ihm in Kasan einen langsamen, schwerfälligen, eisengepanzerten Kahn, der mit weittragenden Geschützen armiert war. Wie glänzend beherrschte er seine Batterie! Klein, mit einem vollen Bart, aus dem ewig der schwarze Kopf der Pfeife hervorlugte, mit seinen etwas schräg stehenden tatarischen Äuglein und französischen Sprüchlein - neigt sich Alexander Wassiijewitsch zum Geschütz, pfeift ein wenig, blinzelt, wirft einen Blick auf den uralten bunten Turm Sumbeki, der ebenso alt, ehrwürdig und im Innern anmutig ist wie er selbst, und eröffnet eine wilde Kanonade. Nach dem dritten Schuss beginnt in Kasan etwas zu brennen, der Feind antwortet, und der kleine Schlepper faucht los und strengt sich aus Leibeskräften an, den „Serjoscha", den schwerfälligen Kahn, so schnei! wie möglich aus dem Hagel der explodierenden Geschosse herauszubringen. O diese Kontraste: das schwerfällige Ungetüm und sein zielsicheres Feuer, diese kolossalen Geschütze und der sie lenkende gutmütige, kleine, lebhafte Alexander Wassiljewitsch, der einer Fliege nichts zuleide tun konnte, der aber in den schwersten Minuten schweigsam, kalt wie Stein wurde, an dem der Tod jeden Tag vorüberging, blind, mit gespreizten Schwingen, inmitten sprühender Fontänen des vergifteten, brodelnden Wassers.
Und der Tod ging immer an ihm vorüber, er wagte es nicht, den sechs Jahrzehnten dieses königlichen Alters ein Ende zu machen.


VIII

„Le jour de gloire est arrivé Formes vos bataillons... "
Schwarz und rot sind die Farben unserer Fahnen. Schwarz - an den Tagen der Begräbnisse.
Durch die glühende Stadt zieht ein Matrosenorchester. Das Messing der Instrumente funkelt, Schritte dröhnen über dos tote Pflaster, und die Flaggen scheinen aus schwarzem Stein modelliert - so schwer und hart wirken sie. Wie im' Halbschlaf bewegen sich kaum merklich die Falten - sie träumen von tiefer Kühle des Himmels, von dem frühen nordischen Frühling, von den ersten Möwen über Kronstadt, vom ersten Tauen des Schnees im April. Astrachan stickt.
Nur die leichten Masten der Fischerboote draußen auf dem Wasser atmen leichter. Die Stadt liegt mit geschlossenen Augen da, von Schweiß und Staub bedeckt; sie findet keine Kühlung durch die Kanäle, in denen die Hitze, von Malaria getränkt, noch stärker brennt. Gleichmäßig und rhythmisch schreiten die Matrosen durch die Stadt. Über öden Bauplätzen und Trümmern, über dieser ganzen langweiligen Wüste aus Steinen und hässlichen Dächern schwebt und ruft die Marseillaise. Sie hat jene hohen, gelassenen Töne erreicht, die alle Schmerzen über den Gefallenen ausdrücken. Sie erreicht den Gipfel. Dort, dicht unter dem Himmel, verharrt das Lied und sieht gleichsam das ganze Leben, wie es sich tief unten ohne Anfang und Ende ausbreitet.
Und es sieht: einen breiten, blauen Fluss, der zwischen salzigen Sandhügeln zum Meere fließt. Die Marseillaise erstarkt und schwingt sich höher hinauf. Der Sarg wankt leise, die Fußgänger betrachten die kleine Prozession, die Gesichter der Seeleute, die in die Musik gehüllt, um sich blicken und doch nichts sehen.
Aber von dem Kupfer des Horns und der breiten Brust der Pauke getragen, begrüßt das Lied ein lang gestrecktes Schiff, das den öden, durchglühten Fluss stromaufwärts zieht. Auf den Flügeln der Erinnerung folgt ihm das Trauermotiv.
Das Banner erwacht und zittert. Es ist, als wenn eine frische Brise vom Meer, von Kohlenstaub der drei breiten, grauen Schornsteine durchtränkt, es berührt hätte. Die Seeleute richten ihre Blicke nicht auf, und als sie zur Vorstadt abbiegen, erinnert sich einer von ihnen: „Ja, das war auf dem ,Rastoropny'."
Eine Sekunde lang tönt aus der mächtigen Kehle der Instrumente tränendurchfeuchtete Heiserkeit, aber sie bezwingen sich, und wieder schwebt der revolutionäre Hymnus durch den klaren Himmel des Mutes und Stolzes. Das war auf dem „Rastoropny".
Er befindet sich auf einer Patrouillenfahrt, weit von seiner Flottille entfernt, da bemerkt er am Ufer eine Batterie im Hinterhalt. Das Minenschiff feuert aus seinen beiden Geschützen, wird selbst aus unmittelbarer Nähe beschossen. Und in der Spannung der Verteidigung, als die Kanoniere, vom heißen Atem ihrer Geschütze angehaucht, das Ziel suchen und ändern, als leere Hülsen klingend fallen, als der Lotse unter dem Pfeifen dicht vorüberfliegender Geschosse ängstlich seinen Kopf neigt, als der kleine Kommandeur eine leere Kiste besteigt und vom Bug bis zum Heck um sein Fahrzeug Geschosse aufklatschen sieht, das Fahrzeug, das von der kleinsten Vibration seiner Stimme und seines Willens abhängt - in diesem Augenblick wird der Matrose Jerikow verwundet: und schweigend stirbt er. Das ist alles.
Die Marseillaise hat ihre Geschichte zu Ende erzählt. Langsam schwankt der Sarg auf den brüderlichen Schultern. Vielleicht will jener, der in ihm liegt, jetzt zum letzten Mal fragen, wer in seiner verlassenen Koje liegt, wer jetzt morgens auf der hohen Brücke stehend, von Schiff zu Schiff die auserlesene Sprache der Signalflaggen weitergibt. Aber der Tod hebt seine Hand nicht von den blauweißen Lippen, und niemand hört die ungesagten Worte. Der Sarg schwankt fügsam, und hinter ihm her, wie hinter dem Heck des Schiffes, rauschen ins Endlose zwei brüderliche Wellen der Trauer. Ihr reiner, salziger Schaum fällt auf die fremden Gesichter in der feindseligen Stadt.


IX

In der Nacht ein Telegramm von N. Der Kommandeur fährt flussabwärts, um morgen Abend an einer Konferenz teilzunehmen.
Es tut ihm leid, W. gerade in dem Augenblick zu verlassen, als der Angriff der Weißen, der vor zwei Tagen begonnen hat, seinen Höhepunkt erreicht hat. Über den Fluss dröhnen vereinzelte Artillerieschüsse, die Armee schläft alarmbereit in Kleidern, mit Brot und Waffen unterm Kopf. Alle Lichter sind gelöscht. Der Sekretär empfängt bei Kerzenlicht die letzten Befehle, unsicher gleitet die Feder über das Papier, Windstöße tragen stille Nachtfalter der flackernden Flamme zu. Im Wasser schwanken die Sterne, und die Stimmen der Nacht fließen zusammen mit dem monotonen Geräusch der Radioapparate. Vielleicht sendet der feine, zugespitzte Mast in der Pause zwischen zwei trockenen irdischen Telegrammen dem Himmel einen zarten, unhörbaren Gruß. Wetterleuchten antwortet ihm aus der trübblauen Wolke.


X

Polosenko - das ist ein Matrose von gewaltigem Wuchs, schwer, bedächtig, mit dunklem Gesicht und dunklem Haar.
Unwillkürlich bemerkt man bei Tisch seine großen, schwieligen Hände, die schnell und geschickt sind, die den Gegenstand immer an der Stelle anfassen, wo der geheime Punkt des Gleichgewichts verborgen ist. Alles, was Polosenkos titanische Finger berühren, zerfällt unwillkürlich in gleiche, proportionale Teile, und diese Teile bekommen in seiner Hand neues Leben und unterstützen einander im Raum. Auf seinem gebräunten Unterarm, vom Ellenbogen bis zum Handgelenk, leuchtet blau, von einer japanischen Nadel gezeichnet, ein anmutiger und doch unheildrohender Drache. Polosenko ist Flieger, und wenn er in seiner verbrauchten, zu nichts nützen Maschine aufsteigt und weiße Schrapnellwölkchen um ihn herum aufleuchten, dann sind seine Ärmel aufgekrempelt, und das kleine asiatische Ungetüm - das mit seinem Feuer speienden, aufgerissenen Rachen und der einem gezückten Dolch ähnelnden Schwanzspitze lebendig zu werden scheint - blickt ihm, dem Sturmgetragenen, von Sonne Gebräunten, von der Tollkühnheit der Mutigen Getriebenen ins Auge. Wenn Polosenko lacht, reißt der Wind dieses Lächeln von seinen Lippen, und weit unten explodiert die hinabgeworfene Bombe.
Dieser Tage starb im stickigen Astrachan der sechs Monate alte Sohn Polosenkos. Jetzt steigt er - allen Warnungen zum Trotz, drei-, viermal täglich auf. Seither erschien auf seinem großen Gesicht noch ein Zug - gerade und scharf, wie er selbst, dessen Sinn unvermeidlich und unbeugsam ist und vor dem sich die menschlichen Augen senken, weil sie nicht wagen, ihn zu deuten.
Diesen Zug der kraftlosen Kraft trägt der Farnesische Herkules.


XI

Im Marinehospital in Astrachan ist eine Familie untergebracht, oder besser gesagt die Reste der Familie Krjutschkow.
Sie saßen gerade bei ihrem armseligen Mittagsmahl, als eine Bombe von einem englischen Aeroplan auf ihr morsches Dach herabfiel. Alles ging zugrunde, alles wurde zerrissen, in Staub verwandelt, unter den Trümmern von Holz und Lehm begraben. Davon kamen die Mutter, ein Knabe von acht und einer von zwei Jahren, dem das Bein bis zum Knie abgenommen werden musste. Nach der Operation sitzt die Mutter nun schon zwölfmal vierundzwanzig Stunden am Bett des Hospitals und hält ihr schlafloses Kind in Händen, weil es nicht liegen kann. Sie hat rotes Haar, ein breites, knochiges Gesicht von finnischem Typ und furchtsame Augen eines Tieres, das nichts um sich herum zu sehen scheint.
Das Kind auf ihrem Arm ist ganz nackt, nur in eine weiße Decke gehüllt, winzig klein, mit einem mächtigen Bündel von Watte und Binden an dem mageren, gebräunten Beinchen. Die Hände bewegen sich unruhig, aber der Kopf dieses Zweijährigen ist ruhig, bleich und wissend wie bei einem sterbenden Gott. Erschöpft schließt er die Augen, aber dann leuchtet seine Stirn so tief und geheimnisvoll auf, dass die Mutter erschrocken zu jammern aufhört und der zudringliche Doktor seine an alles gewöhnten, hässlichen Finger von der regungslosen kleinen Wange zurückzieht. Wenn Kinder sterben, erscheint ihnen vielleicht ihr ganzes nicht gelebtes Leben im Spiegel ihrer Träume. !n einer qualvollen Stunde, in einer Nacht voller Wirrnis und Fieber durchleben sie das ganze Leben und legen es ob ohne Bedauern, wie ein herrliches Gewand, das nur einmal an einem Festtag getragen und nun für immer mit allen seinen Blumen und Wohlgerüchen abgelegt wird. Die Lider sind halb geschlossen und zittern. Auf dem nackten Körper heben sich kläglich die Schmutzflecken ab, und durch den Verband sickert immer mehr die rosa Feuchtigkeit. Die Mutter starrt es regungslos, wie versteinert, an. Ein Matrose mit verbundener Brust tröstet sie vom Nachbarbett mit halblauter Stimme: Nicht alle Menschen brauchen Beine. Es ist ein kleiner Junge, er wird gelehrig sein, man kann zum Beispiel einen Telegrafisten aus ihm machen. Warum gerade einen Telegrafisten? Der verwundete Matrose fühlt selbst, dass das ungeschickt war. Aber man muss doch irgendwie trösten, irgendwie die Tränen stillen, das Blut beschwören.
Der kleine Fedja blickt vollkommen ruhig auf die Binden, die man von seinem Körper wickelt. Er hat eine große Seele.


XII

Es kommen Tage vor, an denen die Ereignisse wachsen und sich bis zum äußersten verdichten. Sogar Kleinigkeiten erscheinen vielsagend, der Sonnenaufgang verkündet einen langen, unbekannten Tag, der Abend dehnt sich rötend wie eine Erinnerung. Und man begreift die abergläubische Furcht der Alten vor dem Schrei eines Vogels, dem Fallen eines Steines, dem Knarren und Flüstern toter Dinge. Woher senkt sich diese Angst, diese Vorahnung des Unbekannten, diese unerträgliche Qual der Seele auf die Menschen, wie sich dünner, schwarzer Nebel ins Tal senkt.
Nein, nicht die Kämpfe, nicht die Wunden, nicht die Kugeln sind an der Front schrecklich. Es ist nicht der Kampf, der die Jungen und Starken altern macht, der Runzeln in ihr Gesicht gräbt; nicht der Kampf verdorrt die Nerven und zwingt das Herz, langsam, stoßweise zu schlagen. Das machte die geheime Krankheit der Seele, man nenne sie, wie man will: Massensuggestion, Panik, Zwangsvorstellung, ein durch nichts begründeter Zusammenbruch -das ist die geheimnisvolle unheilbare Krankheit des Krieges.
Der allergesündeste Truppenteil kann eines Tages, angesteckt von einem allgemeinen panischen Schrecken, krank erwachen. Dann ist die ganze Größe der Vernunft, ihre höchste Konzentration und eisige Gewalt nötig, um die Fliehenden zurückzuhalten und jene Gespenster zu verjagen, die gefährlicher sind als der offene Feind. Ein solcher Tag der Prüfung kam auch für uns. Wie er begann, warum und woher, das wird niemals jemand erfahren.
Ein Reiter jagte, von einer Staubwolke umgeben, durch die Steppe.
Das ist alles. Ross und Reiter fliegen zwischen unsern und den feindlichen Schützengräben - sinn- und zwecklos, von Furien getrieben. Die Bewegungen des Pferdes, die Neigung seines Kopfes, die Schaumflocken auf der Brust, das Schnaufen und Stampfen - alles das verdichtete sich zu einem unbezwingbaren Antrieb: fliehen, fliehen, fliehen. Anscheinend hat sich überhaupt nichts verändert. Auf dem blauen Spiegel des Flusses schmilzt die Sonne den Widerschein der Schiffe; eine holprige Fuhre, die von einem trübseligen Pferd gezogen wird, bringt einen in frisches Heu gehüllten Verwundeten - aber auf der Anhöhe, wo der Beobachtungsposten lauert, herrscht schon Unruhe. Dutzende von Augenpaaren suchen in der menschenleeren Ebene nach Spuren einer feindlichen Bewegung. Der bleich gewordene Soldat presst aus aller Kraft das Hörrohr des Telefons ans Ohr. Und jeder sieht plötzlich auch etwas -weit am Horizont, rechts, links, immer näher. Eine ganze phantastische Wolke von unfassbaren Feinden - überall verstreut, von allen Seiten sich nähernd. Durch zehn elektrische Leitungen flutet die Erwartung vom Beobachtungsposten in die Schützengräben. Irgendwo fällt ein Schuss, an einer andern Stelle knattert ein Maschinengewehr auf. Der Beobachter steht, wagt nicht den Feldstecher an die Augen zu heben. Seine Hände zittern, die Finger sind wie die Spitzen erschreckter Flügel. Einer elektrischen Welle gleich, strömt die Angst nach allen Seiten. Zwei neugierige Flugzeuge kreisen am Himmel, sie sind wie Raubvögel, die das Aas viele Kilometer weit spüren. Dabei war dieser selbe Beobachter imstande, fünf Tage lang mit der größten Kaltblütigkeit die Angriffsversuche der hasserfüllten, wilden Nomadenregimenter zu verfolgen.
Ohne an etwas anderes als an Distanz und Richtung zu denken, beobachtete er von derselben Anhöhe den Kampf, lenkte das stürmische und zerstörende Feuer unserer Schiffe; auch dann, als die Reiterflut schon in die Vorstädte drang und die ersten blinden Kugeln des Straßenkampfes an ihm vorbeipfiffen.
Der Gesichtsausdruck des Beobachters ist in Kampfstunden einfach und sachlich.
Fünf Nächte schlief die kleine Garnison in steter Alarmbereitschaft, ohne sich auszuziehen, in aller Ruhe schaffte sie ihre Toten fort und schlug eine Attacke nach der andern zurück und bemerkte einfach nicht den zwinkernden Blick des Todes, sein erdgraues Gesicht. Man nahm den Gefallenen die Waffen ab und sprach nicht mehr von ihnen. Sogar an das Schrecklichste für die Infanterie - den Feind im Rücken zu haben, sogar daran dachte man nicht. Und obwohl die Stellungen an Tschorny Jar tatsächlich von allen Seiten umzingelt waren und nur von der Seite der Wolga einen Stützpunkt in der Flottille hatten - kümmerte sich niemand darum. Und plötzlich diese Schwäche! Der von bebenden roten Fähnchen herbeigerufene Oberfeuerwerker Genosse Kusminski eilte vom Schiff zum Beobachtungsposten. Während seine Seemannsaugen Gärten, Schluchten, entfernte Dörfer durchsuchen - blicken die andern gespannt auf sein halb durch den Feldstecher verdecktes Gesicht, das alle kannten und liebten: die Lippen sind anfangs fest zusammengepresst - dann holt er tief Atem, reibt die Linsen des Glases. Seine Augen sind durchsichtig, wie abwesend. - Wie kostbare optische Instrumente sind sie im Augenblick auf große Entfernungen eingestellt, sie hätten jetzt weder lesen noch lächeln können. Und wieder - schweigsame Beobachtung. Plötzlich geraten seine Wangen, das spärliche schwarze Bärtchen, die Raubvogelnase - die ganze Maske dieses kriegerischen Fauns in Bewegung. Unter seinem Lächeln leuchten die goldenen Zähne. Der Feldstecher wird beiseite gelegt, die Augen sind wieder zu sich zurückgekehrt, sind menschlich und listig geworden.
„Aber Genossen, das ist doch keine Kavallerie, es ist ja eine Herde von Kühen."
Man beruhigte sich sofort auf dem Beobachtungsposten. Aber nach einer Stunde erneuerte sich die Aufregung, wuchs und wurde zur Qual.
Die Steppe ist noch immer ruhig, die sandigen, rauchigen Fernen färben sich gegen Abend blau und rosa. Und nach und nach, ohne es sich vorgenommen zu haben, wandten sich die Blicke der Beobachter von den fernen Umrissen des Klosters, von wo sie den ganzen Morgen das Übel erwarteten, dem breiten Steppenmeer zu, das offen und schimmernd vor ihnen lag, wo es außer den langsamen, gewaltigen Kreisen der Adler nichts zu sehen gab. In aller Ruhe, fast in träumerischer Stimmung, wie einer, der einer fernen, unterirdischen Musik lauscht, kehrte der Feuerwerker ans Ufer zurück und ließ seinen weittragenden Marinegeschützen eine ganz unerwartete Richtung geben.
Ein einsamer Schuss rollte unerhört laut über die Steppe -und wieder herrschte tiefe Stille.
Der Wind fuhr streichelnd über das Reihergras - silbern wurde es unter seiner Hand und neigte sich tief zur Erde. Auf dem Beobachtungsposten, in den Schützengräben, in den Masten, wohin die Matrosen geklettert waren - überall herrschte gespannte Erwartung.
Sollte der feine Mathematiker Kusminski sich geirrt haben, trotz des großen Instinktes des Gelehrten und Soldaten in ihm? Sollte das von ihm in den unbekannten Raum geschleuderte Geschoß mitten im Felde in aller Harmlosigkeit explodiert sein, ohne jemand zu berühren - zum größten Entsetzen der durch Feuer und giftige Ausdünstungen zerstörten Feldblumen?!
Noch zwei Schüsse fielen in großen Zwischenpausen in derselben Richtung und mit demselben Erfolg. Plötzlich ertönt das Kommando: „Schnellfeuer!" Da kamen sie wie unter der Erde hervor: von grausamem Feuer verfolgt, jagten sie in dichten, schwarzen Kolonnen aus der Schlucht heraus. Es waren 3000 halbwilde Kalmücken, Tscherkessen und Kosaken, die 15 Werst von der Stadt entfernt für den nächtlichen Angriff bereitgestellt waren.
Mit großen Verlusten zogen sie sich zurück, hasserfüllt gegen diese Nordländer, die sechs Tage belagert und nun wie durch ein Wunder der Metzelei entgangen waren. Aus den krausen Windungen der Karte, aus den wenigen schwachen Andeutungen las der Seemann eine ganze Geschichte heraus. Ein Gewitterregen im Sommer, der die winzige Schlucht tief und breit aushöhlte; eine stille Nacht, in der die Kavallerie, auf dem lehmigen Abhang gleitend, mit in der Dunkelheit schnaubenden Pferden in die Tiefe hinabstieg.
Wie gut war der Schlaf in Tschorny Jar in der darauf folgenden Nacht. Mit welcher Lust putzte man Waffen und Pferde, wie leicht ging man im Morgengrauen zum Angriff über.

 

SOMMER 1919

I

Die Offensive begann.
Nach den Kämpfen kamen die Flottillen so nahe aneinander, dass sie sich ununterbrochen durch Radio verständigen konnten.
Die Schiffe leben ihr gespanntes, geheimes Leben: sie schlagen sich ja zum offenen Meer durch. Die täglichen Fahrten, selbst die harte Belagerung von Zarizyn spielen sich wie im Traum ab. Die Hauptsache ist - die Karte des Kaspischen Meeres, über der sich des Abends schweigsame Gedanken stundenlang fortspinnen.
Diese Karte ist nicht wie die gewöhnlichen Flußkarten. Das Wasser ist auf ihr mit schlanken, gewundenen Linien der Strömungen bezeichnet, mit den Sternen der Leuchttürme, mit zahllosen Warnungszeichen. Sie ist unergründlich in ihren strengen schwarzen und weißen Farben. Diese verschlungenen Uferlinien, die tückischen Sandbänke, die ungestümen von Ufer zu Ufer wuchtenden Fluten, endlich die Kessel in den unergründlichen Tiefen, an der Oberfläche still wie Seen. Wie oft auch die Phantasie über ihnen kreist, ihre Flügel tragen sie nicht dort hinab. Das schwache Licht der Lampe ruht auf den Gesichtern, die sich über den Tisch wie über ein Schachbrett neigen. Sie spielen mit einem Partner, der Hunderte von Kilometern weit entfernt ist, der jenseits dieser schwierigen Karte in Baku, Port-Petrowsk und Embe sitzt. Zuweilen überziehen sich die Blicke mit Nebelschleiern -in Gedanken an die fernen Fahrten, zuweilen röten sich die Schläfen der Theoretiker: unter tausend Möglichkeiten strahlt ihnen der Sieg; dann kommen wieder nagende Zweifel angesichts zweier gleichwertiger Züge und bei der verführerischen Vorstellung von der leicht zugänglichen Einfahrt in den blauen, gefahrlosen Persischen Golf. Es gibt theoretisch unlösbare Knoten. Dann steigt das Schiff des Fliegenden Holländers über die Wellen, das Unmögliche wird möglich, die Schranken brechen zusammen, der Nebel verzieht sich, und das kühne Schiff schickt sich an, den weißen König matt zu setzen. In Erwartung der Fahrt rauchen und schweigen die alten Matrosen viel, lächeln dem Unbekannten zu und schreiben lange Briefe nach Hause. Die Jungen aber sind von besonderer Freude und Lebensfülle getragen. Es wird lange Tage ohne Ufer und Frauen geben, und deshalb scheint dieser Sommer besonders herrlich, bei dem es sich so gut bis zum Gürtel in Weinbergen und bis zum Kinn im reifen Korn gehen lässt. Noch niemals waren die Nächte so voller Sternegefunkel, noch niemals blühte die Steppe weißer und trunkener im Ornat der zierlichen Feldblumen, noch niemals sang das Blut so lustig im Takt des jagenden Pferdes. Das Feld ist wie ein Meer, die Sonne backt, der goldrote Hengst atmet frei und trabt leicht, der Wind streift den bronzenen Schopf von den wilden Augen - der breite, elastische Schritt wiegt ein. O Meer, du blaues Meer!


II

Über das Meer ist unendlich viel geschrieben worden. Es ist breiter denn ein Hexameter, lauter als Ruhm, und es gibt keinen Menschen, dessen Müdigkeit und Trauer in seinen Weiten nicht verschwunden wären. Alles bleibt zurück, wenn das Geplätscher des Flusses in der sieghaften Stimme des Kaspischen Meeres zu versinken beginnt. Nacht. Der kalte Himmel ist mit vereinzelten, riesigen Sternen bedeckt, und den Mond umkreisen unbeschreiblich weiße, junge Wolken. Die Wolga strebt Kaspien entgegen, immer weiter öffnet sie ihre Arme, die Zahl dieser Arme verzehnfacht, verhundertfacht sich, und ihre Schultern versinken im Nebel. Zuweilen zieht ein Segler mit weit gespreizten Schwingen schneeig vorüber, mit prüfenden Blicken die Gestade betrachtend, wo nicht ein Boot von Kundschaftern entschlüpfen soll.
Zuweilen gerät die Schraube in Fischernetze und zieht sie lange wie Algen nach sich, wenn der Lotse das den Fang behütende, schlafende Boot nicht bemerkt. Alle sind wach. Das Mondlicht gleitet über längst vertraute Gestalten. Der große schwarzbärtige Maschinengewehrführer und der kurzgeschorene Nacken des Signalmaats und das für gewöhnlich träge, jetzt aber von der Sehnsucht nach dem Meere erfasste, breite Gesicht des Lotsen. Der hübsche Schiffsjunge kauert auf den Stufen der Treppe und träumt - auch von dem Meer.
Nur ein schmaler Streifen des Kaspischen Meeres gehört uns. Aber auch dieser Streifen, dessen salzige Bitterkeit der ganze mächtige Wolgastrom nicht betäuben kann, genügt schon, um für immer berauscht zu sein. Sehr langsam aus der Ferne nähert sich der Tag. Auf dem Meere sind die Schiffe viele Kilometer weit sichtbar. Sie wachsen zu Phantomen, erscheinen wie unerreichbare ferne Inseln. Schwarz wie ein Felsen ist die schwimmende Batterie, um sie herum die Familie der pfeilschnellen Fahrzeuge und am Horizont - leichte Rauchwölkchen der übrigen.
Nach dem verzweifelten Schlenkern im Kutter die ungewöhnliche Ruhe des gewaltigen eisernen Decks, dessen Mitte nur kaum merklich atmet.
Der Tee dampft in Blechtassen, die von ernsten Matrosenhänden langsam und verlegen gereicht werden. Die Fahrt dauert schon zwei Stunden - man merkt es nicht -, die ganze nächtliche Müdigkeit verweht im gleichmäßigen Gleiten, im. Beben des Wassers von allen Seiten. Der Traum glättet die letzte Schärfe der Umrisse.
Und mit allen ihren Nerven, mit ihrem ganzen Wesen, mit all ihrer Fähigkeit, zu fühlen, ahnen die Menschen das Ziel dieser Fahrt durch das morgendliche Meer. Sie wissen, dass sie sich noch gut zwei Stunden ruhig erholen und die gewaschene Wäsche hängen lassen können. Sie wissen, dass sie jetzt rauchen und schlafen können. Nur die Gesichter sind ruhig-gespannt wie das Lächeln während eines bösen Traumes.
Die alten Schiffe wurden am Bug, mit dem Gesicht zum Winde, hoch über dem Wasser - so hoch, dass nur der Schaum des Sturmes sie erreichte - mit aus Holz geschnitzten Figuren verziert, mit Najaden und Adlern, mit heiligen Jungfrauen, deren Hände und Faltengewänder das Schiff vor Unglück behüteten. Bei diesen geschnitzten Gestalten sieht man Augen, deren unentwegt in die Ferne gerichteter Blick den Ausdruck eines für immer versteinerten Willens hat.
Endlich ertönt das Alarmsignal: die Silhouetten der Feinde und das Gerippe ihres Dampfers „Arag", der auf eine Mine gestoßen ist, tauchen in weiter Ferne auf. Man fühlt sich auf einmal furchtbar leicht und festtäglich. Es fehlen die tückischen Windungen des Flusses, die im Hinterhalt verborgenen Batterien, die ewige Enge. Die Weißen führen offen ihre Manöver aus. Zwei bewegliche Schatten kreisen um einen trägen und schwerfälligen, der unserm schwimmenden Fort ähnlich ist; aber noch immer eröffnen sie nicht das Feuer und warten auf unser Nahen. Weiter rechts am Horizont erkennt man noch mal vier Rauchwolken: im ganzen sieben Weiße gegen vier Rote.
Wir machen Halt - es beginnt ein artilleristischer Zweikampf. Die Weißen sind beunruhigt - die erste Salve schlägt dampfend dicht hinter ihrem Heck ein. Sie wissen nicht, dass heute ein bescheidener, unansehnlicher Mann mit einem blonden, kurzsichtigen Denkerkopf das Feuer dirigiert, einer, dessen ganzes Leben auf das Schiff konzentriert war und der alle schöpferischen Fähigkeiten seiner Jugend, nur der Armut und Wissenschaft lebend, dem Artilleriefeuer, den Geschützen und ihren Konstruktionen, ihrer feinsten Eigenart geopfert hat.
Die Weißen antworten gut. Der große Unbekannte erweist sich als Inhaber von sechs Geschützen, und drei gewaltige Wasserfontänen schießen in der Nähe unseres Bordrandes auf. Gleich großen, schillernden Fischen funkeln Metallsplitter im Wasser auf, dann erreicht uns das verspätete Heulen und Pfeifen des gestörten Luftraums. Eine Woche später, als der kaltblütige Sobolew nicht mehr auf der Batterie war, brachte ihr Kommandeur Jelissejew, ein alter Matrose des Jahres 1911, seine Batterie dicht an die der Weißen, erhielt selbst 39 Treffer und vernichtete ein feindliches Geschütz. Der verwundete Kommissar verließ nicht die Kommandobrücke, der Kapitän wurde sterbend fortgetragen.
Durch dichte Nebelschwaden zogen wir durch das Meer, und erst am Morgen erschien warmes, lachendes Land.
Edgar Poe erschien sein Rabe in den schlimmsten Stunden seines Lebens. Der schwarze Rabe flog durchs Fenster und setzte sich auf den Marmorscheitel der Pallas Ahtene. Der Rabe, dieser Hüter der Unendlichkeit, ist ein edler Zeuge menschlichen Leids, ein Einsiedler und Richter. Aber seit jener Zeit, seit das höhere und bessere Leben das traurige Museum der Ideen verließ und zunächst auf die Straße und später aus den Grenzen der Stadt hinaustrat - hörte man nicht mehr seinen erhabenen Ruf. Der vereinsamte Rabe breitete seine graugezierten Nachtschwingen aus und flog zwischen den Falten ewig zitternder Vorhänge zum Fenster hinaus, um in der Morgendämmerung zu verschwinden. Auf dem geackerten Feld, zwischen feuchten Erdknollen, über denen schon die staubigen Fäden des frühen Herbstes glitzerten und der Nebel rauchte, machte der Rabe einen langen Spaziergang, einsam und schweigend.


III

Seine starken Füße würdevoll setzend, den Kopf bald nach links, bald nach rechts neigend, schritt er mit dem „Gang eines Lords" die Furchen entlang, ohne die niedrige irdische Nahrung zu beachten.
Zuweilen entrang sich seiner purpurnen Kehle ein heiserer Ausruf, von dem der Morgenwind kühler wurde und den die simplen, unwissenden Dorfvögel nicht zu beantworten wagten. „Niemals", rief der Rabe aus, „niemals!'" Es war der Schrei des Mönches in der schwarzen Kutte, der nicht an die große Veränderung und die Befreiung jenes Gefangenen glaubte, dessen Einsamkeit er lange Nächte hindurch schadenfroh beobachtet hatte. Und mit den strengen Flügeln schlagend, mit einem Krächzen, das wie ersticktes Lachen und seltsames Gurgeln klingt, flog er gegen Süden davon.
Der Rabe gelangte zu der trostlosen Stadt, die dort lag, wo der blaue Fluss in das tote, von dürrem Land ausweglos umgrenzte Meer fließt. Wurme und Sommerduft strichen über seinen ermüdeten Körper, schwarz näherte er sich dem gelbgrünen Wasser.
In diesem lichten Reich von Flut und Ebbe, von Fischernetz und Schilf herrscht die Möwe. Den ganzen Tag streicht sie mit klagenden Lauten durch die milchweiße Luft, ihren schmalen, wie ein neugeborener Mond gebogenen Schnabel weit vorstreckend. Und ihre Augen glänzen - schwarze Perlen in weißen und rosafarbenen Muscheln. Mit den gefalteten Quasten der Füße die Wasserfläche berührend, äugt sie aufmerksam umher, taucht, schnappt, schießt auf, sprüht funkelnde Tropfen.
Und der schwarze König in der Verbannung ist wie Kohle unter flatternden Schneeflocken, wie der Fetzen eines Piratenbanners, von nordischem Wind verschlagen; seine blauschwarzen Schwingen schwer und unentschlossen hebend, mischt sich der Rabe unter die sorglose Schar der Sturmvögel. Mit raubgieriger Bewegung zum Wasser niederfallend, ebenso wie er einst auf die Schultern eines Grabkreuzes oder auf den Querbalken eines Schafotts niederzufallen pflegte; die scharfen Krallen, die vor uralten Zeiten die weisen Bücher der Magier stützten, spreizend, schlägt der Rabe mit der Brust gegen den Wasserspiegel, aber beim Anblick des beweglichen, durchsichtigen, unverwüstlich-lebendigen Nasses prallt er verwirrt und zornig zurück.
Die Möwen lachen und weinen, trunken von unermüdlichem Flug wie in luftigen Schaukeln, in toller Schnelligkeit heben und senken sich ihre Flügel. Er aber taumelt schwer unter ihnen und sucht mit bluterfüllten Augen nach Himmel, nach Weite, nach einsamer Höhe. „Niemals", schreit der Rabe, „niemals!" - und entfernt sich wie ein beladenes Gewissen.
Dort, wo über glühenden Sanden sich krankhaft die Abenddämmerung rötet, wo seltene, giftige Falter die Nähe der Nacht verkünden, wo auf den rissigen Ufern den ganzen Tag in Staub und Glut der Kampf wütet, wo Rosse ohne Reiter mit fliegendem Zaumzeug zum gegenüberliegenden Ufer schwimmen - dort ist die neue Heimat des Raben. Seine Flügel segnen die Angst des Fliehenden, die ihre Geschütze verlassen; und als sie, erniedrigt und hungrig, auf sumpfigen Inseln Feuer anzünden und auf Rettung hoffen - schreit er ihnen schadenfroh aus der Höhe zu: „Niemals!"
Von den Todesfeldern stoßen satte Scharen zu ihm, die in der Stimme des Raben den Tod selbst erkannt haben. Hunderte, Tausende Vögel sammeln sich zu einer Unheil verkündenden Wolke; sie fliegen tief über die Erde auf der Suche nach Beute, bald strecken sie sich zu einem sich ringelnden Wurm, einer fleischfressenden Raupe über dem Gestrüpp; bald verdichten sie sich zu einem flatternden schwarzen Schal; den unsichtbaren Pfad der Kugeln verfolgend, streichen sie durch die mit Verwesung gesättigte Luft.
Von den Ufern, wo die Flucht begann, den Strom entlang schwimmen durchlöcherte Kähne voll Wasser, über deren Bordränder die Köpfe der Toten sich neigen. Die Nacht nimmt sie auf, das Wasser spült das fließende Blut ab, und der Fluss, der gute Fährmann der Ewigkeit, bringt sie über den schwarzen Styx und verlässt sie auf den fernen
Sandbänken.
Und wenn sie des Morgens gefunden werden, wenn man ihr Herz prüft und ihre Köpfe aufrichtet - dann fliegt der Rabe zornig auf und ruft der Sonne entgegen: „Niemals!"


IV

„Ich bin die Frau von Shelichowski."
Es ist, als taue ein Eisstück, schnell, immer schneller -dann fließen endlich die erleichternden Tränen. Die Frau. Auf ihrem Gesicht, auf den roten, entzündeten Augenlidern, auf dem unter dem weißen Tuch verschobenen Haar, auf ihrem ganzen Wesen liegt der warme Stempel, liegt das Atmen eines großen Freundes, der nicht mehr lebt, der im Kampf gefallen ist. In ihren weiten, unter der breiten Stirn zurückgetretenen Augen, auf dem unbeschreiblich feinen Kristall ihrer Pupillen, ruht noch seine Gestalt, als er frühmorgens voll bedrückender Vorahnungen, ohne sein kärgliches Matrosenfrühstück zu berühren, das Haus verließ.
Und sogar ihre tiefe Bruststimme erinnert an seine seltene und gerade Aussprache: Die Liebe hat sie gelehrt, so zu sprechen.
Jetzt ist die Frau des Genossen Shelichowski fast er selbst, es sind seine Hände, die er hilfesuchend aus dem Wasser streckte, es sind seine im Kampffeuer erblindeten Augen, es ist sein Kopf, der hilflos unter der Oberfläche verschwand.
Man soll nicht mit ihr sprechen, man muss sie rücksichtsvoll in Ruhe lassen. Sie ist die Frau eines Helden, eines der Besten, die sich für die Sowjetrepublik geopfert haben. Man kann ihrem großen Leid nicht helfen, sie hat den Mut zu leben und fürchtet sich nicht, seinen entstellten Körper zu erblicken, wie er langsam den Strom hinabschwimmt, dicht an dem Dampfer vorbei. Die Frau ist ruhig und weiß es: das Wasser wird ihn zum Meer treiben, das er so sehr geliebt hat. Aus dem engen Fluss in die Unendlichkeit: das ist ihre große Wahnidee. Und man möchte den törichten, blinden Zufall anflehen: Schenke jenen, die besser und wertvoller sind als die andern, schenke wenigstens ihnen einen reinen und stolzen Tod, bewahre sie vor der Gefangenschaft, vor dem Verrat und dem Gefängnis. Mögen sie im offenen Kampf sterben, mitten unter ihren Brüdern, mit den Waffen in den Händen. Lass sie so sterben, wie Shelichowski gestorben ist, wie Hunderte und Tausende jeden Tag für diese Republik sterben.


V

Heute Nacht wird Zarizyn gestürmt - alle sind sehr lebhaft, freudig erregt. Was morgen sein wird - das weiß niemand, aber heute ist es gut.
Im kleinen, sauberen Hof des Stabsgebäudes blühen Oleander, und das ganze weiße altmodische Haus, in dem Asin wohnt, ist mit seiner ungestümen Freude durchtränkt. Die böse, reiche Witwe reicht lächelnd den Tee in alten bauchigen Tassen; das alte Porzellan in den Schränken zittert und klirrt bei jedem Schritt; Zimmerpflanzen grünen vor den schneeweißen Kacheln der großen Ofen. Peinliche Sauberkeit, Öldrucke mit einem wohlgenährten Paar: Adam und Eva im Paradies; geblümte Vorhänge an den Fenstern, ein Bett mit einem blauen Betthimmel. Und gerade unter diesem von friedlichen herbstlichen Mondstrahlen versilberten Dache versammelten sich am Abend vor dem Sturm die kühnsten, entschlossensten Köpfe: das runzlige Gesichtchen von Mischa Kalinin, das von einem Kranz stachliger, zerzauster Haare umgeben ist; der wie verjüngte Asin, der die ganze schwere Verantwortung zu tragen hat, und der Flottenkommandeur. Eine Stunde später gehörten schon das mondbeschienene Häuschen am Ufer, die schnellen Pferde der Troika, der Weg zum Fluss und der letzte Händedruck der Vergangenheit an. Am längsten klingt das gebrechliche Stimmchen der Spieldose in den Ohren, einer Spieldose aus uralten Zeiten, die eine ganze Stunde lang hinter ärgerlich verschlossenen Türen aus dem Nebenzimmer herüberklang und die Beratung störte.
Und jetzt, da schon die Nacht um uns ist und Schaumwellen hinterm Heck des Zerstörers brodeln, steht diese Spieldose noch immer auf dem Tisch des verlassenen Esszimmers und lispelt ihre glöckchenhellen, musikalischen Phrasen dem Geranium zu. Die Walze ist verrostet, der Schlüssel verloren gegangen, aber sie singt und lacht, und unter ihrem Kristalldeckel verbirgt sich eine ganze Welt altmodischer Grazie und romantischer Liebe.
Die ganze Nacht durch wütet auf dem Fluss die wilde Musik des Krieges. „Marx" macht den Anfang; an ihm vorüber, in die Dunkelheit, in den Nebel ziehen die Schiffe wie Gespenster hinaus. Zwei, drei und noch mehr Fahrzeuge streben dem gegenüberliegenden Ufer zu, wo schon explodierende Geschosse aufblitzen. Auch der Wald rechts ist voller goldener Flammen. Schwere Wassersäulen steigen aus der Tiefe auf. Die Seeleute verfolgen unruhig den Aufstieg eines Sternes, der weiß, gleichmäßig leuchtend und ungeheuer groß ist wie ein Lampion. Er ist so erstaunlich leuchtend, dass er wie ein Signalfeuer erscheint. Vor uns röten sich Funkengarben, es ist, als wenn Türen einer glühenden Feuerung fortwährend auf- und zugeknallt werden. Das Feuer ist schon in jenes berauschende, dröhnende Stadium getreten, das den Anfang des Sturmangriffs anzeigt. Jedes Schiff ist in eine Dampfwolke gehüllt, kämpft und bewegt sich selbständig, eins gegen eins, mit jedem unsichtbaren Gegner, den es gefunden und zum nächtlichen Leben erweckt hat.
Hinter der Landzunge taucht eine Schar Zerstörer auf, ihnen folgen schwarze Minensucher, diese Ritter der Nacht und der Finsternis, die mit herabgelassenem Visier auf ihren Fang ausziehen.
Gegen Morgen verstummt das Feuer. Inzwischen geht die Armee zum Angriff über, und der Kutter, der die Mitteilung überbringt, beobachtet auf der nackten Lehmanhöhe unsere erste Schützenkette, die gegen Zarizyn vordringt. Es ist schwer, darüber zu schreiben. Man muss diese schwarzen Figürchen gesehen haben, wie sie eilig vordringend, aus der Ferne unendlich schwach erscheinen; wie der Ausgang des Angriffs auch sein mag, diese erste Schützenkette ist im vorhinein verurteilt. Auch die Matrosen auf den Schiffen verfolgen mit den Augen die Bewegungen dieser Kette. Plötzlich schreit jemand nervös auf... Was ist los? Nichts, nichts... Der Älteste flucht mit fremder Stimme: „Nehmt euch zusammen, zum Teufel...", aber seine Lippen zittern: die erste Kette - man kann sich's denken.
Als es hell wird, treten die feindlichen Aeroplane in Aktion. Von 6 Uhr morgens bis spät in die Nacht hinein ununterbrochenes Bombardement, sie zielen besonders auf den Fluss. Meistens wirken diese Luftattacken bedrückend. Aber nach der schlaflosen Nacht, nach dem verzweifelten Kampf, als der Kopf in wohliger Versunkenheit sich zu drehen beginnt und alle Du zueinander sagen - ist man diesen Bomben gewachsen. Zwei Pfiffe bedeuten: „Flugzeug des Feindes in Sicht!"
Eins nach dem andern setzen sich dann die Schiffe in Bewegung, um den Bomben zu entgehen, die durchdringenden Pfiffe wiederholen sich: es beginnt ein Lotteriespiel. Auf jedes Schiff kommen im Durchschnitt vier bis acht Bomben. Man sieht, wie sie fallen, von widerwärtigem Kreischen und dumpfen Detonationen begleitet. Bald dieses, bald jenes Deck bedeckt sich mit Splittern. Der Bug des „Besstraschny" ist beschädigt, der Kommandeur und noch drei sind verwundet, die Mannschaft flickt eilig den Schaden aus und verteidigt sich verzweifelt gegen das Flugzeug, das schon wieder seine Bomben hinabschleudert. Eins nach dem andern verschwinden die leichten Kutter, die schwimmenden Batterien, die breithüftigen Schiffe der ersten Division in einer Wolke von Dampf und Splittern und tauchen wieder heil und ganz aus ihr hervor. Die Zerstörer - mit ärgerlichem Fauchen ihrer Motore, im weißen Gischt der Wellen, Batterien - langsam und gelassen, im Bewusstsein der Unmöglichkeit, sich verbergen zu können, die übrigen - hitzig kämpfend, sich verteidigend, den Himmel mit einem Muster von weißlichgrauem Dampf des Sperrfeuers bedeckend.
Am Abend heben sich einige schwarze, einsame Punkte auf dem hohen Ufer ab. Eine Stunde später sind es schon Hunderte - der Weg ist mit Flüchtlingen bedeckt. Die Unseren ziehen sich zurück.
Aber in voller Ordnung, mit Gewehren; die ermüdeten Pferde werden an der Leine geführt; Kamele, mit der ihnen eigenen Grazie gesetzter Frauen, schaffen Geschütze, Wagen, Menschen fort. Der Angriff war erfolglos.

Auf den Diwan der Kanzlei legte man eine am Ufer zusammengebrochene Krankenschwester nieder - in den schwersten Minuten tauchen aus dem Meer der Menschen immer unerwartet und einfach solche wunderbaren Gesichter auf. Bei ihrem Anblick allein fühlt man eine tiefe Beruhigung. Die Erinnerung an sie verlöscht nie, und wenn die Begegnung auch noch so kurz war. Dieses Mädchen hat eine lächerlich dünne Stimme; unter der Decke sehen die zerrissenen Stiefel hervor. Ein Auge, die Wange und das Kinn sind von einem Verband verdeckt, die kleine, sommersprossige Nase ist zerschrammt. Das Reifste und Traurigste an ihr - ein kurzer, abgebrochener Husten.
Kaum dass die Wunden geheilt, verließ sie das Lazarett in einem entlegenen Flecken der Ukraine und suchte wieder ihr Regiment auf. Ein qualvoller und langer Weg. Die Gräuel der großen Straßen, die Hölle der überfüllten Züge und diese fortwährende brennende Furcht, die Ihren für immer zu verlieren, jene Namen und Gesichter, mit denen die Revolution sie verbunden hat.
Sie kam an die Wolga, wo jetzt die ihr vertrauten kubanischen Lagerfeuer brennen, geführt von ihrem unerschütterlichen Willen und der offenherzigen, kindlichen Reinheit ihrer Seele, vor der das schmutzige menschliche Meer unwillkürlich zurückflutete. Sie führte Briefe aus ihrer Kompanie mit sich, Briefe an die Heimat, die mit zahllosen Grüßen beginnend auf der Stufenleiter der hilflosen, tanzenden Buchstaben eine gewaltige Höhe erklommen. Sie betrachtete diese Briefe schielend, mit ihrem einen Auge, das graublau, voll dunkler Pünktchen ist, wie sie im Herbst auf den zitternden Blättern der Espen auftauchen. So ist sie: liebreizend und für immer entstellt. Die weißgardistischen Ärzte, zu denen sie, in einem Kampf verwundet, kroch und deren Hilfe sie suchte, ohne zu wissen, wer sie waren - diese Ärzte lehnten es ab, sie zu verbinden und warfen sie, aus besonderer Gnade, bei Regen und Nacht auf die Straße. Halb ohnmächtig auf den Stufen vor dem Hause sitzend, riss sie sich selbst etwas Kaltes und sie am Sehen Behinderndes vom Gesicht - es war ihre Wange. Zum Glück flüchtete dieses „Lazarett" schon am nächsten Morgen, und unsere Leute fanden das hilflos kauernde Wesen vor der Tür besinnungslos liegen. Die Revolution, deren Antlitz zu schauen noch niemand würdig war, wird gewiss dieses selbe durchsichtige blaue Auge haben, eine Kopfbinde und auf den vollen Bauernlippen (solche Lippen küssen einfach und kühl) rosigen Schaum.

In der Nacht wird die große Kajüte mit herbstlichen Zweigen voll roter Vogelbeeren geschmückt, der Tisch steht im strahlenden Licht, die Kämpfer haben den Schmutz der Schützengräben oder das Öl der Maschinen von ihren Stiefeln abgewaschen und beraten sich ruhig über den morgigen Tag.
Der Zufall gruppierte sie folgendermaßen: links Schorin mit dem raschen Blick, der tiefen Bassstimme und dem harten Willen. Neben ihm sein Stabsoffizier, ein weicher und ausführlicher Mensch, unfähig, irgend jemand zu belästigen, wie eine Feldkarte, sorgfältig gefaltet und jeden Augenblick gebrauchsfertig.
Weiterhin ein Profil - bleich und unregelmäßig, wie ein krummer Säbel gebogen, mit leicht geschrägten Augen und unmerklich lächelndem Munde - kurz eine jener Erscheinungen, die dem Künstler ein Vorbild für einen raffinierten, unerbittlichen Rachegott sein könnten. Geräuschloser Gang, leichter Parfümgeruch, den er wie ein Mädchen liebt, und auf dem schwarzen Hemd ein roter Orden - das ist Kashanow, der fast legendäre Befehlshaber der Landetruppen der Wolgaflottille.
Die Holländer, die in Gruppenbildnissen Vollkommenheit erreicht haben, liebten es, ins Zentrum des Bildes inmitten aller dieser Herrn in schwarzen Gehröcken und gestärkten weißen Brusthemden eine konzentrierte und feine Physiognomie irgendeines berühmten jungen Arztes, bewaffnet mit einem Skalpell, zu stellen, einem Skeptiker und Atheisten, der dem Beschauer seine hohe, weiße Stirn zuwendet und ein spöttisches Lächeln auf dem Gesicht hat. Diese Gestalt in einer Lederjacke, die „Iswestija" in der Tasche, trägt in unserer Zeit den Namen „Mitglied des Revolutionären Kriegsrats Michailow".
In einem Splitter dieses vom Teufel zerbrochenen krummen Spiegels finden wir auch den Genossen Trifonow: Aus der Verbannung und den Zuchthäusern brachte er die schwere Zurückhaltung des langjährigen Gefangenen, eine gewisse krankhafte Angst vor allzu lauten Worten, Gedanken und Charakteren. Bei einem starken und klugen Manne, bei einem ausgezeichneten Bolschewik und Soldaten der Revolution wirkt der Wunsch, sich und andere zu betrügen -sein großes „Ich" als einen grauen menschlichen Alltagsfleck erscheinen zu lassen - etwas langweilig. Aber das stürmische Jahr 1919 wird, gleich lustigen grünen Grashalmen, aus allen logischen Lücken hervorsprießen; der stürmische Wind der Zeit reißt die graue Brille von dem dunklen Gesicht des Genossen Trifonow, was ihn nicht hindert, auch heute noch seinen längst zerfallenen Seelenkerker und das Reich seiner konspirativen Gefühle ebenso hartnäckig zu verteidigen.
Dann folgt - aber wie kann man Asin schildern? - Erstens - er ist die wilde Stadt Ogrys, die fast von der Kama abgeschnitten ist; er ist der Posten, der am Eisenbahndamm
lauert; er ist der heiße, stickige Wagen III. Klasse, der vom Licht kugeliger Lampen, von der Erhabenheit zweier Gudonowscher Kandelaber, die man in einem zerstörten Gutshause gefunden, überflutet ist; er ist im undurchdringlichen Zigarettenrauch, in der unruhigen Schlaflosigkeit des Divisionsstabs, wo der Kommissar irgendeines versprengten Truppenteils, der, um die Verbindung herzustellen, 25 Werst durch die Feldwachen der Weißen gejagt ist, sich nun auf dem Fußboden zu einem trügerischen, glückseligen Schlaf hingeworfen hat; er ist in den zerrissenen Feldkarten auf klebrigen, mit Tee und Tinte begossenen Tischen; er ist die schwarze Schnur des Feldtelefons, das an taunassen nächtlichen Sträuchern hängt, bewacht von Soldaten, die vor Kälte, Schlaf und Furcht einzuschlafen erstarrt sind.
Asins Sporen haben zahllose Löcher in den von Wanzen belebten Samt der Eisenbahnwagen geschnitten; er hat die gefangenen Deserteure eigenhändig gezüchtigt; er hat die Stadt Sarapul verloren und wieder im Kampf eingenommen und Dutzende andere, ebenso unmögliche Städte besetzt; er hat die tollkühne, offene Kavallerieattacke gegen Zarizyn geführt; er hat Dutzende von gefangenen Offizieren niedergehauen und Tausende weißer Soldaten in Freiheit gesetzt oder mobilisiert; Asin reitet heißblütige, hochmütige Pferde, trinkt keinen Tropfen, solange der Kampf nicht zu Ende ist; er schimpft fürchterlich mit seinen Kommissaren herum, verschont auch den Revolutionären Kriegsrat nicht; er hält seine unwahrscheinlichen, aus Flusspiraten und Machno-Soldaten angeworbenen Truppen in eiserner Disziplin; er schlägt sich mit wilder Energie und flieht nie; er weint vor Wut wie ein Frauenzimmer, wenn der verwundete Arm ihn hindert, an einem Angriff teilzunehmen.
Es ist Asin, der zu seinem eigenen Empfang feierliche Begrüßungen veranstaltet und mit seinem Dampfer wieder umkehrt, wenn er bemerkt, dass das Orchester am Ufer noch nicht bereit steht, um nach zehn Minuten in seinem herrlichen Fellmantel (und dies im Juli) schwitzend die Ehrungen in Empfang zu nehmen, die Internationale und die schwulstigen Meldungen der Kameraden anzuhören, die es sogar fertig gebracht haben, zur Feier des Sieges ihre einzigen Hosen mit Knöpfen zu versehen und sich nach drei Wochen wieder einmal richtig zu waschen und zu rasieren. So gehört es sich auch: Ohne ein Fest, ohne Musik und feierliche Begrüßungen findet die Armee keine Erholung an ihren vierundzwanzigstündigen Kriegsfeiertagen, und sie geht am nächsten Morgen nur schwer in die neuen Kampfwochen.
Es ist Asin, der seine frechen Lieblingsburschen dafür durchpeitscht, dass sie einem Bauern ein Ferkel genommen haben, und auch derselbe Asin, der lange schwarze Nächte durch mit Musik, Schnaps und Weibern feiert, aber nur nachdem er alle Vorposten geprüft, Patrouillen ausgesandt und sich davon überzeugt hat, dass die Stadt von allen Seiten gut geschützt ist. Asin führt seine Truppen fast täglich selbst in den Kampf, ohne zu beachten, dass er als Divisionschef nicht das Recht hat, sein Leben in dieser Weise zu riskieren.
Aber über der Karte wird Asin still wie das Wasser in einer Bucht; er gehorcht wortlos den langen Telegramm befehlen von Schorin, die aus dem knatternden Telegrafenapparat hervorkriechen und die mit jener ruhigen, herrlichen Grobheit verfasst sind, die der alte Schorin jenen gegenüber anwandte, die er liebte, die er vorwärts trieb oder an der eisernen Trense seiner Strategie zurückriss. Es ist unmöglich, einen Menschen wie Asin begreiflich zu machen! Er liebte seine Truppen leidenschaftlich, er liebte und verstand jeden hinter dem Mutterrock hervorgeholten Rekruten - einen Jungen mit abstehenden Ohren, mit einer zu großen Mütze und in einem Mantel bis zu den Fersen, Burschen, die nur den einen Gedanken haben, wie sie das bleischwere Gewehr loswerden könnten. Mit solchen Leuten konnte er kämpfen, mit ihnen siegte, hungerte er, lag er im Typhus, mit ihnen durchschritt er ganz Russland, um endlich - nach der Kama und Wolga, nach Zarizyn und Saratow - am Perekop auf die unsinnigste Weise, fast am Vortage seiner Einnahme, ruhmlos zugrunde zu gehen, in Gefangenschaft und noch dazu von den Weißen verleumdet, die das Gerücht verbreiteten, Asin hätte die Rote Armee verraten.
Das ist Asin - Held, Soldat, Pistole, so kämpfte er, fast mit nackten Händen, er hielt seine Division im Zaum, für die er sich Soldaten und Kommissare selbst erzog. So viel Wunderbares leistete er, dass die 28. Division auch nach seinem Tode die „Asinsche Division" geblieben ist, die bis Baku und bis zu den grusinischen und persischen Grenzen in ihrem alten Marschtempo vordrang, staubig, abgerissen, bunt, in zerfetzten Generalshosen, auf kleinen, stämmigen Pferden, die aus Perm und Astrachan stammten.
An diesem Abend begann beim Tee eine Diskussion über Heldentum. Ein sonderbares Thema unter Menschen, die seit langem an den Krieg gewöhnt und sich fast alle Auszeichnungen errungen haben.
Der Skeptiker in der Lederjacke rührte seinen Tee und bestritt dabei jede Romantik in der Revolution, er betrachtete die letztere als ein Handwerk. Ein charakteristischer Zug des Intellektuellen: Nachdem die Front ihn von jeder Phraseologie geheilt hat, gesundet er allmählich und ist glücklich, dass er sich ohne alle überflüssigen Zweifel den einfachen, gewaltigen Antrieben des Lebens unterwerfen kann. Das Gefühl der Pflicht, der brüderlichen Solidarität, der Unterordnung und des Opfers wird zur gesunden Gewohnheit. Und da er dieses noch unsichere innere Gleichgewicht zu verlieren fürchtet, klammert sich der zum Soldat der Revolution gewordene Intellektuelle fest an die Erde und an das beruhigende „zweimal zwei - ist vier". Dem klugen Kommissar zuhörend, senkte der Soldat in Generalsepauletten seinen listigen Blick und legte sich ein Stück Zucker mehr in seine Tasse. In letzter Zeit wiederholten sich inmitten seiner ausgebreiteten Karten und harten Befehle diese langen theoretischen Auseinandersetzungen sehr häufig; er wurde nicht mehr klug aus ihnen, aber mit der unbewussten Klugheit des alten Soldaten widerlegte er sie stündlich durch seine ganze Arbeit. Er war stolz auf den Roten Orden an seiner Brust, und wenn er die Frontberichte las, erriet er zwischen den Zeilen die gleiche eifersüchtige Sehnsucht nach dem Sieg wie bei sich selbst. Vor Schorin sitzend, der mit seiner ruhigen Stimme den hellen, hohen festlichen Bau seiner Gedanken störte, vermochte er nichts mit der Mittelmäßigkeit der Ideen zu beginnen, wie sie sich hier in grauen Farben und im Triumph des Alltags ausbreiteten. Asin, dem die Schamröte über irgendeine unbedeutende Niederlage an der Front noch auf den Wangen lag, Kalinin, der von seiner wirklich furchtlosen Tollkühnheit, die er für die Pflicht eines jeden Kommunisten und Kommissars hielt, ermüdet war - beide genossen schweigend ihre Zigaretten und das Bewusstsein, dass irgendwer streitet und sie im Hintergrunde bleiben können.
Aber die kratzende Rede zerstörte immer mehr die Atmosphäre der Ruhe und des Lichtes, die an diesem Ort so selten war.
Es war sonderbar, dass das liebe, nach jeder Gefahr noch mehr geliebte Leben diesem Skeptiker, der bereit war, in einem Anfall von Neugier, sein eigenes Gehirn auszubrüten und der Einwirkung irgendeiner Säure auszusetzen, so nackt und grau erschien.
Besonders empfand es Asin: Seine Beine schmerzten noch von dem Sattel, in seinem ganzen Körper lebte die süße Müdigkeit von dem Herbst, von den roten und goldenen Bäumen, von dem Grün der Wiesen, die ihre letzte Leuchtkraft hervorbrachten, von den milden Augen und dem wiegenden Schritt der Kamele. Am Morgen wurde er bei einem Patrouillenritt fast erschossen, und abends war so viel unerschütterliche Erdenluft da, so viel bittere, erregende Gerüche des Herbstes.
Und es war in ihm noch ein zartes Gefühl - er konnte sich nicht recht besinnen, womit es zusammenhing: ob es die Matrosen waren, denen er am Ufer begegnet war, als sie mit Schrammen am Halse aus der Zarizyner Gefangenschaft kamen, oder der Brief, der ihn von weit her endlich erreichte. Und plötzlich sitzt da irgendwer, leugnet den Sinn des Lebens, seine Wunder und seine herrliche Willkür. Leugnet das Heldentum!
„Ach, du... ", Asin bemerkte irgend jemands warnende Blicke, die ihn hinderten, den Fluch zu beenden. Es drängt ihn, die Karte hervorzuholen und den roten Kranz der Republik auf ihr zu finden, die zwei Jahre lang inmitten der ganzen übrigen Welt einsam und heldenhaft von einem erschöpften Volk verteidigt wird. War das Leben jemals herrlicher als gerade in diesen beiden großen Jahren? Wenn man jetzt nichts erkennt, nicht die Barmherzigkeit, nicht den Ruhm, nicht den Zorn empfindet, mit denen auch der graueste, ärmste Tag dieses in der Geschichte einzigartigen Kampfes gesättigt ist - lohnt es sich dann überhaupt zu leben und zu sterben?

 

ASTRACHAN-BAKU

I

Die Tage verstreichen unerträglich rasch, das Leben verwandelt sich in einen flimmernden Traum, der Gesichter, Städte, neue Landschaften durcheinander mengt. Astrachan, kaum vom Frühjahr erwärmt, im weichen, aschgrauen Staub, mit zarten, blassen Gräsern auf unfruchtbaren Feldern, mit verlassenen, alten Klöstern, um die Äpfel und Pfirsiche blühen, weiß und heilig unter einem Himmel, der Liebe ausstrahlt. Es ist unmöglich, sich ein hastigeres, gespannteres, leuchtenderes Blühen vorzustellen - ein rosa-weißes Feuermeer inmitten nackter, regungsloser Hügel am Ufer des Kaspischen Meeres. Da ist die Stadt selbst - halb zerstört und verbrannt, hungrig und zerfetzt, wie nur Bettler des Ostens sein können; eine Stadt ohne Licht und Wärme, die ihre eingefrorenen Dächer ängstlich der Aprilsonne hinhält, ihre Mauern, von Kälte und Feuchtigkeit durchtränkt, ihre längst erloschenen, blinden Fenster und rauchlosen Schornsteine. Aber wie teuer ist der Revolution jeder Pflasterstein von Astrachan; jede Wendung seiner Straßen, die schief und verkrüppelt sind wie erfrorene Finger, ist der Revolution teuer. Welche ungeheuren Anstrengungen, welche Opfer hat Sowjetrussland um dieses Astrachan, um dieses verrostete, hässliche Tor nach dem Osten bringen müssen. Wenn Petersburg sich einmütig und leidenschaftlich verteidigt hat, so war es das wert - mit allen seinen durch die Revolution geheiligten Plätzen, mit seiner hochmütigen Schönheit der großmächtigen Hauptstadt.
Das rote Kronstadt, Peters des Großen Admiralitätsgebäude, das Winterpalais, das nur noch von Bildern und Statuen bewohnt wird, die verödeten Großbetriebe, die trotz allem fortfahren, in Hunger und Kälte die Waffen für die Rote Armee zu schmieden - alles das kann die Kämpfer wohl zu einem mutigen Widerstand begeistern. Jeder Schritt der proletarischen Truppen, die für Petersburg in den Tod gehen, weckt in ganz Russland einen metallischen Widerhall, er bleibt unvergesslich. Aber welcher Mut gehört dazu, Astrachan zu verteidigen. Weder die Liebe zu dieser Stadt, noch revolutionäre Tradition, sondern nur das Pflichtgefühl allein konnte seine Kämpfer anfeuern. Und wie viel Menschen gibt es, die fähig sind, im Namen eines nackten, abstrakten Pflichtgefühls die schwere Last des Krieges in die menschenleeren, sandigen Wüsten Astrachans zu tragen?
Und es war nicht einmal die Pflicht, die Astrachan gerettet hat, sondern es war die allgemeine, unbewusste Erkenntnis, dass man nicht fortgehen darf, dass man die Engländer nicht an die Wolga lassen, dass man den letzten Ausgang zum Meer nicht verlieren darf.
Das ganze Astrachan mit seinem Hunger und Heldentum hat sich durch das eine Bild, das es beim Abschied bot, fest in das Gedächtnis eingeprägt: Nachts im Nobel-Werk, die Arbeiter, die den Winter ohne Brot, Wärme und Kleidung verbracht haben, beendeten bei blendendem elektrischem Licht eine eilige Reparaturarbeit. Ein gewaltiger Riese stand im Dock: ein mächtiger, mit großen Geschützen bewaffneter eiserner Kahn, der von einer englischen Mine beschädigt worden war. Auf dem Fluss ist es kalt und dunkel, aber die Scheinwerfer richten ihr scharfes Licht auf den entstellten Schiffskörper, auf den ein Hagel heilender Hammerschläge niederprasselt. Und so geht es die ganze Nacht durch. Glühendes, geschmeidiges Eisen legt sich willfährig an die Eisennähte; gewaltige Eisenplatten schieben sich vor die Bresche, und junger Stahl überzieht mit unverwüstlichem Panzer die Flanken. Das ist Astrachan und sein Verteidigungskampf.
Und dort endlich die Reede, graubleich und stürmisch, und die Inseln der Schiffe, im offenen Meer vor Anker liegend... Scharen von Zugvögeln ruhen auf dem Schiffsdeck, Ankerketten rasseln, und die gleichmäßig schwankenden Masten ziehen Bogenlinien durch die Luft.


II

Von Astrachan bis Petrowsk geht es auf dem Seewege. Die Schiffe passieren in Kielwasserlinie die Minenfelder, lassen die Wachschiffe hinter sich und gelangen endlich in das vollkommen freie, unendliche Fahrwasser. Nach drei Kriegsjahren auf engen Flüssen steigt das Meer zu Kopf wie Wein.
Die Matrosen sitzen stundenlang auf Deck, atmen mit vollen Lungen die Luft ein, sind selbst wie wandernde Vögel, gedenken der langen Fahrten, die mit weißen Schaumlinien auf den Ozean gezeichnet sind. Wie ein Wunder taucht das Gebirge aus dem Wasser. Wie ein Wunder zieht der erste Schleppkahn mit Naphtha für Astrachan vorüber, und die Schiffe genießen noch immer das freie Tanzen auf den Wellen: Bald beschleunigen sie ihren disziplinierten Gang, bald halten sie inne, die Masten sind wie trunken, und die Menschen können weder essen noch schlafen.


III

Die Eisenbahn von Petrowsk bis Baku zieht sich am Fuß der Berge hin. Und längs dieser Berge, auf der breiten Chaussee - bewegt sich ein ununterbrochener, lebendiger Strom. In Wolken leichten Staubs ziehen Menschen, Pferde, Wagen, Artillerie vorbei. Und trotz aller Majestät des kaukasischen Vorgebirges treten seine violetten Schatten angesichts dieser steten, gierigen Vorwärtsbewegung der Truppen in den Hintergrund.
Dampfend wie ein Strahl kochendes Wasser bewegt sich die Kavallerie. Erstaunlich sind diese Menschen und Pferde, die Russland von Archangelsk bis Astrachan, vom Ural bis zum Kaspischen Meer durchzogen haben. In Baku fand am 1. Mai vor Tausenden und Zehntausenden Zuschauern, die Dächer, Balkone und Laternen überfluteten, eine feierliche Parade statt. Zuerst defilierten die heimischen Truppen, die freiwillig auf unsere Seite übergegangen sind, alle von den Engländern eingekleidet, verproviantiert und auf das beste bewaffnet. Diese Nationalgarde hat ein ganz europäisches Aussehen. Sie marschiert tadellos, hält sich stramm, die Reihen sind wie abgezirkelt. Und sogar die Pferde sind anders als unsere: rundlich, satt und groß, kein Vergleich mit unseren kleinen, struppigen Pferdchen, die in ihrem leichten, sparsamen Trab Tausende Werst zurückgelegt haben. Jeder Reiter ist ein Monument von jener Art, wie es vor dem Nikolaj-Bahnhof in Petersburg steht. Wirbelnder Staub, dröhnende Musik - und sie sind vorbeigeflitzt. Eine junge Frau lacht mit ihren blauen Augen: „Man braucht bloß mit einem Schnupftuch zu winken, und ihre ganze Herrlichkeit rennt davon. Wo bleiben denn nur die Unsrigen?"
Aber da kommen sie schon. Verstaubt, abgerissen, von Sonne geschwärzt, gehen sie einfach und schlicht ohne jeden Paradeschritt, gehen sie, wie sie durch die ganze Republik bis zu den Vorbergen des Kaukasus gegangen sind. Ohne sich zu beeilen, ohne jemand in Erstaunen setzen zu wollen, und die Erde hallt wider von diesem freien, eisernen Schritt der Regimenter. Woher haben sie ihn, diesen klassischen Schritt, den Cäsar so sehr liebte und den man in den Gefängniskasernen Europas vergeblich anzuerziehen sucht? Jeder Bourgeois in Baku und jeder Arbeiter fühlt, dass der Weg dieser frei fließenden Massen in Aserbaidshan nicht Halt machen wird, dass die menschliche Welle, die Baku in Staub und Schaum erreicht hat, nicht abflauen, sondern weiter über seine Grenzen rollen wird.
Baku hat mit seinem Wein, Glanz und Reichtum den Geist der Armee nicht erstickt. Soldaten und Matrosen spazierten in selbstbewusster Haltung durch die aufgeputzten Straßen, und die ruhige Neugierde dieser Menschen schreckte die Bourgeoisie mehr, als es Räubereien und Vergewaltigungen getan hätten. Die Armee ging weiter, an die nächste menschewistische Front. Nichts von Zersetzung, nichts von Zügellosigkeit ist zu bemerken. Diese reiche Stadt, die dem Sieger mit den Erwartungen einer käuflichen Frau entgegenkam, blieb irgendwie abseits liegen. Man kümmerte sich nicht um sie, bemerkte sie kaum. Dafür lebten aber die Schwarze Stadt und die Vorstadt Balachany auf. Immer mehr sah man in Bakus sauberen Straßen Leute aus dem Naphthaviertel. Ihre bleichen Gesichter und mit Öl durchtränkten Fetzen hoben sich seltsam vor den reichen, mit ausländischen Waren angefüllten Schaufenstern ab. Es ist wahr, eine richtige Revolution hat es hier eigentlich noch nicht gegeben. Der Unterschied zwischen reich und arm, der sich bei uns in den drei Jahren vollkommen verwischt hat, macht sich hier bei jedem Schritt bemerkbar. Die Armut sickert wie früher aus allen Spalten hervor, fließt wie Naphtha durch alle Kanäle, durchdringt alle Straßen. Aber der Oktober hat seinen Einzug in diese Stadt gehalten, er ist bis in die dunkelsten Winkel der Vorstadt gedrungen, und die Anhänger des Alten warten wuterfüllt auf den nahenden sozialen Sturm. Schon drei Nächte schläft die Stadt nicht mehr. Es ist ein Aufstand möglich, ein Gemetzel, ein Versuch der Bourgeoisie, ihre Macht wiederzuerlangen. Drei Tage überschütten die Scheinwerfer am Meere die umliegenden Berge mit erbarmungslos hellem Licht, durchleuchten alle Spalten und Abhänge, ganze Dörfer ohne Leben und Bewegung - lauter Denkmäler des letzten armenischen oder türkischen Gemetzels. Es wird Zeit, dass der Oktober auch hier bald lebendig wird. In der Stille der blutarmen Februarrevolution, die hier noch zu herrschen scheint, können die Arbeiterviertel nicht leben, nicht atmen. Sie finden keine Ruhe, schwere Träume suchen sie heim.
Nur die Erde hat ihre ewige Ruhe nicht verloren. Leicht und selig atmet sie. Die Steine sind von den Naphthaquellen endlich fortgewälzt worden, schwarze, fruchtbringende Ströme fluten wie ehedem aus den Tiefen. Wie eine Mutter mit übervoller Brust wartete die Erde auf Russland, und glücklich entlastet, ewig jung, speist sie jetzt die vielen Tausende gieriger Lippen. Durch dicke Adern fließt die nährende Flüssigkeit in mächtige Reservoire - und die Schiffe sind nicht imstande, die Millionen und aber Millionen Tonnen fortzuschaffen.

 

BAKU-ENSELI

I

In Baku wurde die Flotte repariert, sie trank sich dort satt an Naphtha, füllte ihre kargen Vorräte auf und verhätschelte sich in den herrlichen Werften und weitläufigen Werkstätten wie ein Verwundeter, der endlich in ein reiches Etappenlazarett geraten ist.
Die alten, in ärmeren Zeiten notdürftig gedichteten Lecks traten alle zutage, man renovierte den Schaden, wie es sich gehört, ohne Nieten und Eisen zu sparen, ohne jeden Tropfen Naphtha zu zählen.
Gewohnt, in Astrachans ärmlichen Verhältnissen zu arbeiten, erholte sich die Flotte in den zwei Wochen ihres Aufenthalts in Baku vollständig und bereitete sich auf die Fahrt nach Enseli vor.
Am Morgen des 17. Mai sah die neugierige Menge in der Bucht keine pfeilschnellen Minenschiffe mehr, die noch am Tage vorher so sorglos und majestätisch das gläserne Meer furchten.
Sie zogen des Nachts ab, eins nach dem andern, mit abgeblendeten Lichtern, um hinter der Insel Nargin eine geordnete Schlachtflotte zu bilden und, kleinen grauen Gespenstern gleich, sich nach Süden zu wenden. Zwei Tage darauf verbreitete sich die Nachricht von der Gefangennahme der gesamten weißen Flotte, die im persischen Hafen Enseli interniert war, von der Kapitulation der diesen Hafen besetzt haltenden englischen Truppen - mit einem Wort, von der endgültigen Befreiung des Kaspischen Meeres, das von nun an ein von befreundeten Republiken umgrenztes, freies Sowjetmeer geworden ist. So endete der dreijährige Feldzug, der bei Kasan und Swijashsk begann und sich auf Tausende von Kilometern erstreckte - von den schroffen Abhängen und düsteren Fichten der Kama bis zu den glühenden kaspischen Salzmorästen, von den tiefen Gewässern der Wolga bis zur seichten, unruhigen, launischen Reede von Astrachan, wo die Schiffe mitten in einer unendlichen Meeresweite alle Hände voll zu tun hatten, um zwischen Sandbänken und Minenfeldern durch einen künstlichen Kanal das freie Fahrwasser zu erreichen.
Vor einem Jahr wurde die Wolga-Kama-Flottille zu einer starken Kaspischen Flotte, und jetzt - nachdem Enseli genommen und damit die letzte militärische Aufgabe gelöst war - konnten die alten Kampfschiffe demobilisiert werden. Die Geschütze begannen von den eisenbeschlagenen Decks zu verschwinden; die Schiffsräume entledigten sich der Munition und Waffen und öffneten ihre Tiefen Strömen von Naphtha und Reis. Einer nach dem andern warfen die alten Kämpfer ihr schweres Panzerhemd ab und gingen zurück nach Astrachan, aber nicht mehr als schreckenverbreitende „Dreadnoughts", sondern als starke Arbeitsfahrzeuge, als mächtige Schlepper, als Führer der trägen, überlasteten Kähne, die in langen Karawanen stromaufwärts dem ausgehungerten Fabrikherz Russlands zustrebten. Aber ehe die alten Seewölfe, die all diese Jahre schwere Geschütze auf ihren friedlichen Decks geschleppt und sich durch das ihre Maschinen erschütternde Artilleriefeuer einen Herzfehler zugezogen hatten, die Reede von Baku verließen, wo sie sich mit ihren dunklen, stählernen Farben, inmitten der heftigen Geschäftigkeit der Bucht sonderbar abhoben, führten sie noch eine große, wichtige Aufgabe durch: mit eisengepanzerter Faust versetzten sie einen dröhnenden Schlag gegen das festverschlossene Tor des Ostens.
Bei Enseli stieß die englische Kolonialpolitik mit den realen Kräften des Arbeiterstaates zusammen und erlitt eine Niederlage. Am 18. Mai 1920 wurden die regulären Truppen Britanniens - zum ersten Male im Osten - im offenen Kampf geschlagen; sie zogen sich zurück, nachdem sie sich gerade noch von einer schmachvollen Gefangenschaft losgekauft hatten. Und das geschah nicht irgendwo sonst auf der Welt, sondern in Persien, das durch alle möglichen erpresserischen Verträge niedergehalten, verarmt, geschwächt und zu einem Bunde mit England gezwungen war. Als sie die Ufer des Kaspischen Meeres verließen, konnten die Engländer die komischen und kläglichen Seiten ihrer skandalösen Niederlage vor den schadenfrohen Blicken der Eingeborenen nicht verbergen. Am Schwanz des Trains humpelten auf den Wagen verschiedene Badewannen (Privateigentum eines Majors), Klaviere und überhaupt das verschiedenartigste kulturelle Zubehör. Die Bevölkerung der ganzen Stadt ließ ihre gewohnten Geschäfte im Stich, saß am Kai, warf Apfelsinenschalen ins Wasser und beobachtete, wie die gestern noch hochmütigen Herren, heute der ersten Forderung des russischen Kommandeurs sofort Folge leistend, demütig in einen Kutter stiegen und zum Kriegsschiff „Karl Liebknecht" fuhren, um sich eine einigermaßen ehrenvolle Kapitulation zu erbetteln.
Der ganze sonnendurchflutete Basar weiß es heute, dass die Engländer auf dem russischen Minenschiff seekrank wurden, dass sie ihre Köpfe mitten in den Verhandlungen über Bord neigen mussten und genötigt waren, die Frage: „Wie können die Offiziere der stärksten Seemacht der Welt unter Seekrankheit leiden?" mit unartikulierten und durchaus nicht wohlanständigen Kehllauten und Bewegungen zu beantworten. Ach, die Völker des Ostens haben eine scharfe Beobachtungsgabe, und wenn sie an ihrem gestrigen Herrscher Züge der Angst und Schwäche bemerken, sie werden das niemals vergessen. Schon gehen endlose, spöttische Gerüchte durch den Rauch der wohlduftenden Zigaretten. Gestern noch demütig wie ein Hund - blickt der Perser heute offen und selbstbewusst in das Gesicht der Ausländer und weicht nicht vom Wege, wenn er ihnen begegnet.
Und dann noch ein Umstand, der die persische arme Bevölkerung zunächst verblüffte und dann fest mit Sowjetrussland verbündete: nachdem die Russen Enseli besetzt hatten, schonten sie die Inder und Turkossen, diese Menschen „niederer Rasse", die in den Reihen der britischen Okkupationstruppen gekämpft hatten. Kein europäisches Parlament, kein Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten hätte sich um das Verschwinden von einigen hundert „Farbigen" gekümmert. Man musste das Entsetzen dieser Soldaten gesehen haben, als sie sich der Gewalt der furchtbaren Bolschewiki ausgeliefert sahen. Groß, schlank, mit dem bronzenen Profil eines Gottes - und einer armen, verprügelten Waldseele -, weinten sie wie Kinder und hofften auf kein Erbarmen. Und plötzlich - nicht nur Freiheit und Leben, sondern darüber hinaus eine ruhige, brüderliche Behandlung, wie sie das von den Engländern verachtete Indien niemals gekannt hat.
Viele von diesen Menschen, die sich an dem Bajonettangriff gegen unsere landenden Matrosen beteiligt hatten, zogen als unsere Freunde von dannen und brachten die Kunde von der neuen, die Welt verändernden brüderlichen Solidarität in ihre ferne Heimat. Der listige und dicke Gouverneur von Enseli, liebenswürdig bis zum Erbrechen und vorsichtig wie die Sünde, erkannte sofort und sehr richtig die veränderte Lage: er machte „the Bolsheviks" eine offizielle Visite, entrichtete dem Seesturm - ebenso wie die englischen Offiziere - gewissenhaft seinen Tribut und erkundigte sich mit Hilfe eines gewandten Dolmetschers, ob die teuren Gäste die persischen Gewässer bald verlassen würden oder ob sie das Land mit einem längeren Aufenthalt zu beglücken gedächten...
Der Dolmetscher verbeugt sich, der Gouverneur lutscht an einer Zitrone, kämpft tapfer mit einem Schwächeanfall und verbeugt sich ebenfalls mit einem gezuckerten Lächeln; es verbeugt sich der glänzende Kommandeur des Flaggschiffs „Sinizyn", Tschirikow, in seinem öligen Kittel, mit dem ruhigen Ausdruck eines alten Seebären, der sich niemals und über nichts wundert, der seine Minenschiffe drei Jahre lang tadellos geführt hat - und auch die Mündungen der Geschütze und die spöttischen Mastspitzen verbeugen sich.
„Nein!" antwortet der Kommandeur. „Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Gouverneur. Der begeisterte Empfang, den das persische Volk meinen Seeleuten bereitet hat, wird mir nicht gestatten, dieses gastfreundliche Ufer so bald zu verlassen."
Wieder endlose Verbeugungen, und der liebenswürdige Gouverneur, von dar Seekrankheit und „gastfreundlichen" Gefühlen grün im Gesicht, verschwindet hinter dem Bordrand.
„Und außerdem", tönt die Stimme des Kommandeurs hinter ihm drein, „erwarte ich ja den Besuch ihres Nationalhelden - Kutschek-Chan."
Am Ufer lauscht man schon dem ersten Redner - einem Perser. Die Aufmerksamkeit macht die Gesichter starr, wie aus Bronze gegossen. In lebhaften, ungezwungenen Stellungen legen sich die vordersten Reihen in den weichen Staub zu den Füßen des Redners. Bronzefarbene, dünne, abgemagerte Arme, dürre Schultern, die eckig aus den Fetzen hervorschauen, staubiges Haar der Bettler, von uralten Glasperlenschnüren umwunden, sogar herrliche Bärte, nach Art der längst verstorbenen Könige feuerrot gefärbt - alle in steinerner Regungslosigkeit, in fortwährender Spannung. Sie überhören und vergessen kein Wort. Mit der klaren Einfachheit ihrer halbkindlichen Sprache werden sie das Gehörte von Nachbar zu Nachbar, von einem mickrig bewachsenen, krausen Gärtchen zum nächsten tragen; von Brunnen zu Brunnen, durch Hochgebirge und Sandwüsten wird es die Grenzen Indiens und Mesopotamiens erreichen. Man weiß hier schon ohne Radio und Telegraf von den geheimnisvollen und zahlreichen Versammlungen an den Grenzen Afghanistans, die keine Macht des kolonialen Englands verhindern konnte, von dem fruchtlosen, blutigen Kriege, den Großbritannien in Ägypten führen muss, und nach und nach beginnt der Iran in seiner engen sklavischen Kleidung aufzuleben, zu atmen und zu denken.
Das Schwerste ist vollbracht: der große Glaube des Ostens an die Unbesiegbarkeit Englands ist zerstört, der Zauber seines Goldes, seiner Waffen und seines unerhörten Hochmuts sind für immer gebrochen.
Im Osten kommt die Revolution wie eine Frau - mit verschleiertem Gesicht, von unten bis oben in bunte Gewebe der Vorurteile und einengenden Gesetzesvorschriften eingehüllt. Die östliche Stadt glimmt lange und geräuschlos, ihr Zorn braucht wie der Wein Zeit zum Reifen und wie der Wein gedeiht er im Dunkeln, in tiefer Ruhe. Der arme Perser beobachtet träge und spöttisch den bunten Strom des Lebens. Es muss etwas Außerordentliches geschehen, um ihn aus der toten Apathie herauszureißen. Das erste Wunder, das den nördlichen Iran aufgerüttelt hat, war die Niederlage der Engländer, das zweite - das Erscheinen Kutschek-Chans in Enseli und sein Besuch auf dem russischen Kriegsschiff. Lange vor seiner Ankunft war die ganze Stadt von diesem Namen erfüllt. Und als alle und alles plötzlich elektrisiert aufsprang, als die Händler ihre Buden im Stich ließen und die Fanatiker ihre Gebetsteppiche; als Arme und Bettler einen großen, die tausendköpfige Menge überragenden Mann umdrängten; als sogar der Stiefelputzer mit seinen braunen, nackten Füßen auf seine rote Kiste sprang, um besser sehen zu können; als aus allen Ritzen und Winkeln das elende Bettlervolk herbeiströmte - da wussten es alle, dass Kutschek-Chan da war. Greise fielen in den Staub, um seine unbestechlichen, gerechten Hände zu küssen.
Die letzten drei Jahre versteckte sich Kutschek-Chan mit seinen Getreuen in den Bergen, und vergeblich versprachen die Engländer einen Sack voll Gold für seinen Kopf. Nun ist er da, dieser kostbare Kopf! In dieser blendenden Lichtfülle erscheint er sehr dunkel. Einer schwarzen Aureole gleich, umgibt ihn das Haar, das sich wie auf alten persischen Münzen von selbst in gelockte Strähnen legt. Die Augen sind ernst und einfach, mit allen
lebendigen Schattierungen des Metalls und des Wassers. Die Bewegungen sind langsam und feierlich: Kutschek-Chan betete drei Stunden zu seinem Gott und bat ihn um Rat, ehe er nach Enseli kam und seinen Namen für immer mit der nationalen Revolution in Persien verband. Aber die Stimme dieses von treuen Kurden in Wolfsmützen umgebenen Waldmenschen ist unerwartet ruhig, weich und elastisch. Und als er, nachdem der Dolmetscher gesprochen, seine bronzene Stirn über den europäischen Tisch neigt - mit leichtem Lächeln über die konventionelle Feierlichkeit dieser Begegnung -, hätte man aus dem Ton seiner frauenweichen Stimme niemals erraten können, dass es sich um die Empfangnahme von Waffen, um den Ruhm Persiens und um seine Wiedergeburt handelte.

II

So nah ist dieses herrliche Land, dieses ungewöhnliche, uns verwandte Volk.
Man braucht sich nur von dem Meere abzuwenden, seinem Emailglanz, der wie eine blaue Stirn zwischen zwei Sandhügeln über einem Schaumteppich leuchtet, linker Hand zu lassen; man braucht nur der Bucht Enseli mit ihren japanischen verdeckten Booten und giftigem Wasser den Rücken zu kehren, und in den Feldern voller Feuchtigkeit und Üppigkeit atmet und entfaltet sich Persien. Welche geheimnisvollen, tiefen Düfte strömen schon von den ersten Granatbüschen aus, von den ersten Akazien, die die Weideplätze umgeben. Das Auto verscheucht eine Herde herrlicher schwarzer Stiere vom Wege, die bucklig, glänzend, mit einem braunen Zeichen zwischen den kleinen, gleich Augenbrauen gebogenen Hörnern, mit großen Sätzen flüchten.
Ein trüber Bach, wie aus flüssigem Lehm, nähert sich bald der Chaussee, bald tritt er zurück, um die trockenen, gierigen Wurzeln eines Fruchtbaums, eine Hecke aus lebenden Schilfstauden oder ein Reisfeld zu nähren.
Wie ein smaragdgrünes Schachbrett liegen diese Felder in der Tiefe. Abends scheinen sie unheildrohend. In den stehenden Sümpfen erlischt die glühende, tropische Dämmerung, und die gebückten, in den klebrigen Schmutz hineingewachsenen Gestalten der Frauen, die bis zum Knie im Schlamm arbeiten, treten hässlich, wie Schatten einer unbekannten Tierart, hervor. Am Tage ist es anders. Das Wasser sickert fast ganz ab, und grüne Reisnadeln durchstechen es wie Glas. So hilflos erscheinen die mageren Füßchen der persischen Mädchen, die behutsam von Stengel zu Stengel schreiten und nicht wagen, ihre verschleierten Augen und schmutzigen Hände von dem Sumpf zu erheben. Und die Sonne brütet gleichmäßig, leicht, wie mit einem Lächeln; die mächtigen Baumwipfel knistern leise, atmen Wohlgerüche ein und aus, die mit einem kaum merklichen, kühlen Hauch der Malaria durchmengt sind.
An der Biegung der Straße stehen die ersten persischen Bauten aus Lehm, mit gewaltigem Schilfdach, wie Pfahlbauten auf einem hohen Untergestell. Am Wegrande kehren Bauern im Gänsemarsch nach Hause zurück. Auf biegsamen Latten tragen sie Bündel von Heu; auf den Schultern - längliche Tongefäße, Ruder, Netze und feuchte Segel. Die Gesichter wie aus Gold mit dunklen Augen, beschattet von dunklem, bis zu den Schultern reichendem Haar. Fremde Sprache, dunkle Haut, der Gang der nackten Füße - anders wie unserer - federnd und leicht, aber die Gesichter kommen einem vertraut vor. Ohne im Gehen innezuhalten, wenden sich die wie blütenbestaubten, goldenen Köpfe noch lange dem Auto nach. Es sind Bauern, sie sind wie der Reis, den sie lieben: schlank von ewiger Arbeit, Armut und Glut, elastisch wie Bronzestatuetten - sie haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem fetten, weißen, schwarzhaarigen Typ des persischen Krämers, der um die Mittagszeit, im Schatten des gestreiften Vordachs, auf seinen Warenbündeln schläft. Und dann - die Kamele, eine ganze Karawane: mit kleinen Köpfen, vom Kinn an mit bunten Quasten behängt, mit langen, nackten Hälsen, mit Teppichen bedeckt. Maultiere mit zögernd auftretenden, eisenharten kleinen Hufen unter der Last symmetrisch verteilter Ballen. Rosige Gärten, Reissümpfe, ein rosiger Wind - dann das Zollamt und endlich - Rescht.


III

Die Platanen strecken ihre Äste in das Fenster hinein. Vogelstimmen, bunt und grell, wie man sie bei uns im Norden nicht kennt. Tausende von Rosen dampfen in der Sonne, brennen in süßer, schwüler Glut. Das Haus des ehemaligen Gouverneurs versinkt in ihnen. Die nach Norden geöffneten Fenster atmen Morgenschatten ein. An den Wänden einige Teppiche, Schreibtisch, der Fußboden aus hellem, lackiertem Holz, das ist das Arbeitszimmer des Statthalters von Rescht, ruhig und geräumig ist es. Am Tisch sitzt Kutschek-Chan. Heute nimmt er Abschied von uns, und sein Antlitz dem Lichte zuwendend, versucht er nicht einmal, seine erstaunlichen Augen vor uns zu verbergen, wie er es gewöhnlich, der instinktiven Vorsicht des östlichen Fürsten folgend, tut.
Der Morgen ist kraftvoll, trotz der Glut kühl - der Tau und das Aroma der Nacht ruhen noch in seinem feuchten Kranz. Und Kutschek-Chan ist ruhig wie der nahende Mittag. Er hat ein bescheidenes, braunes Gewand an, weißes Leinen an Handgelenken und Hals, das den herrlichen Kopf noch dunkler färbt. Wie ist er heute traurig - man weiß nicht, warum sein Anblick so ergreifend wirkt -, als ob es dieser einzige persische Revolutionär aus irgendeinem Grunde ahnt, dass er im Kampf mit den Engländern, zeitweilig auf die Waffen der bestechlichen Chans angewiesen, dem sicheren Untergang geweiht ist. Der Dolmetscher übermittelt die letzten Grüße - da sieht man plötzlich, im Gegensatz zu den tragischen Masken mit dem Hintergrund eines blutroten Teppichs, eine komische, vertraute Gestalt in der Luft: die alte Freundin der Kaspischen Flotte, die „Geschwollene Wurst" - den Fesselballon. Wie oft erhob sich ihr dicker Leib, ein Schmetterling mit täppischen Flügeln, über den Ufern der Wolga, über Zarizyn und Astrachan, beobachtete und übermittelte uns Warnungen und lenkte das Feuer der Schiffe. Sie war eine Freundin der Matrosen - diese „Wurst": man fürchtete sich nicht unter ihr, sie hatte für alles ein gutes Auge. Und da erhebt sich nun dieses liebe Ungetüm auf dem emailgrünen Himmel Persiens und betrachtet von oben die tropische Wildnis, die smaragdenen Wege und Straßen -weißer als Milch. Der Basar ist ein Opfer panischen Schreckens: Buben und Mullahs laufen; Kamele, von ihren Führern im Stich gelassen, von der Menge erschreckt, versperren die Brücke. Die „Wurst" übt eine betäubende Wirkung aus: die ganze Autorität der Revolution, mit einer dünnen Stahltrosse an die Erde gekettet, bewegt sich unter den Wolken, schwankt gewichtig im Winde, macht einen Fleck in den reinen Himmel, und es ist, als wenn ihre lustige Physiognomie unsern „Verbündeten" die Zunge zeigt. Kutschek-Chan ist glücklich. Er sieht aus dem Fenster den erregten Basar, wo mitten unter Turbans und Wolfsmützen Matrosenbänder flattern, und darüber - den weißen Fesselballon.
Der stärkste Glaube des Ostens - ist der Glaube an die Maschine, an die technische Überlegenheit des Westens -mit diesem Glauben haben die Engländer Hunderte von Jahren ihre Kolonien in Schach gehalten. Und nun kommt auf einmal der Tag, an dem die Technik in die Hände des persischen Revolutionärs gelangt und sich gegen die schmachvoll fliehenden Engländer wendet. Das Telefon klirrt. 15 Werst von Rescht entfernt ist ein Scharmützel im Gange. Kutschek-Chan verabschiedet sich. Seine Kampfgenossen folgen ihm: der kleine, dicke und kluge Armeekommandeur, der radikalste und tapferste Mann im Lager, und der Finanzkommissar - bebrillt und mit einem Gewehr auf der Schulter, besorgt wegen der rechtzeitigen Löhnung der Truppen und wegen der riesigen Bettlermenge, die Kutschek-Chan gierig umdrängt.
Eine halbe Stunde später saust das Auto nach Enseli zurück. Verhallt ist die weiche, metallisch klingende Stimme Kutschek-Chans, vorübergegangen dieses uralte persische Heldengesicht. - Wann werden wir uns wieder sehen und wo?
Am Schlagbaum - der letzte Matrose, sonnenverbrannt, halbnackt, in einem weiten, blauen Hemde; er schreit uns nach - ein munteres, freches, unüberwindliches: „Her mit Taurien!"
Auf halbem Wege begegnen uns zwei Reiter: Inder, die den Engländern davongelaufen sind. Unendlich erfreute Gesichter, und strahlend wie ihre Zähne beim Lächeln ihr Gruß: „Für die Sowjetmacht!" - und vorbei auf den wilden Pferden.
Auf der dicksten Buche, dort, wo der Weg die Sümpfe verlässt und sich den Hügeln zuwendet, sitzt ein Mann mit einem Kleistertopf, ganz in Schweiß gebadet, mit der Mütze im Nacken, und bekleistert die Rinde des uralten Giganten: das erste Sowjetplakat entfaltet seine rote Fläche in der tropischen Wildnis.
Es ist still. Dichte, duftende Luft, zirpende Insekten, breite Landstraßen, über die satte Stiere und Kamele träge kriechen - und am Stamme dieses uralten Waldriesen dieses Feuermal der Weltrevolution.

 

Aus dem Zyklus
KOHLE, EISEN UND LEBENDIGE MENSCHEN

BILIMBAI
(Erzbergwerk)

I

Die Straße gleicht einer knorrigen, harten Wurzel und lässt den zweirädrigen Wagen hüpfen und poltern. Der feuchte, mit rostrotem Anflug überzogene Boden trägt Moos, kühlen Tau und die ersten unauffälligen Veilchen. Die Fichtenstämme mit ihrer jahrhundertealten Sonnenbräune ragen über den Hügeln empor wie die Schäfte riesiger Spaten, die der Schürfer in den Boden gesteckt und dann vergessen hat. Dahinter - der lustige blauäugige Fluss, der an diesen bewaldeten Hügeln vorübergezogen zu sein scheint, ohne sie eines Blickes gewürdigt zu haben, ganz den fernen Bergarbeiterdörfern zugewandt. In Wirklichkeit aber hat er heimlich kehrtgemacht, ist durch die Spalten im Kalk geschlüpft, durch die Lehmböden, die er mit stillen, unterirdischen Tränen befeuchtete, gesickert und ist endlich, zähen Erdbrei vor sich stoßend, in einen tiefen, unterirdischen Gang, in das Bergwerk gekrochen. Die Wände der Strecke sind mit Stümpfen hundertjähriger Baumstämme abgestützt, die Decke - mit mächtigen Bohlen. Der alte Mastenwald, ohne Laub und ohne Wurzeln, ohne Kopf und schon lange ohne Beine, nur als breitbrüstiger, gepanzerter Stamm in diesen dunklen, unterirdischen Grund geschlagen - wächst weiter. Er steht nicht nur und stützt das Erdreich über sich, er stemmt sich gegen Erdrutsche, er reckt sich auch weiterhin mit dem abgeschlagenen Wipfel zum Licht empor, das er niemals mehr sehen wird. Das Wasser rinnt die Stützen hinunter, plätschert in der Dunkelheit, spritzt, fließt die Gleise entlang, sammelt sich, steht, rinnt weiter, verschwindet wieder. Und plötzlich bricht eine ganze Reihe an die Wand genagelter Stämme in die Knie, geknickt, entkräftet, vom kalten Schweiß alles durchdringenden Wassers überströmt. Am Ende eines jeden Ganges - eine kleine Höhle, von einer Petroleumlampe erhellt. Sie rußt nicht, ihr Atem ist rein und verpestet nicht die Luft. Doch das Flämmchen ist klein und schwach, es gleicht dem Blick eines Kranken unter dem Kissen hervor, das sich ihm über die Stirn geschoben hat. Schon von weitem sieht man in einer Dampfwolke das Gelbe dieses trüben Flämmchens, hört man ununterbrochen den heiseren, gleichmäßigen Atem des Häuers und das dringliche Pochen seiner Hacke. Er kniet und schlägt der sich stemmenden Wand die Fußstützen fort, von der sie abgleiten soll, eine Fußstütze aus weichem Ton. Über seinem Kopf ragen drei Stangen aus der Wand und bezeichnen die Stellen, wo die Dynamitpatronen eingesetzt werden sollen. Diese drei Stangen sind drei Stahlfinger, die der Kumpel dieser eisernen Barrikade zwischen die Zähne gezwängt hat.
Die Vorbereitungsarbeiten sind beendet. Das ganze weiche Gestein ist losgeschlagen. Der Fördermann wirft es in die Lore und zieht diese fort; ganz durchnässt, stößt er mit den Füßen von den glitschigen Wänden ab und beugt sich dabei so weit vor, dass sein Bauch fast durch die Pfützen und kleinen Erdhaufen schleift. Der Häuer setzt sich auf einen Schotterhaufen und steckt sich eine an. Die Streichhölzer sind feucht geworden und zünden nicht. Mit der Feuchtigkeit vermischen sich die Ausdünstungen eines menschlichen Körpers, der die Ruhepause genießt, wie in einer Sauna dampft und eine stinkende „Selbstgedrehte" raucht. In der absoluten Stille pocht in der Ferne, gleichmäßig wie das Herz unter dicker Kleidung, die Hacke des Häuers von nebenan. Unvergleichlich ist diese unterirdische Stille. Das Rascheln der unversehens rutschenden Erde hört man, als wären die Ohren voller Wasser, und nur der eiserne Specht klopft in der benachbarten Höhle ununterbrochen: Tuk-tuk, Tuk-tuk.
Die Selbstgedrehte ist aufgeraucht. Das schweißüberströmte Gesicht des Häuers ist totenblass, ohne einen Blutstropfen - er friert. Damit es heller werde, macht er die Reservekerze an, steckt sie in den Ring und drückt sie mit dem Fingernagel an die Wand.
Das Dynamit, grau und weich, erinnert an Hefe und lässt sich leicht mit dem Messer schneiden. Eigentlich darf die Zündschnur nur in ein zuvor gebohrtes Loch hineingesteckt werden, sonst kann die Kapsel in der Hand des Arbeiters explodieren. Der Häuer lacht.
„Wir riskieren so viel, wenn wir hier, in dem Loch, arbeiten - da kommt es gar nicht mehr darauf an." Die Zündschnüre sind gelegt; damit sie in der Feuchtigkeit nicht erlöschen, werden ihre Enden ausgefranst: Es entstehen silbrige Pusteblumen aus Stahldraht. In Erwartung der Explosion setzen sich die Kumpel etwa dreißig Schritt entfernt „an die frische Luft", dorthin, wo heftige Zugluft aus der „Röhre" durch die Strecke pfeift, und rauchen. Unbeschreiblich kühl und muffig weht es aus dem Schacht, der diese Strecke mit dem Tag verbindet. Im Lichte der Kerzen glänzen die nassen Stämme, mit denen er ausgekleidet ist, und die nassen Sprossen der Holzleiter, die senkrecht in die Tiefe führt. Über diese morschen Sprossen steigen die Arbeiter Schicht um Schicht in die Grube und verlassen sie wieder. Losgerissene Steinchen stürzen mit einem ganz besonderen, nicht wiederzugebenden Gepolter gegen die Wände in die schwarze Röhre. Die Kerze flackert und verbrennt die sie haltende Hand mit heißflüssigem Wachs. Schwere Stiefel, nass, lehmverschmiert, glitschig, steigen vorsichtig von Sprosse zu Sprosse. Ab und zu tun sich dunkle Löcher in der Steppe auf, in ihrer Tiefe flackert fernes Licht; wenn man lauscht, vernimmt man durch das ununterbrochene herbstliche Weinen der unterirdischen Gewässer das dumpfe Pochen der Hacke und, wenn die Sohle nahe ist, hört man den heißen, dampfenden, aussetzenden Atem des Häuers. Dieser Atem hört sich an, als entringe er sich nicht einer menschlichen Brust, sondern einem lebenden Schacht, wo ebenfalls dunkle Feuchtigkeit die Wände der Lungen hinabrinnt, wo in der Tiefe der Atemgänge statt der Lämpchen matte Tbc-Herde glimmen.
Nach wenigen Minuten drei heftige, aber gedämpfte Explosionen. Der Steiger blickt auf die Uhr. Nur keine Hast! Der Rauch wird uns erst in einer halben Stunde erreichen und träge durch den kalten, dunklen Schacht abziehen.
„Stimmt es dann, dass man uns den Arbeitstag von sechs auf acht Stunden verlängern will?"
Der Sekretär der Parteiorganisation von Bilimbai, Genosse Wolegow, ist selbst ehemaliger Bergmann; er kam in die Partei aus der Tiefe eben dieses Schachts, den er zunächst dem ehemaligen Besitzer zu entreißen half und dann mit dem Gewehr in der Hand verteidigte.
„Wir werden unseren Standpunkt vertreten", antwortet er, „vielleicht tut man es nicht." „Und wenn wir acht Stunden arbeiten müssen?" „Dann arbeiten wir eben ,.."
Die Stimme des jungen Häuers geht in die Tiefe wie ein leerer Förderkorb, der an aufgerollter Kette in den Schacht stürzt, bis er zerschellt.
„Du hast doch selber hier gearbeitet, du weißt, dass wir acht Stunden nicht durchhalten können. Können nicht... Fast gar keine Entlüftung. Alles löst sich auf. Die Leiter, ja, sicherlich der ganze Schacht ist morsch. Instand setzen -aber wo das Geld hernehmen? Wenn man über Tag ist, setzt man sich erst mal am Straßenrand hin, bevor man sich auf den Heimweg macht. Nein, mein Lieber, so geht es nicht. Und die Kleidung? Kein Gummi, nur noch Leinwand. Sprit steht uns nach der Arbeit zu - wo ist er denn? Haben nichts davon zu sehen bekommen. Wir wissen ja, dass du fleißig deine Berichte schreibst, aber viel Sinn hat es nicht. Gib wenigstens eine Zigarette her, du Hundesohn, damit wir was von dir haben! Und mit den acht Stunden wird nichts! Das kannst du dir merken!" Einer der Kumpel geht fort, um nach dem Rauch zu sehen. Er ist schon nah, sie müssen fort. Steigen durch den Schacht noch tiefer hinunter, bis zu der untersten Sohle. Hier ist die Decke so tief, dass man den Kopf gar nicht heben kann. Immer häufiger stößt man mit den Füßen an die frischen Maulwurfshügel der Erdrutsche, sieht immer mehr geknickter, schiefer Kiefernstämme, die unter dem ungeheuerlichen Druck des fetten Lehms stehen. Schließlich muss man auf allen vieren zwischen den dicken, gekreuzten Stämmen kriechen, die auf der Seite liegen und sich gegenseitig mit ihren Fichtenschultern stützen. Hier wühlt der Bergmann unmittelbar unter dem Bauch der Erde, der die Menschen, ihre Lämpchen, das Pochen ihrer Spaten und den schwächlichen Widerhall der Explosionen fast erdrückt. Keine Luft zum Atmen. Und unten, unter einem Bretterbelag, nicht mehr als Tropfen oder Bächlein, sondern als weißliche regungslose Überschwemmung, steht, überall mit gleichem Pegel, tiefes, glattes, ewiges Wasser: der Schacht hat das Niveau des Flusses erreicht. Vergeblich verfolgt der Häuer das verschwindende Erz durch schlammige Lehmschichten, durch diese Körper fetter vorsintflutlicher Mollusken, die unter seiner Hacke auseinander kriechen. Vergeblich beißt er sich immer tiefer in tauben Quarz hinein, Schritt um Schritt mit seinem steinernen Grab vorrückend, das er vor sich immer wieder erweitert und hinter sich mit Bohlen verbaut. Nachdem sie die Oberfläche der Flussgewässer erreicht haben, verschwinden darunter reiche Erzlagerstätten. Um weiterzugehen, braucht man neue Maschinen, Elektrizität, allerlei technische Vervollkommnungen, riesige Mittel. Geld ist aber nicht da und wird nicht so bald da sein. Inzwischen versorgt dieses alte und kleine Bergwerk, v/o früher politische Verbannte gearbeitet haben und wo man deutsche Kriegsgefangene zu dieser Sträflingsarbeit zwingen wollte (was an ihrem organisierten, tapferen Widerstand gescheitert ist), versorgt dieses kleine mit faulem Holz abgestützte und von Petroleumfunzeln erhellte Loch das Hüttenwerk von Bilimbai mit Erz und ist eines der lebendigen Produktionsrädchen, die sich für die Wiedergeburt des Ural drehen. Es sollte stillgelegt werden - die Arbeiter ließen es nicht zu. Unter unglaublich schweren Bedingungen setzten sie ihren Kampf gegen Wasser, Lehm und Übermüdung fort. Damit die Selbstkosten nicht zu hoch wurden, verzichteten sie auf die Elektrifizierung. Nachdem die Häuer auf den unterirdischen See gestoßen waren, gingen sie auf Erkundung aus, wobei sie ihr steinernes Gehäuse wie ein Schneckenhaus mit sich schleppten. Das ganze Bergwerk, in der Finsternis und Härte noch unberührter, unterirdischer Massive von einem besonderen Spürsinn geleitet, ahnt ein mächtiges Flöz irgendwo dicht unter dem Wasserspiegel. Man sucht es - und wird es wohl auch finden. Doch vorläufig gehen alle Ausgaben, alle vergeblichen Suchaktionen unterirdischer Kundschafter, alle fruchtlosen Irrwege in der feuchten, schwarzen, zähen Tiefe zu Lasten der Arbeiter selbst. Der Häuer erhält für sechs Stunden seiner unmenschlichen Arbeit 1 Rubel 26 Kopeken. Zu diesem Mindestlohn kann er unter höchster Anspannung der Kräfte 30 bis 35 Kopeken als Zuschlag verdienen. Ein Fördermann erhält noch weniger: 50 bis 70 Kopeken. Und auch das nicht immer in Geld, das im Zusammenhang mit der Geldreform oft zu spät oder nicht in ausreichender Menge eintrifft. So konnten zum Beispiel die mehr als 500 Spenden der Bergarbeiter und Hüttenwerker von Bilimbai für die hungernden Kinder in Deutschland wegen der akuten Bargeldknappheit wohl gezeichnet, aber bislang nicht geleistet werden. Man kann sich wohl vorstellen, wie die Kumpel leben. Freilich haben viele von ihnen ein eigenes Bauernhaus und eine Miniaturwirtschaft. Doch diese winzigen Wirtschaften fesseln den Arbeiter an den Ort, bringen ihn in eine leibeigenschaftsähnliche Abhängigkeit nicht nur vom Bergwerk, sondern auch vom eigenen Gemüsegarten und Stall, von der Ziege, den paar Ferkeln und dem scheckigen Kalb mit den wässrigen Kinderaugen.
In einer der letzten Strecken, die ich aufzusuchen Gelegenheit hatte, fragte man mich wiederum nach dem Achtstundentag. „Sollte das stimmen? Na, gut! Wenn es nicht anders geht - sind wir dabei. Obgleich man uns schon seit Jahren vorleiert: Haltet noch ein bis zwei Jahre durch - dann kommt alles ins Lot. Ist aber vorläufig noch nicht. Haben wenig Gutes gesehen. Allerdings haben wir jetzt die Geldreform, und eine Anleihe geben uns die Engländer nicht" - der Sprecher war Parteimitglied, und es war deshalb nicht verwunderlich, dass aus der Tiefe dieses feuchten Grabes ein Widerhall der großen Weltereignisse kam. Und nur die wächserne Blässe des Mannes, der mit einer Hacke in der Hand von den sozialen Geschicken der Welt sprach, nur die absolute Stille in dem siebzig Meter tiefen Schacht, nur die Dampfschwaden, die seine frierenden Schultern in eine Wolke kalten Schweißes hüllten, verliehen diesen wenigen Worten den besonderen, harten Ernst, ließen die ganze Verantwortung der Partei spüren, die sie für die Erfüllung ihres sozialen Programms trägt, denn um dieses Programms willen bleiben die Menschen unter Tage bei ihrer Sträflingsarbeit. Jeder Schlag der Hacke in diesen teuflischen Bergwerken wird geführt in der Hoffnung, dass ein menschenwürdigeres und gerechteres Leben bald anbricht.
„Aber eines schreiben Sie bitte auf, Genossin - entschuldigen Sie, ich kenne Sie nicht beim Namen. Wir haben es mit der Lunge. Viele sind schwindsüchtig. Man verschickt uns während des Urlaubs zur Kur in unsere eigenen, in die Kurorte des Ural. Die Bäder sind schwefelhaltig, aber es ist dort nicht warm genug. Sonne brauchen wir, nach einer solchen Arbeit. An das warme Meer aber können wir nur einen im Jahr verschicken, und auch das zusammen mit dem Hüttenwerk. Das ist zuwenig."


II

Das Werk Bilimbai ist ein altes, uraltes Industriewerk. Erbaut wurde es mit den Händen der Leibeigenen: zuerst war es Besitz von großen Herren, später von Kaufleuten mit wildem Temperament und großem Unternehmungsgeist. In sieben Dörfern wurden die Leibeigenen rings um das Werk angesiedelt, und viel Wald wurde ihm zugeeignet. Die Menschen sind frei geworden, doch der Wald ist bis heute noch dem Werk ausgeliefert. Über Dutzende von Werst ziehen sich die leibeigenen Wälder hin: Tannen, Fichten, lustige weiße Birken - leichte grüne Tücher umgeworfen -, der übermütige Wacholder, der im hundertjährigen Schatten zu Streichen aufgelegt ist, und näher zu den Wohnstätten die zahmen Hausarten: die Eberesche, der wilde Apfel und die weiße, kühle Faulbeere - taufrisch, gern gesehen, wie ein Mädchen, das, der Kunkelstube entsprungen und dann im Garten geblieben, die weißen Quasten seines Umschlagtuches über den Zaun hängen lässt. Sie werden der Reihe nach und außer der Reihe geschlagen; man lässt zur Samengewinnung nur einzelne Tannen stehen, die an Kirchtürme in einem niedergebrannten Dorf erinnern.
Der alte Fronherr ließ das Werk und die Gartenlaube, den Stall, wo mit Ruten gestrichen wurde, und die Kirche zu seiner Domäne passend erbauen: weiß, breit, von vorne recht ansehnlich - und mit all dem schmutzigen Alltagskehricht und Menschengedränge hinten, einem fremden Auge durch eine säulengeschmückte, wohlproportionierte Fassade im russischen Empirestil entzogen. Die Bilimbaier Kirche hat sich dieses prächtige Äußere bis auf den heutigen Tag bewahrt, sie steht da auf einem grünen Hügel wie ein Palast, weiß und sonnenüberflutet, in dem grünen Schlafrock des Birkenhaines, mit einem Tor, das sich wie eine Spitzenmanschette gegen das saftige Grün der Gärten abhebt. Nur dass der Frühstückstisch auf der Kirchenvortreppe fehlt, der Samowar und die gnädige Frau, den Tee einschenkend mit ihren marmorweißen Händen, die von Stroganow gemalt sein könnten. Und sogar die Haupthalle der Fabrik hat etwas von jenen verschwenderischen, auf äußeren Glanz bedachten Zeiten mitbekommen. Irgendwelche Kränze kleben an der Fassade, eine Art Ziersäulen drängen sich vor dem Eingang in die Hütte. Doch hier ist eine andere Vergangenheit lebendig, eine weniger großherrschaftliche, weniger sorglose: Sie peitschte die Leibeigenen nicht mehr im Stall des gnädigen Herrn, sondern im staatlichen Zuchthaus, sie richtete weniger junge Mädchen als vielmehr junge und kräftige Männer zugrunde; sie puderte nicht mit dem flüchtigen Puder des 18. Jahrhunderts, sondern mit Kohlenstaub, und sie belehrte nicht mit der losen Hand des gnädigen Herrn und der Jagdpeitsche, sondern mit der Gefängnisrute und der großen, unförmigen Kugel der damaligen Zeit. Unauslöschlich blieb das schaurige Andenken an das goldene Zeitalter, da Posessionsbauern (Anm.: Leibeigene Bauern im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts, die in Manufakturen arbeiteten und, getrennt von diesen, nicht verkauft werden durften.) in den Fabriken schufteten, an die schwere Hand der ersten russischen Industriellen aus dem „dritten Stand", die noch mit staatseigenen Arbeitskräften, nicht selten aber auch mit Lohnsklaven wirtschafteten und denen jene ungenierte rationale Grausamkeit eigen war, mit der es nicht einmal die alten Feudalherren samt ihrer launischen, aber nachlässigen und inkonsequenten Despotenwillkür aufnehmen konnten. Sehr veraltet sind die Maschinen des Bilimbaier Werkes. Vieles an seiner Einrichtung und Ausrüstung mag einem europäisch ausgebildeten Ingenieur komisch erscheinen, aber jetzt ist das greise Werk, obwohl es ausgedient hat, wieder in den aktiven Dienst gestellt worden und hilft in den Jahren der für die Revolution überaus schweren ökonomischen Krise, hilft bauen und erzeugen. Sein altes Maschinenherz klopft langsam, aber gleichmäßig und
kräftig.
Die Pleuelstangen fünfzigjähriger Wasserturbinen bewegen sich bedächtig, mit einer gewissen altmodischen Grandezza. Das wunderliche Eisengussgitter, das sie umgibt (solche gibt es heute nirgends), gleicht ein wenig dem Gitter, mit dem die Gräber ehrwürdiger, längst ausgestorbener Familien auf den alten herrschaftlichen Friedhöfen eingezäunt waren. Aber das macht nichts: Alexej Alexojewitsch Koschin, der Hüter und uneingeschränkte Herr des Hochofens, ein Männlein mit gutmütigstem Gesicht, bei den Arbeitern wegen seiner absoluten Nachgiebigkeit beliebt, ist ein Spezialist, der sein Fach bis ins Feinste kennt, der auch die geringsten Schattierungen von Kohle und Erz zu unterscheiden weiß; er braucht nur mit einem Auge durch sein Blauglas, das ebenso speckig ist wie die Revers seiner Jacke, in den weißen Schlund des Ofens zu schauen, wo zentnerschwere Brocken Metall und Kohle wie Laub, wie Blütenblätter beben und sich in der weißen Milch des Roheisens auflösen, um die Qualität der Schmelze zu erkennen, um festzustellen, ob nicht zuviel Birken- und Tannenscheite dieser Eisenbowle zugesetzt worden sind, Holz von diesen unbeständigen, diesen Sommerarten, die es nicht aufnehmen könnten mit der weißen Glut, mit der reinen, unnachahmlichen Flamme, die in dem eisenharten, harzigen und wie eine Zedernuss saftigen, tadellos gewachsenen Körper einer hundertjährigen Fichte eingeschlossen ist.
Alexej Alexejewitsch steht schon seit 35 Jahren an den Hochöfen; er ist es, der unter Koltschak zusammen mit den Weißen von seinen Anlagen fort ins Ungewisse, in die Verwüstung fliehen sollte, aber nach 17 Werst zurückblieb und ganz unerwartet gerade zur rechten Zeit, zum Abstich, wieder an seinem Platz stand, zu diesem schwarzen Schmelzkessel von einer Leidenschaft hingezogen, die stärker war als Spießerangst und absurde politische Vorurteile. Und eben dieser Alexej Alexejewitsch behauptet, dass seine Maschinen noch arbeiten und sich bewähren werden. Voller Stolz weist er auf den Wasserstrom, der irgendwelche besonderen, sicherlich sehr notwendigen und gediegenen „Federn" des allen Motors umspült, die mich - leider! - zu meiner Schande an die Schaufeln einer simplen Wassermühle erinnert haben. Bei elektrischer Beleuchtung scheint das Wasser, das am Boden der Turbine dahinfließt, unbeweglich zu sein, wie Mondlicht auf der Diele.
Zum Glück ahnte Alexej Alexejewitsch nichts von meinen unsachlichen, höchst laienhaften Eindrücken und führte uns stolz zum eigentlichen Herz des Hochofens. Das ist eine Sträflingsarbeit: In dem Kessel, der bis an den Rand mit Erz, Kohle, wieder Erz und noch einmal Kohle gefüllt ist, über dem Riesentiegel, aus dem Hitze, Rauch und Flammen wie eine Säule emporschlagen und dann durch die Gichtöffnung (Haube, Rohr, Esse - Alexej Alexejewitsch, verzeihen Sie, aber so wird es verständlicher sein) entweichen, schütten Arbeiter ununterbrochen Zentner und Tonnen an Erz und Brennmaterial nach. Gleichsam an einer beweglichen eisernen Schulter angehängt, wandert eine große Schaufel über der Flamme von einem Haufen zum anderen, hält überall bettelnd die Hand hin und sammelt von allen Seiten eiserne Almosen. Die Kohle nimmt im aufgehängten Kübel Anlauf und stürzt sich, von einem Funkenschwarm umgeben, in die Flammenschlucht - eine unbescheidene, effekthaschende Selbstmörderin. Nur auf ausdrückliche Anweisung des Obermeisters werden Flussmittel zugesetzt - besondere chemische Mischungen, die das Erz reinigen. Sie schwären gleichsam im Feuer; diese reinigenden Elemente ziehen das ganze kranke, eifrige Blut des Metalls, Asche und schädliche Beimischungen zusammen, verbinden sich mit allem, was an der Schmelze das Schlechteste ist, und wallen auf, bevor das Roheisen reif ist. Man lässt sie zusammen mit dem brodelnden Abschaum hinaus, sie nehmen ihn mit und opfern dabei gleichsam ihr selbständiges Dasein.
Auf der heißen Asche erkaltet diese Lava, wie rote aus dem Kessel gefallene Eingeweide der Flammen. Am Ofen herrscht tropische Hitze. Doch die Rücken der Arbeiter sind eisiger Zugluft ausgesetzt. Die feuchten Hemden dampfen. Die Gesichter sind schweißüberströmt, der Körper löst sich bald in unerträglicher Hitze auf, um gleich danach zu frieren und zu beben, wie nach einem langen, kalten Bad. Was für den Hochofen gut ist - das Eisenhemd, das von außen ständig eine kalte Dusche erhält - ist todbringend für die Arbeiter.
Bezahlt wird diese Arbeit nach der 4., 5. und 6. Kategorie mit einem Zuschlag, das heißt jämmerlich, und dennoch habe ich in keinem der Werke, die ich bislang besucht habe, eine solche tief bewusste Einstellung zu der harten Politik kennen gelernt, die der Arbeiterstaat jetzt betreibt gegenüber seiner herrschenden Klasse, die zur Sträflingsarbeit verurteilt ist, bis die Wirtschaft in Gang kommt. Die Arbeiter begreifen sehr wohl, dass dank ihrem knappen Lohn, um den Preis der immer stärkeren Intensivierung ihrer Arbeit die klaffenden Löcher im Haushalt gestopft werden, der Mangel an Geld und produktionsverbilligender Ausrüstung wettgemacht wird.
Auf ihre Kosten, durch ihren Schweiß und ihre Arbeit wird das Eisenmetall verbilligt. Die Produktivität des einzelnen Arbeiters hat vielerorts, darunter auch in Bilimbai, den Vorkriegsstand erreicht und sogar überschritten. Wie, um weichen Preis? Die Belegschaften sind doch kleiner geworden. Wo früher drei gestanden haben, arbeitet heute einer. Die Anlagen sind in zehn Jahren abgenutzt worden, ihre Leistungen mussten sinken. Der Knüppel, mit dem früher der „Mehrwert" herausgeschlagen wurde, ist nicht mehr da. Die Bergwerke sind erschöpft, das Erz ist minderwertiger, indessen schnauft der alte, schiefe Samowar von Bilimbai aus den staubigen Nüstern seiner Gebläseanlagen (eine davon, eine ganz alte, eine liegende Mammutkuh, ist ganz außer Betrieb), hantiert mit den Ofentüren und beobachtet durch diese den Strom der vom Hochofen eingeatmeten und ausgeatmeten Gase, die sich nur aus Achtung vor unserer Arbeitsdisziplin nicht zum Ausgang stürzen - und dieser Bilimbaier Samowar hat nicht nur seine „Quartalsauflage" erfüllt, er hat es fertig gebracht, eine Metallausbeute von 46,47 Prozent statt der geforderten 46 zu bringen. Technische Verbesserungen? Ja, zum Teil. Aber in weitaus stärkerem Maße - unerhörter Mut der Arbeiter, die trotz aller Proteste und aller Unzufriedenheit Russlands Karren aus dem ökonomischen Dreck ziehen. Und man darf nicht vergessen, dass diese Leistung mit hungrigem Magen vollbracht wird. Man isst nicht mehr Melde und Brennnesseln wie in den Jahren 1919/1920, aber Fleisch bekommen die Arbeiter monatelang nicht vorgesetzt.
Eines fragen sie, wenn sie den Hammer, die Brechstange, die riesige Zange für einen Augenblick aus der Hand legen und sich mit dem kohlebestäubten Ärmel über die Stirn wischen: „Wird's bald?" Was antwortet man ihnen?
Inzwischen rückt die Stunde des Abstichs heran, die sich Tag für Tag wiederholt, aber nichtsdestoweniger im Werk immer Freude und Unruhe auslöst. Mit einer besonderen, ihm allein eigenen majestätischen Ruhe fließt das glühende Roheisen in die bereitgestellten Masseln, füllt sie Wabe um Wabe und überzieht sich langsam mit dem ersten purpurnen Schatten.
Die Arbeiter treiben das Feuer zu ihren Reihen oder versperren ihm ein anderes Mal wieder den Lauf. Sie gleichen Spielern, die auf dem Spieltisch mit den langen Rechen Ströme flüssigen Goldes einsammeln.

 

KYTLYM
(Platin)

Kytlym heißt in der Wotjakensprache Kessel. Das ist es auch, eine große Bergschale, eingebettet im ewigen Schnee. Die Wolken streichen über seine gezackten Ränder hinweg und lassen Fetzen schaumiger Säume ihrer wallenden Gewänder daran. Außer den Wolken kamen seit alters Jäger über die Berge gezogen - nach Rauch-wild, nach Bären, nach Wildvögeln. Doch übrigens - nicht viele: wegen der beschwerlichen Pfade, wegen der Waldbrände, wegen des Gutsherrn, der sein Fleckchen Tundra eifersüchtig bewachte. Wozu war denn dieser Worobjow überhaupt gut? Da saß er auf seinem Grund und Boden neben dem Monsieur Du Parque und führte wegen der Straße einen Krieg. Wenn du schon, so sagte er, Grundbesitzer und Edelmann bist, dann schlage dir gefälligst eine eigene Straße. Viele Tage lauerte also der Edelmann und Ordensträger im Gebüsch und wartete auf Du Parques Glöckchen, Rappengespann und Kutsche, um ihm eine gute Ladung Schrot zu verpassen oder, wenn man den Nachbarn verfehlt hat, wenigstens den neben der Kutsche rennenden Barsoirüden des Franzosen zu treffen. Du Parque wiederum machte das Leben in Kytlym sehr müde. Da hockte und hockte er wochenlang ohne auszufahren in seinem Hause, doch dann preschte er wieder einmal kurzentschlossen - in Kissen verpackt - über die verbotene Worobjowsche Straße, über die Schlaglöcher hinweg, eine Wotjakenfellmütze über die Ohren gezogen und den Sitz noch durch ein besonderes Federbett geschützt. Doch die Schrotkörner des Herrn Worobjow schlugen auch dieses Federbett durch. Er war ein guter Jäger und goss seine Munition im eigenen Hause aus einem weißlichen Metall, das reichlich gefunden wurde auf freiem Felde, aber auch im moosüberzogenen Sumpf, der den größeren Teil seiner nutzlosen Ländereien ausmachte. Gewiss war es nicht der Adlige selbst, der durch die Wildnis zog, um dort sein Auch-Silber zu sammeln, aber er gab den Jungen je eine Kopeke, und dafür brachten sie es tütenweise ins Gutshaus, wo die gnädige Herrin den größeren Teil auf den Müllhaufen zu werfen befahl. Sie konnte diesen selbstgegossenen Schrot in den Taschen des Gatten nicht leiden: Dieses Metall, das nicht edel, aber dafür außerordentlich schwer war, durchlöcherte selbst die festesten, neuen Taschen an einem Vormittag. Wie dem auch sei, aber Worobjows Schrot war hart, sein Auge und seine Hand hingegen waren sicher, und daher musste Du Parque tatsächlich eine neue Straße durch den völlig unpassierbaren Sumpf schlagen.
Herr Worobjow halte aber weiterhin seine Freude, denn der Franzose geizte beim Bau mit Geld, der dünne Bohlenbelag faulte bald durch und wurde morsch. Gleich im ersten Jahr brach sich ein prächtiger Hengst das Vorderbein, als er im Sumpf einsackte. Im gleichen Jahr verschwand plötzlich Herrn Worobjows Verwalter, nachdem er - betrunken und unwissend - von den Bauern einen Sack weißen Schrotes für 50 Kopeken gekauft hatte. Die Dummen haben Glück. Bald darauf sprach man von seinem Reichtum, auf unbekannte Weise erworben. Das Leben in der Taiga verharrte noch zwei weitere Jahre im friedlichen Bärenschlaf, bis Herr Worobjow plötzlich ein unerhörtes Geschäft tätigte. Für drei Silberrubel kaufte er einem Jäger ein Geheimnis ab. Erstens: das Metall, mit dem man seit alters auf Rebhühner oder auch auf die Kutsche und den Barsoirüden des Nachbarn Du Parque geschossen hatte, war nichts anderes als pures Platin, Weißgold, das kostbarste der Edelmetalle. Und zweitens: in allen benachbarten Schluchten, auf Sewerny und Sosnowka, wo man nur hinspuckt, überall reiche Platinvorkommen. Von allen Nachbarbergen rinnen schäumende Flüsschen in den Kessel von Kytlym, und jedes trägt Platin mit sich, um es nachlässig, unter einer dünnen Moosschicht, unter Steinen oder einfach auf dem Grunde eines klaren Baches zu verstecken und zu vergessen. Viel Geld haben Engländer und Franzosen Worobjow für sein kahles Gestein gegeben. Wie es heißt, fünftausend Rubel in bar, eine Wohnung mit Heizung, Beleuchtung und trockenem Abort, dazu noch lebenslängliche Versorgung in Form eines Postens „zur besonderen Verwendung" bei der Gesellschaft. Dann erschütterte Kytlym, die durch himmelstürmende Berge von der Welt abgetrennte Wald- und Sumpfwildnis von Kytlym, die Welt durch den Ruhm seiner Platinvorkommen, durch die Legende von den über Dutzende Werst verstreuten Reichtümern, von den mit Millionen spielenden Flüsschen, von den Sümpfen, auf denen Barbaren Wildenten mit Kugeln aus purem Gold schießen. Keine anderen als Urquharts allmächtige Hände machten sich an die Schaffung des Platinreiches am Ural. Auch russisches Kapital trat in die Gesellschaft ein, aber nur in unbedeutender Menge. Ihm wurde gnädig gestattet, sich dem Triumphzug der Aktionäre anzuschließen. Fünf Bagger überquerten den Kytlym-Pass. Jeder von ihnen hatte über dreihunderttausend Goldrubel gekostet. Sie wurden auf Bärenpfaden befördert, und die eisernen Fuhrwerke sanken auf Schritt und Tritt unter dem unvorstellbaren Gewicht der Motoren, Räder, Gehäuse und Kessel im Moor ein.
Die Maschinen unternahmen ihre Reise mit einem Prunk, der früher nur die Hochzeitszüge der kleinen Anhalt-Zerbster Prinzessinnen auszeichnete, die von irgendwoher, aus Riga oder Reval, als angehende Zarinnen, zu uns fuhren, in goldenen Karossen, die Knie in Zobelpelz gehüllt, den sie in ihrer Heimat gar nicht zu Gesicht bekommen hatten, und mit den letzten Preisen für Schnupftabak, Fleisch und Gemüse in ihrem Jungfern-Tagebuch. Aber erst der Zug der Maschinen! Vor jedes Fuhrwerk waren zweihundert Pferde gespannt, und abends erinnerte das von den Fuhrleuten aufgeschlagene Lager an den Rastplatz des Moguls auf Reisen. Noch ein Jahr danach brannte im Umkreis von Hunderten Werst die Taiga, in Brand gesteckt von den Wachposten, die brennende Äste in die Dunkelheit warfen, um die sie übermannende Furcht und die Finsternis der kurzen Wolfsnächte zu verscheuchen. In den Jahren 1904 und 1905 begann die Gesellschaft sagenhafte Dividenden aus dem Boden zu saugen. Beinahe schon im ersten Jahr machten sich alle Maschinen und die ganzen Ausgaben für ihre Beförderung nach Russland bezahlt. Zu einer Zeit, da das Land seine erste Revolution erlebte - in dem Jahr unerhörten finanziellen Zusammenbruchs und völliger Zerrüttung der gesamten Wirtschaft - raste einmal in der Woche ein tolles Dreigespann durch die Taiga und brachte aus Kytlym die siebentägige Förderung fort - rund eine Million Rubel. Ob es eben dieses leichtverdiente Geld war, das Europa später unserer an seiner Tür bettelnden Zarenregierung lieh? Den Höhepunkt erreichte der Raubbau in den Jahren unmittelbar vor dem Krieg! 1912, 1913 und 1914. Buchstäblich mit den Kytlymer Millionen und Milliarden wurde der erste Weltkrieg vorbereitet, den noch einmal zu bezahlen wir heute aufgefordert werden. Die Beute erreichte die phantastische Zahl von zwanzig bis einundzwanzig Pud jährlich. Russland eroberte den Weltmarkt, indem es 90 Prozent des gesamten auf der Erde geförderten Platins lieferte. Der Platinregen wurde immer dichter, immer schwerer, immer reichlicher. Erfahrene Geologen erkundeten die benachbarten Berge. Und obwohl die Ergebnisse dieser Exkursionen streng geheim gehalten wurden, verbreitete sich sehr schnell das Gerücht, dass alles rings um Kytlym - Lehmböden und Wälder, Sümpfe und Steine - pures Platin sei. Ein Rausch erfasste alles ringsum. Rasch nacheinander entdeckte man Tylai, Kosjwa, Sosnowka, Obodranny Loshok. Rings um die systematisch arbeitenden Bagger ließ sich eine Armee von Platingräbern nieder, die barbarisch im Boden stocherte. Die Hälfte von ihnen richtete sich völlig zugrunde, fiel den Aufkäufern und der Polizei in die Klauen, soff, ging mit Messern aufeinander los, fand und versteckte - da sie keine Mittel hatte, um die Arbeiten sorgfältiger zu führen - ihre Funde, schüttete einsame, Gräbern gleichende Schurfstellen mit Moos und Laub zu. Doch nicht jeder, der die Luft des Platinfiebers geatmet hatte, fiel ihm zum Opfer. Mochte der Kessel von Kytlym noch so sehr brodeln - mitten in seinem Herzen saßen Menschen, die die Schurfarbeit wie jede andere verrichteten, nur um für den Lohn Brot und einige Bücher zu kaufen: Auf den ersten Baggern, von der Gesellschaft in Betrieb genommen, arbeiteten, bauten und lernten künftige Kytlymer Partisanen, seine Kommissare und Wirtschaftler. Und schließlich der Geologe Ditkowski - ein Bolschewik, den die Gesellschaft ruhig in ihre Pläne und Funde einweihte, ohne freilich zu ahnen, dass dieser Sonderling, von den Ideen der sozialen Gleichheit hingerissen - im übrigen ein kenntnisreicher Spezialist -, keine drei Jahre später der Konzession des Zaren einen harten Schlag versetzen wird.
Die Ausländer können das Jahr 1917 bis heute nicht vergessen. Welche Profite! Welche Perspektiven! Wohlwollende Regierung, die Arbeitskräfte so billig, wie das dem kolonialen Russland eigen war, die Taiga und 500 Arbeiter, von der Welt abgeschnitten, dem Unternehmer ganz und gar ausgeliefert. Und plötzlich - war all dem ein Ende. Was hatte Koltschak in Kytlym zu suchen? Was veranlasste ihn, die Sümpfe mit Leichen zu pflastern, den beizenden Qualm der Waldbrände zu atmen, von allen Seiten die Stiche der Partisanen hinzunehmen, mit den Geschützen und dem Train im Moor einzusinken? Über den Feldtelegraf, über die stählerne Schnur, die sich von Tanne zu Tanne zog, kamen aus Paris und London lange und gebieterische Befehle.
„Teufel noch mal, Admiral, wozu haben wir Sie eigentlich engagiert?"
Der Telegraf bekam ein Schluckauf von den ausländischen Worten, von diesem wütenden „urgent, urgent, urgent", mit dem Europa zum silbrig schimmernden Platin drängte, das friedlich in der Erde, unter der zerfetzten Decke aus Moos, Fichtennadeln und Schnee schlummerte. Vom Auslande her angespornt, näherten sich die Weißen im Dezember 1918 tatsächlich Kytlym. Den Arbeitern, die es gewagt hatten, dem Haufen hergelaufener Ausländer ein Jahr lang ihre märchenhaften Profite zu entziehen, wurde eine harte Lehre erteilt. Erschossen wurden: Orechow, Sergejew, Ikanin, Schumajew, Naimuschin. Und später: Gribenkin, Jaroslawzew, Ismogilow - Vater und Sohn -, der junge Zuschläger Kassatkin, Senkow, der Bäcker Korobkow, Chomuty, Beloglasy, Dyldin, Nowoselow, Alexander Starzew, der Schlosser Krjukow, der Platingräber Polosnikow, Pokryschkin, Rogatschew, Mansurow, Wanjuschka Sergejew und Kolodkin. Angesichts dieser Massaker wollte das verbitterte Platingräbervolk fort. Gebirgsdörfer machten sich mit Kind und Vieh auf den Weg. Ganz Sosnowka brach auf, ungeachtet des Winters und der starken Schneefälle. Aber die riesigen Trains waren nicht fortzubringen, es gab ganze fünf Pferde - die Kytlymer spannten selbst ein. Die Familien machten kehrt, die Männer gingen weiter. Eben da organisierte Ditkowski seine Abteilung zur besonderen Verwendung. Zwar waren seine Burschen fast wehrlos. Für die ganze Abteilung zehn Gewehre, die anderen ohne Waffen, mit bloßen Fäusten. Stiegen ins Tal hinunter, aber zu spät, der Weg war an der Solikamsker Landstraße verlegt. Der Ausgang aus dem Kessel war versperrt. Nun musste man im Winter querfeldein über zwei Meter tiefen Schnee stampfen. Bei den schlechten Wegeverhältnissen fiel die Abteilung auseinander, verlor bald die Hälfte des Bestandes. An der Kosjma, nach der Berührung mit Dutows erstem Spähtrupp, ließ man den Train stehen. Die Abteilung teilte sich, Reiter und Fußvolk auf der einen Route, siebzehn Mann mit Ditkowski auf der anderen. Darüber berichtete Genosse Jermakow, ein stattlicher Mensch mit rundem, festem Kopf, wie mit hellblonden Spänen bestreut: „Wie sollen wir wieder zusammenkommen? Hören in etwa hundert Sashen Entfernung Kugeln pfeifen. Gehen ohne Zögern weiter. Begegnen niemandem, werden von niemandem verfolgt. Schnee. Wälder. Essen ein Pferd auf. Der Schnee wird tiefer. Da lassen wir die Pferde stehen, die nicht mehr vorankommen. Bei den Pferden bleiben die Alten... Statt der Pferdchen fällen wir einige Bäumchen. Schnitzen uns Skier zurecht, wenn auch roh, so doch zu gebrauchen. Dreizehn Mann stark ziehen wir weiter. Weiß selber nicht wie, aber wir kommen voran. Am sechsten Tag höre ich Schüsse. Alle sind in einem Zustand, dass sie nichts mehr recht begreifen. Ditkowski aber: ,Sag, was du willst - ich höre Maschinengewehrfeuer!' Nun, gut. Schlagen diese Richtung ein...
Plötzlich werden wir beschossen. Die Burschen weinen bald vor Verzweiflung, greifen aber nach ihren schweren Skiern. Da hören wir Räder knarren. Ein Train ist unterwegs. Wohin? Nach Kosjwa? Zu wem? Zur Armee. Zu welcher? Zur Roten. Da gibt er uns zwei Laibe Brot für dreizehn Mann, aber mehr nicht. Drei Schritt vor ihrem Kommandeur meldet Silin, der Zugführer: ,So und so. Die und die Abteilung auf dem Marsch.' Haben uns aufgenommen, wie es sich gehört. MGs aufgestellt, eine Sicherungskette. Sehen, da heizt ein Weib den Ofen an, um Plätzchen zu backen. Während Ditkowski sein Dokument vorweist, lassen wir uns in den Schnee fallen, ein ordentliches Feuerchen wagen wir nicht anzulegen, beugen uns vor, wärmen uns am Rauch, alle ganz schwarz und schaurig anzusehen. Da kommt der Abteilungskommandeur heraus und schreit: ,Alle mal herkommen!' Wir heben die Bewusstlosen auf. Der Arzt flößt ihnen Brühe ein. Rohes Fleisch sind sie gewesen - keine Soldaten mehr!"
Ein Jahr später nahm die Republik zum zweiten und letzten Mal die Platinfelder von Kytlym ein.

Der Prozess der Platinförderung ist widerlich, absurd und empörend. Man stelle sich das vor, durch die Taiga, über unpassierbare Sümpfe und Pässe, werden in die Wildnis herrliche Maschinen geschleppt. Sie werden in einem Gebirgskessel eingesetzt, wo Dutzende Werst Sumpfmoder mit Millionen Pud Gestein angerührt sind. In der Mitte wird ein Erdloch mit schmutzig-gelbem Wasser ausgehoben, auf dieses wird ein Ponton hinabgelassen. Auf diesem Floß kaut ein zwei Stockwerk hoher elektrischer Eimerbagger knirschend und kreischend 90 bis 140 Kubikmeter Stein, Schmutz, Moos, Sand und Wasser durch, um zu guter Letzt auf dem feuchten Filz der Schleuse ein kaum sichtbares Häuflein Metall zurückzulassen. Der Bagger kratzt und schluckt Tag und Nacht, verschlingt Berge von Erde, Steinbrocken, Bäume und Haine; das ganze Tal wird zu einem Friedhof um einiger Körner willen, die die Menschheit aus irgendeinem Grunde für kostbar zu halten beschlossen hat. Vergisst man einen Augenblick lang diesen relativen Wert - und es bietet sich einem das Bild wahnsinniger Vergeudung dar.
In einem Lande, wo die Produktion Mangel an Elektrizität hat, sind fast dreitausend Kilowatt in den Sumpf, in ein Loch voller Lehm und Dreck geworfen, das im Winter unbewohnt und im Sommer mit Mückenwolken und -schwärmen überzogen ist, gesundheitsschädlich, kalt, vom ewigen Schnee umgeben. Ein ganzer Kontinent von Ackerland wird mit hausgemachten Pflügen gekratzt, während fünf Giganten, in trüben Löchern wie Schwachsinnige in eigenen Exkrementen schwimmend, den Moder mit der Beharrlichkeit eines Besessenen umgraben, die eigenen Ufer fressen und sie hinter sich mit gleichmäßigen Reihen abgenagter, verdauter und ausgebrochener Steine belegen. Dabei treiben die Bagger ein sonderbares Spiel. Von Sumpfmassiven eingekreist, Hunderte und Tausende Werst weit von Festland umgeben, spielen sie in ihren trüben Pfützen Schifffahrt. Schreien mit den Stimmen regelrechter Schiffe, werfen Anker aus von ihrem Deck, das von Ufer zu Ufer wetzt, und lichten sie wieder, blicken mit ihren hochmütigen Kapitänsbrücken aufs Land hinaus. Die breiten, grauen Eimer steigen ununterbrochen zum Wasser hinunter, den nassen, eisernen Kleidersaum über den Kopf gehoben. Dicht über dem Wasser gehen sie in die Hocke, schießen Kobolz und tauchen mit leichtem Plätschern unter. Unermüdliche, zähe Kröten, die, das Maul mit Dreck und Steinen voll gestopft, an die Wasseroberfläche kommen. Eigentlich besteht der ganze Bagger aus eben solchen Eimern und einem riesigen metallischen Darm, den sie mit Erde stopfen. Wasserströme peitschen jedem neuen Eimer wütend entgegen. Sie ergießen sich über den Zylinder, der seine durchlöcherten Rundungen geruhsam der Dusche aussetzt. Der Sand schlägt wie durch ein Sieb in eine besondere Rinne durch und setzt sich unter Wasser auf Filzpolstern ab.
Die Speiseröhre des Baggers stößt die Steine gemächlich zum Ausgang bis ein Gummiriemen, lang und schmal wie ein Schweif, sie ans Ufer trägt. Das ist die gleiche alte Goldwäscherpfanne, lediglich in gigantischen Ausmaßen. Erdberge werden im Bauch des Baggers verdaut, ein ganzer Fluss wäscht aus ihnen einige Pfund Platin aus. Die Kammer, in der das endgültige Waschen erfolgt, heißt Schleuse und ist von den übrigen Arbeiten durch Gitter getrennt. Die Tür ist verschlossen und versiegelt. Das Siegel wird am Ende jeder Schicht entfernt. Der Kontrolleur, ein Kommunist, setzt sich auf den Querbalken unmittelbar über dem Waschtisch und lässt - die Hand am Revolver - seine Beine in Gummistiefeln hinunterbaumeln. Ein zweiter Kontrolleur steht an der Tür. Der sonst fast menschenleere Bagger füllt sich mit Arbeitern. Ein Artel, wie Taucher in Segeltuch und Leder eingenäht, betritt diesen Löwenkäfig, in dem nur unsichtbare, im Schlamm verlorene Platinkörner eingesperrt sind. Aus dem nassen Wasserbett werden die verschmutzten Polster herausgehoben und umgedreht ins Hauptbecken getaucht. Das Wasser schlägt in Fontänen und spuckt Schaum, während seine rauen Decken entwendet und gewendet, die vom Fluss zurückgelassenen Körner herausgeklopft werden. Die Kräne sind geschlossen, die Rinnen gesperrt. Es würde Stille eintreten, würde der Bagger nicht mit dem Getöse eines Erdbebens weiterarbeiten, würden die Eimer nicht von unten nach oben und oben nach unten kriechen, kreischend und schmatzend wie eiserne Schweine.
Das Platingräberfieber schüttelt die ganze Abteilung. Das Artel ist, ohne es selbst zu merken, trunken von der Nähe des Wassers, das das Weißgold berührt hat. Trunken vom Anblick der Tische, von denen das Wasser gleitet, leichte Steine forttragend und schweren, überschweren Schmutz hinterlassend. Volltrunken, heimlich, ohne Wein - berauscht ist das Artel, wie ganz Kytlym berauscht ist. Werden hier doch alle unheilbar vom Goldgräberfieber gepackt. Die Kommunisten suchen Schutz hinter Büchern, lesen Lenin bis spät in die Nacht, nach dem langen Arbeitstag, wenn die elektrischen Alleen Kytlyms in der Uraler nächtlichen Wildnis glänzen; Kommunisten schlucken Lenin wie Chinin gegen Fieber. Alle sind krank. Ein Bauer, der des hohen Lohnes wegen nach Kytlym kam, um sich Geld für ein Pferd, ein neues Badehaus und einen Pflug zu verdienen, und im nächsten Jahr zurückkehrte, ohne selbst zu wissen warum, von der Platinsucht hingezogen. Er ist ebenso süchtig wie die Arbeiter; ein Kommunist, der an der staatlichen Universität war, glänzend studierte, aber, da ihm die Mittel für den Unterhalt seiner Familie fehlten, zurückfiel in die Kaserne, hoffnungslos - auch er ist vom Platin gepackt und für immer gezeichnet. Und der sonderbare Arbeiter, der möglicherweise gar keiner ist; oder der wegen Vergehen entlassene Tschekist oder der verbannte Kriminelle, der sich mit heißem Ziegeltee, gelb wie Harn, grimmig die Kehle spült und an der Sowjetmacht mit der verhaltenen Verbitterung eines Hinausgesäuberten herumnörgelt - auch er gehört zu Kytlym. Und die Hunderte Arbeiter, die auf den stinkenden und verwanzten Pritschen ihrer Kasernen - nachdem sie die durchnässten, glitschigen Stiefel auf den gemeinsamen Herd gestellt haben -schlummern, vom Schlaf betäubt, auf ihren Brettern ausgestreckt, den Kopf mit dem Halbpelz zugedeckt und die vom Baggerwasser durchgefrorenen Füße entblößt - auch sie atmen alle Platin, für das Platin, nur des Platins willen. Wer ist denn frei davon? Außer dem kleinen Häuflein Arbeiter, der Kommunarden, die sich retten, indem sie die großen Weltereignisse im trüben Spiegel der allwöchentlichen Referate verfolgen; außer diesen Menschen, die von ihren Sümpfen, von ihren Baggern zehn Werst weit zur Versammlung der Zelle laufen, um dort den Bericht der Gebietskonferenz zu lesen, dieses einzige, sicherheitshalber am Tisch festgemachte Exemplar, außer diesen wenigen Menschen, die die Partei dem Platin abgerungen hat - wer ist denn noch frei davon?
Vielleicht nur Gurion Malzew, der älteste Spieler und Abenteurer Kytlyms. In der Schleuse bewahrt er als einziger Ruhe. Er ist nicht zu verkennen: Abstehende Ohren und auf dem feuchten Tisch die hellen, empfindsamen Hände eines Spielers, die vorsichtig und leidenschaftlich im Sande wühlen. Er allein sieht das unsichtbare Platin in dem Haufen Schmutz. Seine Scharre spielt mit ungemeiner Kühnheit. Nachdem er die letzten Steinchen ausgekämmt und in die Strömung geworfen hat, verstreicht er plötzlich den ganzen Rest, alles, was vom endlosen Waschen übrig geblieben ist, gleichmütig über den Tisch, lässt es vom Wasser auflecken und forttragen. Dann säubert er mit einer Bürste, einer einfachen Küchenbürste, die Ränder seiner Rinne, und seine Hände jagen vorsichtig, wie weiße Katzen, die Silbermaus zurück, unter den glatten, sanften, gleitenden Wasserstrom. Das Platin ist immer noch nicht zu sehen, aber er behandelt es noch behutsamer, spielt mit dem Platin im Wasser wie mit einer Liebhaberin, kitzelt das Platin wie ein Kind, jagt und fängt es wie ein Wild. Diese erstaunlichen Finger könnte man stundenlang betrachten - und das ganze Artel betrachtet sie wie verzaubert -, diese Finger mit einem verfeinerten Tastgefühl, wie bei zehn Blinden, die sich ohne Blindenführer behelfen, wie bei zehn schneeweißen Hetzhunden, die der Spur eines silbernen Hirschen folgen. Schließlich hält er es, das Platin, zaust und streut es, wie aufgelöstes Haar. Im Wasser sammelt sich ein bläulich-weißes Häuflein mit matten Funken. Es liegt ruhig, und keine Strömung wird es forttragen. Es ist schwer wie Eisen, noch schwerer. Die Menschen zittern, als der Kontrolleur es mit einer Schippe aufnimmt, über dem Feuer trocknet und dabei schüttelt wie der Krämer das Mehl. Gurion ist das aber völlig gleichgültig. Er hat das selbstlose Gesicht eines Spielers ohne Glück, eines Spielers, der nicht mehr spielt. Sein ganzes Leben lang hat Malzew Platin gesucht und viel davon gefunden. Mit Kleinigkeiten gab er sich nicht ab, eine große Beute packte er zusammen mit der Staatskasse und ließ bei dieser die Hälfte zwischen den Zähnen, die andere Hälfte verlor er beim nächsten, missglückten Einsatz. Malzew rannte dem Feuer davon und entkam. Und das ist doch gar nicht so leicht. Alljährlich brennt die Taiga um Kytlym - niemand weiß weshalb. Der Brand entfernt sich und kommt wieder. Frisst einhundert Werst kahl und macht auf einmal skrupellos kehrt, um eine Mastenfichte zu fällen, um die grünen Finger einer Tanne zu brechen, die sie wie zum Schwur erhoben hat, obwohl ihre Füße schon in Flammen stehen. Der Waldbrand hat seine Launen wie ein wildes Tier. Was er heute nicht anrührt, reißt er morgen. Auf verbranntem Boden ausgestreckt, die Arme unter dem Kopf verschränkt, schmaucht er ruhig irgendeinen wie eine Pfeife verbogenen Baumstamm zu Ende und beaufsichtigt seine Kinder, die flammenden Eichkätzchen, die über die benachbarten Wipfel hüpfen. Er lässt einen Fußgänger und einen Reiter auf dem scheuen Pferd vorbei, er lässt sie laufen - und der Rauch seiner brennenden Pfeife schwebt friedlich über der versengten Taiga. Doch man darf dem Brand nicht trauen. Er ist der Tod. Wegen nichts und wieder nichts wird er rasend, sein rotes, ungeheuerlich-böses Gesicht schlägt plötzlich aus dem Stamm einer gestürzten Birke, dem weißen Stamm, in dem er einen ganzen Tag lang gewühlt hat, um den Regen abzuwarten. Wie ein Matrose mit flammendroten Händen stürmt er den Stamm hinauf, um im Wipfel seine lange Rauchflagge zu entfalten und im Wind flattern zu lassen. Ringsum - ein Schlachtfeld. Tausende von Bäumen mit verkohlter Wurzel, mit abgerindetem Stamm stürzen quer über die Taigapfade. Es gibt Wälder wie kaum verheilte Wunden, mit einer zarten grünen Haut überzogen. Statt der alten Fichten wächst junger Laubwald. Von Zeit zu Zeit stoßen die toten Bäume ein knarrendes Stöhnen aus - sie werden stürzen müssen. Zum Andenken an den erlebten Brand streut der Wald kleine schwarzweiße Schmetterlinge, schwarz-weiß wie Sondermarken zum Andenken an eine Katastrophe. Sie haben Flügel weißer als Bast und schwärzer als Kohle. Solcher wieder belebten Wälder bemächtigt sich das Feuer mit besonderer Freude. Es kehrt zurück wie eine Horde von Eroberern in die gerade erst eingenommene, niedergebrannte und verlassene Stadt, um jene, die sich gerettet haben, zu fangen, um die Flüchtlinge, die unvorsichtigerweise in die Ruinen zurückgekehrt sind, zu greifen. Er sucht seine alten Standplätze auf, macht seine mit wilden Rosensträuchern überwucherten Wachfeuer, die Kampfstätten ausfindig, wo die gigantischen Gerippe der Bäume noch nicht verfault sind. Da entkommt kein Rebhuhn, kein Hase rettet sich, kein Pferd trägt einen davon.
Gurion sah die Brände und entging ihnen. Er folgte der Platinspur und wurde selbst verfolgt. Doch im Jahre 1917, in der Revolution, packte ihn die große Sehnsucht nach Wandlungen. Der Platingräber ließ das Graben sein und ging davon, um etwas Besseres zu suchen. Kämpfte als Soldat, kam nach Sibirien, fand nichts, wurde taub, kehrte zurück. Möglicherweise suchte der alte Jäger die Erneuerung des Lebens wie einen Zufall, wie eine neue, reiche Fundstätte. Grub an einer Stelle im menschlichen Gestein, stieß auf Schmutz, auf Granit, auf Wasser - und gab die Suche auf. Allenfalls ist Gurion nicht mehr zur Platinsuche zurückgekehrt. Die Revolution hat das Platinfieber gedämpft. Der Alte kam und nahm seinen Platz auf einem sowjetischer Bagger ein. Sein Gesicht eines Spielers beugt sich in vollkommener Ruhe über das schäumende, feuchte, aufgewühlte Bett des Platins. Er greift es mit zitterfreien Händen, legt es bloß und wäscht es wie ein Neugeborenes. Rund 600 Arbeiter leben in Kytlym, in seinen Kasernen, die so schmutzig, morsch und eng sind, dass man darüber gar nicht schreiben möchte. 600 Menschen, von der Welt abgeschnitten, von einem miserablen Konsumladen versorgt, wo es weder Grütze noch Rosinen gibt, doch dafür Puder und Haarfarbe. 600 Menschen in den Bergen, im Sumpf auf den ohrenbetäubenden Baggern. 600 Menschen, die stets durchnässt und häufig krank sind, denn Kytlyms Klima ist hart und veränderlich. Was sagen sie da? Die Bewohner der Kaserne murren dumpf und - was soll man es verheimlichen - sie murren noch zuwenig, weil sie völlig im Recht sind. Es geht nicht, man darf Arbeiter unmöglich in den alten, von der ausländischen Gesellschaft hinterlassenen Baracken wohnen lassen. Das heißt Groschen sparen und eine konterrevolutionäre Agitation betreiben, wie sie sich die Weißgardisten nicht einmal träumen lassen. Zwei Schritte von der Kaserne entfernt lebt der Platindieb, der Platingräber, von dem man weiß, dass er einige Pfund Platin gestohlen hat - er lebt sauber und hell, in einem gemauerten Haus, trinkt mit seiner Familie tagtäglich zwei fette Kühe leer, braut Bier und spielt eine zweireihige Ziehharmonika. Und daneben verkommt der Kommunist, der Partisan Ditkowski, der in den Jahren 1920, 1921 und 1922 auf dem Gold sitzend fast verhungert wäre, der sich auf dem Bagger Gelenkrheumatismus oder Tuberkulose zugezogen hat, widerspruchslos in einer unvorstellbaren Kaserne und kann sich nicht das Geld für ein Haus zusammenverdienen. Ringsum, Hunderte von Werst im Umkreis brennen Wälder im Werte von Millionen Rubeln, ohne auf irgendwelche Pläne der Forstverwaltung Rücksicht zu nehmen, der Arbeiter aber kann es nicht durchsetzen, dass ihm Bauholz kostenlos oder sehr billig zur Verfügung gestellt wird.
Das ist in der Tat etwas Absurdes. Da sitzen die Menschen in der Taiga, wo die Bäume zu Tausenden an Altersschwäche sterben, wo es niemanden gibt, um sie zu fällen, um sie vom Boden aufzuheben (die so genannte Säuberung der Wälder, die wir vorläufig als Ideal anstreben, besteht darin, den gestürzten Baum zu entasten, damit er dem Boden anliegt und so schneller verfault), der Arbeiter aber ist in eine Wanzenritze gezwängt, weil wir jetzt plötzlich beschlossen haben, die zerrüttete Forstwirtschaft zu retten. Und was geschieht, wenn irgendwo neben Kytlym, sagen wir, ein Konzessionsbetrieb Urquharts entsteht, Stiefel an die Arbeiter verteilt, innerhalb von 24 Stunden helles Bauholz fällt, sonnige Häuser mit großen Fenstern errichtet, Berufskleidung und Konserven heranschafft?... Die Menschen werden davonrennen, oder sie werden sich vor Neid giften... Ein alter Kytlym-Arbeiter, auch einer von den Partisanengruppen, sprach mit mir darüber mit erschütterndem Ernst wie über eine heraufziehende konterrevolutionäre Gefahr. Man hält es manchmal für eine Kleinigkeit: Da sind doch im Ural so genannte Bergbaueisenbahnen in Betrieb, Spielzeugbahnen, ausgeleiert, langsam, denen es nicht darauf ankommt, wegen eines Kuhfladens oder einer Sonnenblumenkernschale zu entgleisen. Sie stürzen alle Augenblicke den Bahndamm hinunter. Es gibt keinen ordentlichen Uraler, der nicht eine Beule oder Schramme an der Stirn hätte. Doch nicht darum geht es, sondern darum, dass diese berühmten Bahnen der Republik alljährlich mehrere Millionen Goldrubel kosten. Es gibt ein Dekret, irgendwer hat es irgendwo erlassen: Den Lokomotiven sind auf die Schornsteine unbedingt besondere Maulkörbe gegen den Funkenflug aufzusetzen. Keiner besitzt sie, keiner hat sie jemals aufgesetzt, keiner kann sie kaufen, da die „entsprechen den Summen" fehlen. Der bürokratische Ring schließt sich mit dem Gefühl tiefer Befriedigung, und die alten Lokomotiven setzen ihre ungeheuerliche Brandstiftungskampagne fort. Der Arbeiter aber zahlt für einen Balken 18 Rubel, bei einem Monatslohn von, sagen wir, 11 Rubel 50 (als Lehrling), er kann also freudig arbeiten und im Monat minus 6 Rubel 50 Kopeken zurücklegen.
Bei uns arbeitet man stets in Sprüngen, unter krampfhafter Anstrengung in irgendeiner Richtung. Erstaunliche Ergebnisse sind in der Produktion erreicht worden. Mit eigenen Kräften wurden nicht nur die alten Bagger in Gang gebracht, sondern noch zwei neue in Betrieb genommen. Die Leistung der Kraftanlage wurde von 1400 Kilowatt auf 2900 Kilowatt erhöht; bei einem kürzeren Arbeitstag blieb die Produktion auf dem Höchststand, wie er von der Gesellschaft in den Jahren 1913-1914 festgesetzt worden war. Und was noch wichtiger ist, Kytlym wurde aus einem Tummelplatz für Platingräber zu einer Produktionsstätte. Das Platin ist gebändigt worden, anstelle des abenteuerlichen Raubzuges ist das klare, nüchterne, intensive Wirtschaften zur Triebkraft geworden. Die Förderung hat den penetranten Beigeschmack der Tollheit verloren. Man fördert in der Atmosphäre ruhigen Besitzes und mit sauberen Händen. Man stiehlt nicht - das ist alles. 60 Menschen nehmen die Not gelassen hin, auch wenn sie auf diesem sowjetischen, allen und niemandem gehörenden Platin sitzen. Die Platinsucht, der sündige, sinnesverwirrende Geruch, das verführerische weiße Gleißen des Platins sind abgetötet worden vor fünf Jahren, als die Arbeiter von Kytlym, die sich in Parteiprogrammen noch nicht auskannten, für die Liste 6 stimmten. Schon damals, insgeheim von dem Gedanken an die Nationalisierung besessen, ließen sie nicht zu, dass Ditkowski von der Leitung abgelehnt wurde. „Damals hieß es: Es wird über die Bolschewiki abgestimmt. Da sahen wir also, es gibt einen Knall, es geht auf die Entscheidung zu. Die Aktionäre setzten ihn unter Druck, wollten ihn davonjagen. Das Volk nahm ihn in Schulz, wählte ihn zum Vorsitzenden des Sowjets. Unterschriften wurden gesammelt, wir brauchten ihn, um die Bagger in unsere Hände zu nehmen. Alle waren für ihn." Seitdem ist Kytlym gesund, darauf achtet Schljachiin, der Sekretär der Parteizelle, der Partisan Solowjow, der Chef der Miliz, der ehemalige Matrose und politische Häftling, der außerordentlich standhafte und lautere Mensch, Genosse Gawrilow, der stellvertretende Direktor; aber alles, was zum Alltagsleben des Arbeiters gehört, wird völlig vernachlässigt. Hier vertragen sich miteinander die strengste Disziplin, Verantwortungsgefühl und phantastische Schlamperei, alle Grenzen überschreitende Missachtung dessen, dass die Menschen bei geringstem Aufwand eine neue Lebensweise erhalten können und müssen. Das soll Kytlym nicht zum Vorwurf gemacht werden -es ist in dieser Hinsicht um nichts schlechter als eine solche Industriemetropole des Urals wie das herrliche Nadeshdinski-Werk...
Rings um Kytlym haben sich etwa 200 Platingräber niedergelassen und arbeiten. Das ist unsere Platinfelder-NÖP. Erstens fehlt das Geld für neue Bagger, obwohl selbst die Straße, die Kytlym mit dem Kraftwerk verbindet, auf reinstem Platin gebaut ist. Das ist ein ganzer Kontinent, ein ganzes Amerika im Bärenschlaf, das da im Sumpf versenkt ist. In der schlaflosen Uralnacht stehen die Wälder und Gewässer, die Gräser und Sümpfe in stetigem, weißlichem Schein, sie leuchten vor Platin, schimmern in silbrigem Glanz unermesslicher Reichtümer, die im breiigen Boden versenkt sind, aber wir haben vorläufig kein Geld, um für jeden Rubel, in diesen Sumpf geworfen, hundert oder tausend Rubel herauszuholen. Es sind keine dreihunderttausend Rubel frei, um sie diesem Boden gegen ungeheuerliche Wucherzinsen, gegen die Bürgschaft der vier Bergflüsse, der vier Berge reinen Dunits und des gesamten mit Platin gefüllten Kytlymkessels vorzuschießen. Auf die kleinen Platinfelder, hoch oben in den Bergen, lohnt es sich überhaupt nicht, Bagger hinaufzuschaffen. Die Vorkommen sind oberflächlich, die Mechanisierung der Förderung würde sich möglicherweise nicht lohnen. Überall, wo wir die Bagger jetzt nicht aufstellen können oder wollen, werden die Arbeiten von Gräberarteis durchgeführt. Die Sümpfe erstrecken sich bis zu den Gipfeln der höchsten Bergzüge. Sümpfe gibt es auf Kosjwa, Konshak und Sosnowka. Die alten Berge leiden an einer Schädelerweichung. Ihr Scheitel ist fett, feucht, mit Steinen vermischt. Die Pferde klettern wie Hunde von Stein zu Stein, den Kopf tief gesenkt und nach einem Halt für die Hufe schnuppernd. Erst gegen Ende Juni, wenn schon die Ralle in den Wäldern schnarrt und die Rebhühner sich zum Brüten auf die Eier setzen, beginnt die Taiga Fußgänger durchzulassen. Dann wirft Genosse Solowjow die Flinte über die Schulter, greift nach der silbernen Lockpfeife und beginnt die Platingräbernester abzureiten. Die von den Platinfeldern kommenden Mädchen, die alles wissen und den Mund halten, erkennen ihn bei der Begegnung im Sumpfgelände und grüßen mit lustigen Augen. Der alte Kontrolleur auf Kosjwa, der frühere Verwalter von Abamelek-Lasarew, ein gerissener, nicht ein einziges Mal ertappter Dieb mit salbungsvollem Gesicht, setzt ihm eine Fischsuppe vor. Aber ein Pferd hat der Alte nicht. „Wir reiten gleich zum Platinfeld", sagt Solowjow und gibt seinem sibirischen Pferdchen die Nagaika. „Sie aber gehen zu Fuß hin, es sind doch nicht mehr als drei Werst." Und obwohl die Pferde durchwegs leichten Trab gehen, ist der Alte fünf Minuten nach uns da. An seine safrangelbe Stirn sind nur wenige Tropfen Kirchenlämpchenöl getreten, seine Lippen eines ikonenheiligen lächeln, und der Artelälteste liest von ihnen mit dem Samtblick seiner Zigeuneraugen eine lautlose Abmachung ab.
Solowjow bindet das Pferd mit einem losen Knoten fest, um jederzeit lospreschen zu können, betastet den Revolver und geht zur Waschanlage.
Langsam arbeitet dieses Artel und mit tierischer Beharrlichkeit. Zu faul zum Schürfen. Fördert Platin, wie ein Bär Himbeeren nascht: vor allem auf eine möglichst reiche Fundstelle stoßen, dann sich mitten hineinsetzen und Beute grapschen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Der Älteste ordnet an, dass geschürft wird, dass Proben gewaschen werden, doch die Gräber, lauter junge Bauernburschen, parieren schlecht, wollen nicht eine Kopeke auf das Ungewisse setzen; sie werden das erschöpfte Feld mit der Beharrlichkeit eines Stiers um- und umwühlen, nur um ja nicht das Alte gegen Neues tauschen zu müssen. In dieser Jagd nach unsichtbarer Beute, wo es auf Instinkt, auf Spürsinn, auf Fingerspitzengefühl ankommt, trotten sie störrisch hinter ihrem Ältesten her, schätzen seine geheimen Kenntnisse und hassen ihn auf den Tod wegen seiner diebischen Beweglichkeit, seiner Unruhe, seiner Rastlosigkeit. So hasst ein eingesessener Bauer den Nomaden. Die heutige Förderung liegt über dem Durchschnitt und ist fast doppelt so hoch wie die im gestrigen Bericht angegebene. Aber der Vorarbeiter lügt mit ruhiger Frechheit: Der Abschnitt sei schwach, von zehn Kubikmetern nur soundso viel Unzen Platin. Von zehn oder fünf Kubikmetern? Solowjow wird nicht laut, doch die Burschen, die sich nach dem Mittagessen ermattet rings um das Feuer ausgestreckt haben und die Waage des Kontrolleurs unverwandt beobachten, richten sich plötzlich auf und blicken ihn aus ihren gierigen Augen an.
„Ja, übrigens", sagt Solowjow, „ihr werdet einen neuen Kontrolleur bekommen, einen Kommunisten." Jenseits des erhitzten Flusses streift ein Rotarmistenmantel mit Mappe und Revolver durch die Sträucher. Unter der durchgeschwitzten Mütze sieht man ein braungebranntes Gesicht mit quadratischem Kinn. Das Artel rührt sich nicht - die ganze Bande, die ein Tierleben führt, keine Bedürfnisse und keine Interessen hat, es sei denn solche, die sich auf der Hornschale der Taschenwaage unterbringen lassen, wälzt sich schwerfällig auf die Seite, um einzuschätzen, was die von ihm verkörperte Gefahr bedeutet. Mit Fremden lässt es sich schwer in einem Artel arbeiten. Alte erfahrene Männer graben sich in die Erde ein mit der ganzen Familie, mit Söhnen, mit Schwiegertöchtern, die sich in die schweren Gräberkarren spannen müssen. Ihr Arbeitstag endet mit dem Anbruch der Nacht. Die auszehrende Arbeit ist zäh, mühselig und geduldig, sie wird weder von einem Gespräch noch von einem Lied, noch von einer Rastpause unterbrochen. Die Weiber mit verschlossenen, gierigen Gesichtern, reißen an der Erde wie am trockenen Euter einer kranken Kuh. Die Männer schlagen wütend das Gestein; sie hassen diese verkäufliche Erde, die sich jedem hingibt und lange unfruchtbar bleibt. Ganz alte Platingräber, Alleingänger, gleichen Alchemisten. Von der Sonne ausgedorrt und von den ewigen Wechselfällen des Lebens so leicht wie eine Vogelfeder geworden, sitzen sie mit skeptischer Miene am Rande der Schurfstellen, lassen die Beine ins Wasser hängen und treiben die unerfahrenen Lehrlinge zur schweren Arbeit an: „Grab tiefer, Mitjucha, tiefer, bis unters Wasser!" Und Mitjucha hebt schweißüberströmt, von seiner jungen Habgier angetrieben, Kubikmeter um Kubikmeter aus, wäscht ein Sieb nach dem anderen und stürzt sich, ohne etwas gefunden zu haben, mit neuer Wut über den Sumpf her. Der Alte aber raucht und lächelt über die Eitelkeiten des Lebens. Selbst der größte Glückstreffer würde ihm nichts mehr geben: Haben doch das Leben und er schon lange aufgehört, im Ernst miteinander zu spielen. Das Leben schreibt seine jämmerlichen Schulden nirgends mehr an, aber es zahlt auch die eigenen Verluste nicht aus. Niemand wird von Gott so sehr betrogen wie der Gläubige. Zumeist ist das kein Russe, sondern ein Wotjake. Er rennt dem Platin mit unwandelbarer Treue nach, erträgt geduldig dessen Fußtritte und dessen Untreue, jahrzehntelang nimmt er Misserfolge hin, überzeugt davon, dass sich das Glück einmal seiner erbarmen und das ihm zugefügte Leid mit einem Schlag wiedergutmachen wird. Zu guter Letzt nimmt der alte Platingräber immer neue Niederlagen freudig hin und sammelt sie liebevoll; jede Niederlage erhöht die schwindelerregende Summe, die das Glück bei ihm als Anleihe aufgenommen hat. Jede verlorene Hoffnung gibt Anrecht auf Gewinn. Jede Kränkung rückt die Tage der Wunder näher. So gehen Jahrzehnte erniedrigten, unbelohnt gebliebenen Fleißes dahin. Der Platingräber ist mutterseelenallein. Er jagt immer noch ungebetene Kompagnons fort. Was braucht er fremde Menschen? Er will ihnen nicht einen Deut von dem Schatz an Unglück abgeben, der sich eines Tages in einen Platinfund von unerhörter Größe verwandeln wird. Aber Sumpf bleibt weiterhin Sumpf. Das Wasser wird von Tag zu Tag kälter, und die verschwollenen Augen im mückenzerstochenen Gesicht suchen im Moder vergeblich nach der silbrigen Ernte. An einem heißen Tag, da der Sumpf dampft und, von dichter Vegetation überzogen, mit verliebtem Vogelgeschrei gurgelt, steht der Wotjake schließlich auf dicken, rheumatisch geschwollenen Beinen vor dem Kontrolleur mit dem Ikonengesicht, bittet um einen Platz im Krankenhaus und weint. Er ist davon überzeugt, dass er auf dem Grunde des letzten Erdloches, das er heute aufgeben muss, sein ihm zustehendes Glück verliert. Das Schicksal bleibt dort, im Erdloch, wo die hineingestürzten Frösche, die Paddel der Hinterbeine weit auseinandergespreizt, herumschwimmen und wo die trägen Sumpfblasen platzen. Pitschugin, der berühmte Platingräber von Sosnowka, gleicht einem Pferdedieb. Er hat unaussprechlich listige Zigeuneraugen und einen Bart wie ein Zigeuner. Wenn er an einem Blättchen Zigarettenpapier leckt, um sich eine Zigarette zu drehen, gleicht er einer großen schwarzen Flasche mit dem an die Lippe geklebten weißen Rezept. Fragt man ihn aus, so verhält er sich mit weiser Vorsicht. Wie ein schlaues Tier zieht er sich, kaum dass er die Fragen beschnüffelt hat, vom Fangeisen zurück und tritt dabei unwandelbar in die eigene Spur. Und erst aus sicherer Entfernung blickt er einen an mit freundlichem Schweifwedeln in den Augen und mit gespitzten Wolfsohren. Kaum hat sich die Tür hinter dem Genossen Solowjow geschlossen, da wendet er sich mir zu mit dem lautlosen Lachen eines alten Jagdhundes, mit einem Lächeln, bei dem Gutmütigkeit an den schneeweißen Eckzähnen von den Lefzen trieft.
„Wissen Sie, wie viel Platin ich tatsächlich habe? Zwanzig Pfund. Findet es Solowjow, ist es seins, findet er es nicht -tut's mir sehr leid."
Gewöhnlich baut ein Platingräber, kaum dass er reich geworden ist, sofort ein gemauertes Haus mit einem grünen Dach. Pitschugin ist im alten Hause geblieben, seine Familie isst nach wie vor Kohlsuppe ohne Fleisch, und mit dem Bräutigam der Tochter schachert er - wie im ganzen Kreis bekannt - erbittert um die Mitgift.
„Warum leben sie in solchem Dreck, Pitschugin? Wollen Sie es nicht besser haben?" „Dafür reicht's für meine Söhne und Enkel." Er dachte liebevoll an die Familie, die von Generation zu Generation im kargen Bauernwohlstand leben wird, dieses Platin wie ein erwürgtes Neugeborenes unter der Diele versteckt, mit einem Stück sauren Brots, das für hundert Jahre gesichert ist, mit dem Recht für drei Generationen, das Leben mit der Gemächlichkeit und Ruhe einer satten Wanze zurückzulegen, die über die Wand kriecht. „Wissen Sie, Genosse Solowjow, Pitschugin hat zwanzig Pfund Platin. Er hat es mir soeben gestanden." Der Zigeuner nahm die Mütze ab, suchte mit dem Blick das Leninbild, das statt der Ikone in der Ecke hing, schaute sich mit Augen voller Fröhlichkeit, Sicherheit und Spott um, bekreuzigte sich und sagte:
„Wie kommst du denn bloß darauf, Mütterchen? So wahr mir Gott helfe - ich habe niemals derartiges gesagt. Kann mir denn einer was nachweisen?"

 

SCHWARZE UND WEISSE KOHLE
(Kiselstroi)

Die grünen Wälder sind in der Mitte aufgeschlagen wie ein Buch. Und damit das Buch nicht wieder zuschlägt, ist zwischen zwei Blätter ein blaues Buchzeichen gelegt - der klare fröhliche Uralfluss Kosjwa. Die gebirgigen Schultern ihrer Ufer - alles, was ringsum in den blauen Dunst der Ferne gehüllt wird, ist Kohle und Erz, Erz und Kohle. Dieser natürliche Speicher ist vorläufig noch wenig erforscht, die Industrie ist schwach und verschlingt noch nicht einmal die Hälfte von dem, was ihr die leistungsfähigen Jegorschinsker Gruben, die Schächte von Kisel, Gubacha und Tscheljabinsk hätten liefern können. An eine Erweiterung ist vorläufig nicht zu denken. In zwanzig Jahren werden die Bärenberge von Kisel zu einer großen Industriemetropole werden. Heute ist das noch Taiga, wo man, statt Kohle zu fördern, Himbeeren sammelt und, statt Erz zu gewinnen, schlanke Fichten als Bauholz schlägt. Vorläufig sind im ganzen Bezirk nur die Gruben von Kisel in Betrieb. Freilich ist das ein Riesenbetrieb mit drei Schächten im Zentrum, einem starken Schacht in Polowinka und drei Schächten in Gubacha, etwa zwanzig Werst von Kisel entfernt. Solche Entfernungen rechnen nicht, die Untertagearbeiten werden hier nach Dutzenden Werst bemessen, die Jahresförderung - nach Millionen Pud. Die Kisel-Grube ist ein ganzes unterirdisches Reich mit einer Hauptstadt, dem Leninschacht, der in breiten und abschüssigen Gängen in eine Tiefe von zweihundert Klafter hinabsteigt; mit einem zweiten Förderschacht, wo die Flöze in launischen und schwachen Schichten verlaufen, mit niedriger Decke, mit Strecken, in denen man gebückt, kniend, mit eingezogenem Kopf arbeitet und der Kohle tückische Schläge von unten her versetzt. Kisel hat seine Zentren und seine Randgebiete, das entlegene Polowinka, seine unterirdischen Chausseen, über die Elektroloks mit dem typischen Straßenbahngeläute rasen; seine Feldwege, seine Pfade, die sich in der schwarzen, unterirdischen Taiga verlieren, wo in der ewigen Nacht ein kurzsichtiges Pferd vorwärts stolpert. Es gibt Plätze, umgeben von einer Zweieinhaib-Klafter-Mauer reichsten Brennstoffs, glänzend wie ein Küraß, ebenmäßig wie die Granitverkleidung der Quais rings um den Kohlensee. Kisel hat seine Zeit, seine Ewigkeit, die der über Tage nicht gleicht. Dort gibt es keine Sonne, kein Tag und keine Nacht. Es gibt nur die Arbeit, immer schwarz, immer nächtlich, auseinander gebrochen in drei gleiche Achtstundenstücke, von denen jedes Hunderte von Pud wiegt. Über Tage, wo es Grünes und Weißes, wo es Licht und Sommer gibt, fällt zu Beginn des Tages der Tau. Der unterirdische Tau trocknet niemals. Die Erde schwitzt ununterbrochen, die Strecken werden umso feuchter, je tiefer man hinabsteigt. Die Geländer werden eisig und feucht wie lasterhafte Hände; das Schweigen der Erde wird kontrastiert durch den gleichgültigen und hellen Tropfenfall, dann durch leichtes Flüstern, dann durch lautes Geschwätz munterer Bächlein und schließlich durch das kalte und drohende Prasseln der Gewässer, die sich ununterbrochen in die Tiefe ergießen. Das unterirdische Kisel hat seine Zeitrechnung, seinen Tau, seine Gewässer und, schließlich, sein Feuer. Unter Tage leben Flammen und Wasser in Eintracht, sie helfen sich gegenseitig gegen die Menschen. In den feuchtesten Strecken beginnt die Flamme der ruhigen Bergarbeiterlampen plötzlich zu flattern, aufgeregt fährt sie mit ihrem gelben Zünglein ans Netz: sie beunruhigt der beizende Geruch unterirdischen Brandes. In der ihnen zusetzenden Hitze sind die Menschen doppelt überströmt: mit Wasser und mit Schweiß.
Und die Luft in den Gruben ist auch besonders, mit nichts zu vergleichen. Mag sich der Bergmann verirrt haben, aber wenn er stehen bleibt und in die Dunkelheit hineinlauscht, dann hört er durch das Plätschern, Rascheln und Schweigen das kaum wahrnehmbare Zischen der Luft, die aus unsichtbaren Löchern dem Bewetterungsrohr entweicht. Mag die Laterne erloschen sein, die ausgestreckte Hand wird in der Dunkelheit diese Gurgel, diesen langen, gestreckten roheisernen Hals, durch den die Luft unter die Erde geblasen wird, doch noch finden und ertasten. Er ist allgegenwärtig: Im Einstiegstollen, neben dem steilaufragenden Geländer, das aus der Tiefe zum Licht emporführt, im Sumpf feuchter Orte, in den Blindschächten, wo Wasser und Schweigen herrschen, in der Hitze der Strecken, die von unsichtbarer Glut verbrannt werden; überall, wo der Mensch den Schlägel schwingt oder die Harpune des kreischenden Bohrhammers in die Kohle hineinstößt; überall, wo er erschöpft die Laterne hebt, um über seinem Kopf die noch zu steigenden Stufen zu zählen; überall, wo die Arbeit mit den eisernen Krallen der Maschinen Kohle aus dem Gestein reißt; überall, wo er sich verschnauft, schweißüberströmt, die Brust hochgewölbt, fast gesprengt vom Ansturm des Blutes gegen den knarrenden Rippenkäfig -überall zieht an der Seite des Bergarbeiters sein treuer Verbündeter in den Kampf gegen die schwarzen, glänzenden Mauern - die lebensspendende Luft. Die Maschine, die den Lebensatem unter die Erde presst, lebt hoch, in einem der hellen, aristokratischen Stockwerke, in einem ruhigen, sauberen Raum. Die Menschen haben alles in ihren Kräften stehende getan, damit sie, die Kostbare, ihre Gefangenschaft nicht spüre. Ihr Haus ist lichtüberflutet. Die Decke wölbt sich hoch über ihrem Haupt. Die Kohle ist mit Beton überzogen und darf die Schwelle dieses weißen Gefängnisses nicht übertreten. Eine ganze Werst weit ist die feuchte und lastende Finsternis von der trockenen und gesunden Wärme der lebendig begrabenen Maschine erwärmt. Die von allen Seiten wuchtende Erde spürt in ihrem ewigen Schlaf dumpf das ununterbrochene, mächtige und freudige Beben der Kraft, die von der Einzelzelle des Kompressors ausgeht. Die ewige Nacht weicht taumelnd und mit ihren vor Feuchtigkeit verquollenen Augen blinzelnd vor dem göttlichen Glanz der Elektrizität zurück, der aus der Tür dieser einsamen Wohnung sprüht.
Doch Kisels Kraftwerke sind abgenutzt und überlastet. Ihre Energie reicht kaum, um die arbeitenden Lungenflügel der Kiselgruben mit Luft zu füllen. Es häufen sich Unterbrechungen, Stillstände, Brüche, die sich zwar nach einigen Stunden fieberhafter Arbeit beheben lassen, aber immer häufiger schwimmen die Orte und Strecken am Grunde der Gruben im dichten grünlichen Qualm: Das sind die giftigen Gase der Sprengungen, die langsam von Stufe zu Stufe klettern, auf allen vieren die Wände entlangkriechen und dabei ihre zottige Rauchmähne schütteln. Die Laternen der Steiger weichen beunruhigt vor ihnen zurück. Dieser süßliche, an Vanille erinnernde und bittere Geruch hat etwas Gewalttätiges an sich, das mit würgenden und bösen Pranken das Leben an der Kehle packt. Im Kraftwerk aber gibt es wiederum eine Panne - die Bewetterung setzt aus, die Gruben werden von Schwindel befallen. In der Wolodarski-Grube, wo man arbeitet, ohne sich aufzurichten, wo Menschen, wie Weihnachtsbäume die qualvoll gekrümmte Spitze, den Kopf gegen die Decke stemmen, huschen die Laternen beunruhigt von Ort zu Ort. Kein Strom! Vergeblich stemmen sich die Kumpel mit der Brust gegen die Griffe der Presslufthämmer. Ihre Waffe lässt nach und fällt kraftlos aus der Wunde, die dem Kohlenmassiv geschlagen worden ist. Schwüle Trägheit kriecht durch die Strecke, die gereizten, nach Luft gierenden Menschen rauchen, auf der Kohle ausgestreckt. Das Blut hämmert heftig in den Schläfen, wie ein verschütteter Bergmann, der auf vergeblicher Suche nach einem Ausweg die Wände abklopft. Die Alten unterbrechen die Arbeit, schirmen die Augen - als seien sie geblendet - mit der Hand ab und steigen etwa hundert Klafter höher, um zu trinken und Luft zu schnappen. Die Jungen, durch die Luftknappheit gereizt, ziehen die Hemden aus und halten den Kopf und die Brust unter das schwefelhaltige Wasser, das von den Wänden rinnt und die Haut sich röten und - wie eine Zitrone den Speichel -zusammenziehen, dann aber sich lösen und platzen lässt. Wieder kein Strom!
Die Pumpen ziehen übersättigt und unwillig das Wasser ab, das rauscht und steigt. Der ganze Berg hat einen Asthmaanfall.
Die ersten Stickanfälle in den Kiselgruben begannen schon zu Zeiten des Bürgerkrieges. Möglicherweise haben damals der Hunger und die ihn begleitende Gleichgültigkeit weniger darauf achten lassen. Außerdem hat man nicht so angespannt gearbeitet wie heute: nur um selbst nicht umzukommen und die Gruben nicht umkommen zu Sassen. Aber jetzt, da die ganze Grube vom Fördermann bis zum Direktor am Kampf für die Steigerung der Arbeitsproduktivität teilnimmt, da auf dem Kohlenmarkt plötzlich der Koks aus dem Kusnezbecken aufgetaucht ist, der Tausende Werst per Eisenbahn zurückgelegt und dennoch billig zu bleiben verstanden hat, da die Grube innerhalb von zwei Wochen - um sich zu behaupten - fast drei Kopeken je Pud nachlassen musste - jetzt ist jeder Stillstand in der Arbeit eine Katastrophe. Die Zeit ist kostbar geworden, ja, sie wird immer kostbarer. Und da muss die Grube, von Brechreiz befallen, den Spaten fortwerfen und zum Ausgang kriechen, um bei Bewusstsein zu bleiben. Luft, Luft, Luft.
Schließlich ist Polowinka dieser Tage fast ganz zum Stillstand gekommen. Die Ingenieure fühlten den kranken Maschinen mit der Uhr in der Hand den Puls, rechneten die Stunde aus, da sie aussetzen werden. Die Verantwortlichen hingen am Telefon, Boten ritten Pferde zuschanden, Elektriker blieben, mit dringenden Reparaturen beschäftigt, Tag und Nacht in der Grube. Das kleine Kraftwerk regte sich noch, aber immer ungleichmäßiger, immer schwächer. In der Minute höchster Gefahr, als die unteren Sohlen von Wasser und Qualm überschwemmt wurden, flutete durch Polowinkas greisenhafte Leitungen eine mächtige, verjüngende Welle Elektrizität. Woher?
Vor zwei Jahren, in der Zeit der größten Hungersnot und Typhusgefahr, wurde zwanzig Werst von Kisel entfernt, am gleichen ungebändigten, reißenden Fluss Kosjwa, der sich kopfüber von den Bergen herabstürzt, der Grundstein für ein leistungsfähiges Rayonkraftwerk gelegt. Dieses sollte vor allem den altersschwachen Maschinen der Gruben zur Hilfe kommen, doch geplant und erbaut wurde es nicht um der 600 Kilowatt willen, die das Kraftwerk heute schon Polowinka beisteuert, ja, nicht einmal um der 6000 Kilowatt willen, die ihm der ganze Trust abnehmen wird. Mit dem Bau dieses Kraftbrunnens in den Kiselbergen sicherte sich die Republik billige Energie für einen ganzen Industriebezirk, 300 Werst im Umkreis. Die Entstehung von Kiselstroi oder GRES, wie seine Initialen lauten, sichert nicht nur eine Verbilligung der 40 Millionen Pud Kohle, die Genosse Sashin in diesem Jahre zu fördern hofft, die Geburt von GRES bestimmt vielmehr, dass in der nächsten Zukunft ein neues Kohlenrevier, eine ganze Reihe von Schächten, Erzgruben und Betrieben mit hochmechanisierter Fertigung und billiger Produktion entstehen werden. Vom Glasdach des Kraftwerks aus überblickt man viele Werst im Umkreis. Links auf dem dichtbewaldeten Berg zeichnet sich hell eine breite Schneise ab - der Luftweg, den der Strom nach Kisel nehmen wird. In fünf Jahren werden diese Wälder verschwunden sein; dort, wo jetzt wie Erdbeeren im Gras das rote Dach des Spitals leuchtet, dieses elenden Feldspitals, mit Holzbetten, in denen innerhalb von zwei Jahren mehr als 300 Bauarbeiter gestorben sind, an die Stelle dieser Baracke wird möglicherweise ein Werk oder eine Eisenbahnstation kommen. Rechts erstrecken sich die gedrängten Reihen der Arbeiterbaracken, wo Menschen schlafen, essen und im Schmutz ersticken, wo die Familien mit Ledigen durcheinander hausen und auf diese Weise keine Minute Ruhe haben, wo man überhaupt so lebt, wie das Proletariat im ganzen Ural, wenn nicht gar im ganzen industriellen Russland, um unter unmenschlichen Anstrengungen und im Elend die sowjetische Industrie aus dem Elend herauszuziehen. Was wird an Stelle dieser Kasernen stehen - ein Werk, eine neue Grube oder ein Palast der Arbeit? Wenn es dem russischen Proletariat in den Jahren dieses Elends nicht darauf angekommen ist, dreihundert Menschenleben für ein herrliches Kraftwerk zu zahlen, das ihm in den nächsten Jahrzehnten neugeborene Werke großpäppeln wird, was wird da erst sein, wenn es dazu kommt, sich ein wenig zu erholen, satt zu essen, Wohnungen zu bauen und zu studieren? Man kann toll werden vor Stolz, wenn man um dieses herrliche graue Gebäude rennt, das aus klafterhohen Fenstern in die zottige Taiga starrt, die gelichtet, auf das andere Ufer zurückgeworfen, durch die Schläge der Beile und die Stimmen der Maschinen eingeschüchtert ist.
Das Kraftwerk ist noch nicht ganz aufgeräumt. Das ganze Baugelände trägt Spuren und Reste der Geburt. Erschöpfte chinesische Arbeiter holen schwankend mit einer Trage Gerümpel zusammen und verbrennen es. Aus dem Wasser ragen die feuchten Köpfe der Pfeiler, die das Hochwasser noch nicht fortgetragen hat: Das ist eine Erinnerung an den schwersten Abschnitt der Arbeit, als ein zweihundert Meter langer und fünf Klafter tiefer Kanal ausgehoben werden musste, um den Fluss in das Kraftwerk hineinzuleiten. Die betonierte Rinne musste unter dem Flusspegel bei starkem Druck der von den Bergen herabstürzenden Gewässer, bei Rationen und Löhnen des grimmigen Jahres 21/22 gebaut werden, fast ohne Hilfe der Maschinen, ohne Berufskleidung und ohne Geld, und das in Kisel mit seinem harten, veränderlichen Klima, wo bis heute trotz der besseren Lebensbedingungen 90 Prozent der Kinder mit ausgeprägten Anzeichen der Tuberkulose geboren werden. Der Ausbau des Gebäudes steht kurz vor der Vollendung. Im Aschekeller ist es trotz des leisen Ascheregens am Fuße der vier Kessel und eines starken Schwefelgehalts der Kohle hell und luftig. Im Kesselhaus ein fröhliches Durcheinander frischer Gerüste. Von dem mit Beton bestäubten Boden bis zur gläsernen Decke ragen in der Halle Gerüste aus weißem Fichtenholz empor; auf den Gerüsten, die unter der schweren Last der nach oben beförderten Maschinenteile zittern, wimmelt es von Menschen. Die vier Kessel (Babcock - Wilcox, Schiffstyp aus dem Jahre 17, Erhitzungsfläche - 350 qm) nehmen nur die Hälfte des Palastes ein, die andere Hälfte ist leer, steht bereit, eine zweite Kesselreihe aufzunehmen. Es ist heil und geräumig wie in der Kinderstube bei Giganten: Die Halle kann jede Erweiterung, jedes Wachstum vertragen. Die Loren mit Kohle kommen vorläufig noch in das Gebäude gerannt, um ihre kümmerlichen 5 bis 6 Pud den Öfen in den Schlund zu stürzen. Die Kesselwärter räumen verstimmt den Dreck fort, der von den schmutzigen Handlangern, den Loren, in das helle Maschinenhaus getragen wird. Bald werden sie vertrieben sein. Die Bunker und die Fallkanäle, über die die Kohle mechanisch in die Feuerung befördert wird, stehen kurz vor der Vollendung. Ganze Regimenter von Hilfsarbeitern tragen behutsam schwere Einzelteile von Maschinen vorbei. Auf den Gerüsten, zwischen Holz und feuchtem Kalk, zwischen Sägen, Hämmern und biegsamen Holzlatten singen die Zimmerleute. Eine kleine, provisorische Schmiede dröhnt wie ein ganzes Wasserwerk. Ein schlanker Monteur in hohen Uralstiefeln klettert vorsichtig nach oben, wo in besonderen Behältern eine Wasserreserve gespeichert wird. Erst wenn man ganz nach oben gestiegen ist, empfindet man die ganze herrliche Vierzig-Meter-Höhe dieses Gebäudes. Aber auch hier mischt sich dem Triumph und der Fieberhast der letzten Arbeiten die Sorge des Dorfes, die Mahnung an Acker und Brot bei und nicht an dieses hochherrschaftliche Haus, in dem allein die Elektrizität wohnen wird. Ein Maurer murrt leise, während er das Gesims verputzt: „Bin in diesen zwei Jahren im ganzen Bau herumgekommen. Von den unsrigen ist noch der alte Jakimow hier gewesen, mit ihm zusammen habe ich das Fundament bis unter den Sockel hochgezogen. Hat sich erkältet, sage ich, und ist verstorben."
„ich will nach Kasanskaja zurück. Wer aus der Scholle geboren wurde, der muss in die Scholle zurück. Wenn alle Proletarier sein werden, wer soll da das Brot machen?" So werkt ein Bauer am Vorabend des Arbeitssieges hoch oben auf seinem Bau und jammert nach der Scholle. Die Turbogeneratoren. Schwarz, glänzend, jeder mit 8000 Volt, ruhen sie wie ein Löwenpaar. Ihre Brücke wird von Betonpfeilern gestützt, um die sich die Äste der Gebläserohre winden. Jede Maschine hat ihren Herzschlag und ihre Stimme, aber mit nichts zu vergleichen ist das gleichmäßige, kraftvolle und ruhige Dröhnen, mit dem die Turbinen das ganze Haus erfüllen. Sie haben keine Zeit, um abzuwarten, bis der Boden trocken ist. Sie brauchen nichts als ein Fundament, das ihr majestätisches Gewicht und die Vibration zu tragen vermag, die zwar kaum merklich ist, aber einen Felsen zerrütten kann. Mögen die Betonierer da unten ihre Arbeit an dem noch feuchten Boden beenden; kaum sind die Turbinen über die Schwelle, kaum haben sie die schwere Reisekleidung abgelegt, da nehmen sie auch schon die Arbeit auf, zwischen nackten Wänden, unmittelbar vor einem riesigen Fenster, das mit Himmel gefüllt ist.
Die Arbeiter in dieser Abteilung sind keine Bauern in der Fabrik, sondern echte Proletarier. Betonierer und Stuckateure. Genosse Schewrin war bei der Einnahme von Perekop dabei und hob dann den Kanal des Kiselstroi mit aus. In die Armee kann er nicht mehr zurück. Der Rheumatismus hat seine Kavalleristenbeine geschwächt und anschwellen lassen. Genosse Anjapow kämpfte um Polozk, dann baute er die Decke des Aschekellers, legte die Fußböden, zog die Mauern des Kraftwerks hoch. Jetzt bereiten diese zwei Soldaten in Maurerschürzen, mit mineralischem Mehl dicht bestäubt, den Boden, auf den sich in wenigen Jahren weitere 16 000 Volt stützen werden.
Jetzt etwas über das Allerheiligste von Kiselstroi, über sein Schalthaus, die Schaltzelle für den Eigenbedarf, die abgeschlossenen Zellen, in denen die Umformer leben; wie soll ein unwissender und selbstbewusster Journalist die stillen Säle beschreiben, wo man nichts anfassen darf, wo die Wände mit einem Flechtwerk blauer, roter und weißer Adern überzogen sind, durch die Bewegung, Kraft und Licht weitergeleitet werden? Man müsste ein Techniker, und zwar ein hochqualifizierter Techniker sein, um die Tafel mit Messgeräten einzuschätzen, um das Zittern der Zeiger mit ihrem gleichen Ausschlag zu deuten, um die ausdrucksvolle Sprache der Zifferblätter, die den rosa Marmor der Tafel wie eine Schar weißer Sonnenblumen umgeben, zu verstehen. Die hellen und menschenleeren Räume, die kleinen, empfindlichen Maschinen, von denen der warme Wind der Stärke ausgeht, geben den an ihnen beschäftigten Menschen ein besonderes Gepräge. Beim Anblick der schweigsamen Gestalten an den Tischen, die jede halbe Stunde das Zittern dieser für den Laien unbegreiflichen Volts und Amperes in das Buch des Lebens eintragen, der bläulich angestrahlten Gesichter, der hängenden Schultern und der feinen Hände der Mathematiker, dürfte man wohl kaum sagen, dass auch sie alte Soldaten der Revolution sind, die vier Jahre lang das Gewehr getragen haben. Da ist Genosse Olechow, der Diensthabende im Schalthaus, Kommunist seit 1918, Soldat der 5. Armee, der mit ihr den Weg von Glasow bis zum Baikal zurückgelegt hat. Da ist Pschennikow, der für das Funktionieren aller Geräte Verantwortliche, der in Ufa gekämpft hat, und viele andere, die dieses Kraftwerk zwei Jahre lang splitterweise, faserweise zusammengetragen und nun ihren Platz in den lautlosen Sälen eingenommen haben, wo die andächtige Stille gleichsam zerschnitten wird durch diese 6000 Volt, die sie mit den sorgfältig in Seide gewickelten Leitungssträngen durchkreuzen.
Der Genosse, der an der Spitze des Kiselstroi gestanden hat, vereint ebenso wie die Männer an den Schalttafeln selten Vereintes in sich: Kommunismus und Erfahrungen eines glänzenden Ingenieurs. Das ist Genosse Tiszewski, ein altes Mitglied des Zentralkomitees und einer der besten polnischen Elektrotechniker.
Zu dem Gerümpel, das jetzt neben dem Kraftwerk verbrannt wird, gehört eine kleine Holzbude, die ihren Standort je nach Bedarf oft gewechselt hat. Das war das Werkkomitee der Partei von Kiselstroi. Die Genossen haben in dieser tragbaren Eierschale nicht nur gearbeitet, viele von ihnen haben darin auch gewohnt, um jederzeit auf der Baustelle zu sein. Leider kann ich aus Platzmangel auf die Arbeit, auf die ungemein schwere Arbeit (im Jahre 1922 begonnen, wurde der Bau von Kisel in zwei Jahren nicht nur einwandfrei, sondern auch sehr schnell abgeschlossen) eines jeden nicht ausführlicher eingehen. Über einen dieser Menschen, die alle ihre Kräfte dem Kraftwerk hingegeben haben, möchte ich jedoch noch etwas sagen; er ist aus dem zweijährigen Arbeitskrieg als Invalide hervorgegangen -der Genosse Polygalow (Mitglied oder Vorsitzender des Werkkomttees). Charakteristisch ist, dass Genosse Polygalow selber gar nicht merkt, wie überarbeitet und nervös er ist. Sein kurzer Lebenslauf: Mitglied der Partei seit 1917, seit August in der Roten Garde, später in der 30. Division Blüchers. Feldzug von Bogojawlensk aus bereits als stellvertretender Kriegskommissar des 263. Regiments; 1921 ist Polygalow Kriegskommissar einer Abteilung zur Bandenbekämpfung, 1922 - Einsatz beim Bau des Kisel-Kraftwerkes und 1925 entweder Urlaub und ein Jahr Sanatorium oder Ende.

 

SALZ

Das Bachmut-Tal - das ist ein Stück Schwarzbrot, dicht bestreut mit Salz. Unter einer Schwarzerdedecke eine durchgehende, wie ein Blatt Papier reine, einwandfreie Salzlagerstätte, fast ohne Zwischenschichten. Ihre Mächtigkeit erreicht 22 Klafter, das heißt, sie ist fast zehnmal so breit wie die reichsten Kohlenflöze der Sowjetunion. Das ganze Salzkönigreich ist 54 Werst groß, und noch vor wenigen Jahren genoss es eine Art Unabhängigkeit. Die hier lebenden Bauern sprachen aus irgendeinem Grunde ukrainisch, bauten Wassermelonen an und spannten gemächliche, prächtige Ochsen vor ihre Fuhrwerke. Doch von den neun riesigen Salzbergwerken gehörten sieben Holländern und Franzosen und nur zwei russischen Kapitalisten. Aber die Dividenden der Holländer riefen einen gefährlichen Konkurrenten auf den Plan: Die neue Bourgeoisie, gebildet und liberal, die schon damals das Diplom der Oxforder Universität und Entwürfe der russischen Verfassung in der Tasche des Gehrocks trug, nahm allen Ernstes den Kampf für eine gerechtere Ausnutzung der französisch-holländischen Salzkolonie auf. Der glanzvolle Tereschtschenko, Parlamentarier und Geschäftsmann, der künftige Minister der Kerenski-Regierung, dessen knatternder Name von den Petrograder Jungens an der Spitze der stürmischen Junidemonstrationen so jubelnd geschmäht wurde, war es, der ein vortrefflich ausgerüstetes Bergwerk gründete, das heute den Namen Swerdlows trägt.
Die Ausländer geizten nicht mit Geld für die Ausrüstung ihrer südrussischen Kolonien. Die Gewinne waren so enorm, dass sie in kürzester Frist alle Ausgaben für die Mechanisierung der Produktion deckten. Auch Tereschtschenko geizte nicht. Doch seinem auf breitem und festem Fundament ruhenden, auf bedächtige und langdauernde Ausbeutung berechneten Unternehmen war es beschieden, im rigorosesten Raubbau zu enden. Schon waren die vortrefflichen - die besten im Donezbecken -Arbeiterhäuser erbaut; desgleichen ein ideales Kraftwerk und die Mühle für die teureren Salzsorten. Sieben Klafter tief stieß der Schacht auf die erste Schicht. Man hätte, ohne sich bei dieser zweitrangigen Lagerstätte aufzuhalten, gleich einige Klafter tiefer stoßen und die Erschließung der riesigen, 22 Klafter mächtigen Lagerstätte beginnen sollen. Aber da brach der Krieg aus: Die Preise für Waren des täglichen Bedarfs schnellten wild in die Höhe - es brach die Ära der einträglichen Spekulationen an und Tereschtschenko konnte nicht umhin, den regesten Anteil daran zu nehmen.
Der bereits in Angriff genommene Schacht zur zweiten Sohle wurde mit Gestein zugeschüttet. Alle Arbeiten zur Erweiterung und wissenschaftlich richtigen Ausrüstung wurden eingestellt. Es begann die Jagd nach Geld. Salz bildet ideale Gewölbe, die unterirdischen Bauwerke aus Salz gelten als ewig. Keine Sophien-Kathedrale kann es in der tollen Kühnheit schneeweißer Kuppeln mit dem Salz aufnehmen - es müssen schon alle Gesetze des Bergbaus völlig missachtet worden sein, wenn einem Schacht der Einsturz droht. Nun, das spekulative Wirtschaften hat die ganze Innenarchitektur „Swerdlows" verunstaltet. Es ließ den frischen Beton, der das Bergwerk vor dem Ansturm unterirdischer Gewässer - 8000 Eimer die Stunde -schützen sollte, nicht einmal binden und hart werden. Ungeachtet der Warnungen des erfahrenen Arbeiters Rudtschenko (heute Leiter zweier Gruben), wurden alle Dränagerohre drei Tage nach dem Gießen geschlossen, und man stürzte an ihnen vorbei, um die ersten Partien Salz zu holen. Und 48 Stunden später gab der Beton nach, es flutete das Wasser, und bis auf den heutigen Tag fahren die Förderkörbe unter strömendem Regen auf den Grund des „Swerdlow". Freilich hat sich auch bei uns eine gelehrte Ingenieurkommission des Allrussischen Volkswirtschaftsrates gefunden, die - wenn nicht gar in diesem Jahr - vorschlug, „Swerdlow" zu schließen und ersaufen zu lassen, weil - man höre und staune! - unser Salzmarkt beschränkt sei und nicht mehr als 13 Millionen Pud aufnehmen könne. Salz ersaufen lassen, heißt es ein für allemal verlieren. Das Wasser laugt die Wände aus, und das Bergwerk stürzt zusammen.
Doch „der Arbeiter berücksichtigt", wie ein alter „Swerd-!ow"-Kumpel sagt, „ehrlich den Moment und trifft so den Nagel auf den Kopf, dass es auch einer Kommission schlecht bekommt". „Artem" (das benachbarte Bergwerk) mit seiner 22-Klafter-Lagerstätte, mit einem Salzvorrat für 100 Jahre, wenn man mit einer Jahresförderung von 7 Millionen Pud rechnet, und Kammern nicht länger als 400 Meter musste aus allerlei technischen Erwägungen aufgegeben werden, „Swerdlow" dagegen wurde verteidigt. Die Arbeiter gerieten in Unruhe, der Vorsitzende des Trusts protestierte, ober der Markt mit seiner bedingten Aufnahmefähigkeit schluckte über alle Erwartungen hinaus bereits in diesem Jahr restlos mehr als 20 Millionen Pud. Jetzt liefert dieses einzigartige Bergwerk mit seiner technischen Ausrüstung und vollständigen Elektrifizierung der Republik Salz zum niedrigsten Preis - 4 Kopeken das Pud („Schewtschenko" und andere Gruben - 6, 7 und 9 Kopeken).
„Schewtschenko" - der riesige und immer noch maßlos reiche Salzschacht - ist ein Musterbeispiel tugendhafter Trägheit und etwas sturen Eifers, mit dem die europäische Bourgeoisie zu Dickens' Zeiten ihr Kapital machte. Die alte Jeanette - „Schewtschenkows" erste Fabrikesse -ist heute über 50 Jahre alt. Seine Mühle, eine lärmende vorsintflutliche Anlage, die mit dicken Fäusten in plumpen Mörsern Salz mahlt, hat ebenfalls mehr als ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Sie arbeitet mit den altmodischen Treibriemen und Mühlsteinen polternd und verbreitet ringsum Staub, wie die Müllersfrau, die - ihre gestärkten Röcke übereinander angezogen - zur Messe geht. Und die alte Pumpe - ein ehrlicher, gusseiserner Knecht, der sich in den dreißig Jahren ununterbrochener Arbeit kein einziges Mal Urlaub gegönnt hat, weder wegen Krankheit noch wegen Übermüdung. Er arbeitete ohne Hast, hob und senkte langsam die unermüdlichen Schultern, füllte seinen Bauch methodisch mit Wasser und spie es aus dem Schacht. Ein ganzes Salzmeer ist durch seine verzinnten Eingeweide gegangen. Jeder, der das Bergwerk besichtigt, sollte sich diese erstaunliche Anlage ansehen, ein Beispiel für sinnlose und in ihrem Fleiß große Arbeitskraft. Man gelangt zu ihr durch die Räumlichkeiten ihres jungen Gehilfen, des in diesem Jahr installierten kleinen elektrischen „Sultzers" - einer korrekten, beherrschten, mit jeder Bewegung geizenden Maschine, die leidenschaftslos in dieser unterirdischen Höhle arbeitet, wie ein ausländischer Techniker, der die Sprache nicht kennt und deshalb schweigt. Ihn pflegt und beaufsichtigt ein hochqualifizierter Arbeiter, ebenso neuzeitlich und neu in diesem altmodischen Schacht wie seine Pumpe. Das ist Genosse Belous, Rotarmist in den Jahren der Revolution, ein Mann mit feinem, intelligentem Gesicht und dem verfeinerten Gehör eines Musikers. Er achtet darauf, dass die Maschine gleichmäßig und monoton ihr Arbeitslied singt, eintönig wie ein Schneesturm. Auf dem ölverschmutzten Schemel neben dem Werg, mit dem der Wärter den öligen Schweiß von der Maschine wischt, liegt aufgeschlagen ein Buch: „Die Kosmopoliten" von Bourget.
Etwas tiefer eine Luke, eine Treppe nach unten, ein schmales, mit Ziegelsteinen ausgekleidetes Rohr, in dem ewige Bächlein geschwätzig durch die Finsternis rinnen. Hier und da verschwindet einem der Boden unter den Füßen: Das Wasser füllt schlammige Löcher mit gelblichem Moder, rinnt weiter, und dann - endloses, unbändiges, unbesiegbares Wasser.
Und schließlich ein tiefer, feuchter Schacht. Hier erholt sich eine riesige Pumpe - „unser alter Rabauke", wie sie die Arbeiter nennen - eingeölt wie ein Bauer am Sonntag; ihre Kupferteile glänzen wie eine große und billige Dorfuhr. Der Kolben ist unbeweglicher als die Pfeife eines eingeschlafenen Rauchers.
Diese alten Maschinen, diensteifrig und treu wie Diener aus der Leibeigenenzeit, haben eine ganze Generation Arbeiter verwöhnt und demoralisiert. Den Menschen ist es zu einer Gewohnheit geworden, sich voll und ganz auf die Maschine zu verlassen. Wozu denn überwachen und kontrollieren, wenn alles sich von selbst dreht? Der Kolben pumpt Wasser, und die Mühle mahlt das Salz. Die Arbeiter entfernten sich für Stunden aus den Maschinenräumen, überzeugt davon, dass die Alten sich auch ohne sie ebenso ehrlich mühen werden. Die Maschinen wurden unmerklich älter und schwächer, aber keinem fielen die kleinen Sonderbarkeiten, die Alterslaunen auf, an die man sich in dem halben Jahrhundert gewöhnt hatte. So hatte zum Beispiel die Großmutter des Bergwerks, die altehrwürdige Mühlanlage, eine Passion für besondere erfrischende Kompressen, ohne die sie überhaupt nicht arbeiten wollte. Jeden Winter wurde für sie ein besonderer Eiskeller mit Eis voll gestopft, und den ganzen Sommer hindurch erhielt die Oma Eispackungen, die ein besonderer, mit allen Launen seiner alten Gnädigen vertrauter Arbeiter an die Welle, an das Hauptlager legte. Und als Genosse Rudtschenko, nachdem er „Schewtschenko" völlig heruntergewirtschaftet übernommen hatte (es war so weit gekommen, dass diese überaus reiche Grube mit 275 Arbeitern und bei dem unerhörten Brennstoffverbrauch von 700 bis 1000 Pud nur 8000 Pud im Monat lieferte), im Frühjahr dieses Jahres plötzlich den Eiskeller, die Kompressen und auch den besonderen Kammerdiener für das Anlegen derselben verbot, geriet die ganze Siedlung in Aufregung.
„Man hatte der Mühle doch ihre althergebrachten, wohlverdienten Vorrechte genommen!"
Der ältere, tüchtige Arbeiter kam ins Büro und erklärte der neuen Verwaltung höchst verbittert:
„Ich stehe seit fünfundzwanzig Jahren an dieser Maschine, und durch dich soll sie jetzt zugrunde gehen. Das kann ich nicht mit ansehen, gebt mir die Papiere." Die ganze Autorität der Sowjetmacht stand auf dem Spiel: Aus Bachmut traf eine besondere Ingenieurskommission ein und stellte feierlich fest, dass eine gewisse im Körper der Mühle entdeckte „Abweichung" durchaus gesetzmäßig und eine gewisse Deformierung der Teile sogar nützlich sei, da sie die Lager schone.
Und dennoch setzte der rote Direktor, dieser massive und beharrliche Mann mit dem klobigen, wie eine frischgerodete Kartoffel erdbehafteten Gesicht, der barfüßig und mit offenem Hemd durch den Betrieb wetzte, der in der Fabrik wie ein Stromer im Walde tage- und nächtelang verschwand, seinen Willen durch. Er ließ die Maschine für sechs Tage anhalten, und was zeigte sich da? Die berühmte „Abweichung" erwies sich als eine Alterserscheinung, eine Krümmung, unter der die ganze Produktion jahrzehntelang zu leiden hatte. Das Alte wurde besiegt, der Eiskeller wurde zu einer Sage. Von da an wurde es leichter, gegen die Routine und die Nachlässigkeit anzukämpfen. Die altersschwachen Dampfkessel - durch salzhaltiges Wasser zerfressen und durch unachtsames, ungleichmäßiges Heizen verdorben - baten um dringende Überholung und Entlastung. Man nahm ihnen zweitrangige Verpflichtungen ab und stellte alles, was sich nur umstellen ließ, auf Elektrizität um. Die Grube, die das Süßwasser vierzig Jahre lang aus einem weit entfernten Brunnen eimerweise heranholte, so dass ihr Weiberkummer mit Schneestürmen und vereisten Eimern bereits in alte Lieder eingegangen war, erhielt plötzlich eine Wasserleitung. Menschen wie Maschinen bekamen gutes, weiches Wasser zu trinken. Dann begann die Durchsetzung der neuen Arbeitsdisziplin. Bummelschichten, Einstellung zur Maschine wie zu einer Kinderwärterin, die auf das Kind und auf sich selbst aufzupassen hat - mit all dem war es vorbei. Einer kam auf die Idee, „als Begleitung für die Lunten" ein Drähtchen einzuführen; dieses geriet in das Lager und beschädigte die Welle - der Schuldige wurde auf der Stelle entlassen. Die durch die alte ausgeleierte Wirtschaft demoralisierten Techniker, die sich wie eine Reisekalesche aus dem vorigen Jahrhundert durch den Herbstschlamm schleppten und deren Autorität in den Augen der Massen künstlich aufrechterhalten werden musste, rissen sich ebenfalls zusammen. Die monatliche Förderung stieg. Von Oktober bis August verlud der Schacht fast 3 Millionen Pud, die über 10 Kopeken hinaus hochgejagten Selbstkosten gingen zurück. Im Mai - 10, im Juni - 8 Kopeken. Auch das ist zuviel. Rudtschenko wird sie mindestens auf die Hälfte reduzieren müssen, um nicht in eine längere Stilllegung zu geraten.
Das Wasser, das den Schacht bedroht, liegt über ihm, zwischen der Decke der Salzpaläste und der Erdoberfläche. Das Bergwerk selbst ist trocken wie ein Salzfass, wenn man die mit der Oberwelt durch einen engen und feuchten Förderschacht verbundene herrliche weiße Stadt als Bergwerk bezeichnen darf. Nach dem Fall in die Tiefe von 170 Meiern hält der Förderkorb vor irgendeinem weiten Platz, der mit schmelzendem, schmutzigem Schnee bedeckt zu sein scheint. Von hier gehen breite, öde Straßen aus - nur in den Hauptstädten und spät in der Nacht, wenn der Straßenverkehr erlahmt ist, schreitet eine lange Reihe von Laternen so verschwommen und vereinsamt in der Mitte der menschenleeren Straßen dahin wie hier, auf diesem Newski-Prospekt unier Tage. Doch die durch ewige Finsternis kontrastierte Nacht gleicht hier einem schwarzen Kleinod in einem ebenso schwarzen Futteral. Wolkenkratzer ohne Fenster, gigantische Bauten mit blinden Mauern, ganze Stadtviertel, die plötzlich die Augen ihrer Fenster mit steinernen Lidern geschlossen haben und so unermesslich hoch sind, dass sich irgendwo oben, zwischen den Gesimsen der regungslose Himmel, die Milchstraße von unvergleichlicher Weißheit und einsame Sterne aus kristallischem Salz verlieren.
So groß die unterirdische Stadt auch sein mag, sie entwickelt sich und wächst weiter: 176 Kammern, in denen sich die Decke gerade erst über der Sohle zu wölben beginnt, um in anderthalb Jahren die Höhe der alten, bereits ausgearbeiteten Gänge zu erreichen. In einem niedrigen Gewölbe sprengen Bohrarbeiter die Decke über ihren Köpfen mit Dynamit. Jede Schicht bohrt je 50 Sprenglöcher, die nächste steigt auf den Berg des durch die Explosion hinuntergeworfenen Salzes, die dritte steigt an die Stelle der zweiten und so ohne Ende bis sich die ganze Kammer mit einem Berg lockeren Salzes gefüllt hat. Die Förderleute laden es auf und fahren es fort, berauscht von dem süßlichen und schweren Dynamitgeruch, der sich in dem weißen Strom festsetzt und darin hält wie Zigarrenrauch im Haar.
Spät in der Nacht, wenn in den Kammern der Artilleriedonner verstummt ist, steigen die erfahrensten und mutigsten Arbeiter des Schachts wie schwarze Mäuse, sich an einem dünnen Seil festhaltend, auf den Gipfel des lockeren Berges und schlagen mit langen, spitzen Brechstangen das gesprengte Salz herunter. Die Bohrmethoden sind im „Schewtschenko"-Schacht ebenso veraltet wie seine Maschinen. Und ein Bohrmeister vom Schlage des Kollegen Orlow, der das Steinsalz 30 Jahre lang mit dem schweren, aus dem Gebrauch gekommenen barbarischen Bohrer bricht, steht in seiner Art weder der Jeanette noch der alten Pumpe auch nur im geringsten nach. In seinem Leben gab es ebenso wenig Atempausen. Wie ein Boot quer zu den Wellen, wie die Säge quer zu dem Stamm, so muss auch das Bohrloch quer zu der Schicht und der Wellenlinie geschlagen sein, die von der Brandung jahrtausendelang auf dem salzigen Grunde abgelagert wurde. Dreißig Jahre lang stemmte sich Orlow gegen die versteinerte Strömung. Sein ganzes Leben ist eine eiserne Senkrechte, hineingeschlagen in widerspenstiges Gestein. Die Revolution wurde Wirklichkeit, es kamen die Deutschen mit Disziplin und gutem Schnaps. Orlow spaltete Salz, Petljura war da und auch Denikin: eine lange Zeit harter Unterdrückung. „Hat uns die Sehnen aus dem Leib gezogen."
Orlow bohrte weiter. Zwischen „Artem", „wo der Kadett war", und dem roten Bachmut lag „Schewtschenko" im Niemandsland, ohne Obrigkeit und ohne Namen. Orlow bohrte, während die zweite Schicht oben mit dem Gewehr in der Hand Wache stand. Er bohrte auch nachts, nachdem er von Frau und Kind Abschied genommen hatte, rannte zum Schlafen nach der sowjetischen Eisenbahnstation „Solj", um einer zufällig daherkommenden Bande nicht unter das Messer zu geraten. Verschob ab und zu Salz, nähte sich besondere Säcke an das Futter der Berufskleidung, stritt sich wegen dieser Säcke mit den Sperrabteilungen und bohrte, bohrte, bohrte. Die Weißen beraubten den Schacht, fuhren den ganzen Kohlenvorrat ab, der für die Pumpen gebraucht wurde. In zwei Stunden musste die Grube ersaufen. Die Arbeiter ließen ihre Frauen den ganzen für den Winter bevorrateten Kohlengrus in den Heizungsraum schleppen, alles überflüssige Holz aus dem kümmerlichen Häuschen herausbrechen - und gingen zur Arbeit. Orlow fuhr mit ihnen ein. Endlich verging Denikin wie der Rauch, Petljura vermoderte, und der Hunger gehört nun auch der Vergangenheit an. Die alte Pumpe steht bereits still, die alte, knarrende Mühle wird ebenfalls bald angehalten; selbst der Bohrer in Orlows Hand - verrostet und stumpf -ist altersschwach und wird von einem neuen elektrischen Bohrer abgelöst werden. Aber die gleichen festen Greisenhände, die so viele unterirdische Paläste, alle weißen Säle und glänzenden Triumphbogen aus Kristall, alle Straßen und Plätze, Gewölbe und Treppen der Salzstadt gebaut, mit seiner Meisterhacke gezeichnet haben, werden an den Wänden von „Schewtschenko" erstmalig die neue Arbeitswaffe ausprobieren.
Mag sein, dass er doch müde geworden ist. Wenn der Alte nach Erfüllung der Tagesaufgabe und in Erwartung des Vorarbeiters auf einer Salzscholle sitzt, vorgebeugt und die Hände auf den Knien gefaltet, erinnert sein Kopf am dünnen, hageren Hals an eine elektrische Laterne am Tage: Ein trockener, schwarzer Ast mit einer erloschenen, gleichsam abgerissenen Lichtkugel. Doch der Alte schüttelt die Schläfrigkeit ab und hält sich Babenko, seinen schelmischen und lachlustigen Gehilfen, mit ein Paar Späßen wie mit Steinwürfen vom Leibe.
Dann schaut er sich um und sagt voller Stolz und Ruhe: „Da haben sie uns doch eine regelrechte Goldgrube ausfindig gemacht und sind dann selber ausgerissen. Haben Angst gehabt, dass wir sie aufhängen. Sollten doch wissen, dass wir Ukrainer die sanftesten Menschen sind." „Werden auch ohne sie fertig!"

1924