Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Erinnerungen aus den Jahren 1896 — 1917

Dem Andenken P.A. Wompes, des in der Nacht vom 2. August 1925 verschiedenen Freundes und Genossen, mit dem mich gemeinsame Arbeit in den Eisenbahnerorganisationen und in der Komintern verband, widme ich dieses Buch.

Der Verfasser

 

Vorwort der Istpart zur russischen Ausgabe

(Anm.: Istpart ist die mit dem Studium der Geschichte der Oktoberrevolution und der KP betraute Abteilung des Zentralkomitees der KP der Sowjetunion.)

Die Aufzeichnungen des Genossen Pjatnizki vermitteln uns nicht allein die Kenntnis der revolutionären Autobiographie eines der ältesten und hervorragendsten Mitglieder unserer
Partei, einer Biographie, die äußerst charakteristisch ist für einen Revolutionär, für einen Praktiker der illegalen Arbeit, sondern machen uns auch mit der Taktik und der organisatorischen Tätigkeit der zentralen und einiger lokalen Organisationen unserer Partei bekannt.
Einige vom Genossen Pjatnizki mitgeteilte Tatsachen aus dem Leben unserer Partei werden hier zum ersten Male veröffentlicht und bilden eine wertvolle Ergänzung zu dem, was bereits publiziert worden ist, weil sie die unwillkürlichen Irrtümer richtig stellen, die sich in die Aufzeichnungen anderer Genossen eingeschlichen haben.
Aus diesem Grunde bilden die Erinnerungen des Genossen Pjatnizki einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der KP der SU.
Einige Vorbemerkungen zu meinen Erinnerungen
Während der Reinigung der KP der SU im Jahre 1921 mussten alle alten Parteigenossen den mit der Reinigung betrauten Kommissionen der Verwaltungsbezirksleitungen schriftlich ihre Parteibiographie einreichen. Mein Versuch, eine solche Biographie zu schreiben, misslang; an Stelle der Biographie entstanden Aufzeichnungen über meinen Eintritt in die Partei und über Parteiarbeit längst vergangener Zeit.
Im Sommer des Jahres 1922, nach Ausführung einer Reihe von Aufträgen der Moskauer Istpart, führte ich die von mir begonnenen Aufzeichnungen für die Zeit bis Anfang des Jahres 1904 fort. Da ich mit Arbeit überlastet war und keine freie Zeit zur Verfügung hatte, so gelang es mir erst während der Sommerferien 1924 die Niederschrift meiner Erinnerungen zu Ende zu führen. Für meine Aufzeichnungen standen mir weder Briefe noch Dokumente zur Verfügung. Die Reisen aus Russland ins Ausland und zurück, das illegale Leben in Russland und im Ausland, Gefängnishaft und Verbannung machten es mir unmöglich, Briefe und Dokumente aufzubewahren. Außerdem war ich durch Mangel an Zeit verhindert, die zahlreichen Zeitschriften und Veröffentlichungen einzelner Genossen, die die Geschichte unserer Partei behandeln, durchzusehen. Alle Erinnerungen an die Zeit von 1896—1917 schrieb ich aus dem Gedächtnis nieder, was natürlich nicht ohne Wirkung auf ihren Inhalt und ihre Vollständigkeit sein konnte. Einen großen Teil des Niedergeschriebenen habe ich den Genossen gezeigt, mit denen ich in verschiedenen Städten zusammen gearbeitet habe. Diese Genossen haben die von mir aufgezeichneten Tatsachen bestätigt.
Erst nachdem meine Erinnerungen niedergeschrieben waren, sah ich mich gezwungen, die Richtigkeit der Daten nachzuprüfen und nach den wirklichen Namen derjenigen Genossen zu forschen, die mir nur ihren Decknamen nach bekannt waren. Das ist mir fast vollständig gelungen.
Wenn die jungen Mitglieder unserer Partei und die junge Leningarde durch meine Aufzeichnungen auch nur die geringste Vorstellung davon bekommen werden, unter welchen Bedingungen die alten Mitglieder der bolschewistischen Partei zu arbeiten hatten (die Bedingungen, unter denen ich zu arbeiten gezwungen war, sind wohl im großen und ganzen für viele Bolschewiki die gleichen gewesen; manche von ihnen haben sogar noch unter viel schlimmeren Bedingungen arbeiten müssen), und wenn auch nur die geringste Kleinigkeit aus meinen Aufzeichnungen für die Geschichte unserer Partei von Nutzen sein wird, so werde ich die Zeit, die ich auf die Abfassung dieser „Erinnerungen" verwandt habe, nicht für verloren halten.
O. P.

 

Der Beginn meiner revolutionären Tätigkeit (1896-1902)

Als ich im Jahre 1896 als Lehrling in einer Schneiderwerkstatt arbeitete, hörte ich oft die Arbeiter und Arbeiterinnen über die Sozialisten sprechen, die aus verschiedenen Städten Russlands in unsere Stadt (ihren Heimatort) abgeschoben worden waren. Aus flüchtigen Gesprächen erfuhr ich, dass diese Verbannten mit Vertretern der ortsansässigen Intelligenz und mit den Arbeitern zusammenkamen, dass sie den Arbeitern Unterricht im Lesen und Schreiben erteilten, ihnen Broschüren zu lesen gaben usw. Außerdem wurde in der Werkstatt oft von geheimen Versammlungen gesprochen, die in den Gouvernement-Hauptstädten Wilna, Kowno und Warschau abgehalten wurden, und von Verhaftungen, die bei diesen Gelegenheiten stattfanden. Das alles interessierte mich sehr, aber es gelang mir nicht, etwas Genaueres darüber zu erfahren.
Ende 1896 kamen zu den Feiertagen meine beiden Brüder nach Hause. Meine Verwunderung war groß, als ich in unserem Hause plötzlich Verbannte und Vertreter der städtischen Intelligenz sah, ferner Arbeiter und sogar Arbeiterinnen, mit denen ich in derselben Werkstatt zusammen arbeitete. Es stellte sich heraus, dass meine beiden Brüder mit den Pionieren der Arbeiterbewegung in Verbindung standen, die entweder in die Heimatstadt abgeschoben worden oder zu den Feiertagen nach Hause gekommen waren.
Meine Geburtsstadt — Wilkomir — zählte 14 000 Einwohner. Außer zahllosen Werkstätten der Handwerker gab es dort zwei oder drei kleinere Gerbereien, einige kleine Borstenfabriken und eine große Schlosserwerkstatt. Unter den Arbeitern dieser industriellen Betriebe gab es auch solche, die bereits in großen Städten gelebt hatten.
An den großen Feiertagen pflegten die Arbeiter, die in Kowno, Wilna, Dünaburg und Warschau beschäftigt waren, zu ihren Angehörigen zu Besuch zu kommen. In dem Städtchen ging es an solchen Feiertagen sehr lebhaft zu. Die Gäste veranstalteten zusammen mit den Klassenbewussten Arbeitern Wilkomirs in den Wäldern oder in Wohnungen, die außerhalb der Stadt gelegen waren, Theatervorstellungen, Versammlungen oder gesellige Abende mit Reden, Ansprachen, revolutionären Liedern usw. Genau so war es im Jahre 1906, als ich nach langer Abwesenheit für einige Wochen in die Heimatstadt geriet. Eine Ortsgruppe des „Bund" hatte es in Wilkomir wohl schon seit 1900—1901 gegeben, im Sommer 1906 aber bestand dort bereits eine große Organisation der RSDAP (Anm.: RSDAP — Russische Sozialdemokratische Arbeiter-Partei.), zu deren Mitgliedern russische, jüdische, litauische, polnische Arbeiter sowie Landarbeiter der nahe gelegenen großen Güter zählten.
Ich hatte den Wunsch, möglichst rasch selbständig zu werden. Zu der Zeit wurde mir in der Kreisstadt Ponewjesch, im Gouvernement Kowno, zu günstigen Bedingungen eine Arbeit angeboten. Ich klammerte mich an diese Möglichkeit und fuhr hin, obgleich meine Angehörigen ihre Einwilligung dazu nicht gegeben hatten.
In Ponewjesch arbeiteten in der Werkstatt, in die ich kam, etwa 15 bis 17 Menschen. Der Arbeitstag dauerte 15—18 Stunden. Die Unwissenheit der Arbeiter und Arbeiterinnen war unglaublich. Die Löhne waren niedrig, aber die Arbeiter nahmen das hin, ohne zu mucken. Meine Lage war noch schlimmer, denn ich hatte keine Wohnung und musste in der Werkstatt auf dem Tisch schlafen. Trotzdem der Arbeitstag sehr lang war, konnte ich nicht einmal dann ausruhen, wenn alle in der Werkstatt Beschäftigten schon nach Hause gegangen waren, denn dann begann der Werkstattbesitzer auf demselben Tische zuzuschneiden, auf dem ich schlafen sollte. Eine ähnliche Ausbeutung habe ich später nie wieder gesehen. Nicht von einer solchen Arbeit und nicht von solchen Arbeitern hatte ich vor meiner Abreise aus der Heimatstadt geträumt. Ich suchte nach einer Arbeiterorganisation, nach Leseabenden und Versammlungen, fand aber nichts. Außerdem hatte ich große Sehnsucht nach meiner Heimatstadt. All das veranlasste mich, wieder heimzukehren, als meine Angehörigen mich dazu aufforderten. Aber mein Aufenthalt zu Hause war nur von kurzer Dauer. Ende 1897 war ich bereits in Kowno. Dort arbeitete ich in einer Werkstatt, in der ich 3 Rubel Wochenlohn erhielt, und wohnte bei einem meiner Brüder, bei dem sehr oft Versammlungen, Vorträge, Diskussionsabende und dergleichen stattfanden. Anfangs jagte man mich bei solchen Anlässen aus dem Zimmer, dann aber wurde ich als „gleichberechtigter", schweigsamer Teilnehmer zu all diesen Versammlungen zugelassen. Zu der Zeit setzten Haussuchungen und Verhaftungen ein. Die aktiven Mitglieder des Selbstbildungszirkels des illegalen Tischlerverbandes, die sich bei meinem Bruder zu versammeln pflegten, fingen an, mich mit geheimen und verantwortungsvollen Aufträgen zu betrauen, wie z. B. Literatur von Kowno nach Wilna zu schaffen, verschiedene Pakete zu übermitteln usw.
Meine beiden Brüder waren von Beruf Tischler, darum verkehrte ich viel mehr mit Tischlern, als mit meinen damaligen Berufskollegen. Das kam daher, weil die Tischler mich stillschweigend in ihren Kreis aufgenommen hatten, während meine Arbeitskollegen mich noch für zu jung hielten, um mich als ihresgleichen anzuerkennen. Und ich selbst zog es vor, — so lange ich nur Zuschauer war — mehr unter den Tischlern zu verkehren, denn das waren gesetzte, erwachsene Arbeiter; außerdem waren sie im Vergleich zu den Arbeitern anderer Berufe viel zahlreicher.
Als ich nach Kowno kam, fiel mir auf, dass zu meinem Zweitältesten Bruder, bei dem ich wohnte, sehr oft Kollegen kamen, dass ihnen irgendjemand vorlas und das Gelesene erklärte. Oft dauerte so ein Leseabend bis in die Mitternacht hinein. Manchmal kamen diese Kollegen und diskutierten so laut, so heftig und aufgeregt, dass es mir schien, sie hätten Streit miteinander. Später begriff ich natürlich, dass es sich im ersten Falle um die Zusammenkünfte eines Selbstbildungszirkels oder eines Zirkels für politischen Elementarunterricht handelte, im zweiten Falle — um Versammlungen des Tischlerverbandes, in denen Fragen organisatorischen Charakters besprochen wurden. Wie sehr ich mein Gedächtnis auch anstrenge, so kann ich mich doch nicht entsinnen, bei diesen Zusammenkünften jemals Arbeiter anderer Berufe gesehen zu haben. In den Organisationsversammlungen wurde für die verschiedenen Kategorien der Tischler der Mindestlohn pro Tag oder pro Woche festgesetzt, unter dem niemand arbeiten durfte. Die Tischler hatten eine Arbeitsbörse (auf der Straße: denn es war Sommer), wohin die Unternehmer und Vermittler kamen, um Arbeiter zu suchen. Soweit ich mich erinnern kann, gab es in jenem Sommer keine größeren Streiks der Tischler, während in anderen Berufen (in den Zigarettenhülsen-Fabriken, bei den Schneidern usw.) Lohnkämpfe stattfanden. Allgemeinen Tischlerversammlungen habe ich nie beigewohnt und weiß nicht einmal, ob es solche gegeben hat. Dagegen kamen die Tischler auf der gemeinsamen „Arbeitsbörse" aller Arbeiter (als ich nach Kowno kam, befand sie sich an der Alexotski-Brücke, wurde dann aber in die Gegend des Gouverneurpalais verlegt) oder in der Teestube des Vereins zur Bekämpfung des Alkohols zusammen, wo sich ebenfalls Arbeiter aller Berufe einfanden — und ich war stets unter ihnen zu finden. Natürlich waren das keine Versammlungen, wie wir sie jetzt gewohnt sind: mit einer Tagesordnung, einem Vorsitzenden und Schriftführer. Es war nur ein kurzer Meinungsaustausch über verschiedene Fragen.
Die aktiveren unter den Tischlern veranstalteten oft gesellige Abende. Da wurden dann kurze Reden gehalten und ein jeder Teilnehmer musste der Reihe nach Aussprüche tun, wie z. B. „Nieder mit dem Kapitalismus!", „Es lebe der Sozialismus!" usw. Ich erinnere mich an zwei Tischler, die sich dabei besonders hervortaten: der eine von ihnen war jung, etwa 20 oder 21 Jahre alt, der andere ein alter Mann. Der erste war sehr energisch, erfasste stets rasch den Kern der Fragen, außerdem verstand er es, gut und schön zu sprechen. Die Arbeiter liebten und schätzten ihn. Sein Name war Sundel. Als er zur Musterung ging, da warteten viele seiner Freunde den ganzen Tag über vor der Kommandantur, um zu erfahren, ob er Soldat werden sollte oder nicht. Im Jahre 1905 begegnete ich ihm in Berlin. Er war Anhänger der Mehrheit der RSDAP. und gerade im Begriff, im Auftrage der Redaktion des „Wperiod" nach Russland zu reisen. Der zweite war aus England oder Amerika gekommen, wo er in einem Parteiklub oder einer Bibliothek angestellt gewesen war. Er erzählte viel von Versammlungen im Auslande, und da er sehr belesen war, auch von Büchern. Man schätzte ihn und hörte ihm mit Aufmerksamkeit zu. Leider ist mir sein Name entfallen.
Die Solidarität unter den Arbeitern der verschiedenen Berufszweige war sehr stark. Während der Streiks in anderen Berufen unterstützten die Tischler die Streikenden nicht nur mit Geld und Ratschlägen, sondern trieben auch Agitation unter den streikenden Arbeitern und Arbeiterinnen, hielten Streikbrecher an den Eingängen zu den Fabriken und Werkstätten fest und ließen sie nicht hinein. Sehr oft kam es dabei zu Zusammenstößen zwischen Streikbrechern und Streikposten, was zur Folge hatte, dass unter den letzten Verhaftungen vorgenommen wurden. Hier muss ich hervorheben, dass die Arbeiter sich den Verhafteten gegenüber prachtvoll benahmen und sie, beinahe könnte man sagen, mit Ehrfurcht behandelten. Ich entsinne mich noch, wie im Jahre 1899, gleich nach meiner Ankunft in Wilna, die Arbeiter verschiedener Werkstätten erfuhren, dass ein Schuster Mendel Garb und noch andere Genossen nach Sibirien verschickt werden sollten. Die Arbeiter ließen die Arbeit liegen, eilten zur Strecke bei dem Bahnhof, den der Zug passieren musste, und als der Gefangenenwagen ankam, wurde er mit Hochrufen auf die Verbannten und mit Flüchen gegen das zaristische Regime begrüßt. Soweit ich jetzt diese bunt zusammengewürfelte Demonstration beurteilen kann, war sie ganz spontan zustande gekommen.
Da die Verhafteten auf den Polizeiwachen geschlagen wurden, so bestand die Befürchtung, dass sie beim Verhör unwillkürlich und unbewusst die Namen ihrer Genossen preisgeben könnten. Darum führten die aktiven und Klassenbewussten Genossen eine energische Aufklärungsarbeit durch über die Frage, wie man sich bei Verhören und Verhaftungen zu verhalten habe (Anm.: Im Jahre 1900 wurde vom Auslandsverband der russischen Sozialdemokraten eine Broschüre von Bacharew (W. Akimow-Machnowez) herausgegeben unter dem Titel: „Wie hat man sich bei Verhören zu verhalten."). Wer sich bei Vernehmungen schlecht benahm, wurde aus dem Kreis der Arbeiter verstoßen, man ging ihm wie einem Aussätzigen aus dem Wege. Wer aber bewusst Verrat übte, mit dem wurde erbarmungslos abgerechnet. (Ich erinnere mich sogar eines Falles, wo sich auf der „Arbeitsbörse" in Wilna das Gerücht verbreitete, ein Verräter aus Riga sei angekommen. Er wurde ausfindig gemacht, in eine stille Gasse in der Nähe der Arbeitsbörse gelockt und dort zu Tode geprügelt.) Da in der Wohnung des Bruders, bei dem ich wohnte, bei jedem beliebigen Anlass Haussuchungen stattfanden, so hatte ich mir gründlich die Wissenschaft zu eigen gemacht, wie man sich bei Verhaftungen zu verhalten habe, noch lange bevor ich wegen meiner eigenen Tätigkeit verhaftet werden konnte.
Mitte 1898 wurde ich vollberechtigtes und aktives Mitglied des illegalen Schneiderverbandes, und zwar gegen den Willen meines älteren Bruders, der wünschte, dass ich vor dem Eintritt in die revolutionäre Bewegung erst noch lernen sollte.
Die Arbeiter, mit denen ich zu jener Zeit in Kowno zusammenkam, waren zum größten Teil Handwerker. Sie waren in illegalen Gewerkschaften nach Berufen organisiert. Der Hauptkampf ging um die Verkürzung des Arbeitstages auf 12 Stunden und die Erhöhung der Löhne. Die Kampfmethoden waren: Einzel- und Gruppenagitation für diese Forderungen, Streiks und Einschüchterung der Arbeiter und Arbeiterinnen, die gewillt waren, mehr als 12 Stunden täglich zu arbeiten. In den Arbeiterversammlungen wurden die Broschüren — Dikstein: „Wovon lebt ein jeder?" und Lafargue: „Das Recht auf Faulheit" vorgelesen. Die erste Broschüre wurde von den Arbeitern schnell verstanden, mit der zweiten war es bedeutend schwieriger. Gegen Streikbrecher wurde außer der mündlichen Beeinflussung auch Gewalt angewandt; bei den Unternehmern aber, in deren Betrieben man infolge der Indifferenz der Arbeiter keinen Streik organisieren konnte, wurden die Fensterscheiben eingeschlagen. Das hatte eine starke Wirkung. Zu den gleichen Methoden griff auch der Verband, dem ich als Mitglied angehörte.
Es gab damals eine Zentralstelle, die aus dem Auslande, aus Petersburg und anderen russischen Städten Literatur beschaffte, Selbstbildungszirkel organisierte, den Analphabeten Lesen und Schreiben beibrachte und allgemeine Bildungskurse für diejenigen Arbeiter veranstaltete, die mit der Zentralstelle oder den Zentralstellen in Verbindung standen. Ab und zu veranstaltete die Zentrale Massenversammlungen, Maifeiern und einfache Feiern in den damals in der nächsten Nähe von Kowno gelegenen vielen Wäldern. Bei solchen Gelegenheiten kamen stets ziemlich viel Menschen zusammen. In diesen Versammlungen wurden Reden und Ansprachen gehalten, und manchmal wurde auch etwas vorgelesen. An den Inhalt der dort gehaltenen Reden kann ich mich nicht erinnern. Die Teilnehmer kamen einzeln zu den Versammlungen. Wenn man auf die Patrouille stieß, musste man eine vereinbarte Parole nennen, worauf die Patrouille den Versammlungsort angab. Nach der Versammlung aber verließ man zusammen den Wald und ging bis zur Stadt, meist mit roten Fahnen, revolutionäre Lieder singend. In der Stadt trennte man sich und ging wieder einzeln nach Hause. Durch die Arbeiter, die den Selbstbildungszirkeln angehörten, übte die Zentrale ihren Einfluss auf die illegalen Gewerkschaftsverbände aus.
Als aktives Mitglied meiner Gewerkschaft, als „Nihilist" und „Streikhetzer" konnte ich Ende 1898 bei keinem Damenschneider mehr Arbeit finden. Darum war ich gezwungen, nach Wilna zu reisen. Man gab mir Empfehlungen mit, und gleich nach meiner Ankunft bei den Wilnaer Genossen fand ich Arbeit und verdiente wöchentlich 5 Rubel. Ich trat sofort dem Verband der Damenschneider bei, sehr bald wurde ich zum Verbandssekretär und Kassierer gewählt; die Arbeit in der Werkstatt aber gab ich natürlich nicht auf.
Zu der Zeit hatten die Arbeiter aller Berufe bereits ihre Verbände: die Metallarbeiter, die Tischler, die Maler, die Herren- und Damenschneider, die Näherinnen usw. In Wilna waren die Gewerkschaften damals organisatorisch noch nicht mit einander verbunden. Doch wurden von Zeit zu Zeit Vertreter der verschiedenen Gewerkschaften anscheinend durch die Zentralstelle des „Bund" zu Besprechungen zusammengerufen, um Fragen, wie die Demonstration am 1. Mai oder das Programm irgend einer revolutionären Feier usw. zu beraten.
Aber das war gar nicht einmal notwendig, denn alle mehr oder weniger aktiven Genossen aus den Gewerkschaften trafen sich tagtäglich in der Sawalnaja auf der „Börse", die lange Zeit hindurch bestand, obwohl die Polizei wiederholt versucht hatte, sie zu sprengen. Gleich nach der Arbeit liefen die Arbeiter und Arbeiterinnen aus allen Straßen nach der Sawalnaja und erledigten dort im Spazierengehen ihre Angelegenheiten. Die „Börse" spielte zu jener Zeit eine große Rolle, was z. B. folgender Fall zeigt: Eines Tages wurden infolge einer Denunziation in einer Vorstadt Wilnas — in der Neustadt — unweit der „Börse" zwei Genossinnen und ein Genosse (E. Raizug, R. Sack und S. Leifer) mit Flugblättern verhaftet. Das erfuhr die „Börse". Ohne von irgend jemand dazu aufgefordert zu sein, stürzten die Arbeiter zum Polizeirevier. Den Arbeitern der „Börse" schlossen sich die Arbeiter der Vorstadt an. Die Menge forderte die Befreiung der Verhafteten, was aber von der Polizei abgelehnt wurde. Daraufhin wurden die Telefondrähte durchschnitten, nach einer regelrechten Schlacht das Revier gestürmt und die Genossinnen befreit. Beim Sturm auf das Polizeirevier waren einige Arbeiter durch Säbelhiebe verwundet worden.
Um die damalige Stimmung der Arbeiter zu kennzeichnen, will ich bei dem Sturm auf das Revier etwas verweilen. Die Verhafteten saßen im oberen Stockwerk. Deshalb mussten die Arbeiter, als sie das Erdgeschoß erstürmt hatten, die Treppe hinaufsteigen; oben aber standen die Polizisten und teilten Säbelhiebe nach links und rechts aus. Da kletterten die Arbeiter auf das Dach des Gebäudes, von dort auf den Dachboden und begannen von oben herab Steine auf die Polizisten zu werfen. Dadurch wurden diese gezwungen, die Treppe freizugeben, und die Menge konnte nach oben gelangen. Gegen Morgen nahmen die Arbeiter ihre Verwundeten mit sich und räumten die Vorstadt.
Als es zu tagen begann, wurden alle Wege nach der Vorstadt umzingelt und jeder verhaftet, den die Polizisten oder Spitzel bezeichneten. Obwohl die Zahl der Opfer die der Befreiten bei weitem überstieg, kann ich mich doch nicht entsinnen, dass irgend jemand von den Arbeitern, die an dem Überfall teilgenommen hatten, in der Werkstatt oder auf der „Börse" das Geschehene bedauert hätte. Zwei Wochen später wurde mir vorgeschlagen, erst die eine, dann die andere der befreiten Arbeiterinnen zur Grenze zu begleiten, womit ich mich natürlich sofort einverstanden erklärte. Wir verließen Wilna und gelangten wohlbehalten an den betreffenden Grenzort. All das geschah im Juni 1900. Ich war damals stolz darauf, dass man mir eine so verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut hatte.
Die klassenbewussteren und aktiveren Arbeiter wurden von Intellektuellen unterrichtet. Es bestanden im Verband der Damenschneider zwei Zirkel. An diesen Zirkeln nahm auch ich als Schüler teil. Ein Zirkel beschäftigte sich mit Nationalökonomie, der andere mit Fragen der Arbeiterparteien des Auslands, der Kolonialpolitik der Großmächte usw. Einige Zeit darauf wurden auch aus Wilna Truppen nach China entsandt und zwar, wie mir scheint, zur Unterdrückung des Boxeraufstandes. Die Soldaten wurden von ihren Vätern, Müttern, Frauen und Kindern unter lautem Wehklagen begleitet. Beim Anblick dieses Schauspiels war es mir, dank dem Unterricht im Zirkel, schon damals klar, dass man diese Soldaten nicht im Interesse der Völker Russlands und Chinas zur Schlachtbank schickte.
Die Zirkel erfreuten sich eines regelmäßigen Besuchs, und den Schülern wurden tatsächlich die ersten Grundlagen politischen Wissens vermittelt. Solche Zirkel bestanden in allen Gewerkschaften.
Zum Lesen blieb mir sehr wenig Zeit übrig. Das konnte ich nur nachts tun. Es war damals sehr schwierig, gute Bücher zu bekommen, denn mein Verdienst war so gering, dass ich mir keine kaufen konnte. Bibliotheken waren entweder noch nicht organisiert oder aber wir wussten nichts von ihrer Existenz. Die Bibliotheken der Gewerkschaften waren keineswegs auf der Höhe. Gelang es mir, gute legale oder illegale Bücher zu erwischen, so las ich sie in einem Zuge durch. (Einen gewaltigen Eindruck machte auf mich „Andrej Koschuchow" von Krawtschinski und ein Büchlein über die Pariser Kommune, dessen Titel ich vergessen habe.) Mit Ungeduld wartete ich auf die folgende Nacht, um weiterlesen zu können.
Eines Tages — Ende Februar 1899 oder Anfang 1900 — wurde mir auf der „Börse" mitgeteilt, dass ich in einer Wohnung an der Peripherie der Stadt erwartet werde. Ich ging sofort hin. Wie es sich herausstellte, tagte dort eine Versammlung der Gewerkschaftsvertreter, an der auch ein Genosse von den Intellektuellen teilnahm. Man erörterte die Frage der Maifeier. Es handelte sich darum, ob man den 1. Mai in Wohnungen, im Walde oder auf der Straße feiern sollte. Nach langen Debatten wurde beschlossen, eine Demonstration in der Hauptstraße der Stadt zu veranstalten. Jeder Verband sollte noch vor dem 1. Mai eine Mitgliederversammlung einberufen und dort die Frage der Demonstration erörtern. Jeder dieser Versammlungen sollte ein „Intellektueller" beiwohnen. Ich berief eine große Mitgliederversammlung ein. Wir warteten lange auf den Intellektuellen, der sprechen sollte, aber er kam nicht. Nun war ich gezwungen, auseinanderzusetzen, welche Bedeutung der 1. Mai habe und warum man auf der Straße demonstrieren müsse (bis dahin wurde der 1. Mai entweder in Wohnungen oder im Walde gefeiert). Das war nicht leicht, denn die ganze Arbeit bestand damals im wirtschaftlichen Kampf gegen die Unternehmer, auf deren Seite die Polizei stand. Das war alles, was die Mitglieder der damaligen Gewerkschaften wussten. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich damals die Notwendigkeit einer Straßendemonstration damit begründet, dass die Streiks uns Arbeitern in den letzten zwei Jahren nichts Positives gebracht hätten und dass man dem höchsten Beamten in der Stadt — dem Gouverneur — zeigen müsste, dass die Arbeiter mit ihrer Lage unzufrieden seien und dagegen protestieren. Die Versammlung beschloss einstimmig, an der Demonstration teilzunehmen. Sofort wurden auch Zehnerführer bestimmt, die am Abend des 1. Mai gleich nach der Arbeit in eine kleine Gasse, in der Nähe der Hauptstraße Wilnas, auf der die Demonstration stattfinden sollte, zu kommen und je neun Demonstranten, für die sie verantwortlich waren, mitzubringen hatten.
Zur festgesetzten Stunde kam ich mit 9 Genossen. Als wir die Hauptstraße erreichten, waren alle bereits vollzählig versammelt. Im Nu war die Straße überfüllt von Arbeitern und Arbeiterinnen, die sich unter die bürgerlichen Spaziergänger mischten. Berittene Kosaken und Polizei merkten bald, dass ein außergewöhnliches Publikum in großer Menge die Straße füllte und waren darum auf der Hut. Plötzlich wurde eine rote Fahne entrollt. Hier und da begann man zu singen. Es entstand ein Tumult. Die Läden wurden eiligst geschlossen und die Spaziergänger machten sich aus dem Staube. Polizei und Kosaken stürzten sich auf die Demonstranten und hieben mit den Nagaikas nach rechts und links. Das ist wohl für die Arbeiterschaft Wilnas die Feuertaufe gewesen.
Ein Jahr darauf fand die Maidemonstration an einem Feiertage statt. Zum Sammelpunkt wurde der Garten am Ende der Hauptstraße bestimmt. Beim Verlassen des Gartens wurden die Demonstranten von Kosaken überfallen, wobei viele Arbeiter durch Hiebe verwundet und zahlreiche Verhaftungen vorgenommen wurden.
Das Jahr zwischen der ersten und zweiten Demonstration war nicht spurlos vorübergegangen. Man diskutierte nicht mehr darüber, ob der 1. Mai in Wohnungen, im Walde oder auf der Straße gefeiert werden sollte. In allen Gewerkschaften wurde einfach mitgeteilt, dass eine Demonstration stattfinden werde, und für jeden Verband wurden Zeit- und Sammelpunkte festgesetzt. Weiter nichts! Aber auch ohne die Maßnahmen, die man im vorhergehenden Jahre angewandt hatte, erschienen die Arbeiter sehr zahlreich zur Demonstration. Hätte man mich gefragt, welcher Organisation ich damals angehört habe, so hätte ich darauf nicht mit der Bestimmtheit antworten können, mit der heutzutage jeder eine solche Frage zu beantworten imstande ist.
Die Arbeit in den Gewerkschaften bestand damals hauptsächlich im Werben immer größerer Massen von Arbeitern und Arbeiterinnen für den Verband, im Kampf für die Verkürzung des Arbeitstages und für höhere Löhne. Irgendwelche Organisationen schickten uns Leiter für die Selbstbildungszirkel. Zweifellos hat es auch irgendeine Organisation gegeben, die vor den Demonstrationen die Vertreter der Gewerkschaften zu Beratungen zusammenberief, aber — soweit ich mich entsinnen kann — interessierte uns diese Frage gar nicht.
In meiner Wohnung lag zusammengepackt die Handdruckerei der Zeitung „Rabotschoje Snamja" („Das Banner des Arbeiters"; diese Druckerei übernahm dann von mir Lurje, einer der Gründer der Gruppe „Rabotschoje Snamja", die die gleichnamige illegale Zeitung herausgab). Dank den persönlichen Beziehungen, die mir noch von den Kownoer Zirkeln her geblieben waren, reiste ich zu jener Zeit regelmäßig nach Kowno, um von dort revolutionäre Literatur für die Wilnaer Ortsgruppe des „Bund" zu holen.
Schließlich, im Sommer des Jahres 1901 — ich war damals schon fest mit der Organisation der „Iskra" verbunden — machten mir die Mitglieder der Kownoer Ortsgruppe des „Bund" gelegentlich eines Aufenthaltes in Sachen der „Iskra" in Kowno den Vorschlag, an der Organisierung und Führung eines Streiks der Arbeiter mitzuwirken, die auf dem Njemen Nutzholz nach Deutschland flößten. Das nahm ich natürlich an (Anm.: An diesem Streik nahmen erwachsene, solide, aber unaufgeklärte Arbeiter teil. Sie wurden zum ersten Male durch meinen ältesten Bruder organisiert. Sie hielten sich sehr gut, obwohl der Streik einige Wochen lang dauerte. Ich kann nicht umhin, die Sympathie, die den Streikenden von den anderen Arbeitern Kownos bewiesen wurde, zu erwähnen. Wir wussten, dass wir den Streik gewinnen werden, da die Unternehmer die Saison nicht unausgenutzt vorübergehen lassen konnten, aber man musste den Streikenden materiell zu Hilfe kommen, und wir hatten selbstverständlich kein Geld. Da forderten wir auf der „Börse" die Arbeiter auf, uns ihre Uhren, Ringe usw. zum Versetzen in die Pfandleihe zu überlassen, um das auf diese Weise gewonnene Geld den Streikenden zu geben. Man leistete unserem Rufe Folge, und der Streik wurde gewonnen, worauf die Teilnehmer am Streik das ihnen geborgte Geld zurückgaben. Unter den Streikenden wurden Verhaftungen vorgenommen, aber die Menge stürmte die Polizeiwache der Vorstadt und befreite die Verhafteten.).
In den Zirkeln wurden wir im Geiste des Internationalismus erzogen. Man erzählte uns auch von den Arbeiterorganisationen des Auslandes. Ich glaubte damals, dass es den russischen Arbeitern sehr schwer fallen würde, sich solche Freiheiten zu erobern, wie sie die ausländischen Arbeiter bereits besaßen; ich glaubte, diese würden uns zu Hilfe kommen, und uns gemeinsam würde es gelingen, eine Staatsordnung einzuführen, unter der man alles, was man will, lesen kann, unter der man für die Aufbewahrung von revolutionärer Literatur nicht verhaftet wird, eine Ordnung, die keine Einmischung der Polizei bei Streiks und keine Misshandlungen von Verhafteten auf den Polizeiwachen kennt. Es kam gerade umgekehrt: nach Verlauf von 18—20 Jahren ist die Arbeiterklasse in keinem Lande mehr im Besitz des Wenigen, wovon ich damals geträumt hatte, die Arbeiterklasse Russlands hat dagegen mit dem kapitalistischen Regime ein Ende gemacht und hilft nun mit allen Kräften dem Proletariat der ganzen Welt.
Ich erinnere mich nicht, dass zu jener Zeit in den Zirkeln vom „Bund" oder von der PPS (Anm.: Polnische Sozialdemokratische Partei.) gesprochen wurde, obwohl diese Organisationen nach kurzer Zeit in der Öffentlichkeit auftauchten. Ich weiß nur noch, dass nicht selten Flugblätter erschienen, die ich ebenso wie andere aktive Gewerkschaftsmitglieder nach einem von vornherein festgelegten Plan verbreitete. Um die Organisation der Literaturverbreitung war es damals besser bestellt als bei den illegalen Parteien des Auslandes in der heutigen Zeit. Eine Gruppe von Genossen erschien an einem bestimmten Ort. Dort erhielt jeder von ihnen ein Päckchen Flugblätter zur Verbreitung in einer oder mehreren Straßen. Nach der Erledigung des Auftrages musste jeder an einen vorher vereinbarten Ort kommen und über die verrichtete Arbeit Meldung erstatten. Auf diese Weise bekam die Zentralstelle ein klares Bild und wusste immer, wo etwas geschehen war, wo die Verbreitung der Drucksachen klappte und wo nicht.
Wer die Flugblätter herausgab und welche Organisation sie zeichnete, interessierte mich damals nicht. Für mich war die Hauptsache, dass dies für das Proletariat notwendig war. Infolgedessen musste man Verhaftungen, Misshandlungen, kurz alles riskieren — wenn es nur der Sache Nutzen brachte.
In den Jahren 1899—1900 fanden die Diskussionen zwischen den Vertretern des „Bund" und der PPS statt. Der „Bund" bemächtigte sich der illegalen Gewerkschaftsverbände der jüdischen Arbeiter (vielleicht hatte er sie auch organisiert). Die PPS begann mit dem „Bund" zu konkurrieren. — Die Taktik der Gewerkschaften machte bankrott, denn trotz jahrelanger Kämpfe hatten die Arbeiter bei ihren Unternehmern nichts erreicht. Das erklärte sich dadurch, dass die Unternehmer in der Saison zwar nachgaben, dafür aber bei Eintritt der „stillen Zeit" alles sofort rückgängig machten. Damit waren die Klassenbewussten Arbeiter natürlich unzufrieden.
Aber schon vor meiner ersten Verhaftung im März 1902 hatte ich begriffen, dass nicht allein die Saisonarbeit die Ursache dafür war, dass die Gewerkschaften nicht vom Fleck kamen. Die Gründe lagen tiefer. Die jüdischen Arbeiter hatten sich früher organisiert, und die Arbeit unter ihnen war leichter als unter den Litauern, den Polen und Russen. Die leitende Zentrale der jüdischen Arbeiter entfaltete keine Tätigkeit unter den Nichtjuden und wollte das auch gar nicht. Ein Beispiel: nach meiner Flucht aus dem Gefängnis 1902 hielt ich mich eine Zeitlang in Schitomir bei einem führenden Genossen vom „Bund" verborgen, sein Deckname war Urtschik. Ich wohnte einer Versammlung der Ortsleitung des „Bund" bei, in der darüber diskutiert wurde, dass die russischen Arbeiter in Schitomir infolge ihrer Unaufgeklärtheit den wirtschaftlichen Kampf der jüdischen Arbeiter lähmten, weil sie bei Streiks als Streikbrecher auftraten. Dazu wurde nun der salomonische Beschluss gefasst: einige Russen agitatorisch zu bearbeiten, damit diese dann selbst unter ihren Kollegen weiterarbeiten. Damals gab es weder in Wilna noch in anderen Städten des westlichen Gebiets irgendeinen Verband, der alle Arbeiter eines Berufs — ohne Unterschied der Nationalität — erfasste. Das war natürlich im Kampf gegen die Unternehmer nur hinderlich. Fast alle politischen Organisationen — die litauischen SD, die polnischen SD und die PPS — hatten ihre eigenen Gewerkschaften. Sogar die Maidemonstrationen wurden von den verschiedenen Organisationen an verschiedenen Tagen veranstaltet. Nicht wenig schuld daran war auch der „Bund". Zu der Zeit, als er entstand, war es sehr leicht, eine einheitliche Tätigkeit unter sämtlichen Arbeitern des Westgebiets zu entfalten. Später, im Jahre 1903 begegnete ich in Berlin dem Leiter eines Wilnaer Zirkels, zu dessen Schülern ich gezählt hatte. Ich fragte ihn, warum der „Bund" sich von den Arbeitern der anderen Nationalitäten absondere, die jüdischen Arbeiter seien doch dagegen. Darauf erwiderte er: „Die „Iskra" fragt auch nicht danach, was die Arbeiter wollen, sondern geht unbeirrt den Weg, den sie — die „Iskra" — als richtig und notwendig für die Arbeiter erachtet. Das Gleiche tut der „Bund".
Auf der politischen Bühne erschien nun die PPS mit ihrem Programm des politischen Kampfes gegen Russland, der Abtrennung Polens von Russland usw. Einigen von uns imponierte das sehr, aber da wir bereits in den Zirkeln im Geiste des Internationalismus erzogen worden waren, konnte uns die PPS nicht mehr anziehen. Zu jener Zeit erschien in Wilna ein Schlosser namens Faiwtschik, sein Familienname — auch der verschiedener anderer Genossen — war und blieb mir unbekannt. Er kam aus Paris, wo er Mitglied der Gruppe der „Befreiung der Arbeit" gewesen war. Nachdem mir Genosse Faiwtschik das Programm dieser Gruppe auseinandergesetzt hatte, wurde ich einer ihrer eifrigsten Anhänger. Ende 1900 oder Anfang 1901 machte mich Faiwtschik mit Martows Bruder Sergeij Zederbaum (Jeschow) bekannt. Dieser war Bevollmächtigter der Gruppe „Iskra", mit der die Gruppe der „Befreiung der Arbeit" sich vereinigt hatte. Auf diese Weise wurde ich Anhänger der „Iskra".
Ohne der Werkstatt den Rücken zu kehren, und unter Ausnutzung aller Beziehungen, die ich aus meiner Tätigkeit in den Zirkeln und im „Bund" besaß, half ich anfangs der „Iskra" bei der Herstellung eines geregelten Literaturtransportes aus dem Ausland nach Russland und bei der Beförderung von Genossen ins Ausland. Der Transport von Literatur und die Schaffung von Verbindungen mit Russland waren für die „Iskra", die im Auslande erschien, Aufgaben von größter Bedeutung.
Als Jeschow bald darauf aus dem Auslande Nachrichten über den Bestimmungsort der Literatursendungen erhielt und auch erfuhr, wohin man reisen musste, um diese Sendungen abzuholen, fing er an, mich zu diesem Zweck an die Grenze zu senden, was mich stets zwang, meine Arbeit in der Werkstatt für längere Zeit aufzugeben. Da diese Unterbrechungen aber fast immer mit der Saison zusammenfielen, so verlor ich meine Arbeit und musste Not leiden und hungern.
Nach meiner Rückkehr aus Kowno verpflichtete ich mich bei einem Unternehmer für ein Jahr, bei einem Lohne von fünf Rubel wöchentlich. Gegen Weihnachten entließ der Arbeitgeber einen Arbeiter. Darauf traten wir alle in den Streik. Diese Zeit war für den Unternehmer Hochsaison. Den Streik gewannen wir, als aber die „stille Zeit" begann, wartete er nur auf eine Gelegenheit, um mit mir, dem „Leiter" des Streiks, abzurechnen. In diesem Sommer (es war entweder 1899 oder 1900) wurde ich alle Augenblicke nach Kowno geschickt: bald um Literatur zu holen, bald um aus der Polizeihaft befreite Genossen dorthin zu bringen. Mein Unternehmer nutzte eines Tages mein Wegbleiben aus und entließ mich zu einer Zeit, als es unmöglich war, Arbeit zu finden. Ich war lange arbeitslos und war gezwungen, sowohl auf Mittagbrot als auf Wohnung zu verzichten, d. h. man hatte mir die Wohnung gekündigt und gab mir kein Mittagessen mehr. Die Lage war keineswegs sehr angenehm. Dafür hatte ich im Verband beide Hände voll zu tun. Als Schriftführer unserer Gewerkschaft musste ich den neueintretenden Mitgliedern die Statuten vorlesen und erläutern, den Kampf gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in den Werkstätten führen und war noch mit verschiedenen anderen Arbeiten belastet. Da aber geschah etwas, was meine Lage noch verschlimmerte. Einmal kamen die Genossen aus dem „Bund" auf den Gedanken, den Geburtstag Gutenbergs oder den Tag, an dem er die Druckerpresse erfunden hatte, zu feiern. Sie bedienten sich häufig dieser Methoden, denn es wurden dadurch gute Erfolge erzielt und diese Feiern brachten die Teilnehmer einander näher. Die Vertreter einiger Verbände, darunter auch ich, begaben sich mit der Romno-Libauischen Eisenbahn in eine Sommerfrische in der Nähe des Ortes, in dem die Feier stattfinden sollte. In einer der Sommerwohnungen blieben wir über Nacht, um bereits ganz früh am Morgen im Wald zu sein und dort alles für die Feier bereit zu machen. Mit uns war auch eine Frau. Wir überließen ihr das Zimmer in der Sommerwohnung, zogen uns selbst im Vorzimmer aus und legten uns auf der Veranda schlafen. Wir erwachten alle sehr zeitig, konnten uns aber — o, verdammt — nicht vom Platze rühren, denn Spitzbuben hatten sich mit uns einen bösen Spaß geleistet und alle unsere Sachen, von den Stiefeln bis zu den Hüten, gestohlen. Unsere Lage war schlimm. Wir hatten nicht einmal die Möglichkeit, in die Nachbarwohnungen zu gehen und um Hilfe zu bitten. Wie zum Possen kam niemand in unsere Sommerwohnung, denn alle waren mit der Feier beschäftigt. In dieser Lage befanden wir uns bis zum Mittag, als endlich eine bekannte Arbeiterin nach uns zu sehen kam. Als sie erfuhr, was los sei, entfernte sie sich sofort, um in den benachbarten Sommerwohnungen für uns die notwendigsten Kleidungsstücke zusammenzubekommen. Ich erhielt einen Anzug, in dem ich mich am Tage unmöglich auf der Straße hätte zeigen können. Zu einem Rock, der noch einigermaßen anging, bekam ich die Arbeitshose eines Malermeisters. Von den Schuhen war der eine ein Herren- und der andere ein Damenstiefel. Die Ausstattung der anderen Genossen war nicht besser. Mir wurden zusammen mit dem Anzug auch mein Pass und die mit großer Mühe leihweise erworbenen 50 Kopeken gestohlen (wir durften aber keine Anzeige erstatten, da fast jeder von uns Flugblätter, illegale Broschüren und andere verbotene Sachen bei sich gehabt hatte). Für mich war diese Geschichte ein harter Schlag und verschlimmerte meine materielle Lage erheblich. Ich geriet in Schulden, die ich erst gegen Ende des Winters los zu werden vermochte. — Aber Not und Entbehrungen konnten mich nicht dazu bewegen, die Arbeit für die Partei und die Revolution aufzugeben. Im Herbst gelang es mir, Arbeit zu finden. Im März sandte mich der Vertreter der „Iskra" an die Grenze. Ich hatte den Auftrag, einen Genossen — ich glaube, es war Genosse Kopp — zu begleiten und zugleich den Boden für die Beschaffung der Literatur der „Iskra" zu sondieren. Als ich bereits in Wilkowischki (dicht an der Grenze) war, wandten sich einige mir persönlich bekannte Genossen vom „Bund" an mich, mit der Bitte, ihnen beim Abtransport einer größeren Literatursendung nach Wilna und Dünaburg behilflich zu sein. Ich sagte zu, denn ich wollte nicht mit leeren Händen zurückfahren. Aber die Sendung verzögerte sich irgendwo ziemlich lange, und wir waren gezwungen, 2—3 Wochen in dem Städtchen Mariampol zu warten. Endlich war alles so weit, und wir reisten mit der Eisenbahn in der Richtung nach Wilna ab. Auf der Station Pilwischki sollte man uns die Literatur in den Eisenbahnwagen bringen. Trotzdem wir aber dort auf dem Bahnsteig sowohl die Koffer mit der Literatur als auch den Genossen gesehen hatten, der sie uns hineinbringen sollte, ging der Zug ab, ohne dass es geschah. Die Koffer blieben in Pilwischki. Später erfuhren wir, dass dieser Transport aufgeflogen war und dass die Gendarmen nur darauf gewartet hatten, dass jemand die Koffer berühre.
Nach meiner Rückkehr nach Wilna wurde ich wieder arbeitslos und geriet von neuem in Not.
Es war mir gelungen, verschiedene Genossen über die Grenze zu bringen und außerdem persönlich aus dem Ausland zwei Sendungen mit Literatur der „Iskra"- Gruppe zu erhalten, von denen die eine 3 und die andere sogar 10 Pud (Anm.: 1 Pud = 16,38 kg) schwer war.
Es dürfte nicht überflüssig sein, auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die damals mit der Erlangung von Literatur verbunden waren. Im Herbst 1901 erhielt ich die erste 3 Pud schwere Sendung „Iskra"-Literatur im Örtchen Kibarty — an der deutschen Grenze. Dort hatte ich Genossen aus dem Verband der Borstenmacher, die Literatur aus Deutschland herüberbrachten. Von Kibarty konnte ich die Literatur nicht mit der Eisenbahn weiter befördern, weil das Gepäck auf den nahe an der Grenze gelegenen Stationen sorgfältig untersucht wurde. Ich musste daher die Mietskutschen benutzen, die regelmäßig zwischen Kibarty—Mariampol und Kowno verkehrten. Die Fuhrleute, die es irgendwie merkten, dass wir „Schmuggelware" mit uns führten, blieben jedesmal stehen, nachdem sie ein paar Werst gefahren waren, und erhöhten den Fahrpreis. Schließlich erreichten wir Kowno. Auf der Brücke, die nach der Stadt führte, standen Zollbeamte. Mit mir zusammen begleitete die Literatursendung noch ein Genosse, mit dem ich ausmachte, dass ich, wenn die Sendung angehalten werden sollte, mich für den Eigentümer ausgeben würde, während er so zu tun hätte, als ob er mich gar nicht kenne. Auf der Brücke wurden wir angehalten. Der Wagen fuhr mit dem Genossen davon, und ich blieb allein mit der Literatursendung zurück. Beim Öffnen des Korbes fand man dort die Zeitung „Iskra" (bis zur Nr. 7) und verschiedene Broschüren, darunter auch „Die Klassenkämpfe in Frankreich" von Karl Marx. Der Beamte ahnte nicht, auf was für „Schmuggelware" er gestoßen war, denn bisher hatte er stets nur mit Stoffen, Tee und ähnlichen Dingen zu tun gehabt. Deshalb wusste er nicht, was er mit solcher „Ware" anfangen sollte. Aber er ließ mich trotzdem nicht fort. Er versuchte, die Titel der Zeitungen und Broschüren zu lesen und zündete zu diesem Zweck Streichhölzer an (ich wurde nämlich nachts angehalten), aber der Wind, der vom Njemen her blies, machte ihm das Lesen unmöglich. Schließlich bekam ich diese Prozedur satt. Ich steckte ihm mein letztes Geld (eine goldene 5-Rubelmünze) zu und forderte ihn auf, mich sofort mit meinen Sachen gehen zu lassen, da die Zeitungen morgen früh in den Kownoer Zeitungsständen verkauft werden müssten und ich ihn sonst schadenersatzpflichtig machen würde. Der Beamte, der zum ersten Male im Leben solche Zeitungen sah, wollte mich bis zum Morgen dabehalten und sich dann die Zeitungen näher ansehen. Ich forderte ihn aber auf, mir schleunigst beim Aufladen des Korbes auf meinen Rücken behilflich zu sein. Das tat er denn auch, nachdem er mich vorher ersucht hatte, ihm eine Zeitungsnummer und eine Broschüre zu überlassen. Eine Broschüre gab ich ihm, eine Zeitung bekam er aber von mir nicht, da ich vermeiden musste, dass bekannt wurde, auf welchem Wege die „Iskra" befördert werde. Die Last war schwer, eine Droschke war in der Nähe nicht zu sehen, und außerdem besaß ich ja auch kein Geld, da ich alles, was ich bei mir hatte, dem Fuhrmann und dem Zollbeamten gegeben hatte. Ich brach unter der Last zusammen. Schließlich gelang es mir unter großen Anstrengungen, indem ich den Korb wie ein Fass vor mir herrollte, die Straßen am Ufer zu erreichen, wo ich für 15 Kopeken (ich hatte sie zufällig in der Tasche gefunden) — mein ganzes Kapital — eine Droschke nahm und so die Wohnung erreichte. Vor dem Haustor traf ich den Genossen, von dem ich mich auf der Brücke getrennt hatte. Wir beide waren durch das Vorgefallene so aufgeregt, dass wir natürlich nicht einschlafen konnten. Plötzlich hörten wir ein Klopfen an der Haustür. Wir erstarrten beide vor Schreck. Hatte man mich wirklich entdeckt? Aber das war ja beinahe unmöglich! Ich hatte mich ja anfangs zu einem kleinen Hotel fahren lassen, erst als auf mein Klopfen kein Mensch öffnete, befahl ich dem Kutscher, — nachdem ich mich vorher vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war — mich zum verabredeten Hause zu bringen. Während es klopfte, verlebte ich ein paar qualvolle Minuten, denn es war klar, dass, wenn ich aufflog, mit mir zusammen der Genosse und auch die Inhaber der Wohnung, die nicht einmal wussten, dass ich Literatur gebracht hatte, verhaftet werden würden. Wir waren bei den Leuten einfach als bei guten Bekannten meiner Verwandten abgestiegen. Zum Glück für uns alle rührte das Klopfen von den Tagelöhnerinnen her, die gekommen waren, um die Wohnung vor dem Feiertag zu reinigen.
In der Stadt zu bleiben oder mich auf den Straßen zu zeigen, hatte ich Angst: wie, wenn der Beamte meine „Ware" — „Die Klassenkämpfe in Frankreich" von K. Marx, die er hatte passieren lassen, seinem Vorgesetzten zeigen würde? Indessen hatte ich aber keine Kopeke mehr für den weiteren Weg von Kowno nach Wilkomir. Schließlich half mir aus meiner verzwickten Lage die Konkurrenz der Fuhrleute, die mit ihren Wagen Reisende zwischen den erwähnten Städten beförderten. Ich verlangte von ihnen ein Pfand dafür, dass sie uns gute Plätze reservieren würden. Mit dem Geld, das wir so erhielten, konnten wir sogar noch einige Einkäufe machen. So gelangten wir unbehelligt nach Wilkomir und von da nach Wilna, von wo aus die Literatur über ganz Russland versandt wurde. Das war im August oder September 1901.
Nach Wilna zurückgekehrt, fand ich wieder Arbeit in einer Werkstatt. Jeschow machte mich mit vielen Intellektuellen bekannt, die sich um den Vertreter der „Iskra" sammelten. Bei der Gelegenheit lernte ich damals auch Genossen A. Solz kennen, den ich einige Male in seiner Wohnung besuchte.
Es war mir jedoch nicht vergönnt, längere Zeit in der Werkstatt zu bleiben; ich bekam den Auftrag, mit Jeschow nach Kowno zu gehen und dort einen Schlupfwinkel zum Empfang einer großen Literatursendung vorzubereiten. Auch Jeschow nahm in Kowno Wohnung. Bald darauf kamen Bauern, die uns mitteilten, dass sie Literatur für uns hätten. Ich reiste mit ihnen ab, um die Sendung zu holen. Das war im Dezember 1901.
Es tobte ein starker Schneesturm. Unterwegs mussten wir bei Bauern übernachten. Wir fuhren einige Tage lang, wohin — das wusste ich selbst nicht, denn die Gegend war mir unbekannt, und die Bauern schwiegen. Erst als ich in die Nähe der Grenze kam, erkannte ich, dass ich mich an der deutsch-russischen Grenze — in Jurburg befand. Wir kamen nachts an und übernachteten in einer großen schmutzigen Bauernhütte, an deren Wänden ringsherum Bänke aufgestellt waren. In der Hütte befand sich auch das Vieh, die Menschen aber schliefen auf dem Ofen. Ich konnte keinen Schlaf finden. Mir war schrecklich zu Mute, und ich horchte mit scharfem Ohr auf alles, was in der Nähe geschah.
Gegen Morgen traten wir bereits — mit der Literatur — die Rückreise an. Und ohne Zwischenfälle — wenn man von dem ständigen Haltmachen vor jedem Monopolladen absieht, wo die Fuhrleute auf meine Kosten so viel tranken, wie sie nur irgend konnten, — erreichten wir Kowno.
Die Literatur wurde unversehrt in die vorgesehene Wohnung gebracht. Das war Freitag früh. Die Bauern hatte ich zu entlohnen. Da ich aber kein Geld mehr hatte, so lief ich ins Gasthaus, wo mich Jeschow erwarten sollte (zu jener Zeit nannte er sich Stupin). An dem Fenster seiner Wohnung erblickte ich das verabredete Zeichen und ich betrat ohne Furcht das Gasthaus — ein kleines, baufälliges Häuschen. Da wurde ich vom Hoteldiener angehalten, der mir entgegenschrie: „Was wollen Sie hier? Machen Sie, dass Sie sofort verschwinden. Man wartet ja schon auf Sie." Es stellte sich heraus, dass Jeschow verhaftet war und dass die Polizei in seinem Zimmer auf der Lauer lag. Ich verließ unbemerkt das Gasthaus, war aber nunmehr ohne Geld und ohne Verbindungen.
Die Literatur sollte von „Militärs"(Anm.: In Wilna existierte damals eine „Iskra"-Gruppe, die nur aus Angehörigen der Armee bestand und von dem Militärarzt, Genossen Gusarow, geleitet wurde. Die Genossen dieser Gruppe waren es, die unsere illegale Literatur nach allen Teilen Russlands brachten.) aus Wilna abgeholt werden. Das beunruhigte mich sehr, denn ich fürchtete, sie würden sich nach dem Gasthaus begeben und der Polizei in die Hände fallen. Sie zu warnen, war mir aber vollkommen unmöglich. Nachdem ich mir Geld geborgt hatte, bezahlte ich die Fuhrleute. Da ich nicht wusste, was alles aufgeflogen und was der Polizei bereits bekannt war, so holte ich zwei Landsleute von mir, — den Former Salomon R o g u t und den Borstenmacher Saul Katzenellenbogen — mit denen ich mich schon früher desöfteren auf der „Börse", in der Teestube des Vereins zur Bekämpfung des Alkohols in Kowno und während der größeren Feiertage in Wilkomir getroffen hatte, und ließ sie die Literatur noch am selben Tage nach dem Dorf Janowo bringen, damit die Sendung von dort zu meinen Verwandten nach Wilkomir weitergeleitet werde. Ich selbst aber musste in Kowno bleiben, um die infolge der Verhaftung Jeschows verlorenen Verbindungen mit der „Iskra"-Organisation wieder herzustellen. Meine Landsleute kamen unbehelligt bis Janowo. Als sie aber am Sonntag morgen in Wilkomir ankamen, trat gerade der Polizeichef mit den Honorationen Wilkomirs aus der Kirche. An dem Krummholz des Pferdes, das den Wagen mit meinen Freunden zog, war eine große Glocke befestigt, die sofort die Aufmerksamkeit des Polizeichefs auf sich lenkte. Er ließ den Fuhrmann festnehmen, da laut einem Erlass dieses Polizeichefs nur er selbst und die Feuerwehr mit Geläute fahren durften.
Einer der beiden Genossen — Katzenellenbogen — nahm ein Paket mit Literatur und entfernte sich. Rogut aber begab sich zusammen mit dem Fuhrmann zur Polizeiwache, wo die Pakete aufgemacht wurden und die illegale Literatur zutage kam. Die gesamte Polizei wurde auf die Beine gebracht und musste den anderen Genossen suchen.
Man schlug Salomon Rogut so lange, bis er das Bewusstsein verlor. Man schleppte ihn nackt von der Polizeiwache zum Polizeipräsidium und verlangte, er solle Angaben über die anderen beteiligten Genossen machen und sagen, wo er die Literatur her habe. Schließlich brachte man ihn nach Kowno. Als ich von der Verhaftung des Genossen Rogut mit der illegalen Literatur erfuhr, verfiel ich in eine entsetzliche Stimmung. Ich glaubte, die Verhaftung eines Genossen verschuldet zu haben, der nicht Anhänger der „Iskra"-Gruppe war und nicht zu ihrer Organisation gehörte. Mein Gefühl sagte mir, dass ich zur Polizei gehen und dort erklären müsste, dass ich es war, der Rogut den Auftrag gegeben hatte. Meinen Wunsch, mich freiwillig zu stellen, teilte ich einigen Genossen von der PPS mit. Ich kann mich an die Namen dieser Genossen nicht mehr erinnern und weiß nur noch soviel, dass eine Genossin Bluma hieß. Die Genossen erklärten sich einverstanden mit meinem Vorsatz, aber in mir selbst kämpfte dagegen das Bewusstsein, dass eine Selbstbezichtigung zwar zu meiner Verhaftung führen, aber dem Salomon Rogut nicht die Freiheit wieder verschaffen würde. Ich beschloss deshalb, die Genossen der „Iskra" aufzusuchen und meine Arbeit weiter fortzusetzen.
Der Fuhrmann war ebenfalls verhaftet und nach Petersburg gebracht worden, wo Jeschow und, wenn ich mich nicht irre, auch Genosse Solz bereits eingesperrt waren. Salomon Rogut aber wurde in das Kownoer Gefängnis gesteckt. Nach einem Monat erfuhren wir, dass er sich erhängt hatte. Es ist nicht gelungen, festzustellen, ob er selbst seinem Leben ein Ende gemacht hat oder zu Tode geprügelt worden ist. Im Jahre 1908 saß ich in demselben Gefängnis, und der Aufseher zeigte mir die Zelle Roguts. Die Aufseher erzählten mir, er sei nach jedem Verhör durch die Polizeiverwaltung in einem so entsetzlichen Zustand ins Gefängnis gebracht worden, dass es möglich ist, dass er sich erhängt habe, um den Qualen, die er ausstehen musste, zu entgehen. Der Tod dieses Genossen, den ich verschuldet zu haben glaubte, machte auf mich einen niederschmetternden Eindruck. Und ich fasste damals den festen Entschluss, mein Leben von nun an nur noch der Revolution zu weihen.
Jetzt, wo der Kampf des Proletariats gegen das Kapital so gewaltige Formen angenommen hat, wo die Arbeiterklasse so ungeheure Opfer gebracht hat, mag ein solches Reagieren auf den Tod eines Genossen sogar etwas seltsam erscheinen, aber damals hatte auf mich die Tatsache einen ungeheuren Eindruck gemacht: denn durch meine Schuld war ein Genosse zugrunde gegangen.

 

Erste Verhaftung — im Kiewer Gefängnis — die Flucht (1902)

Nachdem ich von dem Tode des Genossen Rogut im Gefängnisse erfahren hatte, gab ich meine Arbeit in dem Betrieb auf, in dem ich nach meiner Rückkehr aus Kowno — nach dem Auffliegen unseres Literaturvertriebs — tätig war, und reiste nach Wilkomir, um das dort zurückgebliebene Paket illegaler Literatur abzuholen und die näheren Umstände der Verhaftung Roguts in Erfahrung zu bringen. Da sich unter der dortigen Bevölkerung verschiedene, der Wahrheit nicht entsprechende Gerüchte über die Ursachen der Verhaftung verbreitet hatten, gaben wir mit Unterstützung der Ortsgruppe des „Bund" ein Flugblatt heraus, das die Bevölkerung über die Verhaftung und die Ermordung des Genossen aufklärte.
Einige Tage darauf erfuhr ich, dass die Ortsgendarmerie und Polizei die Einwohner darüber ausgefragt hatten, ob ich in der Stadt sei und wo ich mich aufhielte. Ich sah mich daher gezwungen, das Städtchen zu verlassen und nach Wilna zurückzukehren. Dort bemerkte ich sofort, dass man mir nachspionierte. Das veranlasste mich, die Genossen, mit denen mich Sergej Zederbaum (Jeschow) vor seiner Verhaftung bekannt gemacht hatte, aufzufordern, an meine Stelle so rasch als möglich einen Ersatzmann kommen zu lassen, um mir die Möglichkeit zu geben, die Stelle meiner Parteiarbeit zu wechseln. In den ersten Tagen des März 1902 erschien endlich dieser Ersatzmann unter dem Parteinamen „Marx". Sein wirklicher Name war Arzybuschew, aber das erfuhr ich erst nach der Revolution 1917.
Anfangs März 1902 begab ich mich mit „Marx" nach dem Bahnhof, um gemeinsam erst nach Kowno und von da aus direkt an die Grenze zu fahren, wo ich Gen. „Marx" persönlich in alle Verbindungen, über die ich damals verfügte, einweihen sollte. Wir nahmen in demselben Wagen Platz, aber auf verschiedenen Bänken. Kurz vor dem dritten Abfahrtsignal kam ein Spitzel in den Wagen, der mir nachspionierte und mir schon längst aufgefallen war. Ihm folgte ein Gendarm. Dieser trat geradeswegs auf mich zu und fragte nach dem Pass und der Fahrkarte. Ich gab ihm beides. Nun wollte er wissen, wo meine Sachen seien. Auf meine Antwort, dass ich keine Sachen bei mir hätte, forderte er mich auf, ihm zu folgen. Wir verließen den Wagen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Umstand, dass mein Begleiter, Genosse „Marx" unbemerkt geblieben war, machte mich sehr froh. Man führte mich zu dem rangältesten Bahnhofsgendarmen und das Verhör begann: „Ihr Name?" Ich antwortete: „Chigrin". Ich hatte gerade einen nagelneuen falschen Pass auf den Namen Chigrin; da man mich suchte und ich verfolgt wurde, hatte ich meinen richtigen Pass weggeworfen. Aber auf meine Antwort erklärte mir der Gendarm: „Sie heißen so und so" und nannte meinen wirklichen Namen. In dieser Weise wurde das Verhör fortgesetzt. Der Beamte erzählte mir alles und wusste sogar, wo meine Angehörigen und Verwandten wohnten. Ich aber hielt mich strikt an die Angaben in meinem falschen Pass und dachte mir Namen von Verwandten aus. In dem Zimmer, in dem das Verhör stattfand, war noch ein Beamter, der den Vorschlag machte, man solle mich doch zu einem gewissen Distriktspolizeikommissar bringen, der mich durch Prügel gesprächiger machen würde: Damals wurden nämlich die Verhafteten auf den Wilnaer Polizeiwachen furchtbar misshandelt. Der Beamte, der mich verhörte, zeigte aber mit dem Finger auf mich und erwiderte: „Sie irren sich, der wird auch dort nichts aussagen, er ist Mitglied der Organisation „Iskra". Infolge dieser Äußerung wurde es mir klar, dass meine Verhaftung im Zusammenhang mit der Verhaftung von Martows Bruder Sergej Zederbaum stand. Zederbaum selbst saß bereits in der Peter-Pauls-Festung in Petersburg. Ich dachte, dass man auch mich dorthin bringen würde, hatte mich aber geirrt. Vom Bahnhof führte man mich in die Gouvernements-Gendarmerieverwaltung. Da den Gendarmen mein wirklicher Name bekannt war und es infolgedessen gar keinen Zweck mehr hatte, auf die Angaben in meinem falschen Pass zu bestehen, so gab ich schließlich in der Gendarmerie zu, dass mein Name in der Tat nicht Chigrin war. Hier behielt man mich nicht lange und schob mich alsbald nach der Wilnaer Festung ab (diese Festung wurde aus irgendeinem Grunde Nr. 14 genannt), in der ich etwa eine Woche zubrachte. Dann wurde ich in Begleitung von zwei Gendarmen in einer mir unbekannten Richtung weiter befördert. Trotz meiner wiederholten Forderungen wurde mir nicht gesagt, wohin die Fahrt ging.
Es war das erste Mal, dass ich ins Gefängnis kam. Zu jener Zeit ging es in der Festung recht streng zu. Bedient wurde man von Leuten, die entweder Soldaten oder Gendarmen waren, und die zu zweit und sogar zu dritt mehrmals am Tage in die Zelle kamen. Kaum war ich in meiner Zelle eingeschlossen, als sofort von beiden Seiten ein Klopfen einsetzte, das ich jedoch nicht beantworten konnte, weil mir das unter den Gefangenen gebräuchliche Klopfalphabet unbekannt war. Da ich keine Antwort gab, fing man an, mir vom Hof aus Brotstückchen durch das Fenster in die Zelle zu werfen. Ich begann nun, darüber nachzudenken, wie ich wohl das sehr hoch gelegene Fenster erreichen und einmal in den Hof hinausschauen konnte. Da entdeckte ich auf einmal an der Wand in allen Sprachen Anweisungen, wie man bis zum Fenster gelangen könnte. Ich stellte etwas — es war entweder der Stuhl oder der Unratkübel — auf den Tisch, kroch hinauf und erreichte das Fenster. Kaum aber hatte ich mich mit den Nachbarn in Verbindung gesetzt, als der Festungskommandant plötzlich rasch und geräuschlos in meine Zelle trat, so dass ich nicht einmal Zeit hatte, vom Tisch hinunterzuspringen. Nur der Tatsache, dass ich einige Tage später weiter transportiert wurde, hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht schweren Arrest erhielt.
Erst, als ich meinen Bestimmungsort erreicht hatte, entdeckte ich, dass ich nach Kiew gebracht worden war. Das erschien mir sonderbar, denn ich war nie zuvor in Kiew gewesen. Bald erfuhr ich die Gründe dafür, aber darüber später.
Die Gendarmen, die mich begleiteten, übergaben mich der Kiewer Gendarmerieverwaltung, wo ich eine Woche lang in einem halbdunklen, stinkenden Keller gehalten wurde, bis man mich in das Lukjanowsche Gefängnis brachte. Als ich in das Gefängnisbüro kam, vernahm ich laute Schreie, den Gesang revolutionärer Lieder, und plötzlich flogen ins Büro Schmutzklumpen. Es fiel mir nicht ein, dass so etwas in einem Gefängnis möglich sei, denn sowohl in der Wilnaer Festung als auch in dem halbdunklen Keller des Altkiewer Polizeireviers, in dem sich die Gendarmerie befand, und in dem ich bis zu meiner Ankunft im Gefängnisbüro gesessen hatte, war es so still, dass man glauben konnte, dort wohnten überhaupt keine Menschen. Im ersten Augenblick kam mir sogar der Gedanke, es könnte eine Demonstration sein, die mich vielleicht befreien würde. Aber ich gab sofort diesen Gedanken auf, denn die Gefängnisbeamten blieben vollkommen ruhig und fuhren in ihrer Arbeit fort. Das Rätsel löste sich sehr bald. Nach Beendigung aller Formalitäten wurde ich dem Aufseher der politischen Abteilung Saiganow anvertraut, der mich in das Gefängnis führte. Kaum hatten wir das Tor passiert, als ein Haufen Studenten mich umringte und mit Fragen zu überschütten anfing: wer ich sei, woher ich käme, weshalb man mich verhaftet hätte und vieles andere, wonach man in solchen Fällen zu fragen pflegt. Diese Menge überraschte mich. Es waren fast ausschließlich Studenten. Sie waren es also, die gelärmt und gesungen hatten. Sie zogen nämlich von einem Ende des Hofes zum anderen, hin und her, mit Fahnen und Losungen, schreiend und lärmend.
Im Jahre 1902 ging durch Russland eine Welle von Studentenunruhen. In Kiew hatten Studenten und Arbeiter am 2. und 3. März desselben Jahres Massendemonstrationen veranstaltet. Unter den Studenten wurden darauf Massenverhaftungen vorgenommen; einige von ihnen erhielten vom Gouverneur drei Monate administrativer Haft, während andere auf die Aburteilung warten mussten. Diese Studentendemonstrationen im Gefängnis setzten fast bei allen Spaziergängen ein.
Die Studenten saßen im dritten Stock des Kriminalgebäudes. Abends wurden die Korridore abgeschlossen, aber die Zellen blieben auch nach der Kontrolle bis Mitternacht offen. Die Freiheiten, die die Studenten und politischen Gefangenen genossen, konnten natürlich auch auf die kriminellen Gefangenen nicht ohne Einfluss bleiben, und so wurden auch ihnen einige Erleichterungen zugestanden. Da wurde im April 1902 ein neuer Gefängnisdirektor eingesetzt, dem die Ordnung in seinem „Reiche" nicht gefiel und der gegen die Freiheiten der Kriminellen einen Feldzug eröffnete. Nun hagelte es Haussuchungen in den Zellen und man fing an, die Kriminellen zu schikanieren. Die Studenten und politischen Gefangenen aus dem dritten Stock begriffen sehr wohl, dass, wenn es dem Verwalter gelingen werde, den Widerstand der Kriminellen zu brechen, er sich sofort auch an die Studenten heranmachen würde. Deshalb nahmen wir, die wir mit den Kriminellen in einem Gebäude saßen, an der Obstruktion teil, die einige Tage lang dauerte, und machten einen solchen Höllenlärm, dass sehr viele Menschen angelockt wurden, obwohl das Gefängnis weit außerhalb der Stadt gelegen war. Während der Haussuchungen in den Zellen der Kriminellen, die in den oberen Etagen wohnten, ließen sie an Bindfäden, alles was sie an „Verbotenem" besaßen, zu uns herab. Das bemerkten nun die Soldaten, die auf dem Hof postiert waren. Aus diesem Grunde setzten auch bei uns Haussuchungen ein. Dies rief aber einen derartigen Proteststurm der Gefangenen (wir stießen die Soldaten einfach aus den Zellen hinaus, so dass sie gar nichts ausrichten konnten) und ihrer sich in Freiheit befindlichen Angehörigen hervor, dass der Gouverneur — ich glaube, es war Trepow — diese Haussuchungen einzustellen befahl und der Gefängnisverwalter nachgeben musste.
Aus dem Gesagten wird dem Leser klar, warum im Lukjanow-Gefängnis eine solche Freiheit herrschte. Diese Freiheit begünstigte übrigens auch die Ausführungen des groß angelegten Fluchtplanes, von dem noch die Rede sein wird. Die Beziehungen zu den Kriminalgefangenen waren, wie man sieht, die denkbar besten; das aber hinderte diese Leute nicht daran, ihre Kunst — anscheinend um in Übung zu bleiben — bei den politischen Gefangenen anzuwenden. So z. B. riefen einmal die in der Weberei beschäftigten Gefangenen — die Weberei lag im Erdgeschoß des Hofes, wo die Studenten zu spazieren pflegten, — den Genossen Silvin heran und baten ihn um Aufklärung über irgendeine Frage. Nachdem aber die gewünschte Auskunft erteilt und Silvin fortgegangen war, merkte er, dass seine Taschenuhr verschwunden war. Die Führer der Kriminellen, die so genannten „Iwans", fanden zwar später die Uhr, aber sie war bereits auseinander genommen und nicht mehr zu gebrauchen.
Ich wurde im selben Gebäude wie die Studenten untergebracht und zwar in der Zelle Nummer 5, wo sich die durch einen Zufall Verhafteten befinden. Da ich bei der Verhaftung keine Sachen bei mir gehabt hatte und auch über nur sehr wenig Geld verfügte, ging es mir nicht besonders. Aber niemand achtete auf mich.
Einige Tage nach meiner Ankunft im Gefängnis hielt der Student Knischnik für die wenigen Arbeiter einen Vortrag über das russische Selbstherrschertum, wobei ich als sein Hauptargument gegen diese Regierungsform figurierte. Er rief mit Pathos aus: „Hier sitzt ein Knabe" — dabei wies er auf mich — „der eine Reise antrat, um Arbeit zu suchen. Man riss ihn aus dem Zug, schleppte ihn durch ganz Russland und brachte ihn endlich nach Kiew, fern von seiner Heimat, in eine Stadt, in der er noch niemals war und keine Menschenseele hat." Ich saß da und musste innerlich über Knischniks Naivität lachen. Die ganze Charakteristik des Selbstherrschertums war natürlich richtig, aber mich hatte er zu Unrecht als Argument gewählt, was er sehr bald zu seiner großen Überraschung erfahren sollte.
Einmal nach der Kontrolle langweilten sich die Studenten sehr. Sie begannen an die Tür zu klopfen und verlangten nach dem Staatsanwalt. Sie hatten kaum Zeit gehabt, vom vielen Klopfen müde zu werden, als der zweite Staatsanwalt der Kiewer Strafkammer, Korsakow, schon ankam. Alle Verhafteten begaben sich in ihre Zellen und Korsakow fing seinen Rundgang an. In den Zellen fragten ihn die Verhafteten nach dem Stand ihrer Angelegenheit. Mich überraschte damals das kolossale Gedächtnis Korsakows. Er fragte nur nach dem Namen, worauf er, ohne ins Notizbuch oder in sonst irgendwelche Aufzeichnungen einen Blick zu werfen, einem jeden sagte, was ihm bevorstand. Schließlich kam die Reihe auch an die Zelle, in der ich saß. Korsakow kam, gefolgt von den Gefangenen des ganzen Korridors. Alle meine Zellengenossen fragten den Beamten nach ihrem Schicksal, ich aber schwieg. Da trat Knischnik mit der Miene eines Anklägers hervor und fragte: „Warum halten Sie diesen Knaben hier?" Korsakow erkundigte sich darauf: „Wie heißt er denn?" Knischnik nannte meinen Namen. Da wandte sich Korsakow an Knischnik und erklärte: „Dieser Knabe wird länger in Haft bleiben als Sie: er wird beschuldigt, Mitglied einer Organisation zu sein, die sich „Iskra" nennt, für diese sowohl Leute als auch Literatur transportiert zu haben, an der Organisation einer Druckerei beteiligt gewesen zu sein und dergleichen mehr." Alle waren sprachlos und Knischnik selbst so sehr überrascht, dass er nach Korsakows Fortgehen mich wiederholt fragte, ob es wahr sei, was der Staatsanwalt gesagt habe. Natürlich beruhigte ich Knischnik und erklärte ihm, dass das ein Missverständnis sei und dass man mich für einen anderen halte. Aber an diesem Abend war meine Stimmung nicht rosig, denn Korsakow hatte, abgesehen von einigen Kleinigkeiten, so ziemlich die Wahrheit gesagt, und ich dachte lange darüber nach, woher das alles den Behörden bekannt geworden sein konnte, und warum man mich nach Kiew und nicht nach Petersburg gebracht hatte.
Nach diesem eben beschriebenen Abend verbesserte sich mein Los bedeutend. Ich wurde in eine andere Zelle versetzt, erhielt ein Kissen, Wäsche, durfte ein Bad nehmen usw., was mir sehr wohl tat. Es war mir aber nicht beschieden, längere Zeit im Kreise der Studenten zu verbringen, unter denen sich künftige Revolutionäre, bürgerliche Demokraten und einfache Bourgeois befanden. Einige gehörten sogar der „Iskra" an, aber das erfuhr ich erst später.
Eines Abends wurde ein neuer Genosse ins Gefängnis gebracht. Gleich fragte man ihn, wie das so üblich war, wo er verhaftet worden sei und dergleichen mehr. Aus seinen Antworten ergab sich, dass man ihn an der Grenze festgenommen hatte, weil in seinen mit doppeltem Boden versehenen Koffern „Iskra"-Zeitungen gefunden worden waren. Nachdem ich ihn ordentlich gemustert hatte, beschloss ich, ihn zu fragen, wie er zu der „Iskra" gekommen und ob er ein Anhänger der „Iskra"-Gruppe sei, wen er von den ausländischen Genossen der „Iskra"-Organisation kenne usw. Dann fragte er mich ebenfalls, woher ich sei, wen ich aus der Gegend kenne, in der ich tätig war, und nannte im Gespräch meinen Parteinamen. Nun stellte sich heraus, dass er von meiner Existenz wusste, denn er war der Leiter des Literaturtransports der „Iskra" aus dem Ausland nach Russland. Auch ich kannte seinen Parteinamen. Auf diese Weise stellte ich die Verbindung mit den „Iskra"- Genossen im Gefängnis her, denn der neue Gefängnisinsasse war der Genosse J. Blumenfeld, der die russischen „Iskra"- Genossen kannte. Da sich aber in dem Lukjanowschen Gefängnis nicht wenige von ihnen befanden, so kam er bald in Kontakt mit den Insassen der Abteilung für politische Gefangene, in der viele hervorragende „Iskra"- Anhänger saßen. Bald darauf wurde auch ich dorthin versetzt. In dieser Abteilung herrschte ein ganz anderes Leben.
In Kiew befand sich zu der Zeit ein Gendarmeriegeneral Nowitzki. Es war ihm gelungen, einer allrussischen Beratung oder Konferenz der „Iskra"-Gruppe auf die Spur zu kommen. Für den Anführer hielt Nowitzki damals den Genossen Krochmal, der in Kiew seinen Wohnsitz hatte und auch sicherlich die Genossen nach Kiew zusammenberufen hatte. Aber es blieb nicht bei der Bespitzelung Krochmals. Die Gendarmerie erwischte außerdem die Korrespondenz aus den russischen Städten und die aus dem Auslande, entzifferte sie und stellte sie nachher den Empfängern zu. Von dort aus gelangten dann die Briefe an Krochmal. Der Gendarmeriegeneral Nowitzki war deshalb ganz im Bilde (wie ich aus dem nach 1905 veröffentlichten Dokumenten des Polizeidepartements erfuhr, war bei Krochmal auch meine Adresse gefunden worden). Soweit ich mich erinnern kann, reisten die Teilnehmer der Konferenz der „Iskra" ab oder, genauer gesprochen, stoben auseinander, bevor es noch zu einer Eröffnungssitzung kam. Nebenbei bemerkt konnten trotzdem die Teilnehmer später in dem Lukjanow-Gefängnis vollkommen unbehelligt und in aller Bequemlichkeit diese Konferenz abhalten, was sie sicherlich auch getan haben.
Zu dieser Konferenz waren von allen Ecken und Enden Russlands Vertreter der „Iskra" gekommen. Als sie die Wahrnehmung machten, dass sie beobachtet wurden, begannen sie abzureisen, aber man verhaftete sie alle unterwegs und brachte sie nach Kiew zurück. Ein Teil wurde in Kiew festgenommen.
Der Genosse Nikolaj Baumann saß schon im Zug, merkte aber unterwegs, dass er beobachtet wurde. Darauf hatte er entweder den Zug auf einer kleinen Station verlassen oder war während der Fahrt hinausgesprungen. Da ihm die Gegend unbekannt war, wandte er sich an den am Orte ansässigen Arzt mit der Bitte, ihn zu beherbergen. Der Arzt nahm ihn auf, meldete es aber sofort der Polizei, und Genosse Baumann geriet in das Lukjanow-Gefängnis.
General Nowitzki wurde berühmt, und man beauftragte ihn mit der Führung des aufsehenerregenden Prozesses der Anhänger der „Iskra". Das war der Grund, weshalb man die „Iskra"-Anhänger aus allen Städten des umfangreichen Russlands nach Kiew zu schaffen begann. Nach Kiew schaffte man auch alle Genossen, die an der Grenze verhaftet wurden. Die Ochrana begnügte sich nicht mit der Festnahme der aktiven Funktionäre der „Iskra", sondern brachte dem General Nowitzki nach Kiew alle Personen, die den „Iskra"-Anhängern durch Überlassung von Wohnungen als Treffpunkte und durch Entgegennahme von Briefen usw. geholfen hatten. Aus diesem Grunde war auch ich nach Kiew gebracht worden.
Die Frauenabteilung und die Abteilung für politische Gefangene im Lukjanowschen Gefängnis waren überfüllt von Leuten, die in Sachen der „Iskra" verhaftet worden waren.
In der nicht sehr großen politischen Abteilung saßen „Is-kra"-Anhänger und Sozialrevolutionäre (hauptsächlich Ukrainer). Die übrigen Parteien hatten dort nur sehr wenige Anhänger. Obwohl die Zellen und auch alle Türen, die auf den Hof hinausführten, von morgens bis abends geöffnet waren und auf dem Hof verschiedene Spiele veranstaltet wurden, arbeiteten die Gefangenen sehr ernst an ihrer Weiterbildung. Man hielt Vorträge über die verschiedensten Fragen, las gemeinsam die neueste illegale Literatur — die „Iskra", „Das revolutionäre Russland" usw. und debattierte über das Gelesene.
Ich saß schließlich eines Tages in einer Zelle mit Halperin (sein Parteiname war Konjagin) zusammen. Sogleich begann man mich zu bearbeiten. Josef Blumenfeld fing an, mich zu unterrichten. Er machte mich mit den Grundlagen des Marxismus bekannt. Unter seiner Leitung begann ich, ernste Bücher zu lesen. Ich habe schon früher erwähnt, dass ich vor meiner Ankunft im Kiewer Gefängnis täglich 12 und sogar noch mehr Stunden in der Werkstatt arbeiten musste. Nach der Arbeit aber war meine ganze Zeit durch die praktische Tätigkeit in der Gewerkschaft in Anspruch genommen, ferner durch verschiedene Arbeiten in den Organisationen und Gruppen, die damals im Westgebiet bestanden. Später verwandte ich dann viel Zeit auf die Organisation der „Iskra". So kam ich nur selten zum Lesen und tat das ganz unsystematisch. Das Gefängnis wurde für mich zu einer Universität. Hier begann ich nach einem gewissen System unter Aufsicht und Leitung eines gebildeten Marxisten zu lesen, der die revolutionäre und marxistische Literatur gut kannte. Bis zur Verhaftung war Genosse Blumenfeld als Setzer für die „Gruppe der Befreiung der Arbeit" tätig. Außer theoretischem Wissen hatte er auch eine gründliche Kenntnis der Arbeiterbewegung des Westens, ferner hatte er bereits eine größere praktische Tätigkeit hinter sich. Er war damals etwa 30 oder 35 Jahre alt. Obwohl ich halb so alt war, wurden wir sehr befreundet miteinander. Und auch jetzt noch — trotzdem wir recht bald in verschiedene Lager der russischen Arbeiterbewegung gerieten — bin ich ihm für all seine Freundlichkeit dankbar, und zwar hauptsächlich dafür, dass er mir die Grundlagen für ein richtiges Verständnis des Marxismus vermittelt hat.
Die Zeit im Gefängnis flog für mich ganz unbemerkt dahin; für die verantwortlichen Funktionäre der „Iskra"-Organisation aber war das Sitzen im Gefängnis fast unerträglich. Es war gerade zu der Zeit, als Streiks, Studentendemonstrationen und Bauernunruhen (in den Gouvernements Charkow, Poltawa usw.) eine alltägliche Erscheinung wurden. Die Organisatoren der „Iskra" in Russland aber mussten müßig im Gefängnis sitzen und hatten keine Möglichkeit, aktiv an den Kämpfen teilzunehmen.
Gegen Mitte des Sommers 1902 kam wieder einmal der zweite Staatsanwalt Korsakow ins Gefängnis und erklärte uns — einer Gruppe von etwa 12 bis 15 Gefangenen der politischen Abteilung — dass wir uns für den Winter einrichten könnten, da es einen langen Prozess geben werde. Von diesem Augenblick entstand bei vielen Genossen der Gedanke an eine Flucht. Es wurde ein Verzeichnis der „Iskra"-Genossen aufgestellt, die unbedingt fliehen mussten. In dieses Verzeichnis kam auch ich. Elf von diesen Genossen erklärten sich damit einverstanden. Sie berieten untereinander den Fluchtplan und verteilten die Rollen, die man im gegebenen Augenblick zu spielen hatte. Die Flucht sollte durch die Wand des Karrees, in dem wir zu spazieren pflegten, vor sich gehen. Zu diesem Zweck musste man das Feld vor dem Gefängnis untersuchen, Schlupfwinkel in Kiew finden, die Weiterbeförderung der Flüchtlinge organisieren, Pässe besorgen, Schlafpulver, Wein, einen Haken, eine Strickleiter und Geld beschaffen. Das waren die Aufgaben außerhalb des Gefängnisses. Innerhalb des Gefängnisses musste man die Spaziergänge bis in die späte Nacht hinein ausdehnen und alle nötigen Gegenstände nach ihrer Einlieferung ins Gefängnis gut verstecken. Die Hauptsache aber war: den ganzen Plan geheim halten, was sehr schwer war, da sehr viele Menschen sowohl im Gefängnis, als auch draußen davon wussten.
Im Gefängnis konnten wir uns, wie ich schon gesagt habe, sehr frei bewegen. Erstens, weil dort mehr Menschen untergebracht waren, als es Platz gab, und zweitens, weil dort sehr viele Studenten saßen, die aus den allerverschiedensten Anlässen „Krach machten". Infolge dieser freien Zustände hatten die Gefangenen ihren eigenen Ältesten (in der Person des alten Insassen Gen. Gurski); ich weiß nicht, ob er von der Obrigkeit zum Ältesten bestimmt oder von den Gefangenen dazu gewählt worden war, denn alle diese Zustände fand ich bereits bei meiner Einlieferung ins Gefängnis vor. Das Mittagbrot für die politischen Gefangenen wurde unter ihrer eigenen Aufsicht zubereitet, und alles, was man ihnen von außen schickte, wurde in der Kantine gesammelt und von allen gemeinsam zum Abendessen verspeist. Auch die eingekauften Lebensmittel kamen in diese Kantine, deren Verwalter Genosse Litwinow (ebenfalls ein alter Gefängnisinsasse) war. Alle diese Umstände begünstigten die Flucht außerordentlich. Der Genosse Gurski z. B. durfte sich im ganzen Gefängnis frei bewegen; außerdem war es ihm erlaubt, Beziehungen zur Außenwelt zu unterhalten.
Bevor wir all das bekamen, was ich oben aufgezählt habe, übten wir uns während der Spaziergänge mehrmals im Aufbau einer mehrere Mann hohen „Pyramide", die so hoch sein musste, wie die äußere Mauer des Gefängnisses (diese Übungen leitete der Genosse Gurski). Außerdem sangen wir unter der Leitung des Genossen Nikolay Baumann Reigenlieder, wobei wir statt einer Trommel irgendeine Blechbüchse schlugen. Das war notwendig, um den Wachtposten, der auf dem Hof postiert war, wo die Kriminellen spazieren gingen, an derartige Geräusche zu gewöhnen; denn solche Geräusche konnten leicht beim Überklettern der oben mit Blech bedeckten Mauer entstehen. In der Kantine wurden Überfälle in der Fesselung und Knebelung des fingierten Postens geübt und zwar so, dass dieser dabei nicht ersticken durfte (diese Übungen leitete Genosse Silvin).
Die Vorbereitungen hatten viel Zeit in Anspruch genommen, und wir fürchteten schon, dass die Kälte die Genossen veranlassen würde, die späten Abendspaziergänge einzustellen. In diesem Falle hätte die Gefängnisverwaltung das ausnutzen und uns einschließen können, noch bevor der Wachtposten jenseits der Mauer auf der Wiese, über die wir flüchten mussten, zurückgenommen wurde (das geschah regelmäßig bei der abendlichen Ablösung). Schließlich bekamen wir auch das Schlafpulver, das im Wein wirkte. Wir versuchten seine Wirkungen bei dem Genossen Malzmann, der mit uns fliehen sollte. Das Ergebnis war erstaunlich. Der Genosse schlief viel länger, als er hätte schlafen sollen, und wir waren schon in Sorge, es könnte jemand bemerken, dass Malzmann allzu lange schlief. Außerdem hätte er auch zur Vernehmung gerufen werden können — und dann wäre sofort ein Verdacht entstanden. Aber die Sache lief glücklich ab. Um die Aufseher an das Weintrinken mit den Gefangenen zu gewöhnen, begann man recht oft Geburts- und Namenstage und dergleichen mehr zu feiern. Auch das gelang. Wir erhielten aus Wilna 12 bis 15 Pässe (die Verbindung hatte ich hergestellt) und füllten sie in entsprechender Weise aus. Die Geldfrage machte ebenfalls keine Schwierigkeiten mehr und schließlich gelang es auch, die Wiese jenseits der Mauer zu untersuchen und gewisse Zeichen zu verabreden, durch die man sich aus einem Fenster des oberen Stockwerkes und von der Wiese aus darüber verständigen konnte, ob man die Wiese passieren durfte oder nicht. Wohnungen als Unterschlupf in der Stadt waren gefunden, die Marschroute für die Abreise der Flüchtlinge aus Kiew, die noch am Abend der Flucht erfolgen sollte, war ausgearbeitet worden und schließlich hatte man auch festgesetzt, wer sich in diese oder jene Wohnung begeben und wer mit wem zusammenfahren sollte. Es blieb nur noch eins übrig: einen Haken zu bekommen und eine Leiter herzustellen. Bald wurden wir auch damit fertig. Genosse Gurski hatte die Erlaubnis, Besuche im Gefängnisbüro zu empfangen, und wurde fast nie kontrolliert. Einmal brachte ihm jemand einen riesigen Blumenstrauß, in dem ein kleiner Haken versteckt war. Die Leiter aber machten wir aus dem einfachen Linnenzeug, das man uns zu Betttüchern gab. Soweit ich mich erinnern kann, hat Genosse Litwinow die Streifen Linnenzeug zu diesen Stricken gedreht. Zwei Enden dieses Strickes wurden an dem Haken befestigt, und als Stufen dienten nicht allzu dicke, kleine, feste Stöcke. Die Fortsetzung der Leiter war ein Strick, dessen oberes Ende am Haken befestigt war und der viele Knoten hatte, um den Abstieg jenseits der Mauer zu erleichtern. Als alles fertig war, machte man eine Probe. Alle erschienen auf dem Hofe mit sämtlichem „Zubehör" (ich kam mit dem Kissen, in dem die Leiter versteckt war) und beim ersten Signal stand jeder auf seinem Platz. Die Aufseher sämtlicher Korridore der politischen Abteilung unterlagen unserem Einfluss infolge der Weinspenden und der kleinen Trinkgelder, die man den Leuten für die Beförderung von Briefen oder Zeitungen gab. Manch einer unterlag auch der Wirkung der Agitation. Eine Ausnahme bildete nur ein alter Aufseher namens Ismailow, der früher Gendarm gewesen war und den wir sehr fürchteten. Anfangs war sogar beschlossen worden, die Flucht nicht während seiner Aufsichtsstunden zu unternehmen. Da es aber bereits Mitte August war und kaltes, regnerisches Wetter sich eingestellt hatte, wurde beschlossen, auch während seiner Dienststunden die Flucht durchzuführen. Nun musste man den Mann allerdings durch irgend etwas ablenken und zwingen, im Korridor seiner Abteilung sitzen zu bleiben. Die Maßnahmen dazu wurden getroffen, aber hier kam uns unerwarteterweise etwas dazwischen: der bewaffnete Aufseher, der an jener Innenmauer Posten stehen sollte, über die unsere Flucht geplant war, erschien mordsmäßig betrunken. So sehr wir uns auch bemühten, ihn den Blicken Ismailows zu entziehen: dieser bemerkte ihn doch, meldete es sofort der Verwaltung und stellte sich bis zum Erscheinen eines anderen Postens selbst an den Platz des Betrunkenen. Der Aufmerksamkeit des alten Gendarmen entging nicht die Unruhe, von der ein Teil der Gefangenen an diesem Abend befallen war, worüber er, wie wir später erfuhren, tatsächlich im Gefängnisbüro Meldung erstattet hatte. Wie dem auch war, wir hatten Pech gehabt. Nun mussten wir für den Fall einer Haussuchung alles verstecken, hatten aber gar keinen sicheren Ort. Jeder von uns besaß einen Pass und 100 Rubel, und in meiner Zelle lag obendrein die Leiter, die ich als Kissen benutzte und die im Falle einer Haussuchung selbstverständlich sofort entdeckt worden wäre. Unsere Nerven waren natürlich aufs äußerste gespannt. Für den Fall einer Haussuchung beschlossen wir, uns dieser so lange zu widersetzen, bis alle Zeit gefunden hätten, ihre Pässe zu vernichten, um auf diese Weise eine Feststellung der Teilnahme an der Flucht unmöglich zu machen. Die Genossen warfen damals die Frage auf, ob es nicht besser sei, mir die Leiter fortzunehmen, da sonst alle Verantwortung auf mich fiel, und die Gendarmen auch zu Foltern greifen konnten, um von mir die Namen meiner Mitverschworenen zu erfahren. Dennoch entschied man sich dafür, die Leiter bei mir zu lassen, in der Hoffnung, dass niemand darauf kommen würde, sie bei einem bescheidenen Knaben zu suchen, wenn daneben sich die Führer der „Iskra"-Gruppe befanden.
In der frühen Morgenstunde eines dieser unruhevollen Tage erscholl plötzlich ein Geräusch, das von dem Öffnen der Tür des unteren Korridors herrührte. Sofort vernahm man Rufe: „Genossen, Haussuchung!" Zum Glück stellte sich bald heraus, dass es sich nicht um eine Haussuchung handelte, sondern dass man soeben einen neuen Gefangenen gebracht hatte; infolgedessen war noch niemand von uns dazu gekommen, etwas zu vernichten.
Der neueingelieferte Genosse Banin war an der Grenze festgenommen worden. Es lag ein Befehl vor, ihn von den anderen Genossen zu isolieren. Man brachte ihn deshalb in eine Zelle, die immer verschlossen war, während wir den ganzen Tag über spazieren gingen und unsere Zellen erst zur Nacht geschlossen wurden. Wir nahmen uns indessen vor, gegen die Art der Behandlung des neuen Gefangenen nicht zu protestieren, da wir fürchteten, dass man uns das Recht nehmen würde, so spät umherzuspazieren. Diesen neuen Gefangenen hatte nun der Stellvertreter des Gefängnisdirektors, der erst vor kurzem zu uns gekommene Verwalter der politischen Abteilung, Sulima, in sein Herz geschlossen. Er begann ihn in seiner Zelle zu besuchen, mit ihm Schach zu spielen oder ganz einfach Gespräche mit ihm anzuknüpfen. Einmal erklärte dieser Beamte in einer Unterhaltung dem Gefangenen, Genossen Banin, dass er in der vergangenen Nacht in einem fort um das Gefängnis herumgegangen wäre, da er davon Kenntnis erhalten habe, dass die Politischen in jener Nacht eine Flucht geplant hätten. Nun wurde die Sache kritisch: entweder man floh sofort oder man ließ den Gedanken an die Flucht überhaupt fallen. Und da beschloss man um jeden Preis zu fliehen. Zugleich entschied man sich dafür, jedes unnötige Blutvergießen zu vermeiden, aber für den Fall, dass nach dem Signal zur Flucht jemand aus dem Büro auf dem Hof der politischen Abteilung erscheinen sollte, mit diesem nicht viel Federlesens zu machen. Zu diesem Zweck wurden einige Genossen mit breiten Pelerinen ausgestattet und mit der Aufgabe betraut, den unerwünschten Eindringlingen sofort die Pelerine um den Kopf zu werfen und ihn so am Schreien zu verhindern. Der Tag der Flucht war festgesetzt, aber da kam wieder etwas dazwischen. Wir konnten ja nicht ohne Hilfe eines Teils der im Gefängnis zurückbleibenden Genossen auskommen, und einige von ihnen wussten von der Flucht. Wir wandten uns auch an die Mitglieder der anderen Parteien, die schwere Strafen zu erwarten hatten, und schlugen ihnen vor, mit uns zu fliehen, aber sie lehnten es alle ab. Am letzten Tage erklärten uns nun die ukrainischen Sozialrevolutionäre, deren Hilfe wir sehr dringend bedurften, dass wir einen der ihren, den Sozialrevolutionär Pleski, mit uns nehmen sollten. Uns wäre es natürlich recht gewesen, wenn sogar alle Gefängnisinsassen mitgekommen wären, aber man musste ja Pleski einen Pass, Geld, Adressen usw. besorgen, was an einem Tage nicht möglich war. Auch diese Schwierigkeit wurde überwunden: ein jeder von uns gab ihm 10 Rubel, wir schrieben ihm in aller Eile einen Pass aus, er erhielt eine Adresse in der Stadt und alles war in Ordnung. Statt der 11 „Iskra"-Anhänger sollten nun 12 Mann fliehen.
Am Abend des 18. August — noch vor dem Signal — erschien der Vizedirektor des Gefängnisses, Sulima. Er begab sich zu dem Gefangenen, von dem ich bereits erzählt habe, und begann mit ihm Schach zu spielen. Trotzdem wurde das Signal gegeben. Das Konzert begann, und Genosse Raumann schlug die Trommel. Indessen wurde die Pyramide aufgebaut, auf die Spitze der Pyramide kletterte der Genosse Gurski. Gleichzeitig wurde der Wachtposten gefesselt und auch geknebelt, damit er nicht schreien sollte. Die Aufseher in den Korridoren aber schliefen bereits den Schlaf des Gerechten. Ich reichte Gurski die Leiter, warf die Gefängniskleidung ab und kletterte rasch die Treppe hinauf, da Genosse Gurski inzwischen den Haken an der anderen Seite der Mauer festgemacht hatte. Als ich dann am Strick hinabglitt und mir dabei übrigens die Haut an beiden Händen zerriss, was einen schier unerträglichen Schmerz verursachte, wurde der Strick von dem Genossen Gurski gehalten, damit der Haken nicht lose werde. Dann reichte er mir den Strick und verschwand irgendwohin. Es war schon ganz dunkel. Nach mir kam Rasowski, der sich im Gefängnis ein Rein gebrochen hatte, was uns ebenfalls veranlasst hatte, die Flucht immer wieder und wieder hinauszuschieben, da wir den Genossen nicht im Gefängnis lassen wollten. Ich gab ihm den Strick nicht, sondern wartete, bis der nächste Genosse kommen würde. Alles ging glatt: nun gab ich den Strick an den nächsten Genossen weiter und ergriff die Flucht. Ich flog aber aus voller Kraft kopfüber in einen ziemlich tiefen Graben, von dem uns nichts bekannt war. Dort unten fand ich den Genossen Rasowski. Er scharrte um sich und suchte nach seinem Hut, den er beim Herabpurzeln verloren hatte. Das gleiche war auch mit meinem Hut geschehen, aber es hatte keinen Zweck, in dieser Dunkelheit nach dem Hut zu suchen. Ich fasste Rasowski unter den Arm, wir kamen wieder auf die Wiese, durchquerten diese im Laufschritt und befanden uns plötzlich in einer Straße. Hier erst fiel uns ein, dass man nicht ohne Kopfbedeckung durch die Straßen Kiews gehen konnte. Obendrein wollte uns kein Droschkenkutscher befördern, da ein jeder behauptete, wir hätten unser Geld längst vertrunken und würden ihn nicht bezahlen. Schließlich entlohnten wir einen Kutscher im voraus und fuhren in der Richtung auf jene Wohnung zu, wo ich und Basowski uns zu melden hatten. Unweit davon stiegen wir aus der Droschke und begaben uns rasch zu Fuß nach der Observatoriumgasse. Dort suchten wir das Haus Nr. 10 und konnten es nicht finden, denn das letzte Haus dieser Gasse trug die Nr. 8 und gleich dahinter begann irgendein anderes Gässchen. Nachdem wir hin- und herüberlegt hatten, beschlossen wir, in das Haus Nr. 8 zu gehen. Wir klingelten, fragten nach dem Betreffenden, aber die Leute, die öffneten, waren über unser Aussehen sehr erstaunt und erklärten, der Gesuchte habe nie in diesem Hause gewohnt. Das war eine nette Geschichte! Nicht weit vom Hause Nr. 8 befand sich eine Wiese. Dahin begaben wir uns. Der Genosse Basowski sagte, vor Schmerzen stöhnend, leise zu mir: „Hätte ich gewusst, dass wir in der „Freiheit" nicht einmal einen Unterschlupf zu finden imstande sein werden, dann wäre ich nicht geflohen." Ich hatte nun ebenfalls mein eigenes Leid: die Hände schmerzten mir sehr stark, außerdem hatte ich einen furchtbaren Durst. Plötzlich sahen wir, dass sich jemand dem Hause Nr. 8 rasch näherte und nicht minder rasch von der Tür zurücksprang. Sofort erkannten wir den Genossen Gurski. Auch ihn hatte ein Missgeschick erreicht: die Inhaber der Wohnung, die er hatte aufsuchen sollen, waren entweder — ich kann mich nicht mehr genau entsinnen — ausgezogen oder verstorben. Er kannte unsere Adresse und war ebenfalls hierher gekommen. Nun berieten wir zu dritt, was zu tun war. Als Gurski merkte, dass wir ohne Kopfbedeckung waren, entfernte er sich (er kannte Kiew sehr gut) irgendwohin und kehrte nach einiger Zeit mit einem Zylinder zurück, den Basowski aufsetzte. Genosse Gurski schlug uns vor, in eine Vorstadt Kiews — Mokraja-Slobodka — zu fahren, wo er Verwandte hatte. Wir erklärten uns mit seinem Vorschlag einverstanden. Gurski fuhr allein in einer Droschke. Basowski und ich folgten ihm in einer anderen. Basowski sah mit seinem Zylinderhut zwar sehr solide aus, aber für die Vorstadt war es doch ein ganz unpassendes Kleidungsstück. Zum Glück war es auf der Straße dunkel, ein feiner Regen rieselte, und niemandem fiel der Zylinder auf. Als wir anlangten, fanden wir einen sehr gastfreundlichen Polen, der sofort einen Imbiss und Schnaps auf den Tisch stellte und uns ein wenig ausruhen ließ. Indessen schlug er uns vor, seine Wohnung noch während der Dunkelheit zu verlassen, da sein Nachbar, ein Gendarm, es merken konnte, dass er Besuch fremder Leute bekommen hätte. Da war nichts zu machen. Ich erhielt von dem Hausherrn einen Strohhut. Basowski begab sich mit mir zu seinen Bekannten, die wir aber nicht antrafen, da sie in ihrer Sommerwohnung übernachteten. Nun blieb uns nur noch eins: in Droschken nach den verschiedensten Richtungen der Stadt spazieren zu fahren. Gut, dass Basowski wenigstens die Bezeichnungen der Stadtteile und Straßen kannte, — ohne ihn hätte ich kaum so die ganze Nacht in Droschken verbringen können. So fuhren wir die ganze Nacht hindurch und trennten uns gegen Morgen, um nicht etwa zusammen verhaftet zu werden.
Ich hatte drei Möglichkeiten: entweder irgendeinen sympathisch aussehenden Studenten anzuhalten und ihn um Hilfe zu bitten, oder auf den Bahnhof bzw. zum Hafen zu gehen, oder endlich einen Zuschneider aufzusuchen, mit dem ich in dem Lukjanowschen Gefängnis vor der Flucht zusammen gesessen hatte. Ich wählte die letzte Möglichkeit, obwohl ich nur seinen Namen, den Beruf seines Vaters und die Straße kannte, nicht aber die Nummer des Hauses, in dem er wohnte. Jedenfalls fuhr ich in jene Gegend (Andrejewski-Spusk), wo ich zu meiner Freude das Schild des von mir gesuchten Zuschneiders erblickte. Ich ließ mich eine kleine Strecke weiter fahren, zahlte und ging zu dem Genossen. Er war gerade zu Hause und empfing mich in sehr herzlicher Weise.
Später stellte sich heraus, dass das Haus Nr. 10 sich in der Fortsetzung der Observatoriumgasse befand, dass man uns dort erwartet und alles vorbereitet hatte. Anscheinend war auch bei den übrigen Genossen alles ebenso verdreht worden. Für Halperin und, soweit ich mich erinnern kann, auch für Malzmann sollten Pferde bereitstehen, um die Genossen aus Kiew hinauszubringen, aber es waren keine Pferde da. So waren die beiden gezwungen, nachts zu Fuß aus der Stadt zu eilen und sich tagsüber in einer Heumiete versteckt zu halten. Einmal wurden sie sogar entdeckt und zum Landjäger gebracht, aber für 3 Rubel gelang es ihnen, ihre Freiheit wieder zu erlangen. Genosse Blumenfeld und noch jemand hatten im Ruderboot fliehen sollen, aber auch das Boot war nicht zur Stelle. Ob die anderen Genossen die angegebenen Wohnungen gefunden haben, weiß ich nicht.
Dem Genossen, zu dem ich gekommen war, sagte ich, dass man mich aus dem Gefängnis entlassen hatte, wobei ich mich schriftlich hätte verpflichten müssen, Kiew sofort zu verlassen, und dass ich aus diesem Grunde sehr dringend jemand von der Ortsleitung der RSDAP („Iskra") sprechen müsste. Der Genosse führte mich in sein Zimmerchen und begab sich selbst auf die Suche nach einem Mitglied des Parteikomitees. Bald kehrte er mit einer Neuigkeit zurück, die ihn sehr erregt hatte: sowohl in Parteikreisen als auch unter der Bevölkerung erzählte man, dass alle Insassen des Gefängnisses geflohen waren und dass in der Stadt alles Kopf stünde. Genaueres darüber, wer geflohen sei, wusste er auch nicht. Gleichzeitig erklärte er mir in sehr vernünftiger Weise, dass in der Stadt wahrscheinlich infolge dieser Flucht Haussuchungen einsetzen würden und dass es das beste wäre, wenn ich nicht bei ihm bliebe, sondern in eine andere, von ihm bereits für mich besorgte Wohnung umziehe. Dort sollte ich so lange warten, bis er mich mit dem Parteikomitee der „Iskra" in Verbindung gebracht haben würde. Dann begaben wir uns gleich nach Anbruch der Dunkelheit in eine Bäckerei, wo ich übernachtete und die folgenden 24 Stunden zubrachte. Am darauf folgenden Tag erschien der Genosse wieder und brachte mich nach einer konspirativen Wohnung, wo ich einen Studenten vorfand, mit dem ich zusammen im Gefängnis (in der Studentenabteilung) gesessen hatte. Jetzt erschien dieser als Vertreter des Parteikomitees. Da er wusste, dass ich einer von den Flüchtlingen war, so brauchte es nicht vieler Erklärungen: er wies mir einen Unterschlupf an, wohin ich mich in Begleitung eines Genossen begeben musste, der ebenfalls mit mir im Gefängnis gesessen hatte. Von diesem Vertreter der Ortsleitung erfuhr ich, dass es 11 Mann gelungen war, zu fliehen und dass unter diesen 11 sich auch der Sozialrevolutionär befand, so dass also einer der „Iskra"-Genossen im Gefängnis zurückgeblieben war, nur wusste er nicht wer. Später erfuhr ich, dass alles so verlaufen war, wie man es im Fluchtplan vorgesehen hatte. Genosse Silvin aber, genannt „Landstreicher", der — wenn ich mich nicht irre — den Wachtposten festhielt, hörte plötzlich irgendeinen Lärm, den er für Alarm hielt. Da lief er schnell zurück in seine Zelle, vernichtete den Pass, versteckte das Geld und kehrte erst dann auf den Hof zurück. Zu der Zeit war zwar noch kein Alarm geschlagen worden, aber für eine Flucht war es schon zu spät, da er keine Dokumente mehr besaß und das Geld nicht bei sich hatte. Er ging dann zusammen mit den anderen Genossen, die auf dem Hof spazierten, in seine Zelle zurück. Der stellvertretende Direktor des Gefängnisses hatte sein Schachspiel beendet und begann an die Tür zu klopfen, damit ihm geöffnet werde (er war in der Zelle eingeschlossen). Niemand öffnete ihm jedoch, denn alle Aufseher schliefen. Er schlug Alarm (er soll sogar geschossen haben), worauf unsere Flucht dann entdeckt wurde. Hier sei bemerkt, dass die erste Untersuchung zur Feststellung führte, dass die Flucht durch die Pforte ausgeführt worden sei, dass der Pförtner uns alle durchgelassen hätte und dass die Strickleiter, die schlafenden Aufseher und der gefesselte Posten nichts als Simulation wären.
Die Wohnung, die mir der Vertreter des Parteikomitees gegeben hatte, lag jenseits der Dnjeprbrücke, d. h. bereits im Tschernigowschen Gouvernement (hinter der Brücke fing bereits das Tschernigowsche Gouvernement an). Ich ließ mich in einem Zimmer als Externer nieder, der vor dem Abitur angeblich Tag und Nacht ochste und deswegen nie aus dem Hause kam. Eine Woche später wurde mir mitgeteilt, dass ich mit der Mietskutsche nach Schitomir reisen, unterwegs aber in irgendeinem Städtchen absteigen sollte, wo ein Zadek (ein jüdischer Theologe) wohnte. In der dortigen Synagoge würde mich Basowski erwarten.
Als ich ankam, stieg ich in einem jüdischen Hause ab, wo ich sofort erfuhr, dass es am Ort zwei Zadeks und zwei Synagogen gab, dass aber die Zadeks selbst sich im Augenblick außerhalb des Städtchens aufhielten. Abends war ich in einer der Synagogen, fand jedoch Basowski dort nicht vor; dafür aber erregte ich Verdacht bei den Leuten, bei denen ich abgestiegen war. Ich hatte folgendes Gespräch der Wirtsleute belauscht: „Ist er nicht ein Flüchtling? Leute, die den Zadek aufsuchen wollen, wissen, wann er zu Hause und wann er auswärts ist" Ich verbrachte den Tag in einer unangenehmen Stimmung und begab mich schließlich nach Schitomir. Morgens, als wir schon ganz in der Nähe Schitomirs waren, schien es mir, als ob der zweite Staatsanwalt Korsakow mit derselben Mietskutsche fahre. Ich erschrak heftig, da ich mich aber nirgendwo verstecken konnte, beschloss ich, bis zum Bestimmungsort weiterzufahren. In Schitomir angelangt, begab ich mich zum Treffpunkt der Genossen vom „Bund", da wir, die Anhänger der „Iskra", zu jener Zeit in der Stadt noch keine Ortsgruppe hatten. Von da aus kam ich in die Wohnung eines angesehenen Genossen vom „Bund", der den Parteinamen „Urtschik" führte, und den ich sehr gut aus dem Westgebiet her kannte. Da der Ortsgruppe des „Bundes" nur sehr wenige geeignete Wohnungen zur Verfügung standen, musste ich eine Zeitlang in einer konspirativen Wohnung leben, wo sie ein Literaturlager hatte und die zusammengelegte Druckerei sich befand.
Ich musste lange Zeit warten, bis mir die nötigen Verbindungen zum Grenzübertritt und die Adressen der „Iskra"-Genossen im Auslande übergeben wurden (das alles hatte Basowski, den ich eben nicht hatte finden können), nahm deshalb in einer Werkstatt Arbeit in meinem Beruf an und zog zu einem Kollegen, mit dem ich zusammen arbeitete. Eines Tages begaben wir uns beide auf den Markt, um einen Anzug zu kaufen. Da stieß ich ganz unerwartet auf den Aufseher Wojtow, der den Korridor, in dem sich meine Zelle befand, bewacht hatte und der am Tage der Flucht durch ein Schlafpulver unschädlich gemacht worden war. Ich machte mich natürlich sofort aus dem Staube. Das setzte meinen Hauswirt in nicht geringes Erstaunen. Zugleich traf ich energische Vorbereitungen zur schleunigsten Abreise aus der Stadt. Um diese Zeit suchte mich der Student Blinow auf, mit dem ich im Gefängnis zusammen gesessen hatte und teilte mir mit, dass Halperin sich in Schitomir befinde und mich sprechen möchte. Wir trafen uns im Walde. Von Halperin erhielt ich die nötigen Adressen und reiste dann kurze Zeit darauf in Begleitung einer Genossin vom „Bund" nach Kamenetz-Podolsk und von dort nach irgend einem Grenzdorf. Nachts verließen wir das Dorf und überschritten unter Führung eines Bauern die Grenze. Dort mussten wir einige kleine Flüsse an den Furtstellen überqueren, worauf wir wohlbehalten die Kette der österreichischen Grenzwachen passierten und auf einmal auf österreichischem Gebiet waren. Unterwegs nach Berlin wurde ich an der deutsch-österreichischen Grenze angehalten. Man ließ mich aber noch am selben Tage frei, und ich erreichte ohne weitere Zwischenfälle Berlin. Dort stellte sich heraus, dass alle neun„Iskra"-Genossen sich bereits im Auslande befanden und ich als letzter angekommen war. Der elfte Flüchtling aber, der Sozialrevolutionär Pleski aus Kiew, hatte sich nach Krementschug begeben und war dort ganz zufälligerweise verhaftet worden. Der Name des Dorfschulzen, den er in seinem Pass zu stehen hatte, war mit Bleistift geschrieben; man hätte ihn mit Tinte umschreiben müssen, was aber von Pleski vergessen worden war. Als er ins Hotel kam, gab er seinen Pass zur Anmeldung ab. Auf der Polizei fiel die Sache auf, man brachte ihn aufs Revier, und da soll er zur Verwunderung des Kommissars erklärt haben, dass er in Wirklichkeit Pleski heiße und aus dem Kiewer Gefängnis geflohen sei. So wurde mir wenigstens in Berlin seine Verhaftung geschildert. Die kühne und erfolgreiche Flucht hat damals sowohl im revolutionären Russland als auch in der „Gesellschaft" viel Staub aufgewirbelt.

 

Meine Arbeit im Auslande (1902-1905)

Nach meiner Ankunft in Berlin erfuhr ich, dass die Redaktion der „Iskra" zu meinem Aufenthaltsort Berlin bestimmt hatte, wo ich gemeinsam mit dem Genossen Halperin den Transport von Literatur und die Beförderung von Genossen nach Russland organisieren sollte. Ich hatte noch nicht Zeit gehabt, mich richtig umzusehen, als ich schon an die deutschrussische Grenze zur Wiederanknüpfung der alten Verbindungen reisen musste. Bei dieser Gelegenheit hatte ich noch den Genossen Babuschkin mitzunehmen und nach Russland zu schaffen. Die Reise glückte, und ich kehrte bald zurück.
Berlin, diese riesige Stadt mit ihren Straßenbahnen, ihrer Stadtbahn, mit ihren ungeheuren Warenhäusern und dem blendenden Licht, eine Stadt, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, machte auf mich einen geradezu überwältigenden Eindruck. Einen nicht geringeren Eindruck machte auf mich auch das Berliner Volkshaus, das auch „Gewerkschaftshaus" genannt wurde, ferner die Druckerei, die Buchhandlung und die Redaktion des „Vorwärts" und vor allen Dingen die deutschen Arbeiter. Als ich zum ersten Male in eine Versammlung kam und dort gutgekleidete Herren erblickte, die vor Bierkrügen an Tischen saßen, glaubte ich in eine Versammlung von Bürgerlichen geraten zu sein, da ich solchen Arbeitern in Russland nie begegnet war. Es war aber doch eine Parteiversammlung. Was der Redner sagte, konnte ich nicht verstehen, da ich der Sprache nicht mächtig war.
Zu jener Zeit litten wir beide, Genosse Halperin und ich, sehr stark darunter, dass wir keine Wohnung und keine Dokumente besaßen. Man hatte uns in irgendeinen feuchten Keller untergebracht, wo Halperin heftig erkrankte, wahrscheinlich vor Erschöpfung infolge der langen Reise von Kiew nach Berlin. Jetzt musste ich zusehen, wie ich fertig wurde: ich hatte den Kranken zu pflegen und dazu noch für zwei zu arbeiten, ohne dabei die Landessprache zu kennen (Halperin beherrschte das Deutsche). Später, als ich mich an Berlin bereits gewöhnt hatte und mit deutschen Genossen bekannt geworden war, machte ich bald Wohnungen für 20 bis 30 Genossen ausfindig; als wir aber ankamen, konnte der Vertreter der „Iskra", Genosse M. Wetscheslow, nicht einmal für uns beide eine mehr oder weniger erträgliche Wohnung finden.
In Berlin war damals außer Wetscheslow auch noch der Genosse P. Smidowitsch aktiv tätig, der sehr angestrengt in einer deutschen Werkstatt an Versuchen arbeitete, einen fertigen Drucksatz mittels besonderer Farben gleich auf geschliffene Zinkplatten zu übertragen. Er glaubte an einen Erfolg seiner Versuche und an die Möglichkeit, die „Iskra" in Russland ohne weiteres nach diesen Platten, ohne Drucksatz und ohne Stereotyp zu vervielfältigen. Aber die Versuche führten zu keinem befriedigenden Ergebnis. Ich war oft mit Gen. Smidowitsch in der Werkstatt, wo er diese Versuche anstellte.
Die Berliner „Iskra"-Genossen, die recht zahlreich waren und der „Gruppe zur Unterstützung der russischen revolutionären Sozialdemokratie" als Mitglieder angehörten, versammelten sich oft bei den Bachs (Mutter und Tochter). Auch ich pflegte dort zu verkehren. Um nicht die Aufmerksamkeit der Besucher auf mich zu lenken, gab man mir einen neuen Namen, ich wurde zu einem Michail Davidowitsch Freitag umgetauft. Der Gen. Smidowitsch übersetzte „Freitag" ins Russische, worauf ich mich in einen „Pjatniza" verwandelte, ein Deckname, den ich für immer behalten sollte.
Ende Februar 1903 kam W. A. Noskow, dessen Deckname Boris Glebow war, nach Berlin. In der Folge wurde auf dem zweiten Parteitag von den dort Anwesenden nur er allein in das ZK der Partei gewählt. Mit ihm zusammen fuhr ich nach London und zwar unter dem Pass des Genossen Smidowitsch, dessen Deckname „Matrjona" war. In London traf ich die Genossen, welche die Zeitung „Iskra" geschaffen hatten, die damals bereits zum Sammelpunkt der zerstreuten revolutionären Elemente der Arbeiterklasse Russlands geworden war. Dort fand ich den Genossen Blumenfeld, der die „Iskra" setzte, und dort machte ich auch die Bekanntschaft von Martow, Sassulitsch und Deutsch. Sie wohnten alle in einer Wohnung. Später wurde ich auch mit dem Genossen Lenin und der Genossin Krupskaja bekannt, die besonders wohnten. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Blumenfeld, Martow und Sassulitsch, denen ich mich sehr eng anschloss. Die Genossen Lenin und Krupskaja sah ich seltener. Martow, Sassulitsch, Noskow, Lenin, Krupskaja und ich aßen wiederholt gemeinsam zu Mittag.
Die Unterredungen zwischen der Redaktion der „Iskra" und dem Genossen Noskow drehten sich, glaube ich, um die Lage im „Nordrussischen Arbeiterbund" (vielleicht irre ich mich auch, aber im Gedächtnis ist mir gerade der „Nordrussische Arbeiterbund" haften geblieben, in dessen Auftrag Noskow anscheinend gekommen war) und um die Einberufung des 2. Parteitages. Mit mir sprach man über die Notwendigkeit, die Verbindungen in den Grenzgebieten und in Russland zu erweitern, damit die „Iskra" und die Zeitschrift „Sarja" nach Russland gebracht und dort verbreitet werden könnten. Außerdem musste man Grenzpunkte ausfindig machen, durch die man Delegierte zum Parteitag hinüberschaffen konnte.
Viel Zeit verbrachte ich in der Druckerei, in der die „Iskra" gesetzt wurde. Die Druckerei gehörte der Englischen Sozialdemokratischen Partei. Es überraschte mich damals sehr stark, dass die Engländer nur über eine so kleine Druckerei verfügten und eine kleine, wöchentlich erscheinende Zeitschrift herausgaben, deren Auflage nicht größer als die der „Iskra" war. Da gaben russische Sozialdemokraten in einem fremden Lande, weit entfernt von ihrer Heimat, eine Zeitung heraus, die nicht schlechter war, als die der legalen englischen Partei. Damals war mir das unverständlich, besonders seitdem ich die Druckereien, die Auflageziffern der Zeitungen, die Häuser und die Buchhandlungen kennen gelernt hatte, über die die Deutsche Sozialdemokratische Partei verfügte.
Einige Tage nach unserer Ankunft in London fand eine Versammlung von Russen statt. In dieser Versammlung wurde das Manuskript von Deutsch über seine mehrmalige Flucht gelesen. Dort traf ich viele Genossen, die ich früher in Kowno, Wilna, in Kiew im Gefängnis und in der Freiheit gesehen und als Mitglieder des „Bund" und der Sozialdemokratie und einige sogar als Anhänger der „Iskra"-Organisation gekannt hatte. Die Genossen waren nach London gekommen aus Furcht vor einer Verhaftung oder nach einer Flucht. Auf mich machte es einen starken Eindruck, dass sie fast alle erklärten, in London zu individualistischen Anarchisten geworden zu sein. Soviel ich damals herauskriegen konnte, lag der Grund dieser Erscheinung darin, dass die Emigranten, wenn sie nach London kamen, die erste Zeit sich wie ein Strohhalm im brausenden Meere fühlten: ohne Freunde, ohne Hilfe, ohne Geld, ohne Kenntnis der Sprache und ohne Arbeit. Die politische Organisation der Arbeiterklasse Englands war schwach. Die Gewerkschaften nahmen zwar all und jeden auf, aber Unterstützung leisteten sie erst nach einer neun- bis zehnwöchentlichen Mitgliedschaft. Die ehemaligen Freunde und Bekannten schlugen sich selbst nur mit großer Mühe und Not durch und waren außerstande, anderen zu helfen. Einige Abende hintereinander diskutierte ich mit ihnen über Anarchismus, Sozialdemokratie und Parlamentarismus. Was war ich damals für ein eifriger Anhänger des Parlamentarismus! Die deutschen Sozialdemokraten — Scheidemanns Vorgänger — trafen damals ihre Vorbereitungen zu den Reichstagswahlen, und ich war durch die Art meiner Arbeit in engere Beziehungen zu ihnen gekommen.
London selbst hatte auf mich einen deprimierenden Eindruck gemacht: die Häuser sahen schwarz und verrußt aus, das Wetter war scheußlich: während der ganzen Zeit meines dortigen Aufenthalts hatte es ständig geregnet, und alles war mit Nebel bedeckt. Übrigens habe ich das wirkliche London wahrscheinlich gar nicht gesehen, aber alles, was ich sah, missfiel mir aufs äußerste.
Etwa zehn Tage später begaben wir uns nach Berlin. Von da aus musste ich wieder an die russische Grenze, um die Verbindungen auszubauen, da eine größere Literatursendung nach Russland abgehen sollte und außerdem die Delegierten zum 2. Parteitag erwartet wurden. Zur Grenze reiste ich mit Noskow und „Koch", der auch „Onkel" genannt wurde (F. J. Schtschekoldin). Nach unserer Ankunft in Schirwindt oder Neustadt, das ganz an der preußisch-russischen Grenze lag, beförderte ich zunächst nur „Koch" hinüber. Aus dem Hause, in dem wir abgestiegen waren, sahen wir, wie „Koch" in der Richtung auf den Kirchhof zuschritt, der bereits auf russischem Gebiet lag. Wir waren überzeugt, dass er wohlbehalten hinüberkommen werde, denn die Soldaten der Grenzwache waren bestochen worden. Um so größer war unser Staunen, als wir plötzlich, in dem Augenblick, als „Koch" schon den Kirchhof erreicht hatte, einen Schuss vernahmen.
Wie sich später herausstellte, war „Koch" festgenommen worden, weil es dem Offizier der Grenzwache eingefallen war, auf dem Kirchhof einen Spaziergang zu machen. Als der Wachtposten den Offizier erblickte, blieb ihm nichts anderes übrig, als Alarm zu schlagen. Einige Tage darauf erhielt „Koch" alle Papiere über seine Festnahme und in dem Augenblick, als der Gefangenentransport nach der Kreisstadt abging, mit dem auch er hätte befördert werden sollen, stieg er in einen Wagen und reiste eiligst nach Wilna ab, wo er Noskow erwarten sollte. Es war uns gelungen, ihn für 15 Rubel frei zu bekommen.
Während wir auf die Abreise „Kochs" aus dem russischen Grenzstädtchen warteten, kam Mitte März 1903 aus Russland die Genossin „Kostja" (R. Halberstadt), die Mitglied des Organisationskomitees zur Einberufung des 2. Parteitages war. Nach der Spaltung ging sie zu den Menschewiki über und nach 1907 schloss sie sich den Liquidatoren an. Nach ihrem Zusammentreffen mit Noskow begab sie sich zur Redaktion der „Iskra", Noskow aber passierte wohlbehalten die Grenze und gelangte nach Wilna. Auf diese Weise war der Punkt zur Überschreitung der Grenze, den ich nach meiner Ankunft nach Berlin Ende 1902 ausfindig gemacht hatte, sowohl v o n als auch nach Russland ausprobiert worden.
Nun hatten wir noch gute Transportpunkte für Literatur ausfindig zu machen. Zu diesem Zweck begab ich mich nach Tilsit und Umgebung und kehrte dann von dort wieder nach Berlin zurück.
Die Arbeit setzte nun in beschleunigtem Tempo ein. Hier erlebte ich einen kleinen Zwischenfall. Vor meiner Abreise nach London hatte ich ein Zimmer gemietet und mich auf den Pass eines amerikanischen Staatsangehörigen bei der Polizei angemeldet. Ich war aber gezwungen, den Pass sofort wieder zurückzugeben, weil sein Inhaber nach Amerika abreiste.
Nach meiner Rückkehr von der Reise nach der Grenze suchte ich mein Zimmer wieder auf, und da erzählte mir meine Wirtin, dass die Polizei schon wiederholt da gewesen sei, um, wie ihr erklärt wurde, klarzustellen, wie es kommen konnte, dass zwei Personen unter demselben Namen und denselben Personalien angemeldet waren. Es war gut, dass ich verreist war, sonst hätte ich die Bekanntschaft des Moabiter Gefängnisses machen können, da der Amerikaner, dem der Pass in Wirklichkeit gehörte, während meiner Abwesenheit nach Berlin zurückgekommen war und ohne viel zu überlegen, sich auf denselben Pass angemeldet hatte. Ich sah mich gezwungen, mein Zimmer aufzugeben und wieder so lange unangemeldet zu leben, bis ein Jugendfreund aus Amerika mir seinen Pass zusandte.
In Russland entstanden damals in allen Städten sozialdemokratische Organisationen, in denen ein Richtungskampf zwischen den Anhängern der „Iskra" und dem „Bund russischer Sozialdemokraten15" vor sich ging. In vielen Großstädten existierten zwei sozialdemokratische Parteikomitees, die einen gegenseitigen erbitterten Kampf um den Einfluss auf das Proletariat führten. Die wichtigste Literatur dieser beiden Strömungen der russischen Sozialdemokratie erschien im Auslande. (Die Gruppe „Iskra" gab die Zeitung „Iskra", die Zeitschrift „Sarja" und Broschüren heraus; der „Bund russischer Sozialdemokraten" die „Rabotschoje Delo".) Die Nachfrage nach der Literatur der „Iskra" war in Russland so groß, dass ihre Befriedigung aus dem Auslande undenkbar war. Das zwang die Gruppe „Iskra", alle Kräfte anzustrengen, um ihre Literatur nach Russland auf allen denkbaren Wegen hineinzuschmuggeln. Die Organisationen des „Bundes russischer Sozialdemokraten" in Russland sahen sich ebenfalls gezwungen, den Arbeitern „Iskra"-Literatur zu beschaffen, um nicht den Einfluss auf die Arbeiter einzubüßen. Die Vertreter dieser Organisationen, darunter auch Mitglieder ihres Petersburger Parteikomitees, gingen nach dem Ausland, um sich „Iskra"-Literatur zu holen.
Als ich zum zweiten oder dritten Male in Tilsit war, geriet ich auf die Spur einer großen litauischen Organisation, die religiöse Bücher in litauischer Sprache über die Grenze schaffte (Anm.: Im zaristischen Russland waren sogar religiöse Bücher in litauischer Sprache verboten. Zur Herstellung dieser „verbotenen" Literatur bestanden im Kreise Tilsit große Druckereien.). Mit dieser Organisation setzten wir uns in Verbindung und begannen mit ihrer Hilfe Hunderte von Pud „Iskra", „Sarja" und Broschüren über die Grenze zu schaffen. Die Entgegennahme und Verbreitung der Druckschriften in Russland hatte eine ganze Reihe hervorragender Parteiarbeiter übernommen, die der Genosse Noskow zu diesem Zwecke bestimmt hatte. Zu diesen gehörten: „Koch", Schtschekoldin, Ssonin, dessen Decknamen ich vergessen habe, Gusarow, ein Militärarzt, der in der Wilnaer Militärorganisation tätig war und andere. In Tilsit half uns auf Grund einer Empfehlung Haases ein sozialdemokratischer Schuhmacher Martens. So ein Massentransport hatte seine gute und schlechte Seite: einerseits wurde dadurch auf einmal eine große Masse Literatur eingeschmuggelt, andererseits dauerte aber der Transport von Berlin nach Riga, Wilna und Petersburg mehrere Monate. Für die religiöse Literatur der Litauer war das keine sehr lange Frist, für die „Iskra" dagegen war das eine entsetzlich lange Zeit. Wir beide, Halperin und ich, in deren Händen die Leitung des Transportes lag, wurden von zwei Seiten gezupft: von den Organisationen in Russland und von der Redaktion der „Iskra". Man forderte von uns eine Verringerung der Frist für den Transport von Literatur. Zu diesem Zweck siedelte Halperin nach Tilsit über; ich aber blieb in Berlin. Das war im Sommer 1903, als die Redaktion der „Iskra" sich bereits in Genf befand. Von dort erhielten wir alles an die Adresse des „Vorwärts", in dessen Kellerräumen wir auch unser Literaturlager hatten. In diesem Lager verbrachte ich täglich nicht wenig Zeit, denn ich hatte die erhaltene Literatur zu sortieren und sie zur Weiterbeförderung an die Grenze zu verpacken. Das Verpacken war durchaus nicht einfach: in allen Paketen mussten die gleichen Druckschriften enthalten sein, damit, wenn ein oder mehrere Pakete in die Hände der Polizei fielen, in den anderen Paketen dieselben Zeitungsnummern und dieselben Bücher blieben. Außerdem musste man in größere Pakete kleinere von gleichem Inhalt hineinpacken, damit die großen Pakete gleich nach Ankunft der Sendung in Russland geöffnet und die kleineren ohne weiteres Sortieren und Aufpacken weitergeschickt werden konnten. Und schließlich war es notwendig, sich in bezug auf Form, Gewicht und Umschlagpapier genau an das Muster der litauischen religiösen Bücher zu halten, ferner musste das Packmaterial wasserdicht sein, damit die Literatur bei Regen nicht nass werde. Um die Sendungen nach Russland, wenn auch in geringen Quantitäten, möglichst zu beschleunigen, bediente man sich auch der Koffer mit doppeltem Boden. Noch vor meiner Ankunft nach Berlin befaßte sich eine kleinere Fabrik mit der Herstellung einer großen Anzahl dieser Koffer für uns. An den Grenzen aber kamen die Zollbeamten bald dahinter, was zur Folge hatte, dass einige Sendungen aufflogen. Wahrscheinlich erkannten die Beamten die Koffer bereits, da sie alle von gleichem Format waren. Da begannen wir selbst in andere, gewöhnliche Koffer einen zweiten Boden hineinzuarbeiten. Wir verwendeten dazu dicke Pappe, mit der wir die auf den eigentlichen Boden hingelegten 100 bis 150 neue Nummern der „Iskra" bedeckten, und überklebten dann alles, so dass es unmöglich war, zu erraten, dass in dem Koffer Literatur enthalten war. Das Gewicht des Koffers wurde nur um ein Geringes erhöht. Diese Manipulationen nahmen wir mit allen Koffern der heimreisenden, mit uns sympathisierenden Studenten und Studentinnen und mit den Koffern der legal oder illegal nach Russland reisenden Genossen vor. Aber auch das genügte nicht. Der Bedarf an neuer Literatur war außerordentlich groß. Da erfanden wir einen „Panzer": für Männer wurde eine Art Weste hergestellt, in die man 200 bis 300 Exemplare der „Iskra" und dünne Broschüren hineinsteckte; für die Frauen aber hatten wir Leibchen angefertigt, und außerdem wurde ihnen Literatur noch in die Röcke hineingenäht. Eine Frau konnte gut 300 bis 400 Exemplare der „Iskra" mitnehmen. Das nannten wir in unserer Sprache „Eilsendung". In unsere „Panzer" kleideten wir alle: von den verantwortlichen Parteifunktionären bis zu den gewöhnlichen Sterblichen, die uns in die Hände fielen. An einige Genossen kann ich mich heute noch erinnern: Goloschtschekin („Philipp"), der wegen des „Panzers" fürchterlich fluchte, dann Wladimirow („Ljowa"), ferner Baturin und andere. Es war in der Tat eine Barbarei: fünf heiße Sommertage in einem solchen „Panzer" zu verbringen. Etwas Entsetzliches, aber wie groß war dafür die Freude, wenn die Literatur an die Organisationen gelangte. Übrigens wurde ich nicht von allen verflucht, es gab auch Genossen, die sich mit Bedauern von den „Panzern" trennten; die Frauen z. B. gewöhnten sich an die „Panzer", die sie stattlich, voll und gut gebaut erscheinen ließen. Gelang es mir einmal, durch „Eilsendungen" die ganze frische „Iskra"-Literatur abzuschieben, so war die Freude groß. Um zu diesem Thema nicht wieder zurückzukehren, muss ich gleich hinzufügen, dass trotz aller unserer Bemühungen und, trotzdem fast alles, was im Auslande gedruckt wurde, nach Russland kam, die russischen Organisationen nie genug bekommen konnten. Sie organisierten in Russland große illegale Druckereien — in Baku, Odessa und Moskau — und druckten die „Iskra" nach den Matrizen, die wir ihnen aus dem Auslande zusandten; später aber wurde nach Eintreffen der neuesten Nummer der „Iskra" ein neuer Satz in Russland hergestellt.
Meine damalige Arbeit in Berlin beschränkte sich keineswegs nur auf den Versand von Literatur nach Russland. Zu mir kamen alle Genossen, die in Angelegenheiten der „Iskra" ins Ausland oder aus dem Auslande nach Russland reisten. Das alles kostete mich sehr viel Zeit und Mühe, denn die Genossen kamen schlecht gekleidet, erschöpft und ohne Kenntnis der Sprache an.
Die Korrespondenz mit Russland wurde zum Teil auch über Berlin geführt, und ich hatte die Briefe zu sammeln, zu dechiffrieren und an den Bestimmungsort abzusenden.
Bis zum 2. Parteitag waren wir in Berlin einige Mann stark, aber nur ich allein beschäftigte mich ausschließlich mit den oben erwähnten Dingen. Nach dem 2. Parteitag jedoch war ich ganz allein für alle Funktionen in Berlin zurückgeblieben. Wenn ich vergleiche, wie damals gearbeitet wurde und wie jetzt gearbeitet wird, so muss ich sagen, dass für die von mir damals geleistete Arbeit heute unbedingt ein Abteilungsleiter und Stellvertreter, dann eine Chiffrierabteilung, Kontoristinnen, Stenotypistinnen, Sekretäre usw. nötig wären. Damals kam niemand auf den Gedanken, für diese Arbeit noch ständige Hilfskräfte heranzuholen. Und doch wurde vielleicht nicht schlechter gearbeitet, als heutzutage mit dem aufgezählten Personal. Ich muss noch hinzufügen, dass in Berlin ebenso wie in allen großen Städten Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz eine Organisation zur Unterstützung der „Iskra" bestand, der ich auch angehörte. Damals — noch vor der Spaltung der Partei — gehörten zu den Mitgliedern der Berliner Gruppe: P. Smidowitsch, Wetscheslow, Nikitin (unter Kerenski Bürgermeister von Moskau und später Minister für Post und Telegraph), Ssonin, Okulowa, Rubinstein, Schergow, Konjagin (Halperin), Ljadow, Ljadowa, N. Bach, Schitomirskij (der sich später als Provokateur entpuppte) und andere. Die Berliner Gruppe sammelte Geld, veranstaltete Aufführungen, Vorträge, Diskussionsabende usw.
Obwohl ich vollauf von den russischen Angelegenheiten in Anspruch genommen war, wurde ich doch allmählich in die Berliner Arbeiterbewegung hineingezogen, denn ich hatte oft mit vielen Funktionären der Partei, der Gewerkschaften und der Genossenschaften zu tun. Ohne es selbst zu merken, fing ich an, deutsche Partei- und Gewerkschaftszeitungen zu lesen, und zwar ohne Hilfe eines Lehrers. So verstrich ein halbes Jahr. Im Juli trafen nach und nach die Delegierten zum 2. Parteitag in Berlin ein. Sie blieben ein paar Tage in Berlin und reisten dann weiter. Ich erinnere mich noch an die Genossen Kartaschow vom „Nordrussischen Arbeiterbund" und Kostrow (Jordania — jetzt antichambriert er bei den bürgerlichen Ministern und hetzt gegen die proletarische Union der Sowjetrepubliken), die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Ich entsinne mich aber gar nicht mehr an die in Berlin getroffenen Vorbereitungen zum Parteitag. Eine Zeitlang erhielten wir überhaupt keine Nachrichten über die Arbeiten des Parteitags. Wir aber lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit auf Nachrichten und fingen alles auf, was an Gerüchten über die Sitzungen des Parteitags verlautbar wurde. Wir waren überzeugt, dass die Richtung der „Iskra" siegen werde; aber inwieweit der Zusammenschluss all der Gruppen zu einer Partei sich glatt vollziehen würde, konnte man sich damals nur schwer vorstellen, obwohl die dringende Notwendigkeit einer solchen Einigung von allen anerkannt wurde. Schließlich erreichten uns auch Gerüchte über Streitigkeiten in den Reihen der „Iskra"-Genossen. Mir erschien das unmöglich. Wir rechneten damit, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen mit den „Rabotschedjelzy" und ihren Anhängern kommen würde, aber ganz unerwartet waren für mich persönlich die Meinungsverschiedenheiten im Lager der „Iskra" selbst, die ich immer für ein homogenes Ganzes gehalten hatte. Ich machte damals recht unruhige Tage durch. Schließlich kehrten die Delegierten nach Berlin zurück. Wir hörten die Berichte beider Richtungen an, und sofort setzte die Agitation beider Gruppierungen ein. Ich fing an zu schwanken. Einerseits tat es mir leid, dass man Sassulitsch, Potressow und Axelrod, mit denen ich in London bekannt geworden war, durch den Hinauswurf aus der Redaktion der „Iskra" schwer gekränkt hatte. Die „Iskra" wurde ja doch so ausgezeichnet redigiert! Damals wusste ich noch nicht, wer von den Redakteuren schrieb, und wer nicht; ich wusste auch nicht, dass zwischen den Redaktionsmitgliedern Meinungsverschiedenheiten bestanden und dass jeder prinzipielle Artikel erst durch die Hände aller in verschiedenen Ländern wohnenden Redaktionsmitglieder ging, bevor er in der „Iskra" erscheinen konnte. Dazu kam noch, dass die Genossen, denen ich am nächsten stand (Blumenfeld und andere), sich auf die Seite der Menschewiki geschlagen hatten. Andererseits war ich ganz für die organisatorische Struktur der Partei, die von Genossen Lenin vorgeschlagen worden war. Meine Logik war für die Mehrheit, mein Gefühl aber (wenn ich mich so ausdrücken darf) für die Minderheit. Schon damals überraschte mich das Benehmen Kostrows auf dem Parteitag: er war die ganze Zeit über mit der Mehrheit — mit Lenin und Plechanow — gegangen, nachdem aber beschlossen worden war, alle lokalen Käseblätter aufzugeben und nur die „Iskra" als Zentralorgan der Partei beizubehalten, fühlte er sich durch die Schließung des georgischen Organs, dessen Redakteur er war, beleidigt und trat zur Minderheit des Parteitages über. Ich konnte gar nicht begreifen, wie ein Delegierter des Parteitags seine Ansicht ändern konnte, weil ein Parteitagsbeschluß die Zeitung seiner Organisation betroffen hatte. Jordania wurde später zu einem wütenden Gegner der Mehrheit, obwohl er auf dem 2. Parteitag Anhänger der Bolschewiki war.
Nach dem Parteitag hatte ich die Delegierten nach Russland zu schaffen. Mit einigen von ihnen fuhr ich persönlich bis an die Grenze. So reiste ich zusammen mit der Genossin „Semljatschka" nach einem dicht an der Grenze gelegenen Dorf des Kreises Orteisburg, unweit von Ostrolenko, das damals noch auf der russischen Seite lag. Das war meine erste Bekanntschaft mit der Genossin „Semljatschka". Wir mussten einen ganzen Tag lang im Dorfe verbringen und warten, bis ein Unteroffizier der russischen Grenzwache erschien und die Genossin durch den Wald auf russisches Gebiet brachte. Noch am selben Tage erfuhr ich, dass alles gut gegangen war und dass sie den Weg nach der Eisenbahnstation eingeschlagen hatte; darauf begab ich mich an die anderen Grenzpunkte, wo die übrigen Delegierten auf mich warteten.
Als ich nach Berlin zurückkehrte, stellte es sich heraus, dass in der Berliner „Iskra"- Gruppe die Spaltung bereits vor sich gegangen war: Wetscheslow war zu den Menschewiki übergegangen, P. Smidowitsch schwankte noch, Halperin war Bolschewik. Die Freunde und Gesinnungsgenossen von gestern waren zu Feinden geworden und hatten aufgehört, einander zu verstehen. Mir fiel es schwer, mich zurecht zu finden. Außerdem verstand ich nicht, warum geringfügige Meinungsverschiedenheiten eine gemeinsame Arbeit unmöglich machten, und das um so mehr, als gerade nach dem Parteitag ein weites Betätigungsfeld sich für die Partei eröffnet hatte.
Im Oktober 1903 wurden wir, die Mitglieder der „Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie" nach Genf gerufen. Halperin, ich und soweit ich mich erinnern kann auch Wetscheslow fuhren hin. Im Auslande bestand eine Organisation zur Unterstützung der „Iskra", die sich wahrscheinlich früher Organisation zur Unterstützung der „Gruppe der Befreiung der Arbeit" genannt hatte. Der Organisation gehörten Emigranten an: Mitglieder der Partei sowie Studenten und Studentinnen. Die alten Parteimitglieder (Emigranten oder Genossen, die für eine gewisse Zeit aus Russland herüberkamen), die den Gruppen zur Unterstützung der „Iskra" angehörten, gründeten die „Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie". Als die „Iskra"-Genossen, die mit mir an der Flucht teilgenommen hatten, ins Ausland kamen, wurden sie alle automatisch in die „Liga" aufgenommen. Als ich ankam, war ich schon in meiner Abwesenheit in die Liga aufgenommen worden. Bis zum 2. Parteitag hatte sich die „Liga" durch nichts hervorgetan, obwohl die ganze Redaktion der „Iskra" aus Mitgliedern der Liga bestand. In politischer und organisatorischer Hinsicht war sowohl im Ausland als auch in Russland nur die Redaktion der „Iskra" tonangebend. Wenn ich mich nicht irre, hat die „Liga" ein paar Broschüren herausgegeben; darauf beschränkte sich ihre ganze Tätigkeit. Als Martow, Sassulitsch, Potressow und Axelrod auf dem 2. Parteitag überstimmt wurden, wollten sie sich nicht geschlagen geben und kamen auf den Gedanken, einen Kongress der „Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie" einzuberufen, den sie offenbar dem zweiten Parteitag entgegenstellen wollten. Wir waren also aufgefordert worden, zu diesem Kongress zu kommen. Schon früher hatte ich erwähnt, dass ich schwankte. Ich arbeitete mit der Mehrheit, brach aber meine persönlichen Beziehungen zu den Vertretern der Minderheit nicht ab, denn unter ihnen waren viele, mit denen ich in Kiew zusammen im Gefängnis gesessen hatte und dann geflohen war. Nach meiner Ankunft in Genf begab ich mich zu meinem Freunde Blumenfeld. Dort fand ich Martow, Dan und viele andere, mit denen ich bereits bekannt war. Blumenfeld begann mich sofort zu bearbeiten. In Genf wohnte damals auch Nikolaj Baumann, und ich besuchte ihn oft vor der Eröffnung des Kongresses der „Liga". Bei ihm lernte ich auch den Genossen Orlowskij (Worowski) kennen. Einmal zeigte man mir eine Protesterklärung an das Büro oder Präsidium der „Liga", die von Halperin, Baumann und vielen anderen unterschrieben war und in der sich diese darüber beschwerten, dass die Anhänger der Mehrheit absichtlich zu dem Kongress nicht eingeladen worden waren, während man Personen, die als Anhänger der Minderheit bekannt waren, sogar aus England herberufen hatte. In meinem Gedächtnis ist dieser Anlass zur Abgabe der Protesterklärung haften geblieben. Das Schreiben enthielt die Aufforderung, alle Mitglieder der „Liga" zum Kongress einzuladen. Auch ich unterzeichnete diesen Protest. Warum hätte ich es auch nicht tun sollen? Man brauchte noch lange kein Anhänger der Mehrheit zu sein, um diese Forderung gutzuheißen, da beide Richtungen daran interessiert waren, festzustellen, wie sich die Mitglieder der „Liga" zu den letzten Parteitagsbeschlüssen stellen und absolut kein Grund dafür bestand, sich mechanisch eine Mehrheit zu schaffen. Das war meine Auffassung, als ich meine Unterschrift unter den Protest setzte. Aber Blumenfeld, Martow und Dan waren anderer Ansicht. Als ich zu ihnen kam, stürzte Dan auf mich zu und machte wir Vorwürfe, ich hätte mich zu schnell entschieden und wäre sehr übereilt zur Mehrheit übergetreten. Darauf erwiderte ich ihm, dass die Organisationsprinzipien der Mehrheit die richtigeren wären und dass ich mich noch keiner Richtung angeschlossen hätte. Bei dieser Gelegenheit fragte ich ihn nun, wie er dazu komme, mir Übereiltheit vorzuwerfen, trotzdem ich mich noch nicht festgelegt hätte, während er, der erst nach Schluss des Parteitages aus Russland gekommen wäre, schon Partei ergriffen hätte. (Als Dan nach Berlin kam, hatte ich mit ihm häufig längere Unterredungen. Ich informierte ihn über den Parteitag und die Meinungsverschiedenheiten in der Zeit kurz vor dem Kongress der „Liga".) Er gab mir darauf zur Antwort, dass er in Russland den Aufbau der Partei nach einem bestimmten Plan durchgeführt hätte und dass er, um sich zu entscheiden, nur eins festzustellen brauchte, nämlich: wer diesen Plan auf dem 2. Parteitag vertrete: Lenin oder Martow. Und da Martow als Verteidiger seines Planes aufgetreten sei, so habe er sich für die Minderheit entschieden. Blumenfeld versicherte mir, dass ich den Inhalt der von mir unterzeichneten Protesterklärung nicht verstanden, dass man mich irregeführt hätte und forderte von mir nicht mehr und nicht weniger, als dass ich meine Unterschrift zurückziehen sollte. Das lehnte ich natürlich ab.
Trotzdem sehr viele Mitglieder der „Liga" nach Genf gekommen waren, wurde der Kongress nicht eröffnet. Der Grund dafür war mir unbekannt. Bald erfuhr ich jedoch, warum die Eröffnung des Kongresses hinausgeschoben wurde. Eines Abends forderte Blumenfeld mich auf, mit ihm spazieren zu gehen. Dieser Abend und dieser Spaziergang haben sich meinem Gedächtnis fest eingeprägt. Wir gingen am Ufer des Sees entlang. Es war ein klarer und ruhiger Abend, aber mir war sehr, sehr schwer zu Mute. Mein alter Genosse Blumenfeld, der mir geholfen hatte, ein bewusster Marxist zu werden, wollte an diesem Abend all das, was er in mir entwickelt hatte, kurz und klein schlagen. Es stellte sich heraus, dass die Delegierten zum Kongress der „Liga" zur Hälfte Anhänger der Mehrheit und zur Hälfte Anhänger der Minderheit waren; meine Stimme konnte der einen oder anderen Hälfte das Übergewicht geben (Als der Kongress begann, kam noch jemand aus London, wenn ich mich nicht irre, sogar mit seiner Frau, die ebenfalls Mitglied der „Liga" war, wodurch die Menschewiki die Mehrheit der Stimmen erhielten.), und aus diesem Grunde forderte Blumenfeld von mir, dass ich, falls ich seine Richtung nicht unterstützen wollte, auf die Teilnahme am Kongress überhaupt verzichten sollte. Seine Forderung begründete er mit der Behauptung, ich verstünde nicht, was ringsherum vorginge. Die Mehrheit, sagte er, stürze durch ihre Taktik die Partei ins Verderben, deshalb sei es notwendig, der Minderheit die Möglichkeit zu schaffen, ihre eigene Literatur herauszugeben, um auf diese Weise die Partei vor den gefährlichen Abweichungen der Mehrheit zu warnen. Wenn aber, entwickelte er seinen Gedanken weiter, auch auf dem Kongress der „Liga" die Mehrheit der Stimmen den Bolschewiki zufielen, dann würden die ehemaligen Mitglieder der Redaktion, Martow, Potressow, Sassulitsch und Axelrod nichts mehr herausgeben können, was für sie gleichbedeutend mit einer völligen Aufgabe ihrer politischen Tätigkeit wäre. (Für die Richtigkeit der Wiedergabe des Sinns der Blumenfeldschen Äußerungen übernehme ich die volle Verantwortung.) Da ich aber mit seiner Beweisführung nicht einverstanden war und auch nicht auf die Teilnahme am Kongress der „Liga" verzichten wollte, erklärte er mir, dass ich damit ein Verbrechen beginge und schlug mir deshalb vor, ich solle für einige Jahre nach Amerika fahren, bis ich imstande sein werde, die bestehenden Meinungsverschiedenheiten zu begreifen. Ich lehnte diesen Vorschlag entschieden ab. Damit endete unser Gespräch.
Der Kongress begann; auf der einen Seite saßen die Menschewiki, auf der andern die Bolschewiki. Ich überlegte mir, wohin ich mich setzen sollte. Ich war der einzige, der sich noch nicht in bestimmter Weise für die eine oder andere Richtung entschieden hatte. Schließlich nahm ich unter den von Plechanow geführten Bolschewiki Platz und stimmte mit ihnen zusammen. Noch am selben Tage, glaube ich, verließen die Bolschewiki mit Plechanow an der Spitze den Kongress. Ich aber blieb auf dem Kongress zurück. Es war mir klar, dass das Fortgehen der Bolschewiki — der Parteimehrheit — aus der Redaktion des Zentralorgans und aus dem Parteirat die Minderheit zwingen werde, sich entweder den Beschlüssen des 2. Parteitages zu fügen oder die Partei zu spalten. Aber was konnte ich machen? Nichts! Standen doch sowohl auf der einen als auf der anderen Seite die Führer und Leiter der Partei, die ja wissen mussten, was sie taten. Während ich — nach dem Fortgang der Bolschewiki — noch auf dem Kongress saß, beschloss ich, mich endgültig auf ihre Seite zu schlagen und verließ ebenfalls den Kongress. Ich ging sofort in das Restaurant oder Cafe von Landolt, da ich wusste, dass die Bolschewiki sich dort treffen würden. Es fand dort in der Tat eine Sitzung der Genossen statt, die den Kongress verlassen hatten, und Plechanow setzte gerade den Plan eines Vernichtungskampfes gegen die Menschewiki auseinander. Nach lebhafter Diskussion wurden fast alle seine Vorschläge angenommen, und man schloss die Sitzung. Kaum waren aber einige Tage vergangen, als ich erfuhr, dass Plechanow zu den Menschewiki übergegangen war und kurze Zeit darauf die ehemaligen Redakteure der „Iskra" kooptiert hatte. Am 7. November 1903 erschien die 52. Nummer der „Iskra" mit dem Artikel von Plechanow: „Was man nicht tun darf?" Darin erging er sich in allerlei Beschimpfungen der Bolschewiki und bezeichnete sie als Spaltungspolitiker usw. Wie kam es nur, fragte ich mich, dass der Begründer der russischen sozialdemokratischen Partei, der auf dem Parteitag als Führer der Mehrheit für einen bestimmten Organisationsplan eintrat, der auf dem Kongress der „Liga" die Taktik der Bolschewiki bestimmte, Resolutionen gegen die Menschewiki vorschlug usw., plötzlich zu den Menschewiki überlaufen konnte?
Die Handlungsweise Plechanows, Kostrows, Blumenfelds und anderer war mir unverständlich. Über ihr Verhalten hatte ich in jenen Tagen in einem ungemütlichen Zimmerchen in Genf sehr viel nachgedacht, bis ich wieder nach Berlin abreiste, wo ich für zwei arbeiten musste, da Halperin nach Russland abgereist war. (Man hatte ihn in das ZK kooptiert.) Zu gleicher Zeit war ich gezwungen, auch in der Berliner „Gruppe zur Unterstützung der Iskra" tüchtig mitzuarbeiten, da einige ihrer Mitglieder zu den Menschewiki übergetreten waren und eine Gruppe zur Unterstützung der Menschewiki gegründet hatten. Die Lage in den zentralen Körperschaften und den Ortsgruppen der Partei war nach dem Kongress der „Liga" (Anfang 1904) folgende: Das russische ZK (Noskow, Kurz [Lengnik] und Kler [Krschischanowski], die auf dem 2. Parteitag selbst in das ZK gewählt wurden, und andere Genossen, die sie in das ZK kooptiert hatten) hatte die Linie des Parteitages durchzuführen, was es anfangs auch tat. Die Redaktion des Zentralorgans der Partei geriet — nach dem Übertritt Plechanows zu den Menschewiki, nach der Kooptierung der alten, auf dem Parteitag nicht wieder gewählten Redakteure der „Iskra" durch Plechanow und nach dem Austritt des Genossen Lenin aus der Redaktion — in die Hände der Menschewiki. Auch der Parteirat, dem zwei Mitglieder des in Russland tätigen ZK, zwei Redaktionsmitglieder der „Iskra" und ein von dem Parteitag bestimmter Vertreter (Plechanow) angehörten, wurde menschewistisch.
Nach dem 2. Parteitag schlossen sich alle Komitees und Gruppen der Sozialdemokratie in den Städten Zentralrusslands zu einer einheitlichen Organisation zusammen. Die Beschlüsse des Parteitages wurden nicht überall einstimmig angenommen. In Zentralrussland nahmen fast alle für die Bolschewiki Partei, im Süden Russlands aber und im Kaukasus billigten die Organisationen die Stellung der Minderheit auf dem Parteitag.
Die Transportstelle der Partei in Berlin blieb nach dem Parteitag genau dieselbe wie früher, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht mehr der Redaktion der „Iskra", sondern unmittelbar dem russischen ZK unterstellt war. An der Spitze der Berliner (ja, man kann sagen der deutschen) Transportstelle stand tatsächlich nur noch ich. Im großen und ganzen ging die Arbeit noch genau so vor sich, wie ich es oben geschildert habe, nur war die „Iskra", die ich nach Russland transportierte, inhaltlich nicht mehr die alte, sondern eine neue Zeitung. Das war nicht mehr die Sturmglocke, die alle revolutionären Elemente um das Banner der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei sammelte, sondern eine einfache Zeitung, die sich von den andern illegalen Presseorganen, die vor und während des Erscheinens der ersten „Iskra" bestanden, nicht wesentlich unterschied.
Allmählich wurde auch der Standpunkt des ZK in Russland klar. Nach der Verhaftung einiger Mitglieder des ZK und der Kooptierung neuer, in Freiheit befindlicher Genossen (Krassin [Nikititsch], Ljumbimow [Mark], Sejnljatschka, Rosenberg [Swjer], Konjagin [Halperin], Karpow und andere) nahm das ZK den Menschewiki gegenüber eine versöhnliche, den Bolschewiki gegenüber dagegen eine feindliche Haltung ein (das heißt den Organisationen gegenüber, die in Russland und im Ausland für die Durchführung der Parteibeschlüsse eintraten).
Das ist nun einmal das Los der Versöhnungspolitiker, die es allen recht machen wollen. Das russische ZK wollte die Bolschewiki mit den Menschewiki versöhnen, in Wirklichkeit aber schlug es sich auf die Seite der Menschewiki. Ich muss hier bemerken, dass einige Mitglieder des ZK mit dieser Politik unzufrieden waren und aus dem ZK austraten (die Genossin Semljatschka und noch jemand). Das ZK sandte den Genossen Noskow ins Ausland als seinen Vertreter, als er aber zurückkehrte, hinterließ er den Genossen Sjurtuk (Kopp), der es versuchte, sich zu einem Zensor der Aufsätze und der Broschüren der Anhänger der Mehrheit aufzuschwingen. Genosse Noskow drängte mir einen Gehilfen auf, in der Hoffnung, dass dieser mich — den „steinharten" Bolschewik — in meiner Arbeit werde ersetzen können, aber der Plan misslang: der „Gehilfe" überzeugte sich recht bald davon, dass es ihm nicht gelingen werde, sich der Verbindungen des deutschen Transportpunktes zu bemächtigen, und er gab die Arbeit auf.
Die Versöhnungspolitik des ZK, die in Russland keine Sympathie fand, wurde im Ausland von den „Studentengruppen zur Unterstützung der russischen Sozialdemokratie" in jeder Weise unterstützt. Bis zum tatsächlichen Übergang des ZK auf seiten der Menschewiki bestanden im Ausland in fast jeder großen Stadt, selbstverständlich auch in Berlin, Gruppen zur Unterstützung der Mehrheit und Gruppen zur Unterstützung der Minderheit. Die Berliner Gruppe zur Unterstützung der Mehrheit der russischen Sozialdemokratie traf im Juli oder August 1904 mit der menschewistischen Gruppe die Vereinbarung, beide Gruppen zu verschmelzen. Das geschah, als die studentischen Mitglieder der Gruppe in die Ferien gefahren waren. In der Versammlung, in der die Frage der Verschmelzung entschieden wurde, fehlten der Genosse Gorin, der krank war, und ich, da ich an diesem Tage viel zu tun hatte. Als ich und Gorin erfuhren, dass ein Beschluss gefasst worden war, sich mit den Menschewiki zu verschmelzen, forderten wir die Einberufung einer Versammlung, in der von neuem zu dieser Frage Stellung genommen werden sollte. Anstatt unseren Wunsch zu erfüllen, sandte man uns bereits eine Einladung zu einer gemeinsamen Versammlung beider Gruppen. Wir gingen hin, forderten aber die Entfernung der Menschewiki, was auch geschah. Wie viel Mühe wir uns auch gaben, der Mehrheit der Gruppe zu beweisen, dass die Parteiorganisationen in Russland in ihrer Mehrheit gegen die neue Redaktion der „Iskra" und gegen die Versöhnungspolitik des ZK waren: es wurde doch mit drei gegen zwei Stimmen beschlossen, sich mit den Menschewiki zu verschmelzen. Darauf verließen wir die Versammlung, aber es gelang uns nicht, sofort eine neue Gruppe zur Unterstützung der Mehrheit der Partei zu schaffen, denn eigentlich stand ich allein da. Gorin war nervenkrank. Um die Nachfolge der Mehrheitsgruppe, die sich mit den Menschewiki vereinigt hatte, zu übernehmen, mussten wir mindestens drei Mitglieder haben, die aber waren damals in Berlin nicht aufzutreiben. Auf irgendeine Weise erfuhr ich nun, dass in Berlin zwei Bolschewiki zum Studium weilten: der Bulgare Abramow und Genosse Schaumjan. Ich machte sie ausfindig, und es gelang mir mit großer Mühe, sie davon zu überzeugen, dass sie unserer Gruppe beitreten müssten. So waren wir nun schon zu viert, aber bei der Arbeit konnten mir diese zwei Genossen keine Hilfe leisten. Im Herbst kamen die Studenten und Studentinnen zurück, die früher Mitglieder unserer Gruppe gewesen waren oder mit uns sympathisiert hatten. Nun wuchs unsere Gruppe an, fing an energisch zu arbeiten und tat seit dem 9. Januar 1905 sehr viel für die Bolschewiki. Der Lockspitzel Schitomirski war ebenfalls Mitglied der Berliner Gruppe zur Unterstützung der Mehrheit gewesen, und zwar noch vor der Verschmelzung beider Gruppen. Als er nach den Ferien zurückkam, schwankte er lange und wusste nicht, welcher Gruppe er sich nun anschließen sollte: uns oder den Menschewiki. Offenbar wartete er auf Instruktionen der Ochrana.
Schließlich ging er zu uns über. Sicherlich wusste die Ochrana schon damals, dass die Bolschewiki für den Absolutismus weit gefährlicher waren als die Menschewiki. Deshalb ließ sie die Spitzel bei uns.
Als unsere neue Gruppe erstarkt war, erfuhren wir, dass die vereinigte Gruppe einen Aufruf an die russischen Studenten und die russische „Gesellschaft" in Berlin drucken ließ, um das große Ereignis, die Verschmelzung der beiden Gruppen, zu verkünden. Noch am selben Tage gaben wir unsere Antwort in Druck, in der wir die Tatsache der Verschmelzung in Abrede stellten und die Vorgänge innerhalb der Partei erklärten, so weit das den Studenten und Studentinnen gegenüber möglich war. Dieses Flugblatt verfasste, bzw. redigierte der Genosse Gussew, der damals vor seiner Abreise nach Russland einige Tage in Berlin weilte. Unser Flugblatt verbreiteten wir an demselben Tage, an dem die vereinigte Gruppe das ihre verbreitete, und zwar auf dem gleichen Vortragsabend in der russischen Kolonie. Das erregte außerordentliches Aufsehen und erhöhte unser Ansehen auch unter den parteilosen Russen in Berlin. Überhaupt war der Kampf zwischen den beiden Berliner Gruppen, von denen jede eine andere Richtung in der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unterstützte, sehr scharf, und unsere Gruppe ging als die besser organisierte und energischere aus diesem Kampf als Siegerin hervor.
Zu den Mitgliedern der bolschewistischen Gruppe zählten nach dem Übertritt eines Teils der Mitglieder zu den Menschewiki in der Versöhnungsära 1904 folgende Genossen: Gorin, Schaumjan, Abramow, die Ljadows, Posner, Anna Neschenzowa, Kwjatkowski, Schitomirski, Tarasow, Levinsohn, Galina, Lemberk und ich.
Außerdem wurde innerhalb der Gruppe noch eine Untergruppe geschaffen, die hauptsächlich aus Studenten und Studentinnen bestand und zu deren Mitgliedern zählten: S. Itin, Nikolski, Kataurow, Anna Milmann, Lydia Feidberg, Marschak, Britschkina, Nehusychin und andere Genossen, die gute Beziehungen zu breiten Kreisen der damals in Berlin wohnenden Russen hatten.
In der Mitte des Sommers 1904 hatten wir eine kleine Verzögerung im Literaturtransport. Aus Berlin sandten wir die Pakete mit Literatur in Kisten an die Adresse des Schuhmachers Mertins in Tilsit, wobei der Inhalt der Kisten als Schuhwaren oder andere Waren deklariert wurde. Die preußische Polizei öffnete einmal mehrere solcher Kisten und entdeckte in ihnen Literatur, statt der in der Deklaration angegebenen Waren. Bei Mertins wurde eine Haussuchung vorgenommen. Er und mit ihm noch einige Mann kamen vors Gericht. Die bürgerlichen Zeitungen eröffneten eine Hetze gegen die Russen, den „Vorwärts" und die deutschen Sozialdemokraten, die sie beschuldigten, die russischen Anarchisten zu unterstützen und dergleichen mehr. Eines schönen Tages forderte mich die Administration des „Vorwärts" auf, mit der Literatur, die in ihren Kellerräumen lag, zu verschwinden. Auf die Frage, wohin ich denn die Druckschriften schaffen sollte, wurde mir erklärt, das. sei meine Sache, man könne mir nicht helfen, da man sich vor einer Haussuchung fürchte. Ich wandte mich an Singer, aber auch er erklärte mir, dass man bis zur Aufklärung der Stellungnahme des Gerichtes zu dieser ganzen Affäre uns nicht helfen könne. Darauf wandte ich mich an Karl Liebknecht um Unterstützung. Dieser gab mir einen Brief an einen sozialdemokratischen Hausbesitzer, bei dem ich eine kleine Wohnung mietete. Dort brachte ich das Lager unter. Es gelang mir dann, Adressen zu bekommen, auf die ich die Literatur aus Genf erhalten konnte. Daraufhin begab ich mich nach Tilsit. Hier fand ich mit Hilfe des Genossen Mertins sehr schnell einen verantwortlichen Angestellten einer großen Druckerei, an dessen Adresse wir nunmehr die Literatur ganz offen als Literatur versenden konnten. Ich muss bemerken, dass Genosse Mertins, der vor Gericht kam, sich weit besser hielt als die Geschäftsleitung des „Vorwärts". Auch nachdem er zu drei oder sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war, hörte er nicht auf, mit uns zusammen zu arbeiten (Anm.: Die Gerichtsverhandlung fand im Juli 1904 in Königsberg statt. Die preußische Regierung wollte einen großen Prozess konstruieren, aber er wurde zu einem Prozess gegen die Regierung. Die Angeklagten wurden von Karl Liebknecht, Haase, Heinemann und Schwarz verteidigt. Es gelang ihnen, den Beweis zu führen, dass bei der Anklage mit falschen Zitaten operiert wurde, wodurch diese in den Augen der Arbeiter und auch der „Öffentlichkeit" stark kompromittiert wurde. Das hinderte die preußischen Richter natürlich nicht daran, die Angeklagten zu verurteilen. Sie taten das aber in einer sehr milden, gar nicht preußischen Weise.).
Auf diese Weise behoben wir sehr bald die vorübergehende Unterbrechung der Literatursendungen und machten unsern Apparat von der Gnade der Vorwärtsgewaltigen unabhängig. Im Herbst rief mich Gen. Krupskaja nach Genf. In den Kreisen, die auf dem Boden der Beschlüsse der Mehrheit des 2. Parteitages, der Bolschewiki, standen, begann man von der Schaffung eines eigenen Organs im Auslande zu sprechen, da es sich bereits herausgestellt hatte, dass das ZK die Beschlüsse des Parteitags nicht durchführte, sich nicht auf die Mehrheit der Parteiorganisationen stützte und dass schließlich die Zeitung, die neue „Iskra", sich von den Bolschewiki nicht nur in organisatorischen Fragen, sondern auch in Fragen der Taktik wesentlich unterschied. Es war allen klar, dass man unter diesen Umständen der Zeitung „Iskra" die unbeschränkte Einwirkungsmöglichkeit auf die Ortsgruppen nicht überlassen durfte. Einige Tage nach meiner Ankunft in Genf wurde eine Versammlung der Bolschewiki einberufen, in der Genosse Lenin einen Bericht über die Lage in der Partei und im Lande erstattete, aus denen er die Schlussfolgerung zog, dass man eine besondere bolschewistische Zeitung herausgeben müsse. Die Stimmung der Anwesenden war zwar gedrückt, aber entschlossen. Es war allen klar, dass die Herausgabe einer eigenen Fraktionszeitung zu einer Spaltung der Partei führen konnte. Aber einen anderen Ausweg hatten wir nicht. Es wurde nicht viel debattiert und auch nicht viel widersprochen. Widerspruch erhob eigentlich nur Genosse Kogan, der aus Russland gekommen war. Der Vorschlag, eine eigene Zeitung herauszugeben, wurde angenommen, und bald kam unser bolschewistisches Organ „Wperjod" (Vorwärts) heraus, das bis zum 3. Parteitag erschien.
Diese neue Zeitung begann ich nun energisch nach Russland zu versenden, und da in Russland die Arbeit des Literaturtransports von den Bolschewiki ausgeübt wurde, so wurde die Zeitung tatsächlich in ganz Russland verbreitet.
Noch vor dem Erscheinen des Organs der Mehrheit „Wperjod" (die erste Nummer erschien am 22. 12. 1904 alten Stils) hatten die Bolschewiki einige Broschüren über ihre Meinungsverschiedenheiten mit den Menschewiki herausgegeben. Das waren unter anderm die Broschüren: N. Lenin — „Ein Schritt vorwärts, zwei zurück"; Schachow (Malinin) — „Der Kampf um den Parteitag"; Orlowski (Worowski) — „Der Parteirat gegen die Partei"; Galjorka (Olminski) — „Nieder mit dem Bonapartismus!" usw. Alle diese Broschüren versandte ich mit dem Gesamttransport, zusammen mit der neuen „Iskra", den Schriften über Fragen des Programms, der Taktik der internationalen Arbeiterbewegung, den Werken von Marx, Engels, Kautsky in russischer Übersetzung und Broschüren über die russische Arbeiterbewegung.
Nach dem Erscheinen unseres Organs „Wperjod" und nach der Bildung des „Büros der Komitees der Mehrheit zur Einberufung des 3. Parteitages" stellte ich den Versand der neuen „Iskra" nach Russland ein, da ich zu dieser Zeit dokumentarische Beweise vom russischen ZK dafür hatte, dass die Mehrheit der Ortsleitungen der Partei in Russland gegen das ZK, gegen das Zentralorgan, gegen den Parteirat und für die Einberufung des 3. Parteitages war. Auf meine Adresse bekam ich einen in meiner Chiffre geschriebenen Brief, der an N. B. Glebow-Noskow gerichtet war und Mitteilungen darüber enthielt. Eine Abschrift dieses Briefes sandte ich an Noskow, das Original aber bekam Genosse Lenin. Dieser Brief wurde dann in den Aufsatz: „Deklaration und Dokumente über den Bruch der zentralen Körperschaften mit der Partei" aufgenommen, den Genosse Lenin am 23. 12. 1904 (nach altem Stil) veröffentlichte.
Da der Transportapparat in Russland in den Händen der Anhänger der Mehrheit lag (im Rigaer Bezirk leitete diese Arbeit „Papachen" (Litwinow), und die deutsche Transportstelle völlig von den Mitteln erhalten wurde, die die „Berliner Gruppe zur Unterstützung der Bolschewiki" aufbrachte, so war die Einstellung des Versandes der neuen „Iskra" vom Parteistandpunkt aus völlig gerechtfertigt, und die revolutionäre Arbeiterbewegung hatte durchaus keinen Schaden davon. Die Arbeit ging energischer und rascher vor sich als früher, denn nun sandten wir ja nach Russland unsere eigene Zeitung, die klare und bestimmte Antworten auf alle Fragen erteilte, die das Leben aufwarf. Das war damals ein stürmisches Leben! Es war die Periode der Streikflut vor dem 22. Januar 1905. Sobald wir die neue Nummer des „Wperjod" bekamen, versandten wir sie sofort per Post in Briefform nach allen Ecken und Enden Russlands. Die Ränder der Zeitung wurden abgeschnitten, um ihr Gewicht zu vermindern; die Zeitung wurde ferner gepresst, um dünner und härter zu erscheinen. Außerdem wurde die Zeitung auf Dünndruckpapier hergestellt. Wir taten die Zeitung in Bilder, versteckten sie in Einbänden von Büchern, kleideten alle Genossen und Genossinnen, die nach Russland reisten, in unsere „Panzer" und versandten die Zeitung schließlich auch als Schwergut.
Die Literatur gelangte an die Parteikomitees und von da aus an die Arbeiter der Fabriken und Werkstätten. So ging die Arbeit gleichmäßig bis zum 23. Januar 1905 vor sich.
Am frühen Morgen des 23. Januar las ich in der Straßenbahn die Meldung der deutschen Zeitungen von der Erschießung der Arbeiter am 22. Januar. Eine ungeheuere Wut und ein grenzenloser Hass gegen das zaristische Regime stiegen in meiner Seele auf. Eine unglaubliche Aufregung erfasste fast alle in Berlin wohnenden Russen. Die russischen Studenten und Studentinnen der Berliner Lehranstalten beriefen Versammlungen ein. Hier wurde Blitz und Donner gegen die Henker des Zaren geschleudert, und man nahm Resolutionen an, die alle Teilnehmer an den Versammlungen verpflichteten, nach Russland zu fahren, um gegen den Absolutismus zu kämpfen.
Am selben Tage versammelte sich unsere bolschewistische Gruppe, vor der die Frage stand, wie sie auf die Ereignisse vom 22. Januar reagieren sollte. Es wurde beschlossen, ein Flugblatt an die in Berlin wohnenden Russen herauszugeben, in diesem Flugblatt die Bedeutung des Januarblutbades auseinanderzusetzen und dann alle Mitglieder der Gruppe und alle Sympathisierenden abends in die hauptsächlich von Russen besuchten Cafes zu schicken, damit sie Geld für die russische Revolution sammelten. Außerdem beschloss man noch, Versammlungen mit Erhebung von Eintrittsgeld zu veranstalten, in denen man ebenfalls für die Revolution sammeln wollte.
Merkwürdig: keiner von den Russen war in gedrückter Stimmung, wie etwa nach dem Pogrom von Kischinjew. Im Gegenteil, sogar die politisch indifferenten Russen waren in gehobener Stimmung. Es war ja klar, dass der 22. Januar das Signal zum siegreichen Kampf war. Die Versammlungen nahmen einen stürmischen Verlauf und wurden auch von Deutschen besucht.
Im Laufe von einigen Tagen hatte unsere Gruppe eine hübsche Summe gesammelt, von allen Seiten flossen uns Geldmittel zu, sogar Deutsche beteiligten sich daran. Die Genossen, die in die Cafes gegangen waren, um für die russische Revolution Geld zu sammeln, erzählten mir, dass an den Spenden sich nicht nur Russen, sondern auch Deutsche, Engländer, Skandinavier und Amerikaner beteiligt hatten. Die gesammelten Mittel kamen uns sehr zu statten, denn aus Genf und anderen Städten des Auslandes kamen plötzlich sehr viele russische Genossen, die unfreiwillige Emigranten waren und nunmehr nach Russland zurück wollten. Die bolschewistische Zentralstelle sandte sie nach Russland zur Parteiarbeit. In ungefähr einem Monat waren durch meine Hände etwa 60—70 Mann gegangen. Und jedem musste man Geld für die Reise geben, jeden musste man mehr oder weniger anständig einkleiden und mit den Ortsgruppen in Russland in Verbindung setzen.
Selbstverständlich nahm ein jeder dieser Genossen sowohl in „Panzern" als auch in Koffern mit Doppelböden Literatur mit. Die Parteiorganisationen in Russland lebten auf, sie fingen an, immer häufiger und dringender Literatur zu verlangen. Und obwohl die Arbeit sich sehr stark häufte, ging sie doch gut von der Hand. In dieser Periode des Aufschwungs in der Berliner russischen Kolonie berief Karl Kautsky die Vertreter aller sozialdemokratischen Gruppen zu sich: Bolschewiki, Menschewiki, Vertreter des „Bund", der „Sozialdemokratie Polens und Litauens", und der lettischen Sozialdemokratie. Unsere Gruppe bevollmächtigte mich, die Menschewiki beauftragten Malwina und Sjurtuk (Kopp). Wer die anderen Gruppen vertrat, weiß ich nicht mehr.
Vor der Eröffnung der Sitzung nahm mich Karl Kautsky zu sich in sein Arbeitszimmer und erklärte mir, dass der deutsche Parteivorstand sich an die Bolschewiki und Menschewiki mit dem Vorschlag gewandt habe, die entstandenen Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten einem Schiedsgericht zu übergeben. Den Vorsitzenden des Schiedsgerichtes sollte der deutsche Parteivorstand stellen. (Dazu ward August Bebel, der damalige Vorsitzende der SPD bestimmt.) Kautsky beklagte sich darüber, dass Lenin auf den Vorschlag des Schiedsgerichtes nicht eingegangen war. Deshalb sei aus den Versuchen, eine Einigung herbeizuführen, die jetzt dringender als je notwendig wäre, nichts geworden. Kautsky wetterte nur so gegen Genossen Lenin, weil dieser sich geweigert hatte, mit den
Menschewiki vor ein Schiedsgericht zu treten. Ich erklärte Kautsky damals, dass diese Frage durchaus nicht Lenin allein betreffe, sondern die ganze Partei, und dass dieser, wenn er sich mit einem Parteigericht einverstanden erklärt hätte, allein geblieben wäre, weil die erdrückende Mehrheit der Ortsgruppen in Russland gegen die Menschewiki, das Zentralorgan der Partei, den Parteirat und sogar gegen das ZK und dessen Versöhnungspolitik sei. Ich wies darauf hin, dass sich bereits sehr große Meinungsverschiedenheiten nicht bloß in bezug auf organisatorische, sondern auch in bezug auf taktische Fragen herausgestellt hätten und dass die übergroße Mehrheit der Ortsgruppen in Russland für die Einberufung des 3. Parteitages wäre, der allein imstande sei, die Streitigkeiten innerhalb unserer Partei zu entscheiden.
Am Schluss der Unterredung erklärte mir Kautsky, dass wir Bolschewiki durch unsere Weigerung, die Vermittlung des deutschen Parteivorstandes anzunehmen, viel verloren hätten, und dass Lenin daran Schuld sei, denn, wenn sein Starrsinn nicht wäre, so könnte die russische Sozialdemokratie sich einigen. Mitte Sommer, bereits nach dem 3. Parteitag, war ich in einer Angelegenheit in Königsberg bei einem hervorragenden Vertreter der deutschen Sozialdemokratie, dem Rechtsanwalt Haase. Haase wurde nach Bebeis Tod zu einem der zwei Vorsitzenden des Parteivorstandes der Sozialdemokratie gewählt. Er erzählte mir, dass der deutsche Parteivorstand, als er uns seine Vermittlung vorschlug, Bebel beauftragt hatte, den Standpunkt der Bolschewiki für richtig zu erklären, und zwar einfach deswegen, weil die Bolschewiki auf dem 2. Parteitag die Mehrheit gehabt hatten. Erst nach dieser Mitteilung Haases begriff ich Kautskys Anspielung darauf, dass wir Bolschewiki durch unsere Ablehnung des Schiedsgerichtes viel verloren hätten.
Nach Beendigung der Unterredung mit mir eröffnete Kautsky die von ihm einberufene Sitzung. Er teilte mit, dass man Schritte unternommen habe, um die Einigkeit der Sozialdemokratie in Russland wieder herzustellen, dass aber die unternommenen Versuche zu keinem Erfolg geführt hätten. Er schlug vor, die Einigung aller in Berlin bestehenden Gruppen durchzuführen. Ich entsinne mich nicht, dass auch nur eine der fünf Gruppen sich mit der Einigung in Berlin einverstanden erklärt hätte. Was nun mich betrifft, so erklärte ich, dass wir eine Einigung in Berlin ohne einen Beschluss der zuständigen Parteiinstanzen ablehnen und dass wir auch nicht mit den anderen Gruppen ständige, gemeinsame Aktionen unternehmen könnten, da uns von den Menschewiki und den Bundisten tiefgehende Meinungsverschiedenheiten trennten. Gleichzeitig aber hatte ich nichts einzuwenden gegen die Diskussion der Frage, ob man gemeinsame Aktionen aller sozialdemokratischen Gruppen in Berlin in bestimmten Fällen durchführen könne. Die von Kautsky einberufene Sitzung führte zu gar keinem Ergebnis. Am Schluss der Sitzung erklärte uns Kautsky, dass der Parteivorstand beschlossen habe, zwischen uns als Vertretern unserer zentralen Organisationen die Summen zu verteilen, die von der sozialdemokratischen Presse für die russische Revolution gesammelt worden waren, ferner den Betrag, den die Sozialdemokratische Partei für denselben Zweck bestimmt hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an die Summe und auch nicht mehr daran, wie sie unter den von uns vertretenen fünf Richtungen der sozialdemokratischen Bewegung Russlands („Bund", „SP Polens und Litauens", SP Lettlands, Menschewiki und Bolschewiki) verteilt wurde, aber ich weiß noch ganz genau, dass wir einen Teil des Geldes erhalten haben. Im März oder April 1905 kamen nach Berlin zwei Vertreter des mit der Einberufung des 3. Parteitages betrauten Organisationskomitees, das aus Vertretern des „Büros der Komitees der Mehrheit" und des ZK der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei gebildet worden war. Das waren: Genosse Bur (A. M. Essen) und Genossin Insarowa, die den Decknamen „Maus" führte. (Praskowja Lalajanz.) Sie hatten den Auftrag, im Auslande alle organisatorischen Vorbereitungen für den 3. Parteitag zu treffen. Die Grenzübertrittstellen für die Delegierten waren schon längst von mir vorbereitet worden. Die Adressen für Brief- und Geldsendungen aus Russland befanden sich in den Händen des Organisationskomitees. Es blieb nur noch übrig, für die zu erwartenden Delegierten in Berlin Wohnungen zu finden und den Tagungsort für den Parteitag zu bestimmen. Als bereits die ersten Delegierten zum 3. Parteitag eintrafen, merkte ich, dass, obwohl meine Adresse nur einigen Genossen bekannt war, meine Wohnung stark beobachtet wurde. Jeden Morgen, bevor ich die Treffpunkte aufsuchte, wo sich die Delegierten zum Parteitag zu melden hatten, musste ich allerlei Kunststücke fertig bringen, um die Spitzel los zu werden. Das gelang mir sehr leicht, denn ich kannte Berlin gut, und die Spitzel waren richtige Tölpel, die man an ihrem Gang und unruhigen Gesichtsausdruck leicht erkennen konnte. Bald darauf erschienen Lockspitzel bei meiner Wirtin und fragten sie über mich aus. Schließlich wurde auch die preußische Polizei lebendig: man zwang mich oft ins Revier zu gehen und erkundigte sich danach, was ich in Berlin mache und woher ich die Mittel zum Leben nehme. Um vor der Polizei Ruhe zu bekommen, musste ich mir von einem sozialdemokratischen Zahnarzt eine Bescheinigung darüber geben lassen, dass ich bei ihm gegen ein bestimmtes Entgelt zum Zahntechniker ausgebildet würde.
Eines Morgens erhielt ich einen Eilbrief von dem Mitglied des Organisationskomitees Litwinow („Papachen"), in dem er mich aufforderte, ihn noch am selben Tage um 2 Uhr nachmittags in einem Restaurant aufzusuchen. Um schneller und sicherer die Spitzel los zu werden, suchte ich einen Genossen auf und ging mit ihm zusammen nach der Nationalgalerie. Als ich wieder aus dem Gebäude trat, bemerkte ich einen langen Menschen, der hinter einem Baum stand und unruhig nach irgend jemand spähte. Er fiel mir sofort auf. Ich ging nun mit dem Genossen nach den „Linden". Der lange Mensch folgte uns. Wir nähern uns dem Tiergarten und springen in die erste beste vorbeifahrende Straßenbahn, unser Verfolger springt in dieselbe Elektrische auf den Vorderperron. Ich warte den Moment ab, wo er seine Karte löst, springe aus dem in voller Fahrt sich befindenden Wagen und eile durch die weniger belebten Straßen davon. Ich war überzeugt, den langen Spitzel los geworden zu sein, irrte mich aber, denn der Kerl war gleich nach mir aus der Straßenbahn gesprungen und besaß außerdem nicht minder flinke Beine als ich. Bald hatte ich ihn an meiner Seite. Und wie!! Der Spitzel, der einige Köpfe größer war als ich, geht neben mir her, als wäre er mein bester Freund. Er sieht mir eindringlich ins Gesicht und lacht... Ich gehe hastig weiter, er tut das gleiche. Nun entschloss ich mich, ein Restaurant aufzusuchen. Er folgte mir auch ins Restaurant. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu meinem Zahnarzt zu Fuß zu gehen, obwohl das sehr weit war. Den ganzen Weg ging der Spitzel neben mir her. Ich verging fast vor Wut. So begleitete mich der Kerl tatsächlich bis zu meinem Zahnarzt. Als ich dort ankam, erzählte ich ihm von dem frechen Spitzel und bat ihn, mir zu helfen, sein Haus irgendwie unbemerkt zu verlassen, da ich an dem Tage noch sehr viel zu erledigen hatte. Nach langem Suchen fand der Zahnarzt einen Gang, der in den Nachbarhof führte, von wo aus ich dann ungezwungen meinen Weg einschlagen konnte. Aber zu dem „Papachen" zu gehen, war schon zu spät, denn ich hatte mit dem Spitzel bis 5 Uhr abends zu tun gehabt. Ich sah mich gezwungen, meine Wohnung aufzugeben. Mit dem „Papachen" traf ich mich erst spät abends. Es stellte sich heraus, dass an eine meiner Adressen für die Organisation des Parteitages eine größere Summe Geldes aus Petersburg angekommen war, die ohne mich nicht abgeholt werden konnte. Da man alles auch für die Rückfahrt der Delegierten nach Russland vorbereiten musste und bei einer solchen Bespitzelung die Organisation der Sache ohne Gefahr des Auffliegen« von Genossen fast unmöglich war, so beschloss man, dass ich zunächst nach Genf fahren und von dort aus nach Berlin oder einer anderen geeigneten Stadt Deutschlands zurückkehren sollte. Ich muss sagen; ich bin oft genug von Spitzeln verfolgt worden, aber ich kann mich nicht ohne ein gewisses Gruseln an jenen langen Spitzel erinnern, der mit mir durch ganz Berlin gewandert war. Noch heute sehe ich sein gelbes, grinsendes Gesicht...
Zum 3. Parteitag kamen Vertreter fast aller Ortsgruppen Russlands. Es stellte sich heraus, dass einige Parteikomitees (hauptsächlich aus dem Süden) und die Parallelorganisation der Menschewiki in Moskau den Standpunkt der Minderheit des 2. Parteitages vertraten. Diese veranstalteten Sondersitzungen. Somit wurde die Spaltung in der russischen Sozialdemokratie zu einer vollendeten Tatsache. Es genügt, die Beschlüsse des 3. Parteitags und die zur selben Zeit über die gleichen Fragen gefassten Beschlüsse der menschewistischen Konferenz zu vergleichen, um einzusehen, dass zwischen den Bolschewiki, das heißt, der erdrückenden Mehrheit der Partei, und den Menschewiki, die schon damals eine verschwindende Minderheit waren, gewaltige grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten bestanden über die Fragen der Rolle des Proletariats, der liberalen Bourgeoisie und der Bauernschaft in der demokratischen Revolution, über die Fragen der provisorischen Revolutionsregierung, des bewaffneten Aufstandes usw. (Die Beschlüsse des 3. Parteitages und der menschewistischen Konferenz des Jahres 1905 hat Genosse Lenin in der Broschüre: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" analysiert.)
Vor Beendigung des 3. Parteitages reiste ich von Genf nach Leipzig, von wo aus ich die Delegierten über die russische Grenze beförderte. Dann fuhr ich wieder nach Berlin zurück.
Nach dem Parteitag kehrten die Bolschewiki, die bis dahin Anhänger einer Versöhnungspolitik innerhalb der Gesamtpartei waren und der menschewistischen Unterstützungsgruppe sich angeschlossen hatten, wieder zu den Bolschewiki zurück. Überhaupt waren unsere ausländischen bolschewistischen „Gruppen zur Unterstützung der russischen Sozialdemokratie" zu jener Zeit sehr lebendig. Viele Mitglieder dieser Gruppen begaben sich nach Russland zur Parteiarbeit. Auch ich begann, zur Reise nach Russland zu rüsten.
Als ich noch in Leipzig war, hielt sich Genosse Krassin (Nikititsch) auf der Durchreise einige Tage in Berlin auf. Das ZK hatte ihm die Leitung aller technischen Angelegenheiten der Partei in Russland übertragen. Zu ihm kamen nun einige Genossen, die die Versöhnungspolitik unterstützten, mit Genossen Sjurtuk an der Spitze, und schlugen ihm vor, unsere Literatur durch sie als autonome Gruppe nach Russland befördern zu lassen, und zwar unter bestimmten Bedingungen. (Krassin war bis zum Parteitag Mitglied des in Versöhnungspolitik machenden ZK gewesen und wusste daher gar nicht, in welchem Zustand unser technischer Apparat im Auslande sich befand.) In diesen Bedingungen war ein Punkt enthalten, der besagte, dass wir alle unsere Verbindungen der „Autonomen Transportgruppe" zu übergeben hatten. Als ich nach Berlin zurückkehrte, war dieser Vertrag schon unterschrieben. Genosse Krassin aber war nicht mehr im Ausland. Mich empörte dieser Vertrag aufs heftigste, und ich erhob gegen die getroffenen Vereinbarungen Protest beim ZK. Daraufhin wurde dieser Vertrag vom ZK annulliert.
Nun begann ich die Geschäfte in Berlin Schitomirski und dem Genossen Getzow (damals war er noch Student, heute ist er Leiter des Moskauer Steinkohlenreviers) zu übergeben, und brachte den beiden bei, wie man die Literatur einzupacken und in „Panzer" einzunähen habe. Während dieser Übergabe der Geschäfte bemerkte ich wieder, dass mir intensiv nachgestellt wurde. Das veranlasste mich, fünf Tage lang zu Hause zu bleiben, bis ich alles Geschäftliche übergeben hatte und Deutschland verlassen konnte.
Einmal zog ich die Jalousien in dem Zimmer auf, das ich vorübergehend bewohnte, und erblickte zu meinem Entsetzen denselben Spitzel, der mich kurz vor dem Parteitag gezwungen hatte, Berlin zu verlassen. Nun beschloss ich, vor Erledigung aller Geschäfte nicht aus dem Hause zu gehen. Für mich war es damals ein Rätsel, wie dieser Spitzel meine Adresse erfahren konnte, da ja nur Schitomirski allein mich besuchte und die Wohnung kannte. Er aber besaß nicht nur mein volles Vertrauen, sondern auch das der ausländischen Parteikörperschaften. Einen Tag vor meiner Abreise nach Russland brachte Schitomirski den Genossen M. N. Ljadow zu mir, und das, obwohl man mich bespitzelte und Genosse Ljadow kein Recht hatte, sich in Preußen aufzuhalten, da er ausgewiesen war.
Genosse Ljadow entkam wohlbehalten, nachdem er bei mir übernachtet hatte. Auch mir gelang es, mit nicht minderem Glück aus der Wohnung herauszukommen und dann Berlin und schließlich Deutschland zu verlassen. Ich begab mich in aller Eile an die Grenze und überschritt sie bei Ostrolenka, an derselben Stelle, an der ich viele Genossen hinübergeschafft hatte. Mitte Juli kam ich in Odessa an, wohin mich das vom 3. Parteitag gewählte ZK gesandt hatte.

 

Parteiarbeit in Odessa — Verhaftung und Gefängnis (1905 — 1906)

In Odessa kam ich erst nach dem Aufstand des Panzerkreuzers „Potemkin" an. Die Ortsgruppen aller Parteien, auch die unsrige, hatten alle stark gelitten und waren sowohl durch Verhaftungen als auch dadurch, dass viele Parteifunktionäre Odessa hatten verlassen müssen, sehr geschwächt worden.
Gleich nach meiner Meldung an der vereinbarten Stelle geriet ich in eine Sitzung des Odessaer Parteikomitees, wo sich herausstellte, dass meine Ankunft vom ZK im voraus angekündigt worden war, und dass daraufhin das Odessaer Parteikomitee mich in meiner Abwesenheit zu seinem Mitglied gewählt und zum Organisator des Stadtbezirks bestimmt hatte.
An der Sitzung des Parteikomitees nahmen folgende Genossen teil: Gussew (jetzt Sekretär der Zentralen Kontrollkommission der KP der SU), Kyrill — Prawdin (jetzt stellvertretender Volkskommissar für Verkehrswesen), Danil — Schotmann (jetzt Mitglied der ZKK) und Schapowalow (jetzt ebenfalls Mitglied der ZKK). Dieser verließ übrigens einige Tage nach meiner Ankunft Odessa. Die Arbeit des Odessaer Stadtkomitees war unter ihren Mitgliedern folgendermaßen verteilt: Gussew war Sekretär des Parteikomitees (außerdem stand er in Verbindung mit der bolschewistischen STUDENTEN-ORGANISATION und mit dem technischen Apparat des OK), Kyrill war Organisator des Peresypski-Bezirks, Danil Organisator des Dalnitzki-Bezirks und ich Organisator des Verwaltungsbezirks. Auf diese Weise war die Odessaer bolschewistische Organisation bis zu der Zeit nach dem Oktober 1905 in drei Bezirke eingeteilt. Der Dalnitzki-Bezirk hatte damals zwei Unterbezirke: den Fontanski und den Woksalni. Der Organisator des Woksalni-Unterbezirks war Genosse Mischa Woksalni — M. Semblüchter (jetzt Mitglied des Kollegiums des Innenkommissariats). Soweit ich mich erinnern kann, hatten die beiden anderen Bezirke keine fest organisierten Unterbezirke. Einige Tage nach meiner Ankunft in Odessa kam Genosse Anatoli (Gottlober) an, der ebenfalls in das Parteikomitee kooptiert wurde. Er wurde zum Leiter der Agitpropabteilung des Parteikomitees bestimmt. In dieser Zusammensetzung bestand das Parteikomitee bis zu den Tagen nach dem 17. Oktober 1905. Die Organisation war damals in Odessa und überhaupt in ganz Russland von unten bis oben nach dem Prinzip der Kooptierung aufgebaut: in den Fabriken und Werkstätten zogen die Bolschewiki, die dort arbeiteten, jene Arbeiter und Arbeiterinnen heran, die sie nach dem Grade ihres Klassenbewusstseins und ihrer Ergebenheit gegenüber der Sache des Proletariats für geeignet hielten. Die Verwaltungsbezirksleitungen in den Großstädten verteilten unter ihren Mitgliedern die Arbeit des Zusammenfassens aller Zellen in den Unterbezirken und des Schaffens von Zellen dort, wo noch keine bestanden. Die Organisatoren der Unterbezirke kooptierten die besten Elemente aus den Zellen in die Unterbezirksleitungen. Schied ein Mitglied der Unterbezirksleitung infolge einer Verhaftung oder, weil er die Stadt verlassen musste, aus, so kooptierten die übrigen Mitglieder andere Genossen, und zwar nach Vereinbarung mit der Verwaltungsbezirksleitung. Diese setzten sich aus den besten Elementen der Unterbezirksleitungen zusammen. Die Stadtkomitees wurden von der Gesamtheit aller Gruppen und Zellen einer Stadt gebildet und mussten vom ZK bestätigt werden, wobei die Stadtkomitees das Recht hatten, neue Mitglieder zu kooptieren. Wenn irgend ein Stadtkomitee ganz „aufflog", so ernannte das ZK der Partei irgend einen Genossen oder mehrere, und diese kooptierten dann die nötige Zahl geeigneter Genossen aus den Reihen der Funktionäre der Stadtbezirke.
Ich hielt es für nötig, bei dem organisatorischen Aufbau unserer damaligen Parteiorganisationen zu verweilen, weil ein sehr großer Prozentsatz der jetzigen Mitglieder der KP der SU in solchen Organisationen nicht tätig war, und es für diese von Nutzen ist, einiges darüber zu erfahren.
Außerdem leiden unsere ausländischen Bruderparteien sehr darunter, dass sie nicht imstande sind, eine passende Form des Aufbaus ihrer lokalen Organisationen unter illegalen Verhältnissen zu finden, da sie vor dem Kriege und auch nach dem Kriege (vor dem Entstehen der kommunistischen Parteien) nicht genötigt waren, ein illegales Dasein zu führen.
Wie war nun die Organisation des Odessaer Parteikomitees selbst beschaffen und worin bestand seine Tätigkeit vor den Oktobertagen des Jahres 1905?
Das Parteikomitee verfügte über Meldestellen für das Zentralkomitee und das Zentralorgan der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Bolschewiki), für die Parteikomitees der benachbarten Städte: Nikolajew, Cherson usw.
Die eintreffenden Genossen kamen zuerst zum Sekretär der Odessaer Organisation, dem Genossen Gussew. Gussew selbst hatte alltäglich, mit Ausnahme der Tage, an denen die Sitzungen des Parteikomitees stattfanden, seine eigenen Treffpunkte, wo wir — Mitglieder des Parteikomitees — ihn zu bestimmten Stunden finden konnten. Diese Treffpunkte waren in Cafes, in Privatwohnungen usw. Sitzungen des Parteikomitees fanden sehr oft statt, nicht weniger als einmal wöchentlich. Wir hielten sie in den Privatwohnungen der mit uns sympathisierenden Intellektuellen ab. In diesen Sitzungen besprachen wir die Direktiven des ZK, die politische Lage sowie die Durchführung dieser oder jener politischen Kampagnen. Oft wurden Fragen diskutiert, die unsere Agitation und Propaganda betrafen, ferner Fragen über unser Verhältnis zu den Organisationen der anderen Parteien in Odessa, mit denen unser Parteikomitee öfter in Berührung kam. Die von dem Parteikomitee gefassten Beschlüsse wurden von den Organisatoren der Verwaltungsbezirke ihren Bezirksleitungen bekannt gegeben, die dann über die Beschlüsse selbst ebenso wie über die Methoden ihrer Durchführung diskutierten.
Das Parteikomitee gab bei allen politischen Anlässen Flugblätter heraus (in Odessa hatten wir eine große illegale Druckerei des ZK, in der wir unsere Flugblätter druckten), verbreitete die Literatur, die wir vom ZK und aus dem Auslande erhielten, schickte Redner zu Betriebs- und anderen Versammlungen und bestimmte die Leiter für die höheren Stufen der politischen Bildungszirkel in den Verwaltungsbezirken. Welche Fragen in jener ersten Sitzung des Parteikomitees, an der ich am Tage meiner Ankunft in Odessa teilnahm, beraten wurden, weiß ich nicht mehr. Nach der Sitzung brachte man mich mit den Genossen des Verwaltungsbezirks in Kontakt, und ich machte mich an die Arbeit.
Die Leitung meines Verwaltungsbezirks funktionierte gut. Sie bestand aus dem Schuster Wolodja Mowschowitsch (gegenwärtig Mitglied der Revisionskommission eines Trusts), Anna (die „Geschorene") — einer Schneiderin, die ich nicht mehr wieder gesehen habe, dem Bauarbeiter Alexander Kazap (Pol-jakow — nach der Februarrevolution 1917 stellte sich heraus, dass er seit 1911 Agent der geheimen politischen Polizei war), Jakow — „Extern" (I. W. Stuhlbaum), „Pjotr", — ein Bulgare, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann — der als Arbeiter in der Tabakfabrik von Popow tätig war, einem Buchdrucker und noch einigen Genossen, deren Namen und Decknamen mir entfallen sind. Ein jedes Mitglied der Verwaltungsbezirksleitung stand mit den Gruppen und Zellen des Produktionszweiges in Kontakt, in dem er zur Zeit selbst tätig war. Durch die Gruppen- und Zellenmitglieder war er mit den Arbeitern und Arbeiterinnen dieses Produktionszweiges verbunden. Der Kontakt zwischen dem Odessaer Parteikomitee und den Arbeitern in den Fabriken und Werkstätten wurde auf folgende Weise aufrechterhalten: der Organisator eines Verwaltungsbezirks bildete das Bindeglied zwischen dem Parteikomitee und der Bezirksleitung, die Mitglieder der Bezirksleitung waren ihrerseits mit den Gruppen und Zellen verbunden, und die Mitglieder der Gruppen und Zellen führten die Direktiven des Parteikomitees und der Bezirksleitung unter den Arbeitern durch; umgekehrt informierten diese die Bezirksleitungen und das Parteikomitee über die Stimmung unter den Odessaer Arbeitern in eben derselben Reihenfolge. Ob die beiden anderen Bezirke Odessas genau so organisiert waren, kann ich nicht bestimmt sagen, da ich dort nicht gearbeitet habe. Ich glaube jedoch, dass die Organisationsformen dieser Verwaltungsbezirke sich nicht wesentlich von der Organisationsform des Stadt-Verwaltungsbezirks, in dem ich tätig war, unterschieden. In meinem Stadt-Verwaltungsbezirk befanden sich hauptsächlich kleine Betriebe: Schuster- und Schneiderwerkstätten, Buchdruckereien, Baubüros und Baugenossenschaften, Kontore und Läden, einige Tabakfabriken (die größte dieser Fabriken war die von Popow) und die Teesortiererei von Wysotzki.
Die Bezirksleitung tagte nicht weniger als einmal in der Woche, mitunter auch öfter. Ihre Zusammensetzung war eine ziemlich qualifizierte. Alle Fragen wurden gründlich und eingehend durchberaten. Als Bezirksorganisator musste ich in den Gruppen und Zellen meines Bezirkes Umschau halten (ich hatte dabei als Gehilfen die Genossin S. B. Britschkina), aber meine Hauptaufmerksamkeit konzentrierte ich auf die Arbeit unter den Tabakarbeitern und -arbeiterinnen. Außer den Versammlungen der Parteigenossen, die Tabakarbeiter waren, veranstalteten wir sehr oft Versammlungen für Arbeiter und Arbeiterinnen verschiedener Tabakfabriken, die oft von 50—60 Teilnehmern besucht wurden und in denen ich über verschiedene Fragen Referate hielt.
So ging die Arbeit vorwärts bis Mitte September. Mit jedem Tag gewannen wir immer neue und neue Beziehungen zu verschiedenen Industriezweigen, mit denen wir noch nicht in Verbindung standen.
Nun wurden in Odessa auch die Liberalen rührig: sie veranstalteten öffentliche Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, in denen sie pathetische Oppositionsreden hielten, und gaben Bankette, auf denen sie bis zum Überfluss schwätzten. Man begann freier zu atmen. Ich erinnere mich nicht, dass seit Mitte September Verhaftungen in Odessa vorgekommen waren. Hier und da fanden bereits Meetings in den Lehranstalten statt.
Mitte des Sommers 1905 existierten in Odessa außer der bolschewistischen Ortsgruppe eine menschewistische, ferner eine Ortsgruppe des „Bund", der Sozialrevolutionäre und der Daschnaki (Armenische Nationalrevolutionäre). Ende August oder Anfang September wurde die Frage der Einberufung einer gemeinsamen Sitzung der Vertreter der Bolschewiki, der Menschewiki und des „Bund" aufgeworfen. Welches Parteikomitee damals die Frage aufgeworfen hat, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, dass Bundisten es waren, die die Initiative ergriffen hatten, denn unsere Beziehungen zu den Menschewiki hatten sich sehr zugespitzt, so dass weder wir noch sie eine gemeinsame Sitzung vorgeschlagen haben konnten. Ich nehme also an, dass die Initiative zur Einberufung einer solchen Beratung von den Bundisten ausging, weil sie organisatorisch den Menschewiki näher standen, in vielen taktischen Fragen aber sich mit uns solidarisch erklärt hatten. Ich erinnere mich, dass in unserem Parteikomitee die Frage der Einberufung einer gemeinsamen Beratung diskutiert wurde, und dass wir uns einverstanden erklärten, daran teilzunehmen. Genosse Gussew und ich wurden als Vertreter bestimmt. Das Parteikomitee beauftragte uns auch, in der Beratung eine ganze Reihe von Fragen aufzuwerfen: Semstwokampagne, Wahlen zur Bulyginschen Duma usw. Soweit ich mich entsinnen kann, fand nur eine einzige Sitzung der Vertreter der drei Parteien statt, die aber zu gar keinem Ergebnis führte, da die Vertreter des „Bund" verlangten, dass alle drei Parteikomitees sich auf die gemeinsame praktische Durchführung jener Kampagnen einigen sollten, in bezug auf die keine Meinungsverschiedenheiten bestanden, und zwar ohne die Fragen zu diskutieren, über die wir verschiedener Ansicht waren. Da zwischen uns und den Menschewiki in fast allen taktischen Fragen große Meinungsverschiedenheiten bestanden, und wir sie überall bekämpften, wo wir mit ihnen in Berührung kamen, so konnten wir uns mit einer mechanischen Aktion in irgend einer Frage ohne Hinweis auf die Meinungsverschiedenheiten in den anderen taktischen Fragen nicht einverstanden erklären. Der Versuch der Verständigung war jedoch nicht spurlos vorübergegangen. In den Oktobertagen handelten nicht nur alle Gruppen der Sozialdemokratie, sondern überhaupt alle revolutionären Organisationen gemeinsam. Doch darüber später.
Ende September und Anfang Oktober begannen die Meetings in der Universität, die anfangs nur für Studenten bestimmt waren, allmählich aber zu Volksversammlungen wurden, die sich unaufhörlich wiederholten. Die Organisation dieser Meetings befand sich nach außen hin in den Händen der Studenten, in Wirklichkeit aber wurden die Redner von allen revolutionären und sozialistischen Parteien gestellt. Natürlich traten in diesen Versammlungen außer den Vertretern der Parteien alle möglichen Personen auf. Die Versammlungen trugen deshalb einen ziemlich chaotischen Charakter. Ich erinnere mich an folgenden drolligen Vorfall: die Bundisten verlangten, dass man ihnen gestatte, in ihrer Muttersprache zu reden, und begründeten diese Forderung damit, dass an den Versammlungen Arbeiter und Arbeiterinnen teilnehmen, die nur jiddisch verständen. Der Versammlungsleiter richtete an die Versammlung die Frage, wer von den Anwesenden nur Russisch verstände, und eine überwältigende Mehrheit der Versammlung war dafür, dass nur russisch gesprochen werden sollte. Die Bundisten waren über das Ergebnis der Abstimmung empört und beklagten sich darüber, dass man ihnen keine Gleichberechtigung einräumen wolle. Auf dringendes Verlangen aller sozialistischen Parteien wurde dann beschlossen, auch einen Redner in jüdischer Sprache zuzulassen. Er trat auf und begann seine Ansprache. Da aber erwies sich, dass alles, was er sagte, zu 60 Prozent aus russischen Worten bestand. Es setzte ein so stürmisches Lachen aller Versammlungsteilnehmer ein, dass der in Verlegenheit geratene Redner sich veranlasst sah, die Rednertribüne zu räumen.
Hier will ich nebenbei noch bemerken, dass der „Bund" in Kiew, Odessa, Jekaterinoslaw und anderen russischen Städten neben den bestehenden Organisationen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auch seine eigenen Parallelorganisationen schuf, obwohl die Bundisten sich selbst für einen Teil der russischen Sozialdemokratie ausgaben. Zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweise führten sie an, dass in diesen Städten Arbeiter und Arbeiterinnen leben, die nicht russisch verständen. Eine seltsame Ausrede! Als ob die Ortsgruppen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unter diesen Arbeiterschichten nicht auch in jüdischer Sprache hätten arbeiten können!
Die Lage in Russland wurde mit jedem Tag revolutionärer: in Petersburg und vielen anderen Städten Russlands, auch in Odessa, brachen ununterbrochen elementare Streiks mit wirtschaftlichen und politischen Forderungen aus. Aus den Verwaltungsbezirken erhielt das Parteikomitee Nachrichten von einer entschlossenen Stimmung unter den Arbeitern. Die Meetings in der Universität wurden immer stürmischer. Es war klar, dass die Massen nach revolutionäreren Kampfmethoden suchten, als die Meetings es waren.
Ungefähr am 12. Oktober begann das bolschewistische Parteikomitee in Odessa die Frage der Anwendung aktiverer Kampfmethoden zu beraten. Das Komitee beschloss einstimmig, das Cdessaer Proletariat zum politischen Streik aufzurufen unter den Losungen: „Nieder mit dem Selbstherrschertum!" — „Her mit der Konstituante!" Außerdem beschloss man, am ersten Sonntag nach Beginn des Streiks eine Straßendemonstration zu veranstalten. Das Parteikomitee schlug sämtlichen revolutionären Organisationen vor, gemeinsam zum Streik und zur Durchführung der Demonstration aufzurufen. Damit waren die Bundisten und Menschewiki einverstanden. Auf unsern Vorschlag aber, den Streik am Freitag zu beginnen, wollten sie nicht eingehen und erklärten, dass die jüdischen Arbeiter, unter denen sie tätig waren, am Freitag ihren Lohn ausgezahlt bekommen und an diesem Tage die Arbeit nicht niederlegen würden. Außerdem, sagten sie, wäre es falsch, den Streikbeginn auf einen solchen Tag festzulegen, da die jüdischen Arbeiter, wenn sie am Freitag keinen Lohn bekämen, kein Geld zum Leben hätten. Die Menschewiki erklärten sich mit diesen Einwänden der Bundisten einverstanden und fügten ihrerseits hinzu, dass man auch auf den Sonnabend keinen Streik ansetzen dürfe, da für die russischen Arbeiter Sonnabends Lohntag sei. Ob die Sozialrevolutionäre mit dem Aufruf zum Streik am Freitag einverstanden waren und ob alle obengenannten Organisationen der Demonstration zustimmten, weiß ich nicht mehr. Das Parteikomitee der Bolschewiki setzte selbst den Beginn des Streiks auf Freitag und die Demonstration auf Sonntag fest. Wir gaben ein Flugblatt für den Streik heraus. Von der Demonstration erfuhren die Arbeiter in ihren Betrieben, Fabriken, Werkstätten und Versammlungen, wo zum Streik aufgefordert wurde. Über den Streik und die Demonstration werden wir uns später äußern. Hier wollen wir zunächst schildern, wie die Peripherie auf die Beschlüsse des Parteikomitees über den Streik und die Demonstration reagierte.
Gleich nach der Sitzung des Parteikomitees berief ich die Bezirksleitung meines Bezirkes zusammen. Beide Beschlüsse — Streik und Demonstration — wurden gutgeheißen. Die Frage der Durchführung aber rief eine außerordentlich lange Debatte hervor, die mehr als 6 Stunden dauerte. Und diese Debatte wäre wohl auch nicht so bald beendet worden, wenn wir nicht durch das Fenster der Wohnung, in der wir tagten (die Fenster dieser Wohnung gingen auf den Hof des Polizeireviers hinaus), plötzlich bemerkt hätten, dass die Kosaken in Alarmbereitschaft waren. Das bedeutete, dass es in der Stadt unruhig wurde.
Als die Mitglieder der Bezirksleitung meines Bezirkes die Direktiven an die Gruppen und Zellen weiterzugeben begannen, stellte es sich heraus, dass die Arbeiter in vielen Betrieben, sobald das Gerücht vom Streik sie erreichte, die Arbeit niederlegten, ohne erst eine offizielle Aufforderung abzuwarten. Leider kann ich nicht sagen, wie die Vorbereitungen zum Streik in den anderen Bezirken durchgeführt wurden. Es überraschte mich nur, dass die Genossen Kyrill und Danil, die Organisatoren der beiden anderen Bezirke, denen ich gerade begegnete, als ich nach der Sitzung des Parteikomitees in toller Hast in meinem Bezirk umherlief, mir auf meine Frage: „Wohin geht Ihr?" erklärten, dass sie in die Sitzung der Stadtduma gingen. Ich glaube kaum, dass ihr Apparat in den Bezirken so gut funktionierte, dass er imstande war, die Direktiven des Parteikomitees ohne die Parteiorganisatoren durchzuführen. Offenbar verfügten sie nur über ganz belanglose Verbindungen in ihren Bezirken. Das Parteikomitee hatte beschlossen, alle Arbeiter zum Streik aufzurufen, mit Ausnahme der Arbeiter in den Wasserwerken, Bäckereien und Krankenhäusern.
Inwieweit die Direktiven des Parteikomitees ausgeführt wurden, inwieweit der Streik geschlossen durchgeführt wurde, ist heute schwer zu sagen. Jedenfalls machte sich der Streik sehr fühlbar, obwohl der elektrische Strom nicht abgesperrt worden war. Viele rückständige Fabriken, mit denen die Partei nicht in Fühlung stand, stellten die Arbeit ein, ohne den Aufruf abzuwarten, denn zu jener Zeit standen bereits die Odessaer Eisenbahnwerkstätten still, und der Zugverkehr war auf Beschluss des Allrussischen Eisenbahnerkongresses, der damals in Petersburg tagte, eingestellt worden.
Die Demonstration war, wie ich schon oben erwähnt habe, auf den Sonntag festgesetzt worden. Es war der letzte Sonntag vor dem Erscheinen des Manifestes vom 17. Oktober. Am das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern. Zum Sammelpunkt wurde die Kreuzung der Deribassowskaja und Preobraschenskaja bestimmt, die gegenüber einem kleinen Garten gelegen war. Diesen Ort hatte man gewählt, weil am Sonntag in allen Auditorien der Universität Meetings stattfinden sollten, und man beabsichtigte, gleich nach Schluss der Meetings nach dem festgesetzten Ort die Chersonskaja hinunterzumarschieren. Die Universität lag an der Ecke der Chersonskaja, deren Fortsetzung eben die Preobraschenskaja bildet.
Das Parteikomitee bestimmte mich zum Leiter der Demonstration und schickte Genossen in alle Versammlungen, die die Aufgabe hatten, gleich nach der Eröffnung der Versammlung aufzutreten und die Anwesenden zur Teilnahme an der Demonstration aufzufordern. Die Organisation war nicht übel, und die Demonstration gestaltete sich recht eindrucksvoll (für die damalige Zeit natürlich). Die Demonstranten durchzogen ein paar Mal die festgesetzte Straße, wobei revolutionäre Losungen ausgerufen wurden. Ob eine rote Fahne da war, und ob revolutionäre Lieder gesungen wurden, weiß ich nicht mehr genau. Auf einmal stürzten sich die Kosaken auf die Menge, hieben mit ihren Nagaikas nach rechts und links auf die Demonstranten ein und trieben sie von der Hauptstraße in die Nebenstraßen.
Die Demonstranten waren unbewaffnet. Das Parteikomitee hatte nicht einmal die Frage der Bewaffnung der Demonstration gestellt. Um sich vor den Kosaken zu retten, warfen die Demonstranten einige Straßenbahnwagen um, rissen das Straßenpflaster auf und schleuderten Steine auf die Kosaken. Hie und da wurden auch die Eisengitter der Gärten herausgerissen.
Die Demonstranten zerstreuten sich nun in Gruppen über die ganze Stadt. Alle wurden aus den Häusern auf die Straße gerufen und die vorüberfahrenden Droschken angehalten.
Das ging so einige Stunden lang. Soweit ich mich erinnern kann, war es während der Demonstration zu keinen Schießereien gekommen, auch war niemand durch die Nagaikas der Kosaken ernstlich verletzt worden, obwohl man nach der Sprengung der Demonstration hie und da aus den umgeworfenen Straßenbahnwagen Barrikaden gemacht hatte, die die Kosaken dann im „Sturm" nahmen.
Alle Organisatoren der Verwaltungsbezirke fanden sich am festgesetzten Treffpunkt ein, wo Gen. Gussew saß. Jeder berichtete, was er gesehen hatte. Wir waren damals der Ansicht, dass die Demonstration geglückt war. Nach der Berichterstattung suchte ich den Treffpunkt meines Bezirks auf. Da dieser sich am entgegengesetzten Ende der Stadt befand (neben der Moldawanka), so musste ich durch das Zentrum der Stadt gehen. Die Straßen waren sehr belebt, obwohl es bereits spät am Nachmittag war und die Demonstration nur bis etwa ein Uhr gedauert hatte. Aber trotz der vielen Menschen sah man weder Polizei noch Kosaken auf den Straßen. Als ich schon beinahe den Treffpunkt erreicht hatte, tauchte plötzlich an der Straßenecke eine Abteilung berittener Polizisten auf, die alle Naganpistolen in der Hand hielten. Die Abteilung blieb auf einmal stehen und schoss ohne jeden Anlass und ohne Warnung direkt in die Menschenhaufen hinein, die sich rechts und links auf den Bürgersteigen angesammelt hatten. Dann sprengte die Abteilung ebenso schnell wie sie gekommen war davon.
Wie sich noch am selben Abend auf dem Treffpunkt des Parteikomitees, wo wir uns abermals versammelten, herausstellte, war die Schießerei, die ich mitangesehen hatte, nicht die einzige gewesen. Ähnliche Vorfälle hatten sich in allen Stadtteilen wiederholt, die von Arbeitern und dem ärmeren Teil der Bevölkerung bewohnt wurden. In der Sitzung des Parteikomitees, die am Treffpunkt abgehalten wurde, waren alle Genossen tief erregt über den Überfall der Polizei und die Erschießungen. Nur Genosse Gussew verlor kein Wort und schrieb fortwährend. Als jeder seinen Bericht erstattet hatte las uns Genosse Gussew das von ihm Niedergeschriebene vor. Es war ein kurzer Aufruf, der die Ereignisse des Tages schilderte, auf die Notwendigkeit der Fortsetzung des Streiks hinwies und die Arbeiter aufforderte, sich zu bewaffnen, da der Kampf bereits in den bewaffneten Aufstand übergehe. Dieser Aufruf wurde einstimmig gutgeheißen. Zugleich wurde auch beschlossen, Vorbereitungen zur Beisetzung der Opfer dieses Tages zu treffen; zu diesem Zweck beauftragte man Genossen Gussew und mich, Verhandlungen mit allen revolutionären Organisationen Odessas über diese Frage zu führen. Die Toten und Verwundeten waren nach dem Jüdischen Spital auf der Moldawanka gebracht worden. Um der Polizei die Möglichkeit zu nehmen, die Leichen fortzuschaffen, hatte man eine ständige Patrouille aus Vertretern aller revolutionären Organisationen gebildet. Ein föderatives Komitee dieser Organisationen arbeitete den Plan für die Beerdigung aus. Ununterbrochen pilgerten die Arbeiter nach dem Jüdischen Krankenhaus, wo die Toten und Verwundeten bis zum 17. Oktober lagen; in der Universität aber dauerten die Versammlungen weiter fort.
Am Morgen des 18. Oktober kehrte ich aus dem Jüdischen Krankenhaus in das Zentrum der Stadt zurück. Ich war in keiner sehr gehobenen Stimmung. Plötzlich strömten von allen Seiten Volksmassen herbei: Arbeiter, Studenten, Gymnasiasten, Frauen, Kleinbürger, Intellektuelle, Halbwüchsige — kurz, alles durcheinander. Alle hatten freudig erregte Gesichter. Das Manifest vom 17. Oktober wurde laut vorgelesen und unter dem Publikum verteilt. Hie und da hörte man durcheinander revolutionäre Lieder singen. Die Spießbürger gratulierten einander zur Freiheit. Schließlich tauchten rote Fahnen auf, und unter den Manifestanten fing man darüber zu streiten an, wohin man marschieren solle: zum Gefängnis oder zum Rathaus? Ich gestehe, dass ich persönlich für das Rathaus war. Es kam mir lebhaft in den Sinn, dass in Paris die Aufständischen zuerst das Rathaus besetzt hatten. Während ich mich aber auf der Straße unter der Menge befand und für den Marsch zum Rathaus sprach, glaubte ich eigentlich nicht an das Manifest, es schien mir nur eine Falle zu sein, um die revolutionären Elemente Russlands auf den Leim zu locken.
Die Menge teilte sich schließlich: der eine Teil zog mit den Fahnen zum Gefängnis, während der andere Teil, dem auch ich mich anschloss (mir war plötzlich irgendwie eine Fahne in die Hände geraten), sich durch die Hauptstraßen zum Rathaus begab. Die Demonstranten zwangen die Militärs, vor den roten Fahnen die Mütze zu ziehen. Als die Demonstration die Deribassowskaja passierte, wo damals die ganze Odessaer vornehme Welt wohnte, erblickte man auf den Balkons rote Teppiche und Tücher. Hie und da wurde sogar die Marseillaise gespielt. Am Tage darauf hingen auf denselben Balkons bereits die Zarenflaggen und Zarenbilder, und die Musik spielte die Zarenhymne.
Auf dem Rathaus wurde die rote Fahne gehisst und Redner hielten Ansprachen. Eine große Menschenmenge umringte das Rathaus. Es wurde viel und über alles mögliche gesprochen. Als aber eine kleine Abteilung Kosaken vorbeiritt, liefen die Teilnehmer des Meetings auseinander, und ich blieb mit der Versammlungsglocke fast allein auf dem Platze. Als die Kosaken fort waren, strömte das Volk wieder herbei, das Meeting begann von neuem und dauerte nun bis zum späten Abend. Ich trat ins Rathaus. Hie und da waren die Zarenbilder von den Wänden weggenommen und zerrissen worden. Überall bewegten sich ungehindert Menschenmengen. Ich begab mich in das Zimmer, in dem ein Teil der Stadtväter tagte und gerade die Frage der Bildung einer städtischen Miliz erörterte, da von Polizei auf den Straßen keine Spur zu finden war. Die Stadtverordneten stritten über die Abzeichen für die Miliz. Ich fragte, wen sie für die Miliz zu rekrutieren gedächten und ob im Rathaus Waffen wären. Auf meine Frage erhielt ich die klare Antwort, dass man durch die Hausbesitzer allen Mietern vorschlagen wolle, aus ihrer Mitte eine unbewaffnete Miliz zu wählen, die zur Unterscheidung von den übrigen Bürgern besondere Abzeichen tragen sollte. Und über die Form dieses Abzeichens debattierten eben die Stadtweisen in der erwähnten Sitzung.
Ich schlug die Bewaffnung der Arbeiterschaft durch die revolutionären Organisationen vor und wurde von dem eben eintretenden Genossen Gussew und einigen Anwesenden unterstützt, die wahrscheinlich ebenso wie ich selbst Vertreter der revolutionären Organisationen waren. Aber die Stadtväter erklärten uns, dass sie weder Waffen noch Geld zum Einkauf von Waffen hätten. Sie fügten noch hinzu, dass es nach dem Manifest wohl kaum nötig sein werde, das Proletariat zu bewaffnen.
Gegen Abend erreichten uns Gerüchte, dass auf der Moldawanka bereits ein Judenpogrom begonnen habe. Ins Rathaus kam noch jemand von den Mitgliedern des Parteikomitees. Wir beschlossen sofort, noch am gleichen Abend eine Parteimitgliederversammlung einzuberufen. Ich wurde nach der Moldawanka geschickt, um nachzusehen, was dort los sei.
Dort bot sich mir folgendes Bild: eine etwa 25 Köpfe zählende Gruppe junger Menschen, unter denen sich auch verkleidete Polizisten und Agenten der Ochrana befanden, hielt alle irgendwie jüdisch aussehenden Passanten an, ganz gleich, ob es sich um Frauen, Männer oder Kinder handelte. Die Angehaltenen wurden ganz nackt ausgezogen und misshandelt. Aber die Bande beschränkte sich nicht nur auf Juden. Fielen ihnen Studenten, Gymnasiasten oder einfach Menschen mit intelligenten Gesichtszügen in die Hände, so bekamen auch die ihre Prügel. Die Banditen verrichteten ihr Werk auf der Treugolnjaja. Etwas abseits standen viele Zuschauer und beobachteten die oben beschriebenen Vorgänge. Sofort organisierten wir eine mit Pistolen bewaffnete Gruppe (nach der Demonstration waren unserem Parteikomitee einige kleine Naganpistolen in die Hände gefallen; eine davon hatte auch ich erhalten), näherten uns den Banditen und gaben eine Salve ab. Die Bande stob auseinander. Aber plötzlich erhob sich zwischen uns und den Banditen eine Mauer: Militär in voller Ausrüstung. Wir zogen uns zurück. Daraufhin entfernten sich die Soldaten, und die Banditen erschienen wieder auf der Straße. Das wiederholte sich einige Male. Es wurde mir klar, dass die Banditen im Einverständnis mit den Militärbehörden handelten.
Ich begab mich in die Mitgliederversammlung unserer Organisation. Sie war schon eröffnet und machte auf mich einen schlechten Eindruck. Das Universitätsauditorium, in dem die Versammlung stattfand, war nur schwach erleuchtet. Unter den anwesenden Genossen herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Zusammensetzung der Teilnehmer überraschte mich. Es war eine zahlreiche Versammlung, aber unter den Anwesenden stachen besonders die Frauen hervor, und es schien mir, als ob sie die Mehrheit der Versammlungsteilnehmer bildeten. Russische Arbeiter fehlten fast ganz. Ich glaubte damals, der Grund für das Nichterscheinen der russischen Arbeiter liege in der mangelhaften Benachrichtigung der Parteimitglieder, denn es war eine außerordentliche Versammlung, die sehr rasch einberufen worden war; aber die darauf folgenden Versammlungen — sowohl bei uns als auch bei den Sozialrevolutionären und Menschewiki — wurden ebenfalls von einem verhältnismäßig geringen Prozentsatz russischer Arbeiter besucht, obwohl der Einfluss aller revolutionären Organisationen auf die russischen Arbeiter der Odessaer Fabriken und Betriebe sehr groß war, was durch die Streiks im Oktober und November bestätigt wurde.
Die Versammlung nahm einen Bericht über das Manifest und seine Bedeutung entgegen, ferner eine Mitteilung über den Pogrom. Es wurde beschlossen, zusammen mit allen anderen revolutionären Organisationen den Banditen bewaffneten Widerstand entgegenzusetzen und die Bevölkerung zum Selbstschutz aufzurufen.
Auch ein föderatives Komitee aus Vertretern aller revolutionären Organisationen wurde gebildet. Außer uns, den Menschewiki, Bundisten und Sozialrevolutionären nahmen an den Sitzungen dieses Komitees Vertreter der Daschnaken, Poale-Zionisten und „Serpowzen" teil. Die neugeschaffene revolutionäre Körperschaft hatte in der ganzen folgenden Zeit ihren Sitz in der Universität.
In der Nacht vom 18. zum 19. und am Morgen des 19. Oktober herrschte in der Universität ein tolles Durcheinander. Eine Unmenge von Menschen kam und ging. Die einen brachten allerlei Waffen, die anderen Geld und alle möglichen Wertgegenstände zum Verkauf, um dafür Waffen zu erwerben. Am gleichen Morgen fing man auch an, bewaffnete Abteilungen zu formieren, die gegen die Plünderer und Mörder gesandt wurden.
Im Laufe von kaum drei Tagen hatten wir die meisten bewaffneten Abteilungen in den Kampf geschickt, aber sie hatten nicht viel ausrichten können, denn überall, wo die Banditen am Werke waren, wurden sie von Polizei, Kosaken, Kavallerie, Infanterie und sogar von Artillerie gedeckt. Im Dalnitzki-Bezirk hatten z. B. die Eisenbahner eine starke Abteilung organisiert, die erfolgreich die Plünderer auseinander trieb. Aber die Arbeiter mussten sich schließlich unter großen Verlusten zurückziehen, da das Militär mit Waffengewalt gegen die bewaffneten revolutionären Kampftrupps vorging. An einigen Punkten der Stadt, wo keine Soldaten zu sehen waren, gingen der Selbstschutz und die bewaffneten Kampftrupps erfolgreich gegen die Plünderer vor. Hie und da gelang es ihnen, gewaltsam in die Waffenhandlungen einzudringen und dem Stab des föderativen Komitees Waffen zu besorgen. Die Selbstschutzabteilungen hatten sehr hohe Verluste. Dass die Opfer des Pogroms unter der jüdischen Bevölkerung außerordentlich groß waren, versteht sich von selbst.
Ich muss hier den Heldenmut einer aus Studenten der Marineschule bestehenden Abteilung hervorheben. Diese hatte im Kampf gegen die Plünderer besonders hohe Verluste erlitten.
In der auf den zweiten Pogromtag folgenden Nacht wurde es klar, dass der bewaffnete Kampf, den das Föderative Komitee führte, nicht die Ergebnisse zeitigte, die die großen Opfer hätten rechtfertigen können. Der Kampf wurde in organisierter Weise abgebrochen, obwohl hie und da Abteilungen die noch nicht in die Universität zurückgekehrt waren, ihre Tätigkeit fortsetzten. Außerdem war noch der Selbstschutz der Bevölkerung in Tätigkeit. Die Initiative zum Abbruch des Kampfes ging von Genossen Gussew aus: er erklärte mir, dass der Kampf keinen Zweck hätte, da die Kräfte viel zu ungleich wären, und dass wir unsere Kaders behalten müssten, da noch ein langer und hartnäckiger Kampf gegen den Zarismus bevorstünde. Derselben Ansicht waren auch die anderen Mitglieder des Föderativen Komitees.
Der Pogrom fing an und endete vollkommen programmmäßig. Sobald die von den Satrapen des Zaren festgesetzte dreitägige Frist um war, hörte der Pogrom auf. Die Universitätsverwaltung erhielt von den Behörden eine ultimative Forderung, die Hochschule von den revolutionären Organisationen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu säubern. Dieser entsprach genau dem für die Beendigung des Pogroms festgesetzten Termin. Widrigenfalls sollte eine Besetzung der Universität durch Militär vorgenommen werden.
Man beschloss, alle aus der Universität zu entfernen und vorher die Waffen einzusammeln. Diese Waffen fielen denn auch nicht in die Hände der Behörden. Die Universität wurde rasch gesäubert, und es wurde in der Tat niemand von den Hinausgehenden festgenommen. Überhaupt sah man in der Nähe der Universität weder Soldaten noch Polizisten. Offenbar hatten sie vor Bomben Angst. Dafür aber waren alle Straßen Odessas von Militärpatrouillen besetzt, die unter Leitung der Polizei standen. Unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, nahmen die betrunkenen Patrouillen den Passanten Geldbeutel, Taschenuhren, Ringe und dergleichen mehr ab. Zur Charakteristik der rechtlichen Verhältnisse in Odessa, die bereits einige Tage nach dem Pogrom herrschten, will ich hier nur eine Episode schildern. Einige Tage nach dem Pogrom begab ich mich zu den mit mir befreundeten Genossen Itin, um zu sehen, ob sie noch am Leben wären, denn ich hatte sie schon eine ganze Woche lang nicht gesehen. Sie wohnten im Zentrum der Stadt. Wir saßen zusammen und erzählten einander gerade die Erlebnisse der letzten Tage, als plötzlich Schüsse ertönten und Gewehrkugeln in die Zimmerdecke einschlugen, nahe an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand. Dieses Fenster ging auf die Straße hinaus, die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Wir stürzten zu den Fenstern und erblickten neben dem Haus, gerade unseren Fenstern gegenüber, eine Patrouille. Polizisten liefen auf und ab. Das Haus wurde umstellt und niemand hinausgelassen. Dann wurden Soldaten aller Waffengattungen, ja sogar leichte Artillerie herangezogen. Wir saßen im Zimmer und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Schließlich drang eine Bande von Polizisten und Offizieren in die Wohnungen ein. Der Korridor und die Treppe waren voll von Soldaten. Voran stürzten die Offiziere zu uns ins Zimmer mit dem Ruf: „Wer hat von hier aus auf die Patrouille geschossen?" Zu unserem Glück waren die Winterfenster bereits eingesetzt und verkittet, so dass, selbst wenn aus der Wohnung durch die Luftpforte geschossen worden wäre, die Schüsse nur die Fenster des gegenüberliegenden Hauses hätten treffen können, aber keineswegs die Patrouille, die mitten auf dem Straßendamm gestanden hatte. Das setzten wir ihnen alles auseinander. Trotzdem wurden wir alle in ein Zimmer hineingetrieben, das sie vorher sozusagen auf den Kopf gestellt hatten. Dann begann man uns einzeln zur Vernehmung aufzurufen auf Grund des Mieterverzeichnisses. Die Aufgerufenen wurden einer persönlichen Visitation unterzogen und gleichzeitig verhört. Man fragte ganz genau nach allen möglichen Dingen und schikanierte jeden in unglaublicher Weise. Ich überlegte lange hin und her, was ich tun sollte: ich wohnte ja nicht in diesem* Hause, also würde man mich nicht aufrufen, aber der Soldat, der vor der Tür des Zimmers stand, in dem wir uns befanden, hatte mich bemerkt. Wenn nun auch die Offiziere auf mich aufmerksam geworden wären, dann hätte man mich, da ich im Mieterverzeichnis nicht vermerkt war, bestimmt nach der Polizeiwache zur Feststellung meiner Personalien mitgenommen, und dann hätte vielleicht mein letztes Stündlein geschlagen, denn in jenen Tagen mordete man in den Polizeirevieren. So beschloss ich denn, mich hinter der Zimmertür zu verstecken. Ich musste mich geraume Zeit dort versteckt halten, denn die ganze Prozedur dauerte sehr lange. Dafür aber hatte ich Glück gehabt: ich war unbemerkt geblieben und damit aus der Patsche heraus. Als die ganze Bande die Wohnung verlassen hatte, packte mich ein Entsetzen. Ich besann mich darauf, dass im Erdgeschoß desselben Hauses eine Kistenmacherei war, deren Fenster und Tür auf die Straße hinausgingen. In dieser Werkstatt befand sich die illegale Druckerei des ZK, in der auch die Flugblätter des Odessaer Parteikomitees gedruckt wurden. Ich dachte, die Haussuchungen würden im ganzen Hause stattfinden — also auch unten. Wenn man auf die Patrouille wirklich aus unserem Hause geschossen hätte, dann wäre das nur aus dem Erdgeschoß oder vom ersten Stock aus möglich gewesen. Von da aus hätte man leicht feuern können, aber außer der Salve, die auf unsere Fenster abgefeuert worden war, hatte man keinen Schuss vernommen.
Hätte man die Druckerei entdeckt, dann würde man alle umgebracht haben. Die ganze Nacht hindurch bangte ich furchtbar am das Schicksal der Genossen aus der Druckerei. Angesichts meiner unsicheren Lage in diesem Hause wagte ich nicht, selbst hinunterzugehen, um nachzusehen, was geschehen war. Jemand von den Itins hinzuschicken, war ebenfalls unmöglich, weil ich dann den Itins hätte sagen müssen, dass sich unten die Druckerei befand; das aber war ihnen unbekannt, obwohl die Itinsche Wohnung oft von den Genossen der Druckerei benutzt wurde und die Itins — Mann und Frau — in der Odessaer Organisation tätig waren. Ich hatte mich während der ganzen Nacht nicht einen Augenblick hingelegt und lauschte angestrengt auf jedes Geräusch, auf jeden Schrei im Hause. Am Morgen lief ich auf die Straße hinaus, um zu sehen, was in der Kistenmacherei los war. Ich fand sie wie immer offen. Es stellte sich heraus, dass die Haussuchungen nur im ersten und zweiten Stock stattgefunden hatten.
Was die in den Räumen der Druckerei wohnenden Genossen während der Haussuchung durchgemacht hatten, kann man sich leicht vorstellen.
Gleich nach dem Pogrom erhöhte das Parteikomitee bereits in der ersten Sitzung die Zahl seiner Mitglieder; es wurden kooptiert: J. Awdejew, ein Dreher aus den Eisenbahnwerkstätten, dann Stawski, Seka (der sich später als Lockspitzel entpuppte) und noch einige Genossen, deren Namen und Decknamen meinem Gedächtnis entfallen sind.
Die erste Sitzung des Erweiterten Parteikomitees fand in der Wohnung des Genossen Schklowski statt. Auf der Tagesordnung standen Fragen des organisatorischen Parteiaufbaues. Es war notwendig, die Odessaer Organisation nach demokratischen Prinzipien umzubauen, obwohl beschlossen worden war, die Organisation nicht zu legalisieren. Ich hielt ein Referat über den Aufbau der Ortsgruppen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Darauf setzte eine ziemlich gründliche Diskussion über die Reorganisation der Odessaer Ortsgruppe ein. In jenen Tagen war aus Petersburg ein Bolschewik namens Ljowa (Wladimirow) als Beauftragter des ZK angekommen und hatte die Losung: „Einigung mit den Menschewiki um jeden Preis!" ausgegeben, und zwar Einigung ohne vorherige Einigung der zentralen Körperschaften der beiden Fraktionen der Partei. Ihm schloss sich der Bolschewik Baron (Eduard Essen) an, der vor dem Pogrom in Odessa angekommen war. Diese Losung wurde im Lager der Menschewiki und der Bolschewiki aufs wärmste begrüßt. Das war auch ganz verständlich: die Schwäche und Zersplitterung der geringen Kräfte, über die wir verfügten, waren jedem Parteimitglied während des Pogroms besonders klar geworden. Die Genossen Ljowa und Baron traten denn auch in der Vollversammlung der Parteimitglieder auf, in der Genosse Gussew ein Referat über die Reorganisation der Odessaer Organisation nach dem 17. Oktober hielt, und forderten die sofortige Einigung mit den Menschewiki. Das Parteikomitee erhob keinen Widerspruch gegen die Einigung, war aber entschieden gegen eine Einigung von unten. Das Odessaer Parteikomitee war ein Teil der Partei der Bolschewiki, an deren Spitze das ZK und die Redaktion des Zentralorgans standen, die vom 3. Parteitag gewählt worden waren. Wie konnte man sich also in Odessa mit den Menschewiki ohne Wissen und Billigung des Zentralkomitees vereinigen. Baron und Ljowa aber waren im Gegenteil für die Einigung von unten, um auf diese Weise auf das ZK einen Druck auszuüben. Dem Parteikomitee war es klar, dass der Vorschlag der sofortigen Einigung sowohl bei uns wie bei den Menschewiki mit einer gewaltigen Stimmenmehrheit angenommen werden würde, denn überall, wo die Anhänger der sofortigen Einigung auftraten, bekamen sie die Stimmen aller Anwesenden. Unser bolschewistisches Parteikomitee war deshalb gezwungen, Bedingungen für eine Einigung auszuarbeiten, ohne selbst diese Einigung zu wollen. Das aber musste getan werden, weil sonst die Einigung bedingungslos vor sich gegangen wäre. Die Bedingungen lauteten:
1. Es wird ein paritätisches Komitee aus 10 Mitgliedern gebildet; von diesen werden fünf durch die Mitgliederversammlung der Bolschewiki und fünf durch die Mitgliederversammlung der Menschewiki gewählt. Dieses Komitee führt die tatsächliche Verschmelzung der Organisationen durch, worauf die gemeinsame Versammlung der Mitglieder beider Organisationen das ständige Parteikomitee wählt.
2. Das Odessaer paritätische Komitee unterhält Beziehungen zum Zentralkomitee der Bolschewiki und dem Organisationskomitee der Menschewiki.
3. Die Odessaer vereinigte Organisation der Sozialdemokraten entsendet Vertreter einer jeden Richtung zu den Konferenzen und Beratungen sowohl der Bolschewiki als auch der Menschewiki bis zu deren vollständiger Verschmelzung.
Diese drei Punkte waren das Wichtigste in dem Projekt. Auf dieser Grundlage wurde in Odessa tatsächlich die Einigung vollzogen.
Die Lage der alten Bolschewiki aus dem Parteikomitee war eine recht schwierige: wir waren gegen die Vereinigung und mussten doch Verhandlungen über die Vereinigung führen. Mehr als das: einige alte Bolschewiki sahen sich gezwungen, ihre Kandidatur für das paritätische Komitee aufstellen zu lassen, damit in dem leitenden Organ konsequente Bolschewiki vertreten seien. Ich konnte damals die Handlungsweise der Genossen Ljowa und Baron nicht verstehen. Ich kannte die beiden von früher als aktive Bolschewiki. Wie kam es nun, dass sie die Einigung so chaotisch durchführen und nicht die Einigung auf einem gemeinsamen Parteitag abwarten wollten? Übrigens entpuppte sich Genosse Ljowa in den Jahren 1909 bis 1916 als „permanenter Einiger".
In das paritätische Komitee wurden von den Bolschewiki folgende Genossen gewählt: Gussew, Ljowa, Kazap (Diesen hatte man aufgestellt, weil er während des Pogroms hie und da an die Plünderer Ansprachen gehalten hatte, in denen er sie zur Einstellung des Pogroms aufforderte; die Plünderer sollten ihn dafür entweder verprügelt bzw. den Versuch gemacht haben, ihn zu verprügeln. In dem Verwaltungsbezirk, in dem ich mit ihnen zusammen arbeitete, tat er sich lediglich durch seine langen und unglaublich verworrenen Ausführungen in der Leitung meines Bezirkes hervor). Robert (Ein junger Bursche, ein Schönredner, der Feuer und Flamme für die Einigung war und den ich bis dahin nirgendswo gesehen hatte); wer der fünfte war, weiß ich nicht mehr, es wird wohl Baron oder Kyrill gewesen sein. Von den Menschewiki wurden gewählt: Stolpner, Schawdia, St. Iwanowitsch, Friedrich und P. Juschkewitsch.
Auf mich hatte der Pogrom mit seinen Schrecken einen niederschmetternden Eindruck gemacht. Hatten doch an den Plünderungen sogar rückständige Elemente der russischen Arbeiter und Bauern teilgenommen, die zu diesem Zweck aus den umliegenden Dörfern herbeigeeilt waren. Außerdem war die Hilflosigkeit und Schwäche der revolutionären Organisationen und der Sozialdemokratie aller Richtungen in Odessa klar zutage getreten. Ferner begriff ich nicht recht, wer aus dem gigantischen Kampfe der vergangenen Woche den Nutzen ziehen werde: die Bourgeoisie, das Proletariat oder die zaristische Bürokratie?
Mir war sehr schwer zu Mute.
Ich muss hier noch einige Worte über den Odessaer Arbeiterrat sagen. Die Organisation des Arbeiterrats in Odessa hatte ich nicht einmal bemerkt, und der Tag, an dem der Arbeiterrat gebildet wurde, ist in meinem Gedächtnis nicht haften geblieben. Ich glaube, das ist erst nach der Vereinigung der Bolschewiki und Menschewiki geschehen, da man im bolschewistischen Parteikomitee die Frage des Arbeiterrats nicht behandelt hat.
Da der Petersburger Arbeiterrat eine gewaltige Autorität unter den Arbeitern ganz Russlands besaß, so wählten die Arbeiter der Odessaer Fabriken und Werkstätten schon auf die erste Aufforderung der vereinigten Sozialdemokraten hin ihre Vertreter in den Rat. Diese Wahlen waren in den Tabakfabriken, unter deren Belegschaften ich nach wie vor tätig war, ganz unbemerkt verlaufen.
Der Arbeiterrat selbst tagte bald in der Speisehalle der Hafenarbeiter bald in der Speisehalle irgend einer Fabrik in der Nähe des Hafens. Im Arbeiterrat waren alle Fabriken, Betriebe und Werkstätten vertreten. Die Sitzung des Arbeiterrats, der ich beiwohnte, verlief sehr flau. Es war klar, dass die Mitglieder des Arbeiterrats noch nicht die Funktionen der Körperschaft begriffen hatten, in die sie gewählt worden waren. Auch das Präsidium dieser Versammlung trat nicht sicher genug auf. Zum Vorsitzenden des Arbeiterrats hatte man den menschewistischen Studenten Schawdia gewählt, der auch Mitglied der Leitung der vereinigten Sozialdemokraten war. Ihn kannten viele Arbeiter und Arbeiterinnen, da er oft in den Versammlungen in der Universität den Vorsitz geführt hatte. Wo das Exekutivkomitee und das Präsidium des Arbeiterrats tagte, weiß ich nicht mehr. Ihre Treffpunkte hatten sie in den Teehäusern und Speisehallen, die der „Bund" und andere Organisationen eröffnet hatten und in denen man stets aktiv in der Bewegung stehende Arbeiter und Arbeiterinnen antreffen konnte. Jedenfalls tagten das Exekutivkomitee und das Präsidium nicht öffentlich. Das Exekutivkomitee gab die „Nachrichten des Arbeiterrates" heraus. Diese „Nachrichten" wurden illegal in verschiedenen Druckereien hergestellt. Man besetzte die Druckereien und zwang sie, die „Nachrichten des Arbeiterrats" zu drucken. Aus den Druckereien wurden die „Nachrichten" in Privatwohnungen geschafft, von wo aus man sie dann zur Verbreitung in Odessa verteilte und auch nach Nikolajew und Cherson schaffte. Der Einfluss nichtsozialdemokratischer Organisationen auf den Arbeiterrat war verschwindend gering. Ich muss hier hervorheben, dass der Dezemberstreik, den der Arbeiterrat in Odessa zusammen mit den revolutionären Organisationen durchführte, der erste wirkliche Generalstreik in Odessa war und einige Tage dauerte. Dieser Streik hätte auch in einen bewaffneten Aufstand umschlagen können, wenn der Arbeiterrat und die revolutionären Organisationen dazu aufgerufen hätten.
Alles stand still: es gab keinen Handel, kein elektrisches Licht, sogar die Apotheken streikten, obwohl die Militärbehörden gleich nach der Proklamation des Streiks den Ausnahmezustand verhängt hatten und jeder, der am Streik teilnahm, schweren Gefahren ausgesetzt war. Ich erinnere mich, dass sich am Tage der Proklamation des Streiks in meinem Zimmer Genossen befanden, die den Streik leiteten. Von überallher kam man zu den Vertretern des Arbeiterrats, um Aufklärung über die Ursachen des Streiks zu bekommen und um die Erlaubnis zu erhalten, sich dem Streik anzuschließen. Mich hatte man in eine große Versammlung der Pharmazeuten geschickt, an der auch die Militärpharmazeuten teilnahmen. Es wurde gerade die Frage des Streiks diskutiert. In dieser Versammlung traten auch Gegner des Streiks auf, aber nach meiner Ansprache beschloss die erdrückende Mehrheit, sich dem Streik anzuschließen. Der Streik wurde mit bewunderungswürdiger Geschlossenheit durchgeführt; erst nach der Niederwerfung des Moskauer Aufstandes wurde der Streik abgebrochen.
Hier will ich nebenbei auch auf den Unterschied in der Stellungnahme der Bourgeoisie zum Oktober- und Dezemberstreik hinweisen. Für die Streiktage im Oktober erhielten die Arbeiter ihren vollen Lohn ausgezahlt, ohne dass ein Kampf nötig war. Im Dezember aber lehnten die Unternehmer die Bezahlung der Streiktage kategorisch ab trotz des Drucks durch den Arbeiterrat. Die Arbeiter der Tabakfabrik von Popow z. B. forderten ihren Lohn auch für die Streiktage. Popow lehnte ab. Darauf legten die Arbeiter die Arbeit nieder, und die aktiven Genossen kamen unter Führung des Bulgaren Pjotr zu mir. Wie sehr ich ihnen auch zuredete, sofort die Arbeit wieder aufzunehmen, ohne auf Bezahlung der Streiktage zu bestehen: sie erklärten sich damit nicht einverstanden. Auch eine Versammlung der aktiv in der Bewegung stehenden Arbeiter und Arbeiterinnen erklärte sich mit meinem Standpunkt nicht einverstanden. Das Resultat war ein sehr trauriges. Popow bezahlte nicht nur nicht, sondern warf auch noch die Führer der Bewegung auf die Straße. Das gleiche Los ereilte auch die Arbeiter der anderen Fabriken. Der Arbeiterrat aber hatte nicht genügend Macht um Zwangsmittel anzuwenden. Die Rolle, die er spielte, war ganz belanglos. Er verschwand denn auch spurlos vom Schauplatz. Weder der Arbeiterrat noch das Exekutivkomitee wurden verhaftet. Gleich nach dem Dezemberstreik (1905) setzte in Odessa eine wirtschaftliche Krise ein, und viele Arbeiter wurden arbeitslos.
In der geeinigten Organisation erhielten die Menschewiki die Mehrheit Auch in zwei von den früheren drei Bezirken bekamen die Menschewiki die Mehrheit. Dazu kam noch ein neuer Bezirk — der Hafenbezirk —, in dem wir Bolschewiki gar keine Organisation gehabt hatten. Zur allrussischen menschewistischen Konferenz wurden von Odessa, wenn ich nicht irre, der Menschewik Stolpner und von den Bolschewiki der am wenigsten standfeste Alexander Kazap gewählt. Die Leitung der Organisation gab auch eine kleine Tageszeitung heraus, die aber nicht den Namen der Organisation trug, sondern sich „Kommertscheskaja Rossija" (Russische Handelszeitung) nannte. Gleichzeitig mit dem Abbruch des Dezemberstreiks stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein. Der Sekretär der Redaktion war Genosse Gussew, aber die Mehrheit hatten die Menschewiki. Bei einigen Bolschewiki, die früher für eine sofortige Vereinigung eingetreten waren, stellten sich Zweifel ein über die Zweckmäßigkeit der Einigung mit den Menschewiki, die durchgeführt wurde, ohne dass vorher im gesamtrussischen Maßstab eine Einigung erzielt worden war. Ich setzte meine Arbeit unter den Tabakarbeitern fort, begann aber zugleich an eine Übersiedlung in die Hauptstadt zu denken.
Am 2. Januar 1906 wurde ich abends in der Sitzung der Leitung meines Bezirkes verhaftet. Dieser wohnten 10 Mitglieder der Leitung des Stadtbezirks bei. Vier davon waren Bolschewiki, die übrigen Menschewiki. Außer den zehn Mitgliedern der Bezirksleitung wurde noch der Organisator dieses Bezirkes verhaftet (ein Menschewiki) und zwei Mitglieder des Parteikomitees (beide Menschewiki: Genosse Schawdia und noch jemand). Im Parteikomitee waren Meinungsverschiedenheiten über irgend eine Frage entstanden, deshalb waren zu der Sitzung Vertreter beider Ansichten erschienen. Aber wir kamen nicht einmal dazu, sie anzuhören.
Unsere Verhaftung trug einen wahrhaft großzügigen Charakter. Offenbar hatte man Schawdia, der als Vorsitzender des Arbeiterrats bekannt war, nachspioniert. Die ganze Straße war von Militär besetzt. In die Wohnung, in der wir tagten — in der Hospitalstraße auf der Moldawanka — stürzten Gendarmen, Offiziere, Spitzel, Soldaten, Polizisten und sonstiges Gesindel. Sie glaubten, dass in den anderen Zimmern der Arbeiterrat tage und dass wir das Exekutivkomitee seien; deshalb ließen sie in unserem Zimmer Soldaten zur Bewachung zurück und begaben sich in die anderen Wohnungen des Hauses auf die Suche. In der Zwischenzeit aber zogen wir alle Papiere, die wir bei uns hatten, aus den Taschen und rissen sie in Fetzen. Gerade als wir damit fertig waren, kehrten die Gendarmen zurück. Sie stürzten sich auf die Soldaten und fluchten darüber, dass man uns die Papiere habe zerreißen lassen. Die Soldaten rechtfertigten sich damit, dass sie keinerlei Befehl darüber bekommen hätten. Auf die Frage der Gendarmen, wer Papiere zerrissen habe, sagten die Soldaten: „Alle".
Es war ziemlich viel zerrissen worden — den ganzen Fußboden bedeckten weiße Papierfetzen. Die Gendarmen sammelten all das, aber ihre Mühe war vergebens: sie vermochten kein einziges Dokument zusammenzusetzen. Gegen Morgen brachte man uns alle, auch den kranken Wohnungsinhaber, der Arbeiter in einer Plätterei war, samt seiner Frau ins Gefängnis.
Nach allen Prozeduren und Durchsuchungen im Büro und im Korridor des Gefängnisses brachte man mich in eine stinkende, halbdunkle, feuchte und kalte Einzelzelle des Kellergeschosses. Der Morgen graute bereits. Mir war nicht besonders zu Mute. Am frühen Morgen wurden die Insassen unseres Korridors zum Spaziergang hinausgeführt. Als wir auf den Hof kamen, erblickte ich viele bekannte Gesichter. Die mir bekannten Genossen, die früher als ich verhaftet worden waren, machten mich mit der Ordnung im Gefängnis vertraut und zählten mir die Genossen auf, die sich zur Erholung in diesem vorzüglichen Odessaer zaristischen „Sanatorium" befanden. Dann wurde ich in den ersten Stock versetzt und am nächsten Tage machte ich meinen Spaziergang bereits mit den Insassen des Erdgeschosses. Nach einigen Tagen war ich mit allen politischen Gefangenen bekannt. Die verschiedensten Menschen waren dort: Menschewiki, Bolschewiki, Anhänger des Bauernbundes, Mitglieder des Eisenbahnerverbandes, Sozialrevolutionäre, Bundisten, Anarchisten, Expropriateure (so genannte „Schwarze Raben") und einfache Arbeiter und Bauern, die zu gar keiner der aufgezählten Organisationen oder Kategorien gehörten. Die Bauern waren aus den in der Umgegend Odessa liegenden Dörfern hergebracht worden. Auch in bezug auf das Alter war die größte Mannigfaltigkeit zu verzeichnen: es gab unter den Verhafteten Greise und fast noch Knaben. Sogar Krüppel gab es bei uns, die sich nur mit Mühe fortschleppten. Auch die Frauenabteilung stand uns in dieser Hinsicht nicht nach. Dort gab es ebenfalls die verschiedenartigsten Typen von Insassen. Die Gendarmen griffen wahllos alles auf, was sie nur kriegen konnten: Schuldige und Unschuldige. Offenbar wollten sie sich mit Zinseszins für die durch die Amnestie der Oktobertage erzwungene Befreiung der Gefangenen entschädigen.
Bald darauf begann man uns einzeln ins Büro zum Verhör zu rufen. Mich fragte ein Beamter der Geheimpolizei in Uniform aus; neben dem Zimmer aber, in dem das Verhör vor sich ging, schnüffelten Spitzel in Zivil umher.
Bei der Verhaftung nannte ich mich so, wie ich bei der Polizei angemeldet war, und gab auch meine richtige Adresse an, obwohl in meiner Wohnung ganze Pakete von „Nachrichten des Arbeiterrates" lagen. (Irgend ein Genosse hatte sie vor dem Weiterversand nach Nikolajew zu mir gebracht; dann aber war entweder die Verbindung mit Nikolajew verloren gegangen oder der Genosse hatte einfach keine Lust gehabt, hinzureisen. Auf diese Weise waren die Pakete in meiner Wohnung liegen geblieben. Ich rechnete darauf, dass meine Freunde, die mit mir in derselben Wohnung (in anderen Zimmern natürlich) hausten, meine Abwesenheit bis 12 oder 1 Uhr in der Nacht bemerken und mein Zimmer säubern werden. Es kam aber noch besser: Genosse Gussew kam am Abend meiner Verhaftung in die Hospitalstraße. Als er merkte, dass die Straße sich in ein Heerlager verwandelt hatte, erriet er sofort, dass irgend eine Sitzung aufgeflogen war. Es gelang ihm bald, festzustellen, dass es sich um die Bezirksleitung handelte. Da schickte er Genossen in die Wohnungen der Verhafteten, damit man dort alles in Ordnung bringe. Meine Wohnung aber suchte er selbst auf.
Ich hatte einen „eisernen" Pass (Anm.: Die Parteigenossen, die illegal lebten, benutzten eigens hergestellte falsche Pässe mit ersonnenen Namen und Wohnorten, mit gefälschten Stempeln usw., oder Kopien fremder Pässe, die von offiziellen Behörden für wirklich existierende Personen ausgestellt worden waren, oder einfach fremde Pässe. Diese galten als viel sicherer; man bezeichnete sie deshalb als „eiserne" Pässe.). Alle Details, die für das Verhör von Wichtigkeit waren, nämlich die Namen der Mutter, des Großvaters usw. waren mir bekannt. Diesem Pass nach war ich Schuster oder Schneider, und der Inhaber meines Passes hatte noch nie politischer Delikte wegen mit den Behörden zu tun gehabt. Deshalb begab ich mich vollkommen ruhig zum Verhör, obwohl mich eine im Schaufenster eines Photographen ausgestellte Aufnahme ein wenig beunruhigte, die das Meeting vom 17. Oktober vor dem Rathaus darstellte und auf der ich sehr deutlich zu erkennen war. Nachdem alle Personalien festgestellt worden waren, erklärte mir der Agent der Ochrana, dass wir, die Verhafteten, das Exekutivkomitee des Arbeiterrates seien und vors Kriegsgericht kommen würden. Ich erwiderte, dass wir zusammengekommen seien, um zu beraten, wie man den vielen Arbeitslosen in Odessa, die von niemanden Unterstützung bekämen, helfen könne. Bei dieser Gelegenheit wies ich noch darauf hin, dass es mir nicht gelungen sei festzustellen, welche Organisationen ihre Vertreter zu dieser Beratung entsandt hätten, da ja die Polizei noch vor der Eröffnung der Sitzung erschienen wäre. (Wir hatten schon vorher verabredet, was wir beim Verhör zu sagen hatten.) Der Agent der Ochrana erklärte, dass er genaue Dokumente besitze, aus denen klar hervorgehe, dass wir Mitglieder des Exekutivkomitees seien. Die Behörden hatten in unserer Sache (wir waren 15 Mann) nur gegen Schawdia, der in der Öffentlichkeit als Vorsitzender des Arbeiterrats aufgetreten war, und außerdem gegen den Genossen Mowschowitsch wirkliche Beweise. Bei dem Genossen Mowschowitsch hatte man viel sozialdemokratische Literatur gefunden, wenn auch von jedem Werk nur ein Exemplar, außerdem noch das Quittungsbuch des Odessaer Parteikomitees über Geldsammlungen für Waffen. Nach diesem ersten Verhör wurden wir über fünf Monate lang von keinem Gendarmen mehr belästigt.
Die Ordnung im Gefängnis war erträglich. Wir machten längere Spaziergänge. Während der Spaziergänge veranstalteten die Gefangenen Ballspiele, Wettrennen usw. Allwöchentlich durfte man auch in Gegenwart von Gendarmen Besuche empfangen. Die Besuchszeit betrug allerdings nur sechs Minuten. Genossen, die in den anderen Zellen desselben Korridors saßen, durfte man ebenfalls besuchen. Meistens war man zu zweien in einer Zelle. Zeitungen erhielten wir täglich, trotz des Verbotes der Gefängnisverwaltung. Sobald die Kontrolle der Zelle vorüber war, stellten wir uns ans Fenster und lasen die Zeitung. Bei gutem Wetter las man sie sogar laut vor. So verliefen in ewiger Eintönigkeit Tage, Wochen und Monate. Die Zeitungen schrieben immerfort von einer Amnestie, die am Tage der Eröffnung der ersten Duma erfolgen sollte. Tagaus tagein fand man Artikel darüber. Das viele Reden von der Amnestie nahm gar kein Ende. Zugleich aber fällten die Kriegsgerichte wegen jeder Kleinigkeit die grausamsten Urteile. Fiel ein politisch bereits Vorbestrafter dem Kriegsgericht in die Klauen, so waren ihm 4 bis 8 Jahre Zuchthausstrafe sicher.
Da im Jahre 1905 viel marxistische Literatur erschienen war, so stürzte ich mich aufs Lesen. In der Freiheit hatte ich nie genug Zeit dazu gehabt, da ich immer durch die praktische Arbeit völlig in Anspruch genommen war.
Es war gerade die Zeit, als innerhalb der Partei die Vorbereitungen zum Vereinigungsparteitag in Stockholm getroffen wurden. Die Thesen und Aufsätze der Bolschewiki und Menschewiki gelangten auch zu uns ins Gefängnis. Natürlich pflogen wir Diskussionen über die Frage des Boykotts der Ersten Duma und über viele andere Fragen.
Zu dieser Zeit flog das Odessaer Parteikomitee in seiner Gesamtheit auf (Ljowa, Kazap, Mark Ljubimow und andere) und auch die Versammlung, die sich mit den Wahlen zum Vereinigungsparteitag beschäftigen sollte.
Die Eintönigkeit des Gefängnislebens wurde durch zwei Ereignisse unterbrochen, die mit einem Male alles auf den Kopf stellten. Ich will sie daher ganz kurz schildern. Nach den Dezembertagen tauchten in Odessa Expropriationsgruppen auf, die unter den verschiedensten Namen („Schwarze Raben" und dergleichen mehr) operierten. Ihre Beweggründe waren durchaus nicht ideeller Natur. Es geschah häufig, dass Verbrecher sich die Namen verschiedener Organisationen zulegten, um leichtes Spiel zu haben. Die „Schwarzen Raben" führten ihre Überfälle am helllichten Tage aus und terrorisierten durch ihre Kühnheit buchstäblich die ganze Bourgeoisie von Odessa. Zu ihnen muss man noch die Anarchisten hinzurechnen, die ebenfalls Expropriationen ausführten und Bomben in die Cafes warfen, in denen die Bourgeoisie sich amüsierte. Viele lichtscheue verbrecherische Elemente machten sich damals an die ideellen Anarchisten heran, die aufrichtig und naiv glaubten, dass man durch Bombenwerfen in Cafes den Kampf gegen die Bourgeoisie führen, das Proletariat von der Notwendigkeit zu kämpfen, befreien und seine Lage verbessern könne. Die Bourgeoisie war durch die Überfälle so in Schrecken geraten, dass sie den ganzen Polizei- und Militärapparat zum Kampf dagegen einsetzte. Die Kriegsgerichte arbeiteten ununterbrochen. Sie verurteilten alle, die ihnen in die Klauen fielen, zu unglaublich schweren Strafen. Auf diese Weise bekamen wir ins Gefängnis den ersten zum Tode Verurteilten. Im Gefängnis wurde es still. Eine Zeitlang konzentrierte sich das ganze Interesse der Gefängnisinsassen nur auf diesen Verurteilten. Man wollte wissen, wie er sich fühle, ob er spazieren gehe, ob er alles habe, was er brauche, ob er imstande sei zu schlafen usw.
Die Insassen des Gefängnisses hatten noch kaum Zeit gehabt, sich an den Todeskandidaten zu gewöhnen, als der gewaltsame Tod im Gefängnis Einzug hielt. Das Odessaer Gefängnis stand nämlich auch unter Belagerungszustand. Bei den Spaziergängen der politischen Gefangenen hielten Soldaten ständig Wache. Eines Tages — als die Insassen unseres Korridors bereits den Spaziergang und das Mittagessen hinter sich hatten — ging an unseren Fenstern eine Abteilung Soldaten mit dem Offizier Tarassow vorbei. Ich persönlich sah zum ersten Male einen Offizier im Gefängnis. Gewöhnlich leitete die Ablösung der Wache entweder ein Sergeant oder ein Unteroffizier. Plötzlich rief jemand aus dem Erdgeschoß: „Nieder mit dem Absolutismus!" Der Offizier ließ die Soldaten sofort halten und fragte drohend: „Wer hat hier eben ,Nieder mit dem Absolutismus!' gerufen?". Alle Gefangenen sprangen an die Fenster, um den Sonderling von einem Offizier zu betrachten, der so wichtig tat. Irgend jemand von unten antwortete ihm: „Und wenn ich es gewesen wäre? Was wäre schon dabei?" Darauf ließ der Offizier die Soldaten vor dem Fenster des Genossen, der ihm diese Antwort erteilt hatte, eine Reihe bilden und rief: „Wenn du ein Anarchist, ein Sozialdemokrat oder einfach ein ehrlicher Mensch bist, dann rühre dich nicht von der Stelle". Die Gefangenen, die diese Szene beobachteten, waren erstaunt: einige lachten über den Sonderling, andere riefen ihm zu: „Aber wir sitzen doch gerade deswegen im Gefängnis, weil wir gegen den Absolutismus sind". Ich war in der Nachbarzelle bei den Genossen Lebit und Mowschowitsch. Wir beobachteten alle drei das grausige Bild. Irgend jemand rief, dass selbst während des Belagerungszustandes Herr im Gefängnis der Direktor sei, und nicht der Wachoffizier. Der Offizier aber ließ seine Soldaten antreten und befahl ihnen, sich fertig zu machen. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, forderte er den Gefangenen auf, der in einer Zelle mit dem Genossen saß, der das verhängnisvolle Gespräch mit Tarassow angeknüpft hatte, sich vom Fenster zu entfernen. Da dieser der Aufforderung nicht nachkam, kommandierte der Offizier: „Feuer!" und gleich darauf krachte eine Salve. Sofort stürzten alle zu den Türen. Ein Höllenlärm erhob sich im ganzen Gefängnis. Die Kriminellen kamen uns zu „Hilfe" (Anm.: Ich setze die Hilfe der Kriminellen aus folgendem Grunde in Gänsefüßchen: Als während der Revolution des Jahres 1905 die Meetings, Demonstrationen und sonstige Manifestationen einsetzten, nahmen die Arbeiter und Arbeiterinnen an diesen Veranstaltungen natürlich den lebhaftesten Anteil. Das nutzten nun die Diebe aus und brachen in die leeren Arbeiterwohnungen ein, was in vielen Städten und auch in Odessa große Erbitterung hervorrief und dazu führte, dass die Arbeiter mit den ertappten Einbrechern selbst abrechneten, ohne die Hilfe der Polizei und Justiz in Anspruch zu nehmen. Im Gefängnis erkannten die Verbrecher einen Arbeiter, der sie übel zugerichtet hatte, und wollten mit ihm abrechnen. Das wurde durch die politischen Gefangenen verhindert. Aus diesem Grunde waren die Beziehungen zwischen uns und den Kriminellen sehr gespannt. Die Verbrecher, die wussten, dass wir uns bei der Gefängnisverwaltung nicht beschweren würden, stahlen uns während der Spaziergänge alles, was von einigem Wert war. Als nach der Bluttat Tarassows die Politischen alle hinunterliefen, bestahlen die Kriminellen nicht mehr einzelne von uns, sondern alle, bei denen es nur etwas zu stehlen gab.) und öffneten uns politischen Gefangenen mit Dietrichen die Türen unserer Zellen.
Alle Politischen eilten nach unten in das Rondell. Beide Genossen waren schwer verwundet. Einige Tage darauf starb der eine, vielleicht auch beide — ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.
Gleich darauf erschien im Gefängnis, während wir uns noch in dem Rondell befanden, der Staatsanwalt, der Stadthauptmann und andere Vertreter der Behörden. Die politischen Gefangenen forderten die Verhaftung Tarassows und die Entfernung der Soldaten aus dem Gefängnis. In der Stadt wurde das Blutbad im Gefängnis bekannt, und der ganze Platz vor dem Gefängnis füllte sich mit Menschen, die Aufklärung über das Geschehene verlangten. Der Gefängnisverwaltung glaubte die Menge nicht, so dass man schließlich nachgeben musste und einen politischen Gefangenen hinausführte, der die Vorgänge schilderte.
Tarassow wurde verhaftet und die Soldaten aus dem Gefängnis entfernt. Später erfuhren wir, dass Tarassow für seine „Tapferkeit" belohnt und in einen höheren Rang versetzt worden war. Nach diesem Drama waren die Nerven der Gefängnisinsassen noch gespannter. In dieser überhitzten Gefängnisatmosphäre beschlossen wir dreizehn Mann, die am 2. Januar zusammen verhaftet worden waren, eine energische Kampagne zur Beschleunigung unserer Angelegenheit zu eröffnen. Während der fünf Monate hatte man uns nämlich kein einziges Mal verhört, abgesehen von der ersten Vernehmung bei der Einlieferung. Mehr noch, wir wussten, dass die Angelegenheit überhaupt nicht vom Fleck kam, denn da unter uns auch Genossen mit falschen Pässen waren, so hätten die Behörden bloß dort anzufragen brauchen, wo diese Pässe ausgestellt worden waren: die Gendarmen würden sich dann sofort bei uns eingefunden haben, denn man hätte gleich festgestellt, dass sich unter uns Illegale, also „wichtige Verbrecher" befanden. Das war noch nicht geschehen und bedeutete also, dass unsere Angelegenheit nicht von der Stelle kam. Es war bereits Sommer. Der Lärm um die erste Duma dauerte noch an. Außerdem wirkte auch die Ungewissheit über den Ausgang des Stockholmer Parteitages sehr beunruhigend. Wir fragten uns, wer siegen werde: die Bolschewiki oder Menschewiki? Es fiel einem schwer, im Gefängnis zu sitzen, der Drang dem Gefängnis zu entrinnen, war ungeheuer. Wir hatten richtig darauf gerechnet, dass die Behörden bei der geladenen Atmosphäre im Gefängnis weder eine Obstruktion noch einen Hungerstreik zulassen würden, und beschlossen deshalb, durch die Erklärung des Hungerstreiks einen Druck auf sie auszuüben. Wir schrieben alle einzeln dem Staatsanwalt darüber, dass unsere Angelegenheit nicht vom Fleck komme, obwohl bereits fünf Monate vergangen wären, und dass wir entweder die Aushändigung der Anklageschrift und die Anberaumung eines Verhandlungstermins oder aber die Freilassung forderten, widrigenfalls wir von dem und dem Tage an in den Hungerstreik treten würden.
Wir bereiteten uns wirklich ernstlich auf den Hungerstreik vor. Am Vorabend des festgesetzten Tages entfernten wir aus den Zellen alles Essbare. Die Besucher brachten uns keine Esswaren mehr, sondern nur noch Blumen. Nach der Kontrolle, als es bereits zu dunkeln angefangen hatte, wurden wir einzeln ins Büro gerufen, wo man uns erklärte, dass der Staatsanwalt angeordnet hätte, uns bis zur Gerichtsverhandlung auf freien Fuß zu setzen und unter polizeiliche Aufsicht zu stellen.
Von den verhafteten fünfzehn Genossen wurden dreizehn (Schawdia und Mowschowitsch blieben im Gefängnis), darunter auch Genossen mit falschen und fremden Pässen, in Freiheit gesetzt.
Man muss die Aufregung, die einen Menschen bei seiner Befreiung packt, der sich für „schuldig" und für einen Feind des Absolutismus und der Bourgeoisie hält, selbst erlebt haben, um sie zu begreifen. Jeder von uns lief in der Zelle hin und her, jeder war in Unruhe darüber, ob man ihn auch aufrufen werde, oder ob ihn die Gendarmen entdeckt hatten. Wir glaubten fast gar nicht, dass man uns freilassen werde. Als man uns aber aus dem Gefängnis brachte, dachten wir, dass wir in Provinzialgefängnisse abtransportiert werden, denn in Odessa hätte der Hungerstreik zu einer Gefängnismeuterei anwachsen können. Ganz unerwartet erlangten wir die Freiheit. Übrigens: als wir bereits in Freiheit waren, bekamen es die Gendarmen mit der Eile zu tun. In einem Monat war die Untersuchung beendet. Die Angelegenheit wurde dem Militärstaatsanwalt übergeben, und dieser gab sie an das Kriegsgericht weiter. Anscheinend war es den Gendarmen gelungen, mit den „Schwarzen Raben" fertig zu werden und sich mit unserer Angelegenheit zu befassen.
Ich war unendlich glücklich über die Freiheit. Das steinerne Ungetüm von Gefängnis, das uns so entsetzlich zuwider geworden war, lag zwar in der Nähe der Stadt, dem Leben der Stadt aber war es um so ferner. Obwohl meine Kleidung keineswegs in einem ordentlichen Zustand war (im Gefängnis war alles zum Teufel gegangen), lief ich am ersten Tage nach meiner Freilassung wie toll in der Stadt umher, ohne etwas zu tun. Mir war, als sähe ich zum ersten Male Odessa. Der Anblick des Meeres überraschte mich. Während der Zeit, die ich bis zu meiner Verhaftung in Odessa verbrachte, hatte ich keine Möglichkeit, ja nicht einmal die Lust gehabt, ans Meer zu gehen oder die Stadt zu besichtigen.
An jenem Tage hatte ich das Gefühl, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Aber schon am darauf folgenden Tag erfasste mich ein derart starkes Gefühl der Einsamkeit, dass ich fieberhaft versuchte, meine Beziehungen zu den Odessaer Bolschewiki wieder aufzunehmen.
Die Lage in der Odessaer Organisation war nach all den Verhaftungen keine glückliche. Die Bolschewiki waren zersplittert worden, und in der Leitung saßen so verstockte Menschewiki wie Friedrich und L. N. Radtschenko.
Ich nahm wieder meine Verbindungen mit den Tabakarbeitern auf und versuchte festzustellen, was von uns Bolschewiki in Odessa übrig geblieben war. Es stellte sich heraus, dass eine ganze Anzahl von tüchtigen Parteifunktionären zurückgeblieben war, dass aber unter ihnen kein Kontakt bestand. Der Genosse Konstantin Ossipow (Lewitzki, ein Bolschewik, der lange in Odessa gewohnt hatte und nun aus der Verbannung zurückgekehrt war), den ich einige Male besucht hatte, besorgte eine Wohnung, in der die bolschewistischen Funktionäre in Odessa sich versammeln konnten. Wir setzten fest, wer von den Genossen eingeladen werden sollte, und bestimmten einen Tag. Die Sitzung fand statt. Es nahmen an ihr auch Genossen teil, die ich nicht kannte. Einige Genossen waren in Militäruniform gekommen. Diese jagten mir einen ordentlichen Schrecken ein. Als sie nämlich zusammen ins Zimmer traten, in dem wir tagten, riefen sie: „Was ist das für eine Versammlung? Ihr seid verhaftet!" Ich hatte natürlich gar keine Lust nach 2—3 Tagen Freiheit wieder in das steinerne Ungetüm zu geraten. Aber mein Schreck war schnell vorbei, als der Wohnungsinhaber die Eingetretenen aufforderte, Platz zu nehmen.
Nach Entgegennahme des Berichtes über die Lage innerhalb der Organisation, beschlossen die Versammelten, einige Genossen zu beauftragen, derartige Zusammenkünfte periodisch einzuberufen und auf diese Weise eine bolschewistische Fraktion innerhalb der Odessaer Gesamtorganisation zu schaffen.
Ich beschloss, mich dem Gericht nicht zu stellen und Odessa zu verlassen, da es jetzt ganz klar war (es war nach der Auflösung der ersten Duma), dass die schwärzeste Reaktion im Lande Oberhand gewann. Um festzustellen, wohin ich nun reisen sollte, wandte ich mich mit einem Brief an die Genossin Krupskaja, die damals in Petersburg Sekretärin der bolschewistischen Zentrale war. Diese Zentrale hat auch nach dem Stockholmer Parteitag, während des Bestehens der „Vereinigten Sozialdemokratischen Partei" existiert.
Bald nach Absendung des Briefes nach Petersburg erhielt ich ein Schreiben von Genossen Gussew, der mich im Auftrage der Moskauer Organisation einlud, nach Moskau zu kommen.
Ich beschloss, nach Moskau zu reisen.
Aus Odessa musste ich schleunigst verschwinden, da ich und alle am gleichen Prozess Beteiligten aus irgend einem Grunde vom Kriegsgericht aufgefordert worden waren, sich zu melden. Aus Moskau hatte ich aber noch keine Adressen erhalten. Ich beschloss deshalb, zunächst zu meinen Verwandten in meine Heimat zu reisen.
Der Terror, der in allen großen Industriezentren wütete, hatte diese Stadt noch nicht erreicht. Hier fanden noch im Stadtpark, im Zentrum der Stadt, Massenversammlungen statt. Außer der Ortsgruppe des „Bund" und einer Jugendorganisation, die sich „Der Kleine Bund" nannte, existierte dort auch eine ziemlich starke Ortsgruppe der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, mit der ich mich sofort in Verbindung setzte. Sie bestand aus russischen, polnischen, litauischen und jüdischen Arbeitern und zählte zu ihren Mitgliedern auch einige Vertreter der Intelligenz. Geleitet wurde die Gruppe von einem vom Militärdienst zurückgekehrten Unteroffizier, dem Genossen „Ossipow". Seinen wirklichen Namen habe ich vergessen. 1907 traf ich ihn in Petersburg.
Die Organisation hatte einen festen Kontakt mit den Landarbeitern der in der Umgegend liegenden Güter, einen ebensolchen Kontakt besaß sie mit den Arbeitern und Bauern der benachbarten Ortschaften und Dörfer. Ich nahm aktiv Anteil an der Arbeit der Organisation und trat oft in Mitgliederversammlungen und Massenmeetings auf.
Gleich nach dem Eintreffen von Adressen und Geld reiste ich nach Moskau ab.

 

Parteiarbeit in Moskau (1906—1908)

Nach Moskau kam ich Anfang September 1906. Gleich nach meiner Ankunft stellte ich fest, dass der mir vom Genossen Gussew angegebene Treffpunkt aufgeflogen war und dass Genosse Gussew selbst sich nicht mehr in Moskau befand. Er war entweder verreist oder verhaftet worden. Trotzdem gelang es mir schnell, mit dem Moskauer Parteikomitee in Verbindung zu kommen. Ich traf ganz zufällig auf der Straße die Genossen Bur und Swerj. Von ihnen erfuhr ich, dass man mich für die Arbeit als Sekretär des Moskauer Parteikomitees hergerufen hatte, da Genosse Viktor (Taratuta) eine andere Arbeit übernehmen sollte. Gleichzeitig teilten sie mir auch die Meldestelle des Parteikomdtees mit. Ich ging sofort hin und traf dort den Genossen Viktor, der mir mitteilte, dass das Parteikomitee beschlossen habe, mir den ganzen konspirativen technischen Apparat der Moskauer Organisation zu übergeben.
War es letzten Endes nicht ganz gleich, was für eine Arbeit man ausführte, wenn sie nur für die Partei notwendig und nützlich war?
Ich übernahm also diese Arbeit. Und Arbeit gab's zu jener Zeit in Moskau genug, die Kräfte reichten nicht aus.
In Moskau war die Stimmung der leitenden Genossen, mit denen ich jeden Tag zu tun hatte, eine gehobene, kampflustige. Von jener niedergeschlagenen und verzweifelten Stimmung, die vor meiner Abreise die Odessaer Genossen erfasst hatte, war hier keine Spur vorhanden.
Die Moskauer Organisation gliederte sich in folgende Verwaltungsbezirke: Zentrum, Samoskworjetzki, Rogoschski, Lefortowski, Sokolnitscheski, Butyrski, Presnenski-Chamownitscheski und Eisenbahnbezirk.
Einige Bezirke waren noch in Unterbezirke eingeteilt. Sowohl die Bezirke, als auch die Unterbezirke (wo solche bestanden) standen mit den „Betriebsversammlungen" (jetzt Betriebszellen), mit den Betriebskomitees oder Betriebskommissionen (jetzt Zellenleitungen) in Verbindung. Die Vertreter der Betriebskomitees in jedem Bezirk nahmen die Berichte der Bezirksleitung und des Moskauer Parteikomitees entgegen und entsandten ihre Vertreter zu den Stadtkonferenzen, auf denen 1906 noch das Moskauer Parteikomitee gewählt wurde.
Sowohl die Verwaltungsbezirks-Delegiertenversammlungen als auch die Stadtkonferenzen wurden zu jener Zeit periodisch einberufen. Das Moskauer Parteikomitee und alle Bezirksleitungen richteten damals ihr Hauptaugenmerk auf die Verbindung mit den Arbeitern in den Betrieben, und der Kontakt war wirklich ein sehr fester; denn die Bezirksleitungen und Unterbezirksleitungen waren mit den Belegschaften aller Werke, Fabriken, Druckereien und sonstiger Industrieunternehmungen ihrer Bezirke oder Unterbezirke eng verbunden.
Ich musste mich oft an Parteimitglieder, die in den verschiedensten Produktionszweigen tätig waren, wenden, um Inventar für die Druckerei oder sonstige technische Dinge zu bekommen. Ich brauchte bloß bei irgend einer Organisation der Moskauer Bezirke anzufragen, und diese setzte mich sofort mit Parteimitgliedern jedes gewünschten Betriebes in Verbindung. Das Moskauer Parteikomitee hatte auch eine militärische Organisation, die eine eigene Zeitschrift „Das Soldatenleben" herausgab. Diese militärische Organisation hatte gute Verbindungen zu Soldaten fast aller Truppenteile. Und in vielen Truppenteilen waren die Parteimitglieder oder Sympathisierenden zu Gruppen zusammengefasst. Die militärische Organisation war von der Moskauer Parteiorganisation völlig getrennt. Nur die Leitung stand mit dem Moskauer Parteikomitee in engem Kontakt und in Ausnahmefällen auch mit dieser oder jener Bezirksleitung. Das Moskauer Parteikomitee führte eine systematische Arbeit in den nicht gerade zahlreichen Gewerkschaften Moskaus — unter den Textilarbeitern, den Straßenbahnern usw. Der Tätigkeit der Moskauer Parteileitung ist die Entstehung des „Zentralbüros der Gewerkschaftsverbände" in Moskau zu verdanken, das alle damals bestehenden Gewerkschaftsverbände zusammenfasste. Der Einfluss der Bolschewiki war sowohl in den einzelnen Verbänden als auch im Zentralbüro sehr groß.
Beim Moskauer Parteikomitee bestand auch ein militärtechnisches Büro, das die Aufgabe hatte, einfache Kampfwaffen (Bomben) zu erfinden, zu prüfen und im Bedarfsfalle in größeren Mengen herzustellen. Dieses Büro arbeitete denn auch die ganze Zeit hindurch an der Lösung der ihm gestellten Aufgaben, und zwar vollkommen isoliert von der Moskauer Organisation; die Verbindung mit der Moskauer Organisation wurde ausschließlich durch den Sekretär der Moskauer Parteileitung vermittelt.
Ferner hatte das Moskauer Parteikomitee noch eine sozialdemokratische Studentenorganisation, die mit allen höheren und vielen Mittelschulen Moskaus in Verbindung stand.
Und schließlich besaß das Moskauer Parteikomitee ein Lektorenkollegium, ein Schriftstellerkollegium, eine Finanzkommission und einen zentralen technischen Apparat, dem die Drucklegung und Verbreitung der Literatur sowie die Anfertigung von Pässen für die Funktionäre der Moskauer Organisation oblag. Eben diesen zentralen technischen Apparat sollte ich leiten.
Das Moskauer Parteikomitee arbeitete ausschließlich in Moskau. Das Moskauer Gouvernement aber wurde vom Moskauer Kreiskomitee bearbeitet, das sich ebenfalls in Moskau befand. Außerdem hatte in Moskau seinen Sitz das „Büro des zentralrussischen Industriegebiets", das außer der Moskauer Organisation und der Moskauer Kreisorganisation noch eine Reihe von Gouvernementsorganisationen umfasste: Jaroslaw, Kostroma, Nishni Nowgorod, Iwanowo-Wosnessensk, Tambow, Woronesch usw. Obwohl das Gebietsbüro und das Kreiskomitee vollkommen selbständig arbeiteten, kam es oft vor, dass die Tätigkeit aller drei Leitungen sich kreuzte (Anm.: Nach der Februarrevolution bzw. kurz vor der Revolution 1917 begannen alle diese Organisationen wieder in der oben beschriebenen Art zu funktionieren. Erst in den Jahren 1919—1920 wurde das Gebietsbüro aufgelöst und das Kreiskomitee mit dem Moskauer Komitee verschmolzen.).
Als ich mich mit den Verhältnissen in der Moskauer Organisation bekannt machte, fiel mir vor allem deren enger Kontakt mit dem Lande auf, obwohl das Moskauer Parteikomitee nur in Moskau arbeitete. Während der kurzen Zeit des Bestehens einer eigenen großen Druckerei — 8 Monate — gab das Moskauer Parteikomitee vier Flugblätter für die Bauern in einer Auflage von 140 000 Exemplaren heraus und druckte das Agrarprogramm 'der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in einer Auflage von 20000 Exemplaren. Außerdem wurde eine für damalige Begriffe kolossale Menge von Literatur und Flugblättern über verschiedene Tagesfragen ins Dorf gebracht. Diese Literatur wurde von den Moskauer Arbeitern und Arbeiterinnen verbreitet, die an allen großen Feiertagen aufs Land fuhren. Vor solchen Feiertagen gab das Parteikomitee speziell Flugblätter heraus, und der technische Apparat suchte die für die Bauern geeignete Literatur zusammen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen holten bei uns auch Literatur, wenn jemand vom Lande sie besuchte. In Odessa dagegen hatte man, so weit ich mich erinnern kann, während der ganzen Zeit meiner Tätigkeit im Parteikomitee die Frage des Kontaktes mit den Bauern kein einziges Mal behandelt.
Im Jahre 1906 und in der ersten Hälfte des Jahres 1907 stand die ganze Arbeit der Moskauer Organisation im Zeichen der herannahenden Massenbewegung der Arbeiter und Bauern, die zum bewaffneten Kampf gegen den Zarismus führen musste. Die Proklamationen und Resolutionen des Moskauer Parteikomitees, des Kreiskomitees und des Gebietsbüros aus jener Zeit waren von Kampfesgeist erfüllt. In diesem Sinne wurden auch zwei Kampagnen Ende 1906 und Anfang 1907 durchgeführt, nämlich die Wahlen zur II. Duma und die Rekrutierungskampagne, an deren Durchführung auch ich, gleich nach meiner Ankunft, teilnahm. Für die Rekrutierungskampagne hatte das Moskauer Komitee eine Musterentschließung ausgearbeitet, die auf Militärdienstverweigerung hinauslief und in den Dorfgemeindeversammlungen angenommen werden sollte. In der Entschließung hieß es, dass die Zarenregierung die Dienstpflichtigen in diesem Jahre zum Militär einberufe, um sie gegen ihre eigenen Brüder zu verwenden, dass diese Regierung ganz Russland ruiniert habe und dem Volke weder Freiheit noch Land geben wolle usw., und dass deshalb die Dorfgemeindeversammlung beschließe, der Zarenregierung keine Rekruten mehr zu geben. Sollten die jungen Burschen aber mit Gewalt genommen werden, so befehle die Versammlung den Rekruten, nicht auf ihre Brüder, die Arbeiter und Bauern, zu schießen, sondern bewaffnet zum Volk überzutreten; sollten sie trotzdem auf das Volk schießen, so werde man sie nach der Rückkehr vom Militär aus dem Dorf verjagen. Dieser Kampagne legte das Moskauer Komitee große Bedeutung bei. In welchem Umfange solche Entschließungen damals auf dem Lande angenommen wurden und welche Ergebnisse die Kampagne zeitigte, weiß ich nicht mehr, aber in den Betrieben und Werkstätten wurden die Rekruten des Jahrganges 1906 durch die Bezirks- und Unterbezirksorganisationen tüchtig bearbeitet.
Man organisierte Zirkel unter ihnen, in denen sie über das Wesen des Zarismus und über ihre eigene Rolle als künftige Soldaten aufgeklärt wurden, für den Fall, dass eine kollektive Dienstverweigerung nicht gelingen sollte. Die Rekrutierungskampagne hatte in der Stadt unter den Rekruten-Arbeitern zweifellos eine große praktische Bedeutung.
Nun will ich zur Schilderung meiner Parteiarbeit in Moskau übergehen.
Vor allen Dingen musste ich mich mit der Lage der Druckerei des Moskauer Komitees vertraut machen. Die Verbindung stellte die Genossin Helene her. Sie machte mich deshalb mit dem „Besitzer" der Druckerei, dem Genossen Arschak (Jakubow) bekannt.
Nach einer gründlichen Prüfung meiner Befähigung zur Übernahme der Leitung des gesamten konspirativen technischen Apparats der Moskauer Organisation, führte mich Genosse Arschak zu den Genossen Sandro (Jaschwili) und G. Sturua, die eigentlich die Seele der Druckerei waren und selbst in ihr als Setzer und Drucker arbeiteten. Wir verständigten uns über alles Notwendige und stellten unter uns ein sachliches, kameradschaftliches Verhältnis her. Noch ehe ich mich an die Arbeit machte, begab ich mich in die Druckerei, um persönlich festzustellen, ob in konspirativer Hinsicht alles in Ordnung sei.
Nachdem ich die Adresse erhalten hatte, prüfte ich zunächst, wie die Druckerei gelegen war. Die Lage der Druckerei befriedigte mich allerdings nicht. Die Druckerei befand sich in einem Laden, im dritten Haus von der Straßenecke aus, wo die Sretjenka und der Roschdestwenski-Boulevard sich kreuzen. Obwohl von der einen Seite die belebte Sretjenka abging, befand sich doch dem Hause gegenüber ein Gebäude, durch dessen Fenster man alles sehen konnte, was in dem Laden vorging und schräg gegenüber war der Boulevard, von wo aus die Druckerei unauffällig beobachtet werden konnte. Zu alledem stand nahe der Straßenecke, gerade dem Laden gegenüber, ein Polizist.
Nach der äußeren Besichtigung trat ich in den Obstladen als Käufer ein. Das Schild war solider als die Waren, die sich im Laden befanden. — Der Laden trug das pompöse Schild: „Lager kaukasischer Früchte", und man hätte beinah meinen können, es sei ein Engrosgeschäft. Im Geschäft fand ich den Genossen Arschak vor den Rechnungen sitzend und den Weber K. A. Wulpe bei der Arbeit als Verkäufer. Nachdem ich verschiedenes Obst gekauft hatte, begab ich mich hinter den Ladentisch und ging in den Keller hinunter. So weit ich mich erinnern kann, war dieser Keller noch kleiner als der Laden. Dort fand ich die Genossen Sandro (Jaschwili — jetzt Stellvertretender Volkskommissar für Arbeit in Georgien) und Sturua (jetzt Mitglied des ZK der KP Georgiens). Der Keller war mit allerlei Kisten voll gestopft, die teilweise drucktechnisches Material, das noch nicht ausgepackt war, und teilweise Papier für den Druck enthielten. Die Presse und die Setzkästen waren fertig für die Arbeit aufgestellt.
Der Keller wurde durch elektrisches Licht oder Petroleumlampen erleuchtet. Nach der Besichtigung des Kellers stieg ich wieder in den Laden hinauf. Oben hörte man, wie die Maschine arbeitete. Sobald jemand in den Laden kam, verständigte der „Besitzer" oder der „Verkäufer" die unten Arbeitenden davon, dass ein Kunde im Laden war. Wir beschlossen damals, eine Klingel hinunterzuleiten, vermittels deren man signalisieren konnte, ob weiter gearbeitet oder aufgehört werden sollte. Einer, mitunter zwei Genossen, arbeiteten in dringenden Fällen auch nachts in der Druckerei.
Nachdem ich mich mit allen Einzelheiten der Organisation der Druckerei vertraut gemacht hatte, stellte ich noch fest, dass der Laden unter einem falschen Pass gemietet worden war (auf den Namen Lassulidse), den jedoch niemand benutzte und auf den also niemand bei der Polizei angemeldet war. Infolgedessen war es unmöglich, festzustellen, ob er falsch war. Obwohl auf diesen Pass niemand polizeilich angemeldet war, erhielten wir doch auf den darin angegebenen Namen die Gewerbescheine ausgestellt, zahlten Steuern und dergleichen mehr. Genosse Arschak besaß einen anderen Pass.
Im Laden selbst wohnte der „Verkäufer" Genosse Wulpe, der unter einem falschen Pass bei der Polizei auf den Namen P. W. Lapyschew angemeldet war. Da die Polizei leicht hätte feststellen können, dass der Pass falsch war, so schlug ich vor, niemand mehr auf die Adresse des Ladens anzumelden, und begann energisch einen geeigneten Ersatzmann für Wulpe zu suchen.
Den Kontakt mit der Druckerei hielt ich ausschließlich durch den Genossen Arschak aufrecht, der „Besitzer" des Ladens war. In besonders dringenden Fällen, wenn ich nicht bis abends warten konnte, um den Genossen Arschak zu. Hause aufzusuchen, begab ich mich selbst in die Druckerei, allerdings unter Beachtung vieler Vorsichtsmaßregeln. Ich kam stets als Käufer und verließ den Laden immer entweder mit einem Päckchen kaukasischen Obstes oder einem Päckchen Nüsse. Noch bevor ich die Stadt kennen gelernt hatte, musste ich schon Stellen ausfindig machen, um eine große Menge Papier von bestimmtem Format zu beschaffen. Das war nicht leicht, zumal ich nach dem Einkauf das Papier mit der größten Vorsicht abtransportieren musste, um keinen Verdacht in bezug auf den Zweck des Kaufes und den Ort, an den das Papier gebracht werden sollte, hervorzurufen. Ich weiß nicht mehr, wer von den Genossen mir einen Empfehlungsbrief an den Leiter eines Papierunternehmens gegeben hatte, in dem gebeten wurde, mir einen Kredit einzuräumen. Ich wurde mit diesem Herrn handelseinig, und er besorgte mir Papier, das sowohl dem Format als auch der Qualität nach für uns passend war. Das gekaufte Papier schaffte ich zu einem Buchbinder: ebenfalls auf Empfehlung irgend eines Genossen. In der Buchbinderei schnitt man das Papier auseinander, um das notwendige Format zu erhalten. Dann packte es der „Verkäufer" des Obstladens zusammen und brachte es in einen besonderen Lagerraum, von wo aus das Papier, je nach Bedarf als „kaukasische Früchte" deklariert, in den Laden gebracht wurde.
Später erhielten wir bei Bestellungen im Büro des Unternehmens Orders für irgend ein Papierlager; diese Orders übermittelten wir der Druckerei. Der „Verkäufer" holte dann das Papier ab und schaffte es in denselben Lagerraum. Bei diesem Unternehmen kauften wir das von uns benötigte Papier während der ganzen Dauer des Bestehens unserer Druckerei.
Während der Wahlen zur II. Duma erlebten wir folgenden Vorfall. Ich kaufte einen großen Posten roten Papiers für den Druck von kleinen Aufrufen, in denen die Bevölkerung aufgefordert wurde, die von dem Moskauer Parteikomitee der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aufgestellten Kandidaten zu wählen. Als ich eine Woche darauf wieder ins Büro des Papierunternehmens kam, zeigte mir der Chef einen auf rotem Papier gedruckten Aufruf und sagte: „Sie arbeiten schnell, sauber und exakt: dieses Ding wurde mir ins Haus gebracht." Darauf erwiderte ich, dass ein solches Papier offenbar auch von anderen Fabriken hergestellt werde und dass ich mit dererlei Dingen nichts zu tun habe. Ich verstand nicht recht: wollte er bloß durch ein Lob auf unsere Arbeit uns ein Kompliment machen oder war er damit unzufrieden, dass seine Ware zu diesem Zwecke verwendet wurde. Ich stellte mir die Frage, ob wir weiter bei dieser Firma Papier kaufen konnten. Wir verdoppelten unsere Wachsamkeit und begannen das Papier nicht direkt ins Lager, sondern zuerst nach einer provisorischen Stelle zu schaffen. Wir beobachteten nun diese Stelle und die Lastwagen sehr scharf. Da wir aber nichts Verdächtiges bemerkten, begannen wir das Papier ohne solche Vorsichtsmaßregeln zu holen.
Die Druckerei arbeitete die ganze Zeit über sehr intensiv: immer lagen zwei bis drei Flugblätter fertig da. Jedes Flugblatt wurde durchschnittlich in 35 Tausend Exemplaren hergestellt, einige sogar in einer Auflage von 40—50 Tausend Exemplaren. Die kurzen Aufrufe, die wir während der Dumawahlen und zum 1. Mai herausgaben, stellten wir in über 100000 Exemplaren her.
Am schwierigsten in einer illegalen Druckerei ist keineswegs die Arbeit dort, sondern die Beschaffung des Papiers und das Fortschaffen des gedruckten Materials. Deshalb will ich den Leser mit der Organisation der Expedition, der Verbreitung der Flugblätter usw. bekannt machen. Die Druckschriften wurden in Flechtkörben, wie sie in wirklichen Obstläden gebraucht werden, hinausgetragen und von unserem „Verkäufer" in die Bäckerei von Philippow geschafft. Philippow hatte damals in Moskau einige Bäckereien. Seine beiden jüngeren Söhne Alexander und Wassili, ebenso seine Tochter Jewdokija, sympathisierten mit der Partei und halfen uns sehr viel. Sie stellten uns ihre Brotläden für die Unterbringung der Druckschriften zur Verfügung, wussten aber selbst nicht, woher diese gebracht wurden. Sobald die Literatur in einer dieser Bäckereien angekommen war, sandte sie der mit der Verbreitung beauftragte Genosse (eine Zeitlang war es W. Philippow) in eine Privatwohnung, wo sie schon von den Kurieren aller Bezirke Moskaus erwartet wurde. So konnten die Flugblätter innerhalb 15 Minuten nach der Ablieferung in die Bezirke geschafft werden, die sie dann in den Fabriken und Betrieben Moskaus verbreiteten.
Während der Wahlen zur zweiten Duma traf das Moskauer Parteikomitee ein Abkommen mit den Sozialrevolutionären, den Volkssozialisten, dem Bauernbund und noch einigen revolutionären Organisationen jener Zeit. Man stellte für Moskau eine gemeinsame Wahlliste auf. Und nun mussten wir nicht allein das Material des Moskauer Parteikomitees drucken, sondern auch alles, was diese Organisationen gemeinsam mit dem Moskauer Parteikomitee herausgaben. Unsere Druckerei konnte die ganze Arbeit nicht bewältigen. Deshalb war ich gezwungen, in der Stadt umher zu laufen und eine Druckerei zu suchen, die unsere Wahlliteratur hätte drucken können. Mein Herumlaufen wurde von Erfolg gekrönt. Ich fand eine kleine legale Druckerei in der Ersten Breststraße, die uns einige größere Sachen herstellte. Da aber die Leute furchtbare Preise machten und das Moskauer Komitee nicht allzu viel Geld hatte, musste man andere Wege suchen. Ich machte Parteigenossen ausfindig, die in großen Druckereien als Setzer beschäftigt waren. In diesen Druckereien kombinierte ich die Arbeit in folgender Weise: in der einen wurde das Flugblatt gesetzt und das Stereotyp hergestellt, aber dann in unsere illegale Druckerei zum Druck gebracht: oder aber die Setzer einer großen legalen Druckerei fertigten verstohlen den Satz an, während die Drucker einer anderen druckten. So gelang es dem Moskauer Komitee, auch diese schwere Situation zu meistern.
Die Wahlen zur dritten Duma verliefen ziemlich flau. Die Organisation selbst war kleiner geworden, man hatte nun weniger zu drucken, und auch die Chancen waren nicht groß. Alle Kräfte konzentrierten wir auf die Wahlen in der Arbeiterkurie. Wir waren fest überzeugt, dass wir dort siegen werden und siegten auch wirklich.
Außer der Literatur, die wir für Moskau druckten, sandte uns auch die bolschewistische Zentrale in Petersburg vor den Wahlen zur zweiten Duma viel Wahlliteratur und andere Druckschriften.
Das ZK der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bestand damals in seiner Mehrheit aus Anhängern der Menschewiki. Diese traten für ein Wahlabkommen mit den Liberalen (Kadetten) ein. Die im November 1906 einberufene Reichskonferenz der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hatte sich mit 18 Stimmen der Menschewiki und Bundisten gegen 14 Stimmen der Bolschewiki, der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" und der lettischen Sozialdemokraten für die Auffassung des Zentralkomitees in dieser Frage entschieden. Die Reichskonferenz räumte aber den lokalen Organisationen das Recht ein, in jedem einzelnen Falle selbständig Entscheidungen zu treffen. Die Bolschewiki, die polnischen, litauischen und lettischen Sozialdemokraten waren für eine selbständige Führung der Wahlkampagne unserer Partei und ließen für äußerst dringende Fälle ein Abkommen mit Parteien und Organisationen zu, die für den bewaffneten Kampf gegen den Zarismus eintraten: also ein Abkommen mit den Sozialrevolutionären, dem Bauernbund usw. Da zwischen den Bolschewiki, die auf dem Vereinigungsparteitag in Stockholm in der Minderheit geblieben waren, und den Menschewiki immer noch große Meinungsverschiedenheiten bestanden über die Bedeutung der Duma, den bewaffneten Aufstand, das Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien usw., so schufen die Führer der bolschewistischen Strömung innerhalb der russischen Sozialdemokratie mit dem Genossen Lenin an der Spitze eine bolschewistische Zentrale, die eine Menge Wahlliteratur herausgab, in der der bolschewistische Standpunkt in bezug auf die Wahlen auseinandergesetzt wurde. Die bolschewistische Zentrale trat auch mit einem eigenen Wahlprogramm hervor und leitete dessen Durchführung vermittels der Organisationen, die auf dem Boden der Bolschewiki standen Das Petersburger und Moskauer Parteikomitee lehnten einen Block mit den Liberalen bei den Wahlen zur zweiten Duma ab und stellten gemeinsame Wahllisten mit den Sozialrevolutionären, dem Bauernbund und den Volkssozialisten auf.
Anfangs wurde die Literatur von Genossen aus Petersburg gebracht. Aber diese wurden fast immer von einem langen „Schwanz" von Agenten der politischen Geheimpolizei begleitet. Die Organisation des Literaturvertriebs verlor einige Mitarbeiter, da dieselben verhaftet wurden. (Genossin R. Scholomowitsch brachte eine Literatursendung, als die Polizei sie bereits aufs Korn genommen hatte; infolgedessen flog sowohl der Treffpunkt als auch W. Philippow auf.) Wir baten deshalb die Petersburger, die Drucksachen als Frachtgut in Kisten abzusenden, sie als Ware zu deklarieren und uns nur die Frachtbriefe zuzusenden. Sobald wir die Frachtbriefe bekamen, kommandierten wir zwei Genossen ab. Der eine mietete einen Lastwagen und händigte dem Kutscher den Frachtbrief aus, mit dem dieser die Ware vom Bahnhof abholen sollte. Dann gab er ihm eine fingierte Adresse an, wohin die Ware angeblich geliefert werden sollte. Der andere Genosse aber heftete sich dem Kutscher auf die Fersen und folgte ihm überall hin, wohin er mit dem Frachtbrief ging. Wenn alles in Ordnung war, so setzte der Beobachter den Genossen davon in Kenntnis, der den Lastwagen gemietet hatte. Dieser kam dann dem Fuhrmann unterwegs entgegen und gab ihm eine neue — diesmal die richtige — Adresse an. Wussten wir aber nicht genau, ob die Genossen selbst nicht bespitzelt wurden, so nahmen an einer solchen Operation drei Genossen teil. Einer mietete den Lastwagen, der andere beobachtete den Kutscher auf der Hin- und Rückfahrt und auf dem Güterbahnhof, und der dritte war der Kurier für den beobachtenden Genossen. Dieser Kurier sagte dann auch dem Genossen, der den Lastwagen gemietet hatte, Bescheid, ob er dem Fuhrmann entgegen gehen solle oder nicht. In solchen unsicheren Fällen wurden übrigens noch folgende Vorsichtsmaßregeln angewandt: selbst wenn die beiden Genossen auf dem Bahnhof nichts Verdächtiges bemerkt hatten, wurde unterwegs eine zweite fiktive Adresse angegeben und die Ware dorthin gebracht. Meistens gab man den Hof irgend eines Hauses an, in dem Bekannte wohnten. Der Kutscher wurde dann entlassen. Später, wenn alles in Ordnung zu sein schien, brachten wir die Literatur aufs Lager und stellten sie von dort aus den Bezirken zu.
Es kam vor, dass der Fuhrmann nach dem Vorzeigen des Frachtbriefes von der Bahnhofsgendarmerie festgenommen und verhört wurde. In solchen Fällen teilte der beobachtende Genosse rechtzeitig mit, dass man dem Kutscher nicht entgegengehen dürfe, und setzte selbst seine Beobachtungen fort. Mitunter ließen die Gendarmen den Kutscher mit der Ware laufen und sandten hinter ihm eine ganze Expedition von Spitzeln und Gendarmen her. Aber infolge der fiktiven Adressen, die die Fuhrleute bekamen, war die ganze Mühe der Herrschaften vergebens. Es sind mehrere Male Literatursendungen aufgeflogen, aber niemand ist dabei verhaftet worden.
Ich habe hier die Organisation der Verbindungen unserer illegalen Druckerei mit der „Außenwelt" und die Methoden der Verbreitung unserer Literatur deshalb so ausführlich, vielleicht sogar allzu ausführlich für den russischen Leser geschildert, weil viele kommunistische Parteien des Auslands zum ersten Male unter illegalen Verhältnissen zu arbeiten gezwungen sind, und die Erfahrungen, die unsere Partei während des Zarismus gesammelt hat, auch für unsere Genossen in anderen Ländern von sehr großem Nutzen sein können.
Da ich ausschließlich mit der konspirativen Arbeit zu tun hatte, so nahm ich an der täglichen Arbeit der Zellen und Verwaltungsbezirke der Moskauer Organisation nicht teil. Ich stand nur in Verbindung mit einem engen Kreis von führenden Moskauer Genossen und mit dem Sekretär des Moskauer Parteikomitees. Nur ein einziges Mal beteiligte ich mich an einer Moskauer Parteikonferenz, die Ende 1906 in der Technischen Hochschule stattfand und auf der Genosse Miron (Chintschuk) im Namen des ZK der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (damals in seiner Mehrheit menschewistisch) einen Bericht erstattete. Die Konferenzteilnehmer waren durchweg Bolschewiki. Nur der Bezirk Presnja hatte einige Menschewiki delegiert. Die Debatte trug einen leidenschaftlichen Charakter, war aber zwecklos, da eigentlich gar kein Gegner da war. Die ganze Konferenz, mit Ausnahme einiger Stimmen, war gegen das menschewistische ZK.
Mit dem Sekretär des Moskauer Komitees, dem Genossen Karpow, und später mit dem Genossen Mark (Ljubimow) traf ich mich täglich an vereinbarten Orten. Erschien ich aus irgend einem Grunde nicht an den Treffpunkten des Parteikomitees, so konnte mich der Sekretär des MK im Notfalle an den Stellen finden, wo ich täglich zu einer bestimmten Zeit zu sprechen war. Sehr oft geschah es, dass das Moskauer Parteikomitee beschloss: diese oder jene Flugblätter und Aufrufe sollen herausgebracht werden. Ich aber hatte dann diese Beschlüsse zu realisieren, und zwar nicht nur in drucktechnischer Hinsicht: ich musste mir auch den Text der Flugblätter beschaffen. Auf diese Weise lernte ich den Genossen M. N. Pokrowski kennen. In seiner Wohnung begegnete ich zum ersten Male dem Genossen L. B. Kamenew, ferner dem Dr. Kanel, hier traf ich auch Silvin („Landstreicher"), den ich seit meiner Flucht aus dem Kiewer Gefängnis nicht mehr gesehen hatte. Diese und noch einige Genossen (Luny, J. Stenanow und andere) arbeiteten in der Schriftsteller- und Lektorengruppe der Moskauer Organisation; zahlreiche Flugblätter, die damals gedruckt wurden, stammen aus ihrer Feder. Da die Moskauer Organisation keine legale Zeitung besaß, so wurden Flugblätter über alle wichtigen Fragen der Wirtschaft und Politik der damaligen Zeit herausgegeben.
Anfang 1907 hatte Genosse Schklowski im Einverständnis mit dem Moskauer Parteikomitee bzw. in dessen Auftrage begonnen, eine Wochenschrift „Istina" (Wahrheit) herauszugeben. An dieser Wochenschrift arbeiteten die Genossen aus der Schriftsteller- und Lektorengruppe des MK. mit: Genosse Pokrowski und andere. Als die vierte Nummer der Zeitschrift herauskam, wurde sie verboten.
Ebenso rasch verboten wurde die Wochenschrift, die anstelle der „Istina" unter anderem Namen herausgegeben wurde. Der Redakteur wurde zur Verbannung verurteilt. Soweit ich mich erinnere, unternahm man damals keine weiteren Versuche, um eine legale Zeitschrift herauszugeben.
Zu tun gab es sehr viel, aber die äußeren Bedingungen waren sehr ungünstig für mich. Ich war ohne Pass nach Moskau gekommen und konnte 7 Monate lang keinen passenden Pass auftreiben. Meine Freunde mieteten Wohnungen, die sie jedoch allmonatlich wechseln mussten, damit ich bei ihnen unangemeldet leben konnte. Die Polizei erfuhr aber sehr rasch davon, obwohl wir immer Wohnungen entweder in großen Häusern oder in Häusern mit einem Eingang von der Straße aus und ohne Portier mieteten. In ganz kurzer Zeit mussten wir viermal umziehen. Das zwang mich, drei- bis viermal in der Woche, an zufälligen Orten zu übernachten, wobei die Suche nach solchen geeigneten Schlafstellen recht viel Zeit und Kräfte in Anspruch nahm. Einige dieser Schlafstellen musste ich mitunter um 8—9 Uhr abends aufsuchen und durfte bis zum frühen Morgen das Haus nicht verlassen. Infolgedessen war es schlecht möglich, Bücher oder Dokumente mit sich zu schleppen; es ging mir deshalb sehr viel Zeit unnötig verloren.
Ich hatte einen kleinen Apparat aus Studenten und Studentinnen der Universität, des Instituts für Ingenieure des Verkehrswesens und der Technischen Hochschule organisiert, der natürlich unentgeltlich arbeitete. Man beschaffte mir Wohnungen, die als Treffpunkte geeignet waren, ferner Wohnungen für die Ablieferung und Verteilung von Druckschriften und zum Übernachten. Mit dieser Jugend konnte man durchs Feuer gehen.
Außer der Druckerei und dem oben beschriebenen Apparat zur Entgegennahme und Verbreitung von Literatur war mir noch das Passbüro- unterstellt, das von Genossen A. Karnejew (Deckname „Pachomow") geleitet wurde. Dieses Büro funktionierte nicht schlecht. Es unterhielt Beziehungen zu Petersburg und Rostow am Don und tauschte mit den Organisationen dieser Städte Kopien von Dokumenten aus. Obwohl unser Büro ziemlich gut arbeitete, konnte ich nur mit Mühe ein passendes Dokument für mich beschaffen. Das lag daran, dass ich meinem Äußeren nach einen Pass als Armenier oder Georgier hätte haben müssen; ein solcher Pass aber war in Moskau nicht aufzutreiben. Mit einem falschen Pass konnte man sich nicht anmelden, weil die Ochrana die Pässe der nach Moskau Zugereisten genau prüfte.
Mitte November 1906 stellte sich heraus, dass jemand (es war Genosse Sandro oder Genosse Sturua) krankheitshalber oder aus irgendeinem anderen Grunde nicht mehr in der Druckerei weiter arbeiten konnte. Ich begann mich nach einem Ersatzmann umzusehen, konnte aber in Moskau keinen passenden Arbeiter finden; deshalb begab ich mich auf den Vorschlag des Moskauer Komitees nach Petersburg, um einen guten Setzer zu suchen. In Petersburg suchte ich den Treffpunkt des Petersburger Parteikomitees oder der bolschewistischen Zentrale auf, der bei der Zahnärztin Dora Dwoires war. Von dort schickte man mich nach der Speisehalle des Technologischen Instituts, die sich auf dem Sagorodny-Prospekt befand. Hier traf ich Genossin N. K. Krupskaja und viele andere Parteigenossen. Man machte mich mit dem Genossen bekannt, der die gesamten technischen Angelegenheiten der bolschewistischen Zentrale unter sich hatte. Dieser Genosse erklärte mir, dass er einen zuverlässigen Genossen, einen guten, erfahrenen Setzer, habe, dass er ihn aber selbst dringend brauche, da die Absicht bestand, eine Reservedruckerei zu schaffen. Mit vieler Mühe gelang es mir, ihn dazu zu bringen, dass er mir den Setzer überlasse. Und da ich fürchtete, dass der Mann, durch einen Beschluss des Petersburger Parteikomitees oder irgendeines anderen Parteiorgans mir wieder genommen werden konnte, so schickte ich ihn schon am nächsten Tage, nachdem er mir bestätigt hatte, dass er wirklich ein erfahrener Setzer sei (für unsere Maschine musste schnell gesetzt werden, da sonst Zeit verloren ging mit dem Warten auf den Satz nach Moskau zu meinen Bekannten, denn ich hatte Angst, ihm meine Treffpunkte oder die des MK anzugeben, weil die Möglichkeit bestand, dass er zufällig auffliegen konnte. Ich selbst aber blieb noch einen Tag in Petersburg. Als ich nach Moskau zurückkehrte, erfuhr ich, dass der Petersburger Setzer gefordert hatte, nach meiner Wohnung gebracht zu werden, und dass er behauptet hatte, dass wir uns dort laut Verabredung treffen sollten. Da ich keine ständige Wohnung hatte, führte man ihn zu einer Stelle, wo ich sehr oft übernachtete. Diese Geschichte gefiel mir natürlich nicht, aber ich beruhigte mich dann wieder, denn der Setzer war mir von einem sehr verantwortlichen Genossen als zuverlässiger Mensch empfohlen worden. Als ich ihn in die Druckerei brachte, stellte sich heraus, dass er als Setzer gar nichts taugte. Gleich nachdem er mit der Arbeit begonnen hatte, fing er an, sehr hohe Lohnforderungen zu stellen, die das Moskauer Parteikomitee aus Mangel an Geldmitteln nicht imstande war, zu bewilligen. Und schließlich begann er auch unter Umgehung des „Inhabers" der Druckerei direkt zu meinen Bekannten zu laufen, um mich dort zu erwischen.
Jetzt wurde mir klar, dass Petersburg uns das zugeschoben hatte, was es selbst nicht hatte brauchen können. Aber es war nichts mehr zu machen. Nachdem der Mann einmal in die Druckerei aufgenommen war, konnte man ihn nicht mehr entfernen. — Ich habe hier meinen Misserfolg in Petersburg so ausführlich geschildert, weil seit dem Auffliegen der Druckerei (im Moment des Eindringens der Polizei wurde gerade nicht gearbeitet) dieser Bursche verschwunden war und nichts mehr von sich hören ließ; weder aus einem Gefängnis noch von sonst woher. Selbst aus den Gerichtsakten über den Prozess dieser Druckerei ist nicht zu ersehen, dass er verhaftet worden sei. — Noch vor dem Fortgang des Genossen Sandro, Ende 1906, hatte der „Verkäufer" Wulpe uns verlassen. Ihn ersetzten wir durch einen guten und tüchtigen Genossen aus der Moskauer Organisation, der dann in der Druckerei verhaftet wurde. Mitte April 1907 kam einmal Genosse Arschak in Begleitung eines anderen georgischen Genossen, des Genossen Gabelow, zu mir und schlug vor, diesen an seine Stelle zu setzen. Nachdem wir sorgfältig alle nötigen Auskünfte eingeholt hatten, erklärten der Sekretär des Moskauer Komitees und ich, dass wir bereit seien, den Genossen Arschak von seinem Posten zu befreien, um so mehr, als es durchaus nicht schwer war, den Laden an einen anderen „Händler" zu „verkaufen".
Der Januar und Februar vergingen im Zeichen der Vorbereitungen zum Londoner Parteitag. In allen Bezirken und Zellen diskutierte man über die Fragen, die auf der Tagesordnung des Parteitages standen. Auf Grund eines Beschlusses des ZK oder des Moskauer Komitees mussten in allen Versammlungen Referenten sowohl der Bolschewiki als auch der Menschewiki auftreten und die grundlegenden Resolutionen beider Richtungen erklären. Auch ich versammelte nach einer guten Vorbereitung in konspirativer Hinsicht die Funktionäre des Technischen Apparates der Moskauer Organisation. In dieser Versammlung trat als Referent der Menschewik Jegorow Lyssy auf, den ich in den Jahren 1903/04 als leidenschaftlichen Bolschewik gekannt hatte. Dieser Gesinnungswechsel überraschte mich außerordentlich.
Alle diese Versammlungen entsandten ihre Vertreter zur Moskauer Parteikonferenz, die die Delegierten Moskaus zum Parteitag zu wählen hatte. Wenn ich mich nicht irre, wurden damals folgende Genossen zum Parteitag delegiert: Pokrowski, Kamenow, Viktor, Innokentin und Nogin; durchweg Bolschewiki.
Im April 1907 begann das Moskauer Parteikomitee und die ganze Moskauer Organisation sich zur Feier des 1. Mai vorzubereiten. Das Moskauer Parteikomitee gab die Parole „Generalstreik!" aus. Ein Flugblatt über die Bedeutung des 1. Mai wurde in großer Auflage herausgegeben, außerdem ein kleines Plakat mit der Aufforderung, am 1. Mai die Arbeit niederzulegen. Weil gerade irgendein Feiertag war, wurden die Flugblätter und die Plakate zweimal verbreitet: vor und nach dem Feiertag, gerade an dem Tage der Besetzung der Druckerei.
Ende März erhielt ich endlich von irgendeinem Studenten der Petersburger Universität einen armenischen Pass. Infolgedessen wechselten meine Freunde W. P. Wolgin, Britschkin und Halperin (zwei von ihnen wohnten legal in der 3. Twerskaja-Jamskaja) ihre Wohnung, damit ich mich ihrer Kommune anschließen könnte. Sie mieteten sich eine Wohnung in einem riesigen Hause in der Wladimir-Dolgorukow-Straße, und ich zog zu ihnen als eben aus Petersburg eingetroffener Mieter. So lebte ich fast einen Monat lang „menschlich", hatte mein eigenes Zimmer und brauchte keine Schlafstelle zu suchen.
Am 27. April 1907 war ich abends wie gewöhnlich an meinem Treffpunkt. Alles war in Ordnung, nur der Leiter des Literaturvertriebs, Genosse Koroljow, hatte sich aus irgend einem Grunde verspätet. Ich wartete — er aber kam nicht. Ich schickte jemand, der telefonisch bei seinen Verwandten nachfragen sollte. Aber auch dort war er nicht. Das gefiel mir nicht. Offenbar war irgend etwas geschehen. Aber was? Wir wussten sehr wohl, dass vor dem 1. Mai die Gendarmen blindlings drauflos verhafteten, aber dazu war es doch noch zu früh, denn wir zählten doch erst den 27. April. Schließlich ging ich nach Hause. Ich war überzeugt, dass dem Genossen Koroljow etwas zugestoßen war. Zu Hause hatte ich nie illegale Dinge bei mir, trotzdem schärfte ich vor dem Schlafengehen noch meinen Wohnungsgenossen ein, dass sie nachts niemandem öffnen sollten, ohne mich vorher zu wecken. Um Mitternacht vernahmen wir ein starkes Klopfen an der Hintertür. Ich stand auf, vernichtete einige chiffrierte Adressen und wollte die Tür aufmachen. Auf meine Frage: „Wer ist dort?" erhielt ich die Antwort: „Ein Briefträger mit einem eiligen Telegramm". Ich begriff sofort, dass wir ungebetenen Besuch bekommen hatten. Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, da stürzten schon Spitzel, Revieraufseher und Polizisten mit einem Polizeikommissar an der Spitze ins Zimmer. Die ganze Wohnung war auf einmal voll von ihnen. Vor allen Dingen wollten sie wissen, wo hier W. P. Wolgin und Zelikowa wohnten. Ich sagte ihnen, welche Zimmer sie bewohnten, dann legte ich mich wieder aufs Bett und wartete der Dinge, die nun kommen sollten. Schließlich hörte ich ein Klopfen an meine Tür, und die ganze Meute stürzte in mein Zimmer. Da fiel mir auf einmal auf, dass auf meinem Tisch ein Buch lag — die Protokolle der Konferenz der Kampf- und Militärorganisation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Ich war überrascht. Dieses Büchlein hatte ich natürlich nicht in meinem Zimmer gehabt. Wo war es denn auf einmal hergekommen? Da wandte sich der Spitzel an den Revierinspektor und sagte: „Nehmen Sie dieses Büchlein". Nachdem dieser einen Blick auf die Broschüre geworfen hatte, erwiderte er: „Sie sehen ja, dass dieses Büchlein in allen Buchhandlungen zu haben ist und dass es auch die Adresse der Druckerei trägt." Dann entfernten sie sich. Ich nahm das Buch und legte es zu den anderen Büchern. Einige Minuten später waren die Herrschaften wieder in meinem Zimmer. Der Spitzel nahm von neuem das Büchlein in die Hand, offenbar um es dem Polizeikommissar zu zeigen. Aber der Revieraufseher erklärte ihm in einem sehr unzufriedenen Tone, dass er alles mögliche zusammenschleppe, auch wenn es niemand brauche. Da der Spitzel sich jedoch nicht beruhigen wollte, gingen die beiden schließlich doch zum Polizeikommissar, und dieser entschied die Sache zugunsten des Revieraufsehers. Gegen Morgen wurde ich zum Polizeikommissar gerufen. Er fragte mich nach meinem Namen, was ich treibe und wie lange ich mich hier aufhalte. Meine Antworten fielen offenbar zu seiner Zufriedenheit aus, denn er entschuldigte sich wegen der Störung, Ich ging wieder auf mein Zimmer und wartete auf den Abschluss der Geschichte. Schließlich war die Haussuchung zu Ende, und die Polizei entfernte sich. Nun ging ich hinaus, um nachzusehen, wer festgenommen worden war. Es stellte sich heraus, dass die Herrschaften zwei legale Genossen verhaftet und die drei illegalen ungeschoren gelassen hatten. Als wir dieses Ergebnis feststellten, mussten wir alle laut auflachen. Warum hatten sie ausgerechnet zwei Genossen verhaftet, die gar nicht in der Partei gearbeitet hatten? Wolgin war Sozialdemokrat, hatte aber in der Partei keine Funktion, während die Zelikowa nicht einmal Mitglied der Partei war. Diese Verhaftung war für uns damals ein Rätsel.
Morgens kam zu mir der Genosse Arschak, der zwar wusste, wo ich wohnte, mich aber bis dahin nie besucht hatte. Natürlich war ich über seinen Besuch, dazu noch gerade nach einer Haussuchung, sehr überrascht. Von ihm erfuhr ich, dass die Druckerei von der Polizei besetzt worden war. Wir vereinbarten eine Zusammenkunft für den Nachmittag, und ich entfernte mich, um den Umfang der Geschichte festzustellen. Ich brachte in Erfahrung, dass, gleich nachdem der Rest der Maiflugblätter zur Verteilung in den Bezirken abgeliefert worden war, die Polizei uns überrumpelt hatte. Nur einige Bezirke hatten durch ihre Vertreter noch rechtzeitig das für sie bestimmte Material bekommen können; bei den Vertretern der anderen Bezirke aber, die der Polizei in die Hände fielen, fand man Adressen, und bei den Haussuchungen in ihren Wohnungen fielen der Polizei ebenfalls Adressen in die Hände. Man nahm zahlreiche Verhaftungen unter den Parteigenossen vor, aber die grundlegenden Organisationen — die Zellen, Bezirksleitungen und das Moskauer Parteikomitee — wurden davon nicht betroffen. Am Morgen des 28. April hatte sich der frühere „Inhaber" des Ladens, der Genosse Arschak, ins Geschäft begeben, wo er dem neuen Leiter der Druckerei die Geschäfte übergeben wollte. Als er an die Tür trat, war er erstaunt, dass sie geschlossen war Neben der Tür befand sich ein großes Fenster. Als er durch das Fenster einen Blick in den Laden hineinwarf, sah er, dass dort Polizei herumwirtschaftete. Er eilte davon, um vor allen Dingen die in der Druckerei tätigen Genossen zu warnen. Ich erinnere mich ganz genau, dass in dem Keller, in dem sich unsere Druckerei befand, an jenem Tage nicht gearbeitet wurde, denn die Maiflugblätter waren bereits fertig. Da die Herstellung dieser Flugblätter sehr viel Arbeit gemacht hatte, so wurde beschlossen, bis zum 2. Mai nicht zu arbeiten. Der Genosse Arschak hatte wirklich Glück gehabt: er war in die Nähe des Ladens gekommen, wo ihn alle Hausknechte, Polizisten und Nachbarn kannten, ohne bemerkt worden zu sein. Dann war er gleich nach einer Haussuchung zu mir gekommen und auch hier nicht in die Fänge der Polizei geraten. Soweit ich mich erinnern kann, hatte man im Laden selbst nur den „Verkäufer" verhaftet (die Druckerei hatte man wahrscheinlich seit längerer Zeit bespitzelt), der neue „Inhaber" aber wurde auf der Straße festgenommen, als er nach der Rückkehr des „Verkäufers" den Laden verlassen wollte. Mich interessierte damals die Frage, wie es kam, dass die Druckerei aufgeflogen war. Ohne Verrat schien mir die Entdeckung der Druckerei (die in konspirativer Hinsicht sehr gut arbeitete) durch die Ochrana unmöglich zu sein. Auch kam mir das Ergebnis der Haussuchung in meiner Wohnung recht sonderbar vor. Wie wir später feststellten, war die Polizei zuerst in unserer alten Wohnung in der 3. Twerskaja-Jamskaja erschienen. Diese Wohnung war dem Setzer aus Petersburg bekannt. Beim Portier erfuhr die Polizei, wohin Wolgin, der als Mieter galt, umgezogen war. Deshalb fragte auch die Polizei sofort nach den Zimmern, die Wolgin und Zelikowa bewohnten. Nur diese beiden waren im Mieterverzeichnis als von der 2 Twerskaja-Jamskaja Eingezogene eingetragen. Halperin, der zwar sein Zimmer nicht aufgegeben hatte, war fortgereist, um sich zu legalisieren. Ich und noch zwei Genossinnen hatten die Pässe gewechselt. Daraus zogen wir nun die Schlussfolgerung, dass die Polizei gar nicht wusste, wen sie suchte und dass ihr höchstens bekannt war, dass diese Wohnung in irgendeiner Beziehung zur Druckerei stand. Ich war überzeugt, dass der Setzer aus Petersburg die Druckerei verraten hatte. Wir schrieben darüber nach Petersburg, aber es gelang uns nicht das genau nachzuweisen. Und auch jetzt, nachdem ich einige Gerichtsakten in Sachen der Druckerei geprüft habe, ist es mir unmöglich, festzustellen, auf welche Weise sie eigentlich aufgeflogen ist. An einer Stelle der Akten heißt es wörtlich; „Durch die vereinigten Anstrengungen der Geheimagenten und der Beamten des äußeren Beobachtungsdienstes ist die Druckerei entdeckt worden." Ich muss hinzufügen, dass im November 1906 Genosse Halperin den Lockspitzel Schitomirski zu sich gebracht hatte, mit dem alle, die in der Wohnung Zimmer hatten, gut bekannt waren. Ich glaube jedoch, dass Schitomirski, wenn er uns verraten hätte, eine genaue Beschreibung eines jeden von uns gegeben haben würde — das war so seine Art —, und die Polizei würde dann nicht nach bestimmten Namen, sondern nach Trägern bestimmter Physiognomien gefahndet haben. Außerdem wären wir in diesem Falle schon viel eher verhaftet worden, man hätte uns längst zu beobachten begonnen und wäre nicht gerade am Tage des Auffliegens der Druckerei in die alte Wohnung gekommen.
Die Druckerei hatte vom September 1906 bis zum April 1907, also 8 Monate existiert. Sie hatte 45 verschiedene Druckschriften herausgegeben. Die Flugblätter waren jeweilig in einer Auflage von 5—40 000 hergestellt worden. Die kleinen roten Plakate, die wir während der Wahlen zur zweiten Duma und zum 1. Mai herausgaben, erschienen in Hunderttausenden von Exemplaren. In dem Verzeichnis der Druckerzeugnisse (43 Titel), das im Prozess eine Rolle spielte, waren nicht enthalten: die auf rotem Papier gedruckten kleinen Plakate für den 1. Mai (erschienen in einer Auflage von mehr als 350 000 Exemplaren; wir hatten den Auftrag gehabt, eine halbe Million Exemplare herzustellen, aber die Druckerei hatte keine Zeit mehr dazu gehabt oder das Papier hatte nicht ausgereicht) und eine Broschüre: „Wer verteidigt wirklich die Werktätigen?". In der Druckerei war in der Tat ein Verzeichnis angelegt worden, in das man sowohl die Titel als auch die Auflage der gedruckten Proklamationen und periodischen Schriften eintrug, aber zum Eintragen dieser Broschüre und des Maiplakates war man der Verhaftung wegen anscheinend nicht mehr gekommen. Wenn man nun von der Broschüre und dem Plakat absieht, so verteilen sich die 43 Titel wie folgt: über politische und wirtschaftliche Fragen hatte man für die Arbeiterschaft allein sieben Flugblätter in einer Auflage von 174000 Exemplaren hergestellt, an das ganze Volk, an die Genossen und an die Bürger Russlands waren 21 Drucksachen (705 500 Exemplare) gerichtet, die hauptsächlich die politischen Forderungen und die Stellungnahme der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu verschiedenen Fragen auseinandersetzten; für die Bauern hatte man vier Flugblätter gedruckt in einer Auflage von 140 000 Exemplaren und das Agrarprogramm unserer Partei in einer Auflage von 20 000 Exemplaren; für die Soldaten zwei Flugblätter in einer Gesamtauflage von 10 000 Exemplaren, für die Eisenbahner: ein Flugblatt (10 000 Exemplare) zwei Nummern der Zeitschrift „Golos Schelesnodoroschnika" („Stimme des Eisenbahners") und ein Flugblatt des Eisenbahnerverbandes — zusammen also Drucksachen in einer Auflage von 25 000 Exemplaren. Außerdem brachten wir ein Flugblatt heraus, das für die breite Öffentlichkeit bestimmt war (eine Aufforderung zur Unterstützung der Verhafteten), und zwar in 6000 Exemplaren, ferner vier Druckschriften, darunter Berichte des Moskauer Parteikomitees für die Monate November-Dezember den Entwurf einer Resolution zum 5. Parteitag und den Entwurf einer Adresse an die Duma-Fraktion, zusammen in 14 000 Exemplaren. Im ganzen hatte also diese Druckerei in der erwähnten Zeit fast anderthalb Millionen Exemplare verschiedener Drucksachen hergestellt.
Nach dem Auffliegen der Druckerei begann die Polizei, die Mitglieder des Moskauer Parteikomitees nacheinander zu verhaften. Anfangs Mai wurde Genosse Karpow, der Sekretär des Moskauer Komitees, festgenommen. Auch im Studentenheim der technischen Hochschule, wo man Treffpunkte hatte und wo das Moskauer Parteikomitee seine Sitzungen abzuhalten pflegte, begann die Polizei sehr oft aufzutauchen. Nur dem Umstand, dass dort viele Parteimitglieder wohnten (Philippowitsch, Bogdanow und andere), war es zu verdanken, dass es dort nicht zu größeren Überrumpelungen kam, denn wir wurden noch vor dem Erscheinen der Polizei gewarnt. Wurde die Polizei erwartet, dann zerstreuten sich die zur Versammlung gekommenen Genossen in einzelne Zimmer. Ich muss hier bemerken, dass die Polizei Angst hatte, im Studentenheim eine Razzia zu veranstalten oder Fallen zu stellen. Die Studenten hätten in diesem Falle doch die Kommenden gewarnt, und bei einer eventuellen Razzia fürchtete die Polizei, mit Bomben empfangen zu werden. Die Ochrana war wahrscheinlich darüber unterrichtet, dass in den Werkstätten der Schule Zündvorrichtungen für Bomben fabriziert wurden. Obwohl im Studentenheim noch nichts aufgeflogen war, mussten wir es doch verlassen, denn die Spitzel hielten ständig vor den Toren der Schule und des Studentenheims Wache.
Das Moskauer Komitee konnte natürlich nicht ohne Druckerei auskommen. Die Reaktion wurde immer stärker. Keine einzige legale Druckerei wollte für uns etwas drucken, auch wenn wir noch so viel bezahlen wollten. Nebenbei bemerkt, waren auch die Geldmittel des Moskauer Komitees recht kärglich. Ich mühte mich um den Aufbau einer neuen Druckerei ab. Natürlich war an die Anschaffung einer amerikanischen Maschine nicht mehr zu denken. Der Genosse Kitschin, der mit mir zusammenarbeitete, schlug eine neue Konstruktion eines Rahmens vor, bei der die Rolle wie ein Rad auf dem Gleise geräuschlos hin und her glitt. Diesen Rahmen bestellte man nach Zeichnungen in der Schlosserei von Sotow. Im Sommer 1907 mieteten wir in Sokolniki eines der kleinen Familienhäuser, die dort sehr viel anzutreffen sind. In solchen Häuschen wohnten meistenteils Arbeiter. Dort siedelten sich nun einige Mann an, die in der Tat bei der Straßenbahn angestellt waren (diese wohnten abgesondert von den Räumen der Druckerei), und zwei Genossen: Viktor Lopatin und der sehr tüchtige Setzer Rajkin, der aus der Verbannung nach Amerika floh, wo er auch heute noch lebt. Er und seine Frau B. A. Feiger (sie ist jetzt in Moskau auf dem Gebiete der Klubarbeit tätig und ist Mitglied der KP d. SU) hatten die ganze Zeit in illegalen Druckereien gearbeitet und waren ganz zufällig nach dem Auffliegen unseres technischen Apparates aus Tula nach Moskau gekommen. Für die Herbeischaffung des Papiers aus der Stadt und für die Expedition der fertigen Flugblätter nach der Stadt mietete man nicht weit von der Druckerei eine Wohnung als Zwischenstation, in die Genossin Feiger einzog. Das Papier wurde von einigen Arbeitern in die Druckerei gebracht, die auch die fertigen Flugblätter wegschafften; sie taten das, wenn sie zur Arbeit gingen und auf dem Heimwege waren. Der technische Apparat kam wieder in Gang, obwohl man zu diesem Zweck sich mit fast allen Parteimitgliedern in Verbindung setzen musste, die in Druckereien arbeiteten, denn wir brauchten drucktechnisches Material in großen Mengen. Im übrigen aber war alles so organisiert, wie ich es bereits beschrieben habe.
Sofort nach der Haussuchung am 28. April 1907 verließen wir die Wohnung; wir sandten eine Verwandte des Genossen Wolgin zu dem Hausverwalter, die ihm erklärte, dass sie die Wohnung aufgebe und die Möbel mitnehme. Dann bezogen wir drei zusammen eine „Sommerwohnung" in Losino-Ostrowskoje, das an der Nordbahn liegt. Wir hatten sehr eilig die erste beste Wohnung gemietet. Der Mai war sehr kalt, und in dieser Sommerwohnung froren wir mehr als im Winter. Trotzdem gelang es uns, den Sommer dort zu verbringen. Im Herbst bekam ich eine sehr gute Kopie eines Passes auf den Namen Pimen Michajlowitsch Sanadiradse und konnte dank diesem Dokument mit Freunden eine eigene Wohnung in der Kosichinskaja-Gasse beziehen. Diesen Pass benutzte ich bis zum Juni 1914, wo ich gründlich ins Garn geriet. Aber darüber später. Die Adresse der neuen Wohnung teilte ich keinem Menschen mit. Aber meine Lage in Moskau wurde sehr brenzlich. Nachdem Halperin nach Moskau zurückgekehrt war, wurde er, obwohl er sich ordnungsgemäß bei der Polizei anmeldete, sofort verhaftet. Man konfrontierte ihn mit dem Portier des Hauses, in dem man die große Druckerei des Moskauer Parteikomitees ausgehoben hatte, und sagte ihm bei den Verhören auf den Kopf zu, dass ich den gesamten technischen Apparat in Moskau leite und auch die Druckerei geleitet hätte, die von der Polizei aufgehoben worden war. Halperin schrieb aus dem Gefängnis, ich solle sofort verschwinden. Einmal, als ich die Dolgorukow-Straße entlang ging, merkte ich, dass ich verfolgt wurde. Ich beschleunigte meine Schritte, und es gelang mir, in die Straßenbahn zu springen, die nach dem Sucharew-Platz ging. Der Spitzel sprang in denselben Wagen. Der Schaffner steckte ihm einen Fahrschein zu, aber er nahm ihn nicht. Mit einemmal zog er aus der Tasche eine Photographie. Ich sah hin: es war ein Bild von Halperin. Offenbar hatte die Polizei damals noch keine Photographie von mir. Ich sprang aus dem Straßenbahnwagen und bog in die Lichow-Gasse ein. Der Spitzel folgte mir. Aber ich kannte Moskau besser und war flinker auf den Beinen als der Spitzel. Deshalb wurde ich ihn schließlich doch los. Im Herbst 1907 wurde die Genossin Feiger verhaftet; man fand bei ihr nur Druckpapier, nichts weiter. Immerhin war es jetzt riskant, die Druckerei an diesem Ort zu belassen. Wir beschlossen, alles nach dem Bezirk Samoskworetschje zu schaffen. Wir mieteten eine Wohnung im letzten Stock eines noch nicht ganz fertigen, großen Hauses. Zwei Genossen mit legalen Pässen zogen dort ein, und zwar Genosse Lopatin und die Genossin Lydia Aismann, außerdem der Setzer Rajkin, der nicht angemeldet wurde. Die Genossin Aismann (Anm.: Aus der Verbannung in Sibirien, zu der sie wegen Beteiligung an der Druckerei verurteilt worden war, floh sie nach Paris Als dort Lafargue und seine Frau Selbstmord verübten, machte auch sie ihrem Leben ein Ende.) nahm die Verbindung mit mir und mit der Außenwelt auf, während die beiden anderen Genossen in der Druckerei arbeiteten. Die Flugblätter erschienen jetzt seltener und in geringeren Auflagen, dafür aber gaben wir regelmäßig die Zeitschrift der militärischen Organisation des Moskauer Komitees heraus und, soweit ich mich erinnern kann, auch die Zeitschrift der Moskauer Gebietsleitung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
Ende 1907 begegnete ich auf dem Treffpunkt des Sekretärs des Moskauer Komitees, dem Mitglied des MK, Genossen Leonid Bjelski, der soeben aus dem Gefängnis entlassen worden war. Dieser erklärte mir dass man ihm bei der Polizei alle meine Decknamen und meinen wirklichen Namen genannt hatte und dass er überzeugt sei, dass man mich schon in den nächsten Tagen auf der Straße verhaften werde. Zum Beweis nannte er mir meinen wirklichen und alle meine Decknamen. Ich war überrascht. In Moskau wussten nur zwei oder drei Genossen meinen wirklichen Familiennamen, ja ich selbst hatte sogar meinen Namen beinahe vergessen, denn seit dem Jahre 1902 hatte mich niemand mehr bei diesem Namen genannt (Anm.: Leonid wurde später verdächtigt, dass er Beziehungen zu der Ochrana gehabt habe 1921 erschien er als Delegierter einer amerikanischen kommunistischen Gruppe zum 2 Kongress der Komintern und wurde von der Zentralen Kontrollkommission der KP d. SU zur Rechenschaft gezogen. Kr erklärte, dass er tatsächlich Beziehungen zu der Ochrana gehabt habe, dass er aber niemand verraten und im Gegenteil alles, was nur möglich war, in Erfahrung gebracht und die Genossen gewarnt hätte. Beweise dafür, dass er jemand verraten hätte, fehlten auch der ZKK. Er wurde aus Russland ausgewiesen.).
Die Verhaftungen hörten nicht auf, sondern nahmen immer mehr zu. Man nahm die Funktionäre in ganzen Gruppen fest, was für die Moskauer Organisation immer fühlbarer wurde. Die Bespitzelung des Literaturvertriebsapparates wurde geradezu unerträglich, und wiederholt sah ich mich gezwungen, Treffpunkte aufzugeben, da ich vor den Wohnungen Spitzel bemerkte. Hin und wieder fing die Polizei einzelne Genossen aus meinem Apparat. Einmal wurde ich, als ich einen Treffpunkt verließ, in einer Gasse der Sretjenkagegend von Spitzeln umzingelt. Die Straßenbahn sauste gerade die Sretjenka entlang und an mir vorbei. Ich sprang in voller Fahrt in den Wagen und zwang so die Verfolger, die Straße entlang zu laufen. Ich stieg schon an der ersten Haltestelle aus und war bereits ohne Anhang. Anfang Januar 1908 wurde der Sekretär des MK., Genosse Mark, verhaftet. Das alles zwang mich, eine Unmenge Zeit auf allerlei Vorsichtsmaßregeln zu verwenden, sobald ich jemand sehen wollte. Mit den Genossen aus dem technischen Apparat traf ich mich nur noch auf den Straßen Moskaus und nur nachts. Ich war von einem geradezu krankhaften Argwohn besessen, so dass ich überhaupt in jedem Menschen einen Spitzel sah. Ich betrat meine Wohnung nicht wenn in der Gasse jemand hinter mir gestanden oder mitgegangen war. Schließlich kam ich mit meinen Nerven so herunter dass ich einmal nachts, als ich auf der Treppe mehrere Stimmen und Lärm vernahm, aus dem Bett sprang allerlei Aufzeichnungen vernichtete und auf eine Haussuchung wartete. Ich musste sehr lange warten. Schließlich wurde ich des Wartens überdrüssig, machte selbst die Tür auf und trat auf die Treppe hinaus. Dort fand ich nichts weiter als eine bezechte Gesellschaft vor, die darauf wartete, dass der Portier die Haustür aufmache.
Zum Sekretär des Moskauer Komitees wurde Genosse Andrej (Kulisch) bestimmt, der aus Petersburg gekommen war. Ich erklärte ihm in einem Gespräch, dass meine Abreise aus Moskau zu einer Notwendigkeit geworden sei weil man mich sonst ganz bestimmt, wenn nicht heute, so morgen verhaften würde. Er war anderer Meinung. Also musste ich die Arbeit weiter fortsetzen. Einmal, im Februar, näherte ich mich dem Hause in der Boschedomka, wo wir einen Treffpunkt hatten. Das Haus wurde offenbar bespitzelt. Ich trat ein und sorgte dafür, dass alle Wartenden sich entfernten. Unter diesen war Genosse Sefir (Moissejew), der mich im Auftrage des ZK der Partei aufgesucht hatte. Ich gab ihm in der Eile eine andere Adresse, wo er mich noch am selben Abend sprechen konnte, wollte aber in dem bespitzelten Hause mit ihm nicht reden. Als wir das Haus verließen, wurde fast jeder von uns von Spitzeln verfolgt. Ich hatte bis spät in die Nacht zu tun, bis ich sie los wurde. Dabei war ich gezwungen, auch Droschken zu benutzen, was ich bis dahin nie getan hatte, da ich die Droschken in solchen Fällen für unzuverlässig hielt. Der Spitzel wegen war ich nicht imstande, in die Wohnung zu kommen, in der Genosse Sefir auf mich wartete.
Später teilte mir Genosse Andrej mit, dass Genosse Sefir mich im Namen des ZK auffordere, unverzüglich ins Ausland zu reisen und mich dem Auslandsbüro des ZK zur Verfügung zu stellen. Auf dem Parteitag in London hatten die Bolschewiki im Block mit der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" und einem Teil der Delegierten der Sozialdemokratie Lettlands den Sieg davongetragen. Die Mehrheit des ZK setzte sich jetzt aus den Bolschewiki und ihren revolutionären Bundesgenossen, der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" und der lettischen Sozialdemokratie, zusammen. Das Moskauer Parteikomitee hielt mich nicht mehr zurück. Ich erledigte die Übergabe der Geschäfte Mitte März 1908, verließ Moskau und begab mich nach Pensa, um mich von den Spitzeln und der Spitzelmanie zu befreien, und um ein wenig auszuruhen. In Pensa verbrachte ich drei Wochen. Dort begann man mich wieder zu bespitzeln, obwohl ich mit keinem von den Pensaer Genossen zusammengekommen war. Von Pensa reiste ich nach Rostow am Don. Anfangs traf ich es dort ganz gut. Ich erholte mich etwas, dann setzte ich mich mit den am Orte ansässigen Genossen und dem Auslandsbüro des ZK in Verbindung. Vor dem 1. Mai begann die Polizei plötzlich das Haus zu beobachten, in dem ich wohnte. Darauf wechselte ich die Wohnung, aber auch hier begann man mich zu bespitzeln. Schließlich hörte ich auf, mich polizeilich anzumelden und musste wieder von Schlafstelle zu Schlafstelle wandern. Meine Abreise ins Ausland verzögerte sich, weil mir zum illegalen Übertritt der Grenze die nötigen Verbindungen fehlten und ich zur legalen Ausreise einen Pass brauchte. Ich beschloss abzureisen und dazu meine alten Beziehungen zu benutzen, vorher aber hatte ich meinen Verwandten darüber geschrieben. Diese forderten mich auf, zu ihnen zu kommen, und versprachen mir, einen Auslandspaß zur legalen Ausreise aufzutreiben. Aus Rostow reiste ich mit aller nur möglichen Vorsicht ab; in Taganrog wurde ich allerdings beinahe geschnappt, hatte aber Glück und konnte mich aus der Schlinge ziehen.

 

Eine unsinnige Verhaftung (1908)

Im Jahre 1908 war ich wieder in meiner Heimatstadt. Die Reaktion des Jahres 1908, die mit ihrer Tatze alles Lebendige in der revolutionären Arbeiterbewegung umkrallt hielt, übte hier bereits unumschränkte Herrschaft aus. Die ganze Stadt war voll von Straschniki (Anm.: Landpolizisten.), die gerade eine Expedition in die litauischen Dörfer zu Ende führten; es verging kein Tag, ohne dass die Straschniki Bauern aus dem ganzen Kreis Wilkomir in die Stadt brachten. In Wilkomir selbst war alles zerschlagen worden. Es gab nicht einmal eine Organisation des „Bund", obwohl eine solche sogar in den schwersten Zeiten vor 1905 existiert hatte. Genossen, die noch vor kurzem Mitglieder ein und derselben Organisation waren, suchten einander geflissentlich aus dem Wege zu gehen. Gleich nach meiner Ankunft erkannte ich, dass meine Reise hierher, in dieses Loch, wo mich seit 1906 eine so stattliche Zahl von Spießern kannte, ein Fehler war Ich bedauerte schon, dass ich meinen Verwandten, die versprochen hatten, mir rasch einen Auslandspaß zu verschaffen, Glauben geschenkt hatte; denn ich sah nun, dass sie sogar vergessen hatten, mich von den Veränderungen in bezug auf die Polizeiverhältnisse in Kenntnis zu setzen. Der Fehler war aber nicht mehr gutzumachen, und ich bemühte mich deshalb, tagsüber der Straße fernzubleiben. Meine Verwandten liefen inzwischen in der Stadt umher und versuchten, die zur Reise ins Ausland notwendigen Dokumente aufzutreiben.
Etwa zehn Tage nach meiner Ankunft vernahm ich gegen Morgen starkes Klopfen an der Tür. Auf meine Frage, wer da klopfe, antwortete man, dass ein eiliges Telegramm für meinen Schwager, dem Inhaber der Wohnung, angekommen sei. Als ich darauf ersuchte, das Telegramm später zu bringen, versuchte man auf einmal, die Tür des Zimmers, in dem ich schlief, einzuschlagen. Diese Tür ging direkt auf die Straße hinaus. Ich begriff sofort, um was für ein „eiliges Telegramm" es sich handelte. Ich machte auf, und ins Zimmer stürzten die beiden in der Stadt stationierten Gendarmen, einige Straschniki, Polizisten und mehrere herbeigezogene Zeugen. Sofort platzten sie mit der Frage heraus: „Heißen Sie soundso?" Dabei nannten sie meinen richtigen Namen. Ich erklärte, dass ich Pokemunski heiße, entsprechend den Personalien des Passes, unter dem ich in Odessa gelebt hatte. Ich hatte mir nämlich schon früher, nachdem ich über die Lage der Dinge in der Stadt, im klaren war, überlegt, wie ich mich im Falle einer Verhaftung nennen sollte. Meinen wirklichen Namen anzugeben, hielt ich für unmöglich, da die Ochrana in Moskau über mich und meine Arbeit wohl unterrichtet war; das hätte mich vors Gericht nach Moskau gebracht, und dann wäre mir lebenslängliche Verbannung oder sogar Zwangsarbeit sicher gewesen. Ich beschloss deshalb, den Namen anzugeben, unter dem ich in Odessa im Gefängnis gesessen hatte, wobei ich ganz richtig in Erwägung zog, dass die Odessaer Gendarmerieverwaltung im Jahre 1906 nicht bei der Gemeindebehörde angefragt hatte, die mir anfangs 1905 (für 100 Rubel) den Pass ausstellte, der mir in Odessa bereits gute Dienste geleistet hatte. Die Gendarmen verlangten meinen Pass zu sehen, ich aber hatte ihn natürlich nicht da. Im Hause wussten alle, außer meiner Mutter, wie ich mich gegebenenfalls nennen wollte. Während der Haussuchung, die außerordentlich lange dauerte, kam meine Mutter ins Zimmer. Entsetzen packte mich. Ich dachte, sie würde mich sogleich bei meinem Namen rufen. Das geschah aber nicht. Sie stand schweigend da und sah zu, wie überall gesucht wurde und wie man mich schließlich abführte.
Am Morgen begann ein tolles Hin und Her. Erst verhörte mich der Polizeikommissar, dann wurde ich dem Kreispolizeichef vorgeführt. Am nächsten Morgen kam dann aus Kowno der Gendarmerieoffizier Swjatschkin, der eine Photographie von mir mitbrachte, die noch im Jahre 1902 im Kiewer Gefängnis gemacht worden war. Man führte mich feierlich ins Arbeitszimmer des Kreispolizeichefs, in dem sich außer diesem der Gendarmerieoffizier und noch irgendein Beamter befanden. Swjatschkin erklärte mir, dass den Behörden alles über mich bekannt sei, dass sie schon längst auf mich gewartet und mich jetzt endlich fest in Händen hätten. Und um die Wirkung seiner Worte noch zu erhöhen, zeigte er mir meine Photographie. Als ich aber einen Blick auf die Photographie warf, fasste ich neuen Mut und fragte die Anwesenden, ob sie denn tatsächlich nicht sähen, dass es nicht mein Bild sei? Oder bekäme der Mensch im Alter wirklich einen kleineren Kopf? Im Jahre 1908 trug ich einen großen Bart, der mir ein sehr solides, gar nicht meinem Alter entsprechendes Aussehen verlieh, während das Kiewer Bild einen Knaben zeigte, der einen ungeheuer großen Kopf hatte. Die Anwesenden wussten nicht, was sie sagen sollten. Noch am selben Tage wurde ich von zwei Gendarmen nach Kowno gebracht. In der Stadt aber begann der reinste Hexentanz: der Gendarmerieoffizier vernahm meine Verwandten und eine ganze Reihe von Einwohnern. Ein Gendarm wurde sogar mit der Photographie zu meiner einige hundert Werst entfernt wohnenden Schwester geschickt. Trotzdem gelang es den Gendarmen nicht, eine Bestätigung für ihre Behauptungen zu bekommen. Der Kownoer Gendarm war in einem Gasthaus abgestiegen, wo er alle verhörte. Das Personal des Gasthauses erwies sich als sehr tüchtig: die Leute belauschten die Gendarmen und wussten daher im voraus, wer verhört werden sollte und wohin die Gendarmen zu gehen beabsichtigten. Alles teilten sie gleich meinen Verwandten mit, die dann ihre Maßnahmen trafen, damit die zum Verhör Zitierten mir nicht schadeten. Meine Verwandten hatten auch meine Schwester rechtzeitig benachrichtigt, damit sie mich auf der Photographie nicht erkenne. Ja, noch mehr: das Personal des Hotels erfuhr auch bald, wer mich verraten hatte. Der Spitzel war, wie es sich herausstellte, ein Borstenmacher Berel Gruntwagen, ein früherer Funktionär des „Bund". Am Vorabend der Verhaftung war ich ihm auf der Straße begegnet.
Die Insassen der Zelle des Kownoer Gefängnisses, in die ich gebracht wurde, empfingen mich in feindlicher Stimmung. Auf meine Frage nach den Gründen dieses Empfanges erwiderte man mir schroff, dass ich gekommen sei, um sie zu provozieren. Als aber die ernsteren Insassen der Zelle merkten, dass ich über ihre Nervosität und Schroffheit aufrichtig erstaunt war, zeigten sie auf die von mir mitgebrachten Esswaren und erklärten, dass sie im Hungerstreik stünden, weil das Regime im Gefängnis zu streng sei, und dass die Gefängnisverwaltung dadurch, dass sie mich hierher gebracht hätte, die Gefangenen provozieren wolle.
Dass es in diesem Gefängnis streng zuging, hatte ich sofort bei der Visitation gemerkt: ich wurde nackt ausgezogen, und die Gefängnisbeamten suchten überall, wo man nur irgend etwas verstecken konnte. Sobald ich den Grund des „freundlichen" Empfanges erfahren hatte, der mir von den Zelleninsassen bereitet worden war, warf ich alle Lebensmittel fort und erklärte mich mit den Hungernden solidarisch. Bald schloss sich unser ganzer Korridor dem Streik an und schließlich alle Politischen. Man nahm uns die Betten, die Matratzen und alle Sachen fort, was der Karzerstrafe gleichkam. So mussten wir auf dem kahlen Fußboden liegen, nicht nur nachts, sondern auch am Tage, denn einige von uns, darunter auch ich, lagen bereits am dritten Tage vollkommen erschöpft da. Der Hungerstreik ging verloren, und das Regime wurde noch brutaler, denn im Gefängnis saßen damals zusammen mit den politischen Gefangenen recht verschiedenartige Elemente, darunter auch Bauern, die nicht gewohnt waren, freiwillig zu hungern. In dem Gefängnis der jetzigen Hauptstadt der „Demokratischen Volksrepublik Litauen" saßen damals viele nationalistisch gestimmte Intellektuelle und Bauern, die sich gegen ihre polnischen Gutsbesitzer erhoben hatten, außerdem auch der angebliche „heimliche Präsident" der angeblichen „Litauischen Republik" samt seinem Sohn. Das ganze Kownoer Gouvernement war geradezu überschwemmt von Straschniki, und alle Landkommissare und Landjäger hatten sich in politische Untersuchungsorgane verwandelt. Die Untersuchungsmethoden waren bei allen gleich einfach: man verhaftete einen oder mehrere Bauern irgendeines Dorfes und misshandelte die Betreffenden so lange, bis sie alles, was die Landkommissare und Landjäger wollten, bestätigten. Sobald die verhafteten Bauern „freiwillig" ihre Genossen verrieten, wurden diese ebenfalls sofort verhaftet und riesige Prozesse eingeleitet. Alle Kreis- und Gouvernementsgefängnisse, alle Arrestzellen der Polizeibüros waren überfüllt von Bauern, die auf die oben beschriebene Art verhaftet worden waren. Kurzum, der Unterhalt der riesigen Menge von Straschniki hatte sich „bezahlt" gemacht. Es gab genug Arbeit für sie. Außer den Bauern saßen damals im Gefängnis viele litauische, polnische, jüdische und russische Arbeiter. Meistens waren das Leute, die auf Grund einer Denunziation persönlicher Feinde zufällig ins Gefängnis gekommen waren. Es gab darunter aber auch ernste litauische Genossen, die von den Lockspitzeln in ihren Organisationen verraten worden waren. Ihre Namen sind leider meinem Gedächtnis entfallen. Später, nach dem Verlassen des Kownoer Gefängnisses bin ich keinem mehr von ihnen begegnet.
Bald nach meiner Einlieferung ins Gefängnis rief man mich zur Vernehmung. An dieser Vernehmung nahmen Gendarmen teil, die erklärten, dass sie mich genau wiedererkennen. Sie behaupteten nämlich, bei meinem Bruder in Kowno oft Haussuchungen vorgenommen und mich bei diesen Gelegenheiten gesehen zu haben. Die Sinnlosigkeit und Verlogenheit dieser Behauptungen war offenbar, denn ich hatte meinen Bruder seit 1899 nicht wieder besucht. Derselbe Swjatschkin, der nach meiner Verhaftung mit meiner Photographie angekommen war, begann mir nunmehr mit Zwangsarbeit zu drohen, zu der ich als namenloser Vagabund verurteilt werden würde, suchte mich durch eine bevorstehende Konfrontation mit meinem Bruder einzuschüchtern und dergleichen mehr. Offen gestanden: das ließ mich keineswegs kalt, denn ich wusste nicht, wie mein Bruder auf ein Wiedersehen mit mir reagieren würde. Das Verhör führte jedoch zu keinem Ergebnis und ich wartete immer auf die Konfrontation, die jedoch nicht stattfand, da die Gendarmen anscheinend jede Hoffnung aufgegeben hatten, den Beweis zu liefern, dass ich der von ihnen Gesuchte sei. Man ließ mich ein paar Monate lang in Ruhe. Ich befand mich während dieser ganzen Zeit in einem Zustand der Ungewissheit. Meinetwegen machte ich mir wenig Sorgen: es war mir schließlich gleichgültig, ob ich sofort unter meinem richtigen Namen in die Verbannung kommen würde oder erst nach der Zwangsarbeit, die mir als Landstreicher drohte. Sehr beunruhigte mich folgender Gedanke. Ich sagte mir: wenn es der Polizei gelingen sollte, meine Identität nachzuweisen, so würden alle meine Verwandten, die behauptet hatten, ich sei Pokemunski, völlig schuldlos verhaftet und wahrscheinlich nach Sibirien verbannt werden.
Schließlich holte man mich wieder zum Verhör. Sobald ich das feierliche Äußere, unter dem die Vernehmung vor sich gehen sollte, bemerkt hatte, begriff ich, dass die Gendarmen einen Trumpf gegen mich auszuspielen gedachten und war auf der Hut. Hinter der Tür, an der ich vorbeiging, waren Zeugen versteckt. Nach einer Reihe von Fragen, wollte Swjatschkin wissen, in welchen Städten Russlands ich mich aufgehalten hatte. Da ich auf seine Frage keine Antwort gab, begann er selbst die Städte aufzuzählen. Zum Schluss nannte er auch Cherson. Ich erwiderte schroff, dass ich dort nie gewesen sei. Der Gendarm machte fast einen Sprung vor Freude. Es stellte sich heraus, dass er beim Wehrkommando in Wilkomir eine alte Photographie von Pokemunski gefunden hatte. Ohne lange zu überlegen, erwiderte ich ihm, dass ich als einziger Sohn, meiner Eltern vom Militärdienst überhaupt befreit gewesen wäre und das Wehrkommando nie betreten hätte. Das Bild aber, sagte ich, sei offenbar nicht das meine. Ohne eine Photographie wären damals die Papiere, aus denen hervorging, dass ich nicht Soldat zu werden brauchte, gar nicht angenommen worden. Da ich aber zu jener Zeit nicht in Wilkomir gewesen sei, so müsste ihm also eine fremde Photographie in die Hände gefallen sein. Der Gendarm erklärte mir, dass er mir drei Tage Frist zur Angabe meines richtigen Namens gebe; sollte ich nach dieser Frist immer noch nicht meinen wirklichen Namen nennen, so würde man mich als Landstreicher vors Gericht stellen. Eine Woche später sandte man mich per Schub ab, ohne mir zu sagen, wohin. Es stellte sich bald heraus, dass ich wieder nach Wilkomir gebracht wurde. Von Janow aus ging es zu Fuß weiter. Einige Landsleute erkannten mich, die sofort meine Verwandten davon in Kenntnis setzten, dass ich per Schub reiste. Kurz vor der Stadt begegneten mir bereits Bekannte. Sobald ich wieder im Gewahrsam der Polizeiverwaltung war, kam mein Schwager zu mir und brachte einen Haufen Briefe aus Moskau, Rostow und dem Ausland. Die Dummköpfe von der Gendarmerie hatten überall herumgeschnüffelt, um zu beweisen, dass ich nicht Pokemunski sei, sie hatten aber ganz und gar vergessen, die auf die Adresse meines Schwagers eingehende Korrespondenz zu überwachen: es wären ihnen dabei chiffrierte Briefe in die Hände gefallen, die allein schon genügt hätten, um einen neuen Prozess gegen mich einzuleiten. Mein Schwager teilte mir auch mit, dass die Recherchen der Gendarmen keinen Erfolg gezeitigt hatten und versprach mir, den Grund, weshalb man mich hierher gebracht hatte, in Erfahrung zu bringen und mir mitzuteilen. Die Erlaubnis, mich zu sehen, hatte mein Schwager für 1 Rubel bekommen. Es wurde mir ein wenig leichter zu Mute. Abends erhielt ich einen Zettel mit der Nachricht, dass man mich in eine Gemeinde bringen werde, aus welcher der wirkliche Pokemunski stamme, dass aber alles unternommen werde, damit diese Gemeinde mich als Pokemunski anerkenne.
Am nächsten Morgen führte man mich und noch einen Handwerker durch die ganze Stadt, und zwar in der Richtung nach Dünaburg. Unterwegs sah ich mit eigenen Augen die Folterkammern, in denen man die Bauern und die kriminellen Verbrecher misshandelte, um sie zu Geständnissen zu zwingen, dass sie rebelliert, an geheimen Verbindungen teilgenommen, Diebstähle verübt und dergleichen mehr getan hätten, während sie in Wirklichkeit an alledem meistens ganz unschuldig waren. Vor einer solchen Folterkammer mussten wir Halt machen, und dort erzählten uns Gefangene, die soeben selbst die Schrecken eines solchen „Verhörs" durchgemacht hatten, welcher Methoden man sich bei der „Untersuchung" bediente. Einen Augenblick lang glaubte ich, dass man mich hierher gebracht hätte, damit ich gestehe, wer ich sei. Nachdem aber ein Landjäger und sein Gehilfe uns gemustert hatten, wurden wir zu meiner Freude weitertransportiert. Ich und mein Weggenosse ahnten nicht, dass wir noch dem Polizeihauptmann vorgeführt werden sollten, der der Schrecken der ganzen Gegend war.
Drei Tage und zwei Nächte dauerte unser Weg. Am Abend des dritten Tages, es war an einem Sonnabend, langten wir in dem schmutzigen Städtchen Uzjany an, das an der Schmalspurbahn Ponewjesh—Swenzjany liegt. Auf dem Hofe, der zu dem Hause des Polizeichefs gehörte, befand sich auch seine Kanzlei und etwas abseits davon ein einzelnes Häuschen, anscheinend ein altes Bad, das man in ein Arresthaus umgewandelt hatte. Dieses Arresthaus war leer.
Man führte uns beide durch den Vorraum in eine kleine dunkle Zelle mit einem kleinen Fensterchen. Am Sonntag wurde beim Polizeihauptmann gekneipt. Zu uns drang der Lärm trunkener Stimmen herüber; es wurde getanzt und gesungen. Am gleichen Tage erzählte uns der Wächter, der uns das Essen brachte, von den „Kunststücken" die der Chef und sein Vertreter zu praktizieren pflegten. Die Misshandlungen und Durchpeitschungen wurden im ersten Zimmer vorgenommen, durch das die Verhafteten in die Zelle gelangten, die wir augenblicklich bewohnten. Der Wächter zeigte uns auf der Bank vertrocknetes Blut, das von den Durchpeitschungen herrührte, und erzählte bei dieser Gelegenheit, dass man sich über den Polizeichef beschwert hätte, dass jemand sogar zur Untersuchung hierher gekommen sein soll, dass aber schließlich doch alles beim alten geblieben sei und der Polizeichef die Misshandlungen der Gefangenen fortsetze.
Am Sonntag abend wurde es uns unheimlich zu Mute in der dunklen Zelle: die trunkenen Stimmen, die vom Hofe herüberdrangen, kamen immer näher. Die ganze Nacht hindurch erwarteten wir einen Überfall, aber man ließ uns aus irgendeinem Grunde ungeschoren. Am Montag, als es noch dämmerte, wurde mein Weggenosse geholt. Die Tür unserer Zelle war kaum geschlossen worden, als plötzlich ein unmenschliches, Mark und Bein durchdringendes Schreien zu hören war. Der arme Teufel erhielt Prügel, weil die Administration des Kownoer Gefängnisses ihn auf eine falsche Marschroute abgeschoben hatte: statt ihn per Eisenbahn über Wilna nach Dünaburg zu befördern, hatte man ihn über Wilkomir, Onikscht und Uzjany nach Dünaburg gesandt. Der „weise" Polizeigewaltige entschied sofort, dass mein unfreiwilliger Gefährte selbst den „falschen" Weg gewählt hatte, um die Flucht zu ergreifen, und prügelte den armen Teufel, bis er das Bewußtsein verlor. Nachdem er zurückgekehrt war, wurde ich gerufen. Ich beschloss, mich zu widersetzen, und biss die Zähne zusammen. In der Dunkelheit suchte ich zu erspähen, von welcher Seite man über mich herfallen würde. Aber ich wurde ganz einfach in ein helles Zimmer geführt. Dort saß der Polizeihauptmann und ihm gegenüber standen an der Wand fünf alte Männer, unter ihnen auch Litauer. Der Beamte befahl mir zu schweigen und begann, die Alten zu verhören. Diese erklärten, dass ich in der Tat der Sohn des nach Amerika ausgewanderten Pokemunski sei; ich sei allein in Russland zurückgeblieben, sie kennten mich recht gut, und ich sähe meinem Vater sehr ähnlich. Ich hatte diese Menschen nie in meinem Leben, nicht einmal im Traum gesehen und war eben noch so sehr davon überzeugt gewesen, dass man mich zur Folterung führte, dass ich zuerst überhaupt nicht begriff, was eigentlich vor sich ging, als ich vor dem Polizeichef stand. Erst am nächsten Morgen erklärte mir der Polizeichef, es sei mein Glück, dass man mich erkannt habe, weil ich sonst nicht mit heiler Haut davongekommen wäre. Als man mich zurückführte, trat ein unbekannter Mensch auf mich zu und überreichte mir 5 Rubel. Da begriff ich, dass jemand von meinen Freunden diese ganze Geschichte eingefädelt hatte.
Nachdem nun die Gemeinde bestätigt hatte, dass ich Pokemunski sei, ließen die Gendarmen von mir ab. Dafür aber nahm mich die Polizei in ihre Obhut. Ich wurde beschuldigt, dass ich zur Einberufung an meiner statt einen Ersatzmann geschickt hätte, was nach den zaristischen Gesetzen streng bestraft wurde. Man klagte mich also an, weil wirklich Pokemunski sich gestellt hatte und nicht ich! Dann schleppte man mich zum Wehrkommando, und dieses beschloss, mich vor Gericht zu stellen. Der Richter aber entließ mich gegen eine Kaution von 100 Rubel. So war ich nach dieser dummen Verhaftung endlich wieder in Freiheit. Diese Haft war die kürzeste während meiner ganzen revolutionären Tätigkeit, dafür aber kam sie mir in materieller Hinsicht und in bezug auf meine Nerven sehr teuer zu stehen. Ich war körperlich unglaublich heruntergekommen. Nach der Befreiung reiste ich sofort nach Kowno. Dort ließ ich mir für einige Zeit einen Pass geben, denn ich wollte nach Odessa zu dem Genossen Orlowski (W. W. Worowski), den aufzusuchen, ich vom Auslandsbüro des ZK der Partei beauftragt worden war. Ich besprach mit ihm die Frage der Zustellung und Verbreitung der Parteiliteratur und machte ihn mit meinem Mitangeklagten, Genossen Lebit, bekannt.
Von Odessa aus reiste ich dann im Auftrag des Auslands-Büros des Zentralkomitees im November 1908 über Kamenetz-Podolsk nach brauchte.
Zugleich lehnte es der Vorstand der SPP und L ab, in das Organisationskomitee des „Augustblocks" einzutreten, und an der Konferenz, die dieser im August 1912 nach Wien einberufen hatte, teilzunehmen.
Da ich der Ansicht war, dass wir durch die Vertreter der Ortsgruppen der Sozialdemokratie Polens und Litauens einen Druck auf den Vorstand der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" hätten ausüben können, damit dieser an den zentralen Körperschaften der RSDAP mitarbeite, so erklärte ich mich mit den Argumenten des Genossen Lenin nicht einverstanden. Darauf erklärte mir Genosse Lenin, dass ich in diesem Falle nicht länger an der Arbeit eines Bevollmächtigten der zentralen Körperschaften der Partei teilnehmen könnte, und da dies mit meinem Wunsch, in einen Betrieb zu gehen, zusammenfiel, wurde vereinbart, dass ich nach Moskau oder Petersburg reisen und mich den dortigen Ortsgruppen zur Verfügung stellen sollte. Ich bekam die Petersburger Adresse des Genossen A. Jenukidse (mit Moskau hatte ich selbst Beziehungen) und reiste zunächst nach dem Süden Russlands, um einen Auftrag des Auslandsbureaus des Zentralkomitees auszuführen.

 

Woljsk (1913-1914)

Die russische Grenze überschritt ich mit dem Pass des Studenten B. London. Als ich aber in Warschau ankam, erhielt ich von dem Gen. Sagorski den Pass, unter dem ich im Jahre 1907 in Moskau als P. M. Sanadiradse (als Adliger) aus dem Gouvernement Kutais gelebt hatte. Der Pass war nicht besonders gut, aber ich hatte eben keinen anderen. Ob ich irgendeinen Auftrag an die Warschauer Organisation der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens hatte (sie stand damals auf seiten der Raslomowzy), weiß ich nicht mehr. Allerdings habe ich dort einige Genossen aufgesucht: die Genossen Bronski und Chamski. Von Warschau reiste ich nach Kiew, wo ich mich mit den Genossen Petrowski und Rosmirowitsch treffen sollte. Während ich vor einer Musikalienhandlung stand und darauf wartete, dass der Laden geöffnet wurde, von dessen Verkäufer ich erfahren sollte, wie ich Rosmirowitsch finden konnte, erblickte ich plötzlich die Genossin 0. D. Kamenewa. Von ihr erfuhr ich, dass der Verkäufer, auf den ich wartete, verhaftet worden war. Dann erklärte sie mir, wie ich die von mir gesuchten Genossen finden könnte. Im Laufe des Tages fand ich auch die Genossin Rosmirowitsch, der ich mitteilte, dass Genosse Petrowski sich nach Poronin begeben müsse, da Ende September 1913 eine Sitzung des Zentralkomitees zusammen mit den sechs bolschewistischen Dumaabgeordneten und den verantwortlichen Funktionären der Gebietsorganisationen stattfinden sollte. Außerdem teilte ich mit, wie viel Genossen aus Kiew und den benachbarten Städten zusammen mit Petrowski zu dieser Beratung kommen sollten: die Betreffenden hatte Genosse Petrowski auszuwählen. Ferner gab ich an, aus welchen Städten Genossen zur Parteischule kommandiert werden sollten, die man in Galizien in der Nähe Poronins zu eröffnen beabsichtigte. Der Genosse Petrowski selbst war zu jener Zeit nicht in Kiew. Nachts reiste ich nach Poltawa zum Genossen Ljubitsch (Sammer), der in der Semstwo tätig war. Er war aber gerade nach Charkow gefahren. Ich reiste deshalb ebenfalls von Poltawa nach Charkow zum Genossen Muranow, der damals Mitglied der vierten Duma (als Arbeiter-Abgeordneter des Gouvernements Charkow) war. Ich war genötigt, über eine Woche lang in Charkow zu warten, bis ich mit dem stark bespitzelten Muranow zusammenkommen konnte. Um ihn zu sehen, musste ich auf irgend einem nicht weit von der Eisenbahn gelegenen Berg in der Umgegend Charkows übernachten. Nachts kam Genosse Muranow an. Er war aus der Stadt gewissermaßen mit einer Extralokomotive gereist, denn er hatte als Eisenbahner sehr gute Beziehungen zu den Eisenbahnern. Ich überbrachte ihm den Auftrag, der mit dem Auftrag für den Genossen Petrowski ungefähr gleichlautend war. Am nächsten Morgen reiste ich nach Moskau ab und zwar über Pensa, wo ich gern einige Tage bei meinen Freunden, den Itins, bleiben wollte. Unterwegs erkrankte ich an der Ruhr, und zwar so stark, dass ich mich nur mit Mühe zu den Itins hinzuschleppen vermochte. Diese Krankheit, die mich beinahe ins Jenseits befördert hätte, fesselte mich anderthalb Monate lang an das Krankenbett. Als ich dann nach Moskau kam, erhielt ich durch den Genossen Krassin, der damals technischer Direktor bei Siemens und Schuckert war, eine Stellung als Elektromonteur dieser Firma. Man kommandierte mich zur Montage auf die in Bau befindliche Zementfabrik „Asserin" ab, die sieben Werst von der Stadt Woljsk entfernt war. Als ich zur Arbeit ging, hatte ich ein bisschen Angst, denn ich war nicht davon überzeugt, dass ich mich bei der Anlage von elektrischem Licht für eine Fabrik bewähren würde. Ich hatte zwar Erfahrung in der Montage für Wohnungen, aber das war etwas ganz anderes, als eine Neuanlage in einem Betrieb. Ich hatte aber beschlossen, die Arbeit um jeden Preis zu erlernen: also musste ich es probieren. Als ich beim Genossen Krassin war, richtete er an mich die Frage, ob ich nur verdienen oder auch etwas lernen wollte. Er erläuterte dann seine Frage dahin, dass ich, falls mir am ersten gelegen sei, in Moskau bleiben könnte, falls ich es aber auf das zweite abgesehen hätte, unbedingt in eine entlegene Gegend auf Montage reisen müsste, wo mich nichts von der Arbeit ablenken würde. So sehr ich auch in Moskau zu bleiben wünschte, wählte ich doch die Provinz, um etwas zu lernen. Genosse Krassin hatte Recht gehabt. Die Fabrik, auf die ich gesandt wurde, sollte nach den neuesten Errungenschaften der ausländischen Technik eingerichtet werden, und die Arbeit kochte dort geradezu. Es arbeiteten schon sehr viele Monteure dort — Russen und Deutsche. Für jeden Zweig der komplizierten elektrotechnischen Arbeit gab es besondere Monteure mit eigenen Meistern an der Spitze, die die Hilfskräfte verteilten, das Material verwalteten, Material ausgaben und die Arbeit anwiesen. An der Spitze der ganzen von Siemens und Schuckert übernommenen Arbeit stand der deutsche Techniker Gasser. Die Ingenieure wohnten in Woljsk und ließen sich selten im Betrieb sehen. Ich hatte nie gedacht, dass es zur Erzeugung des Zements so komplizierter Maschinen und einer solchen Mechanisierung der Produktion bedurfte. Der gesamte komplizierte Produktionsprozess war mechanisiert mit Ausnahme des Einschüttens der Kreide in die nassen Mühlen, der Aufstellung der leeren Fässer zur Füllung mit fertigem Zement und der Schließung der vollen Fässer.
Ich kam im ganzen Betrieb herum und interessierte mich auch für die Nebenerzeugnisse, denn ich hatte in fast allen Räumen elektrisches Licht anzulegen. Ich arbeitete Tag und Nacht, wobei ich im Gegensatz zu den anderen Monteuren mich nicht auf Anweisungen an die Hilfsarbeiter beschränkte, sondern selbst mit Hand anlegte, selbst auf die gefährlichsten Stellen kletterte und die schwersten Arbeiten verrichtete. Mit mir zusammen arbeiteten etwa fünfzig ungelernte Arbeiter und Schlosser. Ich hatte jetzt mit einem Material zu arbeiten, das ich früher nie gesehen hatte. Aber ich arbeitete nicht aus Angst vor dem Unternehmer, sondern aus Liebe zur Arbeit. Als der Techniker Gasser bemerkte, dass ich in freien Stunden anderen bei der Arbeit zusah, ließ er mich unter seiner Aufsicht kleinere Motore, Dynamomaschinen usw. aufstellen. Auch hier machte ich große Fortschritte. Ich und N. Mandelstamm, der dort als Obermonteur für die elektrischen Lichtanlagen tätig war, verließen die Arbeitsstätte als letzte. In dieser Fabrik arbeitete ich vom Oktober 1913 bis Anfang April 1914. Man verdiente dort nicht schlecht: die Firma zahlte 18 Kopeken pro Stunde und für Überstunden sowie Arbeiten an Feiertagen 50% mehr — also 27 Kopeken pro Stunde und außerdem noch 1,50 Rubel Tagegeld. Die Arbeit im Betrieb hatte mir viel gegeben: erstens hatte ich arbeiten gelernt und zweitens gesehen, wie die russischen Arbeiter und Bauern leben und arbeiten, von denen ich lange Zeit infolge meines Aufenthalts im Auslande getrennt war. Und ich muss sagen: den Arbeitern in der Fabrik „Asserin" ging es ebenso wie den Arbeitern der benachbarten Zementbetriebe von Seiffert und Gluchooserski ziemlich schlecht. Es gab damals bei uns im Betrieb ständige und nur vorübergehend angestellte Arbeiter. Die vorübergehend angestellten Arbeiter wurden beim Bau des Betriebs beschäftigt, die „Ständigen" waren für die Produktion selbst bestimmt. Als ich ankam, war der Betrieb bereits in Gang, obwohl er noch nicht voll arbeitete. Die nur vorübergehend angestellten Arbeiter arbeiteten unter der Leitung von Monteuren der verschiedensten Firmen, wurden aber von der Administration der Fabrik „Asserin" eingestellt und entlohnt, und nicht von den Firmen, die die Ausrüstung des Betriebes übernommen hatten.
Die zeitweiligen Arbeiter bestanden in der Hauptsache aus der Proletarierjugend jener Gegend und den Bauern des Pensaer Gouvernements. Wir hatten sehr viele von diesen Bauern im Betrieb. Sie erhielten für den zehnstündigen Arbeitstag fünfzig Kopeken. Sehr oft ließen N. Mandelstamm und ich einige dieser vorübergehend angestellten Arbeiter auf ihren Wunsch auch zur Nachtschicht im Betrieb (obwohl wir recht gut wussten, dass sie nachts nicht arbeiteten), um ihren Verdienst zu erhöhen. Für Nachtarbeit wurde der doppelte Lohn gezahlt. Diese Arbeiter lebten in entsetzlichen, unhygienischen Verhältnissen. Man konnte an ihren Hütten kaum vorbeigehen — so einen stinkenden Geruch verbreiteten sie. Für einen Teil der gelernten Arbeiter, die bei der Herstellung des Zements beschäftigt waren, hatte man Holzkasernen errichtet, in denen auch die Monteure wohnten. Irgendwelche Organisationen oder kulturelle Institutionen gab es im Betrieb nicht, ebenso wenig in Woljsk, wenn man nicht gerade die Kinos der damaligen Zeit für Kulturstätten ansehen will. Von diesen Kinos gab es drei oder vier in Woljsk. An Sonn- und Feiertagen hörte man überall in der Nähe der Fabrik Gegröle und Geschimpfe von Betrunkenen. Die ortsansässige Jugend und ein Teil der hinzugereisten Arbeiter vertranken an den Feiertagen nicht nur ihren ganzen Verdienst, sondern auch ihre Stiefel, Filzstiefel und Jacken. Danach mussten sie einige Monate arbeiten, um sich neue Kleider anschaffen zu können. Eines Tages beschloss die Administration, den Tagelohn um 10 Kopeken zu kürzen und die Überstunden für ungelernte Arbeiter einzuschränken. Unter der Führung von Arbeitern, die bei den politisch organisierten Monteuren arbeiteten (es waren unser im ganzen vier: drei Bolschewiki — N. N. Mandelstamm, Petrow, ich und ein Menschewik, dessen Name ich vergessen habe), traten die zeitweilig angestellten Arbeiter in den Streik. Wir beschlossen, mit Streikbrechern nicht zu arbeiten, und erklärten unseren Vorgesetzten außerdem, dass wir nicht mit anderen Hilfskräften arbeiten können, da die Streikenden mit der Arbeit bereits vertraut seien, während man Streikbrecher erst noch anlernen müsste. Es erschien natürlich auch die Polizei, aber die Arbeiter gewannen den Streik.
Während meines Aufenthalts in Woljsk setzte ich mich sowohl mit dem russischen als auch mit dem ausländischen Büro des ZK in Verbindung. Mit der Genossin N. Krupskaja korrespondierte ich regelmäßig über Pensa. Aus Leningrad bekam ich die „Prawda", unsere Zeitschrift „Prosweschtschenje" und die gesamte bolschewistische Literatur über Fragen der Sozialversicherung. Ich erhielt alles durch die Expedition der Zeitung „Woljskaja Schisnj", der ich später noch einige Zeilen widmen werde. In ganz Russland wurde damals eine Versicherungskampagne geführt. Die dritte Duma hatte ein Gesetz angenommen, wonach die Arbeiter in Fällen von Krankheit usw. versichert werden sollten. Auch in dieser Frage bestanden zwischen uns und den Menschewiki große Meinungsverschiedenheiten. Sowohl wir als auch die Menschewiki führten eine große, breit angelegte Kampagne in den Tageszeitungen durch und gaben viele Broschüren heraus. Ja es bestanden sogar periodische Zeitschriften beider Richtungen über Versicherungsfragen. Die drei im Betrieb tätigen Bolschewiki beschlossen in einer Besprechung, die in meinem Zimmer stattgefunden hatte, eine Versammlung der gelernten Arbeiter der Fabrik „Asserin" einzuberufen, um zu den Versicherungsfragen Stellung zu nehmen. Ich begann, die klassenbewussteren Arbeiter unter den Teilnehmern der Versammlung mit unserer Versicherungsliteratur und der „Prawda" zu versorgen. Diese Arbeiter wandten sich in der Folge häufig an mich und den Genossen Mandelstamm, wenn sie irgend etwas erklärt haben wollten. Der Kontakt zwischen uns und diesen Arbeitern wurde sehr eng, leider konnten wir aber unter ihnen keine Parteigruppe schaffen, da wir infolge Beendigung unserer Arbeit Woljsk verlassen mussten. Wenn mich aber das Gedächtnis nicht trügt, so haben wir doch den einen oder anderen dieser Arbeiter mit dem Genossen Wardin in Verbindung gebracht, der zusammen mit dem Genossen Antoschkin zu jener Zeit in Woljsk wohnte und unter Polizeiaufsicht stand. In allen drei Betrieben der Stadt Woljsk arbeiteten etwa zwanzig Monteure der Moskauer Filiale von Siemens und Schuckert. Außer uns vier organisierten Sozialdemokraten gab es unter ihnen zwei Arbeiter, die uns nahe standen. An den Sonn- und Feiertagen kamen wir sechs dann in der Wohnung irgendeines in Woljsk wohnenden Monteurs zusammen. Die übrigen Kollegen waren Spießer. Ihre freie Zeit schlugen sie mit allerlei Fadheiten und Gemeinheiten tot und verbrachten sie meistens in Gastwirtschaften. Sie verdienten nicht schlecht, in Woljsk hatte man aber keine andere Möglichkeit, Geld auszugeben, als in den Gastwirtschaften. Es kam auch vor, dass die Monteure sich versammelten, für politische Gespräche war jedoch kein Boden vorhanden, obwohl zu jener Zeit die Arbeiterbewegung in Russland von Tag zu Tag anwuchs. Dafür aber pflegten die Monteure bei solchen Gelegenheiten über alle Vorkommnisse in den Betrieben und über alle Zusammenstöße mit der Administration zu sprechen. Über diese Dinge und über den ganz unzureichenden Arbeiterschutz in den Zementfabriken (wir hatten einige Unglücksfälle mit tödlichem Ausgang zu verzeichnen, die nur auf das Fehlen von Schutzvorrichtungen vor den Tag und Nacht laufenden Maschinen zurückzuführen waren) begannen die Moskauer Monteure kleine Notizen für die in Woljsk erscheinende kleine Tageszeitung „Woljskaja Schisnj" zu schreiben. Auf diese Weise lernten wir, die politisch organisierten Monteure, die Redaktion der für einen so entlegenen Ort recht radikalen Zeitung kennen. Eines Tages entfaltete ich die eben erhaltene Nummer der „Woljskaja Schisnj" (die Redaktion begann aus eigener Initiative, mir die Zeitung durch das Büro unserer Fabrik zuzusenden) und fand in dem Blatt einen großen Lobartikel auf die Fabrik „Asserin". Neben einer richtigen Beschreibung der neuesten Maschinen stieß ich auf offenbar erlogene Feststellungen, wie die, dass es in dem Betrieb keinen Staub gäbe, dass die Fabrik eine gut funktionierende Schule, ein Krankenhaus und ein Bad besäße, dass für die Arbeiter ausgezeichnete Wohnungen gebaut worden wären und dergleichen mehr. Uns Monteuren war es klar, dass der Artikel von der Direktion unseres Betriebes stammte, denn kein anständiger Mitarbeiter der Zeitung hätte je schreiben können, dass es im Betrieb keinen Staub gebe. Man brauchte nur an einer der nassen Mühlen vorbeizugehen und wurde vom Kopf bis zu den Füßen mit einer grauen Flüssigkeit bespritzt, während man in der Nähe der Kohlenmühle sich sofort in einen Schornsteinfeger verwandelte. Die ganze Umgebung aber war von dem dicken grauen Staub der Zementmühle bedeckt, obwohl ein oder mehrere Staubsauger ständig in Tätigkeit waren. Ohne diese wäre es wohl überhaupt unmöglich gewesen zu atmen. Außerordentlich sauber und sogar hübsch war es nur in den Räumen, wo die Kraftmaschinen standen. Was nun aber die Schule, das Krankenhaus, das Bad usw. anbetraf, so war das alles nur geplant, während es vorderhand nur „ausgezeichnete" Baracken gab. Wir waren über den Artikel empört, weil es sich dabei um eine für jene Zeit recht anständige Zeitung handelte, und schrieben eine Berichtigung. Die Redaktion aber wollte diese nicht veröffentlichen, ohne vorher mit uns Rücksprache genommen zu haben. Genosse Petrow und der menschewistische Genosse begaben sich zu dieser Besprechung. Nach ihrer Rückkehr erfuhr ich, dass der Redaktion auch die Genossen Mgeladse — Wardin und Antoschkin angehörten. Wardin kannte ich gar nicht, an den Genossen Antoschkin aber erinnerte ich mich aus der Literatur der Jahre 1905—1906, kannte ihn aber persönlich auch nicht. Als Genosse Wardin von mir erfuhr, sprach er den Wunsch aus, mich kennen zu lernen, was mir durchaus nicht angenehm war, da ich wusste, dass er Georgier war. Dass er Mitglied unserer Partei war, ahnte ich damals nicht einmal; aber selbst die Parteizugehörigkeit hätte wenig an der Sache geändert, denn niemand von meinen näheren Bekannten außer dem Genossen N. N. Mandelstamm („Michail Mironowitsch"), mit dem ich seit 1906 bis 1913 wiederholt zusammen für die Partei gearbeitet hatte und den ich persönlich sehr gut kannte, wusste, dass Sanadiradse nicht mein wirklicher Name war. Seit der Zeit fing ich an, seltener in die Stadt zu gehen, um ja nicht mit dem Genossen Wardin zusammenzutreffen. Aber das half nichts. Eines Tages kam Genosse Wardin zu uns in den Betrieb und suchte mich selbst auf. Sofort begann er mit mir in Gegenwart der anderen Genossen georgisch zu sprechen. Ich sagte ihm, dass es besser wäre, wenn wir russisch sprechen, da ja die russischen Genossen sonst nichts verstünden. An diesem Abend fühlte ich mich ziemlich schlecht, aber im großen und ganzen ging es. Genosse Wardin unterhielt sich mit mir über die georgische Parteiliteratur jener Zeit. Jordania hatte damals gerade einige Artikel gegen die Liquidatoren veröffentlicht. Da ich über Parteiliteratur und Parteiangelegenheiten ziemlich gut Bescheid wusste, fiel es mir sehr leicht, diese Unterhaltung zu führen. Kurzum, ich fing an, den Genossen Wardin zu besuchen, und lernte den Genossen Antoschkin kennen. Wir kamen öfter zusammen, Genosse Wardin aber blieb fest davon überzeugt, dass ich ein waschechter Georgier sei (Anm.: In der Verbannung im Jahre 1916 traf Genosse Wardin einen georgischen Genossen, der nicht weit entfernt von mir lebte. Dieser Genosse, Dmitri Geliadse, zeigte ihm eine Gruppenphotographie von Verbannten, auf der Genosse Wardin mich erkannte. Da aber jeder der Genossen mich anders nannte, so wandten sie sich schließlich an mich mit der Frage, wer ich denn in Wirklichkeit sei. Und erst da überzeugte sich Genosse Wardin davon, dass ich kein Georgier bin.). Was die Berichtigung des erwähnten Artikels betrifft, so zeigten wir einfach den Redakteuren der „Woljskaja Schisnj" den Betrieb, und sie überzeugten sich selbst von der Richtigkeit unserer Einwände.
Schließlich war die Montage beendet, und ich kehrte Ostern 1914 nach Moskau zurück. Das Büro von Siemens-Schuckert wollte mich fast noch am selben Tage zu Reparaturen und zur Montage in das bei Moskau gelegene Textilgebiet senden, da vor den Osterfeiertagen die Textilfabriken für kurze Zeit geschlossen worden waren. In dieser Zeit wurden die Reparaturen an den alten und die Montage der neuen elektrotechnischen Maschinen vorgenommen. Aber ich weigerte mich entschieden, dahin zu reisen, weil ich das Leben in abgelegenen Provinznestern satt hatte. Mich lockte Petersburg, wo bereits fieberhaft gekämpft wurde. Ich hatte beschlossen, dorthin zu reisen. Es tat mir aber leid, eine Stelle zu verlieren, bei der ich manches gelernt hatte und noch viel lernen konnte. Ich stellte daher folgende Bedingung: entweder sollte man mir Arbeit in einer großen Stadt geben oder mich entlassen. Die Direktion entschied sich für das erste und schlug mir vor, zusammen mit dem deutschen Techniker Gasser nach Samara zu reisen, wo man eine städtische elektrische Straßenbahn anlegte und wo ich in der Stadt selbst meine Arbeitsstätte hatte. Dieses Angebot nahm ich an. In Moskau verbrachte ich nur wenige Tage. Um die Moskauer Genossen zu treffen, besuchte ich die Vorträge und Konzerte, die zur finanziellen Unterstützung des Moskauer Parteikomitees im Gebäude des Moskauer Künstlervereins in der Bolschaja Dmitrowka 15a (jetzt ist es das Gebäude des Moskauer Parteikomitees) veranstaltet wurden. Dort traf ich alte Bekannte und Freunde: Anna Karpowa, Sinaida Jaschnowa, die Genossin Konstantinowitsch, die ich von Paris her kannte und natürlich auch den Spitzel Romanow (Georg), der mich sofort darüber auszufragen begann, ob ich nach Moskau gekommen sei, um mich parteipolitisch zu betätigen usw. Den Genossen Gljebow (Manzew), den ich hatte sehen wollen, konnte ich nicht treffen. Seine Frau hatte ich an einem solchen Abend gesehen, er aber war nicht dagewesen. In den wenigen Tagen, die ich in Moskau verbrachte, traf ich noch einige andere Genossen: Karpow, Bogdanow und Malzmann (Anm.: Dieser „Revolutionär" lachte mich 1918 aus, weil ich Mitglied der Partei blieb und nach wie vor für sie arbeitete. „Nur solche Dummköpfe, wie Sie, arbeiten jetzt noch. Sehen Sie denn nicht, dass die Lage hoffnungslos ist?" sagte er damals zu mir.), der mit mir zusammen aus dem Kiewer Gefängnis geflohen war; aber es gelang mir nicht, irgendwelche Verbindungen zu der bolschewistischen Ortsgruppe in Samara aufzutreiben. Ich musste mich mit einigen Privatadressen begnügen.
Nachdem ich das Werkzeug für die bevorstehende Arbeit gewechselt hatte, reiste ich nach Samara ab.

 

Samara (1914)

In Samara traf ich am 16. April 1914 ein und machte mich noch am selben Tage an die Arbeit in den städtischen Elektrizitätswerken, wo die Maschinen für die Straßenbahn montiert wurden. Diese Arbeit war sehr interessant, aber ich hatte es nicht leicht, da ich alle Schlosser- und Bohrarbeiten selbst machen musste. Die Hilfsarbeiter wurden hier nämlich nicht von dem Besteller, sondern von Siemens und Schuckert selbst bezahlt; deshalb wurden zu wenig Hilfsarbeiter angestellt. Diese Arbeit war außerdem etwas ganz Neues für mich. Ich hatte hier mit einemmal mit Maschinen zu tun, die Wechselstrom in den für Straßenbahnen notwendigen Gleichstrom verwandelten, ferner mit Transformatoren und Apparaten von ganz verzwickter Konstruktion, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und obwohl ich nur 10 Stunden täglich arbeitete, wurde ich doch sehr müde, da ich abends noch für die Partei tätig war. Ich kam spät ins Bett und musste früh zur Arbeit, deshalb lehnte ich es ab, Überstunden zu machen, trotzdem es sich um eilige Arbeit handelte. Es gelang mir, den Genossen Wawilkin(Anm.: Den Genossen Wawilkin traf ich Ende 1917 und Anfang 1918 auf den Eisenbahnerverbandstagen, an denen er als Vertreter der Eisenbahner Samaras teilnahm. Während der Herrschaft der konstituierenden Versammlung in Samara begab er sich nach dem Ural und nach Sibirien, wo er anscheinend von den Satrapen Koltschaks umgebracht worden ist.) und andere, die als Aufwiegler von der Rohrefabrik gemaßregelt worden waren, bei uns unterzubringen. Leider konnte ich infolge meiner später erfolgten plötzlichen Verhaftung nicht bis zum Abschluss der Montagearbeit dableiben. Ich hätte dabei viel lernen und mir die Methoden der deutschen Monteure zu eigen machen können, die eingetroffen waren, um die Maschinen aufzustellen (Anm.: Die Arbeiten auf dem Gebiete der Elektrizität interessierten mich außerordentlich, so dass ich selbst in der Verbannung, soweit als das möglich war, die elektrotechnische Literatur verfolgte. Aus diesem Grunde besuchte ich auch, als ich im März 1917 aus der Verbannung nach Moskau zurückkehrte, die Versammlung der Moskauer Elektromonteure in der Brotbörse, wo darüber beraten wurde, ob ein besonderer Berufsverband der Elektromonteure gegründet werden oder ob man sich einfach dem Metallarbeiterverband anschließen sollte. Ich hatte die Absicht, bei den Elektromonteuren zu bleiben, aber das Moskauer Parteikomitee entschied anders und übertrug mir die Arbeit unter den Eisenbahnern, die mich dann auch vollkommen in Anspruch nahm.).
Gehen wir nun zur Schilderung meiner Parteiarbeit in Samara über.
Sobald es feststand, dass ich nach Samara reisen sollte, schrieb ich an die Genossin N. K. Krupskaja und bat sie, zu veranlassen, dass Genosse Grigori (Sinowjew) oder Genosse Iljitsch (Lenin) der Redaktion der in Samara erscheinenden Zeitung „Sarja Powolschja" („Die Morgenröte des Wolgagebiets") mitteilten, dass man mir vertrauen dürfe und mich mit Anhängern der Petersburger „Prawda" in Verbindung bringen solle. Die Genossen Lenin und Sinowjew ließen hin und wieder unter verschiedenen Decknamen ihre Artikel in der Wochenzeitung „Sarja Powolschja" erscheinen.
Nach meiner Ankunft in Samara suchte ich die Genossen auf, deren Adressen ich vor der Abreise aus Moskau erhalten hatte, aber niemand von ihnen konnte mich mit der Parteiorganisation von Samara in Verbindung setzen, die einen, weil sie selbst mit der Organisation nicht in Kontakt standen, die anderen, weil sie mir nicht recht trauten, da ich doch ganz ohne Parteiadressen gekommen und keinem Menschen in der Stadt persönlich bekannt war. Obwohl das Gebäude, in dem sich die Redaktion der „Sarja Powolschja" befand, stets bespitzelt wurde, ging ich jeden Tag hin, da ich den Brief von Genossen Lenin und Sinowjew aus Poronin erwartete. Bald fingen die Genossen in der Redaktion an, mich misstrauisch anzusehen, und fragten mich ganz genau darüber aus, wer ich sei, woher ich komme usw. Da ich nicht wusste, wer in der Redaktion saß, Bolschewiki oder Menschewiki, so konnte ich natürlich auf ihre Fragen nicht ausführlich antworten, was ihr Misstrauen mir gegenüber noch steigerte. Ich kam von nun an seltener in die Redaktion. Um aber schneller mit den Genossen in Samara in Kontakt zu kommen, schrieb ich mehrmals an Malinowski, der Mitglied der Dumafraktion war, und bat ihn, mich mit irgend jemand in Verbindung zu bringen.
Schließlich kam der langersehnte Brief aus Poronin an. Sofort änderte sich das Benehmen der in der Redaktion tätigen Bolschewiki mir gegenüber. Der Redaktionssekretär Stepan (Below), ein Bolschewik (während des Krieges wurde er Menschewik und trat für die Vaterlandsverteidigung ein, später tat er sich in der Konstituante in Samara hervor), machte mich mit den Parteiverhältnissen Samaras bekannt. Es sah dort nicht gerade sehr erfreulich aus. Eine wirkliche Organisation der Bolschewiki oder Menschewiki existierte in Samara überhaupt nicht, obwohl in vielen Betrieben gemischte Zellen aus Anhängern beider Richtungen bestanden. Die Menschewiki hatten einen legalen „Verein für vernünftige Unterhaltung" gegründet, dem auch Bolschewiki als Mitglieder angehörten. Dieser Verein veranstaltete populäre Vortragsabende, errichtete eine Bibliothek usw. In diesem Verein fanden auch Auseinandersetzungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki statt, aber in versteckter Form, nicht offen in Referaten und Diskussionen. Vorsitzender des „Vereins für vernünftige Unterhaltung" war irgendein Rechtsanwalt aus Samara, dessen Namen ich vergessen habe. Die Personen, die für den Verein den Behörden gegenüber politisch verantwortlich waren, sorgten dafür, dass in den Räumen des Vereins nichts Unerlaubtes geschah. An den Versammlungen und Vorlesungen durften nur Mitglieder des Vereins teilnehmen. Trotz aller Beschränkungen waren in den Räumen des Vereins fast immer Arbeiter zu finden. Auch die Parteigenossen trafen sich hier. Irgendwelche Versammlungen konspirativer Natur fanden in den Räumen des Vereins nicht statt, denn die Ochrana hatte dort gewiss ihre Späher.
Ein anderer Mittelpunkt der wirklich revolutionären Elemente der Arbeiterschaft von Samara war die Zeitung „Sarja Powolschja"; aber auch diese hatte keine bestimmte politische Physiognomie. Die Redaktion bestand aus zwei Bolschewiki und zwei Menschewiki, die zusammen das fünfte Redaktionsmitglied, nämlich den Sekretär, bestimmten. Im April 1914 war der Bolschewik Below Redaktionssekretär. Zu den Mitarbeitern der Zeitung gehörten Dan, Martow, Sinowjew und Lenin.
In Petersburg bekämpften sich „Prawda" und „Lutsch" auf Leben und Tod, in Samara aber schrieben zur selben Zeit in ein und derselben Zeitung die Führer der proletarischrevolutionären Richtung und die der pseudorevolutionären lakaienhaft-bürgerlichen Weltanschauung.
Nachdem ich noch einige Genossen in Samara kennen gelernt hatte, überzeugte ich sie von der Notwendigkeit und Möglichkeit der Schaffung einer besonderen illegalen bolschewistischen Organisation. Alle Voraussetzungen dafür waren vorhanden. Durch die Zeitung und den „Verein für vernünftige Unterhaltung" standen die einzelnen Bolschewiki mit den Zellen in den Betrieben in Kontakt. Aber eine wirkliche Organisation zu schaffen, wagten sie nicht. Sie waren der Ansicht, dass infolge der starken Bespitzelung alles bald durch die Gendarmerie und die Ochrana sowieso liquidiert werden würde. Anfang Mai fand in einer Schlucht in der Nähe der Rohrefabrik eine Versammlung der Bolschewiki statt. Als Vertreter der Fabrik nahmen an der Versammlung teil: Bednjakow, Wawilkin und noch ein Arbeiter, dessen Name mir entfallen ist. Ferner waren anwesend: vom Arbeiterkonsumverein Samara Stankewitsch, von der Redaktion Genosse Below und noch einige Genossen, deren Namen ich gleichfalls nicht behalten habe. In dieser Gründungsversammlung der bolschewistischen Organisation erstattete ich den Bericht über die Lage in der Partei, worauf Below bzw. Bednjakow uns über den Stand der Dinge in Samara unterrichteten. Nach einem regen Meinungsaustausch wurde beschlossen, ein provisorisches bolschewistisches Parteikomitee in Samara zu bilden, das die Einberufung einer Konferenz der Bolschewiki von Samara vorbereiten, die laufende Arbeit abwickeln und sich mit dem Zentralkomitee und dem Zentralorgan der Partei in Verbindung setzen sollte. In dieses provisorische Parteikomitee wählte man: Bednjakow, Below, mich, einen Büroangestellten Benjamin (den Familiennamen habe ich vergessen) und einen Arbeiter aus der Rohrefabrik. Mir wurde die Aufgabe gestellt, die Verbindung mit den zentralen Körperschaften der Partei herzustellen und den Vertrieb der „Prawda" und unserer Zeitschrift „Prosweschtschenje" zu organisieren.
Da mir Malinowski auf meine an ihn im April abgesandten Briefe nicht geantwortet hatte, so informierte ich das Auslandsbüro des Zentralkomitees über die Parteiverhältnisse in Samara und zwar schrieb ich an die Genossin Krupskaja. Mit ihr führte ich einen regen Briefwechsel. Ich schrieb ihr chiffrierte Briefe auf die mir bekannten ausländischen Adressen und erhielt die Antworten über Pensa, von wo aus sie mir der Genosse Itin übersandte, mit dem ich in Berlin und in Odessa zusammengearbeitet hatte. Er war es auch, der mir eine ausgezeichnete Deckadresse in Pensa bei der landwirtschaftlichen Bank verschafft hatte, wodurch die Sicherheit gegeben war, dass die Auslandspost nicht geöffnet werden bzw. verloren gehen konnte. Von Pensa nach Samara aber war das Risiko für die Post geringer. Nach dem Austritt Malinowskis aus der Duma verlor ich den Kontakt mit dem russischen Zentralkomitee, mit dem ich nur durch Malinowski verbunden war. An die anderen Mitglieder unserer Dumafraktion aber wollte ich nicht schreiben, denn meine Parteinamen waren ihnen nicht bekannt. Das zwang mich, sogar bei Auskünften über rein russische Angelegenheiten auch das Auslandsbüro des Zentralkomitees anzutragen.
Zwecks Organisation des Vertriebs der „Prawda" und der „Prosweschtschenje" machten mich die Parteigenossen von Samara mit einem Genossen bekannt, der unter den Arbeitern der Fabriken und Werkstätten legale Arbeiterliteratur verbreitete. Ich wandte mich an Miron Tschernomasow von der „Prawda" und an Max Saweljew von der Zeitschrift „Prosweschtschenje" mit der Bitte, diesem Genossen die jeweilig von ihm geforderte Zahl von Druckschriften zuzusenden. Ich versprach gleichzeitig, für pünktliche Ablieferung der Gelder zu sorgen. Auf diese Weise wurde unsere Literatur auch in Samara verbreitet.
Die Mitglieder des provisorischen Parteikomitees trafen sich sehr häufig in den Räumen des „Vereins für vernünftige Unterhaltung" und in den Restaurants und Stadtgärten. Die Sitzungen des provisorischen Parteikomitees, die sehr oft stattfanden, wurden stets auf Booten oder in den Stadtgärten abgehalten. Der Kontakt des Parteikomitees mit den Parteigenossen in den Fabriken und Betrieben erweiterte sich immer mehr, infolgedessen war das Parteikomitee über die Stimmung der breiten Massen der Arbeiterschaft gut unterrichtet. Der Austritt Malinowskis aus der Duma am 8. Mai 1914 rief unter den Arbeitern Unwillen und Empörung hervor. Deshalb verurteilte das provisorische Parteikomitee die Handlungsweise Malinowskis in einer scharfen Resolution, die ich dem Auslandsbüro des Zentralkomitees zur Veröffentlichung übersandte.
Ende Mai wurde der Vorschlag gemacht, die „Sarja Powolschja" öfter als einmal in der Woche erscheinen zu lassen. Die Redaktion der Zeitung beschloss, eine erweiterte Sitzung der Redaktion einzuberufen unter Hinzuziehung von Vertretern der Betriebszellen Samaras. Aber weder der Sekretär der Redaktion, Below, noch die anderen bolschewistischen Redaktionsmitglieder hatten diese Frage auf die Tagesordnung einer Sitzung des provisorischen Parteikomitees gestellt. Am Sonnabend abend, kurz vor der erweiterten Redaktionssitzung, traf ich Below, der mir von dieser Sitzung Mitteilung machte. Als ich ihm die Frage stellte, auf wessen Initiative die Sitzung einberufen worden sei und welche Fragen auf der Tagesordnung stünden, erwiderte er, dass die beiden menschewistischen Mitglieder der Redaktion diesen Vorschlag gemacht hatten, um die Frage der Verbesserung des Vertriebs und desöfteren Erscheinens der Zeitung zu besprechen. Auf meine Frage, ob die Menschewiki nicht einfach den Versuch machen wollten, Neuwahlen für die Redaktion durchzusetzen, erwiderte Below, dass daran gar nicht zu denken sei. Er fügte noch hinzu, dass ich misstrauisch sei und immer glaube, ich hätte es mit den Menschewiki aus der Hauptstadt zu tun. Dieses ganze Gespräch zwischen mir und Below hat, wenn ich nicht irre, in Gegenwart von Anna Nikiforowa stattgefunden. Am Montag nach der Arbeit begegnete ich dem Genossen Below am vereinbarten Orte und meine erste Frage galt dem Ergebnis der Sitzung des erweiterten Redaktionsplenums. Below erzählte mir ganz seelenruhig, dass die Vertreter der großen Betriebe zur Sitzung nicht erschienen wären und dass die Menschewiki dies ausgenutzt und Neuwahlen der Redaktion vorgeschlagen hätten. Dieser Vorschlag wäre dann auch angenommen worden. Die Menschewiki hätten drei ihrer Genossen und zwei Bolschewiki in die Redaktion hineingewählt, darunter auch ihn, Below. Er aber habe sich kategorisch geweigert, der neuen Redaktion anzugehören, weil die Menschewiki nicht loyal gehandelt hätten. Meine Empörung über die Schlamperei der bolschewistischen Redaktionsmitglieder, die nicht einmal im provisorischen Parteikomitee die Frage der Vorbereitung zu dieser Plenarsitzung der Redaktion gestellt hatten, kannte keine Grenzen. Noch mehr brachte mich aber die Tatsache auf, dass Below sich geweigert hatte, in die Redaktion einzutreten und ganz einfach seinen Posten als Redaktionssekretär verlassen hatte, ohne vorher mit uns gesprochen zu haben; denn durch sein Ausscheiden bekamen die Menschewiki die Redaktion kampflos in ihre Hände. Bereits in der ersten darauf folgenden Sitzung des provisorischen Parteikomitees wurde beschlossen, die Zeitung um jeden Preis wiederzuerobern, obwohl Below den Antrag einbrachte, ein eigenes Wochenblatt erscheinen zu lassen. Sein Antrag wurde jedoch entschieden abgelehnt. Wir Bolschewiki eröffneten eine Agitationskampagne in den Betrieben und Werkstätten gegen die menschewistische Richtung der Zeitung und für die Umwandlung der „Sarja Powolschja" in ein Blatt bolschewistischer Richtung. Während dieser Kampagne bezeichneten wir uns als „Prawdisten" und die Menschewiki als „Lutschisten". Die Arbeiter begriffen denn auch ausgezeichnet, dass hier ein Kampf zwischen Bolschewiki und Menschewiki vor sich ging. Trotz der öfteren Beschlagnahme arbeitete die „Sarja Powolschja" ohne Defizit, denn sie wurde die ganze Zeit von Arbeitern unterstützt. Als aber die Zeitung vollkommen in die Hände der Menschewiki geriet, als Dan, Martow und Co. die Spalten zu füllen begannen und die Bolschewiki jede Mitarbeit einstellten, da hörten auch die Arbeiter auf, sich für die Unterstützung dieses Blattes etwas vom Munde abzusparen. Bereits während der ersten Woche der menschewistischen Herrschaft fielen die Eingänge von 89 Rubel in der Woche auf nur 15 Rubel. Für die völlige Genauigkeit dieser Zahlen kann ich mich nicht verbürgen, sie sind mir so im Gedächtnis haften geblieben und geben jedenfalls das allgemeine Bild richtig wieder.
Als der Boden durch unsere Agitation genügend vorbereitet war, verlangten wir die Einberufung einer erweiterten Redaktionssitzung der „Sarja Powolschja" zur Klärung der Frage der Richtung des Blattes, was gleichbedeutend war mit einer Befragung all der Mitglieder und Sympathisierenden unserer Partei, die in den Betrieben standen. Zu diesem Zweck wurden in den Betrieben Versammlungen von Parteimitgliedern und Sympathisierenden abgehalten, in denen sowohl Bolschewiki als auch Menschewiki auftraten und die taktischen und organisatorischen Auffassungen der beiden Strömungen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auseinandersetzten. Am Schluss dieser Versammlungen wurde darüber abgestimmt, ob die Arbeiterzeitschrift Samaras im Sinne der „Prawda" oder des „Lutsch" redigiert werden soll. Darauf wählte man Delegierte zu der Redaktionskonferenz, die über diese Frage endgültig zu beschließen hatten. Am 8. Juni versammelten sich die Delegierten der Betriebszellen in einer Sommerwohnung, mussten aber rasch wieder auseinander gehen, da sich Polizei und Spitzel bereits dem Versammlungsort genähert hatten. Das provisorische Parteikomitee konnte vor Einberufung der erweiterten Redaktionssitzung, die eigentlich eine Konferenz war, nicht zusammenkommen, da alle seine Mitglieder als Referenten der Bolschewiki an den Betriebsversammlungen teilnahmen. Deshalb wussten wir nicht genau, wer die Mehrheit hinter sich hatte. Nachdem aber die Versammlung aufgelöst worden war, rechneten wir nach und stellten dabei fest, dass wir mehr als zwei Drittel der Stimmen bekommen hatten. Die Konferenz wurde auf den nächsten Sonntag verschoben.
Gleich nach dem Beginn der Kampagne, die das provisorische Parteikomitee zur Eroberung der Zeitung begonnen hatte, wandte ich mich an das Auslandsbüro des Zentralkomitees mit der Frage, ob es in der Lage sei, uns für die Sarja Powolschja" Artikel über allgemein politische Fragen zu liefern, da wir in Samara nur wenige Schriftsteller hatten. Als Antwort erhielt ich ein Schreiben des Genossen Lenin, in dem er unseren Beschluss guthieß und die Unterstützung durch die literarischen Kräfte der Bolschewiki zusagte. Er bat, im Fall eines Sieges ein Telegramm mit vereinbartem Text abzusenden, und versprach, gleich nach Einlauf dieses Telegrammes die Artikel für unsere erste Nummer einzusenden. Genosse Lenin hob noch in seinem Schreiben die Bedeutung der „Sarja Powolschja" für alle an der Wolga gelegenen Städte hervor. Außerdem setzte ich mich in dieser Angelegenheit noch mit einem Bolschewik in Verbindung, der unserer Organisation fernstand und dessen Adresse ich in Moskau bekommen hatte. Damals war er in der Semstwo zu Samara tätig. Seinen Namen habe ich vergessen.
Die zum zweiten Mal zusammengekommenen Delegierten konnten auch die für den 15. Juni im Walde einberufene Versammlung nicht abhalten, da noch vor Beginn der Versammlung die Patrouille, die wir in der Nähe des Versammlungsortes aufgestellt hatten, durch ein vereinbartes Lied zu verstehen gab, dass in der Nähe Polizei aufgetaucht war. Nun beschloss man, in Booten auf das andere Ufer der Wolga hinüberzusetzen und dort die Versammlung abzuhalten, weil es nicht möglich war, den Beschluss über diese Frage länger hinauszuziehen. Als wir am anderen Ufer angelangt waren, begaben wir uns auf einen Hügel, der von Wald umgeben war und von dem aus wir alles sehen konnten, was auf der Wolga vor sich ging. Obwohl die Versammlung weit von der Stadt abgehalten und der Versammlungsort gewechselt worden war, waren fast alle bolschewistischen Delegierten erschienen. Das Referat über die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Redaktion hielt ein ehemaliges Redaktionsmitglied, der Bolschewik Genosse Kukuschkin, und das Korreferat ein menschewistischer Redakteur. Dann fand eine rege Diskussion statt, und die Abstimmung ergab drei Viertel der Stimmen für die bolschewistische Richtung der Zeitung. Charakteristisch war, dass für die Bolschewiki die Arbeiter der Rohrefabrik und anderer großer Betriebe stimmten, für die Menschewiki, dagegen die Vertreter der Bäckereien und anderer Kleinbetriebe. Die Konferenz wählte eine neue Redaktion: fünf Bolschewiki, von denen vier zu Redakteuren bestimmt wurden, während der fünfte nur als Kandidat galt; den Menschewiki wurde das Recht eingeräumt, aus ihrer Mitte ein Redaktionsmitglied zu stellen, worauf sie aber verzichteten. Nun bestand die Redaktion aus den Bolschewiki: Below, Bednjakow, Kukuschkin (einem Buchdrucker) und dem Genossen, der in der Semstwo beschäftigt war, dessen Name mir aber entfallen ist; zum Kandidaten wurde Benjamin, ein Mitglied des provisorischen Parteikomitees bestimmt. Gleich nachdem ich von der Konferenz zurückkehrte, sandte ich an Genossen Lenin das vereinbarte Telegramm mit der Nachricht über unseren Sieg Die erste Nummer der „Sarja Powolschja", die dann erschien, erblickte ich erst, als ich bereits im Gefängnis saß, denn schon am Tage darauf wurde ich verhaftet. Die erste Nummer enthielt einen guten Leitartikel: „Reform oder Reformen?", der den Lesern ankündigte, dass die Zeitung von nun an im Geiste der „Prawda" wirken werde. Die Arbeiter begrüßten begeistert die neue Richtung der Zeitung, was die massenhaft eingegangenen Begrüßungsschreiben und die auf einmal gestiegenen Geldüberweisungen deutlich bewiesen. Als kurz vor dem Kriege die revolutionäre Welle plötzlich anwuchs, verbot die Polizei diese Zeitung genau so wie die Petersburger „Prawda" und nahm unter den Bolschewiki zahlreiche Verhaftungen vor.
Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten hat die „Sarja Powolschja" doch eine große Rolle in der Arbeiterbewegung Samaras jener Zeit gespielt. Ende Mai oder Anfang Juni 1914 erhielt ich von dem ausländischen Büro des Zentralkomitees den Auftrag, eine Parteikonferenz des Wolgagebiets einzuberufen und die Wahlen zum internationalen Sozialistenkongress vorzubereiten, der am 15. August 1914 in Wien hätte stattfinden sollen. Gleichzeitig wurden wir auch aufgefordert, die Wahlen für den bevorstehenden Parteitag vorzunehmen. Ich erhielt die Direktive, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Arbeiter, die auf den verschiedenen Gebieten der Arbeiterbewegung tätig waren, als Delegierte gewählt werden sollten. Da ich allein außerstande war, das ganze Wolgagebiet zu bereisen (ich arbeitete ja an dem Bau der Straßenbahn, und die Arbeit war eilig), so vereinbarte ich mit dem Genossen Kukuschkin und der Genossin Anna Nikiforowa (sie arbeitete in Sysranj, kam aber sehr oft nach Samara, wo wir uns öfters trafen), dass sie diese Arbeit übernehmen sollte. Sie hatten alle an der Wolga gelegenen Städte zu besuchen, festzustellen, welche Organisationen dort bestanden, und mit ihnen einen Kontakt herzustellen. Danach sollte die Parteikonferenz des Wolgagebiets einberufen werden, die die Leitung des Wolgabezirks und die Delegierten zum Parteitag zu wählen hatte. In Verbindung damit sollten die Genossen dazu auffordern, in jeder Stadt auch die Wahlen zum internationalen Kongress in Wien vorzunehmen Die Ergebnisse der Reise der beiden Genossen erfuhr ich nicht, da ich zu der Zeit bereits im Gefängnis steckte. Die Ereignisse aber, die Ende Juli 1914 über uns hereinbrachen, machten die Einberufung sowohl des Wiener Kongresses als auch unseres Parteitages unmöglich.

 

Verhaftung, Gefängnis und Verbannung (1914-1915)

Als ich am 16. Juni vom Mittagessen zur Arbeit zurückging, vernahm ich im Gärtchen neben dem Dom von Samara hinter mir hastige Schritte. Irgend jemand rief mir zu: „Warten Sie einen Augenblick, mein Herr!" Als ich mich umsah, erblickte ich den hinter mir herlaufenden und außer Atem gekommenen Revierinspektor. Ich machte natürlich lange Beine, als ich jedoch die Gartenpforte erreicht hatte, die in eine enge leere Straße führte, verstellten mir den Weg zwei Spitzel, die ich in der letzten Zeit oft unter den Arbeitern gesehen hatte, die das Geleise unweit meiner Wohnung legten. Als der Polizist mich erreicht hatte, fragte er nach meinem Kamen, worauf ich ihm erwiderte, dass er ihn wohl selbst wissen müsse, wenn er mir nachlaufe. Nicht weit von uns stand eine leere Droschke. Sehr bald darauf war ich in der Gendarmerieverwaltung. Weder bei mir noch in meiner Wohnung hatte ich irgend etwas Illegales. Und die Nummern der „Prawda" und der „Prosweschtschenje" hatte ich in meinem Zimmer nur in einzelnen Exemplaren. Wäre ich nicht am Montag, sondern am Sonnabend festgenommen worden, so hätten die Gendarmen bei mir einen chiffrierten Brief der Genossin Krupskaja gefunden. Dieser Brief war schwer zu entziffern, und ich zerbrach mir ergebnislos zwei Tage lang den Kopf, um nur die dort angegebenen Adressen herauszubekommen. Nun beschloss ich, den Gendarmen gegenüber den Ton der edlen Entrüstung eines unschuldigen und sehr beschäftigten Menschen anzuschlagen. Das gelang mir anfangs auch. Der Leiter der Gendarmerieverwaltung Posnanski geriet in Zweifel und hätte mich beinahe als einen aus Versehen Verhafteten wieder auf freien Fuß gesetzt, aber es kam plötzlich anders. Später rächte er sich an mir sehr schwer wegen seines Schwankens. Als man mich zu ihm brachte, erklärte ich, dass ein Irrtum vorliegen müsse und dass man mich offenbar für einen anderen halte; ich sei beim Bau der Straßenbahn beschäftigt, und da die Arbeit sehr eilig sei, so warte man dort auf mich. Es stellte sich heraus, dass die Gendarmen meinen Namen nicht kannten und mich lediglich auf Grund einer Photographie suchten. Diese war mir aber wenig ähnlich, besonders wenn ich den Arbeitsanzug an hatte. Die Photographie machte aber auf mich selbst einen verblüffenden Eindruck: Stirn, Augen und Nase waren mein, die Haare aber und der Bart fremd — ich hatte nie im Leben einen solchen Bart oder eine solche Frisur getragen. Zu alledem war ich auf der Photographie in einem Smoking dargestellt, einem Kleidungsstück, das ich nie besessen habe. Sofort erkannte ich Schitomirskis Arbeit, denn die Stellung, die er mir auf dem Bilde gegeben hatte, verriet ihn. Kurz vor meiner Abreise aus Paris hatte Schitomirski eine Zeitlang mir, Kotow, Sefir, Andronnikow, Kamenew und anderen Genossen zugesetzt, wir sollten uns alle mal von ihm aufnehmen lassen, da er einen guten Apparat hätte. Lange wollten wir nicht darauf eingehen, als wir aber einmal an einem sonnigen Tage zufällig bei ihm zusammenkamen, schlug er wiederum vor, eine Aufnahme zu machen. Wir erklärten uns einverstanden damit, und er photographierte uns alle zusammen. Dann drang er darauf, noch ein besonderes Bild von mir zu machen. Ich erklärte mich auch damit einverstanden, verlangte aber, dass er mir die Negative übergebe, was Schitomirski mir versprach und tatsächlich hielt. Nun zeigte mir Posnanski eine dieser Aufnahmen, die ich sofort am Hintergrund erkannte, obwohl Schitomirski mich in einen Smoking umgekleidet und meine Haar- und Barttracht vollkommen verändert hatte. Schitomirski konnte sehr gut zeichnen, deshalb muss ihm das gar keine Schwierigkeiten gemacht haben. Aber nicht nur an der Photographie erkannte ich die „Arbeit" Schitomirskis. Die Beschreibung meines Körpers (da er Arzt war, so hatte ich mich von ihm einige Male behandeln lassen) und der Kleidung, die ich gewöhnlich trug, bewiesen deutlich, dass sie von ihm stammte. Die von Schitomirski vorgenommenen Korrekturen verliehen dem Bilde eine geringe Ähnlichkeit. Das gab mir Mut und machte Posnanski unsicher. Während er das Bild betrachtete, trat ein Gendarm ins Zimmer. Posnanski gab ihm mein Bild und fragte ihn, ob im Zimmer jemand wäre, der diesem Bilde ähnlich sehe. Der Gendarm sah sich um und gab eine verneinende Antwort. Daraufhin begann ich die Komödie noch besser zu spielen, Posnanski aber ließ sich alle über meine Person vorhandenen Zirkulare bringen und nannte mir meinen wirklichen Namen, nicht den im Pass angegebenen. Als er dann laut die Zirkulare vorzulesen begann, war es mir bereits klar, dass er mich nicht mehr freilassen werde. Er erklärte, dass die Sache ja gar nicht so eilig wäre, und dass, wenn es sich herausstellen sollte, dass ich nicht der Gesuchte sei, man mich immer noch zeitig genug freilassen werde. Darauf brachte man mich ins Gefängnis. Nach einigen Tagen kam Posnanski zu mir und zeigte mir ein Telegramm aus Kutais, in dem es hieß, dass dort tatsächlich ein Sanadiradse angemeldet sei, dass dieser aber augenblicklich in Kutais wohne. Posnanski empfahl mir, meinen richtigen Namen zu nennen und sagte, dass ich mein Benehmen sonst zu bedauern haben würde. Ich dachte, das Telegramm sei nur eine Finte und gab ihm überhaupt keine Antwort. Nach einigen Tagen kam er wieder ins Gefängnis, um mich zu vernehmen. Er zeigte mir einen Auszug aus dem standesamtlichen Register der Stadt Kutais, aus dem hervorging, dass Sanadiradse Brüder und Schwestern hatte, während ich am Tage meiner Verhaftung erklärt hatte, keine Geschwister zu haben. Auch die von mir angegebenen Namen von Großvater und Mutter stimmten nicht mit den Namen der Eltern des wirklichen Sanadiradse überein (Anm.: Mein Pass auf den Namen Sanadiradse war mir aus dem Kaukasus zugesandt worden, ohne dass man mir irgendwelche Details über die Angehörigen des Betreffenden mitteilte. Ich musste deshalb alles mögliche erfinden. Ich rechnete nämlich damit, dass die Gendarmen sich lediglich danach erkundigen würden, ob ein Pass unter der und der Nummer an dem und dem Tage einem gewissen Sanadiradse ausgestellt worden sei. Bei der zweifelnden Haltung Posnanskis würde eine einfache bejahende Antwort aus Kutais zu meiner Freilassung geführt haben.). Als ich nun sah, dass die Lage vollkommen klar war, nannte ich meinen wirklichen Namen. Darauf entgegnete mir Posnanski, dass ich gut daran getan hätte, mich zu nennen, weil bei ihm nichts gegen mich vorliege und er sogar imstande sei, mich freizulassen. Auf meine Frage, warum er das nicht tue, erwiderte er dass ich zu diesem Zweck auf seine Seite übergehen müsste. Aus meiner Gefängnispraxis wusste ich sehr wohl, dass die Gendarmen den politischen Gefangenen oft vorschlugen, in ihre Dienste zu treten, d. h. Verräter und Lockspitzel zu werden, aber mir persönlich war nie ein solcher Vorschlag gemacht worden. Auch damals kam mir das Angebot Posnanskis völlig unerwartet, und ich antwortete ihm ganz kaltblütig (ich weiß auch jetzt nicht, woher ich diese Kaltblütigkeit genommen hatte), dass ich es vorziehe, neutral zu bleiben und es weder mit den Revolutionären noch mit den Gendarmen zu halten. Meine Antwort machte Posnanski wütend, und er begann zu schreien: er wisse, dass ich ein Mitglied des ZK und Anhänger Lenins sei, dass ich mit dem Auftrag hergekommen sei, eine Parteikonferenz des Wolgagebiets einzuberufen, dass man mich in Samara unter dem Namen Jermann kenne, dass ich dort die ganze Kampagne zur Eroberung der „Sarja Powolschja" geführt hätte usw. Zum Schluss erklärte er, dass man mich vors Gericht stellen werde, obwohl man bei mir nichts gefunden habe, und dass man zu diesem Zweck es sogar darauf ankommen lassen würde, den Provokateur, der mich verraten hatte, als Zeugen gegen mich auftreten zu lassen. Nach dem Verhör begann ich all die Tatsachen zu analysieren, die der Gendarm im Gespräch mit mir ausgeplaudert hatte. Dass in die Sache ein Provokateur verwickelt war, unterlag keinem Zweifel. Offenbar war dieser Provokateur über Samara informiert, denn nur dort trat ich zweimal unter dem Namen Jermann auf: in der Versammlung des Arbeiterkonsumvereins vor den Wahlen zu der Sitzung der erweiterten Redaktion der „Sarja Powolschja", wo ich unter diesem Namen eine Ansprache gehalten, und in der eigentlichen Sitzung der Redaktion, wo ich ebenfalls diesen Namen benutzt hatte. Von der Konferenz der Organisationen des Wolgagebietes wussten nur der Genosse Kukuschkin und A. Nikiforowa. Wäre einer von ihnen Provokateur gewesen, so würde er auch über das Provisorische Parteikomitee Mitteilungen gemacht haben. Darüber aber hatte Posnanski ja nichts gesagt. Am meisten Kopfschmerzen machte mir seine Behauptung, dass ich Mitglied des ZK sei. Auf der Parteikonferenz im Januar 1912 war auch meine Kandidatur zum ZK aufgestellt worden, da ich aber nicht sofort nach Russland reisen konnte, fiel sie von selbst weg. Nun waren aber auf der Parteikonferenz die Wahlen zum ZK geheim vorgenommen worden, so dass der Lockspitzel, der offenbar an der Parteikonferenz teilgenommen hatte, nicht genau wusste, wer eigentlich gewählt worden war. Deshalb hatte er zu den Gewählten auch mich gerechnet (Anm.: Erst nach der Februarrevolution ersah ich aus den durch M. A. Zjawlowski veröffentlichten Dokumenten der Ochrana, dass in der am 1. November 1913 im Ausland stattgefundenen Sitzung des ZK beschlossen worden war, dem russischen Büro das Recht einzuräumen, mich und die Genossin W. Jakowlewa zu kooptieren. In den Sitzungen des ZK wurde oft beschlossen, welchen Funktionären ein bestimmter Au! rag erteilt werden sollte. Da aber im ZK Malinowski saß, so wusste natürlich auch das Polizeidepartement über alles Bescheid. Das aber erfuhren wir erst nach der Februarrevolution 1917.). Also — ging es mir nach dem Verhör durch den Kopf — muss die Gendarmerie und die Geheimpolizei genau über die Parteikonferenz orientiert sein! Alle diese Gedanken waren höchst qualvoll. Wie entsetzlich: man trifft sich mit einem Genossen, bespricht mit ihm Fragen des Klassenkampfes, er aber entpuppt sich nachher als ein Judas, der die Interessen der eigenen Klasse verrät! Das schlimmste dabei ist, dass man schließlich anfängt, in jedem Genossen einen Verräter zu sehen.
Die Rache Posnanskis ließ nicht lange auf sich warten. Bald nach dem Verhör brachte man mich in die Gendarmerieverwaltung, dann ins Polizeipräsidium und von da aus in einen dunklen Keller der Kriminalpolizei, angeblich zwecks „Feststellung der Personalien", obwohl diese von Posnanski längst genau festgestellt worden waren. Nach allerhand Schikanen wurde ich in das Untersuchungsgefängnis der Polizeiverwaltung überführt, wo alle möglichen Diebe, Zuhälter, Hehler usw. saßen. Dort lernte ich den Abschaum der Gesellschaft kennen. Was gab es da nicht alles für Gauner- und Diebesspezialitäten! Einfache Einbrecher, ganz schwere Jungen, Taschendiebe, die ihr Handwerk nur in Banken ausübten, Gauner, die auf Gimpelfang ausgingen, den nach Samara kommenden Bauern „Gold" verkauften und bei ihnen falsches Geld einwechselten usw. Es war entsetztlich eng und schmutzig. Ich musste ganze Nächte lang auf dem Fensterbrett sitzen und mich an das Gitter klammern. Die Polizeibeamten waren grob, Schimpfworte regnete es nur so. In diesem schmutzigen Loch war ich der einzige politische Gefangene. Ich hielt mich abseits von allen Gruppen, die sich unter den Insassen des Untersuchungsgefängnisses je nach den entsprechenden „Spezialitäten" (mit besonderen Führern) gebildet hatten. Die „Führer" dieser Gruppen erinnerten sich sogar der „Kränkungen", die ihnen politische Gefangene im Jahre 1905 und später zugefügt hatten. Beinahe hätte ich sogar dafür büßen müssen.
Bei den Überführungen von einem Gefängnis ins andere erkannten mich einmal Genossen aus Samara. Es gelang mir sogar, mit ihnen einige Worte zu wechseln. Sie rieten mir, dem Richter, dem ich wegen der falschen Papiere zugeführt werden sollte, zu erklären, dass ich gegen sein Urteil Berufung einlegen werde. In diesem Falle, sagten sie, würde ich in das „Arresthaus für Adlige" kommen, wo man leicht Zeitungen erhalten, Besuche bekommen und sich durchs Fenster unterhalten könnte. Außerdem versprachen sie mir noch, einen Rechtsanwalt zum Friedensrichter zu schicken, um den Versuch zu machen, mich gegen Kaution frei zu bekommen. Endlich stand ich vor dem Richter. Der Friedensrichter erklärte mir ohne weiteres, dass ich wegen Anmeldung unter falschen Papieren zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden sei. In politischen Angelegenheiten Verhaftete wurden selten dafür bestraft, dass sie unter fremden und falschen Pässen lebten. Bestrafte man sie aber dafür, so wurden sie doch nicht in Sträflingskleider gesteckt, und man ließ sie mit anderen „Politischen" zusammen sitzen. Ich hatte es also hier mit einem Racheakt Posnanskis zu tun. Er ließ auch nicht von mir, als ich bereits nur noch den Gefängnisbehörden unterstand und zur Verbannung nach Sibirien verurteilt worden war. Gegen Kaution wollte mich der Richter nicht freilassen. Ich wurde in das Arresthaus für „Adlige" überführt. Hier bekam ich die letzten Nummern der „Prawda" und der „Sarja Powolschja" zu sehen. Beide Organe sprachen mit einem Male eine offen revolutionäre Sprache. Ich erfuhr von dem Streik in Baku und dem Widerhall, den er im Lande gefunden hatte. Die Genossen, die ans Fenster kamen, erzählten mir, dass das provisorische Parteikomitee von Samara, dem ich als Mitglied angehörte, auf Beschluss einer von vielen Parteifunktionären besuchten Versammlung sich in ein ständiges verwandelt habe, dass man die Ankunft des Genossen Muranow erwarte, dass die Umwandlung der „Sarja Powolschja" in ein bolschewistisches Blatt nicht nur in Samara mit Zustimmung aufgenommen wurde, sondern auch im ganzen Wolgagebiet, und dass aus der ganzen Gegend Begrüßungsschreiben, Geldspenden und neue Abonnements eintreffen. Schließlich begann ich mit angehaltenem Atem den Streik und die Barrikadenkämpfe in Petersburg (Anfang Juli 1914) zu verfolgen. Einmal bemerkte ich, dass, sobald zu meinem Fenster ein Genosse kam, um mir etwas zu erzählen, im gegenüberliegenden Gesträuch sich jemand versteckte, unser Gespräch belauschte und sich Notizen machte. Ich warnte die Genossen und war gezwungen, verantwortlichen Parteifunktionären den Besuch bei mir zu verbieten, da sie sonst verhaftet werden konnten. Der Friedensrichter erklärte dem Rechtsanwalt, dass bei der Gendarmerie noch eine Sache gegen mich vorliege und dass er mich vor der Klärung dieser Angelegenheit nicht freilassen könne. Bald wurde es in dem „Arresthaus für Adlige" strenger; deshalb verzichtete ich auf eine Berufung und wurde ins Gefängnis überführt. Hier begannen für mich neue Qualen. Man trennte mich von den politischen Gefangenen. Da ich jedoch früher im selben Korridor mit den politischen Gefangenen saß, so gelang es mir trotz des strengen Regimes, die Genossen zu sehen und zu sprechen. Nun versetzte man mich aber in einen Korridor, wo nur Strafgefangene saßen, und auch meine Spaziergänge musste ich mit ihnen zusammen machen. Man schnitt mir das Haar und steckte mich in eine Sträflingsuniform, die ich bis zur Abbüßung meiner Strafe tragen musste. Am schlimmsten war für mich, dass die Pritsche schon um 6 Uhr morgens aufgezogen wurde und bis zur Kontrolle nicht benutzt werden konnte. Die Kontrolle aber kam recht spät zu mir, da die Strafgefangenen außerhalb des Gefängnisses auf Arbeit waren. Sehr anstrengend war auch das Saubermachen der Zelle. Der Boden, der untere Teil der Wand und das Geschirr mussten von außen geradezu glänzen. Für jede kleinste Verfehlung gab es Karzer. Man muss der damaligen Direktion des riesigen Gefängnisses in Samara Gerechtigkeit widerfahren lassen: die äußere Sauberkeit war ideal, obwohl sie durch eine brutale Behandlung der Gefangenen erreicht wurde. In den zweiundeinhalb Monaten, die ich als gemeiner Verbrecher in Einzelhaft verbrachte, las ich sehr viele wissenschaftliche Bücher, russische und ausländische Klassiker.
Während meiner Haft wurde ich wiederholt verhört. Zu einem dieser Verhöre erschien ein junger, noch unerfahrener Gendarm, von dem ich erfuhr, dass der Krieg ausgebrochen war, und der mir alles vorlas, was die Gendarmerieverwaltung an Material gegen mich besaß. Von ihm erfuhr ich auch, was für einen Vorschlag die Gendarmerieverwaltung dem Polizeidepartement in meiner Sache gemacht hatte. Dieser Vorschlag lautete auf fünf Jahre Verbannung nach Sibirien. Auf Grund einiger unrichtiger Daten in dem Material der Ochrana wies ich nach, dass viele gegen mich erhobene Beschuldigungen einfach aus der Luft gegriffen waren und zweifelte unter Berufung darauf die Richtigkeit des gesamten Anklagematerials an. Das half. Man verurteilte mich nur zu drei Jahren Verbannung in das Jenissejische Gouvernement. Nun wurde ich in die Abteilung überführt, in der Genossen saßen, die wegen politischer Delikte zur Verbannung verurteilt worden waren. Des Krieges wegen funktionierten die Gefangenentransporte nicht. Auf eigene Kosten hinzureisen wurde mir aber nicht erlaubt. Bald sammelte sich in Samara eine Unmenge von Menschen an, die auf die Wiederaufnahme der Gefangenentransporte warten mussten. Während eines Spazierganges erblickte ich außer einigen Genossen aus Samara auch den Genossen Kartaschow vom „Nordrussischen Arbeiterbund", den ich seit 1903 nicht mehr gesehen hatte. Schließlich setzte sich ein Transport nach dem anderen in Bewegung. Ich aber wurde immer noch im Gefängnis zurückgehalten. Genossen aus Samara, die erst nach mir verurteilt worden waren, konnten schon mit dem ersten Transport fort, ich aber musste immer noch da sitzen und warten. Alle meine Proteste bei der Gefängnisdirektion blieben erfolglos. Erst nach einer Beschwerde bei der Gefängnisinspektion und dem Staatsanwalt wurde ich abtransportiert. Vom Augenblick der Urteilsfällung an (nach den drei Monaten Haft wegen des falschen Passes) bis zu meiner Ankunft am Verbannungsort waren sechs Monate vergangen! Der letzte Racheakt im Gefängnis zu Samara war eine Leibesvisitation im Gefängnishof vor der Übergabe an die Wache des Gefangenentransportes. Bei bitterem Frost zog man mich nackt aus, suchte in allen Nähten meiner Kleidung nach Geld und feinen Sägen und begründete dieses Vorgehen damit, dass ich vor zwölf Jahren aus dem Gefängnis geflohen war.
Ich war so froh über die Befreiung aus diesem Gefängnis, dass der Transport und Aufenthalt in den Sträflingswagen bis Tscheljabinsk mir wie ein Paradies vorkam. Aus dieser Stimmung wurde ich allerdings bald durch die Gefängnisse in Tscheljabinsk und Krasnojarsk herausgerüttelt. In Tscheljabinsk waren gerade die Begleitsoldaten nicht da, die uns nach Nowonikolajewsk bringen sollten. Infolgedessen führte man uns den ganzen Tag herum und brachte uns schließlich abends ins Gefängnis; Nach einer sehr strengen Leibesvisitation sperrte man lins fünfundachtzig Menschen in eine Zelle, an deren Tür die Inschrift angebracht war: „Für achtundzwanzig Häftlinge". Es war unglaublich eng. Man konnte weder liegen noch sitzen noch stehen. Die Luft war so stickig, dass viele Gefangene in Ohnmacht fielen. Gegen Morgen stopfte man in unsere Zelle noch Leute hinein, die mit dem Transport aus Nowonikolajewsk gekommen waren. Nun wurde es überhaupt unmöglich zu atmen. Da wissen die Gefangenen die Fenster auf. Es war Ende November 1914. Die Folge war, das fast alle Insassen der Zelle sich erkälteten. Heiserkeit und Husten ließen nicht mehr von uns während der ganzen Reise, und es gab auch Fälle von Lungenentzündung. Das war schon kein Paradies mehr, sondern die leibhaftige Hölle.
Bis nach Krasnojarsk gelangten wir so ziemlich ohne Zwischenfälle, abgesehen von der Niederkunft einer Frau in unserem Eisenbahnwagen, in dem niemand war, der auch nur etwas von Medizin verstand. Im Transportgefängnis von Krasnojarsk aber musste ich auf den weiteren Transport nach Jenissejsk bis Ende Januar 1915 warten.
Ich erwähnte bereits, dass ich von dem Ausbruch des Krieges erst durch einen jungen Gendarm erfuhr, der mich vernommen hatte. In den letzten Tagen meiner Haft im „Arresthaus für Adlige" hatte ich in den Zeitungen nichts Konkretes über die Möglichkeit eines Krieges feststellen können. Im Gefängnis aber war ich dermaßen isoliert (ich saß ja unter den Strafgefangenen!), dass ich während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes dort mit niemand sprach und von niemand Besuch bekam, da das Regime in dem Gefängnis zu Samara damals sehr streng war. Der erwähnte Gendarm erzählte mir, dass Russland, Frankreich und England gegen Deutschland und Österreich Krieg führten, und dass Deutschland Russland überfallen hätte. Dieser Krieg könnte seiner Ansicht nach kaum länger als sechs Monate dauern, da er große Volksmassen mitgerissen und das ganze normale Leben der kriegführenden Länder zum Stillstand gebracht habe. Dann teilte er mir mit, dass Plechanow sich für den Krieg gegen Deutschland erklärt und dass die deutsche Sozialdemokratie, Liebknecht ausgenommen, die Kriegskredite bewilligt habe; ferner dass Liebknecht seiner Haltung wegen durch die Militärbehörden füsiliert worden sei. Auf Russland zurückkommend, erklärte der Gendarm, durch das Land gehe eine Welle großer nationaler Begeisterung. In Odessa habe sich Purischkewitsch auf der Straße mit den Juden geküsst, in ganz Russland gehen patriotische Manifestationen vor sich, und die Streiks, die vor der Kriegserklärung zu verzeichnen waren, hätten völlig aufgehört. Dass der Krieg ausgebrochen war, glaubte ich ihm, alles andere aber hielt ich für erlogen, obwohl ich gar keine Möglichkeit hatte, seine Mitteilungen nachzuprüfen. Einige Tage lang verbrachte ich in banger Unruhe. Was ging denn eigentlich in der Welt vor sich? Was ist aus dem nach Wien anberaumten Internationalen Sozialistenkongress geworden? Was haben die Sozialisten aller Länder getan, um den Krieg zu verhindern? Es bestanden doch die Beschlüsse des Baseler Kongresses der 2. Internationale gegen den Krieg. Auf alle diese Fragen erhielt ich natürlich keine Antwort. An einem für mich besonders qualvollen Tage wurde ich in ein Bad geführt, das aus Einzelzellen bestand. Dort versuchte ich, mit meinem Nachbar in Verbindung zu kommen. Dieser antwortete mir auch. Es stellte sich heraus, dass er ein ehemaliger Beamter der Gefängnisverwaltung war, der einer Veruntreuung wegen eine Strafe abzubüßen hatte. Da er tagsüber im Gefängnisbüro arbeitete, so war er über das, was in der „Freiheit" geschah, vollkommen unterrichtet. Er bestätigte mir alles, was der Gendarm erzählt hatte. Er teilte mir mit, dass sich die Füsilierung Liebknechts nicht bestätigt habe, dagegen stimme es, dass die deutschen und französischen Sozialisten ihre Regierungen unterstützen. Nirgends hätte man gegen den Krieg protestiert, wenigstens hätten die Zeitungen keine Nachrichten darüber gebracht. Auf meine Frage nach der Stellungnahme der russischen Sozialisten zum Krieg konnte er mir keine befriedigende Antwort geben. Die Ansicht Plechanows, dessen Rolle in unserer Partei mir bekannt war, konnte für mich nicht maßgebend sein. Ohne viel Grübeleien und Analysen war es mir klar, dass die Zarenregierung den Krieg nicht im Interesse der Arbeiter und Bauern führte und dass für die russische Revolution eine Niederlage des zaristischen Russland nützlicher sein werde, als ein Sieg, weil im Falle einer Niederlage der Zarismus geschwächt werden und der Kampf gegen ihn leichter sein würde. Die Revolution des Jahres 1905 war nach der Niederlage im Kriege gegen Japan gekommen, und die Pariser Kommune des Jahres 1871 war nach der Niederlage Napoleons III. ausgerufen worden. Das war die ganze Analyse der Kriegsfrage, die ich damals vornahm.
Sehr oft wurden an den Abenden in der Gefängniskirche Gottesdienste abgehalten und dabei die Zarenhymne gesungen, was ich stets für. ein Zeichen hielt, dass die russischen "Waffen irgendwo siegreich gewesen waren. Solche Augenblicke bedrückten mich stets sehr, aber später pflegte sich herauszustellen, dass in der Kirche auch andere „Siege" gefeiert wurden, die Wiedereinnahme ehemals russischer Städte, wie Augustowo usw. Schließlich begann man, uns über den Verlauf des Krieges zu unterrichten, indem man täglich die Telegramme der russischen Telegraphenagentur unter uns verteilte. Aber diesen Telegrammen schenkten wir natürlich sehr wenig Glauben. Über die Stellung des Zentralkomitees, des Zentralorgans und des Genossen Lenin zum Krieg erfuhr ich indirekt aus einem Telegramm dieser Agentur über die am 14. November 1914 erfolgte Verhaftung von fünf Mitgliedern der bolschewistischen Dumafraktion und des Genossen Kamenew. Ich zog damals den Schluss: verhaftet man die Genossen, so heißt das, dass sie gegen den Krieg sind, übrigens hatte ich nie im geringsten daran gezweifelt. Während des Transports nach Krasnojarsk sah ich viele Bundisten, lettische, polnische Sozialdemokraten und Anhänger anderer Parteien. Nicht eine einzige von ihnen nahm einen so einheitlichen und klaren Standpunkt dem Kriege gegenüber ein wie die Bolschewiki, von denen ich nicht wenigen auf dem Transport begegnete. Obwohl sie aus den verschiedensten Gegenden Russlands herkamen und miteinander nicht bekannt waren, nahmen alle die gleiche Stellung zum Krieg ein. In dem Gefängnis zu Krasnojarsk traf ich den Genossen Burjanow aus Samara, den Genossen Tuntul aus dem Baltikum, den Genossen Masljannikow und andere. Wir alle redeten uns vor unserem Weitertransport zum Bestimmungsort heiser in Diskussionen mit den Anhängern der Vaterlandsverteidigung unter den Menschewiki, Bundisten und anderen Opportunisten aus den revolutionären Parteien.
An der Angara traf ich sehr viele Bolschewiki, aber das Bild war auch hier das gleiche: alle waren gegen den Krieg. In dem Dorfe aber, in das ich zur Ansiedlung gebracht wurde, war unter den dort ansässigen Anarchisten, Sozialrevolutionären, Maximalisten, polnischen Sozialdemokraten und Bolschewiki kein Anhänger des Krieges zu finden. Allerdings gab es bei der Beurteilung der möglichen Folgen des Krieges verschiedene Schattierungen. Ganz zufällig gelang es mir in der Verbannung, mit dem Genossen Sefir in Briefwechsel zu treten: Im Sommer 1913 hatte ich ihn in Paris zurückgelassen. Nun war er mit einmal an der französischen Front, wie viele andere russische Emigranten in Frankreich und unter ihnen bedauerlicherweise auch Bolschewiki. Ich war damals sehr darüber erstaunt (und erbittert), dass Genosse Sefir, ein so erprobter und der Partei ergebener Bolschewik sich als Freiwilliger zur französischen Armee gemeldet hatte. Trotzdem er mir sehr ausführliche Briefe schrieb, in denen er mir des langen und breiten seine Handlungsweise zu erklären suchte, verstand ich ihn doch nicht, denn er war gegen den Krieg, bedauerte aber nicht den Eintritt in die französische Armee. Übrigens kamen ihm später die militärischen Kenntnisse, die er als Korporal bei den Franzosen erworben hatte, an den Fronten gegen die Weißen zugute. Genosse Sefir kam zu mir im Oktober 1917, als bereits in Moskau auf den Straßen gekämpft wurde. An diesen Kämpfen nahm er sofort teil. Aus den Briefen des Genossen Sefir, die er mir während des Krieges schrieb, erfuhr ich auch einiges über die Stimmungen und Maßnahmen unserer Auslandszentrale, mit der er eine gewisse Fühlung hatte.

 

Das Leben der politischen Verbannten in den Dörfern des Angaragebietes (1915-1917)

Am 30. Januar 1915 wurden Tuntul, Badin, ich und noch etwa elf bis fünfzehn politische Verbannte zusammen mit Strafgefangenen und „Kriegsverbrechern", die sich aus Staatsangehörigen Deutschlands, Österreichs und der Türkei sowie aus Juden der in der Nähe der Front gelegenen Gebiete zusammensetzten (im ganzen etwa 50—60 Mann), von Krasnojarsk nach dem ungefähr 400 Werst entfernten Jenissejsk weiterbefördert. Der Weg musste zu Fuß zurückgelegt werden. Nur schwache Frauen und Kranke durften die Wagen benutzen, die die Sachen der Verbannten mitführten. Man legte täglich 15—25 Werst zurück, je nach der Entfernung des nächsten Dorfes, in dessen Etappenpunkten wir übernachten konnten.
Diese Etappenpunkte waren gewöhnlich einstöckige Bauernhütten mit vergitterten Fenstern, sehr dunkel, kalt und unglaublich schmutzig. Geheizt wurde erst, wenn ein Transport ankam. Aber nicht sauberer als die Etappenpunkte waren die Gefangenen selbst. In dem Transportgefängnis zu Krasnojarsk wurde die Wäsche nicht gewaschen. Versuchten aber die Gefangenen mit dem Wasser, das vom Tee zurückgeblieben war, selbst zu waschen, so nahmen die Aufseher die Wäsche einfach fort. Dabei mussten viele Gefangene monatelang auf den Weitertransport warten! Die finanzielle Lage der Gefangenen war ebenfalls nicht besser. Die Etappenkommune der „Politischen" lebte ausschließlich von den 10 Kopeken, die jeder täglich vom Fiskus erhielt. Schlecht war es auch um die Kleidung bestellt. Es herrschte Frostwetter, außerdem gab es oft Schneestürme, die es unmöglich machten, auf den verschneiten Wegen vorwärtszukommen. Am meisten litten unter dem Wetter die ausländischen „Kriegsverbrecher". Ein deutscher Arbeiter der Obuchow-oder Putilow-Werke, namens Klein, erkrankte unterwegs an Lungenentzündung und starb noch vor der Einlieferung ins Krankenhaus. Langsam und nur mit großer Mühe erreichten wir Jenissejsk. Dort wurden wir in ein dunkles, festungsartiges Gefängnis eingesperrt, dessen Mauern so dick waren, dass die Trojken der russischen Kaufleute von einst bequem auf ihnen zur Faschingszeit hätten spazieren fahren können. Ich habe damals die Insassen des Gefängnisses in Jenissejsk wahrhaftig nicht beneidet. Zum Glück saßen wir (22 Mann) dort nicht lange und wurden bald unter Bewachung von Straschniki und nicht mehr von Begleitsoldaten in das Dorf Bogutschany an der Angara abgeschoben, das 700 Werst von der Stadt Jenissejsk entfernt liegt. Unterwegs fanden wir fast in jedem Dorf einen oder zwei alte politische Verbannte, aber je weiter wir uns von der Jenissejsky-Landstraße entfernten, desto mehr politische Verbannte trafen wir, die erst vor kurzem hierher gekommen waren. Sobald wir die Jenissejsky-Landstraße verlassen hatten, übernachteten wir nur noch in Bauernhäusern. Trafen wir politische Verbannte, so gingen wir natürlich zu ihnen. Auf dem Weg von Jenissejsk nach Pintschuga (Anm.: In Pintschuga befand sich früher das Bezirksamt, von wo es später nach dem Dorf Bogutschany verlegt wurde. Der Amtsbezirk aber nannte sich 1915 noch Pintschug. Das Territorium dieses Bezirks war wohl größer als das der „unabhängigen Republiken" Estland, Lettland oder Litauen.) passierten wir drei Dörfer mit seltsamen Namen: Po-kukuj, Po-toskuj und Po-gorjuj (Ruf „Kuckuck, hab Sehnsucht, leid Kummer" — Der Übersetzer). Die Dörfer hatten ihre Namen wohl von den Verbannten längst vergangener Zeiten bekommen. Diese Namen haben sich denn auch erhalten, obwohl eins der Dörfer — ich weiß nicht mehr welches — offiziell Byck genannt wurde. Der neue Name hatte anscheinend noch keine Verbreitung gefunden. Die Namen dieser drei Dörfer sprechen für sich, aber man kann in jedem von ihnen gleichzeitig sowohl Sehnsucht als Kummer haben, als auch Kuckuck rufen. Es waren ganz kleine Dörfer. Sie bestanden aus einigen sehr armen Bauernhöfen. Die Bewohner lebten von. Fischfang und Jagd. Brot wurde eingeführt. Da es schwer war, in diesen Dörfern Brot zu bekommen, so wurden hier nur wenige Gefangenentransporte hindurchgeführt, und zwar Transporte von nicht mehr als 21—22 Mann. Als wir diese Dörfer passierten, wurde es jedem schwer ums Herz bei dem Gedanken, dass auch wir in einem solchen Loch untergebracht werden würden. Nebenbei gesagt wurden die 22 Mann unseres Transportes alle getrennt, und es kam niemand zusammen mit einem anderen in das gleiche Dorf. Etwas leichter wurde uns zu Mute, als wir uns Pintschuga und Irkinejewa näherten. In jedem dieser Dörfer gab es viele politische Verbannte, die uns sehr herzlich aufnahmen. Dort traf ich auch Anna Nikiforowa, die ich von Samara her kannte, den Genossen Malyschew und andere Bolschewiki. Im Dorfe Bogutschany war der Sitz des Polizeikommissars. Bevor wir jedoch zum Polizeikommissar, der uns nach unserem Bestimmungsort weiter zu befördern hatte, geführt wurden, suchten wir das Heim für politische Gefangene auf, das von politischen Verbannten erbaut worden war. Dort machten wir es uns bequem, nahmen Nahrung zu uns und machten uns dann auf den Weg nach den für uns zur Ansiedlung bestimmten Dörfern. Man muss selbst den Weg zwischen Krasnojarsk und Jenissejsk und dann die Straße von Jenissejsk bis Bogutschany (ein Marsch von über einem Monat) zurückgelegt haben, und zwar so wie wir: im Frostwetter, halb-hungrig, müde und schmutzig, — um die Freude eines jeden von uns über den herzlichen Empfang zu verstehen. Nur durch solche Dinge lässt sich vielleicht das kameradschaftliche Zusammenleben der Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Bolschewiki und Menschewiki erklären, die in der Freiheit sich stets bekämpften und unaufhörlich über die Methoden des Kampfes gegen die Feinde der Arbeiterklasse und aller Ausgebeuteten stritten.
In Jenissejsk war bestimmt worden, dass ich mich im Dorfe Fedino anzusiedeln hatte. Das teilte mir der Kommissar nun offiziell mit. Aber meine Weiterbeförderung dahin verzögerte sich etwas. Fedino war das entlegenste Dorf im Tschunskybezirk des Kreises Jenissejsk. Da in meinen Papieren ein Vermerk enthalten war, dass ich Neigung zu Fluchtversuchen habe, so bestimmte man, dass ich dahin kommen sollte. Nun stellte sich heraus, dass Fedino zwar auf der Landkarte das letzte und entlegenste Dorf des Kreises Jenissejsk war, dafür aber näher der Eisenbahn lag als alle anderen Dörfer und sich gerade an der Grenze der Kreise Jenissejsk und Kansk befand. Der Polizeikommissar von Bogutschany kannte die Geographie seines Bezirks nicht allein auf Grund der Karte und wollte deshalb den in Jenissejsk begangenen Fehler wieder gut machen. Er schlug mir vor, dazubleiben bis zum Eintreffen einer Antwort aus Jenissejsk auf seinen Antrag, mir einen anderen Ort zuzuweisen. In Bogutschany war es lustiger, da hier viele politische Verbannte lebten und immer neue Transporte von Verbannten ankamen; hier gab es auch eine Post, ein Krankenhaus und eine Schule. Dann wohnte in Bogutschany fast die ganze Intelligenz des Kreises. Was die Polizei betrifft, so war es dort allerdings schlimmer. Zweimal täglich kam der Straschnik, um die Verbannten zu kontrollieren. Man durfte nicht einmal über den Viehzaun des Dorfes hinausgehen. Die Dörfer dieser Gegend sind alle umzäunt, um zu verhindern, dass das Vieh in die Taiga laufe. Die Verbannten wurden dauernd von den Straschniki überwacht. Mich erlöste der Kreispolizeichef, der gekommen war, um sich einmal in seinem Bereich umzusehen. Er verteidigte seine Beamten gegen den Vorwurf des Polizeikommissars, dass sie die Geographie ihres eigenen Kreises nicht kennen, und befahl, mich unverzüglich nach Fedino zu schaffen. Der Abtransport ging dann so schnell vor sich, dass ich gezwungen war, nasse Wäsche mit mir zu nehmen, da ich sie zum Waschen übergeben hatte, nachdem der Polizeikommissar mir den Vorschlag gemacht hatte, zunächst in Bogutschany zu bleiben. Ein Straschnik begleitete mich bis zum Dorfe Karabulja. Abends suchte ich die dort ansässigen politischen Verbannten auf und übernachtete bei einem von ihnen, nämlich bei dem Genossen Zimmermann. Am frühen Morgen des nächsten Tages überließ mich der Straschnik schon einem einfachen Bauern, an den die Reihe gekommen war, Pferde zu stellen. Und nachts war ich bereits in dem Dorfe Jar, in der Wohnung des Genossen Geliadse. Er war dort der einzige Politische. Am 6. März 1915 passierte ich das Dorf Chaja, das den Po-kukuj-Dörfern sehr glich und gar keine politischen Verbannten hatte. Am Abend desselben Tages traf ich in Fedino ein.
Es dürfte hier nicht überflüssig sein, ein wenig das Leben und Treiben der Bauern in Fedino zu schildern, in dem ich zwei Jahre verbringen musste. Eine solche Beschreibung dürfte schon deswegen nicht unangebracht sein, weil die Lebensweise der Bauern aus Fedino beinahe für alle Bauern der Angara- und Tschunagebiete typisch ist, — mit Ausnahme etwa der von uns erwähnten drei Dörfer mit den seltsamen Namen —, in denen viele politische Verbannte leben mussten.
In Fedino gab es nicht mehr als 40 Bauernhöfe, von denen drei bis vier armen, der Rest aber mittleren und sogar reichen Bauern gehörte. Die Einwohner des Dorfes waren miteinander verwandt und hießen alle Rukosojew, nur ein einziger Bauernhof gehörte einer Familie Brjuchanow. Land gab es bei Fedino genug, aber die Äcker lagen alle ziemlich weit vom Dorf entfernt, was bei dem Fehlen von Wegen im Sommer die Bearbeitung dieser Felder sehr erschwerte (Anm.: Im Sommer kam man nur zu Pferde nach Bogutschany, Plachino und Potschet. Gleichfalls nur zu Pferde oder in Booten konnte man die Felder erreichen. (Die Sättel machten sich die Bauern selbst und zwar aus Brettern. Diese Sättel hatten eine viereckige Form; auf den Sattel legte man ein Kissen, darunter aber alles Mögliche, damit das Pferd nicht gedrückt wurde. Auch die Boote machten sich die Bauern selbst aus Baumstämmen von etwa 7 bis 10 Meter Länge.) Im Winter aber, nach den Schneefällen, gab es nach allen Richtungen gute Schlittenwege vom Dorfe aus.). Fast alle Familien bearbeiteten das ihnen gehörende Land stets mit eigenen Kräften, sogar während des Krieges; denn in dieser Gegend wurden aus irgendeinem Grunde keine Rekrutierungen für die Armee vorgenommen. Im Sommer, zur Erntezeit, begab sich die ganze Familie mit den Kindern auf die Felder und kehrte bloß an Feiertagen nach Hause zurück; nur gebrechliche Greise, alte Weiber und Säuglinge blieben zu Hause.
Jeder Bauernhof besaß eine beträchtliche Zahl von Pferden, Kühen, Schafen, Schweinen und Hühnern. Hätte ein Bauer im europäischen Russland soviel Pferde und Vieh gehabt, so würde man ihn glatt einem Gutsbesitzer gleichgestellt haben. In der Taiga gab es auch genug Holz zum Bauen, zum Feuern und Flößen. Im Frühjahr, Herbst und Winter beschäftigten sich die Bauern mit Fischfang oder gingen wochenlang auf die Jagd nach Elentieren, Bären, Füchsen und Eichhörnchen. Sobald die Flüsse in der ersten Hälfte des Mai eisfrei wurden, brachten viele Einwohner von Fedino auf Flößen ihr Korn und schlecht gemahlenes Mehl nach Jenis-sejsk. Vor dem Kriege verkauften sie es mit 14 Kopeken pro Pud und konnten auch zu diesem Preise oft nicht alles loswerden, so dass 1915 viele Bauern noch große Vorräte hatten. Im Sommer 1916 aber verkauften sie in Jenissejsk den Roggen bereits für 1 Rubel und 10 Kopeken pro Pud. Die Hauptabnehmer dafür waren die Einwohner des Turuchangebiets. Leinen und Tuch erzeugten die Bauern selbst, sogar für den Verkauf, ferner bearbeiteten sie in primitiver Weise Leder für ihren verschiedenen Bedarf.
An Werktagen trugen sie Kleider eigener Herstellung und nur an Sonn- und Feiertagen kleideten sich die erwachsenen Männer in Anzüge und Stiefel von städtischem Schnitt, die sie bei einem Tataren erwarben, der einmal jährlich, und zwar im Sommer auf Flößen ankam, bei den Bauern Pelzwaren, Tuch, Leinen, Butter, Eier usw. einkaufte und ihnen dafür das gab, was sie brauchten. Fast alle Bauern hatten Geld und hielten es versteckt. Während des Krieges kamen in die sibirischen Dörfer Aufkäufer von Goldmünzen, die für den Goldrubel 1,20—1,50 Papierrubel zahlten, und zwar zu einer Zeit, als dieser Papierrubel in Russland nur noch ein Drittel des früheren Wertes hatte. Interessant ist, dass in den Familien Mann und Frau getrennte Kassen führten und sich gegenseitig nicht aushalfen. Die Frauen nehmen Geld ein für Linnen, Tuch, Eier, Milch, Butter und andere Dinge, alle sonstigen Einnahmen gehören den Männern. Die Frau muss von ihrem Gelde für sich und die kleinen Kinder die Feiertagskleidung besorgen.
Die Einwohner des Dorfes waren alle Analphabeten im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Knaben wurden schon sehr früh in die Erwerbsarbeit eingespannt, die Mädchen aber hatten Kenntnisse „nicht nötig". Die nächste Schule befand sich im Dorfe Jar, das 50 Werst von Fedino entfernt war. Soweit ich mich erinnern kann, schickte niemand aus Fedino seine Kinder in diese Schule. Mit Ausnahme der politischen Verbannten war der einzige des Lesens und Schreibens Kundige im Dorfe der Straschnik. In Fedino gab es weder eine Kirche noch eine Kapelle. Ein paar Mal im Jahre erschien der Pope mit seinem ganzen Stab und las dann auf einmal alle Totenmessen, taufte die Neugeborenen usw. Während der seltenen Gastrollen sorgte der Pope schon dafür, dass er nicht zu kurz kam: er nahm alles, Pelzwaren (hauptsächlich Eichhörnchen), Linnen usw.
Die Einwohner von Fedino kannten auch keine Gebete. Ihre ganze Religion bestand fast nur im Bilderkult und darin, dass sie sich vor und nach dem Essen bekreuzigten.
Äußerlich sahen die Bauernhütten erstaunlich sauber aus. Die Bauern von Fedino scheuerten Dielen, Decken und Wände, aber in den Betten, zwischen den Brettern der Wände und den Brettern der Fußböden (die Bauern schliefen meistens auf dem Fußboden) gab es stets eine Unmenge Wanzen. Auch die Schaben waren in nicht geringen Mengen vertreten. Die Bauern schliefen Sommer und Winter in den Kleidern, was natürlich die Sauberkeit nicht erhöhte, obwohl sie sich sehr oft in ihren „schwarzen" Bädern wuschen.
Während der Zeit, die ich in dem Dorfe verbrachte, starben dort sehr viele Säuglinge an Durchfall, da man ihnen gleich nach der Geburt Kuhmilch zu trinken gab. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass in der gleichen Zeit jemand von den Erwachsenen gestorben wäre. Die Leute erreichten dort in der Regel ein sehr hohes Alter. Medizinische Hilfe leistete der Bevölkerung ein Feldscher, der einmal im Jahre angereist kam.
An Sonn- und Feiertagen — im Herbst und Winter — waren alle Bauern betrunken. Sie statteten mit ihren Frauen und Kindern einander Besuche ab, schleppten dabei selbstbereiteten Schnaps mit sich, der in Plachino hergestellt wurde, wo es keinen Straschnik gab. Die Jugend grölte trunkene Lieder. Allerdings muss ich sagen: Raufereien habe ich bei den Trinkgelagen und auch sonst während meiner Anwesenheit in Fedino nicht beobachtet. Hin und wieder fanden Versammlungen der Gemeinde statt zwecks Wahl eines Dorfältesten, eines Bauernamtmanns, zwecks Verteilung der Steuern auf jeden Bauernhof und Festsetzung der Reihenfolge bei der Stellung der Pferde für die Behörden des Landkreises und für die Polizei. In diesen Gemeindeversammlungen wurde viel geschrieen, hin- und hergeredet, und zwar sprachen meistens alle auf einmal, so dass ich nie feststellen konnte, welche Beschlüsse gefasst wurden. In der Regel kamen die reichen Bauern doch zu ihrem Vorteil, indem sie einfach die Zahl ihrer Pferde und ihres Viehs nicht richtig angaben, um weniger Steuern zahlen und nicht so oft Pferde stellen zu müssen. Ihre Wirtschaft führten die Einwohner Fedinos durchweg sehr schlecht. Sie hatten viele Pferde und viel Vieh, ließen es aber im Winter unter freiem Himmel halbhungrig umherlaufen und bauten keine Stallungen, trotzdem unermesslich viel Holz da war. Die Milch der Bauern reichte im Winter kaum für die eigenen Kinder aus, uns verkauften sie nichts. In der nächsten Nachbarschaft dagegen, in dem Dorfe Potschet, befand sich die kleine Wirtschaft des zur Ansiedlung verbannten Polen Koroljtschuk, der uns im Winter so viel gefrorene Milch sandte, wie wir haben wollten, und der uns auch Butter und Käse lieferte. Er hielt seine Kühe gut und warm und fütterte sie in genügendem Maße. Die Bauern sahen, wie er wirtschaftete, ließen aber doch ihr Vieh frieren und zwar bei einem Frost von mitunter 45—48 Grad Reaumur. Bei solch einem Wetter mussten die Kühe unter freiem Himmel stehen und wurden am Fluss getränkt! Die Bauern waren sehr konservativ, und, wie gut und vertrauensvoll sie die „Politischen" auch behandelten, die sie gern empfingen, zu sich einluden, und denen sie sogar einen kleinen Kredit einräumten, — die Verbannten blieben für sie doch Verbrecher!
Als ich in Fedino ankam, gab es dort zwei Kriminelle, einen „Kriegsverbrecher" (ein deutscher Meister einer Pulverfabrik in der Nähe Petersburgs) und vier Politische. Einer von ihnen, ein Intellektueller, Chaim Bär aus Odessa, der in einem Prozess der Sozialrevolutionäre zur Verbannung verurteilt worden war, litt an schwerer geistiger Zerrüttung und war aus diesem Grunde fürchterlich heruntergekommen; er wohnte in einer halbzerstörten Hütte und schlief auf dem Ofen. Der zweite Politische, der abgerissene und schmutzige Malergeselle Jakob Grabez aus Polen, war in Sachen der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" zur Verbannung verurteilt worden. Äußerlich war er von den Eingeborenen nicht zu unterscheiden. Er führte genau dasselbe Leben wie diese. Der dritte politische Verbannte, der Lette Paist aus dem Baltikum, lebte abgesondert von den übrigen Politischen. Und der vierte politische Verbannte war eine erst vor kurzem aus dem Zuchthaus in die Verbannung überführte Arbeiterin, die Anarchistin Ida Silberblatt. Unter allen Politischen im Dorfe war sie der einzige wirklich lebendige Mensch. Sogar der Deutsche entpuppte sich als unglaublicher Spießer. Er hatte 25 Jahre in Russland gelebt, hatte es in dieser Zeit aber nicht fertig gebracht, russisch zu lernen, und wusste nichts von den politischen Verhältnissen Russlands oder Deutschlands. Zur Überwachung der Politischen gab es im Dorfe einen Straschnik, Er hieß Roman Petrowitsch Blagodatski, benahm sich gut und wurde von den Politischen fast als „Kamerad" behandelt, weshalb er das Recht zu haben glaubte, während der ersten Tage meiner Anwesenheit in Fedino zu jeder Tages- und Abendzeit mich zu besuchen, bis ich ihn schließlich höflich aufforderte, meine Wohnung zu verlassen. Das Leben der Verbannten war natürlich sehr eintönig. Ende März reiste die Genossin Silberblatt nach Bogutschany, und Paist verließ Fedino überhaupt für immer. Dann blieb die Zusammensetzung der Verbannten ein oder eineinhalb Monate unverändert, da in dieser Zeit wegen der Überschwemmungen keine Verbindung mit Bogutschany besteht. Diese Periode dauert von Mitte April bis Mitte oder Ende Mai. Vor allen Dingen sorgte ich dafür, dass der kranke Chaim Bär in eine kleine Hütte übersiedelte, die den Politischen von den früheren Verbannten als Erbstück zurückgeblieben war. Mit Bär zusammen brachte ich einen alten Mann, einen kriminellen Verbannten, in diese Hütte, damit er auf den Kranken aufpasse und ihn pflege. Dann schrieb ich den Verwandten Bärs in Odessa, die, wie es sich herausstellte, sehr vermögende Leute waren, dass sie ihm Geld zum Leben und die nötigen Kleidungsstücke senden sollten. Ich empfahl ihnen ferner, sich an den Gouverneur von Jenissejsk mit der Bitte zu wenden, den kranken Chaim Bär in ein Krankenhaus unterzubringen, und forderte den Straschnik auf, seiner vorgesetzten Behörde über den Zustand Bärs Meldung zu erstatten. Das half. Sobald die Gegend wieder fahrbar wurde, brachte man den Armen ins Krankenhaus zu Krasnojarsk.
In dem zum Kreise Kansk gehörenden Abanskischen Amtsbezirk, der sich dicht bis an das Dorf Fedino erstreckt, gab es zwei Dörfer, die nicht allzu weit von uns entfernt waren. Das eine, Plachino, lag zwölf Werst von uns entfernt und hatte keine politischen Verbannten, das zweite Dorf Potschet dagegen befand sich in einer Entfernung von 35 Werst von unserem Dorfe; dort wohnten drei Politische. Von den Politischen war der Genosse Nikita Gubenko ein Russe, die beiden anderen Genossen, Foma Goworek und Pjotr Koroltschuk — Polen. Der Genosse Koroltschuk hatte sich eine eigene Landwirtschaft eingerichtet und damit in dem neuen Boden sozusagen fest Wurzel geschlagen. Durch ihn bestellte ich mir Zeitungen und fing an, Briefe aus Russland zu bekommen, denn mit Potschet standen wir selbst in der Zeit der Wegelosigkeit in ständiger Verbindung. Die Bücher, Zeitungen und Briefe, die ich bekam, halfen mir, die entsetzliche Langeweile zu überwinden und mich ein wenig an meine neue Lage zu gewöhnen, die schwer war, da es im Dorf nicht einmal einen Menschen gab, mit dem man sich auch nur hätte unterhalten können. Die Lage änderte sich aber gründlich, als die Zeit der Wegelosigkeit zu Ende war: mit jedem Transport wurden im Jahre 1915 bald ein, bald zwei Verbannte gebracht. Als erste kamen: der Petersburger Student Genosse Petrikowski (Petrenko) — ein Bolschewik, dann ein Sozialrevolutionär aus Charkow — der Angestellte Knyschewski, dann Sochatzky — ein Mitglied der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" mit seiner Frau (die nicht verbannt war) und nach ihnen die Sozialrevolutionäre Boris Orlow und Pawel Koslow. Schließlich kamen noch: der Maximalist Alexej Theofilaktow mit Frau (die eigentlich nach Plachino verbannt war, aber, da es dort keinen Straschnik gab, oft nach Fedino kam), ein Buchdrucker David Tregubow, aus Homel, der in einem Prozess der Sozialrevolutionäre verurteilt worden war, dann ein Soldat Jakow Blatt, ein Tolstoianhänger Iwan Wychwatnjuk (wegen Militärdienstverweigerung), ein deutscher Arbeiter Adam Stankewitsch und andere. In kurzem wuchs die Kolonie der Verbannten auf 23 Personen an, von denen 14 Politische waren. Wir hatten hier auf administrativem Wege Verbannte, die monatlich acht Rubel erhielten, und zur Ansiedlung Verurteilte, die nichts bekamen. Eine Arbeit in Fedino zu finden, war schwer, fand man aber vorübergehend welche, so musste man für 10 Kopeken von 1 Uhr nachts bis 9 Uhr morgens (beim Dreschen z. B.) bei 30—40 Grad Kälte schuften. Die materielle Lage der Ansiedler wurde noch dadurch verschlimmert, dass sie genau so wie die auf administrativem Wege Verbannten nicht das Recht hatten, sich aus dem Dorfe zu entfernen. Die ungleiche materielle Lage der Verbannten hätte bei dem engen Zusammenleben so vieler Menschen in dem kleinen Dorf Grund genug für eine ganze Reihe von Misshelligkeiten und Missverständnissen abgeben können. Deshalb wurde von der politischen Kolonie in Fedino folgender Modus eingeführt: man richtete eine gemeinsame Küche ein, in der ein jeder Verbannte — der Reihe nach — für alle das Mittagessen zu bereiten hatte. Die Lebensmittel für alle Mahlzeiten wurden gemeinsam eingekauft und unter allen nach einer gleichmäßigen Norm verteilt, die von der Versammlung aller Mitglieder der Kommune festgesetzt wurde. Genau so verfuhr man mit allen übrigen Dingen wie: Petroleum, Seife, Zucker usw. Die Lebensmittel und überhaupt alle Bedarfsartikel kaufte man durch den Genossen Koroltschuk in Aban ein; Käse, Butter, Speck und im Winter auch Milch lieferte er uns selbst aus seiner eigenen Wirtschaft. Für die Wohnung, für Brot und heißes Wasser zahlte jeder von uns anfangs an die Bauern 3 Rubel monatlich. Die Frage der Bekleidung der Mitglieder der Kolonie und die Finanzfrage blieben aber noch unentschieden. Diese beiden Fragen lösten wir schließlich auf folgende Weise. Das ganze Geld, das die Mitglieder der Kommune erhielten, wurde einem gewählten Kassierer abgeliefert, der alle jeweils nötigen Einkäufe machte. Ein jedes Mitglied der Kommune hatte beim Kassierer sein Konto. Am Ende eines jeden Monats wurden sämtliche Ausgaben für die Kommune zusammengerechnet, die Summe durch die Zahl der Mitglieder dividiert und dann das Konto eines jeden Mitgliedes mit dem so erhaltenen Teilbetrag belastet. Den Genossen aber, die kein Geld beim Kassierer hatten, wurde der Betrag als Schuld gebucht. Alle drei Monate wurde eine Generalabrechnung vorgenommen, und dabei zahlten die Genossen, die Geld hatten, in die gemeinsame Kasse jene Summe ein, die eigentlich die Genossen hätten bezahlen müssen, die kein Geld besaßen. Dann fingen die neuen Buchungen bis zur nächsten Generalabrechnung an. Genossen, die mehr als 20 Rubel besaßen, hatten das Recht, ohne Genehmigung der Leitung der Kommune bis zu zwei Rubel für sich auszugeben. Die Leitung der Kommune bestand aus dem Kassierer und noch zwei Genossen. Diese aus drei Genossen bestehende Leitung übte auch die Funktion einer Vertretung aller politischen Verbannten aus. Persönliche Ausgaben von Genossen, die weniger als 20 Rubel besaßen, bedurften der Genehmigung der Leitung. Die Leitung beschäftigte sich auch mit den Fragen der Besorgung von Kleidungsstücken für Genossen, die kein Geld besaßen, aber Kleider brauchten. Durch diese Organisation gelang es der Kolonie in Fedino, die Reibungen zu vermeiden, die infolge materieller Sorgen in manchen Kolonien der Verbannten entstanden waren. Die Verbannten, die von der Regierung gar keine materielle Unterstützung erhielten, verdienten sich das für den eigenen Lebensunterhalt Notwendige auf verschiedene Art und Weise. Im Herbst fingen sie Aalquappen und sammelten Zedernnüsse für den Verkauf. Mitunter gelang es ihnen, auf Eichhörnchen. Jagd zu machen, jedoch selten, da die Verbannten keine Jagdgewehre haben durften. Während des Krieges blieben die Dörfer des Kreises Kansk ohne Arbeiter, weil fast alle eingezogen wurden (aus dem Gebiet der Angara wurden allerdings keine Rekruten genommen). Daraufhin nahmen die Verbannten in diesen Dörfern Arbeit an, denn aus Mangel an Arbeitskräften hatte man 1916 den Verbannten erlaubt, ihren Wohnort auf dem Territorium ihres Gouvernements oder Kreises nach Belieben zu wechseln. Im Sommer beschäftigten sich viele Verbannte mit Holzfällen. Die Stämme flösten sie nach Jenissejsk, wo sie zu Bauzwecken verwandt wurden oder in die Sägemühlen kamen. Für jeden Baumstamm konnte man 1—1.20 Rubel bekommen, dafür aber musste man bei der Rückreise auf dem Jenissej den Dampfer benutzen, dann in Booten die Angara stromaufwärts fahren und schließlich bis nach Fedino Pferde nehmen. Die Reise aber kam nicht billig zu stehen. Die Bauern von Fedino beschäftigten sich im Frühjahr ebenfalls mit Fällen und Flößen von Holz, aber sie pflegten über Kansk zurückzukehren, was näher und billiger war, da man außer dem Dampfer noch den Zug benutzen konnte und nur wenig auf Pferde angewiesen war. Auf diese oder jene Weise gelang es den Verbannten, sich ihren Lebensunterhalt zu erwerben, ohne anderen zur Last zu fallen. Die von mir oben beschriebene Lebensweise kam jedem — ohne Bekleidung — im Jahre 1915 durchschnittlich auf 6—7 Rubel monatlich zu stehen, im Jahre 1916 aber bereits auf 10—12 Rubel. Als man nach Fedino Österreicher, Deutsche, Türken und Juden als „Kriegsverbrecher" zu bringen begann, wurde es eng im Dorfe. Die Bauern versuchten, die Mieten zu erhöhen und, was noch schlimmer war, — sie fingen an, auch in jenen Räumen den Herrn zu spielen, die von ihnen an die Politischen vermietet worden waren. Deshalb kauften wir von dem Genossen Paist für 12 Rubel eine Hütte, erwarben dann bei einem Bauer eine zweite und schafften diese zu der ersten. Wir bauten sie etwas aus, erweiterten die Fenster und richteten sie mit eigenen Kräften ganz nett und wohnlich ein. Auf diese Weise konnten wir in drei Hütten acht Genossen unterbringen.
Wir erhielten die Zeitungen und Zeitschriften aus der Hauptstadt, ferner Bücher, die schließlich eine ganz schöne Bibliothek ausmachten. Zeit zum Lesen hatten wir genug, besonders im Winter, und es wurde auch wirklich gelesen. Wir veranstalteten auch Vortragsabende, die stets zu einem sehr regen Meinungsaustausch führten, da unter uns Genossen waren, die den verschiedensten Parteien und Strömungen angehörten. Mitunter veranstalteten wir feierliche Versammlungen aus Anlass des 1. Mai, 22. Januar, 17. April, des Jahrestages des Moskauer Dezemberaufstandes und am Silvesterabend. Zu diesen Versammlungen kamen gewöhnlich auch Verbannte, die 50 bis 80 Werst von uns entfernt wohnten: aus Malajewo, Jar, Potschet und anderen Dörfern.
Der Genosse Alexej Theofilaktow, der später im Partisanenkrieg gegen Koltschak im Gouvernement Jenissejsk ums Leben kam, entdeckte sein Talent als Dirigent. Er setzte einen ziemlich guten Chor aus Genossen zusammen, die nie auf den Gedanken gekommen wären, dass sie eine gute Stimme hätten. Auf diese Weise verbrachten wir unsere Zeit. Wenn aber Schwermut und Heimweh Überhand nahmen, was nicht selten vorkam, dann begab man sich in die Nachbardörfer, um die dort ansässigen Verbannten zu besuchen. Das taten wir, obwohl unser Schutzengel, der Straschnik Blagodatzki, oft Hetzjagden hinter uns her veranstaltete und jedes eigenmächtige Verlassen des Dorfes bestrafte. Am 16. Februar 1917 wurde ich aus einem solchen Anlass zu drei Tagen Arrest verurteilt. Wie aber sollte man, obwohl man sich eigentlich in „Freiheit" befand, nicht der Schwermut und Langeweile anheim fallen, wenn man keine befriedigende Tätigkeit hatte und keinen Menschen, mit dem man sich hätte aussprechen können. Acht volle Monate ringsherum Schnee, von dessen Anblick die Augen schmerzten; man konnte nur die Wege entlang gehen, weil man sonst riskierte, in dem mehrere Meter hohen Schnee zu versinken. Der langersehnte Sommer aber brachte eine so ungeheure Menge von Mücken und Fliegen mit sich, dass man ohne Mückennetz gar nicht auf die Straße gehen konnte.
An der Angara hatten die politischen Verbannten ihre eigene Organisation, deren Aufgabe darin bestand, minderbemittelte Verbannte zu unterstützen, Fluchtpläne durchzuführen, die Verbannten über die politischen Verhältnisse in Russland zu informieren usw. Dieselbe Organisation fungierte auch als Schiedsgericht, füllte die Bibliotheken der Verbannten auf und sandte ihnen legale und illegale Neuerscheinungen zu. Diese Organisation umfasste alle Dörfer der Amtsbezirke Pintschuga und Keschma.
Alle neben Fedino gelegenen Dörfer hatten Fedino als Zentralpunkt und bildeten zusammen den Unterbezirk Tschuna der Organisation der Verbannten des Angaragebiets.
Während der Zeit, die ich in Sibirien verbrachte, fanden Konferenzen der Verbannten des Angaragebiets statt, an denen fast alle Kolonien teilnahmen. Diese Konferenzen wählten den Zentralausschuss der Verbannten des Angaragebiets. Alle Mitglieder der Organisation zahlten einen Monatsbeitrag von 10 Kopeken. Ich wurde zum Sekretär des Unterbezirks Tschuna gewählt und führte einen intensiven Briefwechsel mit dem Bevollmächtigten des Zentralausschusses. Im Jahre 1916 war der Genosse Grigori Aronstamm Bevollmächtigter. Mit ihm habe ich nach der Februarrevolution in dem Parteikomitee des Eisenbahnbezirks Moskau längere Zeit zusammengearbeitet. Von dem Zentralausschuss der Verbannten erhielten wir illegale Literatur, regelmäßige Abrechnungen und außerdem Berichte über den Gang der Dinge innerhalb der Organisation.
Da Fedino gerade zwischen Bogutschany und Kansk lag, so kamen zu uns sowohl Flüchtlinge als auch Genossen, deren Verbannungsfrist zu Ende war. Im Winter 1916 floh Ida Silberblatt ins Ausland, im Sommer 1916 aber wurden die Genossen Petrikowski und Knyschewski zur Armee eingezogen. Viele Verbannte machten sich das Recht der Bewegungsfreiheit zunutze und siedelten mehr in die Nähe von Kansk und sogar nach Kansk selbst zur Arbeit über. In Fedino blieben nur wenige Politische. Im Herbst 1916 und zu Anfang des Winters 1917 war es unerträglich langweilig. Fortdauernd zu lesen, war unmöglich, und so machte ich mich denn an eine illegale Arbeit — ich brachte den Kindern einer Bauernfamilie Lesen und Schreiben bei, was den Politischen streng verboten war. Außerdem begann ich an dem kümmerlichen, öffentlichen Leben der dortigen Bauern teilzunehmen und half ihnen eine Konsumgenossenschaft zu organisieren. Auch die Bauern bekamen bereits den Krieg zu spüren, denn die wenigen Bedarfsgegenstände, die sie in der Stadt zu kaufen pflegten, verschwanden vom Markt, und es fehlte ihnen daher an Petroleum, Seife, Zucker, Geschirr und Schrot für die Jagd. Den Anstoß zur schleunigen Organisation einer Konsumgenossenschaft gab folgender Umstand. In Fedino bestanden keine wirklichen Läden. Im Herbst pflegten die reichen Bauern Petroleum, Zucker, Seife und Streichhölzer einzukaufen und sie dann an die anderen Bauern zu verkaufen. Diese Produkte verkauften sie zu sehr hohen Preisen. Wenn man sie darauf aufmerksam machte, dass die Preise unverschämt hoch waren, dann pflegte so ein Bauer zu antworten: „Wenn Du die Ware willst, kannst Du sie haben, wenn nicht — dann ist's auch gut; ich habe sie für mich gekauft." Da war nun nichts zu machen, und die armen Bauern mussten die hohen Preise zahlen. Als aber die reichen Bauern die Preise zu hoch hinaufzuschrauben anfingen, weil in Kansk und in Aban die Ware zu verschwinden begann, da entstand im Jahre 1916 der Gedanke, eine Konsumgenossenschaft im Unterbezirk Tchuna zu schaffen. Es wurde sehr viel hin und her geredet, bis man sich dazu entschloss, denn die reichen Bauern waren entschieden gegen die Genossenschaft. Wir Politischen gingen aber energisch an die Arbeit. Bald war die Konsumgenossenschaft organisiert, und wir traten ebenfalls als Mitglieder ein. Ein Bauer und ich wurden durch die Gemeindeversammlung als Delegierte nach Jar gesandt, wo die Versammlung der Vertreter der Konsumvereine des Unterbezirks Tschuna stattfand, die ihrerseits auch einen politischen Verbannten als Vertreter des Unterbezirks zur Konferenz der Konsumvereine des Gouvernements delegierte.
Wenn man von der Kulturlosigkeit und schlechten Wirtschaftsführung der Bauern jener Gegend spricht, so entsteht unwillkürlich die Frage, ob denn die politischen Verbannten nicht in der Lage waren, auf die Bauern einen heilsamen Einfluss auszuüben, da sie doch fortwährend in engster Berührung mit ihnen standen. Leider muss man auf diese Frage mit einem Nein antworten. Ja, noch mehr: recht oft geschah es, dass die Politischen selbst die „Kultur" der Bauern annahmen.
Gewiss, die Bauern besuchten uns häufig, und wir sprachen viel mit ihnen, besonders mit der Jugend. Aber oft geschah es, dass sie, nachdem sie uns aufmerksam zugehört hatten, sich zum Straschnik begaben und ihn fragten, ob die Dinge wirklich so ständen, wie die Politischen sie ihnen geschildert hätten. Das taten sie, weil sie, wie ich schon erwähnt habe, uns doch für Verbrecher hielten. Bemerkenswert ist, dass nach dem Februarumsturz die Bauern zu mir kamen, mir das Dorfsiegel und alle Attribute des Straschniks aushändigten, ja mir sogar vorschlugen, im Dorfe das Regiment zu übernehmen. Auf einmal waren wir in ihren Augen keine Verbrecher mehr. Unter der Herrschaft Koltschaks haben die Bauern aus Fedino unter Führung einiger dort zurückgebliebenen politischen Verbannten sehr aktiv am Partisanenkrieg gegen die Truppen Koltschaks teilgenommen.

 

Wie wir von dem Februarumsturz erfuhren (1917)

Am Abend des 9. März 1917 war ich in einer fürchterlichen Stimmung. Den ganzen Tag über hatte ich Trübsal geblasen, hatte mein Zimmer nicht verlassen und lag nun im Dunkeln auf meinem Bett, antwortete nicht, wenn jemand klopfte und ließ keinen Menschen herein. Als es bereits spät abends war, vernahm ich plötzlich hastige Schritte und dann energisches Klopfen an der Tür. Ohne mein „Herein" abzuwarten, tauchte in der Tür der frühere politische Verbannte (jetzt Bauer) Genosse Foma Goworek auf, der gar nicht in unserem Dorfe wohnte, und teilte mir erregt mit, dass in Russland die Revolution ausgebrochen sei. Ich erklärte ihm, dass ich heute nicht zum Scherzen aufgelegt sei. Darauf erwiderte er ganz ernst, dass die Frau eines Verbannten aus Potschet in Kansk gewesen sei und dort einem großen Meeting beigewohnt habe, an dem auch Soldaten teilgenommen hätten. Die Einwohner der Stadt hätten einander zur Freiheit gratuliert und ihre Häuser mit roten Fahnen geschmückt. Sofort versammelten wir alle Verbannten und berieten, wie wir am schnellsten und sichersten erfahren könnten, was eigentlich in Russland und in den großen Städten Sibiriens vor sich ging. Man beschloss, Verbannte auf alle Landstraßen hinauszuschicken, um von den vorbeifahrenden Bauern zu erfahren, was sie in Kansk und in Aban gesehen hatten; ferner wollte man die Zeitungen einsehen, wenn die Bauern welche bei sich haben sollten. Für den Fall aber, dass in der Nacht niemand etwas Positives erfahren würde, beschloss man, Foma nach Kansk zu schicken, damit er sich dort nach allem eingehend erkundige. Aber nachts bekamen wir schon die Flugblätter der aus den Gefängnissen befreiten Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, die aufforderten, sich um den „öffentlichen Wohlfahrtsausschuss" zu sammeln. In dem Flugblatt wurde auch gesagt, dass der Zarismus gestürzt sei und die Macht sich in den Händen eines Dumaausschusses befinde.
In dieser Nacht konnte niemand von den Verbannten schlafen. Man beriet die Frage der Entwaffnung der Straschniki (Polizeibeamten) und der Verhaftung des Kreispolizeichefs, dessen Ankunft sowohl vom Straschnik als auch von der Dorfbevölkerung bereits seit über einer Woche erwartet wurde. Auch überlegten wir hin und her, was nun in der Gemeinde getan werden sollte. Die brennendste Frage aber war die, wie man aus diesem Loch herauskommen und sich der revolutionären Bewegung in Russland anschließen könne. Zu allen diesen Fragen wurden die unsinnigsten Vorschläge gemacht. So z. B. forderte man auf, eine Rundreise durch die Dörfer zu machen und alle dort wohnenden Straschniki durchzuprügeln und zu verhaften, obwohl einige dieser Dörfer 150 bis 200 Werst von uns entfernt in der Nähe von Bogutschany lagen, wo es zehnmal mehr Verbannte gab als bei uns. Und das Merkwürdigste war, dass solche Vorschläge gerade von Genossen gemacht wurden, die vor der Revolution selbst vor jedem Zusammenstoß mit unserem harmlosen Straschnik gezittert hatten.
Am Morgen gelangten wir in den Besitz eines Flugblattes, in dem auch die Mitglieder der Provisorischen Regierung aufgezählt waren. Mir fiel sofort auf, dass der „Sozialist" Kerenski unter den kadettischen und oktobristischen Büffeln vom Schlage der Gutschkow und Miljukow allein dastand. Ich dachte mir damals gleich, dass Kerenski bei uns die Rolle eines Blitzableiters gegenüber den revolutionären Massen spielen werden müsse, so wie sie 1848 in Frankreich Louis Blanc gespielt hatte, und ich konnte mir kaum denken, dass die Petersburger revolutionären Arbeiter ihn auf diesen Posten gestellt hatten, da sie ihn zu wenig kannten. Mir war es ganz klar, dass man jetzt nicht mehr gegen den Zarismus, sondern gegen die Bourgeoisie zu kämpfen haben würde Unklar war mir nur damals, wie weit die Bourgeoisie während des Krieges erstarkt war und ob es gelingen werde, schnell genug unsere bolschewistische Partei zusammenzufassen, die allein in der Lage war, die breiten Massen des Proletariats um sich zu sammeln und ihnen den richtigen Weg im Kampfe gegen die Bourgeoisie zu zeigen. Die Hauptfrage für mich war: wer wird rascher imstande sein, seine Kräfte zusammenzufassen: das Proletariat unter der Führung der Partei oder die Bourgeoisie? Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass die Sozialrevolutionäre nach dem Februarumsturz die erste Geige spielen und dass die Menschewiki mit ihnen einen Block bilden würden, obwohl es vollkommen klar war, dass innerhalb der Sozialdemokratie die Frage der Hegemonie des Proletariats oder der Bourgeoisie in der Revolution wieder auftauchen werde. Unsere Partei verstand es, ihre Organisation am raschesten auszubauen. Durch ihre Taktik sammelte sie nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bauern um sich und schlug nicht allein die Bourgeoisie aufs Haupt, sondern auch das Kleinbürgertum in Gestalt der Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Narodniki u. a.
Wir waren in Fedino vollkommen isoliert und wussten deshalb auch nichts über die wirkliche Lage an den Fronten. Infolgedessen war es für mich und viele andere Verbannte nicht ganz klar, welchen Ausgang der Krieg nach der Februarrevolution nehmen werde, trotzdem ich auch nach dem Umsturz im Februar entschiedener Kriegsgegner geblieben war. Als ich auf meiner Rückreise nun in die Nähe von Kansk kam, sah ich, wie die Soldaten massenweise zu Fuß nach Hause liefen, und wie von Kansk bis nach Moskau alle Bahnhöfe und Züge von Soldaten voll gestopft waren, die einfach die Front verlassen hatten. Sie hörten gierig den aus Sibirien zurückkehrenden politischen Verbannten zu, die gegen den Krieg sprachen, und gingen auseinander, sobald jemand vom Krieg bis zum siegreichen Ende zu reden anfing. Ich begriff damals, dass die Massen den Krieg satt hatten und dass der Krieg deshalb von keiner langen Dauer sein werde.
Am 10. März borgte ich mir das Reisegeld und verließ Fedino. Das ganze Dorf begleitete mich. Als ich nach Potschet kam, fand ich dort zwei Depeschen aus Pensa und Moskau vor mit der Amnestienachricht und der Aufforderung, zur Arbeit nach Moskau zu kommen. Ferner war bereits eine Geldüberweisung für mich da. In einem Wagen erreichte ich am Morgen des 12. März Kansk. In Kansk bestand bereits ein Soldatenrat. Eine Versammlung des Arbeiterrats sollte am Tage meiner Ankunft stattfinden. In Kansk brodelte es wie in einem Kessel. Überall liefen Soldaten unter Führung von Kommissaren umher, nahmen Verhaftungen vor und hielten Haussuchungen ab; im Sowjet herrschte ein Tohuwabohu, und der Vollzugsausschuss tagte ununterbrochen. Ich dachte damals: wenn hier, in einem so entlegenen Nest, das Leben so kocht, wie muss es da erst in Petersburg oder in Moskau zugehen? Ich beschloss, ohne Säumen nach Moskau zu reisen, und fuhr noch in der gleichen Nacht in einem Zuge ab, der von Amnestierten vollgepfropft war. Unterwegs sandte ich eine Anfrage an das ZK in Petersburg, wohin ich fahren und welche Arbeit ich übernehmen sollte. Am 18. März, am Tage meiner Ankunft in Moskau, ging ich sofort in den Moskauer Sowjet, wo ich gleich alte Genossen: Smidowitsch, Nogin und andere vorfand. Auch im Moskauer Parteikomitee war ich am selben Tage — dort traf ich die „Semljatschka" — und außerdem in der Gebietsvertretung des ZK. Alle diese Organisationen befanden sich im gleichen Gebäude, in der Kapzowschen Schule. Als ich die Antwort des ZK erhielt, in der ich aufgefordert wurde, nach Petersburg zu kommen, war ich bereits unter den Moskauer Eisenbahnern tätig. Deshalb beschloss ich, die angefangene Arbeit fortzusetzen und in Moskau zu bleiben.
Nach der Februarrevolution begann ein neues Kapitel in der Geschichte des Kampfes unserer Partei gegen den Einfluss der Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf die Arbeiterklasse, gegen den Weltkrieg und für die Diktatur des Proletariats. Ich begann mit allen meinen Kräften und mit aller Energie an der Verwirklichung der Aufgaben zu arbeiten, vor die die Revolution unsere Partei und die Arbeiterklasse gestellt hatte.

 

Wieder im Ausland (1908-1912)

Ich hatte den Auftrag bekommen, den Transportapparat der Genossen in Lemberg kennen zu lernen, die sich das Ziel gesetzt hatten, den Süden Russlands mit revolutionärer sozialdemokratischer Literatur zu versorgen, die von neuem im Auslande zu erscheinen begann. Nur mit großer Mühe gelang es mir, die Lemberger Genossen ausfindig zu machen, denn der Treffpunkt, der mir von der Genossin Krupskaja in einem chiffrierten Brief mitgeteilt worden war, als ich im Kownoer Gefängnis saß, war nicht richtig dechiffriert worden (wir lasen Senatoritsche anstatt Lenartowitsche Straße). Nachdem ich mich mit der Organisation des Transports gründlich vertraut gemacht hatte, stellte ich fest, dass uns der Transport der Literatur pro Pud zu teuer zu stehen komme und dass in Russland zum Empfang der Literatur ein allzu komplizierter und allzu großer Apparat nötig sein werde. Außerdem war es ganz ungewiss, ob die Literatur auch wirklich schnell genug den Bestimmungsort erreichte. Als ich diese meine Ansicht dem Auslandsbüro des Zentralkomitees mitteilte, forderte man mich auf, nach Genf zu kommen. Unterwegs machte ich bei polnischen Genossen in Krakau halt. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, so traf ich dort den Genossen Ganetzki, dem ich alles mitteilte, was ich an Aufträgen für die polnischen Genossen hatte. In Krakau fand ich auch den Genossen Gurski, den ich seit der Flucht aus dem Kiewer Gefängnis nicht mehr gesehen hatte. In Wien kam ich morgens an, der Schweizer Zug aber ging erst nachmittags. Deshalb begab ich mich zu Ljowa (Anm.: Wladimirow), der sich in Wien niedergelassen hatte. Von ihm erfuhr ich, wer von unseren gemeinsamen Bekannten sich im Auslande aufhielt und was überhaupt in den ausländischen Parteikreisen vor sich ging. Es stellte sich heraus, dass sich unter den Bolschewiki in bezug auf die Stellungnahme zu den Wahlen zur Dritten Duma Meinungsverschiedenheiten ergeben hatten. In der Tat herrschte damals unter den Bolschewiki über diese Frage keine einheitliche Auffassung.
Ich entsinne mich, dass im Jahre 1907, kurz vor der zweiten Reichskonferenz der Partei, ein Sammelheft von Aufsätzen für und gegen die Beteiligung der Sozialdemokraten an den Wahlen erschienen war. Genosse Lenin war für, Bogdanow gegen die Beteiligung an den Wahlen. Nachdem die Partei aber einen Beschluss gefasst hatte, beteiligten sich die Bolschewiki geschlossen an den Wahlen. Für mich war es in jenem Augenblick unklar, warum diese Frage wieder aufgeworfen worden war, da wir bereits längst eine Fraktion in der 3. Duma hatten.
Auf der Reise von Wien nach Genf kam ich durch die Tiroler Alpen. Auch in späteren Jahren kam ich wiederholt durch die herrlichen und stillen Tiroler Berge, und immer wieder zogen sie mich durch ihre majestätische Schönheit und Ruhe an. Im Herbst 1908 aber, als ich nach der erschöpfenden und entnervenden Arbeit in Moskau und nach der letzten besonders schweren Haft nach Genf reiste, lösten die Alpen in mir ein Gefühl der Demut aus. Ich dachte damals: kann denn die Menschheit wirklich nicht ohne die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne Krieg und ohne Klassenkampf auskommen? Diese Stimmung hielt indessen nicht lange an. Kaum war ich in Genf angekommen, als ich auch schon die Tiroler Berge vergaß und mich über die Parteivorkommnisse der letzten sechs Monate zu informieren anfing.
In Genf traf ich Lenin, Krupskaja, M. J. Uljanowa, Sinowjew (den ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte), Innokenti, Viktor Taratuta (damals Sekretär des Auslandsbüros) und Otzow-Schitomirski. Dieser wohnte in Paris, und man hatte ihn extra nach Genf kommen lassen, damit er mir die Geschäfte übergeben solle. Mit Schitomirski war ich sehr befreundet. Als ich zur Zeit der Vorbereitung des 3. Parteitages wegen der Bespitzelung in Berlin meine Wohnung aufgeben musste, zog ich zu ihm. Er half mir bei meiner Arbeit; ich diktierte ihm meine deutschen Geschäftsbriefe und sehr oft auch die russischen, da ich eine sehr schlechte Handschrift habe. Vor meiner Abreise nach Russland im Jahre 1905 hatte ich ihm und Getzow alle Verbindungen des Transportapparates übergeben.
Als nun die Parteiorgane wieder im Ausland erscheinen sollten, hatte Schitomirski noch vor meiner Ankunft den Auftrag bekommen, alle alten Beziehungen wieder aufzunehmen. Das war ihm aber nicht gelungen, da er über keine persönlichen Bekanntschaften verfügte und hier nach einer mehr als zweijährigen Unterbrechung der Literatursendungen die Beziehungen sowohl zu den Deutschen als auch zu den Bauern auf der russischen Seite in persönlicher Weise angeknüpft werden mussten. Er hatte versucht, an die Grenze zu reisen und dort zu arbeiten, aber man hatte kein Vertrauen zu ihm. Auch die Versicherung, dass er früher immer mit mir zusammen gearbeitet habe, half ihm nichts. In Genf empfing mich Schitomirski in sehr herzlicher Weise, besorgte mir eine Wohnung und informierte mich gleichzeitig auch über alles, was er zur Ingangbringung des Transportapparates unternommen hatte. Auf meine Frage, warum er denn nicht in Berlin wohne, da doch von dort aus die Grenzen leichter zu erreichen seien und das Arbeiten einfacher wäre, erzählte er mir, was alles während meines Aufenthalts in Russland in Berlin geschehen war. Seinen Erzählungen zufolge sollte die Berliner Polizei eine Versammlung russischer Sozialdemokraten ausgehoben haben Jemand von den Anwesenden hätte dabei die Adresse unseres Literaturlagers und die Adresse des Hotels, in dem Genosse Kamo zu jener Zeit logierte, fortgeworfen. Bei der Haussuchung in unserem Lager seien einige Pakete mit Pistolen sowie Literatur gefunden worden. Bei dem Genossen Kamo habe man einen Koffer mit Doppelboden gefunden, in dem Dynamit versteckt war (Anm.: In der Anmerkung 1 zu dem Brief Axelrods an Martow vom 7. 12. 07, Nr. 62 und in der Anmerkung 1 zum Briefe Martows an Axelrod vom 5. 1. 08, Nr. 65. schreiben die Herausgeber der Korrespondenz zwischen Axelrod und Martow, dass der Sprengstoff zum Überfall auf das Bankhaus von Mendelsohn angefertigt worden war. (Siehe „Materialien zur Geschichte der Revolutionsbewegung", Band 1 „Briefe P. B. Axelrods und J. O. Martows", Russ. Rev.-Archiv, Berlin.) Diese Mitteilung der Herausgeber ist nicht richtig. Der Sprengstoff war. wie ich später feststellen konnte, für den Kaukasus bestimmt gewesen Der Genosse Kamo wurde lange Zeit in preußischen Gefängnissen festgehalten Um nicht nach Russland ausgeliefert zu werden, simulierte er ausgezeichnet eine Geistesstörung, so dass alle Spezialisten Deutschlands ihn für nicht normal erklärten. Trotzdem wurde er der Zarenregierung ausgeliefert, die ihn in eine Nervenheilanstalt steckte, aus der er wohlbehalten entkam. Genosse Kamo hat auch aktiv am Bürgerkrieg teilgenommen. Er ist vor kurzem im Kaukasus auf tragische Weise ums Leben gekommen.). Und da man — erklärte mir Schitomirski — bei dem Genossen Kamo auch eine Visitenkarte von ihm gefunden habe, so habe er Berlin verlassen müssen. Auch mir riet Schitomirski davon ab, nach Berlin zu gehen, weil es dort in polizeilicher Hinsicht schwerer als früher sei. In einem Hotel sei „Papachen" verhaftet und ausgewiesen worden, und mich suche man immer noch. Jetzt unterliegt es nicht mehr dem geringsten Zweifel, dass die Verhaftungen, die damals im Auslande unter den Bolschewiki vorgenommen worden waren, alle auf Schitomirski zurückzuführen sind, aber damals war er noch über jeden Verdacht erhaben.
Einige Tage nach meiner Ankunft in Genf ging ich zu einem Vortrag von Alexinski. An das Thema seines Referats erinnere ich mich nicht mehr, aber er redete viel von der 3. Duma und der Tätigkeit der sozialdemokratischen Dumafraktion. Nach seiner Meinung führte die Fraktion der 3. Duma keine klare proletarische Klassenlinie durch und diskreditierte nur durch die Reden ihrer Mitglieder unsere Partei. Daraus zog er den Schluss, dass der Fraktion ein Ultimatum gestellt werden müsste, mit einer Aufforderung, die Parteilinie streng innezuhalten. Im Falle einer Ablehnung dieser Forderung sollte die Fraktion aus der Duma abberufen werden. Nach dem Referat fand eine lebhafte Debatte statt, an der sich auch Menschewiki beteiligten. Sehr heftig trat dem Referenten Alexinski der Genosse Innokenti entgegen. Das war wohl das erste öffentliche Auftreten des Zentralkomitees oder der bolschewistischen Zentrale gegen einen Teil der Bolschewiki. (Alexinski, Lunartscharski, Bogdanow, Ljadow und andere hatten sich zu einer besonderen Gruppe mit einer eigenen Zeitschrift, dem „Wperjod" [„Vorwärts"], zusammengeschlossen, nachdem die bolschewistische Zentrale zwischen sich und diesen Genossen einen Trennungsstrich gezogen und ihren Otsowismus-Ultimatismus (Anm.: Vor den Wahlen zur 3. Staatsduma (1907) entstand unter einem Teil der Bolschewiki eine Strömung für den Boykott dieser Wahlen, wobei die Motive für diese Taktik mechanisch aus der Zeit der Bulyginschen und der 1. Duma übernommen wurden. Nach der Wahl von Sozialdemokraten in die 3. Duma bildeten sich unter den Bolschewiki zwei Strömungen heraus. Die eine hielt es für notwendig, überhaupt auf die Ausnutzung der Dumatribüne zu verzichten und die Fraktion abzuberufen, (deshalb wurden sie Otsowisten getauft) und die andere forderte, dass man es erst noch einmal mit einem Ultimatum an die Fraktion versuchen solle (daher der Name Ultimatisten). Von der Auffassung ausgehend, dass nach der Niederlage der Revolution im Jahre 1905 die Hauptaufgabe der Partei in der Sammlung aller revolutionären Kräfte des Proletariats und der Ausnutzung aller legalen Möglichkeiten, auch der Dumatribüne, bestehe, kämpften die Bolschewiki mit dem Genossen Lenin an der Spitze aufs schärfste gegen diese Abweichungen.), ihren Machismus und ihre „Gottsucherei" verurteilt hatte. Das geschah Mitte 1909.) Der Genosse Innokenti gab in seiner Entgegnung zu, dass die Tätigkeit der Fraktion in der Duma keine besonders glückliche war, und verurteilte das Streben der Dumafraktion nach Unabhängigkeit vom Zentralkomitee der Partei, vertrat aber die Auffassung, dass man die Haltung der Fraktion nicht durch ein Ultimatum oder durch Abberufung ändern müsse, sondern dadurch, dass das Zentralkomitee die politische Richtung der Fraktion bestimme und an ihrer Tätigkeit offen Kritik übe. Ein Verzicht auf die Teilnahme an der Duma, führte er aus, würde eine schädliche Wirkung auf die Interessen der Arbeiterklasse Russlands haben, da für die Partei die Ausnutzung selbst der 3. Duma von großer Wichtigkeit sei. Die Erfahrung zeigte später, dass die Fraktion der 3. Duma am Schluss ihrer Wirksamkeit ihre ursprüngliche politische Linie immerhin etwas änderte und einige Bolschewiki, die zu ihr gehörten, der Genosse Poletajew z. B., haben der Partei große Dienste geleistet. Genosse Poletajew hat sehr viel zur Schaffung der „Swesda" und der „Prawda" beigetragen.
Nachdem ich mich mit allen Dingen vertraut gemacht hatte, die zum Transport von Literatur gehörten (Ich brachte in Erfahrung, in welcher Auflage der „Proletari" gedruckt wurde, welche Broschüren zum Versand nach Russland da waren, wie die Expedition eingerichtet war, usw.), wurde beschlossen, dass ich zur Übernahme des Transportapparates wieder nach Deutschland reisen und mich in Leipzig niederlassen sollte. Man gab mir den Auslandspaß eines Studenten Raschkowski, den ich aber sofort nach meiner Ankunft in Leipzig fortwerfen musste, da es sich herausstellte, dass Raschkowski selbst in Leipzig lebte und dass ich außerdem bei der polizeilichen Anmeldung den Mädchennamen der Mutter und ähnliche Details hätte angeben müssen, über die ich gar nicht unterrichtet war. Wäre es mir nicht gelungen, gleich nach meiner Ankunft in Leipzig festzustellen, dass Raschkowski dort wohnte, so hätte ich bei der polizeilichen Anmeldung infolge Angabe von sich widersprechenden Personalien verhaftet werden können.
Ende Dezember 1908 war ich auf einer Reise nach der Grenze in Leipzig abgestiegen. Da ich dort unter den deutschen Genossen Bekannte hatte, war es mir leicht, ein Zimmer und eine Adresse für Briefe zu finden, die ich sofort nach Genf mitteilte. Nach meiner Ankunft in Königsberg stieg ich beim Sekretär der sozialdemokratischen Organisation, dem Genossen Linde, ab. Von ihm und von Haase erfuhr ich, welche Veränderungen in den im Grenzgebiet gelegenen sozialdemokratischen Ortsgruppen vor sich gegangen waren; ich nahm von ihnen Empfehlungsbriefe an sozialdemokratische Genossen mit und reiste nach den früheren Grenzübertrittsstellen ab. Sehr schnell stellte ich mit Leichtigkeit alle früheren Verbindungen für den Literaturtransport und für Beförderung von Genossen über die Grenze wieder her.
Nach Leipzig zurückgekehrt, ging ich vor allen Dingen an die Organisation der ausländischen Seite der Arbeit. Im Gebäude der „Leipziger Volkszeitung" stellte man mir eine Dachkammer zur Verfügung; ich richtete dort ein Lager unserer Literatur ein und bereitete alles für den Versand vor. Alle Packmaterialien bestellte ich durch die Expedition der Zeitung. Die technischen Leiter der „Leipziger Volkszeitung" — Max Seifert und Lehmann — erlaubten mir, unsere Literatur, die zuerst aus Genf und später aus Paris kam, auf ihren Namen abzusenden. Ihre Anschriften benutzte ich auch für Geldsendungen und Auslandsbriefe. Für Briefe aus Russland wurden mir eine Menge Adressen von Funktionären der Leipziger sozialdemokratischen Ortsgruppe zur Verfügung gestellt, die fast alle bei der „Volkszeitung" beschäftigt waren. Die Adressaten brachten nun die aus Russland kommenden Briefe täglich dem Genossen Max Seifert, und ich holte sie mir ebenfalls alltäglich von ihm ab. Konnte ich es einmal nicht, so brachte sie mir mein Wirt, der ebenfalls ein aktiver Sozialdemokrat war und geschäftlich mehrmals am Tage bei Max Seifert zu sein pflegte. Nun brauchte ich nur noch Treffpunkte für die aus Russland und aus dem Auslande kommenden Genossen sowie einige Wohnungen ausfindig zu machen. Aber auch mit dieser Aufgabe war ich bald fertig. Den Treffpunkt für die Genossen, die im Ausland lebten, richtete ich im Volkshaus ein. Dort gab es auch eine Art von Hotel, wo die ankommenden Genossen ein paar Tage bleiben konnten. Dieses Hotel war sehr gut. Für die Genossen aber, die länger bei mir bleiben mussten, war es zu teuer, und so hatte ich für sie eine Reihe von Zimmern in Privatwohnungen ausfindig gemacht, für die ich an den Tagen, an denen sie bewohnt wurden, bezahlte. Als Treffpunkte für die aus Russland Kommenden hatte ich ebenfalls bestimmte Privatwohnungen ausgesucht. Mit diesen Treffpunkten stand ich stets in telefonischer Verbindung durch meinen Wirt, der ein Telefon im Hause hatte. Von 1909 bis 1912 suchten mich zahlreiche Genossen auf, von denen viele jetzt zu den aktivsten Funktionären unserer Partei und der Sowjetmacht gehören. Man muss berücksichtigen, dass sowohl die Genossen, die mit dem Literaturversand zu tun hatten, als auch diejenigen, die mich aufzusuchen pflegten, für die sächsische Polizei nichts anderes als Verbrecher waren. Sie wohnten unangemeldet, und auch ich selbst musste eine geraume Zeit ohne polizeiliche Anmeldung leben, bis ich mir einen geeigneten Auslandspaß verschafft hatte.
Von der Leipziger Russischen Kolonie, die ziemlich groß war und sich hauptsächlich aus Studenten der nationalen Minderheiten Russlands zusammensetzte, hielt ich mich möglichst fern. Nur mit Max und Alexandra Saweljew, die damals in Leipzig studierten, traf ich mich des öfteren. Schlecht war es um die Organisation des Transportapparates in Russland selbst bestellt. Unweit der deutsch-russischen Grenze Literatur abzuholen, diese nach irgendeiner größeren russischen Stadt zu schaffen und dann von dort in allen möglichen Formen an die Ortsgruppen zu versenden — war im Jahre 1909 eine sehr schwere Sache. Das Zentralkomitee setzte mich mit einigen Genossen in Verbindung, die in Wilna wohnten (Sascha — Alexander Strumin —, der vor kurzem verhaftet und wegen Mitarbeit an der Ochrana in Wilna unter Anklage gestellt wurde, ferner Sonja Krengel) und den Auftrag hatten, die erwähnte Funktion zu übernehmen. Nun setzte ich diese Genossen in Verbindung mit den Leuten, von denen sie die Literatur empfangen sollten, und begann diese abzusenden, ohne zu warten, bis der Apparat der Transportorganisation in Russland fertig sein werde. Aus verschiedenen Gründen war es den Wilnaern nicht gelungen, die ihnen übertragene Aufgabe zu lösen, und ich musste infolgedessen den Versand der Literatur nach Russland (wenigstens in geringen Mengen) wieder mittels „Panzer" und Koffer mit Doppelböden aufnehmen. Auf diese Weise gelang es mir damals beträchtliche Mengen Literatur in Spezialkoffern nach Russland zu befördern. Die heimreisenden Genossen brachten die Drucksachen nach Petersburg und Moskau bzw. nach den Zielpunkten ihrer Reise. Sehr oft wurde auch alles den Wilnaern zugeschickt, die dann die weitere Verbreitung in Russland selbst besorgten.
Schließlich verlangte ich, dass mir für die Transportarbeit innerhalb Russlands ein verantwortlicher Genosse mit Unternehmungsgeist zugeteilt werde, der nicht einfach dasitzen und warten sollte, sondern selbst imstande sein musste, an die Grenze zu reisen und mit den Schmugglern zu verhandeln, die für uns arbeiteten. Für diese Arbeit wurde Genosse Sefirllja (Sergej Moissejew) bestimmt, der zu Beginn des Sommers 1909 zu mir nach Leipzig kam. Wir arbeiteten den weiteren Arbeitsplan aus, worauf er nach Russland reiste, um den dortigen Apparat zur Weiterleitung der Literatur in Gang zu bringen. Im Juni desselben Jahres kam Genosse Sefir wieder zu mir nach Leipzig, und wir reisten beide nach Tilsit, wo wir bereits von den Leuten erwartet wurden, die es übernommen hatten, die Literatur nach Russland zu schaffen. Der Genosse Sefir erhielt von den Schmugglern die Adressen, unter denen man sie in Russland finden konnte, und reiste sofort dorthin ab. Nun ging die Sache auf einmal vorwärts.
Von allen Verbindungen, die wir damals hatten, behielten wir nur die solidesten: den Schmuggler Ossip, einen litauischen Bauer, der einen ziemlich großen Hof hatte, und Nathan, einen Einwohner von Suwalki. Der erste holte mit seinen Leuten die Literatur in Paketen aus der Druckerei von Mauderode in Tilsit ab und brachte sie in die Dörfer, die in der Nähe der Eisenbahnstationen Schaulen und Radsiwilischki auf der ehemaligen Kowno-Libauischen Eisenbahnlinie lagen. Dort wurde die Literatur bereits von Genossen des russischen Transportapparates abgeholt. Ossip nahm nicht viel — 18 bis 22 Rubel pro Pud, dafür aber brachte er nie weniger als vierundeinhalb Pud über die Grenze (3 Pakete von je anderthalb Pud, die so eingepackt waren, wie ich es bei der Schilderung meiner Arbeit vor 1905 bereits beschrieben habe.) Das war sein Minimum (1904 und 1905 transportierte er bis zu zehn Paketen auf einmal), aber die Prozedur der Beförderung von Tilsit in ein russisches, weit von der Grenze gelegenes Dorf war doch eine ziemlich umständliche. Obwohl Ossip am zuverlässigsten von allen arbeitete, war diese Grenzstelle für uns doch von geringer Bedeutung, denn wir schafften von hier aus hauptsächlich unser periodisches Organ „Proletari" nach Russland, das zwar nicht regelmäßig erschien, immerhin aber vom langen Liegen an der Grenze viel an Aktualität einbüßte. Nathan dagegen schaffte die Literatur sehr schnell über die Grenze, beschränkte sich aber jedesmal auf ein Paket von anderthalb Pud. Wir nannten diese Beförderung „Express"; denn im Laufe von einigen Tagen brachte er unser Paket aus Goldap in Preußen, wohin wir die Literatur sandten, nach Grodno oder unweit davon. Für einen solchen Transport gaben wir gern auch 35—40 Rubel pro Pud aus. Nathan selbst, den ich von Zeit zu Zeit sah, machte den Eindruck eines Menschen, der halb Idealist und halb Schmuggler war. Mit uns arbeitete er ehrlich zusammen und leistete uns große Dienste. Obwohl wir zum Grenzübertritt eine gute Stelle zwischen Schtschutschin und Grajewo hatten, schmuggelten wir unsere Genossen von und nach Russland auch mit Hilfe Nathans über die Grenze. Da Grodno und Augustowo, die sie passieren mussten, sehr belebte Punkte waren, so hatte das den Vorteil, dass die Genossen unbemerkt hindurchreisen konnten.
Beide Grenzstellen arbeiteten mit einem kleinen Apparat. Für den „Expresstransport", der damals hauptsächlich in Tätigkeit war, wurde in Grodno eine Genossin stationiert (K. J. Lebit — die Frau P. Lebits, mit dem ich zusammen im Odessaer Gefängnis gesessen hatte; er selbst war 1910 auch einige Monate lang beim Transport in Grodno tätig gewesen). Sowohl die Organisation als auch alle Verbindungen, von denen ich oben sprach, bestanden unverändert bis 1913, obwohl inzwischen in Russland bereits die legale Zeitung „Prawda" zu erscheinen begann.
Die ausländische Parteiliteratur gelangte nun in großen Mengen und regelmäßig nach Russland. Der Transportapparat arbeitete ununterbrochen bis Mitte 1910. Der Genosse Sefir hatte sein Hauptquartier in Minsk aufgeschlagen, (in der Korrespondenz pflegten wir Minsk stets als Morschansk zu bezeichnen), musste aber sehr oft geschäftlich nach Moskau und Petersburg reisen. Im Sommer 1910 wurde er in Moskau verhaftet. Wir begannen uns nach einem Stellvertreter umzusehen, da der Transportapparat durch die Verhaftung Sefirs nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Da erhielten wir einen Brief von Matwej Brindinski (der, wie sich später herausstellte, ein Lockspitzel war), in dem er uns mitteilte, dass er auf Verlangen des Genossen Nogin, der damals im Russischen Büro des Zentralkomitees tätig war, ins Ausland kommen werde. Der Brief Matwejs gefiel mir nicht. Er hatte ihn mit einer besonders präparierten Tinte geschrieben, aber unchiffriert; er teilte in dem Schreiben mit, dass er dann und dann Petersburg verlassen werde und dass wir ihn erwarten sollten. Zu diesem Zweck gab er eine Beschreibung seines Äußern. Ich habe damals sofort von diesem Brief dem Genossen Mark (Ljubimow) Mitteilung gemacht, der in Paris lebte und den ganzen technischen Apparat des Auslandsbüros des Zentralkomitees leitete. Mark äußerte sich damals dahin, dass Matwej diesen Brief nur aus Unerfahrenheit so geschrieben hätte. Als Matwej eintraf, stellte es sich heraus, dass Makar-Nogin ihn zum Stellvertreter Sefirs bestimmt hatte. Außer dem Genossen Nogin empfahlen ihn auch die Genossin M. J. Tomskaja und andere. Matwej arbeitete seit 1909 als Berufsrevolutionär; nach seiner Flucht aus der Verbannung in Tobolsk war er in Petersburg und Moskau tätig, anfangs als Sekretär und Organisator verschiedener Bezirke, später als Bevollmächtigter und Leiter des Passbüros des Zentralkomitees. Nach der Verhaftung des Genossen Sefir ernannte ihn das Russische Büro des Zentralkomitees zum Leiter des Transports in Russland. Ich setzte Matwej mit den Genossen in Verbindung, die bereits beim Transport in Russland gearbeitet hatten. Nach Russland zurückgekehrt, nahm er sich den Genossen Valerian (Saleschski) zum Stellvertreter, und Genosse Valerian war es, der tatsächlich die ganze Arbeit machte, während Matwej nur die Korrespondenz mit mir und dem Russischen Büro des Zentralkomitees und seinen Bevollmächtigten führte. Der Wohnort Matwejs war Dünaburg, Genosse Valerian aber wohnte in Gomel und in Nowosybkowo. Zu Beginn der Tätigkeit Matwejs ging alles ganz gut: die Literatur traf ein und wurde pünktlich in Russland verbreitet. Aber später bekamen die Organisationen in Russland die Literatur entweder gar nicht oder recht selten, obwohl wir die Literatur an die Grenze schafften und alles von dort abgeholt wurde. Ich zahlte den Schmugglern nämlich erst, nachdem ich von ihnen und von Matwej die Nachricht bekam, dass die Literatur von der Grenze abgeholt worden war. Wegen dieser Unregelmäßigkeiten rief ich Matwej wiederholt ins Ausland. Er kam, wir arbeiteten Pläne aus, wie man die Literatur am schnellsten und sichersten befördern könne, und in der ersten Zeit nach Matwejs Rückkehr nach Russland klappte auch alles einigermaßen. Dann aber begann die Literatur von neuem irgendwo zu verschwinden. Später stellte es sich heraus, dass der Hauptteil der hinüberbeförderten Literatur von Matwej an die Moskauer Gendarmerieverwaltung und ans Polizeidepartement geschickt worden war. Im Jahre 1911 schrieb ich ihm, dass wir die ganze Transportorganisation in Russland wegen ihrer Untätigkeit auflösen würden, wenn die Maiflugblätter, die vom Zentralorgan herausgegeben worden waren, nicht rechtzeitig diesen und jenen Organisationen zugestellt werden sollten. Das Ergebnis war erstaunlich: die ganze Auflage war zur rechten Zeit an Ort und Stelle. Ende 1911 forderte ich auf Grund des Materials, das sich bei mir angehäuft hatte, die Enthebung Matwejs von seinem Posten. Obwohl ich keine direkten Beweise gegen ihn hatte, beschuldigte ich ihn des Spitzeltums und verlangte, dass er nicht zur Teilnahme an der Parteikonferenz vom Jahre 1912 zugelassen werde.
Ich glaube, es dürfte nicht überflüssig sein, wenn ich dem Leser erkläre, wie ich auf den Gedanken kam, dass Matwej ein Lockspitzel war. Über den ersten seltsamen Brief, den ich von ihm aus Petersburg bekam, habe ich bereits erzählt. Dieses Schreiben hatte bei mir einen üblen Eindruck hinterlassen. Ferner befremdete mich, dass der russische Transportapparat nicht aufflog, dass die Literatur zwar immer richtig in Russland eintraf, aber die Ortsgruppen nicht erreichte und irgendwohin verschwand Und schließlich: als ich mit der Auflösung der russischen Organisation gedroht hatte, da war das Maiflugblatt schnell und pünktlich den Organisationen zugestellt worden. Auch wunderte es mich, dass Matwej stets mit Auslandspässen versehen ins Ausland kam, denn in den Jahren der schlimmsten Reaktion konnte nicht jeder illegale Funktionär sich den Luxus eines Auslandspasses leisten. Im August 1911 war Matwej bei mir in Leipzig. Zur gleichen Zeit kam auch Genosse Mark aus Paris zu einer gemeinsamen Beratung. Vor der Abreise übergab mir Matwej seine Abrechnung. In dieser Abrechnung war unter den Ausgaben ein Posten von 100 Rubel enthalten, den Matwej jemand zurückgegeben haben wollte. Auf meine Bemerkung hin, dass in diesem Falle die 100 Rubel ja auch unter den Einnahmen vermerkt sein müssten, nahm Matwej, ohne im geringsten verlegen zu werden, die Abrechnung wieder an sich, und am nächsten Tag figurierten die 100 Rubel bereits unter den Einnahmen, dafür aber hatten sich die Ausgaben um 140 Rubel vermehrt. Diese Geschichte empörte mich außerordentlich. Ich nahm die Abrechnung nicht an und forderte ihn auf, mir eine ordnungsmäßige Abrechnung mit allen Belegen einzusenden. Es war mir nun so klar, dass Matwej nicht ganz sauber war, dass ich mich zu dem Genossen Rykow begab, der sich in Leipzig aufhielt und zusammen mit Matwej nach Russland reisen wollte, und ihm den Fall mit der Abrechnung erzählte. Ihm sagte ich, dass ich gegen seine Reise mit Matwej sei, und Matwej teilte ich mit, dass Rykow in Leipzig bleiben werde.
Genosse Rykow wurde sofort nach seiner Ankunft in Moskau verhaftet. Die bei ihm vorgefundenen chiffrierten Adressen dechiffrierte die Polizei und nahm eine Unmenge Verhaftungen vor. Die Moskauer Zeitungen schrieben damals, dass Genosse Rykow endlich ertappt worden sei und nunmehr vors Gericht gestellt werden würde. Sofort nach der Verhaftung schrieb mir Matwej, dass man den Genossen Rykow wahrscheinlich nach Sibirien bringen werde. Nachdem Genosse Rykow nach Russland abgereist war, teilte mir Genosse Sagorski mit, dass Matwej dem Genossen Rykow bei der Chiffrierung der Adressen geholfen hatte. Ich sagte mir gleich, dass Matwej, nachdem er Rykow verraten hatte, vor den Folgen, die diese Verhaftung für ihn, Matwej, haben konnte, offenbar erschrocken war und daher darauf bestanden habe, dass man den Genossen Rykow nur nach Sibirien abschiebe. Und als ich schließlich 1912 von dem zur Januarkonferenz gekommenen Delegierten der Wilnaer und Dünaburger Parteiorganisationen, dem Genossen Gurwirtsch, erfuhr, dass Matwej im Oktober 1911 in Dünaburg verhaftet und sofort freigelassen worden war, worüber er selbst mir nichts mitgeteilt hatte, da stand es für mich endgültig fest, dass er ein Lockspitzel war. Ich telegraphierte sofort an die Genossin Krupskaja und ersuchte sie, den Kerl nicht zur Konferenz zuzulassen. Ich hatte zufällig erfahren, dass er sich zu dieser Konferenz nicht über Leipzig, sondern direkt nach Paris begeben hatte, um ja nicht mit mir zusammenzutreffen, da er wohl schon fühlte, dass ich ihm nicht recht traute. Der Brief, den ich gleich nach dem Telegramm abschickte und in dem alle von mir geschilderten Tatsachen enthalten waren, hatte wahrscheinlich seine Wirkung nicht verfehlt, denn Matwej wurde zur Konferenz nicht zugelassen. Er protestierte gegen meine Beschuldigungen, und die Sache wurde zur Klärung Burzew übertragen, der die Richtigkeit der erhobenen Beschuldigungen prüfte. Vor meiner 1913 erfolgten Abreise nach Russland wurden ich und der Genosse Sefir (Moissejew) von Burzew in der Sache Matwejs vernommen. Sowohl Sefir als auch ich waren fest davon überzeugt, dass der Bursche ein Lockspitzel war.
Im Jahre 1917 gelang es auf Grund der Dokumente der Moskauer Ochrana, die M. A. Zjawlowski unter dem Titel „Bolschewiki" veröffentlichte, festzustellen, dass Matwej eine große Rolle gespielt hatte und seit 1909 einer der gemeinsten Lockspitzel war. Er beschränkte sich nicht auf den Verrat vieler Literaturtransporte, auf die Verhaftung vieler Mitglieder des Zentralkomitees und der russischen Organisationen, sondern lieferte sogar politische Berichte über den Bolschewismus. Übrigens glaube ich, dass nicht er selbst, sondern die Gendarmen diese Berichte auf Grund seiner Angaben abfassten. Matwej war meiner Ansicht nach ein politischer Analphabet.
Dieser eine Spitzel Matwej hatte also eine große Menge von Parteimitteln vernichtet, eine Unmasse Anstrengungen der Parteifunktionäre zuschanden gemacht und die Arbeiter der Möglichkeit beraubt, ihre revolutionäre Literatur zu lesen!...
Nach der Beseitigung Matwejs Ende Dezember 1911 setzte ich mich mit dem Genossen Valerian in Verbindung. Wir wechselten die Treffpunkte, ein wenig auch das Personal, und der Transport begann wieder gut zu funktionieren. Seit 1912, d. h. seit dem Wiederaufleben der Arbeiterbewegung in Russland und dem legalen Erscheinen der „Prawda", verlor der Transport seine Bedeutung, und der Bezug von Literatur aus dem Ausland wurde immer geringer.
Da ich hier meine Arbeit in Leipzig schildere (1909 bis 1912), so dürfte es nicht überflüssig sein, kurz auf die Entstehung und Tätigkeit der Leipziger „Gruppe zur Unterstützung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" in dieser Periode einzugehen.
Ich erwähnte bereits, dass ich mich nach meiner Ankunft in Leipzig von den dort studierenden Russen fernhielt. Emigranten gab es dort nur sehr wenige. Das waren hauptsächlich Arbeiter, die in den Betrieben und Fabriken arbeiteten. Mit ihnen kamen wir später in engen Kontakt. Die Studenten hatten ihren eigenen Klub, eine Bibliothek, einen Lesesaal und eine Speisehalle, in der immer Russen anzutreffen waren. Die einzigen Genossen, die mich mit den Studenten hätten in Verbindung bringen können, waren die Saweljews. Aber sie reisten bald nach meiner Ankunft auf ein halbes Jahr nach München. Mitte Sommer 1909 kam N. S. Marschak nach Leipzig und begann die russischen Studentenorganisationen zu besuchen. Unter den Studenten gab es Anhänger der Mehrheit und der Minderheit der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Mitglieder der polnischen Sozialdemokratie und des „Bund".
Auf Veranlassung von N. Marschak wurde nun eine Gruppe gebildet, der die Saweljews, der Marschak, ich, die Studenten Brachmann und Brodski und außerdem die Menschewiki London und Rjasanski beitraten. Die Bundisten und die Mitglieder der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" hatten bereits ihre Unterstützungsgruppen. Zu der Gruppe des „Bund" gehörten: Spectator (Nachimsohn), die Eheleute Bakst, Rabinowitsch und andere; zu der polnischen Gruppe: Radek, Bronski, Mucha und andere. Nach der Konstituierung unserer Gruppe gründeten die Menschewiki eine eigene Unterstützungsgruppe. Ich erinnere mich noch an Pjotr Ramischwili, Kaplun, Babajew (den Kaukasier) u. a. Nach der Auslandstagung des Plenums des Zentralkomitees der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu Beginn des Jahres 1910, als zwischen allen Teilen der Partei ein Abkommen (darüber später!) getroffen worden war, traten die Mitglieder der menschewistischen Gruppe mit Ausnahme von Pjotr Ramischwili in unsere Gruppe ein. Bei ihrem Eintritt hatten wir uns damit einverstanden erklärt, dass die Mittel, die von der Gruppe aufgebracht wurden, nicht an das Auslandsbüro, sondern direkt nach Russland abgeführt werden sollten. In Leipzig bestanden also drei sozialdemokratische Organisationen. Da keine einzige von ihnen die Mehrheit der russischen Studenten hinter sich hatte, so musste man, um Einfluss zu gewinnen und in alle studentischen Körperschaften sozialdemokratische Vertreter zu entsenden, einheitliche sozialdemokratische Kandidatenlisten aufstellen. Das zwang uns schließlich, eine ständige Körperschaft aus Vertretern aller drei Gruppen zu bilden, um innerhalb der Russenkolonie geschlossen vorgehen zu können, denn ohne die Studentenorganisationen hätten die Unterstützungsgruppen gar nicht existieren können. In der Tat war die Veranstaltung von geselligen Abenden, Referaten usw. auf legalem Wege nur unter der Flagge eines russischen Studentenvereins möglich. Unter den Studenten gab es eine starke Gruppe, die die Unabhängigkeit der Studentenvereine von den sozialistischen Gruppen verteidigte. Als die Gruppe zur Unterstützung der Bolschewiki organisiert wurde, nahm ich sogleich an ihren Arbeiten teil, besuchte aber die studentischen Organisationen selten und trat auf ihren Veranstaltungen nie als Redner hervor.
Was tat die Unterstützungsgruppe für die Partei? Sie verfolgte das Parteileben, veranstaltete Diskussionsabende, an denen Parteifragen durchgesprochen und zu denen Sozialdemokraten aller Richtungen eingeladen wurden. Ich erinnere mich noch an das Referat des Genossen Rykow über das Liquidatorentum in der russischen Sozialdemokratie im Jahre 1911 und an das Referat des Genossen Lunatscharski über innere Parteifragen im Jahre 1912. Die Gruppe veranstaltete auch Vortragsabende. In Leipzig sprach Genosse Lenin im Februar 1912 über Tolstoi, im gleichen Monat hielt Genosse Lunatscharski einen Vortrag über ein literarisches Thema. Ferner organisierte sie Versammlungen aus Anlass des 1. Mai oder der Wiederkehr des 22. Januar, an denen alle Sozialdemokraten teilnahmen, und schließlich vertrieb sie unter den Studenten und vermittels der sozialdemokratischen Buchhandlungen Parteiliteratur: die im Ausland erschienenen Broschüren und die Zeitungen „Proletari", „Sozialdemokrat" und die Petersburger „Swesda". Außerdem veranstaltete die Gruppe Geselligkeitsabende, die stets zur Auffüllung der Parteikasse beitrugen, und sammelte für die Unterstützung der Verhafteten und der Emigranten. Alle drei Gruppen hatten in Leipzig zweifelsohne einen großen ideellen Einfluss auf die dort studierenden Russen.
Ich muss noch hinzufügen, dass ich mit Hilfe der Studenten sowohl der Mitglieder der Gruppe als auch der Sympathisierenden oft in „Panzern" Literatur nach Russland sandte. Als z. B. gleich nach der Januarkonferenz im Jahre 1912 ein Bericht über diese Konferenz erschien, sandte ich ihn aus Leipzig sofort mit dem Mitglied unserer Gruppe, dem Genossen London, nach Russland. Auch nahm ich oft von den Studierenden ihre Pässe und brachte damit verantwortliche Parteigenossen nach Russland. Der Leipziger Unterstützungsgruppe traten sofort nach ihrer Ankunft bei: der Genosse Sagorski, die Genossin Pilatzkaja und der Genosse Lasar (Selikson, jetzt Mitglied der Zentralen Kontrollkommission und Leiter der Arbeiter- und Bauerninspektion in Leningrad). Die Leipziger Unterstützungsgruppe hatte während der ganzen Zeit ihres Bestehens eine kompakte Mehrheit alter Bolschewiki in ihren Reihen und stand sowohl mit der bolschewistischen Zentrale als auch mit anderen ausländischen Gruppen zur Unterstützung der Bolschewiki in engem Kontakt.

 

Die ideologische und organisatorische Zersplitterung in den Reihen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1908-1911)

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki vor der Revolution von 1905 waren sehr groß. Einige dieser Meinungsverschiedenheiten wurden durch die Oktoberereignisse selbst, durch die stürmische Entwicklung der Revolution des Jahres 1905, entschieden. Das war z. B. der Fall mit der Frage, ob die Sozialdemokraten sich an den Wahlen zur Bulyginschen Duma beteiligen oder ob sie — wie es die Bolschewiki forderten — diese Wahlen boykottieren sollten. Die Bulyginsche Duma, die nur ein beratendes Organ war, wurde durch die Entwicklung fortgefegt, und es erschien ein neues Gesetz über die Einberufung der Staatsduma. Aber die wesentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bolschewiki blieben bestehen und konnten weder durch den Einigungsparteitag in Stockholm noch durch den 5. Parteitag in London beseitigt werden. Das waren prinzipielle Meinungsverschiedenheiten über den Charakter der russischen Revolution, über die Rolle des Proletariats in der Revolution und über die daraus sich ergebende Einstellung der Sozialdemokratie, als der Avantgarde des Proletariats, zur liberalen Bourgeoisie. Ich erwähnte bereits früher, dass bei den Wahlen zur zweiten Duma die Bolschewiki mit allen damaligen revolutionären Parteien zusammengingen (mit den Sozialrevolutionären, den Volkssozialisten und dem Bauernbund), während die Menschewiki für ein Wahlbündnis mit der liberalen Bourgeoisie eintraten und dort, wo die Gefahr von seiten der Schwarzen Hundert groß war, einfach dazu aufforderten, für die Kadetten zu stimmen.
Nach dem Auseinanderjagen der zweiten Duma und der Konsolidierung des Stolypinschen Regimes vertieften sich die Meinungsverschiedenheiten noch mehr. Es handelte sich nun bereits um Schicksalsfragen unserer Partei. Plechanow erklärte vor aller Öffentlichkeit, man hätte nicht zu den Waffen greifen dürfen (gemeint war der bewaffnete Aufstand in Moskau im Dezember 1905 und in anderen Städten des damaligen Russland), und die Menschewiki begannen uns in der Presse vorzuwerfen, dass wir Bolschewiki die Kadetten durch Aufstellung sozialer Forderungen, wie Achtstundentag usw. abgeschreckt hätten. Das besagte also mit anderen Worten, dass die Bolschewiki die Niederlage der Revolution von 1905 verschuldet hatten. Diese menschewistischen Beschuldigungen wurden noch durch den Umstand verschärft, dass nach der Ansicht der Menschewiki keine neue revolutionäre Welle zu erwarten war und dass das Stolypinsche Regime sich ernst und für lange Zeit konsolidiert hatte. Von diesem Standpunkt aus schlugen die Menschewiki vor, sich dem Stolypinschen — dem zaristischen Regime also — anzupassen. Das aber bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass die Sozialdemokratie nur noch legal im Rahmen der zaristischen Gesetze arbeiten sollte. Wollte sie aber das tun, so musste sie erst das Programm und die Taktik der Partei über Bord werfen, das heißt, die Partei als eine revolutionäre sozialdemokratische Partei liquidieren. Eine ganz andere Auffassung vertraten die Bolschewiki. Sie behaupteten, dass die Grundfragen, die zur Revolution geführt hatten, noch lange nicht entschieden waren. Die Arbeiterklasse, sagten sie, sei noch lange nicht zufrieden gestellt, sie hätte weder die Vereinsfreiheit noch das Streikrecht erhalten, und es gäbe nach wie vor keine Versammlungs- und Redefreiheit. Der Arbeitstag, sagten die Bolschewiki, sei genau so lang wie vor der Revolution, und es bestehe nach wie vor keine Sozialversicherung während die Löhne noch niedriger geworden seien. Auch der Bauer hätte nichts erhalten: der Boden wäre im Besitz der Agrarier geblieben, die Steuern wären nicht geringer geworden; außerdem wäre der Bauer auch nach der Revolution genau so rechtlos wie vorher geblieben. Die Revolution wäre also nicht tot, denn die Widersprüche seien nicht aufgehoben worden. Die Revolution von 1905 — erklärten die Bolschewiki — hätte eine vorübergehende Niederlage erlitten, aber sie werde mit noch viel größerer Kraft von neuem aufflammen. Und auf Grund dieser revolutionären Perspektive forderten die Bolschewiki kategorisch die Aufrechterhaltung der illegalen sozialdemokratischen Organisationen und die Beibehaltung der revolutionären sozialdemokratischen Taktik und des Parteiprogramms.
Jetzt wissen alle russischen Arbeiter, dass die Bolschewiki recht hatten und dass ihre mühselige Arbeit auf ideologischem und praktischem Gebiet nicht umsonst war; aber es hat mehr als 10 Jahre kolossaler Anstrengungen und Opfer bedurft, um die Partei vor ihren vermeintlichen Freunden von rechts (den „Liquidatoren") und von links (den „Otsowisten") zu retten.
Als ich im Herbst 1908 ins Ausland kam, hatten sich dort die zwei Hauptströmungen der Sozialdemokraten — die menschewistischen Liquidatoren und die Bolschewiki — sehr klar herausgebildet und gaben auch ihre eigenen Zeitungen heraus. Die Menschewiki hatten den „Golos Sozialdemokrata" und die Bolschewiki den „Proletari". Beide Richtungen standen in Verbindung mit den Ortsorganisationen der Partei in Russland. Außerdem erschien in Wien die interfraktionelle populäre Arbeiterzeitung „Prawda". Um diese Zeitung gruppierten sich jene Genossen im In- und Ausland, die sich weder den Menschewiki noch den Bolschewiki anschließen wollten. Aber diese Genossen standen doch den Liquidatoren näher als den Bolschewiki, da sie nach der im Januar 1912 von den Bolschewiki einberufenen Reichskonferenz der Partei in Prag sich dem „Augustblock" anschlossen, der eigentlich gegen die Bolschewiki gerichtet war. Diesem Augustblock gehörten außer der Gruppe der Wiener „Prawda", die Liquidatoren, die „Wperjod"-Leute, das Kaukasische Gebietskomitee, die Letten und der „Bund" an. Zu den Mitgliedern der Gruppe der Wiener „Prawda" zählten unter anderen die Genossen Trotzki, Uritzki und Semkowski. Auch die „Wperjod"-Gruppe bildete sich um diese Zeit. Sie wurde nach der Sitzung der erweiterten Redaktion des „Proletari" von verschiedenen Genossen gebildet. Einige von ihnen, wie Alexinski, waren überhaupt gegen jede Beteiligung der Sozialdemokratie an der Duma, andere waren mit dem Ausschuss der „Otsowisten" aus den Reihen der Bolschewiki unzufrieden. Der „Wperjod"gruppe schlossen sich überdies auch die Anhänger der Philosophie von Mach an, die mit der Lehre von Marx unvereinbar ist; dazu gehörten Bogdanow-Rjadowj und andere; ferner die „Gottsucher" (Anm.: In den Jahren 1908—1910 hatten die „Gottsucher" eine kleine Zahl von Anhängern unter den Bolschewiki. Sie vertraten den Standpunkt, dass es „noch andere Methoden zur Sammlung der Arbeitermassen unter dem Banner des wissenschaftlichen Marxismus gäbe als der ökonomische Prozess, der diese Massen proletarisiert und zum proletarischen Standpunkt bringt".
Deshalb glaubten sie, dass man, trotz der entgegengesetzten Ansicht der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, dem Sozialismus selbst eine für die halbproletarisierten Massen annehmbarere Form geben könne. Die „Gottsucher" kleideten denn auch dementsprechend die sozialistische Lehre in gottsucherische Formen, die den nichtproletarischen Schichten näher liegen sollten, und passten sie der religiösen Psyche dieser Schichten an. Auch gegen diese schädliche Abweichung führte der Grundkader der Bolschewiki einen zähen Kampf. (Die Zitate entnehmen wir dem Aufsatz des Genossen Kamenew in der Nr. 42 des „Proletari" vom 12. Februar 1909, der von den Genossen Lenin, Sinowjew und Kamenew redigiert wurde.)), (Lunatscharski und andere). Von diesen Richtungen rückten die Bolschewiki scharf ab. Die „Wperjod"-Gruppe hatte auf die Arbeitermassen Russlands gar keinen Einfluss. Sie bediente sich im Anfang ihrer alten bolschewistischen Beziehungen; sobald aber die Genossen erfuhren, dass die Anhänger des „Wperjod" nicht mit den Bolschewiki identisch waren, traten sie sofort zu den Bolschewiki über. Die „Wperjod"-Gruppe errichtete eine Parteischule auf der Insel Kapri. Man ließ aus Russland Arbeiter kommen, die Parteimitglieder waren. Nach der Absolvierung der Schule aber traten fast alle Schüler zu den Bolschewiki über. Zu der Gruppe „Wperjod" gehörten die Genossen Alexinski, Ljadow, Bogdanow, Lunatscharski und andere. Obwohl diese Gruppe sich für linker hielt, als die Bolschewiki, bildete sie doch einen Block mit den Liquidatoren, beteiligte sich an dem „Augustblock" und an der von diesem einberufenen Augustkonferenz.
In den folgenden Jahren (von 1910 bis zum Weltkrieg) bildeten sich innerhalb der russischen Sozialdemokratie noch zwei Auslandsgruppen heraus: die „Parteitreuen Menschewiki" oder „Plechanowzy" mit Plechanow an der Spitze, und die „Parteitreuen Bolschewiki". Plechanow und seine Anhänger blieben zwar Menschewiki, waren aber gegen die Liquidation der illegalen Partei, gegen die Anpassung an das Stolypinsche Regime und traten für eine Einheitsfront aller parteitreuen Elemente gegen das Liquidatorentum ein. Die „Parteitreuen Bolschewiki" erklärten, dass sie zwar Bolschewiki bleiben, aber mit der Spaltungstaktik des Genossen Lenin und seiner Anhänger nicht einverstanden seien und sie nicht billigten. Dieser Gruppe gehörten die Genossen Ljowa, Mark Ljubimow und andere an; sie hatte aber gar keinen Einfluss auf die Organisationen in Russland. Zur Parteikonferenz im Januar war kein einziger ihrer führenden Genossen delegiert worden. In den Jahren 1912 bis 1914 vereinigten sich diese beiden Gruppen (Anm.: Das Bündnis der beiden Gruppen ging bald nach der Kriegserklärung in die Brüche. Genosse Ljowa wurde zu einem entschiedenen Kriegsgegner, während Mark sich leider mit Plechanow verbündete und in den Sumpf der Vaterlandsverteidigung hineingeriet. Ich kann nicht ohne ein Gefühl des Bedauerns an Mark-Ljubimow zurückdenken. Er war ein ehrlicher, prächtiger Kamerad und ein energischer und tüchtiger Parteigenosse.) und begannen gemeinsam im Auslande die Zeitschrift „Für die Partei" und in Russland die Zeitschrift „Jedinstwo" (Einigkeit) herauszugeben.
Nicht weniger Verwirrung herrschte auch unter den „Nationalen", die nach dem Stockholmer Parteitag offiziell der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beigetreten waren. Bei den Letten gab es zwei sich gegenseitig bekämpfende Hauptströmungen: Bolschewiki und Menschewiki. Im „Bund" herrschte die menschewistisch-liquidatorische Richtung vor, aber auch dort gab es eine Minderheit, die bolschewistische Grundsätze verteidigte. Was aber die „Sozialdemokratie Polens und Litauens" anbetrifft, so standen sie im allgemeinen den Bolschewiki sehr nahe, unterstützten aber nicht ihre Politik in Organisationsfragen. Auch bei ihnen gab es eine Opposition, die „Roslumowzy (Anm.: Die Opposition in der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens, die den Namen „Roslumowzy" erhielt, entstand im Jahre 1911 infolge des übermäßigen Zentralismus des Parteivorstandes (ZK) den Ortsgruppen gegenüber, der in einer ganzen Reihe von Maßnahmen zutage trat, unter anderem auch darin, dass der Parteivorstand die Ortsgruppen gar nicht über seine Stellungnahme zu den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei informierte. Der Parteivorstand hatte in der Frage der Wiederherstellung der zentralen Körperschaften der RSDAP von der zweiten Hälfte des Jahres 1911 an eine zweideutige Stellung eingenommen. Er hatte sich zwar dem antibolschewistischen „Augustblock" nicht angeschlossen, nahm aber eine feindliche Stellung gegenüber der bolschewistischen Januarkonferenz und den von dieser Konferenz gewählten zentralen Körperschaften ein.
An der Spitze der Opposition stand die Warschauer Organisation, die sich in einer Stadtkonferenz Ende 1911 gegen die Organisationsmethoden des Parteivorstandes (ZK) der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" aussprach. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Parteivorstand und der Warschauer Organisation spitzten sich derart zu, dass der Parteivorstand Parallelgruppen in Warschau und Lodz organisierte.
Die Opposition hatte ihre eigene illegale „Arbeiterzeitung" und ihr eigenes Zentralkomitee. Die „Roslumowzy" arbeiteten Hand in Hand mit den Bolschewiki. Sie vereinigten sich mit der Sozialdemokratie Polens und Litauens im Jahre 1917.), mit den Genossen Radek, Ganetzki, Unschlioht u. a. an der Spitze.
Das alles habe ich nur angeführt, damit es dem Leser klar werde, was damals in den Reihen der Russischen Sozialdemokratie vor sich ging. Zehn Jahre lang musste man immer wieder in die Gehirne einhämmern, was jetzt der Partei so klar ist. Ein Jahrzehnt lang verfochten die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze die Reinheit der marxistischen Losungen und schufen illegale Parteiorganisationen, deren Mitgliedschaft aus erprobten Genossen bestand und in denen eine straffe Disziplin herrschte.
Mitte 1909 berief mich Genosse Mark nach Paris. Als ich dort eintraf, fand ich bereits einige aus Russland gekommene Genossen vor, den Sekretär des russischen Kollegiums des ZK, Dawydow—Golubkow, das Mitglied des ZK Meschkowskis Goldenberg, Michail Tomski, Donat (Schuljatikow aus Moskau) und andere. In Paris befanden sich zu jener Zeit außerdem Genosse Lenin, Genossin Krupskaja, ferner die Genossen Sinowjew, Kamenew, Mark und Innokenti. Am Tage nach meiner Ankunft fand in der Wohnung des Genossen Lenin eine nichtoffizielle Sitzung der erweiterten Redaktion des „Proletari" statt, an der die genannten Genossen teilnahmen. Faktisch war das eine Sitzung der Bolschewistischen Zentrale zusammen mit Vertretern aus Petersburg und Moskau und einigen extra eingeladenen Genossen, zu denen auch ich gehörte. Diese nichtoffizielle Sitzung dauerte, glaube ich, zwei Tage. Es wurden Fragen behandelt, die im Zusammenhang standen mit der weiteren Arbeit in Russland und der Stellungnahme der Partei zu den Otsowisten-Ultimatisten und den „Gottsuchern". Die Konferenz rückte einmütig von allen Abweichungen des Marxismus und Bolschewismus ab. Nachdem alle Resolutionen durchberaten und gebilligt worden waren, wurde die offizielle Sitzung eröffnet, an der außer den erwähnten Genossen Bogdanow, Marat (Schanzer) und noch ein Genosse teilnahmen. An der offiziellen Sitzung der Redaktion des „Proletari" nahm ich nicht teil. Die Beschlüsse der erweiterten Redaktion des „Proletari" formulierten klar die Stellungnahme der Bolschewiki zu den Fragen der Taktik und der Organisation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, formulierten eine Linie, die man bis zur Januarkonferenz des Jahres 1912 durchführte, auf der viele von diesen Beschlüssen durch Resolutionen neu bestätigt wurden. Zu jener Zeit existierten noch in den großen Städten Russlands Organisationen der Partei, ferner funktionierte, wenn auch mit Unterbrechungen, das Russische Büro des ZK, das nur noch aus Bolschewiki bestand, da die Menschewiki an den Arbeiten nicht teilnahmen. In der Parteipresse im Ausland nahm der Kampf gegen das Liquidatorentum schärfere Formen an. Im Januar—Februar 1910 tagte das Plenum des ZK in Paris. Wer von den aus Russland gekommenen Bolschewiki an dieser Plenumtagung teilgenommen hat, weiß ich nicht, denn ich persönlich war auf diesem Plenum nicht anwesend und wurde über den Verlauf der Konferenz von dem Genossen Nogin informiert. Unter den Bolschewiki im ZK bestanden Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Zusammenfassung aller Strömungen in der Partei. Die Genossen Nogin und Innokenti, denen die Mehrheit der bolschewistischen Mitglieder des ZK zustimmte, setzten im Plenum den allgemeinen Zusammenschluss (in Worten!) aller Richtungen innerhalb der Russischen Sozialdemokratie durch, mit einem einzigen Zentralkomitee und Zentralorgan aus Vertretern der Bolschewiki, der Menschewiki und der „Nationalen". Auf Grund des Beschlusses des Plenums des ZK mussten die menschewistischen Liquidatoren die Herausgabe ihrer Zeitung im Ausland „Golos Sozialdemokrata" („Die Stimme der Sozialdemokratie") einstellen, ins russische ZK drei Vertreter entsenden und bei dem Wiederaufbau der illegalen Parteiorganisationen mitwirken; ferner mussten auch die Bolschewiki ihr Fraktionsorgan „Proletari" schließen, ihre Druckerei, ihren Transportapparat und alle Geldmittel dem ZK übergeben, das dann ein Auslandsbüro des ZK schuf, mit je einem Vertreter der Bolschewiki, der Menschewiki, des Bundes, der Sozialdemokratie Polens und Litauens und der lettischen Sozialdemokratie. Da das ZK des lettischen Gebietes in seiner Mehrheit zu jener Zeit aus Bolschewiki bestand, so war das Auslandsbüro damals in seiner Mehrheit ein bolschewistisches. Das Plenum des ZK ernannte auch die Redaktion des Zentralorgans „Der Sozialdemokrat", die aus fünf Mitgliedern bestehen sollte, aus zwei Bolschewiki (Lenin und Sinowjew) zwei Menschewiki (Martow und Dan) und einem Vertreter der Sozialdemokratie Polens und Litauens (Warski). Das Plenum beschloss, die Wiener „Prawda" finanziell zu unterstützen, da es eine populäre Arbeiterzeitung war, und entsandte in ihre Redaktion als Vertreter den Genossen Kamenew Der Genosse Nogin berichtete mir über die Beschlüsse des Plenums und äußerte seine Freude darüber, dass es endlich gelungen sei, die Bolschewiki und Menschewiki zur praktischen Arbeit in Russland zusammenzufassen (Das Plenum hatte sowohl die Liquidatoren als auch die Otsowisten-Ultimatisten aufs entschiedenste verurteilt) und auch die „Nationalen" zur Mitarbeit heranzuziehen. Nur eins beunruhigte ihn: Genosse Lenin war ein entschiedener Gegner aller dieser Beschlüsse des Plenums, obwohl er sich dem Beschluss der Mehrheit des ZK der Bolschewiki unterwarf. Genosse Nogin erzählte mir mit Bitterkeit, dass Lenin nicht begreife, wie notwendig die Einigkeit für die Arbeit in Russland sei.
Die Bolschewiki führten den Beschluss des Plenums aus: sie stellten das Erscheinen ihres Organs ein, händigten eine größere Geldsumme Treuhändern (Kautsky, Mehring und Zetkin) aus und übergaben ihren ganzen technischen Apparat dem Auslandsbüro des ZK. Die Menschewiki aber stellten die Herausgabe ihrer eigenen Zeitung nicht ein, und niemand von ihnen trat in das russische Büro des ZK ein. Mehr noch: die Anhänger des „Golos Sozialdemokrata" in Russland traten offen gegen eine illegale Parteiorganisation, gegen das ZK und seine Organe auf. Die Zeitung selbst blieb auch nicht hinter ihren Parteifreunden in Russland zurück. Die Liquidatoren in Russland und im Ausland eröffneten nach der Plenumtagung des ZK einen wahren Kreuzzug gegen die illegale Parteiorganisation und insbesondere gegen die Bolschewiki. Es begann eine Hetze gegen die Anhänger einer illegalen Parteiorganisation in all den legalen Arbeiterorganisationen, an deren Spitze menschewistische Liquidatoren standen. Infolge der Versöhnungstaktik eines Teils der bolschewistischen Mitglieder des ZK wurde der Kampf gegen das Liquidatorentum sehr erschwert.
Dank der Versöhnungspolitik der bolschewistischen Mitglieder des ZK wurden die Bolschewiki nunmehr von dem Vertreter der Sozialdemokratie Polens und Litauens abhängig, der als fünfter der Redaktion des „Sozialdemokrat" angehörte; dank dieser Versöhnungspolitik wurden ferner die Bolschewiki sowohl in finanzieller als auch in technischer Hinsicht vom Auslandsbüro des ZK abhängig, und das abgelieferte Geld, das den Bolschewiki sehr gut hätte zunutze kommen können, war im Besitz der „Treuhänder". Ich habe bis 1917 den Genossen Nogin nicht wieder gesehen und habe daher nicht erfahren können, welchen Eindruck das Endergebnis der Beschlüsse des Plenums von 1910 auf ihn machte; die im Ausland lebenden, für die Versöhnungspolitik eintretenden Bolschewiki aber waren durch diesen Misserfolg keineswegs bestürzt.
Ende Dezember 1910 kam ich wieder nach Paris. Zur selben Zeit trafen dort aus Russland die Genossen Michail Mironowitsch (N. N. Mandelstamm) und A. I. Rykow ein. In einem russischen oder französischen Cafe kamen — ich weiß nicht mehr aus welchem Anlass — Mark, Ljowa, Rykow, ich, Michail Mironowitsch und Losowski zusammen. In dieser Zusammenkunft erklärte ich, dass es notwendig wäre, den wenigen in Russland bestehenden Parteiorganisationen zum 1. Mai, 22. Januar und bei ähnlichen Anlässen rechtzeitig Aufrufe und Flugblätter, gedruckt oder im Manuskript zuzusenden. Im letzten Falle würden die größeren Parteiorganisationen schon Mittel zur Vervielfältigung dieser Flugblätter finden. Ich erklärte, dass ich es übernehmen würde, die Flugblätter regelmäßig und rechtzeitig den russischen Parteiorganisationen zuzusenden.
Mein Vorschlag wurde angenommen, und die Pariser Genossen stellten zwecks Durchführung dieses Beschlusses eine Liste von Schriftstellern auf. In diese Liste nahmen die Genossen Mark, Ljowa und Losowski Schriftsteller aller Richtungen auf, darunter auch Martow. Lenin und Genosse Sinowjew aber wurden in diese Liste nicht aufgenommen. Das ist nun einmal immer das Geschick der Versöhnungsapostel: sie fangen damit an, das Unversöhnliche zu versöhnen und landen schließlich im Lager ihrer Feinde. Genau dasselbe geschah mit dem versöhnlichen ZK des Jahres 1904 und eben dasselbe passierte den versöhnlichen Bolschewiki in der von mir geschilderten Periode. Ich war durch die Nichtaufnahme bolschewistischer Schriftsteller in dieses Verzeichnis sehr empört und erzählte den Vorfall der Genossin Krupskaja und dem Genossen Lenin. Aus meinem Vorschlag wurde natürlich nichts. Nach der Rückkehr des Genossen Nogin nach Russland unternahm man wiederholt Versuche, ein Büro des ZK in Russland zu schaffen, aber alle Versuche endeten bis 1911 nur mit Verhaftungen.
Der bolschewistische Teil der Auslands-Zentrale traf alle Maßnahmen, um ein Büro des ZK in Russland zu schaffen. Einmal sandte ich einen Genossen zu dem polnischen Mitglied des russischen Büros des ZK, dem Genossen Ganetzki, nach Krakau. Dieser Genosse sollte den Genossen Ganetzki nach Moskau begleiten und ihn mit den Mitgliedern des russischen Büros des ZK in Verbindung bringen. Als er aber mit seinem Begleiter nach Moskau kam, waren die Mitglieder des ZK, mit denen er sich in Verbindung setzen sollte, bereits verhaftet. Die Bolschewiki machten damals ungeheure Anstrengungen in Russland und im Ausland und brachten geradezu kolossale Opfer, um nach den vielen Verhaftungen die lokalen Parteiorganisationen wieder auf die Beine zu bringen und das Büro des ZK in Russland wiederherzustellen. Sie führten in der Presse und in den Parteiversammlungen aufs entschiedenste den Kampf gegen das die Partei zersetzende Liquidatorentum. Diese Bemühungen der Bolschewiki wurden letzten Endes von Erfolg gekrönt.
Vor meiner Rückkehr nach Leipzig besuchte ich Genossen Lenin. In einem Gespräch über die Parteiverhältnisse in Russland und im Ausland kam auch die Rede darauf, dass es uns in Russland an einem autoritativen Parteiorgan fehle, das imstande wäre, alle vorhandenen Parteiorganisationen zusammenzufassen und die im Ausland lebenden Bolschewiki um sich zu gruppieren. Ich schlug den bolschewistischen Mitgliedern der Redaktion des Zentralorgans vor, die Organisation einer solchen Zentrale zu übernehmen. Genosse Lenin lächelte und sagte zu der gerade ins Zimmer tretenden Genossin Krupskaja: „Pjatnitza schlägt die Organisation eines Zentrums vor zur Wiederherstellung der zentralen Körperschaften der Partei". Es stellte sich heraus, dass Genosse Lenin und die mit ihm damals zusammenarbeitenden Genossen bereits einen Plan über die Einberufung einer Parteikonferenz ausgearbeitet hatten, von dem ich erst später erfuhr.
Während meines Aufenthalts im Auslande, als ich beim Literaturtransport war und die Verbindung mit dem Auslande und Russland bearbeitete, wurde ich oft von Berlin nach Genf und von Leipzig nach Paris gerufen. Pas war meistens der Fall in den Zeiten scharfer Meinungsverschiedenheiten in der Partei. Ich pflegte dann immer den Genossen Lenin zu besuchen. Wenn ich dann fragte: „Weshalb hat man mich hierherbestellt?" erhielt ich stets dieselbe Antwort: „Sehen Sie sich zuerst ein wenig um, treffen Sie sich mit den Genossen, und dann wollen wir das Weitere besprechen." Wenn ich dann — vor der Abreise — wieder zu ihm kam, fragte er mich: „Wie steht es? Wofür haben Sie sich entschieden?" Und erst nachdem ich ihm meine Ansicht über die Lage der Dinge mitgeteilt hatte, fing er an, mir seine Auffassung und seine Vorschläge auseinanderzusetzen. Vor dem Krieg hatte ich einen intensiven Briefwechsel mit der Genossin Krupskaja und dem Genossen Lenin geführt, leider habe ich aber die Briefe nicht behalten. Vor meiner im Sommer 1905 erfolgten Abreise nach Russland ließ ich mein Archiv, in dem auch die Briefe von Lenin und der Genossin Krupskaja enthalten waren, beim Genossen Ljadow in Genf (sowohl das Archiv des Genossen Ljadow als auch das meine ist verlorengegangen). Und als ich 1913 wieder nach Russland reiste, vernichtete ich meine ganze Korrespondenz.

 

Die Vorbereitung und Einberufung der Allrussischen Parteikonferenz (Ende 1911 und Anfang 1912)

Am 5. Juni 1911 fand eine Sitzung von im Auslande lebenden und zufällig im Auslande weilenden Mitgliedern des ZK statt, die gegen das Liquidatorentum waren. (Bolschewiki und Mitglieder der SD Polens und Litauens.) In dieser Sitzung stellte man fest, dass es unmöglich war, die zentralen Parteikörperschaften, die auf dem Londoner Parteitag gewählt worden waren, wiederherzustellen, da alle Mitglieder des russischen Büros des ZK verhaftet waren und im Auslandsbüro die Menschewiki und die Liquidatoren die Mehrheit bekommen hatten. Zu jener Zeit ging nämlich auch die Mehrheit im ZK der Sozialdemokratie des lettischen Gebietes zu den Liquidatoren über. In dieser Beratung wurde beschlossen, eine Organisationskommission zur Einberufung einer Parteikonferenz sowie eine Technische Kommission aus drei Genossen im Auslande zu schaffen. Soweit ich mich erinnern kann, waren das die Genossen Kamski, Ljowa und der Vertreter der SD Polens und Litauens Genosse Leder. Im Juni oder Juli kamen Semjon Schwarz und Sachar-Breslaw zu mir nach Leipzig. Von ihnen erfuhr ich, dass sie zur Vorbereitung der Parteikonferenz nach Russland reisten. Ich brachte sie mit den Genossen des Transportapparates in Verbindung, damit die Delegierten leicht über die Grenze geschafft werden konnten. Die beiden Genossen aber beförderte ich über Grenzpunkte, mit denen ich Verbindung hatte.
Zur Organisation der Parteikonferenz wurden auch die früheren Teilnehmer der Parteischule herangezogen, die kurz vorher ihre Studien beendet hatten und nach Russland zurückgekehrt waren. Auch der Genosse Sergo-Ordschonikidse begab sich zu demselben Zweck in die Heimat. Zu dem gleichen Zweck wurde auch in Russland eine Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz geschaffen. Diese Kommission fand lebhaften Beifall; sofort gruppierten sich alle damals in Russland und im Kaukasus bestehenden Parteiorganisationen um sie. Während die Organisationskommission in Russland bei der Organisation der Parteikonferenz große Erfolge zu verzeichnen hatte, begannen im Ausland die „Parteitreuen" Bolschewiki und die liquidatorenfeindlichen Mitglieder der SD Polens und Litauens der Arbeit Hindernisse in den Weg zu legen. Zwischen der Mehrheit der Technischen Kommission im Ausland und der Organisationskommission in Russland kam es zu Reibungen.
Der Vertreter der SD Polens und Litauens trat aus der Redaktion unseres Zentralorgans aus (nach der Konferenz der antiliquidatorisch eingestellten Mitglieder des ZK vom 5. Juni 1911 wurden die Liquidatoren Martow und Dan aus der Redaktion entfernt), und als der „Sozialdemokrat" ohne Mitwirkung des Vertreters der SD Polens und Litauens erschien, forderte Genosse Ljowa in seiner Eigenschaft als Mitglied der Technischen Kommission, ich sollte den „Sozialdemokrat" nicht mehr nach Russland versenden und statt dessen die „Informationsberichte" verbreiten, die die ausländische Technische Kommission herauszugeben begann. Im ganzen erschienen davon zwei Nummern. Ich weigerte mich natürlich, seine Forderung zu erfüllen, und schrieb darüber einen Brief an die Redaktion des „Sozialdemokrat", die das Schreiben abdruckte. Im Herbst des Jahres 1911 kam Genosse Ljowa, als er auf der Reise von Berlin nach Paris war, zu mir nach Leipzig. In Berlin hatte er anscheinend mit den „Treuhändern" über die Einstellung der Zuschüsse von Geldmitteln zum Druck und Vertrieb des „Sozialdemokrat" beraten. Nachdem er sich augenscheinlioh davon überzeugt hatte, dass ich den Versand des „Sozialdemokrat" nach Russland nicht einstellen wollte, erklärte er mir, dass die Technische Kommission keine Mittel mehr für den Transport bereitstellen werde.
Anfang November erhielt ich von Lenin einen Eilbrief mit der Aufforderung, unverzüglich nach Prag zu reisen und dort alles für die Parteikonferenz vorzubereiten. Dem Brief lag außerdem noch ein kurzes Schreiben an den tschechischen Sozialdemokraten Nemetz bei. Sofort reiste ich hin. Nemetz machte mich mit zwei tschechischen Sozialdemokraten bekannt — mit dem Verwalter des Volkshauses und seinem Vertreter. Zusammen mit ihnen wurden dann praktische Maßnahmen zur Vorbereitung der Parteikonferenz ausgearbeitet. Mit den Tschechen vereinbarte ich alles in bezug auf die Treffpunkte für die Genossen aus Paris und aus Leipzig und in bezug auf die telefonischen Gespräche aus Leipzig. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, kehrte ich zurück und berichtete dem Genossen Lenin von dem Ergebnis meiner Reise. Dann begann ich in Leipzig selbst alles zum Empfang der Delegierten aus Russland vorzubereiten.
Zu dieser Zeit waren die Delegierten in vielen Städten bereits gewählt, und wir erwarteten sie täglich. Mitte Dezember erhielt ich von Nathan, der an der Grenze in der Gegend von Suwalki tätig war, die Nachricht, dass mit unserer Parole an dem von ihm selbst angegebenen Treffpunkt vier Mann erschienen waren, die er über die Grenze zu mir befördert hatte. Ich wartete einen Tag, zwei Tage, ging mehrere Male täglich zum Treffpunkt, wo sie mich aufsuchen sollten, aber sie kamen nicht. Schließlich wurde ich sehr unruhig darüber (Anm.: Zu jener Zeit tummelten sich an der preußisch-russischen Grenze (auf deutscher Seite) Agenten deutscher Dampfschifffahrtsgesellschaften, die mit Hilfe der Gendarmen russische Emigranten zum Kauf von Schiffskarten zwangen. Die Gendarmen fingen die Russen ab, brachten sie in die Quarantäne (die Emigranten bezeichneten sie als „Dampfbad") und hielten sie sechs bis acht Tage fest. Auswanderer, die wirklich nach England oder Amerika wollten, wurden zur weiteren Beförderung in großen Gruppen nach den deutschen Hafenstädten abgeschoben. Wer aber keinen Auslandspaß hatte und weder nach England noch nach Amerika reisen wollte, wurde von den preußischen Gendarmen einfach nach Russland zurückgeschickt. Auf diese Weise wurde im Januar 1903 an der preußischen Grenze Genosse Noskow verhaftet und in den späteren Jahren noch andere Genossen. Ich hatte Angst, dass die von mir erwarteten vier Genossen in das „Dampfbad" geraten waren, obwohl unsere Genossen stets so über die Grenze geleitet wurden, dass sie keine Städte zu berühren brauchten, in denen Gendarmen und Agenturen von Dampfschifffahrtsgesellschaften waren.).
Ich stellte fest, wann die Züge aus Berlin eintrafen, und beschloss, selbst zum Bahnhof zu gehen, in der Annahme, dass die Vermissten doch vielleicht noch auftauchen würden. Ganz früh begab ich mich zum ersten Zug nach dem Bayerischen Bahnhof. Gerade, als ich ankam, erblickte ich vier Männer, die den Bahnhof verließen, und erkannte sofort Landsleute. Sie hatten hohe Stiefel an, wie sie in Mitteldeutschland nicht getragen werden, und wenn ich nicht irre, sogar Gummischuhe. Außerdem trugen sie schäbige Wintermäntel und warme russische Mützen, die in Deutschland ebenfalls nicht getragen werden. Unter diesen Männern waren drei von kleinem Wuchs, während der vierte ziemlich lang und auch ziemlich behäbig war. Ich sagte mir, dass dies die erwarteten Genossen waren, musterte sie aber sehr genau, bevor ich sie ansprach. Auch die Angekommenen wurden nun auf mich aufmerksam. Schließlich trat ich auf sie zu und fragte, welche Straße sie suchten. Man erwiderte mir, dass mich das nichts anginge. Darauf fragte ich, ob sie vielleicht in die Zeitzerstraße wollten (die Straße, in der der Treffpunkt sich befand). Einer von ihnen antwortete, dass das nicht der Fall sei. Trotzdem beschloss ich, nicht von ihnen zu lassen, und ging ihnen nach. Nun fingen sie an, untereinander zu streiten. Der eine sagte, ich sei ein Spitzel, während die anderen der Ansicht waren, dass ich gekommen sei, um sie vom Bahnhof abzuholen. Schließlich trat einer von ihnen — ich glaube, es war Pawel Dogadow — auf mich zu und sprach mich an. Es stellte sich auch heraus,! dass es die Gesuchten waren. Ich begab mich mit den Angekommenen zum Genossen Sagorski, in dessen Wohnung ein Zimmer für sie bereit gestellt war. Es war alles Notwendige für sie vorbereitet worden, damit sie am Tage nicht auf die Straße zu gehen brauchten. Diese vier Genossen waren Delegierte zur Parteikonferenz. Zwei von ihnen waren Arbeiter aus Petersburg (Stephan Onufeijew und Salutzki), einer aus Kasan (Pawel Dogadow) und einer aus Nikolajew (Serebrjakow). Natürlich meldete ich ihre Ankunft sofort dem Genossen Lenin. Darauf erhielt ich von Lenin einen Brief, in dem er die Vermutung aussprach, dass der Moskauer Delegierte zur Parteikonferenz wahrscheinlich aufgeflogen war; da er aber ohne einen Delegierten aus Moskau die Parteikonferenz nicht eröffnen wolle, so bitte er mich, jemand nach Moskau zu schicken, damit dort Neuwahlen vorgenommen werden. Nach Empfang des Briefes des Genossen Lenin beschloss ich, den Genossen Lasar Selikson, der sich damals in Leipzig aufhielt, unverzüglich nach Moskau zu senden. Der Genosse Lasar, der in Leipzig als Holzpolierer arbeitete, erklärte sich damit einverstanden und trat am 1. Januar 1912 die Reise nach Moskau an. Einige Tage nach seiner Abreise erhielt ich von Nathan die Mitteilung, dass er zwei Personen, die sich auf unserem Treffpunkt eingefunden hatten, über die Grenze gebracht hatte und dass diese Personen direkt nach Paris abgereist seien. Nathan benachrichtigte mich regelmäßig von den Grenzübertritten, weil ich, und nicht die Genossen, die über die Grenze gingen, ihn bezahlten; diese Maßnahme war infolge der Beraubung unserer Genossen durch Schmuggler an den Grenzen notwendig geworden. Im gleichen Briefe teilte mir Nathan mit, dass der von ihm bestochene Gendarm zu ihm gekommen wäre und ihm erzählt hätte, dass ihm, dem Gendarmen, die Beobachtung der möblierten Zimmer übertragen worden sei, in die unsere Genossen zu kommen pflegten, um die russisch-deutsche Grenze zu überschreiten. Nun teilte mir Nathan eine neue Adresse und auch eine neue Parole mit und fügte hinzu, dass, selbst wenn jemand unter der alten Parole den alten Treffpunkt aufsuchen sollte, nichts geschehen würde, denn der Gendarm werde niemand verhaften, der zu ihm käme. Und es fanden in der Tat keine Verhaftungen statt. Nun stellte sich heraus, dass die beiden Personen, die direkt nach Paris gefahren waren, der vermisste Moskauer Delegierte Philipp Goloschtschjokin und der Lockspitzel Matwej waren. Dieser Spitzel war es wahrscheinlich, der der Ochrana unseren Treffpunkt an der Grenze verraten hatte. Aus dem Briefe der Genossin Krupskaja über den „vermissten" Delegierten ersah ich, dass der Genosse Philipp von Spitzeln verfolgt worden war und deshalb nur mit Mühe bis nach Dünaburg kommen konnte, wo er eine Schwester zu wohnen hatte. Bei dieser traf er sich mit Matwej, der ebenfalls zur Parteikonferenz reisen wollte, da er dazu die Erlaubnis von dem Genossen Semjon Schwarz erhalten hatte. Genosse Schwarz war zu jener Zeit bereits verhaftet, wahrscheinlich ebenfalls infolge des Verrates von Matwej. Die Mitteilung Nathans über das Auffliegen des Treffpunktes, gleich nachdem Matwej unbehelligt die Grenze passiert hatte, beschleunigte noch die Absendung meines Telegramms über die Nichtzulassung Matwejs zu der Parteikonferenz, von der ich bereits erzählt habe.
Von dem Genossen Lasar erhielt ich die Mitteilung, dass es ihm gelungen war, eine Versammlung der in den legalen Moskauer Arbeiterorganisationen tätigen Genossen einzuberufen, und dass diese einen Delegierten zur Parteikonferenz gewählt hatten. Irgend eine illegale Organisation zu finden, war dem Genossen Lasar wegen der letzten Verhaftungen nicht gelungen. Nachdem Genosse Lasar aber dem neuen Delegierten die Parole, die Adressen usw. mitgeteilt hatte, wurde er verhaftet. Wahrscheinlich hat der neue Delegierte selbst diese Verhaftung veranlasst, denn es war ja kein anderer, als der Lockspitzel Malinowski.
Seine Ankunft teilte uns Malinowski durch ein Telegramm mit, das er bereits aus Deutschland an die Adresse richtete, die ihm angegeben worden war. In dem Telegramm bat er, die Parteikonferenz nicht vor seiner Ankunft zu eröffnen.
Nach der Ankunft der ersten vier Delegierten traf in Leipzig auch M. I. Gurwitsch (sein Deckname war ebenfalls Matwej) als Delegierter der Wilnaer und Dünaburger Organisationen ein. Schließlich, zu Beginn der Parteikonferenz, als ich bereits in Prag war, teilte man mir mit, dass noch ein Delegierter der illegalen Organisationen Tulas angekommen sei, nämlich Alja (Georg Romanow), von dem sich später herausstellte, dass er ein Spitzel war. Romanow hatte meine Adresse nicht bekommen und suchte deshalb den Genossen Bucharin auf, der sich damals in Deutschland (in Hannover) aufhielt. Genosse Bucharin hatte sich wahrscheinlich mit Paris in Verbindung gesetzt und auf diese Weise meine Leipziger Adresse erfahren. Die Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz beschloss, Romanow zuzulassen. Direkt nach Paris waren außer Philipp noch folgende Delegierte gekommen: aus Saratow, — Valentin (Genosse Woronski), aus Jekaterinoslaw — Sawwa (Sewin), ein Anhänger Plechanows, der Delegierte der Kiewer Menschewiki Viktor-Schwarzmann, dann Sergo-Ordschonikidse aus Tiflis und Suren-Spandarjan (Timofej) aus Baku. Die beiden letzten waren ebenfalls Mitglieder der Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz. Als ich in Prag eintraf, hatte die Tagung bereits angefangen, und ich kam gerade zur Debatte über den Bericht der Organisationskommission. Diese hatte nämlich den Delegierten vorgeschlagen, sich als Allrussische Parteikonferenz zu konstituieren, der das Recht zustand, die zentralen Körperschaften der Partei zu wählen. Die Organisations-Kommission hatte in der Tat alle Maßnahmen getroffen, damit auf der Konferenz in Prag Vertreter aller Gruppen und Richtungen zugegen sein sollten. Sie hatte Plechanow, Gorki, die Gruppe „Wperjod", die S. D. Polens und Litauens und andere antiliquidatorische Gruppierungen eingeladen.
Gegen die Konstituierung in diesem Sinne trat der Delegierte aus Jekaterinoslaw Sawwa (Sewin), sehr scharf auf. Auch Malinowski erklärte, dass er gegen den Vorschlag der Kommission stimmen würde, da er ein entsprechendes Mandat von seinen Moskauer Wählern erhalten hätte, was ihn indessen nicht daran hinderte, am nächsten Tage für die Konstituierung der Konferenz als Allrussische Parteikonferenz zu stimmen. Sawwa hat, soweit ich mich erinnern kann, bei der Abstimmung über diese Frage sich der Stimme enthalten.
Außer den von mir erwähnten Genossen nahmen an der Parteikonferenz noch die Genossen Lenin und Sinowjew als Redakteure des Zentralorgans teil (Genosse Sinowjew hatte auch ein Mandat von der Moskauer Parteiorganisation), dann Genossin Krupskaja, Kamenew (der erst nach der Eröffnung der Parteikonferenz eintraf) und Genosse Alexandrow (Semaschko) vom „Zentralausschuss der Auslandsgruppen zur Unterstützung der Bolschewiki".
Die Tagungen fanden die ganze Zeit in dem tschechischen sozialdemokratischen Volkshaus statt. Nebenbei bemerkt, wurde dieses Volkshaus nach der Spaltung der tschechischen Partei im Jahre 1920 von den tschechischen Sozialdemokraten mit Hilfe der Polizei besetzt, obwohl die gewaltige Mehrheit der Parteimitglieder sich der Komintern angeschlossen hatte. Die Delegierten aßen im Restaurant des Volkshauses und wohnten bei tschechischen Arbeitern, Mitgliedern der Partei. Die Konferenz dauerte sehr lange, etwa zwei Wochen. An die Tagesordnung kann ich mich nicht genau erinnern. Die Parteikonferenz behandelte die Frage der Liquidatoren und stellte sie außerhalb der Partei, behandelte die politische Lage, die Wahlen zur vierten Duma und die Arbeit der Fraktion der dritten Duma (die Konferenz stellte eine Besserung der Arbeiten der Fraktion fest), ferner organisatorische Fragen und die Versicherungskampagne. In der zu dieser Frage angenommenen Resolution wurde das Versicherungsgesetz der dritten Duma einer eingehenden Kritik unterzogen; es wurden darin bis ins einzelne die Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie bestimmt, die später die Sowjetmacht tatsächlich verwirklichte. Die Parteikonferenz beschäftigte sich außerdem mit der illegalen sozialdemokratischen Presse, den Formen der Unterstützungsaktion im Ausland, der Hungersnot, der imperialistischen Politik des Zarismus in Persien und China, dem Zentralorgan der Partei und nahm Wahlen zu den zentralen Körperschaften der Partei vor. Die Konferenz nahm sehr aufmerksam die Berichte der verschiedenen Parteiorganisationen Russlands entgegen. Auf Grund dieser Berichte wurde die Notwendigkeit festgestellt, die Arbeit zur Schaffung von illegalen Zellen zu steigern und Verbindungen zwischen diesen Zellen und den revolutionären Sozialdemokraten in allen legalen Arbeiterorganisationen herzustellen, und zwar durch Zusammenfassung der revolutionären Sozialdemokraten zu Fraktionen innerhalb eines jeden Berufes.
Aus den Berichten der Delegierten der verschiedenen Parteiorganisationen und aus dem Bericht des Vertreters der Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz bekam man ein klares Bild von jenen Anstrengungen, die die damals bestehenden wenigen bolschewistischen Organisationen machten, um ja nicht den Kontakt mit den Arbeitern in den Betrieben zu verlieren. Aber auch die Ochrana ließ auf die Arbeiter ihre Spitzel los, die vorgaben, energische Bolschewiki zu sein, und, sobald die Arbeit der Organisationen in Gang kam und die Beziehungen zu den Arbeitern in den Betrieben hergestellt waren, die besten Genossen denunzierten.
Die in Freiheit gebliebenen Genossen mussten dann alles wieder von neuem organisieren.
Ihnen zu Hilfe kamen stets Bolschewiki aus der Leningarde, Berufsrevolutionäre, die aus Gefängnissen und aus der Verbannung geflohen waren. Die Arbeit pflegte dann aufs neue in Schwung zu kommen, bis wieder Verhaftungen einsetzten — und das wiederholte sich in den verschiedensten Städten immer wieder und wieder.
Trotz alledem gelang es der Ochrana nicht, die lokalen Organisationen der Bolschewiki zu vernichten. Die Arbeiter hatten zu den Bolschewiki großes Vertrauen, wie es die folgenden Jahre (1913—1914) deutlich zeigten.
Zu den menschewistischen Liquidatoren kamen die Arbeiter nicht, und, obwohl die Polizei nur selten gegen die Menschewiki mit Repressalien vorging, wurden sie von den Arbeitern doch nicht unterstützt.
Aus den Berichten der Organisationskommission ging hervor, dass viele Organisationen zur Parteikonferenz Delegierte gewählt hatten, (Ural, Sibirien usw.) aber sowohl die Delegierten als auch die Parteiorganisationen, die sie gewählt hatten, waren aufgeflogen.
Während der Parteikonferenz arbeiteten einige gewählte Kommissionen.
Die Parteikonferenz tagte zu einer Zeit, wo es bereits klare Anzeichen für einen neuen Aufstieg der Arbeiterbewegung gab. Ich erinnere mich noch gut, welch lebhaften Widerhall der Bericht einer Prager deutschen Zeitung fand, der einen Zusammenstoß zwischen Arbeitern und Polizei in Riga schilderte. Die Zeitungen teilten mit, dass die Belegschaft einer Fabrik, in der Frauen beschäftigt waren, in den Streik getreten war, und dass die Werkleitung daraufhin die Tore geschlossen hatte, so dass die Streikenden nicht aus der Fabrik hinaus konnten. Als die Arbeiter der Nachbarbetriebe davon erfuhren, zertrümmerten sie die Tore dieser Fabrik und befreiten die streikenden Frauen. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit der Polizei. Am Morgen — vor der Eröffnung der Sitzung — zeigte ich die Zeitung dem Genossen Lenin. Gleich nach Eröffnung der Sitzung übersetzte er den Bericht ins Russische und fügte hinzu, dass die Zeiten der schwärzesten Reaktion allem Anschein nach bereits vorbei seien.
Ich möchte hier noch von zwei unbedeutenden Tatsachen erzählen, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind. Als die Frage des Zentralorgans behandelt wurde, trat ich scharf gegen die Redaktion auf, weil diese mitunter vergaß, dass der „Sozialdemokrat" nicht nur für die Genossen im Ausland geschrieben wurde, die über alle inneren Parteistreitigkeiten ohnehin gut unterrichtet waren, sondern hauptsächlich für die Genossen in Russland. Zum Beweis zitierte ich einige Stellen aus dem „Sozialdemokrat", die schroffe persönliche Angriffe gegen den Vertreter der SD Polens und Litauens in der Redaktion des „Sozialdemokrat" enthielten. Ich fragte, wer denn derartige Methoden im Zentralorgan einführe. Der Artikel, von dem ich sprach, war nicht gezeichnet. Den Vorsitz führte an dem Tage Philipp. Als ich mit dem Zitieren des Aufsatzes fertig war, rief mich der Vorsitzende zur Ordnung wegen des unkameradschaftlichen Tones der Angriffe, die ich mir erlaubt hätte. Er hatte nämlich nicht gemerkt, dass es nicht meine Worte waren und dass ich nur das von mir beanstandete Zitat vorgelesen hatte. Genosse Lenin erklärte daraufhin, dass der zitierte Aufsatz von ihm stamme. Der Vorsitzende wurde verlegen und die Parteikonferenz brach in lautes Lachen aus.
Ich schlug vor, den „Sozialdemokrat" in eine wissenschaftliche Monatsschrift, in der Art wie die deutsche „Neue Zeit" zu verwandeln, da für den einfacheren Leser bereits eine „populäre Arbeiterzeitung" im Auslande und die „Swesda" in Russland vorhanden waren. Obwohl mein Antrag abgelehnt wurde, äußerte die Versammlung doch den Wunsch, dass in der Folge im „Sozialdemokrat" mehr Aufsätze propagandistischen Charakters erscheinen sollten.
Die Wahlen ins ZK waren geheim, aber jeder Teilnehmer der Parteikonferenz wusste, welche Kandidaturen aufgestellt waren. Als unter den Kandidaten auch Malinowskis Name genannt wurde, begann ich, gegen ihn zu agitieren. Ich glaube, dass ich sogar auf der Parteikonferenz gegen ihn aufgetreten bin. Lenin dagegen agitierte für Malinowski. Als vor der Abgabe der Wahlzettel die Sitzung unterbrochen wurde, fragte mich Lenin, warum ich eigentlich gegen Malinowski agitiere. Ich erwiderte darauf, dass Malinowski nicht in der Parteiarbeit stehe, dass ihn keine illegale Moskauer Organisation gewählt habe, dass man ihn noch zu wenig kenne und dass er eigentlich durch Zufall zur Parteikonferenz gekommen sei. Dabei erinnerte ich den Genossen Lenin daran, wie er 1903 einen Fehler beging, als er sich für die Kooptierung Konjagins ins ZK einsetzte. Dieser Konjagin, der vorher die Rolle eines steinharten Bolschewikis spielte, wurde nach seiner Kooptierung im Jahre 1904 zu einem heftigen Anhänger der Versöhnungspolitik. Lenin wollte mir nicht recht geben und glaubte, in Malinowski einen tüchtigen und sehr fähigen Parteiarbeiter gefunden zu haben. Damals dachte natürlich noch kein Mensch daran, dass Malinowski ein Spitzel sein könnte. Er erwies sich in der Tat als ein tüchtiger und fähiger Parteiarbeiter. Nach der Parteikonferenz reisten Lenin, Sergo, Timofej, Philipp, Viktor und Malinowski (sie alle und außerdem der Genosse Sinowjew waren ins ZK gewählt worden) nach Leipzig. Nachdem alle Genossen aus Prag weiter befördert worden waren, kehrte auch ich nach Leipzig zurück.
Nach meiner Rückkehr erhielten wir die Nachricht, dass die Mitglieder der dritten Duma, die Genossen Poletajew und Schurkanow, in Berlin eingetroffen waren. Die Dumafraktion war ebenfalls nach Prag eingeladen worden, aber ihre Delegierten hatten sich verspätet. Ihre Adresse teilten sie uns nicht mit, man konnte sie jedoch brieflich unter „postlagernd" erreichen. Als Lenin von der Ankunft der Dumaabgeordneten erfuhr, bat er, die beiden nach Leipzig zu rufen. Ich hielt es nicht für möglich, unsere Leipziger Adresse in einem postlagernden Briefe mitzuteilen, und schickte deshalb den Genossen Sagorski nach Berlin, der die beiden Dumamitglieder dort fand und mit ihnen am Tage darauf nach Leipzig fuhr. Ihre Ankunft rief eine große Unruhe hervor. Lenin wollte nicht, dass Schurkanow, der damals zu den „Parteitreuen Menschewiki" gehörte, erfahre, dass Malinowski ins ZK gewählt worden war; deshalb mussten bald Sitzungen des ZK mit Poletajew, aber ohne Schurkanow, bald mit Poletajew und Schurkanow, dafür aber ohne Malinowski abgehalten werden. Schurkanow durfte natürlich nicht wissen, dass man auch ohne ihn tagte. Die Tagungen fanden im Hause der „Leipziger Volkszeitung" statt, und zwar im Arbeitszimmer des damaligen Leiters, des Genossen Seifert. Gleich am ersten Abend, als ich mich mit den Dumaabgeordneten Poletajew und Schurkanow in einem Cafe traf, merkte ich, dass wir bespitzelt wurden. Das versetzte mich in große Unruhe. In Leipzig befanden sich damals das ganze russische ZK und die meisten Delegierten der Parteikonferenz, die auf ihre Beförderung nach Russland warteten. Vor meiner Rückkehr aus Prag war ich nicht bespitzelt worden, also musste die Bespitzelung infolge der Parteikonferenz hervorgerufen worden sein. Aber von dieser wussten außer den Teilnehmern nur drei Genossen, die mir bei verschiedenen Arbeiten geholfen hatten. Am nächsten Tage begab ich mich zu Malinowski und Timofej, die beide in einem Vorort Leipzigs in einem kleinen Gasthaus wohnten, das einem Sozialdemokraten gehörte. Kaum hatte ich die Straßenbahn verlassen, als ich bemerkte, dass das Gasthaus bespitzelt wurde. Als wir zu dritt herauskamen (wir mussten zu einer Sitzung des ZK, an der auch die Dumadelegierten teilnahmen), folgte uns der Spitzel. Wir mussten viel hin- und herfahren, bis es uns gelang, den Burschen loszuwerden. Unterwegs sprach Malinowski dauernd über die Freude, die ihm Leipzig mache, da es ihn an Russland erinnere, wo er genau so mit den ihn verfolgenden Spitzeln verfahre. Trotz der Bespitzelung war ich überzeugt, dass die Ochrana den Tagungsort der Parteikonferenz und die Namen der Teilnehmer nicht kannte. Dass unter den Teilnehmern zwei Lockspitzel waren, fiel natürlich keinem Menschen ein.
Die Sitzungen der Vertreter des ZK mit den Dumaabgeordneten verliefen glatt, und die Abgeordneten begaben sich mit mir und Timofej nach Berlin, um auf Beschluss des ZK Kautsky aufzusuchen, dem als „Treuhänder" die bolschewistischen Geldmittel übergeben worden waren. Wir sollten ihm mitteilen, dass eine Allrussische Parteikonferenz stattgefunden habe, die ein ZK gewählt hatte, an das nun das ganze Eigentum sowie die Geldmittel überzugehen hätten, die seinerzeit Kautsky als „Treuhänder" von den Bolschewiki auf Grund des Beschlusses des Plenums von 1910 abgeliefert worden waren. Auch Lenin begab sich nach Berlin, um das Ergebnis unserer Verhandlungen mit Kautsky zu erfahren. Wir sprachen mit dem „Treuhänder" sehr lange, aber die Unterredung verlief erfolglos, da er sich zunächst über die Stellungnahme aller anderen Strömungen der russischen Sozialdemokratie zur Januarkonferenz klar werden wollte. Nach der Klärung dieser Frage, sagte er, wolle er uns sofort eine Antwort auf die Forderungen des ZK zukommen lassen. Abends trafen wir uns mit dem Genossen Lenin im Restaurant und berichteten ihm über die Verhandlungen mit Kautsky, worauf er sich nach dem Bahnhof begab, um nach Paris abzureisen. Die Dumamitglieder blieben in Berlin, ich und Timofej aber kehrten nach Leipzig zurück. Alle Delegierten der Parteikonferenz erreichten wohlbehalten ihre Heimatsorte in Russland, wovon sie mich in Kenntnis setzten. Der Pünktlichste unter ihnen war der Lockspitzel Alja Romanow, der schon an der Grenze die Mitteilung absandte, dass er wohlbehalten angekommen sei.
Die Parteikonferenz hatte eine gewaltige Bedeutung. Sie stellte die zentralen Körperschaften der Partei wieder her, die bis zur Parteikonferenz im April 1917 bestanden. Das ZK und die Redaktion des Zentralorgans, die im Januar gewählt worden waren, traten mit allen Organisationen in Russland in Kontakt, schufen in Petersburg eine Tageszeitung, die „Prawda", leiteten und überwachten die Tätigkeit der bolschewistischen Dumafraktion. Das ZK und die Redaktion des Zentralorgans der Partei, die auf der Januarkonferenz des Jahres 1912 gewählt worden waren, haben in der Tat organisatorisch und theoretisch in den Jahren 1912 bis 1914 die gesamte russische Arbeiterbewegung geleitet.
Im Sommer 1912 siedelte Lenin und mit ihm die Redaktion des Zentralorgans von Paris nach Krakati über, um leichter und schneller auf alle Ereignisse reagieren und die Bewegung in Russland leiten zu können. Während ihrer Reise nach Krakau verbrachten Genosse Lenin, Genossin Krupskaja und ihre Mutter einige Tage in Leipzig. Damals unterhielten wir uns viel über die deutsche Sozialdemokratie. Ich verteidigte sie in jeder Weise. Lenin aber nahm ihr gegenüber schon damals einen ziemlich skeptischen Standpunkt ein. Nach 1917 machte Lenin mich wiederholt aufmerksam auf die Taten „meiner Freunde", der deutschen Sozialdemokraten.

 

Wie ich die deutsche Arbeiterbewegung kennenlernte (1903-1912)

Bei meiner ersten Bekanntschaft mit den deutschen Arbeitern hatte ich den Eindruck, als lebten sie wie der liebe Gott in Frankreich. Die Arbeiter, die ich in den Versammlungen sah, waren — im Vergleich zu den russischen — ausgezeichnet gekleidet, tranken während der Versammlungen viel Bier und aßen mitgebrachte Stullen. Nicht übel waren auch die Wohnungen der Funktionäre, zu denen ich ins Haus kam. Fügt man noch all die Freiheiten hinzu, die sie damals hatten, so erhält man eine Vorstellung von dem „Ideal", das ich zu jener Zeit für das russische Proletariat ersehnte. Sehr bald aber blieb von meinem „Ideal" nichts übrig. Ich kam in die Berliner Arbeiterviertel und Arbeiterwohnungen, die sehr wenig denen glichen, die ich bis dahin zu sehen bekommen hatte. Die Wohnungen der Arbeiter bestanden aus einem Vorzimmer, das als Küche benutzt wurde, und einem kleinen Raum, in dem eine vier- bis fünfköpfige Familie wohnte. In diesen Wohnungen war auch die Einrichtung nicht gerade komfortabel. Trotz des industriellen Aufschwungs konnte man im Volkshaus, in dem alle Gewerkschaften Berlins ihre Büros hatten, stets viele Arbeitslose aus Berlin oder der Provinz treffen. Die Asyle waren von Obdachlosen überfüllt. Nicht viel besser war es um die Freiheiten in Preußen bestellt. In den von Sozialdemokraten einberufenen Volksversammlungen saßen neben dem Vorsitzenden Polizisten, die nicht selten aus ganz nichtigen Anlässen die Versammlungen schlossen, z. B. wenn der Vorsitzende sich weigerte, Frauen und Jugendliche aus dem Saal zu entfernen. Diese hatten nämlich nach dem Gesetz kein Recht, an öffentlichen politischen Volksversammlungen teilzunehmen. Man musste sich tatsächlich darüber wundern, wie blitzschnell die Polizei an Ort und Stelle war, wenn es galt, einen Saal, in dem eine von der Polizei geschlossene Versammlung stattfand, zu räumen. Obwohl von meinem naiven „Ideal" immer mehr verschwand, je mehr ich die deutsche Arbeiterbewegung kennen lernte, schien sie mir doch von kolossalen, ja geradezu gigantischen Dimensionen zu sein.
Die Sozialdemokratie war vor dem Kriege die einzige politische Partei des Proletariats in Deutschland. Sie hatte Ortsgruppen nicht nur in Städten mit Arbeiterbevölkerung. Ich habe auf meinen Reisen die ganze Gegend an der preußischrussischen Grenze mit ihrer Bauernbevölkerung kennen gelernt und gefunden, dass in allen diesen Ortschaften kleine sozialdemokratische Ortsgruppen bestanden, an die ich mich wenden konnte, wenn ich Unterstützung bei meiner Arbeit brauchte.
Die Sozialdemokratie Deutschlands hatte bereits im Jahre 1903 Hunderttausende von Mitgliedern und Millionen von Abonnenten der Parteipresse, denn jede Stadt mit einiger Industrie und Arbeiterbevölkerung hatte ihre eigene Tageszeitung. Die Partei verfügte über eigene große Druckereien und Verlagsanstalten, die wiederum ein Netz von Buchhandlungen in ganz Deutschland besaßen. Die deutsche Sozialdemokratie übte einen riesigen Einfluss auf die Arbeiter und die ärmere Stadtbevölkerung aus. Im Jahre 1903 bekam die Partei bei den Reichstagswahlen 3 Millionen Stimmen, trotzdem die Frauen und Soldaten nicht wählen durften und das Wahlgesetz eine Anzahl von Beschränkungen für die Arbeiter enthielt. Die Volksversammlungen, die von den Sozialdemokraten aus den verschiedensten Anlässen einberufen wurden, waren stets überfüllt, obwohl mitunter in Berlin allein zur gleichen Zeit bis 100 solcher Versammlungen stattfanden. Die Sozialdemokratie hatte in allen Parlamenten des Reichs ihre Vertreter — vom Reichstag, wo ein Viertel der Abgeordneten der Sozialdemokratie angehörte, bis zu den Landtagen, Provinziallandtagen und Gemeindeparlamenten.
Außerdem stand die Sozialdemokratie an der Spitze einer drei Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaftsbewegung, die faktisch unter ihrer Führung stand, nicht nur im Zentrum, sondern auch in der Provinz und in den Betrieben. In den Betrieben hatten die Gewerkschaften ihre Vertrauensleute, je einen für eine bestimmte Anzahl Verbandsmitglieder. Diese Vertrauensleute sammelten auch die Mitgliedsbeiträge und wurden meistens aus den aktiven Mitgliedern der Sozialdemokratie genommen. Gleichfalls in den Händen der Sozialdemokratie lagen die gesamten Konsum- und Produktivgenossenschaften der Arbeiter, die in allen Städten Deutschlands ihre Filialen hatten und erfolgreich mit dem Privatkapital konkurrierten, weil sie bessere Ware für den Massenbedarf lieferten als die privaten Händler. So war die deutsche Sozialdemokratie durch die Gewerkschaften, hauptsächlich aber durch deren Vertrauensleute mit der Arbeiterschaft der Betriebe eng verknüpft. Einen nicht geringen Dienst bei der Herstellung des Kontaktes mit den Arbeitermassen leisteten der deutschen Sozialdemokratie außer der Tagespresse der Partei noch die Volkshäuser mit ihren Cafés und Restaurationen, ferner die ungeheure Zahl kleiner Bierhallen, deren Besitzer aktive Parteimitglieder waren. Man muss nämlich berücksichtigen, dass die Deutschen — auch die Arbeiter — die meiste freie Zeit in Restaurationen, Bierhallen und Cafes zu verbringen pflegen. Dort finden die Versammlungen der gewerkschaftlichen, politischen, genossenschaftlichen und sonstigen Organisationen statt, dort treffen sich die Arbeiter, diskutieren über alles mögliche, lesen Zeitungen usw.
Zu jener Zeit führte das Bürgertum gegen die Sozialdemokraten den Kampf auch dadurch, dass es ihnen keine Räume für Partei- und Volksversammlungen zur Verfügung stellte. Versammlungen unter freiem Himmel aber waren verboten. Das zwang die Partei, ihre eigenen Volkshäuser mit den Mitteln der Arbeiterschaft zu bauen. Gebaut wurden sie von Partei-, Gewerkschafts- und Genossenschaftsorganisationen. Gleichzeitig förderte die Partei die Eröffnung von Bierhallen durch Parteimitglieder. Meistens wurden damals die Parteimitglieder zu Gastwirten, die von den Unternehmern gemaßregelt worden waren. Und diese sozialdemokratischen Gastwirtschaften bilden auch heute noch einen starken Stützpunkt der SPD, die jetzt Lakaiendienste für die Bourgeoisie verrichtet.
Wenn man nun berücksichtigt, dass in keinem einzigen Lande — von Russland abgesehen — eine in allen ihren Verzweigungen so mächtige Arbeiterbewegung existierte wie in Deutschland, so wird es klar, warum ich zu einem so leidenschaftlichen Bewunderer der deutschen Sozialdemokratie der Vorkriegszeit wurde. Mehr als einmal ersehnte ich in meinen Träumen, dass auch in Russland eine so machtvolle Arbeiterbewegung entstehe.
Natürlich entgingen mir auch nicht die Fehler der deutschen Arbeiterbewegung. So z. B. schlossen die Gewerkschaften mit den Unternehmern langfristige Tarifverträge über Arbeitstag, Arbeitslöhne und Arbeitsbedingungen ab, die die Arbeiterschaft an Händen und Füßen fesselten. Ja noch mehr: im Jahre 1905 sprach sich der Reichskongress der Gewerkschaften, der in seiner Mehrheit aus Sozialdemokraten bestand, gegen den politischen Generalstreik als Kampfmittel aus (die großen russischen Streiks von 1905 hatten diese Frage auch in Deutschland akut gemacht), kurz darauf aber nahm der deutsche Parteitag mit überwiegender Mehrheit eine Resolution für den Generalstreik an. So entstand ein Riss zwischen der Partei in ihrer Gesamtheit und den Sozialdemokraten, die in den Gewerkschaften tätig waren. Das war bereits ein Sieg der an der Spitze der deutschen Gewerkschaften stehenden Opportunisten. Ich war jedoch damals fest davon überzeugt, dass die Partei so stark und ihre Autorität unter der Arbeiterschaft so groß war, dass es ihr gelingen musste, die deutschen Proletarier in den Kampf gegen den Opportunismus in den eigenen Reihen zu führen und den Opportunismus auszurotten. Natürlich wäre das der Partei gelungen, wenn sie nur den Willen dazu gehabt hätte. Aber sie wollte das eben nicht. Die Partei war vollkommen legal und hatte sich dieser Legalität so sehr angepasst, dass sie nicht einmal zu demonstrieren wagte, wenn die Polizei es verbot; sie ließ in aller Ruhe die Willkür der Polizei über sich ergehen, wenn es dieser einfiel, wegen irgend einer Lappalie Versammlungen aufzulösen.
Es tat einem weh, mit ansehen zu müssen, wie die Berliner Sozialdemokraten auf eine Demonstration zum Friedhof der Märzgefallenen nur deshalb verzichteten, weil die Polizei diese Demonstration nicht erlaubte. Die eifrigsten Besucher dieses Friedhofs an den Tagen der Märzgefallenen waren die russischen Sozialdemokraten, die damals in Berlin wohnten.
Durch diese Unterwürfigkeit unter das Gesetz um jeden Preis erzogen die deutschen Sozialdemokraten die Arbeiterschaft zu einer übermäßigen Legalität, und es gab nur sehr wenige Parteimitglieder, die sich noch an das Sozialistengesetz (Anm.: Das Sozialistengesetz wurde von Bismarck im Reichstag eingebracht und am 19. Oktober 1878 angenommen.
Die unmittelbare Veranlassung zum Sozialistengesetz waren die zwei Attentate auf den König Wilhelm: das erste verübte der Klempner Hedel am 11. März 1878, das zweite Dr. Nobling am 2. Juni desselben Jahres. Dieser verwundete den König schwer. Allen war klar, dass Bismarck die Attentate benutzen wollte, um den wachsenden Einfluss der deutschen Sozialdemokratie auf die Arbeiterklasse zu paralysieren.
Das Sozialistengesetz drängte die deutsche Sozialdemokratie in die Illegalität. Es wurde verboten, Parteizeitungen herauszugeben, Partei- und Volksversammlungen abzuhalten, sozialdemokratische Literatur zu verbreiten, Geld für die Partei zu sammeln und der Sozialdemokratischen Partei und ihren Organisationen als Mitglied anzugehören
Die deutsche Sozialdemokratie gab ihr Zentralorgan im Ausland heraus. Im Ausland wurden auch die Parteitage abgehalten. Trotz der Verfolgungen hatte die Partei sehr große Erfolge zu verzeichnen, was die während des Sozialistengesetzes stattgefundenen Reichstagswahlen bewiesen. Am 25. Januar 1890 wurde das Sozialistengesetz vom Reichstag aufgehoben (mit 169 gegen 98 Stimmen), da die Sozialdemokratie trotz der Verfolgungen eine außerordentlich starke Tätigkeit unter den Arbeitern entfaltete. Dadurch zwang sie die Bourgeoisie zur Aufhebung des Sozialistengesetzes.) erinnerten. Diejenigen aber, die sich noch gut darauf besinnen konnten und jene Zeiten selbst durchgemacht hatten, hielten sich beinahe für Märtyrer, wenn beispielsweise auf dem Dachboden des Hauses, das sie bewohnten, eine Haussuchung stattgefunden hatte oder wenn sie durch die preußische Polizei kurz vor Weihnachten — man denke nur! — aus Preußen nach Sachsen abgeschoben wurden, nach einem Lande, das in vier Stunden mit der Eisenbahn von Berlin zu erreichen ist. (Diese zwei Dinge blieben mir im Gedächtnis fest haften, und zwar aus einem Gespräch, das ich mit zwei Funktionären der Berliner Organisation hatte: mit dem Vorsitzenden des Buchbinderverbandes Silier und dem Kupferstecher Peterson.) Die Erziehung der Mitglieder der deutschen Sozialdemokratie zur Legalität machte sich übrigens auch bei manchen deutschen Kommunisten stark bemerkbar, die von der SPD herübergekommen waren.
Ich konnte auch noch andere nicht geringe Sünden in der Taktik der deutschen Sozialdemokratie feststellen. Um ja nicht gegen die Gesetze zu verstoßen, leisteten sie vor dem Kriege keine propagandistische Arbeit unter den Soldaten der kaiserlichen Armee — ganz zu schweigen von ihrem Verhalten während des Krieges — und erklärten diese Stellungnahme damit, dass die Sozialdemokratie in der Lage sei, unter der Jugend vor und nach der Dienstzeit zu arbeiten. Ja noch mehr: uns Russen empörte der Standpunkt, den aktive Sozialdemokraten und Arbeiter, die in der kaiserlichen Armee gedient hatten, dem Militärdienst gegenüber einnahmen: sie rechneten die Zeit, die sie in der Armee verbracht hatten, zur glücklichsten ihres Lebens und erzählten davon mit einem Stolz, als ob es sich nicht um eine kaiserliche, sondern um eine Rote Armee — um die Armee des siegreichen deutschen Proletariates gehandelt hätte.
Trotz aller Mängel, die ich in der Leitung der deutschen Arbeiterbewegung wahrnahm, war ich fest davon überzeugt, dass der ununterbrochen vorsichgehende Klassenkampf in Deutschland die Taktik der deutschen Sozialdemokratie gerade richten werde, denn ich hielt die Funktionäre und Führer der SPD, denen die Arbeitermassen Gefolgschaft leisteten, für ehrliche und aufrichtige Anhänger des revolutionären Marxismus, für Männer, die der Arbeiterbewegung wirklich treu ergeben waren.
Erst in Leipzig, in den Jahren 1909—1912, kam ich dazu, die Tätigkeit einer Ortsgruppe genau kennen zu lernen. Die Generalversammlung des Wahlkreises wählte den Vorstand. Ständig arbeitete nur der Sekretär. Dieser hatte einen Apparat zur Einziehung der Mitgliedsbeiträge, der aus Kassierern bestand, die die Parteimitglieder in den Wohnungen aufsuchten und die fälligen Mitgliedsbeiträge einzogen Die Flugblätter wurden ebenfalls in die Wohnungen getragen. Einzelne Gruppen von Parteimitgliedern erhielten den Auftrag, bestimmte Straßen zu bearbeiten. Organisatorisch sehr interessant war die Kampagne zu den Reichstagswahlen im Jahre 1911. Jede Mitgliedergruppe (an der Spitze jeder Gruppe stand ein Bevollmächtigter des Bezirksvorstandes) hatte die Wahlpropaganda in bestimmten Straßen durchzuführen. Zu diesem Zweck erhielten die Gruppen vollständige Verzeichnisse aller Wahlberechtigten der ihnen zur Bearbeitung zugewiesenen Straßen mit genauen Angaben von Beruf und Adresse eines jeden Wählers. Auf Grund dieser Listen wurden die Arbeiter, kleinen Angestellten und Handwerker festgestellt. Für diese Wählerkategorien wurde dann Material über die Wahlen in Briefumschläge gesteckt und an die Wähler per Post versandt oder ins Haus getragen. Einige Tage darauf gingen die Mitglieder der Gruppen in alle Wohnungen, in die man Drucksachen gesandt hatte, und versuchten durch mündliche Agitation die Wirkung des gedruckten Materials zu vertiefen und zu festigen. — An dieser Wahlarbeit habe ich auch teilgenommen.
Viele kommunistische Parteien Westeuropas könnten auch jetzt — neben der Arbeit in den Betriebszellen — diese Agitationsmethode bei den verschiedenen Kampagnen anwenden.
Die Leipziger Organisation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands führte bereits damals das Prinzip der einheitlichen zentralen Leitung aller Formen der Arbeiterbewegung in Leipzig und Umgegend durch.
Der Bezirksvorstand berief vertrauliche Versammlungen der Funktionäre ein. Diese Versammlungen wurden nicht nur vor der Polizei, sondern auch vor der Mitgliedschaft geheim gehalten. In diesen Versammlungen wurden Berichte der Leiter der Gewerkschaften, der Genossenschaften, der Krankenkassenvertreter und der Vertreter des Bezirksvorstandes erstattet. Ferner wurden hier die Kandidaten zu allen obengenannten Organisationen und Körperschaften aufgestellt und in Resolutionen zu allen Fragen Stellung genommen. Hier wurde auch bestimmt, wer sprechen, wer Vorschläge für den Vorsitz in den Versammlungen oder für die Wahlen zum Bezirksvorstand machen und wer in offiziellen Versammlungen Resolutionen einbringen sollte. In Leipzig bezeichnete man solche Sitzungen mit dem Stichwort: „Kamorra".
Viele russische Genossen, die damals durch Leipzig kamen, schimpften immer über die deutschen Sozialdemokraten, und es schien mir damals, dass sie das nur deshalb taten, weil sie die deutschen Sozialdemokraten nie bei der Arbeit gesehen hatten. Als im Sommer 1912 Genosse Lenin in Leipzig war, äußerte er sich im Laufe einer Unterhaltung mit mir sehr scharf über die deutsche Sozialdemokratie wegen ihrer Passivität, weil sie den Kampf gegen die Opportunisten in ihren eigenen Reihen nur in Worten, nur während der Parteitage führe, und weil die Resolutionen der Parteitage bloß auf dem Papier blieben. Genosse Lenin war schon zu jener Zeit der Ansicht, dass die deutsche Sozialdemokratie vollkommen vom Opportunismus durchfressen war und in ein bürgerliches Deutschland hineinwuchs. Auch damit war ich nicht einverstanden. Es stellte sich aber dann heraus, dass die SPD so sehr mit dem kaiserlichen Deutschland der Bourgeoisie verwachsen war, dass sie sich selbst im November 1918 daran klammerte, als sie vom aufständischen Proletariat an die Spitze der Revolution gestellt wurde. Und wäre es nur auf die deutsche Sozialdemokratie angekommen, nicht aber auf die deutsche Arbeiterklasse, so hätten wir in Deutschland auch heute noch eine Monarchie. Als ich im August 1914, im Gefängnis zu Samara, während des Verhörs von dem Gendarmen erfuhr, dass Plechanow für den Krieg war und dass die deutsche sozialdemokratische Reichstagsfraktion einstimmig die Kriegskredite bewilligt hatte, empfand ich einen stechenden Schmerz. Die Stellungnahme Plechanows war mir weniger unerwartet gekommen, als die der deutschen Sozialdemokratie. Denn der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ihre Parteitage hatten ja stets die badische und hessische Landtagsfraktion verurteilt, weil diese dem Etat ihrer Länder zustimmen wollten. Hier aber stimmte mit einem Male die ganze Reichstagsfraktion für die Kriegskredite, das heißt für den Krieg, obwohl die „Verteidigung" des Vaterlandes gar nicht von den sozialdemokratischen Stimmen abhing, weil die Bürgerlichen im Reichstag über drei Viertel der Stimmen verfügten. Damals begriff ich, dass die deutsche Sozialdemokratie in der Tat weder revolutionär noch international war. Und heute scheint es mir, dass die deutsche Sozialdemokratie, auch wenn es keinen Krieg gegeben hätte, allmählich zu der Arbeitsgemeinschaft mit den bürgerlichen Parteien gekommen wäre, die sie heute praktiziert. Für eine so große und starke Partei, wie es die deutsche Sozialdemokratie vor dem Kriege war, gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder schon damals für die Eroberung der Macht durch das Proletariat zu kämpfen oder mit der Bourgeoisie zu einem Kompromiss zu kommen. Die erste Möglichkeit verschmähte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sogar im Jahre 1918, als die Macht in ihre Hände gefallen war.

 

Paris (1912-1913)

Im Sommer des Jahres 1912 stand ich vor der Frage meiner Rückkehr nach Russland, weil infolge der Übersiedelung der Auslandszentrale nach Krakau Deutschland (Leipzig) seine Bedeutung für uns eingebüßt hatte. Ich wollte jedoch nach Russland nur, um unter die Arbeiter — um in den Betrieb zu kommen. Mein eigenes Handwerk, das ich in der Zwischenzeit gründlich verlernt hatte, bot mir dazu keine Möglichkeit, denn in Russland waren die Schneidereien zum größten Teil kleine Werkstätten. So wollte ich denn rasch etwas lernen, was mir die Möglichkeit geben konnte, meinen Lebensunterhalt zu erwerben und in einen Großbetrieb zu kommen. Eine Zeitlang trug ich mich sogar mit dem Gedanken, meine Kenntnisse der Stereotypie zu verwerten, die ich bei der „Leipziger Volkszeitung" gründlich kennen gelernt hatte, weil ich damals dachte, dass auch wir einmal solche Druckereien haben werden, wie in der Zeit zwischen 1903 und 1906, als man die alte „Iskra" und den „Wperjod" nach Matrizen druckte, die aus dem Ausland kamen. Ich wusste aber nicht, ob in Russland solche Matrizen benutzt wurden und ob solche Maschinen zur Herstellung der Stereotypplatten vorhanden waren wie in Deutschland. In Deutschland war es nicht möglich, irgend etwas Passendes schnell zu erlernen. Deshalb bat ich um Aufnahme in eine Elektromonteurschule, die auf Kosten irgendeines russischen Philanthropen für die Emigranten in Frankreich eröffnet worden war, die kein besonderes Handwerk kannten. Diese Emigranten hatten es, nebenbei gesagt, nicht leicht in Frankreich. Nur mit Mühe wurde meine Aufnahme (in meiner Abwesenheit) durchgesetzt, da aus dem Fragebogen, den ich ausfüllen musste, hervorging, dass ich ein Handwerk konnte, das in Paris sehr einträglich war. Die Schule selbst trug zur Erinnerung an die verstorbene Tochter des Stifters den Namen „Raschel". Die Ausstattung der Schule mit Maschinen war nicht sehr gut, aber um den praktischen Unterricht war es nicht übel bestellt. Man arbeitete unter der Leitung von Emigranten: der Mechaniker Michailow, ein Mann von großer Praxis, der seine Sache gut verstand, unterrichtete uns in Mechanik, und der praktische Elektromonteur Rudsinski beherrschte die Theorie der Elektrotechnik nicht schlecht. Der praktische Unterricht am Schraubstock, in der Schmiede und bei der Anlage von elektrischem Licht in Wohnungen wechselte ab mit Vorlesungen russischer Ingenieure, die in den Betrieben in Paris tätig waren. Die Schüler gehörten meistens der Intelligenz an. Sie gaben sich alle Mühe, das Fach zu erlernen, es gelang aber nicht allen. Was mich anbetrifft, so hatte ich mich sehr ernst an die Arbeit gemacht und in den acht Monaten vom November 1912 bis zum Julianfang 1913 wirklich manches gelernt. Was meine praktische Probezeit anbetraf, so war ich vor dem Abgang von der Schule zusammen mit anderen Schülern in irgend ein Unternehmen auf Montage geschickt worden; nach der Entlassung aber hatte ich zusammen mit den Genossen Sefir und Kotow selbständig in der Wohnung Schitomirskis elektrisches Licht angebracht.
In den acht Monaten meiner Anwesenheit in Paris nahm ich natürlich regen Anteil an der Tätigkeit der bolschewistischen Gruppe. Ich war Mitglied des Vorstandes der Gruppe.
Die Pariser Unterstützungsgruppe spielte nicht nur im Leben der Parteiorganisationen im Ausland eine große Rolle, sondern erlangte auch für die russische sozialistische Bewegung eine große Bedeutung seit der Übersiedlung der bolschewistischen Auslandszentrale mit Genossen Lenin an der Spitze von Genf nach Paris (im Jahre 1909). Es war selbstverständlich, dass die aktivsten Elemente der russischen Sozialdemokratie, wenn sie aus der Verbannung oder den Gefängnissen kamen, oder vor Verfolgungen flohen, oder als Delegierte der Parteiorganisationen ins Ausland kamen, sich nach der Stadt hingezogen fühlten, in der die zentralen Organisationen der Partei waren. Obwohl die Delegierten nur auf kurze Zeit nach Paris kamen, brachten sie doch viel Leben in unsere Pariser Parteikreise, da sie diese über die Verhältnisse in ganz Russland informierten. Der dauernde Zustrom neuer Genossen aus allen Gegenden des riesigen Russland brachte in die Pariser Gruppe zur Unterstützung der Bolschewiki einen frischen Zug hinein. Das war der Vorzug dieser Gruppe vor allen anderen Unterstützungsgruppen. Selbstverständlich waren alle in Paris wohnenden Mitglieder der bolschewistischen Zentrale auch Mitglieder der Unterstützungsgruppe, was natürlich den ernsten Charakter und die Autorität der Gruppe erhöhte. Man muss noch in Betracht ziehen, dass in den Jahren 1909—1912 sich in Paris auch die Auslandszentralen der Menschewiki, der Wperjodgruppe, der Sozialrevolutionäre und anderer Organisationen befanden, und dass somit der ideologische Kampf, der einerseits zwischen den Sozialdemokraten und den Sozialrevolutionären und andererseits zwischen den Sozialdemokraten selbst in ihren eigenen Reihen geführt wurde, natürlich auf das Leben und die Tätigkeit der „Pariser Gruppe zur Unterstützung der Bolschewiki" nicht ohne Einfluss bleiben konnte. Die Gruppe als Ganzes und einzelne ihrer Mitglieder nahmen an diesen Kämpfen tätigen Anteil. Nicht selten nahm die Pariser Gruppe Berichte und Informationen von Mitgliedern der bolschewistischen Zentrale entgegen (von Mitgliedern der Redaktion des Zentralorgans, des Zentralkomitees und des Auslandsbüros) über Fragen, die vor den entsprechenden Körperschaften aufgeworfen oder veröffentlicht werden sollten. Berichte über Sitzungen des Plenums des Zentralkomitees, über Sitzungen der erweiterten Redaktion des „Proletari", über Parteikonferenzen und Parteiberatungen wurden in der Gruppe oft noch vor der Veröffentlichung der Beschlüsse dieser Organe erstattet. Die Pariser Gruppe veranstaltete Vortragsabende über die verschiedensten Themata; an den Diskussionen nahmen mitunter Führer aller damaligen Strömungen der Sozialdemokratie und anderer Parteien teil. Ebenso beteiligten sich die Mitglieder der Pariser bolschewistischen Unterstützungsgruppe eifrig an allen Versammlungen, Diskussionen und Veranstaltungen, die von anderen sozialdemokratischen Strömungen und Parteien einberufen wurden. Als ich der Gruppe angehörte (von Ende 1912 bis Mitte 1913), waren die Verhältnisse dort bereits andere, da die Auslandszentrale nach der Prager Reichskonferenz der Partei nach Krakau übergesiedelt war. In Paris blieb nur Genosse Kamenew zurück.
Die Pariser Unterstützungsgruppe unterschied sich in dieser Zeit von vielen ausländischen Gruppen sowohl durch ihre Zusammensetzung als auch durch ihre Tätigkeit. In Deutschland, Belgien und sogar in der Schweiz bestanden damals die Gruppen in ihrer Mehrheit aus Studenten, nur vereinzelt waren dort alte Parteimitglieder anzutreffen, die aus der Verbannung, dem Gefängnis oder vor Verfolgungen geflüchtet waren. Diese Gruppen arbeiteten auch hauptsächlich unter der studierenden Jugend. Die Pariser Gruppe bestand aber fast durchweg aus alten Revolutionären, die Russland hatten verlassen müssen und die auf Beschluss der Parteikörperschaften in jedem Augenblick zurückgeschickt werden konnten. Selbst die neuen Mitglieder rekrutierten sich hauptsächlich aus Genossen, die Sibirien oder eine Gefängnisstrafe hinter sich hatten. Zu jener Zeit unterhielt die Pariser Gruppe keinerlei Beziehungen zu den russischen Studenten in Paris und arbeitete auch nicht unter ihnen. Die Gruppe arbeitete vor allem unter den russischen Arbeitern und politischen Emigranten, die in Paris sehr zahlreich waren.
Außer dem Verkauf von Parteiliteratur, der Veranstaltung von Vortragsabenden, der Sammlung von Mitteln für die Partei und der Diskussion von Parteifragen beteiligte sich die Pariser Gruppe durch ihre Vertreter zusammen mit allen russischen revolutionären Auslandsgruppen jener Zeit an der Emigrantenkasse (die den bedürftigen Genossen half), an der Bibliothek und Lesehalle, an der Gesellschaft zur Unterstützung der Gefangenen und Verbannten und an allen anderen russischen Organisationen.
Die Pariser Gruppe der Bolschewiki und sicherlich auch die Gruppen der anderen sozialdemokratischen Parteien Russlands, Polens usw. gehörten nicht der Pariser Organisation der französischen Sozialdemokratie an. Einige Mitglieder der Gruppe wurden auf ihren Wunsch in die französische Partei aufgenommen. Ich trat der deutschen Sektion der französischen sozialistischen Partei bei und blieb Mitglied bis zu meiner Abreise nach Russland. Irgend einen Beschluss über den Eintritt der Russen in die französische Partei hatte weder die russische noch die französische Partei gefasst, auch waren keinerlei Abkommen darüber getroffen worden. Erst jetzt verpflichtet das Statut der Kommunistischen Internationale die Mitglieder der kommunistischen Parteien, nach ihrer Übersiedelung in ein anderes Land unverzüglich der Kommunistischen Partei des betreffenden Landes beizutreten. Am 1. Mai wurde auf Vorschlag der Pariser bolschewistischen Gruppe ein großes internationales Massenmeeting veranstaltet, an dem russische, italienische, deutsche, französische Arbeiter und auch Arbeiter anderer Länder teilnahmen. Das Meeting ging unter gehobener Stimmung aller Beteiligten vor sich. Als Redner unserer Gruppe trat Genosse Kamenew auf. In froher Stimmung begingen die Pariser Bolschewiki die Feier des neuen Jahres 1913. Schon damals fühlte man, dass es ein Jahr revolutionären Aufstiegs werden und dass die Richtigkeit der bolschewistischen Taktik sich allmählich durchsetzen werde. Als ich 1911 in Paris war, feierte ich Silvester ebenfalls im Kreise von Bolschewiki. Obwohl die ganze bolschewistische Auslandszentrale mit dem Genossen Lenin an der Feier teilnahm, verlief alles flau und langweilig. Ganz anders fiel die Silvesterfeier 1913 aus. An unserer Feier beteiligte sich auch der Genosse Zyperowitsch, der unserer Pariser Gruppe damals fernstand, außerdem die Genossen Steklow und Schljapnikow. Diesen sah ich damals zum ersten Mal; die Genossen sagten von ihm, er sei ein Syndikalist. Dass diese Genossen damals gemeinsam mit uns die Feier des neuen Jahres begingen, hielten wir für ein Zeichen des Sieges des Bolschewismus in der Arbeiterbewegung Russlands.
Gleich nach meiner Ankunft in Paris wurde ich in das „Komitee der ausländischen Organisationen zur Unterstützung der Bolschewiki" kooptiert, dem bereits Wladimirski (Kamski), N. Kusnetzow (Saposchnikow), Semaschko (der damals gerade verreist war) und Miron Tschernomasow (Anm.: Ich glaube, dass dieser erst nach seiner Ankunft in Russland, wohin man ihn zur Mitarbeit an der „Prawda" kommandiert hatte, zum Spitzel geworden ist, denn vor seiner Abreise war er einige Male zu mir gekommen, um sich Rat darüber zu holen, wie er reisen, was er mit sich nehmen und was er in Paris lassen sollte. Er hinterließ mir zur Durchsicht seine gesamte Korrespondenz, mit der Weisung, alle Privatbriefe zu vernichten und nur sachliche Briefe aufzuheben. Unter den Briefen befanden sich auch Schreiben des Genossen Lenin und der Genossin Krupskaja.) angehörten. Über die Tätigkeit des Komitees der Unterstützungsorganisationen kann ich nichts sagen, da mir nichts davon im Gedächtnis haften geblieben ist, obwohl ich an allen Sitzungen des Komitees teilgenommen habe.
Als ich nach Paris kam, bezogen nur einige Genossen die Petersburger „Prawda". Wiederholt stellte ich in dem Komitee der Unterstützungsgruppe und im Vorstand der Pariser Gruppe unserer Partei die Frage der Massenverbreitung der „Prawda" unter den in Paris wohnenden Russen. Es wurden wiederholt Beschlüsse gefasst, aber das Resultat war gleich Null. Da nahm ich die Angelegenheit selbst in die Hand, obwohl ich in Paris fast gar keine Bekannte hatte. Es gelang mir, in Erfahrung zu bringen, dass es in der Stadt eine Zeitungsexpedition gab, die russische Zeitungen durch die Zeitungskiosken vertrieb. Ich suchte dieses Unternehmen auf und schloss einen Vertrag ab über das Abonnement und den Vertrieb der „Prawda" in Paris. Dann schrieb ich der Administration der „Prawda", sie solle jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Exemplaren der Zeitung nach Paris senden, je nach Angaben der Pariser Spedition. Die „Prawda" wurde zugestellt, aber die Spedition rechnete mit der Administration der Zeitung die verkauften Exemplare nicht ab. So musste ich auch auf die Hilfe der Spedition verzichten und alles selbst machen. Ich abonnierte die „Prawda" zunächst in 100 Exemplaren, die man mir an die Adresse meiner Schule zusandte. Ein Teil der Exemplare wurde mir schon dort abgenommen, den Rest verkauften Genosse Sefir und andere Mitschüler in dem kleinen russischen Restaurant in der Glacier-Straße, in dem die Schüler und auch viele andere Russen zu Mittag aßen. In der Folge kam die Sache so gut in Gang, dass aus den abgelegensten Winkeln von Paris ständige Leser der „Prawda" an mich mit der Bitte herantraten, ihnen die Zeitung per Post ins Haus zu senden. Damit verwandelte sich meine Wohnung in der Tat in eine Art von Expedition der „Prawda". An den Tagen, wo die „Prawda" kam, tat ich nach der Arbeit die Zeitungen in Kreuzbänder (die Konfiskationen der Zeitung in Petersburg wurden aus irgend einem Grunde auf die Auslandssendungen nicht im gleichen Maße ausgedehnt) und sandte sie durch die Post den Abonnenten zu. Ich korrespondierte mit der Redaktion der „Prawda", und da ich ihr pünktlich das Geld für die verkauften Exemplare ablieferte, bekam ich stets so viele Exemplare, wie ich haben wollte, und zwar ebenfalls sehr pünktlich.
In Paris gab es, wie ich schon erwähnt habe, eine Unmenge politischer Emigranten. Neben Leuten, die tatsächlich mit revolutionären Parteien verbunden waren, wohnten dort viele Emigranten, die nur zufällig ins Gefängnis oder in die Verbannung geraten waren. Die Emigranten waren fast alle sehr arm, man konnte kaum für alle Arbeit beschaffen, da die meisten von ihnen gar keinen bestimmten Beruf hatten. Die gelernten Arbeiter fanden allerdings leicht Arbeit. Auch fiel es den russischen Emigranten schwer, ohne Kenntnis der Sprache in Paris zu leben. Es war nicht leicht, die Sprache zu erlernen, da es in Paris eine Unmenge russischer Institutionen gab, in denen russisch gesprochen wurde, so dass die Emigranten fast keine Gelegenheit hatten, mit Franzosen zusammen zu kommen. Nur im Umgange mit diesen hätten sie richtig französisch lernen können. Als ich in Paris war, gab es dort bereits eine Gewerkschaftszentrale für russische Arbeiter, die mit den französischen Gewerkschaften in Verbindung stand; diese Zentrale hatte auch, wenn ich nicht irre, Kurse zur Erlernung der französischen Sprache arrangiert. Viele unserer jetzigen verantwortlichen Funktionäre mussten Milch austragen, Fensterscheiben in den Läden putzen und bei Umzügen Wohnungseinrichtungen auf Handwagen transportieren, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Aber nicht alle wollten auf diese Weise ihren Lebensunterhalt erwerben. Viele Emigranten sanken so tief, dass sie nicht einmal Arbeit suchten. Sie fanden das Leben auf fremde Kosten viel angenehmer und leichter, suchten auf jede nur mögliche Weise bei den Arbeitenden Geld herauszulocken („schießen" nannte man das damals) und betrogen nicht selten sowohl Russen als auch Franzosen, wozu es anscheinend keiner Kenntnisse des Französischen bedurfte. Es kam so weit, dass kein einziger geselliger Abend zum Besten der Emigrantenkasse oder irgendeiner revolutionären Partei ohne Skandale und Raufereien von Leuten aus den Kreisen der zufälligen Emigranten ablief.
Trotz dieser Zersetzung eines Teiles der Emigration ertrug die große Masse der politischen Emigranten unserer Partei standhaft die Emigration und nahm nach der Rückkehr nach Russland einen ehrenvollen Platz im Parteileben ein. Trotz alledem wurde von den politischen Emigranten, die an der Spitze unserer Partei bzw. mit ihr in enger Fühlung standen, schöpferische Arbeit auf dem Gebiete des revolutionären Gedankens geleistet. Dieser Teil der politischen Emigranten kam in Fühlung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung Europas und Amerikas und nahm dort das Beste, ohne das Schädliche mit zu übernehmen.
Vielleicht ist es gerade deswegen den Bolschewiki gelungen, durch Anwendung des revolutionären Marxismus eine stählerne, konsequente und aktive Partei zu schaffen, die auf allen Gebieten der Arbeiterbewegung die Führung erlangte und alle Fehler vermied, die die sozialdemokratischen Parteien der anderen Länder begingen.
Nachdem ich die Schule absolviert hatte, traf ich Vorbereitungen zur Reise nach Russland. Von dieser Reise wussten außer dem Auslandsbüro des Zentralkomitees die Genossen Kotow und Sefir. Schitomirski, den ich täglich besuchte, sagte ich, dass ich nach Deutschland reisen wolle, um bei Siemens und Schuckert zu arbeiten. Ich vertraute Schitomirski nicht mehr so wie früher, besonders, seitdem ich erfahren hatte, dass eine Untersuchungskommission (ohne dass Schitomirski etwas davon zu erfahren bekam) aus drei Mitgliedern des Zentralkomitees — einem Bolschewik, einem Bundisten und einem Menschewik — zum Studium des Materials eingesetzt worden war, das Burzew (Anm.: Burzew war es gelungen, den Provokateur Asew und noch andere Lockspitzel zu entlarven. Er unterhielt Beziehungen zu ehemaligen Lockspitzeln der zaristischen Ochrana, die ihn mit Material über Lockspitzel in der russischen revolutionären Bewegung versahen. Burzew hatte auch Beziehungen zum Polizeidepartement. Damals war Burzew noch ein Revolutionär und half den Parteien sehr viel durch die Entlarvung der Spitzel in ihren Reihen. Er handelte damals im Einverständnis mit allen revolutionären Organisationen.) über Schitomirski geliefert hatte. Burzew hatte nämlich dem damaligen Zentralkomitee unserer Partei (im Jahre 1910 oder 1911) eine Nachricht aus sicherer Quelle mitgeteilt, wonach die ausländischen Agenten der russischen Ochrana, als Schitomirski 1904 aus Deutschland nach Russland reiste, dem Polizeidepartement über diesen ein Telegramm in einer Form geschickt hatten, wie das stets nur in Fällen geschah, wenn Agenten der Polizei reisten. Die Untersuchungskommission prüfte die Mitteilung Burzews und fasste den Beschluss, dass das vorliegende Material nicht ausreiche, um Schitomirski nachzuweisen, dass er ein Spitzel sei. Man ließ ihn deshalb in der Partei. Trotzdem gab man ihm seitdem keine verantwortungsvollen Aufträge mehr. Er verlor schließlich den Zusammenhang mit der Partei fast ganz, obwohl er formell Mitglied der Pariser Gruppe war. Nachdem uns Burzew misstrauisch gemacht hatte, fragten wir uns, woher Schitomirski das Geld zum Leben in Paris nahm, woher er eine so gute Wohnung habe, da er doch keine ärztliche Praxis hatte. Im Januar 1911 sprach Genosse Lenin mit mir darüber, da er wusste, dass ich mit Schitomirski schon sehr lange bekannt war. Um das Leben Schitomirskis näher kennen zu lernen, besuchte ich ihn, als er mich gerade durch den Genossen Abram Skowno am Tage meiner Ankunft in Paris eingeladen hatte. Er freute sich sehr über meinen Besuch, schlug mir vor, zu ihm zu ziehen usw. Ich nahm diese Einladung nicht an, besuchte ihn aber täglich.
Seitdem ich in Paris war, begann Schitomirski wieder, sich für die Gruppe zu interessieren und fing von neuem an, dort aktiv zu arbeiten. Außer mir weilten oft bei Schitomirski Sefir, Kamenew und andere Genossen. Ich weiß nicht, ob Schitomirski diese Genossen jemals über ihre Arbeit oder über andere Genossen auszufragen versucht hatte, mich jedenfalls fragte er nie nach etwas, und ich kann mich nur an eine einzige Ausnahme erinnern. Im Januar 1911, während meines Aufenthaltes in Paris, überredete mich Schitomirski, mit ihm nach Versailles zu fahren, das ungefähr eine halbe Stunde von Paris entfernt liegt. Als wir gerade durch irgend ein Dorf fuhren, sagte mir Schitomirski, dass hier der Genosse Leiteisen (Lindow) wohne, und fügte die Frage hinzu, ob ich nicht wüsste, wo sich der Genosse augenblicklich befinde. Die Frage machte auf mich einen seltsamen Eindruck, und ich erwiderte, dass mir der Aufenthaltsort des Genossen Lindow unbekannt sei. Das stimmte tatsächlich. Aber auch, wenn ich etwas gewusst hätte, würde ich geschwiegen haben, da mich die Frage in Erstaunen setzte.
Als Tag für die Abreise aus Paris hatte ich den 14. Juli gewählt, den Tag der Erstürmung der Bastille im Jahre 1789. An diesem Tage kommen eine Unmenge Menschen aus ganz Frankreich nach Paris. Die Pariser Kleinbürger pflegen am Tage des Sturzes der Bastille auf den Straßen, vor den Restaurants und in den Kneipen herumzutanzen. Ich war überzeugt, dass mich an einem solchen Tage kein Spitzel bemerken würde. Die Genossen Sefir und Kotow begleiteten mich zum Bahnhof. Vor dem Abgang des Zuges fand sich auch Schitomirski ein, der sehr herzlich Abschied von mir nahm, mich sogar küsste und mich inständig bat, bei meinem nächsten Aufenthalt in Paris bei ihm einzukehren. Sein Benehmen hatte mich sogar gerührt.
Unterwegs machte ich in Baden-Baden und in Leipzig Halt. Von einer Bespitzelung hatte ich nichts gemerkt. In Baden schien es mir allerdings, als beobachte man mich, aber ich nahm an, dass es dortige Kriminalisten waren. Und in Leipzig fiel mir auch nicht das Geringste auf. Am Tage, an dem ich mir vorgenommen hatte, mit einem fremden legalen Pass nach Russland zu reisen, erhielt der Genosse, den ich in Baden-Baden aufgesucht hatte und mit dem zusammen ich über die Grenze wollte, einen Brief von seiner Wirtin, die ihm mitteilte, dass ein Spitzel sie besucht und nach mir gefragt hätte. Der Spitzel hatte die Frau in große Angst versetzt und ihr gesagt, dass ich irgend eine französische Bank beraubt hätte und dass er mir jetzt auf der Spur wäre. Die Frau beschrieb das Aussehen des Spitzels und flehte mich an, den Mann, der mir nachgereist war, anzuhalten und das Missverständnis, wie sie sich ausdrückte, aufzuklären. Die Frau war überzeugt, dass ich nicht der Gesuchte war. Als ich bald darauf aus der Wohnung trat, fiel mein Blick auf einen Mann, der neben dem Hause an einem sonst stets geschlossenen Fenster einer Kneipe saß und dessen Äußeres ganz genau mit der Beschreibung der Wirtin des Genossen übereinstimmte. Ich begab mich zum Genossen Sagorski. Dort fand ich ein Telegramm des Genossen Lenin vor, der mich einlud, nach Poronin zu kommen. Ich beschloss, die Einladung anzunehmen. Mit dem Genossen Sagorski arbeitete ich folgenden Plan aus: wir sandten einen Dienstmann nach den Sachen des Genossen aus Baden-Baden, der vollkommen legal war, und gaben ihm den Auftrag, das Gepäck nach dem Eulenburger Bahnhof zu bringen, von dem die Züge über Kalisch nach Russland gingen. Zur Beobachtung sandten wir hinter dem Dienstmann die Genossin Pilatzkaja her. Der Spitzel lief hinter den Sachen her. Unterdessen holte Genosse Sagorski meine Sachen ab und brachte sie nach dem neuen Leipziger Bahnhof. Abends ging Sagorski zum Eulenburger Bahnhof, um den Genossen aus Baden-Baden zu begleiten. Dabei stellte er fest, dass mit ihm auch der Spitzel abreiste. Wie ich später erfuhr, begleitete ihn der Spitzel bis zur Grenze, wo der Genosse einer gründlichen Visitation unterzogen wurde. Die Gendarmen fragten ihn über mich aus. Sicherheitshalber reiste mit meinen Sachen die Genossin Pilatzkaja, ich aber bestieg den Zug erst auf der nächsten Station, wo die Genossin ihn verließ und, nach Übergabe der Fahrkarte und des Gepäcks, mit dem Genossen Sagorski zusammen die Rückfahrt antrat. Ich kam wohlbehalten bei den Lenins an. Als ich ihnen von diesem Abenteuer erzählte und die Vermutung aussprach, dass es die Arbeit Schitomirskis war, erwiderte Genosse Kamenew, der gerade zugegen war, dass ich mir das alles nur eingebildet hätte. Aber am nächsten Tag nach meiner Ankunft in Poronin kam ein Brief vom Gen. Sagorski an, in dem er schrieb, dass gleich in der Nacht nach meiner Abreise in meiner Leipziger Wohnung eine Haussuchung stattgefunden hatte. Als übrigens der Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch der Eröffnung der russischen Kirche in Leipzig beiwohnte, veranstaltete die Polizei bei meinem Wirt abermals eine Haussuchung. Das war aber lange nach meiner Abreise aus Leipzig.
Wir beschlossen, Schitomirski mitzuteilen, dass ich vom Auslandsbüro des ZK nach Krakau berufen worden sei und mich hier niederlassen würde. Am Tage meiner Abreise nach Russland sandte ich ihm meine angebliche Krakauer Adresse; Krakauer Genossen aber hatten den Auftrag bekommen, die angegebene Wohnung scharf im Auge zu behalten und aufzupassen, ob diese nicht bespitzelt wurde, was dann nur auf Weisung von Schitomirski hätte geschehen können. In diesem Falle würden über die Beziehungen Schitomirskis zu der Ochrana keine Zweifel mehr möglich sein. Unsere Vermutungen stellten sich als richtig heraus. Als ich 1915 in der Verbannung dem Genossen Kamenew, der in demselben Kreise lebte, mitteilte, dass ich bei meiner Verhaftung in Samara genau feststellen konnte, dass Schitomirski ein Spitzel sei, erwiderte er mir, dass er das längst gewusst habe. Auf diese Weise entlarvten wir einen gefährlichen Lockspitzel, der uns Bolschewiki viel Schaden zugefügt hatte.

 

Eine Woche in Poronin (Ende Juni 1915)

In Poronin verbrachte ich beim Genossen Lenin und Genossin N. K. Krupskaja etwa sieben Tage. Sie bewohnten ein einstöckiges Bauernhaus. Unten wohnten Lenin, Krupskaja und ihre Mutter, oben aber gab es noch ein oder zwei Zimmer, die offenbar für Gäste bestimmt waren, denn als ich eintraf, wohnte bereits Genosse Kamenew dort. Auch ich wurde dort untergebracht. Am anderen Ende Poronins wohnte Genosse Sinowjew und Genossin Lilina. Genosse Lenin arbeitete und ging auch hier in Poronin zu ganz bestimmten Stunden spazieren, genau so wie in Paris, Genf und London, wo ich Gelegenheit gehabt hatte, ihn zu sehen. Obwohl es fast während der ganzen Zeit, die ich in Poronin verbrachte, regnete, ging Lenin zu Fuß oder fuhr per Rad in die Umgegend Poronins, das sehr malerisch gelegen ist. Von Poronin hatte man einen sehr schönen Blick auf die Berge von Zakopane. Oft begleitete auch ich Genossen Lenin bei seinen Spaziergängen. Einmal fuhren wir nach der Stadt Zakopane, die nicht weit von Poronin entfernt ist. Von dort aus begaben wir uns für einen ganzen Tag in die Berge, um dort, wenn ich nicht irre, das so genannte „Meeresauge" zu bewundern. Mit uns kam noch ein Genosse, aber ich kann mich nicht genau erinnern, ob es Genosse Ganetzki war, der damals in Poronin wohnte, oder Genosse Kamenew. Ich weiß nur, dass dieser Genosse nicht bis zum Schluss mit uns aushielt. An diesem Tage hatte es mindestens zwanzigmal zu regnen angefangen, und in der Zwischenzeit strahlte dann wieder die Sonne.
Wir wurden gründlich durchnässt. Während der Regenschauer versteckten wir uns mitunter in kleinen Hütten, die sehr an die sibirischen Etappenhütten erinnerten und speziell für Touristen errichtet worden waren, damit sie während des Unwetters dort Zuflucht finden können. Wir kletterten lange und stiegen immer höher die Felsen hinauf, wobei wir uns an eisernen Klammern festhielten, die in die Felsen eingelassen waren. Den größten Teil des Weges musste man auf einem Pfad zurücklegen, der an einem Abgrund entlang führte. Die Landschaft war ungewöhnlich schön. Als wir aber unser Ziel erreichten, stellte sich heraus, dass die Wolken die ganze Aussicht verdeckten, so dass wir nichts sehen konnten. Dreimal fingen wir den Abstieg an und dreimal — sobald sich die Sonne nur zeigte, — kletterten wir wieder hinauf, bis wir schließlich in einen Abgrund hineinsehen konnten, der mit reinstem Schnee gefüllt war. Spät in der Nacht kehrten wir durchnässt und durchfroren nach Poronin zurück. Dieser Ausflug ist in meinem Gedächtnis unauslöschlich haften geblieben. Auch Genosse Lenin vergaß ihn nicht. Als in den Jahren 1918—1919 zwischen dem Volkskommissariat für Verkehrswesen, der Bezirksleitung der Moskauer Eisenbahner und dem Zentralvorstand des Eisenbahnerverbandes, in dem ich damals tätig war, Reibereien entstanden, erklärte mir Lenin wiederholt im Scherz, es wäre besser gewesen, wenn er mich während des Ausflugs in den Bergen von Zakopane in den Abgrund gestoßen hätte.
Auf einem dieser Spaziergänge setzte mir Lenin seinen Plan der Vorbereitung des Parteitages auseinander. Diese Frage sollte auf einer im Herbst 1913 geplanten Beratung aufgeworfen werden, und ich erhielt den Auftrag, den südrussischen Genossen die Einladung zu dieser Beratung zu überbringen. Lenin beabsichtigte, die Sozialdemokraten des lettischen Gebietes und die Opposition in der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens („Raslomowzy") zum Parteitag einzuladen, und überlegte deshalb, wen er von den Genossen zu den Letten senden könnte. Ich hatte nichts gegen die Einladung der polnischen Opposition, forderte aber kategorisch auch die Einladung von Vertretern des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens. Gleichzeitig schlug ich vor, auch die lokalen Organisationen der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens von dieser Einladung in Kenntnis zu setzen, damit diese im Voraus wissen sollten, dass es nicht die Schuld der Bolschewiki war, wenn ihre Führer zu dem von den Bolschewiki einberufenen Parteitag nicht erscheinen wollten und sich damit selbst außerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Russlands stellten. (Zwischen den Bolschewiki und dem Vorstand der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" bestanden Meinungsverschiedenheiten über organisatorische Fragen und den Wiederaufbau der „Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei".) Darauf entgegnete mir Genosse Lenin, dass man jetzt nicht mehr diplomatisieren dürfe, sondern eine kampffähige Partei schaffen müsse. Das Wesentliche sei, dass die „Sozialdemokratische Partei Polens und Litauens", selbst wenn sie am Parteitag teilnähme, ja nur die Arbeit zu bremsen versuchen würde.
Obwohl der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens zu der Prager Parteikonferenz vom Januar 1912 eingeladen worden war, hatte er es abgelehnt, daran teilzunehmen. Er hatte vielmehr der Parteikonferenz vorgeschlagen, einige Genossen zu bestimmen für die Führung von Verhandlungen über die Einberufung einer wirklichen Konferenz der Gesamtpartei, an der alle Richtungen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, auch die „nationalen" teilnehmen sollten. Auch übte der Vorstand der SPP und L durch Genossin Rosa Luxemburg auf die deutschen „Treuhänder" einen Druck aus, damit sie den Bolschewiki keine Gelder übermitteln, die man in den Jahren 1912—1913 so nötig zur Erweiterung der Arbeit brauchte.